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Full text of "Kant's gesammelte schriften"

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DUQUESNE  ÜNieSiTy  LIBRARV 


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in  2010  with  funding  from 

Lyrasis  IVIembers  and  Sloan  Foundation 


http://www.archive.org/details/kantsgesammeltes271imma 


gefammelte  ©ci^rlften 

i^emu^^egeben 
Don  t»ec 

2iraDemie  Hx  ^iffenfd^ajten  Der  S)©M 


^anP  XXVII 
Q3ierte  2lbteUun9 

qjorfefungen 

Q3icrter  Sanö 

@rfte  Hälfte 


25eran  1974 

QI3a(ter  t^e  ©ruptec  &  ^o. 

»otmflW  ©.  5.  »5fd)cn'fct)c  qSetlafl^jiantiluna  -  i5.  «utttntag,  ^Jttlafl^ 
bucti^antlung  -  «ötorg  Mdmet  -  Äatl  3.  Stübnet  -  25tit  &  (Jomp. 


35orIefungen 


afabemie  bcr  QBiffenfd^aften  ju  ©öttinjen 


^ant)  IV 
Q3or[efungen  über  a)^orafpf)irofcp^ie 


iöerlin  1974 


QBafter  t>t  0rupfer  &  <So. 

Bormal^  ©.  5.  ®öfd)en'fd)e  ■BcrlageljanDlung  -  ^.  ©uttcntag,  35tr(a9#» 
buclfijonblung  -  (öcorg  Weimer  -  ^art  J.^cübncr  -  Q3tit  &  Somp. 


Der  vorliegende  Halbband  umfaßt  die  Praktische  Philosophie  Herder  (S.  1 — 90), 

die  Praktische  Philosophie  Powalski  (S.  91 — 236)  iind  die  Moralphilosophie  CoUins 

(S.  237 — 473),  alle  drei  nach  den  Originalen. 

Im  zweiten  Halbband  folgt  die  Metaphysik  der  Sitten  Vigilantius  imd  der  Ab- 
druck von  Baumgartens  Ethica  Philosophica.  Der  Apparat  bringt  außer  Ein- 
leitung, Erläuterungen,  Textänderungen,  Nachträgen  vmd  Berichtigimgen  die 
Varianten  der  übrigen  Abschriften,  bezogen  auf  Collins. 

Gerhard  Lehmarm 


©  1974  by  Walter  de  Gruyter  &  Co.,  Berlin  30 

Printed  in  Germany 

Alle  Rechte,  insbesondere  das  der  Übersetzung  in  fremde  Sprachen,  vorbehalten.  Ohne 
ausdrückliche  Genehmigung  des  Verlages  ist  es  auch  nicht  gestattet,  dieses  Buch  oder 
Teile  daraus  auf  photomechanischem  Wege  (Photokopie,  Mikrokopie)  zu  vervielfältigen. 

Hldr.  ISBN  311004994  5 
brosch.  ISBN  3 11 005877  4 

Satz  und  Druck:  Walter  de  Gruyter  &  Co.,  Berlin  30 
Buchbmder:  Lüderitz  &  Bauer,  Berlin  61 


I 

Praktische  Philosophie  Herder 


APR2  3  1976 


Praktische  Philosophie  Herder 


....  habe  ich  nicht  blos  ein  eigen-,  sondern  auch  ein  uneigen-gemein- 
nütziges Gefühl  ?  Ja !  —  es  rührt  unmittelbar  uns  ander  Wohl  und 
Leiden:  die  bloße  Glückseligkeit  andrer  ergötzt  uns  in  der  beschrei- 
bung:  auch  von  erdichteten  Personen  von  denen  wir  die  Erdichtung 
5  Mdßen,  oder  in  entfernten  Zeiten  —  ja  dies  gemeinnützige  ist  so  groß 
daß  es  mit  dem  eigennutzigen  collidirt.  Ja  das  Gefühl  desselben  ist 
eine  edle  Empfindung,  edler,  als  das  der  eigennützigen.  Niemand 
verachtet  sie :  ein  jeder  wünscht  sie  sich,  nicht  alle  haben  sie  in  glei- 
chem Grade :  —  bei  einigen  ists  groß  und  je  größer  desto  mehr  wirds 

10  als  eine  Vollkommenheit  empfunden.  —  es  ist  allgemein :  doch  selten 
so  groß  daß  es  thätige  Handlungen  erregt,  z.  E.  Geitzige,  bei  denen 
der  Eigennutz  sehr  stark  geworden  ist.  Als  bedürftsamen  Wesen  gab 
uns  der  Schöpfer  den  Eigennutz  nach  unsrer  Vollkommenheit.  Als 
Wesen  die  Vermögen  haben  andern  zu  dienen  gab  uns  der  Schöpfer 

15  den  Uneigennutz  nach  andrer  Vollkommenheit.  Die  Grade  des  gemein- 
nützigen sind  vortreflich  weil  man  auch  das  eigennützige  ihm  unter- 
ordnen kann:  aber  nicht  vice  versa.  Je  eigennütziger,  desto  mehr 
bedürftig:  (zu  wenigsten  in  Gedanken)  folglich  verächtlicher:  Das 
uneigennützige  Gefühl  an  dem  Wohl  etc.  eines  andern,  hat  nicht  un- 

20  sere  Vollkommenheit  zum  Zweck :  sondern  zum  Mittel 

Hobbes  folgte  dem  Plan  des  Lul^rez  und  dem  Epikur:  der  bei 
weitem  nicht  so  edle  Principia  hatte,  als  die  Stoiker.  —  So  auch  die 
meisten  Deutschen  beziehen  alles  auf  Eigennutz,  weil  es  schön  ist, 
alles  aus  einem  Principio  herzuleiten,  so  wenig  es  aber  in  der  Meta- 

25physik  etc.  Man  sagte;  1)  man  sezze  sich  dabey  an  des  andern  Stelle, 
und  die  Täuschung  der  Phantasie  mache  dies  Vergnügen,  waz  nicht 
unmittelbar  aus  des  Andern  Vergnügen  entspringt,  sondern  mittel- 
bar —  Diese  falsche  Untereinanderordnung  komt  daher :  weil  wir  uns 
bei  dem  uneigennützigen  Gefühl  stets  die  Freude  des  andern  vor- 

30 stellen:  und  welche  Freude  wir  haben  möchten  in  seiner  Person.  — 
Allein  hätten  wir  keine  uneigennützigen  Gefühle,  so  doch  nicht  etc. 
weil  wir  nicht  uns  überzeugen ,  daß  wir  in  seiner  Person  sind  =  Sezt 
euch  auch  in  die  Stelle  eines  reichen  Taugenichts:  ihr  werdet  nicht 
eine  lust  an  ihm  haben.  Diese  Sezzung  an  des  andern  Stelle  ist  also 

35  zwar  nothwendig  aber  blos  ein  Mittel  zur  lebhaftigkeit  das  das  un- 
eigennützige Gefühl  voraus  sezzt.  Ich  nehme  nicht  mit  des  Damiens 


4  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

Unglück  Mitleid,  wohl  aber  an  des  Julius  Cäsar  da  sein  Brutus  ihn 
umbrachte  2)  sagt  man:  —  Das  Vergnügen,  waz  wir  daran  haben,  ist 
blos  unser  Zweck  und  ein  feinrer  Eigennutz  Responsio  das  Vergnügen 
selbst  sezt  1)  eine  Kraft,  es  zu  haben,  voraus  2)  das  Vergnügen  kan  ich 
nicht  durch  Vergnügen  erklären.  Ich  will  das  Vergnügen:  heißt  bloß  :  5 
ich  habe  Vergnügen  am  Vergnügen :  sezt  also  ein  gewißes  Gefühl  schon 
voraus.  Dies  sind  also  blos  niedrige  Ränke.  —  Dies  Gefühl  macht 
auch  eine  große  Schönheit  unserer  Natur  —  Ein  eigennütziges  Gefühl 
sezt  eigne  Un Vollkommenheiten  voraus :  die  sich  erwerben  lassen :  (folg- 
lich Gott  nicht)  und  sezt  bedürftigkeit  voraus.  Ein  uneigennütziges  lo 
Gefühl  sezt  eigne  Vollkommenheiten  voraus:  die  Gründe  in  Erwer- 
bung anderer  Vollkommenheiten  seyn  können  und  sezt  vollkommen - 
2  heit  voraus.  Das  uneigennützige  Gefühl  ist  Anziehungs  Kraft  ähnlich  / 
und  der  Zurückstoßung  das  eigennützige.  Beide  in  conflictu  machen 
die  Welt  aus.  is 

Freie  Handlungen  sind  gut  1)  vermittelst  der  Folgen  (nach  ihrem 
Grad)  Physisch  gut 

Freie  Handlungen  sind  gut  2)  vermittelst  der  Absicht  (nach  ihrem 
Grad)  Moralisch  gut  Der  Maasstab  ist  bei  beiden  sehr  verschieden :  — 
Kleiner  Wille  und  großes  Vermögen  ist  weniger  Moralisch  gut,  auch  20 
bei  großen  Wohlthaten  Großer  Wille  und  kleines  Vermögen  ist  mehr 
Moralisch  gut,  auch  bei  Wohlthaten  die  klein  sind.  —  Wir  schätzen 
auch  die  Moralia  nicht  nach  dem  Physischen  sondern  durch  sich 
selbst :  auch  wenn  sie  eigennützig  sind :  nicht  stets  gemeinnützig  (wie 
Hutcheson  irrt).  —  Moralisch  gute  Handlungen  müssen  auf  ein  Phy-  25 
sisches  Gute  gerichtet  seyn  nicht  aber  daran  gemeßen :  —  Die  Physisch 
gute  Handlungen  sind  stets  gleich:  sie  mögen  frei  oder  noth wendige 
Wirkung  seyn :  denn  das  gute  liegt  in  der  Wirkung  und  wird  an  der  Fol- 
ge gemessen,  sie  ist  nicht  größer  als  die  Wirkung,  aber  die  moralisch 
freie  Handlungen  haben  eine  bonität  die  nicht  nach  der  Wirkung :  so 
sondern  nach  der  Absicht  (frei)  geschätzt  wird:  sonst  würde  das 
moralische  kleiner  seyn  als  das  physische:  dieses  wiederspricht  aber 
der  Empfindung,  der  Rührung ;  freie  Handlungen  können  unmittelbar 
gut  seyn  (Lust  machen)  nicht  als  Mittel  zu  Folgen,  daher  der  Grad 
nicht  nach  den  Folgen  zu  messen  und  sie  nicht  gleich  sind  den  Phy-  35 
sischen  Ursachen  die  dieselbe  Wirkung  hervor  bringen  die  Lust  an 
freien  Handlungen  unmittelbar  heißt  Moralisches  Gefühl,  wir  haben 
ein  Moralisches  Gefühl:  dies  ist  1)  allgemein  2)  einstimig:  —  Ich  habe 
an  des   andern   Nachläßigkeit  Unlust,  Haß;  nicht  weil  er  hungern 


Praktische  Philosophie  Herder  5 

muß;  sondern  wegen  der  Nachläßigkeit  denn  bei  Mangel  aus  Krank- 
heit habe  ich  Mitleiden  =  eine  große  Disproportion  die  das  Eigen- 
nützige Gefühl  erhöht  daß  jenes  überwogen  wird,  hebt  es  nicht  auf :  denn 
wenn  er  von  andern  Moralisch  guten  hört :  so  wird  er  mit  Lust  gerührt  — 
5  Eine  unmittelbare  Lust  an  des  andern  Uebel  ist  teuflisch,  und  bei  uns 
von  gar  keinem  Gedanken :  (wohl  aber  eine  mittelbare  Lust,  und  Un- 
lust —  wie  unmittelbare  Unlust;)  Das  moralische  Gefühl  ist  unzerglie- 
derlich,  Grundgefühl,  der  Grund  des  Gewißens.  actiones  morales  sunt 
aut  immanentes  aut  transeuntes :  diese  Eintheilung  ist  (bricht  aby 

10  Hutcheson  irrt,  wenn  er  glaubt,  daß  die  Handlungen,  die  auf  uns 
gehen  blos  aus  dem  Eigennutz  erklärlich  sind  daß  sie  gar  nicht  nach 
einer  Moralischen  Regel  seyn  und  blos  Politisch  —  aber  selbst  die 
Willkür  ist  hiebey  moralisch:  und  Politische  Absichten  finden  nicht 
stets  statt  ^ 

15  2)  physice  transeuntes  können  doch  moral:  immanent:  seyn:  die 
Wirkung  ist  außer  uns,  der  Zweck  in  uns. 

/  Wodurch  erkennen  wir  die  bonität :  —  die  physische  bonität  durch  3 
ein  physisches  Gefühl:  z.  E.  den  Bauer  pflegen  die  moralische  bonität 
dm-ch  ein  moralisches  Gefühl  das  sich  gar  nicht  aufs  physische  bringen 

20  läßt  —  jene  ist  durch  ihre  Folgen  gut :  Materialität  des  Vollkommenen, 
diese  ist  an  sich  gut:  Formalität  des  Vollkommenen.  Bey  der  Morali- 
tät  wird  blos  nach  der  Formalität  der  Vollkommenheit  der  freien 
Handlungen  gefragt.  Thue  Moralisch  vollkommene  Handlungen  suche 
Materiale  und  formale  Vollkommenheit ;  suche 

25      1)  Volll<;ommenheit  als  Zweck  unmittelbar 

2)  Vollkommenheit  formaliter  nicht  blos  materialiter. 
blos  die  Betrachtung  der  freien  Handlungen  mit  Moralischem  Ge- 
fühl hält  das  GcAAdßen  in  sich :  jenes  fühlt  die  Vollkommenheit  formal : 
Willkühr  bei  jedem,  auch  dem  andern:  das  Gewißen  blos  an  seiner 

30  eignen  Willkühr.  Jenes  geht  auf  alle  freien  Handlungen,  dieses 
auf  unsere  eigne :  bey  der  moralischen  bonität  ist  nie  ein  Zweifel :  die 
Physische  oft  zweifelhaft  im  Grad  zu  bestimmen,  weil  sie  aus  den 
Folgen  gemessen  wird.  z.  E.  (bricht  ab} 

Das  Gefühl  vor  die  Moralität  (ohne  Nuzzen)  ist  schön  oder  erhaben, 
35  meine  Freude  am  Vollkommenen  meiner  selbst  (Gefühl  der  Selbst- 
schätzung, eignen  Werths)  ist  edel  meine  Freude  am  Wohlgefallen 
(Gefühl  der  Wohlwollenheit)  ist  schön.  Hier  ist  die  Eintheilung  aller 
Handlungen  nach  diesen  Klaßen  völlig  ungebaut. 


6  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

Quellen  der  Sittlichkeit 

Sittlichkeit  überhaupt.  Moralische  Schönheit  (nicht  Verbundenheit 

Recht  und  Unrecht) Die  Vollkommenheit  ist  nie  in  der  Moral 

die  transscendentale :  nicht  waz  zum  Wesen  blos  gehört,  denn  das 
Wesen  könnte  beßer  seyn.  5 

Daraus  allein  daß  es  mit  unserer  Natur  überhaupt  zusammen 
stimmt,  ist  es  nicht  blos  Vollkommenheit  denn  kann  ich  eine  beßere 
Natur  haben,  z.  E.  Engel:  so  ist  der  Tod  gut  —  Also  ist  das  Haupt - 

gesetz  der  Moral:  handle  nach  deiner  Moralischen  Natur. Meine 

Vernunft  kann  irren :  mein  Moralisches  Gefühl  blos,  wenn  ich  Gewohn- 10 
heit  vor  Natürliches  Gefühl  halte,  alsdenn  ists  aber  blos  implicirte 
Vernunft:  und  mein  letzter  Maasstab  bleibt  doch  das  Moralgefühl: 
nicht  Wahr  und  Falsch:  so  wie  das  Vermögen  des  Wahren  und  Fal- 
schen der  letzte  Maasstab  des  Verstandes  und  beide  allgemein  sind. 

Um  nicht  in  logischen  Dingen  zu  irren:  muß  ich  die  Iste  propositio  15 
des  wahren  aufsuchen 

Um  nicht  in  moralischen  Dingen  zu  irren:  muß  ich  die  Iste  pro- 
positio des  guten  aufsuchen 

Das  natürliche  Gefühl  wird  hier  dem  künstlichen  entgegengesezt 
z.  E.  von  Schamhaftigkeit  ist  fast  künstlich,  bei  Spartaner  Kinder  20 
bis  14  Jahr  nakt  Indianerinnen  verbergen  nie  den  Busen  Jamaica 
4 ganz  nakt  /  und  ist  doch  sehr  stark:  Cäsar,  Livia,  wollten  sterbend 
sich  nicht  aufdecken. 

Spartanische  Weiber  nakt  auf  die  Gaße  geworfen,  mehr  als  Todes- 
strafe 25 

Doch  künstlich:  so  wie  bei  Chinesern  die  Finger  zu  zeigen. 

So  ist  die  Heirath  der  Schwester  künstlich  verabscheut :  bei  Egyp- 
tern  heilig  Um  das  Künstliche  vom  Natürlichen  zu  unterscheiden 
muß  man  so  auf  den  Ursprung  dringen,  wie  die  Vorurteile  (Sprüch- 
wörter) von  Gewißheit  zu  unterscheiden.  Man  müste  das  Gefühl  des  so 
Natur  Menschen  untersuchen,  und  dies  ist  weit  beßer  als  unser 
gekünsteltes :  Roußeau  hats  aufgesucht 

Sectio  2 
coactio  absoluta  ist  unmöglich  moralis 

coactio  physica  ist  offenbar  nicht  moralis    sind  contrahentes  35 

coactio  moralis  1)  subjectiua:    necessitatio actionum liberarum  se- 

cundarum  zu  regulas  arbitrii  sub- 
iectiue  applicatas 


Praktische  Philosophie  Herder  7 

2)  objectiua:     obligatio  ad  actionem  inuitam; 

1 )  externa :  per  causas  externas : 

2)  interna:  per  causas  internas: 

Es  gibt  rationes  insvifficientes  die  nicht  obligiren:  debiliores   — 
5  Wenn  nun  ein  conflictus  zwischen  potioribus  und  debilioribus  da  die 
obligationes  per  coactiones  objeetivas  internas  geschehen : 
a)  interne  wenn  nur  eine  obhgation  einen  invite  zwingt 
B)  extern  :  1)  subjectiua,  das  gar  keine  Verbundenheit  ist, 

2)  objectiua:  ist  durch  Furcht  objectiver  Zwang  — 
10      Quaestio   sind  die  extorsiones  rationes  obligandi  — 

Responsio   Man  kann  den  Grund  1)  des  Gesetzes  selbst  ]   be- 

2)  den  Fall  der  An-       j-  trach- 
wendung  J   ten 

Der  Grund  des  Falls  der  Anwendung  ist  nicht  der  Grund  der  Ver- 
ls bindung :  denn  die  Handlungen  die  dadurch  veranlaßt,  werden  nicht 
Moralisch    sondern   blos   mittelbar    gut   den    Strafen    zu  entgehen, 
Zwang  obligirt  also  nicht:  weil  blos  Folgen  physischer  Handlungen 
sind ;  Wohlthaten  obligiren  wohl :  insofern  sie  blos  Folgen  moralischer 
Handlungen  sind 
20      63.  Wenn  ich  auch  die  Willkühr  nicht  aus  der  Natur  der  Sache 
herleiten  kann,  ists  ein  natürliches  Gesez,  nicht  positiv:  dieses  muß 
blos  aus  dem  Ausdruck  der  Rede  zu  erkennen  seyn  so  fern  es  positive 
ist,  nicht  aber  aus  der  Natur  der  Sache.  Auch  die  götthchen  Gesetze 
wo  ich  das  arbitrium  aus  der  Natur  der  Sache  herleiten  kann,  sind 
25 Natur  Gesetze  z.  E.  das  Gesetz  der  Fortpflanzung  der  Menschen  /  ist  3 
ex  arbitrio  Dei :  dies  ist  aber  schon  ex  rei  naturae  zu  sehen :  (natürhch) 
in  so  fern  es  aber  enunciirt  ist  (positiv) 

64.  Des  Autors  Begriff  vom  Recht  ist  so  weitläufig  daß  er  im 
jure  vniversali  naturali  auch  die  leges  motus  aber  wider  allen  Gebrauch 
30 in  sich  fasst. 

ius  strictum  complexus  legum  externarum  quarum  ratio  obligandi 
est  alterius  arbitrium  et  esse  possunt  cogentes 

ius  vniversale  facultas  moralis  (Befugniß)  aptitudo  (nicht  phy- 
sica)  als  causa  efficiens  etwaz  zu  thun  wo  ich  nicht  wider  meine  Ver- 
35  bindlichkeit  handle,  wenn  ichs  thue : 

Die  Befugniß  ist  zweierlei      1)  innere  1  da  ich  nicht  wider  (äußere 

2)  äußere  [oder  innere)  Verbindlichkeit 
]  handle 


3  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

facultas  moralis  externa  ist  nicht  wider  Zwangsgesetz  —  bezieht 
sich  auf  die  äußeren  Verbindhchkeiten 

facultas  moralis  interna 

ius  strictum  complexus  omnium  legum  obstringendi 

ius  vniversale  complexus  omnium  legum  obligandi  5 

ius  latius:  alle  Regeln  der  Verbindlichkeit,  auch  der  Innern 
(wider  den  Sprachgebrauch)  auch  der  göttlichen  sittlichen  Vollkom- 
menheit. 

late  der  Menschlichen:  dies  ist  blos  vor  diesen 

stricte  :  ist  eigentlich  das  gewöhnliche  ius  naturae  lo 

late  müste  sie  1)  Innern  1  ,t    i  •    n-  1 1    -^  ^       Ethic: 

'  ..    r,    11        '  Verbmdlichkeiten  reden  .  , 

von  2)  äußerlichen  j  jus  naturae : 

Die  Ethic  redet  aber  eigentlich  nicht  vom  Recht,  sondern  waz 
schön  ist :  Moralische  Schönheit  gar  nicht  vom  arbitrio  Gottes  —  vom 
Gesetz  —  sondern  unmittelbar  Gut :  i5 

Auch  in  der  Predigt  könnte  man  dies  mit  einer  schönen  Gradation 
unterscheiden 

Jus  positivum  (ist  vom  jus  naturae  zu  unterscheiden:)  complexus 
regularum  externarum:  nicht  der  vermuthete  Wille,  sondern  ausge- 
druckter Wille.  20 

Jus  naturae  kann  der  scientiae  morali  late  dictae  contradistinguirt 
werden  und  ist  1)  ius  naturae:  dem  positiven  entgegengesetzt 
oder    2)  ius  positivum. 

66.  Obligationes  in  jure  positivo  (qua  tali)  sunt  externae.  Jus  positi- 
6  vum  late  dictum  ist  unrichtig,  weil  es  auch  die  Innern  als  äußere  /  Ge-  25 
sezze  betrachtet:  jus  positivum  qua  tale  semper  stricte  dicitur.  Wer 
die  Schuldigkeit  weiß  weiß  auch  die  Befugniße :  Befugniße  sind  dem 
Moralisch  Nothwendigen  contradistinguirt  und  mit  jener  unter  dem 
Moralisch  Möglichen  enthalten,  und  stehen  also  mit  jener  unter  einem 
Hauptbegriff.  30 

facultas  moralis  est  respectu  legum  internarum:  diese  heißt  nie  jus 
aut  respectu  legum  externarum :  sondern  diese  blos 
Jus  omnes  leges  (etiam  improprie  dictae)  comprehendit 
Jus  externae  leges 

1)  naturae  ex  natura  rei  35 

2)  positivae  ex  arbitrio 


Praktische  Philosophie  Herder  9 

68.  Alle  Moralischen  Unterlassungen  sind  negative  Handlungen  und 
also  kein  Mangel  von  Handlungen:  sondern  wirkliche  Handlungen 
realiter  entgegen  gesetzt  den  positiven  Handlungen : 

Oniissiones  morales  sunt  negatiue  actiones 
5      Handlungen  tacite  erlaubt,  wenn  ein  Gesetz  zum  Gegentheil  da  ist. 

Handlungen  explicite  erlaubt,  wenn  ein  Gesetz  dies  wirklich  selbst 
erlaubt:  —  uneigentlich  heißt  es  Gesez:  da  es  keine  Verbindlichkeit 
enthalt 

69.  Ex  obligationibus  nostris  internis  possumus  ad  externas  diuinas 
10  (propter  leges  externas)  concludere  qua  tales  autem  cum  ex  natura  rei 

intelligatum  est  naturae  jus,  non  positiuum :  —  ad  positivum  aber  kann 
ich  nicht  schliessen,  weil  ich  nicht  weiß,  ob  Gott  diserta  oratione  ein 
Gesetz  gegeben  70.  formale  Hauptregeln  der  negativen  und  affirmati- 
ven Verbindlichlveit.  materiale  sind  viel  —  nach  der  beschaffenheit  der 
15  Sache  Iste  Grundsäzze 

71  Können  wir  auch  ohne  Gottes  Daseyn  und  seines  arbitrii  voraus 
gesetzt :  alle  Verbindlichkeiten  interne  herleiten  ?  Responsio :  nicht  blos 
affirmative  sondern  dies  ist  ex  natura  rei  eher,  und  wir  schliessen  daher 
auf  Gottes  Willkühr. 

20  1)  vom  arbitrio  diuino  kann  ich  selbst  nicht  die  gehörigen  begriffe 
der  Güte  haben,  wenn  nicht  der  Begriff  vom  Moralisch  Guten  voraus- 
geschickt würde :  sonst  ist  bei  Gott  blos  das  arbitrium  physice  blos  gut. 
Kurz  das  Urteil  über  Gottes  Vollkommenes  arbitrium  sezt  die  Unter- 
suchung der  Vollkommenheit  moralis  voraus. 

25      /2)  Gesetzt  ich  habe  Gottes  arbitrium  gewust,  woher  ist  die  Noth-  7 
wendigkeit  daß  ichs  soll :  wenn  ich  nicht  aus  der  Natur  der  Sache  die 
Verbindliclil<;eit  schon  herleite  —  Gott  wills,  warum  soll  ichs  —  er 
wird  strafen:  —  alsdenn  ists  schädlich  nicht  an  sich  lasterhaft:  so 
gehorcht  man  dem  Despoten  —  dies  ist  alsdenn  keine  Sünde  stricte 

30  sondern  politische  Unklugheit  —  und  warum  wills  Gott  ?  warum 
straft  ers:  weil  ich  verbindlich  dazu  bin,  nicht  weil  er  Macht  hat  zu 
strafen.  Selbst  die  application  des  arbitrii  Diuini  aufs  factum  als  ein 
Grund  sezt  die  begriffe  der  Verbindlichkeit  voraus  —  und  da  dieses 
die  natürliche  Religion  ausmacht,  so  ist  dies  ein  Theil  nicht  aber  der 

35  Grundsaz  der  Moral.  —  Es  ist  wahrscheinlich  daß  da  Gott  der  Grund 
aller  Dinge  durchs  arbitrium  ist,  so  auch  hier,  Ja  er  ist  der  Grund 
davon  aber  nicht  per  arbitrium,  sondern  da  er  der  Grund  der  Mög- 


10  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

lichkeit  ist,  so  ist  er  auch  der  Materiale  Grund  (da  in  ihm  alle  data 
sind)  von  Geometrischen  Wahrheiten,  und  Moralität  —  in  ihm  ist  also 
selbst  Moralität  und  sein  arbitrium  ist  also  nicht  der  Grund  —  Der 
Streit  der  Reformierten  und  Lutheraner  vom  arbitrio  Diuino  und 
absoluto  decreto  gründet  sich  darauf,  daß  auch  in  Gott  Moralität  5 
seyn  muß ;  und  vom  göttlichen  Arbitrio  selbst  schwindet  aller  Begriff 
wenn  nicht  moralität  vorausgesetzt  wird,  diese  aber  kann  nicht  aus 
der  Welt  bewiesen  werden,  (da  blos  möglich)  weil  die  Güte  der  Welt 
physische  Folgen  blos  seyn  können  —  Wie  schrecklich  ist  aber  ein 
Gott  ohne  Moralität  —  Jus  naturae  diuinum,  ja  auch  positiuum  lo 
schwindet,  wenn  nicht  eine  Moralität  Grund  der  beziehung  und  Con- 
formität  meines  und  Gottes  arbitrii  —  Strafen  fallen  ohne  voraus- 
gesetzte Verbindlichkeit  weg :  es  ist  blos  böses  waz  Gott  erweist :  und 
kann  ich  die  physischen  vermeiden :  so  ist  die  Handlung  kein  Verbre- 
chen mehr :  Die  Moral  ist  allgemeiner,  als  das  arbitrium  diuinum  3)  der  is 
hat  seiner  Verbindlichkeit  nicht  völlig  Gnuge  gethan,  Moralität  ist 
incomplet,  wenn  nicht  alle  Gründe  der  Verbindlichkeit  genommen 
werden :  und  alsdenn  ist  unserer  Moralität  das  arbitrium  diuinum  ein 
Grund  der  äußern  Verbindlichkeit.  Das  arbitrium  diuinum  ist  also 
nie  auszulassen :  als  ein  äußerer  Verbindlicher  Grund ;  incomplete  wird  20 
also  unsere  moralische  Vollkommenheit  wenn  sie  blos  aus  der  innern 
Moralität  entsteht,  und  ohne  arbitrium  Gottes  betrachtet  wird.  — 
meine  Handlung  ist  aber  doch  schon  moralisch  ohne  arbitrium  Gottes 
nur  nicht  so  complete  moralisch  gut,  als  wenn  sie  allen  Gründen 
gemäß  ist :  —  die  aufs  arbitrium  Dei  blos  attendiren  —  betrachten  25 
blos  Schuldigkeit  ius  naturae  diuinum :  man  muß  auf  die  innere  Mora- 
lität attendiren  —  betrachten  auch  Verbindlichkeit.  ethica  ratio- 
nalis :  jenes  ist  ohne  diese  nicht  und  noch  weit  weniger  die  allgemeine 
Moralität.  —  tugendhaft  schon  aus  der  Natur  der  Sache,  fromm  blos 
aus  dem  arbitrio  diuino  —  —  jene  lasterhaft:  diese  gottlos  —  jene  so 
Moralische  Fehler  —  diese  Sünden  —  jene  untersucht  der  Moral- 
Lehrer;  diese  der  Prediger:  jener  wil  moralisch  gute  leute  haben; 
dieser  complete  moralisch  gute  —  bei  der  Erziehung  erst  das  Morali- 
sche Gefühl  erwecken:  denn  auf  Gottes  arbitrium  appliciren:  sonst 
ist  Religion  ein  Vorurtheil,  heucheley  —  wer  hat  einen  begrif  von  35 
der  äußern  Verbindlichkeit,  ohne  innere:  —  sonst  sind  die  be weg- 
gründe Auflagen,  die  gar  nicht  Moralisch  ihn  machen,  sondern  blos 
8  Politisch  schlau ;  —  wenn  eine  unmittelbare  göttliche  Eingebung  /  und 
Einwirkung  dazu  kommt,  so  ist  (blos  in  dem  Fall)  das  arbitrium  Dei 


Praktische  Philosophie  Herder  11 

hinlänglich.  Die  Cultur  des  Moralischen  Gefühls  gehe  also  vor  der 

Cultiir  des  Gehorsams. 

Kann  ein  Atheist  in  Gesellschaft  geduldet  werden :  Atheist  in  sensu 
privationis  unwißend  in  der  Erkenntnis  Gottes,  der  nie  dran  denkt 

5  Atheist  in  sensu  contradictorie  irrend  in  der  Erkenntnis  Gottes,  der 
er  sich  wohl  bewust:  —  Jene  sind  zu  dulden,  weil  die  Verbindlichlieit 
bleibt,  den  neuen  Beweggrund  ausgenommen,  der  vom  arbitrio  Gottes 
hergenommen  ist.  und  die  Sittlichlveit  bleibt.  So  viele  Nationen,  die 
eine  Art  von  gesitteten  Völkern  machen  —  z.  E.  hotte ntotten,  jezo 

10  von  den  holländern  daß  Gott  großer  Kapitain  genennt  ist  —  indessen 
haben  sie  moralisches  Gefühl :  ihr  hottentotten  Liedchen  vom  undank- 
baren Holland  bezeigt  dies.  Atheist,  der  da  leugnet,  aus  einem 
Muthwillen,  und  Nichtachtung  der  bessern  Ueberzeugung.  der  da 
leugnet,  nicht  aus  einem  Muthwillen,  sondern  weil  er  einer  bessern 

15  Ueberzeugung  sich  unfähig  glaubt :  jener  hat  einen  Moralischen  Grund 
der  Atheisterei  und  ist  sehr  gefährlich  vor  Gesellschaft.  Dieser  hat 
einen  logischen  Grund  der  Atheisterei  und  ist  nicht  so  gefährlich  vor 
Gesellschaft.  —  Sollte  jener  die  Meinung  vom  Göttlichen  auch  nur 
als  ein  Vorurtheil  der  Erziehung  angenommen  haben:  so  ists  doch 

20  schon  ehrwürdig,  und  der  Ueberlegung  würdig.  Da  er  nun  dieses 
starke  und  wichtige  Gefühl  hat  überwinden  können:  so  praesumirt 
man  doch  eine  große  Moralische  Bosheit  in  den  Grundsätzen  —  die 
meisten  muthwilligen  Atheisten  sind  in  Rom,  Paris  etc.  wo  die 
gröste  Heuchlerei  ist  —  auch  ihnen  eingeprägt  —  aber  wegen  einiger 

25  Irrtümer  insgesamt  verworfen  —  wegen  Kleinigkeiten  ein  so  ehrwür- 
diges Gefühl,  auch  als  Wahn  ehrwürdig,  verspottet  wurde:  welche 
Bosheit,  und  waz  wird  der  in  der  Verbindlichkeit  gegen  andere  min- 
dere seyn.  —  Die  Atheisterei  geschähe  erst  mit  Herzens wiederspruch 

—  ohne  Scheinbeweis,  blos  aus  Nachahmung  gleich  wird  er  aber  unter- 
30  druckt,  und  die  wirkliche  Fertigkeit  erworben  Atheist  zu  seyn  da 

man  glaubt,  andre  könten  es  beweisen,  oder  seyn  wenn  sie  mehr  nach- 
denken :  Atheisten  durch  Schlüsse  sind  blos  wegen  der  Folgen  gefähr- 
lich, weil  andre  aus  Nachahmungssucht  ihrem  beispiel  folgen  könten. 
Wegen  ihrer  sorgfältigen  Untersuchung  praesumirt  man  gute  Morali- 
35  tat.  Daher  nicht  zu  bestrafen,  sondern  zu  überzeugen,  oder  ihr  bei- 
spiel zu  removiren.  z.  E.  Spinoza  :  ist  nicht  zu  verwünschen,  son- 
dern zu  beklagen.  Er  war  ehrlich  sehr  großen  Grad  Moralität  aber 
sehr  spekulativ  und  dachte  bei  der  neuen  Kartesianischen  Philosophie 

—  vielleicht  lauter  neues  zu  erfinden,  und  wie  Cartesius  alles  zer- 


12  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

störte,  so  er  auch  den  begriff  der  Gottheit  und  dachte  er  hätte  ihn 
demonstrirt. 


/  Einleitung  in  die  Praktische  Philosophie 
I      Grund  in  der  Psychologie  :  3  Hauptbegriffe  in  der  Seele 

1)  Erkenntnis.  Phaenomena  vor  wahr  oder  falsch  halten:  so  die  5 
theoretische  Philosophie 

2)  Gefühl :  sezt  Erkenntnis  voraus  Phaenomena  lust  und  Unlust: 
ist  meistens  neu.  von  Erkenntnis  unterschieden:  es  drukt  die  bezie- 
hung  eines  Gegenstandes  auf  unsere  Gesamte  Kräfte  aus.  daher  Er- 
kenntnis ohne  Gefühl  Spekulation.  lo 

1)  bei  einer  Art  des  Erkenntnisses  verschiedene  Gefühle. 

2)  der  Größe  des  Erkenntnisses  nicht  proportional :  daher  kann 
man  zwar  Erkenntnis  aber  nicht  Gefühl  hervor  bringen. 

3)  Begierde  sezt  beides  voraus  a)  Vorstellung  b)  beziehung  auf  lust 
und  Unlust:  das  besondere:   1)  die  Praevision  einer  Möglichlieit  i5 
durch  meine  Kraft. 

Was  beziehung  auf  Erkenntnisvermögen  hat  ist  theoretisch  : 
und  ist  dies  ohne  auf  einige  Gefühle:  Spekulation. 

Was   beziehung   aufs   Gefühl   hat   ist   allgemein   praktisch : 
denn  die  Summe  der  gröstmöglichen  Lust  ist  der  Grund  aller  Begier-  20 
den 

Was  beziehung  auf  thätige  Begierde  hat  ist  eigentlich  prak- 
tisch :  denn  es  erregt  thätige  Handlungen.  Daher 

Philosophia  practica:  Die  Philosophie  der  Gründe  des  begeh- 
rens  oder  Verabscheuens.  Diese  sind  aut  25 

1)  subjective  spectata  wie  man  sie  erkennt  und  wirklich  darnach 
handelt :  Daher  Subjektive  praktische  Unmöglichkeit 

2)  objective  spectata  wie  man  sie  nach  beschaffenheit  der  Sache 
erkennen  sollte.  Daher  Objektive  praktische  Unmöglichkeit  d.  i. 
Verbindlichkeit  so 
Also  auch  die  1)  subjective  (moralische Physiologie)  die  wirk- 
Philosophia  liehe  Phaenomena  erklärt:  ist  unbearbeitet: 
practica                            s.  Hutcheson  und  die  Maler  der  Sitten 

sind  beide  zu  2)  objective   die  die   Verbindlichkeit  bestirnt: 

verbinden  diese  ohne  jene  unvollkommen :  sezt  jene  voraus  35 

wie  die  allgemeine  Physiologie  die  Erfahrung. 


Praktische  Philosophie  Herder  13 

/§.  1.  Die  Ethik,  die  Wißenschaft  der  innerlichen  Pflich-i(i 
ten,  ist  der  allgemeinen  Praktischen  Philosophie  unter-,  dem  Recht, 
der  Wissenschaft  der  äußerlichen  Pfhchten  nebengeordnet 

Das  Jus  naturae  und  Ethica  sind  also  ganz  verschieden,  da  jenes 
5  Schuldigkeiten,  diese  andere  VerbindHchkeiten  fodert 

Der  Zustand  der  Beobachtung  ist  bei  jeder  die  Gesellschaft;  bei 
unserer  im  Naturzustande,  in  so  fern  ihm  die  Menschheit  nicht 
die  Verbindung  mit  andern,  noch  weniger  die  Politik  und  Oekonomi- 
schen  Gesezze  auflegt. 
10  Die  Moralische  Vollkommenheit  ist  als  Zweck,  und  nicht  als  Mittel 
Moralisch:  eben  dadurch  rührt  sie  uns  und  vergnügt  uns,  nicht  durch 
die  Beziehung  auf  die  Wirkung,  sondern  unmittelbar  an  sich:  — 
Durch  die  Qualität  der  Wirkung  wird  auch  nicht  die  Handlung  ge- 
meßen:  sondern  aus  Absicht:  z.  E.  der  Tod  eines  Menschen  ist  als 
15  Wirkung  sehr  gering  in  Absicht  auf  die  Zufälligkeit  und  das  Ganze : 
die  Tödtung  eines  Menschen  ist  an  sich  aber  sehr  wichtig  und  wird 
geahndet : 

Da  der  Unterschied  zwischen  Schuldigkeit  und  Verbindhchkeit 
sehr  fein  ist,  so  ist  deutlicher : 
20  Die  Ethik:  die  Wißenschaft  der  Handlungen,  die  vor  keinem 
andern,  als  dem  innerlichen  foro  valide  zuzurechnen  sind:  —  z.  E. 
Auch  die  Fälle,  die  theilweise  vors  forum  externum  (Jus)  gehören: 
fallen  in  so  fern  sie  vors  forum  internum  gehören,  in  die  Ethik.  Die 
Grundsätze  alles  fori  externi:  kommen  vor  in  dem  Naturrecht.  Die 
25  Grundsätze  alles  fori  interni :  kommen  vor  in  der  Ethik 

Ethica  est  scientia  imputabilitatis  actionum  liberarum  coram  foro 
interno :  —  Wir  werden  also  auch  nicht  einen  Blik  einmal  auf  ein  mög- 
liches forum  externum  werfen  dörfen :  — 

Ethik  durch  eine  Tugendlehre  erklärt,  ist  so  fern  gut,  in  sofern 
30  Tugend  blos  vor  den  Innern  Richterstuhl  gehört ;  da  aber  die  Tugend 
nicht  blos  moralisch  gute  Handlungen  anzeigt:  sondern  zugleich 
eine  große  Möglichkeit  des  Gegenteils,  und  also  einen  Innern  Kampf 
einschheßt,  so  ist  dies  ein  zu  enger  begriff,  da  wir  Ethik,  nicht  aber 
Tugend  (eigentlich)  auch  Engeln  und  Gott  zuschreiben  können: 
35  da  bei  diesen  wohl  heiligkeit  nicht  aber  Tugend  ist :  — 

§.  2.  Die  Philosophische  Ethik  ist  die,  in  so  fern  sie  Philoso- 
phisch erkannt  wird;  also  nicht  aus  den  Zeugnißen  der  andern  z.  E. 
Weisen;  sondern  aus  den  Gründen  der  Sache  selbst. 


14  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

§  3.  Nutzen  :  und  Vollkommenheit  sind  an  sich  deutlich. 

§.4.  Sie  ist  laxa,  und  rigida; wenn  sie  pauca  oder  multa  motiva 

ad  pauca  oder  multa  moleste  apparentia  enthält:  z.  E.  wenn  sie  den 
Menschen  blos  zu  Gefälligkeit  Nüchternheit  Mäßigkeit  antreibt,  ist 
zu  schlaff:  wenn  sie  den  Menschen  auch  zur  Aufopferung  seiner  selbst,  5 
zum  größern  besten  antreibt,  ist  ernsthaft,  weil  jene  die  Menschen 
verzärtelt,  leichte  Pflichten  vorgebe,  diese  die  gaukelnden  Freuden 
der  untern  Begehrungskräfte  unterdrückt.  Je  größer  die  Moralische 
Vollkommenheit  der  handlung  seyn  soll,  desto  größer  muß  die  hinder- 
niß  seyn  und  der  Kampf,  daher  auch  die  strenge  Ethik  alsdenn  10 
nöthiger;  und  jene  macht  nie  die  wahre  Tugend  aus,  obwohl  oft  auch 
Moralische  Güte,  aber  dieser  ihre  Zufriedenheit  ist  ernsthaft:  —  eine 
edle  Moralität; 

§.  5.  Des  Autors  Ethik  blandiens  ist,  da  er  stets  den  weiten  Begrif 
der  Verbindlichkeit  falsch  voraus  sezt,  dem  er  blos  Beweggründe  des  15 
Nutzens,  zuschreibt,  im  uneigentlichen  Verstand  Ethik:  da  der  nur 
eine  sittlich  gute  handlung  ausübt,  der  sie  aus  Grundsätzen  thut 
nicht  als  Mittel,  sondern  als  Zweck :  —  durch  sensitive  iucunda  kann 
ich  wohl  bewegen,  als  durch  Praktische  Mittel,  aber  nicht  obligiren, 
als  durch  moralische  Beweggründe :  Eben  so  durch  sensitive  molesta :  20 
und  soll  es  also  Philosophia  ethica  seyn,  so  muß  es  sittlich  seyn, 
n  und  die  Ethischen  Beweggründe  sollen  /  stets  moralisch  nicht  blos 
praktisch  als  Physische  Mittel  seyn  und  wenn  diese  mittelbar  Be- 
weggründe werden  können,  aber  eigentlich  ein  Theil  der  PoUtik  seyn 
würde,  die  noch  geschrieben  werden  sollte:  Alle  diese  subjektive 25 
Beweggründe  sind  sehr  gut,  und  oft  Vorbereitungen  der  Ethik,  daher 
werden  sie  auch  von  uns  dazu  gethan  werden;  aber  stets  von  den 
Ethischen  unterschieden  werden  müßen.  —  da  diese  blos  von  der 
edlen  tugendhaften  freien  Willkühr  hergenommen  seyn  müßen :  —  Die 
schöne  Sittlichkeit  wird  die  verzärtelnde ;  die  erhabne  die  ernsthafte  30 
strenge  Ethik  ausmachen :  So  sind  die  Allmosen  eines  Reichen  als  eine 
Folge  der  Gütigkeit:  —  sittlich  schön,  als  eine  Folge  der  Grundsäze, 
der  Schuldigkeit :  erhaben 

Ein  jeder  Mensch  bedarf  freilich  partim  sensitive  iucunda :  partim 
molesta  auch  zu  Moralischen  handlungen:  weil  unsere  Moralischen  35 
Gefühle  so  vergraben  unter  das  Sinnliche  sind,  und  die  sinnlichen 
be weggründe  es  der  Seele  also  leichter  machen,  sich  aus  Grundsäzzen 
nachher  zu  entschhessen :  Wir  werden  durch  jene,  die  das  Sinnliche 


Praktische  Philosophie  Herder  15 

überwiegen,  gleichsam  dem  Gebiet  der  Moralität  näher  geführt:  — 
Dies  erstreckt  sich  nicht  blos  auf  die  lehrart  der  Ethik,  sondern  auch 
der  Erziehung,  und  der  Rehgion. 

§.  7.  Ethica  deceptrix,  hat  entweder  obHgationes  —  positive  erro- 

sneae  zu  demeritis  oder  negative  erroneae  —  die  secundum  quid  im- 
possibile  sind 

Wir  wißen  nicht,  wie  weit  sich  die  Stuffen  unserer  Morahtät  erheben 
könnten:  z.  E.  Pedaret  Tugend  aus  Grundsätzen  zeigt,  daß  die  Eitel- 
keit der  Ehre  meistens  blos  secundum  quid  nothwendig  sey :  und  also 

10  ist  meistens  solche  Moralität  nicht  nothwendig,  sondern  secundum 
quid  unmöglich.  Wir  müßen  also  unser  Moralisches  Gefühl  so  hoch 
als  möglich  steigern,  und  nachher  erst  die  bedingte  Unmöglichkeit 
erwägen : 

Die  Ethica  deceptrix  kann  1)  zu  demeritis  verbinden  wollen 

15  2)  Der  Moralite  und  unsern  Kräften  un- 

proportionirt  seyn.  Die  Unerschrockenheit  des  Stoikers,  seine  Morali- 
sche Vollkommenheit  ist  den  Kjäften  des  Menschen  unangemeßen. 
Eben  so  treiben  Moralisten  z.  E.  Hutcheson  die  Handlungen  aus  Un- 
eigennützigkeit  zu  weit :  da  er  blos  von  Liebe  und  Wohlwollen  gegen 

20  andre  redet  da  doch  Thaten  unmittelbar  auf  uns,  ohne  auf  den  Nut- 
zen, als  Mittel  gerichtet  zu  seyn,  sondern  aus  unmittelbarer  Güte :  mo- 
ralisch gut  seyn  können:  unsere  Menschliche  Würde  und  Größe 
soll  Triebfeder  seyn  —  nicht  der  sensitive  Stachel  der  Gewogenheit, 
der  sympathetischen  Theilnehmung :  dieses  machte  schöne  Moralität, 

25  jenes  aber  wahre  ernsthafte  Moral  —  Schuldigkeit  nicht  Gnade ;  diese 
ist  den  Menschen  sehr  eingepflanzt ;  da  sie  doch  nichts  weniger  als  das 
ist  Es  war  nicht  eine  gute  Handlung,  die  gleichsam  überf  lüßig  gethan 
wTirde,  sondern  die  kaum  Schuldigkeit  erfüllte:  —  Und  die  ganze 
Summe  unserer  Morahtät  ist  nichts  über  die  Schuldigkeit  überfließen- 

30  des :  sondern  auch  schon  vor  dem  foro  interno  uns  zu  unnutzen  Knech- 
ten macht  etc.  etc. 

§.  8.  Die  Christliche  Ethik  soll  die  der  Philosophischen  vorausge- 
schickt werden  oder  vice  versa  ?  Eine  muß  freilich  aus  der  andern  er- 
läutert werden,  wie  die  Theoretische  aus  der  Experimentellen  Physik : 
35  aber  die  natürliche  muß  billig  vorausgeschickt  werden,  weil  jene  sich 
1)  auf  diese  bezieht  2)  weil  diese  mit  einen  Grund  von  der  Wahrheit 
jener  enthält  3)  weil  diese  uns  manche  Verbindlichkeiten  zeigt,  die 
secundum  quid  unmöglich  sind,  und  also  zur  Christlichen  führet,  die 


16  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

1% den  Wiederspruch  /  im  Menschen  hebet,  da  er  sich  etwaz  zurechnet, 
was  er  doch  nicht  unterlaßen  kann:  die  die  Collision  der  Ohnmacht 
mit  der  Moralischen  Vorschrift  hebt,  und  jene  heilt :  —  4)  die  geoffen- 
barte Ethik,  soll  sie  praktisch  seyn  so  muß  sie  sich  auf  die  Trieb- 
federn der  natürlichen  gründen:  Sie  sezt,  so  wie  jede  Offenbarung 5 
natürliche  Kräfte  voraus:  z.  E.  Seelen  Fähigkeiten,  die  dazu  geschickt 
sind :  sonst  würde  sie  höchstens  ein  wunderthätig  veränderndes  Buch 
seyn:  nun  aber  ist  sie  ein  verbindendes  Buch,  das  Instrumente  und 
Receptivität  vor  die  geoffenbarte  Religion  voraussezt :  — 

§.  10.  perfice  te  vt  finem,  —  vt  medium:  —  sind  die  Beiden  haupt-  lo 
regeln  des  Autors 

Unter  dieser  Vollkommenheit  wird  entweder  die  Moralische  ver- 
standen, und  alsdenn  wird  sie  schon  voraus  gesezt,  und  ist  also  diese 
Regel  nicht  eine  Grundregel,  da  sie  einen  Grund  voraussezt:  —  Und 
wird  unter  dieser  Vollkommenheit  unbestimmt  welche  verstanden,  i5 
z.  E.  Gesundheit  etc.  so  ists  wieder  nicht  eine  Grundregel  wegen  ihres 
Unbestandes :  —  Soll  ich  die  Vollkommenheit  als  Regel  suchen :  so  ist 
dies  eben  so  viel  als:  begehre  alle  Vollkommenheiten,  ein 
zwar  subjektive  ganz  gewißer  Saz,  nach  dem  wir  stets  handeln;  aber 
objektive  ein  leerer  Sazz :  da  er  völlig  identisch  ist :  —  Die  einzige  20 
Moralische  Regel  ist  also  die:  handle  nach  deinem  moralischen 
Gefühl !  —  Dies  Gefühl  ist  in  der  Philosophia  practica  prima  blos 
verneinend  bestimmt,  daß  es  nicht  das  physische  ist,  als  Mittel  zum 
Zweck;  blos  also  als  Verhältniß.  Diesen  Unterschied  verfehlt  Baum- 
g arten  im  ganzen  Buch  welches  sonst  das  Sachreichste,  und  viel-  25 
leicht  sein  bestes  Buch  ist;  =  aber  alles  waz  er  sagt,  kann  große 
Praktische,  aber  nicht  sittliche  Vollkommenheit  machen.  Diese  unter- 
läßt er  zu  bestimmen,  nach  dem  Geschmack  der  Philosophie  des  Wolfs, 
die  stets  die  Vollkommenheit  auf  den  Respekt  zwischen  Ursache  und 
Folge  bauete,  und  also  blos  als  Mittel  zu  Zwecken  in  lust  und  Unlust :  3o 
—  Beides  ist  bei  uns  stets  verbunden,  das  Moralische  und  Physische 
Gefühl!  Da  Gott  meistens  aus  Güte  dieselbe  Regeln  der  Praktischen 
und  Moralischen  Vollkommenheiten  bestimmt  hat  —  Man  zeige  also 
so  wohl  den  Unterschied,  als  auch  den  Consensus  zwischen  beiden! 
35 

Sectio  I.  Der  Begriff  der  Religion  wird  in  der  Metaphysik  vor- 
ausgesezt :  als  illustratio  gloriae  Diuinae  ist  sie  die  Verbindung  der  Er- 
kenntnis  von   Gottes   Eigenschaften   als   Beweggrund   mit   unseren 


Praktische  Philosophie  Herder  17 

handlungen:  —  Das  Wort  Verherrlichung  ist  blos  ein  Wort  der  ge- 
offenbarten Religion  und  also  nicht  vorauszusetzen 

Religio  est  cognitio  practica  relationis  moralis  entis  creati  ad 
voluntatem  Dei 

5  entis  creati:  da  es  aber  in  einer  Moralischen  Verhältniß  stehen 
soll,  muß  es  ens  intelligens  seyn. 

cognitio  practica:  cognitio  theoretica  gehörte  blos  zur  Theo- 
logie: und  alle  Menschen  haben  alsdenn  Theologie,  cognitio  practica 
(subjectiva)  etwaz  von  der  Theologischen  Erkenntnis;  waz  auf  unse- 

10  ren  Willen  sich  bezieht  so  fern  sie  nur  irgend  einen  Einfluß  auf  den 
Willen  hat  sollte  es  auch  blos  Wunsch  seyn  nicht  Ausübung  alsdenn 
ist  sie  schon  ReHgion,  aber  so  fern  ist  sie  todt;  ist  sie  aber  Grund  der 
Handlung  so  ist  sie  eine  lebendige  Religion.  —  Völlig  ohne 
Religion   sollte    wohl    kaum    ein    Mensch    seyn   der   die    Theologie 

15  (bricht  ahy 

relationes  morales  nostri  arbitrii  ad  voluntatem  Dei:  ratione 
factorum  1)  erga  Deum 

2)  propter  Deum.  Diese  lezte  können  auf  die  ersten  zurück- 
gebracht werden,  da  sie  alsdenn  blos  Mittel  zum  Zweck,  und  zwar 

wogegen  Gott  sind.  Alle  Religions  Handlungen  sind  also  gegen  Gott: 
entweder  unmittelbar  oder  mittelbar  gut. 

Alle  Morahsch  gute  Handlungen  sind  also  in  ihrer  Höchsten  Stuffe : 
Rehgionshandlungen ;  dies  ist  aber  nicht  die  erste  Stuffe  von  der  man 
anfängt:  sondern  die  Moralische  Schönheit  (schwache  Moralität)  der 

25  Morahsche  Adel  der  Handlungen  /  wegen  des  Rechts  werden  voraus-  is 
gesezt  und  haben  diese  neue  höhere  Moralität  erst  nach  sich.  Sie  ent- 
hält eine  Verhältniß  mit  der  grösten  obersten  Regel,  die  der  Grund 
von  allem  ist,  und  also  die  gröste  harmonie  ausmacht.  —  Indessen 
muß  ich  meine  handlungen  erst  von  dem  göttlichen  Willen  abstra- 

30  hiren,  um  auch  die  Güte  des  göttlichen  Willens  einzusehen :  —  habe 
ich  ihn  aber  reichlich,  genau  und  lebhaft  gnug  erkannt:  so  wird  dies 
der  gröste  Grund  1)  weil  die  Erkenntnis  alsdenn  edel  ist  2)  weil  es 

die  höchste  lebhaftigkeit  gibt hat  aber  meine  Erkenntnis  Gottes 

noch  nicht  Leben  gnug :  so  muß  ich  mich  um  andre  bekümmern :  sonst 

35  würde  alle  diese  Erkenntnis  Gottes  blos  todt  bleiben,  und  seines 
Zwecks  verfehlen.  —  Fangt  also  mit  der  Moralischen  Schönheit  an; 
mit  der  Moralischen  Schuldigkeit,  diese  sind  Gründe  der  Moralität  — 
die  sinnlich  und  lebhaft  sind :  —  alsdenn  schwingt  euch  auf  den  hoch- 

2     Kant's  Schriften  XXVII/1 


18  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

sten  Grad,  den  zeigt  ihm,  als  das  höchste  Instrument  Gottes:  —  fangt 
man  von  diesem  an :  so  entspringt  eine  heuchlerische  Religion  daraus 
und  unseres  Autors  Methode  ist  also  unrichtig,  da  sie  von  der  Religion 
anfängt,  da  sie  von  der  Moralität  anfangen  sollte,  die  immer  mehr 
geläutert  würde 5 

Die  Verbindlichkeit  gegen  Gott  (Religion)  ist  nicht  blos  eine 
Praktische  Noth wendigkeit  sich  Gottes  zu  bedienen,  als  eines  Mittels 
zu  gewissen  Zwecken:  —  der  Autor  aber  sieht  das  Mittelbare  gegen 
Gott  vor  das  unmittelbare  Gute  an:  —  Da  doch  die  obligatio  blos 
moralisch  gute  Handlungen  erklären  sollte,  unmittelbar  gegen  Gott,  10 
als  Zweck :  Befolge  ich  den  Willen  Gottes,  weil  er  mein  Bestes  mit  dem 
besten  der  andern  verknüpft  hat  so  ist  dies  Gott  geborgt :  —  und  das 
ist  blos  Praktisches  Verhältnis  eines  Eigennüzzigen  —  Der  höchste 
Grad  der  Verbindung  mit  Gott  als  einem  Mittel,  ist :  werm  wir  uns  des 
göttlichen  Willens  als  ein  Mittel  zu  Verbeßerung  unserer  eigenen  15 
Moralite  bedienen  z.  E.  Julie  sagt:  unsere  gute  handlungen  sind 
durch  Zeugen  bemerkt:  —  sie  braucht  Gottes  Willen,  ihre  Moralität 
zu  verbessern;  aber  blos  als  Mittel  zur  Glücksehgkeit  gebraucht,  ist 
unedel :  und  keine  Religion : 

§.  13.  Das  Wort  Glückseligkeit  wenn  es  nicht  ein  Vergnügen  über  20 
das  Moralische  sondern  Unmoralische  Gute  ist,  ist  nicht  Moralisch: 
—  sondern  blos  Glück :  die  höchste  Lust  aber  über  seine  eigne  Morali- 
tät ist  Seligkeit :  —  und  das  Moralische  Gefühl  Übertrift  jenes  so  sehr, 
als  auch  das  Andenken  dran  ergötzet:  z.  E.  van  Effens  Erzählung 
von  jenem  lüderlichen  Menschen,  der  eine  Person,  die  er  vor  Geld  25 
unglücklich  gemacht  hätte,  so  glücklich  machte:  —  Xerxes  hohe 
Prämie  erreicht  nicht  das  Vergnügen,  waz  aus  dem  Bewustseyn  der 
Moralischen  Güte  entspringt :  —  und  ein  hoher  Grad  dieses  Bewustseyns 
ist  Sehgkeit:  und  wenn  diese  der  Beweggrund  der  Religion  ist,  so  ist 

sie  die  einzig  mögliche : Alles  Glück  macht  auch  bei  dem  Moralisch-  so 

bösen  eine  ansehnliche  Summe  von  Vergnügen,  die  wirkliche  Ver- 
gnügen sind  und  zu  beneiden  wären,  wenn  nicht  der  ernsthafte 
tugendhafte  Sinn  eine  andre  Art  daurender  Lust  gäbe:  —  doch 
da  wir  sehr  moralisch  gut  seyn  müssen,  um  den  Werth  dessen  zu 
empfinden :  und  unser  Moralisches  Gefühl  hier  noch  sehr  schlecht  ist,  35 
und  mehr  im  Wünschen  besteht:  so  ist  unser  Begrif  von  Seligkeit 
hier  noch  gar  nicht  intuitiv:  sondern  blos  nach  einer  Analogie  einer 
sehr  kleinen  Seligkeit  bei  einer  Moralischen  Handlung.  —  Den  begrif 
einer  himmlischen  Wohlfahrt  bilden  wir  wohl  eher  durch  Vergröße- 


Praktische  Philosophie  Herder  19 

rung;  aber  Seligkeit  schwerer,  da  schon  Moralisches  Gefühl  d.  i.  selbst 
Seligkeit  dazu  erfodert  wird,  und  die  Abhängigkeit  von  denen  Dingen, 
die  uns  jetzo  unser  Glück  oft  und  sehr  befördert,  wird  durch  ihre  Ab- 
nahme einst  unsere  Seligkeit  ausmachen:  da  jetzt  unsere  Seligkeit 
5  mehr  Glück  und  w^eniger  Seligkeit  ist. 

§.  14 — 22.  Der  Mensch,  der  aus  Wohlfart  handelt,  ist  dadurch  fein 
eigennützig:  und  handelt  nicht  aus  Religion,  da  er  nicht  aus  Morali- 
tät  handelt,  und  die  einzigen  Be/weggründe  der  Religion  sind  von  i4 
der  Seligkeit:   zu  den  Pflichten,  als  Physischen  Gütern  zu  locken 

10  aus  Glückseligkeit  und  also  alle  Beweggründe  vom  Vergnügen  : 
aber  zur  Moralität  von  Seligkeit;  und  zur  Wohlfart  vom  Glück.  Jene 
ist  blos  Verbindend:  da  aber  Glück  und  Seligkeit  einen  Weg 
erfodert,  so  widerstreiten  sie  sich  zwar  im  Ganzen  nicht ;  müssen  doch 
aber  unterschieden  werden :  —  Auch  Eigennutz  bereitet  zur  Religion 

15  vor,  macht  sie  aber  nicht :  — 

§.  19.  Vielleicht  bestand  das  Ebenbild  Gottes  in  der  unmittelbar 
klaren  Empfindung  der  göttlichen  Gegenwart:  —  nicht  symbolisch; 
sondern  intuitiv;  nicht  durch  Schlüße  sondern  Empfindung;  und 
alsdenn  wie  lebhaft  auf  die  Moralität  und  den  Grund  der  Seligkeit :  — 

2oBey  uns  ist  vielleicht  noch  jezt  der  weitste  dunkelste  Begrif  davon 
im  Gewißen :  —  Verbessert  man  sein  Moralisches  Gefühl  unmittelbar, 
nähert  man  sich  der  göttlichen  Gegenwart  in  Empfindung:  so  ent- 
wickeln sie  vielleicht  wieder  das  Ebenbild,  obgleich  ihre  geistige  Reden 
fanatisch  klingen:   —  und  zum  höchsten  Grad  dieser  Empfindung 

25  steigert  uns  die  ReHgion. 

§.  21.  Dieß  ist  wahre  Moralite,  davon  ein  Theil  schon  vor  aller  Reli- 
gion voraus  geht,  ein  Theil  aber  durch  die  Religion  sehr  gesteigert  wird : 
und  da  die  Religion  die  ganze  Summa  der  Moralität  steigert,  so  ist 
dies  ein  wahrhaftig  verbindender  Beweggrund 

30  §.  22.  Religio  viua  est  pietas:  —  vom  Erkennen  zum  Wünschen 
noch  nicht  sondern  —  zum  Thun  ist  Frömmigkeit;  alle  Wünsche 
machen  zwar  praktische  Religion  nicht  aber  Frömmigkeit 

§.  28.  Auch  wenn  die  Religion  zwar  offenbart  ist,  aber  aus  natür- 
lichen Kräften  befolgt  wird,  so  ist  sie  noch  immer  natürliche  Religion, 

35 blos  auf  die  geoffenbarte  angewandt:  —  Eine  übernatürliche  ist 
die,  wo  das  praktische  unmittelbar  von  Gott  gewirkt  wird:  —  In  so 
fern  die  Erkenntnis  von  Gott  nicht  einen  Zusammenhang  mit  dem 
Praktischen  hat :  —  so  sind  sie  insofern  nicht  Religions  Erkenntnisse 


20  Vorlesungen  über  Moralphilosopliie 

—  sondern  blos  Theologische.  Also  kann  vieles  in  der  Theologie  nicht 
Religionswahrheiten  seyn:  ob  wohl  vielleicht  die  beste  angenehmste 
Theologie  seyn.  —  z.  E.  kann  Gott  waz  vernichten  ?  etc.  etc.  —  aber 
die  waz  will  Gott,  daß  ich  glücklich  werde,  ist  Religionsfrage:  — 
selbst  im  Vortrage  der  christlichen  Religion  sollte  man  einen  Auszug  5 
vor  gewiße  leute  mit  Sorgsamkeit  machen :  da  man  ihnen  nicht  Wahr- 
heiten vorträgt  die  bei  ihnen  (vielleicht  nicht  bei  andern)  Spekula- 
tionen bleiben  würden:  sondern  die  praktisch  werden:  sonst  ent- 
schuldigt hier  der  ehrwürdige  Gegenstand  nicht. 

§.  33.  Wenn  Irrthümer  zwar  die  Theologie  vielleicht;  aber  nicht  10 
Religion  angehen,  so  darf  man  sie  nicht  stets  so  sorgfältig  überwin- 
den, wenn  diese  Ueber Windung  größern  Schaden  anrieht 

34)  Eine  Unwißenheit  die  wenig  Schaden  bringt,  ist  eben  nicht 
Schande;  sie  ist  so  gar  nützlich  im  Praktischen,  so  kann  sie  zum 
lobe  dienen :  —  15 

35)  Die  Grob-  und  Feinheit  kann  immer  in  dem  2. fachen  Verstände 
seyn  in  der  Theorie  und  Praxis.  Sucht  bei  der  Erziehung  insonderheit 
die  Grobheit  im  Moralischen  zu  verhüten:  —  kann  es  seyn;  so  auch 
in  der  Theorie:  in  der  Moral  aber  muß  der  gemeine  Mann  mit  dem 
Theologen  gleich  große  Erkenntnis  haben :  —  bei  der  Erziehung  da  20 
beide  so  schwer  zu  verbinden  sind :  so  sucht  doch  lieber  die  Moralische 
als  die  logische  VoUkommenheit. 

Eine  Sophisterey  in  Ansehung  der  Theologie,  so  fern  sie  blos  aus 
Wiedersprechsucht  komme,  ist  so  böse,  wie  in  jeder  andern  Wißen- 
schaft:  —  in  der  Religion  ist  sie  Gottlos.  25 

15  /§.  38.  Deismus  (z.  E.  Robinet)  ist,  wenn  man  die  ganze  Theo- 
logie und  Religion  in  der  Erkenntnis  eines  Etwaz  sezze,  von  dem  ich 
weiter  nichts  wüste,  als  daß  es  sey :  das  übrige  sey  blos  Anthropomor- 
phismus.  Solches  Erkenntnis  von  einer  einzigen  Ursache  ist  völlig 
unbrauchbar,  nicht  blos  unpraktisch,  sondern  auch  unnütz,  weil  wir  30 
sie  stets  entbehren  können :  — 

Deist,  wird  uneigentlich  auch  von  den  Naturalisten  gebraucht,  da 
sie  blos  so  viel,  als  die  Vernunft  sagt  glauben:  noch  uneigentlicher 
(z.  E.  vom  Hume)  von  den  Quäckern,  die  blos  die  Offenbarung  vor 
ein  Erkenntnis  Mittel  Gottes  halten :  —  35 

Fatalist,  der  die  Wirkung  Gottes  nicht  aus  seiner  Freiheit  sondern 
Nothwendigkeit  herleitet 

Dippelianer  komt  blos  auf  den  Doppelsinn  im  Wort  beleidigen 


Praktische  Philosophie  Herder  21 

39.  Enthusiast,  und  Fanatiker  —  Viele  halten  oft  Phanta- 
stereien und  eigne  Urteile  vor  Empfindungen  einer  göttlichen  Ein- 
wirkung, und  heißen  alsdenn  Schwärmer,  Fantasten,  Phanaticer: 
z.  E.  Johann  von  Leiden,  der  auch  großmüthig  starb:  —  Quäcker: 
5  die  vielleicht  durch  ihr  Augenzusammendrücken  vielleicht  Gehirn- 
nerven anstrengen:  —  Enthusiast,  der  durch  eine  allgemeine 
Maxime  über  die  Vernunftschranken  wirksam  wird  z.  E.  Enthusiast 
ist  der  große  Patriot,  der  vor  das  gemeine  Wesen  —  und  waz  ist  dies  ? 

—  brennt:  —  ein  sehr  Verliebter  und  Geiziger  brennt  auch  wohl,  aber 
10  nicht  durch  eine  allgemeine  Maxime,  sondern  besondre  Empfindung 

und  heißt  also  nicht  Enthusiast :  —  so  erhöhen  Romane  die  Freund- 
schaft über  den  Grad  der  Vernunft :  —  so  gibts  auch  in  der  Religion 
solche,  die  aber  schwer  von  dem  ardentiori  habitu  religionis  zu  unter- 
scheiden sind,  weil  unsere  eigne  Kälte  hier  ein  schlechter  Maasstab  ist : 
15  und  so  eine  Enthusiasterey  ist  lange  nicht  so  tadelhaft,  als  die  ent- 
gegengesezte  Kälte,  da  sie  wenigstens  die  brennende  begierde  anzeigt : 

—  Indessen  hält  er,  da  er  es  blos  in  einigen  Stücken  ist,  von  andern 
nöthigern  Stücken  ab:  und  ist  denn  tadelhaft  z.  E.  die  Bilderstürme- 
rei :  —  Ein  Enthusiast  darf  also  nicht  unmittelbare  göttliche  Einwir- 

2okung  glauben;  Fanatiker  aber  wird  blos  daher  schwärmerisch: 
Der  Autor  verwechselt  beide,  und  hält  sie  blos  im  Grad  unterschie- 
den: —  —  z.  E.  ein  holländischer  General  Overkerker  war  überall 
Enthusiast,  bei  sonst  großen  Verstandesgaben:  aus  Enthusiasterey 
sprang  er  vor  liebe  in  einen  Graben:  da  seine  Geliebte  es  scherzhaft 

25 befahl:  —  Topal  Osman,  ein  heldenmäßiger  Baßa  in  Bagdad,  wird  in 
Maltha  gefangen:  —  fragt  einen  französischen  Kaufmann,  Arnold, 
ob  er  aus  kaltsinniger  Großmuth  ihn  loskaufen  und  frei  wollte  reisen 
laßen:  die  kühne  Bitte  bewegt  Arnold,  daß  er  ihn  —  ja  sein  Schiff 
so  gar  —  loskaufte;  Osman  kommt  glücklich  an;  wird  endlich  Groß- 

sovezier;  läßt  Arnold  nach  Konstantinopel  kommen,  der  10.  Sklaven 
loskauft,  und  ihm  zum  Geschenk  bringt;  —  konnte  das  ganze  leben 
durch  ihm  nicht  gnug  Freundschaft  beweisen;  —  Enthusiasterei  ist 
ein  Zeichen  der  großen  Seele:  Cromwell  sagt:  man  komt  nie  weiter, 
als  wenn  man  nicht  weiß,  wie  weit  man  gehen  soll:  —  Sie  zeigt  eine 

35 feine  Leidenschaft,  die  durch  Maximen  so  feurig  gemacht  werden 
kann:  und  diese  ist  mit  andern  großen  Trieben  gemeiniglich  ver- 
bunden: —  Daher  auch  Enthusiasten  der  Ehre  (ob  diese  gleich  viel- 
leicht die  gefährlichste  seyn  kann  so  wie  Alexanders  große  handlung, 
wenn  es   bloß   Muth  wäre  gegen  Philippo  den  Arzt,  gefährlich  ge- 


22  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

wesen)  gemeiniglich  große  Leute  sind:  und  Alexanders  Handlung 
ist  groß  weil  er  an  seiner  Treue  nicht  verzweifelte:  —  Bey  allen 
unsern  guten  handlungen  muß  Enthusiasmus  seyn  —  der  Kalte  wird 
vor  Fehltritten  und  großen  Dingen  die  Ueberwindung  kosten  gleich 
entfernt :  —  Der  Enthusiasmus  kann  in  Ansehung  einiger  Folgen  zu  5 
weit  gehen,  in  Ansehung  anderer  billig  lebhaft  seyn  — 
16      /  Die   Enthusiasten   verkühlen  sehr  bald  und  ihr  Schaden  ist 
also  zwar  schnell,  plötzlich  aber  nicht  daurend  und  daher  lange  nicht 
so  gefährlich:  als  kalte  falsche  Grundsätze,  z.  E.  Aberglauben:  —  bey 
freien  Nationen  sind  also  insonderheit  Enthusiasten  z.  E.  England,  lo 
Deutschland  —  (in  hoUand  selten,  da  das  hauptprincipium  waz  sie 
feßelt  der  kalte  Geiz  ist). 

Schwärmer  sind  Verrückte  am  Innern  Sinn:  die  Eingebungen 
sich  einbilden:  z.E.  Major  Davell  der  liebenswürdigste  Mann, 
bildete  sich  unmittelbar  Gottes  Stimme  ein ;  der  mit  seinem  Chor,  is 
wie  Josua  die  Religion  erheitern  wollte,  und  dem  Staat  zum  besten 
als  Schlachtopfer  aufgeopfert  wurde :  —  der  unschuldigste  Märtrer !  — 
Hier  hilft  keine  Vernunft  wider  sinnliche  Empfindungen ;  und  sie  sind 
also  Mitleidenswürdig ;  blos  dadurch  zu  beßern,  daß  man  sich  nicht 
lange  drüber  mit  ihnen  unterhält ;  gleichgültig  sich  bezeigt :  denn  20 
dadurch  verkühlt  er  selbst 

§.42.  Die  Religion  kann  die  gesundeste  Vernunft  machen:  da 
sie  die  Verstandes  Kräfte  auf  so  nüzliche  Dinge  richtet  als  nöthig  ist, 
dazu,  daß  die  Religion  in  mir  leben  kann:  und  sie  von  Spekulationen 
abzieht:  die  vielleicht  feine  aber  unnutze  Vernunft  machen  können.  25 

§.  43.  Da  wir  nie  eine  unmittelbare  sondern  blos  mittelbare  Emp- 
findung von  Gott  haben,  durch  Schlüße :  so  geht  dies  nach  der  Natür- 
lichen Religion  nicht  an,  aber  läßt  es  der  Geoffenbarten  Religion  als 
möglich  zurück,  daß  sie  so  ein  unmittelbares  Anschauen  von  Gott  in 
mir  macht,  als  ich  unmittelbar  von  den  Dingen  der  Welt  abhänge,  so 
und  ich  dies  nicht  als  ein  Philosophisches  Urteil  sondern  Empfin- 
dungsbegrif  einsehe,  hier  scheidet  sich  völlig  Natur  und  Offenbarung 
und  das  experiri  des  Autors  ist  in  der  Ethick  nicht  möglich :  — 

44.  Alle  Enthusiasterei  ist  schwer  zu  verhüten,  daß  man  nicht 
zugleich  in  die  entgegengesezte  Kälte  fiele :  —  Aber  in  Entscheidun-  35 
gen  der  Spekulation  muß  sie  vermieden  werden,  da  Leidenschaften 
nicht  Meinungen  wiederlegen  und  angehen  sondern  in  Absicht  des 
wahren  stets  bhnd  sind;  ob  sie  gleich  in  Absicht  des  Praktisch 
guten  nutzlich  seyn  kann:  — 


Praktische  Plülosophie  Herder  23 

45.  Wenn  Pietisten  bei  jedem  Gespräch  und  Discurse  die  Idee  der 
Religion  zur  herrschenden  machen  und  es  nach  ihrem  beständigen 
Betragen  zu  schließen  ist,  daß  diese  das  licht  der  Neuigkeit  ver- 
lohren  habe:  so  sind  es  nur  Schwätzer.  Wäre  aber  dieser  Seelen- 

5  zustand  in  dieser  Welt  unser  so  würde  es  der  allerseligste  seyn. 

46.  Sucht  insonderheit  die  Idee  Gottes  mit  eurer  Moralite  bestän- 
dig zu  verbinden:  Zuerst  mit  deinem  natürlichen  Moralischen 
Gefühl,  daß  dein  unmittelbares  Gefallen  am  Guten  in  dem  licht 
Gottes  Religion  werde:  —  Suche  auch  in  dem  Grunde  der  Seele  die 

10 Idee  von  Gott  herrschend  zu  machen  Dies  ist  schwer:  wenn  sie 
aber  in  klaren  Ideen  stets  prädominirt,  so  geht  sie  auch  in  die  dunk- 
len über 

47.  Das  Vernünf  tlen  ist  der  übertriebene  Gebrauch  der  Vernunft 
in  Sachen  wo  es  1)  unnöthig  ist,  den  Grund  davon  einzusehen:  — 

15  (weil  vielleicht  vor  andere  Wesen  aber  nicht  vor  uns  diese  Wahrheit 
mit  dem  moralischen  zusammenhängt)  2)  wo  es  uns  übersteigt  und 
also  unmöglich  ist:  —  Doch  nenne  man  nicht  einen  dummen  Beifall, 
eine  noble  Theologische  Einfalt:  da  ich  nie  auf  Vernunft- 
gründe denke,  sondern  blind  zutraue  und  irre:  —  Der  Gebrauch  der 

20  Vernunft  in  der  geoffenbarten  Religion  ist  vorzüglich :  das  Ganze  der 
Religion  zu  beweisen:  —  von  besondern  einzelnen  Dingen  über  die 
Möglichkeit  philosophiren  zu  wollen,  ist  unnöthig 

56.  Moralisch  heißt  eigentlich  waz  der  Regel  der  Sittlichkeit  ge- 
mäß, auf  die  lenkung  meines  Willens  einfließt:  und  also  heißt  das 

25  sehr  uneigentlich  und  also  gar  nicht  Philosophisch  —  Moralisch 
gewiß,  was  der  Mathematischen  Gewißheit  entgegengesetzt,  einen 
großen  Grad  der  Wahrscheinlichkeit  hat.  /  Indessen  ist  diese  Mora-  ir 
lische  Gewißheit  wo  sie  es  irgendwo  ist,  in  der  Religion  nothig : 

47)  Diese  Erfahrung  ist,  so  vortreflich  sie  ist,  vielleicht  gar  nicht 

30 durch  die  Natur,  sondern  blos  durch  die  Offenbarung  moghch. 

49.  Das  Pyrrhonistische :  non  liquet!  soll  als  ein  weiser  Orakel- 
spruch unser  leeres  Grübeln  einschränken,  uns  beschwerlich  machen 
und  vereckeln :  —  aber  ein  Skepticißmus  in  der  Religion  erschüttert 
ihre  Grund veste. 

35  63:  Bey  göttlichen  Erfahrungen  nimm  dich  vor  dem  vitio  sub- 
reptionis  in  Acht!  —  Dieser  ist  bey  einigen  Erfahrungen  gewöhnlich 
und  leichter  als  bei  andern :  —  bei  dem  hellen  Tage  sich  zu  irren,  ist 
fast  ungewöhnlich  —  aber  bei  innern  schwachen  Erfahrungen  ists 
leichter,  und  daher  entstehen  Fanatiker,  die  natürliche  Erfahrungen 


24  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

vor  übernatürliche  halten,  oder  sich  da  sie  welche  von  andern  lesen, 
so  gar  vor  eigne  einbilden  —  —  —  z.  E.  1723.  den  30.  März  stellte 
sich  Davell  in  Pais  de  Vaux  an  die  Spitze  seines  Chors,  um  die  Kirche 
Christi  in  Bern  zu  läutern:  —  und  in  seinem  Gefängnis  selbst  noch 
stets  sehr  vernünftig,  gab  aber  Eingebungen  vor  die  er  wahr-  5 
scheinlich  machte,  standhaft  glaubte,  auch  im  Tode  bekannte:  und 
als  Martrer  starb. 

Da  wir  nur  von  dem  natürlichen  Gebrauch  der  Kräfte  reden: 
so  ist  die  Entscheidung  sehr  schwer,  ob  manche  plötzlich  aufstehende 
Einwirkungen,  die  zur  besonderen  Moralite  dienten,  übernatürlich  lo 
sind:  —  Aber  nach  der  Regel  der  Philosophie  werde  ichs  stets  aus 
bekannten  Gesezzen  —  nach  der  Natur  Ordnung  erklären:  da  es 
eine  natürliche  Religion  seyn  soll:  —  ob  es  gleich  aus  besondern 
Gesezzen,  außer  der  Naturordnung  auch  möglich  ist:  —  Indessen 
wird  in  der  Natürlichen  Religion  auch  ein  Fanaticer  sehr  unge-  is 
wohnlich  seyn.  — 

64.)  So  wie  Mahomet  wahrscheinlich  im  Ganzen  ein  Fanatiker  und 
blos  in  einigen  Theilen  ein  Betrüger  gewesen:  weil  seine  Frau  auch 
nach  seinem  Tode  wirklich  so  strenge  lebte  etc.  so  gibts  auch  Legen- 
den die  bewundernswürdige  Geschichten  in  sich  enthalten,  die  20 
theils  fanatisch  theils  heilige  Betrügereien  sind:  z.  E.  der  heilige 
Gregorius  wurde  torquirt:  —  der  hoff  wurde  in  Schweine  verwan- 
delt: —  die  er  nach  Bekenntnis  der  Sünde  taufte,  und  sie  in  schönere 
Menschen  verwandelte :  — 

65.)  Die   Neigung  des  Menschen   zur  Ungebundenheit  und  Ab-  25 
neigung  von  der  Wahrheit  oder  Eitelkeit   —   oder  Mode   —   oder 
Flatterhaftigkeit  kann  Unglauben  machen,  daß  man  auch  wahren 
Religions  Zeugnissen  nicht  glaubt :  Mehreres  in  der  Logik !  — 

68.)  Verwirf  nicht  die  symbolische  Erkenntnis  von  Gott:  weil 
wir  uns  von  keiner  Sache,  die  nicht  in  die  Sinne  fällt,  einen  intui-  3o 
tiven  Begriff  machen  können,  außer  dem  Wege  der  Symbolen:  — 
Die  Quäcker  verwerfen  die  symbolische  Erkenntnis  Gottes,  und 
wollen  von  innen  intuitive  Erkenntnis  haben,  da  sie  doch  die  Rüh- 
rungen z.  E.  vom  Erhabnen  der  Versammlung  und  des  Feierlichen  — 
die  Convulsionen  des  Körpers  —  eine  gewaltsam  bestrebte  Anfeurung  35 
vor  Andacht  und  Intuition  halten.  — 

Die  Symbole  von  Gott  sind  nicht  stets  Worte,  sondern  auch 
ähnliche  Sachen  z.  E.  Er  wird  dem  Fürsten,  Vater  etc.  verglichen. 
Da  sie  aber  der  Grund  von  Intuition  ist,  und  praktisch  lebendig 


Praktische  Philosophie  Herder  25 

werden  kann:  so  muß  man  sie  nicht  vor  einen  todten  Buehstal)en 
halten : 

69.)  Der  Verstandes  Intuitus  ist  eigentheh  blos  uneigentHch:  — 
da  ein  intuitus  qua  talis  blos  durch  Sinne  ist:  —  Die  Erbauung, 

5  eine  Vermehrung  des  intuitus  Gottes,  ist,  ein  Wort  der  geoffenbarten 
Religion,  in  der  Natürlichen  Religion  deßwegen  fremde,  weil  ein  in- 
tuitus Gottes  die  natürliche  Moralität  blos  zur  Religion  und  zur  Er- 
bauung erhöhen  kann :  —  Je  mehr  man  aus  Mitteln  des  Intuitus  die 
natürliche  gute  Moralität  zur  Religion  erhöhe:  desto  mehr  erbauet 

10  man  sich:  —  und  ein  Intuitus  ohne  Folgen  ist  wenigstens  sehr  schwach 
gewesen. 

/70)  Man  sehe  die  theologische  theoretische  Wahrheit  nicht  stets  is 
vor  Spekulation  an,  weil  sie  mittelbar  erbauen  kann: 

72.)  Du  sollst  diesen  oder  jenen  lieben:   ist  apodictisch  gesagt 

15 nichts:  weü  es  eben  so  wenig  Pflicht  ist,  als  etwaz  vor  wahr  zu 
halten  :  da  sie  nicht  eine  willkühr liehe  Handlung  ist,  sondern 
eine  bloße  Erregung  des  Gefühls  ist:  so  heißt  das  Gebot  blos:  thue 
alles,  waz  ein  Mittel  dazu  seyn  kann:  —  Sonst  aber  kann,  wenn  ich 
gleich  die  Billigkeit  der  liebe  einsehe,  sie  nicht  stets  in  meiner  GeAvalt 

20  sejn,  und  oft  eben  so  wenig  wenn  ich  ihrer  entübrigt  sejoi  möchte :  — 
Wenn  ich  aber  in  dem  fehlerhaften  Zustande  der  Kaltsinnig- 
keit  mich  wahrnehme:  theils  gegen  Gott,  meine  Wohlthäter,  meinen 
Bruder,  der  mich  liebt:  so  suche  ich  die  Moralischen  Eigenschaften 
mir  einzudrucken,  die  zur  liebe  reizen:  z.  E.  bedenlve  insonderheit 

25  daß  dich  Gott  liebt  (blos  diese  Bemerkung  macht  schon  liebe)  daß 
Menschen  deine  liebe  mit  Rührung  annehmen  können:  so  liebe  sie 
als  Objekte,  einer  von  den  sanftesten  Trieben 

73)  Sezze   dich,   um   den   concursum   diuinum   zu   empfinden,    in 
mögliche   schlechtere  Umstände,  so  wirst  du  deinen  eignen  desto 

30  beßer  empfinden 

75.)  Wir  können  uns  so  fern  wir  alle  Handlungen  Gottes,  als  die 
besten  Mittel  —  zum  besten  Zweck  —  der  Glückseligkeit  betrachten : 
völlig  beruhigen:  —  Die  große  Veränderlichkeit  der  Dinge,  und  die 
Stürme  meiner  Leidenschaften  kan  der  Gedanice  am  besten  trösten: 
35  ich  bin  in  die  Welt  —  gesezt  —  von  der  grösten  Güte  gesezt:  — 
nicht  um  meiner  selbst  —  und  so  ungewiß  die  Ordnung  der  Natur  ist : 
so  ist  sie  doch  unter  dem  höchsten  Wesen:  —  und  auf  die  Art  kann 
also  blos  die   Religion    völlig   beruhigen:  da  auch  ein  natürlich 


26  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

guter  und  moralischer  Mensch  bei  dem  blinden   Schicksal  stets 
zittern  muß :  — 

77.)  Da  alle  Handlungen  Gottes  1)  nicht  eigennützig  seyn  können 
2)  zur  Glückseligkeit  abzwecken:  und  also  wirklich  Wohlthaten 
sind:  so  erregen  sie  eben  dadurch  Dankbarkeit  —  und  ein  jeder,  5 
der  zu  keiner  uneigennützigen  Wohlthätigkeit  empfindlich  ist,  wird 
auch  zum  Dank  unempfindlich  seyn  und  vice  versa  weil  wenn  er 
nicht  das  edle  des  Wohlthuns  fühlt,  bei  eignen  Handlungen,  wie 
wird  ers  bei  fremden  haben  ?  und  auch  für  Gottes  Wohlthaten  wird 
niemand  Dank  empfinden,  der  nicht  selbst  des  Wohlthuns  Schön-  lo 
heit  fühlt  z.  E.  das  vortref liehe  Gefühl  eines  Sommerabends  wird 
bei  Wohlthätigen  blos  wirksam  seyn :  — 

Die  Liebe  ist  zärtlich,  die  dem  Gegenstande  der  Liebe  zu  gefallen 
sucht:  —  eigentlich  ist  dies  die  bulerische  Liebe.  Eigentlich  ist 
amor  teuer,  quo  quis  amatum  laedere,  admodum  reformidat:  das  is 
Bulerische  sezt  nicht  Hochachtung  voraus  wohl  aber  das  zärt- 
liche :  waz  nicht  blos  den  Andern  sich  zum  Gegenstande  der  Lust 
machen  will:  —  so  wie  jenes:  sondern  etwaz  Edles  der  Denl<:ungsart 
voraussezt:  —  der  Mangel  der  Liebe  beleidigt  nicht  an  sich:  da  er 
blos  etwaz  schönes  aufhebt:  —  wer  die  Zärtlichkeit  aber  als  ein  20 
Recht  ansieht,  waz  er  schuldig  ist,  und  also  aufzuheben  fürchtet, 
beleidigt.  —  Das  Bulerische  ist  auch  bei  läppischen  Personen  und 
oft  sehr  gefällig:  aber  mit  einem  Mangel  der  Hochachtung:  —  der 
zärtliche  Liebhaber  zeigt  Respekt,  und  will  seine  eigne  Hochach- 
tung erhalten,  ist  also  nicht  so  lachend,  nicht  blos  gefällig:  —  25 

Das  bulerische,  ja  selbst  das  Zärtliche  muß  bei  der  Liebe  gegen 
Gott  wegfallen:  da  beide  sehr  anthropomorphisch  sind,  und  immer 
eine  geheime  Gnade,  und  Gunst  voraussetzen:  Sie  sind  aber  blos 
die  gröste  Schuldigkeit  und  also  der  gröste  Grad  der  Zärtlichen  liebe, 
doch  ohne  Namen  des  Zärtlichen  —  Die  Resignation  des  göttlichen  30 
Willens  ist  so  nöthig,  da  wir  Gott  die  beste  Weisheit  und  Güte  zu- 
trauen müssen :  so  sagte  Sokrates  zum  betenden  Alcibiades :  Schlage 
die  Augen  nieder  und  sprich:  gib  mir  o  Gott,  waz  das  beste  ist,  ich 
mag  bitten  oder  nicht :  — 

Die  Liebe  zur  Creatur  ist  immer  gut,  insofern  man  sie  als  Creatur  35 
betrachtet:    —   und  die  abgöttische   Creaturliebe  ist  blos  der  aus- 
schweifende Grad 
1»      /Wenn  man  in  das  innerste  seiner  Seele  aufrichtig  geht:  so  wird 
man  vielleicht  nicht  Liebe  finden,  sondern  Hochachtung,  Ehrfurcht, 


Praktische  Philosophie  Herder  27 

die  von  der  Größe  entspringt,  und  mehr  Furcht  als  Liebe  zur  Folge 
hat:  Das  Moralisch  Schöne  Gottes  und  seine  Gütigkeit  ist  in  uns 
weit  minder  lebhaft,  weil  wir  1)  als  Murrköpfe,  gewohnt  sind,  Gott 
unser  böses  zuzuschreiben:  2)  da  man  sich  dunkel  vorstellt:  daß 
5  Gottes  Wohlthaten  ihm  ja  gar  wenig  liebe  vielleicht  gekostet:  —  weil 
wir  unsere  eigene  Tugend,  die  stets  zu  überwinden  hat,  als 
Maasstab,  annehmen:  und  da  die  nicht  bei  Gott  ist:  so  trauen  wir 
ihm  auch  wenig  Gütigkeit  vielleicht  zu!  Die  Welt  kostete  ihm  ein 
Wort  etc.  etc.  und  da  Gegenliebe  stets  liebe  voraussezt,  so  ist  unsere 
10  natürliche  liebe  gegen  Gott  so  schwer,  und  klein;  indessen  durch 
die  angenehme  Rührung,  daß  ohne  unser  Verdienst  so  viel  Wollust 
auf  uns  strömt,  wandelt  etwaz  ähnlich  der  Liebe  uns  an :  —  Bios  die 
geoffenbarte  Religion  trägt  uns  eine  Liebe  Gottes,  vor,  die  ihm 
Ueberwindung  gekostet  hat,  und  also  gut  verstanden  zur  Gegenliebe 
15  reitzen  kann!  —  — 

Das  Mistrauen  auf  Gott:  —  hätte  ich  von  der  Gütigkeit 
Gottes  keine  andre  beweisthümer  außer  dem  Naturlauf,  so  wäre  das 
LTteil  darauf  sehr  mißtrauend,  da  ich  im  Menschlichen  Leben  eine 
beständige  Verwickelung  und  —  das  Gegenteil  des  Guten  wahr- 
20 nehme:  —  ich  suche  also  nicht  aus  einzelnen  Fällen  den  all- 
gemeinen Begriff  der  Gütigkeit  überhaupt  zu  bestimmen:  da 
ich  blos  jede  Handlung  alsdenn  zwar  als  Probstücke  der  Gütigkeit 
einzeln  betrachte :  aber  nicht  die  ganze  Glückseligkeit  meines  ganzen 
Daseyns  daher  folgern  kann:  und  es  wird  eben  so  ohne  Mistrauen 
25  auf  Gott  seyn  können,  wenn  ich  ihm  nicht  die  Erfüllung  einzelner 
Wünsche  zutraue:  ich  kann  z.  E.  bei  meiner  Rechtschaffenheit  viel- 
leicht lange  unglücklich  sejni.  Es  ist  also  das  Vertrauen  auf  Gott: 
blos  im  Ganzen  unsers  Lebens,  nicht  aber  bei  äußerlichen  ein- 
zelnen bestimmten  Fällen:  sonst  kann  es  Versuchung  Gottes  wer- 
30 den:  Gott  wird  im  Ganzen,  am  Ende  des  Alls,  alles  gut  machen,  als 
das  gütigste  Wesen;  ohne  die  Fälle  zu  bestimmen,  worinn  sich  just 
nach  unserem  Vorwitz  Gütigkeit  beweisen  soll:  —  Kurz!  mein 
ganzes  Daseyn  werde  ich  einst  mit  Zutrauen  ansehen  können :  das  ist 

Zutrauen  auf  Gott ! 

35  Es  ist  ausschweifend,  wenn  man  bei  einzelnen  Fällen,  der  Güte 
Gottes  als  bestimmt  durch  meine  eigne  Absicht  vertraue :  und  es  ist 
deßwegen  eine  Versuchung  Gottes,  weil  ich  glaube,  durch  meinen 
Wunsch  den  Fall  bestimmen  zu  können  wo  die  Güte  Gottes  sich  just 
beweisen  soll:   =  Eine  heirath  bei  einem  schlüpfrigen  Auskommen 


28  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

kann  nicht  durch  das  Vertrauen  auf  Gott  bestimmt  werden:  weil 
Gott  eben  so  weise,  so  gütig  seyn  könnte,  wenn  er  mich  auch  darben 
ließe:  —  das  lezte  sehe  ich  alsdenn,  weil  wenn  mein  Wunsch  sich 
trüge,  ich  thöricht  nicht  sagen  könnte :  seine  Güte  würde  ab  (bricht 
ab}  ä 

Versuchung  Gottes  ist  also  ein  Schein  vertrauen,  da  man  vor- 
witzig sich  in  die  Maasregeln  Gottes  mischt,  und  ihm  den  Fall  be- 
stimmen will,  Güte  zu  beweisen!  Welche  Vermessenheit. 

Das  wahre  Vertrauen  ist  also  stets  mit  Selbstverläugnung  ver- 
bunden, da  ich  stets  überzeugt  bin,  ich  könne  bei  keinem  einzelnen  lo 
Falle  die  Maasregeln  seiner  Güte  bestimmen:  und  das  gröste  Ver- 
trauen ist  eben  mit  der  grösten  Resignation  verbunden:  weil  ich 
Gott  im  Ganzen  noch  immer  die  gröste  Güte  zutraue,  ob  ich  gleich 
in  keinem  einzelnen  Falle  sie  zu  bestimmen  getraue :  —  hingegen  ist 
eine  Versuchung  Gottes  das  gröste  Mißtrauen,  weil  ich  gleichsam  i5 
einen  einzelnen  Fall  zum  Kennzeichen  zur  Probe  seiner  Güte  nehmen 
will:  —  Hier  hat  man  2  Ordnungen  1)  die  Ordnung  der  Natur  die 
auch    zwar    ungewiß    ist:    aber    comparative    doch    wahrscheinlich 
2)  außerordentliche  besondere  Direktion  Gottes:  diese  ist  ganz  ver- 
borgen: und  da  ich  jene  alsdenn  vorbeigehe,  die  gewiß  und  vor  Augen  20 
ist,  um  hier  eine  besondere  Gefälligkeit  von  Gott  durch  dies  beson- 
dere Vertrauen  heraus  zu  locken:  so  ist  sie  sehr  verwegen,  und  nie 
20 ein  Vertrauen  /  auf  Gott  sondern  vielmehr  ein  Vertrauen  auf  sich 
selbst:  da  man  sich  Weisheit  zutraut,  Gottes  Güte  bestimmen  zu 
können:  da  hingegen  ein  Vertrauen  auf  Gott,  mit  Resignation  seines  25 
eignen  Willens,  desto  vester  ist,  und  also  muß  die  Resignation  total 
seyn  —  und  ich  im  Ganzen  Daseyn  Gott  das  beste  zutrauen  dabei 
alle  Einzelne  Falle  aufgeopfert  werden:  —  Ein  jeder  Unterweiser; 
insonderheit  des  besten,  einfältigsten,  und  grösten  Theil  des  Publi- 
kums,  des  Pöbels :    muß   also  von  diesem  speciellen  Zutrauen  zu  30 
reinigen  suchen:  —  Exempel  eines  Vaters,  der  im  Ganzen  das  beste 
seines  Kindes  sucht;  aber  stückweise  sich  nicht  vorschreiben  lassen 
kann :  z.  E.  reiten  zu  laßen :  —  Diese  betrachtung  ist  eine  der  lehrreich- 
sten, da  das  falsche  Vertrauen  so  viel  Schaden  anrichtet,  weil  Menschen 
nicht  blos  aus   Faulheit  die  Mittel  weglassen  zum  Glück:  sondern  35 
aus  dieser  falschen  Maxime:  die  sie  mit  falschem  Namen  einer  Kind- 
lichkeit geschmückt,  fast  nie  aufhört,  sondern  wenn  sie  einmal  betro- 
gen hat,  auch  fehlschlägt Wäre  dies  leben  blos :  so  wäre  es  fast 


Praktische  Philosophie  Herder  29 

am  besten :  an  Gott  gar  nicht  zu  gedenken :  sondern  vernünftig  nach 
der  Ordnung  der  Natur  zu  handeln:  —  Kanäle  zu  Amtern  zu  er- 
werben —  sich  im  einzelnen  mit  der  Kopfbrecherei  von  Gott  nicht 
zu  quälen:  —  Da  aber  mein  jetziges  Daseyn  —  ein  Theil  meines 
5 ganzen  Seyns  ist,  das  eine  Güte  gesezt  hat:  wo  werde  ich  einen 
Theil,  als  ein  ganzes  bestimmen  können:  so  kurzsichtig  das  Ganze 
des  Guten  ausmachen:  — 

§.  85.)  Das  faule  Vertrauen,  ist  sehr  grob,  und  boshaft,  wenn 
Gott  nach  der  Ordnung  der  Natur  ohne  unsere  Mittel  Zwecke  geben 
10  soll:  Es  gibt  aber  auch  ein  feineres,  wenn  man  aus  der  übergroßen 
lebhaftigkeit  des  Vertrauens  auf  Gott  die  Geschäftigkeit  etwaz  ver- 
gißt, die  nach  der  Naturordnung  ein  Mittel  seyn  muß.  Solche  sind 
alsdenn  in  den  meisten  Handlungen  sehr  läßig:  — 

§,  86.)  Das  heuchlerische  Vertrauen  ist  entweder  äußerlich  und 
15 grob;  oder  innerlich  und  fein,  da  ich  Gott  gleichsam  ein  blend- 
werk  mit  meinem  Innern  Vertrauen  machen  will :  diese  Heuchelei  ist 
fast  die  ausgebreitste  in  aller  Menschen  Herzen :  —  Sie  affektiren  ein 
Zutrauen,  um  Gott  zu  locken,  daß  sie  einst  ein  reelles  Zutrauen  haben 
könnten:  =  =  Der  Trieb  der  Menschen,  nach  der  Naturordnung  zu 
20  handien,  der  aber  noch  böse  Fälle  besorgt,  fingirt  eine  Conformität 
mit  seinem  Willen,  um  ihn  treuherzig  zu  machen:   —  Diese  feine 
Heuchelei  sollte  in  der  Theologischen  Moral  mehr  auseinandergesezt 
werden.  —  Das  Vertrauen  in  Moralischen  Dingen  ist  das  edelste  und 
höchste,  da  es  auf  etwaz  gewißes  geht!  —  Das  falsche  Vertrauen  ist 
25      1)  entweder  vorwitzig,  da  er  den  Fall  bestimmen  zu  können  ver- 
meint :  so  groß  es  scheint,  so  klein  ists,  und  noch  kleiner,  als  der 
Zweifel  in  einzelnen  Fällen  der  Gott  im  ganzen  vertraut. 
2)  oder  faul,  das  vorwitzig  auf  Gott  vertrauend,  noch  so  gar  die 
äußern  Mittel  verachtet:  und  dies  ist  noch  gröber,  da  alsdenn 
30          der  Fleiß,  der  von  Gott  gesetzte  Ordnung  der  Natur  ist,  ver- 
nachlaßigt  wird:   —   Es  kann  entweder  1)    in    Moralischen 
Dingen  seyn,  da  ich  glaube,  Gott  werde  meine  Moralische  Voll- 
kommenheit ohne  meine  eigne  bemühung  steigern:  so  wie  hin- 
gegen der  Mangel  an  Vertrauen,  daß  Gott  unsere  Moralität  ver- 
sa beßern  werde:  uns  verzweifelnd  machen  kann,  oder  auf  unsere 
Kräfte  gar  zu  sehr  pochend,  ohne  daß  wir  Gott  dazu  ziehen.  — 
hingegen  das  faule  Vertrauen,  waz  nie  selbst  nach  der  Ordnung 
der  Natur  an  der  Moralität  arbeitet,  ist  eine  Versuchung  Gottes ; 
die  sehr  gemein  ist:  immer  auf  unmittelbare  Einflüße  wartet, 


30  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

sehr  devot  klinget,   verblendet,   aber  sehr  zu  Fehltritten  ver- 
leitet :  Denn  schon  in  der  Natur  Folge  liegen  sehr  viel  Mittel  zur 
Verbeßerung:  ob  Gott  auch  gleich  selbst  zu  dieser  Verbeßerung 
concurrirt  als  einem  großen  Stück  meiner  künftigen  Seligkeit; 
oder  2)    in    Unmoralischen    Dingen:  da  bei  diesem  Ver- 5 
trauen,  wenn  es  wahr  seyn  soll,  immer  eine  Art  des  Zweifels  (be- 
sonderer Stücke)  seyn  muß:  und  dadurch  recht  allgewiß  wird 
(im  Ganzen:  durch  die  ganze  Idee:  und  vollige  Resignation). 
86)  Wenn  ich  Gottes  Willen  in  irgend  einem  äußern  Fall  nicht 
weiß:  so  folge  ich,  nach  der  Naturordnung,  meinem  eignen  Willen;  lo 
als  der  Richtschnur  die  mir  Gott  zu  Handlungen  gibt :  —  Gibts  aber 
außer  meinem  Willen  noch  einen  besonderen  göttlichen  Willen: 
so  muß  ich  dem  folgen:  —  Sezzt  einen  alten  Mann,  unheilbar,  ge- 
wißem  Elende  ausgesezt:  nach  der  Ordnung  ist  hier  eine  Selbst- 
verkürzung des  Elendes  so   natürlich   als  die  Abschneidung  eines  i5 
21  todten  Armes:  —  /  Aber  da  dies  das  ganze  meines  Daseyns  anbetrift, 
das  ich  nicht  setzte  sondern  durch  eines  andern  Absicht,  die  ich  nicht 
einsehe,  und  der  ich  also  nicht  entgegen  handeln  muß,  weil  ich  als- 
denn  am  thörigsten  handle,  dem  zuwider  zu  handeln,  der  geheime 
Absichten  mit  mir  hat  etc.  —  Daher  wäre  der  Selbstmord  erlaubt,  20 
nicht  blos  wenn  Uebel  das  Gute  überwiegen:  sondern  die  langeweile 
es  überdrüßig  macht,  wenn  wir  nur  nicht  durch    einen    andern 
wären,    sondern    aus    Epikurs    Atomen    von    ungefähr    entstanden 
wären. 

Die  Anbetung  (das  adoriri)  ist  ein  höher  Gefühl  der  Ehrfurcht,  25 
im  Verhältnis  des  großen  zu  uns : 

1)  Die  unmoralische  Ehrerbietung  reverentia  kann  blos  durch  das 
Gefühl  des  Großen,  des  Erhabnen  gegen  meine  Niedrigkeit  und 
Staub 

2)  Die  Moralische   Ehrerbietung  adoritum  kann  blos  durch  das  30 
Gefühl  des  Großen,  des  Erhabnen  an  einer  Person  etc. 

Ein  jeder  der  einen  subtilen  Anthropomorphismus  hegete,  wäre 
ein  Abgötter:  aber  er  wird  nicht  so  genannt,  wenn  er  nicht  mora- 
lische Eigenschaften  sich  in  Gott  falsch  gedenkt:  —  die  Un- 
moralität  z.  E.  Menschlicher  Körper  mit  der  höchsten  Güte  gepaart,  35 
kann  vielleicht  ein  Irrtum  seyn  —  etwaz  theologisches  —  aber  nicht 
ein  Religionstheil,  und  also  auch  keine  Abgötterey,  da  sie  nicht 
praktisch  ist  so  fern  sie  blos  falsche  Spekulation  ist:  —  z.  E.  Jupiter 
der  Ehebrecher  angebetet  ist  abgötterey:  Jupiter  blos  Mensch 


Praktische  Philosophie  Herder  31 

ist  in  so  fern  nicht  abgöttisch  =  =  Der  andre  begriff  der  gemeiner 
ist  von  dem  Götzendienst,  ist  der,  da  man  etwaz  außer  Gott  anbetet, 
waz  ihm  ein  Zeichen  des  Dienstes  seyn  soll.  (Sonst  ist  wenn  ein  blos 
theologischer  Irrthum  schon  Idololatrie  wäre,  die  Abgötterey  allen 
5  Menschen  und  Philosophen  gemein)  die  gemeine  Abgötterei  verdirbt 
aber  die  Sache  selbst  sehr,  da  ich  Gott  mittelbar  in  einem  Zeichen 
anbete,  da  doch  1)  nichts  ein  Zeichen  von  ihm  seyn  kann  2)  er  blos 
unmittelbar  verehrt  werden  kann  und  soll,  da  seine  Allgegenwart 
es  stets  will:  und  ich  alsdenn,  wenn  ich  einen  Diener  in  Gegenwart 
10  seines  Herrn  anbete,  auch  als  Zeichen,  wirklich  doch  etwaz  anders 
und  ihn  also  gar  nicht  selbst  anbete. 

Furcht  1)  Kindliche  —  ist  blos  die  Zärtliche  liebe  gegen  Gott: 
teuer :  die  äußerst  bekümmert  die  beleidigung  verhüten  will : 
und  jede  Zärtlichkeit  ist  also  mit  Ehrerbietung,  mit  Ernsthaftig- 
15  keit,  mit  Furcht  verbunden:  —  Die  Zärtliche  liebe  ist  nicht 
gegen  alle  Menschen  kindlich:  sondern  von  Eltern  hergenom- 
men, die  man  in  einem  hohen  Grade  ehrt,  und  ihr  Mißfallen  äußerst 
verhütet:  —  nicht  aus  Furcht  der  Strafe  sonst  knechtisch  — 
sondern  aus  Verhütung  der  beleidigung  —  Diese  verhüte  ich  nicht 
20  mittelbar:  (wegen  der  Strafe)  sondern  unmittelbar  (und  wenn 
einer  auch  nie  strafte) 

Ehrfurcht  sezt  Hochachtung  voraus:  und  diese  das  Gefühl  am 
Erhabnen  in  den  Moralischen  VoUliommenheiten :  so  wie  liebe  den 
intuitus  der  Moralisch  Schönen  Vollkommenheiten  voraussezt:  — 
25  Das  Erhabne  ist  eine  Vollkommenheit,  die  vom  Schönen  unter- 
schieden wird :  und  in  beiden  können  die  Vollkommenheiten  entweder 
Moralisch  oder  unmoralisch  rühren:  —  Die  Rührung  durch  eine 
Moralisch  voUkomne  Erhabenheit  ist  Hochachtung:  sie  sezt  nicht 
stets  liebe  voraus:  weil  der  Grund  von  beiden  sehr  verschieden  ist: 
30  ja  die  Hochachtung  kann  die  liebe  so  gar  verdrängen,  wenn  das 
Moralisch  Erhabne  des  andern  sehr  mit  unsern  Eigenschaften  zu 
collidiren  scheint,  und  wir  ihm  nicht  die  gehörige  Güte  in  Absicht  auf 
uns  zutrauten :  —  so  komt  oft  ein  ernsthafter  Geistlicher,  der  unsere 
Hochachtung  reizt,  sehr  ungelegen  in  eine  Gesellschaft,  wo  das 
35 Schöne  das  Übergewicht  hat.  die  liebe  will  nähere  Vereinigung;  die 
Erhabenheit  scheucht  uns  ab:  —  So  haben  wir  meistens  die  gröste 
liebe  gegen  solche  die  wir  wenig  hochachten  z.  E.  das  weibliche 
Geschlecht,  dem  wir  auch  wegen  seines  Schönen  seine  Schwächen 
verzeihen,  ja  so  gar  lieb  gewinnen:   —   So  kann  auch  gegen  Gott 


32  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

hochachtung  seyn  ohne  ihn  zu  Heben:  so  wie  ein  Mißethäter  seinen 
gerechten  Richter  vielleicht  sehr  hochschätzt;  aber  nie  liebt.  Die 
Ehrfurcht  ist  eine  höhere  Hochachtung,  und  also  an  sich  nicht  mit 
•>r> liebe  vermischt:  —  da  sie  aber  gemeiniglich  /  mit  einer  Besorgniß 
verbunden  ist,  ihn  nicht  zu  beleidigen,  so  entspringt  hieraus  der  wahre  5 
begrif  der  Ehrfurcht:  die  recht  völlig  auch  von  der  Furcht  unter- 
schieden, da  wir  nicht  das  böse ,  waz  er  uns  erweisen  könnte,  sondern 
das  waz  wir  selbst  thun,  verhüten:  —  Die  Furcht  Gottes  ist  also 
von  der  Furcht  vor  Gott  ganz  unterschieden  da  diese  eine  knech- 
tische ist,  die  gar  nicht  die  hochachtung  vermehrt,  sondern  so  gar  lo 
die  liebe  verringert:  denn  so  bald  wir  jemanden  uns  zuwider  sehen: 
so  wird  ein  Grad  der  liebe  aufgehoben:  wer  liebt  einen,  in  so  fern 
er  mich  straft  ?  —  Die  Furcht  Gottes  (d.  i.  die  Ehrfurcht)  ist 
kindlich:  und  die  kann  mit  liebe  bestehen,  weil  sie  das  Mißfallen  des 
andern  sehr  verhütet:  und  die  kindliche  Furcht  Gottes  ist  also  15 
eine  Ehrfurcht  mit  liebe  verbunden:  —  Das  Mißfallen  ver- 
hüten wir  wegen  seiner  schönen  und  erhabnen  Eigenschaften:  nicht 
aber  in  so  fern  aus  Furcht;  sondern  vor  uns  selbst:  da  wir  uns  im 
Gegenteil  verabscheuen  würden. 

89)  Der  Mangel  hieran  kann  also  seyn:  an  der  Furcht  vor   Gott  20 
und  an  der  Furcht  Gottes  :  beide  sind  sehr  verschieden:  —  zu  tren- 
nen: und  jenes  ist  noch  weit  ärger  =  die  knechtische  Furcht  ver- 
abscheut  Handlungen  der   Strafen  wegen,   und  ich  fürchte   einen 
knechtisch,  den  ich  wegen  eines  zu  besorgenden  bösen  scheue.  Diese 
vertilgt  die  Liebe :  und  man  verhüte  sie  also  in  zärtHchen  Gemüthern,  25 
da  das  Schreckliche  immer  weit  tiefer  sich  eingräbt,  und  auch  nach- 
her bei  schönen  Eigenschaften  nicht  völlig  weicht:  —  Die  Men- 
schenfurcht   ist    wieder    entweder    vor    Menschen,    oder    der 
Menschen:  jene  fürchtet  das  böse  der  Menschen  mehr,  als  Gottes: 
diese  hält  Menschen  höher  mit  Ehrfurcht,  als  Gott,  z.  E.  einem  Ehr-  30 
furchtsvollen  Könige  nicht  und  Gott  lieber  mißfallen  wollen  ist  die 
leztere  Menschenfurcht;  und  ein  Ruchloser,  der  nachMettrie  Lehren, 
blos  Rad  und  Obrigkeit  scheut,  beweist  die   Furcht    der    Men- 
schen:  —  Die  leztere  ist  kein  moralischer,   sondern  politischer 
Fehler :  so  wie  die  Furcht  ihr  Gegentheil  nicht  Moralität  sondern  blos  35 
Ueberlegung  voraussezt :  —  Der  erstere  ist  aber  moralisch :  so  wie  die 
Ehrfurcht  über  Moralische  Eigenschaften  ist:  — 

90.)  Nicht  ein  jeder,   der  eines  Gebote  erfüllt,    gehorcht    ihm 
deßwegen:  wenn  ers  nicht  deßwegen  erfüllt,  weil  ers  geboten  hat: 


Praktische  Philosophie  Herder  33 

So  erfüllen  die  Menschen  viele  göttliche  Gebote  aus  eignem  Antriebe 
—  durch  ihr  eignes  Moralisches  Gefühl  —  und  doch  mit  dem  falschen 
Glanz  eines  Gehorsams :  —  Ja  oft  komt  das  Urteil  über  die  Göttliche 
Gebote   so   entbehrlich   dazu,   da  es  per  subreptum  doch  vor  den 

5  wahren  Grund  gehalten  wird  —  —  Der  allgemeine  Gehorsam 
scheint  so  lange  in  uns  unmögHch  zu  seyn  —  als  nicht  die  Erkenntnis 
von  Gott  die  herrschende  Idee  in  uns  ist :  und  im  künftigen  Zustande 
wirds  vielleicht  so  seyn,  da  alsdenn  sich  alles  übrige  sehr  leicht 
unterordnet. 

10  91.)  Der  Ungehorsam  ist  entweder  priuativ  oder  negativ  —  dort 
fehlt  die  gnugsame  lebendige  Einsicht  des  götthchen  Willens,  hier 
zeigt  sich  bosheit:  Triebfedern  die  jenem  reaHter  opponirt  sind;  — 
und  diese  macht  die  Empörung  gegen  Gott  aus:  die  also  eine  große 
Erkenntnis  des  götthchen  Willens:  und  große    Triebfedern  da- 

15  gegen  voraussetzt :  und  insonderheit  eigentlich  —  wenn  man  eine  Hand- 
lung in  der  Absicht  thut:  Gott  zu  mißfallen:  z.  E.  die  RebeUion 
der  gefallnen  Engel,  analogisch  nennt  man  auch  Menschen 
Rebellen  Gottes,  die  etwaz,  wie  wohl  zu  andern  Absichten  thun,  ob 
sie  gleich  Avissen,  daß  es  Gott  mißfäUig  ist:  —  aber  uneigentlich 

20  da  wir  von  der  bosheit  der  gefallnen  Engel  blos  in  Absicht  Gott  zu 
beleidigen,  keinen  begrif  haben,  und  eine  Blasphemie  eines  ver- 
zweifelnden Menschen  eine  geringe  Annäherung  dazu  ist,  die  endhch 
aber  vielleicht  ein  habitus  werden  kann.  —  Die  Rebellion  ist  eigent- 
lich nicht  im  Menschhchen  Herzen :  da  das  Wiederstreben  Gottes  aus 

25  Grundsätzen  und  Absichten  unmittelbar  ihm  kaum  zuzutrauen,  weil 
er  sich  so  nicht  verwirren  kann :  gegen  Gott  etwaz  seyn  zu  können : 

92  Im  natürhchen  Zustande  können  Menschen  Gott  kaum  nach- 
ahmen: da  Nachahmung  Ähnlichkeit  voraussezt:  die  leztere 
aber  ist  bei  /  einem  unendlichen  Gesezgeber  und  seinen  endlichen  23 

30  Untergeordneten  so  versch-windend,  daß  etc.  Aber  das  Morahsche 
Gottes,  wenn  wir  das  nachahmen  ?  —  Ob  bei  der  Erfüllung  des 
Willens  Gottes  auch  die  Nachahmung  ein  beweggrund  seyn  soll,  ist 
Spekulation  da  sonder  dem  die  Ähnlichkeit  nicht  recht  bestimmt 
werden  kann:  —  die  übernatürliche  Religion  macht  hier  durch  die 

35  Einwirkung  Ausnahme  etc. 

93.  Das  bitten,  da  ich  etwaz  nicht  von  jemandes  liebe;  sondern 
GemächHchlceit  (durch  ungestüme  bitten)  oder  Eitelkeit  verlange  ist 
uneigentlich  —  daher  die  Anruffung  Gottes  etc.  So  wie  das 
wahre  Zutrauen  Gottes  nicht  FäUe  bestimmt:  so  ist  dies  eine  Ver- 

3     Kant's  Schriften  XXVII/1 


34  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

suchung  Gottes;  und  waz  also  das  Gebet  ?  1)  es  kann  ein  Beweggrund 
seyn  zu  den  göttlichen  Rathschlüssen  über  die  Glückseligkeit. 

Da  Gott  die  Welt  blos  zur  Glückseligkeit  der  Creatur  geschaffen :  — 
durch  dieß  neue  Vertrauen  aber  die  Moralität  und  also  Glückseligkeit 
gesteigert  wird :  so  kann  es  ein  Motiv  zu  Gottes  Rathschluß  seyn :  —  5 
Ist  aber  das  Gebet  blos  ein  Mittel  die  göttliche  Gütigkeit  zu  regen, 
unsers  Nutzens  wegen :  so  ists  gar  nicht  moralisch  und  also  gar  nicht 
erhörlich.  —  Welche  werden  denn  am  besten  Motive  zu  Rathschlägen 
seyn  können  ?  —  das  am  besten  mit  seinen  Rathschlüßen  überein - 
stimt,  und  da  seine  vornehmste  Absicht  die  Moralität  ist;  so  wird  10 
ein  Gebet  um  deren  Verbeßerung  sein  eigner  Wille,  und  also  erhörlich 
und  unser  Gluck  seyn:  Wünsche  aber  vor  dies  Leben  ?  —  Da  dies 
leben  ein  theil  unseres  Daseyns  ist,  und  Gott  das  Glück  unseres 
ganzen  Daseyns  will:  so  können  wir  auch  in  einzelnen  Fällen  kind- 
lich auf  ihn  vertrauen:  —  Allein  dies  Vertrauen  sey  allgemein,  und  15 
nicht  besonders  bestimmend,  weil  blos  meine  leiblichen  Wünsche 
ein  Grund  seyn  können,  Gottes  Rathschlüße  zu  lenlcen,  nicht  aber 
ein  zureichender  Grund,  sie  zu  bewegen  in  einzelnen  Fällen:  — 
weil  es  thöricht  wäre,  zu  denken  —  mein  Wunsch  könne  Gottes  Rath- 
schluß bestimmen.  —  Indessen  da  es  doch  ein  Grund  ist;  so  muß  20 
es  geschehen:  Man  kann  auf  das  aufrichtige  Gebet  als  auf  ein 
Mittel,  die  Göttliche  Gütigkeit  in  einzelnen  Fällen  dieses  lebens  zu 
bestimmen,  rechnen;  aber  nicht,  als  auf  ein  zureichendes  Mittel 
eben  wegen  der  göttlichen  Gütigkeit  willen,  die  besser  als  wir  alles 
übersieht.  —  —  Hier  betrachteten  wir  das  Gebet  blos  aus  dem  Ge-  25 
Sichtspunkte  der  Klugheit:  als  ein  Mittel  zum  zeitlichen  Zwecke; 
Sofern  ist  aber  das  Gebet  nicht  Moralisch,  und  noch  weniger  Reli- 
gionshandlung (ob  es  gleich  Wirkung  der  Religionshandlung  seyn 
kann)  und  blos  das  Gebet  um  Moralität  ist  Religionshandlung:  als 
solche  muß  es  meiner  verbesserten  Moralität  gemäß  seyn,  in  Verhält-  30 
nis  mit  Gott  und  seinem  Willen:  und  alsdenn  ists  gemäß,  wenn  ich 
im  Ganzen  Gott  alles  zutraue,  nicht  aber  Fälle  bestimme:  ob  ich 
gleich  das  Gebet  als  ein  Mittel  ansehen  kann,  das  vielleicht  Gott  be- 
stimmt :  —  Feurt  also  nicht  euer  Herz  mit  gar  zu  lebhaften  Wünschen 
an :  —  denn  endlich  wird  das  Herz  gegen  die  Religion  kalt,  wenn  es  35 
etlichemal  nicht  erfüllt  wird:  —  Sucht  auch  nicht  Fälle  zu  bestim- 
men; —  denn  Gott  weiß  am  besten,  waz  seiner  Güte  gemäß  ist;  — 
Macht  es  auch  nicht  eigennützig ;  alsdenn  ists  nicht  Religion ;  —  Der 
Nutzen   des  Gebets  ist  eigentlich  auf  unsere  ganze  Glückseligkeit 


Praktische  Philosophie  Herder  35 

gerichtet  und  erreichen  sie  nicht  eigentlich  einzelne  Fälle :  so  erreichen 
sie  beßere:  etc.  —  Und  nie  werde  es  eine  faule  Religion  die  leichter 
dadurch  zu  Zwecken  komt:  —  Dies  ganze  leben  ist  einmal  durch 
Menschen  in  Verwirrung  gebracht:  unser  leben  ist  voll  gesteigerter 

5  Bedürfniße ;  man  gehe  durch  die  Welt  als  Herberge :  sey  so  gut,  als 
man  kann:  endlich  wird  alles  gleich;  —  thue  so  viel  du  kannst: 
setze  deine  Relation  in  Ansehung  des  ewigen  vest:  —  so  wie  ich  der 
Stunden  der  Einsamkeit  jetzo  so  gleichgültig  als  der  rauschenden 
Freuden  mich  erinnere :  so  wird  mir  einst  das  ganze  leben  seyn :  da 

10 werden  physische  Uebel  zurückgelegt  ergötzen;  Moralische  Uebel  in 
der  Erinnerung  martern:  —  Die  Verbeßerung  der  Moralität  sey  also 
dein  Zweck:  —  das  sterben  lernen  ist  eben  so  viel  als  gut  leben 
lernen:  und  Theophrast  sagte  thöricht:  —  w^r  sterben,  wenn  wir 
kaum  leben  gelernt :  —  In  der  ganzen  Welt  ist  keine  Ruhe  als  bei  den 

15  Todten :  —  diese  Betrachtung  ist  erhaben,  gibt  meinem  leben  Einheit 
vermindert  alle  meine  physische  Uebel  des  lebens :  —  erkältet  meine 
Wünsche,  und  den  Eifer  der  Religion  die  Gott  immer  heran  ruft  und 
den  Himmel  stürmt 

101.  Heilige  Einfalt:  —  Einfalt,  in  Sachen:  —  z.  E.  Reisekleid 

20  sey  nicht  prächtig :  —  sonst  ists  der  Einfalt  entgegen :  Arsenal :  sey 
ernsthaft:  alles  Ehrwürdige  muß  einfach  seyn:  —   —  das  Erhabne 
rührt  blos  durch  Einfalt  /  und  alle  Kunst  vereitelt  Einfalt :  —  So  sey  24 
auch   die   Frömmigkeit   Einfaltig;    alles   collidire   zum   Zweck:    alle 
Nebenabsichten  werden  abgesondert  die  entweder 

25  (a)  läppisch  seyn  was  die  Würde  der  Religion  verkleinert  z.  E.  er- 
künstelte Ceremonien  oder 
(b)  schädlich  seyn  z.  E.  die  Absicht  durch  Religion  sich  bei  dem 
Publilcum  Gunst  zu  verschaffen :  etc. 
Alle  Achtsamkeit  der  Stände  verschwindet,  und  oft  wird  das  hier 

30  läppisch,  waz  sonst  ehrwürdig  war :  —  Wenn  man  die  Religion  zwar 
zum  grossen  Hauptzweck  der  Religion  gebraucht  aber  auch  zu  einem 
kleinen  Nebenzweck:  so  ist  dies  wider  die  heilige  Einfalt:  —  wenn 
ich  Gottes  Güte  als  Mittel  zum  Nutzen  brauche,  so  ist  keine  Einfalt, 
da  die  Moralität  gegen  Gott  unmittelbar  gut  ist:  —  Spottweise  be- 

35  komt  der  den  Namen  des  Einfaltigen  der  sich  der  Religion  so  weiht, 
daß  er  von  den  kleinen  Kunstgriffen  der  Menschen  abstrahirt:  Ist 
das  wahre  Verstandesvermögen  nicht  dran  Schuld  sondern  Religion 
die  abstrahiren  will  und  also  unwißend  bleibt:  so  wäre  Einfalt 
rühmlich:  —  so  sähe  Bernhard  aus  Einfalt  Kuß  vor  Menschenliebe 


36  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

an.  Durch  Kunst  geht  Einfalt  verloren:  —  die  Un wißende  sind  in  der 
Rehgion  einfältig,  aus  Unfähigkeit;  —  ein  Mann  aus  Grundsätzen 
einfältig,  wo  ist  der  ?  Vielleicht  gäbe  es  noch  einen,  der  alles  auf  die 
künftige  belohnung  einlenkt;  aber  auch  das  ist  nicht  wahre  fromme 
Einfalt:  —  5 

Weisheit  und  Klugheit  sind  verschieden:  —  Ein  Mann  von 
vieler  Klugheit  kann  Zwecke  wählen  zu  denen  er  seine  Mittel  aufs 
beste  wählt  ohne  doch  weise  zu  seyn:  d.  i.  einen  guten  Zweck  ge- 
wählt zu  haben:  —  Weisheit  wählt  Zwecke:  und  macht  Thoren 
Klugheit  wählt  Mittel;  und  im  Gegenteil  Narren:  —  Frauenzimmer  10 
besitzen  wenig  Weisheit  aber  viel  Klugheit  und  mehr  als  die  Männer : 
—  ihre  eigne  Geheimniße  zu  bewahren,  andere  auszuforschen, 
Ambaßaden  zu  verwalten  waren  Weiber  besser:  Aber  Männer  (wenn 
sie  nicht  durch  Herablaßung  weibisch  geworden  wären)  können 
beßere  Zwecke  wählen:  —  Thorheit  vermeiden;  Nur  Affekten  machen  15 
uns  oft  zu  Thoren;  ob  wir  gleich  die  gröste  lOugheit  dabei  beweisen 
können :  —  Leidenschaften  sind  der  Weisheit  am  meisten  entgegen :  — 
da  sie  Alberne  Zwecke  wählen;  —  —  Ehre  zu  suchen  ist  nicht 
Thöricht;  aber  sie  gar  zu  sehr  suchen  ist  albern,  weil  dieser  Zweck 
zwar  an  sich  natürlich  aber  comparative  gegen  andere  zu  groß  ist ;  20 
hingegen  ist  der  Aufgeblasene  ein  Narr,  denn  er  hat  hier  gar 
keinen  eigentlichen  Zweck,  ob  er  gleich  dazu  gute  Mittel  wählen 
kann:  —  Eine  jede  Absicht,  die  mit  sich  selbst  implicirt,  nichts  ist, 
macht  Thoren:  —  Eine  Absicht,  Verhaltnißweise  unwichtiger,  macht 
Alberne:  —  Eine  Absicht,  durch  Mittel  nicht  zu  erreichen,  macht 25 
Narren:  — 

So  auch  bei  der  Religion:  —  thorheit  zeigt  sich,  wenn  man  die 
kleinere  Absichten  nicht  gnug  unterordnet  der  Hauptabsicht  z.  E.  — 
ein  Alter,  der  anstatt  seine  leidenschaften  zu  ordnen  vor  Kinder 
sorgen  will;  —  Klugheit  zeigt  sich  in  der  Rehgion  wenn  ich  die  ge-  30 
hörigen  Mittel  wähle ;  der  in  Zwecken  fehlt,  fehlt  gröber ;  weil  ein  guter 
Zweck  zum  wenigsten  Moralität  gut  macht :  Der  Fehler  eines  Thoren 
ist  Moralisch  größer;  eines  Narren  Logisch  größer:  Jener  ist  unmittel- 
bar dieser  mittelbar,  da  Mittel  nicht  gut  gewählt  sind  —  Die  Art  der 
Zwecke  bestimmt  die  Moralite.  35 

105.  Gottlosigkeit  bedeutet  im  Deutschen  nicht  blos  den  Mangel 
der  Gottesfurcht,  "wäe  impietas  z.  E.  der  ohne  Vorstellung  von  Gott 
auch  moralisch  gut  ist  sondern  auch  ein  entgegengeseztes  princi- 
pium  — 


Praktische  Philosophie  Herder  37 

Nichts  ist  schädlicher,  als  der  übergroße  Wcrth  anderer  Urteile 
über  uns:  dieser  macht  blossen  Schein;  bei  dem  Wahn  des  Schei- 
ne ns  hört  das  Seyn  auf,  und  bei  diesem  Wahn  allmälich  alle  innere 
Beweggründe:  —  wie  aber  solcher  Wahn  auszurotten  ist,  und  der 
5  Haupttrieb  der  äußerlichen  Ehre :  (bei  dem  alle  Tugend  aufhört,  und 
wenn  jene  auch  blos  concurrirt,  doch  so  gleich  verderbt)  ist  sehr 
möglich  —  da  sie  nicht  in  unserer  Natur  liegt,  so  wie  einige  Ge- 
schlechterneigungen; —  Die  Scham  ist  also  ein  unnatürhcher  ge- 
künstelter Trieb,  der  uns  außer  uns  sezt:  —  und  vielleicht  (außer 

10  der  Geschlechterneigung,  die  eine  entfernte  Verbindung  hat)  ist  sie 
nirgends  anders  recht  als  bei  der  Unwahrheit  —  Denn  wo  dieses  eine 
laster  ist,  da  sind  sogleich  alle;  und  wo  die  eine  Tugend  der  Recht- 
schaffenheit ist,  da  müssen  alle  laster  ausgerottet  werden,  es  sey  denn, 
daß  wir  sie  nicht  vor  laster  halten :  —  Und  die  Scham  vor  Unwahrheit 

15  ist  so  leicht,  als  die  verdorbne  Scham  vor  dem  Wahn  anderer  Men- 
schen z.  E.  öffenthch  zu  reden. 

/§.  121.  Der  casus  confessionis  ist  sehr  schwer  zu  entscheiden:  —  r« 
und  die  Rehgionsklugheit  muß  wissen  wenn  es  dienlich  ist  ?  —  Locke 
sagt:  im  Anfange  des  lehramts  Jesu  sagte  er  nicht:  ob  er  der  Welt- 
2oheiland  wäre  weil  sie  alsdenn  eher  zum  Kreuz  ihn  gebracht  hätten: 
und  also  seine  Absicht  verkürzt  wäre :  — 

Man  verhüte  sehr  strenge  die  Verderbung  der  Grundsätze, 
die  verderben  und  verführen  andre ;  und  dies  mortificirt  sehr :  —  und 
am  meisten:  —  Die  Fehler  müssen  auch  zwischen  Freunden  nicht 
25verhelt  werden:  —  ja  alsdenn  aufs  schärfste  untersucht  werden:  — 
Wenn  man  seine  Fehler  nicht  dissimulirt,  so  zeigt  dies  große  Recht- 
schaffenheit und  beßert  sehr :  — 

Nicht  alle  sind  in  statu  confessionis  —  da  man  seinen  Grad  Religion 
blicken  läßt :  — 

30      123.  Apostasie  z.  E.  Spira  und  Julian 

Blasphemie  ist  vielleicht,  wenn  sie  aus  dem  Grunde  des  Herzens 
geschähe,  nie  anders  möglich  als  in  Raserey  Denn  ein  Atheist  wird 
nie  von  der  Glaubwürdigkeit  seiner  Schluße  so  weit  überzeugt  sej'^n  — 
und  außer  der  Verrückung  wird  ein  jeder  wie  Abaddona  sagen:  ich 

35  will  schweigen,  daß  seine  Gerichte  mich  nicht  noch  ungestümer 
treffen :  —  Und  diese  blasphemie  ist  zwar  alsdenn  an  sich  nichts ;  aber 
der  Weg,  auf  dem  wir  bis  zu  dieser  großen  Verwirrung  gelangten,  ist 
sehr  sträflich:  =  Und  der  Weg  ist  sehr  leicht,  wenn  der  Wahn  von 


38  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

andern  Urteilen  einmal  Herrschaft  bekommen  hat  —  alsdenn  gewöhnt 
man  sich  so  zu  Ruchlosen  Handlungen  wie  zum  Tobackrauchen 

124.  Das  Märtrerthum  hat  sehr  2. deutige  Zeichen.  Manche  kennen 
gewiße  heilige  Dinge  nicht;  als  daß  sie  sie  nennen;  so  wie  Euripides 
seine  Tragödie  anfing ;  —  Und  wird  das  Prinzipium  des  herzens  das  5 
Märtrerthum  ausmachen :  so  wird  ein  Türk,  der  vor  seinen  Mahomet 
leidet,  (und  sie  beten  ihn  mit  großer  Anwendung  an)  ein  Märtrer 
seyn.  Das  wahre  Märtrerthum  bezieht  sich  als  auf  eine  wahre 
Ueberzeugung ;  die  von  ehrwürdigen  Vorurteilen  der  Er- 
ziehung unterschieden  ist:  —  Daher  gabs  auch  blos  damals  Märtrer,  lo 
da  sie  durch  Ueberzeugung  —  durch  Vernunftige  Ehrfurcht,  aus 
Erfahrungen  gesamlet,  ihre  Religion  besaßen:  nicht  aber  sind  die 
spätem  Märtrer;  die  die  Religion 

1)  als  ein  unverstandnes  heiiges  Vorurteil  angenommen  haben:  — 
Sonst  würden  auch  heut  zu  Tage  viele  (und  mehr  vom  Pöbel,  als  is 
gesittete)  Märtrer  werden:  so  wie  die  standhaften  Japonesen  die 
härtesten  Märtrer  wurden,  wenn  sie  ein  Marienbild  hatten  =  = 

2)  Die  spätem  Märtrer,  sind  auch  nicht  Märtrer  (Zeugen)  weil 
sie  ja  keine  Augenzeugen,  sondern  ungültige  Ohrenzeugen  sind:  die 
nichts  zur  Wahrheit  der  Sache  thun:  20 

125.  Die  Deutschen  (unter  allen  Nationen  am  meisten)  mißbrau- 
chen Gottes  Namen:  so  oft  sie  ihn  ohne  intuitus  und  Aufschwung 
nennen;  und  noch  ärger:  zum  Scherz  :  Möchte  hier  nicht  Leicht- 
sinn etwaz  entschuldigen,  so  wäre  es  fast  schon  Blasphemie  des 
Namens ;  den  er  einst  vor  dem  Tode  mit  dem  grösten  Schaudern  25 
nennen  wird,  und  erst  scherzte;  —  und  die  leichtsinnigen  Neben- 
ideen mit  welcher  Strengigkeit  werden  die  entwöhnt  etc. 

