DUQUESNE ÜNieSiTy LIBRARV
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25eran 1974
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bucti^antlung - «ötorg Mdmet - Äatl 3. Stübnet - 25tit & (Jomp.
35orIefungen
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Q3or[efungen über a)^orafpf)irofcp^ie
iöerlin 1974
QBafter t>t 0rupfer & <So.
Bormal^ ©. 5. ®öfd)en'fd)e ■BcrlageljanDlung - ^. ©uttcntag, 35tr(a9#»
buclfijonblung - (öcorg Weimer - ^art J.^cübncr - Q3tit & Somp.
Der vorliegende Halbband umfaßt die Praktische Philosophie Herder (S. 1 — 90),
die Praktische Philosophie Powalski (S. 91 — 236) iind die Moralphilosophie CoUins
(S. 237 — 473), alle drei nach den Originalen.
Im zweiten Halbband folgt die Metaphysik der Sitten Vigilantius imd der Ab-
druck von Baumgartens Ethica Philosophica. Der Apparat bringt außer Ein-
leitung, Erläuterungen, Textänderungen, Nachträgen vmd Berichtigimgen die
Varianten der übrigen Abschriften, bezogen auf Collins.
Gerhard Lehmarm
© 1974 by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30
Printed in Germany
Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne
ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder
Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen.
Hldr. ISBN 311004994 5
brosch. ISBN 3 11 005877 4
Satz und Druck: Walter de Gruyter & Co., Berlin 30
Buchbmder: Lüderitz & Bauer, Berlin 61
I
Praktische Philosophie Herder
APR2 3 1976
Praktische Philosophie Herder
.... habe ich nicht blos ein eigen-, sondern auch ein uneigen-gemein-
nütziges Gefühl ? Ja ! — es rührt unmittelbar uns ander Wohl und
Leiden: die bloße Glückseligkeit andrer ergötzt uns in der beschrei-
bung: auch von erdichteten Personen von denen wir die Erdichtung
5 Mdßen, oder in entfernten Zeiten — ja dies gemeinnützige ist so groß
daß es mit dem eigennutzigen collidirt. Ja das Gefühl desselben ist
eine edle Empfindung, edler, als das der eigennützigen. Niemand
verachtet sie : ein jeder wünscht sie sich, nicht alle haben sie in glei-
chem Grade : — bei einigen ists groß und je größer desto mehr wirds
10 als eine Vollkommenheit empfunden. — es ist allgemein : doch selten
so groß daß es thätige Handlungen erregt, z. E. Geitzige, bei denen
der Eigennutz sehr stark geworden ist. Als bedürftsamen Wesen gab
uns der Schöpfer den Eigennutz nach unsrer Vollkommenheit. Als
Wesen die Vermögen haben andern zu dienen gab uns der Schöpfer
15 den Uneigennutz nach andrer Vollkommenheit. Die Grade des gemein-
nützigen sind vortreflich weil man auch das eigennützige ihm unter-
ordnen kann: aber nicht vice versa. Je eigennütziger, desto mehr
bedürftig: (zu wenigsten in Gedanken) folglich verächtlicher: Das
uneigennützige Gefühl an dem Wohl etc. eines andern, hat nicht un-
20 sere Vollkommenheit zum Zweck : sondern zum Mittel
Hobbes folgte dem Plan des Lul^rez und dem Epikur: der bei
weitem nicht so edle Principia hatte, als die Stoiker. — So auch die
meisten Deutschen beziehen alles auf Eigennutz, weil es schön ist,
alles aus einem Principio herzuleiten, so wenig es aber in der Meta-
25physik etc. Man sagte; 1) man sezze sich dabey an des andern Stelle,
und die Täuschung der Phantasie mache dies Vergnügen, waz nicht
unmittelbar aus des Andern Vergnügen entspringt, sondern mittel-
bar — Diese falsche Untereinanderordnung komt daher : weil wir uns
bei dem uneigennützigen Gefühl stets die Freude des andern vor-
30 stellen: und welche Freude wir haben möchten in seiner Person. —
Allein hätten wir keine uneigennützigen Gefühle, so doch nicht etc.
weil wir nicht uns überzeugen , daß wir in seiner Person sind = Sezt
euch auch in die Stelle eines reichen Taugenichts: ihr werdet nicht
eine lust an ihm haben. Diese Sezzung an des andern Stelle ist also
35 zwar nothwendig aber blos ein Mittel zur lebhaftigkeit das das un-
eigennützige Gefühl voraus sezzt. Ich nehme nicht mit des Damiens
4 Vorlesungen über Moralphilosophie
Unglück Mitleid, wohl aber an des Julius Cäsar da sein Brutus ihn
umbrachte 2) sagt man: — Das Vergnügen, waz wir daran haben, ist
blos unser Zweck und ein feinrer Eigennutz Responsio das Vergnügen
selbst sezt 1) eine Kraft, es zu haben, voraus 2) das Vergnügen kan ich
nicht durch Vergnügen erklären. Ich will das Vergnügen: heißt bloß : 5
ich habe Vergnügen am Vergnügen : sezt also ein gewißes Gefühl schon
voraus. Dies sind also blos niedrige Ränke. — Dies Gefühl macht
auch eine große Schönheit unserer Natur — Ein eigennütziges Gefühl
sezt eigne Un Vollkommenheiten voraus : die sich erwerben lassen : (folg-
lich Gott nicht) und sezt bedürftigkeit voraus. Ein uneigennütziges lo
Gefühl sezt eigne Vollkommenheiten voraus: die Gründe in Erwer-
bung anderer Vollkommenheiten seyn können und sezt vollkommen -
2 heit voraus. Das uneigennützige Gefühl ist Anziehungs Kraft ähnlich /
und der Zurückstoßung das eigennützige. Beide in conflictu machen
die Welt aus. is
Freie Handlungen sind gut 1) vermittelst der Folgen (nach ihrem
Grad) Physisch gut
Freie Handlungen sind gut 2) vermittelst der Absicht (nach ihrem
Grad) Moralisch gut Der Maasstab ist bei beiden sehr verschieden : —
Kleiner Wille und großes Vermögen ist weniger Moralisch gut, auch 20
bei großen Wohlthaten Großer Wille und kleines Vermögen ist mehr
Moralisch gut, auch bei Wohlthaten die klein sind. — Wir schätzen
auch die Moralia nicht nach dem Physischen sondern durch sich
selbst : auch wenn sie eigennützig sind : nicht stets gemeinnützig (wie
Hutcheson irrt). — Moralisch gute Handlungen müssen auf ein Phy- 25
sisches Gute gerichtet seyn nicht aber daran gemeßen : — Die Physisch
gute Handlungen sind stets gleich: sie mögen frei oder noth wendige
Wirkung seyn : denn das gute liegt in der Wirkung und wird an der Fol-
ge gemessen, sie ist nicht größer als die Wirkung, aber die moralisch
freie Handlungen haben eine bonität die nicht nach der Wirkung : so
sondern nach der Absicht (frei) geschätzt wird: sonst würde das
moralische kleiner seyn als das physische: dieses wiederspricht aber
der Empfindung, der Rührung ; freie Handlungen können unmittelbar
gut seyn (Lust machen) nicht als Mittel zu Folgen, daher der Grad
nicht nach den Folgen zu messen und sie nicht gleich sind den Phy- 35
sischen Ursachen die dieselbe Wirkung hervor bringen die Lust an
freien Handlungen unmittelbar heißt Moralisches Gefühl, wir haben
ein Moralisches Gefühl: dies ist 1) allgemein 2) einstimig: — Ich habe
an des andern Nachläßigkeit Unlust, Haß; nicht weil er hungern
Praktische Philosophie Herder 5
muß; sondern wegen der Nachläßigkeit denn bei Mangel aus Krank-
heit habe ich Mitleiden = eine große Disproportion die das Eigen-
nützige Gefühl erhöht daß jenes überwogen wird, hebt es nicht auf : denn
wenn er von andern Moralisch guten hört : so wird er mit Lust gerührt —
5 Eine unmittelbare Lust an des andern Uebel ist teuflisch, und bei uns
von gar keinem Gedanken : (wohl aber eine mittelbare Lust, und Un-
lust — wie unmittelbare Unlust;) Das moralische Gefühl ist unzerglie-
derlich, Grundgefühl, der Grund des Gewißens. actiones morales sunt
aut immanentes aut transeuntes : diese Eintheilung ist (bricht aby
10 Hutcheson irrt, wenn er glaubt, daß die Handlungen, die auf uns
gehen blos aus dem Eigennutz erklärlich sind daß sie gar nicht nach
einer Moralischen Regel seyn und blos Politisch — aber selbst die
Willkür ist hiebey moralisch: und Politische Absichten finden nicht
stets statt ^
15 2) physice transeuntes können doch moral: immanent: seyn: die
Wirkung ist außer uns, der Zweck in uns.
/ Wodurch erkennen wir die bonität : — die physische bonität durch 3
ein physisches Gefühl: z. E. den Bauer pflegen die moralische bonität
dm-ch ein moralisches Gefühl das sich gar nicht aufs physische bringen
20 läßt — jene ist durch ihre Folgen gut : Materialität des Vollkommenen,
diese ist an sich gut: Formalität des Vollkommenen. Bey der Morali-
tät wird blos nach der Formalität der Vollkommenheit der freien
Handlungen gefragt. Thue Moralisch vollkommene Handlungen suche
Materiale und formale Vollkommenheit ; suche
25 1) Volll<;ommenheit als Zweck unmittelbar
2) Vollkommenheit formaliter nicht blos materialiter.
blos die Betrachtung der freien Handlungen mit Moralischem Ge-
fühl hält das GcAAdßen in sich : jenes fühlt die Vollkommenheit formal :
Willkühr bei jedem, auch dem andern: das Gewißen blos an seiner
30 eignen Willkühr. Jenes geht auf alle freien Handlungen, dieses
auf unsere eigne : bey der moralischen bonität ist nie ein Zweifel : die
Physische oft zweifelhaft im Grad zu bestimmen, weil sie aus den
Folgen gemessen wird. z. E. (bricht ab}
Das Gefühl vor die Moralität (ohne Nuzzen) ist schön oder erhaben,
35 meine Freude am Vollkommenen meiner selbst (Gefühl der Selbst-
schätzung, eignen Werths) ist edel meine Freude am Wohlgefallen
(Gefühl der Wohlwollenheit) ist schön. Hier ist die Eintheilung aller
Handlungen nach diesen Klaßen völlig ungebaut.
6 Vorlesungen über Moralphilosophie
Quellen der Sittlichkeit
Sittlichkeit überhaupt. Moralische Schönheit (nicht Verbundenheit
Recht und Unrecht) Die Vollkommenheit ist nie in der Moral
die transscendentale : nicht waz zum Wesen blos gehört, denn das
Wesen könnte beßer seyn. 5
Daraus allein daß es mit unserer Natur überhaupt zusammen
stimmt, ist es nicht blos Vollkommenheit denn kann ich eine beßere
Natur haben, z. E. Engel: so ist der Tod gut — Also ist das Haupt -
gesetz der Moral: handle nach deiner Moralischen Natur. Meine
Vernunft kann irren : mein Moralisches Gefühl blos, wenn ich Gewohn- 10
heit vor Natürliches Gefühl halte, alsdenn ists aber blos implicirte
Vernunft: und mein letzter Maasstab bleibt doch das Moralgefühl:
nicht Wahr und Falsch: so wie das Vermögen des Wahren und Fal-
schen der letzte Maasstab des Verstandes und beide allgemein sind.
Um nicht in logischen Dingen zu irren: muß ich die Iste propositio 15
des wahren aufsuchen
Um nicht in moralischen Dingen zu irren: muß ich die Iste pro-
positio des guten aufsuchen
Das natürliche Gefühl wird hier dem künstlichen entgegengesezt
z. E. von Schamhaftigkeit ist fast künstlich, bei Spartaner Kinder 20
bis 14 Jahr nakt Indianerinnen verbergen nie den Busen Jamaica
4 ganz nakt / und ist doch sehr stark: Cäsar, Livia, wollten sterbend
sich nicht aufdecken.
Spartanische Weiber nakt auf die Gaße geworfen, mehr als Todes-
strafe 25
Doch künstlich: so wie bei Chinesern die Finger zu zeigen.
So ist die Heirath der Schwester künstlich verabscheut : bei Egyp-
tern heilig Um das Künstliche vom Natürlichen zu unterscheiden
muß man so auf den Ursprung dringen, wie die Vorurteile (Sprüch-
wörter) von Gewißheit zu unterscheiden. Man müste das Gefühl des so
Natur Menschen untersuchen, und dies ist weit beßer als unser
gekünsteltes : Roußeau hats aufgesucht
Sectio 2
coactio absoluta ist unmöglich moralis
coactio physica ist offenbar nicht moralis sind contrahentes 35
coactio moralis 1) subjectiua: necessitatio actionum liberarum se-
cundarum zu regulas arbitrii sub-
iectiue applicatas
Praktische Philosophie Herder 7
2) objectiua: obligatio ad actionem inuitam;
1 ) externa : per causas externas :
2) interna: per causas internas:
Es gibt rationes insvifficientes die nicht obligiren: debiliores —
5 Wenn nun ein conflictus zwischen potioribus und debilioribus da die
obligationes per coactiones objeetivas internas geschehen :
a) interne wenn nur eine obhgation einen invite zwingt
B) extern : 1) subjectiua, das gar keine Verbundenheit ist,
2) objectiua: ist durch Furcht objectiver Zwang —
10 Quaestio sind die extorsiones rationes obligandi —
Responsio Man kann den Grund 1) des Gesetzes selbst ] be-
2) den Fall der An- j- trach-
wendung J ten
Der Grund des Falls der Anwendung ist nicht der Grund der Ver-
ls bindung : denn die Handlungen die dadurch veranlaßt, werden nicht
Moralisch sondern blos mittelbar gut den Strafen zu entgehen,
Zwang obligirt also nicht: weil blos Folgen physischer Handlungen
sind ; Wohlthaten obligiren wohl : insofern sie blos Folgen moralischer
Handlungen sind
20 63. Wenn ich auch die Willkühr nicht aus der Natur der Sache
herleiten kann, ists ein natürliches Gesez, nicht positiv: dieses muß
blos aus dem Ausdruck der Rede zu erkennen seyn so fern es positive
ist, nicht aber aus der Natur der Sache. Auch die götthchen Gesetze
wo ich das arbitrium aus der Natur der Sache herleiten kann, sind
25 Natur Gesetze z. E. das Gesetz der Fortpflanzung der Menschen / ist 3
ex arbitrio Dei : dies ist aber schon ex rei naturae zu sehen : (natürhch)
in so fern es aber enunciirt ist (positiv)
64. Des Autors Begriff vom Recht ist so weitläufig daß er im
jure vniversali naturali auch die leges motus aber wider allen Gebrauch
30 in sich fasst.
ius strictum complexus legum externarum quarum ratio obligandi
est alterius arbitrium et esse possunt cogentes
ius vniversale facultas moralis (Befugniß) aptitudo (nicht phy-
sica) als causa efficiens etwaz zu thun wo ich nicht wider meine Ver-
35 bindlichkeit handle, wenn ichs thue :
Die Befugniß ist zweierlei 1) innere 1 da ich nicht wider (äußere
2) äußere [oder innere) Verbindlichkeit
] handle
3 Vorlesungen über Moralphilosophie
facultas moralis externa ist nicht wider Zwangsgesetz — bezieht
sich auf die äußeren Verbindhchkeiten
facultas moralis interna
ius strictum complexus omnium legum obstringendi
ius vniversale complexus omnium legum obligandi 5
ius latius: alle Regeln der Verbindlichkeit, auch der Innern
(wider den Sprachgebrauch) auch der göttlichen sittlichen Vollkom-
menheit.
late der Menschlichen: dies ist blos vor diesen
stricte : ist eigentlich das gewöhnliche ius naturae lo
late müste sie 1) Innern 1 ,t i • n- 1 1 -^ ^ Ethic:
' .. r, 11 ' Verbmdlichkeiten reden . ,
von 2) äußerlichen j jus naturae :
Die Ethic redet aber eigentlich nicht vom Recht, sondern waz
schön ist : Moralische Schönheit gar nicht vom arbitrio Gottes — vom
Gesetz — sondern unmittelbar Gut : i5
Auch in der Predigt könnte man dies mit einer schönen Gradation
unterscheiden
Jus positivum (ist vom jus naturae zu unterscheiden:) complexus
regularum externarum: nicht der vermuthete Wille, sondern ausge-
druckter Wille. 20
Jus naturae kann der scientiae morali late dictae contradistinguirt
werden und ist 1) ius naturae: dem positiven entgegengesetzt
oder 2) ius positivum.
66. Obligationes in jure positivo (qua tali) sunt externae. Jus positi-
6 vum late dictum ist unrichtig, weil es auch die Innern als äußere / Ge- 25
sezze betrachtet: jus positivum qua tale semper stricte dicitur. Wer
die Schuldigkeit weiß weiß auch die Befugniße : Befugniße sind dem
Moralisch Nothwendigen contradistinguirt und mit jener unter dem
Moralisch Möglichen enthalten, und stehen also mit jener unter einem
Hauptbegriff. 30
facultas moralis est respectu legum internarum: diese heißt nie jus
aut respectu legum externarum : sondern diese blos
Jus omnes leges (etiam improprie dictae) comprehendit
Jus externae leges
1) naturae ex natura rei 35
2) positivae ex arbitrio
Praktische Philosophie Herder 9
68. Alle Moralischen Unterlassungen sind negative Handlungen und
also kein Mangel von Handlungen: sondern wirkliche Handlungen
realiter entgegen gesetzt den positiven Handlungen :
Oniissiones morales sunt negatiue actiones
5 Handlungen tacite erlaubt, wenn ein Gesetz zum Gegentheil da ist.
Handlungen explicite erlaubt, wenn ein Gesetz dies wirklich selbst
erlaubt: — uneigentlich heißt es Gesez: da es keine Verbindlichkeit
enthalt
69. Ex obligationibus nostris internis possumus ad externas diuinas
10 (propter leges externas) concludere qua tales autem cum ex natura rei
intelligatum est naturae jus, non positiuum : — ad positivum aber kann
ich nicht schliessen, weil ich nicht weiß, ob Gott diserta oratione ein
Gesetz gegeben 70. formale Hauptregeln der negativen und affirmati-
ven Verbindlichlveit. materiale sind viel — nach der beschaffenheit der
15 Sache Iste Grundsäzze
71 Können wir auch ohne Gottes Daseyn und seines arbitrii voraus
gesetzt : alle Verbindlichkeiten interne herleiten ? Responsio : nicht blos
affirmative sondern dies ist ex natura rei eher, und wir schliessen daher
auf Gottes Willkühr.
20 1) vom arbitrio diuino kann ich selbst nicht die gehörigen begriffe
der Güte haben, wenn nicht der Begriff vom Moralisch Guten voraus-
geschickt würde : sonst ist bei Gott blos das arbitrium physice blos gut.
Kurz das Urteil über Gottes Vollkommenes arbitrium sezt die Unter-
suchung der Vollkommenheit moralis voraus.
25 /2) Gesetzt ich habe Gottes arbitrium gewust, woher ist die Noth- 7
wendigkeit daß ichs soll : wenn ich nicht aus der Natur der Sache die
Verbindliclil<;eit schon herleite — Gott wills, warum soll ichs — er
wird strafen: — alsdenn ists schädlich nicht an sich lasterhaft: so
gehorcht man dem Despoten — dies ist alsdenn keine Sünde stricte
30 sondern politische Unklugheit — und warum wills Gott ? warum
straft ers: weil ich verbindlich dazu bin, nicht weil er Macht hat zu
strafen. Selbst die application des arbitrii Diuini aufs factum als ein
Grund sezt die begriffe der Verbindlichkeit voraus — und da dieses
die natürliche Religion ausmacht, so ist dies ein Theil nicht aber der
35 Grundsaz der Moral. — Es ist wahrscheinlich daß da Gott der Grund
aller Dinge durchs arbitrium ist, so auch hier, Ja er ist der Grund
davon aber nicht per arbitrium, sondern da er der Grund der Mög-
10 Vorlesungen über Moralphilosophie
lichkeit ist, so ist er auch der Materiale Grund (da in ihm alle data
sind) von Geometrischen Wahrheiten, und Moralität — in ihm ist also
selbst Moralität und sein arbitrium ist also nicht der Grund — Der
Streit der Reformierten und Lutheraner vom arbitrio Diuino und
absoluto decreto gründet sich darauf, daß auch in Gott Moralität 5
seyn muß ; und vom göttlichen Arbitrio selbst schwindet aller Begriff
wenn nicht moralität vorausgesetzt wird, diese aber kann nicht aus
der Welt bewiesen werden, (da blos möglich) weil die Güte der Welt
physische Folgen blos seyn können — Wie schrecklich ist aber ein
Gott ohne Moralität — Jus naturae diuinum, ja auch positiuum lo
schwindet, wenn nicht eine Moralität Grund der beziehung und Con-
formität meines und Gottes arbitrii — Strafen fallen ohne voraus-
gesetzte Verbindlichkeit weg : es ist blos böses waz Gott erweist : und
kann ich die physischen vermeiden : so ist die Handlung kein Verbre-
chen mehr : Die Moral ist allgemeiner, als das arbitrium diuinum 3) der is
hat seiner Verbindlichkeit nicht völlig Gnuge gethan, Moralität ist
incomplet, wenn nicht alle Gründe der Verbindlichkeit genommen
werden : und alsdenn ist unserer Moralität das arbitrium diuinum ein
Grund der äußern Verbindlichkeit. Das arbitrium diuinum ist also
nie auszulassen : als ein äußerer Verbindlicher Grund ; incomplete wird 20
also unsere moralische Vollkommenheit wenn sie blos aus der innern
Moralität entsteht, und ohne arbitrium Gottes betrachtet wird. —
meine Handlung ist aber doch schon moralisch ohne arbitrium Gottes
nur nicht so complete moralisch gut, als wenn sie allen Gründen
gemäß ist : — die aufs arbitrium Dei blos attendiren — betrachten 25
blos Schuldigkeit ius naturae diuinum : man muß auf die innere Mora-
lität attendiren — betrachten auch Verbindlichkeit. ethica ratio-
nalis : jenes ist ohne diese nicht und noch weit weniger die allgemeine
Moralität. — tugendhaft schon aus der Natur der Sache, fromm blos
aus dem arbitrio diuino — — jene lasterhaft: diese gottlos — jene so
Moralische Fehler — diese Sünden — jene untersucht der Moral-
Lehrer; diese der Prediger: jener wil moralisch gute leute haben;
dieser complete moralisch gute — bei der Erziehung erst das Morali-
sche Gefühl erwecken: denn auf Gottes arbitrium appliciren: sonst
ist Religion ein Vorurtheil, heucheley — wer hat einen begrif von 35
der äußern Verbindlichkeit, ohne innere: — sonst sind die be weg-
gründe Auflagen, die gar nicht Moralisch ihn machen, sondern blos
8 Politisch schlau ; — wenn eine unmittelbare göttliche Eingebung / und
Einwirkung dazu kommt, so ist (blos in dem Fall) das arbitrium Dei
Praktische Philosophie Herder 11
hinlänglich. Die Cultur des Moralischen Gefühls gehe also vor der
Cultiir des Gehorsams.
Kann ein Atheist in Gesellschaft geduldet werden : Atheist in sensu
privationis unwißend in der Erkenntnis Gottes, der nie dran denkt
5 Atheist in sensu contradictorie irrend in der Erkenntnis Gottes, der
er sich wohl bewust: — Jene sind zu dulden, weil die Verbindlichlieit
bleibt, den neuen Beweggrund ausgenommen, der vom arbitrio Gottes
hergenommen ist. und die Sittlichlveit bleibt. So viele Nationen, die
eine Art von gesitteten Völkern machen — z. E. hotte ntotten, jezo
10 von den holländern daß Gott großer Kapitain genennt ist — indessen
haben sie moralisches Gefühl : ihr hottentotten Liedchen vom undank-
baren Holland bezeigt dies. Atheist, der da leugnet, aus einem
Muthwillen, und Nichtachtung der bessern Ueberzeugung. der da
leugnet, nicht aus einem Muthwillen, sondern weil er einer bessern
15 Ueberzeugung sich unfähig glaubt : jener hat einen Moralischen Grund
der Atheisterei und ist sehr gefährlich vor Gesellschaft. Dieser hat
einen logischen Grund der Atheisterei und ist nicht so gefährlich vor
Gesellschaft. — Sollte jener die Meinung vom Göttlichen auch nur
als ein Vorurtheil der Erziehung angenommen haben: so ists doch
20 schon ehrwürdig, und der Ueberlegung würdig. Da er nun dieses
starke und wichtige Gefühl hat überwinden können: so praesumirt
man doch eine große Moralische Bosheit in den Grundsätzen — die
meisten muthwilligen Atheisten sind in Rom, Paris etc. wo die
gröste Heuchlerei ist — auch ihnen eingeprägt — aber wegen einiger
25 Irrtümer insgesamt verworfen — wegen Kleinigkeiten ein so ehrwür-
diges Gefühl, auch als Wahn ehrwürdig, verspottet wurde: welche
Bosheit, und waz wird der in der Verbindlichkeit gegen andere min-
dere seyn. — Die Atheisterei geschähe erst mit Herzens wiederspruch
— ohne Scheinbeweis, blos aus Nachahmung gleich wird er aber unter-
30 druckt, und die wirkliche Fertigkeit erworben Atheist zu seyn da
man glaubt, andre könten es beweisen, oder seyn wenn sie mehr nach-
denken : Atheisten durch Schlüsse sind blos wegen der Folgen gefähr-
lich, weil andre aus Nachahmungssucht ihrem beispiel folgen könten.
Wegen ihrer sorgfältigen Untersuchung praesumirt man gute Morali-
35 tat. Daher nicht zu bestrafen, sondern zu überzeugen, oder ihr bei-
spiel zu removiren. z. E. Spinoza : ist nicht zu verwünschen, son-
dern zu beklagen. Er war ehrlich sehr großen Grad Moralität aber
sehr spekulativ und dachte bei der neuen Kartesianischen Philosophie
— vielleicht lauter neues zu erfinden, und wie Cartesius alles zer-
12 Vorlesungen über Moralphilosophie
störte, so er auch den begriff der Gottheit und dachte er hätte ihn
demonstrirt.
/ Einleitung in die Praktische Philosophie
I Grund in der Psychologie : 3 Hauptbegriffe in der Seele
1) Erkenntnis. Phaenomena vor wahr oder falsch halten: so die 5
theoretische Philosophie
2) Gefühl : sezt Erkenntnis voraus Phaenomena lust und Unlust:
ist meistens neu. von Erkenntnis unterschieden: es drukt die bezie-
hung eines Gegenstandes auf unsere Gesamte Kräfte aus. daher Er-
kenntnis ohne Gefühl Spekulation. lo
1) bei einer Art des Erkenntnisses verschiedene Gefühle.
2) der Größe des Erkenntnisses nicht proportional : daher kann
man zwar Erkenntnis aber nicht Gefühl hervor bringen.
3) Begierde sezt beides voraus a) Vorstellung b) beziehung auf lust
und Unlust: das besondere: 1) die Praevision einer Möglichlieit i5
durch meine Kraft.
Was beziehung auf Erkenntnisvermögen hat ist theoretisch :
und ist dies ohne auf einige Gefühle: Spekulation.
Was beziehung aufs Gefühl hat ist allgemein praktisch :
denn die Summe der gröstmöglichen Lust ist der Grund aller Begier- 20
den
Was beziehung auf thätige Begierde hat ist eigentlich prak-
tisch : denn es erregt thätige Handlungen. Daher
Philosophia practica: Die Philosophie der Gründe des begeh-
rens oder Verabscheuens. Diese sind aut 25
1) subjective spectata wie man sie erkennt und wirklich darnach
handelt : Daher Subjektive praktische Unmöglichkeit
2) objective spectata wie man sie nach beschaffenheit der Sache
erkennen sollte. Daher Objektive praktische Unmöglichkeit d. i.
Verbindlichkeit so
Also auch die 1) subjective (moralische Physiologie) die wirk-
Philosophia liehe Phaenomena erklärt: ist unbearbeitet:
practica s. Hutcheson und die Maler der Sitten
sind beide zu 2) objective die die Verbindlichkeit bestirnt:
verbinden diese ohne jene unvollkommen : sezt jene voraus 35
wie die allgemeine Physiologie die Erfahrung.
Praktische Philosophie Herder 13
/§. 1. Die Ethik, die Wißenschaft der innerlichen Pflich-i(i
ten, ist der allgemeinen Praktischen Philosophie unter-, dem Recht,
der Wissenschaft der äußerlichen Pfhchten nebengeordnet
Das Jus naturae und Ethica sind also ganz verschieden, da jenes
5 Schuldigkeiten, diese andere VerbindHchkeiten fodert
Der Zustand der Beobachtung ist bei jeder die Gesellschaft; bei
unserer im Naturzustande, in so fern ihm die Menschheit nicht
die Verbindung mit andern, noch weniger die Politik und Oekonomi-
schen Gesezze auflegt.
10 Die Moralische Vollkommenheit ist als Zweck, und nicht als Mittel
Moralisch: eben dadurch rührt sie uns und vergnügt uns, nicht durch
die Beziehung auf die Wirkung, sondern unmittelbar an sich: —
Durch die Qualität der Wirkung wird auch nicht die Handlung ge-
meßen: sondern aus Absicht: z. E. der Tod eines Menschen ist als
15 Wirkung sehr gering in Absicht auf die Zufälligkeit und das Ganze :
die Tödtung eines Menschen ist an sich aber sehr wichtig und wird
geahndet :
Da der Unterschied zwischen Schuldigkeit und Verbindhchkeit
sehr fein ist, so ist deutlicher :
20 Die Ethik: die Wißenschaft der Handlungen, die vor keinem
andern, als dem innerlichen foro valide zuzurechnen sind: — z. E.
Auch die Fälle, die theilweise vors forum externum (Jus) gehören:
fallen in so fern sie vors forum internum gehören, in die Ethik. Die
Grundsätze alles fori externi: kommen vor in dem Naturrecht. Die
25 Grundsätze alles fori interni : kommen vor in der Ethik
Ethica est scientia imputabilitatis actionum liberarum coram foro
interno : — Wir werden also auch nicht einen Blik einmal auf ein mög-
liches forum externum werfen dörfen : —
Ethik durch eine Tugendlehre erklärt, ist so fern gut, in sofern
30 Tugend blos vor den Innern Richterstuhl gehört ; da aber die Tugend
nicht blos moralisch gute Handlungen anzeigt: sondern zugleich
eine große Möglichkeit des Gegenteils, und also einen Innern Kampf
einschheßt, so ist dies ein zu enger begriff, da wir Ethik, nicht aber
Tugend (eigentlich) auch Engeln und Gott zuschreiben können:
35 da bei diesen wohl heiligkeit nicht aber Tugend ist : —
§. 2. Die Philosophische Ethik ist die, in so fern sie Philoso-
phisch erkannt wird; also nicht aus den Zeugnißen der andern z. E.
Weisen; sondern aus den Gründen der Sache selbst.
14 Vorlesungen über Moralphilosophie
§ 3. Nutzen : und Vollkommenheit sind an sich deutlich.
§.4. Sie ist laxa, und rigida; wenn sie pauca oder multa motiva
ad pauca oder multa moleste apparentia enthält: z. E. wenn sie den
Menschen blos zu Gefälligkeit Nüchternheit Mäßigkeit antreibt, ist
zu schlaff: wenn sie den Menschen auch zur Aufopferung seiner selbst, 5
zum größern besten antreibt, ist ernsthaft, weil jene die Menschen
verzärtelt, leichte Pflichten vorgebe, diese die gaukelnden Freuden
der untern Begehrungskräfte unterdrückt. Je größer die Moralische
Vollkommenheit der handlung seyn soll, desto größer muß die hinder-
niß seyn und der Kampf, daher auch die strenge Ethik alsdenn 10
nöthiger; und jene macht nie die wahre Tugend aus, obwohl oft auch
Moralische Güte, aber dieser ihre Zufriedenheit ist ernsthaft: — eine
edle Moralität;
§. 5. Des Autors Ethik blandiens ist, da er stets den weiten Begrif
der Verbindlichkeit falsch voraus sezt, dem er blos Beweggründe des 15
Nutzens, zuschreibt, im uneigentlichen Verstand Ethik: da der nur
eine sittlich gute handlung ausübt, der sie aus Grundsätzen thut
nicht als Mittel, sondern als Zweck : — durch sensitive iucunda kann
ich wohl bewegen, als durch Praktische Mittel, aber nicht obligiren,
als durch moralische Beweggründe : Eben so durch sensitive molesta : 20
und soll es also Philosophia ethica seyn, so muß es sittlich seyn,
n und die Ethischen Beweggründe sollen / stets moralisch nicht blos
praktisch als Physische Mittel seyn und wenn diese mittelbar Be-
weggründe werden können, aber eigentlich ein Theil der PoUtik seyn
würde, die noch geschrieben werden sollte: Alle diese subjektive 25
Beweggründe sind sehr gut, und oft Vorbereitungen der Ethik, daher
werden sie auch von uns dazu gethan werden; aber stets von den
Ethischen unterschieden werden müßen. — da diese blos von der
edlen tugendhaften freien Willkühr hergenommen seyn müßen : — Die
schöne Sittlichkeit wird die verzärtelnde ; die erhabne die ernsthafte 30
strenge Ethik ausmachen : So sind die Allmosen eines Reichen als eine
Folge der Gütigkeit: — sittlich schön, als eine Folge der Grundsäze,
der Schuldigkeit : erhaben
Ein jeder Mensch bedarf freilich partim sensitive iucunda : partim
molesta auch zu Moralischen handlungen: weil unsere Moralischen 35
Gefühle so vergraben unter das Sinnliche sind, und die sinnlichen
be weggründe es der Seele also leichter machen, sich aus Grundsäzzen
nachher zu entschhessen : Wir werden durch jene, die das Sinnliche
Praktische Philosophie Herder 15
überwiegen, gleichsam dem Gebiet der Moralität näher geführt: —
Dies erstreckt sich nicht blos auf die lehrart der Ethik, sondern auch
der Erziehung, und der Rehgion.
§. 7. Ethica deceptrix, hat entweder obHgationes — positive erro-
sneae zu demeritis oder negative erroneae — die secundum quid im-
possibile sind
Wir wißen nicht, wie weit sich die Stuffen unserer Morahtät erheben
könnten: z. E. Pedaret Tugend aus Grundsätzen zeigt, daß die Eitel-
keit der Ehre meistens blos secundum quid nothwendig sey : und also
10 ist meistens solche Moralität nicht nothwendig, sondern secundum
quid unmöglich. Wir müßen also unser Moralisches Gefühl so hoch
als möglich steigern, und nachher erst die bedingte Unmöglichkeit
erwägen :
Die Ethica deceptrix kann 1) zu demeritis verbinden wollen
15 2) Der Moralite und unsern Kräften un-
proportionirt seyn. Die Unerschrockenheit des Stoikers, seine Morali-
sche Vollkommenheit ist den Kjäften des Menschen unangemeßen.
Eben so treiben Moralisten z. E. Hutcheson die Handlungen aus Un-
eigennützigkeit zu weit : da er blos von Liebe und Wohlwollen gegen
20 andre redet da doch Thaten unmittelbar auf uns, ohne auf den Nut-
zen, als Mittel gerichtet zu seyn, sondern aus unmittelbarer Güte : mo-
ralisch gut seyn können: unsere Menschliche Würde und Größe
soll Triebfeder seyn — nicht der sensitive Stachel der Gewogenheit,
der sympathetischen Theilnehmung : dieses machte schöne Moralität,
25 jenes aber wahre ernsthafte Moral — Schuldigkeit nicht Gnade ; diese
ist den Menschen sehr eingepflanzt ; da sie doch nichts weniger als das
ist Es war nicht eine gute Handlung, die gleichsam überf lüßig gethan
wTirde, sondern die kaum Schuldigkeit erfüllte: — Und die ganze
Summe unserer Morahtät ist nichts über die Schuldigkeit überfließen-
30 des : sondern auch schon vor dem foro interno uns zu unnutzen Knech-
ten macht etc. etc.
§. 8. Die Christliche Ethik soll die der Philosophischen vorausge-
schickt werden oder vice versa ? Eine muß freilich aus der andern er-
läutert werden, wie die Theoretische aus der Experimentellen Physik :
35 aber die natürliche muß billig vorausgeschickt werden, weil jene sich
1) auf diese bezieht 2) weil diese mit einen Grund von der Wahrheit
jener enthält 3) weil diese uns manche Verbindlichkeiten zeigt, die
secundum quid unmöglich sind, und also zur Christlichen führet, die
16 Vorlesungen über Moralphilosophie
1% den Wiederspruch / im Menschen hebet, da er sich etwaz zurechnet,
was er doch nicht unterlaßen kann: die die Collision der Ohnmacht
mit der Moralischen Vorschrift hebt, und jene heilt : — 4) die geoffen-
barte Ethik, soll sie praktisch seyn so muß sie sich auf die Trieb-
federn der natürlichen gründen: Sie sezt, so wie jede Offenbarung 5
natürliche Kräfte voraus: z. E. Seelen Fähigkeiten, die dazu geschickt
sind : sonst würde sie höchstens ein wunderthätig veränderndes Buch
seyn: nun aber ist sie ein verbindendes Buch, das Instrumente und
Receptivität vor die geoffenbarte Religion voraussezt : —
§. 10. perfice te vt finem, — vt medium: — sind die Beiden haupt- lo
regeln des Autors
Unter dieser Vollkommenheit wird entweder die Moralische ver-
standen, und alsdenn wird sie schon voraus gesezt, und ist also diese
Regel nicht eine Grundregel, da sie einen Grund voraussezt: — Und
wird unter dieser Vollkommenheit unbestimmt welche verstanden, i5
z. E. Gesundheit etc. so ists wieder nicht eine Grundregel wegen ihres
Unbestandes : — Soll ich die Vollkommenheit als Regel suchen : so ist
dies eben so viel als: begehre alle Vollkommenheiten, ein
zwar subjektive ganz gewißer Saz, nach dem wir stets handeln; aber
objektive ein leerer Sazz : da er völlig identisch ist : — Die einzige 20
Moralische Regel ist also die: handle nach deinem moralischen
Gefühl ! — Dies Gefühl ist in der Philosophia practica prima blos
verneinend bestimmt, daß es nicht das physische ist, als Mittel zum
Zweck; blos also als Verhältniß. Diesen Unterschied verfehlt Baum-
g arten im ganzen Buch welches sonst das Sachreichste, und viel- 25
leicht sein bestes Buch ist; = aber alles waz er sagt, kann große
Praktische, aber nicht sittliche Vollkommenheit machen. Diese unter-
läßt er zu bestimmen, nach dem Geschmack der Philosophie des Wolfs,
die stets die Vollkommenheit auf den Respekt zwischen Ursache und
Folge bauete, und also blos als Mittel zu Zwecken in lust und Unlust : 3o
— Beides ist bei uns stets verbunden, das Moralische und Physische
Gefühl! Da Gott meistens aus Güte dieselbe Regeln der Praktischen
und Moralischen Vollkommenheiten bestimmt hat — Man zeige also
so wohl den Unterschied, als auch den Consensus zwischen beiden!
35
Sectio I. Der Begriff der Religion wird in der Metaphysik vor-
ausgesezt : als illustratio gloriae Diuinae ist sie die Verbindung der Er-
kenntnis von Gottes Eigenschaften als Beweggrund mit unseren
Praktische Philosophie Herder 17
handlungen: — Das Wort Verherrlichung ist blos ein Wort der ge-
offenbarten Religion und also nicht vorauszusetzen
Religio est cognitio practica relationis moralis entis creati ad
voluntatem Dei
5 entis creati: da es aber in einer Moralischen Verhältniß stehen
soll, muß es ens intelligens seyn.
cognitio practica: cognitio theoretica gehörte blos zur Theo-
logie: und alle Menschen haben alsdenn Theologie, cognitio practica
(subjectiva) etwaz von der Theologischen Erkenntnis; waz auf unse-
10 ren Willen sich bezieht so fern sie nur irgend einen Einfluß auf den
Willen hat sollte es auch blos Wunsch seyn nicht Ausübung alsdenn
ist sie schon ReHgion, aber so fern ist sie todt; ist sie aber Grund der
Handlung so ist sie eine lebendige Religion. — Völlig ohne
Religion sollte wohl kaum ein Mensch seyn der die Theologie
15 (bricht ahy
relationes morales nostri arbitrii ad voluntatem Dei: ratione
factorum 1) erga Deum
2) propter Deum. Diese lezte können auf die ersten zurück-
gebracht werden, da sie alsdenn blos Mittel zum Zweck, und zwar
wogegen Gott sind. Alle Religions Handlungen sind also gegen Gott:
entweder unmittelbar oder mittelbar gut.
Alle Morahsch gute Handlungen sind also in ihrer Höchsten Stuffe :
Rehgionshandlungen ; dies ist aber nicht die erste Stuffe von der man
anfängt: sondern die Moralische Schönheit (schwache Moralität) der
25 Morahsche Adel der Handlungen / wegen des Rechts werden voraus- is
gesezt und haben diese neue höhere Moralität erst nach sich. Sie ent-
hält eine Verhältniß mit der grösten obersten Regel, die der Grund
von allem ist, und also die gröste harmonie ausmacht. — Indessen
muß ich meine handlungen erst von dem göttlichen Willen abstra-
30 hiren, um auch die Güte des göttlichen Willens einzusehen : — habe
ich ihn aber reichlich, genau und lebhaft gnug erkannt: so wird dies
der gröste Grund 1) weil die Erkenntnis alsdenn edel ist 2) weil es
die höchste lebhaftigkeit gibt hat aber meine Erkenntnis Gottes
noch nicht Leben gnug : so muß ich mich um andre bekümmern : sonst
35 würde alle diese Erkenntnis Gottes blos todt bleiben, und seines
Zwecks verfehlen. — Fangt also mit der Moralischen Schönheit an;
mit der Moralischen Schuldigkeit, diese sind Gründe der Moralität —
die sinnlich und lebhaft sind : — alsdenn schwingt euch auf den hoch-
2 Kant's Schriften XXVII/1
18 Vorlesungen über Moralphilosophie
sten Grad, den zeigt ihm, als das höchste Instrument Gottes: — fangt
man von diesem an : so entspringt eine heuchlerische Religion daraus
und unseres Autors Methode ist also unrichtig, da sie von der Religion
anfängt, da sie von der Moralität anfangen sollte, die immer mehr
geläutert würde 5
Die Verbindlichkeit gegen Gott (Religion) ist nicht blos eine
Praktische Noth wendigkeit sich Gottes zu bedienen, als eines Mittels
zu gewissen Zwecken: — der Autor aber sieht das Mittelbare gegen
Gott vor das unmittelbare Gute an: — Da doch die obligatio blos
moralisch gute Handlungen erklären sollte, unmittelbar gegen Gott, 10
als Zweck : Befolge ich den Willen Gottes, weil er mein Bestes mit dem
besten der andern verknüpft hat so ist dies Gott geborgt : — und das
ist blos Praktisches Verhältnis eines Eigennüzzigen — Der höchste
Grad der Verbindung mit Gott als einem Mittel, ist : werm wir uns des
göttlichen Willens als ein Mittel zu Verbeßerung unserer eigenen 15
Moralite bedienen z. E. Julie sagt: unsere gute handlungen sind
durch Zeugen bemerkt: — sie braucht Gottes Willen, ihre Moralität
zu verbessern; aber blos als Mittel zur Glücksehgkeit gebraucht, ist
unedel : und keine Religion :
§. 13. Das Wort Glückseligkeit wenn es nicht ein Vergnügen über 20
das Moralische sondern Unmoralische Gute ist, ist nicht Moralisch:
— sondern blos Glück : die höchste Lust aber über seine eigne Morali-
tät ist Seligkeit : — und das Moralische Gefühl Übertrift jenes so sehr,
als auch das Andenken dran ergötzet: z. E. van Effens Erzählung
von jenem lüderlichen Menschen, der eine Person, die er vor Geld 25
unglücklich gemacht hätte, so glücklich machte: — Xerxes hohe
Prämie erreicht nicht das Vergnügen, waz aus dem Bewustseyn der
Moralischen Güte entspringt : — und ein hoher Grad dieses Bewustseyns
ist Sehgkeit: und wenn diese der Beweggrund der Religion ist, so ist
sie die einzig mögliche : Alles Glück macht auch bei dem Moralisch- so
bösen eine ansehnliche Summe von Vergnügen, die wirkliche Ver-
gnügen sind und zu beneiden wären, wenn nicht der ernsthafte
tugendhafte Sinn eine andre Art daurender Lust gäbe: — doch
da wir sehr moralisch gut seyn müssen, um den Werth dessen zu
empfinden : und unser Moralisches Gefühl hier noch sehr schlecht ist, 35
und mehr im Wünschen besteht: so ist unser Begrif von Seligkeit
hier noch gar nicht intuitiv: sondern blos nach einer Analogie einer
sehr kleinen Seligkeit bei einer Moralischen Handlung. — Den begrif
einer himmlischen Wohlfahrt bilden wir wohl eher durch Vergröße-
Praktische Philosophie Herder 19
rung; aber Seligkeit schwerer, da schon Moralisches Gefühl d. i. selbst
Seligkeit dazu erfodert wird, und die Abhängigkeit von denen Dingen,
die uns jetzo unser Glück oft und sehr befördert, wird durch ihre Ab-
nahme einst unsere Seligkeit ausmachen: da jetzt unsere Seligkeit
5 mehr Glück und w^eniger Seligkeit ist.
§. 14 — 22. Der Mensch, der aus Wohlfart handelt, ist dadurch fein
eigennützig: und handelt nicht aus Religion, da er nicht aus Morali-
tät handelt, und die einzigen Be/weggründe der Religion sind von i4
der Seligkeit: zu den Pflichten, als Physischen Gütern zu locken
10 aus Glückseligkeit und also alle Beweggründe vom Vergnügen :
aber zur Moralität von Seligkeit; und zur Wohlfart vom Glück. Jene
ist blos Verbindend: da aber Glück und Seligkeit einen Weg
erfodert, so widerstreiten sie sich zwar im Ganzen nicht ; müssen doch
aber unterschieden werden : — Auch Eigennutz bereitet zur Religion
15 vor, macht sie aber nicht : —
§. 19. Vielleicht bestand das Ebenbild Gottes in der unmittelbar
klaren Empfindung der göttlichen Gegenwart: — nicht symbolisch;
sondern intuitiv; nicht durch Schlüße sondern Empfindung; und
alsdenn wie lebhaft auf die Moralität und den Grund der Seligkeit : —
2oBey uns ist vielleicht noch jezt der weitste dunkelste Begrif davon
im Gewißen : — Verbessert man sein Moralisches Gefühl unmittelbar,
nähert man sich der göttlichen Gegenwart in Empfindung: so ent-
wickeln sie vielleicht wieder das Ebenbild, obgleich ihre geistige Reden
fanatisch klingen: — und zum höchsten Grad dieser Empfindung
25 steigert uns die ReHgion.
§. 21. Dieß ist wahre Moralite, davon ein Theil schon vor aller Reli-
gion voraus geht, ein Theil aber durch die Religion sehr gesteigert wird :
und da die Religion die ganze Summa der Moralität steigert, so ist
dies ein wahrhaftig verbindender Beweggrund
30 §. 22. Religio viua est pietas: — vom Erkennen zum Wünschen
noch nicht sondern — zum Thun ist Frömmigkeit; alle Wünsche
machen zwar praktische Religion nicht aber Frömmigkeit
§. 28. Auch wenn die Religion zwar offenbart ist, aber aus natür-
lichen Kräften befolgt wird, so ist sie noch immer natürliche Religion,
35 blos auf die geoffenbarte angewandt: — Eine übernatürliche ist
die, wo das praktische unmittelbar von Gott gewirkt wird: — In so
fern die Erkenntnis von Gott nicht einen Zusammenhang mit dem
Praktischen hat : — so sind sie insofern nicht Religions Erkenntnisse
20 Vorlesungen über Moralphilosopliie
— sondern blos Theologische. Also kann vieles in der Theologie nicht
Religionswahrheiten seyn: ob wohl vielleicht die beste angenehmste
Theologie seyn. — z. E. kann Gott waz vernichten ? etc. etc. — aber
die waz will Gott, daß ich glücklich werde, ist Religionsfrage: —
selbst im Vortrage der christlichen Religion sollte man einen Auszug 5
vor gewiße leute mit Sorgsamkeit machen : da man ihnen nicht Wahr-
heiten vorträgt die bei ihnen (vielleicht nicht bei andern) Spekula-
tionen bleiben würden: sondern die praktisch werden: sonst ent-
schuldigt hier der ehrwürdige Gegenstand nicht.
§. 33. Wenn Irrthümer zwar die Theologie vielleicht; aber nicht 10
Religion angehen, so darf man sie nicht stets so sorgfältig überwin-
den, wenn diese Ueber Windung größern Schaden anrieht
34) Eine Unwißenheit die wenig Schaden bringt, ist eben nicht
Schande; sie ist so gar nützlich im Praktischen, so kann sie zum
lobe dienen : — 15
35) Die Grob- und Feinheit kann immer in dem 2. fachen Verstände
seyn in der Theorie und Praxis. Sucht bei der Erziehung insonderheit
die Grobheit im Moralischen zu verhüten: — kann es seyn; so auch
in der Theorie: in der Moral aber muß der gemeine Mann mit dem
Theologen gleich große Erkenntnis haben : — bei der Erziehung da 20
beide so schwer zu verbinden sind : so sucht doch lieber die Moralische
als die logische VoUkommenheit.
Eine Sophisterey in Ansehung der Theologie, so fern sie blos aus
Wiedersprechsucht komme, ist so böse, wie in jeder andern Wißen-
schaft: — in der Religion ist sie Gottlos. 25
15 /§. 38. Deismus (z. E. Robinet) ist, wenn man die ganze Theo-
logie und Religion in der Erkenntnis eines Etwaz sezze, von dem ich
weiter nichts wüste, als daß es sey : das übrige sey blos Anthropomor-
phismus. Solches Erkenntnis von einer einzigen Ursache ist völlig
unbrauchbar, nicht blos unpraktisch, sondern auch unnütz, weil wir 30
sie stets entbehren können : —
Deist, wird uneigentlich auch von den Naturalisten gebraucht, da
sie blos so viel, als die Vernunft sagt glauben: noch uneigentlicher
(z. E. vom Hume) von den Quäckern, die blos die Offenbarung vor
ein Erkenntnis Mittel Gottes halten : — 35
Fatalist, der die Wirkung Gottes nicht aus seiner Freiheit sondern
Nothwendigkeit herleitet
Dippelianer komt blos auf den Doppelsinn im Wort beleidigen
Praktische Philosophie Herder 21
39. Enthusiast, und Fanatiker — Viele halten oft Phanta-
stereien und eigne Urteile vor Empfindungen einer göttlichen Ein-
wirkung, und heißen alsdenn Schwärmer, Fantasten, Phanaticer:
z. E. Johann von Leiden, der auch großmüthig starb: — Quäcker:
5 die vielleicht durch ihr Augenzusammendrücken vielleicht Gehirn-
nerven anstrengen: — Enthusiast, der durch eine allgemeine
Maxime über die Vernunftschranken wirksam wird z. E. Enthusiast
ist der große Patriot, der vor das gemeine Wesen — und waz ist dies ?
— brennt: — ein sehr Verliebter und Geiziger brennt auch wohl, aber
10 nicht durch eine allgemeine Maxime, sondern besondre Empfindung
und heißt also nicht Enthusiast : — so erhöhen Romane die Freund-
schaft über den Grad der Vernunft : — so gibts auch in der Religion
solche, die aber schwer von dem ardentiori habitu religionis zu unter-
scheiden sind, weil unsere eigne Kälte hier ein schlechter Maasstab ist :
15 und so eine Enthusiasterey ist lange nicht so tadelhaft, als die ent-
gegengesezte Kälte, da sie wenigstens die brennende begierde anzeigt :
— Indessen hält er, da er es blos in einigen Stücken ist, von andern
nöthigern Stücken ab: und ist denn tadelhaft z. E. die Bilderstürme-
rei : — Ein Enthusiast darf also nicht unmittelbare göttliche Einwir-
2okung glauben; Fanatiker aber wird blos daher schwärmerisch:
Der Autor verwechselt beide, und hält sie blos im Grad unterschie-
den: — — z. E. ein holländischer General Overkerker war überall
Enthusiast, bei sonst großen Verstandesgaben: aus Enthusiasterey
sprang er vor liebe in einen Graben: da seine Geliebte es scherzhaft
25 befahl: — Topal Osman, ein heldenmäßiger Baßa in Bagdad, wird in
Maltha gefangen: — fragt einen französischen Kaufmann, Arnold,
ob er aus kaltsinniger Großmuth ihn loskaufen und frei wollte reisen
laßen: die kühne Bitte bewegt Arnold, daß er ihn — ja sein Schiff
so gar — loskaufte; Osman kommt glücklich an; wird endlich Groß-
sovezier; läßt Arnold nach Konstantinopel kommen, der 10. Sklaven
loskauft, und ihm zum Geschenk bringt; — konnte das ganze leben
durch ihm nicht gnug Freundschaft beweisen; — Enthusiasterei ist
ein Zeichen der großen Seele: Cromwell sagt: man komt nie weiter,
als wenn man nicht weiß, wie weit man gehen soll: — Sie zeigt eine
35 feine Leidenschaft, die durch Maximen so feurig gemacht werden
kann: und diese ist mit andern großen Trieben gemeiniglich ver-
bunden: — Daher auch Enthusiasten der Ehre (ob diese gleich viel-
leicht die gefährlichste seyn kann so wie Alexanders große handlung,
wenn es bloß Muth wäre gegen Philippo den Arzt, gefährlich ge-
22 Vorlesungen über Moralphilosophie
wesen) gemeiniglich große Leute sind: und Alexanders Handlung
ist groß weil er an seiner Treue nicht verzweifelte: — Bey allen
unsern guten handlungen muß Enthusiasmus seyn — der Kalte wird
vor Fehltritten und großen Dingen die Ueberwindung kosten gleich
entfernt : — Der Enthusiasmus kann in Ansehung einiger Folgen zu 5
weit gehen, in Ansehung anderer billig lebhaft seyn —
16 / Die Enthusiasten verkühlen sehr bald und ihr Schaden ist
also zwar schnell, plötzlich aber nicht daurend und daher lange nicht
so gefährlich: als kalte falsche Grundsätze, z. E. Aberglauben: — bey
freien Nationen sind also insonderheit Enthusiasten z. E. England, lo
Deutschland — (in hoUand selten, da das hauptprincipium waz sie
feßelt der kalte Geiz ist).
Schwärmer sind Verrückte am Innern Sinn: die Eingebungen
sich einbilden: z.E. Major Davell der liebenswürdigste Mann,
bildete sich unmittelbar Gottes Stimme ein ; der mit seinem Chor, is
wie Josua die Religion erheitern wollte, und dem Staat zum besten
als Schlachtopfer aufgeopfert wurde : — der unschuldigste Märtrer ! —
Hier hilft keine Vernunft wider sinnliche Empfindungen ; und sie sind
also Mitleidenswürdig ; blos dadurch zu beßern, daß man sich nicht
lange drüber mit ihnen unterhält ; gleichgültig sich bezeigt : denn 20
dadurch verkühlt er selbst
§.42. Die Religion kann die gesundeste Vernunft machen: da
sie die Verstandes Kräfte auf so nüzliche Dinge richtet als nöthig ist,
dazu, daß die Religion in mir leben kann: und sie von Spekulationen
abzieht: die vielleicht feine aber unnutze Vernunft machen können. 25
§. 43. Da wir nie eine unmittelbare sondern blos mittelbare Emp-
findung von Gott haben, durch Schlüße : so geht dies nach der Natür-
lichen Religion nicht an, aber läßt es der Geoffenbarten Religion als
möglich zurück, daß sie so ein unmittelbares Anschauen von Gott in
mir macht, als ich unmittelbar von den Dingen der Welt abhänge, so
und ich dies nicht als ein Philosophisches Urteil sondern Empfin-
dungsbegrif einsehe, hier scheidet sich völlig Natur und Offenbarung
und das experiri des Autors ist in der Ethick nicht möglich : —
44. Alle Enthusiasterei ist schwer zu verhüten, daß man nicht
zugleich in die entgegengesezte Kälte fiele : — Aber in Entscheidun- 35
gen der Spekulation muß sie vermieden werden, da Leidenschaften
nicht Meinungen wiederlegen und angehen sondern in Absicht des
wahren stets bhnd sind; ob sie gleich in Absicht des Praktisch
guten nutzlich seyn kann: —
Praktische Plülosophie Herder 23
45. Wenn Pietisten bei jedem Gespräch und Discurse die Idee der
Religion zur herrschenden machen und es nach ihrem beständigen
Betragen zu schließen ist, daß diese das licht der Neuigkeit ver-
lohren habe: so sind es nur Schwätzer. Wäre aber dieser Seelen-
5 zustand in dieser Welt unser so würde es der allerseligste seyn.
46. Sucht insonderheit die Idee Gottes mit eurer Moralite bestän-
dig zu verbinden: Zuerst mit deinem natürlichen Moralischen
Gefühl, daß dein unmittelbares Gefallen am Guten in dem licht
Gottes Religion werde: — Suche auch in dem Grunde der Seele die
10 Idee von Gott herrschend zu machen Dies ist schwer: wenn sie
aber in klaren Ideen stets prädominirt, so geht sie auch in die dunk-
len über
47. Das Vernünf tlen ist der übertriebene Gebrauch der Vernunft
in Sachen wo es 1) unnöthig ist, den Grund davon einzusehen: —
15 (weil vielleicht vor andere Wesen aber nicht vor uns diese Wahrheit
mit dem moralischen zusammenhängt) 2) wo es uns übersteigt und
also unmöglich ist: — Doch nenne man nicht einen dummen Beifall,
eine noble Theologische Einfalt: da ich nie auf Vernunft-
gründe denke, sondern blind zutraue und irre: — Der Gebrauch der
20 Vernunft in der geoffenbarten Religion ist vorzüglich : das Ganze der
Religion zu beweisen: — von besondern einzelnen Dingen über die
Möglichkeit philosophiren zu wollen, ist unnöthig
56. Moralisch heißt eigentlich waz der Regel der Sittlichkeit ge-
mäß, auf die lenkung meines Willens einfließt: und also heißt das
25 sehr uneigentlich und also gar nicht Philosophisch — Moralisch
gewiß, was der Mathematischen Gewißheit entgegengesetzt, einen
großen Grad der Wahrscheinlichkeit hat. / Indessen ist diese Mora- ir
lische Gewißheit wo sie es irgendwo ist, in der Religion nothig :
47) Diese Erfahrung ist, so vortreflich sie ist, vielleicht gar nicht
30 durch die Natur, sondern blos durch die Offenbarung moghch.
49. Das Pyrrhonistische : non liquet! soll als ein weiser Orakel-
spruch unser leeres Grübeln einschränken, uns beschwerlich machen
und vereckeln : — aber ein Skepticißmus in der Religion erschüttert
ihre Grund veste.
35 63: Bey göttlichen Erfahrungen nimm dich vor dem vitio sub-
reptionis in Acht! — Dieser ist bey einigen Erfahrungen gewöhnlich
und leichter als bei andern : — bei dem hellen Tage sich zu irren, ist
fast ungewöhnlich — aber bei innern schwachen Erfahrungen ists
leichter, und daher entstehen Fanatiker, die natürliche Erfahrungen
24 Vorlesungen über Moralphilosophie
vor übernatürliche halten, oder sich da sie welche von andern lesen,
so gar vor eigne einbilden — — — z. E. 1723. den 30. März stellte
sich Davell in Pais de Vaux an die Spitze seines Chors, um die Kirche
Christi in Bern zu läutern: — und in seinem Gefängnis selbst noch
stets sehr vernünftig, gab aber Eingebungen vor die er wahr- 5
scheinlich machte, standhaft glaubte, auch im Tode bekannte: und
als Martrer starb.
Da wir nur von dem natürlichen Gebrauch der Kräfte reden:
so ist die Entscheidung sehr schwer, ob manche plötzlich aufstehende
Einwirkungen, die zur besonderen Moralite dienten, übernatürlich lo
sind: — Aber nach der Regel der Philosophie werde ichs stets aus
bekannten Gesezzen — nach der Natur Ordnung erklären: da es
eine natürliche Religion seyn soll: — ob es gleich aus besondern
Gesezzen, außer der Naturordnung auch möglich ist: — Indessen
wird in der Natürlichen Religion auch ein Fanaticer sehr unge- is
wohnlich seyn. —
64.) So wie Mahomet wahrscheinlich im Ganzen ein Fanatiker und
blos in einigen Theilen ein Betrüger gewesen: weil seine Frau auch
nach seinem Tode wirklich so strenge lebte etc. so gibts auch Legen-
den die bewundernswürdige Geschichten in sich enthalten, die 20
theils fanatisch theils heilige Betrügereien sind: z. E. der heilige
Gregorius wurde torquirt: — der hoff wurde in Schweine verwan-
delt: — die er nach Bekenntnis der Sünde taufte, und sie in schönere
Menschen verwandelte : —
65.) Die Neigung des Menschen zur Ungebundenheit und Ab- 25
neigung von der Wahrheit oder Eitelkeit — oder Mode — oder
Flatterhaftigkeit kann Unglauben machen, daß man auch wahren
Religions Zeugnissen nicht glaubt : Mehreres in der Logik ! —
68.) Verwirf nicht die symbolische Erkenntnis von Gott: weil
wir uns von keiner Sache, die nicht in die Sinne fällt, einen intui- 3o
tiven Begriff machen können, außer dem Wege der Symbolen: —
Die Quäcker verwerfen die symbolische Erkenntnis Gottes, und
wollen von innen intuitive Erkenntnis haben, da sie doch die Rüh-
rungen z. E. vom Erhabnen der Versammlung und des Feierlichen —
die Convulsionen des Körpers — eine gewaltsam bestrebte Anfeurung 35
vor Andacht und Intuition halten. —
Die Symbole von Gott sind nicht stets Worte, sondern auch
ähnliche Sachen z. E. Er wird dem Fürsten, Vater etc. verglichen.
Da sie aber der Grund von Intuition ist, und praktisch lebendig
Praktische Philosophie Herder 25
werden kann: so muß man sie nicht vor einen todten Buehstal)en
halten :
69.) Der Verstandes Intuitus ist eigentheh blos uneigentHch: —
da ein intuitus qua talis blos durch Sinne ist: — Die Erbauung,
5 eine Vermehrung des intuitus Gottes, ist, ein Wort der geoffenbarten
Religion, in der Natürlichen Religion deßwegen fremde, weil ein in-
tuitus Gottes die natürliche Moralität blos zur Religion und zur Er-
bauung erhöhen kann : — Je mehr man aus Mitteln des Intuitus die
natürliche gute Moralität zur Religion erhöhe: desto mehr erbauet
10 man sich: — und ein Intuitus ohne Folgen ist wenigstens sehr schwach
gewesen.
/70) Man sehe die theologische theoretische Wahrheit nicht stets is
vor Spekulation an, weil sie mittelbar erbauen kann:
72.) Du sollst diesen oder jenen lieben: ist apodictisch gesagt
15 nichts: weü es eben so wenig Pflicht ist, als etwaz vor wahr zu
halten : da sie nicht eine willkühr liehe Handlung ist, sondern
eine bloße Erregung des Gefühls ist: so heißt das Gebot blos: thue
alles, waz ein Mittel dazu seyn kann: — Sonst aber kann, wenn ich
gleich die Billigkeit der liebe einsehe, sie nicht stets in meiner GeAvalt
20 sejn, und oft eben so wenig wenn ich ihrer entübrigt sejoi möchte : —
Wenn ich aber in dem fehlerhaften Zustande der Kaltsinnig-
keit mich wahrnehme: theils gegen Gott, meine Wohlthäter, meinen
Bruder, der mich liebt: so suche ich die Moralischen Eigenschaften
mir einzudrucken, die zur liebe reizen: z. E. bedenlve insonderheit
25 daß dich Gott liebt (blos diese Bemerkung macht schon liebe) daß
Menschen deine liebe mit Rührung annehmen können: so liebe sie
als Objekte, einer von den sanftesten Trieben
73) Sezze dich, um den concursum diuinum zu empfinden, in
mögliche schlechtere Umstände, so wirst du deinen eignen desto
30 beßer empfinden
75.) Wir können uns so fern wir alle Handlungen Gottes, als die
besten Mittel — zum besten Zweck — der Glückseligkeit betrachten :
völlig beruhigen: — Die große Veränderlichkeit der Dinge, und die
Stürme meiner Leidenschaften kan der Gedanice am besten trösten:
35 ich bin in die Welt — gesezt — von der grösten Güte gesezt: —
nicht um meiner selbst — und so ungewiß die Ordnung der Natur ist :
so ist sie doch unter dem höchsten Wesen: — und auf die Art kann
also blos die Religion völlig beruhigen: da auch ein natürlich
26 Vorlesungen über Moralphilosophie
guter und moralischer Mensch bei dem blinden Schicksal stets
zittern muß : —
77.) Da alle Handlungen Gottes 1) nicht eigennützig seyn können
2) zur Glückseligkeit abzwecken: und also wirklich Wohlthaten
sind: so erregen sie eben dadurch Dankbarkeit — und ein jeder, 5
der zu keiner uneigennützigen Wohlthätigkeit empfindlich ist, wird
auch zum Dank unempfindlich seyn und vice versa weil wenn er
nicht das edle des Wohlthuns fühlt, bei eignen Handlungen, wie
wird ers bei fremden haben ? und auch für Gottes Wohlthaten wird
niemand Dank empfinden, der nicht selbst des Wohlthuns Schön- lo
heit fühlt z. E. das vortref liehe Gefühl eines Sommerabends wird
bei Wohlthätigen blos wirksam seyn : —
Die Liebe ist zärtlich, die dem Gegenstande der Liebe zu gefallen
sucht: — eigentlich ist dies die bulerische Liebe. Eigentlich ist
amor teuer, quo quis amatum laedere, admodum reformidat: das is
Bulerische sezt nicht Hochachtung voraus wohl aber das zärt-
liche : waz nicht blos den Andern sich zum Gegenstande der Lust
machen will: — so wie jenes: sondern etwaz Edles der Denl<:ungsart
voraussezt: — der Mangel der Liebe beleidigt nicht an sich: da er
blos etwaz schönes aufhebt: — wer die Zärtlichkeit aber als ein 20
Recht ansieht, waz er schuldig ist, und also aufzuheben fürchtet,
beleidigt. — Das Bulerische ist auch bei läppischen Personen und
oft sehr gefällig: aber mit einem Mangel der Hochachtung: — der
zärtliche Liebhaber zeigt Respekt, und will seine eigne Hochach-
tung erhalten, ist also nicht so lachend, nicht blos gefällig: — 25
Das bulerische, ja selbst das Zärtliche muß bei der Liebe gegen
Gott wegfallen: da beide sehr anthropomorphisch sind, und immer
eine geheime Gnade, und Gunst voraussetzen: Sie sind aber blos
die gröste Schuldigkeit und also der gröste Grad der Zärtlichen liebe,
doch ohne Namen des Zärtlichen — Die Resignation des göttlichen 30
Willens ist so nöthig, da wir Gott die beste Weisheit und Güte zu-
trauen müssen : so sagte Sokrates zum betenden Alcibiades : Schlage
die Augen nieder und sprich: gib mir o Gott, waz das beste ist, ich
mag bitten oder nicht : —
Die Liebe zur Creatur ist immer gut, insofern man sie als Creatur 35
betrachtet: — und die abgöttische Creaturliebe ist blos der aus-
schweifende Grad
1» /Wenn man in das innerste seiner Seele aufrichtig geht: so wird
man vielleicht nicht Liebe finden, sondern Hochachtung, Ehrfurcht,
Praktische Philosophie Herder 27
die von der Größe entspringt, und mehr Furcht als Liebe zur Folge
hat: Das Moralisch Schöne Gottes und seine Gütigkeit ist in uns
weit minder lebhaft, weil wir 1) als Murrköpfe, gewohnt sind, Gott
unser böses zuzuschreiben: 2) da man sich dunkel vorstellt: daß
5 Gottes Wohlthaten ihm ja gar wenig liebe vielleicht gekostet: — weil
wir unsere eigene Tugend, die stets zu überwinden hat, als
Maasstab, annehmen: und da die nicht bei Gott ist: so trauen wir
ihm auch wenig Gütigkeit vielleicht zu! Die Welt kostete ihm ein
Wort etc. etc. und da Gegenliebe stets liebe voraussezt, so ist unsere
10 natürliche liebe gegen Gott so schwer, und klein; indessen durch
die angenehme Rührung, daß ohne unser Verdienst so viel Wollust
auf uns strömt, wandelt etwaz ähnlich der Liebe uns an : — Bios die
geoffenbarte Religion trägt uns eine Liebe Gottes, vor, die ihm
Ueberwindung gekostet hat, und also gut verstanden zur Gegenliebe
15 reitzen kann! — —
Das Mistrauen auf Gott: — hätte ich von der Gütigkeit
Gottes keine andre beweisthümer außer dem Naturlauf, so wäre das
LTteil darauf sehr mißtrauend, da ich im Menschlichen Leben eine
beständige Verwickelung und — das Gegenteil des Guten wahr-
20 nehme: — ich suche also nicht aus einzelnen Fällen den all-
gemeinen Begriff der Gütigkeit überhaupt zu bestimmen: da
ich blos jede Handlung alsdenn zwar als Probstücke der Gütigkeit
einzeln betrachte : aber nicht die ganze Glückseligkeit meines ganzen
Daseyns daher folgern kann: und es wird eben so ohne Mistrauen
25 auf Gott seyn können, wenn ich ihm nicht die Erfüllung einzelner
Wünsche zutraue: ich kann z. E. bei meiner Rechtschaffenheit viel-
leicht lange unglücklich sejni. Es ist also das Vertrauen auf Gott:
blos im Ganzen unsers Lebens, nicht aber bei äußerlichen ein-
zelnen bestimmten Fällen: sonst kann es Versuchung Gottes wer-
30 den: Gott wird im Ganzen, am Ende des Alls, alles gut machen, als
das gütigste Wesen; ohne die Fälle zu bestimmen, worinn sich just
nach unserem Vorwitz Gütigkeit beweisen soll: — Kurz! mein
ganzes Daseyn werde ich einst mit Zutrauen ansehen können : das ist
Zutrauen auf Gott !
35 Es ist ausschweifend, wenn man bei einzelnen Fällen, der Güte
Gottes als bestimmt durch meine eigne Absicht vertraue : und es ist
deßwegen eine Versuchung Gottes, weil ich glaube, durch meinen
Wunsch den Fall bestimmen zu können wo die Güte Gottes sich just
beweisen soll: = Eine heirath bei einem schlüpfrigen Auskommen
28 Vorlesungen über Moralphilosophie
kann nicht durch das Vertrauen auf Gott bestimmt werden: weil
Gott eben so weise, so gütig seyn könnte, wenn er mich auch darben
ließe: — das lezte sehe ich alsdenn, weil wenn mein Wunsch sich
trüge, ich thöricht nicht sagen könnte : seine Güte würde ab (bricht
ab} ä
Versuchung Gottes ist also ein Schein vertrauen, da man vor-
witzig sich in die Maasregeln Gottes mischt, und ihm den Fall be-
stimmen will, Güte zu beweisen! Welche Vermessenheit.
Das wahre Vertrauen ist also stets mit Selbstverläugnung ver-
bunden, da ich stets überzeugt bin, ich könne bei keinem einzelnen lo
Falle die Maasregeln seiner Güte bestimmen: und das gröste Ver-
trauen ist eben mit der grösten Resignation verbunden: weil ich
Gott im Ganzen noch immer die gröste Güte zutraue, ob ich gleich
in keinem einzelnen Falle sie zu bestimmen getraue : — hingegen ist
eine Versuchung Gottes das gröste Mißtrauen, weil ich gleichsam i5
einen einzelnen Fall zum Kennzeichen zur Probe seiner Güte nehmen
will: — Hier hat man 2 Ordnungen 1) die Ordnung der Natur die
auch zwar ungewiß ist: aber comparative doch wahrscheinlich
2) außerordentliche besondere Direktion Gottes: diese ist ganz ver-
borgen: und da ich jene alsdenn vorbeigehe, die gewiß und vor Augen 20
ist, um hier eine besondere Gefälligkeit von Gott durch dies beson-
dere Vertrauen heraus zu locken: so ist sie sehr verwegen, und nie
20 ein Vertrauen / auf Gott sondern vielmehr ein Vertrauen auf sich
selbst: da man sich Weisheit zutraut, Gottes Güte bestimmen zu
können: da hingegen ein Vertrauen auf Gott, mit Resignation seines 25
eignen Willens, desto vester ist, und also muß die Resignation total
seyn — und ich im Ganzen Daseyn Gott das beste zutrauen dabei
alle Einzelne Falle aufgeopfert werden: — Ein jeder Unterweiser;
insonderheit des besten, einfältigsten, und grösten Theil des Publi-
kums, des Pöbels : muß also von diesem speciellen Zutrauen zu 30
reinigen suchen: — Exempel eines Vaters, der im Ganzen das beste
seines Kindes sucht; aber stückweise sich nicht vorschreiben lassen
kann : z. E. reiten zu laßen : — Diese betrachtung ist eine der lehrreich-
sten, da das falsche Vertrauen so viel Schaden anrichtet, weil Menschen
nicht blos aus Faulheit die Mittel weglassen zum Glück: sondern 35
aus dieser falschen Maxime: die sie mit falschem Namen einer Kind-
lichkeit geschmückt, fast nie aufhört, sondern wenn sie einmal betro-
gen hat, auch fehlschlägt Wäre dies leben blos : so wäre es fast
Praktische Philosophie Herder 29
am besten : an Gott gar nicht zu gedenken : sondern vernünftig nach
der Ordnung der Natur zu handeln: — Kanäle zu Amtern zu er-
werben — sich im einzelnen mit der Kopfbrecherei von Gott nicht
zu quälen: — Da aber mein jetziges Daseyn — ein Theil meines
5 ganzen Seyns ist, das eine Güte gesezt hat: wo werde ich einen
Theil, als ein ganzes bestimmen können: so kurzsichtig das Ganze
des Guten ausmachen: —
§. 85.) Das faule Vertrauen, ist sehr grob, und boshaft, wenn
Gott nach der Ordnung der Natur ohne unsere Mittel Zwecke geben
10 soll: Es gibt aber auch ein feineres, wenn man aus der übergroßen
lebhaftigkeit des Vertrauens auf Gott die Geschäftigkeit etwaz ver-
gißt, die nach der Naturordnung ein Mittel seyn muß. Solche sind
alsdenn in den meisten Handlungen sehr läßig: —
§, 86.) Das heuchlerische Vertrauen ist entweder äußerlich und
15 grob; oder innerlich und fein, da ich Gott gleichsam ein blend-
werk mit meinem Innern Vertrauen machen will : diese Heuchelei ist
fast die ausgebreitste in aller Menschen Herzen : — Sie affektiren ein
Zutrauen, um Gott zu locken, daß sie einst ein reelles Zutrauen haben
könnten: = = Der Trieb der Menschen, nach der Naturordnung zu
20 handien, der aber noch böse Fälle besorgt, fingirt eine Conformität
mit seinem Willen, um ihn treuherzig zu machen: — Diese feine
Heuchelei sollte in der Theologischen Moral mehr auseinandergesezt
werden. — Das Vertrauen in Moralischen Dingen ist das edelste und
höchste, da es auf etwaz gewißes geht! — Das falsche Vertrauen ist
25 1) entweder vorwitzig, da er den Fall bestimmen zu können ver-
meint : so groß es scheint, so klein ists, und noch kleiner, als der
Zweifel in einzelnen Fällen der Gott im ganzen vertraut.
2) oder faul, das vorwitzig auf Gott vertrauend, noch so gar die
äußern Mittel verachtet: und dies ist noch gröber, da alsdenn
30 der Fleiß, der von Gott gesetzte Ordnung der Natur ist, ver-
nachlaßigt wird: — Es kann entweder 1) in Moralischen
Dingen seyn, da ich glaube, Gott werde meine Moralische Voll-
kommenheit ohne meine eigne bemühung steigern: so wie hin-
gegen der Mangel an Vertrauen, daß Gott unsere Moralität ver-
sa beßern werde: uns verzweifelnd machen kann, oder auf unsere
Kräfte gar zu sehr pochend, ohne daß wir Gott dazu ziehen. —
hingegen das faule Vertrauen, waz nie selbst nach der Ordnung
der Natur an der Moralität arbeitet, ist eine Versuchung Gottes ;
die sehr gemein ist: immer auf unmittelbare Einflüße wartet,
30 Vorlesungen über Moralphilosophie
sehr devot klinget, verblendet, aber sehr zu Fehltritten ver-
leitet : Denn schon in der Natur Folge liegen sehr viel Mittel zur
Verbeßerung: ob Gott auch gleich selbst zu dieser Verbeßerung
concurrirt als einem großen Stück meiner künftigen Seligkeit;
oder 2) in Unmoralischen Dingen: da bei diesem Ver- 5
trauen, wenn es wahr seyn soll, immer eine Art des Zweifels (be-
sonderer Stücke) seyn muß: und dadurch recht allgewiß wird
(im Ganzen: durch die ganze Idee: und vollige Resignation).
86) Wenn ich Gottes Willen in irgend einem äußern Fall nicht
weiß: so folge ich, nach der Naturordnung, meinem eignen Willen; lo
als der Richtschnur die mir Gott zu Handlungen gibt : — Gibts aber
außer meinem Willen noch einen besonderen göttlichen Willen:
so muß ich dem folgen: — Sezzt einen alten Mann, unheilbar, ge-
wißem Elende ausgesezt: nach der Ordnung ist hier eine Selbst-
verkürzung des Elendes so natürlich als die Abschneidung eines i5
21 todten Armes: — / Aber da dies das ganze meines Daseyns anbetrift,
das ich nicht setzte sondern durch eines andern Absicht, die ich nicht
einsehe, und der ich also nicht entgegen handeln muß, weil ich als-
denn am thörigsten handle, dem zuwider zu handeln, der geheime
Absichten mit mir hat etc. — Daher wäre der Selbstmord erlaubt, 20
nicht blos wenn Uebel das Gute überwiegen: sondern die langeweile
es überdrüßig macht, wenn wir nur nicht durch einen andern
wären, sondern aus Epikurs Atomen von ungefähr entstanden
wären.
Die Anbetung (das adoriri) ist ein höher Gefühl der Ehrfurcht, 25
im Verhältnis des großen zu uns :
1) Die unmoralische Ehrerbietung reverentia kann blos durch das
Gefühl des Großen, des Erhabnen gegen meine Niedrigkeit und
Staub
2) Die Moralische Ehrerbietung adoritum kann blos durch das 30
Gefühl des Großen, des Erhabnen an einer Person etc.
Ein jeder der einen subtilen Anthropomorphismus hegete, wäre
ein Abgötter: aber er wird nicht so genannt, wenn er nicht mora-
lische Eigenschaften sich in Gott falsch gedenkt: — die Un-
moralität z. E. Menschlicher Körper mit der höchsten Güte gepaart, 35
kann vielleicht ein Irrtum seyn — etwaz theologisches — aber nicht
ein Religionstheil, und also auch keine Abgötterey, da sie nicht
praktisch ist so fern sie blos falsche Spekulation ist: — z. E. Jupiter
der Ehebrecher angebetet ist abgötterey: Jupiter blos Mensch
Praktische Philosophie Herder 31
ist in so fern nicht abgöttisch = = Der andre begriff der gemeiner
ist von dem Götzendienst, ist der, da man etwaz außer Gott anbetet,
waz ihm ein Zeichen des Dienstes seyn soll. (Sonst ist wenn ein blos
theologischer Irrthum schon Idololatrie wäre, die Abgötterey allen
5 Menschen und Philosophen gemein) die gemeine Abgötterei verdirbt
aber die Sache selbst sehr, da ich Gott mittelbar in einem Zeichen
anbete, da doch 1) nichts ein Zeichen von ihm seyn kann 2) er blos
unmittelbar verehrt werden kann und soll, da seine Allgegenwart
es stets will: und ich alsdenn, wenn ich einen Diener in Gegenwart
10 seines Herrn anbete, auch als Zeichen, wirklich doch etwaz anders
und ihn also gar nicht selbst anbete.
Furcht 1) Kindliche — ist blos die Zärtliche liebe gegen Gott:
teuer : die äußerst bekümmert die beleidigung verhüten will :
und jede Zärtlichkeit ist also mit Ehrerbietung, mit Ernsthaftig-
15 keit, mit Furcht verbunden: — Die Zärtliche liebe ist nicht
gegen alle Menschen kindlich: sondern von Eltern hergenom-
men, die man in einem hohen Grade ehrt, und ihr Mißfallen äußerst
verhütet: — nicht aus Furcht der Strafe sonst knechtisch —
sondern aus Verhütung der beleidigung — Diese verhüte ich nicht
20 mittelbar: (wegen der Strafe) sondern unmittelbar (und wenn
einer auch nie strafte)
Ehrfurcht sezt Hochachtung voraus: und diese das Gefühl am
Erhabnen in den Moralischen VoUliommenheiten : so wie liebe den
intuitus der Moralisch Schönen Vollkommenheiten voraussezt: —
25 Das Erhabne ist eine Vollkommenheit, die vom Schönen unter-
schieden wird : und in beiden können die Vollkommenheiten entweder
Moralisch oder unmoralisch rühren: — Die Rührung durch eine
Moralisch voUkomne Erhabenheit ist Hochachtung: sie sezt nicht
stets liebe voraus: weil der Grund von beiden sehr verschieden ist:
30 ja die Hochachtung kann die liebe so gar verdrängen, wenn das
Moralisch Erhabne des andern sehr mit unsern Eigenschaften zu
collidiren scheint, und wir ihm nicht die gehörige Güte in Absicht auf
uns zutrauten : — so komt oft ein ernsthafter Geistlicher, der unsere
Hochachtung reizt, sehr ungelegen in eine Gesellschaft, wo das
35 Schöne das Übergewicht hat. die liebe will nähere Vereinigung; die
Erhabenheit scheucht uns ab: — So haben wir meistens die gröste
liebe gegen solche die wir wenig hochachten z. E. das weibliche
Geschlecht, dem wir auch wegen seines Schönen seine Schwächen
verzeihen, ja so gar lieb gewinnen: — So kann auch gegen Gott
32 Vorlesungen über Moralphilosophie
hochachtung seyn ohne ihn zu Heben: so wie ein Mißethäter seinen
gerechten Richter vielleicht sehr hochschätzt; aber nie liebt. Die
Ehrfurcht ist eine höhere Hochachtung, und also an sich nicht mit
•>r> liebe vermischt: — da sie aber gemeiniglich / mit einer Besorgniß
verbunden ist, ihn nicht zu beleidigen, so entspringt hieraus der wahre 5
begrif der Ehrfurcht: die recht völlig auch von der Furcht unter-
schieden, da wir nicht das böse , waz er uns erweisen könnte, sondern
das waz wir selbst thun, verhüten: — Die Furcht Gottes ist also
von der Furcht vor Gott ganz unterschieden da diese eine knech-
tische ist, die gar nicht die hochachtung vermehrt, sondern so gar lo
die liebe verringert: denn so bald wir jemanden uns zuwider sehen:
so wird ein Grad der liebe aufgehoben: wer liebt einen, in so fern
er mich straft ? — Die Furcht Gottes (d. i. die Ehrfurcht) ist
kindlich: und die kann mit liebe bestehen, weil sie das Mißfallen des
andern sehr verhütet: und die kindliche Furcht Gottes ist also 15
eine Ehrfurcht mit liebe verbunden: — Das Mißfallen ver-
hüten wir wegen seiner schönen und erhabnen Eigenschaften: nicht
aber in so fern aus Furcht; sondern vor uns selbst: da wir uns im
Gegenteil verabscheuen würden.
89) Der Mangel hieran kann also seyn: an der Furcht vor Gott 20
und an der Furcht Gottes : beide sind sehr verschieden: — zu tren-
nen: und jenes ist noch weit ärger = die knechtische Furcht ver-
abscheut Handlungen der Strafen wegen, und ich fürchte einen
knechtisch, den ich wegen eines zu besorgenden bösen scheue. Diese
vertilgt die Liebe : und man verhüte sie also in zärtHchen Gemüthern, 25
da das Schreckliche immer weit tiefer sich eingräbt, und auch nach-
her bei schönen Eigenschaften nicht völlig weicht: — Die Men-
schenfurcht ist wieder entweder vor Menschen, oder der
Menschen: jene fürchtet das böse der Menschen mehr, als Gottes:
diese hält Menschen höher mit Ehrfurcht, als Gott, z. E. einem Ehr- 30
furchtsvollen Könige nicht und Gott lieber mißfallen wollen ist die
leztere Menschenfurcht; und ein Ruchloser, der nachMettrie Lehren,
blos Rad und Obrigkeit scheut, beweist die Furcht der Men-
schen: — Die leztere ist kein moralischer, sondern politischer
Fehler : so wie die Furcht ihr Gegentheil nicht Moralität sondern blos 35
Ueberlegung voraussezt : — Der erstere ist aber moralisch : so wie die
Ehrfurcht über Moralische Eigenschaften ist: —
90.) Nicht ein jeder, der eines Gebote erfüllt, gehorcht ihm
deßwegen: wenn ers nicht deßwegen erfüllt, weil ers geboten hat:
Praktische Philosophie Herder 33
So erfüllen die Menschen viele göttliche Gebote aus eignem Antriebe
— durch ihr eignes Moralisches Gefühl — und doch mit dem falschen
Glanz eines Gehorsams : — Ja oft komt das Urteil über die Göttliche
Gebote so entbehrlich dazu, da es per subreptum doch vor den
5 wahren Grund gehalten wird — — Der allgemeine Gehorsam
scheint so lange in uns unmögHch zu seyn — als nicht die Erkenntnis
von Gott die herrschende Idee in uns ist : und im künftigen Zustande
wirds vielleicht so seyn, da alsdenn sich alles übrige sehr leicht
unterordnet.
10 91.) Der Ungehorsam ist entweder priuativ oder negativ — dort
fehlt die gnugsame lebendige Einsicht des götthchen Willens, hier
zeigt sich bosheit: Triebfedern die jenem reaHter opponirt sind; —
und diese macht die Empörung gegen Gott aus: die also eine große
Erkenntnis des götthchen Willens: und große Triebfedern da-
15 gegen voraussetzt : und insonderheit eigentlich — wenn man eine Hand-
lung in der Absicht thut: Gott zu mißfallen: z. E. die RebeUion
der gefallnen Engel, analogisch nennt man auch Menschen
Rebellen Gottes, die etwaz, wie wohl zu andern Absichten thun, ob
sie gleich Avissen, daß es Gott mißfäUig ist: — aber uneigentlich
20 da wir von der bosheit der gefallnen Engel blos in Absicht Gott zu
beleidigen, keinen begrif haben, und eine Blasphemie eines ver-
zweifelnden Menschen eine geringe Annäherung dazu ist, die endhch
aber vielleicht ein habitus werden kann. — Die Rebellion ist eigent-
lich nicht im Menschhchen Herzen : da das Wiederstreben Gottes aus
25 Grundsätzen und Absichten unmittelbar ihm kaum zuzutrauen, weil
er sich so nicht verwirren kann : gegen Gott etwaz seyn zu können :
92 Im natürhchen Zustande können Menschen Gott kaum nach-
ahmen: da Nachahmung Ähnlichkeit voraussezt: die leztere
aber ist bei / einem unendlichen Gesezgeber und seinen endlichen 23
30 Untergeordneten so versch-windend, daß etc. Aber das Morahsche
Gottes, wenn wir das nachahmen ? — Ob bei der Erfüllung des
Willens Gottes auch die Nachahmung ein beweggrund seyn soll, ist
Spekulation da sonder dem die Ähnlichkeit nicht recht bestimmt
werden kann: — die übernatürliche Religion macht hier durch die
35 Einwirkung Ausnahme etc.
93. Das bitten, da ich etwaz nicht von jemandes liebe; sondern
GemächHchlceit (durch ungestüme bitten) oder Eitelkeit verlange ist
uneigentlich — daher die Anruffung Gottes etc. So wie das
wahre Zutrauen Gottes nicht FäUe bestimmt: so ist dies eine Ver-
3 Kant's Schriften XXVII/1
34 Vorlesungen über Moralphilosophie
suchung Gottes; und waz also das Gebet ? 1) es kann ein Beweggrund
seyn zu den göttlichen Rathschlüssen über die Glückseligkeit.
Da Gott die Welt blos zur Glückseligkeit der Creatur geschaffen : —
durch dieß neue Vertrauen aber die Moralität und also Glückseligkeit
gesteigert wird : so kann es ein Motiv zu Gottes Rathschluß seyn : — 5
Ist aber das Gebet blos ein Mittel die göttliche Gütigkeit zu regen,
unsers Nutzens wegen : so ists gar nicht moralisch und also gar nicht
erhörlich. — Welche werden denn am besten Motive zu Rathschlägen
seyn können ? — das am besten mit seinen Rathschlüßen überein -
stimt, und da seine vornehmste Absicht die Moralität ist; so wird 10
ein Gebet um deren Verbeßerung sein eigner Wille, und also erhörlich
und unser Gluck seyn: Wünsche aber vor dies Leben ? — Da dies
leben ein theil unseres Daseyns ist, und Gott das Glück unseres
ganzen Daseyns will: so können wir auch in einzelnen Fällen kind-
lich auf ihn vertrauen: — Allein dies Vertrauen sey allgemein, und 15
nicht besonders bestimmend, weil blos meine leiblichen Wünsche
ein Grund seyn können, Gottes Rathschlüße zu lenlcen, nicht aber
ein zureichender Grund, sie zu bewegen in einzelnen Fällen: —
weil es thöricht wäre, zu denken — mein Wunsch könne Gottes Rath-
schluß bestimmen. — Indessen da es doch ein Grund ist; so muß 20
es geschehen: Man kann auf das aufrichtige Gebet als auf ein
Mittel, die Göttliche Gütigkeit in einzelnen Fällen dieses lebens zu
bestimmen, rechnen; aber nicht, als auf ein zureichendes Mittel
eben wegen der göttlichen Gütigkeit willen, die besser als wir alles
übersieht. — — Hier betrachteten wir das Gebet blos aus dem Ge- 25
Sichtspunkte der Klugheit: als ein Mittel zum zeitlichen Zwecke;
Sofern ist aber das Gebet nicht Moralisch, und noch weniger Reli-
gionshandlung (ob es gleich Wirkung der Religionshandlung seyn
kann) und blos das Gebet um Moralität ist Religionshandlung: als
solche muß es meiner verbesserten Moralität gemäß seyn, in Verhält- 30
nis mit Gott und seinem Willen: und alsdenn ists gemäß, wenn ich
im Ganzen Gott alles zutraue, nicht aber Fälle bestimme: ob ich
gleich das Gebet als ein Mittel ansehen kann, das vielleicht Gott be-
stimmt : — Feurt also nicht euer Herz mit gar zu lebhaften Wünschen
an : — denn endlich wird das Herz gegen die Religion kalt, wenn es 35
etlichemal nicht erfüllt wird: — Sucht auch nicht Fälle zu bestim-
men; — denn Gott weiß am besten, waz seiner Güte gemäß ist; —
Macht es auch nicht eigennützig ; alsdenn ists nicht Religion ; — Der
Nutzen des Gebets ist eigentlich auf unsere ganze Glückseligkeit
Praktische Philosophie Herder 35
gerichtet und erreichen sie nicht eigentlich einzelne Fälle : so erreichen
sie beßere: etc. — Und nie werde es eine faule Religion die leichter
dadurch zu Zwecken komt: — Dies ganze leben ist einmal durch
Menschen in Verwirrung gebracht: unser leben ist voll gesteigerter
5 Bedürfniße ; man gehe durch die Welt als Herberge : sey so gut, als
man kann: endlich wird alles gleich; — thue so viel du kannst:
setze deine Relation in Ansehung des ewigen vest: — so wie ich der
Stunden der Einsamkeit jetzo so gleichgültig als der rauschenden
Freuden mich erinnere : so wird mir einst das ganze leben seyn : da
10 werden physische Uebel zurückgelegt ergötzen; Moralische Uebel in
der Erinnerung martern: — Die Verbeßerung der Moralität sey also
dein Zweck: — das sterben lernen ist eben so viel als gut leben
lernen: und Theophrast sagte thöricht: — w^r sterben, wenn wir
kaum leben gelernt : — In der ganzen Welt ist keine Ruhe als bei den
15 Todten : — diese Betrachtung ist erhaben, gibt meinem leben Einheit
vermindert alle meine physische Uebel des lebens : — erkältet meine
Wünsche, und den Eifer der Religion die Gott immer heran ruft und
den Himmel stürmt
101. Heilige Einfalt: — Einfalt, in Sachen: — z. E. Reisekleid
20 sey nicht prächtig : — sonst ists der Einfalt entgegen : Arsenal : sey
ernsthaft: alles Ehrwürdige muß einfach seyn: — — das Erhabne
rührt blos durch Einfalt / und alle Kunst vereitelt Einfalt : — So sey 24
auch die Frömmigkeit Einfaltig; alles collidire zum Zweck: alle
Nebenabsichten werden abgesondert die entweder
25 (a) läppisch seyn was die Würde der Religion verkleinert z. E. er-
künstelte Ceremonien oder
(b) schädlich seyn z. E. die Absicht durch Religion sich bei dem
Publilcum Gunst zu verschaffen : etc.
Alle Achtsamkeit der Stände verschwindet, und oft wird das hier
30 läppisch, waz sonst ehrwürdig war : — Wenn man die Religion zwar
zum grossen Hauptzweck der Religion gebraucht aber auch zu einem
kleinen Nebenzweck: so ist dies wider die heilige Einfalt: — wenn
ich Gottes Güte als Mittel zum Nutzen brauche, so ist keine Einfalt,
da die Moralität gegen Gott unmittelbar gut ist: — Spottweise be-
35 komt der den Namen des Einfaltigen der sich der Religion so weiht,
daß er von den kleinen Kunstgriffen der Menschen abstrahirt: Ist
das wahre Verstandesvermögen nicht dran Schuld sondern Religion
die abstrahiren will und also unwißend bleibt: so wäre Einfalt
rühmlich: — so sähe Bernhard aus Einfalt Kuß vor Menschenliebe
36 Vorlesungen über Moralphilosophie
an. Durch Kunst geht Einfalt verloren: — die Un wißende sind in der
Rehgion einfältig, aus Unfähigkeit; — ein Mann aus Grundsätzen
einfältig, wo ist der ? Vielleicht gäbe es noch einen, der alles auf die
künftige belohnung einlenkt; aber auch das ist nicht wahre fromme
Einfalt: — 5
Weisheit und Klugheit sind verschieden: — Ein Mann von
vieler Klugheit kann Zwecke wählen zu denen er seine Mittel aufs
beste wählt ohne doch weise zu seyn: d. i. einen guten Zweck ge-
wählt zu haben: — Weisheit wählt Zwecke: und macht Thoren
Klugheit wählt Mittel; und im Gegenteil Narren: — Frauenzimmer 10
besitzen wenig Weisheit aber viel Klugheit und mehr als die Männer :
— ihre eigne Geheimniße zu bewahren, andere auszuforschen,
Ambaßaden zu verwalten waren Weiber besser: Aber Männer (wenn
sie nicht durch Herablaßung weibisch geworden wären) können
beßere Zwecke wählen: — Thorheit vermeiden; Nur Affekten machen 15
uns oft zu Thoren; ob wir gleich die gröste lOugheit dabei beweisen
können : — Leidenschaften sind der Weisheit am meisten entgegen : —
da sie Alberne Zwecke wählen; — — Ehre zu suchen ist nicht
Thöricht; aber sie gar zu sehr suchen ist albern, weil dieser Zweck
zwar an sich natürlich aber comparative gegen andere zu groß ist ; 20
hingegen ist der Aufgeblasene ein Narr, denn er hat hier gar
keinen eigentlichen Zweck, ob er gleich dazu gute Mittel wählen
kann: — Eine jede Absicht, die mit sich selbst implicirt, nichts ist,
macht Thoren: — Eine Absicht, Verhaltnißweise unwichtiger, macht
Alberne: — Eine Absicht, durch Mittel nicht zu erreichen, macht 25
Narren: —
So auch bei der Religion: — thorheit zeigt sich, wenn man die
kleinere Absichten nicht gnug unterordnet der Hauptabsicht z. E. —
ein Alter, der anstatt seine leidenschaften zu ordnen vor Kinder
sorgen will; — Klugheit zeigt sich in der Rehgion wenn ich die ge- 30
hörigen Mittel wähle ; der in Zwecken fehlt, fehlt gröber ; weil ein guter
Zweck zum wenigsten Moralität gut macht : Der Fehler eines Thoren
ist Moralisch größer; eines Narren Logisch größer: Jener ist unmittel-
bar dieser mittelbar, da Mittel nicht gut gewählt sind — Die Art der
Zwecke bestimmt die Moralite. 35
105. Gottlosigkeit bedeutet im Deutschen nicht blos den Mangel
der Gottesfurcht, "wäe impietas z. E. der ohne Vorstellung von Gott
auch moralisch gut ist sondern auch ein entgegengeseztes princi-
pium —
Praktische Philosophie Herder 37
Nichts ist schädlicher, als der übergroße Wcrth anderer Urteile
über uns: dieser macht blossen Schein; bei dem Wahn des Schei-
ne ns hört das Seyn auf, und bei diesem Wahn allmälich alle innere
Beweggründe: — wie aber solcher Wahn auszurotten ist, und der
5 Haupttrieb der äußerlichen Ehre : (bei dem alle Tugend aufhört, und
wenn jene auch blos concurrirt, doch so gleich verderbt) ist sehr
möglich — da sie nicht in unserer Natur liegt, so wie einige Ge-
schlechterneigungen; — Die Scham ist also ein unnatürhcher ge-
künstelter Trieb, der uns außer uns sezt: — und vielleicht (außer
10 der Geschlechterneigung, die eine entfernte Verbindung hat) ist sie
nirgends anders recht als bei der Unwahrheit — Denn wo dieses eine
laster ist, da sind sogleich alle; und wo die eine Tugend der Recht-
schaffenheit ist, da müssen alle laster ausgerottet werden, es sey denn,
daß wir sie nicht vor laster halten : — Und die Scham vor Unwahrheit
15 ist so leicht, als die verdorbne Scham vor dem Wahn anderer Men-
schen z. E. öffenthch zu reden.
/§. 121. Der casus confessionis ist sehr schwer zu entscheiden: — r«
und die Rehgionsklugheit muß wissen wenn es dienlich ist ? — Locke
sagt: im Anfange des lehramts Jesu sagte er nicht: ob er der Welt-
2oheiland wäre weil sie alsdenn eher zum Kreuz ihn gebracht hätten:
und also seine Absicht verkürzt wäre : —
Man verhüte sehr strenge die Verderbung der Grundsätze,
die verderben und verführen andre ; und dies mortificirt sehr : — und
am meisten: — Die Fehler müssen auch zwischen Freunden nicht
25verhelt werden: — ja alsdenn aufs schärfste untersucht werden: —
Wenn man seine Fehler nicht dissimulirt, so zeigt dies große Recht-
schaffenheit und beßert sehr : —
Nicht alle sind in statu confessionis — da man seinen Grad Religion
blicken läßt : —
30 123. Apostasie z. E. Spira und Julian
Blasphemie ist vielleicht, wenn sie aus dem Grunde des Herzens
geschähe, nie anders möglich als in Raserey Denn ein Atheist wird
nie von der Glaubwürdigkeit seiner Schluße so weit überzeugt sej'^n —
und außer der Verrückung wird ein jeder wie Abaddona sagen: ich
35 will schweigen, daß seine Gerichte mich nicht noch ungestümer
treffen : — Und diese blasphemie ist zwar alsdenn an sich nichts ; aber
der Weg, auf dem wir bis zu dieser großen Verwirrung gelangten, ist
sehr sträflich: = Und der Weg ist sehr leicht, wenn der Wahn von
38 Vorlesungen über Moralphilosophie
andern Urteilen einmal Herrschaft bekommen hat — alsdenn gewöhnt
man sich so zu Ruchlosen Handlungen wie zum Tobackrauchen
124. Das Märtrerthum hat sehr 2. deutige Zeichen. Manche kennen
gewiße heilige Dinge nicht; als daß sie sie nennen; so wie Euripides
seine Tragödie anfing ; — Und wird das Prinzipium des herzens das 5
Märtrerthum ausmachen : so wird ein Türk, der vor seinen Mahomet
leidet, (und sie beten ihn mit großer Anwendung an) ein Märtrer
seyn. Das wahre Märtrerthum bezieht sich als auf eine wahre
Ueberzeugung ; die von ehrwürdigen Vorurteilen der Er-
ziehung unterschieden ist: — Daher gabs auch blos damals Märtrer, lo
da sie durch Ueberzeugung — durch Vernunftige Ehrfurcht, aus
Erfahrungen gesamlet, ihre Religion besaßen: nicht aber sind die
spätem Märtrer; die die Religion
1) als ein unverstandnes heiiges Vorurteil angenommen haben: —
Sonst würden auch heut zu Tage viele (und mehr vom Pöbel, als is
gesittete) Märtrer werden: so wie die standhaften Japonesen die
härtesten Märtrer wurden, wenn sie ein Marienbild hatten = =
2) Die spätem Märtrer, sind auch nicht Märtrer (Zeugen) weil
sie ja keine Augenzeugen, sondern ungültige Ohrenzeugen sind: die
nichts zur Wahrheit der Sache thun: 20
125. Die Deutschen (unter allen Nationen am meisten) mißbrau-
chen Gottes Namen: so oft sie ihn ohne intuitus und Aufschwung
nennen; und noch ärger: zum Scherz : Möchte hier nicht Leicht-
sinn etwaz entschuldigen, so wäre es fast schon Blasphemie des
Namens ; den er einst vor dem Tode mit dem grösten Schaudern 25
nennen wird, und erst scherzte; — und die leichtsinnigen Neben-
ideen mit welcher Strengigkeit werden die entwöhnt etc.
126 Orthodoxia in practica 1 sind weit wichtiger als die
Heterodoxia in practica j theoretische : zum wenigsten muß
die theoretische Heterodoxie nicht Haß, und Geschrey, und Verkez- 30
zerung erregen: — Ein Ketzer muß praktische Irrtümer haben:
und sollte auch sein Irrtum blos in Absicht auf die Praxis zweifelhaft
seyn : so muß auch der Name des Ketzers wegbleiben : — Und wenn
Calvin den Servet wegen Subtilitäten verbrennt, so ist sein Irrtum : —
Theoretische Ketzer sind zu verbrennen, weit praktischer und eher 35
des Ketzernamens werth: — Theoretische Fehler müssen Mitleiden,
höchstens Auslachen erregen: — Indessen doch auch sorgfältig ver-
mieden werden, weil man nicht stets den geheimen nexum weiß.
Praktische Philosophie Herder 39
Die Ketzerey verhüte ich nicht, da ich sie vermehre ; sondern ver-
mindre : die Menschen sind nicht wirklich so unterschieden, als bei
dem ersten Anschein. Man exaggerire nicht den Irrtum — erbittere
nicht den andren, so daß dieser jetzt, durch das Geschrei empört,
5 kleine Irrtümer, die sich anfangs leicht heraus reden lassen, bis
aufs blut vertheidigt: z. E. die Griechische Kirche etc. Insonderheit
die Ausfindung eines neuen Namens, (z. E. Corrupticulae unter den
Griechen) macht schon groß Aufsehen vor den Pöbel, gleichsam
Brandmark, (bricht ab}
10 / mich davor zu halten und es auch zu zeigen : — Caesarem ve- 26
his ! — Phocion sagte : ists dir nicht gnug, daß du mit Phocion stirbst :
— hier fühlt alles die Größe ; — und freilich muß die Selbstschätzung
äußerlich auch manchmal der Regel der Klugheit angemeßen seyn,
wenn nicht alle von eben demselben Urteil sind :
15 Niederträchtigkeit ist ihr entgegengesezt : — Der so liofirt,
daß er niedrig wird, seine Würde nicht fühlt, ob gleich ein leerer Titel
andre unterscheidet, der blos vom Wahn abhangt
Demuth sezt rechtmäßige Schätzung voraus: und schränkt
sie ein. Man hat mehr Ursache auf Unvollkommenheiten als auf VoU-
20 kommenheiten zu sehen, weil jene mehr sind, und die betrachtung
dieser sehr leicht schädlich seyn kann. Demuth ist also nicht eine
Mönchs Tugend, wie Hume meint: sondern auch in der Natür-
lichen Moral schon nöthig: — Eine eitle Wißenschaft — z. E. Geo-
graphie Sternkunde, kann uns weniger Vorzug geben; als die Mora-
25lische Würde. Diese wird Unvollkommenheit mit Vollkommenheit
abwiegen: = nicht aus Regeln des Wohlstandes sondern der Sitten
muß ich demüthig seyn — Diese werde nicht mit Heucheley ver-
mischt: sondern werde empfunden, da ich es einsehe, ich bin nicht
höher als andre : und wirklich sind alle Menschen nicht so weit aus-
30 einander : — Der Erzieher pflanze Selbstschätzung und Demuth daß
da blos Verdienste Achtung machen, der Wahn es nicht mache: —
Das Verderben des obern Standes, hangt vom mittlem ab, davon
komt Unterweisung Luxus Pomp her: hier fange ich auch die Ver-
beßerung an, alsdenn werden Roußeaus Gedanken schön, Wenn ich
35 mich mit andern vergleiche, und sie geringer schätze, so darf dies
nicht aus Selbstschäzzung kommen. Selbschätzung vergleicht sich
mit sich selbst; = Demuth vergleicht uns mit andern zur Verringe-
rung = sonst dienten mir anderer Unvollkommenheiten zur Freude,
40 Vorlesungen über Moralpliilosophie
und dies ist Moralisch böse. Die Verachtung anderer ist auch so ein
schlechtes Mittel, daß es vielmehr Haß macht; = wohl aber meine
Unvollkommenheiten kann ich mit andern beßern Zustande ver-
gleichen, wenn ich die Möglichlieit einer größern Vollkommenheit
einsehe : nicht aber darf ichs mich immer merken lassen : — Die 5
verhältnißmäßige UnvolU?:ommenheit darf ich mich nicht merken
laßen: — darauf komts nicht an; ob ich unter dem andern bin; die
Vergleichung ist schädlich : so wohl bei dem Vorzug der Vollkommen-
heit und Unvolllvommenheit = wenn ich mir nur überdem im ganzen
meine Selbstschätzung zu erkennen gebe, und daß ich meine Unvoll- lo
kommenheiten auch fühle ; aber nicht die Un Vollkommenheit gegen
ihn gerechnet: — Die Würde des andern bleibt dieselbe, sie mag über,
oder unter mir seyn — Daher komt die heuchlerische Demuth, die
sich extenuirt : und auch ein rechtschaffner Mann verachtet solchen,
nicht wegen seiner Un Vollkommenheit sondern weil ers sagt. — Daß i5
ers empfindet, ist vor ihn gut, daß ers aber sagt : wozu ist das gut ?
Zu nichts; = Demuth ist die noble Selbstschätzung die auch seine
Vollkommenheiten einsieht : — und muß sehr von Niederträchtigkeit
unterschieden werden: die blos Verachtung veranlaßt: —
170. Ein starkes Gefühl vor Moralische Vollkommenheit ist nöthig; 20
doch oft kanns zu groß seyn: und wenn die Vorstellung von einer
Moralität in einer Sache über die Wahrheit geht ists Moralische
Phantasterey — Der Morahsche Enthusiasmus ist aber ein liebens-
würdiger Fehler, da er im Moralischen Gefühl zu hoch steigt: und
also andere Gefühle z. E. vom Nützhchen schwächt; doch aber 25
Vehemenz beßer ist als languor wenn schon nicht die Mittelhnie
gehalten wird : Alle großen Dinge sind von Enthusiasten ausgerich-
tet: z. E. Kato starb: — vielleicht zu weit wenn man es kaltsinig
betrachtet; da er aber der Patriotismus in abstracto war, das Bild
von Rom, und der Befehlshaber der Helden im Elysium: his dantem so
jura Catonem (Virgil) war vor die Freiheit ein Opfer; So auch im
Zustande der grösten Verwirrung zeigen sich die grösten Talente : —
bei der allgemeinen Gährung steigert er die Begriffe von sich ; so auch
seine Kräfte etc. = Black diente dem Cromvell seinem Feinde; =
so ist Roußeau ein Enthusiast: 35
Defectus wiegt in Morahschen Schlaf: — nichts hat so viel
Sophisten als er — sein ganzer Fleiß bemäntelt (so wie Stoiker
den Enthusiasmus)
Mediocritas diese linie ohne Breite und Dicke
Praktische Philosophie Herder 41
§ 171. Hoclimutli ist eine Neigung, sieh vergleichungsweise
mit andern hochzuschätzen : — Erfragt nicht, waz er werth ist, sondern
wie viel mehr als ein anderer: — Er darf sich nicht irren : wenn er
blos deß wegen die Würde findet, weil andre Unvollkommen sind : so
5 ist dieser ihre Un Vollkommenheit der Grund der Freude in ihm;
folghch ein Morahscher Fehler : Er kann sich äußerlich zeigen, und
heißt Aufgeblasenheit.
Der Eitele sucht blos die Meinung anderer; ganz außer sich
selbst gekehrt ; nicht nach dem eignen Gefühl : — Franzosen
10 Der Hochmuth glaubt schon einen eignen Werth; schätzt ihn
aber blos nach dem geringern Wesen andrer, und ist also ungerecht :
Spanier.
Der Stolz vergleicht sich gar nicht; = und ist innerlich gut;
äußerhch aber muß sein Zeichen alsdenn ernst seyn.
15 Der Hochmüthige der es sich sehr merken läßt, ist auch äußer-
lich ungerecht und heißt aufgeblasen: — Verachtung (Hol-
länder)
Hoff art : ist Hochmuth in Pracht (da Hochmuth im ganzen be-
tragen ist). Deutscher ist Eitel und hof artig
20 / Die Selbstschätzung ist entweder absolut; oder verhaltniß- ^y
mäßig: die leztere ist unzureichend weil der andre sehr schlecht
seyn kann und dies also meinen guten Zustand nicht bestimmt; die
leztere ist auch böse, weil sie eine Neigung voraussezt, an des
andern Moralischer Un Vollkommenheit ein Vergnügen zu haben.
25 So ist auch die Demuth eigentlich absolut: die Verhältnismäßige,
kann zwar der absoluten aufheKen; muß aber nie unedel werden,
daß ich mich über anderer Tugenden kränl?;e. So sind auch die Zeichen
der Demuth absolut, daß ich sie im ganzen demüthig bezeige nicht
verhältnismäßig, weil sie unnöthig sind nach den MoraHschen
30 Regeln: und übel seyn können, da sie uns niederträchtig und den
andern hochmüthig machen können. Hingegen die Bürgerhche Ver-
faßung wil äußerliche Vorzüge die verhältnißmäßig aufdringen: dies
ist aber verkehrt, weil sie durch dies Pochen die absolute Hoch-
schätzung vermindert — Dieser Verhältnißmäßige Werth ist offenbar
35 falsch, da er sich nach jedem Umstände verändert. Ein Prinz wie ist
er unter Bauren: wie vor seinem Könige: — Ein Mensch der sich
blos damit aufhält, ist indoles abjecta: Ich schätze einen Vornehmen
hoch; heuchlerisch wegen seines Standes; wahr wegen seines innern
Werths, da er sich zu dem bürgerlichen Stande (d. i. innern Werth)
42 Vorlesungen über Moralphilosopliie
empor geschwungen: und noch höher weil er so viel Hinderniße hat
überwinden müßen: — Vernette in seinem Staat Lykurgs hat
Roußeau nicht verstanden: sein Mittel, wo das ganze Menschliche
Geschlecht in Gefahr ist: = So wie der Commendant in Rochelle
kein Werkzeug der Bluthochzeit seyn wollte : wenn viele so gewesen 5
wären, wäre sie nicht geschehen : = und hat der Fürst keine Werkzeu-
ge so etc. Also hangt alles vom mitlern Zustande der leute ab: = Ich
bin ein gemeiner bürger, habe keinem zu befehlen, stehe mit vielen
unbemerkt unter Einem, verliere mich im Ganzen und kann auf
meinen Innern Werth denken : — wäre dieser Stand gebessert : wie lo
kann er sie zwingen: durch Vornehme etc. Deren sind wenige und die
übrigen sind gebeßert: — — Der Verhältnißmäßige Vorzug sey blos
Verhältnißmässig, werde nicht vor absolut gehalten, so wie wenn
Deserteur Bataillone jemanden aus ihrer Mitte wählen — wie haben
Tyrannen, weil wir Sklaven sind; — wir sind indoles liberae, und is
können auch nicht durch andere gefeßelt werden; auch ein Brillant
Halsband feßelt den Kettenhund = Indoles abjecta halt also
Verhältnißmäßige Vorzüge, vor absolute: z. E. die Catholicken ihre
Heiligen: da doch der Anbeter oft beßer ist als Götze: — Dies ist
Indoles abiectain der Religion; so auch in der Weltweisheit; da 20
ich meinen absoluten Werth einsehe; nicht verhaltnißmäßigen Z. E.
wie Krusius in seinen Schriften davon voll
Gewißen logica; da ich mir einer Determination bewust bin
und
moralis da ichs mit meinem Moralischen Gefühl zu- 25
sammenhalte ;
Die Fehler sind also logisch im Mangel des Bewustseyns seiner
Handlungen: wie z. E. leichtsinnige Leute; junge Leute moralisch
im Mangel des Moralischen Gefühls über seine Handlungen : wie alte
Bösewichter, die so lange künstelten, bis jenes mit der Zeit übertäubt : 30
und ein erkünsteltes lebhaft wurde: z. E. ein Kaufmannscathe-
chismus:
Das verfälschte Gewißen adultera: ist
1 ) erronea : waz logisch 1 n 1 1 - • . Jenes irrt — Verstandes-
' o i verlalsclit ist
fehler (deprauitates)
Das natürliche Gewissen vom angeworbnen zu unterscheiden ist oft
schwer. Vieles erworbne wird vor natürlich gehalten: — der Fluch
I
2) praue : waz moralisch j irrthum (errores)
Dieses fühlt übel : Gefühls-
Praktische Philosophie Herder 43
der Eltern, den wir bei einer Heirath uns zuziehen möchten, durch
eine Heirath, die wir rechtmäßig nicht begehren, ist ein erworbnes
Gewissen : Da der Vater nach dem Natur Gesez nicht weiter unterhal-
ten Avürde, als bis er sich selbst regiren kann, so fiele aller Gehorsam
5 M'eg (blos Dankbarkeit) und auch hier, da wir blos durch Gewohnheit
es erworben: Aber wenn Voltaire alles Gewissen vor erworben hält,
und es durch einige Beispiele der Nationen beweist, so ist dies zu weit :
— die Eskimaux, die ihre Eltern ermorden, als einen Liebesdienst,
haben in gewißermassen Grund, da sie bei der noth wendigen Jagd
10 ihren schmälichern Tod voraussehen; =
Welche Grade in einzelnen Fällen erworben sind, schwer: Unsere
Verhältniße mit Freunden sind vielleicht erworben — gar zu sehr ge-
steigert: und auch in Moralischen Begriffen.
Das Gewissen urteilt von schlimmen Handlungen weit stärker
15 und richtiger nach der Handlung als vor, und vor stärker als in
der Handlung. Exempel der Gewißensbiße, die sich ergeben
musten: so nach der Wollust: Grund: eine jede Leidenschaft zieht
die Aufmerksamkeit auf die günstige Seite und verdunkelt das andere :
— und wenn nun die Leidenschaft nicht ist ; so fallt auch die Decke
20 weg
I Wenn wir Menschen hier in der Welt, nicht stets in Leidenschaften 28
sind, sind Mir doch in Trieben; in einem Temperament, das die Leiden-
schaft hat von Sachen zu urteilen; so ist das Urteil im ganzen leben
nicht völlig unpartheyisch : — Er ist selbst Richter über sich; —
25 Verbannt nach dem Tode die Leidenschaft, so sind wir unpartheyische
Richter über uns selbst; über unsere Moral; da wird das Urteil über
unser Leben weit lebhafter und wahrer seyn; wir werden die Abscheu-
lichkeit noch klarer einsehen. — bliebe sie aber die Leidenschaft so
wird das Urteil noch partheyischer. Würden die Leidenschaften noch
30 ärger ; so wird das Moralische Gefühl verdunkelt : und blos das Phy-
sische Gefühl: so auch Physisch böse bleibt übrig. — Schweigt das
Gewißen vor der That; oder murrt es unkräftig, so ists schlecht
und das lezte ist ein Pedant der nicht zurück hält, und doch quält;
doch ists eine Hoffnung zum lebhaftem Eindjuck: — das Gewißen
35 waz lange vorher redet: ist stärker als das unmittelbar vorher:
weil jenes von einem langen futuro einen größeren Eindruck voraus
sezt: — Denn sonst ist das Gewissen unmittelbar vorher stärker.
Daher wird einer, der mit dem Dolch ergriffen wird, nicht mit Tode
gestraft werden: Die Conscientia consequens ist also die stärkste;
44 Vorlesungen über Moralphilosophie
aber schlimm wenn nicht antecedens voraus geht; das leidthun ist
keine Gnugthuung
Da unser Leben ein Ganzes im Daseyn ist : so kann nicht ein Stück
dem andern aufgeopfert werden : das Vergnügen des einen muß auch
das Vergnügen des andern seyn und die Glücksehgkeit ein Ganzes : 5
die Vorsicht, eine Tochter der Ueppigkeit, ist die Quelle des Unglücks :
— der Genuß des Jezt, mit der Aufmerksamkeit auf unsere Moralität
ist imser Glück: — Wir müssen in dieser Welt: diese gemessen:
und das gar zu viele Reden von Ewigkeit muß uns nicht der Zeit
entreißen : die Ewigkeit diene blos, die Uebel dieser Welt zu vermin- lo
dern, nicht aber die Freude zu vermindern. Der Mensch erkünstelt
sich lauter Beraubungen; Beraubung der Jugend um das Alter zu
geniessen waz er eben dadurch sich entreißt, da er sich in den habitus
sezt : — Ein Stück opfre man nicht dem Ganzen auf.
Die höheren Seelenkräfte kann ich anwenden, um des Nutzens wil- 15
len und denn ists gut; oder um des Scheins willen: und denn ists
schlecht. = Der Beweggrund meine Kräfte zu erhöhen ist meistens
die gute Meinung andrer: Dies ist aber wirldich Lüge, entweder;
oder ist sie wahrhaft, so ist sie doch (wenn sie nicht nützlich ist) doch
an sich unmittelbar betrachtet chimärisch, da sie nicht mein bestes 20
befördert. — Sonst da alles Schimmern weit leichter ist als Seyn : so
Ehre ganz falsch: und daher ist der Schade vor das Menschliche Ge-
schlecht. — Der Philosoph wirft über seine eigne Schwächen eine
Decke: so wie Chineser nicht die Kalender annehmen wollten, um
sich nicht irrend zu machen : = der Lehrer, der sein falsches einsieht, 25
läßt sich noch gerne verehren, und sagt nicht die Fehler: Sollte
Crusius in so vielen Jahren nicht die Unwahrheit seiner pochenden
Sazze eingesehen haben: aber er sagts nicht; = Der Trieb der Ehre
ist der Moralität schädlicher als irgend eine andre Leidenschaft: —
alle übrige haben waz reelles : diese ist aber ein Hirngespinst : = so
Ich gehe 2) ganz von meinem innern Zustand der Moralischen Güte
ab, und such es mit einigem äußern zu verbeßern: und welchen
Schaden thun die Wißenschaften also: = der Trieb der Ehre, muß
vielleicht bei etwaz höhern Wesen völlig aufhören: — bei uns ist er
noch nützhch als ein Gegenmittel gegen die große Unmoralität und 35
als eine Aufmunterung gegen die große Faulheit : — und also wegen
der kleinen Moralität der Menschen nöthig; die Selbstschätzung be-
steht mit der Moralität; aber nicht die Rechnung auf die Meinung
andrer. = So heirathet man selten vor sich ; stets vor andre :
Praktische Philosophie Herder 45
Die Suspension des Urteils kann aus moralischem oder logischem
Beweggrunde seyn ; = der Plan der Weltweisheit entscheidet in einem
gewißen Grad gewiß; zeigt die Ungewißheiten, die Mängel zur Ge-
wißheit = unvollendete Sachen, die blos hingelegt sind : Im Umgange
5 ist die Suspension des Urteils sehr nothig: und ein Zeichen der De-
muth, das noch eher im Umgange als Schreiben erreicht werden dörfte :
— unter allen aber ist der Gelehrte der ehrgeizigste, der auf nichts
als Ehre denkt; davor arbeitet, selbst austheilt, und Posaunen des
Ruhms sind. Erkenntniße an sich sind schön; und ohne die höchste
10 Einsicht würde das höchste Wesen nicht das vollkommenste seyn ;
aber der Mensch muß seine Schranken einsehen lernen, nicht blos die
logische, sondern auch morahsche : — Mathematik Numismatik sind
an sich ganz wißenswürdig ; aber vielleicht vor uns nicht; diese Wiß-
gierigkeit kann uns endlich völlig aus unserem Kreise herausreissen.
15 Alles dies Reizende macht uns nachher gleichsam anklebend an die
S^Tten: — ein Kind eilt in der Aussicht dem Mann vor; der Erden-
bürger der Ewigkeit ; und so ist er vor beide untauglich.
Lerne abstrahiren von den Trieben, die die Moralität vermindern;
Suche Morahschen Gebrauch von deinen Erkenntniß Kräften: Sie
20 lassen sich auch in andern Dingen sehr excoliren ; aber voreilig ; Zwi-
schen dem erhabensten Menschlichen Geist und dem niedrigsten Maim
ist kein wahrer Unterschied an Vorzügen als in Absicht auf Moralität
= Jezzo muß blos WißenschaftHche Scharfsinnigkeit dazu dienen,
die Schaden der Wissenschaften aufzuheben : = sonst w:ären sie nicht
25 nöthig ; denn das analogon rationis ist ein sicherer Fuhrer in der Mora-
lität als die Vernunft; und das Gefühl des Guten sicherer, als die
Vernunft, die lauter Irrtümer macht in ihren Schlüssen : da das ana-
logon rationis eigentlich zum leitfaden gegeben ist; so muß die Ver-
nunft wohl nicht viel Vorzug erwerben, der mit vielen unnothigen
30 Verzierungen ausstaffirt; = Wir durch das Gesez der Nothwendigkeit
und den Wahn der Menschen eingeschloßen, müssen also nicht aufge-
blasen seyn : den nüzlichen Mann verachten, sondern den langen Weg
zurücknehmen sich auszuruhen, vernichtigen
225 Eine Fertigkeit bei aUen Vorfällen sich gute Zwecke zu sezzen;
35 oder die beste Mittel zu wählen ist Gegenwart des Geistes;
Frauenzimmer können gute IVIittel wählen nicht aber Zwecke; =
durch lange Bedachtsamkeit muß man sich in ancipiti zur Gegenwart
des Geistes gewöhnen : Junge Leute müssen also erst Rath annehmen;
46 Vorlesungen über Moralphilosophie
28 / Der Mensch ist nur glückselig, der den höchsten Genuß der Wollust
hat dessen er in dem Zustand fähig ist; daher ist dies Leben vom
künftigen unterschieden. Glückseligkeit besteht
aus Glück; unmoralisch Gutem: physischer Wohlfart. da diese
von außen abhängt: so kann sie sehr fehl schlagen, und sehr 5
veränderlich sein
und Seligkeit; moralisch Gutem
Die Sehnsucht nach blosser Wohlfart muß also nach dem Gesetz
der Veränderlichkeit schon unglücklich machen : — weil alle physische
Dinge sich aufs Ganze beziehen, und nicht auf uns stets einschlagen lo
können: — Das Morahsch Gute, in dem wir der Grund sind, ist also
unveränderlich, fruchtbar an Physisch gutem, so daß alles dieses, waz
durch mich geschieht aus Moralisch Gutem herkommen muß: —
Gleichgültig soll ich mich machen gegen das Böse; so bin ichs auch
gegen das Gute ? 15
Empfindlich soll ich mich machen gegen das Gute ; so bin ichs auch
gegen das Böse ?
Die Reizbarkeit an Physisch Gutem wird oft ein Grund der Unlust,
und man muß also sich gegen einige stumpf zu machen suchen; dies
kostet zwar Beraubungen ; die aber nicht schmerzhaft sind weil darüber 20
sich das Gefühl zugleich verringert; und davor ein weit feiners
Gefühl des Moralischen auflebt; = Und in der Gleichgültigkeit
ist der Wilde in vielen Dingen ===== Zur Tugend gehören Maxi-
men, Grundsätze; die sehr von Instinkten, auch von Moralität unter-
schieden sind ; und eben so kanns abscheuliche Sittlichl<:eit geben ; 25
ohne daß sie Laster sind; weil diese Maximen eigentlich voraus-
setzen; und blos uneigentlich Laster heissen; so wie Handlungen
aus guten Instinkten blos uneigentlich Tugenden genannt werden:
— Der Beweggrund nach Grundsätzen zu handeln ; ist die Beständig-
keit die sich immer gleich bleibt dahingegen die guten Instinkteso
von Eindruck und unbeständigen Umständen abhangen : — Indessen
sind diese die Menschliche Gesellschaft — Maximen im Gegentheil
sind eben allgemeine Griindsätze, unter die sich einzelne Fälle
subsumiren lassen : — und die Fertigkeit einzelne Falle zu subsumiren
= Indessen gibts doch Maximen die der Tugend analogisch sind; 35
z. E. Maximen der Ehre; und wie viele haben blos aus diesen großen
Glanz erlangt;
Ueberwindung seiner selbst; — Kein Sieg beweist so sehr
eigne Thätigkeit als dieser ; und ist daher der ergötzendste ;
Praktische Philosophie Herder 47
249. airexou etc. etc. Der macht sich einen zu großen Plan der Glück"
Seligkeit der von der Abstinenz sich abzieht ; wird auch nicht Geduld
beweisen: = Man wird immer weichlicher, je mehr man sich an
Dinge hängt; — der Mensch in der Einfalt der Natur ist stark; —
5 jener (^bricht aby
Sectio II. 250. Sorge vor dein Leben: Es muß hier eine Mittel-
mäßigkeit seyn die es nicht vor den einzigen, auch nicht vor den lezten
Zweck halt
Werth des Lebens: Man abstrahire vom künftigen Leben: =
10 die Menschlichen Pflichten bleiben dieselbe doch : da das Laster hier
an sich schon abscheulich ist Wird der künftige Zustand nun wegge-
nommen — so muß das Leben der vornemste Beweggrund seyn zur
Sittlichkeit; und diese Beweggründe sollen also mit dem Leben zu-
sammenstimmen ; indessen sehen wir doch manche Beweggründe über
15 dieses erhöhet; = bei dem unmoralischen Genuße geht allem der
Genuß des Lebens vor; aber bei manchem moralischen muß, wenn
nicht das Gefühl geschwächt ist, die Liebe des Lebens unterliegen;
auch vom künftigen Leben abstrahirt ; — Der Abscheu vor uns selbst,
der unser Leben zur Marter machen würde ist hier größer als Tod ; =
20 der Kummer über Laster ist größer als alles Physische Uebel =
268. Ein jeder Mensch muß Geschäfte haben = Wer nicht Geschäfte
hat dem fehlen auch bald Beschäftigungen = die langeweile ist also
die Geißel der Reichen; hingegen Geschäftvolle Leute sind auch im
otio beschäftigt. Sie sind gleichsam durch ihren äußerlichen Zwang
25 gewohnt, und im habitus sich zu beschäftigen ; sonst nimt die natür-
liche Trägheit Ueberhand, die das ganze Leben einförmig macht.
Ein fauler und wirksamer Mensch haben beide Vor- und Nachtheil :
— die solertia kann zur polypragmosyne ausschlagen, und man seines
Lebens also nicht genießt: — nicht durch Arbeit genießt man sein
£0 Leben, sondern durch die Ruhe, nach Arbeit, da wir die Folgen davon
empfinden, und uns mit uns selbst beschäftigen: diese Beschäftigung
ist die schwerste, ungewohnteste, nüzlichste = Ein fauler Mensch
verliert eben so das Leben, da ers geniessen will, und sich der Genuß-
mittel beraubt, z. E. der Arbeit, nach der blos die Ruhe süß ist; zu
35 der die Erholung eine Beziehung hat. = Unsere Zeit ist in pensa
eingetheilt und dadurch wird sie blos bestimmt: diese pensa werden
entweder durch Zwangauflegung von andern bestimt; oder von mir,
da ich mich selbst verbinde. Sonst bleibt man unentschloßen, schiebt
48 Vorlesungen über Moralphilosophie
auf, bleibt unbestimmt: = So machen also Geschäfte am besten
pensa und diese (bricht ab}
Lange und kurze Zeit: — da des faulen Zeit unbestimmt ist;
so wird ihm die Zeit lang und eben dadurch hat er keine Zeit, weil
wegen Abwesenheit der Pfhcht, auch kein Grund der Beschäftigung 5
ist: und die Zeit wird lang, weil der Verdruß, der aus Sehnsucht nach
Genuß entsteht, sehr stark, auf jeden Zeittheil attendirt, jeden unter-
scheidt, und so wird die Zeit lang — Denen die Zeit lang wird im
Genuß ist sie kiu-z nach dem Genuße, weil nichts besonders im An-
denken bezeichnet wird : — Die klagen am meisten über die Kürze 10
der Lebenszeit die die meiste lange Zeit haben, weil sie keine marquen
ihres Lebens haben: — Um also lebens satt zu werden, mache man
sich jeden Augenbhck durch Beschäftigungen nach Absichten voll
und kurz ; dadurch extendirt man sein Leben blos durch Handlungen
nicht durch Jahre, diese werden vergessen jene bleiben im Andenken 15
— Daher kommt der Wiederspruch etc. Um sein Leben nicht lang
zu machen, muß man schlafen, oder arbeiten. Indessen laßt die Arbeit
der Spekulation doch stumpfe, leere, lange Zwischenräume übrig die
der Lebensüberdrüssige mit dem sanften Schlaf ausfüllt.
2» / Von den Geschlechtertrieben müßen wir nicht blos nach unserm 20
gesitteten Zustande, sondern dem natürhchen Zustand des Menschen
urteilen — Und da war dieser Trieb sehr mächtig, um das Geschlecht
zu unterhalten: — die den Zweck Gottes stets vor den vornemsten
Zweck halten haben hier zu überlegen : ob der natürhche Mensch die
Absicht der Vorsehung hat die Menschen zu unterhalten oder nicht 25
blos die Neigung zur unmittelbaren Lust. Es ist dies zwar der Haupt-
zweck nicht aber der einzige, und die übrigen müssen zwar diesem
nicht widerstreiten, aber sie können doch ihm unbeschadet seyn und
es ist also gar zu gewißenhaft die Vertraulichl^eiten der Eheleute zu
verbieten, die nicht unmittelbar mit der Fortpflanzung zusammen- 30
hangen
Der Geschlechtertrieb würde sich nicht so früh entwlcklen, sondern
bis die Kräfte ausgewachsen sind: da er nicht durch Unterricht be-
schleunigt würde. — Der Trieb satigte sich blos durch unmittelbare
Lust, und ein ewiges Band wäre vermutlich nicht gewesen = Wohl 35
aber da der Mann fühlte, der Trieb würde wiederkommen, ließ er sich
das Weib in Wald folgen : — sie wurde begleiterin — die Kinder hatten
beide lieb: — Er muste ihr, die da säugte, helfen und so entstand
Praktische Philosophie Herder 49
monogamie, da so viel Weiber als Männer sind; = Der Trieb war nicht
so ausschweifend gewesen weil die Phantastischen Vergnügen des ge-
sitteten fehlen: = Indessen ist dieser Trieb mit dem Schleyer der
Scham bedeckt, die sich auch bei den meisten Wilden findet : und die
5 ganz andrer Art, als jede andre Scham, und die den Trieb zähmet:
Die Einwürfe des Cynikers haben viel richtiges: man muß sich blos
des unehrlichen schämen; indessen ist doch eine wirkliche Scham
Instinlit, der zwar keine Vernunftursache hat und wunderlich ist
aber Absichten hat 1 ) den ungezähmten Geschlechtertrieb zu zähmen
10 2) die Reize durch das Geheimniß zu erhalten: — Das Männliche
Geschlecht waz mehr Grundsäzze hat : hat diese Scham in minderem
Grad; das Weib hat sie wegen der fehlenden Grundsäzze in großem
Grad und herrschend; und wo diese Scham schon entwurzelt ist bei
Weibern, da hat alle Tugend Erbarkeit ihre Herrschaft verloren : und
15 sie gehen in der Schamlosigkeit weiter als der lüderlichste Mann ; =
Sie hat indessen ein analogon mit einer Handlung die an sich
nicht ehrbar ist; und dies hat die dumme Mönchsscham hervorge-
bracht. Sie ist aber nicht an sich ein Zeichen eines unerlaubten, sondern
ein Schleyer, einer ehrwürdigen Handlung : die Menschen pflanzet:
20 — Das Weibhche Geschlecht hat außer dem Geschlechtertriebe, noch
viel Qualitäten die alle die Schönheit concentriren, und also Reize
und Anlockungen sind; = Mannhches Geschlecht hat freundschaft
Ergebenheit — Weibliches Geschlecht hat Schackerhaftigkeit Freund-
lichkeit etc.
25 Mann hat ein feiner Urteil von Schönheit — eckelhafte Männerkuße
und heirath sind vor Frauenzimmer nicht so eckelhaft: und dies ist
die weiseste Einrichtung = = Jezt ist dieser Trieb die Quelle so vieler
Laster, und in solche Schlüpfrigkeiten gesezt: wie ists also möghch
in diesem allgemeinen Verderben, da so viele unmenschliche Laster
30 aufgekeimt sind, zu verbessern ? Die Lacedämonier Hessen die Weiber
bis ins 9te Jahr; — die Manner 13 Jahr nackt gehen in den Jahren
der Unbesamtheit ; = unsere künstlichen Tugenden sind Chimären
und werden Laster, wenn das verbergte, als Laster angesehen wird.
So bald die Keuschheit der Sprache, der Kleider, der Minen zunimt,
35 Avird die wahre Keuschheit verdrängt. = Wo von man eine Seite
zeigt lockt die andre aus dem Chimären Lande der Phantasie heraus.
= Das beste Mittel hat vielleicht Roußeau getroffen — Die frühzeitige
Geschlechterneigung muß eingeschränkt werden daß sie nicht unser
Wachstum und Ausbildung hindere, und unsre Regelmäßige Verbin-
4 Kant'a Schriften XXVII/1
50 Vorlesungen über Moralpliilosophie
düng zur späteren Reue entkräftet, und zwar nicht durch Verbergung
der Triebe, sondern durch die Vorhaltung eines Bildes der Schönheit
die er einst glucklich machen soll, und ihn rein haben will. — Alsdenn
wird er sich nicht wegwerfen, sondern mit diesem Bilde wird er reisen,
und es sich zu seiner Glückseligkeit aufsparen : = die ganze Totale Ent- 5
fernung der Begriffe thut nie die Wirkung sondern diese Grundsätze
= = So wie ich die Pflichten des Mannes zusammenf aße : Sey Mann !
so ists auch ein Plan vor Weiberpflichten : Sey Weib etc. — Einigkeit
und Einheit ist sehr verschieden: — Die Freundschaft zwischen
2. Männern aus dem Begriff des Erhabnen kann Einigkeit haben: 10
So Freundschaft zwischen Weibern aus dem Begriff des Schönen kann
30 Einigkeit seyn — / In der Ehe aber muß nicht blos Einigkeit sondern
Einheit seyn — zu dem Einen Zweck, der Vollkommenheit der Ehe :
— Dazu hat nun die Natur verschiedne Gaben in beide gelegt, dadurch
einer über den andern herrscht: — das Frauenzimmer reizt; der Mann 15
rührt: die Frau bewundert, der Mann liebt; und so herrscht einer
über den andern; und Es wird Einheit ohne Tyranney des Mannes
und Knechtschaft der Frau; sondern durch gemeinschaftliche Herr-
schaft: — So ist also der lezte Zweck der Verbindung der beiden
Geschlechter: die Ehe; = sonst wird der Mann weibisch; das 20
Weib männlich, so ist die Ehe verkehrt, und nicht vollkommen —
Sezzt eine gelehrte Frau, eine dreiste, große: so ist sie ein Competent
meiner Würde ; ich kann über sie nicht herrschen und die Ehe nicht
vollkommen werden. — Sezzt einen geschmückten Mann, einen
schwächlichen Zieraffen, so ist er ein Competent der Frauenzimmer 25
Schönheit, sie kann über ihn nicht herrschen und die Ehe wird nicht
vollkommen — Hingegen ein Mann, von seiner natürlichen
Würde, mit einem Zutrauen auf sich im reinen ungezierten Kleide wird
ihr mehr gefallen: — Man vermische nicht beide Geschlechter: =
Das Weibische ist am Weibe nicht Tadel; wohl aber das Männliche : 30
und in unseren Ländern ist wegen der wenigen Unterweisung das
Frauenzimmer näher der Natur als z. E. in Frankreich, die Amazonen
etc. wegen der Feinheit der Empfindung können sie dies noch sehr
unterscheiden.
= = Da Güter und Reichthum blos Mittel sind und Möglichkeiten 35
zum Glück: so ists
1) thöricht: sie als Zwecke und Sachen zu bewahren, schätzen.
2) thöricht : nach Proportion der Reichthümer — nicht proportional
glücklich zu seyn.
Praktische Philosophie Herder 51
Indessen
1 ) da die Menschliche Glückseligkeit nur einen mitlern Grad hat :
so steigt sie über den nicht, wenn gleich Reichthümer sind; —
Reichthümer die ein Mittelmaß übersteigen, mühsam zu er-
5 langen ist thöricht, weil hier die Mühe des Mittels nicht gleich
ist der Große des Zwecks : sondern das Leben wird verloren und
ist also comparative nichts
2) auch in den Mitte Imässigen Graden wächst nicht ganz genau
mit Reichthümern Glück
10 Mittel des Reichthums sind verschieden: — der Zuschauer: thue
heut, waz du heut thun kannst : ein Pfennig erspart, ist ein Pfennig
erworben hier soll man die Moralite betrachten : und da sagt Roußeau :
reich oder arm: der müßige ist ein Spitzbube: — dives est iniquus:
wenn nicht politisch (wer will es ihm da nehmen) so doch moralisch
15 gewiß: — waz ich habe: müßen andre entbehren: — mein Puder
entzieht andern das Meel: — — Ein aktiver Mensch will viel ge-
niessen : — die Lustbarkeiten etc. der dazu viel Neigung hat wird auch
wirksam seyn zu arbeiten : — und viel einzuscharren um auszugeben :
waz die Moralität dieser Sache betrift so ist hiebei ein Gemütsunglück,
20 da die Habsucht eine Unruhe des Gemüts voraussetzt, die sich endlich
nicht sattigen läßt : — Ein Geiziger aber, der noch karg ist, ist dem
Staat schädlich: da das waz ich versperre, alles theurer macht: —
Luxus bedeutet einen gewißen größern Aufwand, als es nöthig wäre
zu den Lebensbedürf nißen : — eine luxuriöse Frau, die viele Hände
25 in Beschäftigung sezt, scheint zwar dem Staat nüzücher zu seyn als
die es armen Müßiggängern gibt: — Aber es sind mehr Arme durch
den luxus geworden, als dadurch erhalten werden; viele Handwerker
macht der luxus, die an sich unnutz sind und mit dem Namen der
Künstler beehrt werden, beschmuckt werden: — Der Habsüchtige,
30 um es zu verthun, thut Schaden: — im Erwerb nimmt ers vielen vor
dem Munde weg: — im Ausgeben erhält er viele unnütze — Nach
der Proportion des Erwerbs steigert sich nicht die Summe der Wohl-
fart: und ich bin stets ungerecht, wenn ich vielen einen beträcht-
lichen Zusatz zu ihrer Wohlfahrt wegnehme : da ich nur einen unbe -
35trächtlichen meiner eignen zusezze. — So wie das Geld blos nach
seiner bonität ein Mittel ist, so ists so falsch, wenn man es als Zweck
betrachtet, alsdenn ists quo ad vsum nichts; quo ad vtilitatem noch
wohl ein Mittel, das aber so unnüz ist, als Kirchgehen wenn es als
Zweck beobachtet ist: — Der Mensch sieht eine lange Reihe von
52 Vorlesungen über Moralphilosopliie
Jahren vor sich; die er aber erst aus leichtsin übersieht; nachher
aber häufen sich die Bedürfniße des Mannes, des Haushalters, Vaters
etc. Er erwirbt, um der Zwecke willen: — da aber die Summe blos er-
worben werden kann, wenn ich spare sonst verliert man hinten, waz
man vorn erwirbt : er abstrahirt also vom Gebrauch ; erstlich zum 5
Sparen als einem Mittel, nachher durch die lange Uebung zum Zweck
und wird lächerhch. — Diese Kargheit ist die einzige unheilbare
Krankheit (WoUust etc. zu heilen) weil er in einer Art von Wahnsinn,
von verkehrtem Gefühl ist, das Mittel als Zweck ansieht: — Alte
sind karg 10
1) weil der lange Geiz am meisten ihm Fertigkeit gibt
2) weil er zu nichts anderm Fähigkeit hat, als diesem : — zusammen
zu halten: zu kargen
3) weil das Alter am meisten verlassen ist. —
Die Kargheit ist die lezte Strafe seiner eignen Unsinnigkeit die 15
doch zulezt noch nüzzt: — so wie ein Schwein nach dem Tode blos:
— und dieser Karge lebt lange, um den Jüngling zu lehren und einen
31 Zehrer / zu machen, der durch die lange Entziehung schon auf Rech-
nung verschwendet hat, und ist nach seinem Tode schon in der
Uebung darin 20
Die Bescheidenheit gibt andern ihren Werth: und macht sie also
bereit, auch unsern Werth zu erkennen und associirt also die Menschen
Eitelkeit wegen Kleinigkeiten ist auslachens würdig und eine
Eigenschaft schwacher Seelen: — Hochmuth ist ha Bens würdig ist
lasterhaft und ungerecht weil er wahre Vorzüge affektirt: = Auf ge- 25
blasenheit macht verächtlich und ist ungereimt:
Stolz vergleicht sich nicht; ist ein höherer Grad der Selbstschät-
zung: — allem seinen Werth laßt und doch ein weises Bewustseyn
seiner Kräfte zeigt: — Eitle Personen: wollen, daß jeder die Augen
auf ihre Kleinigkeiten richte : = Sonst woUen die Menschen in den 30
meisten Stucken einander gleich seyn und leiden also weder Eitelkeit
noch Hochmuth noch Aufgeblasenheit = der Aufwand zu Erwerbung
der Ehre bei andern ist blos Mittel unsere Zwecke bhcken zu laßen:
Dreust ist oft wider die Bescheidenheit z. E. am Frauenzimmer
eine dreiste Mine verstellt mehr als alle Eitelkeit : und vornehmen 35
Damen kommt sie eben so wenig ohngeachtet ihres großen Standes zu.
Eben so wüste Cicero die bescheidne Erröthung im Reden sehr zu
af f ektiren :
Praktische Philosophie Herder 53
Bemühung andern zu gefallen. Der Beweggrund des Nutzens
ist unmoralisch — Moralisch die Neigung andern zu gefallen, ver-
bindet die Menschen mehr: die Gefälligkeit ist eine species davon,
und das Gegentheil des Eigensinns, da ich mich nach eines andern
5 Willen richte: sie ist schlüpfrig, kann lobenswerth seyn aber bald
tadelhaft und verächtlich, da sie zeigt, daß er keinen eignen Willen
hat keinen Moralischen Werth. Sie ist eine Eigenschaft schwacher
Seelen. Edle haben lieber Eigensinn : und die Fehler aus diesem sind
nicht so groß als die aus der GefäUigkeit: aus dieser sind manche
10 oft müßig: — Jugend muß noch gefälHg seyn: da sie noch wenig
Grundsäzze hat — Bey Kleinigkeiten (und derer ist das Menschhche
Leben so voll, daß es selbst bei nahe eine Kleinigkeit gegen das Ganze
Dasejoi zu sejni scheint) macht der Eigensinn getrennt etc.; doch in
der Morahtät Eigensinn ist lobenswerth
15 Ehrbarkeit. = = Ehre des Roußeaus ist blos innere Ehre = und
das ist auch die Ehrbarkeit eine wahre Selbstschätzung des Innern
Werths: das Urtheil der andern ist blos ein accessoriimi : — Die
Schwürigkeiten der SittUchkeit zu überwinden gehört eine eigne
Stärke
20 Egoismus moralis ist z'v\defach: — der in der Selbstschätzung
Schranken überschreitet : oder in der Liebe des Wohlwollens : da ich
meinen Nutzen stets befordre
Wegwerf ung ist gegen sich und andere: diese macht andre aufge-
blasen: sich zum Wurm: komt aus jener und macht unsere VoU-
25kommenheit oft unnütz; wenn ich gleich mir aus der Elure nichts
mache, so doch aus der Verachtung
Die Liebe gegen andre zeigt schon eine mindere Bedürfniß in sich
selbst von andern Dingen an : Die Liebe seiner selbst muß vorausgehen,
da die Liebe zu andern blos auf ihr beruhet: — daß der, so andre
30 liebt, seine eigne Glückseligkeit erweitere: ist eine Eigenschaft der
Abhängenden und folghch der erschaffnen Geschöpfe: — wer das
System seiner Liebe erweitert, erweitert auch das Wohl seiner Neben
Menschen: — wie wird die Liebe ausgebreitet ? ist eine praktische Fra-
ge: schlechthin befehlend kann ich nicht sagen: du sollst heben! —
35 Diese Liebe ist die des Wohlwollens, oder Wohlgefallens, Wohlgefallen
auch unmoralisch. Wohlwollen sezt schöne Morahtät voraus: — Die
Vorstellung des Schönen in der Handlung ist das Mittel dazu =
Leutseligkeit: ist ein Zeichen unserer Liebe und ist nicht real
und efficiens; d. i. Dienstfertigkeit ist symbohsch: da wir ihm die
54 Vorlesungen über Moralphilosophie
Neigung zeigen z. E. Minen : Regeln sind sehr schwer : = ^ = Freund-
lichkeit comitas erfodert größere Gleichheit:
Gleichgültigkeit ist als Moralische Eigenschaft der Menschen-
liebe entgegengesezt : ich kann aber auch unter dieser Kaltblütigkeit
einen sehr guten Zug verstehen : wenn er die Menschenliebe der 5
Sympathie im Zaum hält ; und ihr den rechten Grad gibt : — Werden
die Theilnehmende Neigungen blind, ohne Nutzen, so muß der Stoiker
sagen : wenn du andern nicht helfen kannst : so sprich, waz gehts dich
an?
Freundschaft ist sehr verwickelt: sie sezt schon das alter ego 10
voraus: und ist nicht stets wo ich den andern liebe, und er mich
liebt denn 1) werde ich dadurch nicht eben die Heimliclili;eiten ihm
aiifschliessen 2) bin ich nicht gleich überzeugt, daß er etwaz vor mich
aufopfern wird. Es muß seyn daß wir sein Bestreben vor sich an
unsere Stelle sezzen können, und unsere an seine : das ist aber die 15
große Zumuthung; daher wenig Freunde: vermehre ich die
Freunde: so verringere ich die Freundschaft und es ist also schon
viel : einen einzigen wahren Freund haben : — Zwischen Verschiedenen
kann zwar aufrichtige Menschenliebe; nur nicht im Freundschaf ts-
grade: denn diese ist die höchste der Menschenliebe, die eine Einerlei- 20
heit der Persönlichkeit voraussetzt : — Indessen kommen einige dieser
ziemlich nahe und heißen auch freunde: — die Eigentliche Freund-
schaft ist theils unmöglich (wegen der vielen eignen Bedürfniße) theils
unnöthig : (weil meine Sicherheit schon öffentlich durch viele besorgt
wird.) 25
32 / Der starke ist nicht rachgierig, weil er teils viel ertragen kann,
es erdulden und dadurch nicht gekränkt ist, da er sich seiner Stärke
bewußt ist: und sich nicht rächet. — Die Ataraxie wegen solcher
Kleinigkeiten zu zerstören, hält er vor zu klein: weil er stark ist —
Schwache Personen sind rachgierig z. E. Frauenzimmer, da sie in 30
ihrem Selbstgefühl nicht so viel Ersetzung finden, als die Männer die
als Bewahrer des Menschlichen Geschlechts stark seyn sollen
Neid ist ein Mißvergnügen über des andern Wohlfart: dies ist
bestimmung vielleicht noch nicht Erklärung. — Kann ich die Wohl-
fart des andern als Ursache meines Unglücks ansehen, so ist dieser 35
Haß noch nicht Neid — Das Glück des andern, waz ihm nur aus-
schließungsweise mit meinem Glück begegnen kann, erregt nicht einen
Neid, eigentlich nur Mißvergnügen über die eigne Beraubung nicht
über des andern Besitz eigentlich.
Praktische Philosophie Herder 55
Ein Mißvergnügen über des andern Wohlfart, deren Anblick meine
Schwäche in größer Licht stellt, ist ein leidlicher Neid Ein Mißver-
gnügen über des andern Wohlfart, deßen Unglück mein Glück in
größer Licht stellen sollte, ist der ärgste Neid z. E. des erstem, — wenn
5er bei einer Contribution weniger geben darf: etc. daher ist die All-
gemeinheit des Trostes allgemein: — dies ist eigentlich nicht Neid,
sondern Empfindung des eignen Unglücks, das durch das Gegen-
verhältniß stärker wird : —
Möglichkeit des 2ten: des eigentlichen Neides, der so ein Phä-
10 nomenon ist als Fäulniß und erklärt werden muß : — des andern
Unglück sezzt mein Glück in ein größeres Licht : — So wie die Gesund-
heit nach der Krankheit blos fühlbar ist. — Es ist aber nicht gut,
andern Unglück zu wünschen, oder zuzufügen, blos um das seinige
mehr zu empfinden; — der Neid ist dieses im eigentlichen Verstände,
15 der so lasterhaft ist (da er den wohlwollenden Leidenschaften so sehr
entgegen ist) als er selten ist: denn große Laster sind so selten als
Tugenden: und da wir blos verhältnißweise beides sind, und wir
andere nicht kennen: so werden viel vor Neid unbillig: — Nerons
Brand der Stadt Rom, blos um seine Regierung merklich zu machen,
20 war von der Art. — Indessen ist das schon Neid, da ich des andern
Unglück wegen meines Glücks wünsche, wenn ichs auch nicht
thue: —
Es soll aber die Zahl der Neider, die so vergeblich geglaubt wird,
lieber vermindert werden: weil 1) viele so wenig uns beneiden sollen,
25 die uns doch kaum bemerken 2) oft ist der Neid blos ein Mißvergnügen
über das eigne Unglück: —
Enstehungsart des Neides: — die übertriebenen Bedürfniße
lassen die Begierde nach fremdem Gut Gradweise wachsen, und da
das eingebildete Uebel in Gegeneinanderhalten mit dem andern
30 stärker empfunden wird : so nähert es sich dem Neide schon sehr : —
Vermeidungsart des Neides: — die Gnügsaml^eit, die die
Üppigkeit vermindert, übertriebne Bedürfniße und Sehnsuchten: —
so wie Sokrates auf dem Jahrmarkt sagen konnte : wie viel kann ich
entbehren. — Eine kalte Gleichmüthigkeit, die das meiste, nicht blos
35 vor Spielwerk, sondern goldnes Halsband, und Ketten ansieht, ent-
fernt vom Neide: — da so wenig beneidenswerth ist: — weil Glück-
seligkeit nicht in dem Schimmer besteht, wie auch nach dem Wuchs
der wahren Glücksmittel nichts ins unendliche wachset: = unser
eignes laßt uns geniessen mit der Tüchtigkeit eines Mannes: mit
56 Vorlesungen über Moralphilosophie
Rechtschaffenheit, und bei der Erfüllung der Pflichten seinen Werth
gemessen: — Um diesen zu fühlen — braucht niemand unglücldich
seyn und das übrige verachtet er ja : und eben die Rechtschaffenheit
ist dem Neid entgegen — Er fühlt seine Würde, die nie niedergeschla-
gen wird: 5
Nach eiferung: — andrer Beispiele zu Mustern der Vollkommen-
heit genommen sind ein Muster der Tugend mehr :
So bald ich an andern Tugenden sehe, sehe ich ihre Möglichkeit
Leichtigkeit: so reizt dies in concreto mehr, als die Betrachtung in
abstracto : = allein es gibt eine tadelhafte: wenn ein Mißvergnügen 10
über des andern Vorzüge der Grund einer Bestrebung ist, zu derselben
Vollkommenheit sich zu schwingen: diese ist oft Neid, oft führt sie
zum Neide : und diese heißt Eifersucht : und ist oft (doch unächt) ein
Grund der Nacheiferung: — Der andere wird mir gleich wenn ich
vollkommen wie er, oder er unvollkommen wie ich werde: — Da nun 15
die Eifersucht dies beides nicht unterscheidet, sondern gleichgültig
ansieht, so ist sie im lezten Fall böse : — Da nun es immer leichter ist,
33 Vollkommenheit / herunterzusetzen, als sie zu erhöhen : so sucht die
Eifersucht, die blos die Ungleichheit verhüten will, mehr zu zer-
stören : und ist dies insonderheit bei der Ehre, daher die Verkleinerung 20
von des andern (bricht ab}
Die 3 Triebfedern der Schulen: Strafe, Lohn, und Eifersucht, sind
zwar poUtisch gute Mittel zu Zwecken : aber nicht moralisch, da blos
die Schätzung des Werts verhältnißmäßig ist, nie aber absolut: da 25
doch die edlere Selbstschatzung und Demuth blos absolut ist : — bei
den Weibern, die durch ihre Schwachheit einnehmen, ist die Eifersucht
öfter, als Männern.
Gewiße Arten von MoraHschen Regeln, sind so plump, als der Rath
des Arzts: Sey gesund: — Freue Dich! ist oft so viel als sey 6' hoch: 30
= wenn das Gefühl voraus gesezt wird: so kann ich das sollen
brauchen: — wie ich mir die Gemüthsart erwerben kann, soll die
Moral sagen : — nicht daß man sie erwerben soll : — so bald sie schön
ist, so versteht sich das schon: — Diese Regel der Möglichkeit ist
schwer, macht die Moral verwickelt 35
Undankbarkeit. — Uneigennützige Liebe bringt vt plurimum
Liebe hervor: ist eine Erscheinung: so gar bis auf den Elephant. eine
Liebe des Gefallens und des Wohlwollens : — der ist undankbar, der
diese Liebe des Wohlwollens nicht hat:
Praktische Philosophie Herder 57
Manche Triebe sind nicht aus dem Menschen zu erklären wohl aber
aus den Absichten der Vorsicht, daß ein jeder Theil des Ganzen nicht
blos innere Schönheit, sondern äußerlichen Anstand habe. So bringt
auch Liebe Gegenhebe hervor: — Nun kann Undankbarkeit der
5 Mangel der Gegenhebe seyn — (ingratitudo defectus) und ist desto
größer je mehr der andre hat aufopfern müssen oder Undanlcbarkeit
ist so gleich ein Haß : und ist desto ärger : — Manche Menschen von
wenigem Gefühl haben auch die Undankbarkeit im Isten Verstände in
einigem Grade. Kalte Leute haben wenig Liebe des Wohlwollens. —
10 Wie ist aber der Haß gegen den Wohlthäter zu erklären ? — Die
Quellen des bösen sind im Menschen nie unmittelbar: ruhige Bosheit
ist in ilim nie ; ob gleich oft die gute Absicht sehr versteht ist z. E. bei
dem Neide : — indessen ist doch stets eine physisch gute Absicht ver-
borgen : — Und die Menschen können sich also auch kaum die Mög-
löhchkeit derselben vorstellen: und also den absoluten Neid schreiben
sie blos dem Teufel zu: — Das Menschhche Herz empört sich am
meisten gegen eine qualificirte Undankbarkeit wenn sie ein wenig
colorirt: — Inlde ist eigenthch eine Geschichte des Pater Labat.
— Ist der Beweggrund, Danlibare zu sehen, der Grund einer Wohlthat,
20 so ist es eben dadurch nicht Gütigkeit und kann also auch nicht
Dankbarkeit erwarten, die blos auf die Gütigkeit folgt. Der stets über
Undankbare klagt, scheint wenig Gütigkeit zu haben: — indessen
kann man doch über Undanlc klagen: und daher entstehen oft aus
den gefühlvollsten Leuten IMisanthropen. — Ein jeder, dem eine Wohl-
25that erzeigt worden, steht in Verbindlichkeit — Ein jeder freier
wird am wenigsten Wohlthaten annehmen wollen, blos durch Dank
verbunden des Wohlthäters selbst, wird die Scham des edlen Ge-
müths vermindert, das durch den Empfang einer Wohlthat gebeugt
wird. — Und auch die D a n k s a g u n g ist solchen freien Seelen schwer,
30 und sie werden also mit einem Worte mehr verbinden als wirkhch
Undanl?:bare mit langen Quittancen von Danksagungen, die ad plus
dandum invitiren etc. Und auch die Erwiederung der Wohlthat
kann nie die Wohlthat bezahlen, (so wie jener Wilde seinen Vater),
sie müste denn physisch weit größer: — Die Moralität kann nie er-
35 wiedert werden — Die Dankbarkeit gegen Gott ist die gröste, da er so
uneigennützig wohlthätig gewesen etc. etc. etc. Aber nicht blos waz
seyn soll, sondern es ist etc. — auch die gutartigen Menschen haben
wenig Danlvbarkeit, wenn sie mit sich selbst sprechen: — als denn
würde man keine eigennützigen Beweggründe zum Guten ihm sagen
58 Vorlesungen über Moralphilosophie
müssen ? — Woher ? — Die Wohlthaten Gottes stellen wir uns ordent-
lich nicht als solche großen Zeichen einer Gütigkeit vor ? — Weil
eine kleinere Güte bei Menschen schon Beraubung f odert : und Gottes
gröste nicht — Ihre eigne Gütigkeit nehmen sie also zum Maasstabe
an: — &
Die Barmherzigkeit. Das Vermögen uns in die Stelle eines andern
zu setzen, ist nicht moralisch, sondern auch logisch, da ich mich in /
34 die Stelle eines andern setzen kann z. E. eines Krusianers : — So auch
in Moralischen Dingen, da ich mich in die Empfindung eines andern
sezze, um zu fragen, waz er hiebei denken wird: — Sezze ich mich lo
durch Fiktion in die Stelle eines andern so ist dies hevristisch,
um beßer auf gewiße Dinge zu kommen. Sie kann ganz geschickhch
seyn aber nicht moralisch, da ich nicht in seiner Stelle bin : — Außer
der wahrhaftigen Sympathie, da wir uns wirklich in seiner Stelle
fühlen: — Das Mitleiden wäre zur Moralität nicht gnug: — In deris
Wildniß sind die Instinkte gnug: ein jeder sorgt vor sich: wenig
Elende : und alsdenn reicht das Mitleiden zu ; — In der bürgerhchen
Gesellschaft wo Elende multiplicirt sind, so würde es — so sehr aus-
gedehnt — oft vergeblich seyn, blos kränkend seyn — folglich sehr
geschwächt werden, und nur auf dem gr Osten Elende afficirt werden 20
— Indessen bei dem gemeinen Mann, der weniger bedarf, mehr also
theilnehmendes haben kann, der Einfalt näher ist, werden diese Mit-
leidige Instinkte größer seyn. — Der politische Mensch wird sehr
durch eigennützige gekünstelte Begierden gehalten: — folglich tritt
hier an die Stelle des Mitleids der Begrif von dem waz recht ist; 25
waz geziemt; Dieses kann nie vergeblich sejni weil ich zu unmög-
lichem nicht verbunden werde: — hier wird die Tugend ruhig, ver-
nünftig, und bleibt nicht blos thierischer Instinkt, welche leztere
zwar im Naturzustande ziemlich regelmäßig wirken: — aber im ge-
meinen Politischen nicht zulangen 30
Rache ist eigentlich ein Vertheidigungstrieb : geht aber weiter über
die Schranken, so weit, daß die Nordamerikaner unmittelbar an Rache
Vergnügen zu haben scheinen. Indessen wollen sie blos vielleicht ein
Muster der Standhaftigkeit sehen dadurch sie ihre Krieger an-
muntern : — Die Grausamkeit der Kinder komt daher, weil es gleich- 35
sam ein tragisches Schauspiel macht: so wie wir gern starke Leiden-
schaften, starke Handlungen z. E. Exekutionen sehen. — Geschwinde
Grausamkeit rührt uns mehr als allmähliche : — Dieberey, die langsam
todtet ist oft härter als plotzhche Tödtung: — wenn ein Patriarch
Praktische Philosophie Herder 59
Iväme etc. etc. — theatralisch und morahsch sollten diese mehr be-
rühren. — Inhumanitas — Humanitas ist Menschlichkeit oder Leut-
seligkeit, die lezte zeigt sich
1) durch natürliche Zeichen: Minen, Worte, kleine Gefallen
5 2) durch willkürliche Zeichen: Gratulation etc. deren Mangel in-
humanitas zeigen möchte : Doch da das vornemste Zeichen der Natur
Einfalt ist; — so zeigt eben auch der Überfluß des Künstlichen den
Mangel des Natürlichen — und es gehört Kunst dazu, um die Kunst
zu vermeiden und der Natur zu folgen : von dem geziemenden abzu-
10 gehen und über den Redegebrauch zu Empfindungen aufsteigen : und
das beste ist, dem andern nichts zu sagen (sondern durch Minen und
Thaten) da das Sprechen schon einen Verdacht der künstlichen Leut-
seligkeit. — rusticitas ist natürlich oder bürgerlich, natürlich
da man selbst kleine Gefälhgkeiten nicht empfindet, und sie also auch
15 bei andern unterläßt : — sie kann oft bei Rechtschaffenheit eine
Kleinigkeit seyn ja da sie selten ist: so pflegt sie oft bei starken Per-
sonen ein Empfehlungsmittel zu seyn oder 2) bürgerlich ist wider
die angenomenen Zeichen der Höflichkeit. Da sie 1 a n ge im Gebrauch
sind, werden sie beinahe Natur: — Sie zeigte entweder eine große
20 Unempfindlichkeit der Höflichkeit oder Verachtung der Gesellschaf-
ter: — Doch gibts auch Pedanterei hierin: die unsere Aufmerksamkeit
von größern Dingen abzieht: —
Offenherzigkeit. — Der das Sprichwort erfand: geh mit deinem
Freunde so um als Feind, hätte mit ihm unter dem Galgen sollen
25 zusammenkommen : —
/Lüge ist blos zu eingeschränkt, als Beleidigung des andern; un- 35
mittelbar ist sie schon abscheulich, als Unwahrheit, da diese a) die
Menschliche Gesellschaft innigst trennt: und die Wahrheit das Band
der Menschlichen Gesellschaft ist; blos Wahrheit ist verloren, und
30 damit alles Gluck der Menschheit; alles ist maskirt, und jedes Kenn-
zeichen der Höflichkeit ist Betrügerey: — wir bedienen uns andrer
Menschen, unsers besten willen, die Lüge ist also ein Großer Grad
der Unwahrheit, b) so bald der Wahn der Ehre, ein herrschender
Grundsaz wird, so sezt dies der Lüge schon keine G ranzen. Eigennutz
35 kann kein so großer Grund seyn da Lüge nicht ein daurend Mittel
des Vorteils ist; da andre ihn fliehen. — Die allergewinnsüchtigsten
Kaufleute sind im Handel die ehrlichsten; blos aus Eigennutz
und dieser ist also oft ein Grund der Wahrheit etc. — Der Wahn der
Ehre macht Lüge leichter; da der innere Gehalt nicht so augenschein-
60 Vorlesungen über Moralphilosophie
lieh ist hier; z. E. Religion, Wohlbefinden kann leicht vorgegeben,
und nicht so bald entdeckt werden c) die Sehnsucht nach Phantasti-
schen Vollkommenheiten, die vielleicht sich nicht vor sie geziemen,
z. E. ein uneigennütziger Diensteifer ist phantastisch zu hoch vor
uns ; da wir aber in einigen Stücken ihm doch dienen können ; so will 5
man sich phantastisch selbst aufopfern, und da sie es nicht seyn
können; so wollen sie es doch scheinen: 2tes Exempel — Phan-
tastische Begierde nach unendhcher Erkenntniß die uns unmöglich
ist, macht Schein dieser Erkenntniß; bei dem Luxus im Wissen und
Geniessen findt sich also die Lüge , die dem natürlichen Menschen 10
die allerabscheulichste ist ? Werth der Wahrheitsliebe 1) sie ist
der Grund aller Tugend, das erste Gesetz der Natur Sei wahrhaft!
ein Grund
1) der Tugend gegen andere: da wenn alles wahrhaft wäre seine
Unwahrheit aufgedeckt: Schmach 15
2) der Tugend gegen sich da er sich gegen sich selbst nicht verbergen
kann; und seinen Abscheu einhalten zu können.
Die Beschämung (die nachher dem Wahn untergeordnet ist, und
selbst die besten Handlungen überdeckt) scheint ein Naturmittel zu
seyn (pudor nicht blos pudicitium in Wollust) die Wahrhaftigkeit zu 20
befördern; und Falschheit zu verrathen: — Möchte man die Beschä-
mung blos, um die Lüge zu verrathen brauchen: so ist sie sehr
brauchbar: — Die Vorsehung würde sie gewiß nicht zum Wahn
36 gegeben / haben, da sie die gröste Marter ist; sondern zum Verrath,
unwillkuhrlichen Verrath ist sie gegeben. Sie ist nie gewesen uns 25
zu angstigen, sondern etwaz zu verrathen, waz die Natur nicht
verbergen wollte; — Diese Schamhaftigkeit so nutzHch zu brau-
chen zum Gegengift wider die Lüge: muß man die Beschämung zu
nichts anders brauchen, nicht z. E. zum Entblössen: hier blos das
Mittel der Nachahmung : hat er sich dum aufgeführt oder geredet, so so
überzeuge ich blos, und als Kind geziemt ihm viel, waz dem Mann
nicht geziemt Gesezt ! daß er aber ohngeachtet seiner Wahrheitshebe
doch einmal lüge, aus Eigennutz da die Wahrheitshebe nicht so
lebhaft ist, als physische Empfindung; alsdenn aber sage ich ihm
nicht von Gehorsam (davon hat kein Kind Begriff und kein Alter) 35
sondern blos von Unwahrheit: endhch bekommt er solchen Abscheu
als vor einer Spinne; Blutschande mit Schwester ist nicht abscheu-
lich, weil es göttliches Verbot ist; sondern weil es von Jugend auf
eingeprägt ist; solche Macht haben die Ideen des Entsetzens: und
Praktische Philosophie Herder 61
sähe ein Sohn des Vaters Abscheu vor Lügen, so würde nach der
Morahschen Sympathie er dasselbe einsehen. Sezt diesen erwachsen;
so würde sich alles beßern ; ich werde öffentlich sagen meine Absichten,
z. E. daß ich nicht zum Nutzen der Wissenschaft sondern aus Eigen-
5 nutz strebe ; ich würde mich zu einem Amte blos sehnen waz ich beklei-
den kann; Jezt ist aber Unwahrheit nicht blos in der Welt, sondern
auch vor Gott, in der Einsamkeit ! da man auch vor ihn nicht ohne Ver-
stellung treten kann; — Um Wahr zu seyn, müßte man jezt viel ent-
behren : Daher scheuet ein jeder Wahr zu seyn — höchstens im Schlaf-
10 rock. Die Unwahrheit kann endlich sich selbst betrügen : daher Selbst-
prüfung eben so schlüpfrig z. E. die schöne Seite der Gutherzigkeit wird
vor die Lasterhafte Seite gehalten : und Menschen werden selbst gegen
Gott endhch betrügende: z. E. Freunde Hiobs: — gewiße Unwahr-
heiten heißen nicht Lügen weil diese eigentlich Unwahrheiten
15 sind, die der Pflicht entgegengesetzt sind; nicht aber blos nach
Autors Meinung der Pfhcht gegen mich; sondern auch gegen
andre: — die Wichtigkeit der WahrheitsHebe ist so groß daß man
fast nie eine Ausnahme machen kann
Die Unwahrheit zum hohen Vortheil des andern hat noch
2oetwaz der Tugend nahe verwandtes Erhabnes: — Indessen ist die
Wahrheit zum Nachtheil seiner selbst zu reden noch erhabner:
und zum Vorteil seiner selbst Unwahrheit zu reden, ist zwar stets
Unmoralisch / da aber die höchste Moralität nicht gleich diesT
Moralische Stuffe der Menschen ist: so ists zwar nicht gleich
25 ausgemacht ; aber da die Gränzen der Stärke und Verbindlichkeit
eines Menschen schwer zu bestimmen sind; so wird diese Menschen
Ethik der Unwahrheit so verwirrt seyn als die Logica probabilis.