126  Orthodoxia   in  practica     1   sind  weit  wichtiger  als  die 

Heterodoxia  in  practica  j  theoretische :  zum  wenigsten  muß 
die  theoretische  Heterodoxie  nicht  Haß,  und  Geschrey,  und  Verkez-  30 
zerung  erregen:  —  Ein  Ketzer  muß  praktische  Irrtümer  haben: 
und  sollte  auch  sein  Irrtum  blos  in  Absicht  auf  die  Praxis  zweifelhaft 
seyn :  so  muß  auch  der  Name  des  Ketzers  wegbleiben :  —  Und  wenn 
Calvin  den  Servet  wegen  Subtilitäten  verbrennt,  so  ist  sein  Irrtum :  — 
Theoretische  Ketzer  sind  zu  verbrennen,  weit  praktischer  und  eher  35 
des  Ketzernamens  werth:  —  Theoretische  Fehler  müssen  Mitleiden, 
höchstens  Auslachen  erregen:  —  Indessen  doch  auch  sorgfältig  ver- 
mieden werden,  weil  man  nicht  stets  den  geheimen  nexum  weiß. 


Praktische  Philosophie  Herder  39 

Die  Ketzerey  verhüte  ich  nicht,  da  ich  sie  vermehre ;  sondern  ver- 
mindre :  die  Menschen  sind  nicht  wirklich  so  unterschieden,  als  bei 
dem  ersten  Anschein.  Man  exaggerire  nicht  den  Irrtum  —  erbittere 
nicht  den  andren,  so  daß  dieser  jetzt,  durch  das  Geschrei  empört, 
5 kleine  Irrtümer,  die  sich  anfangs  leicht  heraus  reden  lassen,  bis 
aufs  blut  vertheidigt:  z.  E.  die  Griechische  Kirche  etc.  Insonderheit 
die  Ausfindung  eines  neuen  Namens,  (z.  E.  Corrupticulae  unter  den 
Griechen)  macht  schon  groß  Aufsehen  vor  den  Pöbel,  gleichsam 
Brandmark,  (bricht  ab} 

10  /   mich  davor  zu  halten  und  es  auch  zu  zeigen :  —  Caesarem  ve-  26 
his !  —  Phocion  sagte :  ists  dir  nicht  gnug,  daß  du  mit  Phocion  stirbst : 
—  hier  fühlt  alles  die  Größe ;  —  und  freilich  muß  die  Selbstschätzung 
äußerlich  auch  manchmal  der  Regel  der  Klugheit  angemeßen  seyn, 
wenn  nicht  alle  von  eben  demselben  Urteil  sind : 

15  Niederträchtigkeit  ist  ihr  entgegengesezt :  —  Der  so  liofirt, 
daß  er  niedrig  wird,  seine  Würde  nicht  fühlt,  ob  gleich  ein  leerer  Titel 
andre  unterscheidet,  der  blos  vom  Wahn  abhangt 

Demuth  sezt  rechtmäßige   Schätzung  voraus:  und  schränkt 
sie  ein.  Man  hat  mehr  Ursache  auf  Unvollkommenheiten  als  auf  VoU- 

20  kommenheiten  zu  sehen,  weil  jene  mehr  sind,  und  die  betrachtung 
dieser  sehr  leicht  schädlich  seyn  kann.  Demuth  ist  also  nicht  eine 
Mönchs  Tugend,  wie  Hume  meint:  sondern  auch  in  der  Natür- 
lichen Moral  schon  nöthig:  —  Eine  eitle  Wißenschaft  —  z.  E.  Geo- 
graphie Sternkunde,  kann  uns  weniger  Vorzug  geben;  als  die  Mora- 

25lische  Würde.  Diese  wird  Unvollkommenheit  mit  Vollkommenheit 
abwiegen:  =  nicht  aus  Regeln  des  Wohlstandes  sondern  der  Sitten 
muß  ich  demüthig  seyn  —  Diese  werde  nicht  mit  Heucheley  ver- 
mischt: sondern  werde  empfunden,  da  ich  es  einsehe,  ich  bin  nicht 
höher  als  andre :  und  wirklich  sind  alle  Menschen  nicht  so  weit  aus- 

30  einander :  —  Der  Erzieher  pflanze  Selbstschätzung  und  Demuth  daß 
da  blos  Verdienste  Achtung  machen,  der  Wahn  es  nicht  mache:  — 
Das  Verderben  des  obern  Standes,  hangt  vom  mittlem  ab,  davon 
komt  Unterweisung  Luxus  Pomp  her:  hier  fange  ich  auch  die  Ver- 
beßerung  an,  alsdenn  werden  Roußeaus  Gedanken  schön,  Wenn  ich 

35  mich  mit  andern  vergleiche,  und  sie  geringer  schätze,  so  darf  dies 
nicht  aus  Selbstschäzzung  kommen.  Selbschätzung  vergleicht  sich 
mit  sich  selbst;  =  Demuth  vergleicht  uns  mit  andern  zur  Verringe- 
rung =  sonst  dienten  mir  anderer  Unvollkommenheiten  zur  Freude, 


40  Vorlesungen  über  Moralpliilosophie 

und  dies  ist  Moralisch  böse.  Die  Verachtung  anderer  ist  auch  so  ein 
schlechtes  Mittel,  daß  es  vielmehr  Haß  macht;  =  wohl  aber  meine 
Unvollkommenheiten  kann  ich  mit  andern  beßern  Zustande  ver- 
gleichen, wenn  ich  die  Möglichlieit  einer  größern  Vollkommenheit 
einsehe :  nicht  aber  darf  ichs  mich  immer  merken  lassen :  —  Die  5 
verhältnißmäßige  UnvolU?:ommenheit  darf  ich  mich  nicht  merken 
laßen:  —  darauf  komts  nicht  an;  ob  ich  unter  dem  andern  bin;  die 
Vergleichung  ist  schädlich :  so  wohl  bei  dem  Vorzug  der  Vollkommen- 
heit und  Unvolllvommenheit  =  wenn  ich  mir  nur  überdem  im  ganzen 
meine  Selbstschätzung  zu  erkennen  gebe,  und  daß  ich  meine  Unvoll-  lo 
kommenheiten  auch  fühle ;  aber  nicht  die  Un Vollkommenheit  gegen 
ihn  gerechnet:  —  Die  Würde  des  andern  bleibt  dieselbe,  sie  mag  über, 
oder  unter  mir  seyn  —  Daher  komt  die  heuchlerische  Demuth,  die 
sich  extenuirt :  und  auch  ein  rechtschaffner  Mann  verachtet  solchen, 
nicht  wegen  seiner  Un  Vollkommenheit  sondern  weil  ers  sagt.  —  Daß  i5 
ers  empfindet,  ist  vor  ihn  gut,  daß  ers  aber  sagt :  wozu  ist  das  gut  ? 
Zu  nichts;  =  Demuth  ist  die  noble  Selbstschätzung  die  auch  seine 
Vollkommenheiten  einsieht :  —  und  muß  sehr  von  Niederträchtigkeit 
unterschieden  werden:  die  blos  Verachtung  veranlaßt:  — 

170.  Ein  starkes  Gefühl  vor  Moralische  Vollkommenheit  ist  nöthig;  20 
doch  oft  kanns  zu  groß  seyn:  und  wenn  die  Vorstellung  von  einer 
Moralität  in  einer  Sache  über  die  Wahrheit  geht  ists  Moralische 
Phantasterey  —  Der  Morahsche  Enthusiasmus  ist  aber  ein  liebens- 
würdiger Fehler,  da  er  im  Moralischen  Gefühl  zu  hoch  steigt:  und 
also  andere  Gefühle  z.  E.  vom  Nützhchen  schwächt;  doch  aber  25 
Vehemenz  beßer  ist  als  languor  wenn  schon  nicht  die  Mittelhnie 
gehalten  wird :  Alle  großen  Dinge  sind  von  Enthusiasten  ausgerich- 
tet: z.  E.  Kato  starb:  —  vielleicht  zu  weit  wenn  man  es  kaltsinig 
betrachtet;  da  er  aber  der  Patriotismus  in  abstracto  war,  das  Bild 
von  Rom,  und  der  Befehlshaber  der  Helden  im  Elysium:  his  dantem  so 
jura  Catonem  (Virgil)  war  vor  die  Freiheit  ein  Opfer;  So  auch  im 
Zustande  der  grösten  Verwirrung  zeigen  sich  die  grösten  Talente :  — 
bei  der  allgemeinen  Gährung  steigert  er  die  Begriffe  von  sich ;  so  auch 
seine  Kräfte  etc.  =  Black  diente  dem  Cromvell  seinem  Feinde;  = 
so  ist  Roußeau  ein  Enthusiast:  35 

Defectus  wiegt  in  Morahschen  Schlaf:  —  nichts  hat  so  viel 
Sophisten  als  er  —  sein  ganzer  Fleiß  bemäntelt  (so  wie  Stoiker 
den  Enthusiasmus) 

Mediocritas  diese  linie  ohne  Breite  und  Dicke 


Praktische  Philosophie  Herder  41 

§  171.  Hoclimutli  ist  eine  Neigung,  sieh  vergleichungsweise 
mit  andern  hochzuschätzen :  —  Erfragt  nicht,  waz  er  werth  ist,  sondern 
wie  viel  mehr  als  ein  anderer:  —  Er  darf  sich  nicht  irren  :  wenn  er 
blos  deß wegen  die  Würde  findet,  weil  andre  Unvollkommen  sind :  so 

5  ist  dieser  ihre  Un Vollkommenheit  der  Grund  der  Freude  in  ihm; 
folghch  ein  Morahscher  Fehler  :  Er  kann  sich  äußerlich  zeigen,  und 
heißt  Aufgeblasenheit. 

Der  Eitele  sucht  blos  die  Meinung  anderer;  ganz  außer  sich 
selbst  gekehrt ;  nicht  nach  dem  eignen  Gefühl :  —  Franzosen 

10  Der  Hochmuth  glaubt  schon  einen  eignen  Werth;  schätzt  ihn 
aber  blos  nach  dem  geringern  Wesen  andrer,  und  ist  also  ungerecht : 
Spanier. 

Der  Stolz  vergleicht  sich  gar  nicht;  =  und  ist  innerlich  gut; 
äußerhch  aber  muß  sein  Zeichen  alsdenn  ernst  seyn. 

15  Der  Hochmüthige  der  es  sich  sehr  merken  läßt,  ist  auch  äußer- 
lich ungerecht  und  heißt  aufgeblasen:  —  Verachtung  (Hol- 
länder) 

Hoff art :  ist  Hochmuth  in  Pracht  (da  Hochmuth  im  ganzen  be- 
tragen ist).  Deutscher  ist  Eitel  und  hof artig 

20      /  Die  Selbstschätzung  ist  entweder   absolut;    oder  verhaltniß- ^y 
mäßig:  die  leztere  ist  unzureichend  weil  der  andre  sehr  schlecht 
seyn  kann  und  dies  also  meinen  guten  Zustand  nicht  bestimmt;  die 
leztere  ist  auch   böse,  weil  sie  eine  Neigung  voraussezt,   an  des 
andern  Moralischer  Un  Vollkommenheit  ein  Vergnügen  zu  haben. 

25  So  ist  auch  die  Demuth  eigentlich  absolut:  die  Verhältnismäßige, 
kann  zwar  der  absoluten  aufheKen;  muß  aber  nie  unedel  werden, 
daß  ich  mich  über  anderer  Tugenden  kränl?;e.  So  sind  auch  die  Zeichen 
der  Demuth  absolut,  daß  ich  sie  im  ganzen  demüthig  bezeige  nicht 
verhältnismäßig,  weil  sie  unnöthig  sind  nach  den  MoraHschen 

30 Regeln:  und  übel  seyn  können,  da  sie  uns  niederträchtig  und  den 
andern  hochmüthig  machen  können.  Hingegen  die  Bürgerhche  Ver- 
faßung wil  äußerliche  Vorzüge  die  verhältnißmäßig  aufdringen:  dies 
ist  aber  verkehrt,  weil  sie  durch  dies  Pochen  die  absolute  Hoch- 
schätzung vermindert  —  Dieser  Verhältnißmäßige  Werth  ist  offenbar 

35  falsch,  da  er  sich  nach  jedem  Umstände  verändert.  Ein  Prinz  wie  ist 
er  unter  Bauren:  wie  vor  seinem  Könige:  —  Ein  Mensch  der  sich 
blos  damit  aufhält,  ist  indoles  abjecta:  Ich  schätze  einen  Vornehmen 
hoch;  heuchlerisch  wegen  seines  Standes;  wahr  wegen  seines  innern 
Werths,  da  er  sich  zu  dem  bürgerlichen  Stande  (d.  i.  innern  Werth) 


42  Vorlesungen  über  Moralphilosopliie 

empor  geschwungen:  und  noch  höher  weil  er  so  viel  Hinderniße  hat 
überwinden  müßen:  —  Vernette  in  seinem  Staat  Lykurgs  hat 
Roußeau  nicht  verstanden:  sein  Mittel,  wo  das  ganze  Menschliche 
Geschlecht  in  Gefahr  ist:  =  So  wie  der  Commendant  in  Rochelle 
kein  Werkzeug  der  Bluthochzeit  seyn  wollte :  wenn  viele  so  gewesen  5 
wären,  wäre  sie  nicht  geschehen :  =  und  hat  der  Fürst  keine  Werkzeu- 
ge so  etc.  Also  hangt  alles  vom  mitlern  Zustande  der  leute  ab:  =  Ich 
bin  ein  gemeiner  bürger,  habe  keinem  zu  befehlen,  stehe  mit  vielen 
unbemerkt  unter  Einem,  verliere  mich  im  Ganzen  und  kann  auf 
meinen  Innern  Werth  denken :  —  wäre  dieser  Stand  gebessert :  wie  lo 
kann  er  sie  zwingen:  durch  Vornehme  etc.  Deren  sind  wenige  und  die 
übrigen  sind  gebeßert:  —  —  Der  Verhältnißmäßige  Vorzug  sey  blos 
Verhältnißmässig,  werde  nicht  vor  absolut  gehalten,  so  wie  wenn 
Deserteur  Bataillone  jemanden  aus  ihrer  Mitte  wählen  —  wie  haben 
Tyrannen,  weil  wir  Sklaven  sind;  —  wir  sind  indoles  liberae,  und  is 
können  auch  nicht  durch  andere  gefeßelt  werden;  auch  ein  Brillant 
Halsband  feßelt  den  Kettenhund  =  Indoles  abjecta  halt  also 
Verhältnißmäßige  Vorzüge,  vor  absolute:  z.  E.  die  Catholicken  ihre 
Heiligen:  da  doch  der  Anbeter  oft  beßer  ist  als  Götze:  —  Dies  ist 
Indoles  abiectain  der  Religion;  so  auch  in  der  Weltweisheit;  da 20 
ich  meinen  absoluten  Werth  einsehe;  nicht  verhaltnißmäßigen  Z.  E. 
wie  Krusius  in  seinen  Schriften  davon  voll 

Gewißen  logica;  da  ich  mir  einer  Determination  bewust  bin 
und 
moralis  da  ichs  mit  meinem  Moralischen  Gefühl  zu- 25 
sammenhalte ; 

Die  Fehler  sind  also  logisch  im  Mangel  des  Bewustseyns  seiner 
Handlungen:  wie  z.  E.  leichtsinnige  Leute;  junge  Leute  moralisch 
im  Mangel  des  Moralischen  Gefühls  über  seine  Handlungen :  wie  alte 
Bösewichter,  die  so  lange  künstelten,  bis  jenes  mit  der  Zeit  übertäubt :  30 
und  ein  erkünsteltes  lebhaft  wurde:  z.  E.  ein  Kaufmannscathe- 
chismus: 

Das  verfälschte  Gewißen  adultera:  ist 

1 )  erronea :  waz  logisch     1  n  1    1  -  •  .     Jenes  irrt  —  Verstandes- 

'  o  i    verlalsclit  ist 

fehler  (deprauitates) 
Das  natürliche  Gewissen  vom  angeworbnen  zu  unterscheiden  ist  oft 
schwer.  Vieles  erworbne  wird  vor  natürlich  gehalten:  —  der  Fluch 


I 


2)  praue :  waz  moralisch  j  irrthum  (errores) 

Dieses  fühlt  übel :  Gefühls- 


Praktische  Philosophie  Herder  43 

der  Eltern,  den  wir  bei  einer  Heirath  uns  zuziehen  möchten,  durch 
eine  Heirath,  die  wir  rechtmäßig  nicht  begehren,  ist  ein  erworbnes 
Gewissen :  Da  der  Vater  nach  dem  Natur  Gesez  nicht  weiter  unterhal- 
ten Avürde,  als  bis  er  sich  selbst  regiren  kann,  so  fiele  aller  Gehorsam 
5  M'eg  (blos  Dankbarkeit)  und  auch  hier,  da  wir  blos  durch  Gewohnheit 
es  erworben:  Aber  wenn  Voltaire  alles  Gewissen  vor  erworben  hält, 
und  es  durch  einige  Beispiele  der  Nationen  beweist,  so  ist  dies  zu  weit : 

—  die  Eskimaux,  die  ihre  Eltern  ermorden,  als  einen  Liebesdienst, 
haben  in  gewißermassen  Grund,  da  sie  bei  der  noth wendigen  Jagd 

10  ihren  schmälichern  Tod  voraussehen;  = 

Welche  Grade  in  einzelnen  Fällen  erworben  sind,  schwer:  Unsere 
Verhältniße  mit  Freunden  sind  vielleicht  erworben  —  gar  zu  sehr  ge- 
steigert: und  auch  in  Moralischen  Begriffen. 

Das  Gewissen  urteilt  von  schlimmen  Handlungen  weit  stärker 

15  und  richtiger  nach  der  Handlung  als  vor,  und  vor  stärker  als  in 

der   Handlung.    Exempel   der   Gewißensbiße,    die    sich    ergeben 

musten:  so  nach  der  Wollust:  Grund:  eine  jede  Leidenschaft  zieht 

die  Aufmerksamkeit  auf  die  günstige  Seite  und  verdunkelt  das  andere : 

—  und  wenn  nun  die  Leidenschaft  nicht  ist ;  so  fallt  auch  die  Decke 
20  weg 

I  Wenn  wir  Menschen  hier  in  der  Welt,  nicht  stets  in  Leidenschaften  28 
sind,  sind  Mir  doch  in  Trieben;  in  einem  Temperament,  das  die  Leiden- 
schaft hat  von  Sachen  zu  urteilen;  so  ist  das  Urteil  im  ganzen  leben 
nicht  völlig  unpartheyisch :  —  Er  ist  selbst  Richter  über  sich;  — 

25  Verbannt  nach  dem  Tode  die  Leidenschaft,  so  sind  wir  unpartheyische 
Richter  über  uns  selbst;  über  unsere  Moral;  da  wird  das  Urteil  über 
unser  Leben  weit  lebhafter  und  wahrer  seyn;  wir  werden  die  Abscheu- 
lichkeit noch  klarer  einsehen.  —  bliebe  sie  aber  die  Leidenschaft  so 
wird  das  Urteil  noch  partheyischer.  Würden  die  Leidenschaften  noch 

30  ärger ;  so  wird  das  Moralische  Gefühl  verdunkelt :  und  blos  das  Phy- 
sische Gefühl:  so  auch  Physisch  böse  bleibt  übrig.  —  Schweigt  das 
Gewißen  vor  der  That;  oder  murrt  es  unkräftig,  so  ists  schlecht 
und  das  lezte  ist  ein  Pedant  der  nicht  zurück  hält,  und  doch  quält; 
doch  ists  eine  Hoffnung  zum  lebhaftem  Eindjuck:  —  das  Gewißen 

35  waz  lange  vorher  redet:  ist  stärker  als  das  unmittelbar  vorher: 
weil  jenes  von  einem  langen  futuro  einen  größeren  Eindruck  voraus 
sezt:  —  Denn  sonst  ist  das  Gewissen  unmittelbar  vorher  stärker. 
Daher  wird  einer,  der  mit  dem  Dolch  ergriffen  wird,  nicht  mit  Tode 
gestraft  werden:  Die  Conscientia  consequens  ist  also  die  stärkste; 


44  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

aber  schlimm  wenn  nicht  antecedens  voraus  geht;  das  leidthun  ist 
keine  Gnugthuung 

Da  unser  Leben  ein  Ganzes  im  Daseyn  ist :  so  kann  nicht  ein  Stück 
dem  andern  aufgeopfert  werden :  das  Vergnügen  des  einen  muß  auch 
das  Vergnügen  des  andern  seyn  und  die  Glücksehgkeit  ein  Ganzes :  5 
die  Vorsicht,  eine  Tochter  der  Ueppigkeit,  ist  die  Quelle  des  Unglücks : 
—  der  Genuß  des  Jezt,  mit  der  Aufmerksamkeit  auf  unsere  Moralität 
ist  imser  Glück:  —  Wir  müssen  in  dieser  Welt:  diese  gemessen: 
und  das  gar  zu  viele  Reden  von  Ewigkeit  muß  uns  nicht  der  Zeit 
entreißen :  die  Ewigkeit  diene  blos,  die  Uebel  dieser  Welt  zu  vermin-  lo 
dern,  nicht  aber  die  Freude  zu  vermindern.  Der  Mensch  erkünstelt 
sich  lauter  Beraubungen;  Beraubung  der  Jugend  um  das  Alter  zu 
geniessen  waz  er  eben  dadurch  sich  entreißt,  da  er  sich  in  den  habitus 
sezt :  —  Ein  Stück  opfre  man  nicht  dem  Ganzen  auf. 

Die  höheren  Seelenkräfte  kann  ich  anwenden,  um  des  Nutzens  wil- 15 
len  und  denn  ists  gut;  oder  um  des  Scheins  willen:  und  denn  ists 
schlecht.  =  Der  Beweggrund  meine  Kräfte  zu  erhöhen  ist  meistens 
die  gute  Meinung  andrer:  Dies  ist  aber  wirldich  Lüge,  entweder; 
oder  ist  sie  wahrhaft,  so  ist  sie  doch  (wenn  sie  nicht  nützlich  ist)  doch 
an  sich  unmittelbar  betrachtet  chimärisch,  da  sie  nicht  mein  bestes  20 
befördert.  —  Sonst  da  alles  Schimmern  weit  leichter  ist  als  Seyn :  so 
Ehre  ganz  falsch:  und  daher  ist  der  Schade  vor  das  Menschliche  Ge- 
schlecht. —  Der  Philosoph  wirft  über  seine  eigne  Schwächen  eine 
Decke:  so  wie  Chineser  nicht  die  Kalender  annehmen  wollten,  um 
sich  nicht  irrend  zu  machen :  =  der  Lehrer,  der  sein  falsches  einsieht,  25 
läßt  sich  noch  gerne  verehren,  und  sagt  nicht  die  Fehler:  Sollte 
Crusius  in  so  vielen  Jahren  nicht  die  Unwahrheit  seiner  pochenden 
Sazze  eingesehen  haben:  aber  er  sagts  nicht;  =  Der  Trieb  der  Ehre 
ist  der  Moralität  schädlicher  als  irgend  eine  andre  Leidenschaft:  — 
alle  übrige  haben  waz  reelles :  diese  ist  aber  ein  Hirngespinst :   =  so 
Ich  gehe  2)  ganz  von  meinem  innern  Zustand  der  Moralischen  Güte 
ab,  und  such  es  mit  einigem  äußern  zu  verbeßern:  und  welchen 
Schaden  thun  die  Wißenschaften  also:  =  der  Trieb  der  Ehre,  muß 
vielleicht  bei  etwaz  höhern  Wesen  völlig  aufhören:  —  bei  uns  ist  er 
noch  nützhch  als  ein  Gegenmittel  gegen  die  große  Unmoralität  und  35 
als  eine  Aufmunterung  gegen  die  große  Faulheit :  —  und  also  wegen 
der  kleinen  Moralität  der  Menschen  nöthig;  die  Selbstschätzung  be- 
steht mit  der  Moralität;  aber  nicht  die  Rechnung  auf  die  Meinung 
andrer.  =  So  heirathet  man  selten  vor  sich ;  stets  vor  andre : 


Praktische  Philosophie  Herder  45 

Die  Suspension  des  Urteils  kann  aus  moralischem  oder  logischem 
Beweggrunde  seyn ;  =  der  Plan  der  Weltweisheit  entscheidet  in  einem 
gewißen  Grad  gewiß;  zeigt  die  Ungewißheiten,  die  Mängel  zur  Ge- 
wißheit =  unvollendete  Sachen,  die  blos  hingelegt  sind :  Im  Umgange 
5  ist  die  Suspension  des  Urteils  sehr  nothig:  und  ein  Zeichen  der  De- 
muth,  das  noch  eher  im  Umgange  als  Schreiben  erreicht  werden  dörfte : 
—  unter  allen  aber  ist  der  Gelehrte  der  ehrgeizigste,  der  auf  nichts 
als  Ehre  denkt;  davor  arbeitet,  selbst  austheilt,  und  Posaunen  des 
Ruhms  sind.  Erkenntniße  an  sich  sind  schön;  und  ohne  die  höchste 

10  Einsicht  würde  das  höchste  Wesen  nicht  das  vollkommenste  seyn ; 
aber  der  Mensch  muß  seine  Schranken  einsehen  lernen,  nicht  blos  die 
logische,  sondern  auch  morahsche :  —  Mathematik  Numismatik  sind 
an  sich  ganz  wißenswürdig ;  aber  vielleicht  vor  uns  nicht;  diese  Wiß- 
gierigkeit kann  uns  endlich  völlig  aus  unserem  Kreise  herausreissen. 

15  Alles  dies  Reizende  macht  uns  nachher  gleichsam  anklebend  an  die 
S^Tten:  —  ein  Kind  eilt  in  der  Aussicht  dem  Mann  vor;  der  Erden- 
bürger der  Ewigkeit ;  und  so  ist  er  vor  beide  untauglich. 

Lerne  abstrahiren  von  den  Trieben,  die  die  Moralität  vermindern; 
Suche  Morahschen  Gebrauch  von  deinen  Erkenntniß  Kräften:  Sie 

20  lassen  sich  auch  in  andern  Dingen  sehr  excoliren ;  aber  voreilig ;  Zwi- 
schen dem  erhabensten  Menschlichen  Geist  und  dem  niedrigsten  Maim 
ist  kein  wahrer  Unterschied  an  Vorzügen  als  in  Absicht  auf  Moralität 
=  Jezzo  muß  blos  WißenschaftHche  Scharfsinnigkeit  dazu  dienen, 
die  Schaden  der  Wissenschaften  aufzuheben :  =  sonst  w:ären  sie  nicht 

25  nöthig ;  denn  das  analogon  rationis  ist  ein  sicherer  Fuhrer  in  der  Mora- 
lität als  die  Vernunft;  und  das  Gefühl  des  Guten  sicherer,  als  die 
Vernunft,  die  lauter  Irrtümer  macht  in  ihren  Schlüssen :  da  das  ana- 
logon rationis  eigentlich  zum  leitfaden  gegeben  ist;  so  muß  die  Ver- 
nunft wohl  nicht  viel  Vorzug  erwerben,  der  mit  vielen  unnothigen 

30  Verzierungen  ausstaffirt;  =  Wir  durch  das  Gesez  der  Nothwendigkeit 
und  den  Wahn  der  Menschen  eingeschloßen,  müssen  also  nicht  aufge- 
blasen seyn :  den  nüzlichen  Mann  verachten,  sondern  den  langen  Weg 
zurücknehmen  sich  auszuruhen,  vernichtigen 

225  Eine  Fertigkeit  bei  aUen  Vorfällen  sich  gute  Zwecke  zu  sezzen; 

35  oder   die   beste   Mittel   zu   wählen   ist   Gegenwart  des  Geistes; 

Frauenzimmer  können  gute  IVIittel  wählen  nicht  aber  Zwecke;   = 

durch  lange  Bedachtsamkeit  muß  man  sich  in  ancipiti  zur  Gegenwart 

des  Geistes  gewöhnen :  Junge  Leute  müssen  also  erst  Rath  annehmen; 


46  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

28  /  Der  Mensch  ist  nur  glückselig,  der  den  höchsten  Genuß  der  Wollust 
hat  dessen  er  in  dem  Zustand  fähig  ist;  daher  ist  dies  Leben  vom 
künftigen  unterschieden.  Glückseligkeit  besteht 

aus  Glück;  unmoralisch  Gutem:  physischer  Wohlfart.  da  diese 
von  außen  abhängt:  so  kann  sie  sehr  fehl  schlagen,  und  sehr 5 
veränderlich  sein 

und  Seligkeit;  moralisch  Gutem 

Die  Sehnsucht  nach  blosser  Wohlfart  muß  also  nach  dem  Gesetz 
der  Veränderlichkeit  schon  unglücklich  machen :  —  weil  alle  physische 
Dinge  sich  aufs  Ganze  beziehen,  und  nicht  auf  uns  stets  einschlagen  lo 
können:  —  Das  Morahsch  Gute,  in  dem  wir  der  Grund  sind,  ist  also 
unveränderlich,  fruchtbar  an  Physisch  gutem,  so  daß  alles  dieses,  waz 
durch  mich  geschieht  aus  Moralisch  Gutem  herkommen  muß:  — 
Gleichgültig  soll  ich  mich  machen  gegen  das  Böse;  so  bin  ichs  auch 
gegen  das  Gute  ?  15 

Empfindlich  soll  ich  mich  machen  gegen  das  Gute ;  so  bin  ichs  auch 
gegen  das  Böse  ? 

Die  Reizbarkeit  an  Physisch  Gutem  wird  oft  ein  Grund  der  Unlust, 
und  man  muß  also  sich  gegen  einige  stumpf  zu  machen  suchen;  dies 
kostet  zwar  Beraubungen ;  die  aber  nicht  schmerzhaft  sind  weil  darüber  20 
sich  das  Gefühl  zugleich  verringert;  und  davor  ein  weit  feiners 
Gefühl  des  Moralischen  auflebt;  =  Und  in  der  Gleichgültigkeit 
ist  der  Wilde  in  vielen  Dingen  =====  Zur  Tugend  gehören  Maxi- 
men, Grundsätze;  die  sehr  von  Instinkten,  auch  von  Moralität  unter- 
schieden sind ;  und  eben  so  kanns  abscheuliche  Sittlichl<:eit  geben ;  25 
ohne  daß  sie  Laster  sind;  weil  diese  Maximen  eigentlich  voraus- 
setzen; und  blos  uneigentlich  Laster  heissen;  so  wie  Handlungen 
aus  guten  Instinkten  blos  uneigentlich  Tugenden  genannt  werden: 
—  Der  Beweggrund  nach  Grundsätzen  zu  handeln ;  ist  die  Beständig- 
keit die  sich  immer  gleich  bleibt  dahingegen  die  guten  Instinkteso 
von  Eindruck  und  unbeständigen  Umständen  abhangen :  —  Indessen 
sind  diese  die  Menschliche  Gesellschaft  —  Maximen  im  Gegentheil 
sind  eben  allgemeine   Griindsätze,   unter  die   sich  einzelne   Fälle 
subsumiren  lassen :  —  und  die  Fertigkeit  einzelne  Falle  zu  subsumiren 
=  Indessen  gibts  doch  Maximen  die  der  Tugend  analogisch  sind;  35 
z.  E.  Maximen  der  Ehre;  und  wie  viele  haben  blos  aus  diesen  großen 
Glanz  erlangt; 

Ueberwindung  seiner  selbst;    —   Kein  Sieg  beweist  so  sehr 
eigne  Thätigkeit  als  dieser ;  und  ist  daher  der  ergötzendste ; 


Praktische  Philosophie  Herder  47 

249.  airexou  etc.  etc.  Der  macht  sich  einen  zu  großen  Plan  der  Glück" 

Seligkeit  der  von  der  Abstinenz  sich  abzieht ;  wird  auch  nicht  Geduld 

beweisen:  =  Man  wird  immer  weichlicher,  je  mehr  man  sich  an 

Dinge  hängt;  —  der  Mensch  in  der  Einfalt  der  Natur  ist  stark;  — 

5  jener  (^bricht  aby 

Sectio  II.  250.  Sorge  vor  dein  Leben:  Es  muß  hier  eine  Mittel- 
mäßigkeit seyn  die  es  nicht  vor  den  einzigen,  auch  nicht  vor  den  lezten 
Zweck  halt 

Werth  des  Lebens:  Man  abstrahire  vom  künftigen  Leben:  = 

10  die  Menschlichen  Pflichten  bleiben  dieselbe  doch :  da  das  Laster  hier 
an  sich  schon  abscheulich  ist  Wird  der  künftige  Zustand  nun  wegge- 
nommen —  so  muß  das  Leben  der  vornemste  Beweggrund  seyn  zur 
Sittlichkeit;  und  diese  Beweggründe  sollen  also  mit  dem  Leben  zu- 
sammenstimmen ;  indessen  sehen  wir  doch  manche  Beweggründe  über 

15 dieses  erhöhet;  =  bei  dem  unmoralischen  Genuße  geht  allem  der 
Genuß  des  Lebens  vor;  aber  bei  manchem  moralischen  muß,  wenn 
nicht  das  Gefühl  geschwächt  ist,  die  Liebe  des  Lebens  unterliegen; 
auch  vom  künftigen  Leben  abstrahirt ;  —  Der  Abscheu  vor  uns  selbst, 
der  unser  Leben  zur  Marter  machen  würde  ist  hier  größer  als  Tod ;  = 

20  der  Kummer  über  Laster  ist  größer  als  alles  Physische  Uebel  = 

268.  Ein  jeder  Mensch  muß  Geschäfte  haben  =  Wer  nicht  Geschäfte 
hat  dem  fehlen  auch  bald  Beschäftigungen  =  die  langeweile  ist  also 
die  Geißel  der  Reichen;  hingegen  Geschäftvolle  Leute  sind  auch  im 
otio  beschäftigt.  Sie  sind  gleichsam  durch  ihren  äußerlichen  Zwang 

25  gewohnt,  und  im  habitus  sich  zu  beschäftigen ;  sonst  nimt  die  natür- 
liche Trägheit  Ueberhand,  die  das  ganze  Leben  einförmig  macht. 

Ein  fauler  und  wirksamer  Mensch  haben  beide  Vor-  und  Nachtheil : 
—  die  solertia  kann  zur  polypragmosyne  ausschlagen,  und  man  seines 
Lebens  also  nicht  genießt:  —  nicht  durch  Arbeit  genießt  man  sein 

£0  Leben,  sondern  durch  die  Ruhe,  nach  Arbeit,  da  wir  die  Folgen  davon 
empfinden,  und  uns  mit  uns  selbst  beschäftigen:  diese  Beschäftigung 
ist  die  schwerste,  ungewohnteste,  nüzlichste  =  Ein  fauler  Mensch 
verliert  eben  so  das  Leben,  da  ers  geniessen  will,  und  sich  der  Genuß- 
mittel beraubt,  z.  E.  der  Arbeit,  nach  der  blos  die  Ruhe  süß  ist;  zu 

35  der  die  Erholung  eine  Beziehung  hat.  =  Unsere  Zeit  ist  in  pensa 
eingetheilt  und  dadurch  wird  sie  blos  bestimmt:  diese  pensa  werden 
entweder  durch  Zwangauflegung  von  andern  bestimt;  oder  von  mir, 
da  ich  mich  selbst  verbinde.  Sonst  bleibt  man  unentschloßen,  schiebt 


48  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

auf,  bleibt  unbestimmt:   =   So  machen  also  Geschäfte  am  besten 
pensa  und  diese  (bricht  ab} 

Lange  und  kurze  Zeit:  —  da  des  faulen  Zeit  unbestimmt  ist; 
so  wird  ihm  die  Zeit  lang  und  eben  dadurch  hat  er  keine  Zeit,  weil 
wegen  Abwesenheit  der  Pfhcht,  auch  kein  Grund  der  Beschäftigung  5 
ist:  und  die  Zeit  wird  lang,  weil  der  Verdruß,  der  aus  Sehnsucht  nach 
Genuß  entsteht,  sehr  stark,  auf  jeden  Zeittheil  attendirt,  jeden  unter- 
scheidt,  und  so  wird  die  Zeit  lang  —  Denen  die  Zeit  lang  wird  im 
Genuß  ist  sie  kiu-z  nach  dem  Genuße,  weil  nichts  besonders  im  An- 
denken bezeichnet  wird :  —  Die  klagen  am  meisten  über  die  Kürze  10 
der  Lebenszeit  die  die  meiste  lange  Zeit  haben,  weil  sie  keine  marquen 
ihres  Lebens  haben:  —  Um  also  lebens  satt  zu  werden,  mache  man 
sich  jeden  Augenbhck  durch  Beschäftigungen  nach  Absichten  voll 
und  kurz ;  dadurch  extendirt  man  sein  Leben  blos  durch  Handlungen 
nicht  durch  Jahre,  diese  werden  vergessen  jene  bleiben  im  Andenken  15 
—  Daher  kommt  der  Wiederspruch  etc.  Um  sein  Leben  nicht  lang 
zu  machen,  muß  man  schlafen,  oder  arbeiten.  Indessen  laßt  die  Arbeit 
der  Spekulation  doch  stumpfe,  leere,  lange  Zwischenräume  übrig  die 
der  Lebensüberdrüssige  mit  dem  sanften  Schlaf  ausfüllt. 
2»      /  Von  den  Geschlechtertrieben  müßen  wir  nicht  blos  nach  unserm  20 
gesitteten  Zustande,  sondern  dem  natürhchen  Zustand  des  Menschen 
urteilen  —  Und  da  war  dieser  Trieb  sehr  mächtig,  um  das  Geschlecht 
zu  unterhalten:  —  die  den  Zweck  Gottes  stets  vor  den  vornemsten 
Zweck  halten  haben  hier  zu  überlegen :  ob  der  natürhche  Mensch  die 
Absicht  der  Vorsehung  hat  die  Menschen  zu  unterhalten  oder  nicht  25 
blos  die  Neigung  zur  unmittelbaren  Lust.  Es  ist  dies  zwar  der  Haupt- 
zweck nicht  aber  der  einzige,  und  die  übrigen  müssen  zwar  diesem 
nicht  widerstreiten,  aber  sie  können  doch  ihm  unbeschadet  seyn  und 
es  ist  also  gar  zu  gewißenhaft  die  Vertraulichl^eiten  der  Eheleute  zu 
verbieten,  die  nicht  unmittelbar  mit  der  Fortpflanzung  zusammen-  30 
hangen 

Der  Geschlechtertrieb  würde  sich  nicht  so  früh  entwlcklen,  sondern 
bis  die  Kräfte  ausgewachsen  sind:  da  er  nicht  durch  Unterricht  be- 
schleunigt würde.  —  Der  Trieb  satigte  sich  blos  durch  unmittelbare 
Lust,  und  ein  ewiges  Band  wäre  vermutlich  nicht  gewesen  =  Wohl  35 
aber  da  der  Mann  fühlte,  der  Trieb  würde  wiederkommen,  ließ  er  sich 
das  Weib  in  Wald  folgen :  —  sie  wurde  begleiterin  —  die  Kinder  hatten 
beide  lieb:  —  Er  muste  ihr,  die  da  säugte,  helfen  und  so  entstand 


Praktische  Philosophie  Herder  49 

monogamie,  da  so  viel  Weiber  als  Männer  sind;  =  Der  Trieb  war  nicht 
so  ausschweifend  gewesen  weil  die  Phantastischen  Vergnügen  des  ge- 
sitteten fehlen:  =  Indessen  ist  dieser  Trieb  mit  dem  Schleyer  der 
Scham  bedeckt,  die  sich  auch  bei  den  meisten  Wilden  findet :  und  die 
5 ganz  andrer  Art,  als  jede  andre  Scham,  und  die  den  Trieb  zähmet: 
Die  Einwürfe  des  Cynikers  haben  viel  richtiges:  man  muß  sich  blos 
des  unehrlichen  schämen;  indessen  ist  doch  eine  wirkliche  Scham 
Instinlit,  der  zwar  keine  Vernunftursache  hat  und  wunderlich  ist 
aber  Absichten  hat  1 )  den  ungezähmten  Geschlechtertrieb  zu  zähmen 

10 2)  die  Reize  durch  das  Geheimniß  zu  erhalten:  —  Das  Männliche 
Geschlecht  waz  mehr  Grundsäzze  hat :  hat  diese  Scham  in  minderem 
Grad;  das  Weib  hat  sie  wegen  der  fehlenden  Grundsäzze  in  großem 
Grad  und  herrschend;  und  wo  diese  Scham  schon  entwurzelt  ist  bei 
Weibern,  da  hat  alle  Tugend  Erbarkeit  ihre  Herrschaft  verloren :  und 

15  sie  gehen  in  der  Schamlosigkeit  weiter  als  der  lüderlichste  Mann ;  = 
Sie  hat  indessen  ein  analogon  mit  einer  Handlung  die  an  sich 
nicht  ehrbar  ist;  und  dies  hat  die  dumme  Mönchsscham  hervorge- 
bracht. Sie  ist  aber  nicht  an  sich  ein  Zeichen  eines  unerlaubten,  sondern 
ein  Schleyer,  einer  ehrwürdigen  Handlung :  die  Menschen  pflanzet: 

20  —  Das  Weibhche  Geschlecht  hat  außer  dem  Geschlechtertriebe,  noch 
viel  Qualitäten  die  alle  die  Schönheit  concentriren,  und  also  Reize 
und  Anlockungen  sind;  =  Mannhches  Geschlecht  hat  freundschaft 
Ergebenheit  —  Weibliches  Geschlecht  hat  Schackerhaftigkeit  Freund- 
lichkeit etc. 

25  Mann  hat  ein  feiner  Urteil  von  Schönheit  —  eckelhafte  Männerkuße 
und  heirath  sind  vor  Frauenzimmer  nicht  so  eckelhaft:  und  dies  ist 
die  weiseste  Einrichtung  =  =  Jezt  ist  dieser  Trieb  die  Quelle  so  vieler 
Laster,  und  in  solche  Schlüpfrigkeiten  gesezt:  wie  ists  also  möghch 
in  diesem  allgemeinen  Verderben,  da  so  viele  unmenschliche  Laster 

30  aufgekeimt  sind,  zu  verbessern  ?  Die  Lacedämonier  Hessen  die  Weiber 
bis  ins  9te  Jahr;  —  die  Manner  13  Jahr  nackt  gehen  in  den  Jahren 
der  Unbesamtheit ;  =  unsere  künstlichen  Tugenden  sind  Chimären 
und  werden  Laster,  wenn  das  verbergte,  als  Laster  angesehen  wird. 
So  bald  die  Keuschheit  der  Sprache,  der  Kleider,  der  Minen  zunimt, 

35  Avird  die  wahre  Keuschheit  verdrängt.  =  Wo  von  man  eine  Seite 
zeigt  lockt  die  andre  aus  dem  Chimären  Lande  der  Phantasie  heraus. 
=  Das  beste  Mittel  hat  vielleicht  Roußeau  getroffen  —  Die  frühzeitige 
Geschlechterneigung  muß  eingeschränkt  werden  daß  sie  nicht  unser 
Wachstum  und  Ausbildung  hindere,  und  unsre  Regelmäßige  Verbin- 

4    Kant'a  Schriften  XXVII/1 


50  Vorlesungen  über  Moralpliilosophie 

düng  zur  späteren  Reue  entkräftet,  und  zwar  nicht  durch  Verbergung 
der  Triebe,  sondern  durch  die  Vorhaltung  eines  Bildes  der  Schönheit 
die  er  einst  glucklich  machen  soll,  und  ihn  rein  haben  will.  —  Alsdenn 
wird  er  sich  nicht  wegwerfen,  sondern  mit  diesem  Bilde  wird  er  reisen, 
und  es  sich  zu  seiner  Glückseligkeit  aufsparen :  =  die  ganze  Totale  Ent-  5 
fernung  der  Begriffe  thut  nie  die  Wirkung  sondern  diese  Grundsätze 
=  =  So  wie  ich  die  Pflichten  des  Mannes  zusammenf aße :  Sey  Mann ! 
so  ists  auch  ein  Plan  vor  Weiberpflichten :  Sey  Weib  etc.  —  Einigkeit 
und  Einheit  ist  sehr  verschieden:  —  Die  Freundschaft  zwischen 
2.  Männern  aus  dem  Begriff  des  Erhabnen  kann  Einigkeit  haben:  10 
So  Freundschaft  zwischen  Weibern  aus  dem  Begriff  des  Schönen  kann 
30  Einigkeit  seyn  —  /  In  der  Ehe  aber  muß  nicht  blos  Einigkeit  sondern 
Einheit  seyn  —  zu  dem  Einen  Zweck,  der  Vollkommenheit  der  Ehe : 
—  Dazu  hat  nun  die  Natur  verschiedne  Gaben  in  beide  gelegt,  dadurch 
einer  über  den  andern  herrscht:  —  das  Frauenzimmer  reizt;  der  Mann  15 
rührt:  die  Frau  bewundert,  der  Mann  liebt;  und  so  herrscht  einer 
über  den  andern;  und  Es  wird  Einheit  ohne  Tyranney  des  Mannes 
und  Knechtschaft  der  Frau;  sondern  durch  gemeinschaftliche  Herr- 
schaft: —  So  ist  also  der  lezte  Zweck  der  Verbindung  der  beiden 
Geschlechter:  die  Ehe;  =  sonst  wird  der  Mann  weibisch;  das  20 
Weib  männlich,  so  ist  die  Ehe  verkehrt,  und  nicht  vollkommen  — 
Sezzt  eine  gelehrte  Frau,  eine  dreiste,  große:  so  ist  sie  ein  Competent 
meiner  Würde ;  ich  kann  über  sie  nicht  herrschen  und  die  Ehe  nicht 
vollkommen  werden.  —  Sezzt  einen  geschmückten  Mann,  einen 
schwächlichen  Zieraffen,  so  ist  er  ein  Competent  der  Frauenzimmer  25 
Schönheit,  sie  kann  über  ihn  nicht  herrschen  und  die  Ehe  wird  nicht 
vollkommen  —  Hingegen  ein  Mann,  von  seiner  natürlichen 
Würde,  mit  einem  Zutrauen  auf  sich  im  reinen  ungezierten  Kleide  wird 
ihr  mehr  gefallen:  —  Man  vermische  nicht  beide  Geschlechter:  = 
Das  Weibische  ist  am  Weibe  nicht  Tadel;  wohl  aber  das  Männliche :  30 
und  in  unseren  Ländern  ist  wegen  der  wenigen  Unterweisung  das 
Frauenzimmer  näher  der  Natur  als  z.  E.  in  Frankreich,  die  Amazonen 
etc.  wegen  der  Feinheit  der  Empfindung  können  sie  dies  noch  sehr 
unterscheiden. 

=  =  Da  Güter  und  Reichthum  blos  Mittel  sind  und  Möglichkeiten  35 
zum  Glück:  so  ists 

1)  thöricht:  sie  als  Zwecke  und  Sachen  zu  bewahren,  schätzen. 

2)  thöricht :  nach  Proportion  der  Reichthümer  —  nicht  proportional 
glücklich  zu  seyn. 


Praktische  Philosophie  Herder  51 

Indessen 

1 )  da  die  Menschliche  Glückseligkeit  nur  einen  mitlern  Grad  hat : 
so  steigt  sie  über  den  nicht,  wenn  gleich  Reichthümer  sind;  — 
Reichthümer  die  ein  Mittelmaß  übersteigen,  mühsam  zu  er- 

5  langen  ist  thöricht,  weil  hier  die  Mühe  des  Mittels  nicht  gleich 

ist  der  Große  des  Zwecks :  sondern  das  Leben  wird  verloren  und 
ist  also  comparative  nichts 

2)  auch  in  den  Mitte Imässigen  Graden  wächst  nicht  ganz  genau 
mit  Reichthümern  Glück 

10  Mittel  des  Reichthums  sind  verschieden:  —  der  Zuschauer:  thue 
heut,  waz  du  heut  thun  kannst :  ein  Pfennig  erspart,  ist  ein  Pfennig 
erworben  hier  soll  man  die  Moralite  betrachten :  und  da  sagt  Roußeau : 
reich  oder  arm:  der  müßige  ist  ein  Spitzbube:  —  dives  est  iniquus: 
wenn  nicht  politisch  (wer  will  es  ihm  da  nehmen)  so  doch  moralisch 

15 gewiß:  —  waz  ich  habe:  müßen  andre  entbehren:  —  mein  Puder 
entzieht  andern  das  Meel:  —  —  Ein  aktiver  Mensch  will  viel  ge- 
niessen :  —  die  Lustbarkeiten  etc.  der  dazu  viel  Neigung  hat  wird  auch 
wirksam  seyn  zu  arbeiten :  —  und  viel  einzuscharren  um  auszugeben : 
waz  die  Moralität  dieser  Sache  betrift  so  ist  hiebei  ein  Gemütsunglück, 

20  da  die  Habsucht  eine  Unruhe  des  Gemüts  voraussetzt,  die  sich  endlich 
nicht  sattigen  läßt :  —  Ein  Geiziger  aber,  der  noch  karg  ist,  ist  dem 
Staat  schädlich:  da  das  waz  ich  versperre,  alles  theurer  macht:  — 
Luxus  bedeutet  einen  gewißen  größern  Aufwand,  als  es  nöthig  wäre 
zu  den  Lebensbedürf nißen :  —  eine  luxuriöse  Frau,  die  viele  Hände 

25  in  Beschäftigung  sezt,  scheint  zwar  dem  Staat  nüzücher  zu  seyn  als 
die  es  armen  Müßiggängern  gibt:  —  Aber  es  sind  mehr  Arme  durch 
den  luxus  geworden,  als  dadurch  erhalten  werden;  viele  Handwerker 
macht  der  luxus,  die  an  sich  unnutz  sind  und  mit  dem  Namen  der 
Künstler  beehrt  werden,  beschmuckt  werden:  —  Der  Habsüchtige, 

30 um  es  zu  verthun,  thut  Schaden:  —  im  Erwerb  nimmt  ers  vielen  vor 
dem  Munde  weg:  —  im  Ausgeben  erhält  er  viele  unnütze  —  Nach 
der  Proportion  des  Erwerbs  steigert  sich  nicht  die  Summe  der  Wohl- 
fart:  und  ich  bin  stets  ungerecht,  wenn  ich  vielen  einen  beträcht- 
lichen Zusatz  zu  ihrer  Wohlfahrt  wegnehme :  da  ich  nur  einen  unbe  - 

35trächtlichen  meiner  eignen  zusezze.  —  So  wie  das  Geld  blos  nach 
seiner  bonität  ein  Mittel  ist,  so  ists  so  falsch,  wenn  man  es  als  Zweck 
betrachtet,  alsdenn  ists  quo  ad  vsum  nichts;  quo  ad  vtilitatem  noch 
wohl  ein  Mittel,  das  aber  so  unnüz  ist,  als  Kirchgehen  wenn  es  als 
Zweck  beobachtet  ist:   —  Der  Mensch  sieht  eine  lange  Reihe  von 


52  Vorlesungen  über  Moralphilosopliie 

Jahren  vor  sich;  die  er  aber  erst  aus  leichtsin  übersieht;  nachher 
aber  häufen  sich  die  Bedürfniße  des  Mannes,  des  Haushalters,  Vaters 
etc.  Er  erwirbt,  um  der  Zwecke  willen:  —  da  aber  die  Summe  blos  er- 
worben werden  kann,  wenn  ich  spare  sonst  verliert  man  hinten,  waz 
man  vorn  erwirbt :  er  abstrahirt  also  vom  Gebrauch ;  erstlich  zum  5 
Sparen  als  einem  Mittel,  nachher  durch  die  lange  Uebung  zum  Zweck 
und  wird  lächerhch.  —  Diese  Kargheit  ist  die  einzige  unheilbare 
Krankheit  (WoUust  etc.  zu  heilen)  weil  er  in  einer  Art  von  Wahnsinn, 
von  verkehrtem  Gefühl  ist,  das  Mittel  als  Zweck  ansieht:  —  Alte 
sind  karg  10 

1)  weil  der  lange  Geiz  am  meisten  ihm  Fertigkeit  gibt 

2)  weil  er  zu  nichts  anderm  Fähigkeit  hat,  als  diesem :  —  zusammen 
zu  halten:  zu  kargen 

3)  weil  das  Alter  am  meisten  verlassen  ist.  — 

Die  Kargheit  ist  die  lezte  Strafe  seiner  eignen  Unsinnigkeit  die  15 
doch  zulezt  noch  nüzzt:  —  so  wie  ein  Schwein  nach  dem  Tode  blos: 
—  und  dieser  Karge  lebt  lange,  um  den  Jüngling  zu  lehren  und  einen 
31  Zehrer  /  zu  machen,  der  durch  die  lange  Entziehung  schon  auf  Rech- 
nung verschwendet  hat,  und  ist  nach  seinem  Tode  schon  in  der 
Uebung  darin  20 

Die  Bescheidenheit  gibt  andern  ihren  Werth:  und  macht  sie  also 
bereit,  auch  unsern  Werth  zu  erkennen  und  associirt  also  die  Menschen 

Eitelkeit   wegen   Kleinigkeiten   ist   auslachens würdig   und   eine 
Eigenschaft  schwacher  Seelen:  —  Hochmuth  ist  ha  Bens  würdig  ist 
lasterhaft  und  ungerecht  weil  er  wahre  Vorzüge  affektirt:  =  Auf  ge-  25 
blasenheit  macht  verächtlich  und  ist  ungereimt: 

Stolz  vergleicht  sich  nicht;  ist  ein  höherer  Grad  der  Selbstschät- 
zung: —  allem  seinen  Werth  laßt  und  doch  ein  weises  Bewustseyn 
seiner  Kräfte  zeigt:  —  Eitle  Personen:  wollen,  daß  jeder  die  Augen 
auf  ihre  Kleinigkeiten  richte :  =  Sonst  woUen  die  Menschen  in  den  30 
meisten  Stucken  einander  gleich  seyn  und  leiden  also  weder  Eitelkeit 
noch  Hochmuth  noch  Aufgeblasenheit  =  der  Aufwand  zu  Erwerbung 
der  Ehre  bei  andern  ist  blos  Mittel  unsere  Zwecke  bhcken  zu  laßen: 

Dreust  ist  oft  wider  die  Bescheidenheit  z.  E.  am  Frauenzimmer 
eine  dreiste  Mine  verstellt  mehr  als  alle  Eitelkeit :  und  vornehmen  35 
Damen  kommt  sie  eben  so  wenig  ohngeachtet  ihres  großen  Standes  zu. 
Eben  so  wüste  Cicero  die  bescheidne  Erröthung  im  Reden  sehr  zu 
af  f  ektiren : 


Praktische  Philosophie  Herder  53 

Bemühung  andern  zu  gefallen.  Der  Beweggrund  des  Nutzens 
ist  unmoralisch  —  Moralisch  die  Neigung  andern  zu  gefallen,  ver- 
bindet die  Menschen  mehr:  die  Gefälligkeit  ist  eine  species  davon, 
und  das  Gegentheil  des  Eigensinns,  da  ich  mich  nach  eines  andern 

5 Willen  richte:  sie  ist  schlüpfrig,  kann  lobenswerth  seyn  aber  bald 
tadelhaft  und  verächtlich,  da  sie  zeigt,  daß  er  keinen  eignen  Willen 
hat  keinen  Moralischen  Werth.  Sie  ist  eine  Eigenschaft  schwacher 
Seelen.  Edle  haben  lieber  Eigensinn :  und  die  Fehler  aus  diesem  sind 
nicht  so  groß  als  die  aus  der  GefäUigkeit:  aus  dieser  sind  manche 

10 oft  müßig:  —  Jugend  muß  noch  gefälHg  seyn:  da  sie  noch  wenig 
Grundsäzze  hat  —  Bey  Kleinigkeiten  (und  derer  ist  das  Menschhche 
Leben  so  voll,  daß  es  selbst  bei  nahe  eine  Kleinigkeit  gegen  das  Ganze 
Dasejoi  zu  sejni  scheint)  macht  der  Eigensinn  getrennt  etc.;  doch  in 
der  Morahtät  Eigensinn  ist  lobenswerth 

15  Ehrbarkeit.  =  =  Ehre  des  Roußeaus  ist  blos  innere  Ehre  =  und 
das  ist  auch  die  Ehrbarkeit  eine  wahre  Selbstschätzung  des  Innern 
Werths:  das  Urtheil  der  andern  ist  blos  ein  accessoriimi :  —  Die 
Schwürigkeiten  der  SittUchkeit  zu  überwinden  gehört  eine  eigne 
Stärke 

20  Egoismus  moralis  ist  z'v\defach:  —  der  in  der  Selbstschätzung 
Schranken  überschreitet :  oder  in  der  Liebe  des  Wohlwollens :  da  ich 
meinen  Nutzen  stets  befordre 

Wegwerf ung  ist  gegen  sich  und  andere:  diese  macht  andre  aufge- 
blasen: sich  zum  Wurm:  komt  aus  jener  und  macht  unsere  VoU- 

25kommenheit  oft  unnütz;  wenn  ich  gleich  mir  aus  der  Elure  nichts 
mache,  so  doch  aus  der  Verachtung 

Die  Liebe  gegen  andre  zeigt  schon  eine  mindere  Bedürfniß  in  sich 
selbst  von  andern  Dingen  an :  Die  Liebe  seiner  selbst  muß  vorausgehen, 
da  die  Liebe  zu  andern  blos  auf  ihr  beruhet:  —  daß  der,  so  andre 

30 liebt,  seine  eigne  Glückseligkeit  erweitere:  ist  eine  Eigenschaft  der 
Abhängenden  und  folghch  der  erschaffnen  Geschöpfe:  —  wer  das 
System  seiner  Liebe  erweitert,  erweitert  auch  das  Wohl  seiner  Neben 
Menschen:  —  wie  wird  die  Liebe  ausgebreitet  ?  ist  eine  praktische  Fra- 
ge: schlechthin  befehlend  kann  ich  nicht  sagen:  du  sollst  heben!  — 

35  Diese  Liebe  ist  die  des  Wohlwollens,  oder  Wohlgefallens,  Wohlgefallen 
auch  unmoralisch.  Wohlwollen  sezt  schöne  Morahtät  voraus:  —  Die 
Vorstellung  des  Schönen  in  der  Handlung  ist  das  Mittel  dazu  = 

Leutseligkeit:  ist  ein  Zeichen  unserer  Liebe  und  ist  nicht  real 
und  efficiens;  d.  i.  Dienstfertigkeit  ist  symbohsch:  da  wir  ihm  die 


54  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

Neigung  zeigen  z.  E.  Minen :  Regeln  sind  sehr  schwer :  =  ^  =  Freund- 
lichkeit comitas  erfodert  größere  Gleichheit: 

Gleichgültigkeit  ist  als  Moralische  Eigenschaft  der  Menschen- 
liebe entgegengesezt :  ich  kann  aber  auch  unter  dieser  Kaltblütigkeit 
einen  sehr  guten  Zug  verstehen :  wenn  er  die  Menschenliebe  der  5 
Sympathie  im  Zaum  hält ;  und  ihr  den  rechten  Grad  gibt :  —  Werden 
die  Theilnehmende  Neigungen  blind,  ohne  Nutzen,  so  muß  der  Stoiker 
sagen :  wenn  du  andern  nicht  helfen  kannst :  so  sprich,  waz  gehts  dich 
an? 

Freundschaft  ist  sehr  verwickelt:  sie  sezt  schon  das  alter  ego  10 
voraus:  und  ist  nicht  stets  wo  ich  den  andern  liebe,  und  er  mich 
liebt  denn  1)  werde  ich  dadurch  nicht  eben  die  Heimliclili;eiten  ihm 
aiifschliessen  2)  bin  ich  nicht  gleich  überzeugt,  daß  er  etwaz  vor  mich 
aufopfern  wird.  Es  muß  seyn  daß  wir  sein  Bestreben  vor  sich  an 
unsere  Stelle  sezzen  können,  und  unsere  an  seine :  das  ist  aber  die  15 
große  Zumuthung;  daher  wenig  Freunde:  vermehre  ich  die 
Freunde:  so  verringere  ich  die  Freundschaft  und  es  ist  also  schon 
viel :  einen  einzigen  wahren  Freund  haben :  —  Zwischen  Verschiedenen 
kann  zwar  aufrichtige  Menschenliebe;  nur  nicht  im  Freundschaf ts- 
grade:  denn  diese  ist  die  höchste  der  Menschenliebe,  die  eine  Einerlei-  20 
heit  der  Persönlichkeit  voraussetzt :  —  Indessen  kommen  einige  dieser 
ziemlich  nahe  und  heißen  auch  freunde:  —  die  Eigentliche  Freund- 
schaft ist  theils  unmöglich  (wegen  der  vielen  eignen  Bedürfniße)  theils 
unnöthig :  (weil  meine  Sicherheit  schon  öffentlich  durch  viele  besorgt 
wird.)  25 

32  /  Der  starke  ist  nicht  rachgierig,  weil  er  teils  viel  ertragen  kann, 
es  erdulden  und  dadurch  nicht  gekränkt  ist,  da  er  sich  seiner  Stärke 
bewußt  ist:  und  sich  nicht  rächet.  —  Die  Ataraxie  wegen  solcher 
Kleinigkeiten  zu  zerstören,  hält  er  vor  zu  klein:  weil  er  stark  ist  — 
Schwache  Personen  sind  rachgierig  z.  E.  Frauenzimmer,  da  sie  in  30 
ihrem  Selbstgefühl  nicht  so  viel  Ersetzung  finden,  als  die  Männer  die 
als  Bewahrer  des  Menschlichen  Geschlechts  stark  seyn  sollen 

Neid  ist  ein  Mißvergnügen  über  des  andern  Wohlfart:  dies  ist 
bestimmung  vielleicht  noch  nicht  Erklärung.  —  Kann  ich  die  Wohl- 
fart des  andern  als  Ursache  meines  Unglücks  ansehen,  so  ist  dieser  35 
Haß  noch  nicht  Neid  —  Das  Glück  des  andern,  waz  ihm  nur  aus- 
schließungsweise mit  meinem  Glück  begegnen  kann,  erregt  nicht  einen 
Neid,  eigentlich  nur  Mißvergnügen  über  die  eigne  Beraubung  nicht 
über  des  andern  Besitz  eigentlich. 


Praktische  Philosophie  Herder  55 

Ein  Mißvergnügen  über  des  andern  Wohlfart,  deren  Anblick  meine 
Schwäche  in  größer  Licht  stellt,  ist  ein  leidlicher  Neid  Ein  Mißver- 
gnügen über  des  andern  Wohlfart,  deßen  Unglück  mein  Glück  in 
größer  Licht  stellen  sollte,  ist  der  ärgste  Neid    z.  E.  des  erstem,  —  wenn 

5er  bei  einer  Contribution  weniger  geben  darf:  etc.  daher  ist  die  All- 
gemeinheit des  Trostes  allgemein:  —  dies  ist  eigentlich  nicht  Neid, 
sondern  Empfindung  des  eignen  Unglücks,  das  durch  das  Gegen- 
verhältniß  stärker  wird :  — 

Möglichkeit  des  2ten:  des  eigentlichen  Neides,  der  so  ein  Phä- 

10  nomenon  ist  als  Fäulniß  und  erklärt  werden  muß :  —  des  andern 
Unglück  sezzt  mein  Glück  in  ein  größeres  Licht :  —  So  wie  die  Gesund- 
heit nach  der  Krankheit  blos  fühlbar  ist.  —  Es  ist  aber  nicht  gut, 
andern  Unglück  zu  wünschen,  oder  zuzufügen,  blos  um  das  seinige 
mehr  zu  empfinden;  —  der  Neid  ist  dieses  im  eigentlichen  Verstände, 

15  der  so  lasterhaft  ist  (da  er  den  wohlwollenden  Leidenschaften  so  sehr 
entgegen  ist)  als  er  selten  ist:  denn  große  Laster  sind  so  selten  als 
Tugenden:  und  da  wir  blos  verhältnißweise  beides  sind,  und  wir 
andere  nicht  kennen:  so  werden  viel  vor  Neid  unbillig:  —  Nerons 
Brand  der  Stadt  Rom,  blos  um  seine  Regierung  merklich  zu  machen, 

20  war  von  der  Art.  —  Indessen  ist  das  schon  Neid,  da  ich  des  andern 
Unglück  wegen  meines  Glücks  wünsche,  wenn  ichs  auch  nicht 
thue:  — 

Es  soll  aber  die  Zahl  der  Neider,  die  so  vergeblich  geglaubt  wird, 
lieber  vermindert  werden:  weil  1)  viele  so  wenig  uns  beneiden  sollen, 

25  die  uns  doch  kaum  bemerken  2)  oft  ist  der  Neid  blos  ein  Mißvergnügen 
über  das  eigne  Unglück:  — 

Enstehungsart  des  Neides:  —  die  übertriebenen  Bedürfniße 
lassen  die  Begierde  nach  fremdem  Gut  Gradweise  wachsen,  und  da 
das   eingebildete    Uebel   in    Gegeneinanderhalten   mit   dem    andern 

30  stärker  empfunden  wird :  so  nähert  es  sich  dem  Neide  schon  sehr :  — 

Vermeidungsart  des  Neides:    —    die    Gnügsaml^eit,    die    die 

Üppigkeit  vermindert,  übertriebne  Bedürfniße  und  Sehnsuchten:  — 

so  wie  Sokrates  auf  dem  Jahrmarkt  sagen  konnte :  wie  viel  kann  ich 

entbehren.  —  Eine  kalte  Gleichmüthigkeit,  die  das  meiste,  nicht  blos 

35  vor  Spielwerk,  sondern  goldnes  Halsband,  und  Ketten  ansieht,  ent- 
fernt vom  Neide:  —  da  so  wenig  beneidenswerth  ist:  —  weil  Glück- 
seligkeit nicht  in  dem  Schimmer  besteht,  wie  auch  nach  dem  Wuchs 
der  wahren  Glücksmittel  nichts  ins  unendliche  wachset:  =  unser 
eignes  laßt  uns  geniessen  mit  der  Tüchtigkeit  eines  Mannes:   mit 


56  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

Rechtschaffenheit,  und  bei  der  Erfüllung  der  Pflichten  seinen  Werth 
gemessen:  —  Um  diesen  zu  fühlen  —  braucht  niemand  unglücldich 
seyn  und  das  übrige  verachtet  er  ja :  und  eben  die  Rechtschaffenheit 
ist  dem  Neid  entgegen  —  Er  fühlt  seine  Würde,  die  nie  niedergeschla- 
gen wird:  5 

Nach  eiferung:  —  andrer  Beispiele  zu  Mustern  der  Vollkommen- 
heit genommen  sind  ein  Muster  der  Tugend  mehr : 

So  bald  ich  an  andern  Tugenden  sehe,  sehe  ich  ihre  Möglichkeit 
Leichtigkeit:  so  reizt  dies  in  concreto  mehr,  als  die  Betrachtung  in 
abstracto :  =  allein  es  gibt  eine  tadelhafte:  wenn  ein  Mißvergnügen  10 
über  des  andern  Vorzüge  der  Grund  einer  Bestrebung  ist,  zu  derselben 
Vollkommenheit  sich  zu  schwingen:  diese  ist  oft  Neid,  oft  führt  sie 
zum  Neide :  und  diese  heißt  Eifersucht :  und  ist  oft  (doch  unächt)  ein 
Grund  der  Nacheiferung:  —  Der  andere  wird  mir  gleich  wenn  ich 
vollkommen  wie  er,  oder  er  unvollkommen  wie  ich  werde:  —  Da  nun  15 
die  Eifersucht  dies  beides  nicht  unterscheidet,  sondern  gleichgültig 
ansieht,  so  ist  sie  im  lezten  Fall  böse :  —  Da  nun  es  immer  leichter  ist, 
33  Vollkommenheit  /  herunterzusetzen,  als  sie  zu  erhöhen :  so  sucht  die 
Eifersucht,  die  blos  die  Ungleichheit  verhüten  will,  mehr  zu  zer- 
stören :  und  ist  dies  insonderheit  bei  der  Ehre,  daher  die  Verkleinerung  20 
von  des  andern  (bricht  ab} 

Die  3  Triebfedern  der  Schulen:  Strafe,  Lohn,  und  Eifersucht,  sind 
zwar  poUtisch  gute  Mittel  zu  Zwecken :  aber  nicht  moralisch,  da  blos 
die  Schätzung  des  Werts  verhältnißmäßig  ist,  nie  aber  absolut:  da 25 
doch  die  edlere  Selbstschatzung  und  Demuth  blos  absolut  ist :  —  bei 
den  Weibern,  die  durch  ihre  Schwachheit  einnehmen,  ist  die  Eifersucht 
öfter,  als  Männern. 

Gewiße  Arten  von  MoraHschen  Regeln,  sind  so  plump,  als  der  Rath 
des  Arzts:  Sey  gesund:  —  Freue  Dich!  ist  oft  so  viel  als  sey  6'  hoch:  30 
=  wenn  das  Gefühl  voraus  gesezt  wird:  so  kann  ich  das  sollen 
brauchen:  —  wie  ich  mir  die  Gemüthsart  erwerben  kann,  soll  die 
Moral  sagen :  —  nicht  daß  man  sie  erwerben  soll :  —  so  bald  sie  schön 
ist,  so  versteht  sich  das  schon:  —  Diese  Regel  der  Möglichkeit  ist 
schwer,  macht  die  Moral  verwickelt  35 

Undankbarkeit.  —  Uneigennützige  Liebe  bringt  vt  plurimum 
Liebe  hervor:  ist  eine  Erscheinung:  so  gar  bis  auf  den  Elephant.  eine 
Liebe  des  Gefallens  und  des  Wohlwollens :  —  der  ist  undankbar,  der 
diese  Liebe  des  Wohlwollens  nicht  hat: 


Praktische  Philosophie  Herder  57 

Manche  Triebe  sind  nicht  aus  dem  Menschen  zu  erklären  wohl  aber 
aus  den  Absichten  der  Vorsicht,  daß  ein  jeder  Theil  des  Ganzen  nicht 
blos  innere  Schönheit,  sondern  äußerlichen  Anstand  habe.  So  bringt 
auch  Liebe  Gegenhebe  hervor:    —   Nun  kann  Undankbarkeit  der 

5  Mangel  der  Gegenhebe  seyn  —  (ingratitudo  defectus)  und  ist  desto 
größer  je  mehr  der  andre  hat  aufopfern  müssen  oder  Undanlcbarkeit 
ist  so  gleich  ein  Haß :  und  ist  desto  ärger :  —  Manche  Menschen  von 
wenigem  Gefühl  haben  auch  die  Undankbarkeit  im  Isten  Verstände  in 
einigem  Grade.  Kalte  Leute  haben  wenig  Liebe  des  Wohlwollens.  — 

10  Wie  ist  aber  der  Haß  gegen  den  Wohlthäter  zu  erklären  ?  —  Die 
Quellen  des  bösen  sind  im  Menschen  nie  unmittelbar:  ruhige  Bosheit 
ist  in  ilim  nie ;  ob  gleich  oft  die  gute  Absicht  sehr  versteht  ist  z.  E.  bei 
dem  Neide :  —  indessen  ist  doch  stets  eine  physisch  gute  Absicht  ver- 
borgen :  —  Und  die  Menschen  können  sich  also  auch  kaum  die  Mög- 

löhchkeit  derselben  vorstellen:  und  also  den  absoluten  Neid  schreiben 
sie  blos  dem  Teufel  zu:  —  Das  Menschhche  Herz  empört  sich  am 
meisten  gegen  eine  qualificirte  Undankbarkeit  wenn  sie  ein  wenig 
colorirt:  —  Inlde  ist  eigenthch  eine  Geschichte  des  Pater  Labat. 
—  Ist  der  Beweggrund,  Danlibare  zu  sehen,  der  Grund  einer  Wohlthat, 

20  so  ist  es  eben  dadurch  nicht  Gütigkeit  und  kann  also  auch  nicht 
Dankbarkeit  erwarten,  die  blos  auf  die  Gütigkeit  folgt.  Der  stets  über 
Undankbare  klagt,  scheint  wenig  Gütigkeit  zu  haben:  —  indessen 
kann  man  doch  über  Undanlc  klagen:  und  daher  entstehen  oft  aus 
den  gefühlvollsten  Leuten  IMisanthropen.  —  Ein  jeder,  dem  eine  Wohl- 

25that  erzeigt  worden,  steht  in  Verbindlichkeit  —  Ein  jeder  freier 
wird  am  wenigsten  Wohlthaten  annehmen  wollen,  blos  durch  Dank 
verbunden  des  Wohlthäters  selbst,  wird  die  Scham  des  edlen  Ge- 
müths  vermindert,  das  durch  den  Empfang  einer  Wohlthat  gebeugt 
wird.  —  Und  auch  die  D  a  n  k  s  a  g u  n  g  ist  solchen  freien  Seelen  schwer, 

30  und  sie  werden  also  mit  einem  Worte  mehr  verbinden  als  wirkhch 
Undanl?:bare  mit  langen  Quittancen  von  Danksagungen,  die  ad  plus 
dandum  invitiren  etc.  Und  auch  die  Erwiederung  der  Wohlthat 
kann  nie  die  Wohlthat  bezahlen,  (so  wie  jener  Wilde  seinen  Vater), 
sie  müste  denn  physisch  weit  größer:  —  Die  Moralität  kann  nie  er- 

35  wiedert  werden  —  Die  Dankbarkeit  gegen  Gott  ist  die  gröste,  da  er  so 
uneigennützig  wohlthätig  gewesen  etc.  etc.  etc.  Aber  nicht  blos  waz 
seyn  soll,  sondern  es  ist  etc.  —  auch  die  gutartigen  Menschen  haben 
wenig  Danlvbarkeit,  wenn  sie  mit  sich  selbst  sprechen:  —  als  denn 
würde  man  keine  eigennützigen  Beweggründe  zum  Guten  ihm  sagen 


58  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

müssen  ?  —  Woher  ?  —  Die  Wohlthaten  Gottes  stellen  wir  uns  ordent- 
lich nicht  als  solche  großen  Zeichen  einer  Gütigkeit  vor  ?  —  Weil 
eine  kleinere  Güte  bei  Menschen  schon  Beraubung  f  odert :  und  Gottes 
gröste  nicht  —  Ihre  eigne  Gütigkeit  nehmen  sie  also  zum  Maasstabe 
an:  —  & 

Die  Barmherzigkeit.  Das  Vermögen  uns  in  die  Stelle  eines  andern 
zu  setzen,  ist  nicht  moralisch,  sondern  auch  logisch,  da  ich  mich  in  / 
34  die  Stelle  eines  andern  setzen  kann  z.  E.  eines  Krusianers :  —  So  auch 
in  Moralischen  Dingen,  da  ich  mich  in  die  Empfindung  eines  andern 
sezze,  um  zu  fragen,  waz  er  hiebei  denken  wird:  —  Sezze  ich  mich  lo 
durch  Fiktion  in  die  Stelle  eines  andern  so  ist  dies  hevristisch, 
um  beßer  auf  gewiße  Dinge  zu  kommen.  Sie  kann  ganz  geschickhch 
seyn  aber  nicht  moralisch,  da  ich  nicht  in  seiner  Stelle  bin :  —  Außer 
der  wahrhaftigen  Sympathie,  da  wir  uns  wirklich  in  seiner  Stelle 
fühlen:  —  Das  Mitleiden  wäre  zur  Moralität  nicht  gnug:  —  In  deris 
Wildniß  sind  die  Instinkte  gnug:  ein  jeder  sorgt  vor  sich:  wenig 
Elende :  und  alsdenn  reicht  das  Mitleiden  zu ;  —  In  der  bürgerhchen 
Gesellschaft  wo  Elende  multiplicirt  sind,  so  würde  es  —  so  sehr  aus- 
gedehnt —  oft  vergeblich  seyn,  blos  kränkend  seyn  —  folglich  sehr 
geschwächt  werden,  und  nur  auf  dem  gr Osten  Elende  afficirt  werden  20 
—  Indessen  bei  dem  gemeinen  Mann,  der  weniger  bedarf,  mehr  also 
theilnehmendes  haben  kann,  der  Einfalt  näher  ist,  werden  diese  Mit- 
leidige Instinkte  größer  seyn.  —  Der  politische  Mensch  wird  sehr 
durch  eigennützige  gekünstelte  Begierden  gehalten:  —  folglich  tritt 
hier  an  die  Stelle  des  Mitleids  der  Begrif  von  dem  waz  recht  ist;  25 
waz  geziemt;  Dieses  kann  nie  vergeblich  sejni  weil  ich  zu  unmög- 
lichem nicht  verbunden  werde:  —  hier  wird  die  Tugend  ruhig,  ver- 
nünftig, und  bleibt  nicht  blos  thierischer  Instinkt,  welche  leztere 
zwar  im  Naturzustande  ziemlich  regelmäßig  wirken:  —  aber  im  ge- 
meinen Politischen  nicht  zulangen  30 

Rache  ist  eigentlich  ein  Vertheidigungstrieb :  geht  aber  weiter  über 
die  Schranken,  so  weit,  daß  die  Nordamerikaner  unmittelbar  an  Rache 
Vergnügen  zu  haben  scheinen.  Indessen  wollen  sie  blos  vielleicht  ein 
Muster  der  Standhaftigkeit  sehen  dadurch  sie  ihre  Krieger  an- 
muntern :  —  Die  Grausamkeit  der  Kinder  komt  daher,  weil  es  gleich-  35 
sam  ein  tragisches  Schauspiel  macht:  so  wie  wir  gern  starke  Leiden- 
schaften, starke  Handlungen  z.  E.  Exekutionen  sehen.  —  Geschwinde 
Grausamkeit  rührt  uns  mehr  als  allmähliche :  —  Dieberey,  die  langsam 
todtet  ist  oft  härter  als  plotzhche  Tödtung:  —  wenn  ein  Patriarch 


Praktische  Philosophie  Herder  59 

Iväme  etc.  etc.  —  theatralisch  und  morahsch  sollten  diese  mehr  be- 
rühren. —  Inhumanitas  —  Humanitas  ist  Menschlichkeit  oder  Leut- 
seligkeit, die  lezte  zeigt  sich 

1)  durch  natürliche  Zeichen:  Minen,  Worte,  kleine  Gefallen 

5  2)  durch  willkürliche  Zeichen:  Gratulation  etc.  deren  Mangel  in- 
humanitas zeigen  möchte :  Doch  da  das  vornemste  Zeichen  der  Natur 
Einfalt  ist;  —  so  zeigt  eben  auch  der  Überfluß  des  Künstlichen  den 
Mangel  des  Natürlichen  —  und  es  gehört  Kunst  dazu,  um  die  Kunst 
zu  vermeiden  und  der  Natur  zu  folgen :  von  dem  geziemenden  abzu- 

10  gehen  und  über  den  Redegebrauch  zu  Empfindungen  aufsteigen :  und 
das  beste  ist,  dem  andern  nichts  zu  sagen  (sondern  durch  Minen  und 
Thaten)  da  das  Sprechen  schon  einen  Verdacht  der  künstlichen  Leut- 
seligkeit. —  rusticitas  ist  natürlich  oder  bürgerlich,  natürlich 
da  man  selbst  kleine  Gefälhgkeiten  nicht  empfindet,  und  sie  also  auch 

15  bei  andern  unterläßt :  —  sie  kann  oft  bei  Rechtschaffenheit  eine 
Kleinigkeit  seyn  ja  da  sie  selten  ist:  so  pflegt  sie  oft  bei  starken  Per- 
sonen ein  Empfehlungsmittel  zu  seyn  oder  2)  bürgerlich  ist  wider 
die  angenomenen  Zeichen  der  Höflichkeit.  Da  sie  1  a n ge  im  Gebrauch 
sind,  werden  sie  beinahe  Natur:   —  Sie  zeigte  entweder  eine  große 

20  Unempfindlichkeit  der  Höflichkeit  oder  Verachtung  der  Gesellschaf- 
ter: —  Doch  gibts  auch  Pedanterei  hierin:  die  unsere  Aufmerksamkeit 
von  größern  Dingen  abzieht:  — 

Offenherzigkeit.  —  Der  das  Sprichwort  erfand:  geh  mit  deinem 
Freunde  so  um  als  Feind,  hätte  mit  ihm  unter  dem  Galgen  sollen 

25  zusammenkommen :  — 

/Lüge  ist  blos  zu  eingeschränkt,  als  Beleidigung  des  andern;  un- 35 
mittelbar  ist  sie  schon  abscheulich,  als  Unwahrheit,  da  diese  a)  die 
Menschliche  Gesellschaft  innigst  trennt:  und  die  Wahrheit  das  Band 
der  Menschlichen  Gesellschaft  ist;  blos  Wahrheit  ist  verloren,  und 

30 damit  alles  Gluck  der  Menschheit;  alles  ist  maskirt,  und  jedes  Kenn- 
zeichen der  Höflichkeit  ist  Betrügerey:  —  wir  bedienen  uns  andrer 
Menschen,  unsers  besten  willen,  die  Lüge  ist  also  ein  Großer  Grad 
der  Unwahrheit,  b)  so  bald  der  Wahn  der  Ehre,  ein  herrschender 
Grundsaz  wird,  so  sezt  dies  der  Lüge  schon  keine  G ranzen.  Eigennutz 

35 kann  kein  so  großer  Grund  seyn  da  Lüge  nicht  ein  daurend  Mittel 
des  Vorteils  ist;  da  andre  ihn  fliehen.  —  Die  allergewinnsüchtigsten 
Kaufleute  sind  im  Handel  die  ehrlichsten;  blos  aus  Eigennutz 
und  dieser  ist  also  oft  ein  Grund  der  Wahrheit  etc.  —  Der  Wahn  der 
Ehre  macht  Lüge  leichter;  da  der  innere  Gehalt  nicht  so  augenschein- 


60  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

lieh  ist  hier;  z.  E.  Religion,  Wohlbefinden  kann  leicht  vorgegeben, 
und  nicht  so  bald  entdeckt  werden  c)  die  Sehnsucht  nach  Phantasti- 
schen Vollkommenheiten,  die  vielleicht  sich  nicht  vor  sie  geziemen, 
z.  E.  ein  uneigennütziger  Diensteifer  ist  phantastisch  zu  hoch  vor 
uns ;  da  wir  aber  in  einigen  Stücken  ihm  doch  dienen  können ;  so  will  5 
man  sich  phantastisch  selbst  aufopfern,  und  da  sie  es  nicht  seyn 
können;  so  wollen  sie  es  doch  scheinen:  2tes  Exempel  —  Phan- 
tastische Begierde  nach  unendhcher  Erkenntniß  die  uns  unmöglich 
ist,  macht  Schein  dieser  Erkenntniß;  bei  dem  Luxus  im  Wissen  und 
Geniessen  findt  sich  also  die  Lüge ,  die  dem  natürlichen  Menschen  10 
die  allerabscheulichste  ist  ?  Werth  der  Wahrheitsliebe  1)  sie  ist 
der  Grund  aller  Tugend,  das  erste  Gesetz  der  Natur  Sei  wahrhaft! 
ein  Grund 

1)  der  Tugend  gegen  andere:  da  wenn  alles  wahrhaft  wäre  seine 
Unwahrheit  aufgedeckt:  Schmach  15 

2)  der  Tugend  gegen  sich  da  er  sich  gegen  sich  selbst  nicht  verbergen 
kann;  und  seinen  Abscheu  einhalten  zu  können. 

Die  Beschämung  (die  nachher  dem  Wahn  untergeordnet  ist,  und 
selbst  die  besten  Handlungen  überdeckt)  scheint  ein  Naturmittel  zu 
seyn  (pudor  nicht  blos  pudicitium  in  Wollust)  die  Wahrhaftigkeit  zu  20 
befördern;  und  Falschheit  zu  verrathen:  —  Möchte  man  die  Beschä- 
mung blos,  um  die  Lüge  zu  verrathen  brauchen:  so  ist  sie  sehr 
brauchbar:  —  Die  Vorsehung  würde  sie  gewiß  nicht  zum  Wahn 
36 gegeben  /  haben,  da  sie  die  gröste  Marter  ist;  sondern  zum  Verrath, 
unwillkuhrlichen  Verrath  ist  sie  gegeben.  Sie  ist  nie  gewesen  uns  25 
zu  angstigen,  sondern  etwaz  zu  verrathen,  waz  die  Natur  nicht 
verbergen  wollte;  —  Diese  Schamhaftigkeit  so  nutzHch  zu  brau- 
chen zum  Gegengift  wider  die  Lüge:  muß  man  die  Beschämung  zu 
nichts  anders  brauchen,  nicht  z.  E.  zum  Entblössen:  hier  blos  das 
Mittel  der  Nachahmung :  hat  er  sich  dum  aufgeführt  oder  geredet,  so  so 
überzeuge  ich  blos,  und  als  Kind  geziemt  ihm  viel,  waz  dem  Mann 
nicht  geziemt  Gesezt !  daß  er  aber  ohngeachtet  seiner  Wahrheitshebe 
doch  einmal  lüge,  aus  Eigennutz  da  die  Wahrheitshebe  nicht  so 
lebhaft  ist,  als  physische  Empfindung;  alsdenn  aber  sage  ich  ihm 
nicht  von  Gehorsam  (davon  hat  kein  Kind  Begriff  und  kein  Alter)  35 
sondern  blos  von  Unwahrheit:  endhch  bekommt  er  solchen  Abscheu 
als  vor  einer  Spinne;  Blutschande  mit  Schwester  ist  nicht  abscheu- 
lich, weil  es  göttliches  Verbot  ist;  sondern  weil  es  von  Jugend  auf 
eingeprägt  ist;  solche  Macht  haben  die  Ideen  des  Entsetzens:  und 


Praktische  Philosophie  Herder  61 

sähe  ein  Sohn  des  Vaters  Abscheu  vor  Lügen,  so  würde  nach  der 
Morahschen  Sympathie  er  dasselbe  einsehen.  Sezt  diesen  erwachsen; 
so  würde  sich  alles  beßern ;  ich  werde  öffentlich  sagen  meine  Absichten, 
z.  E.  daß  ich  nicht  zum  Nutzen  der  Wissenschaft  sondern  aus  Eigen- 
5  nutz  strebe ;  ich  würde  mich  zu  einem  Amte  blos  sehnen  waz  ich  beklei- 
den kann;  Jezt  ist  aber  Unwahrheit  nicht  blos  in  der  Welt,  sondern 
auch  vor  Gott,  in  der  Einsamkeit !  da  man  auch  vor  ihn  nicht  ohne  Ver- 
stellung treten  kann;  —  Um  Wahr  zu  seyn,  müßte  man  jezt  viel  ent- 
behren :  Daher  scheuet  ein  jeder  Wahr  zu  seyn  —  höchstens  im  Schlaf- 

10  rock.  Die  Unwahrheit  kann  endlich  sich  selbst  betrügen :  daher  Selbst- 
prüfung eben  so  schlüpfrig  z.  E.  die  schöne  Seite  der  Gutherzigkeit  wird 
vor  die  Lasterhafte  Seite  gehalten :  und  Menschen  werden  selbst  gegen 
Gott  endhch  betrügende:  z.  E.  Freunde  Hiobs:  —  gewiße  Unwahr- 
heiten heißen  nicht  Lügen  weil  diese  eigentlich  Unwahrheiten 

15 sind,  die  der  Pflicht  entgegengesetzt  sind;  nicht  aber  blos  nach 
Autors  Meinung  der  Pfhcht  gegen  mich;  sondern  auch  gegen 
andre:  —  die  Wichtigkeit  der  WahrheitsHebe  ist  so  groß  daß  man 
fast  nie  eine  Ausnahme  machen  kann 

Die  Unwahrheit  zum  hohen  Vortheil  des  andern  hat  noch 

2oetwaz  der  Tugend  nahe  verwandtes  Erhabnes:  —  Indessen  ist  die 
Wahrheit  zum  Nachtheil  seiner  selbst  zu  reden  noch  erhabner: 
und  zum  Vorteil  seiner  selbst  Unwahrheit  zu  reden,  ist  zwar  stets 
Unmoralisch  /  da  aber  die  höchste  Moralität  nicht  gleich  diesT 
Moralische  Stuffe  der  Menschen  ist:  so  ists  zwar  nicht  gleich 

25  ausgemacht ;  aber  da  die  Gränzen  der  Stärke  und  Verbindlichkeit 
eines  Menschen  schwer  zu  bestimmen  sind;  so  wird  diese  Menschen 
Ethik  der  Unwahrheit  so  verwirrt  seyn  als  die  Logica  probabilis. 
—  Ein  jeder  Feiger  lügt:  z.E.  Juden  nicht  blos  im  Handel  sondern 
auch  im  gemeinen  Leben;  Judenrichter  ist  das  schwerste;  sie  sind 

30 feige:  z.  E.  Kinder,  die  feige  erzogen  werden,  lügen;  da  sie  schwach 
sind,  sich  zu  überwinden  etc.  nicht  aber  jeder  Lugner  feig;  da  es  auch 
abgehärtete  Bösewichter  gibt. 

In  manchen  FäUen  scheint  eine  kleine  Unwahrheit  schwachen  Per- 
sonen nicht  entgegen  zu  seyn,  bei  uns ;  oft  verwickelt ;  wenn  der  andere 

35  waz  fragt;  er  nicht  stillschweigen  kann,  das  wäre  bejahen;  etc.  etc. 
Kurz  man  untersuche:  den  Grad  der  Morahtät,  der  den  Menschen 
angepassen:  —  man  kann  so  wie  alle  feine  Neigungen  auch  die  Be- 
gierde nach  Heiligkeit  erweitern ;  es  können  nicht  alle  Sittliche  Men- 
schen sein,  die  schwach,  bedürftig,  sind,  da  vnr  in  wenigen  Fallen  Hei- 


62  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

ligkeit  erreichen  können :  —  wenn  unsere  Unwahrheit  mit  seiner  Haupt- 
absicht übereinlvommt,  so  ist  sie  böse;  wenn  ich  ein  wirkhch  großes 
Uebel  blos  durch  dies  Mittel  verhüten  kann :  so  etc.  hier  tritt  Gut- 
herzigkeit an  die  Stelle  der  Offenherzigkeit;  =  ein  großes  Gut  durch 
Unwahrheit  zu  erlangen,  ist  lange  nicht  so  zu  entschuldigen,  als  ein  5 
großes  Uebel  durch  Unwahrheit  abzuwehren ;  denn  1 )  unsere  Neigung 
zu  unserem  Glück  ist  oft  phantastisch  und  Moralität  deßwegen  nicht 
aufzuopfern  2)  ein  Aufheben  deßen,  waz  ich  besitze  ist  größere  Ver- 
neinung, als  ein  Abziehen  des,  waz  ich  haben  könnte  —  Nothlüge 
ist  contradictio  in  adjecto  oft ;  so  wie  künstlicher  Rausch ;  —  sie  ist  lo 
Unwahrheit  nicht  wider  Verbindlichkeit;  so  ist  sie  nicht  Lüge 
eigentlich.  Scherzhafte  Lügen  wenn  sie  nicht  vor  wahr  gehalten 
werden,  sind  sie  nicht  unmoralisch.  Ists  aber,  daß  der  andre  es  immer 
glauben  soll;  und  schadete  sie  auch  nicht;  so  ists  Lüge;  da  es 
wenigstens  immer  Täuschung;  —  Unwahrheit  sezt  Wiz  voraus,  undis 
Geschicklichkeit;  daher  künstliche  Lüge,  Ehre;  z.  E.  Hofleute 
Politicer  müssen  durch  Lügen  ihre  Absicht  erreichen  und  jeder 
fliehe  solchen  Stand,  wo  Unwahrheit  ihm  unentbehrlich  ist 

Die  Neigungen  des  Menschen  in  der  Natur  sind  von  denen  zu  unter- 
scheiden, die  sich  durch  künsthche  Triebfedern  entwickeln ;  ein  vor-  20 
ssnemstes  Stuck  der  Selbstkenntniß.  /  Eine  Ethik  vor  den  Menschen, 
bestimtin  seiner  Natur  ist  noch  zu  schreiben,  nach  seinen  Erkenntniß 
Kräften  und  Fähigkeiten  —  Denn  durch  die  Vernunft  kann  man  auch 
vernunftige  Vollkommenheiten  erkennen  die  sich  vor  ein  höhers  Wesen 
zwar,  aber  vor  ihn  nicht  paßen:  —  hier  untersuche  man  seine  Schran-  25 
ken:  und  den  Menschen  der  Natur  kennen  zu  lernen,  halte  man 
dies  zur  Regel,  daß  man  die  Stücke  nimt,  die  vor  jede  Kunst  un- 
veränderlich sind,  und  waz  denen  zuwider  ist,  wird  gekünstelt  seyn.  — 
solche  regelmäßige  Naturneigungen  sind  1)  Selbsterhaltung  2)  und 
Neigung  sein  Geschlecht  zu  erhalten;  die  können  durch  Reflexion  so 
vermehrt,  vermindert  werden,  aber  nicht  die  Reflexion  wirkt  den 
Trieb:  Man  muß  auch  wider  die  Reflexion  eßen  sich  bedecken:  — 
blos  wollustig  ist  der  Geschlechtertrieb;  —  Die  Einrichtung  der 
Natur  ist  alt,  ursprünglich,  un verhinderlich,  Reflexion: 

a)  Freiheit  ist  auch  Trieb;  weil  ein  jeder  seinen  eignen  Willen  35 
befolgen  will;  und  wider  die  physische  Hinderniße  weiß  er  Mittel; 
nicht  aber  wider  den  Willen  des  andern;  und  dies  hält  er  für  das 
gröste  Unglück;  es  ists  auch;  da  es  theils  weit  kränkender  ist  theils 


Praktische  Philosophie  Herder  63 

unabhelfbar;  Daher  sind  alle  Thiere  gleich  frei;  aus  der  Freiheit 
entspringt 

b)  die  Begierde  der  Gleichheit  insonderheit  in  der  Stärke:  (sonst 
auch  List)  weil  die  das  (bricht  ab} 

5      Aus  dem  Triebe  zur  Gleichheit  entspringt 

c)  der  Trieb  zur  Ehre;  will  der  andre  mich  seiner  bemächtigen:  so 
muß  er  denken:  ich  bin  ihm  gleich:  das  ist  Ehre;  die  ist  zwiefach 

1)  mich  selbst  zu  erhalten:  Stärke  zu  haben,  und  beweisen;  um 
nicht  Knecht  zu  werden 

10  2)  seine  Art  zu  erhalten:  der  Mann,  der  Stärkere,  begehrt  des 
Weibes  Zutrauen;  also  daß  er  sie  erhalten,  verteidigen  könne;  er 
wird  sich  Frau  wählen,  und  muß  machen,  daß  er  ihr  gefällt:  und 
da  sie  schwach  ist,  so  sezt  sie  den  Werth  in  Tüchtigkeit.  —  Dieser 
2te  Trieb  der  Ehre  wirkt  mehr  als  der  Iste;  daher  Roußeau  den 

15  Geschlechtertrieb  veredelt ;  dem  ersten  kann  er  Trotz  bieten ;  aber 
dieser  wirkt  stark 

Der  Trieb  zu  wissen  liegt  nicht  in  der  Natur;  uns  zwar  jezt  un- 
entbehrlich aber  blos  durch  lange  Uebung:  Langeweile  ist  blos  für 
uns  Grund  /  Der  Trieb  zur  Wissenschaft  aus  Selbsterhaltung 39 

20  hangt  blos  von  der  Zufälligkeit  des  Zustandes  ab :  aus  der  unmittel- 
baren Ehre  niemals;  sondern  stets  Zweck: 

das  kann  nicht  in  der  Natur  liegen  waz  1)  nie  befriedigt  werden  kann 

2)  mit  der  Kürze  des  Lebens  und  großen  Begierde  disproportionirt  ist. 

Ueberhaupt  ist  das  unnatürlich,  waz  den  Trieben  der  Natur 

25  entgegen  ist  zu  dem  WissenschaftsTrieb:ist  nicht  blos  etwaz  dem 
Selbsterhaltungs-  sondern  insonderheit  dem  Geschlechtertriebe  Ent- 
gegengesetztes : 

Indessen  muß  ich  blos  den  Menschen  der  Natur  kennen;  nicht 
bei  der  jetzigen  Verknüpfung,  es  zu  seyn;  es  darf  zwar  mein  Herz 

30  sich  nicht  darnach  sehnen,  aber  ich  muß  mich  doch  p a ß e n ;  also  Ehr- 
sucht sey  nicht  leidenschaft,  da  ich  sie  verachte;  also  nicht  Pest;  aber 
doch  als  Zweck,  um  wirksam  zu  seyn:  also  Wißenschaft  etc.  nicht 
ein  blinder  Durst  (folglich  nicht  ohne  sie  lange  weile ;  nicht  ungesellig ; 
nicht  verachtend  den  Ungelehrten,  sondern  glücklich  schätzend)  aber 

35 doch  äußerlich;  als  Zweck;  Nie  kann  man  Tugend  anders  in  sich 
erreichen:  —  Denn  der  Moralist,  Geistliche  sezt 

1)  Gemächlichkeiten,  Ehre  etc.  etc.  schon  zum  Voraus:  die  doch 
unnatürlich  ist 


64  Vorlesungen  über  Moralpliilosopliie 

2)  dehnt  die  Pflichten  wider  die  Natur  aus  z.  E.  Ehe  nicht  aus 
Geschlechtertrieb  sondern  aus  Gottes  Befehlen:  —  man  erkünstelt 
sich  auch  falsche  Tugenden:  —  die  dem  natürlichen  nahe  dem 
künstlichen  Menschen  zu  hoch  und  hyperbolisch  sind:  Der  ist 
glücldich  der  gut  ist  ohne  Tugend  (mit  Empfindung  ohne  Begriffe :  5 
der  Mensch  thut;  Philosoph  weiß  es).  Der  ist  glückhch  der  ver- 
ständig ist  ohne  Wißenschaft;  beide  leztere  sind  blos  Schimmer: 
etc.  —  Plan  von  beurteilungen  des  gemeinen  Urteils;  —  Unter- 
suchung der  Natur  und  Kunst;  daher  beurteilen  der  Projekte.  Man 
sehe  nach  dem  Mittelmaß  zuerst;  sonst  erreicht  man  nie  das  Hohe:  10 
vor  das  unser  Leben  gemeinighch  zu  kurz,  Projekt  zu  phantastisch  ist. 
40  /§.  348.  Verhältniß  der  Menschen;  zum  Begrif  des  Systems  der 
Menschenliebe:  die  Liebe  des  Wohlwollens  (anderer  größerer  Wohl- 
fart)  ist  entweder  thatig  oder  wünschend.  Die  blos  sehnsüchtige 
oder  wünschend  ist,  komt  entweder  vom  Grad  der  Schwäche  oder  15 
von  der  Beschaffenheit  da  sie  blos  phantastisch  ist :  denn  ein  gar  zu 
hoch  gesteigerter  Grad  vor  mein  praktisches  Vermögen  ist  eben  so 
unthätig  als  der  fehlende:  —  Ueppigkeit  in  der  Morahte  macht 
auch  solche  Wünsche  und  Sehnsucht,  die  deßwegen  nicht  gut  ist  da  sie 

1)  unnutz  20 

2)  betriegend  da  sie  Zeit  verschleudert,  und  wirklich  Praktisches 
verhindert :  denn  die  wenige  Praktische  Liebe  hat  die  gar  zu  große 
Phantastische  zur  Ursache .  Um  also  beide  zu  untersuchen  sehe  man 
1)  ein  Mensch  liebt  den  andern  nicht  eher  thätig,  bis  er  sich 
selbst  wohlbefindet:  da  er  das  principium  des  Gutes  des  andern  ist:  25 
so  beßere  er  sich  erst:  Er  sey  vor  sich  zufrieden:  und  also  je  mehr 
Ueppigkeit  desto  weniger  Praktische  Menschenhebe.  Denn  jene  ver- 
mehrt Phantastisch  die  eignen  Bedürfniße;  und  macht  also  die 
Praktische  Liebe  schwer  d.i.  eo  ipso  selten;  —  Um  sie  praktisch 
zu  machen  macht  sie  mit  sich  zufrieden;  viel  entbehrend;  daraus  so 
Praktische  etc.  alle  übrige  Triebfedern  machen  Phantastische  Triebe ; 
—  Daher  wird  im  Stande  der  Einfalt  viel  im  luxus  wenig  Praktische 
Menschenhebe  seyn;  aber  mehr  Phantastisches,  und  da  man  dieses 
nicht  befriedigen  kann,  da  sonst  das  ganze  Menschliche  Geschlecht 
vor  mich  wäre,  so  wünsche  ich  blos;  und  habe  mir  blos  die  Phan-  35 
tasie  erdacht,  weil  ich  das  Praktische  vermißte ;  —  Nehmt  den  Men- 
schen der  Natur  (nicht  den  Menschen  in  Wäldern,  der  ist  vielleicht 
Chimäre)  sondern  den  einfaltigen  mitten  in  der  künstHchen  Gesell- 
schaft; der  sein  Herz  an  nichts  hangt:  Ein  Mensch  der  reell  liebt, 


Praktische  Philosophie  Herder  65 

liebt  eingeschränkter;  und  es  kann  nicht  auf  alle  seine  Liebe 
gehen,  ohne  sich  selbst  zu  vergessen,  seinen  Standpunkt  zu 
beobachten :  —  Ein  natürhcher  Mensch  bekümmert  also  sich  um  sich 
selbst ;  ohne  viel  nach  dem  Wolübefinden  sich  zu  erkundigen.  —  Unsere 

5  Theilnehmungen  als  Komplimente  sind  lappisch ;  —  indessen  wird 
doch  seine  liebe  praktisch  seyn  z.  E.  der  plötzlich  in  Gefahr  ist; 
hier  kann  dieser  Instinkt  nicht  durch  Bosheit  ausgerottet  werden ;  er 
verbindet  das  ganze  Menschliche  Geschlecht;  und  ist  mächtig,  da  er 
oft  nicht  der  Vernunft  wartet  /  Indessen  ist  dieser  wahre  Praktische  4i 

10 Instinkt  nicht  so  wohl  das  Gute  zu  vergrößern  als  großen  plötz- 
lichen Schaden  zu  verhindern;  und  so  bald  sie  zu  groß  ist  vor 
seine  Kräfte;  so  sind  die  Wünsche,  Mitleiden  vor  ihn  zu  läppisch;  er 
muste  sich  von  sich  selbst  zerstreuen;  und  lenkt  also  mit  ganzer 
Willigkeit  seine  Gedanken  ab :  —  Jezt  in  bürgerlicher  Gesellschaft  da 

15 die  Bedürfniße  sich  vermehren:  —  die  Gegenstände  des  Mitleids 
sich  häufen ;  das  Vermögen  der  Menschen  selbst  abnimmt ;  da  sie  theils 
reell  teils  durch  den  Wahn  schwach  und  also  elend  sind;  da  die  Uebel 
des  Wahns,  die  mich  eingebildet,  und  tausend  andre  reell  ähn- 
lich machen,  sich  mehren:  waz  muß  hier  Menschenliebe  seyn? 

20 Eine  Narbe:  eine  eingebildete  Menschenliebe,  eine  Sehnsucht  der 
Phantasie  ist  die  Natürliche  Folge:  So  breitet  sie  sich  jezt  aus;  und 
verdirbt  das  Herz;  —  da  man  dem  Menschen  durch  Moral  die 
Phantastische  Menschenliebe  so  weit  durch  Unterricht  einflößt;  so 
bleibt  dies  im  ganzen  Leben  Spekulation  ein  Gegenstand  der  Romane 

25  z.  E.  Fieldings  etc.  die  keine  Wirkung  hat  weil  sie  zu  hoch  ist  und 
2)  die  Hinderniße  nicht  wegräumt.  —  Die  wahre  Liebe  ist 

1 )  die  Gerechtigkeit :  —  Sie  ist  die  Liebe  der  Natur,  die  Fvmdamental- 
liebe:  da  sie  sich  auf  ein  lebendig  Gefühl  der  Gleichheit  gründet; 
sonst  wird  Gunst  etc.  daraus;  hier  aber  Gerechtigkeit;  ich  nichts 

30  schuldig;  —  Die  Gleichheit,  daß  der  Natürliche  Mensch  allen  andern 
und  alle  ihm  gleich  ist;  und  da  die  Moralische  Sympathie  allen 
eingeprägt  ist  sich  an  die  Stelle  der  andern  zu  setzen :  so  folgt  daraus 
lebhafte  Gerechtigkeit.  Aus  ihr  entsteht  die  Schuldigkeit 
andrer  ihre  Uebel  zu  lindern;  die  gleich  ist  der  Gerechtigkeit  z.  E. 

35  einer  der  mich  nicht  vorm  Graben  warnt ;  du  wirsts  von  andern  f odern 
folglich  must  dus  thun.  Ohne  Menschenliebe  würde  diese  Gerechtig- 
keit blos  Schein  seyn.  Der  Mensch  im  bürgerlichen  Zustande  hat  nur 
gegen  wenige  Gerechtigkeitsliebe  zu  haben:  denn  freilich  das 
ganze   Menschengeschlecht   hat   dazu    Schuldigkeit   vor   jeden 

5     Kant's  Schriften  XXVII/1 


66  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

einzelnen  Menschen;  nicht  aber  jeder  Mensch,  weil  seine  Möglich- 
keit abnimt;  —  aus  der  Menschenliebe  wird  Gunst  entstehen: 
da  er  Menschen  auswählt ;  ohne  besonderen  Zwang,  ohne  Verdienst; 

—  Die  Liebe  der  Gunst,  wenn  sie  nicht  künstlich,  zu  hoch,  zu  über- 
windend seyn  soll,  so  ist  sie  auf  Menschenliebe  gebaut :  —  Hier  ist  zu  s 
untersuchen,  wie  weit  lassen  sich  Gesellschafts  Pflichten  auf  die 
Menschenliebe  und  Schuldigkeit  gegen  ihn  aufpropfen;  auf  die 
Gerechtigkeit,  dies  ist  unentbehrlicher  Zweck  der  Sittenlehre  und 
die  Gerechtigkeit  wird  auf  die  hohe  Empfindung  der  Gleich- 

43  heit  gegründet.  /  Es  ist  im  Menschen  eine  moralische  Sympathie  sich  lo 
in  die  Stelle  des  andern  zu  setzen:  sie  ist  der  Grund  der  gerechten 
Liebe;  die  es  vor  Schuldigkeit  hält  etc.  das  Gegenteil  vor  haßens- 
würdig  hält.  Die  gerechte  Liebe  unterscheidet  sich  von  der  gütigen 
Liebe :  da  jener  ihre  Unterlaßung  zu  haßen  ist;  und  der  gütigen  Liebe 
Unterlaßung  macht,  daß  man  nicht  in  höherm  Grad  zu  loben  ist:  15 

—  Handlungen,  dazu  ich  durch  die  Regel  der  Gerechtigkeit  verbunden 
bin,  sind  Schuldigkeiten;  —  Die  Grenzen  zwischen  beiden,  da  je- 
mand den  andern  hassen  muß;  und  blos  nicht  liebt,  sind  sehr  ver- 
schieden: aber  schwer  zu  unterscheiden.  —  Wer  etwaz  vor  eine 
Schuldigkeit  seiner  selbst  hält,  würde  sich  haßenswerth  finden:  20 

—  Die  Natur  hat  uns  nicht  gütig  gebaut;  sondern  selbsterhaltend; 
aber  doch  sympathetisch  gegen  das  Uebel  des  andern,  doch  so  daß 
nicht  das  Facit  0  sey;  daß  ich  nicht  so  viel  aufopfre  als  ich  rette: 
sondern  mich  und  meine  Art  erhalte: 

Im  Natur  Zustande  gibts  wenig  Schuldigkeiten  und  ihre  Empfin-  25 
düng  ist  groß : 

Im   bürgerlichen   Zustande   gibts   mehr   Schuldigkeiten   und   ihre 
Empfindung  ist  klein : 

Dort  haben  die  Menschen  wenig  mit  einander  zu  schaffen:  —  aber 
die  Hülfleistungen,  die  sie  auch  treffen,  betreffen  den  Natur  Zustand;  3o 
Uebel  der  Natur  nicht  die  erkünstelten  Wahnübel 

Hier  ist  das  Commercium  größer.  Viele  Hülfsleistungen  nothig; 
auch  wegen  der  vielen  erdichteten  Uebel  also  viel  Gründe  der  Hülfs- 
leistungen ;  aber  mehr  Schuldigkeiten  selbst ;  —  viele  leben  ungerecht 
auf  Kosten  anderer;  und  tragen  also  so  viel  Schuldigkeiten,  daß  nicht  35 
vor  Güte  Platz  bleibt.  Sie  sind  ein  Großer  Grund  vor  Gewaltthätig- 
keiten  gegen  andre ;  und  deren  ihr  Unglück  ist  ihnen  nicht  gleichgültig, 
wie  im  Stande  der  Natur  sondern  sie  habens  gemacht;  also  viele 
Schuldigkeiten  und  hier  ist  das  Iste  axioma:  alle  Menschen  sind 


Praktische  Philosophie  Herder  67 

sich  gleich:  dem  Wilden  ists  princip;  uns  aber  die  wir  weit  abirrten, 
ists  zu  beweisen,  und  der  Grund  der  Ethik.  Ein  jeder  Mensch  hat 
gleiches  Recht  auf  den  Erdboden  =  die  Schuldigkeiten  nehmen 
also  zu;  aber  ihre  Empfindung  ab;  da  1)  die  Empfindung  der 
äGleichheit  abnimmt;  —  Ich  empfinde  meine  Hohe  obgleich  noch 
Reihen  über  mir  sind  und  denke  Gott  nachahmen  zu  wollen;  da  ich 
doch  Schuldigkeit  habe;  da  2)  die  Moralische  Sympathie 
abnimt:  eine  Ursache  von  der  Härte  der  Vornehmen,  und  des  Un- 
glücks der  Armen:   —   Ihre  Unterdrückungen  bleiben  gilt;  da  der 

10  andere  auch  nicht  praetension  drauf  macht 

Handlungen  der  Güte:  —  Der  Mensch  übertreibt  seine  Moral 
phantastisch,  stellt  sich  die  volllcommenste  Güte  vor;  gebärt  Gali- 
mathias;  aber  die  eigne  Bedürfniße  ?  —  Responsio  der  Stoiker:  ich 
will  mich   über  mich  erheben,   will  Wilder  werden,   über  eigne 

15 Qualen,  Bedürfniße  erhoben  seyn  und  mit  all  meiner  Macht  Güte 
seyn,  das  Bild  der  Gottheit  seyn.  Wie  aber  Gottheit  thut  keine 
Schuldigkeit;  aber  du  allerdings;  ein  jeder  hat  ein  Recht  an  mich; 
meine  Arbeit  Hülfe;  jezt  fällt  der  Gott  weg;  es  bleibt  der  Mensch, 
ein  arm  Geschöpf,  voll  Schuldigkeiten;  —  Seneka  war  ein  Betrüger; 

2oEpiktets  selten;  und  phantastisch:  —  Alle  Güte  ist  an  sich  nicht 
Schuldigkeit;  daraus  folgt,  daß  unsere  Erziehung  und  unsere 
zwiefache  Erziehung  so  seyn  muß,  daß  unsere  Theilnehmung  nicht 
phantastisch  werde;  sondern  praktisch  eingeschränkt  bleibe;  Ich 
muß  gerecht  seyn:  und  nahe  an  Schuldigkeiten  bleiben;   —   die 

23  hohe  Prätension,  das  ganze  Menschhche  /  lieben  zu  Avollen,  betrügt.  4$ 
Wer  Tartar  liebt,  nicht  seinen  Nachbar;  alle,  keinen;  also  weniger. 
Statt  der  Hülfleistung  gegen  alle;  blos  Leutseligkeit  die 

1)  nicht  Haß  ist 

2)  blosse  ruhige  Bereitwilligkeit  bei  Vorfällen  zu  dienen,  nach 
30 Kräften;  aus  Gerechtigkeit  (nicht  aber  feurige  Begierde)  mit 

Aufopferung:  die  liegt  mir  nicht  ob,  wohl  aber  Leutseligkeit,  die 
schön  ist,  da  sie  aus  der  Gleichheit  entspringt,  mit  der  Selbst- 
schätzung besteht;  Geringern  nicht  blos  Gunst  ist,  sondern  leutselig. 
—  Vornehmen  nicht  Haß;  sondern  Leutseligkeiten;  denn  sie  sind 
35 blos  gleich;  alle  Gunst  beleidigt;  —  hier  werde  ich  nicht  kriechen, 
nicht  verachten  —  ich  werde  ohne  hohe  Tugendideen  ehrlich 
seyn,  ohne  ein  großer  Heiliger  seyn  zu  wollen. 

Beurtheilung  andrer:  geziemt  sie  sich  =  das  ganze  Mensch- 
liche Geschlecht  zu  beurteilen  ist  geziemend  und  lehrreich;  nur  muß 


68  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

man  weder  zu  schmeichelnd,  noch  zu  hart  seyn  —  Man  unterscheidet 
nicht  die  bürgerliche  Gesellschaft  von  dem  Naturzustand ;  der  leztere 
ist  immer  liebenswürdig;  obgleich  der  Iste  die  groste  Fehler  einge- 
führt hat.  Pascal  nent  das  die  feinste  Achtsamkeit  eines  Moralisten, 
daß  er  weder  den  Menschen  zu  stolz,  noch  zu  niedrig  mache.  5 

Das  Urteil  über  einzelne  ists  geziemend  ?  Responsio  §.  350. 
vielleicht  der  Fehler  des  Naseweisen.  Unter  die  leeresten  Bemühungen 
gehörts,  weils  1)  die  Beschäftigung  mit  mir  schwächt 

2)  aus  der  Partheilichkeit  gegen  sich  werde  ich  dem  an- 
dern Unrecht  thun ;  mir  schmeicheln ;  daher  ist  das  Urteil  über  andere  lo 
oft  großer  Fehler  doch  oft  auch  sehr  nöthig:  damit  wir  weder 
gar  zu  hohe,  noch  niedrige  Meinung  von  andern  haben:  und  diese 
ist  sehr  einfließend,  da  die  erste  Aberglauben,  Abgötterey, 
Nachahmung  gemacht  hat:  —  natürliche  Moralische  Heiligen  gibts 
nicht;  und  meine  Meinung  von  mir  muß  selbstschätzend  seyn:i5 
die  Politischen  Nachtheile  daher  zu  geschweigen 

Die  zweite  zeigt  Stolz:  indessen  ists  wahr,  das  Menschliche  Ge- 
schlecht ist  nicht  so  gut,  und  böse  als  es  scheint.  Sie  sind  sich  gleicher, 
als  man  glaubt,  und  in  jedem  ein  Rest  der  Sittlichkeit  übrig:  Das 
Urteil  über  einzelne  Stände  und  Sekten  ist  hier  gemeiniglich  sehr  20 
schwindelnd 

§.  351.  Man  wird  durch  Neigung,  Leidenschaft  Vorurteil  etc. 
praeoccupirt,  durch  Sekte,  Religion  etc.  etc.  und  sie  ist  nachtheilig, 
da  wir  in  andern  Stücken  des  Unterschieds  wider  sie  sind  —  Wo 
fehlt  der  Mensch  am  wenigsten,  wenn  er  zu  nachtheilig,  oder  vor-  25 
teilhaft  urteilt  ?  das  lezte  kann  von  mehr  Verstandesschwäche,  aber 
auch  von  mehr  Gütigkeit  des  Herzens,  zeugen,  ja  gemeiniglich  auch 
mehr  der  Wahrheit  gemäß  sein,  da  der  Mensch 

1)  nie  mit  gutem  Willen;  sondern  aus  Zwang,  lasterhaft  ist:  und 
das  Laster  blos  als  Mittel  zu  an  sich  guten,  aber  im  Excess  bösen  30 
Absichten  gebraucht: 

2)  da  der  Mensch  oft  gut  wird,  wenn  er  sieht:  man  hat  eine  gute 
Meinung  von  ihm  z.  E.  das  Regiment  von  Navarra  ist  daher  tapfer: 
Frau  oft  deßwegen  unkeusch 

3)  da  der  böses  Urteil  fällt,  der  sich  selbst  bösartig  fühlt  z.  E.  35 
der  Eigennutzige,  Wollüstige ;  Gute  Leute  werden  oft  nicht  aus  Dumm- 
heit sondern  Güte  betrogen 

44      /  352.  Ist  ein  lobspruch  in  der  Gegenwart  des  anderen  allemal  Schmei- 
chelei ?  Responsio  Nein !  oft  kanns  ihn  in  Sicherheit  sezzen :  nur  in  der 


Praktische  Philosophie  Herder  69 

Gegenwart  ists  schlüpfrig  weil  bescheidne  Personen  darüber  be- 
schämt werden,  nicht  weil  sie  sie  nicht  suchen,  sondern  recht  verbor- 
gen suchen,  und  ara  meisten  —  Sie  wissen  daher  keine  Mine  anzuneh- 
men :  weil  sie  denken,  statt  des  ganzes  Lobes,  das  jezt  offenbar  ist, 
5  Schande  einzuerndten  2)  ein  Lob  von  Selbsterniedrigung  des  lo- 
benden zeugt:  ein  Kennzeichen  von  einer  großen  Empfindung  der 
Ungleichheit  macht  verächtlich:  insonderheit  sei  es  nicht  unter 
Freunden,  bei  denen  Gleichheit  die  Hauptabsicht  ist. 

Schmeichler  darf  sich  nicht  stets  verstellen;  sondern  blos  un- 
10 bescheiden  loben,  weil  dieses  lappisch  und  schädlich  ist;   —  Bei 
Frauenzimmern  ist  Schmeichelei  oft  zuläßig:  da 

1)  deren  ihre  Ehre  blos  durch  einen  großen  Grad  von  Stolz  er- 
halten werden  kann  in  unsern  schlüpfrigen  Zeiten :  da  der  Männer  ihre 
Ehre  dadurch  nicht  so  verloren  wird,  als  ihre  Ehre;  —  Ein  Frauen- 

iszimmer  muß  also  stolz  seyn  sonst  ist  es  verächtlich,  selbst  einem 
Ehemann  seine  Frau ;  —  Die  Männer  nähern  sich  diesem  Stolz  durch 
Schmeichelhaftigkeit. 

2)  da  ihre  Manieren  an  sich  immer  ausdrückend  sind,  und  redend 
sind  in  Gesellschaft  und  diese  Munterkeit  kann  nicht  beßer  aufgeweckt 

20  werden,  als  durch  kleine  Schmeicheleyen.  Doch  muß  man  nicht 
alles;  nicht  zu  hoch  rühmen;  —  indessen  etwaz,  waz  ihnen  ange- 
nehm ist,  auch  etwaz  mehr;  —  daß  —  Männer  Männern  Lobsprüche 
blos  aus  Süßigkeit  erteilen  ist  läppisch,  da  sie  bei  dem  Lober  so 
eine  lappische  Meinung  vom  andern  voraussetzen :  waz  der  Erhaben- 

25  heit  des  Mannes  wiederspricht :  — 

Den  Geisthchen  geziemt  Schmeichelei  am  wenigsten,  da  ihr  Stand 
erhaben  und  einfältig  wenig  abhangend  ist,  da  selbst  Große  ihnen 
ihre  Gewalt  nicht  nehmen,  da  sie  als  Väter  des  Staats  von  allen  ihren 
Kindern  unterstüzzt  werden.  Da  sie  Boten  Gottes  sind  —  —  Ueber- 

30  liaupt  zieht  das  Urteil  über  andere  uns  außer  uns  selbst :  es  geht  den 
andern  wenig  an  1)  insonderheit  Moralite  zu  beurteilen 

2)  selbst  als  Beispiel  kann  es  blos  das  äußerste 
Subsidium  seyn;  denn  die  Nacheiferung  macht  1)  im  Fall  des 
Mangels  der  Beispiele  eine  seichte  Entschuldigung  2)  daß  man  leich- 

35  testen  Fall  wählt,  ihm  gleich  zu  seyn,  nemlich  nicht  uns  ihm  gleich 
zu  machen,  sondern  ihn  uns  gleich  zu  machen.  3)  einen  Moralischen 
Schlummer,  da  ich  aus  Parteihchkeit  mich  sehr  anders  beurteile  —  Zur 
Verbeßerung  ?  die  leistet  man  mehr,  dadurch  daß  man  gut  ist:  Tu- 
gend ist  ehrwürdig,  macht  Sympathie,  so  wie  das  Laster  Antipatliie. 


70  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

Hier  unterlaße  zu  urteilen,  und  handle;  —  die  Politik,  die  oft  der 
Ethik  entgegen  ist,  befielt  mehr  das  fremde  Urteil ;  andre  um  uns,  vor 
Schelme,  Betrüger  zu  halten:  —  Unsere  Politik  stimt  nicht  zu- 
sammen mit  der  Ethik,  nach  der  jetzigen  Verstellung;  aber  im 
Zustande  der  Natur  gehen  mich  andre  wegen  der  Gnugsamkeit  wenig  5 
an ;  und  auch  in  dem  heutigen  Zustande  muß  blos  innerliche  Gnugsam- 
keit beide  vereinigen.  —  Und  alle  einzelne  böse  Urteile  heben  sich 
45  auf,  da  wir  gar  nicht  Urteilen  sollen  /  Das  sind  die  haßenswürdigsten 
Müßigsten  Leute:  die  mit  andern  beschäftigt,  einige  sehr  erheben, 
andre  erniedrigen,  —  Einige  wenige  müssen  über  das  ganze  Mensch-  lo 
liehe  Geschlecht  urteilen  z.E.  Philosoph,  der  aber  das  Natürliche 
Gute  des  Menschen  zu  rath  ziehe,  und  das  Böse,  das  vor  ihn  gehört, 
(nicht  forum  divinum)  aus  seinen  Quellen  herleitet:  da  sind  die 
Menschen  natürlich  gut,  und  das  böse  blos  als  Contagion  betrachtet. 

Geistlicher,  der  dem  Laster  steuren  soll,  und  auch  nothwendig  i5 
auf  einzige  besonders  lasterhafte  sehen  muß.  Im  logischen  Ver- 
hältniß,  wenn  ich  jemand  das  Gegentheil  ganz  und  gar  aufdringe, 
überzeuge  ich  gar  nicht;  bin  ich  ungereimt,  so  habe  ich  nicht  einmal 
Verstand,  euch  zu  durchdringen,  also  partiale  Wahrheit  zu  geben, 
blos  Irrtum,  dem  Grad  des  Verstandes  recht.  Im  Moralischen  Ver-  20 
hältniß,  muß  ich  ihm  nicht  ein  völlig  Verderben  zuschreiben,  sonst 
kann  er  mich  nicht  begreifen :  aber  ihm  Moralite  zugestehen  ihn  nicht 
Gewißenslos  machen,  das  soll  die  Regel  seyn,  sondern  Geschmack 
des  Guten  in  ihm  erhöhen,  und  also  Gutes  in  ihm  zeigen :  sonst  schau- 
dert er  vor  dem  Augenblick,  der  ihn  sich  so  häßlich  zeigt,  und  beßert  25 
sich  nicht  —  Jezt  aber  da  ich  ihm  selbst  mehr  zugestehe,  so  hört  er 
nicht  Richter,  sondern  Freund,  nicht  den,  der  ihn  verabscheut, 
sondern  liebt :  alle  Verbeßerung  setzt  also  ein  Gutes  an,  waz  in 
ihm  übrig  ist;  neues  Leben  kann  kein  Arzt  geben:  —  logische  Kräfte, 
Moralische  bonite  muß  als  heiliges  Feuer  blos  angeblasen  werden :  —  30 

Judicare  alios,  ein  entschiednes  Urteil  von  anderer  Bosheit  fällen; 
—  unzureichend  könnte  man  noch  eher  urteilen;  aber  entscheidend 
ist  logisch  die  Mutter  der  Irrtümer:  und  Moralisch  noch  übler:  — 
Ein  Entscheid  ist  Fehlern  und  Uebereilungen  sehr  ausgesetzt;  aber 
auch  Moralisch;  da  er  sich  erfreut,  andre  böse  zu  finden.  Denn  die  35 
Menschen  schätzen  sich  jezt  nach  dem  Zustand  des  Wahns  blos 
Vergleichsweise  zwar  unnatürlich  aber  jezt  sehr  allgemein;  und 
daher  ist  das  böse  andrer  unser  Verhältnißmäßiger  Wuchs  und  also 
Freude ;  die  Jungfer  wächst,  die  die  andere  sinken  sieht,  der  Kaufmann 


Praktische  Philosophie  Herder  71 

wird  reicher,  um  den  andre  fallen.  —  Die  Betrübniß  über  die  Fehler 
andrer  ist  gemeiniglich  Phantastisch,  unnüz,  und  schädlich,  da  sie 
vom  Thun  abhält: 

/  Ein  jeder  Mensch  muß  sich  selbst  zum  Mittelpunkt  seiner  selbst,  46 
5  seiner  Bemühungen  machen  die  übrigen  Urteile  über  andere  sind 
meistens  Zeichen  der  Aufgeblasenheit. 

Wenn  einer  den  andern  Moralisch  ausbeßern  soll:  so  ist  dies  sehr 

kritisch.  Dem  Freund  seine  Fehler  durch  Erinnerung  zu  entdecken 

ist  recht;  aber  einen  Fremden  seine  Fehler,  die  uns  nicht  beleidigen. 

10  blos  durchs  Bürgerliche  Verhältniß  zu  sagen,  ist  vorsichtig  zu  thun ; 

denn 

1)  ein  jeder  sieht  seine  Fehler  selbst,  nur  er  entdeckt  sie  nicht  gern 
andern  und  auch  so  gar  nicht  seinem  Freunde;  um  nicht  niedriger 
zu  werden.  Alsdenn  bildet  man  sich  ein,  die  Fehler  sind  verschwiegen, 

15  und 

2)  Der  Freund,  der  sie  mir  entdeckt,  thut  mir  keinen  Gefallen  da 
er  meine  Hochachtung  verringert :  da  findet  keine  Freundschaft  mehr 
statt;  wo  der  andere  sich  über  mir  zu  seyn  glaubt. 

Indessen  gibts  doch  Fälle,  wo  die  Entdeckung  nöthig  ist:  wo  sein 
20  Fehler  bei  ihm  weniger  unmoralisch  ist,  andern  aber  weit  unmorali- 
scher scheint.  Hier  muß  ich  seine  Moralite  erhöhen,  um  ihn  dadurch, 
nicht  durch  meine  Moralität,  zu  überzeugen.  Man  verhüte  aber 
1)  daß  er  nicht  in  die  Aufrichtigkeit  ein  Mistrauen  sezze:  und 
glaube,  es  entspringe  aus  Tadelsucht 
25      2)  daß  er  nicht  glaube,  er  sinke  in  der  Hochachtung,  die  ich  habe. 
Man  kompensire  also. 
Daher  dauren  auch  Freundschaften  so  selten :  weil  die  Hochachtung 
sehr  leicht  wegfällt,  da  man  seine  Moralischen  Fehler  oder  seine  Mängel 
die  nicht  Moralisch  sind  nicht  verbergen  kann:  z.  E.  Armuth  und 
30  solche  Uebel  denen  der  andere  nicht  abhelfen  kann,  und  ihm  also 
lastig  sind,  und  Verachtung  leiden  machen  —  Dagegen  verhele  man  es 
auch  daß  man  des  andern  Fehler  bemerkt :  sonst  sieht  der  andere  an 
ihm  einen  ungelegnen  Beobachter.  So  wie  Ehsabeth  in  ihrem  Alter 
keinen  Spiegel  litte;  so  denkt  wenigstens  der  Straus  seinen  Kopf, 
35  und  ein  jeder  seine  Fehler  zu  verbergen ; 

363)  Spiritus  causticus  ist  ungereimt,  da  es  der  einzige  Weg  ist, 
sich  alles  in  der  Welt  zu  Feinden  zu  machen :  und  nichts  beßern ;  ja 
die  Hartnakigkeit  des  andern  vermehren:  —  So  die  Streitschriften 
müssen  ja  den  spiritus  causticum  verhüten ;  und  eine  Offenherzigkeit, 


72  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

die  nichts  verhelt  muß  zu  Grobheit  werden  und  doch  einen  Anspruch 
auf  Wahrheitsliebe  machen.  Vernünftige  beleidigt  sie  nicht  ja  man 
liebt  sie  oft  etwaz,  weil  man  bei  ihm  schon  keine  Feinheit  vermuthet; 
aber  gemeiniglich  ist  diese  Grobheit  auch  Bosheit 
4T      /Liebes  Pflichten:  Die  Selbsterhaltung  nimt  viel  Aufmerksam- 5 
keit  auf  den  andern  weg:  und  Wer  auch  die  eigne  Angelegenheiten 
vermindert  hat  und  sich  mit  dem  andern  beschäftigt :  so  ist  dies  nicht 
bürgerliche  Schuldigkeit  blos;  das  würde  eine  Vernichtung  aller 
Gesezze    seyn;    sondern   eine   natürliche  Schuldigkeit,    da   die 
Gleichheit  der  Natur  uns  gemein  ist,  und  jede  Ungerechtigkeit,  die  die  lo 
Gleichheit  der  Natur  aufhebt,  meine  Schuldigkeit  auffodert,  ihm  diese 
Gleichheit  zu  compensiren.  Es  ist  jezt  zwar  ein  autorisirter  Raub; 
aber  doch  nach  der  Moral  wahrhafte  Schuld :  —  Die  Menschen  in  der 
Ueppigkeit  sind  so  voll  Bedürfniße,  daß  kaum  wenige  Gnade  ihnen 
übrig  bleibt   —  Die  allgemeine  und  besondere  Pflichten  nach  der  is 
Schwere  zu  bestimmen,  ist  schwer :  einem  kann  etwaz  theuer  werden, 
der  viel  Bedürfniße  hat,  dem  andern  leichter,  der  minder  verzärtelt 
Dienstgeflißenheit  sezt  eine  große  Seele  voraus,  die  mit  wenigem 
zufrieden  sehr  thätig  ist  gegen  andre.  —  Die  vor  der  Dienstgeflißen- 
heit sich  die  Uebel  entdecken  lassen,  sind  minder  edel,  da  die  Ent-  20 
deckung  den  Tugendhaftesten  am  schwersten  wird,  und  wird  oft  so 
eitel,  daß  kein  rechtschaffner  sie  auf  die  Probe  stellen  wird,  soll  sie 
denn  noch  den  Namen  verdienen  ?  —  Nein !  Moralisch  nicht  Physisch 
ist  sie  auszumessen :  nicht  das  Geld,  sondern  Bemühungen  etc.  Kleine 
Dienste  gehören  zur  Schönheit  des  Lebens ;  sie  müssen  aber  nicht  25 
gar  zu  häufig  seyn  sonst  binden  sie. 

Rechtschaffne  Leute  beweisen  selten  viel  Gefälligkeiten;  weil  die 
Gefälligkeit  den  Menschen  nach  andern  leben  läßt;  und  das  eigne 
Arbitrium  nimt;  Es  wird  Dienstbarkeit:  Ein  jeder  verfahre  nach 
seinem  Sinn ;  und  vermeide  die  Abhängigkeit.  Die  gutherzigsten  30 
Menschen,  die  nichts  abschlagen,  sind  die  elendesten,  die  deßwegen 
tändelnd  geliebt,  und  ernsthaft  verachtet  werden;  sie  fallen  andern 
zu  gut  in  Laster;  Ein  Mann  nach  Grundsätzen  ist  in  kleinen  Gefällig- 
keiten hart;  in  großen  aber,  die  ein  Beweggrund  seyn  können,  sehr 
thätig.  —  Freundschaft  durch  Gefälligkeiten  ist  tändelnd  und  nicht  35 
daurend;  der  oft  ein  störriger  Freund  vorgezogen  wird. 

Religion  wird  außer  dem  Christenthum  so  schlecht  f ortgepf lanzet . 
und  die  Mißionare  sind  meistentheils  durch  Reis  Bekehrer  geworden : 
vermutlich  deßwegen,  weil  man  Heiden  nicht  erst  zu  gesitteten  macht ; 


Praktische  Philosophie  Herder  73 

ehe  sie  Christen  Averden.  Sich  jezt  auf  ühernatüriiche  Mitwirkung  ver- 
lassen, ist  Versuchung  Gottes;  und  wenn  ich  Theologie  ausbreite,  so 
nicht  gleich  Religion.  Um  aber  Moralität  vor  der  Religion  zu  haben, 
muß  man  den  Menschen  aufwecken. 
5  /  368.  Die  Lehre  von  der  Toleranz  ist  im  ganzen  sehr  bekannt,  48 
wird  sehr  angeführt  von  den  Verfolgten,  ihre  Gränzen  aber  sind  noch 
sehr  unbestimmt  sie  ist 

1)  Moralisch :     als  eine  Pflicht  eines  gegen  den  andern,  ohne  Staats- 
glieder auszumachen.  Da  alle  wahre  Religion  inner- 
10  lieh  ist :  in  dem  Verhaltniß  des  Menschlichen  Herzens 

gegen  Gott ;  so  kann  ein  Mensch  von  den  Zeichen  des 
andern ;  nicht  aber  von  seiner  Religion  selbst  urtei- 
len. Die  äußere  Religions  Uebung  kann  ohne  innere 
nachgeahmt  werden  In  Rom  sind  die  meisten 
15  Atheisten,  und  selbst  Päbste ;  da  nun  die  Zeichen  so 

zweideutig  sind,  so  ists  Pflicht,  nicht  einem  eine 
Religion  absprechen,  weil  er  in  Zeichen  von  mir 
differirt:  weil  ich  nicht  kann  eine  innere  Religion 
einsehen:  es  ist  also  1)  schwerlich  möglich  2)  auch 
20  nicht  nothig;  nach  der  Angelegenheit  der  Natur: 

denn  das  Urteil  über  andere,  die  Anmaßung  dazu 
erfodert  große  Befugniße  wenn  es  nicht  Beleidigung 
seyn  soll.  Im  Natur  Zustand  finden  sich  nun  nicht 
Befugniße  weil  Religion  ein  Verhaltniß  gegen  Gott 
25  ist  gegen  mich  aber  blos  Sittlichkeit  seyn  darf,  die 

die  Rehgion  zwar  erhebt,  aber  auch  ohne  Religion 
für  mich  hinreichen  kann:  z.  E.  Pegus  Talepoinen, 
wenn  sie  mich  aufnehmen,  so  darf  ich  mich  gar 
nicht  nach  meiner  Angelegenheit  um  ihre  Religion 
30  bekümmern.  Das  geht  uns  an,  waz  zu  meiner  Wohl- 

fart  zusammen  stimmen  kann:  nun  aber  Religion 
nicht:  Wie  sollte  ich  nicht  aus  Allgemeiner  Men- 
schenliebe mich  um  ihn  bekümmern  ?  Responsio 
Allerdings  ists  merkwürdig;  aber  hernach:  Kurz, 
35  eine  Moralite  kann  ohne  Religion  seyn.  Wenn  ich 

nun  in  ihm  aber  eine  Religion  vermuthe,  die  meinen 
Angelegenheiten  sehr  schädlich  sejm  kann:  z.  E. 
Tücke,  die  von  Religion  komt,  geht  sie  mich  an :  — 
eine  Verfolg ungs  Religion  kan  verdächtig  seyn 


74  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

auch  im  Natur  Zustande,  um  mich  zu  bewahren  und 
sie  zu  entfernen: 
2)  Bürgerlich:  Im  Natur  Zustande  ist  weniger  Veranlaßung  zur 
Religion,  als  einem  Mittel  zum  bürgerlichen  Wohl: 
—  Religion  ist  zum  ewigen  Wohl  und  diesem  etc.  5 
Sie  ist  ein  großer  Beweggrund  zu  vielen  Menschen- 
pflichten Wie  aber  ohne  Religion  ?  Ist  sie  in  Absicht 
der  gegenwartigen  Wohlfart   immer  gleich   noth- 
wendig :  Responsio  Nein  im  Natur  Zustande  minder : 
1 )  weil  weniger  Veranlassungen  zu  Abweichungen  lo 
von  Menschenpflichten  sind,  denen  die  Religion  ein 
4»  Gegengift  seyn  soll  —  Volker,  die  keine  andere  / 

Religion  haben,  als  einen  hergebrachten  alten  Wahn : 
so  ist  bei  ihnen  viel  Gutes  wenig  Böses :  den  ELrieg 
ausgenommen  und  der  ist  auch  blos  Gewohnheit.  i5 
Da  hier  also  wenig  Veranlaßung  ist;  so  geht  mich  auch  des  andern 
Religion  wenig  an:  So  bald  aber  das  Intreße  wächst:  die  Vollkom- 
menheiten bis  zur  Phantasie  gesteigert  sind;  so  bleibt  die  Moralische 
Empfindung  nicht  so  sichere  Führerin.  —  Endlich  wird  dem  Wahn 
die  sittHche  Empfindung  zu  schwach ;  die  Menschenliebe  erkaltet :  20 
hier  sind  die  Moralischen  Beweggründe  zu  schwach,  ihn  gegen  alles 
zu  vertheidigen :  also  höhere  Beweggründe ;  und  also  wird  die  Religion 
immer  nothiger  (Bürgerlicherweise:  als  natürliche  kann  sie  niemals 
nothig  sein),  ja  endlich  abergläubische  Religion  nach  dem  Maas,  als 
die  Üppigkeiten  wachsen.  Vor  Dinge  die  ich  entbehren  kann,  werde  25 
ich  nicht  lügen,  noch  weniger  schwören;  aber  gezogen  von  vielen 
Dingen,  an  denen  ich  klebe,  muß  ich  durch  Eid  gebunden  werden, 
gegen  so  große  Verfuhrungsmittel.  Immer  nothiger  werden  Phantasti- 
sche Feierlichkeiten,  die  eigentlich  unwesentlich  sind,  aber  die  wütende 
Unmoralität  besiegen  können  —  hier  ist  die  Religion  die  Policey :  so 
Moralisch  sind  ihre  Schranken  bestirnt ;  aber  bürgerlich  wird  sie  dunkel, 
weil  man  schon  nicht  Verwahrungsmittel  gnug  gegen  das  Verderben 
zu  geben  weiß:  — 

Bürgerlich  vor  die  Toleranz  ist  die  Religion  dem  Naturmen- 
schen gleichgültig ;  es  liegt  schon  Moralite  in  seinem  Herzen  vor  der  35 
Religion ;  so  lange  im  Stande  der  Einfalt  Kräfte  da  sind  gut  zu  seyn 
und  keine  Beweggründe  seyn  dörfen,  das  Böse  zu  vermeiden,  braucht 
nicht  Religion .  —  Werden  aber  viele  Annehmlichkeiten  zu  Bedürf  nißen : 
so  entspringen  große  Uebergewichte  der  Triebe;  so  daß  die  Moralite 


Praktische  Philosophie  Herder  75 

zu  schwach  wird:  so  reicht  die  Natürliche  Rehgion  nicht  zu;  dazu 
wird  mehr  Verstand,  Philosophische  Ueberlegung  erfodert  als  man 
von  dem  ganzen  Menschlichen  Geschlecht  erwarten  kann;  Es  muß 
also  ein  Complement  einer  Offenbarung  seyn  entweder  einer  vorge- 
5gebnen,  oder  wahren: 

Die  Brücke  Pulserro  der  Perser  macht  viele  edle  Thaten,  nach 
Chardins  bericht  Die  reine  Moralität  erfodert  nicht  Belohnungen  etc. 
aber  diese  reine  Moralität  ist  jezzo  nicht  vors  Menschliche  Herz ;  die 
natürliche  Religion  kann  auch  nicht  der  Moralität  auf heKen ;  die  ohne 

10  auf  die  Vernunft  sich  zu  gründen,  eine  Offenbarung  wenigstens  vor- 
schützt :  Alle  excolirten  Nationen  haben  eine  eigne  Offenbarung ;  die 
Wilden  eine  Sage.  —  Indien  hat  eine  von  den  ältesten;  —  Der  Streit, 
welche  Offenbarung  die  wahre  sey,  ist  nicht  hier  auszumachen:  In 
dieser  Rehgion,  um  dem  beträchtlichsten  Theile  der  Menschen  gemäß 

15  zu  seyn  /  muß  vieles  symbolisch  seyn,  die  Pflichten  der  Natur  durch  so 
viele  Feierlichkeiten  ehrwürdig  zu  machen ;  gewiße  Ceremonien  müßen 
es  ehrwürdig  machen.  Eine  einmal  angenommene  Gewohnheit  ist  nicht 
anzufechten;  weil  sie  bisher  das  Fundament  des  Staats  gewesen  ist; 
und  wenn  verändert  wird  (wenn  auch  nur  in  Stücken)  und  aufs  beßere ; 

20  so  komt  man  endlich  da  etwaz  verändert  wird,  auf  den  Gedaniven,  ob 
nicht  alles  falsch  sey:  —  daher  Republiken  am  strengsten  über  die 
alte  Religion  sind 

Eine  Obrigkeit  kan  die  viele  Religionen  schützen  ?  Responsio  Ja ! 
in  sofern  eine  jede  schon  gegründet  ist,  so  ists  weit  beßer,  sie  zu  schüt- 

25  zen,  anstatt  sie  beßern  zu  wollen ;  weil  endlich  eine  Indifferenz  gegen 
alle  Religion  entspränge ;  und  die  Vielheit  der  Religionen  macht  eine 
Anhänglichkeit  an  die  ihre;  und  der  Bürgerliche  Nutzen  ist  beinahe 
derselbe;  da  aus  der  Erfahrung,  z.  E.  Holland  guter  Staat  ist;  —  Ei! 
Avenn  ihre  Grundsaze  dem  Staat  entgegen  wären,  wenn  sie  befolgt 

30  würden  z.  E.  Juden,  denen  nach  dem  Talmud  der  Betrug  erlaubt  ist: 
—  das  natürliche  Gefühl  beßert  diese  falsche  Religions  Artikel;  man 
befolgt  solche  böse  Freiheiten  nicht,  z.  E.  der  Catholiken  Grundsätze, 
ausgeübt  wären  dem  Staate  entgegen ;  nun  geschieht  das  aber  nicht ;  — 
Die  Verbeßerungen  der  Religion  betreffen  also  blos  das  Politische  z.  E. 

35  Mönchsorden :  —  Eine  hergebrachte  Traditionreligion,  die  sich  nicht 
auf  Beweise  der  Vernunft  stüzt,  ist  allgemein,  einem  jeden  soU  des 
Staats  wegen  verboten  seyn  sie  anzutasten,  auch  wenn  ich  Irrthumer 
sehe!  so  kann  mir  doch  niemand  mein  Selbstdenken  nehmen,  und 
darf  es  sich  nicht  erlauben ;  —  Aber  da  ich  die  groste  Lust  habe,  auch 


76  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

meinem  Mitbürger  meine  Meinung  zu  sagen,  ists  nicht  Ungerechtig- 
keit mir  dies  zu  verbieten  ?  Ja  allerdings ;  indessen  die  allgemeine 
Wohlfart  ist  nicht  möglich  ohne  diese  einfachen  Ungerechtigkeiten 
bei  dem  luxus:  —  In  dem  Zustande  einer  vollkommenen  Toleranz 
muß  besondere  Moralische  Schönheit  herrschen ;  wenn  jeder  seine  5 
Meinung  sagt:  so  wird  jeder  Theil  in  ein  besonder  Licht  gesezt;  und 
die  Wahrheit  wird  durch  Zwang  unterdrückt.  Ein  jeder  Irrtum  ist 
auch  nie  eine  Moralische  Sünde;  obwohl  Staatssünde;  —  Eine  allge- 
meine Toleranz  ist  möglich  aber  blos  alsdenn,  wenn  wir  wieder  zurück- 
kehren zum  ersten  Zustand ;  alsdenn  sind  wir  auch  ohne  Gott  Moralisch  lo 
gut ;  warum  soll  ich  nicht  von  Religion  meine  Meinung  sagen :  —  In 
ansehung  dieser  Welt  ist  das  Urteil  der  Toleranz  blos  eine  Sache  der 
Obrigkeit;  aber  keines  andern;  kein  Geistlicher  nicht;  den  intereßirt 
blos  das  Wahre  oder  Falsche  nicht  das  Nutzliche  oder  Schädliche ;  und 
51  das  Wahre  kann  er  nicht  entscheiden.  /  Geisthcher  und  sein  Wieder- 15 
sacher  sind  beide  Bürger;  über  die  die  Obrigkeit  blos  zu  sagen  hat. 
Aber  welchen  Grad  von  Freiheit  haben  sie  —  gar  keine  Freiheit  zu 
geben,  ist  eben  so  schädlich  als  gar  zu  viele ;  die  klügelnde  Menschen 
werden  eben  wegen  gar  keiner  Freiheit  indifferentisten.  Diese  Toleranz 
ist  die  feinste  Frage ;  ob  es  ehrwürdige  Irrtümer  gebe  20 

Ei!  die  moralische  Toleranz:  da  es  gar  kein  Zweifelist:  indessen 
machen  doch  manche  Religionen  wirklichen  Menschenhaß,  wenn  sie 
lauter  Teufels  statt  Menschen  setzen;  die  moralische  Toleranz  wird 
durchaus  erfodert;  siehe  einen  jeden  mit  Liebe  ihn  an;  er  irrt,  deß- 
wegen  haße  ihn  nicht;  sondern  bedaure  ihn,  daß  er  durch  Irrtum  soll 25 
verloren  gehen.  Kein  einzelner,  der  moralische  Intoleranz  hat,  ist 
lasterhaft,  da  ihn  der  Staat  nichts  angeht :  —  die  Religion  steigt  mit 
dem  Luxus  an  Ceremonien;  nimt  mit  Üppigkeit  ab;  und  einst  wäre 
eine  vollige  Toleranz  möglich. 

Darf  auch  Obrigkeit  vors  Heil  der  Seelen  sorgen  ?  Responsio  Es  so 
muß  sich  diese  Frage  auf  alle  Nationen  erstrecken:  —  Kann  die 
Obrigkeit,  die  von  ihrer  Religion  überzeugt  ist,  alle  andre  verbieten  ? 
Responsio  Nein!  denn  wenn  jede  Nation,  die  von  der  ihrigen  auch 
glaubt  überzeugt  zu  seyn,  auch  den  gegenseitigen  Zutritt  der  Gründe 
voUig  untersagt:  so  wäre  aller  Zugang  der  Wahrheit  verschlossen.  35 
Ein  jeder  glaubt  die  Wahrheit  zu  haben  und  ist  dieser  Glaube  ein 
Grund  des  Verbots :  so  ist  das  Recht  bei  allen  Nationen  —  Also  kann 
die  Obrigkeit  zwar  aus  politischen  Ursachen  aber  nicht  um  des  künfti- 
gen Seelenheils  willen  die  Intoleranz  befolgen.  —  So  sehr  recht  eine 


Praktische  Philosophie  Herder  77 

Religion  seyn  mag,  so  groß  die  Ueberzeugung  seyn  mag;  so  folgt  doch 
hieraus  nicht  das  Recht,  andern  Meinungen  den  Zugang  zu  versagen 
um  des  Heils  der  Seelen  willen,  weil  wahre  und  falsche  Ueberzeugung 
schwer  zu  unterscheiden.  Kann  eine  Obrigkeit  die  Religion  ausbreiten  ? 
5  Responsio  Ja,  eine  Fortpflanzung  einer  Wahrheit  durch  Gründe  ist 
moralisch  stets  nützlich;  (ob  sie  gleich  oft  politisch  schädhch  seyn 
kann,  da  auch  Wahn  oft  erfodert  wird)  aber  die  Gerechtsame  der  Men- 
schen erfodert  auch  Gründe:  dies  Mittel  ist  billig;  und  der  Zwang, 
etwaz  vor  wahr  auszugeben  waz  man  nicht  davor  hält,  ist  sehr  unge- 

10  recht,  das  kranl?:endste,  sehr  schädlich  nie  nützlich  als  vielleicht  einige 
andere  Ungerechtigkeiten  aufzuheben. 

Gründe  vor  den  Zwang.  So  bald  ich  eine  Religion  als  das 
einzige  Mittel  der  Seligkeit  ansehe,  so  ist  es  freihch  eine  Sache  der 
Menschheit  ihn  aus  dem  Verderben  zu  reissen;  und  freilich  sind  hier 

15  alle  Mittel  gut;  da  auch  kleine  Uebel  des  Lebens  nichts  gegen  das 
ewage  sind.  Folglich  sind  die  Zwangsmittel  nicht  ungerecht  wenn  sie 
Mittel  sind ;  aber  körperlicher  Zwang  überzeugt  nie ;  eben  so  wie  die 
Sachsen  unter  Carl  dem  Großen.  Obiectio:  aber  die  Nachkommen 
sind  auch  in  einen  großen  Betracht  zu  ziehen,  die  wenn  gleich  ihre 

20  Vater  durch  Zwang  /  blos  Heuchler  wurden,  vielleicht  gute  und  wahre  53 
Ueberzeugung  haben  werden,  durch  eine  beßere  Erziehung.  —  Alles 
dies  ist  scheinbar;  aber  kurz 

1)  Ein  jedes  Mittel,  waz  den  obersten  Rechtsamen  der  Menschheit 
entgegen  ist,  ist  nicht  gut :  nun  sind  die  Menschen  alle  gleich ;  und  sollte 

25  blos  die  Ungleichheit,  der  Zwang,  das  Mittel  des  ewigen  Glücks  seyn, 
so  ists  ein  Mittel  der  Ungerechtigkeit,  Avaz  schon  gewalt  voraus  sezt: 
2)  dawider  regt  sich  die  ganze  Menschheit,  etwaz  behaupten  müssen. 
Aus  allem  diesen :  die  Obrigkeit  muß  in  Absicht  des  künftigen,  sich 
blos  der  Rechtsamen  der  Menschheit  bedienen:  der  Gründe,  woran 

30  jeder  Mensch  Tlieil  hat. 

Der  gemeine  Mann,  der  nie  die  Vernunft  gebraucht  und  miß- 
braucht, muß  freilich  geleitet  werden  und  also  meist  historisch ;  Der 
wenige  edlere  Theil,  der  Gründe  gebraucht  und  mißbraucht,  sey  nicht 
blos  durch  Autorität  gelehrt,  sondern  durch  Vernunftgründe  unter- 

35stüzzt.  Ist  die  Erziehung  recht  geschehen,  so  ist  keine  Ungerechtig- 
keit in  der  Toleranz  nothig 

1)  er  wird  tolerant  erzogen  seyn  —  Irrtum  von  Verbrechen  unter- 
scheiden 


78  Praktische  Philosophie  Herder 

2)  es  wird  ihm  nicht  schädlich  seyn  weil  er  durch  Vernunft  erzogen 
wird. 

Andere  zu  Meinungen,  oder  Stillschweigen  zu  zwingen,  ist 
als  eine  Moralische  Intoleranz  so  schädlich,  da  man  sich  alsdenn  nie 
vor  bösen  Folgen  des  Absehens  bewahren  kann:  —  5 

1)  Ein  jeder  Mensch  will  seine  eigne  Meinung  allgemein  haben 
Ursachen 

2)  Man  glaubt,  alle  Moralität  gründe  sich  auf  Rehgion ;  man  haßt 
also  den  andern,  da  man  in  ihm  Bosheit  statt  Irrtum  sieht :  Den  Geist- 
lichen liegt  ob,  diese  Intoleranz  aus  dem  Herzen  zu  schaffen:  —  Man  10 
mache  die  Erziehung  zum  Keim  der  Moralischen  Toleranz 

3)  eine   große  Unwißenheit  unterstüzt  oft   die   Intoleranz: 
da  er  nicht  durch  Vernunft  antworten  kann :  so  glaubt  er  ihn  als  einen 
Feind,  der  seine  bloße  aufdecken  wird.  Wer  keine  Gründe  vor  sich 
hat  ist  auf  Gegengründe  feind;  ein  Geistlicher,  der  selbst  geprüft,  an- 15 
genommen,  wird  auch  nicht  den  unwissenden  Theologen  Haß  haben :  — 

Ja,  Moralische  Intoleranz  ist  an  sich  schon  ungereimt ;  und  Avenn 
eine  rechte  Erziehung  allgemein  wäre:  so  konnte  auch  die  politische 
Toleranz  allgemein  seyn:  jezt  aber  muß  überall  die  Obrigkeit  be- 
hutsam seyn.  20 

Den  Religionshaß  kann  jeder  gemeine  Bürger  haben ;  und  wird  ein 
Theologen  Haß  wenn  man  ihn  als  eine  Amtspfhcht  ansieht.  Er  zeigt 
aber  damit  einen  Mangel  der  Gründe,  Unwißenheit  etc.  =  Syncret Is- 
mus da  man  wahrhaftig  wiederstreitende  Lehren  gleichsam  als  con- 
sentium  auszubilden  sucht.  Er  geht  selten  an;  ist  gemeiniglich  ver- 25 
geblich  und  oft  schädHch.  —  Basedow  ist  synkretistisch  — 
53      /   Jede   Religionsänderung   ist   vergeblich   gemeiniglich;    und   oft 
schädlich :  da  sie  das  Zutrauen  auf  die  Rehgion  bei  dem  meisten  Theil 
verhindert,  der  nie  seine  Vernunft  gebraucht  und  mißbraucht;  eine 
Religionsrevolution  ist  Staatsrevolution ;  —  So  wie  die  Reformation  30 
damals  sich  gegen  den  Despotismus  auflehnte;  so  ist  nicht  stets 
bei  Kleinigkeiten  nachher  zu  beßern:  Die  Frage  bei  der  Intoleranz 
ist  am  besten  durch  die  Regel  zu  beantworten :  wie  wenn  andre  Reli- 
gionen eben  dies  Principium  befolgten:  so  würde  jedes  falsche  be- 
vestigt :  Ein  jeder  hält  seine  Religion  vor  w^ahr,  und  subjectiv  ist  sie  35 
auch  wahr:  ja  in  Politischem  Verstände  ist  sie  auch  objektiv  wahr: 
denn  der  betrachtet  blos  das  Intreße  dieser  Welt,  ohne  sich  um  die 
Ewigkeit  zu  bekümmern.  —  Ich  kann  dies  auch  erweitern:  soll  ich 
einen  aus  einer  fremden  Religion  weniger  lieben,  so  werden  alle  Ver- 


Praktische  Philosophie  Herder  79 

bindungeil  der  Mcnschengesellschaf  t  aufgehoben  Aber  die  Angelegen- 
heit, den  andern  kennen  zu  lernen,  erstreckt  sich  blos  auf  das  Interesse 
dieses  Lebens :  da  nun  das  Verhaltniß  gegen  Gott  gar  nicht  die  bürger- 
liche Verfaßung  stört  an  sich  (zwar  bei  einigen  Menschen,  wo  die 

5  natürliche  Moralität  so  schwach  ist :  aber  nicht  allgemein  zu  machen) 
ja  da  ich  auch  2)  das  Verhaltniß  gegen  Gott  nicht  einmal  recht  er- 
kennen kann :  und  überhaupt  sinds  ganz  verschiedene  Relationen, 
die  sich  nicht  berühren.  Bayle  war  großmüthig  etc.  etc.  aber  ohne 
Religion:  das  Moralische,  waz  Religion  verhindert,  kann  angefeindet 

10  werden,  z.  E.  wenn  er  aus  Leichtsinn  etc.  etc.  Ueberhaupt  ist  auch  die 
Bestrebung  gegen  jede  Religion  schon  ehrwürdig  wenn  sie  blos  Meinung 
wäre.  —  Spinosa  hatte  Irrtum  aber  nicht  Bosheit.  Indessen  ist  auch 
die  Unbehutsamkeit  zu  verwerfen,  mit  der  man  Säzze  ausbreitet, 
die  andere  an  der  Moralität  hindern  können: 

15  368.)  Der  subtile  Verfolgungsgeist  ist  wegen  seiner  Feigheit  noch 
schändlicher,  und  gefärlicher 

370.  Da  die  Wißenschaften  jezt  viele  Uebel  ausrotten  können,  die 
sie  selbst,  oder  andere  ausschweifende  Neigungen  der  Menschen,  ge- 
macht haben:  so  haben  sie  jezt  den  Werth  eines  Gegengifts  z.  E.  die 

20  Philosophie  wider  die  falsche  Spizfündigkeit  —  Sie  haben  einen 
negativen  Werth,  um  sich  selbst  wider  aufzuheben,  und  den  luxus, 
über  den  schon  Seneka  klagt  zu  vermindern :  —  Eben  so  ist  die  Tole- 
ranz ein  Gegenmittel  gegen  die  Klügeleien  der  Religion.  —  Alle  Hand- 
lungen, die  wenn  sie  zu  einem  gewissen  Grad  des  Flors  kämen,  dem 

25grösten  Theil  entgegen  wären:  das  kann  nicht  ein  Beruf  der  Natur 
seyn  die  uns  nicht  gegen  das  meiste  wird  ungerecht  gemacht  haben 
können;  sondern  künstlich,  z.  E.  Wißenschaft  und  Philosophie  kann 
also  nicht  der  Werth  der  Menschen  und  der  Zweck  der  Menschheit 
seyn:  Es  hat  zwar  sehr  viel  Schein,  aber  da  wenn  wir  hier  gewiße 

30  Gaben  nicht  entwickeln,  werden  sie  deßwegen  sich  doch  einst  ent- 
wickeln. Sie  paßt  nicht  vor  deinen  jetzigen  Posten;  sie  mag  schimern 
wie  sie  will.  —  Sie  hat  jetzt  blos  den  Nutzen,  daß  wir  nichts  Ärgers 
machen,  /  und  wenn  sie  uns  sittsam  macht:  so  ists  nach  Hume  blos  54 
mittelbar.  Die  Ausbreitung  der  Wißenschaften  ist  also  sehr  fein  aus 

35 der  Staatswißenschaft  zu  entscheiden;  denn  an  sich  ist  sie  zu  ver- 
mindern. 

371.)  Man  muß  sich  bei  gewissen  Tugenden  schämen:  nicht  der 
Tugenden  selbst  wegen,  sondern  des  Verdachts  der  Heuchelei  z.  E. 
bei  dem  Gebet,  wobei  man  getroffen  wird. 


80  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

Wenn  wir  gleich  nicht  Patrons  der  Laster  seyn  sollen:  so  müssen 
wir  auch  nicht  Laster  erweitern.  Ist  man  ganz  und  gar  lasterhaft: 
so  kann  man  nicht  gebeßert  werden :  so  wenig,  als  ein  Arzt  einen  ganz 
abgeschnittenen  Finger,  und  der  Gärtner  einen  ganz  verdorten  Baum. 
—  Man  entschuldige  also  das  Böse  zwar  nicht  gegen  die  Lasterhafte  5 
selbst,  entschuldige  aber  gegen  andere,  um  bei  ihm  ein  Patron  des 
kleinen  Rests  von  Gutem  zu  seyn. 

372.  Man  muß  nicht  Tugend  lächerlich  machen.  Nach  der 
Ohngötterei  ist  nichts  schändlicher,  als  die  Verzweiflung  an  aller  Tu- 
gend :  Es  ist  ein  leeres  Gewäsch  von  der  Tugend  seiner  selbst  und  lo 
andrer,  und  ich  überhebe  mich  ihrer  etc.  weil  sie  ein  Unding  ist: 
Vielleicht  ist  Ehrsucht,  oder  Liebe  zur  Paradoxie  etc.  Diese  Muth- 
massungen  sind  vor  wirklich  Tugendhafte  die  gröste  Beleidigung: 
und  sie  geht  mit  der  Atheisterei  in  gleichem  Paar.  — 

Die  minderen  Grade  der  Wißenschaf t  sollen  wir  nicht  gering  achten  ]  5 
etc.  die  geringern  Grade  der  spekulativen  Wißenschaf ten  sind  schäd- 
lich; und  die  Anfänge  sind  lieber  völlig  zu  vermeiden.  Brauchbar 
werden  sie  nur  in  ihrem  Ganzen:  —  Aber  halbkluge  Metaphysik  ist 
schädlich:  —  Aber  es  gibt  Kenntniße,  die  von  andern  nicht  in  Graden 
sondern  Art  unterschieden  z.  E.  Erkenntniß  durch  Erfahrung  ist  ganz  20 
zu  separiren  von  Spekulation :  —  Sitthchkeit  durch  Beispiele  beßer  als 
System,  und  hier  kann  die  sinnliche  Ueberzeugung  vor  sich  schon  sehr 
nützlich:  ja  an  sich  weit  nutzlicher  als  die  Spekulation  selbst  seyn,  da 
die  historische  Kenntniß  der  gemeinen  Vernunft  oft  völlig  gnug  ist  — 
Aber  halbe  Kenntniß  durch  Eitelkeit  erworben  macht  aufgeblasen,  25 
unklug  abgeschmackt  im  Urteilen  —  die  Wahrheit  der  Ueberzeugung 
kann  oft  sinnlich  und  nicht  eben  spekulativ  seyn:  so  auch  in  der  Moral. 

375.  Der  Aufwand  —  eine  gewiße  Gattung  des  Luxus  —  ist  nicht 
zu  widerrathen :  wenn  der  reiche  und  karge  verglichen :  scheint  jener 
einen  Vorzug  zu  haben :  denn  blos  der  geschwinde  Cirkellauf  auch  30 
weniges  Geldes  ist  das  Wohl :  weil  es  alle  beschäftigt ;  so  raubt  ein 
Karger  dem  Staat,  waz  er  nicht  ausgiebt;  —  denn  jede  Einnahme  ist 
gleichsam  ein  Kontrakt,  auch  andre  zu  beschäftigen :  —  Ein  reicher, 
der  sonst  nicht  ungerecht  ist,  ist  doch  ein  Dieb  1 )  weil  er  dem  Publiko 
sich  ganz  und  auch  Aufwand  schuldig  ist  2)  weil  er  seine  Enthaltsam-  35 
keit  blos  dadurch  zeigt,  daß  er  nicht  viel  Geld  verwahrt.  Der  Luxus 
scheint  hier  zwar  besser  zu  seyn;  aber  Roußeau  antwortet  dem  Hume, 
es  ist  wahr :  der  Luxus  beschäftigt  Arme ;  aber  es  wiirde  keine  arme  ohne 
Luxus  geben :  und  der  Luxus  kompensirt  seinen  eignen  Schaden  sehr 


Praktische  Philosophie  Herder  81 

schlecht.   Unrecht  werden  unnützhche  leute  unterhalten,  die  so  wie 
unnütze  Hände  sind;  indessen  /  werden  die  nützlichen  Leute  in  55 
Armuth  darben:  — 

Freigebigkeit:   Gerechtigkeit  ist  sehr  im  bürgerlichen   und 

5  Natürlichen  Verstände  zu  unterscheiden.  Nach  dem  Bürgerlichen 
Begriff,  ist  der  andre  mir  alles  nach  den  Gesetzen  schuldig;  z.  E.  der 
Bauer  ist  viel  seinem  Herrn  schuldig;  aber  nach  der  Natur  nichts; 
Ich  bin  ein  Müßiggänger  und  will  andre  arbeiten  lassen:  —  So  edel 
auch  die  Vorschriften  zum  Edelmuth  klingen:  so  machen  sie  blos 

10 Chimären  von  Tugenden.  —  Bios  das  Bild  der  Gerechtigkeit  der 
Natur,  der  natürlichen  Schuldigkeit  macht  wahre  Tugend.  —  Auch 
autorisierte  Ungerechtigkeiten  sind  blos  Laster  der  Natur;  =  Alles 
im  gemeinen  Wesen  geht  darauf:  dem  Mächtigen,  Reichen  wider  die 
Nidrigen  Armen  zu  helfen :  —  Es  ist  ein  gewisser  Grad  von  WohKart 

15  blos  möglich  durch  viele  Hände ;  so  ist  nach  unsrer  Politik  das  blos 
ein  florisantes  land,  wo  der  Ueberfluß  auf  einen  Kreis  von  kleinem 
Umfange  zusammengebracht  ist,  z.  E.  Frankreich  florirt,  denn  es 
glänzt  der  Hof,  die  Akademie,  Paris;  —  auf  dem  Lande  Armuth. 
Hier  sind  einige  freigebig;  weil  auch  schon  Unterdrückte  ihre  Rechte 

20  vergessen :  —  Wohl !  nicht  Schuldigkeit  sondern  Verpflichtung  der 
Natur :  —  Und  das  Geschenk  ist  blos  angenehm ;  das  andere  empört 
einen  edlen  Arbeitsamen  Armen 

377.  Man  muß  durch  die  procrastinatio  seine  Freigebigkeit  ver- 
mindern; sie  muß  geheim  seyn;  denn 

25      1)  Eitelkeit  muß  nicht  die  Triebfeder  seyn. 

2)  einen  jeden  elend  großen  Mann  hält  die  Gnade  verbittert. 

378.  Die  Schönheit  der  Tugend;  z.  E.  die  Umgänglichlceit,  nicht 
eigentlich  die  grossen  Pflichten  der  Tugend  sondern  kleine  Angelegen- 
heiten des  Lebens.  —  Umgang  ist  die  wahre  Würze  des  Lebens,  und 

30 macht  den  würdigen  Menschen  nutzbar:  und  wenn  gelehrte  nicht 
con  versabel  sind  so  komt  es  entweder  von  der  assiduitas  her,  oder  von 
der  Verachtung  der  Gesellschaft  und  diese  gründet  sich  auf  den  Mangel 
der  Weltkenntniß :  und  des  Werths  der  Gelehrsamkeit:  Der  Gelehrte 
muß  con  versabel  mit  allen  Ständen  seyn,  da  er  außer  aller  ihrer  Sphäre 

35  ist,  vor  die  Hohen  nicht  zu  tief,  vor  die  geringen  nicht  zu  hoch.  Er 
ist  ein  excolirter  Mensch  und  also  am  besten  zur  Conversation,  da  er 
seine  Moralität  und  Kenntniß  am  meisten  zu  Gesprächigkeit  brauchen 
kann :  —  Nach  dem  Umgange  schmeckt  wieder  das  Glück  der  Einsam- 
keit: und  es  komt  darauf  an,  in  der  Einsamkeit  glücklich  zu  seyn,  als- 

6     Kant's  Schriften  XXVII/1 


82  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

denn  ist  er  auch  von  der  Gesellschaft  independent ;  allein  unsere  schon 
empörte  Sehnsucht  scheint  doch  nicht  durch  die  Einsamkeit  beruhigt 
werden  zu  können;  und  bei  der  Erschöpfung  der  Kräfte  wäre  Hand- 
arbeit hier  gewiß  sehr  nothig;  die  Umgänglichkeit  kann  so  ausarten, 
daß  die  Gesellschaft  unentbehrlich  ist ;  insonderheit  bei  jungen  Stu-  5 
direnden;  bei  denen  dadurch  aller  Geschmack  der  Wißenschaft  auf- 
gehoben wird.  Sonst  lernt  man  Menschen  kennen :  gewinnt  freunde  sich 
zum  besten;  kann  Nutzen  ausbreiten:  —  Eine  Misanthropie,  als 
Ueberdruß,  komt  aus  Vereckelung  des  Umganges ;  aber  einer,  der  nicht 
sterben  will,  muß  sich  nicht  von  der  Gesellschaft  trennen.  10 

56  /Gesprächigkeit:  nicht  jeder  hat  Kenntniß  und  leichtigkeit  sich 
zu  besinnen  auf  das  schickliche,  andere  hängen  ihren  eignen  Ge- 
danken nach;  sind  aber  dadurch  nicht  an  ihrer  eignen  Stelle.  Fasel- 
hafte leute  sind  also  die  beliebtesten,  wenn  sie  sonst  klug  sind;  ein 
immer  weiser  ist  zur  Last,  denn  die  andern  müssen  sich  nach  ihm  15 
richten:  und  b)  lauter  solche  Altklugheit  zeigt  Verstellung;  wer  lauter 
Kluges  sagt,  zeigt  blos  seine  beste  Seite :  — 
ist  einzuschränken 

1)  man  führe  nicht  immer  den  großen  Ton  der 
Gesellschaft.  Ein  jeder  will  sich  hören  und  hören  20 
laßen : 

2)  sey  nicht  bei  Kleinigkeiten  ausführlich  die  Gäh- 
nen machen 

Weibergesprächigkeit  ist  sehr  angenehm  — ;  da  wir  von  Wei- 
bern erzogen  werden,  so  bekommen  wir  durch  diese  Gesprächigkeit  25 
eher  Begriffe  da  2)  ernsthafte  Männer  dadurch  sehr  von  der  Ge- 
schäftigkeit erholt  werden;  —  Ihre  Medisance  ist  nicht  Schmähsucht, 
sondern  vielleicht  blos  Langeweile,  die  aus  ihrer  Neigung  auf  alles 
Schone  aufzumerken,  entsteht. 

Anständigkeit  ist  der  optische  Schein  der  Tugend,  da  man  30 

1)  Grundsätze  nicht  sehen  kann 

2)  nicht  immer  Falle  vorkommen  wo  ich  Tugend  beweisen  kann:  so 
muß  Anständigkeit  eine  nicht  zu  verachtende  Nebensache  seyn  die 
dem  Werth  zum  Wohlgereimten  Schmuck  dient ;  wir  machen  ihn  zur 
Hauptsache  35 

Sectio  IL  p.  236.  Der  innere  Werth  der  Sache  ist  freilich  das  vor- 
nemste ;  aber  die  außerhche  Schönheit  muß  auch  dazu  kommen ;  doch 
nur  zulezt ;  so  wie  das  Gebäude  erst  Vestigkeit  bekomt ;  so  auch  die 


Praktische  Philosophie  Herdei-  83 

Handlungen  erst  tüchtig,  denn  schön;  Indessen  ist  1)  unsere  Erzie- 
hung so  verkehrt,  daß  die  Anständigkeit,  das  Schicken  und  nicht 
Schicken  das  erste  ist,  und  daraus  werden  Betrüger,  Heuchler,  die  häß- 
lich sind,  und  schimmern:  2)  auch  in  der  Moral  muß  man  die  Anstän- 
sdigkeit  sehr  entfernen,  daß  sie  nicht  Grundsaz  wird,  und  erste  Trieb- 
feder; und  ist  diese  blos  eine  Folge  von  Wahn,  so  wird  die  wahre 
Moralität  vergessen :  —  Die  Regel  der  Anständigkeit  ist  vor  beide 
Geschlechter  unterschieden :  die  Ehre  des  Mannes  in  ihm ;  des  Weibes 
im  Urteil  des  Mannes ;  daher  ist  dies  das  schöne  Geschlecht,  und  die 

10  Anständigkeit  ist  bei  ihnen  nie  zu  verachten:  ja  nöthig;  da  sie  und 
ihre  Glückseligkeit  blos  leidend  ist :  so  auch  die  Grundsätze  der  Ehre 
außer  sich,  sie  muß  gewählt  werden :  der  Mann  muß  wälen :  —  bei  den 
Männern  ist  Anständigkeit  meistens  der  Tüchtigkeit  entgegen :  sie  sind 
übelgekleidete  Weiber :  unser  Säkulum  ist  die  Zeit  der  Anständigkeit 

15  das  alte  war  der  Rechtschaffenheit. 

Verbindlichkeit  da  ich,  ohne  Dienste  zu  thun,  den  andern  Will- 
fährigkeit ablocke.  Das  Frauenzimmer  hat  diese  Zauberkraft,  auch 
ohne  ihre  Geschlechterbezauberung :  da  sie  viele  kleine  Gefälligkeiten 
zeigen.  Ein  Vornehmer  obligirt,  wenn  er  seinen  Stand  verbirgt:  — 

20 Gesinden  muß  man  wenig  Lohn,  aber  öfter  Geschenke  geben.  /  Bloss? 
Gutherzigkeit  obligirt:  —  Insinuant,  die  äußerste  Geflißenheit  sich 
andere  zu  obligiren  ist  bei  dem  Manne  nicht  edel;  bei  dem  Weibe 
coquetterie.  Es  gefallt  nicht 

1)  es  ist  nicht  mehr  naiv  und  edeleinfältig  die  Mühe  darinn  miß- 
25  fallt 

2)  beim  Mann  scheints,  daß  er  sich  nicht  gnug  zu  schätzen  weiß. 
Gegenteil:  das  Frauenzimmer  muß  insinuant  seyn  auch  blos  den 

Umgang  zu  unterhalten:  1)  weil  sie  schwach  sind,  und  unsere  Ernst- 
haftigkeiten nicht  assequiren:   —  das  Frauenzimmer  aber  waz  gar 

30  zu  sehr  insinuant  ist,  verachtet  man  —  Petit  maitre  und  Petitmaitresse 
suchen  blos  mit  den  Neigungen  der  Männer  zu  spielen :  sie  sind  sonst 
ganz  kalt ;  die  elendesten  Eheleute ;  sie  sind  blos  in  sich  verliebt ;  und 
zu  den  serieusen  Pflichten  der  Einsamkeit  sind  sie  nichts;  da  sie  blos 
Talente  der  Gesellschaft  haben: 

35  Politesse  Geschliffenheit  lernt  man  aus  der  Welt;  aber  nicht  vom 
Hofe,  wo  man  etourderie  und  fierte  lernt,  sich  selbst  zu  zieren,  den 
hohen  Ton  zu  führen. 

Purismus:  gar  zu  großer  lockt  den  Zuruf  aus:  Seht  die  Frauen- 
zimmer die  blos  mit  Ohren  keusch  sind: 


84  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

Lächerlichkeit.  Lachen  ist  eine  Wirkung  der  Gesundheit  wesent- 
lich :  sehr  aufheiternd ;  daß  ein  lachender  Abend,  lachende  Historie 
angenehmer  in  der  Erinnerung  ist,  als  sonst  etc.  Nur  nicht  abwesende 
und  2.  anwesende  Freunde  müssen  sehr  den  Ton  der  Achtsaml<:eit 
abwarten:  —  und  so  gar  über  ehrwürdige  Dinge  ist  albern:  5 

Sonderling  ist  mancher,  nicht  weil  er  sich  bestrebt,  sondern  weil 
er  nicht  gemein  seyn  kann;  außerordenthche  Personen,  von  nicht 
gemeinem  Schlage  sind  nicht  zu  verachten ;  der  Sonderling  bestrebt 
sich  es  zu  seyn;  und  er  zieht  zwar  freiHch  die  Augen  auf  sich  aber 
wider  sich  etc.  —  Es  ist  der  beste  Probierstein  des  Umgangs ;  mit  10 
Sonderlingen,  die  es  durch  sich  sind,  nicht  aus  Affeetation  gut  um- 
gehen zu  können :  —  wer  10.  Franzosen  gesehen  hat  etc.  Aber  in  freien 
Staaten  z.  E.  Engelland:  Holländer  sind  sie  alle  wegen  des  Nutzens 
auf  einen  Schlag:  Wo  es  viel  Sonderlinge  gibt  sind  auch  viel  Leute 
von  sonderhchem  Werth;  —  Leute  von  gemeinem  Schlage  sind  von  15 
gemeinem  Werth. 

Zu  leben  wissen:  so  seine  Handlungen  einrichten  daß  man  das 
Leben  geniesse ;  jetzt  heißts :  wenn  er  nur  so  scheint,  als  wenn  er  sein 
Leben  geniesse :  Der  Mensch  weiß  etc.  der  in  der  Einsamlieit  sich  aus- 
steht ;  der  das  Gefolge  der  Großen  verachtet  weil  er  sich  selbst  zu  20 
hoch  dazu  schätzt;  —  Denn  die  meiste  Lebensart  raubt  den  Genuß 
des  Lebens. 

W^ir  haben  gegen  kein  Wesen  eine  Pflicht,  als  gegen  ein  ver- 
nünftiges Wesen.  Außer  dem  Menschen  sind  noch  Wesen  um  uns  ? 
etc.  etc.  Wenn  die  Vernunft  auch  die  Möglichkeit  solcher  Wesen  25 
58  außer  uns  zeigt :  so  weiß  sie  nicht,  ob  sie  bei  /  uns  sind :  unsre  Erde 
ist  voll  an  sich :  Da  nun  das  Daseyn  solcher  vernünftigen  Wesen  nicht 
bekandt  ist:  so  auch  nicht  Pflichten:  —  Die  Pflichten  gegen  andere 
Geister  außer  uns,  sind  gar  nicht  Philosophisch;  —  belehrt  die 
Offenbarung  so  zeigt  sie  auch  Pflichten  etc.  etc.  30 

Theurgie  war  blos  bei  den  Heiden  aus  Wahn  etc.  etc.  — 

Magie   scientia  admirationem  excitandi  per  prodigia  etc.   Viele 
schienen  der  Magie  verdachtig  zu  seyn  —  Die  natürliche  Magie  er- 
fodert,  daß  bei  allen  Vorfällen  ich  eines  beßern  berichte,  denen,  die  es 
über  meine  natürlichen  Kräfte  halten,  meine  natürlichen  Ursachen  35 
und  Mittel  entdecke. 

Magia  praeternaturalis  ist  der  Betrug  eines  ganzen  Jahrhunderts 
gewesen.   Ein  rechtschaffner  Mann  abstinire  von  aller  Magie;  sollte 


Pi-aktische  Pliilosophie  Herder  85 

er  auch  so  einfaltig  seyn  sie  ziz  glauben;  —  Die  Voraussetzung  ilirer 
unbekandten  Eigenschaften  soll  uns  alsdenn  schon  abhalten,  sie 
in  unsere  Handlungen  zu  mischen  —  Es  wäre  blos  eine  Versuchung 
Gottes;  —  Man  enthalte  sich  von  allem  Grüblen  über  Geister;  denn 
5  werde  ich  mich  jetzt  anders  verhalten : 

Geisterfurcht:  wird  sehr  vermindert,  durch  die  Wiederleger  der 
Historie  und  die  Einschränkung  ihrer  Kraft  auf  Erden.  Gesezt  aber 
man  sezze  auch  ein  großes  geschäftiges  Spiel  bei  ihnen  zum  Voraus: 
so  habe  ich  über  meinen  Standpunkt  keine  andere  Bestimmung  und 

10  Gewehrleistung  zur  Sicherheit  und  zu  Handlungen,  die  Güte  des, 
der  mich  setzte  in  die  Welt:  Wenn  ich  rechtschaffen  handle;  so 
mag  es  Geister  geben,  oder  nicht  etc.  etc.  Indessen  bringen  sich  immer 
die  alten  Schrekbilder  der  Erziehung  zurück;  —  Waz  soll  ich  mich 
vor  Seelen  der  Verstorbnen  fürchten ;  nach  weniger  Zeit  bin  ich  auch 

15  unter  ihnen;  eine  kleine  Scheidewand;  und  habe  ich  mir  auf  denn  waz 
böses  zu  besorgen  ?  bemengt  euch  wenig  mit  dem  Geister  Gedanken ; 
beschäftigt  euch  mit  Menschen:  seid  ihr  wohlthätiger  Geist;  sucht 
böse  Geister  gut  zu  machen.  Wer  sich  unter  Geister  verirrt,  verliert 
sich  aus  Menschen 

20  Es  scheinen  doch  noch  die  Dinge  die  um  uns  sind,  Pflichten  zu 
erheischen  ?  Responsio  z.  E.  das  Vniversum  zu  betrachten;  hier  habe 
ich  nicht  erga  res,  sondern  propter  res  gegen  Gott ;  aus  der  Beziehung 
und  meiner  natürlichen  Bonität  —  Aber  Thiere  ?  da  ich  doch  gegen 
sie  unmittelbare  Zwecke  habe,  so  daß  sie  Morahsche  Gründe  seyn 

25 können:  —  Wenn  ich  aber  nicht  meinet-  und  nicht  andrer  wegen, 
sondern  blos  unmittelbar:  —  z.  E.  wilde  Ziege,  Hund:  eigenthch  keine 
eigentliche  Pflicht  /  gegen  Thier:  —  Das  Wesen,  waz  gar  keine  Morali-  5» 
tat  hat,  ist  nie  Zweck  sondern  stets  Mittel:  der  Mensch  kann  absolute 
gut  seyn,  die  andern  Dinge  alle  respective  gut;  der  Mensch  hat  den 

sopunkt  der  Vollkommenheit  in  sich;  —  blos  vernunftige  Wesen  sind 
Zwecke  des  vniversi,  und  sie  sind  also  nie  Mittel  der  Verbindlichkeit. 
Sinds  nicht  Ungerechtigkeiten,  außer  Bedürfnissen  Thiere  zu  mar- 
tern   etc.    Responsio    nicht    Ungerechtigkeiten    gegen   Thiere;    die 
empfinden    nichts    bewust;    aber    wohl    Ungerechtigkeit   gegen    die 

35  Menschliche  Natur,  da  ich  die  feinste  Sympathie  beleidige ;  und  dies 
lezte  Mittel  des  Gefühls  ausrotte,  welches  Mitleiden  heißt:  so  wird 
es  in  der  Folge  der  Zeit  auch  stumpf  seyn  gegen  Menschen :  —  Athe- 
nienser  straften  die  Undanlvbarkeit  gegen  Esel  nicht  unmittelbar  da 
er  nicht  seine  vorige  Dienste  weiß ;  sondern  die  Undankbarkeit  über- 


86  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

haupt;  die  der  Wurde  der  Menschlichen  Natur  entgegen  war,  und 
seine  Empfindung  stumpf ;  —  siehe  Grausamkeit  in  Hogarths  Kupfer- 
stichen :  erst  gegen  Thiere ;  (bricht  aby 

Der  Methoden  zur  Moralischen  Verbeßerung  sind  2. 

1 )  die  eine  ist  schwer,  und  die  Tugend  wird  erhaben :  also  auch  5 
seltner:  weil  die  hypothetische  Noth wendigkeit  hier  kleiner  ist 

2)  die  eine  ist  leicht:  viel  Physisch  Gutes  viel  schöne  Tugend;  aber 
nicht  wahre  erhabne :  so  ist  unsere  Erziehung ;  da  an  sich  der  Mensch 
gut  ist;  so  sind  sie  auch  an  sich  nicht  schlecht,  aber  wenn  sie  zu 
Grundsäzzen  werden,  so  entstehen  Phantastische  Wünsche  daraus ;  lo 
auch  z.  E.  nach  einer  reinen  Moralität  die  hypothetisch  unmöghch  ist, 
da  die  Leidenschaften  schon  so  weit  aufgekeimt  sind.  Es  ist  auch  eine 
Versuchung  Gottes,  zu  dieser  Moralite,  seine  besondere  Mitwirkung 
zuhaben.  Da  das  Verderben  nicht  natürlich  sondern  künstlich  ist: 
so  ist  auch  ein  gar  zu  großer  Zweck  phantastisch.  Das  Verderben  lag  is 
blos  der  Möglichkeit  nach  im  Menschen;  in  seiner  Schwache  als  Ver- 
nunftthier:  —  Die  Moralität  muß  leicht  seyn,  um  häufig  zu  seyn  weil 

1)  die  Sinnlichkeit  die  Moralität  überwiegt;  Ich  muß  meine  sinn- 
lichen begierden  also  nicht  wachsen  lassen ;  und  darnach  brauche  ich 
viel  Moralität  um  sie  zu  überwiegen ;  dieser  einfältige  Zustand  des  20 
natürlichen  Guten  ist  zwar  nicht  Tugend  weil  sie  leicht,  natürlich; 
nicht  aber  durch  Stärke  ist;  —  der  Mensch  kann  gut  seyn  ohne 
Tugend;  verständig  seyn  ohne  Wißenschaft,  zufrieden  seyn  ohne 
belustigung.  Je  mehr  ich  Pforten  zum  Vergnügen  habe ;  je  mehr  zum 
Schmerz ;  so  viel  Chorden  vor  das  eine ;  so  viel  vors  andere ;  und  da  25 
es  mehr  dran  liegt  nicht  zu  verheren  als  zu  vergrößern: 

2)  da  das  Vermögen  größer  ist  die  Neigungen  zu  erweitern,  als  sie 
zu  befriedigen:  — 

Der  Luxus  im  Erkennen,  Genießen,  und  Thun  wächst  parallel: 
60  /  Tugend  ist  eben  so  ein  Luxus  als  Laster ;  und  dies  ist  im  Zustand  30 
der  Einfalt  eigentlich  gar  nicht  zu  begreifen,  weil  ich  keine  Hinderniße 
davor  habe :  Er  thut  Gutes,  ohne  zu  wißen,  waz  Gutes  ist,  so  wie  der 
bürgerliche  Edelmann  Prose  redete,  ohne  zu  wißen,  waz  Prose  ist.  — 
Jezt  im  Luxus  sind  Freundschaft  Resignation  meistens  leere  Wörter, 
die  mit  der  wilden  Zeit  der  Griechen  ausstarben.  —  Man  schaffe  ab  35 
1)  alle  Uebel  des  Wahnes  etc.  denn  sie  machen  der  Moralität  am 
meisten  Abbruch :  solche  sind  2.  Ehre  und  Geiz :  auch  die  grobe  Wollust 
ist  doch  reell;  aber  unmittelbar  sind  Ehre  und  Geiz  närrisch  und  es 


Praktische  Philosophie  Herder  87 

sind  auch  nicht  mehr  Narren  als  sie  mögHch.  Die  übrigen  sind  Thoren : 
Sucht  reelle  Güter  ohne  Phantasterei  —  Ehre  macht  unglücklich  im 
Physischen,  verderbt  im  Moralischen.  Geiz  ist  das  närrischste;  und 
auch  gar  nicht  zu  heilen:  wegen  seiner  Scheingründe;  erst  spart  er 
5  um  zu  sammlen;  darnach  gewöhnt  an  dies,  sieht  er  einem  einfaltigen 
Menschen  ahnlich  der,  viel  entbehrhch  ansieht;  aber  er  scheints 
blos,  da  er  nach  seiner  Neigung,  so  viel  bedarf,  und  nach  seinem 
Gebrauch,  doch  nichts  bedarf,  weil  er  nichts  braucht.  —  Junge  sind 
indeß  selten  geizig,  und  alte  nicht  zu  beßern ;  Nach  abgelegtem  diesem 

10  Scheinwahn,  ist  der  gröste  Schritt  zur  Tugend  gethan :  denn  das  übrige 
lernt  man  schon  aus  den  Folgen  verabscheuen.  Da  der  Mensch  zur 
Leichtigkeit  so  schwer  hat  zurück  zu  gehen :  da  ich  ihm  so  viel  beliebte 
Neigungen  raubte,  die  künftige  Belohnungen  nicht  ersezze:  so  suche 
sie  ihm  zu  ersetzen,  durch  das  Gefühl  der  Freiheit :  suche  einem  jeden 

15  gleich  zu  seyn,  von  keinem  abzuhängen.  Du  wirst  Meister  von  dir, 
deiner  Zeit,  deinem  Amt  seyn  und  blos  vom  Gesez  der  Noth wendigkeit 
regiert  werden;  denn  Amter  feßeln  nicht  so  sehr  als  eigne  Wahn- 
sachen; —  Ein  Kind  wird  vor  die  Freiheit  alles  aufopfern:  diese  muß 
man  excoliren,  nicht  ausrotten,  es  wie  einen  Freigebohrnen  erziehen, 

20  unabhängig  von  den  Mengen  der  Menschen,  Sachen 

§.332.)Procrastinatio  komt  daher  weil  1 )  das  Gegenwärtige  f  e  ßelt 
2)  das  Künftige  leichter  scheint;  dies  ist  aber  Illusion,  weil  nicht  die 
Sache  selbst  sondern  blos  die  Weite  betrügt;  —  Nun  procrastinando 
finden  sich  endlich  so  gar  incomplete  Begierden  ein  daran  ich  selbst 

25 zweifele,  und  die  nie  geschehen:  —  Mit  dem  Anfange  der  Woche,  der 
Jahreszeit  etc.  etc.  Ist  die  begierde  aber  ohne  Hofnung  so  ist  sie  nie 
thätig:  — 

333.  Lasterhaft  zu  bestimmen  ist  schwer;  nicht  Moralisch  gut 
ist  noch  nicht  lasterhaft  /  aber  Fertigkeit  ?  —  Moralische  Thorheit  6i 

30  ist  noch  nicht  Laster ;  denn  hier  überwiegen  blos  die  sinnlichen  Be- 
gierden ;  —  Bei  dem  das  böse  noch  mit  Misbilligung  geschieht,  der  ist 
eigentlich  noch  nicht  Lasterhaft.  —  Bios  der  das  böse  ohne  Misbilli- 
gung thut  und  der  ist  nie  zu  beßern ;  —  Nur  der  durch  Thorheit  nicht 
tugendhafte  ist  nicht  lasterhaft;  falsche  Moralische  Maximen  machen 

35  blos  lasterhaft  da  sie  das  Moralische  Gefühl  ganz  betäuben,  das  böse 
beschönigen,  und  endlich  die  Selbstprüfung  völlig  unterlaßen,  wenn 
ich  nicht  mehr  meine  beßerung  einsehe : 

Hofnungslosigkeit  im  Moralischen  ist  2fach  die  Verwilderung 
und  die  Entkräftuner 


88  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

Brutalität:   Wollust,  Saufen  Schreihälsen:  diese   ist   nicht  das 
Laster  unserer  Zeit  sondern  vielmehr  Effeminatio,  da  alle  E-echt- 
schaffenheit  vorbeigegangen  mrd,  und  alles  blos  Anstand     dieser 
ist  blos  Schein;  wenn  das  Wesen  daraus  gemacht  wird:  so  ists  falsch 
und  oft  entgegen :  Dies  ist  der  Stand  der  Schwäche,  da  man  nicht  5 
einmal  zu  großen  Lastern,  noch  vielweniger  zu  großen  Tugenden  fähig 
ist.  Dieser  ist  ärger  als  der  Zustand  der  Brutalität,  denn  der  leztere  ist 
blos  daher,  weil  man  nie  an  Tugend  gedacht  hat ;  und  dieselbe  Kühn- 
heit die  lasterhaft  ihn  machte,  kann  ihn  nach  der  Resipiscenz  stark 
in  der  Tugend  machen :  —  bei  einem  enervirten  Leben  aber  hören  lo 
alle  Grundsäzze,  so  gar  des  Lasters  auf,  und  beinahe  verschwindet 
die  Receptivität  der  Tugend;  Er  ist  blos  ein  Anhängsel  des  Scheins; 
so  wenig  tugendhaft  zu  machen,  als  man  auf  das  Waßer  das  Siegel 
druckt.   —  Der  Zustand,  da  man  sich  besof  war  beßer,  als  unser 
nüchterne,  damit  man  nur  andre  betrugt.  Jenes  Laster  war  wenigstens  15 
männlich.  —  —  Der  Zustand  der  Sicherheit  1)  daß  man  nie  denkt 
an  die  Gefahr  z.  E.  bei  Brutalen  2)  da  man  nach  einem  verblendeten 
System   sicher  ist   z.  E.   Weibisch,    status  bonorum  motuum 
ist  gefährlicher  als  der  keine  gehabt  hat;  denn  man  glaubt,  chimärisch, 
daß  man  wache :  der  Zustand  der  Verstockung  bei  den  bestialischen  20 
ist  bei  den  Weibischen  die  Moralische  Blödsinnigkeit;  da  sie  bei  jenen 
Dollheit  ist;  und  diese  kann  eher  als  jene  geheilt  werden.  Mit  Saddu- 
cäern  war  leichter  als  Pharisäern  zu  beßern,  und  die  Methoden  sind 
ganz  verschieden  Es  gibt  sehr  viele  Psychologische  Zufälle  und  Selbst- 
betrüge ;  man  komt  auf  Gefahren,  und  denlvt,  sie  verderben  sein  Blut,  25 
da  sie  doch  kommen  vom  Verderben  des  Bluts;  so  auch  wird  der 
Kampf,  der  aus  dem  Korper  komt  vor  Bekehrung  gehalten,  und  nach 
dem  das  Uebel  gehoben  ist:  glauben  sie  die  Moralität  gehoben. 

Man  muß  nicht  blos  Mensch,  sondern  auch  Geschlecht  und  im 
Geschlecht,  Alter  betrachten  Kindheit,  Mündigkeit,  MännHchkeit  so 
—  Alter,AbnehmendKindheitinfans,puer  beidenAlten:  überhaupt, 
daß  der  Mensch  blos  leidend  leben,  blos  von  andern  sich  unterhalten; 
(daher  sind  Weiber  stets  Kinder,  und  viele  Männer  auch)  1)  weil  die 
Organe  noch  nicht  ausgebildet  sind  2)  Verstand  noch  nicht;  dort  nicht 
Kraft,  hier  nicht  Mittel.  Unsere  Kindheit  ist  länger  als  bei  den  Wilden  35 
denn  die  bilden  eher  aus  1)  die  Organe  2)  Verstand;  jenes  durch 
Uebung,  dies  durch  Erfahrung  —  das  gesellige  Leben  hat  die  Tüchtig- 
keit jeder  einzelnen  Person  sehr  zu  Grunde  gerichtet;  insonderheit 
bei  uns;  so  wie  Bücher  das  Gedächtniß,  und  Pulver  Tapferkeit  zu 


Praktische  Philosophie  Herder  89 

Grunde  gerichtet.  /  Zwar  bekomt  der  gesellschaftliche  Mensch  mehr  6» 
allgemeine  Begriffe,  aber  diese  sind  nicht  Verstand;  sondern  blos 
Phantasie;  nicht  Erfahrungsurteile,  sondern  Vernunfturteile,  diese 
sind  fremd  künstlich  unbrauchbar :  —  der  natürliche  Mensch  hat  mehr 

5  Verstand  und  wenig  und  spate  Vernunft,  der  gesittete  Mensch  hat 
viel  Vernunft  und  wenig  Verstand;  zur  Selbsterhaltung  gehört  aber 
nicht  Vernunft,  sondern  Verstand;  über  das,  waz  unmittelbar  in 
meinen  Erfahrungen  ist:  und  da  ist  der  Wilde  nicht  lange  Kind.  Wie 
kann  die  Natur  den  Menschen  zum  Narren  gemacht  haben,  daß  wenn 

10  sich  die  Triebe  zum  Weibe  (Männlichkeit)  entwickeln,  bei  uns  man 
noch  ein  Kind  ist ;  nach  der  Natur  ist  man  alsdenn  schon  machtig ;  — 
man  muß  ein  Kind  nicht  als  Jüngling  erziehen,  sondern  als  Kind; 
da  ich  die  Natur  nicht  ändern  kann;  und  dies  durch  eigne  Erfahrung; 
nicht  durch  erzalung  andern,  dieß  macht  sehr  abhängig  und  oft  falsch. 

15  Unsere  Erziehung  ist  also  bei  uns  negativ,  die  Vernunftbegriffe  zu 
removiren  (bei  dem  Wilden  dies  nicht  nothig,  der  sie  nicht  hat) 
Daher  1)  nicht  Abstrakte  Begriffe  2)  Begriff  der  Sittlichkeit,  der  sich 
auf  Freiheit  gründet,  und  diese  fühlt  nicht  das  Kind.  Verbindlichlvcit 
komt  blos  dem  zu,  der  sich  complet  eigen  ist,  und  das  ist  blos  in  den 

20  Jahren  der  Selbsterhaltung  etc.  Gehorsam  nicht;  sondern  das  Gesez 
der  Noth wendigkeit.  Daher  1)  mit  Kindern  nicht  vernünfteln;  über 
warum  ?  denn  es  hangt  absolut  von  mir  ab.  So  bald  es  wächst;  so 
entwickelt  sich  die  Freiheit  Gradweise  und  ich  muß  2)  das  Gesez 
der  Nothwendigkeit  nicht  so  ausbreiten,  daß  es  sehen  kann,  es  ge- 

25schehe  alles  aus  Kaprice:  blos  wegen  des  Gesez  der  Nothwendigkeit; 
—  sondern  deutlich  und  ohne  Pardon,  ohne  Ausnahme ;  —  Seine  Frei- 
heit einzuschränken  ist  sehr  schwer  (bricht  ah} 


II 

Praktische  Philosophie  Powalski 


Prof.  Imman:  Kants 
Practische  Philosophie 

Gottl.  Powalski 
Rector  Schol:  moewing; 


Inhalts -Anzeige. 

1.  Einleitung  in  die  practische  Welt  Weisheit pag.  1. 

2.  Historie  der  Moral 7, 

3.  Von  den  ersten  Quellen  und  Principien  der  moralischen  Beurteilung  .  17. 

4.  Von  den  freien  Handlungen 25. 

5.  De  obligatione 31. 

6.  Vom  physischen  und  moralischen  Gefühl 38. 

7.  Das  moralische  System 41. 

8.  Von  der  Natur  der  Imperativorum 49. 

9.  De  activis  et  paßivis 51. 

10.  Von  der  Gewisheit  und  Ungewisheit,  WahrscheinUchkeit  und  Un Wahr- 
scheinlichkeit moralischer  Gesezze 54. 

11.  Vom  moralischen  Zwange 60. 

12.  Vom  Unterschiede  der  äußern  und  Innern  Verbindlichkeit 63. 

13.  Vom  morahschen  Gesezze 64. 

14.  Vom  Rechte  —  vom  MoralGesezze 66.  67. 

15.  Von  der  RechtsErfahrenheit  und  RechtsVerbindlichkeit 74. 

16.  Vom  Naturrecht 76. 

17.  Von  der  Antinomie 80. 

18.  Von  der  GesezGebung 85. 

19.  Von  der  Strafe 94. 

20.  Von  der  Zurechnung 98. 

21.  De  Conscientia 113. 

22.  Von  der  Ethic 114. 

23.  Von  der  natürlichen-innern  und  äußern  Religion 126.  127 

24.  Von  den  Irrtümern  der  natürlichen  Religion  —  Deismus 132. 

25.  Vom  Zutrauen  auf  Gott 143. 

26.  Vom  äußern  GottesDienste      157. 

27.  Von  den  Pflichten  gegen  sich  selbst 162. 

28.  Von  den  Pflichten  gegen  die  Seele 194. 

29.  Von  den  Maximen 204. 

30.  Von  der  SelbstUeberwindung  und  den  Pflichten  gegen  sich  selbst 
ratione  des  Körpers 207. 

3 1 .  Von  den  Pflichten,  die  den  persönlichen  Werth  des  Menschen  betreffen  223. 

32.  Von  den  Pflichten  gegen  andere  Menschen 251. 

33.  Die  Bestimmung  der  Menschen 273. 


96  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 


/  Einleitung  in  die  praktische  Weltweisheit 

Die  Philosophie  ist  entweder  theoretisch  oder  practisch.  die  theo- 
retische zeigt  die  Möglichkeit  der  Dinge,  die  practische  betrachtet  die 
Möglichkeit  derselben  durch  die  Anwendung  unserer  Willkühr,  oder 
wie  sie  durch  uns  möglich  sind.  Die  Philosophie  ist  keine  historische  5 
Erkenntniß.  Ueber  das  was  man  historisch  erkennt  kann  man  sehr 
wohl  philosophiren.  Wenn  man  über  die  Handlungen  der  Menschen 
die  uns  die  Historie  erzehlet,  philosophirt,  so  ist  das  zwar  eine  schwere 
Unternehmung,  aber  dabei  auch  das  einzige  nüzliche  was  die  Historie 
hat.  —  Die  Philosophie  ist  eine  Erkenntniß  durch  den  Verstand  und  10 
Vernunft,  und  hierinn  ist  die  Mathematic  mit  ihr  einerley.  Die  Mathe - 
matic  hat  zum  object  die  Quantitaet,  sie  fragt  wie  viel  mal  ein  Ding 
in  dem  andern  enthalten  sey.  Das  Object  der  Philosophie  ist  aber  die 
qualitaet ;  sie  fragt  was  die  Dinge  seyn  ? 

Die  Natur- Wißenschaft  betrachtet  auch  die  Möglichkeit  der  Dinge,  15 
die  Sinne  lehren  uns  zwar  was  wirklich  da  ist,  man  kann  aber  auch 
darüber  philosophiren,  wenn  man  zE.  die  Möglichkeit  wie  sich  die 
Pflanzen  und  Thiere  procreiren  und  wachsen  betrachtet,  welches  doch 
noch  kein  Philosoph  hat  einsehen  können.  Die  Möglichkeit  der  Dinge 
an  und  vor  sich  selbst  handelt  die  theoretische  Philosophie  ab,  und  wie  20 
2  sie  durch  unsre  Ivräfte  möglich  sind,  betrachtet  die  practische  /  Welt- 
weisheit. Die  Wißenschaft  welche  die  Regeln  des  richtigen  Gebrauchs 
in  Ansehung  der  Gegenstände  enthält  ist  pragmatisch,   oder  eine 
Lehre  der  Geschicklichkeit   —   Diejenige  Wißenschaft,   welche  die 
Regeln  des  richtigen  Gebrauchs  des  Verstandes  an  und  vor  sich  25 
betrachtet,  ist  die  Logic: 

Die  practische  Philosophie  enthält 

1.  die  Regeln  der  freyen  Anwendung  der  freyen  Willkühr  in  An- 
sehung der  Gegenstände. 

2.  Die  Anwendung  der  freyen  Handlungen  an  und  vor  sich  selbst.  30 

Die  Regeln  nach  welchen  die  Bedingungen  der  Willkühr  überhaupt 
bestimmt  werden,  handelt  die  Moral  ab,  die  practische  Philosophie 
enthält  die  Regeln  der  Geschiklichkeit. 


Praktische  Philosophie  Powalski  97 

Das  Wort  practisch  kann  in  zweyerley  Sinn  genommen  werden 

a  insofern  das  Object  der  Wißenschaft  die  praxis  ist  und  in  diesem 

Fall  Avird  eine  solche  praetische  Wißenschaft  der  Theorie  opponirt. 

b  insofern  sie  die  Ausübung  der  Regeln  veranlaßt,  oder  sie  ist  die- 

5  jenige  deren  Regeln  sich  in  der  Anwendung  zeigen,  in  diesem  Sinn 

wird    solche    Wißenschaft    der    bloß    speculativischen    Erkenntniß 

opponirt.  Die  Lehre  daß  es  eine  andre  Welt  gebe,  ist  theoretisch,  den 

Folgen  nach  ist  sie  aber  practisch.  Speculativisch  ist  eine  Wißenschaft 

die  gar  keine  Folgen  auf  die  Handlungen  hat.  Die  Betrachtung  Gottes 

10  ist  allerdings  eine  Erkenntniß  die  praetische  Folgen  hat;  es  giebt  aber 
dabey  auch  gewiße  Speculationen,  die  man  sich  oft  unnöthig  macht. 
Die  Wißenschaft  aber  heißt  practisch  wenn  sie  die  praxin  /  zum  Object  3 
hat.  Eine  und  dieselbe  Wißenschaft  kann  practisch  und  theoretisch 
seyn.  zE.  bey  einem  Juristen  die  Erkenntniß  der  Jurisprudenz  prac- 

1.3  tisch  als  ein  Object,  aber  speculativisch  in  Ansehung  der  Wirkung. 
Viele  disciplinen  werden  mit  dem  prächtigen  Namen  praxis  belegt, 
ob  sie  gleich  oft  müßige  theorien  sind.  Man  glaubt  oft  man  behandle 
die  praetische  Philosophie,  weil  sie  zum  Object  die  praxis  hat,  alles 
sind  aber  lauter  theorien:  man  lernt  unterscheiden,  von  der  Tugend 

20  schön  reden  und  critisiren,  es  ist  eben  so  wie  die  Aesthetic  eine  bloße 
Beurtheilung,  Man  muß  sich  ja  nicht  durch  die  Nahmen  hintergehen 
laßen.  Die  theoretische  Beurtheilung  der  Handlungen  nennt  man  die 
praxin  im  Gegensaz  der  theoretischen  Wißenschaft  wo  nicht  das 
freye  Verhalten  der  Menschen  zum  Object  ist.  Allein  obgleich  der 

25  Gegenstand  practisch  ist,  so  ist  doch  eine  andere  Frage,  ob  die  andern 
Wirkungen  practisch  sind  ob  uns  die  Regeln  in  den  Stand  sezzen  so  zu 
handeln  ?  Nein  es  sind  lauter  speculationen  der  Sitten.  Es  ist  nichts  als 
die  Unterweisung  das  sitthch  gute  vom  bösen  zu  imterscheiden.  Es  ist 
ein  großes  Unglück,  daß  es  mit  der  Logic  auch  so  beschafen  ist.  Wir 

30  haben  eine  praetische  Geometrie,  Mechanic,  die  uns  die  wirkliche  Aus- 
übung lehren.  Bei  der  Moral  ist  die  praxis  das  Object  und  nicht  der 
effect.  Die  Logic  lehrt  sozusagen  von  der  Vernunft  zu  reden,  nicht  die 
Vernunft  auszuüben.  Es  ist  also  dabey  ein  Mangel  und  das  ärgste  ist, 
daß  man  den  Mangel  nicht  gemerket  hat.  Man  muß  nicht  bloß  das 

35  Object,  das  ist,  das  sittliche  Verhalten,  sondern  auch  das  /  Sub-  4 
ject  das  ist  den  Menschen  studiren,  das  ist  nöthig,  man  muß  sehen, 
was  sich  im  Menschen  für  Hinderniße  der  Tugend  finden.  Der  erste 
Theil  der  Moral  enthält  die  Criteria  die  diiudication  deßen  was  prac- 
tisch gut  und  böse  ist.  Die  praetische  Philosophie  hat  also  auch  einen 

"     Kanfs  Schriften  XXVII/1 


98  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

theoretischen  theil,  was  blos  der  Speculation  opponirt  wird.  Der 
zweyte  enthält  die  Regehi  und  Mittel  der  Execution.  Mittel  wodurch 
ein  Wille  der  nach  Regeln  abgehandelt  wird  möghch  ist.  dieser  zweyte 
theil  ist  der  schwerste,  weil  man  den  Menschen  studiren  muß. 

Die  practische  Philosophie  in  so  fern  wir  sie  bemerken  und  be-  5 
trachten 

a  objective  welche  die  Mittel  vom  guten  Gebrauch  der  Regeln 
enthält  zE.  wie  der  Mensch  sich  verhalten  soll. 

b  subjective  sie  handelt  vom  würldichen  Gebrauch  der  Regeln 
zE.  wie  der  Mensch  sich  verhält  nach  seinem  Vergnügen  und  Wohl-  lo 
gefallen. 

Die  Menschen  beurtheilen  ihre  Handlungen  mit  ungleich  guter 
Willkühr,  sie  mißbilligen  daher  auch  oft  ihre  eigne  Handlungen.  Eine 
practische  Wißenschaft  kann  seyn  (das  ist  deren  object  ist  was  man 
thun  soll)  1   der  Geschiklichkeit  2  der  Klugheit  3.  der  Sitt-i5 
lichkeit.  Bey  jedem  Gebrauch  des  Willens  haben  wir 

a  auf  die  Bestimmung  der  Zwekke  und 

b  auf  die  Bestimmung  der  Mittel  zu  sehen. 

A.  In  Ansehung  der  Zweldce  betrachten  wir  die  Mittel  zu  bloß  mög- 
lichen Zwekken  zu  gelangen.  Die  practische  Wißenschaft  die  davon  20 
handelt  ist  eine  Wißenschaft  der  Geschicklichkeit  zB:  einen  Trog 
zu  meßen,  eine  Landschaft  zu  zeichnen  etc.  Die  Geometrie  lehrt  nicht 
daß  man  solche  Zweldve  haben  werde,  sondern  sie  zeigt  die  Mittel,  wie 
5  man  einen   solchen  Zwekk  erhalte,  wenn   sich  der  /  Fall  ereignet. 
Man  könnte   zu   solchen   practischen   Lehren   auch   die   Betrügerey25 
rechnen.  Die  Aeltern  sind  nicht  viel  darauf  bedacht,  das  Herz  der 
Kinder  zu  bilden,  sondern  darauf,  daß  sie  sich  Geschicklichkeit  er- 
werben, damit  sie  alle  mögliche  Zwekke  die  etwa  entstehen  könnten, 
erhalten.  Die  Natur  hat  gewolt,  daß  jeder  Aelternstand  bemühet  seyn 
soll,  seine  Art  zu  unterhalten,  das  geschieht  bey  den  Menschen  durch  30 
Geschicklichkeit.  Man  denkt  der  Mensch  kann  so  gut  seyn  als  er  will, 
denn  das  steht  doch  in  seinem  Willen.  Es  beruhe  bloß  auf  seiner  Will- 
kühr, aber  Geschicklichkeit  muß  man  erst  lernen.  Gute  Zwekke  zu 
wählen  (denkt  man)  steht  in  unsrer  Gewalt.  Allein  die  ausgebreiteten 
Lehren  der  Geschicklichkeit  muß  man  lernen.  Alle  Regeln  der  Ge-  35 
schicklichkeit  sind  problematisch,  die  Sprachen  sind  lauter  Mittel  zur 
Gelehrsamkeit  zu  gelangen.  Die  Psychologie  ist  ein  organon  von  allen 


Praktische  Philosophie  Powalski  99 

Wißenschaften  ein  Werkzeug  zur  Gelehrsamkeit.  Der  sich  dieser 
Mittel  gut  zu  bedienen  weiß,  heißt  geschickt  und  nicht  klug,  denn  er 
kann  sich  oft  die  beste  Zwekke  wählen. 

B.  Die  Erkenntniß  der  IVIittel  zu  den  Zweliken  zu  erlangen,  die  man 
5  beim  Menschen  noth wendig  annimmt  und  voraussezt,  heißt  die 
Klugheitslehre.  Es  gibt  einen  Zwekk  den  alle  Menschen  haben, 
das  ist  die  Glückseeligkeit,  das  ist  nun  aber  ungewiß,  was  ein  jeder 
für  die  Glückseeligkeit  hält.  Man  muß  erst  die  requisita  der  Glück- 
seeligkeit zergliedern.  Manche  irren  schon  im  Zuschnitt.  Sie  suchen 
10  Ehrentittel  ohne  Aemter,  die  ihnen  aber  so  unbequem  sind,  als  den 
FrauenZimmern  der  Reifrock  —  Wie  man  zu  der  GlückseeHgkeit 
gelanget,  lehret  die  Klugheitslehre. 

/  C.  Die  Lehren  der  Sittlichkeit;  das  ist  die  Moral 

Sie  zeigt  welche  Zwekke  wir  uns  sezen  sollen.  Sie  ist  eine  Unter- 

15  Weisung,  sich  gute,  nicht  mögliche  auch  nicht  beliebige  Zwekke  zu 
wählen.  Zwekke  die  von  den  Neigungen  der  Menschen  festgesezt 
werden,  machen  nach  ihrer  Meinung  zwar  die  Glückseeligkeit  aber  nicht 
die  Vollkommenheit  aus  —  Klugheit  beweist  man  an  einem  Gegen- 
stande der  nicht  in  unsrer  Gewalt  ist.  ZE.  wenn  man  sich  einen  zum 

20  Freunde  machen  will.  Das  Höchste  Wesen  nennt  man  ein  weises  nicht 
kluges  Wesen,  denn  es  steht  alles  in  seiner  Gewalt.  Der  Mensch  fordert 
überall  Klugheit  und  eine  Vollkommenheit,  der  Zwekk  mag  seyn,  wie 
er  wolle,  wenn  nur  die  Mittel  ihre  Vollständigkeit  haben.  Man  ärgert 
sich  dahero  so  gar  wenn  ein  verschmizter  Dieb  durch  einen  dummen 

25  Streich  die  ganze  Sache  verdirbt.  Aus  eben  der  Ursache  kommt  es, 
daß  wir,  wenn  jemandem  ein  Knopf  am  Rock  fehlet,  die  Augen  von 
dem  Fleck  nicht  wegbekommen  können.  Also  führen  die  Aufführungen 
der  Ivlugheit  und  Geschicklichkeit  ein  Wohlgefallen  bey  sich,  das- 
jenige bey  der  Sittlichkeit  gehet  auf  den  Zwekk  und  die  Absicht  wenn 

30  auch  die  Mittel  nicht  gut  gewählt  sind.  Dies  ist  die  Lehre  der  Zwekke. 
Die  Lehre  der  Sittlichkeit  enthält  nicht  die  Zwekke,  die  ^\^r  haben, 
sondern  die  wir  haben  sollen.  Was  zur  Glückseeligkeit  dienet,  das 
vergnügt.  Reichthum  will  jedermann.  Die  Tugend  im  Gegentheil 
gefällt  Jedermann,  sie  vergnügt  aber  nicht.  Was  man  begehren  und 

35  wählen  soll,  das  ist  gut,  das  sind  gute  Zwekke.  Was  man  wählt  ist 
angenehm  und  vergnügt,  das  lezte  geschiehet  durch  Klugheit. 


100  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

7  I  Die  Historie  der  Moral. 

Es  hat  Philosophen  gegeben,  die  die  drey  angeführten  Stücke  für 
einerley  hielten.  Aristipp  von  Cyrene  sagte :  es  wäre  nichts  wahres,  als 
nur  das  Vergnügen  und  der  Schmerz.  Denn  wenn  zE.  jemand  sagt, 
das  schmeckt  sauer  so  versteht  er  mich  nicht  ganz  vollkommen.       5 

Er  empfindet  es  vielleicht  ganz  anders  als  ich,  und  nur  durch 
öftere  Gewohnheit  nennt  er  die  Empfindung  so  wie  die  andern.  Vom 
rothen  kann  jeder  anders  afficirt  werden.  Allein  vom  guten  giebt  es 
keinen  Streit.  Alles  sagte  Aristipp  ist  ein  bloßer  Schein,  und  nur  das 
angenehme  und  unangenehme  ist  was  beständiges.  Alle  seine  prac-  lo 
tische  Lehren  gingen  auf  das  angenehme  und  unangenehme.  Seine 
ganze  Moral  war  eine  Geschicklichkeit  Mittel  zum  Vergnügen  zu 
finden.  Was  für  eine  abscheuliche  Lehre!  Sie  läßt  den  menschlichen 
Neigungen  den  Lauf. 

Unter  den  neuern  von  dieser  Art  Philosophen  ist  de  Lamettrie  und  15 
Helvetius  zu  merken.  Der  erste  hält  in  seinem  Buch  alles  für  Blend- 
werk, die  Tugend  und  das  Gewißen.  Er  will  nur  Geschicklichkeiten 
hervorbringen,  um  allerley  Zwekke  zu  erhalten,  es  mag  dem  andern 
schaden  oder  nicht,  das  untersucht  er  nicht.  Es  muß  Niemand  sagte  er, 
sich  vor  dem  andern  fürchten,  als  nur  vor  dem  Henker  denn  das  20 
schadet  seiner  Glückseeligkeit.  Helvetius  hat  nur  eine  moderirtere 
Sprache  geführet.  Es  giebt  manche  Leute,  die  sich  ein  Vergnügen 
»daraus  ma/chen,  die  allgemeine  Ruhe  zu  stöhren.  Die  denken  selbst 
nicht  so,  sie  woUen  nur  bloß  allen  Menschen  die  Köpfe  verwirren. 

Das  Buch  des  Helvetii  de  l'esprit  ist  angenehm  zu  lesen,  es  enthält  25 
aber  nur  die  Lehre  der  Geschicklichlceit.  Die  Lehre  der  Geschicklich- 
keit läßt  die  Zwekke  undeterminiret.  Es  ist  dieselbe  sozusagen  die 
Philosophie  der  Spizbuben.  Diese  cynische  Philosophie  muß  man  nicht 
mit  des  Epicuri  seiner  vermischen,  dieses  war  eine  Klugheitslehre. 
Die  erste  war  nichts  anders  als  eine  in  die  Theorie  gebrachte  Lieder-  30 
lichkeit  und  Licenz.  Sie  erhob  die  Thiere  über  die  Menschen.  Epicur 
suchte   die   wahre   gute   Zwekke  zu  lehren,   seine  Lehre  war  nicht 
eine  Lehre  der  Sittlichkeit  sondern  der  Klugheit,  allein  sie  bestund 
auch  nicht  bloß  in  einer  Geschickliclilvcit.  Der  Epicur  näherte  sich 
sehr  der  Tugend.  Er  suchte  eine  wahre  und  dauerhafte  Glückseelig-  35 
keit.  Er  bediente  sich  des  Wortes  voluptas,  welches  man  nachgehends 
so  übel  auslegte.  Beinahe  bedeutete  das  Wort  Wollust  das  stets  fröh- 
liche Herz.  Er  untersuchte  die  Vortheile  die  uns  daßelbe  bey  allen 


Praktische  Philosophie  Powalski  101 

Gelegenheiten  verschafet.  ZE.  in  der  Freundschaft  und  Umgange,  bey 
Bezwingung  der  Vergnügen.  Er  suchte  bey  schlechter  Kost  vergnügt 
zu  seyn,  er  übte  sich  ein  beständig  heiteres  Gesichte  zu  haben.  Die 
Cyniker  näherten  sich  ihm,  diese  suchten  alles  zu  entbehren.  Sie  waren 

5  auch  stets  störrisch  und  ernsthaft.  Sie  suchten  niemahls  fröhlich  zu 
seyn.  /  Democritos  ein  Lehrer  des  Epicurs  war  ein  Philosoph  der  guten  9 
Laune.  Epicur  führte  auch  seine  Lehre  noch  beßer  aus.  Nicht  bloß 
die  Uebel  sondern  auch  die  Laster  haben  eine  Seite,  von  der  man  sie 
mit  guter  Laune  betrachten  kann.  Eine  Seite  von  der  sie  lächerlich 

10  erscheinen.  Epicur  war  ein  Philosoph  der  die  Freuden  in  sich  selbst 
suchte,  er  war  nicht  so  wie  de  Lamettrie,  er  untersuchte  auch  die 
Zwekke.  Die  Stoiker  sagten  die  Sittlichkeit  ist  von  der  Klugheitslehre 
ganz  unterschieden  sie  lehrten  nicht  wie  man  glücklich  werden  soll, 
sondern  wie  man  sich  der  Glückseeligkeit  würdig  machen  soll. 

15  Hier  muß  man  betrachten  das  summum  bonum  wovon  sich  die 
Alten  verschiedene  Begriffe  gemacht,  und  welches  ihre  Moral  aus- 
machte. Was  ist  das  höchste  Gut  ?  Alle  Philosophische  Schulen  der 
Alten  unterschieden  sich  nach  dem  wie  sie  diese  Fragen  verschieden 
auflöseten.  das  angenehme,  das  vergnügen  etc.  ist  nicht  das  Höchste 

20  Gut.  Ein  solches  Gut  hat  unsern  vollkommensten  Beyfall.  Es  muß  ihm 
nicht  eins  von  diesen  Stükken  fehlen. 

Wir  würden  eine  Welt  tadeln,  wo  keine  Quellen  der  Glückseeligkeit 
herrschten  oder  sich  keiner  derselben  würdig  machen  würde. 

Glückseeligkeit  ist  die  Befriedigung  aller  Vergnügen  überhaiipt. 

25  (Diese  Definition  ist  dunkel.  Eine  rohe  Glückseeligkeit  existirt  nie.) 
Glückseeligkeit  ist  der  Genuß  der  Freude  und  der  Zufriedenheit  mit 
seinem.  Zustande.  Sie  betrift  nicht  bloß  einen  theil,  sondern  wir 
müßen  mit  unserm  ganzen  Zustande  zufrieden  seyn.  (Das  ist  unmög- 
lich.) Glückseeligkeit  gehört  zum  Zustande,  Würdigkeit  zur  Person. 

30  Die   Würdigkeit,   glückseelig   zu   seyn,   besteht   nicht  in   Talenten, 
sondern  in  meriten.  Ist  derjenige  der  viel  Verstand  /  hat  der  Glück- 10 
seeligkeit  würdig  ?  das  gehört  mit  zum  Glück  und  es  entstehet  die 
Frage  ob  er  derselben  würdig  ist,  und  dieses  erkennet  man  aus  sei- 
nem Verhalten.  Die  Beschaffenheit  des  Willens,  welche  die  Würdig- 

35  keit  der  Glückseeligkeit  enthält,  nennen  wir  die  Sitthchkeit.  —  Das 
Wohlbefinden  und  das  Wohl  verhalten,  sind  sehr  von  einander  unter- 
schieden. Wer  sich  wohlverhält  verdient  sich  w'ohl  zu  befinden.  Diese 
beiden  Stücke  gehören  verknüpft  zum  wahren  und  Höchsten  Gut. 
Mancher  ist  würdig  glücklich  zu  seyn  und  ist  es  nicht.  Das  Wohl- 


102  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

verhalten  stehet  in  unserer  Gewalt,  das  Wohlbefinden  aber  nicht.  Die 
Moral  lehrt  das  Wohlverhalten.  Die  Alten  sahen  diese  beyde  Stücke 
ein,  und  unterschieden  sich  dadurch,  daß  sie  die  beiden  Stücke  ent- 
weder separirten  oder  daß  sie  glaubten,  ein  Stück  wäre  in  dem  andern 
enthalten,  nahmen  also  an,  daß  nur  ein  Principium  des  Höchsten  5 
Guts  wäre.  Die  Gründe  des  Höchsten  Guts  liegen  entweder  in  der 
Natur  oder  in  der  Kunst.  Wenn  man  annimmt  daß  die  Natur  uns 
allein  dazu  führet ;  so  sind  alle  practische  Lehren  bloß  negativ,  das  ist, 
wenn  die  Quellen  des  Höchsten  Guts  in  uns  liegen,  alsdenn  müßen 
wir  uns  hüten  denselben  entgegen  zu  handeln.  Dergleichen  negative  lo 
Regeln  giebt  es  in  verschiedenen  Wißenschaften.  Bey  der  Erziehung 
11  der  Kinder  darf  man  um  sie  zu  erhalten,  nichts  /  an  ihnen  repariren. 
Die  Machine  ihres  Körpers  hat  das  Unbegreifliche,  daß  sie  sich  selbst 
erhält  und  zurechte  bringt.  Man  muß  nur  bloß  das  unterlaßen,  was  die 
Natur  in  ihrer  reparation  hindert.  So  sagten  auch  diejenige  Philo- 15 
sophen,  die  nur  negative  Regeln  gaben,  die  Natur  würde  schon  alles 
hervorbringen,  wenn  wir  sie  nur  nicht  hindern. 

Andre  sahen  die  Sittlichkeit  als  was  positives  an,  die  practische 
Regeln  sollten  positive  seyn.  Man  müste  den  Menschen  durch  Regeln 
der  Kunst  lehren,  wie  er  glücklich  und  des  Glücks  würdig  werden  solle.  20 

Roußeau,  Antisthenes  und  die  Schüler  des  Diogenes  waren  der 
Meinung,  daß  die  Natur  in  uns  zum  guten  Willen  alles  angelegt  habe. 
Sie  sagten  wir  wären  von  Natur  der  Glückseeligkeit  würdig,  und  die 
practischen  Regeln  müßen  nie  negative  seyn,  es  sey  denn,  daß  unser 
Willen  durch  böse  Sitten  verdorben  wäre.  25 

Ritter  Home  behauptet  das  Gegentheil  und  sagt:  daß  die  Tugend 
gelehrt  werden  müße,  er  beweist  dies  auf  verschiedene  Art,  er  beruft 
sich  auf  diejenige  Zeiten,  wo  noch  keine  Anweisung  nichts  civilisirtes 
war,  da  herrschte  Grausamkeit  und  alle  mögliche  böse  Handlungen. 

Die  MoraHsten,  welche  negative  Regeln  geben,  sagen  die  Glücksee-  3o 
ligkeit  war  uns  von  Natur  gegeben ;  sie  bestünde  in  der  Genügsamkeit. 
la  Wir  sollen  uns  nur  /  hüten  Neigungen  hervor  zu  bringen,  so  würden  wir 
glücklich  seyn  —  Die  Moralitaet  hingegen  bestand  nach  ihrer  Meynung 
in  der  Unschuld,  welches  nur  negativer  Werth  einer  Person  ist,  und 
darinn  besteht,  daß  man  nur  nichts  verbricht.  Der  positive  Werth  35 
besteht  in  Verdiensten. 

Die  Natur  hat  nur  auf  wenige  Stücke  unsre  Glückseeligkeit  fest 
gesezzet,  wir  können  immer  glücklicher  seyn,  wenn  wir  uns  nicht 
nur  selbst  unnöthige  Bedürfniße  aufbürden  möchten. 


Praktische  Philosophie  Powalski  103 

Cynicer  waren  eine  philosophische  Seete,  stammten  vom  Anti- 
sthenes  her;  sie  übte  alles  natürliche,  was  wir  unanständig  nennen, 
öffentlich  aus.  Ob  sie  von  der  Eigenschaft  der  Hunde  oder  vom 
Gymnasio  Cynosarges  den  Namen  haben,  wissen  wir  nicht. 

5  Epicur  war  ein  Philosoph  zu  Athen.  Er  sezte  das  höchste  Gut  in  die 
Gemüths-  u.  Seelenlust.  Andere  aber  haben  dies  so  gedeutet,  als  ob  er 
die  höchste  Glükseeligkeit  in  die  leibliche  Wollust  gesezzet,  wozu  seine 
unartigen  Zuhörer  vieles  beigetragen  haben. 

Der  Diogenes  war  der  Urheber  von  der  cynischen  Sekte,  welche 

10  diesen  Namen  daher  bekam,  weil  die  Schüler  des  Diogenes,  wie  man 
sagt,  immer  in  einem  solchen  Aufzuge  erschienen,  welcher  sich  vor  die 
damahlige  gelante  Sitten  nicht  schikte.  Diogenes  suchte  überhaupt  das 
Geziere  und  andre  Unbequemliclikeiten  abzuschaffen.  Er  aß  zuwei- 
len mitten  auf  dem  Markte  und  wenn  man  ihn  frug  warum  er  das  thä- 

15  te  ?  so  sagte  er,  weil  es  ihm  auf  dem  Markte  zu  hungern  angefangen  — 
Er  nannte  seine  Lehre  den  kürzesten  Weg  zur  Tugend.  Sucht,  sagte  er, 
euren  Körper  abzuhärten,  ihr  werdet  alsdenn  nicht  soviel  Uebel  emp- 
finden. Seyd  aufrichtig  und  keine  Schelme  —  Ueberhaupt  was  hilft 
es,  sich  Bedürfniße  zu  erwecken,  man  muß  sie  hernach  doch  wieder 

20  ablegen  wenn  man  glücklich  seyn  will.  Wie  schwer  ist  es  alle  Nei- 
gungen zu  befriedigen,  wenn  sie  zu  schreyen  anfangen.  Des  Diogenes 
Lehre  zielte  zwar  nur  auf  die  Einfalt,  allein  sie  ist  in  der  /  That  schwer.  13 
Die  Natur  des  Menschen  ist  so  beschaffen,  daß  jede  Fähigkeit  sich 
auszubilden  sucht.  Die  Neigungen  bilden  sich  auch,  und  wir  werden 

25  dadurch  mit  vielen  Dingen  überladen.  Wenn  zE.  Eltern  ihre  Töchter 
rein  und  unschuldig  erziehen  wollen,  so  können  sie  zwar  in  ihrer  Ein- 
samkeit ganz  unschuldig  bleiben;  allein  bey  der  geringsten  Freyheit 
ist  es  aus  mit  ihnen,  bey  der  ersten  Erscheinung  in  der  galanten  Welt 
sind  sie  allein  ihren  Neigungen  preißgegeben.  Die  Erfahrung  selbst 

30  fehlt  ihnen,  die  sie  genug  instruiret  und  vor  allen  Anfällen  bewahret 
hat.  Der  Einfalt  aber  eine  wahre  Dauerhaftigkeit  zu  geben  gehört 
Erfahrung  und  Instruction. 

Der  Philosoph  des  Cynikers  war  ein  Mensch  der  Natur,  der  genügsam 
in  Ansehung  der  Bedürfniße  und  unschuldig  in  Ansehung  seines  Ver- 

35  haltens  war  —  Die  Natur  lehrt  uns  kein  Laster.  Man  gewöhnt  sich 
daran  so  wie  ans  Tobackrauchen  —  Es  ist  uns  das  Laster  erstlich 
unangenehm,  und  nachher  können  wir  es  nicht  mehr  laßen.  Wenn  wir 
die  Klugheit  und  Sittlichkeit  als  Künste  annehmen,  so  finden  wir  zwey 
Schulen  bey  den  Alten. 


104  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

1.  Die  die  Sittlichkeit  der  Klugheit  subordiniren.  Das  war  Epicurs 
Lehre  der  bloß  behauptete,  die  Klugheit  die  auf  unsre  Glückseeligkeit 
bedacht  ist,  sey  das  Höchste  Gut.  Er  sagt  man  hat  Ursache  mit  seinem 
Zustande  zufrieden  zu  seyn,  wenn  alle  unsre  Handlungen  zur  Glück- 
seeligkeit abzielen.  Nach  Epicurs  Meinung  war  derjenige  glücklich,  5 
der  sich  glücklich  zu  machen  weiß,  diese  Philosophie  war  pragmatisch, 

14  Klugheit  und  /  Sittlichkeit  war  bey  ihm  einerley. 

2.  Die  die  sagen  daß  die  Tugend  nicht  darin  bestehet,  daß  ich  mich 
glücklich  mache  wie  Zeno  zE.  die  Glückseeligkeit  ist  das  Bewußtseyn 
der  Tugend.  lo 

Ein  Stoiker  sagte :  der  ist  glücklich  der  sich  würdig  machet  glücklich 
zu  seyn.  Des  Zenos  Lehre  war:  Unsre  Glückseeligkeit  bestehe  im 
Wohl  verhalten,  und  man  habe  Ursach  sich  vor  glücklich  zu  schäzzen, 
wenn  man  deßen  würdig  ist.  Epicur  glaubte  nicht  die  Tugend,  sondern 
die  Glückseeligkeit  sey  das  höchste  Gut,  und  die  Sittlichlceit  sey  das  is 
Mittel  zu  diesem  Höchsten  Gut  zu  gelangen.  Zeno  hingegen  behaup- 
tete, die  Sittlichkeit  wäre  das  wahre  Gut,  und  die  Glückseeligkeit  die 
Folge  davon  —  So  verschieden  diese  Systemata  zu  seyn  scheinen,  so 
ist  doch  die  Frage,  ob  sie  es  wirklich  sind  ?  Denn  Epicur  behauptete : 
daß  man  ohne  Tugend  nicht  glücklich  seyn  kann.  Den  Epicur  könnte  20 
man  den  Welt-Mann  nennen,  denn  sein  Zwekk  war  glücklich  zu  seyn. 
Alle  seine  Zwekke  bezogen  sich  auf  dieses  Leben.  Hingegen  zeigen  des 
Stoikers  Aussichten  auf  eine  andre  Welt.  Er  lehrte  Zwekke  zur  Höch- 
sten Würdigkeit  der  Glückseeligkeit  der  Welt.  Diese  mußte  er  noth- 
wendig  in  eine  andere  Welt  versezzen,  denn  in  diesem  Leben  geschiehet  25 
es  nicht,  daß  derjenige  der  würdig  ist  glücklich  zu  seyn,  auch  wirklich 

15  glücklich  wird.  Epiciu"  sollte  das  Wort  volup/tas  nicht  gebraucht 
haben,  sondern  lieber  den  Ausdruck  ein  beständig  fröhliches  Herz: 
dadurch  wären  denn  die  uebele  und  anstößige  Auslegungen  in  seiner 
Lehre  nicht  entstanden.  Epicur  scheint  der  größte  Geist  seiner  Zeit  3o 
gewesen  zu  seyn.  Man  muß  ihn  nur  von  der  rechten  Seite  betrachten. 
Man  findet  zwar  keine  Schriften  von  ihm,  allein  man  kann  aus  seinem 
Leben  und  seinen  Principiis  auf  seine  Rechtschaffenheit  und  genie 
schließen.  Er  ging  in  seinen  Forderungen  sehr  weit.  Cicero  der  ein 
strenger  Stoücer  war  sagt  das  selbst  von  ihm,  indem  er  anführt,  daß  er  35 
das  für  die  größte  Süßigkeit  der  Tugend  hielte,  womit  man  um  der- 
selben willen  leiden  müßte. 

Dies  ist  der  Mensch  der  nach  der  Kunst  gebildet  wird,  und  nicht 
bloß  nach  der  Natur  wie  Diogenes  lehrte.  Indeßen  entspringt  die 


Praktische  Philosophie  Powalski  105 

Kunst  aus  dem  was  die  Natur  gab,  allein  das  uebernatürliche  gründet 
sich  gar  nicht  auf  die  Natur. 

Das  enthusiastische  Principium  lehrte  der  Plato.  Er  behauptete 
daß  das  Höchste  Gut  gar  nicht  in  der  Natur  liege,  sondern  dies  sey  das 

f)  Höchste  Wesen,  dies  ist  Gott,  und  in  der  Vereinigung  mit  dem 
Höchsten  Wesen  bestehe  das  Höchste  Gut,  das  ist  schwärmerisch. 
Plato  leitete  alle  Quellen  unsers  Verstandes  aus  Gott,  und  sagte  alle 
unsere  Glückseeligkeit  bestünde  darinn,  daß  wir  uns  über  das  Sinnliche 
erheben  und  uns  mit  unserer  aller  Quelle  dem  Höchsten  Wesen  ver- 

10  einigen.  Gott  ist  im  realen  Verstände  das  Höchste  Wesen  und  von  ihm 
kommt  alles  gute  her. 

/  Allein  die  Philosophie  geht  nur  auf  Objecte  die  wir  mit  unserm  le 
Verstände  beweisen  können.  Nur  wenige  kennen  Gott  durch  Schlüße 
und  können  doch  durch  die  Vernunft  in  seine  Gemeinschaft  nicht 

15  treten.  Das  Platonische  System  war  also  mystisch  und  scheint  aus  des 
Pythagoras  Lehre  entsprungen  zu  seyn,  und  diese  wieder  von  den 
Indianern  welche  eine  Seelen  Wanderung  glauben.  Plato  nahm  zwar 
keine  Seelen  Wanderung  an.  Allein  die  Vereinigung  unsrer  Seelen 
die  er  glaubte  war  nicht  weit  davon  entfernet. 

20  Das  vierte  Ideal  des  Höchsten  Guts  (wenn  wir  Epicurs  und  Zenos 
Ideal  vor  eins  nehmen)  ist  das  Ideal  der  Heiligkeit  —  Wenn  wir  also 
die  Ideale  des  Höchsten  Guts  verschieden  benennen  wollen  so  war  des 
Diogenes  seins  das  Ideal  der  Einfalt  des  Epicurs  der  Klugheit 
des  Zeno  der  Weißheit  und  das  lezte  das  Ideal  der  Heiligkeit. 

25  Der  vollkommene  Mensch  nach  dem  Ideal  der  Weißheit  ist  der  Weise, 
der  vollkommene  Mensch  nach  dem  Ideal  der  Heiligkeit  ist  der 
Christ.  Der  Weise  des  Evangelii  und  der  Weise  des  Stoikers  sind  sehr 
von  einander  unterschieden,  der  Stoiker  der  durch  seine  eigne  Kräfte 
volUcommen  werden  konnte  und  dem  Ideal  genau  gleich  kommt 

30  schwellte  von  Eigendünkel  und  Stolz  auf  —  das  Christliche  Gesezz  ist 
ein  heihges  Gesezz,  daraus  folgt  natürlicher  weise  die  Demuth, 
dahingegen  aus  der  Stoischen  Lehre  der  Stolz  entspringt.  Die  Christ- 
liche Moral  darf  nicht  Demuth  fordern,  sie  folgt  von  selbst,  daraus 
entspringt  die  Hoffnung  jemals  /  volllvommen  und  der  Glückseeligkeit  ii 

35  würdig  zu  werden.  Hier  hört  die  Philosophie  auf,  und  das  evangelium 
zeigt  ein  übernatürliches  Mittel,  wie  wir  zur  wahren  Vollkommenheit 
gelangen  sollen. 

Es  ist  keine  Kunst  Vorschriften  zu  erfüllen  und  darauf  Stolz  thun, 
wenn  man  sie  sich  leicht  angesezt  hat.  Allein  Vorschriften  müßen  ohne 


106  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

allen  Tadel  seyn,  sie  niüßen  die  größte  Vollkommenheit  erlangen. 
So  sind  alle  Gesezze  des  Evangelii  beschaffen,  und  das  Urbild  des 
Christentums  Übertrift  alle  Ideale  der  Vernunft. 


Von   den  ersten  Quellen  und  principien  der  moralischen 

Beurtheilung  5 

Die  meisten  Schriften  die  heut  zu  Tage  von  der  Moral  handeln, 
sind  nicht  ordentliche  Systemata,  sondern  beziehen  sich  mehren- 
theils  darauf,  woher  doch  in  uns  alle  moralische  Unterscheidung 
herzuleiten  sey.  Wenn  wir  die  alten  und  neuern  Systemata  zusammen 
nehmen,  so  bekommen  wir  zweyerley  Systemata.  10 

I.  das  erste  System  ist  das,  welches  die  Quellen  der  moralischen 
Beurtheilung  aus  subjectiven  Gesezzen  herleitet  i.  e.  aus  zufälligen 
Gründen,  aus  der  speciellen  Einrichtung  der  Menschen  aus  den 
Gründen  der  Sinnlichlceit. 

II.  das  zweyte   System  leitet  die  Natur  und  die  ersten  Quellen  15 
der  moralischen  Beurtheilung  aus  objectiven  Gründen  i.  e.  aus  allge- 
meinen Gründen  der  Vernunft  her.  Solche  objective  Gründe  sind 

18  allgemein  und  gelten  vor  alle.  Leiten  /  wir  unsre  moralische  Be- 
urtheilung aus  subjectiven  Gründen  her  und  nicht  aus  der  Natur  der 
freyen  Handlungen,  so  ist  alle  unsere  Beurtheilung  nur  zufällig.  20 
Es  würde  zE.  die  Lüge  nicht  absolut  abscheulich  seyn,  sondern  nur 
deswegen,  weil  wir  mit  einem  guten  Geschmack  begabt  sind.  Wird  sie 
aber  deswegen  andern  mißfallen  ?  Es  würde  damit  so  beschaffen  seyn, 
wie  mit  einem  üblen  Geruch  den  wir  nicht  leiden  können,  und  der  doch 
vor  andere  sehr  angenehm  ist.  Und  so  ist  es  auch  mit  den  moralischen  25 
Gesezzen  beschaffen,  wenn  man  sie  auf  die  privat  Beschaffenheit  der 
Menschen  gründet.  Leitet  man  sie  aber  aus  der  Beschaffenheit  der 
freyen  Handlungen  (Willkühr)  her  aus  Gründen  der  Vernunft,  so 
werden  sie  vor  alle  Wesen  die  Verstand  haben,  gelten.  Wenn  das  erste 
wäre,  so  würde  die  Uebertretung  eines  moralischen  Gesezzes  nicht  so  30 
abscheuHch  seyn.  Wir  möchten  nur  unklug  handeln,  und  müßten  uns 
nur  vor  andern  Geschöpfen,  die  einen  beßeren  Geschmack  haben,  und 
dies  nicht  leiden  könnten,  hüten.  Diejenige  die  Gründe  der  moralischen 
Beurtheilung  für  subjectiv  halten,  leiten  sie  her: 

a    entweder  aus  innern  oder  35 

b.  äußeren  subjectiven  Gründen. 


Praktische  Philosophie  Powalski  107 

Die  erste  theilen  sich  wieder  in  zwey  Classen :  es  behaupten  einige 

A.  das  System  der  Selbsthebe,  andere 

B.  das  System  des  besondern  Gefühls  des  Wohlbefindens  i.  e.  des 
moralischen  Gefühls 

5      /aa.   Das    System    der    Selbstliebe  lehrt  daß  alle  moralische  i» 
Beurtheilung  eine   Beurtheilung  der  Klugheit   ist,   der  gemäß   wir 
unsere   Neigungen   befriedigen.   Je   dauerhafter   wir  die   Neigungen 
befriedigen  desto  mehr  befolgen  wir  die  moralischen  Gesezze  —  das  ist 
das  System  der  Selbstliebe  und  im  striktesten  und  feinesten  Verstände 

10  in  den  neuei'n  Zeiten  des  Helvetius  und  de  Lamettrie.  Alsdenn  ist  alle 
moralitaet  auf  subjective  Gründe  gestüzt,  folglich  nicht  allgemein; 
was  aber  einigen  einzelnen  gefällt,  imgleichen  was  sich  auf  einen 
Eigennutz,  Annehmlichlveit  bezieht,  ist  nicht  vor  gut  anzusehen.  Das 
System  der  Selbsthebe  wäre  nicht  so  ganz  verwerflich,  wenn  die 

15  moralitaet  auf  einer  vernünftigen  Selbstliebe  sich  gründete.  Helvetius 
sagt  nicht  bloß,  daß  die  Menschen  Eigennuzig  sind,  sondern  daß  sie 
ohne  Eigennuz  gar  nicht  im  Stande  wären,  eine  Tugendhafte  Hand- 
lung hervor  zu  bringen :  das  ist  verwerflich,  wenn  man  die  Sittlichkeit 
auf  so  niedrige  principia  reduciret. 

20  Da  die  Moral  vom  guten  und  Bösen  handelt,  so  kann  sie  sich  gar 
nicht  auf  subjective  Gründe  und  die  Selbstliebe  beziehen.  Denn  nach 
dem  System  der  Selbstliebe  gründet  sich  unsere  moralitaet  auf  unser 
Intereße  an  einer  und  andren  Handlung,  und  auf  das  Vergnügen 
so  wir  davon  genießen.  Wenn  die  Menschen  von  ihrer  Annehmlichkeit 

25  reden,   so   meinen  sie   das   nicht   vom   moralischen   Gut.   Also   alle 
Systemata  der  Selbsthebe  stehen  auf  keinem  festen  Fuß.  Der  Helvetius 
mag  sich  auf  Ehrbegierde  etc.  berufen.  Das  ist  das  verhaßte  System  des 
Mandeville  —  Die  Menschen  nehmen  auch  /  nicht  so  leicht  was  ver-  30 
haßtes  an,  wenn  es  nicht  mit  einer  schönen  Masque  überkleidet  ist. 

30  So  verderbt  sind  doch  die  Menschen  nicht. 

bb.  das  zweyte  System  aus  Innern  subjectiven  Gründen  herge- 
leitet, ist  das  System  des  moralischen  Gefühls,  das  nichts  Philoso- 
phisches an  sich  hat.  In  den  neuern  Zeiten  sind  besonders  die  Eng- 
länder Shaftesbury  und  Hutcheson  zu  bemerken.  In  Deutschland  will 
35  es  sich  nicht  so  ausbreiten  und  man  hat  dies  dem  Wolff  zu  verdancken. 
Und  wenn  gleich  seine  Säzze  würden  verworfen  werden :  so  wird  doch 
sein  System  und  die  Mathematische  Einkleidung  immer  bleiben.  Seine 
Art  zu  Philosophiren  behält  jederzeit  unvergeßliche  Verdienste.  Man 


108  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

fordert  in  Deutschland  eine  deutliche  Auseinandersezzung,  und  was 
man  nicht  recht  verstehet,  das  glaubt  man  auch  nicht  —  Niemand  hat 
das  System  des  moralischen  Gefühls  mehr  aus  einander  gesezt  als 
Hutcheson.  Er  sagt,  durchs  Gefühl  kann  man  viele  Beschaffenheiten 
der  Gegenstände  wahrnehmen,  die  man  durch  den  bloßen  Verstand  5 
nicht  weiß,  zE.  ob  etwas  angenehm  ist  oder  nicht  ?  Die  Beschreibung 
eines  Cirkels  im  Euclides  ist  aber  nicht  angenehm.  Ferner  wenn  ich  ein 
Stück  Metall  in  verschiedenen  Weinen  abwäge,  so  wird  keiner  über  den 
Verlust  des  Gewichts  streiten,  jeder  sieht  es  auf  die  gleiche  Art.  Wenn 
aber  von  dem  Geschmack  der  Weine  die  Rede  ist,  so  können  ver-  lo 

21  schiedene  Meinungen  entstehen,  wo  jeder  nach  seiner  eigenen  /  Emp- 
findung recht  urtheilt.  Im  ersten  Fall  bekomme  ich  eine  Kenntniß 
vom  Object,  von  der  verschiedenen  Dichtigkeit  der  Weine.  Im  zweiten 
Fall  sind  es  nur  Beziehungen  der  Sachen  auf  unser  Gefühl.  Hier  ist  als 
denn  gar  nicht  die  Rede  vom  Object.  Home  hat  nach  der  verschiedenen  i5 
Beschaffenheit  der  Dinge,  wie  wir  von  ihnen  afficiret  werden  sehr  viele 
Gefühle  angenommen  und  zulezt  auch  ein  moralisch  Gefühl.  Er  hat 
die  Anzahl  der  Gefühle  so  vervielfältiget,  daß  man  sich  endlich  darinn 
verirrt,  denn  die  Großmuth,  Leutseeligkeit  etc.  haben  alle  ihre  be- 
sondere Gefühle.  Home  nimmt  an  daß  alle  Menschen  solches  Gefühl  20 
haben.  Indeßen  können  wir  aber  dadurch  behaupten,  daß  es  kein 
Gefühl  ist,  sonst  würde  es  zufällig  sejm. 

Die  es  aus  äußern  subjectiven  Gründen,  zE.  der  Erziehung,  Re- 
gierung, Gewohnheit  etc.  herleiten,  sind  folgende.  Montaigne,  ein  sonst 
liebenswürdiger  Autor,  glaubt :  alle  moralische  Gesezze  wären  Vor-  25 
urteile  der  Erziehung :  um  dies  zu  beweisen  führt  er  einige  Beyspiele 
an :  bey  den  alten  Spartanern  war  der  Diebstahl  erlaubt.  Die  Chineser 
werfen  ihre  Kinder  weg.  Die  alten  Stoil^er  hielten  den  Selbstmord  für 
etwas  anständiges,  für  eine  Ehre,  wodurch  sich  der  Weise  den  Weg 
bahnet  aus  dem  Rumor  der  Welt  sich  zu  entfernen  —  Sein  Principium  30 
war:  Wie  es  mit  den  Moden  gehet  so  gehet  es  mit  der  moralitaet. 
Ferner  führt  er  auch  die  Nordameril<aner  an,  wo  die  Kinder  nicht  aus 

saWuth  sondern  aus  kindlicher  Zärtlichkeit  ihre  Eltern  /  umbringen. 
Freilich  konnte  man  es  hier  dem  Mangel  der  Nahrung  zuschreiben, 
aber  eben  daßelbe  ist  auch  in  dem  reichen  Brasilien  Mode.  Die  Um-  35 
stände  und  die  Lage  des  Orts  verändern  die  Sitten.  Im  Lande  der 
Schwarzen  ist  keine  Obrigkeit.  Wenn  man  zE.  einem  andern  einen 
Keßel  stiehlt,  so  geht  der,  dem  der  Keßel  gestohlen  ist,  zu  seinem 
Nachbar,  und  nimmt  auch  ihm  einen  Keßel  weg  (wenn  er  gleich  den 


Praktische  Philosophie  Powalski  109 

Dieb  kennt)  dieser  Nachbar  geht  wieder  zu  seinem  Nachbar  und 
nimmt  ihm  auch  einen  weg,  und  auf  die  Art  werden  die  Keßel  im 
ganzen  Dorfe  unsicher.  Daher  suchen  sie  den  Dieb  gleich  auf,  und  der 
muß  entweder  die  gestohlene  Sache  wiedergeben,  oder  er  wird  von 
5  ihnen  vor  einen  Soldaten  verkauft  —  In  China  wird  kein  Betrug 
bestraft  nur  der  Diebstahl,  denn  dadurch  wird  die  allgemeine  Ruhe 
gestört.  Indessen  bleibt  doch  die  Treulosigkeit  wenn  man  sein  Ver- 
sprechen nicht  hält,  allenthalben  Verabscheuungs würdig  (die  Hotten- 
totten haben  ein  Liedchen  welches  davon  handelt,  daß  ein  HoUaender 

10  einem  Hottentotten  ein  Stück  Brod  versprochen  hat,  wenn  er  ihm 
eine  Rolle  Toback  tragen  würde,  welches  Stück  Brodt  er  ihm  nach- 
gehend doch  nicht  gab)  —  Hobbes  behauptet  daß  die  Obrigkeit  die 
Ursache  der  moralischen  Beurtheilung  sey.  Die  Obrigkeit  habe 
Gesezze  gegeben,  die  nur  auf  ihrer  Willkühr  beruhen,  und  diese  ver- 

15  pflichten  uns  hernach  —  /  Das  sind  die  Systemata  der  moralitaet,  die  23 
sich  nicht  aus  ewigen  Gesezzen,  sondern  aus  der  Zufälligkeit  der 
menschlichen  Natur  herleiten.  Bey  dem  was  der  Hobbes  behauptet 
muß  man  die  Gesezze  und  die  maximen  unterscheiden.  Die  Gesezze 
sind  objective  Regeln  nach  denen  ich  etwas  thun  muß ;  die  maximen 

20  sind  aber  subjective  Regeln  nach  welchen  ich  leiste,  wozu  ich  lust  habe. 

Und  daß  dieses  was  Hobbes  und  Spinoza  behaupten  falsch  sey,  sieht 

man  auch  daraus,  weil  man  eben  diese  Gesezze,  die  wir  bey  uns  haben, 

auch  bey  den  Wüden  antrifft,  die  doch  keine  Obrigkeit  haben. 

Die  Gesezze  der  Obrigkeit  gehen  auch  niemahls  auf  die  Moral, 

25  denn  zE.  was  fragt  die  Obrigkeit  darnach,  ob  ich  gegen  meinen  Wohl- 
thäter  dankbar  oder  undanlvbar  bin.  Die  Bürgerlichen  Gesezze  sind 
auch  darinn  von  den  moralischen  unterschieden,  daß  sie  auf  den 
allgemeinen  Nuzzen  gehen,  die  moralischen  aber  nicht.  Das  Sj^ste- 
matische  Lehrgebäude  welches  einige  und  selbständige  Gesezze  fest- 

sogesezt,  welches  behauptet,  daß  die  Wahrhaftigkeit  der  moralischen 
Handlungen  nicht  in  subjectiven  sondern  in  objectiven  Gründen  liege, 
ist  zweyerley 

1 .  Das  Systema  morale  intellectuale  welches  die  bonitaet  der  Hand- 
lungen aus  dem  Göttlichen  Willen  herleitet 

35  2.  das  zweyte  Systema  behauptet,  die  bonitaet  aller  Handlungen 
liege  in  der  Handlung  selbst. 

/Wegen  des  Göttlichen  Willens  können  wir  auch  die  Handlungen  34 
nicht  für  Sittlich  gut  halten,  denn  aus  der  Natur  der  guten  Handlungen 
müßen   wir  den  Göttlichen  Willen   beurteilen.   Nach  dem  zweyten 


110  Vorlesungen  über  Moralphilosopliie 

System  besteht  die  bonitaet  der  Handlung  in  dem  Wohlgefallen  und 
Mißfallen  einer  freyen  Handlung  durch  die  bloße  Vernunft.  Was  durch 
den  reinen  Verstand  gefällt  heißt  gut,  und  was  durch  den  reinen  Ver- 
stand mißfällt  ist  böse.  Das  gute  und  böse  muß  auf  zweyerley  Art 
bestimmet  werden.  5 

1.  durch  allgemeine  Begriffe  der  Vollliommenheit. 

2.  durch  die  Idee  der  Vollkommenheit. 

Im  allgemeinen  Begriff  der  Volllcommenheit  giebt  es  viele  Voll- 
kommenheiten, aber  bey  der  Idee  ist  nur  eine  Vollkommenheit.  Die 
Vollkommenheit  bedeutet  überhaupt  die  Vollständigkeit  einer  jeden  lo 
Sache,  und  vollkommen  heißt  alles  was  ein  Mitte  Izum  gu- 
ten ist,  zE.  Talente,  Verstand.  Die  VolD^ommenheiten  haben  doch 
aber  nicht  an  sich  etwas  selbständiges  gutes  sondern  eine  mittelbare 
bonitaet.  Denn  sonst  würden  wir  nicht  finden  zE.  daß  einer  der  viel 
Kraft  des  Verstandes  hat  (viel  Verstand)  ein  Bösewicht  seyn  könnte,  i» 
Nichts  ist  vollkommen  an  sich  gut  als  das  moralische,  das  übrige  ist 
nur  unter  gewißen  Bedingungen  gut.  Rechtschaffenheit  ist  immer  gut, 
•iö  aber  manchen  der  viel  Verstand  /  hat  verachten  wir  —  Das  Wort  Voll- 
kommenheit bedeutet  auch  oft  etwas  böses  zE.  er  ist  vollkommen  in 
seinem  Betrüge  etc.  20 

Wir  können  uns  bedingte  Vollkommenheiten  denken  d.  i.  die  eine  Be- 
ziehung auf  wahre  VoUlcommenheit  haben.  WoHf  hat  das  System  der 
Vollkommenheit  im  logischen  Sinn  behauptet  und  Plato  die  Idee  der 
Vollkommenheit.  Wolff  hat  als  ein  Philosoph  gedacht,  er  bauete 
sein  System  nicht  auf  sinnliche  und  subjective  Gründe,  er  verhütete  25 
dadurch  die  unreine  Triebfedern  der  Moralitaet.  Indeßen  ist  es  nicht 
gut  von  ihm,  daß  er  nicht  die  Idee  der  wahren  Vollkommenheit  voraus- 
sezte,  denn  wenn  das  nicht  geschiehet,  so  weiß  man  nicht  ob  eine 
respective  VolUvommenheit  allgemein  gut  genannt  werden  kann. 

Die  Uebereinstimmung  des  Willens  also  mit  der  Form  der  Vernunft  so 
ist  die,  wo  aus  dem  allgemeinen  aufs  besondere  geschloßen  wird,  darinn 
besteht  also  die  moralitaet,  daß  unsre  freie  Handlungen  mit  dem  Wort 
allgemein  gefällt  übereinkommen. 


Von  den  freyen  Handlungen. 
Wir  können  unsre  freye  Handlungen  betrachten:  35 

1 .  wie  sie  subjectiv  und 


Praktische  Philosophie  Powalski  111 

2.  wie  sie  objectiv  nothwendig  sind.  Die  subjective  Vollkommenheit 
betrachtet  die  Handlungen  die  ein  Subjeet  würcklichedirt.  Die  objec- 
tive  Nothwendigkeit  der  Handlungen  drückt  aber  aus  wie  die  Handlun- 
gen seyn  sollen.  Beym  Höchsten  und  vollkommensten  Wesen  sind  alle 
5  objective  nothwendige  Handlungen  auch  subjectiv  /  nothwendig,  se 
die  objective  Nothwendigkeit  der  Handlungen  ist  ein  Begrif  des  Ver- 
standes, und  geht  auf  die  möglich  gute  Handlungen.  Das  gute  was 
nicht  möglich  ist,  drückt  man  nicht  durch  Sollen  aus.  Wenn  man  sagt 
ein  Wesen  soll  so  handeln,  so  bedeutet  dies  daß  die  Handlungen  nicht 

10  bey  ihm  subjective  sind,  sondern  objectiv  nothwendig.  Von  Gott  kann 
man  das  Sollen  nicht  gebrauchen,  denn  die  objectiven  Handlungen 
sind  nach  Beschaffenheit  seines  Wesens  auch  subjectiv  nothwendig. 
Es  ist  eben  so  als  wenn  man  sagen  wollte,  du  solst  Eßen  wenn  du 
hungrig  bist,  und  etwas  zu  Eßen  hast.  Alle  Formeln  die  die  möglichen 

15  guten  Handlungen  ausdrücken  sind  in  Ansehung  der  Menschen 
Imperativi  aber  nicht  in  Ansehung  des  Höchsten  Wesens.  Subjectiv 
ist  manches  nothwendig  aber  nicht  aus  objectiven  Gründen  der  Hand- 
lungen zE.  ein  Mensch  kühlt  sich  ab,  wenn  ihm  heiß  ist,  nicht  weil  die 
Handlung  gut,  sondern  weil  es  ihm  angenehm  ist.  Die  Gründe  die 

20  subjectiv  neceßitiren  können  auch  ohne  objective  Gründe  bestehen. 

Die  Gründe  warum  die  Handlungen  geschehen,  heißen  causae  impul- 

sivae,  Beweg  Ursachen.  Diese  causae  impulsivae  werden  eingetheilet 

1.  In  causas  sensualiter  moventes  quae  dicuntur  stimuH,  das  sind 

Vorstellungen  des  angenehmen  und  unangenehmen. 

25      2.  In  causas  intellectualiter  moventes  quae  dicuntur  motiva  oder 
Vorstellungen  des  guten  und  Bösen. 
Die  Neceßitation  per  stimulos  ist  pathologisch.  Die  Neceßitation 
per  motiva  ist  practisch.   Practisch    ist  was  nach  Gesezzen  der 
Freyheit  geschiehet.   Die   Thiere   wer/den   pathologisch  genöthiget.  8T 

30  Es  ist  gut  wenn  man  bey  Kindern  und  bey  Vorschriften  objectiv  noth- 
wendiger  Handlungen  dieselben  pathologisch  nöthiget.  Es  ist  beßer 
wenn  man  einem  die  Schönheit  der  Handlungen  einzusehen  lehret.  Die 
Sittlichkeit  bestehet  nicht  darinn,  daß  man  nach  stimulis  sondern 
nach  motivis  handelt  —  Das  was  per  stimulos  nothM^endig  gemacht 

35  wird,  das  gehört  zur  Pathologie.  Pathologie  ist  die  Wißenschaft  von 
dem  Gegenstande  sofern  er  afficirt  wird  oder  leidet.  Die  Stimuli  haben 
in  Ansehung  des  Menschen  nur  eine  vim  impellentem  sed  non  neceßi- 
tantem.  Daher  ist  die  Freyheit  des  Menschen  im  mora- 
lischen    Verstände     genommen     nichts     anders     als     das 


112  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

Vermögen  nach  motivis  zu  handeln.  Die  motiva  haben  in  An- 
sehung des  guten  eine  vim  neceßitantem.  Oft  haben  aber  die  motiva 
nicht  eine  vim  neceßitantem  über  den  Menschen,  dieses  gehört  aber 
zur  Menschheit,  denn  würden  die  motiva  beständig  den  Menschen 
neceßitiren,  so  würde  er  in  der  Erkenntniß  immer  steigen  bis  ein  5 
heihges  Wesen  aus  ihm  seyn  würde.  Die  stimuH  sind  bey  uns  mehr 
elateres  animi  als  die  motiva  — 

Die  Elateres  animi  (Triebfedern)  sind  causae  impulsivae  die  sub- 
jectiv  nöthigen.  Die  motiva  haben  vim  tantum  objective  moventem. 
Die  motiva  sind  Urtheile  über  eine  Handlung.  Die  Beweg  Gründe  10 
sind  von  den  Triebfedern  darinn  unterschieden,  daß  die  ersten 
ssdiiudicationes  einer  Handlung  sind,  die  andern  aber  /  Beweg- 
Gründe. 

1.  Entweder  motiva  pragmatica  oder 

2.  motiva  moralia  15 
Die  Wißenschaften  der  Geschicklichkeit  enthalten  neceßitationes : 

Ihre  Imperativ!  sind  bloß  pragmatisch,   sie  enthalten  Regeln 
und  nicht   Gesezze. 

Die  Beweg  Gründe  motiva  enthalten  zwey  Stücke 

a  Die  Zwekke  die  jeder  hat  —  Die  motiva  welche  die  Handlungen  20 

ausdrücken,  die  unsrer  Glückseelig- 
keit  nothwendig  sind,  sind  pragma- 
tisch. 

Der  Zweck  den  aUe  Menschen  haben 
ist  die  große  Annehmlichkeit  oder  das  Glück  25 

b.  Die  Noth wendigkeit  einer  Handlung  aus  der  Beziehung  zum 
wahren  Zweck.  Das  heißt  eine  moralische  Nothwendigkeit  oder  moti- 
vum  morale. 

Die  praecepta  pragmatica  sind  hypothetisch  und  die  praecepta 
moralia  sind  categorisch.  Sie  sind  beide  so  sehr  von  einander  unter-  30 
schieden,  daß  wenn  ich  von  einem  aufs  andere  komme,  ich  in  einem 
ganz  andern  Fall  bin.  Die  Praecepta  pragmatica  werden  von  den  An- 
nehmlichkeiten und  Sinnlichkeiten  bestimmt,  die  moralia  aber  nicht. 
Ueberdem  ist  das  Wohlgefallen  und  Mißfallen  durch  den  Verstand  viel 
stärker  als  dasjenige  durch  die  Sittlichkeit.  Das  leztere  betrift  meine  35 
Person,  das  erstere  meinen  Zustand.  Wenn  ich  reich  bin  und  dabey  ein 
Schelm,  so  ist  zwar  mein  Zustand  vorteilhaft,  aber  ich  selbst  verdiene 
Verachtung.  Eine  unerlaubte  Handlung  aber  kann  durch  keine 
29  Summe  Geldes  gut  gemacht  werden.  /  Der  Mensch  verachtet  sich 


Praktische  Philosophie  Powalski  113 

selbst,  wenn  er  mehr  pathologisch  als  practisch  zu  einer  Handlung 
bewogen  wird.  Eine  Handlung  die  viel  zu  kämpfen  hat,  leuchtet  desto 
mehr  hervor.  Nach  den  Regeln  der  Moral  ist  eine  Handlung  desto 
vortrefflicher  je  mehr  sie  kostet.  Aber  den  pragmatischen  Regeln  ist 

5  dies  ganz  zu  wieder.  So  sehr  ist  also  das  pragmatische  von  dem 
moralischen  unterschieden.  Das  Wohlgefallen  oder  Mißfallen  durch 
den  Verstand  ist  weit  ungleicher  als  dasjenige  durch  die  Sinnlichkeit. 
Dieses  verbeßert  oder  verschlimmert  den  Zustand,  jenes  aber  erhebt 
oder  verwirft  die  Person,  das  ist  den  Menschen  selbst.  Den  Unter- 

10  schied  dieser  zwey  motiven  einzusehen,  ist  eine  Sache  von  der  größten 
Wichtigkeit.  Aber  ein  reiner  Bewegungs  Grund  kann  eine  reine  Hand- 
lung hervorbringen.  Wie  schädlich  ist  also  die  Vermengung  dieser 
zwey  motiven,  das  substituiren  des  einen  und  des  andern,  und  wie 
nüzlich  die  rechte  Absonderung  des  einen  von  dem  andern!  —  Der 

15  Unterschied  zwischen  dem  pragmatischen  und  morahschen  Bewe- 
gungs Grund  ist:  jener  drückt  das  aus  was  in  Absicht  auf  meine 
Neigungen  und  Begierden,  dieser  aber  das  was  absolut  gut  ist.  Nach 
den  Regeln  der  Sittlichkeit  ist  die  Handlung  desto  fürtrefflicher 
je  mehr  sie  kostet.  Nach  den  Regeln  der  Klugheit  ist  sie  aber  desto 

20  besser,  je  mehr  sie  einbringt.  Zwey  ungleichartige  Dinge  verbunden 
stechen  desto  mehr  ab;  die  Tugend  glänzt  dann  am  meisten,  wenn  sie 
mit    dem    Unglück    ringt.    Wenn    gleich    objective    problematische 
Bewegungs    Gründe  /  gegen  die   moralischen  gar  nicht  in  Anschlag  30 
kommen  so  sind  doch  subjective  die  pragmatische  Triebfedern  in  uns 

25  weit  stärker  als  die  morahschen.  Die  Menschhche  Natur  hat  dies 
an  sich,  daß  die  moralischen  Triebfedern  oft  den  pathologischen  i.  e. 
den  stimulis  unterworfen  sind.  Die  Elateres  animi  sind  bey  den 
Menschen  stimuh  aber  nicht  motiva,  welches  eben  das  Unglück  des 
Menschen  ist.  Denn  wir  handeln  oft  auf  eine  Axt  von  der  wir  wohl 

30  einsehen,  daß  sie  entweder  unsrer  Glückseehgkeit  oder  wohl  gar  der 
Sittlichlieit  entgegen  ist.  Würden  die  elateres  animi  gleiche  motiva 
seyn,  so  würden  sie  zugleich  die  Richtschnur  der  freyen  Handlungen 
enthalten.  Pathologische  Beweg  Ursachen  als  Stimuli  sind  alle  als 
gleichartig  anzusehen  und  die  treibende  Kraft  der  Glükseeligkeit  ist 

35  schon  kleiner.  Die  vis  movens  der  moralitaet  ist  aber  die  kleinste, 
welches  eben  umgekehrt  seyn  sollte.  Dieses  alles  haben  einige  Mora- 
listen sehr  wohl  erkannt,  sie  glauben  aber  diesen  Fehler  der  Mensch- 
hohen  Natur  zu  verbeßern,  wenn  sie  die  Sinnlichkeit  dem  Verstände  zu 
alieniren    suchten,    und   eine    harmoniam    facultatis    hervorbringen 

8     Kanfs  Schriften  XXVII/1 


114  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

wollten ;  sie  zeigten  wie  Ehrlichkeit  die  beste  Politic  sey,  allein  sobald 
die  Tugend  von  den  Leidenschaften  einen  Beystand  borgen  will,  so 
verliehret  sie  alle  ihre  Kraft,  ihren  großen  Reiz  und  ihre  Bewegungs 
31  Gründe,  nemlich  die  reine  moralische  Volllcommenheit.  /  Das  alieniren 
der  Tugend  mit  der  Seeligkeit  also  bringt  ihr  keinen  Vortheil  sondern  5 
vielmehr  einen  Schaden.  Das  moralische  Analogon  ist,  wenn  man  aus 
Triebfedern  der  Sinnlichkeit  dieselbe  Handlung  ausübt,  die  man  nach 
Regeln  und  Triebfedern  der  Sittlichkeit  zu  thun  verbunden  wäre.  Hier 
ist  zwar  die  gute  Handlung  nach  dem  Buchstaben  gleichsam  da  aber 
nicht  nach  dem  Geist  d.  i.  dem  wahren  Werth  derselben.  Der  Mensch  lo 
kann  es  durch  Mühe  dahin  bringen,  daß  er  seine  Natur  besiegt,  und  die 
moralischen  Triebfedern  den  sinnlichen  vorzuziehen  im  Stande  ist. 
Die  Gewohnheit  seinen  Leidenschaften  zu  widerstehen  ist  sehr  nüz- 
lich.  Wir  haben  hierdurch  die  Moral  noch  nicht  erklärt,  sondern  nur 
gezeiget,  was  sie  nicht  sey.  Diese  negative  Instruction  ist  aber  hier  i5 
die  nötigste  und  wichtigste. 

Was  ist  eigentlich  die  Moral  ?  sie  gefällt  jedermann,  und  wir  werden 
sie  hernach  erklären. 


De  obligatione 

Die  moralischen  motive  sind  entweder  20 

1.  motiva  obligandi  oder 

2.  motiva  obligantia.  ZE.  die  ersten  sind  moraHsche  Gründe  zu 
Handlungen  können  aber  auch  unzureichend  seyn.  Die  andern  sind 
stets  zureichend.  Motiva  obligandi  sind  nicht  immer  obUgantia.  ZE. 
ich  bin  im  Begriff  eine  Schuld  zu  bezahlen,  es  kommt  aber  ein  Freund,  25 
dem  ich  dadurch  aushelfen  könnte.  Dasleztere  ist  ein  motivum  morale. 

saaber  es  ist  auch  eine  Schuld  da,  und  das  Wort  schuldig  /  will  viel 
sagen,  es  gehört  also  unter  die  motiva  obligantia  die  ich  also  erfüllen 
muß.  Wir  können  gegen  jemand  verbunden  seyn,  ohngeachtet  man 
ihm  nicht  verbindlich  ist.  so 

Die  Motiva  obligantia  sind  die  welche  der  Grund  seyn  von  der 
Noth wendigkeit  einer  Sache. 

Die    motiva   obligandi  sind  aber  die,  welche  zwar  ein  Grund 
aber  nicht  eine  Nothwendigkeit  seyn.  Die  Obligation  ist  gleichsam 
das  resultat  von  den  motiven.  Derjenige  der  durch  seine  Handlung  35 
der  Grund  der  Obligation  eines  andern  ist,  der  ist  der  obligans ;  der  aber 
nur  durch  seinen  Zustand  Ursach  zur  Obligation  giebt  ist  das  objectum 


Praktische  Philosophie  Powalski  115 

obligatioiiis  oder  der  obligatus.  Es  giebt  also  nicht  allein  obligationes 
activas  sondern  auch  paßivas. 