— Ein jeder Feiger lügt: z.E. Juden nicht blos im Handel sondern
auch im gemeinen Leben; Judenrichter ist das schwerste; sie sind
30 feige: z. E. Kinder, die feige erzogen werden, lügen; da sie schwach
sind, sich zu überwinden etc. nicht aber jeder Lugner feig; da es auch
abgehärtete Bösewichter gibt.
In manchen FäUen scheint eine kleine Unwahrheit schwachen Per-
sonen nicht entgegen zu seyn, bei uns ; oft verwickelt ; wenn der andere
35 waz fragt; er nicht stillschweigen kann, das wäre bejahen; etc. etc.
Kurz man untersuche: den Grad der Morahtät, der den Menschen
angepassen: — man kann so wie alle feine Neigungen auch die Be-
gierde nach Heiligkeit erweitern ; es können nicht alle Sittliche Men-
schen sein, die schwach, bedürftig, sind, da vnr in wenigen Fallen Hei-
62 Vorlesungen über Moralphilosophie
ligkeit erreichen können : — wenn unsere Unwahrheit mit seiner Haupt-
absicht übereinlvommt, so ist sie böse; wenn ich ein wirkhch großes
Uebel blos durch dies Mittel verhüten kann : so etc. hier tritt Gut-
herzigkeit an die Stelle der Offenherzigkeit; = ein großes Gut durch
Unwahrheit zu erlangen, ist lange nicht so zu entschuldigen, als ein 5
großes Uebel durch Unwahrheit abzuwehren ; denn 1 ) unsere Neigung
zu unserem Glück ist oft phantastisch und Moralität deßwegen nicht
aufzuopfern 2) ein Aufheben deßen, waz ich besitze ist größere Ver-
neinung, als ein Abziehen des, waz ich haben könnte — Nothlüge
ist contradictio in adjecto oft ; so wie künstlicher Rausch ; — sie ist lo
Unwahrheit nicht wider Verbindlichkeit; so ist sie nicht Lüge
eigentlich. Scherzhafte Lügen wenn sie nicht vor wahr gehalten
werden, sind sie nicht unmoralisch. Ists aber, daß der andre es immer
glauben soll; und schadete sie auch nicht; so ists Lüge; da es
wenigstens immer Täuschung; — Unwahrheit sezt Wiz voraus, undis
Geschicklichkeit; daher künstliche Lüge, Ehre; z. E. Hofleute
Politicer müssen durch Lügen ihre Absicht erreichen und jeder
fliehe solchen Stand, wo Unwahrheit ihm unentbehrlich ist
Die Neigungen des Menschen in der Natur sind von denen zu unter-
scheiden, die sich durch künsthche Triebfedern entwickeln ; ein vor- 20
ssnemstes Stuck der Selbstkenntniß. / Eine Ethik vor den Menschen,
bestimtin seiner Natur ist noch zu schreiben, nach seinen Erkenntniß
Kräften und Fähigkeiten — Denn durch die Vernunft kann man auch
vernunftige Vollkommenheiten erkennen die sich vor ein höhers Wesen
zwar, aber vor ihn nicht paßen: — hier untersuche man seine Schran- 25
ken: und den Menschen der Natur kennen zu lernen, halte man
dies zur Regel, daß man die Stücke nimt, die vor jede Kunst un-
veränderlich sind, und waz denen zuwider ist, wird gekünstelt seyn. —
solche regelmäßige Naturneigungen sind 1) Selbsterhaltung 2) und
Neigung sein Geschlecht zu erhalten; die können durch Reflexion so
vermehrt, vermindert werden, aber nicht die Reflexion wirkt den
Trieb: Man muß auch wider die Reflexion eßen sich bedecken: —
blos wollustig ist der Geschlechtertrieb; — Die Einrichtung der
Natur ist alt, ursprünglich, un verhinderlich, Reflexion:
a) Freiheit ist auch Trieb; weil ein jeder seinen eignen Willen 35
befolgen will; und wider die physische Hinderniße weiß er Mittel;
nicht aber wider den Willen des andern; und dies hält er für das
gröste Unglück; es ists auch; da es theils weit kränkender ist theils
Praktische Philosophie Herder 63
unabhelfbar; Daher sind alle Thiere gleich frei; aus der Freiheit
entspringt
b) die Begierde der Gleichheit insonderheit in der Stärke: (sonst
auch List) weil die das (bricht ab}
5 Aus dem Triebe zur Gleichheit entspringt
c) der Trieb zur Ehre; will der andre mich seiner bemächtigen: so
muß er denken: ich bin ihm gleich: das ist Ehre; die ist zwiefach
1) mich selbst zu erhalten: Stärke zu haben, und beweisen; um
nicht Knecht zu werden
10 2) seine Art zu erhalten: der Mann, der Stärkere, begehrt des
Weibes Zutrauen; also daß er sie erhalten, verteidigen könne; er
wird sich Frau wählen, und muß machen, daß er ihr gefällt: und
da sie schwach ist, so sezt sie den Werth in Tüchtigkeit. — Dieser
2te Trieb der Ehre wirkt mehr als der Iste; daher Roußeau den
15 Geschlechtertrieb veredelt ; dem ersten kann er Trotz bieten ; aber
dieser wirkt stark
Der Trieb zu wissen liegt nicht in der Natur; uns zwar jezt un-
entbehrlich aber blos durch lange Uebung: Langeweile ist blos für
uns Grund / Der Trieb zur Wissenschaft aus Selbsterhaltung 39
20 hangt blos von der Zufälligkeit des Zustandes ab : aus der unmittel-
baren Ehre niemals; sondern stets Zweck:
das kann nicht in der Natur liegen waz 1) nie befriedigt werden kann
2) mit der Kürze des Lebens und großen Begierde disproportionirt ist.
Ueberhaupt ist das unnatürlich, waz den Trieben der Natur
25 entgegen ist zu dem WissenschaftsTrieb:ist nicht blos etwaz dem
Selbsterhaltungs- sondern insonderheit dem Geschlechtertriebe Ent-
gegengesetztes :
Indessen muß ich blos den Menschen der Natur kennen; nicht
bei der jetzigen Verknüpfung, es zu seyn; es darf zwar mein Herz
30 sich nicht darnach sehnen, aber ich muß mich doch p a ß e n ; also Ehr-
sucht sey nicht leidenschaft, da ich sie verachte; also nicht Pest; aber
doch als Zweck, um wirksam zu seyn: also Wißenschaft etc. nicht
ein blinder Durst (folglich nicht ohne sie lange weile ; nicht ungesellig ;
nicht verachtend den Ungelehrten, sondern glücklich schätzend) aber
35 doch äußerlich; als Zweck; Nie kann man Tugend anders in sich
erreichen: — Denn der Moralist, Geistliche sezt
1) Gemächlichkeiten, Ehre etc. etc. schon zum Voraus: die doch
unnatürlich ist
64 Vorlesungen über Moralpliilosopliie
2) dehnt die Pflichten wider die Natur aus z. E. Ehe nicht aus
Geschlechtertrieb sondern aus Gottes Befehlen: — man erkünstelt
sich auch falsche Tugenden: — die dem natürlichen nahe dem
künstlichen Menschen zu hoch und hyperbolisch sind: Der ist
glücldich der gut ist ohne Tugend (mit Empfindung ohne Begriffe : 5
der Mensch thut; Philosoph weiß es). Der ist glückhch der ver-
ständig ist ohne Wißenschaft; beide leztere sind blos Schimmer:
etc. — Plan von beurteilungen des gemeinen Urteils; — Unter-
suchung der Natur und Kunst; daher beurteilen der Projekte. Man
sehe nach dem Mittelmaß zuerst; sonst erreicht man nie das Hohe: 10
vor das unser Leben gemeinighch zu kurz, Projekt zu phantastisch ist.
40 /§. 348. Verhältniß der Menschen; zum Begrif des Systems der
Menschenliebe: die Liebe des Wohlwollens (anderer größerer Wohl-
fart) ist entweder thatig oder wünschend. Die blos sehnsüchtige
oder wünschend ist, komt entweder vom Grad der Schwäche oder 15
von der Beschaffenheit da sie blos phantastisch ist : denn ein gar zu
hoch gesteigerter Grad vor mein praktisches Vermögen ist eben so
unthätig als der fehlende: — Ueppigkeit in der Morahte macht
auch solche Wünsche und Sehnsucht, die deßwegen nicht gut ist da sie
1) unnutz 20
2) betriegend da sie Zeit verschleudert, und wirklich Praktisches
verhindert : denn die wenige Praktische Liebe hat die gar zu große
Phantastische zur Ursache . Um also beide zu untersuchen sehe man
1) ein Mensch liebt den andern nicht eher thätig, bis er sich
selbst wohlbefindet: da er das principium des Gutes des andern ist: 25
so beßere er sich erst: Er sey vor sich zufrieden: und also je mehr
Ueppigkeit desto weniger Praktische Menschenhebe. Denn jene ver-
mehrt Phantastisch die eignen Bedürfniße; und macht also die
Praktische Liebe schwer d.i. eo ipso selten; — Um sie praktisch
zu machen macht sie mit sich zufrieden; viel entbehrend; daraus so
Praktische etc. alle übrige Triebfedern machen Phantastische Triebe ;
— Daher wird im Stande der Einfalt viel im luxus wenig Praktische
Menschenhebe seyn; aber mehr Phantastisches, und da man dieses
nicht befriedigen kann, da sonst das ganze Menschliche Geschlecht
vor mich wäre, so wünsche ich blos; und habe mir blos die Phan- 35
tasie erdacht, weil ich das Praktische vermißte ; — Nehmt den Men-
schen der Natur (nicht den Menschen in Wäldern, der ist vielleicht
Chimäre) sondern den einfaltigen mitten in der künstHchen Gesell-
schaft; der sein Herz an nichts hangt: Ein Mensch der reell liebt,
Praktische Philosophie Herder 65
liebt eingeschränkter; und es kann nicht auf alle seine Liebe
gehen, ohne sich selbst zu vergessen, seinen Standpunkt zu
beobachten : — Ein natürhcher Mensch bekümmert also sich um sich
selbst ; ohne viel nach dem Wolübefinden sich zu erkundigen. — Unsere
5 Theilnehmungen als Komplimente sind lappisch ; — indessen wird
doch seine liebe praktisch seyn z. E. der plötzlich in Gefahr ist;
hier kann dieser Instinkt nicht durch Bosheit ausgerottet werden ; er
verbindet das ganze Menschliche Geschlecht; und ist mächtig, da er
oft nicht der Vernunft wartet / Indessen ist dieser wahre Praktische 4i
10 Instinkt nicht so wohl das Gute zu vergrößern als großen plötz-
lichen Schaden zu verhindern; und so bald sie zu groß ist vor
seine Kräfte; so sind die Wünsche, Mitleiden vor ihn zu läppisch; er
muste sich von sich selbst zerstreuen; und lenkt also mit ganzer
Willigkeit seine Gedanken ab : — Jezt in bürgerlicher Gesellschaft da
15 die Bedürfniße sich vermehren: — die Gegenstände des Mitleids
sich häufen ; das Vermögen der Menschen selbst abnimmt ; da sie theils
reell teils durch den Wahn schwach und also elend sind; da die Uebel
des Wahns, die mich eingebildet, und tausend andre reell ähn-
lich machen, sich mehren: waz muß hier Menschenliebe seyn?
20 Eine Narbe: eine eingebildete Menschenliebe, eine Sehnsucht der
Phantasie ist die Natürliche Folge: So breitet sie sich jezt aus; und
verdirbt das Herz; — da man dem Menschen durch Moral die
Phantastische Menschenliebe so weit durch Unterricht einflößt; so
bleibt dies im ganzen Leben Spekulation ein Gegenstand der Romane
25 z. E. Fieldings etc. die keine Wirkung hat weil sie zu hoch ist und
2) die Hinderniße nicht wegräumt. — Die wahre Liebe ist
1 ) die Gerechtigkeit : — Sie ist die Liebe der Natur, die Fvmdamental-
liebe: da sie sich auf ein lebendig Gefühl der Gleichheit gründet;
sonst wird Gunst etc. daraus; hier aber Gerechtigkeit; ich nichts
30 schuldig; — Die Gleichheit, daß der Natürliche Mensch allen andern
und alle ihm gleich ist; und da die Moralische Sympathie allen
eingeprägt ist sich an die Stelle der andern zu setzen : so folgt daraus
lebhafte Gerechtigkeit. Aus ihr entsteht die Schuldigkeit
andrer ihre Uebel zu lindern; die gleich ist der Gerechtigkeit z. E.
35 einer der mich nicht vorm Graben warnt ; du wirsts von andern f odern
folglich must dus thun. Ohne Menschenliebe würde diese Gerechtig-
keit blos Schein seyn. Der Mensch im bürgerlichen Zustande hat nur
gegen wenige Gerechtigkeitsliebe zu haben: denn freilich das
ganze Menschengeschlecht hat dazu Schuldigkeit vor jeden
5 Kant's Schriften XXVII/1
66 Vorlesungen über Moralphilosophie
einzelnen Menschen; nicht aber jeder Mensch, weil seine Möglich-
keit abnimt; — aus der Menschenliebe wird Gunst entstehen:
da er Menschen auswählt ; ohne besonderen Zwang, ohne Verdienst;
— Die Liebe der Gunst, wenn sie nicht künstlich, zu hoch, zu über-
windend seyn soll, so ist sie auf Menschenliebe gebaut : — Hier ist zu s
untersuchen, wie weit lassen sich Gesellschafts Pflichten auf die
Menschenliebe und Schuldigkeit gegen ihn aufpropfen; auf die
Gerechtigkeit, dies ist unentbehrlicher Zweck der Sittenlehre und
die Gerechtigkeit wird auf die hohe Empfindung der Gleich-
43 heit gegründet. / Es ist im Menschen eine moralische Sympathie sich lo
in die Stelle des andern zu setzen: sie ist der Grund der gerechten
Liebe; die es vor Schuldigkeit hält etc. das Gegenteil vor haßens-
würdig hält. Die gerechte Liebe unterscheidet sich von der gütigen
Liebe : da jener ihre Unterlaßung zu haßen ist; und der gütigen Liebe
Unterlaßung macht, daß man nicht in höherm Grad zu loben ist: 15
— Handlungen, dazu ich durch die Regel der Gerechtigkeit verbunden
bin, sind Schuldigkeiten; — Die Grenzen zwischen beiden, da je-
mand den andern hassen muß; und blos nicht liebt, sind sehr ver-
schieden: aber schwer zu unterscheiden. — Wer etwaz vor eine
Schuldigkeit seiner selbst hält, würde sich haßenswerth finden: 20
— Die Natur hat uns nicht gütig gebaut; sondern selbsterhaltend;
aber doch sympathetisch gegen das Uebel des andern, doch so daß
nicht das Facit 0 sey; daß ich nicht so viel aufopfre als ich rette:
sondern mich und meine Art erhalte:
Im Natur Zustande gibts wenig Schuldigkeiten und ihre Empfin- 25
düng ist groß :
Im bürgerlichen Zustande gibts mehr Schuldigkeiten und ihre
Empfindung ist klein :
Dort haben die Menschen wenig mit einander zu schaffen: — aber
die Hülfleistungen, die sie auch treffen, betreffen den Natur Zustand; 3o
Uebel der Natur nicht die erkünstelten Wahnübel
Hier ist das Commercium größer. Viele Hülfsleistungen nothig;
auch wegen der vielen erdichteten Uebel also viel Gründe der Hülfs-
leistungen ; aber mehr Schuldigkeiten selbst ; — viele leben ungerecht
auf Kosten anderer; und tragen also so viel Schuldigkeiten, daß nicht 35
vor Güte Platz bleibt. Sie sind ein Großer Grund vor Gewaltthätig-
keiten gegen andre ; und deren ihr Unglück ist ihnen nicht gleichgültig,
wie im Stande der Natur sondern sie habens gemacht; also viele
Schuldigkeiten und hier ist das Iste axioma: alle Menschen sind
Praktische Philosophie Herder 67
sich gleich: dem Wilden ists princip; uns aber die wir weit abirrten,
ists zu beweisen, und der Grund der Ethik. Ein jeder Mensch hat
gleiches Recht auf den Erdboden = die Schuldigkeiten nehmen
also zu; aber ihre Empfindung ab; da 1) die Empfindung der
äGleichheit abnimmt; — Ich empfinde meine Hohe obgleich noch
Reihen über mir sind und denke Gott nachahmen zu wollen; da ich
doch Schuldigkeit habe; da 2) die Moralische Sympathie
abnimt: eine Ursache von der Härte der Vornehmen, und des Un-
glücks der Armen: — Ihre Unterdrückungen bleiben gilt; da der
10 andere auch nicht praetension drauf macht
Handlungen der Güte: — Der Mensch übertreibt seine Moral
phantastisch, stellt sich die volllcommenste Güte vor; gebärt Gali-
mathias; aber die eigne Bedürfniße ? — Responsio der Stoiker: ich
will mich über mich erheben, will Wilder werden, über eigne
15 Qualen, Bedürfniße erhoben seyn und mit all meiner Macht Güte
seyn, das Bild der Gottheit seyn. Wie aber Gottheit thut keine
Schuldigkeit; aber du allerdings; ein jeder hat ein Recht an mich;
meine Arbeit Hülfe; jezt fällt der Gott weg; es bleibt der Mensch,
ein arm Geschöpf, voll Schuldigkeiten; — Seneka war ein Betrüger;
2oEpiktets selten; und phantastisch: — Alle Güte ist an sich nicht
Schuldigkeit; daraus folgt, daß unsere Erziehung und unsere
zwiefache Erziehung so seyn muß, daß unsere Theilnehmung nicht
phantastisch werde; sondern praktisch eingeschränkt bleibe; Ich
muß gerecht seyn: und nahe an Schuldigkeiten bleiben; — die
23 hohe Prätension, das ganze Menschhche / lieben zu Avollen, betrügt. 4$
Wer Tartar liebt, nicht seinen Nachbar; alle, keinen; also weniger.
Statt der Hülfleistung gegen alle; blos Leutseligkeit die
1) nicht Haß ist
2) blosse ruhige Bereitwilligkeit bei Vorfällen zu dienen, nach
30 Kräften; aus Gerechtigkeit (nicht aber feurige Begierde) mit
Aufopferung: die liegt mir nicht ob, wohl aber Leutseligkeit, die
schön ist, da sie aus der Gleichheit entspringt, mit der Selbst-
schätzung besteht; Geringern nicht blos Gunst ist, sondern leutselig.
— Vornehmen nicht Haß; sondern Leutseligkeiten; denn sie sind
35 blos gleich; alle Gunst beleidigt; — hier werde ich nicht kriechen,
nicht verachten — ich werde ohne hohe Tugendideen ehrlich
seyn, ohne ein großer Heiliger seyn zu wollen.
Beurtheilung andrer: geziemt sie sich = das ganze Mensch-
liche Geschlecht zu beurteilen ist geziemend und lehrreich; nur muß
68 Vorlesungen über Moralphilosophie
man weder zu schmeichelnd, noch zu hart seyn — Man unterscheidet
nicht die bürgerliche Gesellschaft von dem Naturzustand ; der leztere
ist immer liebenswürdig; obgleich der Iste die groste Fehler einge-
führt hat. Pascal nent das die feinste Achtsamkeit eines Moralisten,
daß er weder den Menschen zu stolz, noch zu niedrig mache. 5
Das Urteil über einzelne ists geziemend ? Responsio §. 350.
vielleicht der Fehler des Naseweisen. Unter die leeresten Bemühungen
gehörts, weils 1) die Beschäftigung mit mir schwächt
2) aus der Partheilichkeit gegen sich werde ich dem an-
dern Unrecht thun ; mir schmeicheln ; daher ist das Urteil über andere lo
oft großer Fehler doch oft auch sehr nöthig: damit wir weder
gar zu hohe, noch niedrige Meinung von andern haben: und diese
ist sehr einfließend, da die erste Aberglauben, Abgötterey,
Nachahmung gemacht hat: — natürliche Moralische Heiligen gibts
nicht; und meine Meinung von mir muß selbstschätzend seyn:i5
die Politischen Nachtheile daher zu geschweigen
Die zweite zeigt Stolz: indessen ists wahr, das Menschliche Ge-
schlecht ist nicht so gut, und böse als es scheint. Sie sind sich gleicher,
als man glaubt, und in jedem ein Rest der Sittlichkeit übrig: Das
Urteil über einzelne Stände und Sekten ist hier gemeiniglich sehr 20
schwindelnd
§. 351. Man wird durch Neigung, Leidenschaft Vorurteil etc.
praeoccupirt, durch Sekte, Religion etc. etc. und sie ist nachtheilig,
da wir in andern Stücken des Unterschieds wider sie sind — Wo
fehlt der Mensch am wenigsten, wenn er zu nachtheilig, oder vor- 25
teilhaft urteilt ? das lezte kann von mehr Verstandesschwäche, aber
auch von mehr Gütigkeit des Herzens, zeugen, ja gemeiniglich auch
mehr der Wahrheit gemäß sein, da der Mensch
1) nie mit gutem Willen; sondern aus Zwang, lasterhaft ist: und
das Laster blos als Mittel zu an sich guten, aber im Excess bösen 30
Absichten gebraucht:
2) da der Mensch oft gut wird, wenn er sieht: man hat eine gute
Meinung von ihm z. E. das Regiment von Navarra ist daher tapfer:
Frau oft deßwegen unkeusch
3) da der böses Urteil fällt, der sich selbst bösartig fühlt z. E. 35
der Eigennutzige, Wollüstige ; Gute Leute werden oft nicht aus Dumm-
heit sondern Güte betrogen
44 / 352. Ist ein lobspruch in der Gegenwart des anderen allemal Schmei-
chelei ? Responsio Nein ! oft kanns ihn in Sicherheit sezzen : nur in der
Praktische Philosophie Herder 69
Gegenwart ists schlüpfrig weil bescheidne Personen darüber be-
schämt werden, nicht weil sie sie nicht suchen, sondern recht verbor-
gen suchen, und ara meisten — Sie wissen daher keine Mine anzuneh-
men : weil sie denken, statt des ganzes Lobes, das jezt offenbar ist,
5 Schande einzuerndten 2) ein Lob von Selbsterniedrigung des lo-
benden zeugt: ein Kennzeichen von einer großen Empfindung der
Ungleichheit macht verächtlich: insonderheit sei es nicht unter
Freunden, bei denen Gleichheit die Hauptabsicht ist.
Schmeichler darf sich nicht stets verstellen; sondern blos un-
10 bescheiden loben, weil dieses lappisch und schädlich ist; — Bei
Frauenzimmern ist Schmeichelei oft zuläßig: da
1) deren ihre Ehre blos durch einen großen Grad von Stolz er-
halten werden kann in unsern schlüpfrigen Zeiten : da der Männer ihre
Ehre dadurch nicht so verloren wird, als ihre Ehre; — Ein Frauen-
iszimmer muß also stolz seyn sonst ist es verächtlich, selbst einem
Ehemann seine Frau ; — Die Männer nähern sich diesem Stolz durch
Schmeichelhaftigkeit.
2) da ihre Manieren an sich immer ausdrückend sind, und redend
sind in Gesellschaft und diese Munterkeit kann nicht beßer aufgeweckt
20 werden, als durch kleine Schmeicheleyen. Doch muß man nicht
alles; nicht zu hoch rühmen; — indessen etwaz, waz ihnen ange-
nehm ist, auch etwaz mehr; — daß — Männer Männern Lobsprüche
blos aus Süßigkeit erteilen ist läppisch, da sie bei dem Lober so
eine lappische Meinung vom andern voraussetzen : waz der Erhaben-
25 heit des Mannes wiederspricht : —
Den Geisthchen geziemt Schmeichelei am wenigsten, da ihr Stand
erhaben und einfältig wenig abhangend ist, da selbst Große ihnen
ihre Gewalt nicht nehmen, da sie als Väter des Staats von allen ihren
Kindern unterstüzzt werden. Da sie Boten Gottes sind — — Ueber-
30 liaupt zieht das Urteil über andere uns außer uns selbst : es geht den
andern wenig an 1) insonderheit Moralite zu beurteilen
2) selbst als Beispiel kann es blos das äußerste
Subsidium seyn; denn die Nacheiferung macht 1) im Fall des
Mangels der Beispiele eine seichte Entschuldigung 2) daß man leich-
35 testen Fall wählt, ihm gleich zu seyn, nemlich nicht uns ihm gleich
zu machen, sondern ihn uns gleich zu machen. 3) einen Moralischen
Schlummer, da ich aus Parteihchkeit mich sehr anders beurteile — Zur
Verbeßerung ? die leistet man mehr, dadurch daß man gut ist: Tu-
gend ist ehrwürdig, macht Sympathie, so wie das Laster Antipatliie.
70 Vorlesungen über Moralphilosophie
Hier unterlaße zu urteilen, und handle; — die Politik, die oft der
Ethik entgegen ist, befielt mehr das fremde Urteil ; andre um uns, vor
Schelme, Betrüger zu halten: — Unsere Politik stimt nicht zu-
sammen mit der Ethik, nach der jetzigen Verstellung; aber im
Zustande der Natur gehen mich andre wegen der Gnugsamkeit wenig 5
an ; und auch in dem heutigen Zustande muß blos innerliche Gnugsam-
keit beide vereinigen. — Und alle einzelne böse Urteile heben sich
45 auf, da wir gar nicht Urteilen sollen / Das sind die haßenswürdigsten
Müßigsten Leute: die mit andern beschäftigt, einige sehr erheben,
andre erniedrigen, — Einige wenige müssen über das ganze Mensch- lo
liehe Geschlecht urteilen z.E. Philosoph, der aber das Natürliche
Gute des Menschen zu rath ziehe, und das Böse, das vor ihn gehört,
(nicht forum divinum) aus seinen Quellen herleitet: da sind die
Menschen natürlich gut, und das böse blos als Contagion betrachtet.
Geistlicher, der dem Laster steuren soll, und auch nothwendig i5
auf einzige besonders lasterhafte sehen muß. Im logischen Ver-
hältniß, wenn ich jemand das Gegentheil ganz und gar aufdringe,
überzeuge ich gar nicht; bin ich ungereimt, so habe ich nicht einmal
Verstand, euch zu durchdringen, also partiale Wahrheit zu geben,
blos Irrtum, dem Grad des Verstandes recht. Im Moralischen Ver- 20
hältniß, muß ich ihm nicht ein völlig Verderben zuschreiben, sonst
kann er mich nicht begreifen : aber ihm Moralite zugestehen ihn nicht
Gewißenslos machen, das soll die Regel seyn, sondern Geschmack
des Guten in ihm erhöhen, und also Gutes in ihm zeigen : sonst schau-
dert er vor dem Augenblick, der ihn sich so häßlich zeigt, und beßert 25
sich nicht — Jezt aber da ich ihm selbst mehr zugestehe, so hört er
nicht Richter, sondern Freund, nicht den, der ihn verabscheut,
sondern liebt : alle Verbeßerung setzt also ein Gutes an, waz in
ihm übrig ist; neues Leben kann kein Arzt geben: — logische Kräfte,
Moralische bonite muß als heiliges Feuer blos angeblasen werden : — 30
Judicare alios, ein entschiednes Urteil von anderer Bosheit fällen;
— unzureichend könnte man noch eher urteilen; aber entscheidend
ist logisch die Mutter der Irrtümer: und Moralisch noch übler: —
Ein Entscheid ist Fehlern und Uebereilungen sehr ausgesetzt; aber
auch Moralisch; da er sich erfreut, andre böse zu finden. Denn die 35
Menschen schätzen sich jezt nach dem Zustand des Wahns blos
Vergleichsweise zwar unnatürlich aber jezt sehr allgemein; und
daher ist das böse andrer unser Verhältnißmäßiger Wuchs und also
Freude ; die Jungfer wächst, die die andere sinken sieht, der Kaufmann
Praktische Philosophie Herder 71
wird reicher, um den andre fallen. — Die Betrübniß über die Fehler
andrer ist gemeiniglich Phantastisch, unnüz, und schädlich, da sie
vom Thun abhält:
/ Ein jeder Mensch muß sich selbst zum Mittelpunkt seiner selbst, 46
5 seiner Bemühungen machen die übrigen Urteile über andere sind
meistens Zeichen der Aufgeblasenheit.
Wenn einer den andern Moralisch ausbeßern soll: so ist dies sehr
kritisch. Dem Freund seine Fehler durch Erinnerung zu entdecken
ist recht; aber einen Fremden seine Fehler, die uns nicht beleidigen.
10 blos durchs Bürgerliche Verhältniß zu sagen, ist vorsichtig zu thun ;
denn
1) ein jeder sieht seine Fehler selbst, nur er entdeckt sie nicht gern
andern und auch so gar nicht seinem Freunde; um nicht niedriger
zu werden. Alsdenn bildet man sich ein, die Fehler sind verschwiegen,
15 und
2) Der Freund, der sie mir entdeckt, thut mir keinen Gefallen da
er meine Hochachtung verringert : da findet keine Freundschaft mehr
statt; wo der andere sich über mir zu seyn glaubt.
Indessen gibts doch Fälle, wo die Entdeckung nöthig ist: wo sein
20 Fehler bei ihm weniger unmoralisch ist, andern aber weit unmorali-
scher scheint. Hier muß ich seine Moralite erhöhen, um ihn dadurch,
nicht durch meine Moralität, zu überzeugen. Man verhüte aber
1) daß er nicht in die Aufrichtigkeit ein Mistrauen sezze: und
glaube, es entspringe aus Tadelsucht
25 2) daß er nicht glaube, er sinke in der Hochachtung, die ich habe.
Man kompensire also.
Daher dauren auch Freundschaften so selten : weil die Hochachtung
sehr leicht wegfällt, da man seine Moralischen Fehler oder seine Mängel
die nicht Moralisch sind nicht verbergen kann: z. E. Armuth und
30 solche Uebel denen der andere nicht abhelfen kann, und ihm also
lastig sind, und Verachtung leiden machen — Dagegen verhele man es
auch daß man des andern Fehler bemerkt : sonst sieht der andere an
ihm einen ungelegnen Beobachter. So wie Ehsabeth in ihrem Alter
keinen Spiegel litte; so denkt wenigstens der Straus seinen Kopf,
35 und ein jeder seine Fehler zu verbergen ;
363) Spiritus causticus ist ungereimt, da es der einzige Weg ist,
sich alles in der Welt zu Feinden zu machen : und nichts beßern ; ja
die Hartnakigkeit des andern vermehren: — So die Streitschriften
müssen ja den spiritus causticum verhüten ; und eine Offenherzigkeit,
72 Vorlesungen über Moralphilosophie
die nichts verhelt muß zu Grobheit werden und doch einen Anspruch
auf Wahrheitsliebe machen. Vernünftige beleidigt sie nicht ja man
liebt sie oft etwaz, weil man bei ihm schon keine Feinheit vermuthet;
aber gemeiniglich ist diese Grobheit auch Bosheit
4T /Liebes Pflichten: Die Selbsterhaltung nimt viel Aufmerksam- 5
keit auf den andern weg: und Wer auch die eigne Angelegenheiten
vermindert hat und sich mit dem andern beschäftigt : so ist dies nicht
bürgerliche Schuldigkeit blos; das würde eine Vernichtung aller
Gesezze seyn; sondern eine natürliche Schuldigkeit, da die
Gleichheit der Natur uns gemein ist, und jede Ungerechtigkeit, die die lo
Gleichheit der Natur aufhebt, meine Schuldigkeit auffodert, ihm diese
Gleichheit zu compensiren. Es ist jezt zwar ein autorisirter Raub;
aber doch nach der Moral wahrhafte Schuld : — Die Menschen in der
Ueppigkeit sind so voll Bedürfniße, daß kaum wenige Gnade ihnen
übrig bleibt — Die allgemeine und besondere Pflichten nach der is
Schwere zu bestimmen, ist schwer : einem kann etwaz theuer werden,
der viel Bedürfniße hat, dem andern leichter, der minder verzärtelt
Dienstgeflißenheit sezt eine große Seele voraus, die mit wenigem
zufrieden sehr thätig ist gegen andre. — Die vor der Dienstgeflißen-
heit sich die Uebel entdecken lassen, sind minder edel, da die Ent- 20
deckung den Tugendhaftesten am schwersten wird, und wird oft so
eitel, daß kein rechtschaffner sie auf die Probe stellen wird, soll sie
denn noch den Namen verdienen ? — Nein ! Moralisch nicht Physisch
ist sie auszumessen : nicht das Geld, sondern Bemühungen etc. Kleine
Dienste gehören zur Schönheit des Lebens ; sie müssen aber nicht 25
gar zu häufig seyn sonst binden sie.
Rechtschaffne Leute beweisen selten viel Gefälligkeiten; weil die
Gefälligkeit den Menschen nach andern leben läßt; und das eigne
Arbitrium nimt; Es wird Dienstbarkeit: Ein jeder verfahre nach
seinem Sinn ; und vermeide die Abhängigkeit. Die gutherzigsten 30
Menschen, die nichts abschlagen, sind die elendesten, die deßwegen
tändelnd geliebt, und ernsthaft verachtet werden; sie fallen andern
zu gut in Laster; Ein Mann nach Grundsätzen ist in kleinen Gefällig-
keiten hart; in großen aber, die ein Beweggrund seyn können, sehr
thätig. — Freundschaft durch Gefälligkeiten ist tändelnd und nicht 35
daurend; der oft ein störriger Freund vorgezogen wird.
Religion wird außer dem Christenthum so schlecht f ortgepf lanzet .
und die Mißionare sind meistentheils durch Reis Bekehrer geworden :
vermutlich deßwegen, weil man Heiden nicht erst zu gesitteten macht ;
Praktische Philosophie Herder 73
ehe sie Christen Averden. Sich jezt auf ühernatüriiche Mitwirkung ver-
lassen, ist Versuchung Gottes; und wenn ich Theologie ausbreite, so
nicht gleich Religion. Um aber Moralität vor der Religion zu haben,
muß man den Menschen aufwecken.
5 / 368. Die Lehre von der Toleranz ist im ganzen sehr bekannt, 48
wird sehr angeführt von den Verfolgten, ihre Gränzen aber sind noch
sehr unbestimmt sie ist
1) Moralisch : als eine Pflicht eines gegen den andern, ohne Staats-
glieder auszumachen. Da alle wahre Religion inner-
10 lieh ist : in dem Verhaltniß des Menschlichen Herzens
gegen Gott ; so kann ein Mensch von den Zeichen des
andern ; nicht aber von seiner Religion selbst urtei-
len. Die äußere Religions Uebung kann ohne innere
nachgeahmt werden In Rom sind die meisten
15 Atheisten, und selbst Päbste ; da nun die Zeichen so
zweideutig sind, so ists Pflicht, nicht einem eine
Religion absprechen, weil er in Zeichen von mir
differirt: weil ich nicht kann eine innere Religion
einsehen: es ist also 1) schwerlich möglich 2) auch
20 nicht nothig; nach der Angelegenheit der Natur:
denn das Urteil über andere, die Anmaßung dazu
erfodert große Befugniße wenn es nicht Beleidigung
seyn soll. Im Natur Zustand finden sich nun nicht
Befugniße weil Religion ein Verhaltniß gegen Gott
25 ist gegen mich aber blos Sittlichkeit seyn darf, die
die Rehgion zwar erhebt, aber auch ohne Religion
für mich hinreichen kann: z. E. Pegus Talepoinen,
wenn sie mich aufnehmen, so darf ich mich gar
nicht nach meiner Angelegenheit um ihre Religion
30 bekümmern. Das geht uns an, waz zu meiner Wohl-
fart zusammen stimmen kann: nun aber Religion
nicht: Wie sollte ich nicht aus Allgemeiner Men-
schenliebe mich um ihn bekümmern ? Responsio
Allerdings ists merkwürdig; aber hernach: Kurz,
35 eine Moralite kann ohne Religion seyn. Wenn ich
nun in ihm aber eine Religion vermuthe, die meinen
Angelegenheiten sehr schädlich sejm kann: z. E.
Tücke, die von Religion komt, geht sie mich an : —
eine Verfolg ungs Religion kan verdächtig seyn
74 Vorlesungen über Moralphilosophie
auch im Natur Zustande, um mich zu bewahren und
sie zu entfernen:
2) Bürgerlich: Im Natur Zustande ist weniger Veranlaßung zur
Religion, als einem Mittel zum bürgerlichen Wohl:
— Religion ist zum ewigen Wohl und diesem etc. 5
Sie ist ein großer Beweggrund zu vielen Menschen-
pflichten Wie aber ohne Religion ? Ist sie in Absicht
der gegenwartigen Wohlfart immer gleich noth-
wendig : Responsio Nein im Natur Zustande minder :
1 ) weil weniger Veranlassungen zu Abweichungen lo
von Menschenpflichten sind, denen die Religion ein
4» Gegengift seyn soll — Volker, die keine andere /
Religion haben, als einen hergebrachten alten Wahn :
so ist bei ihnen viel Gutes wenig Böses : den ELrieg
ausgenommen und der ist auch blos Gewohnheit. i5
Da hier also wenig Veranlaßung ist; so geht mich auch des andern
Religion wenig an: So bald aber das Intreße wächst: die Vollkom-
menheiten bis zur Phantasie gesteigert sind; so bleibt die Moralische
Empfindung nicht so sichere Führerin. — Endlich wird dem Wahn
die sittHche Empfindung zu schwach ; die Menschenliebe erkaltet : 20
hier sind die Moralischen Beweggründe zu schwach, ihn gegen alles
zu vertheidigen : also höhere Beweggründe ; und also wird die Religion
immer nothiger (Bürgerlicherweise: als natürliche kann sie niemals
nothig sein), ja endlich abergläubische Religion nach dem Maas, als
die Üppigkeiten wachsen. Vor Dinge die ich entbehren kann, werde 25
ich nicht lügen, noch weniger schwören; aber gezogen von vielen
Dingen, an denen ich klebe, muß ich durch Eid gebunden werden,
gegen so große Verfuhrungsmittel. Immer nothiger werden Phantasti-
sche Feierlichkeiten, die eigentlich unwesentlich sind, aber die wütende
Unmoralität besiegen können — hier ist die Religion die Policey : so
Moralisch sind ihre Schranken bestirnt ; aber bürgerlich wird sie dunkel,
weil man schon nicht Verwahrungsmittel gnug gegen das Verderben
zu geben weiß: —
Bürgerlich vor die Toleranz ist die Religion dem Naturmen-
schen gleichgültig ; es liegt schon Moralite in seinem Herzen vor der 35
Religion ; so lange im Stande der Einfalt Kräfte da sind gut zu seyn
und keine Beweggründe seyn dörfen, das Böse zu vermeiden, braucht
nicht Religion . — Werden aber viele Annehmlichkeiten zu Bedürf nißen :
so entspringen große Uebergewichte der Triebe; so daß die Moralite
Praktische Philosophie Herder 75
zu schwach wird: so reicht die Natürliche Rehgion nicht zu; dazu
wird mehr Verstand, Philosophische Ueberlegung erfodert als man
von dem ganzen Menschlichen Geschlecht erwarten kann; Es muß
also ein Complement einer Offenbarung seyn entweder einer vorge-
5gebnen, oder wahren:
Die Brücke Pulserro der Perser macht viele edle Thaten, nach
Chardins bericht Die reine Moralität erfodert nicht Belohnungen etc.
aber diese reine Moralität ist jezzo nicht vors Menschliche Herz ; die
natürliche Religion kann auch nicht der Moralität auf heKen ; die ohne
10 auf die Vernunft sich zu gründen, eine Offenbarung wenigstens vor-
schützt : Alle excolirten Nationen haben eine eigne Offenbarung ; die
Wilden eine Sage. — Indien hat eine von den ältesten; — Der Streit,
welche Offenbarung die wahre sey, ist nicht hier auszumachen: In
dieser Rehgion, um dem beträchtlichsten Theile der Menschen gemäß
15 zu seyn / muß vieles symbolisch seyn, die Pflichten der Natur durch so
viele Feierlichkeiten ehrwürdig zu machen ; gewiße Ceremonien müßen
es ehrwürdig machen. Eine einmal angenommene Gewohnheit ist nicht
anzufechten; weil sie bisher das Fundament des Staats gewesen ist;
und wenn verändert wird (wenn auch nur in Stücken) und aufs beßere ;
20 so komt man endlich da etwaz verändert wird, auf den Gedaniven, ob
nicht alles falsch sey: — daher Republiken am strengsten über die
alte Religion sind
Eine Obrigkeit kan die viele Religionen schützen ? Responsio Ja !
in sofern eine jede schon gegründet ist, so ists weit beßer, sie zu schüt-
25 zen, anstatt sie beßern zu wollen ; weil endlich eine Indifferenz gegen
alle Religion entspränge ; und die Vielheit der Religionen macht eine
Anhänglichkeit an die ihre; und der Bürgerliche Nutzen ist beinahe
derselbe; da aus der Erfahrung, z. E. Holland guter Staat ist; — Ei!
Avenn ihre Grundsaze dem Staat entgegen wären, wenn sie befolgt
30 würden z. E. Juden, denen nach dem Talmud der Betrug erlaubt ist:
— das natürliche Gefühl beßert diese falsche Religions Artikel; man
befolgt solche böse Freiheiten nicht, z. E. der Catholiken Grundsätze,
ausgeübt wären dem Staate entgegen ; nun geschieht das aber nicht ; —
Die Verbeßerungen der Religion betreffen also blos das Politische z. E.
35 Mönchsorden : — Eine hergebrachte Traditionreligion, die sich nicht
auf Beweise der Vernunft stüzt, ist allgemein, einem jeden soU des
Staats wegen verboten seyn sie anzutasten, auch wenn ich Irrthumer
sehe! so kann mir doch niemand mein Selbstdenken nehmen, und
darf es sich nicht erlauben ; — Aber da ich die groste Lust habe, auch
76 Vorlesungen über Moralphilosophie
meinem Mitbürger meine Meinung zu sagen, ists nicht Ungerechtig-
keit mir dies zu verbieten ? Ja allerdings ; indessen die allgemeine
Wohlfart ist nicht möglich ohne diese einfachen Ungerechtigkeiten
bei dem luxus: — In dem Zustande einer vollkommenen Toleranz
muß besondere Moralische Schönheit herrschen ; wenn jeder seine 5
Meinung sagt: so wird jeder Theil in ein besonder Licht gesezt; und
die Wahrheit wird durch Zwang unterdrückt. Ein jeder Irrtum ist
auch nie eine Moralische Sünde; obwohl Staatssünde; — Eine allge-
meine Toleranz ist möglich aber blos alsdenn, wenn wir wieder zurück-
kehren zum ersten Zustand ; alsdenn sind wir auch ohne Gott Moralisch lo
gut ; warum soll ich nicht von Religion meine Meinung sagen : — In
ansehung dieser Welt ist das Urteil der Toleranz blos eine Sache der
Obrigkeit; aber keines andern; kein Geistlicher nicht; den intereßirt
blos das Wahre oder Falsche nicht das Nutzliche oder Schädliche ; und
51 das Wahre kann er nicht entscheiden. / Geisthcher und sein Wieder- 15
sacher sind beide Bürger; über die die Obrigkeit blos zu sagen hat.
Aber welchen Grad von Freiheit haben sie — gar keine Freiheit zu
geben, ist eben so schädlich als gar zu viele ; die klügelnde Menschen
werden eben wegen gar keiner Freiheit indifferentisten. Diese Toleranz
ist die feinste Frage ; ob es ehrwürdige Irrtümer gebe 20
Ei! die moralische Toleranz: da es gar kein Zweifelist: indessen
machen doch manche Religionen wirklichen Menschenhaß, wenn sie
lauter Teufels statt Menschen setzen; die moralische Toleranz wird
durchaus erfodert; siehe einen jeden mit Liebe ihn an; er irrt, deß-
wegen haße ihn nicht; sondern bedaure ihn, daß er durch Irrtum soll 25
verloren gehen. Kein einzelner, der moralische Intoleranz hat, ist
lasterhaft, da ihn der Staat nichts angeht : — die Religion steigt mit
dem Luxus an Ceremonien; nimt mit Üppigkeit ab; und einst wäre
eine vollige Toleranz möglich.
Darf auch Obrigkeit vors Heil der Seelen sorgen ? Responsio Es so
muß sich diese Frage auf alle Nationen erstrecken: — Kann die
Obrigkeit, die von ihrer Religion überzeugt ist, alle andre verbieten ?
Responsio Nein! denn wenn jede Nation, die von der ihrigen auch
glaubt überzeugt zu seyn, auch den gegenseitigen Zutritt der Gründe
voUig untersagt: so wäre aller Zugang der Wahrheit verschlossen. 35
Ein jeder glaubt die Wahrheit zu haben und ist dieser Glaube ein
Grund des Verbots : so ist das Recht bei allen Nationen — Also kann
die Obrigkeit zwar aus politischen Ursachen aber nicht um des künfti-
gen Seelenheils willen die Intoleranz befolgen. — So sehr recht eine
Praktische Philosophie Herder 77
Religion seyn mag, so groß die Ueberzeugung seyn mag; so folgt doch
hieraus nicht das Recht, andern Meinungen den Zugang zu versagen
um des Heils der Seelen willen, weil wahre und falsche Ueberzeugung
schwer zu unterscheiden. Kann eine Obrigkeit die Religion ausbreiten ?
5 Responsio Ja, eine Fortpflanzung einer Wahrheit durch Gründe ist
moralisch stets nützlich; (ob sie gleich oft politisch schädhch seyn
kann, da auch Wahn oft erfodert wird) aber die Gerechtsame der Men-
schen erfodert auch Gründe: dies Mittel ist billig; und der Zwang,
etwaz vor wahr auszugeben waz man nicht davor hält, ist sehr unge-
10 recht, das kranl?:endste, sehr schädlich nie nützlich als vielleicht einige
andere Ungerechtigkeiten aufzuheben.
Gründe vor den Zwang. So bald ich eine Religion als das
einzige Mittel der Seligkeit ansehe, so ist es freihch eine Sache der
Menschheit ihn aus dem Verderben zu reissen; und freilich sind hier
15 alle Mittel gut; da auch kleine Uebel des Lebens nichts gegen das
ewage sind. Folglich sind die Zwangsmittel nicht ungerecht wenn sie
Mittel sind ; aber körperlicher Zwang überzeugt nie ; eben so wie die
Sachsen unter Carl dem Großen. Obiectio: aber die Nachkommen
sind auch in einen großen Betracht zu ziehen, die wenn gleich ihre
20 Vater durch Zwang / blos Heuchler wurden, vielleicht gute und wahre 53
Ueberzeugung haben werden, durch eine beßere Erziehung. — Alles
dies ist scheinbar; aber kurz
1) Ein jedes Mittel, waz den obersten Rechtsamen der Menschheit
entgegen ist, ist nicht gut : nun sind die Menschen alle gleich ; und sollte
25 blos die Ungleichheit, der Zwang, das Mittel des ewigen Glücks seyn,
so ists ein Mittel der Ungerechtigkeit, Avaz schon gewalt voraus sezt:
2) dawider regt sich die ganze Menschheit, etwaz behaupten müssen.
Aus allem diesen : die Obrigkeit muß in Absicht des künftigen, sich
blos der Rechtsamen der Menschheit bedienen: der Gründe, woran
30 jeder Mensch Tlieil hat.
Der gemeine Mann, der nie die Vernunft gebraucht und miß-
braucht, muß freilich geleitet werden und also meist historisch ; Der
wenige edlere Theil, der Gründe gebraucht und mißbraucht, sey nicht
blos durch Autorität gelehrt, sondern durch Vernunftgründe unter-
35stüzzt. Ist die Erziehung recht geschehen, so ist keine Ungerechtig-
keit in der Toleranz nothig
1) er wird tolerant erzogen seyn — Irrtum von Verbrechen unter-
scheiden
78 Praktische Philosophie Herder
2) es wird ihm nicht schädlich seyn weil er durch Vernunft erzogen
wird.
Andere zu Meinungen, oder Stillschweigen zu zwingen, ist
als eine Moralische Intoleranz so schädlich, da man sich alsdenn nie
vor bösen Folgen des Absehens bewahren kann: — 5
1) Ein jeder Mensch will seine eigne Meinung allgemein haben
Ursachen
2) Man glaubt, alle Moralität gründe sich auf Rehgion ; man haßt
also den andern, da man in ihm Bosheit statt Irrtum sieht : Den Geist-
lichen liegt ob, diese Intoleranz aus dem Herzen zu schaffen: — Man 10
mache die Erziehung zum Keim der Moralischen Toleranz
3) eine große Unwißenheit unterstüzt oft die Intoleranz:
da er nicht durch Vernunft antworten kann : so glaubt er ihn als einen
Feind, der seine bloße aufdecken wird. Wer keine Gründe vor sich
hat ist auf Gegengründe feind; ein Geistlicher, der selbst geprüft, an- 15
genommen, wird auch nicht den unwissenden Theologen Haß haben : —
Ja, Moralische Intoleranz ist an sich schon ungereimt ; und Avenn
eine rechte Erziehung allgemein wäre: so konnte auch die politische
Toleranz allgemein seyn: jezt aber muß überall die Obrigkeit be-
hutsam seyn. 20
Den Religionshaß kann jeder gemeine Bürger haben ; und wird ein
Theologen Haß wenn man ihn als eine Amtspfhcht ansieht. Er zeigt
aber damit einen Mangel der Gründe, Unwißenheit etc. = Syncret Is-
mus da man wahrhaftig wiederstreitende Lehren gleichsam als con-
sentium auszubilden sucht. Er geht selten an; ist gemeiniglich ver- 25
geblich und oft schädHch. — Basedow ist synkretistisch —
53 / Jede Religionsänderung ist vergeblich gemeiniglich; und oft
schädlich : da sie das Zutrauen auf die Rehgion bei dem meisten Theil
verhindert, der nie seine Vernunft gebraucht und mißbraucht; eine
Religionsrevolution ist Staatsrevolution ; — So wie die Reformation 30
damals sich gegen den Despotismus auflehnte; so ist nicht stets
bei Kleinigkeiten nachher zu beßern: Die Frage bei der Intoleranz
ist am besten durch die Regel zu beantworten : wie wenn andre Reli-
gionen eben dies Principium befolgten: so würde jedes falsche be-
vestigt : Ein jeder hält seine Religion vor w^ahr, und subjectiv ist sie 35
auch wahr: ja in Politischem Verstände ist sie auch objektiv wahr:
denn der betrachtet blos das Intreße dieser Welt, ohne sich um die
Ewigkeit zu bekümmern. — Ich kann dies auch erweitern: soll ich
einen aus einer fremden Religion weniger lieben, so werden alle Ver-
Praktische Philosophie Herder 79
bindungeil der Mcnschengesellschaf t aufgehoben Aber die Angelegen-
heit, den andern kennen zu lernen, erstreckt sich blos auf das Interesse
dieses Lebens : da nun das Verhaltniß gegen Gott gar nicht die bürger-
liche Verfaßung stört an sich (zwar bei einigen Menschen, wo die
5 natürliche Moralität so schwach ist : aber nicht allgemein zu machen)
ja da ich auch 2) das Verhaltniß gegen Gott nicht einmal recht er-
kennen kann : und überhaupt sinds ganz verschiedene Relationen,
die sich nicht berühren. Bayle war großmüthig etc. etc. aber ohne
Religion: das Moralische, waz Religion verhindert, kann angefeindet
10 werden, z. E. wenn er aus Leichtsinn etc. etc. Ueberhaupt ist auch die
Bestrebung gegen jede Religion schon ehrwürdig wenn sie blos Meinung
wäre. — Spinosa hatte Irrtum aber nicht Bosheit. Indessen ist auch
die Unbehutsamkeit zu verwerfen, mit der man Säzze ausbreitet,
die andere an der Moralität hindern können:
15 368.) Der subtile Verfolgungsgeist ist wegen seiner Feigheit noch
schändlicher, und gefärlicher
370. Da die Wißenschaften jezt viele Uebel ausrotten können, die
sie selbst, oder andere ausschweifende Neigungen der Menschen, ge-
macht haben: so haben sie jezt den Werth eines Gegengifts z. E. die
20 Philosophie wider die falsche Spizfündigkeit — Sie haben einen
negativen Werth, um sich selbst wider aufzuheben, und den luxus,
über den schon Seneka klagt zu vermindern : — Eben so ist die Tole-
ranz ein Gegenmittel gegen die Klügeleien der Religion. — Alle Hand-
lungen, die wenn sie zu einem gewissen Grad des Flors kämen, dem
25grösten Theil entgegen wären: das kann nicht ein Beruf der Natur
seyn die uns nicht gegen das meiste wird ungerecht gemacht haben
können; sondern künstlich, z. E. Wißenschaft und Philosophie kann
also nicht der Werth der Menschen und der Zweck der Menschheit
seyn: Es hat zwar sehr viel Schein, aber da wenn wir hier gewiße
30 Gaben nicht entwickeln, werden sie deßwegen sich doch einst ent-
wickeln. Sie paßt nicht vor deinen jetzigen Posten; sie mag schimern
wie sie will. — Sie hat jetzt blos den Nutzen, daß wir nichts Ärgers
machen, / und wenn sie uns sittsam macht: so ists nach Hume blos 54
mittelbar. Die Ausbreitung der Wißenschaften ist also sehr fein aus
35 der Staatswißenschaft zu entscheiden; denn an sich ist sie zu ver-
mindern.
371.) Man muß sich bei gewissen Tugenden schämen: nicht der
Tugenden selbst wegen, sondern des Verdachts der Heuchelei z. E.
bei dem Gebet, wobei man getroffen wird.
80 Vorlesungen über Moralphilosophie
Wenn wir gleich nicht Patrons der Laster seyn sollen: so müssen
wir auch nicht Laster erweitern. Ist man ganz und gar lasterhaft:
so kann man nicht gebeßert werden : so wenig, als ein Arzt einen ganz
abgeschnittenen Finger, und der Gärtner einen ganz verdorten Baum.
— Man entschuldige also das Böse zwar nicht gegen die Lasterhafte 5
selbst, entschuldige aber gegen andere, um bei ihm ein Patron des
kleinen Rests von Gutem zu seyn.
372. Man muß nicht Tugend lächerlich machen. Nach der
Ohngötterei ist nichts schändlicher, als die Verzweiflung an aller Tu-
gend : Es ist ein leeres Gewäsch von der Tugend seiner selbst und lo
andrer, und ich überhebe mich ihrer etc. weil sie ein Unding ist:
Vielleicht ist Ehrsucht, oder Liebe zur Paradoxie etc. Diese Muth-
massungen sind vor wirklich Tugendhafte die gröste Beleidigung:
und sie geht mit der Atheisterei in gleichem Paar. —
Die minderen Grade der Wißenschaf t sollen wir nicht gering achten ] 5
etc. die geringern Grade der spekulativen Wißenschaf ten sind schäd-
lich; und die Anfänge sind lieber völlig zu vermeiden. Brauchbar
werden sie nur in ihrem Ganzen: — Aber halbkluge Metaphysik ist
schädlich: — Aber es gibt Kenntniße, die von andern nicht in Graden
sondern Art unterschieden z. E. Erkenntniß durch Erfahrung ist ganz 20
zu separiren von Spekulation : — Sitthchkeit durch Beispiele beßer als
System, und hier kann die sinnliche Ueberzeugung vor sich schon sehr
nützlich: ja an sich weit nutzlicher als die Spekulation selbst seyn, da
die historische Kenntniß der gemeinen Vernunft oft völlig gnug ist —
Aber halbe Kenntniß durch Eitelkeit erworben macht aufgeblasen, 25
unklug abgeschmackt im Urteilen — die Wahrheit der Ueberzeugung
kann oft sinnlich und nicht eben spekulativ seyn: so auch in der Moral.
375. Der Aufwand — eine gewiße Gattung des Luxus — ist nicht
zu widerrathen : wenn der reiche und karge verglichen : scheint jener
einen Vorzug zu haben : denn blos der geschwinde Cirkellauf auch 30
weniges Geldes ist das Wohl : weil es alle beschäftigt ; so raubt ein
Karger dem Staat, waz er nicht ausgiebt; — denn jede Einnahme ist
gleichsam ein Kontrakt, auch andre zu beschäftigen : — Ein reicher,
der sonst nicht ungerecht ist, ist doch ein Dieb 1 ) weil er dem Publiko
sich ganz und auch Aufwand schuldig ist 2) weil er seine Enthaltsam- 35
keit blos dadurch zeigt, daß er nicht viel Geld verwahrt. Der Luxus
scheint hier zwar besser zu seyn; aber Roußeau antwortet dem Hume,
es ist wahr : der Luxus beschäftigt Arme ; aber es wiirde keine arme ohne
Luxus geben : und der Luxus kompensirt seinen eignen Schaden sehr
Praktische Philosophie Herder 81
schlecht. Unrecht werden unnützhche leute unterhalten, die so wie
unnütze Hände sind; indessen / werden die nützlichen Leute in 55
Armuth darben: —
Freigebigkeit: Gerechtigkeit ist sehr im bürgerlichen und
5 Natürlichen Verstände zu unterscheiden. Nach dem Bürgerlichen
Begriff, ist der andre mir alles nach den Gesetzen schuldig; z. E. der
Bauer ist viel seinem Herrn schuldig; aber nach der Natur nichts;
Ich bin ein Müßiggänger und will andre arbeiten lassen: — So edel
auch die Vorschriften zum Edelmuth klingen: so machen sie blos
10 Chimären von Tugenden. — Bios das Bild der Gerechtigkeit der
Natur, der natürlichen Schuldigkeit macht wahre Tugend. — Auch
autorisierte Ungerechtigkeiten sind blos Laster der Natur; = Alles
im gemeinen Wesen geht darauf: dem Mächtigen, Reichen wider die
Nidrigen Armen zu helfen : — Es ist ein gewisser Grad von WohKart
15 blos möglich durch viele Hände ; so ist nach unsrer Politik das blos
ein florisantes land, wo der Ueberfluß auf einen Kreis von kleinem
Umfange zusammengebracht ist, z. E. Frankreich florirt, denn es
glänzt der Hof, die Akademie, Paris; — auf dem Lande Armuth.
Hier sind einige freigebig; weil auch schon Unterdrückte ihre Rechte
20 vergessen : — Wohl ! nicht Schuldigkeit sondern Verpflichtung der
Natur : — Und das Geschenk ist blos angenehm ; das andere empört
einen edlen Arbeitsamen Armen
377. Man muß durch die procrastinatio seine Freigebigkeit ver-
mindern; sie muß geheim seyn; denn
25 1) Eitelkeit muß nicht die Triebfeder seyn.
2) einen jeden elend großen Mann hält die Gnade verbittert.
378. Die Schönheit der Tugend; z. E. die Umgänglichlceit, nicht
eigentlich die grossen Pflichten der Tugend sondern kleine Angelegen-
heiten des Lebens. — Umgang ist die wahre Würze des Lebens, und
30 macht den würdigen Menschen nutzbar: und wenn gelehrte nicht
con versabel sind so komt es entweder von der assiduitas her, oder von
der Verachtung der Gesellschaft und diese gründet sich auf den Mangel
der Weltkenntniß : und des Werths der Gelehrsamkeit: Der Gelehrte
muß con versabel mit allen Ständen seyn, da er außer aller ihrer Sphäre
35 ist, vor die Hohen nicht zu tief, vor die geringen nicht zu hoch. Er
ist ein excolirter Mensch und also am besten zur Conversation, da er
seine Moralität und Kenntniß am meisten zu Gesprächigkeit brauchen
kann : — Nach dem Umgange schmeckt wieder das Glück der Einsam-
keit: und es komt darauf an, in der Einsamkeit glücklich zu seyn, als-
6 Kant's Schriften XXVII/1
82 Vorlesungen über Moralphilosophie
denn ist er auch von der Gesellschaft independent ; allein unsere schon
empörte Sehnsucht scheint doch nicht durch die Einsamkeit beruhigt
werden zu können; und bei der Erschöpfung der Kräfte wäre Hand-
arbeit hier gewiß sehr nothig; die Umgänglichkeit kann so ausarten,
daß die Gesellschaft unentbehrlich ist ; insonderheit bei jungen Stu- 5
direnden; bei denen dadurch aller Geschmack der Wißenschaft auf-
gehoben wird. Sonst lernt man Menschen kennen : gewinnt freunde sich
zum besten; kann Nutzen ausbreiten: — Eine Misanthropie, als
Ueberdruß, komt aus Vereckelung des Umganges ; aber einer, der nicht
sterben will, muß sich nicht von der Gesellschaft trennen. 10
56 /Gesprächigkeit: nicht jeder hat Kenntniß und leichtigkeit sich
zu besinnen auf das schickliche, andere hängen ihren eignen Ge-
danken nach; sind aber dadurch nicht an ihrer eignen Stelle. Fasel-
hafte leute sind also die beliebtesten, wenn sie sonst klug sind; ein
immer weiser ist zur Last, denn die andern müssen sich nach ihm 15
richten: und b) lauter solche Altklugheit zeigt Verstellung; wer lauter
Kluges sagt, zeigt blos seine beste Seite : —
ist einzuschränken
1) man führe nicht immer den großen Ton der
Gesellschaft. Ein jeder will sich hören und hören 20
laßen :
2) sey nicht bei Kleinigkeiten ausführlich die Gäh-
nen machen
Weibergesprächigkeit ist sehr angenehm — ; da wir von Wei-
bern erzogen werden, so bekommen wir durch diese Gesprächigkeit 25
eher Begriffe da 2) ernsthafte Männer dadurch sehr von der Ge-
schäftigkeit erholt werden; — Ihre Medisance ist nicht Schmähsucht,
sondern vielleicht blos Langeweile, die aus ihrer Neigung auf alles
Schone aufzumerken, entsteht.
Anständigkeit ist der optische Schein der Tugend, da man 30
1) Grundsätze nicht sehen kann
2) nicht immer Falle vorkommen wo ich Tugend beweisen kann: so
muß Anständigkeit eine nicht zu verachtende Nebensache seyn die
dem Werth zum Wohlgereimten Schmuck dient ; wir machen ihn zur
Hauptsache 35
Sectio IL p. 236. Der innere Werth der Sache ist freilich das vor-
nemste ; aber die außerhche Schönheit muß auch dazu kommen ; doch
nur zulezt ; so wie das Gebäude erst Vestigkeit bekomt ; so auch die
Praktische Philosophie Herdei- 83
Handlungen erst tüchtig, denn schön; Indessen ist 1) unsere Erzie-
hung so verkehrt, daß die Anständigkeit, das Schicken und nicht
Schicken das erste ist, und daraus werden Betrüger, Heuchler, die häß-
lich sind, und schimmern: 2) auch in der Moral muß man die Anstän-
sdigkeit sehr entfernen, daß sie nicht Grundsaz wird, und erste Trieb-
feder; und ist diese blos eine Folge von Wahn, so wird die wahre
Moralität vergessen : — Die Regel der Anständigkeit ist vor beide
Geschlechter unterschieden : die Ehre des Mannes in ihm ; des Weibes
im Urteil des Mannes ; daher ist dies das schöne Geschlecht, und die
10 Anständigkeit ist bei ihnen nie zu verachten: ja nöthig; da sie und
ihre Glückseligkeit blos leidend ist : so auch die Grundsätze der Ehre
außer sich, sie muß gewählt werden : der Mann muß wälen : — bei den
Männern ist Anständigkeit meistens der Tüchtigkeit entgegen : sie sind
übelgekleidete Weiber : unser Säkulum ist die Zeit der Anständigkeit
15 das alte war der Rechtschaffenheit.
Verbindlichkeit da ich, ohne Dienste zu thun, den andern Will-
fährigkeit ablocke. Das Frauenzimmer hat diese Zauberkraft, auch
ohne ihre Geschlechterbezauberung : da sie viele kleine Gefälligkeiten
zeigen. Ein Vornehmer obligirt, wenn er seinen Stand verbirgt: —
20 Gesinden muß man wenig Lohn, aber öfter Geschenke geben. / Bloss?
Gutherzigkeit obligirt: — Insinuant, die äußerste Geflißenheit sich
andere zu obligiren ist bei dem Manne nicht edel; bei dem Weibe
coquetterie. Es gefallt nicht
1) es ist nicht mehr naiv und edeleinfältig die Mühe darinn miß-
25 fallt
2) beim Mann scheints, daß er sich nicht gnug zu schätzen weiß.
Gegenteil: das Frauenzimmer muß insinuant seyn auch blos den
Umgang zu unterhalten: 1) weil sie schwach sind, und unsere Ernst-
haftigkeiten nicht assequiren: — das Frauenzimmer aber waz gar
30 zu sehr insinuant ist, verachtet man — Petit maitre und Petitmaitresse
suchen blos mit den Neigungen der Männer zu spielen : sie sind sonst
ganz kalt ; die elendesten Eheleute ; sie sind blos in sich verliebt ; und
zu den serieusen Pflichten der Einsamkeit sind sie nichts; da sie blos
Talente der Gesellschaft haben:
35 Politesse Geschliffenheit lernt man aus der Welt; aber nicht vom
Hofe, wo man etourderie und fierte lernt, sich selbst zu zieren, den
hohen Ton zu führen.
Purismus: gar zu großer lockt den Zuruf aus: Seht die Frauen-
zimmer die blos mit Ohren keusch sind:
84 Vorlesungen über Moralphilosophie
Lächerlichkeit. Lachen ist eine Wirkung der Gesundheit wesent-
lich : sehr aufheiternd ; daß ein lachender Abend, lachende Historie
angenehmer in der Erinnerung ist, als sonst etc. Nur nicht abwesende
und 2. anwesende Freunde müssen sehr den Ton der Achtsaml<:eit
abwarten: — und so gar über ehrwürdige Dinge ist albern: 5
Sonderling ist mancher, nicht weil er sich bestrebt, sondern weil
er nicht gemein seyn kann; außerordenthche Personen, von nicht
gemeinem Schlage sind nicht zu verachten ; der Sonderling bestrebt
sich es zu seyn; und er zieht zwar freiHch die Augen auf sich aber
wider sich etc. — Es ist der beste Probierstein des Umgangs ; mit 10
Sonderlingen, die es durch sich sind, nicht aus Affeetation gut um-
gehen zu können : — wer 10. Franzosen gesehen hat etc. Aber in freien
Staaten z. E. Engelland: Holländer sind sie alle wegen des Nutzens
auf einen Schlag: Wo es viel Sonderlinge gibt sind auch viel Leute
von sonderhchem Werth; — Leute von gemeinem Schlage sind von 15
gemeinem Werth.
Zu leben wissen: so seine Handlungen einrichten daß man das
Leben geniesse ; jetzt heißts : wenn er nur so scheint, als wenn er sein
Leben geniesse : Der Mensch weiß etc. der in der Einsamlieit sich aus-
steht ; der das Gefolge der Großen verachtet weil er sich selbst zu 20
hoch dazu schätzt; — Denn die meiste Lebensart raubt den Genuß
des Lebens.
W^ir haben gegen kein Wesen eine Pflicht, als gegen ein ver-
nünftiges Wesen. Außer dem Menschen sind noch Wesen um uns ?
etc. etc. Wenn die Vernunft auch die Möglichkeit solcher Wesen 25
58 außer uns zeigt : so weiß sie nicht, ob sie bei / uns sind : unsre Erde
ist voll an sich : Da nun das Daseyn solcher vernünftigen Wesen nicht
bekandt ist: so auch nicht Pflichten: — Die Pflichten gegen andere
Geister außer uns, sind gar nicht Philosophisch; — belehrt die
Offenbarung so zeigt sie auch Pflichten etc. etc. 30
Theurgie war blos bei den Heiden aus Wahn etc. etc. —
Magie scientia admirationem excitandi per prodigia etc. Viele
schienen der Magie verdachtig zu seyn — Die natürliche Magie er-
fodert, daß bei allen Vorfällen ich eines beßern berichte, denen, die es
über meine natürlichen Kräfte halten, meine natürlichen Ursachen 35
und Mittel entdecke.
Magia praeternaturalis ist der Betrug eines ganzen Jahrhunderts
gewesen. Ein rechtschaffner Mann abstinire von aller Magie; sollte
Pi-aktische Pliilosophie Herder 85
er auch so einfaltig seyn sie ziz glauben; — Die Voraussetzung ilirer
unbekandten Eigenschaften soll uns alsdenn schon abhalten, sie
in unsere Handlungen zu mischen — Es wäre blos eine Versuchung
Gottes; — Man enthalte sich von allem Grüblen über Geister; denn
5 werde ich mich jetzt anders verhalten :
Geisterfurcht: wird sehr vermindert, durch die Wiederleger der
Historie und die Einschränkung ihrer Kraft auf Erden. Gesezt aber
man sezze auch ein großes geschäftiges Spiel bei ihnen zum Voraus:
so habe ich über meinen Standpunkt keine andere Bestimmung und
10 Gewehrleistung zur Sicherheit und zu Handlungen, die Güte des,
der mich setzte in die Welt: Wenn ich rechtschaffen handle; so
mag es Geister geben, oder nicht etc. etc. Indessen bringen sich immer
die alten Schrekbilder der Erziehung zurück; — Waz soll ich mich
vor Seelen der Verstorbnen fürchten ; nach weniger Zeit bin ich auch
15 unter ihnen; eine kleine Scheidewand; und habe ich mir auf denn waz
böses zu besorgen ? bemengt euch wenig mit dem Geister Gedanken ;
beschäftigt euch mit Menschen: seid ihr wohlthätiger Geist; sucht
böse Geister gut zu machen. Wer sich unter Geister verirrt, verliert
sich aus Menschen
20 Es scheinen doch noch die Dinge die um uns sind, Pflichten zu
erheischen ? Responsio z. E. das Vniversum zu betrachten; hier habe
ich nicht erga res, sondern propter res gegen Gott ; aus der Beziehung
und meiner natürlichen Bonität — Aber Thiere ? da ich doch gegen
sie unmittelbare Zwecke habe, so daß sie Morahsche Gründe seyn
25 können: — Wenn ich aber nicht meinet- und nicht andrer wegen,
sondern blos unmittelbar: — z. E. wilde Ziege, Hund: eigenthch keine
eigentliche Pflicht / gegen Thier: — Das Wesen, waz gar keine Morali- 5»
tat hat, ist nie Zweck sondern stets Mittel: der Mensch kann absolute
gut seyn, die andern Dinge alle respective gut; der Mensch hat den
sopunkt der Vollkommenheit in sich; — blos vernunftige Wesen sind
Zwecke des vniversi, und sie sind also nie Mittel der Verbindlichkeit.
Sinds nicht Ungerechtigkeiten, außer Bedürfnissen Thiere zu mar-
tern etc. Responsio nicht Ungerechtigkeiten gegen Thiere; die
empfinden nichts bewust; aber wohl Ungerechtigkeit gegen die
35 Menschliche Natur, da ich die feinste Sympathie beleidige ; und dies
lezte Mittel des Gefühls ausrotte, welches Mitleiden heißt: so wird
es in der Folge der Zeit auch stumpf seyn gegen Menschen : — Athe-
nienser straften die Undanlvbarkeit gegen Esel nicht unmittelbar da
er nicht seine vorige Dienste weiß ; sondern die Undankbarkeit über-
86 Vorlesungen über Moralphilosophie
haupt; die der Wurde der Menschlichen Natur entgegen war, und
seine Empfindung stumpf ; — siehe Grausamkeit in Hogarths Kupfer-
stichen : erst gegen Thiere ; (bricht aby
Der Methoden zur Moralischen Verbeßerung sind 2.
1 ) die eine ist schwer, und die Tugend wird erhaben : also auch 5
seltner: weil die hypothetische Noth wendigkeit hier kleiner ist
2) die eine ist leicht: viel Physisch Gutes viel schöne Tugend; aber
nicht wahre erhabne : so ist unsere Erziehung ; da an sich der Mensch
gut ist; so sind sie auch an sich nicht schlecht, aber wenn sie zu
Grundsäzzen werden, so entstehen Phantastische Wünsche daraus ; lo
auch z. E. nach einer reinen Moralität die hypothetisch unmöghch ist,
da die Leidenschaften schon so weit aufgekeimt sind. Es ist auch eine
Versuchung Gottes, zu dieser Moralite, seine besondere Mitwirkung
zuhaben. Da das Verderben nicht natürlich sondern künstlich ist:
so ist auch ein gar zu großer Zweck phantastisch. Das Verderben lag is
blos der Möglichkeit nach im Menschen; in seiner Schwache als Ver-
nunftthier: — Die Moralität muß leicht seyn, um häufig zu seyn weil
1) die Sinnlichkeit die Moralität überwiegt; Ich muß meine sinn-
lichen begierden also nicht wachsen lassen ; und darnach brauche ich
viel Moralität um sie zu überwiegen ; dieser einfältige Zustand des 20
natürlichen Guten ist zwar nicht Tugend weil sie leicht, natürlich;
nicht aber durch Stärke ist; — der Mensch kann gut seyn ohne
Tugend; verständig seyn ohne Wißenschaft, zufrieden seyn ohne
belustigung. Je mehr ich Pforten zum Vergnügen habe ; je mehr zum
Schmerz ; so viel Chorden vor das eine ; so viel vors andere ; und da 25
es mehr dran liegt nicht zu verheren als zu vergrößern:
2) da das Vermögen größer ist die Neigungen zu erweitern, als sie
zu befriedigen: —
Der Luxus im Erkennen, Genießen, und Thun wächst parallel:
60 / Tugend ist eben so ein Luxus als Laster ; und dies ist im Zustand 30
der Einfalt eigentlich gar nicht zu begreifen, weil ich keine Hinderniße
davor habe : Er thut Gutes, ohne zu wißen, waz Gutes ist, so wie der
bürgerliche Edelmann Prose redete, ohne zu wißen, waz Prose ist. —
Jezt im Luxus sind Freundschaft Resignation meistens leere Wörter,
die mit der wilden Zeit der Griechen ausstarben. — Man schaffe ab 35
1) alle Uebel des Wahnes etc. denn sie machen der Moralität am
meisten Abbruch : solche sind 2. Ehre und Geiz : auch die grobe Wollust
ist doch reell; aber unmittelbar sind Ehre und Geiz närrisch und es
Praktische Philosophie Herder 87
sind auch nicht mehr Narren als sie mögHch. Die übrigen sind Thoren :
Sucht reelle Güter ohne Phantasterei — Ehre macht unglücklich im
Physischen, verderbt im Moralischen. Geiz ist das närrischste; und
auch gar nicht zu heilen: wegen seiner Scheingründe; erst spart er
5 um zu sammlen; darnach gewöhnt an dies, sieht er einem einfaltigen
Menschen ahnlich der, viel entbehrhch ansieht; aber er scheints
blos, da er nach seiner Neigung, so viel bedarf, und nach seinem
Gebrauch, doch nichts bedarf, weil er nichts braucht. — Junge sind
indeß selten geizig, und alte nicht zu beßern ; Nach abgelegtem diesem
10 Scheinwahn, ist der gröste Schritt zur Tugend gethan : denn das übrige
lernt man schon aus den Folgen verabscheuen. Da der Mensch zur
Leichtigkeit so schwer hat zurück zu gehen : da ich ihm so viel beliebte
Neigungen raubte, die künftige Belohnungen nicht ersezze: so suche
sie ihm zu ersetzen, durch das Gefühl der Freiheit : suche einem jeden
15 gleich zu seyn, von keinem abzuhängen. Du wirst Meister von dir,
deiner Zeit, deinem Amt seyn und blos vom Gesez der Noth wendigkeit
regiert werden; denn Amter feßeln nicht so sehr als eigne Wahn-
sachen; — Ein Kind wird vor die Freiheit alles aufopfern: diese muß
man excoliren, nicht ausrotten, es wie einen Freigebohrnen erziehen,
20 unabhängig von den Mengen der Menschen, Sachen
§.332.)Procrastinatio komt daher weil 1 ) das Gegenwärtige f e ßelt
2) das Künftige leichter scheint; dies ist aber Illusion, weil nicht die
Sache selbst sondern blos die Weite betrügt; — Nun procrastinando
finden sich endlich so gar incomplete Begierden ein daran ich selbst
25 zweifele, und die nie geschehen: — Mit dem Anfange der Woche, der
Jahreszeit etc. etc. Ist die begierde aber ohne Hofnung so ist sie nie
thätig: —
333. Lasterhaft zu bestimmen ist schwer; nicht Moralisch gut
ist noch nicht lasterhaft / aber Fertigkeit ? — Moralische Thorheit 6i
30 ist noch nicht Laster ; denn hier überwiegen blos die sinnlichen Be-
gierden ; — Bei dem das böse noch mit Misbilligung geschieht, der ist
eigentlich noch nicht Lasterhaft. — Bios der das böse ohne Misbilli-
gung thut und der ist nie zu beßern ; — Nur der durch Thorheit nicht
tugendhafte ist nicht lasterhaft; falsche Moralische Maximen machen
35 blos lasterhaft da sie das Moralische Gefühl ganz betäuben, das böse
beschönigen, und endlich die Selbstprüfung völlig unterlaßen, wenn
ich nicht mehr meine beßerung einsehe :
Hofnungslosigkeit im Moralischen ist 2fach die Verwilderung
und die Entkräftuner
88 Vorlesungen über Moralphilosophie
Brutalität: Wollust, Saufen Schreihälsen: diese ist nicht das
Laster unserer Zeit sondern vielmehr Effeminatio, da alle E-echt-
schaffenheit vorbeigegangen mrd, und alles blos Anstand dieser
ist blos Schein; wenn das Wesen daraus gemacht wird: so ists falsch
und oft entgegen : Dies ist der Stand der Schwäche, da man nicht 5
einmal zu großen Lastern, noch vielweniger zu großen Tugenden fähig
ist. Dieser ist ärger als der Zustand der Brutalität, denn der leztere ist
blos daher, weil man nie an Tugend gedacht hat ; und dieselbe Kühn-
heit die lasterhaft ihn machte, kann ihn nach der Resipiscenz stark
in der Tugend machen : — bei einem enervirten Leben aber hören lo
alle Grundsäzze, so gar des Lasters auf, und beinahe verschwindet
die Receptivität der Tugend; Er ist blos ein Anhängsel des Scheins;
so wenig tugendhaft zu machen, als man auf das Waßer das Siegel
druckt. — Der Zustand, da man sich besof war beßer, als unser
nüchterne, damit man nur andre betrugt. Jenes Laster war wenigstens 15
männlich. — — Der Zustand der Sicherheit 1) daß man nie denkt
an die Gefahr z. E. bei Brutalen 2) da man nach einem verblendeten
System sicher ist z. E. Weibisch, status bonorum motuum
ist gefährlicher als der keine gehabt hat; denn man glaubt, chimärisch,
daß man wache : der Zustand der Verstockung bei den bestialischen 20
ist bei den Weibischen die Moralische Blödsinnigkeit; da sie bei jenen
Dollheit ist; und diese kann eher als jene geheilt werden. Mit Saddu-
cäern war leichter als Pharisäern zu beßern, und die Methoden sind
ganz verschieden Es gibt sehr viele Psychologische Zufälle und Selbst-
betrüge ; man komt auf Gefahren, und denlvt, sie verderben sein Blut, 25
da sie doch kommen vom Verderben des Bluts; so auch wird der
Kampf, der aus dem Korper komt vor Bekehrung gehalten, und nach
dem das Uebel gehoben ist: glauben sie die Moralität gehoben.
Man muß nicht blos Mensch, sondern auch Geschlecht und im
Geschlecht, Alter betrachten Kindheit, Mündigkeit, MännHchkeit so
— Alter,AbnehmendKindheitinfans,puer beidenAlten: überhaupt,
daß der Mensch blos leidend leben, blos von andern sich unterhalten;
(daher sind Weiber stets Kinder, und viele Männer auch) 1) weil die
Organe noch nicht ausgebildet sind 2) Verstand noch nicht; dort nicht
Kraft, hier nicht Mittel. Unsere Kindheit ist länger als bei den Wilden 35
denn die bilden eher aus 1) die Organe 2) Verstand; jenes durch
Uebung, dies durch Erfahrung — das gesellige Leben hat die Tüchtig-
keit jeder einzelnen Person sehr zu Grunde gerichtet; insonderheit
bei uns; so wie Bücher das Gedächtniß, und Pulver Tapferkeit zu
Praktische Philosophie Herder 89
Grunde gerichtet. / Zwar bekomt der gesellschaftliche Mensch mehr 6»
allgemeine Begriffe, aber diese sind nicht Verstand; sondern blos
Phantasie; nicht Erfahrungsurteile, sondern Vernunfturteile, diese
sind fremd künstlich unbrauchbar : — der natürliche Mensch hat mehr
5 Verstand und wenig und spate Vernunft, der gesittete Mensch hat
viel Vernunft und wenig Verstand; zur Selbsterhaltung gehört aber
nicht Vernunft, sondern Verstand; über das, waz unmittelbar in
meinen Erfahrungen ist: und da ist der Wilde nicht lange Kind. Wie
kann die Natur den Menschen zum Narren gemacht haben, daß wenn
10 sich die Triebe zum Weibe (Männlichkeit) entwickeln, bei uns man
noch ein Kind ist ; nach der Natur ist man alsdenn schon machtig ; —
man muß ein Kind nicht als Jüngling erziehen, sondern als Kind;
da ich die Natur nicht ändern kann; und dies durch eigne Erfahrung;
nicht durch erzalung andern, dieß macht sehr abhängig und oft falsch.
15 Unsere Erziehung ist also bei uns negativ, die Vernunftbegriffe zu
removiren (bei dem Wilden dies nicht nothig, der sie nicht hat)
Daher 1) nicht Abstrakte Begriffe 2) Begriff der Sittlichkeit, der sich
auf Freiheit gründet, und diese fühlt nicht das Kind. Verbindlichlvcit
komt blos dem zu, der sich complet eigen ist, und das ist blos in den
20 Jahren der Selbsterhaltung etc. Gehorsam nicht; sondern das Gesez
der Noth wendigkeit. Daher 1) mit Kindern nicht vernünfteln; über
warum ? denn es hangt absolut von mir ab. So bald es wächst; so
entwickelt sich die Freiheit Gradweise und ich muß 2) das Gesez
der Nothwendigkeit nicht so ausbreiten, daß es sehen kann, es ge-
25schehe alles aus Kaprice: blos wegen des Gesez der Nothwendigkeit;
— sondern deutlich und ohne Pardon, ohne Ausnahme ; — Seine Frei-
heit einzuschränken ist sehr schwer (bricht ah}
II
Praktische Philosophie Powalski
Prof. Imman: Kants
Practische Philosophie
Gottl. Powalski
Rector Schol: moewing;
Inhalts -Anzeige.
1. Einleitung in die practische Welt Weisheit pag. 1.
2. Historie der Moral 7,
3. Von den ersten Quellen und Principien der moralischen Beurteilung . 17.
4. Von den freien Handlungen 25.
5. De obligatione 31.
6. Vom physischen und moralischen Gefühl 38.
7. Das moralische System 41.
8. Von der Natur der Imperativorum 49.
9. De activis et paßivis 51.
10. Von der Gewisheit und Ungewisheit, WahrscheinUchkeit und Un Wahr-
scheinlichkeit moralischer Gesezze 54.
11. Vom moralischen Zwange 60.
12. Vom Unterschiede der äußern und Innern Verbindlichkeit 63.
13. Vom morahschen Gesezze 64.
14. Vom Rechte — vom MoralGesezze 66. 67.
15. Von der RechtsErfahrenheit und RechtsVerbindlichkeit 74.
16. Vom Naturrecht 76.
17. Von der Antinomie 80.
18. Von der GesezGebung 85.
19. Von der Strafe 94.
20. Von der Zurechnung 98.
21. De Conscientia 113.
22. Von der Ethic 114.
23. Von der natürlichen-innern und äußern Religion 126. 127
24. Von den Irrtümern der natürlichen Religion — Deismus 132.
25. Vom Zutrauen auf Gott 143.
26. Vom äußern GottesDienste 157.
27. Von den Pflichten gegen sich selbst 162.
28. Von den Pflichten gegen die Seele 194.
29. Von den Maximen 204.
30. Von der SelbstUeberwindung und den Pflichten gegen sich selbst
ratione des Körpers 207.
3 1 . Von den Pflichten, die den persönlichen Werth des Menschen betreffen 223.
32. Von den Pflichten gegen andere Menschen 251.
33. Die Bestimmung der Menschen 273.
96 Vorlesungen über Moralphilosophie
/ Einleitung in die praktische Weltweisheit
Die Philosophie ist entweder theoretisch oder practisch. die theo-
retische zeigt die Möglichkeit der Dinge, die practische betrachtet die
Möglichkeit derselben durch die Anwendung unserer Willkühr, oder
wie sie durch uns möglich sind. Die Philosophie ist keine historische 5
Erkenntniß. Ueber das was man historisch erkennt kann man sehr
wohl philosophiren. Wenn man über die Handlungen der Menschen
die uns die Historie erzehlet, philosophirt, so ist das zwar eine schwere
Unternehmung, aber dabei auch das einzige nüzliche was die Historie
hat. — Die Philosophie ist eine Erkenntniß durch den Verstand und 10
Vernunft, und hierinn ist die Mathematic mit ihr einerley. Die Mathe -
matic hat zum object die Quantitaet, sie fragt wie viel mal ein Ding
in dem andern enthalten sey. Das Object der Philosophie ist aber die
qualitaet ; sie fragt was die Dinge seyn ?
Die Natur- Wißenschaft betrachtet auch die Möglichkeit der Dinge, 15
die Sinne lehren uns zwar was wirklich da ist, man kann aber auch
darüber philosophiren, wenn man zE. die Möglichkeit wie sich die
Pflanzen und Thiere procreiren und wachsen betrachtet, welches doch
noch kein Philosoph hat einsehen können. Die Möglichkeit der Dinge
an und vor sich selbst handelt die theoretische Philosophie ab, und wie 20
2 sie durch unsre Ivräfte möglich sind, betrachtet die practische / Welt-
weisheit. Die Wißenschaft welche die Regeln des richtigen Gebrauchs
in Ansehung der Gegenstände enthält ist pragmatisch, oder eine
Lehre der Geschicklichkeit — Diejenige Wißenschaft, welche die
Regeln des richtigen Gebrauchs des Verstandes an und vor sich 25
betrachtet, ist die Logic:
Die practische Philosophie enthält
1. die Regeln der freyen Anwendung der freyen Willkühr in An-
sehung der Gegenstände.
2. Die Anwendung der freyen Handlungen an und vor sich selbst. 30
Die Regeln nach welchen die Bedingungen der Willkühr überhaupt
bestimmt werden, handelt die Moral ab, die practische Philosophie
enthält die Regeln der Geschiklichkeit.
Praktische Philosophie Powalski 97
Das Wort practisch kann in zweyerley Sinn genommen werden
a insofern das Object der Wißenschaft die praxis ist und in diesem
Fall Avird eine solche praetische Wißenschaft der Theorie opponirt.
b insofern sie die Ausübung der Regeln veranlaßt, oder sie ist die-
5 jenige deren Regeln sich in der Anwendung zeigen, in diesem Sinn
wird solche Wißenschaft der bloß speculativischen Erkenntniß
opponirt. Die Lehre daß es eine andre Welt gebe, ist theoretisch, den
Folgen nach ist sie aber practisch. Speculativisch ist eine Wißenschaft
die gar keine Folgen auf die Handlungen hat. Die Betrachtung Gottes
10 ist allerdings eine Erkenntniß die praetische Folgen hat; es giebt aber
dabey auch gewiße Speculationen, die man sich oft unnöthig macht.
Die Wißenschaft aber heißt practisch wenn sie die praxin / zum Object 3
hat. Eine und dieselbe Wißenschaft kann practisch und theoretisch
seyn. zE. bey einem Juristen die Erkenntniß der Jurisprudenz prac-
1.3 tisch als ein Object, aber speculativisch in Ansehung der Wirkung.
Viele disciplinen werden mit dem prächtigen Namen praxis belegt,
ob sie gleich oft müßige theorien sind. Man glaubt oft man behandle
die praetische Philosophie, weil sie zum Object die praxis hat, alles
sind aber lauter theorien: man lernt unterscheiden, von der Tugend
20 schön reden und critisiren, es ist eben so wie die Aesthetic eine bloße
Beurtheilung, Man muß sich ja nicht durch die Nahmen hintergehen
laßen. Die theoretische Beurtheilung der Handlungen nennt man die
praxin im Gegensaz der theoretischen Wißenschaft wo nicht das
freye Verhalten der Menschen zum Object ist. Allein obgleich der
25 Gegenstand practisch ist, so ist doch eine andere Frage, ob die andern
Wirkungen practisch sind ob uns die Regeln in den Stand sezzen so zu
handeln ? Nein es sind lauter speculationen der Sitten. Es ist nichts als
die Unterweisung das sitthch gute vom bösen zu imterscheiden. Es ist
ein großes Unglück, daß es mit der Logic auch so beschafen ist. Wir
30 haben eine praetische Geometrie, Mechanic, die uns die wirkliche Aus-
übung lehren. Bei der Moral ist die praxis das Object und nicht der
effect. Die Logic lehrt sozusagen von der Vernunft zu reden, nicht die
Vernunft auszuüben. Es ist also dabey ein Mangel und das ärgste ist,
daß man den Mangel nicht gemerket hat. Man muß nicht bloß das
35 Object, das ist, das sittliche Verhalten, sondern auch das / Sub- 4
ject das ist den Menschen studiren, das ist nöthig, man muß sehen,
was sich im Menschen für Hinderniße der Tugend finden. Der erste
Theil der Moral enthält die Criteria die diiudication deßen was prac-
tisch gut und böse ist. Die praetische Philosophie hat also auch einen
" Kanfs Schriften XXVII/1
98 Vorlesungen über Moralphilosophie
theoretischen theil, was blos der Speculation opponirt wird. Der
zweyte enthält die Regehi und Mittel der Execution. Mittel wodurch
ein Wille der nach Regeln abgehandelt wird möghch ist. dieser zweyte
theil ist der schwerste, weil man den Menschen studiren muß.
Die practische Philosophie in so fern wir sie bemerken und be- 5
trachten
a objective welche die Mittel vom guten Gebrauch der Regeln
enthält zE. wie der Mensch sich verhalten soll.
b subjective sie handelt vom würldichen Gebrauch der Regeln
zE. wie der Mensch sich verhält nach seinem Vergnügen und Wohl- lo
gefallen.
Die Menschen beurtheilen ihre Handlungen mit ungleich guter
Willkühr, sie mißbilligen daher auch oft ihre eigne Handlungen. Eine
practische Wißenschaft kann seyn (das ist deren object ist was man
thun soll) 1 der Geschiklichkeit 2 der Klugheit 3. der Sitt-i5
lichkeit. Bey jedem Gebrauch des Willens haben wir
a auf die Bestimmung der Zwekke und
b auf die Bestimmung der Mittel zu sehen.
A. In Ansehung der Zweldce betrachten wir die Mittel zu bloß mög-
lichen Zwekken zu gelangen. Die practische Wißenschaft die davon 20
handelt ist eine Wißenschaft der Geschicklichkeit zB: einen Trog
zu meßen, eine Landschaft zu zeichnen etc. Die Geometrie lehrt nicht
daß man solche Zweldve haben werde, sondern sie zeigt die Mittel, wie
5 man einen solchen Zwekk erhalte, wenn sich der / Fall ereignet.
Man könnte zu solchen practischen Lehren auch die Betrügerey25
rechnen. Die Aeltern sind nicht viel darauf bedacht, das Herz der
Kinder zu bilden, sondern darauf, daß sie sich Geschicklichkeit er-
werben, damit sie alle mögliche Zwekke die etwa entstehen könnten,
erhalten. Die Natur hat gewolt, daß jeder Aelternstand bemühet seyn
soll, seine Art zu unterhalten, das geschieht bey den Menschen durch 30
Geschicklichkeit. Man denkt der Mensch kann so gut seyn als er will,
denn das steht doch in seinem Willen. Es beruhe bloß auf seiner Will-
kühr, aber Geschicklichkeit muß man erst lernen. Gute Zwekke zu
wählen (denkt man) steht in unsrer Gewalt. Allein die ausgebreiteten
Lehren der Geschicklichkeit muß man lernen. Alle Regeln der Ge- 35
schicklichkeit sind problematisch, die Sprachen sind lauter Mittel zur
Gelehrsamkeit zu gelangen. Die Psychologie ist ein organon von allen
Praktische Philosophie Powalski 99
Wißenschaften ein Werkzeug zur Gelehrsamkeit. Der sich dieser
Mittel gut zu bedienen weiß, heißt geschickt und nicht klug, denn er
kann sich oft die beste Zwekke wählen.
B. Die Erkenntniß der IVIittel zu den Zweliken zu erlangen, die man
5 beim Menschen noth wendig annimmt und voraussezt, heißt die
Klugheitslehre. Es gibt einen Zwekk den alle Menschen haben,
das ist die Glückseeligkeit, das ist nun aber ungewiß, was ein jeder
für die Glückseeligkeit hält. Man muß erst die requisita der Glück-
seeligkeit zergliedern. Manche irren schon im Zuschnitt. Sie suchen
10 Ehrentittel ohne Aemter, die ihnen aber so unbequem sind, als den
FrauenZimmern der Reifrock — Wie man zu der GlückseeHgkeit
gelanget, lehret die Klugheitslehre.
/ C. Die Lehren der Sittlichkeit; das ist die Moral
Sie zeigt welche Zwekke wir uns sezen sollen. Sie ist eine Unter-
15 Weisung, sich gute, nicht mögliche auch nicht beliebige Zwekke zu
wählen. Zwekke die von den Neigungen der Menschen festgesezt
werden, machen nach ihrer Meinung zwar die Glückseeligkeit aber nicht
die Vollkommenheit aus — Klugheit beweist man an einem Gegen-
stande der nicht in unsrer Gewalt ist. ZE. wenn man sich einen zum
20 Freunde machen will. Das Höchste Wesen nennt man ein weises nicht
kluges Wesen, denn es steht alles in seiner Gewalt. Der Mensch fordert
überall Klugheit und eine Vollkommenheit, der Zwekk mag seyn, wie
er wolle, wenn nur die Mittel ihre Vollständigkeit haben. Man ärgert
sich dahero so gar wenn ein verschmizter Dieb durch einen dummen
25 Streich die ganze Sache verdirbt. Aus eben der Ursache kommt es,
daß wir, wenn jemandem ein Knopf am Rock fehlet, die Augen von
dem Fleck nicht wegbekommen können. Also führen die Aufführungen
der Ivlugheit und Geschicklichkeit ein Wohlgefallen bey sich, das-
jenige bey der Sittlichkeit gehet auf den Zwekk und die Absicht wenn
30 auch die Mittel nicht gut gewählt sind. Dies ist die Lehre der Zwekke.
Die Lehre der Sittlichkeit enthält nicht die Zwekke, die ^\^r haben,
sondern die wir haben sollen. Was zur Glückseeligkeit dienet, das
vergnügt. Reichthum will jedermann. Die Tugend im Gegentheil
gefällt Jedermann, sie vergnügt aber nicht. Was man begehren und
35 wählen soll, das ist gut, das sind gute Zwekke. Was man wählt ist
angenehm und vergnügt, das lezte geschiehet durch Klugheit.
100 Vorlesungen über Moralphilosophie
7 I Die Historie der Moral.
Es hat Philosophen gegeben, die die drey angeführten Stücke für
einerley hielten. Aristipp von Cyrene sagte : es wäre nichts wahres, als
nur das Vergnügen und der Schmerz. Denn wenn zE. jemand sagt,
das schmeckt sauer so versteht er mich nicht ganz vollkommen. 5
Er empfindet es vielleicht ganz anders als ich, und nur durch
öftere Gewohnheit nennt er die Empfindung so wie die andern. Vom
rothen kann jeder anders afficirt werden. Allein vom guten giebt es
keinen Streit. Alles sagte Aristipp ist ein bloßer Schein, und nur das
angenehme und unangenehme ist was beständiges. Alle seine prac- lo
tische Lehren gingen auf das angenehme und unangenehme. Seine
ganze Moral war eine Geschicklichkeit Mittel zum Vergnügen zu
finden. Was für eine abscheuliche Lehre! Sie läßt den menschlichen
Neigungen den Lauf.
Unter den neuern von dieser Art Philosophen ist de Lamettrie und 15
Helvetius zu merken. Der erste hält in seinem Buch alles für Blend-
werk, die Tugend und das Gewißen. Er will nur Geschicklichkeiten
hervorbringen, um allerley Zwekke zu erhalten, es mag dem andern
schaden oder nicht, das untersucht er nicht. Es muß Niemand sagte er,
sich vor dem andern fürchten, als nur vor dem Henker denn das 20
schadet seiner Glückseeligkeit. Helvetius hat nur eine moderirtere
Sprache geführet. Es giebt manche Leute, die sich ein Vergnügen
»daraus ma/chen, die allgemeine Ruhe zu stöhren. Die denken selbst
nicht so, sie woUen nur bloß allen Menschen die Köpfe verwirren.
Das Buch des Helvetii de l'esprit ist angenehm zu lesen, es enthält 25
aber nur die Lehre der Geschicklichlceit. Die Lehre der Geschicklich-
keit läßt die Zwekke undeterminiret. Es ist dieselbe sozusagen die
Philosophie der Spizbuben. Diese cynische Philosophie muß man nicht
mit des Epicuri seiner vermischen, dieses war eine Klugheitslehre.
Die erste war nichts anders als eine in die Theorie gebrachte Lieder- 30
lichkeit und Licenz. Sie erhob die Thiere über die Menschen. Epicur
suchte die wahre gute Zwekke zu lehren, seine Lehre war nicht
eine Lehre der Sittlichkeit sondern der Klugheit, allein sie bestund
auch nicht bloß in einer Geschickliclilvcit. Der Epicur näherte sich
sehr der Tugend. Er suchte eine wahre und dauerhafte Glückseelig- 35
keit. Er bediente sich des Wortes voluptas, welches man nachgehends
so übel auslegte. Beinahe bedeutete das Wort Wollust das stets fröh-
liche Herz. Er untersuchte die Vortheile die uns daßelbe bey allen
Praktische Philosophie Powalski 101
Gelegenheiten verschafet. ZE. in der Freundschaft und Umgange, bey
Bezwingung der Vergnügen. Er suchte bey schlechter Kost vergnügt
zu seyn, er übte sich ein beständig heiteres Gesichte zu haben. Die
Cyniker näherten sich ihm, diese suchten alles zu entbehren. Sie waren
5 auch stets störrisch und ernsthaft. Sie suchten niemahls fröhlich zu
seyn. / Democritos ein Lehrer des Epicurs war ein Philosoph der guten 9
Laune. Epicur führte auch seine Lehre noch beßer aus. Nicht bloß
die Uebel sondern auch die Laster haben eine Seite, von der man sie
mit guter Laune betrachten kann. Eine Seite von der sie lächerlich
10 erscheinen. Epicur war ein Philosoph der die Freuden in sich selbst
suchte, er war nicht so wie de Lamettrie, er untersuchte auch die
Zwekke. Die Stoiker sagten die Sittlichkeit ist von der Klugheitslehre
ganz unterschieden sie lehrten nicht wie man glücklich werden soll,
sondern wie man sich der Glückseeligkeit würdig machen soll.
15 Hier muß man betrachten das summum bonum wovon sich die
Alten verschiedene Begriffe gemacht, und welches ihre Moral aus-
machte. Was ist das höchste Gut ? Alle Philosophische Schulen der
Alten unterschieden sich nach dem wie sie diese Fragen verschieden
auflöseten. das angenehme, das vergnügen etc. ist nicht das Höchste
20 Gut. Ein solches Gut hat unsern vollkommensten Beyfall. Es muß ihm
nicht eins von diesen Stükken fehlen.
Wir würden eine Welt tadeln, wo keine Quellen der Glückseeligkeit
herrschten oder sich keiner derselben würdig machen würde.
Glückseeligkeit ist die Befriedigung aller Vergnügen überhaiipt.
25 (Diese Definition ist dunkel. Eine rohe Glückseeligkeit existirt nie.)
Glückseeligkeit ist der Genuß der Freude und der Zufriedenheit mit
seinem. Zustande. Sie betrift nicht bloß einen theil, sondern wir
müßen mit unserm ganzen Zustande zufrieden seyn. (Das ist unmög-
lich.) Glückseeligkeit gehört zum Zustande, Würdigkeit zur Person.
30 Die Würdigkeit, glückseelig zu seyn, besteht nicht in Talenten,
sondern in meriten. Ist derjenige der viel Verstand / hat der Glück- 10
seeligkeit würdig ? das gehört mit zum Glück und es entstehet die
Frage ob er derselben würdig ist, und dieses erkennet man aus sei-
nem Verhalten. Die Beschaffenheit des Willens, welche die Würdig-
35 keit der Glückseeligkeit enthält, nennen wir die Sitthchkeit. — Das
Wohlbefinden und das Wohl verhalten, sind sehr von einander unter-
schieden. Wer sich wohlverhält verdient sich w'ohl zu befinden. Diese
beiden Stücke gehören verknüpft zum wahren und Höchsten Gut.
Mancher ist würdig glücklich zu seyn und ist es nicht. Das Wohl-
102 Vorlesungen über Moralphilosophie
verhalten stehet in unserer Gewalt, das Wohlbefinden aber nicht. Die
Moral lehrt das Wohlverhalten. Die Alten sahen diese beyde Stücke
ein, und unterschieden sich dadurch, daß sie die beiden Stücke ent-
weder separirten oder daß sie glaubten, ein Stück wäre in dem andern
enthalten, nahmen also an, daß nur ein Principium des Höchsten 5
Guts wäre. Die Gründe des Höchsten Guts liegen entweder in der
Natur oder in der Kunst. Wenn man annimmt daß die Natur uns
allein dazu führet ; so sind alle practische Lehren bloß negativ, das ist,
wenn die Quellen des Höchsten Guts in uns liegen, alsdenn müßen
wir uns hüten denselben entgegen zu handeln. Dergleichen negative lo
Regeln giebt es in verschiedenen Wißenschaften. Bey der Erziehung
11 der Kinder darf man um sie zu erhalten, nichts / an ihnen repariren.
Die Machine ihres Körpers hat das Unbegreifliche, daß sie sich selbst
erhält und zurechte bringt. Man muß nur bloß das unterlaßen, was die
Natur in ihrer reparation hindert. So sagten auch diejenige Philo- 15
sophen, die nur negative Regeln gaben, die Natur würde schon alles
hervorbringen, wenn wir sie nur nicht hindern.
Andre sahen die Sittlichkeit als was positives an, die practische
Regeln sollten positive seyn. Man müste den Menschen durch Regeln
der Kunst lehren, wie er glücklich und des Glücks würdig werden solle. 20
Roußeau, Antisthenes und die Schüler des Diogenes waren der
Meinung, daß die Natur in uns zum guten Willen alles angelegt habe.
Sie sagten wir wären von Natur der Glückseeligkeit würdig, und die
practischen Regeln müßen nie negative seyn, es sey denn, daß unser
Willen durch böse Sitten verdorben wäre. 25
Ritter Home behauptet das Gegentheil und sagt: daß die Tugend
gelehrt werden müße, er beweist dies auf verschiedene Art, er beruft
sich auf diejenige Zeiten, wo noch keine Anweisung nichts civilisirtes
war, da herrschte Grausamkeit und alle mögliche böse Handlungen.
Die MoraHsten, welche negative Regeln geben, sagen die Glücksee- 3o
ligkeit war uns von Natur gegeben ; sie bestünde in der Genügsamkeit.
la Wir sollen uns nur / hüten Neigungen hervor zu bringen, so würden wir
glücklich seyn — Die Moralitaet hingegen bestand nach ihrer Meynung
in der Unschuld, welches nur negativer Werth einer Person ist, und
darinn besteht, daß man nur nichts verbricht. Der positive Werth 35
besteht in Verdiensten.
Die Natur hat nur auf wenige Stücke unsre Glückseeligkeit fest
gesezzet, wir können immer glücklicher seyn, wenn wir uns nicht
nur selbst unnöthige Bedürfniße aufbürden möchten.
Praktische Philosophie Powalski 103
Cynicer waren eine philosophische Seete, stammten vom Anti-
sthenes her; sie übte alles natürliche, was wir unanständig nennen,
öffentlich aus. Ob sie von der Eigenschaft der Hunde oder vom
Gymnasio Cynosarges den Namen haben, wissen wir nicht.
5 Epicur war ein Philosoph zu Athen. Er sezte das höchste Gut in die
Gemüths- u. Seelenlust. Andere aber haben dies so gedeutet, als ob er
die höchste Glükseeligkeit in die leibliche Wollust gesezzet, wozu seine
unartigen Zuhörer vieles beigetragen haben.
Der Diogenes war der Urheber von der cynischen Sekte, welche
10 diesen Namen daher bekam, weil die Schüler des Diogenes, wie man
sagt, immer in einem solchen Aufzuge erschienen, welcher sich vor die
damahlige gelante Sitten nicht schikte. Diogenes suchte überhaupt das
Geziere und andre Unbequemliclikeiten abzuschaffen. Er aß zuwei-
len mitten auf dem Markte und wenn man ihn frug warum er das thä-
15 te ? so sagte er, weil es ihm auf dem Markte zu hungern angefangen —
Er nannte seine Lehre den kürzesten Weg zur Tugend. Sucht, sagte er,
euren Körper abzuhärten, ihr werdet alsdenn nicht soviel Uebel emp-
finden. Seyd aufrichtig und keine Schelme — Ueberhaupt was hilft
es, sich Bedürfniße zu erwecken, man muß sie hernach doch wieder
20 ablegen wenn man glücklich seyn will. Wie schwer ist es alle Nei-
gungen zu befriedigen, wenn sie zu schreyen anfangen. Des Diogenes
Lehre zielte zwar nur auf die Einfalt, allein sie ist in der / That schwer. 13
Die Natur des Menschen ist so beschaffen, daß jede Fähigkeit sich
auszubilden sucht. Die Neigungen bilden sich auch, und wir werden
25 dadurch mit vielen Dingen überladen. Wenn zE. Eltern ihre Töchter
rein und unschuldig erziehen wollen, so können sie zwar in ihrer Ein-
samkeit ganz unschuldig bleiben; allein bey der geringsten Freyheit
ist es aus mit ihnen, bey der ersten Erscheinung in der galanten Welt
sind sie allein ihren Neigungen preißgegeben. Die Erfahrung selbst
30 fehlt ihnen, die sie genug instruiret und vor allen Anfällen bewahret
hat. Der Einfalt aber eine wahre Dauerhaftigkeit zu geben gehört
Erfahrung und Instruction.
Der Philosoph des Cynikers war ein Mensch der Natur, der genügsam
in Ansehung der Bedürfniße und unschuldig in Ansehung seines Ver-
35 haltens war — Die Natur lehrt uns kein Laster. Man gewöhnt sich
daran so wie ans Tobackrauchen — Es ist uns das Laster erstlich
unangenehm, und nachher können wir es nicht mehr laßen. Wenn wir
die Klugheit und Sittlichkeit als Künste annehmen, so finden wir zwey
Schulen bey den Alten.
104 Vorlesungen über Moralphilosophie
1. Die die Sittlichkeit der Klugheit subordiniren. Das war Epicurs
Lehre der bloß behauptete, die Klugheit die auf unsre Glückseeligkeit
bedacht ist, sey das Höchste Gut. Er sagt man hat Ursache mit seinem
Zustande zufrieden zu seyn, wenn alle unsre Handlungen zur Glück-
seeligkeit abzielen. Nach Epicurs Meinung war derjenige glücklich, 5
der sich glücklich zu machen weiß, diese Philosophie war pragmatisch,
14 Klugheit und / Sittlichkeit war bey ihm einerley.
2. Die die sagen daß die Tugend nicht darin bestehet, daß ich mich
glücklich mache wie Zeno zE. die Glückseeligkeit ist das Bewußtseyn
der Tugend. lo
Ein Stoiker sagte : der ist glücklich der sich würdig machet glücklich
zu seyn. Des Zenos Lehre war: Unsre Glückseeligkeit bestehe im
Wohl verhalten, und man habe Ursach sich vor glücklich zu schäzzen,
wenn man deßen würdig ist. Epicur glaubte nicht die Tugend, sondern
die Glückseeligkeit sey das höchste Gut, und die Sittlichlceit sey das is
Mittel zu diesem Höchsten Gut zu gelangen. Zeno hingegen behaup-
tete, die Sittlichkeit wäre das wahre Gut, und die Glückseeligkeit die
Folge davon — So verschieden diese Systemata zu seyn scheinen, so
ist doch die Frage, ob sie es wirklich sind ? Denn Epicur behauptete :
daß man ohne Tugend nicht glücklich seyn kann. Den Epicur könnte 20
man den Welt-Mann nennen, denn sein Zwekk war glücklich zu seyn.
Alle seine Zwekke bezogen sich auf dieses Leben. Hingegen zeigen des
Stoikers Aussichten auf eine andre Welt. Er lehrte Zwekke zur Höch-
sten Würdigkeit der Glückseeligkeit der Welt. Diese mußte er noth-
wendig in eine andere Welt versezzen, denn in diesem Leben geschiehet 25
es nicht, daß derjenige der würdig ist glücklich zu seyn, auch wirklich
15 glücklich wird. Epiciu" sollte das Wort volup/tas nicht gebraucht
haben, sondern lieber den Ausdruck ein beständig fröhliches Herz:
dadurch wären denn die uebele und anstößige Auslegungen in seiner
Lehre nicht entstanden. Epicur scheint der größte Geist seiner Zeit 3o
gewesen zu seyn. Man muß ihn nur von der rechten Seite betrachten.
Man findet zwar keine Schriften von ihm, allein man kann aus seinem
Leben und seinen Principiis auf seine Rechtschaffenheit und genie
schließen. Er ging in seinen Forderungen sehr weit. Cicero der ein
strenger Stoücer war sagt das selbst von ihm, indem er anführt, daß er 35
das für die größte Süßigkeit der Tugend hielte, womit man um der-
selben willen leiden müßte.
Dies ist der Mensch der nach der Kunst gebildet wird, und nicht
bloß nach der Natur wie Diogenes lehrte. Indeßen entspringt die
Praktische Philosophie Powalski 105
Kunst aus dem was die Natur gab, allein das uebernatürliche gründet
sich gar nicht auf die Natur.
Das enthusiastische Principium lehrte der Plato. Er behauptete
daß das Höchste Gut gar nicht in der Natur liege, sondern dies sey das
f) Höchste Wesen, dies ist Gott, und in der Vereinigung mit dem
Höchsten Wesen bestehe das Höchste Gut, das ist schwärmerisch.
Plato leitete alle Quellen unsers Verstandes aus Gott, und sagte alle
unsere Glückseeligkeit bestünde darinn, daß wir uns über das Sinnliche
erheben und uns mit unserer aller Quelle dem Höchsten Wesen ver-
10 einigen. Gott ist im realen Verstände das Höchste Wesen und von ihm
kommt alles gute her.
/ Allein die Philosophie geht nur auf Objecte die wir mit unserm le
Verstände beweisen können. Nur wenige kennen Gott durch Schlüße
und können doch durch die Vernunft in seine Gemeinschaft nicht
15 treten. Das Platonische System war also mystisch und scheint aus des
Pythagoras Lehre entsprungen zu seyn, und diese wieder von den
Indianern welche eine Seelen Wanderung glauben. Plato nahm zwar
keine Seelen Wanderung an. Allein die Vereinigung unsrer Seelen
die er glaubte war nicht weit davon entfernet.
20 Das vierte Ideal des Höchsten Guts (wenn wir Epicurs und Zenos
Ideal vor eins nehmen) ist das Ideal der Heiligkeit — Wenn wir also
die Ideale des Höchsten Guts verschieden benennen wollen so war des
Diogenes seins das Ideal der Einfalt des Epicurs der Klugheit
des Zeno der Weißheit und das lezte das Ideal der Heiligkeit.
25 Der vollkommene Mensch nach dem Ideal der Weißheit ist der Weise,
der vollkommene Mensch nach dem Ideal der Heiligkeit ist der
Christ. Der Weise des Evangelii und der Weise des Stoikers sind sehr
von einander unterschieden, der Stoiker der durch seine eigne Kräfte
volUcommen werden konnte und dem Ideal genau gleich kommt
30 schwellte von Eigendünkel und Stolz auf — das Christliche Gesezz ist
ein heihges Gesezz, daraus folgt natürlicher weise die Demuth,
dahingegen aus der Stoischen Lehre der Stolz entspringt. Die Christ-
liche Moral darf nicht Demuth fordern, sie folgt von selbst, daraus
entspringt die Hoffnung jemals / volllvommen und der Glückseeligkeit ii
35 würdig zu werden. Hier hört die Philosophie auf, und das evangelium
zeigt ein übernatürliches Mittel, wie wir zur wahren Vollkommenheit
gelangen sollen.
Es ist keine Kunst Vorschriften zu erfüllen und darauf Stolz thun,
wenn man sie sich leicht angesezt hat. Allein Vorschriften müßen ohne
106 Vorlesungen über Moralphilosophie
allen Tadel seyn, sie niüßen die größte Vollkommenheit erlangen.
So sind alle Gesezze des Evangelii beschaffen, und das Urbild des
Christentums Übertrift alle Ideale der Vernunft.
Von den ersten Quellen und principien der moralischen
Beurtheilung 5
Die meisten Schriften die heut zu Tage von der Moral handeln,
sind nicht ordentliche Systemata, sondern beziehen sich mehren-
theils darauf, woher doch in uns alle moralische Unterscheidung
herzuleiten sey. Wenn wir die alten und neuern Systemata zusammen
nehmen, so bekommen wir zweyerley Systemata. 10
I. das erste System ist das, welches die Quellen der moralischen
Beurtheilung aus subjectiven Gesezzen herleitet i. e. aus zufälligen
Gründen, aus der speciellen Einrichtung der Menschen aus den
Gründen der Sinnlichlceit.
II. das zweyte System leitet die Natur und die ersten Quellen 15
der moralischen Beurtheilung aus objectiven Gründen i. e. aus allge-
meinen Gründen der Vernunft her. Solche objective Gründe sind
18 allgemein und gelten vor alle. Leiten / wir unsre moralische Be-
urtheilung aus subjectiven Gründen her und nicht aus der Natur der
freyen Handlungen, so ist alle unsere Beurtheilung nur zufällig. 20
Es würde zE. die Lüge nicht absolut abscheulich seyn, sondern nur
deswegen, weil wir mit einem guten Geschmack begabt sind. Wird sie
aber deswegen andern mißfallen ? Es würde damit so beschaffen seyn,
wie mit einem üblen Geruch den wir nicht leiden können, und der doch
vor andere sehr angenehm ist. Und so ist es auch mit den moralischen 25
Gesezzen beschaffen, wenn man sie auf die privat Beschaffenheit der
Menschen gründet. Leitet man sie aber aus der Beschaffenheit der
freyen Handlungen (Willkühr) her aus Gründen der Vernunft, so
werden sie vor alle Wesen die Verstand haben, gelten. Wenn das erste
wäre, so würde die Uebertretung eines moralischen Gesezzes nicht so 30
abscheuHch seyn. Wir möchten nur unklug handeln, und müßten uns
nur vor andern Geschöpfen, die einen beßeren Geschmack haben, und
dies nicht leiden könnten, hüten. Diejenige die Gründe der moralischen
Beurtheilung für subjectiv halten, leiten sie her:
a entweder aus innern oder 35
b. äußeren subjectiven Gründen.
Praktische Philosophie Powalski 107
Die erste theilen sich wieder in zwey Classen : es behaupten einige
A. das System der Selbsthebe, andere
B. das System des besondern Gefühls des Wohlbefindens i. e. des
moralischen Gefühls
5 /aa. Das System der Selbstliebe lehrt daß alle moralische i»
Beurtheilung eine Beurtheilung der Klugheit ist, der gemäß wir
unsere Neigungen befriedigen. Je dauerhafter wir die Neigungen
befriedigen desto mehr befolgen wir die moralischen Gesezze — das ist
das System der Selbstliebe und im striktesten und feinesten Verstände
10 in den neuei'n Zeiten des Helvetius und de Lamettrie. Alsdenn ist alle
moralitaet auf subjective Gründe gestüzt, folglich nicht allgemein;
was aber einigen einzelnen gefällt, imgleichen was sich auf einen
Eigennutz, Annehmlichlveit bezieht, ist nicht vor gut anzusehen. Das
System der Selbsthebe wäre nicht so ganz verwerflich, wenn die
15 moralitaet auf einer vernünftigen Selbstliebe sich gründete. Helvetius
sagt nicht bloß, daß die Menschen Eigennuzig sind, sondern daß sie
ohne Eigennuz gar nicht im Stande wären, eine Tugendhafte Hand-
lung hervor zu bringen : das ist verwerflich, wenn man die Sittlichkeit
auf so niedrige principia reduciret.
20 Da die Moral vom guten und Bösen handelt, so kann sie sich gar
nicht auf subjective Gründe und die Selbstliebe beziehen. Denn nach
dem System der Selbstliebe gründet sich unsere moralitaet auf unser
Intereße an einer und andren Handlung, und auf das Vergnügen
so wir davon genießen. Wenn die Menschen von ihrer Annehmlichkeit
25 reden, so meinen sie das nicht vom moralischen Gut. Also alle
Systemata der Selbsthebe stehen auf keinem festen Fuß. Der Helvetius
mag sich auf Ehrbegierde etc. berufen. Das ist das verhaßte System des
Mandeville — Die Menschen nehmen auch / nicht so leicht was ver- 30
haßtes an, wenn es nicht mit einer schönen Masque überkleidet ist.
30 So verderbt sind doch die Menschen nicht.
bb. das zweyte System aus Innern subjectiven Gründen herge-
leitet, ist das System des moralischen Gefühls, das nichts Philoso-
phisches an sich hat. In den neuern Zeiten sind besonders die Eng-
länder Shaftesbury und Hutcheson zu bemerken. In Deutschland will
35 es sich nicht so ausbreiten und man hat dies dem Wolff zu verdancken.
Und wenn gleich seine Säzze würden verworfen werden : so wird doch
sein System und die Mathematische Einkleidung immer bleiben. Seine
Art zu Philosophiren behält jederzeit unvergeßliche Verdienste. Man
108 Vorlesungen über Moralphilosophie
fordert in Deutschland eine deutliche Auseinandersezzung, und was
man nicht recht verstehet, das glaubt man auch nicht — Niemand hat
das System des moralischen Gefühls mehr aus einander gesezt als
Hutcheson. Er sagt, durchs Gefühl kann man viele Beschaffenheiten
der Gegenstände wahrnehmen, die man durch den bloßen Verstand 5
nicht weiß, zE. ob etwas angenehm ist oder nicht ? Die Beschreibung
eines Cirkels im Euclides ist aber nicht angenehm. Ferner wenn ich ein
Stück Metall in verschiedenen Weinen abwäge, so wird keiner über den
Verlust des Gewichts streiten, jeder sieht es auf die gleiche Art. Wenn
aber von dem Geschmack der Weine die Rede ist, so können ver- lo
21 schiedene Meinungen entstehen, wo jeder nach seiner eigenen / Emp-
findung recht urtheilt. Im ersten Fall bekomme ich eine Kenntniß
vom Object, von der verschiedenen Dichtigkeit der Weine. Im zweiten
Fall sind es nur Beziehungen der Sachen auf unser Gefühl. Hier ist als
denn gar nicht die Rede vom Object. Home hat nach der verschiedenen i5
Beschaffenheit der Dinge, wie wir von ihnen afficiret werden sehr viele
Gefühle angenommen und zulezt auch ein moralisch Gefühl. Er hat
die Anzahl der Gefühle so vervielfältiget, daß man sich endlich darinn
verirrt, denn die Großmuth, Leutseeligkeit etc. haben alle ihre be-
sondere Gefühle. Home nimmt an daß alle Menschen solches Gefühl 20
haben. Indeßen können wir aber dadurch behaupten, daß es kein
Gefühl ist, sonst würde es zufällig sejm.
Die es aus äußern subjectiven Gründen, zE. der Erziehung, Re-
gierung, Gewohnheit etc. herleiten, sind folgende. Montaigne, ein sonst
liebenswürdiger Autor, glaubt : alle moralische Gesezze wären Vor- 25
urteile der Erziehung : um dies zu beweisen führt er einige Beyspiele
an : bey den alten Spartanern war der Diebstahl erlaubt. Die Chineser
werfen ihre Kinder weg. Die alten Stoil^er hielten den Selbstmord für
etwas anständiges, für eine Ehre, wodurch sich der Weise den Weg
bahnet aus dem Rumor der Welt sich zu entfernen — Sein Principium 30
war: Wie es mit den Moden gehet so gehet es mit der moralitaet.
Ferner führt er auch die Nordameril<aner an, wo die Kinder nicht aus
saWuth sondern aus kindlicher Zärtlichkeit ihre Eltern / umbringen.
Freilich konnte man es hier dem Mangel der Nahrung zuschreiben,
aber eben daßelbe ist auch in dem reichen Brasilien Mode. Die Um- 35
stände und die Lage des Orts verändern die Sitten. Im Lande der
Schwarzen ist keine Obrigkeit. Wenn man zE. einem andern einen
Keßel stiehlt, so geht der, dem der Keßel gestohlen ist, zu seinem
Nachbar, und nimmt auch ihm einen Keßel weg (wenn er gleich den
Praktische Philosophie Powalski 109
Dieb kennt) dieser Nachbar geht wieder zu seinem Nachbar und
nimmt ihm auch einen weg, und auf die Art werden die Keßel im
ganzen Dorfe unsicher. Daher suchen sie den Dieb gleich auf, und der
muß entweder die gestohlene Sache wiedergeben, oder er wird von
5 ihnen vor einen Soldaten verkauft — In China wird kein Betrug
bestraft nur der Diebstahl, denn dadurch wird die allgemeine Ruhe
gestört. Indessen bleibt doch die Treulosigkeit wenn man sein Ver-
sprechen nicht hält, allenthalben Verabscheuungs würdig (die Hotten-
totten haben ein Liedchen welches davon handelt, daß ein HoUaender
10 einem Hottentotten ein Stück Brod versprochen hat, wenn er ihm
eine Rolle Toback tragen würde, welches Stück Brodt er ihm nach-
gehend doch nicht gab) — Hobbes behauptet daß die Obrigkeit die
Ursache der moralischen Beurtheilung sey. Die Obrigkeit habe
Gesezze gegeben, die nur auf ihrer Willkühr beruhen, und diese ver-
15 pflichten uns hernach — / Das sind die Systemata der moralitaet, die 23
sich nicht aus ewigen Gesezzen, sondern aus der Zufälligkeit der
menschlichen Natur herleiten. Bey dem was der Hobbes behauptet
muß man die Gesezze und die maximen unterscheiden. Die Gesezze
sind objective Regeln nach denen ich etwas thun muß ; die maximen
20 sind aber subjective Regeln nach welchen ich leiste, wozu ich lust habe.
Und daß dieses was Hobbes und Spinoza behaupten falsch sey, sieht
man auch daraus, weil man eben diese Gesezze, die wir bey uns haben,
auch bey den Wüden antrifft, die doch keine Obrigkeit haben.
Die Gesezze der Obrigkeit gehen auch niemahls auf die Moral,
25 denn zE. was fragt die Obrigkeit darnach, ob ich gegen meinen Wohl-
thäter dankbar oder undanlvbar bin. Die Bürgerlichen Gesezze sind
auch darinn von den moralischen unterschieden, daß sie auf den
allgemeinen Nuzzen gehen, die moralischen aber nicht. Das Sj^ste-
matische Lehrgebäude welches einige und selbständige Gesezze fest-
sogesezt, welches behauptet, daß die Wahrhaftigkeit der moralischen
Handlungen nicht in subjectiven sondern in objectiven Gründen liege,
ist zweyerley
1 . Das Systema morale intellectuale welches die bonitaet der Hand-
lungen aus dem Göttlichen Willen herleitet
35 2. das zweyte Systema behauptet, die bonitaet aller Handlungen
liege in der Handlung selbst.
/Wegen des Göttlichen Willens können wir auch die Handlungen 34
nicht für Sittlich gut halten, denn aus der Natur der guten Handlungen
müßen wir den Göttlichen Willen beurteilen. Nach dem zweyten
110 Vorlesungen über Moralphilosopliie
System besteht die bonitaet der Handlung in dem Wohlgefallen und
Mißfallen einer freyen Handlung durch die bloße Vernunft. Was durch
den reinen Verstand gefällt heißt gut, und was durch den reinen Ver-
stand mißfällt ist böse. Das gute und böse muß auf zweyerley Art
bestimmet werden. 5
1. durch allgemeine Begriffe der Vollliommenheit.
2. durch die Idee der Vollkommenheit.
Im allgemeinen Begriff der Volllcommenheit giebt es viele Voll-
kommenheiten, aber bey der Idee ist nur eine Vollkommenheit. Die
Vollkommenheit bedeutet überhaupt die Vollständigkeit einer jeden lo
Sache, und vollkommen heißt alles was ein Mitte Izum gu-
ten ist, zE. Talente, Verstand. Die VolD^ommenheiten haben doch
aber nicht an sich etwas selbständiges gutes sondern eine mittelbare
bonitaet. Denn sonst würden wir nicht finden zE. daß einer der viel
Kraft des Verstandes hat (viel Verstand) ein Bösewicht seyn könnte, i»
Nichts ist vollkommen an sich gut als das moralische, das übrige ist
nur unter gewißen Bedingungen gut. Rechtschaffenheit ist immer gut,
•iö aber manchen der viel Verstand / hat verachten wir — Das Wort Voll-
kommenheit bedeutet auch oft etwas böses zE. er ist vollkommen in
seinem Betrüge etc. 20
Wir können uns bedingte Vollkommenheiten denken d. i. die eine Be-
ziehung auf wahre VoUlcommenheit haben. WoHf hat das System der
Vollkommenheit im logischen Sinn behauptet und Plato die Idee der
Vollkommenheit. Wolff hat als ein Philosoph gedacht, er bauete
sein System nicht auf sinnliche und subjective Gründe, er verhütete 25
dadurch die unreine Triebfedern der Moralitaet. Indeßen ist es nicht
gut von ihm, daß er nicht die Idee der wahren Vollkommenheit voraus-
sezte, denn wenn das nicht geschiehet, so weiß man nicht ob eine
respective VolUvommenheit allgemein gut genannt werden kann.
Die Uebereinstimmung des Willens also mit der Form der Vernunft so
ist die, wo aus dem allgemeinen aufs besondere geschloßen wird, darinn
besteht also die moralitaet, daß unsre freie Handlungen mit dem Wort
allgemein gefällt übereinkommen.
Von den freyen Handlungen.
Wir können unsre freye Handlungen betrachten: 35
1 . wie sie subjectiv und
Praktische Philosophie Powalski 111
2. wie sie objectiv nothwendig sind. Die subjective Vollkommenheit
betrachtet die Handlungen die ein Subjeet würcklichedirt. Die objec-
tive Nothwendigkeit der Handlungen drückt aber aus wie die Handlun-
gen seyn sollen. Beym Höchsten und vollkommensten Wesen sind alle
5 objective nothwendige Handlungen auch subjectiv / nothwendig, se
die objective Nothwendigkeit der Handlungen ist ein Begrif des Ver-
standes, und geht auf die möglich gute Handlungen. Das gute was
nicht möglich ist, drückt man nicht durch Sollen aus. Wenn man sagt
ein Wesen soll so handeln, so bedeutet dies daß die Handlungen nicht
10 bey ihm subjective sind, sondern objectiv nothwendig. Von Gott kann
man das Sollen nicht gebrauchen, denn die objectiven Handlungen
sind nach Beschaffenheit seines Wesens auch subjectiv nothwendig.
Es ist eben so als wenn man sagen wollte, du solst Eßen wenn du
hungrig bist, und etwas zu Eßen hast. Alle Formeln die die möglichen
15 guten Handlungen ausdrücken sind in Ansehung der Menschen
Imperativi aber nicht in Ansehung des Höchsten Wesens. Subjectiv
ist manches nothwendig aber nicht aus objectiven Gründen der Hand-
lungen zE. ein Mensch kühlt sich ab, wenn ihm heiß ist, nicht weil die
Handlung gut, sondern weil es ihm angenehm ist. Die Gründe die
20 subjectiv neceßitiren können auch ohne objective Gründe bestehen.
Die Gründe warum die Handlungen geschehen, heißen causae impul-
sivae, Beweg Ursachen. Diese causae impulsivae werden eingetheilet
1. In causas sensualiter moventes quae dicuntur stimuH, das sind
Vorstellungen des angenehmen und unangenehmen.
25 2. In causas intellectualiter moventes quae dicuntur motiva oder
Vorstellungen des guten und Bösen.
Die Neceßitation per stimulos ist pathologisch. Die Neceßitation
per motiva ist practisch. Practisch ist was nach Gesezzen der
Freyheit geschiehet. Die Thiere wer/den pathologisch genöthiget. 8T
30 Es ist gut wenn man bey Kindern und bey Vorschriften objectiv noth-
wendiger Handlungen dieselben pathologisch nöthiget. Es ist beßer
wenn man einem die Schönheit der Handlungen einzusehen lehret. Die
Sittlichkeit bestehet nicht darinn, daß man nach stimulis sondern
nach motivis handelt — Das was per stimulos nothM^endig gemacht
35 wird, das gehört zur Pathologie. Pathologie ist die Wißenschaft von
dem Gegenstande sofern er afficirt wird oder leidet. Die Stimuli haben
in Ansehung des Menschen nur eine vim impellentem sed non neceßi-
tantem. Daher ist die Freyheit des Menschen im mora-
lischen Verstände genommen nichts anders als das
112 Vorlesungen über Moralphilosophie
Vermögen nach motivis zu handeln. Die motiva haben in An-
sehung des guten eine vim neceßitantem. Oft haben aber die motiva
nicht eine vim neceßitantem über den Menschen, dieses gehört aber
zur Menschheit, denn würden die motiva beständig den Menschen
neceßitiren, so würde er in der Erkenntniß immer steigen bis ein 5
heihges Wesen aus ihm seyn würde. Die stimuH sind bey uns mehr
elateres animi als die motiva —
Die Elateres animi (Triebfedern) sind causae impulsivae die sub-
jectiv nöthigen. Die motiva haben vim tantum objective moventem.
Die motiva sind Urtheile über eine Handlung. Die Beweg Gründe 10
sind von den Triebfedern darinn unterschieden, daß die ersten
ssdiiudicationes einer Handlung sind, die andern aber / Beweg-
Gründe.
1. Entweder motiva pragmatica oder
2. motiva moralia 15
Die Wißenschaften der Geschicklichkeit enthalten neceßitationes :
Ihre Imperativ! sind bloß pragmatisch, sie enthalten Regeln
und nicht Gesezze.
Die Beweg Gründe motiva enthalten zwey Stücke
a Die Zwekke die jeder hat — Die motiva welche die Handlungen 20
ausdrücken, die unsrer Glückseelig-
keit nothwendig sind, sind pragma-
tisch.
Der Zweck den aUe Menschen haben
ist die große Annehmlichkeit oder das Glück 25
b. Die Noth wendigkeit einer Handlung aus der Beziehung zum
wahren Zweck. Das heißt eine moralische Nothwendigkeit oder moti-
vum morale.
Die praecepta pragmatica sind hypothetisch und die praecepta
moralia sind categorisch. Sie sind beide so sehr von einander unter- 30
schieden, daß wenn ich von einem aufs andere komme, ich in einem
ganz andern Fall bin. Die Praecepta pragmatica werden von den An-
nehmlichkeiten und Sinnlichkeiten bestimmt, die moralia aber nicht.
Ueberdem ist das Wohlgefallen und Mißfallen durch den Verstand viel
stärker als dasjenige durch die Sittlichkeit. Das leztere betrift meine 35
Person, das erstere meinen Zustand. Wenn ich reich bin und dabey ein
Schelm, so ist zwar mein Zustand vorteilhaft, aber ich selbst verdiene
Verachtung. Eine unerlaubte Handlung aber kann durch keine
29 Summe Geldes gut gemacht werden. / Der Mensch verachtet sich
Praktische Philosophie Powalski 113
selbst, wenn er mehr pathologisch als practisch zu einer Handlung
bewogen wird. Eine Handlung die viel zu kämpfen hat, leuchtet desto
mehr hervor. Nach den Regeln der Moral ist eine Handlung desto
vortrefflicher je mehr sie kostet. Aber den pragmatischen Regeln ist
5 dies ganz zu wieder. So sehr ist also das pragmatische von dem
moralischen unterschieden. Das Wohlgefallen oder Mißfallen durch
den Verstand ist weit ungleicher als dasjenige durch die Sinnlichkeit.
Dieses verbeßert oder verschlimmert den Zustand, jenes aber erhebt
oder verwirft die Person, das ist den Menschen selbst. Den Unter-
10 schied dieser zwey motiven einzusehen, ist eine Sache von der größten
Wichtigkeit. Aber ein reiner Bewegungs Grund kann eine reine Hand-
lung hervorbringen. Wie schädlich ist also die Vermengung dieser
zwey motiven, das substituiren des einen und des andern, und wie
nüzlich die rechte Absonderung des einen von dem andern! — Der
15 Unterschied zwischen dem pragmatischen und morahschen Bewe-
gungs Grund ist: jener drückt das aus was in Absicht auf meine
Neigungen und Begierden, dieser aber das was absolut gut ist. Nach
den Regeln der Sittlichkeit ist die Handlung desto fürtrefflicher
je mehr sie kostet. Nach den Regeln der Klugheit ist sie aber desto
20 besser, je mehr sie einbringt. Zwey ungleichartige Dinge verbunden
stechen desto mehr ab; die Tugend glänzt dann am meisten, wenn sie
mit dem Unglück ringt. Wenn gleich objective problematische
Bewegungs Gründe / gegen die moralischen gar nicht in Anschlag 30
kommen so sind doch subjective die pragmatische Triebfedern in uns
25 weit stärker als die morahschen. Die Menschhche Natur hat dies
an sich, daß die moralischen Triebfedern oft den pathologischen i. e.
den stimulis unterworfen sind. Die Elateres animi sind bey den
Menschen stimuh aber nicht motiva, welches eben das Unglück des
Menschen ist. Denn wir handeln oft auf eine Axt von der wir wohl
30 einsehen, daß sie entweder unsrer Glückseehgkeit oder wohl gar der
Sittlichlieit entgegen ist. Würden die elateres animi gleiche motiva
seyn, so würden sie zugleich die Richtschnur der freyen Handlungen
enthalten. Pathologische Beweg Ursachen als Stimuli sind alle als
gleichartig anzusehen und die treibende Kraft der Glükseeligkeit ist
35 schon kleiner. Die vis movens der moralitaet ist aber die kleinste,
welches eben umgekehrt seyn sollte. Dieses alles haben einige Mora-
listen sehr wohl erkannt, sie glauben aber diesen Fehler der Mensch-
hohen Natur zu verbeßern, wenn sie die Sinnlichkeit dem Verstände zu
alieniren suchten, und eine harmoniam facultatis hervorbringen
8 Kanfs Schriften XXVII/1
114 Vorlesungen über Moralphilosophie
wollten ; sie zeigten wie Ehrlichkeit die beste Politic sey, allein sobald
die Tugend von den Leidenschaften einen Beystand borgen will, so
verliehret sie alle ihre Kraft, ihren großen Reiz und ihre Bewegungs
31 Gründe, nemlich die reine moralische Volllcommenheit. / Das alieniren
der Tugend mit der Seeligkeit also bringt ihr keinen Vortheil sondern 5
vielmehr einen Schaden. Das moralische Analogon ist, wenn man aus
Triebfedern der Sinnlichkeit dieselbe Handlung ausübt, die man nach
Regeln und Triebfedern der Sittlichkeit zu thun verbunden wäre. Hier
ist zwar die gute Handlung nach dem Buchstaben gleichsam da aber
nicht nach dem Geist d. i. dem wahren Werth derselben. Der Mensch lo
kann es durch Mühe dahin bringen, daß er seine Natur besiegt, und die
moralischen Triebfedern den sinnlichen vorzuziehen im Stande ist.
Die Gewohnheit seinen Leidenschaften zu widerstehen ist sehr nüz-
lich. Wir haben hierdurch die Moral noch nicht erklärt, sondern nur
gezeiget, was sie nicht sey. Diese negative Instruction ist aber hier i5
die nötigste und wichtigste.
Was ist eigentlich die Moral ? sie gefällt jedermann, und wir werden
sie hernach erklären.
De obligatione
Die moralischen motive sind entweder 20
1. motiva obligandi oder
2. motiva obligantia. ZE. die ersten sind moraHsche Gründe zu
Handlungen können aber auch unzureichend seyn. Die andern sind
stets zureichend. Motiva obligandi sind nicht immer obUgantia. ZE.
ich bin im Begriff eine Schuld zu bezahlen, es kommt aber ein Freund, 25
dem ich dadurch aushelfen könnte. Dasleztere ist ein motivum morale.
saaber es ist auch eine Schuld da, und das Wort schuldig / will viel
sagen, es gehört also unter die motiva obligantia die ich also erfüllen
muß. Wir können gegen jemand verbunden seyn, ohngeachtet man
ihm nicht verbindlich ist. so
Die Motiva obligantia sind die welche der Grund seyn von der
Noth wendigkeit einer Sache.
Die motiva obligandi sind aber die, welche zwar ein Grund
aber nicht eine Nothwendigkeit seyn. Die Obligation ist gleichsam
das resultat von den motiven. Derjenige der durch seine Handlung 35
der Grund der Obligation eines andern ist, der ist der obligans ; der aber
nur durch seinen Zustand Ursach zur Obligation giebt ist das objectum
Praktische Philosophie Powalski 115
obligatioiiis oder der obligatus. Es giebt also nicht allein obligationes
activas sondern auch paßivas.
Obligatio activa est obligatio erga obligandum, oder wo man
einem andern sich verbindlich macht.
5 Obligatio paßiva est obligatio obligati erga obligantem wo der
andre der Grund unserer Verbindlichkeit ist.
Eine obligatio activa ist zE. diejenige Verbindlichkeit welche wir
gegen einen nothleidenden haben.
Eine obligatio paßiva aber die wir unserm Wohlthäter schuldig
10 sind —
Durch die Obligation erga non obligantem oder dadurch daß ich
einem andern verbindlich bin ohne eine Ursach zu haben, übe ich auch
eine obligationem obligantem aus. Die Obligationes paßivas
nennet man Schuldigkeiten die Obligationes activas aber Ver-
ls dienstleistungen. Zu den Schuldigkeiten sind wir moraHsch genöthiget,
zu / den Verdienstleistungen aber gar nicht, sondern sie sind freye 33
Erzeigungen der Verbindlichkeit, welche officia humanitatis oder
officia beneplaciti genannt werden.
Officium heißt die pflichtmäßige Handlung wozu ich verbunden
20 bin. Die Ausübung aber dieser Handlung heißt obligatio.
Die Officia sind entweder
1. officia beneplaciti die per obligationem activam entstehen
2. oder officia debiti die per obligationem paßivam entstehen.
Einige obligationes sind beständig, andre aber entstehen und vergehen
25 wieder. Die moralischen Gesinnungen bleiben beständig, die Obligation
aber vergeht, nachdem die Objecte der Obligation vergehen, die Obli-
gation hört auf:
a. Wenn ihr ein Genüge geleistet wird oder
b. Wenn die causa obligandi aufhört. Es kann eine Obligation in
sogewißen Umständen aufhören, und doch noch immer fort dauren zE.
die Pflicht der Kinder gegen ihre Eltern. Auch kann sie aufhören
durch einen gewißen actum. Eine jede Obligation aber wenn sie ent-
springen soll, sezt einen actum Obligatorium voraus. Ueberhaupt ist
ein actus obligatorius wenn willkührlicher Weise eine obUgation
35 erzeugt wird.
In dem actu obligatorio ist der eine obligans der andre obligatus.
116 Vorlesungen über Moralphilosophie
Eine Obligation kann auch durch die Willkühr vergehen. Und es
giebt auch obhgationes von denen man nach Regehi der SittHchkeit
annehmen muß, daß sie niemahls verlöschen können, und denen man
nie völlig satisfaciren kann. ZE. eine jede Wohlthat ist von der Art.
34 /Moral. 5
Zu der practischen Wißenschaft gehöret die Geschicklichkeit
Klugheit und Weißheit. — Die Geschicklichkeit ist ein Vermögen
die Aufgaben aufzulösen, oder sie bestehet bloß in dem Vermögen der
Ausübung alles desjenigen was verlangt wird. Die Mittel dazu sind die
Regeln zu einem gewißen Zweck zu gelangen, und bestehen in der lo
Fertigkeit des Gebrauchs. Die ganze Logic ist eine Lehre der Ge-
schicklichkeit. Der Zweck ist beliebig. Alle Regeln der Geschicklich-
keit machen einen Zweck aus der beliebig ist. ZE. ex datis tribus lineis
constructur triangulum. Die Geometrie Mechanic etc. haben einen
theoretischen theil. Die Regeln der Klugheit sind unser freyes Ver- 15
fahren gegen die wirklichen Zwecke, und dazu gehöret, daß wir wohl
untersuchen die Regeln der Klugheit, und welches die Mittel sind zu
einer Glückseeligkeit zu gelangen. Hierauf folgt die Lehre der Sitthch-
keit, welche lehrt die Vorschrift der guten Zwecke in unsern Hand-
lungen. Hier muß man betrachten das gute, das summum bonum, 20
wovon sich die Alten verschiedene Begriffe gemacht haben, und
welches eigentlich die Moral der Alten ausmacht.
Die Alten warfen sehr viele Fragen auf in quo consistat summum
bonum ? sie hielten es nicht für das Höchste vollkommene Wesen
sondern sie verstunden darunter die großen möglichen Vollkommen- 25
heiten des Menschen, die er durch seine Kräfte erlangen kann. Die
Alten behaupteten, daß dazu zwey Stücke gehören, nemlich das
Wohlbefinden als der erste articel des summi boni und das Wolil-
35 verhalten als der andre articel. Sie sagten man muß / erstlich suchen
glücklich zu werden, und alsdenn suchen sich des Guts (Glücks) so
würdig zu machen, aber man muß das Gegentheil nehmen, man muß
sich erstlich des Glücks würdig zu machen suchen und dann erst
glücklich seyn. Von der Vernunft kann Jedermann glücklich genug
gemacht werden. Diese beyde Stücke machen also nicht die Voll-
kommenheit des Menschen. Glückseeligkeit und Würdigkeit machen 35
aber das summum bonum aus. — Bey den Alten war davon die erste
Quaestion : Ob die zwey requisita von einander unterschieden wären.
Praktische Philosophie Powalski 117
Epicurus sagte daß das Höchste Gut durch Klugheit erlangt werde,
und führte dabey an: sapientes oninia causa sua facere. Zeno
aber der Urheber der Stoischen Sekte sagte, daß das höchste Gut
nicht im Wohl verhalten sondern im Wohlbefinden bestehe, da doch
5 dies Wohlbefinden eine Folge des Wohl Verhaltens sey. Der Besizz der
Tugend ist also die Glückseeligkeit, und die Glückseeligkeit ist das
Gefühl des eigenen Werths. Die Philosophie des Epicurs erstreckte
sich auf die Sinnlichlieit, die Philosophie des Zeno aber auf die Sitt-
lichkeit. Die Triebfeder der Tugend ist die Hoffnung der Glückseehg-
lokeit. Der Werth der Hoffnung der Glückseeligkeit ist die Triebfeder
der Tugend. Des Epicurs Philosophie ist gleichsam der Faden der
Annehmlichkeiten. Beyde Philosophen hatten die Quaestion der Specu-
lation nach der execution wie man zE. zur Tugend gelangen könnte,
zum Wohlverhalten und zur Glückseehgkeit. Beyde sahen die
15 Wege der Glückseeligkeit für künstlich an, die die Philosophen nie 36
ergründen können. Es zeigte sich ein neuer Lehrer Antisthenes und
sein Schüler Diogenes. Diese behaupteten daß die Glückseehgkeit
nicht dürfe aus der Philosophie gesuchet werden sondern aus der
Natur. Es war unter ihnen noch ein Streit vom summo bono, und das
20 bestehe, wenn man sich bemühet sich durch moralische Befleißigungen
Tugend zu erwerben. Einen Besizzer des summi boni nennt man den
Menschen der Natur. Die Tugend ist desto schwerer, je mehr man sich
von der Einfalt der Natur entfernet.
Diogenes zeigte den leichtesten Weg zur Glückseeligkeit, wenn er
25 sagte : Haltet euch frühzeitig an die Einfalt der Natur. Das Muster
oder das Ideal des Diogenes war der Mensch der Natur, das
Ideal des Epicurs war der Welt Mann das heißt von der Welt so
viel zu genießen, so viel man kann, durch alle Mittel und Wege. Er
gab die Vorschrift, die Welt bis zu der Höchsten Stufe der feinsten
30 Empfindungen zu genießen.
Das Ideal des Zeno war der Weise. Er wolte beweisen, daß man
durch nichts kann unglücklich gemacht werden, als durch die selbst
reproche; wenn man glaubt, daß man noch eines strengeren Unglücks
würdig sey, das macht unglücklich. Alle Unbequemlichkeiten und
35 Unglücks Fälle nannte er die Beschwerlichlceit. Die Beschwerhchkeit
ist ein Gefühl des Uebels. Epicurus sagte: derjenige der sich einen
Vorwurf des Bösen Betragens machen kann, der empfindet ein Uebel.
Man muß auch einen Unterschied / machen zwischen dem Uebel und sr
dem Bösen. Die Stoiker sagten, das Podagra wäre kein Uebel. Böses
118 Vorlesungen über Moralphilosophie
ist schlechterdings zu verabscheuen. Das Uebel wenn es mit dem
Verhalten des Menschen übereinstimmend ist, ist kein Uebel: Plato
hatte zu seinem Ideal denjenigen deßen Muster die Natur ist. Sein
Ideal war mystisch. Er sagt: man gelangt zu seiner Glückseeligkeit,
wenn man die Ideen der Gottheit anschauen lernt. Das Ideal des 5
summi boni im Evangelio ist der Christ. Man kann hier anmerken:
Des Zeno Unschuld, des Epicurs Klugheit, des Dio-
genes Weißheit, des Christen Heiligkeit.
Die Tugend belohnt schon hier, das ist, sie gewähret ihm die Recht-
fertigung aller seiner Handlungen. 10
Die zweyte Quaestion war, wie das summum bonum erlangt wird ?
der Diogenes sagte daß es durch die Einfalt der Natur, Epicurus
und Zeno sagten durch die Philosophie, Plato aber, daß es durch die
Gemeinschaft mit dem Höchsten Wesen erlangt werde. Wenn wir
die Sittlichlceit als einen Articel des Höchsten Wesens und als den 15
Werth und die Würdigkeit des Menschen betrachten, so fragt sich,
worin denn die Moral bestehet. Die ersten Principia der Beurtheilung
des Verstandes sind schwer zu bestimmen. Worin sezt aber die moral
Philosophie die ersten Principia der Sittlichlvcit ?
Es giebt zwey Systemata der principiorum die erkannt werden 20
38 können: 1. Aus subjectiven Gründen oder aus Grün/den der Sinnlich-
keit, 2. aus objectiven Gründen oder aus dem allgemeinen Gebrauch
der Glückseeligkeit. Die Gründe der Sinnlichkeit sind dasjenige was
in der Sinnlichkeit allgemein und beständig ist. Die allgemeine
Gründe der Glückseeligkeit sind dasjenige was in der Sinnliclikeit 25
zufällig ist.
Dasjenige was in der Sinnlichkeit beständig ist, ist die Erfahrung.
Sie sezzen die principia der moralitaet entweder in der Selbstliebe,
in der Empfindung der Glückseeligkeit, oder in einem besondern
Gefühl des Wohlbefindens, welches das moralische Gefühl genannt so
wird. Das Empfinden der Lust und Unlust gründet sich auf die Sinn-
lichlieit. Die Sittliche Lehre ist die administration unsrer Neigungen
und Begierden. Die moralitaet sey also nichts als die conformitaet. Die
erste Parthey der Philosophen die sie in der Sinnliclilveit suchen,
suchet sie in subjectiven, die andere Parthey in objectiven Dingen. 35
Alle Sinnlichlveit schließet nur subjective, der Verstand aber objective.
Alle Urtheile der Sinnlichkeit beziehen sich auf die Beschaffenheit des
Subjects zE. die kühle Luft ist mir angenehm. Die Urtheile die
objectiv und allgemein sind, sind Urtheile des Verstandes und der
Praktische Philosophie Powalski 119
Vernunft. Die Sittlichkeit ist auf unser Gefühl gegründet. Das Gefühl
aber der Lust und Unlust ist zweyerley
1. Das physische Gefühl welches aus Sachen entspringt
2. Das moralische Gefühl welches aus f reyen Handlun/gen ent- 3»
5 springt, die moralitaet ist auf das physische Gefühl sonst aber auf die
Selbsthebe gegründet. Die Philosophen haben bemerkt, daß die Selbst-
liebe der Natur der Glückseeligkeit angemeßen ist. Das moralische
Gefühl ist das Gefühl desjenigen Guts, was auf das allgemeine gehet.
Das principium der moralitaet ist das Gefühl. Alles was ich aus dem
10 Gefühl urtheilen kann, hat nur eine private Gültigkeit. Die Principia
der moralitaet die sich auf das Gefühl es mag das physische oder
moralische seyn, gründen, sind von der Art, daß sie uns keine sittliche
Lehre oder einen canon der moralitaet geben können, sondern sie
geben uns nur sittliche observationes.
15 Ich kann observationes anstellen was einer vor Gefühl hat, was ihm
gefällt und was ihm mißfällt, ich kann aber seinem Gefühl keine Regeln
vorsehreiben, ich kann also keine canones machen. Wenn einer einen
appetit nach einer Sache hat, kann ich ihn wohl lehren, wie er ihn
befriedigen soll, ich kann ihm aber kein Gefühl bey tragen.
20 Es sind Principia die nicht die innere bonitaet der moral anzeigen,
sondern nur daß es sich für einen Menschen schickt. Und derer sind
drey: 1. aus der Gewohnheit, 2. aus einem Beyspiel, 3. aus den
bürgerlichen Gesezzen werden alle Regeln der moralitaet hergeleitet.
Alle Gesezze der Moralitaet sind nur Mode Regeln , denn was bey uns
25 als ein Laster angesehen wird, das ist bey andern Nationen eine / Tu- 40
gend zE. daß ein Bruder seine Schwester heyrathet, daß ein Sohn
mit seiner Mutter Kinder zeuget.
Wenn wir dieses betrachten, so ist dieses ein falscher Sazz, aber man
kann es dem Geschichtsschreiber nicht als eine Lüge anrechnen,
30 sondern wir können es als eine Ausnahme der moralitaet betrachten
zE. das stehlen in Egypten, welches im Schwange ging unter einer
gewißen Räuber- Societaet, welches ein apartes Volk war, die die
beduinischen Araber genannt wurden und an den Gränzen Egyptens
wohnten. Wenn man sie bey dem Diebstahl ertappt hat, so mußte man
35 die gestohlene Sachen auslösen, wenn man ihn nicht wollte hängen
laßen. Durch die Beyspiele können die Gesezze viel oder wenig an
innrer Gewalt haben. Es können zwar Kinder die eine schlechte Er-
ziehung gehabt haben, davon einen Eindruck behalten, es kann aber
dieser Eindruck nicht zu einem Gesezz bey ihnen werden, welches das
120 Vorlesungen über Moralphilosophie
moralische Gesezz unterdrücken könnte, denn es muß ein Unterschied
gemacht werden zwischen den Gesezzen und den Maximen. Die
Gesezze sind objective Regeln nach welchen ich etwas thun muß.
Maximen sind subjective Regeln dasjenige zu laßen wozu ich Lust
habe. Das lezte Principium ist die Obrigkeit. Spinoza sagte: alles
Bürgerliche Gesellschaften sind statuta der Obrigkeit, daß dieses aber
falsch sey, siehet man daraus, weil man diese Gesezze eben auch bey
den Völkern zE. bey den Wilden antrift, die keine Obrigkeit haben.
Die Gesezze der Obrigkeit gehen niemahls auf die Moral denn zE.
41 was / fragt eine Obrigkeit darnach ob ich gegen meinen Wohlthäter lo
dankbar bin. Die Bürgerlichen Gesezze sind auch darinnen von den
moralischen unterschieden, daß sie auf den allgemeinen Nuzzen gehen.
Das moralische System ^.
Das Moralische System leitet die Moralitaet her aus der Vernunft.
Wenn wir die Sittlichkeit aus der Vernunft herleiten, so sehen wir zu-
gleich die Noth wendigkeit derselben ein. Nur die Erkenntniße der
Vernunft sind objective. Die Erkenntniße der Erfahrung sind sub-
jective, denn durch den Verstand erkenne ich nur die Eigenschaften 20
der Körper und bloß durch die Vernunft kann ich einsehen, was zE.
die Heiligkeit sey : denn die Vernunft hält das für gut, was allgemein
gut ist, aber die Sinne halten nur das für gut was ihnen schmeichelt.
Die Moral-Philosophie allein kann nur zeigen, was in unsern Hand-
lungen gut oder böse ist. Wenn die Handlungen gut respective nicht 25
gut sind, so sind sie nur an und für sich gut.
An und vor sich selbst betrügen ist niederträchtig. Nur die Vernunft
kann allgemein urtheilen. Alle Moralitaet ist ein Gegenstand der
Vernunft und des Verstandes. Alle Intellectuale Philosophen der
Moralitaet betrachten die moralischen principia entweder innerlich 30
oder äußerlich.
42 A Innerlich in Ansehung der Beschaffenheit der Handlun/gen
an sich selbst.
B äußerlich in Ansehung ihres äußerlichen Verhaltens zum
Göttlichen Willen. 35
Sittliche Handlungen sind gut, insofern sie mit dem Göttlichen
Willen übereinkommen. Diejenigen die die moralitaet nicht nach der
Beschaffenheit der Handlungen, sondern relativisch betrachten, sind
die, welche die Handlungen nur insofern für gut halten, als sie dem
Praktische Philosophie Powalski 121
Göttlichen Willen gemäß sind, da sie doch an sich Sittlich gut oder
böse sind, ohne ein Verhältniß gegen den Göttlichen Willen.
Das Ideal des Göttlichen Willens ist die allerhöchste moralische
Vollkommenheit .
5 Alle Intellectual Philosophen, die sie aus dem Göttlichen Willen
herleiten, sind irre, denn sie müßen dieselbe entweder aus der Erfah-
rung oder a priori her nehmen, da irren sie aber gleichsam, und gehen
wie in einem Cü"kel. Sie müßen die moraUtaet und den Göttlichen
Willen aus der Innern Beschaffenheit der Handlungen herleiten. Der
10 Verstand kann aber das gute und böse aus der Moralitaet herleiten.
Da also der Verstand das principium der moralitaet ist, so fällt das
theologische principium der Sittlichkeit weg. Diejenige Philosophen
die das principium der moralitaet aus den innersten Handlungen her-
leiten sind von zweyerley Art.
15 1. Einige leiten sie aus puren Begriffen der Wahrheit her, dazu
gehöret Cumberland und andre Engländer
2. andere aber aus den Begriffen der Volllvommen/heit, welches 43
Wolff thut.
Die Vollkommenheit bedeutet überhaupt die Vollständigkeit einer
20 Sache. Das Wort Vollkommen bedeutet auch oft etwas böses zE.
er ist vollkommen in seinem Betrug etc. Man sagt auch das was mich
reich und vergnügt macht, befördert meine Vollkommenheit. Alle die-
se Systemata der moralitaet werden von uns verworfen, und nun fragt
es sich, welches ist denn das eigentliche principium oder System der
25 Moralitaet? Resp : die Uebereinstimmung des Willens mit der Form
der Vernunft. Die Form der Vernunft ist die wo aus dem allgemeinen
aufs besondere geschloßen v^ird.
Darinn besteht also die Moralitaet, daß unsre freye Handlungen mit
dem was allgemein gefällt, übereinkommen.
30 Tractatio ipsa
Alle Handlungen, die aus der WilUiühr fließen, haben eine causam
impulsivam. Alle Handlungen sind entweder physisch oder practisch.
Causae impulsivae sind die Vorstellungen des Bewegungs-Grundes zur
Lust oder Unlust an einem Objecte. Diese Causae impulsivae werden
35 eingetheilet
a. In causas sensualiter moventes, quae stimuli
122 Vorlesungen über Moralphilosophie
b. In causas intellectualiter moventes quae motiva
dicuntur.
44 Durch einen stimulum wird verstanden, das Verhältniß / woiinn
es mit unserm Gefühle steht, die Stimuli haben eine vim moventem,
uns zu Handlungen zu bewegen, so fern sie Gründe der Annehmlich- 5
keit oder Unannehmlichkeit sind. Motiva sind die Bewegungs-Gründe
unserer Handlungen nicht durch die Vorstellung der Lust oder Unlust,
denn die hat nur eine privat Gültigkeit, das gute und das böse ist aber
allgemein gültig. Das Intellectual Wohlgefallen gehet auf das all-
gemeine gute. Die Intellectual Unlust gehet auf das allgemeine böse, lo
Die Sensual Lust gehet allein auf das, was uns selbst entweder ange-
nehm oder unangenehm ist.
Eine jede Handlung die nothwendig gemacht wird ist entweder
nothwendig per stimulos oder per motiva — Was per stimulos noth-
wendig gemacht wird, das gehöret zur Pathologia. Pathologia ist die 15
Wißenschaft von dem Gegenstande, so fern er afficiret wird oder leidet.
Alles was die Sinnlichkeit angehet, gehört zur Pathologia. Stimulus
heißt der Reiz, Motiva die Bewegungs-Gründe und zwar aus der
Vernunft. Die Thiere werden pathologisch neceßitiret, eine Handlung
auszuüben der Mensch aber nicht. Die Stimuli haben in Ansehung 20
des Menschen eine vim impellentem oder neceßitantem. Der Mensch
ist frey das heißt er kann handeln nach motiven unabhängig von den
stimulis —
45 / Die Freyheit des Menschen ist also im moralischen Verstände
genommen nichts anders als das Vermögen nach motiven zu handeln. 25
Der Mensch wird durch motiven neceßitiret, id est durch Gründe
die ihm der Verstand vorlegt. Die motiven haben eine vim neceßi-
tantem über den Menschen in Ansehung der Gründe. Oft aber haben
die motiva nicht eine vim neceßitantem über die Menschen, dieses
gehört aber nicht zur Menschheit. Denn würden die motiva den 30
Menschen beständig neceßitiren, so würde er in der Erkenntniß
immer steigen, bis ein Heiliges Wesen aus ihm würde, die motiva
gehen bloß auf den Verstand, id est sie urtheilen über einen Gegenstand
ob er gut oder böse sey. Die Stimuli sind bey uns mehr elateres animi
als die motiva. Der Menschliche Wille unterscheidet sich von dem 35
Thierischen, daß er nicht per stimulos neceßitiret werden kann, und
dadurch daß er nicht allemahl per motiva neceßitiret wird, unter-
scheidet er sich von den Höhern Geistern. Wir können eine Handlung
pathologisch nothwendig nennen, so ferne wir dazu ab stimulis
Praktische Philosophie Powalski 123
neceßitiret sind. Was aber aus einer Willkühr entspringt, ist ein freyer
Wille. Alle Handlungen der Willkühr sind zweyerley: practisch und
pathologisch. Der Mensch hat eine freye Willkühr, er ist unabhängig
von den stimulis, sondern er wird nur bewegt / per motiva. Die Thiere 46
5 haben auch eine WilUiühr, sie werden aber per stimulos gelenkt ;
jede freye Handlung ist practisch und practische Gesezze sind Gesezze
der Willkühr. Ob wir gleich nicht pathologische Gesezze der Willlvühr
haben, so haben wir doch pathologische Gesezze der Neigungen und
Begierden. Was uns gefällt nach den Gesezzen der Sinnhchkeit, ist
10 angenehm, was uns aber mißfällt ist unangenehm. Was man billigt
oder nicht billigt, nach den Gesezzen des Verstandes, das ist gut oder
böse zE. die Tugend billigt ein jeder. Es ist ein Unglück der Menschen,
daß die elateres animi Stimuli und nicht motiva seyn. Wenn die
elateres animi zugleich motiva seyn möchten, so würden sie zugleich
15 die Richtschnur der freyen Handlungen enthalten. Ein Mensch ist
immer mit dem motivo verbunden. Ein Wunsch ist das Begehren des-
jenigen, wovon man sich eine Vorstellung machet, daß es böse sey.
Die Stimuli haben also nur allein die elateres animi an sich, die
motiva aber nicht. Wir haben einen Zweyfachen Willen 1.
20 Einen Willen des Verstandes, welchen viele practische Gesezze ne-
ceßitiren. 2. einen Thierischen Willen, da wir per stimulos zwar nicht
neceßitirt aber dennoch impellirt werden.
Daß die elateres animi zugleich motiva seyn, das / ist eine wichtige 41
Sache. Hierzu gehören die Ermahnungen, welche langweilig sind,
25 hingegen ist alles, was als eine Triebfeder wirkt unterhaltend, und das-
jenige was in Handlungen geschehen soll, ist tavtologisch. Alle Er-
mahnungen sind tavtologisch wenn sie langweilig sind. Die Er-
mahnungen und Anpreisungen dasjenige zu thun, was gut ist, das ist
die Triebfeder. Wenn man die stimulos mit den motivis verbindet,
30 so entstehet eine ganz fremde Art von Triebfedern — Wenn einer per
motiva subjective neceßitiret wird, so hat er einen freyen Willen,
wenn er aber per stimulos subjective neceßitirt wird, so hat er keinen
freyen Willen. Wenn ein Mensch per stimulos neceßitirt wird, so ist er
ohne Schuld. Die objective Neceßitas ist die Möglichkeit der freyen
35 Handlungen durch die Vorstellung des guten. Eine solche Handlung
Avird durch Sollen ausgelegt. Das Sollen ist die Vorstellung der boni-
taet einer durch mich möglichen Handlung.
Jeder imperativus ist entweder categorisch oder hypothetisch,
a der categoricus enuncirt die absolutam bonitatem actionis cuius-
124 Vorlesungen über Moralploilosopliie
dam liberae. b. hypotheticus enuncirt bonitatem hypotheticam
actionis cuiusdam liberae. Quilibet Imperativus medium modo sed non
finemimperat. Wenn Avir nach Antrieben handeln, so schlagen unsre
Handlungen nach bloßem Glücke aus, entweder gut oder böse. Die
48 Stimuli schränken nicht so viel als Regeln der / Vernunft ein. Die objec- 5
tiven Regeln unsrer Handlungen zeigen uns was gut und böse ist. Der
Verstand erkennt sie nur. Ein Imperativus ist entweder ein Mittel
problematisch nach welchem gehandelt werden muß um zu einem
Zweck zu gelangen, und dieser Imperativus wird Imperativus proble-
maticus genannt, oder er ist ein Imperativus der Geschicklichkeit, lo
Die Natur fordert als erstes von uns, uns suchen zu erhalten. Die
Regeln sind auch practisch. Ein Imperativus ist pragmatisch, wenn er
die Regeln unsrer Handlungen enthält, und so fern sie mit der
allgemeinen Selbstliebe übereinl?;ommen, die Befriedigung der Nei-
gungen der Selbstliebe wohnt in den pragmatischen Regeln, wo die i5
Klugheit herrscht.
Der Imperativus pragmaticus giebt uns Regeln an die Hand welche
uns zur Glückseeligkeit gereichen.
Die ersten Imperativi determiniren die Grenzen der Glückseeligkeit,
die andern beßern die Handlungen, um dazu zu gelangen. 20
Erstlich muß ich aber wißen, worinn die Glückseeligkeit besteht ?
und zweytens wie ich zu derselben gelangen kann. Jeder Imperativus
pragmaticus gebiethet nur bedingter Weise unter einer allgemeinen
ge wißen Bedingung. Der Imperativus problematicus aber nur unter
einermöglichen Bedingung; die objectiven Regeln sind aUe Imperativi 25
morales und diese sind categorisch schlechthin.
49 Die categorischen Imperativi bringen mit sich die Noth/wendigkeit
der Handlungen nicht mittelbar sondern unmittelbar, um zu einem
ge wißen Zweck zu gelangen. Man kann auf zwejrfache Weise zu seinem
Zweck gelangen, entweder durch Redlichkeit oder durch Schelmerey 30
und Betrug. Es ist aber dieses ganz ungereimt, denn einige machen
nach dieser Art aus einer Tugend ein Laster. Bey der Tugend und der
moralischen bonitaet kommts nur auf den Innern Werth an.
von der Natur der Imperativorum
In einem jeden Willen ist die Uebereinstimmung der Handlungen 35
mit dem principio der Handlungen und dieses drückt die objective
Nothwendigkeit derselben aus. Die objective Nothwendigkeit der
Praktische Philosophie Powalski 125
Handlungen ist eine gute Regel derselben, objective sind sie noth-
wendig subjective aber zufällig. Dies gilt aber nur von einem Willen,
der noch nicht ganz verderbt ist. Die objective Regeln der Willkühr
kann kein Bösewicht so leicht, wenn er auch wollte, aus seinem Herzen
5 verbannen. Man darf sich nicht der Imperativorum bedienen, wenn
eine Sache schon aus subjectiven Gründen nothwendig ist. Die Impera-
tivi finden nur da statt, wo das subject genöthigct werden muß.
Die Menschen haben die Imperativos nöthig, nicht darum, weil sie
einen bösen, sondern weil sie einen unvollkommenen Willen haben. Das
10 siehet man daraus, weil das moralische Gesezz doch noch in Ansehung
unsers Willens eine Kraft hat. Je weiter die moralische Regeln von /
der Sinnlichkeit entfernt seyn, desto rührender sind sie. so
Neceßitas moralis est obligatio.
Nicht nur jede practische Neceßitation ist eine Obligation. Practisch
15 ist jemand neceßitirt nach den Regeln der Klugheit oder pragmatisch.
Diese Imperativi pragmatici sind Regeln der Klugheit, und zwar von
großer Wichtigkeit, sie enthalten aber gar keine Obligation. Imperati-
vus moralis est obligans.