Obligatio  activa  est  obligatio  erga  obligandum,  oder  wo  man 
einem  andern  sich  verbindlich  macht. 
5      Obligatio  paßiva  est  obligatio  obligati  erga  obligantem  wo  der 
andre  der  Grund  unserer  Verbindlichkeit  ist. 

Eine  obligatio  activa  ist  zE.  diejenige  Verbindlichkeit  welche  wir 
gegen  einen  nothleidenden  haben. 

Eine  obligatio  paßiva  aber  die  wir  unserm  Wohlthäter  schuldig 
10      sind  — 

Durch  die  Obligation  erga  non  obligantem  oder  dadurch  daß  ich 
einem  andern  verbindlich  bin  ohne  eine  Ursach  zu  haben,  übe  ich  auch 
eine  obligationem  obligantem  aus.  Die  Obligationes  paßivas 
nennet  man  Schuldigkeiten  die  Obligationes  activas  aber  Ver- 
ls dienstleistungen.  Zu  den  Schuldigkeiten  sind  wir  moraHsch  genöthiget, 
zu  /  den  Verdienstleistungen  aber  gar  nicht,  sondern  sie  sind  freye  33 
Erzeigungen  der  Verbindlichkeit,  welche  officia  humanitatis  oder 
officia  beneplaciti  genannt  werden. 

Officium  heißt  die  pflichtmäßige  Handlung  wozu  ich  verbunden 
20  bin.  Die  Ausübung  aber  dieser  Handlung  heißt  obligatio. 


Die  Officia  sind  entweder 

1.  officia   beneplaciti  die  per  obligationem  activam  entstehen 

2.  oder  officia  debiti  die  per  obligationem  paßivam  entstehen. 
Einige  obligationes  sind  beständig,  andre  aber  entstehen  und  vergehen 

25  wieder.  Die  moralischen  Gesinnungen  bleiben  beständig,  die  Obligation 
aber  vergeht,  nachdem  die  Objecte  der  Obligation  vergehen,  die  Obli- 
gation hört  auf: 

a.  Wenn  ihr  ein  Genüge  geleistet  wird  oder 

b.  Wenn  die  causa  obligandi  aufhört.  Es  kann  eine  Obligation  in 
sogewißen  Umständen  aufhören,  und  doch  noch  immer  fort  dauren  zE. 

die  Pflicht  der  Kinder  gegen  ihre  Eltern.  Auch  kann  sie  aufhören 
durch  einen  gewißen  actum.  Eine  jede  Obligation  aber  wenn  sie  ent- 
springen soll,  sezt  einen  actum  Obligatorium  voraus.  Ueberhaupt  ist 
ein  actus  obligatorius  wenn  willkührlicher  Weise  eine  obUgation 
35  erzeugt  wird. 

In  dem  actu  obligatorio  ist  der  eine  obligans  der  andre  obligatus. 


116  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

Eine  Obligation  kann  auch  durch  die  Willkühr  vergehen.  Und  es 
giebt  auch  obhgationes  von  denen  man  nach  Regehi  der  SittHchkeit 
annehmen  muß,  daß  sie  niemahls  verlöschen  können,  und  denen  man 
nie  völlig  satisfaciren  kann.  ZE.  eine  jede  Wohlthat  ist  von  der  Art. 


34  /Moral.  5 

Zu  der  practischen  Wißenschaft  gehöret  die  Geschicklichkeit 
Klugheit  und  Weißheit.  —  Die  Geschicklichkeit  ist  ein  Vermögen 
die  Aufgaben  aufzulösen,  oder  sie  bestehet  bloß  in  dem  Vermögen  der 
Ausübung  alles  desjenigen  was  verlangt  wird.  Die  Mittel  dazu  sind  die 
Regeln  zu  einem  gewißen  Zweck  zu  gelangen,  und  bestehen  in  der  lo 
Fertigkeit  des  Gebrauchs.  Die  ganze  Logic  ist  eine  Lehre  der  Ge- 
schicklichkeit. Der  Zweck  ist  beliebig.  Alle  Regeln  der  Geschicklich- 
keit machen  einen  Zweck  aus  der  beliebig  ist.  ZE.  ex  datis  tribus  lineis 
constructur  triangulum.  Die  Geometrie  Mechanic  etc.  haben  einen 
theoretischen  theil.  Die  Regeln  der  Klugheit  sind  unser  freyes  Ver- 15 
fahren  gegen  die  wirklichen  Zwecke,  und  dazu  gehöret,  daß  wir  wohl 
untersuchen  die  Regeln  der  Klugheit,  und  welches  die  Mittel  sind  zu 
einer  Glückseeligkeit  zu  gelangen.  Hierauf  folgt  die  Lehre  der  Sitthch- 
keit,  welche  lehrt  die  Vorschrift  der  guten  Zwecke  in  unsern  Hand- 
lungen. Hier  muß  man  betrachten  das  gute,  das  summum  bonum,  20 
wovon  sich  die  Alten  verschiedene  Begriffe  gemacht  haben,  und 
welches  eigentlich  die  Moral  der  Alten  ausmacht. 

Die  Alten  warfen  sehr  viele  Fragen  auf  in  quo  consistat  summum 
bonum  ?  sie  hielten  es  nicht  für  das  Höchste  vollkommene  Wesen 
sondern  sie  verstunden  darunter  die  großen  möglichen  Vollkommen-  25 
heiten  des  Menschen,  die  er  durch  seine  Kräfte  erlangen  kann.  Die 
Alten  behaupteten,  daß  dazu  zwey  Stücke  gehören,  nemlich  das 
Wohlbefinden  als  der  erste  articel  des  summi  boni  und  das  Wolil- 

35  verhalten  als  der  andre  articel.  Sie  sagten  man  muß  /  erstlich  suchen 
glücklich  zu  werden,  und  alsdenn  suchen  sich  des  Guts  (Glücks)  so 
würdig  zu  machen,  aber  man  muß  das  Gegentheil  nehmen,  man  muß 
sich  erstlich  des  Glücks  würdig  zu  machen  suchen  und  dann  erst 
glücklich  seyn.  Von  der  Vernunft  kann  Jedermann  glücklich  genug 
gemacht  werden.  Diese  beyde  Stücke  machen  also  nicht  die  Voll- 
kommenheit des  Menschen.  Glückseeligkeit  und  Würdigkeit  machen  35 
aber  das  summum  bonum  aus.  —  Bey  den  Alten  war  davon  die  erste 
Quaestion :  Ob  die  zwey  requisita  von  einander  unterschieden  wären. 


Praktische  Philosophie  Powalski  117 

Epicurus  sagte  daß  das  Höchste  Gut  durch  Klugheit  erlangt  werde, 
und  führte  dabey  an:  sapientes  oninia  causa  sua  facere.  Zeno 
aber  der  Urheber  der  Stoischen  Sekte  sagte,  daß  das  höchste  Gut 
nicht  im  Wohl  verhalten  sondern  im  Wohlbefinden  bestehe,  da  doch 

5  dies  Wohlbefinden  eine  Folge  des  Wohl  Verhaltens  sey.  Der  Besizz  der 
Tugend  ist  also  die  Glückseeligkeit,  und  die  Glückseeligkeit  ist  das 
Gefühl  des  eigenen  Werths.  Die  Philosophie  des  Epicurs  erstreckte 
sich  auf  die  Sinnlichlieit,  die  Philosophie  des  Zeno  aber  auf  die  Sitt- 
lichkeit. Die  Triebfeder  der  Tugend  ist  die  Hoffnung  der  Glückseehg- 

lokeit.  Der  Werth  der  Hoffnung  der  Glückseeligkeit  ist  die  Triebfeder 
der  Tugend.  Des  Epicurs  Philosophie  ist  gleichsam  der  Faden  der 
Annehmlichkeiten.  Beyde  Philosophen  hatten  die  Quaestion  der  Specu- 
lation  nach  der  execution  wie  man  zE.  zur  Tugend  gelangen  könnte, 
zum    Wohlverhalten    und    zur    Glückseehgkeit.    Beyde     sahen    die 

15  Wege  der  Glückseeligkeit  für  künstlich  an,  die  die  Philosophen  nie  36 
ergründen  können.  Es  zeigte  sich  ein  neuer  Lehrer  Antisthenes  und 
sein  Schüler  Diogenes.   Diese  behaupteten  daß  die  Glückseehgkeit 
nicht  dürfe  aus  der  Philosophie  gesuchet  werden  sondern  aus  der 
Natur.  Es  war  unter  ihnen  noch  ein  Streit  vom  summo  bono,  und  das 

20  bestehe,  wenn  man  sich  bemühet  sich  durch  moralische  Befleißigungen 
Tugend  zu  erwerben.  Einen  Besizzer  des  summi  boni  nennt  man  den 
Menschen  der  Natur.  Die  Tugend  ist  desto  schwerer,  je  mehr  man  sich 
von  der  Einfalt  der  Natur  entfernet. 

Diogenes  zeigte  den  leichtesten  Weg  zur  Glückseeligkeit,  wenn  er 

25  sagte :  Haltet  euch  frühzeitig  an  die  Einfalt  der  Natur.  Das  Muster 
oder  das  Ideal  des  Diogenes  war  der  Mensch  der  Natur,  das 
Ideal  des  Epicurs  war  der  Welt  Mann  das  heißt  von  der  Welt  so 
viel  zu  genießen,  so  viel  man  kann,  durch  alle  Mittel  und  Wege.  Er 
gab  die  Vorschrift,  die  Welt  bis  zu  der  Höchsten  Stufe  der  feinsten 

30  Empfindungen  zu  genießen. 

Das  Ideal  des  Zeno  war  der  Weise.  Er  wolte  beweisen,  daß  man 
durch  nichts  kann  unglücklich  gemacht  werden,  als  durch  die  selbst 
reproche;  wenn  man  glaubt,  daß  man  noch  eines  strengeren  Unglücks 
würdig  sey,  das  macht  unglücklich.  Alle  Unbequemlichkeiten  und 

35  Unglücks  Fälle  nannte  er  die  Beschwerlichlceit.  Die  Beschwerhchkeit 
ist  ein  Gefühl  des  Uebels.  Epicurus  sagte:  derjenige  der  sich  einen 
Vorwurf  des  Bösen  Betragens  machen  kann,  der  empfindet  ein  Uebel. 
Man  muß  auch  einen  Unterschied  /  machen  zwischen  dem  Uebel  und  sr 
dem  Bösen.  Die  Stoiker  sagten,  das  Podagra  wäre  kein  Uebel.  Böses 


118  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

ist  schlechterdings  zu  verabscheuen.  Das  Uebel  wenn  es  mit  dem 
Verhalten  des  Menschen  übereinstimmend  ist,  ist  kein  Uebel:  Plato 
hatte  zu  seinem  Ideal  denjenigen  deßen  Muster  die  Natur  ist.  Sein 
Ideal  war  mystisch.  Er  sagt:  man  gelangt  zu  seiner  Glückseeligkeit, 
wenn  man  die  Ideen  der  Gottheit  anschauen  lernt.  Das  Ideal  des  5 
summi  boni  im  Evangelio  ist  der  Christ.  Man  kann  hier  anmerken: 

Des    Zeno    Unschuld,    des    Epicurs    Klugheit,    des    Dio- 
genes  Weißheit,   des   Christen   Heiligkeit. 

Die  Tugend  belohnt  schon  hier,  das  ist,  sie  gewähret  ihm  die  Recht- 
fertigung aller  seiner  Handlungen.  10 

Die  zweyte  Quaestion  war,  wie  das  summum  bonum  erlangt  wird  ? 
der  Diogenes  sagte  daß  es  durch  die  Einfalt  der  Natur,  Epicurus 
und  Zeno  sagten  durch  die  Philosophie,  Plato  aber,  daß  es  durch  die 
Gemeinschaft  mit  dem  Höchsten  Wesen  erlangt  werde.  Wenn  wir 
die  Sittlichlceit  als  einen  Articel  des  Höchsten  Wesens  und  als  den  15 
Werth  und  die  Würdigkeit  des  Menschen  betrachten,  so  fragt  sich, 
worin  denn  die  Moral  bestehet.  Die  ersten  Principia  der  Beurtheilung 
des  Verstandes  sind  schwer  zu  bestimmen.  Worin  sezt  aber  die  moral 
Philosophie  die  ersten  Principia  der  Sittlichlvcit  ? 

Es  giebt  zwey  Systemata  der  principiorum  die  erkannt  werden  20 
38 können:  1.  Aus  subjectiven  Gründen  oder  aus  Grün/den  der  Sinnlich- 
keit, 2.  aus  objectiven  Gründen  oder  aus  dem  allgemeinen  Gebrauch 
der  Glückseeligkeit.  Die  Gründe  der  Sinnlichkeit  sind  dasjenige  was 
in  der  Sinnlichkeit  allgemein  und  beständig  ist.  Die  allgemeine 
Gründe  der  Glückseeligkeit  sind  dasjenige  was  in  der  Sinnliclikeit  25 
zufällig  ist. 

Dasjenige  was  in  der  Sinnlichkeit  beständig  ist,  ist  die  Erfahrung. 
Sie  sezzen  die  principia  der  moralitaet  entweder  in  der  Selbstliebe, 
in  der  Empfindung  der  Glückseeligkeit,  oder  in  einem  besondern 
Gefühl  des  Wohlbefindens,  welches  das  moralische  Gefühl  genannt  so 
wird.  Das  Empfinden  der  Lust  und  Unlust  gründet  sich  auf  die  Sinn- 
lichlieit.  Die  Sittliche  Lehre  ist  die  administration  unsrer  Neigungen 
und  Begierden.  Die  moralitaet  sey  also  nichts  als  die  conformitaet.  Die 
erste  Parthey  der  Philosophen  die  sie  in  der  Sinnliclilveit  suchen, 
suchet  sie  in  subjectiven,  die  andere  Parthey  in  objectiven  Dingen.  35 
Alle  Sinnlichlveit  schließet  nur  subjective,  der  Verstand  aber  objective. 
Alle  Urtheile  der  Sinnlichkeit  beziehen  sich  auf  die  Beschaffenheit  des 
Subjects  zE.  die  kühle  Luft  ist  mir  angenehm.  Die  Urtheile  die 
objectiv  und  allgemein  sind,  sind  Urtheile  des  Verstandes  und  der 


Praktische  Philosophie  Powalski  119 

Vernunft.  Die  Sittlichkeit  ist  auf  unser  Gefühl  gegründet.  Das  Gefühl 
aber  der  Lust  und  Unlust  ist  zweyerley 

1.  Das   physische   Gefühl  welches  aus  Sachen  entspringt 

2.  Das  moralische  Gefühl  welches  aus  f  reyen  Handlun/gen  ent-  3» 
5  springt,  die  moralitaet  ist  auf  das  physische  Gefühl  sonst  aber  auf  die 

Selbsthebe  gegründet.  Die  Philosophen  haben  bemerkt,  daß  die  Selbst- 
liebe der  Natur  der  Glückseeligkeit  angemeßen  ist.  Das  moralische 
Gefühl  ist  das  Gefühl  desjenigen  Guts,  was  auf  das  allgemeine  gehet. 
Das  principium  der  moralitaet  ist  das  Gefühl.  Alles  was  ich  aus  dem 

10  Gefühl  urtheilen  kann,  hat  nur  eine  private  Gültigkeit.  Die  Principia 
der  moralitaet  die  sich  auf  das  Gefühl  es  mag  das  physische  oder 
moralische  seyn,  gründen,  sind  von  der  Art,  daß  sie  uns  keine  sittliche 
Lehre  oder  einen  canon  der  moralitaet  geben  können,  sondern  sie 
geben  uns  nur  sittliche  observationes. 

15  Ich  kann  observationes  anstellen  was  einer  vor  Gefühl  hat,  was  ihm 
gefällt  und  was  ihm  mißfällt,  ich  kann  aber  seinem  Gefühl  keine  Regeln 
vorsehreiben,  ich  kann  also  keine  canones  machen.  Wenn  einer  einen 
appetit  nach  einer  Sache  hat,  kann  ich  ihn  wohl  lehren,  wie  er  ihn 
befriedigen  soll,  ich  kann  ihm  aber  kein  Gefühl  bey tragen. 

20  Es  sind  Principia  die  nicht  die  innere  bonitaet  der  moral  anzeigen, 
sondern  nur  daß  es  sich  für  einen  Menschen  schickt.  Und  derer  sind 
drey:  1.  aus  der  Gewohnheit,  2.  aus  einem  Beyspiel,  3.  aus  den 
bürgerlichen  Gesezzen  werden  alle  Regeln  der  moralitaet  hergeleitet. 
Alle  Gesezze  der  Moralitaet  sind  nur  Mode  Regeln ,  denn  was  bey  uns 

25  als  ein  Laster  angesehen  wird,  das  ist  bey  andern  Nationen  eine  /  Tu-  40 
gend  zE.  daß  ein  Bruder  seine  Schwester  heyrathet,  daß  ein  Sohn 
mit  seiner  Mutter  Kinder  zeuget. 

Wenn  wir  dieses  betrachten,  so  ist  dieses  ein  falscher  Sazz,  aber  man 
kann  es  dem   Geschichtsschreiber  nicht   als  eine   Lüge   anrechnen, 

30  sondern  wir  können  es  als  eine  Ausnahme  der  moralitaet  betrachten 
zE.  das  stehlen  in  Egypten,  welches  im  Schwange  ging  unter  einer 
gewißen  Räuber- Societaet,  welches  ein  apartes  Volk  war,  die  die 
beduinischen  Araber  genannt  wurden  und  an  den  Gränzen  Egyptens 
wohnten.  Wenn  man  sie  bey  dem  Diebstahl  ertappt  hat,  so  mußte  man 

35  die  gestohlene  Sachen  auslösen,  wenn  man  ihn  nicht  wollte  hängen 
laßen.  Durch  die  Beyspiele  können  die  Gesezze  viel  oder  wenig  an 
innrer  Gewalt  haben.  Es  können  zwar  Kinder  die  eine  schlechte  Er- 
ziehung gehabt  haben,  davon  einen  Eindruck  behalten,  es  kann  aber 
dieser  Eindruck  nicht  zu  einem  Gesezz  bey  ihnen  werden,  welches  das 


120  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

moralische  Gesezz  unterdrücken  könnte,  denn  es  muß  ein  Unterschied 
gemacht  werden  zwischen  den  Gesezzen  und  den  Maximen.  Die 
Gesezze  sind  objective  Regeln  nach  welchen  ich  etwas  thun  muß. 
Maximen  sind  subjective  Regeln  dasjenige  zu  laßen  wozu  ich  Lust 
habe.  Das  lezte  Principium  ist  die  Obrigkeit.  Spinoza  sagte:  alles 
Bürgerliche  Gesellschaften  sind  statuta  der  Obrigkeit,  daß  dieses  aber 
falsch  sey,  siehet  man  daraus,  weil  man  diese  Gesezze  eben  auch  bey 
den  Völkern  zE.  bey  den  Wilden  antrift,  die  keine  Obrigkeit  haben. 
Die  Gesezze  der  Obrigkeit  gehen  niemahls  auf  die  Moral  denn  zE. 
41  was  /  fragt  eine  Obrigkeit  darnach  ob  ich  gegen  meinen  Wohlthäter  lo 
dankbar  bin.  Die  Bürgerlichen  Gesezze  sind  auch  darinnen  von  den 
moralischen  unterschieden,  daß  sie  auf  den  allgemeinen  Nuzzen  gehen. 


Das  moralische  System  ^. 

Das  Moralische  System  leitet  die  Moralitaet  her  aus  der  Vernunft. 
Wenn  wir  die  Sittlichkeit  aus  der  Vernunft  herleiten,  so  sehen  wir  zu- 
gleich die  Noth wendigkeit  derselben  ein.  Nur  die  Erkenntniße  der 
Vernunft  sind  objective.  Die  Erkenntniße  der  Erfahrung  sind  sub- 
jective, denn  durch  den  Verstand  erkenne  ich  nur  die  Eigenschaften  20 
der  Körper  und  bloß  durch  die  Vernunft  kann  ich  einsehen,  was  zE. 
die  Heiligkeit  sey :  denn  die  Vernunft  hält  das  für  gut,  was  allgemein 
gut  ist,  aber  die  Sinne  halten  nur  das  für  gut  was  ihnen  schmeichelt. 

Die  Moral-Philosophie  allein  kann  nur  zeigen,  was  in  unsern  Hand- 
lungen gut  oder  böse  ist.  Wenn  die  Handlungen  gut  respective  nicht  25 
gut  sind,  so  sind  sie  nur  an  und  für  sich  gut. 

An  und  vor  sich  selbst  betrügen  ist  niederträchtig.  Nur  die  Vernunft 
kann  allgemein  urtheilen.  Alle  Moralitaet  ist  ein  Gegenstand  der 
Vernunft  und  des  Verstandes.  Alle  Intellectuale  Philosophen  der 
Moralitaet  betrachten  die  moralischen  principia  entweder  innerlich  30 
oder  äußerlich. 
42  A  Innerlich  in  Ansehung  der  Beschaffenheit  der  Handlun/gen 
an  sich  selbst. 

B  äußerlich  in  Ansehung  ihres  äußerlichen  Verhaltens  zum 
Göttlichen  Willen.  35 

Sittliche  Handlungen  sind  gut,  insofern  sie  mit  dem  Göttlichen 
Willen  übereinkommen.  Diejenigen  die  die  moralitaet  nicht  nach  der 
Beschaffenheit  der  Handlungen,  sondern  relativisch  betrachten,  sind 
die,  welche  die  Handlungen  nur  insofern  für  gut  halten,  als  sie  dem 


Praktische  Philosophie  Powalski  121 

Göttlichen  Willen  gemäß  sind,  da  sie  doch  an  sich  Sittlich  gut  oder 
böse  sind,  ohne  ein  Verhältniß  gegen  den  Göttlichen  Willen. 

Das  Ideal  des  Göttlichen  Willens  ist  die  allerhöchste  moralische 
Vollkommenheit . 

5  Alle  Intellectual  Philosophen,  die  sie  aus  dem  Göttlichen  Willen 
herleiten,  sind  irre,  denn  sie  müßen  dieselbe  entweder  aus  der  Erfah- 
rung oder  a  priori  her  nehmen,  da  irren  sie  aber  gleichsam,  und  gehen 
wie  in  einem  Cü"kel.  Sie  müßen  die  moraUtaet  und  den  Göttlichen 
Willen  aus  der  Innern  Beschaffenheit  der  Handlungen  herleiten.  Der 

10  Verstand  kann  aber  das  gute  und  böse  aus  der  Moralitaet  herleiten. 
Da  also  der  Verstand  das  principium  der  moralitaet  ist,  so  fällt  das 
theologische  principium  der  Sittlichkeit  weg.  Diejenige  Philosophen 
die  das  principium  der  moralitaet  aus  den  innersten  Handlungen  her- 
leiten sind  von  zweyerley  Art. 

15  1.  Einige  leiten  sie  aus  puren  Begriffen  der  Wahrheit  her,  dazu 
gehöret  Cumberland  und  andre  Engländer 

2.  andere  aber  aus  den  Begriffen  der  Volllvommen/heit,  welches  43 
Wolff  thut. 

Die  Vollkommenheit  bedeutet  überhaupt  die  Vollständigkeit  einer 

20  Sache.  Das  Wort  Vollkommen  bedeutet  auch  oft  etwas  böses  zE. 
er  ist  vollkommen  in  seinem  Betrug  etc.  Man  sagt  auch  das  was  mich 
reich  und  vergnügt  macht,  befördert  meine  Vollkommenheit.  Alle  die- 
se Systemata  der  moralitaet  werden  von  uns  verworfen,  und  nun  fragt 
es  sich,  welches  ist  denn  das  eigentliche  principium  oder  System  der 

25  Moralitaet?  Resp :  die  Uebereinstimmung  des  Willens  mit  der  Form 
der  Vernunft.  Die  Form  der  Vernunft  ist  die  wo  aus  dem  allgemeinen 
aufs  besondere  geschloßen  v^ird. 

Darinn  besteht  also  die  Moralitaet,  daß  unsre  freye  Handlungen  mit 
dem  was  allgemein  gefällt,  übereinkommen. 


30  Tractatio  ipsa 

Alle  Handlungen,  die  aus  der  WilUiühr  fließen,  haben  eine  causam 

impulsivam.  Alle  Handlungen  sind  entweder  physisch  oder  practisch. 

Causae  impulsivae  sind  die  Vorstellungen  des  Bewegungs-Grundes  zur 

Lust  oder  Unlust  an  einem  Objecte.  Diese  Causae  impulsivae  werden 

35  eingetheilet 

a.  In   causas   sensualiter  moventes,    quae   stimuli 


122  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

b.  In    causas    intellectualiter    moventes    quae    motiva 
dicuntur. 

44  Durch  einen  stimulum  wird  verstanden,  das  Verhältniß  /  woiinn 
es  mit  unserm  Gefühle  steht,  die  Stimuli  haben  eine  vim  moventem, 
uns  zu  Handlungen  zu  bewegen,  so  fern  sie  Gründe  der  Annehmlich-  5 
keit  oder  Unannehmlichkeit  sind.  Motiva  sind  die  Bewegungs-Gründe 
unserer  Handlungen  nicht  durch  die  Vorstellung  der  Lust  oder  Unlust, 
denn  die  hat  nur  eine  privat  Gültigkeit,  das  gute  und  das  böse  ist  aber 
allgemein  gültig.  Das  Intellectual  Wohlgefallen  gehet  auf  das  all- 
gemeine gute.  Die  Intellectual  Unlust  gehet  auf  das  allgemeine  böse,  lo 
Die  Sensual  Lust  gehet  allein  auf  das,  was  uns  selbst  entweder  ange- 
nehm oder  unangenehm  ist. 

Eine  jede  Handlung  die  nothwendig  gemacht  wird  ist  entweder 
nothwendig  per  stimulos  oder  per  motiva  —  Was  per  stimulos  noth- 
wendig gemacht  wird,  das  gehöret  zur  Pathologia.  Pathologia  ist  die  15 
Wißenschaft  von  dem  Gegenstande,  so  fern  er  afficiret  wird  oder  leidet. 
Alles  was  die  Sinnlichkeit  angehet,  gehört  zur  Pathologia.  Stimulus 
heißt  der  Reiz,  Motiva  die  Bewegungs-Gründe  und  zwar  aus  der 
Vernunft.  Die  Thiere  werden  pathologisch  neceßitiret,  eine  Handlung 
auszuüben  der  Mensch  aber  nicht.  Die  Stimuli  haben  in  Ansehung  20 
des  Menschen  eine  vim  impellentem  oder  neceßitantem.  Der  Mensch 
ist  frey  das  heißt  er  kann  handeln  nach  motiven  unabhängig  von  den 
stimulis  — 

45  /  Die  Freyheit  des  Menschen  ist  also  im  moralischen  Verstände 
genommen  nichts  anders  als  das  Vermögen  nach  motiven  zu  handeln.  25 
Der  Mensch  wird  durch  motiven  neceßitiret,  id  est  durch  Gründe 
die  ihm  der  Verstand  vorlegt.  Die  motiven  haben  eine  vim  neceßi- 
tantem über  den  Menschen  in  Ansehung  der  Gründe.  Oft  aber  haben 
die  motiva  nicht  eine  vim  neceßitantem  über  die  Menschen,  dieses 
gehört  aber  nicht  zur  Menschheit.  Denn  würden  die  motiva  den  30 
Menschen  beständig  neceßitiren,  so  würde  er  in  der  Erkenntniß 
immer  steigen,  bis  ein  Heiliges  Wesen  aus  ihm  würde,  die  motiva 
gehen  bloß  auf  den  Verstand,  id  est  sie  urtheilen  über  einen  Gegenstand 
ob  er  gut  oder  böse  sey.  Die  Stimuli  sind  bey  uns  mehr  elateres  animi 
als  die  motiva.  Der  Menschliche  Wille  unterscheidet  sich  von  dem  35 
Thierischen,  daß  er  nicht  per  stimulos  neceßitiret  werden  kann,  und 
dadurch  daß  er  nicht  allemahl  per  motiva  neceßitiret  wird,  unter- 
scheidet er  sich  von  den  Höhern  Geistern.  Wir  können  eine  Handlung 
pathologisch   nothwendig   nennen,    so   ferne   wir   dazu    ab    stimulis 


Praktische  Philosophie  Powalski  123 

neceßitiret  sind.  Was  aber  aus  einer  Willkühr  entspringt,  ist  ein  freyer 
Wille.  Alle  Handlungen  der  Willkühr  sind  zweyerley:  practisch  und 
pathologisch.  Der  Mensch  hat  eine  freye  Willkühr,  er  ist  unabhängig 
von  den  stimulis,  sondern  er  wird  nur  bewegt  /  per  motiva.  Die  Thiere  46 

5  haben  auch  eine  WilUiühr,  sie  werden  aber  per  stimulos  gelenkt ; 
jede  freye  Handlung  ist  practisch  und  practische  Gesezze  sind  Gesezze 
der  Willkühr.  Ob  wir  gleich  nicht  pathologische  Gesezze  der  Willlvühr 
haben,  so  haben  wir  doch  pathologische  Gesezze  der  Neigungen  und 
Begierden.  Was  uns  gefällt  nach  den  Gesezzen  der  Sinnhchkeit,  ist 

10  angenehm,  was  uns  aber  mißfällt  ist  unangenehm.  Was  man  billigt 
oder  nicht  billigt,  nach  den  Gesezzen  des  Verstandes,  das  ist  gut  oder 
böse  zE.  die  Tugend  billigt  ein  jeder.  Es  ist  ein  Unglück  der  Menschen, 
daß  die  elateres  animi  Stimuli  und  nicht  motiva  seyn.  Wenn  die 
elateres  animi  zugleich  motiva  seyn  möchten,  so  würden  sie  zugleich 

15  die  Richtschnur  der  freyen  Handlungen  enthalten.  Ein  Mensch  ist 
immer  mit  dem  motivo  verbunden.  Ein  Wunsch  ist  das  Begehren  des- 
jenigen, wovon  man  sich  eine  Vorstellung  machet,  daß  es  böse  sey. 

Die  Stimuli  haben  also  nur  allein  die  elateres  animi  an  sich,  die 
motiva  aber  nicht.  Wir  haben   einen   Zweyfachen  Willen     1. 

20  Einen  Willen  des  Verstandes,  welchen  viele  practische  Gesezze  ne- 
ceßitiren.  2.  einen  Thierischen  Willen,  da  wir  per  stimulos  zwar  nicht 
neceßitirt  aber  dennoch  impellirt  werden. 

Daß  die  elateres  animi  zugleich  motiva  seyn,  das  /  ist  eine  wichtige  41 
Sache.   Hierzu  gehören  die  Ermahnungen,   welche  langweilig  sind, 

25  hingegen  ist  alles,  was  als  eine  Triebfeder  wirkt  unterhaltend,  und  das- 
jenige was  in  Handlungen  geschehen  soll,  ist  tavtologisch.  Alle  Er- 
mahnungen sind  tavtologisch  wenn  sie  langweilig  sind.  Die  Er- 
mahnungen und  Anpreisungen  dasjenige  zu  thun,  was  gut  ist,  das  ist 
die  Triebfeder.  Wenn  man  die  stimulos  mit  den  motivis  verbindet, 

30  so  entstehet  eine  ganz  fremde  Art  von  Triebfedern  —  Wenn  einer  per 
motiva  subjective  neceßitiret  wird,  so  hat  er  einen  freyen  Willen, 
wenn  er  aber  per  stimulos  subjective  neceßitirt  wird,  so  hat  er  keinen 
freyen  Willen.  Wenn  ein  Mensch  per  stimulos  neceßitirt  wird,  so  ist  er 
ohne  Schuld.  Die  objective  Neceßitas  ist  die  Möglichkeit  der  freyen 

35  Handlungen  durch  die  Vorstellung  des  guten.  Eine  solche  Handlung 
Avird  durch  Sollen  ausgelegt.  Das  Sollen  ist  die  Vorstellung  der  boni- 
taet  einer  durch  mich  möglichen  Handlung. 

Jeder   imperativus   ist   entweder    categorisch   oder   hypothetisch, 
a  der  categoricus  enuncirt  die  absolutam  bonitatem  actionis  cuius- 


124  Vorlesungen  über  Moralploilosopliie 

dam  liberae.  b.  hypotheticus  enuncirt  bonitatem  hypotheticam 
actionis  cuiusdam  liberae.  Quilibet  Imperativus  medium  modo  sed  non 
finemimperat.  Wenn  Avir  nach  Antrieben  handeln,  so  schlagen  unsre 
Handlungen  nach  bloßem  Glücke  aus,  entweder  gut  oder  böse.  Die 

48  Stimuli  schränken  nicht  so  viel  als  Regeln  der  /  Vernunft  ein.  Die  objec-  5 
tiven  Regeln  unsrer  Handlungen  zeigen  uns  was  gut  und  böse  ist.  Der 
Verstand  erkennt  sie  nur.  Ein  Imperativus  ist  entweder  ein  Mittel 
problematisch  nach  welchem  gehandelt  werden  muß  um  zu  einem 
Zweck  zu  gelangen,  und  dieser  Imperativus  wird  Imperativus  proble- 
maticus  genannt,  oder  er  ist  ein  Imperativus  der  Geschicklichkeit,  lo 
Die  Natur  fordert  als  erstes  von  uns,  uns  suchen  zu  erhalten.  Die 
Regeln  sind  auch  practisch.  Ein  Imperativus  ist  pragmatisch,  wenn  er 
die    Regeln   unsrer   Handlungen   enthält,  und  so  fern  sie  mit  der 
allgemeinen  Selbstliebe  übereinl?;ommen,  die  Befriedigung  der  Nei- 
gungen der  Selbstliebe  wohnt  in  den  pragmatischen  Regeln,  wo  die  i5 
Klugheit  herrscht. 

Der  Imperativus  pragmaticus  giebt  uns  Regeln  an  die  Hand  welche 
uns  zur  Glückseeligkeit  gereichen. 

Die  ersten  Imperativi  determiniren  die  Grenzen  der  Glückseeligkeit, 
die  andern  beßern  die  Handlungen,  um  dazu  zu  gelangen.  20 

Erstlich  muß  ich  aber  wißen,  worinn  die  Glückseeligkeit  besteht  ? 
und  zweytens  wie  ich  zu  derselben  gelangen  kann.  Jeder  Imperativus 
pragmaticus  gebiethet  nur  bedingter  Weise  unter  einer  allgemeinen 
ge wißen  Bedingung.  Der  Imperativus  problematicus  aber  nur  unter 
einermöglichen  Bedingung;  die  objectiven  Regeln  sind  aUe  Imperativi  25 
morales  und  diese  sind  categorisch  schlechthin. 

49  Die  categorischen  Imperativi  bringen  mit  sich  die  Noth/wendigkeit 
der  Handlungen  nicht  mittelbar  sondern  unmittelbar,  um  zu  einem 
ge  wißen  Zweck  zu  gelangen.  Man  kann  auf  zwejrfache  Weise  zu  seinem 
Zweck  gelangen,  entweder  durch  Redlichkeit  oder  durch  Schelmerey  30 
und  Betrug.  Es  ist  aber  dieses  ganz  ungereimt,  denn  einige  machen 
nach  dieser  Art  aus  einer  Tugend  ein  Laster.  Bey  der  Tugend  und  der 
moralischen  bonitaet  kommts  nur  auf  den  Innern  Werth  an. 


von  der  Natur  der  Imperativorum 

In  einem  jeden  Willen  ist  die  Uebereinstimmung  der  Handlungen  35 
mit  dem  principio  der  Handlungen  und  dieses  drückt  die  objective 
Nothwendigkeit  derselben   aus.   Die   objective   Nothwendigkeit  der 


Praktische  Philosophie  Powalski  125 

Handlungen  ist  eine  gute  Regel  derselben,  objective  sind  sie  noth- 
wendig  subjective  aber  zufällig.  Dies  gilt  aber  nur  von  einem  Willen, 
der  noch  nicht  ganz  verderbt  ist.  Die  objective  Regeln  der  Willkühr 
kann  kein  Bösewicht  so  leicht,  wenn  er  auch  wollte,  aus  seinem  Herzen 
5  verbannen.  Man  darf  sich  nicht  der  Imperativorum  bedienen,  wenn 
eine  Sache  schon  aus  subjectiven  Gründen  nothwendig  ist.  Die  Impera- 
tivi  finden  nur  da  statt,  wo  das  subject  genöthigct  werden  muß. 

Die  Menschen  haben  die  Imperativos  nöthig,  nicht  darum,  weil  sie 

einen  bösen,  sondern  weil  sie  einen  unvollkommenen  Willen  haben.  Das 

10  siehet  man  daraus,  weil  das  moralische  Gesezz  doch  noch  in  Ansehung 

unsers  Willens  eine  Kraft  hat.  Je  weiter  die  moralische  Regeln  von  / 

der  Sinnlichkeit  entfernt  seyn,  desto  rührender  sind  sie.  so 

Neceßitas  moralis  est  obligatio. 

Nicht  nur  jede  practische  Neceßitation  ist  eine  Obligation.  Practisch 

15  ist  jemand  neceßitirt  nach  den  Regeln  der  Klugheit  oder  pragmatisch. 

Diese  Imperativi  pragmatici  sind  Regeln  der  Klugheit,  und  zwar  von 

großer  Wichtigkeit,  sie  enthalten  aber  gar  keine  Obligation.  Imperati- 

vus  moralis  est  obligans. 

Neceßitatio  per  stimulos  non  est  neceßitatio  objectiva  sed  subjec- 
20  tiva.  obligatio  est  neceßitas  objectiva  moralis.  Die  moralische  Regeln 
zeigen  an  das,  was  sittlich  gut  ist.  Die  Imperativ!  sind  bey  uns  Nöthi- 
gungen  auch  zu  solchen  Handlungen,  die  wir  nicht  gerne  thun, 
es  giebt  fast  keinen  einzigen  Fall,  wo  der  Mensch  eine  moralische 
Handlung  gerne  thut.  Die  Obhgation  ist  nur  bey  solchen  Wesen 
25  nöthig,  die  an  sich  selbst  gute  Handlungen  nur  mit  dem  größten 
Zwange  thun.  Ein  jeder  Bewegungs  Grund  zu  einer  Handlung  der  aus 
dem  Vergnügen  hergenommen  ist,  welches  sie  verschafft  ist  nicht 
moralisch.  Man  darf  auch  eine  Handlung  nicht  für  moralisch  halten 

1.  W^eil  sie  uns  sehr  durch  die  Vernunft  angepriesen  ward 
30      2.  Weil  sie  einen  großen  Einfluß  in  unsre  Glückseehgkeit  hat 

/  Sondern  eine  Handlung  ist  moralisch  gut  die  uns  des  Glücks  würdig  51 
macht  und  nicht  dieses  uns  erwirbt.  Alle  moralische  bonitaet  der 
freyen  Handlungen  ist  eine  absolute  bonitaet  oder  sie  ist  an  sich  selbst 
gut  und  nicht  respective  oder  als  ein  Mittel.  Die  causae  impulsivae 
35  morales  sunt  omnibus  causis  potiores. 

Es  giebt  bonitaeten  der  Handlungen,  die  als  actus  der  Freyheit 
können  betrachtet  werden,  wenn  sie  entweder  mit  den  gegenwärtigen 
Regeln  oder  Zustande  übereinstimmen.  Die  absolute  und  innere  boni- 
taet ist  weit  größer  als  die  äußere  und  objective.  Die  äußere  ist  zu- 


126  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

fällig  und  dependens  von  einer  Noth wendigkeit,  deren  Werth  kann 
durch  gar  nichts  übertroffen  werden.  Eine  Sache  die  ihren  innern 
Werth  verliehret,  kann  ihn  nicht  durch  den  äußern  ersezzen,  sie  muß 
uns  Verabscheuungswürdig  seyn 

Die  motiva  moralia  sind  die  größesten  unter  allen.  Legi  morali  lex 
pragmatica  opponi  non  potest.  Obgleich  das  pragmatische  Gesezz 
eine  große  vim  impellentem  haben  kann,  so  muß  doch  darum  das 
moralische  Gesezz  nicht  aufhören. 


De  activis  et  passivis 

Poßum  alicui  obligatum  eße,  quamque  nam  ei  modo  obligatus  lo 
sum.  Eine  obligatio  paßiva  ist  die,  welche  sich  auf  einen  obligandum 
58  beziehet.  Der  obligandus  hat  /  in  Ansehung  des  obligati  einen  Vorzug ; 
denn  der  leztere  ist  moralisch  neceßitirt.  ZE.  es  ist  ein  Mensch  arm, 
so  ist  der  reiche  moralisch  neceßitirt  ihm  zu  helfen  aber  nicht  ab 
obligando  sed  erga  obligandum.  15 

Es  giebt  auch  noch  eine  größere  und  kleinere  Obligation.  Unter  einer 
größern  verstehen  wir  diejenige  deren  motiva  einen  Grund  abgeben 
können,  daß  eine  Sache  nicht  unterlaßen  wird,  die  motiva  dieser 
größern  Obligation  heißen  motiva  fortiora.  Wo  mit  einmahl  verschie- 
dene obHgationen  statt  finden,  da  ist  keine  größer  oder  fortior  wie  die  20 
andre. 

Die  Motiva  sind  ferner  vel  obligandi  vel  obligantia. 

Die  Motiva  obligantia  sind  die,  welche  der  Grund  seyn  von  der 
Noth  wendigkeit  einer  Sache. 

Die  motiva  obligandi  sind  die,  welche  zwar  ein  Grund  aber  nicht  25 
eine  Notb wendigkeit  seyn. 

Es  giebt  gewiße  moraHsche  Gesezze  die  eine  vim  obligantem  haben. 
Diese  sind  von  der  Art,  daß  sie  eine  complette  Obligation  enunciren. 
Die  obhgation  ist  gleichsam  das  resultat  aus  den  motiven.  Einige 
obligationes  sind  beständig,  andre  aber  entstehen  und  vergehen  wieder.  30 
Die  moralischen  Gesinnungen  bleiben  beständig,  die  Obligation  aber 
vergehet  nachdem  die  objecte  der  Obligation  vergehen.  Es  vergeht 
aber  eine  Obligation  durch  die  WiUkühr  des  actus  obligatorius  wenn 
WillkührUcher  Weise  eine  Obligation  erzeuget  wird:  Bey  allen  obli- 
53  gationibus  paßi/vis  entstehen  nicht  anders  obligantia  als  durch  einen  35 
actum  Obligatorium.  Bey  der  obligatione  spontanea  entstehet  aber 
eine  Obligation  aus  dem  actu  obligatorio.  In  dem  actu  obligatorio  ist 


Pr.aktische  Philosophie  Powalski  127 

der  eine  obligant  und  der  andre  obligat.  Der  obligant  hat  eine  Obli- 
gationen! passivam.  Der  obligatus  aber  eine  Obligationen!  activam. 
Morales  leges  obligantes  können  sich  nicht  wiederstreiten,  obwohl  die 
motiva  moralia  sich  Aviederstreiten  können.  Ein  absolutes  moralisches 
5  Gesezz  gilt  ganz  unbedingt  vor  allgemein.  Das  hypothetische  hin- 
gegen gilt  nicht  in  allen  Fällen,  sondern  es  führt  eine  Instruction  bey 
sich.  Hypothesis  ist  das  was  uns  restringirt,  in  Ansehung  einer  andern 
Sache. 

Noch  etwas  de  obligatione  activa  et  paßiva. 

10  Obligatio  activa  ist  obligatio  erga  obligandum  oder  wo  man  einen 
andern  sich  verbindlich  macht,  obligatio  paßiva  est  obligatio  erga 
obligantem  wo  der  andere  der  Grund  unserer  Verbindlichkeit  ist. 
Eine  obligatio  activa  ist  zE.  diejenige  Verbindlichkeit,  die  wir  gegen 
einen  nothleidenden  haben  müßten.  Obligatio  paßiva  ist,  welche  wir 

löunserm  Wohlthäter  schuldig  sind,  durch  die  Obligation  erga  non 
obligantem  oder  dadurch,  daß  ich  Jemandem  verbindlich  bin,  ohne 
eine  Ursache  zu  haben,  übe  ich  eine  actionem  obligantem  aus.  Die 
obligationes  paßivas  nennt  man  Schuldigkeiten  die  activas  Verdienst- 
leistungen,  zu  den  Schuldig/keiten  sind  wir  moralisch  genöthiget,  zu  54 

20  den  Verdienstleistungen  sind  wir  gar  nicht  genöthiget,  sondern  sie 
sind  freye  Erzeugungen  der  Verbindlichlvcit,  welche  officia  humanita- 
tis,  oder  officia  beneplaciti  genannt  werden. 

Officium  heißt  die  pflichtmäßige  Handlung  selbst,  wozu  ich  ver- 
bunden, die  Ausübung  dieser  Handlung  aber  heißt  obligatio.  Die 

25  officia  sind  entweder 

1.  officia    beneplaciti,  diese  entstehen  per  obligationem  ac- 
tivam oder 

2.  officia  debiti  welche  per  obligationem  paßivam  entstehen. 
Eine  behebige  Pflicht  heißt  diejenige,  wozu  ich  von  keinem  gezwun- 

30  gen  werde.  Eine  Handlung  wodurch  ich  einen  obligire,  ist  eine  ver- 
dienstliche Handlung,  sie  ist  aber  auch  zu  gleicher  Zeit  eine  obligatio 
non  paßiva. 

Von  der  Gewißheit  und  Ungewißheit,  Wahrscheinlichkeit 
und  UnWahrscheinlichkeit  der  moralischen  Gesezze. 

35  In  den  moralischen  Gesezzen  muß  Gewißheit  herrschen.  Eine  mora- 
lische Regel  kann  nicht  ungewiß  seyn,  denn  so  bald  sie  ungewiß  ist, 


128  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

kann  sie  nicht  zu  den  Regeln  der  Moralitaet  dienen.  In  der  Subsumtion 

55  kann  aber  Ungewißheit  und  Wahrscheinhchkeit  herrschen.  /  Nichts 
ungewißes  kann  eine  Handlung  noth wendig  machen.  Die  morahschen 
Regeln  müßen  aber  darum  gewiß  seyn,  weil  sie  uns  neceßitiren,  weil 
sie  uns  das  erlaubte  und  unerlaubte  zeigen  sollen.  Denn  so  bald  man  5 
an  einer  Regel  zweifelt,  so  ist  es  keine  Schandthat  wieder  sie  zu 
handeln. 

Der  Probabilismus  moralis  ist  der,  der  es  für  erlaubt  hält  allen  wahr- 
scheinlichen moralischen  Regeln  gemäß  zu  handeln,  dieses  aber  ist 
unerlaubt,  sondern  man  muß  einer  Regel  gewiß  seyn.  Alles  was  ganz  10 
gewiß  erlaubt  ist  zu  thun,  das  ist  den  moralischen  Gesezzen  gemäß; 
dagegen  was  wahrscheinlicher  Weise  unerlaubt  ist,  oder  was  nur 
besorglich  ist,  das  ist  moralischer  Weise  unwahrscheinlich.  Alle  unsre 
obligationes  müßen  zum  Grunde  haben  entweder  die  Natur,  und  denn 
heißen  sie  obligationes  naturales,  oder  das  arbitrium  des  Menschen  und  15 
denn  obUgationes  arbitrariae. 

Die  natürliche  VerbindHchlieiten  sind  die,  die  aus  der  Natur  der 
Handlung  fließen,  oder  die  den  natürhchen  Gesezzen  gemäß  sind.  Die 
Willkührhche  Verbindhchkeit  ist  die,  die  aus  dem  arbitrio  des  Men- 
schen entsteht  und  den  willkührlichen  Gesezzen  gemäß  ist.  Diese  20 
zufällige  und  willkührliche  Verbindlichlveit  wird  von  neuen  Autoribus 
die  positive  genannt.  Die  positive  ist  aber  hier  nicht  der  natürlichen 
sondern  eigentlich  der  arbitrariae  Verbindlichlceit  entgegen  gesezt. 

Positive  oder  affirmative  heißt  die  Verbindlichice it,  die  da  sagt 

56  was  geschehen  soll  negative  aber  diejenige,  /  welche  zeigt,  was  man  25 
unterlaßen  soll  —  Die  obligatio  ist  ferner  vel  naturahs  vel  contracta  — 
Alle   positiones  sind  statuta.   Die  positive  Obligation  kann  wieder 
betrachtet  werden  in  Ansehung  der  Unterlaßung  und  Begehung. 

Von  der  Unterlaßung  und  Begehung 

Beyde  so  wohl  Unterlaßung  als  Begehung  sind  actus  der  Freyheit.  30 
Im  moralischen  Verstände  heißen  sie  beyde  Handlungen,  obgleich 
die  Unterlaßung  im  psychologischen  Verstände  keine  Handlung  ist. 
Alles  ist  im  moralischen  Verstände  Handlung,  was  einen  Bewegungs 
Grund  hat.  Etwas  unterlaßen  aus  einem  moralischen  Bewegungs- 
Grunde  ist  eben  solche  Handlung  als  etwas  thun  zE.  sich  nicht  an  35 
jemand  rächen  der  uns  beleidiget  hat,  ist  wirklich  schwerer  als  sich 
rächen.  Um  den  moralischen  Werth  eines  Menschen  kennen  zu  lernen, 


Praktische  Philosophie  Powalski  129 

muß  man  also  sehen  auf  das  böse,  welches  er  aus  moralischen  Gründen 
unterläßt,  und  nicht  auf  das  gute  was  er  thut.  Oder  man  drückt  sich 
beßer  aus:  Eine  omißion  der  moralischen  bösen  Handlung  ist  eine 
commißion  der  moralischen  guten  Handlung.  Hingegen  ist  die  Unter- 

5  laßung  der  moralisch  guten  Handlung  die  eigentliche  commißio 
moralis.  omnes  transgressiones  legis  moralis  sunt  peccata.  Peccata 
negativa  sind  Uebertretungen  des  moralischen  Gesezzes.  Peccata 
positiva  sind  Begehungen  wider  das  moralische  Gesezz.  Nicht  alle 
peccata  negativa  sind  opposita  morali  contradictoria.  Peccare  /  heißt  st 

10  wider  eine  Regel  handeln.  Das  Wort  peccatum  erstreckt  sich  sehr  weit 
von  dem  Worte  Sünde.  Die  Sünde  bedeutet  eine  Begehung  wieder  die 
Religion.  Wir  haben  habitus  zu  den  Lastern,  aber  keine  Sünde  wieder 
die  MoraHtaet. 


die  ersten  principia  der  Obligation. 

15  Es  ist  hier  die  Frage  welches  das  erste  Gesezz  unter  den  moralischen 
Gesezzen  sey  ?  Die  Vorschriften,  welche  der  Moralitaet  gemäß  sind. 
Lex  moralis  est  a  lege  moralitatis  valde  different.  Das  principium 
moralitatis  ist  der  Saz,  der  die  Natur  aller  moralitaet  ausdrückt, 
welcher  zugleich  die  neceßitation  unsrer  Handlungen  anzeigt.  Ohne 

20  ein  Gesezz  zu  geben,  kann  ich  doch  ein  Muster  zum  Gesezz  geben,  es  ist 
dieses  aber  nur  eine  norm  und  nicht  ein  Gesezz.  Obgleich  dieser  Saz, 
der  die  Natur  aller  moraHtaet  ausdrückt,  kein  principium  der  disciplin 
ist.  so  kann  er  wenigstens  dazu  dienen,  daß  L  dadurch  die  moral  von 
allen  Regeln  der  Sinnlichkeit,  2.  von  allen  Regeln  der  Klugheit  unter- 

25  schieden  wird  —  das  erste  sagt  thue  das,  was  dein  Vergnügen  ver- 
mehren kann,  und  dieses  ist  ein  Imperativus,  der  auf  die  Befriedigung 
der  stimulormn  gehet.  Das  leztere:  thue  das,  sorge  dafür,  daß  dein 
Wille  ein  guter  Wille  sey.  Das  aber  was  da  sagt:  thue  das  was  die 
Wohlfahrt  deines  Lebens  befördern  kann,  ist  unterschieden  von  dem: 

30  thue  das  was  deine  bonitaet  angeht.  Quaere  perfectionem  quantam 
potes  oder  perfice  te  /  drückt  hier  auch  nicht  genau  die  Vollkommen-  sg 
heit  aus,  ist  eben  so  unbestimmt  als  die  Bonitaet.  ZE.  Wir  können  daß 
eine   Lust  vollkommen  sey,  sagen  perfice  te,  ich  weiß   aber  nicht 
wodurch  ich  mich  vollkommen  machen  soll  und  kann.  Volllcommen- 

35  heit  heißt  das,  was  alles  das  enthält,  was  mit  meiner  Forderung  über- 
einstimmt. Dieser  Imperativus  ist  soweit  tavtologisch,  soweit  er  das 
quaesitum  implicirt.  Er  hat  doch  aber  einigen  Nuzzen.  Der  Impera- 

0     Kaut's  Schriften  XXVII/1 


130  Vorlesungen  über  Moralpliilosophie 

tivus  der  Klugheit  sagt,  thue  das  was  deinen  Zustand  vollkommen 
macht,  und  dieses  ist  ein  praetischer  Stimulus,  Avelcher  beßer  ist  als 
der  sinnliche. 

Wenn  der  Imperativus  sagt :  thue  das  wozu  du  einen  appetit  hast : 
so  ist  das  ein  Stimulus  philosophicus.  5 

Das  größte  Wohlbefinden  eines  Menschen  beweiset  nicht,  ob  er 
alles  deßen  würdig  ist.  Hingegen  mache  dich  vollkommen  ist  etwas 
anders  als  mache  deinen  Zustand  volll^iommen.  Denn  hier  wird  gesagt : 
mache  deine  Person  vollkommen.  Die  Vollkommenheit  eines  Men- 
schen besteht  eigentlich  in  allem  dem  was  ihn  des  guten  würdig  10 
machen  kann.  Die  Vollkommenheit  einer  Person  ist  zwiefach:  1.  mo- 
ralisch 2.  pragmatisch  die  erste  ist  die  Vollkommenheit  des 
Willens,  die  leztere  ist  die  Vollkommenheit  der  Talente.  Perfice  volun- 
tatem  tuam  würde  also  der  Imperativus  moralis  seyn.  Die  wahre 

59  bonitaet  besteht  in  dem  Willen,  die  inne/re  bonitaet  des  Willens  ist  die  15 
äußerste  bonitaet  — 

Das  eigentliche  moralische  principium  ist  also  der  gute 
Wille  und  hierinn  bestehet  das  absolutum  —  Nichts  ist  gut  als  das, 
was  einen  guten  Willen  hat.  Selbst  das  Höchste  Wesen  ist  darum  nur 
gut,  weil  es  einen  guten  Willen  hat.  Denn  sollte  dieses  Wesen  welches  20 
allmächtig  und  allgegenwärtig  ist,  nicht  zugleich  einen  guten  Willen 
haben,  wie  schreckensvoll  würde  es  uns  alsdann  nicht  seyn  ?  Die  Voll- 
kommenheit betrift  die  Talente,  die  Bonitaet  die  Verdienste.  Perfice 
te  quantum  potes  heißt:  bringe  alle  deine  Vollkommenheit  und  thäti- 
ges  Vermögen,  bis  zu  welchem  grade  des  Vermögens  du  nur  kannst.  25 
um  alle  deine  gute  Absichten  zu  vollführen,  und  mache  es  proportio- 
nirt.  Dieser  Saz  perfice  te  ist  die  Beförderung  der  Talente  bis  zu  dem 
höchsten  grade,  zu  dem  das  menschliche  Vermögen  gebracht  werden 
kann.  Diese  Practische  Regel  perfice  te,  alle  die  Talente  die  in  der 
Menschheit  sind,  und  die  Natur  vergrößern,  heißt  sich  vollkommen  30 
machen.  Sie  ist  pragmatisch,  indem  sie  uns  zeigt,  wie  wir  geschickt 
werden  können,  alle  unsere  Zwekke  zu  erreichen,  sie  mögen  nun  gut 
oder  böse  seyn.  Die  Moral  sezzt  keine  Absicht  als  die  mit  dem  guten 
Willen  übereinkommt.  Die  Bonitaet  ist  weit  unterschieden  von  dem 
Werth  des  Zustandes  und  der  Glückseeligkeit  der  Person.  Und  sich  35 
selbst  glücklich  zu  machen  ist  am  Ende  subordinirt  dem  guten  Willen. 

60  /  Imgleichen  ist  noch  ein  Saz :  vive  convenienter  naturae  quantum 
potes:  Unter  der  Natur  verstehen  wir  die  allgemeine  Beschaffenheit 
der  Dinge  wodurch  du  deine  beste  Absichten  erreichest.  Dieser  Saz 


Praktische  Philosophie  Powalski  131 

kann  kein  oberstes  principium  der  Moral  seyn,  weil  er  ein  empirischer 
Saz  ist,  dahingegen  müßen  die  principia  der  Moral  a  priori  bekannt 
werden  können,  ob  in  verschiedenen  Fällen  zwar  sehr  schwer  auszu- 
machen ist,  welche  Handlung  a  priori  die  beste  ist.  Ferner  wird  dieser 
5  Saz  angegeben:  ama  optimum  quantum  potes. 

Das  Principium  aller  Moral  ist  die  Selbstliebe.  Die 
Selbstliebe  ist  zwiefach  1.  des  Wohlwollens  2.  des  Wohlgefallens. 
Nach  der  Selbsthebe  des  Wohlwollens  trachtet  ein  jeder  Mensch, aber 
thue  das  was  deinem  Wohlgefallen  gemäß  ist,  heißt,  das  deinen  Beyfall 
10 verdient,  und  diese  heßit  die  intellectuale  Selbstliebe.  Die 
Intellectuale  Selbstliebe  besteht  in  dem  rechten  Gebrauch  unsrer 
freyen  Handlungen.  Ueberhaupt  die  eigentliche  Quellen  und  ersten 
principia  der  Moral  haben  niemahls  recht  können  ausgemittelt  werden, 
und  können  also  nicht  zu  einer  practischen  Regel  dienen. 

15  Von  dem  moralischen  Zwange. 

Der  Mensch  kann  pathologisch  oder  per  stimulos  zu  keiner  Hand- 
lung neceßitirt  werden  aber  per  motiva  kann  dies  geschehen.  Der 
Zwang  ist  im  eigenthchen  Verstände  die  Nothwendigkeit  der  Will- 
kühr.  Der  Zwang  ist  bey  einem  Menschen  neceßitas  actionis  in  vitae, 

20  oder  die  /  Nothwendigmachung  einer  Handlung,  wenn  sie  auch  gleich  61 
ungern  geschiehet.  Der  Zwang  ist  zwiefach  1.  der  Zwang  des  arbitrii 
bruti  und  2.  der  Zwang  des  arbitrii  liberi.  Neceßitatio  bruti  est  patho- 
logica  coactio.  Die  Thiere  zwingt  man  entweder  durch  Hunger  oder 
Schläge,  die  Ursache  daß  man  sie  antreiben  muß,  ist,  weil  sie  keine 

25freye  Willlvühr  haben.  Wenn  sie  sich  aber  bewußt  wären,  wenn  sie 
Ueberlegungen  hätten,  würden  sie  auch  oft  dem  antreiben  wieder- 
stehen. Brutum  vocatur  was  ohne  alle  Ueberlegung  geschiehet.  Das 
arbitrium  brutum  kann  pathologice  oder  per  stimulos  neceßitirt 
werden.  Der  ist  be\\Tißt,  der  sich  einen  Vorsaz  gemacht  hat  nach 

30  Regeln  der  Klugheit  und  nicht  nach  stimulis  zu  handeln.  Er  kann  also 
nach  Ueberlegungen  handeln,  und  nicht  nach  Empfindungen  und 
darinn  bestehet  das  liberum  arbitrium.  Es  ist  sehr  schwer  den 
Antrieben  zu  wiederstehen  und  seine  Willkühr  unbewegt  zu  erhalten. 
Wenn  der  Mensch  gezwoingen  wird  durch  Peinigung,  so  geschiehts  nur 

35  wegen  der  Schwäche  der  Natur.  Der  Pathologische  Zwang  zeigt  keine 
freye  Willkühr  an.  Der  Zwang  actionis  liberae  heißt  coactio  practica. 
Einen  practisch  zwingen  heißt  ihn  durch  motiva  der  Vernunft  und 


132  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

nach  Gesezzen  der  Freyheit  bewegen.  Alle  neceßitatio  practica  ist  die 
Vorstellung  des  guten  was  man  thun  soll,  und  des  Uebels  was  man  nicht 
thun  soll,  weil  es  moralisch  nicht  gut  ist.  Der  practische  Zwang  ist  ein 

«3  objectiver  Zwang.  Wenn  der  Mensch  das  erkennet  /  was  gut  ist,  dazu 
wird  er  nicht  subjective  neceßitirt,  dieses  kommet  daher,  weil  der  5 
Verstand  zwar  eine  vim  motricem  hat  aber  nicht  neceßitantem. 
Hieraus  folgt,  daß  dieser  Saz  die  objective  Nothwendigkeit  der  Hand- 
lung enuncirt  und  dieser  enuncirt  auch  zugleich,  daß  sich  der  Mensch 
in  Ansehung  dieser  Handlung  neceßitiren  soll. 

Coactio  practica  ist  ferner  zwiefach  vel  moralis  vel  pragmatica.  lo 
Es  ist  ein  morahscher  Zwang,  wenn  ein  Mensch  durch  moralische 
Bewegungs  Gründe  neceßitiret  wird.  Ein  pragmatischer  aber,  wenn  er 
durch  Regeln  der  Klugheit  neceßitirt  wird.  Ueberlegung  hat  nicht  die 
Stärke,  die  die  Empfindung  hat.  Der  moralische  Zwang  ist  wieder 
zweyerley  1.  der  innere  und  2.  der  äußere.  Der  innere  ist  so  fern  wir  i5 
uns  durch  unsere  eigene  Willkühr  zwingen.  Der  äußere  ist,  so  fern  die 
zwingende  Kraft   in  der  Willkühr  eines  andern  ist.  Wir    werden 
gezwungen    wenn    uns    eine    Handlung    nothwendig    ge- 
macht wird,   wir  zwingen  uns   selbst,  wenn  wir  das   gute 
zugleich    einsehen.   Jemehr  sich  jemand   selbst  zwingen  kann,  20 
desto  größere  Kraft  hat  seine  Freyheit;  wenn  wir  uns  so  weit  zwingen, 
daß  wir  die  stimulos  überwiegen,  desto  größere  Macht  hat  unsre 
Freyheit.  Wir  exerciren  unsre  Freyheit,  wenn  wir  uns  im  Selbst- 
zwange üben. 

Der  moralische  Zwang  ist  also  der  Höchste  grad  der  Freyheit.        2-) 

63      Es  giebt  dreyerley  Arten  von  Philosophie,  welche  sich  /  um  diesen 
moralischen  Zwang  bemühet  haben,  wie  wohl  auf  eine  unrechte  Art. 

1 .  Die  Stoiker  haben  sich  bemühet  über  ihre  Neigungen  zu  herrschen . 

2.  Die  aus  der  Alexandrinischen  Schule,  die  die  Theologische 
Uebungen  trieben.  so 

3.  Die  Mönche  und  vornehmlich  die  Carmeliter  und  Barfüßer, 
welche  aber  dadurch  die  Stärke  der  Menschen  mein"  degradiret  als 
erhöhet  haben. 

Es  giebt  auch  moralischen  Zwang  der  categorisch  genannt  wird. 
Jemehr  der  Mensch  unterwürfig  ist,  desto  freyer  ist  er.  Einer  ist  unter-  35 
würfig  wenn  er  unter  der  Macht  eines  andern  stehet.  Der  Mensch  ist 
ein  Herr  von  sich  Selbsten,  er  ist  aber  der  Moral  unterwürfig.  Der 
moralische  Zwang  ist,  so  ferne  ein  Mensch  unter  moralischen  Gesezzen 


Praktische  Philosophie  Powalski  133 

stehet.  Es  ist  die  Schuldigkeit  des  Menschen  seinen  ganzen  Vortheil 
aufzugeben,  wenn  er  aufs  bitten  eines  andern  der  ihm  viele  Wohl- 
thaten  erzeigt,  ihm  etwas  zu  gefallen  thun  kann. 

Von  dem  Unterschiede  der  äußern  und  innern  Verbind- 
5  lichkeit. 

Die  moralische  neceßitation  durch  die  Willkühr  eines  andern  heißt 
die  äußere  Verbindlichkeit.  Die  moralische  neceßitation  durch  seine 
eigene  Willkühr  ist  die  innere  Verbindlichlveit.  Neceßitatio  moralis 
per  arbitrium  alterius  est  externa,  per  arbitrium  autem  proprium 

10  interna  obligatio.  Die  moralische  /  Nöthigung  ist  oft  ein  Zwang  aber  64 
nicht  durch  die  Willlvühr  eines  andern  und  dies  ist  die  innere  und  nicht 
äußere  neceßitation.  Wenn  derjenige  der  mir  viele  Wohlthaten  er- 
wiesen von  mir  etwas  bittet:  so  fordert  er  von  mir  etwas.  Diese 
Forderung  ist  aber  nicht  so  beschaffen,  daß  wir  es  dann  wegen  seines 

15  üblen  Zustandes  thun;  sondern  wir  sind  es  schuldig.  Wenn  wir  eine 
Handlung  betrachten,  so  ist  sie  moralisch  nothwendig  nach  dem 
arbitrio  hominum,  und  die  Obligation  ist  eine  äußere  Obligation.  Alle 
moralitaet  muß  aus  ihrem  eigenen  Titel  betrachtet  werden.  Der  Stolz 
des  Menschen  macht,  daß  die  äußere  Obligation  zu  einer  inneren  wird, 

20  Wenn  sie  was  thun  auch  dasjenige  was  sie  zu  thun  schuldig  sind, 
so  halten  sie  es  vor  ihre  Großmuth.  Wir  haben  nur  alsdenn  einen 
morahschen  Werth,  wenn  unsre  Handlungen  verdienstlich  sind.  Wenn 
wir  von  nichts  anders  als  de  obligationibus  internis  reden,  so  verliehret 
dabej'  die  Beobachtung  der  schuldigen  Pflicht  ihren  Nachdruck.  Wenn 

25  wir  unsre  Schuldigkeit  thun ;  so  üben  wir  dabey  keine  Verdienstliche 
Handlung  aus.  ZE.  Wenn  wir  unsre  Schuld  bezahlen,  so  ist  dieses  keine 
verdienstliche  Handlung,  sondern  wir  werfen  von  uns  eine  Last  ab. 

Vom  moralischen  Gesezz. 
Die  Menschen  können  nach  Regeln  normen  und  Gesezzen  neceßitirt 
30  werden,   das  lezte  heißt  categorisch  oder  schlechthin  neceßitirt 
w^erden,  das  erste  aber  practisch  oder  nach  hypothj^osen.  Die  Sitt- 
lichkeit im/perirt  1.  categorisch  und  ist  ein  Gesezz,  2.  practisch.  65 

Die  Regel  imperirt  dem  Verstände,  das  Gesezz  aber  dem  Willen. 

Die  Moral   enthält  in  sich  ein  Gesezz.  Die  Gesezze  beßern  unsern 

35  Willen.  Die  Regeln  die  Geschicklichkeit.  Die  Regeln  betreffen  nur  die 

Ausführung,  die  Gesezze  aber  die  Zwekke.  Die  Gesezze  der  Klugheit 


134  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

zeigen  uns  die  wahre  Glückseeligkeit.  Die  Regeln  der  Klugheit  aber 
zeigen  uns  die  Mittel  um  dazu  zu  gelangen.  Eine  jede  empirische  Regel 
hat  eine  Ausnahme.  Eine  Regel  aber  aus  Vernunft  ist  ohne  alle  Aus- 
nahme. So  sind  auch  die  mehresten  Klugheits  Regeln  allgemein.  Es 
kommen  doch  öfters  Vorfälle  vor,  wo  sie  auch  Ausnahme  leiden.  Ein  5 
Mensch  der  sich  an  eine  Regel  sehr  bindet  ist  gemeinhin  pedantisch. 
Die  Pedanterie  ist  also  wenn  man  nicht  die  Geschicklichlieit  hat,  Aus- 
nahmen der  Regel  vorzunehmen.  Die  Regeln  der  moral  gebiethen 
categorisch  und  nicht  hypothetisch  (einige  haben  die  Moral  dadurch 
recommandiren  wollen,  daß  sie  sagten,  sie  sey  die  Wissenschaft,  welche  10 
uns  zur  wahren  Glückseeligkeit  führe).  Sie  zeigt  uns  aber  nur  eigent- 
lich unter  welcher  Bedingung  unsre  Handlungen  gut  oder  böse  seyn. 
Die  Glückseeligkeit  ist  auch  nicht  anders  gut,  als  nur  unter  einer 
gewißen  Bedingung,  nemlich  so  fern  ist  sie  nur  gut,  als  das  subject, 
welches  sie  besizt,  würdig  ist  derselben.  Gut  ist  das  was  allgemein  15 
gefällt,  absolut  gut  ist  aber  nur  allein  der  gute  Wille.  Alle  moralischen 
66  Gesezze  heißen  in  Ansehung  des  Menschen  Verbindlich/keiten.  Sie 
sind  entweder  objective  oder  subjective  Gesezze.  Die  subjectiven 
Regeln  unsers  Willens  sind  die  Triebfedern  unserer  Begierden  und 
Neigungen.  Dieses  Gesezz  der  Triebfedern  ist  ein  ganz  anderes  als  das  20 
Gesezz  der  Bewegungs  Gründe  durch  die  Vernunft,  und  dieses  ist  ein 
objectives  Gesezz,  das  zugleich  moralisch  ist.  Diese  objectiven  Gesezze 
des  guten  Willens  sind  aber  nur  bloß  beym  Höchsten  Wesen  wirkliche 
Gesezze,  bey  dem  Menschen  aber  nicht.  Daher  lauten  nicht  alle 
moralische  Gesezze  vom  guten  in  Ansehung  des  Menschen  impera-  25 
tivisch,  nemlich  du  Sollst  oder  das  Wort  Sollen.  Bey  Gott  ist  aber 
kein  sollen,  weil  er  das  thut,  was  er  thun  will.  Diese  moralische 
Gesezze  sind  aber  doch  in  Ansehung  des  Menschen  leges  obligantes. 
Sie  sind  eigentlich  die  Regeln  des  allervoUkommensten  Willens.  Wenn 
wir  durch  das  arbitrium  eines  andern  wozu  neceßitirt  werden  (seyn)  30 
so  heißt  diese  Verbindlichkeit  officium  debiti  oder  eine  Schuldig- 
keit, wenn  wir  aber  nicht  per  arbitrium  alterius  necessitirt  seyn,  so 
heißt  diese  Verbindlichkeit  officium   meriti   oder   beneplaciti. 

Vom  Rechte. 

Das  Recht  ist  im  allgemeinen  Verstände  der  Inbegriff  aller  Verbind-  35 
lichkeiten  durch  die  Willkühr  andrer.  Derjenige  deßen  Willkühr  vi 
pollet  obligante  der  hat  ein  Recht  und  wir  wenn  wir  durch  seine  Will- 


Praktische  Philosophie  Povvalski  135 

kühl"  obligirt  seyn,  liegen  unter  der  Schuldigkeit.  Wenn  jemand  aus 
der  Güte  eines  andern  etwas  /  erlangen  will;  so  wünscht  er  sichs,  aber  er 
er  fordert  nichts.  Fordern  heißt  sagen  daß  man  etwas  will.  Sonst  ist 
das  arbitrium  nichts  anders  als  eine  voluntas  practica.  Das  Verhältniß 
5  der  menschlichen  Willkühr  nach  moralischen  Gesezzen  ist  das  Recht 
und  richtet  sich  nicht  nach  pathologischen  Gründen.  Diesem  corre- 
spondiret  die  Schuldigkeit.  Das  Recht  ist  zwiefach  1.  Jus 
strictum   et  2.  aequitas. 

a.  Jus  strictum  ist  mit  der  Befugniß  den  andern  auch  mit  Gewalt 
10  zu  etwas  zu  zwingen  verbunden. 

b.  Aequitas  ist  aber  das  Recht,  das  nicht  mit  der  Befugniß,  den 
andern  zu  zwingen  verbunden  ist.  Im  negativen  Verstände  bedeutet 
es  ein  Recht,  wo  ich  kein  Recht  habe.  Ein  äußerliches  pactum  oder 
Vertrag  muß  nicht  in  sich  enthalten  etwas  was  man  nur  gedacht, 

15  sondern  was  man  auch  gesagt  hat.  Aeußerlich  ist  das  gültig,  was 
äußerlich  bestimmt  ist.  Wenn  mein  Recht  ius  quaesitum  ist,  so 
erfordert  es  eine  Schuldigkeit.  Zur  Befugniß  werden  nicht  positive 
sondern  negative  Gründe  erfordert.  Die  Befugniß  ist  eigentlich  das 
negative  des  Rechts. 

20  Vom  moralischen  Gesezz. 

Hier  ist  eine  Frage  ob  die  moralischen  Gesezze  ursprünglich  sind  ? 
Sie  sind  an  und  vor  sich  selbst  beständig,  sie  sind  ursprüngüch  und 
gründen  sich  auf  nichts  als  auf  ein  daseyn.  Derjenige  der  das  prin- 
cipium  der  Moralitaet  in  nichts  /  anders  sezt  als  in  die  Uebereinstimmung  «8 

25  der  Handlungen  mit  dem  Göttlichen  Willen,  der  sezt  ein  theologisches 
principium  aller  Moral  zum  Grunde.  Das  Theologische  principium  ist 
aber  ganz  unrichtig  und  falsch  und  schädlich.  Das  principium  der 
moralitaet  besteht  in  der  Ausübung  aller  moralischen  Ge- 
sezze. Wenn  wir  aber  nicht  einmahl  das  principium  der  Moralitaet 

30  hätten,  so  würde  auch  die  Ausübung  des  Göttlichen  Willens  nicht 
moralisch  seyn.  Der  Mensch  kann  aus  der  Vernunft  einen  Begriff  des 
Göttüchen  Willens  und  der  Rehgion  machen.  Diese  Regeln  des  Göttlichen 
Willens  sind  die  moralischen  Gesezze.  Die  Begriffe  der  Religion  sind 
deswegen  unentbehrlich,  damit  die  moralischen  Gesezze  allen  ihren 

35  Nachdruck  behalten. 

Die  Erkenntniß  des  Göttlichen  Willens  muß  nicht  vor  der  moral 
vorhergehen,  denn  wenn  wir  nicht  vorher  moralische  Gesezze  erkennen. 


136  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

so  würden  wir  1 .  nicht  einmahl  einen  Begrif  vom  Göttlichen  Willen  haben 
und  2.  würden  wir  auch  nicht  die  Befolgung  des  Göttlichen  Willens 
begreifen.  Der  Göttliche  Wille  läßt  sich  nur  durch  die  moralische 
Gesezze  denlcen.  Es  ist  weit  gefehlet,  daß  die  Erkenntniß  des  Gött- 
lichen Willens  vor  dem  moralischen  Unterschiede  und  Urtheile  vorher-  5 
gehe,  weil  die  Verbindlichkeit  dem  Willen  eines  Wesens  sich  gemäß 
zu  verhalten  zum  voraus  sezt  eine  Pflicht.  Die  Erkenntniß  der  Pflicht 
69  ist  offenbar.  /  Wenn  uns  Gott  seinen  Willen  auch  allein  offenbaret 
hätte,  so  würde  die  Frage  entstehen,  warum  die  Menschen  diesem 
Willen  nicht  gehorsam  seyn  wollen?  Wenn  der  Göttliche  Wille  darauf  lo 
ausgehet,  daß  wir  gute  Gesinnungen  haben  sollen,  so  müßen  wir  erst 
einen  Begriff  davon  haben.  Wenn  Gott  ein  Gesezzgeber  ist,  so  müßen 
wir  erst  einsehen,  ob  er  Recht  habe,  Gesezze  zu  geben.  Unsre  Hand- 
lungen sind  nicht  darum  gut,  weil  sie  Gott  befohlen  hat,  sondern  Gott 
hat  sie  darum  befohlen,  weil  sie  gut  sind.  Wir  müßen  auch  darum  dem  i5 
Willen  Gottes  nicht  folgen,  weil  er  despotisch  befiehlt,  sondern  weil 
das  was  er  befiehlt  gut  ist.  Man  respectiret  etwas  ohne  es  zu  vereh- 
ren, wenn  man  nehmhch  etwas  aus  Furcht  hoch  hält.  Wenn  wir  seinen 
Willen  nicht  beurtheilen  können,  daß  er  gut  ist,  so  ist  an  der  Befol- 
gung der  Handlungen  nicht  das  geringste  von  der  Moralitaet.  Gott  20 
giebt  seine  Gebote,  aber  er  giebt  sie  nicht  nur  allein,  sondern  er  sagt 
dabey,  daß  sie  gut  sind.  Gott  lieben  heißt  seine  Gebote  gerne 
thun.  Gott  will  nichts  anders  als  daß  der  Mensch  das  thue  was  er 
selbst  hochschäzt,  und  also  verlangt  er  nur  lauter  biUiges  von  uns. 

Das  Mosaische  Gesezz  ist  hergeleitet  aus  der  Göttlichen  Macht.  25 
Unsre  Religion  würde  also  nichts  zu  bedeuten  haben,  wenn  wir  nicht 
70  schon  vorher  einen  Begriff  /  von  der  Moralitaet  hätten.  Der  Mensch 
muß  nicht  seine  WillkührUchkeit  in  die  Religion  bringen,  sondern  ein 
reines  Herz.  Wenn  ein  Mensch  nicht  mit  reinen  Gesinnungen  zur 
Theologie  schreitet,  würde  daraus  keine  wahre  Religion  entstehen  so 
sondern  lauter  Heucheley,  Denn  die  Religion  ist  nichts  als  gereinigte 
sittliche  Gesinnungen,  die  man  hernach  auf  das  allervollliommenste 
Wesen  anwendet,  deßen  Willen  der  allervollkommenste  ist.  Denn  das 
ist  nicht  die  Religion  daß  ich  Gott  einen  Gehorsam  leiste,  sondern  die 
Religion  ist  eigentUch  das  Verhalten  gegen  Gott  aus  moralischen  35 
Gründen,  dasjenige  also  was  den  Geist  der  Rehgion  ausmacht,  ist  die 
Befolgung  aller  GöttUchen  Befehle.  Gott  können  wir  nicht  lieben, 
wenn  wir  seine  Befehle  nicht  lieben,  diese  leztere  aber  können  von  uns 
nicht  geliebet  werden,  wenn  wir  nicht  ihre  Billigkeit  einsehen. 


Praktische  Philosophie  Powalski  237 

Hier  ist  also  bewiesen,  daß  das  prineipium  der  moralitaet  sich  nicht 
auf  den  GöttHchen  Willen  gründe,  weil  das  eben  so  viel  wäre,  als  wenn 
ich  sagte,  daß  auch  die  Regeln  der  Geometrie  sich  auf  den  Göttlichen 
Willen  gründeten.  Von  der  andern  Seite  ist  doch  aber  /  merkwürdig,  ri 
5  daß  obgleich  der  Götthche  Wille  nicht  der  Grund  der  morahschen 
Beurtheilung  ist,  so  ist  er  doch  der  Grund  der  morahschen  Qualitaet. 
Denn  in  unsern  moralischen  Gesezzen  würde  lauter  Idealitaet  seyn 
und  keine  Realitaet,  wenn  nicht  ein  Wesen  da  wäre,  welches  nach 
diesen  moralischen  Gesezzen  regieren  würde. 

10  Ideal  nennt  man  die  Sache  in  deren  Möghclilvcit  die  Gründe  wozu 
hegen  zE.  so  ist  ein  allgemeiner  Friede  bloß  etwas  Ideales.  Er  ist  zwar 
richtig  in  der  Idee,  aber  die  Mächte  stimmen  nicht  sogleich  überein. 
Der  Friede  ist  eigentlich  der  Zustand  der  Gerechtigkeit,  die  mora- 
lischen Gesezze  zeigen  uns  die  Vorschriften  eines  Willens,  sofern  er  ein 

15  guter  Wille  ist.  Diesen  guten  WiUen  müßen  wir  haben,  wenn  wir  der 
Glückseeligkeit  würdig  werden  wollen.  Die  moralischen  Gesezze 
gebiethen  aUe  categorisch.  Wenn  es  an  einem  Wesen  fehlt  welches 
alles  reahsiret,  so  ist  in  unsrer  moral  keine  reahtaet,  sondern  sie 
besteht  in  der  bloßen  Idee, 

20  In  der  moral  muß  man  auf  diese  beyde  Stücke  merken:  1.  Ver- 
halte dich  so  wie  du  urtheilen  kanst  nach  den  Regeln 
des  guten  Willens,  damit  du  der  Glückseeligkeit  würdig 
werdest  und  2.  Hast  du  dich  so  verhalten  daß  du  der  Glück- 
seeHgkeit  würdig  bist,  so  glaube  daß  es  ein  Oberstes  Wesen  giebt, 

25  welches  diese  Welt  und  zwar  conform  den  morahschen  Gesezzen  regie- 
ret, /  welches  dich  dermahleins  belohnen  wird.  Wäre  dieses  nicht,  n 
so  wäre  auch  in  der  Belohnung  unsers  Wohlverhaltens  lauter  Idee  und 
keine  Realitaet,  weil  es  keine  VoUziehung  derselben  geben  würde. 
Um  also  der  moral  Realitaet  zu  verschaffen,  müßen  wir  ein  Wesen 

30  annehmen,  welches  zur  Richtschnur  seines  Willens  die  moralischen 
Gesezze  hat,  und  welches  uns,  wenn  w^ir  uns  der  Glückseeligkeit 
würdig  gemacht  haben,  derselben  auch  wirklich  theilhaftig  machen 
wird,  zugleich  müßen  wir  uns  dieses  Wesen  auch  als  ein  allwißendes 
und  allgegenwärtiges  denken,  das  auch  in  unser  innerstes  sehen  kann. 

35  Die  Religion  sezzt  immer  die  moralitaet  zum  voraus,  keine  moralitaet 
kann  aber  practisch  seyn  ohne  Religion.  Ueberhaupt  ist  die  Religion 
ganz  unzertrennlich  von  der  moralitaet,  aber  darum  ist  sie  nicht  das 
erste  Prineipium  davon,  sondern  die  Religion  muß  nach  der  Sitthch- 


]  38  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

keit  beurtheilet  werden.  Eben  so  ist  auch  der  Wille  Gottes  nicht  das 
Criterium  der  moralitaet,  sondern  nur  die  Vollziehung  derselben.  Die 
moralitaet  gründet  sich  auch  nicht  auf  solche  Handlungen,  die  sich  auf 
die  privat  Glückseeligkeit  beziehen,  imgleichen  auch  nicht  auf  solche, 
welche  sich  auf  die  allgemeine  Glückseeligkeit  beziehen.  Es  ist  nicht  5 
gut,  wenn  nicht  die  Personen  so  sie  besizzen,  zugleich  derselben  würdig 

n  seyn.  Nur  alsdenn  /  sind  wir  der  Glückseeligkeit  würdig,  wenn  wir  uns 
wohl  verhalten.  Oft  müßen  wir  auch  die  Glückseeligkeit  der  Menschen 
hintansezzen,  wenn  wir  eine  Schuldigkeit  zu  beobachten  haben.  Wür- 
den alle  Menschen  dem  Recht  folgen,  so  würde  die  Glückseeligkeit  weit  lo 
ausgebreitet  seyn.  Oft  muß  man  auch  einen  theil  der  Glückseeligkeit 
aufgeben,  um  die  Würde  der  Menschheit  nicht  zu  enteliren.  Die  Glück- 
seeligkeit bestehet  nicht  in  dem  Gefühl,  denn  nur  die  Eindrücke  laßen 
sich  empfinden  zE.  so  können  wir  fühlen  daß  es  eine  Regierung  der 
Welt  gebe,  niemand  aber  kann  das  Recht  fühlen,  sondern  dies  ist  nur  15 
eine  Beurtheilung  des  Verstandes.  Die  moralische  Regeln  kann  man 
a  priori  erkennen.  Alle  moralische  Gesezze  haben  eine  animam  und 
litteram,  aber  die  pragmatischen  haben  keine  animam  sed  sensum. 
Der  Geist  des  Gesezzes  bedeutet  die  Gesinnung,  mit  welcher  die  Hand- 
lung, welche  es  befiehlt,  soll  gethan  werden.  ZE :  den  Armen  Wohl-  20 
thaten  erzeugen,  das  ist  der  Buchstabe  des  moralischen  Gesezzes. 
Diese  Wohlthat  soll  aus  wahrer  Menschenliebe  herrühren,  das  ist  also 
der  Geist  dieses  moralischen  Gesezzes,  denn  er  zeigt  die  Gesinnungen 

74  an,  mit  welchen  ich  diese  /  Wohlthat  austheilen  soll.  Der  Geist  aller 
moralischen  Gesezze  bestehet  also  in  den  Gesinnungen.  Dahingegen  25 
gehen  die  pragmatischen  Gesezze  nur  auf  die  Handlungen  und  sie  ha- 
ben keinen  Geist.  Man  fragt  gar  nicht  wie  bey  den  moralischen  Gesezzen 
nach  Gesinnungen  sondern  nur  nach  der  Handlung  zE.  was  fragt  ein 
Ijandes  Herr  nach,  ob  seine  Unterthanen  die  Abgaben  gern  oder 
ungern  abtragen,  wenn  sie  es  nur  thun.  Der  Sinn  des  pragmatischen  so 
Gesezzes  wird  vom  Buchstaben  unterschieden,  dieser  Unterschied 
heißt  der  Unterschied  der  Interpretation.  Im  moralischen  Gesezz  aber 
wird  der  Geist  vom  Buchstaben  unterschieden,  und  dieses  heißt  der 
Unterschied  der  Intention.  Viele  Gesezze  führen  eine  Zweydeutigkeit 
bey  sich  das  ist,  sie  haben  eine  ambiguitatem,  nach  der  sie  auch  in  35 
einem  andern  Verstände  genommen  werden  können.  Man  muß  daher 
in  dem  Gesezze  solche  Ausdrücke  gebrauchen,  die  mit  keinem  andern 
Verstände  können  verbunden  werden.  Derjenige  der  Erkenntniß  der 
Gesezze  den  Buchstaben  nach  hat,  heißt  ein  Legulejus. 


Praktische  Philosophie  Powalski  139 

Von  der  Rechterfahrenheit  und  Rechtkunde. 

Diese  ist  zweifach    a.  eine  Rechts    Wißenschaft  und  diese  ist 
theoretisch  und    b.  die  Rechts  Klugheit  diese  /  ist  practisch,  die  73 
Rechtswißenschaft  ist  die  Kenntniß  der  Gesezze,   sofern  man  sie 

5  systematisch  einsehen  kann,  zur  Rechtsklugheit  wird  aber  auch  eine 
Geschickhchkeit  der  Anwendung  erfordert,  imgleichen  auch  eine 
Weltkenntniß.  Ein  Jurist  ist  ein  Theoreticus  sofern  er  Rechtswißen- 
schaft versteht,  ein  Practicus  ist  er  aber,  sofern  er  die  Geschickhchkeit 
hat  die  Gesezze  zu  lenken  und  anzuwenden.  Ein  Practicus  kann  auch 

10  wenig  Rechts  Wißenschaft  haben,  denn  ist  er  nur  Legulejus  und  nicht 
Jurisconsultus,  weil  er  die  Gesezze  nicht  einsieht,  sondern  sie  nur 
kennt.  Es  sind  Jure  periti,  die  aber  nicht  Jure  consulti  seyn.  Ueber- 
haupt  ist  die  Juris  scientia  sehr  unvollständig  ohne  eine  genügsame 
Praxis. 

15  Die  Praxis  ist  anzusehen  wie  ein  Experiment  oder  eine  Beobachtung 
die  ich  anstelle,  um  die  Unterschiede  der  Rechte  wahrzunehmen. 
Einige  Gesezze  haben  einen  Grund  des  Rechts  andre  der  Klugheit. 
Die  Gründe  der  Gesezze  sind  ferner  vel  morales  vel  legales.  Die  Juris- 
peritia  naturahs  enthält  wie  die  civilis  alle  Arten  von  Recht  in  sich. 
20  Sie  hat  auch  eben  so  wohl  einen  Geist  als  Buchstaben.  Beym  Juri- 
stischen Gesezz  ist  kein  Geist  sondern  nur  ein  Sinn.  Der  Rechtslehrer 
lehrt  die  Gesezze  der  Handlungen,  welche  die  Menschen  von  einander 
fordern  können,  und  wozu  sie  im  Weigerungsfall  auch  können  ge/zwun-  ic 
gen  werden.  Der  Philosoph  hingegen  lehrt  nicht  die  Zwangs  Gesezze, 
25  sondern  die  Gesinnungen,  die  wir  gegen  das  Recht  der  Menschen 
haben.  Hierzu  gehört  auch  noch  die  Rechtsgelehrsamlceit.  Die  Rechts 
Gelehrsamlieit  ist  eigentlich  der  Innbegriff  des  Wißens,  was  man 
lehren  kann.  Die  Erkenntniß  der  Natur  gründet  sich  nicht  auf  die 
Lehre,  denn  hierinn  braucht  man  nicht  erudirt  zu  werden.  Die  Philo- 
so Sophie  ist  kein  Theil  der  Gelehrsamkeit,  vielmehr  ein  object  der 
Gelehrsamlceit.  Gewiße  Kenntniße  gehören  zur  Gelehrsamkeit,  e.g. 
die  Historie,  Geographie.  Mathematic  gehört  eigentlich  nicht  zur 
Gelehrsamkeit.  Die  Rechts  Gelehrsamkeit  betrift  die  positiven  Ge- 
sezze. Im  Jure  naturali  kann  die  Rechts  Gelehrsamkeit  großen 
35  Einfluß  haben.  Wenn  wir  die  Bearbeitung  des  Verstandes  vor  uns 
haben,  so  wird  uns  der  Gebrauch  der  Vernunft  sehr  erleuchten  und 
berichtigen. 


140  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

Vom  Natur  Recht. 

Es  ist  schon  oben  angeführt  daß  das  Recht  der  Natur  von  der 
Tugend-Pflicht  unterschieden  ist.  Das  Recht  ist  die  Neceßitation 
unserer  Handlungen  durch  die  Willkühr  eines  andern.  Dagegen 
können  wir  Verbindhchkeiten  haben,  aber  nicht  in  Ansehung  der  Will-  5 
kühr  eines  andern,  sondern  die  aus  dem  Zustande  und  der  Handlung 
anderer  entstehen.  Wenn  wir  nicht  durch  andere  neceßitiret  werden, 
n  so  ist  es  eine  /  autische  neceßitation.  Willkühr  und  Wille  sind  unter- 
schieden. Willkühr  ist  derjenige  Wille  der  practisch  ist,  Wille  aber  ist 
nicht  practisch  oder  voluntas  minus  practica  est.  lo 

In  Ansehung  unserer  Handlungen  werden  wir  entweder  durch  Noth 
oder  durch  Wohlthat  verbunden.  Zur  obligatione  stricte  dicta  seu 
debiti  wird  die  Willkühr  eines  andern  erfordert  —  Wir  werden  äußer- 
lich und  stricte  durch  das  Recht  anderer  verbunden,  denen  es  erlaubt 
ist  uns  zu  zwingen,  und  dieses  ist  eine  Schuldigkeit,  die  mit  dem  15 
strengen  Recht  correspondiret.  Das  Recht  ist  diejenige  vis  obligatoria, 
vermöge  welcher  die  Menschen  befugt  sind  andere  zu  zwingen  und 
dieses  sind  Zwangs -Pflichten.  Diese  definition  aber  hat  keinen  Vor- 
theil;  es  muß  vorher  determiniret  seyn,  die  Bedingung  unter  der  ein 
anderer  die  Befugniß  hat  zu  zwingen.  Das  Wort  Befugniß  sezt  ein  20 
Recht  voraus,  das  Recht  kann  nicht  dadurch  determiniret  werden, 
sondern  die  Befugniß  muß  erst  einen  Grund  haben.  Eine  Handlung,  so 
fern  sie  durch  Regeln  der  allgemeinen  Willliühr  noth  wendig  ist, 
ist  sie  eine  iuridische  Noth  wendigkeit.  Alles  ist  iuridice  erlaubt, 
welches  der  Willkühr  im  allgemeinen  genommen  erlaubt  ist.  Eine  25 
juridische  Nothwendigkeit  ist  eine  Schuldigkeit.  Das  Recht  ist  eine  vis 
obhgatoria  so  fern  sie  durch  die  allgemeine  Willlcühr  neceßitiret  wird, 
78  seu  secundum  arbitrium  universale.  Alles  /  was  erlaubt  ist,  ist  noth- 
wendig,  und  alles  was  nothwendig  ist,  ist  erlaubt.  Alle  Begriffe  des 
Rechts  sind  die  Beziehung  unserer  Handlungen  auf  das  arbitrium  30 
commune.  Wir  betrachten  die  Handlung  nicht  in  Ansehung  des 
Nuzzens  sondern  in  Ansehung  der  allgemeinen  WiUlcühr.  Wenn  die 
Handlung  so  beschaffen  ist,  daß  sie  einem  arbitrio  communi  zuwider 
ist,  so  hat  ein  jeder  die  Befugniß  solche  Handlung  zu  redarguiren. 
Wenn  dieses  ist;  so  ist  die  Adhibirung  der  Gewalt  erlaubt,  und  auch  35 
der  Zwang  den  wir  wider  solche  ausüben.  —  Eine  jede  Handlung  ist 
unrecht,  welche  die  Maxime  aller  Handlungen  nicht  zu  einem  allge- 
meinen Grundsaz  machen  läßt,  die  weil  die  gemeinschaftliche  Willkühr 


Praktische  Philosophie  Powalski  141 

auch  unsre  in  sich  begreift,  so  stimmt  1 .  unsre  Willkühr  mit  sich  selbst 
überein  2.  wenn  wir  eine  Handlung  betrachten,  welche  nach  den 
Regeln  des  Rechts  nothwendig  ist,  so  fließt  eine  solche  Handlung  aus 
der  allgemeinen  Regel  und  alsdenn  ist  sie  nothwendig.  Unsre  Hand- 
5  lungen  sind  auch  einem  Zwange  unterworfen,  weil  es  nützlich  ist,  daß 
unsre  Handlungen  mit  der  gemeinschaftlichen  Willkühr  überein- 
stimmen, wenn  dieses  aber  nicht  ist,  daß  die  gemeinschaftliche  Will- 
kühr einen  Zwang  erlaubet,  das  ist,  alle  Gewalt  wider  solche  Handlung 
auszuüben.  Wenn  wir  eine  Handlung  betrachten  wollen,  ob  sie  gut 

10  oder  nicht  gut  ist,  so  wird  erstlich  gefragt,  ob  die  Meinung  dieser 
Hand/lung  mit  der  allgemeinen  Willkühr  übereinstimmet  oder  nicht  ?  19 
stimmt  sie  überein  so  ist  sie  recht,  weil  sie  von  jedermann  gebilliget 
wird. 

Ehe  ich  einen  Nuzzen  für  das  Wohl  des  Menschen  vermute,  muß 

15  ich  erstlich  versichert  seyn,  daß  diese  von  mir  unternommene  Hand- 
lung gut  ist.  So  fern  unsre  Willkühr  durch  den  Zustand  anderer 
beweget  wird,  ist  sie  nicht  von  unserm  Wohlbefinden,  sondern  von  der 
allgemeinen  Regel  der  Willkühr  hergenommen.  Die  Gesezze  sind 
wahre  Sanctionen  des  Rechts,  das  mit  der  allgemeinen  Regel  über- 

20  einstimmt.  Die  Glückseeligkeit  wird  durch  Wege  erwogen  1 .  nach  dem 
Urtheil  des  Menschen  selbst  und  2.  nach  dem  Urtheil  anderer.  Die 
Regel  des  Rechts  betrift  nicht  die  Vorsorge  für  eines  jeden  Glück, 
sondern  die  völlige  Entsagung  des  seinigen  für  andere.  Die  Regel  des 
Rechts  determiniret  nur  das,  wodurch  die  Thätigkeit  anderer  Willkühr 

25  geschehen  muß. 


Das  Gesezz  wird  eingetheilt  ins  juridische  und  ethische 

Gesezz 

a.  Das    juridische    Gesezz    gebiethet    categorisch     b.  das 
Ethische  aber  Hypothetisch 

30      1.  Das  juridische  Gesez  ist  das  Gesez  derjenigen  Pflicht,  wozu  wir 

durch  die  Willkühr  anderer  neceßitirt  werden  können,  unser  Urtheil 

muß  in  dem  allgemeinen  Urtheil  enthalten  seyn. 

/Quaestio.    Ob  es  recht  sey  Nothleidende  umkommen  zu  laßen  ?  so 

ist  es  möglich  dieses  als  eine  Maxime  die  überall  gültig  ist,  zu  betrach- 
35  ten  ?  mit  nichten  kann  dieses  zu  einer  allgemeinen  Regel  gemacht 

werden.  Die  völlige  Gleichgültigkeit  gegen  andere  Menschen  kann  gar 


142  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

nicht  in  den  Umständen  des  Rechts  bestehen.  Es  muß  angenommen 
werden  ein  Richter  der  alles  Stöhnen  und  Winseln  unbeweglich  ansieht 
und  ganz  unpartheyisch  sieht,  wer  Recht  oder  unrecht  hat.  Bey  dieser 
so  völligen  Kaltsinnigkeit  kann  er  die  punctlichste  Gewissenhaftigkeit 
in  der  Befolgung  des  Rechts  haben.  5 

Von  der  Antinomie. 

Die  moralischen  Gesezze  wiederstreiten  sich,  sie  enthalten  entweder 
die  motiva  obligandi  oder  obhgantia.  Die  motiva  obligantia  können 
Wiederstreit  mit  einander  haben,  weil  sie  eine  neceßitationemmoralem 
haben.  Einige  moralische  Gesezze  enthalten  die  motiva  obligandi,  oder  10 
Bewegungs-Gründe,  die  wenn  ein  größerer  da  ist,  den  andern  auf- 
hebet zE.  Wohlthätigseyn  gegen  Nothleidende,  wenn  man  auch  selbst 
eine  dürftige  Familie  hat.  Die  Antinomie  ist  also  nur  die  Vergleichung 
der  moralischen  motiven.  Wir  werden  moralische  Gesezze  finden,  wel- 
che stricte  obhgiren  —  Es  giebt  leges  morales  eßentiales  und  15 
accidentales.  Es  ist  accidentale  wohl  zu  thun,  aber  wohlthätige 
81  Gesinnungen  zu  haben  ist  eigentlich  eßentiale.  Omnes  /  leges  extra 
essentiales  obligant  hypothetice  —  Die  Bestimmung  ist  die  Wechsel- 
seitige Bestimmung  eines  andern.  Es  giebt  Gesezze  bey  denen  die 
exceptiones  statt  finden,  diese  heißen  leges  extra  essentiales.  Alle  20 
Neigungen  sind  von  der  Art,  daß  darinnen  keine  exceptiones  statt- 
finden. Derjenige  bey  dem  die  exceptiones  der  moralischen  Gesezze 
aus  Gründen  der  Neigung  oder  aus  psychologischen  Gründen  ge- 
schehen, der  zeigt  hier  an  die  Schwäche  des  moralischen  Bewegungs 
Grundes,  oder  daß  der  Bewegungs  Grund  keine  subjective  elateres  25 
habe  ihn  zu  bewegen. 

Je  mehr  exceptiones  bey  einem  Subject  aus  Gründen  der  Sittlichkeit 
sind,  desto  unvollkommener  ist  die  moral  des  Subjects,  je  größer  der 
Wille  ist,  mit  dem  etwas  geschiehet,  desto  größer  ist  die  Stärke  des 
moralischen  Gesezzes.  30 

Von  den  principiis  juris  peregrini- 

oder    denjenigen    die    aus    andern  Wißenschaften    entlehnet    sind, 
domesticis  die  aus  der  Willkühr  und  aus  der  Sache  selbst  fließen. 
Alle  principia  sind  entweder  primitiva  die  in  uns  ursprünglich 
sind,  und  sich  aus  nichts  weiter  herleiten  laßen,  oder  derivativ a  die  35 
noch  höhern  in  eben  derselben  Wißenschaft  admittiren. 


Praktische  Philosophie  Powalski  143 

Alle  Principia  practica  werden  selbstliebig.  Es  /  giebt  Philosophiam  8'^ 
moralis  primitivam  zE.  das  wahre  principium  des  Rechts,  die  Ueber- 
einstimmung  unserer  Handlungen  mit  der  WilUcühr  anderer.   Die 
principia  des  Rechts  sind  nicht  derivativa. 

5  Die  principia  sind  ferner  entweder  a.  propaedevtica  welches  ein 
principium  der  Vorübung  ist.  Vor  eine  Wißenschaft  muß  die  andere 
eine  Vorübung  sejai.  Die  moral  hat  auch  objective  propaedevtica 
principia  in  der  Theologie.  Wenn  wir  die  nicht  vorausgesezt  hätten, 
könnten  die  moralischen  Gesezze  keinen  Nachdruck  haben,  b.  episo- 

10  die a  ist  das  was  eigentlich  ein  peregrinum  ist  aber  doch  einen  Einfluß 
hat  auf  alle  Wißenschaften.  Diese  principia  episodica  der  Moral  kömien 
seyn  Geschichten,  sie  können  entlehnet  seyn  von  Schaden,  Nuzzen, 
Zeugnißen,  Beweisthümern.  Das  kann  eigentlich  peregrinum  genannt 
werden  was  nicht  einen  theil  der  Wißenschaften  ausmacht.  Es  giebt 

15  zwey  methoden  durch  welche  wir  1.  zur  Erkenntniß  Gottes  gelangen, 
welches  man  den  Glauben  an  Gott  nennet,  und  2.  zur  Erkenntniß  der 
Welt  gelangen  können. 

Die  ersten  principia  des  Rechts  sind: 

1.    Quaere    perfectionem    quantam    potes      2.    neminem 

■2olaede   suum   cuique  tribue    3.  vive   honeste 

Die  Natur  dieses  Rechts  enthält  die  Verbindlichkeit  zu  welcher  wir 
per  arbitrium  eines  andern  neceßitirt  werden  können.  Das  stricte 
Recht  ist  der  Innbegriff  der  Verbindlichkeiten,  zu  welchen  wir  äußer- 
lich können  /  gezwungen  werden.  Die  Ethic  ist  von  der  Lehre  des  83 

•25  Rechts  unterschieden.  Sie  ist  der  Innbegriff  der  beliebigen  Pflichten 
und  das  Recht  ist  die  Schuldigkeit.  In  Ansehung  Gottes  sind  alle  unsere 
Pflichten  Zwangs  Pflichten.  In  Ansehung  der  Menschen  aber  sind 
nicht  alle  Pflichten  Zwangs  Pflichten.  Der  Innbegrif  der  Pflichten  also 
wozu  wir  durch  Menschlichen  Zwang  nicht  können  gezwamgen  werden , 

30  macht  die  Ethic  oder  die  Tugend  Lehre  aus.  Die  Tugend  Lehre 
begreift  alle  verdienstliche  Pflichten.  Verdienst  ist  das  gute  was  wir  zu 
thun  nicht  schuldig  sind,  derjenige  der  mehr  thut  als  er  schuldig  ist, 
der  thut  Verdienst.  In  Ansehung  der  Menschen  können  wir  verdienst- 
liche Werke  haben.  Alle  Handlung  so  fern  sie  zur  moralischen  Voll- 

35  kommenheit  gehöret,  ist  unsre  Pflicht.  In  Ansehung  Gottes  können  wir 
keine  verdienstliche  Werke  thun.  Die  Neceßitation  per  arbitrium  divi- 
num ist  das  stricte  Recht.  Welches  ist  das  principium  des  Natur  Rechts  ? 


144  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

Von  den  Zwangs  Pflichten  einestheils,  und  den  Zwangs  Gesezzen  andern- 
theils.  Hiezu  sind  diese  drey  Regeln  nacheinander:  1.  neminem  laede, 
2.  suum  cuique  tribue.  Diese  zwey  Säzze  sind  die  Grundsäzze  der 
Zwangs  Pflichten  und  heißen  das  Geboth.  3.  honeste  vive  ist  das  lex 
vetiti.  Die  Laesion  ist  die  Beleidigung  eines  andern.  Wir  können  nicht  5 
anders  einen  Begriff  von  der  laesion  haben,  bis  wir  einen  deutlichen 
Begriff  des  Rechts  haben.  Im  physischen  Verstände  bedeutet  lae- 
diren  verwunden.  Dies  kann  aber  kein  Criterium  sondern  niu*  ein 
Canon  seyn,  nach  den  Regeln  des  Rechts  zu  verfahren.  Der  Eintrag 

84  der  dem  Recht  eines  andern  geschiehet,  ist  die  Laesion.  /  Honeste  lo 
vive  gehört  zur  Ethic,  neminem  laede     suum  cuique  tribue  ist  die 
Pflicht  wozu  wir  durch  das  Recht  anderer  verbunden  sind.  Neminem 
laede  et  suum  cuique  tribue  ist  fast  einerley.  aliquem  laedere  heißt 
jemandem  Unrecht  thun.  Man  kann  den  Saz  suum  cuique  tribue  auch 
negative    neminem    laede    ausdrücken.    Einem   das    seine  garnicht  is 
ertheilen,  ist  nicht  eine  so  große  laesion,  als  wenn  man  ihm  etwas  raubt. 
Dies  ist  eine  große  transgreßion  des  juridischen  Gesezzes.  Das  logische 
suum  ist  quatenus  aliquid  ad  suum  subjectum  pertinet,  Quatenus  est 
aliquid  per  arbitrium  alterius  modificabile  determinat  suum  practi- 
cum.  Das  Suum  iuri  die  tale  est  modificatum  non  iuri  per  arbitrium  20 
alterius. 

Man  kann  wider  jemandes  Recht  etwas  handeln,  und  man  laedirt 
ihn  nicht.  Laesio  juris  non  est  si  contra  alicuius  jus  adversor.  Die 
Laesion  des  Rechts  muß  unterschieden  seyn  von  der  laesion  der  Per- 
son. Den  Saz,  wo  man  behauptet,  daß  Gott  nicht  könne  beleidiget  25 
werden,  nennt  man  DippeHanismum.  Der  Saz  honeste  vive  hat  das 
moralische  an  sich,  welches  wenn  es  bekannt  gemachet  würde,  Ehre 
erlangt.  Dasjenige  ist  Honestum,  was  Billigkeit,  Beyfall  und  Ehren- 
werth  erwirbt.  Honeste  vive  heißt  thun  was  Achtungswerth  ist. 
Dieser  Saz  beziehet  sich  auf  Handlungen,  in  Ansehung  derer  der  so 
Mensch  nicht  kann  gezwungen  werden.  Es  ist  sonderbar  daß  uns  das 
Urtheil  anderer  so  sehr  intereßirt,  ohngeachtet  es  nicht  den  geringsten 

85  Einfluß  auf  unsern  Zustand  hat.  /  Es  liegt  in  der  Menschheit  außer 
dem  Zwang  zu  Pflichten  des  strengen  Rechts  noch  ein  Trieb  in  uns, 
der  uns  treibt  Handlungen  zu  thun,  wozu  wir  gar  nicht  können  35 
gezwungen  werden.  Der  Trieb  ist  das  Intereße  an  der  Achtung  und 
Ehre  des  andern  für  uns.  Thue  das  was  dich  der  Ehre  werth  macht, 
wenn  es  auch  kein  Mensch  wüßte.  Honeste  vive  nun  heißt  bloß 
thue  das  was  Ehrenwerth  ist.  Moralische  Handlungen  sind  immer  der 


Praktische  Philosophie  Powalski  145 

Achtung  werth  von  jedermann.  Durch  die  Erfüllung  der  Schuldigkeit 
und  Rechts  Pflichten  wird  man  gar  keiner  Ehren  werth.  Ehre  verdient 
man  nur  dadurch,  daß  man  mehr  thut  als  man  schuldig  ist.  Wenn  man 
gethan  alles  was  man  schuldig  war,  so  ist  man  dadurch  nicht  Ehren- 
5  werth,  sondern  man  ist  nur  nicht  unwürdig  der  Ehre.  Hat  man  die 
geringste  Rechtspflicht  noch  nicht  erfüllt,  so  ist  man  zu  verachten. 
Ehrlichkeit  ist  nicht  Ehren  werth. 


Von  der  Gesezzgebung 

Alle  Gesezze  sind  zweyerley  vel   arbitrariae    vel    naturales. 

10  Ein  natürhch  moralisches  Gesezz  hat  keinen  Urheber,  es  kommt  nicht 
vom  Willen  her,  denn  was  aus  dem  Willen  kommen  soll,  muß  zufällig 
seyn.  Moralische  Gesezze  haben  keinen  Urheber.  Zwischen  Treulosig- 
keit und  Treubrechung  ist  ein  Unterschied.  Der  Göttliche  Wille  macht 
nicht,  daß  die  Treulosigkeit  Verabscheuungswürdig  ist,  sondern  sie  ist 

15  schon  an  sich  selbst  Verabscheuungswürdig.  Nothwendige  Gesezze 
haben  Urheber.  Die  moralischen  Gesezze  sind  die  criteria  der  Unter- 
schiede unse/rer  Handlungen.  Die  leges  morales  haben  keine  vimse 
efficacem  zur  Obligation,  denn  dazu  wird  nicht  nur  die  Idee  und  die 
objectiven  Gründe  der  Vollkommenheit  erfordert,  sondern  dazu  sind 

20  auch  die  subjectiven  Gründe  nothwendig.  Zur  Neceßitation  oder  daß 

das  Gesezz  verbindlich  mache,  ist  nicht  genugsam,  daß  objective 

Gründe  verbindlich  machen,  sondern  gehören  auch  subjective  Gründe. 

Es  giebt  objective  Bedingungen  der  Willkühr  der  Unterschiede 

unserer  Handlungen,  die  bestehen  in  der  Uebereinstimmung  unserer 

25  Absicht  zu  mehrerer  Glückseeligkeit.  Wenn  die  moralischen  Gesezze 
in  den  objectiv  hinreichenden  Bewegungs  Gründen  enthalten  und 
auch  die  Bonitaet  der  Handlungen  von  ihnen  hergenommen  sind,  so 
sind  sie  doch  nicht  subjectiv  gut. 

Eine  vis  efficax  hat  keine  verbindende  Kraft.  Wenn  die  natürlichen 

30  morahschen  Gesezze  keine  vim  efficacem  hätten  zu  obligken,  so 
würden  sie  bloß  die  Idee  der  vollkommenen  Handlung  seyn:  sie 
würden  dazu  dienen  die  moralischen  Handlungen  zu  unterscheiden. 
Alle  moralische  Gesezze  müßen  einen  Gesezzgeber  haben,  es  muß  ein 
oberstes  Wesen  seyn,  was  durch  seine  Willkühr  den  Lauf  der  Natur 

35  zu  Folge  den  morahschen  Gesezzen  dirigiret.  W"ir  können  einen  Begriff 
von  diesem  allervollkommensten  Willen  haben.  Diesen  Willen  nennen 

10     Kanfs  Schriften  XXVII/1 


146  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

wir  einen  Heiligen  Willen,  denjenigen  aber  der  ihn  hat  nennet  man 
Gott. 

8T  /  Ad  obligationeni  bedürfen  die  moralischen  Gesezze  einen  legislator. 
Ein  Legislator  ist  derjenige,  der  da  declariret  die  Bedingungen,  unter 
welchen  sein  Wille  mit  der  Willlvühr  anderer  übereinstimmt  in  einem  5 
größeren  Gesezz.  Die  moralischen  Gesezze  enthalten  in  sich  1.  das 
Maaß  aller  Vollkommenheiten  2.  das  principium  der  Beurtheilung. 
Sie  enthalten  also  die  Richtschnur.  Wenn  unsre  Handlungen  mit 
dieser  Richtschnur  übereinstimmen:  so  verdienen  sie  die  allgemeine 
Billigkeit  und  Beyfall.  Aus  der  Natur  der  Handlungen  fließt  auch  ihre  lo 
äußere  bonitaet. 

Anmerk:  Es  giebt  einige,  welche  indem  sie  der  Tugend  eine  Lob- 
rede machen  ihr  nur  schmeicheln,  das  ist,  sie  sagen  mehr  als  sie  davon 
überzeugt  sind.  Solche  Gesinnungen  haben  einen  großen  Vortheil 
durch  die  physische  Wirkung.  Alle  moralischen  Schicksale  werden  mit  i5 
dem  moralischen  Gesezze  übereinstimmen,  in  dem  der  allervollkom- 
menste  Wille  ein  heiliger  Wille  ist ;  er,  dieser  Wille,  ist  der  legislator.  Er 
macht  die  Gesezze  nicht,  sondern  er  giebt  sie. 

Die  Potestas  legislatoria  gründet  sich  auf  die  Macht  generaliter. 
alle  Subjecte  und  Geschöpfe  zu  dirigiren.  Sie  beruht  auf  einem  guten  20 
Willen.  Das  Urtheil  von  allem  unserm  Daseyn  wäre  sein  Wille,  aber  ein 
gütiger  Wille.  Denn  würde  sein  Wille  nicht  ein  gütiger  Wille  seyn, 
so  würden  wir  uns  durch  seinen  Willen  neceßitiren  aber  nicht  obligiren 

88  können.  Der  Göttliche  /  Wille  muß  erstlich  gut  seyn,  zweytens  die 
Bedingung  unter  der  er  die  Glückseeligkeit  austheilen  will  ist  die  25 
moralische  Bedingung,  sein  Wille  ist  also  heilig.  Er  hat  zugleich  mit 
der  Macht  die  potestatem  legislatoriam,  und  zwar  darum  weil  er  der 
Beherrscher  der  Welt  ist.  Wenn  er  aber  keinen  gütigen  Willen  hätte, 
wenn  er  gleich  der  Beherrscher  der  Welt  wäre,  so  hätte  er  nicht  die 
potestatem  legislatoriam.  Seine  Macht  ist  erschrecklich,  aber  der  gute  30 
Wille  macht  alles  gut.  1.  Sein  Wille  ist  das  Urbild  alles  Willens.  2.  Er 
hat  eine  unumschränkte  Gewalt. 

Theologia  naturalis  est  scientia  propaedeutica  legislationis  divinae. 
Die  natürliche  Religion  ist  das  principium  der  allgemeinen  Göttlichen 
Gesezzgebung.  Gott  muß  durchaus  nicht  ein  Urheber  der  moralischen  35 
Gesezze  seyn.  Wir  wißen  zwar  daß  er  ein  executor  der  moralischen 
Gesezze  sey,  wir  würden  das  aber  nicht  einsehen,  wenn  wir  nicht  das 
innerliche  unsrer  Handlungen  einsehen  möchten,  sondern  nur  so  wie 
sie  das  oberste  Wesen  constituiret.  Gott  ist  der  Gesezzgeber  aber  nicht 


Praktische  Philosophie  PoAvalski  147 

der  Urheber  der  moralisclien  Gesezze.  Wir  können  diesen  Saz  betrach- 
ten, so  fern  er  1.  in  Ansehung  der  Theorie  falsch  ist.  Denn  das  mora- 
hsche  Verhalten  beruhet  nicht  auf  unserem  Verhalten,  sondern  so  fern 
es  mit  dem  Willen  Gottes  übereinstimmt.  Die  Handlungen  würden 
5  also  gleichgültig  seyn,  denn  wenn  ich  eine  Handlung  unterlaße,  bloß 
deßwegen,  weil  sie  Gott  befohlen  hat,  so  kann  ich  nicht  einen  Innern 
Abscheu  dagegen  haben.  Das  wesentliche  der  moralitaet  fällt  also  auf 
die  Weise  gar  weg. 

/  Die  Willkühr  constituiret  nichts  als  was  an  sich  selbst  zufällig  ist.  89 

10  Würden  also  die  moralischen  Gesezze  aus  dem  Göttlichen  Willen  her- 
kommen, so  würden  sie  ganz  zufällig  und  die  Handlungen  würden  also 
nur  entweder  gut  oder  böse  seyn,  und  deswegen  möchten  sie  mit  dem 
Göttlichen  Willen  übereinstimmen  oder  demselben  wiederstreiten. 
Da  nun  aber  Gott  nicht  der  Urheber  ist,  wie  kann  er  denn  die  Gewalt 

15  haben,  uns  zu  befehlen  nach  den  moralischen  Gesezzen  zu  handeln  ? 
darum  weil  er  die  Glückseeligkeit  und  die  Belohnung  die  er  ver- 
sprochen in  seinen  Händen  hat.  Da  nun  aber  auch  Gott  2.  im  prac- 
tischen  Verstände  nicht  der  Urheber  der  moralischen  Gesezze  ist,  so 
müßen  wir  zwey  Wege  haben,  entweder  a.  nach  dem  Willen  Gottes 

20  unsre  Pflicht  und  Schuldigkeit  auszuüben,  oder  b.  es  mit  Gott  ab- 
zumachen; dies  ist  aber  falsch. 

Denn  wenn  es  willkührliche  statuta  wären :  so  könnte  ich  sagen,  daß 
ich  keine  Schulden  bezahlen  dürfte,  weil  es  Gott  befohlen  hätte,  und 
daß  ich  es  mit  Gott  schon  abmachen  wollte.  Man  würde  sich  also  zu 

25  Gott  wenden  und  um  die  Erlaßung  seines  Willens  bitten. 

Wenn  der  Göttliche  Wille  der  Urheber  der  moralischen  Gesezze  ist, 
so  kann  er  auch  disponiren.  Kann  er  disponiren,  so  kann  er  auch  die 
Handlung  straflos  halten.  Diejenigen  welche  bey  Gott  eine  Straflosig- 
keit erbitten  wollen,  da  sie  einen  Hilflosen  Menschen  unterdrückt 

30  haben,  die  können  nicht  straflos  von  solchem  Verbrechen  erkläret 
werden. 

/  Die  Wißenschaft  von  der  Gesezzgebung  nennt  man  Nomothetica.  90 
Die  custodia  und  oboediantia  legis  est  moralis  sofern  das  moralische 
Gesezz  aus  moralischen  Gesinnungen,  pragmatica  aber  sofern  das 

35  Gesezz  beobachtet  wird  nach  den  Triebfedern  der  Klugheit. 

Alle  pragmatische  Gesezze  fordern  nicht  sowohl  Gesinnungen  als 
Handlungen,  das  Höchste  ist  die  Aufrechthaltung  aller  moralischen 
Gesezze  bey  der  Regierung  der  Welt  1.  nach  den  Gesezzen  der  Weiß- 
heit und   2.   nach   Gesezzen  der  Heiligkeit.   Gott  fordert  von  uns 


148  Vorlesungen  über  Moralphilosopliie 

moralische  Gesinnungen ;  betrachten  wir  das  principium  pragmaticum 
so  fordert  es  von  uns  Handlungen.  Der  pragmatische  Gesezzgeber 
verlangt  von  uns  die  observantz  der  Gesezze.  Allein  was  die  morahschen 
Gesezze  betrifft,  so  sollen  wir  sie  aus  guten  Gesinnungen  und  mit 
einem  guten  Herzen  thun.  Wir  können  Gott  als  Gesezzgeber  auch  5 
noch  von  der  pragmatischen  Seite  betrachten.  Wenn  wir  hier  die 
Handlungen  nicht  aus  guten  Gesinnungen  thun,  so  thun  wir  sie  nicht 
als  Kinder,  sondern  als  Unterthanen. 


De  Praemiis  oder  physischem  Gut. 

Alle  Menschen  haben  zu  ihrem  Zweck  ihre  Glückseeligkeit.  Alles  10 
was  ihre  Glückseehgkeit  ausmacht,  rechnet  man  zu  dem  physischen 
Glück.   Dieser  Zustand  der  freyen  Handlungen  muß  verschieden, 

91  phj'sisch  gut  oder  böse  seyn.  Wir  müßen  dieses  betrachten,  /  entweder 
als  einen  Bewegungs  Grund  der  Ertheilung  oder  der  Verminderung 
der  Wohlfahrt.  Die  Wohlfahrt  sofern  sie  mit  dem  Wohl  verhalten  is 
correspondiret  ist  das  praemium.  Das  practische  Uebel verhalten  ist 
die  Strafe.  Einige  praemia  sind  anzusehen  als  Bewegungs  Gründe  zu 
Handlungen  dieses  heißt  ein  auctoramentum  und  das  praemium  heißt 
antecedens.  Dagegen  das  praemium,  welches  nicht  der  Bewegungs 
Grund  der  Handlungen  ist,  sondern  erst  hernach  ertheilet  wird,  heißt  20 
das  praemium  consequens.  Dasjenige  was  wir  zu  thun  verbunden  sind 
bedarf  keine  praemia.  Alle  moralische  Gesezze  obligiren  oder  habent 
motiva  pura.  Sie  sind  als  impura  oder  mixta  anzusehen,  wenn  sie  aus 
dem  Wohl  verhalten  hergenommen  seyn,  so  daß  die  pragmatischen 
Gesezze  zu  einer  morahschen  necessitation  nicht  nöthig  seyn.  Mit  dem  23 
moralischen  Verhalten  hängen  Belohnungen  zusammen,  nach  den 
Regeln  der  Würdigkeit.  Die  moral  macht  würdig  der  Belohnungen, 
wenn  sie  auch  gleich  keine  bedarf  (das  Wörtchen  würdig  bedeutet  hier 
keine  Verdienste,  sondern  zeigt  nur  an,  daß  das  Subject  würdig  ist). 
Alle  unsere  Handlungen  bekommen  ihre  Gestalt  von  den  Bewegungs-  so 
Gründen.  Wenn  die  Handlung  aus  dem  Verhalten  hergenommen  ist, 
so  ist  sie  pragmatisch  gut,  ist  sie  aber  aus  der  Innern  bonitaet  herge- 
nommen, so  ist  sie  absolut  moralisch  gut.  Alle  moralische  bonitaet 

9ä  bedarf  keine  praemia,  wir  müßen  /  also  mit  der  moralitaet  nicht  die 
antecedentia  sondern  die  consequentia  praemia  connectiren.  All  unser  35 
Wohlverhalten  zielt  auf  das  Wohlbefinden. 


Praktische  Philosophie  Powalski  149 

Unser  Wohlverhalten  ist  der  Grund  der  praemiorum. 
Ein  Wesen  muß  einen  heiligen  Willen  haben :  1 .  Damit  es  die  praemia 
austheile,  2.  damit  es  die  Glückseeligkeit  nach  dem  Maaß  mittheile 
deßen  sich  das  Subject  würdig  gemacht  hat.  —  Wenn  wir  aber  die 
5  praemia  als  Bewegimgs  Gründe  zu  moralischen  Handlungen  anneh- 
men, so  haben  die  Handlungen  keine  moralische  bonitaet,  sondern  sie 
sind  pragmatisch.  Hieraus  ist  zu  sehen :  wenn  die  Handlungen  nicht 
eine  innre  bonitaet  haben,  so  können  sie  auch  nicht  anders  möglich 
seyn  als  nach  pragmatischen  Gesezzen.   Willkühr liehe  Gesezze  er- 

10  fordern  praemia  oder  poenas  oder  praemia  pragmatica,  die  natür- 
lichen Gesezze  aber  weder  praemia  noch  poenas,  um.  die  Nothwendig- 
keit  der  Handlungen  nach  solchen  Gesezzen  einzusehen.  Prag- 
matische Gesezze  sind  diejenigen,  die  eigenthch  nicht  die 
Gesinnungen  sondern  die  Handlungen  erfordern,  aus  was  für  einem 

ijBewegungs  Grunde  sie  auch  geschehen  mögen.  Bey  morahschen 
Gesezzen  ist  aber  ein  Bewegungs  Grund,  der  die  Gesinnungen 
nöthiget.  Praemia  können  nicht  als  ein  Geschenlc,  sondern  als  eine 
remuneration  angesehen  werden.  Eine  remuneration  heißt  eine 
Geschenksweise  ertheilte  Belohnung,  wenn  eine  Handlung  /  gratis  93 

2opraestiret  wird,  alsdenn  geziemet  ihr  eine  remuneration.  Diese 
remuneration  ist  alsdenn  ein  praemium  gratuitum.  Praemia  corrum- 
piren  das  Gemüth,  wenn  die  moralischen  Gesezze  nicht  als  Bewegungs 
Gründe  angesehen  werden.  Der  innere  Werth  verschwindet,  wenn  \Wr 
unsre  Handlungen  von  der  Seite  der  Vortheile  und  Belohnungen 

25  betrachten.  Die  moraHsche  bonitaet  bestehet  eigentlich  in  den  morah- 
schen Bewegungs  Gründen  und  der  Lust,  solche  Handlungen  aus- 
zuüben. Haben  wir  einen  pragmatischen  Bewegungs  Grund  zu  unsern 
Handlungen,  so  sind  dieselben  schlau,  klug  und  eigennüzig.  1.  Prae- 
mium   morale    muß    kein    Preiß    seyn.      2.  das    praemium 

somorale  ist  das  größte  unter  allen.  Es  kommt  einem  Wesen  zu 
deßen  Wille  heilig  ist.  Die  größte  bonitaet  ist  die  innerHche.  Die  Aus- 
theilung  der  Glückseeligkeit  muß  dem  practischen  guten  Verhalten 
gemäß  seyn.  Der  Höchste  Grad  des  Wohlverhaltens  ist  das  moralische 
Wohl  verhalten.  Wir  machen  uns  würdig  der  praemiorum,  die  wir 

35  hoffen,  wenn  wir  sie  nicht  als  Bewegungs  Gründe  annehmen.  Die  innere 
bonitaet  würde  also  darinn  bestehen,  w^enn  die  Vortrefflichkeit  der 
Belohnungen  nicht  die  Bew^egungs  Gründe  zu  unsern  Handlungen  sind. 
Die  praemia  remunerantia  oder  brabeutica  sind,  die  denen  zutheil 
werden,  bey  denen  sie  nicht  die  Bewegungs  Gründe  zu  Handlun/gen  94 


150  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

waren.  Wenn  etwas  betrachtet  wird,  als  ein  Grund  die  Hinderniße 
abzuhalten,  so  sind  die  Belohnungen  das  coniplementum  der  motiven 
der  Sittlichkeit,  und  zwar  aus  moralischen  Gründen.  —  Merces 
bedeutet  das  praemium,  das  dem  gratuito  praemio  opponiret  ist. 
Merces  ist  das  praemium,  zu  deßen  Austheilung  jemand  verbunden  5 
ist.  Erhalten  wir  ein  praemium  aus  der  Willkühr  eines  andern,  so  er- 
halten wir  ein  praemium  gratuitum. 

Von  der  Strafe. 

Eine  Strafe  ist  ein  Physisches  Uebel,  deßen  Grund  ein 
practisches  böse  ist.  Nichts  ist  in  der  Natur  schlechthinio 
böse,  böse  ist  das  was  in  aller  i\.bsicht  mißfällt,  Uebel 
was  in  Ansehung  der  Sinne  oder  Empfindungen  mißfällt. 
Alles  physische  Uebel,  deßen  Grund  ein  practisches  böse  ist,  heißt  eine 
Strafe.  Der  vorsezlichen  Uebertretung  des  Gesezzes  correspondiret  die 
Strafe,  omnes  poenae  sunt  vel  pragmaticae  vel  morales.  Die  i5 
moralischen  Strafen  strafen  ein  moralisches  böse,  die  pragmatischen 
poenae  dienen  aber  oft  nur  zu  Mitteln,  ein  andres  böse  abzuhalten. 
Die  poenae  pragmaticae  haben  den  Werth  der  Mittel.  Die  moralischen 
Strafen  haben  eine  unmittelbare  die  pragmatischen  Strafen  mittelbare 
95  Noth wendigkeit,  /  omnes  poenae  morales  sunt  vindicativae.  In  der  20 
Politic  haben  die  Strafen  keine  andre  Nothwendigkeit  als  so  fern  sie 
dienen  böse  Thaten  abzuhalten.  Auf  das  vorsezliche  böse  paßt  eine 
poena  vindicativa.  Der  Mensch  wird  mit  dem  Tode  gestraft,  nicht  daß 
er  sich  beßern  und  den  andern  zum  Beyspiel  dienen  möchte,  sondern 
weil  er  ein  Verbrechen  begangen  hat.  —  25 

Omnes  poenae  pragmaticae  sunt  correctivae.  Punitur  secundum 
poenam  vindicativam  quoniam  peccatum  est,  secundum  pragmaticam 
infligitur  poena  ne  peccetur,  et  haec  est  illa  poena  correctiva.  Die 
poenae  vindicativae  sunt  vel  animadversiones  vel  exemplares. 

Wenn  einer  durch  die  Strafe  corrigirt  wird  so  ist  es  eine  Züchtigung.  30 
Jede  poena  exemplaris  ist  ungerecht,  wenn  sie  nicht  als  poena  vindica- 
tiva gerecht  ist.  Einen  Menschen  kann  ich  nicht  als  ein  Mittel  ge- 
brauchen, denn  er  hat  immer  den  Werth  eines  Zwecks.  Nach  den 
Regeln  der  Klugheit  werden  immer,  wenn  man  nicht  die  moralitaet  zu 
Hülfe  ziehet  poenae  correctivae  seu  pragmaticae  ausgetheilet.  Die  35 
Strafe  die  als  vindicativa  zu  hart  ist,  die  ist  als  correctiva  (mehren- 
theils)  ungerecht. 


Praktische  Philosophie  Powalski  151 

Ein  jeder  Fehler  führt  eine  Schuld  bey  sich,  bey  einer  Bosheits 
Sünde  ist  mehr  eine  poena  vindicativa  als  correctiva.  Wenn  sie  aber 
correctiva  ist,  so  ist  sie  mehr  exemplaris  als  animad versa.  In  dem 
Staat  wo  pragmatische  Strafen  nothwendig  sind,  betrachten  wir  die 
5  Handlungen  nicht  nach  den  Gesinnungen  sondern  äußerlich,  denn 
hier  wird  gar  nicht  auf  die  moralitaet  gesehen.  Daß  Böses  um  der 
Strafe  willen  unterlaßen  wird,  hat  keinen  moralischen  sondern  prag- 
matischen Bewegungs  Grund.  Wenn  die  Strafe  ein  Mittel  ist  das  Böse 
nicht  zu  thun,  dann  ist  sie  /  nicht  moralisch  gut.  Durch  Strafe  kann  9fi 

10  man  nicht  die  Gesinnungen  sondern  die  Handlungen  der  Menschen 
hervorbringen.  Wenn  der  Geist  der  Göttlichen  Gebote  die  moralitaet 
ist,  so  sind  sie  gar  nicht  leges.  Belohnungen  und  Strafen  afficiren  die 
moralitaet  gar  nicht  sondern  sie  machen  sie  practisch,  Sie  dienen  nur 
zu  Triebfedern  weil  sie  keine  Bewegungs  Gründe  sind,  dagegen  diese 

15  nur  aus  der  bonitaet  und  pravitaet  der  Handlungen  herkommen. 
Belohnungen  machen  eine  Handlung  nicht  moralisch  sondern  prag- 
matisch gut,  Strafen  hingegen  machen  sie  nicht  moralisch  sondern 
pragmatisch  böse.  Die  Belohnung  ist  nicht  ein  monument  sondern  eine 
äußere  acceßion.  Belohnungen  und  Strafen  müßen  mit  moralischen 

20  Gesezzen  verbunden  werden ;  sie  müßen  aber  nicht  als  praemißae 
sondern  als  consectaria  betrachtet  werden.  Sobald  wir  eine  Handlung 
betrachten  und  sie  für  moralisch  gut  halten,  so  muß  die  innere  boni- 
taet allein  die  Triebfeder  seyn.  Belohnungen  zu  praemißen  der  prac- 
tischen  Gesezze  machen,  heißt  einen  animum  mercenarium  gründen, 

25  oder  auch  eine  Indolem  servilem,  beyde  zusammen  heißen  Indoles 
abjectae.  Indoles  abjecta  ist  wo  man  durch  keine  causam  impulsivam 
als  durch  Trieb  der  Sinnlichkeit  angetrieben  wird,  diese  wird  auch 
Indoles  indirecta  genannt.  Indoles  directa  ist,  wenn  wdr  durch  die 
Bewegungs  Gründe  des  Verstandes  zu  einer  Handlung  bewegt  werden. 

30      Es  ist  sehr  vortreflich,  die  leges  morales  als  Gebote  Gottes  zu  be- 
trachten, denn  sie  sind  auch  Gebote  eines  allerhei/ligsten  und  alles  or 
vermögenden  Willens.  Dadurch  bekommen  die  moralischen  Gesezze 
ihre  Vollkommenheit,  aber  nicht  von  der  objectiven  Seite.  Die  mora- 
lische Vollkommenheit  kann  vor  sich  selbst  eingesehen  werden.  Der 

35  Mensch  hat  aber  auch  zugleich  eine  Sinnlichkeit  und  Empfindsamkeit, 
wodurch  er  entweder  glücklich  oder  unglücklich  wird.  Sofern  die 
moralischen  Gesezze  als  praecepta  divina  betrachtet  werden,  sofern 
sind  auch  zugleich  die  Belohnungen  und  Strafen  damit  verbunden.  Die 
moralische    Belohnungen    sind    die    echten    und    unvergänglichen, 


152  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

dahingegen  die  andern  sehr  abgemeßen  sind,  weil  sie  nur  dazu  dienen, 
um  einen  zu  einer  Handlung  zu  bewegen  —  damit  wir  uns  der  mora- 
lischen Belohnung  würdig  machen,  so  müßen  die  moralischen  Be- 
wegungs  Gründe  durch  die  innere  bonitaet  der  Handlungen  vorgestellt 
werden.  Die  moralischen  Belohnungen  können  nichts  anders  seyn  als  5 
die  Bestätigung  der  Handlungen.  Wenn  aber  die  Belohnungen  und 
Strafen  Antriebe  zur  moraUschen  Handlung  sind,  so  machen  sie  die 
Indolem  servilem  aus.  Die  Belohnungen  sind  das  was  aus  placentibus 
hergenommen  ist.  Wir  bekommen  eine  Lust  zu  einer  solchen  Hand- 
lung, welche  uns  Belohnungen  verspricht  (schafft) ;  Bestrafungen  aber  10 
hat  kein  Mensch  gerne  und  dieser  Unwille  fällt  einigermaßen  auf  das 
Gesezz  und  das  Gesezz  kann  nur  aus  ausgebreitetem  Reize  gefallen. 
Alle  Straf  Gesezze  sind  Sinnliche  Antriebe  und  sind  von  der  Art,  daß 
sie  die  Morahtaet,  indem  sie  das  Gemüth  auf  Belohnungen  erpicht 
machen,  verderben.  Die  Belohnungen  machen  auch  einem  solchen.  i:> 
98  bey  dem  sie  nicht  als  BewegungsGründe  dienen,  /  den  Gesezzgeber  und 
die  moralischen  Gesezze  angenehm  und  liebenswürdig.  Die  Strafen 
sind  eigentlich  Mittel  wider  das  sclavische  Gemüth.  Das  Gemüth  wird 
auch  Sclavisch,  wenn  auf  die  moralische  Gesezze  gleich  die  Strafe 
folgt.  Die  Strafen  sind  verschiedentlich  einige  bestehen  in  der  Be-  20 
raubung  und  heißen  poenae  damni,  andre  sind  poenae  sensus,  da  wir 
nicht  das  Glück  sondern  ein  Uebel  welches  wir  noch  nicht  empfunden 
haben,  erhalten,  das  nicht  bloß  darinn  bestehet,  daß  wir  einer  Glück- 
seeligkeit  nicht  theilhaftig  werden,  sondern,  daß  wir  derselben  ganz 
verlustig  gehen,  wir  erkennen  es  aber  nicht,  weil  wir  ein  solches  Leben  25 
führen,  wir  empfinden  aber,  daß  eine  solche  Veränderung  vorgeht, 
wenn  wir  betrachten,  daß  wir  es  verlangen  —  Die  paritas  bedeutet  die 
Straflosigkeit.  Bey  einer  gerechten  Person  ist  alles  strafbar  was 
sträfHch  ist.  Wer  das  vor  straffrey  erkläret,  was  strafbar  ist,  der 
erklärt  das  für  erlaubt,  was  an  sich  verächtlich  und  verbothen  ist.    30 


Von  der  Zurechnung 

Es  ist  ein  Unterschied  zwischen  diesen  zwey  Urtheilen,  ob  einem 
Subject  was  zugeschrieben  oder  zugerechnet  wird.  Es  ist  also 
nicht  einerley  Begriff  und  Causa  actionis  alicuis  per  libertatem.  oder 
aliquem  iudicare  ut  causam  cuius  actionis  per  libertatem,  heißt  alicui  35 
adscribere.  Diese  Zuschreibung,  wenn  ich  sie  urtheile,  ist  von  der 
Zurechnung  weit  unterschieden.  Alle  Imputationes  sofern  sie  als 


Praktische  Philosophie  Powalski  153 

Zurechnung  verstanden  werden,  sind  ein  Judicium  über  freye  Hand- 
lungen, insofern  sie  als  /  meritum  oder  demeritum,  als  Verdienst  oder  9» 
Schuld  betrachtet  werden.  Es  ist  also  die  Zuschreibung  einer  Handlung. 
Wir  müßen  zugestehen  daß  der  juridische  Gebrauch  der  Imputa- 

5  tionum  so  gebräuchlich  ist,  daß  ich  jemanden  als  einen  Thäter  der 
Handlungen  ansehe  ohne  zu  sehen,  ob  es  ein  Verdienst  oder  Schuld 
sey,  alsdenn  sind  die  Imputationes  moralisch  indifferent,  sie  sind  als 
Schuld  moralisch  unrecht,  als  Verdienste  aber  sind  sie  ethisch  recht. 
Bey  Zurechnungen  muß  vorher  gesezt  werden,  ob  eine  Handlung 

]o  meritum  oder  demeritum  ist.  ZE.  man  kann  die  Narbe  oder  wenn 
einem  Menschen  ein  Gliedmaßen  ist  abgenommen  worden  dem  Chir- 
urgus  zurechnen,  aber  man  schreibts  ihm  nicht  zu,  weil  er  daran  nicht 
Schuld  hat. 

Alle   Handlungen   der   Schuldigkeit   sind   von  der   Art,   daß   die 

15 Beobachtung  derselben  weder  eine  Verdienst  noch  eine  Schuld  ist; 
denn  ich  habe  nicht  etwas  gethan  was  positiv  moralisch  gut  oder  böse 
ist,  sondern  was  negativ  gut  ist.  Dieses  ist  dasjenige  was  der  Regel  des 
Rechts  nicht  wiederstreitet.  Es  ist  nichts  mehr  als  eine  Handlung,  die 
nur  bloß  mit  Regeln  des  Rechts  übereinstimmt.  In  sensu  stricto  findet 

20  die  Zurechnung  bey  einer  Handlung  die  man  seiner  Schuldigkeit 
gemäß  gethan  hat,  auf  keine  Weise  statt.  Denn  dieses  ist  weder  ein 
meritum  noch  ein  demeritum,  —  Wenn  ein  Mensch  thut  was  Recht  ist, 
so  können  ihm  keine  von  allen  Folgen,  weder  die  guten  noch  die  bösen, 
zugerechnet  werden.  Es  wird  durchaus  gefordert  daß  ein  Mensch 

25  moralisch  frey  sey,  wenn  ihm  etwas  stricte  soll  zugerechnet  werden. 
Eine  jede  Handlung,  so  fern  sie  durchs  Recht  den  Menschen  neceßi- 
tiret,  in  /  Ansehung  deren  ist  der  Mensch  nicht  frey.  Alle  Handlungen  loo 
in  Ansehung  deren  wir  nicht  moralisch  frey  seyn,  die  können  uns  auch 
nicht  moralisch  imputiret  werden,  weder  als  meritum  noch  als  de- 

30  meritum.  2.  Die  practische  Imputation  ist,  wenn  jemand  eine  Ur- 
sache der  WilLkührliclikeit  durch  seine  Freyheit  ist,  oder  in  Ansehung 
derer  der  Mensch  frey  vom  physischen  zwange  war,  und  dieses  nennt 
man  die  Imputatio  facti.  Hier  ist  nicht  die  Frage,  ob  es  als  meritum 
oder  demeritum  soll  imputirt  werden,  sondern  ob  es  überhaupt  soll 

35  imputiret  werden.  Die  Imputatio  facti  beruhet  auf  dem  Verhältniß 
der  Handlung  zu  einer  practischen  Bedingung,  die  Bedingung  ist 
practisch  so  ferne  sie  eine  Freyheit  ist.  Die  Imputatio  legis  ist  die 
Anwendung  der  Gesezze,  entweder  als  ein  meritum  oder  demeritum. 
Hierdurch  ist  insbesondere  die  Juridische  Imputation  zu  verstehen. 


154  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

Die  Imputatio  Juridica  ist  das  wo  ich  urtheile  und  nicht  bloß  eine 
Handlung  betrachte,  wie  sie  aus  der  Freyheit  entlehnet  ist,  sondern 
wie  sie  mit  den  juridischen  Gesezzen  zusammenhängt,  und  dieses 
Urtheil  ist  die  Imputatio  legis.  Bey  der  Imputatio  legis  kommen  die 
morahschen  Gesezze  vor.  Der  Autor  einer  Handlung  ist  nicht  derjenige  5 
dem  sie  practisch  sondern  dem  sie  moralisch  kann  imputiret  werden. 
Die  Handlung  ist  ein  factum  das  juridisch  betrachtet  werden  kann. 
Eine  jede  Handlung  ist  ein  factum  sofern  sie  mit  den  moralischen 
Gesezzen  in  Verknüpfung  stehet.  Expositio  facti  bedeutet  die  Vor- 

101  Stellung  von  allen  Thaten  die  man  aus/geübt  hat  und  die  alle  ver-  lo 
antwortet  werden.  Ehe  etwas  als  ein  factum  in  sensu  iuridico  soll 
betrachtet  werden,  muß  es  erstlich  als  ein  factum  in  sensu  practico 
(betrachtet)  erwogen  werden.  Die  Imputatio  hat  zwey  Theile. 
1.  Sofern  ich  sie  als  eine  freye  Handlung  betrachte,  denn  heißt  sie 
Imputatio  facti,  2.  Sofern  ich  sie  im  Verhältniß  auf  ein  Gesezz  be- 15 
trachte,  oder  sofern  ich  sie  zu  gleicher  Zeit  als  ein  Gesezz  auf  die 
Handlung  applicire,  denn  heißt  sie  Imputatio  legis.  Alles  das  wobey  ich 
bloß  leidend  bin,  das  kann  mir  nicht  imputiret  werden,  auch  nicht 
einmahl  practice,  denn  es  kann  nicht  betrachtet  werden,  als  wenn  es 
aus  der  Freyheit  entsprungen  sey.  Alles  das,  wobey  ich  moralisch  20 
leidend  bin,  das  kann  mir  auch  nicht  imputiret  werden,  denn  ich  bin 
nicht  moralisch  frey.  Eine  Handlung  dazu  ich  juridisch  genöthiget  bin, 
die  kann  mir  auch  nicht  imputiret  werden,  denn  ich  bin  nicht  moralisch 
frey.  Ueberhaupt  kann  eine  Handlung,  die  einem  Zwangs  Gesezze 
gemäß  ist.  niemandem  weder  als  ein  meritum  noch  demeritum  impu-  25 
tiret  werden   —   Die  Zurechnung  erfordert  daß  ich  den  Menschen 
betrachte  ob  er  der  Urheber  sey  —  Dasjenige  was  einem  Gesezz  zu- 
wieder  ist,  das  kann  einem  imputirt  werden,  denn  dies  ist  eine  That. 
Einem  nöthigenden  Gesezz  sich  gemäß  verhalten,  wenn  ich  bloß  das 
thue,  was  meine  Schuldigkeit  erfordert,  so  kann  mir  das  nicht  impu-  so 
tiret  werden,  weil  ich  dabey  nicht  moralisch  frey  bin.  —  Derjenige  der 
einem  juridischen  Gesezz  zuwieder  handelt,  begeht  auch  eine  That,  weil 
er  der  nöthigenden  I^aft  des  Gesezzes  wiederstreitet.  Was  einer  zu- 

103  fälligen  Regel  gemäß  geschiehet  ist  eine  that,  /  und  kann  imputirt 
werden.  Was  hingegen  einer  zufälligen  Regel  wiederstreitet  ist  keine  35 
That,  und  kann  deswegen  auch  nicht  imputiret  werden.  Und  so  ver- 
hält es  sich  auch  mit  einer  zufälligen  moralischen  Regel. 

Die  Zurechnung  findet  überhaupt  statt,  sofern  ich  wieder  ein  Gesezz 
handle.  Die  Unterlaßung  einer  Handlung,  zu  der  ich  durch  kein  iuri- 


Praktische  Philosophie  Powalski  155 

disches  Gesezz  verbunden  bin,  die  kann  mir  auch  gar  nicht  juridisch 
iniputiret  werden.  Alle  Handlungen  sind  imputable 

1.  Sofern  sie  einem  Geboth  oder  Verboth  zuwieder  sind,  und 

2.  Sofern  sie  nach  moralischen  Gesezzen  frey  sind. 

5  Die  nothwendigen  Gesezze  sind  bloß  die  juridischen.  Wenn  ich 
einem  Gesezz  das  nicht  ein  Zwangs  Gesezz  ist  zuwiederhandle,  das 
kann  mir  gar  nicht  imputiret  werden,  weil  es  keine  That  ist.  Hingegen 
Handlungen,  die  den  juridischen  Gesezzen  wiederstreiten,  die  können 
imputiret  werden.  Wenn  hingegen  ein  factum  neceßitirt  ist  per  legem 

10  iuridicum,  so  kann  es  gar  nicht  imputiret  werden.  Wenn  einem  etwas 
als  ein  factum  imputirt  wird,  so  können  ihm  auch  alle  Folgen  bis  ins 
unendliche  imputiret  werden. 


Die  Imputation  ist  von  Dreyerley  Art,  die  unter- 
schieden  werden   müßen 

15      1.  Imputatio    practica.  Dadurch  etwas  nach  freyen  Gesezzen 
imputirt  wird. 

2.  Imputatio  iuridica.  Hier  ist  die  Frage  ob  eine  gewiße  Hand- 
lung geschiehet,  welche  ein  factum  datae  legis  ist. 
/3.  Imputatio    moralis  generaliter  da  etwas  nach  moralischen  los 
20  Gesezzen  imputirt  wird. 

a.  Was  ich  mehr  oder  weniger  gutes  thue,  als  meine  Schuldigkeit  ist, 
das  kann  mir  imputiret  werden.  Was  ich  einem  in  einer  Wohlthat 
erweise,  da  kann  mir  die  Wohlthat  und  alle  ihre  Folgen  zugerechnet 
werden.  Was  ich  aber  weniger  thue  als  meine  Schuldigkeit  ist,  das 
25  kann  mir  als  ein  demeritum  sammt  allen  Folgen  imputiret  werden, 
das  ist,  ich  kann  als  autor  alles  des  Uebels  angesehen  werden.  Die 
commißiones  und  omißiones  sind  facta.  Die  Unterlaßung  der  juri- 
dischen Gesezze  ist  eine  That.  In  Ansehung  der  Handlung  die  da 
geschiehet  bin  ich  nicht  frey,  die  kann  mir  auch  nicht  imputiret  wer- 
30  den.  Verdienst  und  Schuld  beruhen  nur  auf  diesen  zwo  stükken : 

a.  Ein  Meritum  haben  sie  im  Jure  gar  nicht,  ein  ineritum  ist  nur 
ethisch,  denn  im  jure  wird  von  nichts  als  von  der  Schuld  geredet.  Die 
Handlung  ethisch  erwogen  ist  ein  meritum. 

ß.   Schuld  kann  wieder  ethisch  nicht  stattfinden,  nur  juridisch, 
35  Schuld  gehört  nur  bloß  zu  dem  iure.    Die  Unterlaßung  einer  groß- 
müthigen  Handlung  ist  keine  Schuld,  denn  eine  Schuld  sezt  immer  ein 
Unrecht  zum  voraus. 


156  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

b.  Imputatio  practica  bedeutet  nur  die  Bestimmung  einer 
Handlung,  als  gemäß  den  Gesezzen  der  Freyheit  überhaupt,  dieses 
ist  eigentlich  die  Imputatio  facti  und  nicht  legis.  Hier  wird  beständig 
gefragt,  ob  etwas  aus  Freyheit  entspringt  (wenn  ein  rasender  Mensch 

104  oder  ein  unmündiges  Kind  etwas  thut,  das  kann  ihm  nicht  imputirt  /  ä 
werden)  man  sagt  eigentlich  nicht  jemandem   eine  Handlung   zu- 
rechnen, sondern  wenn  ich  das  Wort  eigentlich  nehme  eine  Wirkung 
zurechnen.  Die  Handlungen  werden  im  eigentlichen  Verstände  bey- 
gemeßen.  Hier  muß  noch  betrachtet  werden  die  Imputatio  facti.  Die 
varia  die  bey  einem  facto  zu  attendiren  sind,  sind  Beschaffenheiten  lo 
die  den  Grund  von  der  Imputatione  facti  enthalten.  Das  Moment  eines 
Grundes  heißt  der  Anfang  eines  Grundes,  oder  was  als  ein  theil  vom 
ganzen  betrachtet  wird.  Ein  einfacher  Grund  heißt  also  ein  Moment. 
Ein  Momentum  facti  ist  nicht  etwas  was  aus  jemandes  Freyheit  ent- 
sprungen ist.  Es  kann  auch  etwas  seyn  zE.  in  den  Gesezzen,  was  nicht  15 
ein  moment  von  einem  Grunde  ist,  indeßen  siehet  man  wohl,  daß  man 
das  moment  beym  Anfange  nicht  einsehen  kann.  —  Das  was  nicht  ein 
Grund  von  einem  facto  ist,  heißet  extra  eßentiale.  Die  Eßentialia  sind 
die,  welche  als  Theile  zum  ganzen  den  Grund  des  facti  ausmachen, 
wenn  man  die  momenta  der  factorum  zusammen  nimmt,  so  machen  sie  20 
die  species  des  facti  aus.  Facta  schlechthin  nennt  man  auch  die  species 
facti.  Ein  Verbrechen  nennt  man  ein  Delictum.  Das  Delictum  aber 
mit  allen  seinen  Zeichen,  das  corpus  delicti,  sonsten  die  unmittelbare 

105  Wirkung  des  Ver/brechens  selbst.  Nichts  kann  imputirt  werden  als 
was  frey  ist.  Sind  sie  nicht  facta  so  sind  sie  auch  nicht  actiones  liberae.  25 
Eine  wieder  willen  geschehene  Handlung  kann  nicht  imputirt  werden, 
aber  eine  freye  Handlung  eine  actio  ab  ignominia  iUicita  kann  impu- 
tirt werden,  umnittelbar  ist  dieses  kein  factum  aber  mittelbar.  Irr- 
thum  und  Unwißenheit  gilt  nicht,  es  se*  daß  sie  nach  Gesezzen  er- 
laubt sind.  Doch  wenn  etwas  dem  Zufaü  oiputirt  wird,  so  wird  das-  30 
jenige  imputirt,  was  nicht  in  unserer  Gewalt  ist,  was  die  concurrenz  in 
der  physischen  Ursache  ist.  Heißt  da?  beimeßen  dem  Schicksal,  oder 
ist  es  ein  meritum  sortis,  hingegen  wei  einem  Menschen  nichts  gelingt, 
ist  das  demeritum  sortis  ?  Es  sind  gewiße  Folgen  die  aus  der  Freyheit 
des  Menschen  hergeleitet  werden,  und  diese  heißen  consectaria  facti  35 
moralia.  Es  giebt  gewiße  Consectaria,  welche  durch  die  Gewalt  des 
andern  können  vorher  gesehen  werden.  In  Ansehung  aller  Dinge, 
welche  Folgen  haben,  muß  ein  jeder  pünktlich  nach  den  Gesezzen 
handeln.  Die   Imputatio  selbst  kann  betrachtet  werden,  entweder 


Praktische  Philosophie  Powalski  157 

als  moralisch  gewiß  oder  bloß  als  wahrscheinlich.  Die  Imputa- 
tio  demeriti  kann  sich   auf  Wahrscheinlichkeit  gründen,  bey  einer 
imputatione  meriti  findet  sie  aber  nicht  statt,  denn  da  muß  die 
größte  Gewißheit  sej^i. 
5      /  Der  Hauptgrund  aller  Handlungen  ist,  daß  man  nicht  dem  Recht  loc 
wiederstreiten  soll.  Der  Thäter  kann  nicht  immer  ein  Urheber  genannt 
werden.  Eine  That  kann  bisweilen  bloß  practisch  erwogen  werden. 
Wenn  man  jemand  eine  Handlung  beymeßen  will,  so  fragt  man : 
1.)  Nach  der  practischen  Ursache  oder  nach  dem  Thä- 

10  ter. 

2.)  Nach  der  moralischen  Ursache  oder  nach  dem  Ur- 
heber. 

Das  was  ich  thue  nach  der  Willkühr  eines  andern,  dem  ich  völlig 
unterworfen  bin,  das  kann  mir  nicht  imputiret  werden,  und  ich  kann 

15  auch  nicht  als  ein  Autor  davon  angesehen  werden.  Es  giebt  aber  auch 
Handlungen,  wozu  ich  durch  keines  andern  Willkühr  kann  gezwungen 
werden.  In  Ansehung  deßen  Jemand  nicht  frey  ist,  entweder  practisch 
oder  moralisch,  das  kann  ihm  auch  nicht  imputiret  werden.  Hand- 
lungen können  aber  imputirt  werden,  die  so  beschaffen  sind,  daß  sie 

20  den  moralischen  Gesezzen  entgegen  seyn.  Zu  einer  Handlung  können 
sehr  viele  eoncurriren.  Bey  dieser  Concurrenz  muß  aber  doch  immer 
ein  Autor  principalis  seyn ;  sie  eoncurriren  zu  einer  Handlung  sofern 
sie  sich  coordiniret  oder  subordiniret  seyn.  Diejenigen  welche  nieman- 
dem coordiniret  oder  subordiniret  sind,  sofern  einer  von  diesen  er- 

25  wiesen  wird,  daß  er  als  causa  moralis  betrachtet  werden  kann,  so  wird 
ihm  die  causa  facti  provisionis  ganz  imputirt.  Derjeni/ge  der  etwas  lor 
befiehlt  ist  anzusehen  als  causa  moralis  oder  auctor  facti,  derjenige  der 
etwas  verbiethet,  kann  auch  als  causa  moralis  betrachtet  werden. 
Was  man  einem  andern  L^iiehlt  zu  thun,  das  wird  so  angesehen  als 

30  wenn  man  es  selbst  gethan  hätte,  denn  dieses  ist  actio  libera,  und  anzu- 
sehen Avie  eine  causa  mor. 

Wenn  jemand  zu  einer  bc  jn  Handlung  einstimmt,  der  kann  auch 
nicht  als  ein  auctor  angesehen  werden.  ZE.  wenn  jemand  sich  vor- 
nimmt die  Absicht  zu  haben  seine  Schuld  nicht  zu  bezahlen,  und  er 

35  offenbaret  das  einem  andern,  der  auer  dazu  ganz  schweigt :  so  ist  dieser 
nicht  anzusehen  als  causa  moralis,  aber  gesezt  er  gebe  ihm  noch  Geld 
zur  Reise,  dann  ist  er  als  ein  auctor  anzusehen,  weil  er  dazu  concurriret. 
Wenn  aber  jemand  einem  Anschlage  den  andere  machen  nicht  wieder- 
spricht, der  kann  nicht  als  der  Autor  davon  angesehen  werden.  Con- 


X58  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

currirende  Ursach  ist  wie  ein  Mitautor  anzusehen.  Eine  Handlung 
wird  allemahl  nach  dem  Maaß  imputiret,  je  mehr  man  dabey  Freyheit 
ausübt.  Je  größer  die  Freyheit  ist,  mit  der  jemand  eine  Handlung 
ausübt,  desto  mehr  actus  der  Freyheit  übt  er  aus,  oder  desto  mehr 
kann  ich  ihm  das  factum  imputiren.  Jemand  übt  einen  großen  Grad  5 
der  Freyheit  und  der  Willlcühr  aus,  wenn  er  wieder  das  Gesezz  handelt. 
Jemehr  jemand  aus  Vorsazz  getlian,  mit  desto  größerer  Freyheit  hat 
er  es  gethan.  Jemehr  jemand  mit  Vorhersicht  gethan  hat,  desto  mehr 

108  kann  ihm  die  Handlung  imputiret  werden,  /  und  sie  kann  ihm  noch 
mehr  imputiret  werden,  wenn  er  sie  mit  Vorhersicht  aller  ihrer  Folgen  10 
thut.  Wenn  ich  etwas  aus  Unwißenheit  thue,  kann  es  mir  imputiret 
werden,  so  viel  als  wenn  ich  es  mit  Bewußtseyn  thue.  Eine  Absicht 
wobey  der  Vorsazz  ist  einem  Gesezze  zu  wieder  zu  handeln,  die  nennet 
man  die  Boßheit.  Je  mehr  man  Absicht  gehabt  hat  wider  ein  Gesezz  zu 
handeln,  desto  größer  ist  die  Boßheit.  Desto  mehr  Tugend  ist  aber  bey  ]5 
der  Handlung,  je  mehr  Absicht  jemand  auf  das  gute  gehabt  hat.  Was 
directe  einem  Gesezze  wiederstreitet,  das  kann  mehr  imputiret  werden, 
als  das  was  ihm  indirecte  wiederstreitet. 

Je  mehr  der  Wille  zum  Zweck  hat  das  böse  auszuüben,  desto  mehr 
kann  es  ihm  imputiret  werden.  Wenn  man  aber  den  Willen  als  ein  20 
Mittel  zum  bösen  hat :  so  wird  es  einem  nicht  so  sehr  imputiret.  Es  sind 
zwo  Seiten,  von  welchen  man  die  Handlungen  der  Menschen  betrach- 
ten kann: 

1.  Als  Phaenomena  und  2.  als  Spontaneae  nach  den  objectiven 
Gesezzen.  Wenn  jemand  auch  von  Natur  einen  großen  Hang  zum  25 
bösen  hat,  so  sieht  man  ihn  doch  als  ein  freyes  Wesen  an.  Wir  müßen 
von  der  Natur  des  Menschen  abstrahiren,  sobald  wir  an  die  allgemeine 
practische  Gesezze  kommen.  In  Ansehung  der  moralischen  Gesezze  gilt 
keine  restriction  oder  Einschränkung  des  Temperaments,  denn  sie 
sind  Gesezze  der  freyen  Willl^ühr,  und  gehen  nur  auf  die  Absichten.  30 
Man  nennt  solches  nicht  ein  Boshaftes  Gemüth,  welches  als  Mittel  den 
moraHschen  Gesezzen  wiederstreitet,  sondern  das,  was  zur  Absicht  hat 
wieder  sie  zu  handeln.  Desto  mehr  kann  eine  Handlung  imputiret 
werden,  je  boshafter  das  Gemüth  ist.  Der  Mensch  deßen  Willen  unmit- 

109  telbahr  böse  /  ist,  der  ist  ein  Boshafter.  Die  Handlungen  die  ein  Mensch  35 
unterläßt,  weil  sie  schwer  sind  auszuüben,  die  werden  ihm  nicht  so  sehr 
imputiret.  Ein  Mensch  der  von  Natur  böse  ist,  der  ist  strafbarer  als  ein 
anderer,  denn  wir  Menschen  sind  befugt  die  moralischen  Gesezze  durch 
die  Bedingungen  des  Subjects  zu  restringiren.  Die  moralischen  Ge- 


Praktische  Philosophie  PoAvalski  159 

sezze  sind  nicht  inclulgent ,  auch  nicht  so  beschaffen,  (Uxß  sie  partlieyisch 
seyn  könnten,  sondern  sie  imperiren  überall  ohne  Unterschied.  Auf 
keine  Weise  können  wir  die  angebohrne  Boßheit  für  weniger  strafbar 
halten.  Die  Menschliche  Natur  wird  als  infirnia  und  fragilis  betrachtet. 
5  Die  infirmitas  der  Menschlichen  Natur  ist,  daß  sie  niemahls  die 
moralische  Handlungen  rein  machet.  Das  geistliche  Gesezz  befiehlt 
nicht  die  Demiith  sondern  es  macht  mutig.  Das  Gesezz  der  puren 
Philosophie  aber  macht  stolz,  dahero  die  alten  Philosophen  daßelbe 
so  wohl  als  das  Evangelium  in  ihrer  Philosophie  gar  nicht  anbrachten. 

10  Daher  mißt  man  der  Menschlichen  Natvu'  das  bey,  daß  die  Handlungen 
der  Menschen  in  Ansehung  der  Moral  unrein  sind.  Unsere  Natur  ist 
zur  sittlichen  Reinigkeit  nicht  fähig,  kein  Geschöpf  kann  aber  auch 
heilig  seyn.  Des  Menschen  seine  Volllvommenheit  ist  Tugend,  aber 
doch  nicht  Heihgkeit,  und  sein  Zustand  da  er  über  seine  Leidenschaften 

15  herrschet,  der  Zustand  der  Klugheit.  Wenn  unsere  Handlungen  mit 
den  moralischen  Gesezzen  verglichen  werden,  so  geben  sie  dennoch 
nicht  viel  nach,  obgleich  unsere  Natur  sehr  schwach  ist.  Die  Schwäche 
rührt  von  der  Stärke  des  Beliebens  wieder  die  moralischen  Gesezze  zu 
handeln,  die  Freyheit  von  der  Natur  macht  nothwendig,  daß  wir  uns 

20  jedes  objective  Gesezz  einprägen,  wir  mögen  schwach  seyn  wie  wir 
wollen.  Die  fragilitas  der  Menschlichen  Natur  ist  etwas  positives,  die 
nicht  vom  Mangel  der  sittlichen  Reinigkeit  der  Handlungen,  sondern 
von  einem  Hang  zum  bösen  herrührt  (Ein  Mensch  hat  eine  große 
Neigung  sich  selbst  geltend  zu  machen,  sich  dasjenige  anzumaßen, 

25  was  /  man  in  Ansehung  seiner  dem  andern  nicht  gönnen  würde.)  Wir  iio 
haben  zwar  einen  Hang  zum  bösen,  aber  kein  Hang,  keine  Neigung 
kann  es  machen,  daß  wir  nothwendig  das  böse  wählen  sollen. 

Imputatio    legis   im   juridischen   Verstände   ist   die   applicatio 
legis  ad  factum. 

30  Die  Imputatio  legis  ad  factum  ist  eigentlich  die  Subsumtion  einer 
Handlung  unter  moralischen  Gesezzen.  Das  Judicium  wodurch  ich 
urtheile,  daß  ein  factum  ein  Fall  sey,  ist  die  Imputatio  legis.  Wenn  das 
factum  im  juridischen  Verstände  aufgeführet  ist,  so  ist  es  noch  nicht 
ausgemacht,  aus  welchem  Gesezze  es  entsprungen  ist. 

35  Wenn  das  Gesezz  bestimmt  ist  auf  gewiße  Handlungen,  so  ist  die 
Handlung  welche  in  allen  Stükken  mit  dem  Gesezze  übereinkommt, 
ein  Casus  internus.  Die  Imputatio  legis  ist  entweder  valida  aut  in- 
valida.  Validus  bedeutet  hier  Rechtskräftig.  Ein  jeder  actus  heißt 
jure  validum  der  eine  Rechtskraft  hat.  Es  giebt  Zurechnungen  die 


160  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

bloß  äußerlich  und  speculative  seyn.  Derjenige  der  das  Recht  hat 
valide  zu  imputiren,  heißt  der  Richter.  Es  ist  auch  ein  Judex  compe- 
tens.  Es  sind  auch  Richter  die  nicht  Recht  haben  zu  richten.  Wir  haben 
zwey  fora  competentia. 

1.  Forum  humanuni  und  2.  Forum  divinum.  Das  Forums 
humamun  geht  in  Ansehung  der  moral  auf  alle  gute  Handlungen, 
sonderlich  äußerliche,  welche  auf  solchen  Conditionen,  die  äußerlich 
offenbaret  werden,  beruhen.  Coram  foro  humano  läßt  sich  nichts 
valide  imputiren.  Dasjenige  forum,  das  da  zwingt,  kann  man  ein  forum 
in/  rigorosum  nennen.  Es  kann  kein  forum  aequitatis  seyn  außer  einio 
forum  gratiae,  denn  der  Ausspruch  der  Billigkeit  ist  in  Ansehung  des 
Rechts  der  Handlungen  invalide.  Der  Ausspruch  der  kein  Recht  eines 
andern  stört,  ist  das  forum  aequitatis. 

Das  forum  divinum  wird  auch  das  forum  internum  genannt,  so  wie 
auch  das  forum  humanuni  auch  forum  externum  genannt  wird.  Bey  i5 
uns  ists  ein  Stellvertreter  der  Gottheit,  der  das  Gerichte  hält  und 
auch  effectus  hat,  es  ist  dieses  also  ein  analogon  fori  divini  und  heißt 
conscientia.  Die  Imputatio  valida  heißt  zwar  rechtskräftig,  sie  ist  es 
aber  eigentlich  nicht,  sondern  sie  ist  dasjenige  woraus  ein  effectus 
juridicus  entspringt.  Ein  effectus  juridicus  ist  die  Handlung,  die  das  20 
Recht  einer  Handlung  angehet.  Wenn  die  Menschen  so  urtheilen,  daß 
ihre  Urtheile  einem  andern  Schaden  zufügen  können,  so  haben  ihre 
Urtheile  einen  effectum,  weil  sie  das  Recht  anderer  betreffen.  Der- 
jenige imputirt  valide,  der  das  Recht  hat  mit  effectu  zu  imputiren, 
und  die  Person  heißt  schon  wie  gesagt  ein  Richter.  Es  heißen  auch  die  25 
Personen  welche  das  Recht  haben  valide  zu  imputiren,  forum.  Der 
eigentliche  Unterschied  zwischen  einem  Richter  und  einem  foro  ist 
dieser:  daß  ein  forum  diejenige  Befugniß  bedeutet,  die  ein  ganzes 
CoUegium  gemein  hat,  zu  richten,  und  ein  Richter  nur  die  einzelne 
Person  ist.  Eine  Imputatio  valida  wird  auch  angesehen  als  effectio  30 
vacua,  und  denn  heißt  sie  leer. 

Das  forum  divinum  geht  ohne  Unterschied  auf  alle  unsere  Hand- 
lungen, und  in  Ansehung  deßelben  ist  auch  das  ethische  Gesezz  als 
äußerlich  zu  betrachten.  Dasjenige  was  coram  foro  humano  nicht 
na  imputirt  werden  kann,  das  kann  coram  divino  /  ganz  ausgemacht  35 
werden.  Hierzu  gehören  aber: 

1.  Handlungen  die  in  Ansehung  coram  foro  humano  nicht  ge- 
schlichtet werden  können  und 

2.  der   Beweis  daß  sie  nicht  coram  foro  humano  gelten. 


Praktische  Philosophie  Powalski  161 

Man  nennt  forum  competens  diejenige  Person,  die  die  Befugniß  hat, 
gewiße  Handlungen  zu  richten. 

Das  forum  humanura  ist  bloß  äußerlich,  es  kann  nicht  ein  Internum 
seyn,  weil  die  innere  Handlungen  nicht  zum  foro  humano  gehören. 
5  Zum  foro  humano  gehört 

1.  dasjenige  was  als  äußerlich  anzusehen  ist  und 

2.  was  äußerlich  schuldig  ist,  was  nicht  innerlich  zu  nöthigen 
angeht,  und  was  nur  coram  foro  humano  ausgemacht  werden  kann. 

Es  ist  also  schlechterdings  ein  forum  externum.  Gewiße  Handlungen 

10  sind  aber  auch  so  beschaffen,  daß  man  dazu  äußerlich  nicht  kann 
gezwTingen  werden,  zE.  zur  Großmuth,  zur  Wohlthätigkeit.  Die 
Methodische  Imputation  eines  Gesezzes  ist  ein  Proceß.  Die  Application 
auf  ein  factum  ist  die  Imputation,  und  diese  Imputation,  wenn  sie 
geschiehet,  ein  Proceß.  Das  wesentliche  eines  Proceßes  kommt  auf  die 

15  Form  an.  Ist  die  Form  nicht  gut  eingerichtet,  oder  gar  nicht,  so  ist  der 
Proceß  verlohren.  Wenn  ein  Proceß  nicht  nach  einer  Form  eingerichtet 
ist,  so  ist  es  bloß  ein  tumultuarisches  Verfahren.  Dieses  tumultuarische 
Verfahren  in  controversia  juridica  ist  kein  Proceß.  Denn  ein  Proceß 
muß  methodisch  seyn.  In  jedem  Proceß  kommen  Acta  vor 

20    /l.  Ein  Richter  muß  alle  Momenta  in  actis  haben  und  ii3 

2.  Er  muß  die  Acta  mit  den  Gesezzen  vergleichen  und  ein  Verhält- 
niß  machen.  Hierauf  wird  die  Sentenz  gesprochen,  und  dieses  ist  die 
conclusio  des  Proceßes.  Dadurch  wird  der  Proceß  geendiget  und  der 
Streit  aufgehoben. 

25  Das  Recht  obligirt  durch  seinen  Ausspruch  externe.  Also  fällt  aller 
Ausspruch  des  Rechts  weg,  wenn  der  Richter  kein  vim  executionis  hat. 
Eine  Sentenz  muß  also  mit  einer  vi  executoria  ausgezeichnet  seyn, 
wenn  sie  kräftig  seyn  soll. 


De  Conscientia. 

30      Das  Gewißen  ist  als  ein  forum  anzusehen  und  zwar  forum  internum 

nicht    humanum    sondern    divinum.    Dieses    forum    divinum    kann 

betrachtet  werden 

-rv.  als  etwas  wo  wir  vor  unsere  Handlungen  dereinst  können  gezogen 

werden  und 
35      ß.  es  übt  dieses  forum  divinum  schon  in  uns  alle  die  Kräfte  eines 

fori  aus  und  dieses  ist  eigentlich  die  conscientia. 

11     Kanfs  Schriften  XXVII/l 


162  Vorlesungen  über  Moralphilosopliie 

Das  Gewißen  ist  nicht  ein  Vermögen,  es  bedeutet  nicht  ein  müßiges 
Urtheil  über  unsre  Handlungen,  denn,  würde  es  ein  Vermögen  seyn, 
so  könnten  wir  damit  willkührhch  umgehen,  wir  würden  also  damit 
spielen  können,  sondern  es  ist  ein  Instinctus,  nach  welchem  unsre 
Handlungen  1.  imputirt  und  2.  auf  s  Gesezz  appliciret  werden  5 
3.  auch  rechtskräftig  beurtheilet  werden.  Ueberhaupt  ist  es 
der  Antrieb  in  unsrer  Natur,  uns  selbst  zu  richten. 

Alle  principia  des  Rechts  müßen  nicht  so  beschaffen  seyn,  daß  sie 

114  aus  ethischen  Quellen  abgeleitet  zu  seyn  scheinen.  /  Die  provocatio 
ad  forum  conscientiae  oder  zum  Eide  coram  foro  externo  ist  anzu-  lo 
sehen  als  etwas  was  eine  NothhüKe  ist,  und  was  demselben  gar  nicht 
competirt. 

Von  der  Ethic. 

Wir  thun  moralisch  gute  Handlungen  entweder  gerne  oder  Zwangs- 
weise. Die  Regeln  also  nach  welchen  die  Handlungen  Zwangsweise  is 
ausgeübet  werden,  heißen  die  Zwangs  Gesezze.  Diejenigen  Hand- 
lungen die  nach  den  Regeln  des  Rechts  noth wendig  sind,  die  haben 
eine  Ethische  Noth  wendigkeit.  Die  Handlungen  also  die  aus  der  Innern 
Beschaffenheit  der  Gesinnungen  herkommen,  sind  ethische  Hand- 
lungen, imd  die  Tugend  besteht  in  den  Bewegungs  Gründen,  diese  20 
ethischen  Handlungen  zu  thun.  Wenn  also  eine  Handlung  nicht  in  der 
Innern  bonitaet  der  Handlungen  liegt,  so  ist  sie  zwar  gut,  aber  sie 
stimmt  nur  mit  dem  äußern  Recht  überein.  Das  äußere  Recht  ist  das 
Verhältniß  unserer  Freyheit  zum  Zwange  nach  allen  Gesezzen.  Die 
ethic  ist  also  die  practische  Philosophie,  welche  die  morahtaet  einzig  25 
nnd  allein  zum  Object  hat.  Sie  sagt  wir  sollen  Recht  thun,  weil  alsdenn 
diese  Handlung  recht  ist.  Handlungen  können  als  moralisch  noth- 
wendig  angesehen  werden,  aber  nicht  nach  den  Bewegungs  Gründen 
welche  im  Zwange  liegen.  — 

Alle  neceßitatio  practica  kann  äußerlich  und  innerlich  betrachtet  so 
werden.  Wenn  der  neceßitirende  Grund  in  der  innern  Beschaffenheit 

115  der  Handlungen  /  liegt  oder  innerlich  ist,  so  werden  die  Handlungen 
als  innerlich  erwogen.  Wenn  aber  der  Grund  der  Handlungen  ein 
äußerlicher  Zw^ang  ist,  so  werden  sie  als  äußerlich  betrachtet.  Indeßen 
kann  immer  die  Handlung  erwogen  werden,  als  wenn  sie  moralitaet  35 
hätte.  —  Der  Unterschied  zwischen  der  Lehre  des  Rechts  und  der 
ethic  ist :  Die  Ethik  trägt  zwar  die  Lehre  des  Rechts  nicht  in  extenso 
vor,  weil  sie  mit  der  moralitaet  der  Handlungen  und  der  Bewegungs- 


Praktische  Philosophie  Powalski  163 

gründe  zu  denselben  genug  zu  thun  hat ;  sie  sezt  aber  immer  das  Jus 
vorher.  Die  Lehre  des  Rechts  wird  zwar  besonders  in  lege  naturali 
erwogen,  in  der  Moral  aber  wird  sie  vorausgesezt.  Es  sind  Handlungen 
zu  welchen  man  nicht  durch  die  Willkühr  sondern  durch  den  Zustand 
5  anderer  neceßitirt  wird.  Es  sind  Handlungen  gegen  uns  und  andere, 
welche  alle  zur  Ethik  gehören.  Die  Ethik  heißt  demnach  die  Tugend 
Lehre.  Die  Tugend  heißt  eine  gewiße  Freyheit  und  Selbstthätigkeit. 
Die  Tugend  sezt  voraus,  daß  die  Handlungen  aus  den  Gesinnungen  ent- 
springen, und  daß  sie  auch  die  Gesezze  beachten  (der  Beobachter  des 

10  Rechts  kann  auch  alle  Regeln  des  Rechts  nach  der  Tugend  beobach- 
ten, und  denn  erfüllt  er  sie  morahsch  gut).  Die  Tugend  ist  die  Fertig- 
keit aus  Gesinnungen  der  morahtaet  Handlungen  auszuüben,  die  mit 
derselben  übereinstimmen.  Die  Tugend  geschiehet  also  aus  einer 
sponaneitaet  und  nicht  aus  Anreizungen,  Lockungen  und  Bestechun- 

15  gen.  Die  Tugend  ist  soferne  spontanea  als  sie  nicht  der  allergeringsten 
Vortheile  bedarf,  Handlungen  auszuüben.  Die  Tugendhaften  Gesin- 
nungen heißen  /  die  reinen  moralischen  Gesinnungen.  Die  Ethic  trägt  iie 
also  summarisch  die  ganze  Lehre  des  Rechts  vor,  nicht  hergenommen 
aus  dem  Zwange,  sondern  aus  der  Innern  Beschaffenheit  der  Hand- 

2olungen.  Wir  haben  zwey  Tugend  PfHchten.  Eine  Tugend  Pflicht 
gegen  uns  und  die  zwote  gegen   andere. 

Die  Pflichten  gegen  Gott  sind  nur  die  Bewegungs  Gründe  zu  Hand- 
lungen nach  dem  Göttlichen  Willen.  Die  Rechte  gehören  auch  zu  der 
Ethic,  die  Rechte  erfordern  die  Handlungen,  die  Ethic  die  Gesin- 

25  nungen.  Die  Ethic  formirt  also  das  Herz;  die  Rechte  den  Verstand. 

Die  Ethic  kann  betrachtet  werden  LalsEthica  laxa  welche  keine 

moralische  Reinigkeit  und  Nothwendigkeit  hat.  Sie  wird  auch  die 

nachsichtliche  Tugend  genannt.  Die  moralische  complette  Tugend 

ist  die  Reinigkeit.  2.  Ethica  rigida  und  dieses  ist  die  sogenannte 

30 strenge  Tugend,  3.  die  schmeichelhafte  Tugend,  welche  sich 
durch  die  moralischen  Gesezze  eine  Gunst  zu  erwerben  sucht.  Sie  ist 
die  größte  Abwürdigung  der  Moral ;  zu  einer  solchen  Ethic  sucht  man 
durch  Vortheile  zu  bewegen,  und  dieses  ist  eine  treuherzige  Lüge.  — 
Die  wahre   Ethic  ist  nicht  nachsichtlich,  die  moralischen  Gesezze 

35  tragen  die  Ethic  in  der  größten  praecision  und  in  der  größten  perfec- 
tion  vor.  Die  completudo  perfectionis  realis  muß  in  der  Regel  stekl<:en. 
Das  moralische  Gesezz  ist  unvollständig,  wenn  es  sich  den  Gebräuchen 
der  Men/schen  accomodiret,  und  denn  ist  es  auch  nachsichtlich  und  iiT 
gefällig.  Man  nennt  denjenigen  einen  moralischen  Latitudinarius,  der 


164  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

die  Pflichten  nicht  ordenthch  determiniret  sondern  sie  in  gewißer 
Weite  vorträgt,  der  denselben  keine  gewiße  Schranken  sondern  eine 
große  Lücke  offen  läßt.  Derjenige  der  ein  principium  macht,  daß  man 
aus  den  moralischen  Gesezzen  nicht  practisch  urtheilen  dürfe,  der  ver- 
dirbt das  oberste  Gesezz  und  die  Richtschnur.  Es  kann  kein  größeres  5 
Verbrechen  gefunden  werden,  als  wenn  man  das  moralische  Gesezz  zu 
corrumpiren  sucht,  und  es  ist  also  nichts  schädlicher  als  eine  Ethica 
laxa,  nemlich  wenn  sich  das  Gesezz  der  bösen  Meinung  accomodiret. 
Das  Ethische  Gesezz  ist  ein  pünktliches  und  strenges  Gesezz,  welches 
die  Vollkommenheit  in  dem  höchsten  Grade  verlangt.  Das  moralische  lo 
Gesezz  muß  auch  nicht  schmeichelnd  seyn.  Die  Reinigkeit  bestehet 
darinnen,  wenn  die  moralische  Gesezze  mit  keinen  andern  Triebfedern 
als  mit  den  Triebfedern  der  moral  verbunden  sind.  Das  moralische 
Gesezz  wird  rein  vorgetragen,  wenn  dazu  kein  Bewegungs-Grund  als 
der  moralische  vorgetragen  wird.  Sind  die  morahschen  Gesezze  nicht  15 
rein,  so  verliehrt  die  Handlung  den  moralischen  Werth.  Man  sucht  die 
moral  einschmeichelnd  zu  machen,  indem  man  dazu  die  Reize  die 
dem  Menschen  schmeicheln  gebraucht,  ZE.  die  Ehre,  um  den 
moralischen  Gesezzen  eine  Empfehlung  zu  machen  (dieses  heißt  die 
118  coquetterie,  wenn  man  sich  zu  em/pfehlen  sucht).  Die  moralischen  20 
Gesezze  müßen  also  ihre  eigene  Würde  zum  Bewegungsgrund  haben.  — 
Diese  Ethic,  die  sich  allerhand  Künste  bedienet,  ist  die  Vermischung  der 
Ethic  mit  der  Religion,  und  dieses  ist  die  sogenannte  Ethica  artificialis, 
da  man  die  Verbindung  der  Kraft  der  sittlichen  Gesezze  bloß  in  den 
Göttlichen  Willen  sezt.  Ohne  die  Religion  ist  zwar  die  Ethic  in-  25 
complett,  wenn  sie  aber  als  eine  Regel  betrachtet  wird,  welche  unsre 
Verbindlichkeit  anzeigt,  so  ist  sie  complett  und  alsdenn  muß  sie  unab- 
hängig von  der  Religion  vorgetragen  werden.  Die  schmeichelhaften 
Bewegungs  Gründe  sind  außerdem,  daß  sie  nicht  recht  angebracht 
sind,  falsch.  Die  moral  kann  nicht  betrachtet  werden,  als  ein  Mittel  so 
zur  Glückseeligkeit,  sondern  die  Bedingung  unter  welcher  wir  der 
Glückseeligkeit  würdig  werden.  Es  giebt  auch  4.  Ethica  morosa 
die  uns  aller  Vergnügen  und  Vortheile  des  Lebens  beraubt,  weil  sie  die 
finstre  Tugend  vorstellt  (vorträgt).  Ein  jeder  Bewegungs-Grund 
bekommt  dadurch  mehr  Werth,  je  mehr  er  Bedürfniße  überwinden  35 
kann,  und  so  auch  die  moralische  Gesinnung,  wenn  wir  die  Lockun- 
gen und  Anfälle  überwinden.  Eine  solche  Tugend  heißt  bey  denen,  die 
Phantasten  der  Tugend  sind  mürrisch,  weil  sie  sich  alsdenn  für  Tugend- 
haft halten,  wenn  sie  eine  Ernsthafte  und  mürrische  Miene  machen. 


Praktische  Philosophie  Powalski  165 

/  5.  Die  Phantastische  Ethic  ist  die,  wenn  man  dafür  hält,  daß  119 
Sitthehe  Gesezze  können  ohne  alle  Triebfedern  zu  Handlungen  hin- 
reichend seyn.  Ein  sinnlicher  Bewegungs  Grund  bedarf  einer  Trieb- 
feder; ein  moralischer  aber  ist  rein,  und  ist  mit  keinen  sinnlichen 

r>  Triebfedern  verbunden.  Denn  der  moralische  Bewegungs  Grund  ist 
der  Geist  der  Handlungen.  Die  moralische  Diiudication  des  guten  und 
Bösen  muß  abstrahiren  von  allen  Vortheilen  und  aller  Verbindung 
unserer  Handlungen  mit  irgend  einem  Nuzzen,  Belohnung  und  Glück- 
seeligkeit.  Die  moralischen  Bewegungs-Gründe  müßen  nur  aus  ihrer 

10  Innern  Beschaffenheit  entlehnet  seyn.  Wenn  wir  also  einen  moralischen 
Bewegungs  Grund  haben ;  so  fragt  es  sich,  ob  wir  die  Triebfedern  zu 
solcher  Handlung  entbehren,  ob  wir  gänzlich  von  der  Glückseeligkeit 
abstrahiren  können  ?  Es  ist  eine  chimaere  sich  vorzustellen,  es  könne 
ein  Mensch  bey  seinen  Handlungen,  die  er  ausübt,  welche  etwas  zu 

15  seiner  Glückseeligkeit  beytragen  können,  gleichgültig  seyn.  Diese 
chimaere  ist  eine  phantasterey,  die  phantasterey  edler  Seelen  heißt  die 
Enthusiasterey.  Die  Enthusiasterey  der  Jugend  ist  die  Folge  der 
Phantasterey.  Wenn  die  Alten  den  Werth  der  Tugend  so  hoch  gedacht 
haben,  so  haben  sie  dieselbe  betrachtet  ohne  alle  Vermischung  mit 

20  selbstliebigen  Absichten  und  Triebfedern.  Je  mehr  der  Mensch  mit 
Hindernißen  zu  kämpfen  hat,  desto  größer  ist  die  Kraft.  Die  Macht 
und  Stärke  der  Tugend  in  den  moralischen  Gesinnungen  bestehet 
darinn :  Daß  /  sie  große  Handlungen  vom  Gegentheil,  das  ist  vom  lao 
Laster,  zu  überwinden  hat  —  Heiligkeit  und  Tugend  sind  darin  unter- 

25  schieden.  Heiligkeit  ist  eigentlich  das,  was  keine  Neigung  zum  bösen 
hat,  und  das  ist  allein  Gott.  Die  Tugend  ist  die  wahre  moralische 
Bestimmung  des  Menschen,  denn  zur  Heiligkeit  kann  der  Mensch 
nicht  gelangen.  Wenn  sie  gleichgültig  gegen  alle  Glückseeligkeit  ist, 
so  übt  sie  alsdenn  ihre  größte  Stärke  aus.  Es  ist  eine  Art  von  Wollust 

30  und  Zufriedenheit,  die  nicht  erworben  werden  kann,  sondern  schon 
von  Natur  in  dem  Menschen  steckt,  diese  heißt  die  Seeligkeit  —  Wenn 
sich  die  Menschen  gleich  wohl  befinden,  wenn  sie  gleich  das  gute  ihres 
Zustandes,  den  Umfang  ihrer  Zufriedenheit  genießen,  so  können  sie 
doch  nicht  sagen,  sie  seyn  sibi  ipsis  sufficientes,  weil  sie  sich  das  ent- 

35  weder  selbst  oder  andere  es  ihnen  erworben  haben.  Kein  einziges 
Geschöpf  außer  Gott  ist  sibi  ipsi  sufficiens.  —  Die  Stoiker  sagten,  daß 
der  Mensch  den  grad  erreichen  kann,  wo  er  sibi  ipsi  sufficiens  seyn 
kann,  es  ist  aber  falsch,  denn  gesezt,  er  könnte  zur  Reinigkeit  der 
Tugend  gelangen,  daß  er  sich  selbst  Beyfall  geben  könnte ;  so  ist  doch  der 


166  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

Beyfall,  den  er  sich  giebt,  falsch,  weil  er  von  dem  Vergnügen  das  er  ge- 
nießt, nicht  unterschieden  ist.  Also  bedarf  alle  Tugend  einer  Triebfeder. 
Diejenigen  Philosophen  welche  sich  concipiren,  die  Tugend  bedürfe 
181  keiner  Triebfeder,  haben  kein  /  auctoramentum.  Ein  Tugendhafter 
kann  also  urtheilen,  daß  wenn  er  nach  der  Vorschrift  handelt,  er  auch  5 
die  Hoffnung  zur  Glückseeligkeit  haben  kann  ?  —  Eine  jede  Phantasie 
die  aus  Eingebung  zu  entstehen  scheint,  ist  die  Schwärmerey,  Es 
schwärmen  einige,  welche  sagen,  man  kann  die  Religion  besizzen  ohne 
Tugendhaft  zu  seyn,  und  dies  ist  falsch,  weil  niemand  fröhlich  seyn 
kann,  wenn  er  nicht  Tugendhaft  ist,  und  diese  welche  solches  behaup-  lo 
ten,  die  reden  von  ihrem  Heiligen  das,  was  die  Stoiker  von  ihrem 
Weisen  redeten,  nemlich  daß  ein  solcher  Mensch  Gott  auch  mitten  in 
den  Flammen  ehren  und  loben  wird.  Die  Glückseeligkeit  ist  eigentlich 
nicht  das  was  den  Werth  der  Tugend  ausmacht,  sondern  sie  ist  nur  ihr 
correlatum.  Die  Glückseeligkeit  ist  nicht  der  oberste  Bewegungs- 15 
Grund  sondern  der  liegt  schon  in  ihr  selbst.  Die  Würdigkeit  glücklich 
zu  seyn,  ist  ein  unmittelbares  consectarium  der  moralischen  Gesezze. 
Ein  moralisches  Gesezz  kann  nicht  gebiethen,  wenn  es  sich  nicht 
zugleich  auf  Glückseeligkeit  beziehen  sollte.  Ein  jedes  moralische 
Gesezz  ist  verheißend  und  die  Glückseehgkeit  ist  der  Vernunft  nach  20 
ein  nothwendiges  correlatum  des  Wohl  Verhaltens. 

6.  Alle  Ethic  ist  chimaerisch,  welche  verlangt,  daß  wir  in  An- 
sehung unsers  Verhaltens  keine  Hoffnung  zur  Glückseeligkeit  haben 
sollen,  und  welche  die  Religion  vor  die  Tugend  sezt.  Da  doch  die  Moral 
vor  der  Tugend  hergehen  kann,  weil  die  Religion  eine  bloße  An-  25 
Weisung  der  Moral  auf  das  Höchste  Wesen  ist. 

122      /Wir  müßen  also  1.)  den  Göttlichen  Willen  suchen,  wir  müßen  von 
den  Pflichten  anfangen  und  bis  zum  Wo  hl  verhalten  gegen  Gott,  den 
Urheber  der  Welt  und  uns  selbst,  gehen,  und  dieses  ist  die  Religion.  — 
Es  giebt  de  votische  chimaeren  und  dieses  sind  mysteria.  Mysticusso 
heißt  der,  der  zu  den  Geheimnißen  eingeweihet  ist. 

7.  Die  Mystische  Ethic  ist  diejenige  welche  sich  einbildet,  daß 
sie  durch  bloßen  unmittelbaren  Einfluß  das  Höchste  Wesen  erkennet, 
welche  sich  vorstellt,  daß  alle  sittliche  Absichten  zu  einer  unmittel- 
baren Gemeinschaft  mit  dem  höchsten  Wesen  abzielen.  Wenn  die  35 
mystische  Ethic  der  Grund  zu  aller  Ethic  seyn  soll,  so  muß  sie  einen 
Einfluß  auf  ihre  Handlungen  und  Neigungen  haben,  und  dieses  ist  die 
Aufhebung  aller  Regeln  und  Vernunft.  —  Die  moralischen  Gesezze 
führen  wie  schon  gesagt,  immer  etwas  verheißendes  mit  sich.  Die 


Praktische  Philosophie  Powalski  167 

moralischen  Gesezze  sind  dadurch  obhgirend,  daß  sie  mit  den  Wün- 
schen der  Glückseehgkeit  in  einer  Verbindung  stehen,  denn  sonst 
würden  sie  keine  Kraft  haben  den  Willen  zu  nöthigen,  selbst  zu  einer 
Aufopferung,  welche  der  Sittlichkeit  zu  Gefallen  geschehen  muß.  Die 

5  Glückseehgkeit  ist  also  nicht  ein  principium  sondern  ein  noth wen- 
diges correlatum  der  Sittliclikeit,  weil  es  unmöghch  ist,  daß  wir  in 
Ansehung  der  Glückseehgkeit  indifferent  seyn  können.  Wenn  wir  die 
verbindende  Kraft  der  Sitthchkeit  einsehen  sollen,  so  müßen  wir  ihre 
Zusammenstimmung  mit  unsern  /  Wünschen  der  Glückseehgkeit  ein-  iti 

loschen.  Die  Sittlichen  Gesezze  haben  keinen  natürhchen  Zusammen- 
hang mit  der  Glückseehgkeit,  weil  das  innere  der  Moral  in  den  Ge- 
sinnungen bestehet.  Die  Reinigkeit  der  Gesinnungen  macht  nur  den 
Werth  der  Moral  aus.  Daher  kann  nach  der  Ordnung  der  Natur  die 
Glückseehgkeit  keine  Verbindung  mit  der  Moral  haben.  Die  Morali- 

15  sehen  Gesezze  können  uns  nach  der  Natur  nichts  verheißen.  Sie  können 
zwar  einiges  Versprechen  thun,  es  stimmt  aber  mit  dem  Grade  der 
moralitaet  nicht  überein  (durch  die  Beobachtung  der  Sitthchen 
Gesezze  kann  ich  mir  auch  Feinde  machen  zE.  wenn  ich  nicht  lügen 
kann).  Die  Sitthchen  Gesezze  sind  von  der  Art,  daß  sie  die  Höchste 

20  Bedingung  aller  Würdigkeit  glücklich  zu  seyn,  enthalten.  Alle  sitt- 
liche Gesezze  haben  zugleich  einen  prospect  auf  die  Glückseehgkeit, 
sie  sind  mit  einer  Hoffnung  verbunden,  denn  sonst  könnte  man  nicht 
die  Glückseehgkeit  hoffen.  Wenn  die  moralischen  Gesezze  also  bey 
dem  Menschen  sind,  wenn  die  Rechtschaffenheit  einen  Siz  in  ihren 

25  Seelen  hat,  so  ist  das  moralische  Gesezz  ein  Grund  einen  Gott  und  eine 
andere  künftige  Welt  zu  glauben.  Wenn  auch  die  Vernunft  nicht  einen 
einzigen  Grund  hätte.  Es  ist  ohnmöglich  daß  der  Mensch  einem 
moralischen  Gesezz  anhängen  kann,  ohne  einen  Gott  zu  glauben.  Die 
Erkenntniß   Gottes,   die   Ueberzeugung   seines   Daseyns   und   einer 

30  andern  Welt,  sind  speculative  Gründe,  welche  wenigen  Menschen  be- 
greiflich sind;  indeßen  ist  das  moralische  Gesezz  das  object  eines  jeden 
vernünftigen  Wesens,   /   aber  nicht  allemahl  ist  dieses   Gesezz   die  vu 
maxime  seines  Herzens.  Der  Glaube  an  Gott  aus  moralischen  Be- 
wegungs-Gründen ist  ganz  unumstößlich  und  un  wiederruf  lieh,  der- 

35  jenige  bey  dem  die  Moral  die  maxime  eines  Glaubens  seyn  soll,  der 
kann  sie  unmöglich  haben,  ohne  den  Gedanken  zu  haben,  er  glaube 
daß  ein  Gott  ist,  weil  es  doch  unmöglich  ist,  daß  derjenige  der  mit 
Ernst  der  Moral  nachhängt,  nicht  einen  Wunsch  nach  Glückseehgkeit 
haben  sollte.  Hier  ist  also  der  Glaube  an  Gott  aus  dem  Herzen  ent- 


168  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

standen.  Wir  wollen  aber  betrachten  die  Stärke  deßelben.  Er  kann 
durch  gar  nichts  wankend  gemacht  werden,  denn  wenn  ich  einen 
metaphysischen  Grund  anführe,  so  kann  der  zwar  widerlegt  werden, 
aber  nicht  der  Begriff  daß  ein  Gott  ist.  Der  Glaube  ist  von  der  Art, 
daß  er,  da  ihn  keine  Gründe  der  Theorie  wiederlegen  können,  eine  5 
noth wendige  hypothese  eines  redlichen  Herzens  ist,  und  der  Glaube 
ist  also  sicher.  Wenn  ich  noch  voraussezze  daß  dieser  Gott  einen 
Göttlichen  Willen  hat,  denn  bekommt  der  Glaube  eine  Kraft  und 
Stärke.  Der  Mensch  müßte  also  entweder  ein  Thor  oder  Schelm  sej-n. 
Thor  würde  er  alsdenn  seyn,  wenn  er  Tugendhaft  seyn  wollte,  ohne  lo 
sich  von  einem  solchen  Wesen  überzeugen  zu  laßen.  Ein  Schelm  aber 
wenn  er  alle  Regeln  des  Wohlverhaltens  aufgiebt,  und  wenn  er  die 
Ehre  und  Redlichkeit  in  Chimaeren  relegirt. 
135      Die  natürliche  Theologie  kann  auf  die  pure  moralitaet  /  gegründet 
werden.  Wenn  ich  die  moral  also  als  eine  maxime  zu  Grunde  lege,  i5 
so  komme  ich  durch  einen  ganz  natürlichen  Hang  auf  den  Glauben 
an  Gott,  und  auf  die  Hoffnung  einer  künftigen  Welt.  Der  moralische 
Glauben  an  Gott  und  an  eine  andere  Welt  ist  eine  Folge  der  mora- 
lischen Gesinnungen,  diese   Entschloßenheit    zum  Glauben  ist  die 
größte,  weil  sie  durch  theoretische  Gründe  unterstüzzet  werden  kann.  20 
Die  Moral  leitet  uns   auf  die  erste  hypothesin  practicam  und  die 
Natur  bestätiget  es.  Wir  sehen  also,  daß  die  natürlichen  Beweise  der 
Morahtaet  überschwänglich  groß  machen.  Kein  Mensch  kann  auf  seine 
GlückseeUgkeit  Verzicht  thun,  er  muß  also  ein  Wesen  annehmen, 
welches  ihn  der  Glückseehgkeit  theilhaftig  machet,  soferne  er  dui'ch  20 
sein  Verhalten  sich  derselben  nicht  unwürdig  gemachet  hat.   Die 
Hoffnung  einer  andern  Welt  ist  sehr  genau  mit  der  Moral  verbunden, 
denn  1.  wir  hoffen  den  Werth  unsers  Verhaltens,  und  die  Hoffnung  ist 
erst  in  der  künftigen  Welt,  2.  weil  wir  ihn  in  dieser  gegenwärtigen 
nicht  finden  können.  Nur  die  Hoffnung  der  andern  Welt  kann  den  3o 
moralischen  Gesezzen  ihre  energie  geben.  Die  Vorsehung  hat  uns  die 
künftige  Welt  verborgen,  und  wir  können  sie  also  nur  glauben  aber 
nicht  wißen.  Ich  kann  keinen  von  der  Zukunft  überzeugen,  wenn  er 
nicht  moralische   Gesinnungen  hat,   denn  wenn  es  keine  Zukunft 
geben  sollte,  so  wäre  alle  Rechtschaffenheit  nur  ein  Hirngespinste.       35 

12«  /  Von  der  natürlichen  Religion. 

Die  moralischen  Gesezze  sind  nicht  Sazzungen,  sondern  sie  sind  nur 
solche  Gesezze,  die  in  der  Natur  liegen.  Sie  sind  keine  Statuta  des 


Praktische  Philosophie  Powalski  169 

Göttlichen  Willens,  sondern  sie  liegen  in  dem  Begriffe  der  Freyheit. 
Gott  ist  wohl  ein  Gesezzgeber,  aber  nicht  ein  Urheber.  —  Ein  Gesezz 
das  keine  Folgen  hat,  heißt  Ideal  und  dies  würden  auch  die  moralischen 
Gesezze  seyn,  wenn  die  Hoffnung  einer  künftigen  Welt  wegfallen 
5  sollte.  Der  Göttliche  Wille  aber  regieret  nach  moralischen  Gesezzen, 
die  sind  aber  die  Form.  Die  moralischen  Gesezze  sind  nicht  Gebothe 
sondern  sie  sind  natürlich,  sie  aber  zugleich  als  ein  Göttliches  Geboth 
anzusehen,  ist  ein  ausnehmender  Gedanke.  Hier  müßen  wir  auch  einen 
Beweis  vom  Göttlichen  Willen  geben. 

10  Ein  Heiliger  Wille  ist  nicht  der,  der  den  moralischen  Gesezzen 
adaequat  ist ;  sondern  weil  er  der  Ursprung  und  Grund  der  Zusammen- 
stimmung mit  den  moralischen  Gesezzen  ist,  und  deswegen  ist  er  auch 
der  allerheiligste  Wille.  Die  Theologie  ist  eine  practische  Erkenntniß 
des  menschlichen  Willens  zu  der  Erkenntniß  von  Gott.  Die  Religion 

15  ist  nichts  anders  als  die  moralitaet  die  auf  die  Theologie  angewandt 
ist.  Ein  Mensch  kann  wenig  Theologie,  und  viele  Religion  haben,  ein 
anderer  kann  eine  fehlerhafte  Religion,  aber  eine  reine  gute  Theologie 
haben.  Die  Theologie  ist  bloß  theoretisch  und  die  Religion  practisch. 
Die  Theologie  kann  gut  seyn,  /  aber  die  Religion  darf  nicht  allemahl  Vit 

20  deswegen  richtig  seyn.  Wenn  aber  eine  Theologie  untadelhaft  und 
richtig  ist;  so  wird  auch  die  Religion,  die  sich  darauf  gründet,  eben  so 
seyn.  Die  Religion  ist  in  sensu  subjectivo  der  Inbegriff  der  Gesin- 
nungen im  Verhältniß  auf  den  Göttlichen  Willen.  Die  Theologie  hegt 
im  Kopf,  die  Religion  im  Herzen.  Die  Religionsobservanzen  sind  sehr 

25  beschwerlich,  obgleich  sie  moralisch  gleichgültig  sind.  Die  Observanzen 
erfordern  gar  keine  morahsche  Reinigkeit.  Die  unaufhörhche  Auf- 
merksamkeit auf  uns  selbst  erfordert  sehr  viele  Kraft.  Die  Menschen 
sind  sehr  geneigt  bey  der  Religion  solche  Handlungen  anzunehmen, 
die  eine  moralische  Gleichgültigkeit  haben,  und  bloße  Observanzen 

30  sind. 

Von  der  Innern  und  äußern  Religion. 

Alle  Religion  ist  zwar  innerlich  aber  es  giebt  dennoch  auch  äußer- 
liche Zeichen  der  Religion.  Die  Religion  bestehet  eigentlich  in  der 
Maxime  dem  Willen  Gottes  gemäß  zu  handeln.  Unser  Wohl  verhalten 
35  hat  zwo  Stücke  1.  Frömmigkeit  und  2.  Tugend.  Die  Tugend  bedarf 
der  Beobachtung  des  Natur  Gesezzes  aus  dem  inneren  Werth  der 
Handlung.  Sie  ist  die  Maxime,  den  principiis  der  Sittlichkeit  gemäß 
zu  handeln.  Die  Maxime  dem  Göttlichen  Willen  gemäß  die  moralischen 


170  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

Gesezze  zu  befolgen,  das  ist  die  Frömmigkeit.  Die  Frömmigkeit  ist  das 
subjective  der  Tugend.  Die  Tugend  ist  die  natürliche  Gesinnung,  die 

128  moralischen  Gesezze  zu  erfüllen.  Die  natür /liehe  Moral  bietet  uns  die 
Tugend  dar.  Das  innere  der  Religion  bestehet  in  der  moralischen 
Gesinnung,  seine  Handlungen  gemäß  dem  Göttlichen  Willen  einzu-  5 
richten,  und  sie  ist  die  Höchste  Anwendung  der  Moral.  Die  äußerhche 
Religion  ist  nichts  anders  als  die  äußerlichen  Mittel  der  Religions 
Gesinnung  zu  befördern  und  ihnen  Stärke  zu  geben.  Bey  der  Religion 
ist  der  finis,  die  moralische  Gesinnungen  in  Ansehung  des  Schöpfers 
auf  die  Höchste  Stufe  zu  versezzen.  Hier  muß  der  Begriff  der  Natür- 10 
liehen  Religion  zum  Unterschiede  von  der  übernatürlichen  bestimmt 
werden.  Die  Theologie  kann  entweder  natürlich  oder  übernatürlich, 
objectiv  oder  subjective  genommen  werden.  Die  übernatürliche  heißt 
die  Theologia  revelata,  die  natürliche  objective  Religion  ist  die,  die 
man  aus  der  Natur,  der  Erkenntniß  von  Gott  und  von  der  MoraHtaet,  15 
einsehen  kann.  Die  übernatürliche  aber  ist  die,  die  nicht  aus  der 
Natur  der  Handlungen  erkannt  werden  kann,  oder  welche  eine  über- 
natürliche Anweisung  unsers  Willens  ist.  Die  übernatürliche  Erkennt- 
niß ist  die,  die  die  Erkenntniß  von  Gott  erweitert  oder  unsere  Er- 
kenntniß von  der  Sittlichkeit  im  Verhältniß  auf  den  Göttlichen  Willen  20 
complett  macht.  Nicht  eine  jede  geoffenbarte  Religion  darf  eine  über- 
natürliche seyn.  Nicht  jede  Religion  ist  übernatürlich  die  durch  über- 
natürliche Mittel  ausgebreitet  ist  und  gelehret  worden.  Nicht  jede 

1S9  Religion,  deren  /  Ursprung  übernatürlich  ist,  ist  auch  ihrer  Natur  und 
Beschaffenheit  nach  übernatürlich.  Subjective  ist  die  Religion  nichts  25 
anders  als  das  innere  principium  oder  die  Gesinnung  dem  Willen 
Gottes  gemäß  zu  handeln,  objective  kann  die  Religion  übernatürlich 
seyn,  und  subjective  ist  sie  doch  natürlich.  Wir  Menschen  können 
subjective  practisch  eine  natürliche  Religion  haben,  objective  aber 
kann  sie  übernatürlich  seyn.  Wenn  wir  die  Religion  also  betrachten,  so 
so  fallen  alle  Gleichgültigkeiten  und  Sophistereyen  weg.  Die  Menschen 
glauben,  wenn  der  Gegenstand  den  sie  erwägen  große  Würde  hat,  daß 
auch  ihr  Verstand  und  ihre  Erkenntniß  so  beschaffen  sey.  Die  prac- 
tische  Erkenntniß  von  Gott  ist  selbst  immer  ein  großer  Gegenstand, 
der  Achtung  verdient  und  keine  Verachtung,  gesezzt  sie  wäre  auch  ein  35 
Irrthum.  —  Die  Eigenschaften  Gottes  die  zu  der  natürlichen  Religion 
hinreichend  seyn,  sind  ihrer  Natur  nach  einfältig.  Die  Einfalt  ist  die 
Haupt  Eigenschaft  der  Erkenntniß  der  natürlichen  Religion.  Unter 
der  Einfalt  verstehe  ich  den  grad  der  Erkenntniß,  die  durch  den 


Praktische  Philosophie  Powalski  171 

bloßen  eigenen  Gebrauch  des  gemeinen  und  gesunden  Verstandes 
erkannt  werden  kann.  Der  gemeine  und  gesunde  Verstand  muß  hin- 
reichend seyn  sie  nicht  nur  zu  faßen,  sondern  auch  auszuüben,  und  sie 
zu  erlangen,  und  dieses  kann  ich  auch  von  Jedermann  verlangen. 

5  Alle  Erkenntniß  von  Gott  kann  vorausgesezzt  werden,  als  die  Be- 
dingung zu  der  /  Gewinnung  der  Wißenschaften,  die  auf  die  Religion  130 
angewandt  werden  können. 

Ehe  von  der  natürlichen  Religion  geredet  wird,  muß  das  moralische 
Gesezz  vorausgehen,  damit  wir  sehen  können,  was  billig  recht  und 

10  verständig  sey,  anzuwenden.  Wenn  ich  mir  Gott  als  einen  Heiligen 
Gesezzgeber  deßen  Wille  diese  Gesezze  als  ein  Geboth  vorstellet,  ferner 
als  einen  gütigen  Regierer,  und  endlich  als  gerechten  Richter  vorstelle, 
so  machen  diese  drey  Vorstellungen  die  ganze  natürliche  Religion  aus. 
Wenn  ich  dieses  alles  als  ein  principium  der  Handlungen  des  Men- 

15  sehen  ansehe,  so  müßen  wir  uns  Gott  als  Allmächtig,  Allwißend,  All- 
gegenwärtig etc.  vorstellen,  weil  dieses  Eigenschaften  sind  die  aus  den 
drey  Vorstellungen  fließen.  Er  kann  nicht  ein  gütiger  Regierer  seyn, 
wenn  er  nicht  Allmächtig  ist,  und  ein  gerechter  Richter,  wenn  er  nicht 
Allwißend  ist,  und  in  die  Herzen  der  Menschen  sehen  könnte.  Diese 

20  drey  Vorstellungen  entspringen  aus  dem  Gebrauch  des  gesunden  und 
gemeinen  Verstandes.  Die  Vorstellung,  daß  ein  gütiger  Regierer  ist, 
lehret  uns  die  Moral.  Denn  er  würde  uns  nicht  obligiren  können 
durch  seinen  Willen,  wenn  er  nicht  einen  gütigen  Willen  hätte.  Kein 
Wesen  kann  obligiren  als  deßen  Wille  heilig  ist,  und  jezt  sind  die 

25  moralischen  Gesezze  als  praecepta  anzusehen.  Denn  sein  Wille  ist 
zugleich  /  ein  HeiHger  Wille.  Er  ist  ein  Oberherr;  wer  ein  Oberherr  ist,  i3i 
der  muß  auch  die  Aufsicht  über  die  Aufrechterhaltung  der  Gesezze 
haben.  Der  Richter  ist  nicht  gütig.  Sein  Urtheil  bedeutet  das  Judicium 
validum  oder  das  Rechtskräftige  Urtheil,  welches  mit  Wirkungen 

30  begleitet  wird.  Die  Eigenschaft  eines  Richters  ist  nicht  die  Gütigkeit, 
sondern  die  Gerechtigkeit.  Er  muß  nach  den  morahschen  Gesezzen 
Recht  sprechen,  denn  sonst  würde  er  über  die  Art  der  Glückseeligkeit 
und  des  Wohlbefindens  richten.  Alle  unsere  Handlungen  müßen 
stricte  mit  den  moralischen  Gesezzen  übereinkommen.  Wenn  wir  uns 

35  vor  den  Augen  eines  gerechten  Richters  befinden,  so  finden  wir  alle 
unsere  Handlungen  gebrechlich.  Wir  können  uns  niemahlen  auf  die 
Gütigkeit  des  Richters  verlaßen,  sonsten  würde  er  ein  Urtheil  fällen, 
das  den  moralischen  Gesezzen  zu  wieder  ist.  Der  Regierer  kann  gütig 
se3'n.  Nachsicht  beym  Richter  suchen,  heißt  ihn  bestechen  wollen. 


172  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

Wenn  man  die  Richter  bestechen  will,  so  ist  das  so  viel,  als  wenn  man 
Gott  bestechen  will.  Stellt  man  sich  Gott  als  einen  gerechten  Richter 
vor,  so  muß  man  sich  nicht  einbilden,  daß  Gott  meine  Handlungen 
für  straflos  erklären  wird;  da  er,  wenn  er  das  könnte,  so  könnte  er  sie 
auch  für  erlaubt  erklären.  Der  gütige  Regierer  mit  der  Heiligkeit  ver-  5 
bunden,  theilt  uns  nicht  die  Wohlthaten  blindlings  aus,  sondern  er 

132  weiß  Mittel,  wodurch  wir  /  in  den  Stand  gesezzet  werden  die  Gesezze 
zu  erfüllen.  Die  natürliche  Religion  hat  also  sehr  viele  Einfalt.  Wenn 
sie  sich  ihn  als  einen  Heiligen  Gesezzgeber  vorstellt,  so  kann  man  sich 
nicht  denken,  daß  seine  Gebothe  eine  so  geringe  moralische  Reinigkeit  lo 
erfordern.  Stellt  sich  ein  Mensch  ihn  als  einen  gerechten  Richter  vor, 
so  muß  er  sich  nicht  einbilden,  daß  Gott  seine  bösen  Handlungen  für 
straflos  erklären  wird;  denn  wenn  er  das  könnte,  so  könnte  er  sie  auch 
für  erlaubt  erklären.  Wenn  nach  den  moralischen  Gesezzen  Recht 
gesprochen  wird,  so  kann  man  die  Urtheile  nicht  anders  als  praecise  den  i5 
Gesezzen  gemäß  fällen. 

Von  den  Irrthümern  in  der  natürlichen  Religion 
Der  Fehler  der  eine  Ursache  ist  und  den  Zweck  aufhebt,  ist  Tadel - 
haft.  Der  Zweck  der  Theologie  ist  nicht  so  wohl  specifice  das  Höchste 
Wesen  ausführlich  zu  erkennen,  sondern  alle  Moralitaet  als  ein  Prin-  20 
cipium  zu  haben. 

1.  Deismus  muß  vom  Naturalismus  unterschieden  werden.  Der 
Deist  ist  der,  der  ein  Urwesen  annimmt,  aber  daß  man  nichts  von  ihm 
wißen  kann,  ob  die  Welt  durch  seinen  Willen  geschaffen  sey  etc.  Er 
gedenkt  sich  Gott  als  eine  oberste  Ursach  der  Dinge,  er  nimmt  diese  25 
oberste  Ursach  nicht  als  vernünftiges  Wesen  an,  und  als  den  Urheber 

133  der  moralischen  Gesezze.  Der  Deist  räumt  also  keine  andere  Theolo/gie 
ein  als  die  Transcendentelle.  Der  Atheist  ist  der,  der  bloß  natürliche 
Theologie  annimmt,   die  sich  auf  verschiedene  Bestimmungen  der 
Natur  beziehet.  Ein  Deismus  meint  aber  nicht  eben  so  viel  als  ein  30 
Atheismus. 

2.  Naturalismus.  Ein  Naturalist  ist  der,  der  die  bloße  natürliche 
Religion  annimmt.  Er  lehret  eine  gute  aber  unvollständige  Religion. 
Sie  ist  gut  und  liegt  auch  jeder  Religion  zu  Grunde.  Sie  ist  eine  Grund- 
lage revelatae  Religionis.  Wir  können  nur  der  übernatürlichen  Reli-  35 
gion  fähig  werden,  wenn  wir  die  natürliche  gebraucht  haben,  wie  viel 
es  uns  möglich  war.  Die  natürliche  Religion  ist  nicht  nur  gut,  sondern 
auch  ein  noth wendiges  Substratum  aller  geoffenbarten,  die  natürliche 


Praktische  Philosophie  Powalski  173 

Religion  muß  also  in  Ansehung  der  geoffenbarten  nicht  ausschließend 
seyn.  Man  muß  seine  Kräfte  anwenden,  der  Natürlichen  Religion 
Genüge  zu  leisten,  und  denn  kann  man  hoffen,  die  übernatürliche  als 
das  Supplementum  der  natürlichen  Religion  zu  genießen. 
5  Naturalist  ist  der,  der  Ausschließungsweise  die  natürliche  Religion 
annimmt,  diese  Religion  ist  also  1.  an  sich  und  2.  nach  der  Vernunft 
falsch,  und  dieses  bestehet  bloß  darinn,  daß  er  die  natürliche  Religion 
für  genugsam  hinreichend  und  vollständig  annimmt.  Man  muß  nicht 
glauben,  daß  Gott  nach  Belieben  vergeben  könnte,  das  ist,  daß  er  als 

10  ein   gerechter  Richter   /   nachsichtlich  seyn  und   vergeben  könnte.  1 34 
Wenn  er  könnte  vergeben,  so  könnte  er  auch  andere  Gesezze  machen, 
denn  weil  er  im  sprechen  vom  Gesezz  abweichen  kann,  so  könnte  er 
auch  nach  andern  Gesezzen  sprechen  und  richten,  dieses  wiederspricht 
aber  der  natürlichen  Religion.  Wer  das  glaubt,  der  hält  die  natürlichen 

i:>  Gesezze  als  statuta  des  Göttlichen  Willens,  sie  sind  aber  Normen  die 
schon  von  Ewigkeit  in  der  Natur  der  Sache  liegen.  Von  der  Gerechtig- 
keit kann  ich  gar  keine  Gütigkeit  hoffen.  Wenn  ich  von  der  Gütigkeit 
keine  Erlösung  erhalten  kann,  so  kann  ich  mir  keine  Hoffnung  zur 
GlückseHgkeit  machen,  als  wenn  ich  recht  werde,  wenn  mein  Wille 

20  mit  seinen  Gesezzen  übereinstimmen  wird.  Der  natürlichen  Religion  ist 
es  gänzlich  unbekannt,  wodurch  eine  Ergänzung  unseres  Wohl- 
verhaltens unserer  Gebrechlichkeit  und  der  moralischen  Reinigkeit 
geschehen  könnte,  sie  sieht  doch  aber  daß  das  nöthig  ist,  und  daß  wir 
sonst  keine  andere  Hoffnung  mit  der  Gerechtigkeit  des  Richters 

25  zusammenzustimmen  haben  können.  Sie  erkennt  ihre  eigene  moralische 
Un Vollständigkeit,  sie  ist  aber  doch  deswegen  gut,  also  ist  die  natür- 
liche Religion  unentbehrlich  und  die  Grundlage  der  geoffenbarten 
Rehgion. 

Der  Naturalismus  ist  also  die  ausschließende  Gültigkeit  der  natür- 

30  liehen  Religion. 

3.  Die  Abgötterey  kann  auf  zwiefache  Weise  aus/geübet  werden:  133 

a.  in  materia  wenn  ich  das  als  meinen  Gott  verehre,  was  nicht 
Gott  ist.  Wenn  ich  mir  Gott  in  einem  körperlichen  Bildniß  vorstelle, 
oder  per  Anthropomorphismum,  so  begehe  ich  ein  Analogon  der  Ab- 

35  götterey,  indem  die  Verehrung  Gottes  nicht  sensual  sondern  intellec- 
tual  seyn  kann. 

b.  in  forma  begehe  ich  eine  Art  von  Abgötterey,  wenn  ich  mir 
Gott  per  practicum  Anthropomorphismum  vorstelle.  Was  nicht 
moralisch  ist,  ist  sonst  alles  Abgötterey. 


174  Vorlesungen  über  Moralpliilosophie 

Von  dem  Kultus  der  Religion  ist  nichts  zu  sagen,  als  daß  er  ganz 
gleichgültig  sey.  In  der  Religion  die  nicht  soll  abgöttisch  seyn,  muß  er 
nur  als  Mittel  betrachtet  werden,  und  nicht  als  wenn  man  sich  dadurch 
Gott  unmittelbar  könnte  wohlgefäUig  machen.  Derjenige  also,  der  uns 
die  Gebräuche  lehret  und  befiehlet,  muß  bemerken,  daß  sie  keinen  5 
andern  Werth  haben,  als  den  Werth  der  Mittel.  Alle  Irrlehren  haben 
einen  Einfluß  auf  die  Religion.  Der  Deismus  ist  schädlich,  wenn  ich 
sage,  daß  ich  mir  von  dem  Urwesen  keine  Eigenschaft  denke.  Der 
Begriff  von  Gott  ist  das  objectum  Theologiae. 

Der  Theismus  der  enthält  die  natürhche  Religion  in  sich,  es  ist  die  lo 
Erkenntniß  von  Gott,  sich  ihn  durch  bloße  metaphysische  praedicata 
zu  gedenken.  Die  Theologischen  Irrthümer  werden  hier  nur  betrachtet, 
sofern  sie  die  Religion  afficiren.  Auf  die  natürliche  Religion  ist  es 
höchst  schädlich  zu  schmälen,  indem  man  eine  geoffenbarte  hat, 

136  denn  /  sie  ist  das  unentbehrlichste  fundament  der  revelatae  Religionis,  i5 
ohne  sie  können  wir  keiner  redlichen  Gesinnungen  theilhaftig  werden. 

Ferner  giebt  es  Abgötterey,  da  man  theoretischer  Weise  sich  Gott 
richtig  denkt,  aber  im  practischen  Verstände  nicht. 

4.  Den  Polytheismus  kann  der  Mensch  nicht  in  den  Kopf  bekom- 
men, sobald  er  nur  eine  moralische  Idee  von  Gott  hat,  denn  es  giebt  20 
nur  ein  Wesen,  welches  das  allervoUkommenste  ist. 

5.  Der  Anthropomorphismus,  wodurch  man  sich  Gott  vorstellt 
in  Menschlicher  Gestalt,  ist  bloß  theoretisch. 

6.  Der  Socinianismus.  Wird  nur  im  Verhältniß  auf  die  Göttliche 
Vorhersehung  der  freyen  Handlungen  betrachtet.  Faustus  Socinus  25 
behauptete,  Gott  könnte  die  freyen  Handlungen  nicht  vorhersehen, 
und  glaubte  also  daß  die  Natur  der  Freyheit  dadurch  etwas  leide. 
Dieses  gehöret  eigentlich  nicht  zur  Natürlichen  Religion. 

7.  Fatalismus.  Alle  Begebenheiten  der  Welt  sollen  ohngeachtet 
der  Freyheit  schon  vorher  bestimmt  seyn.  Es  kann  dieses  ein  Deere-  30 
tum  despoticum  oder  absolutum  dictatorium  seyn,  daß  vor  sich  und 
unabhängig  determiniret.  Diese  Lehre  ist  wirklich  schädlich  im  prag- 
matischen Verstände.  Wenn  ich  behaupte,  daß  es  bloße  Schicksale 
gäbe,  so  kann  dadurch  1.  eine  große  Staats  Verwirrung  entstehen. 
2.  auch  in  Religions  Sachen,  hier  suchet  man  oft  Merkmale  um  zu  35 

137  sehen,  ob  man  dermahl/eins  Einwohner  des  Himmels  werden  kann, 
und  nimmt  man  davon  etwas  an,  so  wird  man  ganz  paßive. 

8.  Der  Pelagianismus.  Da  man  glaubt,  daß  die  Gottheit  könnte 
beleidiget  werden.  Gott  straft  nur  correctiv.  Die  Strafen  Gottes  können 


Praktische  Philosophie  Powalski  175 

wir  nicht  als  eine  Rache  ansehen,  sondern  nur  als  Folge  unserer  Ueber- 
tretungen  der  moralischen  Gesezze,  davon  Gott  der  Executor  ist: 
Denn  wenn  dieses  nicht  wäre,  so  würden  sie  ohne  Effect  seyn.  Aus  der 
Idee  der  Beleidigung  kann  die  Strafgerechtigkeit  Gottes  nicht  her- 
5  geleitet  werden.  Hier  wird  nur  Gott  als  Executor  der  moralischen 
Gesezze  angesehen.  Er  ist  der  oberste  Gesezzgeber,  er  ist  aber  auch  der 
Verwalter  der  moralischen  Gesezze. 

9.  Der  Epicureismus.  Da  man  die  Göttliche  Vorsehung  läugnet. 
Epicur  sagte :  Die  Gottheit  sey  in  ewiger  Ruhe.  Die  Ordnung  der  Welt 

10  sey  eiimiahl  eingeführt,  und  nun  könne  sie  ihren  Lauf  gehen.  Ferner 
sagte  er:  die  Dinge  der  Welt  wären  für  Gott  allzu  geringe,  und  er 
darüber  weit  erhaben.  Die  wahre  Größe  Gottes  bestehet  aber  darinn, 
daß  nichts  in  Ansehung  seiner  klein,  auch  nichts  zu  groß  ist. 

10.  Der  Enthusiasmus  und  Fanatismus  sind  sich  einander  nicht 
15  entgegen  gesezt.  Der  Enthusiasmus  ist  opponirt  der  Müßigkeit  in 

Ansehung  der  Gesinnungen  der  Religion.  Der  Fanatismus  ist  der  Ver- 
nunft opponiret.  Den  Enthusiasmum  kann  man  allenthalben/antreffen,  i38 
wo  ein  idealer  Grund  der  Entschließung  ist,  den  Enthusiasmum  kann 
man  sich  in  der  Freundschaft,  in  der  Liebe  vorstellen.  Die  Idee  der 

20  Freundschaft  hat  einen  großen  Reiz  bey  sich,  derjenige  der  diese  Idee 
für  walir  hält,  ist  ein  Phantast.  Derjenige  der  die  Ideen  realisiret, 
begehet  eine  Chimaere,  er  ist  ein  Phantast.  Die  Phantasterey  in  An- 
sehung guter  principien  ist  der  Enthusiasmus,  oder  ein  Phantast  ist  in 
Ansehung  einer  Idee  von  guter  Art  ein  Enthusiast.  Bey  dem  Enthu- 

25  siasmo  körmte  man  sagen,  daß  da  ein  wahres  zum  Grunde  liegt.  Das 
wird  aber  gar  nicht  in  der  Welt  angetroffen.  Alles  Ideale  der  wahren 
Vollkommenheit  hat  das  an  sich,  daß  es  diejenige  Menschen  erhizt, 
die  mit  guten  Gesinnungen  angefüllt  sind,  und  zwar  werden  die 
Menschen   dadurch    als    vom    Avirklichen    Gegenstande    erhizt.    Der 

30  Enthusiasmus  ist  eine  Art  (der  Enthusiast  ist  eine  Art)  von  Ueber- 
eilung  der  Idee  des  Gegenstandes,  welche  durch  die  affecten  gewirkt 
wird.  Derjenige  also  der  die  Uebereüung  der  Ideen  zum  Grunde  hat, 
ist  enthusiastisch.  —  Die  Hizze  ist  niemals  übler  angebracht,  als  wenn 
eine  Idee  zum  Grunde  liegt,  weil  dazu  vorzüglich  eine  große  Aufmerk- 

35  samkeit  erfordert  wird.  Alle  Hizze  ist  eine  Verwirrung  des  Verstandes, 
und  jede  Art  der  Verwirrung  bringt  den  Verstand  aus  seiner  Ver- 
faßung und  Ruhe.  Alle  Hizze  sezt  uns  in  Gefahr  ungereimt  und  lächer- 
lich zu  werden.  Nichts  hat  größere  Verwirrung  in  der  Welt  angerichtet, 
als  der  Heilige  Enthusiasmus  in  der  Religion. 


176  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

139  /Der  Enthusiasmus  ist  in  Ansehung  der  ReHgion  viel  schädhcher 
als  in  Ansehung  anderer  Dinge,  kein  größeres  Laster  hat  mehr  destruc- 
tion  angerichtet  als  die  Heilige  Hizze.  Die  Abergläubische  Hizze  ist  zu 
unwürdig  als  daß  sie  mit  der  Heiligen  Hizze  könne  verglichen  werden. 
Es  giebt  auch  eine  Hizze  des  Aberglaubens,  die  aus  der  bloßen  Nach-  s 
ahmung,  Erziehung  etc.  herrühret.  Abergläubisch  ist  kein  Enthusias- 
mus, sondern  wir  nennen  das  einen  Enthusiasmum,  wo  das  principium 
der  Vernunft  zum  Grunde  liegt,  oder  auch  eine  gute  Gesinnung. 

11.  Fanatismus.  Der  hat  seinen  Begriff  im  Blendwerk  des  Innern 
Sinnes.  Der  Grund  liegt  nicht  in  der  Idee  der  Vernunft,  sondern  in  lo 
einer  vermeinten  geistigen  Anschauung.  Die  Schwärmer  glauben  zu 
empfinden  die  unmittelbare  Einflüsse,  die  doch  übernatürlich  sind. 
In  Ansehung  der  äußern  Erscheinungen  laßen  sie  sich  betrügen. 
Sobald  man  dieses  einräumet,  so  ist  keine  Regel  mehr  unsers  Ver- 
haltens und  unserer  Handlungen.  Die  Schwärmerey  ist  der  Ver- 15 
rückimg  sehr  nahe,  weil  ein  solcher  Mensch  glaubt,  daß  Dinge  ihm 
nahe  seyn,  die  doch  weit  von  ihm  entfernet  sind. 

12.  Gleichgültig  in  Ansehung  der  Religion  seyn,  heißt  die  Wich- 
tigkeit der  Religion  gar  nicht  kennen,  oder  auch  ohne  Rehgion  seyn. 
Man  kann  gleichgültig  seyn  in  Ansehung  ge wißer  Gebräuche.  Man  20 
kann  in  vielen  Stücken  indifferent  seyn,  der  Indifferentismus 
führt  immer  einen  Tadel  bey  sich,  derjenige  ist  indifferent,  der  das 
was  eine  Wichtigkeit  hat,  für  gleichgültig  hält.  Der  Indifferentismus 

140  in  der  Religion  /  ist  sehr  schädlich.  Er  ist  die  Wirkung  des  bloßen 
Spiels  des  Wizzes,  wodurch  man  alle  Dinge  sehr  klein  macht.  Es  ist  25 
nichts  indifferenter  als  das  Gewißen.  Der  Enthusiasmus  kann  auch 
indifferent  genannt  werden.  Alle  vernünftige  moderate  Leute  nennt 
man  indifferent.  Der  Enthusiasmus  ist  nicht  der  Vorschrift,  sondern 
der  Herrschaft  der  Vernunft  opponirt.  Wenn  ein  affect  aus  der  Idee 
entspringt,  so  ist  es  der  Enthusiasmus,  und  derjenige,  der  durch  diese  so 
Idee  in  affect  gesezt  wird,  heißt  Enthusiast.  Unter  Idee  verstehe  ich 
nicht  einen  bloßen  Begriff,  sondern  einen  Begriff,  den  die  Seele  faßen 
kann.  Sie  ist  die  Vorstellung  die  erzeugt  worden  ist  nach  der  Regel 
der  Vernunft.  Alle  Tugend  Begriffe  sind  Ideen.  Die  Weisheit  beruhet 
auch  auf  Ideen.  Die  Klugheit  aber  auf  Erfahrungs  Gesezzen.  Es  giebt  35 
also  Enthusiasten,  die,  wo  die  Idee  eine  wirkende  Kraft  hat,  sie  bis 
zum  affect  bringen,  a.  der  Ernst  aber  unsrer  Vorstellungen,  b.  die 
Stärke  der  Triebfeder  zu  den  Handlungen,  muß  uns  gar  nicht  bis  zu 
den  affecten  treiben,  denn  dabey  wird  das  Gemüth  aus  seiner  Herr- 


Praktische  Philosophie  Powalski  177 

Schaft  gesetzt,  und  unsere  Handlungen  verliehren  die  Leitung  nach 
einer  Regel.  So  giebt  es  auch  Leute  die  aus  Enthusiasten  Misanthropen 
werden  (id  est  Menschenscheu)  und  dieses  rührt  aus  einer  Enthu- 
siastischen Empfindung  der  Tugend  her.  Der  Enthusiasmus  hat  fast 
5  immer  etwas  Edles  an  sich,  deswegen  muß  man  ihn  nicht  empfehlen.  /  i4i 
Den  Klugen  kann  man  ihn  zwar  empfehlen,  um  die  Dümmern  und 
schwächern  zu  leiten.  Die  affecten  bekommen  zulezt  den  Grad,  daß  sie 
sich  selbst  verfangen,  und  dieses  verursacht  oft  die  Hizze  in  der 
Freundschaft.  Jemehr  unsre  principia  geistig  seyn,  und  je  mehr  die  Be- 

10  wegung  auf  die  Vernunft  sich  gründet,  desto  weiter  müßen  wir  vom 
affect  entfernet  seyn.  Der  Enthusiasmus  ist  eine  Art  von  Verrückung. 
Er  ist  es  zwar  noch  nicht;  er  ist  es  aber  auf  dem  Wege,  und  dieses  ist 
auch  die  Schwärmerey.  Der  Enthusiasmus  ist  nur  ein  Wahnsinn,  der 
unterschieden  ist  von  der  Verrückung.  Der  verrückte  glaubt  äußer- 

15  liehe  Körperliche  Gegenstände  um  sich  zu  haben,  die  nicht  da  sind. 
Derjenige,  bey  dem  er  dann  und  wann  entspringt,  ist  ein  Phantast. 
Diese  Phantasterie  ist  ein  Wahnsinn,  und  betrifft  nur  die  inneren  Vor- 
stellungen. Wenn  die  Empfindungen  andre  rege  zu  machen  scheinen, 
so  ist  dieses  ein  Wahnsinn.  Die  Türken  haben  noch  bis  izo  die  Meinung, 

20  daß  ein  jeder  Verrückter  ein  Heiliger  sey,  von  dem  sie  allerley  Vorher- 
sagungen erwarten.  Diese  Schwärmerey  ist  der  gesunden  Vernunft 
entgegen. 

13.  Rationalismus  (die  Vernünfteley)  ist  die  Bestrebung,  die  Ver- 
nunft über  die  Grenzen  der  Erfahrung  zu  gebrauchen.  Man  kann  diese 

25  Vernünfteley  auf  zwofache  Art  betrachten. 

/  L  Insofern  sie  eine  Verwirrung  im  Gebrauch  der  Vernunft  ist,  i« 
2.  Wenn  man  die  Dreistigkeit  verwirft,  mit  der  ein  solcher  Ge- 
brauch der  Vernunft  statt  findet. 

a.  Man  glaubt  durch  die  Vernünfteley  in  der  Religion  alles  zu  ver- 

30  stehen.  Das  speculative  von  Gott  und  Göttlichen  Dingen  ist  in  An- 
sehung unserer  etwas  ganz  unnöthiges,  weil  die  Bedingungen,  die  da- 
zu beytragen,  zum  bloßen  vernünfteln  gehören.  In  der  Religion  ist  es 
sehr  schädlich  zu  vernünfteln.  Denn  die  Religion  hat  sehr  einförmige 
principia.  Das  Vernünfteln  in  der  Religion  macht  das  practische  der- 

35 selben  zu  etwas  Theoretischem;  und  schlägt  endlich  zum  analogon 
vom  Rehgions  Eifer  aus.  Handle  recht  und  sey  recht,  sonst  ist  das 
Vernünfteln  darinn  unnüz. 

b.)  Die  Vernunft  reicht  nicht  über  die  Grenzen,  die  durch  die 
Erfahrung  determiniret  seyn.  Wir  müßen  aber  auch  nicht  die  Er- 

12     Kaufs  Schriften  XXVII/l 


178  Vorlesungen  über  MoralpWlosophie 

kenntniße  die  über  das  Feld  der  Erfahrung  gehen,  und  die  wir  nicht 
durch  die  Vernunft  erkennen  können,  verwerfen.  Die  Grundsäzze  der 
Religion  hingegen  sind  unwandelbar,  und  können  hergeleitet  werden 
ex  principiis,  die  ganz  unumstößlich  sind. 

14.  Scepticismus.  Ist  eine  Neigung  zum  Zweifel.  Es  ist  eine  Art  5 
von  Dialectic  sich  im  Streit  beßer  zu  erkennen,  welches  aber  einen 
großen  Verdruß  der  Vernunft  macht.  Hier  ist  zu  bemerken  der  Zweifel 

143  des  /  Aufschubs  der  Grundsäzze.  Der  Zweifel  ist  die  Misologie  (der 
Vernunfthaß).  In  der  Theologie  ist  der  Scepticismus  weit  schädlicher 
als  der  Rationalismus,  weil  doch  die  Grundsäzze  der  Religion  wie  lo 
schon  gesagt,  ganz  unwandelbar  sind,  wenn  auch  die  Religion  noch 
Mangelhaft  ist. 

Vom  Zutrauen  auf  Gott  und  Ergebung 
in  den  Göttlichen  Willen. 
Ein  jeder  Mensch  hat  immer  etwas  zu  wünschen,  entweder  ad  i5 
melius  eße,  einen  größeren  Grad  des  Wohlbefindens  zu  haben,  oder  um 
etwas  anders.  Mit  diesem  Wunsche  flehen  sie  das  Wesen  an,  durch 
deßen  Willen  dieselben  können  erfüllt  werden.  Kein  Wunsch  aber  ist 
so  groß  als  der,  daß  sich  die  Macht  dieses  Wesens  mit  ihm  vereinige, 
welches  seinen  Mangel  ergänze,  und  das  was  nicht  in  seiner  Gewalt  ist.  20 
seinen  Grenzenlosen  Wünschen  ertheile.  Man  muß  aber  in  allen  Wün- 
schen sich  mäßigen,  und  sich  zulezt  in  den  Göttlichen  Willen  ergeben. 
Diese  Bescheidenheit  ist  ein  Resultat  eines  guten  und  vernünftigen 
Willens.  Denn  wenn  ich  annehme  ein  Göttliches  Wesen,  welches  weiß 
was  der  Welt  zuträglich  ist,  und  ich  nicht  selbst  weiß,  was  mir  gut  25 
thun  würde,  wenn  es  mir  ertheilt  wird,  so  steht  es  mir  auch  gar  nicht 
frey  der  Gottheit  vorzuschreiben,  was  sie  mir  mittheilen  soll.  Die 
Ergebung  in  den  Göttlichen  Willen  kommt  also  nicht  aus  Fröhlichkeit, 
sondern  aus  der  puren  Vernunft.  Ein  declarirter  Wunsch  der  Mit- 
theilung desjenigen,  was  das  Höchste  Wesen  für  gut  hält,  ist  ein  30 

144  Gebeth.  Kein  Gebeth  muß  /  bestimmt  seyn,  sondern  unbestimmt. 
Es  kann  wohl  bestimmt  seyn,  wenn  es  auf  das  schlechthin  gute  gehet. 
In  Ansehung  des  guten  aber,  was  bedingterweise  gut  seyn  kann,  oder 
in  Ansehung  des  Physischen  guten,  kann  ich  unmöglich  etwas  be- 
stimmen. Also  müßen  alle  Gebethe  ihrer  Natur  nach  allgemein  seyn.  35 

Die  Ergebung  in  den  Göttlichen  Willen  ist  eine  pure  Einschränkung 
unserer  Wünsche  durch  die  Vernunft.  Der  Mensch  ist  höchst  unge- 
reimt, welcher  die  Höchste  Regierung  gleichsam  nach  seinen  projecten 


Praktische  Philosophie  Powalski  179 

lenken  will.  Diese  declarirte  Wünsche  müßen  im  Glauben  geschehen. 
Im  Glauben  bitten,  heißt  dasjenige  bitten,  von  dem  wir  vernünftiger 
Weise  glauben  können,  daß  es  uns  Gott  nach  seiner  Weisheit  gewähren 
werde.  Denn  wenn  ich  mich  so  verhalte,  daß  ich  so  viel  ich  kann,  mich 
5  an  die  Vorschriften  der  Gesezze  halte,  so  kann  ich  auch  hoffen,  daß 
mich  Gott  gemäß  meines  Verhaltens  der  Glückseehgkeit  theilhaftig 
machen  werde.  Ohne  Bestimmung  der  besondern  Wünsche,  Gegen- 
stände, Art  und  Fälle,  in  welchen  uns  Gott  helfen  soll,  beten,  heißt  also 
mit  Zutrauen  auf  die  Göttliche  Gütigkeit  beten.  Der  Glaube  der  bey 

10  einem  bestimmten  Gebeth  ist,  ist  nur  ein  fingirter  Glaube  und  eine 
Vermeßenheit,  und  dies  heißt  der  Frevel,  wodurch  man  Gott  versucht, 
dieses  heißt  ein  unvernünftiger  Glaube,  und  heißt  so  viel,  als  wenn  ich 
meinen  Fall  vor  /  der  Göttlichen  W^eißheit  bestimmen  wollte.  Der  145 
practische  Glaube  ist  vom  Theoretischen  unterschieden.  Der  prac- 

15  tische  Glaube  ist  ein  unbedingtes  Zutrauen.  Das  Beten  im  Glauben 
heißt  das  Beten  im  unbedingten  Zutrauen.  Das  unbedingte  Zutrauen 
ist  das  Vertrauen  auf  die  einstimmende  Absicht  eines  andern  Wesens, 
so  ferne  wir  dieselbe  zu  bestimmen  nicht  nöthig  haben.  Das  Zutrauen 
ist  bedingt,  wenn  ich  ihm  die  Bestimmung  gebe,  unbedingt  aber,  Avenn 

20  ich  dieses  nicht  thue.  Das  unbestimmte  Zutrauen  in  Ansehung  Gottes 
ist  allein  vernünftig.  Es  wäre  nichts  weniger  fröhlich  für  die  Menschen, 
als  wenn  ihre  Bestimmungen  den  Göttlichen  Ratschluß  bestimmen 
könnten. 

Ich  kann  nur  um  das  Geistige  bestimmt  bitten.  Alles  was  auf  die 

25  Moral  gehet,  das  ist  ein  erhörliches  Gebeth.  Nur  durch  unsere  Morali- 
taet  können  wir  der  Göttlichen  Erhörung  würdig  werden.  Die  Gebethe 
des  Menschen  sind  oft  bestimmend,  und  zwar  nicht  auf  morahsche 
Dinge  sondern  angesehen  als  natürliche  Sehnsucht  des  Menschen,  die 
er  in  Ansehung  des  Höchsten  Regierers  der  Welt  in  sich  nicht  unter- 

30  drücken  kann.  Er  hat  aber  nichts  zu  bitten,  als  daß  ihn  der  Himmel  aller 
Wohlthaten  würdig  machen  möchte.  Denn  die  Menschen  würden  da- 
durch unglücklich  sejni,  wenn  ihnen  all  ihr  bitten  sollte  gewähret  werden, 
weil  ihr  mehrestes  bitten  ungereimt  ist.  Das  unbeding/te  Zutrauen  im  i46 
Gebeth  ist  der  Glaube,  der  Geist  des  Glaubens  soll  uns  jederzeit  bey- 

35  wohnen.  Bey  Menschen  ist  der  Buchstabe  durchaus  nöthig,  ob  er 
öfters  doch  nur  eine  Ehren  Bezeugung  ist.  Die  Wörter  sind  dahero  un- 
vollständig, weil  man  nur  Gedanken  Gott  mitzutheilen  hat.  Der  Geist 
des  Gebeths  macht  das  Wesentliche  des  Gebeths  aus.  Die  Wörter  sind 
nur  vehicula  der  Gedanken.   Der   Geist  des   Gebeths  bestehet  im 


180  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

moralischen  unbedingten  Zutrauen  auf  den  Göttlichen  Beystand. 
Moralisch  ist  das  Gebeth,  wenn  ich  mich  nach  den  moralischen 
Gesezzen  verhalte,  und  also  eine  gewiße  Erhörung  erwarten  kann. 
Der  Geist  des  Gebeths  ist  von  der  Art,  daß  er  keine  Zeit  wegnimmt. 
Die  Heilige  und  gute  Gesinnung  der  Seele  ist  bejoii  Gebeth  das  Haupt-  5 
werk.  Wenn  die  Gesinnungen  einmahl  gegründet  seyn,  so  brauchen  sie 
nur  Mittel  zum  cultiviren.  Eine  gute  Handlung  excolirt  unsre  gute 
Gesinnungen.  Der  Buchstabe  des  Gebeths  ist  aber  auch  nicht  zu  ver- 
achten, denn  er  hat  den  Werth  der  Mittel.  Die  Andacht  ist  eine  exci- 
tation  unserer  WillkührUchen  Gottseeligen  und  devoten  Gesinnungen  10 
gegen  Gott.  Devote  Gesinnungen  sind  die,  welche  mit  der  Tugend 
verbunden  sind .  Das  Gebeth  ist  ferner  vel  pragmatisch  vel  mora- 
lisch. Das  pragmatische  Gebeth  ist  ein  Mittel  des  Erwerbs  der  zeit- 

I4r  liehen  Güter,  das  morahsche  Gebeth  aber  wird  be/trachtet  als  ein 
Mittel  Gott  wohlgefällig  zu  seyn,  das  erste  geschiehet  aus  Bedürfniß,  15 
das  andere  aber  aus  devotion.  Dergleichen  Gebethe,  die  unsere  Glück- 
seehgkeit  zur  Absicht  haben,  sind  soferne  eingeschränkt,  daß  wir 
sehen  müßen,  ob  wir  auch  deßen  würdig  sind.  Auch  sind  die  mora- 
lischen Gebethe  von  der  Art,  daß  wir  nichts  bestimmen  können,  so  daß 
wir  nur  das,  was  uns  das  Höchste  Wesen  ertheilt,  von  deßen  Güte  20 
erwarten.  Bestimmte  Bitten  sind  nicht  dem  Verhältniße  in  welchem 
die  Menschen  mit  Gott  stehen,  angemeßen,  indeßen  ist  die  Mensch- 
liche Natur,  wenn  sie  in  Noth  ist,  von  der  Art,  daß  sie  das  gegen- 
wärtige vor  allem  am  meisten  wünscht,  die  Vernunft  kommt  ihr  aber 
hier  zm-  Hülfe,  und  fragt,  ob  es  auch  nüzlich  und  ob  es  nicht  ein  Frevel  25 
gegen  Gott  ist  ?  —  Der  Geist  des  Gebets  ist  immer  bey  dem  Menschen. 
Wenn  ich  also  annehme,  der  Geist  des  Gebeths  wohne  beständig  bey 
dem  Menschen  und  bey  allen  Unternehmungen,  so  ist  auch  offenbahr, 
daß  das  Gebeth  auch  für  uns  nüzlicher  ist,  als  für  das  Höchste  Wesen. 
Das  Gebeth  ist  nur  ein  Mittel,  unsere  Gesinnungen  in  Ansehung  des  so 
Höchsten  Wesens  mehr  zu  beleben,  und  den  Nachdruck  unserer 
devotion  zu  vergrößern.  Die  wahrhaftige  Religion  bestehet  in  den 
Gesinnungen,  die  Gott  ergeben  und  auch  zugleich  bestrebt  sind,  sich 
vollkommen  dem  Willen  Gottes  gemäß  zu  verhalten,  die  Andacht 
besteht  in  dem  Zustande  des  Gemüths  die  Gott  ergebene  Gesinnungen  35 

148  zu  /  beleben.  Hier  giebts  verschiedene  Mittel,  als  Predigten,  solenne 
Versammlungen  etc.  Diese  Handlungen  sind  Mittel,  wozu  auch  das 
Gebeth  gehört.  Die  de  votische  Gesinnungen  die  in  uns  practisch  erzeugt 
werden,  sind  die  Andachten  der  Frömmigkeit. 


Praktische  Philosophie  Powalski  181 

Weil  das  Gebeth  dieses  nicht  hervorbringt,  ist  das  Beten  nicht  an 
und  vor  sich  selber  Gott  gefällig,  sondern  die  Gesinnung  die  alsdenn 
practisch  wird.  Das  Gebeth  ist  nur  ein  Mittel  gegen  uns  selbst,  um  die 
gute  und  Gottseelige  Gesinnung  hervorzubringen,  oder  doch  dazu  das 

o  Herz  zu  eröffnen.  Nur  allein  dadurch  können  wir  sittlich  gut  werden. 
Die  Gebethe  als  eine  unmittelbare  Veränderung  Gottes  zu  betrachten 
ist  eine  Anthropopathie.  Wir  dienen  Gott,  sofern  wir  seinen  Befehlen 
gehorchen  oder  seinen  Gesezzen  gemäß  leben ;  wir  lieben  ihn,  wenn  wir 
seine  Gebothe  gerne  thun.  Alle  Liebe,  die  nicht  practisch  ist,  sondern 

10  als  ein  Gefühl  betrachtet  wird,  sezt  immer  eine  Anschauung  zum  vor- 
aus. Aller  Bewegungs  Grund,  der  uns  antreibt,  eine  Pflicht  gerne  zu 
thun,  ist  ein  Bewegungs  Grund  der  Liebe.  Kinder  lieben  die  Eltern  aus 
LTeberlegung,  die  Eltern  aber  die  Kinder  aus  reinem  Instinct.  Die  Liebe 
in  wahrem  Verstände  genommen  und  betrachtet,  ist  eine  Pflicht. 

15  Diejenige  aber,  die  man  sich  in  Ansehung  /  des  höhern  Verstandes  als  149 
ein  Gefühl  zu  erwelcken  sucht,  ist  eine  mystische  Liebe.  Die  mystische 
Liebe  ist  nicht  aus  Pflicht,  sondern  aus  einer  Empfindung.  Sie  sezt 
immer  eine  Empfindung  Gottes  zum  voraus,  daß  er  ein  Gegenstand 
unsrer  Empfindungen  und   Gefühle  werde.   Die  Liebe  Gottes  aber 

20  ist  die  Liebe  aus  Pflicht,  wenn  wir  Gott  gerne  gefällig  zu  seyn  such- 
ten, auf  die  Art  ist  sie  liebenswürdig  in  unsern  Augen,  und  denn  ist 
die  Liebe  practisch.  Menschen  sind  nicht  zufrieden,  wenn  man  sie 
aus  Pflicht  liebet,  denn  die  Liebe  aus  Empfindungen  hat  mehr  an 
sich,  was  das  ganze  Herz  einnimmt,  und  hat  auch  mehr  Triebfedern  als 

25  die  Liebe  aus  Pflicht.  Gott  ist  aber  kein  Gegenstand  der  Empfindung 
und  Anschauung.  Die  mystische  Liebe  nähert  sich  dem  Fanatismus, 
die  practische  Liebe  aber  gehöret  zum  wahren  Gottes  Dienste. 
Moralisch  ist  etwas  schwer,  wovon  ich  keinen  pflichtmäßigen  Grund 
einsehen  kann,  dahero  sind  uns  alle  Observanzen  schwer.  Die  mystische 

30  Liebe  sucht  ihre  Liebe  mit  dem  Ideal  anzufangen,  sie  sucht  ihr  Herz 
mit  Empfindungen  zu  erfüllen,  die  sie  sich  selbst  macht.  Auf  solche  Art 
sucht  sie  auch  in  ihrem  Herzen  von  Gott  ein  Ideal  hervorzubringen, 
da  er  doch  kein  Gegenstand  der  Empfindung  seyn  kann. 

Die  Liebe  besteht  in  der  moraUschen  Gesinnung,  /  den  Willen  Gottes  150 

35  gerne  zu  thun.  Alle  Rehgion  besteht  in  der  Gesinnung,  die  Liebe  gegen 
Gott  ist  moralisch,  mystisch  wenn  sie  eine  vermeintliche  Empfindung 
Gottes  ist,  die  aus  der  Anschauung  entspringet.  Es  giebt  eine  Liebe 
(wie  schon  gesagt)  entweder  aus  Gefühl  oder  aus  Pfhcht.  Die  erste  ent- 
springt aus  Eindrücken,  die  andere  aus  reflexionen.  Die  Menschen 


182  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

mögen  gerne  die  Liebe  aus  Gefühl  haben  und  nicht  aus  reflexion  denn 
die  Liebe  aus  reflexion  ist  veränderlich,  und  die  Bande  der  Liebe  aus 
Gefühl  sind  auch  fester  als  die  andern.  Gott  ist  aber  kein  Gegenstand 
der  Anschauung,  also  ist  unsere  Liebe  zu  ihm  eine  pflichtmäßige  Liebe. 
Die  mystische  Liebe  ist  eine  gewiße  Erkenntniß  von  Gott,  die  nicht  5 
aus  der  Vernunft,  sondern  aus  einer  vermeinten  Anschauung  her- 
kommt; Gott  ist  ein  Wesen  um  deßen  Willen  wir  schon  von  Natur 
bewogen  werden,  ihn  mit  dem  unsrigen  zu  verbinden.  Von  der  Güte 
eines  solchen  Wesens  kann  ich  nicht  solche  Vorstellungen  aus  der 
Empfindung  haben.  Die  Vorstellung  von  der  Güte  beruhet  darauf  daß  lo 
das  Wesen  seine  Güte  so  beweist,  daß  es  eine  Aufopferung  kostet.  Wer 
nicht  etwas  aufopfert  zu  unserm  besten,  deßen  Güte  werden  wir  nicht 
so  leicht  erkennen.  Wir  sind  so  geartet,  daß  wir  das  Maaß  der  Liebe 
gegen  andere  nach  dem  was  es  ihn  gekostet  hat,  haben.  Plutarchus 

151  hat  die  Meinung  gehegt  daß  Gott  neidisch  sey,  da/her :  Gott  ertheilt  i5 
dem  Menschen  vieles,  es  kostet  ihn  aber  nichts,  und  er  könnte  uns  also 
noch  mehr  bringen,  ohne  daß  es  ihm  beschwerlich  sey,  oder  einen  Auf- 
wand koste ;  sondern  sein  Wille  wird  nur  bloß  dazu  erfordert.  Von  dem 
Grad  der  moralitaet   können    wir  uns  nicht  anders  einen  Begriff 
machen,  als  wenn  wir  wißen,  was  es  für  eine  Ueberwindung  gekostet  20 
hat.  Wir  können  nicht  sagen,  weil  die  Göttliche  Macht  alles  verschaf- 
fen könne,  so  ist  die  Liebe  Gottes  in  Ansehung  der  Menschen  sehr 
klein,  denn  die  empfundene  Liebe  aus  Pflicht  findet  hier  nicht  statt. 
Wir  können  Gott  mu"  durch  unser  thun  und  laßen  verehren.  Die  Furcht 
Gottes  ist  der  Liebe  Gottes  nicht  opponirt,  sondern  sie  ist  die  Liebe  25 
wenn  man  etwas  aus  einem  andern  moralischen  Grunde  thut.  Die 
Furcht  ist  moralisch  so  wie  die  Liebe.  Sie  ist  kindlich,  aber  nicht 
knechtisch.  Die  Ehrfurcht  gegen  Gott  können  wir  den  Menschen  nach 
den  principiis  der  Sinnlichkeit  eher  eindrücken  als  die  Liebe.  Die 
Göttliche  Größe  drückt  uns  Ehrfurcht  ein,  denn  alle  Größe  läßt  sich  30 
sinnlich  machen.  Die  Göttliche  Größe  kann  in  uns  durch  die  uner- 
meßlichkeit seiner  Macht  einen  erhabenen  Begriff  von  Gott  hervor- 
bringen. Furcht  vor  Gott  läßt  sich  sehr  leicht  einprägen,  aber  damit 
diese  Furcht  moralisch  sey,  so  muß  sie  mit  einem  gewißen  Erstaunen 

I5ä  verbunden  seyn.  Die  moralische  Furcht  vor  Gott  bestehet  darinn,  /  35 
daß  man  die  Gebothe  Gottes  zu  thun  bereit  ist,  darum,  weil  sie  eine 
moralische  Wirkung  haben.  Wir  zeigen  Ehrfurcht  gegen  Gott,  wenn 
wir  seine  Gebothe  für  Achtungswürdig  halten.  Die  Göttliche  Gebothe 
sind  das  Fundament  aller  Rechte  und  aller  Ordnungen,  deswegen  sind 


Praktische  Philosophie  Powalski  183 

sie  Aclitungswerth.  Die  Furcht  Gottes  ist  also  der  moralische  Anfang 
seiner  Gebothe.  Die  Furcht  vor  Gott  macht  nur  in  unsern  Handlungen 
eine  Vollkommenheit  aus.  Die  Furcht  vor  Gott  muß  ein  practischer 
Grund  seyn,  morahsch  ist  er  aber,  wenn  ich  die  Gebothe  Gottes  wegen 
5  ihi-er  Schönheit  thue  und  nicht  aus  Furcht  vor  seiner  Macht.  Die 
Furcht  ist  nicht  moralisch.  Wenn  die  moralische  Furcht  nicht  in  der 
Seele  haften  will :  so  muß  die  Furcht  vor  Gott  hinzugefügt  werden,  da 
man  sich  alsdenn  vor  dem  erzürnten  und  beleidigten  Richter  und  vor 
Gott  fürchtet.  Wir  müßen  uns  da  nicht  Gott  als  einen  furchtbaren 

10  Richter  vorstellen,  wo  noch  die  Gütigkeit  eines  Regierers  etwas  ver- 
mögen kann;  den  Bösewicht  werden  wir  durch  die  Furcht  vor  Gott, 
und  den  Menschen  der  durch  die  moral  gerühret  werden  kann,  durch 
die  Furcht  Gottes  zu  guten  Handlungen  treiben  können.  Gewißen- 
haftigkeit  und  Gottesfurcht  haben  einerley  Bedeutung.  Die  Gewißen- 

15  haftigkeit  ist  bloß  moralisch,  und  die  Gottesfurcht  ist  diese  moralitaet 
angewandt  auf  die  Theologie.  Die  /  Religion  ist  einerley  Begriff  mit  153 
der  Gewißenhaftigkeit.  Die  Gewißenhaftigkeit  ist  nichts  anders  als  die 
praecision  und  pünctlichkeit  der  Angemeßenheit  unserer  Handlungen 
mit  den  moralischen  Regeln.  Alle  Gewißenhaftigkeit  ist  leer,  wenn  sie 

20  nicht  mit  der  Erkenntniß  von  Gott  verbunden  ist.  Wenn  keiner  wäre 
die  Menschlichen  Laster  zu  bestrafen,  so  hätte  die  Gewißenhaftigkeit 
gar  keine  Energie.  Die  Gottesfurcht  ist  das  größte  und  schönste  Wort. 
Sie  ist  die  Gewißenhaftigkeit,  die  mit  der  Vorstellung  eines  Heiligen 
Wesens  verbunden  ist.  Die  Frömmigkeit  ist  die  Fertigkeit  in  cultu 

25  divino  oder  die  Bestrebung  Gott  zu  dienen.  Der  Gottes -Dienst  ist  im 
moralischen  Verstände  die  Beobachtung  unserer  Pflicht  aus  dem  Gött- 
lichen Willen.  Der  pragmatische  Gottes-Dienst  ist  die  celebration  sol- 
cher Handlungen,  die  die  Mittel  sind,  unsere  Gesinnungen  zu  erhöhen 
und  zu  stärken.  Wie  die  Gesinnungen  gegen  Gott  durch  solche  Mittel 

30 zu  stärken  sind;  so  ist  auch  der  Gottes-Dienst  im  stricten  Verstände, 
die  Beschäftigung  mit  Göttlichen  Handlungen,  nach  seinem  (Gottes) 
Willen.  Ein  Mensch  veredelt  sich  nicht  durch  die  Größe  des  Gegen- 
standes, sondern  durch  seine  Wirkung;  wodurch  also  der  Mensch 
gebeßert  wird,  das  gehöret  zum  Wesen  der  Religion,  die  Beschäftigung 

35  /  mit  Göttlichen  Dingen  unter  guten  Gesinnungen  sofern  sie  den  Werth  i54 
der  Mittel  haben,  ist  der  Gottes-Dienst.  Der  Gottes-Dienst  ist  die 
Beflißenheit  gegen  Gott  und  zwar  äußerlich.  Die  innerliche  Beschaffen- 
heit ist  die  Frömmigkeit ;  die  Gewißenhaftigkeit  und  Gottesfurcht  sind 
nur  den  Triebfedern  nach  unterscliieden. 


184  Vorlesungen  über  Moralpliilosophie 

Wenn  ich  vom  gewißenhaften  Menschen  rede,  so  suppomre  ich  daß 
Gottesfurcht  in  ihm  ist,  denn  wenn  dieses  nicht  ist,  so  ist  er  ein  dogma- 
tischer Atheist.  Ein  dogmatischer  Atheist  ist  jederzeit  mit  Lastern 
verbunden.  Der  sceptische  Atheismus  kann  statt  finden  bey  Personen, 
die  eben  nicht  boshaft  sind.  Die  Gottesfurcht  macht  unsere  Hand-  5 
lungen  rehgieuse.  Die  Gottesfurcht  kann  man  nicht  eine  Liebe 
nennen :  denn  die  Liebe  zu  Gott  ist  die  Höchste  morahsche  Volllcom- 
menheit,  die  der  Mensch  erlangen  kann.  Die  Liebe  Gottes  ist  also 
höher  als  die  Gottesfurcht.  Die  Furcht  ist  immer  das,  was  am  meisten 
bey  dem  Menschen  Eindruck  macht,  denn  Furcht  vor  einem  L^ebel  lo 
findet  sich  ein  als  Hoffnung  zum  beßern  Schicksale.  Die  Liebe  zu 
Gott,  die  sich  auf  Hoffnung  der  Glückseehgkeit  gründet  ist  eine 
Hoffnung  wozu  a.  eine  Ueberzeugung  b.  eine  moralische  Vollliommen- 
heit  gehöret. 

155  /  Wir  können  hier  zwey  Abweichungen  von  der  Religion  bemerken  is 

A.  die  Irrehgion  oder  die  Gottes-Vergeßenheit  und  Gottlosigkeit. 
Die  Gottes-Vergeßenheit  bestehet  bloß  in  der  Achtlosigkeit  in  An- 
sehung der  Religion  und  kann  statt  finden  bey  dem  Menschen,  der 
zwar  nicht  im  Höchsten  Grad  Lasterhaft  ist,  sondern  der  nicht  be- 
denkt, daß  ein  Wesen  seine  Handlungen  siehet,  und  ihn  einmahl  20 
richten  wird. 

Die  Ruchlosigkeit  zeigt  ein  großes  Laster  an,  das  mit  der  Gottlosig- 
keit verbunden  ist.  Diese  sind  positive  Gegentheile  der  Religion. 
Wenn  ich  aber  nicht  die  Gegentheile  sondern  die  Religion  überhaupt 
betrachte,  wie  sie  verderbt  worden  ist,  so  ist  da  zu  bemerken  25 

aa.  Die  Andächteley  und 

bb.  der  Aberglaube. 

Die  Andächteley  heißt  sonst  bigotterie  und  führet  gerade  zu  der 
Schwärmerey.  Die  Andächteley  zeigt  sich  in  lauter  Beschäftigung  mit 
Göttlichen  Dingen  und  bestehet  darinn,  daß  wir  die  gute  Handlung  ^^ 
und  Beschäftigung  mit  Göttlichen  Dingen  als  hinreichend  annehmen, 
Gott  zu  gefallen.  Die  Andacht  ist  ein  Fehler  der  Nachsicht  verdienet, 
aber  doch  sorgfältig  gemieden  werden  muß.  Die  öftere  Beschäfti- 
i56gungen  mit  Göttlichen  Betrachtungen  bey  der  Andächteley  /  bringt 
einen  Hang  zu  einer  Phantastischen  Anschauung  hervor ;  wenn  der  35 
Mensch  eine  übernatürliche  Anschauung  zu  haben  glaubt,  ist  die 
Schwärmerey  eine  Folge  der  Andächteley. 


Praktische  Philosophie  Powalski  185 

B.  Der  Aberglaube  ist  eine  knechtische  Unterwerfung.  Der  natür- 
Hche  Aberglaube  ist  die  Vorstellung,  daß  natürliche  Handlungen  den 
effect  der  übernatürlichen  haben.  Der  Aberglaube  kann  auf  Unwißen- 
heit  gegründet  seyn,  oder  er  kann  mit  Kunst  eingeführet  werden. 

5  Mancher  Aberglaube  ist  so  sinnreich  erfunden,  daß  er  in  der  bürger- 
lichen Verfaßung  einen  Nuzzen  schaffen  kann,  obgleich  derselbe  in  der 
Religion  schadet.  Der  Aberglaube  ist  nicht  ein  so  schädlicher  Fehler 
als  die  Schwärmcrey,  denn  die  Schwärmerey  ist  mit  einer  vernünftigen 
Anschauung  verbunden,  und  wenn  das  mitgetheilt  wird,  so  hört  alle 

10  menschliche  Ordnung  auf.  Der  Aberglaube  führt  oft  grausame  Wir- 
kung bey  sich.  Der  Aberglaube  ist  ein  despotismus  über  die  Gewißen, 
er  gehört  aber  für  Sclaven.  Der  Aberglaube  hängt  an  Sazzungen 
welche  keine  Gesezze  sind,  und  wenn  der  Aberglaube  regieret,  so  kann 
er  über  die  Gewißen  sehr  gewaltthätig  seyn.  Die  Schwärmerey  findet 

lö  gemeinhin  in  Republiquen,  und  der  Aberglaube  in  monarchischen 
Staaten  statt.  Die  größten  Schwärmer  sind  die  Quäker  in  Engelland. 


/  Vom  äußern  Gottesdienste.  ist 

Alle  Religion  ist  innerlich,  denn  sie  dient,  die  Gesinnungen  unsers 
Willens  dem  Willen  Gottes  conform  zu  machen.  Die  Gesinnungen 

■20  werden  als  Mittel  angesehen,  so  müßen  sie  rechtschaffen  und  auch 
practisch  seyn.  Die  äußere  Religion  ist  eine  contradictio  in  adjecto. 
Aeußere  Dinge  können  mit  der  Religion  zusammenhängen,  ohne  daß 
sie  ihr  wiederstehen  entweder 

1.  Als  Bewegungs  Gründe  oder  2.  als  Mittel  und  3.  als  Folgen. 

25  Das  äußere  der  Religion  macht  nicht  immer  den  äußerhchen  Gottes- 
dienst aus,  allein  das  äußere  der  Religion  soferne  es  ein  Mittel  ist,  die 
Gesinnungen  der  Religion  in  dem  Menschen  zu  erwecken,  beleben  und 
practisch  zu  machen,  wird  zum  cultu  externo  gerechnet.  Eine  gewiße 
Sache  kann  äußerlich  keinen  Werth  haben,  aber  oft  kann  sie  doch  das 

30  innerliche  und  die  Gedanken  der  Menschen  auf  Gott  richten.  Viele 
äußere  Handlungen  befördern  die  Gesinnungen  der  Menschen.  Sie  sind 
Mittel  dieselbe  zu  unterstützen.  Es  giebt  auch  gewiße  Worte,  die  die 
Gedanlcen  zu  beßern  leiten  als  die  andern.  Es  ist  also  nicht  alles 
äußerliche  in  Ansehung  des  Innern  gleichgültig.  Es  giebt  auch  gcAviße 

35  Mittel,  um  die  Rehgion  äußerlich  auszubreiten  und  sie  andern  mitzu- 
theilen.  Von  der  Art  ist  die  Feyerung  der  Sonn  und  Fest  Tagen,  das 
Singen  in  der  Kirche.  Alle  /  äußern  Handlungen  der  Religion  können  iss 


186  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

niemahlen  einen  innern  Werth  haben,  sondern  sie  werden  als  Mittel 
angesehen,  das  innere  der  Religion  zu  stärken  und  zu  beleben.  Alles 
dieses  äußerliche  nennt  man  opus  operatum,  verdienstliches  Werk. 
Opus  operatum  ist,  wenn  man  das  als  eine  unmittelbare  Art  des 
Gottes-Dienstes  ansiehet,  was  nur  den  Werth  eines  Mittels  hat :  5 
In  Ansehung  Gottes  können  wir  keine  Handlungen  ausüben,  sondern 
nur  Gesinnungen.  Das  äußere  der  Religion  können  wir  auch  an 
Zeichen  sehen,  von  was  für  Religion  jemand  ist.  Doch  ist  ein  äußeres 
Zeichen  niemahls  gewiß  in  Ansehung  der  Gesinnungen,  die  der  Mensch 
hat,  weil  sie  Zeichen  von  dem  seyn  können,  was  er  nicht  hat.  Wir  kön-  :o 
nen  also  niemahlen  anderer  Religion  aus  der  Celebration  gewißer  Ge- 
bräuche erkennen. 

Um  das  mannigfaltige  des  äußern  der  Religion  kann  also  kein 
Mensch  verkezzert  werden.   Wir  können  deswegen  nur  den  einen 
Kezzer  nennen,  der  einen  Grundsazz  hat,  der  den  moralischen  Gesin- 15 
nungen  wiederstreitet.  Cultus  externus  kann  also  nicht  einen  Unter- 

15»  schied  machen  in  den  Religionen,  nur  in  den  /  formalitaeten  derselben, 
denn  es  kann  nur  eine  wahre  und  nicht  viele  Religionen  geben.  —  Das 
opus  operatum  kann  eine  Art  von  irreligion  seyn  bey  allem  cultu 
externo.  Wenn  eine  Handlung  die  ein  Mittel  der  Religion  ist,  als  ein  20 
wesentliches  Stück  der  Religion  angenommen  wird,  wenn  die  Mittel 
für  die  Zwekke  angenommen  werden,  wodurch  wir  Gott  unmittelbar 
gefallen  könnten,  das  sind  opera  operata. 

Es  giebt  Menschen  die  sich  ihrer  devotion  schämen,  andere  die  mit 
ihren  devoten  Gesinnungen  prahlen,  und  das  ist  die  ostentatio  pietatis.  25 
Wenn  es  hier  auf  die  Wahl  ankäme,  so  sollte  man  diejenigen  wählen, 
welche  religieuse  sind  und  es  verheelen,  denn  die  befürchten,  man 
möchte  sie  für  Heuchler  halten.  Diese  Art  von  Blödigkeit  und  Scham- 
haftigkeit,  Merkmahle  in  Ansehung  der  religieusen  Gesinnungen 
blikken  zu  laßen,  als  im  Zustande  der  devotion  angetroffen  zu  seyn,  3o 
ist  das  Betragen  eines  Menschen,  der  Aufrichtigkeit  und  Bescheiden- 
heit bey  sich  führet,  dagegen  die  ostentatio  pietatis,  die  Bestrebung, 

160  seine  Reli/gion  den  Leuten  in  die  Augen  fallen  zu  laßen,  ist  verbunden 
mit  einem  Gemüth  das  leer  von  Religion  ist. 