Neceßitatio per stimulos non est neceßitatio objectiva sed subjec-
20 tiva. obligatio est neceßitas objectiva moralis. Die moralische Regeln
zeigen an das, was sittlich gut ist. Die Imperativ! sind bey uns Nöthi-
gungen auch zu solchen Handlungen, die wir nicht gerne thun,
es giebt fast keinen einzigen Fall, wo der Mensch eine moralische
Handlung gerne thut. Die Obhgation ist nur bey solchen Wesen
25 nöthig, die an sich selbst gute Handlungen nur mit dem größten
Zwange thun. Ein jeder Bewegungs Grund zu einer Handlung der aus
dem Vergnügen hergenommen ist, welches sie verschafft ist nicht
moralisch. Man darf auch eine Handlung nicht für moralisch halten
1. W^eil sie uns sehr durch die Vernunft angepriesen ward
30 2. Weil sie einen großen Einfluß in unsre Glückseehgkeit hat
/ Sondern eine Handlung ist moralisch gut die uns des Glücks würdig 51
macht und nicht dieses uns erwirbt. Alle moralische bonitaet der
freyen Handlungen ist eine absolute bonitaet oder sie ist an sich selbst
gut und nicht respective oder als ein Mittel. Die causae impulsivae
35 morales sunt omnibus causis potiores.
Es giebt bonitaeten der Handlungen, die als actus der Freyheit
können betrachtet werden, wenn sie entweder mit den gegenwärtigen
Regeln oder Zustande übereinstimmen. Die absolute und innere boni-
taet ist weit größer als die äußere und objective. Die äußere ist zu-
126 Vorlesungen über Moralphilosophie
fällig und dependens von einer Noth wendigkeit, deren Werth kann
durch gar nichts übertroffen werden. Eine Sache die ihren innern
Werth verliehret, kann ihn nicht durch den äußern ersezzen, sie muß
uns Verabscheuungswürdig seyn
Die motiva moralia sind die größesten unter allen. Legi morali lex
pragmatica opponi non potest. Obgleich das pragmatische Gesezz
eine große vim impellentem haben kann, so muß doch darum das
moralische Gesezz nicht aufhören.
De activis et passivis
Poßum alicui obligatum eße, quamque nam ei modo obligatus lo
sum. Eine obligatio paßiva ist die, welche sich auf einen obligandum
58 beziehet. Der obligandus hat / in Ansehung des obligati einen Vorzug ;
denn der leztere ist moralisch neceßitirt. ZE. es ist ein Mensch arm,
so ist der reiche moralisch neceßitirt ihm zu helfen aber nicht ab
obligando sed erga obligandum. 15
Es giebt auch noch eine größere und kleinere Obligation. Unter einer
größern verstehen wir diejenige deren motiva einen Grund abgeben
können, daß eine Sache nicht unterlaßen wird, die motiva dieser
größern Obligation heißen motiva fortiora. Wo mit einmahl verschie-
dene obHgationen statt finden, da ist keine größer oder fortior wie die 20
andre.
Die Motiva sind ferner vel obligandi vel obligantia.
Die Motiva obligantia sind die, welche der Grund seyn von der
Noth wendigkeit einer Sache.
Die motiva obligandi sind die, welche zwar ein Grund aber nicht 25
eine Notb wendigkeit seyn.
Es giebt gewiße moraHsche Gesezze die eine vim obligantem haben.
Diese sind von der Art, daß sie eine complette Obligation enunciren.
Die obhgation ist gleichsam das resultat aus den motiven. Einige
obligationes sind beständig, andre aber entstehen und vergehen wieder. 30
Die moralischen Gesinnungen bleiben beständig, die Obligation aber
vergehet nachdem die objecte der Obligation vergehen. Es vergeht
aber eine Obligation durch die WiUkühr des actus obligatorius wenn
WillkührUcher Weise eine Obligation erzeuget wird: Bey allen obli-
53 gationibus paßi/vis entstehen nicht anders obligantia als durch einen 35
actum Obligatorium. Bey der obligatione spontanea entstehet aber
eine Obligation aus dem actu obligatorio. In dem actu obligatorio ist
Pr.aktische Philosophie Powalski 127
der eine obligant und der andre obligat. Der obligant hat eine Obli-
gationen! passivam. Der obligatus aber eine Obligationen! activam.
Morales leges obligantes können sich nicht wiederstreiten, obwohl die
motiva moralia sich Aviederstreiten können. Ein absolutes moralisches
5 Gesezz gilt ganz unbedingt vor allgemein. Das hypothetische hin-
gegen gilt nicht in allen Fällen, sondern es führt eine Instruction bey
sich. Hypothesis ist das was uns restringirt, in Ansehung einer andern
Sache.
Noch etwas de obligatione activa et paßiva.
10 Obligatio activa ist obligatio erga obligandum oder wo man einen
andern sich verbindlich macht, obligatio paßiva est obligatio erga
obligantem wo der andere der Grund unserer Verbindlichkeit ist.
Eine obligatio activa ist zE. diejenige Verbindlichkeit, die wir gegen
einen nothleidenden haben müßten. Obligatio paßiva ist, welche wir
löunserm Wohlthäter schuldig sind, durch die Obligation erga non
obligantem oder dadurch, daß ich Jemandem verbindlich bin, ohne
eine Ursache zu haben, übe ich eine actionem obligantem aus. Die
obligationes paßivas nennt man Schuldigkeiten die activas Verdienst-
leistungen, zu den Schuldig/keiten sind wir moralisch genöthiget, zu 54
20 den Verdienstleistungen sind wir gar nicht genöthiget, sondern sie
sind freye Erzeugungen der Verbindlichlvcit, welche officia humanita-
tis, oder officia beneplaciti genannt werden.
Officium heißt die pflichtmäßige Handlung selbst, wozu ich ver-
bunden, die Ausübung dieser Handlung aber heißt obligatio. Die
25 officia sind entweder
1. officia beneplaciti, diese entstehen per obligationem ac-
tivam oder
2. officia debiti welche per obligationem paßivam entstehen.
Eine behebige Pflicht heißt diejenige, wozu ich von keinem gezwun-
30 gen werde. Eine Handlung wodurch ich einen obligire, ist eine ver-
dienstliche Handlung, sie ist aber auch zu gleicher Zeit eine obligatio
non paßiva.
Von der Gewißheit und Ungewißheit, Wahrscheinlichkeit
und UnWahrscheinlichkeit der moralischen Gesezze.
35 In den moralischen Gesezzen muß Gewißheit herrschen. Eine mora-
lische Regel kann nicht ungewiß seyn, denn so bald sie ungewiß ist,
128 Vorlesungen über Moralphilosophie
kann sie nicht zu den Regeln der Moralitaet dienen. In der Subsumtion
55 kann aber Ungewißheit und Wahrscheinhchkeit herrschen. / Nichts
ungewißes kann eine Handlung noth wendig machen. Die morahschen
Regeln müßen aber darum gewiß seyn, weil sie uns neceßitiren, weil
sie uns das erlaubte und unerlaubte zeigen sollen. Denn so bald man 5
an einer Regel zweifelt, so ist es keine Schandthat wieder sie zu
handeln.
Der Probabilismus moralis ist der, der es für erlaubt hält allen wahr-
scheinlichen moralischen Regeln gemäß zu handeln, dieses aber ist
unerlaubt, sondern man muß einer Regel gewiß seyn. Alles was ganz 10
gewiß erlaubt ist zu thun, das ist den moralischen Gesezzen gemäß;
dagegen was wahrscheinlicher Weise unerlaubt ist, oder was nur
besorglich ist, das ist moralischer Weise unwahrscheinlich. Alle unsre
obligationes müßen zum Grunde haben entweder die Natur, und denn
heißen sie obligationes naturales, oder das arbitrium des Menschen und 15
denn obUgationes arbitrariae.
Die natürliche VerbindHchlieiten sind die, die aus der Natur der
Handlung fließen, oder die den natürhchen Gesezzen gemäß sind. Die
Willkührhche Verbindhchkeit ist die, die aus dem arbitrio des Men-
schen entsteht und den willkührlichen Gesezzen gemäß ist. Diese 20
zufällige und willkührliche Verbindlichlveit wird von neuen Autoribus
die positive genannt. Die positive ist aber hier nicht der natürlichen
sondern eigentlich der arbitrariae Verbindlichlceit entgegen gesezt.
Positive oder affirmative heißt die Verbindlichice it, die da sagt
56 was geschehen soll negative aber diejenige, / welche zeigt, was man 25
unterlaßen soll — Die obligatio ist ferner vel naturahs vel contracta —
Alle positiones sind statuta. Die positive Obligation kann wieder
betrachtet werden in Ansehung der Unterlaßung und Begehung.
Von der Unterlaßung und Begehung
Beyde so wohl Unterlaßung als Begehung sind actus der Freyheit. 30
Im moralischen Verstände heißen sie beyde Handlungen, obgleich
die Unterlaßung im psychologischen Verstände keine Handlung ist.
Alles ist im moralischen Verstände Handlung, was einen Bewegungs
Grund hat. Etwas unterlaßen aus einem moralischen Bewegungs-
Grunde ist eben solche Handlung als etwas thun zE. sich nicht an 35
jemand rächen der uns beleidiget hat, ist wirklich schwerer als sich
rächen. Um den moralischen Werth eines Menschen kennen zu lernen,
Praktische Philosophie Powalski 129
muß man also sehen auf das böse, welches er aus moralischen Gründen
unterläßt, und nicht auf das gute was er thut. Oder man drückt sich
beßer aus: Eine omißion der moralischen bösen Handlung ist eine
commißion der moralischen guten Handlung. Hingegen ist die Unter-
5 laßung der moralisch guten Handlung die eigentliche commißio
moralis. omnes transgressiones legis moralis sunt peccata. Peccata
negativa sind Uebertretungen des moralischen Gesezzes. Peccata
positiva sind Begehungen wider das moralische Gesezz. Nicht alle
peccata negativa sind opposita morali contradictoria. Peccare / heißt st
10 wider eine Regel handeln. Das Wort peccatum erstreckt sich sehr weit
von dem Worte Sünde. Die Sünde bedeutet eine Begehung wieder die
Religion. Wir haben habitus zu den Lastern, aber keine Sünde wieder
die MoraHtaet.
die ersten principia der Obligation.
15 Es ist hier die Frage welches das erste Gesezz unter den moralischen
Gesezzen sey ? Die Vorschriften, welche der Moralitaet gemäß sind.
Lex moralis est a lege moralitatis valde different. Das principium
moralitatis ist der Saz, der die Natur aller moralitaet ausdrückt,
welcher zugleich die neceßitation unsrer Handlungen anzeigt. Ohne
20 ein Gesezz zu geben, kann ich doch ein Muster zum Gesezz geben, es ist
dieses aber nur eine norm und nicht ein Gesezz. Obgleich dieser Saz,
der die Natur aller moraHtaet ausdrückt, kein principium der disciplin
ist. so kann er wenigstens dazu dienen, daß L dadurch die moral von
allen Regeln der Sinnlichkeit, 2. von allen Regeln der Klugheit unter-
25 schieden wird — das erste sagt thue das, was dein Vergnügen ver-
mehren kann, und dieses ist ein Imperativus, der auf die Befriedigung
der stimulormn gehet. Das leztere: thue das, sorge dafür, daß dein
Wille ein guter Wille sey. Das aber was da sagt: thue das was die
Wohlfahrt deines Lebens befördern kann, ist unterschieden von dem:
30 thue das was deine bonitaet angeht. Quaere perfectionem quantam
potes oder perfice te / drückt hier auch nicht genau die Vollkommen- sg
heit aus, ist eben so unbestimmt als die Bonitaet. ZE. Wir können daß
eine Lust vollkommen sey, sagen perfice te, ich weiß aber nicht
wodurch ich mich vollkommen machen soll und kann. Volllcommen-
35 heit heißt das, was alles das enthält, was mit meiner Forderung über-
einstimmt. Dieser Imperativus ist soweit tavtologisch, soweit er das
quaesitum implicirt. Er hat doch aber einigen Nuzzen. Der Impera-
0 Kaut's Schriften XXVII/1
130 Vorlesungen über Moralpliilosophie
tivus der Klugheit sagt, thue das was deinen Zustand vollkommen
macht, und dieses ist ein praetischer Stimulus, Avelcher beßer ist als
der sinnliche.
Wenn der Imperativus sagt : thue das wozu du einen appetit hast :
so ist das ein Stimulus philosophicus. 5
Das größte Wohlbefinden eines Menschen beweiset nicht, ob er
alles deßen würdig ist. Hingegen mache dich vollkommen ist etwas
anders als mache deinen Zustand volll^iommen. Denn hier wird gesagt :
mache deine Person vollkommen. Die Vollkommenheit eines Men-
schen besteht eigentlich in allem dem was ihn des guten würdig 10
machen kann. Die Vollkommenheit einer Person ist zwiefach: 1. mo-
ralisch 2. pragmatisch die erste ist die Vollkommenheit des
Willens, die leztere ist die Vollkommenheit der Talente. Perfice volun-
tatem tuam würde also der Imperativus moralis seyn. Die wahre
59 bonitaet besteht in dem Willen, die inne/re bonitaet des Willens ist die 15
äußerste bonitaet —
Das eigentliche moralische principium ist also der gute
Wille und hierinn bestehet das absolutum — Nichts ist gut als das,
was einen guten Willen hat. Selbst das Höchste Wesen ist darum nur
gut, weil es einen guten Willen hat. Denn sollte dieses Wesen welches 20
allmächtig und allgegenwärtig ist, nicht zugleich einen guten Willen
haben, wie schreckensvoll würde es uns alsdann nicht seyn ? Die Voll-
kommenheit betrift die Talente, die Bonitaet die Verdienste. Perfice
te quantum potes heißt: bringe alle deine Vollkommenheit und thäti-
ges Vermögen, bis zu welchem grade des Vermögens du nur kannst. 25
um alle deine gute Absichten zu vollführen, und mache es proportio-
nirt. Dieser Saz perfice te ist die Beförderung der Talente bis zu dem
höchsten grade, zu dem das menschliche Vermögen gebracht werden
kann. Diese Practische Regel perfice te, alle die Talente die in der
Menschheit sind, und die Natur vergrößern, heißt sich vollkommen 30
machen. Sie ist pragmatisch, indem sie uns zeigt, wie wir geschickt
werden können, alle unsere Zwekke zu erreichen, sie mögen nun gut
oder böse seyn. Die Moral sezzt keine Absicht als die mit dem guten
Willen übereinkommt. Die Bonitaet ist weit unterschieden von dem
Werth des Zustandes und der Glückseeligkeit der Person. Und sich 35
selbst glücklich zu machen ist am Ende subordinirt dem guten Willen.
60 / Imgleichen ist noch ein Saz : vive convenienter naturae quantum
potes: Unter der Natur verstehen wir die allgemeine Beschaffenheit
der Dinge wodurch du deine beste Absichten erreichest. Dieser Saz
Praktische Philosophie Powalski 131
kann kein oberstes principium der Moral seyn, weil er ein empirischer
Saz ist, dahingegen müßen die principia der Moral a priori bekannt
werden können, ob in verschiedenen Fällen zwar sehr schwer auszu-
machen ist, welche Handlung a priori die beste ist. Ferner wird dieser
5 Saz angegeben: ama optimum quantum potes.
Das Principium aller Moral ist die Selbstliebe. Die
Selbstliebe ist zwiefach 1. des Wohlwollens 2. des Wohlgefallens.
Nach der Selbsthebe des Wohlwollens trachtet ein jeder Mensch, aber
thue das was deinem Wohlgefallen gemäß ist, heißt, das deinen Beyfall
10 verdient, und diese heßit die intellectuale Selbstliebe. Die
Intellectuale Selbstliebe besteht in dem rechten Gebrauch unsrer
freyen Handlungen. Ueberhaupt die eigentliche Quellen und ersten
principia der Moral haben niemahls recht können ausgemittelt werden,
und können also nicht zu einer practischen Regel dienen.
15 Von dem moralischen Zwange.
Der Mensch kann pathologisch oder per stimulos zu keiner Hand-
lung neceßitirt werden aber per motiva kann dies geschehen. Der
Zwang ist im eigenthchen Verstände die Nothwendigkeit der Will-
kühr. Der Zwang ist bey einem Menschen neceßitas actionis in vitae,
20 oder die / Nothwendigmachung einer Handlung, wenn sie auch gleich 61
ungern geschiehet. Der Zwang ist zwiefach 1. der Zwang des arbitrii
bruti und 2. der Zwang des arbitrii liberi. Neceßitatio bruti est patho-
logica coactio. Die Thiere zwingt man entweder durch Hunger oder
Schläge, die Ursache daß man sie antreiben muß, ist, weil sie keine
25freye Willlvühr haben. Wenn sie sich aber bewußt wären, wenn sie
Ueberlegungen hätten, würden sie auch oft dem antreiben wieder-
stehen. Brutum vocatur was ohne alle Ueberlegung geschiehet. Das
arbitrium brutum kann pathologice oder per stimulos neceßitirt
werden. Der ist be\\Tißt, der sich einen Vorsaz gemacht hat nach
30 Regeln der Klugheit und nicht nach stimulis zu handeln. Er kann also
nach Ueberlegungen handeln, und nicht nach Empfindungen und
darinn bestehet das liberum arbitrium. Es ist sehr schwer den
Antrieben zu wiederstehen und seine Willkühr unbewegt zu erhalten.
Wenn der Mensch gezwoingen wird durch Peinigung, so geschiehts nur
35 wegen der Schwäche der Natur. Der Pathologische Zwang zeigt keine
freye Willkühr an. Der Zwang actionis liberae heißt coactio practica.
Einen practisch zwingen heißt ihn durch motiva der Vernunft und
132 Vorlesungen über Moralphilosophie
nach Gesezzen der Freyheit bewegen. Alle neceßitatio practica ist die
Vorstellung des guten was man thun soll, und des Uebels was man nicht
thun soll, weil es moralisch nicht gut ist. Der practische Zwang ist ein
«3 objectiver Zwang. Wenn der Mensch das erkennet / was gut ist, dazu
wird er nicht subjective neceßitirt, dieses kommet daher, weil der 5
Verstand zwar eine vim motricem hat aber nicht neceßitantem.
Hieraus folgt, daß dieser Saz die objective Nothwendigkeit der Hand-
lung enuncirt und dieser enuncirt auch zugleich, daß sich der Mensch
in Ansehung dieser Handlung neceßitiren soll.
Coactio practica ist ferner zwiefach vel moralis vel pragmatica. lo
Es ist ein morahscher Zwang, wenn ein Mensch durch moralische
Bewegungs Gründe neceßitiret wird. Ein pragmatischer aber, wenn er
durch Regeln der Klugheit neceßitirt wird. Ueberlegung hat nicht die
Stärke, die die Empfindung hat. Der moralische Zwang ist wieder
zweyerley 1. der innere und 2. der äußere. Der innere ist so fern wir i5
uns durch unsere eigene Willkühr zwingen. Der äußere ist, so fern die
zwingende Kraft in der Willkühr eines andern ist. Wir werden
gezwungen wenn uns eine Handlung nothwendig ge-
macht wird, wir zwingen uns selbst, wenn wir das gute
zugleich einsehen. Jemehr sich jemand selbst zwingen kann, 20
desto größere Kraft hat seine Freyheit; wenn wir uns so weit zwingen,
daß wir die stimulos überwiegen, desto größere Macht hat unsre
Freyheit. Wir exerciren unsre Freyheit, wenn wir uns im Selbst-
zwange üben.
Der moralische Zwang ist also der Höchste grad der Freyheit. 2-)
63 Es giebt dreyerley Arten von Philosophie, welche sich / um diesen
moralischen Zwang bemühet haben, wie wohl auf eine unrechte Art.
1 . Die Stoiker haben sich bemühet über ihre Neigungen zu herrschen .
2. Die aus der Alexandrinischen Schule, die die Theologische
Uebungen trieben. so
3. Die Mönche und vornehmlich die Carmeliter und Barfüßer,
welche aber dadurch die Stärke der Menschen mein" degradiret als
erhöhet haben.
Es giebt auch moralischen Zwang der categorisch genannt wird.
Jemehr der Mensch unterwürfig ist, desto freyer ist er. Einer ist unter- 35
würfig wenn er unter der Macht eines andern stehet. Der Mensch ist
ein Herr von sich Selbsten, er ist aber der Moral unterwürfig. Der
moralische Zwang ist, so ferne ein Mensch unter moralischen Gesezzen
Praktische Philosophie Powalski 133
stehet. Es ist die Schuldigkeit des Menschen seinen ganzen Vortheil
aufzugeben, wenn er aufs bitten eines andern der ihm viele Wohl-
thaten erzeigt, ihm etwas zu gefallen thun kann.
Von dem Unterschiede der äußern und innern Verbind-
5 lichkeit.
Die moralische neceßitation durch die Willkühr eines andern heißt
die äußere Verbindlichkeit. Die moralische neceßitation durch seine
eigene Willkühr ist die innere Verbindlichlveit. Neceßitatio moralis
per arbitrium alterius est externa, per arbitrium autem proprium
10 interna obligatio. Die moralische / Nöthigung ist oft ein Zwang aber 64
nicht durch die Willlvühr eines andern und dies ist die innere und nicht
äußere neceßitation. Wenn derjenige der mir viele Wohlthaten er-
wiesen von mir etwas bittet: so fordert er von mir etwas. Diese
Forderung ist aber nicht so beschaffen, daß wir es dann wegen seines
15 üblen Zustandes thun; sondern wir sind es schuldig. Wenn wir eine
Handlung betrachten, so ist sie moralisch nothwendig nach dem
arbitrio hominum, und die Obligation ist eine äußere Obligation. Alle
moralitaet muß aus ihrem eigenen Titel betrachtet werden. Der Stolz
des Menschen macht, daß die äußere Obligation zu einer inneren wird,
20 Wenn sie was thun auch dasjenige was sie zu thun schuldig sind,
so halten sie es vor ihre Großmuth. Wir haben nur alsdenn einen
morahschen Werth, wenn unsre Handlungen verdienstlich sind. Wenn
wir von nichts anders als de obligationibus internis reden, so verliehret
dabej' die Beobachtung der schuldigen Pflicht ihren Nachdruck. Wenn
25 wir unsre Schuldigkeit thun ; so üben wir dabey keine Verdienstliche
Handlung aus. ZE. Wenn wir unsre Schuld bezahlen, so ist dieses keine
verdienstliche Handlung, sondern wir werfen von uns eine Last ab.
Vom moralischen Gesezz.
Die Menschen können nach Regeln normen und Gesezzen neceßitirt
30 werden, das lezte heißt categorisch oder schlechthin neceßitirt
w^erden, das erste aber practisch oder nach hypothj^osen. Die Sitt-
lichkeit im/perirt 1. categorisch und ist ein Gesezz, 2. practisch. 65
Die Regel imperirt dem Verstände, das Gesezz aber dem Willen.
Die Moral enthält in sich ein Gesezz. Die Gesezze beßern unsern
35 Willen. Die Regeln die Geschicklichkeit. Die Regeln betreffen nur die
Ausführung, die Gesezze aber die Zwekke. Die Gesezze der Klugheit
134 Vorlesungen über Moralphilosophie
zeigen uns die wahre Glückseeligkeit. Die Regeln der Klugheit aber
zeigen uns die Mittel um dazu zu gelangen. Eine jede empirische Regel
hat eine Ausnahme. Eine Regel aber aus Vernunft ist ohne alle Aus-
nahme. So sind auch die mehresten Klugheits Regeln allgemein. Es
kommen doch öfters Vorfälle vor, wo sie auch Ausnahme leiden. Ein 5
Mensch der sich an eine Regel sehr bindet ist gemeinhin pedantisch.
Die Pedanterie ist also wenn man nicht die Geschicklichlieit hat, Aus-
nahmen der Regel vorzunehmen. Die Regeln der moral gebiethen
categorisch und nicht hypothetisch (einige haben die Moral dadurch
recommandiren wollen, daß sie sagten, sie sey die Wissenschaft, welche 10
uns zur wahren Glückseeligkeit führe). Sie zeigt uns aber nur eigent-
lich unter welcher Bedingung unsre Handlungen gut oder böse seyn.
Die Glückseeligkeit ist auch nicht anders gut, als nur unter einer
gewißen Bedingung, nemlich so fern ist sie nur gut, als das subject,
welches sie besizt, würdig ist derselben. Gut ist das was allgemein 15
gefällt, absolut gut ist aber nur allein der gute Wille. Alle moralischen
66 Gesezze heißen in Ansehung des Menschen Verbindlich/keiten. Sie
sind entweder objective oder subjective Gesezze. Die subjectiven
Regeln unsers Willens sind die Triebfedern unserer Begierden und
Neigungen. Dieses Gesezz der Triebfedern ist ein ganz anderes als das 20
Gesezz der Bewegungs Gründe durch die Vernunft, und dieses ist ein
objectives Gesezz, das zugleich moralisch ist. Diese objectiven Gesezze
des guten Willens sind aber nur bloß beym Höchsten Wesen wirkliche
Gesezze, bey dem Menschen aber nicht. Daher lauten nicht alle
moralische Gesezze vom guten in Ansehung des Menschen impera- 25
tivisch, nemlich du Sollst oder das Wort Sollen. Bey Gott ist aber
kein sollen, weil er das thut, was er thun will. Diese moralische
Gesezze sind aber doch in Ansehung des Menschen leges obligantes.
Sie sind eigentlich die Regeln des allervoUkommensten Willens. Wenn
wir durch das arbitrium eines andern wozu neceßitirt werden (seyn) 30
so heißt diese Verbindlichkeit officium debiti oder eine Schuldig-
keit, wenn wir aber nicht per arbitrium alterius necessitirt seyn, so
heißt diese Verbindlichkeit officium meriti oder beneplaciti.
Vom Rechte.
Das Recht ist im allgemeinen Verstände der Inbegriff aller Verbind- 35
lichkeiten durch die Willkühr andrer. Derjenige deßen Willkühr vi
pollet obligante der hat ein Recht und wir wenn wir durch seine Will-
Praktische Philosophie Povvalski 135
kühl" obligirt seyn, liegen unter der Schuldigkeit. Wenn jemand aus
der Güte eines andern etwas / erlangen will; so wünscht er sichs, aber er
er fordert nichts. Fordern heißt sagen daß man etwas will. Sonst ist
das arbitrium nichts anders als eine voluntas practica. Das Verhältniß
5 der menschlichen Willkühr nach moralischen Gesezzen ist das Recht
und richtet sich nicht nach pathologischen Gründen. Diesem corre-
spondiret die Schuldigkeit. Das Recht ist zwiefach 1. Jus
strictum et 2. aequitas.
a. Jus strictum ist mit der Befugniß den andern auch mit Gewalt
10 zu etwas zu zwingen verbunden.
b. Aequitas ist aber das Recht, das nicht mit der Befugniß, den
andern zu zwingen verbunden ist. Im negativen Verstände bedeutet
es ein Recht, wo ich kein Recht habe. Ein äußerliches pactum oder
Vertrag muß nicht in sich enthalten etwas was man nur gedacht,
15 sondern was man auch gesagt hat. Aeußerlich ist das gültig, was
äußerlich bestimmt ist. Wenn mein Recht ius quaesitum ist, so
erfordert es eine Schuldigkeit. Zur Befugniß werden nicht positive
sondern negative Gründe erfordert. Die Befugniß ist eigentlich das
negative des Rechts.
20 Vom moralischen Gesezz.
Hier ist eine Frage ob die moralischen Gesezze ursprünglich sind ?
Sie sind an und vor sich selbst beständig, sie sind ursprüngüch und
gründen sich auf nichts als auf ein daseyn. Derjenige der das prin-
cipium der Moralitaet in nichts / anders sezt als in die Uebereinstimmung «8
25 der Handlungen mit dem Göttlichen Willen, der sezt ein theologisches
principium aller Moral zum Grunde. Das Theologische principium ist
aber ganz unrichtig und falsch und schädlich. Das principium der
moralitaet besteht in der Ausübung aller moralischen Ge-
sezze. Wenn wir aber nicht einmahl das principium der Moralitaet
30 hätten, so würde auch die Ausübung des Göttlichen Willens nicht
moralisch seyn. Der Mensch kann aus der Vernunft einen Begriff des
Göttüchen Willens und der Rehgion machen. Diese Regeln des Göttlichen
Willens sind die moralischen Gesezze. Die Begriffe der Religion sind
deswegen unentbehrlich, damit die moralischen Gesezze allen ihren
35 Nachdruck behalten.
Die Erkenntniß des Göttlichen Willens muß nicht vor der moral
vorhergehen, denn wenn wir nicht vorher moralische Gesezze erkennen.
136 Vorlesungen über Moralphilosophie
so würden wir 1 . nicht einmahl einen Begrif vom Göttlichen Willen haben
und 2. würden wir auch nicht die Befolgung des Göttlichen Willens
begreifen. Der Göttliche Wille läßt sich nur durch die moralische
Gesezze denlcen. Es ist weit gefehlet, daß die Erkenntniß des Gött-
lichen Willens vor dem moralischen Unterschiede und Urtheile vorher- 5
gehe, weil die Verbindlichkeit dem Willen eines Wesens sich gemäß
zu verhalten zum voraus sezt eine Pflicht. Die Erkenntniß der Pflicht
69 ist offenbar. / Wenn uns Gott seinen Willen auch allein offenbaret
hätte, so würde die Frage entstehen, warum die Menschen diesem
Willen nicht gehorsam seyn wollen? Wenn der Göttliche Wille darauf lo
ausgehet, daß wir gute Gesinnungen haben sollen, so müßen wir erst
einen Begriff davon haben. Wenn Gott ein Gesezzgeber ist, so müßen
wir erst einsehen, ob er Recht habe, Gesezze zu geben. Unsre Hand-
lungen sind nicht darum gut, weil sie Gott befohlen hat, sondern Gott
hat sie darum befohlen, weil sie gut sind. Wir müßen auch darum dem i5
Willen Gottes nicht folgen, weil er despotisch befiehlt, sondern weil
das was er befiehlt gut ist. Man respectiret etwas ohne es zu vereh-
ren, wenn man nehmhch etwas aus Furcht hoch hält. Wenn wir seinen
Willen nicht beurtheilen können, daß er gut ist, so ist an der Befol-
gung der Handlungen nicht das geringste von der Moralitaet. Gott 20
giebt seine Gebote, aber er giebt sie nicht nur allein, sondern er sagt
dabey, daß sie gut sind. Gott lieben heißt seine Gebote gerne
thun. Gott will nichts anders als daß der Mensch das thue was er
selbst hochschäzt, und also verlangt er nur lauter biUiges von uns.
Das Mosaische Gesezz ist hergeleitet aus der Göttlichen Macht. 25
Unsre Religion würde also nichts zu bedeuten haben, wenn wir nicht
70 schon vorher einen Begriff / von der Moralitaet hätten. Der Mensch
muß nicht seine WillkührUchkeit in die Religion bringen, sondern ein
reines Herz. Wenn ein Mensch nicht mit reinen Gesinnungen zur
Theologie schreitet, würde daraus keine wahre Religion entstehen so
sondern lauter Heucheley, Denn die Religion ist nichts als gereinigte
sittliche Gesinnungen, die man hernach auf das allervollliommenste
Wesen anwendet, deßen Willen der allervollkommenste ist. Denn das
ist nicht die Religion daß ich Gott einen Gehorsam leiste, sondern die
Religion ist eigentUch das Verhalten gegen Gott aus moralischen 35
Gründen, dasjenige also was den Geist der Rehgion ausmacht, ist die
Befolgung aller GöttUchen Befehle. Gott können wir nicht lieben,
wenn wir seine Befehle nicht lieben, diese leztere aber können von uns
nicht geliebet werden, wenn wir nicht ihre Billigkeit einsehen.
Praktische Philosophie Powalski 237
Hier ist also bewiesen, daß das prineipium der moralitaet sich nicht
auf den GöttHchen Willen gründe, weil das eben so viel wäre, als wenn
ich sagte, daß auch die Regeln der Geometrie sich auf den Göttlichen
Willen gründeten. Von der andern Seite ist doch aber / merkwürdig, ri
5 daß obgleich der Götthche Wille nicht der Grund der morahschen
Beurtheilung ist, so ist er doch der Grund der morahschen Qualitaet.
Denn in unsern moralischen Gesezzen würde lauter Idealitaet seyn
und keine Realitaet, wenn nicht ein Wesen da wäre, welches nach
diesen moralischen Gesezzen regieren würde.
10 Ideal nennt man die Sache in deren Möghclilvcit die Gründe wozu
hegen zE. so ist ein allgemeiner Friede bloß etwas Ideales. Er ist zwar
richtig in der Idee, aber die Mächte stimmen nicht sogleich überein.
Der Friede ist eigentlich der Zustand der Gerechtigkeit, die mora-
lischen Gesezze zeigen uns die Vorschriften eines Willens, sofern er ein
15 guter Wille ist. Diesen guten WiUen müßen wir haben, wenn wir der
Glückseeligkeit würdig werden wollen. Die moralischen Gesezze
gebiethen aUe categorisch. Wenn es an einem Wesen fehlt welches
alles reahsiret, so ist in unsrer moral keine reahtaet, sondern sie
besteht in der bloßen Idee,
20 In der moral muß man auf diese beyde Stücke merken: 1. Ver-
halte dich so wie du urtheilen kanst nach den Regeln
des guten Willens, damit du der Glückseeligkeit würdig
werdest und 2. Hast du dich so verhalten daß du der Glück-
seeHgkeit würdig bist, so glaube daß es ein Oberstes Wesen giebt,
25 welches diese Welt und zwar conform den morahschen Gesezzen regie-
ret, / welches dich dermahleins belohnen wird. Wäre dieses nicht, n
so wäre auch in der Belohnung unsers Wohlverhaltens lauter Idee und
keine Realitaet, weil es keine VoUziehung derselben geben würde.
Um also der moral Realitaet zu verschaffen, müßen wir ein Wesen
30 annehmen, welches zur Richtschnur seines Willens die moralischen
Gesezze hat, und welches uns, wenn w^ir uns der Glückseeligkeit
würdig gemacht haben, derselben auch wirklich theilhaftig machen
wird, zugleich müßen wir uns dieses Wesen auch als ein allwißendes
und allgegenwärtiges denken, das auch in unser innerstes sehen kann.
35 Die Religion sezzt immer die moralitaet zum voraus, keine moralitaet
kann aber practisch seyn ohne Religion. Ueberhaupt ist die Religion
ganz unzertrennlich von der moralitaet, aber darum ist sie nicht das
erste Prineipium davon, sondern die Religion muß nach der Sitthch-
] 38 Vorlesungen über Moralphilosophie
keit beurtheilet werden. Eben so ist auch der Wille Gottes nicht das
Criterium der moralitaet, sondern nur die Vollziehung derselben. Die
moralitaet gründet sich auch nicht auf solche Handlungen, die sich auf
die privat Glückseeligkeit beziehen, imgleichen auch nicht auf solche,
welche sich auf die allgemeine Glückseeligkeit beziehen. Es ist nicht 5
gut, wenn nicht die Personen so sie besizzen, zugleich derselben würdig
n seyn. Nur alsdenn / sind wir der Glückseeligkeit würdig, wenn wir uns
wohl verhalten. Oft müßen wir auch die Glückseeligkeit der Menschen
hintansezzen, wenn wir eine Schuldigkeit zu beobachten haben. Wür-
den alle Menschen dem Recht folgen, so würde die Glückseeligkeit weit lo
ausgebreitet seyn. Oft muß man auch einen theil der Glückseeligkeit
aufgeben, um die Würde der Menschheit nicht zu enteliren. Die Glück-
seeligkeit bestehet nicht in dem Gefühl, denn nur die Eindrücke laßen
sich empfinden zE. so können wir fühlen daß es eine Regierung der
Welt gebe, niemand aber kann das Recht fühlen, sondern dies ist nur 15
eine Beurtheilung des Verstandes. Die moralische Regeln kann man
a priori erkennen. Alle moralische Gesezze haben eine animam und
litteram, aber die pragmatischen haben keine animam sed sensum.
Der Geist des Gesezzes bedeutet die Gesinnung, mit welcher die Hand-
lung, welche es befiehlt, soll gethan werden. ZE : den Armen Wohl- 20
thaten erzeugen, das ist der Buchstabe des moralischen Gesezzes.
Diese Wohlthat soll aus wahrer Menschenliebe herrühren, das ist also
der Geist dieses moralischen Gesezzes, denn er zeigt die Gesinnungen
74 an, mit welchen ich diese / Wohlthat austheilen soll. Der Geist aller
moralischen Gesezze bestehet also in den Gesinnungen. Dahingegen 25
gehen die pragmatischen Gesezze nur auf die Handlungen und sie ha-
ben keinen Geist. Man fragt gar nicht wie bey den moralischen Gesezzen
nach Gesinnungen sondern nur nach der Handlung zE. was fragt ein
Ijandes Herr nach, ob seine Unterthanen die Abgaben gern oder
ungern abtragen, wenn sie es nur thun. Der Sinn des pragmatischen so
Gesezzes wird vom Buchstaben unterschieden, dieser Unterschied
heißt der Unterschied der Interpretation. Im moralischen Gesezz aber
wird der Geist vom Buchstaben unterschieden, und dieses heißt der
Unterschied der Intention. Viele Gesezze führen eine Zweydeutigkeit
bey sich das ist, sie haben eine ambiguitatem, nach der sie auch in 35
einem andern Verstände genommen werden können. Man muß daher
in dem Gesezze solche Ausdrücke gebrauchen, die mit keinem andern
Verstände können verbunden werden. Derjenige der Erkenntniß der
Gesezze den Buchstaben nach hat, heißt ein Legulejus.
Praktische Philosophie Powalski 139
Von der Rechterfahrenheit und Rechtkunde.
Diese ist zweifach a. eine Rechts Wißenschaft und diese ist
theoretisch und b. die Rechts Klugheit diese / ist practisch, die 73
Rechtswißenschaft ist die Kenntniß der Gesezze, sofern man sie
5 systematisch einsehen kann, zur Rechtsklugheit wird aber auch eine
Geschickhchkeit der Anwendung erfordert, imgleichen auch eine
Weltkenntniß. Ein Jurist ist ein Theoreticus sofern er Rechtswißen-
schaft versteht, ein Practicus ist er aber, sofern er die Geschickhchkeit
hat die Gesezze zu lenken und anzuwenden. Ein Practicus kann auch
10 wenig Rechts Wißenschaft haben, denn ist er nur Legulejus und nicht
Jurisconsultus, weil er die Gesezze nicht einsieht, sondern sie nur
kennt. Es sind Jure periti, die aber nicht Jure consulti seyn. Ueber-
haupt ist die Juris scientia sehr unvollständig ohne eine genügsame
Praxis.
15 Die Praxis ist anzusehen wie ein Experiment oder eine Beobachtung
die ich anstelle, um die Unterschiede der Rechte wahrzunehmen.
Einige Gesezze haben einen Grund des Rechts andre der Klugheit.
Die Gründe der Gesezze sind ferner vel morales vel legales. Die Juris-
peritia naturahs enthält wie die civilis alle Arten von Recht in sich.
20 Sie hat auch eben so wohl einen Geist als Buchstaben. Beym Juri-
stischen Gesezz ist kein Geist sondern nur ein Sinn. Der Rechtslehrer
lehrt die Gesezze der Handlungen, welche die Menschen von einander
fordern können, und wozu sie im Weigerungsfall auch können ge/zwun- ic
gen werden. Der Philosoph hingegen lehrt nicht die Zwangs Gesezze,
25 sondern die Gesinnungen, die wir gegen das Recht der Menschen
haben. Hierzu gehört auch noch die Rechtsgelehrsamlceit. Die Rechts
Gelehrsamlieit ist eigentlich der Innbegriff des Wißens, was man
lehren kann. Die Erkenntniß der Natur gründet sich nicht auf die
Lehre, denn hierinn braucht man nicht erudirt zu werden. Die Philo-
so Sophie ist kein Theil der Gelehrsamkeit, vielmehr ein object der
Gelehrsamlceit. Gewiße Kenntniße gehören zur Gelehrsamkeit, e.g.
die Historie, Geographie. Mathematic gehört eigentlich nicht zur
Gelehrsamkeit. Die Rechts Gelehrsamkeit betrift die positiven Ge-
sezze. Im Jure naturali kann die Rechts Gelehrsamkeit großen
35 Einfluß haben. Wenn wir die Bearbeitung des Verstandes vor uns
haben, so wird uns der Gebrauch der Vernunft sehr erleuchten und
berichtigen.
140 Vorlesungen über Moralphilosophie
Vom Natur Recht.
Es ist schon oben angeführt daß das Recht der Natur von der
Tugend-Pflicht unterschieden ist. Das Recht ist die Neceßitation
unserer Handlungen durch die Willkühr eines andern. Dagegen
können wir Verbindhchkeiten haben, aber nicht in Ansehung der Will- 5
kühr eines andern, sondern die aus dem Zustande und der Handlung
anderer entstehen. Wenn wir nicht durch andere neceßitiret werden,
n so ist es eine / autische neceßitation. Willkühr und Wille sind unter-
schieden. Willkühr ist derjenige Wille der practisch ist, Wille aber ist
nicht practisch oder voluntas minus practica est. lo
In Ansehung unserer Handlungen werden wir entweder durch Noth
oder durch Wohlthat verbunden. Zur obligatione stricte dicta seu
debiti wird die Willkühr eines andern erfordert — Wir werden äußer-
lich und stricte durch das Recht anderer verbunden, denen es erlaubt
ist uns zu zwingen, und dieses ist eine Schuldigkeit, die mit dem 15
strengen Recht correspondiret. Das Recht ist diejenige vis obligatoria,
vermöge welcher die Menschen befugt sind andere zu zwingen und
dieses sind Zwangs -Pflichten. Diese definition aber hat keinen Vor-
theil; es muß vorher determiniret seyn, die Bedingung unter der ein
anderer die Befugniß hat zu zwingen. Das Wort Befugniß sezt ein 20
Recht voraus, das Recht kann nicht dadurch determiniret werden,
sondern die Befugniß muß erst einen Grund haben. Eine Handlung, so
fern sie durch Regeln der allgemeinen Willliühr noth wendig ist,
ist sie eine iuridische Noth wendigkeit. Alles ist iuridice erlaubt,
welches der Willkühr im allgemeinen genommen erlaubt ist. Eine 25
juridische Nothwendigkeit ist eine Schuldigkeit. Das Recht ist eine vis
obhgatoria so fern sie durch die allgemeine Willlcühr neceßitiret wird,
78 seu secundum arbitrium universale. Alles / was erlaubt ist, ist noth-
wendig, und alles was nothwendig ist, ist erlaubt. Alle Begriffe des
Rechts sind die Beziehung unserer Handlungen auf das arbitrium 30
commune. Wir betrachten die Handlung nicht in Ansehung des
Nuzzens sondern in Ansehung der allgemeinen WiUlcühr. Wenn die
Handlung so beschaffen ist, daß sie einem arbitrio communi zuwider
ist, so hat ein jeder die Befugniß solche Handlung zu redarguiren.
Wenn dieses ist; so ist die Adhibirung der Gewalt erlaubt, und auch 35
der Zwang den wir wider solche ausüben. — Eine jede Handlung ist
unrecht, welche die Maxime aller Handlungen nicht zu einem allge-
meinen Grundsaz machen läßt, die weil die gemeinschaftliche Willkühr
Praktische Philosophie Powalski 141
auch unsre in sich begreift, so stimmt 1 . unsre Willkühr mit sich selbst
überein 2. wenn wir eine Handlung betrachten, welche nach den
Regeln des Rechts nothwendig ist, so fließt eine solche Handlung aus
der allgemeinen Regel und alsdenn ist sie nothwendig. Unsre Hand-
5 lungen sind auch einem Zwange unterworfen, weil es nützlich ist, daß
unsre Handlungen mit der gemeinschaftlichen Willkühr überein-
stimmen, wenn dieses aber nicht ist, daß die gemeinschaftliche Will-
kühr einen Zwang erlaubet, das ist, alle Gewalt wider solche Handlung
auszuüben. Wenn wir eine Handlung betrachten wollen, ob sie gut
10 oder nicht gut ist, so wird erstlich gefragt, ob die Meinung dieser
Hand/lung mit der allgemeinen Willkühr übereinstimmet oder nicht ? 19
stimmt sie überein so ist sie recht, weil sie von jedermann gebilliget
wird.
Ehe ich einen Nuzzen für das Wohl des Menschen vermute, muß
15 ich erstlich versichert seyn, daß diese von mir unternommene Hand-
lung gut ist. So fern unsre Willkühr durch den Zustand anderer
beweget wird, ist sie nicht von unserm Wohlbefinden, sondern von der
allgemeinen Regel der Willkühr hergenommen. Die Gesezze sind
wahre Sanctionen des Rechts, das mit der allgemeinen Regel über-
20 einstimmt. Die Glückseeligkeit wird durch Wege erwogen 1 . nach dem
Urtheil des Menschen selbst und 2. nach dem Urtheil anderer. Die
Regel des Rechts betrift nicht die Vorsorge für eines jeden Glück,
sondern die völlige Entsagung des seinigen für andere. Die Regel des
Rechts determiniret nur das, wodurch die Thätigkeit anderer Willkühr
25 geschehen muß.
Das Gesezz wird eingetheilt ins juridische und ethische
Gesezz
a. Das juridische Gesezz gebiethet categorisch b. das
Ethische aber Hypothetisch
30 1. Das juridische Gesez ist das Gesez derjenigen Pflicht, wozu wir
durch die Willkühr anderer neceßitirt werden können, unser Urtheil
muß in dem allgemeinen Urtheil enthalten seyn.
/Quaestio. Ob es recht sey Nothleidende umkommen zu laßen ? so
ist es möglich dieses als eine Maxime die überall gültig ist, zu betrach-
35 ten ? mit nichten kann dieses zu einer allgemeinen Regel gemacht
werden. Die völlige Gleichgültigkeit gegen andere Menschen kann gar
142 Vorlesungen über Moralphilosophie
nicht in den Umständen des Rechts bestehen. Es muß angenommen
werden ein Richter der alles Stöhnen und Winseln unbeweglich ansieht
und ganz unpartheyisch sieht, wer Recht oder unrecht hat. Bey dieser
so völligen Kaltsinnigkeit kann er die punctlichste Gewissenhaftigkeit
in der Befolgung des Rechts haben. 5
Von der Antinomie.
Die moralischen Gesezze wiederstreiten sich, sie enthalten entweder
die motiva obligandi oder obhgantia. Die motiva obligantia können
Wiederstreit mit einander haben, weil sie eine neceßitationemmoralem
haben. Einige moralische Gesezze enthalten die motiva obligandi, oder 10
Bewegungs-Gründe, die wenn ein größerer da ist, den andern auf-
hebet zE. Wohlthätigseyn gegen Nothleidende, wenn man auch selbst
eine dürftige Familie hat. Die Antinomie ist also nur die Vergleichung
der moralischen motiven. Wir werden moralische Gesezze finden, wel-
che stricte obhgiren — Es giebt leges morales eßentiales und 15
accidentales. Es ist accidentale wohl zu thun, aber wohlthätige
81 Gesinnungen zu haben ist eigentlich eßentiale. Omnes / leges extra
essentiales obligant hypothetice — Die Bestimmung ist die Wechsel-
seitige Bestimmung eines andern. Es giebt Gesezze bey denen die
exceptiones statt finden, diese heißen leges extra essentiales. Alle 20
Neigungen sind von der Art, daß darinnen keine exceptiones statt-
finden. Derjenige bey dem die exceptiones der moralischen Gesezze
aus Gründen der Neigung oder aus psychologischen Gründen ge-
schehen, der zeigt hier an die Schwäche des moralischen Bewegungs
Grundes, oder daß der Bewegungs Grund keine subjective elateres 25
habe ihn zu bewegen.
Je mehr exceptiones bey einem Subject aus Gründen der Sittlichkeit
sind, desto unvollkommener ist die moral des Subjects, je größer der
Wille ist, mit dem etwas geschiehet, desto größer ist die Stärke des
moralischen Gesezzes. 30
Von den principiis juris peregrini-
oder denjenigen die aus andern Wißenschaften entlehnet sind,
domesticis die aus der Willkühr und aus der Sache selbst fließen.
Alle principia sind entweder primitiva die in uns ursprünglich
sind, und sich aus nichts weiter herleiten laßen, oder derivativ a die 35
noch höhern in eben derselben Wißenschaft admittiren.
Praktische Philosophie Powalski 143
Alle Principia practica werden selbstliebig. Es / giebt Philosophiam 8'^
moralis primitivam zE. das wahre principium des Rechts, die Ueber-
einstimmung unserer Handlungen mit der WilUcühr anderer. Die
principia des Rechts sind nicht derivativa.
5 Die principia sind ferner entweder a. propaedevtica welches ein
principium der Vorübung ist. Vor eine Wißenschaft muß die andere
eine Vorübung sejai. Die moral hat auch objective propaedevtica
principia in der Theologie. Wenn wir die nicht vorausgesezt hätten,
könnten die moralischen Gesezze keinen Nachdruck haben, b. episo-
10 die a ist das was eigentlich ein peregrinum ist aber doch einen Einfluß
hat auf alle Wißenschaften. Diese principia episodica der Moral kömien
seyn Geschichten, sie können entlehnet seyn von Schaden, Nuzzen,
Zeugnißen, Beweisthümern. Das kann eigentlich peregrinum genannt
werden was nicht einen theil der Wißenschaften ausmacht. Es giebt
15 zwey methoden durch welche wir 1. zur Erkenntniß Gottes gelangen,
welches man den Glauben an Gott nennet, und 2. zur Erkenntniß der
Welt gelangen können.
Die ersten principia des Rechts sind:
1. Quaere perfectionem quantam potes 2. neminem
■2olaede suum cuique tribue 3. vive honeste
Die Natur dieses Rechts enthält die Verbindlichkeit zu welcher wir
per arbitrium eines andern neceßitirt werden können. Das stricte
Recht ist der Innbegriff der Verbindlichkeiten, zu welchen wir äußer-
lich können / gezwungen werden. Die Ethic ist von der Lehre des 83
•25 Rechts unterschieden. Sie ist der Innbegriff der beliebigen Pflichten
und das Recht ist die Schuldigkeit. In Ansehung Gottes sind alle unsere
Pflichten Zwangs Pflichten. In Ansehung der Menschen aber sind
nicht alle Pflichten Zwangs Pflichten. Der Innbegrif der Pflichten also
wozu wir durch Menschlichen Zwang nicht können gezwamgen werden ,
30 macht die Ethic oder die Tugend Lehre aus. Die Tugend Lehre
begreift alle verdienstliche Pflichten. Verdienst ist das gute was wir zu
thun nicht schuldig sind, derjenige der mehr thut als er schuldig ist,
der thut Verdienst. In Ansehung der Menschen können wir verdienst-
liche Werke haben. Alle Handlung so fern sie zur moralischen Voll-
35 kommenheit gehöret, ist unsre Pflicht. In Ansehung Gottes können wir
keine verdienstliche Werke thun. Die Neceßitation per arbitrium divi-
num ist das stricte Recht. Welches ist das principium des Natur Rechts ?
144 Vorlesungen über Moralphilosophie
Von den Zwangs Pflichten einestheils, und den Zwangs Gesezzen andern-
theils. Hiezu sind diese drey Regeln nacheinander: 1. neminem laede,
2. suum cuique tribue. Diese zwey Säzze sind die Grundsäzze der
Zwangs Pflichten und heißen das Geboth. 3. honeste vive ist das lex
vetiti. Die Laesion ist die Beleidigung eines andern. Wir können nicht 5
anders einen Begriff von der laesion haben, bis wir einen deutlichen
Begriff des Rechts haben. Im physischen Verstände bedeutet lae-
diren verwunden. Dies kann aber kein Criterium sondern niu* ein
Canon seyn, nach den Regeln des Rechts zu verfahren. Der Eintrag
84 der dem Recht eines andern geschiehet, ist die Laesion. / Honeste lo
vive gehört zur Ethic, neminem laede suum cuique tribue ist die
Pflicht wozu wir durch das Recht anderer verbunden sind. Neminem
laede et suum cuique tribue ist fast einerley. aliquem laedere heißt
jemandem Unrecht thun. Man kann den Saz suum cuique tribue auch
negative neminem laede ausdrücken. Einem das seine garnicht is
ertheilen, ist nicht eine so große laesion, als wenn man ihm etwas raubt.
Dies ist eine große transgreßion des juridischen Gesezzes. Das logische
suum ist quatenus aliquid ad suum subjectum pertinet, Quatenus est
aliquid per arbitrium alterius modificabile determinat suum practi-
cum. Das Suum iuri die tale est modificatum non iuri per arbitrium 20
alterius.
Man kann wider jemandes Recht etwas handeln, und man laedirt
ihn nicht. Laesio juris non est si contra alicuius jus adversor. Die
Laesion des Rechts muß unterschieden seyn von der laesion der Per-
son. Den Saz, wo man behauptet, daß Gott nicht könne beleidiget 25
werden, nennt man DippeHanismum. Der Saz honeste vive hat das
moralische an sich, welches wenn es bekannt gemachet würde, Ehre
erlangt. Dasjenige ist Honestum, was Billigkeit, Beyfall und Ehren-
werth erwirbt. Honeste vive heißt thun was Achtungswerth ist.
Dieser Saz beziehet sich auf Handlungen, in Ansehung derer der so
Mensch nicht kann gezwungen werden. Es ist sonderbar daß uns das
Urtheil anderer so sehr intereßirt, ohngeachtet es nicht den geringsten
85 Einfluß auf unsern Zustand hat. / Es liegt in der Menschheit außer
dem Zwang zu Pflichten des strengen Rechts noch ein Trieb in uns,
der uns treibt Handlungen zu thun, wozu wir gar nicht können 35
gezwungen werden. Der Trieb ist das Intereße an der Achtung und
Ehre des andern für uns. Thue das was dich der Ehre werth macht,
wenn es auch kein Mensch wüßte. Honeste vive nun heißt bloß
thue das was Ehrenwerth ist. Moralische Handlungen sind immer der
Praktische Philosophie Powalski 145
Achtung werth von jedermann. Durch die Erfüllung der Schuldigkeit
und Rechts Pflichten wird man gar keiner Ehren werth. Ehre verdient
man nur dadurch, daß man mehr thut als man schuldig ist. Wenn man
gethan alles was man schuldig war, so ist man dadurch nicht Ehren-
5 werth, sondern man ist nur nicht unwürdig der Ehre. Hat man die
geringste Rechtspflicht noch nicht erfüllt, so ist man zu verachten.
Ehrlichkeit ist nicht Ehren werth.
Von der Gesezzgebung
Alle Gesezze sind zweyerley vel arbitrariae vel naturales.
10 Ein natürhch moralisches Gesezz hat keinen Urheber, es kommt nicht
vom Willen her, denn was aus dem Willen kommen soll, muß zufällig
seyn. Moralische Gesezze haben keinen Urheber. Zwischen Treulosig-
keit und Treubrechung ist ein Unterschied. Der Göttliche Wille macht
nicht, daß die Treulosigkeit Verabscheuungswürdig ist, sondern sie ist
15 schon an sich selbst Verabscheuungswürdig. Nothwendige Gesezze
haben Urheber. Die moralischen Gesezze sind die criteria der Unter-
schiede unse/rer Handlungen. Die leges morales haben keine vimse
efficacem zur Obligation, denn dazu wird nicht nur die Idee und die
objectiven Gründe der Vollkommenheit erfordert, sondern dazu sind
20 auch die subjectiven Gründe nothwendig. Zur Neceßitation oder daß
das Gesezz verbindlich mache, ist nicht genugsam, daß objective
Gründe verbindlich machen, sondern gehören auch subjective Gründe.
Es giebt objective Bedingungen der Willkühr der Unterschiede
unserer Handlungen, die bestehen in der Uebereinstimmung unserer
25 Absicht zu mehrerer Glückseeligkeit. Wenn die moralischen Gesezze
in den objectiv hinreichenden Bewegungs Gründen enthalten und
auch die Bonitaet der Handlungen von ihnen hergenommen sind, so
sind sie doch nicht subjectiv gut.
Eine vis efficax hat keine verbindende Kraft. Wenn die natürlichen
30 morahschen Gesezze keine vim efficacem hätten zu obligken, so
würden sie bloß die Idee der vollkommenen Handlung seyn: sie
würden dazu dienen die moralischen Handlungen zu unterscheiden.
Alle moralische Gesezze müßen einen Gesezzgeber haben, es muß ein
oberstes Wesen seyn, was durch seine Willkühr den Lauf der Natur
35 zu Folge den morahschen Gesezzen dirigiret. W"ir können einen Begriff
von diesem allervollkommensten Willen haben. Diesen Willen nennen
10 Kanfs Schriften XXVII/1
146 Vorlesungen über Moralphilosophie
wir einen Heiligen Willen, denjenigen aber der ihn hat nennet man
Gott.
8T / Ad obligationeni bedürfen die moralischen Gesezze einen legislator.
Ein Legislator ist derjenige, der da declariret die Bedingungen, unter
welchen sein Wille mit der Willlvühr anderer übereinstimmt in einem 5
größeren Gesezz. Die moralischen Gesezze enthalten in sich 1. das
Maaß aller Vollkommenheiten 2. das principium der Beurtheilung.
Sie enthalten also die Richtschnur. Wenn unsre Handlungen mit
dieser Richtschnur übereinstimmen: so verdienen sie die allgemeine
Billigkeit und Beyfall. Aus der Natur der Handlungen fließt auch ihre lo
äußere bonitaet.
Anmerk: Es giebt einige, welche indem sie der Tugend eine Lob-
rede machen ihr nur schmeicheln, das ist, sie sagen mehr als sie davon
überzeugt sind. Solche Gesinnungen haben einen großen Vortheil
durch die physische Wirkung. Alle moralischen Schicksale werden mit i5
dem moralischen Gesezze übereinstimmen, in dem der allervollkom-
menste Wille ein heiliger Wille ist ; er, dieser Wille, ist der legislator. Er
macht die Gesezze nicht, sondern er giebt sie.
Die Potestas legislatoria gründet sich auf die Macht generaliter.
alle Subjecte und Geschöpfe zu dirigiren. Sie beruht auf einem guten 20
Willen. Das Urtheil von allem unserm Daseyn wäre sein Wille, aber ein
gütiger Wille. Denn würde sein Wille nicht ein gütiger Wille seyn,
so würden wir uns durch seinen Willen neceßitiren aber nicht obligiren
88 können. Der Göttliche / Wille muß erstlich gut seyn, zweytens die
Bedingung unter der er die Glückseeligkeit austheilen will ist die 25
moralische Bedingung, sein Wille ist also heilig. Er hat zugleich mit
der Macht die potestatem legislatoriam, und zwar darum weil er der
Beherrscher der Welt ist. Wenn er aber keinen gütigen Willen hätte,
wenn er gleich der Beherrscher der Welt wäre, so hätte er nicht die
potestatem legislatoriam. Seine Macht ist erschrecklich, aber der gute 30
Wille macht alles gut. 1. Sein Wille ist das Urbild alles Willens. 2. Er
hat eine unumschränkte Gewalt.
Theologia naturalis est scientia propaedeutica legislationis divinae.
Die natürliche Religion ist das principium der allgemeinen Göttlichen
Gesezzgebung. Gott muß durchaus nicht ein Urheber der moralischen 35
Gesezze seyn. Wir wißen zwar daß er ein executor der moralischen
Gesezze sey, wir würden das aber nicht einsehen, wenn wir nicht das
innerliche unsrer Handlungen einsehen möchten, sondern nur so wie
sie das oberste Wesen constituiret. Gott ist der Gesezzgeber aber nicht
Praktische Philosophie PoAvalski 147
der Urheber der moralisclien Gesezze. Wir können diesen Saz betrach-
ten, so fern er 1. in Ansehung der Theorie falsch ist. Denn das mora-
hsche Verhalten beruhet nicht auf unserem Verhalten, sondern so fern
es mit dem Willen Gottes übereinstimmt. Die Handlungen würden
5 also gleichgültig seyn, denn wenn ich eine Handlung unterlaße, bloß
deßwegen, weil sie Gott befohlen hat, so kann ich nicht einen Innern
Abscheu dagegen haben. Das wesentliche der moralitaet fällt also auf
die Weise gar weg.
/ Die Willkühr constituiret nichts als was an sich selbst zufällig ist. 89
10 Würden also die moralischen Gesezze aus dem Göttlichen Willen her-
kommen, so würden sie ganz zufällig und die Handlungen würden also
nur entweder gut oder böse seyn, und deswegen möchten sie mit dem
Göttlichen Willen übereinstimmen oder demselben wiederstreiten.
Da nun aber Gott nicht der Urheber ist, wie kann er denn die Gewalt
15 haben, uns zu befehlen nach den moralischen Gesezzen zu handeln ?
darum weil er die Glückseeligkeit und die Belohnung die er ver-
sprochen in seinen Händen hat. Da nun aber auch Gott 2. im prac-
tischen Verstände nicht der Urheber der moralischen Gesezze ist, so
müßen wir zwey Wege haben, entweder a. nach dem Willen Gottes
20 unsre Pflicht und Schuldigkeit auszuüben, oder b. es mit Gott ab-
zumachen; dies ist aber falsch.
Denn wenn es willkührliche statuta wären : so könnte ich sagen, daß
ich keine Schulden bezahlen dürfte, weil es Gott befohlen hätte, und
daß ich es mit Gott schon abmachen wollte. Man würde sich also zu
25 Gott wenden und um die Erlaßung seines Willens bitten.
Wenn der Göttliche Wille der Urheber der moralischen Gesezze ist,
so kann er auch disponiren. Kann er disponiren, so kann er auch die
Handlung straflos halten. Diejenigen welche bey Gott eine Straflosig-
keit erbitten wollen, da sie einen Hilflosen Menschen unterdrückt
30 haben, die können nicht straflos von solchem Verbrechen erkläret
werden.
/ Die Wißenschaft von der Gesezzgebung nennt man Nomothetica. 90
Die custodia und oboediantia legis est moralis sofern das moralische
Gesezz aus moralischen Gesinnungen, pragmatica aber sofern das
35 Gesezz beobachtet wird nach den Triebfedern der Klugheit.
Alle pragmatische Gesezze fordern nicht sowohl Gesinnungen als
Handlungen, das Höchste ist die Aufrechthaltung aller moralischen
Gesezze bey der Regierung der Welt 1. nach den Gesezzen der Weiß-
heit und 2. nach Gesezzen der Heiligkeit. Gott fordert von uns
148 Vorlesungen über Moralphilosopliie
moralische Gesinnungen ; betrachten wir das principium pragmaticum
so fordert es von uns Handlungen. Der pragmatische Gesezzgeber
verlangt von uns die observantz der Gesezze. Allein was die morahschen
Gesezze betrifft, so sollen wir sie aus guten Gesinnungen und mit
einem guten Herzen thun. Wir können Gott als Gesezzgeber auch 5
noch von der pragmatischen Seite betrachten. Wenn wir hier die
Handlungen nicht aus guten Gesinnungen thun, so thun wir sie nicht
als Kinder, sondern als Unterthanen.
De Praemiis oder physischem Gut.
Alle Menschen haben zu ihrem Zweck ihre Glückseeligkeit. Alles 10
was ihre Glückseehgkeit ausmacht, rechnet man zu dem physischen
Glück. Dieser Zustand der freyen Handlungen muß verschieden,
91 phj'sisch gut oder böse seyn. Wir müßen dieses betrachten, / entweder
als einen Bewegungs Grund der Ertheilung oder der Verminderung
der Wohlfahrt. Die Wohlfahrt sofern sie mit dem Wohl verhalten is
correspondiret ist das praemium. Das practische Uebel verhalten ist
die Strafe. Einige praemia sind anzusehen als Bewegungs Gründe zu
Handlungen dieses heißt ein auctoramentum und das praemium heißt
antecedens. Dagegen das praemium, welches nicht der Bewegungs
Grund der Handlungen ist, sondern erst hernach ertheilet wird, heißt 20
das praemium consequens. Dasjenige was wir zu thun verbunden sind
bedarf keine praemia. Alle moralische Gesezze obligiren oder habent
motiva pura. Sie sind als impura oder mixta anzusehen, wenn sie aus
dem Wohl verhalten hergenommen seyn, so daß die pragmatischen
Gesezze zu einer morahschen necessitation nicht nöthig seyn. Mit dem 23
moralischen Verhalten hängen Belohnungen zusammen, nach den
Regeln der Würdigkeit. Die moral macht würdig der Belohnungen,
wenn sie auch gleich keine bedarf (das Wörtchen würdig bedeutet hier
keine Verdienste, sondern zeigt nur an, daß das Subject würdig ist).
Alle unsere Handlungen bekommen ihre Gestalt von den Bewegungs- so
Gründen. Wenn die Handlung aus dem Verhalten hergenommen ist,
so ist sie pragmatisch gut, ist sie aber aus der Innern bonitaet herge-
nommen, so ist sie absolut moralisch gut. Alle moralische bonitaet
9ä bedarf keine praemia, wir müßen / also mit der moralitaet nicht die
antecedentia sondern die consequentia praemia connectiren. All unser 35
Wohlverhalten zielt auf das Wohlbefinden.
Praktische Philosophie Powalski 149
Unser Wohlverhalten ist der Grund der praemiorum.
Ein Wesen muß einen heiligen Willen haben : 1 . Damit es die praemia
austheile, 2. damit es die Glückseeligkeit nach dem Maaß mittheile
deßen sich das Subject würdig gemacht hat. — Wenn wir aber die
5 praemia als Bewegimgs Gründe zu moralischen Handlungen anneh-
men, so haben die Handlungen keine moralische bonitaet, sondern sie
sind pragmatisch. Hieraus ist zu sehen : wenn die Handlungen nicht
eine innre bonitaet haben, so können sie auch nicht anders möglich
seyn als nach pragmatischen Gesezzen. Willkühr liehe Gesezze er-
10 fordern praemia oder poenas oder praemia pragmatica, die natür-
lichen Gesezze aber weder praemia noch poenas, um. die Nothwendig-
keit der Handlungen nach solchen Gesezzen einzusehen. Prag-
matische Gesezze sind diejenigen, die eigenthch nicht die
Gesinnungen sondern die Handlungen erfordern, aus was für einem
ijBewegungs Grunde sie auch geschehen mögen. Bey morahschen
Gesezzen ist aber ein Bewegungs Grund, der die Gesinnungen
nöthiget. Praemia können nicht als ein Geschenlc, sondern als eine
remuneration angesehen werden. Eine remuneration heißt eine
Geschenksweise ertheilte Belohnung, wenn eine Handlung / gratis 93
2opraestiret wird, alsdenn geziemet ihr eine remuneration. Diese
remuneration ist alsdenn ein praemium gratuitum. Praemia corrum-
piren das Gemüth, wenn die moralischen Gesezze nicht als Bewegungs
Gründe angesehen werden. Der innere Werth verschwindet, wenn \Wr
unsre Handlungen von der Seite der Vortheile und Belohnungen
25 betrachten. Die moraHsche bonitaet bestehet eigentlich in den morah-
schen Bewegungs Gründen und der Lust, solche Handlungen aus-
zuüben. Haben wir einen pragmatischen Bewegungs Grund zu unsern
Handlungen, so sind dieselben schlau, klug und eigennüzig. 1. Prae-
mium morale muß kein Preiß seyn. 2. das praemium
somorale ist das größte unter allen. Es kommt einem Wesen zu
deßen Wille heilig ist. Die größte bonitaet ist die innerHche. Die Aus-
theilung der Glückseeligkeit muß dem practischen guten Verhalten
gemäß seyn. Der Höchste Grad des Wohlverhaltens ist das moralische
Wohl verhalten. Wir machen uns würdig der praemiorum, die wir
35 hoffen, wenn wir sie nicht als Bewegungs Gründe annehmen. Die innere
bonitaet würde also darinn bestehen, w^enn die Vortrefflichkeit der
Belohnungen nicht die Bew^egungs Gründe zu unsern Handlungen sind.
Die praemia remunerantia oder brabeutica sind, die denen zutheil
werden, bey denen sie nicht die Bewegungs Gründe zu Handlun/gen 94
150 Vorlesungen über Moralphilosophie
waren. Wenn etwas betrachtet wird, als ein Grund die Hinderniße
abzuhalten, so sind die Belohnungen das coniplementum der motiven
der Sittlichkeit, und zwar aus moralischen Gründen. — Merces
bedeutet das praemium, das dem gratuito praemio opponiret ist.
Merces ist das praemium, zu deßen Austheilung jemand verbunden 5
ist. Erhalten wir ein praemium aus der Willkühr eines andern, so er-
halten wir ein praemium gratuitum.
Von der Strafe.
Eine Strafe ist ein Physisches Uebel, deßen Grund ein
practisches böse ist. Nichts ist in der Natur schlechthinio
böse, böse ist das was in aller i\.bsicht mißfällt, Uebel
was in Ansehung der Sinne oder Empfindungen mißfällt.
Alles physische Uebel, deßen Grund ein practisches böse ist, heißt eine
Strafe. Der vorsezlichen Uebertretung des Gesezzes correspondiret die
Strafe, omnes poenae sunt vel pragmaticae vel morales. Die i5
moralischen Strafen strafen ein moralisches böse, die pragmatischen
poenae dienen aber oft nur zu Mitteln, ein andres böse abzuhalten.
Die poenae pragmaticae haben den Werth der Mittel. Die moralischen
Strafen haben eine unmittelbare die pragmatischen Strafen mittelbare
95 Noth wendigkeit, / omnes poenae morales sunt vindicativae. In der 20
Politic haben die Strafen keine andre Nothwendigkeit als so fern sie
dienen böse Thaten abzuhalten. Auf das vorsezliche böse paßt eine
poena vindicativa. Der Mensch wird mit dem Tode gestraft, nicht daß
er sich beßern und den andern zum Beyspiel dienen möchte, sondern
weil er ein Verbrechen begangen hat. — 25
Omnes poenae pragmaticae sunt correctivae. Punitur secundum
poenam vindicativam quoniam peccatum est, secundum pragmaticam
infligitur poena ne peccetur, et haec est illa poena correctiva. Die
poenae vindicativae sunt vel animadversiones vel exemplares.
Wenn einer durch die Strafe corrigirt wird so ist es eine Züchtigung. 30
Jede poena exemplaris ist ungerecht, wenn sie nicht als poena vindica-
tiva gerecht ist. Einen Menschen kann ich nicht als ein Mittel ge-
brauchen, denn er hat immer den Werth eines Zwecks. Nach den
Regeln der Klugheit werden immer, wenn man nicht die moralitaet zu
Hülfe ziehet poenae correctivae seu pragmaticae ausgetheilet. Die 35
Strafe die als vindicativa zu hart ist, die ist als correctiva (mehren-
theils) ungerecht.
Praktische Philosophie Powalski 151
Ein jeder Fehler führt eine Schuld bey sich, bey einer Bosheits
Sünde ist mehr eine poena vindicativa als correctiva. Wenn sie aber
correctiva ist, so ist sie mehr exemplaris als animad versa. In dem
Staat wo pragmatische Strafen nothwendig sind, betrachten wir die
5 Handlungen nicht nach den Gesinnungen sondern äußerlich, denn
hier wird gar nicht auf die moralitaet gesehen. Daß Böses um der
Strafe willen unterlaßen wird, hat keinen moralischen sondern prag-
matischen Bewegungs Grund. Wenn die Strafe ein Mittel ist das Böse
nicht zu thun, dann ist sie / nicht moralisch gut. Durch Strafe kann 9fi
10 man nicht die Gesinnungen sondern die Handlungen der Menschen
hervorbringen. Wenn der Geist der Göttlichen Gebote die moralitaet
ist, so sind sie gar nicht leges. Belohnungen und Strafen afficiren die
moralitaet gar nicht sondern sie machen sie practisch, Sie dienen nur
zu Triebfedern weil sie keine Bewegungs Gründe sind, dagegen diese
15 nur aus der bonitaet und pravitaet der Handlungen herkommen.
Belohnungen machen eine Handlung nicht moralisch sondern prag-
matisch gut, Strafen hingegen machen sie nicht moralisch sondern
pragmatisch böse. Die Belohnung ist nicht ein monument sondern eine
äußere acceßion. Belohnungen und Strafen müßen mit moralischen
20 Gesezzen verbunden werden ; sie müßen aber nicht als praemißae
sondern als consectaria betrachtet werden. Sobald wir eine Handlung
betrachten und sie für moralisch gut halten, so muß die innere boni-
taet allein die Triebfeder seyn. Belohnungen zu praemißen der prac-
tischen Gesezze machen, heißt einen animum mercenarium gründen,
25 oder auch eine Indolem servilem, beyde zusammen heißen Indoles
abjectae. Indoles abjecta ist wo man durch keine causam impulsivam
als durch Trieb der Sinnlichkeit angetrieben wird, diese wird auch
Indoles indirecta genannt. Indoles directa ist, wenn wdr durch die
Bewegungs Gründe des Verstandes zu einer Handlung bewegt werden.
30 Es ist sehr vortreflich, die leges morales als Gebote Gottes zu be-
trachten, denn sie sind auch Gebote eines allerhei/ligsten und alles or
vermögenden Willens. Dadurch bekommen die moralischen Gesezze
ihre Vollkommenheit, aber nicht von der objectiven Seite. Die mora-
lische Vollkommenheit kann vor sich selbst eingesehen werden. Der
35 Mensch hat aber auch zugleich eine Sinnlichkeit und Empfindsamkeit,
wodurch er entweder glücklich oder unglücklich wird. Sofern die
moralischen Gesezze als praecepta divina betrachtet werden, sofern
sind auch zugleich die Belohnungen und Strafen damit verbunden. Die
moralische Belohnungen sind die echten und unvergänglichen,
152 Vorlesungen über Moralphilosophie
dahingegen die andern sehr abgemeßen sind, weil sie nur dazu dienen,
um einen zu einer Handlung zu bewegen — damit wir uns der mora-
lischen Belohnung würdig machen, so müßen die moralischen Be-
wegungs Gründe durch die innere bonitaet der Handlungen vorgestellt
werden. Die moralischen Belohnungen können nichts anders seyn als 5
die Bestätigung der Handlungen. Wenn aber die Belohnungen und
Strafen Antriebe zur moraUschen Handlung sind, so machen sie die
Indolem servilem aus. Die Belohnungen sind das was aus placentibus
hergenommen ist. Wir bekommen eine Lust zu einer solchen Hand-
lung, welche uns Belohnungen verspricht (schafft) ; Bestrafungen aber 10
hat kein Mensch gerne und dieser Unwille fällt einigermaßen auf das
Gesezz und das Gesezz kann nur aus ausgebreitetem Reize gefallen.
Alle Straf Gesezze sind Sinnliche Antriebe und sind von der Art, daß
sie die Morahtaet, indem sie das Gemüth auf Belohnungen erpicht
machen, verderben. Die Belohnungen machen auch einem solchen. i:>
98 bey dem sie nicht als BewegungsGründe dienen, / den Gesezzgeber und
die moralischen Gesezze angenehm und liebenswürdig. Die Strafen
sind eigentlich Mittel wider das sclavische Gemüth. Das Gemüth wird
auch Sclavisch, wenn auf die moralische Gesezze gleich die Strafe
folgt. Die Strafen sind verschiedentlich einige bestehen in der Be- 20
raubung und heißen poenae damni, andre sind poenae sensus, da wir
nicht das Glück sondern ein Uebel welches wir noch nicht empfunden
haben, erhalten, das nicht bloß darinn bestehet, daß wir einer Glück-
seeligkeit nicht theilhaftig werden, sondern, daß wir derselben ganz
verlustig gehen, wir erkennen es aber nicht, weil wir ein solches Leben 25
führen, wir empfinden aber, daß eine solche Veränderung vorgeht,
wenn wir betrachten, daß wir es verlangen — Die paritas bedeutet die
Straflosigkeit. Bey einer gerechten Person ist alles strafbar was
sträfHch ist. Wer das vor straffrey erkläret, was strafbar ist, der
erklärt das für erlaubt, was an sich verächtlich und verbothen ist. 30
Von der Zurechnung
Es ist ein Unterschied zwischen diesen zwey Urtheilen, ob einem
Subject was zugeschrieben oder zugerechnet wird. Es ist also
nicht einerley Begriff und Causa actionis alicuis per libertatem. oder
aliquem iudicare ut causam cuius actionis per libertatem, heißt alicui 35
adscribere. Diese Zuschreibung, wenn ich sie urtheile, ist von der
Zurechnung weit unterschieden. Alle Imputationes sofern sie als
Praktische Philosophie Powalski 153
Zurechnung verstanden werden, sind ein Judicium über freye Hand-
lungen, insofern sie als / meritum oder demeritum, als Verdienst oder 9»
Schuld betrachtet werden. Es ist also die Zuschreibung einer Handlung.
Wir müßen zugestehen daß der juridische Gebrauch der Imputa-
5 tionum so gebräuchlich ist, daß ich jemanden als einen Thäter der
Handlungen ansehe ohne zu sehen, ob es ein Verdienst oder Schuld
sey, alsdenn sind die Imputationes moralisch indifferent, sie sind als
Schuld moralisch unrecht, als Verdienste aber sind sie ethisch recht.
Bey Zurechnungen muß vorher gesezt werden, ob eine Handlung
]o meritum oder demeritum ist. ZE. man kann die Narbe oder wenn
einem Menschen ein Gliedmaßen ist abgenommen worden dem Chir-
urgus zurechnen, aber man schreibts ihm nicht zu, weil er daran nicht
Schuld hat.
Alle Handlungen der Schuldigkeit sind von der Art, daß die
15 Beobachtung derselben weder eine Verdienst noch eine Schuld ist;
denn ich habe nicht etwas gethan was positiv moralisch gut oder böse
ist, sondern was negativ gut ist. Dieses ist dasjenige was der Regel des
Rechts nicht wiederstreitet. Es ist nichts mehr als eine Handlung, die
nur bloß mit Regeln des Rechts übereinstimmt. In sensu stricto findet
20 die Zurechnung bey einer Handlung die man seiner Schuldigkeit
gemäß gethan hat, auf keine Weise statt. Denn dieses ist weder ein
meritum noch ein demeritum, — Wenn ein Mensch thut was Recht ist,
so können ihm keine von allen Folgen, weder die guten noch die bösen,
zugerechnet werden. Es wird durchaus gefordert daß ein Mensch
25 moralisch frey sey, wenn ihm etwas stricte soll zugerechnet werden.
Eine jede Handlung, so fern sie durchs Recht den Menschen neceßi-
tiret, in / Ansehung deren ist der Mensch nicht frey. Alle Handlungen loo
in Ansehung deren wir nicht moralisch frey seyn, die können uns auch
nicht moralisch imputiret werden, weder als meritum noch als de-
30 meritum. 2. Die practische Imputation ist, wenn jemand eine Ur-
sache der WilLkührliclikeit durch seine Freyheit ist, oder in Ansehung
derer der Mensch frey vom physischen zwange war, und dieses nennt
man die Imputatio facti. Hier ist nicht die Frage, ob es als meritum
oder demeritum soll imputirt werden, sondern ob es überhaupt soll
35 imputiret werden. Die Imputatio facti beruhet auf dem Verhältniß
der Handlung zu einer practischen Bedingung, die Bedingung ist
practisch so ferne sie eine Freyheit ist. Die Imputatio legis ist die
Anwendung der Gesezze, entweder als ein meritum oder demeritum.
Hierdurch ist insbesondere die Juridische Imputation zu verstehen.
154 Vorlesungen über Moralphilosophie
Die Imputatio Juridica ist das wo ich urtheile und nicht bloß eine
Handlung betrachte, wie sie aus der Freyheit entlehnet ist, sondern
wie sie mit den juridischen Gesezzen zusammenhängt, und dieses
Urtheil ist die Imputatio legis. Bey der Imputatio legis kommen die
morahschen Gesezze vor. Der Autor einer Handlung ist nicht derjenige 5
dem sie practisch sondern dem sie moralisch kann imputiret werden.
Die Handlung ist ein factum das juridisch betrachtet werden kann.
Eine jede Handlung ist ein factum sofern sie mit den moralischen
Gesezzen in Verknüpfung stehet. Expositio facti bedeutet die Vor-
101 Stellung von allen Thaten die man aus/geübt hat und die alle ver- lo
antwortet werden. Ehe etwas als ein factum in sensu iuridico soll
betrachtet werden, muß es erstlich als ein factum in sensu practico
(betrachtet) erwogen werden. Die Imputatio hat zwey Theile.
1. Sofern ich sie als eine freye Handlung betrachte, denn heißt sie
Imputatio facti, 2. Sofern ich sie im Verhältniß auf ein Gesezz be- 15
trachte, oder sofern ich sie zu gleicher Zeit als ein Gesezz auf die
Handlung applicire, denn heißt sie Imputatio legis. Alles das wobey ich
bloß leidend bin, das kann mir nicht imputiret werden, auch nicht
einmahl practice, denn es kann nicht betrachtet werden, als wenn es
aus der Freyheit entsprungen sey. Alles das, wobey ich moralisch 20
leidend bin, das kann mir auch nicht imputiret werden, denn ich bin
nicht moralisch frey. Eine Handlung dazu ich juridisch genöthiget bin,
die kann mir auch nicht imputiret werden, denn ich bin nicht moralisch
frey. Ueberhaupt kann eine Handlung, die einem Zwangs Gesezze
gemäß ist. niemandem weder als ein meritum noch demeritum impu- 25
tiret werden — Die Zurechnung erfordert daß ich den Menschen
betrachte ob er der Urheber sey — Dasjenige was einem Gesezz zu-
wieder ist, das kann einem imputirt werden, denn dies ist eine That.
Einem nöthigenden Gesezz sich gemäß verhalten, wenn ich bloß das
thue, was meine Schuldigkeit erfordert, so kann mir das nicht impu- so
tiret werden, weil ich dabey nicht moralisch frey bin. — Derjenige der
einem juridischen Gesezz zuwieder handelt, begeht auch eine That, weil
er der nöthigenden I^aft des Gesezzes wiederstreitet. Was einer zu-
103 fälligen Regel gemäß geschiehet ist eine that, / und kann imputirt
werden. Was hingegen einer zufälligen Regel wiederstreitet ist keine 35
That, und kann deswegen auch nicht imputiret werden. Und so ver-
hält es sich auch mit einer zufälligen moralischen Regel.
Die Zurechnung findet überhaupt statt, sofern ich wieder ein Gesezz
handle. Die Unterlaßung einer Handlung, zu der ich durch kein iuri-
Praktische Philosophie Powalski 155
disches Gesezz verbunden bin, die kann mir auch gar nicht juridisch
iniputiret werden. Alle Handlungen sind imputable
1. Sofern sie einem Geboth oder Verboth zuwieder sind, und
2. Sofern sie nach moralischen Gesezzen frey sind.
5 Die nothwendigen Gesezze sind bloß die juridischen. Wenn ich
einem Gesezz das nicht ein Zwangs Gesezz ist zuwiederhandle, das
kann mir gar nicht imputiret werden, weil es keine That ist. Hingegen
Handlungen, die den juridischen Gesezzen wiederstreiten, die können
imputiret werden. Wenn hingegen ein factum neceßitirt ist per legem
10 iuridicum, so kann es gar nicht imputiret werden. Wenn einem etwas
als ein factum imputirt wird, so können ihm auch alle Folgen bis ins
unendliche imputiret werden.
Die Imputation ist von Dreyerley Art, die unter-
schieden werden müßen
15 1. Imputatio practica. Dadurch etwas nach freyen Gesezzen
imputirt wird.
2. Imputatio iuridica. Hier ist die Frage ob eine gewiße Hand-
lung geschiehet, welche ein factum datae legis ist.
/3. Imputatio moralis generaliter da etwas nach moralischen los
20 Gesezzen imputirt wird.
a. Was ich mehr oder weniger gutes thue, als meine Schuldigkeit ist,
das kann mir imputiret werden. Was ich einem in einer Wohlthat
erweise, da kann mir die Wohlthat und alle ihre Folgen zugerechnet
werden. Was ich aber weniger thue als meine Schuldigkeit ist, das
25 kann mir als ein demeritum sammt allen Folgen imputiret werden,
das ist, ich kann als autor alles des Uebels angesehen werden. Die
commißiones und omißiones sind facta. Die Unterlaßung der juri-
dischen Gesezze ist eine That. In Ansehung der Handlung die da
geschiehet bin ich nicht frey, die kann mir auch nicht imputiret wer-
30 den. Verdienst und Schuld beruhen nur auf diesen zwo stükken :
a. Ein Meritum haben sie im Jure gar nicht, ein ineritum ist nur
ethisch, denn im jure wird von nichts als von der Schuld geredet. Die
Handlung ethisch erwogen ist ein meritum.
ß. Schuld kann wieder ethisch nicht stattfinden, nur juridisch,
35 Schuld gehört nur bloß zu dem iure. Die Unterlaßung einer groß-
müthigen Handlung ist keine Schuld, denn eine Schuld sezt immer ein
Unrecht zum voraus.
156 Vorlesungen über Moralphilosophie
b. Imputatio practica bedeutet nur die Bestimmung einer
Handlung, als gemäß den Gesezzen der Freyheit überhaupt, dieses
ist eigentlich die Imputatio facti und nicht legis. Hier wird beständig
gefragt, ob etwas aus Freyheit entspringt (wenn ein rasender Mensch
104 oder ein unmündiges Kind etwas thut, das kann ihm nicht imputirt / ä
werden) man sagt eigentlich nicht jemandem eine Handlung zu-
rechnen, sondern wenn ich das Wort eigentlich nehme eine Wirkung
zurechnen. Die Handlungen werden im eigentlichen Verstände bey-
gemeßen. Hier muß noch betrachtet werden die Imputatio facti. Die
varia die bey einem facto zu attendiren sind, sind Beschaffenheiten lo
die den Grund von der Imputatione facti enthalten. Das Moment eines
Grundes heißt der Anfang eines Grundes, oder was als ein theil vom
ganzen betrachtet wird. Ein einfacher Grund heißt also ein Moment.
Ein Momentum facti ist nicht etwas was aus jemandes Freyheit ent-
sprungen ist. Es kann auch etwas seyn zE. in den Gesezzen, was nicht 15
ein moment von einem Grunde ist, indeßen siehet man wohl, daß man
das moment beym Anfange nicht einsehen kann. — Das was nicht ein
Grund von einem facto ist, heißet extra eßentiale. Die Eßentialia sind
die, welche als Theile zum ganzen den Grund des facti ausmachen,
wenn man die momenta der factorum zusammen nimmt, so machen sie 20
die species des facti aus. Facta schlechthin nennt man auch die species
facti. Ein Verbrechen nennt man ein Delictum. Das Delictum aber
mit allen seinen Zeichen, das corpus delicti, sonsten die unmittelbare
105 Wirkung des Ver/brechens selbst. Nichts kann imputirt werden als
was frey ist. Sind sie nicht facta so sind sie auch nicht actiones liberae. 25
Eine wieder willen geschehene Handlung kann nicht imputirt werden,
aber eine freye Handlung eine actio ab ignominia iUicita kann impu-
tirt werden, umnittelbar ist dieses kein factum aber mittelbar. Irr-
thum und Unwißenheit gilt nicht, es se* daß sie nach Gesezzen er-
laubt sind. Doch wenn etwas dem Zufaü oiputirt wird, so wird das- 30
jenige imputirt, was nicht in unserer Gewalt ist, was die concurrenz in
der physischen Ursache ist. Heißt da? beimeßen dem Schicksal, oder
ist es ein meritum sortis, hingegen wei einem Menschen nichts gelingt,
ist das demeritum sortis ? Es sind gewiße Folgen die aus der Freyheit
des Menschen hergeleitet werden, und diese heißen consectaria facti 35
moralia. Es giebt gewiße Consectaria, welche durch die Gewalt des
andern können vorher gesehen werden. In Ansehung aller Dinge,
welche Folgen haben, muß ein jeder pünktlich nach den Gesezzen
handeln. Die Imputatio selbst kann betrachtet werden, entweder
Praktische Philosophie Powalski 157
als moralisch gewiß oder bloß als wahrscheinlich. Die Imputa-
tio demeriti kann sich auf Wahrscheinlichkeit gründen, bey einer
imputatione meriti findet sie aber nicht statt, denn da muß die
größte Gewißheit sej^i.
5 / Der Hauptgrund aller Handlungen ist, daß man nicht dem Recht loc
wiederstreiten soll. Der Thäter kann nicht immer ein Urheber genannt
werden. Eine That kann bisweilen bloß practisch erwogen werden.
Wenn man jemand eine Handlung beymeßen will, so fragt man :
1.) Nach der practischen Ursache oder nach dem Thä-
10 ter.
2.) Nach der moralischen Ursache oder nach dem Ur-
heber.
Das was ich thue nach der Willkühr eines andern, dem ich völlig
unterworfen bin, das kann mir nicht imputiret werden, und ich kann
15 auch nicht als ein Autor davon angesehen werden. Es giebt aber auch
Handlungen, wozu ich durch keines andern Willkühr kann gezwungen
werden. In Ansehung deßen Jemand nicht frey ist, entweder practisch
oder moralisch, das kann ihm auch nicht imputiret werden. Hand-
lungen können aber imputirt werden, die so beschaffen sind, daß sie
20 den moralischen Gesezzen entgegen seyn. Zu einer Handlung können
sehr viele eoncurriren. Bey dieser Concurrenz muß aber doch immer
ein Autor principalis seyn ; sie eoncurriren zu einer Handlung sofern
sie sich coordiniret oder subordiniret seyn. Diejenigen welche nieman-
dem coordiniret oder subordiniret sind, sofern einer von diesen er-
25 wiesen wird, daß er als causa moralis betrachtet werden kann, so wird
ihm die causa facti provisionis ganz imputirt. Derjeni/ge der etwas lor
befiehlt ist anzusehen als causa moralis oder auctor facti, derjenige der
etwas verbiethet, kann auch als causa moralis betrachtet werden.
Was man einem andern L^iiehlt zu thun, das wird so angesehen als
30 wenn man es selbst gethan hätte, denn dieses ist actio libera, und anzu-
sehen Avie eine causa mor.
Wenn jemand zu einer bc jn Handlung einstimmt, der kann auch
nicht als ein auctor angesehen werden. ZE. wenn jemand sich vor-
nimmt die Absicht zu haben seine Schuld nicht zu bezahlen, und er
35 offenbaret das einem andern, der auer dazu ganz schweigt : so ist dieser
nicht anzusehen als causa moralis, aber gesezt er gebe ihm noch Geld
zur Reise, dann ist er als ein auctor anzusehen, weil er dazu concurriret.
Wenn aber jemand einem Anschlage den andere machen nicht wieder-
spricht, der kann nicht als der Autor davon angesehen werden. Con-
X58 Vorlesungen über Moralphilosophie
currirende Ursach ist wie ein Mitautor anzusehen. Eine Handlung
wird allemahl nach dem Maaß imputiret, je mehr man dabey Freyheit
ausübt. Je größer die Freyheit ist, mit der jemand eine Handlung
ausübt, desto mehr actus der Freyheit übt er aus, oder desto mehr
kann ich ihm das factum imputiren. Jemand übt einen großen Grad 5
der Freyheit und der Willlcühr aus, wenn er wieder das Gesezz handelt.
Jemehr jemand aus Vorsazz getlian, mit desto größerer Freyheit hat
er es gethan. Jemehr jemand mit Vorhersicht gethan hat, desto mehr
108 kann ihm die Handlung imputiret werden, / und sie kann ihm noch
mehr imputiret werden, wenn er sie mit Vorhersicht aller ihrer Folgen 10
thut. Wenn ich etwas aus Unwißenheit thue, kann es mir imputiret
werden, so viel als wenn ich es mit Bewußtseyn thue. Eine Absicht
wobey der Vorsazz ist einem Gesezze zu wieder zu handeln, die nennet
man die Boßheit. Je mehr man Absicht gehabt hat wider ein Gesezz zu
handeln, desto größer ist die Boßheit. Desto mehr Tugend ist aber bey ]5
der Handlung, je mehr Absicht jemand auf das gute gehabt hat. Was
directe einem Gesezze wiederstreitet, das kann mehr imputiret werden,
als das was ihm indirecte wiederstreitet.
Je mehr der Wille zum Zweck hat das böse auszuüben, desto mehr
kann es ihm imputiret werden. Wenn man aber den Willen als ein 20
Mittel zum bösen hat : so wird es einem nicht so sehr imputiret. Es sind
zwo Seiten, von welchen man die Handlungen der Menschen betrach-
ten kann:
1. Als Phaenomena und 2. als Spontaneae nach den objectiven
Gesezzen. Wenn jemand auch von Natur einen großen Hang zum 25
bösen hat, so sieht man ihn doch als ein freyes Wesen an. Wir müßen
von der Natur des Menschen abstrahiren, sobald wir an die allgemeine
practische Gesezze kommen. In Ansehung der moralischen Gesezze gilt
keine restriction oder Einschränkung des Temperaments, denn sie
sind Gesezze der freyen Willl^ühr, und gehen nur auf die Absichten. 30
Man nennt solches nicht ein Boshaftes Gemüth, welches als Mittel den
moraHschen Gesezzen wiederstreitet, sondern das, was zur Absicht hat
wieder sie zu handeln. Desto mehr kann eine Handlung imputiret
werden, je boshafter das Gemüth ist. Der Mensch deßen Willen unmit-
109 telbahr böse / ist, der ist ein Boshafter. Die Handlungen die ein Mensch 35
unterläßt, weil sie schwer sind auszuüben, die werden ihm nicht so sehr
imputiret. Ein Mensch der von Natur böse ist, der ist strafbarer als ein
anderer, denn wir Menschen sind befugt die moralischen Gesezze durch
die Bedingungen des Subjects zu restringiren. Die moralischen Ge-
Praktische Philosophie PoAvalski 159
sezze sind nicht inclulgent , auch nicht so beschaffen, (Uxß sie partlieyisch
seyn könnten, sondern sie imperiren überall ohne Unterschied. Auf
keine Weise können wir die angebohrne Boßheit für weniger strafbar
halten. Die Menschliche Natur wird als infirnia und fragilis betrachtet.
5 Die infirmitas der Menschlichen Natur ist, daß sie niemahls die
moralische Handlungen rein machet. Das geistliche Gesezz befiehlt
nicht die Demiith sondern es macht mutig. Das Gesezz der puren
Philosophie aber macht stolz, dahero die alten Philosophen daßelbe
so wohl als das Evangelium in ihrer Philosophie gar nicht anbrachten.
10 Daher mißt man der Menschlichen Natvu' das bey, daß die Handlungen
der Menschen in Ansehung der Moral unrein sind. Unsere Natur ist
zur sittlichen Reinigkeit nicht fähig, kein Geschöpf kann aber auch
heilig seyn. Des Menschen seine Volllvommenheit ist Tugend, aber
doch nicht Heihgkeit, und sein Zustand da er über seine Leidenschaften
15 herrschet, der Zustand der Klugheit. Wenn unsere Handlungen mit
den moralischen Gesezzen verglichen werden, so geben sie dennoch
nicht viel nach, obgleich unsere Natur sehr schwach ist. Die Schwäche
rührt von der Stärke des Beliebens wieder die moralischen Gesezze zu
handeln, die Freyheit von der Natur macht nothwendig, daß wir uns
20 jedes objective Gesezz einprägen, wir mögen schwach seyn wie wir
wollen. Die fragilitas der Menschlichen Natur ist etwas positives, die
nicht vom Mangel der sittlichen Reinigkeit der Handlungen, sondern
von einem Hang zum bösen herrührt (Ein Mensch hat eine große
Neigung sich selbst geltend zu machen, sich dasjenige anzumaßen,
25 was / man in Ansehung seiner dem andern nicht gönnen würde.) Wir iio
haben zwar einen Hang zum bösen, aber kein Hang, keine Neigung
kann es machen, daß wir nothwendig das böse wählen sollen.
Imputatio legis im juridischen Verstände ist die applicatio
legis ad factum.
30 Die Imputatio legis ad factum ist eigentlich die Subsumtion einer
Handlung unter moralischen Gesezzen. Das Judicium wodurch ich
urtheile, daß ein factum ein Fall sey, ist die Imputatio legis. Wenn das
factum im juridischen Verstände aufgeführet ist, so ist es noch nicht
ausgemacht, aus welchem Gesezze es entsprungen ist.
35 Wenn das Gesezz bestimmt ist auf gewiße Handlungen, so ist die
Handlung welche in allen Stükken mit dem Gesezze übereinkommt,
ein Casus internus. Die Imputatio legis ist entweder valida aut in-
valida. Validus bedeutet hier Rechtskräftig. Ein jeder actus heißt
jure validum der eine Rechtskraft hat. Es giebt Zurechnungen die
160 Vorlesungen über Moralphilosophie
bloß äußerlich und speculative seyn. Derjenige der das Recht hat
valide zu imputiren, heißt der Richter. Es ist auch ein Judex compe-
tens. Es sind auch Richter die nicht Recht haben zu richten. Wir haben
zwey fora competentia.
1. Forum humanuni und 2. Forum divinum. Das Forums
humamun geht in Ansehung der moral auf alle gute Handlungen,
sonderlich äußerliche, welche auf solchen Conditionen, die äußerlich
offenbaret werden, beruhen. Coram foro humano läßt sich nichts
valide imputiren. Dasjenige forum, das da zwingt, kann man ein forum
in/ rigorosum nennen. Es kann kein forum aequitatis seyn außer einio
forum gratiae, denn der Ausspruch der Billigkeit ist in Ansehung des
Rechts der Handlungen invalide. Der Ausspruch der kein Recht eines
andern stört, ist das forum aequitatis.
Das forum divinum wird auch das forum internum genannt, so wie
auch das forum humanuni auch forum externum genannt wird. Bey i5
uns ists ein Stellvertreter der Gottheit, der das Gerichte hält und
auch effectus hat, es ist dieses also ein analogon fori divini und heißt
conscientia. Die Imputatio valida heißt zwar rechtskräftig, sie ist es
aber eigentlich nicht, sondern sie ist dasjenige woraus ein effectus
juridicus entspringt. Ein effectus juridicus ist die Handlung, die das 20
Recht einer Handlung angehet. Wenn die Menschen so urtheilen, daß
ihre Urtheile einem andern Schaden zufügen können, so haben ihre
Urtheile einen effectum, weil sie das Recht anderer betreffen. Der-
jenige imputirt valide, der das Recht hat mit effectu zu imputiren,
und die Person heißt schon wie gesagt ein Richter. Es heißen auch die 25
Personen welche das Recht haben valide zu imputiren, forum. Der
eigentliche Unterschied zwischen einem Richter und einem foro ist
dieser: daß ein forum diejenige Befugniß bedeutet, die ein ganzes
CoUegium gemein hat, zu richten, und ein Richter nur die einzelne
Person ist. Eine Imputatio valida wird auch angesehen als effectio 30
vacua, und denn heißt sie leer.
Das forum divinum geht ohne Unterschied auf alle unsere Hand-
lungen, und in Ansehung deßelben ist auch das ethische Gesezz als
äußerlich zu betrachten. Dasjenige was coram foro humano nicht
na imputirt werden kann, das kann coram divino / ganz ausgemacht 35
werden. Hierzu gehören aber:
1. Handlungen die in Ansehung coram foro humano nicht ge-
schlichtet werden können und
2. der Beweis daß sie nicht coram foro humano gelten.
Praktische Philosophie Powalski 161
Man nennt forum competens diejenige Person, die die Befugniß hat,
gewiße Handlungen zu richten.
Das forum humanura ist bloß äußerlich, es kann nicht ein Internum
seyn, weil die innere Handlungen nicht zum foro humano gehören.
5 Zum foro humano gehört
1. dasjenige was als äußerlich anzusehen ist und
2. was äußerlich schuldig ist, was nicht innerlich zu nöthigen
angeht, und was nur coram foro humano ausgemacht werden kann.
Es ist also schlechterdings ein forum externum. Gewiße Handlungen
10 sind aber auch so beschaffen, daß man dazu äußerlich nicht kann
gezwTingen werden, zE. zur Großmuth, zur Wohlthätigkeit. Die
Methodische Imputation eines Gesezzes ist ein Proceß. Die Application
auf ein factum ist die Imputation, und diese Imputation, wenn sie
geschiehet, ein Proceß. Das wesentliche eines Proceßes kommt auf die
15 Form an. Ist die Form nicht gut eingerichtet, oder gar nicht, so ist der
Proceß verlohren. Wenn ein Proceß nicht nach einer Form eingerichtet
ist, so ist es bloß ein tumultuarisches Verfahren. Dieses tumultuarische
Verfahren in controversia juridica ist kein Proceß. Denn ein Proceß
muß methodisch seyn. In jedem Proceß kommen Acta vor
20 /l. Ein Richter muß alle Momenta in actis haben und ii3
2. Er muß die Acta mit den Gesezzen vergleichen und ein Verhält-
niß machen. Hierauf wird die Sentenz gesprochen, und dieses ist die
conclusio des Proceßes. Dadurch wird der Proceß geendiget und der
Streit aufgehoben.
25 Das Recht obligirt durch seinen Ausspruch externe. Also fällt aller
Ausspruch des Rechts weg, wenn der Richter kein vim executionis hat.
Eine Sentenz muß also mit einer vi executoria ausgezeichnet seyn,
wenn sie kräftig seyn soll.
De Conscientia.
30 Das Gewißen ist als ein forum anzusehen und zwar forum internum
nicht humanum sondern divinum. Dieses forum divinum kann
betrachtet werden
-rv. als etwas wo wir vor unsere Handlungen dereinst können gezogen
werden und
35 ß. es übt dieses forum divinum schon in uns alle die Kräfte eines
fori aus und dieses ist eigentlich die conscientia.
11 Kanfs Schriften XXVII/l
162 Vorlesungen über Moralphilosopliie
Das Gewißen ist nicht ein Vermögen, es bedeutet nicht ein müßiges
Urtheil über unsre Handlungen, denn, würde es ein Vermögen seyn,
so könnten wir damit willkührhch umgehen, wir würden also damit
spielen können, sondern es ist ein Instinctus, nach welchem unsre
Handlungen 1. imputirt und 2. auf s Gesezz appliciret werden 5
3. auch rechtskräftig beurtheilet werden. Ueberhaupt ist es
der Antrieb in unsrer Natur, uns selbst zu richten.
Alle principia des Rechts müßen nicht so beschaffen seyn, daß sie
114 aus ethischen Quellen abgeleitet zu seyn scheinen. / Die provocatio
ad forum conscientiae oder zum Eide coram foro externo ist anzu- lo
sehen als etwas was eine NothhüKe ist, und was demselben gar nicht
competirt.
Von der Ethic.
Wir thun moralisch gute Handlungen entweder gerne oder Zwangs-
weise. Die Regeln also nach welchen die Handlungen Zwangsweise is
ausgeübet werden, heißen die Zwangs Gesezze. Diejenigen Hand-
lungen die nach den Regeln des Rechts noth wendig sind, die haben
eine Ethische Noth wendigkeit. Die Handlungen also die aus der Innern
Beschaffenheit der Gesinnungen herkommen, sind ethische Hand-
lungen, imd die Tugend besteht in den Bewegungs Gründen, diese 20
ethischen Handlungen zu thun. Wenn also eine Handlung nicht in der
Innern bonitaet der Handlungen liegt, so ist sie zwar gut, aber sie
stimmt nur mit dem äußern Recht überein. Das äußere Recht ist das
Verhältniß unserer Freyheit zum Zwange nach allen Gesezzen. Die
ethic ist also die practische Philosophie, welche die morahtaet einzig 25
nnd allein zum Object hat. Sie sagt wir sollen Recht thun, weil alsdenn
diese Handlung recht ist. Handlungen können als moralisch noth-
wendig angesehen werden, aber nicht nach den Bewegungs Gründen
welche im Zwange liegen. —
Alle neceßitatio practica kann äußerlich und innerlich betrachtet so
werden. Wenn der neceßitirende Grund in der innern Beschaffenheit
115 der Handlungen / liegt oder innerlich ist, so werden die Handlungen
als innerlich erwogen. Wenn aber der Grund der Handlungen ein
äußerlicher Zw^ang ist, so werden sie als äußerlich betrachtet. Indeßen
kann immer die Handlung erwogen werden, als wenn sie moralitaet 35
hätte. — Der Unterschied zwischen der Lehre des Rechts und der
ethic ist : Die Ethik trägt zwar die Lehre des Rechts nicht in extenso
vor, weil sie mit der moralitaet der Handlungen und der Bewegungs-
Praktische Philosophie Powalski 163
gründe zu denselben genug zu thun hat ; sie sezt aber immer das Jus
vorher. Die Lehre des Rechts wird zwar besonders in lege naturali
erwogen, in der Moral aber wird sie vorausgesezt. Es sind Handlungen
zu welchen man nicht durch die Willkühr sondern durch den Zustand
5 anderer neceßitirt wird. Es sind Handlungen gegen uns und andere,
welche alle zur Ethik gehören. Die Ethik heißt demnach die Tugend
Lehre. Die Tugend heißt eine gewiße Freyheit und Selbstthätigkeit.
Die Tugend sezt voraus, daß die Handlungen aus den Gesinnungen ent-
springen, und daß sie auch die Gesezze beachten (der Beobachter des
10 Rechts kann auch alle Regeln des Rechts nach der Tugend beobach-
ten, und denn erfüllt er sie morahsch gut). Die Tugend ist die Fertig-
keit aus Gesinnungen der morahtaet Handlungen auszuüben, die mit
derselben übereinstimmen. Die Tugend geschiehet also aus einer
sponaneitaet und nicht aus Anreizungen, Lockungen und Bestechun-
15 gen. Die Tugend ist soferne spontanea als sie nicht der allergeringsten
Vortheile bedarf, Handlungen auszuüben. Die Tugendhaften Gesin-
nungen heißen / die reinen moralischen Gesinnungen. Die Ethic trägt iie
also summarisch die ganze Lehre des Rechts vor, nicht hergenommen
aus dem Zwange, sondern aus der Innern Beschaffenheit der Hand-
2olungen. Wir haben zwey Tugend PfHchten. Eine Tugend Pflicht
gegen uns und die zwote gegen andere.
Die Pflichten gegen Gott sind nur die Bewegungs Gründe zu Hand-
lungen nach dem Göttlichen Willen. Die Rechte gehören auch zu der
Ethic, die Rechte erfordern die Handlungen, die Ethic die Gesin-
25 nungen. Die Ethic formirt also das Herz; die Rechte den Verstand.
Die Ethic kann betrachtet werden LalsEthica laxa welche keine
moralische Reinigkeit und Nothwendigkeit hat. Sie wird auch die
nachsichtliche Tugend genannt. Die moralische complette Tugend
ist die Reinigkeit. 2. Ethica rigida und dieses ist die sogenannte
30 strenge Tugend, 3. die schmeichelhafte Tugend, welche sich
durch die moralischen Gesezze eine Gunst zu erwerben sucht. Sie ist
die größte Abwürdigung der Moral ; zu einer solchen Ethic sucht man
durch Vortheile zu bewegen, und dieses ist eine treuherzige Lüge. —
Die wahre Ethic ist nicht nachsichtlich, die moralischen Gesezze
35 tragen die Ethic in der größten praecision und in der größten perfec-
tion vor. Die completudo perfectionis realis muß in der Regel stekl<:en.
Das moralische Gesezz ist unvollständig, wenn es sich den Gebräuchen
der Men/schen accomodiret, und denn ist es auch nachsichtlich und iiT
gefällig. Man nennt denjenigen einen moralischen Latitudinarius, der
164 Vorlesungen über Moralphilosophie
die Pflichten nicht ordenthch determiniret sondern sie in gewißer
Weite vorträgt, der denselben keine gewiße Schranken sondern eine
große Lücke offen läßt. Derjenige der ein principium macht, daß man
aus den moralischen Gesezzen nicht practisch urtheilen dürfe, der ver-
dirbt das oberste Gesezz und die Richtschnur. Es kann kein größeres 5
Verbrechen gefunden werden, als wenn man das moralische Gesezz zu
corrumpiren sucht, und es ist also nichts schädlicher als eine Ethica
laxa, nemlich wenn sich das Gesezz der bösen Meinung accomodiret.
Das Ethische Gesezz ist ein pünktliches und strenges Gesezz, welches
die Vollkommenheit in dem höchsten Grade verlangt. Das moralische lo
Gesezz muß auch nicht schmeichelnd seyn. Die Reinigkeit bestehet
darinnen, wenn die moralische Gesezze mit keinen andern Triebfedern
als mit den Triebfedern der moral verbunden sind. Das moralische
Gesezz wird rein vorgetragen, wenn dazu kein Bewegungs-Grund als
der moralische vorgetragen wird. Sind die morahschen Gesezze nicht 15
rein, so verliehrt die Handlung den moralischen Werth. Man sucht die
moral einschmeichelnd zu machen, indem man dazu die Reize die
dem Menschen schmeicheln gebraucht, ZE. die Ehre, um den
moralischen Gesezzen eine Empfehlung zu machen (dieses heißt die
118 coquetterie, wenn man sich zu em/pfehlen sucht). Die moralischen 20
Gesezze müßen also ihre eigene Würde zum Bewegungsgrund haben. —
Diese Ethic, die sich allerhand Künste bedienet, ist die Vermischung der
Ethic mit der Religion, und dieses ist die sogenannte Ethica artificialis,
da man die Verbindung der Kraft der sittlichen Gesezze bloß in den
Göttlichen Willen sezt. Ohne die Religion ist zwar die Ethic in- 25
complett, wenn sie aber als eine Regel betrachtet wird, welche unsre
Verbindlichkeit anzeigt, so ist sie complett und alsdenn muß sie unab-
hängig von der Religion vorgetragen werden. Die schmeichelhaften
Bewegungs Gründe sind außerdem, daß sie nicht recht angebracht
sind, falsch. Die moral kann nicht betrachtet werden, als ein Mittel so
zur Glückseeligkeit, sondern die Bedingung unter welcher wir der
Glückseeligkeit würdig werden. Es giebt auch 4. Ethica morosa
die uns aller Vergnügen und Vortheile des Lebens beraubt, weil sie die
finstre Tugend vorstellt (vorträgt). Ein jeder Bewegungs-Grund
bekommt dadurch mehr Werth, je mehr er Bedürfniße überwinden 35
kann, und so auch die moralische Gesinnung, wenn wir die Lockun-
gen und Anfälle überwinden. Eine solche Tugend heißt bey denen, die
Phantasten der Tugend sind mürrisch, weil sie sich alsdenn für Tugend-
haft halten, wenn sie eine Ernsthafte und mürrische Miene machen.
Praktische Philosophie Powalski 165
/ 5. Die Phantastische Ethic ist die, wenn man dafür hält, daß 119
Sitthehe Gesezze können ohne alle Triebfedern zu Handlungen hin-
reichend seyn. Ein sinnlicher Bewegungs Grund bedarf einer Trieb-
feder; ein moralischer aber ist rein, und ist mit keinen sinnlichen
r> Triebfedern verbunden. Denn der moralische Bewegungs Grund ist
der Geist der Handlungen. Die moralische Diiudication des guten und
Bösen muß abstrahiren von allen Vortheilen und aller Verbindung
unserer Handlungen mit irgend einem Nuzzen, Belohnung und Glück-
seeligkeit. Die moralischen Bewegungs-Gründe müßen nur aus ihrer
10 Innern Beschaffenheit entlehnet seyn. Wenn wir also einen moralischen
Bewegungs Grund haben ; so fragt es sich, ob wir die Triebfedern zu
solcher Handlung entbehren, ob wir gänzlich von der Glückseeligkeit
abstrahiren können ? Es ist eine chimaere sich vorzustellen, es könne
ein Mensch bey seinen Handlungen, die er ausübt, welche etwas zu
15 seiner Glückseeligkeit beytragen können, gleichgültig seyn. Diese
chimaere ist eine phantasterey, die phantasterey edler Seelen heißt die
Enthusiasterey. Die Enthusiasterey der Jugend ist die Folge der
Phantasterey. Wenn die Alten den Werth der Tugend so hoch gedacht
haben, so haben sie dieselbe betrachtet ohne alle Vermischung mit
20 selbstliebigen Absichten und Triebfedern. Je mehr der Mensch mit
Hindernißen zu kämpfen hat, desto größer ist die Kraft. Die Macht
und Stärke der Tugend in den moralischen Gesinnungen bestehet
darinn : Daß / sie große Handlungen vom Gegentheil, das ist vom lao
Laster, zu überwinden hat — Heiligkeit und Tugend sind darin unter-
25 schieden. Heiligkeit ist eigentlich das, was keine Neigung zum bösen
hat, und das ist allein Gott. Die Tugend ist die wahre moralische
Bestimmung des Menschen, denn zur Heiligkeit kann der Mensch
nicht gelangen. Wenn sie gleichgültig gegen alle Glückseeligkeit ist,
so übt sie alsdenn ihre größte Stärke aus. Es ist eine Art von Wollust
30 und Zufriedenheit, die nicht erworben werden kann, sondern schon
von Natur in dem Menschen steckt, diese heißt die Seeligkeit — Wenn
sich die Menschen gleich wohl befinden, wenn sie gleich das gute ihres
Zustandes, den Umfang ihrer Zufriedenheit genießen, so können sie
doch nicht sagen, sie seyn sibi ipsis sufficientes, weil sie sich das ent-
35 weder selbst oder andere es ihnen erworben haben. Kein einziges
Geschöpf außer Gott ist sibi ipsi sufficiens. — Die Stoiker sagten, daß
der Mensch den grad erreichen kann, wo er sibi ipsi sufficiens seyn
kann, es ist aber falsch, denn gesezt, er könnte zur Reinigkeit der
Tugend gelangen, daß er sich selbst Beyfall geben könnte ; so ist doch der
166 Vorlesungen über Moralphilosophie
Beyfall, den er sich giebt, falsch, weil er von dem Vergnügen das er ge-
nießt, nicht unterschieden ist. Also bedarf alle Tugend einer Triebfeder.
Diejenigen Philosophen welche sich concipiren, die Tugend bedürfe
181 keiner Triebfeder, haben kein / auctoramentum. Ein Tugendhafter
kann also urtheilen, daß wenn er nach der Vorschrift handelt, er auch 5
die Hoffnung zur Glückseeligkeit haben kann ? — Eine jede Phantasie
die aus Eingebung zu entstehen scheint, ist die Schwärmerey, Es
schwärmen einige, welche sagen, man kann die Religion besizzen ohne
Tugendhaft zu seyn, und dies ist falsch, weil niemand fröhlich seyn
kann, wenn er nicht Tugendhaft ist, und diese welche solches behaup- lo
ten, die reden von ihrem Heiligen das, was die Stoiker von ihrem
Weisen redeten, nemlich daß ein solcher Mensch Gott auch mitten in
den Flammen ehren und loben wird. Die Glückseeligkeit ist eigentlich
nicht das was den Werth der Tugend ausmacht, sondern sie ist nur ihr
correlatum. Die Glückseeligkeit ist nicht der oberste Bewegungs- 15
Grund sondern der liegt schon in ihr selbst. Die Würdigkeit glücklich
zu seyn, ist ein unmittelbares consectarium der moralischen Gesezze.
Ein moralisches Gesezz kann nicht gebiethen, wenn es sich nicht
zugleich auf Glückseeligkeit beziehen sollte. Ein jedes moralische
Gesezz ist verheißend und die Glückseehgkeit ist der Vernunft nach 20
ein nothwendiges correlatum des Wohl Verhaltens.
6. Alle Ethic ist chimaerisch, welche verlangt, daß wir in An-
sehung unsers Verhaltens keine Hoffnung zur Glückseeligkeit haben
sollen, und welche die Religion vor die Tugend sezt. Da doch die Moral
vor der Tugend hergehen kann, weil die Religion eine bloße An- 25
Weisung der Moral auf das Höchste Wesen ist.
122 /Wir müßen also 1.) den Göttlichen Willen suchen, wir müßen von
den Pflichten anfangen und bis zum Wo hl verhalten gegen Gott, den
Urheber der Welt und uns selbst, gehen, und dieses ist die Religion. —
Es giebt de votische chimaeren und dieses sind mysteria. Mysticusso
heißt der, der zu den Geheimnißen eingeweihet ist.
7. Die Mystische Ethic ist diejenige welche sich einbildet, daß
sie durch bloßen unmittelbaren Einfluß das Höchste Wesen erkennet,
welche sich vorstellt, daß alle sittliche Absichten zu einer unmittel-
baren Gemeinschaft mit dem höchsten Wesen abzielen. Wenn die 35
mystische Ethic der Grund zu aller Ethic seyn soll, so muß sie einen
Einfluß auf ihre Handlungen und Neigungen haben, und dieses ist die
Aufhebung aller Regeln und Vernunft. — Die moralischen Gesezze
führen wie schon gesagt, immer etwas verheißendes mit sich. Die
Praktische Philosophie Powalski 167
moralischen Gesezze sind dadurch obhgirend, daß sie mit den Wün-
schen der Glückseehgkeit in einer Verbindung stehen, denn sonst
würden sie keine Kraft haben den Willen zu nöthigen, selbst zu einer
Aufopferung, welche der Sittlichkeit zu Gefallen geschehen muß. Die
5 Glückseehgkeit ist also nicht ein principium sondern ein noth wen-
diges correlatum der Sittliclikeit, weil es unmöghch ist, daß wir in
Ansehung der Glückseehgkeit indifferent seyn können. Wenn wir die
verbindende Kraft der Sitthchkeit einsehen sollen, so müßen wir ihre
Zusammenstimmung mit unsern / Wünschen der Glückseehgkeit ein- iti
loschen. Die Sittlichen Gesezze haben keinen natürhchen Zusammen-
hang mit der Glückseehgkeit, weil das innere der Moral in den Ge-
sinnungen bestehet. Die Reinigkeit der Gesinnungen macht nur den
Werth der Moral aus. Daher kann nach der Ordnung der Natur die
Glückseehgkeit keine Verbindung mit der Moral haben. Die Morali-
15 sehen Gesezze können uns nach der Natur nichts verheißen. Sie können
zwar einiges Versprechen thun, es stimmt aber mit dem Grade der
moralitaet nicht überein (durch die Beobachtung der Sitthchen
Gesezze kann ich mir auch Feinde machen zE. wenn ich nicht lügen
kann). Die Sitthchen Gesezze sind von der Art, daß sie die Höchste
20 Bedingung aller Würdigkeit glücklich zu seyn, enthalten. Alle sitt-
liche Gesezze haben zugleich einen prospect auf die Glückseehgkeit,
sie sind mit einer Hoffnung verbunden, denn sonst könnte man nicht
die Glückseehgkeit hoffen. Wenn die moralischen Gesezze also bey
dem Menschen sind, wenn die Rechtschaffenheit einen Siz in ihren
25 Seelen hat, so ist das moralische Gesezz ein Grund einen Gott und eine
andere künftige Welt zu glauben. Wenn auch die Vernunft nicht einen
einzigen Grund hätte. Es ist ohnmöglich daß der Mensch einem
moralischen Gesezz anhängen kann, ohne einen Gott zu glauben. Die
Erkenntniß Gottes, die Ueberzeugung seines Daseyns und einer
30 andern Welt, sind speculative Gründe, welche wenigen Menschen be-
greiflich sind; indeßen ist das moralische Gesezz das object eines jeden
vernünftigen Wesens, / aber nicht allemahl ist dieses Gesezz die vu
maxime seines Herzens. Der Glaube an Gott aus moralischen Be-
wegungs-Gründen ist ganz unumstößlich und un wiederruf lieh, der-
35 jenige bey dem die Moral die maxime eines Glaubens seyn soll, der
kann sie unmöglich haben, ohne den Gedanken zu haben, er glaube
daß ein Gott ist, weil es doch unmöglich ist, daß derjenige der mit
Ernst der Moral nachhängt, nicht einen Wunsch nach Glückseehgkeit
haben sollte. Hier ist also der Glaube an Gott aus dem Herzen ent-
168 Vorlesungen über Moralphilosophie
standen. Wir wollen aber betrachten die Stärke deßelben. Er kann
durch gar nichts wankend gemacht werden, denn wenn ich einen
metaphysischen Grund anführe, so kann der zwar widerlegt werden,
aber nicht der Begriff daß ein Gott ist. Der Glaube ist von der Art,
daß er, da ihn keine Gründe der Theorie wiederlegen können, eine 5
noth wendige hypothese eines redlichen Herzens ist, und der Glaube
ist also sicher. Wenn ich noch voraussezze daß dieser Gott einen
Göttlichen Willen hat, denn bekommt der Glaube eine Kraft und
Stärke. Der Mensch müßte also entweder ein Thor oder Schelm sej-n.
Thor würde er alsdenn seyn, wenn er Tugendhaft seyn wollte, ohne lo
sich von einem solchen Wesen überzeugen zu laßen. Ein Schelm aber
wenn er alle Regeln des Wohlverhaltens aufgiebt, und wenn er die
Ehre und Redlichkeit in Chimaeren relegirt.
135 Die natürliche Theologie kann auf die pure moralitaet / gegründet
werden. Wenn ich die moral also als eine maxime zu Grunde lege, i5
so komme ich durch einen ganz natürlichen Hang auf den Glauben
an Gott, und auf die Hoffnung einer künftigen Welt. Der moralische
Glauben an Gott und an eine andere Welt ist eine Folge der mora-
lischen Gesinnungen, diese Entschloßenheit zum Glauben ist die
größte, weil sie durch theoretische Gründe unterstüzzet werden kann. 20
Die Moral leitet uns auf die erste hypothesin practicam und die
Natur bestätiget es. Wir sehen also, daß die natürlichen Beweise der
Morahtaet überschwänglich groß machen. Kein Mensch kann auf seine
GlückseeUgkeit Verzicht thun, er muß also ein Wesen annehmen,
welches ihn der Glückseehgkeit theilhaftig machet, soferne er dui'ch 20
sein Verhalten sich derselben nicht unwürdig gemachet hat. Die
Hoffnung einer andern Welt ist sehr genau mit der Moral verbunden,
denn 1. wir hoffen den Werth unsers Verhaltens, und die Hoffnung ist
erst in der künftigen Welt, 2. weil wir ihn in dieser gegenwärtigen
nicht finden können. Nur die Hoffnung der andern Welt kann den 3o
moralischen Gesezzen ihre energie geben. Die Vorsehung hat uns die
künftige Welt verborgen, und wir können sie also nur glauben aber
nicht wißen. Ich kann keinen von der Zukunft überzeugen, wenn er
nicht moralische Gesinnungen hat, denn wenn es keine Zukunft
geben sollte, so wäre alle Rechtschaffenheit nur ein Hirngespinste. 35
12« / Von der natürlichen Religion.
Die moralischen Gesezze sind nicht Sazzungen, sondern sie sind nur
solche Gesezze, die in der Natur liegen. Sie sind keine Statuta des
Praktische Philosophie Powalski 169
Göttlichen Willens, sondern sie liegen in dem Begriffe der Freyheit.
Gott ist wohl ein Gesezzgeber, aber nicht ein Urheber. — Ein Gesezz
das keine Folgen hat, heißt Ideal und dies würden auch die moralischen
Gesezze seyn, wenn die Hoffnung einer künftigen Welt wegfallen
5 sollte. Der Göttliche Wille aber regieret nach moralischen Gesezzen,
die sind aber die Form. Die moralischen Gesezze sind nicht Gebothe
sondern sie sind natürlich, sie aber zugleich als ein Göttliches Geboth
anzusehen, ist ein ausnehmender Gedanke. Hier müßen wir auch einen
Beweis vom Göttlichen Willen geben.
10 Ein Heiliger Wille ist nicht der, der den moralischen Gesezzen
adaequat ist ; sondern weil er der Ursprung und Grund der Zusammen-
stimmung mit den moralischen Gesezzen ist, und deswegen ist er auch
der allerheiligste Wille. Die Theologie ist eine practische Erkenntniß
des menschlichen Willens zu der Erkenntniß von Gott. Die Religion
15 ist nichts anders als die moralitaet die auf die Theologie angewandt
ist. Ein Mensch kann wenig Theologie, und viele Religion haben, ein
anderer kann eine fehlerhafte Religion, aber eine reine gute Theologie
haben. Die Theologie ist bloß theoretisch und die Religion practisch.
Die Theologie kann gut seyn, / aber die Religion darf nicht allemahl Vit
20 deswegen richtig seyn. Wenn aber eine Theologie untadelhaft und
richtig ist; so wird auch die Religion, die sich darauf gründet, eben so
seyn. Die Religion ist in sensu subjectivo der Inbegriff der Gesin-
nungen im Verhältniß auf den Göttlichen Willen. Die Theologie hegt
im Kopf, die Religion im Herzen. Die Religionsobservanzen sind sehr
25 beschwerlich, obgleich sie moralisch gleichgültig sind. Die Observanzen
erfordern gar keine morahsche Reinigkeit. Die unaufhörhche Auf-
merksamkeit auf uns selbst erfordert sehr viele Kraft. Die Menschen
sind sehr geneigt bey der Religion solche Handlungen anzunehmen,
die eine moralische Gleichgültigkeit haben, und bloße Observanzen
30 sind.
Von der Innern und äußern Religion.
Alle Religion ist zwar innerlich aber es giebt dennoch auch äußer-
liche Zeichen der Religion. Die Religion bestehet eigentlich in der
Maxime dem Willen Gottes gemäß zu handeln. Unser Wohl verhalten
35 hat zwo Stücke 1. Frömmigkeit und 2. Tugend. Die Tugend bedarf
der Beobachtung des Natur Gesezzes aus dem inneren Werth der
Handlung. Sie ist die Maxime, den principiis der Sittlichkeit gemäß
zu handeln. Die Maxime dem Göttlichen Willen gemäß die moralischen
170 Vorlesungen über Moralphilosophie
Gesezze zu befolgen, das ist die Frömmigkeit. Die Frömmigkeit ist das
subjective der Tugend. Die Tugend ist die natürliche Gesinnung, die
128 moralischen Gesezze zu erfüllen. Die natür /liehe Moral bietet uns die
Tugend dar. Das innere der Religion bestehet in der moralischen
Gesinnung, seine Handlungen gemäß dem Göttlichen Willen einzu- 5
richten, und sie ist die Höchste Anwendung der Moral. Die äußerhche
Religion ist nichts anders als die äußerlichen Mittel der Religions
Gesinnung zu befördern und ihnen Stärke zu geben. Bey der Religion
ist der finis, die moralische Gesinnungen in Ansehung des Schöpfers
auf die Höchste Stufe zu versezzen. Hier muß der Begriff der Natür- 10
liehen Religion zum Unterschiede von der übernatürlichen bestimmt
werden. Die Theologie kann entweder natürlich oder übernatürlich,
objectiv oder subjective genommen werden. Die übernatürliche heißt
die Theologia revelata, die natürliche objective Religion ist die, die
man aus der Natur, der Erkenntniß von Gott und von der MoraHtaet, 15
einsehen kann. Die übernatürliche aber ist die, die nicht aus der
Natur der Handlungen erkannt werden kann, oder welche eine über-
natürliche Anweisung unsers Willens ist. Die übernatürliche Erkennt-
niß ist die, die die Erkenntniß von Gott erweitert oder unsere Er-
kenntniß von der Sittlichkeit im Verhältniß auf den Göttlichen Willen 20
complett macht. Nicht eine jede geoffenbarte Religion darf eine über-
natürliche seyn. Nicht jede Religion ist übernatürlich die durch über-
natürliche Mittel ausgebreitet ist und gelehret worden. Nicht jede
1S9 Religion, deren / Ursprung übernatürlich ist, ist auch ihrer Natur und
Beschaffenheit nach übernatürlich. Subjective ist die Religion nichts 25
anders als das innere principium oder die Gesinnung dem Willen
Gottes gemäß zu handeln, objective kann die Religion übernatürlich
seyn, und subjective ist sie doch natürlich. Wir Menschen können
subjective practisch eine natürliche Religion haben, objective aber
kann sie übernatürlich seyn. Wenn wir die Religion also betrachten, so
so fallen alle Gleichgültigkeiten und Sophistereyen weg. Die Menschen
glauben, wenn der Gegenstand den sie erwägen große Würde hat, daß
auch ihr Verstand und ihre Erkenntniß so beschaffen sey. Die prac-
tische Erkenntniß von Gott ist selbst immer ein großer Gegenstand,
der Achtung verdient und keine Verachtung, gesezzt sie wäre auch ein 35
Irrthum. — Die Eigenschaften Gottes die zu der natürlichen Religion
hinreichend seyn, sind ihrer Natur nach einfältig. Die Einfalt ist die
Haupt Eigenschaft der Erkenntniß der natürlichen Religion. Unter
der Einfalt verstehe ich den grad der Erkenntniß, die durch den
Praktische Philosophie Powalski 171
bloßen eigenen Gebrauch des gemeinen und gesunden Verstandes
erkannt werden kann. Der gemeine und gesunde Verstand muß hin-
reichend seyn sie nicht nur zu faßen, sondern auch auszuüben, und sie
zu erlangen, und dieses kann ich auch von Jedermann verlangen.
5 Alle Erkenntniß von Gott kann vorausgesezzt werden, als die Be-
dingung zu der / Gewinnung der Wißenschaften, die auf die Religion 130
angewandt werden können.
Ehe von der natürlichen Religion geredet wird, muß das moralische
Gesezz vorausgehen, damit wir sehen können, was billig recht und
10 verständig sey, anzuwenden. Wenn ich mir Gott als einen Heiligen
Gesezzgeber deßen Wille diese Gesezze als ein Geboth vorstellet, ferner
als einen gütigen Regierer, und endlich als gerechten Richter vorstelle,
so machen diese drey Vorstellungen die ganze natürliche Religion aus.
Wenn ich dieses alles als ein principium der Handlungen des Men-
15 sehen ansehe, so müßen wir uns Gott als Allmächtig, Allwißend, All-
gegenwärtig etc. vorstellen, weil dieses Eigenschaften sind die aus den
drey Vorstellungen fließen. Er kann nicht ein gütiger Regierer seyn,
wenn er nicht Allmächtig ist, und ein gerechter Richter, wenn er nicht
Allwißend ist, und in die Herzen der Menschen sehen könnte. Diese
20 drey Vorstellungen entspringen aus dem Gebrauch des gesunden und
gemeinen Verstandes. Die Vorstellung, daß ein gütiger Regierer ist,
lehret uns die Moral. Denn er würde uns nicht obligiren können
durch seinen Willen, wenn er nicht einen gütigen Willen hätte. Kein
Wesen kann obligiren als deßen Wille heilig ist, und jezt sind die
25 moralischen Gesezze als praecepta anzusehen. Denn sein Wille ist
zugleich / ein HeiHger Wille. Er ist ein Oberherr; wer ein Oberherr ist, i3i
der muß auch die Aufsicht über die Aufrechterhaltung der Gesezze
haben. Der Richter ist nicht gütig. Sein Urtheil bedeutet das Judicium
validum oder das Rechtskräftige Urtheil, welches mit Wirkungen
30 begleitet wird. Die Eigenschaft eines Richters ist nicht die Gütigkeit,
sondern die Gerechtigkeit. Er muß nach den morahschen Gesezzen
Recht sprechen, denn sonst würde er über die Art der Glückseeligkeit
und des Wohlbefindens richten. Alle unsere Handlungen müßen
stricte mit den moralischen Gesezzen übereinkommen. Wenn wir uns
35 vor den Augen eines gerechten Richters befinden, so finden wir alle
unsere Handlungen gebrechlich. Wir können uns niemahlen auf die
Gütigkeit des Richters verlaßen, sonsten würde er ein Urtheil fällen,
das den moralischen Gesezzen zu wieder ist. Der Regierer kann gütig
se3'n. Nachsicht beym Richter suchen, heißt ihn bestechen wollen.
172 Vorlesungen über Moralphilosophie
Wenn man die Richter bestechen will, so ist das so viel, als wenn man
Gott bestechen will. Stellt man sich Gott als einen gerechten Richter
vor, so muß man sich nicht einbilden, daß Gott meine Handlungen
für straflos erklären wird; da er, wenn er das könnte, so könnte er sie
auch für erlaubt erklären. Der gütige Regierer mit der Heiligkeit ver- 5
bunden, theilt uns nicht die Wohlthaten blindlings aus, sondern er
132 weiß Mittel, wodurch wir / in den Stand gesezzet werden die Gesezze
zu erfüllen. Die natürliche Religion hat also sehr viele Einfalt. Wenn
sie sich ihn als einen Heiligen Gesezzgeber vorstellt, so kann man sich
nicht denken, daß seine Gebothe eine so geringe moralische Reinigkeit lo
erfordern. Stellt sich ein Mensch ihn als einen gerechten Richter vor,
so muß er sich nicht einbilden, daß Gott seine bösen Handlungen für
straflos erklären wird; denn wenn er das könnte, so könnte er sie auch
für erlaubt erklären. Wenn nach den moralischen Gesezzen Recht
gesprochen wird, so kann man die Urtheile nicht anders als praecise den i5
Gesezzen gemäß fällen.
Von den Irrthümern in der natürlichen Religion
Der Fehler der eine Ursache ist und den Zweck aufhebt, ist Tadel -
haft. Der Zweck der Theologie ist nicht so wohl specifice das Höchste
Wesen ausführlich zu erkennen, sondern alle Moralitaet als ein Prin- 20
cipium zu haben.
1. Deismus muß vom Naturalismus unterschieden werden. Der
Deist ist der, der ein Urwesen annimmt, aber daß man nichts von ihm
wißen kann, ob die Welt durch seinen Willen geschaffen sey etc. Er
gedenkt sich Gott als eine oberste Ursach der Dinge, er nimmt diese 25
oberste Ursach nicht als vernünftiges Wesen an, und als den Urheber
133 der moralischen Gesezze. Der Deist räumt also keine andere Theolo/gie
ein als die Transcendentelle. Der Atheist ist der, der bloß natürliche
Theologie annimmt, die sich auf verschiedene Bestimmungen der
Natur beziehet. Ein Deismus meint aber nicht eben so viel als ein 30
Atheismus.
2. Naturalismus. Ein Naturalist ist der, der die bloße natürliche
Religion annimmt. Er lehret eine gute aber unvollständige Religion.
Sie ist gut und liegt auch jeder Religion zu Grunde. Sie ist eine Grund-
lage revelatae Religionis. Wir können nur der übernatürlichen Reli- 35
gion fähig werden, wenn wir die natürliche gebraucht haben, wie viel
es uns möglich war. Die natürliche Religion ist nicht nur gut, sondern
auch ein noth wendiges Substratum aller geoffenbarten, die natürliche
Praktische Philosophie Powalski 173
Religion muß also in Ansehung der geoffenbarten nicht ausschließend
seyn. Man muß seine Kräfte anwenden, der Natürlichen Religion
Genüge zu leisten, und denn kann man hoffen, die übernatürliche als
das Supplementum der natürlichen Religion zu genießen.
5 Naturalist ist der, der Ausschließungsweise die natürliche Religion
annimmt, diese Religion ist also 1. an sich und 2. nach der Vernunft
falsch, und dieses bestehet bloß darinn, daß er die natürliche Religion
für genugsam hinreichend und vollständig annimmt. Man muß nicht
glauben, daß Gott nach Belieben vergeben könnte, das ist, daß er als
10 ein gerechter Richter / nachsichtlich seyn und vergeben könnte. 1 34
Wenn er könnte vergeben, so könnte er auch andere Gesezze machen,
denn weil er im sprechen vom Gesezz abweichen kann, so könnte er
auch nach andern Gesezzen sprechen und richten, dieses wiederspricht
aber der natürlichen Religion. Wer das glaubt, der hält die natürlichen
i:> Gesezze als statuta des Göttlichen Willens, sie sind aber Normen die
schon von Ewigkeit in der Natur der Sache liegen. Von der Gerechtig-
keit kann ich gar keine Gütigkeit hoffen. Wenn ich von der Gütigkeit
keine Erlösung erhalten kann, so kann ich mir keine Hoffnung zur
GlückseHgkeit machen, als wenn ich recht werde, wenn mein Wille
20 mit seinen Gesezzen übereinstimmen wird. Der natürlichen Religion ist
es gänzlich unbekannt, wodurch eine Ergänzung unseres Wohl-
verhaltens unserer Gebrechlichkeit und der moralischen Reinigkeit
geschehen könnte, sie sieht doch aber daß das nöthig ist, und daß wir
sonst keine andere Hoffnung mit der Gerechtigkeit des Richters
25 zusammenzustimmen haben können. Sie erkennt ihre eigene moralische
Un Vollständigkeit, sie ist aber doch deswegen gut, also ist die natür-
liche Religion unentbehrlich und die Grundlage der geoffenbarten
Rehgion.
Der Naturalismus ist also die ausschließende Gültigkeit der natür-
30 liehen Religion.
3. Die Abgötterey kann auf zwiefache Weise aus/geübet werden: 133
a. in materia wenn ich das als meinen Gott verehre, was nicht
Gott ist. Wenn ich mir Gott in einem körperlichen Bildniß vorstelle,
oder per Anthropomorphismum, so begehe ich ein Analogon der Ab-
35 götterey, indem die Verehrung Gottes nicht sensual sondern intellec-
tual seyn kann.
b. in forma begehe ich eine Art von Abgötterey, wenn ich mir
Gott per practicum Anthropomorphismum vorstelle. Was nicht
moralisch ist, ist sonst alles Abgötterey.
174 Vorlesungen über Moralpliilosophie
Von dem Kultus der Religion ist nichts zu sagen, als daß er ganz
gleichgültig sey. In der Religion die nicht soll abgöttisch seyn, muß er
nur als Mittel betrachtet werden, und nicht als wenn man sich dadurch
Gott unmittelbar könnte wohlgefäUig machen. Derjenige also, der uns
die Gebräuche lehret und befiehlet, muß bemerken, daß sie keinen 5
andern Werth haben, als den Werth der Mittel. Alle Irrlehren haben
einen Einfluß auf die Religion. Der Deismus ist schädlich, wenn ich
sage, daß ich mir von dem Urwesen keine Eigenschaft denke. Der
Begriff von Gott ist das objectum Theologiae.
Der Theismus der enthält die natürhche Religion in sich, es ist die lo
Erkenntniß von Gott, sich ihn durch bloße metaphysische praedicata
zu gedenken. Die Theologischen Irrthümer werden hier nur betrachtet,
sofern sie die Religion afficiren. Auf die natürliche Religion ist es
höchst schädlich zu schmälen, indem man eine geoffenbarte hat,
136 denn / sie ist das unentbehrlichste fundament der revelatae Religionis, i5
ohne sie können wir keiner redlichen Gesinnungen theilhaftig werden.
Ferner giebt es Abgötterey, da man theoretischer Weise sich Gott
richtig denkt, aber im practischen Verstände nicht.
4. Den Polytheismus kann der Mensch nicht in den Kopf bekom-
men, sobald er nur eine moralische Idee von Gott hat, denn es giebt 20
nur ein Wesen, welches das allervoUkommenste ist.
5. Der Anthropomorphismus, wodurch man sich Gott vorstellt
in Menschlicher Gestalt, ist bloß theoretisch.
6. Der Socinianismus. Wird nur im Verhältniß auf die Göttliche
Vorhersehung der freyen Handlungen betrachtet. Faustus Socinus 25
behauptete, Gott könnte die freyen Handlungen nicht vorhersehen,
und glaubte also daß die Natur der Freyheit dadurch etwas leide.
Dieses gehöret eigentlich nicht zur Natürlichen Religion.
7. Fatalismus. Alle Begebenheiten der Welt sollen ohngeachtet
der Freyheit schon vorher bestimmt seyn. Es kann dieses ein Deere- 30
tum despoticum oder absolutum dictatorium seyn, daß vor sich und
unabhängig determiniret. Diese Lehre ist wirklich schädlich im prag-
matischen Verstände. Wenn ich behaupte, daß es bloße Schicksale
gäbe, so kann dadurch 1. eine große Staats Verwirrung entstehen.
2. auch in Religions Sachen, hier suchet man oft Merkmale um zu 35
137 sehen, ob man dermahl/eins Einwohner des Himmels werden kann,
und nimmt man davon etwas an, so wird man ganz paßive.
8. Der Pelagianismus. Da man glaubt, daß die Gottheit könnte
beleidiget werden. Gott straft nur correctiv. Die Strafen Gottes können
Praktische Philosophie Powalski 175
wir nicht als eine Rache ansehen, sondern nur als Folge unserer Ueber-
tretungen der moralischen Gesezze, davon Gott der Executor ist:
Denn wenn dieses nicht wäre, so würden sie ohne Effect seyn. Aus der
Idee der Beleidigung kann die Strafgerechtigkeit Gottes nicht her-
5 geleitet werden. Hier wird nur Gott als Executor der moralischen
Gesezze angesehen. Er ist der oberste Gesezzgeber, er ist aber auch der
Verwalter der moralischen Gesezze.
9. Der Epicureismus. Da man die Göttliche Vorsehung läugnet.
Epicur sagte : Die Gottheit sey in ewiger Ruhe. Die Ordnung der Welt
10 sey eiimiahl eingeführt, und nun könne sie ihren Lauf gehen. Ferner
sagte er: die Dinge der Welt wären für Gott allzu geringe, und er
darüber weit erhaben. Die wahre Größe Gottes bestehet aber darinn,
daß nichts in Ansehung seiner klein, auch nichts zu groß ist.
10. Der Enthusiasmus und Fanatismus sind sich einander nicht
15 entgegen gesezt. Der Enthusiasmus ist opponirt der Müßigkeit in
Ansehung der Gesinnungen der Religion. Der Fanatismus ist der Ver-
nunft opponiret. Den Enthusiasmum kann man allenthalben/antreffen, i38
wo ein idealer Grund der Entschließung ist, den Enthusiasmum kann
man sich in der Freundschaft, in der Liebe vorstellen. Die Idee der
20 Freundschaft hat einen großen Reiz bey sich, derjenige der diese Idee
für walir hält, ist ein Phantast. Derjenige der die Ideen realisiret,
begehet eine Chimaere, er ist ein Phantast. Die Phantasterey in An-
sehung guter principien ist der Enthusiasmus, oder ein Phantast ist in
Ansehung einer Idee von guter Art ein Enthusiast. Bey dem Enthu-
25 siasmo körmte man sagen, daß da ein wahres zum Grunde liegt. Das
wird aber gar nicht in der Welt angetroffen. Alles Ideale der wahren
Vollkommenheit hat das an sich, daß es diejenige Menschen erhizt,
die mit guten Gesinnungen angefüllt sind, und zwar werden die
Menschen dadurch als vom Avirklichen Gegenstande erhizt. Der
30 Enthusiasmus ist eine Art (der Enthusiast ist eine Art) von Ueber-
eilung der Idee des Gegenstandes, welche durch die affecten gewirkt
wird. Derjenige also der die Uebereüung der Ideen zum Grunde hat,
ist enthusiastisch. — Die Hizze ist niemals übler angebracht, als wenn
eine Idee zum Grunde liegt, weil dazu vorzüglich eine große Aufmerk-
35 samkeit erfordert wird. Alle Hizze ist eine Verwirrung des Verstandes,
und jede Art der Verwirrung bringt den Verstand aus seiner Ver-
faßung und Ruhe. Alle Hizze sezt uns in Gefahr ungereimt und lächer-
lich zu werden. Nichts hat größere Verwirrung in der Welt angerichtet,
als der Heilige Enthusiasmus in der Religion.
176 Vorlesungen über Moralphilosophie
139 /Der Enthusiasmus ist in Ansehung der ReHgion viel schädhcher
als in Ansehung anderer Dinge, kein größeres Laster hat mehr destruc-
tion angerichtet als die Heilige Hizze. Die Abergläubische Hizze ist zu
unwürdig als daß sie mit der Heiligen Hizze könne verglichen werden.
Es giebt auch eine Hizze des Aberglaubens, die aus der bloßen Nach- s
ahmung, Erziehung etc. herrühret. Abergläubisch ist kein Enthusias-
mus, sondern wir nennen das einen Enthusiasmum, wo das principium
der Vernunft zum Grunde liegt, oder auch eine gute Gesinnung.
11. Fanatismus. Der hat seinen Begriff im Blendwerk des Innern
Sinnes. Der Grund liegt nicht in der Idee der Vernunft, sondern in lo
einer vermeinten geistigen Anschauung. Die Schwärmer glauben zu
empfinden die unmittelbare Einflüsse, die doch übernatürlich sind.
In Ansehung der äußern Erscheinungen laßen sie sich betrügen.
Sobald man dieses einräumet, so ist keine Regel mehr unsers Ver-
haltens und unserer Handlungen. Die Schwärmerey ist der Ver- 15
rückimg sehr nahe, weil ein solcher Mensch glaubt, daß Dinge ihm
nahe seyn, die doch weit von ihm entfernet sind.
12. Gleichgültig in Ansehung der Religion seyn, heißt die Wich-
tigkeit der Religion gar nicht kennen, oder auch ohne Rehgion seyn.
Man kann gleichgültig seyn in Ansehung ge wißer Gebräuche. Man 20
kann in vielen Stücken indifferent seyn, der Indifferentismus
führt immer einen Tadel bey sich, derjenige ist indifferent, der das
was eine Wichtigkeit hat, für gleichgültig hält. Der Indifferentismus
140 in der Religion / ist sehr schädlich. Er ist die Wirkung des bloßen
Spiels des Wizzes, wodurch man alle Dinge sehr klein macht. Es ist 25
nichts indifferenter als das Gewißen. Der Enthusiasmus kann auch
indifferent genannt werden. Alle vernünftige moderate Leute nennt
man indifferent. Der Enthusiasmus ist nicht der Vorschrift, sondern
der Herrschaft der Vernunft opponirt. Wenn ein affect aus der Idee
entspringt, so ist es der Enthusiasmus, und derjenige, der durch diese so
Idee in affect gesezt wird, heißt Enthusiast. Unter Idee verstehe ich
nicht einen bloßen Begriff, sondern einen Begriff, den die Seele faßen
kann. Sie ist die Vorstellung die erzeugt worden ist nach der Regel
der Vernunft. Alle Tugend Begriffe sind Ideen. Die Weisheit beruhet
auch auf Ideen. Die Klugheit aber auf Erfahrungs Gesezzen. Es giebt 35
also Enthusiasten, die, wo die Idee eine wirkende Kraft hat, sie bis
zum affect bringen, a. der Ernst aber unsrer Vorstellungen, b. die
Stärke der Triebfeder zu den Handlungen, muß uns gar nicht bis zu
den affecten treiben, denn dabey wird das Gemüth aus seiner Herr-
Praktische Philosophie Powalski 177
Schaft gesetzt, und unsere Handlungen verliehren die Leitung nach
einer Regel. So giebt es auch Leute die aus Enthusiasten Misanthropen
werden (id est Menschenscheu) und dieses rührt aus einer Enthu-
siastischen Empfindung der Tugend her. Der Enthusiasmus hat fast
5 immer etwas Edles an sich, deswegen muß man ihn nicht empfehlen. / i4i
Den Klugen kann man ihn zwar empfehlen, um die Dümmern und
schwächern zu leiten. Die affecten bekommen zulezt den Grad, daß sie
sich selbst verfangen, und dieses verursacht oft die Hizze in der
Freundschaft. Jemehr unsre principia geistig seyn, und je mehr die Be-
10 wegung auf die Vernunft sich gründet, desto weiter müßen wir vom
affect entfernet seyn. Der Enthusiasmus ist eine Art von Verrückung.
Er ist es zwar noch nicht; er ist es aber auf dem Wege, und dieses ist
auch die Schwärmerey. Der Enthusiasmus ist nur ein Wahnsinn, der
unterschieden ist von der Verrückung. Der verrückte glaubt äußer-
15 liehe Körperliche Gegenstände um sich zu haben, die nicht da sind.
Derjenige, bey dem er dann und wann entspringt, ist ein Phantast.
Diese Phantasterie ist ein Wahnsinn, und betrifft nur die inneren Vor-
stellungen. Wenn die Empfindungen andre rege zu machen scheinen,
so ist dieses ein Wahnsinn. Die Türken haben noch bis izo die Meinung,
20 daß ein jeder Verrückter ein Heiliger sey, von dem sie allerley Vorher-
sagungen erwarten. Diese Schwärmerey ist der gesunden Vernunft
entgegen.
13. Rationalismus (die Vernünfteley) ist die Bestrebung, die Ver-
nunft über die Grenzen der Erfahrung zu gebrauchen. Man kann diese
25 Vernünfteley auf zwofache Art betrachten.
/ L Insofern sie eine Verwirrung im Gebrauch der Vernunft ist, i«
2. Wenn man die Dreistigkeit verwirft, mit der ein solcher Ge-
brauch der Vernunft statt findet.
a. Man glaubt durch die Vernünfteley in der Religion alles zu ver-
30 stehen. Das speculative von Gott und Göttlichen Dingen ist in An-
sehung unserer etwas ganz unnöthiges, weil die Bedingungen, die da-
zu beytragen, zum bloßen vernünfteln gehören. In der Religion ist es
sehr schädlich zu vernünfteln. Denn die Religion hat sehr einförmige
principia. Das Vernünfteln in der Religion macht das practische der-
35 selben zu etwas Theoretischem; und schlägt endlich zum analogon
vom Rehgions Eifer aus. Handle recht und sey recht, sonst ist das
Vernünfteln darinn unnüz.
b.) Die Vernunft reicht nicht über die Grenzen, die durch die
Erfahrung determiniret seyn. Wir müßen aber auch nicht die Er-
12 Kaufs Schriften XXVII/l
178 Vorlesungen über MoralpWlosophie
kenntniße die über das Feld der Erfahrung gehen, und die wir nicht
durch die Vernunft erkennen können, verwerfen. Die Grundsäzze der
Religion hingegen sind unwandelbar, und können hergeleitet werden
ex principiis, die ganz unumstößlich sind.
14. Scepticismus. Ist eine Neigung zum Zweifel. Es ist eine Art 5
von Dialectic sich im Streit beßer zu erkennen, welches aber einen
großen Verdruß der Vernunft macht. Hier ist zu bemerken der Zweifel
143 des / Aufschubs der Grundsäzze. Der Zweifel ist die Misologie (der
Vernunfthaß). In der Theologie ist der Scepticismus weit schädlicher
als der Rationalismus, weil doch die Grundsäzze der Religion wie lo
schon gesagt, ganz unwandelbar sind, wenn auch die Religion noch
Mangelhaft ist.
Vom Zutrauen auf Gott und Ergebung
in den Göttlichen Willen.
Ein jeder Mensch hat immer etwas zu wünschen, entweder ad i5
melius eße, einen größeren Grad des Wohlbefindens zu haben, oder um
etwas anders. Mit diesem Wunsche flehen sie das Wesen an, durch
deßen Willen dieselben können erfüllt werden. Kein Wunsch aber ist
so groß als der, daß sich die Macht dieses Wesens mit ihm vereinige,
welches seinen Mangel ergänze, und das was nicht in seiner Gewalt ist. 20
seinen Grenzenlosen Wünschen ertheile. Man muß aber in allen Wün-
schen sich mäßigen, und sich zulezt in den Göttlichen Willen ergeben.
Diese Bescheidenheit ist ein Resultat eines guten und vernünftigen
Willens. Denn wenn ich annehme ein Göttliches Wesen, welches weiß
was der Welt zuträglich ist, und ich nicht selbst weiß, was mir gut 25
thun würde, wenn es mir ertheilt wird, so steht es mir auch gar nicht
frey der Gottheit vorzuschreiben, was sie mir mittheilen soll. Die
Ergebung in den Göttlichen Willen kommt also nicht aus Fröhlichkeit,
sondern aus der puren Vernunft. Ein declarirter Wunsch der Mit-
theilung desjenigen, was das Höchste Wesen für gut hält, ist ein 30
144 Gebeth. Kein Gebeth muß / bestimmt seyn, sondern unbestimmt.
Es kann wohl bestimmt seyn, wenn es auf das schlechthin gute gehet.
In Ansehung des guten aber, was bedingterweise gut seyn kann, oder
in Ansehung des Physischen guten, kann ich unmöglich etwas be-
stimmen. Also müßen alle Gebethe ihrer Natur nach allgemein seyn. 35
Die Ergebung in den Göttlichen Willen ist eine pure Einschränkung
unserer Wünsche durch die Vernunft. Der Mensch ist höchst unge-
reimt, welcher die Höchste Regierung gleichsam nach seinen projecten
Praktische Philosophie Powalski 179
lenken will. Diese declarirte Wünsche müßen im Glauben geschehen.
Im Glauben bitten, heißt dasjenige bitten, von dem wir vernünftiger
Weise glauben können, daß es uns Gott nach seiner Weisheit gewähren
werde. Denn wenn ich mich so verhalte, daß ich so viel ich kann, mich
5 an die Vorschriften der Gesezze halte, so kann ich auch hoffen, daß
mich Gott gemäß meines Verhaltens der Glückseehgkeit theilhaftig
machen werde. Ohne Bestimmung der besondern Wünsche, Gegen-
stände, Art und Fälle, in welchen uns Gott helfen soll, beten, heißt also
mit Zutrauen auf die Göttliche Gütigkeit beten. Der Glaube der bey
10 einem bestimmten Gebeth ist, ist nur ein fingirter Glaube und eine
Vermeßenheit, und dies heißt der Frevel, wodurch man Gott versucht,
dieses heißt ein unvernünftiger Glaube, und heißt so viel, als wenn ich
meinen Fall vor / der Göttlichen W^eißheit bestimmen wollte. Der 145
practische Glaube ist vom Theoretischen unterschieden. Der prac-
15 tische Glaube ist ein unbedingtes Zutrauen. Das Beten im Glauben
heißt das Beten im unbedingten Zutrauen. Das unbedingte Zutrauen
ist das Vertrauen auf die einstimmende Absicht eines andern Wesens,
so ferne wir dieselbe zu bestimmen nicht nöthig haben. Das Zutrauen
ist bedingt, wenn ich ihm die Bestimmung gebe, unbedingt aber, Avenn
20 ich dieses nicht thue. Das unbestimmte Zutrauen in Ansehung Gottes
ist allein vernünftig. Es wäre nichts weniger fröhlich für die Menschen,
als wenn ihre Bestimmungen den Göttlichen Ratschluß bestimmen
könnten.
Ich kann nur um das Geistige bestimmt bitten. Alles was auf die
25 Moral gehet, das ist ein erhörliches Gebeth. Nur durch unsere Morali-
taet können wir der Göttlichen Erhörung würdig werden. Die Gebethe
des Menschen sind oft bestimmend, und zwar nicht auf morahsche
Dinge sondern angesehen als natürliche Sehnsucht des Menschen, die
er in Ansehung des Höchsten Regierers der Welt in sich nicht unter-
30 drücken kann. Er hat aber nichts zu bitten, als daß ihn der Himmel aller
Wohlthaten würdig machen möchte. Denn die Menschen würden da-
durch unglücklich sejni, wenn ihnen all ihr bitten sollte gewähret werden,
weil ihr mehrestes bitten ungereimt ist. Das unbeding/te Zutrauen im i46
Gebeth ist der Glaube, der Geist des Glaubens soll uns jederzeit bey-
35 wohnen. Bey Menschen ist der Buchstabe durchaus nöthig, ob er
öfters doch nur eine Ehren Bezeugung ist. Die Wörter sind dahero un-
vollständig, weil man nur Gedanken Gott mitzutheilen hat. Der Geist
des Gebeths macht das Wesentliche des Gebeths aus. Die Wörter sind
nur vehicula der Gedanken. Der Geist des Gebeths bestehet im
180 Vorlesungen über Moralphilosophie
moralischen unbedingten Zutrauen auf den Göttlichen Beystand.
Moralisch ist das Gebeth, wenn ich mich nach den moralischen
Gesezzen verhalte, und also eine gewiße Erhörung erwarten kann.
Der Geist des Gebeths ist von der Art, daß er keine Zeit wegnimmt.
Die Heilige und gute Gesinnung der Seele ist bejoii Gebeth das Haupt- 5
werk. Wenn die Gesinnungen einmahl gegründet seyn, so brauchen sie
nur Mittel zum cultiviren. Eine gute Handlung excolirt unsre gute
Gesinnungen. Der Buchstabe des Gebeths ist aber auch nicht zu ver-
achten, denn er hat den Werth der Mittel. Die Andacht ist eine exci-
tation unserer WillkührUchen Gottseeligen und devoten Gesinnungen 10
gegen Gott. Devote Gesinnungen sind die, welche mit der Tugend
verbunden sind . Das Gebeth ist ferner vel pragmatisch vel mora-
lisch. Das pragmatische Gebeth ist ein Mittel des Erwerbs der zeit-
I4r liehen Güter, das morahsche Gebeth aber wird be/trachtet als ein
Mittel Gott wohlgefällig zu seyn, das erste geschiehet aus Bedürfniß, 15
das andere aber aus devotion. Dergleichen Gebethe, die unsere Glück-
seehgkeit zur Absicht haben, sind soferne eingeschränkt, daß wir
sehen müßen, ob wir auch deßen würdig sind. Auch sind die mora-
lischen Gebethe von der Art, daß wir nichts bestimmen können, so daß
wir nur das, was uns das Höchste Wesen ertheilt, von deßen Güte 20
erwarten. Bestimmte Bitten sind nicht dem Verhältniße in welchem
die Menschen mit Gott stehen, angemeßen, indeßen ist die Mensch-
liche Natur, wenn sie in Noth ist, von der Art, daß sie das gegen-
wärtige vor allem am meisten wünscht, die Vernunft kommt ihr aber
hier zm- Hülfe, und fragt, ob es auch nüzlich und ob es nicht ein Frevel 25
gegen Gott ist ? — Der Geist des Gebets ist immer bey dem Menschen.
Wenn ich also annehme, der Geist des Gebeths wohne beständig bey
dem Menschen und bey allen Unternehmungen, so ist auch offenbahr,
daß das Gebeth auch für uns nüzlicher ist, als für das Höchste Wesen.
Das Gebeth ist nur ein Mittel, unsere Gesinnungen in Ansehung des so
Höchsten Wesens mehr zu beleben, und den Nachdruck unserer
devotion zu vergrößern. Die wahrhaftige Religion bestehet in den
Gesinnungen, die Gott ergeben und auch zugleich bestrebt sind, sich
vollkommen dem Willen Gottes gemäß zu verhalten, die Andacht
besteht in dem Zustande des Gemüths die Gott ergebene Gesinnungen 35
148 zu / beleben. Hier giebts verschiedene Mittel, als Predigten, solenne
Versammlungen etc. Diese Handlungen sind Mittel, wozu auch das
Gebeth gehört. Die de votische Gesinnungen die in uns practisch erzeugt
werden, sind die Andachten der Frömmigkeit.
Praktische Philosophie Powalski 181
Weil das Gebeth dieses nicht hervorbringt, ist das Beten nicht an
und vor sich selber Gott gefällig, sondern die Gesinnung die alsdenn
practisch wird. Das Gebeth ist nur ein Mittel gegen uns selbst, um die
gute und Gottseelige Gesinnung hervorzubringen, oder doch dazu das
o Herz zu eröffnen. Nur allein dadurch können wir sittlich gut werden.
Die Gebethe als eine unmittelbare Veränderung Gottes zu betrachten
ist eine Anthropopathie. Wir dienen Gott, sofern wir seinen Befehlen
gehorchen oder seinen Gesezzen gemäß leben ; wir lieben ihn, wenn wir
seine Gebothe gerne thun. Alle Liebe, die nicht practisch ist, sondern
10 als ein Gefühl betrachtet wird, sezt immer eine Anschauung zum vor-
aus. Aller Bewegungs Grund, der uns antreibt, eine Pflicht gerne zu
thun, ist ein Bewegungs Grund der Liebe. Kinder lieben die Eltern aus
LTeberlegung, die Eltern aber die Kinder aus reinem Instinct. Die Liebe
in wahrem Verstände genommen und betrachtet, ist eine Pflicht.
15 Diejenige aber, die man sich in Ansehung / des höhern Verstandes als 149
ein Gefühl zu erwelcken sucht, ist eine mystische Liebe. Die mystische
Liebe ist nicht aus Pflicht, sondern aus einer Empfindung. Sie sezt
immer eine Empfindung Gottes zum voraus, daß er ein Gegenstand
unsrer Empfindungen und Gefühle werde. Die Liebe Gottes aber
20 ist die Liebe aus Pflicht, wenn wir Gott gerne gefällig zu seyn such-
ten, auf die Art ist sie liebenswürdig in unsern Augen, und denn ist
die Liebe practisch. Menschen sind nicht zufrieden, wenn man sie
aus Pflicht liebet, denn die Liebe aus Empfindungen hat mehr an
sich, was das ganze Herz einnimmt, und hat auch mehr Triebfedern als
25 die Liebe aus Pflicht. Gott ist aber kein Gegenstand der Empfindung
und Anschauung. Die mystische Liebe nähert sich dem Fanatismus,
die practische Liebe aber gehöret zum wahren Gottes Dienste.
Moralisch ist etwas schwer, wovon ich keinen pflichtmäßigen Grund
einsehen kann, dahero sind uns alle Observanzen schwer. Die mystische
30 Liebe sucht ihre Liebe mit dem Ideal anzufangen, sie sucht ihr Herz
mit Empfindungen zu erfüllen, die sie sich selbst macht. Auf solche Art
sucht sie auch in ihrem Herzen von Gott ein Ideal hervorzubringen,
da er doch kein Gegenstand der Empfindung seyn kann.
Die Liebe besteht in der moraUschen Gesinnung, / den Willen Gottes 150
35 gerne zu thun. Alle Rehgion besteht in der Gesinnung, die Liebe gegen
Gott ist moralisch, mystisch wenn sie eine vermeintliche Empfindung
Gottes ist, die aus der Anschauung entspringet. Es giebt eine Liebe
(wie schon gesagt) entweder aus Gefühl oder aus Pfhcht. Die erste ent-
springt aus Eindrücken, die andere aus reflexionen. Die Menschen
182 Vorlesungen über Moralphilosophie
mögen gerne die Liebe aus Gefühl haben und nicht aus reflexion denn
die Liebe aus reflexion ist veränderlich, und die Bande der Liebe aus
Gefühl sind auch fester als die andern. Gott ist aber kein Gegenstand
der Anschauung, also ist unsere Liebe zu ihm eine pflichtmäßige Liebe.
Die mystische Liebe ist eine gewiße Erkenntniß von Gott, die nicht 5
aus der Vernunft, sondern aus einer vermeinten Anschauung her-
kommt; Gott ist ein Wesen um deßen Willen wir schon von Natur
bewogen werden, ihn mit dem unsrigen zu verbinden. Von der Güte
eines solchen Wesens kann ich nicht solche Vorstellungen aus der
Empfindung haben. Die Vorstellung von der Güte beruhet darauf daß lo
das Wesen seine Güte so beweist, daß es eine Aufopferung kostet. Wer
nicht etwas aufopfert zu unserm besten, deßen Güte werden wir nicht
so leicht erkennen. Wir sind so geartet, daß wir das Maaß der Liebe
gegen andere nach dem was es ihn gekostet hat, haben. Plutarchus
151 hat die Meinung gehegt daß Gott neidisch sey, da/her : Gott ertheilt i5
dem Menschen vieles, es kostet ihn aber nichts, und er könnte uns also
noch mehr bringen, ohne daß es ihm beschwerlich sey, oder einen Auf-
wand koste ; sondern sein Wille wird nur bloß dazu erfordert. Von dem
Grad der moralitaet können wir uns nicht anders einen Begriff
machen, als wenn wir wißen, was es für eine Ueberwindung gekostet 20
hat. Wir können nicht sagen, weil die Göttliche Macht alles verschaf-
fen könne, so ist die Liebe Gottes in Ansehung der Menschen sehr
klein, denn die empfundene Liebe aus Pflicht findet hier nicht statt.
Wir können Gott mu" durch unser thun und laßen verehren. Die Furcht
Gottes ist der Liebe Gottes nicht opponirt, sondern sie ist die Liebe 25
wenn man etwas aus einem andern moralischen Grunde thut. Die
Furcht ist moralisch so wie die Liebe. Sie ist kindlich, aber nicht
knechtisch. Die Ehrfurcht gegen Gott können wir den Menschen nach
den principiis der Sinnlichkeit eher eindrücken als die Liebe. Die
Göttliche Größe drückt uns Ehrfurcht ein, denn alle Größe läßt sich 30
sinnlich machen. Die Göttliche Größe kann in uns durch die uner-
meßlichkeit seiner Macht einen erhabenen Begriff von Gott hervor-
bringen. Furcht vor Gott läßt sich sehr leicht einprägen, aber damit
diese Furcht moralisch sey, so muß sie mit einem gewißen Erstaunen
I5ä verbunden seyn. Die moralische Furcht vor Gott bestehet darinn, / 35
daß man die Gebothe Gottes zu thun bereit ist, darum, weil sie eine
moralische Wirkung haben. Wir zeigen Ehrfurcht gegen Gott, wenn
wir seine Gebothe für Achtungswürdig halten. Die Göttliche Gebothe
sind das Fundament aller Rechte und aller Ordnungen, deswegen sind
Praktische Philosophie Powalski 183
sie Aclitungswerth. Die Furcht Gottes ist also der moralische Anfang
seiner Gebothe. Die Furcht vor Gott macht nur in unsern Handlungen
eine Vollkommenheit aus. Die Furcht vor Gott muß ein practischer
Grund seyn, morahsch ist er aber, wenn ich die Gebothe Gottes wegen
5 ihi-er Schönheit thue und nicht aus Furcht vor seiner Macht. Die
Furcht ist nicht moralisch. Wenn die moralische Furcht nicht in der
Seele haften will : so muß die Furcht vor Gott hinzugefügt werden, da
man sich alsdenn vor dem erzürnten und beleidigten Richter und vor
Gott fürchtet. Wir müßen uns da nicht Gott als einen furchtbaren
10 Richter vorstellen, wo noch die Gütigkeit eines Regierers etwas ver-
mögen kann; den Bösewicht werden wir durch die Furcht vor Gott,
und den Menschen der durch die moral gerühret werden kann, durch
die Furcht Gottes zu guten Handlungen treiben können. Gewißen-
haftigkeit und Gottesfurcht haben einerley Bedeutung. Die Gewißen-
15 haftigkeit ist bloß moralisch, und die Gottesfurcht ist diese moralitaet
angewandt auf die Theologie. Die / Religion ist einerley Begriff mit 153
der Gewißenhaftigkeit. Die Gewißenhaftigkeit ist nichts anders als die
praecision und pünctlichkeit der Angemeßenheit unserer Handlungen
mit den moralischen Regeln. Alle Gewißenhaftigkeit ist leer, wenn sie
20 nicht mit der Erkenntniß von Gott verbunden ist. Wenn keiner wäre
die Menschlichen Laster zu bestrafen, so hätte die Gewißenhaftigkeit
gar keine Energie. Die Gottesfurcht ist das größte und schönste Wort.
Sie ist die Gewißenhaftigkeit, die mit der Vorstellung eines Heiligen
Wesens verbunden ist. Die Frömmigkeit ist die Fertigkeit in cultu
25 divino oder die Bestrebung Gott zu dienen. Der Gottes -Dienst ist im
moralischen Verstände die Beobachtung unserer Pflicht aus dem Gött-
lichen Willen. Der pragmatische Gottes-Dienst ist die celebration sol-
cher Handlungen, die die Mittel sind, unsere Gesinnungen zu erhöhen
und zu stärken. Wie die Gesinnungen gegen Gott durch solche Mittel
30 zu stärken sind; so ist auch der Gottes-Dienst im stricten Verstände,
die Beschäftigung mit Göttlichen Handlungen, nach seinem (Gottes)
Willen. Ein Mensch veredelt sich nicht durch die Größe des Gegen-
standes, sondern durch seine Wirkung; wodurch also der Mensch
gebeßert wird, das gehöret zum Wesen der Religion, die Beschäftigung
35 / mit Göttlichen Dingen unter guten Gesinnungen sofern sie den Werth i54
der Mittel haben, ist der Gottes-Dienst. Der Gottes-Dienst ist die
Beflißenheit gegen Gott und zwar äußerlich. Die innerliche Beschaffen-
heit ist die Frömmigkeit ; die Gewißenhaftigkeit und Gottesfurcht sind
nur den Triebfedern nach unterscliieden.