Je  bescheidener  der  Mensch  ist,  je  mehr  er  wahre  delicateße  der  35 
Religion  besizt,  desto  weniger  ist  er  die  Ursache  eines  falschen  Gebets. 
Denn  Gott  ist  ein  bloßer  Gegenstand  der  Gedanken.  Eine  Sprache  in 
Ansehung  Gottes  ist  zwar  nicht  möglich,   die  Menschen  haben  sie 
zwar  sehr  nöthig  als  Zeichen  ihrer  Gedanlvcn.  Aber  wir  haben  keine 


Praktische  Philosophie  Powalski  187 

Zeichen  der  Gedanken  in  Ansehung  Gottes,  folglich  ist  der  Buchstabe 
in  Ansehung  Gottes  ganz  überflüßig,  und  nur  der  Geist  nicht.  Ein 
Mensch  kann  aber  auch  nicht  zu  sich  selbst  reden,  weil  er  sonst  für 
einen  Schwärmer  gehalten  würde,  denn  ostentatio  pietatis  ist  eine 
5  Art  von  Eitelkeit,  wo  der  Mensch  glaubt,  sich  Ansehen  bey  andern  zu 
machen,  denn  es  giebt  Fälle,  wo  die  Heiligkeit  und  Frömmigkeit 
ein  großes  Glück  in  der  Welt  erworben  haben.  Es  giebt  auch  Leute 
welche  mit  Ausdrükken  die  Verachtungswürdig  sind  von  der  Religion 
reden,  und  verfallen  in  eine  Ruchlosigkeit,  indem  sie  bigotterie  ver- 

10  meiden  wollen.  Orthodox  heißt  das  was  alles  Rechte  der  Lehre  in  sich 
faßt,  und  dies  würde  die  wahre  Kirchen  Lehre  der  Religion  seyn.  /  Es  lei 
bedeutet  die  große  Lehre  der  großen  Kirche,  die  Menge,  welche  die 
Mehrheit  der  Stimmen  ist.  Der  Orthodoxe  im  Bürgerlichen  Verstände 
ist  der,  der  aus  angenommenen  Lehren  eine  Bürgerliche  Regel  macht, 

15  und  verlangt  ihr  öffentlich  beyzustehen;  die  allgemein  recipirte  und 
von  der  großen  Menge  accomodirte  Lehre  ist  eine  Regel  der  Nach- 
ahmung. In  der  Landes  Religion  steckt  immer  ein  Geboth,  daß  Jeder- 
mann derselben  gleich  sein  soll.  Dies  ist  nicht  ein  Geboth  des  Gewißens, 
sondern  nur  Bürgerliche  Verfaßung.  Der  Orthodoxe  in  sensu  stricto  ist 

20  der,  der  einen  Zwang  auf  die  Gewißen  legen  will,  dieser  Orthodoxe 
macht  Kezzer,  indem  er  sagt,  daß  es  alle  diejenigen  seyn,  die  extra 
ecclesiam  universalem  leben  und  extra  ecclesiam  nulla  salus  est. 

Die  Heterodoxie  ist  nicht  immer  eine  haeresis,  denn  sie  darf  nicht 
allemahl  auf  die  moral  gehen,  dadurch  wird  der  Mensch  nicht  ein 

25  böser  Mensch,  denn  wenn  er  nichtswürdig  ist,  so  ist  er  doch  nicht  ein 
haereticus.  Nichts  verdammter  kann  seyn  als  Bosheit,  verdammt  aber 
kann  nur  der  werden,  der  böse  Grundsäzze  annimmt.  —  Die  ostentatio 
der  Religion  ist  eine  Eitelkeit,  die  Jedermann  in  die  Augen  fällt,  die  blin- 
de Nachahmung  aber,  da  man  nicht  gerne  in  der  Religion  unterschieden 

30  und  Separatist  ge/nennet  werden  will.  —  Es  giebt  Scandala  data  et  I6S 
Scandala  accepta.  Scandalum  datum  ist  eine  Handlung,  die  als  ein 
äußerlicher  Bewegungs  Grund  zur  Nachahmung  dienet,  und  Scanda- 
lum acceptum  ist  die  Handlung,  die  besonders  angenommen  zum 
bösen  Gebrauch  kann  gemacht  werden. 

35  Von  den  Pflichten  gegen  sich  selbst. 

Es  ist  merkwürdig  daß  in  keinem  punct  der  Moral  mehr  Un Vollstän- 
digkeit herrscht,  als  in  den  Pflichten  gegen  sich  selbst,  und  besonders 
in  der  Idee  was  die  Pflicht  gegen  sich  selbst  bedeutet.  Man  kann  vieles 


188  Vorlesungen  über  Moralpliilosophie 

werden,  aber  ohne  eine  bestimmte  Idee,  und  so  redeten  viele  Philo- 
sophen von  den  Pflichten  gegen  sich  selbst,  ohne  die  wahre  Idee  davon 
zu  haben.  Eben  so  kann  man  die  Regel  des  Rechts  vieKältig  erkennen, 
gleichwohl  kann  doch  die  Idee  des  Rechts  fehlen.  Wenn  aber  die 
bestimmte  Rechts-Idee  fehlet,  so  fehlen  auch  die  Unterscheidungs-  5 
Zeichen  der  Gesezze,  der  klugen  Handlungen  gegen  sich  selbst.  Die 
sittliche  Selbstliebe  verläuft  weit,  und  geschiehet  aus  selbstsüchtigen 
Absichten,  so  daß  die  Pflicht  gegen  sich  selbst  nichts  anders  zu  seyn 
scheinet,  als  die  Sorge  der  VoUl^ommenmachung  seiner  Selbst,  die 

1C3  Sorgfalt,  /  seine  eigene  Absichten  zu  erreichen  und  seine  Wohlfahrt  zu  lo 
befördern. 

Die  Philosophen  hielten  diese  Lehre  von  den  Pflichten  gegen  uns 
selbst  für  eine  der  wichtigsten.  Sie  haben  davon  nicht  nur  mit  einer 
großen  Weitläuftigkeit,  sondern  auch  mit  einem  großen  äff ect  geredet, 
dieweil  die  Pflichten  gegen  sich  selbst  eine  gewiße  Art  von  Zweydeutig- 15 
keit  haben,  da  sie  scheinen  1.  ein  Verhältnißzu  seyn  wozu  die 
Bewegungs  Gründe  in  uns  liegen,  2.  eine  Lehre  der  Klugheit,  seine 
eigene  wahre  Glückseeligkeit  zu  befördern.  Nun  ist  die  Moral  die 
Bedingung  unter  der  wir  unserer  Glückseeligkeit  theilhaftig  werden 
können.  Also  ist  die  Moral  nicht  eine  Lehre  die  uns  zeiget  wie  A\ir 20 
beschaffen  seyn  sollen,  sondern  die  Lehre  der  Klugheit,  die  uns  zeiget, 
wie  wir  unserer  Glückseeligkeit  würdig  werden  können.  Die  Pflichten 
gegen  sich  Selbst  sind  größer  als  alle  andere  Pflichten. 

Alle  Pflichten  gegen  sich  selbst  beruhen  in  der  Uebereinstimmung 
der  Handlungen  mit  der  Würde  des  Menschen,  seine  eigene  Person  zu  25 
schäzzen,  oder  in  seiner  eigenen  Person  die  Menschheit  nicht  zu  ent- 
ehren. Die  Würde  des  Menschen  kann  groß  seyn,  wenn  auch  sein  Zu- 
stand bejammernswürdig  ist.  Seine  Würde  bestehet  wenn  ein  Mensch 
seinem  Unglück  mit  unerschrockenem  Muth  entgegen  gehet:  AUe 

164  Pflichten  beruhen  nicht  /  in  unserm  Verhalten,  sondern  in  der  eigenen  30 
Würde  des  Menschen. 

Wir  haben  verschiedene  Fälle,  wo  die  Menschen  in  ihren  Pflichten 
gegen  sich  selbst  fehlen. 

1.  der  filzige  Geiz,  der  nicht  für  sich  selbst  lebet,  der  auch  das 
entbehren  könnte,  was  er  vor  seinen  Mangel  hält.  35 

2.  die  Feigheit  im   Unglück 

3.  die  Wegwerfung  der  Freyheit.  Wenn  jemand  aus  Feigheit 
oder  aus  Habsucht  eine  Gemächlichkeit  zu  genießen  seine  Freyheit 
wegwirft.  Dieser  wirft  alle  Freyheit  weg,  er  entehret  die  Würde  der 


Praktische  Philosophie  Powalski  189 

Menschheit  in  seiner  eigenen  Person,  und  wird  ein  Instrument  des 
Willens  eines  andern.  —  Es  ist  weit  gefehlet,  daß  die  Pf  höhten  auf 
einem  Vortheil  beruhen  sollten,  als  daß  vielmehr  viele  Vortheile  auf- 
gehoben werden  müßen,  wenn  es  die  Pflichten  gegen  sich  selbst  er- 
5  fordern. 

4.  Die  äußerliche  Sorge  für  das  Leben.  Das  Leben  ist 
moralisch  verlohren,  wenn  ich  es  durch  die  Mittel  erhalte,  welche  nicht 
Averth  der  Würde  der  Menschheit  sind. 

5.  das  Lügen.  Die  Namen  der  Laster  die  unser  Mißfallen  an  den- 
10  selben  ausdrükken,  sind  nach  der  Verschiedenheit  der  Laster  auch 

verschieden,  die  Namen  die  das  Verbrechen  gegen  uns  ausdrükken, 
erwekken  einen  Ekel  und  Verachtung,  dahingegen  diese  welche  ein 
Verbrechen  gegen  andere  ausdrükken  einen  Haß  /  erwecken.  Ueber- 165 
haupt  trifft  Verachtung  den  der  sich  selbst  entehret,  Haß  aber  den  der 
15  andern  schadet. 

6.  die  versoffenen  Leidenschaften  machen  den  Menschen 
zum  Gegenstand  der  Verachtung.  Das  Trinken  schadet  zwar  nicht  so 
viel  als  das  viele  Eßen,  es  ist  doch  aber  ein  niederträchtiges  Laster, 
der  Mensch  entehrt  sich  selbst,  er  wird  dadurch  ganz  verächtlich.  Die 

20  Pflichten  gegen  sich  selbst  haben  eine  sehr  große  Ausdehnung.  Die 
moralische  Regeln  sind  alle  praecepta  die  andern  sind  nur  consiha. 

7.  Ein  Mensch,  der  unbesonnener  Weise  schulden  macht,  und  nicht 
bedenkt  wie  er  sie  bezahlen  kann,  entehret  sich  selbst.  Denn  ein 
solcher  Mensch  muß  sich  dem  despotischen  Willen  desjenigen,  dem  er 

25  schuldig  ist,  unterwerfen. 

8.  In  der  Noth  von  andern  Wohlthaten  anzunehmen  ist  auch  der 
Pflicht  gegen  sich  selbst  entgegen.  Obgleich  es  nicht  eine  sehr  große 
Verlezzung  der  moral  ist,  so  ist  es  doch  niederträchtig.  Ein  Mensch 
muß  lieber  in  Kummer  leben,  als  so  niederträchtig  seyn.  Die  Pflichten 

30  gegen  uns  selbst  müßen  nicht  mit  den  Regeln  der  Klugheit  verwech- 
selt werden,  die  auf  unsern  Vortheil  gehen,  denn  sie  sind  Regeln  der 
Sittlichkeit,  die  wir  gegen  uns  selbst  auch  mit  dem  größten  Verlust 
zu  leisten  schuldig  sind.  Alle  Menschen  haben  gegen  sich  /  selbst  eine  lec 
Liebe  des  Wohlwollens,  welche  die  eigenhebe  heißt  in  sensu  speciali. 

35  Alles  was  aus  der  Neigung  des  Wohlwollens  gegen  sich  selbst  ent- 
springt, heißt  Selbstsüchtig.  Süchtig  wird  entweder  überhaupt  das 
genannt,  was  schon  zum  affect  geworden,  welches  den  Menschen  so 
plötzlich  fortreißt,  daß  es  ihm  nicht  Zeit  läßt,  seinen  ganzen  Zustand 
zu  erwägen.  Selbstsüchtig  nennt  man  einen  Menschen  der  entweder 


190  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

ehrgeizig  oder  eigenliebig  ist.  Die  moralische  Gesezze  sind  nicht  selbst- 
süchtig, indem  sie  nicht  die  Befriedigung  unserer  Neigungen,  Begier- 
den zur  Absicht  haben,  sondern  ganz  categorisch  gebieten.  Das  prin- 
cipium  der  Pflichten  gegen  uns  selbst  bestehet  in  der  Uebereinstim- 
mung  unserer  Handlungen  mit  der  Würde  der  Menschheit.  5 

Wir  können  die  Regeln  unseres  Wohlverhaltens  auf  zweyerley  Weise 
bestimmen  1.  a  priori  durch  die  Vernunft  2.  a  posteriori  durch  die 
Neigung.  A  priori  sind  die  Regeln  moralisch,  a  posteriori  aber  pragma- 
tisch, die  moralischen  Regeln  die  die  Pflichten  gegen  uns  betreffen, 
müßen  a  priori  bestimmt  seyn,  id  est  sie  müßen  unabhängig  von  den  lo 
Neigungen  bestimmt  seyn.  Pragmatisch  sind  die  Regeln,  die  sich  nur 

161  a  posteriori  bestimmen  laßen,  das  heißt  die  Bedin/gung  ist  aus  unsern 
Sinnen  hergenommen,  wodurch  die  Pflicht  gültig  wird.  Gültig  wird  sie 
hier,  wenn  sie  mit  unsern  Neigungen  zusammenstimmt,  sie  sind  also 
auch  empirisch  bedingt.  Wenn  diese  Bedingung  a  priori  bestimmet  ist,  i5 
denn  ist  sie  moralisch,  wenn  sie  aber  von  einer  empirischen  Bestim- 
mung abhängt,  denn  ist  sie  pragmatisch.  Alle  Noth wendigkeit  unserer 
Handlungen  muß  a  priori  moralisch,  das  heißt  unabhängig  von  allen 
Neigungen  und  Begierden  bestimmt  seyn.  Da  die  moralischen  Regeln 
a  priori  bestimmt  werden  müßen,  so  sehe  ich  daraus  ein,  daß  sie  sich  20 
auf  die  ursprünglichen  Regeln  unserer  selbst,  id  est  auf  die  Regeln  der 
Menschheit  beziehen,  und  daß  die  Bestimmung  der  Handlungen  dem 
wesentlichen  Zwekke  der  Menschlichen  Natur  gemäß  sey.  Die  wesent- 
liche Zv/ekke  der  Menschheit  sind  die  Gründe  der  Möglichlceit  der 
Menschheit  selbst.  Was  den  wesentlichen  Zwekken  der  Menschheit  25 
wiederspricht,  das  ist  auch  den  Pflichten  gegen  uns  selbst  entgegen. 
So  ist  es  der  Pflicht  der  Menschheit  entgegen,  sich  seine  Freyheit  selbst 
zu  nehmen,  oder  sie  wegzuwerfen.  Da  der  Mensch  nicht  ein  Geschöpf 
ist ,  das  pathologisch  neceßitiret  werden  kann,  sondern  das  seinen  frey- 
en  Willen  hat,  so  ist  es  auch  der  finis  der  Natur,  daß  er  sich  in  keinen  so 

168  Zustand  begeben  soll,  worinn  die  Willkühr  /  anderer  über  ihn  dispo- 
niren  soll,  kurz  er  soll  nicht  seine  Freyheit  aufgeben.  Auf  keinerley 
Weise  müßen  wir  das,  was  zu  unserem  Zustande  und  Glückseeligkeit 
gehört,  für  eine  Pflicht  gegen  uns  selbst  halten.  Denn  die  moral  führet 
uns  nicht  zur  Glückseeligkeit  selbst,  sondern  sie  ist  die  Regel  die  uns  35 
zeigt,  wie  wir  der  Glückseeligkeit  würdig  werden  können.  Zwar  nach 
den  Regeln  der  Klugheit  bin  ich  zur  Beförderung  meiner  Glückseelig- 
keit verbunden  aber  nicht  nach  moralischen.  Der  Mensch  handelt  den 
Pflichten  gegen  sich  selbst  nicht  entgegen,  wenn  er  den  Armen  mit 


Praktische  Philosophie  Powalski  191 

Freuden  das  seinige  aufopfert.  Der  Werth  des  Zustandcs  ist  von  dem 
Werth  der  Person  sehr  weit  unterschieden.  Man  bemerkt  oft,  daß 
Menschen,  die  einen  großen  Persönlichen  Werth  haben,  sehr  wenig  das 
Leben  achten.  Dahingegen  diejenige,  deren  Werth  sehr  geringe  ist, 

5  ihr  Leben  sehr  hoch  schäzen.  Die  Pfhchten  sind  die  Regeln  der  Ueber- 
einstimmung  der  Handlungen  mit  den  ursprünglichen  Zweklien  der 
Natur.  Der  Mensch  schändet  sich  selbst,  wenn  er  diesen  ursprünglichen 
Zwekken  entgegen  handelt.  Ursprüngliche  Zwekke  sind  die,  welche  die 
Bedingung  waren,  wodurch  die  Menschliche  Natur  allein  möglich  war. 

10      Die  Zwekke  die  in  der  Idee  liegen,  sind  die  Ursprüng/lichen  Zwekke.  i69 
Der  Mißbrauch  den  der  Mensch  wieder  die  Ursprünglichen  Zweklve 
seiner  Natur  macht,  ist  die  Schändung  seiner  eigenen  Person.  —  Die 
Aufmunterung  im  Gebrauch  seiner  eigenen  Natur,  gemäß  den  ur- 
sprünglichen Zwekken,   ist  die  Tugendhafte   Gesinnung  gegen  uns 

15  selbst.  Die  crimina  carnis,  wo  der  Mensch  seine  Natur  mißbraucht,  und 
also  wieder  die  erschwinglichen  Zwekke  handelt,  sind  die  Schändung 
seiner  selbst.  Wer  sich  preis  giebt  dem  unbedingten  Willen  anderer, 
der  schändet  auch  die  Würde  der  Menschheit  in  seiner  eigenen  Person. 
Das  Leben  ist  moralisch  verlohren,  wenn  es  nur  durch  Mittel  die  den 

20  ursprünglichen  Zweldvcn  der  Natur  zuwieder  seyn,  erhalten  wird.  — 
Aller  Werth  der  Moral  bestehet  darinn,  daß  ihre  Handlungen  a  priori 
bestimmt  seyn.  Eben  so  müßen  auch  die  Pflichten  gegen  sich  selbst, 
sich  auch  a  priori  bestimmen  laßen.  Die  Moral  giebt  Regeln,  die  unab- 
hängig sind  von  allem  dem  was  empirisch  ist  (mein  Glück  bestehet 

25  darinn,  wenn  ich  nach  meiner  Meynung  leben  kann,  und  nicht  nach 
anderer).  Der  wahre  erste  Grund  der  ursprünglichen  Zweld^e,  wodurch 
mein  Daseyn  bestimmt  wurde,  ist  a  priori.  Hierdurch  kann  ich  mein 
Verhalten  determiniren. 

/Die  Erhaltung  seines  Lebens  ist  nicht  eine  unbedingte,  sondern  iro 

30  eine  mittelbare  und  bedingte  Pflicht.  Wenn  ich  der  Mittel  unwürdig 
bin,  die  mein  Leben  erhalten  können,  so  hört  die  Pflicht  auf,  mein 
Leben  zu  erhalten.  Coram  foro  externo  kann  die  Erhaltung  des  Lebens 
nicht  der  Grund  seyn  von  der  Imputation  eines  Verbrechens  gegen 
seine  Mitmenschen,  denn  ich  kann  keinen  Menschen  zAvingen  mit 

35  Recht,  auf  sein  eigenes  Leben  Verzicht  zu  thun,  um  eines  andern 
Leben  zu  erhalten.  Der  Begriff  der  ganzen  Pflicht  gegen  sich  selbst 
beruhet  fürnehmlich  auf  dieser  Haupt  Idee.  Der  Mensch  ist  nicht 
befugt  über  sich  selbst  zu  disponiren.  Das  Eigenthum  ist  die  Befugniß, 
die  eine  Person  hat  über  ihre  Sache  oder  Substanz  zu  disponiren.  Das 


192  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

Dominium  bedeutet  die  Sachen,  sofern  sie  unter  dem  Willen  eines 
andern  stehen.  Disponiren  heißt  eigentlich  alles  nach  belieben  be- 
schließen, ohne  daß  der  Wille  eingeschränkt  wird. 

Ein  Mensch  hat  den  usum  und  fructum  über  sich  selbst,  aber  sein 
Recht  in  Ansehung  seiner  ist  restringirt,  unter  der  Bedingung,  daß  5 
seine  Handlungen  dem  wesentlichen  Zwekke  gemäß  seyn.  Er  ist  also 

iTi  nur  der  Verwalter  der  Menschheit  in  seiner  Person,  und  /  nicht  sein 
Eigenthümer.   Jemand  kann   Rechte  haben,    die   gleichwohl   keine 
Dominia  sind.  In  sensu  iuridico  hat  der  Mensch  ein  eigenthümliches 
Recht  über  sich  selbst,  ausgenommen  beym  Selbstmorde,  wobey  er  lo 
einen  cruden  Grund  hat.  In  sensu  ethico  ist  es  aber  wiedersprüchlich, 
daß  ein  Mensch  über  sich  selbst  disponiren  könnte,  oder  daß  er  sein 
Eigenthum  seyn  könnte.  Denn  der  Mensch  ist  ja  nicht  durch  sich 
selbst,  sondern  durch  den  Willen  eines  andern  hervorgebracht,  folglich 
wird  er  auch  seine  Substanz  dem  Willen,  der  Ursache,  die  ihn  hervor-  is 
gebracht,  gemäß  dirigiren.  Ein  jedes  Eigenthum  sezt  zum  voraus,  daß 
es  muß  erworben  werden,  ein  Mensch  besizt  sich  aber  nicht  originaire, 
deswegen  weil  er  da  ist.  Er  kann  zwar  über  seinen  Zustand  aber  nicht 
über  seine  Person  disponiren,  sonderlich  in  solchen  Sachen  die  den 
wesentlichen  Zweldcen  der  Natur  entgegen  sind.  ZE.  Wenn  eine  Toch-  20 
ter  wegen  der  Befreyung  ihres  Vaters  den  Wollüsten  eines  Menschen 
sich  aufopfert.  Der  Mensch  kann  aus  seiner  Person  nicht  eine  Sache 
machen,  und  sie  aus  der  Ordnung  nicht  herausbringen,  die  den  Zwek- 
ken  der  Menschheit  entgegen  ist.  Durch  die  Lüge  wird  die  Tauglichkeit 
der  Sprache,  unsere  Gedanlcen  miteinander  zu  communiciren,  zer-  25 
rüttet.    Sie    ist    oft    äußerst    schädlich.  Mancher   Mensch   lügt  aus 

172  Gut/herzigkeit,  um  einem  andern  die  Zeit  zu  vertreiben,  indeß  ist  dies 
doch  niederträchtig  und  Verachtungswerth.  Kein  höherer  Grund  der 
Mißbilligung  kann  seyn  als  die  Verachtung.  Durch  die  Uebertretung 
der  Pflicht  gegen  sich  selbst  wird  ein  Mensch  ein  Gegenstand  3o 
der  Verachtung,  der  Haß  ist  nicht  so  groß  als  die  Verachtung.  Da  nun 
die  Pflicht  gegen  sich  selbst  die  größeste  ist,  so  ist  auch  eine  Ueber- 
tretung eine  Verachtung,  die  noch  mit  Haß  verbunden  ist.  Dasjenige 
wird  gehaßt,  was  nur  schädlich  ist.  Wenn  ich  etwas  haße,  so  verringere 
ich  lücht  den  Werth  eines  Dinges,  sondern  nur  das  Verhältniß  in  35 
welchem  es  mir  schädlich  ist,  der  innere  Werth  einer  Person  und  einer 
Sache  wird  gar  nicht  gehaßt,  denn  nur  die  Verachtung  trifft  den 
inneren  Werth.  Die  Verachtung  ist  das  nothwendige  der  Mißbilligung 
in  Ansehung  des  inneren  Werths  der  Person,  und  das  ist  Nichtswürdig. 


Praktische  Philosophie  Powalski  193 

Nichtswürdig  zu  seyn  ist  weit  schlimmer  als  Haßenswürdig,  denn 
hierinn  kann  er  doch  noch  in  einigen  Stükken  Achtungswürdig  seyn, 
der  Nichtswürdige  aber  ist  in  keinem  Stükke  Achtungswürdig,  die 
Verachtung  ist  die  äußerste  Bestrafung  eines  Menschen,  der  noch 
sein  wenig  Ehre  hat. 

Ich  kann  handeln  von  den  Pflichten  gegen  sich  selbst  /  1.  In  An-  in 
seliung  der  inneren  Mittel  der  Sittlichkeit  und  2.  In  Ansehving  deßen 
Avas  nicht  moralisch  ist.  Es  ist  eine  Haupt  Pflicht  gegen  mich  selbst, 
daß  alles  bey  mir  zum  Grunde  lieget,  was  zur  Moralitaet  gehöret. 

10  Eine  Haupt  Pflicht  in  Ansehung  der  Moralitaet  ist,  daß  wir  uns 
nicht  in  dem  was  unsere  Sittlichlveit  betrifft,  auf  andere  verlaßen, 
sondern  wir  müßen  es  mit  unseren  eigenen  Augen  betrachten.  Mora- 
lische Säzze  können  durch  den  Glauben  angenommen  werden.  In  An- 
sehung deßen  wir  verbunden  sind,  dazu  können  wir  auch  unsere 

i.T  eigene   Einsicht  haben.   Wir  sind  also   nicht  verbunden  etwas   als 

Moralisch  anzunehmen,  bis  wir  die  vim  obligatoriam  eingesehen  haben. 

Der  Innbegriff  der  Pflichten  ist,  daß  wir  alle  Mittel  der  Sittlichkeit 

zum  Grunde  der  Moralischen  Vollkommenheiten  legen,  die  Mittel  sind 

1.  Die  Selbst  Erkenntniß. 

20  2.  Die  Erkenntniß  der  Moralischen  Gesezze  und  deren  Gesezz 
Gebers. 

3.  Die  Erkenntniß  der  Welt,  soferne  sie  vor  uns  ein  object  der 
Moralitaet  ist. 

Wir  erkennen  uns  selbst,  insofern  wir  die  Menschheit  erkennen  in 

25  abstracto  und  in  concreto,  so  ferne  wir  die  Beschaffenheit  der  übrigen 
Theile  davon  betrachten.  Wir  müßen  /  hier  die  wahre  Bestimmung  des  n4 
Menschen  betrachten.  Die  Würde  und  auch  die  Gebrechlichkeiten  sind 
die  Bedingungen  der  Sittlichkeit  oder  die  Gründe,  unter  denen  die 
Handlungen  mit  den  allgemeinen  Gesezzen  übereinstimmen.  Es  giebt 

30  objective  und  subjective  Gesezze  der  Sittlichkeit.  Die  objective  beste- 
hen in  der  Erkenntniß  des  wahren,  guten,  und  heiligen,  welches  bey  je- 
dem. Wesen  muß  angetroffen  werden.  Die  subjective  Bedingung  der  Sitt- 
lichkeit ist  der  Mensch .  Als  Mensch  betrachtet  hat  er  eine  gewi  ße  Bestini - 
mung,  auf  der  Welt,  von  der  andern  Seite  hat  er  auch  Gebrechlichkeiten 

35  und  Hinderniße  der  Beförderung  der  Sittlichkeit.  Die  Bestimmung  der 
Menschlichen  Natur  ist  die,  wie  er  sich  dem  moralischen  Gesezz  gemäß 
verhalten  soll,  er  muß  sich  1.  als  ein  Mensch  2.  als  ein  privat  Subject 
erkennen.  —  Alle  Pflichten  sind  von  der  Art,  daß  sie  sich  hauptsäch- 
lich auf  die  Würde  der  Menschheit  gründen.  Die  Menschheit  in  meiner 

13     Kanfs  Schriften  XXVII/1 


194  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

eigenen  Person  erkennen,  ist  die  Würde  der  Welt  kennen.  Wenn  der 
Mensch  seine  eigene  Würde  nicht  kennt,  so  hat  er  auch  nicht  Be- 
ns wegungs/Gründe  seine  Würde  zu  befördern.  —  Die  Selbst  Erkenntniß 
kann  Physisch  und  Empirisch  seyn  und  gehöret  zur  Wißenschaft  der 
Speculation.  Man  kann  also  einen  Menschen  studiren  wie  einen  Theil  5 
der  Natur,  und  zwar  muß  ich  ihn  nach  dem  Charakter  studiren.  Das 
Studium  des  Menschen  ist  das  Studium  des  Charakters,  dieses  Studium 
ist  sehr  unterhaltend,  und  beynahe  das  unterhaltendste,  wie  solches 
aus  der  Anthropologie  zu  sehen.  Das  Studium  seiner  selbst  ist  aber 
beschwerlich  und  nicht  unterhaltend,  der  Mensch  hat  einen  Unwillen  lo 
sich  selbst  zu  erkennen,  weil  er  sich  oft  zerstreuet,  und  in  seinen  Augen 
gar  kein  object  des  Wohlgefallens  ist,  diese  Untersuchung  ist  aber  doch 
sehr  nöthig.  Jezt  kommen  wir  an  die  Selbstschäzzung.  Der  Werth  des 
Menschen  muß  sehr  hoch  angeschlagen  werden,  denn  er  ist  ein  Product 
der  Höchsten  Weisheit,  und  hier  auf  Erden  das  Meisterstück  der  10 
Schöpfung,  doch  muß  die  Schäzzung  des  Werths  der  Menschen  nicht 
die  Grenzen  der  Menschheit  und  Thierheit  übersteigen,  denn  sonsten 
ist  es  eine  Enthusiasterey,  denn  sie  haben  den  Werth  ihres  Wesens 
so  hoch  angeschlagen,  daß  er  nicht  als  ein  Mensch  sondern  als  ein  Gott 
176  von  /  ihnen  betrachtet  war,  der  Mensch  ist  zwar  in  Ansehung  des  20 
Zwecks  sehr  erhaben,  aber  die  Kraft  denselben  zu  erreichen  ist  bey 
ihm  sehr  schwach.  Wenn  wir  den  Charakter  der  Menschheit  überhaupt 
in  abstracto  betrachten,  so  sehen  wir,  daß  er  Ursach  hat  demüthig  zu 
seyn.  Die  Menschheit  ist  sehr  gebrechlich,  wenn  wir  sie  in  Verhältniß 
mit  dem  Heiligen  Gesezz  stellen.  Die  Demuth  ist  die  Selbstschäzzung  25 
sofern  sie  eingeschränkt  ist  durch  das  Verhältniß  zu  dem  vollkomme- 
nen Gesezz,  sie  ist  also  eine  Tugend.  Wenn  wir  durch  das  Verhältniß 
zu  den  moralischen  Gesezzen  unsere  Urtheile  über  unseren  Werth  ein- 
schränken, so  sind  wir  demüthig.  Der  Eigendünkel  ist  die  Selbst- 
schäzzung die  dem  Verhältniße  zum  Gesezze  nicht  proportionirt  ist ;  so 
von  der  Art  ist  auch  der  Ehrgeiz.  Die  Demuth  und  Eigendünkel  sind 
opposita.  Nur  das  moralische  Gesezz  und  das  Verhältniß  zu  demselben 
macht  uns  demüthig.  Die  Demuth  ist  nicht  eine  Geringschäzzung, 
sondern  die  Einschränkung  der  Selbstschäzzung.  Das  privat  Urtheil 
unserer  selbst  muß  uns  auch  in  unsern  Augen  nicht  geringschäzzig  35 
machen.  Denn  die  Demuth  besteht  nur  in  der  Selbstschäzzung,  welche 
ur  durch  die  Heiligkeit  der  Moralischen  /  Gesezze  moderirt  und  einge- 
schränkt wird,  die  Schäzzung  seiner  selbst  muß  nicht  verhältniß  weise 
mit  andern  Menschen,  sondern  absolute  nur  mit  der  Zusammen  Hai- 


Praktische  Philosophie  Powalski  195 

tung  mit  dem  moralischen  Gesezz  geschehen.  Die  Selbst  Schäzzimg  im 
Verhältniß  zu  andern  Menschen  ist  eine  comparative  Schäzzung.  Die 
comparative  Schäzzung  rührt  her  vom  Wahn.  In  der  Vergleichung  mit 
andern  Mensehen  ist  kein  bestimmtes  Maaß;  alle  Moralitaet  gründet 

5  sich  nicht  auf  Beyspiele  sondern  auf  die  Idee  und  auf  das  Gesezz  der 
Vernunft.  Dies  Gesezz  muß  eine  völlige  Richtigkeit  haben  und  muß 
gar  keine  Rücksicht  auf  unsere  Schwachheit  haben.  Ohne  ein  richtiges 
Gesezz  haben  wir  gar  kein  Maaß  uns  zu  beurtheilen,  diejenigen  die 
sich  absolut  schäzzen  wollen,  müßen  sehen,  daß  das  Gesezz  wonach 

10  sie  sich  schäzzen,  auch  richtig  sey.  Wenn  das  Gesezz  nicht  praecise 
ist,  dann  ist  die  Schäzzung  unserer  ganz  corrupt.  Diejenigen  Moralisten 
welche  das  moralische  Gesezz  blandiren  oder  nachsichtlich  gemacht, 
haben  das  ganze  Fundament  der  Moralitaet  erschöpft. 

Darinnen  bestehet  nicht  die  moralische  Demuth,  daß  ich  mich 

15  anderer  Stolz  unterwerfe,  denn  das  ist  weit  gefehlet,  daß  das  zu  einer  /  irs 
edlen  Gemüths  Art  gehöret,  daß  man  sich  andern  unterwerfe,  dieses 
ist  eine  practische  Tugend.  Demüthig  ist  der,  der  den  Werth  in  Ver- 
gleichung gegen  das  Heilige  Gesezz  einsieht.  1.  von  der  Demuth  2.  von 
der  Neigung  zu  vergeben,  haben  die  Alten  gar  nicht  gewußt.  Gegen 

20  andere  Menschen  haben  wir  nur  eine  proportionirte  Selbst  Schäzzung, 
nur  das  Verdienst  und  nicht  das  Glück  betrifft  der  Saz.  Man  soll  nicht 
zu  viel  nicht  zu  wenig  thun,  zeigt  ein  gewißes  Maaß  an,  innerhalb 
welchem  die  Volllcommenheit  bestehen  kann,  zu  viel  heißt  mehr  als 
gut  ist,  zu  wenig  heißt  weniger  als  gut  ist.  In  Ansehung  einiger  Hand- 
ys lungen  die  an  sich  selbst  gut  sind,  kann  die  bloße  Größe  sie  übel 
machen.  Hierzu  gehört  also  Enthaltsamkeit  von  allerley  Genüße,  wenn 
ich  diese  aber  allzu  sehr  abkürze,  so  wird  sie  schädlich.  Es  giebt  aber 
auch  gute  Eigenschaften,  derer  man  niemahls  zu  viel  thun  kann,  zE. 
zu  viel  ehrlich  kann  ich  nicht  seyn,  die  Ehrlichkeit  ist  die  Congruenz 

30  unserer  Handlungen  mit  dem  Recht  der  Mensch/heit.  —  Die  Gütigkeit  n» 
hat  ihr  bestimmtes  Maaß.  Alle  Handlungen  die  an  sich  selbst  gut  sind, 
bey  denen  kann  weder  ein  defectus  noch  ein  excessus  begangen  wer- 
den. Einige  Handlungen  sind  nur  bedingter  Weise,  nemlich  als  ein 
Mittel  die  Gott  ergebenen  Gesinnungen  zu  erwekken.  Das  was  eine 

35  innere  Bonitaet  hat,  kann  nicht  übertrieben  werden,  das  aber  was  eine 
relative  Bonitaet  hat,  das  kann  übertrieben  werden.  Aristoteles  sagte: 
Virtus  consistit  in  medio,  doch  ist  dies  falsch;  denn  wenn  zwej^  Dinge 
der  Qualitaet  und  Quantitaet  nach  unterschieden  seyn,  so  kann  kein 
Uebergang  von  dem  einen  zum  andern  geschehen.  Das  Uebertreiben 


196  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

bedeutet  nichts  anders,  als  daß  die  übertriebene  Sache  immer  gut 
bleibt,  nur  daß  sich  dieser  Grad  des  guten  nicht  mit  einem  andern 
verträgt.  Ueberhaupt  alles  was  absolut  gut  ist,  kann  nicht  übertrieben 
werden.  Arroganz  bedeutet  den  Eigendünkel,  daß  man  entweder  seine 

180  Idee  von  der  Vollkommenheit  zu  enge  macht,  oder  daß  man  die  /  5 
Schäzzung  seiner  Selbst  zu  groß  macht.  Alle  objection  bedeutet  die 
Kleinmachung  in  Ansehung  des  Zutrauens  auf  seine  Kraft,  gegen  das 
moralische  Gesezz.  Wir  können  uns  das  moralische  Gesezz  nicht  anders 
imprimiren,  als  sofern  wir  nur  einsehen,  daß  es  in  unserer  Gewalt 
gewesen.  Es  ist  nicht  gut  des  Menschen  Muth  bis  zur  Zaghaftigkeit  zu  lo 
verringern.  Es  ist  sehr  schädlich  daß  die  Gebrechlichkeit  des  Menschen 
deßelben  Muth  so  verringere,  daß  er  zulezt  ein  paßives  Wesen  wird. 
Er  kann  nur  neue  Ergänzung  seiner  Kräfte  erwarten,  wenn  er  sie  in 
dem  Grad  gebraucht  als  es  ihm  möglich  war. 

Izt  kommen  wir  an  die  Pflichten,  die  die  Mittel  der  Moralitaet  sind,  i5 
und  zwar  erstlich  an  die  Erwägung  des  Gewißens.  Das  Gewißen  ist 
ein  Instinct  sich  selbst  moralisch  zu  richten.  Sich  selbst 
moralisch  zu  richten,  ist  der  Unterschied  von  der  Beurtheilung  nach 
Regeln  der  Klugheit.  Denn  die  leztere  kann  der  Mensch,  wenn  er  nur 
das  Vermögen  hat,  entweder  cultiviren  oder  nicht.  Jenes  ist  aber  nicht  20 
ein  Vermögen,  sondern  ein  Instinct.  Durch  die  Verwilderung  der  Vor- 

181  Stellungen  kann  dieser  /  Instinct  wohl  geschwächt  werden,  er  ist  doch 
aber  natürlich.  Einige  haben  behauptet  daß  es  von  der  Erziehung  her- 
komme, doch  ist  dieses  falsch,  denn  es  ist  von  Natur  schon  in  uns.  Die 
Beurtheilung  unserer  selbst  geschiehet  entweder  mit  Tadel  oder  mit  25 
Billigung,  dieses  ist  eine  Selbst-Beurtheilung  der  Klugheit,  denn  die 
maximen  der  Klugheit  sind  auch  Gesezze. — Dieses  Urtheil  ziehet  uns  zur 
Rechenschaft  1.  In  Ansehung  der  Maximen  der  Klugheit,  und  2.  In 
Ansehung  der  Grundsäzze  der  Sittlichkeit.  In  Ansehung  der  Maximen 
der  Klugheit  hält  man  es  für  eine  Ehre  sich  die  reproche  vom  gethanen  so 
Uebel  aus  dem  Sinne  zu  schlagen,  beym  Gewißen  ist  es  aber  anders, 
es  ist  der  Selbstquäler,  und  es  gereicht  dem  Menschen  zur  Ehre,  wenn 
er  eine  Selbst  reproche  wegen  seiner  Uebelthaten  empfindet.  Wenn 
man  sich  hier  etwas  aus  dem  Sinne  schlägt,  so  ist  dies  eine  abscheu- 
liche Eigenschaft  conscientiae.  Wenn  das  Gewißen  keinen  Vorwurf  35 
macht,  so  nennt  man  das  die  Verstokkung.  Es  ist  also  zwischen  dem 
Zurechnen  der  Klugheit  und  des  Gewißens  ein  großer  Unterschied. 
Wenn  die  Ursache  des  Uebels  immer  ist,  denn  kann  kein  äußeres  Glück 
etwas  helfen.  Das  Mißfallen  an  seiner  eigenen  Person  ist  das  schmerz- 


Praktische  Philosophie  Powalski  197 

hafteste  unter  allen,  und  hier  mißfällt  dem  /  Menschen  seine  eigene  I8« 
Person.  In  Ansehung  der  Klugheit  ist  dies  der  Tadel  der  Unordnung, 
in  Ansehung  des  Gewißens  ist  es  der  Tadel  der  Verdammung.  Es  giebt 
eine  affectation  des  Gewißens,  das  ihn  beurthcilt  und  verurtheilt.  Das 

öiudicium  wird  von  der  diiudication  unterschieden.  Das  Beurtheilen  ist 
eine  Handlung  des  Verstandes,  über  gewiße  Handlungen,  sofern  sie 
dem  Gewißen  gemäß  sind.  Das  richten  aber  ist  ein  Urtheil,  das  zugleich 
ein  Judicium  validum  ist.  Es  ist  die  subsumtio  valida.  Man  richtet, 
wenn  man  die  Wirkvingen,  die  mit  den  Handlungen  verbunden  sind, 

10  zugleich  vorbringt.  Alle  haben  nicht  das  Recht  valide  zu  richten, 
sondern  nur  der  iudex  competens,  der  auch  gleich  davor  strafen  kann. 
Unser  Gewißen  ist  nicht  ein  Vermögen  uns  zu  beurtheilen,  sondern  der 
Instinct  uns  zu  richten.  Der  Executor  der  moralischen  Gesezze  ist 
entweder  die  Belohnung  oder  Bestrafung.  Mit  der  Belohnung  ist  zu- 

15  gleich  die  Ruhe  der  Seele,  mit  der  Bestrafung  sind  die  Biße  des 
Ge^Wßens  verbunden.  Das  Gewißen  /  hat  also  legem  moralem,  interne  I83 
vim  executoriam.  Die  vis  executoria  ist  entweder  die  Selbst  Qual  oder 
nicht,  die  Biße  des  Gewißens  sind  nicht  bloß  der  Tadel  sondern  sie  sind 
die  Tortur  des  Gewißens.  Das  Gewißen  kann  man  mit  dem  foro  ver- 

20  gleichen,  weil  es  pünktlich  damit  übereinkommt.  Das  Gewißen  scheint 
auch  die  Ursach  zu  seyn,  warum  der  Mensch  einen  Gott  glaubt.  Denn 
wenn  sich  der  Mensch  nur  einen  Richterstuhl  in  sich  vorstellt,  so  stellt 
er  sich  auch  zugleich  vor,  daß  ein  unmittelbares  Wesen  darauf  sizze, 
und  das  ist  schon  der  Begriff  der  Gottheit.  Der  Mensch  findet  in  sich 

25  einen  Richter,  der  ihn  vors  Gericht  citiret,  er  mag  wollen  oder  nicht, 
bey  welchem  keine  raison  noch  Entschuldigung  statt  findet.  Mein 
Gewißen  ist  1.  ein  Richter  2.  ein  Anldäger  und  3.  ein  Advocat.  Der 
Ankläger  ist  der  erste.  Hey  dem  der  Ankläger  immer  bereit  ist, 
bey   dem   ist   das   Gewißen   wenigstens   ein   zartes   und   wachsames 

30  Gewißen.  Der  Richter  spricht  aber  nicht  zu  dem  Ankläger.  Nun  kommt 
der  Advocat  der  so  treu  als  möglich  denkt,  dieser  sucht  allenthalben 
WinkelZüge,  und  auch  Aufschub  um  der  Sache  auszuweichen.  Der  / 184 
Richter  aber,  der  dies  alles  sozusagen  reponiret,  der  ist  eine  Ruchlosig- 
keit bey  den  Menschen.  Wir  müßen  also  diese  unsere  innere  Obrigkeit 

35  1.  in  ihren  Antrieben  2.  in  ihrer  Wachsamkeit  erhalten,  und  3.  müßen 
wir  uns  auch  nicht  durch  Sophisterey  vertheidigen.  —  Alle  Fehler  des 
Gewißens  sind  aut  moralisch  aut  logisch.  Sie  stecken  entweder  in  der 
Sittlichkeit  oder  im  Verstände,  die  unmoralischen  Fehler  können 
nicht  imputiret  werden.  Dahingegen  werden  die  moralischen  in  summo 


198  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

gradu  imputiret,  denn  wenn  diese  Fehler  den  Mensehen  verderben,  so  ist 
auch  die  Beßerung  bey  ihm  unmögheh.  Das  irrende  Gewißen  ist  nicht 
ein  Fehler  des  Gewißens,  sondern  des  Verstandes,  oder  der  Mensch,  der 
da  glaubet,  daß  etwas  sein  Recht  stöhre,  der  kann  wohl  irren,  er  hat 
aber  keine  Gewißens  Biße  davon.  Der  Irrthum  des  Gewißens  kommt  5 
sehr  selten  vom  Verstände  allein,  sondern  auch  von  dem  Gewißen,  von 
ihren  bösen  maximen  und  von  der  verderbten  Sittlichkeit.  Viele  Men- 
schen laßen  sich  von  Irrthümern  einnehmen,  nicht  aus  Blendung  des 

185  Verstandes,  sondern  bloß  aus  einer  inneren  Neigung  /zu  Irrthümern. 

Unser  Autor  unterscheidet  das  naturale  und  acquirirte  Gewißen.  lo 
Alles  Gewißen  ist  natürlich,  aber  man  kann  sich  gewiße  Dinge  zu 
Grundsäzzen  machen  die  nicht  natürlich  sind.  Das  ganze  Gewißen  ist 
nichts  acquirirtes,  sondern  ein  natürliches.  Wenn  das  Gewißen  nichts 
natürliches  wäre,  so  würden  wir  wenn  wir  unter  wilde  Leute  kämen, 
nicht  sehen  können  ob  sie  gut  oder  böse  seyn  (handeln).  Das  Gewißen  15 
ist  natürlich,  aber  die  Aufmerksamkeit  auf  die  Urtheile  deßelben  muß 
man  sich  erwerben.  Das  Gewißen  kann  antecedens  und  consequens 
seyn.  Der  Mensch  kann  gewißenhaft  genannt  werden,  den  das  Gewißen 
hinterher  plagt  commißo  scelere,  und  wenn  er  es  hat  wollen  thun, 
so  hat  es  ihn  davon  abgehalten.  Bey  diesem  Menschen  ist  also  das  20 
antecedente  und  commitante  Gewißen  schwach ;  aber  das  consequente 
stark.  Wir  können  aber  auch  ein  schlechtes  antecedentes  Gewißen 
haben,  aber  ein  starkes  concomitantes,  wenn  man  nemlich  ad  rem 
kommt,  so  wacht  das  Gewißen  auf.  Der  Mangel  antecedentis  Conscien- 

186  tiae  kann  einen  gewißenlosen  Menschen  nicht  machen,  /  der  Mangel  25 
aber  concomitantis  macht   gewißenlos.  Indeßen  hat  doch  der,  der 
kein  comitantes  Gewißen  hat,  ein  consequentes.  Die  Vorwürfe  des 
Gewißens  sind  entweder  pragmatisch  nach  Regeln  der  Klugheit,  oder 
moralisch  secundum  regulas  moralitatis.  Conscientia  est  vel  laxa  vel 
angusta.  Laxa  ist  es,  wenn  es  sozusagen  alles  durchpassiren  läßt,  ohne  es  30 
zu  critisiren.  Wenn  das  Gesezz  nachsichtlich  ist,  und  der  Mensch  eine 
moralische  Schwäche  hat,  denn  ist  es  conscientia  laxa.  Wenn  aber  das 
Gesezz  in  exceßu  fehlet,  wenn  es  unter  das  unerlaubte  auch  das  er- 
laubte einschließet,  denn  ists  conscientia  angusta.  Ein  sehr  weitläuf- 
tiges  Gewißen  ist  so  viel  als  gar  kein  Gewißen,  und  ist  eine  Gewißen-  35 
losigkeit,  eine  Sophisterey.  — 

Die  Aengstlichkeit  des  Gewißens  macht  daß  wir  uns  fürchten,  dem 
Gewißen  etwas  zuzustehen  ob  wir  gleich  nicht  einmahl  wißen,  ob  es 


Praktische  Philosophie  Powalski  190 

wieder  daßelbe  ist.  Die  Gewißeiisbiße  sind  zweyerley.  Die  Verurthei- 
lung  und  die  Reehtfertigung.  Die  Rechtfertigung  ist,  wo  mein  Gewißen 
von  der  Schuld  frey  gesprochen  wird.  Die  Verdammung  hingegen  /  ist 
ist  die  Imputation  der  Schuld.  Hierauf  folget  auch  die  execution  und 
.5  das  ist  die  Gewißensquaal.  Die  Lossprechung  von  aller  Schuld  ist  ein 
Beyfall  des  Gewißens,  den  wir  die  Zufriedenheit  nennen,  welche  den 
Zuspruch  der  Belohnung  bey  sich  führet,  und  dies  ist  das  tröstende 
Gewißen. 

Casus  conscientiae.  Das  Gewißen  ist  ein  forum  internum,  daher 

10  nennet  man  in  iure  einen  solchen  casum  punctum  iuris.  Hier  ist  eine 
Quaestion  ob  das  Gewißen  einer  Scharfsinnigkeit  bedarf,  die  über  die 
Kenntniß  der  gewöhnlichen  Rechte  hinausgehet,  um  auszumachen  was 
Recht  oder  Unrecht  sey,  und  dergleichen  Fälle  werden  coram  foro 
interno  Casus  conscientiae  genannt.  Die  Casus  conscientiae  morales 

15  sind  sehr  gut  das  Gewißen  zu  überzeugen  und  zu  vermehren.  Es  liegt 
uns  sehr  viel  daran  diese  casus  conscientiae  durchzustudiren,  damit 
wir  data  occasione  wißen  was  zu  thun  sey.  Das  Urtheil  des  Gewißens 
ist  entweder  probable  oder  sicher.  Unser  Gewißen  kann  sicher  oder 
dialectisch  seyn,  wenn  wir  nach  Wahrscheinlichkeit  urtheilen.  Ich 

20  handele  nach  /  Wahrscheinlichkeit,  wenn  ich  gewiß  bin  daß  es  erlaubt  ihs 
ist,  aber  ungewiß  ob  ichs  zu  thun  verbunden  bin.  Was  bloß  wahr- 
scheinlich ist,  wovon  die  Befugniß  nicht  gewiß  ist,  das  ist  auch  nicht 
erlaubt  zu  thun.  Nach  einem  probablen  Gesezze  kann  man  nicht  ver- 
fahren. 

25  Nach  unserer  Verbindlichkeit  zu  handeln  ist  nur  eine  Wahrschein- 
lichkeit von  nöten.  Die  Gewißenlosigkeit  bestehet  auch  darinn,  wenn 
man  etwas  der  Wahrscheinlichkeit  nach  annimmt.  Der  allerheftigste 
Fall  ist  der,  wenn  man  der  Moralitaet  entgegen  zu  handeln  scheinet 
(wagt).  Gesezzt  ich  wollte  eine  Handlung  unterlaßen,  davon  ich  nur 

30 einen  wahrscheinlichen  Grund  habe:  denn  wage  ich  der  Pflicht  ent- 
gegen zu  handeln,  die  bloß  wahrscheinlich  ist,  also  schon  zur  Verbind- 
lichlieit  hinreichend.  Wenn  das  gute  eine  bloße  Wahrscheinlichkeit 
ist,  denn  ist  es  hinreichend  uns  abzuhalten. 

Man  unterscheidet  ferner  das  micrologische  und  exacte  Gewißen. 

35  Micrologisch  /  ist  das  Gewißen,  wenn  es  in  Ansehung  deßen,  was  nicht  I89 
moralisch  ist,  pünctlich  ist. 

Denn  eine  moralische  Kleinigkeit  giebt  es  nicht,  nur  ein  analogon 
davon.  Indeßen  giebt  es  dergleichen  in  Ansehung  deßen,  was  die 
Menschen  zu  ihrer  Religion  als  Sazzungen  hinzu  sezzen,  das  als  Mittel 


200  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

zur  Andacht  und  Gottesfurcht  dienet.  Von  dieser  Art  sind  die  Obser- 
vanzen, welches  Befolgungen  der  Statuten  sind.  Die  Befolgung  des 
Gesezzes  ist  aber  die  Tugend.  —  Was  aber  nicht  zur  Moralitaet 
gehöret,  das  gehöret  auch  nicht  als  ein  Stück  zur  ReHgion.  Wohl  aber 
als  ein  Mittel.  Wenn  der  Mensch  dieses  unterläßt,  so  macht  er  sich  5 
Vorwürfe  die  pragmatisch  seyn,  einen  Vorwurf  des  Gewißens  aber 
kann  er  sich  nicht  machen.  Die  Observanzen  sind  zufällig  und  will- 
kührlich.  Scrupulositas  conscientiae  ist  eine  Art  von  Micrologie  da  der 

190  Mensch  immer  Neigung  hat  sich  Vorwürfe  zu  machen,  sie  herrscht 
besonders  in  der  Religion.  lo 

Latitudinarius  ist,  der  keine  exactitudi/nem  pietatis  atque  moralis 
erfordert,  und  dies  ist  der  Latitudinarius  in  Ansehung  der  Religion, 
in  Ansehung  der  Moral  aber  ist  Latitudinarius  der,  der  die  Pforten 
zum  Himmel  so  weit  macht,  daß  er  auch  die  unmoralischen  Hand- 
lungen durchläßt.  Das  zarte  Gewißen  ist  das,  welches  auf  keine  Weise  i5 
Handlungen,  welche  eine  Uebertretung  der  Sittlichkeit  zu  seyn  schei- 
nen, durchläßt,  ohne  daß  er  sie  dem  Richter  übergiebet.  Die  Eigen- 
liebe ist  der  exceßus  in  der  Selbstschäzzung.  Die  Selbstschäzzung  und 
Eigenliebe  sind  von  einander  unterschieden.  Die  Selbstschäzzung  ist 
das  Urtheil  über  seinen  eigenen  Werth.  Die  Eigenliebe  ist  die  Liebe  des  20 
Wohlwollens  gegen  sich  selbst.  Die  Selbstschäzzung  besteht  in  dem 
Urtheil  wie  viel  man  in  seinen  eigenen  Augen  werth  ist.  Man  muß  sich 
nach  seinem  eigenen  Maaß  vergleichen,  und  nicht  nach  andern 
Menschen ;  denn  dies  ist  eine  comparative  Schäzzung  und  die  hat  nicht 
ein  sicheres  Maaß.  Die  Liebe  des  Wohlgefallens  und  die  Selbstschäz-  25 

191  zung  /  schäzt  nicht  alle  Menschen  zu  ihrem  Vortheil.  Die  Eigenliebe 
trifft  nicht  das  Wohlgefallen  sondern  das  Wohlwollen;  sie  geht  auf 
den  Wunsch,  den  man  thut  in  Ansehung  seiner  Glückseeligkeit.  Die 
Liebe  zu  der  Höchsten  GlückseeHgkeit  und  also  die  Liebe  zu  sich 
selbst  ist  ganz  richtig.  Sich  selbst  aber  lieben  mit  AusschHeßung  30 
anderer  macht  die  Selbstliebe  fehlerhaft,  weil  ich  alsdenn  gleichgültig 
in  Ansehung  der  Glückseeligkeit  anderer  bin.  Man  nennt  den  Eigen- 
dünkel den  Egoismum  und  die  Eigenliebe  den  Solipsismum  moralem. 
Die  Selbstschäzzung  über  sein  Verhältniß  zu  den  moralischen  Ge- 
sezzen  ist  der  Egoismus  moralis.  Unter  dem  Worte  Philautie  verstehe  35 
ich  nicht  die  Eigenliebe  auch  mit  Ausschließung  anderer,  sondern  den 
Eigendünkel,  wenn  man  einschmeichelnd  ist  und  zugleich  andern 
wohlgefällt.  Die  Philautie  unterscheidet  sich  von  der  Eigenliebe  nur 
darinn,  daß  sie  das  Wohlgefallen  an  sich  selbst,  dahingegen  das  eigen- 


Praktische  Philosophie  Powalski  201 

liebige,  andern  zu  gefallen.  Diejenigen  die  die  Pliilautie  haben,  die 
schmeicheln  sich  allenthalben  ein  und  werden  wohlgefälhg.  Die  aus- 
schließende Selbstliebe  ist  die  Eigenliebe.   /   Sie  hat  zwey  Stücke  i»8 
1.)  Ehre  und  2.)  Nuzzen.  Das  erste  ist  die  Eitelkeit  und  das  lezte  der 
5  Eigennuz. 

Die  moralische  Vernachläßigung.  Der  Mensch  der  sich  selbst 
vernachlcäßiget,  der  hat  keine  böse  Absicht,  sondern  wenn  er  einmahl 
gut  ist,  so  denkt  er,  er  wird  es  immer  bleiben. 

Die  Herrschaft  über  sich  selbst.  Sie  ist  die  Bedingung  unter 

10  der  wir  alle  Pflichten  erfüllen  können.  Sie  ist  entweder  practisch  oder 
moralisch.  Im  practischen  Verstände  heißt  sie  das  Vermögen,  seinen 
Zustand  des  Verstandes  seiner  freyen  Willkühr  zu  unterwerfen.  Die 
moralische  Herrschaft  ist  das  Vermögen,  alle  Bewegungen  seines 
Willens  der  vernünftigen  Willkühr  zu  unterwerfen.  Die  vernünftige 

15  Willkühr  ist  die  Willkühr  nach  moralischen  Gesezzen.  Die  Herrschaft 
über  sich  selbst  beruhet  darauf,  daß  wir  uns  unter  die  Obermacht  der 
freyen  Willliühr  sezzen.  Das  Vermögen  aber  über  die  gesammte  Sitt- 
lichkeit Meister  zu  seyn  ist  die  Herrschaft  über  sich  selbst.  Der  größte 
grad  der  Beförderung  der  Sittlichkeit  bestehet  in  der  Herrschaft  über  / 193 

20  sich  selbst.  Diese  Herrschaft  über  sich  selbst  bestehet  darinn,  daß  der 
Mensch  die  Versuche  etwas  zu  seinem  Vortheil  zu  thun  und  also  den 
Eigennuz  überwindet.  Wenn  wir  dieses  aus  dem  principio  moralitatis 
der  Herrschaft  erwägen  wollen :  so  muß  dieses  eine  Unterwerfung  unter 
die  Regel  seyn.  Nach  Regeln  der  Moral  über  sich  zu  gebieten,  ist  die 

25  Oberherrschaft  über  sich  selbst.  Die  Vernunft  ist  die  administration 
unserer  Neigungen. 

Die  Vollkommenheit  des  Menschen  aber  besteht  darinn,  daß  die 
Vernunft  nicht  nur  die  administration  sondern  das  Imperium  über  die 
Neigungen  habe.  Unser  Verstand  und  Vernunft  haben  außer  dem  Ver- 

30  mögen  der  Speculation  noch  eine  Erkenntniß,  welche  die  energie  ist. 
Sie  bestehet  darinn  daß  sie  eine  Kraft  hat,  die  Willkühr  zu  bewegen 
id  est  sie  hat  die  Triebfedern  zu  lenken.  ZE.  Wir  können  zwar  ein  Ver- 
gnügen an  der  Tugend  haben,  wir  haben  aber  keinen  Trieb  dazu, 
sie  hat  also  in  Ansehung  unserer  keinen  Reiz.  —  Verstand  und  Ver- 

35nunft  können  beyde  zugleich  die  Kraft  der  Triebfeder  haben,  sie 
können  die  Herrschaft  über  das  /  Menschliche  Gemüth  ausüben.  Der  I94 
Verstand  muß  also  auch  eine  potestatem  executoriam  haben,  nicht 
bloß  eine  potestatem  legislatoriam.  Diese  Kraft  entspringt  aus  fremden 
Triebfedern  die  nicht  in  der  Sinnlichkeit  liegen.  Je  reiner  die  Tugend 


202  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

der  Sinnlichkeit  vorgestellt  wird,  je  mehr  sie  von  andern  Triebfedern 
separirt  wird,  desto  reiner  stellen  wir  sie  uns  auch  vor. 


Von    den    Pflichten    gegen    die    Seele    und    verschiedenen 
Kräften  des  menschlichen  Gemüths. 

Die  ganze  Pflicht  gegen  meine  Seele  ist  diejenige  die  mir  befiehlt  5 
sie  nicht  zu  verwahrlosen,  oder  sie  befiehlt  die  Beobachtung  des 
Zustandes  einer  gesunden  Seele.  Wache  über  deine  Vernunft  und 
Verstand,  daß  er  nicht  wider  die  Sittlichkeit  handle,  wache  über  dein 
Begehrungs  Vermögen,  über  den  Instinct  und  über  die  Leidenschaft. 
Bemühe  dich,  daß  alle  deine  Gemüths  Kräfte  so  beschaffen  seyn,  daß  lo 
sie  der  Moral  proportionirt  seyn,  am  meisten  aber,  daß  sie  ihr  nicht 

195  zuwieder  sind.  Die  Gesundheit  der  Seele  /  und  des  Körpers  gehört  zur 
natürlichen  Bestimmung,  weil  diese  zu  erhalten  alle  Menschen  ver- 
bunden sind:  Sit  mens  sana  in  sano  corpore.  Das  ist  alles  was  hier 
gesagt  werden  soll.  Das  ist  die  größte  practische  Vollkommenheit,  is 
Pathologisch  ist  sie,  wenn  sie  in  Trieben  und  mechanisch  wenn  sie  in 
Gesezzen  der  Bewegung  bestehet.  Das  oberste  Gesezz  ist:  Suche  alle 
deine  Gemüths  Kräfte,  Eigenschaften  und  Fähigkeiten  der  Macht  der 
freyen  Willkühr  zu  unterwerfen.  Suche  eine  hohe  Gewalt  deiner  Will- 
kühr  zu  verschaffen,  daß  du  ihr  jeden  Zustand  unterwerfen  kannst.  20 
Bemühe  dich  alle  Eigenschaften  des  Gemüths,  alle  Antriebe  Neigungen 
und  die  Quellen  des  Gemüths  so  zu  modificiren,  daß  sie  das  Vermögen 
ins  uns  excoliren,  durch  freye  Willliühr  über  die  Menschliche  Seele  zu 
disponiren;  dies  ist  die  Pflicht  gegen  unsere  Seele.  Die  Vollkommenheit 
bedeutet  die  Vollständigkeit  einer  Sache,  sie  ist  aber  noch  nicht  die  25 
bonitaet  einer  Sache.  Zu  den  Vollkommenheiten  gehören  Talente, 
diese  machen  aber  auch  noch  nicht  die  bonitaet  aus,  und  hier  in  der 

196  Ethic  ist  nicht  /  die  Rede  von  der  Vollkommenheit,  sondern  wie  wir 
unsere  bonitaet  vergrößern  sollen,  nicht  wie  wir  erweiterte  Begriffe 
bekommen  und  zu  Wißenschaften  gelangen  sollen,  dieses  gehört  alles  30 
zur  Vollkommenheit,  wo  man  zu  beliebigen  Zwekken  zu  gelangen 
sucht  und  nicht  zu  der  bonitaet.  Denn  würde  alles,  was  zur  Vollkom- 
menheit des  Menschen  gehört,  zu  der  Pflicht  gegen  sich  selbst  gehören, 
so  würde  diese  keine  Grenzen  haben.  Der  gesunde  Verstand  und  Ver- 
nunft machen  die  bonitaet  aus.  Die  Vollkommenheit,  die  zu  der  35 
Menschheit  überhaupt  gehört,  gehört  auch  zu  der  Pflicht  gegen  uns 
selbst.  Eine  nothwendige  Bedingung  des  Menschen  ist  der  gesunde 


Praktische  Philosophie  Powalski  203 

Verstand,  aber  nicht,  daß  er  gelehrt  sey.  Er  besteht  in  der  Kenntniß 
ratione  der  PfHcht,  die  sieh  nicht  auf  fremde  Aussprüche  gründet, 
sondern  die  ich  selbst  einsehen  kann.  Wenn  die  Gemüths  Kräfte  ihre 
Vorstellungen  der  freyen  Willkühr  entziehen,  so  sind  diese  Vorstel- 
5  hingen  der  Moralitaet  entgegen. 

Wohlgefallen  und  Mißfallen  bedeuten  nur  die  Lust  und  Unlust  in 
unserm  Zustande.  Das  Wohlgefallen  und  Mißfallen  am  Gegenstande 
ist  die  objective  Lust.  Die  subjective  Lust  ist  aber  das  Wohlbe/finden.  197 
Die  objective  Lust  ist  das  Wohlgefallen  im  Urtheil.  Das  Wohlgefallen 

10  ist  entweder  das  Wohlgefallen  der  Beurtheilung  oder  des  Wohl- 
befindens. Das  lezte  kann  man  ein  Gefühl  nennen.  Hab  ich  ein  objec- 
tives  Wohlgefallen:  so  nenne  ich  es  den  Geschmack,  ein  subjectives 
aber  das  Gefühl.  Beym  Gefühl  bin  ich  nicht  gleichgültig.  Beym 
Urtheil  kann  ich  es  aber  seyn.  Den  Geschmack  zu  cultiviren  und  das 

15  Gefühl  zu  verringern,  ist  in  Ansehung  der  Moralitaet  gut.  Je  mehr  wir 
suchen  unabhängig  vom  Gefühl  zu  seyn,  desto  mehr  sind  wir  Meister 
unsers  Wohlgefallens.  Alle  Verfeinerungen  des  Geschmacks  dienen 
dazu,  um  das  Gemüth  selbst  dadurch  zu  verfeinern. 

Das  Begehrungs- Vermögen 
20      Je  mehr  der  Mensch  angefeuert  werden  kann,  je  mehr  seine  Gefühle 
vom  Gegenstande  afficiret  werden,  desto  weniger  ist  er  frey.  Annehm- 
lichkeiten und  Unannehmlichkeiten  gehören  zur  Sinnlichkeit.  Damit 
aber  unser  Verstand  Gewalt  habe,  so  müßen  wir  alle  Kraft  der  Sinn- 
lichkeit und  der  Triebfeder  benehmen.  —  Alle  affecten  und  Leiden- 
25  Schäften  sind  der  Moralitaet  entgegen.  Alle  unsere  Gefühle  müßen  wir 
schwächen,  daß  sie  nicht  zur  Leidenschaft  /  werden.  Das  Haupt-Ver-  198 
fahren  unsers  Verstandes  besteht  darinn,  daß  wir  den  Werth  eines 
Dinges  im  Verhältniß  aufs  ganze  betrachten.  Hier  gehet  der  Verstand 
vom  allgemeinen  aufs  besondere.  Wir  können  die  Größe  der  Dinge 
30  nicht  absolut  bestimmen,  sondern  durchs  Verhältniß  und  zwar  zum 
ganzen.  Es  ist  also  der  Vernunft  zuwieder: 

1 .  Den  Werth  der  Annehmlichkeit  durch  Verhältniße  nur  zu  einem 
Gefühl  zu  schäzzen. 

2.  Den  Werth  des  Gegenstandes  der  Begierden  durchs  Verhältniß 
35  zu  einer  Neigung  zu  vergleichen,  sondern  es  muß  durchs  Verhältniß 

zu  der  Summe  aller  Neigungen  geschehen. 

Wir  mögen  in  Ansehung  des  practischen  das  Gefühl  von  den  Be- 
gierden unterscheiden.  Die  Gefühle  und  Neigungen  sind  natürlich, 


204  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

und  insofern  sie  natürlich  sind,  so  können  wir  sie  nicht  tadeln,  sie  sind 
alsdenn  gut.  Ein  Gefühl  kann  ein  affect,  und  eine  Neigung  eine 
Leidenschaft  werden.  Affecten  gehören  zum  Gefühl,  und  die  Leiden- 

199  Schäften  zu  den  Neigungen.  Der  Grad  der  Empfindung  der  /  Gegen- 
stände, der  uns  unvermögend  macht  unsern  Zustand  mit  demgesamm-  5 
ten  Gefühl  zu  schäzzen,  ist  ein  Affect  und  der  Grad  der  Neigungen, 
welcher  uns  unvermögend  macht,  die  Gegenstände  mit  den  gesammten 
Neigungen  zu  erwägen,  ist  eine  Leidenschaft.  Wenn  der  Gegenstand 
unser  Gefühl  afficirt,  daß  wir  es  nicht  mit  dem  gesammten  Gefühl 
vergleichen  können,  dann  erregt  er  in  uns  einen  Affect.   Zu  den  10 
Affecten  gehört  Furcht,  Liebe,  Freude  etc. :  Wir  können  in  Affect 
versezzet  werden  über  das  was  unsere  Eitellveit  beleidiget,  und  dies 
Gefühl  ist  ganz  natürlich,  welches  die  Kränkung  der  Eitellveit  betrifft. 
Hieraus  entstehet  ein  Unwille,  und  wenn  man  in  den  Unmuth  geräth, 
wo  man  nicht  mehr  Meister  über  sich  ist,  so  ist  dieses  der  Zorn.  Der  15 
ausgelaßene  Affect  ist  der,  der  den  Grad  hat,  daß  das  Gefühl  sich 
selbst  wiederstreitet.  Die  Ausgelaßenheit  findet  sich  auch  bey  der 
Freude. 

Neigungen  sind  natürlich  und  ihre  Befriedigungen  auch.  Die  Nei- 

300  gungen  können  auch  ihre  /  Grade  haben.  Der  Grad  der  Neigung  der  20 
uns  unvermögend  macht,  dieselbe  mit  der  Summe  aller  Neigungen  zu 
vergleichen,  ist  eine  Leidenschaft.  Hier  ist  eine  Frage :  Ob  die  Affecten 
und  Leidenschaften  mit  der  Weißheit  übereinstimmen  ?  Die  Stoici 
sagten,  daß  Affecten  und  Leidenschaften  gerade  der  Weißheit  entgegen 
wären,  und  daß  man  sie  ausrotten  müßte,  um  weise  zu  werden  (man  25 
nennt  diese  Lehre  die  Apathie,  Befreyung  von  den  Leidenschaften). 
Man  hält  dafür,  die  Natur  habe  Affecten  und  Leidenschaften  in  uns 
gelegt,  da  sie  uns  doch  nicht  Affecten  und  Leidenschaften,  sondern 
Gefühl  und  Neigungen  gegeben  hat.  Daß  aber  das  Gefühl  bis  zum 
Affect  steiget,  das  kommt  von  der  Disposition  des  Subjects,  und  daß  30 
die  Neigung  eine  Leidenschaft  wird,  kommt  von  der  blinden  Sinnlich- 
keit der  Menschen,  die  sich  nicht  selbst  regieren  können.  Eine  zügel- 
lose Begierde  wird  alsdann  eine  Leidenschaft.  Unsere  Gefühle  er- 
fordern das  Mittelmaaß,  damit  wir  Meister  von  uns  selbst  werden 
können.  —  Das  Gefühl  des  Schmerzes  ist  natürlich,  aber  das  Maaß,  35 

801  wo  ein  Mensch  nicht  /  mehr  ein  Meister  über  sich  ist,  ist  nicht  natür- 
lich. Die  Neigung  zu  irgend  einem  guten  ist  von  Natur  gegeben,  aber 
alle  diese  müßen  so  zurückgehalten  werden,  daß  die  Sinnlichkeit  noch 
immer   die    Oberherrschaft    des    Verstandes    empfindet.    Neigungen 


Praktische  Philosophie  Powalski  205 

bedürffen  eine  Regierung  und  Gewalt.  Selbst  die  Freude  erfordert  eine 
Mäßigkeit,  denn  eine  ausgelaßene  Freude  hinterläßt  Schwermuth. 
Das  Mittelmaaß  muß  also  immer  beobachtet  werden:  In  Ansehung 
der  Gefühle  und  Leidenschaften  ist  immer  eine  Herrschaft  und  Gewalt 
5  nöthig.  Eben  darinn  bestehet  die  Natur  der  Leidenschaft,  daß 
sie  die  Gewalt  hat,  vermöge  welcher  sie  die  Obergewalt  des  Verstandes 
und  der  Vernunft  überwiegt.  Ein  Gefühl  wird  ein  affect,  wenn  etwas 
uns  unvermögend  macht,  das  Gefühl  aus  der  Vergleichung  mit  andern 
zu  schäzzen.  Wenn  eine  Schäzzung  so  geschiehet,  daß  sie  vom  allge- 

10  meinen  aufs  besondere  gehet,  dies  ist  eine  Schäzzung  der  Vernunft.  — 
Wir  haben  Gefühle  die  in  vielen  Stükken  bis  zu  den  Affecten  gehen, 
auch  einen  solchen  Hang  zu  den  Leidenschaften.  Die  Affecten  und 
Leidenschaften  /  hat  uns  die  Natur  nicht  eingelegt.  Die  Natur  hat  in  20-» 
uns  einen  Hang  gelegt,  aber  nicht  das  was  aus  einem  Hang  entspringt. 

15  Wir  handeln  ganz  wieder  die  Vernunft,  wenn  wir  die  Gefühle  bis  zu  den 
Affecten  steigen  laßen,  weil  sie  dadurch  die  Oberherrschaft  der  Ver- 
nunft abschütteln.  —  Der  Hang  zu  den  affecten  ist  unserer  Freyheit 
überlaßen :  Die  Natur  hat  uns  auch  einen  solchen  Hang  zu  den  Leiden- 
schaften gegeben,  der  so  groß  ist,  daß  wir  ihm  nicht  leichtlich  wieder- 

20  stehen  können.  Gewiße  Neigungen  sind  so  beschaffen,  daß  sie  ohne 
Bestrebung  der  obern  Kräfte  des  Verstandes  wirklich  Leidenschaften 
werden,  aber  wir  sind  nicht  verbunden,  die  Neigungen  Leidenschaf- 
ten werden  zu  laßen.  Die  Natur  hat  den  Menschen  mit  solchen  Nei- 
gungen und  Hang  ausgerüstet,  daß  er,  wenn  er  nicht  die  Vernunft 

25  besäße,  durch  diese  auf  eine  thierische  Art  würde  beherrschet  werden. 
Dies  ist  aber  nicht  ein  Befehl  der  Natur,  daß  die  Neigungen  Leiden- 
schaften werden  sollen,  denn  darum  hat  sie  uns  eine  Vernunft  gegeben. 
—  Die  Neigungen  aber  müßen  immer  erhalten  werden,  aber  nur  in 
dem  Maaß,  daß  sie  der  Vernunft  und  deren  Gesezz/gebung  Gehör  20» 

30  geben. 

Andre  sagen,  daß  die  Affecten  und  Leidenschaften  viel  gutes  in  der 
Welt  stiften  können ;  das  gute  aber,  das  aus  den  Affecten  und  Leiden- 
schaften entspringt,  ist  mit  der  Blindheit  zu  vergleichen,  da  ich  l>loß 
durch  den  Zufall  erlange  was  mir  zuträglich  ist :  Affecten  und  Leiden- 

35  Schäften  sind  dem  Menschen  als  einem  vernünftigen  Wesen  entgegen 
gesezt,  obgleich  sie  der  Thierheit  vollkommen  gemäß  sind  —  können 
wir  uns  den  Affecten  und  Leidenschaften  überlaßen,  wenn  der  Gegen- 
stand von  der  Vernunft  gebilliget  wird  ?  Die  Affecten  kann  sie  zwar 
billigen,  aber  nicht  die  Form,  und  also  ist  die  Art  wie  wir  unsere 


206  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

Affecten  auf  die  Gegenstände  richten  sollen  der  Vernunft  wiedrig. 
Wenn  die  Neigung  zum  guten  bis  zur  Leidenschaft  gestiegen  ist, 
so  ist  dieses  eine  Enthusiasterey.  Die  Leidenschaft  als  Leidenschaft 
betrachtet  ist  blind,  und  bringt  Verwirrung  bey  den  Menschen.  Sie 
sind  eine  Art  von  Fieber  Hizze  und  kurzer  Raserey,  und  ist  zwischen  5 
ihnen  und  der  Raserey  kein  Unterschied,  als  daß  man  sich  von 
ersterer  eher  recolligiret. 

Ein  Mensch  kann  nicht  mehr  nach  Vernunft  handeln,  so  bald  er  in 
•iu  Leidenschaften  und  Affecten  ist.  /  Die  Leidenschaften  und  Affecten 
sind  also  sowohl  der  Klugheit  als  der  Sittlichkeit  entgegen.  Die  lo 
Neigung  kann  ernsthaft  und  groß  seyn,  ohne  daß  sie  eine  Leidenschaft 
ist.  Man  pflegt  auch  zu  sagen,  daß  die  Leidenschaft  eine  Neigung  ist, 
worüber  der  Verstand  nicht  mehr  Herrschaft  hat,  und  die  Affecten 
sind  die  Empfindungen,  worüber  die  Vernunft  die  Gewalt  und  Macht 
des  Urtheils  verliehrt.  Eine  jede  Beurtheilung  gehet  vom  allgemeinen  i5 
aufs  besondere. 

Der  practische  Gebrauch  der  Vernunft  besteht  darinn  daß  ich  nach 
der  Schäzzung  des  ganzen  den  Werth  eines  Theils  bestimme.  Solange 
wir  noch  bey  gewißen  Gefühlen  und  Neigungen  im  Stande  seyn,  nach 
der  Summe  der  Neigungen  eine  jede  zu  bestimmen,  dann  stehet  noch  20 
die  Sinnlichkeit  unter  der  Vernunft.  Wenn  wir  aber  die  Neigungen  und 
Empfindungen  als  separat  von  andern  finden,  daß  wir  dadurch  un- 
vermögend werden,  sie  mit  der  Summe  aller  Neigungen  und  Empfin- 
dungen zu  vergleichen,  dann  sind  diese  Empfindungen  Affecten  und 
Leidenschaften.  -^ 


Von  den  Maximen 
205      Wir  können  auf  zwejrfache  Weise  handeln  /  entweder  nach  Maximen 
oder  nach  Stimulis.  Ein  Mensch  der  den  Armen  gutes  thut,  der  thut 
eine  Handlung  die  unter  den  moralischen  Gesezzen  stehet.  Er  thut 
solches  aus  Gütigkeit  und  also  aus  Antrieb.  Wir  können  also  auch  30 
nach  Antrieben  handeln,  welche  aber  von  den  moralischen  motiven 
sehr  unterschieden  sind.  —  Maximen  sind  subjective  Grundsäzze  der 
Regeln  unserer  Handlungen,  sie  unterscheiden  sich  von  den  Gesezzen, 
denn  diese  sind  objectiv.  Gesezze  sind  objective  Regeln  von  dem  was 
man  thun  soll.  Diejenige  Maximen  sind  gut,  die  den  objectiven  Ge-  35 
sezzen  gemäß  sind.  Die  Handlung  nach  Maximen  ist  eine  Handlung 
sofern  sie  unter  subjectiven  Gesezzen  stehet,  id  est,  die  man  sich  selbst 


Praktische  Philosophie  Powalski  207 

gewählt  hat.  Daß  ein  Mensch  nicht  nach  Maximen  handelt,  macht  es, 
daß  wir  ihn  für  böse  halten.  Der  handelt  nur  böse,  der  nach  bösen, 
und  der  handelt  gut,  der  nach  guten  maximen  handelt.  Der  Mensch 
der  sich  zur  Grund  Regel  gemacht  hat,  die  Lügen  zu  gebrauchen, 
5  weil  sie  ihm  Vortheil  bringen;  der  da  glaubt,  sein  Freund,  dem 
ein  großer  Vortheil  auf  dem  Wege  ist,  thue  nichts  als  ihm  einen 
Streich  zu  spielen,  der  hat  /  sich  Maximen  der  Boßheit  gemacht.  20« 
Er  handelt  böse,  weil  er  nach  bösen  Maximen  handelt.  Bej'^  einigen 
Menschen  geschieht  das  böse  als  eine  exception  der  guten  Regel, 

10  und  bey  andern  nach  wirklich  bösen  Grund  Regeln.  Der  Mensch 
der  nach  Antrieben  handelt,  der  handelt  nicht  nach  Maximen.  Er 
kann  zwar  die  Regel  im  Kopfe  haben,  er  hat  doch  aber  nicht 
die  Maxime  im  Herzen.  —  Die  Menschen  sind  also  oft  nicht 
so  böse  als  sie  es  zu  seyn  scheinen,  und  eben  so  sind  sie  auch  nicht 

15  allemahl  so  gut  als  sie  es  scheinen.  Denn  im  ersten  Fall  haben  sie  sich 
nicht  allemahl  so  böse  maximen  vorgesezt,  sondern  sie  können  nur 
allemahl  nicht  den  Versuchungen  wiederstehen,  im  lezten  Fall  aber 
rühren  ihre  mehreste  Handlungen  nicht  aus  Maximen,  sondern  nur  aus 
Antrieben,  alsdann  sind  sie  entweder  Fehllos,  Faul  oder  auch  Furcht- 

20  sam.  —  Ein  Mensch,  der  aus  Mitleiden  etwas  thut,  der  scheint  etwas 
nach  moralischen  Gesezzen  zu  thun.  Das  Mitleiden  ist  der  Eindruck 
eines  sympathetischen  Gefühls. 


/Von  der  Selbstüberwindung  801 

Bey  der  Herrschaft  seiner  Selbst  muß  man 
20      1.  in  seiner  Faßung  bleiben 
2.  in  der  Selbstbeherrschung. 

Die  Faßung  seiner  Selbst  ist,  wenn  man  in  Ansehung  des  Gefühls 
aus  dem  Zustand  der  Zufriedenheit  sich  nicht  bringen  läßt.  Bey  der 
Herrschaft  giebt  es  Empörungen,  es  giebt  Neigungen  die  oft  rebelliren. 
30  Die  Neigungen  haben  die  Sophisterey  zur  Seite,  und  wenn  viele 
Neigungen  zusammenkommen,  so  machen  sie  ein  complott  Mieder  die 
Vernunft. 

Das  ist  nicht  ein  Held  der  sich  selbst  überwindet,  sondern  der  mit 
sich  selbst  nicht  kämpfen  läßt.  Wir  müßen  nicht  darauf  sehen,  wie  wir 
35  unsere  Leidenschaften  überwinden  sollen,  sondern  Avie  wir  sie  noch  in 
ihrem  Keime  erstikken  können. 


208  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

Von  den  Pflichten  gegen  sich  selbst 
ratione  des  Körpers 

Wie  können  wir  über  unser  Leben  disponiren  ?  id  est  es  erhalten  ? 
oder  es  aufheben  wie  wir  wollen  ?  Hier  ist  die  Frage  vom  Selbstmord. 

208  Das  Recht  in  Ansehung  unserer  selbst  ist  sehr  restrin/giret.  Wir  kön-  5 
nen  zwar  über  unsern  Zustand,  aber  nicht  über  unsere  Person  dispo- 
niren, denn  dies  ist  die  Sünde  wieder  sich  selbst,  sich  selbst  Willliührlich 
das  Leben  zu  nehmen.  Der  Werth  der  Person  ist  der  Grund  der  ganzen 
Moralitaet,  und  die  Schäzzung  der  Menschen  Glückseelig  (Glücklich) 
zu  leben  macht  noch  keinen  Werth  der  Person  aus,  denn  das  was  den  lo 
Werth  der  Person  ausmacht,  ist  der  größte  moralische  Werth.  Alle 
unsere  Handlungen  müßen  dazu  dienen,  den  Werth  der  Person  in  der 
Menschheit  zu  erhalten.  Der  Gebrauch  der  freyen  Willkühr  wieder  die 
Person  und  ihr  Daseyn,  wieder  ihre  wesentliche  Zwekke,  das  ist  der 
Gebrauch  der  Willl\:ühr  wieder  sich  selbst,  und  der  wiederstreitet  den  ir> 
moralischen  Gesezzen.  Sobald  der  Mensch  den  Antrieben  nachgiebt, 
so  entehrt  er  die  Menschheit  in  seiner  eigenen  Person. 

Wir  können  das  Ziel  des  Lebens  auf  zweyfache  Weise  bestimmen. 
1.  Durchs  Schicksal  2.  durch  Moralitaet.  Moralisch  ist  mein  Leben 
bestimmt,  wenn  es  durch  nichts  anders  als  durch  Niederträchtigkeit  20 

309  kann  erhalten  werden.  —  Weil  die  Liebe  /  zum  Leben  so  groß  ist,  daß 
um  ihretwillen  auch  Pflichten  übertreten  werden,  so  kann  kein  Bürger- 
liches Gesezz  so  beschaffen  seyn,  daß  es  die  Erhaltung  des  Lebens 
aufzugeben  befiehlt,  um  eine  Pflicht  zu  erfüllen.  Die  Befugniß  unser 
Leben  zu  erhalten,  ist  sehr  eingeschränkt.  Die  Ursache  davon  ist,  weil  25 
auch  viele  Dinge  größer  sind  als  das  Leben.  Die  öftern  Vorstellungen 
von  der  Kürze  des  Lebens  sind  das,  was  auf  besondere  Weise  in  unsern 
Empfindungen  wirkt,  das  die  Wollust  moderiret,  die  Schwermuth  und 
Traurigkeit  des  Lebens  mildert.  Allem  Uebel  können  wir  nicht  anders 
vorbeugen,  als  mit  der  Vorstellung,  daß  es  nicht  lange  dauret,  denn  so 
diese  benimmt  ihnen  den  Stachel.  Der  Tod  kann  nicht  angesehen 
Averden  als  ein  großes  Uebel.  Da  das  Leben  also  ein  weit  größeres  Uebel 
ist,  so  sehen  wir,  daß  die  Befugniß  des  Lebens  nicht  sehr  wichtig  ist, 
außer:  sezz  du  dein  Leben  als  ein  rechtschaffener  Mann  fort,  so  bist 
du  nun  deßelben  würdig.  35 

Ich  bin  nicht  befugt  mein  Leben  zu  erhalten,  wenn  ich  durch  nieder- 
trächtige Handlungen  mich  deßen  unwürdig  mache.  Ich  hebe  dadurch 

210  /die  gute  Ordnung  der  Sittlichkeit  auf.  —  Der  Mensch  schändet  sich 


Praktische  Philosophie  Powalski  209 

auf  solche  Art  selbst,  und  diese  Handlung  ist  nicht  nur  tadelhaft, 
sondern  auch  zugleich  verabscheuungswürdig  und  schändlich.  Der 
Selbstmord  macht  also  den  Menschen  zum  Scheusal.  Ueberhaupt  alle 
Pflichten  gegen  sich  selbst  sind  so  beschaffen,  daß  wenn  ein  Mensch  sie 
5  übertritt,  er  dadurch  nicht  nur  verwerflich,  sondern  auch  nichts- 
würdig und  abscheulich  wird.  Nun  ist  aber  nichts  verächtlicher,  als 
Avenn  sich  ein  Mensch  zum  Aas  macht,  kein  Unglück  des  Lebens,  keine 
Versuchung  kann  so  groß  seyn,  daß  sie  einen  Menschen  bewegen 
sollte  an  sich  gewaltsamer  Weise  die  Hand  zu  legen. 
10  Die  Sittliche  Vollkommenheit  besteht  nicht  in  der  Glückseeligkeit, 
sondern  in  der  Würdigkeit  glücklich  zu  seyn.  —  Ein  Mensch  der  sich 
willkührlich  aus  der  Welt  expediret,  der  stiehlt  sich  sozusagen  aus 
der  Welt  heraus,  denn  das  Schicksal  fordert  ihn  noch  nicht  ab.  Er  thut 
einen  gewaltigen  Eingriff  in  das  Meisterstück  des  großen  Werck 
15  Meisters,  /  welches  doch  nicht  einen  einzigen  Theil  hat,  der  nicht  seinen  211 
besondern  Zwekk  hätte.  —  Die  freye  Willlcühr  die  uns  über  die 
Thierheit  erhebt,  und  uns  der  Gottheit  nähert,  kann  uns  nicht  so  zu 
thun  zwingen,  wenn  wir  einmahl  entschloßen  sind,  das  Gegentheil  zu 
thun.  Diese  Freyheit  ist  doch  aber  auch  die  Quelle  der  enormsten  und 
20  abscheulichsten  Vergehungen,  mit  dieser  Freyheit  müßen  wir  also 
behutsam  umgehen.  Ein  Thier  bringt  sich  nicht  willkührlich  um,  weil 
es  keine  Freyheit  hat. 

Die  alten  Philosophen,  die  Stoiker,  waren  im  Selbst  Morde  sehr  ver- 
wickelt, welche  sagten:  wenn  ich  nicht  anständig  mein  Leben  führen 
25  kann,  so  habe  ich  ja  die  Freyheit  mir  daßelbe  zu  nehmen.  Hier  steckt 
zwar  ein  großer  Muth,  man  hat  doch  aber  gefunden,  daß  alle  Mörder 
bey  der  Handlung  voll  Wahn,  Verzweiflung  und  Verrükkung  des 
Gemüths  sind.  Aus  der  Stöhrungdes  Gemüths  kann  also  diese  abscheu- 
liche Entschloßenheit  auch  entstehen.  Hiebey  kann  zwar  Muth  seyn; 
30  dieser  Muth  aber  ist  sehr  übel  angebracht.  Sie  haben  eine  Verwegen- 
heit dabey,  welche  bald  entschieden/  wird.  Ein  Muth  muß  aber  dauer-  212 
haft  seyn,  das  zeigt  nur  allein  einen  heroismum,  wenn  ich  eine  auf 
Grundsäzzen  beruhende  Standhaftigkeit  habe. 

Das  Leben  ist  aber  doch  auch  nicht  eine  Sache  von  der  größten 
35  Wichtigkeit,   denn  es  sind  einige  Annehmlichkeiten,   deren  Verlust 
empfindlicher  ist  als  die  Beraubung  des  Lebens. 

Diese  Pflichten  gegen  sich  selbst  sind  die  strengsten  moralischen 
Pflichten.  Das  Lebens  Ende  kann,  wie  schon  oben  gesagt,  entweder 
moralisch  oder  physicalisch  bestimmt  werden.  Moralisch  wird  es  be- 

14     Kant* s  Schritten  XXVII/1 


210  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

stimmt,  wenn  ich  zu  den  moralischen  Handlungen  unfähig  bin,  oder 
wenn  ich  nicht  als  ein  ehrlicher  Mann  mein  Leben  führen  kann. 
Physicalisch  aber,  wenn  es  das  Schicksal  durch  die  Natur  bestimmt ; 
der  casus  neceßitans  muß  gar  nicht  angenommen  werden,  ob  er  gleich 
in  sensu  iuridico  erlaubt  ist,  denn  solche  Fälle  sind  unbestimmt.  Die  5 
weichliche  Annehmlichkeit  im  Leben  und  die  feige  Furchtsamkeit 
vor  dem  Tode  zeigt  eine  sehr  kleinmüthige  Seele  an. 

313  Die  Stoiker  sagten:  daß  es  zum  Vorrecht  des  Wei/sen  gehöre,  daß 
der  aus  Ueberlegung  aus  der  Welt  gehen  und  also  Meister  über  sein 
Schicksal  seyn  könne,  wenn  er  nicht  seinem  Charakter  gemäß  ein  lo 
Leben  führen  kann.  Moralische  Libertins  nennt  man  diejenigen,  welche 
von  allen  moralischen  Regeln  und  Zwange  frey  zu  seyn  glauben. 

Unter  allen  Vermögen  der  Kräfte  der  Natur  ist  nichts  schädlicher 
als  die  Freyheit.  Sie  ist  zwar  dasjenige,  was  uns  über  die  Thierheit 
erhebt;  sie  ist  aber  auch  die  Quelle  alles  Uebels.  i5 

Der  Selbst  Mord  war  in  den  alten  Zeiten  im  großen  Ansehen.  Wenn 
die  Römischen  Kayser  jemanden  umbringen  laßen  wollten,  und  ihm 
noch  die  lezte  Ehre  und  Wohlthat  erzeigten,  so  erlaubten  sie  ihm,  daß 
er  sich  selbst  umbringen  könnte,  auf  welche  Art  es  auch  seyn  mochte. 
Sie  sahen  darin  einen  Heroismum.  Das  Wesentliche  der  Moralitaet  ist  20 
die  allgemeine  Gültigkeit  der  Gesezze,  weil  sie  von  allen  und  jeden 
Gesichts  Punkten  klug  sind  und  Wohlgefallen.  Dem  Cato  giebt  man 
Schuld,  daß  seine  große  Tugend  der  Patriotismus  und  nicht  das  allge- 

314  meine  Recht  der  Menschen  /  sey.  Er  wählte  sich  einen  Tod,  aber  nicht 
Heldenmäßig.  25 

Jezt  kommen  wir  an  eine  Pflicht,  welche  der  Mensch  in  Ansehung  des 
Zustandes  seines  Leibes  zu  beobachten  hat,  und  dies  ist  die  Gesund- 
heit. Ein  vorübergehendes  Hinderniß  des  Zustandes  der  Menschen  ist 
nur  ein  Zufall,  ein  dauerndes  Hinderniß  aber  ist  eine  Krankheit.  Ein 
gewißes  Merkmal  der  Gesundheit  ist  ein  Trieb  zur  Thätigkeit,  der  aus  30 
einer  gewißen  Laune  entspringt,  oder  wenn  wir  uns  munter  und 
wacker  befinden.  Die  Pflicht:  sorge  für  unsere  Gesundheit  zu  tragen, 
ist  moralisch  und  die  Vernachläßigung  der  Sorgfalt  der  Gesundheit 
gewißer  Vortheile  wegen  oder  die  Verwahrlosung  des  Lebens,  um 
eines  Genußes  wegen,  kann  nicht  moraHsch  gerechtfertiget  werden.  —  35 

Wir  können 

L  Eine  bedenldiche  Sorge  und 

2.  Eine  Vorsorge  für  unsere  Gesundheit  tragen. 


Praktische  Philosophie  Powalski  211 

Derjenige  der  da  Uebel  fürchtet,  wo  keine  sind,  fler  ist  besorget. 
Derjenige  aber,  der  den  Fall  verhütet,  wo  sein  Zustand  einen  Nach- 
theil leiden  könnte,  der  trägt  Vorsorge.  Kein  Mensch  wird  durch 
Kunst  hervor/bringen,  daß  sein  Magen  gut  verdauen  soll,  denn  unser  2i5 
5  Körper  hat  schon  seine  gehörige  Funktion,  wir  müßen  ihn  nur  so 
pflegen  wie  wir  es  schuldig  sind.  Die  größte  Sorge  ist  also  die  Natur 
nur  in  ihrem  Laufe  zu  erhalten.  Die  Mäßigkeit  ist  ein  Haupt  Umstand 
zur  Gesundheit.  Die  Grenzen  die  in  Ansehung  der  Moral  der  Mäßigkeit 
gesezt  sind,  sind:  der  Mensch  muß  seinen  Thierischen  Trieben  nicht 

10  nachhängen,  er  muß  nach  reflexionen  beurtheilen,  was  er  genießen 
soll,  und  was  er  entbehren  kann.  Alles  das  wodurch  wir  unsere  Neigun- 
gen verwildern  laßen,  erniedriget  den  Menschen  und  seine  obern 
Kräfte.  Unter  allen  Unmäßigkeiten  ist  am  meisten  der  Moral  ent- 
gegen: ein  starckes  Getränke.  Wenn  es  in  Ansehung  der  Quantitaet 

isgeschiehet,  so  verhält  sich  hier  der  Mensch  als  ein  Thier.  In  Ansehung 
der  Qualitaet  kann  es  geschehen,  wenn  der  Mensch  gelockt  wird  durch 
Geschmack  über  seine  Mäßigkeit  zu  gehen.  Ein  Mensch,  der  sehr 
leckerhaft  ist,  der  die  Tafel  als  einen  Gegenstand  aller  seiner  Beschäfti- 
gung ansiehet,  der  zeigt  eine  Eigenschaft,  die  etwas  niederträchtiges 

20  und  verabscheuungswürdiges  bey  sich  führet.  Das  viele  /  Eßen  macht  3i6 
die  Gemüthskräfte  stumpfer  als  das  viele  Trincken,  Wenn  der  Trunck 
in  den  Gränzen  bleibt,  daß  er  nicht  zur  Versoffenheit  ausschlägt:  so 
führet  er  noch  mehr  etwas  geselhges  bey  sich  als  das  viele  Eßen.  Wir 
müßen  das  Maaß  erhalten  in  welchem  die  Munterkeit  des  Geistes  und 

25  die  Verstandes  Kraft  in  ihrer  Faßung  bleibt.  Die  versoffenen  Leute 
sind  sehr  niederträchtig,  denn  der  Mensch  ziehet  im  Stande  der 
Trunckenheit  seine  Menschheit  aus.  Der  Grad  des  Gebrauchs  des 
Trinckens  macht  den  Menschen  gute  Laune,  gesprächig  und  gesellig. 
In  dem  Getränke  ist  ein  großer  Unterschied.  Das  Bier  bringt  etwas 

30  schweres  bey  der  Trunckenheit.  Der  Brandtwein  ist  ein  Geselle  der 
Einsamkeit.  Der  Wein  macht  aufgelegt  zu  Gesellschaften  und  fröhlich. 
Diejenige  Menschen  welche  Geheimniße  zu  verbergen  haben,  hüten 
sich  sehr  vor  Geträncke.  Von  der  Art  ist  das  Frauenzimmer  das  sich 
beständig  vor  dem  Getränck  reserviret ;  weil  sie  im  Zustande  der  Trun- 

35kenheit  den  Wächter  /  der  Keuschheit  von  seiner  Schildwache  ab- 31T 
gehen  läßt,  und  sich  allen  Wollüsten  und  Leidenschaften  überläßt. 
L^nser  Autor  redet  ferner  von  der  disciplin  des  Körpers.  Es  sind  aber 
Grillen,  nach  welchen  man  glaubt,  daß  man  in  Ansehung  des  Körpers 
moralische  disciplin  anstellen  sollte,  um  die  Leidenschaften  und  nach 


212  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

und  nach  Neigungen  zu  erstikken.  Diese  disciplin  des  Körpers  ist  eine 
Schwärmerey,  verkehrt  und  phantastisch.  Die  Sorgfalt  für  die  Klei- 
dung ist  nicht  moralisch.  —  Nun  kommen  wir  auf  die  Sorge  in  Ansehung 
der  occupation  und  Muße.  Beschäftigungen  und  Geschäfte  sind  unter- 
schieden. Man  kann  in  einer  Muße  beschäftiget  seyn,  wo  man  aber  5 
keine  Absicht  hat.  Dieses  ist  also,  wo  man  keinen  notli wendigen  Zwekk 
hat.  Wir  können  aber  auch  Geschäfte  haben,  wo  gewiße  Zwekke  noth- 
wendig  seyn.  Dieses  ist  ein  Geschäfte  —  das  erste  aber  ist  eine  Be- 
schäftigung. Wenn  sich  ein  Mensch  nach  Belieben  aus  Langeweile 
beschäftigen  will,  so  wird  ihm  dieses  bald  verdrießlich  seyn ;  bey  den  lo 

218  Geschäften  hat  er  aber  einen  nothwendigen  Zweck,  er  hat  /  dabey 
immer  Intereße,  und  dieß  muß  ihn  auch  zu  den  Geschäften  antreiben, 
es  unterhält  auch  den  Geist.  —  Daß  der  Mensch  durch  die  Langeweile 
gequält  wird,  kommt  daher,  weil  er  immer  ein  Geschäfte  erfordert  und 
handeln  will.  Wir  müßen  etwas  haben,  was  uns  wenn  wir  auch  nicht  i5 
Lust  haben  zu  Geschäften  antreibt.  Es  ist  etwas  nöthig,  was  uns  zwingt 
damit  wir  thätig  seyn,  denn  auf  solche  Art  reserviren  wir  eben  das 
Leben  und  genießen  es  wirklich.  Unter  dieses  gehört  die  Arbeit 
welche  ein  Geschäft  ist,  das  mit  Beschwerlichkeit  verbunden  ist.  Der 
Müßiggang  ist  nicht  die  Muße.  Die  Muße  ist  nur  eine  Erholung  von  20 
Geschäften.  Vor  die  Beschäftigung  der  Muße  müßen  wir  eben  so 
sorgen,  als  für  unsere  Geschäfte.  Beym  Studiren  halten  wir  die  Poesie 
für  eine  Beschäftigung  der  Muße.  —  Die  Faulheit  ist  der  Abscheu  vor 
Beschäftigungen.  Die  Trägheit  aber  der  Abscheu  vor  der  Arbeit.  Die 
Faulheit  macht  den  Menschen  verächtlich  und  unnüz.  Alle  Hoch-  25 
müthigen  sind  faul. 

Wir  können  uns  zu  einer  harten  Lebens  Art  entschließen,  wenn  wir 
dem  Körper  vielen  Genuß  versagen,  und  die  Enthaltsamkeit  bey- 
behalten,  weil  sie  den  Geist  stärket. 

Die  Enthaltsamkeit  ist  die  Selbst  Ueberwindung.  Die  disci-  30 

219  plin  vergrößert  allemahl  den  Geist,  so  wohl  am  /  Verstände  als  auch 
am  Willen.  Das  ist  aber  eine  phantastische  Vorstellung,  daß  man  sich 
durch  Kunst  nach  und  nach  entkörpern  oder  vom  Körper  unabhängig 
machen  kann.  Pythagoras  und  Plato  sahen  den  Körper  für  einen  Kerker 
an,  worinnen  der  Geist  verstoßen  wäre.  Sie  sagten:  das  menschliche  35 
Leben  sey  die  Probezeit  unserer  Seele.  Sie  suchten  deswegen  vom 
Körper  zu  abstrahiren.  ihn  und  seine  Begierden  zu  dämpfen;  hierauf 
gründen  sich  auch  die  verschiedenen  Mönchs  Orden  und  ihre  Kastey- 
ungen.  Wenn  der  Mensch  seinem  Körper  nach  handeln  sollte,  id  est 


Praktische  Philosophie  Powalski  213 

nach  seiner  Thierheit,  ohne  die  Vernunft  zu  rathe  zu  ziehen,  so  würde 
er  nicht  seinen  bestimmten  Zweck  erreichen.  Die  Selbstquaalen  haben 
keinen  andern  Grund,  als  daß  sie  strenge  disciphniren,  und  in  An- 
sehung des  Körpers  für  nöthig  gehalten  werden.  Der  Körper  ist  uns 

5  aber  so  wohl  zur  Pflege  als  Vorsorge  gegeben,  und  derjenige  erfüllet 
diese  Pflichten  nicht,  wenn  er  sich  denselben  zu  erhalten  nicht  be- 
mühet.  —  Die  Pflege  des  Körpers  bestehet  in  der  Sorgfalt  für  die 
Gesundheit  und  Munterkeit  (Vigor),  damit  wir  nicht  nur  zu  Dingen  /  230 
auferleget  seyn,  sondern  auch  Lust  haben.  Die  Mäßigkeit  ist  ein  ver- 

lofeinerter  Geschmack,  der  zur  Moralitaet  führet.  Durch  das  Fasten 
wird  nichts  gethan,  was  den  moralischen  Werth  vergrößert.  Der 
Mensch  der  den  ganzen  Tag  gefastet  hat,  ist  mürrisch.  Wir  müßen 
den  Körper  zwar  in  einer  disciplin  aber  auch  zugleich  in  einer  Pflege 
halten,  welche  ein  Tugendhaftes  Leben  möglich  macht,  und  auch  ein 

1.)  Vergnügen  bey  sich  führet.  Dahingegen  ist  der  ein  Menschen  Feind,  der 
sich  immer  übel  befindet.  Dieses  war  von  der  Disciplin  des  Körpers, 
welche  in  den  Schwärmerischen  Schulen  entstanden,  und  izt  zu 
gewlßen  Observanzen  gemacht  ist. 

Die  Stellung  des  Körpers. 

20  Wir  sind  verbunden,  mit  der  Menschheit  nach  ihren  wesentlichen 
Zwekken  zu  verfahren.  Die  Gestalt  ist  unmittelbar  für  andere,  die 
Gesundheit  aber  für  uns  gut.  Die  Gestalt  kann  dem  Menschen  zwar 
auch  nüzlich  seyn.  Aber  alles  was  von  der  Nüzlichkeit  herrühret,  ist 
nicht  moralisch.  Die  Gestalt  ist  eigentlich  die  dignitaet  des  /  Mensehen  231 

25  in  der  Erscheinung.  —  Dieweil  wir  also  verbunden  sind  sowohl  auf  die 
Handlungen,  die  auf  unsere  Gesundheit  gerichtet  seyn,  als  auch  auf 
diejenigen  in  Verhältniß  auf  andere  zu  sehen,  so  haben  wir  also  auch 
Pflichten  in  Ansehung  unserer  Gestalt  zu  erfüllen.  —  Es  geziemet 
dem  Menschen,  daß  er  auf  seine  Form  sehe,  und  daß  er  in  ihr  die 

30  Menschheit  vergrößere. 

Die  Kleidung  ist  nichts  anders  als  Mittel,  das  unanständige  zu  ver- 
dekken,  als  auch  uns  dadurch  ein  größeres  Ansehen  zu  geben,  welches 
wir  vielleicht  sonst  nicht  haben  würden ;  dieses  ist  die  dignitaet  und 
simplicitaet.  Unser  Autor  redet  ferner  von  der  Arbeit,  Beschäftigung 

35  und  Muße.  Die  Muße  ist  von  der  Nichtsthuerej^  unterschieden,  Otium 
und  negotium  sind  opposita,  die  Muße  ist  der  Zustand,  da  man  nichts 
arbeitet.  Die  Arbeit  ist  ein  Geschäfte,  das  mit  Beschwerlichkeiten 


214  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

verbunden  ist.  Es  giebt  aber  auch  Geschäfte  ohne  Beschwerhchkeit 
und  dies  ist  ein  Spiel,  welches  zur  Unterhaltung  und  Vergnügen  ist. 

3S3  Auch  in  /  Otio  kann  man  beschäftiget  seyn.  Wir  müßen  also  keine 
Muße  haben,  wenn  wir  nicht  beschäftiget  seyn.  Die  Arbeit  ist  also 
der  Muße,  und  Beschäftigung  der  Unthätigkeit  entgegen- 5 
gesezt.  Derjenige,  der  sich  alle  Beschäftigungen  zum  Unterhalte 
machen  will,  oder  der  einen  Abscheu  an  der  Arbeit  hat,  der  ist  läßig. 
Die  Nichtsthuerey  verursachet  eine  Plage,  die  man  durch  kein  Mittel 
abhelfen  kann.  Die  lange  Weile  gehöret  dazu.  Die  Nichtsthuerey  ist 
eine  Art  Art  von  Leblosigkeit,  welche  den  Menschen  aller  Thätigkeit  lo 
beraubet,  und  ihn  zu  einem  dem  Scheine  nach  lebenden  Wesen  macht. 
Sie  wird  ein  Hinderniß  vom  Gefühl  des  Lebens.  Alles  was  bey  uns  das 
Feuer  des  Lebens  auslöscht,  das  ist  ein  Hinderniß  des  Lebens,  und 
verursachet  ein  Mißvergnügen.  Die  Zeit  bleibt  immer  leer  wo  wir 
nichts  anders  gethan  als  genoßen  haben.  15 

Wir  können  die  Zeit  nicht  anders  als  durch  Arbeit  besezzen.  Ein 
vacuum  der  Zeit  macht  bey  uns  Schrekken  und  Abscheu,  wie  solches 

333  schon  die  /  Scholastiker  mit  dem  horror  vacui  ausdrückten.  Eine  leere 
Zeit  erscheint  erschrecklich  groß  zu  seyn,  darum  weil  sie  leer  ist.  — 
Wollen  wir  das  Leben  besezzen,  so  können  wir  es  mit  Genuß  aber  20 
doch  nicht  völlig  besezzen,  denn  der  Genuß  füllt  unser  Leben  nicht  aus. 
Nur  einzig  und  allein  in  Arbeit  ist  der  Mensch  bewußt, 
daß  er  gelebet  habe.  Die  Thätigkeit  ist  ein  Bewußtseyn  des 
Lebens.  Er  lebt  also  nicht  mehr  wenn  er  genießt  als  wenn  er  thut. 
Je  weniger  ein  Mensch  thut,  desto  länger  ist  ihm  die  gegenwärtige,  25 
desto  kürzer  die  vergangene  Zeit.  Je  mehr  er  beschäftiget  ist,  desto 
kürzer  ist  ihm  das  praesens,  desto  länger  aber  die  (künftige)  ver- 
gangene Zeit. 

Vitam  extendere  f actis  bedeutet  nicht,  ich  habe  mich  durch  meine 
Thaten  bey  der  Welt  berühmt  gemacht,  sondern  ich  bin  bewußt,  daß  30 
ich  gelebet  habe,  darum  weil  ich  vieles  gethan  habe. 


Von     den     Pflichten     die     den     persönlichen     Werth     des 
Menschen  betreffen. 

234      /Die   Vergehungen   dawieder   heißen    crimina  carnis.  Die  Gründe 
dieser  Verbindlichkeit  müßen  aus  den  eigenthümlichen  Handlungen  35 
hergenommen  werden.  So  muß  eine  Handlung  moralisch  böse  seyn, 
wenn  sie  eine  innere  Häßlichkeit  hat,  sie  muß  angesehen  werden 


Praktische  Philosophie  Powalski  215 

können,  als  ein  Mittel,  als  eine  Ursach,  daß  man  zu  andern  Zwekken 
nicht  tauglich  ist.  Die  causa  originaria  vel  principalis  der  Verbindlich- 
keit muß  in  den  Handlungen  selbst  liegen.  Die  causa  subsidiaria  aber 
liegt  in  der  Folge.  —  Der  Mißbrauch  der  Geschlechts  Neigung  und  des 
5  Geschlechts  Vermögens  ist  immer  eine  Häßlichkeit,  und  diese  nennt 
man  crimina  contra  naturam,  wo  selbst  die  Thierische  Bestimmung 
der  Geschlechts  Eigenschaften  umgekehrt  wird.  Dieser  Mißbrauch  ist 
sogar  der  menschlichen  Natm-  zuwieder.  Eben  deswegen  werden 
solche  Handlungen  bestialisch,  schändlich  und  /  viehisch  genannt.  325 

10  In  Ansehung  des  Geschlechts  Vermögens  sind  gewiße  restrictiones  der 
Freyheit  über  unsere  eigene  Person  zu  disponiren.  Sie  ist  eingeschränkt 
auf  die  wesentliche  Zwekke  der  Menschlichen  Natur.  Wenn  diese 
Freyheit  nicht  restringiret  wird,  so  ist  dieses  die  Schändung  der 
Menschheit  in  seiner  eigenen  Person.  Unsere  Urtheile  sind  in  Ansehung 

15  der  Geschlechts  Neigung  so  beschaffen,  daß  wir  darin  etwas  häßliches 
finden.  Die  CynUier  sagten:  was  erlaubt  ist,  das  ist  auch  nicht  unan- 
ständig. Die  höchste  Erniedrigung  des  Menschen  ist,  wenn  er  seine 
Person  zur  Sache  macht,  der  sich  ein  anderer  bedienet.  Von  dieser  Art 
ist  auch  das  Verfahren,  wenn  ich  meinem  Sklaven  einen  Zahn  aus- 

20  reißen  laße  und  mir  einsezze.  Die  Geschlechter  Neigung  ist  nichts 
anders  als  wo  einer  den  andern  genießet. 

Hier  findet  die  Vernunft  etwas,  das  der  Menschheit  nicht  würdig  ist, 
denn  dieses  ist  nicht  ein  Dienst,  den  uns  der  andere  thut,  son/dern  ein  226 
wirklicher  Genuß.   Die  Nothwendigkeit,  die  Art  zu  erhalten  durch 

25  diesen  Genuß  der  Personen,  dieses  ist  eine  Naheit  zu  den  Thieren  die 
die  größte  ist.  Man  nennt  diese  Geschlechter  Neigung  Liebe,  das  ist 
aber  falsch  und  sollte  appetit  heißen.  Die  Liebe  bedeutet  eigentlich  die 
Neigung,  die  Wohlfahrt  eines  andern  zu  befördern.  Die  Geschlechter 
Neigung  aber  gehet  bloß  auf  die  Befriedigung  der  Neigung  durch  den 

30  Genuß.  Wenn  die  Geschlechter  Neigung  nicht  durch  die  Moralitaet 
moderirt  wird,  so  ist  sie  blind.  Dieser  appetit  zum  Geschlechte  liegt 
schon  in  der  Natur.  Warum  aber  hat  die  Vorsehung  die  Einrichtung 
gemacht,  daß  ein  Mensch  für  den  anderen  ein  Genuß  seyn  kann  ? 
Diese  Neigung  gründet  sich  auf  die  innigste  Vereinigung  die  unter  den 

35  Menschen    aufgerichtet   werden    soll,    weil   diese    Personen    alsdann 
gegenseitige  objecte  werden.  Dies  war  der  Zweck  der  Natur.  —  Die 
Geschlechter  Neigung  scheinet  der  Würde  des  Menschen  ent/gegen  22) 
zu  seyn,  und  es  ist  sehr  merkwürdig,  daß  wir  uns  oft  deßen  schämen 
was  unsere  Natur  ist.  Der  Mensch  als  eine  Person  betrachtet  hat  aber 


216  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

eine  Würde  über  alle  Geschöpfe,  daß  er  kein  Gegenstand  des  Genußes 
und  Gebrauchs  eines  andern  seyn  könne.  Dies  ist  die  Geschlechter 
Neigung.  Die  crimina  contra  naturam  sind  von  der  Art,  daß  sie  der 
Mensch  so  abscheulich  findet,  daß  er  sie  nicht  einmahl  nennen  darf. 
Unnatürliche  Laster  könnte  er  sie  nennen,  weil  sie  sehr  häßlich  seyn.  5 

Es  sind  keine  größeren  Verbrechen  in  Ansehung  der  Schändung 
seiner  eigenen  Person  als  der  Selbstmord  und  der  Mißbrauch  des 
Geschlechts  Vermögens.  Das  eine  ist  gräßlich  das  andere  schändlich. 
Das  eine  beschimpft  den  Menschen,  das  andere  macht  ihn  feindseelig 
gegen  die  Menschheit.  Gewiße  Ausschweifungen  werden  bloß  ob  fragili-  lo 
tatem  humanae  naturae  oft  entschuldiget,  weil  der  Trieb  dazu  in  der 
328  Natur  liegt.  So  ist  es  /  mit  der  Wollust,  die  auf  das  Geschlecht  gehet, 
be wandt.  Man  siehet  in  der  Natur  als  das  wesentlichste  die  Erhaltung 
seiner  Selbst  und  seiner  Art  an.  Dieses  dienet  schon  weil  es  bekannt 
ist  zur  Milderung  der  Strafe  des  Urtheils;  weil  es  schwer  ist  nach  der  i5 
Ordnung  der  Sittlichlveit  sich  zu  erhalten.  Ein  Gesezz  ist  aber  nie 
nachsichtlich  weil  es  eine  Norm  ist  und  die  muß  exact  seyn,  und  es  ist 
thöricht,  sich  ein  solches  Gesezz  vorzustellen.  Ein  gerechter  Richter 
ist  nur  derjenige,  der  exact  und  ganz  adaequat  nach  solchen  Gesezzen 
Recht  spricht.  Ein  Mensch  kann  sich  auch  mit  seinem  eigenen  Willen  20 
nicht  zum  Gegenstande  des  Genußes  eines  andern  machen.  Der  Mensch 
ist  eine  Einheit  und  also  kann  er  sich  eines  Theils  nicht  entäußern, 
wofern  er  sich  nicht  ganz  dem  Mangel  unterwirft. 

Also  übergeben  sich  die  Personen  beym  Genuße  nicht  einen  Theil 
sondern  sich  ganz.  Es  wird  also  nur  unter  den  Bedingungen  der  Genuß  25 
der  Geschlechts  Neigung  möglich  seyn,  daß  wenn  eine  Person  sich  dem 
•J29  Mann  ergiebt,  sie  auch  wieder  vom  Manne  ge/winnet.  Dieses  hat  immer 
gedienet  die  restriction  der  Geschlechts  Neigung  durch  Ideen  einzu- 
sehen. 

Die  Ehe  ist  die  moralische  Condition,  worunter  der  Genuß  der  30 
Geschlechter  Neigung  statt  finden  kann,  insofern  die  Erhaltung  der 
Art  dadurch  f ortgepflanzet  wird :  Sofern  sie  aber  vaga  libido  und  den 
Zwekken  der  Natur  entgegen  ist,  so  ist  es  moralisch  verwerflich,  und 
an  und  vor  sich  selbst  böse.  Wenn  der  Mensch  vom  andern  ein  Genuß 
wird,  so  liegt  dieses  zwar  in  der  Thierheit  aber  nicht  in  der  Menschheit;  35 
sofern  der  Mensch  eine  Intelligenz  ist.  Die  Bedingung  ist  die:  Der 
Mensch  muß  seine  Neigung  restringiren,  und  wenn  er  sich  der  Willkühr 
einer  Person  ergiebt,  so  muß  er  sich  dadurch  die  andere  recuperiren. 
Dieses  war  das  Kunststück  der  Natur :  zwey  Personen  in  eine  Einheit 


Praktische  Philosophie  Powalski  217 

zu  bringen.  Dieses  kann  mehr  zu  einer  Illustration  als  completten 
demonstration  dienen. 

Wir  haben  ferner  in  Ansehung  unseres  Zustandes  Pflichten  zu 
erfüllen  und  das  sind  diejenigen,  die  unsere  Zufriedenheit  /  und  die  230 

5  Glückseeligkeit  überhaupt  betreffen.  Ein  Mensch  kann  verschiedenen 
Neigungen  entsagen,  er  kann  sie  auch  genießen,  aber  stets  muß  er  so 
handeln,  daß  sein  Gemüth  zufrieden  sey:  denn  wenn  der  Mensch  mit 
seinem  Daseyn  unzufrieden  ist,  so  ist  er  sich  selbsten  ein  Gegenstand 
des  Mißvergnügens  und  Mißfallens.  Wir  können  unsere  Zufriedenheit 

10  entweder  durch  positive  oder  negative  Mittel  erlangen.  Die  positive 
Mittel  sind  die  Befriedigung  aller  unserer  Neigungen  und  Begierden. 
Das  negative  aber  ist  die  Entsagung  alles  deßen  was  uns  nicht  nöthig 
ist.  Dieses  ist  die  Genügsamkeit.  Die  Genügsamkeit  ist  also  das  nega- 
tive Mittel  zur  Zufriedenheit.  Alles  Vergnügen  des  Lebens  ist  entweder 

15  Annehmlichkeit  oder  Bedürfniß.  Das  Bedürfniß  ist  dasjenige  deßen 
Beraubung  uns  unzufrieden  und  mißvergnügt  macht.  Die  Annehm- 
lichkeiten aber  sind  solche  Vergnügen,  von  denen  ich  weiß,  daß  /  ich  sie  331 
entbehren  kann.  Die  Gesellschaft  ist  an  und  vor  sich  selbst  ein  Grund 
zu  vielen  Vergnügen,  aber  sie  ist  nicht  ein  Bedürfniß  sondern  eine 

20  Annehmlichkeit.  Die  Haupt-Regel  hiebey  ist,  daß  wir  so  wenig  Ver- 
gnügen des  Lebens  als  möglich  ist,  zu  Bedürfnißen  machen.  Wenn  der 
Mensch  so  viel  Genuß  der  Annehmlichkeit  hätte,  daß  er  tausend 
Mittel  zu  seiner  Zufriedenheit  bedürfte,  so  wäre  er  ein  Spiel  des  Zufalls. 
Unsere  Zufriedenheit  muß  aber  nicht  von  äußeren  Dingen  abhängen, 

25  sondern  sie  muß  auf  dasjenige  gegründet  seyn,  was  in  des  Menschen 
Gewalt  ist.  Dieses  ist  also  die  restriction  der  Zufriedenheit  auf  die 
kleinstmöglichen  Vergnügen  des  Lebens,  welches  man  die  Genügsam- 
keit nennet.  Die  Cyniker  hatten  diese  Lehre  und  sie  nannten  ihre 
Philosophie  den  kurzen  Weg  zur  Glückseeligkeit,  der  nur  aber  durch 

.30  große  Zerrüttungen  erlangt  werden  kann.   —  Wir  haben  aber  auch 
Bedürfniße  die  wir  nicht  entbehren  können,  /  weil  sie  natürlich  sind.  23S 
ZE.  Nahrung,  deren  Entbehrung  uns  natürlicherweise  unangenehm 
ist.  Die  Herabsezzung   aller   unserer  ernstlicher  Begierden  bis  zum 
natürlichen  Bedürfniß,  das  ist  die  Genügsamkeit.  Es  giebt  aber  auch 

35  viele  Dinge,  deren  Entbehrung  uns  nur  gewöhnlicher  Weise  unsern 
Zustand  unangenehmer  macht.  Wenn  wir  den  ganzen  LTmfang  des 
Vergnügens  dieses  Lebens  nehmen,  wenn  wir  alle  zufällige  Bedürfniße 
der  Begierden  die  wir  in  uns  entstehen  ließen,  absondern,  so  ist  sehr 
wenig,  was  zu  unserer  wahren  Zufriedenheit  gehöret.   Davon  auch 


218  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

dieses  Sprichwort  bekannt  ist:  natura  paucis  contenta.  Der  Mensch 
ist  desto  stärker,  je  mehr  er  entbehren  kann.  Die  größte  Würde  des 
Menschen  ist,  wenn  er  Geschmack  hat,  die  gehörigen  Vergnügen  zu 
genießen,  und  alle  andern  zu  entbehren.  Ein  Bedürfniß  findet  nur 
statt  bey  den  Menschen  oder  es  hat  solange  den  Werth  eines  Bedürf-  s 

333nißes,  solange  der  /  Mensch  noch  würdig  ist  zu  leben;  lebte  er  aber 
nicht  also:  so  lebte  er  länger  als  er  sollte. 

Der  Hang  des  Gemüths,  die  Annehmlichkeiten  des  Lebens  als 
Bedürfniße  anzusehen,  ist  die  Ueppigkeit.  Diese  Ueppigkeit  ist  eine 
Entkräftung  des  Gemüths,  denn  es  verliehret  ganz  die  Genügsamkeit,  lo 
Die  Ueppigkeit  im  pöbelhaften  Verstände  besteht  in  dem  Gebrauch 
der  entbehrlichen  Dinge,  welche  aber  zur  Beförderung  des  Fleißes 
gegeben  werden. 

Dem  Luxus  ist  die  luxuries  entgegen  gesezt,  Luxus  ist  der  Ge- 
schmack in  der  Wahl  des  Genußes,  luxuries  aber  der  Geschmack  in  der  i5 
Quantitaet.    Luxus  findet   sich   bey   reichen   und   luxuries   ist   bey 
gemeinen  Leuten.  Die  luxuries,  die  Gierigkeit  im  Genuß,  ist  immer  was 
niederträchtiges.  Es  ist  nichts  tadelhafter  als  die  Annehmlichkeit  an 
solchen  Dingen.  Jemehr  der  Geschmack  im  Staate  zunimmt,  desto  ' 
größer  wird  der  luxus,  und  jemehr  die  Gierigkeit  nach  der  Quantitaet  20 
zunimmt,   desto  mehr  wächst  luxuries.   Der  Luxus  verfeinert  den 

234  Geschmack.  —  Wenn  ein  Mensch  /  hier  alles  zusammennimmt :  so  muß 
er  stets  für  ein  fröhliches  Herz  sorgen,  und  muß  alle  wiedrige  Vorfälle 
des  Schicksals  abhalten.  Er  muß  sich  Annehmlichkeiten  verschaffen, 
wodurch  er  sein  Leben  recht  vergnügt  genießen  kann.  Der  Mensch  kann  25 
seine  Seele  auf  solche  Grundsäzze  bringen,  wo  er  stets  fröhlich  und 
gegen  alle  Unglücksfälle  abgehärtet  ist.  Wenn  wir  die  Annehmlich- 
keiten unter  die  Bedürfniße  zählen,  so  vergrößern  wir  die  Zahl  der 
Bedürfniße  und  zugleich  der  Uebel.  Jedes  Bedürfniß  ist  dasjenige, 
deßen  Mangel  bey  uns  eine  Unzufriedenheit  verursachet.  Und  jemehr  so 
wir  Bedürfniße  haben,  desto  unglücklicher  sind  wir.  Die  Nothdurft 
nennen  wir  das,  deßen  Ermangelung  uns  elend  macht.  Also  sehen  wir, 
daß  die  Bedürfniße  und  Nothdurft  unterschieden  sind.  Ein  jedes  Be- 
dürfniß ist  eine  Quelle  der  Uebel.  Jemehr  wir  unsere  Bedürfniße  ein- 
schränken, desto  mehr  Glück  haben  wir  in  unserer  Gewalt.  Diese  35 
Zufriedenheit  die  nur  lediglich  beym  Menschen  statt  findet  (sofern 

335  sein  Gemütli  /  derselben  fähig  ist),  diese  ist  etwas,  was  unsere  Glück- 
seeligkeit  uns  in  unsere  Gewalt  giebt.  Sie  kann  erlangt  werden  L 
durch  Genügsamkeit.  2.  durch  Standhaftigkeit.  Diese  zwey 


Praktische  Philosophie  Powalski  219 

Stükke  machen  die  Zufriedenheit  aus,  die  nicht  auf  äußern  Ursachen, 
sondern  auf  der  inneren  Stärke  des  Gemüths  beruhet ;  die  alten  nannten 
diese  zwey  Stükke  die  Sustinentz  und  die  Abstinentz  (Duldsamkeit  und 
Enthaltsamkeit).  Die  Sustinentz  bestehet  in  den  Uebeln,  denen  uns  zu 

5  wiedersezzen  unsere  Pflicht  ist.  Sie  bedeutet  die  Erduldung  derjenigen 
Uebel,  die  uns  vom  Schicksal  auferleget  werden.  Geduld  und  Duld- 
samkeit ist  nicht  einerley.  Die  Geduld  ist  eine  fast  gleichgültige  Ent- 
deckung des  Schnierzens,  eine  geringere  Aufmerksamkeit  aufs  Uebel. 
Sie  ist  eine  Eigenschaft  schwacher  Seelen  und  be weißt  keine  Stärke. 

10  Eine  Eigenschaft  der  Weiber,  welche  wenn  sie  nicht  etwas  verhindern 
können,  sich  in  die  liebe  Geduld  begeben.  Um  unsere  Kraft  zur  Stand- 
haftigkeit  zu  fühlen,  haben  wir  nöthig  mit  Hindernißen  zu  kämpfen. 
Wenn  /  auch  die  Uebel  des  Lebens  das  Gemüth  drückten :  so  müßen  336 
wir  uns  immer  eines  Wohlbefindens  bewußt  seyn,  und  die  Uebeln  nicht 

15  überwiegen  laßen.  Alsdann  ist  das  Uebel  ein  Probierstein  unserer 
Stärke.  Auf  dieser  Sustinentz  beruhet  der  Grad  der  Vollkommenheit, 
davon  ein  jeder  Mensch  einen  Theil  erlangen  kann.  Der  Mensch  hat  in 
sich  Quellen  der  Zufriedenheit,  wenn  auch  äußere  Ursachen  der 
Traurigkeit  und  des  Mißvergnügens  da  sind. 

20  Die  Begierden  nicht  zu  Bedürfnißen  zu  bringen,  die  Empfindungen 
und  Gefühle  zu  bewaffnen,  daß  man  auch  durch  äußere  Ursachen 
nicht  aus  seiner  Stellung  gebracht  wird,  darauf  beruhet  die  Zufrieden- 
heit. Eine  gewiße  Kraft  die  Zufriedenheit  zu  erhalten  ist  die  Gleich- 
gültigkeit (aequabilitas),  wo  man  seinen  Zustand  immer  im  Gleich- 

25  gewicht  hält. 

Es  können  zwey  Unmäßigkeiten  im  Menschen  herrschen  1.  in  An- 
sehung der  Qualitaet,  und  diese  bestehet  darinn,  daß  man  zu  vielerley 
verlangt.  Dieses  ist  der  Luxus,  und  Unmäßigkeit  in  Ansehung  der/ 231 
Quantitaet  est  luxuries.  Sie  ist  der  Mäßigung  opponiret.  Die  Mäßigung 

30  ist  eine  Pflicht,  aber  lange  nicht  so  groß  als  die  Mäßigkeit.  Der  luxus 
ist  nicht  so  verabscheuungs würdig  als  luxuries.  Die  Ueppigkeit  wird 
sonderlich  in  Ansehung  der  Gegenstände  des  Geschmacks  gebraucht. 
Sie  ist  eine  Verschwendung  oder  Aufwand  des  Geschmacks.  Die 
orientalischen  Völker  zeigen  nicht  Geschmack  sondern  Ueppigkeit, 

35  Verschwendung. 

Jezt  kommen  wir  auf  die  Neigungen  die  auf  das  Wohlbefinden 
unseres  Zustandes  gerichtet  sind.  —  Wir  haben  gewiße  Neigungen  die 
allgemein  auf  alle  Gegenstände  gehen,  sofern  sie  als  Mittel  angesehen 
werden,  alle  übrige  Neigungen  zu  befriedigen.  Von  dieser  Art  ist  L 


220  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

Die  Begierde  nach  Geld,  und  2.  nach  Freyheit.  Die  Freyheit  bestehet 
in  der  Unabhängigkeit  von  der  Willkühr  anderer.  Ein  Mensch  der  der 
Freyheit  beraubt  ist,  wird  beständig  und  in  jedem  Fall  von  des  andern 
Willkühr  abhängen.  Die  Begierde  nach  Freyheit  ist  fürtrefflich  und 
edel.  Frey  zu  seyn  auch  von  den  Göttlichen  Gesezzen  ist  die  Frey-  5 
geisterey  und  ist  also  die  Neigung  von  den  moralischen  Gesezzen  frey 

238  zu  seyn.  Es  /  giebt  aber  auch  in  Ansehung gewißer  Gesezze  Freygeister, 
zE.  ratione  der  Ehe.  — 

Der  Inbegriff  aller  Mittel,  wodurch  unsere  Neigungen  befriediget 
werden  ist  das  Vermögen.  Das  Vermögen  in  Ansehung  der  Stärke  des  lo 
Gemüths  sind  die  Talente.  Das  Geld  nennt  man  überhaupt  Vermögen 
oder  Mittel,  die  weil  es  ein  künstliches  Vermögen  ist,  wodurch  man  alles 
verschaffen  kann,  was  des  Menschen  Fleiß  und  Bestrebung  hervor- 
bringet. Es  ist  das  Mittel  kqt  e^oxriv.  Es  kann  aber  weder  ein  gutes 
Gewißen  noch  eine  Gesundheit  geben.  Die  Neigungen,  die  auf  Mittel  i5 
gehen,  heißen  Habsucht  oder  Geiz.  Der  Geiz  ist  ein  unmittelbarer 
Zweck  zu  Glücks  Gütern.  Wir  haben  allgemeine  Neigungen,  die  alle 
andern  befriedigen,  und  das  ist  Neigung  1.  zur  Freyheit,  welche  ist  die 
negative  conditio  sine  qua  non,  und  2.  zum  Vermögen.  Die  Glücks 
Güter  können  unmittelbare  Gegenstände  oder  allgemeine  Mittel  des  20 
Genußes  seyn.  Diese  Mittel  sind  eigentlich  dasjenige,  was  das  Ver- 
mögen ausmacht.  Das  allgemeinste  Mittel  ist  izt  das  Geld,  das  da  alles 

339  verschafft,  was  des  Men/schen  Fleiß  hervorbringt.  Wir  sehen  das  Geld 
als  ein  solches  allgemeines  Vermögen  an,  und  deswegen  ist  die  Be- 
gierde nach  Vermögen  sehr  groß.  Wir  haben  eine  Neigung  zu  Mitteln  25 
um  zu  genießen,  an  und  vor  sich  hat  das  Geld  den  Werth  eines  Mittels. 
Wenn  unsere  Neigungen  zu  Vermögen  darauf  nicht  als  Mittel,  sondern 
als  auf  den  Zweck  gehen,  so  ist  dieses  der  Geiz.  Der  Geiz  ist  eine  gewiße 
Gattung  von  Begierden,  wo  wir  die  Mittel  zu  Zwekken  machen.  Wenn 
die  Tugend  der  Sparsamkeit  vergrößert  wird,  so  wird  daraus  ein  30 
Laster,  ein  Geiz.  Nach  dem  bloßen  Rede  Gebrauch  bedeutet  der  Geiz 
eben  daßelbe  als  die  Kargheit.  Man  pflegt  aber  auch  zum  Schein  den 
Geiz  habsüchtig  und  karg  zu  nennen.   Den  Hang  zur  Erwerbung 
können  wir  die  Habsucht  nennen.  Die  Leidenschaft  zur  Erhaltung  des 
Vermögens  ist  im  stricten  Verstände  der  Geiz.  Die  Habsucht  ist  mit  35 
mehreren  Lastern  verbunden,  als  die  Kargheit  der  Filzigen.  Karg  ist 
nur  für  sich  selbst  schädlich,  der  habsüchtige  Geiz  aber  auch  andern. 