184 Vorlesungen über Moralpliilosophie
Wenn ich vom gewißenhaften Menschen rede, so suppomre ich daß
Gottesfurcht in ihm ist, denn wenn dieses nicht ist, so ist er ein dogma-
tischer Atheist. Ein dogmatischer Atheist ist jederzeit mit Lastern
verbunden. Der sceptische Atheismus kann statt finden bey Personen,
die eben nicht boshaft sind. Die Gottesfurcht macht unsere Hand- 5
lungen rehgieuse. Die Gottesfurcht kann man nicht eine Liebe
nennen : denn die Liebe zu Gott ist die Höchste morahsche Volllcom-
menheit, die der Mensch erlangen kann. Die Liebe Gottes ist also
höher als die Gottesfurcht. Die Furcht ist immer das, was am meisten
bey dem Menschen Eindruck macht, denn Furcht vor einem L^ebel lo
findet sich ein als Hoffnung zum beßern Schicksale. Die Liebe zu
Gott, die sich auf Hoffnung der Glückseehgkeit gründet ist eine
Hoffnung wozu a. eine Ueberzeugung b. eine moralische Vollliommen-
heit gehöret.
155 / Wir können hier zwey Abweichungen von der Religion bemerken is
A. die Irrehgion oder die Gottes-Vergeßenheit und Gottlosigkeit.
Die Gottes-Vergeßenheit bestehet bloß in der Achtlosigkeit in An-
sehung der Religion und kann statt finden bey dem Menschen, der
zwar nicht im Höchsten Grad Lasterhaft ist, sondern der nicht be-
denkt, daß ein Wesen seine Handlungen siehet, und ihn einmahl 20
richten wird.
Die Ruchlosigkeit zeigt ein großes Laster an, das mit der Gottlosig-
keit verbunden ist. Diese sind positive Gegentheile der Religion.
Wenn ich aber nicht die Gegentheile sondern die Religion überhaupt
betrachte, wie sie verderbt worden ist, so ist da zu bemerken 25
aa. Die Andächteley und
bb. der Aberglaube.
Die Andächteley heißt sonst bigotterie und führet gerade zu der
Schwärmerey. Die Andächteley zeigt sich in lauter Beschäftigung mit
Göttlichen Dingen und bestehet darinn, daß wir die gute Handlung ^^
und Beschäftigung mit Göttlichen Dingen als hinreichend annehmen,
Gott zu gefallen. Die Andacht ist ein Fehler der Nachsicht verdienet,
aber doch sorgfältig gemieden werden muß. Die öftere Beschäfti-
i56gungen mit Göttlichen Betrachtungen bey der Andächteley / bringt
einen Hang zu einer Phantastischen Anschauung hervor ; wenn der 35
Mensch eine übernatürliche Anschauung zu haben glaubt, ist die
Schwärmerey eine Folge der Andächteley.
Praktische Philosophie Powalski 185
B. Der Aberglaube ist eine knechtische Unterwerfung. Der natür-
Hche Aberglaube ist die Vorstellung, daß natürliche Handlungen den
effect der übernatürlichen haben. Der Aberglaube kann auf Unwißen-
heit gegründet seyn, oder er kann mit Kunst eingeführet werden.
5 Mancher Aberglaube ist so sinnreich erfunden, daß er in der bürger-
lichen Verfaßung einen Nuzzen schaffen kann, obgleich derselbe in der
Religion schadet. Der Aberglaube ist nicht ein so schädlicher Fehler
als die Schwärmcrey, denn die Schwärmerey ist mit einer vernünftigen
Anschauung verbunden, und wenn das mitgetheilt wird, so hört alle
10 menschliche Ordnung auf. Der Aberglaube führt oft grausame Wir-
kung bey sich. Der Aberglaube ist ein despotismus über die Gewißen,
er gehört aber für Sclaven. Der Aberglaube hängt an Sazzungen
welche keine Gesezze sind, und wenn der Aberglaube regieret, so kann
er über die Gewißen sehr gewaltthätig seyn. Die Schwärmerey findet
lö gemeinhin in Republiquen, und der Aberglaube in monarchischen
Staaten statt. Die größten Schwärmer sind die Quäker in Engelland.
/ Vom äußern Gottesdienste. ist
Alle Religion ist innerlich, denn sie dient, die Gesinnungen unsers
Willens dem Willen Gottes conform zu machen. Die Gesinnungen
■20 werden als Mittel angesehen, so müßen sie rechtschaffen und auch
practisch seyn. Die äußere Religion ist eine contradictio in adjecto.
Aeußere Dinge können mit der Religion zusammenhängen, ohne daß
sie ihr wiederstehen entweder
1. Als Bewegungs Gründe oder 2. als Mittel und 3. als Folgen.
25 Das äußere der Religion macht nicht immer den äußerhchen Gottes-
dienst aus, allein das äußere der Religion soferne es ein Mittel ist, die
Gesinnungen der Religion in dem Menschen zu erwecken, beleben und
practisch zu machen, wird zum cultu externo gerechnet. Eine gewiße
Sache kann äußerlich keinen Werth haben, aber oft kann sie doch das
30 innerliche und die Gedanken der Menschen auf Gott richten. Viele
äußere Handlungen befördern die Gesinnungen der Menschen. Sie sind
Mittel dieselbe zu unterstützen. Es giebt auch gewiße Worte, die die
Gedanlcen zu beßern leiten als die andern. Es ist also nicht alles
äußerliche in Ansehung des Innern gleichgültig. Es giebt auch gcAviße
35 Mittel, um die Rehgion äußerlich auszubreiten und sie andern mitzu-
theilen. Von der Art ist die Feyerung der Sonn und Fest Tagen, das
Singen in der Kirche. Alle / äußern Handlungen der Religion können iss
186 Vorlesungen über Moralphilosophie
niemahlen einen innern Werth haben, sondern sie werden als Mittel
angesehen, das innere der Religion zu stärken und zu beleben. Alles
dieses äußerliche nennt man opus operatum, verdienstliches Werk.
Opus operatum ist, wenn man das als eine unmittelbare Art des
Gottes-Dienstes ansiehet, was nur den Werth eines Mittels hat : 5
In Ansehung Gottes können wir keine Handlungen ausüben, sondern
nur Gesinnungen. Das äußere der Religion können wir auch an
Zeichen sehen, von was für Religion jemand ist. Doch ist ein äußeres
Zeichen niemahls gewiß in Ansehung der Gesinnungen, die der Mensch
hat, weil sie Zeichen von dem seyn können, was er nicht hat. Wir kön- :o
nen also niemahlen anderer Religion aus der Celebration gewißer Ge-
bräuche erkennen.
Um das mannigfaltige des äußern der Religion kann also kein
Mensch verkezzert werden. Wir können deswegen nur den einen
Kezzer nennen, der einen Grundsazz hat, der den moralischen Gesin- 15
nungen wiederstreitet. Cultus externus kann also nicht einen Unter-
15» schied machen in den Religionen, nur in den / formalitaeten derselben,
denn es kann nur eine wahre und nicht viele Religionen geben. — Das
opus operatum kann eine Art von irreligion seyn bey allem cultu
externo. Wenn eine Handlung die ein Mittel der Religion ist, als ein 20
wesentliches Stück der Religion angenommen wird, wenn die Mittel
für die Zwekke angenommen werden, wodurch wir Gott unmittelbar
gefallen könnten, das sind opera operata.
Es giebt Menschen die sich ihrer devotion schämen, andere die mit
ihren devoten Gesinnungen prahlen, und das ist die ostentatio pietatis. 25
Wenn es hier auf die Wahl ankäme, so sollte man diejenigen wählen,
welche religieuse sind und es verheelen, denn die befürchten, man
möchte sie für Heuchler halten. Diese Art von Blödigkeit und Scham-
haftigkeit, Merkmahle in Ansehung der religieusen Gesinnungen
blikken zu laßen, als im Zustande der devotion angetroffen zu seyn, 3o
ist das Betragen eines Menschen, der Aufrichtigkeit und Bescheiden-
heit bey sich führet, dagegen die ostentatio pietatis, die Bestrebung,
160 seine Reli/gion den Leuten in die Augen fallen zu laßen, ist verbunden
mit einem Gemüth das leer von Religion ist.
Je bescheidener der Mensch ist, je mehr er wahre delicateße der 35
Religion besizt, desto weniger ist er die Ursache eines falschen Gebets.
Denn Gott ist ein bloßer Gegenstand der Gedanken. Eine Sprache in
Ansehung Gottes ist zwar nicht möglich, die Menschen haben sie
zwar sehr nöthig als Zeichen ihrer Gedanlvcn. Aber wir haben keine
Praktische Philosophie Powalski 187
Zeichen der Gedanken in Ansehung Gottes, folglich ist der Buchstabe
in Ansehung Gottes ganz überflüßig, und nur der Geist nicht. Ein
Mensch kann aber auch nicht zu sich selbst reden, weil er sonst für
einen Schwärmer gehalten würde, denn ostentatio pietatis ist eine
5 Art von Eitelkeit, wo der Mensch glaubt, sich Ansehen bey andern zu
machen, denn es giebt Fälle, wo die Heiligkeit und Frömmigkeit
ein großes Glück in der Welt erworben haben. Es giebt auch Leute
welche mit Ausdrükken die Verachtungswürdig sind von der Religion
reden, und verfallen in eine Ruchlosigkeit, indem sie bigotterie ver-
10 meiden wollen. Orthodox heißt das was alles Rechte der Lehre in sich
faßt, und dies würde die wahre Kirchen Lehre der Religion seyn. / Es lei
bedeutet die große Lehre der großen Kirche, die Menge, welche die
Mehrheit der Stimmen ist. Der Orthodoxe im Bürgerlichen Verstände
ist der, der aus angenommenen Lehren eine Bürgerliche Regel macht,
15 und verlangt ihr öffentlich beyzustehen; die allgemein recipirte und
von der großen Menge accomodirte Lehre ist eine Regel der Nach-
ahmung. In der Landes Religion steckt immer ein Geboth, daß Jeder-
mann derselben gleich sein soll. Dies ist nicht ein Geboth des Gewißens,
sondern nur Bürgerliche Verfaßung. Der Orthodoxe in sensu stricto ist
20 der, der einen Zwang auf die Gewißen legen will, dieser Orthodoxe
macht Kezzer, indem er sagt, daß es alle diejenigen seyn, die extra
ecclesiam universalem leben und extra ecclesiam nulla salus est.
Die Heterodoxie ist nicht immer eine haeresis, denn sie darf nicht
allemahl auf die moral gehen, dadurch wird der Mensch nicht ein
25 böser Mensch, denn wenn er nichtswürdig ist, so ist er doch nicht ein
haereticus. Nichts verdammter kann seyn als Bosheit, verdammt aber
kann nur der werden, der böse Grundsäzze annimmt. — Die ostentatio
der Religion ist eine Eitelkeit, die Jedermann in die Augen fällt, die blin-
de Nachahmung aber, da man nicht gerne in der Religion unterschieden
30 und Separatist ge/nennet werden will. — Es giebt Scandala data et I6S
Scandala accepta. Scandalum datum ist eine Handlung, die als ein
äußerlicher Bewegungs Grund zur Nachahmung dienet, und Scanda-
lum acceptum ist die Handlung, die besonders angenommen zum
bösen Gebrauch kann gemacht werden.
35 Von den Pflichten gegen sich selbst.
Es ist merkwürdig daß in keinem punct der Moral mehr Un Vollstän-
digkeit herrscht, als in den Pflichten gegen sich selbst, und besonders
in der Idee was die Pflicht gegen sich selbst bedeutet. Man kann vieles
188 Vorlesungen über Moralpliilosophie
werden, aber ohne eine bestimmte Idee, und so redeten viele Philo-
sophen von den Pflichten gegen sich selbst, ohne die wahre Idee davon
zu haben. Eben so kann man die Regel des Rechts vieKältig erkennen,
gleichwohl kann doch die Idee des Rechts fehlen. Wenn aber die
bestimmte Rechts-Idee fehlet, so fehlen auch die Unterscheidungs- 5
Zeichen der Gesezze, der klugen Handlungen gegen sich selbst. Die
sittliche Selbstliebe verläuft weit, und geschiehet aus selbstsüchtigen
Absichten, so daß die Pflicht gegen sich selbst nichts anders zu seyn
scheinet, als die Sorge der VoUl^ommenmachung seiner Selbst, die
1C3 Sorgfalt, / seine eigene Absichten zu erreichen und seine Wohlfahrt zu lo
befördern.
Die Philosophen hielten diese Lehre von den Pflichten gegen uns
selbst für eine der wichtigsten. Sie haben davon nicht nur mit einer
großen Weitläuftigkeit, sondern auch mit einem großen äff ect geredet,
dieweil die Pflichten gegen sich selbst eine gewiße Art von Zweydeutig- 15
keit haben, da sie scheinen 1. ein Verhältnißzu seyn wozu die
Bewegungs Gründe in uns liegen, 2. eine Lehre der Klugheit, seine
eigene wahre Glückseeligkeit zu befördern. Nun ist die Moral die
Bedingung unter der wir unserer Glückseeligkeit theilhaftig werden
können. Also ist die Moral nicht eine Lehre die uns zeiget wie A\ir 20
beschaffen seyn sollen, sondern die Lehre der Klugheit, die uns zeiget,
wie wir unserer Glückseeligkeit würdig werden können. Die Pflichten
gegen sich Selbst sind größer als alle andere Pflichten.
Alle Pflichten gegen sich selbst beruhen in der Uebereinstimmung
der Handlungen mit der Würde des Menschen, seine eigene Person zu 25
schäzzen, oder in seiner eigenen Person die Menschheit nicht zu ent-
ehren. Die Würde des Menschen kann groß seyn, wenn auch sein Zu-
stand bejammernswürdig ist. Seine Würde bestehet wenn ein Mensch
seinem Unglück mit unerschrockenem Muth entgegen gehet: AUe
164 Pflichten beruhen nicht / in unserm Verhalten, sondern in der eigenen 30
Würde des Menschen.
Wir haben verschiedene Fälle, wo die Menschen in ihren Pflichten
gegen sich selbst fehlen.
1. der filzige Geiz, der nicht für sich selbst lebet, der auch das
entbehren könnte, was er vor seinen Mangel hält. 35
2. die Feigheit im Unglück
3. die Wegwerfung der Freyheit. Wenn jemand aus Feigheit
oder aus Habsucht eine Gemächlichkeit zu genießen seine Freyheit
wegwirft. Dieser wirft alle Freyheit weg, er entehret die Würde der
Praktische Philosophie Powalski 189
Menschheit in seiner eigenen Person, und wird ein Instrument des
Willens eines andern. — Es ist weit gefehlet, daß die Pf höhten auf
einem Vortheil beruhen sollten, als daß vielmehr viele Vortheile auf-
gehoben werden müßen, wenn es die Pflichten gegen sich selbst er-
5 fordern.
4. Die äußerliche Sorge für das Leben. Das Leben ist
moralisch verlohren, wenn ich es durch die Mittel erhalte, welche nicht
Averth der Würde der Menschheit sind.
5. das Lügen. Die Namen der Laster die unser Mißfallen an den-
10 selben ausdrükken, sind nach der Verschiedenheit der Laster auch
verschieden, die Namen die das Verbrechen gegen uns ausdrükken,
erwekken einen Ekel und Verachtung, dahingegen diese welche ein
Verbrechen gegen andere ausdrükken einen Haß / erwecken. Ueber- 165
haupt trifft Verachtung den der sich selbst entehret, Haß aber den der
15 andern schadet.
6. die versoffenen Leidenschaften machen den Menschen
zum Gegenstand der Verachtung. Das Trinken schadet zwar nicht so
viel als das viele Eßen, es ist doch aber ein niederträchtiges Laster,
der Mensch entehrt sich selbst, er wird dadurch ganz verächtlich. Die
20 Pflichten gegen sich selbst haben eine sehr große Ausdehnung. Die
moralische Regeln sind alle praecepta die andern sind nur consiha.
7. Ein Mensch, der unbesonnener Weise schulden macht, und nicht
bedenkt wie er sie bezahlen kann, entehret sich selbst. Denn ein
solcher Mensch muß sich dem despotischen Willen desjenigen, dem er
25 schuldig ist, unterwerfen.
8. In der Noth von andern Wohlthaten anzunehmen ist auch der
Pflicht gegen sich selbst entgegen. Obgleich es nicht eine sehr große
Verlezzung der moral ist, so ist es doch niederträchtig. Ein Mensch
muß lieber in Kummer leben, als so niederträchtig seyn. Die Pflichten
30 gegen uns selbst müßen nicht mit den Regeln der Klugheit verwech-
selt werden, die auf unsern Vortheil gehen, denn sie sind Regeln der
Sittlichkeit, die wir gegen uns selbst auch mit dem größten Verlust
zu leisten schuldig sind. Alle Menschen haben gegen sich / selbst eine lec
Liebe des Wohlwollens, welche die eigenhebe heißt in sensu speciali.
35 Alles was aus der Neigung des Wohlwollens gegen sich selbst ent-
springt, heißt Selbstsüchtig. Süchtig wird entweder überhaupt das
genannt, was schon zum affect geworden, welches den Menschen so
plötzlich fortreißt, daß es ihm nicht Zeit läßt, seinen ganzen Zustand
zu erwägen. Selbstsüchtig nennt man einen Menschen der entweder
190 Vorlesungen über Moralphilosophie
ehrgeizig oder eigenliebig ist. Die moralische Gesezze sind nicht selbst-
süchtig, indem sie nicht die Befriedigung unserer Neigungen, Begier-
den zur Absicht haben, sondern ganz categorisch gebieten. Das prin-
cipium der Pflichten gegen uns selbst bestehet in der Uebereinstim-
mung unserer Handlungen mit der Würde der Menschheit. 5
Wir können die Regeln unseres Wohlverhaltens auf zweyerley Weise
bestimmen 1. a priori durch die Vernunft 2. a posteriori durch die
Neigung. A priori sind die Regeln moralisch, a posteriori aber pragma-
tisch, die moralischen Regeln die die Pflichten gegen uns betreffen,
müßen a priori bestimmt seyn, id est sie müßen unabhängig von den lo
Neigungen bestimmt seyn. Pragmatisch sind die Regeln, die sich nur
161 a posteriori bestimmen laßen, das heißt die Bedin/gung ist aus unsern
Sinnen hergenommen, wodurch die Pflicht gültig wird. Gültig wird sie
hier, wenn sie mit unsern Neigungen zusammenstimmt, sie sind also
auch empirisch bedingt. Wenn diese Bedingung a priori bestimmet ist, i5
denn ist sie moralisch, wenn sie aber von einer empirischen Bestim-
mung abhängt, denn ist sie pragmatisch. Alle Noth wendigkeit unserer
Handlungen muß a priori moralisch, das heißt unabhängig von allen
Neigungen und Begierden bestimmt seyn. Da die moralischen Regeln
a priori bestimmt werden müßen, so sehe ich daraus ein, daß sie sich 20
auf die ursprünglichen Regeln unserer selbst, id est auf die Regeln der
Menschheit beziehen, und daß die Bestimmung der Handlungen dem
wesentlichen Zwekke der Menschlichen Natur gemäß sey. Die wesent-
liche Zv/ekke der Menschheit sind die Gründe der Möglichlceit der
Menschheit selbst. Was den wesentlichen Zwekken der Menschheit 25
wiederspricht, das ist auch den Pflichten gegen uns selbst entgegen.
So ist es der Pflicht der Menschheit entgegen, sich seine Freyheit selbst
zu nehmen, oder sie wegzuwerfen. Da der Mensch nicht ein Geschöpf
ist , das pathologisch neceßitiret werden kann, sondern das seinen frey-
en Willen hat, so ist es auch der finis der Natur, daß er sich in keinen so
168 Zustand begeben soll, worinn die Willkühr / anderer über ihn dispo-
niren soll, kurz er soll nicht seine Freyheit aufgeben. Auf keinerley
Weise müßen wir das, was zu unserem Zustande und Glückseeligkeit
gehört, für eine Pflicht gegen uns selbst halten. Denn die moral führet
uns nicht zur Glückseeligkeit selbst, sondern sie ist die Regel die uns 35
zeigt, wie wir der Glückseeligkeit würdig werden können. Zwar nach
den Regeln der Klugheit bin ich zur Beförderung meiner Glückseelig-
keit verbunden aber nicht nach moralischen. Der Mensch handelt den
Pflichten gegen sich selbst nicht entgegen, wenn er den Armen mit
Praktische Philosophie Powalski 191
Freuden das seinige aufopfert. Der Werth des Zustandcs ist von dem
Werth der Person sehr weit unterschieden. Man bemerkt oft, daß
Menschen, die einen großen Persönlichen Werth haben, sehr wenig das
Leben achten. Dahingegen diejenige, deren Werth sehr geringe ist,
5 ihr Leben sehr hoch schäzen. Die Pfhchten sind die Regeln der Ueber-
einstimmung der Handlungen mit den ursprünglichen Zweklien der
Natur. Der Mensch schändet sich selbst, wenn er diesen ursprünglichen
Zwekken entgegen handelt. Ursprüngliche Zwekke sind die, welche die
Bedingung waren, wodurch die Menschliche Natur allein möglich war.
10 Die Zwekke die in der Idee liegen, sind die Ursprüng/lichen Zwekke. i69
Der Mißbrauch den der Mensch wieder die Ursprünglichen Zweklve
seiner Natur macht, ist die Schändung seiner eigenen Person. — Die
Aufmunterung im Gebrauch seiner eigenen Natur, gemäß den ur-
sprünglichen Zwekken, ist die Tugendhafte Gesinnung gegen uns
15 selbst. Die crimina carnis, wo der Mensch seine Natur mißbraucht, und
also wieder die erschwinglichen Zwekke handelt, sind die Schändung
seiner selbst. Wer sich preis giebt dem unbedingten Willen anderer,
der schändet auch die Würde der Menschheit in seiner eigenen Person.
Das Leben ist moralisch verlohren, wenn es nur durch Mittel die den
20 ursprünglichen Zweldvcn der Natur zuwieder seyn, erhalten wird. —
Aller Werth der Moral bestehet darinn, daß ihre Handlungen a priori
bestimmt seyn. Eben so müßen auch die Pflichten gegen sich selbst,
sich auch a priori bestimmen laßen. Die Moral giebt Regeln, die unab-
hängig sind von allem dem was empirisch ist (mein Glück bestehet
25 darinn, wenn ich nach meiner Meynung leben kann, und nicht nach
anderer). Der wahre erste Grund der ursprünglichen Zweld^e, wodurch
mein Daseyn bestimmt wurde, ist a priori. Hierdurch kann ich mein
Verhalten determiniren.
/Die Erhaltung seines Lebens ist nicht eine unbedingte, sondern iro
30 eine mittelbare und bedingte Pflicht. Wenn ich der Mittel unwürdig
bin, die mein Leben erhalten können, so hört die Pflicht auf, mein
Leben zu erhalten. Coram foro externo kann die Erhaltung des Lebens
nicht der Grund seyn von der Imputation eines Verbrechens gegen
seine Mitmenschen, denn ich kann keinen Menschen zAvingen mit
35 Recht, auf sein eigenes Leben Verzicht zu thun, um eines andern
Leben zu erhalten. Der Begriff der ganzen Pflicht gegen sich selbst
beruhet fürnehmlich auf dieser Haupt Idee. Der Mensch ist nicht
befugt über sich selbst zu disponiren. Das Eigenthum ist die Befugniß,
die eine Person hat über ihre Sache oder Substanz zu disponiren. Das
192 Vorlesungen über Moralphilosophie
Dominium bedeutet die Sachen, sofern sie unter dem Willen eines
andern stehen. Disponiren heißt eigentlich alles nach belieben be-
schließen, ohne daß der Wille eingeschränkt wird.
Ein Mensch hat den usum und fructum über sich selbst, aber sein
Recht in Ansehung seiner ist restringirt, unter der Bedingung, daß 5
seine Handlungen dem wesentlichen Zwekke gemäß seyn. Er ist also
iTi nur der Verwalter der Menschheit in seiner Person, und / nicht sein
Eigenthümer. Jemand kann Rechte haben, die gleichwohl keine
Dominia sind. In sensu iuridico hat der Mensch ein eigenthümliches
Recht über sich selbst, ausgenommen beym Selbstmorde, wobey er lo
einen cruden Grund hat. In sensu ethico ist es aber wiedersprüchlich,
daß ein Mensch über sich selbst disponiren könnte, oder daß er sein
Eigenthum seyn könnte. Denn der Mensch ist ja nicht durch sich
selbst, sondern durch den Willen eines andern hervorgebracht, folglich
wird er auch seine Substanz dem Willen, der Ursache, die ihn hervor- is
gebracht, gemäß dirigiren. Ein jedes Eigenthum sezt zum voraus, daß
es muß erworben werden, ein Mensch besizt sich aber nicht originaire,
deswegen weil er da ist. Er kann zwar über seinen Zustand aber nicht
über seine Person disponiren, sonderlich in solchen Sachen die den
wesentlichen Zweldcen der Natur entgegen sind. ZE. Wenn eine Toch- 20
ter wegen der Befreyung ihres Vaters den Wollüsten eines Menschen
sich aufopfert. Der Mensch kann aus seiner Person nicht eine Sache
machen, und sie aus der Ordnung nicht herausbringen, die den Zwek-
ken der Menschheit entgegen ist. Durch die Lüge wird die Tauglichkeit
der Sprache, unsere Gedanlcen miteinander zu communiciren, zer- 25
rüttet. Sie ist oft äußerst schädlich. Mancher Mensch lügt aus
172 Gut/herzigkeit, um einem andern die Zeit zu vertreiben, indeß ist dies
doch niederträchtig und Verachtungswerth. Kein höherer Grund der
Mißbilligung kann seyn als die Verachtung. Durch die Uebertretung
der Pflicht gegen sich selbst wird ein Mensch ein Gegenstand 3o
der Verachtung, der Haß ist nicht so groß als die Verachtung. Da nun
die Pflicht gegen sich selbst die größeste ist, so ist auch eine Ueber-
tretung eine Verachtung, die noch mit Haß verbunden ist. Dasjenige
wird gehaßt, was nur schädlich ist. Wenn ich etwas haße, so verringere
ich lücht den Werth eines Dinges, sondern nur das Verhältniß in 35
welchem es mir schädlich ist, der innere Werth einer Person und einer
Sache wird gar nicht gehaßt, denn nur die Verachtung trifft den
inneren Werth. Die Verachtung ist das nothwendige der Mißbilligung
in Ansehung des inneren Werths der Person, und das ist Nichtswürdig.
Praktische Philosophie Powalski 193
Nichtswürdig zu seyn ist weit schlimmer als Haßenswürdig, denn
hierinn kann er doch noch in einigen Stükken Achtungswürdig seyn,
der Nichtswürdige aber ist in keinem Stükke Achtungswürdig, die
Verachtung ist die äußerste Bestrafung eines Menschen, der noch
sein wenig Ehre hat.
Ich kann handeln von den Pflichten gegen sich selbst / 1. In An- in
seliung der inneren Mittel der Sittlichkeit und 2. In Ansehving deßen
Avas nicht moralisch ist. Es ist eine Haupt Pflicht gegen mich selbst,
daß alles bey mir zum Grunde lieget, was zur Moralitaet gehöret.
10 Eine Haupt Pflicht in Ansehung der Moralitaet ist, daß wir uns
nicht in dem was unsere Sittlichlveit betrifft, auf andere verlaßen,
sondern wir müßen es mit unseren eigenen Augen betrachten. Mora-
lische Säzze können durch den Glauben angenommen werden. In An-
sehung deßen wir verbunden sind, dazu können wir auch unsere
i.T eigene Einsicht haben. Wir sind also nicht verbunden etwas als
Moralisch anzunehmen, bis wir die vim obligatoriam eingesehen haben.
Der Innbegriff der Pflichten ist, daß wir alle Mittel der Sittlichkeit
zum Grunde der Moralischen Vollkommenheiten legen, die Mittel sind
1. Die Selbst Erkenntniß.
20 2. Die Erkenntniß der Moralischen Gesezze und deren Gesezz
Gebers.
3. Die Erkenntniß der Welt, soferne sie vor uns ein object der
Moralitaet ist.
Wir erkennen uns selbst, insofern wir die Menschheit erkennen in
25 abstracto und in concreto, so ferne wir die Beschaffenheit der übrigen
Theile davon betrachten. Wir müßen / hier die wahre Bestimmung des n4
Menschen betrachten. Die Würde und auch die Gebrechlichkeiten sind
die Bedingungen der Sittlichkeit oder die Gründe, unter denen die
Handlungen mit den allgemeinen Gesezzen übereinstimmen. Es giebt
30 objective und subjective Gesezze der Sittlichkeit. Die objective beste-
hen in der Erkenntniß des wahren, guten, und heiligen, welches bey je-
dem. Wesen muß angetroffen werden. Die subjective Bedingung der Sitt-
lichkeit ist der Mensch . Als Mensch betrachtet hat er eine gewi ße Bestini -
mung, auf der Welt, von der andern Seite hat er auch Gebrechlichkeiten
35 und Hinderniße der Beförderung der Sittlichkeit. Die Bestimmung der
Menschlichen Natur ist die, wie er sich dem moralischen Gesezz gemäß
verhalten soll, er muß sich 1. als ein Mensch 2. als ein privat Subject
erkennen. — Alle Pflichten sind von der Art, daß sie sich hauptsäch-
lich auf die Würde der Menschheit gründen. Die Menschheit in meiner
13 Kanfs Schriften XXVII/1
194 Vorlesungen über Moralphilosophie
eigenen Person erkennen, ist die Würde der Welt kennen. Wenn der
Mensch seine eigene Würde nicht kennt, so hat er auch nicht Be-
ns wegungs/Gründe seine Würde zu befördern. — Die Selbst Erkenntniß
kann Physisch und Empirisch seyn und gehöret zur Wißenschaft der
Speculation. Man kann also einen Menschen studiren wie einen Theil 5
der Natur, und zwar muß ich ihn nach dem Charakter studiren. Das
Studium des Menschen ist das Studium des Charakters, dieses Studium
ist sehr unterhaltend, und beynahe das unterhaltendste, wie solches
aus der Anthropologie zu sehen. Das Studium seiner selbst ist aber
beschwerlich und nicht unterhaltend, der Mensch hat einen Unwillen lo
sich selbst zu erkennen, weil er sich oft zerstreuet, und in seinen Augen
gar kein object des Wohlgefallens ist, diese Untersuchung ist aber doch
sehr nöthig. Jezt kommen wir an die Selbstschäzzung. Der Werth des
Menschen muß sehr hoch angeschlagen werden, denn er ist ein Product
der Höchsten Weisheit, und hier auf Erden das Meisterstück der 10
Schöpfung, doch muß die Schäzzung des Werths der Menschen nicht
die Grenzen der Menschheit und Thierheit übersteigen, denn sonsten
ist es eine Enthusiasterey, denn sie haben den Werth ihres Wesens
so hoch angeschlagen, daß er nicht als ein Mensch sondern als ein Gott
176 von / ihnen betrachtet war, der Mensch ist zwar in Ansehung des 20
Zwecks sehr erhaben, aber die Kraft denselben zu erreichen ist bey
ihm sehr schwach. Wenn wir den Charakter der Menschheit überhaupt
in abstracto betrachten, so sehen wir, daß er Ursach hat demüthig zu
seyn. Die Menschheit ist sehr gebrechlich, wenn wir sie in Verhältniß
mit dem Heiligen Gesezz stellen. Die Demuth ist die Selbstschäzzung 25
sofern sie eingeschränkt ist durch das Verhältniß zu dem vollkomme-
nen Gesezz, sie ist also eine Tugend. Wenn wir durch das Verhältniß
zu den moralischen Gesezzen unsere Urtheile über unseren Werth ein-
schränken, so sind wir demüthig. Der Eigendünkel ist die Selbst-
schäzzung die dem Verhältniße zum Gesezze nicht proportionirt ist ; so
von der Art ist auch der Ehrgeiz. Die Demuth und Eigendünkel sind
opposita. Nur das moralische Gesezz und das Verhältniß zu demselben
macht uns demüthig. Die Demuth ist nicht eine Geringschäzzung,
sondern die Einschränkung der Selbstschäzzung. Das privat Urtheil
unserer selbst muß uns auch in unsern Augen nicht geringschäzzig 35
machen. Denn die Demuth besteht nur in der Selbstschäzzung, welche
ur durch die Heiligkeit der Moralischen / Gesezze moderirt und einge-
schränkt wird, die Schäzzung seiner selbst muß nicht verhältniß weise
mit andern Menschen, sondern absolute nur mit der Zusammen Hai-
Praktische Philosophie Powalski 195
tung mit dem moralischen Gesezz geschehen. Die Selbst Schäzzimg im
Verhältniß zu andern Menschen ist eine comparative Schäzzung. Die
comparative Schäzzung rührt her vom Wahn. In der Vergleichung mit
andern Mensehen ist kein bestimmtes Maaß; alle Moralitaet gründet
5 sich nicht auf Beyspiele sondern auf die Idee und auf das Gesezz der
Vernunft. Dies Gesezz muß eine völlige Richtigkeit haben und muß
gar keine Rücksicht auf unsere Schwachheit haben. Ohne ein richtiges
Gesezz haben wir gar kein Maaß uns zu beurtheilen, diejenigen die
sich absolut schäzzen wollen, müßen sehen, daß das Gesezz wonach
10 sie sich schäzzen, auch richtig sey. Wenn das Gesezz nicht praecise
ist, dann ist die Schäzzung unserer ganz corrupt. Diejenigen Moralisten
welche das moralische Gesezz blandiren oder nachsichtlich gemacht,
haben das ganze Fundament der Moralitaet erschöpft.
Darinnen bestehet nicht die moralische Demuth, daß ich mich
15 anderer Stolz unterwerfe, denn das ist weit gefehlet, daß das zu einer / irs
edlen Gemüths Art gehöret, daß man sich andern unterwerfe, dieses
ist eine practische Tugend. Demüthig ist der, der den Werth in Ver-
gleichung gegen das Heilige Gesezz einsieht. 1. von der Demuth 2. von
der Neigung zu vergeben, haben die Alten gar nicht gewußt. Gegen
20 andere Menschen haben wir nur eine proportionirte Selbst Schäzzung,
nur das Verdienst und nicht das Glück betrifft der Saz. Man soll nicht
zu viel nicht zu wenig thun, zeigt ein gewißes Maaß an, innerhalb
welchem die Volllcommenheit bestehen kann, zu viel heißt mehr als
gut ist, zu wenig heißt weniger als gut ist. In Ansehung einiger Hand-
ys lungen die an sich selbst gut sind, kann die bloße Größe sie übel
machen. Hierzu gehört also Enthaltsamkeit von allerley Genüße, wenn
ich diese aber allzu sehr abkürze, so wird sie schädlich. Es giebt aber
auch gute Eigenschaften, derer man niemahls zu viel thun kann, zE.
zu viel ehrlich kann ich nicht seyn, die Ehrlichkeit ist die Congruenz
30 unserer Handlungen mit dem Recht der Mensch/heit. — Die Gütigkeit n»
hat ihr bestimmtes Maaß. Alle Handlungen die an sich selbst gut sind,
bey denen kann weder ein defectus noch ein excessus begangen wer-
den. Einige Handlungen sind nur bedingter Weise, nemlich als ein
Mittel die Gott ergebenen Gesinnungen zu erwekken. Das was eine
35 innere Bonitaet hat, kann nicht übertrieben werden, das aber was eine
relative Bonitaet hat, das kann übertrieben werden. Aristoteles sagte:
Virtus consistit in medio, doch ist dies falsch; denn wenn zwej^ Dinge
der Qualitaet und Quantitaet nach unterschieden seyn, so kann kein
Uebergang von dem einen zum andern geschehen. Das Uebertreiben
196 Vorlesungen über Moralphilosophie
bedeutet nichts anders, als daß die übertriebene Sache immer gut
bleibt, nur daß sich dieser Grad des guten nicht mit einem andern
verträgt. Ueberhaupt alles was absolut gut ist, kann nicht übertrieben
werden. Arroganz bedeutet den Eigendünkel, daß man entweder seine
180 Idee von der Vollkommenheit zu enge macht, oder daß man die / 5
Schäzzung seiner Selbst zu groß macht. Alle objection bedeutet die
Kleinmachung in Ansehung des Zutrauens auf seine Kraft, gegen das
moralische Gesezz. Wir können uns das moralische Gesezz nicht anders
imprimiren, als sofern wir nur einsehen, daß es in unserer Gewalt
gewesen. Es ist nicht gut des Menschen Muth bis zur Zaghaftigkeit zu lo
verringern. Es ist sehr schädlich daß die Gebrechlichkeit des Menschen
deßelben Muth so verringere, daß er zulezt ein paßives Wesen wird.
Er kann nur neue Ergänzung seiner Kräfte erwarten, wenn er sie in
dem Grad gebraucht als es ihm möglich war.
Izt kommen wir an die Pflichten, die die Mittel der Moralitaet sind, i5
und zwar erstlich an die Erwägung des Gewißens. Das Gewißen ist
ein Instinct sich selbst moralisch zu richten. Sich selbst
moralisch zu richten, ist der Unterschied von der Beurtheilung nach
Regeln der Klugheit. Denn die leztere kann der Mensch, wenn er nur
das Vermögen hat, entweder cultiviren oder nicht. Jenes ist aber nicht 20
ein Vermögen, sondern ein Instinct. Durch die Verwilderung der Vor-
181 Stellungen kann dieser / Instinct wohl geschwächt werden, er ist doch
aber natürlich. Einige haben behauptet daß es von der Erziehung her-
komme, doch ist dieses falsch, denn es ist von Natur schon in uns. Die
Beurtheilung unserer selbst geschiehet entweder mit Tadel oder mit 25
Billigung, dieses ist eine Selbst-Beurtheilung der Klugheit, denn die
maximen der Klugheit sind auch Gesezze. — Dieses Urtheil ziehet uns zur
Rechenschaft 1. In Ansehung der Maximen der Klugheit, und 2. In
Ansehung der Grundsäzze der Sittlichkeit. In Ansehung der Maximen
der Klugheit hält man es für eine Ehre sich die reproche vom gethanen so
Uebel aus dem Sinne zu schlagen, beym Gewißen ist es aber anders,
es ist der Selbstquäler, und es gereicht dem Menschen zur Ehre, wenn
er eine Selbst reproche wegen seiner Uebelthaten empfindet. Wenn
man sich hier etwas aus dem Sinne schlägt, so ist dies eine abscheu-
liche Eigenschaft conscientiae. Wenn das Gewißen keinen Vorwurf 35
macht, so nennt man das die Verstokkung. Es ist also zwischen dem
Zurechnen der Klugheit und des Gewißens ein großer Unterschied.
Wenn die Ursache des Uebels immer ist, denn kann kein äußeres Glück
etwas helfen. Das Mißfallen an seiner eigenen Person ist das schmerz-
Praktische Philosophie Powalski 197
hafteste unter allen, und hier mißfällt dem / Menschen seine eigene I8«
Person. In Ansehung der Klugheit ist dies der Tadel der Unordnung,
in Ansehung des Gewißens ist es der Tadel der Verdammung. Es giebt
eine affectation des Gewißens, das ihn beurthcilt und verurtheilt. Das
öiudicium wird von der diiudication unterschieden. Das Beurtheilen ist
eine Handlung des Verstandes, über gewiße Handlungen, sofern sie
dem Gewißen gemäß sind. Das richten aber ist ein Urtheil, das zugleich
ein Judicium validum ist. Es ist die subsumtio valida. Man richtet,
wenn man die Wirkvingen, die mit den Handlungen verbunden sind,
10 zugleich vorbringt. Alle haben nicht das Recht valide zu richten,
sondern nur der iudex competens, der auch gleich davor strafen kann.
Unser Gewißen ist nicht ein Vermögen uns zu beurtheilen, sondern der
Instinct uns zu richten. Der Executor der moralischen Gesezze ist
entweder die Belohnung oder Bestrafung. Mit der Belohnung ist zu-
15 gleich die Ruhe der Seele, mit der Bestrafung sind die Biße des
Ge^Wßens verbunden. Das Gewißen / hat also legem moralem, interne I83
vim executoriam. Die vis executoria ist entweder die Selbst Qual oder
nicht, die Biße des Gewißens sind nicht bloß der Tadel sondern sie sind
die Tortur des Gewißens. Das Gewißen kann man mit dem foro ver-
20 gleichen, weil es pünktlich damit übereinkommt. Das Gewißen scheint
auch die Ursach zu seyn, warum der Mensch einen Gott glaubt. Denn
wenn sich der Mensch nur einen Richterstuhl in sich vorstellt, so stellt
er sich auch zugleich vor, daß ein unmittelbares Wesen darauf sizze,
und das ist schon der Begriff der Gottheit. Der Mensch findet in sich
25 einen Richter, der ihn vors Gericht citiret, er mag wollen oder nicht,
bey welchem keine raison noch Entschuldigung statt findet. Mein
Gewißen ist 1. ein Richter 2. ein Anldäger und 3. ein Advocat. Der
Ankläger ist der erste. Hey dem der Ankläger immer bereit ist,
bey dem ist das Gewißen wenigstens ein zartes und wachsames
30 Gewißen. Der Richter spricht aber nicht zu dem Ankläger. Nun kommt
der Advocat der so treu als möglich denkt, dieser sucht allenthalben
WinkelZüge, und auch Aufschub um der Sache auszuweichen. Der / 184
Richter aber, der dies alles sozusagen reponiret, der ist eine Ruchlosig-
keit bey den Menschen. Wir müßen also diese unsere innere Obrigkeit
35 1. in ihren Antrieben 2. in ihrer Wachsamkeit erhalten, und 3. müßen
wir uns auch nicht durch Sophisterey vertheidigen. — Alle Fehler des
Gewißens sind aut moralisch aut logisch. Sie stecken entweder in der
Sittlichkeit oder im Verstände, die unmoralischen Fehler können
nicht imputiret werden. Dahingegen werden die moralischen in summo
198 Vorlesungen über Moralphilosophie
gradu imputiret, denn wenn diese Fehler den Mensehen verderben, so ist
auch die Beßerung bey ihm unmögheh. Das irrende Gewißen ist nicht
ein Fehler des Gewißens, sondern des Verstandes, oder der Mensch, der
da glaubet, daß etwas sein Recht stöhre, der kann wohl irren, er hat
aber keine Gewißens Biße davon. Der Irrthum des Gewißens kommt 5
sehr selten vom Verstände allein, sondern auch von dem Gewißen, von
ihren bösen maximen und von der verderbten Sittlichkeit. Viele Men-
schen laßen sich von Irrthümern einnehmen, nicht aus Blendung des
185 Verstandes, sondern bloß aus einer inneren Neigung /zu Irrthümern.
Unser Autor unterscheidet das naturale und acquirirte Gewißen. lo
Alles Gewißen ist natürlich, aber man kann sich gewiße Dinge zu
Grundsäzzen machen die nicht natürlich sind. Das ganze Gewißen ist
nichts acquirirtes, sondern ein natürliches. Wenn das Gewißen nichts
natürliches wäre, so würden wir wenn wir unter wilde Leute kämen,
nicht sehen können ob sie gut oder böse seyn (handeln). Das Gewißen 15
ist natürlich, aber die Aufmerksamkeit auf die Urtheile deßelben muß
man sich erwerben. Das Gewißen kann antecedens und consequens
seyn. Der Mensch kann gewißenhaft genannt werden, den das Gewißen
hinterher plagt commißo scelere, und wenn er es hat wollen thun,
so hat es ihn davon abgehalten. Bey diesem Menschen ist also das 20
antecedente und commitante Gewißen schwach ; aber das consequente
stark. Wir können aber auch ein schlechtes antecedentes Gewißen
haben, aber ein starkes concomitantes, wenn man nemlich ad rem
kommt, so wacht das Gewißen auf. Der Mangel antecedentis Conscien-
186 tiae kann einen gewißenlosen Menschen nicht machen, / der Mangel 25
aber concomitantis macht gewißenlos. Indeßen hat doch der, der
kein comitantes Gewißen hat, ein consequentes. Die Vorwürfe des
Gewißens sind entweder pragmatisch nach Regeln der Klugheit, oder
moralisch secundum regulas moralitatis. Conscientia est vel laxa vel
angusta. Laxa ist es, wenn es sozusagen alles durchpassiren läßt, ohne es 30
zu critisiren. Wenn das Gesezz nachsichtlich ist, und der Mensch eine
moralische Schwäche hat, denn ist es conscientia laxa. Wenn aber das
Gesezz in exceßu fehlet, wenn es unter das unerlaubte auch das er-
laubte einschließet, denn ists conscientia angusta. Ein sehr weitläuf-
tiges Gewißen ist so viel als gar kein Gewißen, und ist eine Gewißen- 35
losigkeit, eine Sophisterey. —
Die Aengstlichkeit des Gewißens macht daß wir uns fürchten, dem
Gewißen etwas zuzustehen ob wir gleich nicht einmahl wißen, ob es
Praktische Philosophie Powalski 190
wieder daßelbe ist. Die Gewißeiisbiße sind zweyerley. Die Verurthei-
lung und die Reehtfertigung. Die Rechtfertigung ist, wo mein Gewißen
von der Schuld frey gesprochen wird. Die Verdammung hingegen / ist
ist die Imputation der Schuld. Hierauf folget auch die execution und
.5 das ist die Gewißensquaal. Die Lossprechung von aller Schuld ist ein
Beyfall des Gewißens, den wir die Zufriedenheit nennen, welche den
Zuspruch der Belohnung bey sich führet, und dies ist das tröstende
Gewißen.
Casus conscientiae. Das Gewißen ist ein forum internum, daher
10 nennet man in iure einen solchen casum punctum iuris. Hier ist eine
Quaestion ob das Gewißen einer Scharfsinnigkeit bedarf, die über die
Kenntniß der gewöhnlichen Rechte hinausgehet, um auszumachen was
Recht oder Unrecht sey, und dergleichen Fälle werden coram foro
interno Casus conscientiae genannt. Die Casus conscientiae morales
15 sind sehr gut das Gewißen zu überzeugen und zu vermehren. Es liegt
uns sehr viel daran diese casus conscientiae durchzustudiren, damit
wir data occasione wißen was zu thun sey. Das Urtheil des Gewißens
ist entweder probable oder sicher. Unser Gewißen kann sicher oder
dialectisch seyn, wenn wir nach Wahrscheinlichkeit urtheilen. Ich
20 handele nach / Wahrscheinlichkeit, wenn ich gewiß bin daß es erlaubt ihs
ist, aber ungewiß ob ichs zu thun verbunden bin. Was bloß wahr-
scheinlich ist, wovon die Befugniß nicht gewiß ist, das ist auch nicht
erlaubt zu thun. Nach einem probablen Gesezze kann man nicht ver-
fahren.
25 Nach unserer Verbindlichkeit zu handeln ist nur eine Wahrschein-
lichkeit von nöten. Die Gewißenlosigkeit bestehet auch darinn, wenn
man etwas der Wahrscheinlichkeit nach annimmt. Der allerheftigste
Fall ist der, wenn man der Moralitaet entgegen zu handeln scheinet
(wagt). Gesezzt ich wollte eine Handlung unterlaßen, davon ich nur
30 einen wahrscheinlichen Grund habe: denn wage ich der Pflicht ent-
gegen zu handeln, die bloß wahrscheinlich ist, also schon zur Verbind-
lichlieit hinreichend. Wenn das gute eine bloße Wahrscheinlichkeit
ist, denn ist es hinreichend uns abzuhalten.
Man unterscheidet ferner das micrologische und exacte Gewißen.
35 Micrologisch / ist das Gewißen, wenn es in Ansehung deßen, was nicht I89
moralisch ist, pünctlich ist.
Denn eine moralische Kleinigkeit giebt es nicht, nur ein analogon
davon. Indeßen giebt es dergleichen in Ansehung deßen, was die
Menschen zu ihrer Religion als Sazzungen hinzu sezzen, das als Mittel
200 Vorlesungen über Moralphilosophie
zur Andacht und Gottesfurcht dienet. Von dieser Art sind die Obser-
vanzen, welches Befolgungen der Statuten sind. Die Befolgung des
Gesezzes ist aber die Tugend. — Was aber nicht zur Moralitaet
gehöret, das gehöret auch nicht als ein Stück zur ReHgion. Wohl aber
als ein Mittel. Wenn der Mensch dieses unterläßt, so macht er sich 5
Vorwürfe die pragmatisch seyn, einen Vorwurf des Gewißens aber
kann er sich nicht machen. Die Observanzen sind zufällig und will-
kührlich. Scrupulositas conscientiae ist eine Art von Micrologie da der
190 Mensch immer Neigung hat sich Vorwürfe zu machen, sie herrscht
besonders in der Religion. lo
Latitudinarius ist, der keine exactitudi/nem pietatis atque moralis
erfordert, und dies ist der Latitudinarius in Ansehung der Religion,
in Ansehung der Moral aber ist Latitudinarius der, der die Pforten
zum Himmel so weit macht, daß er auch die unmoralischen Hand-
lungen durchläßt. Das zarte Gewißen ist das, welches auf keine Weise i5
Handlungen, welche eine Uebertretung der Sittlichkeit zu seyn schei-
nen, durchläßt, ohne daß er sie dem Richter übergiebet. Die Eigen-
liebe ist der exceßus in der Selbstschäzzung. Die Selbstschäzzung und
Eigenliebe sind von einander unterschieden. Die Selbstschäzzung ist
das Urtheil über seinen eigenen Werth. Die Eigenliebe ist die Liebe des 20
Wohlwollens gegen sich selbst. Die Selbstschäzzung besteht in dem
Urtheil wie viel man in seinen eigenen Augen werth ist. Man muß sich
nach seinem eigenen Maaß vergleichen, und nicht nach andern
Menschen ; denn dies ist eine comparative Schäzzung und die hat nicht
ein sicheres Maaß. Die Liebe des Wohlgefallens und die Selbstschäz- 25
191 zung / schäzt nicht alle Menschen zu ihrem Vortheil. Die Eigenliebe
trifft nicht das Wohlgefallen sondern das Wohlwollen; sie geht auf
den Wunsch, den man thut in Ansehung seiner Glückseeligkeit. Die
Liebe zu der Höchsten GlückseeHgkeit und also die Liebe zu sich
selbst ist ganz richtig. Sich selbst aber lieben mit AusschHeßung 30
anderer macht die Selbstliebe fehlerhaft, weil ich alsdenn gleichgültig
in Ansehung der Glückseeligkeit anderer bin. Man nennt den Eigen-
dünkel den Egoismum und die Eigenliebe den Solipsismum moralem.
Die Selbstschäzzung über sein Verhältniß zu den moralischen Ge-
sezzen ist der Egoismus moralis. Unter dem Worte Philautie verstehe 35
ich nicht die Eigenliebe auch mit Ausschließung anderer, sondern den
Eigendünkel, wenn man einschmeichelnd ist und zugleich andern
wohlgefällt. Die Philautie unterscheidet sich von der Eigenliebe nur
darinn, daß sie das Wohlgefallen an sich selbst, dahingegen das eigen-
Praktische Philosophie Powalski 201
liebige, andern zu gefallen. Diejenigen die die Pliilautie haben, die
schmeicheln sich allenthalben ein und werden wohlgefälhg. Die aus-
schließende Selbstliebe ist die Eigenliebe. / Sie hat zwey Stücke i»8
1.) Ehre und 2.) Nuzzen. Das erste ist die Eitelkeit und das lezte der
5 Eigennuz.
Die moralische Vernachläßigung. Der Mensch der sich selbst
vernachlcäßiget, der hat keine böse Absicht, sondern wenn er einmahl
gut ist, so denkt er, er wird es immer bleiben.
Die Herrschaft über sich selbst. Sie ist die Bedingung unter
10 der wir alle Pflichten erfüllen können. Sie ist entweder practisch oder
moralisch. Im practischen Verstände heißt sie das Vermögen, seinen
Zustand des Verstandes seiner freyen Willkühr zu unterwerfen. Die
moralische Herrschaft ist das Vermögen, alle Bewegungen seines
Willens der vernünftigen Willkühr zu unterwerfen. Die vernünftige
15 Willkühr ist die Willkühr nach moralischen Gesezzen. Die Herrschaft
über sich selbst beruhet darauf, daß wir uns unter die Obermacht der
freyen Willliühr sezzen. Das Vermögen aber über die gesammte Sitt-
lichkeit Meister zu seyn ist die Herrschaft über sich selbst. Der größte
grad der Beförderung der Sittlichkeit bestehet in der Herrschaft über / 193
20 sich selbst. Diese Herrschaft über sich selbst bestehet darinn, daß der
Mensch die Versuche etwas zu seinem Vortheil zu thun und also den
Eigennuz überwindet. Wenn wir dieses aus dem principio moralitatis
der Herrschaft erwägen wollen : so muß dieses eine Unterwerfung unter
die Regel seyn. Nach Regeln der Moral über sich zu gebieten, ist die
25 Oberherrschaft über sich selbst. Die Vernunft ist die administration
unserer Neigungen.
Die Vollkommenheit des Menschen aber besteht darinn, daß die
Vernunft nicht nur die administration sondern das Imperium über die
Neigungen habe. Unser Verstand und Vernunft haben außer dem Ver-
30 mögen der Speculation noch eine Erkenntniß, welche die energie ist.
Sie bestehet darinn daß sie eine Kraft hat, die Willkühr zu bewegen
id est sie hat die Triebfedern zu lenken. ZE. Wir können zwar ein Ver-
gnügen an der Tugend haben, wir haben aber keinen Trieb dazu,
sie hat also in Ansehung unserer keinen Reiz. — Verstand und Ver-
35nunft können beyde zugleich die Kraft der Triebfeder haben, sie
können die Herrschaft über das / Menschliche Gemüth ausüben. Der I94
Verstand muß also auch eine potestatem executoriam haben, nicht
bloß eine potestatem legislatoriam. Diese Kraft entspringt aus fremden
Triebfedern die nicht in der Sinnlichkeit liegen. Je reiner die Tugend
202 Vorlesungen über Moralphilosophie
der Sinnlichkeit vorgestellt wird, je mehr sie von andern Triebfedern
separirt wird, desto reiner stellen wir sie uns auch vor.
Von den Pflichten gegen die Seele und verschiedenen
Kräften des menschlichen Gemüths.
Die ganze Pflicht gegen meine Seele ist diejenige die mir befiehlt 5
sie nicht zu verwahrlosen, oder sie befiehlt die Beobachtung des
Zustandes einer gesunden Seele. Wache über deine Vernunft und
Verstand, daß er nicht wider die Sittlichkeit handle, wache über dein
Begehrungs Vermögen, über den Instinct und über die Leidenschaft.
Bemühe dich, daß alle deine Gemüths Kräfte so beschaffen seyn, daß lo
sie der Moral proportionirt seyn, am meisten aber, daß sie ihr nicht
195 zuwieder sind. Die Gesundheit der Seele / und des Körpers gehört zur
natürlichen Bestimmung, weil diese zu erhalten alle Menschen ver-
bunden sind: Sit mens sana in sano corpore. Das ist alles was hier
gesagt werden soll. Das ist die größte practische Vollkommenheit, is
Pathologisch ist sie, wenn sie in Trieben und mechanisch wenn sie in
Gesezzen der Bewegung bestehet. Das oberste Gesezz ist: Suche alle
deine Gemüths Kräfte, Eigenschaften und Fähigkeiten der Macht der
freyen Willkühr zu unterwerfen. Suche eine hohe Gewalt deiner Will-
kühr zu verschaffen, daß du ihr jeden Zustand unterwerfen kannst. 20
Bemühe dich alle Eigenschaften des Gemüths, alle Antriebe Neigungen
und die Quellen des Gemüths so zu modificiren, daß sie das Vermögen
ins uns excoliren, durch freye Willliühr über die Menschliche Seele zu
disponiren; dies ist die Pflicht gegen unsere Seele. Die Vollkommenheit
bedeutet die Vollständigkeit einer Sache, sie ist aber noch nicht die 25
bonitaet einer Sache. Zu den Vollkommenheiten gehören Talente,
diese machen aber auch noch nicht die bonitaet aus, und hier in der
196 Ethic ist nicht / die Rede von der Vollkommenheit, sondern wie wir
unsere bonitaet vergrößern sollen, nicht wie wir erweiterte Begriffe
bekommen und zu Wißenschaften gelangen sollen, dieses gehört alles 30
zur Vollkommenheit, wo man zu beliebigen Zwekken zu gelangen
sucht und nicht zu der bonitaet. Denn würde alles, was zur Vollkom-
menheit des Menschen gehört, zu der Pflicht gegen sich selbst gehören,
so würde diese keine Grenzen haben. Der gesunde Verstand und Ver-
nunft machen die bonitaet aus. Die Vollkommenheit, die zu der 35
Menschheit überhaupt gehört, gehört auch zu der Pflicht gegen uns
selbst. Eine nothwendige Bedingung des Menschen ist der gesunde
Praktische Philosophie Powalski 203
Verstand, aber nicht, daß er gelehrt sey. Er besteht in der Kenntniß
ratione der PfHcht, die sieh nicht auf fremde Aussprüche gründet,
sondern die ich selbst einsehen kann. Wenn die Gemüths Kräfte ihre
Vorstellungen der freyen Willkühr entziehen, so sind diese Vorstel-
5 hingen der Moralitaet entgegen.
Wohlgefallen und Mißfallen bedeuten nur die Lust und Unlust in
unserm Zustande. Das Wohlgefallen und Mißfallen am Gegenstande
ist die objective Lust. Die subjective Lust ist aber das Wohlbe/finden. 197
Die objective Lust ist das Wohlgefallen im Urtheil. Das Wohlgefallen
10 ist entweder das Wohlgefallen der Beurtheilung oder des Wohl-
befindens. Das lezte kann man ein Gefühl nennen. Hab ich ein objec-
tives Wohlgefallen: so nenne ich es den Geschmack, ein subjectives
aber das Gefühl. Beym Gefühl bin ich nicht gleichgültig. Beym
Urtheil kann ich es aber seyn. Den Geschmack zu cultiviren und das
15 Gefühl zu verringern, ist in Ansehung der Moralitaet gut. Je mehr wir
suchen unabhängig vom Gefühl zu seyn, desto mehr sind wir Meister
unsers Wohlgefallens. Alle Verfeinerungen des Geschmacks dienen
dazu, um das Gemüth selbst dadurch zu verfeinern.
Das Begehrungs- Vermögen
20 Je mehr der Mensch angefeuert werden kann, je mehr seine Gefühle
vom Gegenstande afficiret werden, desto weniger ist er frey. Annehm-
lichkeiten und Unannehmlichkeiten gehören zur Sinnlichkeit. Damit
aber unser Verstand Gewalt habe, so müßen wir alle Kraft der Sinn-
lichkeit und der Triebfeder benehmen. — Alle affecten und Leiden-
25 Schäften sind der Moralitaet entgegen. Alle unsere Gefühle müßen wir
schwächen, daß sie nicht zur Leidenschaft / werden. Das Haupt-Ver- 198
fahren unsers Verstandes besteht darinn, daß wir den Werth eines
Dinges im Verhältniß aufs ganze betrachten. Hier gehet der Verstand
vom allgemeinen aufs besondere. Wir können die Größe der Dinge
30 nicht absolut bestimmen, sondern durchs Verhältniß und zwar zum
ganzen. Es ist also der Vernunft zuwieder:
1 . Den Werth der Annehmlichkeit durch Verhältniße nur zu einem
Gefühl zu schäzzen.
2. Den Werth des Gegenstandes der Begierden durchs Verhältniß
35 zu einer Neigung zu vergleichen, sondern es muß durchs Verhältniß
zu der Summe aller Neigungen geschehen.
Wir mögen in Ansehung des practischen das Gefühl von den Be-
gierden unterscheiden. Die Gefühle und Neigungen sind natürlich,
204 Vorlesungen über Moralphilosophie
und insofern sie natürlich sind, so können wir sie nicht tadeln, sie sind
alsdenn gut. Ein Gefühl kann ein affect, und eine Neigung eine
Leidenschaft werden. Affecten gehören zum Gefühl, und die Leiden-
199 Schäften zu den Neigungen. Der Grad der Empfindung der / Gegen-
stände, der uns unvermögend macht unsern Zustand mit demgesamm- 5
ten Gefühl zu schäzzen, ist ein Affect und der Grad der Neigungen,
welcher uns unvermögend macht, die Gegenstände mit den gesammten
Neigungen zu erwägen, ist eine Leidenschaft. Wenn der Gegenstand
unser Gefühl afficirt, daß wir es nicht mit dem gesammten Gefühl
vergleichen können, dann erregt er in uns einen Affect. Zu den 10
Affecten gehört Furcht, Liebe, Freude etc. : Wir können in Affect
versezzet werden über das was unsere Eitellveit beleidiget, und dies
Gefühl ist ganz natürlich, welches die Kränkung der Eitellveit betrifft.
Hieraus entstehet ein Unwille, und wenn man in den Unmuth geräth,
wo man nicht mehr Meister über sich ist, so ist dieses der Zorn. Der 15
ausgelaßene Affect ist der, der den Grad hat, daß das Gefühl sich
selbst wiederstreitet. Die Ausgelaßenheit findet sich auch bey der
Freude.
Neigungen sind natürlich und ihre Befriedigungen auch. Die Nei-
300 gungen können auch ihre / Grade haben. Der Grad der Neigung der 20
uns unvermögend macht, dieselbe mit der Summe aller Neigungen zu
vergleichen, ist eine Leidenschaft. Hier ist eine Frage : Ob die Affecten
und Leidenschaften mit der Weißheit übereinstimmen ? Die Stoici
sagten, daß Affecten und Leidenschaften gerade der Weißheit entgegen
wären, und daß man sie ausrotten müßte, um weise zu werden (man 25
nennt diese Lehre die Apathie, Befreyung von den Leidenschaften).
Man hält dafür, die Natur habe Affecten und Leidenschaften in uns
gelegt, da sie uns doch nicht Affecten und Leidenschaften, sondern
Gefühl und Neigungen gegeben hat. Daß aber das Gefühl bis zum
Affect steiget, das kommt von der Disposition des Subjects, und daß 30
die Neigung eine Leidenschaft wird, kommt von der blinden Sinnlich-
keit der Menschen, die sich nicht selbst regieren können. Eine zügel-
lose Begierde wird alsdann eine Leidenschaft. Unsere Gefühle er-
fordern das Mittelmaaß, damit wir Meister von uns selbst werden
können. — Das Gefühl des Schmerzes ist natürlich, aber das Maaß, 35
801 wo ein Mensch nicht / mehr ein Meister über sich ist, ist nicht natür-
lich. Die Neigung zu irgend einem guten ist von Natur gegeben, aber
alle diese müßen so zurückgehalten werden, daß die Sinnlichkeit noch
immer die Oberherrschaft des Verstandes empfindet. Neigungen
Praktische Philosophie Powalski 205
bedürffen eine Regierung und Gewalt. Selbst die Freude erfordert eine
Mäßigkeit, denn eine ausgelaßene Freude hinterläßt Schwermuth.
Das Mittelmaaß muß also immer beobachtet werden: In Ansehung
der Gefühle und Leidenschaften ist immer eine Herrschaft und Gewalt
5 nöthig. Eben darinn bestehet die Natur der Leidenschaft, daß
sie die Gewalt hat, vermöge welcher sie die Obergewalt des Verstandes
und der Vernunft überwiegt. Ein Gefühl wird ein affect, wenn etwas
uns unvermögend macht, das Gefühl aus der Vergleichung mit andern
zu schäzzen. Wenn eine Schäzzung so geschiehet, daß sie vom allge-
10 meinen aufs besondere gehet, dies ist eine Schäzzung der Vernunft. —
Wir haben Gefühle die in vielen Stükken bis zu den Affecten gehen,
auch einen solchen Hang zu den Leidenschaften. Die Affecten und
Leidenschaften / hat uns die Natur nicht eingelegt. Die Natur hat in 20-»
uns einen Hang gelegt, aber nicht das was aus einem Hang entspringt.
15 Wir handeln ganz wieder die Vernunft, wenn wir die Gefühle bis zu den
Affecten steigen laßen, weil sie dadurch die Oberherrschaft der Ver-
nunft abschütteln. — Der Hang zu den affecten ist unserer Freyheit
überlaßen : Die Natur hat uns auch einen solchen Hang zu den Leiden-
schaften gegeben, der so groß ist, daß wir ihm nicht leichtlich wieder-
20 stehen können. Gewiße Neigungen sind so beschaffen, daß sie ohne
Bestrebung der obern Kräfte des Verstandes wirklich Leidenschaften
werden, aber wir sind nicht verbunden, die Neigungen Leidenschaf-
ten werden zu laßen. Die Natur hat den Menschen mit solchen Nei-
gungen und Hang ausgerüstet, daß er, wenn er nicht die Vernunft
25 besäße, durch diese auf eine thierische Art würde beherrschet werden.
Dies ist aber nicht ein Befehl der Natur, daß die Neigungen Leiden-
schaften werden sollen, denn darum hat sie uns eine Vernunft gegeben.
— Die Neigungen aber müßen immer erhalten werden, aber nur in
dem Maaß, daß sie der Vernunft und deren Gesezz/gebung Gehör 20»
30 geben.
Andre sagen, daß die Affecten und Leidenschaften viel gutes in der
Welt stiften können ; das gute aber, das aus den Affecten und Leiden-
schaften entspringt, ist mit der Blindheit zu vergleichen, da ich l>loß
durch den Zufall erlange was mir zuträglich ist : Affecten und Leiden-
35 Schäften sind dem Menschen als einem vernünftigen Wesen entgegen
gesezt, obgleich sie der Thierheit vollkommen gemäß sind — können
wir uns den Affecten und Leidenschaften überlaßen, wenn der Gegen-
stand von der Vernunft gebilliget wird ? Die Affecten kann sie zwar
billigen, aber nicht die Form, und also ist die Art wie wir unsere
206 Vorlesungen über Moralphilosophie
Affecten auf die Gegenstände richten sollen der Vernunft wiedrig.
Wenn die Neigung zum guten bis zur Leidenschaft gestiegen ist,
so ist dieses eine Enthusiasterey. Die Leidenschaft als Leidenschaft
betrachtet ist blind, und bringt Verwirrung bey den Menschen. Sie
sind eine Art von Fieber Hizze und kurzer Raserey, und ist zwischen 5
ihnen und der Raserey kein Unterschied, als daß man sich von
ersterer eher recolligiret.
Ein Mensch kann nicht mehr nach Vernunft handeln, so bald er in
•iu Leidenschaften und Affecten ist. / Die Leidenschaften und Affecten
sind also sowohl der Klugheit als der Sittlichkeit entgegen. Die lo
Neigung kann ernsthaft und groß seyn, ohne daß sie eine Leidenschaft
ist. Man pflegt auch zu sagen, daß die Leidenschaft eine Neigung ist,
worüber der Verstand nicht mehr Herrschaft hat, und die Affecten
sind die Empfindungen, worüber die Vernunft die Gewalt und Macht
des Urtheils verliehrt. Eine jede Beurtheilung gehet vom allgemeinen i5
aufs besondere.
Der practische Gebrauch der Vernunft besteht darinn daß ich nach
der Schäzzung des ganzen den Werth eines Theils bestimme. Solange
wir noch bey gewißen Gefühlen und Neigungen im Stande seyn, nach
der Summe der Neigungen eine jede zu bestimmen, dann stehet noch 20
die Sinnlichkeit unter der Vernunft. Wenn wir aber die Neigungen und
Empfindungen als separat von andern finden, daß wir dadurch un-
vermögend werden, sie mit der Summe aller Neigungen und Empfin-
dungen zu vergleichen, dann sind diese Empfindungen Affecten und
Leidenschaften. -^
Von den Maximen
205 Wir können auf zwejrfache Weise handeln / entweder nach Maximen
oder nach Stimulis. Ein Mensch der den Armen gutes thut, der thut
eine Handlung die unter den moralischen Gesezzen stehet. Er thut
solches aus Gütigkeit und also aus Antrieb. Wir können also auch 30
nach Antrieben handeln, welche aber von den moralischen motiven
sehr unterschieden sind. — Maximen sind subjective Grundsäzze der
Regeln unserer Handlungen, sie unterscheiden sich von den Gesezzen,
denn diese sind objectiv. Gesezze sind objective Regeln von dem was
man thun soll. Diejenige Maximen sind gut, die den objectiven Ge- 35
sezzen gemäß sind. Die Handlung nach Maximen ist eine Handlung
sofern sie unter subjectiven Gesezzen stehet, id est, die man sich selbst
Praktische Philosophie Powalski 207
gewählt hat. Daß ein Mensch nicht nach Maximen handelt, macht es,
daß wir ihn für böse halten. Der handelt nur böse, der nach bösen,
und der handelt gut, der nach guten maximen handelt. Der Mensch
der sich zur Grund Regel gemacht hat, die Lügen zu gebrauchen,
5 weil sie ihm Vortheil bringen; der da glaubt, sein Freund, dem
ein großer Vortheil auf dem Wege ist, thue nichts als ihm einen
Streich zu spielen, der hat / sich Maximen der Boßheit gemacht. 20«
Er handelt böse, weil er nach bösen Maximen handelt. Bej'^ einigen
Menschen geschieht das böse als eine exception der guten Regel,
10 und bey andern nach wirklich bösen Grund Regeln. Der Mensch
der nach Antrieben handelt, der handelt nicht nach Maximen. Er
kann zwar die Regel im Kopfe haben, er hat doch aber nicht
die Maxime im Herzen. — Die Menschen sind also oft nicht
so böse als sie es zu seyn scheinen, und eben so sind sie auch nicht
15 allemahl so gut als sie es scheinen. Denn im ersten Fall haben sie sich
nicht allemahl so böse maximen vorgesezt, sondern sie können nur
allemahl nicht den Versuchungen wiederstehen, im lezten Fall aber
rühren ihre mehreste Handlungen nicht aus Maximen, sondern nur aus
Antrieben, alsdann sind sie entweder Fehllos, Faul oder auch Furcht-
20 sam. — Ein Mensch, der aus Mitleiden etwas thut, der scheint etwas
nach moralischen Gesezzen zu thun. Das Mitleiden ist der Eindruck
eines sympathetischen Gefühls.
/Von der Selbstüberwindung 801
Bey der Herrschaft seiner Selbst muß man
20 1. in seiner Faßung bleiben
2. in der Selbstbeherrschung.
Die Faßung seiner Selbst ist, wenn man in Ansehung des Gefühls
aus dem Zustand der Zufriedenheit sich nicht bringen läßt. Bey der
Herrschaft giebt es Empörungen, es giebt Neigungen die oft rebelliren.
30 Die Neigungen haben die Sophisterey zur Seite, und wenn viele
Neigungen zusammenkommen, so machen sie ein complott Mieder die
Vernunft.
Das ist nicht ein Held der sich selbst überwindet, sondern der mit
sich selbst nicht kämpfen läßt. Wir müßen nicht darauf sehen, wie wir
35 unsere Leidenschaften überwinden sollen, sondern Avie wir sie noch in
ihrem Keime erstikken können.
208 Vorlesungen über Moralphilosophie
Von den Pflichten gegen sich selbst
ratione des Körpers
Wie können wir über unser Leben disponiren ? id est es erhalten ?
oder es aufheben wie wir wollen ? Hier ist die Frage vom Selbstmord.
208 Das Recht in Ansehung unserer selbst ist sehr restrin/giret. Wir kön- 5
nen zwar über unsern Zustand, aber nicht über unsere Person dispo-
niren, denn dies ist die Sünde wieder sich selbst, sich selbst Willliührlich
das Leben zu nehmen. Der Werth der Person ist der Grund der ganzen
Moralitaet, und die Schäzzung der Menschen Glückseelig (Glücklich)
zu leben macht noch keinen Werth der Person aus, denn das was den lo
Werth der Person ausmacht, ist der größte moralische Werth. Alle
unsere Handlungen müßen dazu dienen, den Werth der Person in der
Menschheit zu erhalten. Der Gebrauch der freyen Willkühr wieder die
Person und ihr Daseyn, wieder ihre wesentliche Zwekke, das ist der
Gebrauch der Willl\:ühr wieder sich selbst, und der wiederstreitet den ir>
moralischen Gesezzen. Sobald der Mensch den Antrieben nachgiebt,
so entehrt er die Menschheit in seiner eigenen Person.
Wir können das Ziel des Lebens auf zweyfache Weise bestimmen.
1. Durchs Schicksal 2. durch Moralitaet. Moralisch ist mein Leben
bestimmt, wenn es durch nichts anders als durch Niederträchtigkeit 20
309 kann erhalten werden. — Weil die Liebe / zum Leben so groß ist, daß
um ihretwillen auch Pflichten übertreten werden, so kann kein Bürger-
liches Gesezz so beschaffen seyn, daß es die Erhaltung des Lebens
aufzugeben befiehlt, um eine Pflicht zu erfüllen. Die Befugniß unser
Leben zu erhalten, ist sehr eingeschränkt. Die Ursache davon ist, weil 25
auch viele Dinge größer sind als das Leben. Die öftern Vorstellungen
von der Kürze des Lebens sind das, was auf besondere Weise in unsern
Empfindungen wirkt, das die Wollust moderiret, die Schwermuth und
Traurigkeit des Lebens mildert. Allem Uebel können wir nicht anders
vorbeugen, als mit der Vorstellung, daß es nicht lange dauret, denn so
diese benimmt ihnen den Stachel. Der Tod kann nicht angesehen
Averden als ein großes Uebel. Da das Leben also ein weit größeres Uebel
ist, so sehen wir, daß die Befugniß des Lebens nicht sehr wichtig ist,
außer: sezz du dein Leben als ein rechtschaffener Mann fort, so bist
du nun deßelben würdig. 35
Ich bin nicht befugt mein Leben zu erhalten, wenn ich durch nieder-
trächtige Handlungen mich deßen unwürdig mache. Ich hebe dadurch
210 /die gute Ordnung der Sittlichkeit auf. — Der Mensch schändet sich
Praktische Philosophie Powalski 209
auf solche Art selbst, und diese Handlung ist nicht nur tadelhaft,
sondern auch zugleich verabscheuungswürdig und schändlich. Der
Selbstmord macht also den Menschen zum Scheusal. Ueberhaupt alle
Pflichten gegen sich selbst sind so beschaffen, daß wenn ein Mensch sie
5 übertritt, er dadurch nicht nur verwerflich, sondern auch nichts-
würdig und abscheulich wird. Nun ist aber nichts verächtlicher, als
Avenn sich ein Mensch zum Aas macht, kein Unglück des Lebens, keine
Versuchung kann so groß seyn, daß sie einen Menschen bewegen
sollte an sich gewaltsamer Weise die Hand zu legen.
10 Die Sittliche Vollkommenheit besteht nicht in der Glückseeligkeit,
sondern in der Würdigkeit glücklich zu seyn. — Ein Mensch der sich
willkührlich aus der Welt expediret, der stiehlt sich sozusagen aus
der Welt heraus, denn das Schicksal fordert ihn noch nicht ab. Er thut
einen gewaltigen Eingriff in das Meisterstück des großen Werck
15 Meisters, / welches doch nicht einen einzigen Theil hat, der nicht seinen 211
besondern Zwekk hätte. — Die freye Willlcühr die uns über die
Thierheit erhebt, und uns der Gottheit nähert, kann uns nicht so zu
thun zwingen, wenn wir einmahl entschloßen sind, das Gegentheil zu
thun. Diese Freyheit ist doch aber auch die Quelle der enormsten und
20 abscheulichsten Vergehungen, mit dieser Freyheit müßen wir also
behutsam umgehen. Ein Thier bringt sich nicht willkührlich um, weil
es keine Freyheit hat.
Die alten Philosophen, die Stoiker, waren im Selbst Morde sehr ver-
wickelt, welche sagten: wenn ich nicht anständig mein Leben führen
25 kann, so habe ich ja die Freyheit mir daßelbe zu nehmen. Hier steckt
zwar ein großer Muth, man hat doch aber gefunden, daß alle Mörder
bey der Handlung voll Wahn, Verzweiflung und Verrükkung des
Gemüths sind. Aus der Stöhrungdes Gemüths kann also diese abscheu-
liche Entschloßenheit auch entstehen. Hiebey kann zwar Muth seyn;
30 dieser Muth aber ist sehr übel angebracht. Sie haben eine Verwegen-
heit dabey, welche bald entschieden/ wird. Ein Muth muß aber dauer- 212
haft seyn, das zeigt nur allein einen heroismum, wenn ich eine auf
Grundsäzzen beruhende Standhaftigkeit habe.
Das Leben ist aber doch auch nicht eine Sache von der größten
35 Wichtigkeit, denn es sind einige Annehmlichkeiten, deren Verlust
empfindlicher ist als die Beraubung des Lebens.
Diese Pflichten gegen sich selbst sind die strengsten moralischen
Pflichten. Das Lebens Ende kann, wie schon oben gesagt, entweder
moralisch oder physicalisch bestimmt werden. Moralisch wird es be-
14 Kant* s Schritten XXVII/1
210 Vorlesungen über Moralphilosophie
stimmt, wenn ich zu den moralischen Handlungen unfähig bin, oder
wenn ich nicht als ein ehrlicher Mann mein Leben führen kann.
Physicalisch aber, wenn es das Schicksal durch die Natur bestimmt ;
der casus neceßitans muß gar nicht angenommen werden, ob er gleich
in sensu iuridico erlaubt ist, denn solche Fälle sind unbestimmt. Die 5
weichliche Annehmlichkeit im Leben und die feige Furchtsamkeit
vor dem Tode zeigt eine sehr kleinmüthige Seele an.
313 Die Stoiker sagten: daß es zum Vorrecht des Wei/sen gehöre, daß
der aus Ueberlegung aus der Welt gehen und also Meister über sein
Schicksal seyn könne, wenn er nicht seinem Charakter gemäß ein lo
Leben führen kann. Moralische Libertins nennt man diejenigen, welche
von allen moralischen Regeln und Zwange frey zu seyn glauben.
Unter allen Vermögen der Kräfte der Natur ist nichts schädlicher
als die Freyheit. Sie ist zwar dasjenige, was uns über die Thierheit
erhebt; sie ist aber auch die Quelle alles Uebels. i5
Der Selbst Mord war in den alten Zeiten im großen Ansehen. Wenn
die Römischen Kayser jemanden umbringen laßen wollten, und ihm
noch die lezte Ehre und Wohlthat erzeigten, so erlaubten sie ihm, daß
er sich selbst umbringen könnte, auf welche Art es auch seyn mochte.
Sie sahen darin einen Heroismum. Das Wesentliche der Moralitaet ist 20
die allgemeine Gültigkeit der Gesezze, weil sie von allen und jeden
Gesichts Punkten klug sind und Wohlgefallen. Dem Cato giebt man
Schuld, daß seine große Tugend der Patriotismus und nicht das allge-
314 meine Recht der Menschen / sey. Er wählte sich einen Tod, aber nicht
Heldenmäßig. 25
Jezt kommen wir an eine Pflicht, welche der Mensch in Ansehung des
Zustandes seines Leibes zu beobachten hat, und dies ist die Gesund-
heit. Ein vorübergehendes Hinderniß des Zustandes der Menschen ist
nur ein Zufall, ein dauerndes Hinderniß aber ist eine Krankheit. Ein
gewißes Merkmal der Gesundheit ist ein Trieb zur Thätigkeit, der aus 30
einer gewißen Laune entspringt, oder wenn wir uns munter und
wacker befinden. Die Pflicht: sorge für unsere Gesundheit zu tragen,
ist moralisch und die Vernachläßigung der Sorgfalt der Gesundheit
gewißer Vortheile wegen oder die Verwahrlosung des Lebens, um
eines Genußes wegen, kann nicht moraHsch gerechtfertiget werden. — 35
Wir können
L Eine bedenldiche Sorge und
2. Eine Vorsorge für unsere Gesundheit tragen.
Praktische Philosophie Powalski 211
Derjenige der da Uebel fürchtet, wo keine sind, fler ist besorget.
Derjenige aber, der den Fall verhütet, wo sein Zustand einen Nach-
theil leiden könnte, der trägt Vorsorge. Kein Mensch wird durch
Kunst hervor/bringen, daß sein Magen gut verdauen soll, denn unser 2i5
5 Körper hat schon seine gehörige Funktion, wir müßen ihn nur so
pflegen wie wir es schuldig sind. Die größte Sorge ist also die Natur
nur in ihrem Laufe zu erhalten. Die Mäßigkeit ist ein Haupt Umstand
zur Gesundheit. Die Grenzen die in Ansehung der Moral der Mäßigkeit
gesezt sind, sind: der Mensch muß seinen Thierischen Trieben nicht
10 nachhängen, er muß nach reflexionen beurtheilen, was er genießen
soll, und was er entbehren kann. Alles das wodurch wir unsere Neigun-
gen verwildern laßen, erniedriget den Menschen und seine obern
Kräfte. Unter allen Unmäßigkeiten ist am meisten der Moral ent-
gegen: ein starckes Getränke. Wenn es in Ansehung der Quantitaet
isgeschiehet, so verhält sich hier der Mensch als ein Thier. In Ansehung
der Qualitaet kann es geschehen, wenn der Mensch gelockt wird durch
Geschmack über seine Mäßigkeit zu gehen. Ein Mensch, der sehr
leckerhaft ist, der die Tafel als einen Gegenstand aller seiner Beschäfti-
gung ansiehet, der zeigt eine Eigenschaft, die etwas niederträchtiges
20 und verabscheuungswürdiges bey sich führet. Das viele / Eßen macht 3i6
die Gemüthskräfte stumpfer als das viele Trincken, Wenn der Trunck
in den Gränzen bleibt, daß er nicht zur Versoffenheit ausschlägt: so
führet er noch mehr etwas geselhges bey sich als das viele Eßen. Wir
müßen das Maaß erhalten in welchem die Munterkeit des Geistes und
25 die Verstandes Kraft in ihrer Faßung bleibt. Die versoffenen Leute
sind sehr niederträchtig, denn der Mensch ziehet im Stande der
Trunckenheit seine Menschheit aus. Der Grad des Gebrauchs des
Trinckens macht den Menschen gute Laune, gesprächig und gesellig.
In dem Getränke ist ein großer Unterschied. Das Bier bringt etwas
30 schweres bey der Trunckenheit. Der Brandtwein ist ein Geselle der
Einsamkeit. Der Wein macht aufgelegt zu Gesellschaften und fröhlich.
Diejenige Menschen welche Geheimniße zu verbergen haben, hüten
sich sehr vor Geträncke. Von der Art ist das Frauenzimmer das sich
beständig vor dem Getränck reserviret ; weil sie im Zustande der Trun-
35kenheit den Wächter / der Keuschheit von seiner Schildwache ab- 31T
gehen läßt, und sich allen Wollüsten und Leidenschaften überläßt.
L^nser Autor redet ferner von der disciplin des Körpers. Es sind aber
Grillen, nach welchen man glaubt, daß man in Ansehung des Körpers
moralische disciplin anstellen sollte, um die Leidenschaften und nach
212 Vorlesungen über Moralphilosophie
und nach Neigungen zu erstikken. Diese disciplin des Körpers ist eine
Schwärmerey, verkehrt und phantastisch. Die Sorgfalt für die Klei-
dung ist nicht moralisch. — Nun kommen wir auf die Sorge in Ansehung
der occupation und Muße. Beschäftigungen und Geschäfte sind unter-
schieden. Man kann in einer Muße beschäftiget seyn, wo man aber 5
keine Absicht hat. Dieses ist also, wo man keinen notli wendigen Zwekk
hat. Wir können aber auch Geschäfte haben, wo gewiße Zwekke noth-
wendig seyn. Dieses ist ein Geschäfte — das erste aber ist eine Be-
schäftigung. Wenn sich ein Mensch nach Belieben aus Langeweile
beschäftigen will, so wird ihm dieses bald verdrießlich seyn ; bey den lo
218 Geschäften hat er aber einen nothwendigen Zweck, er hat / dabey
immer Intereße, und dieß muß ihn auch zu den Geschäften antreiben,
es unterhält auch den Geist. — Daß der Mensch durch die Langeweile
gequält wird, kommt daher, weil er immer ein Geschäfte erfordert und
handeln will. Wir müßen etwas haben, was uns wenn wir auch nicht i5
Lust haben zu Geschäften antreibt. Es ist etwas nöthig, was uns zwingt
damit wir thätig seyn, denn auf solche Art reserviren wir eben das
Leben und genießen es wirklich. Unter dieses gehört die Arbeit
welche ein Geschäft ist, das mit Beschwerlichkeit verbunden ist. Der
Müßiggang ist nicht die Muße. Die Muße ist nur eine Erholung von 20
Geschäften. Vor die Beschäftigung der Muße müßen wir eben so
sorgen, als für unsere Geschäfte. Beym Studiren halten wir die Poesie
für eine Beschäftigung der Muße. — Die Faulheit ist der Abscheu vor
Beschäftigungen. Die Trägheit aber der Abscheu vor der Arbeit. Die
Faulheit macht den Menschen verächtlich und unnüz. Alle Hoch- 25
müthigen sind faul.
Wir können uns zu einer harten Lebens Art entschließen, wenn wir
dem Körper vielen Genuß versagen, und die Enthaltsamkeit bey-
behalten, weil sie den Geist stärket.
Die Enthaltsamkeit ist die Selbst Ueberwindung. Die disci- 30
219 plin vergrößert allemahl den Geist, so wohl am / Verstände als auch
am Willen. Das ist aber eine phantastische Vorstellung, daß man sich
durch Kunst nach und nach entkörpern oder vom Körper unabhängig
machen kann. Pythagoras und Plato sahen den Körper für einen Kerker
an, worinnen der Geist verstoßen wäre. Sie sagten: das menschliche 35
Leben sey die Probezeit unserer Seele. Sie suchten deswegen vom
Körper zu abstrahiren. ihn und seine Begierden zu dämpfen; hierauf
gründen sich auch die verschiedenen Mönchs Orden und ihre Kastey-
ungen. Wenn der Mensch seinem Körper nach handeln sollte, id est
Praktische Philosophie Powalski 213
nach seiner Thierheit, ohne die Vernunft zu rathe zu ziehen, so würde
er nicht seinen bestimmten Zweck erreichen. Die Selbstquaalen haben
keinen andern Grund, als daß sie strenge disciphniren, und in An-
sehung des Körpers für nöthig gehalten werden. Der Körper ist uns
5 aber so wohl zur Pflege als Vorsorge gegeben, und derjenige erfüllet
diese Pflichten nicht, wenn er sich denselben zu erhalten nicht be-
mühet. — Die Pflege des Körpers bestehet in der Sorgfalt für die
Gesundheit und Munterkeit (Vigor), damit wir nicht nur zu Dingen / 230
auferleget seyn, sondern auch Lust haben. Die Mäßigkeit ist ein ver-
lofeinerter Geschmack, der zur Moralitaet führet. Durch das Fasten
wird nichts gethan, was den moralischen Werth vergrößert. Der
Mensch der den ganzen Tag gefastet hat, ist mürrisch. Wir müßen
den Körper zwar in einer disciplin aber auch zugleich in einer Pflege
halten, welche ein Tugendhaftes Leben möglich macht, und auch ein
1.) Vergnügen bey sich führet. Dahingegen ist der ein Menschen Feind, der
sich immer übel befindet. Dieses war von der Disciplin des Körpers,
welche in den Schwärmerischen Schulen entstanden, und izt zu
gewlßen Observanzen gemacht ist.
Die Stellung des Körpers.
20 Wir sind verbunden, mit der Menschheit nach ihren wesentlichen
Zwekken zu verfahren. Die Gestalt ist unmittelbar für andere, die
Gesundheit aber für uns gut. Die Gestalt kann dem Menschen zwar
auch nüzlich seyn. Aber alles was von der Nüzlichkeit herrühret, ist
nicht moralisch. Die Gestalt ist eigentlich die dignitaet des / Mensehen 231
25 in der Erscheinung. — Dieweil wir also verbunden sind sowohl auf die
Handlungen, die auf unsere Gesundheit gerichtet seyn, als auch auf
diejenigen in Verhältniß auf andere zu sehen, so haben wir also auch
Pflichten in Ansehung unserer Gestalt zu erfüllen. — Es geziemet
dem Menschen, daß er auf seine Form sehe, und daß er in ihr die
30 Menschheit vergrößere.
Die Kleidung ist nichts anders als Mittel, das unanständige zu ver-
dekken, als auch uns dadurch ein größeres Ansehen zu geben, welches
wir vielleicht sonst nicht haben würden ; dieses ist die dignitaet und
simplicitaet. Unser Autor redet ferner von der Arbeit, Beschäftigung
35 und Muße. Die Muße ist von der Nichtsthuerej^ unterschieden, Otium
und negotium sind opposita, die Muße ist der Zustand, da man nichts
arbeitet. Die Arbeit ist ein Geschäfte, das mit Beschwerlichkeiten
214 Vorlesungen über Moralphilosophie
verbunden ist. Es giebt aber auch Geschäfte ohne Beschwerhchkeit
und dies ist ein Spiel, welches zur Unterhaltung und Vergnügen ist.
3S3 Auch in / Otio kann man beschäftiget seyn. Wir müßen also keine
Muße haben, wenn wir nicht beschäftiget seyn. Die Arbeit ist also
der Muße, und Beschäftigung der Unthätigkeit entgegen- 5
gesezt. Derjenige, der sich alle Beschäftigungen zum Unterhalte
machen will, oder der einen Abscheu an der Arbeit hat, der ist läßig.
Die Nichtsthuerey verursachet eine Plage, die man durch kein Mittel
abhelfen kann. Die lange Weile gehöret dazu. Die Nichtsthuerey ist
eine Art Art von Leblosigkeit, welche den Menschen aller Thätigkeit lo
beraubet, und ihn zu einem dem Scheine nach lebenden Wesen macht.
Sie wird ein Hinderniß vom Gefühl des Lebens. Alles was bey uns das
Feuer des Lebens auslöscht, das ist ein Hinderniß des Lebens, und
verursachet ein Mißvergnügen. Die Zeit bleibt immer leer wo wir
nichts anders gethan als genoßen haben. 15
Wir können die Zeit nicht anders als durch Arbeit besezzen. Ein
vacuum der Zeit macht bey uns Schrekken und Abscheu, wie solches
333 schon die / Scholastiker mit dem horror vacui ausdrückten. Eine leere
Zeit erscheint erschrecklich groß zu seyn, darum weil sie leer ist. —
Wollen wir das Leben besezzen, so können wir es mit Genuß aber 20
doch nicht völlig besezzen, denn der Genuß füllt unser Leben nicht aus.
Nur einzig und allein in Arbeit ist der Mensch bewußt,
daß er gelebet habe. Die Thätigkeit ist ein Bewußtseyn des
Lebens. Er lebt also nicht mehr wenn er genießt als wenn er thut.
Je weniger ein Mensch thut, desto länger ist ihm die gegenwärtige, 25
desto kürzer die vergangene Zeit. Je mehr er beschäftiget ist, desto
kürzer ist ihm das praesens, desto länger aber die (künftige) ver-
gangene Zeit.
Vitam extendere f actis bedeutet nicht, ich habe mich durch meine
Thaten bey der Welt berühmt gemacht, sondern ich bin bewußt, daß 30
ich gelebet habe, darum weil ich vieles gethan habe.
Von den Pflichten die den persönlichen Werth des
Menschen betreffen.
234 /Die Vergehungen dawieder heißen crimina carnis. Die Gründe
dieser Verbindlichkeit müßen aus den eigenthümlichen Handlungen 35
hergenommen werden. So muß eine Handlung moralisch böse seyn,
wenn sie eine innere Häßlichkeit hat, sie muß angesehen werden
Praktische Philosophie Powalski 215
können, als ein Mittel, als eine Ursach, daß man zu andern Zwekken
nicht tauglich ist. Die causa originaria vel principalis der Verbindlich-
keit muß in den Handlungen selbst liegen. Die causa subsidiaria aber
liegt in der Folge. — Der Mißbrauch der Geschlechts Neigung und des
5 Geschlechts Vermögens ist immer eine Häßlichkeit, und diese nennt
man crimina contra naturam, wo selbst die Thierische Bestimmung
der Geschlechts Eigenschaften umgekehrt wird. Dieser Mißbrauch ist
sogar der menschlichen Natm- zuwieder. Eben deswegen werden
solche Handlungen bestialisch, schändlich und / viehisch genannt. 325
10 In Ansehung des Geschlechts Vermögens sind gewiße restrictiones der
Freyheit über unsere eigene Person zu disponiren. Sie ist eingeschränkt
auf die wesentliche Zwekke der Menschlichen Natur. Wenn diese
Freyheit nicht restringiret wird, so ist dieses die Schändung der
Menschheit in seiner eigenen Person. Unsere Urtheile sind in Ansehung
15 der Geschlechts Neigung so beschaffen, daß wir darin etwas häßliches
finden. Die CynUier sagten: was erlaubt ist, das ist auch nicht unan-
ständig. Die höchste Erniedrigung des Menschen ist, wenn er seine
Person zur Sache macht, der sich ein anderer bedienet. Von dieser Art
ist auch das Verfahren, wenn ich meinem Sklaven einen Zahn aus-
20 reißen laße und mir einsezze. Die Geschlechter Neigung ist nichts
anders als wo einer den andern genießet.
Hier findet die Vernunft etwas, das der Menschheit nicht würdig ist,
denn dieses ist nicht ein Dienst, den uns der andere thut, son/dern ein 226
wirklicher Genuß. Die Nothwendigkeit, die Art zu erhalten durch
25 diesen Genuß der Personen, dieses ist eine Naheit zu den Thieren die
die größte ist. Man nennt diese Geschlechter Neigung Liebe, das ist
aber falsch und sollte appetit heißen. Die Liebe bedeutet eigentlich die
Neigung, die Wohlfahrt eines andern zu befördern. Die Geschlechter
Neigung aber gehet bloß auf die Befriedigung der Neigung durch den
30 Genuß. Wenn die Geschlechter Neigung nicht durch die Moralitaet
moderirt wird, so ist sie blind. Dieser appetit zum Geschlechte liegt
schon in der Natur. Warum aber hat die Vorsehung die Einrichtung
gemacht, daß ein Mensch für den anderen ein Genuß seyn kann ?
Diese Neigung gründet sich auf die innigste Vereinigung die unter den
35 Menschen aufgerichtet werden soll, weil diese Personen alsdann
gegenseitige objecte werden. Dies war der Zweck der Natur. — Die
Geschlechter Neigung scheinet der Würde des Menschen ent/gegen 22)
zu seyn, und es ist sehr merkwürdig, daß wir uns oft deßen schämen
was unsere Natur ist. Der Mensch als eine Person betrachtet hat aber
216 Vorlesungen über Moralphilosophie
eine Würde über alle Geschöpfe, daß er kein Gegenstand des Genußes
und Gebrauchs eines andern seyn könne. Dies ist die Geschlechter
Neigung. Die crimina contra naturam sind von der Art, daß sie der
Mensch so abscheulich findet, daß er sie nicht einmahl nennen darf.
Unnatürliche Laster könnte er sie nennen, weil sie sehr häßlich seyn. 5
Es sind keine größeren Verbrechen in Ansehung der Schändung
seiner eigenen Person als der Selbstmord und der Mißbrauch des
Geschlechts Vermögens. Das eine ist gräßlich das andere schändlich.
Das eine beschimpft den Menschen, das andere macht ihn feindseelig
gegen die Menschheit. Gewiße Ausschweifungen werden bloß ob fragili- lo
tatem humanae naturae oft entschuldiget, weil der Trieb dazu in der
328 Natur liegt. So ist es / mit der Wollust, die auf das Geschlecht gehet,
be wandt. Man siehet in der Natur als das wesentlichste die Erhaltung
seiner Selbst und seiner Art an. Dieses dienet schon weil es bekannt
ist zur Milderung der Strafe des Urtheils; weil es schwer ist nach der i5
Ordnung der Sittlichlveit sich zu erhalten. Ein Gesezz ist aber nie
nachsichtlich weil es eine Norm ist und die muß exact seyn, und es ist
thöricht, sich ein solches Gesezz vorzustellen. Ein gerechter Richter
ist nur derjenige, der exact und ganz adaequat nach solchen Gesezzen
Recht spricht. Ein Mensch kann sich auch mit seinem eigenen Willen 20
nicht zum Gegenstande des Genußes eines andern machen. Der Mensch
ist eine Einheit und also kann er sich eines Theils nicht entäußern,
wofern er sich nicht ganz dem Mangel unterwirft.
Also übergeben sich die Personen beym Genuße nicht einen Theil
sondern sich ganz. Es wird also nur unter den Bedingungen der Genuß 25
der Geschlechts Neigung möglich seyn, daß wenn eine Person sich dem
•J29 Mann ergiebt, sie auch wieder vom Manne ge/winnet. Dieses hat immer
gedienet die restriction der Geschlechts Neigung durch Ideen einzu-
sehen.
Die Ehe ist die moralische Condition, worunter der Genuß der 30
Geschlechter Neigung statt finden kann, insofern die Erhaltung der
Art dadurch f ortgepflanzet wird : Sofern sie aber vaga libido und den
Zwekken der Natur entgegen ist, so ist es moralisch verwerflich, und
an und vor sich selbst böse. Wenn der Mensch vom andern ein Genuß
wird, so liegt dieses zwar in der Thierheit aber nicht in der Menschheit; 35
sofern der Mensch eine Intelligenz ist. Die Bedingung ist die: Der
Mensch muß seine Neigung restringiren, und wenn er sich der Willkühr
einer Person ergiebt, so muß er sich dadurch die andere recuperiren.
Dieses war das Kunststück der Natur : zwey Personen in eine Einheit
Praktische Philosophie Powalski 217
zu bringen. Dieses kann mehr zu einer Illustration als completten
demonstration dienen.
Wir haben ferner in Ansehung unseres Zustandes Pflichten zu
erfüllen und das sind diejenigen, die unsere Zufriedenheit / und die 230
5 Glückseeligkeit überhaupt betreffen. Ein Mensch kann verschiedenen
Neigungen entsagen, er kann sie auch genießen, aber stets muß er so
handeln, daß sein Gemüth zufrieden sey: denn wenn der Mensch mit
seinem Daseyn unzufrieden ist, so ist er sich selbsten ein Gegenstand
des Mißvergnügens und Mißfallens. Wir können unsere Zufriedenheit
10 entweder durch positive oder negative Mittel erlangen. Die positive
Mittel sind die Befriedigung aller unserer Neigungen und Begierden.
Das negative aber ist die Entsagung alles deßen was uns nicht nöthig
ist. Dieses ist die Genügsamkeit. Die Genügsamkeit ist also das nega-
tive Mittel zur Zufriedenheit. Alles Vergnügen des Lebens ist entweder
15 Annehmlichkeit oder Bedürfniß. Das Bedürfniß ist dasjenige deßen
Beraubung uns unzufrieden und mißvergnügt macht. Die Annehm-
lichkeiten aber sind solche Vergnügen, von denen ich weiß, daß / ich sie 331
entbehren kann. Die Gesellschaft ist an und vor sich selbst ein Grund
zu vielen Vergnügen, aber sie ist nicht ein Bedürfniß sondern eine
20 Annehmlichkeit. Die Haupt-Regel hiebey ist, daß wir so wenig Ver-
gnügen des Lebens als möglich ist, zu Bedürfnißen machen. Wenn der
Mensch so viel Genuß der Annehmlichkeit hätte, daß er tausend
Mittel zu seiner Zufriedenheit bedürfte, so wäre er ein Spiel des Zufalls.
Unsere Zufriedenheit muß aber nicht von äußeren Dingen abhängen,
25 sondern sie muß auf dasjenige gegründet seyn, was in des Menschen
Gewalt ist. Dieses ist also die restriction der Zufriedenheit auf die
kleinstmöglichen Vergnügen des Lebens, welches man die Genügsam-
keit nennet. Die Cyniker hatten diese Lehre und sie nannten ihre
Philosophie den kurzen Weg zur Glückseeligkeit, der nur aber durch
.30 große Zerrüttungen erlangt werden kann. — Wir haben aber auch
Bedürfniße die wir nicht entbehren können, / weil sie natürlich sind. 23S
ZE. Nahrung, deren Entbehrung uns natürlicherweise unangenehm
ist. Die Herabsezzung aller unserer ernstlicher Begierden bis zum
natürlichen Bedürfniß, das ist die Genügsamkeit. Es giebt aber auch
35 viele Dinge, deren Entbehrung uns nur gewöhnlicher Weise unsern
Zustand unangenehmer macht. Wenn wir den ganzen LTmfang des
Vergnügens dieses Lebens nehmen, wenn wir alle zufällige Bedürfniße
der Begierden die wir in uns entstehen ließen, absondern, so ist sehr
wenig, was zu unserer wahren Zufriedenheit gehöret. Davon auch
218 Vorlesungen über Moralphilosophie
dieses Sprichwort bekannt ist: natura paucis contenta. Der Mensch
ist desto stärker, je mehr er entbehren kann. Die größte Würde des
Menschen ist, wenn er Geschmack hat, die gehörigen Vergnügen zu
genießen, und alle andern zu entbehren. Ein Bedürfniß findet nur
statt bey den Menschen oder es hat solange den Werth eines Bedürf- s
333nißes, solange der / Mensch noch würdig ist zu leben; lebte er aber
nicht also: so lebte er länger als er sollte.
Der Hang des Gemüths, die Annehmlichkeiten des Lebens als
Bedürfniße anzusehen, ist die Ueppigkeit. Diese Ueppigkeit ist eine
Entkräftung des Gemüths, denn es verliehret ganz die Genügsamkeit, lo
Die Ueppigkeit im pöbelhaften Verstände besteht in dem Gebrauch
der entbehrlichen Dinge, welche aber zur Beförderung des Fleißes
gegeben werden.
Dem Luxus ist die luxuries entgegen gesezt, Luxus ist der Ge-
schmack in der Wahl des Genußes, luxuries aber der Geschmack in der i5
Quantitaet. Luxus findet sich bey reichen und luxuries ist bey
gemeinen Leuten. Die luxuries, die Gierigkeit im Genuß, ist immer was
niederträchtiges. Es ist nichts tadelhafter als die Annehmlichkeit an
solchen Dingen. Jemehr der Geschmack im Staate zunimmt, desto '
größer wird der luxus, und jemehr die Gierigkeit nach der Quantitaet 20
zunimmt, desto mehr wächst luxuries. Der Luxus verfeinert den
234 Geschmack. — Wenn ein Mensch / hier alles zusammennimmt : so muß
er stets für ein fröhliches Herz sorgen, und muß alle wiedrige Vorfälle
des Schicksals abhalten. Er muß sich Annehmlichkeiten verschaffen,
wodurch er sein Leben recht vergnügt genießen kann. Der Mensch kann 25
seine Seele auf solche Grundsäzze bringen, wo er stets fröhlich und
gegen alle Unglücksfälle abgehärtet ist. Wenn wir die Annehmlich-
keiten unter die Bedürfniße zählen, so vergrößern wir die Zahl der
Bedürfniße und zugleich der Uebel. Jedes Bedürfniß ist dasjenige,
deßen Mangel bey uns eine Unzufriedenheit verursachet. Und jemehr so
wir Bedürfniße haben, desto unglücklicher sind wir. Die Nothdurft
nennen wir das, deßen Ermangelung uns elend macht. Also sehen wir,
daß die Bedürfniße und Nothdurft unterschieden sind. Ein jedes Be-
dürfniß ist eine Quelle der Uebel. Jemehr wir unsere Bedürfniße ein-
schränken, desto mehr Glück haben wir in unserer Gewalt. Diese 35
Zufriedenheit die nur lediglich beym Menschen statt findet (sofern
335 sein Gemütli / derselben fähig ist), diese ist etwas, was unsere Glück-
seeligkeit uns in unsere Gewalt giebt. Sie kann erlangt werden L
durch Genügsamkeit. 2. durch Standhaftigkeit. Diese zwey
Praktische Philosophie Powalski 219
Stükke machen die Zufriedenheit aus, die nicht auf äußern Ursachen,
sondern auf der inneren Stärke des Gemüths beruhet ; die alten nannten
diese zwey Stükke die Sustinentz und die Abstinentz (Duldsamkeit und
Enthaltsamkeit). Die Sustinentz bestehet in den Uebeln, denen uns zu
5 wiedersezzen unsere Pflicht ist. Sie bedeutet die Erduldung derjenigen
Uebel, die uns vom Schicksal auferleget werden. Geduld und Duld-
samkeit ist nicht einerley. Die Geduld ist eine fast gleichgültige Ent-
deckung des Schnierzens, eine geringere Aufmerksamkeit aufs Uebel.
Sie ist eine Eigenschaft schwacher Seelen und be weißt keine Stärke.
10 Eine Eigenschaft der Weiber, welche wenn sie nicht etwas verhindern
können, sich in die liebe Geduld begeben. Um unsere Kraft zur Stand-
haftigkeit zu fühlen, haben wir nöthig mit Hindernißen zu kämpfen.
Wenn / auch die Uebel des Lebens das Gemüth drückten : so müßen 336
wir uns immer eines Wohlbefindens bewußt seyn, und die Uebeln nicht
15 überwiegen laßen. Alsdann ist das Uebel ein Probierstein unserer
Stärke. Auf dieser Sustinentz beruhet der Grad der Vollkommenheit,
davon ein jeder Mensch einen Theil erlangen kann. Der Mensch hat in
sich Quellen der Zufriedenheit, wenn auch äußere Ursachen der
Traurigkeit und des Mißvergnügens da sind.
20 Die Begierden nicht zu Bedürfnißen zu bringen, die Empfindungen
und Gefühle zu bewaffnen, daß man auch durch äußere Ursachen
nicht aus seiner Stellung gebracht wird, darauf beruhet die Zufrieden-
heit. Eine gewiße Kraft die Zufriedenheit zu erhalten ist die Gleich-
gültigkeit (aequabilitas), wo man seinen Zustand immer im Gleich-
25 gewicht hält.
Es können zwey Unmäßigkeiten im Menschen herrschen 1. in An-
sehung der Qualitaet, und diese bestehet darinn, daß man zu vielerley
verlangt. Dieses ist der Luxus, und Unmäßigkeit in Ansehung der/ 231
Quantitaet est luxuries. Sie ist der Mäßigung opponiret. Die Mäßigung
30 ist eine Pflicht, aber lange nicht so groß als die Mäßigkeit. Der luxus
ist nicht so verabscheuungs würdig als luxuries. Die Ueppigkeit wird
sonderlich in Ansehung der Gegenstände des Geschmacks gebraucht.
Sie ist eine Verschwendung oder Aufwand des Geschmacks. Die
orientalischen Völker zeigen nicht Geschmack sondern Ueppigkeit,
35 Verschwendung.
Jezt kommen wir auf die Neigungen die auf das Wohlbefinden
unseres Zustandes gerichtet sind. — Wir haben gewiße Neigungen die
allgemein auf alle Gegenstände gehen, sofern sie als Mittel angesehen
werden, alle übrige Neigungen zu befriedigen. Von dieser Art ist L
220 Vorlesungen über Moralphilosophie
Die Begierde nach Geld, und 2. nach Freyheit. Die Freyheit bestehet
in der Unabhängigkeit von der Willkühr anderer. Ein Mensch der der
Freyheit beraubt ist, wird beständig und in jedem Fall von des andern
Willkühr abhängen. Die Begierde nach Freyheit ist fürtrefflich und
edel. Frey zu seyn auch von den Göttlichen Gesezzen ist die Frey- 5
geisterey und ist also die Neigung von den moralischen Gesezzen frey
238 zu seyn. Es / giebt aber auch in Ansehung gewißer Gesezze Freygeister,
zE. ratione der Ehe. —
Der Inbegriff aller Mittel, wodurch unsere Neigungen befriediget
werden ist das Vermögen. Das Vermögen in Ansehung der Stärke des lo
Gemüths sind die Talente. Das Geld nennt man überhaupt Vermögen
oder Mittel, die weil es ein künstliches Vermögen ist, wodurch man alles
verschaffen kann, was des Menschen Fleiß und Bestrebung hervor-
bringet. Es ist das Mittel kqt e^oxriv. Es kann aber weder ein gutes
Gewißen noch eine Gesundheit geben. Die Neigungen, die auf Mittel i5
gehen, heißen Habsucht oder Geiz. Der Geiz ist ein unmittelbarer
Zweck zu Glücks Gütern. Wir haben allgemeine Neigungen, die alle
andern befriedigen, und das ist Neigung 1. zur Freyheit, welche ist die
negative conditio sine qua non, und 2. zum Vermögen. Die Glücks
Güter können unmittelbare Gegenstände oder allgemeine Mittel des 20
Genußes seyn. Diese Mittel sind eigentlich dasjenige, was das Ver-
mögen ausmacht. Das allgemeinste Mittel ist izt das Geld, das da alles
339 verschafft, was des Men/schen Fleiß hervorbringt. Wir sehen das Geld
als ein solches allgemeines Vermögen an, und deswegen ist die Be-
gierde nach Vermögen sehr groß. Wir haben eine Neigung zu Mitteln 25
um zu genießen, an und vor sich hat das Geld den Werth eines Mittels.
Wenn unsere Neigungen zu Vermögen darauf nicht als Mittel, sondern
als auf den Zweck gehen, so ist dieses der Geiz. Der Geiz ist eine gewiße
Gattung von Begierden, wo wir die Mittel zu Zwekken machen. Wenn
die Tugend der Sparsamkeit vergrößert wird, so wird daraus ein 30
Laster, ein Geiz. Nach dem bloßen Rede Gebrauch bedeutet der Geiz
eben daßelbe als die Kargheit. Man pflegt aber auch zum Schein den
Geiz habsüchtig und karg zu nennen. Den Hang zur Erwerbung
können wir die Habsucht nennen. Die Leidenschaft zur Erhaltung des
Vermögens ist im stricten Verstände der Geiz. Die Habsucht ist mit 35
mehreren Lastern verbunden, als die Kargheit der Filzigen. Karg ist
nur für sich selbst schädlich, der habsüchtige Geiz aber auch andern.
240 Er ist weit ungerechter als / die Kargheit. Der habsüchtige Geizhals
ist der, der das Geld festhält, Avenn er auch alle andern leiden siehet,
Praktisclie Philosophie Powalski 221
der karge Geizhals ist aber derjenige, bey dem die Liebe zum Geld
größer- ist als die Liebe seines eigenen Wohlbefindens. Dieses ist eine
sordities. Das Geld ist ein großes Vergnügen der Phantasie. Der Geiz
stellt sich nach dem Genuß die Gemüths Situation vor, oder wie es ihm
5 zu Muthe sey, wenn er was wird herausgegeben haben. Der Freygebige
aber stellt sich dies schon vor dem Genuße vor. — Die Neigung des
Genußes ist unterschieden von der Neigung des Wahns. Der Geizige
hat eine Neigung des Genußes zu allen erdencklichen Vergnügungen,
dieses ist aber nur eine Neigung des Wahns. Die Kargheit entspringt
10 also, ut supra dictum, wenn man aus Gewohnheit sparet, und dies
hernach zur Natur, und die Gewohnheiten zu wirklichen Neigungen
werden läßt. Der Geizige begehrt das Geld nicht als ein Mittel sondern
als Zweck. Die Menschen haben ein Ver/gnügen am großen Vermögen, 34i
um sich alles zu verschaffen, und alle ihre Neigungen dadurch zu
15 befriedigen. — Die Neigung des Wahnes unterscheidet sich von der
Neigung des Genußes darinn, daß die Neigung des Genußes die Gegen-
stände so ansiehet, wie sie uns vor dem Genuß, die Neigung des Wahnes
aber so, wie sie uns nach dem Genuß gefallen. Nicht nur der Reichthum
sondern auch die Macht machen das Vermögen aus: sind das Ver-
20 mögen alle Neigungen zu befriedigen. Die Freyheit ist ein negatives
Vermögen da uns keiner hindert, damit wir nach unserem eigenen
Willen handeln können. Die Freyheit wird nicht unter die Leiden-
schaften gerechnet, sie ist es aber wirklich. Ein Engländer rechnete zu
den Glücks Gütern folgendes: Freyheit, Ehre, Gesundheit und Reich-
25 thum. Die Freyheit, sagt er, ist eine Bedingung, unter der die wahre
Ehre allein statt finden kann. Wir können bestimmte objecte unserer
Neigungen haben. Wir können Neigungen haben 1. gegen den Men-
schen 2. gegen die Sache. /Zu der Neigung gegen die Menschen gehöret 243
die Ehrliebe und die Ehrbegierde, zu der Neigung gegen die Sache
30 aber gehöret das Wohlleben und die Gemächlichkeit. Die Ehrbegierde
gründet sich auf die Ehrliebe. Der Mensch hat eine unmittelbare
Neigung zum vortheilhaften Urtheile und Beyfall anderer. Er ist nicht
gleichgültig in Ansehung des Urtheils anderer. Das vortheilhafte
LTrtheil ist ihm angenehm, das nachtheilige aber nicht. Die Neigungen
35 werden alle vom Zwekke imd nicht von den Mitteln benannt. Die
Ehrbegierde ist eine unmittelbare Neigung zur Ehre. Von dieser
Ehrbegierde läßt sich kein Bewegungs Grund angeben, weil sie eine
ursprüngliche Neigung ist. Der Beyfall anderer ist uns schon unmittel-
bar angenehm. Der Zweck der Vorsehung, welche in uns den Trieb zur
222 Vorlesungen über Moralphilosophie
Ehre legt, ist die Geselligkeit. Diese Ehrbegierde kann füglich nur
unter den Menschen stattfinden. Das Gegentheil der Ehrbegierde ist
243 aber der Eigennuz, Die Niederträchtigkeit folgt aus dem Eigennuz. /
Die Ehrbegierde sucht die Ehre zu erwerben, die Ehrliebe ist aber
negative, sie sucht nicht Ehre zu erwerben, sondern sie verabscheuet 5
nur die Verachtung. Ein Ehrbegieriger kann nicht alleine seyn, denn
er will immer von jemandem geehret werden. Ein Ehrliebiger sucht
ganz allein und unbekannt zu seyn.
Wenn ich sage, der Mensch ist ohne Gewißen und Ehre, so sezze ich
ihn auf die abscheulichste Art herunter. Wenn er ohne Gewißen ist, 10
dann weiß er nicht einmahl daß ein Richter ist. Wenn er aber ohne
Ehre ist, dann ist er fühllos gegen die Tugend. Die Ehre ist aber die
lezte Schuzz wehre der Tugend. Wenn diese weggelaßen ist, bleibt nur
der Zwang übrig. Die Tugend ist nicht rein, wenn der Bewegungs
Grund von der Erwerbung der Ehre hergenommen ist, sie wird aber 15
nicht verunreiniget, wenn der Bewegungs Grund von der Ehrlosigkeit
aus dem Verlust der Ehre hergenommen ist. — Die Ehrbegierde ist eine
Ehrsucht, wenn sie ein affect ist, die Sucht ist das, was alle Neigung
erstickt. Die Ehrsucht ist ungestühm und höchst tadelhaft. Da dieser
affect alle die Regeln überschreitet, so ist er eben so der Moralitaet 20
entgegen, als andere affecten. Die wahre Ehre kann die Moralitaet sehr
unterstüzzen. Die Menschen versagen die Ehre dem Ehrbegierigen.
«44 sobald er nur einige Begierde dar/nach blicken läßt. Dem Ehrliebigen
erweist man sie aber gern. Die Ehrbegierde hat nicht nur bloß etwas
verhaßtes sondern auch lächerliches an sich. Aus der Ehrbegierde 25
entspringt auch eine gewiße ambition, welche eine zudringliche Bewer-
bung um Ehre ist. Der ambitieuse findet immer Wiederstand. — Ehre
erwirbt man sich nur durch den Beyfall anderer, und es steht bloß in
ihrer Gewalt, ob sie mir dieselbe erzeigen wollen oder nicht, der mode-
ste erlangt ohne sein Verlangen Ehre. Ehre kann ich nie von andern so
abdringen. Der eigentliche Hochmuth ist der Eigendünkel, da man
glaubt, daß man andere übertreffe und also auch von ihnen müße
geehret werden. Der Hochmüthige hat einen Eigendünkel, anderer
Ehre aber sucht er zu verringern. Die Eitellieit hingegen ist mit der
Beförderung der Ehre anderer verbunden. Der Hochmuth ist verhaßt ; 35
die Eitelkeit lächerlich. Der ist eitel, der anderen mit großer Achtung
zuvorkommet, um sich dadurch von ihnen wieder beehrt zu sehen.
Dieses ist eine Eigenschaft schwacher Seelen. Der Stolz ist die Hals-
starrigkeit in der Ehre. Aeußerlich können wir uns aut stolz aut
Praktische Philosophie Powalski 223
modeste beweisen, in uns können wir aut Eigendünkel oder Demuth
besizzcn. Die Ehr/liebe ist wie schon gesagt was negatives, und ist eine 345
Neigung, vermöge der wir nicht ein Gegenstand der Verachtung seyn
wollen. Die Ehrliebe ist nicht die Ehrbegierde, denn der Ehrbegierige
5 will geehret werden, der Ehrliebige nicht verachtet werden. Die Ehr-
liebe ist mit der Tugend ganz noth wendig verbunden. l.Der Mensch
muß einen Werth haben, damit er darauf so viel halten könne, als
andere darauf halten. 2. Er muß diesen als ein Mensch schon haben.
Die Ehrliebe muß einen Hauptpunct bey der Erziehung ausmachen.
10 Derjenige heißt ein Egoist, der das Urtheil anderer über sich selbst vor
nichts hält. Ehrliebe wird erfordert bey einem Rechtschaffenen, daß er
nicht mit Nichtswürdigen, Niederträchtigen Leuten umgehet, daß
keine Zweydeutigkeit in seinen Handlungen angetroffen werde. Ehr-
liebe wird erfordert bey einem Frauenzimmer, daß sie allen Schein ver-
15 hütet.
Alle Gelehrte haben beym Herausgeben der Bücher keinen andern
Zweck als ihre Gedanken dem allgemeinen Richterstuhle zu über-
geben (vorzulegen) und ihre Einsicht zu zeigen. Unser Wißen scheint
ganz einsiedlerisch und ohne Nuzzen zu seyn, wenn wir es nicht
20 andern communiciren können, daß sie darüber urtheilen. / Die Ehr- 346
begierde bringt Bücher hervor, die alle mit Nachdenken und Wißen
verbunden sind.
Wenn die Ehrbegierde nicht eine Anmaßung und praetension ist:
so ist sie nichts, was der Tugend als eine Triebfeder zustatten kommen
25 kann. Der Eigennuz ist sehr weit unter der Ehrbegierde, gehört zur
Selbstliebe und nicht zur Ehrbegierde. Die Ehrbegierde ist ein Zweck
für den Menschen, sie ist nicht abgeleitet. Sie würde abgeleitet seyn,
Avenn sie unmittelbar dazu dienete um andere Vergnügen zu befrie-
digen. Die Ehrbegierde ist der edelste Trieb zur Tugend unter allen, die
30 die Vorsehung in den Menschen gelegt hat. Wir sind um desto mehr be-
friediget, je mehr allgemeinen Beyfall wir erhalten, oder wenn wir
solche Handlungen ausüben, die allgemein Wohlgefallen. — Eitelkeit
ist das, was man von andern erwartet, was doch nicht zum Werth der
Person gehöret. ZE. Geld, Titel und Kleider. Die Ehrliebe ist also von
35 der Eitelkeit unterschieden. Die Eitelkeit gehet auf das was die Leute
sagen : die Ehrliebe auf das was andere von mir vortheilhaft denken. —
In Ansehung der Begierde ist zu mercken der Stolz, welcher das Be-
wußtseyn des Besizzes der Ehre ist. Der Stolz ist nicht der Hochmuth,
sondern / die Ehrliebe in Anmaaßung des Vorzuges vor dem andern. 34T
224 Vorlesungen über Moralphilosophie
Der Stolz ist eigentlich die Aufmerksamkeit auf die Gleichheit in
Ansehung der Ehre. Dies ist eine realistische äußerlich proportionirte
Selbstschäzzung in Ansehung der Anmaßung anderer, ist der ächte
Stolz. Die billige Selbstschäzzung aber in Ansehung unserer eigenen
Anmaßung ist die Bescheidenheit. Der Stolz und die Bescheidenheit 5
sind zwey afficirungen und Bestimmungen der Ehre. Beyde gehören
zum Mittelmaaß der Gleichheit. Wenn ein Mensch andern die Ehre
beylegt, die ihm andere beylegen, dann ist dieses eine Gleichheit. Die
Bescheidenheit ist eigentlich die Milderung unserer äußeren Hand-
lungen nach dem Grade bis zur Billigkeit. Sie bestehet wenn wir lo
unsere Selbstliebe so moderiren daß sie mit der Liebe übereinstimmet,
oder sie besteht in der Selbstliebe, die herabgesetzt ist bis zur Harmonie
der Selbstliebe anderer.
Der Gemüths Zustand desjenigen, der einen andern achtet, ist
248 Achtung. Die Achtung ist vom Lobe unterschieden. Die Achtung ist i5
innerlich das Lob äußerlich. Die wahre Ehre besteht in der Achtung,
die falsche im Lobe. Die Achtung gehet auf / die Person, das Lob auf
das was zu unserm Zustande gehöret. Der Achtung ist die Verachtung
opponiret, dem Lobe der Haß. Hier kommen die Fragen vor: ob man
lieber gehaßt, oder verachtet werden will ? ob es uns angenehmer ist 20
geliebet oder geachtet zu werden ? Es ist dem Menschen viel uner-
träglicher verachtet als gehaßt zu werden. Der Haß geht nur auf das
was relative im Verhältniße auf andere Menschen böse und schädlich
ist. Die Verachtung aber auf das was absolut böse ist ohne Rücksicht
auf andere. Einen Menschen, den wir haßen, können wir doch noch 25
immer hochachten. Wir haßen nur den Menschen, der nicht ordentlich
ist, überhaupt den, der den ganzen Werth wegAvirft, wir können ihn
aber auch zugleich lieben. Wir können auch eine Achtung gegen die
Menschen haben ohne Liebe wegen seiner Talente und Verdienste.
Wenn junge Leute mit alten umgehen, so haben die jungen gegen die so
alten Hochachtung aber keine Liebe ; die Alten aber gegen die Jungen
Liebe aber keine Hochachtung. Es findet also unter ihnen keine voll-
249 kommene / Freundschaft statt. Unter ein paar Eheleuten findet man
aber eine Liebe von beiden Seiten und keine Achtung, denn da ist eine
sehr große Vereinigung. Der gute Name ist das negative der Ehre, 35
da man nicht ein Gegenstand der Verachtung ist. Ein Mensch hat nicht
allemahl einen Ruf; wenn er auch einen Nahmen hat. Ein Mensch, der
den Ruf sucht, der ist Ehrbegierig. Der aber der einen guten Namen
sucht ist Ehrliebig. Wenn ich meine Ehrbegierde so einschränke, daß
Praktische Philosophie Powalski 225
sie mit der Ehrbegierde anderer übereinstimmt, so ist dieses die Be-
scheidenheit. Sie ist das Merkmahl der Achtung gegen andere. Die Ver-
kennung seiner eigenen Wichtigkeit in Ansehung anderer ist die Blödig-
keit. Dahingegen ist der Hochmuth ein großer Eigendünkel von dem
5 Werthe seiner Selbst. Die Ambition oder Hochmuth ist die Bewerbung
um Ehre und immer anstößig. Der Stolz kann immer mit der Beschei-
denheit übereinstimmen. Der ächte Stolz gehet auf die Gleichheit. Die
Bescheidenheit ist eigentlich die Mäßigung der Anmaßung eines Vor/- 250
zuges bis zum Grad der Gleichheit. Die Ehrbarkeit ist die Ehren-
10 Würdigkeit. Diese Ehre ist aber nicht positive sondern negative.
Honeste vive heißt: lebe so daß du nicht der Ehre unwürdig bist,
oder daß du nicht verachtet wirst. Alles Verfahren, wo wir die Ehre
eines andern zu verringern suchen, ist das Gegentheil von der Ehrbar-
keit. Außer der Ehrbarkeit können wir das betrachten was uns Ehre
15 erwirbt. Zur Ehre gehören immer Verdienste, denn nur Verdienste
werden geehret. Unser Wohlverhalten, sofern es der Schuldigkeit und
unserer Pflicht gemäß ist, erwirbt nicht Ehre, sondern nur eine Billi-
gung. Der Schuldigkeit gebühret eine Billigung, Verdiensten Ehre.
Wenn Ehrlichkeit schon Ehre erwirbt, so muß das Zeitalter schon sehr
20 verderbt seyn, weil dieses schon selten geschehen muß. Die Ehrlichkeit
gehöret immer zur Schuldigkeit. Sie ist eine moralische Nothwendig-
keit; und zwar das mi/nimum morale. Was zur Nothdurft gehöret, 25i
das gehöret zu den kleinsten Wünschen des Menschen.
Von den Pflichten gegen andere Menschen.
25 Bey den Pflichten gegen andere Menschen haben wir zu bemerken,
daß wir etwas thun können 1, entweder aus Pflicht oder 2. aus
Neigung. Aus Pflicht thun wir etwas, weil es ein Gesezz gebiethet.
Wir thun es aus motiven, aus objectiven Gründen.
Wenn wir aber etwas aus Neigung thun. so thun wir es aus stimulis
30 und subjectiven Gründen.
Die PfUchten sind aut Liebes Pflichten, aut Pflichten der
Schuldigkeit. Die Rechtschaffenheit begreift in sich alle Pflichten
der Schuldigkeit. Die Liebes Pflichten sind aber alle unter der Gütig-
keit begriffen. Wir haben also Rechtschaffenheit und Güte zu beob-
35 achten. Die Gütigkeit ist L eine allgemeine und 2. besondere
Liebe. Alle Hand/lungen der Liebe entspringen entweder aus einer 253
allgemeinen Gütigkeit, oder aus einer besonderen Neigung; die allge-
15 Kaufs Schriften XXVII/1
226 Vorlesungen über Moralphilosophie
meine Gütigkeit ist das eine principium und die besondere Neigung das
andere principium der Liebe. Die Liebe ist also desto vollkommener,
wenn sie aus einem allgemeinen Wohlwollen entspringt. Je mehr aber
die Liebe aus einer Persönlichen Neigung entspringt desto einge-
schränkter ist sie. Die Regeln der Rechtschaffenheit sind wichtig, und 5
müßen noth wendig vor den Regeln der Gütigkeit vorhergehen. —
Rechtschaffen ist derjenige, deßen Wille und Handlungen überein-
stimmen mit den Pflichten der Schuldigkeit. Die Gütigkeit ist nur ein
complementum der Rechtschaffenheit. Handlungen der Gütigkeit sind
verdienstliche Handlungen, die Rechtschaffenheit sind wir aber schul- 10
dig. Alle Handlungen der Gütigkeit werden durch die Bedingung der
253 Rechtschaffenheit / bestimmt. In aller moralischen Anweisung ist zu
merken L daß man das thut was Recht ist, und 2. auch das
was die Gütigkeit befiehlt. Die Gütigkeit geschiehet entweder
aus einer privat Neigung, oder aus einem allgemeinen Wohlgefallen. 15
Wenn der Grund der Gütigkeit das Wohlgefallen an einer Person ist,
so ist es eine Gütigkeit aus Neigung. Wir müßen suchen unsere Gütig-
keit allgemein zu machen, weil sie dadurch moralisch wird. Die
moralische Liebe muß nicht aus einer privaten Neigung entstehen,
sondern aus dem allgemeinen Wohlgefallen an andern. Die Pflichten 20
der Rechtschaffenheit sind alle bestimmt, was aber aus Gütigkeit
geschehen soll, ist nicht bestimmt.
Pflichten der Gerechtigkeit sind Pflichten unserer Schuldigkeit.
Gerechtigkeit gehöret zum Character des Menschen. Ein sich selbst
gemachter Grundsaz ist eine Maxime, ein objectiver Grundsaz ist 25
ein Gesezz. Alle Handlungen die aus der Nächstenliebe entspringen,
254 erlauben alle daß / ich sie mir selbst bestimmen kann. Die Gütigkeit
ist gewißermaßen an sich selbst blind, weil man dabey nicht nach
Grundsäzzen handelt.
Wer die Gütigkeit mit der Gerechtigkeit will übereinstimmend so
machen und erhalten, der muß viele Einsicht haben. Die Gütigkeit
aus Grundsäzzen ist das allgemeine Wohlwollen. Die Gütigkeit aus
Instincten bestehet in der günstigen Neigung, die daraus entsteht,
wann und wie unsere Sinne afficirt werden. Sie ist nur pathologisch.
Ein Mensch, der von Natur mitleidig und barmherzig ist, der ist 35
fähig sehr schöner moralischer Eigenschaften. Doch ist dieser selbst
nicht moralisch . In der moral müßen wir unsere Pflichten aus Grund-
säzzen lernen, weil alles, was aus stimulis und Instincten herrühret
blind ist. Ein moralischer Instinct ist nicht ein moralischer Bewegungs
Praktische Philosophie Powalski 227
Grund. Das Mitleiden ist sozusagen eine Maschine um der Moralitaet
zur Hülfe zu kommen, wenn sie nicht etwa sollte stark genug seyn.
Wenn / der Mensch ohne Mitleiden ist, so ist er auch gemeinhin ohne 255
Grundsäzze der Gütigkeit und des Wohlwollens. Das Ideal der größten
5 Wechselliebe ist die Freundschaft, sie sezt allemahl eine Gleichheit
voraus. Sie bestehet darinn, daß wir des anderen Glückseeligkeit so
ansehen als unsere eigene. Freundschaft läßt sich nicht unter vielen,
sondern zween stiften. Die Freundschaft wird immer kleiner, je mehr
sie sich verbreitet. Sie wird rarer, je größer die wechselseitigen Ange-
10 legenheiten seyn und je mehr man darinn verwickelt ist. Der Luxus
vermehrt die Höflichkeit, aber nicht die Freundschaft. Die Freund-
schaft ist unter Frauenzimmern selten, weil sie alle untereinander in
einer Nebenbuhle rey stehen. Die Freundschaft betrifft entweder den
Wechselseitigen Nuzzen, oder die Wechselseitige Uebereinstimmung.
15 Ein jeder Mensch bewirbt sich um einen Freund aut seines Vortheils
wegen oder aus moralischen Ursachen. Die morali/sche Ursache 256
bestehet darinn, daß ich jemanden habe, in Ansehung deßen mein
Herz offen seyn kann. Der Zweck der Zurückhaltung macht, daß wir
nach einem Menschen seufzen, bey dem wir dieselbe ablegen können,
20 und uns also ihm entdecken. Zurückhaltung ist zwar auch in der
Freundschaft nöthig, doch nicht in dem Grad als bey fremden Per-
sonen. Denn wir haben oft Schwachheiten, die andern von uns übele
Begriffe beybringen könnten. Bey aller Freundschaft muß auch
zugleich Achtung seyn. Wenn man jemanden einen Menschen Freund
25 nennt, so bedeutet dieses die allgemeine Liebe, die ich auf jeden
werfen kann. Amor complacentiae ist die Liebe wo ich jemanden
werthschäzze wegen seiner Eigenschaften. Liebe des Wohlwollens ist
wo ich einen Menschen gern glücklich sehe. Liebe des Wohlwollens
ist nicht allemahl mit der Liebe des Wohlgefallens und diese nicht mit
30 jener verbunden. Alle Menschen können uns nicht Wohlgefallen. Die
Menschheit an sich muß / uns doch aber Wohlgefallen. 33T
Die Misanthropie ist wenn der Mensch ein Mißfallen überhaupt an
der ganzen Menschheit äußert. Das allgemeine Wohlgefallen an der
ganzen Menschheit entstehet aus der Beobachtung der ohnerachtet
35 aller Verderbniß dem Menschen noch anklebenden Bonitaet. Die
Liebe des Wohlwollens muß allgemein gegen alle Menschen seyn, und
der diese Liebe hat ist der Menschen Freund, und hat gar keinen
Feind. Die Rache ist nicht erlaubet. Sie ist unterschieden von der
Rache Begierde, da ich eine Wieder Vergeltung wünsche. Wenn ich
15«
228 Vorlesungen über Moralphilosophie
aber das Elend eines andern wünsche, bloß damit ich mich daran
vergnügen könne, so ist dieses Rachbegierde. Ein jedes Recht erfordert
eine Achtung, mithin darf sich kein Mensch unterstehen, das Recht
eines andern zu kränl?:en. Die Humanitaet bedeutet das Gefühl des
Mitleidens. Die Behutsamlceit ist eine Allgemeinheit des Wohlwollens, 5
sie ist negativ, sie ist die Gütigkeit, die eine allgemeine Verträglichkeit
mit sich führet.
«58 / Friedfertigkeit besizt der, der durch allgemeine Liebe zu trachten
sucht, daß sich der Menschen Haß nicht einfindet. Die Unschuld ist
bloß negativ und sie entspringt oft aus Unwißenheit. Sie ist ein Mangel lo
des Lasters, weil keine Ursachen da sind.
Die Unschuld ist keine Stärcke, sondern nur die Tugend. Empfind-
lich heißt der Mensch der leicht in Zorn geräth. Empfindlichkeit ist die
Reizbarkeit zum Auffahren und kann leicht besänftiget werden. Sie ist
mehr eine Ungezogenheit als Laster. Ihr ist die Gleichmüthigkeit i5
entgegen gesezt. Derjenige der Wohlthaten annimmt macht sich
obligat. Eine Wohlthat die man genoßen hat läßt sich niemahlen
ersezzen. Wohlthaten können zwar erwiedert werden, aber die Ver-
bindlichkeit, die wir uns dadurch aufbürden, kann nicht getilget
werden. 20
Einige Laster nennen wir viehisch, andere menschlich, noch andere
259 teuflisch. Wenn die Bosheit der Laster so beschaffen / ist, daß sie die
Menschheit bis zur Thierheit heruntersezt, so sind diese Laster
viehisch, worunter alle Sünden wieder uns selbst gehören zE: die
Trunlienheit. Andere Laster sind der Menschheit gemäß, zE. wenn 25
man nicht aus bösen Absichten sich berauscht. Teuflische Laster sind
aber die, die nicht aus der Menschheit entspringen, die unmittelbar
auf das böse gehen, und dazu gehöret die Undankbarkeit.
L Die Undankbarkeit. Wenn wir selbst demjenigen Schaden
thun, der unser Wohlthäter gewesen ist, dieses geht über die Mensch- so
heit und heißt teuflisch. Sie ist der Menschheit entgegen L weil ein
Mensch denjenigen nicht liebt, der uns geliebet hat, 2. weil es die
Wohlthätigkeit im ganzen menschlichen Geschlecht vertilgen würde,
und deßwegen wird sie von allen Menschen gehaßt und heißt teuflich.
2. der Neid und 3. die Schadenfreude. Hier ist die Bosheit 35
unmittelbar und geht auf den Nachtheil anderer. Sie ist teuflisch
360 a.) weil sich hier ein / Mensch über eines andern Schaden freuet, ohne
davon eigenen Nuzzen zu haben, b). der Neid ist teuflisch weil ein
Mensch andere wegen ihrer Eigenschaften und Vollkommenheiten
Praktische Philosophie Powalski 229
haßt, c.) Die Undankbarkeit ist teuflisch, weil man hier seinen eigenen
Wohlthäter haßt. Wir haben zwey Ideale, Himmel und Hölle. Unter
ersterm verstehen wir alle Wohlthaten und Tugenden. Unter der
lezteren aber alle Laster. Der Mensch schäzt sich in seinem Zustande
5 nicht absolute, sondern im Verhältniß mit andern. Er schäzt sich
nicht nach den moralischen Regeln sondern im Vergleich mit andern
Menschen. Die absolute Schäzzung bestehet in der Vergleichung mit
den moralischen Gesezzen. Wenn also die Schäzzung unserer Person
bloß relativ ist, so entspringt daraus natürlicher Weise der Neid. Der
10 Neid ist der Haß auf andere und zwar um der Hinderniße, die sie uns
in Ansehung unserer relativen Schäzzung machen. Derjenige, der
seinen persönHchen Werth und Zustand bloß relativisch / schäzt, der 361
hat zwey Wege und Mittel sich zu befriedigen. 1. Wenn ein anderer
viel Vermögen hat und ich weniger, so entspringt daraus ein Unwille,
15 und dann kann ich mich befriedigen, wenn ich mich über den Vorzug
anderer erhebe, und das ist die Eifersucht. 2. Wenn ich den Vorzug
anderer für größer ansehe, ihn zu verringern suche, dann ist dieses der
Neid, beides sind Begierden des Relativen. Alle Menschen scheinen im
Verhältniß anderer etwas zu verliehren. Die Eifersucht würde nicht
20 seyn, wenn nicht andere Menschen wären, sie entsteht also aus der
relativen Selbstschäzzung. Die Eifersucht können wir eigentlich die
Neigung nennen, da wir an den Vorzügen anderer ein Mißvergnügen
haben, welches entspringt, wenn wir uns relativisch schäzzen, wodurch
denn unser Werth verunzieret wird. Diese Eifersucht ist allen Men-
25 sehen schlechterdings schon von der Natur eingelegt. Sie ist vom Neid
unterschieden, denn dieser bedeutet den Abscheu, den wir gegen
anderer Vorzüge haben, der aber doch nicht dahin zielet, unsere Vor-
züge zu vergrößern, / sondern nur des andern seine zu verringern, die 263
wahre rechte Eifersucht und Aemulation hat den Zweck, seine eigenen
30 Verdienste zu vergrößern, folglich sucht man hier nur die Ungleichheit
zu verhüten. Die Menschen aber verfallen mehr auf den Neid als auf
die NachEiferung, denn sie wollen anderer Ehre verringern und zu
ihrer hinzusezzen.
Der Elende ist allezeit mißgünstig und neidisch, wie auch unser
35 Autor sagt, daß ein Elender immer boßhaft ist. Alles dieses ist noch
menschlich, ob es gleich ein Laster ist. Das Mißvergnügen an den Vor-
theilen kann ein unmittelbares Vergnügen an dem Unwillen anderer
seyn, dieses ist eine teuflische Eigenschaft. In unserer Erziehung wird
hier sehr grob gehandelt, da die Aeltern ihre Kinder vor anderen
230 Vorlesungen über Moral philosophie
zurechtweisen, wodurch sie sie also bewegen, anderer ihre Vollkom-
menheiten zu haßen. Die Schadenfreude ist teuflisch, und bestehet
darinn, wenn man eine unmittelbare Begierde hat, andern Schaden
263 zuzufügen. Wir / nennen diese Laster teuflisch, weil sie den Grad der
Menschheit überschreiten, deswegen relegiren wir sie in die Hölle. 5
Wir können auch generaliter sagen, daß wir englische Tugenden haben,
wozu 1. die Liebe des Feindes gehöret, 2. wenn man das
allgemeine beste befördert, auch mit Aufopferung seines
eigenen Nuzzens. Der Mensch muß, im Grunde betrachtet, aus
Grundsäzzen weder gut noch böse seyn. Der Mensch ist daher laster- lo
haft aus Neigung und nicht eigentlich mit gutem Willen und mit
wahrer Lust, weil ein jeder Mensch auf der Stelle, wenn er will, tugend-
haft seyn kann, folglich nur aus Grundsäzzen und nicht nach Neigung.
Ein Mensch ist nicht ganz lasterhaft, weil er immer einen Wunsch hat
beßer zu seyn. Er ist nicht ganz gut, denn er ist gut aus Vorsaz, er hat i5
aber nicht genugsam Neigung dazu. Wenn er ganz gut seyn soll, so
muß er gut seyn aus Grundsäzzen und auch aus Neigung folglich auch
«64 böse. / Es ist auch kein Laster, zu welchem nicht ein Grad der Auf-
munterung und ein Verbeßerungs-Mittel gefunden werden könnte.
Darin bestehet auch eben die Gebrechlichkeit der Tugend. Man muß 20
sie also ansehen als wenn sie vom Glück abhinge, folglich unvoll-
kommen sey, darum weil der Wille des Menschen böse ist ; folglich ist
sie nicht englisch sondern menschlich. Zum Laster hat er einen Trieb,
aber keine Bildung, zur Tugend aber hat er einen Vorsaz, aber keinen
genügsamen Antrieb, die weil der Mensch nicht vor das was in 25
der Thierheit liegt, verantwortet werden kann. So kann er auch im
Auge Gottes angesehen werden als ein Geschöpf, welches Mittel
hat, sich aus dem Verderben zu helfen. Die Gebrechlichkeit der
Tugend macht uns wehmüthig, die Heilbarkeit des Lasters aber
hoffnungsvoll. 30
Gleich wie wir etwas in Ansehung der Tugend und Laster haben, was
Ä65 über die Menschheit gehet, wovon wir das eine eng/lisch das andere
teuflisch nennen, so haben wir auch wieder Laster, die unter der
Menschheit sind, und diese nennen wir thierisch, worunter wir L das
crimen carni, soferne sie wider die Natur sind, 2. die versoffene 35
Neigung, die Unmäßigkeit im freßen und saufen, 3. die Unreinigkeit
rechnen.
Tugenden, die unter der Menschheit sind, haben wir nicht, das
Viehische macht den Menschen verächtlich, das Teuflische nur ver-
Praktische Philosophie Powalski 231
haßt. Die Viehischen Laster sind also ärger als die Teuflischen, denn
die allgemeine Verachtung ist größer als der allgemeine Haß.
Die Verbindlichkeit des Menschen in Ansehung der Wahrhaftigkeit.
Hier giebt es eine materiale und formale Verbindlichkeit. Die materiale
5 ist, wenn ich dem entgegen handele oder die Bedingung überschreite
unter welcher der Mensch das Recht determiniren kann. Dieses Recht
oder Regel ist, daß der Menschen ihre Aussagen / wahr seyn. Die 2««
Wahrhaftigkeit ist die Bedingung, unter der die pacta statt finden,
derjenige der dieser Regel entgegen handelt, der übertritt sie forma-
loliter. Dieses Verbrechen bestehet darinn, wenn ein Mensch wieder die
Regel handelt, unter deren Bedingung er das Recht determiniret.
Ein solcher Mensch handelt wieder die wesentliche Bedingung welches
also ein formales Laster ist, welches unter gar keiner Bedingung
erlaubt ist. Lügen ist also nicht erlaubt, es mag unter Umständen
15 geschehen unter welchen es will. Der Mensch muß nicht lügen wenn er
auch dadurch sein Leben erhalten könnte. Auch in casu neceßitatis
kann die Lüge nicht gerechtfertiget obgleich verziehen werden,
obgleich sie an und vor sich lücht gerechtfertiget werden kann. Selbst
der casus neceßitatis ist vor dem Höchsten Wesen jederzeit unver/- ui
20 zeihlich. Die Gütigkeit Gottes ist nur eine Eigenschaft des Führers
und Regierers und nicht des Richters. — Die Lüge macht verächtlich :
Die Wahrhaftigkeit hingegen ist Ach tungs würdig. Seine Sprache ist
ihm gar nichts nüzze, und man wünscht daß ein solcher Mensch
stumm wäre. Die Wahrhaftigkeit ist dasjenige was einem die Ehre
25 erhält. Die Wahrheit ist immer eine rectitudo die Lüge aber eine
Schlangen Linie, sie ist etwas gekünsteltes, weil man immer etwas
erfinden muß. Das erste was man von einem Freunde fordern kann
ist die Wahrhaftigkeit. — Mendacium est si quis mentem suam signi-
ficare velle declarare alterum in errorem inducit: Nicht eine jede
30 vorsäzhche Verleitung in Irrthum ist eine Lüge, nemlich, wenn ich
nicht sage, ich wolle ihm meinen Sinn erklären. Wenn / man lügt, so 368
begeht man ein formales Verbrechen und ein Laster, welches unter
keiner Bedingung erlaubt ist. Das was materiell Unrecht ist, das ist
unter vielen Bedingungen recht. Die Lüge ist aber allen Bedingungen
35 nach unrecht. Es giebt auch keine Nothlüge, denn weil diese dem
Recht wiederstreitet, so kann sie auch in der Noth nicht gerechtferti-
get werden. Die Pflicht der Gütigkeit kann zwar durch die Noth über-
wogen werden, die Lüge aber ist nicht eine solche Pflicht der Gütigkeit.
In Ansehung mancher Lüge ist es oft der fragihtati humanae zu ver-
232 Vorlesungen über Moralphilosophie
zeihen. Dieses findet vor dem Menschlichen Richter Stuhle statt. Wir
haben zwar ein moralisches Gesezz. Aber unsere Schwäche macht in
Ansehung der Menschen einige Nothfälle. Ein falsches Zeugniß wovon
369 bey andern abzulegen, ist gar nicht erlaubt, wenn man auch vortheil/-
hafte Absichten dabey hat. Dasjenige nur was an und vor sich böse ist, 5
das ist in gar keiner Absicht gut. Die Wahrheit ist nun eine noth wendige
Pflicht des Menschen. Wahrheit in Ansehung deßen was wir sagen und
in uns denken, aufrichtige Gesinnungen in Ansehung Gottes und der
Religion, das ist eine Bedingung unter der alles Betragen einen Werth
hat. 10
Die Redlichkeit id est die eigentliche Wahrhaftigkeit im Betragen
ist die Bedingung des guten in allen Stüklcen.
Simulatio und Dißimulatio ist erlaubt. Es ist zwar oft eine vorsäz-
liche Verleitung in Irrthum, indem ich mich entweder nicht äußere
oder etwas zurückhalte ; welches also an und vor sich nicht erlaubt is
ist, indeßen ist es in gewißen Fällen und Umständen erlaubt. Es ist
vielmehr nöthig, daß man sich dißimulire id est enthalte und ver-
210 schwiegen sey und dieses ist nicht / anzusehen als ein Betrug. Wenn
man die Simulation und dißimulation vergleicht, so ist erstere weit
näher dem Betrüge als leztere, denn die dißimulation ist bloß der 20
Offenherzigkeit entgegengesezt. Ich kann also alle Äußerungen
zurückhalten, bey der Simulation aber muß ich durchaus ein Recht
haben, denn es ist eine vorsäzliche Verleitung eines andern. Sie kommt
dem Betrüge sehr nahe, und kann nur 1. im Nothfall, 2. auf der andern
Seite auch dann gerechtfertiget werden, wenn ich unbefugte und unge- 25
rechte Absichten eines andern vereiteln kann. Haß ist vom Zorn darinn
unterschieden, daß der Zorn eine Aufwallung, eine Hizze in den
affecten ist, in welcher er Begierden hat, die einem andern zum Nach-
theil gereichen, wo er aber bald seiner mächtig ist. Der Haß ist aber
371 ein daurender / Vorsazz den andern zu schaden. Der Zorn gehört zum 30
Gefühl, der Haß aber zur Neigung. Der Zorn ist deswegen tadelhaft,
weil er aus Unbesonnenheit und nicht aus Grundsäzzen entspringt.
Er ist der Sittsamkeit nicht anständig, er erzeugt aber das Böse nicht,
so wie der Haß. Der Haß der Beleidigten ist natürlich. Obgleich der
Haß zwar in unserer Thierheit steht, so wird er durch die Moral so sehr 35
eingeschränkt, daß durch dieselbe der Haß der Person völlig verbothen
wird. Der Zorn ist lang nicht so sehr nachtheilig für uns als der Haß,
denn der nagt am Herzen. Wenn wir gegen die Beleidiger, die uns den
Haß ablokken, ein freymüthiges Betragen hegen, dann machen wir
Praktische Philosophie Powalski 233
aus Feinden Freunde. Unter das was niederträchtig genannt wird,
gehöret auch der Schmeichler, der sich fälschUch und mit Fleiß unter
andere erniedriget, und anderer Stolz über sich erhebet, und demselben
Warnung giebt.
5 / Wir haben von Natur nicht nur eine Neigung sondern auch einen zu
Beruf, über andere zu urtheilen. Die Vorsehung hat die Menschen zu
natürlichen Richtern über die Moralitaet gemacht. Wir sind zuvor
verbunden zu urtheilen, aber nicht zu richten, denn alles Urtheil über
andere ist nur insofern erlaubet, als man ihnen nicht nachtheilig und
10 schädlich ist.
Die Bestimmung der Menschheit
Die Question von der Bestimmung der Menschheit wird contro-
vertirt zwischen Roußeau und andern Philosophen. Er hat eine große
Kenntniß davon gegeben, welches ein sehr großer Nuzzen ist. Rous-
15 seaus Frage ist, ob der Mensch von Natur gut oder böse ist ? Er ist gut,
sagt er, und wird durch Verwahrlosung und Erziehung böse, daher sind
die Regeln der Erziehung bloß negativ. Der Theologische Theil sagt,
daß der Mensch / von Natur böse sey. Der Mensch ist aber im Stande 2:4
der Natur nicht nur beßer und unverderbter sondern auch glücklicher
20 als im civilisirten Zustande. — In der Menschlichen Geschichte haben
sich alle Laster entsponnen und alles Unglück besonders der Luxus
vorgefunden. Die Wißenschaften, sagt er, haben den Menschen oft
unglücklich gemacht, denn obgleich sie die Laster nicht herfür ge-
bracht haben, so können sie dieselben auch nicht ausrotten. L Kann
25 der Mensch durch vereinigte Bestrebungen glücklich werden, wenn er
sich im civilisirten Zustande cultiviret, oder ist dieses alles nicht
nüzlich ? 2. Was ist das Maaß der Perfection seines Charakters ?
erlangt er sie im Bürgerlichen oder Natürlichen Zustande ? Wir
müßen hier unterscheiden. L Die Bestimmung des einzelnen Men-
30 sehen, und 2. Die Bestimmung des ganzen Mensch/liehen Geschlechts. 275
Der Zweck der Natur im ganzen genommen ist Moralisch zu wel-
chem der Mensch nur durch den größten freyen Gebrauch seiner
Kräfte gelangen kann. Der Mensch hat zwey Zwekke, die auf die
Erhaltung seiner Natur und auf die Glückseeligkeit seines Zustan-
35 des gehen. Die Bestimmung des menschlichen Geschlechts ist der
Bestimmung des einzelnen Menschen entgegen. Diesen Abbruch hat
Rousseau als ein Argument angenommen, daß die Bestimmung des
234 Vorlesungen über Moralphilosophie
ganzen Menschlichen Geschlechts gar nichts beytrage zur Glück-
seeligkeit des einzelnen Menschen. Der Mensch im ganzen Mensch-
lichen Geschlechte betrachtet, ist offenbar zur Gesellschaft bestimmet,
3T6 sodaß wir mit Gewißheit sa/gen können, daß der Mensch nicht vor
sich selbst, sondern gleichsam als eine Biene zum Bienenstock er- 5
schaffen ist. Im Stande der Natur ist der Mensch frey, im Bürgerlichen
aber ist er unter dem Zwange. Er verliehret hier also etwas von seiner
natürlichen Freyheit. Hier muß er Schlauigkeit und Klugheit gebrau-
chen. Hier entspringen Bedürfniße welche gar nicht zum Natürlichen
Zustande gehören. ZE. der Luxus. Es entspringen neue Arten von lo
Uebel, Schmählerung, Verlust der Ehre, überhaupt alles, wovon der
rohe und wilde Mensch gar nichts weiß. Im Gesellschaftlichen Zu-
stande verändert auch oft der Mensch seine Bestimmung der Natur,
folglich auch ihre Zwekke. Die Physische Bestimmung ist also von der
Moralischen unterschieden. Wißenschaften und die Gelehrsamkeit, 15
ai» sind, was / die Bestimmung des einzelnen Menschen betrifft, der phy-
sischen entgegen. In der moralischen Bestimmung aber sind sie noth-
wendig. Die Wißenschaften schwächen die Gesundheit und sind den
Mängeln unseres Alters nicht angemeßen. In der Bürgerlichen Gesell-
schaft ist aber ohne Wißenschaft alles roh, wild und unpolirt. Der 20
Bürgerliche Mensch ist ein verunarteter physischer Mensch. Je mehr
den Menschen die Einfalt der Natur abgehet, desto mehr Tort ge-
schiehet dadurch der physischen Bestimmung des Menschen. Wir
können aber die menschliche Bestimmungen und die Vollkommen-
heiten des Menschen nicht erreichen, wenn wir nicht der physischen 25
einen Abbruch tliun. Das böse unter den Menschen hat sie gezwungen
einen Gesezzlichen Zwang zu errichten. Da der Mensch nicht anders
zts als durch / den Zwang im Zaume gehalten werden kann, so muß er
sich nothwendig einer Gewalt unterwerfen. In der Gesellschaft ent-
wickeln sich alle Keime, alle Fähigkeiten, alle Talente des Vermögens so
des Verstandes, aber auch alle boshaften Keime. Zur völligen Be-
stimmung des Menschen gehöret die Ausübung aller Talente. Der
Bürgerliche Zustand also, in welchem es möglich ist, daß alle Keime
entwikkelt werden, ist höchst nothwendig, folglich gehöret er zur Be-
stimmung des Menschen. In dieser Bürgerlichen Gesellschaft geschieht 35
sowohl dem guten als dem bösen des Thierischen der Menschheit ein
Abbruch. In der Bürgerlichen Gesellschaft ist der Mensch ein discipli-
nirtes, im physischen Zustande aber ein rohes Thier. In Summa be-
trachtet ist doch der Bürgerliche Zustand derjenige, wovon wir die
Praktische Philosophie Powalski 235
größte Vollkommenheit erlangen können. Außer dem Ge/sezlichen ai9
Zwange wird noch ein moralischer Zwang erfordert, dieser moralische
Zwang bestehet darinnen, daß man durch Urtheile andere nöthiget in
den Schranken der Moralitaet zu bleiben. Diesen morahschen Zwang
5 exerciren wir schon in Gesellschaften, aber nur in einem kleinen Grade.
Es ist dieses nicht ein äußerer Zwang der Obrigkeit, sondern wenn das
Urtheil des einen den andern vom bösen abhält. Bey der Obrigkeit
kommt das moralische Verfahren gar nicht in Anschlag. Es können noch
viele tausend Jahre verfheßen, ehe wir unsere völlige Bestimmung
10 erhalten, welches alsdenn das Reich Gottes auf Erden seyn wird,
wenn alles nicht nur Bürgerlich, sondern auch moralisch gut seyn
wird. Die Mittel, diesen Zu/stand herbeyzuführen, sind, die Philo- 280
sophen müßen instruiren. Die Geistlichkeit muß in Ansehung der
Moralitaet die Menschen zu bilden suchen, und die Moral muß noch
16 häufig Machinen herbeyschaffen.
Finale.
III
Moralphilosophie Collins
Collegium philosophicum
Auetore Kantio
Regiomonti die XIX Aprilis. MDCCLXXXV.
Moralphilosophie
nach den akad: Vorlesungen
des
Herrn Prof: Kant.
Königsberg im Wintersemestre
1784 und 1785.
Georg Ludw CoUins
d:GG:S.
über Baumgarten.
Moralphilosophie Collins 243
/ Prooemium. I
Alle Philosophie ist entweder theoretisch oder practisch. Die theo-
retische ist die Regel der Erkentniß , die practische ist die Regel des
Verhaltens in Ansehung der freyen Willkühr. Der Unterschied der
5 theoretischen von der practischen Philosophie ist das Object. Die
theoretische hat zum Object die Theorie, und die practische die
praxin. Sonst theilt man die Philosophie in die speculative und in die
practische. Man nennt überhaupt Erkentniße theoretisch und prac-
tisch, die Objecte mögen seyn wie sie wollen. Theoretisch sind sie,
10 wenn sie der Grund sind von den Begriffen der Objecte, practisch
aber wenn sie der Grund von der Ausführung der Erkentniß der
Objecte sind; so ist z. E: eine theoretische und practische Geometrie,
eine theoretische und practische Mechanic, eine theoretische und
practische Medicin, eine theoretische und practische Jurisprudence ;
15 das Object ist immer daßelbe. Also, wenn ohnangesehn des Objects,
doch die Erkentniße theoretisch und practisch seyn, so betrift es nur
die Form der Erkentniß, und zwar die theoretische zur Beurtheilung
des Objects, die practische zur Hervorbringung des Objects. Hier ist
aber der Unterschied des Theoretischen und practischen in Ansehung
20 des Objects. Die practische Philosophie ist nicht der Form nach, son-
dern dem Object nach practisch, und dieses Object sind die freien
Handlungen und das freie Verhalten. Das Theoretische ist das Erken-
nen und das practische ist das Verhalten. Wenn ich vom Gegenstande
abstrahire, so ist die Philosophie des Verhaltens diejenige, die eine
25 Regel giebt vom guten Gebrauch der Freiheit, und dieses ist das
Object der practischen Philosophie, ohne Ansehen der Gegenstände.
Also handelt die practische Philosophie vom Gebrauch der freien Will-
kühr, nicht in Ansehung der Gegenstände, sondern unabhängig von
allen Gegenständen. Die Logic giebt uns Regeln in Ansehung des
30 Gebrauchs des Verstandes, und die practische Philosophie in An-
sehung des Gebrauchs des Willens, welches die zwo Kräfte sind,
woraus alles in unserm Gemüthe entsteht. Wenn wir nun die Ober-
kräfte von Erkenntniß und Bewegungs Vermögen nehmen, so ist das
erste das Ober Erkenntniß Vermögen, oder der Verstand ; und das 2te
35 das Ober Begehrungs Vermögen, oder die freie Willkühr. Nun haben
244 Vorlesungen über Moralphilosophie
wir 2 Instructiones für beide Kräfte, nehmlich die Logic für den
2 Verstand, und die practische Philosophie für den Willen. / Die untere
Kräfte können nicht instruirt werden, weil sie blind sind. Wir erwägen
also hier ein Wesen, was freie Willkühr hat, welches nicht allein ein
Mensch, sondern auch ein jedes vernünftiges Wesen seyn kann. Und 5
hier erkennen wir die Regel des Gebrauchs der Freiheit, und das ist die
practische Philosophie generaliter. Sie hat also objective Regeln des
freyen Verhaltens. Eine jede objective Regel sagt was geschehen soll,
wenn es auch niemals geschieht. Die subjective Regel sagt, was da
wirklich geschiehet, denn auch bey den Lasterhaften sind Regeln, lo
nach denen sie handeln. Die Anthropologie beschäftiget sich mit den
subjectiven practischen Regeln, sie beobachtet das wirkliche Ver-
halten des Menschen allein, die moralische Philosophie sucht sein
gutes Verhalten unter Regeln zu bringen, nehmlich was geschehen
soll. Sie enthält Regeln des guten Gebrauchs des Willens, so wie die is
Logic Regeln enthält des richtigen Gebrauchs des Verstandes. Die
Wißenschaft der Regel, wie der Mensch sich verhalten soll, ist die
practische Philosophie, und die Wißenschaft der Regel des wirklichen
Verhaltens ist die Anthropologie; diese beide Wißenschaften hangen
sehr zusammen, und die Moral kann ohne die Anthropologie nicht 20
bestehen, denn man muß das Subject erst kennen, ob es auch im
Stande ist, das zu leisten, was man von ihm fordert, das es thun soll.
Man kann zwar die practische Philosophie wohl erwegen, auch ohne
die Anthropologie, oder ohne die Kentniß des Subjects, allein denn ist
sie nur speculative, oder eine Idee ; so muß der Mensch doch wenigstens 25
hernach studiert werden. Es wird immer geprediget was geschehen
soll, und keiner denkt daran ob es geschehen kann, deswegen werden
auch die Ermahnungen, welches tavtologische Wiederhohlungen der
Regel, die schon ein jeder weiß, sind, einem sehr langwierig vorkom-
men, indem nichts mehr gesagt wird, als was man schon weiß, und die 30
Kanzel Reden von solchen Ermahnungen sind sehr leer, wenn der
Redner nicht zugleich auf die Menschheit sieht; und hierinn ist
Spalding allen vorzuziehen. Daher muß man den Menschen kennen,
ob er auch das thun kann, was man von ihm fordert. Die Betrachtung /
3 der Regel ist unnütz, wenn man nicht die Menschen bereitwillig machen 35
kann, solche Regeln zu befolgen, deswegen hangen diese 2 Wißen-
schaften sehr zusammen. Es ist aber so, als wenn die theoretische
Physic mit den Experimenten verbunden wird, denn man macht auch
mit dem Menschen Experimente. Z:E: Man probirt einen Bedienten
Moralphilosophie Collins 245
ob e^r treu ist. Es sollte also bey einem Examen des Predigers eben so
auf seinen Character und Herz gesehen werden, als auf seine dogma-
tische Kentniße.
Die practische Philosophie ist demnach nicht der Form, sondern
ödem Object nach practisch. Sie ist eine Ausübungs-Lehre. So wie die
Logic eine Vernunft Wißenschaft ist, so soll auch das Object der
practischen die Praxis seyn. Sie ist also eine Wißenschaft über die
objectiven Gesetze der freien Willkühr, eine Philosoj^hie der objec-
tiven Nothwendigkeit der freien Handlungen oder des Willens, das
10 heißt, aller nur möglichen guten Handlungen, so wie die Anthropologie
eine Wißenschaft ist über die subjectiven Gesetze der freien Willkühr.
Die practische Philosophie handelt nicht von einer besonderen Art von
Gegenständen der Praxis, sondern ohnangesehn aller Gegenstände der
Praxis überhaupt von freien Handlungen, so wie die Logic. Die prac-
15 tische Regeln, die da sagen, was geschehen soll, sind dreierley : Regeln
der Geschiklichkeit, Regeln der Klugheit, und Regeln der Sittlichkeit.
Eine jede objective practische Regel wird durch den Imperativum
ausgedrukt, die subjective practische Regel aber nicht, z :E : die Alten
pflegten zu zeigen, das ist zwar, aber so sollte es doch nicht seyn.
20 Aber z :E : man sollte im Alter nicht mehr so spaaren, als in der Jugend,
weil man im Alter nicht mehr so viel braucht, indem man nicht so
lange zu leben hat, als in der Jugend. Es giebt also Serley Imperativos :
einen Imperativum der Geschiklichkeit, der Klugheit und der Sitt-
lichkeit. Denn ein jeder Imperati\nis drükt ein sollen, also eine
25 objective Nothwendigkeit aus, und zwar eine Nothwendigkeit der
freien und guten Willkühr, denn das gehört zum Imperative, und
neceßitirt objectiv. Alle Imperativi enthalten eine objective Nöthi-
gung, und zwar unter der Bedingung einer freien guten Willkühr. Die
Imperativi der Geschiklichkeit sind problematisch, / die Imperativi 4
30 der Klugheit sind pragmatisch, die Imperativi der Sittlichkeit sind
Moralisch. Die problematische Imperativi sagen, daß bey einer jeden
Regel eine Nothwendigkeit des Willens zu einem beliebigen Zweck
angezeigt wird. Die Mittel werden aßertorisch enuncirt, die Zwecke
aber sind problematisch. Z :E : die practische Geometrie ertheilt solche
35 Imperativos. Z:E: Wenn ein Triangel soll gemacht werden oder ein
Quadrat oder ein Sechseck, so muß man nach folgenden Regeln ver-
fahren. Es ist also ein beliebiger Zweck durch angezeigte Mittel. Also
alle practische Wlßenschaften generaliter, als Geometrie, Mechanic
etc., enthalten Imperativos der Geschiklichkeit. Sie sind von großem
246 Vorlesungen über Moralphilosophie
Nutzen, und müßen allen übrigen Imperativis vorgehen, denn man
muß im Stande seyn beliebige Zwecke auszuführen, und Mittel haben,
solche Zwecke zu erlangen, ehe man auf gegebne Zwecke ausführen
kann. Die Imperativi der Geschiklichkeit imperiren nur hypothetisch ;
denn die Noth wendigkeit des Gebrauchs der Mittel ist allemal bedingt, 5
nemlich unter der Bedingung des Zwecks. Die practische Philosophie
enthält nicht Regeln der Geschiklichkeit, sondern Regeln der Klugheit
und der Sittlichkeit. Sie ist also eine pragmatische und moralische
Philosophie, pragmatisch in Ansehung der Regeln der Klugheit, und
mioralisch in Ansehung der Regeln der Sittlichkeit. lo
Die Klugheit ist die Fertigkeit im Gebrauch der Mittel zum all-
gemeinen Zwecke der Menschen, das ist, zur Glükseeligkeit, so ist
hier schon der Zweck bestimmt, welches bey der Geschiklichkeit nicht
ist. Zur Regel der Klugheit wird 2erley erfordert: den Zweck selber
zu bestimmen, und denn, den Gebrauch der Mittel zu diesem Zwecke. 15
Es gehört also dazu eine Regel der Beurtheilung deßen, was zur Glük-
seeligkeit gehört, und die Regel des Gebrauchs der Mittel zu dieser
Glükseeligkeit. Die Klugheit ist also eine Fertigkeit den Zweck und
5 auch die Mittel zureichend zu bestimmen. Die Bestimmung der Glük-
seeligkeit ist das erste bey der Klugheit, denn viele streiten noch, ob 20
die Glükseeligkeit im Erhalten oder Erwerben besteht. Der scheint
glüklicher zu seyn der keine Mittel hat, aber auch nichts von dem,
was durch diese Mittel kann erlangt werden, als derjenige, der viel
Mittel hat, aber auch viele braucht. Also ist die Bestimmung des
Zwecks der Glükseeligkeit und worinn sie besteht, das erste, und die 25
Mittel zu derselben das 2'® der Klugheit. Die Imperativi der Klugheit
gebieten nicht unter einer problematischen Bedingung, sondern unter
einer aßertorischen allgemeinen nothwendigen Bedingung, die bey allen
Menschen ist. Ich sage nicht, woferne du willst gliiklich seyn, so must du
das und jenes thun, sondern weil jeder glüklich seyn will, welches doch 30
von jedem praesupponirt wird, so muß er das beobachten. Es ist also
eine subjective nothwendige Bedingung. Ich sage nicht, du sollst glük-
lich seyn, denn wäre es eine objective nothwendige Bedingung, sondern
ich sage, weil du glüklich seyn willst, so must du dieses und jenes
thun : Wir können uns aber noch einen Imperativum denlvcn, wo der 35
Zweck ausgemacht ist, mit einer Bedingung, die nicht subjectiv
sondern objectiv imperirt, und das sind die sittlichen Imperativi, z : E :
du sollst nicht lügen, ist kein problematischer Imperativus, denn sonst
müste es heißen: Wenn es dir keinen Schaden bringt, denn solst du
Moralphilosophie Collins 247
nicht lügen, sondern es imperirt categorisch und schlechthin ; du solst
nicht lügen. Es ist also dieser Imperativus entweder ohne alle Bedin-
gung, oder unter einer objectiven nothwendigen Bedingung. Der
Zweck ist bey dem moralischen Imperative eigentlich unbestimmt,
5 die Handlung ist auch nicht nach dem Zweck bestimmt, sondern
gehet nur auf die freye Willkühr, der Zweck mag seyn, welcher er
wolle. Der moralische Imperativus imperirt also absolut, ohne auf die
Zwecke zu sehen. Unser freies Thun und Laßen hat eine innere Boni-
taet, giebt also dem Menschen einen unmittelbahren inneren absoluten
10 Werth der Sittlichkeit. Z :E : derjenige, der Wort hält, hat immer einen
unmittelbahren innern Werth der freien Willkühr, der Zweck mag
seyn welcher er will. Die pragmatische Bonitaet giebt aber dem Men-
schen keinen innern Werth.
/ Die moralische Systemata der Alten. (
15 Zum Grunde aller moralischen Systemate der Alten lag die Frage
vom summo bono, worinnen daßelbige bestehe, und in der Beant-
wortung dieser Frage unterschieden sich die Systemata der Alten.