240  Er  ist  weit  ungerechter  als  /  die  Kargheit.  Der  habsüchtige  Geizhals 
ist  der,  der  das  Geld  festhält,  Avenn  er  auch  alle  andern  leiden  siehet, 


Praktisclie  Philosophie  Powalski  221 

der  karge  Geizhals  ist  aber  derjenige,  bey  dem  die  Liebe  zum  Geld 
größer-  ist  als  die  Liebe  seines  eigenen  Wohlbefindens.  Dieses  ist  eine 
sordities.  Das  Geld  ist  ein  großes  Vergnügen  der  Phantasie.  Der  Geiz 
stellt  sich  nach  dem  Genuß  die  Gemüths  Situation  vor,  oder  wie  es  ihm 

5  zu  Muthe  sey,  wenn  er  was  wird  herausgegeben  haben.  Der  Freygebige 
aber  stellt  sich  dies  schon  vor  dem  Genuße  vor.  —  Die  Neigung  des 
Genußes  ist  unterschieden  von  der  Neigung  des  Wahns.  Der  Geizige 
hat  eine  Neigung  des  Genußes  zu  allen  erdencklichen  Vergnügungen, 
dieses  ist  aber  nur  eine  Neigung  des  Wahns.  Die  Kargheit  entspringt 

10  also,  ut  supra  dictum,  wenn  man  aus  Gewohnheit  sparet,  und  dies 
hernach  zur  Natur,  und  die  Gewohnheiten  zu  wirklichen  Neigungen 
werden  läßt.  Der  Geizige  begehrt  das  Geld  nicht  als  ein  Mittel  sondern 
als  Zweck.  Die  Menschen  haben  ein  Ver/gnügen  am  großen  Vermögen,  34i 
um  sich  alles  zu  verschaffen,  und  alle  ihre  Neigungen  dadurch  zu 

15  befriedigen.  —  Die  Neigung  des  Wahnes  unterscheidet  sich  von  der 
Neigung  des  Genußes  darinn,  daß  die  Neigung  des  Genußes  die  Gegen- 
stände so  ansiehet,  wie  sie  uns  vor  dem  Genuß,  die  Neigung  des  Wahnes 
aber  so,  wie  sie  uns  nach  dem  Genuß  gefallen.  Nicht  nur  der  Reichthum 
sondern  auch  die  Macht  machen  das  Vermögen  aus:  sind  das  Ver- 

20  mögen  alle  Neigungen  zu  befriedigen.  Die  Freyheit  ist  ein  negatives 
Vermögen  da  uns  keiner  hindert,  damit  wir  nach  unserem  eigenen 
Willen  handeln  können.  Die  Freyheit  wird  nicht  unter  die  Leiden- 
schaften gerechnet,  sie  ist  es  aber  wirklich.  Ein  Engländer  rechnete  zu 
den  Glücks  Gütern  folgendes:  Freyheit,  Ehre,  Gesundheit  und  Reich- 

25  thum.  Die  Freyheit,  sagt  er,  ist  eine  Bedingung,  unter  der  die  wahre 
Ehre  allein  statt  finden  kann.  Wir  können  bestimmte  objecte  unserer 
Neigungen  haben.  Wir  können  Neigungen  haben  1.  gegen  den  Men- 
schen 2.  gegen  die  Sache.  /Zu  der  Neigung  gegen  die  Menschen  gehöret  243 
die  Ehrliebe  und  die  Ehrbegierde,  zu  der  Neigung  gegen  die  Sache 

30  aber  gehöret  das  Wohlleben  und  die  Gemächlichkeit.  Die  Ehrbegierde 
gründet  sich  auf  die  Ehrliebe.  Der  Mensch  hat  eine  unmittelbare 
Neigung  zum  vortheilhaften  Urtheile  und  Beyfall  anderer.  Er  ist  nicht 
gleichgültig  in  Ansehung  des  Urtheils  anderer.  Das  vortheilhafte 
LTrtheil  ist  ihm  angenehm,  das  nachtheilige  aber  nicht.  Die  Neigungen 

35  werden  alle  vom  Zwekke  imd  nicht  von  den  Mitteln  benannt.  Die 
Ehrbegierde  ist  eine  unmittelbare  Neigung  zur  Ehre.  Von  dieser 
Ehrbegierde  läßt  sich  kein  Bewegungs  Grund  angeben,  weil  sie  eine 
ursprüngliche  Neigung  ist.  Der  Beyfall  anderer  ist  uns  schon  unmittel- 
bar angenehm.  Der  Zweck  der  Vorsehung,  welche  in  uns  den  Trieb  zur 


222  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

Ehre  legt,  ist  die  Geselligkeit.  Diese  Ehrbegierde  kann  füglich  nur 
unter  den  Menschen  stattfinden.  Das  Gegentheil  der  Ehrbegierde  ist 

243  aber  der  Eigennuz,  Die  Niederträchtigkeit  folgt  aus  dem  Eigennuz.  / 
Die  Ehrbegierde  sucht  die  Ehre  zu  erwerben,  die  Ehrliebe  ist  aber 
negative,  sie  sucht  nicht  Ehre  zu  erwerben,  sondern  sie  verabscheuet  5 
nur  die  Verachtung.  Ein  Ehrbegieriger  kann  nicht  alleine  seyn,  denn 
er  will  immer  von  jemandem  geehret  werden.  Ein  Ehrliebiger  sucht 
ganz  allein  und  unbekannt  zu  seyn. 

Wenn  ich  sage,  der  Mensch  ist  ohne  Gewißen  und  Ehre,  so  sezze  ich 
ihn  auf  die  abscheulichste  Art  herunter.  Wenn  er  ohne  Gewißen  ist,  10 
dann  weiß  er  nicht  einmahl  daß  ein  Richter  ist.  Wenn  er  aber  ohne 
Ehre  ist,  dann  ist  er  fühllos  gegen  die  Tugend.  Die  Ehre  ist  aber  die 
lezte  Schuzz wehre  der  Tugend.  Wenn  diese  weggelaßen  ist,  bleibt  nur 
der  Zwang  übrig.  Die  Tugend  ist  nicht  rein,  wenn  der  Bewegungs 
Grund  von  der  Erwerbung  der  Ehre  hergenommen  ist,  sie  wird  aber  15 
nicht  verunreiniget,  wenn  der  Bewegungs  Grund  von  der  Ehrlosigkeit 
aus  dem  Verlust  der  Ehre  hergenommen  ist.  —  Die  Ehrbegierde  ist  eine 
Ehrsucht,  wenn  sie  ein  affect  ist,  die  Sucht  ist  das,  was  alle  Neigung 
erstickt.  Die  Ehrsucht  ist  ungestühm  und  höchst  tadelhaft.  Da  dieser 
affect  alle  die  Regeln  überschreitet,  so  ist  er  eben  so  der  Moralitaet  20 
entgegen,  als  andere  affecten.  Die  wahre  Ehre  kann  die  Moralitaet  sehr 
unterstüzzen.  Die  Menschen  versagen  die  Ehre  dem  Ehrbegierigen. 

«44  sobald  er  nur  einige  Begierde  dar/nach  blicken  läßt.  Dem  Ehrliebigen 
erweist  man  sie  aber  gern.  Die  Ehrbegierde  hat  nicht  nur  bloß  etwas 
verhaßtes  sondern  auch  lächerliches  an  sich.  Aus  der  Ehrbegierde  25 
entspringt  auch  eine  gewiße  ambition,  welche  eine  zudringliche  Bewer- 
bung um  Ehre  ist.  Der  ambitieuse  findet  immer  Wiederstand.  —  Ehre 
erwirbt  man  sich  nur  durch  den  Beyfall  anderer,  und  es  steht  bloß  in 
ihrer  Gewalt,  ob  sie  mir  dieselbe  erzeigen  wollen  oder  nicht,  der  mode- 
ste  erlangt  ohne  sein  Verlangen  Ehre.  Ehre  kann  ich  nie  von  andern  so 
abdringen.  Der  eigentliche  Hochmuth  ist  der  Eigendünkel,  da  man 
glaubt,  daß  man  andere  übertreffe  und  also  auch  von  ihnen  müße 
geehret  werden.  Der  Hochmüthige  hat  einen  Eigendünkel,  anderer 
Ehre  aber  sucht  er  zu  verringern.  Die  Eitellieit  hingegen  ist  mit  der 
Beförderung  der  Ehre  anderer  verbunden.  Der  Hochmuth  ist  verhaßt ;  35 
die  Eitelkeit  lächerlich.  Der  ist  eitel,  der  anderen  mit  großer  Achtung 
zuvorkommet,  um  sich  dadurch  von  ihnen  wieder  beehrt  zu  sehen. 
Dieses  ist  eine  Eigenschaft  schwacher  Seelen.  Der  Stolz  ist  die  Hals- 
starrigkeit in  der  Ehre.  Aeußerlich  können  wir  uns  aut  stolz  aut 


Praktische  Philosophie  Powalski  223 

modeste  beweisen,  in  uns  können  wir  aut  Eigendünkel  oder  Demuth 
besizzcn.  Die  Ehr/liebe  ist  wie  schon  gesagt  was  negatives,  und  ist  eine  345 
Neigung,  vermöge  der  wir  nicht  ein  Gegenstand  der  Verachtung  seyn 
wollen.  Die  Ehrliebe  ist  nicht  die  Ehrbegierde,  denn  der  Ehrbegierige 
5  will  geehret  werden,  der  Ehrliebige  nicht  verachtet  werden.  Die  Ehr- 
liebe ist  mit  der  Tugend  ganz  noth wendig  verbunden.  l.Der  Mensch 
muß  einen  Werth  haben,  damit  er  darauf  so  viel  halten  könne,  als 
andere  darauf  halten.  2.  Er  muß  diesen  als  ein  Mensch  schon  haben. 
Die  Ehrliebe  muß  einen  Hauptpunct  bey  der  Erziehung  ausmachen. 

10  Derjenige  heißt  ein  Egoist,  der  das  Urtheil  anderer  über  sich  selbst  vor 
nichts  hält.  Ehrliebe  wird  erfordert  bey  einem  Rechtschaffenen,  daß  er 
nicht  mit  Nichtswürdigen,  Niederträchtigen  Leuten  umgehet,  daß 
keine  Zweydeutigkeit  in  seinen  Handlungen  angetroffen  werde.  Ehr- 
liebe wird  erfordert  bey  einem  Frauenzimmer,  daß  sie  allen  Schein  ver- 

15  hütet. 

Alle  Gelehrte  haben  beym  Herausgeben  der  Bücher  keinen  andern 
Zweck  als  ihre  Gedanken  dem  allgemeinen  Richterstuhle  zu  über- 
geben (vorzulegen)  und  ihre  Einsicht  zu  zeigen.  Unser  Wißen  scheint 
ganz  einsiedlerisch  und  ohne  Nuzzen  zu  seyn,  wenn  wir  es  nicht 

20  andern  communiciren  können,  daß  sie  darüber  urtheilen.  /  Die  Ehr-  346 
begierde  bringt  Bücher  hervor,  die  alle  mit  Nachdenken  und  Wißen 
verbunden  sind. 

Wenn  die  Ehrbegierde  nicht  eine  Anmaßung  und  praetension  ist: 
so  ist  sie  nichts,  was  der  Tugend  als  eine  Triebfeder  zustatten  kommen 

25  kann.  Der  Eigennuz  ist  sehr  weit  unter  der  Ehrbegierde,  gehört  zur 
Selbstliebe  und  nicht  zur  Ehrbegierde.  Die  Ehrbegierde  ist  ein  Zweck 
für  den  Menschen,  sie  ist  nicht  abgeleitet.  Sie  würde  abgeleitet  seyn, 
Avenn  sie  unmittelbar  dazu  dienete  um  andere  Vergnügen  zu  befrie- 
digen. Die  Ehrbegierde  ist  der  edelste  Trieb  zur  Tugend  unter  allen,  die 

30  die  Vorsehung  in  den  Menschen  gelegt  hat.  Wir  sind  um  desto  mehr  be- 
friediget, je  mehr  allgemeinen  Beyfall  wir  erhalten,  oder  wenn  wir 
solche  Handlungen  ausüben,  die  allgemein  Wohlgefallen.  —  Eitelkeit 
ist  das,  was  man  von  andern  erwartet,  was  doch  nicht  zum  Werth  der 
Person  gehöret.  ZE.  Geld,  Titel  und  Kleider.  Die  Ehrliebe  ist  also  von 

35  der  Eitelkeit  unterschieden.  Die  Eitelkeit  gehet  auf  das  was  die  Leute 
sagen :  die  Ehrliebe  auf  das  was  andere  von  mir  vortheilhaft  denken.  — 
In  Ansehung  der  Begierde  ist  zu  mercken  der  Stolz,  welcher  das  Be- 
wußtseyn  des  Besizzes  der  Ehre  ist.  Der  Stolz  ist  nicht  der  Hochmuth, 
sondern  /  die  Ehrliebe  in  Anmaaßung  des  Vorzuges  vor  dem  andern.  34T 


224  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

Der  Stolz  ist  eigentlich  die  Aufmerksamkeit  auf  die  Gleichheit  in 
Ansehung  der  Ehre.  Dies  ist  eine  realistische  äußerlich  proportionirte 
Selbstschäzzung  in  Ansehung  der  Anmaßung  anderer,  ist  der  ächte 
Stolz.  Die  billige  Selbstschäzzung  aber  in  Ansehung  unserer  eigenen 
Anmaßung  ist  die  Bescheidenheit.  Der  Stolz  und  die  Bescheidenheit  5 
sind  zwey  afficirungen  und  Bestimmungen  der  Ehre.  Beyde  gehören 
zum  Mittelmaaß  der  Gleichheit.  Wenn  ein  Mensch  andern  die  Ehre 
beylegt,  die  ihm  andere  beylegen,  dann  ist  dieses  eine  Gleichheit.  Die 
Bescheidenheit  ist  eigentlich  die  Milderung  unserer  äußeren  Hand- 
lungen nach  dem  Grade  bis  zur  Billigkeit.  Sie  bestehet  wenn  wir  lo 
unsere  Selbstliebe  so  moderiren  daß  sie  mit  der  Liebe  übereinstimmet, 
oder  sie  besteht  in  der  Selbstliebe,  die  herabgesetzt  ist  bis  zur  Harmonie 
der  Selbstliebe  anderer. 

Der  Gemüths  Zustand  desjenigen,  der  einen   andern  achtet,   ist 

248  Achtung.  Die  Achtung  ist  vom  Lobe  unterschieden.  Die  Achtung  ist  i5 
innerlich  das  Lob  äußerlich.  Die  wahre  Ehre  besteht  in  der  Achtung, 
die  falsche  im  Lobe.  Die  Achtung  gehet  auf  /  die  Person,  das  Lob  auf 
das  was  zu  unserm  Zustande  gehöret.  Der  Achtung  ist  die  Verachtung 
opponiret,  dem  Lobe  der  Haß.  Hier  kommen  die  Fragen  vor:  ob  man 
lieber  gehaßt,  oder  verachtet  werden  will  ?  ob  es  uns  angenehmer  ist  20 
geliebet  oder  geachtet  zu  werden  ?  Es  ist  dem  Menschen  viel  uner- 
träglicher verachtet  als  gehaßt  zu  werden.  Der  Haß  geht  nur  auf  das 
was  relative  im  Verhältniße  auf  andere  Menschen  böse  und  schädlich 
ist.  Die  Verachtung  aber  auf  das  was  absolut  böse  ist  ohne  Rücksicht 
auf  andere.  Einen  Menschen,  den  wir  haßen,  können  wir  doch  noch  25 
immer  hochachten.  Wir  haßen  nur  den  Menschen,  der  nicht  ordentlich 
ist,  überhaupt  den,  der  den  ganzen  Werth  wegAvirft,  wir  können  ihn 
aber  auch  zugleich  lieben.  Wir  können  auch  eine  Achtung  gegen  die 
Menschen  haben  ohne  Liebe  wegen  seiner  Talente  und  Verdienste. 
Wenn  junge  Leute  mit  alten  umgehen,  so  haben  die  jungen  gegen  die  so 
alten  Hochachtung  aber  keine  Liebe ;  die  Alten  aber  gegen  die  Jungen 
Liebe  aber  keine  Hochachtung.  Es  findet  also  unter  ihnen  keine  voll- 

249  kommene  /  Freundschaft  statt.  Unter  ein  paar  Eheleuten  findet  man 
aber  eine  Liebe  von  beiden  Seiten  und  keine  Achtung,  denn  da  ist  eine 
sehr  große  Vereinigung.  Der  gute  Name  ist  das  negative  der  Ehre,  35 
da  man  nicht  ein  Gegenstand  der  Verachtung  ist.  Ein  Mensch  hat  nicht 
allemahl  einen  Ruf;  wenn  er  auch  einen  Nahmen  hat.  Ein  Mensch,  der 
den  Ruf  sucht,  der  ist  Ehrbegierig.  Der  aber  der  einen  guten  Namen 
sucht  ist  Ehrliebig.  Wenn  ich  meine  Ehrbegierde  so  einschränke,  daß 


Praktische  Philosophie  Powalski  225 

sie  mit  der  Ehrbegierde  anderer  übereinstimmt,  so  ist  dieses  die  Be- 
scheidenheit. Sie  ist  das  Merkmahl  der  Achtung  gegen  andere.  Die  Ver- 
kennung seiner  eigenen  Wichtigkeit  in  Ansehung  anderer  ist  die  Blödig- 
keit. Dahingegen  ist  der  Hochmuth  ein  großer  Eigendünkel  von  dem 
5  Werthe  seiner  Selbst.  Die  Ambition  oder  Hochmuth  ist  die  Bewerbung 
um  Ehre  und  immer  anstößig.  Der  Stolz  kann  immer  mit  der  Beschei- 
denheit übereinstimmen.  Der  ächte  Stolz  gehet  auf  die  Gleichheit.  Die 
Bescheidenheit  ist  eigentlich  die  Mäßigung  der  Anmaßung  eines  Vor/-  250 
zuges  bis  zum  Grad  der  Gleichheit.  Die  Ehrbarkeit  ist  die  Ehren- 

10  Würdigkeit.  Diese  Ehre  ist  aber  nicht  positive  sondern  negative. 
Honeste  vive  heißt:  lebe  so  daß  du  nicht  der  Ehre  unwürdig  bist, 
oder  daß  du  nicht  verachtet  wirst.  Alles  Verfahren,  wo  wir  die  Ehre 
eines  andern  zu  verringern  suchen,  ist  das  Gegentheil  von  der  Ehrbar- 
keit. Außer  der  Ehrbarkeit  können  wir  das  betrachten  was  uns  Ehre 

15  erwirbt.  Zur  Ehre  gehören  immer  Verdienste,  denn  nur  Verdienste 
werden  geehret.  Unser  Wohlverhalten,  sofern  es  der  Schuldigkeit  und 
unserer  Pflicht  gemäß  ist,  erwirbt  nicht  Ehre,  sondern  nur  eine  Billi- 
gung. Der  Schuldigkeit  gebühret  eine  Billigung,  Verdiensten  Ehre. 
Wenn  Ehrlichkeit  schon  Ehre  erwirbt,  so  muß  das  Zeitalter  schon  sehr 

20  verderbt  seyn,  weil  dieses  schon  selten  geschehen  muß.  Die  Ehrlichkeit 
gehöret  immer  zur  Schuldigkeit.  Sie  ist  eine  moralische  Nothwendig- 
keit;  und  zwar  das  mi/nimum  morale.  Was  zur  Nothdurft  gehöret,  25i 
das  gehöret  zu  den  kleinsten  Wünschen  des  Menschen. 

Von  den  Pflichten  gegen  andere  Menschen. 

25  Bey  den  Pflichten  gegen  andere  Menschen  haben  wir  zu  bemerken, 
daß  wir  etwas  thun  können  1,  entweder  aus  Pflicht  oder  2.  aus 
Neigung.  Aus  Pflicht  thun  wir  etwas,  weil  es  ein  Gesezz  gebiethet. 
Wir  thun  es  aus  motiven,  aus  objectiven  Gründen. 

Wenn  wir  aber  etwas  aus  Neigung  thun.  so  thun  wir  es  aus  stimulis 

30  und  subjectiven  Gründen. 

Die  PfUchten  sind  aut  Liebes  Pflichten,  aut  Pflichten  der 
Schuldigkeit.  Die  Rechtschaffenheit  begreift  in  sich  alle  Pflichten 
der  Schuldigkeit.  Die  Liebes  Pflichten  sind  aber  alle  unter  der  Gütig- 
keit begriffen.  Wir  haben  also  Rechtschaffenheit  und  Güte  zu  beob- 

35  achten.  Die  Gütigkeit  ist  L  eine   allgemeine  und  2.   besondere 
Liebe.  Alle  Hand/lungen  der  Liebe  entspringen  entweder  aus  einer 253 
allgemeinen  Gütigkeit,  oder  aus  einer  besonderen  Neigung;  die  allge- 

15     Kaufs  Schriften  XXVII/1 


226  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

meine  Gütigkeit  ist  das  eine  principium  und  die  besondere  Neigung  das 
andere  principium  der  Liebe.  Die  Liebe  ist  also  desto  vollkommener, 
wenn  sie  aus  einem  allgemeinen  Wohlwollen  entspringt.  Je  mehr  aber 
die  Liebe  aus  einer  Persönlichen  Neigung  entspringt  desto  einge- 
schränkter ist  sie.  Die  Regeln  der  Rechtschaffenheit  sind  wichtig,  und  5 
müßen  noth wendig  vor  den  Regeln  der  Gütigkeit  vorhergehen.  — 
Rechtschaffen  ist  derjenige,  deßen  Wille  und  Handlungen  überein- 
stimmen mit  den  Pflichten  der  Schuldigkeit.  Die  Gütigkeit  ist  nur  ein 
complementum  der  Rechtschaffenheit.  Handlungen  der  Gütigkeit  sind 
verdienstliche  Handlungen,  die  Rechtschaffenheit  sind  wir  aber  schul- 10 
dig.  Alle  Handlungen  der  Gütigkeit  werden  durch  die  Bedingung  der 

253  Rechtschaffenheit  /  bestimmt.  In  aller  moralischen  Anweisung  ist  zu 
merken  L  daß  man  das  thut  was  Recht  ist,  und  2.  auch  das 
was  die  Gütigkeit  befiehlt.  Die  Gütigkeit  geschiehet  entweder 
aus  einer  privat  Neigung,  oder  aus  einem  allgemeinen  Wohlgefallen.  15 
Wenn  der  Grund  der  Gütigkeit  das  Wohlgefallen  an  einer  Person  ist, 
so  ist  es  eine  Gütigkeit  aus  Neigung.  Wir  müßen  suchen  unsere  Gütig- 
keit allgemein  zu  machen,  weil  sie  dadurch  moralisch  wird.  Die 
moralische  Liebe  muß  nicht  aus  einer  privaten  Neigung  entstehen, 
sondern  aus  dem  allgemeinen  Wohlgefallen  an  andern.  Die  Pflichten  20 
der  Rechtschaffenheit  sind  alle  bestimmt,  was  aber  aus  Gütigkeit 
geschehen  soll,  ist  nicht  bestimmt. 

Pflichten  der  Gerechtigkeit  sind  Pflichten  unserer  Schuldigkeit. 
Gerechtigkeit  gehöret  zum  Character  des  Menschen.  Ein  sich  selbst 
gemachter  Grundsaz  ist  eine  Maxime,  ein  objectiver  Grundsaz  ist  25 
ein  Gesezz.  Alle  Handlungen  die  aus  der  Nächstenliebe  entspringen, 

254  erlauben  alle  daß  /  ich  sie  mir  selbst  bestimmen  kann.  Die  Gütigkeit 
ist  gewißermaßen  an  sich  selbst  blind,  weil  man  dabey  nicht  nach 
Grundsäzzen  handelt. 

Wer  die   Gütigkeit  mit  der  Gerechtigkeit  will   übereinstimmend  so 
machen  und  erhalten,  der  muß  viele  Einsicht  haben.  Die  Gütigkeit 
aus  Grundsäzzen  ist  das  allgemeine  Wohlwollen.  Die  Gütigkeit  aus 
Instincten  bestehet  in  der  günstigen  Neigung,  die  daraus  entsteht, 
wann  und  wie  unsere  Sinne  afficirt  werden.  Sie  ist  nur  pathologisch. 

Ein  Mensch,  der  von  Natur  mitleidig  und  barmherzig  ist,  der  ist  35 
fähig  sehr  schöner  moralischer  Eigenschaften.  Doch  ist  dieser  selbst 
nicht  moralisch .  In  der  moral  müßen  wir  unsere  Pflichten  aus  Grund- 
säzzen lernen,  weil  alles,  was  aus  stimulis  und  Instincten  herrühret 
blind  ist.  Ein  moralischer  Instinct  ist  nicht  ein  moralischer  Bewegungs 


Praktische  Philosophie  Powalski  227 

Grund.  Das  Mitleiden  ist  sozusagen  eine  Maschine  um  der  Moralitaet 
zur  Hülfe  zu  kommen,  wenn  sie  nicht  etwa  sollte  stark  genug  seyn. 
Wenn  /  der  Mensch  ohne  Mitleiden  ist,  so  ist  er  auch  gemeinhin  ohne  255 
Grundsäzze  der  Gütigkeit  und  des  Wohlwollens.  Das  Ideal  der  größten 

5  Wechselliebe  ist  die  Freundschaft,  sie  sezt  allemahl  eine  Gleichheit 
voraus.  Sie  bestehet  darinn,  daß  wir  des  anderen  Glückseeligkeit  so 
ansehen  als  unsere  eigene.  Freundschaft  läßt  sich  nicht  unter  vielen, 
sondern  zween  stiften.  Die  Freundschaft  wird  immer  kleiner,  je  mehr 
sie  sich  verbreitet.  Sie  wird  rarer,  je  größer  die  wechselseitigen  Ange- 

10  legenheiten  seyn  und  je  mehr  man  darinn  verwickelt  ist.  Der  Luxus 
vermehrt  die  Höflichkeit,  aber  nicht  die  Freundschaft.  Die  Freund- 
schaft ist  unter  Frauenzimmern  selten,  weil  sie  alle  untereinander  in 
einer  Nebenbuhle rey  stehen.  Die  Freundschaft  betrifft  entweder  den 
Wechselseitigen  Nuzzen,  oder  die  Wechselseitige  Uebereinstimmung. 

15  Ein  jeder  Mensch  bewirbt  sich  um  einen  Freund  aut  seines  Vortheils 
wegen   oder   aus   moralischen   Ursachen.    Die    morali/sche    Ursache  256 
bestehet  darinn,  daß  ich  jemanden  habe,  in  Ansehung  deßen  mein 
Herz  offen  seyn  kann.  Der  Zweck  der  Zurückhaltung  macht,  daß  wir 
nach  einem  Menschen  seufzen,  bey  dem  wir  dieselbe  ablegen  können, 

20  und  uns  also  ihm  entdecken.  Zurückhaltung  ist  zwar  auch  in  der 
Freundschaft  nöthig,  doch  nicht  in  dem  Grad  als  bey  fremden  Per- 
sonen. Denn  wir  haben  oft  Schwachheiten,  die  andern  von  uns  übele 
Begriffe  beybringen  könnten.  Bey  aller  Freundschaft  muß  auch 
zugleich  Achtung  seyn.  Wenn  man  jemanden  einen  Menschen  Freund 

25  nennt,  so  bedeutet  dieses  die  allgemeine  Liebe,  die  ich  auf  jeden 
werfen  kann.  Amor  complacentiae  ist  die  Liebe  wo  ich  jemanden 
werthschäzze  wegen  seiner  Eigenschaften.  Liebe  des  Wohlwollens  ist 
wo  ich  einen  Menschen  gern  glücklich  sehe.  Liebe  des  Wohlwollens 
ist  nicht  allemahl  mit  der  Liebe  des  Wohlgefallens  und  diese  nicht  mit 

30  jener  verbunden.  Alle  Menschen  können  uns  nicht  Wohlgefallen.  Die 
Menschheit  an  sich  muß  /  uns  doch  aber  Wohlgefallen.  33T 

Die  Misanthropie  ist  wenn  der  Mensch  ein  Mißfallen  überhaupt  an 
der  ganzen  Menschheit  äußert.  Das  allgemeine  Wohlgefallen  an  der 
ganzen  Menschheit  entstehet  aus  der  Beobachtung  der  ohnerachtet 

35  aller  Verderbniß  dem  Menschen  noch  anklebenden  Bonitaet.  Die 
Liebe  des  Wohlwollens  muß  allgemein  gegen  alle  Menschen  seyn,  und 
der  diese  Liebe  hat  ist  der  Menschen  Freund,  und  hat  gar  keinen 
Feind.  Die  Rache  ist  nicht  erlaubet.  Sie  ist  unterschieden  von  der 
Rache  Begierde,  da  ich  eine  Wieder  Vergeltung  wünsche.  Wenn  ich 

15« 


228  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

aber  das  Elend  eines  andern  wünsche,  bloß  damit  ich  mich  daran 
vergnügen  könne,  so  ist  dieses  Rachbegierde.  Ein  jedes  Recht  erfordert 
eine  Achtung,  mithin  darf  sich  kein  Mensch  unterstehen,  das  Recht 
eines  andern  zu  kränl?:en.  Die  Humanitaet  bedeutet  das  Gefühl  des 
Mitleidens.  Die  Behutsamlceit  ist  eine  Allgemeinheit  des  Wohlwollens,  5 
sie  ist  negativ,  sie  ist  die  Gütigkeit,  die  eine  allgemeine  Verträglichkeit 
mit  sich  führet. 

«58      /  Friedfertigkeit  besizt  der,  der  durch  allgemeine  Liebe  zu  trachten 
sucht,  daß  sich  der  Menschen  Haß  nicht  einfindet.  Die  Unschuld  ist 
bloß  negativ  und  sie  entspringt  oft  aus  Unwißenheit.  Sie  ist  ein  Mangel  lo 
des  Lasters,  weil  keine  Ursachen  da  sind. 

Die  Unschuld  ist  keine  Stärcke,  sondern  nur  die  Tugend.  Empfind- 
lich heißt  der  Mensch  der  leicht  in  Zorn  geräth.  Empfindlichkeit  ist  die 
Reizbarkeit  zum  Auffahren  und  kann  leicht  besänftiget  werden.  Sie  ist 
mehr  eine  Ungezogenheit  als  Laster.  Ihr  ist  die  Gleichmüthigkeit  i5 
entgegen  gesezt.  Derjenige  der  Wohlthaten  annimmt  macht  sich 
obligat.  Eine  Wohlthat  die  man  genoßen  hat  läßt  sich  niemahlen 
ersezzen.  Wohlthaten  können  zwar  erwiedert  werden,  aber  die  Ver- 
bindlichkeit, die  wir  uns  dadurch  aufbürden,  kann  nicht  getilget 
werden.  20 

Einige  Laster  nennen  wir  viehisch,  andere  menschlich,  noch  andere 

259  teuflisch.  Wenn  die  Bosheit  der  Laster  so  beschaffen  /  ist,  daß  sie  die 
Menschheit  bis  zur  Thierheit  heruntersezt,  so  sind  diese  Laster 
viehisch,  worunter  alle  Sünden  wieder  uns  selbst  gehören  zE:  die 
Trunlienheit.  Andere  Laster  sind  der  Menschheit  gemäß,  zE.  wenn  25 
man  nicht  aus  bösen  Absichten  sich  berauscht.  Teuflische  Laster  sind 
aber  die,  die  nicht  aus  der  Menschheit  entspringen,  die  unmittelbar 
auf  das  böse  gehen,  und  dazu  gehöret  die  Undankbarkeit. 

L  Die  Undankbarkeit.  Wenn  wir  selbst  demjenigen  Schaden 
thun,  der  unser  Wohlthäter  gewesen  ist,  dieses  geht  über  die  Mensch-  so 
heit  und  heißt  teuflisch.  Sie  ist  der  Menschheit  entgegen  L  weil  ein 
Mensch  denjenigen  nicht  liebt,  der  uns  geliebet  hat,  2.  weil  es  die 
Wohlthätigkeit  im  ganzen  menschlichen  Geschlecht  vertilgen  würde, 
und  deßwegen  wird  sie  von  allen  Menschen  gehaßt  und  heißt  teuflich. 
2.  der  Neid  und  3.  die  Schadenfreude.  Hier  ist  die  Bosheit  35 
unmittelbar  und  geht  auf  den  Nachtheil  anderer.  Sie  ist  teuflisch 

360  a.)  weil  sich  hier  ein  /  Mensch  über  eines  andern  Schaden  freuet,  ohne 
davon  eigenen  Nuzzen  zu  haben,  b).  der  Neid  ist  teuflisch  weil  ein 
Mensch  andere  wegen  ihrer  Eigenschaften  und  Vollkommenheiten 


Praktische  Philosophie  Powalski  229 

haßt,  c.)  Die  Undankbarkeit  ist  teuflisch,  weil  man  hier  seinen  eigenen 
Wohlthäter  haßt.  Wir  haben  zwey  Ideale,  Himmel  und  Hölle.  Unter 
ersterm  verstehen  wir  alle  Wohlthaten  und  Tugenden.   Unter  der 
lezteren  aber  alle  Laster.  Der  Mensch  schäzt  sich  in  seinem  Zustande 
5  nicht  absolute,  sondern  im  Verhältniß  mit  andern.  Er  schäzt  sich 
nicht  nach  den  moralischen  Regeln  sondern  im  Vergleich  mit  andern 
Menschen.  Die  absolute  Schäzzung  bestehet  in  der  Vergleichung  mit 
den  moralischen  Gesezzen.  Wenn  also  die  Schäzzung  unserer  Person 
bloß  relativ  ist,  so  entspringt  daraus  natürlicher  Weise  der  Neid.  Der 
10  Neid  ist  der  Haß  auf  andere  und  zwar  um  der  Hinderniße,  die  sie  uns 
in  Ansehung   unserer  relativen  Schäzzung  machen.    Derjenige,   der 
seinen  persönHchen  Werth  und  Zustand  bloß  relativisch  /  schäzt,  der  361 
hat  zwey  Wege  und  Mittel  sich  zu  befriedigen.  1.  Wenn  ein  anderer 
viel  Vermögen  hat  und  ich  weniger,  so  entspringt  daraus  ein  Unwille, 
15  und  dann  kann  ich  mich  befriedigen,  wenn  ich  mich  über  den  Vorzug 
anderer  erhebe,  und  das  ist  die  Eifersucht.  2.  Wenn  ich  den  Vorzug 
anderer  für  größer  ansehe,  ihn  zu  verringern  suche,  dann  ist  dieses  der 
Neid,  beides  sind  Begierden  des  Relativen.  Alle  Menschen  scheinen  im 
Verhältniß  anderer  etwas  zu  verliehren.  Die  Eifersucht  würde  nicht 
20  seyn,  wenn  nicht  andere  Menschen  wären,  sie  entsteht  also  aus  der 
relativen  Selbstschäzzung.  Die  Eifersucht  können  wir  eigentlich  die 
Neigung  nennen,  da  wir  an  den  Vorzügen  anderer  ein  Mißvergnügen 
haben,  welches  entspringt,  wenn  wir  uns  relativisch  schäzzen,  wodurch 
denn  unser  Werth  verunzieret  wird.  Diese  Eifersucht  ist  allen  Men- 
25  sehen  schlechterdings  schon  von  der  Natur  eingelegt.  Sie  ist  vom  Neid 
unterschieden,  denn  dieser  bedeutet  den  Abscheu,  den  wir  gegen 
anderer  Vorzüge  haben,  der  aber  doch  nicht  dahin  zielet,  unsere  Vor- 
züge zu  vergrößern,  /  sondern  nur  des  andern  seine  zu  verringern,  die  263 
wahre  rechte  Eifersucht  und  Aemulation  hat  den  Zweck,  seine  eigenen 
30  Verdienste  zu  vergrößern,  folglich  sucht  man  hier  nur  die  Ungleichheit 
zu  verhüten.  Die  Menschen  aber  verfallen  mehr  auf  den  Neid  als  auf 
die  NachEiferung,  denn  sie  wollen  anderer  Ehre  verringern  und  zu 
ihrer  hinzusezzen. 

Der  Elende  ist  allezeit  mißgünstig  und  neidisch,  wie  auch  unser 
35  Autor  sagt,  daß  ein  Elender  immer  boßhaft  ist.  Alles  dieses  ist  noch 
menschlich,  ob  es  gleich  ein  Laster  ist.  Das  Mißvergnügen  an  den  Vor- 
theilen  kann  ein  unmittelbares  Vergnügen  an  dem  Unwillen  anderer 
seyn,  dieses  ist  eine  teuflische  Eigenschaft.  In  unserer  Erziehung  wird 
hier  sehr  grob  gehandelt,  da  die  Aeltern  ihre  Kinder  vor  anderen 


230  Vorlesungen  über  Moral philosophie 

zurechtweisen,  wodurch  sie  sie  also  bewegen,  anderer  ihre  Vollkom- 
menheiten zu  haßen.  Die  Schadenfreude  ist  teuflisch,  und  bestehet 
darinn,  wenn  man  eine  unmittelbare  Begierde  hat,  andern  Schaden 

263  zuzufügen.  Wir  /  nennen  diese  Laster  teuflisch,  weil  sie  den  Grad  der 
Menschheit  überschreiten,  deswegen  relegiren  wir  sie  in  die  Hölle.  5 
Wir  können  auch  generaliter  sagen,  daß  wir  englische  Tugenden  haben, 
wozu  1.  die   Liebe   des   Feindes   gehöret,  2.  wenn   man   das 
allgemeine  beste  befördert,  auch  mit  Aufopferung  seines 
eigenen  Nuzzens.  Der  Mensch  muß,  im  Grunde  betrachtet,  aus 
Grundsäzzen  weder  gut  noch  böse  seyn.  Der  Mensch  ist  daher  laster-  lo 
haft  aus  Neigung  und  nicht  eigentlich  mit  gutem  Willen  und  mit 
wahrer  Lust,  weil  ein  jeder  Mensch  auf  der  Stelle,  wenn  er  will,  tugend- 
haft seyn  kann,  folglich  nur  aus  Grundsäzzen  und  nicht  nach  Neigung. 
Ein  Mensch  ist  nicht  ganz  lasterhaft,  weil  er  immer  einen  Wunsch  hat 
beßer  zu  seyn.  Er  ist  nicht  ganz  gut,  denn  er  ist  gut  aus  Vorsaz,  er  hat  i5 
aber  nicht  genugsam  Neigung  dazu.  Wenn  er  ganz  gut  seyn  soll,  so 
muß  er  gut  seyn  aus  Grundsäzzen  und  auch  aus  Neigung  folglich  auch 

«64  böse.  /  Es  ist  auch  kein  Laster,  zu  welchem  nicht  ein  Grad  der  Auf- 
munterung und  ein  Verbeßerungs-Mittel  gefunden  werden  könnte. 
Darin  bestehet  auch  eben  die  Gebrechlichkeit  der  Tugend.  Man  muß  20 
sie  also  ansehen  als  wenn  sie  vom  Glück  abhinge,  folglich  unvoll- 
kommen sey,  darum  weil  der  Wille  des  Menschen  böse  ist ;  folglich  ist 
sie  nicht  englisch  sondern  menschlich.  Zum  Laster  hat  er  einen  Trieb, 
aber  keine  Bildung,  zur  Tugend  aber  hat  er  einen  Vorsaz,  aber  keinen 
genügsamen  Antrieb,  die  weil  der  Mensch  nicht  vor  das  was  in  25 
der  Thierheit  liegt,  verantwortet  werden  kann.  So  kann  er  auch  im 
Auge  Gottes  angesehen  werden  als  ein  Geschöpf,  welches  Mittel 
hat,  sich  aus  dem  Verderben  zu  helfen.  Die  Gebrechlichkeit  der 
Tugend  macht  uns  wehmüthig,  die  Heilbarkeit  des  Lasters  aber 
hoffnungsvoll.  30 

Gleich  wie  wir  etwas  in  Ansehung  der  Tugend  und  Laster  haben,  was 

Ä65  über  die  Menschheit  gehet,  wovon  wir  das  eine  eng/lisch  das  andere 
teuflisch  nennen,  so  haben  wir  auch  wieder  Laster,  die  unter  der 
Menschheit  sind,  und  diese  nennen  wir  thierisch,  worunter  wir  L  das 
crimen  carni,  soferne  sie  wider  die  Natur  sind,  2.  die  versoffene  35 
Neigung,  die  Unmäßigkeit  im  freßen  und  saufen,  3.  die  Unreinigkeit 
rechnen. 

Tugenden,  die  unter  der  Menschheit  sind,  haben  wir  nicht,  das 
Viehische  macht  den  Menschen  verächtlich,  das  Teuflische  nur  ver- 


Praktische  Philosophie  Powalski  231 

haßt.  Die  Viehischen  Laster  sind  also  ärger  als  die  Teuflischen,  denn 
die  allgemeine  Verachtung  ist  größer  als  der  allgemeine  Haß. 

Die  Verbindlichkeit  des  Menschen  in  Ansehung  der  Wahrhaftigkeit. 
Hier  giebt  es  eine  materiale  und  formale  Verbindlichkeit.  Die  materiale 

5  ist,  wenn  ich  dem  entgegen  handele  oder  die  Bedingung  überschreite 
unter  welcher  der  Mensch  das  Recht  determiniren  kann.  Dieses  Recht 
oder  Regel  ist,  daß  der  Menschen  ihre  Aussagen  /  wahr  seyn.  Die  2«« 
Wahrhaftigkeit  ist  die  Bedingung,  unter  der  die  pacta  statt  finden, 
derjenige  der  dieser  Regel  entgegen  handelt,  der  übertritt  sie  forma- 

loliter.  Dieses  Verbrechen  bestehet  darinn,  wenn  ein  Mensch  wieder  die 
Regel  handelt,  unter  deren  Bedingung  er  das  Recht  determiniret. 
Ein  solcher  Mensch  handelt  wieder  die  wesentliche  Bedingung  welches 
also  ein  formales  Laster  ist,  welches  unter  gar  keiner  Bedingung 
erlaubt  ist.  Lügen  ist  also  nicht  erlaubt,  es  mag  unter  Umständen 

15  geschehen  unter  welchen  es  will.  Der  Mensch  muß  nicht  lügen  wenn  er 
auch  dadurch  sein  Leben  erhalten  könnte.  Auch  in  casu  neceßitatis 
kann  die  Lüge  nicht  gerechtfertiget  obgleich  verziehen  werden, 
obgleich  sie  an  und  vor  sich  lücht  gerechtfertiget  werden  kann.  Selbst 
der  casus  neceßitatis  ist  vor  dem  Höchsten  Wesen  jederzeit  unver/-  ui 

20  zeihlich.  Die  Gütigkeit  Gottes  ist  nur  eine  Eigenschaft  des  Führers 
und  Regierers  und  nicht  des  Richters.  —  Die  Lüge  macht  verächtlich : 
Die  Wahrhaftigkeit  hingegen  ist  Ach tungs würdig.  Seine  Sprache  ist 
ihm  gar  nichts  nüzze,  und  man  wünscht  daß  ein  solcher  Mensch 
stumm  wäre.  Die  Wahrhaftigkeit  ist  dasjenige  was  einem  die  Ehre 

25  erhält.  Die  Wahrheit  ist  immer  eine  rectitudo  die  Lüge  aber  eine 
Schlangen  Linie,  sie  ist  etwas  gekünsteltes,  weil  man  immer  etwas 
erfinden  muß.  Das  erste  was  man  von  einem  Freunde  fordern  kann 
ist  die  Wahrhaftigkeit.  —  Mendacium  est  si  quis  mentem  suam  signi- 
ficare  velle  declarare  alterum  in  errorem  inducit:  Nicht  eine  jede 

30  vorsäzhche  Verleitung  in  Irrthum  ist  eine  Lüge,  nemlich,  wenn  ich 
nicht  sage,  ich  wolle  ihm  meinen  Sinn  erklären.  Wenn  /  man  lügt,  so  368 
begeht  man  ein  formales  Verbrechen  und  ein  Laster,  welches  unter 
keiner  Bedingung  erlaubt  ist.  Das  was  materiell  Unrecht  ist,  das  ist 
unter  vielen  Bedingungen  recht.  Die  Lüge  ist  aber  allen  Bedingungen 

35  nach  unrecht.  Es  giebt  auch  keine  Nothlüge,  denn  weil  diese  dem 
Recht  wiederstreitet,  so  kann  sie  auch  in  der  Noth  nicht  gerechtferti- 
get werden.  Die  Pflicht  der  Gütigkeit  kann  zwar  durch  die  Noth  über- 
wogen werden,  die  Lüge  aber  ist  nicht  eine  solche  Pflicht  der  Gütigkeit. 
In  Ansehung  mancher  Lüge  ist  es  oft  der  fragihtati  humanae  zu  ver- 


232  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

zeihen.  Dieses  findet  vor  dem  Menschlichen  Richter  Stuhle  statt.  Wir 
haben  zwar  ein  moralisches  Gesezz.  Aber  unsere  Schwäche  macht  in 
Ansehung  der  Menschen  einige  Nothfälle.  Ein  falsches  Zeugniß  wovon 

369  bey  andern  abzulegen,  ist  gar  nicht  erlaubt,  wenn  man  auch  vortheil/- 
hafte  Absichten  dabey  hat.  Dasjenige  nur  was  an  und  vor  sich  böse  ist,  5 
das  ist  in  gar  keiner  Absicht  gut.  Die  Wahrheit  ist  nun  eine  noth  wendige 
Pflicht  des  Menschen.  Wahrheit  in  Ansehung  deßen  was  wir  sagen  und 
in  uns  denken,  aufrichtige  Gesinnungen  in  Ansehung  Gottes  und  der 
Religion,  das  ist  eine  Bedingung  unter  der  alles  Betragen  einen  Werth 
hat.  10 

Die  Redlichkeit  id  est  die  eigentliche  Wahrhaftigkeit  im  Betragen 
ist  die  Bedingung  des  guten  in  allen  Stüklcen. 

Simulatio  und  Dißimulatio  ist  erlaubt.  Es  ist  zwar  oft  eine  vorsäz- 
liche  Verleitung  in  Irrthum,  indem  ich  mich  entweder  nicht  äußere 
oder  etwas  zurückhalte ;  welches  also  an  und  vor  sich  nicht  erlaubt  is 
ist,  indeßen  ist  es  in  gewißen  Fällen  und  Umständen  erlaubt.  Es  ist 
vielmehr  nöthig,  daß  man  sich  dißimulire  id  est  enthalte  und  ver- 

210  schwiegen  sey  und  dieses  ist  nicht  /  anzusehen  als  ein  Betrug.  Wenn 
man  die  Simulation  und  dißimulation  vergleicht,  so  ist  erstere  weit 
näher  dem  Betrüge  als  leztere,  denn  die  dißimulation  ist  bloß  der  20 
Offenherzigkeit    entgegengesezt.    Ich    kann    also    alle    Äußerungen 
zurückhalten,  bey  der  Simulation  aber  muß  ich  durchaus  ein  Recht 
haben,  denn  es  ist  eine  vorsäzliche  Verleitung  eines  andern.  Sie  kommt 
dem  Betrüge  sehr  nahe,  und  kann  nur  1.  im  Nothfall,  2.  auf  der  andern 
Seite  auch  dann  gerechtfertiget  werden,  wenn  ich  unbefugte  und  unge-  25 
rechte  Absichten  eines  andern  vereiteln  kann.  Haß  ist  vom  Zorn  darinn 
unterschieden,  daß  der  Zorn  eine  Aufwallung,  eine  Hizze  in  den 
affecten  ist,  in  welcher  er  Begierden  hat,  die  einem  andern  zum  Nach- 
theil gereichen,  wo  er  aber  bald  seiner  mächtig  ist.  Der  Haß  ist  aber 

371  ein  daurender  /  Vorsazz  den  andern  zu  schaden.  Der  Zorn  gehört  zum  30 
Gefühl,  der  Haß  aber  zur  Neigung.  Der  Zorn  ist  deswegen  tadelhaft, 
weil  er  aus  Unbesonnenheit  und  nicht  aus  Grundsäzzen  entspringt. 
Er  ist  der  Sittsamkeit  nicht  anständig,  er  erzeugt  aber  das  Böse  nicht, 
so  wie  der  Haß.  Der  Haß  der  Beleidigten  ist  natürlich.  Obgleich  der 
Haß  zwar  in  unserer  Thierheit  steht,  so  wird  er  durch  die  Moral  so  sehr  35 
eingeschränkt,  daß  durch  dieselbe  der  Haß  der  Person  völlig  verbothen 
wird.  Der  Zorn  ist  lang  nicht  so  sehr  nachtheilig  für  uns  als  der  Haß, 
denn  der  nagt  am  Herzen.  Wenn  wir  gegen  die  Beleidiger,  die  uns  den 
Haß  ablokken,  ein  freymüthiges  Betragen  hegen,  dann  machen  wir 


Praktische  Philosophie  Powalski  233 

aus  Feinden  Freunde.  Unter  das  was  niederträchtig  genannt  wird, 
gehöret  auch  der  Schmeichler,  der  sich  fälschUch  und  mit  Fleiß  unter 
andere  erniedriget,  und  anderer  Stolz  über  sich  erhebet,  und  demselben 
Warnung  giebt. 

5      /  Wir  haben  von  Natur  nicht  nur  eine  Neigung  sondern  auch  einen  zu 
Beruf,  über  andere  zu  urtheilen.  Die  Vorsehung  hat  die  Menschen  zu 
natürlichen  Richtern  über  die  Moralitaet  gemacht.  Wir  sind  zuvor 
verbunden  zu  urtheilen,  aber  nicht  zu  richten,  denn  alles  Urtheil  über 
andere  ist  nur  insofern  erlaubet,  als  man  ihnen  nicht  nachtheilig  und 

10  schädlich  ist. 


Die  Bestimmung  der  Menschheit 

Die  Question  von  der  Bestimmung  der  Menschheit  wird  contro- 
vertirt  zwischen  Roußeau  und  andern  Philosophen.  Er  hat  eine  große 
Kenntniß  davon  gegeben,  welches  ein  sehr  großer  Nuzzen  ist.  Rous- 

15  seaus  Frage  ist,  ob  der  Mensch  von  Natur  gut  oder  böse  ist  ?  Er  ist  gut, 
sagt  er,  und  wird  durch  Verwahrlosung  und  Erziehung  böse,  daher  sind 
die  Regeln  der  Erziehung  bloß  negativ.  Der  Theologische  Theil  sagt, 
daß  der  Mensch  /  von  Natur  böse  sey.  Der  Mensch  ist  aber  im  Stande  2:4 
der  Natur  nicht  nur  beßer  und  unverderbter  sondern  auch  glücklicher 

20  als  im  civilisirten  Zustande.  —  In  der  Menschlichen  Geschichte  haben 
sich  alle  Laster  entsponnen  und  alles  Unglück  besonders  der  Luxus 
vorgefunden.  Die  Wißenschaften,  sagt  er,  haben  den  Menschen  oft 
unglücklich  gemacht,  denn  obgleich  sie  die  Laster  nicht  herfür  ge- 
bracht haben,  so  können  sie  dieselben  auch  nicht  ausrotten.  L  Kann 

25  der  Mensch  durch  vereinigte  Bestrebungen  glücklich  werden,  wenn  er 
sich  im  civilisirten  Zustande  cultiviret,  oder  ist  dieses  alles  nicht 
nüzlich  ?  2.  Was  ist  das  Maaß  der  Perfection  seines  Charakters  ? 
erlangt  er  sie  im  Bürgerlichen  oder  Natürlichen  Zustande  ?  Wir 
müßen  hier  unterscheiden.   L  Die  Bestimmung  des  einzelnen  Men- 

30  sehen,  und  2.  Die  Bestimmung  des  ganzen  Mensch/liehen  Geschlechts.  275 
Der  Zweck  der  Natur  im  ganzen  genommen  ist  Moralisch  zu  wel- 
chem der  Mensch  nur  durch  den  größten  freyen  Gebrauch  seiner 
Kräfte  gelangen  kann.  Der  Mensch  hat  zwey  Zwekke,  die  auf  die 
Erhaltung  seiner  Natur  und  auf  die  Glückseeligkeit  seines  Zustan- 

35  des  gehen.  Die  Bestimmung  des  menschlichen  Geschlechts  ist  der 
Bestimmung  des  einzelnen  Menschen  entgegen.  Diesen  Abbruch  hat 
Rousseau  als  ein  Argument  angenommen,  daß  die  Bestimmung  des 


234  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

ganzen  Menschlichen  Geschlechts  gar  nichts  beytrage  zur  Glück- 
seeligkeit  des  einzelnen  Menschen.  Der  Mensch  im  ganzen  Mensch- 
lichen Geschlechte  betrachtet,  ist  offenbar  zur  Gesellschaft  bestimmet, 

3T6  sodaß  wir  mit  Gewißheit  sa/gen  können,  daß  der  Mensch  nicht  vor 
sich  selbst,  sondern  gleichsam  als  eine  Biene  zum  Bienenstock  er-  5 
schaffen  ist.  Im  Stande  der  Natur  ist  der  Mensch  frey,  im  Bürgerlichen 
aber  ist  er  unter  dem  Zwange.  Er  verliehret  hier  also  etwas  von  seiner 
natürlichen  Freyheit.  Hier  muß  er  Schlauigkeit  und  Klugheit  gebrau- 
chen. Hier  entspringen  Bedürfniße  welche  gar  nicht  zum  Natürlichen 
Zustande  gehören.  ZE.  der  Luxus.  Es  entspringen  neue  Arten  von  lo 
Uebel,  Schmählerung,  Verlust  der  Ehre,  überhaupt  alles,  wovon  der 
rohe  und  wilde  Mensch  gar  nichts  weiß.  Im  Gesellschaftlichen  Zu- 
stande verändert  auch  oft  der  Mensch  seine  Bestimmung  der  Natur, 
folglich  auch  ihre  Zwekke.  Die  Physische  Bestimmung  ist  also  von  der 
Moralischen  unterschieden.  Wißenschaften  und  die  Gelehrsamkeit,  15 

ai»  sind,  was  /  die  Bestimmung  des  einzelnen  Menschen  betrifft,  der  phy- 
sischen entgegen.  In  der  moralischen  Bestimmung  aber  sind  sie  noth- 
wendig.  Die  Wißenschaften  schwächen  die  Gesundheit  und  sind  den 
Mängeln  unseres  Alters  nicht  angemeßen.  In  der  Bürgerlichen  Gesell- 
schaft ist  aber  ohne  Wißenschaft  alles  roh,  wild  und  unpolirt.  Der  20 
Bürgerliche  Mensch  ist  ein  verunarteter  physischer  Mensch.  Je  mehr 
den  Menschen  die  Einfalt  der  Natur  abgehet,  desto  mehr  Tort  ge- 
schiehet  dadurch  der  physischen  Bestimmung  des  Menschen.  Wir 
können  aber  die  menschliche  Bestimmungen  und  die  Vollkommen- 
heiten des  Menschen  nicht  erreichen,  wenn  wir  nicht  der  physischen  25 
einen  Abbruch  tliun.  Das  böse  unter  den  Menschen  hat  sie  gezwungen 
einen  Gesezzlichen  Zwang  zu  errichten.  Da  der  Mensch  nicht  anders 

zts  als  durch  /  den  Zwang  im  Zaume  gehalten  werden  kann,  so  muß  er 
sich  nothwendig  einer  Gewalt  unterwerfen.  In  der  Gesellschaft  ent- 
wickeln sich  alle  Keime,  alle  Fähigkeiten,  alle  Talente  des  Vermögens  so 
des  Verstandes,  aber  auch  alle  boshaften  Keime.  Zur  völligen  Be- 
stimmung des  Menschen  gehöret  die  Ausübung  aller  Talente.  Der 
Bürgerliche  Zustand  also,  in  welchem  es  möglich  ist,  daß  alle  Keime 
entwikkelt  werden,  ist  höchst  nothwendig,  folglich  gehöret  er  zur  Be- 
stimmung des  Menschen.  In  dieser  Bürgerlichen  Gesellschaft  geschieht  35 
sowohl  dem  guten  als  dem  bösen  des  Thierischen  der  Menschheit  ein 
Abbruch.  In  der  Bürgerlichen  Gesellschaft  ist  der  Mensch  ein  discipli- 
nirtes,  im  physischen  Zustande  aber  ein  rohes  Thier.  In  Summa  be- 
trachtet ist  doch  der  Bürgerliche  Zustand  derjenige,  wovon  wir  die 


Praktische  Philosophie  Powalski  235 

größte  Vollkommenheit  erlangen  können.  Außer  dem  Ge/sezlichen  ai9 
Zwange  wird  noch  ein  moralischer  Zwang  erfordert,  dieser  moralische 
Zwang  bestehet  darinnen,  daß  man  durch  Urtheile  andere  nöthiget  in 
den  Schranken  der  Moralitaet  zu  bleiben.  Diesen  morahschen  Zwang 

5  exerciren  wir  schon  in  Gesellschaften,  aber  nur  in  einem  kleinen  Grade. 
Es  ist  dieses  nicht  ein  äußerer  Zwang  der  Obrigkeit,  sondern  wenn  das 
Urtheil  des  einen  den  andern  vom  bösen  abhält.  Bey  der  Obrigkeit 
kommt  das  moralische  Verfahren  gar  nicht  in  Anschlag.  Es  können  noch 
viele  tausend  Jahre  verfheßen,  ehe  wir  unsere  völlige  Bestimmung 

10  erhalten,  welches  alsdenn  das  Reich  Gottes  auf  Erden  seyn  wird, 
wenn  alles  nicht  nur  Bürgerlich,  sondern  auch  moralisch  gut  seyn 
wird.  Die  Mittel,  diesen  Zu/stand  herbeyzuführen,  sind,  die  Philo-  280 
sophen  müßen  instruiren.  Die  Geistlichkeit  muß  in  Ansehung  der 
Moralitaet  die  Menschen  zu  bilden  suchen,  und  die  Moral  muß  noch 

16  häufig  Machinen  herbeyschaffen. 

Finale. 


III 

Moralphilosophie  Collins 


Collegium  philosophicum 
Auetore  Kantio 


Regiomonti  die  XIX  Aprilis.  MDCCLXXXV. 


Moralphilosophie 


nach  den  akad:  Vorlesungen 

des 

Herrn  Prof:  Kant. 

Königsberg  im  Wintersemestre 
1784  und  1785. 

Georg  Ludw  CoUins 
d:GG:S. 

über  Baumgarten. 


Moralphilosophie  Collins  243 


/  Prooemium.  I 

Alle  Philosophie  ist  entweder  theoretisch  oder  practisch.  Die  theo- 
retische ist  die  Regel  der  Erkentniß ,  die  practische  ist  die  Regel  des 
Verhaltens  in  Ansehung  der  freyen  Willkühr.  Der  Unterschied  der 

5  theoretischen  von  der  practischen  Philosophie  ist  das  Object.  Die 
theoretische  hat  zum  Object  die  Theorie,  und  die  practische  die 
praxin.  Sonst  theilt  man  die  Philosophie  in  die  speculative  und  in  die 
practische.  Man  nennt  überhaupt  Erkentniße  theoretisch  und  prac- 
tisch, die  Objecte  mögen  seyn  wie  sie  wollen.  Theoretisch  sind  sie, 

10  wenn  sie  der  Grund  sind  von  den  Begriffen  der  Objecte,  practisch 
aber  wenn  sie  der  Grund  von  der  Ausführung  der  Erkentniß  der 
Objecte  sind;  so  ist  z.  E:  eine  theoretische  und  practische  Geometrie, 
eine  theoretische  und  practische  Mechanic,  eine  theoretische  und 
practische  Medicin,  eine  theoretische  und  practische  Jurisprudence ; 

15  das  Object  ist  immer  daßelbe.  Also,  wenn  ohnangesehn  des  Objects, 
doch  die  Erkentniße  theoretisch  und  practisch  seyn,  so  betrift  es  nur 
die  Form  der  Erkentniß,  und  zwar  die  theoretische  zur  Beurtheilung 
des  Objects,  die  practische  zur  Hervorbringung  des  Objects.  Hier  ist 
aber  der  Unterschied  des  Theoretischen  und  practischen  in  Ansehung 

20  des  Objects.  Die  practische  Philosophie  ist  nicht  der  Form  nach,  son- 
dern dem  Object  nach  practisch,  und  dieses  Object  sind  die  freien 
Handlungen  und  das  freie  Verhalten.  Das  Theoretische  ist  das  Erken- 
nen und  das  practische  ist  das  Verhalten.  Wenn  ich  vom  Gegenstande 
abstrahire,  so  ist  die  Philosophie  des  Verhaltens  diejenige,  die  eine 

25  Regel  giebt  vom  guten  Gebrauch  der  Freiheit,  und  dieses  ist  das 
Object  der  practischen  Philosophie,  ohne  Ansehen  der  Gegenstände. 
Also  handelt  die  practische  Philosophie  vom  Gebrauch  der  freien  Will- 
kühr, nicht  in  Ansehung  der  Gegenstände,  sondern  unabhängig  von 
allen  Gegenständen.  Die  Logic  giebt  uns  Regeln  in  Ansehung  des 

30  Gebrauchs  des  Verstandes,  und  die  practische  Philosophie  in  An- 
sehung des  Gebrauchs  des  Willens,  welches  die  zwo  Kräfte  sind, 
woraus  alles  in  unserm  Gemüthe  entsteht.  Wenn  wir  nun  die  Ober- 
kräfte von  Erkenntniß  und  Bewegungs  Vermögen  nehmen,  so  ist  das 
erste  das  Ober  Erkenntniß  Vermögen,  oder  der  Verstand ;  und  das  2te 

35  das  Ober  Begehrungs  Vermögen,  oder  die  freie  Willkühr.  Nun  haben 


244  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

wir  2  Instructiones  für  beide  Kräfte,  nehmlich  die  Logic  für  den 
2  Verstand,  und  die  practische  Philosophie  für  den  Willen.  /  Die  untere 
Kräfte  können  nicht  instruirt  werden,  weil  sie  blind  sind.  Wir  erwägen 
also  hier  ein  Wesen,  was  freie  Willkühr  hat,  welches  nicht  allein  ein 
Mensch,  sondern  auch  ein  jedes  vernünftiges  Wesen  seyn  kann.  Und  5 
hier  erkennen  wir  die  Regel  des  Gebrauchs  der  Freiheit,  und  das  ist  die 
practische  Philosophie  generaliter.  Sie  hat  also  objective  Regeln  des 
freyen  Verhaltens.  Eine  jede  objective  Regel  sagt  was  geschehen  soll, 
wenn  es  auch  niemals  geschieht.  Die  subjective  Regel  sagt,  was  da 
wirklich  geschiehet,  denn  auch  bey  den  Lasterhaften  sind  Regeln,  lo 
nach  denen  sie  handeln.  Die  Anthropologie  beschäftiget  sich  mit  den 
subjectiven  practischen  Regeln,  sie  beobachtet  das  wirkliche  Ver- 
halten des  Menschen  allein,  die  moralische  Philosophie  sucht  sein 
gutes  Verhalten  unter  Regeln  zu  bringen,  nehmlich  was  geschehen 
soll.  Sie  enthält  Regeln  des  guten  Gebrauchs  des  Willens,  so  wie  die  is 
Logic  Regeln  enthält  des  richtigen  Gebrauchs  des  Verstandes.  Die 
Wißenschaft  der  Regel,  wie  der  Mensch  sich  verhalten  soll,  ist  die 
practische  Philosophie,  und  die  Wißenschaft  der  Regel  des  wirklichen 
Verhaltens  ist  die  Anthropologie;  diese  beide  Wißenschaften  hangen 
sehr  zusammen,  und  die  Moral  kann  ohne  die  Anthropologie  nicht  20 
bestehen,  denn  man  muß  das  Subject  erst  kennen,  ob  es  auch  im 
Stande  ist,  das  zu  leisten,  was  man  von  ihm  fordert,  das  es  thun  soll. 
Man  kann  zwar  die  practische  Philosophie  wohl  erwegen,  auch  ohne 
die  Anthropologie,  oder  ohne  die  Kentniß  des  Subjects,  allein  denn  ist 
sie  nur  speculative,  oder  eine  Idee ;  so  muß  der  Mensch  doch  wenigstens  25 
hernach  studiert  werden.  Es  wird  immer  geprediget  was  geschehen 
soll,  und  keiner  denkt  daran  ob  es  geschehen  kann,  deswegen  werden 
auch  die  Ermahnungen,  welches  tavtologische  Wiederhohlungen  der 
Regel,  die  schon  ein  jeder  weiß,  sind,  einem  sehr  langwierig  vorkom- 
men, indem  nichts  mehr  gesagt  wird,  als  was  man  schon  weiß,  und  die  30 
Kanzel  Reden  von  solchen  Ermahnungen  sind  sehr  leer,  wenn  der 
Redner  nicht  zugleich   auf  die  Menschheit  sieht;   und   hierinn  ist 
Spalding  allen  vorzuziehen.  Daher  muß  man  den  Menschen  kennen, 
ob  er  auch  das  thun  kann,  was  man  von  ihm  fordert.  Die  Betrachtung  / 
3  der  Regel  ist  unnütz,  wenn  man  nicht  die  Menschen  bereitwillig  machen  35 
kann,  solche  Regeln  zu  befolgen,  deswegen  hangen  diese  2  Wißen- 
schaften sehr  zusammen.  Es  ist  aber  so,  als  wenn  die  theoretische 
Physic  mit  den  Experimenten  verbunden  wird,  denn  man  macht  auch 
mit  dem  Menschen  Experimente.  Z:E:  Man  probirt  einen  Bedienten 


Moralphilosophie  Collins  245 

ob  e^r  treu  ist.  Es  sollte  also  bey  einem  Examen  des  Predigers  eben  so 
auf  seinen  Character  und  Herz  gesehen  werden,  als  auf  seine  dogma- 
tische Kentniße. 

Die  practische  Philosophie  ist  demnach  nicht  der  Form,  sondern 

ödem  Object  nach  practisch.  Sie  ist  eine  Ausübungs-Lehre.  So  wie  die 
Logic  eine  Vernunft  Wißenschaft  ist,  so  soll  auch  das  Object  der 
practischen  die  Praxis  seyn.  Sie  ist  also  eine  Wißenschaft  über  die 
objectiven  Gesetze  der  freien  Willkühr,  eine  Philosoj^hie  der  objec- 
tiven  Nothwendigkeit  der  freien  Handlungen  oder  des  Willens,  das 

10  heißt,  aller  nur  möglichen  guten  Handlungen,  so  wie  die  Anthropologie 
eine  Wißenschaft  ist  über  die  subjectiven  Gesetze  der  freien  Willkühr. 
Die  practische  Philosophie  handelt  nicht  von  einer  besonderen  Art  von 
Gegenständen  der  Praxis,  sondern  ohnangesehn  aller  Gegenstände  der 
Praxis  überhaupt  von  freien  Handlungen,  so  wie  die  Logic.  Die  prac- 

15  tische  Regeln,  die  da  sagen,  was  geschehen  soll,  sind  dreierley :  Regeln 
der  Geschiklichkeit,  Regeln  der  Klugheit,  und  Regeln  der  Sittlichkeit. 
Eine  jede  objective  practische  Regel  wird  durch  den  Imperativum 
ausgedrukt,  die  subjective  practische  Regel  aber  nicht,  z  :E :  die  Alten 
pflegten  zu  zeigen,  das  ist  zwar,  aber  so  sollte  es  doch  nicht  seyn. 

20  Aber  z  :E :  man  sollte  im  Alter  nicht  mehr  so  spaaren,  als  in  der  Jugend, 
weil  man  im  Alter  nicht  mehr  so  viel  braucht,  indem  man  nicht  so 
lange  zu  leben  hat,  als  in  der  Jugend.  Es  giebt  also  Serley  Imperativos : 
einen  Imperativum  der  Geschiklichkeit,  der  Klugheit  und  der  Sitt- 
lichkeit.   Denn   ein   jeder   Imperati\nis   drükt   ein   sollen,    also   eine 

25  objective  Nothwendigkeit  aus,  und  zwar  eine  Nothwendigkeit  der 
freien  und  guten  Willkühr,  denn  das  gehört  zum  Imperative,  und 
neceßitirt  objectiv.  Alle  Imperativi  enthalten  eine  objective  Nöthi- 
gung,  und  zwar  unter  der  Bedingung  einer  freien  guten  Willkühr.  Die 
Imperativi  der  Geschiklichkeit  sind  problematisch,  /  die  Imperativi  4 

30  der  Klugheit  sind  pragmatisch,  die  Imperativi  der  Sittlichkeit  sind 
Moralisch.  Die  problematische  Imperativi  sagen,  daß  bey  einer  jeden 
Regel  eine  Nothwendigkeit  des  Willens  zu  einem  beliebigen  Zweck 
angezeigt  wird.  Die  Mittel  werden  aßertorisch  enuncirt,  die  Zwecke 
aber  sind  problematisch.  Z  :E :  die  practische  Geometrie  ertheilt  solche 

35  Imperativos.  Z:E:  Wenn  ein  Triangel  soll  gemacht  werden  oder  ein 
Quadrat  oder  ein  Sechseck,  so  muß  man  nach  folgenden  Regeln  ver- 
fahren. Es  ist  also  ein  beliebiger  Zweck  durch  angezeigte  Mittel.  Also 
alle  practische  Wlßenschaften  generaliter,  als  Geometrie,  Mechanic 
etc.,  enthalten  Imperativos  der  Geschiklichkeit.  Sie  sind  von  großem 


246  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

Nutzen,  und  müßen  allen  übrigen  Imperativis  vorgehen,  denn  man 
muß  im  Stande  seyn  beliebige  Zwecke  auszuführen,  und  Mittel  haben, 
solche  Zwecke  zu  erlangen,  ehe  man  auf  gegebne  Zwecke  ausführen 
kann.  Die  Imperativi  der  Geschiklichkeit  imperiren  nur  hypothetisch ; 
denn  die  Noth wendigkeit  des  Gebrauchs  der  Mittel  ist  allemal  bedingt,  5 
nemlich  unter  der  Bedingung  des  Zwecks.  Die  practische  Philosophie 
enthält  nicht  Regeln  der  Geschiklichkeit,  sondern  Regeln  der  Klugheit 
und  der  Sittlichkeit.  Sie  ist  also  eine  pragmatische  und  moralische 
Philosophie,  pragmatisch  in  Ansehung  der  Regeln  der  Klugheit,  und 
mioralisch  in  Ansehung  der  Regeln  der  Sittlichkeit.  lo 

Die  Klugheit  ist  die  Fertigkeit  im  Gebrauch  der  Mittel  zum  all- 
gemeinen Zwecke  der  Menschen,  das  ist,  zur  Glükseeligkeit,  so  ist 
hier  schon  der  Zweck  bestimmt,  welches  bey  der  Geschiklichkeit  nicht 
ist.  Zur  Regel  der  Klugheit  wird  2erley  erfordert:  den  Zweck  selber 
zu  bestimmen,  und  denn,  den  Gebrauch  der  Mittel  zu  diesem  Zwecke.  15 
Es  gehört  also  dazu  eine  Regel  der  Beurtheilung  deßen,  was  zur  Glük- 
seeligkeit gehört,  und  die  Regel  des  Gebrauchs  der  Mittel  zu  dieser 
Glükseeligkeit.  Die  Klugheit  ist  also  eine  Fertigkeit  den  Zweck  und 
5  auch  die  Mittel  zureichend  zu  bestimmen.  Die  Bestimmung  der  Glük- 
seeligkeit ist  das  erste  bey  der  Klugheit,  denn  viele  streiten  noch,  ob  20 
die  Glükseeligkeit  im  Erhalten  oder  Erwerben  besteht.  Der  scheint 
glüklicher  zu  seyn  der  keine  Mittel  hat,  aber  auch  nichts  von  dem, 
was  durch  diese  Mittel  kann  erlangt  werden,  als  derjenige,  der  viel 
Mittel  hat,  aber  auch  viele  braucht.  Also  ist  die  Bestimmung  des 
Zwecks  der  Glükseeligkeit  und  worinn  sie  besteht,  das  erste,  und  die  25 
Mittel  zu  derselben  das  2'®  der  Klugheit.  Die  Imperativi  der  Klugheit 
gebieten  nicht  unter  einer  problematischen  Bedingung,  sondern  unter 
einer  aßertorischen  allgemeinen  nothwendigen  Bedingung,  die  bey  allen 
Menschen  ist.  Ich  sage  nicht,  woferne  du  willst  gliiklich  seyn,  so  must  du 
das  und  jenes  thun,  sondern  weil  jeder  glüklich  seyn  will,  welches  doch  30 
von  jedem  praesupponirt  wird,  so  muß  er  das  beobachten.  Es  ist  also 
eine  subjective  nothwendige  Bedingung.  Ich  sage  nicht,  du  sollst  glük- 
lich seyn,  denn  wäre  es  eine  objective  nothwendige  Bedingung,  sondern 
ich  sage,  weil  du  glüklich  seyn  willst,  so  must  du  dieses  und  jenes 
thun :  Wir  können  uns  aber  noch  einen  Imperativum  denlvcn,  wo  der  35 
Zweck  ausgemacht  ist,  mit  einer  Bedingung,  die  nicht  subjectiv 
sondern  objectiv  imperirt,  und  das  sind  die  sittlichen  Imperativi,  z :  E : 
du  sollst  nicht  lügen,  ist  kein  problematischer  Imperativus,  denn  sonst 
müste  es  heißen:  Wenn  es  dir  keinen  Schaden  bringt,  denn  solst  du 


Moralphilosophie  Collins  247 

nicht  lügen,  sondern  es  imperirt  categorisch  und  schlechthin ;  du  solst 
nicht  lügen.  Es  ist  also  dieser  Imperativus  entweder  ohne  alle  Bedin- 
gung, oder  unter  einer  objectiven  nothwendigen  Bedingung.  Der 
Zweck  ist  bey  dem  moralischen  Imperative  eigentlich  unbestimmt, 

5  die  Handlung  ist  auch  nicht  nach  dem  Zweck  bestimmt,  sondern 
gehet  nur  auf  die  freye  Willkühr,  der  Zweck  mag  seyn,  welcher  er 
wolle.  Der  moralische  Imperativus  imperirt  also  absolut,  ohne  auf  die 
Zwecke  zu  sehen.  Unser  freies  Thun  und  Laßen  hat  eine  innere  Boni- 
taet,  giebt  also  dem  Menschen  einen  unmittelbahren  inneren  absoluten 

10  Werth  der  Sittlichkeit.  Z  :E :  derjenige,  der  Wort  hält,  hat  immer  einen 
unmittelbahren  innern  Werth  der  freien  Willkühr,  der  Zweck  mag 
seyn  welcher  er  will.  Die  pragmatische  Bonitaet  giebt  aber  dem  Men- 
schen keinen  innern  Werth. 


/  Die  moralische  Systemata  der  Alten.  ( 

15  Zum  Grunde  aller  moralischen  Systemate  der  Alten  lag  die  Frage 
vom  summo  bono,  worinnen  daßelbige  bestehe,  und  in  der  Beant- 
wortung dieser  Frage  unterschieden  sich  die  Systemata  der  Alten. 
Dieses  Summum  Bonum  nenne  ich  ein  Ideal,  das  ist,  ein  Maximum 
der  Sache  was  man  sich  denken  kann,  wornach  man  alles  bestimmt 

20  und  abmißt.  Man  muß  sich  in  allen  Stüken  zuerst  ein  Muster  conci- 
piren,  wornach  alles  kann  beurtheilt  werden:  Das  Summum  Bonum 
ist  kaum  möglich,  sondern  ist  nur  ein  Ideal,  das  ist  eine  Muster  Idee, 
ein  Urbild  aller  unsrer  Begriffe  vom  Guten.  Worinn  besteht  das 
höchste  Gut  ?  Die  vollkommenste  Welt  ist  das  höchste  erschaffene 

25  Gut.  Zu  der  vollkommensten  Welt  aber  gehört  die  Glükseeligkeit  der 
vernünftigen  Geschöpfe,  und  die  Würdigkeit  dieser  Geschöpfe  solcher 
Glükseeligkeit.  Die  Alten  sahen  wohl  ein,  daß  bloß  die  Glükseeligkeit 
nicht  das  einzige  höchste  Gut  seyn  könnte,  denn  wenn  alle  Menschen 
diese  Glükseeligkeit  treffen  möchte,  ohne  Unterschied  der  Gerechten 

30  und  Ungerechten,  so  wäre  zwar  die  Glükseeligkeit  da,  aber  keine 
Würdigkeit  derselben,  und  wenn  dieses  zusammen  genommen  wird, 
so  ist  es  das  höchste  Gut.  Der  Mensch  kann  nur  in  so  fern  hoffen 
Glüklich  zu  seyn,  in  so  fern  er  sich  derselben  würdig  macht,  denn  das 
ist  die  Bedingung  der  Glükseeligkeit,  die  die  Vernunft  selbst  verlangt. 

35  Ferner  sahen  sie  ein,  daß  die  Glükseeligkeit  beruhe  auf  der  Bonitaet 
des  freien  Willens,  auf  den  Gesinnungen,  alles  deßen  sich  zu  bedienen, 
was  ihm  die  Natur  reichlich  schenkt.  Wer  reich  ist  und  alle  Schätze 


248  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

hat,  von  dem  fragt  es  sich,  was  er  vor  Gesinnungen  hat,  von  diesen 
für  einen  Gebrauch  zu  machen  ?  Also  ist  die  Beschaffenheit  und  Voll- 
kommenheit der  freien  Willkühr,  welche  den  Grund  enthält  von  der 
Würdigkeit  der  Glükseeligkeit,  die  moralische  Vollkommenheit.  Das 
physische  Gut  oder  das  Wohlbefinden,  wozu  Gesundheit,  Wohlhaben  5 
Tete,  gehört,  macht  nicht  das  /  höchste  Gut  aus.  Man  stelle  sich  vor: 
Wenn  die  Welt  voll  von  solchen  vernünftigen  Geschöpfen  wäre,  die 
sich  alle  wohl  verhielten,  also  der  Glükseeligkeit  würdig  wären,  und  sie 
wären  in  den  dürftigsten  Umständen  mit  Kummer  und  Noth  umgeben, 
denn  hätten  sie  keine  Glükseeligkeit,  folglich  wäre  da  kein  höchstes  lo 
Gut,  und  umgekehrt,  wenn  alle  Geschöpfe  von  GlükseeHgkeit  umgeben 
wären,  und  wäre  kein  Wohl  verhalten,  keine  Würdigkeit,  so  wäre  als- 
denn  auch  kein  höchstes  Gut.  Das  Ideal  des  höchsten  Guts  war  bey 
den  Alten  3fach 

1.)  das  Cynische  Ideal,  das  ist,  der  Secte  des  Diogenes  i5 

2.)  das  Epicurische  Ideal,  das  ist,  der  Secte  des  Epicur 
3.)  das  Stoische  Ideal,  das  ist,  der  Secte  des  Zeno 

Diese  Secten  sind  nach  Begriffen  eingetheilt: 

Das  Cynische  Ideal  ist  das  Ideal  der  Unschuld,  oder  vielmehr  der 
Einfalt.  Diogenes  sagte,  das  höchste  Gut  bestehe  in  der  Einfalt,  in  der  20 
Genügsamkeit  des  Genußes  der  Glükseeligkeit.  Das  Epicurische  Ideal 
war  das  Ideal  der  Klugheit.  Epicur  sagte:  das  höchste  Gut  bestehe 
allein  in  der  Glül^seeligkeit,  und  das  Wohl  verhalten  wäre  nur  ein 
Mittel  zur  Glükseeligkeit.  Das  Stoische  Ideal  war  das  Ideal  der  Weis- 
heit, es  ist  umgekehrt  von  dem  vorigen.  Zeno  sagte :  das  höchste  Gut  25 
bestehe  nur  allein  in  der  Sittlichkeit,  in  der  Würdigkeit,  also  im  Wohl- 
verhalten, und  diese  Glükseeligkeit  wäre  eine  Folge  der  Sittlichkeit. 
Derjenige  wäre  schon  glüklich,  der  sich  wohl  verhielte.  Die  Cynische 
Secte  sagte :  Das  höchste  Gut  wäre  eine  Sache  der  Natur,  und  nicht  der 
Kunst :  Beim  Diogenes  waren  die  Mittel  der  Glülvseeligkeit  negativ.  30 
Er  sagte :  Der  Mensch  ist  von  Natur  mit  wenig  zufrieden ;  weil  der 
Mensch  von  Natur  keine  Bedürfniße  hat,  so  empfindet  er  auch  nicht 
den  Mangel  der  Mittel,  und  genießet  unter  diesem  Mangel  seine  Glük- 
seeligkeit. Diogenes  hat  vieles  vor  sich,  denn  der  Vorrath  von  Mitteln 
und  Gaben  der  Natur  vermehrt  unsre  Bedürfniße,  denn  je  mehr  Mittel  35 
wir  haben,  je  mehr  Bedürfniße  eräugnen  sich,  und  die  Meinung  des 
Menschen  wächst  nach  größerer  Befriedigung,  das  Gemüth  ist  also 
simmer  /  unruhig.  Roußeau,  der  feine  Diogenes,  behauptet  es  auch,  daß 


Moralphilosophie  Colhns  249 

unser  Wille  von  Natur  gut  wäre,  nur  wir  werden  immer  corrumpirt,  die 
Natur  hätte  uns  mit  allem  versehen,  nur  wir  machen  uns  mehr 
Bedürfniße ;  er  will  auch,  daß  die  Erziehung  der  Kinder  nur  negativ  sein 
soll.  Diesem  ist  Hume  entgegen,  der  da  behauptet,  daß  es  eine  Sache 

5 der  Kunst  und  nicht  der  Natur  sey;  Diogenes  sagt:  Ihr  könt  glüklich 
seyn  ohne  Ueberfluß,  ihr  könt  sittlich  seyn  ohne  Tugend.  Seine  Philo- 
sophie war  der  kürtzeste  Weg  zur  Glückseeligkeit,  durch  die  Genügsam- 
keit lebt  man  glüklich  indem  man  alles  entbehren  kann.  Seine  Philo- 
sophie war  auch  der  kürtzeste  Weg  zur  Sittlichkeit,  denn  wenn  man 

10  keine  Bedürfniße  hat,  so  hat  man  auch  keine  Begierde,  und  dann 
stimmen  unsre  Handlungen  mit  der  Moralitaet  überein,  und  einem 
solchen  Menschen  kostet  es  nichts  mehr  als  ehrlich  zu  seyn,  folglich 
wäre  die  Tugend  nur  eine  Idee.  Es  ist  also  auch  die  Einfalt  der  kürzeste 
Weg  zur  Sittlichkeit.  Die  Epicurische  Secte  behauptete,  das  höchste 

15  Gut  wäre  eine  Sache  der  Kunst,  und  nicht  der  Natur,  so  wie  es  die 
Cynische  sagte.  Hier  war  also  der  Unterschied  der  beiden  Sekten, 
indem  diese  gegen  die  erste  umgekehrt  war.  Epicur  sagte,  wenn  wir 
auch  von  Natur  keine  Laster  haben,  so  haben  wir  doch  einen  Hang 
dazu,  also  ist  die  Unschuld  und  Einfalt  nicht  gesichert,  es  muß  Kunst 

20  dazu  kommen,  und  hierinn  kam  Zeno  mit  dem  Epicur  überein,  der  es 
auch  als  eine  Sache  der  Kunst  ansah,  denn  Z  :E :  wenn  ein  unschul- 
diges Landmädchen  von  allen  gewöhnlichen  Lastern  frey  ist,  so  ist  es 
deswegen,  weil  es  keine  Gelegenheit  zur  Ausschweifvmg  hat,  und  ein 
Landmann,  der  mit  schlechter  Kost  sich  behilft,  und  dabey  doch 

25  zufrieden  ist,  ist  es  nicht  deswegen  weil  er  sieht,  es  sey  einerley, 
sondern  weil  er  es  nicht  beßer  hat,  und  wenn  man  ihm  Gelegenheit 
gäbe,  beßer  zu  leben,  so  würde  er  es  auch  begehren.  Also  ist  die  Einfalt 
nur  negativ.  Epicur  und  Zeno  nahmen  also  die  Kunst  an,  sie  war  aber 
bey  ihnen  verschieden.  Die  2  Elemente  des  höchsten  Gutes  sind:  das 

30  physische  Gut  und  das  moralische  Gut,  das  Wohlbefinden  und  das 
Wohl  verhalten.  Weil  alle  Philo/sophie  darauf  hinausgehet,  Einheit  in  9 
den  Erkentnißen  hervorzubringen,  und  auf  die  wenigsten  Principia  zu 
reduciren,  so  versuchte  man,  ob  aus  diesen  2  Principiis  nicht  könnte 
eins  zusammen  gebracht  werden.  Man  benent  doch  jede  Sache  vom 

35  Zw^eck,  und  nicht  vom  Mittel.  Also  nach  der  Idee  des  Epicurs  war  die 
Glükseeligkeit  nur  Zweck  und  die  Würdigkeit  nur  ein  Mittel,  mithin 
wäre  die  Sittlichkeit  eine  Folge  der  Glül^seeligkeit.  Zeno  suchte  auch 
beide  Principia  zu  verbinden,  und  nach  seiner  Idee  wäre  die  Sittlich- 
keit der  Zweck.  Die  Würdigkeit  und  Tugend  wäre  nur  eine  Folge  der 


250  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

Sittlichkeit.  Das  Ideal  und  das  Muster  des  Diogenes  ist  der  Mensch  der 
Natur,  das  Muster  des  Epicurs  ist  der  Weltmann,  das  Muster,  oder  die 
Idea  Archetypen  des  Zeno  ist  der  Weise,  der  in  sich  selbst  die  Glük- 
seeligkeit  fühlt,  der  besitzt  alles,  er  hat  in  sich  die  Qvelle  der  Heiter- 
keit und  der  Rechtschaffenheit,  er  ist  der  König,  indem  er  sich  selbst  5 
beherscht,  er  kann  nicht  gezwungen  werden,  indem  er  sich  selbst 
zwingt.  Einen  solchen  Weisen  zogen  sie  den  Göttern  vor,  indem  zu 
ihren  Göttern  nicht  viel  gehörte,  denn  die  Gottheit  hatte  keine  Ver- 
führung und  keine  Hinderniße  zu  überwinden,  aber  ein  solcher  Weise 
wäre  durch  seine  Stärke  in  Ueberwindung  der  Hinderniße  zu  solcher  lo 
Vollkommenheit  gelangt.  Wir  können  uns  noch  ein  mystisches  Ideal 
gedenken,  wo  das  höchste  Gut  darinn  besteht,  daß  sich  der  Mensch 
sieht  in  der  Gemeinschaft  des  höchsten  Wesens,  dieses  ist  das  Plato- 
nische Ideal,  welches  ein  phantastisches  Ideal  ist.  Das  Ideal  des 
Christen  ist  das  Ideal  der  Heiligkeit  und  das  Muster  ist  der  Christ,  is 
Der  Christ  ist  auch  ein  bloßes  Ideal,  ein  Urbild  von  der  sittlichen  Voll- 
kommenheit, welches  heilig  ist  durch  die  Göttliche  Beihülfe.  Dieses 
muß  aber  nicht  mit  Menschen  vermengt  werden,  die  sich  Christen 
nennen,  denn  sie  suchen  nur  diesem  Ideal,  diesem  Muster,  näher  zu 
kommen.  20 

Epicur  und  Zeno  fehlten  darinn,  daß  Epicur  der  Tugend  Trieb- 
federn geben  wollte,  und  keinen  Werth,  die  Triebfeder  war  die  Glük- 
10  see/ligkeit,  und  der  Werth  die  Würdigkeit.  Zeno  erhob  den  innern 
Werth  der  Tugend  und  setzte  darinn  das  höchste  Gut,  und  benahm  der 
Tugend  die  Triebfedern.  Epicurs  höchstes  Gut  war  also  die  Glükseelig-  25 
keit,  oder  wie  er  es  nannte,  Wollust,  das  ist,  eine  innere  Zufriedenheit 
und  ein  fröliches  Hertz.  Man  muß  sicher  seyn  von  allen  Vorwürfen 
von  sich  und  von  andern,  das  ist  aber  keine  Philosophie  der  Wollust, 
man  hat  ihn  also  übel  verstanden.  Man  hat  noch  einen  Brief  von  ihm, 
worinnen  er  jemanden  zu  sich  invitiret,  wo  er  ihn  aber  mit  nichts  30 
aufzunehmen  verspricht,  als  mit  einem  frölichen  Hertzen  und  mit  der 
Polenta,  das  ist,  eine  schlechte  epicureische  Mahlzeit.  Solche  Wollust 
war  also  eine  Wollust  eines  Weisen.  Er  nahm  also  der  Tugend  den 
Werth,  indem  er  die  Sittlichkeit  zum  Mittel  der  Glükseeligkeit  machte. 

Zeno  machte  es  umgekehrt,  er  setzte  die  Glükseeligkeit  in  den  35 
Werth  und  gab  der  Tugend  keine  Triebfeder.  Triebfeder  sind  alle 
Gründe  unsers  Willens,  die  hergenommen  sind  von  den  Sinnen.  Das 
Bewußtseyn  der  Würdigkeit  der  Glükseeligkeit  stillt  noch  nicht  die 
Begierde  des  Menschen,  und  wenn  der  Mensch  seine  Begierde  nicht 


Moralphilosoijhie  Collins  251 

erfüllt,  wenn  er  auch  in  sich  fühlt,  daß  er  würdig  ist,  so  ist  er  doch  nicht 
glüklich.  Die  Tugend  gefällt  über  alles,  nur  sie  vergnügt  nicht,  denn 
alsdenn  würden  alle  Tugendhafte  glüklich  seyn.  Die  Begierden  eines 
Tugendhaften  sind  um  dieser  Tugend  willen  desto  stärker  nach  der 
5  Glükseeligkeit  sich  zu  sehnen;  je  tugendhafter  und  wenig  glüklich  ein 
Mensch  ist,  desto  schmertzhafter  ist  es  ihm,  daß  er  nicht  glüklich  ist, 
ob  er  gleich  deßen  würdig  ist,  alsdenn  ist  der  Mensch  mit  seinem  Ver- 
fahren, aber  nicht  mit  seinem  Zustande  zufrieden. 

Epicur  versprach  dem  Menschen  Zufriedenheit  mit  sich  selbst,  wenn 

10  er  es  erst  würde  so  gemacht  haben,  daß  sein  Zustand  glüklich  sey. 
Zeno  versprach  dem  Menschen  Zufriedenheit  mit  seinem  Zustande, 
wenn  er  es  erst  so  würde  gemacht  haben,  daß  er  mit  sich  selbst 
zufrieden  seyn  Avürde. 

/  Der  Mensch  kann  mit  sich  pragmatisch  oder  moralisch  zufrieden  ii 

15  oder  unzufrieden  seyn.  Beides  wird  aber  sehr  oft  mit  dem  Menschen 
verwechselt.  Er  glaubt  oft  Gewißens-Biße  zu  haben,  ob  er  sich  gleich 
nur  vor  einem  Richter  der  Klugheit  fürchtet.  Wenn  man  jemanden  in 
einer  Gesellschaft  offendirt  hat,  so  macht  man  sich  zu  Hause  Vor- 
würfe deswegen,  welches  Vorwürfe  vom  Richter  der  Klugheit  seyn, 

20  in  dem  man  sich  einen  Feind  zu  vermuthen  hat.  Denn  alle  Reproche 
der  Klugheit  ist  diejenige,  durch  die  ein  Schaden  entsteht.  Weiß  man 
es  nun,  daß  der  andre  es  nicht  gemerkt  hat,  so  ist  man  zufrieden, 
folglich  ist  es  ein  Vorwurf  der  Klugheit,  und  man  hält  es  doch  für  einen 
Vorwurf  der  Sittlichkeit.  Nun  sagte  Epicur :  führe  dich  so  auf,  daß  du 

25  keine  Vorwürfe  von  dir  und  von  andern  zu  erwarten  hast,  so  bist  du 
glüklich ;  das  Ideal  der  Klugheit  ist  nach  der  Philosophie  genommen 
das  vollkommenste  Ideal,  denn  es  ist  ein  Ideal  der  größten  reinen  sitt- 
lichen VolUiommenheit,  weil  aber  solche  von  dem  Menschen  nicht 
kann  erreicht  werden,  so  gründet  es  sich  auf  den  Glauben  eines  Gött- 

30  liehen  Beistandes.  Nicht  allein  die  Würdigkeit  der  Glükseeligkeit  hat 
in  diesem  Ideal  die  größte  Sittliche  Vollkommenheit,  sondern  dieses 
Ideal  hat  auch  die  größte  Triebfeder,  und  das  ist  die  Glükseeligkeit, 
aber  nicht  in  dieser  Welt.  Also  das  Ideal  des  Evangelii  hat  die  Größte 
Reinliclilceit  der  Sitten,  und  auch  die  größte  Triebfeder,  das  ist  die 

35  Glükseeligkeit  oder  die  Seeligkeit.  Die  Alten  hatten  keine  größere  sitt- 
liche Volllcommenheit,  als  sie  aus  der  Natur  des  Menschen  fließen 
konnte,  da  nun  diese  sehr  mangelhaft  war,  so  waren  auch  ihre  mora- 
lischen Gesetze  mangelhaft.  Ihr  moralisches  System  war  also  nicht 
rein,  sie  accomodirten  die  Tugend  der  Schwäche  des  Menschen,  folg- 


252  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

lieh  war  sie  incomplet.  In  diesem  Ideal  aber  ist  alles  complet,  und  da 
ist  die  größte  Reinlichkeit  und  die  größte  Glükseeligkeit.  Die  Principia 
18  der  Sittlichkeit  sind  in  ihrer  gan/zen  Heiligkeit  vorgetragen,  und  nun 
heißt  es,  du  sollst  heilig  seyn,  weil  aber  der  Mensch  unvollkommen  ist, 
so  hat  dieses  Ideal  ein  adjument,  nehmlich  Göttlichen  Beistand.        5 


Vom  Principio  der  Moralitaet. 

Nachdem  wir  das  Ideal  der  größten  sittlichen  Vollkommenheit 
erwogen  haben,  so  müßen  wir  sehen,  worinn  das  Principium  der  Sitt- 
lichkeit bestehe.  Vorläufig  ist  davon  noch  nichts  gesagt,  als  daß  es 
auf  der  Bonitaet  der  freien  Willkühr  beruhe ;  es  muß  aber  untersucht  lo 
werden,  worinn  eigentlich  das  Principium  der  Sittlichkeit  bestehe. 
Es  hält  überhaupt  sehr  schwer,  das  erste  Principium  der  Wißenschaf t 
festzusetzen,  besonders  wenn  schon  die  Wißenschaf ten  einige  Größe 
erreicht  haben.  So  ist  es  schwer  Z  :E :  das  erste  Principium  des  Rechts, 
der  Mechanic  festzusetzen.  Da  wir  doch  alle  ein  Principium  der  i5 
moralischen  Judication  haben  müßen,  nach  welchem  wir  einstimmig 
darüber  urtheilen  können,  was  sittlich  gut  oder  nicht  gut  ist,  so  sehen 
wir  ein,  daß  es  ein  einiges  Principium  geben  muß,  das  aus  dem  Grunde 
unsers  Willens  fließet.  Nun  kommt  es  darauf  an,  dieses  Principium  zii 
eruiren,  worinn  wir  die  Sittlichkeit  setzen,  und  wornach  wir  das  sitt-  20 
liehe  vom  unsittlichen  unterscheiden  können.  Wenn  ein  Mensch  viele 
gute  Fähigkeiten  und  Geschiklichkeiten  hat,  so  fragt  es  sich  doch 
gleich,  wie  ist  sein  Character.  Wenn  er  alle  Bonitaeten  besitzt,  so  fragt 
man  doch  immer  nach  seiner  moralischen  Bonitaet.  Was  ist  denn  nun 
das  oberste  Principium  der  Sittlichlveit,  wornach  wir  alles  beurtheilen,  25 
und  worinn  unterscheidet  sich  die  sittliche  Bonitaet  von  aller  übrigen 
Bonitaet  ?  Ehe  wir  diese  Frage  bestimmen,  müßen  wir  erst  die  Ein- 
theilung  der  verschiedenen  Gesichtspunkte  anführen,  aus  denen  das 
Principium  auf  verschiedene  Art  bestimmt  ist.  Der  Lehrbegriff, 
(welches  nicht  ein  Lehr  Gebäude  anzeigt,  sondern  nur  einen  Begriff  /  30 
13  aus  welchem  man  ein  Lehr  Gebäude  machen  kann)  der  Moralitaet 
besteht  darinn,  daß  die  Moralitaet  entweder  auf  empirischen  oder 
intellectuellen  Gründen  beruhe,  und  entweder  aus  empirischen  oder 
intellectuellen  Principien  abzuleiten  sey.  Empirische  Gründe  sind,  die 
von  den  Sinnen  abgeleitet  werden,  in  sofern  unsre  Sinnen  dadurch  35 
befriediget  werden.  Intelleetuale  Gründe  sind  die,  wo  alle  Moralitaet 
aus  der  Uebereinstimmung  unsrer  Handlung  mit  den  Gesezzen  der 


Moralphilosophie  Collins  253 

Vernunft  abgeleitet  wird.  Also  Systema  morale  est  vel  empiricum  vel 
intellectuale.  Wenn  das  System  der  Moral  auf  empirischen  Gründen 
beruhet,  so  beruhts  entweder  auf  Innern  oder  äußern  Gründen  nach 
den  Gegenständen  des  Innern  und  äußern  Sinnes.  Beruhet  die  Morali- 

5  taet  auf  Innern  Gründen,  so  ist  das  der  Ite  Theil  des  empirischen 
Systems,  beruht  sie  auf  äußeren  Gründen,  so  ist  das  der  2*®  Theil 
des  empirischen  Systems.  Die  die  Moralitaet  aus  den  Innern  Gründen 
des  empirischen  Principii  herleiten,  nehmen  ein  Gefühl  an,  ein  phy- 
sisches und  moralisches  Gefühl.  Das  physische  Gefühl  besteht  in  der 

10  Selbstliebe,  die  2fach  ist,  der  Eitelkeit  und  des  Eigennutzes.  Sie  zielt  ab 
auf  seinen  eigenen  Vortheil,  und  ist  ein  eigensüchtiges  Principium,  wo- 
durch unsere  Sinne  befriediget  werden.  Es  ist  ein  Principium  der 
Klugheit.  Die  Autores  des  Principii  der  Selbstliebe  sind  unter  den 
Alten  Epicur,  wie  er  auch  überhaupt  ein  Principium  der  Sinnlichkeit 

15  hatte,  unter  den  neuern  Helvetius,  Mandeville.  Das  2*^  Principium  des 
Innern  Grundes  des  empirischen  Systems  ist,  wenn  der  Grund  im 
moralischen  Gefühl  gesetzt  wird,  wodurch  man  unterscheiden  kann, 
was  gut  oder  böse  ist.  Die  vornehmsten  Autores  sind  Shaftsbury  und 
Hutcheson. 

20      Zu   dem   empirischen   System   des    Lehrbegrifs    der    Moralitaet  / 
gehören   2'^°^  äußere   Gründe.    Diejenige,  die   darinn  die  Moralitaet  14 
setzen,  sagen :  Alle  Moralitaet  beruhe  auf  2  Stücken :  auf  der  Erziehung 
und  auf  der  Regierung.  Alle  Moralitaet  wäre  nur  eine  Gewohnheit, 
und  wir  urtheilen  aus  Gewohnheit  über  alle  Handlungen  nach  Regeln 

25  der  Erziehung  oder  des  Gesetzes  der  Obrigkeit.  Also  entspringe  die 
moralische  Beurtheilung  aus  Beispiel  oder  aus  Vorschrift  der  Gesetze. 
Das  erste  behauptet  Montaigne.  Er  sagt:  Wir  finden  den  Menschen 
in  verschiedenen  Gegenden  in  Ansehung  der  Moralitaet  auch  ver- 
schieden, so  ist  in  Africa  der  Diebstahl  auch  erlaubt,  so  ist  in  China 

30  den  Eltern  erlaubt,  ihre  Kinder  auf  die  Straße  zu  werfen,  die  Esqui- 
maux  erdroßeln  sie,  und  in  Brasilien  begraben  sie  sie  lebendig.  Das 
2*^  behauptet  Hobbes.  Er  sagt:  die  Obrigkeit  kann  alle  Handlungen 
erlauben  und  auch  verbieten,  so  laßen  die  Handlungen  sich  nicht  aus 
der  Vernunft  moralisch  beurtheilen,  sondern  man  handelt  nach  Bei- 

35  spiel  der  Gewohnheit  und  nach  Befehl  der  Obrigkeit,  folglich  wäre  kein 
moralisch  Principium  als  nur  aus  der  Erfahrung  entlehnet. 

Allein,  wenn  das  Principium  der  Moralitaet  auf  der  Selbst  Liebe 
beruhet,  so  beruhet  es  auf  einem  zufälligen  Grunde,  denn  die  Beschaf- 
fenheit der  Handlungen  nach  welcher  sie  mir  Vergnügen  bringen  oder 


254  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

nicht,  beruht  auf  zufälhgen  Umständen.  Beruht  das  Principium  auf 
einem  moralischen  Gefühl,  wo  man  die  Handlung  nach  dem  Wohlge- 
fallen oder  Mißfallen,  nach  dem  Empfinden  oder  überhaupt  nach  dem 
Gefühl  des  Geschmaks  beurtheilt,  so  beruhet  es  auch  auf  einem  zufälli- 
gen Grunde.  Dennwenn  jemand  eine  Annehmlichkeit  woran  hat,  so  kann  5 
ein  anderer  einen  Abscheu  davor  haben,  so  speien  Z  :E :  die  Wilden 
den  Wein  aus,  den  wir  gern  trinken.  Und  so  ist  es  auch  mit  dem  äußern 
15  Grunde  der  Erziehung  und  Regierung.  Es  /  beruht  das  Principium  der 
Moralitaet  nach  dem  empirischen  System  auf  zufälligen  Gründen. 

Das  2*^  Systema  morale  ist  das  intellectuale.  Nach  diesem  urtheilt  lo 
der  Philosoph,  daß  das  Principium  der  Moralitaet  einen  Grund  im 
Verstände  habe,  und  völlig  a  priori  eingesehen  werden  kann.  Z:E: 
du  sollst  nicht  lügen;  wenn  dieses  auf  dem  Princip  der  Selbstliebe 
beruhen  sollte,  so  würde  es  heißen:  du  solst  nur  denn  nicht  lügen 
wenn  es  dir  Schaden  zuwege  bringt,  wenn  es  aber  Nutzen  schaft,  so  i5 
ist  es  erlaubet.  Beruhte  es  auf  dem  moralischen  Gefühl,  so  würde 
demjenigen,  der  ein  so  feines  moralisches  Gefühl  nicht  hat,  welches 
ihm  einen  Ekel  wider  die  Lüge  zuwege  brächte,  erlaubt  seyn  zu 
lügen.  Möchte  es  auf  der  Erziehung  und  Regierung  beruhen,  so  könnte 
derjenige,  der  so  erzogen  ist,  und  der  unter  solcher  Regierung  stände,  20 
wo  das  erlaubet,  es  frey  haben  zu  lügen.  Aber  wenn  es  beruht  auf  einem 
Principio,  welches  im  Verstände  liegt,  so  heißt  es  schlechthin:  Du  solst 
nicht  lügen,  die  Umstände  mögen  seyn,  wie  sie  wollen.  Wenn  ich  meine 
freie  Willkühr  betrachte,  so  ist  das  eine  Uebereinstimmung  der  freien 
Willkühr  mit  sich  selbst  und  anderen.  Es  ist  also  ein  noth wendiges  25 
Gesetz  der  freien  Willkühr.  Diejenige  Principia  aber,  die  allgemein 
beständig  und  noth  wendig  gelten  sollen,  können  nicht  aus  der  Erfah- 
rung, sondern  aus  reiner  Vernunft  abgeleitet  werden.  Ja,  das  morali- 
sche Gesez  drückt  die  categorische  Nothwendigkeit  aus,  und  nicht 
eine  solche,  die  aus  der  Erfahrung  geschöpft  ist.  Alle  noth  wendige  so 
Regeln  müßen  a  priori  fest  stehen,  folglich  sind  die  Principia  intellec- 
tual.  Die  Beurtheilung  der  Moralitaet  geschieht  gar  nicht  durch  sensi- 
tive und  empirische  Principia,  denn  die  Moralitaet  ist  gar  kein  Gegen- 
stand der  Sinne,  sondern  sie  ist  ein  Gegenstand  bloß  des  Verstandes. 
Dieses  intellectuale  Principium  kann  2fach  seyn.  35 

1)  in  so  fern  es  beruht  auf  der  Innern  Beschaffenheit  der  Hand- 
lung, so  fern  wir  sie  durch  den  Verstand  betrachten. 

2)  oder  es  kann  ein  äußeres  Principium  seyn,  so  ferne  unsre  Hand- 
le lungen  ein  Verhältniß  haben  mit   einem  andern  fremden  Weesen.  / 


Moralphilosophie  Collins  255 

Dieses  Principium  ist  das  theologische  Principium  der  Moral,  und  man 
hat  also  eine  theologische  Moral,  so  wie  man  auch  eine  moralische 
Theologie  hat.  Dieses  Theologische  Principium  ist  aber  auch  irrig,  denn 
der  Unterschied  des  sittlich  guten  und  Bösen  besteht  nicht  im  Ver- 
5  hältniß  auf  ein  anderes  Wesen,  sondern  das  Principium  morale  intel- 
lectuale  est  internum.  Worinn  nun  dieses  Principium  intellectuale  inter- 
num  bestehe,  das  soll  unser  Zweck  in  der  Moral  seyn,  daßelbige  zu  be- 
stimmen, welches  aber  nur  mit  der  Zeit  nach  und  nach  kann  aus- 
gerichtet werden.  Alle  Imperativi  sind  Formeln  einer  practischen 

loNeceßitation.  Die  practische  Neceßitation  ist  eine  Nothwendig 
Machung  freier  Handlungen.  Allein  unsre  Handlungen  können  aber 
2facli  neceßitirt  werden,  entweder  sie  können  nach  Gesetzen  der  freien 
Willkühr  nothwendig  seyn,  und  dann  sind  sie  practisch  nothwendig, 
oder  sie  können  nach  Gesetzen  der  sinnlichen  Gefühls  Neigung  noth- 

15  wendig  seyn,  und  dann  sind  sie  pathologisch  nothwendig.  Dennoch 
werden  unsre  Handlungen  practisch  neceßitirt,  das  ist  nach  Gesetzen 
der  Freiheit,  oder  pathologisch,  d.  i.  nach  Gesetzen  der  Sinnlichkeit. 
Die  practische  Neceßitation  ist  eine  objective  neceßitation  der  freien 
Handlungen.  Die  pathologische  Neceßitation  ist  eine  subjectiveNeceßi- 

20  tation.  Also  alle  objective  Gesetze  unsrer  Handlungen  sind  alle  practisch 
nothwendig,  nicht  pathologisch.  Alle  Imperativi  sind  nur  Formeln  der 
practischen  Neceßitation  und  drücken  eine  Nothwendigkeit  unsrer 
Handlungen  aus  unter  der  Bedingung  der  Bonitaet.  Die  Formel,  die  die 
practische  Nothwendigkeit  ausdrükt,  ist  die  Causa  impulsiva  einer 

25  freien  Handlung,  und  weil  sie  objective  neceßitirt,  so  nennt  man  sie 

ein  Motivum.  Die  Formel,  die  die  pathologische  neceßitation  aus- 

drüket,  ist  causa  impulsiva  per  stimulos,  weil  sie  subjectiv  neceßitirt. 

Also  alle  subjective  Neceßitationes  sind  neceßitationes  per  stimulos. 

Die  Imperativi  enunciren  die  objective  Neceßitation,  und  da  es 

3o3fache  Imperativos  giebt,  so  giebt  es  auch  eine  3fache  Bonitaet. 

/l)  Der  Imperativus  pragmaticus  ist  ein  Imperativus  nach  dem  IT 
Urtheil  der  Klugheit,  und  sagt :  daß  die  Handlung  nothwendig  sey,  als 
ein  Mittel  zu  unsrer  Glükseeligkeit.  Hier  ist  schon  der  Zweck  be- 
stimmt; also  ist  dieses  eine  Neceßitation  der  Handlung  unter  einer 
35  Bedingung,  aber  unter  einer  nothwendigen  und  allgemeinen  gültigen 
Bedingung,  und  das  ist  Bonitas  pragmatica. 

2)  Der  Imperativus  problematicus  sagt :  Etwas  ist  gut  als  ein  Mittel 
zu  einem  beliebigen  Zweck,  und  da  ist  die  Bonitas  problematica. 


256  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

3)  Der  moralische  Imperativus  enuncirt  die  Bonitaet  der  Handlung 
an  und  vor  sich  selbst,  also  ist  die  moralische  Neceßitation  categorisch 
und  nicht  hypothetisch.  Die  Moralische  Noth wendigkeit  bestehet  in 
der  absoluten  Bonitaet  der  freien  Handlungen,  und  das  ist  Bonitas 
moralis.  Aus  diesen  3  Imperativis  entspringt  folgendes :  5 

Alle  Moralische  Neceßitation  ist  eine  Obligation,  und  die  Nothwen- 
digkeit  der  Handlung  aus  Regeln  der  Klugheit  oder  die  pragmatische 
Neceßitation  ist  keine  Obligation.  Die  Verbindlichkeit  ist  also  eine 
practische  und  zwar  moralische  Verbindlichkeit.  Alle  Verbindliclikeit 
ist  entweder  aus  Pflicht, oder  eine  Zwangs-Verbindlichlceit,  worinn  in  lo 
der  Folge  ein  mehreres  gesagt  wird. 

Alle  Obligation  ist  nicht  bloß  eine  Nothwendigkeit  der  Handlung 
sondern  auch  eine  Nöthigung,  eine  Nothwendigmachung  der  Hand- 
lung, also  ist  die  obligatio  neceßitatio,  und  nicht  neceßitas.  Der  gött- 
liche Wille  ist  in  Ansehung  der  Moralitaet  nothwendig,  aber  der  i5 
menschliche  Wille  ist  nicht  nothwendig  sondern  genöthigt.  Also  ist 
die  practische  Nothwendigkeit  in  Ansehung  des  höchsten  Wesens 
keine  Obligation,  das  höchste  Wesen  handelt  moralisch  nothwendig, 
aber  hat  keine  Obligation.  Warum  sage  ich  nicht:  Gott  ist  verbunden, 
wahrhaftig  heilig  zu  seyn  ?  Die  moralische  Nothwendigkeit  ist  eine  20 
objective  Nothwendigkeit,  wenn  sie  aber  auch  eine  subjective  Noth- 
wendigkeit ist,  denn  ist  sie  keine  Neceßitation.  Die  Moralische  Noth- 
wendigkeit ist  alsdenn  eine  objective  Nothwendigmachung  und  eine 
18  Obligation,  /  wenn  die  subjective  Nothwendigkeit  zufällig  ist.  Alle 
Imperativ!  drüken  die  objective  Nothwendigmachung  der  Handlungen  25 
aus,  die  aber  subjectiv  zufällig  seyn.  Z:E:  du  solst  eßen,  wenn  dich 
hungert  und  du  was  hast,  dieses  ist  eine  subjective  Nöthigung  und 
auch  eine  objective  und  deswegen  ist  es  keine  Neceßitation  oder 
Obligation.  Also  in  Ansehung  eines  vollkommenen  Willens,  bey  dem 
die  moralische  Nothwendigkeit  nicht  allein  objectiv  sondern  subjectiv  so 
nothwendig  ist,  findet  keine  Neceßitation  und  Obligation  statt,  aber  in 
Ansehung  eines  unvollkommenen  Wesens,  wo  das  moralische  Gut  ob- 
jectiv nothwendig  ist,  da  findet  die  Neceßitation  und  Nöthigung,  und 
also  auch  die  Obligation  statt.  Es  müßen  demnach  die  sittlichen  Hand- 
lungen nur  zufällig  seyn,  wenn  sie  eine  Nöthigung  haben  sollen,  und  35 
die  einen  moralisch  unvollkommenen  Willen  haben,  stehen  unter  der 
Verbindlichkeit,  und  das  sind  Menschen.  Alle  Obligation  ist  aber  eine 
neceßitatio  practica  und  nicht  pathologica,  eine  objective  und  nicht 
subjective  Nöthigung.  Eine  pathologische  Neceßitation  ist,  wo  die 


Moralphilosophie  Collins  257 

Triebfedern  aus  den  Sinnen,  und  aus  dem  Gefühl  des  angenehmen  und 
unangenehmen  sind.  Der  etwas  thut,  weil  es  angenehm  ist,  wird  patho- 
logisch neceßitirt,  der  etwas  thut,  was  gut  ist  an  und  für  sich,  der 
handelt  nach  motiven  und  wird  practisch  neceßitirt.  Also  die  Causae 

5  impulsivae  in  so  fern  sie  vom  Guten  hergenommen  sind,  kommen  aus 
dem  Verstände,  und  ein  solcher,  der  laut  denen  wozu  bewogen  wird, 
wird  per  motiva  neceßitirt,  so  fern  aber  die  Causae  impulsivae  vom 
angenehmen  hergenommen  sind,  so  sind  sie  aus  den  Sinnen,  und  ein 
solcher,  der  laut  denen  dazu  bewogen  wird,  wird  per  stimulos  neceßi- 

lotirt.  Demnach  ist  alle  Obligation  nicht  eine  pathologische  oder  prag- 
matische Neceßitation,  sondern  eine  moralische.  Die  motiva  sind 
entweder  hergenommen  aus  pragmatischen  Gründen  oder  aus  mora- 
lischen der  innern  Bonitaet. 

Alle  pragmatische  motiva  sind  nur  bedingt,  in  so  fern  als  die  Hand- 

15  lungen  Mittel  zur  Glükseeligkeit  sind,  also  ist  hier  kein  Grund  der 
Handlung  selbsten,  sondern  als  ein  Mittel.  Also  alle  Imperativi  /  präg- 1» 
matici  hypothetice  neceßitant  et  non  absolute.  Aber  die  Imperativi 
morales  neceßitant  absolute,  und  enunciren  eine  bonitatem  absolutam, 
so  wie  die  Imperativi  pragmatici  eine  bonitatem  hypotheticam  enun- 

20  ciren.  Die  Wahrhaftigkeit  kann  nach  Gründen  der  Klugheit  also 
unmittelbahr  gut  seyn,  z :  E :  im  Handel,  da  ist  sie  so  gut  als  baar 
Geld,  aber  absolute  betrachtet,  so  ist  wahrhaft  zu  seyn  an  sich  selbst 
gut,  und  in  Aller  Absicht  gut,  und  die  Unwahrheit  ist  an  sich  selbst 
schändlich.   Also    ist  die    moralische    neceßitatio    absolut,   und  das 

25  motivum  morale  enuncirt  Bonitatem  absolutam.  Wie  das  möglich 
ist,  daß  eine  Handlung  eine  Bonitatem  absolutam  hat,  kann  noch 
nicht  erklärt  werden:  Vorläufig  aber  muß  man  merken:  Die  Unter- 
ordnung unsers  Willens  unter  die  Regel  allgemein  gültiger  Zwecke  ist 
die  innere  Bonitaet  und  absolute  Vollkommenheit  der  freien  Willkühr, 

30  denn  stimmt  sie  mit  allen  Zwecken  überein.  Das  in  Casu  zu  zeigen, 
läßt  sich  nicht  so,  z  :E :  Wahrhaftigkeit  stimmt  mit  allen  meinen  Regeln 
zusammen,  denn  eine  Wahrheit  stimmt  mit  der  andern  Wahrheit 
überein,  und  stimmt  dadurch  mit  allen  Zwecken  und  dem  Willen 
anderer  überein,  so  daß  sich  jeder  darnach  richten  kann.  Aber  Lügen 

35  wiedersprechen  sich,  stimmen  nicht  mit  meinem  Zwecke  und  anderer 
überein,  so,  daß  sich  jeder  darnach  richten  kann.  Die  moralische 
Bonitaet  ist  also  die  Regierung  unserer  WiUkühr  durch  Regeln,  Avodurch 
alle  Handlungen  meiner  Willkühr  allgemein  gültig  übereinstimmen. 
Und  solche  Regel  die  das  Principium  der  Möglichkeit  der  Ueberein- 

17     Kant's  Schriften  XXVII/1 


258  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

Stimmung  aller  freien  Willkühr  ist,  ist  die  moralische  Regel.  Alle 
freie  Handlungen  sind  nicht  durch  die  Natur  und  durch  kein  Gesetz 
bestimmt,  also  ist  die  Freiheit  was  schreckliches,  weil  die  Handlungen 
gar  nicht  determinirt  sind.  Nun  ist  in  Ansehung  unsrer  freien  Hand- 
lungen eine  Regel  nöthig,  wodurch  alle  Handlungen  einstimmig  sind,  5 
und  das  ist  die  moralische  Regel.  Stimmen  meine  Handlungen  nach 
der  pragmatischen  Regel,  so  stimmen  sie  zwar  nach  meiner  Willlcülir 
überein,  aber  nicht  mit  der  Willkühr  anderer,  ja  selbst  auch  nicht 
20  einmahl  mit  meiner  Willkühr,  denn  sie  sind  /  hergenommen  von  dem 
Wohlbefinden,  weil  wir  aber  das  Wohlbefinden  nicht  a  priori  einsehen  lo 
können,  so  folgt,  daß  wir  keine  Regel  a  priori  geben  können  von  der 
Klugheit,  sondern  a  posteriori.  Daher  kann  es  keine  Regel  für  alle 
Handlungen  seyn;  sollte  sie  das  seyn,  so  müßte  sie  a  priori  seyn.  Also 
sind  die  pragmatischen  Regeln  weder  mit  der  Willkühr  anderer  noch 
mit  meiner  eigenen  übereinstünmend.  Daher  müßen  Regeln  seyn,  i5 
wornach  meine  Handlungen  allgemein  gelten,  und  diese  werden  von 
den  allgemeinen  Zwecken  der  Menschen  hergeleitet,  und  nach  denen 
müßen  unsre  Handlungen  übereinstimmen,  und  das  sind  moralische 
Regeln.  Die  Moralitaet  der  Handlungen  ist  gantz  was  besonders, 
welches  sich  unterscheidet  von  allen  pragmatischen  und  patho-  20 
logischen  Handlungen,  daher  muß  die  Moralitaet  gantz  subtil,  rein 
und  besonders  vorgetragen  werden.  Obgleich  aber  zur  moralischen 
Bonitaet,  wenn  nicht  moralische  Motiva  fruchten,  auch  pragmatische, 
ja  wohl  auch  pathologische  Causae  impulsivae  genommen  werden, 
allein  wenn  die  Frage  ist  von  der  Bonitaet  der  Handlungen,  so  fragt  25 
sich  nicht,  wodurch  man  zu  der  Bonitaet  bewegt  wird,  sondern  worinn 
die  Bonitaet  der  Handlungen  an  und  vor  sich  selbst  bestehe.  Das 
motivum  morale  muß  also  gantz  rein,  an  und  vor  sich  selbst  erwogen, 
und  von  den  motivis  der  Klugheit  und  der  Sinne  abgesondert  werden. 
Wir  sind  in  unserm  Gemüthe  von  Natur  geschickt  genug,  die  mora-  30 
lische  Bonitaet  sehr  genau  und  subtil  zu  unterscheiden  von  der 
problematischen  und  pragmatischen  Bonitaet,  und  denn  ist  die 
Handlung  so  rein,  als  wenn  sie  vom  Himmel  käme.  Und  ein  reiner 
moralischer  Grund  hat  größere  Triebfeder  als  wenn  er  untermengt  ist 
mit  pathologischen  und  pragmatischen  motivis,  denn  solche  motiva  35 
haben  mehr  Beweg  Kraft  für  die  Sinnlichkeit,  aber  der  Verstand  sieht 
nicht  die  allgemein  gültige  bewegende  Kraft.  Die  Sittlichkeit  ist  zwar 
von  schlechtem  Eindruck,  sie  gefällt  und  vergnügt  nicht  so,  aber  sie  hat 
eine  Beziehung  auf  das  allgemein  gültige  Wohlgefallen  und  muß  sogar 


Moralphilosophie  Collins  259 

dem  höchsten  Wesen  gefall(>n,  und  das  ist  der  höchste  Bewegungs 
Grund. 

/  Zur  KJugheit  wird  erfordert  guter  Verstand,  und  zur  SittHchkeit  21 
■s\ird  erfordert  guter  Wille.  Unser  freies  Verhalten  beruht  bloß  auf  den 
5  guten  Willen,  wenn  es  die  sittUche  Bonitaet  besitzen  soll,  also  kann 
unser  Wille  an  sich  gut  seyn.  Bey  der  Klugheit  kommt  es  nicht  auf  den 
Zweck  an,  denn  sie  haben  alle  denselben  Zweck,  nemlich  die  Glüksee- 
ligkeit,  sondern  auf  den  Verstand,  in  so  fern  er  den  Zweck  und  die 
Mittel  dazu  zu  gelangen  einsieht,  da  kann  einer  klüger  seyn  als  der 

10  andere ;  also,  zur  Klugheit  wird  ein  guter  Verstand  und  zur  Sittlichkeit 
ein  an  sich  guter  Wille  erfordert.  Der  Wille  z  :E :  reich  zu  werden,  ist 
gut  im  Verhältniß  auf  den  Zweck,  nicht  aber  an  sich  selbst.  Was  nun 
an  sich  selber  schlechthin  guter  Wille  ist,  auf  den  die  moralische 
Bonitaet  ankömmt,  das  soll  eben  erklärt  werden. 

15  Das  moralische  motivum  muß  nicht  nur  vom  pragmatischen  unter- 
schieden werden,  sondern  es  kann  nicht  einmahl  demselben  entgegen- 
gesetzt werden.  Um  dieses  beßer  einzusehen,  so  merke  man  noch  vor- 
hero: 

Alle  Moralische  motiva  sind  nur  bloß  obligandi  oder  obligantia; 

2omotiva  obligandi  sind  Gründe  ad  obligandum,  einen  zu  obligiren; 
wenn  diese  Gründe  aber  zureichend  sind,  so  sind  sie  obligantia,  ver- 
bindende Gründe.  Motiva  moralia  non  sufficientia  non  obligant,  sed 
motiva  sufficientia  obligant.  Es  giebt  also  moralische  Regeln  der  Ver- 
bindlichkeit, die  aber  nicht  verbinden,  z  :E :  einem  in  der  Noth  helfen. 

25  Es  giebt  aber  auch  an  sich  selbst  moralische  Regeln,  die  schlechthin 
obligiren,  also  nicht  allein  verbindlich,  sondern  auch  verbindend  seyn, 
und  meine  Handlung  nothwendig  machen,  z:E:  du  solst  nicht  lügen. 
Wenn  wir  die  motiva  pragmatica  und  moralia  verbinden,  sind  sie 
homogenea  ?  So  wenig  als  die  Redlichkeit,  wenn  sie  einem  fehlt,  dadurch 

30  kann  ersetzt  werden,  daß  derjenige  Geld  hat,  und  so  wenig  diejenige 
Persohn,  die  häßlich  ist,  dadurch  die  Schönheit  erlangt,  wenn  sie  viel 
Reichthümer  besitzt,  eben  so  wenig  können  /  die  motiva  pragmatica  22 
in  die  Reihe  der  motivorum  moralium  gesetzt  und  mit  ihnen  ver- 
glichen werden.  Die  neceßitirende  Kraft  kann  doch  aber  mit  einander 

35  verglichen  werden.  Es  scheint,  als  wenn  vor  dem  Urtheil  des  Verstan- 
des es  rathsamer  ist.  den  Vortheil  der  Tugend  vorzuziehen.  Allein  die 
moralische  Vollkommenheit  und  der  Vortheil  können  gar  nicht  ver- 
glichen werden,  so  wenig  eine  Meile  mit  dem  Jahr  kann  verglichen 
werden;  denn  es  ist  hier  eine  Verschiedenheit.  Wie  geht  es  aber  zu, 

17* 


260  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

daß  wir  es  würklich  verwechßlen  ?  Z  :E :  Es  ist  ein  Unglücklicher,  der 
andre  sagt,  du  kannst  zwar  dem  Unglücklichen  helfen,  aber  ohne  deinen 
Schaden.  Hier  ist,  wenn  der  Verstand  urtheilt,  kein  Unterschied 
zwischen  dem  moralischen  und  pragmatischen  motivo,  sondern 
zwischen  der  moralischen  und  pragmatischen  Handlung,  denn  es  sagt  5 
mir  nicht  allein  die  Klugheit  auf  meinen  Vortheil  zu  sehen,  sondern 
auch  die  Sittlichkeit,  ich  kann  nur  den  Ueberfluß  von  meinem  Ver- 
mögen dem  Unglücklichen  zum  besten  verwenden.  Denn  wenn  der 
Mensch  seine  Mittel  weggiebt,  so  setzt  er  sich  selbst  in  Bedürfniße, 
und  muß  selbst  alsdenn  Wohlthaten  von  andern  zu  erflehen  suchen,  10 
und  sieht  sich  außer  Stand  moralisch  zu  seyn.  Also  objective  kann  ein 
moralisches  motivum  dem  pragmatischen  motivo  nicht  entgegen 
gesetzt  werden,  weil  sie  ungleich  sind. 

De  obligatione  activa  et  paßiva. 

Obligatio  activa  ist  eine  obligatio  obligantis,  und  obligatio  paßiva  15 
ist  eine  obligatio  obligati,  doch  der  Unterschied  ist  nicht  erheblich. 
Alle  Verbindlichkeiten  zu  großmüthigen  Handlungen  sind  obliga- 
tiones  activae,  ich  bin  verbunden  zur  Handlung,  die  doch  ein  Verdienst 
ist.  Thaten  wodurch  wir  andere  verbinden  können,  wenn  wir  sie  aus- 
üben, sind  Verdienste.  Wir  sind  zur  Handlung  gegen  jemanden  ver-  20 
bunden,  ohne  diesem  andern  verbunden  zu  seyn.  Obligati  sumus  ad 
actionem  ita  ut  et  illi  non  obligati  sumus.  Wirsindzur  Handlung  verbun- 
den, aber  nicht  einem  verbunden.  Ich  bin  verbunden  dem  Unglück- 
lichen zu  helfen,  also  zur  Handlung  aber  nicht  dem  Menschen,  das 
wäre  obligatio  activa.  Wenn  ich  aber  einem  schuldig  bin.  so  bin  ich  /  25 
23  zur  Handlung  der  Bezahlung  allein  auch  dem  Creditori  verbunden, 
und  das  ist  obligatio  paßiva.  Es  scheinet  aber,  daß  alle  obligatio 
paßiva  sey,  denn  wenn  ich  verbunden  bin,  so  bin  ich  genöthigt.  Allein 
bey  einer  obligatio  activa  ist  eine  Nöthigung  der  Vernunft,  ich  werde 
durch  meine  eigene  Ueberlegung  genöthigt,  es  ist  also  nichts  leidendes,  so 
und  die  obligatio  paßiva  muß  durch  einen  andern  geschehn,  wenn  man 
aber  durch  die  Vernunft  neceßitirt  wird,  so  herrscht  man  selbst.  Also 
ist  der  Unterschied  der  Obligation  recht.  Obligatio  paßiva  est  obligatio 
obligati  erga  obligantem,  obligatio  activa  est  obligatio  erga  non  obli- 
gantem.  35 

Autor:  Obligationes  können  größer  und  kleiner  seyn,  und  können 
sich  nicht  wiederstreiten,  denn  was  moralisch  noth wendig  ist,  da  kann 


Moralphilosophie  Collins  261 

keine  andere  Obligation  das  Gegentheil  nothwendig  machen.  Z:E:  die 
Obligation  gegen  den  Creditor  die  Schuld  zu  bezahlen,  und  gegen  den 
Vater,  danlvbahr  zu  seyn.  Wenn  die  eine  Obligation  zu  nennen  ist,  so 
ist  die  andere  keine  Obligation ;  gegen  den  Vater  bin  ich  conditionale 
öobligirt,  gegen  den  Creditor  aber  categorice.  Also  ist  das  erste  eine 
Obligation  und  das  andre  nicht.  Im  ersten  Fall  ist  eine  Neceßitation 
und  im  andern  Fall  nicht.  Also  meint  man  den  Wiederstreit  der  Mo- 
tiven aber  nicht  der  Pflicht. 

Viele  Obligationes  entstehen,  wachßen  und  hören  auf.  Wenn  Kinder 

logebohren  werden,  so  entsteht  eine  Obligation,  und  so  wie  sie  wachßen, 
so  wachßen  auch  die  Obligationes,  wenn  das  Kind  Mann  wird  (aber 
nicht  als  Kind),  so  hört  die  Obligation,  die  er  als  Kind  schuldig  war  auf, 
er  ist  zwar  noch  obligirt  aber  nicht  als  ein  Kind  sondern  gegen  die 
Wohlthaten  der  Eltern.  Je  mehr  ein  Arbeiter  arbeitet,  desto  mehr 

15  wächst  die  Obligation,  wenn  es  ihm  bezahlt  wird,  so  hört  die  Obliga- 
tion auf.  Einige  Obligationes  können  niemals  aufhören.  Z:E:  gegen 
den  Wohlthäter,  der  einem  zuerst  Wohlthaten  erwiesen  hat,  wenn 
man  es  ihm  auch  noch  so  vergeltet,  so  bleibt  doch  er  der  erste  der  mir 
Wohltha/ten  erzeigte,  und  ich  bin  ihm  beständig  obligirt.  Doch  hört  24 

20  in  einem  Fall  die  Obligation  auf,  nemlich  wenn  mir  mein  Wohlthäter 
einen  schelmischen  Streich  spielt,  welches  aber  selten  geschieht,  wenn 
man  nur  gegen  den  Wohlthäter  dankbahr  ist. 

Der  Actus  wodurch  eine  Obligation  entspringt,  heißt  actus  obliga- 
torius.  Jeder  Contract  ist  ein  Actus  obligatorius.  Es  kann  durch  einen 

25  actum  Obligatorium  eine  Obligation  gegen  mich  entspringen,  aber  es 
kann  auch  durch  einen  actum  Obligatorium  eine  Obligation  gegen  einen 
andern  entspringen,  Z:E:  die  Zeugung  der  Kinder  ist  actus  obliga- 
torius, wodurch  sich  die  Eltern  gegen  die  Kinder  Obligation  auf- 
gelegt haben.  Allein  ob  durch  die  Zeugung  die  Kinder  gegen  die 

30  Eltern  obligirt  sind,  glaube  ich  nicht,  denn  das  Daseyn  ist  keine 
Obligation,  denn  da  zu  seyn  ist  noch  kein  Glück  an  sich  selber, 
ja  um  recht  unglücklich  zu  seyn,  muß  man  da  seyn,  sondern  sie  sind 
vermöge  der  Erhaltung  ihnen  verbunden.  Wo  die  Handlungen  gar 
nicht  frey  seyn,  wo  keine  Persönlichkeit  ist,  da  giebt  es  auch  keine 

35  Verbindlichkeit,  z  :E :  so  hat  der  Mensch  keine  Verbindlichkeit  das 
Schlucken  zu  unterlaßen,  denn  es  steht  nicht  in  seiner  Gewalt.  Man 
setzt  also  zur  Verbindlichkeit  den  Gebrauch  der  Freiheit  voraus. 

Die  Obligation  wird  unterschieden  in  positivam  et  naturalem.  Die 
Obligatio  positiva  ist  durch  eine  positive  und  willkülirliche  Festsetzung 


262  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

entsprungen,  die  Obligatio  naturalis  aber  aus  der  Natur  Handlung 
selbst.  Alle  Gesetze  sind  entweder  natürlich  oder  arbitraire.  Wenn  die 
Obligatio  aus  dem  lege  naturali  entsprungen  ist,  und  zum  Grunde  der 
Handlung  solches  hat,  ist  sie  naturalis ;  ist  sie  aber  aus  dem  lege  arbi- 
traria  entsprungen,  und  hat  den  Grund  in  der  Willkühr  eines  andern,  5 
denn  ist  sie  obligatio  positiva.  Crusius  meint,  alle  Verbindlichkeit 
beziehe  sich  auf  die  Willkühr  eines  andern.  Nach  seiner  Meinung  wäre 
also  alle  Obligation  eine  Neceßitation  per  arbitrium  alterius.  Es  hat 
zwar  den  Schein,  daß  man  bey  einer  Obligation  neceßitirt  wird  per 
arbitrarium  alterius,  allein  ich  werde  neceßitirt  durch  ein  arbitrium  lo 
internum,  aber  nicht  durch  ein  arbitrium  externum,  also  durch  die 
noth wendige  Bedingung  der  allgemeinen  Willlüihr ;  demnach  giebt  es 
auch  eine  allgemeine  Verbindlichlvcit.  Alle  obligatio  positiva  gehet 
nicht  unmittelbahr  auf  die  Handlung,  sondern  wir  sind  zu  einer 
Handlung  verbunden,  die  an  sich  gleichgültig  ist.  Also  alle  obligatio  15 
positiva  est  indirecta,  und  nicht  directa,  z  :E :  wenn  ich  deswegen  nicht 
35  /  lügen  solte,  weil  es  Gott  verboten  hat,  er  hat  es  aber  verboten,  weil  es 
ihm  gefallen  hat,  also  hätte  er  es  auch  nicht  verbieten  können,  wenn  er 
nicht  gewolt  hätte.  Die  obhgatio  naturalis  ist  aber  directa,  ich  muß 
nicht  lügen,  weil  es  Gott  verboten  hat,  sondern  weil  es  an  sich  selbst  20 
böse  ist.  Alle  Moralitaet  aber  beruhet  darauf,  daß  die  Handlung  aus- 
geübt werde  wegen  der  innern  Beschaffenheit  der  Handlung  selbst; 
also  nicht  die  Handlung  macht  die  Moralitaet,  sondern  die  Gesinnung 
aus  der  ich  sie  thue.  Thue  ich  etwas  weil  es  gebothen  ist  oder  Nutzen 
bringt,  und  unterlaße  ich  etwas  weil  es  verbothen  oder  Schaden  bringt,  25 
so  ist  das  keine  moralische  Gesinnung.  Aber  thue  ich  etwas  deswegen, 
weil  es  an  sich  selber  schlechterdings  gut  ist,  so  ist  das  eine  moralische 
Gesinnung.  Es  muß  also  eine  Handlung  geschehen,  nicht  deswegen 
weil  sie  Gott  will,  sondern  weil  sie  an  sich  selbst  rechtschaffen  oder  gut 
ist,  imd  weil  sie  so  ist,  so  will  sie  Gott,  und  verlangt  sie  von  uns.        so 

Obligatio  kann  affirmativa  und  negativa  sejai,  also  wird  der  nega- 
tiva nicht  die  positiva,  sondern  die  affirmativa  entgegen  gesetzt, 
welches  schon  einmal  im  jure  auch  hier  angenommen  ist.  Obliga- 
tionem  negativam  hat  der  Mensch  ad  omittendum,  obligationem 
affirmativam  hat  der  Mensch  ad  committendum.  Die  Consectarii  der  35 
Handlung  sind  entweder  gut  oder  böse,  sie  können  seyn  naturalia, 
arbitraria,  auch  physica  und  moralia,  z  :E :  die  Folge  der  Beschaffenheit 
ist  ein  Consectarium  physicum.  Autor  nimt  die  Consectaria  als  natura- 
lia imd  arbitraria  an.  Naturalia  sind  solche,  die  aus  der  Handlung  selbst 


Moralphilosophie  CoUins  263 

fließen;  arbitraria,  die  aus  der  Willkühr  eines  andern  Wesens  fließen, 
z:E:  die  Bestrafungen.  Handlungen  sind  entweder  directe  an  sich  gut 
oder  böse  oder  sie  sind  indirekt  oder  zufällig  gut  oder  böse. 
Die  Bonitaet  der  Handlung  ist  also  vel  interna,  vel  externa. 