Dieses Summum Bonum nenne ich ein Ideal, das ist, ein Maximum
der Sache was man sich denken kann, wornach man alles bestimmt
20 und abmißt. Man muß sich in allen Stüken zuerst ein Muster conci-
piren, wornach alles kann beurtheilt werden: Das Summum Bonum
ist kaum möglich, sondern ist nur ein Ideal, das ist eine Muster Idee,
ein Urbild aller unsrer Begriffe vom Guten. Worinn besteht das
höchste Gut ? Die vollkommenste Welt ist das höchste erschaffene
25 Gut. Zu der vollkommensten Welt aber gehört die Glükseeligkeit der
vernünftigen Geschöpfe, und die Würdigkeit dieser Geschöpfe solcher
Glükseeligkeit. Die Alten sahen wohl ein, daß bloß die Glükseeligkeit
nicht das einzige höchste Gut seyn könnte, denn wenn alle Menschen
diese Glükseeligkeit treffen möchte, ohne Unterschied der Gerechten
30 und Ungerechten, so wäre zwar die Glükseeligkeit da, aber keine
Würdigkeit derselben, und wenn dieses zusammen genommen wird,
so ist es das höchste Gut. Der Mensch kann nur in so fern hoffen
Glüklich zu seyn, in so fern er sich derselben würdig macht, denn das
ist die Bedingung der Glükseeligkeit, die die Vernunft selbst verlangt.
35 Ferner sahen sie ein, daß die Glükseeligkeit beruhe auf der Bonitaet
des freien Willens, auf den Gesinnungen, alles deßen sich zu bedienen,
was ihm die Natur reichlich schenkt. Wer reich ist und alle Schätze
248 Vorlesungen über Moralphilosophie
hat, von dem fragt es sich, was er vor Gesinnungen hat, von diesen
für einen Gebrauch zu machen ? Also ist die Beschaffenheit und Voll-
kommenheit der freien Willkühr, welche den Grund enthält von der
Würdigkeit der Glükseeligkeit, die moralische Vollkommenheit. Das
physische Gut oder das Wohlbefinden, wozu Gesundheit, Wohlhaben 5
Tete, gehört, macht nicht das / höchste Gut aus. Man stelle sich vor:
Wenn die Welt voll von solchen vernünftigen Geschöpfen wäre, die
sich alle wohl verhielten, also der Glükseeligkeit würdig wären, und sie
wären in den dürftigsten Umständen mit Kummer und Noth umgeben,
denn hätten sie keine Glükseeligkeit, folglich wäre da kein höchstes lo
Gut, und umgekehrt, wenn alle Geschöpfe von GlükseeHgkeit umgeben
wären, und wäre kein Wohl verhalten, keine Würdigkeit, so wäre als-
denn auch kein höchstes Gut. Das Ideal des höchsten Guts war bey
den Alten 3fach
1.) das Cynische Ideal, das ist, der Secte des Diogenes i5
2.) das Epicurische Ideal, das ist, der Secte des Epicur
3.) das Stoische Ideal, das ist, der Secte des Zeno
Diese Secten sind nach Begriffen eingetheilt:
Das Cynische Ideal ist das Ideal der Unschuld, oder vielmehr der
Einfalt. Diogenes sagte, das höchste Gut bestehe in der Einfalt, in der 20
Genügsamkeit des Genußes der Glükseeligkeit. Das Epicurische Ideal
war das Ideal der Klugheit. Epicur sagte: das höchste Gut bestehe
allein in der Glül^seeligkeit, und das Wohl verhalten wäre nur ein
Mittel zur Glükseeligkeit. Das Stoische Ideal war das Ideal der Weis-
heit, es ist umgekehrt von dem vorigen. Zeno sagte : das höchste Gut 25
bestehe nur allein in der Sittlichkeit, in der Würdigkeit, also im Wohl-
verhalten, und diese Glükseeligkeit wäre eine Folge der Sittlichkeit.
Derjenige wäre schon glüklich, der sich wohl verhielte. Die Cynische
Secte sagte : Das höchste Gut wäre eine Sache der Natur, und nicht der
Kunst : Beim Diogenes waren die Mittel der Glülvseeligkeit negativ. 30
Er sagte : Der Mensch ist von Natur mit wenig zufrieden ; weil der
Mensch von Natur keine Bedürfniße hat, so empfindet er auch nicht
den Mangel der Mittel, und genießet unter diesem Mangel seine Glük-
seeligkeit. Diogenes hat vieles vor sich, denn der Vorrath von Mitteln
und Gaben der Natur vermehrt unsre Bedürfniße, denn je mehr Mittel 35
wir haben, je mehr Bedürfniße eräugnen sich, und die Meinung des
Menschen wächst nach größerer Befriedigung, das Gemüth ist also
simmer / unruhig. Roußeau, der feine Diogenes, behauptet es auch, daß
Moralphilosophie Colhns 249
unser Wille von Natur gut wäre, nur wir werden immer corrumpirt, die
Natur hätte uns mit allem versehen, nur wir machen uns mehr
Bedürfniße ; er will auch, daß die Erziehung der Kinder nur negativ sein
soll. Diesem ist Hume entgegen, der da behauptet, daß es eine Sache
5 der Kunst und nicht der Natur sey; Diogenes sagt: Ihr könt glüklich
seyn ohne Ueberfluß, ihr könt sittlich seyn ohne Tugend. Seine Philo-
sophie war der kürtzeste Weg zur Glückseeligkeit, durch die Genügsam-
keit lebt man glüklich indem man alles entbehren kann. Seine Philo-
sophie war auch der kürtzeste Weg zur Sittlichkeit, denn wenn man
10 keine Bedürfniße hat, so hat man auch keine Begierde, und dann
stimmen unsre Handlungen mit der Moralitaet überein, und einem
solchen Menschen kostet es nichts mehr als ehrlich zu seyn, folglich
wäre die Tugend nur eine Idee. Es ist also auch die Einfalt der kürzeste
Weg zur Sittlichkeit. Die Epicurische Secte behauptete, das höchste
15 Gut wäre eine Sache der Kunst, und nicht der Natur, so wie es die
Cynische sagte. Hier war also der Unterschied der beiden Sekten,
indem diese gegen die erste umgekehrt war. Epicur sagte, wenn wir
auch von Natur keine Laster haben, so haben wir doch einen Hang
dazu, also ist die Unschuld und Einfalt nicht gesichert, es muß Kunst
20 dazu kommen, und hierinn kam Zeno mit dem Epicur überein, der es
auch als eine Sache der Kunst ansah, denn Z :E : wenn ein unschul-
diges Landmädchen von allen gewöhnlichen Lastern frey ist, so ist es
deswegen, weil es keine Gelegenheit zur Ausschweifvmg hat, und ein
Landmann, der mit schlechter Kost sich behilft, und dabey doch
25 zufrieden ist, ist es nicht deswegen weil er sieht, es sey einerley,
sondern weil er es nicht beßer hat, und wenn man ihm Gelegenheit
gäbe, beßer zu leben, so würde er es auch begehren. Also ist die Einfalt
nur negativ. Epicur und Zeno nahmen also die Kunst an, sie war aber
bey ihnen verschieden. Die 2 Elemente des höchsten Gutes sind: das
30 physische Gut und das moralische Gut, das Wohlbefinden und das
Wohl verhalten. Weil alle Philo/sophie darauf hinausgehet, Einheit in 9
den Erkentnißen hervorzubringen, und auf die wenigsten Principia zu
reduciren, so versuchte man, ob aus diesen 2 Principiis nicht könnte
eins zusammen gebracht werden. Man benent doch jede Sache vom
35 Zw^eck, und nicht vom Mittel. Also nach der Idee des Epicurs war die
Glükseeligkeit nur Zweck und die Würdigkeit nur ein Mittel, mithin
wäre die Sittlichkeit eine Folge der Glül^seeligkeit. Zeno suchte auch
beide Principia zu verbinden, und nach seiner Idee wäre die Sittlich-
keit der Zweck. Die Würdigkeit und Tugend wäre nur eine Folge der
250 Vorlesungen über Moralphilosophie
Sittlichkeit. Das Ideal und das Muster des Diogenes ist der Mensch der
Natur, das Muster des Epicurs ist der Weltmann, das Muster, oder die
Idea Archetypen des Zeno ist der Weise, der in sich selbst die Glük-
seeligkeit fühlt, der besitzt alles, er hat in sich die Qvelle der Heiter-
keit und der Rechtschaffenheit, er ist der König, indem er sich selbst 5
beherscht, er kann nicht gezwungen werden, indem er sich selbst
zwingt. Einen solchen Weisen zogen sie den Göttern vor, indem zu
ihren Göttern nicht viel gehörte, denn die Gottheit hatte keine Ver-
führung und keine Hinderniße zu überwinden, aber ein solcher Weise
wäre durch seine Stärke in Ueberwindung der Hinderniße zu solcher lo
Vollkommenheit gelangt. Wir können uns noch ein mystisches Ideal
gedenken, wo das höchste Gut darinn besteht, daß sich der Mensch
sieht in der Gemeinschaft des höchsten Wesens, dieses ist das Plato-
nische Ideal, welches ein phantastisches Ideal ist. Das Ideal des
Christen ist das Ideal der Heiligkeit und das Muster ist der Christ, is
Der Christ ist auch ein bloßes Ideal, ein Urbild von der sittlichen Voll-
kommenheit, welches heilig ist durch die Göttliche Beihülfe. Dieses
muß aber nicht mit Menschen vermengt werden, die sich Christen
nennen, denn sie suchen nur diesem Ideal, diesem Muster, näher zu
kommen. 20
Epicur und Zeno fehlten darinn, daß Epicur der Tugend Trieb-
federn geben wollte, und keinen Werth, die Triebfeder war die Glük-
10 see/ligkeit, und der Werth die Würdigkeit. Zeno erhob den innern
Werth der Tugend und setzte darinn das höchste Gut, und benahm der
Tugend die Triebfedern. Epicurs höchstes Gut war also die Glükseelig- 25
keit, oder wie er es nannte, Wollust, das ist, eine innere Zufriedenheit
und ein fröliches Hertz. Man muß sicher seyn von allen Vorwürfen
von sich und von andern, das ist aber keine Philosophie der Wollust,
man hat ihn also übel verstanden. Man hat noch einen Brief von ihm,
worinnen er jemanden zu sich invitiret, wo er ihn aber mit nichts 30
aufzunehmen verspricht, als mit einem frölichen Hertzen und mit der
Polenta, das ist, eine schlechte epicureische Mahlzeit. Solche Wollust
war also eine Wollust eines Weisen. Er nahm also der Tugend den
Werth, indem er die Sittlichkeit zum Mittel der Glükseeligkeit machte.
Zeno machte es umgekehrt, er setzte die Glükseeligkeit in den 35
Werth und gab der Tugend keine Triebfeder. Triebfeder sind alle
Gründe unsers Willens, die hergenommen sind von den Sinnen. Das
Bewußtseyn der Würdigkeit der Glükseeligkeit stillt noch nicht die
Begierde des Menschen, und wenn der Mensch seine Begierde nicht
Moralphilosoijhie Collins 251
erfüllt, wenn er auch in sich fühlt, daß er würdig ist, so ist er doch nicht
glüklich. Die Tugend gefällt über alles, nur sie vergnügt nicht, denn
alsdenn würden alle Tugendhafte glüklich seyn. Die Begierden eines
Tugendhaften sind um dieser Tugend willen desto stärker nach der
5 Glükseeligkeit sich zu sehnen; je tugendhafter und wenig glüklich ein
Mensch ist, desto schmertzhafter ist es ihm, daß er nicht glüklich ist,
ob er gleich deßen würdig ist, alsdenn ist der Mensch mit seinem Ver-
fahren, aber nicht mit seinem Zustande zufrieden.
Epicur versprach dem Menschen Zufriedenheit mit sich selbst, wenn
10 er es erst würde so gemacht haben, daß sein Zustand glüklich sey.
Zeno versprach dem Menschen Zufriedenheit mit seinem Zustande,
wenn er es erst so würde gemacht haben, daß er mit sich selbst
zufrieden seyn Avürde.
/ Der Mensch kann mit sich pragmatisch oder moralisch zufrieden ii
15 oder unzufrieden seyn. Beides wird aber sehr oft mit dem Menschen
verwechselt. Er glaubt oft Gewißens-Biße zu haben, ob er sich gleich
nur vor einem Richter der Klugheit fürchtet. Wenn man jemanden in
einer Gesellschaft offendirt hat, so macht man sich zu Hause Vor-
würfe deswegen, welches Vorwürfe vom Richter der Klugheit seyn,
20 in dem man sich einen Feind zu vermuthen hat. Denn alle Reproche
der Klugheit ist diejenige, durch die ein Schaden entsteht. Weiß man
es nun, daß der andre es nicht gemerkt hat, so ist man zufrieden,
folglich ist es ein Vorwurf der Klugheit, und man hält es doch für einen
Vorwurf der Sittlichkeit. Nun sagte Epicur : führe dich so auf, daß du
25 keine Vorwürfe von dir und von andern zu erwarten hast, so bist du
glüklich ; das Ideal der Klugheit ist nach der Philosophie genommen
das vollkommenste Ideal, denn es ist ein Ideal der größten reinen sitt-
lichen VolUiommenheit, weil aber solche von dem Menschen nicht
kann erreicht werden, so gründet es sich auf den Glauben eines Gött-
30 liehen Beistandes. Nicht allein die Würdigkeit der Glükseeligkeit hat
in diesem Ideal die größte Sittliche Vollkommenheit, sondern dieses
Ideal hat auch die größte Triebfeder, und das ist die Glükseeligkeit,
aber nicht in dieser Welt. Also das Ideal des Evangelii hat die Größte
Reinliclilceit der Sitten, und auch die größte Triebfeder, das ist die
35 Glükseeligkeit oder die Seeligkeit. Die Alten hatten keine größere sitt-
liche Volllcommenheit, als sie aus der Natur des Menschen fließen
konnte, da nun diese sehr mangelhaft war, so waren auch ihre mora-
lischen Gesetze mangelhaft. Ihr moralisches System war also nicht
rein, sie accomodirten die Tugend der Schwäche des Menschen, folg-
252 Vorlesungen über Moralphilosophie
lieh war sie incomplet. In diesem Ideal aber ist alles complet, und da
ist die größte Reinlichkeit und die größte Glükseeligkeit. Die Principia
18 der Sittlichkeit sind in ihrer gan/zen Heiligkeit vorgetragen, und nun
heißt es, du sollst heilig seyn, weil aber der Mensch unvollkommen ist,
so hat dieses Ideal ein adjument, nehmlich Göttlichen Beistand. 5
Vom Principio der Moralitaet.
Nachdem wir das Ideal der größten sittlichen Vollkommenheit
erwogen haben, so müßen wir sehen, worinn das Principium der Sitt-
lichkeit bestehe. Vorläufig ist davon noch nichts gesagt, als daß es
auf der Bonitaet der freien Willkühr beruhe ; es muß aber untersucht lo
werden, worinn eigentlich das Principium der Sittlichkeit bestehe.
Es hält überhaupt sehr schwer, das erste Principium der Wißenschaf t
festzusetzen, besonders wenn schon die Wißenschaf ten einige Größe
erreicht haben. So ist es schwer Z :E : das erste Principium des Rechts,
der Mechanic festzusetzen. Da wir doch alle ein Principium der i5
moralischen Judication haben müßen, nach welchem wir einstimmig
darüber urtheilen können, was sittlich gut oder nicht gut ist, so sehen
wir ein, daß es ein einiges Principium geben muß, das aus dem Grunde
unsers Willens fließet. Nun kommt es darauf an, dieses Principium zii
eruiren, worinn wir die Sittlichkeit setzen, und wornach wir das sitt- 20
liehe vom unsittlichen unterscheiden können. Wenn ein Mensch viele
gute Fähigkeiten und Geschiklichkeiten hat, so fragt es sich doch
gleich, wie ist sein Character. Wenn er alle Bonitaeten besitzt, so fragt
man doch immer nach seiner moralischen Bonitaet. Was ist denn nun
das oberste Principium der Sittlichlveit, wornach wir alles beurtheilen, 25
und worinn unterscheidet sich die sittliche Bonitaet von aller übrigen
Bonitaet ? Ehe wir diese Frage bestimmen, müßen wir erst die Ein-
theilung der verschiedenen Gesichtspunkte anführen, aus denen das
Principium auf verschiedene Art bestimmt ist. Der Lehrbegriff,
(welches nicht ein Lehr Gebäude anzeigt, sondern nur einen Begriff / 30
13 aus welchem man ein Lehr Gebäude machen kann) der Moralitaet
besteht darinn, daß die Moralitaet entweder auf empirischen oder
intellectuellen Gründen beruhe, und entweder aus empirischen oder
intellectuellen Principien abzuleiten sey. Empirische Gründe sind, die
von den Sinnen abgeleitet werden, in sofern unsre Sinnen dadurch 35
befriediget werden. Intelleetuale Gründe sind die, wo alle Moralitaet
aus der Uebereinstimmung unsrer Handlung mit den Gesezzen der
Moralphilosophie Collins 253
Vernunft abgeleitet wird. Also Systema morale est vel empiricum vel
intellectuale. Wenn das System der Moral auf empirischen Gründen
beruhet, so beruhts entweder auf Innern oder äußern Gründen nach
den Gegenständen des Innern und äußern Sinnes. Beruhet die Morali-
5 taet auf Innern Gründen, so ist das der Ite Theil des empirischen
Systems, beruht sie auf äußeren Gründen, so ist das der 2*® Theil
des empirischen Systems. Die die Moralitaet aus den Innern Gründen
des empirischen Principii herleiten, nehmen ein Gefühl an, ein phy-
sisches und moralisches Gefühl. Das physische Gefühl besteht in der
10 Selbstliebe, die 2fach ist, der Eitelkeit und des Eigennutzes. Sie zielt ab
auf seinen eigenen Vortheil, und ist ein eigensüchtiges Principium, wo-
durch unsere Sinne befriediget werden. Es ist ein Principium der
Klugheit. Die Autores des Principii der Selbstliebe sind unter den
Alten Epicur, wie er auch überhaupt ein Principium der Sinnlichkeit
15 hatte, unter den neuern Helvetius, Mandeville. Das 2*^ Principium des
Innern Grundes des empirischen Systems ist, wenn der Grund im
moralischen Gefühl gesetzt wird, wodurch man unterscheiden kann,
was gut oder böse ist. Die vornehmsten Autores sind Shaftsbury und
Hutcheson.
20 Zu dem empirischen System des Lehrbegrifs der Moralitaet /
gehören 2'^°^ äußere Gründe. Diejenige, die darinn die Moralitaet 14
setzen, sagen : Alle Moralitaet beruhe auf 2 Stücken : auf der Erziehung
und auf der Regierung. Alle Moralitaet wäre nur eine Gewohnheit,
und wir urtheilen aus Gewohnheit über alle Handlungen nach Regeln
25 der Erziehung oder des Gesetzes der Obrigkeit. Also entspringe die
moralische Beurtheilung aus Beispiel oder aus Vorschrift der Gesetze.
Das erste behauptet Montaigne. Er sagt: Wir finden den Menschen
in verschiedenen Gegenden in Ansehung der Moralitaet auch ver-
schieden, so ist in Africa der Diebstahl auch erlaubt, so ist in China
30 den Eltern erlaubt, ihre Kinder auf die Straße zu werfen, die Esqui-
maux erdroßeln sie, und in Brasilien begraben sie sie lebendig. Das
2*^ behauptet Hobbes. Er sagt: die Obrigkeit kann alle Handlungen
erlauben und auch verbieten, so laßen die Handlungen sich nicht aus
der Vernunft moralisch beurtheilen, sondern man handelt nach Bei-
35 spiel der Gewohnheit und nach Befehl der Obrigkeit, folglich wäre kein
moralisch Principium als nur aus der Erfahrung entlehnet.
Allein, wenn das Principium der Moralitaet auf der Selbst Liebe
beruhet, so beruhet es auf einem zufälligen Grunde, denn die Beschaf-
fenheit der Handlungen nach welcher sie mir Vergnügen bringen oder
254 Vorlesungen über Moralphilosophie
nicht, beruht auf zufälhgen Umständen. Beruht das Principium auf
einem moralischen Gefühl, wo man die Handlung nach dem Wohlge-
fallen oder Mißfallen, nach dem Empfinden oder überhaupt nach dem
Gefühl des Geschmaks beurtheilt, so beruhet es auch auf einem zufälli-
gen Grunde. Dennwenn jemand eine Annehmlichkeit woran hat, so kann 5
ein anderer einen Abscheu davor haben, so speien Z :E : die Wilden
den Wein aus, den wir gern trinken. Und so ist es auch mit dem äußern
15 Grunde der Erziehung und Regierung. Es / beruht das Principium der
Moralitaet nach dem empirischen System auf zufälligen Gründen.
Das 2*^ Systema morale ist das intellectuale. Nach diesem urtheilt lo
der Philosoph, daß das Principium der Moralitaet einen Grund im
Verstände habe, und völlig a priori eingesehen werden kann. Z:E:
du sollst nicht lügen; wenn dieses auf dem Princip der Selbstliebe
beruhen sollte, so würde es heißen: du solst nur denn nicht lügen
wenn es dir Schaden zuwege bringt, wenn es aber Nutzen schaft, so i5
ist es erlaubet. Beruhte es auf dem moralischen Gefühl, so würde
demjenigen, der ein so feines moralisches Gefühl nicht hat, welches
ihm einen Ekel wider die Lüge zuwege brächte, erlaubt seyn zu
lügen. Möchte es auf der Erziehung und Regierung beruhen, so könnte
derjenige, der so erzogen ist, und der unter solcher Regierung stände, 20
wo das erlaubet, es frey haben zu lügen. Aber wenn es beruht auf einem
Principio, welches im Verstände liegt, so heißt es schlechthin: Du solst
nicht lügen, die Umstände mögen seyn, wie sie wollen. Wenn ich meine
freie Willkühr betrachte, so ist das eine Uebereinstimmung der freien
Willkühr mit sich selbst und anderen. Es ist also ein noth wendiges 25
Gesetz der freien Willkühr. Diejenige Principia aber, die allgemein
beständig und noth wendig gelten sollen, können nicht aus der Erfah-
rung, sondern aus reiner Vernunft abgeleitet werden. Ja, das morali-
sche Gesez drückt die categorische Nothwendigkeit aus, und nicht
eine solche, die aus der Erfahrung geschöpft ist. Alle noth wendige so
Regeln müßen a priori fest stehen, folglich sind die Principia intellec-
tual. Die Beurtheilung der Moralitaet geschieht gar nicht durch sensi-
tive und empirische Principia, denn die Moralitaet ist gar kein Gegen-
stand der Sinne, sondern sie ist ein Gegenstand bloß des Verstandes.
Dieses intellectuale Principium kann 2fach seyn. 35
1) in so fern es beruht auf der Innern Beschaffenheit der Hand-
lung, so fern wir sie durch den Verstand betrachten.
2) oder es kann ein äußeres Principium seyn, so ferne unsre Hand-
le lungen ein Verhältniß haben mit einem andern fremden Weesen. /
Moralphilosophie Collins 255
Dieses Principium ist das theologische Principium der Moral, und man
hat also eine theologische Moral, so wie man auch eine moralische
Theologie hat. Dieses Theologische Principium ist aber auch irrig, denn
der Unterschied des sittlich guten und Bösen besteht nicht im Ver-
5 hältniß auf ein anderes Wesen, sondern das Principium morale intel-
lectuale est internum. Worinn nun dieses Principium intellectuale inter-
num bestehe, das soll unser Zweck in der Moral seyn, daßelbige zu be-
stimmen, welches aber nur mit der Zeit nach und nach kann aus-
gerichtet werden. Alle Imperativi sind Formeln einer practischen
loNeceßitation. Die practische Neceßitation ist eine Nothwendig
Machung freier Handlungen. Allein unsre Handlungen können aber
2facli neceßitirt werden, entweder sie können nach Gesetzen der freien
Willkühr nothwendig seyn, und dann sind sie practisch nothwendig,
oder sie können nach Gesetzen der sinnlichen Gefühls Neigung noth-
15 wendig seyn, und dann sind sie pathologisch nothwendig. Dennoch
werden unsre Handlungen practisch neceßitirt, das ist nach Gesetzen
der Freiheit, oder pathologisch, d. i. nach Gesetzen der Sinnlichkeit.
Die practische Neceßitation ist eine objective neceßitation der freien
Handlungen. Die pathologische Neceßitation ist eine subjectiveNeceßi-
20 tation. Also alle objective Gesetze unsrer Handlungen sind alle practisch
nothwendig, nicht pathologisch. Alle Imperativi sind nur Formeln der
practischen Neceßitation und drücken eine Nothwendigkeit unsrer
Handlungen aus unter der Bedingung der Bonitaet. Die Formel, die die
practische Nothwendigkeit ausdrükt, ist die Causa impulsiva einer
25 freien Handlung, und weil sie objective neceßitirt, so nennt man sie
ein Motivum. Die Formel, die die pathologische neceßitation aus-
drüket, ist causa impulsiva per stimulos, weil sie subjectiv neceßitirt.
Also alle subjective Neceßitationes sind neceßitationes per stimulos.
Die Imperativi enunciren die objective Neceßitation, und da es
3o3fache Imperativos giebt, so giebt es auch eine 3fache Bonitaet.
/l) Der Imperativus pragmaticus ist ein Imperativus nach dem IT
Urtheil der Klugheit, und sagt : daß die Handlung nothwendig sey, als
ein Mittel zu unsrer Glükseeligkeit. Hier ist schon der Zweck be-
stimmt; also ist dieses eine Neceßitation der Handlung unter einer
35 Bedingung, aber unter einer nothwendigen und allgemeinen gültigen
Bedingung, und das ist Bonitas pragmatica.
2) Der Imperativus problematicus sagt : Etwas ist gut als ein Mittel
zu einem beliebigen Zweck, und da ist die Bonitas problematica.
256 Vorlesungen über Moralphilosophie
3) Der moralische Imperativus enuncirt die Bonitaet der Handlung
an und vor sich selbst, also ist die moralische Neceßitation categorisch
und nicht hypothetisch. Die Moralische Noth wendigkeit bestehet in
der absoluten Bonitaet der freien Handlungen, und das ist Bonitas
moralis. Aus diesen 3 Imperativis entspringt folgendes : 5
Alle Moralische Neceßitation ist eine Obligation, und die Nothwen-
digkeit der Handlung aus Regeln der Klugheit oder die pragmatische
Neceßitation ist keine Obligation. Die Verbindlichkeit ist also eine
practische und zwar moralische Verbindlichkeit. Alle Verbindliclikeit
ist entweder aus Pflicht, oder eine Zwangs-Verbindlichlceit, worinn in lo
der Folge ein mehreres gesagt wird.
Alle Obligation ist nicht bloß eine Nothwendigkeit der Handlung
sondern auch eine Nöthigung, eine Nothwendigmachung der Hand-
lung, also ist die obligatio neceßitatio, und nicht neceßitas. Der gött-
liche Wille ist in Ansehung der Moralitaet nothwendig, aber der i5
menschliche Wille ist nicht nothwendig sondern genöthigt. Also ist
die practische Nothwendigkeit in Ansehung des höchsten Wesens
keine Obligation, das höchste Wesen handelt moralisch nothwendig,
aber hat keine Obligation. Warum sage ich nicht: Gott ist verbunden,
wahrhaftig heilig zu seyn ? Die moralische Nothwendigkeit ist eine 20
objective Nothwendigkeit, wenn sie aber auch eine subjective Noth-
wendigkeit ist, denn ist sie keine Neceßitation. Die Moralische Noth-
wendigkeit ist alsdenn eine objective Nothwendigmachung und eine
18 Obligation, / wenn die subjective Nothwendigkeit zufällig ist. Alle
Imperativ! drüken die objective Nothwendigmachung der Handlungen 25
aus, die aber subjectiv zufällig seyn. Z:E: du solst eßen, wenn dich
hungert und du was hast, dieses ist eine subjective Nöthigung und
auch eine objective und deswegen ist es keine Neceßitation oder
Obligation. Also in Ansehung eines vollkommenen Willens, bey dem
die moralische Nothwendigkeit nicht allein objectiv sondern subjectiv so
nothwendig ist, findet keine Neceßitation und Obligation statt, aber in
Ansehung eines unvollkommenen Wesens, wo das moralische Gut ob-
jectiv nothwendig ist, da findet die Neceßitation und Nöthigung, und
also auch die Obligation statt. Es müßen demnach die sittlichen Hand-
lungen nur zufällig seyn, wenn sie eine Nöthigung haben sollen, und 35
die einen moralisch unvollkommenen Willen haben, stehen unter der
Verbindlichkeit, und das sind Menschen. Alle Obligation ist aber eine
neceßitatio practica und nicht pathologica, eine objective und nicht
subjective Nöthigung. Eine pathologische Neceßitation ist, wo die
Moralphilosophie Collins 257
Triebfedern aus den Sinnen, und aus dem Gefühl des angenehmen und
unangenehmen sind. Der etwas thut, weil es angenehm ist, wird patho-
logisch neceßitirt, der etwas thut, was gut ist an und für sich, der
handelt nach motiven und wird practisch neceßitirt. Also die Causae
5 impulsivae in so fern sie vom Guten hergenommen sind, kommen aus
dem Verstände, und ein solcher, der laut denen wozu bewogen wird,
wird per motiva neceßitirt, so fern aber die Causae impulsivae vom
angenehmen hergenommen sind, so sind sie aus den Sinnen, und ein
solcher, der laut denen dazu bewogen wird, wird per stimulos neceßi-
lotirt. Demnach ist alle Obligation nicht eine pathologische oder prag-
matische Neceßitation, sondern eine moralische. Die motiva sind
entweder hergenommen aus pragmatischen Gründen oder aus mora-
lischen der innern Bonitaet.
Alle pragmatische motiva sind nur bedingt, in so fern als die Hand-
15 lungen Mittel zur Glükseeligkeit sind, also ist hier kein Grund der
Handlung selbsten, sondern als ein Mittel. Also alle Imperativi / präg- 1»
matici hypothetice neceßitant et non absolute. Aber die Imperativi
morales neceßitant absolute, und enunciren eine bonitatem absolutam,
so wie die Imperativi pragmatici eine bonitatem hypotheticam enun-
20 ciren. Die Wahrhaftigkeit kann nach Gründen der Klugheit also
unmittelbahr gut seyn, z : E : im Handel, da ist sie so gut als baar
Geld, aber absolute betrachtet, so ist wahrhaft zu seyn an sich selbst
gut, und in Aller Absicht gut, und die Unwahrheit ist an sich selbst
schändlich. Also ist die moralische neceßitatio absolut, und das
25 motivum morale enuncirt Bonitatem absolutam. Wie das möglich
ist, daß eine Handlung eine Bonitatem absolutam hat, kann noch
nicht erklärt werden: Vorläufig aber muß man merken: Die Unter-
ordnung unsers Willens unter die Regel allgemein gültiger Zwecke ist
die innere Bonitaet und absolute Vollkommenheit der freien Willkühr,
30 denn stimmt sie mit allen Zwecken überein. Das in Casu zu zeigen,
läßt sich nicht so, z :E : Wahrhaftigkeit stimmt mit allen meinen Regeln
zusammen, denn eine Wahrheit stimmt mit der andern Wahrheit
überein, und stimmt dadurch mit allen Zwecken und dem Willen
anderer überein, so daß sich jeder darnach richten kann. Aber Lügen
35 wiedersprechen sich, stimmen nicht mit meinem Zwecke und anderer
überein, so, daß sich jeder darnach richten kann. Die moralische
Bonitaet ist also die Regierung unserer WiUkühr durch Regeln, Avodurch
alle Handlungen meiner Willkühr allgemein gültig übereinstimmen.
Und solche Regel die das Principium der Möglichkeit der Ueberein-
17 Kant's Schriften XXVII/1
258 Vorlesungen über Moralphilosophie
Stimmung aller freien Willkühr ist, ist die moralische Regel. Alle
freie Handlungen sind nicht durch die Natur und durch kein Gesetz
bestimmt, also ist die Freiheit was schreckliches, weil die Handlungen
gar nicht determinirt sind. Nun ist in Ansehung unsrer freien Hand-
lungen eine Regel nöthig, wodurch alle Handlungen einstimmig sind, 5
und das ist die moralische Regel. Stimmen meine Handlungen nach
der pragmatischen Regel, so stimmen sie zwar nach meiner Willlcülir
überein, aber nicht mit der Willkühr anderer, ja selbst auch nicht
20 einmahl mit meiner Willkühr, denn sie sind / hergenommen von dem
Wohlbefinden, weil wir aber das Wohlbefinden nicht a priori einsehen lo
können, so folgt, daß wir keine Regel a priori geben können von der
Klugheit, sondern a posteriori. Daher kann es keine Regel für alle
Handlungen seyn; sollte sie das seyn, so müßte sie a priori seyn. Also
sind die pragmatischen Regeln weder mit der Willkühr anderer noch
mit meiner eigenen übereinstünmend. Daher müßen Regeln seyn, i5
wornach meine Handlungen allgemein gelten, und diese werden von
den allgemeinen Zwecken der Menschen hergeleitet, und nach denen
müßen unsre Handlungen übereinstimmen, und das sind moralische
Regeln. Die Moralitaet der Handlungen ist gantz was besonders,
welches sich unterscheidet von allen pragmatischen und patho- 20
logischen Handlungen, daher muß die Moralitaet gantz subtil, rein
und besonders vorgetragen werden. Obgleich aber zur moralischen
Bonitaet, wenn nicht moralische Motiva fruchten, auch pragmatische,
ja wohl auch pathologische Causae impulsivae genommen werden,
allein wenn die Frage ist von der Bonitaet der Handlungen, so fragt 25
sich nicht, wodurch man zu der Bonitaet bewegt wird, sondern worinn
die Bonitaet der Handlungen an und vor sich selbst bestehe. Das
motivum morale muß also gantz rein, an und vor sich selbst erwogen,
und von den motivis der Klugheit und der Sinne abgesondert werden.
Wir sind in unserm Gemüthe von Natur geschickt genug, die mora- 30
lische Bonitaet sehr genau und subtil zu unterscheiden von der
problematischen und pragmatischen Bonitaet, und denn ist die
Handlung so rein, als wenn sie vom Himmel käme. Und ein reiner
moralischer Grund hat größere Triebfeder als wenn er untermengt ist
mit pathologischen und pragmatischen motivis, denn solche motiva 35
haben mehr Beweg Kraft für die Sinnlichkeit, aber der Verstand sieht
nicht die allgemein gültige bewegende Kraft. Die Sittlichkeit ist zwar
von schlechtem Eindruck, sie gefällt und vergnügt nicht so, aber sie hat
eine Beziehung auf das allgemein gültige Wohlgefallen und muß sogar
Moralphilosophie Collins 259
dem höchsten Wesen gefall(>n, und das ist der höchste Bewegungs
Grund.
/ Zur KJugheit wird erfordert guter Verstand, und zur SittHchkeit 21
■s\ird erfordert guter Wille. Unser freies Verhalten beruht bloß auf den
5 guten Willen, wenn es die sittUche Bonitaet besitzen soll, also kann
unser Wille an sich gut seyn. Bey der Klugheit kommt es nicht auf den
Zweck an, denn sie haben alle denselben Zweck, nemlich die Glüksee-
ligkeit, sondern auf den Verstand, in so fern er den Zweck und die
Mittel dazu zu gelangen einsieht, da kann einer klüger seyn als der
10 andere ; also, zur Klugheit wird ein guter Verstand und zur Sittlichkeit
ein an sich guter Wille erfordert. Der Wille z :E : reich zu werden, ist
gut im Verhältniß auf den Zweck, nicht aber an sich selbst. Was nun
an sich selber schlechthin guter Wille ist, auf den die moralische
Bonitaet ankömmt, das soll eben erklärt werden.
15 Das moralische motivum muß nicht nur vom pragmatischen unter-
schieden werden, sondern es kann nicht einmahl demselben entgegen-
gesetzt werden. Um dieses beßer einzusehen, so merke man noch vor-
hero:
Alle Moralische motiva sind nur bloß obligandi oder obligantia;
2omotiva obligandi sind Gründe ad obligandum, einen zu obligiren;
wenn diese Gründe aber zureichend sind, so sind sie obligantia, ver-
bindende Gründe. Motiva moralia non sufficientia non obligant, sed
motiva sufficientia obligant. Es giebt also moralische Regeln der Ver-
bindlichkeit, die aber nicht verbinden, z :E : einem in der Noth helfen.
25 Es giebt aber auch an sich selbst moralische Regeln, die schlechthin
obligiren, also nicht allein verbindlich, sondern auch verbindend seyn,
und meine Handlung nothwendig machen, z:E: du solst nicht lügen.
Wenn wir die motiva pragmatica und moralia verbinden, sind sie
homogenea ? So wenig als die Redlichkeit, wenn sie einem fehlt, dadurch
30 kann ersetzt werden, daß derjenige Geld hat, und so wenig diejenige
Persohn, die häßlich ist, dadurch die Schönheit erlangt, wenn sie viel
Reichthümer besitzt, eben so wenig können / die motiva pragmatica 22
in die Reihe der motivorum moralium gesetzt und mit ihnen ver-
glichen werden. Die neceßitirende Kraft kann doch aber mit einander
35 verglichen werden. Es scheint, als wenn vor dem Urtheil des Verstan-
des es rathsamer ist. den Vortheil der Tugend vorzuziehen. Allein die
moralische Vollkommenheit und der Vortheil können gar nicht ver-
glichen werden, so wenig eine Meile mit dem Jahr kann verglichen
werden; denn es ist hier eine Verschiedenheit. Wie geht es aber zu,
17*
260 Vorlesungen über Moralphilosophie
daß wir es würklich verwechßlen ? Z :E : Es ist ein Unglücklicher, der
andre sagt, du kannst zwar dem Unglücklichen helfen, aber ohne deinen
Schaden. Hier ist, wenn der Verstand urtheilt, kein Unterschied
zwischen dem moralischen und pragmatischen motivo, sondern
zwischen der moralischen und pragmatischen Handlung, denn es sagt 5
mir nicht allein die Klugheit auf meinen Vortheil zu sehen, sondern
auch die Sittlichkeit, ich kann nur den Ueberfluß von meinem Ver-
mögen dem Unglücklichen zum besten verwenden. Denn wenn der
Mensch seine Mittel weggiebt, so setzt er sich selbst in Bedürfniße,
und muß selbst alsdenn Wohlthaten von andern zu erflehen suchen, 10
und sieht sich außer Stand moralisch zu seyn. Also objective kann ein
moralisches motivum dem pragmatischen motivo nicht entgegen
gesetzt werden, weil sie ungleich sind.
De obligatione activa et paßiva.
Obligatio activa ist eine obligatio obligantis, und obligatio paßiva 15
ist eine obligatio obligati, doch der Unterschied ist nicht erheblich.
Alle Verbindlichkeiten zu großmüthigen Handlungen sind obliga-
tiones activae, ich bin verbunden zur Handlung, die doch ein Verdienst
ist. Thaten wodurch wir andere verbinden können, wenn wir sie aus-
üben, sind Verdienste. Wir sind zur Handlung gegen jemanden ver- 20
bunden, ohne diesem andern verbunden zu seyn. Obligati sumus ad
actionem ita ut et illi non obligati sumus. Wirsindzur Handlung verbun-
den, aber nicht einem verbunden. Ich bin verbunden dem Unglück-
lichen zu helfen, also zur Handlung aber nicht dem Menschen, das
wäre obligatio activa. Wenn ich aber einem schuldig bin. so bin ich / 25
23 zur Handlung der Bezahlung allein auch dem Creditori verbunden,
und das ist obligatio paßiva. Es scheinet aber, daß alle obligatio
paßiva sey, denn wenn ich verbunden bin, so bin ich genöthigt. Allein
bey einer obligatio activa ist eine Nöthigung der Vernunft, ich werde
durch meine eigene Ueberlegung genöthigt, es ist also nichts leidendes, so
und die obligatio paßiva muß durch einen andern geschehn, wenn man
aber durch die Vernunft neceßitirt wird, so herrscht man selbst. Also
ist der Unterschied der Obligation recht. Obligatio paßiva est obligatio
obligati erga obligantem, obligatio activa est obligatio erga non obli-
gantem. 35
Autor: Obligationes können größer und kleiner seyn, und können
sich nicht wiederstreiten, denn was moralisch noth wendig ist, da kann
Moralphilosophie Collins 261
keine andere Obligation das Gegentheil nothwendig machen. Z:E: die
Obligation gegen den Creditor die Schuld zu bezahlen, und gegen den
Vater, danlvbahr zu seyn. Wenn die eine Obligation zu nennen ist, so
ist die andere keine Obligation ; gegen den Vater bin ich conditionale
öobligirt, gegen den Creditor aber categorice. Also ist das erste eine
Obligation und das andre nicht. Im ersten Fall ist eine Neceßitation
und im andern Fall nicht. Also meint man den Wiederstreit der Mo-
tiven aber nicht der Pflicht.
Viele Obligationes entstehen, wachßen und hören auf. Wenn Kinder
logebohren werden, so entsteht eine Obligation, und so wie sie wachßen,
so wachßen auch die Obligationes, wenn das Kind Mann wird (aber
nicht als Kind), so hört die Obligation, die er als Kind schuldig war auf,
er ist zwar noch obligirt aber nicht als ein Kind sondern gegen die
Wohlthaten der Eltern. Je mehr ein Arbeiter arbeitet, desto mehr
15 wächst die Obligation, wenn es ihm bezahlt wird, so hört die Obliga-
tion auf. Einige Obligationes können niemals aufhören. Z:E: gegen
den Wohlthäter, der einem zuerst Wohlthaten erwiesen hat, wenn
man es ihm auch noch so vergeltet, so bleibt doch er der erste der mir
Wohltha/ten erzeigte, und ich bin ihm beständig obligirt. Doch hört 24
20 in einem Fall die Obligation auf, nemlich wenn mir mein Wohlthäter
einen schelmischen Streich spielt, welches aber selten geschieht, wenn
man nur gegen den Wohlthäter dankbahr ist.
Der Actus wodurch eine Obligation entspringt, heißt actus obliga-
torius. Jeder Contract ist ein Actus obligatorius. Es kann durch einen
25 actum Obligatorium eine Obligation gegen mich entspringen, aber es
kann auch durch einen actum Obligatorium eine Obligation gegen einen
andern entspringen, Z:E: die Zeugung der Kinder ist actus obliga-
torius, wodurch sich die Eltern gegen die Kinder Obligation auf-
gelegt haben. Allein ob durch die Zeugung die Kinder gegen die
30 Eltern obligirt sind, glaube ich nicht, denn das Daseyn ist keine
Obligation, denn da zu seyn ist noch kein Glück an sich selber,
ja um recht unglücklich zu seyn, muß man da seyn, sondern sie sind
vermöge der Erhaltung ihnen verbunden. Wo die Handlungen gar
nicht frey seyn, wo keine Persönlichkeit ist, da giebt es auch keine
35 Verbindlichkeit, z :E : so hat der Mensch keine Verbindlichkeit das
Schlucken zu unterlaßen, denn es steht nicht in seiner Gewalt. Man
setzt also zur Verbindlichkeit den Gebrauch der Freiheit voraus.
Die Obligation wird unterschieden in positivam et naturalem. Die
Obligatio positiva ist durch eine positive und willkülirliche Festsetzung
262 Vorlesungen über Moralphilosophie
entsprungen, die Obligatio naturalis aber aus der Natur Handlung
selbst. Alle Gesetze sind entweder natürlich oder arbitraire. Wenn die
Obligatio aus dem lege naturali entsprungen ist, und zum Grunde der
Handlung solches hat, ist sie naturalis ; ist sie aber aus dem lege arbi-
traria entsprungen, und hat den Grund in der Willkühr eines andern, 5
denn ist sie obligatio positiva. Crusius meint, alle Verbindlichkeit
beziehe sich auf die Willkühr eines andern. Nach seiner Meinung wäre
also alle Obligation eine Neceßitation per arbitrium alterius. Es hat
zwar den Schein, daß man bey einer Obligation neceßitirt wird per
arbitrarium alterius, allein ich werde neceßitirt durch ein arbitrium lo
internum, aber nicht durch ein arbitrium externum, also durch die
noth wendige Bedingung der allgemeinen Willlüihr ; demnach giebt es
auch eine allgemeine Verbindlichlvcit. Alle obligatio positiva gehet
nicht unmittelbahr auf die Handlung, sondern wir sind zu einer
Handlung verbunden, die an sich gleichgültig ist. Also alle obligatio 15
positiva est indirecta, und nicht directa, z :E : wenn ich deswegen nicht
35 / lügen solte, weil es Gott verboten hat, er hat es aber verboten, weil es
ihm gefallen hat, also hätte er es auch nicht verbieten können, wenn er
nicht gewolt hätte. Die obhgatio naturalis ist aber directa, ich muß
nicht lügen, weil es Gott verboten hat, sondern weil es an sich selbst 20
böse ist. Alle Moralitaet aber beruhet darauf, daß die Handlung aus-
geübt werde wegen der innern Beschaffenheit der Handlung selbst;
also nicht die Handlung macht die Moralitaet, sondern die Gesinnung
aus der ich sie thue. Thue ich etwas weil es gebothen ist oder Nutzen
bringt, und unterlaße ich etwas weil es verbothen oder Schaden bringt, 25
so ist das keine moralische Gesinnung. Aber thue ich etwas deswegen,
weil es an sich selber schlechterdings gut ist, so ist das eine moralische
Gesinnung. Es muß also eine Handlung geschehen, nicht deswegen
weil sie Gott will, sondern weil sie an sich selbst rechtschaffen oder gut
ist, imd weil sie so ist, so will sie Gott, und verlangt sie von uns. so
Obligatio kann affirmativa und negativa sejai, also wird der nega-
tiva nicht die positiva, sondern die affirmativa entgegen gesetzt,
welches schon einmal im jure auch hier angenommen ist. Obliga-
tionem negativam hat der Mensch ad omittendum, obligationem
affirmativam hat der Mensch ad committendum. Die Consectarii der 35
Handlung sind entweder gut oder böse, sie können seyn naturalia,
arbitraria, auch physica und moralia, z :E : die Folge der Beschaffenheit
ist ein Consectarium physicum. Autor nimt die Consectaria als natura-
lia imd arbitraria an. Naturalia sind solche, die aus der Handlung selbst
Moralphilosophie CoUins 263
fließen; arbitraria, die aus der Willkühr eines andern Wesens fließen,
z:E: die Bestrafungen. Handlungen sind entweder directe an sich gut
oder böse oder sie sind indirekt oder zufällig gut oder böse.
Die Bonitaet der Handlung ist also vel interna, vel externa.
5 Die moralische Vollkommenheit ist vel subjectiva, vel objectiva.
Die objective Vollkommenheit besteht in der Handlung selbst, die
subjective Bonitaet bestehet in der Uebereinstimmung der Handlung
mit der Willkühr des andern. Morahtas objectiva hegt also in der
Handlung selbst. Die oberste Willkühr, die den Grund aller Moralitaet
10 enthält, ist die Göttliche, also können wir in allen unsern Handlungen
entweder objective oder subjective Moralitaet betrachten. Es giebt
objective Gesetze der Handlungen, und das sind praecepta, und die
subjective Gesetze der Handlungen sind maximen, und stimmen
selten mit den objectiven Gesetzen der Handlungen überein. Alle
15 objective Moralitaet können wir ansehen als subjective Moralitaet
des göttlichen Willens, aber nicht als subjective Moralitaet des
menschlichen Willens. Die göttlichen Gesin/nungen sind moralisch 26
gut aber nicht des Menschen. Die götthchen Gesinnungen oder die
göttliche subjective Moralitaet stimmt also überein mit der objectiven
20 Moralitaet und wenn wir der objectiven Moralitaet gemäß handien,
so handien wir auch dem göttlichen Willen gemäß, demnach sind alle
moralischen Gesetze Praecepta, weil sie Regeln sind des göttlichen
Willens.
In Ansehung der moralischen Beurtheilung sind alle Gründe objec-
25 tiv und kein einziger muß subjectiv seyn. Aber in Ansehung der
moralischen Triebfeder giebt es subjective Gründe. Also Gründe der
Dijudication sind objectiv, aber Gründe der Execution können auch
subjectiv seyn; zu unterscheiden, was sitthch gut oder böse ist, muß
nach dem Verstände beurtheilt werden, also objectiv, aber um eine
30 Handlung zu thun können auch subjective Gründe seyn. Die Quae-
stion ob etwas moralisch sey ? ist eine Frage, die die Handlung selbst
angeht. Die moralische Bonitaet ist also was objectives, denn sie
besteht nicht in der Uebereinstimmung mit unsern Neigungen, sondern
an und vor sich selbst. Alle subjective Gesetze sind aus der Beschaffen-
35 heit dieses oder jenes Subjects hergenommen, und gelten auch nur in
Ansehung dieses oder jenes Subjects, sie sind restringirt auf dieses
oder jenes Subject. Die moralischen Gesetze sollen aber allgemein und
überhaupt von freien Handlungen gelten, ohne Ansehung der Ver-
schiedenheit des Subjects. Bey dem göttlichen Willen sind die subjec-
264 Vorlesungen über Moralphilosophie
tiven Gesetze seines göttlichen Willens mit den objeetiven Gesetzen
des allgemeinen guten Willens einerley, aber sein subjectives Gesetz
ist kein Grund der Moralitaet, er ist selbst deswegen gut und heilig,
weil sein Wille diesem objeetiven Gesetz gemäß ist : Also die Frage der
Moralitaet beziehet sich gar nicht auf subjective Gründe, sondern 5
kann nur allein nach objeetiven Gründen ausgemacht werden. Wenn
wir die Moralitaet unterscheiden in objective und subjective Morali-
taet, so ist das gantz wiedersinnig; denn alle Moralitaet ist objectiv,
allein die Bedingung der Anwendung der Moralitaet kann subjectiv
seyn. 10
Des Autors erstes moralisches Gesetz ist: Fac bonuni et omitte
malum. Ausgeklaubte Bedeutung des Satzes: fac bonum. Das Gute
muß vom Angenehmen unterschieden werden, angenehm geht auf die
Sinnlichkeit, gut auf den Verstand. Der Begriff des Guten ist ein
27 Gegenstand / der allen gefällt, folglich kann er durch den Verstand 15
beurtheilet werden. Das Angenehme gefällt nur nach dem Privat
Wohlgefallen. Also könnte der Satz bedeuten : Thue das was dein Ver-
stand dir als gut vorstellt, und nicht was deinen Sinnen angenehm ist.
Das Soll bedeutet allezeit die Bonitaet des Guten, und nicht des ange-
nehmen, also bleibt es auch tavtologisch. Bey diesem Satz hätte doch 20
können der Unterschied der Bonitaet gemacht werden. Thue das was
moralisch Gut ist. Allein alsdenn müste eine andere Regel seyn, die da
sagt, worinn die moralische Bonitaet bestehe. Also kann es auf keine
Art ein Principium der Moralitaet seyn. Nicht alle Imperativi sind
Obhgationes, welches der Autor meint, so sind die Imperativi proble- 25
matici keine Obligationes. ut supra.
Die Obligation ist aber nach dem Autor die Verknüpfung der vor-
züglichsten Gründe zu meiner Handlung, denn er sagt, das Gute hat
bewegende Gründe in sich zu handien, und das vorzügliche Gute hat
vorzügliche Bewegungs Gründe zu handien. Der Satz aber Fac bonum 30
et omitte malum kann kein moralischer Grundsatz seyn zur Verbind-
lichkeit, denn das Gute kann vielfältig gut seyn zu beliebigen Zwecken,
denn ist es ein Grundsatz der Geschicklichkeit und der Klugheit, wenn
es aber gut ist zu moralischen Handlungen, denn wäre es ein mora-
lischer Grundsatz. Also ist dies ein Principium vaguni. Ferner ist es 35
auch ein Principium tavtologicum. Eine tavtologische Regel ist,
welche, indem sie eine Frage auflösen soll, eine leere Resolution giebt.
Wenn die Frage ist, was soll ich thun in Ansehung meiner Verbind-
lichkeit, und die Antwort ist: Thue das Gute und unterlaße das Böse,
Moralphilosophie Collins 265
so ist das eine leere Antwort, denn fac bedeutet soviel als, es ist gut,
daß es geschehe ; also heist der Satz : Es ist gut, daß du das Gute thust,
folglich tavtologisch. Er giebt nicht zu erkennen, was gut sey, sondern
er sagt daß ich das thun soll, was ich thun soll. Es ist keine Wißen-
5 Schaft mit tavtologischen Sätzen so angefüllt als die Moral, sie bringt
das zur Auflösung was die Quaestion war, die Quaestion ist mit der / zs
Resolution des Problems tavtologisch. Denn das Mas im Problem oder
Quaestion implicite war, in der Resolution explicite gesezt ist, ist
tavtologisch, und die Moral ist voll solcher Sätze, und ein jeder
10 gedenkt alles gethan zu haben, wenn er seinem Lehrling die Sätze der
Moral so erklärt und angezeigt hat, z. E. Wenn Jemand Verstopfung
hat, und der Medicus sollte sagen: Mache daß deine Gedärme schlüpf-
rig seyn, dunste gut, und verdaue gut, so ist dies, was er gesagt, das,
was er eben wißen wolte. Das sind tavtologische Regeln der Dijudica-
lötion.
Es ist aber die Frage, welches sind die Bedingungen, unter denen
meine Handlungen gut seyn ? Der Autor sagt : bonorum sibi oppo-
sitorum fac melius, so fließt das aus dem vorigen tavtologischen Satz.
Die Abnegation bedeutet hier die Aufopfrung und Selbstverläugnung,
20 wo man in Ansehung eines kleinen Gutes Verzicht thut, um ein
größeres zu erlangen. Die Aufopferung bedeutet Zulaßung des Bösen,
damit nicht das größere Böse entsteht. Die Abnegation kann pragma-
tisch oder moralisch seyn. Ich kann einen Vortheil unterlaßen, wo
ein / größerer zu erlangen ist, das ist abnegatio pragmatica. Wenn ich 29
25 aber aus einem moralischen Grunde eine Handlung unterlaße, um eine
größere zu thun, das ist abnegatio moralis.
Der Satz des Autors, als der Grund der Obligation : Quaere perfec-
tionem quantum potes, ist doch weniger unbestimmt ausgedrückt,
hier ist doch nicht totale Tavtologie, und hat also einen Grad der
30 Brauchbarkeit. Was ist denn volll^ommen ? Die Vollkommenheit der
Sache und des Menschen sind unterschieden. Die Vollkommenheit der
Sache ist die Hinlänglichkeit aller requisitorum, um die Sache zu
constituiren. also generaliter bedeutet es die Vollständigkeit. Aber die
Volllvommenheit des Menschen bedeutet noch nicht Morahtät. Die
35 Vollkommenheit und morahsche Bonität sind unterschieden. Die
Vollkommenheit ist die Vollständigkeit des Menschen in Ansehung
seiner Kräfte, Vermögen und Fertigkeit, alle / beliebige Zwecke auszu- so
führen. Die Vollkommenheit kann größer und kleiner seyn ; einer kann
vollkommner seyn als der andre. Die Bonitaet ist aber die Eigenschaft,
266 Vorlesungen über Moralphilosophie
sich aller dieser VolUvommenlieiten gut und wohl zu bedienen. Also
besteht die Moralische Bonitaet in der VoUkommenheit des Willens
und nicht des Vermögens. Allein zu einem guten Willen ist nöthig die
Vollständigkeit und das Vermögen aller Kräfte, alles das auszuführen,
was der Wille will. Also können wir sagen, daß die VoUkommenheit 5
indirecte ist und in so fern zur Moralitaet gehöre. Also ist der Satz
indirecte moralisch. Ein andres moralisches Principium des Autors ist:
Vive convenienter naturae. Dieses ist ein Stoisches Principium. Wo
schon in der Moral viele Principia seyn, da sind gewiß keine, denn es
kann nur ein wahres Principium seyn. Wenn der Satz auch so gesagt lo
31 wird : Lebe gemäß den Gesetzen, die dir die Natur / durch die Vernunft
giebt, so ist er doch tavtologisch, denn der Natur gemäß leben, würde
bedeuten, seine Handlung nach der physischen Ordnung der natür-
lichen Dinge einrichten, also wäre es eine Regel der Klugheit, aber
nicht ein moralisches Principium, ja auch nicht einmal eine gute Regel 15
der Klugheit, denn wenn es heißt: richte deine Handlungen so ein,
daß sie mit der Natur übereinstimmen, so weiß ich nicht, ob es gut ist,
wenn die Handlungen mit der Natur übereinstimmen. Viel weniger ist
es ein Principium der Moralität. Das lezte Principium ist : Ama Opti-
mum, quantum potes. Dieser Satz taugt eben so wenig als die vorigen. 20
Wir lieben alles was zur Vollkommenheit gehört, und etwas beiträgt,
und in so fern liebt ein ieder das. Es giebt eine zweifache Art etwas
zu lieben: Aus Neigung und aus Grundsätzen. So liebt ein Spitzbube
das gute auch aus Grundsätzen, aber das Böse aus Neigung.
$2 / Also sind alle diese Sätze keine principia der Moralität. 25
Sectio II.
Vom moralischen Zwange.
Erstlich merken wir vom Zwange überhaupt an, daß die neceßita-
tion 2fach sey : eine objective und subjective neceßitation. Die subjec-
tive neceßitation ist die Vorstellung der Nothwendigkeit der Hand- 30
lungen per stimulos, oder durch die causas impulsivas des Subjects.
Der objective Zwang ist die Nöthigung einer Person durch das, was
in seinem Subject die größte nöthigende und bewegende Kraft hat.
Der Zwang ist also nicht eine Nothwendigkeit, sondern eine Nöthigung
zur Handlung. Das Wesen aber, was genöthigt wird, muß ein solches 35
seyn, welches diese Handlung ohne Nöthigung nicht thun würde,
ja auch noch Gegengründe dawider hätte. Also kann Gott nicht
Moralphilosophie Collins 267
genöthiget werden. Der Zwang ist also eine Nöthigung einer ungern
geschehenen Handlung. / Diese Nöthigung kann objectiv und subjec- »s
tiv sein. So läßt man etwas ungern aus einer Neigung fahren, was man
nach der andren thut ; so läßt z. E. ein Geitziger einen kleinen Vortheil
5 fahren wenn er dadurch einen größern erlangt, aber ungern, er wolte
sie lieber beyde haben. Aller Zwang ist entweder pathologisch oder
practisch. Der pathologische Zwang ist die Nothwendigmachung einer
Handlung per stimulos; der practische Zwang ist die Nothwendig-
machung einer ungern geschehenen Handlung per motiva. Patho-
10 logisch kann kein Mensch gezwamgen werden, wegen des freyen Wil-
lens. Die menschliche Willkühr ist ein arbitrium liberum, indem sie
nicht per stimulos neceßitirt wird. Die thierische Willkühr ist ein
arbitrium brutum und nicht liberum, weil sie durch stimulos neceßi-
tirt / werden kann, z. E. wenn ein Mensch zu einer Handlung ge- 34
15 drungen wird durch viele und grausame Quaalen, so kann er doch
nicht gezwungen werden die Handlungen zu thun, wenn er nicht will,
er kann ja die Quaal ausstehn. Comparative kann er zwar gezwungen
werden, aber nicht stricte, es ist doch möglich die Handlung ohner-
achtet aller sinnlichen Antriebe dennoch zu unterlaßen, das ist die
20 Natur des arbitrii liberi. Die Thiere werden per stimulos neceßitirt,
so muß ein Hund eßen, wenn ihn hungert und er etwas vor sich hat;
der Mensch kann sich aber in demselbigen Fall enthalten. Demnach
kann ein Mensch pathologice gezwungen werden, aber nur compara-
tive, z. E. durch die Tortur. Eine Handlung ist nothwendig, der man
25 nicht widerstehn kann. Gründe sind neceßitirend, denen die mensch-
lichen Kräfte zu widerstehn nicht zureichen. Der Mensch kann aber
practisch durch motiva / gezwungen werden, er wird nicht gezAvungen, 35
sondern bewogen. Der Zwang ist aber denn nicht subjectiv, denn sonst
wäre er ja nicht practisch, und geschieht per motiva und nicht per
30 stimulos, denn die Stimuli sind motiva subjective moventes.
Praktisch kann beim freyen Wesen eine Handlung nothwendig seyn,
und zwar in großem Grad, die gar nicht kann übertroffen werden, die
aber der Freyheit nicht widerspricht. So muß Gott nothwendig die
Menschen, deren Verhalten dem morahschen Gesetze gemäß ist, be-
35 lohnen, und denn hat er nach den Regeln des besten Beliebens gethan,
denn das Verhalten stimmt mit dem moralischen Gesetze und also
auch mit der göttlichen Willkühr überein. So kann ein ehrlicher Mann
nicht lügen, er thut es aber aus eigenem Willen nicht. / Also können 36
Handlungen nothwendig seyn ohne der Freyheit zu widerstreiten. Die-
268 Vorlesungen über Moralphilosophie
se praktische Neceßitation kann nur bey Menschen nicht bey Gott
statt finden, z. E. kein Mensch gibt das seinige gern weg, wenn er aber
seine Kinder nicht anders als mit Verlust des seinigen retten kann,
so thut ers, und ist hier practisch neceßitirt. Folglich der aus Be-
wegungsgründen der Vernunft genöthiget ist, ist ohne der Freyheit 5
zu widerstreiten genöthiget. Wir thun die Handlungen zwar ungern,
aber wir thun sie doch, weil sie gut seyn.
Von der practischen Neceßitation
Alle Neceßitation ist nicht nur pathologisch, sondern auch practisch.
Die practische Neceßitation ist nicht subjectiv sondern objectiv, denn lo
wenn sie subjectiv wäre, so wäre es eine neceßitatio pathologica. Mit
der Freyheit stimmt keine andre neceßitation als die practische
neceßitation per motiva. Diese Motiva können pragmatica und moralia
seyn, die Moralia sind von der Bonitate absoluta der freyen Willkühr /
37 hergenommen. i»
Je mehr ein Mensch kann moralisch gezwungen werden, desto
freyer ist er, je mehr er pathologisch, welches aber nur comparative
geschieht, gezwungen wird, desto weniger frey ist er. Es ist besonders :
je mehr einerkann gezwungen werden, nähmlich moralisch, desto freyer
ist er. Moralisch zwinge ich einen durch motiva objective moventia, 20
durch Bewegungs Gründe der Vernunft mit seiner größten Freyheit,
ohne allen Antrieb. Demnach gehört ein großer Grad der Freyheit, um
moralisch gezwungen zu werden, denn alsdenn ist das arbitrium
liberum mächtiger, es kann durch Bewegungsgründe gezwungen
werden, und ist von den stimulis frey. Je mehr also jemand von den 25
stimulis frey ist, desto mehr kann er moraUsch neceßitirt werden.
Die Freyheit wächst mit dem Grad der Moralität. Bey Gott findet
keine neceßitatio practica statt, denn bey ihm sind die subjectiven
38 Gesetze mit den objectiven einerley. Aber bey / Menschen findet eine
neceßitatio practica statt; denn er thut es ungern, also muß er ge- 30
zwungen werden. Je mehr er aber dem moralischen Bewegungsgrunde
nachgiebt, desto freyer ist er.
Der ist freyer, der weniger Verbindlichkeit hat. So fern jemand
unter der Obligation stehet, so ist er nicht frey ; hört aber die Obliga-
tion auf, so wird er frey. Unsre Freyheit wird also durch die Obligation 35
verringert, aber bey Gott wird die Freyheit durch die moralische
Noth wendigkeit nicht verringert, er ist auch nicht dazu obligirt ; weil
Moralphilosophie Collins 269
ein solcher Wille an sieh selbst das will, was gut ist, also kann er nicht
obligirt werden, aber die Menschen, w^eil ihr Wille böse ist, können
obligirt werden. So ist einer nicht frey, wenn er W^ohlthaten ange-
nommen hat. Doch können wir comparative in einem Stück mehr
5 Freyheit haben als im andern.
Der da unter der obligatione paßiva steht, ist weniger frey, als der
unter der obligatione activa steht. Wir können zu keiner Handlung
der Großmuth gezwungen werden, wir sind doch al)er dazu obligirt, /
folglich stehn wir unter obligatione activa. Zu Handlungen der »9
10 Schuldigkeit können wir gezwungen werden, und stehen dann unter
der obligatione paßiva ; wer nun unter der obligatione paßiva bey Je-
mandem steht, der ist weniger frey, als derjenige, der ihn obligiren
kann.
Wir haben Obligationes internas erga nosmet ipsos, in Ansehung
15 derer sind wir äußerlich völlig frey; ein ieder kann mit seinem Körper
machen was er will, das geht keinen was an, aber innerlich ist er nicht
frey, sondern ist durch die noth wendigen und wesentlichen Zwecke der
Menschheit gebunden.
Alle Obligation ist eine Art von Zwang; ist dieser Zwang moralisch,
20 so werden wir entweder äußerlich gezwungen, oder wir zwingen uns
selbst, und dieses ist eine conditio interna. Es kann aber einer äußer-
lich moralisch von andren gezwungen werden, wenn ein andrer uns
eine Handlung, die wir ungern thun, nach moralischen motiven
abnöthiget. Wenn ich z. E. Jemandem was / schuldig bin, und der 40
25 andre sagt : Wilst du ein ehrlicher Mann seyn, so must du mir bezahlen,
ich will dich nicht verklagen ; allein ich kann es dir nicht erlaßen, weil
ich es brauche; so ist dieses ein äußerlich moralischer Zwang, durch
die Willkühr eines andern. Je mehr sich einer selbst zwingen kann,
desto freyer ist er. Je weniger er darf von andern gezwningen werden,
30 desto innerlich freyer ist er. Wir müßen hier noch unterscheiden, das
Vermögen der Freyheit, und den Zustand der Freiheit. Das Vermögen
der Freyheit kann größer seyn, obgleich der Zustand schlechter ist.
Je größer mein Vermögen der Freiheit ist, je freyer die Freyheit von
den stimulis ist, desto freyer ist der Mensch. W^äre der Mensch des
35 Selbstzwanges nicht bedürftig, so wäre er ganz frey, denn wäre sein
Wille ganz gut. so möchte er alles gute gern thun, weil er sich nicht
zwingen dürfte, das ist aber nicht der Fall des Menschen. Doch kommt
einer diesem näher als der / andre ; wenn nähmlich bey dem einen die 4i
sinnlichen Triebe, die Stimuli, stärker sind als bev dem andern. Je mehr
270 Vorlesungen über Moralphilosophie
sich einer übt, sich zu zwingen, desto mehr wird er frey. Mancher ist
schon von Natur zur Großmuth, Vergebung, zur Rechtschaf fenheit auf-
gelegt, desto beßer kann er sich selbst zwingen, und desto freyer ist er.
Aber kein Mensch ist des Selbstzwanges überhoben. Alle Verbindlich-
keit ist entweder innerlich oder äußerlich. Obligatio externa est 5
neceßitatio moralis per arbitrarium alterius. Obligatio interna est
neceßitatio moralis per arbitrium proprium. Eine Willlvühr ist eine
Begierde die ich in meiner Gewalt habe. Ein Wunsch aber eine
Begierde die ich nicht in meiner Gewalt habe. Die Neceßitation durch
fremde Willkühr ist neceßitatio moralis externa, denn der Fremde hat lo
es in seiner Gewalt mich zu zwingen, und die Obligation, die daraus
entspringt, ist obligatio externa. Die neceßitatio moralis, die nicht durch
43 fremde / sondern durch meine eigene Willkühr geschieht, ist die neceßi-
tatio moralis interna, und die Verbindlichkeit die daraus entspringt ist
obligatio interna. ZE. ich habe Verbindlichkeit einem andern zu i5
helfen, die ist aber innerlich. Die Erstattung der Beleidigung ist
moralisch noth wendig durch fremde Willkühr, und das ist obligatio
externa.
Die äußere Obligationes sind größer als die Innern ; denn die äußern
Obligationes sind zugleich innere, aber die innre sind nicht zugleich 20
äußere. Die obligatio externa setzt schon zum voraus, daß die Hand-
lung überhaupt unter der Moralität stehe, und deswegen ist sie interna ;
denn die obligatio externa ist darum eine Obligation, weil die Hand-
lung interne schon eine Obligation ist. Denn deswegen daß die Hand-
lung eine Pflicht ist, ist das eine innerliche Verbindlichkeit, aber weil 25
ich ihn zu dieser Pflicht durch meine Willkühr noch zwingen kann,
so ist es auch eine obligatio externa. Bey der Obligatione externa muß
43 meine / Handlung mit der Willkühr eines andern übereinstimmen, und
dazu kann ich auch von andern gezwungen werden. Die Obligatio
externa kann auch von einem andern pathologisch gezA^iingen werden ; 30
wenn er sich nicht moralisch zwingen läßt, hat er eine Befugniß auch
pathologisch zu zwingen. Ueberhaupt jedes Recht hat eine Befugniß
pathologisch zu zwingen.
Die innre Obligationes sind unvollkommne Obligationes, weil wir
dazu nicht können gezwungen werden. Die obligationes externae sind 35
aber perfectae, denn da kommt noch außer der Innern Verbindlichkeit,
die äußere Nöthigung dazu.
Der Bewegungsgrund, nach welchem wir aller Obligation ein Genüge
thun, ist entweder innerlich, und denn heißt er Pflicht, oder äußerlich,
Moralphilosophie Collina 271
und denn heißt er Zwang. Wenn ich meiner Verbindhchkeit satisfacire,
durch meine eigne Willkühr, dann ist der Bewegungsgrund iiuierlich
und ich thue die Handhnig aus Pfhcht. / Derjenige der seiner Verbind- 44
hchkeit ein Genüge thut aus Pflicht, und derjenige der ihr ein Genüge
5 thut aus Zwang, haben beide ihrer Verbindhchkeit ein Genüge gethan,
aber der erstere aus innerem Bewegungsgrunde, und der andre aus
äußerem Bewegungsgrunde. Der Landes-Herr sieht nicht darauf, aus
was für einem Bewegungsgrunde die VerbindHchkeiten gegen ihn
geleistet werden, ob es aus Pflicht oder aus Zwang geschiehet; es ist
10 ihm einerley. Aber Eltern verlangen die Verbindliclilceit von den
Kindern aus Pflicht. Wenn also der Autor die Verbindlichkeit ein-
theilt, so fern man sie thut aus Pflicht oder aus Zwang, so ist das
falsch. Die Verbindlichkeit kann nicht so eingetheilt werden, denn der
Zwang macht keine Verbindliclikeit ; die Verbindlichlieiten müßen /
15 an sich Selbsten unterschieden werden, nehmlich so fern sie entspringen 45
ex arbitrio alterius denn sind sie externae, oder ex arbitrio proprio,
denn sind sie internae, ut supra. Allein die motiva satisfaciendi zu
allen Verbindlichkeiten, sie mögen externae oder internae seyn,
können so unterschieden werden : Sind die Bewegungsgründe innerlich,
20 fließen sie aus meiner Willkühr, so sind sie Pflichten; fließen sie aus
der Willkühr eines andern, so ist es Zwang. Die Obligationes aber
mögen sein wie sie wollen. Objective Bewegungsgründe sind Gründe
der Gesinnung und der Bestimmung des Willens, der Regel ein
Genüge zu thun. Nach den objectiven Gründen sind die Verbind-
25 lichkeiten innerlich und äußerlich, nach den subjectiven Gründen
sind sie Pflicht oder Zwang.
/Alle obligationes, deren Bewegungsgründe subjectiv oder innerlich 46
sind, sind ethische Verbindlichkeiten. Alle Obligationes, deren
Bewegungsgründe objectiv oder äußerlich sind, sind im strüiten Ver-
30 stände juridisch : die ersten sind Verbindlichkeiten der Pflicht, die
andern Verbindlichkeiten des Zwanges. Der Unterschied vom jure
und der Ethic besteht nicht in der Art der Verbindlichkeit, sondern in
den Bewegungsgründen, den Verbindlichkeiten ein Genüge zu thun.
Die Ethic redet von allen Verbindlichkeiten, es mögen Verbindlich-
35keiten des Wohlwollens, der Großmut und Güte seyn, oder es mögen
Verbindlichkeiten der Schuldigkeit sejai, so betrachtet die Ethic alle
zusammen nur so, daß der Bewegungsgrund innerlich ist, sie erwägt
sie aus Pflicht und aus der innern Beschaffenheit der Sache selbst, und
nicht aus Zwang. / Das jus aber betrachtet die Satisfaction der Ver- 4T
272 Vorlesungen über Moralphilosophie
bindlichkeit nicht aus Pflicht, sondern aus Zwang. Es wird aber auf die
Triebfeder des Zwanges attendirt. Die Verbindlichkeiten werden be-
trachtet, wie sie sich verhalten zum Zwang.
Wir haben Verbindlichkeiten gegen Gott, Gott aber verlangt nicht
nur, daß wir die Verbindlichkeiten thun, sondern, daß wir sie gern aus 5
innern Bewegungsgründen thun sollen. Den Obligationibus gegen Gott
thut man nicht genüge, wenn man sie aus Zwang thut, sondern aus
Pflicht. Thue ich etwas gerne aus guter Gesinnung, so thue ich es aus
Pflicht, und die Handlung ist ethisch, thue ich aber etwas aus Zwang,
so ist die Handlung juridisch recht. Es ist also ein wahrer Unterschied lo
der obligationum, wenn man sie eintheilt in internas und externas,
aber darin besteht nicht der Unterschied der Ethic und des Juris,
sondern der Unterschied bestehet in den Bewegungsgründen zu diesen
48 Verbindlichkeiten ; / denn wir können den Obligationibus Genüge thun
aus Pflicht und aus Zwang. Zur Oliligatione externa kann mich die is
Willkühr eines andern nöthigen, obgleich er mich nicht zwingt, und
denn thue ich sie aus Pflicht, zwingt er mich aber wirklich, so thue ich
sie aus Zwang. Die Obligatio externa ist nicht deswegen eine obligatio
externa, weil ich dadurch kann gezwungen werden. Aus der Obligation
fließet die Befugniß zu zwingen, sie ist eine Folge der Obligation. 20
Von den Gesetzen.
Eine iede Formel, die die Nothwendigkeit meiner Handlungen aus-
drückt, heißt ein Gesetz. So können wir natürliche Gesetze haben,
wo die Handlungen unter der allgemeinen Regel stehen, oder auch
practische Gesetze. Demnach sind alle Gesetze physisch oder prac- 25
tisch. Die practischen drücken die Nothwendigkeit der freyen Hand-
49 lungen aus, und sind entweder / subjectiv, so fern sie wirklich von
Menschen geschehn, oder objectiv, so fern sie geschehn sollen. Die
Objectiven sind wieder 2fach: pragmatische und moralische. Von den
leztern ist hier die Rede. so
Das Recht, so fern es Befugniß bedeutet, ist die Uebereinstimmung
der Handlung mit der Regel des Rechts, so fern die Handlung der Regel
der Willkühr nicht widerstreitet, oder die moralische Möglichkeit der
Handlung, wenn die Handlung moralischen Gesetzen nicht widerstrei-
tet. Das Recht aber als Wißenschaft genommen ist der Inbegriff aller 35
Gesetze des Rechts. Jus in sensu proprio est complexus legum obliga-
tionum externarum, quatenus simul sumuntur. Jus in sensu proprio
Moralpliilosophie Collins 273
est vel jus late dictum, vel jus stricte dictum. Jus late dictum ist das
Recht der Billigkeit. Jus stricte dictum ist das strenge Recht, so ferne
es die Befugniß hat andere zu zwingen. Also ein freyes Recht und ein
Zwangsrecht. Die Ethic wird dem juri stricto / entgegen gesezt, und 50
5 nicht dem juri überhaupt. Sie geht auf Gesetze der freyen Handlung,
so ferne wir können dazu gezwungen werden. Das jus stricte ist
entweder positivum seu statutarium, oder jus naturale. Jus positivum
ist, welches aus der Willkühr des Menschen entspringt; jus naturale
aber, in so fern es aus der Natur der Handlungen durch die Vernunft
loeingesehn wird. Jus positivum est vel divinum vel humanum. Jus
positivum enthält Gebothe, jus naturale aber Gesetze in sich. Die
göttlichen Gesetze sind aber auch zugleich göttliche Gebothe, oder das
jus naturale ist zugleich das jus positivum des göttlichen Willens,
nicht in so fern sie in seinem Willen allein, sondern in der Natur des
15 Menschen liegen; aber nicht umgekehrt: alle göttliche Gesetze sind
natürliche Gesetze, denn Gott kann auch ein positives Gesetz geben.
Das jus positivum so wohl, als auch das jus naturale kann entweder
ein freyes Recht, oder ein Zwangsrecht seyn. / Viele Gesetze sind nur si
Gesetze der Billigkeit. Das jus aequitatis ist aber w^enig kultivirt,
20 welches zu wünschen wäre, ZAvar nicht darum, damit die Gerichtshöfe
darnach urtheilen sollen, denn da müßen sie nur valide urtheilen.
Das jus aequitatis ist aber kein äußeres Recht, sondern gilt nur coram
foro conscientiae. Im jure positive et naturali redet man immer vom
jure stricto und nicht vom jure aequitatis, denn das gehört nur zur
25 Ethic. Alle Pflichten, auch Zwangspflichten, wenn der Bewegungs-
grund ihnen zu satisfaciren aus der innern Beschaffenheit hergenom-
men wird, gehören sogleich zur Ethic. Denn die Gesetze können dem
Inhalt nach zum Jure oder zur Ethic gehören, aber sie können nicht
allein dem Inhalt nach so seyn, sondern auch dem Bewegungsgrunde
30 nach entweder zum Jure oder zur Ethic gehören. Der Landesherr
fordert nicht, daß man seine Abgaben gerne giebt, das fordert aber die
Ethic. Beyde, sowohl der es gern giebt, als der es aus Zwang giebt,
sind gleiche Unterthanen, weil sie beyde gegeben haben.
/ Die Gesinnung kann nicht vom Landes Herren gefordert werden, 52
35 weil sie nicht erkannt wird, indem sie innerlich ist. Nun befiehlt aber
die Ethic Handlungen aus guter Gesinnung zu thun. Die Beobachtung
der göttlichen Gesetze ist der einzige Fall, wo jus und Ethic überein-
stimmen, und beyde sind in Ansehung Gottes Zwangsgesetze, denn
Gott kann zu ethischen und juridischen Handlungen zwingen ; aber er
18 Kant's Schriften XXVII/1
274 Vorlesungen über Moralphilosophie
fordert die Handlungen nicht aus Zwang, sondern aus Pflicht. Es kann
also eine Handlung rectitudinem juridicam haben, so fern sie mit den
Zwangsgesetzen übereinstimmt, aber die Uebereinstimmung der
Handlung mit den Gesetzen aus Gesinnungen und Pflicht, die hat die
Moralität; sie besteht also in der gutwilligen Gesinnung. Demnach ist 5
die moralische Bonitaet der Handlung von der rectitudine juridica zu
unterscheiden. Die rectitudo ist das genus; ist sie nur juridisch, so hat
sie keine morahsche Bonitaet. So kann die Religion rectitudinem
juridicam haben, wenn man die göttlichen Gebote aus Zwang, und
5$ nicht / aus guter Gesinnung thut. Gott will aber nicht die Handlung, lo
sondern das Herz. Herz ist das principium der moralischen Gesinnung.
Also will Gott die moralische Bonitaet, und diese ist belohnungswerth.
Demnach ist die Gesinnung der Leistung der Pflichten zu cultiviren,
und dieses ist das, was der Lehrer des Evangehi sagt, daß man alles aus
Liebe zu Gott thun soll. Gott lieben ist aber seine Gebothe gerne thun. i5
Leges können auch seyn praeceptivae, wodurch etwas gebothen
wird, prohibitivae, wodurch Handlungen verbothen Averden. und
permißivae, wodurch Handlungen erlaubt werden. Complexus legum
praeceptivarum ist jus mandati, complexus prohibitorum ist jus vetiti;
man könnte sich auch noch jus permißi denken. 20
Vom obersten Principio der Moralität
Wir haben hier zuerst auf 2 Stücke zu sehn, 1) auf das principium
54 der dijudication der Verbindlichkeit, und 2) auf das / principium der
Execution oder Leistung der Verbindlichlieit. Richtschnur und Trieb-
feder ist hier zu unterscheiden. Richtschnur ist das principium der 25
Dijudication und Triebfeder der Ausübung der Verbindlichkeit,
indem man nun dieses verwechselte, so war alles in der Moral falsch.
Wenn die Frage ist: was ist sittlich gut oder nicht, so ist das das
principium der Dijudication, nach welchem ich die Bonitaet und
pravitaet der Handlungen beurtheile. Wenn aber die Frage ist, was so
bewegt mich diesem Gesetze gemäß zu leben ? So ist das das principium
der Triebfeder. Die Billigung der Handlung ist der objective Grund,
aber noch nicht der subjective Grund. Dasjenige, was mich antreibt,
das zu thun, worin der Verstand sagt, ich soll es thun, das sind die
motiva subjective moventia. Das oberste principium aller moralischen 35
Beurtheilung liegt im Verstände, und das oberste Principium des
55 moralischen Antriebes, diese Handlung / zu thun, liegt im Herzen.
Moralphilosophie Coli ins 275
Diese Triebfeder ist das moralische Gefühl. Dieses prineipium der
Triebfeder kann nicht mit dem principio der Beurtheilung verwechselt
werden. Das prineipium der Beurtheilung ist die Norm, und das prin-
eipium des Antriebes ist die Triebfeder. Norm ist im Verstände, die
5 Triebfeder aber im moralischen Gefühl. Die Triebfeder vertritt nicht
die Stelle der Norm. Das hat einen practischen Fehler, wo die Trieb-
feder wegfällt, und das hat einen theoretischen Fehler, wo die Beur-
theilung wegfällt. Anjetzo wollen wir noch kürzlich zeigen, negative,
worinn das prineipium der Moralität nicht bestehe. Das prineipium
loder Moralität ist nicht pathologisch, pathologisch wäre es,
wenn es aus subjectiven Gründen, aus unsern Neigungen, aus unserm
Gefühle hergeleitet wäre. Die Moral hat kein pathologisches prin-
eipium, denn sie enthält objective Gesetze, was man thun soll,
undnicht was man zu thun begehrt. / Sie ist nicht Zergliederung 56
15 der Neigung, sondern eine Vorsicht, die wider alle Neigung ist. Das
pathologische prineipium der Moralität bestünde darinn, allen
seinen Neigungen ein Genüge zu thun, das wäre der viehische
Epicureismus, das ist aber noch nicht der wahre Epicureismus.
Wir können uns aber 2 principia pathologica der Moralität gedenken,
20 das erste geht auf die satisfaction aller Neigungen, und dieses ist das
physische Gefühl. Das zweyte geht auf die satisfaction einer Neigung,
die auf die Moralität geht, und gründete sich also auf eine intellectuelle
Neigung, wovon wir aber gleich zeigen werden, daß eine intellectuelle
Neigung ein Widerspruch ist. Denn ein Gefühl für Gegenstände des
25 Verstandes ist an sich selber ein Unding, demnach ist das moralische
Gefühl aus intellectueller Neigung ein Unding, folglich nicht möglich.
Ein Gefühl kann ich nicht für was Reales halten, es kann nicht etwas
intellectual und sinnlich seyn. Und wenn es auch möglich wäre, daß
wir eine Empfindung für die Moralität / hätten, so könnten doch keine 5T
30 Regeln auf dieses prineipium etablirt werden, denn ein moralisch
Gefühl sagt categorisch was geschehn soU, es mag gefallen oder nicht;
und ist also keine Befriedigung unserer Neigung. Alsdenn dürfte auch
kein moralisch Gesetz seyn, sondern jeder möchte nach seinem Gefühl
handeln. Gesetzt, es wäre das Gefühl bey allen Menschen im gleichen
35 Grad, so wäre es doch keine Obligation, nach dem Gefühl zu handeln ;
denn alsdenn könnte es nicht heißen, wir sollen das thun was uns
gefällt, sondern es möchte solches ein jeder von selbst thun, weil es
ihm gefällt. Das moralische Gesetz befiehlt doch aber categorisch; also
kann sich die Moralität nicht auf ein pathologisches prineipium, weder
276 Vorlesungen über Moralphilosophie
auf das physische noch moralische Gefühl gründen. Diese Methode,
sich auf das Gefühl zu berufen, in einer practischen Regel, ist auch
ganz der Philosophie entgegen. Ein jedes Gefühl hat nur eine privat
58 Gültigkeit und keine Begreiflichkeit / für einen andern, und es ist auch
an sich selbst pathologisch; wenn jemand sagt, er fühlt es so in sich, 5
das kann doch nicht für andre gelten, die doch nicht wissen, wie er es
fühlt, und der sich schon auf ein Gefühl beruft, der giebt alle Gründe
der Vernunft auf. Es findet also das pathologische principium nicht
statt. Daher muß ein intellectuelles principium der Sittlichkeit seyn,
so fern es aus dem Verstände entlehnt ist. Dieses besteht entweder in lo
der Regel des Verstandes, so fern uns der Verstand die Mittel an die
Hand giebt, unsere Handlungen so einzurichten, daß sie mit unseren
Neigungen übereinstimmen, oder sofern der Grund der Sitttlichkeit
durch den Verstand unmittelbar erkannt wurde. Der erste ist zwar
ein intellectuelles principium, sofern uns der Verstand die Mittel am 5
die Hand giebt, aber es ist doch offenbar in die Neigungen gelegt.
Dieses intellectuale Schein principium ist das pragmatische principium.
Es beruht auf der Geschicklichkeit der Regel, denen Neigungen Genüge
zu thun. Dieses principium der Klugheit ist das wahre epicureische
59 principium. Wenn es also / heißt, du solst deine Glükseehgkeit be- 20
fördern, so heißt das so viel, brauche deinen Verstand die Mittel zu
erfinden, dein Vergnügen und deine Neigungen zu befriedigen ; in so
fern ist dieses principium intellectual, weil der Verstand die Regel
vom Gebrauch der Mittel unsre Glükseligkeit zu befördern, entwerfen
soll. Also ist das pragmatische principium abhängig von den Neigun- 25
gen, indem die Glükseehgkeit in der Befriedigung aller Neigungen
besteht. Die Moralität gründet sich aber auf kein pragmatisches
principium, weil sie unabhängig von aller Neigung ist. Bestünde die
Moralität darin, so könnten die Menschen in der Moralität nicht über-
einstimmen, denn ein jeder würde sein Glück nach seinen Neigungen so
suchen. Die Moralität kann aber nicht auf den subjectiven Gesetzen
der Neigungen der Menschen beruhn, also ist das principium der Moral
60 nicht pragmatisch. Es muß zwar intellectuell / seyn, aber nicht
mediate, wie das pragmatische ist, sondern es muß ein unmittelbares
principium der Sittlichkeit seyn, so fern der Grund der Sittlichkeit 35
durch den Verstand unmittelbar erkannt wird. Das principium der
Moral ist also ein pur reines intellectuales principium der reinen Ver-
nunft. Dieses reine intellectuale principium kann aber nicht wieder
tavtologisch seyn, und in der Tavtologie der reinen Vernunft bestehn,
Moralphilosophie Collins 277
SO wie Baron Wolff ein solches vortrug: Fac bonum et omitte malum,
es ist leer und uuphilosophisch, ut supra. Das zweyte tavtologische
principium ist das Cumberlands, welches besteht in der Wahrheit. Er
sagt, wir suchen alle die Vollkommenheit, werden aber betrogen durch
5 den Schein ; die Moral zeigt uns aber die Wahrheit. Das dritte ist des /
Aristoteles, das principium der Mittelstraße ; folglich ists tavtologisch. ei
Dieses reine intellectuale principium muß aber nicht ein principium
externum seyn, so ferne unsre Handlungen ein Verhältniß haben auf
ein fremdes Wesen, also beruhet es nicht auf dem göttlichen Willen,
10 es kann auch nicht heißen du solst nicht lügen, weil es verbothen ist;
demnach kann das principium der Moralität kein externum, folglich
kein tavtologicum seyn. Die dieses behaupten, sagen, man müßte
zuerst Gott haben, und hernach die Moralität, welches principium sehr
commode ist. Moral und Theologie ist kein principium der andren,
15 zwar kann die Theologie nicht ohne die Moral, und diese wieder nicht
ohne jene bestehn, allein es ist hier nicht die Rede, daß die Theologie
eine Triebfeder der Moral sey, das ist sie freylich, sondern / ob das 62
principium der Dijudication der Moral ein theologisches sey, und das
kann es nicht seyn. Wenn das wäre, so müßten alle Völker erst Gott
20 erkennen, ehe sie den Begriff von den Pfhchten hätten; also müßte
folgen, daß alle Völker, die keinen rechten Begriff von Gott hätten,
auch keine Pflicht hätten, welches aber falsch ist. Völker erkannten
ihre Pflichten richtig, sie sahen ein die Häslichkeit der Lügen, ohne den
rechten Begriff von Gott zu haben. Ferner, so haben sich Völker nur
25 heilige und falsche Begriffe von Gott gemacht, und hatten doch richtige
Begriffe von den Pflichten. Folglich müßen die Pflichten aus einem
andern Quell entlehnt seyn. Die Ursache dieser Ableitung der Mora-
lität aus dem göttlichen Willen ist diese : weil die moralische Gesetze
lauten: du solst das thun, so denkt man, es muß ein drittes Wesen
30 seyn, welches das verbothen hat. Es ist wahr, das moralische Gesetz
ist ein Befehl, und sie können Gebote des göttlichen Willens seyn, /
aber sie fließen nicht aus dem Gebote. Gott hat es geboten, weil es 63
ein moralisches Gesetz ist, und sein Wille mit dem moralischen
Gesetze übereinstimmt. Ferner so scheint alle Verbindlichkeit eine
35 Beziehung zu haben auf einen obligantem. Es scheint also Gott
obligator der menschlichen Gesetze zu seyn. In der Execution muß
zwar freylich ein drittes Wesen seyn, das da nöthigt, dasjenige zu
thun, was moralisch gut ist. Allein, zur Beurtheilung der Moralität
brauchen wir kein drittes Wesen. Alle moralische Gesetze können
278 Vorlesungen über Moralphilosophie
richtig seyn, ohne ein drittes Wesen. Aber in der Ausübung wären
sie leer, wenn kein drittes Wesen uns dazu nöthigen möchte. Man
hat also mit Recht eingesehn, daß ohne einen obersten Richter alle
moralische Gesetze ohne Effekt wären, alsdenn wäre keine innere
Triebfeder, keine Belohnung und keine Bestrafung. Also die Erkennt- 5
64niß Gottes ist in Ausübung der moralischen Gesetze nöthig. / Wie
erkennen wir denn den göttlichen Willen 1 Es fühlt keiner den gött-
lichen Willen in seinem Herzen, und wir können auch aus keiner Offen-
bahrung das moralische Gesetz erkennen, denn sonst wären die völlig
darin unwißend, die keine hätten, da doch Paulus selbst sagt, daß auch 10
solche nach ihrer Vernunft gerichtet werden. Wir erkennen also den
göttlichen Willen durch unsre Vernunft. Wir stellen uns Gott vor als
den, der den heiligsten und vollkommensten Willen hat, um durch ob jec-
tive Gründe bewegt zu werden ; es ist keine Feder von Natur , die da könnte
aufgezogen werden solches hervorzubringen. Allein wir können denn 15
einen habitum hervorbringen, der nicht natürlich ist, aber doch die
65 Natur vertritt, der durch die Nachahmung und öftere Ausübung / zum
habitu wird. Aber alle Methoden, die Laster bey uns verabscheuungs-
würdig zu machen, sind bey uns falsch. Wir sollen schon von Jugend
auf einen unmittelbaren Abscheu wider solche Handlungen einflößen, 20
aber nicht einen mittelbaren, der nur einen pragmatischen Nutzen hat.
Wir müßen nicht eine Handlung als verbothen oder als schädlich vor-
stellen, sondern als an sich selbst innerlich verabscheuungswerth. Z.E.
das Kind was da lügt muß nicht bestraft, sondern beschämt werden,
man muß einen Eckel, einen Abscheu, eine Verachtung gegen daßelbe 25
hegen, so, als wenn es mit Koth beworfen wäre. Durch solche öftere
Wiederholung können wir bey ihm einen solchen Abscheu wider die
66 Handlung erregen, die ihm zum habitu werden kann. / Wenn es aber
davor in der Schule bestraft wird, so denkt es, bist du aus der Schule,
so bist du auch schon von der Strafe und solcher Handlung entledigt ; so
es wird ein andermal durch Jesuitische Streiche den Strafen zu ent-
gehn suchen. So denken auch alte Leute, faßen den Vorsatz, sich kurz
vor ihrem Ende zu bekehren, und alles vorige gut zu machen, welches
hernach eben so gut ist, als wenn sie das ganze Leben hindurch sittlich
gelebt hätten ; dahero sie den plötzlichen Tod in dem Stück für un- 35
glücklich halten. Es soll also die Erziehung und die Religion darauf
6T hinausgehn, einen / unmittelbaren Abscheu gegen alle die üblen
Handlungen und eine unmittelbare Lust gegen die Sittlichkeit der
Handlungen einzuflößen.
Moralphilosophie ColUns 279
Autor rodet ferner
De littera legis.
Die Verknüpfung des Gesetzes mit den Ursachen und Gründen,
worauf das Gesez beruhet, ist littera legis. Wir können den Sinn des
5 Gesetzes einsehn, wenn wir das principium einsehn, aus dem das Gesez
abgeleitet ist, allein wir können den Sinn bestimmen, auch ohne das
principium einzusehn.
Der Sinn, den das Wort im Gesetz hat, ist anima legis. Die Worte
haben zwar einen Sinn, allein die Worte können auch einen andern
10 Sinn haben, der vom gemeinen abgeht, und das ist anima legis z. E. im
göttlichen positiven Gesez vom Sabbath, da ist der Sinn / nicht über- «8
haupt die Ruhe, sondern die feyerliche Ruhe.
Aber anima legis, wenn es so viel bedeutet als der Geist des Ge-
setzes, bedeutet nicht den Sinn, sondern den Bewegungsgrund. In
15 jedem Gesetz ist die Handlung selbst, die darnach geschieht, der
litterae legis gemäß. Aber die Gesinnung aus der die Handlung
geschieht, ist der Geist des Gesetzes. Die Handlung selbst ist littera
legis pragmaticae; aber die Gesinnung ist anima legis moralis. Die
pragmatischen Gesetze haben keinen Geist, denn sie fordern keine
20 Gesinnungen sondern Handlungen ; aber die moralischen Gesetze
haben einen Geist, denn die fordern Gesinnungen, und die Handlungen
sollen nur die Gesinnungen erklären. Wer also die Handlungen thut
ohne gute Gesinnungen, der erfüllet das Gesetz quoad / litteram, aber 69
nicht dem Geist nach. Man kann die göttlichen und alle moralische
25 Gesetze als pragmatische nur quoad litteram erfüllen, z. E. es denkt
jemand, der sich seinem Ende naht, wenn ein Gott ist, so muß er alle
gute Handlungen belohnen. Wenn er nun Vermögen hat, so kann er
dasselbe auf keine beßre Intereßen geben, als wenn er damit gute
Handlungen ausübt, aus der Absicht, um nur von Gott belohnt zu
30 werden, welches die Bibel den ungerechten Mammon nennt, und sagt,
daß die Kinder der Finsternis klüger seyn, als die Kinder des Lichts,
weil nun ein solcher das gethan, was das moralische Gesetz zu thun
fordert, aber ohne Gesinnung, so hat er es quoad litteram erfüllet.
Allein, die anima legis moralis war nicht erfüllt, diese erfordert sittlich
35 moralische Gesinnungen. / Es ist nicht gleich viel und einerley, aus was ?o
für einem Bewegungs-Grunde die Handlung geschiehet. Das mora-
lische Gesetz ist also nur das was Geist hat ; überhaupt ein Gegenstand
der Vernunft hat Geist, nun ist aber mein Vortheil kein Gegenstand
280 Vorlesimgen über Moralphilosophie
der Vernunft, also hat auch solche Handlung die aus dieser Absicht
geschieht, keinen Geist.
Autor ist in der Erklärung des Juris so weitläuf tig, daß er nur Worte
illustrirt und das ethische mit dem juridischen zusammennimt. Die
Verbindlichkeit ist ethisch, wenn der Grund der Obligation in der 5
Beschaffenheit der Handlung selbst ist, juridisch aber, wenn der
Grund der Obligation in der Willkühr eines andern ist. Der Unterschied
der Ethic besteht also darin:
1) sie unterscheidet sich vom jure in Ansehung der Gesetze, die sich
Ti gar nicht auf andre Menschen / beziehn, sondern nur auf Gott und auf lo
sich selbst,
2) daß wenn sie sich auf andre Gesetze bezieht, so hat die Verbind-
lichkeit zu der Handlung ihren Grund nicht in dem arbitrio eines
andern, sondern in der Handlung selbst. Und endlich 3) daß der
Bewegungsgrund seiner Verbindlichkeit ein Genüge zu thun, nicht der i5
Zwang, sondern die freye Gesinnung oder Pflicht sey.
Der äußere Bewegungsgrund ist Zwang, und die Handlung ist
juridisch, der innre Bewegungsgrund ist Pflicht, und die Handlung ist
ethisch. Bey der juridischen Obhgation fragt man nicht nach der Ge-
sinnung, die mag seyn \vde sie will, wenn nur die Handlung geschieht. 20
Bey den ethischen ObHgationen muß der Bewegungsgrund innerlich
sejoi; man muß die Handlung deswegen thun, weil es sich geziemt, ich
TS muß meine / Schuld bezahlen, nicht weil mich der andre zwingen kann,
sondern weil es sich geziemt.
Der Autor redet hier noch von der Transgreßion oder Uebertretung 25
der Gesetze, von der Beobachtung der Gesetze, und von denen Per-
sonen, denen entgegen gehandelt wird oder von der Laesion. Das
Gesetz wird nicht laedirt, sondern übertreten, aber die Person kann
laedirt werden. Die laesion kommt nicht in der Ethic vor, denn ich
laedire keinen Menschen, wenn ich keine ethische Pfhchten gegen ihn so
thue. Also oppositio jiu-is alterius ist eine Laesion. Die Antinomie oder
Widerstreit kann bey den Gesetzen statt finden, wenn die Gesetze nur
den Grund zur Obhgation enunciren; wenn aber die Gesetze an sich
selbst obligiren, so können sie nicht widerstreiten. Der Autor trägt
7S 3 Grundsätze vor, die als axiomata der Moral angenommen sind : / 35
honeste vive, neminem laede, cuique suum tribue. Wir wollen zeigen
was ihr Sinn ist, so fern sie als axiomata der Moral ihre Gültigkeit
haben sollen. Der erste Satz : honeste vive, kann angesehn werden als
ein allgemeines principium der Ethic, denn der Bewegungsgrund seine
Moralphilosophie Collins 281
Verbindlichkeit zu erfüllen ist nicht aus Zwang, sondern aus der
innern Bewegung genommen. Honestus bedeutet dasjenige Verhalten
und die Eigenschaft des Menschen, wenn er was thut, das Ehren werth
ist. Der Satz wird also lauten: thue das, was dich zum Objekt der
5 Achtung und Schätzung macht. Alle unsre Pflichten gegen uns selbst,
haben solche Beziehung, Achtung in unsern Augen und Beyfall in den
Augen anderer. Der ist geringschätzig, je weniger innern Werth er in
sich hat. / Die Schändlichkeit andrer bringt Haß hervor, die Nichts- T4
Würdigkeit bringt Verachtung hervor. Man soll sich also nach diesem
10 Satz aufführen, daß man ehrenwerth sey, daß man, wenn es allgemein
bekannt wird, von allen Achtung und Schätzung verdient, z. E. die
unnatürlichen Sünden sind von der Art, daß sie die Menschheit ent-
ehren, in ihrer eignen Person. Ein solcher ist nicht ehrenwerth, und
wenn es allgemein bekannt wird, so wird er verachtet. Einer positiven
15 Ehre ist der werth, dessen Handlungen verdienstlich sind, dessen
Handlungen mehr enthalten als sie schuldig sind zu enthalten.
Der ist aber der Ehre nur nicht unwerth, der alles schändliche unter-
laßen, der ist nur ehrlich, welches aber kein Verdienst ist, sondern das
minimum der Moralität, denn so fern etwas davon fehlt, so ist man
20 schon ein Schelm. / Daher ist der Zustand desjenigen Landes sehr »5
schlecht, wo die Ehrlichkeit hochgehalten wird ; denn daselbst ist sie
recht selten und rar, dahero wird sie hochgehalten. Diejenigen Hand-
lungen aber sind nur ethisch, die mehr enthalten als die Schuldigkeit
fordert. Handele ich so, daß ich nichts mehr thue, als was ich schuldig
25 bin, so habe ich nur ehrlich gelebt aber deswegen verdiene ich noch
keine Ehre. Wenn ich aber mehr thue, als ich schuldig bin, so ist das
eine ehrwürdige Handlung, und nur die gehören zur honestati. Also ist
dieses principium der Ethic noch so möglich. Die 2 andern Sätze:
neminem laede und suum cuique tribue, können als principia der
30 juridischen Verbindlichkeit angesehn werden, denn sie beziehn sich
auf Zwangs-Pflichten. Denn laße jedermann das seinige, heißt so viel,
du mußt / jedem dasjenige was er mit Zwang von dir fordern kann, u
laßen. Beyde Sätze können mit einander verbunden werden, denn
wenn ich jemandem das seinige nehme, so laedire ich ihn. Ich kann
35 einen laediren, entweder durch omißion, wenn ich ihm das seinige
nicht gebe, oder durch commißion, wenn ich ihm das seinige nehme.
Also kann ich Jemandem das seinige negative und positive nehmen.
Negative ist wichtiger, denn es ist mehr, dem andern das seinige zu
nehmen, als es ihm nicht zu geben. Die Laesion besteht also in der
282 Vorlesungen über Moralphilosophie
Handlung die dem Gesetz des andern entgegen ist. Denn laedire ich
die Person ; die hat ein Recht von mir das zu fordern, was nach allge-
meinen Gesetzen der Willkühr noth wendig ist. In der Moral haben die
TT Gesetze eine / Beziehung av;f den Willen eines andern. Ethice obligans
respectu aliorum est felicitas aliorum, juridice obligans respectu 5
aliorum est arbitrium aliorum. Die erste Bedingung aller ethischen
Pflichten ist aber diese, daß der juridischen Verbindlichkeit zuerst ein
Genüge gethan wird. Diejenige Verbindlichkeit die aus dem Recht des
andern entspringt, muß zuerst satisfacirt werden, denn wenn ich auch
unter der juridischen Obligation bin, so bin ich nicht frey, denn ich lo
stehe unter der Willkühr des andern. Wenn ich nun aber eine ethische
Pflicht ausüben will, so will ich eine freye Pflicht ausüben; wenn ich
noch nicht von der juridischen Obligation frey bin, muß ich mich erst
von der juridischen Obligation frey machen, indem ich sie erfülle, und
Tsdenn kann ich erst die ethische Pflicht ausüben. / So unterlaßen sehr i5
viele ihre schuldige Pflichten, und wollen verdienstliche ausüben.
So macht der, der in der Welt viel Unrecht gethan, und vielen das
seinige entzogen, zulezt Vermächtniße an das Hospital. Allein, die
Stimme ist durchdringlich und eisern, die da schreit, daß man seine
Schuldigkeit noch nicht gethan hat, und die kann ein solcher durch 20
alle verbindliche Handlungen nicht unterdrücken, und solche ver-
dienstlichen Handlungen sind noch größere Verbrechen, denn sie sind
als Bestechungen und Geschenke gegen das höchste Wesen gegeben,
um die Schuld gut zu machen. Also ist die Glükseligkeit nicht der
Hauptbewegungsgrund aller Pflichten. Daher kann mich einer nicht 25
T9 glücklich machen wider meinen Willen, sonst thut er mir un/recht.
Daher ist die Art andre zu zwingen auf ihre Manier glücklich zu seyn,
Gewalt, z. E. der Vorwand der Edelleute gegen ihre Unterthanen !
Vom Gesetzgeber.
Moral und pragmatische Gesetze sind zu unterscheiden. Im mora- so
lischen Gesetz ist der Sinn die Gesinnungen, im pragmatischen Gesetz
ist der Sinn die Handlungen. Dahero obligiren Obrigkeiten nur zu
Handlungen und nicht zu Gesinnungen. Pragmatische Gesetze können
gegeben werden, dies ist leicht einzusehen, ob aber Jemand moralische
Gesetze geben kann, und über unsre Gesinnungen gebieten, die nicht 35
in seiner Gewalt sind, das ist zu untersuchen. Derjenige der da
deklariret, daß ein Gesetz welches seinem Willen gemäß ist, den andern
Moralphilosophie Collins 283
/ dazu obligirt, der giebt ein Gesetz. Der Gesetzgeber ist nicht zugleich so
immer ein Urheber des Gesetzes, sondern nur denn, wenn die (besetze
zufälhg sind. Wenn aber die Gesetze nothwendig practisch sind, und er
sie nur deklariret, daß sie seinem Willen gemäß sind, der ist ein
5 Gesetzgeber. Von morahschen Gesetzen ist also kein Wesen, auch das
göttliche nicht, ein Urheber, denn sie sind nicht aus der Willkühr ent-
sprungen, sondern sind practisch nothwendig; wären sie nicht noth-
wendig, so könnte auch seyn, daß die Lüge eine Tugend wäre. Allein
die moralischen Gesetze können doch unter einem Gesetzgeber stehn;
10 es kann ein Wesen seyn, welches alle Macht und Gewalt hat, diese
Gesetze zu executiren, und zu deklariren, daß dieses moralische Gesetz
zugleich ein Gesetz seines Willens sey und alle obligire, darnach zu
handeln. Alsdenn ist dieses Wesen ein Gesetzgeber, aber kein Urheber.
Eben so wie Gott kein Urheber ist, daß / der Triangel 3 Winkel hat. 81
15 Der Geist der moralischen Gesetze liegt in den Gesinnungen, und
die moralischen Gesetze können zugleich als göttliche Gebote angesehn
werden, weil sie seinem Willen gemäß sind. Die moralischen Gesetze
können aber auch als pragmatische Gesetze Gottes angesehn werden,
in so fern wir nur auf die Handlungen sehn, die im Gesetze geboten
20 sind, z. E. das moralische Gesetz fodert die Glükseeligkeit aller Men-
schen zu befördern, und dieses will auch Gott; handle ich nun dem
götthchen Willen gemäß, und übe Wohlthaten aus, um darnach von
Gott Belohnungen zu erhalten, so habe ich nicht aus moralischen
Gesinnungen die Handlung gethan, sondern aus Beziehung des gött-
25 liehen Willens, um hernach belohnet zu werden. / In so fern hat der sa
Mensch dem göttlichen Gesetz pragmatisch ein Genüge gethan, gleich-
wohl hat er doch das Gesetz erfüllet, und hat sich in so fern gute
Folgen zu versprechen, indem er doch das gethan, was Gott gewollt
hat, obgleich die Gesinnung unrein war. Allein Gott will die Gesinnung,
30 die Moralität ist seinem Willen gemäß, und als solche Gesetze obligiren
sie schon vollkommen. Geschieht nun eine Handlung der Moralität
gemäß, so ist doch die größte Uebereinstimmung mit dem göttlichen
Willen. Wir haben also Gott nicht als einen pragmatischen Gesetz-
geber, sondern als einen moralischen Gesetzgeber anzusehn.
35 Von Belohnungen und Bestrafungen.
Ein praemium ist vom mercede zu unterscheiden. Die praemia sind
entweder auctorantia oder remunerantia. Auctorantia sind solche
284 Vorlesungen über Moralphilosophie
83 Belohnungen, wo die Handlungen Bewegungsgründe sind, / wo man die
Handlungen bloß wegen der verheißenen Belohnungen thut; remune-
rantia sind solche Belohnungen, wo die Handlungen nicht Bewegungs-
gründe sind, sondern die bloß aus guter Gesinnung, aus reiner Moralität
geschehn. Die ersten sind antreibende und die andern vergeltende Be- 5
lohnungen. Demnach können die praemia auctorantia nicht moralia,
aber die praemia remunerantia können moralia seyn. Die Auctorantia
sind pragmatica und die remunerantia sind moralia. Wer aus den
Bewegungsgründen der physischen Wohlfahrt eine Handlung thut,
bloß wegen der verheißenen Belohnung, deßen Handlung hat keine lo
Moralität, demnach hat er keine praemia remunerantia sondern
auctorantia zu erwarten. Handlungen aber, die bloß aus guter Gesin-
84 nung und reiner Moralität geschehn, sind / der praemiorum remune-
rantium fähig. Die praemia auctorantia sind vielen bloße natürliche
Folgen und Verheißungen, z. E. die Gesundheit ist ein praemium i5
auctorans der Mäßigkeit; ich kann aber auch mäßig seyn aus mora-
lischen Gründen. So hat die Ehrlichkeit, wenn sie wegen des Vortheils
und Beyfalls geschieht, ein praemium auctorans. Der dem moralischen
Bewegungsgrunde gemäß handelt, ist des praemii remunerantis fähig.
Diese praemia sind größer als die auctorantia, denn hier ist die Ueber- 20
einstimmung der Handlung mit der Moralität, und das ist die größte
Würde der Glükseeligkeit. Demnach müßen auch die praemia moralia
größer seyn als die pragmatica. Die praemia moralia haben eine unend-
liche Bonitaet. Der moralisch Gesinnte ist darum einer unendlichen
Belohnung und Glükseeligkeit fähig, weil er immer bereit ist solche 25
85 gute Handlungen auszuüben. Es ist nicht gut, / wenn man in der
Religion die praemia auctorantia vorstellt, und daß man darum
moralisch seyn soll, weil man künftig dafür belohnt wird ; denn es kann
kein Mensch verlangen, daß Gott ihn belohne und glükseelig mache.
Er kann die Belohnung vom höchsten Wesen erwarten, welches ihn 30
wegen solcher ausgeübten Handlung schadlos hält; allein, es muß die
Belohnung nicht der Bewegungsgrund seyn eine Handlung zu thun.
Der Mensch kann hoffen glükseelig zu seyn, das muß ihn aber nicht
bewegen, sondern nur trösten. Derjenige welcher moralisch lebt, kann
hoffen deswegen belohnt zu werden, daß der frohe Muth entspringt, 35
aber nicht aus dem Bewegungsgrunde der Belohnung; denn die
Menschen haben doch keine rechte Vorstellung von der künftigen
Glükseeligkeit, es weiß doch keiner, worinn sie bestehn wird, welches
86 die Vorsehung uns mit Fleiß verborgen hat. Würde / der Mensch die
Moralphilosophie Collins 285
Glükseeligkeit kennen, so Avürde er wünschen bald da zu seyn. Das
thut aber kein Mensch, er wünscht noch immer länger hier zu bleiben,
und wenn man ihm noch so die künftige Glükseeligkeit, gegen dieses
elende Leben hochpreißt, so wünscht doch jeder, nicht l)ald da zu seyn,
5 indem er noch zeitig genug dazu zu gelangen denkt, und es ist auch
natürlich, daß ein jeder dieses gegenwärtige Leben mehr empfindet,
weil es klarer kann erkannt und gefühlt werden. Dahero ist es umsonst,
die praemia als auctorantia vorzustellen, wohl aber als remunerantia,
und diese hofft auch jeder Mensch; denn das natürliche moralische
10 Gesetz führt schon solche Verheißungen mit sich, bey einem Subject,
welches moralisch gute Gesinnungen hat, / und wenn ihm auch keiner ^i
diese praemia remunerantia gepriesen und empfohlen hätte. Ein jeder
Rechtschaffne hat diesen Glauben, er kann unmöglich rechtschaffen
seyn. ohne zugleich zu hoffen nach der Analogie der physischen Welt,
15 daß solches auch müßte belohnt werden. Aus eben dem Grunde, aus
welchem er an die Tugend glaubt, glaubt er auch an die Belohnung.
Merces ist ein Lohn, den man mit Recht von Jemandem zu fodern
hat. Lohn ist also von Belohnung zu unterscheiden. Wenn man seinen
Lohn erwartet, so fodert man ihn vom andren nach seiner Schuldig-
20keit. Von Gott können wir keinen Lohn für unsre Handlung fodren,
weil wir ihm doch nichts zu gut gethan haben / sondern wdr nur zu 88
unserm Besten alles gethan, was wir zu thun schuldig waren. Ob wir
zwar von Gott keinen Lohn als Verdienst zu erwarten haben, so
können wir doch praemia gratuita erwarten, die gleichwohl als Lohn
25 angesehn werden, besonders in Ansehung andrer Menschen, gegen die
wir gute Handlungen ausgeübt haben. Nun können wir Gott als einen
solchen ansehn, der alle die Schulden der Menschen bezahlt, indem
Gott diejenige verdienstliche Handlungen, die wir gegen andre
ausgeübet, denen wir es doch nicht zu thun schuldig waren, vergeltet.
30 Also haben wir warklich verdienstliche Handlungen, zwar nicht gegen
Gott, sondern gegen / andre Menschen. Dieser Mensch ist doch alsdenn 89
in meiner Schuld, die er mir gar nicht abtragen kann ; für den aber Gott
alles ersetzet, welches auch das Evangelium sagt: Wenn ihr einem
von diesen geringsten etwas thut, so habt ihrs mir gethan etc. etc. Der
35 Mensch hat also einen Lohn von anderen Menschen verdient, den ihm
aber Gott vergeltet. Man muß hier nicht eine eingebildete Reinlichkeit
der Moral annehmen, und alle verdienstlichen Handlungen wegstrei-
chen. Denn Gott will die Glükseeligkeit aller Menschen, und zwar durch
Menschen, und wenn nur alle Menschen zusammen einstimmig wollten
286 Vorlesungen über Moralphilosophie
90 ihre Glückseeligkeit befördern, so könnte man / in Novoya Zemlj^a ein
Paradies machen. Gott setzt uns in den Schauplatz wo wir uns ein-
ander können glücklich machen, es beruht nur auf uns. Sind die
Menschen elend, so sind sie selbst schuld. So leidet ein Mensch oft Noth,
aber nicht um Gottes willen. Gott läßet ihn aber in der Noth zum 5
Beweiß für die Menschen, die ihn Noth leiden laßen, die ihm doch
zusammen helfen könnten. Gott will nicht, daß es einem einzigen elend
gehe. Er hat uns alle dazu bestimmt, einstimmig einer dem andern zu
helfen. Daher ist der Satz des Autors: Thue das, was dir die meiste
Belohnung verschafft, offenbahr der Moralitaet entgegen. Da ist der lo
Bewegungsgrund die meistbietende Belohnung. Allein, thue das was
91 der größten / Belohnung würdig ist, wäre recht.
Strafe überhaupt ist das physische Uebel, was um des moralischen
Uebels einem zu theil wird. Alle Strafen sind entweder warnende oder
rächende. Warnende sind diejenigen, die bloß zu dem Ende deklarirt i5
werden, damit das Uebel nicht geschehe. Rächende sind aber solche,
die da deklarirt werden, weil das Uebel geschehn ist. Die Strafen sind
also Mittel, entweder das Uebel zu verhindern, oder zu bestrafen. Alle
obrigkeitliche Strafen sind warnende Strafen, entweder den Menschen
selbst, der gesündigt hat, zu warnen, oder andre durch dieses Beyspiel20
zu warnen. Allein, die Strafen eines solchen Wesens, welches der
Moralität gemäß die Handlungen bestraft, sind rächende Strafen.
Alle Strafen gehören entweder zur Straf gerechtigkeit, oder zur /
93 Klugheit des Gesetzgebers. Die ersten sind moralische, die andern sind
pragmatische Strafen. Die moralische Strafen werden ertheilt. weil 25
gesündigt worden ; es sind Consectaria der moralischen Uebertretung.
Die pragmatischen werden ertheilt. damit nicht gesündigt werde ; sie
sind Mittel dem Verbrechen vorzubeugen. Die pragmatischen nennt
der Autor poenas medicinales. Diese sind entweder correctivae oder
exemplares. Die correctivae werden ertheilt, um den zu beßern der so
verbrochen hat, und das sind animadversiones. Die exemplares ge-
schehn zum Beyspiel andrer. Alle Strafen der Fürsten und der Obrig-
keit sind pragmatische, entweder zu corrigiren oder andern zum Bey-
spiel. Die Obrigkeit straft nicht, weil verbrochen ist, sondern damit
93 nicht / verbrochen werde. Allein jedes Verbrechen hat noch außer 35
dieser Strafe eine Strafwürdigkeit, darum, daß es geschehn ist. Solche
Strafen, die also nothwendig auf die Handlungen folgen müßen, sind
die moralischen, und das sind poenae vindicativae. So wie eine Be-
lohnung erfolgt auf eine gute Handlung, nicht darum, damit man
Moralphilosophie Collins 287
ferner gute Handlungen tliue, sondern weil gut gehandelt ist. Wenn
wir die Bestrafungen und Belohnungen vergleichen, so merken wir,
daß weder die Bestrafungen noch Belohnungen als Bewegungsgründe
der Handlungen sollen angesehn werden. Die Belohnungen sollen kein
5 Bewegungsgrund seyn die gute Handlungen zu thun, und die Bestra-
fungen sollen kein Bewegungsgrund seyn, die bösen Handlungen zu /
unterlaßen, indem sie eine Gemüthsart gründen, die niedrig ist, in- 94
dolem abjectam. Diese heißt bey dem, der durch Belohnung bewegt
wird, die gute Handlung auszuüben, indoles mercennaria,undbeydem
10 der durch die Strafen von den bösen Handlungen abgehalten wird,
indoles serviHs; beyde aber machen die indolem abjectam aus. Der
Bewegungsgrund soll moralisch seyn. Der Grund eine gute Handlung
zu thun, soll nicht in der Belohnung gesetzt werden, sondern die
Handlung soll belohnt werden, weil sie gut ist. So soll auch nicht der
15 Grund um böse Handlungen zu unterlaßen in die Strafen gesetzt
werden, sondern die Handlungen sollen unterlaßen werden, weil sie böse
sind. Die Belohnungen und Bestrafungen sind nur subjective Bewe-
gungsgründe, wenn sie / objective nicht mehr fruchten, sie dienen nur 95
den Mangel der Moralität zu ersetzen. Zuerst muß das Subject an die
20 Moralität gewöhnt werden ; es muß zuerst, eh man mit den Belohnun-
gen und Bestrafungen angestochen kommt, die indoles erecta excitirt
werden, das moralische Gefühl muß erst rege gemacht werden, damit
das Subject durch moralische Motiva kann bewegt werden ; helfen die
nicht, denn muß man zu den subjektiven Bewegungsgründen der Be-
25 lohnungen und Bestrafungen schreiten. Der wegen guter Handlungen
belohnt wird, wird die guten Handlungen wieder ausüben, nicht weil
sie gut sind, sondern weil sie belohnt werden, und der wegen böser
Handlungen bestraft wird, haßt nicht / die böse Handlungen, sondern 96
die Strafe. Er wird die böse Handlung doch thun und durch jesuitische
30 Schlauigkeit der Strafe zu entgehn suchen. Es ist also in der Religion
nicht gut, die bösen Handlungen aus den Bewegungsgründen der
ewigen Strafe zu unterlaßen, anzupreisen, denn sonst wird jeder die
böse Handlung thun, und bey sich denken, am Ende durch eine
geschwinde Bekehrung allen Strafen zu entgehn. Allein die Beloh-
35nungen und Bestrafungen können doch indirecte als Mittel in An-
sehung der moralischen Zucht dienen. Wer gute Handlungen wegen
Belohnungen thut, dessen Gemüth gew^öhnt sich hernach an die guten /
Handlungen so, daß er sie hernach auch ohne Belohnungen thut, bloß 91
deswegen, weil sie gut sind. Unterläßt Jemand die bösen Handlungen
288 Vorlesungen über Moralphilosophie
wegen der Strafe, so gewöhnt er sich daran, und befindet, daß es beßer
ist, solche Handlungen zu unterlaßen. Wenn ein Besoffener deswegen
den Soff nachläßt, weil es ihm Schaden zu wege bringt, so gewöhnt er
sich daran so, daß er ihn hernach unterläßt, auch ohne solchen Scha-
den, bloß weil er einsieht, daß es beßer ist, ein Mäßiger als ein Trunken- 5
bold zu seyn. Die Belohnungen stimmen mehr mit der Moralität über-
ein, denn die Handlung thue ich deswegen, weil die Folge derselben
98 angenehm ist, und das / Gesetz, welches mir für meine Gute Handlung
Belohnung verspricht, werde ich liebhaben können; aber das Gesetz
welches Strafen droht, kann ich nicht so lieben. Die Liebe ist aber ein lo
großer Bewegungsgrund die Handlung zu thun. Dahero ists in der
Religion beßer, mit den Belohnungen als mit den Bestrafungen anzu-
fangen. Die Strafen müßen aber mit der indole directa, mit der edlen
Denkungsart übereinstimmen, sie müßen nicht verächtlich und
schimpflich seyn. Denn sonst machen sie eine unempfindliche Ge- 15
müthsart.
De imputatione.
Alle Zurechnung ist das Urtheil von einer Handlung, sofern sie aus
99 der Freyheit der Person entstanden ist, / in Beziehung auf gewiße
practische Gesetze. Es muß also bey der Zurechnung eine freye Hand- 20
lung und ein Gesetz seyn. Wir können einem etwas zuschreiben, aber
nicht zurechnen, z.E. einem Rasenden oder Besoffenen können seine
Handlungen zugeschrieben, nicht aber zugerechnet werden. Bey der
Zurechnung muß die Handlung aus Freyheit entspringen. Dem Besof-
fenen können zwar seine Handlungen nicht, wohl aber die Trunkenheit 25
selbst, indem er nüchtern ist, zugerechnet werden. Bey der Imputation
muß also die freye Handlung und das Gesetz verbunden werden. Eine
That ist eine freye Handlung, die unter dem Gesetze ist. Habe ich
100 nun / auf die That acht, so ist das imputatio facti ; habe ich aufs Gesetz
Acht, so ist das Imputatio legis. Bey der Imputatione facti kommen so
vor momenta in facto, dieses ist das mannigfaltige in der That, was der
Grund der Imputation ist. Momenta sind elementa des Grundes, es sind
Theile des zureichenden Grundes, also sind in facto momenta der
Imputation. Die momenta in facto geben keine Imputation, sondern
sind der Grund der Imputation. Die momenta sind entweder eßen- 35
tialia oder extra eßentiaha. Die momenta eßentialia müßen erst
gesammlet werden, wenn aUe die momenta eßentialia in facto enuncirt
101 werden, so ist das species facti, was expreß zu dem / facto gehört. Die
Moralphilosophie Collins 289
extra eßentialia facti sind nicht momenta facti und gehören also nicht
zur species facti. Bey der imputatione facti muß nicht zugleich impu-
tatio legis kommen, z. E. es kann einer den andern zwar getödtet aber
doch nicht ermordet haben. Zuerst ist die Frage, ob die Handlung von
5 ihm geschehn sey ? Wenn das factum gleich aufs Gesetz soll imputirt
werden, so sind gleich 2 imputationes. Die imputatio legis ist die
Frage, ob die Handlung unter diesem oder jenem praktischen Gesetze
stehe ? Es ist die Frage, ob einem das kann imputirt werden, was er
kraft des Gesetzes hat thun müßen, z. E. dem General der Tod so vieler
10 Feinde die in der Schlacht geblieben. Zwar der Tod, aber / nicht das 102
Morden. Allein, er wird hier betrachtet, in so fern seine Handlung nicht
frey war, sondern durchs Gesetz gezwungen war, demnach kann es ihm
nicht imputirt werden. Als eine freye Handhmg wäre sie ihm zuge-
schrieben, aber als eine legale Handlung nicht, sondern dem, der das
15 Gesetz gegeben. Alle Zurechnung die generaliter geschieht, geschieht
entweder in meritum, Verdienst, oder in demeritum, Schuld. Die
Folgen und die Würkungen der Handlungen können Jemandem
imputirt, auch nicht imputirt werden.
Von der imputatione der Folgen der Handlungen.
20 Auf der andern Seite können mir alle Folgen der Handlung ange-
rechnet werden, in so fern ich weniger oder mehr gutes / thue als ich 10$
schuldig bin. Thue ich mehr als ich schuldig bin, so wird mir die Folge
zum merito angerechnet, z. E. ein Vorschuß den ich Jemandem gethan
habe, und wodurch er ein großes Glück erlangt hat, kann mir mit allen
25 Folgen imputirt werden, weil ich mehr gethan habe, als ich schuldig
war. So wird mir auch die Folge einer Handlung zum demerito impu-
tirt, wenn ich weniger thue als ich schuldig bin, z. E. wenn Jemand
sagt: Hättest du mir damals nur so viel vorgeschoßen, so wäre ich
nicht in das Unglück gerathen, da kann mir das Unglück nicht impu-
3otirt werden, weil ich es nicht zu thun schuldig war. Handelt er aber
seiner Schuldigkeit entgegen, thut er weniger als er soll, so wirds ihm
imputiret, denn da handelt er frey, ja so gar dem Gesetz, / welches ihn 104
zu der Handlung neceßitirt, entgegen, und mißbraucht also die Frey-
heit, und da können ihm alle Folgen legaliter imputirt werden ; denn
35 der Schuldigkeit entgegen handeln ist noch mehr Freyheit.
Juridice imputirt man nicht die Folgen der Handlung, wozu einer
genöthigt war, zum indemerito, denn alsdenn ist er nicht frey gewesen ;
das factum an sich zwar, aber nicht die Unrechtmäßigkeit deßelben.
19 Kaufs Schriften XXVII/1
290 Vorlesungen über Moralphilosophie
In Ansehung der Ausübung der ethischen Handlungen ist der Mensch
frey; folglich können ihm alle Folgen imputirt werden; die Folgen
aber, die aus der Unterlaßung der ethischen Handlung entspringen,
können nicht imputirt werden, weil es nicht als eine Handlung ange-
105 sehn werden kann, da ich das unterlaße, was ich nicht / schuldig war 5
zu thun. Es sind also ethische Unterlaßungen keine Handlungen;
juridische Unterlaßungen aber sind Handlungen und können imputirt
werden, denn es sind Unterlaßungen deßen, wozu ich durchs Gesetz
neceßitirt werden kann; zu ethischen Handlungen aber kann ich
nicht neceßitirt werden, es kann mich niemand zwingen Wohlthaten lo
auszuüben. Der Schluß der ganzen Imputation also in Ansehung der
Folgen ist die Freyheit.
Gründe der moralischen Imputation.
Imputatio moralis kann bey juridischen und ethischen Gesetzen
statt finden, und bestehet in meritum und demeritum. Die Beobach- 15
loetung der juridischen / Gesetze und die Uebertretung der ethischen
Gesetze können weder zum merito noch demerito imputirt werden.
Ferner, die Uebertretung juridischer Gesetze und die Beobachtung der
ethischen Gesetze müßen jederzeit zum merito und demerito imputirt
werden. Also ist in Ansehung der juridischen Gesetze kein meritum, 20
weder der Belobung noch der Bestrafung. In Ansehung der
ethischen Gesetze ist aber jede Handlung ein meritum, weil sie keine
Zwangs-Gesetze sind und die Uebertretung derselben auch kein de-
meritum.
Ein meritum hat immer positive Folgen, so wohl die Belohnung als 25
die Bestrafung. Alle Beobachtung juridischer und alle Uebertretung
10» ethischer Gesetze haben keine positive Folgen. / Die Beobachtung
juridischer Gesetze hat nur negative Folgen, z. E. bezahle ich meine
Schuld, so werde ich nicht verklagt. Aber die Uebertretung juridischer
und die Beobachtung ethischer Gesetze haben iederzeit positive Fol- so
gen. Alles was nun von der Imputation angeführt, gilt nur in Ansehung
der andren Menschen, aber nicht in Ansehung Gottes.
De imputatione facti
Facta juridice neceßaria können nicht imputirt werden, denn die
Handlung ist nicht frey. Facta, die dem juridischen Gesetze entgegen 35
sind, können imputirt werden, denn die Handlung ist frey. Bey den
ethischen Handlungen ist es entgegengesetzt. Folglich ist die Hand-
Moralphilosophie Collins 291
lung die imputirt wird, im juridischen eine böse und im ethischen
Verstände eine / gute Handlung; denn die ethischen Gesetze sind keine I08
Zwangs-Gesetze; wohl aber die juridischen.
Grade der Imputation.
5 Die Grade der Imputation kommen auf die Grade der Freyheit an.
Die subjectiven Bedingungen der Freyheit sind das Vermögen zu
handeln, ferner, daß man das wiße, was dazu gehöre, daß man den
Bewegungsgrund und den Gegenstand der Handlung kenne. In Er-
manglung dieser subjectiven Gründe findet keine Imputation statt.
10 Daher kann Kindern, wenn sie etwas nützliches verderben, daßelbe
nicht imputirt werden, weil sie den Gegenstand nicht kennen; indeßen
kann man Handlungen im gewißen Grad imputiren, alles ist impu-
tabel was zur Freyheit gehört, wenn es auch nicht directe aber doch
indirecte durch die / Freyheit entstanden ist, z. E. was jemand im I09
15 betrunkenen Muth gethan hat, kann wohl nicht imputirt werden ; aber
die Trunl<:enheit kann ihm zugerechnet werden.
Dieselben Ursachen, die da machen, daß einem etwas nicht imputirt
werden kann, können auch in einem niedern Grade Jemandem imputirt
werden. Wir haben Hinderniße und Bedingungen der Imputation.
20 Je mehr eine Handlung Hinderniße hat, desto mehr kann sie imputirt
werden, und je weniger eine Handlung frey ist, desto weniger ist sie zu
imputiren. Der Grad der Moralität der Handlungen muß nicht ver-
mengt werden mit dem Grad der imputabilitaet des facti. Wenn
jemand einen in Eifer und Zorn tödtet, so hat er nicht so viel Bosheit
25 gehabt als einer, der dem andern mit kaltem Blute einen tödtlichen
Stich beybringt, obgleich das factum des ersten größer ist. / Diejenige iio
Handlung zu der ich mich zwingen soll, und wo ich viele Hinderniße
zu überwinden habe, wird mehr imputirt, je williger sie ausgeübt wird,
und desto weniger auch ihre Unterlaßung imputirt, z. E. wenn ein
30 Hungriger Speise entwendet, so wirds ihm nicht so hart imputirt,
weil er sich sehr zwingen mußte. Die Appetita fodern selbstzwang;
wenn sie aber den Grad der Imputation verändern sollten, was würde
denn wohl daraus erfolgen ? Doch ist der Appetit der Natur und der
Lüsternheit zu unterscheiden; der Iste ist nicht so hart als der andre
35 zu imputiren. Die Lüsternheit kann ausgerottet werden, und muß
nicht Wurzel schlagen; es kann also einem nicht so imputirt werden,
wenn er etwas aus Antrieb des Hungers als aus Wollust thut. Von der
natürlichen Neigung aber ist zu merken : Je mehr ein Mensch mit der-
292 Vorlesungen über Moralphilosophie
selben kämpft, desto mehr ist es ihm zu imputiren; daher uns die
Tugend mehr als den Engeln zu imputiren ist, weil sie nicht so viel
111 Hinderniße haben. Je mehr Jemand / von außen zu einer Handlung
gezwomgen wird, desto weniger wird sie ihm imputirt. Ueberwindet er
aber den Zwang und unterläßt doch die Handlung, so wird sie ihm 5
desto mehr imputirt. Es gibt merita und demerita conatus, man kann
auch merita und demerita propositi hierher rechnen. Die Menschen
rechnen es sich zum Verdienst, wenn sie den Vorsatz zu einer Hand-
lung hatten. Beim proposito kann keine Handlung imputirt werden,
denn es ist noch keine Handlung, wohl aber beim conatus, weil das 10
schon eine Handlung ist, denn beim subiect ist alles zureichend, und
die Kräfte sind angewendet; weil sie aber nicht zureichen, so erfolgt
die Würkung nicht.
Weil wir nun erst aus dem Ausgang auf die sufficienz schließen, und
also nicht wißen können, ob der conatus schon da war, und es nur an 15
den Kräften fehlete, so imputiren die juridischen Gerichte den Cona-
tum nicht so, als wie die ethischen Gesetze, z. E. wer im Begriff war,
jemanden in der Stube zu tödten, und wird mit dem Degen ertappet,
der wird nach den juridischen Gesetzen noch für keinen Mörder
nagehalten, obgleich der conatus / da war. Die Ursache ist, weil der 20
Conatus oft nicht als ein Actus angesehn werden kann. Es kann
Jemand den Vorsatz haben, und vermuthet solche Bosheit von seinem
Herzen, wenn er aber zur Handlung schreiten will, so erschrickt er für
die Abscheulichkeit solcher Handlung und ändert also den Vorsatz.
Es wählen die Richter also das sicherste Mittel, damit die Unschuld 25
gerettet werde, weil doch kein Beweiß da ist. Moralisch aber ist ein
complettes propositum so gut als die That selbst. Das propositum
aber muß so seyn, daß es auch bey der Ausführung bleiben möchte.
Consvetudinarius ist einer, der die Handlung aus Gewohnheit sich
nothwendig macht. Die Gewohnheit macht Leichtigkeit in der Hand- so
lung, zulezt aber auch Nothwendigkeit. Diese Nothwendigkeit aus
Gewohnheit verringert die Imputation, weil sie unsre Willkühr ge-
fesselt hat; allein die actus, wodurch die Gewohnheit zugezogen ist,
sind zu imputiren. Es verringert also die Gewohnheit die Imputation,
113 z. E. / es ist jemand unter Zigeunern, wo die Gewohnheit zu bösen 35
Handlungen zur Nothwendigkeit geworden ist, auferzogen, dann ist
die Imputation zu vermindern. Allein die Gewohnheit ist ein Beweis
der öftern Wiederholung der Handlung und also um desto mehr zu
imputiren. Wenn einer oft eine gute Handlung wiederholet hat, und
Moralphilosophie CoUins 293
sie ihm dahero zur Gewohnheit geworden ist, so wird sie ihm nur desto
mehr imputirt. Das gilt auch von bösen Handlungen. So sind ange-
bohrne Affecten nicht so sehr zu imputiren, als angewöhnte, die durch
wiederholte Anreizungen zur Noth wendigkeit geworden.
5 Zulezt kommen wir auf 2 Punkte, die als Gründe der Imputation
angesehn werden könnten, nähmlich auf die Schwäche der mensch-
lichen Natur und auf die Gebrechlielikeit derselben.
Die Schwäche der menschlichen Natur ist, so ferne ihr der Grad
der moralischen Bonität fehlt, die Handlung dem moralischen
10 Gesetz adaequat / zu machen. Die Gebrechlichkeit derselben aberiH
ist, in so fern in ihr nicht nur ein Mangel an der Moralischen
Bonitaet ist, sondern auch gar die größten principia und Triebfedern
zu bösen Handlungen in ihr herrschen. Die Moralität besteht darin:
daß eine Handlung aus dem Bewegungsgrunde der Innern Bonitaet
15 derselben entspringen soll, und das gehört zur moralischen Reinigkeit,
rectitudo moralis genannt. Der höchste Bewegungsgrund also zu einer
Handlung ist rectitudo moralis. Obgleich der Verstand dies wohl ein-
sieht, so hat doch dieser Bewegungsgrund keine treibende Kraft. Die
moralische Vollkommenheit hat zwar einen Beyfall in unserm Urtheil,
20 weil aber dieser Bewegungsgrund der moralischen Vollkommenheit
aus dem Verstände geschöpft ist, so hat er nicht solche starke treibende
Kraft als der sinnliche, und das ist die Schwäche der menschlichen
Natur, wenn ihr die moralische Bonitaet und rectitudo fehlt. Allein,
laßet uns nicht über die Schwäche der menschlichen Natur grübeln
25 und / untersuchen, ob sie zur moralischen Reinigkeit unfähig sey;ii5
denn die Bemühung, alle seine Handlungen unrein zu finden, macht,
daß der Mensch das Zutraun zu sich, gute und moralische reine Hand-
lungen ausüben zu können, verliert und glaubt seine Natur sey zu
schwach und unfähig dazu ; \Wr müßen vielmehr glauben, daß die recti-
sotudo moralis ein großer Bewegungsgrund für uns seyn könne. Die
menschliche Seele ist nicht völlig von allen Bewegungsgründen der
reinen Moralität leer, z. E. wenn uns ein Elender selbst um etwas
anspricht, so werden wir durch Mitleiden gegen ihn gerührt und er-
theilen ihm etwas, welches wir nicht gethan hätten, wenn er nicht
35 selbst gegenwärtig gewesen wäre, sondern nur schriftlich hätte bitten
lassen. Oder sieht man auf der Reise Bünde auf der Strasse liegen und
thut ihnen gutes, so hat man denn doch keinen andern Bewegungs-
grund der Ehre oder des Nutzens, indem man denn doch von da weg-
reisen muß, sondern man thut es aus imierer Moralität der Handlung;
294 Vorlesungen über Moralphilosophie
116 folglich liegt in unserm / Herzen etwas moralisch reines; es hat nur
nicht völlig hinreichend treibende Kraft, wegen unsern sinnlichen
Antrieben. Allein, das Urtheil über die Reinigkeit der Moralität zieht
viele Bewegungsgründe der Reinigkeit vermittelst der Aßociation mit
herbey und treibt unsre Handlung mehr an, und wir gewöhnen uns 5
daran. Also muß man nicht die Flecken und Schwächen z. E. im Leben
eines Socrates aufsuchen, denn es nüzt uns doch nichts, sondern es
schadet uns vielmehr. Denn wenn wir Beyspiele von moralischen Un-
voUkommenheiten vor uns haben, so können wir uns mit unserer
moralischen Unvollliommenheit schmeicheln. Diese Begierde, Fehler lo
aufzusuchen, verrät was bösartiges und mißgünstiges, die Moralität,
da man sie selbst nicht hat, in andern glänzen zu sehn.
Der Grundsatz, den wir aus der Schwäche der menschlichen Natur
ziehn, ist : die moralischen Gesetze müßen niemals nach der men sch-
ul liehen Schwäche eingerichtet werden, sondern sie / müßen heilig, rein, i5
und sittlich vollkommen vorgetragen werden; der Mensch mag be-
schaffen seyn wie er will ; dieses ist sehr merkwürdig.
Alle alten Philosophen forderten von den Menschen nicht mehr, als
was sie leisten konnten, doch hatte ihr Gesetz keine Reinigkeit. Ihre
Gesetze waren also der Fähigkeit der menschlichen Natur accommo- 20
dirt, und wo sie sich über die Fähigkeit der menschlichen Natur
erhoben, so war der Antrieb dazu nicht das reine moralische Urtheil,
sondern Stolz, Ehre etc., z. E. zur außerordentlichen Tapferkeit,
Großmuth. Seit der Zeit des Evangelii ist nun die völlige Reinigkeit
und Heiligkeit des moralischen Gesetzes eingesehn, ob es gleich in 25
unsrer Vernunft liegt. Das Gesetz muß nicht nachsichtig, sondern die
größte Reinigkeit und Heiligkeit muß darin gezeigt werden, und wir
müßen wegen unserer Schwäche den göttlichen Beystand erwarten,
118 daß er uns, dem heiligen Gesetz / ein Genüge zu leisten, geschickt
mache, und das, was der Reinigkeit unserer Handlungen fehlt, ersetze. 30
Das Gesetz aber muß an sich rein und heihg seyn. Die Ursache ist:
das moralische Gesetz ist das Urbild, das Richtmaaß, das Muster
unsrer Handlungen. Das Muster aber muß exact und praecis seyn.
Wäre es nicht so, wornach sollte man denn alles beurtheilen? Die
höchste Pflicht ist also : das moralische Gesetz in aller Reinigkeit und 35
Heiligkeit vortragen, so wie es das höchste Verbrechen ist, von der
Reinigkeit desselben etwas abzunehmen.
In Ansehung der Gebrechlichkeit der menschlichen Natur merken
wir: daß es zwar richtig ist, daß sie gebrechlich sey, und nicht nur
Moralphilosophie Collins 295
kein positives Gute, sondern auch so gar positives Böse habe. Allein,
alles moralische Böse entspringt aus Freyheit, denn sonst wäre es ja
kein moralisch Böse, und so sehr vielen Hang die Natur auch dazu hat,
so / entspringen doch die bösen Handlungen aus der Freyheit, wes- n9
5 wegen sie uns auch als Laster angerechnet werden.
Der Grundsatz also in der Absicht auf die Gebrechlichkeit der
menschlichen Natur ist : Ich muß in Beurtheilung der Handlung diese
Gebrechlichkeit nicht in Betrachtung ziehn. Das Gesetz muß heilig,
und das Gericht in uns nach diesem Gesetz muß gerecht seyn, das ist,
10 die Strafe des Gesetzes muß mit aller praecision auf die Handlung des
Menschen angewandt werden.
Die Fragilitas humana kann also nie ein Grund coram foro humano
interno seyn, die Imputation zu verringern. Das innre Recht ist ge-
recht, es sieht die Handlung an und vor sich selbst, und ohne auf die
15 Fragilitaet des Menschen zu sehn, an, wenn wir nur seine Stimme
hören und empfinden wollen, z. E. man hat Jemanden in einer Gesell-
schaft mit einem Worte beleidigt und kommt nach Hause, so gehet es
einem nahe, und man wünscht Gelegenheit zu haben / es wieder gut zu i»o
machen. Man muß sich seiner Innern Vorwürfe auf keine Weise ent-
20 ledigen, wenn man auch noch so viele scheinbare Ausreden hat, die
gewiß für alle irdischen Richter gelten müßen. Man ist doch ein Mensch,
und wie bald kann einem nicht ein Wort entfahren, dieses alles aber
gilt nicht vor dem Innern Richter, er sieht gar nicht auf die Fragilitaet
der Natur, sondern er betrachtet die Handlung so, wie sie an sich
25 selbst ist. Hieraus erhellet auch, daß in der menschlichen Natur
Bewegungsgründe der reinen Moralität liegen, und daß wir nicht nötig
haben, so sehr auf die Schwäche der menschlichen Natur los zu ziehn.
Die Fragilitas und Infirmitas humana kann nur blos um andrer
Menschen Handlungen zu beurtheilen in Betrachtung gezogen werden,
solch selbst muß in Ansehung meiner Handlungen nicht auf dieselbe
rechnen, und dadurch dieselbe entschuldigen. Der Mensch, als ein /
pragmatischer Gesetzgeber und Richter, muß in Absicht anderer die 121
fragilitatem und infirmitatem humanam in Betrachtung ziehn, und
denken, daß sie doch Menschen seyn, in Absicht auf sich selbst aber
35 muß er ganz streng verfahren.
Imputatio valida ist eine rechtskräftige Zurechnung, wodurch die
effectus a lege determinato durch das ludicium imputans mit actuirt
werden. Wir können über alle Menschen urtheilen, ein jeder kannur-
theilen, aber nicht richten, weil unsre imputatio nicht valida ist,
296 Vorlesungen über Moralphilosophie
das heißt: mein Urtheil hat nicht die Befugniß, die Folgen a lege
determinata zu actuiren. Das Urtheil, welches das consectarium,
welches das Gesetz determinirt hat, zu stände zu bringen befugt ist, ist
eine rechtskräftige Zurechnung; damit aber das Urtheil die Folgen,
18« die durch das Gesetz determinirt sind, ausführen / könne, so muß es 5
Gewalt haben. Es giebt also ohne Gewalt kein rechtskräftiges Urtheil.
Derjenige, der die Befugniß rechtskräftig zu urtheilen hat und es
auszuführen auch die Gewalt hat, ist ein Richter. Das richterliehe Amt
hält also 2 Stücke in sich : Die Befugniß rechtskräftig nach dem Gesetz
zu urtheilen : ob ein factum certum casus datae legis sey ? aber er muß lo
auch valide ein Gesez aufs factum appliciren können; also Macht
haben dem Gesetz ein Genüge zu leisten
Judex ist diejenige Person (diese ist vei physica, wenn es nur eine
Person ist, vel moralis, wo verschiedne Personen sind, die aber als eine
Person angesehn werden) die die Befugniß und Macht hat, über die i5
Handlung rechtskräftig zu urtheilen. Verschiedene Personen gehören
unter verschiedene fora, so wie auch verschiedene Handlungen. Judex
las non competens ist entweder, / wenn er gar nicht zu urtheilen verstellt,
oder wenn er nicht Befugniß zu urtheilen hat, indem ihm etwa dieselbe
benommen ist, Avenn er nähmlich abgesetzt ist, oder er kann auch ein 20
würklicher Richter seyn, und das factum gehört nicht unter das
Gesetz, worüber er zu gebieten hat, oder er ist auch non competens,
wenn er keinem Menschen ein Recht verschaffen kann.
Das Forum ist 2erley. Forum externum, welches das forum huma-
num ist, und forum internum, welches das forum conscientiae ist. Mit 25
diesem foro interno verbinden wir zugleich das forum divinum ; denn
unsre facta können in diesem Leben nicht anders vor dem foro divino
imputirt werden, als per conscientiam ; foglich ist das forum internum
ein divinum in diesem Leben. Ein forum soll Zwang ausüben; sein
Urtheil soll rechtskräftig seyn ; es soll die consectaria des Gesetzes aus- 30
124 zuführen, zwingen / können.
Wir haben ein Vermögen zu urtheilen, ob etwas recht oder unrecht
sey, und dies geht so wohl auf unsere, als auf anderer Handlungen.
Dieses Vermögen liegt im Verstände. Wir haben auch ein Vermögen
der Lust und Unlust, so wohl über uns, als über andre zu urtheilen, 35
was da gefällt oder mißfällt, und das ist das moralische Gefühl. Wenn
wir nun das moralische Urtheil vorausgesetzt haben, so finden wir
noch 3tens einen Instinkt, einen unwillkührlichen und unwidersteh-
lichen Trieb in unsrer Natur, welcher uns zwingt, über unsre Hand-
Moralphilosophie Collins 297
lungen rechtskräftig zu iirtheilen, so, daß er uns einen innern Schmerz
über die böse, und eine innre Freude über die gute Handlungen nach
dem Verhältniß, welches die Handlung nach dem Gesetz hat, mit-
theilt.
5 Es ist also ein Instinkt, über unsre Handlungen zu urtheilen und sie
zu richten, und dies ist das Gewißen / Es ist also kein freies Vermögen. 125
Wäre es ein willkührliches Vermögen, so wäre es kein Gerichtshof,
indem es uns alsdenn nicht zwingen könnte. Sollte es ein innrer
Gerichtshof sein, so muß er Macht haben uns zu zwingen, unwillkühr-
10 lieh über unsre Handlungen zu urtheilen, und dieselbe zu richten, und
uns innerlich lossprechen und verdammen zu können.
Jeder hat ein Vermögen speculativ zu urtheilen, welches aber in
unserer Willkühr steht, allein, es ist in uns etwas, was uns zwingt,
über unsre Handlungen zu urtheilen. Es legt uns das Gesetz vor und
15 nöthiget uns vor dem Richter zu erscheinen. Es richtet uns wider unsre
Willkühr; es ist also ein wahrer Richter. Dieses forum internum ist ein
forum divinum, indem es uns nach unsern Gesinnungen selbst be-
urtheilt. und es läßt sich auch vom foro divino kein andrer Begrif
machen, als daß wir uns selbst nach unsern Gesinnungen richten
2omüßen. Alle Gesinnungen und Handlungen also, die äußerlich nicht /
bekant sein können, gehören vor das forum internum ; denn das forum I36
externum humanum kann nicht nach Gesinnungen urtheilen. Das
Gewißen ist also der Repräsentant des fori divini. Coram foro externo
humano gehören keine ethischen Handlungen ; denn dasselbe hat keine
2.5 Befugniß des äußern Zwangs, welche nur ein äußerlicher Richter hat.
Coram foro externo humano gehört aber alles, was äußerlich erzwungen
werden kann, folglich alle äußerlichen Zwangspflichten. Die Befugniß
und die Beweise des facti müßen äußerlich gültig seyn. Aeußere Gründe
aber der Imputation sind, die nach dem äußern allgemeinen Gesetz
30 gültig sind. Solche Imputationen, die gar nicht äußere gültige Gründe
haben, gehören nicht fürs forum externum, sondern internum. Nun
versucht man in foro externo in solchen Sachen, wo keine äußerliche
gültige Gründe sind, ob man das forum internum nicht im foro externo
gebrauchen könnte. Man zwingt / einen solchen vor das forum divinum 12T
35 zu treten (obgleich es wirklich in ihm schon vorgegangen ist), man
nöthiget ihn sich vor demselben strafwürdig zu finden, wenn es un-
recht ist, man zwingt ihn es öffentlich zu deklariren, und das ist ein
Schwur. Das forum internum ist schon da, er wird es in ihm selbst
schon straffällig finden, ohne daß er es erst noch deklariret, nur die
298 Vorlesungen über Moralphilosophie
Deklaration macht einen größern Eindruck auf ihn. Der Mensch
denkt: Wenn er nicht deklarire, so werde er auch nicht vor dem foro
divino gestraft, allein, er mag es deklariren oder nicht, so wird er
doch gestraft. Es ist doch sehr ungereimt zu schwören und zu sagen :
Ich will, daß dieses oder jenes geschehe, wofern es nicht wahr ist, in- 5
dem es nicht auf uns ankommt. Daher das Evangelium hier sehr wohl
sagt : Du solt nicht schwören bey dem Himmel, denn er ist ja nicht dein
128 etc. Es mag nun / dieses so seyn oder nicht, so ist es doch der mensch-
lichen Natur angemessen. Der Mensch stellet sich die Gefährlichkeiten
des göttlichen Willens vor. lo
Der Autor redet hier noch von verschiedenen Sachen die man nur
nachlesen darf: z. E. vom Proceß, Sententzen. Der Proceß ist eine
methodische Imputatio legis, wo ich mir per actionem civilem nur mein
Recht bey dem foro externo zu verschaffen suche. Die Summa aller
Imputationen sind die Acten. Die Sentenz ist das Urtheil. i5
Finis
Philosophiae practicae vniversalis
Moralphilosophie Collins 299
/ Ethica. 129
Alle Handlungen sind zwar nach der Dijudication nothwendig,
allein es gehört noch ein Bewegungsgrund dazu, um diese Handlungen
auszuüben. Ist nun dieser Bewegungsgrund aus dem Zwang her-
5 genommen, so ist die Nothwendigkeit der Handlungen juridisch; ist er
aber aus der Innern Bonität der Handlungen hergenommen, so ist die
Nothwendigkeit ethisch. Die Ethic handelt von der Innern Bonitaet
der Handlungen; die juris prudence von dem was recht ist, sie geht
nicht auf Gesinnungen, sondern auf Befugniß und Zwang. Die Ethic
10 aber geht bloß auf die Gesinnungen. Sie erstreckt sich zwar auch über
die juridischen Gesetze, allein sie fordert, daß man auch solche Hand-
lungen, zu denen man / gezwungen werden kann, aus der Innern iso
Bonitaet der Gesinnungen, und nicht aus Zwang thue. Also sind die
juridischen Handlungen, in so fern der Bewegungsgrund ethisch ist,
15 auch unter der Ethic begriffen. Folglich ist es ein großer Unterschied,
die Nothwendigkeit der Handlungen ethisch oder juridisch zu erwägen ;
und die Ethic ist also nicht eine Wissenschaft, die keine Zwangsgesetze
und Handlungen in sich faßen sollte, sondern sie erstreckt sich viel-
mehr auch über die Zwangs Handlungen; nur der Bewegungsgrund
20 ist nicht Zwang, sondern die innre Qualität. Die Ethic ist also eine
Philosophie der Gesinnungen und daher eine praktische Philosophie,
denn die Gesinnungen sind Grundsätze unserer Handlungen und
Verknüpfungen der Handlungen mit dem Bewegungsgrunde. Es ist /
schwer zu erklären, was man unter Gesinnung verstehe, z. E. wer seine 131
25 Schuld bezahlt, ist deswegen noch kein ehrlicher Mann, thut er es aus
Furcht vor der Strafe etc., so ist er zwar ein guter Bürger, und seine
Handlung hat rectitudinem juridicam, allein nicht ethicam; thut er es
aber wegen der Innern Bonitaet der Handlung, so ist seine Gesinnung
moralisch und hat rectitudinem ethicam. Dieses ist sehr zu unter-
30 scheiden, z. E. in der Religion. Wenn Menschen Gott als den obersten
Gesetzgeber und Regenten ansehn, als einen, der die Erfüllung seiner
Gesetze fordert, und der nicht auf den Bewegungsgrund aus dem die
Handlung geschieht, siehet; so ist hier zwischen Gott und einem welt-
lichen Regenten kein Unterschied als bloß der, daß Gott die äußre
35 Handlung besser als der weltliche Richter einsieht, und man Gott
300 Vorlesungen über Moralphilosophie
nicht so leicht als diesen hintergehn könne. Thut nun Jemand seinen
133 Gesetzen ein Genüge, so ist die Handlung zwar gut, allein sie / hat nur
rectitudinem iuridicam, indem er sie aus Furcht vor der Strafe thut.
Wenn aber jemand eine böse Handlung nicht aus Furcht vor der
Strafe, sondern wegen ihrer Abscheulichkeit unterläßt, so ist seine 5
Handlung ethisch. Dieses ist es, was der Lehrer des Evangelii beson-
ders auszuüben empfiehlet. Er sagt : man müße aiis Liebe zu Gott alles
thun. Gott lieben aber heißt : Seine Gebote aus guter Gesinnung gern
thun. Wovon unten.
Die Ethic wird auch die Tugendlehre genannt, denn die Tugend lo
bestehet in rectitudine actionum ex principio interno. Wer Zwangs-Ge-
setze ausübt, ist noch nicht tugendhaft. Zwar sezt die Tugend Ach-
tung, und pünktliche Beobachtung menschlicher Gesetze voraus, allein
sie geht auf die Gesinnung aus der die Handlung, die rectitudinem
juridicam hat, entspringt. Man muß daher aus den äußern Handlungen i5
133 die rectitudinem juridicam / haben, noch nicht auf die Gesinnungen
schließen. Wenn ich die moralische Noth wendigkeit der Handlung,
die juridisch ist, einsehe, so kann ich sie in juridischem und ethischem
Sinn thun. Im ersten Fall ist die Handlung dem Gesetz allein, nicht
der Gesinnung gemäß, und denn sagt man auch von den juridischen 20
Gesetzen: Es fehle ihnen die Moralität. Moralität wird nur bloß von
ethischen Gesetzen gebraucht; denn wenn auch juridische Gesetze
moralische Noth wendigkeit haben, so ist doch der Bewegungsgrund
derselben Zwang und nicht Gesinnung.
Tugend aber drückt nicht ganz genau die moralische Bonität aus, 25
sie bedeutet Stärke in der Selbstbeherrschung und Selbstueberwin-
dung in Ansehung der moralischen Gesinnung. Hier aber betrachte ich
134 die erste Quelle der Gesinnung. Es ist hier etwas Un/wahrgenommenes,
welches sich erst in der Folge aufklärt, denn die Ethic hat lediglich
die Gesinnung zum Vorwurf. Man hat das Wort Sittlichkeit genom- 30
men um die Moralität auszudrücken, allein Sitte ist der Begriff der
Anständigkeit ; zur Tugend aber gehört ein gewißer Grad der sittlichen
Bonitaet, ein gewißer Selbstzwang und Selbstbeherrschung. Völcker
können Sitten haben, aber keine Tugend, und andre können Tugend
haben, aber keine Sitten (conduite ist die Manier der Sitten). Wissen- 35
Schaft der Sitten ist noch keine Tugendlehre, und Tugend ist noch
keine Moralität. Weil wir aber kein andres Wort für die Moralität
haben, so nehmen wir Sittlichlieit vor die Moralität, weil wir Tugend
nicht dafür nehmen können.
Moralphilosophie Collins 301
Das moralische Gesetz gebietet dem Geist nach die Gesinnung, dem
Buchstaben nach die Handlung. / Wir werden also in der Ethic sehen: 133
Wie das moralische Gesetz dem Geiste nach ausgeübt wird, und uns
an die Handlung gar nicht kehren.
5 Die Ethic kann Gesetze der Sittlichkeit vortragen, die nachsichtig
sind, und auf die Schwäche der menschlichen Natur eingerichtet sind.
Sie kann sich dem Menschen bequemen, so daß sie nur so viel verlangt,
als die Menschen leisten können. Sie kann auf der andern Seite aber
auch strenge seyn und die höchste Sittlichkeit, Vollkommenheit, fodern.
10 Das moralische Gesetz muß auch streng seyn, und die Bedingung der
Rechtsmäßigkeit enunciren. Der Mensch mag solches leisten können
oder nicht, das Gesetz muß nicht nachsichtig seyn, und sich der
menschlichen Schwäche bequemen; denn es enthält die Norm der
sittlichen Vollkommenheit, diese aber muß exact und strenge seyn,
15 / z. E. die Geometrie giebt Regeln an, die strenge sind, sie kehrt sich i36
nicht daran, ob sie der Mensch in der Ausübung beobachten kann
oder nicht, z. E. der Punkt des Zirkels ist zu dick für den mathe-
matischen Punkt. Da nun die Ethic auch Regeln vorträgt, welche die
Richtschnur unsrer Handlungen seyn sollen, so müßen sie sich nicht
20 nach dem Vermögen der Menschen richten, sondern zeigen: was mora-
lisch nothwendig sey. Die nachsichtige Ethic ist das Verderben der
moralischen Vollkommenheit des Menschen. Das moralische Gesetz
muß rein seyn. Es giebt aber einen theologischen und moralischen
Purismus, nach welchem man in gleichgültigen Dingen grübelt, und
25 durch Spitzfindigkeit in demselben was auszudrücken sucht. Solchen
Purismum hat die Ethic nicht. Allein die Piiritaet in Ansehung der
Grundsätze ist etwas anders. Das moralische Gesez muß Puritaet
haben. Das Evangelium / hat solche Puritaet in seinem moralischen ist
Gesetz, wie keiner der alten Philosophen hatte, die selbst zu den
30 Zeiten des Lehrers des Evangelii nur glänzende Pharisäer waren, die
strenge auf den Cultum externum hielten, wovon das Evangelium oft
sagt : daß es gar nicht darauf, sondern auf die moralische Reinigkeit
ankomme. Das Evangelium läßt nicht die geringste Unvollkommen-
heit zu, es ist ganz strenge und rein, und hält ganz ohne Nachsicht auf
35 die Reinigkeit des Gesetzes. Ein solches Gesetz ist ein heiliges, es
fordert auch nicht zu viel, so daß es in der Ausübung mit der Hälfte
der Beobachtung zufrieden wäre, sondern jeder sieht es ein, daß der
Grund in seinem Verstände liege, und man kann den Beweiß aus eines
jeden Verstände hernehmen. Diese Pünktlichkeit, Subtihtät, Strenge
302 Vorlesungen über Moralphilosophie
und Reinigkeit des moralischen Gesetzes, welche die rectitudo heißt,
zeigt sich bey uns in allen Fällen, z. E. man darf nur in einer unbe-
138 kannten Gesellschaft unwißend Jemand / beleidigen, und wenn man
auch durch eine bevorstehende Reise für alle üble Folgen gewiß
gesichert wäre, so wirft man es sich doch immer vor. Derjenige ist ein 5
Latitudinarius, der sich das moralische Gesetz als ein nachsichtiges
denl<;t. Die Ethic muß praecis und heilig seyn. Diese Heiligkeit kommt
dem moralischen Gesetz zu, nicht, weil es uns offenbaret ist, sondern
es kann demselben auch durch die Vernunft zukommen, weil es
ursprünglich ist, wornach wir selbst die Offenbahrung beurtheilen, 10
denn die Heiligkeit ist das höchste vollkommenste sittliche gute,
welches wir doch aus unserm Verstände und uns selbst nehmen.
Der Autor theilt die Ethic in die schmeichelnde und mürrische
ein. Die Bewegungsgründe der Sittlichkeit müßen der Moral anständig
seyn, und die Triebfedern derselben müßen so verbunden seyn, als sie 15
sich mit ihr schicken, das heißt: sie müßen ihrer Würde gemäß seyn.
139 Es kommt nicht darauf an, daß die Handlungen geschehen / sondern
aus was für einer Quelle sie geschehn sind. Der schmeichelt der Ethic,
der das tugendhafte Verhalten für ein feines Wohlleben hält. Es ist
wahr : die Tugend ist auch eine Regel der Klugheit, man befindet sich 20
dabei wohl. So ertheilen viele deswegen Wohlthaten, weil sie alsdenn
an der Freude der Armen ein Vergnügen finden; allein da ist der
Bewegungsgrund nicht moralisch. Viele prahlen viel gutes gethan zu
haben, wenn es auch aus unrichtigen Gründen herrühre. Eine gute
Sache aber muß nicht durch falsche Gründe unterstützt werden. Die 25
Tugend ist aber eine gute Sache ; man muß sie also nicht durch falsche
Gründe unterstützen, z. E. daß sie schon in diesem Leben viele An-
nehmlichkeiten mit sich führe, das ist falsch; denn die tugendhafte
Gesinnung vergrößert noch den Schmerz dieses Lebens, indem er
denkt, er ist tugendhaft, und doch geht es ihm schlecht, wäre er nicht so
140 tugendhaft, so / könnte er es ehr ertragen, weil er es verdient hätte.
Die Ethic muß also durch solche Schmeicheleyen nicht angepriesen
werden. Wird sie in ihrer Reinigkeit vorgetragen, so führt sie Achtung
mit sich, und ist ein Gegenstand des Höchsten, der Billigung, und des
höchsten Wunsches, und die Einschmeichelungen vermindern nur die 35
Triebfedern, anstatt daß sie sie vermehren sollten. Die Moralität muß
sich nicht herablassen, man muß sie durch sie selbst empfehlen, alles
übrige, selbst die himmlische Belohnung, ist nichts gegen sie, denn durch
sie bin ich nur der Glülcseeligkeit würdig. Die sittlichen Bewegungs-
Moralphilosophie Collins 303
gründe müßen ganz besonders vorgetragen werden, und alle übrige
auch durch gutartige Triebfedern abgesondert werden. Die Ursach von
der wenigen Würkung der Moralität ist: Weil sie nicht rein vorge-
tragen worden. Bisher haben / alle und auch geistliche Moralisten die I4i
öSitthchkeit rein zu empfehlen verfehlt. Sie gewinnt mehr, wenn sie
durch iliren Innern Werth empfohlen wird, als wenn sie mit simüichen
Reizungen und Anlockungen begleitet wird. Die buhlerische Ethic
entehrt sich mehr, als daß sie sich empfehlen sollte, gerade so, wie es
mit den Buhlereyen zugeht. Eine stille Sittsamkeit nimmt weit eher als
10 alle buhlerische Reitze ein. Alle Anreizungen und sinnliche Antriebe
müßen bey den moralischen Lehren selbst nicht angebracht werden,
sondern nachdem die Lehren der Sittlichkeit ganz rein gefaßt sind,
und man sie erst hochschätzen gelernt hat, denn können solche Trieb-
federn ins Spiel gebracht werden, nicht um deswillen, damit die Hand-
islung um deßwillen geschehe, denn sonst wäre sie alsdenn nicht mehr
moralisch, sondern sie sollten nur als motiva subsidiaria dienen, welche
unsre Natur in Ansehung solcher intellectualen Begriffe, die für den
Verstand / sind, gegen die Triebfedern inertiam besitzt, wenn aber u^
diese sinnlichen Triebfedern ihre Wirkung gethan haben, so müßen die
20 rechten Bewegungsgründe wieder den Platz einnehmen. Folglich dienen
sie nur zur Wegräumung sinnlicher Hindernisse, damit der Verstand
wieder herschen könne ; alles aber unter einander zu mischen, ist ein
großes Verderben, worin noch sehr gefehlt wird. Dieser reine mora-
lische Begriff thut einen Effekt bey demjenigen, der ihn besitzt, der
25 ungewöhnlich ist, er reizt ihn mehr als alle sinnlichen Antriebe. Es
steckt darin ein großes Hülfsmittel, die Sittlichkeit den Menschen zu
empfehlen, welches schon in der Erziehung beobachtet werden müste,
dadurch würden wir eines reinen Urtheils und eines lautern Ge-
schmacks an der Sittlichkeit fähig. Eben so wenig als jemandem reiner
30 Wein, wenn er mit andern Getränken vermischt ist, nicht schmecken
kann, eben so müßen auch bey der Moralität, wenn man ihre Reinig-
keit einsehn soll, alle übrige Hindernisse weggeschafft werden.
/Die buhlerische Ethic ist der mürrischen entgegen gesetzt, welche 143
leztere man auch die misanthropische nennt. Diese setzt die Sittlich-
35keit allen Vergnügungen entgegen, so wie die buhlerische dieselbe
vermengt. Diese mürrische setzt alle Vergnügungen des Lebens, alle
Annehmliclilieiten der Sinne der Sittlichkeit nach. Ob es gleich
scheint, daß diese mürrische Ethic einen größern Fehler als die andre
hat, so ist es doch nichts weniger, denn sie kann, weil sie sich auf den
304 Vorlesungen über Moralphilosophie
Stolz des Menschen bezieht, erhabene Handlungen hervorbringen. Der
Mensch wird durch sie aufgefordert, alle Bequemlichkeiten des Lebens
einer einzigen erhabenen Handlung aufzuopfern.
Die schmeichlerische Ethic verbindet alle Annehmlichkeiten des
Lebens mit der Sittlichkeit ; die mürrische aber setzt sie denselben 5
entgegen, welches zwar ein Fehler ist, allein so wird daher eben
144 die / Sittlichkeit von den Annehmliclilveiten unterschieden und dies ist
ein großes Verdienst. Wenn also ein Fehler in der Ethic zugelaßen
werden solte, so wäre es besser, den Fehler der mürrischen zuzulaßen.
Es werden zwar viele Annehmlichkeiten durch diese Ethic aufge- lo
opfert, allein diese möchten auch bey einem verfeinerten Geschmack
nicht einmahl zusammen paßen und von selbst wegfallen. Es hat auch
diese misanthropische Ethic etwas hochachtungswürdiges. Sie sieht
auf die Strenge und Praecision der Sittlichkeit, obgleich sie darinn
fehlt, daß sie die Vergnügungen entgegen setzt. Um die mürrische i5
Ethic zu corrigiren, muß man merken : Sittlichkeit und Glükseeligkeit
sind 2 Elemente des höchsten Gutes, die von verschiedner Art sind,
•45 und also unterschieden / werden müßen, sie sind aber in nothwendiger
Beziehung auf einander. Die Glükseeligkeit hat nothwendige Be-
ziehung auf Sittlichkeit, denn das moralische Gesetz führt natürliche 20
Verheißung mit sich. Habe ich mich so verhalten, daß ich der Glük-
seeligkeit würdig bin, so kann ich auch dieselbe zu genießen hoffen,
und das sind die Triebfedern der Sittlichlveit. Ich kann keinem ver-
sprechen, die Glükseeligkeit ohne die Sittlichkeit zu erlangen. Die
Glükseeligkeit ist kein Grund, kein principium der Moralität, aber ein 25
noth wendiges corollarium derselben. Hierin hat die schmeichlerische
Ethic den Vorzug, daß sie die Glükseeligkeit mit der Sittlichkeit ver-
bindet, die aber nur eine natürliche Folge der Sittlichkeit ist. Die
mürrische aber hat von der Seite etwas stolzes, daß sie auf alle Glück-
seeligkeit Verzicht thut. Die renunciation aller Glückseeligkeit aber 30
unterscheidet die Sittlichkeit von der Glückseeligkeit, sie ist aber von
146 der Seite unnatürlich, weil / sie transcendental ist.
Der Autor redet hier noch von der Ethica deceptrix. Diese besteht
darin, daß sie ein Ideal realisirt. Alles was einen Schein enthält, der der
Wahrheit entgegen ist,ist betrügerisch. Die täuschende Ethic aber muß 35
so beschaffen seyn, daß das Täuschende an sich moralisch ist, aber doch
täuschend, indem es der menschlichen Natur gar nicht angemeßen ist,
die zwar vollkommen ist, für uns aber nicht zureichend, z. E. Das Be-
wustsein seiner selbst, als dem principio des Wohls aller Menschen
Moralphilosophie Collins 305
verursacht eine große Freude, die aber niemand erreichen kann. Der
sittHche Grund der Vollkommenheit findet natürlicher Weise bey den
Menschen nicht statt. Wir setzen die höchste Vollkommenheit in das
höchste Wesen, und die Gemeinschaft mit dem höchsten Wesen wäre
5 die höchste Vollkommenheit, / die wir erreichen könnten. Dieses ist i«
aber ein Ideal, welches nicht erreicht werden kann. Plato realisirte
dieses Ideal. Diese Ethic kann auch die phantastische und schwärme-
rische heißen.
Von der natürlichen Religion.
10 Die natürliche Religion sollte billig in der Moral den Schluß machen,
und das Siegel in der Moralität seyn. Die Idee der sitthchen Vollkom-
menheit sollte in derselben excolirt und zu stände gebracht werden,
und hier solte die Vollendung aller unsrer Sittlichkeit in Ansehung
ihres Gegenstandes erreicht werden. Allein es hat unserm Autor
15 gefallen, sie vorher abzuhandeln, und weil es eben nicht viel darauf
ankommt, so folgen wir ihm, da ohnedem schon der Begriff von der
Ethic, so ferne er nöthig ist, vorhergegangen ist.
/Die natürliche Religion ist keine Regel der Moralität, sondern die I48
Religion ist die Moralität auf Gott angewandt. Welche Religion muß
20 also in der natürlichen Religion zum Grunde gelegt werden ? Die
natürhche Religion ist praktisch und enthält natürliche Erkenntniße
unserer Pflichten in Ansehung des höchsten Wesens. Moralität also
und Theologie verbunden, machen die Religion aus. Es ist ohne Morali-
tät keine Religion möglich. Es giebt zwar Rehgionen ohne Moralität,
25 und Menschen glauben Religion zu haben, ob sie gleich keine Morahtät
haben. Solche Religion besteht nur im äußern Cultu und Observancen,
da ist keine Moralität, sondern Achtsamkeit und Beflissenheit eines
klugen Verhaltens gegen Gott, dem man durch solche / Observanzen 14»
gefällig zu werden sucht. Es ist da eben so wenig Religion als in der
30 Beobachtung bürgerlicher Gesetze und Observanzen gegen den König.
Weil also Religion Theologie voraussetzt, und die Religion Moralität
haben soll, so fragt es sich : Welche Theologie der Religion zum Grunde
geleget werden muß ? — Ob Gott ein Geist sey, und wie er allgegen-
wärtig sey, so, daß er den ganzen Raum fülle, das gehört nicht zur
35 Theologie so ferne sie der Grund der natürlichen Religion seyn soll,
sondern es gehört zur speculation. So machte sich ein egyptischer
Priester ein feyerliches Bild von Gott, und als man ihm diesen Begriff
20 Kant's Schriften XXVII/1
306 Vorlesungen über Moralpliilosophie
untersagte, so klagte er weinend, daß man ihm seinen Gott geraubt
150 hätte, denn vorher hätte er sich doch Gott einigermaßen / vorstellen
können, jezt aber nicht. In der Beobachtung der Pflichten hindert die
Vorstellung von Gott nicht, unter welchem Bilde sie auch geschiehet,
wenn sie nur ein hinreichender Grund zur Sittlichkeit ist. Zur Theologie, 5
die der Grund der natürlichen Religion ist, gehört die Bedingung der
moralischen Vollkommenheit. Wir müßen uns also ein oberstes Wesen
vorstellen, welches in Ansehung seiner Gesetze heilig, in Ansehung
seiner Regierung gütig, und in Ansehung seiner Bestrafungen und
Belohnungen gerecht ist. Dieses nun in einem Wesen ist der Begriff lo
von Gott, der zur Religion als dem Grund der natürlichen Religion
nöthig ist. Dieses nun sind die moralischen Eigenschaften Gottes, die
151 natürlichen sind nur, in so ferne sie den Moralischen eine / gi'ößere
Vollkommenheit geben und in der Religion einen größeren Effect
würken können, nöthig. Es finden also unter der Bedingung der All- 15
wißenheit, Allmacht, Allgegenwart und Einigkeit des obersten Wesens
die moralischen Eigenschaften statt. Das heiligste und gütigste Wesen
muß allwißend seyn, damit es die innere Moralität, die in der Gesin-
nung besteht, wahrnehmen könne. Daher muß es auch allgegenwärtig
seyn, der weiseste Wille kann aber nur ein einiger seyn. Daher die 20
Einigkeit, weil ohne diese Bedingung das principium der Moralität er-
dichtet werden könnte. Und dieses nun macht das Wesen der Theo-
logie der natürlichen Religion aus. Die Quellen dürfen nicht aus
speculation, sondern aus der reinen Vernunft hergeleitet werden.
152 Die spekulative / Erkenntniß ist nur zur Wißbegierde nöthig, wenns 25
aber um Religion zu tun ist, und was im Tun und Lassen nötig ist, so
ist weiter nichts mehr nötig, als was durch gesunde Vernunft einge-
sehn und wahrgenommen werden kann. Wie entspringt die Theologie ?
Wenn die Sittlichkeit vorgetragen wird, so bringt selbst der Begriff
der Moralität zum Glauben an Gott. Durch den Glauben wird hier in so
der philosophischen Betrachtung nicht das Zutrauen, das man nach
der Offenbahrung haben soll, verstanden, sondern der Glaube, welcher
aus dem Gebrauch der gesunden Vernunft entspringt. Dieser Glaube
der aus dem principio der Moralität entspringt, wenn sie practisch ist,
ist so mächtig, daß keine speculative Gründe nöthig sind, diesen 35
Glauben aus dem sittHchen Gefühl heraus zu heben. Denn in der
Moralität kommt es auf die reinste Gesinnungen an, diese aber wären
153 verlohren, / wenn kein Wesen da wäre, welches sie wahrnehmen
könnte. Es ist unmöglich daß ein Mensch solchen moralischen Werth
Moralphilosophie Collins 307
besitzen und fühlen könnte, ohne zugleich zu glauben, daß solches von
einem Wesen wahrgenommen werden könne. Denn warum sollte man
alsdenn reine Gesinnungen hegen, die doch außer Gott keiner wahr-
nehmen kann ? Man könnte denn wohl dieselben Handlungen thun,
5 aber nicht aus lauterer Absicht. Man könnte Wohlthaten, aber nur aus
Ehre, aus Vergnügen ausüben, die Handlung bliebe immer dieselbe und
die Analoga der Sittlichkeit thun gleiche Würkung, folglich ist es
unmöglich moralisch reine Gesinnungen zu hegen, ohne zugleich zu
glauben : daß diese Gesinnungen mit einem Wesen welches sie bemerket
10 in Verknüpfung stehn. Eben so / unmöglich ist es auch, ohne einen I54
Gott zu Glauben, sich zur Sittlichkeit zu wenden. Alle sittlichen Vor-
schriften gelten also nichts, wenn nicht ein Wesen wäre, welches auf
sie sähe. Und dieses nun ist die Vorstellung von Gott aus moralischen
Begriffen. Man kann also glauben, daß ein Gott sey, ohne es gewiß zu
15 wißen, und die natürliche Rehgion hat also zur Haupteigenschaft die
simplicitaet, das heißt: der gemeine Mann ist in der Theologie, als
es zur natürlichen Religion nöthig ist, eben so weit als die speculative
Köpfe. Alles übrige nun, was man in der Theologie hat, dient zu nichts
mehr, als unsre Wißbegierde zu befriedigen. Die SittHchlieit muß mit
20 der Religion verbunden werden, welches die alten / Philosophen nicht 155
eingesehn haben. Die Religion ist nicht der Ursprung der Moral, son-
dern sie besteht darin : daß die sittlichen Gesetze auf die Erkenntniß
Gottes angewandt werden. Man stelle sich die Religion vor aller Sitt-
lichkeit vor, sie müßte doch eine Beziehung auf Gott haben, und dann
25 würde sie darin bestehn, daß ich Gott als einen mächtigen Herren
ansehe, dem man schmeicheln müßte. Alle Religion setzt Moral vor-
aus ; folglich kann diese Moral nicht aus der Religion abgeleitet wer-
den. Alle Religion giebt der Moral Nachdruck, Schönheit und Realität,
denn die Moralität an sich ist etwas ideales. Wenn ich mir vorstelle,
30 wie schön es wäre, wenn alle Menschen rechtschaffen wären, so möchte
mich ein solcher / Zustand reitzen, moralisch zu seyn; allein die Moral i56
sagt : du sollst an sich und für dich moralisch sejoi, die andern mögen
seyn wie sie wollen. Denn fängt das moralische Gesetz an in mir
idealisch zu werden; ich soll der Idee der Moralitaet folgen, ohne ir-
35 gend eine Hoffnung glücklich zu seyn, und dies ist unmöglich ; folglich
wäre die Moral ein Ideal, wenn kein Weesen ist, welches die Idee execu-
tirt. Daher muß ein W^eesen seyn, welches den moralischen Gesetzen
Nachdruck und Realität giebt. Dieses Weesen aber muß alsdenn ein
heiliges, gütiges und gerechtes Weesen seyn. Die Religion giebt der Sitt-
20*
308 Vorlesungen über Moralphilosopliie
lichkeit ein Gewichte, sie soll die Triebfeder der Moral seyn. Hier
I5T erkennen wir, daß derjenige, der sich so verhalten hat, / daß er der
Glückseeligkeit würdig ist, auch hoffen könne, dieselbe zu erlangen,
weil es ein Wesen giebt, welches glücklich machen kann. Dieses nun ist
der erste Ursprung der ReHgion, die auch ohne alle Theologie möglich 5
ist. Es ist ein natürlicher Fortgang aus der Moral in die Religion. Die
Religion hat keine spekulative Kenntnis Gottes nöthig. Die Moral
führt also natürliche Verheißungen mit sich, denn sonst könnte sie uns
nicht verbinden. Denn wer mich nicht schützen kann, dem bin ich
auch keinen Gehorsam schuldig ; die Moral aber kann uns ohne Reli- lo
gion nicht schützen. Der Satz: wir sind zur Seeligkeit obligirt, ist
idealisch ; denn alle unsre Handlungen bekommen durch die Religion
completudinem. Ohne Religion ist alle Verbindhchkeit ohne Trieb-
feder. Die Religion ist die Bedingung sich die verbindende Kraft der
Gesetze zu denken. Allein es giebt doch Menschen, die ohne Religion: 5
gutes thun. Man findet es sehr bequem, die Wahrheit zu sagen und
158 ehrlich zu seyn, denn man braucht alsdenn / nicht nachzudenken,
sondern die Sache bloß zu sagen, wie sie an sich ist. Solche Menschen
thun also nicht aus Grundsätzen, sondern aus sinnhchen Absichten
gutes. Allein, wenn Noth ist, wenn das Laster sich auf der feinen Seite 20
der Moral zeigt, und denn nicht Religion da ist, so ist es sehr schlimm.
Die Erkenntniß Gottes durch morahsches Bedürfniß ist die beste.
Der Autor redet von der Innern Religion. Der Unterschied der Reli-
gion in die innere und äußere ist sehr schlecht. Äußere Handlungen
können entweder Mittel der innern ReHgion oder Würkungen der- 25
selben seyn. Die äußere ReHgion aber ist ein Unding. Die ReHgion ist
was inneres, und besteht in der Gesinnung. Es könnte also eine zwie-
fache ReHgion seyn, der Gesinnung und der Observanzen. Die wahre
Religion aber ist die Religion der Gesinnung. Äußere Handlungen sind
keine Religions Handlungen, sondern sie sind Mittel oder Würkungen so
der ReHgion. ReHgiöse Handlungen sind in mir selbst. Die Menschen
159 können in allen ihren Handlungen religiös seyn, wenn / nähmlich aUe
ihre Handlungen die Religion begleitet. Die innere ReHgion also macht
die ganze Religion aus, Frömmigkeit ist das Wohlverhalten
aus dem Bewegungsgrunde des göttlichen Willens, und fromme 36
Handlungen sind solche die aus diesem Bewegungsgrunde ge-
schehen. Ist aber der Bewegungsgrund aus der innern Bonität der
Handlungen gefloßen, so ist es Sittlichkeit oder Tugend. Also ist
Frömmigkeit und Tugend nicht in Handlungen, sondern in Bewegungs-
Moralphilosophie Collins 309
gründen unterschieden. Die Frömmigkeit schließt nicht die tugend-
haften Bewegungsgründe aus, sondern sie fordert sie vielmehr. Der
eigentliche Bewegungsgrund aber der Handlungen muß die Tugend
selbst seyn, denn deswegen verbindet uns Gott wozu, weil es an sich
5 selbst wirklich gut ist. Der Bewegungsgrujid ist also MoraHtät, und
nicht der göttliche Wille, denn dieser geht eben auf die innere Bonität
oder Gesinnung. Daß die Handlung ohne Rücksicht auf den Be-
wegungsgrund geschähe, ist nicht die Absicht der Religion, sondern
daß die / Handlung aus guter Gesinnung geschehe. Der göttliche Wille 160
10 ist eine Triebfeder, allein kein Bewegungsgrund. Ein frommer Mann
würde seyn : der die Observanzen, die Mittel der Religion, gut beobach ■
tet. Ein Gottesfürchtiger Mann aber bedeutet schon etwas mehr,
nähmlich eine gewiße Pünlctlichlveit in Beobachtung der Mittel der
Rehgion. Ein Gewißenhafter ist, der sich einen göttlichen Richter
15 vorstellt.
Handlungen die tugendhaft sind aus Religion, sind fromme Hand-
lungen; die aber lasterhaft sind aus Religion, sind gottlose Hand-
lungen.
Uebernatürliche Religion kann von der übernatürlichen Theologie
20 unterschieden werden. Die Theologie kann übernatürlich oder geoffen-
bahrt seyn, und die Religion kann doch natürlich seyn, wenn sie
nähmlich nur die Pflichten enthält, die ich durch die Vernunft in
Ansehung des höchsten Wesens einsehe. Also ist eine natürliche
Religion bey einer übernatürlichen Theologie möglich. / Man durch- 161
25 suche es nur, so wird man finden, daß die Menschen bey der über-
natürlichen Theologie doch natürhche Religion haben. Hätten sie
eine übernatürliche Religion, so müste auch übernatürlicher Beystand
bey ihnen angetroffen werden. Wir sehen aber, daß die Menschen nur
solche Pflichten ausüben, die sie natürlich durch die Vernunft einsehn
30 können. Die natürliche Religion ist von der übernatürlichen zu unter-
scheiden, nicht aber, daß sie sich beyde entgegen gesetzt sind, sondern
die natürliche ist der Gebrauch der Erkenntniß Gottes, so ferne sie
durch die Vernunft möglich ist und mit der Moralität verbunden ist.
Die übernatürliche ist die Ergänzung der natürlichen durch einen
35 höheren göttlichen Beystand. Wenn auch in der übernatürlichen
Religion vieles ist, was die Gebrechlichkeit der Menschen ersetzen
kann, so frägts sich : was denn dem Menschen kann imputirt werden ?
Alles kann ihm imputirt werden, was von ihm natürlicher Weise durch
seine eigene Kräfte hervorgebracht wird. / Durch solches Verhalten I68
310 Vorlesungen über Moralphilosophie
und durch den guten Gebrauch seiner natürlichen Kräfte kann er sich
nun aller Ergänzung seiner Gebrechlichkeit würdig machen. Die
natürliche Religion wird also der übernatürlichen nicht entgegen
gesezt, sondern die übernatürliche ist eine Ergänzung der natürlichen.
Die natürliche ist eine wahre Religion, nur incomplet. Durch sie müßen 5
wir erkennen, wie viel wir aus unsern Kräften thun könnten, und wie
viel uns zugerechnet werden kann; und verhalten wir uns so, so
machen wir uns der Ergänzung würdig. Was macht uns fähig, die Voll-
ständigkeit und Ergänzung unserer VolUcommenheit, die übernatür-
lichen Mittel der Religion zu bekommen ? Nichts, als der gute Ge- lo
brauch der natürlichen Religion, die übernatürliche setzt also die
natürliche zum voraus. Der Mensch, der sich nicht so verhält, wie er
natürlich soll, kann keinen übernatürlichen Beystand hoffen. Man
kann also nicht die übernatürliche Religion so gleich annehmen, und
163 so gleich / dvirch den göttlichen Beystand unterstüzt werden, und die i5
natürliche fahren laßen. Noch eher könnte man die natürliche Religion
entbehren und füglich zur übernatürlichen oder geoffenbahrten gehen.
Die natürliche Religion aber ist die nothwendige Bedingung, unter
welcher wir der Ergänzung würdig werden können, weil die über-
natürliche ein Supplement der natürlichen ist. Nur unser Wohl- 20
verhalten macht uns des göttlichen Bey Standes würdig, denn die
natürliche Religion ist der Innbegriff aller moralischen Handlungen,
und die übernatürliche ist die Ergänzung der Unvollständigkeit
unserer moralischen Handlungen. Würden wir die natürliche Religion
verlaßen, so würde die übernatürliche was paßives seyn, und der 25
Mensch müßte mit sich machen lassen was Gott wollte, folglich hätte
er nichts zu thun, weil alles übernatürlich zugehn müßte. Muß aber
Moralität in den Handlungen sein, so muß die natürliche Religion vor-
gehen. Es muß also bey jedem Menschen eine natürliche Religion seyn,
164 die ihm zugerechnet werden kann, / und durch die er sich der Er- 30
gänzung würdig macht.
Von denen Irrthümern in der Religion.
Die Religions Irrthümer sind von theologischen Irrthümern zu
unterscheiden. Die lezteren betreffen die Erkenntniß Gottes, die
erstem aber die Corruptibilitaet der Moralität. Die Irrthümer die die 35
Moralität afficiren, sind Ketzereyen, die aber die Theologie angehn,
sind nur Irrlehren.
Moralphilosophie Collins 311
Es kann theologische Irrthümer geben, die die Religion nicht affi-
ciren und die Religion kann sehr gut seyn, obgleich die Erkenntniß
von Gott sehr anthropomorphistisch ist. Eine Religion kann gut seyn,
wenn sie auch nicht vollständig wäre, und die natürliche Religion
5 kann immer gut seyn. Allein sich ganz der natürlichen Kraft ent-
ledigen, und sich auf die übernatürliche verlassen, das ist die Religion
der Handlanger. / Die Unwissenheit betrifft theils die Theologie theils I65
die Religion. In der Theologie sind wir alle sehr unwissend. Die
Ursache ist, weil der Begriff von Gott eine Idee ist, welche als der
10 Grenzbegriff der Vernunft und der Innbegriff aller abgeleiteten
Begriffe anzusehn ist. Auf diesen Begriff suche ich alle Eigenschaften
anzuwenden, ob sie auch paßen. Dieses nun zu bestimmen, fehlt uns
sehr. Die Unwissenheit in der Theologie kann groß seyn, in Ansehung
der Moralität aber ist sie für nichts zu achten.
15 Was die Irrthümer in der Theologie betrifft, so haben die Menschen
jederzeit geirrt, wenn sie speculirten, und denn hat der Irrthum gar
nicht die Religion afficirt, sondern er ist von derselben ganz abge-
sondert. Allein in solchen Erkenntnißen von Gott, wo der Einfluß auf
unser Verhalten groß ist, da ist zu sehn, ob nicht der Irrthum auch die
20 Religion angehe. Daher ist man in Ansehung der theologischen Irr-
thümer sehr subtil, weil sie die Religion afficiren können, und diese
theologischen Irrthümer sind daher so viel als möglich zu meiden. Das
Hausmittel hierbey ist, gar nicht dogmatisch zu urtheilen und denn
fällt man in keine Irrthümer; z. E. in die Untersuchung, / wie Gott all- 166
25 gegenwärtig sey, laß ich mich gar nicht ein, genug wenn ich nur weiß,
daß er das Urbild der moralischen Vollliommenheit ist, und weil er
gütig und gerecht ist, so wird er auch die Schicksale dem Verhalten
gemäß austheilen, denn geräth man in keinen Irrthum, und man
braucht nicht zu den dogmatischen Urtheilen zu gehn.
30 Zu den Irrthümern in der Theologie rechnet man zuerst den Atheis-
mum, welcher 2fach ist: Die Ohngötterey und Gottesläugnung. Die
erste ist : wenn man von Gott nichts weiß, die 2te aber da man dog-
matisch behauptet, es sey kein Gott. Wer aber von der Erkenntniß
Gottes leer ist, von dem kann man sagen, er weiß nur nicht daß ein
35 Gott sey, würde er es wißen, so möchte er doch Religion haben. Der
Ohngötterey ist also noch abzuhelfen. Auf der andern Seite aber ist
der Mensch wieder so böse, daß, obgleich er weiß daß ein Gott ist,
er doch so lebt als wenn keiner wäre, und so wäre es beßer, wenn er
nicht wüßte, / daß ein Gott ist, so würde er denn noch zu entschuldigen I6T
312 Vorlesungen über Moralpliilosophie
seyn; und eines solchen Handlungen sind religionswidrig und nicht
religionsleer.
Der Atheismus kann in der bloßen Speculation seyn, in der Praxis
aber kann ein solcher ein Theist, oder ein Verehrer Gottes seyn,
deßen Irrthum erstreckt sich auf die Theologie, nicht auf die Religion. 5
Solche Personen die aus Speculation in den Atheismum verfallen sind
nicht so böse auszustreichen, als man pflegt, ihr Verstand war nur cor-
rumpirt, nicht aber ihr Wille, z. E. Spinoza that das, was ein Mann von
Religion thun soll. Sein Herz war gut und wäre leicht zurecht zu
bringen gewesen, er traute nur den speculativen Gründen zu viel zu. lo
Der Atheismus ist ein solcher theologischer Irrthum, der in der Mora-
lität und Religion einen Einfluß hat, denn alsdenn haben die Regeln
168 des Wohlverhaltens keine bewegende Kraft. / Es giebt noch mehr
theologische Irrthümer, die wir aber übergehn, indem sie mehr zur
Theologia naturalis als zur Ethic gehören. Allein in Ansehung des i5
theoretischen führen wir 2erley fehlerhafte Ausschweifungen an : 1 ) in
Ansehung des Erkenntnißes : Vernünfteley und Aberglauben 2) in An-
sehung des Herzens: Religions-Spötterey und Schwärmerey. Dieses
sind die Grenzen der Ausschweifungen. Was die Vernünfteley betrifft,
so besteht sie darin : Wenn man durch die Vernunft als noth wendig 20
die Erkenntniß von Gott, die der Religion zum Grunde liegt, ableiten
will und es als noth wendig einsehn und beweisen will. Allein, das ist
nicht nöthig. In der Religion darf sich nur die Erkenntniß Gottes auf
Glauben gründen. So fern wir nur Gott als das principium der Sittlich-
keit ansehn, und ihn als einen heiligen Gesetzgeber, gütigen Welt- 25
169 regierer und gerechten Richter erkennen, / so ist dieses zu einem
Glauben an Gott hinreichend, so ferne die Religion zum Grunde liegen
soll, ohne solches logisch beweisen zu können. Die Vernünfteley ist also
der Fehler, da man keine andre Religion annimmt als solche, die sich
auf solche Theologie, welche durch die Vernunft eingesehn werden so
kann, gründet. Allein, dieses hat der Mensch nicht nöthig einzusehn
und zu beweisen, der nur die Theologie zur Religion braucht; denn es
kann eben so wenig der Atheismus, Spinozismus, Deismus und Theis-
mus bewiesen werden. Es ist also nur eine vernünftige hypothesis
nöthig, nach welcher ich nach Regeln der Vernunft hinreichend alles 35
bestimmen kann. Dieses ist eine nothwendige hypothesis, wenn man
dieses bey Seite legt, so kann man sich von nichts einen Begriff
machen, und weder die Ordnung der Natur, noch auch das Zweck-
110 mäßige / noch auch den Grund einsehn, warum man dem moralischen
Moralphilosophie Coli ins 313
Gesetz gehorsam seyn soll. Setze ich diese noth wendige Hypothese
voraus, nehme ich einen heiligen Gesetzgeber an etc. etc., so werde ich
mich in keine speculative Streitigkeiten einlaßen, noch auch solche
Bücher lesen, die das Gegentheil zu behaupten suchen, indem es mir
5 doch nichts hilft, und mich nichts von diesem Glauben abbringen
kann, denn alsdenn würde ich keinen festen Grundsatz haben, wenn
mir solches streitig gemacht würde, und was soll man denn thun?
Dieses ist eben so viel, als ich will mich entschließen: Alle Grundsätze
des moralischen Gesetzes bey Seite zu legen, und ein Bösewicht zu
10 seyn ; das moralische Gesetz aber befiehlt doch, und ich sehe es auch ein,
daß es gut sey, demselben zu gehorchen, welches aber ohne einen
obersten Regierer / ohne Werth und Gültigkeit ist, ich werde also nicht in
speculative Gründe, sondern meine Bedürfniße fragen, und ich kann
mir kein andres Genüge thun, als es anzunehmen. Demnach ist die
15 Vernünfteley in Religionssachen gefährlich. Sollte unsre Rehgion auf
speculativen Gründen beruhen, so wi.irde sie schwach gesichert seyn,
wenn man von allem Beweise fordern wollte, denn die Vernunft kann
sich irren. Damit also die Religion feste stehe, so muß alle Vernünfte-
ley wegfallen.
20 Auf der andern Seite ist wieder der Aberglaube etwas vernunft-
M'idriges. Er besteht nicht in Sätzen sondern in der Methode. Nimmt
man zum principio der Urtheile und der Religion etwas an, welches
sich auf Furcht, oder alte Erzehlung, oder Ansehn der Persohn gründet,
so sind dieses / Quellen des Aberglaubens, auf dem die Religion sehr nz
25 unsicher und unzuverläßig stehet. Der Aberglaube schleicht sich
immer in die Religion, weil die Menschen nicht geneigt sind den
Maximen der Vernunft zu folgen, wenn sie das was aus einem intellec-
tualen principio hergeleitet werden muß, aus der Sittlichkeit herleiten;
z. E. wenn die Observanzen die nur Mittel zur Religion sind, als
30 principia angenommen werden, so ist die Religion abergläubisch. Die
Religion ist etwas welches sich auf die Vernunft, nicht aber auf die
Vernünfteley gründet. Wenn ich also von den Maximen der Vernunft
abgehe, und durch Sinnlichkeit mich leiten laße, so ist es Aberglaube.
Die Leitung aber der Erkenntniß durch bloße Speculation in der
35 Religion ist die Vernünfteley; / beydes ist der Religion schädlich. Die IT3
Religion gründet sich nur auf Glauben, der keine logische Beweise
bedarf, sondern schon hinreichend ist, denselben als eine nothwendige
Hypothese voraus zu setzen. Auf der andern Seite sind der Religion
aus Gesinnungen 2 Stücke der Ausschweifungen entgegen, nähmlich
314 Vorlesungen über Moralphilosophie
Spötterey und Schwärmerey. Die erste ist, wenn man die Religion
nicht nur als etwas wichtiges nicht ernsthaft behandelt, sondern
dieselbe auch so gar als etwas ungereimtes, welches Geringschätzigkeit
verdient, ansieht. Weil die Religion etwas wichtiges ist, so ist sie kein
Gegenstand des Spottes, z. E. wenn ein Richter einen Uebelthäter vor 5
ir4 sich hat, so wird er keinen Spott mit ihm treiben, weil die Sache / wich-
tig ist, und es das Leben kosten soll. Alle Religion also, sie mag solche
Ungereimtheit enthalten, ist nichts weniger als ein Gegenstand des
Spottes, denn der Mensch der sie besitzet wird dadurch interessiert,
und es beruhet sein künftiges Wohl oder Wehe darauf, folglich ist er lo
eher zu bedauren, als zu belachen. Allgemein aber die Religion zu ver-
spotten, ist ein fürchterliches Vergehn; denn sie ist weit wichtiger.
Doch aber muß man nicht einen der über die Religion launigt
redet so gleich für einen Spötter halten, denn solche haben Religion
innerlich, sie laßen nur ihrer Laune und Witz freyen Lauf, welches i5
sich nicht so wohl über die Religion als vielmehr über gewiße Persohnen
erstreckt. Ein solches ist zwar nicht zu billigen ; doch aber auch nicht
175 für Spötterey / zu halten. Es rühret öfters aus zu weniger Ueberlegung,
aus Lebhaftigkeit, und aus Mangel genügsamer Prüfung her.
Die Schwärmerey ist etwas, nach welcher man auch außer und über 20
die Maximen der Vernunft ausschweift. Der Aberglaube erstreckt sich
unterhalb der Maxime der Vernunft; die Schwärmerey aber über die-
selbe. Der erste gründet sich auf sensuale, die letzte aber auf mystische
und hyperphysische principia. Die Spötterey ist theils auf Aber-
glaube, theils auf Schwärmerey gerichtet. Sie ist zwar nicht geziemend, 25
doch aber ein Mittel, solche Personen aus ihrem Wahn zu reissen und
sie in ihrem Schwindel sinnlicher Anschauung irre zu machen. Die
Vernünfteley (Rationalismus) ist dem Aberglauben entgegen gesetzt;
newenn wir aber zwey Dinge im practischen der Religion / entgegen
setzen, so wären es Frömmigkeit und Andächteley (Bigotterie). Diese 30
bedeutet wie die Vernünfteley ein Spiel, ist also von der Andacht zu
unterscheiden. Frömmigkeit ist etwas practisches, und bestehet in der
Beobachtung der göttlichen Gesetze aus dem Bewegungsgrunde des
göttlichen Willens. Andächteley besteht darin, daß man sich bemühet,
Gott dadurch zu verehren, daß man Worte und Ausdrücke, die Unter- 35
werfung und Ergebenheit anzeigen, gebraucht, um sich durch solche
äußere Ehrenbezeugungen, Lobeserhebungen, und Gunst zu erwerben.
Es ist was häßliches und abscheuliches, die Art der Verehrung Gottes
darin zu setzen, denn alsdenn glauben wir Gott ohne Moralität bloß
Moralphilosophie Coli ins 315
durch Schmeicheley zu gewinnen, und stellen uns denselben als einen
weltlichen Herren vor, dem man durch unterwürfige Dienstleistungen,
Lobeserhebungen und Schmeicheleyen zu gefallen sucht.
Andacht ist die mittelbare Beziehvmg des Herzens auf Gott, und
5 dieselbe auszuüben und die Erkenntniß Gottes auf unsern Willen
wirksam zu machen. Die Andacht ist also keine Handlung, sondern
eine Methode, sich eine Fertigkeit in den / Handlungen zu machen, in
Die wahre Religion aber besteht in den Handlungen, in der Ausübung
des moralischen Gesetzes, daß man das thue, was Gott haben will. Um
10 aber geschickt dazu zu seyn, so wird Uebung dazu erfordert, und das
ist die Andacht. Durch diese suchen wir uns eine Erkenntniß von
Gott zu erwerben, die solchen Eindruck auf uns macht, daß wir da-
durch practisch zu seyn, und das moralische Gesetz auszuüben, ange-
trieben w^erden. Es ist also zu misbilligen, wenn jemand andächtig
15 ist, um sich dadurch zur Ausübung gut gesinnter Handlungen vorzu-
bereiten. Allein, übt sich jemand, seine Erkenntniß von Gott
fruchtbar zu machen, und es kommt ein elender unglücklicher, der
ihn um Hülfe anspricht, er will sich aber dadurch von seiner Andacht
nicht stöhren laßen, so ist es höchst ungereimt; denn die Andacht
20 ist eine Uebung zu guten Handlungen; nun ist aber hier der Fall,
wo eine gute Handlung ausgeübt werden soll, wozu / er sich durch it8
die Andacht geübt hat. Die Andacht, als ein bloßes Geschäfte und als
eine abgesonderte Beschäftigung, ist an sich selbst gar nicht nöthig;
denn wenn wir durch Ausübung guter Handlungen dazu gekommen
25 sind, daß wir glauben können, die Erkenntniß Gottes sey in uns kräftig
genug einen Eindruck zu machen, noch mehr gute Handlungen auszu-
üben, denn ist gar keine Andacht nöthig, denn da ist nur wahre Gottes-
furcht, wo sich jederzeit der Effect durch gute Handlungen zeiget, also
kann die Gottesfiu-cht nur durch Handlungen, nicht durch Andacht
30 geübt werden.
Vom Unglauben.
Der Autor redet schon von Unglauben, ob er gleich noch nicht von
Glauben geredt hat. Wir A\'ollen diesen Begriff, so viel als es hier in der
Ethic nöthig ist, erklären. Glauben kann im zwiefachen Verstände
genommen werden. Erstlich bedeutet es so viel als eine Fertigkeit,
35 einem Zeugniße Beyfall / zu geben, imd dann ist es der historische n9
Glaube. Viele können den historischen Glauben nicht haben, aus Un-
fähigkeit ihres Verstandes, wenn sie die Zeugniße nicht einsehn
316 Vorlesungen über Moralphilosophie
können. Das historische Beurt heilen ist bey vielen Menschen ver-
schieden, wenn gleich die data dieselbe sind, und man kann un-
möglich wovon überzeugen, da ein anderer solches nicht glaubt,
z. E. Zeitungs Nachrichten. Es giebt also discrepantes in dem histo-
rischen Glauben, wovon man eben so wenig Gründe, als in der Discre- 5
pantz des Geschmacks angeben kann. So glaubt Bulenger, daß die
7 Könige in Rom die 7 Planeten bedeuten. Also giebt es auch in An-
sehung des Historischen Hang zum Unglauben. Der Mensch ist
geneigter zum Zweifel als zum Beyfall. Er findet es sicherer das Urtheil
aufzuschieben. Es beruhet aber dieses auf dem Verstand, und auch lo
darauf, daß man sonst oft schon durch Nachrichten hintergangen ist,
180 wie wohl nicht aus böser Absicht, sondern bloß xxm sich / für den
Irrthum zu sichern; obgleich dieses der Weg zur Unwissenheit ist,
wenn man allen Zugang abschneidet. Hier aber gehet uns der histo-
rische Glaube nichts an, indem er seine Kraft im Verstände und nicht i5
im Willen hat, und hier ist nur die Rede von dem, was in der Moralität
liegt. Der Glaube im andern Verstände ist, wenn man die Wirklichkeit
der Tugend glaubt.
Der moralische Unglaube ist also: Wenn man an die Wirklichkeit
der Tugend nicht glaubt. Es ist ein Misanthropischer Zustand zu 20
glauben, sie sey eine Idee. Es ist eine Eitelkeit, seiner Neigung ein
Gnüge zu thun, man kann darin weit gehn, und es nicht einmal so
weit bringen, daß man für einen rechtschaffenen Mann gehalten werde,
und dann wird man sich auch nie einer zu werden bemühen. Es ist
nicht gut, die Tugend und den Keim zum Glauben beim Menschen ver- 20
181 dächtig zu machen, welches viele Gelehrte thaten, / um dem Menschen
um so viel beßer seinen verderbten Zustand zu zeigen, und ihm den
Gedanl^en, daß er tugendhaft sey, zu benehmen. Solches aber ist sehr
verhaßt, denn die UnvoUlvommenheit zeigt sich schon genug, nachher
bey der Reinigkeit des moralischen Gesetzes. Der den Keim des Bösen 30
beim Menschen aufsucht, ist beinahe ein Advocat des Teufels. So
suchte wider den Belisaire der Hofstede die Tugend zu untergraben;
was nützt das aber für die Religion ? Weit mehr nützet es hingegen,
wenn ich z.B. den Charakter eines Sokrates, er mag nun erdichtet oder
wahr seyn, als vollkommen tugendhaft schildern höre, und dieses Bild 35
noch vollkommener zu machen suche, als daß ich darinn Flecken auf-
suchen sollte. Es erhebt doch meine Seele zur Nachahmung in der
183 Tugend, und ist eine Triebfeder für mich. Wer aber / solchen Un-
glauben wider die Tugend und den Keim des Guten im Menschen
Moralphilosophie Collins 317
predigt, der will damit so viel sagen, daß wir alle zusammen Spitzbu-
ben von Natur sind, und daß keinem Menschen zu trauen sey, der
nicht durch die Gnade und Beystand Christi erleuchtet wäre. Allein,
diejenigen bedenken nicht, daß eine solche Gesellschaft von grund-
5 bösen Leuten gar nicht des göttlichen Beistandes würdig wäre. Denn
die Idee des teufelischen Bösen ist ganz was reines in ihrer Art, wo gar
kein Keim zum guten, ja nicht einmahl ein guter Wille ist, so wie hin-
gegen das enghsche gute rein vom Bösen ist. Es ist alsdenn auch gar
nicht möglich, daß solche Menschen Beystand erhalten können, es
10 müßte sie Gott neu umschaffen, aber nicht ihnen beystehn. Folglich
hat der Mensch Tugend ; der Eigendünkel aber / von seiner Tugend I83
wird schon durch die Reinigkeit des moralischen Gesetzes unter-
drückt. Demnach muß man an Tugend glauben. Wäre das nicht, so
würde der ärgste Dieb eben so gut als ein andrer seyn, indem er doch
15 schon den Keim zum stehlen hat, nur die Umstände fügen es, daß er
der Dieb ist und nicht der andre. Viele haben behauptet, daß in dem
Menschen kein Keim zum Guten, sondern zum Bösen sey, nur allein
Roußeau behauptet das Gegentheil. Dieses nun ist der moralische
Unglaube. Der 2te ist der Religions Unglaube. Wenn man nicht
20 glaubt, daß es ein Wesen gäbe, welches so wohl den guten Gesinnungen
Zulänglichkeit zum göttlichen Wohlgefallen, als auch unserm Wohl-
verhalten gehörige Folgen ertheile. Wir finden uns durch ein moralisch
Gesetz zu / guten Gesinnungen als zu principien unsrer Handlungen I84
angewiesen, und durch die Heiligkeit desselben werden wir zurgewißen
25praecision des Gesetzes adstringirt, so, daß wir ein heiliges Gesetz
haben. Allein, wir können dieses Gesetz nicht so rein ausüben, unsre
Handlungen sind dem Gesetze nach sehr unvollkommen, daß sie
sogar selbst in unsern Augen tadelhaft sind, wenn wir nur nicht
unsern Innern Richter, der nach diesen Gesetzen urtheilt, über-
30 täuben. Wer dieses betrachtet, der müßte es zulezt aufgeben, dieses
Gesetz zu beobachten, weil er vor einem solchen heiligen und gerechten
Richter, der nach diesem Gesetze urtheilt, nicht bestehn könnte. Es
findet sich also der Mensch nach dem moralischen Gesetz sehr fehler-
haft. Allein der Glaube an eine himmlische Ergänzung unserer / Un- 185
35 Vollständigkeit in der Moralität ersetzt unsern Mangel. Wenn wir nur
gute Gesinnungen heben und alle unsre Kräfte aufbieten zur Erfüllung
des moralischen Gesetzes, so können wir hoffen, daß Gott Mittel haben
werde, dieser Un Vollkommenheit abzuhelfen. Thun wir dieses nun,
so sind wir auch des göttlichen Beystandes würdig. Hat nun jemand
318 Vorlesungen über Moralphilosophie
diesen Glauben, so ist es der Religions- Glaube in Ansehung unsers
Verhaltens, und der erste Theil des Glaubens. Der andre ist nur als eine
Folge anzusehn, nähmlich wenn wir uns so verhalten haben, so können
wir eine Belohnung hoffen.
Es giebt also einen Unglauben in der natürlichen Religion, und die 5
Ursache aller Gebräuche in der Religion ist der Unglaube, denn die
Menschen glauben die Moralität dadurch zu ersetzen, sie suchen Gott
186 durch moralische Handlungen zu gewinnen. / Wenn also der wahre
Religions Glaube fehlt, so entspringt daraus : daß man, weil man die
UnVollständigkeit in sich findet, und daher an der Stelle eine himm- 10
lische Ergänzung glauben sollte, zu Ceremonien, Wallfahrten, Castey-
ungen, Fasten etc. schreitet, wodurch man selbst seine UnvolUcom-
menheit ergänzen will, und da unterläßt man, was uns eines himm-
lischen Bey Standes würdig machen könnte.
Erbauung bedeutet die Vollführung einer thätigen Gesinnung, so 15
fern sie aus der Andacht entspringt. Menschen können andächtig seyn,
ohne sich zu erbauen. Erbauen heißt so viel, als etwas bauen. Wir
müssen also ein besondres Gebäude der Gesinnung und der Sittlichlveit
errichten. Dieses hat zum Grunde die Erkenntniß von Gott, die dem
181 sittlichen Gesetz, Nachdruck, Leben / und bewegende Kraft giebt. 20
Die Erbauung ist also eine Wirkung der Andacht, eine Vollendung
einer willkührlichen thätigen Gesinnung des Herzens, dem Willen
Gottes gemäß zu handeln. Wenn also gesagt wird, der Prediger hat
erbaulich gepredigt, so bedeutet es nicht, daß er was dadurch gebaut
hat, sondern daß dadurch eine Erbauung möglich sey, ein System von 25
thätigen Gesinnungen aufzurichten, alsdenn ist aber noch nicht
gebaut, denn es ist ja noch nichts. Der Mensch kann erst die Wahrheit
seiner Erbauung aus seinem nachfolgenden Leben schließen, und der
Prediger eben aus den Folgen die seine Erbauung hervorgebracht hat.
Die Erbauung des Predigers bestellt also nicht in Worten, äußern Aus- 3o
drücken, Stimmen etc. sondern in so fern seine Rede die Kraft hat,
Gebäude der Gottesfurcht in den Zuhörern zu errichten. Erbauen will
188 also so viel sagen, / wie angezeigt ist, und erbaut ist : wenn ein Ge-
bäude der Gottesfurcht in Jemandem errichtet ist.
Der Autor redet noch von der theoretischen und praktischen Er- 35
kenntniß Gottes, wovon wir schon oben etwas erinnert haben. Zur
Speculation in Ansehung Gottes gehört viel, sie gehört aber nicht zur
Religion, sondern die Religions Erkenntniß muß praktisch seyn.
Theologie kann zwar spekulative Erkenntniß enthalten, die aber in
Moralphilosophie Collins 319
so weit nicht zur Religion gehört. Rechtschaffene Lehrer werden also
spekulative Erkenntniß aus der Religion weglassen, damit der Mensch
auf das praktische desto aufmerksamer werde. Religionsgrübeley,
Spitzfindigkeit, können als Hindernisse der Religion angesehn werden,
5 indem sie vom praktischen abAvendig machen.
Um nun zu wissen, was zur Religion und Speculation / gehöre, so 189
muß man folgende Prüfung anstellen: Was keinen Unterschied in
meinen Handlungen macht, es mag so, oder anders beantwortet wer-
den, gehört nicht zur Religion, sondern zur Spekulation. Wenn also die
10 Regel des Verhaltens dieselbe bleibt, so gehört es zur Spekulation und
nicht zur Religion.
Der Autor redet von der Zufriedenheit des göttlichen Willens. Man
kann geduldig seyn aus Noth, weil man es nicht ändern kann, und das
Klagen vergeblich ist. Diese scheinbare Zufriedenheit ist nicht mit der
15 moralischen Bonitaet und dem göttlichen Willen verbunden, sondern
die Zufriedenheit mit dem göttlichen Willen besteht in dem Wolil-
gefallen und Vergnügen an der göttlichen Regierung. Weil diese
Zufriedenheit allgemein ist, so muß sie in allen Umständen ange-
troffen werden, in die man nur / gerathen kann, sie mögen schlecht 190
20 oder gut seyn. Ist auch solche Zufriedenheit möglich ? Wir müßen den
Menschen nicht heuchlerisch machen. Es ist wider die Natur des
Menschen in Kummer und Noth zu seyn, und Gott noch dafür zu
danlvcn, ist sehr schwer. Denn danke ich Gott dafür, so bin ich zu-
frieden, und so ist es dann kein Kummer, wie soll man aber für etwas
25 danken, was wir als nie geschehn wünschen ? Gleichwohl aber ist es
doch möglich bey aller Noth und Drangsal seine Ruhe und Zufrieden-
heit zu besitzen. Wir können traurig und doch zufrieden seyn, obgleich
nicht durch die Sinne. Wir können durch die Vernunft einsehn
(welches uns auch einen Grund zum Glauben giebt), daß der Regierer
30 der Welt nichts thue, was nicht einen Zweck haben sollte, demnach
haben wir Trost bey den Uebeln des Lebens.
/ Wir können Gott auf eine 2fache Art etwas verdanken : entweder i9i
in Hinsicht auf seine außerordentliche Direction, oder auf seine all-
gemeine Vorsorge. Das erste ist Vorwitz unsers UrtheUs über seine
35 Regierung und Zwecke, dagegen ist das Urtheü, nach welchem wir
Gott seiner allgemeinen Vorsorge etwas beymessen, der pflichtmäßigen
Bescheidenheit, die wir in der Beurtheilung der W^ege Gottes zu
beobachten haben, angemeßen. Die Wege Gottes sind götthche Ab-
sichten, die die Regierung der Welt besthnmen. Diese müssen wir
320 Vorlesungen über Moralphilosophie
nicht besonders bestimmen, sondern generaliter urtheilen, daß darin-
nen Heiligkeit und Gerechtigkeit herrsche. Es ist Vermessenheit, die
besondern Wege Gottes erkennen zu wollen, und eben so vermessen ist
es, das Gute, was uns besonders wiederfährt, in Ansehung unsrer
bestimmen zu wollen, z. E. man hat in der Lotterie gewonnen, und man 5
19a will dieses Gott als eine besondre Schickung / zuschreiben, so liegt es
zwar im allgemeinen der göttlichen Vorsehung, aber zu glauben, es sey
ein Beweis, daß ich als ein Glückskind von Gott auserlesen seyn sollte,
ist vermessen. Gott hat allgemeine Absichten und Zwecke, und es
kann etwas eine Nebenfolge einer größern Absicht seyn, aber nicht lo
eine besondre Absicht. Solche Personen demnach, die alle besondre
Fälle der Vorsicht Gottes zuschreiben, und sagen : Gott hätte sie mit
Wohlthaten und Glück überhäuft, glauben darum gottesfürchtig zu
seyn, und meinen, solches gehöre mit zur Religion, daß man Ehrfurcht
vor Gott haben soll, die sie darin setzen, daß sie alles unmittelbar i5
seiner speciellen Direction zuschreiben. Es liegt alles in der allgemeinen
Vorsorge. Es ist doch besser in seiner Rede nichts von den Absichten
Gottes bestimmen zu wollen. Im Lauf der Welt im ganzen genommen,
gründet sich alles auf die gütige Vorsorge, und wir können hoffen, /
193 daß alles im allgemeinen nach der Vorsorge Gottes geschähe. Das 20
allgemeine der Natur soll unsre Dankbarkeit auffordern, und nicht
besondre Umstände, die uns zwar in Ansehung unsrer mehr angehn,
so ist es doch nicht so edel.
Die Entsagung (Resignation) in Ansehung des göttlichen Willens
ist unsre Pflicht. Wir entsagen unserm Wülen, und überlassen etwas 25
einem andern, der es besser versteht, und es mit uns gut meynt. Folg-
lich haben wir Ursache, Gott alles zu übergeben, und den göttlichen
Willen schalten zu lassen ; das heißt aber nicht : Wir sollen nichts thun,
und Gott alles thun lassen, sondern wir sollen das, was nicht in unsrer
Gewalt stehet, Gott abgeben, und das unsrige, was in unsrer Gewalt 30
stehet, thun. Und dieses ist die Ergebung in den göttlichen Willen.
194 / Vom Zutraun auf Gott unter dem Begriff
des Glaubens.
Glauben nehmen wir hier in dem Sinn, daß wir das beste thun sollen,
was in unsrer Gewalt stehet, und zwar in der Hoffnung: Gott werde 35
nach seiner Güte und Weisheit die Gebrechlichkeit unsers Verhaltens
ersetzen. Der Glaube bedeutet also das Zutrauen, daß Gott das, was
Moralphilosophie Collins 321
nicht in unsrer Gewalt stehet, wenn wir auch alles, was uns möglich ist,
werden gethan haben, ersetzen werde. Dieses ist der Glaube der
Demuth und Bescheidenheit, die mit der Ergebenheit verbunden ist.
Dieser Glaube schreibt nichts vor, sondern thut das, was nach seinem
5 Vermögen zu thun seine Pflicht ist, und hofft ohne Bestimmung eine
Ergänzung, und von solchem kann man sagen : Er / hat einen unbe- 195
dingten Glauben, und dieses ist der praktische Glaube. Der praktische
Glaube bestehet also nicht darinn, daß Gott unsre Absichten erfüllen
werde, wenn wir ihm nur fest zutraun, sondern darinn: daß wir Gott
10 durch unsern Willen auf keine Weise etwas vorschreiben, sondern es
seinem Willen überlassen und hoffen, Gott werde, wenn wir das, was
in unserm natürlichen Vermögen steht, gethan haben, durch Mittel,
die er am besten weiß, unserer Gebrechlichkeit und unserm Unver-
mögen abhelfen. Das fleischliche Vertraun besteht im festen Zutraun
15 wodurch man Gott zu bewegen sucht, unsern fleischlichen Neigungen
ein Genüge zu leisten. Fleischliche Absichten betreffen jede Befriedi-
gung unserer Neigungen, die aufs sinnliche gerichtet sind. Fleischliches
Vertrauen ist, wenn wir die / weltlichen Zwecke unserer Neigungen 196
selbst bestimmen. Wir können unmöglich also glauben, daß unser
20 Zutraun in Absicht auf die Befriedigung unsrer Neigungen für Gott
ein Bewegungsgrund seyn sollte, unsere Wünsche zu erfüllen. Die
Zwecke der Gottheit müßen von Gott bestimmt werden und wir
können keine weltlichen Zwecke bestimmen.
Der einzige Gegenstand des geistlichen Vertrauens ist: die reine
25 Sittlichkeit, die Heiligkeit des Menschen, und dann seine ewige Glück-
seeligkeit unter der Bedingung der Sittlichkeit. Darauf nun können wir
mit aller Sicherheit ein Vertrauen setzen, welches auch in Ansehung
dieses unbedingt ist. Fleischlich Vertrauen auf Gott haben, nennt der
Autor tentatio dei, das heißt, versuchen, ob unser Vertrauen auf Gott
30 nicht ein Bewegungsgrund seyn kann, unsere / fleischliche Absichten i»r
zu erfüllen. Ich kann mit Vernunft auf nichts vertrauen, daß es Gott
thun werde, als was im allgemeinen Plan seiner Weisheit beschlossen
ist. Da ich dieses nun nicht wißen kann, so ist es Vermessenheit, die
Zwecke der göttlichen Weltregierung zu bestimmen und zu glauben :
35 Mein thörichter Wunsch liege in dem Plan der göttlichen Weisheit.
Wer also Gott durch zeitliche Wünsche zu bewegen sucht, um von dem
höchsten Plan der Weisheit abzugehn, der versucht Gott. Es ist so gar
eine Beleidigung für Gott. W^as soll man nun von denen sagen, welche
dieses für den rechten Glauben halten ? Damit nun aber unser Ver-
21 Kant's Schriften XXVII/1
322 Vorlesungen über Moralphilosophie
trauen mit dem Plan der Weisheit übereinstimme, so muß es weise
seyn, und unbedingt, so daß wir überhaupt glauben, Gott werde nach
seiner Gütigkeit und Heiligkeit uns so wohl in Ansehung des sittlichen
198 / Beystand leisten, als auch uns die Glückseeligkeit zutheil werden
laßen. Unser Verhalten gegen Gott ist von 3erley Art. Wir können 5
Gott ehren, fürchten und lieben. Wir ehren Gott als einen heiligen
Gesetzgeber, wir lieben ihn als einen gütigen Regierer, und wir fürch-
ten ihn als einen gerechten Richter.
Gott ehren heißt : Sein Gesetz als heilig und gerecht ansehn ; es ver-
ehren und dasselbe in seinen Gesinnungen zu erfüllen suchen. Wir lo
können jemand äußerlich verehren, allein die Verehrung entspringt
aus der Gesinnung des Herzens. Das moralische Gesetz ist in unsern
Augen ehrbahr, schätzbahr und ehren werth. Betrachten wir nun Gott
als den Geber desselben, so müßen wir ihn auch nach der höchsten
moralischen Würde ehren. Es giebt keine andre Fälle Gott praktisch zu i5
199 ehren. Wir können Gott zwar bewundern, über seine Größe / und
Unermeßlichkeit in Erstaunen gerathen, auch unsre Niedrigkeit gegen
ihn erkennen, allein ehren können wir Gott nur allein der Moralität
nach. Wir können auch einen Menschen nur bloß seiner Moralität
wegen verehren, seine Geschicklichkeit aber und Fleiß können wir nur 20
bewundern. Wir können Gott auch nur als einen gütigen Regierer
lieben, nicht wegen seiner Vollkommenheiten, denn die sind für ihn,
sie sind nur bewundernswürdig, nicht aber liebenswürdig. Wir können
nur den lieben, der uns Wohlthaten zu erzeigen im Stande ist, wir
lieben in Gott also nur den gütigen Willen. Die Furcht Gottes geht nur 25
bloß auf die Gerechtigkeit seines Gerichts. Die Furcht Gottes ist von
äooder Furcht vor Gott / zu unterscheiden. Die Furcht vor Gott ist:
wenn man sich eines Vergehens schuldig findet. Die Furcht Gottes aber
ist die Gesinnung, sich so zu führen, zu handeln, daß man vor ihm
bestehn könne. Es ist also die Furcht Gottes ein Mittel wider die so
Furcht vor Gott. Wenn die Furcht Gottes mit der Liebe zu Gott ver-
bunden ist, so heißt sie die kindliche Furcht, da man die Gebote
Gottes gern und aus guter Gesinnung thut, da hingegen die Furcht
vor Gott eine sklavische Furcht ist, und daher entsteht, wenn unser
Gehorsam in Ansehung Gottes ungern seinen Geboten folgt ; oder man 35
fürchtet sich auch vor Gott, wenn man entweder schon seine Gebote
übertreten hat, oder noch Lust hat, dieselbe zu übertreten. Nachah-
mung Gottes ist nicht gut gewählt. Wenn Gott sagt: Seyd heilig, so ist
301 das nicht gesagt, / wir solten ihn nachahmen, sondern dem Ideal der
Moralphilosophie Collins 323
Heiligkeit nachgehn, welches wir nicht erreichen können. Ein Wesen,
welches darnach unterschieden ist, kann unmöglich nachgeahmt
werden, allein wir können Folge leisten und gehorsam seyn. Es soll
dieses Urbild nicht nachgeahmt werden, sondern wir müßen suchen,
5 demselben conform zu seyn.
Vom Gebet.
Allgemein erwogen scheint es, daß das Gebet in Ansehung des
höchsten Wesens unnöthig sey, denn es sind demselben unsre Bedürf-
niße beßer als uns bekannt. Alle Erklärung in Ansehung unsrer Be-
lodürfniße scheint unnütz zu seyn, weil Gott unsre Bedürftigkeit und
Beschaffenheit unserer Gesinnungen offenbahr einsieht. Die Erklärung
unsrer Gesinnungen durch Worte ist eben so unnütz, weil Gott unser
Innerstes siehet. / Objective sind die Gebete also ganz unnöthig. Eine ä02
Erklärung ist nur gegen ein solches Wesen nöthig, welches nicht weiß
15 was man verlangt. Subjective aber ist das Gebet nöthig, nicht damit
Gott, welcher der Gegenstand desselben ist, etwas erfahre, imd da-
durch es zu ertheilen bewogen werde, sondern um unsers Subjekts
willen. Wir Menschen können unsre Begriffe nicht anders faßlich
machen, als sie in Worte einzulvleiden. Wir kleiden also unsre fromme
20 Wünsche und unser Zutrauen in Worte ein, damit wir sie uns lebhafter
vorstellen können.
Dagegen giebt es Gegenstände des Gebets, die nicht die Absicht
haben, moralische Gesinnungen vermittelst des Gebets in uns zu er-
reichen, sondern die auf die Bedürfniße abgezielt sind, und dann ist das
25 Gebet niemals / nöthig; z. E. man ist in einer Noth, dann ist das Gebet 203
objective nicht nöthig, denn Gott weiß es, daß ich in Noth bin, und
subjective auch nicht, indem ich mir hier den Begriff lebhaft vorzu-
stellen nicht nöthig habe. Gebete sind dennoch in moralischen Ab-
sichten nöthig, wenn sie in uns eine moralische Gesinnung errichten
30 sollen, niemals aber in pragmatischen Absichten, als Mittel zur Er-
werbung unsrer Bedürfniße. Sie dienen dazu, die Moralität in dem
Innersten des Herzens anzuf euren. Sie sind Mittel der Andacht; diese
aber besteht in der Uebung, daß die Erkenntniß Gottes in Ansehung
unsers Thun und Laßens einen Eindruck mache ; die Gebete nun sind
35 solche Andachtsübungen. Es ist überhaupt etwas widersinniges mit
Gott reden zu woUen. Wir können nur / mit dem reden, den wii sehn 204
können; da wdr aber Gott nicht anschauen können, sondern nvir
324 Vorlesungen über Moralphilosophie
glauben, daß ein Gott sey, so ist es ganz widersinnig mit dem zu reden,
den man nicht anschaut. Das Gebet hat also nur einen subjectiven
Nutzen. Es ist eine Schwäche des Menschen, daß er seine Gedanken
durch Worte ausdrücken muß. Er redet alsdenn, wenn er betet, mit
sich selbst, und drückt seine Gedanken und Worte aus, damit er sich 5
nicht irre, und deswegen ist es auch widersinnig; aber ohnerachtet
dessen ist es doch ein subjectiv nothwendiges Mittel, seiner Seele
Stärke, und seinen Gesinnungen zu Handlungen Kraft zu geben.
Gemeine Menschen können oft nicht anders als laut beten, indem sie
im Stillen nachzudenlvcn nicht im Stande sind, und das laute Beten / lo
805 ihnen einen größern Nachdruck giebt; wer sich aber geübt hat, seine
Gesinnungen in der Stille zu eröfnen, der darf nicht laut beten. Wenn
nun die moralische Gott ergebene Gesinnung in einer Person Stärke
genug hat, so brauchen solche Menschen alsdenn nicht den Buchstaben,
sondern den Geist des Gebets. Wer schon geübt ist Ideen und Gesin- 15
nungen zu haben, der hat das Mittel der Worte und Erldärung nicht
nöthig. Nehme ich nun dieses vom Gebet weg, so bleibt der Geist des
Gebets übrig, d. i. die Gott ergebene Gesinnung, die Richtung des
Herzens zu Gott, so ferne wir zu ihm im Glauben das Zutrauen faßen,
er werde unsre moralische Gebrechlichkeit wegnehmen und die 20
806 Glückseeligkeit ertheilen. / Der Geist des Gebets findet ohne allen
Buchstaben statt. Der Buchstabe hat keine Absicht in Ansehung
Gottes, indem Gott unmittelbahr die Gesinnung sieliet, deswegen ist
aber doch der Buchstabe des Gebets nicht tadelhaft, sondern, wenn es
feyerlich z. E. in der Kirche geschieht, so hat es bey jedem Menschen 25
großen Effect; an und für sich ist der Buchstabe todt.
Woher kommt es, daß Menschen, die beten, ihre Stellungen die sie
sonst im gemeinen Leben haben, verändern, und wenn sie darin be-
troffen werden, sich schämen ? Weil es widersinnig ist, Gott seine
Wünsche zu deklariren, da er sie doch schon weiß, und weil es eine 30
Schwäche des Menschen ist, seine Gesinnungen in Stimme und Worte
einzukleiden. Dieser Gebrauch aber des Mittels ist der Schwäche des
Menschen angemeßen.
201 / Auf den Geist des Gebets kommt alles an. Im Evangelio wird wider
das laute und öffentliche Gebet auf den Straßen geeifert. Das Gebet, 35
welches in eine Formel eingekleidet ist, lehrt uns, daß man keine wort-
reiche Gebete haben soll, und enthält nur das noth wendigste unsrer
Bedürfniße; es sollen die Gebete nur auf Gesinnungen gehn. Kein
Gebet soll ein bestimmendes Gebet seyn, als das, welches auf mora-
Moralphilosophic Collins 325
lisclie Gesinnungen geht. Hierum kann ich categorisch und unbedingt
bitten, um alles übrige aber bedingt.
Warum aber ist es nöthig, eine Bedingung zu proponiren, wodurch
ich doch gestehe, daß meine Bitte dumm und mir selbst nachtheilig
5 seyn könnte ? Die Vernunft sagt uns also : daß unsre Gebete gar nichts
bestimmendes enthalten sollen, sondern wir es überhaupt in Ansehung
unsrer Bedürfniße der Weisheit Gottes überlassen, und das Ertheilte
von ihr annehmen. / Weil aber die Menschen schwach sind, so giebtaos
das Evangelium Erlaubniß, in weltlichen Sachen bedingt zu bitten.
10 Bedingte Gebete sind als vorwitzige anzusehn, denn der Eigendünkel
ist verkehrt. Ich würde selbst erschrecken, wenn mir Gott besondre
Bitten gewähren sollte, denn ich könnte nicht wißen, ob ich mir nicht
selbst Unglück erbeten hätte. Bestimmte Gebete sind ungläubige
Gebete, denn ich bitte unter einer Bedingung, und glaube nicht, daß
15 etwas ganz gewiß erhöret werde, denn sonst würde ich nicht mit Be-
dingung beten. Gebete aber im Glauben sind gar nicht bestimmende,
und der gerne wünschet, daß es ihm so recht nach seinem Willen gehn
möchte, der hat kein Zutraun zu Gott. Der Geist des Gebets, der uns
zu guten Handlungen geschickt macht, ist das VoUkommne, / was wir 209
20 suchen ; der Buchstabe aber ist nur ein Mittel zum Geist zu gelangen.
Es müßen dahero die Gebete nicht als eine besondre Art Gott zu
dienen angesehn werden, sondern nur als Mittel die Gott ergebene
Gesinnungen zu erwecken. Wir dienen Gott nicht mit Worten, Cere-
monien und Grimassen, sondern, wenn wir die Gott ergebene Gesin-
25 nungen in unsern Handlungen äußern. Der also gebetet hat, hat noch
dadurch nichts gutes gethan, sondern er hat sich nur geübt Gutes in
seinen Handlungen zu äußern. Wir müßen alles von dem, was practisch
gut ist removiren und den reinsten Begrif aufsuchen. Das Resultat ist
also: daß das Gebet die Bonitaet eines IVIittels habe. Wenn nun die
30 Gebete die nur den Werth des Mittels haben, / für besondre Arten Gott 8io
zu dienen, für ein unmittelbahres Gut angesehn werden, so ist das ein
falscher Wahn der Religion. Ein Irrthum in der ReHgion ist eher als
ein Wahn in der Religion zu verzeihen ; denn die irrende Religion kann
gebeßert werden, aber der Wahn hat nicht nur nichts, sondern er
35 widersteht auch noch der Realitaet der Religion.
Das Gebet scheint eine Vermessenheit, und Mißtrauen auf Gott zu
erwecken, als traue man Gott nicht zu, daß er wüste was uns nüzlich
ist. Auf der andern Seite scheint das anhaltende unabläßige Bitten
eine Versuchung Gottes zu seyn, wodurch wir also Gott bewegen wol-
326 Vorlesungen über Moralphilosophie
len, unsere Wünsche zu befriedigen. Es fragt sich also : Ob ein solches
anhaltendes Gebet von Effect sey ? Ist das Gebet im Glauben ge-
schehen, und man hat den Geist und nicht den Buchstaben desselben,
so ist dieses Zutraun auf Gott ein Bewegungs-Grund der Ertheilung
der Bitte, die Bestimmung aber des Gegenstandes des Gebets ist kein 5
211 Bewegungs Grund. Der Gegenstand des Gebets muß / allgemein und
nicht bestimmt sein, wo sich die Weisheit Gottes am allerangemessen-
sten hervorthun kann. Allgemein aber ist, wenn wir um die Würdigkeit
aller Wohlthaten, die uns Gott zu geben bereit ist, bitten, und nur ein
solches Gebet ist erhörlich ; denn es ist moralisch und also der Weisheit 10
Gottes gemäß. Im Zeitlichen aber ist die bestimmte Bitte unnöthig,
denn alsdenn muß man stets hinzusetzen : wofern es Gott anständig ist ;
die Bedingung aber hebt schon die Bestimmung auf. Obgleich nun aber
bestimmte Bitten unnöthig sind, der Mensch aber ein hüHloses und
unvermögendes Geschöpf ist, welches mit Unwissenheit wegen des 15
künftigen Schicksals umgeben ist, so ist es ihm nicht zu verdenl^en,
wenn er bestimmt bittet, z. E. in Noth auf der See. Es ist eine Äuße-
rung der Bedürfniß eines hülflosen Geschöpfs in der größten Noth. /
8ia Diese Bitte ist in so fern erhört, indem das Zutraun ein Bewegungs-
grund seyn kann, daß ihm Gott entweder diese Bitte gewähren oder 20
auf eine andere Art heKen werden, ob er gleich nicht fest glauben
kann, daß ihm Gott gerade den Gegenstand ertheilen werde. Im
Glauben beten heißt: Das von Gott bitten, wovon man auf eine ver-
nünftige Weise hoffen kann, Gott werde ihm solches ertheilen. Dieses
aber sind nur geistliche Gegenstände. Bitte ich nun darum aus reiner 25
Gesinnung, so ist mein Gebet aus dem Glauben, und denn bin ich auch
der Ergänzung meiner moralischen Gebrechlichkeiten würdig; bitte
ich aber um zeitliches Gut, so kann ich vernünftiger Weise nicht
hoffen, Gott werde mir dasselbe gewähren und folglich kann ich darum
aisrncht im Glauben / beten. Der Geist ist von dem Buchstaben des 30
Gebets zu unterscheiden. Der Buchstabe ist in Ansehung unsrer nur
nöthig, in so ferne er in uns den Geist des Gebetes erwecket. Der Geist
aber ist die Gott devote Gesinnung. Beten ist also eine Handlung der
Andacht. Wenn die Uebung im Leben dahin gerichtet ist, damit das
Gebet in uns thätige Gesinnungen, die sich in Handlungen äußern 35
erwecke, denn ist das Gebet andächtig.
Der Autor redet von der Reiaigkeit der Religion. Rein ist dem ver-
mischten entgegengesetzt oder auch dem Befleckten. Reine Religion,
so ferne sie der vermischten entgegen gesetzt ist, bedeutet : Eine Reli-
Moralphilosophie Collins 327
gion der bloßen Gesinnungen, die auf Gott gerichtet sind, und Morali-
tät enthalten. Vermischte Religion ist, in so ferne sie mit Sinnlichkeit /
vermengt ist: die nur ein Mittel der Moralität ist. Nun können wir 214
sagen: Beym Menschen ist keine reine Religion möglich, denn der
5 Mensch ist sinnlich, doch sind die sinnlichen Mittel in der Religion
nicht zu tadeln. Allein die reine Idee der Religion muß uns ein Urbild
seyn, und zum Grunde dienen; denn dieses ist das Ziel, daher hier in
der Moral stark darauf gesehn wird.
Ferner redet der Autor vom Religionseifer. Eifer ist ein unwandel-
10 barer entschlossener Wille mit unveränderlicher Gesinnung den
Zweck zu erlangen. Solcher Eifer ist in allen Sachen gut; allein, wenn
er in der Religion affect bedeutet, welcher dahin gerichtet ist, alles in
der Religion zu befördern, denn ist er blind, und wo man nur irgend
die Augen / offen haben soll, so ist es in der Religion. Folglich muß inais
15 der Religion kein Eifer, sondern ein unwandelbarer Ernst seyn.
Fromme Einfalt, in so fern sie der gekünstelten entgegengesetzt ist,
bedeutet: Praecision im Gebrauch der Mittel, vermittelst der die
Handlung der Größe nach, gerade den Zwecken angemeßen ist. In der
Religion ist nur darauf zu sehn, was auf den Zweck abzielet. Theologie
20 bedarf Gelehrsamkeit, Religion aber Einfalt. Ein praktischer Atheist
lebt so, daß man glauben sollte, er behauptete : Es sey kein Gott. Man
nennt diejenigen, die so leben, praktische Atheisten, allein das ist
übertrieben. Der praktische Atheist ist der Gottlose, denn die Gott-
losigkeit ist eine Ai-t frecher Bosheit, die den Strafen die uns die
25 Vorstellung von Gott / einflößet, Trotz bietet. Vernünfteley, Andächte- 21«
ley und Aberglaube sind 3 Abweichungen von der Religion, wovon
schon oben etwas erwehnt worden ist. Andächteley ist, wenn der
Buchstabe der Religion für den Geist gehalten wird. Aberglaube
besteht in der Vorstellung, nach welcher wir das. was der Maxime der
30 Vernunft wesentlich entgegen ist, zum Grunde der Vernunft an-
nehmen. Religions-Aberglaube ist mehrentheils Religionswahn. Reh-
gionsschwärmerey ist ein Betrug des innern Sinnes, nach welchem man
in Gemeinschaft mit Gott und andern Geistern zu stehn glaubt.
De cultu externo.
35 So wie wir Gottesfurcht und Gottesdienst von einander unterschie-
den haben, so unterscheiden wir auch die religieuse Handlungen in /
Gottesfürchtige und Gottesdienstliche Handlungen. Der Anthropo- 21T
328 Vorlesungen über Moralphilosophie
niorphismus ist Ursache, daß man sich die Pflichten gegen Gott nach
der Analogie mit den Pflichten der Menschen vorstellt. Man glaubt
Gottesdienstliche Handlungen auszuüben, wenn man Gott seine
Unterwürfigkeit und Demuth durch Verehrung, Lobeserhebungen und
Erklärungen bekannt macht. Wir können zwar jedem Menschen, so 5
groß er immer seyn mag, einen Dienst erzeigen. Unter den Diensten
sind einige gezehlet, die bloß in Versicherungen der Bereitwilligkeit
dem andern zu beliebigen Diensten zu stehen. Dahin gehört : Das Cour-
machen, wo man nur seine Person als bereit zu gefälligen Diensten dar-
stellt. Ein Fürst ist ehrbegierig und also geschieht ihm dadurch ein lO
218 Dienst. Nun aber sind die Menschen geneigt, solche / Dienstleistungen
auf Gott anzuwenden und ihm Dienste zu erzeigen und Cour bey ihm
zu machen mit Unterwürfigkeit und Demuth, und durch solche Ehren-
bezeigungen glauben sie ihm schon einen Dienst erwiesen zu haben.
Daher ist der Einfall entstanden, daß die Gottheit, um die Menschen is
in Uebung zu erhalten. Befehle gegeben habe, die an sich leer sind,
wodurch die Menschen auf die Befehle zu merken geübt wurden, und
wodurch sie immer dienstbahr erhalten wurden. Daher haben einige
Religionen Fasten, Wallfahrten, Kasteyungen, wodurch sie beweisen,
daß sie die Befehle zu befolgen bereit sind. Dieses sind bloß Obser- 20
vanzen, die gar keine Bonitaet haben, und keinem etwas helfen. Alle
319 Religionen sind voll davon. / Man nennt den Inbegrif der Handlungen,
die keine andre Absicht haben, als die Dienstbeflißenheit, den Befehlen
Gottes ein Genüge zu leisten, den Gottesdienst. Der wahre Gottesdienst
besteht aber nicht in den äußern Observanzen, sondern in den Gott 25
geheiligten Gesinnungen, die im Leben durch Handlungen thätig sind.
Der Mensch ist gottesfürchtig, der für Gottes allerheiligstes Gesetz
Ehrfurcht hat und dessen Gottesfurcht alle seine Handlungen begleitet,
also sind die gottesdienstliche Handlungen keine besondere Hand-
lungen, sondern in allen Handlungen kann ich Gott dienen ; und das so
ist ein unaufhörlicher Gottesdienst, der durch das ganze Leben sich
erstrecket, aber nicht in besondern Handlungen besteht, die man nur
330 zu gewißer Zeit zu beobachten hat. / Die Gottesfurcht und der Gottes-
dienst sind keine besondre Handlungen, sondern die Form aller Hand-
lungen. Man hat aber in der Religion Handlungen, wodurch man 35
glaubt, unmittelbahr Gott damit zu dienen ; allein wir können keine
Handlungen thun, als deren Würkung sich auf diese Welt erstreckt.
Wir können auf Gott gar nicht würken, als nur allein ihm ergebne
Gesinnungen widmen. Demnach giebt es gar keine Gott religieuse
Moralphilosophie Collins 329
Handlungen, wodurch man Gott einen Dienst erzeigen könnte, und
alle Andachtsübungen haben gar nicht die Absicht, dadurch zu
gefallen und einen Dienst zu erzwingen, sondern nur in uns die Gesin-
nungen der Seele zu stärken, damit / Avir Gott in unserm Leben gefällig 221
5 werden durch Handlungen. Dazu gehört z. E. das Gebet und alle sinn-
lichen Mittel, die nur Vorbereitungen sind, unsre Gesinnungen prac-
tisch zu machen. Der wahre Gottesdienst besteht im Lebenswandel,
der durch wahre Gottesfurcht geläutert ist. Man gehet also nicht zum
Dienst Gottes, wenn man in die Kirche geht, sondern man geht nur zur
10 Uebung dahin, um hernach Gott im Leben dienen zu können. Kömmt
man man aus der Kirche, so muß man das ausüben, wozu man sich
darinnen geübt hat, und so erst im Leben Gott dienen. Zum Cultus
gehören 2 Stücke : Dasjenige, was dazu als eine moralische Uebung und
als bloße Observanz gehört, z. E. das Gebet, Vortrag und die Predigt
15 und auch einige körperliche Handlungen, die dazu dienen sollen, um
den / Glauben in uns zu erhöhen und unsern moralischen Handlungen 233
mehr Nachdruck zu geben. Je mehr der Cultus aber mit Observanzen
beladen ist, desto leerer ist er von moralischen Uebungen. Der Cultus
hat nur einen Werth als Mittel, und unmittelbahr ist Gott dadurch gar
20 nicht gedient, und er dient nur dazu, um das Gemüth des Menschen in
Gesinnungen zu üben und sich dem höchsten Willen im Leben gemäß
zu verhalten. Die Menschen sind geneigt, das, was den Werth des Mit-
tels hat, für die Sache selbst zu halten, und also die Observanzen für
wirkliche gottesdienstliche Handlungen anzusehn. Dieses ist das
25 größte Uebel, welches alle Religionen an sich haben, und nicht wegen
/ ihrer Beschaffenheit, sondern wegen der allen Menschen so eigenen 323
Neigung. Allein, in der That Gott zu dienen und Gott ergebene Gesin-
nungen anzunehmen, ist sehr schwer, denn durch diese müßen die
Menschen ihren Neigungen Zwang anthun, und sie beständig hegen.
30 Eine gewiße Anzahl von Gebeten aber, Fasten und Wallfahrten, sind
Sachen, die uns nicht unaufhörlich verpflichten, sondern nur eine Zeit
dauren, und dann ist man wieder frey, denn kann man thun was man
will, auch wohl wieder ein bisgen betrügen und dann wiederum das
vorige gut machen, Observanzen beobachten und mit Unterwerfung
35 eine Reue deklariren. / Es mögen die Menschen gern für die moralischen 334
Gesinnungen den Cultum ausüben, weil jene sehr lästig fallen und un-
aufhörlich beobachtet werden müßen, daher sie sich lieber ein System
vom Cultu machen. Daher ist es gekommen, daß die Menschen die
Religion für ein Pflaster des Gewißens hielten, wodurch sie das, was
330 Vorlesungen über Moralphilosophie
sie gegen Gott gesündigt, gut zu machen glaubten. Es ist also der
Cultus eine Erfindung der Menschen, da sie 2 Wege Gott zu gefallen
haben, durch Moralität und Cultu, so fallen sie auf das lezte um das
erste zu ersetzen; denn wenn Menschen in Ansehung der MoraUtät
nicht pünktlich sind, so sind sie in Ansehung des Cultus desto pünkt- 5
lieber. Es ist daher nöthig, daß Lehrer der Gemeine solches zu be-
335 nehmen und / auszurotten suchen. Es hat demnach der Cultus und
die Observanz gar keinen Werth in Ansehung Gottes, sondern nur in
Ansehung unserer, als ein Mittel die Gesinnungen zu stärken und zu
erwecken, die in Handlungen aus Liebe gegen Gott geäußert werden 10
sollen. Wenn weiß aber der Mensch daß er den Cultum nur als ein
Mittel braucht ? Wenn er in seinem Leben auf seine Handlungen
Acht hat, ob in ihnen moralische Gesinnungen und Gottesfm'cht anzu-
treffen sey.
Äußere Religion ist ein Widerspruch. Alle Religion ist innerlich. Es 15
können wohl äußerliche Handlungen seyn, die aber gar nicht die
%%6 Religion ausmachen, und durch die wir Gott / gar nicht dienen können,
sondern alle diese auf Gott gerichtete Handlungen sind nur Mittel,
die Gott ergebene Gesinnungen kräftig zu machen. Zum Cultu externo
gehören äußere Mittel, die die Seele zu guten Gesinnungen, die sich im 20
Leben und Handlungen zeigen sollen, beleben sollen. Es giebt also
wirklich äußere Mittel, die die innere Gesinnungen, Vorstellungen und
Erkenntniße verstärken und denenselben Leben und Nachdi'uck
schaffen, z. E. in einer ganzen Versammlung der Gemeine, Gott heilige
Gesinnungen einstimmig zu widmen. Wer Gott aber schon dadurch 25
einen Dienst gethan zu haben glaubt, der hat den abscheulichsten
Wahn. Ein Umstand des Mißverständnißes in diesem Stück hat in der
221 Religion einen großen Schaden gemacht. Weil die Menschen / in allen
Handlungen der Sittlichiieit große Gebrechlichkeit haben, und nicht
allein dasjenige sehr mangelhaft und befleckt ist, was sie als eine gute so
Handlung ausüben, sondern sie auch noch mit Bewußtseyn und Willen
das göttliche Gesetz übertreten, so können sie also gar nicht vor einem
heüigen und gerechten Richter, der das Laster nicht simpliciter ver-
geben kann, bestehn. Es fragt sich: Ob wir von der Gütigkeit Gottes
durch unser heftiges Bitten und Flehn Vergebung aller Laster hoffen 35
und erlangen können ? Nein, man kann sich ohne einen Widerspruch
keinen gütigen Richter vorstellen, ein Richter muß gerecht seyn, als
Regierer kann er wohl gütig sein ; denn könnte Gott alle Laster ver-
geben, so könnte er sie auch erlaubt machen, und kann er sie straflos
Moralphilosophie Collins 331
erklären, so beruht es auch auf seinem Willen, / sie erlaubt zu machen, 328
alsdenn aber wären die moralischen Gesetze etwas willkührliches ;
nun aber sind sie nicht willkührlich, sondern eben so noth wendig und
ewig wie Gott. Die Gerechtigkeit Gottes ist die praecise Beurtheilung
5 der Strafen und Belohnungen nach dem Wohl oder Wohlverhalten der
Menschen. Der göttliche Wille ist unwandelbahr. Demnach können
wir nicht hoffen, daß Gott unseres Bittens und Flehens wegen uns
alles vergeben werde, denn alsdenn kommt es nicht auf Wohlverhalten,
sondern auf Bitten und Flehn an. Wir können uns also keinen gütigen
10 Richter denken, ohne zu wünschen, daß er diesmal die Augen schheßen
möge, und sich durch Bitten und Schmeicheleien bewegen laße ; dieses
aber könnte alsdann nur einigen widerfahren und müste stül gehalten
werden; denn wenn es allgemein bekannt würde, so würde es jeder-
man so haben wollen, und dann würde mit dem Gesetz Gespött
15 getrieben werden. / Das Bitten kann also keine Erlassung der Strafe 3ä9
zu wege bringen, das heilige Gesetz bringt nothwendig mit sich, daß
die Strafen den Handlungen angemeßen sein sollen. Allein, soll denn
der Mensch keine Hülfe haben, da er doch in Ansehung der Sittlichlieit
gebrechlich ist ? Ja, er kann zwar von einem gütigen Regierer nicht die
20 Erlaßung der Strafen für seine Laster hoffen, denn alsdenn wäre der
göttliche Wille nicht heilig; er ist aber heilig in so fern er dem mora-
lischen Gesetz adaequat ist ; sondern er kann nicht allein in Ansehung
des physischen, wo schon selbst die Handlungen an sich gute Folgen
bringen, sondern auch in Ansehung des moralischen eine Gütigkeit
25 von dem gütigen Regierer hoffen, aber nicht von der Moralität und
von den Folgen der Uebertretung derselben dispensirt werden;
sondern die Gütigkeit Gottes besteht in den HüHsmitteln, wodurch
Gott die Mängel unserer natürlichen Gebrechlichkeit ergänzen kann,
und darin seine Gütigkeit beweisen. Wenn wir in Ansehung unsrer
30 alles thun, was wir können, so können wir / eine Ergänzung hoffen, 330
daß wir vor Gottes Gerechtigkeit bestehn, und den heiligen Gesetzen
adaequat seyn können. Wie Gott diese Ergänzung zu wege bringe und
was für Mittel er dazu brauche, wißen wir nicht, und es ist auch nicht
zu wißen nöthig; wir können es aber hoffen. Alsdenn also haben wir,
35 anstatt einer nachsichtlichen Gerechtigkeit, eine Ergänzung der
Gerechtigkeit. Weil die Menschen aber geglaubt haben, daß sie alle-
mahl, so weit sie es auch im guten bringen, dennoch in ilnren Augen
viel mehr als in den Augen Gottes mangelhaft wären, so glaubten sie
Gott müße alles in ihnen thun, oder ihnen alle Schulden erlaßen, daher
332 Vorlesungen über Moralphilosophie
haben sie sich äußerer Mittel bedienet, solches von Gott zu erflehn,
und seine Gunst zu erlangen, und ergaben sich also dem Bitten. Ihre
Religion war also eine Religion der Gunstbewerbung. Demnach giebt es
eine Religion der Gunstbewerbung und des guten Lebenswandels, wel-
che darin besteht, daß man das heilige Gesetz aus reiner Gesinnung 5
231 pünktlich zu beobachten sucht, und hofft, / daß seiner Gebrechlichkeit
eine Ergänzung verstattet werde. Ein solcher nun hat nicht eine Reli-
gion der Gunstbewerbung, sondern des guten Lebenswandels. Die Reli-
gion der Gunstbewerbung ist schädlich, und dem Begriff von Gott ganz
zuwider, und ist ein System der Religions-Schminke und Verstellung, lo
wo man unter dem Schein der Religion und des äußern Gottesdienstes,
wodurch man alles vorige gut zu machen denkt, hernach wieder aufs
neue drauflos sündigt, in Hof fnung , solches durch dergleichen äußere
Mittel wieder gut zu machen. Was helfen z. E. einem Kaufmann alle
seine Morgen- und Abend-Andachten, wenn er gleich nach der Früh- 15
mette den einfältigen Käufer durch den Handel mit seiner Waare
hintergeht ? und noch dazu Gott dafür durch ein Paar Stooßgebete im
Vorübergehen an einer Kirchenthüre dankt, das heißt recht: Gott
durch Jesuitische Ränke zu hintergehn suchen. Hierin kommt die
Vernunft mit dem Evangelio völlig überein, welches das Beyspiel der 20
Brüder, wovon der eine ein Gunstbewerber, Complementarius war, und
«32 sogleich den / Willen seines Vaters zu befolgen versprach, es aber nicht
that, der andre Schwürigkeiten machte, aber doch seine Pflichten
gegen seinen Vater beobachtete, beweiset. Solche Religion ist schäd-
licher als alle Irreligionen, denn dafür ist kein Mittel mehr. Einen Gott- 25
losen kann man oft durch ein Wort auf den rechten Weg bringen, aber
nicht den Heuchler. Alle diese Beobachtung dienet dazu, daß man
einsehe : daß das Äußere der Religion, der Cultus, nur einen Werth des
Mittels in Ansehung unsrer habe, unmittelbahr aber in Ansehung
Gottes gar nicht gelte, und daß man nicht glaube, daß unsre sittlichen so
Un Vollkommenheiten durch den Cultum externum ergänzt werden,
sondern daß sie durch Gott bekannte Mittel dem heiligen Gesez ad-
aequat gemacht werden.
Von Beyspiel und Muster in der Religion.
Ein Beyspiel ist, wenn ein allgemeiner Satz der Vernunft im gegeb- 35
nen Fall in concreto statt findet. Wir müßen von den Sätzen a priori
233 bewiesen haben, daß sie auch in concreto statt finden, und nicht / nur
Moralphilosophie Coli ins 333
in dem Verstände residiren ; denn sonst werden sie unter die fictiones
gerechnet, z. E. ein durch die Vernunft erdachter Regierungsplan muß
durch ein Beispiel auch als in concreto möglich erwiesen werden. Nun
fragt es sich : Ob auch in der Moral und Religion Beyspiele zugelaßen
5 werden sollen ? Was apodictisch a priori ist, bedarf keines Beyspiels,
denn da sehe ich die Nothwendigkeit a priori ein. Z. E. Mathematische
Sätze bedürfen keiner Beyspiele; denn das Beyspiel dient nicht zum
Beweise, sondern zur Illustration. Dahingegen können wir von Be-
griffen, die aus der Erfahrung genommen sind, nicht eher wißen, ob sie
10 möglich sind, bis ein Beyspiel im gegebnen Fall in concreto da ist.
Alle Erkenntniße des »Sittlichen und der Religion lassen sich apodic-
tisch durch die Vernunft a priori darthun. Die Nothwendigkeit, sich so
und nicht anders zu verhalten, sehn wir a priori ein; doch sind keine
Beyspiele in Sachen der Religion und Moral nötliig. Es giebt also / kein 234
15 Muster in der Religion, weil der Grund, das principium des Verhaltens,
in der Vernunft liegen muß, und nicht a posteriori abgeleitet werden
kann, und wenn mir auch die Erfahrung kein einziges Beyspiel der
Ehrlichkeit, der Rechtschaffenheit und der Tugend giebt, so sagt mir
doch die Vernunft ich soll so seyn. Ja, die Beyspiele selbst müßen in
20 der Religion aus allgemeinen principiis beurtheilt werden, ob sie gut
sind oder nicht. Die Beyspiele müßen also nach sittlichen Regeln
beurtheilt werden, aber nicht die Sittliclilceit und Religion aus den
Bey spielen. Das Urbild Hegt in dem Verstände.
Wenn uns also heilige Leute als Muster in der Religion vorgestellt
25 werden, so muß ich sie doch nicht, sie mögen gleich noch so heilig seyn,
nachahmen, sondern sie nach allgemeinen Regeln der Sittlichlceit be-
urtheilen. Es giebt zwar Beyspiele der Rechtschaffenheit und der
Tugend, ja auch der Heiligkeit, so wie uns das Evangelium ein solches
darbeut, allein ich lege / dieses Beyspiel der Heiligkeit nicht zum 335
30 Grunde, sondern beurtheile es nach dem heiligen Gesetz. Stimmt es
mit demselben überein, so sehe ich erst ein, daß es ein Beyspiel der
Heiligkeit ist. Die Beyspiele dienen uns zur Aufmunterung und zur
Nachfolge; als Muster aber müßen sie nicht gebraucht werden. Sehe
ich etwas in concreto, so erkenne ichs desto deutlicher. Die Ursache,
35 warum Menschen in Religions-Sachen gern nachahmen mögen, ist :
Sie bilden sich ein, wenn sie sich so verhalten, wie die größte Anzahl
unter ihnen, so wollen sie Gott dadurch nöthigen, indem er sie doch
nicht alle bestrafen kann, denn wenn er allen vergiebt, er doch auch
ihnen vergiebt. Ferner so mögen die Menschen doch gerne das
334 Vorlesungen über Moralpliilosophie
beibehalten, was ihre Vorfahren glaubten; denn alsdenn glauben sie,
sie sind, wenn es etwa falsch ist, außer der Schuld, sondern ihre Vor-
836 fahren die sie dazu anhielten, und kann der Mensch / nur die Schuld
auf andre schieben, so ist er ruhig, man glaubt sich dadurch vor der
Verantwortung zu schützen. Doch wird derjenige, der die Religion 5
seiner Eltern und Vorfahren verändert, und eine andre annimmt, für
einen Waghals gehalten, der etwas sehr gefährliches unternimmt, weil
er alle Schuld alsdenn auf sich nimmt. Wenn wir das Allgemeine der
Religion annehmen, was bey jeder Religion statt haben muß, nähm-
lich durch innere Gesinnungen Gott zu gefallen, und sein heiliges 10
Gesetz auszuüben, und von seiner Gütigkeit eine Ergänzung unsrer
Gebrechliclil^eiten zu hoffen, so mag ein jeder immer der Religion der
Väter folgen, es schadet ihm nichts, wenn er nur nicht glaubt, durch
den Cultum seiner Religion eher Gott zu gefallen als durch den Cultum
einer andern. Die Observanzen mögen seyn wie sie wollen, wenn sie 15
nur als Mittel, wodurch Gott ergebne Gesinnungen erweckt werden
sollen, angesehn werden; werden sie aber für einen unmittelbaren
Dienst Gottes gehalten, so ist dieses ein großer Schade einer Religion
und denn ist eine Religion so schädlich als die andre.
23» / Vom Anstoß. 20
Ein Beyspiel ist nicht, zur Nachahmung wohl aber zur Nachfolge.
Der Grund der Handlung muß nicht aus dem Beyspiel, sondern aus der
Regel abgeleitet werden ; wenn aber andre gezeigt haben, daß solches
möglich sey, so müßen wir ihrem Beyspiel nachfolgen, und uns auch
bemühen, solche sittlichen Handlungen auszuüben, und nicht andre 25
uns darin übertreffen zu lassen. Es mögen die Menschen überhaupt
gerne Beyspiele haben, und ist kein Beyspiel, so mögen sie sich gern
damit entschuldigen, daß jeder so lebe. Sind aber Beyspiele da, auf die
man sich berufen kann, so ermuntert solches zur Nachfolge. Ein
schlimmes Beyspiel aber ist ein Anstoß und giebt zu 2 Uebeln Gelegen- so
heit: zur Nachahmung als ein Muster, und zur Entschuldigung. So
geben Männer im vornehmen oder im geistlichen Stande Gelegenheit
durch ihr Beyspiel zur Nachahmung, obgleich man in der Religion
238 gar nicht nachahmen soll, allein es / geschieht doch. Wenn aber ein
Beyspiel zur Entschuldigung Anlaß giebt, so ist es auch ein Scanda- 35
lum. Kein Mensch will gerne allein böse sein, so wie er auch nicht gerne
allein eine Pflicht thun will, sondern er beruft sich immer auf andre.
Moralphilosophie Collins 335
Und je mehr Bcyspiele von der Art sind, desto mehr sieht man es
gerne, um sich auf mehrere berufen zu können.
Alle Scandala sind entweder data oder accepta. Das erstere ist, was
nothwendiger Weise ein nothwendiger Grund von bösen Folgen für
5 die Sittlichkeit andrer ist. Das leztere ist, was nur ein zufälliger Grund
ist. Obgleich nicht das mir zugerechnet werden kann, wenn ein andrer
von meinen Handlungen einen Mißbrauch macht, welches denn zwar
in Ansehung seiner Sittliclikeit üble Folgen haben kann, aber nicht in
Ansehung meiner Sittlichkeit; denn ich kann solches anders angesehen
10 haben, so daß es mit meiner Sittlichkeit wohl übereinstimmt, und
obgleich ich nicht dafür kann, daß ein andrer von meinen Handlungen
einen verkehrten Gebrauch macht, so muß man sich doch zwingen,
keine Gelegenheit / zu geben. Allein wenn ich die Gelegenheit zu 83»
solchem Scandalo accepto vermeiden muß, dadurch, daß ich in meinen
15 Handlungen affectiren und selbst wider mein Gewißen handeln muß,
so brauche ich es nicht zu vermeiden, wenn mir kein andrer Weg übrig
bleibt, denn es müßen alle meine Handlungen rechtschaffen und nicht
affeetirt sein, und bin ich in meinem Gewißen vom Gegentheil der
Sache überzeugt, so müßte ich dadurch, daß ich dem andren keinen
20 Anstoß geben wollte, wider mein eigen Gewißen handeln; z. E. bin ich
in meinem Gewißen überzeugt, daß das Niederfallen vor Bildern eine
Abgötterey sey, und ich bin an einem Orte, wo das geschieht, so würde
ich, wenn ich es um andern keinen Anstoß zu geben thäte, wider mein
Gewißen handeln, denn dieses muß mir heilig seyn. Es kann mir zwar
25 leid thun, daß sich Jemand daran stoßt, allein meine Schuld ist es
nicht.
Zur Religion gehören 2 Stücke: Gott ehren und Gott lieben. Ich
kann Jemand auf 2faclie Weise ehren, practisch, wenn ich das thue, was
sein WiUe ist, und schmeichlerisch durch äußere Merkmale der Hoch-
30 achtung. Gott kann ich nicht schmeichlerisch durch Versicherungen
der Hochachtung ehren, sondern praktisch durch Handlungen. /
Wenn ich also das heilige Gesetz aus erkannter Schuldigkeit und 240
Hochachtung gegen Gott, als den Gesetzgeber, ausübe, und bereit-
willig seine Gebothe, die ehrenwerth sind, erfülle, so ehre ich Gott.
35 Gott practisch lieben, heißt: seine Gebothe weil sie liebenswürdig
sind, gern thun. Ich liebe Gott, wenn ich sein Gesetz liebe, und es aus
Liebe erfülle. Die falsche Deutung der Ehre Gottes hat der Aber-
glaube hervorgebracht, und die falsche Liebe Gottes die Schwärmerey.
336 Vorlesungen über Moralphilosopliie
Was heißt Gott loben ? die Größe Gottes sich als einen Bewegungs-
grund unsers Willens dem göttlichen Willen gemäß zu leben, lebendig
vorstellen. Die Bemühung, die Vollkommenheit Gottes einzusehn,
gehört nothwendig zur Religion, die unserm Willen Kraft und Nach-
druck geben soll, dem heiligen Willen Gottes gemäß zu leben. Auf der 5
andern Seite aber ist die Frage : Was das Lob Gottes dazu beitrage ?
Das Lob Gottes in Worten und Lobgesängen eingekleidet, welches
Mittel unserer Begriffe sind, dient nur dazu, um die praktische Ehr-
furcht gegen Gott in uns zu vergrößern, also hat es in Ansehung /
341 unserer einen subjectiven nicht objectiven Nutzen, denn durch das lo
Loben geschieht Gott unmittelbahr kein Gefallen. Wir loben Gott nur
alsdenn, wenn wir seine Vollkommenheiten und die Verherrlichung
derselben als einen Bewegungsgrund gebrauchen, in uns praktische
gute Gesinnungen zu erwecken. Wir können bey Gott keine Neigungen
von uns gelobt zu werden, statt finden lassen. Unsere Erkenntniß von i5
Gott ist auch der Größe desselben sehr unangemeßen, und diejenige
Begriffe, wodurch wir Gott zu loben glauben, sind sehr irrig, also sind
die Lobeserhebungen gar nicht den Vollkommenheiten Gottes gleich-
förmig. Der Nutzen ist also nur subjectiv, und der indirecte dadurch
objectiv. Es wäre besser, wenn man dem Menschen angewöhnte, wie 20
er wahre Ehrfurcht gegen Gott in seiner Seele empfinden sollte, als daß
man ihn einige Lobeserhebungen in Worten und Formeln ausdrücken
läßt, welches er doch nicht empfindet. Wie kann man aber einen
Begriff, der solche Ehrfurcht in der Seele zu wege bringt, von Gott
843 erhalten ? Das geschieht nicht durch / Ausdrücke und nachgesagte 25
Formeln von Lobes-Erhebungen der göttlichen Vollkommenheiten,
und die die Formeln der Erhebung der Güte und Allmacht Gottes für
ein Lob Gottes ansehn, irren sich sehr. Damit wir aber die Größe
Gottes in uns empfinden, so müßen wir sie anschauen können, doch
wäre es sehr gut, wenn in der Religion die Gemeinde nicht durch allge- 30
meine Begriffe von der Hochpreisung der Allmacht Gottes unterrichtet
würde, sondern daß sie die Stärke Gottes zu erkennen angeführt
würde, deßen alle Menschen fähig sind, z. E. den unendlichen Weltbau,
in welchem viele Weltkörper da sind, die mit vernünftigen Geschöpfen
angefüllt sind. Solche Vorstellung und Anschauung der Größe Gottes 35
würket weit mehr in unserer Seele, als alle Lobgesänge. Die Menschen
glauben aber, daß solche Lobsprüche Gott unmittelbahr gefallen. Die
343 Observanzen aber sind kein Theil der Religion, sondern nur / Mittel
derselben. Die wahre Religion ist die Religion der Gottesfurcht und
Moralphilosophie CoUins 337
des Lebenswandels. Wenn bey einem Menschen in seinen Handlungen
nichts zu besehn ist, so hat der Mensch keine Rehgion, er mag reden
was er will.
Die Zeichen der Religion sind 2fach: wesentliche und zweydeutige.
5 Zu den ersten gehört z. E. Gewdßenhaftigkeit des Lebenswandels.
Zu den letztern aber z. E. die Beobachtung des Cultus. Weil aber der
Cultus ein zweydeutiges Zeichen ist, so darf er deswegen doch nicht
verworfen werden; er ist ein Zeichen, daß Menschen sich bemühen
durch den Cultus Gott ergebene Gesinnungen in sich zu erwecken.
10 In der Beurtheilung beyder aber ist der Cultus ein zweydeutiges
Zeichen. Andre aber können das an ihm nicht sehen. Der Mensch kann
in sich selbst fühlen, daß er den Ciiltum beobachtet, um Gott ergebene
Gesinnungen in sich dadurch zu erwecken, andren aber kann er es nur
im Leben durch Handlungen beweisen.
15 /Von der Schaam in Ansehung der Andacht. »44
Der Frömmigkeit und Gottesfurcht scheint sich kein Mensch zu
schämen, es sey denn, wenn man in solcher Gesellschaft ist, die ganz
boshaft ist, und allem Trotz bietet, und denn schämt man sich ein
Gewißen zu haben, so wie man sich unter Spitzbuben ein ehrlicher
20 Mann zu seyn schämet, unter gesitteten Menschen aber wird keiner
sich der wahren Gottesfurcht schämen. Allein der Andacht schämen
sich die Menschen. Wir fülu-en dieses nur zur Betrachtung und nicht
als zur Rehgion gehörig an. Je rechtschaffener der Mensch ist, desto
eher schämt er sich, wenn er bey einer Andachts Handlung ertappt
25 wird. Ein Heuchler wkd sich nicht schämen, sondern er will sich viel-
mehr sehn lassen. Wenn das Evangelium saget: Wenn du betest,
so gehe in dein Kämmerlein, so ist dieses nur, um den Schein eines
Heuchlers zu vermeiden, denn der Mensch schämt sich, wenn ein
andrer etwas arges von ihm denket, wenn er es nicht begangen hat,
30 z. E. es wird etwas in einer Gesellschaft vermißet und darnach / ge- 345
fraget, und man sieht ihn an, so wird er roth. Die erste Ursache der
Schaam also ist, nicht für einen Heuchler gehalten zu werden, die 2te
aber: wir erkennen Gott nicht durch Anschauen, sondern durch Glau-
ben. AVir können also von Gott als von einem Gegenstande des Glau-
35 bens also sprechen : Wenn es Gott nach seiner Güte in der Erziehung
der Kinder dahin lenken wollte, daß sie etc., so wird man sich solches
W^unsches gar nicht schämen, und so können wir auch in Gesellschaft
22 Kanfs Schriften XXVII/1
338 Vorlesungen über Moralphilosophie
davon reden; gesezt aber, es würde jemand in der Gesellschaft die
Hände aufheben und beten, ob er gleich nichts sagte, so würde es doch
sehr frappiren. Woher kommt dieses ? Es wird der Gegenstand des
Glaubens zum Gegenstand der Anschauung gemacht. Zwar ist der
Glaube eben so stark als die Anschauung ; aber Gott ist doch nun ein- 5
mal kein Gegenstand der Anschauung, sondern des Glaubens, und
246 folglich muß ich ihn als einen solchen anreden. Allein, warum / betet
man denn ? Wenn ich allein bete, so kann ich eine Anschauung nach-
ahmen und meine Seele zusammenfaßen. In der Kirche aber hat das
Gebet etwas pathetisches an sich, indem der Gegenstand des Glaubens 10
zum Gegenstand der Anschauung gemacht wird. Es kann aber auch
ein Prediger zu Gott als einem Gegenstande des Glaubens beten, allein
das Pathema läßt sich in solcher Gemeine gut erregen, in andrer Ge-
sellschaft aber wäre es sehr phantastisch.
Vom Bekenntniß der Religion und in wie fern etwas ein 15
Status confeßionis sey, und die Bedingungen, unter
denen derselbe statt finde.
Es läßt sich dieses in Beyspielen am besten einsehn. In fremden
Ländern, wo eine abergläubische Religion ist, hat mans nicht nöthig
seine Religion zu deklariren. Wenn ich glaube : die Ceremonien und 20
das Hinfallen vor den Heiligen sind eine Hinderniß der Religion, und
ereignet sich ein Fall, daß da, wo ich bin, alle vor einem Heilgen hin-
241 fallen, / so schadet es mir nicht, und ich brauch auch meine Religion
nicht zu deklariren, denn Gott siehet das gebeugte Hertz und nicht
den gebeugten Körper an. Allein, wenn ich durch Lebensgefahr 25
gezwungen werde, die Rehgion oder die Gebräuche mit zu machen, so
wie Niebuhr von den Reisenden erzählt, die nach Mecca die Gebräuche
des Mahomeds zu sehn gehn, daß sie entweder ihr Leben verlieren,
oder sich beschneiden laßen müßen, welches auch mit einem Fran-
zosen geschehn war, so ist dieses auch kein status confeßionis, ich so
kann mich immer beschneiden laßen, es schadet nichts, vornehmlich
wenn ich dadurch mein Leben retten kann. Allein, wenn Jemand
gezwungen wird, seine Gesinnungen zu deklariren, und das, was er für
falsch hält, durch Verschwörung und Betheurung anzunehmen, und
das zu verwerfen, was er hoch zu schätzen verbunden ist ; so ist das ein 35
248 Status confeßionis, und denn kann ich sagen : Eure Gebräuche / will
ich immerhin annehmen, allein sogleich neue Gesinnungen zu faßen,
Moralphilosophie Collins 339
das geht nicht an, demnach muß ich in Ansehung der Gesinnungen
nichts declariren. Wenn ich glaube: die Ceremonien und das Hinfallen
vor dem Heiligen sind eine Hinderniß der Religion, und es ereignet
sich ein Fall, daß da, wo ich bin alle vor ■(bricht ab}
5 Der seine Religion verleugnet ist ein Renegat oder auch Apostat.
Man kann ein Apostat seyn ohne ein Renegat zu seyn, das heißt, man
kann aus freyen Stücken von einer Religion abtrünnig werden, z. E.
wie Spinoza von der jüdischen, aber deswegen hat man noch nicht
renegirt. Der göttliche Name kann zur Heucheley und Ruchlosigkeit
ingemißbraucht werden. Man muß nicht Menschen sogleich für ruchlos
halten, z.B. wenn sie fluchen, oft sind es die sanftesten Menschen,
es ist dieses nur eine Sache der Gewohnheit bey ihnen. Als z. B. bey
einem commandirenden Officier : diese thun / es bloß, um ihren Wor- 24»
ten einen Nachdruck zu geben, obgleich sie wolil wißen, daß sie das
15 heiige Donner- Wetter so nicht regieren können, daß es in die Soldaten
einschlagen sollte.
Hiemit ist der Theil der natürlichen Religion geendiget, und jezt
kommen wir zu der eigentlichen Moralität.
22»
340 Vorlesungen über Moralphilosophie
850 / Von der Moralität und zwar
1) Von den Pflichten gegen sich selbst.
Nachdem wir nun bisher alles abgehandelt haben was zur natür-
lichen Rehgion gehört, so gehn wir jezt zu der eigentUchen Moralität,
und zu den natürlichen Pflichten gegen alles, was in der Welt ist. 5
Das erste Object aber sind die Pflichten gegen uns selbst. Diese
werden nicht juridisch betrachtet, denn das Recht betrifft nur
das Verhältniß gegen andre Menschen. Recht kann nicht gegen mich
selbst beobachtet werden, denn was ich gegen mich selbst thue, das
thue ich mit meiner Einwilligung, und ich handle nicht wider die lo
öffentliche Gerechtigkeit, wenn ich wider mich selbst handle. Wir
werden hier von dem Gebrauch der Freyheit in Ansehung seiner selbst
251 reden. Als eine Einleitung ist zu merken, daß/kein Stück in der
Moral mangelhafter abgehandelt worden als dieses von den Pflichten
gegen sich selbst. Es hat sich keiner einen rechten Begriff von der i5
Pflicht gegen sich selbst gemacht, man hielt sie für eine Kleinigkeit,
und erwog sie nur als ein Supplement in der Moralität ziiletzt und
glaubte, wenn der Mensch alle Pflichten erfüllt habe, so könne er
zulezt auch an sich denken. In diesem Stück also sind alle philo-
sophischen Moralen falsch. Geliert aber verdient hier kaum genannt zu 20
werden, denn er kommt nicht einmal auf den Einfall von den Pflichten
gegen sich selbst zu reden. Er redet bloß von Gütigkeit und Wohl-
verhalten, als dem dichterischen Steckenpferd, zulezt aber, um sich
auch nicht ganz zu vergeßen, denkt er an sich, sowie ein Gastwirth,
85» der schon alle Gäste gespeiset, auch/zulezt an sich denkt. Hieher 25
gehört auch Hutcheson, der zwar sonst mit mehrerem philosophischen
Geiste gedacht hat. Es rülirt alles daher, weil man keinen reinen
Begriff hatte, worauf eine Pflicht gegen sich selbst beruhe. Man
glaubte: die Pflicht gegen sich selbst bestehe darin, daß man seine
eigene Glückseeligkeit befördere, so wie auch WoK sie definirte ; nun so
kommt es darauf an, wie jeder seine Glückseeligkeit bestimmt, denn
würde die Pflicht gegen sich selbst in einer allgemeinen Regel alle
seine Neigungen zu befriedigen und seine Glückseeligkeit zu befördern,
bestehn. Es würde aber dieses nachher ein großes Hinderniß der
Moralphilosophie Collins 341
Pflicht gegen andre seyn. Dieses aber ist auf keine Art das principium
der Pflichten gegen uns selbst, und sie gehn gar nicht auf Wohl-
befinden und auf/unsere zeitliche Glückseeligkeit. 25$
Weit gefehlt, daß diese Pflichten die niedrigsten sind, sie haben viel-
5 mehr den ersten Rang, und sind unter allen die wichtigsten, denn ohne
noch erst zu erklären, was die Pflicht gegen sich selbst sey ? so kann
man sagen: Wenn ein Mensch seine eigne Person entehrt, was kann
man von dem noch fordern ? Wer die Pflichten gegen sich selbst über-
tritt, wirft die Menschheit weg, und ist nicht mehr im Stande Pflichten
10 gegen andre auszuüben. So kann ein Mensch, der die Pflichten gegen
andre schlecht ausgeübt hat, der nicht großmüthig, gütig, mitleidig
gewesen, der aber die Pflicht gegen sich selbst beobachtet hat, und so
gelebt hat, wie es sich geziemet, doch an sich einen gewißen innern
Werth haben.
15 Der aber die Pflichten gegen sich selbst übertreten hat, hat / keinen 254
innern Werth. Die Verletzung der Pflichten gegen sich selbst also
nimmt dem Menschen seinen ganzen Werth, und die Verletzung der
Pflichten gegen andre nimmt demselben nur einen respectiven Werth
Folglich sind sie die erstem die Bedingung, unter welcher die andern
20 beobachtet werden können. Wir wollen zuerst die Verlezzung der
Pflichten gegen sich selbst in einigen Beispielen zeigen, z. E. ein
Säufer thut keinem Menschen Schaden, und ist seine Natur stark, so
schadet er sich auch selbst nicht. Er ist aber ein Gegenstand der
Verachtung. So ist mir eine kriechende Unterwürfigkeit nicht gleich-
25 gültig, ein solcher entehrt seine Person, denn man muß nicht kriechend
seyn, man vergiebt dadurch seine Menschheit. Oder wenn sich jemand
um des Gewinstes wegen, wie ein Ball von einem andern zu allem
gebrauchen läßt, der verwirft den Werth / des Menschen. Die Lüge 255
ist mehr eine Verletzung der Pflicht gegen sich selbst als gegen andere,
30 und wenn gleich ein Lügner keinem Menschen dadurch schadet, so ist
er doch ein Gegenstand der Verachtung, er ist niederträchtig, er über-
tritt die Pflichten gegen sich selbst. Ja, gehn wir noch weiter, so ist
es auch schon der Pflicht gegen sich selbst zuwider, wenn man Wohl-
thaten annimt; denn wer Wohlthaten annimmt, macht Schulden, die
35 er nicht bezahlen kann, er kann seinem Wohlthäter nie zuvor kom-
men, weil dieser ihm dieselben zuerst aus freyen Stücken ertheilte;
erzeigt er ihm auch gleich wieder Wohlthaten, so thut er es nur in so
fern, weil jener ihm darin zuvor gegangen ist, und so bleibt er ihm
ewig Dank schuldig ; wer wird sich aber verschulden ? Wer schuldig ist.
342 Vorlesungen über Moralphilosophie
ist jederzeit unter dem Zwange, er muß dem, dem er verbunden ist,
höflich und schmeichelhaft begegnen, thut er es nicht, so läßt der
Wohlthäter es ihn bald empfinden, oft muß er demselben durch viele /
256 Umschweife aus dem Wege gehn und sich sehr zwingen. Allein, wer
alles gleich bezahlt, kann frey handeln und niemand wird ihn daran 5
hindern. So ist auch der Zaghafte, der über sein Schicksal klagt, seufzt
und weint, in unsern Augen ein Gegenstand der Geringschätzung, wir
suchen uns von ihm zu entfernen, anstatt daß wir Mitleiden mit ihm
haben sollten. Allein der Mensch, der in seinem Unglück einen stand-
haften Muth zeigt, der zwar den Schmerz darüber empfindet, aber lo
doch nicht Imechend Idagt, sondern sich darinnen zu finden weiß, der
erregt unser Mitleiden. Ferner, der seine eigne Freiheit wegwirft und
sie für Geld verkauft, handelt wider die Menschheit. Das ganze Leben
ist nicht so hoch zu schätzen, als daß man sein ganzes Leben hindurch
als ein Mensch lebe, das heißt nicht im Wohlleben, sondern so daß i5
man die Menschheit nicht entehrt ; er muß als ein Mensch würdig leben,
und alles was ihn darum bringet, macht ihn zu allem unfähig, und hebt
ihn als einen Menschen auf. Ferner, wer seinen Körper dem Muthwillen
25r anderer um etwas zu gewinnen / Preis giebt, und auch die, die das Geld
geben, handeln gleich niederträchtig. So kann sich auch eine Person 20
nicht zur Befriedigung anderer preisgeben, und könnte sie auch gleich
dadurch ihre Eltern und Freunde vom Tode erretten, sonst wirft sie
ihre Person weg. Noch weniger kann solches vor Geld geschehn. Thut
es eine Person, um ihre eigne Neigung zu befriedigen, so ist es doch
noch natürlich, obgleich es sehr untugendhaft ist und wider die Mora- 25
lität läuft ; geschieht es aber um Geld oder aus einer andern Absicht,
so wirft sie den Werth der Menschheit weg, indem sie sieh als ein
Werkzeug gebrauchen läßt. So sind auch die Laster Avider sich selbst,
die man Crimina corporis nennt, die auch daher unehrbahr beschaffen
sind. Es wird kein Mensch dadurch verletzt, allein, es ist die Ent- 30
ehrung der Würde der Menschheit in seiner eignen Person. Der Selbst-
mord ist die höchste Verletzung der Pflichten gegen sich selbst. Worin
besteht denn nun die Abscheulichkeit dieser Handlung ? Von allen /
258 solchen Pflichten muß man nicht den Grund in dem Verbote Gottes
suchen, denn der Selbstmord ist nicht abscheulich, weil ihn Gott ver- 35
bothen hat, sondern Gott hat ihn vielmehr verbothen, weil er abscheu-
lich ist. Wäre das erste, so wäre der Selbstmord nur im Verboth
Gottes abscheulich, und denn wüste ich nicht, warum ihn Gott ver-
bothen hätte, wenn er an sich nicht abscheulich wäre. Der Grund also.
Moralphilosophie Collins 343
den Selbstmord und andre Verletzungen der Pflichten für abscheulich
anzusehn, muß nicht aus dem göttlichen Willen, sondern ausder innern
Abscheulichlceit hergeleitet werden. Diese Abscheulichlceit besteht
nun darin, daß der Mensch seine Freyheit sich selbst zu destruiren
5 braucht, da er sie nur blos dazu brauchen sollte, daß er als Mensch
lebe; er kann über alles was zu seiner Person gehöret disponiren,
nicht aber über seine Person selbst, auch nicht die Freiheit wider sich
selbst brauchen. Es ist in diesem Fall sehr schwer, die Pflichten gegen
sich selbst einzusehn, / denn der Mensch hat zwar einen natüi'lichen 259
10 Abscheu wider den Selbstmord, allein wenn er anfängt zu klügeln,
so kann er glauben, es sey möglich, Hände an sich zu legen, und aus der
Welt zu gehn, und sich dadurch allem Unglück zu entziehn. Es hat
dieses großen Schein, und nach den Regeln der Freiheit ist es oft das
sicherste und das beste Mittel, allein der Selbstmord ist an sich ab-
15 scheulich. Hier ist die Regel der Sittlichkeit, die über alle Regeln der
Klugheit und Reflexion gehet, die apodictisch und categorisch die
Pflichten gegen sich selbst zu beobachten befiehlt; denn der Mensch
bedient sich hier seiner Kräfte und Freiheit wider sich selbst, er macht
sich selbst zum Aas. Es kann zwar der Mensch über seinen Zustand
20 disponiren, allein nicht über seine Person, denn er selbst ist ein Zweck
und kein Mittel. Es ist ganz widersinnig, daß ein vernünftiges Wesen,
welches ein Zweck ist, warum alle / Mittel sind, sich als ein Mittel 3«o
gebrauche. Es kann zwar eine Person zum Mittel bey andern dienen,
z. E. durch seine Arbeit, aber so, daß er als Person und Zweck nicht
25 aufhört. Wer etwas thut, wodurch er kein Zweck seyn kann, braucht
sich als ein Mittel, und macht seine Person zur Sache. Ueber seine
Person als Mittel zu disponiren, steht ihm nicht frey, wovon in der
Folge ein mehreres vorkommen wird. Die Pflichten gegen uns selbst
beruhen nicht auf der Beziehung der Handlungen zu den Zwecken der
30 Glückseeligkeit, denn sonst würden sie auf den Neigungen beruhen
und eine Klugheits-Regel se^ni. Solche Regeln aber sind nicht mora-
lisch, die nur die Nothwendigkeit der Mittel in Befriedigung der Ney-
gungen zeigen, und denn könnten sie auch nicht verpflichten. Die
Pflichten gegen sich selbst aber sind unabhängig von allen Vortheilen,
35 und gehn nur auf die Würde der / Menschheit. Sie beruhen darauf, daß sei
wir in Ansehung unserer Person kerne ungebundne Freiheit haben,
daß die Menschheit in unserer eignen Person hochgeschätzt werden
müße, weil ohne dieses der Mensch ein Gegenstand der Verachtung ist,
welches ein absoluter Tadel ist, weil er nicht nur in Ansehung anderer.
344 Vorlesungen über Moralphilosophie
sondern auch an sich selbst nichts werth ist. Die Pflichten gegen sich
selbst sind die oberste Bedingung und das principium aller Sittlich-
keit, denn der Werth der Person macht den moralischen Werth aus ;
der Werth der Geschicklichkeit beziehet sich nur auf seinen Zustand.
Socrates war in einem elenden Zustande, der gar keinen Werth hatte, 5
seine Person aber war in diesem Zustande von dem größten Werth.
Wenn auch alle Annehmlichkeiten des Lebens aufgeopfert werden, so
ersetzt die Erhaltung der Würde der Menschheit den Verlust aller
dieser Annehmlichlceiten, und erhält den Beyfall, imd wenn alles
262 verlohren / gehet, so hat man doch einen Innern Werth. Unter dieser lo
Würde der Menschheit können wir nur die andern Pflichten ausüben.
Das ist die Basis aller übrigen Pflichten. Wer keinen Innern Werth hat,
der hat seine Person weggeworfen und kann keine andre Pflicht mehr
ausüben. Worauf beruhet denn das principium aller Pflichten gegen
sich selbst ? Die Freyheit ist einestheüs das Vermögen, welches allen i5
übrigen unendliche Brauchbarkeit giebt. Sie ist der höchste Grad des
Lebens. Sie ist die Eigenschaft, die eine nothwendige Bedingung ist,
die allen Vollkommenheiten zum Grunde liegt. Alle Thiere haben
Vermögen, ihre Kräfte nach Willkühr zu gebrauchen. Diese Willkühr
aber ist nicht frey, sondern durch Reitze und stimulos neceßitirt. In 20
ihren Handlungen ist bruta neceßitas. Hätten alle Geschöpfe solche an
263 sinnliche Triebe gebundene Willkühr, so hätte die Welt / keinen
Werth. Der innere Werth aber der Welt, das summum bonum, ist die
Freyheit nach Willkühr, die nicht neceßitirt wird zu handeln. Die
Freyheit ist also der innere Werth der Welt. Von der andern Seite aber, 25
in sofern sie nicht unter gewiße Regeln des bedingten Gebrauchs
restringirt ist, so ist sie das schrecklichste, was nur seyn kann. Alle
thierische Handlungen sind regelmäßig, denn sie geschehn nach Re-
geln, die subjective neceßitirt sind. In der ganzen nicht freyen Natur
finden wir ein inneres subjectives neceßitirendes principium, wornach so
alle Handlungen in der ganzen nicht freyen Natur regelmäßig ge-
schehn. Nehme ich aber nun die Freyheit bey Menschen, so ist da kein
subjectiv neceßitirendes principium der Regelmäßigkeit der Hand-
264 lungen; wäre dieses, / so wäre es keine Freyheit, und was würde nun
daraus folgen ? Wenn die Freyheit nicht durch objective Regeln 35
restringirt wird, so kommt die große wilde Unordnung heraus. Denn
ist es ungewiß, ob nicht der Mensch seine Kräfte brauchen wird, sich
und andre und die ganze Natur zu destruiren. Bey der Freyheit kann
ich alle Regellosigkeit denlcen, wenn sie nicht objectiv neceßitirt wird.
Moralphilosophie Coli ins . 345
Diese objectiv neceßitirende Gründe müßen im Verstände liegen, die
die Freyheit restringiren. Es ist also der gute Gebrauch der Freyheit die
oberste Regel. Welches ist denn die Bedingung, unter der die Freyheit
restringirt Avird ? Dieses ist das allgemeine Gesetz: Verfahre so, daß in
6 allen deinen Handlungen Regelmäßigkeit herrsche. Was wird denn das
seyn, was in Ansehung meiner selbst die Freiheit restringiren soll ?
Dieses ist: den Neigungen nicht zu folgen. Die ursprüngliche Regel, /265
nach der ich die Freyheit restringiren soll, ist die Uebereinstimmung
des freyen Verhaltens mit den wesentlichen Zwecken der Menschheit.
10 Ich werde also nicht den Neigungen folgen, sondern sie unter eine
Regel bringen. Wer seine Person den Neigungen unterwarft, der
handelt wider den wesentlichen Zweck der Menschheit, denn als ein frey-
liandelndes Wesen muß er nicht den Neigungen unterworfen seyn, son-
dern er soll sie durch Freyheit bestimmen ; denn wenn er f rey ist, so muß
15 er eine Regel haben; diese Regel ist aber der wesentliche Zweck der
Menschheit. Bey den Thieren sind schon die Neigungen durch subjective
neceßitirende Gründe bestimmt. Es kann daher unter ihnen keine
Regellosigkeit statt finden. Folgt nun der Mensch frey / seinen 266
Neigungen, so ist er noch unter den Thieren, denn es entsteht bey ihm
2oalsdenn eine Regellosigkeit, die bey den Thieren nicht ist. Es wider-
streitet aber alsdenn der Mensch den wesentlichen Zwecken der
Menschheit in seiner Person, und handelt wider sich selbst. Alle Uebel
in der Welt kommen aus der Freyheit. Die Thiere handeln nach Regeln,
weil sie nicht frey sind. Freie Wesen können aber nur in so ferne regel-
25 mäßig handeln, wenn sie ihre Freyheit durch Regeln restringiren. Wir
wollen die Handlungen des Menschen, die sich auf ihn selbst beziehn,
erwegen, und da die Freyheit betrachten. Sie entspringen aus Antrie-
ben und aus Neigungen oder aus Maximen und Principien. Es ist also
nöthig, daß sich der Mensch auf Maximen setze und durch Regeln seine
aofreye Handlungen die sich auf ihn selbst beziehn, restringire, und das
sind Regeln und Pflichten, die auf ihn selbst gerichtet sind. Denn be-
trachten wir den Menschen / in Ansehung seiner Neigungen und 867
Instincte, so ist er darin ungebunden, und wird durch beyde nicht
neceßitirt. In der ganzen Natur ist nichts, das dem Menschen in Be-
35 friedigung seiner Neigungen schädlich wäre. Alles schädliche ist durch
seine Erfindxmg und den Gebrauch seiner Freyheit, z. E. alle starke
Getränke, und die vielerley Speisen für seinen Geschmack. Wenn er
nun seiner Neigung die er sich selbst ersonnen hat, ohne Regel folgt,
so M'ird er der abscheulichste Gegenstand, indem er durch seine Frey-
346 Vorlesungen über Moralphilosophie
heit um seine Neigungen zu befriedigen die ganze Natur umformen
kann. Das kann man ihm wohl zugestehn, daß er vieles zur Befriedi-
gung seiner Neigung erfinde ; er muß aber eine Regel haben sich deßen
zu bedienen. Hat er keine, so ist die Freyheit sein größtes Unglück. Sie
muß also restringirt werden, aber nicht diu-ch andre Eigenschaf ten und 5
Vermögen, sondern durch sich selbst. Ihre oberste Regel ist: In allen
268 Handlungen / in Ansehung seiner selbst so zu verfahren, daß aller
Gebrauch der Kräfte mit dem größten Gebrauch derselben möglich ist,
z. E. habe ich heute zu viel getrunken, so bin ich ohnmächtig, mich
meiner Freyheit, meiner Ivräfte zu bedienen, oder bringe ich mich lo
selbst um, so nehme ich mir gleichfalls das Vermögen des Gebrauchs
derselben. Es streitet dieses also mit dem größten Gebrauch der
Freyheit, daß sie als das höchste principium des Lebens sich selbst und
allen ihren Gebrauch aufhebe. Unter gewißen Bedingungen kann nur
die Freyheit mit sich selbst übereinstimmen, sonst collidirt sie mit sich 15
selbst. Gesetzt, in der Natur wäre keine Ordnung, so hörte alles auf,
und so ist es auch mit der zügellosen Freyheit. Die Uebel stecken zwar
in der Natur, allein das wahre Böse, das Laster, in der Freyheit. Einen
Unglücklichen bedauren wir, einen Lasterhaften aber hassen wir, und /
869 frohlocken über seine Strafen. Die Bedingungen unter denen nur allein 20
der größte Gebrauch der Freyheit möglich ist und unter welchen sie
mit sich selbst übereinstimmen kann, sind die wesentlichen ZAvecke
der Menschheit. Mit diesen muß die Freyheit übereinstimmen. Das
principium aller Pflichten ist also die Uebereinstimmungdes Gebrauchs
der Freyheit mit den wesentlichen Zwecken der Menschheit. Wir 25
woUen dieses in Beyspielen zeigen, z. B. der Mensch ist nicht befugt,
für Geld seine Gliedmaßen zu verkaufen, und wenn er auch für einen
Finger 10000 Tlialer bekäme, denn sonst könnte man dem Menschen
aUe Ghedmaßen abkaufen. Ueber Sachen, die keine Freyheit haben,
kann man disponiren, aber nicht über ein Wesen, welches selbst freye so
WiUkühr hat. Thut nun der Mensch solches, so macht er sich zu einer
aio Sache, und dann kann ein jeder / mit ihm nach Belieben handeln, weil
er seine Person weggeworfen hat, z. E. mit der Geschlechter-Neigung,
wo sich ein Mensch zum Objekt des Genußes, also zur Sache macht.
Daher darinne auch eine Abwürdigung der Menschheit ist, imd man 35
sich auch dessen schämt. Es ist also die Freyheit der Grund des ent-
setzlichsten Lasters, indem sie sich vieles erkünsteln kann, um ihre
Neigung zu befriedigen, z. E. ein crimen carnis contra naturam, so wie
sie auch ein Grund der Tugend ist, die die Menschheit ehrt. Einige
Moralphilosophie Collins 347
Verbrechen und Laster die aus der Freyheit entspringen, bringen
Grausen hervor, als der Selbstmord, andere Ekel, ja auch so gar schon
dann, wenn man sie bloß nennt. Wir schämen uns ihrer, indem
wir uns dadurch unter die Thiere setzen. Diese sind noch ärger als der
5 Selbstmord, denn den kann man doch noch ohne Grausen nicht
nennen, jene aber nicht ohne Ekel. Der Selbstmord ist das abscheu-
lichste Laster/des Grausens und des Haßens, aber der Zustand des Mi
Ekels und der Verachtung ist noch abscheulicher.
Das principium der Pflichten gegen sich selbst bestehet nicht in der
10 Selbstgunst, sondern in der Selbstschätzung, das heißt unsre Hand-
lungen müßen mit der Würde der Menschheit übereinstimmen. Man
könnte auch hier sagen, so wie es beim Recht heißt : neminem laede,
also noli naturam humanam in te ipso laedere.
Zwey Gründe unserer Handlungen haben wir in uns, die Neigungen
15 welche thierisch sind, und die Menschheit der die Neigungen unter-
worfen seyn müßen. Die Pflichten gegen uns selbst sind negativ, und
restringiren unsre Freyheit in Ansehung der Neigungen, die auf unser
Wohlbefinden gerichtet sind. So wie die Lelire des Rechts unsre
Freyheit in Ansehung des Betragens gegen andere Menschen restrin-
20 giret, so restringiren die Pflichten gegen uns selbst / unsre Freyheit in 373
Ansehung unserer Selbsten. Allen Pflichten gegen uns selbst liegt eine
gewiße Ehr liebe zum Grunde, die darin besteht, daß sich der Mensch
selbst schäzt, und in seinen eigenen Augen nicht unwürdig ist, daß
seine Handlungen mit der Menschheit übereinstimmen. Der inneren
25 Ehre in seinen Augen würdig zu sein, die Schätzung des Beyf alls, ist das
wesentliche Stück der Pflichten gegen sich selbst.
Um die Pflichten gegen sich selbst beßer einzusehn, so stelle man
sich die üblen Folgen der Uebertretung derselben vor, so wird man
finden, wie nachtheilig es dem Menschen ist. Es sind zwar die Folgen
30 nicht das principium der Pflichten, sondern die innere Schändlichlceit,
die Folgen aber dienen daher zur beßern Einsicht des principii. Weil
wir Freyheit und Vermögen haben, unsre Neigungen durch allerhand
Erfindungen zu befriedigen, so würden ohne Restriction die / Menschen 213
sich selbst zu Grunde richten. Man könnte dieses zwar für eine Regel
35 der Klugheit halten, allein unsere Klugheit kann erst aus den Folgen
geschöpft werden. Es muß dahero ein principium sein, daß die Men-
schen ihre Freyheit restringiren, damit er sich selbst nicht widerstreite,
und dieses principium ist moralisch.
348 Vorlesungen über Moralphilosophie
Jezt wollen wir zu den besondern Pflichten gegen uns selbst gehn,
und zwar in Ansehung unsres Zustandes, in so fern wir uns als denkende
Wesen betrachten.
Der Mensch hat eine allgemeine Pflicht gegen sich selbst, sich
so zu disponiren, daß er zur Beobachtung aller moralischen Pflichten 5
fähig sey, daß er also moralische Reinigkeit und Grundsätze in sich
fest setze, und nach denselben zu handeln trachte. Dieses ist also die
erste Pflicht gegen sich selbst. Dahin gehört nun die Selbstprüfung,
3T4und die / Selbsterforschung, ob die Gesinnungen auch moralische
Reinigkeit haben. Es müßen die Quellen der Gesinnungen untersucht 10
werden, ob es Ehre oder Wahn sey, oder Aberglauben oder reine
Moralität. Die Vernachläßigung dieses ist ein großer Schade der
Moralität. Würde mancher untersuchen, was seiner Religion und
Handlungen zum Grunde liege, so würden die mehresten finden, daß
viel mehr Ehre, Mitleiden, Klugheit und Gewohnheit als Moralität 15
darin sey. Diese Erforschung seiner selbst muß beständig seyn. Sie ist
zwar eine besondre Handlung, die nicht immer fortwähren kann,
allein wir sollten beständig Acht auf uns haben. Es gehört in Ansehung
unserer Handlungen eine gewiße Achtsamkeit dazu, und das ist die
875 vigilantia moralis. / Diese Wachsamkeit soll auf die Reinigkeit unserer 20
Gesinnungen und auf die Pünktlichkeit unserer Handlungen gerichtet
seyn.
Moralische Träume können entweder das moralische Gesetz selbst,
oder unsre moralischen Handlungen betreffen. Die erste Erträumung
ist eine Einbildung vom moralischen Gesetz, daß dasselbe in Ansehung 25
unserer nachsichtlich sey. Die andre aber ist eine Einbildung von
unsren moralischen Vollkommenheiten, daß dieselbe mit dem morali-
schen Gesetze congruiren. Die erstere ist schädlicher als die zweyte,
denn bildet man sich ein, daß seine Vollkommenheiten dem morali-
schen Gesetz gemäß seyn, so ist es doch leicht, davon überführt zu 30
werden, wenn man nämlich die Reinigkeit des moralischen Gesetzes
zeigte. Concipirt man sich aber ein nachsichtliches moralisches Ge-
876 setz, so hat man / ein falsches Gesetz, nach welchem man sich auch
solche Maximen und principien macht, da alsdenn auch die Hand-
lungen keine sittliche Bonitaet haben können. 35
Von der geziemenden Selbstschätzung.
Zu dieser Selbstschätzung gehört auf einer Seite die Demuth, auf
der andren aber der wahre edle Stoltz. Die entgegengesetzte Seite
Moralphilosophie Collins 349
hievon ist die Niederträchtigkeit. Wir haben Ursache von iinsrer
Person eine kleine Meinung zu hegen, in Ansehung unsrer Mensch-
heit aber sollten wir eine große Meinung haben. Denn vergleichen wir
uns mit dem heiligen moralischen Gesetz, so finden wir, wie weit wir
5 mit demselben zu congruiren abstehn. Diese kleine Meinung für unsre
Person entspringt also aus der Vergleichung mit dem moralischen
Gesetz, und da haben wir Ursache genug, uns zu demüthigen. In der
Vergleichung mit andern aber haben wir keine Ursache eine geringe
Meinung von uns zu hegen, denn ich kann mich eben so Werth halten,
10 als ein anderer. Diese Selbstschätzung nun in Vergleichung mit andern
ist der edle Stoltz. Die geringe Meinung von seiner / Person, in An-.?iT
sehung andrer, ist keine Demuth, sondern sie verräth eine kleine Seele,
und eine kriechende Gemüthsart. Solche eingebildete Tugend, die nur
ein Analogen der wahren Tugend ist, ist eine Mönchstugend, und diese
15 ist ganz unnatürlich ; denn der Mensch; der sich gegen andre so de-
müthigt, ist eben dadurch stoltz. Unsere Selbstschätzung ist billig,
denn wir thun dadurch dem andern keinen Schaden, wenn wir uns mit
ihm gleich werth schätzen. Wenn wir aber ein Urtheil von uns fällen
wollen, so müßen wir uns mit dem reinen moralischen Gesetz ver-
20 gleichen, und da finden wir Ursache zur Demuth. Mit andern recht-
schaffenen Männern müßen wir uns nicht vergleichen, denn sie sind
nur Copien des moralischen Gesetzes. Das Evangelium lehrt uns nicht
die Demuth, sondern es macht uns demüthig. Wir können Selbst-
schätzung der Selbstliebe haben, welches eine Selbstgewogenheit und
25 Selbstgunst wäre. Diese pragmatische Selbstschätzung nach Regeln
der Klugheit ist billig und möglich, insofern sie die Sicherheit zu
beobachten sucht. Keiner kann verlangen, / daß ich mich erniedrige ars
und geringer als andre halten soll; jeder aber hat recht zu fodern,
daß sich der andre nicht erhebe. Allein, die moralische Selbstschätzung,
30 die auf der Würde der Menschheit beruhet, muß sich nie auf die Ver-
gleichung mit andern, sondern auf die Vergleichung mit dem mora-
lischen Gesetz selbst gründen. Die Menschen sind sehr geneigt, andre
zum Maaßstabe ihres moralischen Werths zu nehmen, und glauben sie
denn einigen zuvorzulcommen, so glaubt man, es wäre der moralische
35 Eigendünlcel ; allein dieser ist vielmehr, wenn man in Vergleichung mit
dem moralischen Gesetz vollkommen zu seyn glaubt. Ich kann immer
glauben: Ich bin besser als andere, obgleich ich, wenn ich z. E. beßer
als die schlechtesten bin, dennoch gar nicht viel besser bin ; es ist also
dies eigentlich kein moralischer Eigendünkel. Wenn nun die mora-
350 Vorlesungen über Moralphilosophie
lische Demuth die Einschränl^ung des Eigendünkels in Ansehung des
379 moralischen Gesetzes ist, so gehet sie niemals / auf die Vergleiehung
mit andern, sondern mit dem moralischen Gesetz. Die Demuth ist also
die Einschränkung der großen Meinung von unserm moralischen
Werth, durch die Vergleiehung unsrer Handlungen mit dem mora- 5
lischen Gesetz. Die Vergleiehung der Handlungen mit dem moralischen
Gesetz macht demüthig. Der Mensch hat Ursache eine kleine Meinung
von sich zu haben, weil seine Handlungen so wohl dem moralischen
Gesetz entgegen gesetzt sind, als auch der Reinigkeit mangeln. Aus
Gebrechliclilceit übertritt der Mensch das Gesetz, und handelt ihm lo
zuwider, und aus Schwäche kommen seine guten Handlungen der
Reinigkeit des Gesetzes nicht bey. Wer sich das moralische Gesetz
nachsichtlich vorstellt, der kann von sich eine große Meinung haben
und Eigendünli^el besitzen, weil der Maaßstab womit er seine Hand-
lungen mißt, unrichtig war. Alle Begriffe der Alten von der Demuth 15
und allen moralischen Tugenden waren nicht rein, und congruirten
«80 nicht mit dem moralischen Gesetz. Das Evangelium ist / das erste,
was uns die Moralität rein vortrug, und nichts, wie es die Geschichte
beweist, kam demselben bey. Es kann aber diese Demuth nachtheilige
Folgen haben, wenn sie übel verstanden wird. Es bringt nämlich eine 20
Muthlosigkeit und keinen Muth zu wege, daß der Mensch glaubt: Aus
UnVollständigkeit der Handlungen nie mit dem moralischen Gesetz zu
congruiren, woraus hernach die Unthätigkeit entspringt, indem der
Mensch gar nichts zu thun wagt. Eigendünkel und Muthlosigkeit
sind die 2 Khppen, auf die der Mensch geräth, wenn er sich auf der 25
einen oder der andern Seite vom moralischen Gesetz entfernt. Auf der
einen Seite muß der Mensch nicht verzagen, sondern glauben, er habe
Kräfte das moralische Gesetz zu befolgen, wenn er gleich nicht dem-
selben conform wird. Auf der andern Seite aber kann er in den Eigen-
dünliel verfallen, und gar zu viel auf seine Kräfte bauen. Allein, es so
»81 kann / dieser Eigendünkel durch die Reinigkeit des Gesetzes verhütet
werden; denn wenn das Gesetz in seiner völligen Reinigkeit vorge-
tragen wird, so wird keiner ein solcher Thor seyn zu glauben, er könne
das Gesetz durch seine I\Täfte völlig rein erfüllen. Daher ist auf dieser
Seite nicht so viele Gefahr zu befürchten, als wenn der Mensch nie 35
etwas aus Glauben wagt. Das letzere ist die Regel der Faulen, die
selbst gar nichts thun wollen, sondern alles Gott überlassen. Um dieser
Muthlosigkeit abzuhelfen, merke man, daß wir hoffen können, es
werde unserer Schwäche und Gebrechlichlceit durch göttliche Hülfe
Moralphilosophie Collins 351
eine Ergänzung wiederfahren, wenn wir nur so viel gethan, als nach
Bewußtseyn unsres Vermögens uns zu thun möglich ward, allein
nur bloß unter dieser Bedingung können wir hoffen, denn nur erst
dadurch sind wir der göttlichen Beyhülfe würdig. Es ist nicht gut, daß
seinige Autores die gute Gesinnungen dem Menschen zu benelmien
suchten und dadurch den Menschen von seiner Schwäche zu über-
zeugen glaubten, wodurch er zur Demuth und Erflehung götthcher
Beyhülfe angetrieben werden sollte. / Es ist zwar dem Menschenasa
anständig und gut, seine Schwäche einzusehn aber nicht ihn um
10 seine gute Gesinnungen zu bringen. Denn, soll ihm Gott BeyhüKe
geben, so muß er doch wenigstens derselben würdig seyn. Die Ver-
ringerung des Werths der menschlichen Tugenden muß nothwendig
den Schaden zu wege bringen, daß der Mensch hernach beydes, so
wohl den Wohlthäter als niederträchtigen Menschen, für einerley
15 hält, denn dann ist bey dem Wohlthätigen auch keine gute Gesinnung.
Jeder Mensch wird daher bey sich empfinden, daß er wenigstens doch
einmal eine gute Handlung aus guten Gesinnungen ausgeübt habe,
und daß er noch mehr dergleichen zu thun fähig sey ; obgleich sie noch
immer sehr unrein sind, und nie dem moralischen Gesetz völlig gleich
20 sein werden, so nähern sie sich doch demselben immer mehr und mehr.
Vom Gewißen.
Das Gewißen ist ein Instinkt, sich selbst nach moralischen Gesetzen
zu richten. Es ist kein bloßes Vermögen, sondern Instinkt, nicht über
sich zu urtheilen, sondern zu richten. / Wir haben ein Vermögen uns 283
25 selbst nach moralischen Gesetzen zu beurtheilen. Von diesem Ver-
mögen aber können wir nach Beheben einen Gebrauch machen. Das
Gewißen hat aber eine treibende Gewalt, uns vor den Richterstuhl
wider unsern Willen, wegen der Rechtmäßigkeit unsrer Handlungen
zu fordern. Es ist also ein Instinkt und nicht bloß ein Ver-
30 mögen der B eurt he ilung. Allein, es ist ein Instinkt zu richten und
nicht zu urtheilen. Der Unterschied des Richters von dem welcher
urtheilt, besteht darinn: daß der Richter valide urtheilen kann, und
das Urtheil nach dem Gesetz wirklich in Ausübung bringen kann ; sein
Urtheil ist rechtskräftig und eine Sentenz. Ein Richter muß nicht
35 nur urtheilen, sondern auch entweder verurtheilen oder loslassen.
Wäre das Gewißen ein Trieb zum urtheilen, so wäre es ein Erkenntniß-
Vermögen, so wie andre Vermögen, z. B. der Trieb sich mit andren zu
352 Vorlesungen über Moralphilosophie
284 vergleichen, sich zu schmeicheln; diese sind / nicht Triebe zu richten.
Ein jeder hat einen Trieb sich über seine guten Handlungen nach
Regeln der Klugheit Lob zu ertheilen. Hingegen macht er sich auch
Vorwürfe, daß er unklug gehandelt habe. Jeder hat also einen Trieb
sich selbst zu schmeicheln oder zu tadeln nach Regeln der IClugheit. 5
Dieses aber ist noch kein Gewißen, sondern nur ein Analogon des
Gewißens, nach welchem sich der Mensch Lob und Tadel ertheilt.
Dieses Analogon pflegen die Menschen oft mit dem Gewißen zu ver-
wechseln. Ein Verbrecher der auf den Tod sitzet, ärgert sich, macht
sich die härtesten Vorwürfe, und beunruhiget sich sehr, am meisten 10
aber darüber, daß er so unklug in seinen Handlungen gewesen, daß er
dabey ertappt worden. Diese Vorwürfe nun die er sich macht, ver-
wechselt er mit den Vorwürfen des Gewißens wider die Moralität, wäre
er aber nur hier ohne Schaden durchgekommen, so hätte er sich keine
Vorwürfe gemacht, welches aber doch, wenn er ein Gewißen hätte, 15
285 auch alsdenn geschehn wäre. / Es muß also das Urtheil nach Regeln
der Klugheit von dem Urtheil des Gewißens wohl unterschieden
werden.
Viele Menschen haben nur ein Analogon des Gewißens, welches sie
für das Gewißen selbst halten, und die Reue, die sich oft auf dem 20
Krankenbette einfindet, ist nicht die Reue über ihr Verhalten in An-
sehung der Moralität, sondern daß sie so unklug gehandelt haben,
daß sie, da sie jezt vor dem Richter erscheinen sollen, nicht bestehn
werden. Wer seine begangene Laster verabscheuet, deren Folgen jeder-
zeit Strafen sind, welche Strafen daher die Sträflichlieit zu erkennen 25
geben, der weiß nicht, ob er seine Laster wegen der Strafen, oder der
der Straffälligkeit wegen verabscheut. Wer kein moralisch Gefühl,
das heißt, keinen unmittelbahren Abscheu wider das moralische Böse
und keinen Gefallen an dem moralisch guten hat, der hat kein Ge-
wißen. Wer wegen einer bösen Handlung verklaget zu werden so
286 befürchten muß, / der macht sich keine Vorwürfe wegen der Ab-
scheulichkeit der Handlung, sondern wegen den Übeln Folgen,
die er sich dadurch zu gezogen hat; und ein solcher hat kein Ge-
wißen, sondern nur ein Analogon desselben. Wer aber die Abscheu-
lichl^eit der Handlungen selbst fühlt, die Folgen mögen auch seyn 35
wie sie wollen, der hat ein Gewißen. Diese beyde Stücke sind keines
weges zu verwechseln. Die Vorwürfe wegen der Folgen der Unlvlugheit
müßen nicht für Vorwürfe wegen übertretener Moralität angesehn
werden. Hierauf muß im Leben, z. E. von einem Lehrer, sehr gesehn
Moralphilosophie CoUins 353
werden, ob der Mensch aus wahrem Gefühl der Abseheulichkeit die
Handking bereuet, oder ob er sich nur solche Vorwürfe macht, weil er
jezt vor einem Richter erscheinen soll, wo er seiner Handlungen
wegen nicht bestehn wird. Wenn sich die Reue erst auf dem Todtbette
5 findet, so ist da wohl keine Moralität, denn der nahe Todt ist da nur
die / Ursache. Wäre dieser nicht zu befürchten, so würde man schwer- Z81
lieh seine Handlungen bereuen. Man gleicht alsdenn einem unglück-
lichen Spieler. Dieser wütet gegen sich selbst und ärgert sich, daß er so
unklug gehandelt habe, und schlägt sich selbst vor den Kopf. So ver-
10 abscheuet man auch hier nicht das Laster, sondern die daher ent-
springenden Folgen. Man muß sich hüten solchem Menschen kraft
dieses Analogon des Gewißens Trost zuzusprechen. Die Klugheit
macht uns Vorwürfe, aber das Gewißen klagt uns an. Hat man einmal
wider die Klugheit gehandelt, quält man sich nicht lange mit Vor-
15 würfen der Klugheit, sondern man hält nur so lange sich dabey auf,
als es zur Belehrung nöthig ist, so ist dies selbst eine Regel der Klug-
heit und gereicht zur Ehre, indem es eine starke Seele verräth. Die
Anklage des Gewißens aber läßt sich nicht abweisen, und es muß auch
nicht geschehen. Es beruhet hier nicht auf dem Willen. Man kann /
20 auch in der Abweisung der Anklage und der Buße des Gewißens keine 288
Stärke der Seele suchen, sondern es ist vielmehr Ruchlosigkeit und
theologische Verstockung. Wer die Anklage seines Gewißens nach
Belieben abweisen kann, der ist ein Rebelle, so wie der einer ist,
welcher die Anklage seines Richters abweisen kann, über den der
25 Richter keine Gewalt hat. Das Gewißen ist ein Instinkt nach mora-
lischen Gesetzen rechtskräftig zu urtheilen, es fällt einen richterlichen
Ausspruch, und so wie ein Richter nur strafen und lossprechen, nicht
aber belohnen kann, so spricht auch das Gewissen entweder los, oder
erklärt der Strafe schuldig. Das Urtheil des Gewißens ist recht-
somäßig, wenn es empfunden und ausgeübt wird. Hieraus
entstehn 2 Folgen. Die moralische Reue ist die erste
Würkung des rechtskräftigen richterlichen Ausspruchs.
Die 2te Würkung, ohne welche die Sententz keine Wirkung hätte, ist:
daß die Handlung dem richterlichen Ausspruch gemäß
35 geschehe. Das Gewißen ist müßig, wenn es keine Bestrebung I -z»»
hervorbringt, das auszuüben, was zur Satisfaction des moralischen
Gesetzes erfordert wird, und wenn man auch noch so viel Reue bezeigt,
so hilft sie nichts, wenn man das nicht leistet, was man nach dem
moralischen Gesetz schuldig ist. Denn selbst in foro humano ist ja die
23 Kanfs Schriften XXVII/1
354 Vorlesungen über Moralphilosophie
Schuld nicht durch die Reue, sondern durch die Zahlung befriedigt.
Es müßen daher Prediger vor dem Krankenbette darauf
dringen, daß die Leute zwar die Uebertretung der
Pflichten gegen sich selbst bereuen, weil sie nicht mehr
zu ersetzen sind, aber daß sie, wenn sie einem andernö
Unrecht gethan haben, es würklich zu ersetzen suchen;
denn alles Winseln und Heulen hilft nichts, so wenig in
foro divino als human o. Noch nie aber hat man doch ein Beyspiel
einer solchen thätigen Reue auf dem Todtenbette, und dieses ist auch
zugleich ein Beweiß der Vernachläßigung eines hier wesentlichen lo
Stückes.
Wir können den innerlichen Gerichtshof des Gewissens füglich mit
dem äußerlichen Gerichtshof vergleichen. Wir finden in uns also einen
Ankläger, welcher aber nicht seyn könnte, wenn nicht ein Gesetz
290 wäre, welches aber nicht / zum bürgerlichen positiven Gesetz gehört, 15
sondern in der Vernunft liegt, und welches wir gar nicht corrumpiren
noch seine Richtigkeit und Unrichtigkeit läugnen können. Dieses
moralische Gesetz nun liegt als ein heiliges und unanzutastendes
Gesetz dem Menschen zum Grunde. Ferner so ist auch zu gleich ein
Advocat in dem Menschen, nämlich die Eigenliebe, die entschuldiget 20
ihn und wendet vieles wider die Anklage ein, da denn wieder der
Anldäger die Einwürfe zu benehmen sucht. Zulezt finden wir in uns
einen Richter, der uns entweder losspricht, oder verurtheilt. Dieser
ist nun gar nicht zu verblenden, ehe ist es möglich, daß der Mensch
keine Gewißensuntersuchung anstellt; thut er es aber, so urtbeilt der 25
Richter unpartheiisch, und sein Ausspruch fällt ordentlich der Seite
der Wahrheit zu, es seyn denn, daß er falsche principia der Moralität
habe. Die Menschen geben freylich zwar dem Vertheidiger mehr
Gehör, auf dem Sterbebette aber mehr dem Ankläger. Es gehört zu
einem guten Gewißen 1) die Reinigkeit des Gesetzes, denn muß der 30
Ankläger bey allen unsern Handlungen wach seyn; in der Beurthei-
291 lung der / Handlungen müßen wir Richtigkeit haben und endlich
Moralität und Stärke des Gewißens in Ansehung der Befolgung des
Urtheils nach dem Gesetz. Das Gewißen soll principia der Thätigkeit
haben, und nicht bloß speculativ seyn, folglich muß es ein Ansehn und 35
Stärke haben sein Urtheil auszuführen. Welcher Richter wird sich
wohl begnügen lassen, nur Verweise zu geben, und seinen richterlichen
Ausspruch hören zu lassen ? Es muß dem richterlichen Ausspruch ein
Genüge geleistet werden. Der Unterschied des richtigen und irrenden
Moralphilosophie Collins 355
Gewißens beruhet darauf: der Irrthura des Gewißens muß 2fach seyn,
error facti et legis. Der einem irrenden Gewißcn gemäß handelt, der
handelt seinem Gewißen gemäß, thut er es aber, so ist seine Handlung
zwar fehlerhaft, sie kann ihm aber nicht zum Verbrechen angerechnet
5 werden. Es giebt errores adstabiles et culpabiles. In Ansehung seiner
natürlichen Verbindlichkeit / kann keiner im Irrthum sein ; denn die 2»»
natürlichen moralischen Gesetze können keinem unbekannt seyn,
indem sie in eines jeden Vernunft liegen; folglich ist da keiner in
solchem Irrthum unschuldig, allein in Ansehung eines positiven
10 Gesetzes sind errores inculpabiles, da kann man kraft einer conscien-
tiae erroneae als unschuldig handeln. In Ansehung des natürlichen
Gesetzes aber giebt es nicht errores inculpabiles. Wenn nun aber ein
positiv Gesetz dem natürlichen entgegen zu handeln fordert, z.E. wie
nach einigen Rehgionen gegen Leute von andrer Religion zu wüthen
15 und zu toben ; welchem Gesetz soll man gemäß handeln ? Gesetzt, es
wäre jemand darin unterrichtet, daß man, z. E. wie bey den Jesuiten
eine gute Handlung durch Schelmerey ausüben könnte, so handelt ein
solcher nicht seinem Gewißen gemäß; denn das natürliche Gesetz ist
ihm bekannt, daß er keine / Ungerechtigkeiten aus keiner Absicht 293
20 ausüben soll, da hier nun der Ausspruch des natürlichen Gewißens,
dem des informirten Gewißens entgegen ist, so muß er dem ersten
Gehör geben. Das positive Gesetz kann nichts enthalten, das dem
natürlichen zuwider sey; denn das natürliche ist die Bedingung aller
positiven Gesetze. Es ist eine böse Sache sich mit dem irrenden
25 Ge^vißen zu entschuldigen, es kann auf diese Rechnung vieles gescho-
ben werden, allein, man muß auch von den Irrthümern Rechenschaft
geben. Der Autor nennt das Gewißen ein natürliches; vielleicht will er
es von dem geoffenbahrten unterscheiden. Alles Gewißen ist natürlich,
diesem aber kann ein natürliches oder geoffenbahrtes Gesetz zum
30 Grunde liegen. Das Gewißen stellt den göttlichen Gerichtshof in uns
vor: erstlich, weil es unsre Gesinnungen und Handlungen nach der
Reinigkeit des Gesetzes beurtheilt, / zweytens, weil wir es nicht 294
betrügen können, und endlich, weil wir demselben nicht entgehn
können, weil es uns gleich der göttlichen Allgegenwart gegenwärtig
35 ist. Es ist also das Gewißen der Stellvertreter des göttlichen Gerichts
in uns; es muß folglich gar nicht laedirt werden. Der Conscientiae
naturali köimte man die artificialem entgegensetzen. Es haben viele
behauptet, das Gewißen sey ein Werk der Kunst und der Erziehung,
und es urtheile und spreche bloß nach Gewohnheit. Allein wäre dieses.
356 Vorlesungen über Moralphilosophie
so könnte der, der solche Uebung und Erziehung des Gewißens nicht
hätte, sich der Gewißensbisse entschlagen; welches aber nicht ist.
Kunst und Unterweisung muß zwar freylich das zur Fertigkeit
bringen, wozu wir schon von Natur Anlagen haben; wir müssen also
auch vorher Erkenntniß des Guten und des Bösen haben, wenn das 5
Gewißen richten soll; allein, wenn unser Verstand cultiuirt ist, so darf
295 das / Gewißen nicht cultiuirt werden. Das Gewißen ist lediglich also
nur ein natürliches Gewißen. Es kann unterschieden werden in das
Gewißen vor der That, und nach der That. Vor der That ist das
Gewißen zwar kräftig den Menschen von der That noch abzuführen, lo
in der That aber ist es stärker und am stärksten nach der That. Vor der
That kann das Gewißen noch nicht so stark seyn, weil die That noch
nicht geschehn ist, und der Mensch sich noch nicht so kräftig fühlet,
und weil die Neigung noch nicht befriediget ist, und also noch stark
genug ist, dem Gewißen zu widerstehn; in der That ist es schon i5
kräftiger, und weil denn schon die Neigung befriedigt ist, ist sie schon
zu schwach, dem Gewißen zu widerstehn; folglich ist es denn am
stärksten. Nach der Befriedigung der stärksten Neigung die aus
Leidenschaft geschieht, bekommt der Mensch sogar einen Ekel, weil
ein starker Affect, wenn er befriedigt ist, ganz schlaff wird, und nicht 20
396 widerstehn / kann, und denn ist das Gewißen am stärksten. Denn
kommt die Reue, allein, das Gewißen ist noch incomplet, das nur
dabey bleibt, es müße dem Gesetze Genüge leisten. Die Conscientia
concomitans, oder das begleitende Gewißen wird durch Gewohnheit
zulezt schwach, und man gewöhnt sich zulezt so an die Laster, als an 25
den Tabak- Rauch. Zulezt kommt das Gewißen um alles Ansehn, und
denn hört auch die Anklage auf, weil es entbehrlich ist, da bey dem
Gerichtshof nichts mehr entschieden und vollzogen wird. Wenn man
dem Gewißen viele kleine Vorwürfe von gleichgültigen Sachen
(adiaphoris) macht, so ist es ein micrologisches Gewißen, und die 3o
Fragen die demselben vorgelegt werden, ist die Casuistic, z. B. ob man,
um jemanden zum April zu schicken, ihm etwas vorlügen soll ? Ob
man bey gewißen Gebräuchen diese oder jene Handlung thun soll ? /
29r Je micrologischer und subtiler das Gewißen in solchen Kleinigkeiten
ist, je schlechter ist es im practischen ; vornehmlich pflegen solche in 35
positiven Gesetzen zu speculiren, und im übrigen wird das Thor
geöffnet. Ein lebendes Gewißen ist : Wenn sich der Mensch Gebrechen
vorwerfen kann. Es giebt aber auch ein schwermüthiges Gewißen, wo
man sich in seinen Handlungen böses vorzuwerfen sucht, wozu wirk-
Moralphilosophie Collins 357
lieh kein Grund ist ; dieses aber ist unnöthig. Das Gewißen soll in uns
kein Tyrann seyn. Wir können ohne Verletzung des Gewißens in
unsern Handlungen immer heiter seyn. Solche, die ein quälendes
Gewißen haben, ermüden hernach gänzlich, und geben ihm zvdezt
5 Ferien.
Von der Eigenliebe.
Die Liebe des Wohlgefallens gegen andre ist das Urtheil des Wohl-
gefallens über ihre Vollkommenheit. Die Liebe des Wohlgefallens
gegen / sich selbst aber, oder die Eigenliebe, ist eine Neigung, mit sich 298
10 selbst, über das Urtheil der Vollkommenheit wohl zufrieden zu seyn.
Die Philavtie oder die moralische Eigenliebe ist der Arroganz, oder
dem moralischen Eigendünlcel entgegen gesetzt. Der Unterschied der
Philavtie von der Arroganz ist, daß die erstere nur eine Neygung ist,
mit seinen Vollliommenheiten zufrieden zu sein, die leztere aber eine
unbillige Anmaßung auf das Verdienst macht. Sie eignet sich mehr
16 moralische Vollkommenheiten zu, als ihr zukommen; jene aber macht
keine Forderungen, sondern sie ist immer mit sich selbst zufrieden und
macht sich keine Vorwürfe. Diese ist stolz auf ihre moralische Voll-
kommenheiten, jene ist es nicht, sondern sie glaubt unsträflich und
unschuldig zu seyn. Die Arrogantia ist also ein weit schädlicher
20 Fehler. Die Philavtie / prüft sich selbst mit dem moralischen Gesetz, 399
nicht als nach einer Richtschnur, sondern nach Beyspielen, und denn
hat man wohl Ursache mit sich zufrieden zu seyn. Die Beyspiele
moralischer Menschen sind Maaßstäbe aus der Erf alirung ; das mora-
lische Gesetz aber ist ein Maaßstab aus der Vernunft ; gebraucht man
25 nun den ersten Maaßstab, so entspringt daraus die Philavtie oder die
Arrogantia. Die Arrogantia entsteht, wenn man sich das moralische
Gesetz eingeschränkt und nachsichtlich denkt; oder wenn der mora-
lische Richter in uns partheyisch ist. Je weniger strenge man sich das
moralische Gesetz denkt, und je weniger strenge uns der innerliche
30 Richter beurtheilt, desto arroganter kann man seyn. Von der Eigen-
liebe ist die Schätzung unterschieden. Diese gehet auf den Innern
werth, die Liebe auf das Verhältniß meines Werths in Beziehung
auf das Wohlergeh n.
/ Wir schätzen das, was einen Innern Werth hat, und lieben das, 300
35 was verhältnißweise einen Werth hat, z. E. Verstand hat einen Innern
Werth, ohne zu erwägen worauf er angewandt wird. Der seine Pflicht
beobachtet, der seine Person nicht entehrt, ist schätzenswerth ; der
358 Vorlesungen über Moralphilosophie
gesellig ist, ist liebenswerth. Es kann das Urtheil von uns uns ent-
weder Hebens- oder achtungswerth vorstellen. Wer da glaubt, daß er
ein gutes Herz habe, daß er gern allen Menschen helfen möchte, wenn
er nur reich wäre, und wenn er auch wirklich reich ist, so denkt er,
wenn er noch reicher wäre, wie etwa ein anderer ist, denn dieses 5
brauche er nothdürftig ; welches alle Geitzige glauben, der findet sich
liebenswerth. Der aber in Ansehung seiner selbst die wesentlichen
Zwecke der Menschheit genau zu erfüllen glaubt, der glaubt achtungs-
werth zu seyn. Wenn ein Mensch gutherzig zu sein glaubt und durch
leere Wünsche das Wohl aller Menschen befördert, der verfällt in die lo
301 Philavtie. / Daß sich der Mensch alles Gute gönnt ist wohl natürlich;
allein daß er von sich eine gute Meinung hegt, ist nicht natürlich. Die
Menschen fallen in die Philavtie oder Arroganz nach Verschiedenheit
ihres Temperaments. Gellerts Moral ist mit Liebe und Gütigkeit ange-
füllt und redet viel von Freundschaft, welches das Steckenpferd aller u
Moralisten ist, und solche Moral giebt Gelegenheit zur Eigenliebe. Der
Mensch aber muß nicht so wohl liebenswerth, als schätzungs- und ach-
tungswerth seyn. Ein gewissenhafter und rechtschaffener Mann, der
nicht partheyisch ist, und keine Geschenke annimmt, ist nicht ein
Gegenstand der Liebe ; und weil er in Ansehung seiner Einnahme 20
gewissenhaft ist, so wird er auch wenige Handlungen der Großmuth
und der Liebe ausüben können, folglich wird er bey andern nicht
hebenswerth sein, allein sein Wohl besteht darin, daß er von andern
303 achtungswürdig / gehalten wird, die Tugend ist sein wahrer innerer
Werth. Es kann also Jemand ein Gegenstand der Achtung und nicht 25
der Liebe seyn, weil er nicht so einschmeichelnd ist. Wir können auch
einen schlechten Mann lieben, nichts weniger aber als achten. Alles
was in der Moral die Eigenliebe vermehrt, soll abgewiesen werden,
und nur das empfohlen werden, was schätzungswerth macht, z. B.
die Beobachtung der Pflichten gegen sich selbst, rechtschaffen und so
gewissenhaft zu seyn; und ist man denn auch kein Gegenstand der
Liebe, so kann man mit getrostem Muth, zwar nicht mit Trotz, jeder-
mann in die Augen sehn, denn man hat alsdenn einen werth. Dieses
ist aber nicht die Arroganz, denn es ist hier der Maaßstab des Gesetzes
nicht verfehlt. Vergleiche ich mich mit dem moralischen Gesetz, so bin 85
ich in Ansehung dessen demüthig, in Vergleichung mit andern aber /
303 kann ich mich schätzungswerth halten. Die moralische Philavtie, wo
der Mensch in Ansehung seiner moralischen Vollkommenheiten eine
hohe Meinung von sich hat, ist verächtlich. Sie kommt daher wenn der
Moralphilosophie Collins 359
Mensch seine Gesinnungen für gute Gesinnungen halt, durch leere
Wünsche und romantische Ideen das Wohl der Welt zu befördern
glaubt, er liebt den Tartar und möchte Gütigkeit gegen ihn ausüben,
allein an seinen Nächsten denkt er nicht. Wodurch nur das Herz welk
5 wird, das ist die Philavtie die in lauter Wünschen besteht und übrigens
unthätig ist. Die Eigenliebigen sind Süßlinge, die nicht wacker, nicht
thätig sind; die Arroganz ist wenigstens doch noch thätig.
Es giebt Sophisterey in dem menschlichen moralischen Gerichtshof,
welche die Eigenliebe anrichtet. Dieser Advocat, wenn er die Gesetze
10 zu seinem Vortheil sophistisch erklärt, ist ein Rabulist, auf der andern
Seite ist er aber auch betrügerisch, das factum zu leugnen. Allein, der
Mensch findet doch, daß sein Advocat, ob er gleich noch so sophistisch
ist, bei ihm in schlechtem Credit steht. Er siehet ihn vielmehr als /
einen Rechtsverbrecher an. Der Mensch der das nicht denlit und ein- 304
15 sieht, ist ein schwacher Mensch. Es macht dieser Rabulist allerhand
Auslegungen des Gesetzes. Er macht sich den Buchstaben des Ge-
setzes zu Nutze, und beim facto sieht er nicht auf die Gesinnungen,
sondern auf die äußern Umstände. Er handelt nach probabilitaet.
Dieser moralische Probabilismus ist ein Mittel, wodurch sich der
20 Mensch betrügt und überredet, recht nach Grundsätzen gehandelt zu
haben. Es ist nichts ärger und abscheulicher, als sich ein solches
Gesetz zu erkünsteln, nach welchem man unter dem Schutze des
wahren Gesetzes böses thun kann. So lange der Mensch das moralische
Gesetz übertreten hat, allein es noch in seiner Reinigkeit erkennt,
25 kann er noch gebeßert werden, weil er noch ein reines Gesetz vor sich
hat. Wer sich aber ein günstiges und falsches Gesetz erkünstelt hat,
der hat einen Grundsatz zu seiner Bosheit, und bey dem ist / keine 305
Beßerung zu hoffen.
Der moralische Egoismus ist: Wenn man sich im Verhältnis mit
30 andern allein hochschätzt. Man muß aber seinen Werth nicht in Ver-
hältniß mit andern beurtheilen, sondern mit der Regel des moralischen
Gesetzes; denn der Maaßstab mit andern ist sehr zufällig, und denn
kommt ein ganz andrer Werth heraus. Finden wir hingegen, daß wir
von keinem Werth als andere sind, so hassen wir die von größerem
35 Werth; und denn entspringt der Neid und die Mißgunst. Diese
erzeugen die Eltern in den Kindern, wenn sie dieselbe nicht durch
Moralität zu ziehn suchen, sondern ihnen immer fremde Kinder zum
Muster darstellen, gegen welche diese alsdenn aufgebracht werden;
denn wären jene nicht, so würden sie die besten seyn. Der moralische
360 Vorlesungen über Moralphilosophie
Solipsismus ist: Wenn wir uns im Verhältniß mit andern allein lieben.
Dieses aber gehört nicht zu den Pflichten gegen sich selbst, sondern
gegen andre.
306 / Von der Oberherrschaft über sich selbst.
Das allgemeine principium der Oberherrschaft über sich selbst war : 5
die Schätzung seiner Person in Beziehung auf die wesentlichen
Zwecke der mensclilichen Natur und die Pflichten gegen sich selbst
sind Bedingungen, unter welchen die andern Pflichten allein ausgeübt
werden können. Dies ist das principium der Pflichten gegen sich selbst,
und die objective Bedingung der Moralität. Welches aber ist nun die lo
subjective Bedingung der Ausübung der Pflichten gegen sich selbst ?
Die Regel ist diese : Suche über dich selbst die Herrschaft zu erhalten,
denn unter dieser Bedingung bist du tüchtig, die Pflichten gegen dich
selbst auszuüben. Es ist im Menschen ein gewißer Pöbel, der unter
der Regierung stehn muß, und der ein wachsames Regiment unter der 15
Regel erhalten muß, und wo auch Gewalt sein muß, diesen Pöbel der
Anordnung und Regierung gemäß, unter die Regel zu zwingen. Dieser
Pöbel im Menschen sind die Handlungen der Sinnlichkeit. Diese
301 stimmen / nicht mit der Regel des Verstandes überein ; sie sind aber
nur in sofern gut, als sie damit übereinstimmen. Der Mensch muß 20
Disciplin haben; der Mensch disciplinirt sich selbst nach den Regeln
der Klugheit, z. E. oft hat er noch Lust lange zu schlafen, allein er
zwingt sich aufzustehn, weü er siehet daß es nöthig ist; so hat er oft
Lust mehr zu essen oder zu trinken, allein er siehet, daß es ihm schäd-
lich ist. Diese Disciplin ist die executive Gewalt der Vorschrift der 25
Vernunft über die Handlungen, die aus der Sinnlichkeit entspringen.
Dieses ist die Disciplin der Klugheit, oder die pragmatische. Wir
müßen aber noch eine andere haben, nämlich die Moral. Nach dieser
müßen wir alle unsre sinnliche Handlungen nicht nach der I^ugheit,
sondern den sittlichen Gesetzen gemäß zu beherrschen und zu be- 30
308 zwingen suchen. In dieser Gewalt besteht die / moralische Disciplin,
und dieses ist die Bedingung, unter der wir allein die Pflichten gegen
uns selbst ausüben können. Folglich können wir sagen : Die Herrschaft
über uns selbst besteht darin: daß wir alle principia dem Vermögen
unsrer freyen Willkühr unterwerfen können. Diese kann nach 2 Regeln 35
gedacht werden, nach der Regel der Klugheit und der Sittlichkeit.
Es beruht zwar alle Klugheit auf der Regel des Verstandes ; allein bey
Moralphilosophie Collins 361
der Regel der Klugheit dienet der Verstand der Sinnlichkeit; er giebt
ihr Mittel an die Hand, wodurch die Neigung befriedigt wird, weil er
in Ansehung der Zwecke von der Sinnlichkeit abhängt. Die wahre
Oberherrschaft über uns selbst aber ist die Moral. Diese ist sou verain
5 und die Gesetze befehlen categorisch über die Sinnlichlceit und nicht
wie die pragmatische, denn da braucht der Verstand eine Sinnlichkeit
wider die andre. / Allein um eine souveraine Gewalt über uns zu haben, 309
müßen wir der Moralität die höchste Gewalt über uns geben, daß sie
über unsre Sinnlichkeit herrsche. Kann der Mensch über sich herr-
10 sehen, wenn er will 1 Es scheint dieses zwar so zu sein, weil es auf ihm
zu beruhen scheint, und man glaubt, daß es schwerer sey die Herr-
schaft über andre zu bekommen, als über sich selbst; allein, eben, weil
es eine Herrschaft über uns selbst ist, so ist sie schwer, denn da ist
unsre Gewalt getheilt; da ist die Sinnlichkeit wider den Verstand im
15 Streit. Wollen wir aber über andre eine Herrschaft haben, so sammlen
wir unsre ganze Gewalt. Die Herrschaft über uns ist auch daher
schwerer, weil das moralische Gesetz zwar Vorschriften aber keine
Triebfedern hat ; es fehlet ihm die executive Gewalt, und diese ist das
moralische Gefühl. Dieses / ist keine Unterscheidung des Bösen und Gu- 3io
20 ten, sondern eine Triebfeder, wo unsre Sinnlichkeit mit dem Verstände
übereinstimmt. Menschen können zwar eine gute Beurtheilungskraft
im moralischen haben, aber kein Gefühl. Sie sehn wohl ein, daß eine
Handlung nicht gut, sondern strafwürdig sey, aber sie begehn sie
doch. Nun beruhet aber die Herrschaft über sich selbst auf der
25 Stärke des moralischen Gefühls. Wir können gut über uns herrschen,
wenn wir die widerstehende Gewalt schwächen. Dieses aber thun wir,
wenn wir sie theilen : Folglich müssen wir erst uns selbst discipliniren,
das ist: In Ansehung unsrer selbst durch wiederholte Handlungen
den Hang ausrotten, der aus der sinnlichen Triebfeder entspringt. Wer
30 sich moralisch discipliniren will, muß sehr auf sich Acht haben, von
seinen Handlungen oft / vor dem innerlichen Richter Rechenschaft sn
ablegen, da denn durch lange Uebungen dem moralischen Bewegungs-
Grunde Stärke gegeben, und diu"ch Cultur eine Gewohnheit erworben
wird, in Ansehung des moralischen Guten oder Bösen Lust oder Unlust
35 zu bezeigen. Hiedurch wird das moralische Gefühl cultivirt, denn wird
die Moralität Stärke und Triebfeder haben; durch diese Triebfeder
wird die Sinnlichkeit geschwächt und überwogen, und auf solche Art
wird die Herrschaft über sich selbst erlangt. Ohne Disciplin seiner
Neigungen kann der Mensch nichts erhalten, folglich liegt in der
362 Vorlesungen über Moralphilosophie
Selbstbeherrschung eine unmittelbahre Würde, denn Herr über sich
selbst zu seyn, zeigt eine Unabhängigkeit von allen Sachen an. Wo
nun keine solche Herrschaft über sich selbst ist, da ist eine Anarchie.
Allein wenn auch eine moralische Anarchie beim Menschen ist, so
312 tritt / doch die Klugheit in die Stelle der Moralität, und regiert anstatt 5
derselben, damit doch nicht eine völlige Anarchie sey. Die Herrschaft
über sich selbst nach den Regeln der Klugheit ist ein Analogon der
Selbstbeherrschung.
Die Gewalt, die die Seele über alle Vermögen und über den ganzen
Zustand hat, denselben unter ihre freye Willkühr, ohne daß sie dazu lo
genöthigt, sich zu unterwerfen, ist eine Monarchie. Befleißiget sich
nicht der Mensch auf diese Monarchie, so ist er ein Spiel von andren
Kräften und Eindrücken, wider seine Willkühr; denn hängt er vom
Zufall und vom willkührlichen Lauf der Umstände ab. Hat er sich
selbst nicht in Gewalt, so hat seine Imagination freyen Lauf; er kann 15
sich nicht discipliniren, sondern er wird von ihr nach den Gesetzen
der Association fortgerissen, weil er sich den Sinnen gerne ergiebt;
313 so wird er, wenn er sie nicht einschränlcen kann / ein Spiel derselben,
und sein Urtheil wird durch die Sinne bestimmt; ohne die Neigung
und Leidenschaft zu berühren, so erwegen wir nur seinen denkenden 20
Zustand, der sehr willkührlich ist, wenn man ihn nicht in seiner Gewalt
hat. Ein jeder Mensch hat daher darauf zu sehn, daß er seine Kräfte
und seinen Zustand der Gewalt der freyen Willkühr unterwerfe. Wir
haben eine 2fache Gewalt über uns, die disciplinirende und hervor-
bringende. Die executive Gewalt kann uns zwingen, ohnerachtet aller 25
Hindernisse, gewisse Würkungen hervorzubringen, alsdenn hat sie
Macht. Die dirigirende Gewalt aber ist nur, die Gemüthskräfte zu
lenken. Wir haben z. E. in uns eine Triebfeder zur Trägheit, diese
kann nicht diu-ch die dirigirende sondern durch die Zwangs-Gewalt
unterdrückt werden. Habe ich Vorurtheile, so muß ich nicht bloß 30
314 das Gemüth / dirigiren, sondern ich muß Gewalt brauchen, um nicht
von ihrem Strom hingerissen zu werden. Menschen haben Kraft, das
Gemüth zu dirigiren, aber noch nicht zu beherrschen. Wenn im Ge-
müth nichts widerstrebt, sondern wenn nur keine Regeln da sind,
denn kann es nur dirigirt werden. Allein es ist in unsern Kräften etwas 35
habituelles, was der Macht und freyen Willkühr widerstreitet, wo wir
denlcende subjecte sind, z. E. sinnliche Wohllust, Faulheit, diese
müssen nicht nur dirigirt sondern auch beherrscht werden. Die Avto-
cratie also ist die Gewalt, das Gemüth, trotz aller Hindernisse wozu zu
Moralphilosophie Collins 363
zwingen. Die Herrschaft seiner selbst und nicht bloß die dirigirende
Gewalt ist, was zur Avtocratie gehört. Der Autor begehet einen Fehler
in Herzehlung der Pflichten gegen sich selbst; daher wir hier etwas
davon berühren müssen. Er zählt zu den Pflichten / gegen sich selbst, 315
5 alle Vollkommenheiten des Menschen, auch die Vollkommenheiten.
die sein Talent betreffen. Er redet von der Volllvommenheit der sinn-
lichen Kräfte, der Seele; auf solche Art könnte die Logik imd alle
Wissenschaften, die den Verstand vollkommener machen, und unsere
Wißbegierde befriedigen, hieher gehören; allein, hierin ist gar nichts
10 moralisches. Die Moral zeigt uns ja nicht, was wir in Ansehung der
Geschicklichkeit unserer Kräfte vollkommener zu werden thun sollen ;
alle solche Vorschriften sind nur pragmatisch und Klugheitsregeln,
nach welchen wir unsere Kräfte erweitern sollen, indem dieses zu
unserm Wohlbefinden beyträgt. Wenn aber von der Sittlichkeit die
15 Rede ist, so A\ird hieher nichts gehören, als wie viel wir uns in An-
sehung unsres inneren Werths vollkommener / machen und wie wir3i6
die Würde der Menschheit in Ansehung unsrer eigenen Person erhalten
sollen, wie wir alles unsrer eignen Willl^ühr unterwerfen sollen, so fern
unsre Handlungen diu-ch sie den wesentlichen Zwecken der Mensch-
2oheit gemäß eingerichtet werden. Alle Sätze und Regeln des Autors,
indem er die Pflichten gegen uns selbst lehrt, und alle seine definitiones
sind tavtologische Sätze. Practische Sätze sind tavtologisch, aus denen
keine Execution folgen kann, die die Mittel angeben, nach denen das
nicht ausgeführt werden kann was gefordert wird, die die Bedingungen
25 enthalten, welche mit den Bedingungen und Forderungen einerley
sind. Das ist eine tavtologische resolution des Problems, wenn die
Resolution die Bedingung enthält, die die Forderung enthält. Alle
practische Wissenschaften a priori außer der / Mathematik enthalten sn
tavtologische Sätze, z.E. die practische Logik ist voll davon; sie sagt
30 die Bedingungen, die die theoretische Logik gesagt hat, und so ist es
auch in der Moral, wo kein Mittel angegeben worden, die geforderten
Bedingungen zu erfüllen. Es ist dies ein allgemeiner Fehler, den wir
unserm Autor nicht allein zueignen können ; und wenn wir denselben
auch nicht völlig ergänzen können, so wollen wir doch zeigen: Worin
35 er bestehe ? Wodurch wir die Lücken in den Wissenschaften bemerken,
die doch noch ausgefüllt werden können, welches aber nicht geschehn
könnte, wenn wir glaubten : Es sey keine Lücke, sondern es sey alles
vollkommen. Die Beförderung der Vollkommenheit seiner Talente
gehört also nicht zu den Pflichten gegen uns selbst, von welchen der
364 Vorlesungen über Moralphilosophie
Autor weitläuftig nach dem Leitfaden der Philosophie redet. Wir
können auch ohne Speculation bey einer schwachen Einsicht die
318 Pflichten gegen uns selbst / ausüben. Alle Zierrathen der Seele gehören
zwar zum Luxus derselben und zum melius eße; aber nicht zum eße
des Gemüths. Allein die Gesundheit der Seele im gesunden Körper ge- 5
hört zu den Pflichten gegen uns selbst. Soferne die Vollkommenheiten
unserer Seelenl<;räfte zusammen hängen mit den wesentlichen Zwecken
der Menschheit, in so fern gehört zu den Pflichten gegen uns selbst, die-
selben zu befördern. Alle unsre Gemüthszustände und Seelenkräfte
können Beziehung auf die Sittlichl^eit haben. Die Autocratie des lo
menschlichen Gemüths und aller Kräfte seiner Seele so ferne sie sich auf
die Moralität beziehen, ist das principium der Pflichten gegen uns
selbst, und eben dadurch aller übrigen Pflichten. Lasset uns die See-
lenkräfte, in so ferne sie Beziehung auf die Moralität haben durch-
gehn, und sehn, wie in Ansehung ihrer die Autocratie oder das Ver- is
mögen, dieselben unter der freyen Willkühr zu erhalten und zu
319 beobachten / sey, und aus diesem Grunde zuerst die Imagination
nehmen. Die größten Einbildungen und Bilder haben wir nicht von
dem Reitz der Gegenstände, sondern von unsrer Einbildungskraft,
diese miüssen wir in unsrer Gewalt haben, daß sie nicht schwärme, und 20
uns unwillkührlich Bilder andichte. Die Gegenstände, die die Bilder in
uns machen, sind uns nicht immer gegenwärtig; allein die Einbildun-
gen können uns immer gegenwärtig seyn, die führen wir immer mit
uns; daraus nun entstehn große Einbrüche und Verletzungen der
Pflichten gegen uns selbst, z. E. wenn man in Ansehung der Wohllust 25
seiner Imagination freyen Lauf läßt, so daß man so gar der Imagi-
nation Realität giebt, so entstehn dadurch die Laster, die wider die
Natur laufen, und die höchste Verletzung der Pflichten gegen sich
selbst; also haben die Einbildungen den Reitz des Gegenstandes
380 erhöhet. Die Avtocratie soll also darin bestehn, daß der Mensch seine / 3o
Einbildungen aus dem Gemüthe verbanne, damit die Imagination
nicht das Zauberspiel treibt, die Gegenstände vorzustellen, die man
nicht erhalten kann. Das wäre die Pflicht gegen uns selbst in An-
sehung der Imagination. In Ansehung der Sinne überhaupt, weil sie
den Verstand übertölpeln und auch denselben überlisten, so können 35
wir nicht anders, als daß wir sie wieder überlisten, wenn wir dem
Gemüth statt des Unterhalts, den die Sinne darbieten, einen andern zu
verschaffen suchen, und es durch Idealische Vergnügungen, wozu alle
schöne Wissenschaften gehören, zu beschäftigen suchen. Die Beziehung
Moralphilosophie Collins 365
des Witzes in Ansehung der Moralität gehört nicht zu den PfHchten
gegen uns selbst.
Der Autor rechnet zu den PfHchten gegen sich selbst die Beobach-
tung seiner selbst. Diese muß aber nicht im Belauschen seiner selbst
5 bestehn, sondern man muß sich selbst / durch Handlungen beobachten 321
und auf seine Handlungen attendiren. Die Bemühung uns selbst zu
kennen und zu wissen, ob wir gut oder böse sind, müssen wir im Leben
exerciren, und unsere Handlungen betrachten, ob sie gut oder böse
sind. Das erste ist hier: Sucht euch im Leben durch Handlungen gut
10 und thätig zu beweisen, nicht durch Stoßgebete, sondern durch Aus-
übung guter Handhingen, durch Ordentlichkeit und Arbeit, insonder-
heit durch Rechtschaffenheit und thätiges Wohlverhalten gegen den
Nächsten, denn kann man sehen, ob man gut ist. Eben so wenig wie
man einen Freund durch Unterredungen kennen lernt, sondern da-
15 durch, daß man sich in Geschäften mit ihm einläßt, eben so wenig
ist es auch leicht, sich selbst zu kennen aus seiner Meinung, die man
gegen sich selbst hat, und überhaupt ist es nicht so leicht sich / selbst 332
zu kennen. So wissen viele nicht, daß sie herzhaft sind, als bis sie es
bey einer Gelegenheit durch die That erfahren. So hat oft ein Mensch
20 eine Gesinnung wozu; er weiß aber nicht, ob er sie auch alsdenn
wirklich ausüben könnte, z. E. es denkt jemand oft, wenn du in der
Lotterie ein großes Loos gewinnen wirst, so wilst du diese oder jene
grosmüthige Handlung ausüben, wenn es aber so weit kommt, so
wird nichts daraus. So geht es auch mit dem Uebelthäter der den Todt
25 für den Augen sieht. Er hat alsdenn die ehrlichste und redlichste Ge-
sinnung, sie kann denn auch wohl redlich seyn, aber er kennt sich selbst
nicht; er weiß nicht, ob er sie ausüben möchte, wenn er davon befreyt
würde. Er kann sich in diesem Zustande das nicht vorstellen, allein würde
dieser hernach vom Tode befreyt, so würde er eben ein solcher Spitz-
3obube bleiben, der / er war. Er kann sich zwar ändern, aber nicht auf 333
einniahl. Also muß sich der Mensch immer nach und nach kennen
lernen.
Anjezt wollen wir zu dem gehn was der Avtocratie mehr und mehr
näher kömmt; dazu gehört die suspensio iudicii. In diesem Urtheil
35 müssen wir so viel Avtocratie haben, daß wir es aufschieben können
wenn wir wollen, und nicht durch gute Persvasions Gründe bewogen
werden unser Urtheil zu eröffnen. Das Aufschieben des Urtheils zeigt
große Stärke der Seele an, das Urtheil mag seyn wie es will, z. E. sein
Urtheil in der Wahl, in der Entschließung bis zur Ueberzeugung auf-
366 Vorlesungen über Moralphilosophie
schieben, zeigt eine Stärke der Seele an, z. B. wenn ich einen Brief
bekomme und derselbe hat auf der Stelle einen Zorn in mir erweckt : /
384 antworte ich auf der Stelle, so lasse ich meinen Zorn sehr merken ; kann
ich es aber bis auf den folgenden Tag aufschieben, so werd ich densel-
ben aus einem andern Gesichtspunkte ansehn. Die suspensio judicii ist 5
also ein großer Artilcel der Avtokratie.
In Ansehung der Thätigkeit beweißt man die Avtocratie, wenn
man sein Gemüth unter der Beschwerlichkeit der Arbeit thätig und
wirksam erhält, wenn es bey aller Arbeit dennoch vergnügt ist, wenn
es satisfaction mit sich selbst hat, wenn es sich bewußt ist, daß es lo
Stärke genug fühle, solche Arbeit ohne Verdruß auszuführen, und wenn
es Kraft hat, die Ungemächlich keit der Arbeit zu überwinden. Also
muß man den Vorsatz haben, fest darauf zu beharren, was man sich
325 vorgenommen und es unerachtet der / Persvasion des Aufschubs zu
verrichten. Die Gegenwart des Geistes gehört zur Avtocratie. Die 15
Gegenwart des Geistes ist die Vereinigung und Harmonie der Ge-
müthslo-äfte, die sich bey der Vollziehung des Geschäfts zeigen. Dieses
ist zwar nicht jedermanns Ding, sondern es beruhet auf dem Talent.
Es kann aber doch durch Uebung gestärkt werden. Jezt wollen wir die
Pflichten in Ansehung seiner selbst, in Ansehung des Vergnügens, der 20
Lust und Unlust, des Wohlgefallens und Mißfallens nehmen. Das
Uebel ist das Gegentheil des Wohlbefindens ; das Böse aber das Gegen-
theil des Wohl Verhaltens. Das Böse entspringt aus der Freyheit und
daher kömmt auch gänzlich das Uebel, aber auch von der Natur. In
326 Ansehung des Urtheils in der Welt soll der Mensch / eine gesetzte, 25
gleichmüthige und standhafte Seele beweisen; aber in Ansehung des
Bösen ist es anders bewandt, da geht es nicht an, daß der Mensch darin
eine gesetzte und gleichmüthige Seele beweisen kann, denn das erhöht
noch mehr seine Bosheit, das ist ein Zustand einer ruchlosen Seele und
einer verruchten Gemüthsart. Das Böse der Handlung muß so viel- 30
mehr mit dem Bewußtseyn des Schmerzes der Seele begleitet seyn.
Allein die gesetzte und fröhliche Seele bey den Übeln und Unglücks-
fällen erhöht den Werth des Menschen. Es ist wider die Würde des
Menschen der Gewalt der physischen Uebel zu unterliegen, und vom
Spiel des zufälligen abzuhängen. Er hat ein Vermögen des Gemüths in 36
sich, allen Uebeln zu widerstehen. Die Gründe, diese standhafte Seele
zu cultiviren, sind, daß man den falschen Schein der in den vermeinten
33T Gütern / des Lebens und in dem vermeinten Glück liegt, zu benehmen
sucht. Die größte Ursache des Glücks oder Unglücks, des Wohl- und
Moralphilosophie Collins 367
Uebelbefindens, des Wohl- oder Mißfallens liegt in dem Verhältniß mit
andern Menschen. Denn wenn alle zusammen in der Stadt sclilechten
Käse essen, so esse ich ihn auch mit Vergnügen und mit heiterer Seele,
allein, wenn alle im Wohlleben wären und ich allein in schlechten Um-
5 ständen, so würde ichs für ein Unglück halten. Es hängt also alles
Glück oder Unglück von uns ab, und von der Art wie unser Gemüth
dasselbe aufnimmt. Betrachten wir das Glück dieses Lebens, welches
nur in dem W^ahne besteht, und wo ofte der Bettler an der Thür glück-
licher ist als der König auf dem Thron; erwegen wir die Nichtigkeit
10 dieses Glücks aus der Kürze des Lebens, sehn wir darauf, wie ein
großes Unglück, für welchem jedermann schaudert, so erträglich ist,
wenn man sich schon darin befindet ; betrachten / wir, daß wir keine 328
Ansprüche aufs Glück machen können, und daß wir uns nur deswegen
unglückhch schätzen, weil wir vorher jederzeit glücklich waren, und
16 dadurch nur verzärtelt sind, und also jezt jede Verminderung des
Glücks als ein neues Unglück ansehn, so sehen wir, daß wir vieles mit
Großmuth entbehren können und bey allen Uebeln dennoch eine
tugendhafte und fröhliche Seele zeigen können. Weil wir hier auf kein
beßeres Glück Anspruch machen können, indem uns Gott hier auf den
20 Schauplatz der Erde gesetzt hat, wo er uns alle Materialien zum Wohl-
befinden gegeben hat, und uns auch mit Freiheit versehn, solche nach
unserm Gefallen zu gebrauchen und es hier also nur darauf ankommt,
wie sich die Menschen mit den Glücksgütern theilen. Wenn es die
Menschen unter sich verderben, so laßt uns die Güter des Lebens
25 nehmen, so wie wir sie bekommen haben und mit der / allgemeinen 329
Weisheit und Fürsorge Gottes zufrieden seyn, und gar kein Elend und
Unglück auf uns sitzen lassen. Derjenige, der im Elende ist, aber mit
gesetzter und fröhlicher Seele sein Elend trägt, der sich daraus nichts
macht, weil es einmahl schon da ist und nicht zu ändern ist, der ist
30 nicht elend; der aber elend zu seyn glaubt, der ist elend. Derjenige
der sich unglücklich schätzt, ist auch boshaft, denn er meidet das
Glück des andern. So sagte ein boshafter Lord: Gott haße den Un-
glücklichen, denn sonst würde er ihn im Unglücke nicht sitzen lassen,
und wir befördern den Zweck Gottes, wenn wir einen Unglücklichen noch
35 unglücklicher zu machen suchen ; allein wenn wir diesem boshaften
Gedanken eine andre Wendung geben, so können wir sagen, daß der-
jenige, der sich unglücklich schätzt, gehaßt zu werden verdient; wer
aber / in seinem Unglücke noch immer eine heitre und standhafte 330
Seele zeigt, wer einen gesetzten Muth behält, wenn er auch alles
368 Vorlesungen über Moralphilosophie
verlohren hat, der hat doch in sich das, was einen Werth in sich
hält, und ein solcher verdient eher Mitleiden. Um die Seele von der
Bosheit des Neides frey zu halten, so müßen wir jedes Unglück zu
ertragen suchen und weil es schon einmal da ist, den Vortheil, der
im.mer bey dem Unglücke ist, davon ziehen. Es steht bey uns, uns in 5
eine gewiße Laune zu versetzen, welches eine willkührliche ange-
nommene Disposition ist, nach welcher wir die Welt und ihre Schick-
sale betrachten, und nach welcher wir das Urtheil über die Welt und
ihre Schicksale ergehn lassen.
Was die Direction des Gemüths in Ansehung der Affecten und 10
Leidenschaften betrifft, so unterscheiden wir hier die Empfindungen
331 und Neigungen von den / Affecten und Leidenschaften, Es kann einer
etwas empfinden und Neigung wozu haben, ohne dabey Affect und
Leidenschaft zu haben. Wenn die Empfindungen und Leidenschaften
so mit der Vernunft verbunden sind, daß ihre Seele mit der Vernunft 15
übereinstimmt, so können sie mit den Pflichten gegen uns zusammen
stimmen. Zur Pflicht gegen uns und zur Würde der Menschheit wird
erfordert, daß der Mensch gar keine Affecten und Leidenschaften habe ;
dieses ist die Regel, ob es gleich eine andre Sache ist, ob es denn
Menschen wirklich so weit bringen können. Der Mensch soll in seiner 20
Arbeit wacker, ordentlich und standhaft seyn, und sich hüten in die
Fieberhitze der Leidenschaften zu verfallen; denn der Zustand des
Menschen in Leidenschaft ist immer ein wahnsinniger, denn ist seine
333 Neigung blind und das kann mit der Würde der / Menschheit nicht
übereinstimmen. Demnach müssen wir nichts zur Leidenschaft 25
kommen lassen, und die Forderung der Stoiker war hier recht. Die
devote Leidenschaft ist die gottloseste, denn da denkt man unter dem
Mantel der Gottseeligkeit alles begehn zu können. Der Schluß hieraus
ist, daß wir die Avtocratie des Gemüths auf alle Kräfte der Seele als
die vornehmste Bedingung der Beobachtung der Pflichten gegen uns 30
selbst halten. Unsere Maximen müssen wohl überlegt seyn, und es ist
ärger böses zu thun aus Maximen als aus Neigung. Aber gutes muß
man aus Maximen thun. Der Autor redet noch vom Siege über sich
selbst. Allein, wenn sich der Mensch so gut regieret, daß er alle Empö-
rung des Pöbels in seiner Seele verhütet und Friede darinne erhält 35
333 (der Friede in der Seele ist hier aber nicht die Zufriedenheit / mit
allem, sondern die gute Herrschaft und Einigkeit in der Seele), wenn
er nun ein solches gutes Regiment in sich selbst führt, alsdenn wird
kein Krieg bey ihm entstehn, und wo kein Krieg ist, da ist auch kein
Moralphilosophie Collins 369
Sieg nöthig. Es ist also weit besser, wenn der Mensch sich so regieret,
daß er keinen Sieg über sich zu erhalten bedarf.
Von den Pflichten gegen den Körper in Ansehung des
Lebens.
5 Hier kommt die Befugniß vor, die wir haben, über unser Leben zu
disponiren, und ob wir diese Befugniß haben ? Auf der andern Seite
die Befugniß für unser Leben Sorge zu tragen. Vorläufig merken wir:
Wenn der Körper zufälliger Weise zum Leben gehörte, nicht als eine
Bedingung, sondern zum Zustand des Lebens, so daß wir den Körper
10 ablegen / könnten, wenn wir wollten; wenn wir so aus dem Körper 3$4
ausschlüpfen könnten, und in einen andern eingehn, so Avie in ein
Land, denn könnten wir über den Körper disponiren, denn würde er
unsrer frej^en Willkühr unterworfen seyn, allein, denn würden wir
nicht disponiren über unser Leben, sondern nur über unsern Zustand,
15 über die beweglichen Güter, über die Mobilien, die zum Leben gehörten.
Nun ist aber der Körper die gänzliche Bedingung des Lebens, so daß
wir keinen andren Begriff von unserm Leben haben, als vermittelst
unsers Körpers, und da der Gebrauch unsrer Freiheit nur durch den
Körper möglich ist, so sehn wir, daß der Körper einen Theil unsrer
20 selbst ausmacht. So ferne also jemand seinen Körper zerstört, und sich
hiedurch das Leben nimmt, so hat er seine Willl^ühr gebraucht, /
die Macht seiner Willkühr selbst zu zerstören, alsdenn aber wieder- 335
streitet sich die freye Willkühr selbst. Wenn die Freiheit die Bedin-
gung des Lebens ist, so kann sie nicht dazu dienen, das Leben auf-
25 zuheben, denn sonst zerstört und hebt sie sich selbst auf ; denn braucht
der Mensch das Leben, um das Leben aufzuheben. Das Leben soll
gebraucht werden, um die Leblosigkeit hervorzubringen, welches sich
aber widerstreitet. Vorläufig sehn wir schon, daß der Mensch nicht
über sich selbst und sein Leben disponiren kann, wohl aber über seinen
30 Zustand. Vermittelst des Körpers hat der Mensch Macht an seinem
Leben; wäre er ein Geist, so könnte er sein Leben nicht zernichten;
weil die Natur in das absolute Leben eine Unzerstörlichkeit gelegt hat,
so folgt, daß man darüber als über den Zweck nicht disponiren kann.
Vom Selbstmord.
35 Der Selbstmord kann auf allerley Seiten erwogen werden, auf der /
tadelhaften, erlaubten, ja wohl heroischen Seite. Der Selbstmord hat 336
erstlich eine scheinbare Seite der Zuläßigkeit und Erlaubtheit. Die
24 Kant's Schriften XXVII/1
370 Vorlesungen über Moralphilosophie
Vertheidiger desselben sagen: der Mensch disponirt frey, zwar ohne
Verletzung des Rechts des andern, über die Güter der Erde. Was seinen
Körper betrifft, so kann er in Ansehung dessen in vielen Stücken
disponiren. Er kann sich z. E. ein Geschwür öffnen lassen, eine Narbe
nicht achten, ein Glied abnehmen etc., es steht ihm also frey, in An- 5
sehung des Körpers das vorzunehmen, was ihm rathsam und zuträglich
ist, soll er denn nicht auch befugt sein, sich das Leben zu nehmen,
wenn er siehet, daß dieses am zuträglichsten und rathsamsten für ihn
ist ? Wenn er siehet, daß er nunmehro auf keine Weise leben kann,
331 wenn er dadurch so vielen Qualen, Unglück / und Scham entgehn lo
kann ? Und obgleich dieses eine Beraubung des völligen Lebens ist,
so entgeht man doch dadurch auf einmahl allem Unheü ; dieses scheint
sehr einnehmend zu seyn. Wir wollen auf der andern Seite die Handlung
nur an sich, und nicht von der Religions-Seite betrachten. So lange
wir die Absicht haben, uns selbst zu erhalten, so können wir unter i5
dieser Bedingung über unsern Körper disponiren. So kann sich z. E.
einer den Fuß abnehmen lassen, so ferne er ihn am Leben hindert.
Also zur Erhaltung der Person haben wir die Disposition über unsern
Körper; der sich aber das Leben raubt, erhält seine Person nicht
dadurch; denn disponirt er über seine Person, aber nicht über seinen 20
Zustand, denn raubt er sich die selbst. Dieses ist der obersten Pflicht /
338 gegen sich selbst zu wider, denn dadurch wird die Bedingung aller
übrigen Pflichten aufgehoben. Dies geht über alle Schranken des
Gebrauchs der f reyen Wülkühr, denn der Gebrauch der f reyen Willkühr
ist nur dadurch möglich, daß das subject ist. 25
Ferner hat der Selbstmord dadurch eine scheinbare Seite, wenn
nämlich die Verlängerung des Lebens auf solchen Umständen beruht,
die den Werth des Lebens aufheben können, wo man nicht mein* der
Tugend und Klugheit gemäß leben kann, und also dem Leben einen
Abschnitt machen muß, aus edlem Bewegungs- Grunde. Die von dieser 30
Seite den Selbstmord vertheidigen, führen das Bey spiel des Cato an,
der sich selbst tötete, nachdem er einsah, daß es nicht möglich wäre
den Händen des Cäsars zu entgehn, auf den aber das ganze Volk sich
33» noch stützte; so bald er aber / als der Verfechter der Freiheit sich
unterworfen hätte, so hätten die andern gedacht, wenn sich Cato 35
unterwirft, was soUen wir machen? Wenn er sich aber tötete, so
könnten doch noch die Römer ihre letzten Kräfte zur Vertheidigung
ihrer Freiheit aufopfern, was sollte nun Cato machen ? Es scheint also,
daß er seinen Tod als nothwendig einsähe ; er dachte : da du nicht mehr
Moralphilosophie Collins 371
als Cato leben kannst, so kannst du gar nicht mehr leben. Man muß
bey diesem Bey spiel freylich gestehn, daß in solchem Fall, wo der
Selbstmord eine Tugend ist, er einen großen Schein vor sich hat.
Dieses ist auch das einzige Beyspiel, was der Welt Gelegenheit gab,
5 den Selbstmord zu vertheidigen. Allein es ist auch nur das einzige Bey-
spiel in seiner Art. Es hat manche solche ähnliche Fälle gegeben.
Lucretia ermordete sich auch selbst, aber aus Schamhaftigkeit und
Wuth der Rache. Freylich / ist es eine Pflicht, seine Ehre zu er- 340
halten, besonders beim 2ten Geschlecht, bey dem es ein Verdienst ist;
10 aber man soll seine Ehre nur in so weit zu retten suchen, daß man sich
nicht aus eigennützigen, wollüstigen Absichten Preiß giebt, aber nicht
in solchem Fall wie hier, denn das lag nicht an ihr. Sie sollte sich also
lieber zur Vertheidigung ihrer Ehre solange gewehrt haben, bis sie
wäre umgebracht worden, denn hätte sie Recht gethan und denn wäre
15 es auch kein Selbstmord. Denn sein Leben gegen seine Feinde zu
wagen, und die Pflicht gegen sich selbst zu beobachten, und auch sein
Leben aufzuopfern, ist kein Selbstmord. Zum Selbstmord kann mich
keiner unter der Sonne, kein Landesherr verpflichten. Der Lan-
desherr kann zwar seine Unterthanen verpflichten, ihr Leben gegen den
20 Feind fürs Vaterland zu wagen, und wenn / man da auch umkommt, 34i
so ists kein Selbstmord, sondern das hängt vom Schicksal ab. So ist im
Gegentheil das wieder keine Erhaltung des Lebens, wenn man sich vor
dem Tode, den das Schicksal schon nothwendig drohet, fürchtet, und
feigen Herzens ist. Wer da entflieht, um sein Leben vor dem Feinde zu
25 retten, und läßt alle die Seinigen im Stich, der ist ein Feiger; ver-
theidigt er aber sich und die seinigen bis auf den Tod, denn ist er kein
Selbstmörder, sondern das ist nobel und edel gedacht ; denn das Leben
ist an und für sich selbst auf keine Weise hoch zu schätzen, sondern
nur in sofern muß ich mein Leben zu erhalten suchen, als ich werth bin
30 zu leben. Es muß ein Unterschied gemacht werden zwischen einem
Selbstmörder und zwischen einem, der sein Leben durch das Schicksal
verlohren hat. Wer sein Leben durch / Unmäßigkeit verkürzt, der ist 348
zwar durch seine Unvorsichtigkeit Schuld daran, sein Tod kann ihm
also indirecte imputirt werden, aber nicht directe. Er intendirte doch
35 nicht sich zu töten. Es ist kein vorsetzlicher Tod. Denn alle unsere
Vergehungen sind entweder culpa oder dolus. Obgleich nun hier kein
dolus ist, so ist doch culpa. Zu dem kann man sagen: du bist selbst
Schuld an deinem Tode, aber nicht: du bist ein Selbstmörder. Die
Intention sich selbst zu destruiren macht den Selbstmord aus. Ich
24*
372 Vorlesungen über Moralphilosophie
muß also nicht die Unmäßigkeit, die die Ursache der Verkürzung des
Lebens ist, zum Selbstmord machen, denn wenn ich die Unmäßigkeit
zum Selbstmord erhöhe, so wird dadurch wieder der Selbstmord
erniedriget und zur Unmäßigkeit gemacht. Es ist also ein Unterschied
343 zwischen der Unvorsichtigkeit, wobey noch / ein Wunsch zum Leben 5
übrig bleibt, und der Absicht sich selbst zu ermorden. Die höchsten
Verletzungen der Pflichten gegen uns selbst bringen entweder Abscheu
mit Grausen hervor, und von dieser Art ist der Selbstmord, oder Ab-
scheu mit Ekel, und von der Art sind die Crimina carnis. Der Selbst-
mord hat einen Abscheu mit Grausen, denn jede Natur sucht sich lo
selbst zu erhalten. Ein verletzter Baum, ein lebendiger Körper, ein
Thier ; und nun soU beym Menschen die Freyheit, die der höchste Grad
des Lebens ist, und den Werth desselben ausmacht, ein principium
sein, sich selbst zu zerstören ? Dieses ist das erschrecklichste, was sich
denken läßt. Denn wer es schon so weit gebracht hat, daß er jedesmal i5
ein Meister über sein Leben ist, der ist auch Meister über jedes andern
344 sein Leben, dem stehet die Thüre zu allen Lastern / offen, und ehe
man ihn habhaft werden kann, ist er bereit, sich aus der Welt wegzu-
stehlen. Es erweckt also der Selbstmord ein Grausen, indem der
Mensch sich dadurch unter das Vieh setzt. Wir sehen einen Selbst- 20
mörder als ein Aas an; der durch die Schicksale umkommt, mit dem
hat man Mitleiden. Die Vertheidiger des Selbstmordes suchen die
Frej^heit des Menschen aufs höchste zu treiben, welches schmeichelhaft
ist, und machet, daß Personen im Stande sind, sich das Leben zu
nehmen, wenn sie wollen. Daher auch wohlgesinnete Personen in 25
dieser Rücksicht denselben vertheidigen. Da das Leben unter vielen
Bedingungen aufzuopfern ist, (wenn ich mein Leben nicht anders
erhalten kann, als durch Verletzung der Pflichten gegen mich selbst,
so bin ich verbunden, dasselbe eher aufzuopfern, als daß ich die Pflicht
345 gegen mich selbst verletzen soll), so ist auf der andern Seite / der so
Selbstmord unter keiner Bedingung erlaubt, Der Mensch hat eine
Unverlezlichkeit in seiner Person ; es ist was heiliges, was uns anvertraut
ist. Dem Menschen ist alles unterworfen, nur sich selbst muß er sich
nicht selbst entreissen. Ein Wesen, was durch seine Nothwendigkeit
da wäre, könnte sich unmöglich selbst destruiren ; ein Wesen, was nicht 35
noth wendig da ist, siebet sein Leben als die Bedingung von allem an.
Er siehet, daß das Leben ihm anvertraut ist, er fühlet es, kehret ers
nun wider sich selbst, so scheint es, als wenn er zurück bebte, so ferne
er dieses Heiügthum, was ihm anvertrauet ist, antastet. Das worüber
Moralphilosophie Collins 373
ein Mensch disponiren kann, muß eine Sache sein. Die Thiere werden
hier auch als Sachen angesehn ; der Mensch aber ist keine Sache ; dispo-
nirt er demohngeachtet über sein Leben, so versetzt er sich also in den
Werth des Viehes. Wer sich aber als so etwas nimmt, der die Mensch-
5 heit / nicht respectirt, der sich zur Sache macht, der wird ein Object 346
der freyen Willkühr für jedermann; mit dem kann hernach ein jeder
machen was er will ; er kann von andern als ein Thier, als eine Sache
behandelt werden ; man kann sich an ihm exerciren so wie an einem
Pferde oder Hunde ; denn er ist kein Mensch mehr ; er hat sich selbst
10 zur Sache gemacht, demnach kann er nicht fordern, daß andre seine
Menschheit in ihm respectiren sollen, da er sie selbst schon wegge-
worfen hat. Die Menschheit ist aber achtungs werth, und wenn auch
der Mensch ein schlechter Mensch ist, so ist doch die Menschheit in
seiner Person achtungs werth. Der Selbstmord ist nicht deswegen ab-
15 scheulich und unerlaubt, weil das Leben ein solches Gut ist, denn als-
denn kommt es nur auf einen jeden an, ob er es für ein hohes Gut hält.
Nach der Regel der Klugheit wäre es oft das beste Mittel, sich selbst
aus dem Wege zu räumen, / aber, nach der Regel der Sittlichkeit ist es 34T
unter keiner Bedingung erlaubt, weil es die Destruction der Mensch-
20 heit ist, da die Menschheit unter die Thierheit gesetzt wird. Sonst ist
in der Welt vieles weit höher als das Leben. Die Beobachtung der
Moralität ist weit höher. Es ist besser das Leben aufzuopfern als die
Moralität zu verlieren. Es ist nicht nöthig zu leben, aber das ist
nöthig, daß man so lange als man lebet, ehrenwerth lebe; wer aber
25 nicht mehr ehrenwerth leben kann, der ist gar nicht mehr werth zu
leben. Es läßt sich aber jederzeit so lange leben, als man die Pflichten
gegen sich selbst beobachten kann, ohne Gewalt über sich selbst zu
brauchen. Derjenige aber, der bereit ist, sich das Leben zu nehmen,
ist nicht mehr werth zu leben. Der pragmatische Bewegungsgrund zu
30 leben ist die Glückseeligkeit. Kann ich mir wohl / deswegen das Leben 348
nehmen, weil ich nicht glücklich leben kann ? Nein, das ist nicht
nöthig, daß ich so lange ich lebe, glücklich lebe; aber das ist nöthig,
daß ich so lange ich lebe, ehrenwerth lebe. Das Elend berechtigt keinen
Menschen, sich das Leben zu nehmen. Denn, Avären wir befugt, uns aus
35 Mangel des Vergnügens das Leben zu nehmen, so möchten alle unsere
Pflichten gegen uns selbst auf das Vergnügen des Lebens abzielen;
nun aber erfordert die Erfüllung der Pflichten gegen sich selbst Auf-
opferung des Lebens. Ist bey dem Selbstmord heroismus und Freiheit
anzutreffen ? Es ist nicht gut, wenn man auch aus guter Absicht
374 Vorlesungen über Moralphilosophie
sophisterey ausübt. Es ist auch nicht gut, die Tugend und Laster aus
sophisterey zu vertheidigen. Es schmähen auch wohldenkende Per-
349 sonen auf den Selbstmord, aber nicht mit Gründen. Sie sagen, / es ist
eine große Feigheit darinne ; allein es giebt auch Selbstmörder, wobey
ein großer heroismus ist, z. E. Cato, Atticus etc. Solchen Selbstmords
kann ich nicht feighaft nennen. Zorn, Affect und Wahnsinn ist
mehrentheils die Ursache des Selbstmordes, daher Personen die von
demselben aus der Hälfte errettet worden, für sich selbst erschrecken,
und es nicht zum andern mahle wagen. Es ist ein Zeitalter bey den
Kömern und Griechen gewesen, wo der Selbstmord Ehre brachte, lo
daher auch die Römer ihren Sklaven verbothen sich selbst umzu-
bringen, weil sie nicht sich selbst, sondern ihren Herren zugehörten,
also als eine Sache angesehn wurden, so wie jedes andre Thier. Der
Stoiker sagte : Der Selbstmord sey ein sanfter Tod des Weisen, er gehet
aus der Welt, wie aus einer Stube, die da raucht, in eine andre, weil es 15
350 ihm darin nicht mehr gefällt. / Er gehet aus der Welt, nicht weil er
keine Glückseeligkeit darin hat, sondern weil er sie verachtet. Es ist
schon vorher berührt, daß es dem Menschen sehr schmeichelhaft ist,
die Freyheit zu haben, sich selbst aus der Welt wegzuschaffen, wenn er
wolle. Ja, es scheint auch was moralisches darinne zu seyn, denn ein 20
solcher, der die Macht hat, aus der Welt zu gehn, wenn er will, darf
keinem unterworfen seyn, sich durch nichts binden lassen, dem größ-
ten Tyrann die größten Wahrheiten sagen, indem ihn derselbe durch
keine Marter zwingen kann, weil er sich geschwinde aus der Welt
expediren kann ; so wie ein freyer Mensch aus dem Staate gehn kann, 25
wenn er will. Allein, dieser Schein wird gehoben, wenn die Freyheit
nicht durch eine unwandelbare Bedingung bestehn kann, die sich
351 unter keinen Umständen ändern kann. / Diese Bedingung ist, daß ich
meine Freyheit nicht wider mich selbst zu meiner destruction ge-
brauche, sondern daß ich meine Freyheit durch nichts äußeres ein- so
schränken lasse. Dieses ist die edle Freyheit. Ich muß mich durch kein
Schicksal und Unglück abschrecken lassen zu leben, sondern solange
leben als ich ein Mensch bin und ehrenwerth leben kann. Das Klagen
über Schicksal und Unglück entehrt den Menschen. Wenn Cato unter
allen den Martern, die ihm Caesar hätte anthun lassen, dennoch mit 35
standhafter Seele bey seinem Entschluss festgeblieben wäre, so wäre
das edel, aber nicht, wenn er Hand an sich legte. Die Vertheidiger und
Lehrer der Befugniß des Selbstmordes sind einer Republik nothwendig
sehr nachtheilig. Man stehe sich vor, daß es eine allgemeine Gesinnung
Moralphilosophie Collins 375
wäre, die die Menschen hegten, es sey eine Befugniß, ja ein Verdienst
oder Ehre, sich selbst zu ermorden, / so wären solche Menschen für 35«
jedermann erschrecklich; denn der sein Leben so gar nach Grund-
sätzen nicht achtet, den kann gar nichts von dem erschrecklichsten
5 Laster zurückhalten ; er scheuet keinen König und keine Marter. Aller
Schein verliert sich aber, wenn man den Selbstmord in Ansehung
der Religion erweget. Wir sind in diese Welt zu gewissen Bestim-
mungen und Absichten gesetzt; ein Selbstmörder aber \Wderstreitet
dem Zweck seines Schöpfers. Er kommt in jener Welt an, als ein
10 solcher, der seinen Posten verlassen hat. Er ist also als ein Rebell wider
Gott anzusehn.
So lange wir diese Wahrheit anerkennen, daß die Erhaltung unsers
Lebens zu den Absichten Gottes gehöre, sind wir verpflichtet unsre
freye Handlungen denselben gemäß einzurichten. Wir haben weder
15 Fug noch Recht, den Erhaltungskräften unsrer Natur Gewalt anzu-
thun und die Weisheit in ihren Verrichtungen zu stören. Diese Schul-
digkeit liegt uns so lange ob, bis Gott uns den ausdrücklichen Befehl
giebt, diese Welt zu verlassen.
/ Die Menschen sind hier wie die Schüdwachen ausgestellt, und wir 353
20 müssen also unsern Posten nicht verlassen, bis wir von einer andern
wohlthätigen Hand abgelöset werden. Er ist unser Eigenthums-Herr,
wir sind sein Eigenthum, und seine Vorsehung besorgt unser bestes.
Ein Leibeigener, der unter der Vorsorge eines gütigen Herren steht,
handelt sträflich, wenn er sich den Absichten desselben widersetzt.
25 Der Selbstmord ist aber unerlaubt und abscheulich, nicht deswegen,
weil ihn Gott verboten hat, sondern Gott hat ihn verboten, weil er
abscheulich ist. Also muß von allen Moralisten die innere Abscheu-
lichkeit des Selbstmordes zuerst gezeigt werden. Der Selbstmord
findet sich gemeiniglich bey denen, die über die Glückseeligkeit des
30 Lebens gekünstelt haben. Denn hat jemand die Künsteley der Ver-
gnügen geschmeckt, und kann sie nicht immer besitzen, so versetzt
er sich in Gram Kummer und Schwermuth.
Von der Sorge für sein Leben.
Was die Pflicht in Ansehung unseres Lebens betrifft, für dasselbe Sor-
35 ge zu tragen, so merken wir : das Leben an und vor sich selbst ist nicht
das höchste Gut, was uns anvertraut ist, und wofür wir / Sorge tragen 354
sollen. Es giebt Pflichten, die weit höher sind als das Leben, und die
oft mit Aufopferung des Lebens müssen ausgeübt werden. Aus der
376 Vorlesungen über Moralphilosophie
Beobachtung der Erfahrung sieht man, daß ein Nichtswürdiger melir
sein Leben schätzt, als seine Person. Wer also keinen Innern Werth
hat, sezt auf sein Leben einen großen Werth, wer aber mehr inneren
Werth hat, setzt auf sein Leben einen weit Ideinern Werth. Ein
Mensch von innerm Werthe wird lieber sein Leben aufopfern, als daß 5
er eine niederträchtige Handlung begehn sollte; er zieht also den
Werth seiner Person seinem Leben vor ; der aber keinen Innern Werth
hat, begeht lieber eine niederträchtige Handlung, als daß er sein
Leben aufopfert; denn er hält zwar sein Leben werth, aber er ist nicht
mehr werth zu leben, weil er die Menschheit und die Würde derselben 10
355 in seiner Person entehrt hat. Wie hängt das aber zusammen, / daß der
sein Leben gering schätzt, der einen Werth in seiner Person hat? Hier
steckt etwas verborgenes, ob es gleich Mar genug ist, daß es sich so
verhält. Der Mensch sieht das Leben, was in der Verbindung der Seele
mit dem Körper besteht, als zufällig an ; wie es denn auch wirklich ist. 15
Das freyhandelnde principium in ihm ist aber von der Art, daß das
Leben, welches in der Verbindung der Seele mit dem Körper besteht,
Idein geachtet wird. Wenn demnach einige Personen unschuldiger
Weise wegen einer Verrätherey angeklagt wären, unter denen aber
wirklich etliche ehrenwerthe Personen wären, aber auch einige Nieder- 20
trächtige, die keinen Innern Werth hätten, wenn allen diesen zusam-
men die Strafe dictiret wäre zu sterben, oder auch zeitlebens an der
Karre zu seyn, und ein jeder sollte sich von diesen Strafen wählen
welche er wollte, so ists ganz gewiß, daß die ehrenwerthe Personen den
356 Tod, die nichtswürdigen aber die Karre wählen würden. Der / einen 25
Innern Werth hat, scheut den Tod nicht, er stirbt lieber, als daß er ein
Gegenstand der Schande sey und unter andern Spitzbuben an der
Karre leben sollte. Der Nichtswürdige gehet aber lieber an die Karre,
beinahe als wenn er schon dahin gehörte. Es giebt also Pflichten, unter
denen das Leben weit unten an steht, und um diese zu erfüllen, müssen 30
wir keine Feigheit in Ansehung unsers Lebens blicken lassen. Die
Feigheit des Menschen entehrt die Menschheit ; die Hochschätzung des
physischen Lebens ist sehr feighaft. Der Mensch der bey einer jeden
Gelegenheit wegen einer Kleinigkeit sehr bange um sein Leben thut,
kommt jedem sehr lächerlich vor. Man muß seinen Tod standhaft er- 35
warten. Das hat einen kleinen Werth, dessen Verachtung einen
35r großen Werth hat. Auf der andern / Seite sollten wir aber unser
Leben nicht wagen und aus bloßem Intereße und privat Absichten
aufs Spiel setzen, alsdenn handelt man nicht allein unklug, sondern
Moralphilosophie Collins 377
auch niederträchtig, z. E. wenn man wetten wollte, auf wie viel Geld
über ein Wasser zu schwimmen. Wir sind wegen keines Gutes der Welt
schuldig unser Leben zu wagen, nicht aus Freyheit, sondern aus Pflicht.
Allein, es giebt doch solche Zustände, wo man sein Leben aus Intereße
5 wagt, z. E. der Soldaten -Stand im Kriege. Das ist aber keine privat
Absicht sondern ein allgemeines Wohl. Weil nun schon einmal die
Menschen so beschaffen sind, daß sie Kriege führen, so finden sich auch
Menschen, die sich dazu widmen. Die Frage ist sehr subtil, in wiefern
wir unser Leben zu schätzen und in wie fern wir es zu wagen haben ?
10 Der HauptpunJvt ist dieser : Die Menschheit in unsrer Person ist ein
Gegenstand der höchsten Achtung und / in uns unverletzlich. In den 358
Fällen wo der Mensch dadurch entehrt wird, da ist der Mensch ver-
bunden, lieber sein Leben aufzuopfern als seine Menschheit in seiner
Person zu entehren. Denn ehrt er seine Menschheit in seiner Person,
15 wenn sie von andern soll entehrt werden. Kann der Mensch sein Leben
nicht anders erhalten als durch Entehrung seiner Menschheit, so soll
er es lieber aufopfern. Denn setzt er zwar thierisches Leben in Gefahr,
allein er füiilt doch, daß er so lange er gelebet, ehrenwerth gelebt hat.
Es liegt nicht daran, daß der Mensch lange lebe (denn der Mensch ver-
20 liert nicht durch den Zufall sein Leben, sondern nur die Verlängerung
der Jahre seines Lebens, das Urtheil ist ihm schon von der Natur
gesprochen, einmal zu sterben), sondern daß er so lang er lebt, ehren-
werth lebe, und die Würde / der Menschheit nicht entehre. Kann er 359
nun länger nicht so leben, so kann er gar nicht leben; denn ist sein
25 moralisch Leben zum Ende. Das moralische Leben ist aber denn zum
Ende, wenn es mit der Würde der Menschheit nicht mehr überein-
stimmt. Dieses moralische Leben ist durch seine Uebel und Marter
determinirt. Ich kann unter aUen Martern dennoch moralisch leben.
Ich muß lieber alle Marter, ja selbst den Tod ausstehn, ehe ich eine
30 niederträchtige Handlung begehe. In dem Zeitpunlit, wo ich nicht
mehr mit Ehren leben kann, sondern durch eine solche Handlung des
Lebens unwürdig werde, denn kann ich gar nicht leben. Es ist also
weit besser, mit Ehren und Ruhm zu sterben, als sein Leben auf einige
Jahre durch eine niederträchtige Handlung zu verlängern. Wenn
35 nun z. E. eine Person ihr Leben nicht länger anders erhalten kann,
als durch Preisgebung / ihrer Person in den Willen eines andern, so ist 360
sie verbunden lieber ihr Leben aufzuopfern, als die Würde der Mensch-
heit in ihrer Person zu entehren, welches sie dadurch thut, daß sie sich
als eine Sache der Wlllkühr eines andern ergiebt.
378 Vorlesungen über Moralphilosophie
Es ist also die Erhaltung des Lebens nicht die höchste Pflicht
sondern man muß oft das Leben aufgeben, um nur ehrenwerth gelebt
zu haben.
Solche Fälle giebt es viele, und obgleich die Juristen sagen, daß die
Erhaltung des Lebens die höchste Pflicht ist, und daß man in casu 5
neceßitatis verbunden sey, für sein Leben zu stehen, so gehört die
Sache gar nicht vor die Jurisprudence, die soll nur die schuldigen
Pflichten gegen andre entscheiden, was Recht und Unrecht ist; aber
nicht die Pflichten gegen sich selbst, und sie können auch keinen
361 Menschen zwingen, daß er in solchem Fall sein Leben / aufgeben soll, lo
denn wodurch wollen sie ihn zwingen ? Dadurch, daß sie ihm sein
Leben nehmen ? Die Juristen müssen die Erhaltung des Lebens als die
größte Pflicht ansehn, weil sie nur durch Androhung der Beraubung
des Lebens einen am meisten prüfen können. Und über dem so giebt es
keinen andern casum neceßitatis, allwo mich die Sittlichkeit von der i5
Fürsorge für mein Leben losspricht, alle Noth, Gefahr und Marter ist
kein casus neceßitatis mein Leben zu erhalten ; denn die Noth kann die
Sittlichkeit nicht aufheben . Wenn ich also mein Leben nur durch Nieder-
trächtigkeit erhalten kann, so spricht mich die Tugend von der Pflicht
mein Leben zu erhalten los, weil hier eine höhere Pflicht gebietet und 20
mir das Urtheil fället.
363 /Von den Pflichten in Ansehung des Körpers selbst.
Unser Körper gehört zu unserm selbst, und zu den allgemeinen
Gesetzen der Freyheit, nach denen uns die Pflichten zukommen. Der
Körper ist uns anvertraut, und unsre Pflicht in Ansehung desselben 25
ist, daß das menschliche Gemüth den Körper erstlich disciplinire, und
denn Sorge für ihn tragen soll.
Der Körper muß erstlich disciplinirt werden ; denn es sind im Körper
principia, wodurch das Gemüth afficirt wird, wodurch der Körper den
Zustand des Gemüths verändert. Das Gemüth muß also dafür sorgen, 30
daß es eine Avtocratie über den Körper habe, damit der Körper den
Zustand des Gemüths nicht ändern kann. Das Gemüth muß also die
363 Obergewalt über den Körper erhalten, daß es ihn / nach moralischen
und pragmatischen principiis und maximen dirigiren kann. Hiezu
wird eine disciplin erfordert. Diese Disciplin ist mu" negative, das 35
Gemüth muß nur verliindern, daß der Körper dasselbe nicht wozu
neceßitiren kann; daß er das Gemüth nicht afficiren soll, kann wohl
Moralphilosophie Collins 379
nicht gehindert werden. Es beruht vieles auf dem Körper, in Ansehung
unseres Erkenntniß« Vermögens, des Vermögens der Lust und Unlust
und der Begierden. Wenn das Gemüth nicht gehörige Herrschaft über
den Körper hat, so werden die Gewohnheiten die man dem Körper
5 erlaubt, zu Nothwendigkeiten, und wenn das Gemüth den Hang des
Körpers nicht unterdrückt, so entspringt daraus die Ueberwiegung
des Körpers über das Gemüth. Diese Oberherrschaft des / Gemüths se-i
über den Körper, oder die Oberherrschaft der Intellectualitaet über die
sensualitaet können wir recht gut vergleichen mit einer Republic,
10 in der entweder eine gute oder schlechte Oberherrschaft ist. Die
Disciplin kann 2fach seyn, insoferne der Körper gestärkt oder ge-
schwächt werden soll. Viele schwermerische Moralisten glauben, sich
durch die Schwäche und Benehmung aller Sinnlichkeit des Körpers
alles, was sein sinnliches Vergnügen befördere, zu versagen, damit da-
15 durch das thierische des Körpers unterdrückt würde, und das geistige
Leben, welches sie dereinst zu erlangen hoffen, schon hier anticipirt
würde, und der Körper demselben durch eine allmähliche Ablegung
aller Sinnlichkeit immer näher käme. Man kann solche Uebungen
nennen die Tötung des Fleisches, welcher Ausdruck zwar bey den /
20 Heyden unbekannt war ; solche Uebungen nannten sie aber exercitia ses
coelestica, wo sie sich bemühten, sich von den Banden des Körpers zu
befreyen. Alle solche Uebungen aber, wozu z. E. Fasten, Casteyungen
gehören, sind schwermerisch und Mönchstugenden, die nur den Körper
abmergeln. Die Vollkommenheit der Disciplin des Körpers besteht
25 darin, daß der Mensch seiner Bestimmung gemäß leben kann. Der
Körper muß zwar der Disciplin unterworfen seyn, aber er muß nicht
von Menschen zerstöhrt, und seine Kräfte müßen nicht verletzt wer-
den. Zu der Disciplin wird also gehören, daß der Körper des Menschen
gestärkt werde, welches durch alle nützliche Abhärtung geschehn
30 kann, wo der Körper zwar versorgt, aber nicht verwöhnt M'ird. Wir
müssen also von den Vergnügungen des Körpers nichts / einnisten 366
lassen, sondern ihn so einzurichten suchen, daß er im Stande ist,
ausser der Bedürfniß alles zu entbehren, mit schlechter Kost vorlieb
zu nehmen, alle Strapatzen und Unglücksfälle mit Munterkeit zu er-
35 tragen. Der Mensch fühlt sein Leben mehr, je weniger er bedarf, seine
Lebenskraft zu erhalten. Wir müßen unsern Körper so abhärten wie
Diogenes, der als ein Sklave nichts gelernt hatte, als zu resigniren,
der die Kinder seines Herren erzogen, die gegen alle Ungemächlich-
keiten des Lebens abgehärtet, dabey aber von muntrer und heitrer
380 Vorlesungen über Moralphilosophie
Seele waren, und das principium der Rechtschaffenheit besaßen. So
wie auch die Glückseeligkeit des Diogenes, wie zu Anfange gesagt ist,
nicht im Ueberfluß, sondern im Mangel, in der Entbehrung der Glücks-
güter bestand.
367 / Da wir auf der einen Seite den Körper discipliniren können und 5
sollen, so haben wir auf der andern Seite eine Pflicht, Vorsorge für den
Körper zu tragen. Dazu gehört, daß wir die Lebhaftigkeit, Thätigkeit,
Stärke, und den Muth desselben zu befördern suchen. In Ansehung der
Disciplin des Körpers haben wir folgende 2 Pflichten zu beobachten,
die Mäßigkeit in Ansehung der Ergötzliclilceiten des Körpers und die lo
Genügsamlieit in Ansehung der würklichen Bedürfniße desselben.
Die Bedürfnisse können dem Körper nicht versagt werden, allein es ist
besser, daß der Mensch innerhalb diesen Schranken bleibe, als daß er
sie überschreite, daß er lieber dem Körper von seinen Bedürfnissen
etwas versage, als daß er darin zu weit gehe; denn die Weichlichkeit 15
macht ein Unvermögen aus. In Ansehung der Mäßigkeit giebt es 2erley
368 Abwege, die Gefräßigkeit / im Essen, und die Versoffenheit im Trinken.
Das Uebermaas im Trinken geht nicht auf die Quantität (es wird jemand
niemals Lüsternheit haben, viel Wasser zu trinken), sondern auf die
Delicateße und Qualität des Getränks ; aber im Essen kann der Mensch 20
auch durch schlechte Kost verleitet werden, viel zu essen. Beide Abwege
der Mäßigkeit sind Verletzungen der Pflichten gegen sich selbst ; durch
beyde entehrt sich der Mensch, weil beydes viehisch ist; denn einige
Laster der Menschen sind menschliche , die mit seiner Natur zusammen-
stimmen, ob sie gleich auch Laster sind, z. E. die Lügen; einige aber 25
sind so, daß sie außerhalb der Menschheit sind; sie lassen sich gar
nicht mit der Natur und dem Character des Menschen zusammen-
reimen. Von solchen Lastern sind 2erley Arten, die viehische und
teufelische Laster. Durch die viehische Laster setzt sich der Mensch /
369 unter das Vieh, und die teuflische sind ein Grad der Bosheit, die weit so
über die Bosheit des Menschen geht und wozu wir folgende 3 rechnen :
Neid, Undankbahrkeit und Schadenfreude. Zu den viehischen rech-
nen wir diese : Fräßigkeit, Versoffenheit und die crimina contra natu-
ram. Alle viehische Laster sind Gegenstände der größten Verachtung,
die teuflischen aber sind Gegenstände des größten Haßes. Welches 35
unter diesen beyden viehischen Lastern, Gefräßigkeit und Versoffen-
heit, ist verächtlicher und niedriger ? Der Hang zum Trunk ist nicht
so niedrig als die Gefräßigkeit; denn der Trunk ist ein Mittel der
Geselligkeit und Gesprächigkeit und befördert die Begeisterung des
Moralphilosophie Collins 381
Menschen, und in so fern hat er eine Entschuldigung; wenn aber der
Trunk über diesen Grad steigt, so wird er ein Laster der Versoffenheit.
In so fern sich also die Versoffenheit auf den Trunk der Geselligkeit
gründet, so bleibt / es zwar immer ein viehisches Laster, aber doch 3T0
5 nicht so verächtlich als Gefräßigkeit, die noch weit niedriger ist, weil
durch Gefräßigkeit weder die Geselligkeit noch die Belebung des
Körpers befriedigt wird, sondern bloß das thierische sich zeigt. Der
Trunk und die Versoffenheit in der Einsamkeit ist eben so schimpflich ;
denn da fällt die Ursache weg, die sie über die Gefräßigkeit ein wenig
10 erhob.
Von den Pflichten des Lebens in Ansehung des
Zustandes.
Der Mensch fühlt sein Leben durch Handlung und nicht durch
Genuß. Je mehr wir beschäftiget sind, je mehr wir fühlen, daß wir leben,
15 desto mehr sind wir uns unsres Lebens bewußt. In der Muße fühlen
wir nicht allein, daß uns das Leben so vorbeystreicht, sondern wir
fühlen auch so gar eine Leblosigkeit der Thätigkeit; sie gehört also
nicht zum Unterhalt unsers Lebens. Der Genuß des Lebens füllt/
die Zeit nicht aus, sondern läßt sie leer. Vor einer leeren Zeit hat aber 3Ti
20 das menschliche Gemüth Abscheu, Unmuth und Ekel. Die gegen-
wärtige Zeit kann uns zwar scheinen ausgefüllt zu seyn, aber in der
Erinnerung kommt sie uns doch leer vor; denn wenn sie ausgefüllt
wird mit Spiel etc., so scheint sie zwar so lange voll zu seyn, so lange
sie gegenwärtig ist ; aber in der Erinnerung ist sie leer ; denn wenn man
25 in seinem Leben nichts gethan hat, sondern die Zeit nur so verschleu-
dert, und man siehet auf seine Lebenszeit zurück, so weiß man nicht,
wie sie so geschwinde zu Ende gebracht ist, weil man darin nichts
gethan hat. Die Zeit wird aber nur ausgefüllt mit Handlungen;
wir fühlen nur unser Leben in Beschäftigungen, im Genuß fühlen wir
30 unser Leben nicht genugsam, denn das Leben ist das Vermögen / der $T2
Selbstthätigkeit und das Gefühl aller Kräfte des Menschen. Jemehr
wir aber unsre Kräfte fühlen, desto mehr fühlen wir unser Leben.
Empfindung ist nur die Kraft, die Eindrüke wahrzunehmen, da ist
man nur paßiv, und so weit nur activ, als man darauf Acht hat.
35 Je mehr aber ein Mensch gehandelt hat, desto melu" fühlt er sein Leben,
desto mehr kann er sich seines Lebens erinnern, weil er darin viel
gethan hat, und desto mehr ist er seines Lebens satt, wenn er stirbt.
382 Vorlesungen über Moralphilosophie
Seines Lebens satt seyn ist aber nicht, desselben überdrüßig seyn.
Der bloße Genuß macht einen des Lebens überdrüßig; aber lebens-
satt sterben kann man nur denn, wenn man es mit Handlungen und
Beschäftigungen ausgefüllt hat und es recht angewendet, so, daß es
313 einem nicht leid thut, daß man gelebt hat. Man / stirbt des Lebens 5
satt, wenn man, so lange man gelebt hat, viel gehandelt und ausgeübt
hat und sein Leben recht genutzt hat. Der wird des Lebens über-
drüßig, der nichts gethan hat, dem kommt es vor, als wenn er gar
nicht gelebet hätte, sondern erst anfangen woUte zu leben. Dahero
müßen wir unsre Zeit mit Handlungen ausfüllen ; denn werden wir uns lo
nicht beschweren über die Länge der Zeit ; im Ganzen genommen auch
nicht über die Kürze der Zeit, wenn man auf sie zurücksieht. Denn
über die Länge der Zeit klagen alle Leute, die nichts thun. Jeder Ab-
schnitt der Zeit wird ihnen zu lange, indem sie nichts darin zu thun
haben, und wenn sie sich wieder zm"ück erinnern, wissen sie nicht, i5
wo die Zeit geblieben ist. Der Mensch aber, der beschäftigt ist, bey
314 dem ist es umgekehrt, dem wird jeder Theil / der Zeit zu kurz, er weiß
nicht, wo die Zeit bleibt unter seiner Beschäftigung, die Stunden
schlagen ihm immer zu geschwinde ; wenn er sich aber herumsieht, so
sieht er, wie viel er schon in der Zeit gethan habe. Der Mensch muß 20
also seine Lebenski'aft, das heißt die Thätigkeit, durch viel Uebung
erhalten. Der Werth des Menschen beruht auf dem Maaß dessen, was
wir thun. Alle Müßigkeit ist demnach eine Veränderung des Grades
des Lebens. Dieses ist die Bedingung aller Pflichten, daß wir in uns
einen Trieb zur Thätigkeit zu erhalten suchen, denn sonst sind alle 25
Moralische Vorschriften umsonst; denn, hat der Mensch keinen Trieb
zur Thätigkeit, so wird er sich auch nicht einmahl Mühe geben, einen
Anfang darin zu machen. Der Mensch muß also thätig und wacker
seyn, das heißt : auch zu schweren Beschäftigungen entschlossen und
rüstig seyn. 30
315 /Alle Beschäftigung ist entweder Spiel oder Geschäfte. Nun ist es
besser, wenn man eine Beschäftigung hat. Lieber Beschäftigungen des
Spiels als gar keine haben, denn dadurch unterhält man doch wenig-
stens die Thätigkeit. Ist man aber ganz unbeschäftigt, so verliert man
etwas von der Lebenslo-aft, und deim wird man immer träger, und es 35
ist hernach schwerer, das Gemüth in die vorige Thätigkeit zu bringen.
Der Mensch kann nicht leben ohne Beschäftigung, und wenn er sich
sein Brot verdient, so ißt er es vergnügter, als wenn es ihm zugeschnit-
ten wird. So geht der Kaufmann gerne aufs Concert oder in Gesell-
Moralphilosophie Collins 383
Schaft, wenn der Posttag vorbey ist, und ist vergnügter, als wenn
keiner gewesen wäre. Wenn der Mensch viel gethan hat, so ist er nach
der Arbeit vergnügter, als wenn er gar nichts gethan hat ; denn durch
die Arbeit hat er seine Kräfte in Bewegung / gebracht, er fühlt sie 37«
5 daher desto besser, und denn ist auch das Gemüth belebter, Ver-
gnügungen zu genießen. Wer aber nichts gethan hat, der fühlt sein
Leben und seine Ivräfte nicht, und ist denn auch nicht zum Vergnügen
aufgelegt.
Ruhe ist von der Muße unterschieden. Sein Leben in Ruhe zu
10 bringen, geht wohl an, wenn es am Schluß eines würksamen Lebens
ist. Man kann zwar von der allgemeinen Beschäftigung der Welt oder
des gemeinen Wesens ruhn, indem man die Stelle in der Welt nieder-
gelegt hat; allein man kann doch noch vor sich im Privat-Leben
beschäftiget seyn. Diese Ruhe des Alters ist keine Läßigkeit, sondern
15 eine Erholung nach der Beschäftigung.
Um also in der Ruhe zu seyn, muß man beschäftiget gewesen seyn;
denn wer nichts gethan hat, kann nicht ruhen. Die Ruhe läßt sich nur
recht genießen nach der Beschäftigung. / W^er recht viel gethan hat, 3Ti
der wird die Nacht gut schlafen können ; wer aber nichts gethan hat,
20 dem ist die Ruhe nicht so angenehm.
Etwas von der Zeitverkürzung.
Es giebt viele Ausdrücke und Mittel die Zeit zu verkürzen, in der
der Mensch ist, z. E. wer nach der Uhr siehet, dem wird die Zeit lang.
Wer aber was zu thun hat, der wird die Zeit nicht gewahr, und desto
25 kürzer kommt sie ihm vor. Wenn wir unsre Aufmerksamkeit auf
Gegenstände richten, so werden wir die Zeit nicht gewahr, und denn
ist sie uns kurz, so bald wir aber auf die Ausmessung der Zeit denken
und sie beobachten, so ist sie uns leer. Unser Leben ist also länger,
jemehr es angefüllt ist. Beobachtung. Alle Meilen an der Haupt-
30 Stadt scheinen kleiner zu sein, und weiter davon länger; denn der da
reiset, und nichts darin / siehet, dem kommt die Meile lang vor, wenn 3T8
er sie fährt; hat er sie aber zurückgelegt, und besinnt sich darauf,
so kommt sie ihm kurz vor, weil er in dem Raum nichts hat, worauf er
sich besinnen kann, indem er nichts wahrgenommen hat; nun ist nahe
35 an der Hauptstadt mehr zu sehn imd wahrzunehmen als weit davon.
384 Vorlesungen über Moralphilosophie
Von den Pflichten gegen den Körper in Ansehung der
Geschlechts -Neigung.
Der Mensch hat eine Neigung die gerichtet ist auf andre Menschen,
nicht, so ferne er die Arbeit und die Umstände anderer genießen kann,
sondern unmittelbar auf andre Menschen als Objecte seines Genußes. s
Der Mensch hat zwar keine Neygung des andern Menschen sein Fleisch
zu genießen, und wo das ist, da ist es mehr eine Kriegesrache als eine
Neygung; aber es bleibt eine Neygung beim Menschen, die Appetit
379 heißen kann, und auf den Genuß des andern / Menschen gehet. Dieses
ist die Geschlechts Neygung. Der Mensch kann sich zwar des andern lo
bedienen als eines Instruments zu seinem Dienste; er kann seine
Hände, seine Füße zu seinem Dienste brauchen, aber mit seiner freyen
Willkühr. Aber wir finden gar nicht, daß der Mensch ein Objekt des
Genußes eines andern sein kann als durch die Geschlechts-Neygung.
Da liegt eine Art von Sinn zum Grunde den man den sechsten Sinn i5
nennen kann, vermittelst dessen der Mensch ein Genuß vom Appetit
des andern ist. Man sagt: der Mensch liebt die Person, sofern er die
Neygung zu ihr hat. Wenn wir diese Liebe als Menschenliebe betrach-
ten, wenn er die Person aus wahrer Menschenliebe liebt, so muß ihm
kein Unterschied in Ansehung des Menschen seyn. Diese Person mag 20
380 alt oder jung seyn, so kann er sie / aus wahrer Menschenliebe lieben.
Allein wenn er sie bloß aus Geschlechts-Neygung liebt, so kann dies
keine Liebe seyn, sondern Appetit. Die Liebe, als Menschenliebe, ist
die Liebe des Wohlwollens, Gewogenheit, Beförderung des Glücks,
und Freude über das Glück anderer. Allein, nun ist offenbar, daß 25
Menschen, die bloß Geschlechts-Neigung haben, aus keiner der vorigen
Absicht, der wahren Menschenliebe, die Person lieben, sie sind gar
nicht auf ihr Glück bedacht, sondern sie bringen sie so gar, um nur
ihre Neigung und nur ihren Appetit zu befriedigen, in ihr größtes
Unglück. Wenn sie sie aus Geschlechts Neigung lieben, so machen sie so
die Person zum Objekt ihres Appetits. So bald sie nun die Person
381 haben, und ihren Appetit gestület / so werfen sie dieselbe weg, eben so,
wie man eine Citrone wegwirft, wenn man den Saft aus ihr gezogen hat.
Die Geschlechts-Neigung kann zwar mit der Menschenliebe verbunden
werden, und denn führt sie auch die Absichten der Menschenliebe mit 35
sich, aber wenn sie allein und an sich genommen wird, so ist es nichts
mehr als Appetit. Es liegt doch in dieser Neygung auf solche Art eine
Erniedrigung des Menschen; denn so bald er ein Objekt des Appetits
Moralphilosophie Collins 385
des andern ist, so fallen alle Triebfedern der sittlichen Verhältnisse
weg; als ein Gegenstand des Appetits des andern ist er nämlich eine
Sache, wodurch der Appetit des andern gestillet wird, und die von
jedem als solche Sache kann gemißbraucht werden. Es giebt keinen
5 Fall, wo der Mensch schon von Natur bestimmt wäre, ein Gegenstand
des Genußes des andern zu sein als diesen, wovon die Geschlechter
Neigung / der Grund ist. Dies ist die Ursache warum man sich scheut 388
solche Nej^gung zu haben, und warum alle strenge Moralisten und die
als heilige angesehn werden wollen, diese Neigung zu unterdrücken
10 und zu entbehren gesucht haben. Zwar wäre ein Mensch, der solche
Neygung nicht hätte, ein unvollkommener Mensch, indem man glauben
sollte, daß ihm die Werkzeuge dazu fehleten, welches also eine Un Voll-
kommenheit von ihm, als einem Menschen, wäre; man affectirte doch
darin und suchte sich solcher Neygung zu enthalten, weil sie den
15 Menschen erniedrigt. Weil die Geschlechts-Neigung keine Neigung ist,
die ein Mensch gegen den andern als Menschen hat, sondern eine
Neygung gegen das Geschlecht; so ist diese Neigung ein principium
der Erniedrigung der Menschheit, eine Quelle, ein Geschlecht dem
andern vorzuziehen und es aus Befriedigung der Neigung zu entehren.
20 Die Neygung die man zum Weibe hat, geht nicht auf es als auf einen
Menschen ; vielmehr ist einem Mann die Menschheit am Weibe gleich-
gültig und nur das Geschlecht der Gegenstand seiner Neigung.
/ Die Menschheit wird also hier hinten an gesetzt. Hieraus folgt, 383
daß ein jeder Mann und ein jedes Weibsbild sich bemühn wird, nicht
25 der Menschheit sondern ihrem Geschlecht einen Reitz zu geben, und
alle Handlungen und Begierden nur aufs Geschlecht zu richten. Wenn
dieses ist, so wird man die Menschheit dem Geschlecht aufopfern.
Wenn also ein Mann seine Neygung befriedigen will, und ein Weib
wiederum die ihrige, so reizt jeder die Neygung des andern auf sich,
30 und beyde Neygungen gerathen gegen einander und gehn gar nicht auf
die Menschheit sondern aufs Geschlecht, und einer entehrt des andern
seine Menschheit. Demnach ist die Menschheit ein Instrument die
Begierden und Neygungen zu befriedigen ; dadurch wird sie aber ent-
ehrt und der Thierheit gleich geschäzt. Die Geschlechts Neygung setzt
35 also die Menschheit in Gefahr, daß sie der Thierheit gleich werde. Da
nun aber der Mensch diese Neygung von der Natur einmal hat, so
fragt es sich: In wiefern ist jemand befugt von seiner Geschlechts-
Neygung einen Gebrauch zu machen, ohne Verletzung der Menschheit ?
In wiefern kann eine Person / der andern Person andren Geschlechts 384
25 Kanfs Schriften XXVII/1
386 Vorlesungen über Moralphilosophie
erlauben, an ihr ihre Neygung zu befriedigen? Kann sie sich verkaufen
oder vermieten, oder durch irgend einen contract erlauben von ihren
facultatibus sexualibus Gebrauch zu machen ? Alle Philosophen
setzen dieser Neygung nur die Schädlichkeit und die Zerrüttung theils
seines Körpers, theils des gemeinen Wesens entgegen und glauben daß 5
in der Handlung an sich nichts verächtliches wäre ; allein wenn dieses
wäre, wenn keine innere Abscheulichkeit und Verletzung der Moralität
im Gebrauch der Neygung wäre, so könnte ein solcher, der allein diesen
Schaden evitiren könnte, auf alle nur mögliche Art von seiner Neygung
Gebrauch machen, denn was nur nach der Regel der Klugheit verboten lo
ist, das ist nur bedingter Weise verboten, denn ist die Handlung an
sich gut, unter einigen Umständen aber nur schädlich. Allein es ist
hier in der Handlung selbst etwas verächtliches, was wider die Morali-
385 tat / läuft. Demnach müssen Bedingungen möglich seyn, unter denen
nur allein der Gebrauch der facultatum sexualium mit der Moralität i5
übereinstimmt. Es muß ein Grund seyn, der unsere Freyheit in An-
sehung des Gebrauchs unsrer Neygung restringiret, daß sie mit der
Moralität congruiret. Diese Bedingungen und den Grund wollen wir
aufsuchen. Der Mensch kann über sich selbst nicht disponiren, weil er
keine Sache ist. Der Mensch ist nicht ein Eigenthum von sich selbst, 20
das ist eine Contradiction ; denn so ferne er eine Person ist, so ist er ein
Subject, das ein Eigenthum an andern Dingen haben kann. Wäre er
nun aber ein Eigenthum von sich selber, so wäre er eine Sache,
über die er Eigenthum haben kann. Nun ist er aber eine Person,
die kein Eigenthum hat, demnach kann er keine Sache seyn, an 25
der er ein Eigenthum haben kann; denn es ist ja unmöglich Sache
386 und Person zugleich zu seyn, ein Eigenthümer und / ein Eigenthum
zu seyn.
Demnach kann der Mensch nicht über sich disponiren, er ist nicht
befugt einen Zahn oder ein ander Glied von sich zu verkaufen. Wenn 30
nun aber eine Person sich aus Intereße als ein Gegenstand der Befriedi-
gung der Geschlechts-Neigung des andern gebrauchen läßt, wenn sie
sich zum Object des Verlangens des andern macht, denn disponirt sie
über sich als über eine Sache, und macht sich dadurch zu einer Sache,
wodurch der andre seinen Appetit stillt, eben so wie durch den 35
Schweinsbraten seinen Hunger. Nun ist offenbar, da die Neigung des
andern auf das Geschlecht und nicht auf die Menschheit geht, daß die
Person ihre Menschheit zum Theil dahin giebt, und dadm-ch in An-
sehung der moralischen Zwecke Gefahr läuft.
Moralphilosophie Collins 387
Der Mensch ist also nicht befugt, zur Befriedigung seiner Geschlech-
ter-Neigung aus Intereße sich als eine Sache dem andren zum Ge-
brauch darzugeben, denn alsdenn läuft seine Menschheit Gefahr, /
von jedermann als eine Sache, als ein Instrument der Befriedigung 38T
5 seiner Neigung, gebraucht zu werden. Diese Art der Befriedigung sei-
ner Geschlechtes-Neigung ist die vaga libido, wo man aus Intereße die
Neigung des andern befriediget, welches von beyderley Geschlechtern
geschehn kann. Dieses ist das schändlichste, sich für Geld dem andren
zur Befriedigung seiner Neigung Preis zu geben und seine Person zu
10 vermiethen. Der moralische Grund ist also, daß der Mensch nicht sein
Eigenthum sey, und mit seinem Körper machen kann was er will;
denn da der Körper zu seinem Selbst gehört, so macht er mit ihm eine
Person aus ; nun kann er aber seine Person nicht zur Sache machen,
welches aber durch die vaga libido geschieht. Demnach ist diese Art
15 die Geschlechter-Neygung zu befriedigen nach der Moralität nicht
erlaubt. Allein ist es nicht erlaubt, seine Neigung durch die 2te Art
und durch den concubinatum zu befriedigen ? — Wo die / Personen 388
wechselweise ihre Neigungen befriedigen, und gar kein Intereße zur
Absicht haben, sondern wo eine zur Befriedigung der Neigung der
20 andern Person dient ? — Hierin scheint gar nichts zweckwidriges zu
liegen; allein eine Bedingung macht auch diesen Fall unerlaubt. Der
concubinat ist : wenn sich eine Person der andern nur zur Befriedigung
der Neigung Preis giebt, aber in Ansehung ihrer übrigen Umstände,
die ihre Person betreffen, die Besorgniß ihres Glücks und ihres Schick-
25 sals, sich selbst eine Freyheit und ein Recht vorbehält. Der Mensch
aber, der sich der andern Person nur bloß zur Befriedigung der Nei-
gung dargiebt, der läßt doch noch immer seine Person als Sache ge-
brauchen; die Neigung geht doch noch immer bloß aufs Geschlecht,
und nicht auf die Menschliclilveit. Nun ist offenbar, daß wenn der
30 Mensch einen Theil von sich dem andern überläßt, so überläßt er sich
ganz. Es ist nicht möglich über einen Theil des Menschen zu disponiren,
denn ein Theil des Menschen gehört zum ganzen Menschen. Durch
den / Concubinat habe ich aber kein Recht auf die ganze Person, 38»
sondern nur auf einen Theil von ihr, nähmlich auf die Organa sexualia.
35 Der Concubinat setzt ein pactum voraus, dieses pactum sexuale geht
nur auf den Genuß eines Theils der Person, aber nicht auf den ganzen
Zustand derselben. Es ist zwar der Concubinat ein Contract, der aber
ungleich ist, wo von beyden Theilen nicht die Rechte gleich sind.
Wenn ich aber im Concubinat einen Theil vom Menschen genieße, so
388 Vorlesungen über Moralphilosophie
genieße ich dadurch den ganzen Menschen. Ich habe aber vermöge des
concubinats nicht ein Recht auf den gantzen Menschen, sondern nur
auf einen Theil vom Menschen, folglich mache ich seine ganze Person
zur Sache; demnach ist auch diese Art seine Neigung zu befriedigen
nach der Moralität nicht erlaubt. Die einzige Bedingung, unter der die &
Freyheit statt findet, von seiner Geschlechter Neigung Gebrauch zu
machen, gründet sich auf das Recht, über seine ganze Person zu /
390 disponiren. Dieses Recht über die ganze Person des andern zu dispo-
nüen betrifft den ganzen Zustand des Glücks und alle Umstände die
ihre ganze Person angehn. Das Recht aber das ich habe, über die ganze lo
Person zu disponiren, also auch die organa sexualia zur Befriedigung
der Geschlechter-Neigung zu gebrauchen, wodurch erlange ich die-
ses Recht über die ganze Person ? — Dadurch daß ich der andern
Person eben ein solches Recht über meine ganze Person gebe, dies
geschieht nur allein in der Ehe. Das matrimonium bedeutet einen is
Vertrag zweyer Personen, wo sie sich wechselseitig gleiche Rechte
restituiren, und die Bedingung eingehen, daß ein jeder seine ganze
Person dem andern ganz übergiebt, so daß jeder ein völliges Recht auf
die ganze Person des andern hat. Nun läßt es sich durch die Vernunft
einsehn, wie ein commercium sexuale ohne Erniedrigung der Mensch- 20
heit und Verletzung der Moralität möglich sey. Die Ehe ist also die
einzige Bedingung von seiner Geschlechter-Neigung Gebrauch zu
machen. Wenn sich nun eine Person der andern widmet, so widmet sie
nicht allein ihr Geschlecht, sondern ihre ganze Person, dieses läßt sich
nicht separiren. Wenn nur ein Mensch dem andern, seine Person, sein 25
391 Glück, / sein Unglück und alle seine Umstände übergiebt, daß er Recht
darauf hat, und diese Person nicht wieder eben ein solches, und das-
selbe Recht auf seine Person hat, so ist hier eine Ungleichheit. Wenn
ich aber meine ganze Person der andern weggebe, und gewinne da-
durch die Person des andern in die Stelle, so gewinne ich mich selbst 30
wieder, und hab mich selbst dadurch reoccupirt ; denn ich habe mich
dem andern zum Eigenthum gegeben, ich nehme aber wieder den
andern zu meinem Eigenthum, so gewinne ich mich selbst wieder;
denn ich gewinne die Person, der ich mich zum Eigenthum gegeben
habe. Demnach machen beyde Personen eine Einheit des Willens aus. 35
Es wird also keine Person ein Glück oder Unglück, Freude oder Miß-
vergnügen erdulden, wo nicht die andre mit Antheil nehmen wird.
Die Geschlechter-Neigung macht also unter den Menschen eine Ver-
einigung, und unter dieser Vereinigung ist der Gebrauch der Ge-
Moralphilosophie Collins 389
schlechter-Neigung allein möglich. Diese Bedingung, die nur allein in
der Ehe möglich, von seiner Geschlechter*Neigung Gebrauch zu
machen, ist moralisch. / Wenn dieses noch weiter und systematischer 398
bearbeitet wird, so muß noch folgen, daß keiner auch nicht in matri-
5 monio 2 Weiber haben kann ; denn sonst hätte Jede Frau einen halben
Mann, da sie sich ihm doch ganz ergiebt, und sie also ein ganzes Recht
auf seine Person hat. Es giebt also moralische Gründe die der vagae
libidini widerstreiten; Gründe, die dem coneubinat widerstreiten;
Gründe, die der Polygamie in matrimonio widerstreiten ; folglich findet
10 nur allein in matrimonio die Monogamie statt. Unter dieser Bedingung
kann ich nur allein von der facultate sexuali Gebrauch machen. Weiter
können wir hier nicht gehn.
Nun können wir noch fragen, ob es moralische Gründe geben kann,
die dem Incestui — Incestus ist die Gemeinschaft der Geschlechter,
15 die die Schranken der Gemeinschaft übertritt, wegen Naheit des
Blutes — in allen Arten des Commercii sexualis widerstreiten ? —
Die moralischen Gründe in Ansehung des Incestus / sind nur in einem 393
einzigen Fall unbedingt, in andern Fällen sind sie nur bedingt, z. E.
im Staat ist es nicht erlaubt ; aber nach der Natur ist es kein Incestus,
20 denn die ersten Menschen müssen aus den Geschwistern geheiratet
haben. Allein die Natur hat schon von Selbsten einen natürlichen
Widerwillen hierin gelegt; denn die Natm- wollte, daß wir uns mit ein-
ander verbinden sollten, damit nicht in einer Gesellschaft eine gar zu
große Verbindung wäre, denn die Neygung in einer gar zu großen Ver-
25 bindung und Bekanntschaft wird gleichgültig und ekelhaft, die Men-
schen müssen aber diese Neigung durch Bescheidenheit einschränken,
daß sie die Neygung nicht gar zu gemein machen, damit nicht durch
die gar zu große Gemeinschaft eine Gleichgültigkeit entspringe ; deimi
diese Neygung ist sehr delicat ; die Natur hat ihr ihre Stärke gegeben ;
30 aber sie muß auch durch Schaamhaftigkeit eingeschränkt Merden.
Demnach sind die Wilden, die ganz nackend gehn, / ganz kalt gegen 394
einander. Also ist auch die Neygung gegen eine Person, die man von
Jugend auf gekannt hat, sehr kalt, die Neigung gegen eine fremde Per-
son ist viel stärker undreitzbarer. Die Natur hat also schon von selbst
35 die Neigung gegen die Geschwister eingeschränkt. Der einzige Fall
aber, wo die moralischen Gründe in Ansehung des Incestus unbedingt
sind, ist die Gemeinschaft der Eltern mit den KLindern ; denn in An-
sehung dieser 2 Theilen ist eine Achtung nöthig, die auch durch das
ganze Leben daxu-en muß ; die Achtung aber schließt die Gleichheit aus.
390 Vorlesungen über Moralphilosophie
Dieses ist der einzige Fall, wo der Incest unbedingt und schon durch die
Natur unerlaubt ist ; die andren incestus verbieten sich von sich selbst ;
aber nach der Ordnung der Natur ist es doch kein Incestus. Eine andre
Ursache, daß dieses nur ein Incestus sey, ist: In der Geschlechter-
Gemeinschaft ist die größte Unterwürfigkeit beyder Personen, 5
395 zwischen Eltern / und Kindern ist aber die Unterwürfigkeit nur ein-
seitig; die Kinder sind nur den Eltern unterworfen; also ist keine
Gemeinschaft.
Von den Criminibus carnis.
Die Crimina carnis sind der Pflicht gegen sich selbst entgegen, weil lo
sie wider die Zwecke der Menschheit laufen. Crimen carnis ist der Miß-
brauch der Geschlechtes-Neigung. Jeder Gebrauch der Geschlechtes-
Neigung außer der Bedingung der Ehe, ist ein Mißbrauch derselben,
oder ein crimen carnis. Alle crimina carnis sind entweder secundum
naturam oder contra naturam. Die crimina carnis secundum natiuram i5
sind der gesunden Vernunft entgegen. Die Crimina carnis contra
naturam sind der Thierheit entgegen. Zu den criminibus carnis
secundum naturam gehört die vaga libido, welche dem Matrimonio
entgegen gesetzt ist. Diese vaga libido ist 2fach, entweder scortatio
396 oder concubinatus. / Concubinatus ist zwar ein pactum aber inae- 20
quäle ; die Rechte sind nicht wechselseitig ; nach diesem pacto unter-
wirft sich die Person gänzlich dem Mann in Ansehung des Geschlechts.
Es ist also der concubinat unter der vaga libidine begriffen. Das zweyte
crimen carnis secundum natiu-am ist adulterium, dieses hat nur in der
Ehe statt, wenn nämlich die Ehe gebrochen wird. Da die Eheverlo- 25
bung die größte Verpflichtung zwischen 2 Personen ist, die auf ihr
ganzes Leben fortdauert, also die unverbrüchlichste Verlobung ist;
so ist das adulterium unter allen Treulosigkeiten und Brechungen
der VerpfUchtungen die größte Treulosigkeit, weü keine wichtigere
Verlobung ist als diese. Demnach ist das adulterium auch die Ursache so
der Trennung des Matrimonii; eine andere Ursache der Trennung ist
auch die Ungeselligkeit und Uneinigkeit der Personen, wodurch die
Einheit und Eintracht des Willens der Person nicht möglich ist. /
39T Es wird gefragt, ob der Incestus, der an sich ein Incestus ist, aber
nicht aus bürgerlichen Gesetzen, ein crimen carnis secundum oder 35
contra naturam sey ? — Hier muß aber erst unterschieden werden,
ob die Frage nach dem natürlichen Instinct oder nach der Vernunft
Moralphilosophie Collins 391
soll beantwortet werden ? Nach dem natürlichen Instinkt ist der
Incestus nur ein crimen carnis secundum naturam; denn es ist doch
immer eine Gemeinschaft beyder Geschlechter, also contra natm-am
animalium ist es nicht, denn die Thiere machen hier keinen Unter-
5 schied, sondern bedienen sich des Geschlechts ohne Unterschied ; aber
nach den Urtheilen des Verstandes ist es contra natm-am. Zu den
criminibus carnis contra naturam gehört der Gebrauch der Geschlech-
tes Neigung, der dem natürlichen Instinkt und der / Thierheit entgegen 398
ist, biezu wird gerechnet die onania. Dieses ist der Misbrauch des
10 Geschlechtsvermögens ohne allen Gegenstand ; wenn nämlich der
Gegenstand unserer Geschlechtes-Neigung ganz und gar wegfällt, und
der Gebrauch unseres Geschlechts Vermögens dennoch ohne allen
Gegenstand ganz und gar nicht wegfällt, sondern exercirt wird. Dieses
läuft offenbar wider die Zwecke der Menschheit, und ist so gar der
15 Thierheit entgegen; hiedurch wirft der Mensch seine Person weg, und
setzt sich unter das Thier. Zweytens gehört zu den Criminibus carnis
contra naturam die Gemeinschaft des sexus homogenii, wenn der
Gegenstand der Geschlechtes-Neigung zwar unter den Menschen bleibt,
aber verändert wird, wo die Gemeinschaft des sexus nicht heterogen,
20 sondern homogen ist, d. i. wenn ein Weib gegen ein Weib, und ein
Mann gegen einen Mann seine Neigung / befriediget. Dieses läuft auch 399
wider die Zwecke der Menschheit, denn der Zweck der Menschheit in
Ansehung der Neigung ist die Erhaltung der Arten ohne Wegwerfung
seiner Person; hiedurch erhalte ich aber gar nicht die Art, welches
25 noch durch ein crimen carnis contra naturam geschehn kann, nur da
werfe ich meine Person wieder weg, also versetz ich mich hiedurch
unter das Thier und entehre die Menschheit. Das dritte crimen carnis
contra naturam: wenn der Gegenstand der Geschlechtes-Neigung zwar
auf die Verschiedenheit des Geschlechts bleibt, aber vom Menschen
30 unterschieden ist. Hiezu gehören z. E. die Sodomiterey, die Gemein-
schaft mit den Thieren. Dieses läuft auch wider die Zwecke der
Menschheit, und ist dem natürlichen Instinkt zuwider ; hiedurch unter-
werfe ich die Menschheit unter die Thierheit, indem kein Thier von
seiner species abgeht. Alle crimina carnis contra naturam erniedrigen
35 die Menschheit unter die Tliierheit, machen den Menschen der Mensch-
heit unwürdig ; der Mensch verdient alsdenn nicht, daß er eine Person
ist, und es ist / das unedelste und niedrigste, was der Mensch in400
Ansehung der Pflichten gegen sich selbst begehn kann. Der Selbst-
mord ist zwar das schrecklichste, was ein Mensch in Ansehung seiner
392 Vorlesungen über Moralphilosophie
begehn kann; er ist aber doch nicht so unedel und niedrig, als dies
crimen carnis contra naturam; dieses ist das verächtlichste, was ein
Mensch begehn kann. Deswegen sind auch die crimina carnis contra
naturam unnennbar, weil selbst dadurch, daß man sie nennt, ein Ekel
verursacht wird, welches doch beim Selbstmord nicht ist. Jeder 5
scheuet sich diese Laster zu nennen; jeder Lehrer enthält sich, selbige
nicht einmal aus guter Absicht, seine Untergebene dafür zu warnen,
zu nennen ; indem sie aber dennoch so häufig geschehn, so ist man hier
im Gedränge und in Verlegenheit, ob man sie nennen soll, um sie
kennbar zu machen, und dadurch zu verhindern, daß sie nicht so lo
häufig geschehn, oder, ob man sie nicht nennen soll, um nicht dadurch
Gelegenheit zu geben, daß einige sie kennen lernen, und sie hernach
desto häufiger begehn. Die Ursache dieser Schamhaftigkeit ist, weil
401 die Nennung derselben / so familiarisiret, daß man den Abscheu da-
wider verliert, und daß sie dadurch daß man sie nennt, erträglicher i5
werden ; wenn man aber in Nennung derselben behutsam ist, und einen
Widerwillen hat, sie zu nennen, so scheint es, als wenn man noch einen
Abscheu dagegen hegt. Eine andre Ursache dieser Schamhaftigkeit ist :
Ein jedes Geschlecht schämt sich der Laster, dessen sein Geschlecht
fähig ist. Der Mensch schämt sich also das zu nennen, dessen sich die 20
Menschheit schämen soUte, daß sie dessen fähig ist. Man muß sich
schämen, daß man ein Mensch ist, und doch dessen fähig ist, denn ein
Thier ist aller solcher crimina carnis contra naturam nicht fähig.
Von den Pflichten gegen sich selbst in Ansehung des
äußern Zustandes. 25
Es ist schon oben gesagt, daß der Mensch einen QueU der Glück-
seeligkeit in sich selbst hat; diese kann zwar nicht darin bestehn, daß
der Mensch eine völlige Unabhängigkeit von allen Bedürfnissen und
äußern Ursachen sich erwerbe, allein sie kann so seyn, daß er wenig
4oa bedarf. Um dieses aber zu erlangen, / muß der Mensch eine Avtocrabie so
über seine Neigungen haben. Er muß seine Neigung auf Sachen, die er
nicht haben kann oder die er mit vieler Mühe haben kann, bezähmen,
denn ist er in Ansehung ihrer unabhängig. Er muß ferner solche
principia haben, sich solche Annehmlichkeiten des Lebens zu ver-
schaffen, die er in seiner Gewalt haben kann, das sind die erlaubten 35
Vergnügungen. Also Genügsamkeit und Erhöhungen der geistigen
Vergnügungen. Was aber die äußern Dinge betrifft, so fern sie die
Moralphilosophie Collins 393
Bedingung und die Mittel des Wohlbefindens seyn, so sind dieselben
2facli, entweder Mittel der Bedürfniß und der Notkdurft, oder der
Annehmliclikeit. Die Mittel der Nothdurft dienen nur dazu, daß man
lebe, aber die Mittel der Annehmlichkeit dienen nicht dazu, daß man
5 lebe, sondern daß man gemächlich lebe. Der natürliche Grad der
Zufriedenheit ist mit der Bedürfniß verbunden, allein, wenn ich
zufrieden bin mit den Mitteln der Bedürfniß, denn habe ich noch keine
Ergötzlichkeit. / Die Zufriedenheit ist was negatives, allein die An- 403
nehmliclikeiten was positives. Solange ich Lust zu leben habe, denn
10 bin ich zufrieden, und wenn ich keine Lust zu leben habe, denn bin
ich unzufrieden, nun hab ich aber Lust zu leben, wenn ich nur dürftig
leben kann, allein denn habe ich noch keine Annehmliclilceiten. Die
Annehmlichkeiten sind Mittel des Wohlbefindens, die man entbehrlich
findet ; wo nun aber keine Entbehrlichlceit statt findet, da ist es schon
15 ein Mittel der Bedürfniß. Nun kommt es darauf an, was wir für ein
Mittel der Annehmliclil\:eit und was wir für ein Mittel der Bedürfniß
ansehn, wie viel wir zur Annehmlichkeit, und wie viel wir zur Bedürf-
niß rechnen, und was wir entbehren können oder nicht. Alle Annehm-
liclikeiten und Vergnügungen müssen wir so geniessen, daß wir sie
20 auch entbehren können, wir müßen sie niemals zur Bedürfniß machen.
Auf der andern Seite müssen wir uns angewöhnen, alle Ungemächlich-
keiten — das ist noch kein Unglück — / standhaft zu ertragen. Also 404
in Ansehung der Ergötzlichlceiten sollen wir uns zur Entbehrlichkeit
und in Ansehung der Ungemächlichkeiten zur Leidlichkeit ange-
25 wohnen. Die Alten drückten dieses dadurch aus, wenn sie sagten:
Sustine et abstine. Wir dürfen uns nicht aller Annehmlichkeiten und
Vergnügungen entschlagen und gar keine genießen, das wäre eine
Mönchs Tugend, sich alles dessen zu entsclilagen, was dem mensch-
lichen Leben angemeßen ist : aber wir müssen sie nur so geniessen, daß
30 wir sie auch entbehren können und nicht zu Bedürfnissen machen, als-
denn sind wir abstinent gewesen. Auf der andern Seite müssen wir
uns angewöhnen alle Ungemächliclikeiten des Lebens zu ertragen und
unsre Stärke in Ei'duldung derselben zu versuchen, und die Zufrieden-
heit nicht dabey zu verlieren. Denn besitzen wir Stärke der Seele,
35 wenn wir die Uebel, die nicht zu ändern sind mit heiterer Seele und
fröhlichem Gemüthe ertragen, und dieses ist das sustine der Alten.
Wir dürfen uns nicht selbst Ungemächlichkeiten auflegen, alle Uebel
versuchen und uns durch Castejoing / züchtigen, dieses ist eine 405
Mönchstugend von der sich die philosophische unterscheidet, die allen
394 Vorlesungen über Moralphilosophie
Uebeln die da kommen und unvermeidlich sind, fröhlich entgegengeht ;
zulezt läßt es sich doch alles ertragen. Es wird also hier das sustine
und abstine nicht als eine Disciplin genommen, sondern als eine Ent-
behrlichkeit in Ansehung der Annehmlichkeiten, und als eine Erdul-
dung aller Ungemächlichkeiten mit fröhlichem Muthe. Es giebt wahre 5
Bedürfnisse des Lebens, deren Beraubung uns gänzlich unzufrieden
macht, z. E. unbeldeidet und ohne Nahrung zu seyn. Es giebt aber
auch Bedürfnisse, durch deren Beraubung wir zwar unzufrieden
werden, die Avir aber immer entbehren können. Jemehr einer von den
Scheinbedürfnissen abhängt, desto mehr ist er in seiner Zufriedenheit lo
ein Spielball von denselben. Der Mensch muß also seine Seele in An-
sehung der Bedürfnisse des Lebens discipliniren.
Wenn wir die Bedürfnisse unterscheiden wollen, so können wir das
406 / Uebermaß im Genuß von der Ergötzlichkeit, Ueppigkeit, und das
Uebermaß von der Gemäclüichkeit, Weichlichkeit nennen. Die is
Ueppigkeit macht uns abhängig von einer Menge Sachen, die wir uns
hernach nicht verschaffen können, und wodurch wir hernach in aller-
ley Kummer versetzt werden, so daß wir uns auch wohl gar das Leben
nehmen, denn wo die Ueppigkeit ueberhand nimmt, da pflegt der
Selbstmord zu herrschen. Wenn die Ueppigkeit überhand nimmt, 20
so verringert sie das Wohlbefinden des Zustandes, und wenn die
Weichlichkeit überhand nimmt, so ist das die völlige Ausrottung der
männhchen Stärke. Die Ueppigkeit ist der üppige luxus, die Weich-
lichkeit der weichliche Luxus ; der üppige Luxus ist thätig, der weich-
liche aber läßig. Die thätige Ueppigkeit ist den Kräften des Menschen 25
nüzlich, dadm-ch werden die Kräfte des Lebens gestärkt, so gehört
z. E. reiten zum üppigen luxu. Alle Arten von lustiger Weichlichlceit
407 sind sehr schädlich, dadurch werden / die Kräfte des Lebens ge-
schwächt, so gehört das Sänftentragen und Kutschen fahren zur
Weichlichl^eit. Wer zum üppigen Luxu geneigt ist, der erhält bey sich so
die Thätigkeit und auch bey andern Menschen ; demnach ist es besser,
wenn man sich auf die Verfeinerung des Genußes als auf die Weich-
lichkeit legt. Denn der üppige Luxus excolirt unsre Kräfte, und erhält
die Thätigkeit bey andern Menschen. In Ansehung der Ueppigkeit so
wohl als der Weichlichlceit müssen wir auch die Regel von sustine und 35
abstine beobachten. Wir müssen uns von beyden unabhängig machen;
denn jemehr der Mensch von der Ueppigkeit und WeichHchkeit ab-
hängt, desto weniger ist er frey, und desto näher ist er dem Laster.
Wir dürfen uns aber auch nicht sklavisch allen Ergötzlichkeiten ent-
Moralphilosophie Collins 395
ziehen, sondern sie nur immer so genüssen, daß wir sie auch entbehren
können. Der Mensch, der weder seine Pflichten / noch des andern seine 408
verletzt, kann so viel Vergnügen genießen, als er nur kann und will.
Er bleibt dabey immer gutartig und erfüllt den Zweck der Schöpfung.
5 Auf der andern Seite dürfen wir uns auch nicht alle Uebel auflegen,
und sie denn erdulden; denn darin ist kein Verdienst Uebel zu er-
dulden, die man sich selber auferlegt, und deren man hätte überhoben
seyn können ; aber solche Uebel müssen wir standhaft ertragen, die uns
das Schicksal zuschickt und die nicht zu ändern sind, denn das Schick-
10 sal ist eben so wenig aufzuhalten, als eine Mauer die schon einfällt.
Alles dieses aber ist an sich keine Tugend, so me das Gegentheil davon
kein Laster ist, sondern es ist nur die Bedingung der Pflichten. Der
Mensch kann seine Pflichten nicht erfüllen, wenn er nicht alles ent-
behren kann, denn sonst übertäuben ihn die sinnlichen Lockungen;
15 er kann nicht tugendliaft seyn, wenn er nicht im LTnglück standhaft
ist. Er muß / also erdulden können, damit er tugendhaft sey. Dieses 409
ist die Ursache, warum Diogenes seine Philosophie den kürzesten Weg
zur Seeligkeit nannte. Darin fehlte er zwar, daß er solches für eine
Pflicht hielt, da es doch nur so weit geht, daß der Mensch auch in
20 solchem Grad zufrieden seyn kann. Die Epicurische Philosophie ist
nicht die Philosophie der Ueppigkeit, sondern der männlichen Stärke.
Nach ihm sollte man auch mit der Polenta zufrieden seyn, und doch
fröhlich und heiter und fähig aller Vergnügungen der Gesellschaft, auch
aller Annehmliclikeiten des Lebens. Also fassen sie die Glückseeligkeit
25 an beyden Enden. Der Stoiker hat sich nicht allein solches nicht
erlaubt, sondern so gar versagt. Unter die Beschwerlichkeiten, die wir
uns angewöhnen müssen zu ertragen und zu erdulden, gehört die
Arbeit, welches eine zweckmäßige Beschäftigung ist, und eine Absicht
hat. Es giebt aber auch Beschäftigungen, die gar keine Arbeiten sind,
30 sondern nur zum Vergnügen dienen, und / keine Beschwerliclilvciten 4io
in sich fassen. Solche Beschäftigung ist ein Spiel. Je erhabener die
Zwecke sind, desto mehr Hindernisse und Beschwerlichkeiten faßt die
Arbeit in sich, aber, wenn sie auch noch so viel Beschwerlichlceiten in
sich faßt, so müssen wir uns doch an die Arbeit gewöhnen, daß sie auch
35 Selbsten ein Spiel wird, und uns gar nicht beschwerlich fällt, sondern
uns unterhält und vergnügt. Der Mensch muß aber thätig und arbeit-
sam seyn und die beschwerlichen Geschäfte gerne und fröhlich über
sich nehmen, denn sonst hat die Arbeit das Merkmal des Zwanges,
und nicht der Leichtigkeit. Es giebt Menschen, die aus Zweck be-
396 Vorlesungen über Moralphilosopliie
schäftiget sind, andre die es nicht aus Zweck sind; aber die gar keinen
rechtschaffenen Zweck haben, sind geschäftige Müssiggänger, welches
eine läppische Art von Beschäftigung ist. Wir haben zwar Beschäfti-
gung ohne Zweck, z. E. das Spiel; das ist aber nur eine Erholung von
der beschwerlichen Arbeit ; aber beständig ohne Zweck beschäftigt zu 0
411 seyn, ist noch / ärger als gar nicht beschäftiget zu seyn; denn dieses
macht noch ein Blendwerk einer Beschäftigung. Das größte Glück des
Menschen ist, daß er selber der Urheber seiner Glückseeligkeit ist,
wenn er fühlt, das zu genüssen, was er sich selbst erworben hat.
Der Mensch kann ohne Arbeit niemals zufrieden seyn. Wer sich in 10
Ruhe setzen will und befrejrt sich von aller Arbeit, der fühlt und
genießt gar nicht sein Leben ; sondern, so fern er thätig ist, fühlt er,
daß er lebt, und so fern er arbeitsam ist, kann er nur zufrieden seyn.
Ein Mann muß arbeitsam seyn, eine Frau darf niu" Beschäftigung
haben. Die Beschäftigung, wo kein Zweck ist, ist eine Beschäftigung is
in der Muße, wo man sich nur beschäftiget, um sich zu unterhalten.
Die Beschäftigung mit dem Zweck des Beschäftigens, ist ein Ge-
schäfte. Ein Geschäfte mit Beschwerlichlceit ist eine Arbeit. Die
Arbeit ist ein Zwangsgeschäfte, wo wir uns entweder selbst zwingen,
4n oder von andern gezwungen werden. / Wir zwingen uns selbst, wenn 20
wir einen Bewegungsgrund haben, der alle Beschwerlichlceiten der
Arbeit überwiegt. Auf der andern Seite zwingen uns viele Sachen zur
Arbeit, z. E. Pflicht. Wer zu seiner Arbeit nicht wodurch gezwungen
wird, sondern beliebig arbeiten kann, der kann seine Zeit nicht so mit
beliebiger Arbeit besetzen, und sie so ausfüllen, als wenn er die Arbeit 25
aus Pflicht thun muß, denn denkt man, du darfst es nicht thun, es
zwingt dich keiner. Es gehört also zu unsrer Bedürfniß, daß wir
Zwangs-Arbeiten haben. Wenn die Arbeit verrichtet ist, so empfindet
man eine Annehmlichkeit, deren keiner fähig ist, als wer die Arbeit
gethan hat. Es ist aber auch ein Verdienst, ein Beyfall, ein Selbstlob, 30
das man sich geben muß, wenn man ohnerachtet aller Beschwerden
dennoch die Arbeit vollzogen hat. Der Mensch muß sich discipliniren ;
die größte disciplin aber ist, sich zm- Arbeit zu gewöhnen. Dieses ist ein
Trieb zur Tugend. Man hat bey der Arbeit keine Zeit sich auf Laster zu
413 besinnen, und die Arbeit bringt wirklich diejenigen / Vortheile hervor, 35
auf die ein andrer boshaft denken muß, sie durch Betrug zu erlangen.
Vom Luxu ist noch zu merken, daß er lange ein Gegenstand der
philosophischen Betrachtung gewesen. Man hat lange untersucht ob er
zu billigen oder zu misbilligen sey, und ob er der Moralität gemäß,
Moralphilosophie Collins 397
oder derselben entgegen gesetzt sey ? Es kann etwas der Moralität
gemäß seyn, was doch indirecte hinderlich ist. Zuerst vermehrt der
Luxus die Bedürfnisse, er vermehrt die Anlockungen und Anreizungen
der Neigungen, und dadurch wird es schwer die Sittlichkeit zu
5 beobachten ; denn je einfacher und einfältiger unsere Bedürfnisse sind,
desto weniger Verleitung haben wir derselben Gnüge zu thun. In-
directe macht also der Luxus einen Einbruch in die Moralität. Auf der
andern Seite aber befördert der Luxus alle Künste und Wissenschaf-
ten; er entwickelt alle Talente des Menschen, und es scheint also, daß
10 dieser Zustand die Bestimmung des Menschen sey. Er verfeinert die
Moralität; / denn in Ansehung der Moralität kann entweder Recht- 4i4
schaff enheit oder Feinheit beobachtet werden. Die Rechtschaffenheit
ist, wenn man der Moralität nicht widerstehet ; die Feinheit der Morali-
tät bestehet aber darin, daß man auch die Annehmliclikeit mit der
15 Sitthchlceit verbindet, z. E. gastfrey gegen einander zu seyn. Der
Luxus entwickelt also die Menschheit bis zum größten Grad der
Schönheit. Luxus ist aber von der Luxuries zu unterscheiden. Der
Luxus besteht in der varietaet; die Luxuries aber in der Quantitaet.
Unmäßigkeit findet sich bey Menschen, die gar keinen Geschmack
20 haben, z. E. wenn ein reicher Geizhals einmal dazu kommt, daß er
tractirt, so häuft er die Speisen in großer Menge, und sieht nicht auf
die Mannigfaltigkeit, sondern auf die Menge. Der Luxus aber findet
sich bey Menschen, die Geschmack haben. Er excolirt also durch die
Mannigfaltigkeit unsre Urtheilslo-aft, und beschäftigt viele Hände der
25 Menschen; er belebt das ganze gemeine Wesen. Also ist von der Seite
wider / den Luxus in Ansehung der Moralität nichts einzuwenden ; 4I5
nur es müssen doch Gesetze seyn, nicht um den Luxus einzuschränken,
sondern zu dirigiren. Man muß im Luxu nicht zu weit gehn, sondern so
weit man es aushalten und bestreiten kann. Der Luxus der Weichlich-
sokeit muß eingeschränkt seyn, dazu gehört z. E. der weibische Anzug
bey Männern, die Weichliclilveit im Essen und alle Verzärtelungen. So
sehen auch die Frauenzimmer auf einen wackern, thätigen und arbeit-
samen Mann mehr als auf einen süßen geputzten Herren, wenn nur der
erste die Grenzen seines iVnzugs auf der andern Seite nicht gar zu sehr
35 übertreibt, daß er seine Unwissenheit und Gleichgültigkeit darinne
verräth ; sondern wenn er sich nur so ziemlich seinem Stande und der
Zeit nach gemäß kleidet, alsdenn hat er mehr Anstand ; der andere aber,
der in seinem Betragen und Kleidern so sehr weichlich imd weibisch
ist, der beschäftiget sich mehr mit sich und sieht mehr auf sich als das
398 Vorlesungen über Moralphilosophie
Frauenzimmer. Der Mann muß demnach männlich, das Weib weibKch
seyn. Am Manne gefällt eben so wenig das weibliche, als am Weibe /
416 das männliche. Solcher weibliche Luxus macht den Mann weiblich.
Zum männhchen luxu und Vergnügen gehört z. E. die Jagd.
Von den Glücksgütern. 5
Wir nennen einen Menschen wohlhabend, wenn sein Besitz der
Glücksgüter seinen Bedürfnissen vollkommen adaequat ist; wir
nennen ihn bemittelt, wenn er Güter überflüßig, so wohl zu Bedürf-
nissen als zu beliebigen Zwecken hat. Reich heißt einer, wenn es zu-
langt auch andre wohlhabend zu machen. Der Reichthum ist die lo
sufficiens zum Luxu. Auf der andern Seite ist einer arm, wenn er
Mangel an Gütern hat zu beliebigen Ausgaben. Dürftig aber, wenn er
Mangel hat zu noth wendigen Ausgaben. Die Glücksgüter werden nicht
allein von dem der sie besitzt, sondern auch von andern geschätzt.
Ein begüterter Mann wird von andern deswegen hoch geachtet, weil er i5
begütert ist, und ein dürftiger Mann wird deswegen weniger hoch-
geachtet, M^eil er dürftig ist. Die Ursache werden wir gleich einsehn.
Alle Glücksgüter heissen Mittel, so fern sie Mittel sind, seine Bedürf-
4n nisse, seine / beliebige Absichten und Neygungen zu befriedigen. Der
Ueberfluß der Glücksgüter über seine Bedürfniße und beliebige Ab- 20
sichten ist ein Vermögen; dieses ist schon mehr als bemittelt seyn.
Das Vermögen hat 2 Vortheile, erstlich macht es uns von andern
unabhängig, denn haben wir Vermögen, so brauchen wir nicht andre
und bedürfen nicht andrer Hülfe, zweytens hat aber auch das Ver-
mögen Gewalt, man kann vieles erkaufen. Alles, was menschliche 25
Kräfte hervorbringen können, kann man für ein Vermögen haben.
Demnach ist Gold und Gut Vermögen im eigentlichen Verstände.
Dadurch bin ich unabhängig ; ich darf keinem dienen, keinen um etwas
bitten; denn ich kann alles um Geld haben; wenn ich Geld habe, so
kann ich mir andre durch ihren Eigennutz unterwerfen, daß sie mir so
dienen, und mit ihrer Ai'beit mir dienen wollen. Der Mensch aber,
so fern er von andern unabhängig ist und sich vermögend befindet,
ist ein Gegenstand der Achtung; denn dadiu-ch verliert ein Mensch
418 seinen Werth, / wenn er von andern abhängt. Es liegt schon in der
Natur, den weniger zu achten, der von andern abhängt; hat er aber 36
wieder über andre zu befehlen, so ersetzt es das wieder, z. E. ein
Moralphilosophie Collins 399
Officier. Daher ein gemeiner Soldat und ein Bedienter weniger
geachtet wird. Dieweil also das Geld unabhängig macht, so wird man
mehr geachtet; man hat einen Werth; man braucht keinen, man
dependirt von keinem. Weil aber das Geld uns unabhängig macht,
ö so werden wir zulezt vom Gelde abhängen, und da uns das Geld von
andern frey macht, so macht es uns wieder zu Sklaven von sich selbst.
Dieser Werth, der von der Unabhängigkeit herrührt, ist nur negativ;
der positive Werth, den das Vermögen giebt, rührt von der Gewalt her,
die das Vermögen giebt. Diu-ch Geld habe ich Gewalt, die Kräfte
10 anderer zu meinem Dienste zu gebrauchen. Die Alten sagten zwar,
der Reichthum ist nicht erhaben. Ein / reicher Mann hat Einfluß ins 419
gemeine Wesen, und in das gemeine Wohl. Er beschäftiget viele
Hände. Dieses ist aber nicht eine Erhabenheit der Person. Die Ver-
achtung des Reichthums macht aber die Person erhaben. Der Reich-
15 thum macht nvu' den Zustand der Person, aber nicht die Person selbst
erhaben. Also ist die Verachtung des Reichthums für den Verstand
erhaben, aber in der Erscheinung ist der Reichthum erhaben.
Von der Anhänglichkeit des Gemüths an die Glücks-
güter, oder vom Geitz.
20 Der Besitz eines Vermögens zu beliebigen Zwecken, ist schon an
sich allein angenehm, demnach sind Reichthümer an sich angenehm
weil sie sich auf Zwecke beziehn; aber die Reichthümer sind auch
angenehm, ehe ich mir die Zwecke verschaffe, wenn ich auf alle
Zwecke Verzicht tliue, und mich nur in dem Besitz und Vermögen
25 fühle, alle Zwecke zu erreichen; denn wenn man erst das Vermögen
in seiner Gewalt hat, so ist das schon angenehm, indem man denn
es schon genießen kann , wenn man es will ; es beruht bloß / auf meinem 480
Willen; denn das Geld ist doch schon in der Tasche, man genießt also
hier das Vermögen in Gedanken, weil man es doch geniessen kann,
30 wenn man will. Die Menschen kränken sich, wenn sie das entbehren
müssen, wozu sie Appetit haben, und es nicht in ihrer Gew^alt ist; aber
das ist ihnen leicht zu entbehren wenn sie auch Appetit dazu haben,
wenn es nur in ihrer Gewalt ist. So schmerzt es einen jungen ledigen
Menschen, daß er des Vermögens entbehren muß, was ein Ehemann
35 hat, und obgleich dieser Ehemann eben solchen Appetit hat, so ist es
ihm doch leichter zu entbelu-en, indem er stets denkt, du kannst es
doch allemal haben. Wenn der Mensch also Appetit wozu hat, und er
400 Vorlesungen über Moralphilosophie
hat kein Vermögen denselben zu befriedigen, so schmerzt es ihn
stärker, als es ihn schmerzen möchte, wenn er bey demselben Appetit
sich solches versagen möchte, da er das Vermögen dazu hat. Es steckt
also in dem bloßen Besitz des Vermögens was angenehmes, indem man
dadurch alles haben kann, was und wenn man will. Daher gehen 5
431 reiche / Personen, die geizig sind, schlecht gekleidet, denn sie achten
die Kleider nicht, indem sie denlven : sie können solche Kleider immer
haben, indem sie das Geld dazu haben; sie dürfen nur, wenn sie wollen,
sich Locken abschneiden lassen und sich solche Kleider machen
lassen. Wenn sie Kutsche und Pferde sehn, so denken sie: sie können lo
das alles eben so gut haben wie der da, wenn sie nur wollen. Sie nähren
sich also mit dem Gedanl^en von dem Genuß, den sie in ihrer Gewalt
haben; sie gehn alle in prächtigen Kleidern; sie fahren in Kutschen
mit 6 Pferden; sie eßen täglich 12 Gerichte; aber alles in Gedanken;
denn wenn sie nvir wollten, so könnten sie solches allemal haben. i5
Der Besitz des Vermögens dient ihnen zum wirklichen Besitz alles
Vergnügens ; sie können durch den bloßen Besitz des Vermögens alles
Vergnügen genießen und alles Vergnügen entbehren. Ein Mensch der
ein Vergnügen genossen hat, ist lang nicht so vergnügt, als wenn er
438 noch den Prospect hat / das Vergnügen zu genießen, und das Geld 20
behalten, als das Vergnügen wirklich empfinden und das Geld aus-
geben. Ein Geiziger, der das Geld in der Tasche hat, stellt sich vor: Avie
wird dir zu Muthe seyn, wenn du das Geld für das Vergnügen wirst
ausgegeben haben; du wirst hernach eben so klug seyn, wie anjezt;
also behalt du lieber das Geld. Er denkt also nicht an das Vergnügen, 25
was er geniessen wird, sondern wie ihm zu Muthe seyn wird nach dem
Genuß des Vergnügens. Der Verschwender stellt sich aber das Ver-
gnügen vor, wenn er es genießen wird. Er kann nicht denken, wie ihm
hernach zu Muthe seyn wird, wenn er es wird genoßen haben, darauf
verfällt er nicht. 30
In der Anhänglichkeit der Glücksgüter ist etwas anzutreffen, was
mit der Tugend eine Aehnlichl^eit hat, es ist ein Analogon der Tugend.
Ein solcher beherrscht sich selbst in seiner Neigung, er entzieht sich
vielen Vergnügungen ; er befördert dadurch seine Gesundheit ; er ist in
allem ordentlich . Daher auch alte Leute, wenn sie geitzig sind, länger 35
423 leben, als wenn sie es nicht wären; denn / indem sie sparen, so leben
sie mäßig; sie würden sonst nicht mäßig leben, wenn es ihnen nicht
Geld kostete; daher können sie gut essen und trinken, wenn es aus
einem fremden Beutel geht, indem ihr Magen in guter Ordnung ist.
Moralphilosophie CoUins 401
Geitzige Leute werden von andern verachtet und verabscheuet, und
sie können es nicht einsehn, warum ? — Selbst Personen, die nichts
von ihnen verlangen, verachten sie, und je mehr sie sich selbst was
entziehn, desto mehr verachtet man sie. Bey allen übrigen Lastern
5 findet man, daß der Mensch sich selbst tadelt, es findet jeder, daß es
ein Laster ist, und tadelt sich selbst darüber; beim Geitzigen allein
aber findet man, daß er das Laster nicht tadelt; er weiß nicht, daß das
ein Laster ist ; er kann das gar nicht begreifen, wie es ein Laster seyn
kann. Die Ursache hievon ist diese: Ein Geitziger ist derjenige, der nur
10 in Ansehung seiner selbst karg und hart ist, gegen andre kann er
immer gerecht seyn, er nimmt sonst keinem was weg, aber er giebt
auch keinem was; er kann also gar nicht begreifen, warum ihn ein
andrer Mensch verachten soll, da er doch keinem andern was thut,
und was er in Ansehung seiner selbst thut, / dadurch entsteht doch 424
15 dem andern kein Schade, und das geht auch keinen nichts an, ob er
viel oder wenig oder gar nicht essen möchte ; ob er prächtig in Kleidern
oder schiecht und koddrig gehn möchte, darum hat sich kein Mensch
zu bekümmern. Darin hat er zwar Recht, und deswegen sieht ers auch
nicht ein, daß es ein Laster ist. Und man kann einem Geitzigen nicht
20 so recht dreist antworten, wenn er nm- sonst nicht ungerecht ist,
welches aber Geitzige selten sind. Sie halten sich rein von aller Schuld.
Sie haben auch einigen Vorwand, warum sie sparen, z. E. sie sagen
sie sparen für ihre Anverwandte; allein das ist nur ein Blendwerk,
das er sich selbsten macht. Würde die Absicht des Geitzigen seyn für
25 seine Anverwandte zu sparen, so würde er sie noch in seinem Leben
unterstützen, um das Vergnügen an ihrem Wohlseyn zu haben.
Geitzige Personen sind gemeinhin auch selir andächtig, denn indem sie
keine U^nterhaltung haben, in keine Gesellschaften gehn, weil es Geld
kostet, so ist ihr Gemüth mit ängstlichen Sorgen beschäftiget. In
30 diesen ängstlichen Sorgen wollen sie Trost und / Unterstützung haben ; 485
dies wollen sie also durch ihre Andächteley, die doch nichts kostet,
von Gott erhalten. Besonders denken sie, wie es sehr gut und profi-
table wäre, wenn sie Gott auf ihre Seite bekommen möchten, das
möchte nicht schaden, und wäre noch besser als jährlich 12 procent.
35 So niedrig er in allen Handlungen ist, eben so niedrig ist er auch in der
Religion, und so wie er alles erwerben will, so will er auch das Himmel-
reich erwerben. Er sieht nicht auf den moralischen Werth seiner
Handlungen, sondern er denlit, wenn er niu- inständig bittet, denn das
kostet ihn nichts, so wird er schon ins Himmelreich kommen. Ein
26 Kant's Schriften XXVII/1
402 Vorlesungen über Moralphilosophie
Geiziger ist auch sehr abergläubisch. Er glaubt, aus jeder Begebenheit
wird eine Gefahr entstehn; daher bittet er Gott, er wolle doch alle
Menschen vor Gefahr bewahren; sich meint er aber besonders. Wenn
ein Unglück entstanden, wo viele unglücklich geworden, so beklagt er
426 sie selir, indem er denl^t, sie werden etwas aus seinem / Beutel be- 5
gehren. Der Geitzige ist also sich selbst unbekamit; er kennt sich
Selbsten nicht; demnach ist er unverbesserlich, indem man ihn gar
nicht vom Laster überzeugen kann. Kein Geitziger kann bekehrt
werden, ob es gleich ein jeder Lasterhafte werden kann. Der Geitz ist
vernunftwidrig, daher hilft keine vernünftige Vorstellung bey einem lo
Geitzigen ; denn wäre er fähig diese Vorstellung einzusehn, so wäre er
nicht geitzig. Der Geitz ist aber deswegen vernunftwidrig, weil das
Geld einen Werth als Mittel hat, aber kein Gegenstand des unmittel-
baren Wohlgefallens ist. Unmittelbar hat der Geitzige ein unmittel-
bares Wohlgefallen an dem Gelde, obgleich es nichts ist als ein bloßes i5
Mittel. Es ist nur ein Wahn der Möglichkeit, davon einen Gebrauch
zu machen. Der Vorsatz, das Geld zu gebrauchen, wird niemals würk-
lich. Dieser Wahn ist durch die Vernunft nicht zurechte zu bringen;
denn der wäre schon selbst wahnsinnig, der mit dem Wahnsinnigen
42T klug und vernünftig / reden wollte. Wäre dieses Laster nicht durch die 20
Erfahrung gegründet, so könnten wir gar nicht einsehn, daß es möglich
ist, weil es so sehr der Vernunft widerstreitet. Der Geitz verschluckt
zwar alle Laster, aber davor ist er unverbesserlich.
Der Geitz entspinnt sich aber auf folgende Weise, wozu schon die
Vernunft einen Grund legt : Wenn man viele Gegenstände und Ver- 25
gnügungen des Lebens sieht, so wünscht man sich auch dieselbe zu
besitzen und zu genießen; da aber das Vermögen als die Bedingung
und die Mittel solche zu erhalten fehlt, so nimmt man sich vor, hiezu
die Mittel zu erwerben, so gewöhnen wir uns an, uns eins nach dem
andern zu entziehn. Wenn dieses nun einen langen Fortgang hat, so
so entwöhnen wir uns aller der Vergnügungen gänzlich, und ihre
Gegenwart und ihr Genuß ist uns gleichgültig. Da wir uns alles dieses
zu entbehren angewöhnt haben in Erwerbung der Mittel, so entbehren
wir es auch, wenn wir schon wirklich die Mittel erworben und in unsrer
488 Gewalt haben. Auf / der andern Seite haben wir uns wieder das 35
Sammeln angewöhnt, daher sammeln wir hernach noch immer fort,
wenn wirs auch nicht mehr nöthig haben zu sammeln und bey Seite zu le-
gen. Die Erfindung des Geldes ist auch eine Quelle des Geitzes, denn vor
Erfindung des Geldes kann der Geitz nicht geherrscht haben. Daher
Moralphilosophie Collins 403
ist das filziger Geitz, mit solchen Sachen sparsam umzugehn, die
unmittelbar können genoßen und gebraucht werden, z. E. mit Eß-
waaren oder alten Kleidern. Das Geld giebt aber Anlaß zum Geitz,
denn es ist kein Gegenstand des unmittelbahren Genußes, sondern ein
5 Mittel, alles mögliche dafür zu erhalten; denn wenn ich noch im
Besitze einer Summe Geldes bin, so kann ich unermeßliche Projekte
haben, mir Annehmlichlceiten und Gegenstände zu verschaffen, zu
denen allen das Geld tauglich ist. Ich kann also hier das Geld noch
anwenden, wozu ich wUl, ich sehe alle die Annehmlichkeiten und alle
loObjecte / meines Wohlgefallens als solche an, die ich noch immer 489
haben kann ; habe ich aber für eines von alledem schon das Geld aus-
gegeben, denn bin ich nicht mehr in Ansehung der Disposition des
Geldes frey, jezt kann ich nicht mehr was andres dafür kaufen, und
aUe die Projecte von Annehmlichkeiten und Gegenständen haben nun
15 ein Ende. Hier entspringt aber bey uns eine Illusion, wenn wir das
Geld noch besitzen, so sollten wir es disjunctive bezahlen, indem wir es
entweder dazu oder dazu gebrauchen könnten. Wir betrachten es aber
coUective, und glauben alles dafür zu haben. Wenn der Mensch das
Geld noch besitzt, so hat er eine angenehme Träumerey, sich aUe die
20 Annehmlichlceiten zu verschaffen. Nun bleibt der Mensch gerne in
diesem süßen Irrthume, daher beraubt er sich dessen dm-ch die
Vernunft nicht. Da er nun das Geld für ein Mittel hält, aUe Vergnü-
gungen dadurch zu geniessen, so hält er / das Geld für das größte Ver- 430
gnügen, indem in demselben alle Vergnügungen liegen, die er alle
25 geniessen kann, wenn er will. Er genießt also solange er das Geld hat
aUe Vergnügungen in Hoffnung; wenn er aber das Geld auf den
Gegenstand des einen Vergnügens anwenden wollte, so ist die Uner-
meßlichkeit von allen übrigen Vergnügungen auf einmal weg. Dem-
nach siehet der Mensch das Geld als den Gegenstand des größten Ver-
sognügens an, in welchem alle übrige Vergnügungen und Gegenstände
liegen. Dieses Spiel geht täglich in dem Kopf des Geizigen vor, es ist
eine lUusion bey ihm. Wenn also nun der Geitzige sieht, wie andre aUe
Annehmlichlieiten des Lebens geniessen, so denkt er, du kannst ja das
alles haben, wenn du nur willst; es schmerzt ihn zwar und er mißgönnt
35 es den andern ; allein wenn der andre sein Vergnügen schon genossen
hat, und das Geld dafür auch schon weg ist, denn ist die Reihe an ihm
zu triumphiren; denn er hat noch sein Geld in der Tasche / und lacht 431
sie alle aus, indem sie jezt eben so klug sind. Wenn wir die Verhältnisse
des Geitzes in Ansehung des Standes, des Geschlechts und des Alters
404 Vorlesungen über Moralphilosophie
erwegen, so bemerken wir in Ansehung des Standes, daß man dem
geistlichen Stande besonders vorwirft, er sey dem Geitz ergeben.
Diesen Vorwurf könnte man aber überhaupt auf alle Gelehrte werfen,
und also auch auf die Geistlichen, so ferne sie unter die Gelehrten
gehören, es sey denn, wenn ein Geistlicher kleine Einkünfte hat, und 5
sich also angewöhnt jede Kleinigkeit hochzuschazen, daß denn der
Geitz bey ihm besonders entstehet. Allein, die Ursache, warum man
dies allen Gelehrten insgemein vorwerfen kann, ist diese : Die Gelehr-
samkeit ist keine unmittelbahre Erwerbung des Vermögens, sondern
nur in so ferne sie geschätzt wird, daher sieht jeder Gelehrte sein lo
Metier als ein solches an, was nicht so fruchtbahr ist, und was kein
Geschäfte ist, welches an sich selber eine Brodtkunst sey, wodurch
man unmittelbar Geld verdient, so wie andre. Er ist also unsicherer
bey allen seinen Einkünften, als ein anderer, der dm-ch seine Kunst
432 und Handwerk jederzeit sein Brod / verdienet. Dieses kann also einen i5
Gelehrten zum Geitz disponiren, und das Geld hochzuhalten. Ferner,
Leute, die ein sitzendes Geschäfte haben, gewöhnen sich zum Geitz ;
denn indem sie nicht ausgehn, so entwöhnen sie sich aller der Ausgaben
die damit verbunden sind. Wenn sie von allen Vergnügungen und
Belustigungen entfernt sind, so sind sie auch von dem dazu erforder- 20
liehen Aufwände frey, und indem sie ein sitzendes Geschäfte haben,
so unterhalten sie sich mit solchen Vergnügungen, die auch ihr Gemüth
unterhalten, und dabey gewöhnen sie sich auch die Enthaltsamkeit an.
Der Kaufmann wäre wohl mehr zur Habsucht als zum Geitz geneigt.
Der Militairstand ist aber gar nicht zum Geitz geneigt, denn indem sie 25
nicht wissen wie lange und wenn sie das ihrige genießen können, und
sie damit auch nicht recht sicher sind, auchd abeie in Stand sind, der aus
grosser Gesellschaft besteht, so sind bey ihm keine Quellen zum Geitz.
43$ In Ansehung des Geschlechts / merken wir, daß das weibliche Ge-
schlecht mehr zum Geitz aufgelegt ist, als das männliche, welches auch 30
mit ihrer Natur wohl übereinstimmt, denn indem sie nicht diejenige
sind, die da erwerben, so müssen sie auch mehr sparen, dagegen kann
derjenige schon großmüthiger seyn, der da erwirbt. In Ansehung des
Alters merken wir an, daß das Alter mehr zum Geitz geneigt ist als die
Jugend, denn die Jugend ist noch vermögend sich alles zu erwerben ; 35
das Alter ist aber unvermögend. Geld ist aber vermögend, indem es
auch also so heißt, alle Zwecke zu erreichen, die einem mangeln.
Das Geld hat eine Macht. So suchen auch zuletzt Diebe weiui sie sich
so viel zusammengestohlen haben, durch das Geld sich eine Sicherheit
Moralphilosophie Collins 405
vor der Strafe zu erwerben, z. E. er läßt sich adeln, damit er nicht so
leicht könne gehangen werden. Also sucht das Alter durch ein künst-
liches Vermögen den Mangel seiner Kräfte und Macht zu ersetzen.
Eine andere Ursache ist auch bey dem Alter die Furcht vor der
5 künftigen Dürftigkeit und Mangel ; / denn wenn sie alles verloren haben, 434
so sind sie nicht mehr vermögend sich mehreres zu erwerben. Die
Jugend aber kann sich mehreres erwerben; sie kann was anderes
anfangen, wenn es mit einem nicht glückt; sie kann sich neue Pläne
machen, das kann aber das Alter nicht, daher muß sich das Alter
10 einen Fonds etabliren, wodm-ch es von allem Mangel in Sicherheit
stehet. Bey filtzigen Geitzigen ist melirentheils die Furcht die Ursache
ihres Geitzes, bey einigen aber auch, um nur Macht und Gewalt zu
haben, welches sie am besten durch Geld haben können.
isBetrachtung der Sparsamkeit, was es mit ihr für eine
Bewandniß habe.
Die Sparsamkeit ist eine Peinlichkeit und Aufmerksamkeit in
Ansehung des Aufwandes der Güter. Die Sparsamlceit ist keine Tu-
gend ; denn zum Sparen gehört weder Geschicklichkeit / noch Talent. 435
20 Wenn wir sie mit der Verschwendung gegen einander halten, so gehört
dazu, um ein Verschwender mit Geschmack zu seyn, weit mehr
Talent und Geschickliclikeit als zum Sparen, denn Geld ablegen kann
auch der dümmste. Das Geld aber auf verfeinerte Vergnügungen zu
verthun, dazu gehört Kenntniß und Geschicldiclikeit; aber Geld
25 durchs Sparen zu erwerben, dazu gehört keine Geschiklichlieit ; daher
auch solche Personen, die das Geld diurch Sparen erwerben, sehr
niedrige Seelen sind. Unter denen Verschwendern findet man aber
aufgeweckte und geistreiche Personen.
Wenn wir fragen : Was ist dem Menschen im Staat schädlicher, der
30 Geitz oder die Verschwendung ? so müßen wir vorher von beyden
dasjenige absondern, wodurch sie den Rechten anderer Menschen
Eintrag thun können, nämlich von dem Geitze die Habsucht, / und 436
von dem Verschwender die Verthuung anderer Güter, alsdenn sehen
wir, daß der Verschwender sein Leben genoßen hat, und der Geitzige
35 hat sich selbst betrogen, indem er es immer in Hoffnung genießen
wollte. Er geht also aus der Welt, wie ein dummer Tropf, der nicht
406 Vorlesungen über Moralphilosophie
einmal weiß, daß er gelebt hat. Wenn wir aber auf der andern Seite die
Unbehutsamkeit erwegen, so ist es bey dem Verschwender eine Un-
klugheit, indem er doch nicht weiß, wie lange er lebt, und er also her-
nach alles entbehren muß, wenn er es vorher verschwendet hat, wel-
ches der Geitzige nicht nöthig hat. Aber bey dem Geitzigen ist es eben 5
so, er beraubt sich des gegenwärtigen Lebens, da sich der Verschwen-
der des künftigen Lebens beraubt. Es ist zwar schwerer zuerst das
Wohlleben genoßen zu haben, und hernach im Mangel zu seyn, als
431 sich vorher was zu entziehn, und das / Vergnügen hernach zu genießen ;
allein so hat doch der Verschwender das Vergnügen schon genossen, lo
und wenn es der Geitzige auch zuletzt genießen möchte, denn wäre es
gut; allein er genießt es niemahls, sondern er schiebt es immer auf;
es ist ihm immer künftig, und er speist sich nur mit Hoffnung des
Vergnügens. Ein Verschwender ist also ein liebenswürdiger Thor; ein
Geitziger aber ein hassenwürdiger Narr. Der Verschwender hat auch i5
seinen Charakter nicht verdorben; er kann also noch Muth fassen in
seinem Unglück zu leben ; der Geitzige ist aber immer von schlechtem
Charakter.
Wenn wü' aber in Ansehung anderer fragen : Wer ist beßer, der Ver-
schwender oder der Geitzige ? so antworten wir : so lange beyde leben 20
ist der Verschwender beßer als der Geitzige, aber nach dem Tode
438 nützt / der Geitzige den andern mehr. Die Vorsehung hat so gar Mittel
durch den Geitzigen ihre Zwecke zu befördern. Sie sind Maschinen,
die in der Ordnung der Dinge mit allgemeinen Zwecken übereinstim-
men ; sie sorgen dadurch für ihre Nachlvommen, die durch sie in den 25
völligen Besitz ihrer Güter kommen, und weil daselbst das Geld auf
einem Haufen ist, so können dadurch große Geschäfte unternommen
werden, und durch diese Unternehmungen kommt das Geld wieder
in Circulation. Die Sparsamlceit ist keine Tugend sondern Klugheit;
aber die Genügsamkeit ist eine Tugend. Die Genügsamkeit ist ent- so
weder Mäßigung oder Resignation, gänzliche Entschlagung. Es ist
leichter sich etwas gäntzlich zu entschlagen, als sich worin zu mäßigen.
Wenn man etwas entsagt, so hat man doch nichts empfunden; wenn
439 man sich aber mäßigen soll, so muß / man vorher schon etwas genossen
haben, also sind da schon die Appetite angefeuert, daher ist es schwe- 35
rer sich dessen zu enthalten, was man schon zum Theil genossen hat,
als gänzlich etwas zu entsagen. Zur Resignation gehört Tugend, aber
zur Mäßigung noch mehr. Diese Tugenden laufen auf die Herrschaft
über sich selbst hinaus.
Moralphüosophie Collins 407
Von den 2 Trieben der Natur und den sich darauf be-
ziehenden Pflichten.
Wir haben von Natur 2 Triebe nach denen wir verlangen, von andern
5 geachtet und geliebet zu werden. Diese Triebe beziehen sich also auf
die Gesinnung anderer. Welche Neigung ist von diesen die stärkste ?
Die Neigung der Achtung. Die Ursache ist 2fach. Die Achtung geht
auf unsern Innern Werth ; die Liebe aber nur auf den relativen Werth
andrer Menschen. Man wird geachtet, weil man einen innern Werth
10 hat. Die andere Ursache ist: weil uns die Achtung eine größere Sicher-
heit für andre stellt als die Liebe. Durch die Achtung sind wir mehr
unverletzlich und gesicherter vor Beleidigungen. Die Liebe kann aber
auch bey der / Geringschätzung statt finden. Die Liebe beruht auf dem 440
Lieben anderer Menschen. Es kommt auf andere an, ob sie mich lieben
15 oder verstoßen oder haßen wollen. Wenn ich aber einen innern Werth
habe, so werde ich von jedermann geachtet, es kommt hier nicht auf
Jemandes Belieben an, sondern wer meinen innern Werth einsieht,
der \Aärd mich auch achten. Wenn wir das Gegentheil von beyden
nehmen, so ist die Verachtung schmerzhafter als der Haß. Bej^de sind
20 unangenehm. Wenn ich aber ein Gegenstand des Haßes bin, so werde
ich doch nur von einem und dem andern gehaßt und wenn ich auch
viel Unglück vom Haß zu erwarten habe, so werde ich doch, wenn
andre nur einen Werth kennen, Muth und Mittel genug finden, den
Haß zu ertragen und mich ihm entgegen zu setzen. Die Verachtung
25 ist aber unerträglich. Ein Gegenstand der Verachtung ist ein / allge- 44i
meiner Gegenstand der Verachtung. Sie nimmt uns den Werth bey
andern weg und nimmt uns auch das BeAvußtseyn unsres eignen
Werths weg. Wenn wir wollen geachtet seyn, so müssen wir auch Ach-
tung für andre Menschen haben und die Menschheit überhaupt achten.
30 Auf der andern Seite liegt uns dieselbe Pflicht ob, daß wir, wenn wir
wollen geliebt seyn, auch Menschenliebe beweisen. Also müssen wir
das thun, was wir von andern fordern, das sie gegen uns thun sollen.
Wenn wir die Achtung, die wir von andern gerne haben, noch weiter
analysiren, so finden wir, daß die Vorsicht will, daß uns das Urtheil
35 anderer nicht gleichgültig seyn soll, sondern daß uns unmittelbahr
soll daran gelegen sein, was andre von uns urtheilen. Dieses fordern
wir aber von andern nicht aus Nutzen, Vortheil und andern Absichten,
denn sonst wären wir nicht ehrliebig, sondern / ehrbegierig, ehrgeizig, wz
In dieser Absicht will ein Kaufmann für reich gehalten werden, denn
408 Vorlesungen über Moralphilosophie
er hat davon Nutzen. Die Sachen müssen aber nicht von den Mitteln,
sondern von dem Zweck benannt werden. So ist derjenige nicht
geitzig, der Geld zusammenspart, um es hernach in allem Pomp zu
verprassen, sondern ehrsüchtig. Also ist auch die Neygung, von andern
ein günstiges Urtheil zu erhalten, nicht eine Folge des Vortheils, 5
sondern es ist eine unmittelbahre Neygung, die bloß auf Ehre gerichtet
ist und keinen Vortheil zmn Object hat, und deswegen kann man
nicht ehrgeitzig, sondern ehrliebig genannt werden. Die Vorsicht
hat also die Neygung in uns gelegt; daher ist kein Mensch, wenn er
auch ein großer Herr ist, gegen die Urtheile anderer gleichgültig, lo
443 Zwar siehet einer mehr darauf als der andre, / so scheint es z. E. daß
dem Edelmann das Urtheil der Bauren oder auch wohl gar der Bürger
gleichgültig ist, und dem Fürsten das Urtheil seiner sämtlichen Unter-
thanen; allein ein jeder wird doch nach dem Urtheil seines gleichen
fragen, welches ihm nicht gleichgültig ist, so wird z. E. dem Fürsten 15
das Urtheil eines andern Fürsten nicht gleichgültig seyn, obgleich die
Achtung dessen, der unter ihm ist, nicht so beträchtlich zu seyn
scheint, weil man über einen solchen Gewalt hat, und also seine
Achtung nicht so vielen Werth hat als dessen, über den er keine
Gewalt hat, aber auf seines gleichen scheint sich die Ehrliebe sehr zu 20
beziehn, so schämt sich z. E. ein junges Frauenzimmer niedrigen
Standes mehr vor ihres gleichen, als vor den Vornehmen, von denen
sie lieber Verachtung aussteht als von ihres gleichen. Die Achtung
444 größerer Personen gegen uns / schmeichelt uns daher mehr als der
niedrigen ; der aber auch gegen die Achtung der Geringen nicht gleich- 25
gültig ist, der schätzt die Menschheit überhaupt, dem ist das Urtheil
der schlechtesten Menschen eben so wenig gleichgültig, als der Vor-
nehmen.
Die Absicht dieser Neigung der Achtung von andern ist bey der
Vorsehung diese, daß wir unsre Handlungen mit dem Urtheil anderer so
abwiegen möchten, damit unsre Handlungen nicht allein aus eigen-
liebigen Absichten geschehn möchten, weil unser Urtheil allein die
Handlungen corrumpirt, sondern daß auch andre über unsre Hand-
lungen richten möchten. Von der Ehrliebe muß die Ehrbegierde unter-
schieden werden. Wenn wir also beyde im Verhältniß halten, so ist die 35
Ehrliebe was negatives; man ist nur bedacht, kein Gegenstand der
Verachtung zu seyn. Die Ehrbegierde aber begehrt, ein Gegenstand
der Hochachtung von andern zu seyn. Die Ehrliebe könnten wir
honestatem nennen, sie müßte aber denn von der Ehrbarkeit unter-
Moralphilosophie Collins 409
schieden werden, Ehrbegierde ist / aber Ambition. Man kann ehrhebig 445
seyn wenn man auch nicht in Gesellschaft von andern Menschen ist.
Man kann aus Ehrliebe die Einsamkeit suchen, um nur kein Gegen-
stand der Verachtung zu seyn. Ehrbegierig kann man aber nicht in der
5 Einsamkeit seyn, denn man will von andern hochgeachtet werden.
Es ist also die Ehrbegierde eine Anmaßung, eine Anfoderung an andere,
daß man mich hochachten soll. Ehrliebe billigen wir an jedermann
allerwärts, aber Ehrbegierde wollen wir an keinem haben. Das ist die
Bescheidenheit, wenn die Ehrliebe zu keiner Ehrbegierde wird. Nach
10 der Ehrliebe wollen wir von jedermann Achtung haben, so, daß wir
nicht verachtet werden, nach der Ehrbegierde aber verlangen wir,
mehr hochgeachtet zu werden, als es gemeinhin geschiehet. Man will
vorzüglich geachtet seyn, man maßt sich an, die Urtheile anderer
nach / seiner Meinung zu zwingen. Da aber die Urtheile anderer in 446
15 Ansehung unserer frey sind, so müßen die Gründe unserer Achtung
so seyn, daß die Urtheile anderer unzudringlich erfolgen, der aber ehr-
begierig ist, der sucht die Urtheile anderer zu seiner Achtung zu
zwingen, er fordert, daß ihn die andern achten sollen, und dadurch
macht er sich lächerlich, er thut einen Eingriff in die Rechte aller
20 Menschen.
Demnach werden wir dem Menschen, der ehrbegierig ist, gleich
Wiederstand leisten, wer aber nur ehrliebig ist, und auf seine Achtung
hält, um nur nicht verachtet zu werden, den achten wir auch und
jemehr er der Achtung werth ist, und je weniger er Anmaßung drauf
25 macht, desto eher kommen wir ihm mit Achtung entgegen. In der Ehr-
begierde sind 2 Stücke zu unterscheiden : die Eitelkeit und die wahre
Ehrbegierde. Die Eitelkeit ist eine Begierde nach Ehre, in Ansehung
dessen, was nicht zu unserer Person gehört, z. E. wer eine Ehre / im 44T
Titul, in der Kleidung etc. sucht. Die wahre Ehrbegierde ist aber eine
30 Begierde nach Ehre in Ansehung dessen, was zum Werth unserer
Person gehört. Alle Ehrbegierde, ob sie gleich dem Menschen natürlich
ist, muß doch zurückgehalten werden. Alle Menschen sind ehrbegierig,
aber keiner muß sie verrüken, denn alsdenn verfehlt die Ehrbegierde
ihren Zweck, indem die Menschen die Anmaßung auf ihr günstiges
35 Urtheil sogleich zurücktreiben, indem sie in ihrem Urtheil frey seyn
wollen und gar nicht gezwamgen werden wollen. Wir können etwas an
sich werth schätzen, aber hochschätzen und ehren können wir nur das,
was einen verdienstlichen Werth hat. Alltägliche Menschen sind, die
solchen Werth haben, den man von jedermann ohne Unterschied
410 Vorlesungen über Moralphilosophie
fordern kann. Und deswegen verdient man geachtet und geschätzt,
aber nicht hochgeschätzt und geehrt zu werden, wenn man redlich,
ehrhch, pünktHch in Beobachtimg seiner Schuldigkeit ist, denn dies
kann man von jedem fodern. Weil einer ehrlich ist, kann er deswegen
448 noch keine Beehrung verlangen, sondern nur / Achtung; denn er hat 5
keinen vorzüglich hervorragenden Werth. In allen Zeitaltern, wo die
Ehrlichkeit Ehre erwdrbt, und wo es ein Punct der Ehrbegierde ist,
und man dadurch einen verdienstlichen Werth hat, daß man ehrlich
ist, da ist schon Corruption der Sitten, da ist die Ehrlichkeit schon
selten, man rechnet sie als ein Verdienst, da sie doch eine alltägliche lo
Eigenschaft eines jeden seyn sollte, denn wer einen sehr kleinen Theil
weniger ist als ehrlich, der ist schon ein Schelm. So wird an türkischen
Richtern als etwas verdienstliches gelobt, daß sie sich nicht haben
bestechen lassen, und wenn Aristides der Gerechte genannt worden,
so ist dies zwar Lob für ihn, aber ein Schimpf für sein Zeitalter, indem i5
alsdenn, da es so sehr von ihm gerühmt wird, wenige Gerechte ge-
wesen. Zu den verdienstlichen Handlungen aber gehört z. E. Groß-
muth, Güte etc., denn dieses kann ich nicht von jedem fodern, dem-
nach werden solche Menschen nicht allein geachtet, sondern hoch-
geschätzt und geehrt. Achtung erwirbt man sich wegen des Wohl- 20
Verhaltens; Ehre aber wegen der verdienstlichen Handlungen. Man
bringt sich um die Achtung wenn man schuldige Pflichten unterläßt.
Eben so wie die Natur gebietet, die Geschlechter-Neygung zu ver-
heelen, und ein Geheimniß daraus zu machen, ob sie gleich in jedes
449 Natur ist, diese Verheelung / aber dazu dienet, diesem Hange und 25
Neygung Schranken zu setzen, und sie nicht so gemein und offenbar
zu machen, damit sie desto stärker erhalten werde, eben so fordert
auch die Natur, daß man seine Ne3^gung zur Ehrbegierde zu verbergen
suche, denn so bald sie sich äußert, so ist es schon eine unbillige
Anmaßung. Der Mensch hat einen Trieb zur Ehre, der ganz uneigen- 30
nützig ist, oft ist die Ehrbegierde auch eigennützig, wenn er nähmlich
deswegen Ehre sucht, um seinen Zustand zu verbeßern, ein Amt oder
eine Frau dadurch zu bekommen; wer aber Ehre ohne alle Absicht
nur in dem Beyfall anderer sucht, der ist ehrliebig. Wenn wir den
Trieb zur Ehre nehmen, den die Menschen dadurch zeigen, daß sie 35
auch nach dem Tode gern von andern Beyfall erhalten wollen, so
sehen wir, daß darin nichts eigennütziges ist. Ohne diese Ehre würde
sich keiner bemühn, sich den Wissenschaften zu widmen. Wenn er auf
der wüsten Insel wäre, so würde er alle Bücher wegwerfen und lieber
Moralphilosophie Collins 411
Wurzeln suchen. Es fragt sich, ob dieser Trieb der Ehre rechter oder
unrechter Trieb zu Wissenschaften sey ? Die Vorsehung hat in uns den
Trieb zur Ehre gelegt, damit / unsre Handlungen und unser Verfahren 450
mit dem allgemeinen Urtheil anderer übereinstimmen möchten. Denn
5 hätten wir diesen Trieb nicht, so würden wir unsere Handlungen nicht
so gemeinnützig machen. Wir könnten uns in unserm eigenen Urtheil
irren, demnach würden unsere Erkenntnisse oft sehr falsch sein, wenn
sie nur allein auf unserm eignen Urtheile beruhn sollten. Daher ist
dieser Trieb unabhängig, unsere Urtheile über unsre Erkenntnisse
10 mit dem Urtheile anderer zu vergleichen. Dieses ist der Probierstein,
daß wir unsere Erkenntniße dem Urtheil vieler Köpfe unterwerfen.
Die allgemeine Vernunft, das Urtheil aller, ist der Richterstuhl, vor
den sich unsre Erkenntnisse stellen müssen, denn sonst könnte ich
nicht wissen, ob ich mich geirret oder nicht geirret hätte, welches aus
15 vielen Ursachen seyn könnte. Ein anderer könnte sich wohl irren, aber
nicht gerade da, wo ich. Wir haben also einen Trieb zur Ehre, unsre
Erkenntnisse dem Urtheil anderer zu communiciren. Es ist wahr,
dieser Trieb artet hernach in die Ehrbegierde aus, / wo man die fal- 45i
sehen Sachen und Erkenntnisse durch scheinbare Gründe auszuputzen
20 suchet, um den BeyfaU anderer zu erschleichen und Ehre erhalten zu
wollen; aber in der ersten Quelle ist er ein reiner und ächter Trieb,
wenn er aber ausartet, so fällt auch der Zweck der Vorsehung dadurch
weg. Die Ehrbegierde ist nicht so natürlich, sondern nur unter Be-
dingungen ; die Ehrliebe aber ist natürlich. Ohne alle Ehrliebe hätten
25 die Wissenschaften keinen Antrieb. Es fragt sich, ob diese Ehrliebe an
und vor sich selbst ohne allen Eigennutzen, die auch nach dem Tode
nicht gleichgültig seyn kann, ja auch wohl noch stärker ist, weü man
nach dem Tode nicht mehr etwas von sich abwischen kann, mit den
Pflichten gegen sich selbst zusammenstimme, ja, ob es auch ein Gegen-
30 stand der Pflicht gegen sich selbst ist ? Allerdings stimmt dieser Trieb
nicht nur mit den Pflichten zusammen, sondern er ist auch ein
Gegenstand unserer Pflicht. Der Mensch muß ehrliebig seyn. Wer
gleichgültig in Ansehung der Ehre ist, ist niederträchtig. Die Ehre
ist die Bonitaet der Handlungen in der Erscheinung. Die / Handlungen 458
35 der Menschen müssen aber nicht allein gut seyn, sondern auch vor
Augen anderer Menschen als gut erscheinen. Die Moralität, der gute
Wille und die Gesinnung geben dem mensclilichen Geschlecht den
Werth. Da dieses auch die moralische Verbindung ist, so muß ein
jeder sehen, daß seine Handhingen nicht nur ein negatives Bej-spiel
412 Vorlesungen über Moralphilosophie
geben, daß sie nichts böses in sich fassen, sondern daß sie auch ein
positives Beyspiel geben, und was gutes in sich enthalten. Unsre
Handlungen müssen also nicht allein gut seyn, sondern auch als ein
Beyspiel anderen in die Augen fallen. Unsre Handlungen müssen aus
der Ehrliebe fließen. Es fragt sich nun: Soll man sich in Ansehung 5
der Ehre nach der Meinung anderer richten, die sie von dem, was
Billigung oder Mißbilligung verdient, genommen haben, oder soll man
sich nach seinem principio richten? Die Meynungen anderer sind
2fach, aus empirischen Gründen, und da haben sie Gewalt, und aus der
Vernunft, da haben sie keine Gewalt. In Ansehung der Rechtschaffen- 10
453heit, / die ich durch meine Vernunft einsehe, da kann ich kemer
Meynung folgen, sondern nach meinem principio, das ich aus der Ver-
nunft einsehe, muß ich mich richten. Wenn es aber z. E. eine Sache
der Gewohnheit ist, da muß ich mich nach der Meynung anderer
richten. i5
Die Ehrbegierde kann auch 2fach seyn : Wenn man das für den Ge-
genstand der Ehre hält, was die Leute von einem sagen, und was sie
von einem denken. Jeder muß das für einen Gegenstand der Ehre
halten, was die Leute von einem denken, das ist schon schlecht, wenn
man sich nur daran kehrt, was die Leute von einem sagen. 20
Ehrbarkeit ist die Würdigkeit des Verhaltens, geehrt zu werden,
das heißt, kein Gegenstand der Verachtung zu seyn.
Ende der Abhandlung
von den Pflichten gegen sich selbst.
Moralphilosophie Collins 413
/ II. Von den Pflichten gegen andre Menschen. 454
Der Autor begeht hier eine Ausschweifung, indem er redet von den
Pfhchten gegen Unbelebte, gegen belebte oder unvernünftige and
gegen vernünftige Wesen. Wir haben aber nur Pflichten gegen andre
5 Menschen, die unbelebten sind unsrer Willkühr gänzlich unterworfen,
und die Pflichten gegen die Thiere sind Pflichten, in so weit sie in
Ansehung unserer gehn. Demnach werden wir alle Pflichten reduciren,
auf die Pflichten gegen andre Menschen. Bey diesen Pfhchten bemer-
ken wir 2 Hauptgattungen:
10 I, Die Pflichten des Wohlwollens oder Gütigkeit
II, Die Pflichten der Schuldigkeit oder Gerechtigkeit.
Im ersten Fall sind unsre Handlungen gütig, im zweyten aber
gerechte und schuldige Handlungen.
Wenn wir zuerst die Pflichten des Wohlwollens nehmen, so können
15 wir nicht sagen, wir sind / verbunden, andre Menschen zu lieben, 455
und ihnen Wohl zu thun ; denn wer den andern Hebt, will ihm wohl,
aber ohne daß er ihm solches schuldig ist, sondern aus willigen Gesin-
nungen, gerne und aus eignem Triebe. Liebe ist Wohlwollen aus
Neygung. Es kann aber auch Gütigkeit statt finden aus Grundsätzen.
20 Demnach ist unser Vergnügen und Wohlgefallen am Wohlthun
anderer entweder ein unmittelbares oder ein mittelbares Vergnügen.
Das unmittelbare Vergnügen am Wohlthun anderer ist die Liebe, das
mittelbare Vergnügen des Wohlthuns, wo wir uns zugleich bewußt
sejm, unsre Pflicht erfüllet zu haben, ist das Wohlthun nach Verbind-
25 lichlceit. Das Wohlthun aus Liebe entspringt aus dem Herzen, das
Wohlthun aus Verbindlichkeit entspringt aber aus Grundsätzen des
Verstandes. Man kann z. E. seiner Frau wohlthun aus Liebe; wo aber
schon die Neygung / weggefallen ist, da thut man es aus Verbindlich- 45«
keit. Es fragt sich, ob ein Moralist sagen kann wir haben eine Pfhcht
30 andre zu lieben ? Liebe ist ein Wohlwollen aus Neigung ; nur kann mir
nichts zur Pflicht auferlegt werden, was nicht auf meinem Willen
beruht, sondern auf meiner Neigung, denn ich kann ja nicht Heben,
wenn ich will, sondern wenn ich einen Trieb dazu habe. Pflicht ist aber
jederzeit ein Zwang; entweder muß ich mich selbst zwingen, oder ich
414 Vorlesungen über Moralphilosophie
werde von andern gezwungen. Worin besteht aber die Quelle der
Verbindlichkeit des Wohlthuns an andern aus Grundsätzen ? Hier
müssen wir den Schauplatz der Welt anschauen, auf den wir als Gäste
von der Natur gesetzt sind, und auf dem wir alles finden, was zu
unserm zeitlichen Glück nöthig ist. Von diesen Gütern der Welt hat 5
jeder Recht sie zu genießen. Da nun aber jeder daran einen gleichen
Antheil hat, Gott aber keinem seine Portion zugeschnitten hat, sondern
45r es / dem Menschen überlassen, sie unter sich zu theilen, so muß ein
jeder diese Güter des Lebens so gemessen, daß er auch auf die Glück-
seeligkeit anderer bedacht sey, die ein gleiches Antheil daran haben, lo
und ihnen nichts vorentziehn. Weil also die Vorsorge allgemein ist,
so muß man nicht gleichgültig seyn in Ansehung der Glückseeligkeit
anderer. Wenn ich z. E. einen gedeckten Tisch mit Speisen im Walde
finde, so muß ich nicht denlvcn, daß das allein für mich ist, ich kann
davon gemessen, aber ich muß auch bedacht seyn, andren auch etwas i5
übrig zu lassen, auch nicht ein Gericht ganz allein aufessen, denn ein
anderer könnte auch dazu Appetit haben. Wo ich also sehe, daß die
Vorsorge allgemein ist, so habe ich Verbindlichkeiten, meinen Ge-
brauch einzuschränlicn und zu denken, daß die Natur die Anstalten
für alle gemacht hat. Dieses ist der Quell des Wohlthuns aus Verbind- 20
lichlceit. Wenn wir aber auf der andern Seite das Wohlthun aus Liebe
nehmen, und einen Menschen, der da aus Neygung liebt, betrachten,
so finden wir, daß ein solcher Mensch anderer Menschen bedarf, gegen
458 die er sich gütig beweisen kann. Er / ist nicht befriediget, wenn er
nicht Menschen findet, denen er wohlthun kann. Ein liebreiches Herz 25
hat ein unmittelbares Vergnügen und Wohlgefallen am Wohlthun;
es hat mehr Vergnügen als wenn es selbst genießt. Diese Neygung muß
befriediget werden, denn es ist ein Bedürfniß. Dieses ist eine Gut-
artigkeit des Gemüths und des Herzens, aber kein Moralist soll solches
zu cultiviren suchen, sondern das Wohlwollen aus Grundsätzen muß 30
cultivirt werden, denn die erste gründet sich auf Neygung und Bedürf-
niß des Menschen, woraus ein um-egelmäßiges Verhalten entspringt.
Ein solcher Mensch wird aus Neygung gegen jedermann wohlthätig
seyn, wenn er aber von einigen hintergangen wird, wird es ihn ge-
reuen, denn entschließt er sich wieder anders, und macht sich eine 35
Regel, von nun an keinem Wohl zu thun. Sein Verhalten ist also gar
nicht nach Grundsätzen abgemessen. Moralisten müssen demnach
Grundsätze festsetzen und das Wohlleben aus Verbindlichkeit emp-
459 fehlen und cultiviren, / und wenn alle Verbindlichice it durch die Natur
Moralphilosophie Collins 415
auch durch die Rehgiou vorgelegt ist, so kann auch die Neigung
cultivirt werden, aber nui- in so fern sie unter den Grundsätzen stehn
muß, denn können sie als Triebfedern zu den Handlungen der Gütig-
keit aus Neygung vorgelegt werden.
5 Wir gehn nun zu der 2ten Art von Pflichten gegen andere Menschen,
nämlich zu den Pflichten der Schuldigkeit und der Gerechtigkeit.
Diese Pflichten entspringen nicht aus Neygung, sondern aus dem
Rechte anderer Menschen. Hier wird nicht auf die Bedürfniß des
andren Menschen, wie bey den vorigen gesehn, sondern auf das Recht;
10 der andere Mensch mags nöthig haben oder nicht, er mag elend oder
nicht elend seyn, wenn es sein Recht betrifft, so bin ich ihm schuldig
zu satisfaciren. Diese Pflichten beruhen auf der allgemeinen Regel
des Rechts. Die höchste unter allen diesen Pflichten ist die Hochach-
tung für das Recht anderer Menschen. Ich bin verbunden das Recht
15 anderer Menschen hochzuhalten, und es als heilig anzusehn. Es ist in
der ganzen Welt nichts so heilig, als das Recht anderer Menschen,
dieses ist unantastbar und un verletzbahr. / Wehe dem! der das Recht 460
anderer kränlvt und es mit Füssen tritt. Das Recht des andern Men-
schen soll ihn für alles in Sicherheit halten, es ist stärker denn alle
20 Wehr und Mauer. Wir haben einen heiligen Regierer, und das was er
den Menschen als heilig gegeben hat, ist das Recht der Menschen.
Wenn wir uns einen Menschen vorstellen, der nur nach Recht und
nicht nach Gütigkeit handelt, so kann dieser Mensch immer sein Herz
vor jedem andren verschliessen, er kann gleichgültig seyn gegen sein
25 elendes und jämmerliches Schicksahl, wenn er aber niu' gewissenhaft
ist in Beobachtung seiner schuldigen Pflichten gegen jedermann, wenn
er nur jedes Menschen sein Recht als ein heiliges und hochachtungs-
würdiges Stück, das der Regierer der Welt den Menschen gegeben hat,
hält; wenn er keinem Menschen nicht das geringste umsonst giebt,
30 aber auch darin pünJctlich ist, daß er ihm nichts entzieht, so handelt
er recht, und wenn alle so handeln möchten, wenn alle keine Handlung
der Liebe und Gütigkeit ausüben möchten, aber das Recht jedes Men-
schen unverletzt ließen, denn wäre kein Elend in der Welt, ausser nur
ein solches / Elend was nicht aus der Verletzung anderer entspringt, 46i
35 z. E. Krankheiten und Unglücksfälle. Das gröste und mehreste Elend
des Menschen beruht mehr auf dem Unrecht der Menschen als auf dem
Unglück. Da die Achtung des Rechts eine Folge der Grundsätze ist,
die Menschen aber einen Mangel an Grundsätzen haben, so hat die
Vorsicht einen andren Quell in uns gelegt, nähmlich den Instinkt der
416 Vorlesungen über Moralphilosophie
Gütigkeit, wodurch wir das ersetzen, was wir auf unrechtmäßige Art
erlangt haben. Wir haben demnach Instinkt zur Gütigkeit, aber nicht
zur Gerechtigkeit. Nach diesem Triebe erbarmen sich Menschen über
andere und erzeigen demjenigen Wohlthaten, dem sie es vorher ent-
rissen, obgleich sie sich keiner Ungerechtigkeit bewußt sind, das 5
kommt daher, weil sie es nicht recht untersuchen. Man kann mit
Antheil haben an der allgemeinen Ungerechtigkeit, wenn man auch
keinem nach den bürgerlichen Gesetzen und Einrichtungen ein
46» Unrecht thut. Wenn man nun einem Elenden / eine Wohlthat erzeiget,
so hat man ihm nichts umsonst gegeben, sondern man hat ihm das lo
gegeben, was man ihm durch eine allgemeine Ungerechtigkeit hat
entziehen heKen. Denn wenn keiner die Güter des Lebens mehr an
sich ziehen möchte, als der andre, so wären keine Reiche aber auch
keine Arme. Demnach sind selbst die Handlungen der Gütigkeit
Handlungen der Pflicht und Schuldigkeit, die aus dem Recht anderer is
entspringen. Wenn wir auf der andern Seite einen Menschen betrach-
ten, der das Recht anderer nicht achtet, sondern gewohnt ist, auch
seine schuldige Handlungen aus Gütigkeit zu thun, dem man nichts
von Recht und Schuldigkeit vorreden soll, der wird viele Handlungen
aus Gütigkeit ausüben, — wenn aber einer kommen wird, seine Schuld 20
abzufordern, weil er in der größten Noth ist, und seine Wechsel
Schuld wieder bezahlen soll, wenn nun dieser die ordentliche Sprache
der Schuldigkeit führet, so wird er von jenem angefahren, daß er so
46$ grob ist, und alles mit Zwang haben will, / ob er es gleich mit Recht
zwangsmäßig fordern kann. Wenn er nun diesem Menschen seine 25
Schuld nicht abgiebt, dieser aber dadurch unglücklich wird, so be-
tragen alle seine gütige und wohlthätige Handlungen, die er in seinem
ganzen Leben ausgeübt hat, nicht so viel als das eine Uiu:'echt, was er
diesem Menschen angethan hat, denn dieses ist eine ganz andere Art
von Rechnung, in der jene Handlungen gar nicht in Anschlag kom- so
men. Er kann Gütigkeit ausüben, von dem was er übrig hat, aber er
muß keinem das Seinige abziehen. Wenn nun alle Menschen nur bloß
aus Gütigkeit handeln wollten, so wäre gar kein Mein und Dein,
denn wäre die Welt kein Schauplatz der Vernunft, sondern der
Neygung, denn würde sich keiner bemühen was zu erwerben, sondern 35
sich auf die Gütigkeit des andern verlassen ; alsdenn aber müßte alles
in größtem Ueberfluß seyn, es wäre alles paßiv, so als wenn Kinder
zusammen was genüssen, wo eins dem andern was giebt, so lange was
da ist. Demnach ist es gut, daß Menschen durch Arbeit ihr Glück
Moralphilosophie Coli ins 417
besorgen müßen, und jeder Achtung für das Recht des andern haben
muß. Demnach müssen alle Moralisten und Lehrer darauf sehn, daß sie
die Handlungen / der Gütigkeit so viel als möglich als Handlungen der 4«4
Schuldigkeit ausgeben und sie aufs Recht reduciren. Man muß dem
5 Menschen nicht schmeicheln, wenn er Handlungen der Gütigkeit
ausgeübt hat, denn sonst bläht er sein Herz von Großmuth auf und
will, daß alle seine Handlungen alsdenn Handlungen der Gütigkeit
seyn sollen.
Wir wollen noch etwas von den Pflichten des Wohlwollens und der
10 Gütigkeit anführen. Das Wohlwollen aus Liebe kann nicht geboten
werden, wohl aber das Wohlwollen aus Verbindlichkeit. Wenn wir aber
einem wohlthun aus Pflicht, so gewöhnen wir uns daran, so daß wir
es auch hernach aus Liebe und Neygung thun. Wenn wir von jemandem
Gutes reden, blos weil wir sehn er hat es verdient, so gewöhnen wir
15 uns daran, so daß wir ihm hernach alles gute nachsagen. Also ist auch
die Liebe aus Neigung eine moralische Tugend und könnte in so weit
geboten werden, damit man sich üben möchte, erst aus Verbindlich-
keit wohlzuthun und durch das Angewöhnen hernach auch aus
Neigung. / Alle Liebe ist entweder Liebe des Wohlwollens oder Liebe 465
20 des Wohlgefallens. Die Liebe des Wohlwollens besteht im Wunsch
und in der Neigung das Glück anderer zu befördern. Die Liebe des
Wohlgefallens ist das Vergnügen, welches wir haben, den Voll-
kommenheiten des andern Beyfall zu beweisen. Dieses Wohlgefallen
kann sinnlich und intellectual seyn. Alles Wohlgefallen, wenn es
25 Liebe ist, muß doch vorher Neigung seyn. Die Liebe des sinnlichen
Wohlgefallens ist ein Gefallen an der sinnlichen Anschauung, aus
sinnlicher Neigung, z. E. die Geschlechter-Neigung ist ein sinn-
liches Wohlgefallen; es geht nicht sowohl auf die Glückseeligkeit, als
auf die Gemeinschaft der Personen. Die Liebe des intellectualen Wohl-
sogefallens ist schon schwerer zu concipiren. Das intellectuale Wohl-
gefallen ist nicht schwer sich vorzustellen, aber die Liebe des intellec-
tualen Wohlgefallens ist schwer sich vorzustellen. Welches intellec-
tuelle Wolilgefallen bringt Neigung hervor ? Die gute Gesinnung der
Gütigkeit. Wenn es nun heißt: du sollst deinen Nächsten lieben,
35 wie ist das zu verstehen ? Nicht mit der Liebe des Wohlgefallens soll
ich ihn lieben, mit solcher kann ich auch den größten Bösewicht /
lieben, sondern mit der Liebe des Wohlwollens. Das moralische Wohl- 46«
wollen bestehet aber nicht darin, daß man ihm wohl will, sondern daß
man ihm eigentlich wünsche, er möchte doch dessen würdig werden,
27 Kant's Schriften XXVII/1
418 Vorlesungen über Moralphilosophie
und eben solche Liebe des Wohlwollens können wir auch gegen Feinde
haben. Dieses Wohlwollen kann immer herzlich seyn. Ich wünsche, daß
er zu sich selbst gebracht werde und sich dadiu-ch alles Glücks würdig
machen möge, und es wirklich erreichen. Solches Wohlwollen kann ein
König gegen seinen Verräther haben. Er kann ihn zwar bestrafen und 5
hängen lassen, er kann ihn aber auch beklagen, daß er so unglücklich
ist, daß er solche Strafe an ihm ausüben muß nach den Gesetzen, allein
er kann ihm auch herzlich wünschen, daß er sich der Seeligkeit würdig
machen möge, und sie wirkhch erlange. Demnach kann die Liebe des
Wohlwollens gegen seinen Nächsten jedermann gebothen werden, lo
Allein die Liebe des Wohlgefallens gegen seinen Nächsten kann nicht
allgemein gebothen werden, indem keiner ein Wohlgefallen daran
461 haben kann, da wo kein Objekt der Billigung ist; allein / an dem
Menschen selbst ist ein Unterschied zu machen zwischen dem Menschen
selbst und seiner Menschheit. Demnach kann ich ein Wohlgefallen an i5
der Menschheit haben, ob ich gleich kein Wohlgefallen an dem Men-
schen habe. Ich kann ein solches Wohlgefallen auch am Bösewicht
haben, wenn ich den Bösewicht und die Menschheit von einander
unterscheide; denn auch in dem größten Bösewicht ist noch ein
Keim des guten Willens. Es ist kein Bösewicht, der nicht einsehn und 20
unterscheiden könnte das Gute vom Bösen, und der nicht wünschen
sollte tugendhaft zu seyn. Also ein moralisch Gefühl und der gute
WiUe ist da, nur die Kraft und die Triebfeder fehlen; denn wenn er
auch ein solcher Bösewicht ist, so kann ich doch noch denken, wer
weiß was ihn dazu bewogen hat ; vielleicht ist dieses nach seinem 25
Temperament eben eine solche Kleinigkeit gewesen, als ein kleines
Vergehn von meinem. Wenn ich mich nun in sein Gefühl versetze,
so kann ich doch noch in ihm ein Gefühl zur Tugend finden, also muß
die Menschheit doch in ihm gehebt werden. Demnach kann mit
468 Recht gesagt werden, wir / sollen unsern Nächsten lieben. Ich bin 30
nicht allein zum Wohlthun verbunden, sondern auch zur Liebe gegen
andre mit Wohlwollen und Wohlgefallen. Da die Menschen Gegen-
stände der Liebe des Wohlgefallens sind, indem wir in ihnen die
Menschheit lieben sollen, so müßen auch die Richter in Bestrafung
der Verbrechen die Menschheit nicht entehren; zwar den Bösewicht 35
bestrafen, aber nicht seine Menschheit verletzen durch niedrige
Strafen; denn wenn ein anderer jemandes Menschheit entehrt, so setzt
der Mensch selbst in seine Menschheit keinen Werth ; es sey denn wenn
der Bösewicht selbst seine Menschheit so erniedrigt hat, daß er nicht
Moralphilosophie Collins 419
mehr werth ist, ein Mensch zu seyn, denn muß man ihn als einen
allgemeinen Gegenstand der Verachtung behandeln. Es ist also das
Geboth der Liebe gegen andre so wohl auf die Liebe aus Verbindlich-
keit als aus Neigung eingeschränkt; denn wenn ich andre aus Ver-
5 bindlichlceit liebe, so erwerbe ich mir dadurch Geschmack an der
Liebe, und aus Uebung wird die Liebe aus Verbindlichkeit zur Liebe
aus Neigung. Die Liebe aus Pflicht und überhaupt jede Pflicht die
künstelt, / da denkt der Mensch nach, ob er auch dazu verbunden 469
wäre, allein die Neygung geht ihren graden Weg ; allein sie muß auch
10 ihren Weg so grade gehn, denn sie hat keine Regel. Die Leutseeligkeit
ist nichts anders als eine Manier im äußern Betragen gegen andre.
Sie ist ein Abscheu vor jeder Beleidigung, die dem andern kann
zugefügt werden. Sie entspringt aus der Menschenliebe und moderirt
den Zorn und die Rachbegierde gegen andre. Im Grunde ist sie was
15 positives; denn Leutseelige thun nichts, um das Wohl des andern zu
verhindern; aber sie sind auch nicht großmüthig, es zu befördern.
Freylich sollte beides verbunden seyn ; allein die Großmuth, die mit
Wackerheit und Stärke der Seele verbunden ist, läßt sich mit der
Leutseeligkeit, die nur in Sanftmuth und Gelindigkeit bestehet, nicht
20 verbinden. Menschlichkeit ist das Theilnehmen an dem Schicksale
anderer Menschen; die Unmenschlichlveit ist, wenn man keinen An-
theil an dem Schicksal anderer nimmt. Warum heissen einige Wissen-
schaften humaniora ? Weil sie den Menschen verfeinern. Es bleibt /
daher bey jedem Studirenden, wenn er auch sonst nicht viel Gelehr- 4T0
25 samkeit erworben hat, dennoch eine solche Verfeinerung und Gelindig-
keit; denn die Wissenschaften, indem sie das Gemüth occupiren, geben
ihm solche Gelindigkeit, die jedem hernach eigen bleibt. Der Kauf-
mann wird demnach jeden nach seinem Vermögen schätzen, wie viel
er werth ist ; ein Studirender wird aber schon nach einem andern Wert
30 schätzen.
Leutseeligkeit mit Offenherzigkeit ist Freimüthigkeit, welche sehr
beliebt ist. Jede Freundlichlveit, Höflichkeit, Geschliffenheit, Ai'tigkeit
ist schon immer die Tugend selbst, aber nur im Kleinen ausgeübt.
Daß sich aber die Tugend mit ihrer Stärke, Freundschaftsdienst und
35 Aufopferung der eigenen Glückseeligkeit anstrengt, das ist sehr selten.
Es ist daher nicht gut, wenn man einen Freund hat, den man mit
Ansprüchen in der Noth zu helfen belästiget, man fällt dadurch seinem
Freunde beschwerlich; denn denkt er gleich, man wird ihm öfter so
kommen. Es ist besser, wenn man lieber selbst die Ungemächlichkeiten
420 Vorlesungen über Moralphilosophie
471 erduldet, als den andern belästiget. Diejenige, die über Mangel / der
Freunde klagen, sind eigennützige Leute, sie mögen immer gerne von
ihren Freunden profitieren. Ich verlange solchen Freund, nicht von dem
ich was ziehn kann, sondern nur dessen Umgang ich geniessen kann
und dem ich mich decouvrrren kann, aber Höflichkeit verlange ich 5
von jedem. Jeder Umgang ist schon eine Cultur der Tugend und eine
Vorbereitung zu ge wißer Ausübung der Tugend. Die Höflichl<:eit
bedeutet diejenige Gefälligkeit, nach welcher wir bis auf die geringste
Kleinigkeit fein genug sind, uns dem andern gefällig zu bezeigen. Die
Geschliffenheit ist die Abfeilung der Grobheit. Die Menschen schleifen lo
und reiben sich an einander so lange ab, bis sie sich hassen. Diese
Geschicklichkeit zeigt Feinheit in der Beurtheilungskraft, solches
einzusehn, was dem andern gefällig oder mißfällig ist.
Kaltblütigkeit des Gemüths gegen andre ist, was keine Affection
der Liebe, keine Gemüthsbewegung beweiset. Dem keine wohl- 15
wollende Gemüthsbewegung bewußt ist, der ist kalt. Die Kaltblütig-
47akeit ist eben so nicht zu / tadeln. Die Dichter mögen gerne vom
warmen Gefühl und Affection durchdrungen seyn und schelten auf die
Kaltblütigkeit; allein wenn die Kaltblütigkeit mit Grundsätzen und
guten Gesinnungen begleitet ist, so sind solche Menschen, die das ha- 20
ben, allemal Leute, auf die man sich verlassen kann. Ein kaltblütiger
Vormund, der es gut mit mir meint, ein solcher Ad vocat, ein Patriot,
sind Leute, die beständig sind, und die gewiß alles zu meinem besten
anwenden werden. Aber Kaltblütigkeit im Bösen ist auch wieder desto
schlimmer ; aber im Guten, ob es gleich nicht so gut klingt, ist sie doch 25
besser, als ein warmes Gefühl von Affection, denn sie ist beständiger.
Kaltsinnigkeit ist ein Mangel der Liebe ; Kaltblütigkeit ist aber ein
Mangel des Affekts der Liebe. Kaltblütigkeit der Liebe giebt Regel-
mäßigkeit und Ordnung; Kaltsinnigkeit ist aber der Mangel des
Gefühls von dem Zustande anderer afficirt zu werden. Wir sollen andre 30
4T3 lieben, weil es gut ist andre zu lieben und weil wir dadurch / gutartig
werden. Wie kann man aber lieben, wenn der andre nicht liebens-
würdig ist ? Hier ist diese Liebe nicht eine Neygung an dem andern ein
Wohlgefallen zu haben, sondern eine Neigung damit der andre des
Wohlgefallens würdig wäre. Wir sollen geneigt seyn zu wünschen, den 35
andren der Liebe würdig zu finden, und ein solcher, der an dem Men-
schen etwas suchet, was der Liebe würdig wäre, der wird auch gewiß
was an ihm finden, was seiner Liebe würdig ist, so wie ein liebloser
Mensch der an andern das aufsucht, was ihn der Liebe unwürdig
Moralphilosophie Collins 421
macht, auch wirklich solches in ihm findet. Man soll des andern Glück
wünschen, aber man soll auch wünschen ihn liebenswürdig zu finden.
Eine Regel ist hiebey zu bemerken: Wir müßen suchen, daß unsre
Neygungen den andern zu lieben und sein Glück zu wünschen, nicht
5 müssige Sehnsüchten sind, welches Begierden ohne Erfolg sind, son-
dern daß sie praktische Begierden sind. Eine praktische Begierde ist,
die nicht so sehr nach dem Gegenstand gerichtet ist, als auf die
Handlungen, wodurch dieser Gegenstand vollführt wird. Wir sollen
nicht allein Wohlgefallen an der Wohlfahrt und dem Glück anderer
10 haben, sondern dieses Wohlgefallen muß sich auf thätige Handlungen
beziehn, die zu dieser Wohlfahrt / was beytragen. Eben so soll ich4T4
nicht wünschen, wenn der andre im Elend ist, daß er davon befreyet
wäre, sondern ich soll solchen zu befreyen suchen. Alles Unglück und
alle Uebel der Menschen sind nicht in so fern Gegenstände unsres
15 Misfallens, daß dieses Uebel sind, sondern in so fern, daß diese Uebel
von Menschen hervorgebracht sind. Wenn ein Mensch an seiner
Gesundheit oder Vermögen Schaden gelitten hat, so hat dieses weiter
nichts zu sagen, wenn es durch ein allgemeines Schicksal geschehen ist,
indem solches oft im Leben vorkommen kann, aber wenn dieses Uebel
20 von einem andren Menschen zugefügt ist, so ist das ein Gegenstand
unsres größten Mißfallens. Wenn ich nun einen solchen Menschen in
solchem Elende sitzen sehe, und ich sehe, daß ich solches auf keine
andre Art ändern kann, daß ich ihm auf keine Weise zu Hülfe kommen
kann, so kann ich mich kalt umkehren, und wie der Stoiker sagen,
25 was geht mich das an ; meine Wünsche können ihm / nicht helfen. «5
Aber so ferne ich meine Hand ausstrecken kann ihm zu heKen, so
kann ich in so fern sein Glück befördern und Antheil an seinem
Unglück nehmen ; aber denn nehme ich gar keinen Antheil an seinem
Unglück, wenn ich sehnliche Wünsche hege, damit er davon möchte
30 befreyt werden. Das Herz ist also nur so fern ein gutes Herz, in so fern
es etwas zum Glück des andern beytragen kann, und nicht wenn es nur
des andern sein Glück -wünscht. Menschen rühmen sich ein gutes Herz
zu haben, wenn sie nur wünschen, daß jeder glücklich seyn möchte.
Der hat aber nur allein ein gutes Herz, der dazu etwas beyträgt. Alle
35 moralische Unterweisung wh'd also darauf beruhn, daß unser Wohl-
gefallen an dem Glück anderer nur in so fern bestehn soll, als wir ein
Vergnügen finden des andern sein Glück zu befördern. Demnach ist
das Glück / des andern an und vor sich selbst nicht ein Gegenstand «6
des Wohlgefallens, sondern in so fern wir Beyhülfe daran geleistet
422 Vorlesungen über Moralphilosophie
haben. Hier aber glauben die Menschen die Theilnehmung an des
andren seinem Schicksaal und das gute Herz bestehe schon im
Gefühl und in den Wünschen. Derjenige Mensch aber, der aufs Elend
anderer gar nicht siehet, wo er nicht helfen kann, der bey allem
Unglück was nicht zu ändern ist, gleichgültig ist, aber darum beküm-
mert ist, wo er etwas ausrichten und helfen kann, ein solcher Mensch
ist praktisch und sein Herz ist ein gutes Herz, weil es thätig ist, ob er
gleich damit nicht solche Parade macht als andere, die durch Wünsche
Antheil nehmen und darin schon die Freundschaft setzen.
Von der Freundschaft. lo
Dieses ist das Steckenpferd aller dichterischen Moralisten, und
4T1' hierin suchen sie Nectar und Ambrosia. Die Menschen werden / von 2
Triebfedern bewegt; eine ist von ihnen selbst hergenommen und das
ist die Triebfeder der Selbsthebe; die andre ist die moralische Trieb-
feder, die von andern hergenommen ist und das ist die Triebfeder 15
der allgemeinen Menschenliebe. Diese 2 Triebfedern sind bey dem
Menschen im Streit. Die Menschen würden andre lieben und ihr Glück
besorgen, wenn sie nicht die Absichten ihrer Selbstliebe auszuführen
hätten. Von der andern Seite sehn sie auch, daß die Handlungen der
Selbstliebe kein morahsches Verdienst haben, sondern nur durch die 20
moralischen Gesetze an sich erlaubt sind. Dagegen ist es ein großes
Verdienst, wenn der Mensch durch allgemeine Menschenliebe bewogen
wird, das Glück andrer zu befördern. Nun hält aber der Mensch
besonders darauf, was seiner Person einen Werth giebt. Aus dieser
Idee fließt die Freundschaft. Wie fange ichs aber nun an ? Soll ich 25
zuerst aus der Selbstliebe mein Glück besorgen, und hernach wenn es
478 besorgt ist, das Glück / anderer zu befördern suchen ? Allein, alsdenn
wird das Glück anderer hintenangesetzt und die Neigung zu meinem
Glück wächst immer stärker, so, daß ich niemals in der Besorgung
meines Glücks zum Ende komme, und auf solche Art das fremde 30
gar unterbleibt. Fange ich aber zuerst an, des andern sein Glück zu
besorgen, so bleibt mein Glück zurück. Wenn aber die Menschen alle
so gesinnt sind, daß jeder für das Glück des andern sorgt, so wird
jedes Wohlfahrt durch den andern besorgt; wenn ich wüßte daß andre
für mein Glück so sorgten, wie ich vor anderer ihres sorgen möchte, 35
so müßte ich in einer Besorgung meines Glücks nicht zu kurz kommen,
Moralphilosophie Cons 423
denn das würde mir dadurch ersetzt, daß ich das Glück des andern
besorgte, also würden wir unsre Wohlfahrt vertauschen und keiner
würde Schaden leiden ; denn so gut er das Glück des andern besorgt,
so besorgt der andre sein Glück eben so gut. Es scheint als wenn der
6 Mensch verliehrt, wenn er für das Glück des andern sorgt; allein, wenn
andre wieder für ihn sorgen, / so verhehrt er nichts. Alsdenn würde «»
jedes sein Glück durch die Großmuth des andern befördert, dieses ist
die Idee der Freundschaft, wo die Selbstliebe verschlungen ist in der
Idee der großmüthigen Wechselliebe. Wenn wir nun wieder die andre
10 Seite nehmen, wo jeder sein eignes Glück besorgt und gleichgültig ist
gegen andre, so ist zwar freylich jeder befugt sein Glück zu besorgen.
Dieses ist zwar nur eine Erlaubniß der morahschen Regel, aber kein
Verdienst ; wenn jeder nur das Glück des andern nicht gehindert hat,
indem er sein eignes besorgte, so hat er zwar kein morahsch Verdienst,
15 aber auch kein moralisch Verbrechen. Wenn wir nun wählen sollten,
was würden wir wählen ? Freundschaft oder Selbsthebe ? Aus mora-
lischen Gründen würden wir die Freundschaft wählen, aber aus prak-
tischen die Selbstliebe, denn keiner könnte doch mein Glück so gut
besorgen / als ich. Wenn ich aber eines von beyden nehme, so ist doch 480
20 immer was fehlerhaftes. Wähle ich bloße Freundschaft, so leidet dadurch
mein Glück; wähle ich bloße Selbstliebe, so ist darin kein morahsches
Verdienst und Werth. Die Freundschaft ist eine Idee, weil sie nicht aus
der Erfahrung abgezogen ist, indem sie da sehr mangelhaft ist, sondern
in dem Verstände ihren Sitz hat, in der Moral aber sehr nöthig ist.
25 Bey dieser Gelegenheit können Avir merken, was eine Idee und was ein
Ideal ist. Wir haben ein Maaß nöthig, wornach wir die Grade schätzen
können. Dieses Maaß ist entweder willkührlich, wenn nähmlich die
Größe nach Begriffen a priori nicht bestimmt ist, oder ein natürliches
Maaß, wenn die Größe nach Begriffen a priori bestimmt ist. In Anse-
30 hung der Größen, so fern sie a priori bestimmt werden, welches ist da
das bestimmte Maaß, nach welchem wir / sie schätzen können ? Ilir 48i
Maaß ist immer das größeste ; so fern dieses größeste ein Maaß in An-
sehung anderer Größen ist, die minder sind, so ist dieses Maaß eine Idee,
so fern es aber ein Muster anderer ist, so ist es ein Ideal. Wenn wir nun
35 die liebreichen Neigungen der Menschen gegen einander nehmen, so sind
da viele Grade und Proportionen in Ansehung derer, die ihre Liebe
unter sich und unter andern vertheilen. Das Maximum der Wechsel-
liebe ist die Freundschaft und diese ist eine Idee, denn sie dient zum
Maaß, die Wechselliebe zu bestimmen. Die größte Liebe gegen andre
424 Vorlesungen über Moralphilosophie
ist die, wenn ich ihn so Hebe als mich selbst, ich kann einen andern
nicht mehr heben als mich; wenn ich ihn aber so lieben will als mich,
so kann ich dieses nicht anders thun, als wenn ich versichert bin,
482 daß mich der andre eben so lieben wird als sich, / alsdenn wird mir das
ersetzt, was ich mir selbst entgehn lasse, ich reokkupire mich selbsten 5
dadurch. Diese Idee der Freundschaft dient dazu, daß wir dadurch die
Freundschaft bestimmen können und sehen, wie viel daran noch fehlt.
Wenn daher Sokrates sagte: Meine lieben Freunde, es giebt keine
Freunde, so heißt das so viel, keine Freundschaft congruirt mit der
Idee der Freundschaft; darin hat er also recht, denn es ist auch nicht lo
möglich. Die Idee ist aber was wahres. Wenn ich bloß Freundschaft
wähle, und des andern Glück allein besorge, in der Versicherung, der
andre besorgt auch mein Glück eben so; so ist dieses zwar eine
Wechselliebe, wodurch ich wieder ersetzt werde. Hier würde jeder das
Glück des andern aus Großmuth besorgen, ich werfe mein Glück nicht i5
483 weg, sondern ich habe es nur in andern Händen, indem ich / des
andern seines in meinen Händen habe ; allein diese Idee ist nur gut in
der Reflection, aber unter den Menschen findet solches nicht statt.
Wenn nun aber jeder nur allein für sich sorgte, ohne für den andern
bekümmert zu seyn, so würde gar keine Freundschaft statt finden. 20
Also muß beydes unter einander gemischt seyn. Der Mensch sorgt für
sich und auch für das Glück anderer. Weil hier aber die Grenzen nicht
bestimmt sind und der Grad nicht bezeichnet werden kann, wie weit
ich für mich und wie weit ich für andre sorgen soll, so läßt sich das
Maaß in der freundschaftlichen Gesinnung durch kein Gesetz und 25
Regel bestimmen. Ich bin verbunden für meine Bedürfnisse und für
die Zufriedenheit des Lebens zu sorgen ; wenn ich nun das Glück des
484 andern nicht anders, als / durch Aufgebung meiner Bedürfniße und
Zufriedenheit des Lebens besorgen kann, so kann mich keiner ver-
pflichten alsdenn das Glück des andern zu besorgen, und die Freund- so
Schaft gegen ihn auszuüben. Indem aber jedes seine Bedürfnisse
steigen können und jeder sich so viel zur Bedürfniß machen kann als
er will, so läßt sich hier der Grad nicht bestimmen, unter welcher Auf-
hebung der Bedürfnisse nur allein die Freundschaft statt finden
kann; denn es ist vieles von unsern Bedürfnissen, die wir uns zur 35
Bedürfniß gemacht haben, so beschaffen, daß wir viele derselben
gegen unsern Freund aufopfern können. Die Freundschaft wird einge-
theilt : in die Freundschaft der Bedürfnisse, in die Freundschaft des
Geschmacks und in die Freundschaft der Gesinnung. Die Freund-
Moralphilosophie Collins 425
Schaft / der Bedürfnisse ist, nach welcher die Personen in Ansehung 485
ihrer Bedürfnisse des Lebens sich einander eine wechselseitige Vor-
sorge vertrauen können. Dieses ist der erste Anfang der Freundschaft
unter den Menschen gewesen. Sie findet aber nur in dem rohesten
5 Zustande am meisten statt. Wenn daher Wilde auf die Jagd gehn und
sie stehn in Freundschaft, so steht einer für die Bedürf niße des andern,
einer sucht die Bedürfnisse des andern zu befördern. Je weniger die
Menschen Bedürfnisse haben, desto mehr haben sie solche Freund-
schaft ; denn wenn der Mensch in dem Zustande des Luxus ist, wo er
10 viele Bedürfnisse hat, denn hat er auch viele eigene Angelegenheiten,
und alsdenn kann er sich desto weniger mit den Angelegenheiten
anderer beschäftigen, weil / er mit sich zu thun hat. In dem Zustand 486
des Luxus findet also solche Freundschaft nicht statt, ja man will
nicht einmal in diesem Zustand solche Freundschaft haben; denn
15 wenn der eine weiß, daß die Absicht des andern in der Freundschaft
diese ist, daß er einige Besorgung der Bedürfnisse durch diese Freund-
schaft erreichen will, so wird die Freundschaft unintereßant, und
denn wird sie auch aufgehoben. Ist diese Freundschaft activ, das
heißt, wenn der eine wirklich die Bedürfnisse des andern besorgt, so ist
20 sie großmüthig ; aber der paßive Theil, der darauf ausgeht, solches von
andern zu erreichen, ist sehr ungroßmüthig. Demnach wird keiner
seinem Freunde durch seine Angelegenheiten Ungemächlichlieiten
verursachen, sondern jeder wird lieber sein Uebel Selbsten ertragen,
als daß er seinen Freund damit belästige. Sobald also die Freundschaft
25 unter 2 Personen / von beyden Seiten edel ist, so abhorrirt jeder davon. 48T
Keiner wird dem andern durch seine Angelegenheiten Ungemächlich-
keiten verursachen. Jedoch aber müssen wir doch in jeder Freund-
schaft diese Freundschaft der Bedürfnisse voraus setzen, aber nicht
um sie zu genießen, sondern zu vertrauen, d. h. ich muß von jedem
30 meinem waliren Freunde das Vertrauen haben, daß er im Stande wäre
mir meine Angelegenheiten zu besorgen, um meine Bedürfnisse zu be-
fördern, nur ich muß solches von ihm nicht fodern, um es zu genießen.
Das ist ein wahrer Freund, von dem ich weiß und voraussetzen kann,
daß er mir wirklich in der Noth heKen werde ; weil ich aber auch ein
35 wahrer Freund von ihm bin, so muß ich ihm solches nicht anmuthen
und ihn in solche Umstände und Verlegenheit setzen, / ich muß solches 488
nur ihm vertrauen, aber nicht fodern und lieber selbst erdulden, als
den andern damit belästigen. Der andre muß solches Vertrauen auch
wieder auf mich setzen, aber eben so wenig solches fodern. Also das
426 Vorlesungen über Moralphilosophie
Vertrauen auf die wohlwollende Gesinnung des andern und auf die
beystehende Freundschaft bey unsern Bedürfnissen wird voraus-
gesetzt, obgleich ein andrer Grundsatz ist, laut dem wir solches nicht
können mißbrauchen. Weil mein Freund so großmüthig ist, daß er
solche gute Gesinnungen gegen mich hat, mir wohl zu wollen, und in 5
aller Noth beyzustehn, so muß ich auch so großmüthig seyn und
solches nicht von ihm fodern. Die Freundschaft, die sich so weit
erstrecket, daß man dem andern mit seinem Schaden hilft, ist sehr
selten und auch sehr delicat und fein. Die Ursache ist diese : Weil man /
489 dem andern solches nicht anmuthen kann. Das süßeste und delicateste lo
der Freundschaft sind die wohlwollende Gesinnungen ; diese muß aber
der andere nicht zu verringern suchen, weil das delicate der Freund-
schaft nicht darin besteht, daß ich sehe in des Freundes Geldl^asten
liegt auch ein Schilling für mich. Die andere Ursache ist aber, weil das
Verhältniß geändert wird. Das Verhältniß der Freundschaft ist das i5
Verhältniß der Gleichheit ; wenn nun aber ein Freund dem andern mit
seinem Schaden hilft, so ist er mein Wohlthäter gewesen, und ich bin
in seiner Schuld ; ist dieses aber, so bin ich dadurch blind gemacht, und
kann ihm nicht mehr so dreist unter die Augen sehn, also ist da schon
das wahre Verhältniß aufgehoben, und deim ist es keine Freundschaft 20
mehr. Die Freundschaft des Geschmacks ist ein Analogon der Freund-
schaft und bestehet im Wohlgefallen am Umgange und wechselseitiger
490 / Gesellschaft und nicht an der Glückseeligkeit des einen und des
andern. Zwischen Personen von einerley Stande oder Gewerbe findet
die Freundschaft des Geschmacks nicht so statt als zwischen Personen 25
von verschiedenem Metier, so wird ein Gelehrter mit einem andern in
keiner Freundschaft des Geschmacks stehn, denn der eine kann
dasselbe, was der andre kann; sie können sich nicht satisfaciren und
unterhalten; was der eine weiß, das weis der andre auch; aber ein
Gelehrter mit dem Kaufmann oder Soldaten kann wohl in der Freund- 30
Schaft des Geschmacks stehn ; wenn der Gelehrte nur kein Pedant und
der Kaufmann kein dummer Kerl ist, denn kann der eine den andern
unterhalten, jeder von seiner Sache ; denn die Menschen sind nur durch
das verbunden, was der eine zur Bedürfniß des andern beytragen
491 kann, nicht durch das, was der andre schon hat, sondern wenn / der 35
eine das besitzt, was dem andern den Mangel ersetzt, also nicht durch
die Einerleyheit, sondern durch die Verschiedenheit. Die Freundschaft
der Gesinnung und des Sentiments kann im Deutschen nicht so
recht ausgedruckt werden. Es sind Gesinnungen der Empfindung und
Moralphilosophie Collins 427
nicht der wirklichen Dienstleistungen. Die Freundschaft des Senti-
ments gründet sich darauf: Es ist besonders, daß wir, wenn wir
auch im Umgange und in der Gesellschaft stehn, noch nicht gänzlich
in der Gesellschaft stehn. In jeder Gesellschaft ist man zurückhaltend
5 mit dem größten Tlieil seiner Gesinnung ; man schüttet nicht so gleich
alle seine Empfindungen, seine Gesinnungen, und seine Urtheile aus.
Jeder urtheilt so, wie es nach Umständen rathsam ist; es ruhet auf
jedem ein Zwang; jeder hegt ein Mißtraun gegen andre, worauf denn
eine Zurückhaltung erfolgt, laut der wir / entweder unsere Schwäche 49»
loverheelen, um nicht gering geschäzt zu werden; aber auch unsre
Urtheile zurückhalten. Wenn wir uns aber von diesem Zwange
entledigen können, wenn wir das, was wir empfinden, dem andern
zukommen lassen, denn sind wir gänzlich in Gesellschaft. Damit also
ein jeder von diesem Zwange loswerden könnte, so verlangt jeder
15 einen Freund, dem er sich eröffnen kann, gegen den er ganz seine
Gesinnungen und Urtheile ausschütten kann ; dem er nichts verheelen
kann und darf; dem er sich völlig communiciren kann. Hierauf
beruht also die Freundschaft der Gesinnungen und der Geselligkeit.
Hiezu haben wir einen großen Trieb, um sich zu eröfnen, und ganz in
20 Gesellschaft zu seyn. Dieses kann aber nur in Gesellschaft eines oder
2er Freunde seyn. Ferner, so haben die / Menschen es auch nöthig sich 4»3
zu eröfnen, denn dadurch können sie nur ihre Urtheile reflectiren.
Wenn ich einen solchen Freund habe, von dem ich weiß, er hat eine
aufrichtige Gesinnung, er ist liebreich, er ist nicht hämisch, nicht
25 falsch, der wird mich schon in meinem Urtheile zurechthelfen, wenn ich
ge irret habe. Dieses ist der ganze Zweck des Menschen, was ihn seines
Daseyns geniessen läßt. Es fragt sich: Ob in solcher Freundschaft
Zurückhaltung nöthig ist ? Ja, aber nicht so wohl um sein selbst, als
um des andern Willen ; denn die Menschen haben Schwachheiten und
30 die muß man auch gegen seinen Freund verheelen. Die Vertraulichl^eit
betrifft nur die Gesinnung und die Sentiments, aber nicht den An-
stand, den muß man doch beobachten und seine Schwäche liierin
zurückhalten, damit die Menschheit nicht dadurch verletzt werde.
Man muß sich seinem besten Freunde nicht so entdecken, als / man 494
35 natürlich ist und sich kennt, denn sonst würde das ekelhaft sejm.
In welchem Grad verbeßert es die Menschen, wenn sie Freundschaft
machen ? — Die Menschen machen sich nicht allgemein mit ihrem
Wohlwollen, sondern mögen sich gern darin restringiren auf einen
kleinen Zirkel. Die Menschen haben Lust, eine Sekte, eine Parthei,
428 Vorlesungen über Moralphilosophie
eine Gesellschaft zu flechten. Die erstem Gesellschaften sind, die aus
der Familie entspringen, daher einige nur allein in der Familie ver-
kehren. Andre Gesellschaften werden durch Sekten, Religions-
partheien etc. gestiftet, wodurch sie sich unter einander verbinden.
Dies ist etwas rühmliches, es hat den Anschein, als wenn sich die 5
Menschen bemülin in Verbindung ihre Empfindungen, ihre Urtheile
etc. zu cultiviren; allein es bringt die Wirkung hervor, daß das
menschliche Herz gegen die, die ausser diesen Gesellschaften sind,
495 sich verschließt, z. E. in der Religions-Parthei. / Was aber das Allge-
meine des Wohlwollens verringert, und das Herz gegen andre ver- lo
schließt, das schwächt die wahre Bonität der Seele, welche aufs allge-
meine Wohlwollen hinausläuft. Die Freundschaft ist also eine Noth-
hülfe, sich von dem Zwang, dem man sich aus Mißtrauen ergiebt, gegen
Personen, mit denen man in Verbindung steht, zu entdecken, und
denselben sich ohne Zurückhaltung zu eröffnen. Allein, wenn wir in i5
solcher Freundschaft stehn, so müssen wir uns hüten, unser Herz
gegen andre zu verschließen, die nicht in unsrer Gesellschaft stehn.
Freundschaft findet nicht im Himmel statt, denn Himmel ist die
größte Moralische Vollkommenheit, und diese ist allgemein; Freund-
schaft ist aber eine besondre Vereinigung gewisser Personen ; also ist 20
dieses nur in der Welt eine Zuflucht, seine Gesinnung dem andern zu
eröffnen, und sich ihm zu communiciren, indem man hier in Mistrauen
496 gegen einander steht. / Wenn Menschen über den Mangel der Freund-
schaft klagen, so kommt solches daher, weil sie kein freundschaftliches
Herz und Gesinnungen haben, und denn sagen sie, die andren sind 25
keine Freunde ; solche haben immer was von ihren Freunden zu fodern
und sie zu belästigen. Ein anderer der das nicht nöthig hat, entzieht
sich der Freundschaft solcher Personen. Allein die allgemeine Klage
des Mangels der Freunde ist eben so als die allgemeine Klage des
Mangels an Gelde. Je mehr die Menschen gesittet werden, desto allge- so
meiner werden sie, und desto weniger finden die besondern Freund-
schaften statt. Der Gesittete sucht eine allgemeine Freundschaft und
Annehmlichlceit, ohne besondre Verbindung zu haben. Je mehr Wild-
heit in den Sitten herrscht, destomehr sind solche Verbindungen
nöthig, die man sich nach seinen Gesinnungen und Geschmack aus- 35
49T sucht. Solche Freundschaft / sezt von beyden Theilen Schwachheiten
voraus, daß von keiner Seite dem andern kann ein Vorwurf gemacht
werden; wo aber einer dem andern was nachzusehen hat, wo sich
keiner was vorzuwerfen hat, denn ist unter beyden Gleichheit, und
Moralphilosophie Coli ins 429
keiner kann sieh dem andern vorziehn. Worauf beruht es denn bey der
Zusammenpaßung und Verbindung der Freundschaft ? Hierzu wird
nicht die Identitaet des Denkens erfordert, im Gegentheil errichtet
vielmehr die Verschiedenheit die Freundschaft, denn da ersetzt der
5 eine das, was dem andern fehlt, aber in einem Stück müssen sie über-
einkommen: Sie müssen gleiche Principia des Verstandes und der
Moralität haben, denn können sie sich complet verstehn; sind sie darin
nicht gleich, so können sie gar nicht mit einander / einig werden, weil 498
sie im Urtheil weit aus einander sind. Jeder suche, daß er würdig sey
10 ein Freund zu seyn ; dieses kann er durch rechtschaffene Gesinnung,
Offenherzigkeit, Vertrauliclilieit, durch ein Verhalten, das von Bosheit
und Falschheit frey ist; aber mit Munterkeit, Lieblichkeit, Fröhlichkeit
des Gemüths verbunden ist. Dieses macht uns zu Gegenständen, die
einer Freundschaft würdig sind. Hat man sich würdig gemacht, ein
15 Freund zu seyn, so wird sich schon einer oder der andre finden, der an
uns einen Geschmack haben und uns zum Freunde wählen wird, bis
diese Freundschaft durch eine nähere Verbindung immer mehr und
mehr zunimmt. Freundschaft kann auch ein Ende nehmen, denn die
Menschen können sich nicht durchschauen, sie finden oft das / nicht, 499
20 was sie an den andern vermutheten und suchten. Bey Freundschaften
des Geschmacks verliert sich die Freundschaft, weil sich der Geschmack
durch die Länge verliert und auf neue Gegenstände verfällt, und denn
verdrängt einer den andern. Die Freundschaft aus Gesinnung ist rar,
weil die Menschen selten Grundsätze haben. Es hört demnach die
25 Freundschaft auf, weil es keine Freundschaft der Gesinnung war.
In Ansehung der vorigen Freundschaft muß man folgendes merken.
Man muß Achtung vor dem Namen der Freundschaft haben, und
wenn auch unser Freund wodurch Feind geworden ist, so müßen wir
doch die vorige Freundschaft veneriren und nicht zeigen daß wir des
30 Hasses fähig sind. Es ist nicht allein an sich schlecht, / von seinem soo
Freunde nachtheilig zu sprechen, indem man dadurch beweist, daß
man keine Achtung vor der Freundschaft hat, daß man in der Wahl
seines Freundes schlecht gehandelt hat, und daß man jezt gegen ihn
undankbar ist, sondern es ist auch wider die Regel der Klugheit;
35 denn diejenige gegen die er solches spricht, denken, es kann ihnen
auch so gehn, wenn sie seine Freunde werden, und sich hernach
erzürnen und machen also keine Freundschaft. Gegen den Freund hat
man sich aufzuführen, daß es uns nicht schadet, wenn er unser Feind
wäre, wir müssen ihm nichts in die Hände geben. Zwar muß man nicht
430 Vorlesungen über Moralphilosophie
voraussetzen, daß er unser Feind werden kann, denn sonst wäre keine
501 Vertraulichlceit. Wenn man sich aber seinem Freunde / ganz überläßt,
und ihm alle Geheimniße anvertrauet, die mein Glück verringern
möchten, die er ausplaudern möchte, wenn er mein Feind würde,
so ist dies sehr unvorsichtig ihm solche anzuvertrauen, denn er könnte 5
solche theils aus Unvorsichtigkeit ausplaudern, theils könnte er uns
dadurch schaden, wenn er unser Feind würde. Wer einen hitzigen
Menschen zum Freunde hat, der, wenn er aufgebracht ist, uns wohl
an den Galgen bringen möchte, so bald er aber besänftigt ist, selbst
abbittet, solchem muß man nichts in die Hände geben. Es fragt sich, lo
ob man von jedem Menschen ein Freund seyn kann ? — Die allgemeine
502 Freundschaft ist, ein / Menschen Freund überhaupt zu seyn, ein allge-
meines Wohlwollen gegen jedermann zu haben; aber jedermanns
Freund zu seyn, das geht nicht an, denn wer ein Freund von allen ist,
hat keinen besondern Freund; die Freundschaft ist aber eine beson- 15
dere Verbindung. Allein, man könnte doch von einigen sagen, daß sie
Freunde von Jedermann sind, wenn sie fähig sind, mit jedermann
Freundschaft zu machen. Solche Weltbürger giebts nur wenige, sie
sind von guter Gesinnung und geneigt alles auf die beste Seite auszu-
legen. Diese Gutherzigkeit mit Verstand und Geschmack verbunden, 20
macht einen allgemeinen Freund aus. Dies ist schon ein großer Grad
der Vollkommenheit. Aber die Menschen sind doch sehr geneigt,
besondre Verbindungen zu machen. Die Ursache ist, weil der Mensch
vom Besonderen anfängt, und zum allgemeinen fortgeht, und denn
503 ist / es auch ein Trieb der Natur. Ohne Freund ist der Mensch ganz 25
isolirt. Durch die Freundschaft wird die Tugend im Kleinen culti-
virt.
Von der Feindschaft.
Feindschaft ist mehr als ein Mangel der Freundschaft. Wenn der
Mensch keinen Freund hat, so folget daraus noch nicht, daß er ein 30
Feind von jedem ist. Er kann immer ein gutes Herz haben, allein,
er hat nicht die Gabe zu gefallen und einzunehmen. Er kann auch
rechtschaffene Gesinnungen haben, nur er weiß sich nicht beliebt
zu machen, alle Fehler zu gut zu halten; ein solcher kann keinen
Freund haben, daraus folgt aber noch nicht, daß er deswegen eine 35
schlimme Gemüthsart haben soll. So wie die Freundschaft besteht im
gegenseitigen Wohlwollen und Wohlgefallen, so besteht die Feind-
Moralphilosophie Collins 431
Schaft in gegenseitiger Mißgunst und Misf allen. Wir können an / je- 504
mandem Misf allen haben, aber keine Ungunst. Wir haben an einem
Misfallen, wenn wir nicht das Gute an ihm finden was wir suchen, wir
können mit ihm nicht umgehn; er kann unser Freund nicht seyn;
5 übrigens aber haben wir noch keine Ungunst gegen ihn; wir wünschen
ihm alles gute, ja wir würden ihm auch noch wohl was geben, wenn er
wegbhebe. Ungunst aber haben wir gegen jemanden, wenn wir ibm
nichts Gutes wünschen. Da nun die Feindschaft in Ungunst und Mis-
fallen besteht, wo man ein Vergnügen an dem Uebel anderer findet,
10 so müssen wir gegen keinen eine Feindschaft hegen, denn das ist an
dem Menschen selber häßlich, wenn er andre haßt und ihnen übel will.
Der Mensch ist alsdenn in seinen eigenen Augen liebenswürdig, wenn
er sich Hebens voll findet. Man kann auch / ohne Feindschaft auf seinen 505
Feind zu haben, doch einen Feind haben; man kann ihn meiden; man
15 kann auch wünschen, daß er das empfinden möge, was dazu gehört,
die Billigkeit des andern zu überschreiten; man kann gegen ihn böse
und aufgebracht seyn, ohne ein Feind von ihm zu seyn; denn man
sucht ihn deswegen noch nicht unglücklich zu machen. Also wahre
Feindschaft müssen wir gegen keinen hegen ; wir können zwar einen
20 hassen ; wenn er sich so gegen uns verhalten hat, unsre Geheimnisse
wodurch uns Schaden geschehn, auszuplaudern, denn er ist hassens-
werth, aber deswegen noch nicht ein Feind, wir dürfen ihm deswegen
noch nicht böses thun, denn Feindschaft ist eine declarirte Gesinnung,
dem andern was Böses zu thun.
25 / Friedfertig ist ein Mensch der vor aller Art von Feindschaft Ab- 506
scheu hat. Friedliebend ist man auf 2faclie Art. Wenn man an seiner
Person Friede haben will, und wenn man bey andren Friede stiftet;
das letzte ist großmüthiger. Diese friedliebende Gesinnung ist unter-
schieden von der Indolenz, nach der man allem Streit und Ungemäch-
30 lichkeiten aus dem Wege gehet, weils Incommoditaet verursacht, die
aber nicht aus dem sanften Character herkommt, sondern aus gutem
Gemüth und Gutherzigkeit. Die friedliebende Gesinnung aus Grund-
sätzen ist aber, wenn man ohnerachtet des sanften Temperaments
dennoch aus Grundsätzen friedliebend ist. Die Misanthropie ist der
35 Menschen-Haß, welcher 2fach ist, der Menschenscheue und der
Menschen Feind. Der Menschenscheue fürchtet sich vor Menschen /
indem er sie als seine Feinde ansieht, der Menschen Feind aber ist, 507
wenn er selbst ein Feind von andern ist, der Menschenscheue scheut
die Menschen aus Temperament, er sieht sich selbst nicht für gut für
432 Vorlesungen über Moralphilosophie
andre an, er hält sich zu gering für andere ; und weil er dennoch etwas
ehrliebig ist, so verbirgt er sich vor ihnen und flieht sie. Der Menschen
Feind scheuet die Menschen aus Grundsätzen, er hält sich selbst für
zu gut für andere. Die Misanthropie kommt theils aus Misf allen, theils
aus Ungunst. Der Misanthrop aus Misf allen sieht alle Menschen für 5
schlecht an; er findet an ihnen das nicht, was er gesucht hat; er haßt
sie nicht; er wünscht allen was Gutes, nur er hat Misfallen an ihnen.
Solche sind trübsinnige Menschen, die sich keine Vorstellung vom
menschlichen Geschlecht machen können. Der Misanthrop aus Un-
gunst ist der, der keinem Gutes, sondern Böses gönnt. lo
508/ Von den Pflichten, die aus dem Recht der Menschen
entspringen.
Im jure wird bestimmt, was Recht sey. Das jus zeigt die Noth-
wendigkeit der Handlungen aus Befugniß oder aus Zwang. Die Ethic
aber zeigt die Nothwendigkeit der Handlungen aus der innern Ver- 15
bindlichkeit, die aus dem Recht anderer entspringt, so ferne man dazu
nicht gezwungen wird. Zuerst müssen wir vorzüglich Acht haben, aus
welchen principiis die Pflichten entsprungen sind. Wenn wir einem
was schuldig sind nach seinem Recht, so müssen wir dieses nicht als
eine Handlung der Gütigkeit und der Großmuth ansehn, die Handlung 20
der Schuldigkeit nicht als eine Liebes Handlung verwenden. Die Titel
der Pflichten müßen nicht verändert werden. Wenn man einem was
509 entzogen hat, und man ihm in der Noth / eine Wohlthat erzeigt, so ist
das keine Grosmuth, sondern schwache Ersetzung dessen, was man
ihm entzogen hat. Selbst die bürgerliche Verfassung ist so eingerichtet, 25
daß wir mit Antheil nehmen an den öffentlichen und allgemeinen Un-
terdrückungen, demnach müssen wir eine Handlung, die wir ausüben
gegen andre, nicht als eine Handlung der Gütigkeit und Großmuth
ansehn, sondern als eine kleine Erstattung dessen, was wir ihm durch
allgemeine Einrichtung entzogen haben. Zweytens sind alle Hand- so
lungen und Pflichten, die aus dem Recht anderer entspringen, die größ-
ten unter den Pflichten gegen andre. Alle Handlungen der Gütigkeit
sind nur in sofern erlaubt, als sie dem Recht eines andern nicht ent-
gegen sind ; sind sie das, so ist die Handlung moralisch nicht erlaubt. Ich
510 kann also keine Familie vom Elende / erretten und hernach Schulden 35
hinterlassen. Es ist also nichts in der Welt so heilig, als das Recht des an-
dern. Gütigkeit ist ein Ueberfluß. Wer keine gütige Handlung ausübet.
Moralphilosophie Collins 433
aber auch nicht das Recht anderer gekränlcet hat, der kann immer recht-
schaffen seyn, und wenn alle so wären, so würde es keine Arme geben.
Wer aber sein ganzes Leben durch gütige Handlungen geübet, und hat
nur das Recht eines Menschen gekränkt, der kann dieses durch alle
5 gütige Handlungen nicht auslöschen. Doch gleichwohl sind die
Pflichten des Rechts und der Gütigkeit nicht so hoch, als die Pflichten
gegen mich selbst. Die Pflichten aus dem Recht anderer müßen nicht
zur Triebfeder den Zwang haben; denn sonst sind solche nur Schelme,
die die Rechte ausüben, aus Furcht vor der Strafe ; die Triebfeder soll
10 auch nicht seyn aus Furcht vor der Strafe Gottes.
/ Von der Billigkeit. Sil
Die Billigkeit ist ein Recht, welches aber keine Befugniß giebt den
andern zu zwingen. Es ist ein Recht aber kein Zwangs^Recht. Hat
jemand für mich gearbeitet für einen abgemachten Lohn, hat aber
15 mehr gethan als ich gefordert, so hat er zwar ein Recht, für seine übrige
Arbeit Bezahlung zu fordern, aber er kann mich nicht dazu zwingen.
Will er die Sache wieder in den vorigen Zustand bringen, so kann er
solches auch nicht thun, wenn ichs nicht haben will, denn an meiner
Sache hat weiter keiner mehr Recht daran ; er hat also keine Befugniß
20 mich zu zwingen, weil es nicht abgemacht war. Es ist keine Declara-
tion. Denn damit einer befugt sey mich zu zwingen, so muß erstlich
die Handlung aus dem Recht des andern selbst entsprungen seyn;
denn aber muß sie auch auf hinreichend äußerlichen Bedingungen der
Imputation des Rechts / beruhn, diese werden durch Beweise, die 512
25 äußerlich sufficient sind, dargethan. Coram foro interno ist die Billig-
keit ein strenges Recht, aber nicht coram foro externo. Die Billigkeit
ist also ein Recht, wo die Gründe der äußern Imputation coram foro
externo nicht gelten, wohl aber vor dem Gewißen.
Von der Unschuld.
30 Juridisch ist jemand schuldig, so fern er eine Handlung gethan,
die dem Recht des andern zuwider ist. Ethisch ist er aber schuldig,
wenn er nur den Gedanken gehabt hat, die Handlung zu begehn,
Christus sagt das deutlich, wenn er spricht : so bald du ein Weib an-
28 Kanfs Schriften XXVII/1
434 Vorlesungen über Moralphilosophie
siehst sie zu begehren etc. Wenn also einer seine Gesinnung nicht
bessert, so bleibt er immer ethisch schuldig bey den Verbrechen die
er nicht begangen hat, denn es fehlte nur die Gelegenheit, so wäre die
513 Handlung geschehn, / weil der Entschluß schon im Gedanken gefaßt
war, die Umstände verhinderten es nur. Die Reinlichl^eit in Gesin- 5
nungen befreyt uns von der Schuld der ethischen Pflichten. Ohne die
Reinlichlieit der Gesinnungen wird der Mensch im moralischen Gericht
so angesehn, als wenn er die Handlungen gethan hat, denn auch im
äußerlichen Gericht ist der Mensch der Handlungen schuldig, wenn er
auch nur durch Umstände und Gelegenheit dazu verleitet ist. Wie lo
mancher geht, der des Verbrechens nicht schuldig ist, weil er nicht in
dieselbe Umstände gerathen; wäre er nur in dieselbe Versuchung
gekommen, so wäre er auch desselben Verbrechens schuldig geworden.
Also lag es nur an äußern Umständen. Es ist demnach keine Tugend
so stark, für die nicht könnte Versuchung gefunden werden. Wir i5
kennen unsre Gesinnungen nicht recht, als bis wir in die Umstände
514 kommen / wo wir solche äußern können ; denn wünschen gut zu seyn
und sich davor halten, das thut jeder Bösewicht auch. Aber wer kann
sagen, der und jener ist in der Versuchung gewesen, seinen Neben-
Menschen zu hintergehn und hat es nicht gethan ! — Die Reinlichkeit 20
der Gesinnung bey jeder Gelegenheit practisch zu zeigen, das ist eine
moralische Unschuld. Oft rühmt man sich unschuldig zu sejai, und
man hat die Versuchung nicht ausgestanden, man hat daher Ursache
sich vor jeder Versuchung zu hüten ; daher auch Christus in dem Vater-
Unser — welches ein ganz moralisches Gebeth ist; ja selbst wenn wir 25
ums täglich Brod bitten, mehr die Genügsamkeit anzeigt, als Sorge
für die Nahrung — angezeigt hat zu bitten, nicht in Versuchung
geführt zu werden. Denn wer weiß, wie weit unsre moralische Gesin-
nungen gehn, und wer hat schon alle Proben ausgestanden. Der
Himmel weiß unsre Schuld am besten ; moralisch unschuldig zu sejm, 30
515 wer kann das sagen. / Vor dem foro externo können wir zwar un-
schuldig seyn, aber nicht hier.
Vom Schaden.
Hievon kann nichts gesagt werden, weil das schon die Rechte ande-
rer betrifft. Wer mich betrogen oder belogen hat, dem thue ich kein 35
Unrecht, wenn ich ihn wieder betrüge oder ihm etwas vorlüge; aber
Moralphilosophie Coli ins 435
ich habe üherhaupt nach dem allgemeinen Rechte der Menschheit
Unrecht gethan. Derjenige kann sich zwar über mich nicht beklagen,
aber ich habe doch auch Unrecht, daß ich das überhaupt gethan habe.
Also ist das nichts, wenn wir uns rühmen können, Menschen nicht
5 Unrecht gethan zuhaben ; wir können doch überhaupt Unrecht gethan
haben. Bey der Beleidigung ist eine Entschuldigung oder Genugthu-
ung nöthig; wenn das nicht geschehn kann, so muß Abbitte folgen.
Wenn man über die Beleidigung sein Leid beweiset, und darüber
betrübt ist, daß man den andern beleidiget hat, der andre / damit nicht 5i«
10 zufrieden ist, so gereicht mir das zur Ehre, wenn ich ihm abbitte; die
Abbitte ist also keine Erniedrigung.
Von der Rache.
Rachbegierde ist von Rechtsbegierde zu unterscheiden. Jeder
Mensch ist verbunden sein Recht zu behaupten und zu sehn, daß sein
15 Recht nicht von andern mit Füssen getreten werde. Diesen Vorzug
der Menschheit ein Recht zu haben, muß er nicht aufgeben, sondern
so lange verfechten, wie er kann, denn sonst, wenn er sein Recht
wegwirft, so wirft er seine Menschheit weg. Alle Menschen haben also
eine Rechtsbegierde, ihr Recht zu schützen, so daß sie auch Gewalt
20 verlangen, dem Recht anderer Menschen, welches beleidiget ist, zu
satisfaciren. Wenn wir hören, daß einem Unrecht geschehn ist, so
ärgert es uns; wir sind begierig, ihn empfinden zu laßen, was das heißt
das Recht anderer zu kränken.
/ Gesetzt wir haben für jemanden was gearbeitet, und er hat nicht sn
25 Lust solches zu bezahlen, sondern er macht viele Einwendungen, so
ist das schon eine Sache die unser Recht angeht, mit dem müssen wir
nicht spielen lassen. Hier ist es uns nicht mehr um die einige Thaler
zu thun, sondern um unser Recht, welches mehr werth ist, als 100 oder
1000 Thaler. Wenn diese Rechtsbegierde aber weiter geht, als ^vi^
30 nöthig haben unser Recht zu verfechten, so ist das schon eine Rache.
Diese geht auf die Unversöhnlichkeit, und auf den Schmerz und Uebel,
welches wir wünschen, daß demjenigen solches möchte zugefügt
werden, der unser Recht gekränlcet hat ; wenn wir ihm auch dadiu'ch
keine Achtung mehr für unser Recht einflößen. Diese Begierde ist
35 schon lasterhaft und die eigentliche Rache.
436 Vorlesungen über Moralphilosophie
518 / Vom Ohrenbläser.
Es muß ein Unterschied gemacht werden, zwischen einem wahren
und hinterhstigen Feind. Der schmeichelnde, heimliche und hinter-
hstige Feind erscheint wei tniederträchtiger, als die offenbahre Bosheit,
wenn sie auch mit Gewalt verknüpft ist, denn alsdenn kann man sich 5
dafür hüten, aber wider die hinterlistige Bosheit nicht, die hebt alles
Zutraun der Menschen auf ; aber die offenbahre Feindschaft nicht. Wer
offenbahr declarirt, er sey ein Feind, auf den kann man sich verlaßen ;
aber die hinterlistige geheime Bosheit, wenn die allgemein wäre,
so hörte das ganze Vertrauen auf. Diese Bosheit verachten wir mehr lo
als die gewaltsame, denn die hinterlistige hat gar keinen valeur, ist
519 niederträchtig, hat gar keinen Quell des guten in sich. Der / off enbahre
Bösewicht kann noch disciplinirt werden, seine Wildheit kann ihm
benommen werden; der aber keinen Quell des Guten hat, dem kann
man keines geben. is
Von der Eifersucht und der daraus entspringenden Mis-
gunst und Neid.
Die Menschen haben 2 Mittel sich zu schätzen. Wenn sie sich mit der
Idee der Vollkommenheit vergleichen und wenn sie sich im Verhältniß
mit andern vergleichen. Schätzt man sich mit der Idee der VoUkom- 20
menheit, so hat man einen guten Maßstab ; schätzt man sich aber in
Vergleichung mit andern, so kann dadurch oft das Gegentheil von dem
herauskommen, wenn man sich nach der Idee der Vollkommenheit
schätzt, denn nun kommts darauf an, wie diejenigen beschaffen sind,
mit denen er sich vergleicht. Vergleicht er sich mit der Idee der Voll- 25
580 kommenheit, so bleibt er darin / sehr zurück und er muß sich sehr
beeifern, derselben ähnlicher zu werden; vergleicht er sich aber mit
andern, so kann er doch noch einen großen Werth haben, indem die,
mit denen er sich vergleicht, große Schelme seyn können. Die Men-
schen mögen sich gerne mit andern vergleichen und sich darnach 30
schätzen, denn da haben sie immer Vortheile. Selbst von denen mit
welchen sie sich vergleichen woUen, wählen sie immer die schlechte-
sten und nicht die besten, denn da können sie am meisten hervor-
strahlen. Vergleichen sie sich mit Menschen, die größern Werth haben,
so kömmt das facit ihrer Selbstschätzung zu ihrem Nachtheil heraus. 35
Nun sind nur 2 Wege übrig mit den Vollkommenheiten des andern
Moralphilosophie Collins 437
gleich zu werden. Entweder ich suche die Vollkommenheiten, die der
andre hat, mir auch zu erwerben, oder ich suche die Volllcommenheiten
des andern zu verringern. Ich vergrößere / also entweder meine Voll- 5«i
kommenheit, oder ich verringere die Vollkommenheit des andern,
5 denn bin ich immer superior. Weil nun das letztere commoder ist,
so mögen die Menschen lieber die Vollkommenheiten des andern ver-
ringern, als die ihrige erhöhn. Dieses ist der Ursprung der Eifersucht.
Wenn Menschen sich mit andern vergleichen, und sie finden an dem
andern Vollkommenheiten, so werden sie über jede Vollkommenheit,
10 die sie an dem andern gewahr werden, eifersüchtig und suchen sie zu
verringern, damit die ihrige hervorragen möge. Dieses ist die mis-
günstige Eifersucht. Suche ich aber meine Vollkommenheiten zu
vermehren, daß sie dem andern gleich werden, so ist dieses eine Nach-
eiferey. Die Eifersucht ist also das genus, und ist also entweder eine
15 misgünstige oder eine nacheifernde Eifersucht. Weil nun die nach-
eifernde Eifersucht schwerer ist, so ist natürlich, daß die Menschen auf
die misgünstige Eifersucht verfallen.
/ Eltern haben demnach in der Erziehung der Kinder darauf zu 523
sehn, daß sie die Kinder zu guten Handlungen nicht durch die Nach-
20 eiferung der andern zu bewegen suchen, denn dadurch entspringt
bey ihnen eine misgünstige Eifersucht, und sie werden demjenigen
gram und suchen ihm hernach nachzustellen, der ihnen als ein Muster
in der Nacheiferung vorgelegt ist. Wenn daher die Mutter sagt: Sieh
einmahl Junge, wie des Nachbahrs Fritze ist, "wie schön daß er sich
25 hält, wie fleissig er ist, so ärgert sich dieser gleich über des Nachbahrs
Fritze und denkt: wenn der Junge nur nicht wäre, so möchtest du
ihm nicht verglichen werden, denn wärst du der beste. Nun kann sich
zwar das Kind beeifern, eben dieselben Vollkommenheiten zu erhalten,
die des Nachbahrs Kind hat, weil das aber schwerer ist, so verfällt es
30 auf Misgunst. Das Gute muß also den Kindern an und vor sich selbst
angepriesen werden, / die andren mögen besser oder schlechter seyn, 523
denn wenn der andre nicht besser wäre, so hätte dieser alsdenn keinen
Bewegungs Grund auch beßer zu seyn. Denn so gut die Mutter sagen
kann: Sieh einmahl, der ist besser wie du, so könnte ihr der Sohn ant-
35 Worten, ja der ist zwar beßer als ich, aber sehn Sie einmahl die andern
an, da sind ihrer mehr, die noch weit schlechter sind. Denn wenn die
VergJeichungen auf der einen Seite auf mich passen, so können sie auf
der andern Seite eben so gut passen. Dieses sind Fehler der Erziehung,
die hernach sehr einwurzeln. Dadurch cultiviren die Eltern die Eifer-
438 Vorlesungen über Moralphilosophie
sucht, die sie doch bey den Kindern voraussetzen, wenn sie ihnen
andre zum Muster vorlegen, denn sonst könnten die Kinder ganz
gleichgültig gegen andre seyn. Da sie nun hierin den letzten Weg
nehmen, weil das leichter ist des andern seine Vollkommenheiten zu
524 destruiren / als seine so weit zu erheben, so entspringt hieraus die Mis- 5
2unst. Es ist uns zwar die Eifersucht sehr natürlich, aber das entschul-
digt uns gar nicht, daß wir sie cultiviren, sondern sie ist nur ein Subsi-
dium, eine Triebfeder, wenn noch keine maximen der Vernunft sind;
da wir aber schon maximen der Vernunft haben, so müssen wir sie
durch Vernunft einschränken. Denn da wir als thätige Menschen lo
bestimmt sind, so sind uns viele Triebfedern gegeben, als Ehrbegierde
etc., und unter diesen ist auch die Eifersucht. Sobald aber die Vernunft
herrscht, so müssen wir nicht suchen deswegen vollkommen zu wer-
den, weil uns andre vorkommen, sondern an sich. Denn muß die
Triebfeder aufhören und an ihrer Stelle die Vernunft herrschen. Die i5
Eifersucht herrscht besonders bey Personen von gleichem Stande und
Metier, z. E. die Kaufleute unter einander; besonders aber bey
Gelehrten von einer Profession, denn ein andrer kann ihnen nicht so
535 zuvorkommen. / Das weibliche Geschlecht ist unter einander eifer-
süchtig, in Ansehung des andern Geschlechts. 20
Misgunst ist, wenn man misvergnügt ist über den Vorzug des an-
dern ; wir werden durch das Glück des andern zu sehr erniedrigt und
deswegen misgönnen wir es ihm. Sind wir aber darüber misvergnügt,
daß der andre Antheil am Glück hat, so ist das der Neid. Der Neid
ist also, wenn wir die Unvollkommenheit und das Unglück anderer 25
wünschen, nicht damit wir dadurch möchten vollkommen oder glück-
lich seyn, sondern damit wir alsdenn allein vollkommen und glücklich
seyn möchten. Der Mensch sucht glücklich zu seyn, so daß alle um ihn
unglücklich sind und sucht die Süßigkeit des Glücks darin, daß er allein
dasselbe geniesse und alle andre unglücklich sind. Dies ist der Neid 30
von dem wir hernach hören werden, daß er teuflisch ist. Die Misgunst
536 ist natürlicher, obgleich sie auch nicht / zu billigen ist. Auch gut-
artige Seelen sind misgünstig, z. E. wenn man misvergnügt ist und alle
andre sind fröhlich, so misgönne ich den andern das. Denn allein mis-
vergnügt zu seyn, da alle um ihn fröhlich sind, das ist schwer. Habe 35
ich allein ein schlechtes Gericht zu eßen, und alle andre haben gut
zu eßen, so kränkt mich das, und ich misgönne es ihnen; wenn aber
alle in der ganzen Stadt solches nicht beßer haben, so bin ich ver-
gnügt. Der Tod ist erträglich, weil alle Menschen sterben müssen;
Moralphilosophie Collins 439
sollten aber alle leben und ich allein möchte sterben müssen, so
möchte mich das sehr kränken. Wir setzen uns in die Verhältniße der
Dinge und nicht in die Dinge selbst. Wir sind misgünstig, weil andere
glücklicher sind als wir. Wenn aber eine gutartige Seele glücklieh und
5 fröhlich ist, so wünscht sie, daß alles in der Welt eben so glücklich und
fröhlich wäre, denn misgönnt sie solches keinem. / Abgunst ist, wenn 5äT
man einem andern nicht einmahl das gönnt, was man selbst nicht
verlangt. Dieses ist schon eine Bösartigkeit der Seele, aber noch kein
Neid, denn dadurch daß ich dem andern dasjenige von meinem Eigen-
10 thume nicht gönne, was ich nicht brauchen kann, will ich noch nicht
haben, daß ich allein was haben soll und der andre gar nichts; ich mis-
gönne ihm doch nicht sein Eigenthum. Es liegt schon viel in der
Natur des Menschen von Misgunst, was Neid werden könnte; aber
noch nicht Neid ist. Die Erzehlung in einer Gesellschaft vom Unglück
15 des andern, welches aber noch erträglich seyn muß, oder vom Fall
gewisser reicher Personen, sind wir sehr geneigt zu hören, und ob wir
gleich keinen Gefallen beweisen, so gefällt es uns doch bey sich selbst.
Aber wenn wir bey Sturm und üblem Wetter am warmen Ofen und am
Caffe-Tische sitzen, und wir bringen den Mann, der bey solchem Wetter
20 unterwegens oder auf der See ist, aufs Tapet, so gemessen wir dadurch
unser Glück beßer, / es erhöhet die Annehmlichkeit. Es liegt also die 528
Mißgunst in unserer Natur, welches aber noch kein Neid ist. Diejenige
3 Laster, die wir hier zusammen nehmen können, und die der Inn-
begriff der niederträchtigsten und boshaftesten Laster sind, sind diese :
25 die Undankbarkeit, der Neid, und die Schadenfreude. Wenn diese
ihren völligen Grad erreichen, so sind es teuflische Laster. Alle
Menschen werden durch Wohlthaten beschämt, indem man dadurch
verbunden ist, und der andre Verbindlichkeiten und Ansprüche auf
den hat, dem er Wohlthaten erzeigt hat. Daher schämt sich jeder
30 verbunden zu seyn ; und ein großmüthiger Mann wird also nicht Wohl-
thaten annehmen um nicht verbunden zu seyn. Dies ist schon eine
Anlage zur Undankbarkeit, wenn der Mensch, der Wohlthaten
genoßen hat, stolz und eigennützig ist, denn aus Stolz schämt er sich
dem andern verbunden zu seyn, / und aus Eigennutz will er solches 5«9
35 dem andern nicht zukommen lassen, daher wird er trotzig und un-
dankbar. W^ächst diese Undankbarkeit so weit, daß er seinen Wohl-
thäter nicht leiden kann, daß er ihm Feind wird, so ist das der Grad
des teufelischen Lasters, indem es gar nicht mit der menschlichen
Natur zusammenstimmt, denjenigen zu hassen und zu verfolgen, der
440 Vorlesungen über Moralphilosophie
einem Wohlthaten erzeigt hat, und indem es auch einen entsetzHchen
Schaden verursachen würde, wenn alle Menschen dadurch von allen
Wohlthaten abgeschreckt würden, und dadurch Misanthropen wür-
den, weil sie sehn möchten, daß sie dafür schlecht behandelt würden.
Das 2te Laster ist der Neid. Dieses ist äußerst verhaßt, denn da wül 5
der Mensch nicht nur glückhch seyn, sondern allein glücklich seyn.
Er wünscht sein Glück so zu gemessen, daß allerwärts Unglück ist,
530 und er alsdenn in seinem Glück recht vergnügt seyn kann. / Ein
solcher will auf die Art die Glückseeligkeit in der ganzen Welt aus-
rotten und deswegen ist er ein unerträgliches Geschöpf. Die 3te teufe- lo
lische Bosheit ist die Schadenfreude, die darin besteht, daß man ein
unmittelbares Vergnügen an dem Schaden anderer findet z. E. wenn
man Feindschaften in der Ehe und sonst anzurichten sucht, und sich
über den Schaden der andern freuet. Hier muß man sich eine Regel
machen, daß man keinem Menschen das wiedersage, was von ihm i5
nachtheiliges von andern gegen mich gesagt worden; es sey denn,
wenn durch das Verschweigen dem andern Schaden entspringt, denn
alsdenn rieht ich Feindschaften an, wodurch der andre beunruhiget
wird, welches nicht geschehn möchte, wenn ich es verschwiegen hätte,
und denn, so handle ich auch gegen den andern, der es mir gesagt hat, 20
531 treulos. Unsere Sorge hiebey ist, sich rechtschaffen zu verhalten und /
denn mag die ganze weite Welt sagen, was sie will, so muß ich solches
nicht durch meine Worte, sondern durch meinen Lebenswandel wieder-
legen, wie Sokrates sagte: Wir müssen uns so offenbaren, daß die
Leute das nicht glauben werden, was uns zum Nachtheil gesagt wird. 25
Alle 3, die Undankbarkeit (ingratitudo qualificata), Neid und Schaden-
freude sind teuflische Laster, weil sie eine unmittelbare Neigung zum
Bösen anzeigen. Daß der Mensch mittelbare Neigung zum Bösen hat,
ist menschlich und natürlich, z. E. der Geizige will gerne alles an sich
ziehn; er hat aber kein Vergnügen, wenn der andre gar nichts hat. 30
Es giebt also Laster, die directe und indirecte böse sind. Diese 3 Laster
sind die, die directe böse sind. Es fragt sich, ob in der menschlichen
Seele eine unmittelbare Neigung zum Bösen, also eine Neigung zum
532 teuflischen Laster ist ? Teuflisch nennen / wir das, wenn das Böse bey
den Menschen so weit getrieben wird, daß es den Grad der mensch- 35
liehen Natur überschreitet, so wie wir das Gute, was über die Natur des
Menschen getrieben wird, englisch nennen. Alles Glück referiren wir
in den Himmel und alles Böse in die Hölle, und das Mittel auf die
Erde. Es ist aber zu glauben, daß in der Natur der menschlichen
Moralphilosophie ColUns 441
Seele eine unmittelbare Neigung zum Bösen nicht stattfinde, sondern
daß solches nur indirecte böse sey. Der Mensch kann nicht so undank-
bar seyn, daß er den andern sogar hassen sollte ; nur er ist gar zu stolz,
dankbar gegen ihn zu seyn, übrigens wünscht er ihm alles Glück, nur
5 er wollte gern von ihm entfernt seyn. So freut er sich auch nicht un-
mittelbar über den Schaden des andern, sondern wenn z. E. einer
unglücklich geworden ist, so freut man sich, weil er aufgeblasen, reich
und eigennützig war ; / denn die Menschen mögen gern die Gleichheit 533
erhalten. Der Mensch hat also keine directe Neigung zum Bösen als
10 Bösen, sondern nur eine indirecte. Die Schadenfreude zeigt sich aber
oft schon stark in der Jugend. So sind z. E. die Kinder gewohnt,
andern mit einer Nadel unvermuthet einen Stich zu geben, sie thun
es nur aus Spaaß und denken nicht, daß es der andre fühlen muß, und
andre dergleichen Streiche mehr; so auch den Tliieren Angst aus-
iszupreßen, wenn sie z. E. dem Hunde oder der Katze den Schwantz
einldemmen. Da sieht man es schon, wo es hinaus will, und diesem
muß man frühe vorbeugen. Dieses ist aber eine Art von Thierheit,
wo der Mensch etwas vom Raubthier an sich hat, welches er nicht
überwältigen kann. Den Quell davon wißen wir nicht. Von einigen
20 Eigenschaften können wir gar keinen Grund anführen. So giebt es
Thiere, die solchen Hang haben, alles wegzunehmen, ohne einen
Gebrauch davon zu machen, und es scheint, als wenn der Mensch
diesen Hang von der Thierheit übrig behalten hat.
/ Von der Undankbarkeit insbesondere können wir uns noch fol- 534
25 gendes merken : Der Beystand des andern in Ansehung der Nothdurft
ist eine Wohlthat, in Ansehung anderer Bedürfniße ist Gütigkeit, und
in Ansehung der Annehmlichkeit ists Höflichkeit. Wir können von
dem andern eine Wohlthat erhalten, obgleich sie dem nicht viel kostet.
Wir sind dem andern für die Wohlthat nach der Größe des Grades des
30 Wohlwollens, die ihn angetrieben uns solches zu erzeigen, dankbar,
wir richten unsre Dankbarkeit nach der Ueberwindung, die es dem
andern gekostet hat es uns zu geben, ein. Wir sind dankbar nicht bloß
für das Gute, das wir bekommen haben, sondern auch für die gute
Gesinnung des andern gegen uns. Die Dankbarkeit ist 2fach: Aus
35 Pflicht und aus Neigung. Aus Pflicht, wenn wir nicht durch die
Gütigkeit des andern gerührt sind, / sondern weil wir sehn, daß es 535
sich geziemte dankbar zu seyn, denn haben wir kein dankbares Herz,
sondern Grundsätze der Dankbarkeit. Aus Neigung sind wir danlcbar,
so fern Avir Gegenliebe in uns empfinden. Unser Verstand hat eine
442 Vorlesungen über Moralphilosophie
Schwäche, die wir oft erkennen, so, daß wir die Bedingung in die
Sachen setzen, da es doch eine Bedingung unsres Verstandes ist; wir
schätzen nicht anders die Kraft, als nach den Hindernissen; also
können wir auch nicht den Grad des Wohlthuns anderer schätzen,
als nach dem Grad der Hindernisse. Nun können wir das Wohlthun 5
und die Liebe eines solchen Wesens, was gar keine Hindernisse hat,
gar nicht einsehn. Wenn Gott einem wohlthut, so denkt der Mensch,
das hat Gott gar keine Mühe gemacht, und wenn er danlibar ist, so
schmeichelt er Gott. So denkt der Mensch natürlich. Der Mensch ist
sehr fähig Gott zu fürchten, aber nicht so leicht fähig Gott aus Neigung lo
536 zu lieben, weil er hier / ein Wesen erkennet, dessen Gütigkeit aus dem
größten Ueberfluße entspringet und den nichts hindert uns Gutes zu
erzeigen. Dieses dient nicht dazu, daß Menschen solches so thun sollen,
sondern daß das menschliche Herz, wenn man es erforscht, wirklich so
denlit. Daher auch Völker die Gottheit misgünstig vorstellten und i5
sagten: die Götter wären zurückhaltend mit ihren Wohlthaten, sie
wollten nur viel gebethen seyn, und man sollte nur die Altäre mit viel
Opfer belegen, da sie doch sahen, daß es Gott nichts kostete, ihnen
mehr zu geben; es liegt aber solches in dem Herzen der Menschen.
Allein wenn wir die Vernunft zu Hülfe nehmen, so sehn wir ein, daß 20
ein großer Grad der Gütigkeit zu einem solchen Wesen gehöret,
wenn es einem Wesen gütig seyn soll, das so unwürdig ist. Hiedurch
können wir uns helfen. Wir sind Gott Dank schuldig nicht aus Nei-
gung, sondern aus Pflicht, weil Gott ein ganz andres Wesen und kein
53? Gegenstand unserer Neigung seyn kann. / Man muß sich hüten Wohl- 25
thaten anzunehmen, es sey denn unter dieser 2fachen Bedingung:
Erstlich aus großer Noth und denn aus großem Vertrauen zu seinem
Gönner. Der Wohlthäter ist kein Freund mehr, sondern mein Gönner.
Ohne Unterschied aber Wohlthaten anzunehmen und solche immer zu
suchen, ist nicht grosmüthig, denn dadurch macht man sich verbind- 30
lieh; ist man aber in großer Noth, so muß man Verzicht thun auf
seinen Werth, und solche aus treibender Noth annehmen; oder man
ist überzeugt von seinem Gönner, daß er sie als keine Verbindlichkeit
ansehe ; im übrigen aber muß man sich lieber was entziehen, als Wohl-
thaten annehmen; denn die Wohlthat ist eine solche Schuld, die nie- 35
mals getilgt werden kann, denn wenn ich auch meinem Wohlthäter
50 mal mehr gebe, als er mir gegeben hat, so bin ich doch noch nicht
quitt, denn der andre hat mir eine Wohlthat erzeigt, die er mir nicht
schuldig war, er hat mir solche zuerst erzeigt; wenn ich es aber auch
Moralphilosophie Collins 443
SOfach wieder gebe, so thue ich es doch nur deswegen, um ihm die /
Wohlthat zu vergelten und die Schuld zu bezahlen. Ich kann ihm hier 538
nicht mehr zuvor kommen ; er bleibt doch immer der, der mir zuerst
Wohlthaten erzeigt hat. Der Wohlthäter kann seine Wohlthatcn dem
5 andern als eine Schuld oder als eine Äußerung seiner Pflicht aufer-
legen. Legt er sie ihm als eine Schuld auf, so empört er des andern
seinen Stoltz und verringert dadurch die Dankbarkeit des andern;
will er aber nicht, daß man undankbar seyn soll, so muß er denken eine
Menschen-Pflicht ausgeübt zu haben, und es dem andern nicht als
10 Schuld anrechnen, daß er darauf zu sinnen hat, solche wieder gut zu
machen. Der andre muß aber diese Wohlthat doch als eine Verbind-
lichkeit annehmen und danicbar gegen seinen Wohlthäter seyn; denn
können Wohlthaten statt finden. Ein wohldenkender Mensch nimmt
nicht einmal Gütigkeit an, viel weniger noch Wohlthaten. Danlvbare
15 Gesinnungen sind sehr liebenswürdig, so daß solche Züge auch in der
Comoedie Thränen zuwege / bringen ; aber großmüthige Gesinnungen 539
sind noch süßer. Die Undankbarkeit haßen wir erstaunend, und wenn
sie auch nicht gegen uns gerichtet ist, so ärgert es uns doch so, daß wir
uns selbst ins Mittel setzen möchten. Dieses kommt daher, weil da-
20 durch die Großmuth verringert wird. Der Neid besteht nicht darin,
daß man vorzüglich glücklich seyn will, als wie die Mißgunst, sondern
daß man allein glücldich seyn will. Dieses ist das ärgste bey dem Neide,
warum sollen andre nicht auch glücklich seyn, wenn ich glücklich bin ?
Der Neid äußert sich auch in einigen Sachen der Seltenheit: z.E. bey
25 den Holländern, welches überhaupt eine neidische Nation ist, galten
einmal die Tulpen einige 100 holländische Gulden. Ein reicher Kauf-
mann aber hatte eine von den besten und seltensten, aber als er hörte,
daß ein anderer auch eine solche hatte, so kaufte er sie ihm für 200
holländische Gulden ab, zertrat sie, indem er sagte : Was soll ich damit,
solch habe ja eine, ich wollte nur dieses, daß sie kein anderer haben
sollte als ich. Und so ist es auch in Ansehung des Glücks. Mit der
Schadenfreude ist es anders bewandt, solche Menschen können da
lachen, wo andre / weinen; sie haben da Vergnügen, wo andre Schmerz 540
haben. Macht man andre unglücklich, so ist dieses Grausamkeit,
35 entspringt daraus ein körperlicher Schmerz, so ist es Blutdürstigkeit;
alles zusammen ist Unmenschlichkeit, sowie das Mitleiden und Theil-
nehmung Menschlichkeit ist, weil dieses den Menschen von den
Thieren unterscheidet. Wie eine grausame Gesinnung statt finden
kann, ist schwer zu erklähren. Es muß ausder Vorstellung von der Bös-
444 Vorlesungen über Moralphilosophie
artigkeit anderer herrühren, so daß man gegen sie Haß hat. Menschen
die da glauben von andern Menschen gehaßt zu seyn, hassen sie des-
wegen wieder; obgleich jene aus gerechten Ursachen Haß gegen sie
gefaßt haben. Denn wenn ein Mensch durch Eigennutz und andre
Laster ein Gegenstand des Haßes wird und er weiß, daß ihn die andern 5
deswegen hassen, obgleich sie ihm nicht Unrecht thun, so haßt er sie
wieder. So werden Könige, weil sie wissen,daßsie vondenUnterthanen
gehaßt werden, noch grausamer. Eben so ist es auch, wenn jemand da
541 er es weiß, daß dieser ihn liebt / so liebt er den andern wieder; er liebt
ihn wegen der Gegenliebe, und so haßt einer den andern wegen des 10
Gegenhaßes. Man muß sich hüten, von andern gehaßt zu werden
um seiner selbst willen, denn sonst wird man vom Haß gegen die an-
dern wieder afficirt. Dieses beunruhigt aber den Menschen mehr,
der da haßt, als den andern der da gehaßt wird.
Von den ethischen Pflichten gegen andre und zwar von 15
der Wahrhaftigkeit.
In der Gesellschaft der Menschen ist die Mittheilung der Gesinnun-
gen die Hauptsache, und da ist die Hauptsache, daß ein jeder in
Beziehung seiner Gedanken wahrhaft sey, denn ohne das hört aller
Werth des Umgangs auf. Aus der Bezeichnung der Gedanken kann 20
der andre nur urtheilen, was er denkt, und wenn er deklarirt, er wolle
seine Gedanken äußern, so muß er es auch thun, denn sonst kann keine
Gesellschaft unter den Menschen statt finden. Die Gemeinschaft unter
den Menschen ist nur die 2te Bedingung der Gesellschaft. Der Lügner
hebt aber die Gemeinschaft auf, dahero verachtet man den Lügner, 25
weil die Lüge den Menschen unfähig macht aus dem Gespräch des
543 andern / was gutes zu ziehn. Der Mensch hat einen Hang sich zurück-
zuhalten und sich zu verstellen. Die Zurückhaltung ist die Dissimula-
tio, und die Verstellung die Simulatio. Der Mensch hält sich in An-
sehung seiner Schwachheiten und Vergehungen zurück und kann sich so
auch verstellen und einen Schein annehmen. Die Neigung sich zurück
zu halten und zu verbergen, beruht darauf, daß die Vorsicht gewollt
hat, der Mensch soll nicht ganz offen seyn, weil er voll Gebrechen ist;
weil wir viele Eigenschaften und Begierden haben, die dem andern
verwerflich sind, so möchten wir dem andern von der Seite der Thor- 35
heit und des Haßes in die Augen fallen. Alsdenn aber möchte dieses
entstehn, daß sich die Menschen an die böse Eigenschaften ange-
Moralphilosophie Collins 445
wohnen möchten, weil sie dasselbe bey allen sehn möchten. Demnach
richten wir unser Verhalten so ein, daß wir theils unser Vergehn ver-
heelen, theils auch einen andern Schein annehmen und die Kunst
besitzen anders zu erscheinen, als war sind; folglich fällt andern Men-
5 sehen von unsern Vergehn und Schwachheiten nichts in die Augen
als solche Erscheinungen vom Wohlergehn, und hiedurch / gewöhnen 543
wir uns an Gesinnungen, die Wohlverhalten zuwege bringen. Dem-
nach ist kein Mensch im wahren Verstände offenherzig. Würde das
seyn, wie Momus verlangte, daß Jupiter hätte ein Fenster ins Herz
10 sollen setzen lassen, damit man jedes Menschen seine Gesinnung
wißen möchte, so müßten die Menschen beßer beschaffen seyn und
gute Grundsätze haben, denn wenn alle Menschen gut wären, so
dürfte keiner zurückhaltend seyn ; da das aber nicht ist, so müssen wir
unsre Fensterladen zu machen. Eben so wie die Unreinigkeit im Hause
15 am besondern Orte ist, und so wie wir einen Menschen nicht ins
Schlafzimmer, wo Nachtgeschirre sind, hineinnöthigen, ob er gleich
weiß, daß wir solches eben so gut haben wie er, so thun wir es doch
nicht, indem wir uns daran gewöhnen möchten und unsern Geschmack
verderben würden. Eben so verbergen wir unsre Fehler und suchen
20 einen andern Schein anzunehmen und affectiren in der Höflichkeit,
obgleich wir sonst mistrauisch sind ; allein dadurch gewöhnen wir uns
an die Höflichkeit, und zulezt wird sie uns eigen, und geben / dadurch 544
noch ein scheinbares gutes Exempel; wäre das nicht, so würde sich
jeder vernachläßigen, indem er keinen fände, der beßer wäre. Es
25 macht also diese Bestrebung einen Schein anzunehmen, daß man wirk-
lich hernach so wird. Wären die Menschen alle gut, so könnten sie
offenherzig seyn, aber jezt nicht. Die Zurückhaltung besteht darin,
daß man seine Gesinnung nicht äußert. Dieses kann man erstlich
dadurch thun, daß man ganz schweigt. Das ist ein kurzes Mittel
30 zurückhaltend zu seyn. Es ist aber ein Mangel eines geselligen Um-
ganges. Es raubt dem Menschen das Vergnügen des Umganges, und
solche stille Menschen sind nicht allein in der Gesellschaft überflüßig,
sondern sie machen sich auch verdächtig und jeder glaubt, er paße auf.
Denn wenn er gefragt wird, was er von dem urtheilt, und er sagt, ich
35 schweige, so ist das so viel als daß er das nachtheilige bejahe, denn
würde er gut urtheilen, so könnte er es ja sagen. Da das Schweigen im-
mer verräth, so ist es nicht einmahl der Klugheit gemäß, zurückhal-
tend zu seyn, man kann aber auch /mit Klugheit ohne Schweigen zu- 545
rückhaltend seyn. Zu dieser Zurückhaltung aus Klugheit wird Ueber-
446 Vorlesungen über Moralphilosophie
legung erfodert. Man muß urtlieilen und sprechen von allem, nur von
dem nicht, worinne man zurückhaltend seyn will. Die Verschwiegen-
heit ist ganz was anders als das Zurückhalten. Ich kann etwas zurück-
halten, wo ich keine Neigung habe es zu äußern, z. E. seine Verbrechen
zurückhalten, da treibt mich die Natur gar nicht sie zu verrathen ; des- 5
wegen hat jeder Mensch seine Heimlichkeiten und die kann er leicht
zurückhalten, aber es giebt Sachen, wozu Stärke gehört, wenn man sie
zurückhalten will. Die Geheimnisse sind von der Art, daß sie aus-
brechen M^ollen und dazu gehört Stärke sie nicht zu verrathen, und das
ist Verschwiegenheit. Die Geheimnisse sind immer deposita des andern, lo
diese muß ich nicht andern zum Gebrauch überlaßen. Da aber die
Gesprächigkeit den Menschen sehr interessirt, so ist die Erzählung der
546 Geheimniße das, was die Gesprächigkeit sehr unterhält, / denn da sieht
der andre solches als ein Geschenk an. Wie kann man Geheimnisse
bewahren ? Menschen die selbst nicht viel gesprächig sind, pflegen gut 15
Geheimnisse zu bewahren, aber beßer können die Geheimniße be-
wahren, die gesprächig aber klug dabey sind, denn den ersten könnte
man doch etwas herauslocken, aber diesen nicht, denn die wissen
immer was anders in die Stelle zu verzählen. So wie die praktische
Sprachlosigkeit eine Ausschweifung auf der einen Seite ist, so ist die 20
Sprachhaftigkeit eine Ausschweifung auf der andern Seite. Der erste
ist ein männlicher, der andre ein weiblicher Fehler. Ein Autor sagt :
die Weiber sind darum schwazhaftig, weil ihnen die Erziehung der
kleinsten Kinder anvertraut ist, und die sie durch ihre Schwazhaftig-
keit bald reden lehren, indem sie im Stande sind den Kindern den 25
ganzen Tag was vorzuplaudern; bey den Männern aber würden die
54T Kinder lange nicht so bald reden lernen. Die Sprachlosigkeit / ist
hassenwerth. Man ärgert sich über Menschen, die nicht reden. Sie ver-
rathen einen Stolz. Die Schwazhaftigkeit bey den Männern ist ver-
ächtlich und wider ihre Stärke. Dieses war nur etwas in Ansehung des so
pragmatischen. Jezt gehn wir zu etwas wichtigerm.
Wenn der Mensch sich äußert, daß er seine Gesinnungen entdecken
will, soll er sie ganz mit Bewußtseyn entdecken oder zurückhaltend
seyn ? — Aeußert er sich, daß er seine Gesinnungen entdecken will,
und er entdeckt sie nicht, sondern sagt eine falsche Aussage, so ist das 35
ein Falsiloquium, eine Unwahrheit. Falsiloquium kann geschehn, wenn
der andre nicht praesumiren kann, daß ich meine Gesinnung äußern
werde. Man kann jemanden hintergehn, ohne ihm überhaupt was zu
sagen. Ich kann mich simuliren, ich kann eine Aeußerung thun,
Moralphilosophie CoUins 447
Avoraus der andre das abnehmen kann, was icli will; der andre hat aber
kein Recht von meiner Aeußerung die Declaration meiner Gesinnung /
zu fodern, und denn hab ich ihn nicht belogen ; denn habe ich nicht 548
declarirt, meine Gesinnungen zu äußern, z. E. wenn ich einpacke, so
5 denken die andern, ich reise weg, und das will ich auch haben ; die an-
dern aber haben kein Recht die declaration des Willens von mir zu
fordern. So machte es der berühmte Law, er baute und wie sie alle
dachten, der wird nicht weggehn, so reiste er ab. Ich kann aber auch
ein Falsiloquium begehn, wo ich Absicht habe dem andern meine
10 Gesinnungen zu verheelen, und wo der andre auch praesumiren kann,
daß ich meine Gesinnung verheelen werde, indem er Gesinnung hat
von meiner Wahrheit einen Misbrauch zu machen, z. E. ein Feind
kommt mir auf den Hals und fragt mich, wo ich das Geld habe, so kann
ich hier die Gedanken verheelen, indem er die Wahrheit misbrauchen
15 will. Das ist noch kein Mendacium, denn der andre weiß, daß ich meine
Gedanken zurückhalten werde und daß er auch gar nicht Recht hat
von mir die Wahrheit zu fordern. Gesetzt / aber, ich äußere wirklich, 549
daß ich meine Gesinnung deklariren wollte, und der andre ist sich
vollkommen bewußt, daß er kein Recht hat solches von mir zu fordern,
20 weil er ein Betrüger ist, so fragt es sich: Bin ich denn ein Lügner ?
Wenn mich der andre betrogen hat und ich betrüge ihn wieder davor,
so habe ich zwar diesem Menschen kein Unrecht gethan, weil er mich
betrogen hat, er kann sich darüber nicht beklagen, allein ich bin doch
ein Lügner, Aveil ich dem Recht der Menschheit zuwider gehandelt
25 habe. Es kann demnach ein Falsiloquium ein Mendacium — eine
Lüge — seyn, wenn es dem Recht eines Menschen besonders entgegen
ist. Wer mir immer was vorgelogen, dem thue ich kein Unrecht, wenn
ich ihm wieder vorlüge, aber ich handle wider das Recht der Mensch-
heit; denn ich habe wider die Bedingung gehandelt, und wdder die
30 Mittel, unter denen eine Gesellschaft der Menschen statt finden kann,
und also wider das Recht der Menschheit. Wenn also ein Staat einmal
Friede gebrochen hat, so kann der andre zur Vergeltung keinen Frie-
den brechen, denn würde das stattfinden können, so würde kein
Friede sicher seyn. / Wenn also auch etwas dem bestimmten Recht des 550
35 Menschen nicht entgegen ist, so ist es doch schon eine Lüge, weil es
dem Recht der Menschheit entgegen ist. Wenn nun ein Mensch falsche
Nachrichten ergreift, so thut er dadurch keinem Menschen insbesondre
Tort, aber der Menschheit, denn wenn das allgemein wäre, so würde die
W^ißbegierde des Menschen vereitelt, denn ich kann nur außer der
448 Vorlesungen über Moralphilosophie
Speculation durch 2 Wege meine Erkenntniße erweitern, durch Er-
fahrung und Erzählung; weil ich nun aber nicht alles selbst erfahren
kann, und die Erzählungen andrer falsche Nachrichten seyn sollten,
so kann die Wisbegierde nicht befriediget werden. Ein Mendacium ist
also ein Falsiloquium in praeiudicium humanitatis, wenn es gleich 5
nicht wider ein bestimmtes jus quaesitum des andern ist. Juridisch ist
ein Mendacium ein Falsiloquium in praejudicium alterius, und da kann
es auch nicht anders seyn aber moralisch ist mendacium ein Falsi-
loquium in praejudicium humanitatis. Nicht jede Unwahrheit ist
551 Lüge, sondern wenn man sich äußerlich / declariret, daß man dem 10
andern seinen Sinn wolle zu verstehn geben. Jede Lüge ist was ver-
werfliches und verachtungs würdiges, denn declariren wir einmal, dem
andern unsern Sinn zu äußern und thun es nicht, so haben wir das
pactum gebrochen und wider das Recht der Menschheit gehandelt.
Wenn wir aber in allen Fällen der PünktHchl<:eit der Wahrheit möch- 15
ten treu bleiben, so möchten wir uns oft der Bosheit anderer Preis
geben, die aus unsrer Wahrheit einen Mißbrauch machen wollten.
Wenn alle gut gesinnt wären, so würde es nicht allein Pflicht seyn
nicht zu lügen, sondern es möchte es auch keiner thun, weil er nichts
zu besorgen hätte. Aber jezt, da die Menschen boshaft sind, so ist es 20
wahr, daß man oft durch pünktliche Beobachtung der Wahrheit
Gefahr läuft, und daher hat man den Begriff der Nothlüge bekommen,
welches ein sehr critischer Punkt für einen moralischen Philosophen
552 ist. Da man aber nun aus Noth stehlen, töten und betrügen / kann, so
vertritt der Nothfall die ganze Moralität, denn, wdrd ein Nothfall 25
behauptet, so beruht es auf jedem seinem Urtheil, ob er es für Nothfall
hält oder nicht, und da hier der Grund nicht bestimmt ist, wo ein
Nothfall ist, so sind die moralischen Regeln nicht sicher, z. E. es fragt
mich jemand, der da weiß daß ich Geld habe, hast du denn Geld bey
dir ? — Schweige ich still, so schließt der andre daraus, daß ich es habe, so
sage ich ja, so nimmt er mir es ab, sage ich nein, so lüge ich, was ist
hiebey zu thun ? So fern ich gezwungen werde durch Gewalt, die gegen
mich ausgeübt wird, ein Geständniß von mir zu geben und von meiner
Aussage ein unrechtmäßiger Gebrauch gemacht wird, und ich mich
durchs Stillschweigen nicht retten kann, so ist die Lüge eine Gegen- 35
wehr; die abgenöthigte Declaration, die gemißbraucht wird, erlaubt
mir mich zu vertheidigen, denn ob er mir mein Geständniß oder mein
553 Geld ablockt, / das ist einerley. Also ist kein Fall, wo eine Nothlüge
statt finden soll, als wenn die Declaration abgezwungen wird und ich
Moralphilosophie Collins 449
auch überzeugt bin, daß der andre einen unrechtmäßigen Gebrauch
davon machen will. Es fragt sich: ob eine Lüge, die keinen interessiret,
die keinem Schaden thut, auch eine Lüge sey ? Ja, denn ich declarire
meine Gesinnung zu äußern, und wenn ich sie nicht richtig declarire,
5 so handle ich zwar nicht in praejudicium des bestirnten Menschen,
aber doch in praeiudicium der Menschheit. Es giebt ferner Lügen,
wodurch der andre betrogen wird. Betrug ist ein lügenhaftes Ver-
sprechen. Untreue ist, wenn wir etwas mit Wahrhaftigkeit ver-
sprechen, aber unser Versprechen nicht so hoch halten, daß wir es
10 erfüllen. Aber das lügenhafte Versprechen ist eine Beleidigung des
andern, und ob es gleich nicht immer eine Beleidigung ist, so ist es doch
immer / was niederträchtiges, z. E. ich verspreche einem Wein zu 554
schenken, hernach aber lache ich ihn aus, so ist das schon Betrug, denn
ob er zwar kein Recht hat solches von mir zu fodern, so ist es doch ein
15 Betrug, indem es schon in der Idee ein Theil von meinem Eigenthume
war. Die Reservatio mentalis gehört zur Dissimulation, und die aequi-
vocatio zur Simulation. Aequivocatio ist erlaubt, um den andern zum
Stillschweigen zu bringen und ihn abzufertigen, damit er nicht weiter
von uns die Wahrheit zu erforschen suche, wenn er siehet, daß wir die
20 Wahrheit nicht sagen können und ihm nicht vorlügen wollen. Ist der
andre klug, so wird er sich dadurch auch abfertigen lassen. Ganz anders
ist es aber, sich der aequivocation zu bedienen, wenn man äußert und
declarirt, seine Gesinnungen bekannt zu machen, denn alsdenn kann
der andre aus der Aequivocation was anders schließen und denn hab
25 ich ihn betrogen. / Solche Lügen wodurch man was gutes zu stiften 555
vorgab, nannten die Jesuiten peccatum philosophicum oder peccatil-
lum woher hernach Bagatell entstanden. Die Lüge ist aber an sich
etwas nichtswürdiges, sie mag gute oder böse Absichten haben, weil sie
der Form nach böse ist; sie ist aber noch vielmehr was nichtswürdiges,
30 wenn sie auch der Materie nach böse ist. Denn durch Lüge kann immer
was böses entstehn. Ein Lügner ist ein feiger Mensch, denn weil er sich
auf keine andre Art was erwerben oder aus der Noth helfen kann, so
fängt er an zu lügen. Ein herzhafter aber wird die Wahrheit lieben und
keinen casum necesßitatis stattfinden lassen. Alle solche Methoden
35 wodurch der andre Mensch nicht auf seiner Hut seyn kann, sind
äußerst niederträchtig. Dahin gehört die Lüge, der Meuchelmord, die
Giftmischerey. Ein Anfall auf der Strasse ist nicht so niedrig, denn da
kann / man sich vorsehn, aber für dem Giftmischer nicht, denn man 556
muß doch eßen. Schmeicheley ist nicht immer Lügenhaftigkeit,
29 Kant's Schriften XXVII/1
450 Vorlesungen über Moralphilosophie
sondern ein Mangel der Selbstschätzung, wo man kein Bedenken trägt,
seinen Werth der Schätzung unter den Werth des andern zu setzen
und den andern zu erheben, um dadurch was zu gewinnen. Man kann
aber auch aus Gutherzigkeit schmeicheln, dies thun einige gutherzige
Seelen die von dem andern eine hohe Meinung haben. Es giebt also 5
gutherzige und falsche Schmeicheley. Die erste ist schwach die andre
aber niederträchtig. Wenn die Menschen nicht schmeicheln, so ver-
fallen sie auf den Tadel.
Wenn man nun in der Gesellschaft oft von einem Mann urtheilt,
so critisirt man ihn. Von seinem Freund muß man aber nicht immer lo
was gutes reden, denn sonst werden die andern drüber eifersüchtig
55r und misgünstig, indem sie nicht / glauben, daß es möglich ist, da der
andre doch auch ein Mensch ist, daß er alle gute Volllcommenheiten
habe; also muß man etwas der Mißgunst anderer Menschen Preis
geben und einige Fehler von dem andern sagen ; der andre wird mir is
solches nicht übel nehmen; indem ich seine Verdienste hervorragen
lasse, so kann ich solche Fehler Preis geben, die allgemein sind, und
keine wesentlichen Fehler sind. Schmarotzer sind, die in der Gesell-
schaft andre erheben um was zu gewinnen. Die Menschen sind dazu
gemacht, daß sie andre beurtheilen sollen. Sie sind aber auch durch die 20
Natur zu Richtern bestimmt, denn sonst möchten wir uns nicht in
solchen Sachen, die nicht für die äußere gesetzgebende Gewalt
gehören, in den Augen anderer so stellen, als vor einem Gerichtshof;
z. E. einer hat eine Person geschändet, das straft die Obrigkeit nicht,
die andern beurtheilen ihn aber und strafen ihn auch, aber nur sofern 25
558 es in ihrer Gewalt steht ihn zu / strafen und dadurch dem andern keine
Gewalt geschiehet, z. E. Es geht keiner mit ihm, da ist er schon genug
gestraft. Wäre das nicht, so möchten solche Handlungen, die die
Obrigkeit nicht straft, ganz und gar ungestraft bleiben. Was heißt
aber das, wenn es heißt : Wir sollen andre nicht richten ? Wir können 30
nicht den andren nach complet moralischen Urtheilen richten, ob er
vor dem göttlichen Gericht strafbar ist oder nicht, indem wir seine
Gesinnung nicht wissen. Anderer moralische Gesinnungen gehören also
vor Gott, in Ansehung meiner eigenen Gesinnung aber bin ich com-
pleter Richter. Also über das innere der Moralität können wir nicht 35
richten, indem die kein Mensch kennen kann. Aber in Ansehung
des äußern sind wir competente Richter. Wir sind also in Ansehung
des moralischen nicht Richter über die Menschen; wir haben aber
Recht von der Natur über andre zu urtheilen, und die Natur hat uns
Moralphilosophie Collins 451
bestimmt, daß wir uns nach dem Urtheil andrer richten sollen. / Wer 559
das Urtheil anderer nicht achtet, ist tadelhaft und niederträchtig.
Es geschieht nichts in der Welt worüber wir nicht urtheilen sollen, und
wir sind auch sehr subtil in Beurtheilung der Handlungen. Das sind
5 die besten Freunde, die genau über ihre Handlungen urtheilen, solche
Offenherzigkeit kann nur unter 2 Freunden statt finden.
Wenn wir nun den Menschen beurtheilen, so ist die 2te Frage:
Was sollen wir von dem Menschen sagen, ist er gut oder ist er böse ?
Alle unsre Urtheile müßen wir so einrichten, daß wir die Menschheit
10 liebenswürdig finden, so daß wir niemals eine Sentenz der Verwerfung
oder Lossprechung thun, besonders im Bösen. Eine Sentenz spricht
man, wenn man nach den Handlungen den Menschen entweder der
Verdammung oder der Lossprechung würdig hält. Ob wir gleich
befugt sind, andre zu beurtheilen, so sind wir doch nicht befugt, andre
15 auszuspähen. Jeder Mensch hat Recht zu verhindern, daß der andre
seine Handlungen nachforsche und ausspähe, ein solcher Mensch
maßet sich ein Recht an auf fremdes thun und lassen. Das muß keiner
thun, daß er z. E. wenn jemand dem andern was in der Stille sagt,
zuhöre ; lieber weiter gehn daß man nicht einen Laut davon höre, oder
20 wenn man bey einem in die Stube kommt und man wird allein gelas-
sen und es Hegt ein offener Brief auf dem Tisch, so ist dies sehr /
niederträchtig, wenn man solchen zu lesen sucht, ein wohldenlvender 560
Mensch wird auch sogar allen Argwohn und Verdacht zu vermeiden
suchen, er wird nicht gerne allein in der Stube bleiben, wo Geld auf
25 dem Tische liegt, er wird nicht gerne Geheimnisse von andern anneh-
men, damit er nicht in Verdacht kommt daß er solches ausgeplaudert
hat, und weil ihn auch die Geheimnisse immer geniren, denn bey der
größten Freundschaft kann doch immer Verdacht stattfinden. Der
aber aus Neigung oder Appetit seinen Freunden was entzieht, z. E.
30 die Braut seines Freundes, der handelt bey alle dem sehr niedri,g denn
so gut er einen Appetit nach meiner Braut bekommen hat, eben so gut
kann er auch Appetit nach meinem Geldbeutel bekommen. Es ist sehr
niedrig seinen Freunden oder andern aufzulauren und auszuspähen
z. E. wenn man durch das Gesinde die Handlung des andern zu
35 erforschen sucht, alsdenn muß man sich mit dem Gesinde gemein
machen und hernach will das Gesinde mit einem immer so umgehn.
Durch alles, was der Freymüthigkeit entgegen / ist, verHert der sei
Mensch seine Würde, z. E. hinter dem Rücken etwas glupsch zu unter-
nehmen, weil dieses ein Gebrauch solches Mittels ist, wo der Mensch
29*
452 Vorlesungen über Moralphilosophie
nicht freymüthig seyn kann und welches Mittel alle Gesellschaft auf-
hebt. Alles das schleichende ist weit niederträchtiger als eine gewalt-
same Bosheit, denn vor der kann man sich doch hüten, der aber nicht
einmahl Muth hat seine Bosheit öffentlich zu äußern, in dem ist kein
Fundament des edlen ; wer aber gewaltsam ist, sonst aber Abscheu hat 5
vor alle dem was klein ist, kann noch gut werden, wenn er bezähmt
wird. Daher auch in England das Vergehen mit Gift eines Mannes
durch seine Frau mit dem Verbrennen bestraft wird, weil wenn das
einreissen möchte, kein Mann vor seiner Frau sicher wäre. Da ich nicht
befugt bin, dem andern aufzupassen, so bin ich auch nicht befugt dem lo
andern seinen Fehler zu sagen, denn der andre, wenn er es auch
568 fordern sollte, hört es niemals ohne Kränkung / an, er weiß besser, daß
er solche Fehler hat; allein er glaubt, daß der andere sie nicht gewahr
wird; sagt sie ihm aber der andre, so hört er, daß sie der andre gewahr
worden. Das ist also nicht gut, wenn man sagt : Freunde müssen sich i5
ihre Fehler sagen, weil sie der andre besser wissen kann; allein, meine
Fehler kann keiner besser wissen als ich; das kann zwar der andre
besser wissen, als ich, daß ich gerade stehe und gehe oder nicht; wer
soll mich aber besser kennen als ich mich selbst, wenn ich nur Lust
habe, mich zu prüfen. Das ist Vorwitz des andern, wenn er jemandem 20
seine Fehler sagt, und wenn es schon in der Freundschaft so weit
kommt, denn dauert auch die Freundschaft nicht mehr lange. Man
muß gegen die Fehler des andern blind seyn, denn sonst sieht der
andre, daß er seine Achtung gegen ihn verloren hat und denn setzt er
auch gegen ihn alle Achtung aus den Augen. Fehler muß man sagen, 25
563 wenn man über jemanden gesetzt ist, alsdenn ist man / befugt Lehren
zu geben und die Fehler zu sagen, z. E. ein Mann seiner Frau; da muß
aber die Gutherzigkeit, wohlwollende Gesinnung und Achtung vor-
leuchten, sonst, wenn der Misfall nur allein ist, so ist es ein Tadel und
eine Bitterkeit. Der Tadel kann aber versüßt werden durch Liebe des 30
Wohlwollens und durch Achtung. Alles übrige thut nichts zur Besse-
rung. Zur allgemeinen Menschen-Pflicht gehört die Leutseeligkeit,
humanitas. Was bedeutet leutseehg ? Seelig ist so viel, als eine Art
vom Hange zu einer Handlung, z. E. redseelig. Leutseelig ist also eine
habituelle Harmonie mit allen andern Menschen. Ist sie thätig, so ist 35
sie Gefälligkeit. Diese ist entweder negativ, denn besteht sie bloß im
Nachgeben, oder positiv, denn besteht sie in der Dienstbeflissenheit.
Von dieser ist zu unterscheiden die Höflichkeit. Höflichkeit ist:
564 wodurch man beim andern nicht obligirt ist, die sich nur auf / Gegen-
Moralphilosophie CoUins 453
stände der Annehralichkeit erstreckt, z. E. es schickt mir jemand
seinen Bedienten mit, so ist es Höflichlceit ; giebt mir aber der andre zu
eßen, so ist das Dienstbeflissenheit, weil es dem andern Aufopferung
kostet. Die negative Gefälligkeit ist nicht von solchem Werth als die
5 Dienstbeflissenheit, indem sie nur im Nachgeben besteht. So giebts
Leute, die sich aus Gefälligkeit besaufen, indem sie von andern dazu
genöthigt werden und sie nicht Stärke genug haben es abzuschlagen.
Solcher Mensch würde gern sehen, wenn er aus der Gesellschaft weg
wäre ; da er aber schon einmal da ist, so ist er gefällig. Es zeigt einen
10 Mangel der Stärke und der Männlichkeit an, wenn man nicht genug
Muth und Stärke hat, sich nach seinem eigenen Sinn zu determiniren.
Solche Menschen sind keines Characters und keiner Handlung nach /
Grundsätzen fähig. Das Gegentheil der GefäUigkeit ist der Eigensinn, 565
der hat den Grundsatz, sich niemals den Gesinnungen des andern zu
15 accomodiren. Der erste setzt sich niemals den Gesinnungendesandern
entgegen, und deswegen erscheint er etwas niedriger als der Eigensin-
nige; denn der Eigensinnige hat doch Grundsätze. Man soll lieber
suchen etwas eigensinnig zu seyn als sich gänzlich den Gesinnungen
des andern gefällig zu erweisen. Die Entschlossenheit der Handlungen
20 nach Grundsätzen ist nicht mehr Eigensinn ; wenn sich aber die Ent-
schlossenheit auf eine Privat -Neygung und nicht darauf, was allge-
mein gefällt, bezieht, so ist das Eigensinn. Der Eigensinn ist eine
Eigenschaft der Dummen. Verträglichlceit ist ein Abscheu vor Zwist
und vor Widerstreit der Gesinnungen des andern. Wer Nej^gung hat
25 sich den Gesinnungen des andern zu bequemen, die moralisch indiffe-
rent sind, der ist verträglich. Der ist verträglich, mit dem man keinen
Streit zu besorgen hat. Duldsam ist auch / der, der auch das verträgt, 566
was ihm zu wider ist, damit er nur nicht in Streit verfallen möchte.
Duldend ist der, der andre wegen ihren Fehlern nicht haßt. Der
30 Duldende ist tolerant. Intolerant ist, der die Unvollkommenheiten des
andern nicht ohne Haß vertragen kann. Es giebt oft in den Gesell-
schaften Menschen, die intolerant sind, weil sie andre nicht leiden
können und deswegen werden sie intolerable und werden von andern
wieder nicht gelitten. Hieraus folgt, daß die Toleranz eine allgemeine
35 Menschen-Pflicht ist. Die Menschen haben viele wirkliche und schein-
bare Fehler, nur muß einer die Fehler des andern dulden. Die Toleranz
in Ansehung der Religion ist, wenn einer die Unvolkommenheiten und
Irrthümer der Religion des andern ohne Haß dulden kann; ob er
gleich ein Mißfallen an ihnen hat. Wer das für wahre Religion hält,
454 Vorlesungen über Moralphilosophie
was nach meiner Religion ein Irrthuni ist, so ist er auf keine Weise ein
561 Gegenstand / des Haßes. Ich soll keinen Menschen hassen, als wenn er
ein vorsätzlicher Urheber des Bösen ist, sofern er aber durchs Böse
oder Irrthum was gutes zu thun denlvt, so ist er kein Gegenstand des
Haßes. 5
Odium theologicum ist ein Haß der Geistlichen, der dann statt fin-
det, wenn der Theolog seine eigne Sache der Eitelkeit zur Sache Gottes
macht, und einen Haß faßt, der sich auf Stolz gründet und glaubt,
weil er ein Lehrer Gottes ist, praetendiren zu können, ein Bevoll-
mächtigter Gottes zu seyn, den Gott als einen deputirten mit Autorität lo
versehn geschickt hat, die Menschen in seinem Namen zu regieren.
Odium religiosum wird auf einen geworfen, wenn man glaubt, sein
Fehler sey Hochverrath der Gottheit, wo man die Fehler der Rehgion
für crimina laesae majestatis divinae ausgiebt. Wer nun die Ur-
theile des andern verdreht, anders auslegt und vieles daraus folgert, i5
um sie für crimina laesae majestatis divinae auszugeben, der wirft
568 einen / odium religiosum auf den andern ; der das thut, ist ein conse-
quentiarius, indem er aus dem Urtheil des andern folgert, was der
andre gar nicht gedacht hat, denn giebt er ihm einen Namen und sagt
z. E. er ist ein Atheist, denn macht der andre die Augen auf und sagt: 20
was ? ein Atheist ? den will ich doch kennen, der wie ein Atheist aus-
sieht, durch diesen Namen wird er bey allen Menschen verhaßt und
intolerant. Das crimen laesae majestatis divinae ist ein Unding, indem
solches keiner begehn wird. Der Orthodox behauptet, daß seine
Rehgion nach seiner Meinung nothwendig allgemein seyn soll. Wer ist 25
nun orthodox ? Wenn wir an der Himmels-Pforte alle erscheinen und
es würde gefragt, wer ist orthodox ? so wüi'de der Jude, der Türke, der
Christ sagen : Ich bins. Die Orthodoxie muß keinen zwingen. Dissident
ist, der in Sachen der Speculation von andern dissidirt, aber im prak-
569 tischen einerley ist. Die friedliebende Gesinnung besteht / darin, daß so
man aUe Feindschaft der Dissidenten vermeide. Warum soll ich
solchen Menschen hassen, der sich dissidirt ? Syncretismus ist eine Art
Gefälligkeit, mit aller Menschen Gesinnungen seine Gesinnungen zu-
sammen zu schmelzen, um sich nur zu vertragen. Dieser ist sehr
schädlich, denn wer seine Gesinnung mit jedes andern seinen Gesin- 35
nungen verschmilzt, der hat weder das eine, noch das andre. Lieber
lasset Menschen irren, wenn sie nur unterscheiden können, sie könnnen
doch auch aus dem Irrthume befreyet werden. Der geheime Ver-
folgungs-Geist, wo man den Menschen hinter dem Rücken verfolgt,
Vorlesungen über Moralphilosophie 455
ihn beredt und ihn für einen Atheisten ausgiebt, ist ein sehr nieder-
trächtiger Verfolgungs-Geist. Der subtile Verfolgungs-Geist ist, wenn
ein Mensch den andern der nicht seiner Meinung ist, gar nicht
mit Haß verfolgt, aber doch einen Abscheu vor ihm hat. Der Ver-
5 folgungsgeist aus der Ehre Gottes streitet wider alles, und achtet
weder Wohlthäter noch Freund, weder Vater / noch Mutter, jeder sto
macht sich ein Verdienst, den andern zur Ehre Gottes zu verbrennen.
In Sachen der Wahrheit der Religion muß keine Gewalt gebraucht
werden, sondern Gründe. Die Wahrheit vertheidigt sich selbst, und
10 ein Irrthum erhält sich länger, wenn ihm Gewalt angethan wird. Die
Freiheit der Untersuchung ist das beste Mittel der Wahrheit.
Von der Armuth und den daraus entspringenden gütigen
Handlungen
Eine gütige Handlung ist, die den Bedürfnißen des andern gemäß
15 ist, und auf sein Wohlbefinden abzielt. Gütige Handlungen können
auch grosmüthig seyn, durch Aufopferung der Vortheile. Betreffen
sie die Nothdurft des andern, so sind es wohlthätige Handlungen,
zielen sie auf die äußerste Nothdurft des Lebens ab, so sind es Al-
mosen. Die Menschen finden sich ab, oder glauben, daß sie sich ab-
20 finden in Ansehung ihrer Pflicht der Menschenhebe, wenn sie zuerst
suchen / sich alle Glücksgüter zu verschaffen, und hernach ihren 571
Tribut davor dem Wohlthäter dadurch abzutragen glauben, wenn
sie dem Armen was geben. Wären die Menschen pünktlich gerecht, so
möchte es keine Arme geben, in Ansehung derer wir dieses Verdienst
25 der Wohlthätigkeit zu beweisen glauben und Almosen geben. Beßer
ist es, gewissenhaft zu seyn in allen Handlungen und noch beßer ist es,
durch unser Betragen dem Nothleidenden zu helfen, und nicht nur
dadurch daß man das überflüßige abgiebt. Die Almosen gehören zur
Gütigkeit, die mit Stolz ohne Mühe verbunden ist, und zu solcher
30 Gütigkeit, die keine Ueberlegung erfodert. Durch die Ahnosen werden
die Menschen niedrig gemacht. Es wäre besser, es auf eine andere Art
zu überlegen, dieser Armuth abzuhelfen, damit nicht Menschen so
niedrig gemacht werden Almosen anzunehmen. Viele Moralisten
suchen unser Herz weich zu machen, und / aus Weichmüthigkeit 512
35 gütige Handlungen anzupreisen; allein wahre gute Handlungen ent-
springen aus wackerer Seele, und um tugendhaft zu seyn, muß der
Mensch wacker seyn. Die Wohlthätigkeit gegen andre muß mehr wie
456 Moralphilosophie CoUins
eine Schuldigkeit als wie eine Großmuth und Gütigkeit angepriesen
werden, und so ist es auch in der That; denn alle gütige Handlungen
sind nur kleine Ersetzungen unserer Schuldigkeit.
Von den gesellschaftlichen Tugenden.
Der Autor redet hier von der Leichtigkeit des acceßus, von der 5
Gesprächigkeit, Politesse und Geschliffenheit, Anständigkeit, Gefäl-
hgkeit, Insinuation, Einschmeichelung oder vielmehr einnehmendem
Wesen. Allgemein merken wir an, daß einige nicht zur Tugend
gerechnet werden, weil sie keinen großen Grad der moralischen Ent-
schliessung fordern, bewirkt zu werden; sie erfordern keine Selbst- lo
573 Überwindung und Aufopferung, und gereichen / auch nicht zur Glück-
seeligkeit anderer, zielen nicht auf die Nothdurft ab, sondern nur auf
die Annehmlichkeit, es ist weiter nichts als Vergnügungen und An-
nehmHchkeiten der Menschen im Umgange. Wenn es aber keine
Tugend ist, so ist es doch eine Uebung und Cultur der Tugend, wenn 15
sich die Menschen im Umgange höflich aufführen ; sie werden dadurch
sanfter und verfeinerter, sie üben in Kleinigkeiten gute Handlungen
aus. Oft hat man nicht Gelegenheit, tugendhafte Handlungen auszu-
üben, aber man hat oft gesellschaftliche und höfhche Eigenschaften
auszuüben. Die Annehnüichkeit im Umgange gefällt uns oft an 20
jemandem so, daß wir seine Laster übersehn. Ich brauche des andern
seine Ehrlichkeit, seine Großmuth, nicht so oft, als Bescheidenheit und
HöfHchkeit im Umgange. Man könnte fragen: Ob die Schriften die zu
nichts dienen als zur Unterhaltung, die unsre Phantasie beschäftigen,
5T4 ja die wohl gar in Ansehung einiger / Leidenschaften z. E. der Liebe, 25
bis an den Grad steigen, der die Schranl<;en übersteigt, auch Nutzen
haben ? Ja, obgleich die Reitze und Leidenschaften sehr darin über-
trieben werden, so verfeinern sie doch den Menschen in seiner Empfin-
dung, wenn sie das, was ein Object der thierischen Neigung ist, zum
Objecte der verfeinerten Neigung machen ; dadurch wird der Mensch so
fähig gemacht für die bewegende Kraft der Tugend durch Grundsätze.
Indirecte hat es also einen Nutzen, die Menschen werden dadurch, daß
die Neigung excolirt wird, civilisirter. Jemehr wir die plumpe Art
verfeinern, destomelir verfeinert sich die Menschheit, und dadurch
wird der Mensch fähig gemacht, die bewegende Kraft der Tugend 35
Grundsätze zu empfinden.
Moralphilosophie Collins 457
Der Autor redet vom Geist des Widerspruchs, vom Studio der Para-
doxie, oder vom Sonderling der Urtheile. Das Paradoxe ist gut,
wenns nicht darauf geht, um was besondres, was gesagt ist, anzu-
nehmen. Es ist das unvermuthete im Denken, dadurch die Menschen
soft auf einen andern Weg der Gedanken gerathen. Der Geist des
Widerspruchs / äußert sich im Umgange durch Rechthaberey. Die »rs
Gesellschaft hat aber zur Absicht die Unterhaltung, um dadurch die
Cultur zu befördern, nur muß in der Gesellschaft nichts von wichtigen
Materien vorgenommen werden, worin oft solcher Streit kommt.
10 Diesen muß entweder einer entscheiden, oder durch eine neue Er-
zählung zum Spiel machen.
Vom Hochmuth.
Der Autor nennt ihn superbia — arrogantia ist Stoltz, wenn man sich
einen Werth anmaßet, den man nicht hat ; wenn man sich aber einen
15 Vorzug vor andern anmaßet, so ist es Hochmuth, alsdenn setzt man
den andern herunter und schätzt ihn geringer und niedriger. Der
Stoltze schätzt andere nicht geringer, sondern er Avill nur eben solche
Verdienste haben, er wird sich vor andern nicht beugen und sich
erniedrigen ; er glaubt, er hat seinen bestimmten Werth, den er nicht
20 gegen andre vergeben will. Solcher Stolz ist recht und billig, wenn er
nur nicht die Schranken übertritt. Wenn er aber andern zeigen "ndll,
daß er solchen Werth habe, so wird dieses fehlerhafte / eigentlich Stolz 516
genamit. Der Hochmuth ist nicht eine Anmaßung des Werths und
der Schätzung in Ansehung der Gleichheit mit andern, sondern er ist
25 eine Praetension einer höhern Schätzung und eines vorzüglichem
Werths in Ansehung seiner selbst, und eine Geringschätzung in An-
sehung anderer. Der Hochmuth ist verhaßt und lächerlich, denn die
Schätzung ist innerlich. Will nun einer von andern geehrt werden,
so muß ers nicht so anfangen, daß ers gebietet, oder den andern
30 geringer schätzt, dadurch wird er bey andern keine Achtung gegen sich
erwecken ; sondern er wird vielmehr verlacht, daß er solches praeten-
diret. Alle Hochmüthige sind demnach zugleich Narren. Sie werden ein
Objekt der Verachtung, da sie nur ihren Vorzug blicken lassen. Der
Fastus, oder die Hoffarth besteht darin, daß man den Vorrang und den
86 Vortritt vor andern haben will, nicht in Ansehung der Gedanken oder
der wirklichen vorzüglichen Verdienste, sondern in Ansehung des
Äußern, vor dem andern vorzüglich zu scheinen. Die Menschen sind
458 Vorlesungen über Moralphilosophie
hoff artig, wenn sie immer die oberste Stelle haben wollen. Es ist eine
Eitelkeit darinne Vorzug zu suchen was keinen Werth hat. Hoffärtige
57» Menschen suchen / in Kleinigkeiten einen Vorzug, sie eßen lieber
schlecht, wenn sie nur gute equipage, gute schöne Kleider haben. Sie
sehn auf Titel und Stand und suchen vornehmer zu erscheinen. 5
Menschen von wahrem Verdienst sind weder hochmiüthig noch hof-
f artig, sondern demüthig, weil ihre Idee, die sie vom wahren Werth
haben, so groß ist, daß sie derselben kein Genüge thun und ihr nicht
gleich kommen. Sie sehn also ihren Abstand vom Werth ein und sind
demüthig. Hoffarth betrifft mehrentheils den niedrigen, besonders den lO
mittlem Stand, als den hohen, denn weil es ein Klettern zum Hofe
bedeutet, so sind solche hoffärtig, die demselben nahe kommen wollen.
Von der Spötterey.
Die Menschen sind theils medisant, theils moquant. Das Medisante
ist Bosheit, das Moquante ist Leichtsinn, der da abzielt andere zu 15
belustigen auf Kosten der Fehler anderer. Zur Verläumdimg gehört
Bosheit. Oft ist der Mangel der Gesprächigkeit die Ursache davon,
und es nährt auch unsre Selbstliebe, denn alsdenn erscheinen unsre
5T8 Fehler klein. Die Menschen fürchten sich mehr vor / der Raillerie,
als vor dem Medisanten. Denn das Uebel nachreden und verläumden 20
geschiehet insgeheim, und kann nicht in jeder Gesellschaft angebracht
werden, und ich kann es auch nicht selbst hören, aber die Raillerie
kann in jeder Gesellschaft statt finden. Durch das raiUiren wird der
Mensch mehr erniedrigt, als durch das böse ; denn ist man ein Objekt
des Lachens vor andern, so hat man keinen Werth und ist der Verach- 25
tung ausgesetzt. Man muß aber sehn, worüber man ein Objekt des
Lachens vor andern ist. Oft kann man solches andern gönnen, wenn
es weder mir noch dem andern was kostet, man verliert dadurch
nichts. Ein Spötter von Profession verräth, daß er wenig Achtung vor
andern hat, und daß er die Sachen nicht nach dem wahren Werth so
beurtheilet.
Von den Pflichten gegen Thiere und Geister.
Der Autor redet hier noch von Pflichten gegen Wesen, die unter
uns, und die über uns sind. Allein, weil alle Thiere nur als Mittel da
sind und nicht um ihrer Selbst willen, indem sie sich ihrer selbst nicht 35
Vorlesungen über Moralphilosophie 459
bewußt sind, der Mensch aber der Zweck ist, wo ich nicht mehr fragen
kann: warum ist der Mensch da, welches bey den Thieren geschehn
kann, so haben wir gegen die Thiere / unmittelbar keine Pf Hebten, 579
sondern die Pflichten gegen die Thiere sind indirecte Pflichten gegen
5 die Menschheit. Weil die Thiere ein Analogon der Menschheit sind,
so beobachten wir Pflichten gegen die Menschheit, wenn wir sie als
analoga derselben beobachten, und dadurch befördern wir unsre
Pf hebten gegen die Menschheit. Wenn z. E. ein Hund seinem Herren
lange treu gedienet hat, so ist das ein Analogon des Verdienstes; des-
10 wegen muß ich es belohnen und den Hund, wenn er nicht mehr dienen
kann, bis an sein Ende erhalten; denn dadurch befördere ich meine
Pflicht gegen die Menschheit, wie ich solches zu thun schuldig bin.
Wenn also die Handlungen der Thiere aus demselben principio ent-
springen, aus dem die Handlungen der Menschen entspringen, und die
isthierische davon Analoga sind; so haben wir Pflichten gegen die
Thiere, indem wir dadurch die Menschheit befördern. Wenn also
jemand seinen Hund todtschießen läßet, weil er ihm nicht mehr das
Brodt verdienen kann, so handelt er gar nicht wider die Pfhcht gegen
den Hund, weil der nicht urtheilen kann, allein er verletzt dadurch die
20 Leutseehgkeit und Menschlichkeit in sich, die / er in Ansehung der 580
Pflichten der Menschheit ausüben soll. Damit der Mensch solche nicht
ausrotte, so muß er schon an den Thieren solche Gutherzigkeit aus-
üben ; denn der Mensch, der schon gegen Thiere solche Grausamlceiten
ausübt, ist auch gegen Menschen eben so abgehärtet. Man kann das
25menschhche Herz schon kennen auch in Ansehung der Thiere. So
zeigt Hogarth auf seinen Kupferstücken auch einen Anfang der Grau-
samkeit, wo schon die Kinder solche gegen Thiere ausüben, z. E. wenn
sie den Hund oder der Katze den Schwanz klemmen, auf einem andern
Stücke den Fortgang der Grausamkeit, wo er ein Kind überfährt, und
so denn das Ende der Grausamkeit durch einen Mord, worauf denn der
Lohn der Grausamkeit schrecklich erscheint. Dieses giebt gute Lehren
für Kinder. Jemehr man sich mit der Beobachtung der Thiere und ih-
rem Betragen abgiebt, desto mehr liebt man sie, wenn man sieht, wie
sehr sie für ihre Junge Sorge tragen; alsdenn kann man auch nicht
35 gegen den Wolf grausam denken.
Leibnitz sezte das Würmchen, welches er beobachtet hatte, wieder
/ mit dem Blatt auf den Baum, damit es nicht durch seine Schuld zu 581
Schaden käme. Es tliut dem Menschen leid, ein solches Geschöpf ohne
Raison zu zerstöhren, diese Sanftmuth gehet hernach zum Menschen
460 Moralphilosophie Collins
über. In Engelland kommt in das Gericht der 12 Geschwornen kein
Fleischer, noch ein Wundarzt und Medicus, weil sie gegen den Todt
schon abgehärtet sind. Wenn also Anatomici lebendige Thiere zu den
experimenten nehmen, so ist es zwar grausam, obgleich es da zu was
gutem angewandt wird ; weil nun die Thiere als Instrumente des Men- 5
sehen angesehn werden, so gehts an, aber auf keine Weise als ein Spiel.
Wenn ein Herr seinen Esel oder Hund verstößt, weil er nicht mehr das
Brodt verdienen kann, so zeigt das immer eine sehr kleine Seele vom
Herren an. Die Griechen dachten darin edel, welches das Beyspiel vom
Esel beweiset, der an die Glocke der Undankbarkeit von ohngefähr lo
gezogen hatte. Also sind unsre Pflichten gegen die Thiere indirecte
Pflichten gegen die Menschheit. Die Pflichten gegen andre geistige
Wesen sind nur negativ. Wir müssen uns nicht in solche Handlungen
einlassen die ein commercium, eine Unterhaltung mit andern Wesen
582 anzeigen. Alle / solche Handlungen sind von der Art, daß sie den i5
Menschen fanatisch, träumerisch und abergläubisch machen, und der
Würde der Menschheit entgegen sind ; denn zur Würde der Menschheit
gehört der gesunde Gebrauch der Vernunft, giebt man sich aber damit
ab, so ist der gesunde Gebrauch der Vernunft nicht möglich. Es
mögen immer solche Wesen seyn, und es mag alles von ihnen 20
wahr seyn, so kennen wir sie doch nicht und können nicht mit
ihnen umgehn.
In Ansehung der bösen Geister hat es dieselbe Bewandniß. Wir
haben vom Bösen eben so gut eine Idee wie vom Guten, und alles böse
referiren vnr in die Hölle, so wie alles gute in den Himmel. Personi- 25
ficiren wir dieses vollliommene Böse, so haben wir die Idee vom Teufel ;
wenn wir nur glauben, daß solcher Einfluß auf uns haben könne, daß
er des Nachts erscheine und herumspuke, so macht das in uns Hirn-
gespinste, die den vernünftigen Gebrauch unserer Kräfte aufheben.
Also sind unsre Pflichten gegen solche Wesen negativ. Der Autor redet 30
noch von den Pflichten gegen leblose Sachen. Diese zielen auch in-
directe auf die Pflichten der Menschen ab. Der Zerstörungs-Geist der
583 Menschen gegen Sachen, die noch können / gebraucht werden, ist sehr
unmoraHsch. Kein Mensch soll die Schönheit der Natur zerstöhren,
denn, wenn er sie auch nicht brauchen kann, so können doch wohl 35
andre Menschen davon Gebrauch machen, obgleich er dieses nicht in
Ansehung der Sachen selbst zu beobachten hat, so doch in Ansehung
anderer Menschen. Also alle Pflichten gegen Thiere, andre Wesen und
Sachen zielen indirecte auf die Pflichten gegen die Menschheit ab.
Moralphilosophie Collins 461
Der Autor führt noch specielle Pflichten an, die wir haben gegen
besondre Gattungen der Menschen; also Pflichten in Ansehung der
Verschiedenheit des Alters, des Geschlechts und der Stände. Allein
alle diese Pflichten lassen sich aus den obigen allgemeinen Pflichten
5 der Menschheit ableiten. Unter der Verschiedenheit der Stände ist eine
Verschiedenheit, die den Unterschied des Innern Werths macht, das
ist der Stand des Gelehrten, dieser scheint einen Unterschied des
Innern Werths aus zu machen. Die Unterschiede unter andern
Ständen sind Unterschiede eines äußern Werthes. Die andern Stände
10 beschäftigen sich mit physischen Sachen, die nur auf das Leben der
Menschen abzielen. Der Gelehrte aber hat solchen Stand, dessen Haupt-
beschäftigung ist, die Erkenntniß zu erwegen. Hier scheint ein Unter-
schied des Innern Werths zu seyn. Es scheint daß der Gelehrte der
einzige ist, der die Schönheit, die Gott in die Welt gelegt hat, be-
15 trachtet, und der die Welt / zu dem Zwecke braucht, zu dem sie Gott 584
gemacht hat. Denn Avarum hat Gott die Schönheit in die Natur und in
die Werke derselben gelegt, als daß ich sie betrachten soll. Da nun die
Gelehrten den völligen Zweck der Schöpfung allein erfüllen, so scheint
es, als wenn sie darin einen Innern Werth allein haben. Die Erkennt-
20 niße die sie erwerben, sind die, warum Gott die Welt gemacht hat. Ja,
die Talente, die in dem Menschen liegen, entwickeln die Gelehi'ten
allein. Es scheint also, daß dieser Stand einen Vorzug vor andern hat,
weil er sich durch einen Innern Werth davon unterscheidet. Roußeau
kehrt dieses aber um und sagt : der Zweck der Menschen ist nicht die
25 Gelehrsamkeit ; die Gelehrten verkehren dadurch den Zweck der
Menschheit. Es wird nun gefragt: Ob der Gelehrte deswegen, weil er
die Schönheit der Welt betrachtet, die Talente entwickelt, den Zweck
der Schöpfung erfülle und die Welt für ihn ist? — Weil jeder einzelne
Gelehrte nicht die unmittelbahre Beschauung der Schönheit der Natur
30 und die Entwickelung der Talente und die Beförderung der völligen
Vollkommenheit der Menschheit zum Zweck hat, sondern nur die Ehre
die er davon hat, wenn er es andern communiciret, so kann ja der
einzelne Gelehrte nicht glauben, daß er einen Vorzug hat vor jedem
andern Bürger ; obgleich alle Gelehrten zusammen im Ganzen / zum »85
35 Zweck der Menschheit beytragen, so kann sich doch das keiner beson-
ders zumessen, indem jeder Handwerker durch seine Arbeit eben so gut
als jeder Gelehrte zum Zweck der Menschheit was beyträgt. Es ent-
steht also aus den allgemeinen Quellen der menschlichen Handlungen,
nämlich aus der Ehre, eine Zusammenstimmung der Zwecke der Welt.
462 Vorlesungen über Moralphilosophie
Es fragt sich: Sind die Menschen überhaupt zur Gelehrsamkeit be-
stimmt, und soll ein jeder suchen ein Gelehrter zu werden ? Nein, die
Kürze des Lebens reicht nicht zu ; aber es gehört zur Bestimmung der
Menschheit, daß sich einige dem widmen, und ihr Leben darin auf-
opfern. Das Leben reicht auch nicht zu, um von der Gelehrsamkeit 5
Gebrauch machen zu können. Hätte Gott gewollt, daß der Mensch in
der Gelehrsamlveit hätte weit kommen sollen, so hätte er ihm ein
längeres Leben gegeben. Wanmi muß Newton sterben, zu der Zeit, da
er den besten Gebrauch von seiner Gelehrsamkeit hätte machen
können ? Und ein anderer muß wieder von A.B.C. anfangen und alle lo
Classen durchgehn, bis er wieder so weit kommt, und wenn er es denn
recht anwenden will, so wird er schwach und stirbt. Also jeder ein-
zelne ist nicht zur Wissenschaft gemacht, aber im Ganzen wird da-
durch der Zweck der Menschheit befördert. Die Gelehrten sind also
Mittel des Zwecks, und tragen was zum Werth bey, aber sie haben i5
586 dadurch nicht selbst einen vorzüglichen / Werth. Warum soll ein
Bürgers-Mann, der in seinem Beruf fleißig und arbeitsam ist, und sonst
guten Wandel führt, sein Haus gut bestellt, warum soll der nicht eben
so viel Werth haben als der Gelehrte ? Weil die Beschäftigung des
Gelehrten allgemeiner ist ? das bringt schon sein Stand und seine Be- 20
Stimmung mit sich.
Roußeau hat in so weit recht ; aber darin fehlt er sehr, wenn er vom
Schaden der Wissenschaften redet. Kein wahrer Gelehrte wird diese
Stolze Sprache führen. Die Sprache der wahren Vernunft ist de- 25
müthig. Alle Menschen sind einander gleich, und nur der hat einen
innern vorzüglichen Werth vor allen, der moralisch gut ist. Die Wis-
senschaften sind principia der Verbeßerung der Moralität. Um die
moralischen Begriffe einzusehn, gehört Erkenntniß und erläuterte
Begriffe. Ausgebreitete Wissenschaften veredlen den Menschen und so
die Liebe zur Wissenschaft vertilgt viele widrige Neigung. Hume sagt :
Es ist kein Gelehrter, der nicht wenigstens ein ehrlicher Mann seyn
sollte. Auf der andern Seite dient die Moralität den Wissenschaften
zur Beförderung der Rechtschaffenheit, Achtung für das Recht ande-
rer Menschen und seiner Person, und befördert sehr die Verstandes^
58r Erkenntniße. Redlichkeit macht, daß man / seine Irrthümer in eine 35
Schrift setzt, die schwache Stellen nicht verheelt. Der moralische
Charakter hat also großen Einfluß auf die Wissenschaften. Wer deßen
entbehrt, der geht mit den Produkten seines Verstandes so um, wie
Moralphilosophie Collins 463
der Kaufmann mit seinen Waaren, er wird die schwache Stellen ver-
heelen und das publicum hintergehn.
Dieses sind die Pflichten, die wir in Ansehung der Gelehrsamkeit
zu beobachten haben.
öVon den Pflichten der Tugendhaften und Lasterhaften.
Tugend ist eine Idee und keiner kann die wahre Tugend besitzen.
Ein tugendhafter Mann ist demnach eben so wenig gebräuchlich zu
sagen, als ein weiser Mann. Jeder strebt, sich der Tugend zu nähern,
so wie der Weisheit; aber in keinem wird der höchste Grad erreicht.
10 Wir können zwischen Tugend und Laster ein mittleres gedenken, und
das ist Untugend, welches nur im Mangel besteht. Tugend und Laster
ist was positives. Tugend ist eine Fertigkeit nach moralischen Grund-
sätzen die Neigung zum Bösen zu überwinden. Also heilige Weesen
sind nicht tugendhaft, weil sie keine Neigung zum Bösen zu überwin-
15 den haben, sondern ihr WiUe ist dem Gesetz / adaequat. Der Mensch 588
der nicht tugendhaft ist, ist deswegen noch nicht lasterhaft, sondern
er hat niir einen Mangel der Tugend. Laster ist aber was positives.
Der Mangel der Tugend ist L^ntugend, aber die Verachtung der mora-
lischen Gesetze ist Laster. Untugend ist nur, daß man das moralische
zoGesez nicht thue; Laster aber, daß man das Gegentheil vom mora-
lischen Gesetze thue. Das erste ist was negatives, das 2te was positives.
Zum Laster gehört also sehr viel.
Man kann Gutartigkeit des Herzens haben ohne Tugend, denn die
Tugend ist das Wohlverhalten aus Grundsätzen und nicht aus In-
25 stinkt. Gutartigkeit ist aber eine Uebereinstimmung des moralischen
Gesetzes aus Instinkt. Zur tugend gehört viel. Die Gutartigkeit des
Herzens kann angeboren seyn. Tugendhaft kann aber keiner ohne
Uebung seyn, weil die Neigung zum Bösen nach moralischen Grund-
sätzen unterdrückt und die Handlung mit dem moralischen Gesetz
30 übereinstimmend gemacht werden muß. Es fragt sich : Ob ein / Laster- 589
hafter tugendhaft werden kann ? Es giebt eine Bösartigkeit des Ge-
müths, die kann nicht corrigirt werden, sondern die bleibt beständig;
aber ein böser Character kann immer in einen guten verwandelt
werden, weil der Character nach Grundsätzen handelt, so kann dieser
35 nach und nach durch gute Grundsätze vertilgt werden, daß er über die
Bösartigkeit des Gemüths herrsche. So sagt man vom Sokrates, daß er
464 Vorlesungen über Moralphilosophie
von Natur ein böses Herz gehabt, welches er aber durch Grundsätze
beherrscht hat. Menschen verrathen oft in ihrem Gesichte, daß sie
incorrigible sind, und daß sie beynahe schon zum Galgen prädestinirt
wären, solchen hält es schwer, tugendhaft zu werden. Eben so wie ein
rechtschaffener und ein ehrlicher Mann nicht lasterhaft werden kann, 5
und wenn er auch in einige Laster verfällt, so kehrt er wieder zurück,
weil die Grundsätze in ihm schon feste Wurzel geschlagen haben.
Die Beßerung ist von der Bekehrung zu unterscheiden. Beßerung ist,
wenn man anders lebt, Bekehrung aber ist, wenn man den festen
Grundsatz und die sichre Grundlage hat, daß man niemahls anders als 10
tugendhaft leben werde. Wir beßern uns oft aus Furcht vor dem Tode,
und wißen nicht ob wir gebeßert oder bekehrt sind. Würden wir nur /
590 die Hoffnung haben länger zu leben, so würde die Beßerung nicht
erfolgt seyn. Die Bekehrung aber ist: wenn man sich fest vornimmt,
man mag so lange leben als man will, tugendhaft zu leben. Buße ist 15
kein gutes Wort, es kommt von Büßungen, Kasteyungen her, wo man
sich wegen seiner Verbrechen selbst straft. Wenn der Mensch erkennet,
daß er strafwürdig ist, so straft er sich selbst und glaubt, daß ihn als-
denn Gott nicht strafen wird. Solche Traurigkeit aber hilft keinem
was. Die innere Traurigkeit über sein Vergehn und die feste Ent- 20
Schließung ein beßeres Leben zu führen, hilft allein was, und das ist
die wahre Reue.
Der Mensch kann in Ansehung seiner Laster auf 2 Abwege geraten,
in Ansehung der Niederträchtigkeit, das ist die Brutalitaet, wo er sich
z. E. durch Verletzung der Pflichten gegen seine Person unter das 25
Vieh versetzt, oder in Ansehung der Bosheit, und das ist teuflisch,
wo der Mensch sich Gewerbe macht auf Bosheit zu sinnen, daher keine
gute Neigung mehr ist. Hat er noch eine gute Gesinnung und den
Wunsch gut zu seyn, so ist er noch ein Mensch, macht er sich aber
solche zur Bosheit, so ist er teuflisch. Der Zustand des Lasters ist der 30
591 Zustand der Knechtschaft / unter der Macht der Neigung. Je mehr der
Mensch tugendhaft ist, jemehr frey ist er. Verstockt ist der Mensch,
wenn er keinen Wunsch hat, beßer zu werden. Die Gesellschaft der
Tugend ist das Reich des Lichts und die Gesellschaft des Lasters ist
das Reich der Finsterniß. So tugendhaft der Mensch immer seyn mag, 35
so sind doch in ihm Neigungen zum Bösen und er muß immer im
Kampfe stehn. Der Mensch muß sich hüten vor dem morahschen
Eigendünkel, daß er sich selbst für moralisch gut hält, und eine vor-
theilhafte Meynung von sich hat ; das ist ein träumerischer Zustand,
Moralphilosophie Collins 465
der sehr unheilbar ist. Er entspringt daher, wenn der Mensch so lange
am moralischen Gesez künstelt, bis er es seinen Neygungen und seiner
Gemächlichkeit gemäß gemacht hat.
Die Tugend ist die moralische VolUiommenheit des Menschen. Mit
5 der Tugend verknüpfen wir Kraft, Stärke und Gewalt. Es ist ein Sieg
über die Neygung. Die Nej^gung an sich selbst ist regellos, und das ist
der Zustand des morahschen Menschen, selbige zu unterdrücken.
Engel im Himmel können heilig seyn, der Mensch kann es aber nur so
weit bringen, daß er tugendhaft ist. Weil die Tugend nicht auf
10 Instinkten sondern auf Grundsätzen beruht, so ist die Uebung der
Tugend eine Uebung der Grundsätze, denselben eine bewegende
Kraft / zu geben, daß sie überwiegend sind, und sich durch nichts 59«
ableiten lassen, von ihnen abzugehn. Man muß also einen Charakter
haben, solche Stärke ist die Tugendstärke, ja die Tugend selbst.
15 Dieser Tugend setzen sich Hindernisse entgegen, welche man aber mit
Religion und Regeln der Klugheit verbinden muß, wozu die Zufrieden-
heit des Gemüths gehört, Ruhe der Seelen, frey von allem Vorwurf zu
seyn, wahre Ehre, Schätzung seiner selbst und anderer, Gleichgültig-
keit oder vielmehr Gleichmüthigkeit und Standhaftigkeit gegen alle
2oUebel, an denen man nicht Schuld ist. Dies sind aber nicht Quellen
der Tugend, sondern nur Hülfsmittel. Das sind die Pflichten in An-
sehung der Tugendhaften. Von der andern Seite scheint es umsonst zu
seyn, mit dem Lasterhaften von Pflichten zu reden; indessen hat doch
noch jeder Lasterhafte Keime der Tugend in sich ; er hat Verstand das
25 Böse einzusehn; er hat noch ein moralisches Gefühl, denn er ist noch
kein Bösewicht, der nicht wenigstens wünschen sollte gut zu seyn.
Auf dieses moralische Gefühl kann das System der Tugend gegründet
werden. Das moralische Gefühl ist aber nicht der erste Anfang der
Beurtheilung der Tugend, sondern das erste ist der reine Begriff der
soMoralität, / der mit dem Gefühl muß verbunden werden. Hat der 593
Mensch einen reinen Begriff der Moralität, so kann er darauf die
Tugend gründen, denn kann er erst das moralische Gefühl rege
machen und einen Anfang machen, moralisch zu werden. Dieser
Anfang ist freilich wieder ein weites Feld, er muß anfänglich negativ
35 sej'^n, man muß zuerst unschuldig werden, und bloß alles unterlassen,
welches durch allerhand Beschäftigungen geschieht, die ihn von
solcher Neygung abhalten. Dieses kann der Mensch recht gut, obgleich
das positive schwer ist.
30 Kant's Schriften XXVII/1
466 Vorlesungen über Moralphilosophie
Von den Pflichten in Ansehung der Verschiedenheit des
Alters.
Der Autor hat gar keine gute Ordnung getroffen, er hätte diese
Pflichten können eintheilen in Ansehung der Verschiedenheit der
Stände, des Geschlechts und des Alters. Der Unterschied des Ge- 5
schlechts ist nicht so gering, als man wohl glaubt. Die Triebfedern
beim männlichen Geschlecht sind sehr unterschieden von den Trieb-
federn des weiblichen. In Ansehung des Unterschieds des Geschlechts
kann man in der Anthropologie nachschlagen, woraus sich denn
Pflichten ziehen lassen. Was die Pflichten der Verschiedenheit des 10
594 Alters betrifft, so / haben wir Pflichten gegen andre nicht allein als
Menschen, sondern auch als unsre Mitbürger, da kommen bürgerliche
Pflichten vor. Ueberhaupt ist die Moral ein unerschöpfliches Feld.
Der Autor führt Pflichten gegen Gesunde und Kranke an. Auf die Art
hätten wir auch Pflichten gegen Schöne und Häßliche, gegen Große is
und Kleine. Das sind aber keine besondre Pflichten weil es nur ver-
schiedene Zustände sind, in denen die allgemeine Menschen-Pflicht
zu beobachten ist. Das Alter können wir eintheilen in das Alter der
Kindheit, wo man sich nicht selbst erhalten kann, in das Alter des
Jünglings, wo man sich selbst erhalten, seine Art erzeugen, aber nicht 20
erhalten kann, in das männliche, wenn man sich selbst erhalten, seine
Art fortpflanzen und erhalten kann. Der wilde Zustand stimmt mit
der Natur überein, der bürgerliche aber nicht. Man ist im bürgerlichen
Zustande alsdenn noch ein Kind, obgleich man schon seine Art er-
zeugen kann ; man kann sich aber noch nicht selbst erhalten ; im 25
wilden Zustande aber ist man alsdenn schon ein Mann. Einen weit-
595 läuftigern Unterschied findet man in der Anthropologie / aus einander
gesetzt. Weil der bürgerliche Zustand der Natur widerstreitet, der
wilde aber nicht, so meint Roußeau, daß der bürgerliche Zustand dem
Zweck der Natur nicht gemäß ist ; allein der bürgerliche Zustand ist so
doch dem Zweck der Natur gemäß. Der Zweck der Natur der frühen
Männlichkeit war die Vermehrung des menschlichen Geschlechts.
Würden wir im 30sten Jahr mündig werden, so würde diese Zeit mit
dem bürgerlichen Zustande übereinstimmen, allein alsdenn würde sich
das menschliche Geschlecht im wilden Zustande nicht so vermehren. 35
Im wilden Zustande vermehrt sich das menschliche Geschlecht aus
vielen Ursachen sehr schlecht, daher muß die Mündigkeit sehr frühe
seyn; da aber im bürgerlichen Zustande die Ursachen gehoben sind,
Moralphilosophie Collins 467
SO ersetzt der bürgerliche Zustand das, was dadurch entgeht, daß man
nicht in dem Alter den Gebrauch von seiner Neigung machen kann.
Die Zwischen-Zeit ist aber mit Lastern angefüllt. Wie ist nun der
Mensch im bürgerlichen Zustande zu bilden für die Natur, und für die
bürgerliche Gesellschaft i Dieses sind die 2 Zwecke der Natur, die Er-
5 Ziehung der Menschen in Ansehung des natürlichen und in Ansehung
des bürgerlichen Zustandes. Die Regel der Erziehung ist der Haupt-
zweck, Avodurch der Mensch / im bürgerlichen Zustande gebildet wird. 5»e
In der Erziehung sind 2 Stücke zu unterscheiden: Die Entwickelung
der natürlichen Anlagen und die Hinzusetzung der Kunst. Das erste
10 ist die Bildung des Menschen, das 2te Unterricht oder Belehrung.
Der das Erste am Kinde thut, könnte der Hofmeister (Gouverneur)
heissen, der aber das andere thut, Informator.
In der Bildung ist darauf zu sehn, daß sie nur negativ sey, daß man
das alles abhalte, was der Natur zuwider sey. Die Kunst oder Beleh-
15 rung kann 2fach seyn : negativ und positiv, abzuhalten und hinzu zu
setzen. Das negative der Belehrung ist, zu verhüten, daß sich nicht
Irrthümer einschleichen, das positive, daß was mehrers von Kennt-
nissen hinzugesetzt werde. Das negative sowohl der Belehrung als
Bildung des Geschöpfs ist die Disciplin, das positive der Belehrung
20 ist die Doctrin. Die Disciplin muß vor der Doctrin vorausgehn. Durch
die Disciplin kann das Temperament und das Herz gebildet werden,
der Character aber wird mehr durch die Doctrin gebildet. Disciplin
heisset so viel als Zucht ; durch die Zucht wird aber dem Kinde nichts
neues gelehrt, sondern die regellose Freyheit eingeschränkt. / Der 597
25 Mensch muß disciplinirt werden, denn er ist von Natur roh und wild.
Die menschlichen Anlagen sind nur durch Kunst bestimmt, gesittet zu
werden. Bey Thieren ent%vikelt sich die Natur von selbst, bey uns aber
durch Kunst, also können wir nicht der Natur den Lauf lassen, sonst
erziehn wir den Menschen wild. Disciplin ist Zwang; als Zwang ist sie
30 aber der Freiheit entgegen. Freyheit ist aber der Werth des Menschen,
demnach muß der Jüngling durch die Disciplin dem Zwange so unter-
worfen werden, daß die Freyheit erhalten werde, er muß durch Zwang,
aber nicht durch scla vischen Zwang disciplinirt werden. Alle Er-
ziehung muß also frey seyn, so fern der Jüngling andere frey läßt.
35 Der vornehmste Grund der Disciplin, worauf die Freyheit beruht, ist
diese : Daß das Kind sein Verhältniß als ein Kind einsehe, und aus dem
Bewußtse}^! seiner Kindheit, Alters und Vermögens müssen alle
Pflichten hergeleitet werden. Ein Kind muß also nicht mehr Kraft
30*
468 Vorlesungen über Moralphilosophie
exerciren, als seinen Jahren gemäß ist; da es nun als ein Kind schwach
ist, so muß es nicht durch Gebieten und commandiren vieles ausrichten
598 können, sondern / es muß alles durch Bitten zu erlangen suchen; will
es etwas mit Gewalt haben, und man erfüllts einmal um es zu beruhigen,
so exercirt es das öfter mit stärkerer Kraft und vergißt seine Kind- 5
heits-Schwäche. Ein Kind muß also nicht gebieterisch erzogen werden ;
es muß nichts durch seinen Willen erhalten, sondern durch Gefälligkeit
der andern. Die Gefälligkeit der andern erhält es aber dadurch, daß es
sich selbst ihnen gefällig beweist; wenn es also durch Zwang nichts
erhält, so gewöhnt es sich hernach durch Bitten und gefällige Hand- lo
lungen alles zu erhalten. Wenn ein Kind in seinem Hause seinen Willen
gehabt hat, so wächst es gebieterisch auf und findet hernach in der
Gesellschaft allerwegen Widerstand, den es gar nicht gewohnt ist,
und ist alsdenn für die Gesellschaft unnütz. So wie sich die Bäume im
Walde unter einander discipliniren, indem sie die Luft zu ihrem i5
Wachsthum nicht neben den andern sondern über sich suchen, wo sie
keinen hindern, so wachsen sie auch gerade in die Höhe, da hingegen
ein Baum auf freyem Felde, wo er nicht durch andre eingeschränkt /
599 wird, ganz krüppelicht wächst, es hernach aber schon zu spät ist ihn
zu discipliniren. Eben so ist es auch mit dem Menschen ; wird er frühe 20
disciplinirt, so wächst er mit andern gerade auf, wird es aber ver-
säumet, so wird er ein krüppelichter Baum. Die erste disciplin beruht
auf Gehorsam. Diese kann hernach auf viele Zwecke angewandt
werden, auf den Körper, auf sein Temperament etc. Z. E. ist er auf-
fahrend, so muß er großen Widerstand bekommen; ist er faul, so muß 25
man auch nicht gegen ihn willfährig seyn. Ferner auf seine Gemüths-
Art. Dieser muß man sehr widerstehn, besonders, wo Bosheit, Scha-
denfreude, Neigung zum Zerstören und zum Quälen sich äußert.
In Ansehung des Charakters ist nichts als Lügen und falsche betrüge-
rische Gemüths-Art das schädhchste. Falschheit und Lügen sind die so
Fehler des Charakters, und sind Eigenschaften des Feigen, darauf
muß in der Erziehung sehr gesehn werden, daß es unterdrückt wird.
Die Bosheit hat doch noch ihre Stärke und darf nur disciplinirt wer-
den, allein die geheime falsche Niederträchtigkeit hat keinen Keim des
Guten mehr in sich. Von der Disciplin oder Zucht gehn wir zur Unter- 35
600 Weisung oder Doctrin. Diese ist 3fach: Die / Belehrung durch die
Natur und Erfahrung, durch Erzählung und durch Raisonnement oder
Vernünfteln. Die Belehrung durch Erfahrung ist der Grund von allem.
Man muß einem Kinde nichts mehr lehren, als was es in der Erfahrung
Moralphilosophie Collins 469
bestätiget findet und beobachten kann. Hierauf muß es angewöhnt
werden selbst zu beobachten, wodurch sich Begriffe entspinnen, die
von der Erfahrung abgeleitet sind. Die Belehrung durch Erzählung
setzt schon Begriffe und Beurtheilung voraus. Das Vernünfteln muß
5 nach dem Maaße der Jahre eingerichtet werden; zu Anfange muß es
nur empirisch seyn und nicht durch Gründe a priori sondern durch den
Effect in der Erfahrung, wenn es z. E. lügt, so muß man es gar nicht
des Sprechens würdig halten. Es kommt besonders darauf an, wie die
Erziehung den verschiedenen Jahren des Kindes angemeßen sey.
10 In Ansehung des Alters ist die Erziehung 3fach, die Erziehung zum
Kinde, zum Jüngling und zum Mann. Die Erziehung geht immer
vorher und ist die Vorbereitung zum Alter. / Die Erziehung als eine 60i
Vorbereitung zum Jünglings -Alter ist, wenn man ihm von allem
Grund angiebt; im Kindheits-Alter kann das aber nicht seyn, denn
15 Kindern werden die Sachen nur so vorgestellt, als sie sind, denn
sonst fragen sie immer weg, und während der Antwort besinnen sie
sich wieder auf neue Fragen. Zum Jünglings- Alter gehört aber schon
Vernunft. Wenn fängt man an sich zum Jünglings- Alter vorzubereiten ?
In dem Alter wo er schon nach der Natur ein Jüngling ist, das ist
2oohngefähr im lOten Jahr, denn da hat er schon Ueberlegung. Ein
Jüngling muß schon was von Anständigkeit wissen, ein Kind aber
nicht, dem kann man nur sagen : es ist nicht gebräuchHch. Ein Jüng-
ling muß schon Pflichten der bürgerlichen Gesellschaft haben. Hier
bekommt er den Begriff der Beständigkeit, der Menschen-Liebe, da ist
25 er schon der Grundsätze fähig, denn wird Religion und Moral cultivirt,
nun verfeinert er sich schon selbst und kann durch Ehre disciplinirt
werden, da ein Kind nur durch Gehorsam disciplinirt wird. Der 3te
Zeitpunkt ist, daß der Jüngling erzogen wird / zum Eintritt in daseoÄ
Alter des Mannes, welches ist, wenn er sich nicht allein selbst erhalten,
30 sondern auch seine Art fortpflanzen und erhalten kann. Im 16ten Jalir
ist er nun am Rande des Mannes-Alters, da fällt die Erziehung der
DiscipUn weg. Hier lernt er seine Bestimmung mehr und mehr kennen,
daher muß er die Welt kennen lernen. In diesem Eintritt in das
Mannes-Alter muß man ihm vorreden von wahrhaften Pflichten,
35 von der Würde der Menschheit in seiner Person, und von der Schät-
zung der Menschheit in andern. Hier muß die Doctrin den Character
bilden. Was das Verhältniß in Ansehung des Geschlechts betrifft, so
ist darauf die höchste Sorgfalt zu wenden, damit nicht die Affecten,
worunter der Affect der Geschlechter-Neigung der stärkste ist, ge-
470 Vorlesungen über Moralphilosophie
mißbraucht werden. Roußeau sagt : Ein Vater soll hier in diesem Zeit-
alter seinem Sohn hie von einen völligen Begriff machen, und es nicht
als ein Geheimniß behalten, er muß ihm hier seinen Verstand /
603 aufklären, die Bestimmung dieser Neigung sagen und den Schaden der
aus dem Mißbrauch derselben entsteht. Er muß ihm hier aus mora- 5
lischen Gründen die Abscheulichkeit der Handlung zeigen, und die
Entehrung der Würde der Menschheit in seiner Person vor Augen
legen. Dieses ist der dehcateste und der letzte Punkt in der Erziehung.
Ehe die Schulen so weit kommen, werden noch viele Laster ausgeübt
werden. lo
Von der letzten Bestimmung des menschlichen Ge-
schlechts.
Die lezte Bestimmung des menschhchen Geschlechts ist die mora-
lische Vollkommenheit, so fern sie durch die Freyheit des Menschen
bewirkt wird, wodurch alsdenn der Mensch der größten Glückseelig- 15
keit fähig ist. Gott hätte die Menschen schon so vollkommen machen
und jedem die Glückseeligkeit haben austheilen können, allein alsdenn
wäre es nicht aus dem Innern principio der Welt entsprungen. Das
innere principium der Welt aber ist die Freyheit. Die Bestimmung des
Menschen ist also, seine größte Vollkommenheit durch seine Freyheit 20
604 zu erlangen. Gott will nicht allein, / daß wir sollen glückhch seyn,
sondern wir sollten uns glücklich machen, das ist die wahre Moralität.
Der allgemeine Zweck der Menschheit ist die höchste moraHsche Voll-
kommenheit; wenn sich nun alle so verhalten möchten, daß ihr Ver-
halten mit dem allgemeinen Zweck übereinstimmen möchte, so wäre 25
dadurch die höchste Vollkommenheit erreicht. Es muß sich Jeder
einzelne bemühen, sein Verhalten diesem Zweck gemäß einzurichten
wodurch er das Seinige dazu beyträgt, daß wenn nun ein jeder es so
macht, die Volllcommenheit erreicht ist. Wie weit ist nun aber das
menschliche Geschlecht auf dem Wege zu dieser Vollkommenheit ? so
Wenn wir den erleuchtetsten Theil der Welt nehmen, so finden wir,
daß alle Staaten gegen einander in Waffen stehn und jeder schleift
seine Waffen im Frieden gegen den andern. Dieses hat solche Folgen,
die da verhindern, daß sich die Menschen dem allgemeinen Zwecke
der Vollkommenheit nähern können. Der Vorschlag des Abt von St. 35
Pierre von einem allgemeinen Völker-Senat würde, wenn er ausgeführt,
der Zeitpunkt seyn, wo das menschliche Geschlecht einen großen
605 Schritt zur Vollkommenheit thun würde. /Denn könnte die Zeit, die
Moralphilosophie Collins 471
jezt auf Sicherheit verwandt wird, darauf verwendet werden, was den
Zweck befördern möchte. Da aber die Idee des Rechts bey den
Fürsten nicht solche Gewalt hat, als die Unabhängigkeit, eigne
Gewalt und Begierde, nach seiner Willkühr zu regieren, so ist solches
5 von der Seite auf keine Weise zu hoffen. Wie ist nun aber diese Voll-
kommenheit zu suchen und aus welchem Punlit wird sie zu hoffen
seyn ? Nirgends als durch die Erziehung. Diese muß allen Zwecken der
Natur, der bürgerlichen und häuslichen Gesellschaft angemessen seyn.
Unsere Erziehung aber im Hause und in den Schulen ist noch sehr
10 fehlerhaft, so wohl in Ansehung der Cultur der Talente, der Disciplin
und Doctrin, als auch in Ansehung der Bildung des Charakters nach
moralischen Grundsätzen. Man ist mehr auf Geschicklichkeit, als auf
Gesinnung bedacht, sich derselben gut zu bedienen. Wie kann aber
ein Staat durch solche Personen, die nicht beßer erzogen sind, anders
15 regiert werden ? Wenn aber die Erziehung so eingerichtet wird, daß die
Talente gut entwickelt, der Charakter moralisch gebildet würde, denn
würden / sie bis zum Throne hinaufsteigen, und die Prinzen würden 606
hernach durch eben solche geschickte Personen erzogen werden.
Anjetzo aber hat noch niemals ein Fürst was zur Vollkommenheit der
20 Menschheit, der inneren Glückseeligkeit, zum Werth der Menschheit
was beygetragen, sondern nur immer auf den Flor seines Staats ge-
sehn, welches bey ihm die Hauptsache ist. Aber nach einer solchen
Erziehung würden sie sich so ausbilden, daß solches auf die Ver-
tragsamkeit einen Einfluß hätte. Wenn aber schon einmal die
25 Quellen entstanden wären, so hätte das Bestand, und wenn es einmal
allgemein ausgebreitet ist, so erhält er sich selbst durch das Urtheil
eines jeden Menschen. Der Monarch kann aber nicht allein, sondern
alle Glieder des Staats müssen so gebildet seyn, alsdenn hätte der
Staat solche Festigkeit. Hat man das jemals zu hoffen ? Die Base-
so dowschen Anstalten der Erziehung machen dazu eine kleine Avarme
Hoffnung. Wenn die menschliche Natur ihre völlige Bestimmung und
ihre höchstmögliche Vollkommenheit wird erreicht haben, so ist dies
das Reich Gottes auf Erden, alsdenn wird das innere Gewissen Recht
und Billigkeit regieren, und keine obrigkeitliche Gewalt. Dies ist der
35 lezte bestimmte Zweck und die höchste moralische Vollkommenheit,
zu der das menschliche Geschlecht gelangen kann, die nach dem
Verlauf vieler Jahrhunderte zu hoffen ist.
Finis Königsberg den 19ten April 1785.
472 Vorlesungen über Moralphilosophie
Verzeichniss der in diesem Buche erläuterten philosophischen
Betrachtungen.
1. Prooemium 1
2. die moralischen Systemata der Alten 6
3. Vom Principio der Moralitaet 12
4. de obligatione activa & paßiva 22
5. Vom moralischen Zwange 32
6. Von der practischen Neceßitation 36
7. Von den Gesezzen 48
8. Vom obersten Principio der Moralitaet 53
9. de littera legis 67
10. Vom Gesezzgeber 79
11. Von Belohnungen und Bestrafungen 82
12. de imputatione 98
13. Von der Imputation der Folgen der Handlungen 102
14. Gründe der moralischen Imputation 105
15. de imputatione facti 107
16. Grade der Imputation 108
Finis philosophiae practicae universalis
17. Ethica 129
18. Von der natürlichen Religion 147
19. Von den Irrthümern in der Religion 164
20. Vom Unglauben 178
21. Vom Zutrauen auf Gott und dem Begriff des Glaubens 194
22. Vom Gebeth 201
23. de cultu externo 216
24. Vom Beispiel und Muster in der Religion 233
25. Vom Anstoß 237
26. Vom Bekenntniß der Religion, in wiefern etwas ein Status confeßionis
sey etc 246
27. Von der Moralität und zwar 1) Von den Pflichten gegen Uns selbst . 250
28. Von der geziemenden Selbstschäzzung 276
29. Vom Gewißen 282
30. Von der Eigenliebe 297
31. Von den Pflichten gegen den Körper in Ansehung des Lebens .... 333
32. Vom Selbstmorde 335
33. Von der Sorge für sein Leben 353
34. Von den Pflichten in Ansehung des Körpers selbst 362
35. Von den Pflichten des Lebens in Ansehung des Zustandes 370
36. Etwas von der Zeitverkürzung 377
37. Von den Pflichten gegen den Körper in Ansehung der Geschlechts-
Neygung 378
38. Von den Criminibus carnis 395
39. Von den Pflichten gegen sich selbst in Ansehung des äußern Zustandes 401
40. Von den Glücksgütern 416
41. Vom Geitze 419
Moralphilosophie Collins 473
42. Von den zwey Trieben der Natur und den sich darauf beziehenden
Pflichten 439
43. 2) Von den Pflichten gegen andre Menschen 454
44. Von der Freundschaft 476
45. Von der Feindschaft 503
46. Von der Billigkeit 511
47. Von der Unschuld 512
48. Vom Schaden 515
49. Von der Rache 516
50. Vom Ohrenbläser 518
51. Von der Eifersucht, Misgunst, Neid etc 519
52. Von den ethischen Pflichten gegen andre, von der Wahrhaftigkeit . . 541
53. Von der Armuth, und von gütigen Handlungen 570
54. Von den gesellschaftlichen Tugenden 572
55. Vom Hochmuth 575
56. Von der Spötterey 577
57. Von den Pflichten der Tugendhaften und Lasterhaften 587
58. Von den Pflichten in Ansehung des verschiedenen Alters 593
59. Von der letzten Bestimmung des menschl. Geschlechts 603
3 5282 00157 1051
ph'fr, '/-^ ^9'^
DATE DUE
i
B2753
1910
V.27
pta
TÄCKS B2753 1910 vol. 27 pt.1
Kant, Immanuel,
Kants gesammelte sch"»ten