5  Die  moralische  Vollkommenheit  ist  vel  subjectiva,  vel  objectiva. 
Die  objective  Vollkommenheit  besteht  in  der  Handlung  selbst,  die 
subjective  Bonitaet  bestehet  in  der  Uebereinstimmung  der  Handlung 
mit  der  Willkühr  des  andern.  Morahtas  objectiva  hegt  also  in  der 
Handlung  selbst.  Die  oberste  Willkühr,  die  den  Grund  aller  Moralitaet 

10  enthält,  ist  die  Göttliche,  also  können  wir  in  allen  unsern  Handlungen 
entweder  objective  oder  subjective  Moralitaet  betrachten.  Es  giebt 
objective  Gesetze  der  Handlungen,  und  das  sind  praecepta,  und  die 
subjective  Gesetze  der  Handlungen  sind  maximen,  und  stimmen 
selten  mit  den  objectiven  Gesetzen  der  Handlungen  überein.  Alle 

15  objective  Moralitaet  können  wir  ansehen   als   subjective  Moralitaet 
des   göttlichen   Willens,    aber   nicht   als   subjective   Moralitaet   des 
menschlichen  Willens.  Die  göttlichen  Gesin/nungen  sind  moralisch  26 
gut  aber  nicht  des  Menschen.  Die  götthchen  Gesinnungen  oder  die 
göttliche  subjective  Moralitaet  stimmt  also  überein  mit  der  objectiven 

20  Moralitaet  und  wenn  wir  der  objectiven  Moralitaet  gemäß  handien, 
so  handien  wir  auch  dem  göttlichen  Willen  gemäß,  demnach  sind  alle 
moralischen  Gesetze  Praecepta,  weil  sie  Regeln  sind  des  göttlichen 
Willens. 

In  Ansehung  der  moralischen  Beurtheilung  sind  alle  Gründe  objec- 

25  tiv  und  kein  einziger  muß  subjectiv  seyn.  Aber  in  Ansehung  der 
moralischen  Triebfeder  giebt  es  subjective  Gründe.  Also  Gründe  der 
Dijudication  sind  objectiv,  aber  Gründe  der  Execution  können  auch 
subjectiv  seyn;  zu  unterscheiden,  was  sitthch  gut  oder  böse  ist,  muß 
nach  dem  Verstände  beurtheilt  werden,  also  objectiv,  aber  um  eine 

30  Handlung  zu  thun  können  auch  subjective  Gründe  seyn.  Die  Quae- 
stion  ob  etwas  moralisch  sey  ?  ist  eine  Frage,  die  die  Handlung  selbst 
angeht.  Die  moralische  Bonitaet  ist  also  was  objectives,  denn  sie 
besteht  nicht  in  der  Uebereinstimmung  mit  unsern  Neigungen,  sondern 
an  und  vor  sich  selbst.  Alle  subjective  Gesetze  sind  aus  der  Beschaffen- 

35  heit  dieses  oder  jenes  Subjects  hergenommen,  und  gelten  auch  nur  in 
Ansehung  dieses  oder  jenes  Subjects,  sie  sind  restringirt  auf  dieses 
oder  jenes  Subject.  Die  moralischen  Gesetze  sollen  aber  allgemein  und 
überhaupt  von  freien  Handlungen  gelten,  ohne  Ansehung  der  Ver- 
schiedenheit des  Subjects.  Bey  dem  göttlichen  Willen  sind  die  subjec- 


264  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

tiven  Gesetze  seines  göttlichen  Willens  mit  den  objeetiven  Gesetzen 
des  allgemeinen  guten  Willens  einerley,  aber  sein  subjectives  Gesetz 
ist  kein  Grund  der  Moralitaet,  er  ist  selbst  deswegen  gut  und  heilig, 
weil  sein  Wille  diesem  objeetiven  Gesetz  gemäß  ist :  Also  die  Frage  der 
Moralitaet  beziehet  sich  gar  nicht  auf  subjective  Gründe,  sondern  5 
kann  nur  allein  nach  objeetiven  Gründen  ausgemacht  werden.  Wenn 
wir  die  Moralitaet  unterscheiden  in  objective  und  subjective  Morali- 
taet, so  ist  das  gantz  wiedersinnig;  denn  alle  Moralitaet  ist  objectiv, 
allein  die  Bedingung  der  Anwendung  der  Moralitaet  kann  subjectiv 
seyn.  10 

Des  Autors  erstes  moralisches  Gesetz  ist:  Fac  bonuni  et  omitte 
malum.  Ausgeklaubte  Bedeutung  des  Satzes:  fac  bonum.  Das  Gute 
muß  vom  Angenehmen  unterschieden  werden,  angenehm  geht  auf  die 
Sinnlichkeit,  gut  auf  den  Verstand.  Der  Begriff  des  Guten  ist  ein 
27  Gegenstand  /  der  allen  gefällt,  folglich  kann  er  durch  den  Verstand  15 
beurtheilet  werden.  Das  Angenehme  gefällt  nur  nach  dem  Privat 
Wohlgefallen.  Also  könnte  der  Satz  bedeuten :  Thue  das  was  dein  Ver- 
stand dir  als  gut  vorstellt,  und  nicht  was  deinen  Sinnen  angenehm  ist. 
Das  Soll  bedeutet  allezeit  die  Bonitaet  des  Guten,  und  nicht  des  ange- 
nehmen, also  bleibt  es  auch  tavtologisch.  Bey  diesem  Satz  hätte  doch  20 
können  der  Unterschied  der  Bonitaet  gemacht  werden.  Thue  das  was 
moralisch  Gut  ist.  Allein  alsdenn  müste  eine  andere  Regel  seyn,  die  da 
sagt,  worinn  die  moralische  Bonitaet  bestehe.  Also  kann  es  auf  keine 
Art  ein  Principium  der  Moralitaet  seyn.  Nicht  alle  Imperativi  sind 
Obhgationes,  welches  der  Autor  meint,  so  sind  die  Imperativi  proble-  25 
matici  keine  Obligationes.  ut  supra. 

Die  Obligation  ist  aber  nach  dem  Autor  die  Verknüpfung  der  vor- 
züglichsten Gründe  zu  meiner  Handlung,  denn  er  sagt,  das  Gute  hat 
bewegende  Gründe  in  sich  zu  handien,  und  das  vorzügliche  Gute  hat 
vorzügliche  Bewegungs  Gründe  zu  handien.  Der  Satz  aber  Fac  bonum  30 
et  omitte  malum  kann  kein  moralischer  Grundsatz  seyn  zur  Verbind- 
lichkeit, denn  das  Gute  kann  vielfältig  gut  seyn  zu  beliebigen  Zwecken, 
denn  ist  es  ein  Grundsatz  der  Geschicklichkeit  und  der  Klugheit,  wenn 
es  aber  gut  ist  zu  moralischen  Handlungen,  denn  wäre  es  ein  mora- 
lischer Grundsatz.  Also  ist  dies  ein  Principium  vaguni.  Ferner  ist  es  35 
auch  ein  Principium  tavtologicum.  Eine  tavtologische  Regel  ist, 
welche,  indem  sie  eine  Frage  auflösen  soll,  eine  leere  Resolution  giebt. 
Wenn  die  Frage  ist,  was  soll  ich  thun  in  Ansehung  meiner  Verbind- 
lichkeit, und  die  Antwort  ist:  Thue  das  Gute  und  unterlaße  das  Böse, 


Moralphilosophie  Collins  265 

so  ist  das  eine  leere  Antwort,  denn  fac  bedeutet  soviel  als,  es  ist  gut, 
daß  es  geschehe ;  also  heist  der  Satz :  Es  ist  gut,  daß  du  das  Gute  thust, 
folglich  tavtologisch.  Er  giebt  nicht  zu  erkennen,  was  gut  sey,  sondern 
er  sagt  daß  ich  das  thun  soll,  was  ich  thun  soll.  Es  ist  keine  Wißen- 

5  Schaft  mit  tavtologischen  Sätzen  so  angefüllt  als  die  Moral,  sie  bringt 
das  zur  Auflösung  was  die  Quaestion  war,  die  Quaestion  ist  mit  der  /  zs 
Resolution  des  Problems  tavtologisch.  Denn  das  Mas  im  Problem  oder 
Quaestion  implicite  war,  in  der  Resolution  explicite  gesezt  ist,  ist 
tavtologisch,  und  die  Moral  ist  voll  solcher  Sätze,   und  ein  jeder 

10  gedenkt  alles  gethan  zu  haben,  wenn  er  seinem  Lehrling  die  Sätze  der 
Moral  so  erklärt  und  angezeigt  hat,  z.  E.  Wenn  Jemand  Verstopfung 
hat,  und  der  Medicus  sollte  sagen:  Mache  daß  deine  Gedärme  schlüpf- 
rig seyn,  dunste  gut,  und  verdaue  gut,  so  ist  dies,  was  er  gesagt,  das, 
was  er  eben  wißen  wolte.  Das  sind  tavtologische  Regeln  der  Dijudica- 

lötion. 

Es  ist  aber  die  Frage,  welches  sind  die  Bedingungen,  unter  denen 
meine  Handlungen  gut  seyn  ?  Der  Autor  sagt :  bonorum  sibi  oppo- 
sitorum  fac  melius,  so  fließt  das  aus  dem  vorigen  tavtologischen  Satz. 
Die  Abnegation  bedeutet  hier  die  Aufopfrung  und  Selbstverläugnung, 

20  wo  man  in  Ansehung  eines  kleinen  Gutes  Verzicht  thut,  um  ein 
größeres  zu  erlangen.  Die  Aufopferung  bedeutet  Zulaßung  des  Bösen, 
damit  nicht  das  größere  Böse  entsteht.  Die  Abnegation  kann  pragma- 
tisch oder  moralisch  seyn.  Ich  kann  einen  Vortheil  unterlaßen,  wo 
ein  /  größerer  zu  erlangen  ist,  das  ist  abnegatio  pragmatica.  Wenn  ich  29 

25  aber  aus  einem  moralischen  Grunde  eine  Handlung  unterlaße,  um  eine 
größere  zu  thun,  das  ist  abnegatio  moralis. 

Der  Satz  des  Autors,  als  der  Grund  der  Obligation :  Quaere  perfec- 
tionem  quantum  potes,  ist  doch  weniger  unbestimmt  ausgedrückt, 
hier  ist  doch  nicht  totale  Tavtologie,  und  hat  also  einen  Grad  der 

30  Brauchbarkeit.  Was  ist  denn  volll^ommen  ?  Die  Vollkommenheit  der 
Sache  und  des  Menschen  sind  unterschieden.  Die  Vollkommenheit  der 
Sache  ist  die  Hinlänglichkeit  aller  requisitorum,  um  die  Sache  zu 
constituiren.  also  generaliter  bedeutet  es  die  Vollständigkeit.  Aber  die 
Volllvommenheit  des  Menschen  bedeutet  noch  nicht  Morahtät.  Die 

35  Vollkommenheit  und  morahsche   Bonität   sind  unterschieden.   Die 
Vollkommenheit  ist  die  Vollständigkeit  des  Menschen  in  Ansehung 
seiner  Kräfte,  Vermögen  und  Fertigkeit,  alle  /  beliebige  Zwecke  auszu-  so 
führen.  Die  Vollkommenheit  kann  größer  und  kleiner  seyn ;  einer  kann 
vollkommner  seyn  als  der  andre.  Die  Bonitaet  ist  aber  die  Eigenschaft, 


266  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

sich  aller  dieser  VolUvommenlieiten  gut  und  wohl  zu  bedienen.  Also 
besteht  die  Moralische  Bonitaet  in  der  VoUkommenheit  des  Willens 
und  nicht  des  Vermögens.  Allein  zu  einem  guten  Willen  ist  nöthig  die 
Vollständigkeit  und  das  Vermögen  aller  Kräfte,  alles  das  auszuführen, 
was  der  Wille  will.  Also  können  wir  sagen,  daß  die  VoUkommenheit  5 
indirecte  ist  und  in  so  fern  zur  Moralitaet  gehöre.  Also  ist  der  Satz 
indirecte  moralisch.  Ein  andres  moralisches  Principium  des  Autors  ist: 
Vive  convenienter  naturae.  Dieses  ist  ein  Stoisches  Principium.  Wo 
schon  in  der  Moral  viele  Principia  seyn,  da  sind  gewiß  keine,  denn  es 
kann  nur  ein  wahres  Principium  seyn.  Wenn  der  Satz  auch  so  gesagt  lo 

31  wird :  Lebe  gemäß  den  Gesetzen,  die  dir  die  Natur  /  durch  die  Vernunft 
giebt,  so  ist  er  doch  tavtologisch,  denn  der  Natur  gemäß  leben,  würde 
bedeuten,  seine  Handlung  nach  der  physischen  Ordnung  der  natür- 
lichen Dinge  einrichten,  also  wäre  es  eine  Regel  der  Klugheit,  aber 
nicht  ein  moralisches  Principium,  ja  auch  nicht  einmal  eine  gute  Regel  15 
der  Klugheit,  denn  wenn  es  heißt:  richte  deine  Handlungen  so  ein, 
daß  sie  mit  der  Natur  übereinstimmen,  so  weiß  ich  nicht,  ob  es  gut  ist, 
wenn  die  Handlungen  mit  der  Natur  übereinstimmen.  Viel  weniger  ist 
es  ein  Principium  der  Moralität.  Das  lezte  Principium  ist :  Ama  Opti- 
mum, quantum  potes.  Dieser  Satz  taugt  eben  so  wenig  als  die  vorigen.  20 
Wir  lieben  alles  was  zur  Vollkommenheit  gehört,  und  etwas  beiträgt, 
und  in  so  fern  liebt  ein  ieder  das.  Es  giebt  eine  zweifache  Art  etwas 
zu  lieben:  Aus  Neigung  und  aus  Grundsätzen.  So  liebt  ein  Spitzbube 
das  gute  auch  aus  Grundsätzen,  aber  das  Böse  aus  Neigung. 

$2      /  Also  sind  alle  diese  Sätze  keine  principia  der  Moralität.  25 


Sectio  II. 
Vom  moralischen  Zwange. 

Erstlich  merken  wir  vom  Zwange  überhaupt  an,  daß  die  neceßita- 
tion  2fach  sey :  eine  objective  und  subjective  neceßitation.  Die  subjec- 
tive  neceßitation  ist  die  Vorstellung  der  Nothwendigkeit  der  Hand-  30 
lungen  per  stimulos,  oder  durch  die  causas  impulsivas  des  Subjects. 
Der  objective  Zwang  ist  die  Nöthigung  einer  Person  durch  das,  was 
in  seinem  Subject  die  größte  nöthigende  und  bewegende  Kraft  hat. 
Der  Zwang  ist  also  nicht  eine  Nothwendigkeit,  sondern  eine  Nöthigung 
zur  Handlung.  Das  Wesen  aber,  was  genöthigt  wird,  muß  ein  solches  35 
seyn,  welches  diese  Handlung  ohne  Nöthigung  nicht  thun  würde, 
ja  auch  noch  Gegengründe  dawider  hätte.  Also  kann  Gott  nicht 


Moralphilosophie  Collins  267 

genöthiget  werden.  Der  Zwang  ist  also  eine  Nöthigung  einer  ungern 
geschehenen  Handlung.  /  Diese  Nöthigung  kann  objectiv  und  subjec-  »s 
tiv  sein.  So  läßt  man  etwas  ungern  aus  einer  Neigung  fahren,  was  man 
nach  der  andren  thut ;  so  läßt  z.  E.  ein  Geitziger  einen  kleinen  Vortheil 

5  fahren  wenn  er  dadurch  einen  größern  erlangt,  aber  ungern,  er  wolte 
sie  lieber  beyde  haben.  Aller  Zwang  ist  entweder  pathologisch  oder 
practisch.  Der  pathologische  Zwang  ist  die  Nothwendigmachung  einer 
Handlung  per  stimulos;  der  practische  Zwang  ist  die  Nothwendig- 
machung einer  ungern  geschehenen  Handlung  per  motiva.  Patho- 

10  logisch  kann  kein  Mensch  gezwamgen  werden,  wegen  des  freyen  Wil- 
lens. Die  menschliche  Willkühr  ist  ein  arbitrium  liberum,  indem  sie 
nicht  per  stimulos  neceßitirt  wird.  Die  thierische  Willkühr  ist  ein 
arbitrium  brutum  und  nicht  liberum,  weil  sie  durch  stimulos  neceßi- 
tirt /  werden  kann,  z.  E.  wenn  ein  Mensch  zu  einer  Handlung  ge-  34 

15  drungen  wird  durch  viele  und  grausame  Quaalen,  so  kann  er  doch 
nicht  gezwungen  werden  die  Handlungen  zu  thun,  wenn  er  nicht  will, 
er  kann  ja  die  Quaal  ausstehn.  Comparative  kann  er  zwar  gezwungen 
werden,  aber  nicht  stricte,  es  ist  doch  möglich  die  Handlung  ohner- 
achtet  aller  sinnlichen  Antriebe  dennoch  zu  unterlaßen,  das  ist  die 

20  Natur  des  arbitrii  liberi.  Die  Thiere  werden  per  stimulos  neceßitirt, 
so  muß  ein  Hund  eßen,  wenn  ihn  hungert  und  er  etwas  vor  sich  hat; 
der  Mensch  kann  sich  aber  in  demselbigen  Fall  enthalten.  Demnach 
kann  ein  Mensch  pathologice  gezwungen  werden,  aber  nur  compara- 
tive, z.  E.  durch  die  Tortur.  Eine  Handlung  ist  nothwendig,  der  man 

25  nicht  widerstehn  kann.  Gründe  sind  neceßitirend,  denen  die  mensch- 
lichen Kräfte  zu  widerstehn  nicht  zureichen.  Der  Mensch  kann  aber 
practisch  durch  motiva  /  gezwungen  werden,  er  wird  nicht  gezAvungen,  35 
sondern  bewogen.  Der  Zwang  ist  aber  denn  nicht  subjectiv,  denn  sonst 
wäre  er  ja  nicht  practisch,  und  geschieht  per  motiva  und  nicht  per 

30  stimulos,  denn  die  Stimuli  sind  motiva  subjective  moventes. 

Praktisch  kann  beim  freyen  Wesen  eine  Handlung  nothwendig  seyn, 
und  zwar  in  großem  Grad,  die  gar  nicht  kann  übertroffen  werden,  die 
aber  der  Freyheit  nicht  widerspricht.  So  muß  Gott  nothwendig  die 
Menschen,  deren  Verhalten  dem  morahschen  Gesetze  gemäß  ist,  be- 

35  lohnen,  und  denn  hat  er  nach  den  Regeln  des  besten  Beliebens  gethan, 
denn  das  Verhalten  stimmt  mit  dem  moralischen  Gesetze  und  also 
auch  mit  der  göttlichen  Willkühr  überein.  So  kann  ein  ehrlicher  Mann 
nicht  lügen,  er  thut  es  aber  aus  eigenem  Willen  nicht.  /  Also  können  36 
Handlungen  nothwendig  seyn  ohne  der  Freyheit  zu  widerstreiten.  Die- 


268  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

se  praktische  Neceßitation  kann  nur  bey  Menschen  nicht  bey  Gott 
statt  finden,  z.  E.  kein  Mensch  gibt  das  seinige  gern  weg,  wenn  er  aber 
seine  Kinder  nicht  anders  als  mit  Verlust  des  seinigen  retten  kann, 
so  thut  ers,  und  ist  hier  practisch  neceßitirt.  Folglich  der  aus  Be- 
wegungsgründen der  Vernunft  genöthiget  ist,  ist  ohne  der  Freyheit  5 
zu  widerstreiten  genöthiget.  Wir  thun  die  Handlungen  zwar  ungern, 
aber  wir  thun  sie  doch,  weil  sie  gut  seyn. 


Von  der  practischen  Neceßitation 

Alle  Neceßitation  ist  nicht  nur  pathologisch,  sondern  auch  practisch. 
Die  practische  Neceßitation  ist  nicht  subjectiv  sondern  objectiv,  denn  lo 
wenn  sie  subjectiv  wäre,  so  wäre  es  eine  neceßitatio  pathologica.  Mit 
der  Freyheit  stimmt  keine  andre  neceßitation  als  die  practische 
neceßitation  per  motiva.  Diese  Motiva  können  pragmatica  und  moralia 
seyn,  die  Moralia  sind  von  der  Bonitate  absoluta  der  freyen  Willkühr  / 

37  hergenommen.  i» 

Je  mehr  ein  Mensch  kann  moralisch  gezwungen  werden,  desto 
freyer  ist  er,  je  mehr  er  pathologisch,  welches  aber  nur  comparative 
geschieht,  gezwungen  wird,  desto  weniger  frey  ist  er.  Es  ist  besonders : 
je  mehr  einerkann  gezwungen  werden,  nähmlich  moralisch,  desto  freyer 
ist  er.  Moralisch  zwinge  ich  einen  durch  motiva  objective  moventia,  20 
durch  Bewegungs  Gründe  der  Vernunft  mit  seiner  größten  Freyheit, 
ohne  allen  Antrieb.  Demnach  gehört  ein  großer  Grad  der  Freyheit,  um 
moralisch  gezwungen  zu  werden,  denn  alsdenn  ist  das  arbitrium 
liberum  mächtiger,  es  kann  durch  Bewegungsgründe  gezwungen 
werden,  und  ist  von  den  stimulis  frey.  Je  mehr  also  jemand  von  den  25 
stimulis  frey  ist,  desto  mehr  kann  er  moraUsch  neceßitirt  werden. 
Die  Freyheit  wächst  mit  dem  Grad  der  Moralität.  Bey  Gott  findet 
keine  neceßitatio  practica  statt,  denn  bey  ihm  sind  die  subjectiven 

38  Gesetze  mit  den  objectiven  einerley.  Aber  bey  /  Menschen  findet  eine 
neceßitatio  practica  statt;  denn  er  thut  es  ungern,  also  muß  er  ge- 30 
zwungen  werden.  Je  mehr  er  aber  dem  moralischen  Bewegungsgrunde 
nachgiebt,  desto  freyer  ist  er. 

Der  ist  freyer,  der  weniger  Verbindlichkeit  hat.  So  fern  jemand 
unter  der  Obligation  stehet,  so  ist  er  nicht  frey ;  hört  aber  die  Obliga- 
tion auf,  so  wird  er  frey.  Unsre  Freyheit  wird  also  durch  die  Obligation  35 
verringert,  aber  bey  Gott  wird  die  Freyheit  durch  die  moralische 
Noth wendigkeit  nicht  verringert,  er  ist  auch  nicht  dazu  obligirt ;  weil 


Moralphilosophie  Collins  269 

ein  solcher  Wille  an  sieh  selbst  das  will,  was  gut  ist,  also  kann  er  nicht 
obligirt  werden,  aber  die  Menschen,  w^eil  ihr  Wille  böse  ist,  können 
obligirt  werden.  So  ist  einer  nicht  frey,  wenn  er  W^ohlthaten  ange- 
nommen hat.  Doch  können  wir  comparative  in  einem  Stück  mehr 
5  Freyheit  haben  als  im  andern. 

Der  da  unter  der  obligatione  paßiva  steht,  ist  weniger  frey,  als  der 
unter  der  obligatione  activa  steht.  Wir  können  zu  keiner  Handlung 
der  Großmuth  gezwungen  werden,  wir  sind  doch  al)er  dazu  obligirt,  / 
folglich   stehn    wir   unter   obligatione    activa.    Zu   Handlungen   der  »9 

10  Schuldigkeit  können  wir  gezwungen  werden,  und  stehen  dann  unter 
der  obligatione  paßiva ;  wer  nun  unter  der  obligatione  paßiva  bey  Je- 
mandem steht,  der  ist  weniger  frey,  als  derjenige,  der  ihn  obligiren 
kann. 

Wir  haben  Obligationes  internas  erga  nosmet  ipsos,  in  Ansehung 

15  derer  sind  wir  äußerlich  völlig  frey;  ein  ieder  kann  mit  seinem  Körper 
machen  was  er  will,  das  geht  keinen  was  an,  aber  innerlich  ist  er  nicht 
frey,  sondern  ist  durch  die  noth wendigen  und  wesentlichen  Zwecke  der 
Menschheit  gebunden. 

Alle  Obligation  ist  eine  Art  von  Zwang;  ist  dieser  Zwang  moralisch, 

20  so  werden  wir  entweder  äußerlich  gezwungen,  oder  wir  zwingen  uns 
selbst,  und  dieses  ist  eine  conditio  interna.  Es  kann  aber  einer  äußer- 
lich moralisch  von  andren  gezwungen  werden,  wenn  ein  andrer  uns 
eine  Handlung,  die  wir  ungern  thun,  nach  moralischen  motiven 
abnöthiget.  Wenn  ich  z.  E.  Jemandem  was  /  schuldig  bin,  und  der  40 

25  andre  sagt :  Wilst  du  ein  ehrlicher  Mann  seyn,  so  must  du  mir  bezahlen, 
ich  will  dich  nicht  verklagen ;  allein  ich  kann  es  dir  nicht  erlaßen,  weil 
ich  es  brauche;  so  ist  dieses  ein  äußerlich  moralischer  Zwang,  durch 
die  Willkühr  eines  andern.  Je  mehr  sich  einer  selbst  zwingen  kann, 
desto  freyer  ist  er.  Je  weniger  er  darf  von  andern  gezwningen  werden, 

30  desto  innerlich  freyer  ist  er.  Wir  müßen  hier  noch  unterscheiden,  das 
Vermögen  der  Freyheit,  und  den  Zustand  der  Freiheit.  Das  Vermögen 
der  Freyheit  kann  größer  seyn,  obgleich  der  Zustand  schlechter  ist. 
Je  größer  mein  Vermögen  der  Freiheit  ist,  je  freyer  die  Freyheit  von 
den  stimulis  ist,  desto  freyer  ist  der  Mensch.  W^äre  der  Mensch  des 

35  Selbstzwanges  nicht  bedürftig,  so  wäre  er  ganz  frey,  denn  wäre  sein 
Wille  ganz  gut.  so  möchte  er  alles  gute  gern  thun,  weil  er  sich  nicht 
zwingen  dürfte,  das  ist  aber  nicht  der  Fall  des  Menschen.  Doch  kommt 
einer  diesem  näher  als  der  /  andre ;  wenn  nähmlich  bey  dem  einen  die  4i 
sinnlichen  Triebe,  die  Stimuli,  stärker  sind  als  bev  dem  andern.  Je  mehr 


270  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

sich  einer  übt,  sich  zu  zwingen,  desto  mehr  wird  er  frey.  Mancher  ist 
schon  von  Natur  zur  Großmuth,  Vergebung,  zur  Rechtschaf  fenheit  auf- 
gelegt, desto  beßer  kann  er  sich  selbst  zwingen,  und  desto  freyer  ist  er. 
Aber  kein  Mensch  ist  des  Selbstzwanges  überhoben.  Alle  Verbindlich- 
keit ist  entweder  innerlich  oder  äußerlich.  Obligatio  externa  est  5 
neceßitatio  moralis  per  arbitrarium  alterius.  Obligatio  interna  est 
neceßitatio  moralis  per  arbitrium  proprium.  Eine  Willlvühr  ist  eine 
Begierde  die  ich  in  meiner  Gewalt  habe.  Ein  Wunsch  aber  eine 
Begierde  die  ich  nicht  in  meiner  Gewalt  habe.  Die  Neceßitation  durch 
fremde  Willkühr  ist  neceßitatio  moralis  externa,  denn  der  Fremde  hat  lo 
es  in  seiner  Gewalt  mich  zu  zwingen,  und  die  Obligation,  die  daraus 
entspringt,  ist  obligatio  externa.  Die  neceßitatio  moralis,  die  nicht  durch 
43  fremde  /  sondern  durch  meine  eigene  Willkühr  geschieht,  ist  die  neceßi- 
tatio moralis  interna,  und  die  Verbindlichkeit  die  daraus  entspringt  ist 
obligatio  interna.  ZE.  ich  habe  Verbindlichkeit  einem  andern  zu  i5 
helfen,  die  ist  aber  innerlich.  Die  Erstattung  der  Beleidigung  ist 
moralisch  noth wendig  durch  fremde  Willkühr,  und  das  ist  obligatio 
externa. 

Die  äußere  Obligationes  sind  größer  als  die  Innern ;  denn  die  äußern 
Obligationes  sind  zugleich  innere,  aber  die  innre  sind  nicht  zugleich  20 
äußere.  Die  obligatio  externa  setzt  schon  zum  voraus,  daß  die  Hand- 
lung überhaupt  unter  der  Moralität  stehe,  und  deswegen  ist  sie  interna ; 
denn  die  obligatio  externa  ist  darum  eine  Obligation,  weil  die  Hand- 
lung interne  schon  eine  Obligation  ist.  Denn  deswegen  daß  die  Hand- 
lung eine  Pflicht  ist,  ist  das  eine  innerliche  Verbindlichkeit,  aber  weil  25 
ich  ihn  zu  dieser  Pflicht  durch  meine  Willkühr  noch  zwingen  kann, 
so  ist  es  auch  eine  obligatio  externa.  Bey  der  Obligatione  externa  muß 
43  meine  /  Handlung  mit  der  Willkühr  eines  andern  übereinstimmen,  und 
dazu  kann  ich  auch  von  andern  gezwungen  werden.  Die  Obligatio 
externa  kann  auch  von  einem  andern  pathologisch  gezA^iingen  werden ;  30 
wenn  er  sich  nicht  moralisch  zwingen  läßt,  hat  er  eine  Befugniß  auch 
pathologisch  zu  zwingen.  Ueberhaupt  jedes  Recht  hat  eine  Befugniß 
pathologisch  zu  zwingen. 

Die  innre  Obligationes  sind  unvollkommne  Obligationes,  weil  wir 
dazu  nicht  können  gezwungen  werden.  Die  obligationes  externae  sind  35 
aber  perfectae,  denn  da  kommt  noch  außer  der  Innern  Verbindlichkeit, 
die  äußere  Nöthigung  dazu. 

Der  Bewegungsgrund,  nach  welchem  wir  aller  Obligation  ein  Genüge 
thun,  ist  entweder  innerlich,  und  denn  heißt  er  Pflicht,  oder  äußerlich, 


Moralphilosophie  Collina  271 

und  denn  heißt  er  Zwang.  Wenn  ich  meiner  Verbindhchkeit  satisfacire, 
durch  meine  eigne  Willkühr,  dann  ist  der  Bewegungsgrund  iiuierlich 
und  ich  thue  die  Handhnig  aus  Pfhcht.  /  Derjenige  der  seiner  Verbind-  44 
hchkeit  ein  Genüge  thut  aus  Pflicht,  und  derjenige  der  ihr  ein  Genüge 
5  thut  aus  Zwang,  haben  beide  ihrer  Verbindhchkeit  ein  Genüge  gethan, 
aber  der  erstere  aus  innerem  Bewegungsgrunde,  und  der  andre  aus 
äußerem  Bewegungsgrunde.  Der  Landes-Herr  sieht  nicht  darauf,  aus 
was  für  einem  Bewegungsgrunde  die  VerbindHchkeiten  gegen  ihn 
geleistet  werden,  ob  es  aus  Pflicht  oder  aus  Zwang  geschiehet;  es  ist 

10  ihm  einerley.  Aber  Eltern  verlangen  die  Verbindliclilceit  von  den 
Kindern  aus  Pflicht.  Wenn  also  der  Autor  die  Verbindlichkeit  ein- 
theilt,  so  fern  man  sie  thut  aus  Pflicht  oder  aus  Zwang,  so  ist  das 
falsch.  Die  Verbindlichkeit  kann  nicht  so  eingetheilt  werden,  denn  der 
Zwang  macht  keine  Verbindliclikeit ;  die  Verbindlichlieiten  müßen  / 

15  an  sich  Selbsten  unterschieden  werden,  nehmlich  so  fern  sie  entspringen  45 
ex  arbitrio  alterius  denn  sind  sie  externae,  oder  ex  arbitrio  proprio, 
denn  sind  sie  internae,  ut  supra.  Allein  die  motiva  satisfaciendi  zu 
allen   Verbindlichkeiten,    sie   mögen   externae   oder   internae    seyn, 
können  so  unterschieden  werden :  Sind  die  Bewegungsgründe  innerlich, 

20 fließen  sie  aus  meiner  Willkühr,  so  sind  sie  Pflichten;  fließen  sie  aus 
der  Willkühr  eines  andern,  so  ist  es  Zwang.  Die  Obligationes  aber 
mögen  sein  wie  sie  wollen.  Objective  Bewegungsgründe  sind  Gründe 
der  Gesinnung  und  der  Bestimmung  des  Willens,  der  Regel  ein 
Genüge  zu  thun.  Nach  den  objectiven  Gründen  sind  die  Verbind- 

25  lichkeiten  innerlich  und  äußerlich,  nach  den  subjectiven  Gründen 
sind  sie  Pflicht  oder  Zwang. 

/Alle  obligationes,  deren  Bewegungsgründe  subjectiv  oder  innerlich  46 
sind,    sind    ethische    Verbindlichkeiten.    Alle    Obligationes,    deren 
Bewegungsgründe  objectiv  oder  äußerlich  sind,  sind  im  strüiten  Ver- 

30  stände  juridisch :  die  ersten  sind  Verbindlichkeiten  der  Pflicht,  die 
andern  Verbindlichkeiten  des  Zwanges.  Der  Unterschied  vom  jure 
und  der  Ethic  besteht  nicht  in  der  Art  der  Verbindlichkeit,  sondern  in 
den  Bewegungsgründen,  den  Verbindlichkeiten  ein  Genüge  zu  thun. 
Die  Ethic  redet  von  allen  Verbindlichkeiten,  es  mögen  Verbindlich- 

35keiten  des  Wohlwollens,  der  Großmut  und  Güte  seyn,  oder  es  mögen 
Verbindlichkeiten  der  Schuldigkeit  sejai,  so  betrachtet  die  Ethic  alle 
zusammen  nur  so,  daß  der  Bewegungsgrund  innerlich  ist,  sie  erwägt 
sie  aus  Pflicht  und  aus  der  innern  Beschaffenheit  der  Sache  selbst,  und 
nicht  aus  Zwang.  /  Das  jus  aber  betrachtet  die  Satisfaction  der  Ver-  4T 


272  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

bindlichkeit  nicht  aus  Pflicht,  sondern  aus  Zwang.  Es  wird  aber  auf  die 
Triebfeder  des  Zwanges  attendirt.  Die  Verbindlichkeiten  werden  be- 
trachtet, wie  sie  sich  verhalten  zum  Zwang. 

Wir  haben  Verbindlichkeiten  gegen  Gott,  Gott  aber  verlangt  nicht 
nur,  daß  wir  die  Verbindlichkeiten  thun,  sondern,  daß  wir  sie  gern  aus  5 
innern  Bewegungsgründen  thun  sollen.  Den  Obligationibus  gegen  Gott 
thut  man  nicht  genüge,  wenn  man  sie  aus  Zwang  thut,  sondern  aus 
Pflicht.  Thue  ich  etwas  gerne  aus  guter  Gesinnung,  so  thue  ich  es  aus 
Pflicht,  und  die  Handlung  ist  ethisch,  thue  ich  aber  etwas  aus  Zwang, 
so  ist  die  Handlung  juridisch  recht.  Es  ist  also  ein  wahrer  Unterschied  lo 
der  obligationum,  wenn  man  sie  eintheilt  in  internas  und  externas, 
aber  darin  besteht  nicht  der  Unterschied  der  Ethic  und  des  Juris, 
sondern  der  Unterschied  bestehet  in  den  Bewegungsgründen  zu  diesen 

48  Verbindlichkeiten ;  /  denn  wir  können  den  Obligationibus  Genüge  thun 
aus  Pflicht  und  aus  Zwang.  Zur  Oliligatione  externa  kann  mich  die  is 
Willkühr  eines  andern  nöthigen,  obgleich  er  mich  nicht  zwingt,  und 
denn  thue  ich  sie  aus  Pflicht,  zwingt  er  mich  aber  wirklich,  so  thue  ich 
sie  aus  Zwang.  Die  Obligatio  externa  ist  nicht  deswegen  eine  obligatio 
externa,  weil  ich  dadurch  kann  gezwungen  werden.  Aus  der  Obligation 
fließet  die  Befugniß  zu  zwingen,  sie  ist  eine  Folge  der  Obligation.         20 

Von  den  Gesetzen. 

Eine  iede  Formel,  die  die  Nothwendigkeit  meiner  Handlungen  aus- 
drückt, heißt  ein  Gesetz.  So  können  wir  natürliche  Gesetze  haben, 
wo  die  Handlungen  unter  der  allgemeinen  Regel  stehen,  oder  auch 
practische  Gesetze.  Demnach  sind  alle  Gesetze  physisch  oder  prac-  25 
tisch.  Die  practischen  drücken  die  Nothwendigkeit  der  freyen  Hand- 

49  lungen  aus,  und  sind  entweder  /  subjectiv,  so  fern  sie  wirklich  von 
Menschen  geschehn,  oder  objectiv,  so  fern  sie  geschehn  sollen.  Die 
Objectiven  sind  wieder  2fach:  pragmatische  und  moralische.  Von  den 
leztern  ist  hier  die  Rede.  so 

Das  Recht,  so  fern  es  Befugniß  bedeutet,  ist  die  Uebereinstimmung 
der  Handlung  mit  der  Regel  des  Rechts,  so  fern  die  Handlung  der  Regel 
der  Willkühr  nicht  widerstreitet,  oder  die  moralische  Möglichkeit  der 
Handlung,  wenn  die  Handlung  moralischen  Gesetzen  nicht  widerstrei- 
tet. Das  Recht  aber  als  Wißenschaft  genommen  ist  der  Inbegriff  aller  35 
Gesetze  des  Rechts.  Jus  in  sensu  proprio  est  complexus  legum  obliga- 
tionum externarum,  quatenus  simul  sumuntur.  Jus  in  sensu  proprio 


Moralpliilosophie  Collins  273 

est  vel  jus  late  dictum,  vel  jus  stricte  dictum.  Jus  late  dictum  ist  das 
Recht  der  Billigkeit.  Jus  stricte  dictum  ist  das  strenge  Recht,  so  ferne 
es  die  Befugniß  hat  andere  zu  zwingen.  Also  ein  freyes  Recht  und  ein 
Zwangsrecht.  Die  Ethic  wird  dem  juri  stricto  /  entgegen  gesezt,  und  50 
5  nicht  dem  juri  überhaupt.  Sie  geht  auf  Gesetze  der  freyen  Handlung, 
so  ferne  wir  können  dazu  gezwungen  werden.  Das  jus  stricte  ist 
entweder  positivum  seu  statutarium,  oder  jus  naturale.  Jus  positivum 
ist,  welches  aus  der  Willkühr  des  Menschen  entspringt;  jus  naturale 
aber,  in  so  fern  es  aus  der  Natur  der  Handlungen  durch  die  Vernunft 

loeingesehn  wird.  Jus  positivum  est  vel  divinum  vel  humanum.  Jus 
positivum  enthält  Gebothe,  jus  naturale  aber  Gesetze  in  sich.  Die 
göttlichen  Gesetze  sind  aber  auch  zugleich  göttliche  Gebothe,  oder  das 
jus  naturale  ist  zugleich  das  jus  positivum  des  göttlichen  Willens, 
nicht  in  so  fern  sie  in  seinem  Willen  allein,  sondern  in  der  Natur  des 

15 Menschen  liegen;  aber  nicht  umgekehrt:  alle  göttliche  Gesetze  sind 
natürliche  Gesetze,  denn  Gott  kann  auch  ein  positives  Gesetz  geben. 
Das  jus  positivum  so  wohl,  als  auch  das  jus  naturale  kann  entweder 
ein  freyes  Recht,  oder  ein  Zwangsrecht  seyn.  /  Viele  Gesetze  sind  nur  si 
Gesetze  der  Billigkeit.  Das  jus  aequitatis  ist  aber  w^enig  kultivirt, 

20  welches  zu  wünschen  wäre,  ZAvar  nicht  darum,  damit  die  Gerichtshöfe 
darnach  urtheilen  sollen,  denn  da  müßen  sie  nur  valide  urtheilen. 
Das  jus  aequitatis  ist  aber  kein  äußeres  Recht,  sondern  gilt  nur  coram 
foro  conscientiae.  Im  jure  positive  et  naturali  redet  man  immer  vom 
jure  stricto  und  nicht  vom  jure  aequitatis,  denn  das  gehört  nur  zur 

25  Ethic.  Alle  Pflichten,  auch  Zwangspflichten,  wenn  der  Bewegungs- 
grund ihnen  zu  satisfaciren  aus  der  innern  Beschaffenheit  hergenom- 
men wird,  gehören  sogleich  zur  Ethic.  Denn  die  Gesetze  können  dem 
Inhalt  nach  zum  Jure  oder  zur  Ethic  gehören,  aber  sie  können  nicht 
allein  dem  Inhalt  nach  so  seyn,  sondern  auch  dem  Bewegungsgrunde 

30  nach  entweder  zum  Jure  oder  zur  Ethic  gehören.  Der  Landesherr 
fordert  nicht,  daß  man  seine  Abgaben  gerne  giebt,  das  fordert  aber  die 
Ethic.  Beyde,  sowohl  der  es  gern  giebt,  als  der  es  aus  Zwang  giebt, 
sind  gleiche  Unterthanen,  weil  sie  beyde  gegeben  haben. 

/  Die  Gesinnung  kann  nicht  vom  Landes  Herren  gefordert  werden,  52 

35  weil  sie  nicht  erkannt  wird,  indem  sie  innerlich  ist.  Nun  befiehlt  aber 
die  Ethic  Handlungen  aus  guter  Gesinnung  zu  thun.  Die  Beobachtung 
der  göttlichen  Gesetze  ist  der  einzige  Fall,  wo  jus  und  Ethic  überein- 
stimmen, und  beyde  sind  in  Ansehung  Gottes  Zwangsgesetze,  denn 
Gott  kann  zu  ethischen  und  juridischen  Handlungen  zwingen ;  aber  er 

18     Kant's  Schriften  XXVII/1 


274  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

fordert  die  Handlungen  nicht  aus  Zwang,  sondern  aus  Pflicht.  Es  kann 
also  eine  Handlung  rectitudinem  juridicam  haben,  so  fern  sie  mit  den 
Zwangsgesetzen  übereinstimmt,  aber  die  Uebereinstimmung  der 
Handlung  mit  den  Gesetzen  aus  Gesinnungen  und  Pflicht,  die  hat  die 
Moralität;  sie  besteht  also  in  der  gutwilligen  Gesinnung.  Demnach  ist  5 
die  moralische  Bonitaet  der  Handlung  von  der  rectitudine  juridica  zu 
unterscheiden.  Die  rectitudo  ist  das  genus;  ist  sie  nur  juridisch,  so  hat 
sie  keine  morahsche  Bonitaet.  So  kann  die  Religion  rectitudinem 
juridicam  haben,  wenn  man  die  göttlichen  Gebote  aus  Zwang,  und 
5$  nicht  /  aus  guter  Gesinnung  thut.  Gott  will  aber  nicht  die  Handlung,  lo 
sondern  das  Herz.  Herz  ist  das  principium  der  moralischen  Gesinnung. 
Also  will  Gott  die  moralische  Bonitaet,  und  diese  ist  belohnungswerth. 
Demnach  ist  die  Gesinnung  der  Leistung  der  Pflichten  zu  cultiviren, 
und  dieses  ist  das,  was  der  Lehrer  des  Evangehi  sagt,  daß  man  alles  aus 
Liebe  zu  Gott  thun  soll.  Gott  lieben  ist  aber  seine  Gebothe  gerne  thun.  i5 

Leges  können  auch  seyn  praeceptivae,  wodurch  etwas  gebothen 
wird,  prohibitivae,  wodurch  Handlungen  verbothen  Averden.  und 
permißivae,  wodurch  Handlungen  erlaubt  werden.  Complexus  legum 
praeceptivarum  ist  jus  mandati,  complexus  prohibitorum  ist  jus  vetiti; 
man  könnte  sich  auch  noch  jus  permißi  denken.  20 

Vom  obersten  Principio  der  Moralität 

Wir  haben  hier  zuerst  auf  2  Stücke  zu  sehn,  1)  auf  das  principium 

54  der  dijudication  der  Verbindlichkeit,  und  2)  auf  das  /  principium  der 
Execution  oder  Leistung  der  Verbindlichlieit.  Richtschnur  und  Trieb- 
feder ist  hier  zu  unterscheiden.  Richtschnur  ist  das  principium  der  25 
Dijudication    und    Triebfeder    der    Ausübung    der    Verbindlichkeit, 
indem  man  nun  dieses  verwechselte,  so  war  alles  in  der  Moral  falsch. 

Wenn  die  Frage  ist:  was  ist  sittlich  gut  oder  nicht,  so  ist  das  das 
principium  der  Dijudication,  nach  welchem  ich  die  Bonitaet  und 
pravitaet  der  Handlungen  beurtheile.  Wenn  aber  die  Frage  ist,  was  so 
bewegt  mich  diesem  Gesetze  gemäß  zu  leben  ?  So  ist  das  das  principium 
der  Triebfeder.  Die  Billigung  der  Handlung  ist  der  objective  Grund, 
aber  noch  nicht  der  subjective  Grund.  Dasjenige,  was  mich  antreibt, 
das  zu  thun,  worin  der  Verstand  sagt,  ich  soll  es  thun,  das  sind  die 
motiva  subjective  moventia.  Das  oberste  principium  aller  moralischen  35 
Beurtheilung  liegt  im  Verstände,  und  das  oberste  Principium  des 

55  moralischen  Antriebes,  diese  Handlung  /  zu  thun,  liegt  im  Herzen. 


Moralphilosophie  Coli  ins  275 

Diese  Triebfeder  ist  das  moralische  Gefühl.  Dieses  prineipium  der 
Triebfeder  kann  nicht  mit  dem  principio  der  Beurtheilung  verwechselt 
werden.  Das  prineipium  der  Beurtheilung  ist  die  Norm,  und  das  prin- 
eipium des  Antriebes  ist  die  Triebfeder.  Norm  ist  im  Verstände,  die 

5  Triebfeder  aber  im  moralischen  Gefühl.  Die  Triebfeder  vertritt  nicht 
die  Stelle  der  Norm.  Das  hat  einen  practischen  Fehler,  wo  die  Trieb- 
feder wegfällt,  und  das  hat  einen  theoretischen  Fehler,  wo  die  Beur- 
theilung wegfällt.  Anjetzo  wollen  wir  noch  kürzlich  zeigen,  negative, 
worinn  das  prineipium  der  Moralität  nicht  bestehe.  Das  prineipium 

loder  Moralität  ist  nicht  pathologisch,  pathologisch  wäre  es, 
wenn  es  aus  subjectiven  Gründen,  aus  unsern  Neigungen,  aus  unserm 
Gefühle  hergeleitet  wäre.  Die  Moral  hat  kein  pathologisches  prin- 
eipium, denn  sie  enthält  objective  Gesetze,  was  man  thun  soll, 
undnicht  was  man  zu  thun  begehrt.  /  Sie  ist  nicht  Zergliederung  56 

15  der  Neigung,  sondern  eine  Vorsicht,  die  wider  alle  Neigung  ist.  Das 

pathologische  prineipium  der   Moralität  bestünde  darinn,  allen 

seinen  Neigungen  ein  Genüge    zu    thun,  das  wäre  der  viehische 

Epicureismus,  das  ist  aber  noch  nicht  der  wahre  Epicureismus. 

Wir  können  uns  aber  2  principia  pathologica  der  Moralität  gedenken, 

20  das  erste  geht  auf  die  satisfaction  aller  Neigungen,  und  dieses  ist  das 
physische  Gefühl.  Das  zweyte  geht  auf  die  satisfaction  einer  Neigung, 
die  auf  die  Moralität  geht,  und  gründete  sich  also  auf  eine  intellectuelle 
Neigung,  wovon  wir  aber  gleich  zeigen  werden,  daß  eine  intellectuelle 
Neigung  ein  Widerspruch  ist.  Denn  ein  Gefühl  für  Gegenstände  des 

25  Verstandes  ist  an  sich  selber  ein  Unding,  demnach  ist  das  moralische 
Gefühl  aus  intellectueller  Neigung  ein  Unding,  folglich  nicht  möglich. 
Ein  Gefühl  kann  ich  nicht  für  was  Reales  halten,  es  kann  nicht  etwas 
intellectual  und  sinnlich  seyn.  Und  wenn  es  auch  möglich  wäre,  daß 
wir  eine  Empfindung  für  die  Moralität  /  hätten,  so  könnten  doch  keine  5T 

30  Regeln  auf  dieses  prineipium  etablirt  werden,  denn  ein  moralisch 
Gefühl  sagt  categorisch  was  geschehn  soU,  es  mag  gefallen  oder  nicht; 
und  ist  also  keine  Befriedigung  unserer  Neigung.  Alsdenn  dürfte  auch 
kein  moralisch  Gesetz  seyn,  sondern  jeder  möchte  nach  seinem  Gefühl 
handeln.  Gesetzt,  es  wäre  das  Gefühl  bey  allen  Menschen  im  gleichen 

35  Grad,  so  wäre  es  doch  keine  Obligation,  nach  dem  Gefühl  zu  handeln ; 
denn  alsdenn  könnte  es  nicht  heißen,  wir  sollen  das  thun  was  uns 
gefällt,  sondern  es  möchte  solches  ein  jeder  von  selbst  thun,  weil  es 
ihm  gefällt.  Das  moralische  Gesetz  befiehlt  doch  aber  categorisch;  also 
kann  sich  die  Moralität  nicht  auf  ein  pathologisches  prineipium,  weder 


276  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

auf  das  physische  noch  moralische  Gefühl  gründen.  Diese  Methode, 
sich  auf  das  Gefühl  zu  berufen,  in  einer  practischen  Regel,  ist  auch 
ganz  der  Philosophie  entgegen.  Ein  jedes  Gefühl  hat  nur  eine  privat 

58  Gültigkeit  und  keine  Begreiflichkeit  /  für  einen  andern,  und  es  ist  auch 
an  sich  selbst  pathologisch;  wenn  jemand  sagt,  er  fühlt  es  so  in  sich,  5 
das  kann  doch  nicht  für  andre  gelten,  die  doch  nicht  wissen,  wie  er  es 
fühlt,  und  der  sich  schon  auf  ein  Gefühl  beruft,  der  giebt  alle  Gründe 
der  Vernunft  auf.  Es  findet  also  das  pathologische  principium  nicht 
statt.  Daher  muß  ein  intellectuelles  principium  der  Sittlichkeit  seyn, 
so  fern  es  aus  dem  Verstände  entlehnt  ist.  Dieses  besteht  entweder  in  lo 
der  Regel  des  Verstandes,  so  fern  uns  der  Verstand  die  Mittel  an  die 
Hand  giebt,  unsere  Handlungen  so  einzurichten,  daß  sie  mit  unseren 
Neigungen  übereinstimmen,  oder  sofern  der  Grund  der  Sitttlichkeit 
durch  den  Verstand  unmittelbar  erkannt  wurde.  Der  erste  ist  zwar 
ein  intellectuelles  principium,  sofern  uns  der  Verstand  die  Mittel  am 5 
die  Hand  giebt,  aber  es  ist  doch  offenbar  in  die  Neigungen  gelegt. 
Dieses  intellectuale  Schein  principium  ist  das  pragmatische  principium. 
Es  beruht  auf  der  Geschicklichkeit  der  Regel,  denen  Neigungen  Genüge 
zu  thun.  Dieses  principium  der  Klugheit  ist  das  wahre  epicureische 

59  principium.  Wenn  es  also  /  heißt,  du  solst  deine  Glükseehgkeit  be- 20 
fördern,  so  heißt  das  so  viel,  brauche  deinen  Verstand  die  Mittel  zu 
erfinden,  dein  Vergnügen  und  deine  Neigungen  zu  befriedigen ;  in  so 
fern  ist  dieses  principium  intellectual,  weil  der  Verstand  die  Regel 
vom  Gebrauch  der  Mittel  unsre  Glükseligkeit  zu  befördern,  entwerfen 
soll.  Also  ist  das  pragmatische  principium  abhängig  von  den  Neigun-  25 
gen,  indem  die  Glükseehgkeit  in  der  Befriedigung  aller  Neigungen 
besteht.   Die  Moralität  gründet   sich   aber  auf  kein   pragmatisches 
principium,  weil  sie  unabhängig  von  aller  Neigung  ist.  Bestünde  die 
Moralität  darin,  so  könnten  die  Menschen  in  der  Moralität  nicht  über- 
einstimmen, denn  ein  jeder  würde  sein  Glück  nach  seinen  Neigungen  so 
suchen.  Die  Moralität  kann  aber  nicht  auf  den  subjectiven  Gesetzen 
der  Neigungen  der  Menschen  beruhn,  also  ist  das  principium  der  Moral 

60  nicht  pragmatisch.  Es  muß  zwar  intellectuell  /  seyn,  aber  nicht 
mediate,  wie  das  pragmatische  ist,  sondern  es  muß  ein  unmittelbares 
principium  der  Sittlichkeit  seyn,  so  fern  der  Grund  der  Sittlichkeit  35 
durch  den  Verstand  unmittelbar  erkannt  wird.  Das  principium  der 
Moral  ist  also  ein  pur  reines  intellectuales  principium  der  reinen  Ver- 
nunft. Dieses  reine  intellectuale  principium  kann  aber  nicht  wieder 
tavtologisch  seyn,  und  in  der  Tavtologie  der  reinen  Vernunft  bestehn, 


Moralphilosophie  Collins  277 

SO  wie  Baron  Wolff  ein  solches  vortrug:  Fac  bonum  et  omitte  malum, 
es  ist  leer  und  uuphilosophisch,  ut  supra.  Das  zweyte  tavtologische 
principium  ist  das  Cumberlands,  welches  besteht  in  der  Wahrheit.  Er 
sagt,  wir  suchen  alle  die  Vollkommenheit,  werden  aber  betrogen  durch 

5  den  Schein ;  die  Moral  zeigt  uns  aber  die  Wahrheit.  Das  dritte  ist  des  / 
Aristoteles,  das  principium  der  Mittelstraße ;  folglich  ists  tavtologisch.  ei 
Dieses  reine  intellectuale  principium  muß  aber  nicht  ein  principium 
externum  seyn,  so  ferne  unsre  Handlungen  ein  Verhältniß  haben  auf 
ein  fremdes  Wesen,  also  beruhet  es  nicht  auf  dem  göttlichen  Willen, 

10 es  kann  auch  nicht  heißen  du  solst  nicht  lügen,  weil  es  verbothen  ist; 
demnach  kann  das  principium  der  Moralität  kein  externum,  folglich 
kein  tavtologicum  seyn.  Die  dieses  behaupten,  sagen,  man  müßte 
zuerst  Gott  haben,  und  hernach  die  Moralität,  welches  principium  sehr 
commode  ist.  Moral  und  Theologie  ist  kein  principium  der  andren, 

15  zwar  kann  die  Theologie  nicht  ohne  die  Moral,  und  diese  wieder  nicht 
ohne  jene  bestehn,  allein  es  ist  hier  nicht  die  Rede,  daß  die  Theologie 
eine  Triebfeder  der  Moral  sey,  das  ist  sie  freylich,  sondern  /  ob  das  62 
principium  der  Dijudication  der  Moral  ein  theologisches  sey,  und  das 
kann  es  nicht  seyn.  Wenn  das  wäre,  so  müßten  alle  Völker  erst  Gott 

20 erkennen,  ehe  sie  den  Begriff  von  den  Pfhchten  hätten;  also  müßte 
folgen,  daß  alle  Völker,  die  keinen  rechten  Begriff  von  Gott  hätten, 
auch  keine  Pflicht  hätten,  welches  aber  falsch  ist.  Völker  erkannten 
ihre  Pflichten  richtig,  sie  sahen  ein  die  Häslichkeit  der  Lügen,  ohne  den 
rechten  Begriff  von  Gott  zu  haben.  Ferner,  so  haben  sich  Völker  nur 

25  heilige  und  falsche  Begriffe  von  Gott  gemacht,  und  hatten  doch  richtige 
Begriffe  von  den  Pflichten.  Folglich  müßen  die  Pflichten  aus  einem 
andern  Quell  entlehnt  seyn.  Die  Ursache  dieser  Ableitung  der  Mora- 
lität aus  dem  göttlichen  Willen  ist  diese :  weil  die  moralische  Gesetze 
lauten:  du  solst  das  thun,  so  denkt  man,  es  muß  ein  drittes  Wesen 

30  seyn,  welches  das  verbothen  hat.  Es  ist  wahr,  das  moralische  Gesetz 
ist  ein  Befehl,  und  sie  können  Gebote  des  göttlichen  Willens  seyn,  / 
aber  sie  fließen  nicht  aus  dem  Gebote.  Gott  hat  es  geboten,  weil  es  63 
ein   moralisches  Gesetz   ist,  und   sein  Wille   mit  dem   moralischen 
Gesetze  übereinstimmt.   Ferner  so  scheint  alle  Verbindlichkeit  eine 

35  Beziehung  zu  haben  auf  einen  obligantem.  Es  scheint  also  Gott 
obligator  der  menschlichen  Gesetze  zu  seyn.  In  der  Execution  muß 
zwar  freylich  ein  drittes  Wesen  seyn,  das  da  nöthigt,  dasjenige  zu 
thun,  was  moralisch  gut  ist.  Allein,  zur  Beurtheilung  der  Moralität 
brauchen  wir  kein  drittes  Wesen.  Alle  moralische  Gesetze  können 


278  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

richtig  seyn,  ohne  ein  drittes  Wesen.  Aber  in  der  Ausübung  wären 
sie  leer,  wenn  kein  drittes  Wesen  uns  dazu  nöthigen  möchte.  Man 
hat  also  mit  Recht  eingesehn,  daß  ohne  einen  obersten  Richter  alle 
moralische  Gesetze  ohne  Effekt  wären,  alsdenn  wäre  keine  innere 
Triebfeder,  keine  Belohnung  und  keine  Bestrafung.  Also  die  Erkennt-  5 
64niß  Gottes  ist  in  Ausübung  der  moralischen  Gesetze  nöthig.  /  Wie 
erkennen  wir  denn  den  göttlichen  Willen  1  Es  fühlt  keiner  den  gött- 
lichen Willen  in  seinem  Herzen,  und  wir  können  auch  aus  keiner  Offen- 
bahrung  das  moralische  Gesetz  erkennen,  denn  sonst  wären  die  völlig 
darin  unwißend,  die  keine  hätten,  da  doch  Paulus  selbst  sagt,  daß  auch  10 
solche  nach  ihrer  Vernunft  gerichtet  werden.  Wir  erkennen  also  den 
göttlichen  Willen  durch  unsre  Vernunft.  Wir  stellen  uns  Gott  vor  als 
den,  der  den  heiligsten  und  vollkommensten  Willen  hat,  um  durch  ob  jec- 
tive  Gründe  bewegt  zu  werden ;  es  ist  keine  Feder  von  Natur , die  da  könnte 
aufgezogen  werden  solches  hervorzubringen.  Allein  wir  können  denn  15 
einen  habitum  hervorbringen,  der  nicht  natürlich  ist,  aber  doch  die 

65  Natur  vertritt,  der  durch  die  Nachahmung  und  öftere  Ausübung  /  zum 
habitu  wird.  Aber  alle  Methoden,  die  Laster  bey  uns  verabscheuungs- 
würdig  zu  machen,  sind  bey  uns  falsch.  Wir  sollen  schon  von  Jugend 
auf  einen  unmittelbaren  Abscheu  wider  solche  Handlungen  einflößen,  20 
aber  nicht  einen  mittelbaren,  der  nur  einen  pragmatischen  Nutzen  hat. 
Wir  müßen  nicht  eine  Handlung  als  verbothen  oder  als  schädlich  vor- 
stellen, sondern  als  an  sich  selbst  innerlich  verabscheuungswerth.  Z.E. 
das  Kind  was  da  lügt  muß  nicht  bestraft,  sondern  beschämt  werden, 
man  muß  einen  Eckel,  einen  Abscheu,  eine  Verachtung  gegen  daßelbe  25 
hegen,  so,  als  wenn  es  mit  Koth  beworfen  wäre.  Durch  solche  öftere 
Wiederholung  können  wir  bey  ihm  einen  solchen  Abscheu  wider  die 

66  Handlung  erregen,  die  ihm  zum  habitu  werden  kann.  /  Wenn  es  aber 
davor  in  der  Schule  bestraft  wird,  so  denkt  es,  bist  du  aus  der  Schule, 
so  bist  du  auch  schon  von  der  Strafe  und  solcher  Handlung  entledigt ;  so 
es  wird  ein  andermal  durch  Jesuitische  Streiche  den  Strafen  zu  ent- 
gehn  suchen.  So  denken  auch  alte  Leute,  faßen  den  Vorsatz,  sich  kurz 
vor  ihrem  Ende  zu  bekehren,  und  alles  vorige  gut  zu  machen,  welches 
hernach  eben  so  gut  ist,  als  wenn  sie  das  ganze  Leben  hindurch  sittlich 
gelebt  hätten ;  dahero  sie  den  plötzlichen  Tod  in  dem  Stück  für  un-  35 
glücklich  halten.  Es  soll  also  die  Erziehung  und  die  Religion  darauf 

6T  hinausgehn,  einen  /  unmittelbaren  Abscheu  gegen  alle  die  üblen 
Handlungen  und  eine  unmittelbare  Lust  gegen  die  Sittlichkeit  der 
Handlungen  einzuflößen. 


Moralphilosophie  ColUns  279 

Autor  rodet  ferner 

De  littera  legis. 

Die  Verknüpfung  des  Gesetzes  mit  den  Ursachen  und  Gründen, 

worauf  das  Gesez  beruhet,  ist  littera  legis.  Wir  können  den  Sinn  des 

5  Gesetzes  einsehn,  wenn  wir  das  principium  einsehn,  aus  dem  das  Gesez 

abgeleitet  ist,  allein  wir  können  den  Sinn  bestimmen,  auch  ohne  das 

principium  einzusehn. 

Der  Sinn,  den  das  Wort  im  Gesetz  hat,  ist  anima  legis.  Die  Worte 
haben  zwar  einen  Sinn,  allein  die  Worte  können  auch  einen  andern 

10  Sinn  haben,  der  vom  gemeinen  abgeht,  und  das  ist  anima  legis  z.  E.  im 
göttlichen  positiven  Gesez  vom  Sabbath,  da  ist  der  Sinn  /  nicht  über-  «8 
haupt  die  Ruhe,  sondern  die  feyerliche  Ruhe. 

Aber  anima  legis,  wenn  es  so  viel  bedeutet  als  der  Geist  des  Ge- 
setzes, bedeutet  nicht  den  Sinn,  sondern  den  Bewegungsgrund.  In 

15  jedem  Gesetz  ist  die  Handlung  selbst,  die  darnach  geschieht,  der 
litterae  legis  gemäß.  Aber  die  Gesinnung  aus  der  die  Handlung 
geschieht,  ist  der  Geist  des  Gesetzes.  Die  Handlung  selbst  ist  littera 
legis  pragmaticae;  aber  die  Gesinnung  ist  anima  legis  moralis.  Die 
pragmatischen  Gesetze  haben  keinen  Geist,  denn  sie  fordern  keine 

20  Gesinnungen   sondern   Handlungen ;    aber   die   moralischen   Gesetze 
haben  einen  Geist,  denn  die  fordern  Gesinnungen,  und  die  Handlungen 
sollen  nur  die  Gesinnungen  erklären.  Wer  also  die  Handlungen  thut 
ohne  gute  Gesinnungen,  der  erfüllet  das  Gesetz  quoad  /  litteram,  aber  69 
nicht  dem  Geist  nach.  Man  kann  die  göttlichen  und  alle  moralische 

25  Gesetze  als  pragmatische  nur  quoad  litteram  erfüllen,  z.  E.  es  denkt 
jemand,  der  sich  seinem  Ende  naht,  wenn  ein  Gott  ist,  so  muß  er  alle 
gute  Handlungen  belohnen.  Wenn  er  nun  Vermögen  hat,  so  kann  er 
dasselbe  auf  keine  beßre  Intereßen  geben,  als  wenn  er  damit  gute 
Handlungen  ausübt,  aus  der  Absicht,  um  nur  von  Gott  belohnt  zu 

30  werden,  welches  die  Bibel  den  ungerechten  Mammon  nennt,  und  sagt, 
daß  die  Kinder  der  Finsternis  klüger  seyn,  als  die  Kinder  des  Lichts, 
weil  nun  ein  solcher  das  gethan,  was  das  moralische  Gesetz  zu  thun 
fordert,  aber  ohne  Gesinnung,  so  hat  er  es  quoad  litteram  erfüllet. 
Allein,  die  anima  legis  moralis  war  nicht  erfüllt,  diese  erfordert  sittlich 

35  moralische  Gesinnungen.  /  Es  ist  nicht  gleich  viel  und  einerley,  aus  was  ?o 
für  einem  Bewegungs-Grunde  die  Handlung  geschiehet.  Das  mora- 
lische Gesetz  ist  also  nur  das  was  Geist  hat ;  überhaupt  ein  Gegenstand 
der  Vernunft  hat  Geist,  nun  ist  aber  mein  Vortheil  kein  Gegenstand 


280  Vorlesimgen  über  Moralphilosophie 

der  Vernunft,  also  hat  auch  solche  Handlung  die  aus  dieser  Absicht 
geschieht,  keinen  Geist. 

Autor  ist  in  der  Erklärung  des  Juris  so  weitläuf  tig,  daß  er  nur  Worte 
illustrirt  und  das  ethische  mit  dem  juridischen  zusammennimt.  Die 
Verbindlichkeit  ist  ethisch,  wenn  der  Grund  der  Obligation  in  der  5 
Beschaffenheit  der  Handlung  selbst  ist,  juridisch  aber,  wenn  der 
Grund  der  Obligation  in  der  Willkühr  eines  andern  ist.  Der  Unterschied 
der  Ethic  besteht  also  darin: 

1)  sie  unterscheidet  sich  vom  jure  in  Ansehung  der  Gesetze,  die  sich 
Ti  gar  nicht  auf  andre  Menschen  /  beziehn,  sondern  nur  auf  Gott  und  auf  lo 

sich  selbst, 

2)  daß  wenn  sie  sich  auf  andre  Gesetze  bezieht,  so  hat  die  Verbind- 
lichkeit zu  der  Handlung  ihren  Grund  nicht  in  dem  arbitrio  eines 
andern,  sondern  in  der  Handlung  selbst.  Und  endlich  3)  daß  der 
Bewegungsgrund  seiner  Verbindlichkeit  ein  Genüge  zu  thun,  nicht  der  i5 
Zwang,  sondern  die  freye  Gesinnung  oder  Pflicht  sey. 

Der  äußere  Bewegungsgrund  ist  Zwang,  und  die  Handlung  ist 
juridisch,  der  innre  Bewegungsgrund  ist  Pflicht,  und  die  Handlung  ist 
ethisch.  Bey  der  juridischen  Obhgation  fragt  man  nicht  nach  der  Ge- 
sinnung, die  mag  seyn  \vde  sie  will,  wenn  nur  die  Handlung  geschieht.  20 
Bey  den  ethischen  ObHgationen  muß  der  Bewegungsgrund  innerlich 
sejoi;  man  muß  die  Handlung  deswegen  thun,  weil  es  sich  geziemt,  ich 

TS  muß  meine  /  Schuld  bezahlen,  nicht  weil  mich  der  andre  zwingen  kann, 
sondern  weil  es  sich  geziemt. 

Der  Autor  redet  hier  noch  von  der  Transgreßion  oder  Uebertretung  25 
der  Gesetze,  von  der  Beobachtung  der  Gesetze,  und  von  denen  Per- 
sonen, denen  entgegen  gehandelt  wird  oder  von  der  Laesion.  Das 
Gesetz  wird  nicht  laedirt,  sondern  übertreten,  aber  die  Person  kann 
laedirt  werden.  Die  laesion  kommt  nicht  in  der  Ethic  vor,  denn  ich 
laedire  keinen  Menschen,  wenn  ich  keine  ethische  Pfhchten  gegen  ihn  so 
thue.  Also  oppositio  jiu-is  alterius  ist  eine  Laesion.  Die  Antinomie  oder 
Widerstreit  kann  bey  den  Gesetzen  statt  finden,  wenn  die  Gesetze  nur 
den  Grund  zur  Obhgation  enunciren;  wenn  aber  die  Gesetze  an  sich 
selbst  obligiren,  so  können  sie  nicht  widerstreiten.  Der  Autor  trägt 

7S  3  Grundsätze  vor,  die  als  axiomata  der  Moral  angenommen  sind :  /  35 
honeste  vive,  neminem  laede,  cuique  suum  tribue.  Wir  wollen  zeigen 
was  ihr  Sinn  ist,  so  fern  sie  als  axiomata  der  Moral  ihre  Gültigkeit 
haben  sollen.  Der  erste  Satz :  honeste  vive,  kann  angesehn  werden  als 
ein  allgemeines  principium  der  Ethic,  denn  der  Bewegungsgrund  seine 


Moralphilosophie  Collins  281 

Verbindlichkeit  zu  erfüllen  ist  nicht  aus  Zwang,  sondern  aus  der 
innern  Bewegung  genommen.  Honestus  bedeutet  dasjenige  Verhalten 
und  die  Eigenschaft  des  Menschen,  wenn  er  was  thut,  das  Ehren werth 
ist.  Der  Satz  wird  also  lauten:  thue  das,  was  dich  zum  Objekt  der 
5  Achtung  und  Schätzung  macht.  Alle  unsre  Pflichten  gegen  uns  selbst, 
haben  solche  Beziehung,  Achtung  in  unsern  Augen  und  Beyfall  in  den 
Augen  anderer.  Der  ist  geringschätzig,  je  weniger  innern  Werth  er  in 
sich  hat.  /  Die  Schändlichkeit  andrer  bringt  Haß  hervor,  die  Nichts-  T4 
Würdigkeit  bringt  Verachtung  hervor.  Man  soll  sich  also  nach  diesem 

10  Satz  aufführen,  daß  man  ehrenwerth  sey,  daß  man,  wenn  es  allgemein 
bekannt  wird,  von  allen  Achtung  und  Schätzung  verdient,  z.  E.  die 
unnatürlichen  Sünden  sind  von  der  Art,  daß  sie  die  Menschheit  ent- 
ehren, in  ihrer  eignen  Person.  Ein  solcher  ist  nicht  ehrenwerth,  und 
wenn  es  allgemein  bekannt  wird,  so  wird  er  verachtet.  Einer  positiven 

15  Ehre  ist  der  werth,  dessen  Handlungen  verdienstlich  sind,  dessen 
Handlungen  mehr  enthalten  als  sie  schuldig  sind  zu  enthalten. 
Der  ist  aber  der  Ehre  nur  nicht  unwerth,  der  alles  schändliche  unter- 
laßen,  der  ist  nur  ehrlich,  welches  aber  kein  Verdienst  ist,  sondern  das 
minimum  der  Moralität,  denn  so  fern  etwas  davon  fehlt,  so  ist  man 

20  schon  ein  Schelm.  /  Daher  ist  der  Zustand  desjenigen  Landes  sehr  »5 
schlecht,  wo  die  Ehrlichkeit  hochgehalten  wird ;  denn  daselbst  ist  sie 
recht  selten  und  rar,  dahero  wird  sie  hochgehalten.  Diejenigen  Hand- 
lungen aber  sind  nur  ethisch,  die  mehr  enthalten  als  die  Schuldigkeit 
fordert.  Handele  ich  so,  daß  ich  nichts  mehr  thue,  als  was  ich  schuldig 

25  bin,  so  habe  ich  nur  ehrlich  gelebt  aber  deswegen  verdiene  ich  noch 
keine  Ehre.  Wenn  ich  aber  mehr  thue,  als  ich  schuldig  bin,  so  ist  das 
eine  ehrwürdige  Handlung,  und  nur  die  gehören  zur  honestati.  Also  ist 
dieses  principium  der  Ethic  noch  so  möglich.  Die  2  andern  Sätze: 
neminem  laede  und  suum  cuique  tribue,  können  als  principia  der 

30  juridischen  Verbindlichkeit  angesehn  werden,  denn  sie  beziehn  sich 
auf  Zwangs-Pflichten.  Denn  laße  jedermann  das  seinige,  heißt  so  viel, 
du  mußt  /  jedem  dasjenige  was  er  mit  Zwang  von  dir  fordern  kann,  u 
laßen.  Beyde  Sätze  können  mit  einander  verbunden  werden,  denn 
wenn  ich  jemandem  das  seinige  nehme,  so  laedire  ich  ihn.  Ich  kann 

35  einen  laediren,  entweder  durch  omißion,  wenn  ich  ihm  das  seinige 
nicht  gebe,  oder  durch  commißion,  wenn  ich  ihm  das  seinige  nehme. 
Also  kann  ich  Jemandem  das  seinige  negative  und  positive  nehmen. 
Negative  ist  wichtiger,  denn  es  ist  mehr,  dem  andern  das  seinige  zu 
nehmen,  als  es  ihm  nicht  zu  geben.  Die  Laesion  besteht  also  in  der 


282  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

Handlung  die  dem  Gesetz  des  andern  entgegen  ist.  Denn  laedire  ich 
die  Person ;  die  hat  ein  Recht  von  mir  das  zu  fordern,  was  nach  allge- 
meinen Gesetzen  der  Willkühr  noth wendig  ist.  In  der  Moral  haben  die 

TT  Gesetze  eine  /  Beziehung  av;f  den  Willen  eines  andern.  Ethice  obligans 
respectu  aliorum  est  felicitas  aliorum,  juridice  obligans  respectu  5 
aliorum  est  arbitrium  aliorum.  Die  erste  Bedingung  aller  ethischen 
Pflichten  ist  aber  diese,  daß  der  juridischen  Verbindlichkeit  zuerst  ein 
Genüge  gethan  wird.  Diejenige  Verbindlichkeit  die  aus  dem  Recht  des 
andern  entspringt,  muß  zuerst  satisfacirt  werden,  denn  wenn  ich  auch 
unter  der  juridischen  Obligation  bin,  so  bin  ich  nicht  frey,  denn  ich  lo 
stehe  unter  der  Willkühr  des  andern.  Wenn  ich  nun  aber  eine  ethische 
Pflicht  ausüben  will,  so  will  ich  eine  freye  Pflicht  ausüben;  wenn  ich 
noch  nicht  von  der  juridischen  Obligation  frey  bin,  muß  ich  mich  erst 
von  der  juridischen  Obligation  frey  machen,  indem  ich  sie  erfülle,  und 

Tsdenn  kann  ich  erst  die  ethische  Pflicht  ausüben.  /  So  unterlaßen  sehr  i5 
viele  ihre  schuldige  Pflichten,  und  wollen  verdienstliche  ausüben. 
So  macht  der,  der  in  der  Welt  viel  Unrecht  gethan,  und  vielen  das 
seinige  entzogen,  zulezt  Vermächtniße  an  das  Hospital.  Allein,  die 
Stimme  ist  durchdringlich  und  eisern,  die  da  schreit,  daß  man  seine 
Schuldigkeit  noch  nicht  gethan  hat,  und  die  kann  ein  solcher  durch  20 
alle  verbindliche  Handlungen  nicht  unterdrücken,  und  solche  ver- 
dienstlichen Handlungen  sind  noch  größere  Verbrechen,  denn  sie  sind 
als  Bestechungen  und  Geschenke  gegen  das  höchste  Wesen  gegeben, 
um  die  Schuld  gut  zu  machen.  Also  ist  die  Glükseligkeit  nicht  der 
Hauptbewegungsgrund  aller  Pflichten.  Daher  kann  mich  einer  nicht  25 

T9  glücklich  machen  wider  meinen  Willen,  sonst  thut  er  mir  un/recht. 
Daher  ist  die  Art  andre  zu  zwingen  auf  ihre  Manier  glücklich  zu  seyn, 
Gewalt,  z.  E.  der  Vorwand  der  Edelleute  gegen  ihre  Unterthanen ! 


Vom  Gesetzgeber. 

Moral  und  pragmatische  Gesetze  sind  zu  unterscheiden.  Im  mora-  so 
lischen  Gesetz  ist  der  Sinn  die  Gesinnungen,  im  pragmatischen  Gesetz 
ist  der  Sinn  die  Handlungen.  Dahero  obligiren  Obrigkeiten  nur  zu 
Handlungen  und  nicht  zu  Gesinnungen.  Pragmatische  Gesetze  können 
gegeben  werden,  dies  ist  leicht  einzusehen,  ob  aber  Jemand  moralische 
Gesetze  geben  kann,  und  über  unsre  Gesinnungen  gebieten,  die  nicht  35 
in  seiner  Gewalt  sind,  das  ist  zu  untersuchen.  Derjenige  der  da 
deklariret,  daß  ein  Gesetz  welches  seinem  Willen  gemäß  ist,  den  andern 


Moralphilosophie  Collins  283 

/  dazu  obligirt,  der  giebt  ein  Gesetz.  Der  Gesetzgeber  ist  nicht  zugleich  so 
immer  ein  Urheber  des  Gesetzes,  sondern  nur  denn,  wenn  die  (besetze 
zufälhg  sind.  Wenn  aber  die  Gesetze  nothwendig  practisch  sind,  und  er 
sie  nur  deklariret,  daß  sie  seinem  Willen  gemäß  sind,  der  ist   ein 

5  Gesetzgeber.  Von  morahschen  Gesetzen  ist  also  kein  Wesen,  auch  das 
göttliche  nicht,  ein  Urheber,  denn  sie  sind  nicht  aus  der  Willkühr  ent- 
sprungen, sondern  sind  practisch  nothwendig;  wären  sie  nicht  noth- 
wendig, so  könnte  auch  seyn,  daß  die  Lüge  eine  Tugend  wäre.  Allein 
die  moralischen  Gesetze  können  doch  unter  einem  Gesetzgeber  stehn; 

10  es  kann  ein  Wesen  seyn,  welches  alle  Macht  und  Gewalt  hat,  diese 
Gesetze  zu  executiren,  und  zu  deklariren,  daß  dieses  moralische  Gesetz 
zugleich  ein  Gesetz  seines  Willens  sey  und  alle  obligire,  darnach  zu 
handeln.  Alsdenn  ist  dieses  Wesen  ein  Gesetzgeber,  aber  kein  Urheber. 
Eben  so  wie  Gott  kein  Urheber  ist,  daß  /  der  Triangel  3  Winkel  hat.  81 

15  Der  Geist  der  moralischen  Gesetze  liegt  in  den  Gesinnungen,  und 
die  moralischen  Gesetze  können  zugleich  als  göttliche  Gebote  angesehn 
werden,  weil  sie  seinem  Willen  gemäß  sind.  Die  moralischen  Gesetze 
können  aber  auch  als  pragmatische  Gesetze  Gottes  angesehn  werden, 
in  so  fern  wir  nur  auf  die  Handlungen  sehn,  die  im  Gesetze  geboten 

20  sind,  z.  E.  das  moralische  Gesetz  fodert  die  Glükseeligkeit  aller  Men- 
schen zu  befördern,  und  dieses  will  auch  Gott;  handle  ich  nun  dem 
götthchen  Willen  gemäß,  und  übe  Wohlthaten  aus,  um  darnach  von 
Gott  Belohnungen  zu  erhalten,  so  habe  ich  nicht  aus  moralischen 
Gesinnungen  die  Handlung  gethan,  sondern  aus  Beziehung  des  gött- 

25  liehen  Willens,  um  hernach  belohnet  zu  werden.  /  In  so  fern  hat  der  sa 
Mensch  dem  göttlichen  Gesetz  pragmatisch  ein  Genüge  gethan,  gleich- 
wohl hat  er  doch  das  Gesetz  erfüllet,  und  hat  sich  in  so  fern  gute 
Folgen  zu  versprechen,  indem  er  doch  das  gethan,  was  Gott  gewollt 
hat,  obgleich  die  Gesinnung  unrein  war.  Allein  Gott  will  die  Gesinnung, 

30  die  Moralität  ist  seinem  Willen  gemäß,  und  als  solche  Gesetze  obligiren 
sie  schon  vollkommen.  Geschieht  nun  eine  Handlung  der  Moralität 
gemäß,  so  ist  doch  die  größte  Uebereinstimmung  mit  dem  göttlichen 
Willen.  Wir  haben  also  Gott  nicht  als  einen  pragmatischen  Gesetz- 
geber, sondern  als  einen  moralischen  Gesetzgeber  anzusehn. 

35  Von  Belohnungen  und  Bestrafungen. 

Ein  praemium  ist  vom  mercede  zu  unterscheiden.  Die  praemia  sind 
entweder  auctorantia   oder  remunerantia.   Auctorantia  sind   solche 


284  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

83  Belohnungen,  wo  die  Handlungen  Bewegungsgründe  sind,  /  wo  man  die 
Handlungen  bloß  wegen  der  verheißenen  Belohnungen  thut;  remune- 
rantia  sind  solche  Belohnungen,  wo  die  Handlungen  nicht  Bewegungs- 
gründe sind,  sondern  die  bloß  aus  guter  Gesinnung,  aus  reiner  Moralität 
geschehn.  Die  ersten  sind  antreibende  und  die  andern  vergeltende  Be-  5 
lohnungen.  Demnach  können  die  praemia  auctorantia  nicht  moralia, 
aber  die  praemia  remunerantia  können  moralia  seyn.  Die  Auctorantia 
sind  pragmatica  und  die  remunerantia  sind  moralia.  Wer  aus  den 
Bewegungsgründen  der  physischen  Wohlfahrt  eine  Handlung  thut, 
bloß  wegen  der  verheißenen  Belohnung,  deßen  Handlung  hat  keine  lo 
Moralität,  demnach  hat  er  keine  praemia  remunerantia  sondern 
auctorantia  zu  erwarten.  Handlungen  aber,  die  bloß  aus  guter  Gesin- 

84  nung  und  reiner  Moralität  geschehn,  sind  /  der  praemiorum  remune- 
rantium  fähig.  Die  praemia  auctorantia  sind  vielen  bloße  natürliche 
Folgen  und  Verheißungen,  z.  E.  die  Gesundheit  ist  ein  praemium  i5 
auctorans  der  Mäßigkeit;  ich  kann  aber  auch  mäßig  seyn  aus  mora- 
lischen Gründen.  So  hat  die  Ehrlichkeit,  wenn  sie  wegen  des  Vortheils 
und  Beyfalls  geschieht,  ein  praemium  auctorans.  Der  dem  moralischen 
Bewegungsgrunde  gemäß  handelt,  ist  des  praemii  remunerantis  fähig. 
Diese  praemia  sind  größer  als  die  auctorantia,  denn  hier  ist  die  Ueber-  20 
einstimmung  der  Handlung  mit  der  Moralität,  und  das  ist  die  größte 
Würde  der  Glükseeligkeit.  Demnach  müßen  auch  die  praemia  moralia 
größer  seyn  als  die  pragmatica.  Die  praemia  moralia  haben  eine  unend- 
liche Bonitaet.  Der  moralisch  Gesinnte  ist  darum  einer  unendlichen 
Belohnung  und  Glükseeligkeit  fähig,  weil  er  immer  bereit  ist  solche  25 

85  gute  Handlungen  auszuüben.  Es  ist  nicht  gut,  /  wenn  man  in  der 
Religion  die  praemia  auctorantia  vorstellt,  und  daß  man  darum 
moralisch  seyn  soll,  weil  man  künftig  dafür  belohnt  wird ;  denn  es  kann 
kein  Mensch  verlangen,  daß  Gott  ihn  belohne  und  glükseelig  mache. 
Er  kann  die  Belohnung  vom  höchsten  Wesen  erwarten,  welches  ihn  30 
wegen  solcher  ausgeübten  Handlung  schadlos  hält;  allein,  es  muß  die 
Belohnung  nicht  der  Bewegungsgrund  seyn  eine  Handlung  zu  thun. 
Der  Mensch  kann  hoffen  glükseelig  zu  seyn,  das  muß  ihn  aber  nicht 
bewegen,  sondern  nur  trösten.  Derjenige  welcher  moralisch  lebt,  kann 
hoffen  deswegen  belohnt  zu  werden,  daß  der  frohe  Muth  entspringt,  35 
aber  nicht  aus  dem  Bewegungsgrunde  der  Belohnung;  denn  die 
Menschen  haben  doch  keine  rechte  Vorstellung  von  der  künftigen 
Glükseeligkeit,  es  weiß  doch  keiner,  worinn  sie  bestehn  wird,  welches 

86  die  Vorsehung  uns  mit  Fleiß  verborgen  hat.  Würde  /  der  Mensch  die 


Moralphilosophie  Collins  285 

Glükseeligkeit  kennen,  so  Avürde  er  wünschen  bald  da  zu  seyn.  Das 
thut  aber  kein  Mensch,  er  wünscht  noch  immer  länger  hier  zu  bleiben, 
und  wenn  man  ihm  noch  so  die  künftige  Glükseeligkeit,  gegen  dieses 
elende  Leben  hochpreißt,  so  wünscht  doch  jeder,  nicht  l)ald  da  zu  seyn, 
5  indem  er  noch  zeitig  genug  dazu  zu  gelangen  denkt,  und  es  ist  auch 
natürlich,  daß  ein  jeder  dieses  gegenwärtige  Leben  mehr  empfindet, 
weil  es  klarer  kann  erkannt  und  gefühlt  werden.  Dahero  ist  es  umsonst, 
die  praemia  als  auctorantia  vorzustellen,  wohl  aber  als  remunerantia, 
und  diese  hofft  auch  jeder  Mensch;  denn  das  natürliche  moralische 

10  Gesetz  führt  schon  solche  Verheißungen  mit  sich,  bey  einem  Subject, 
welches  moralisch  gute  Gesinnungen  hat,  /  und  wenn  ihm  auch  keiner  ^i 
diese  praemia  remunerantia  gepriesen  und  empfohlen  hätte.  Ein  jeder 
Rechtschaffne  hat  diesen  Glauben,  er  kann  unmöglich  rechtschaffen 
seyn.  ohne  zugleich  zu  hoffen  nach  der  Analogie  der  physischen  Welt, 

15  daß  solches  auch  müßte  belohnt  werden.  Aus  eben  dem  Grunde,  aus 

welchem  er  an  die  Tugend  glaubt,  glaubt  er  auch  an  die  Belohnung. 

Merces  ist  ein  Lohn,  den  man  mit  Recht  von  Jemandem  zu  fodern 

hat.  Lohn  ist  also  von  Belohnung  zu  unterscheiden.  Wenn  man  seinen 

Lohn  erwartet,  so  fodert  man  ihn  vom  andren  nach  seiner  Schuldig- 

20keit.  Von  Gott  können  wir  keinen  Lohn  für  unsre  Handlung  fodren, 
weil  wir  ihm  doch  nichts  zu  gut  gethan  haben  /  sondern  wdr  nur  zu  88 
unserm  Besten  alles  gethan,  was  wir  zu  thun  schuldig  waren.  Ob  wir 
zwar  von  Gott  keinen  Lohn  als  Verdienst  zu  erwarten  haben,  so 
können  wir  doch  praemia  gratuita  erwarten,  die  gleichwohl  als  Lohn 

25  angesehn  werden,  besonders  in  Ansehung  andrer  Menschen,  gegen  die 
wir  gute  Handlungen  ausgeübt  haben.  Nun  können  wir  Gott  als  einen 
solchen  ansehn,  der  alle  die  Schulden  der  Menschen  bezahlt,  indem 
Gott  diejenige  verdienstliche  Handlungen,  die  wir  gegen  andre 
ausgeübet,  denen  wir  es  doch  nicht  zu  thun  schuldig  waren,  vergeltet. 

30  Also  haben  wir  warklich  verdienstliche  Handlungen,  zwar  nicht  gegen 
Gott,  sondern  gegen  /  andre  Menschen.  Dieser  Mensch  ist  doch  alsdenn  89 
in  meiner  Schuld,  die  er  mir  gar  nicht  abtragen  kann ;  für  den  aber  Gott 
alles  ersetzet,  welches  auch  das  Evangelium  sagt:  Wenn  ihr  einem 
von  diesen  geringsten  etwas  thut,  so  habt  ihrs  mir  gethan  etc.  etc.  Der 

35  Mensch  hat  also  einen  Lohn  von  anderen  Menschen  verdient,  den  ihm 
aber  Gott  vergeltet.  Man  muß  hier  nicht  eine  eingebildete  Reinlichkeit 
der  Moral  annehmen,  und  alle  verdienstlichen  Handlungen  wegstrei- 
chen. Denn  Gott  will  die  Glükseeligkeit  aller  Menschen,  und  zwar  durch 
Menschen,  und  wenn  nur  alle  Menschen  zusammen  einstimmig  wollten 


286  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

90  ihre  Glückseeligkeit  befördern,  so  könnte  man  /  in  Novoya  Zemlj^a  ein 
Paradies  machen.  Gott  setzt  uns  in  den  Schauplatz  wo  wir  uns  ein- 
ander können  glücklich  machen,  es  beruht  nur  auf  uns.  Sind  die 
Menschen  elend,  so  sind  sie  selbst  schuld.  So  leidet  ein  Mensch  oft  Noth, 
aber  nicht  um  Gottes  willen.  Gott  läßet  ihn  aber  in  der  Noth  zum  5 
Beweiß  für  die  Menschen,  die  ihn  Noth  leiden  laßen,  die  ihm  doch 
zusammen  helfen  könnten.  Gott  will  nicht,  daß  es  einem  einzigen  elend 
gehe.  Er  hat  uns  alle  dazu  bestimmt,  einstimmig  einer  dem  andern  zu 
helfen.  Daher  ist  der  Satz  des  Autors:  Thue  das,  was  dir  die  meiste 
Belohnung  verschafft,  offenbahr  der  Moralitaet  entgegen.  Da  ist  der  lo 
Bewegungsgrund  die  meistbietende  Belohnung.  Allein,  thue  das  was 

91  der  größten  /  Belohnung  würdig  ist,  wäre  recht. 

Strafe  überhaupt  ist  das  physische  Uebel,  was  um  des  moralischen 
Uebels  einem  zu  theil  wird.  Alle  Strafen  sind  entweder  warnende  oder 
rächende.  Warnende  sind  diejenigen,  die  bloß  zu  dem  Ende  deklarirt  i5 
werden,  damit  das  Uebel  nicht  geschehe.  Rächende  sind  aber  solche, 
die  da  deklarirt  werden,  weil  das  Uebel  geschehn  ist.  Die  Strafen  sind 
also  Mittel,  entweder  das  Uebel  zu  verhindern,  oder  zu  bestrafen.  Alle 
obrigkeitliche  Strafen  sind  warnende  Strafen,  entweder  den  Menschen 
selbst,  der  gesündigt  hat,  zu  warnen,  oder  andre  durch  dieses  Beyspiel20 
zu  warnen.  Allein,  die  Strafen  eines  solchen  Wesens,  welches  der 
Moralität  gemäß  die  Handlungen  bestraft,  sind  rächende  Strafen. 
Alle  Strafen  gehören  entweder  zur  Straf gerechtigkeit,  oder  zur  / 

93  Klugheit  des  Gesetzgebers.  Die  ersten  sind  moralische,  die  andern  sind 
pragmatische  Strafen.  Die  moralische  Strafen  werden  ertheilt.  weil  25 
gesündigt  worden ;  es  sind  Consectaria  der  moralischen  Uebertretung. 
Die  pragmatischen  werden  ertheilt.  damit  nicht  gesündigt  werde ;  sie 
sind  Mittel  dem  Verbrechen  vorzubeugen.  Die  pragmatischen  nennt 
der  Autor  poenas  medicinales.  Diese  sind  entweder  correctivae  oder 
exemplares.  Die  correctivae  werden  ertheilt,  um  den  zu  beßern  der  so 
verbrochen  hat,  und  das  sind  animadversiones.  Die  exemplares  ge- 
schehn zum  Beyspiel  andrer.  Alle  Strafen  der  Fürsten  und  der  Obrig- 
keit sind  pragmatische,  entweder  zu  corrigiren  oder  andern  zum  Bey- 
spiel. Die  Obrigkeit  straft  nicht,  weil  verbrochen  ist,  sondern  damit 

93  nicht  /  verbrochen  werde.  Allein  jedes  Verbrechen  hat  noch  außer  35 
dieser  Strafe  eine  Strafwürdigkeit,  darum,  daß  es  geschehn  ist.  Solche 
Strafen,  die  also  nothwendig  auf  die  Handlungen  folgen  müßen,  sind 
die  moralischen,  und  das  sind  poenae  vindicativae.  So  wie  eine  Be- 
lohnung erfolgt  auf  eine  gute  Handlung,  nicht  darum,  damit  man 


Moralphilosophie  Collins  287 

ferner  gute  Handlungen  tliue,  sondern  weil  gut  gehandelt  ist.  Wenn 
wir  die  Bestrafungen  und  Belohnungen  vergleichen,  so  merken  wir, 
daß  weder  die  Bestrafungen  noch  Belohnungen  als  Bewegungsgründe 
der  Handlungen  sollen  angesehn  werden.  Die  Belohnungen  sollen  kein 

5  Bewegungsgrund  seyn  die  gute  Handlungen  zu  thun,  und  die  Bestra- 
fungen sollen  kein  Bewegungsgrund  seyn,  die  bösen  Handlungen  zu  / 
unterlaßen,  indem  sie  eine  Gemüthsart  gründen,  die  niedrig  ist,  in-  94 
dolem  abjectam.  Diese  heißt  bey  dem,  der  durch  Belohnung  bewegt 
wird,  die  gute  Handlung  auszuüben,  indoles  mercennaria,undbeydem 

10  der  durch  die  Strafen  von  den  bösen  Handlungen  abgehalten  wird, 
indoles  serviHs;  beyde  aber  machen  die  indolem  abjectam  aus.  Der 
Bewegungsgrund  soll  moralisch  seyn.  Der  Grund  eine  gute  Handlung 
zu  thun,  soll  nicht  in  der  Belohnung  gesetzt  werden,  sondern  die 
Handlung  soll  belohnt  werden,  weil  sie  gut  ist.  So  soll  auch  nicht  der 

15  Grund  um  böse  Handlungen  zu  unterlaßen  in  die  Strafen  gesetzt 
werden,  sondern  die  Handlungen  sollen  unterlaßen  werden,  weil  sie  böse 
sind.  Die  Belohnungen  und  Bestrafungen  sind  nur  subjective  Bewe- 
gungsgründe, wenn  sie  /  objective  nicht  mehr  fruchten,  sie  dienen  nur  95 
den  Mangel  der  Moralität  zu  ersetzen.  Zuerst  muß  das  Subject  an  die 

20  Moralität  gewöhnt  werden ;  es  muß  zuerst,  eh  man  mit  den  Belohnun- 
gen und  Bestrafungen  angestochen  kommt,  die  indoles  erecta  excitirt 
werden,  das  moralische  Gefühl  muß  erst  rege  gemacht  werden,  damit 
das  Subject  durch  moralische  Motiva  kann  bewegt  werden ;  helfen  die 
nicht,  denn  muß  man  zu  den  subjektiven  Bewegungsgründen  der  Be- 

25  lohnungen  und  Bestrafungen  schreiten.  Der  wegen  guter  Handlungen 
belohnt  wird,  wird  die  guten  Handlungen  wieder  ausüben,  nicht  weil 
sie  gut  sind,  sondern  weil  sie  belohnt  werden,  und  der  wegen  böser 
Handlungen  bestraft  wird,  haßt  nicht  /  die  böse  Handlungen,  sondern  96 
die  Strafe.  Er  wird  die  böse  Handlung  doch  thun  und  durch  jesuitische 

30  Schlauigkeit  der  Strafe  zu  entgehn  suchen.  Es  ist  also  in  der  Religion 
nicht  gut,  die  bösen  Handlungen  aus  den  Bewegungsgründen  der 
ewigen  Strafe  zu  unterlaßen,  anzupreisen,  denn  sonst  wird  jeder  die 
böse  Handlung  thun,  und  bey  sich  denken,  am  Ende  durch  eine 
geschwinde  Bekehrung  allen  Strafen  zu  entgehn.  Allein  die  Beloh- 

35nungen  und  Bestrafungen  können  doch  indirecte  als  Mittel  in  An- 
sehung der  moralischen  Zucht  dienen.  Wer  gute  Handlungen  wegen 
Belohnungen  thut,  dessen  Gemüth  gew^öhnt  sich  hernach  an  die  guten  / 
Handlungen  so,  daß  er  sie  hernach  auch  ohne  Belohnungen  thut,  bloß  91 
deswegen,  weil  sie  gut  sind.  Unterläßt  Jemand  die  bösen  Handlungen 


288  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

wegen  der  Strafe,  so  gewöhnt  er  sich  daran,  und  befindet,  daß  es  beßer 
ist,  solche  Handlungen  zu  unterlaßen.  Wenn  ein  Besoffener  deswegen 
den  Soff  nachläßt,  weil  es  ihm  Schaden  zu  wege  bringt,  so  gewöhnt  er 
sich  daran  so,  daß  er  ihn  hernach  unterläßt,  auch  ohne  solchen  Scha- 
den, bloß  weil  er  einsieht,  daß  es  beßer  ist,  ein  Mäßiger  als  ein  Trunken-  5 
bold  zu  seyn.  Die  Belohnungen  stimmen  mehr  mit  der  Moralität  über- 
ein, denn  die  Handlung  thue  ich  deswegen,  weil  die  Folge  derselben 

98  angenehm  ist,  und  das  /  Gesetz,  welches  mir  für  meine  Gute  Handlung 
Belohnung  verspricht,  werde  ich  liebhaben  können;  aber  das  Gesetz 
welches  Strafen  droht,  kann  ich  nicht  so  lieben.  Die  Liebe  ist  aber  ein  lo 
großer  Bewegungsgrund  die  Handlung  zu  thun.  Dahero  ists  in  der 
Religion  beßer,  mit  den  Belohnungen  als  mit  den  Bestrafungen  anzu- 
fangen. Die  Strafen  müßen  aber  mit  der  indole  directa,  mit  der  edlen 
Denkungsart  übereinstimmen,  sie  müßen  nicht  verächtlich  und 
schimpflich  seyn.  Denn  sonst  machen  sie  eine  unempfindliche  Ge- 15 
müthsart. 

De  imputatione. 

Alle  Zurechnung  ist  das  Urtheil  von  einer  Handlung,  sofern  sie  aus 

99  der  Freyheit  der  Person  entstanden  ist,  /  in  Beziehung  auf  gewiße 
practische  Gesetze.  Es  muß  also  bey  der  Zurechnung  eine  freye  Hand-  20 
lung  und  ein  Gesetz  seyn.  Wir  können  einem  etwas  zuschreiben,  aber 
nicht  zurechnen,  z.E.  einem  Rasenden  oder  Besoffenen  können  seine 
Handlungen  zugeschrieben,  nicht  aber  zugerechnet  werden.  Bey  der 
Zurechnung  muß  die  Handlung  aus  Freyheit  entspringen.  Dem  Besof- 
fenen können  zwar  seine  Handlungen  nicht,  wohl  aber  die  Trunkenheit  25 
selbst,  indem  er  nüchtern  ist,  zugerechnet  werden.  Bey  der  Imputation 
muß  also  die  freye  Handlung  und  das  Gesetz  verbunden  werden.  Eine 
That  ist  eine  freye  Handlung,  die  unter  dem  Gesetze  ist.  Habe  ich 

100  nun  /  auf  die  That  acht,  so  ist  das  imputatio  facti ;  habe  ich  aufs  Gesetz 
Acht,  so  ist  das  Imputatio  legis.  Bey  der  Imputatione  facti  kommen  so 
vor  momenta  in  facto,  dieses  ist  das  mannigfaltige  in  der  That,  was  der 
Grund  der  Imputation  ist.  Momenta  sind  elementa  des  Grundes,  es  sind 
Theile  des  zureichenden  Grundes,  also  sind  in  facto  momenta  der 
Imputation.  Die  momenta  in  facto  geben  keine  Imputation,  sondern 
sind  der  Grund  der  Imputation.  Die  momenta  sind  entweder  eßen-  35 
tialia  oder  extra  eßentiaha.  Die  momenta  eßentialia  müßen  erst 
gesammlet  werden,  wenn  aUe  die  momenta  eßentialia  in  facto  enuncirt 

101  werden,  so  ist  das  species  facti,  was  expreß  zu  dem  /  facto  gehört.  Die 


Moralphilosophie  Collins  289 

extra  eßentialia  facti  sind  nicht  momenta  facti  und  gehören  also  nicht 
zur  species  facti.  Bey  der  imputatione  facti  muß  nicht  zugleich  impu- 
tatio  legis  kommen,  z.  E.  es  kann  einer  den  andern  zwar  getödtet  aber 
doch  nicht  ermordet  haben.  Zuerst  ist  die  Frage,  ob  die  Handlung  von 

5  ihm  geschehn  sey  ?  Wenn  das  factum  gleich  aufs  Gesetz  soll  imputirt 
werden,  so  sind  gleich  2  imputationes.  Die  imputatio  legis  ist  die 
Frage,  ob  die  Handlung  unter  diesem  oder  jenem  praktischen  Gesetze 
stehe  ?  Es  ist  die  Frage,  ob  einem  das  kann  imputirt  werden,  was  er 
kraft  des  Gesetzes  hat  thun  müßen,  z.  E.  dem  General  der  Tod  so  vieler 

10  Feinde  die  in  der  Schlacht  geblieben.  Zwar  der  Tod,  aber  /  nicht  das  102 
Morden.  Allein,  er  wird  hier  betrachtet,  in  so  fern  seine  Handlung  nicht 
frey  war,  sondern  durchs  Gesetz  gezwungen  war,  demnach  kann  es  ihm 
nicht  imputirt  werden.  Als  eine  freye  Handhmg  wäre  sie  ihm  zuge- 
schrieben, aber  als  eine  legale  Handlung  nicht,  sondern  dem,  der  das 

15  Gesetz  gegeben.  Alle  Zurechnung  die  generaliter  geschieht,  geschieht 
entweder  in  meritum,  Verdienst,  oder  in  demeritum,  Schuld.  Die 
Folgen  und  die  Würkungen  der  Handlungen  können  Jemandem 
imputirt,  auch  nicht  imputirt  werden. 

Von  der  imputatione  der  Folgen  der  Handlungen. 

20      Auf  der  andern  Seite  können  mir  alle  Folgen  der  Handlung  ange- 
rechnet werden,  in  so  fern  ich  weniger  oder  mehr  gutes  /  thue  als  ich  10$ 
schuldig  bin.  Thue  ich  mehr  als  ich  schuldig  bin,  so  wird  mir  die  Folge 
zum  merito  angerechnet,  z.  E.  ein  Vorschuß  den  ich  Jemandem  gethan 
habe,  und  wodurch  er  ein  großes  Glück  erlangt  hat,  kann  mir  mit  allen 

25  Folgen  imputirt  werden,  weil  ich  mehr  gethan  habe,  als  ich  schuldig 
war.  So  wird  mir  auch  die  Folge  einer  Handlung  zum  demerito  impu- 
tirt, wenn  ich  weniger  thue  als  ich  schuldig  bin,  z.  E.  wenn  Jemand 
sagt:  Hättest  du  mir  damals  nur  so  viel  vorgeschoßen,  so  wäre  ich 
nicht  in  das  Unglück  gerathen,  da  kann  mir  das  Unglück  nicht  impu- 

3otirt  werden,  weil  ich  es  nicht  zu  thun  schuldig  war.  Handelt  er  aber 
seiner  Schuldigkeit  entgegen,  thut  er  weniger  als  er  soll,  so  wirds  ihm 
imputiret,  denn  da  handelt  er  frey,  ja  so  gar  dem  Gesetz,  /  welches  ihn  104 
zu  der  Handlung  neceßitirt,  entgegen,  und  mißbraucht  also  die  Frey- 
heit,  und  da  können  ihm  alle  Folgen  legaliter  imputirt  werden ;  denn 

35  der  Schuldigkeit  entgegen  handeln  ist  noch  mehr  Freyheit. 

Juridice  imputirt  man  nicht  die  Folgen  der  Handlung,  wozu  einer 
genöthigt  war,  zum  indemerito,  denn  alsdenn  ist  er  nicht  frey  gewesen ; 
das  factum  an  sich  zwar,  aber  nicht  die  Unrechtmäßigkeit  deßelben. 

19     Kaufs  Schriften  XXVII/1 


290  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

In  Ansehung  der  Ausübung  der  ethischen  Handlungen  ist  der  Mensch 
frey;  folglich  können  ihm  alle  Folgen  imputirt  werden;  die  Folgen 
aber,  die  aus  der  Unterlaßung  der  ethischen  Handlung  entspringen, 
können  nicht  imputirt  werden,  weil  es  nicht  als  eine  Handlung  ange- 
105  sehn  werden  kann,  da  ich  das  unterlaße,  was  ich  nicht  /  schuldig  war  5 
zu  thun.  Es  sind  also  ethische  Unterlaßungen  keine  Handlungen; 
juridische  Unterlaßungen  aber  sind  Handlungen  und  können  imputirt 
werden,  denn  es  sind  Unterlaßungen  deßen,  wozu  ich  durchs  Gesetz 
neceßitirt  werden  kann;  zu  ethischen  Handlungen  aber  kann  ich 
nicht  neceßitirt  werden,  es  kann  mich  niemand  zwingen  Wohlthaten  lo 
auszuüben.  Der  Schluß  der  ganzen  Imputation  also  in  Ansehung  der 
Folgen  ist  die  Freyheit. 

Gründe  der  moralischen  Imputation. 
Imputatio  moralis  kann  bey  juridischen  und  ethischen  Gesetzen 
statt  finden,  und  bestehet  in  meritum  und  demeritum.  Die  Beobach- 15 

loetung  der  juridischen  /  Gesetze  und  die  Uebertretung  der  ethischen 
Gesetze  können  weder  zum  merito  noch  demerito  imputirt  werden. 
Ferner,  die  Uebertretung  juridischer  Gesetze  und  die  Beobachtung  der 
ethischen  Gesetze  müßen  jederzeit  zum  merito  und  demerito  imputirt 
werden.  Also  ist  in  Ansehung  der  juridischen  Gesetze  kein  meritum,  20 
weder  der  Belobung  noch  der  Bestrafung.  In  Ansehung  der 
ethischen  Gesetze  ist  aber  jede  Handlung  ein  meritum,  weil  sie  keine 
Zwangs-Gesetze  sind  und  die  Uebertretung  derselben  auch  kein  de- 
meritum. 

Ein  meritum  hat  immer  positive  Folgen,  so  wohl  die  Belohnung  als  25 
die  Bestrafung.  Alle  Beobachtung  juridischer  und  alle  Uebertretung 

10»  ethischer  Gesetze  haben  keine  positive  Folgen.  /  Die  Beobachtung 
juridischer  Gesetze  hat  nur  negative  Folgen,  z.  E.  bezahle  ich  meine 
Schuld,  so  werde  ich  nicht  verklagt.  Aber  die  Uebertretung  juridischer 
und  die  Beobachtung  ethischer  Gesetze  haben  iederzeit  positive  Fol-  so 
gen.  Alles  was  nun  von  der  Imputation  angeführt,  gilt  nur  in  Ansehung 
der  andren  Menschen,  aber  nicht  in  Ansehung  Gottes. 

De  imputatione  facti 
Facta  juridice  neceßaria  können  nicht  imputirt  werden,  denn  die 
Handlung  ist  nicht  frey.  Facta,  die  dem  juridischen  Gesetze  entgegen  35 
sind,  können  imputirt  werden,  denn  die  Handlung  ist  frey.  Bey  den 
ethischen  Handlungen  ist  es  entgegengesetzt.  Folglich  ist  die  Hand- 


Moralphilosophie  Collins  291 

lung  die  imputirt  wird,  im  juridischen  eine  böse  und  im  ethischen 
Verstände  eine  /  gute  Handlung;  denn  die  ethischen  Gesetze  sind  keine  I08 
Zwangs-Gesetze;  wohl  aber  die  juridischen. 

Grade  der  Imputation. 

5  Die  Grade  der  Imputation  kommen  auf  die  Grade  der  Freyheit  an. 
Die  subjectiven  Bedingungen  der  Freyheit  sind  das  Vermögen  zu 
handeln,  ferner,  daß  man  das  wiße,  was  dazu  gehöre,  daß  man  den 
Bewegungsgrund  und  den  Gegenstand  der  Handlung  kenne.  In  Er- 
manglung dieser  subjectiven  Gründe  findet  keine  Imputation  statt. 

10  Daher  kann  Kindern,  wenn  sie  etwas  nützliches  verderben,  daßelbe 
nicht  imputirt  werden,  weil  sie  den  Gegenstand  nicht  kennen;  indeßen 
kann  man  Handlungen  im  gewißen  Grad  imputiren,  alles  ist  impu- 
tabel  was  zur  Freyheit  gehört,  wenn  es  auch  nicht  directe  aber  doch 
indirecte  durch  die  /  Freyheit  entstanden  ist,  z.  E.  was  jemand  im  I09 

15  betrunkenen  Muth  gethan  hat,  kann  wohl  nicht  imputirt  werden ;  aber 
die  Trunl<:enheit  kann  ihm  zugerechnet  werden. 

Dieselben  Ursachen,  die  da  machen,  daß  einem  etwas  nicht  imputirt 
werden  kann,  können  auch  in  einem  niedern  Grade  Jemandem  imputirt 
werden.  Wir  haben  Hinderniße  und  Bedingungen  der  Imputation. 

20  Je  mehr  eine  Handlung  Hinderniße  hat,  desto  mehr  kann  sie  imputirt 
werden,  und  je  weniger  eine  Handlung  frey  ist,  desto  weniger  ist  sie  zu 
imputiren.  Der  Grad  der  Moralität  der  Handlungen  muß  nicht  ver- 
mengt werden  mit  dem  Grad  der  imputabilitaet  des  facti.  Wenn 
jemand  einen  in  Eifer  und  Zorn  tödtet,  so  hat  er  nicht  so  viel  Bosheit 

25  gehabt  als  einer,  der  dem  andern  mit  kaltem  Blute  einen  tödtlichen 
Stich  beybringt,  obgleich  das  factum  des  ersten  größer  ist.  /  Diejenige  iio 
Handlung  zu  der  ich  mich  zwingen  soll,  und  wo  ich  viele  Hinderniße 
zu  überwinden  habe,  wird  mehr  imputirt,  je  williger  sie  ausgeübt  wird, 
und  desto  weniger  auch  ihre  Unterlaßung  imputirt,  z.  E.  wenn  ein 

30  Hungriger  Speise  entwendet,  so  wirds  ihm  nicht  so  hart  imputirt, 
weil  er  sich  sehr  zwingen  mußte.  Die  Appetita  fodern  selbstzwang; 
wenn  sie  aber  den  Grad  der  Imputation  verändern  sollten,  was  würde 
denn  wohl  daraus  erfolgen  ?  Doch  ist  der  Appetit  der  Natur  und  der 
Lüsternheit  zu  unterscheiden;  der  Iste  ist  nicht  so  hart  als  der  andre 

35  zu  imputiren.  Die  Lüsternheit  kann  ausgerottet  werden,  und  muß 
nicht  Wurzel  schlagen;  es  kann  also  einem  nicht  so  imputirt  werden, 
wenn  er  etwas  aus  Antrieb  des  Hungers  als  aus  Wollust  thut.  Von  der 
natürlichen  Neigung  aber  ist  zu  merken :  Je  mehr  ein  Mensch  mit  der- 


292  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

selben  kämpft,  desto  mehr  ist  es  ihm  zu  imputiren;  daher  uns  die 
Tugend  mehr  als  den  Engeln  zu  imputiren  ist,  weil  sie  nicht  so  viel 

111  Hinderniße  haben.  Je  mehr  Jemand  /  von  außen  zu  einer  Handlung 
gezwomgen  wird,  desto  weniger  wird  sie  ihm  imputirt.  Ueberwindet  er 
aber  den  Zwang  und  unterläßt  doch  die  Handlung,  so  wird  sie  ihm  5 
desto  mehr  imputirt.  Es  gibt  merita  und  demerita  conatus,  man  kann 
auch  merita  und  demerita  propositi  hierher  rechnen.  Die  Menschen 
rechnen  es  sich  zum  Verdienst,  wenn  sie  den  Vorsatz  zu  einer  Hand- 
lung hatten.  Beim  proposito  kann  keine  Handlung  imputirt  werden, 
denn  es  ist  noch  keine  Handlung,  wohl  aber  beim  conatus,  weil  das  10 
schon  eine  Handlung  ist,  denn  beim  subiect  ist  alles  zureichend,  und 
die  Kräfte  sind  angewendet;  weil  sie  aber  nicht  zureichen,  so  erfolgt 
die  Würkung  nicht. 

Weil  wir  nun  erst  aus  dem  Ausgang  auf  die  sufficienz  schließen,  und 
also  nicht  wißen  können,  ob  der  conatus  schon  da  war,  und  es  nur  an  15 
den  Kräften  fehlete,  so  imputiren  die  juridischen  Gerichte  den  Cona- 
tum  nicht  so,  als  wie  die  ethischen  Gesetze,  z.  E.  wer  im  Begriff  war, 
jemanden  in  der  Stube  zu  tödten,  und  wird  mit  dem  Degen  ertappet, 
der  wird  nach  den  juridischen   Gesetzen  noch  für  keinen  Mörder 

nagehalten,  obgleich  der  conatus  /  da  war.  Die  Ursache  ist,  weil  der 20 
Conatus  oft  nicht  als  ein  Actus  angesehn  werden  kann.  Es  kann 
Jemand  den  Vorsatz  haben,  und  vermuthet  solche  Bosheit  von  seinem 
Herzen,  wenn  er  aber  zur  Handlung  schreiten  will,  so  erschrickt  er  für 
die  Abscheulichkeit  solcher  Handlung  und  ändert  also  den  Vorsatz. 
Es  wählen  die  Richter  also  das  sicherste  Mittel,  damit  die  Unschuld  25 
gerettet  werde,  weil  doch  kein  Beweiß  da  ist.  Moralisch  aber  ist  ein 
complettes  propositum  so  gut  als  die  That  selbst.  Das  propositum 
aber  muß  so  seyn,  daß  es  auch  bey  der  Ausführung  bleiben  möchte. 
Consvetudinarius  ist  einer,  der  die  Handlung  aus  Gewohnheit  sich 
nothwendig  macht.  Die  Gewohnheit  macht  Leichtigkeit  in  der  Hand-  so 
lung,  zulezt  aber  auch  Nothwendigkeit.  Diese  Nothwendigkeit  aus 
Gewohnheit  verringert  die  Imputation,  weil  sie  unsre  Willkühr  ge- 
fesselt hat;  allein  die  actus,  wodurch  die  Gewohnheit  zugezogen  ist, 
sind  zu  imputiren.  Es  verringert  also  die  Gewohnheit  die  Imputation, 

113  z.  E.  /  es  ist  jemand  unter  Zigeunern,  wo  die  Gewohnheit  zu  bösen  35 
Handlungen  zur  Nothwendigkeit  geworden  ist,  auferzogen,  dann  ist 
die  Imputation  zu  vermindern.  Allein  die  Gewohnheit  ist  ein  Beweis 
der  öftern  Wiederholung  der  Handlung  und  also  um  desto  mehr  zu 
imputiren.  Wenn  einer  oft  eine  gute  Handlung  wiederholet  hat,  und 


Moralphilosophie  CoUins  293 

sie  ihm  dahero  zur  Gewohnheit  geworden  ist,  so  wird  sie  ihm  nur  desto 
mehr  imputirt.  Das  gilt  auch  von  bösen  Handlungen.  So  sind  ange- 
bohrne  Affecten  nicht  so  sehr  zu  imputiren,  als  angewöhnte,  die  durch 
wiederholte  Anreizungen  zur  Noth wendigkeit  geworden. 

5  Zulezt  kommen  wir  auf  2  Punkte,  die  als  Gründe  der  Imputation 
angesehn  werden  könnten,  nähmlich  auf  die  Schwäche  der  mensch- 
lichen Natur  und  auf  die  Gebrechlielikeit  derselben. 

Die  Schwäche  der  menschlichen  Natur  ist,  so  ferne  ihr  der  Grad 
der    moralischen    Bonität    fehlt,    die    Handlung    dem    moralischen 

10 Gesetz   adaequat  /  zu  machen.  Die  Gebrechlichkeit  derselben   aberiH 
ist,   in   so   fern   in   ihr   nicht   nur  ein  Mangel   an  der  Moralischen 
Bonitaet  ist,  sondern  auch  gar  die  größten  principia  und  Triebfedern 
zu  bösen  Handlungen  in  ihr  herrschen.  Die  Moralität  besteht  darin: 
daß  eine  Handlung  aus  dem  Bewegungsgrunde  der  Innern  Bonitaet 

15  derselben  entspringen  soll,  und  das  gehört  zur  moralischen  Reinigkeit, 
rectitudo  moralis  genannt.  Der  höchste  Bewegungsgrund  also  zu  einer 
Handlung  ist  rectitudo  moralis.  Obgleich  der  Verstand  dies  wohl  ein- 
sieht, so  hat  doch  dieser  Bewegungsgrund  keine  treibende  Kraft.  Die 
moralische  Vollkommenheit  hat  zwar  einen  Beyfall  in  unserm  Urtheil, 

20  weil  aber  dieser  Bewegungsgrund  der  moralischen  Vollkommenheit 
aus  dem  Verstände  geschöpft  ist,  so  hat  er  nicht  solche  starke  treibende 
Kraft  als  der  sinnliche,  und  das  ist  die  Schwäche  der  menschlichen 
Natur,  wenn  ihr  die  moralische  Bonitaet  und  rectitudo  fehlt.  Allein, 
laßet  uns  nicht  über  die  Schwäche  der  menschlichen  Natur  grübeln 

25  und  /  untersuchen,  ob  sie  zur  moralischen  Reinigkeit  unfähig  sey;ii5 
denn  die  Bemühung,  alle  seine  Handlungen  unrein  zu  finden,  macht, 
daß  der  Mensch  das  Zutraun  zu  sich,  gute  und  moralische  reine  Hand- 
lungen ausüben  zu  können,  verliert  und  glaubt  seine  Natur  sey  zu 
schwach  und  unfähig  dazu ;  \Wr  müßen  vielmehr  glauben,  daß  die  recti- 

sotudo  moralis  ein  großer  Bewegungsgrund  für  uns  seyn  könne.  Die 
menschliche  Seele  ist  nicht  völlig  von  allen  Bewegungsgründen  der 
reinen  Moralität  leer,  z.  E.  wenn  uns  ein  Elender  selbst  um  etwas 
anspricht,  so  werden  wir  durch  Mitleiden  gegen  ihn  gerührt  und  er- 
theilen  ihm  etwas,  welches  wir  nicht  gethan  hätten,  wenn  er  nicht 

35  selbst  gegenwärtig  gewesen  wäre,  sondern  nur  schriftlich  hätte  bitten 
lassen.  Oder  sieht  man  auf  der  Reise  Bünde  auf  der  Strasse  liegen  und 
thut  ihnen  gutes,  so  hat  man  denn  doch  keinen  andern  Bewegungs- 
grund der  Ehre  oder  des  Nutzens,  indem  man  denn  doch  von  da  weg- 
reisen muß,  sondern  man  thut  es  aus  imierer  Moralität  der  Handlung; 


294  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

116 folglich  liegt  in  unserm  /  Herzen  etwas  moralisch  reines;  es  hat  nur 
nicht  völlig  hinreichend  treibende  Kraft,  wegen  unsern  sinnlichen 
Antrieben.  Allein,  das  Urtheil  über  die  Reinigkeit  der  Moralität  zieht 
viele  Bewegungsgründe  der  Reinigkeit  vermittelst  der  Aßociation  mit 
herbey  und  treibt  unsre  Handlung  mehr  an,  und  wir  gewöhnen  uns  5 
daran.  Also  muß  man  nicht  die  Flecken  und  Schwächen  z.  E.  im  Leben 
eines  Socrates  aufsuchen,  denn  es  nüzt  uns  doch  nichts,  sondern  es 
schadet  uns  vielmehr.  Denn  wenn  wir  Beyspiele  von  moralischen  Un- 
voUkommenheiten  vor  uns  haben,  so  können  wir  uns  mit  unserer 
moralischen  Unvollliommenheit  schmeicheln.  Diese  Begierde,  Fehler  lo 
aufzusuchen,  verrät  was  bösartiges  und  mißgünstiges,  die  Moralität, 
da  man  sie  selbst  nicht  hat,  in  andern  glänzen  zu  sehn. 

Der  Grundsatz,  den  wir  aus  der  Schwäche  der  menschlichen  Natur 
ziehn,  ist :  die  moralischen  Gesetze  müßen  niemals  nach  der  men  sch- 
ul liehen  Schwäche  eingerichtet  werden,  sondern  sie  /  müßen  heilig,  rein,  i5 
und  sittlich  vollkommen  vorgetragen  werden;  der  Mensch  mag  be- 
schaffen seyn  wie  er  will ;  dieses  ist  sehr  merkwürdig. 

Alle  alten  Philosophen  forderten  von  den  Menschen  nicht  mehr,  als 
was  sie  leisten  konnten,  doch  hatte  ihr  Gesetz  keine  Reinigkeit.  Ihre 
Gesetze  waren  also  der  Fähigkeit  der  menschlichen  Natur  accommo-  20 
dirt,  und  wo  sie  sich  über  die  Fähigkeit  der  menschlichen  Natur 
erhoben,  so  war  der  Antrieb  dazu  nicht  das  reine  moralische  Urtheil, 
sondern    Stolz,    Ehre   etc.,  z.  E.    zur   außerordentlichen   Tapferkeit, 
Großmuth.  Seit  der  Zeit  des  Evangelii  ist  nun  die  völlige  Reinigkeit 
und  Heiligkeit  des  moralischen  Gesetzes  eingesehn,  ob  es  gleich  in  25 
unsrer  Vernunft  liegt.  Das  Gesetz  muß  nicht  nachsichtig,  sondern  die 
größte  Reinigkeit  und  Heiligkeit  muß  darin  gezeigt  werden,  und  wir 
müßen  wegen  unserer  Schwäche  den  göttlichen  Beystand  erwarten, 
118  daß  er  uns,  dem  heiligen  Gesetz  /  ein  Genüge  zu  leisten,  geschickt 
mache,  und  das,  was  der  Reinigkeit  unserer  Handlungen  fehlt,  ersetze.  30 
Das  Gesetz  aber  muß  an  sich  rein  und  heihg  seyn.  Die  Ursache  ist: 
das  moralische  Gesetz  ist  das  Urbild,  das  Richtmaaß,  das  Muster 
unsrer  Handlungen.  Das  Muster  aber  muß  exact  und  praecis  seyn. 
Wäre  es  nicht  so,  wornach  sollte  man  denn  alles  beurtheilen?  Die 
höchste  Pflicht  ist  also :  das  moralische  Gesetz  in  aller  Reinigkeit  und  35 
Heiligkeit  vortragen,  so  wie  es  das  höchste  Verbrechen  ist,  von  der 
Reinigkeit  desselben  etwas  abzunehmen. 

In  Ansehung  der  Gebrechlichkeit  der  menschlichen  Natur  merken 
wir:  daß  es  zwar  richtig  ist,  daß  sie  gebrechlich  sey,  und  nicht  nur 


Moralphilosophie  Collins  295 

kein  positives  Gute,  sondern  auch  so  gar  positives  Böse  habe.  Allein, 
alles  moralische  Böse  entspringt  aus  Freyheit,  denn  sonst  wäre  es  ja 
kein  moralisch  Böse,  und  so  sehr  vielen  Hang  die  Natur  auch  dazu  hat, 
so  /  entspringen  doch  die  bösen  Handlungen  aus  der  Freyheit,  wes-  n9 
5  wegen  sie  uns  auch  als  Laster  angerechnet  werden. 

Der  Grundsatz  also  in  der  Absicht  auf  die  Gebrechlichkeit  der 
menschlichen  Natur  ist :  Ich  muß  in  Beurtheilung  der  Handlung  diese 
Gebrechlichkeit  nicht  in  Betrachtung  ziehn.  Das  Gesetz  muß  heilig, 
und  das  Gericht  in  uns  nach  diesem  Gesetz  muß  gerecht  seyn,  das  ist, 

10  die  Strafe  des  Gesetzes  muß  mit  aller  praecision  auf  die  Handlung  des 
Menschen  angewandt  werden. 

Die  Fragilitas  humana  kann  also  nie  ein  Grund  coram  foro  humano 
interno  seyn,  die  Imputation  zu  verringern.  Das  innre  Recht  ist  ge- 
recht, es  sieht  die  Handlung  an  und  vor  sich  selbst,  und  ohne  auf  die 

15  Fragilitaet  des  Menschen  zu  sehn,  an,  wenn  wir  nur  seine  Stimme 
hören  und  empfinden  wollen,  z.  E.  man  hat  Jemanden  in  einer  Gesell- 
schaft mit  einem  Worte  beleidigt  und  kommt  nach  Hause,  so  gehet  es 
einem  nahe,  und  man  wünscht  Gelegenheit  zu  haben  /  es  wieder  gut  zu  i»o 
machen.  Man  muß  sich  seiner  Innern  Vorwürfe  auf  keine  Weise  ent- 

20  ledigen,  wenn  man  auch  noch  so  viele  scheinbare  Ausreden  hat,  die 
gewiß  für  alle  irdischen  Richter  gelten  müßen.  Man  ist  doch  ein  Mensch, 
und  wie  bald  kann  einem  nicht  ein  Wort  entfahren,  dieses  alles  aber 
gilt  nicht  vor  dem  Innern  Richter,  er  sieht  gar  nicht  auf  die  Fragilitaet 
der  Natur,  sondern  er  betrachtet  die  Handlung  so,  wie  sie  an  sich 

25  selbst  ist.  Hieraus  erhellet  auch,  daß  in  der  menschlichen  Natur 
Bewegungsgründe  der  reinen  Moralität  liegen,  und  daß  wir  nicht  nötig 
haben,  so  sehr  auf  die  Schwäche  der  menschlichen  Natur  los  zu  ziehn. 
Die  Fragilitas  und  Infirmitas  humana  kann  nur  blos  um  andrer 
Menschen  Handlungen  zu  beurtheilen  in  Betrachtung  gezogen  werden, 

solch  selbst  muß  in  Ansehung  meiner  Handlungen  nicht  auf  dieselbe 
rechnen,  und  dadurch  dieselbe  entschuldigen.  Der  Mensch,  als  ein  / 
pragmatischer  Gesetzgeber  und  Richter,  muß  in  Absicht  anderer  die  121 
fragilitatem  und  infirmitatem  humanam  in  Betrachtung  ziehn,  und 
denken,  daß  sie  doch  Menschen  seyn,  in  Absicht  auf  sich  selbst  aber 

35  muß  er  ganz  streng  verfahren. 

Imputatio  valida  ist  eine  rechtskräftige  Zurechnung,  wodurch  die 
effectus  a  lege  determinato  durch  das  ludicium  imputans  mit  actuirt 
werden.  Wir  können  über  alle  Menschen  urtheilen,  ein  jeder  kannur- 
theilen,  aber  nicht  richten,  weil  unsre  imputatio  nicht  valida  ist, 


296  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

das  heißt:  mein  Urtheil  hat  nicht  die  Befugniß,  die  Folgen  a  lege 
determinata  zu  actuiren.  Das  Urtheil,  welches  das  consectarium, 
welches  das  Gesetz  determinirt  hat,  zu  stände  zu  bringen  befugt  ist,  ist 
eine  rechtskräftige  Zurechnung;  damit  aber  das  Urtheil  die  Folgen, 

18«  die  durch  das  Gesetz  determinirt  sind,  ausführen  /  könne,  so  muß  es  5 
Gewalt  haben.  Es  giebt  also  ohne  Gewalt  kein  rechtskräftiges  Urtheil. 
Derjenige,  der  die  Befugniß  rechtskräftig  zu  urtheilen  hat  und  es 
auszuführen  auch  die  Gewalt  hat,  ist  ein  Richter.  Das  richterliehe  Amt 
hält  also  2  Stücke  in  sich :  Die  Befugniß  rechtskräftig  nach  dem  Gesetz 
zu  urtheilen :  ob  ein  factum  certum  casus  datae  legis  sey  ?  aber  er  muß  lo 
auch  valide  ein  Gesez  aufs  factum  appliciren  können;  also  Macht 
haben  dem  Gesetz  ein  Genüge  zu  leisten 

Judex  ist  diejenige  Person  (diese  ist  vei  physica,  wenn  es  nur  eine 
Person  ist,  vel  moralis,  wo  verschiedne  Personen  sind,  die  aber  als  eine 
Person  angesehn  werden)  die  die  Befugniß  und  Macht  hat,  über  die  i5 
Handlung  rechtskräftig  zu  urtheilen.  Verschiedene  Personen  gehören 
unter  verschiedene  fora,  so  wie  auch  verschiedene  Handlungen.  Judex 

las  non  competens  ist  entweder,  /  wenn  er  gar  nicht  zu  urtheilen  verstellt, 
oder  wenn  er  nicht  Befugniß  zu  urtheilen  hat,  indem  ihm  etwa  dieselbe 
benommen  ist,  Avenn  er  nähmlich  abgesetzt  ist,  oder  er  kann  auch  ein  20 
würklicher  Richter  seyn,  und  das  factum  gehört  nicht  unter  das 
Gesetz,  worüber  er  zu  gebieten  hat,  oder  er  ist  auch  non  competens, 
wenn  er  keinem  Menschen  ein  Recht  verschaffen  kann. 

Das  Forum  ist  2erley.  Forum  externum,  welches  das  forum  huma- 
num  ist,  und  forum  internum,  welches  das  forum  conscientiae  ist.  Mit  25 
diesem  foro  interno  verbinden  wir  zugleich  das  forum  divinum ;  denn 
unsre  facta  können  in  diesem  Leben  nicht  anders  vor  dem  foro  divino 
imputirt  werden,  als  per  conscientiam ;  foglich  ist  das  forum  internum 
ein  divinum  in  diesem  Leben.  Ein  forum  soll  Zwang  ausüben;  sein 
Urtheil  soll  rechtskräftig  seyn ;  es  soll  die  consectaria  des  Gesetzes  aus-  30 

124  zuführen,  zwingen  /  können. 

Wir  haben  ein  Vermögen  zu  urtheilen,  ob  etwas  recht  oder  unrecht 
sey,  und  dies  geht  so  wohl  auf  unsere,  als  auf  anderer  Handlungen. 
Dieses  Vermögen  liegt  im  Verstände.  Wir  haben  auch  ein  Vermögen 
der  Lust  und  Unlust,  so  wohl  über  uns,  als  über  andre  zu  urtheilen,  35 
was  da  gefällt  oder  mißfällt,  und  das  ist  das  moralische  Gefühl.  Wenn 
wir  nun  das  moralische  Urtheil  vorausgesetzt  haben,  so  finden  wir 
noch  3tens  einen  Instinkt,  einen  unwillkührlichen  und  unwidersteh- 
lichen Trieb  in  unsrer  Natur,  welcher  uns  zwingt,  über  unsre  Hand- 


Moralphilosophie  Collins  297 

lungen  rechtskräftig  zu  iirtheilen,  so,  daß  er  uns  einen  innern  Schmerz 
über  die  böse,  und  eine  innre  Freude  über  die  gute  Handlungen  nach 
dem  Verhältniß,  welches  die  Handlung  nach  dem  Gesetz  hat,  mit- 
theilt. 

5      Es  ist  also  ein  Instinkt,  über  unsre  Handlungen  zu  urtheilen  und  sie 
zu  richten,  und  dies  ist  das  Gewißen  /  Es  ist  also  kein  freies  Vermögen.  125 
Wäre  es  ein  willkührliches  Vermögen,  so  wäre  es  kein  Gerichtshof, 
indem  es  uns  alsdenn  nicht  zwingen  könnte.   Sollte  es  ein  innrer 
Gerichtshof  sein,  so  muß  er  Macht  haben  uns  zu  zwingen,  unwillkühr- 

10  lieh  über  unsre  Handlungen  zu  urtheilen,  und  dieselbe  zu  richten,  und 
uns  innerlich  lossprechen  und  verdammen  zu  können. 

Jeder  hat  ein  Vermögen  speculativ  zu  urtheilen,  welches  aber  in 
unserer  Willkühr  steht,  allein,  es  ist  in  uns  etwas,  was  uns  zwingt, 
über  unsre  Handlungen  zu  urtheilen.  Es  legt  uns  das  Gesetz  vor  und 

15  nöthiget  uns  vor  dem  Richter  zu  erscheinen.  Es  richtet  uns  wider  unsre 
Willkühr;  es  ist  also  ein  wahrer  Richter.  Dieses  forum  internum  ist  ein 
forum  divinum,  indem  es  uns  nach  unsern  Gesinnungen  selbst  be- 
urtheilt.  und  es  läßt  sich  auch  vom  foro  divino  kein  andrer  Begrif 
machen,  als  daß  wir  uns    selbst    nach  unsern  Gesinnungen  richten 

2omüßen.  Alle  Gesinnungen  und  Handlungen  also,  die  äußerlich  nicht  / 
bekant  sein  können,  gehören  vor  das  forum  internum ;  denn  das  forum  I36 
externum  humanum  kann  nicht  nach  Gesinnungen  urtheilen.  Das 
Gewißen  ist  also  der  Repräsentant  des  fori  divini.  Coram  foro  externo 
humano  gehören  keine  ethischen  Handlungen ;  denn  dasselbe  hat  keine 

2.5  Befugniß  des  äußern  Zwangs,  welche  nur  ein  äußerlicher  Richter  hat. 
Coram  foro  externo  humano  gehört  aber  alles,  was  äußerlich  erzwungen 
werden  kann,  folglich  alle  äußerlichen  Zwangspflichten.  Die  Befugniß 
und  die  Beweise  des  facti  müßen  äußerlich  gültig  seyn.  Aeußere  Gründe 
aber  der  Imputation  sind,  die  nach  dem  äußern  allgemeinen  Gesetz 

30  gültig  sind.  Solche  Imputationen,  die  gar  nicht  äußere  gültige  Gründe 
haben,  gehören  nicht  fürs  forum  externum,  sondern  internum.  Nun 
versucht  man  in  foro  externo  in  solchen  Sachen,  wo  keine  äußerliche 
gültige  Gründe  sind,  ob  man  das  forum  internum  nicht  im  foro  externo 
gebrauchen  könnte.  Man  zwingt  /  einen  solchen  vor  das  forum  divinum  12T 

35  zu  treten  (obgleich  es  wirklich  in  ihm  schon  vorgegangen  ist),  man 
nöthiget  ihn  sich  vor  demselben  strafwürdig  zu  finden,  wenn  es  un- 
recht ist,  man  zwingt  ihn  es  öffentlich  zu  deklariren,  und  das  ist  ein 
Schwur.  Das  forum  internum  ist  schon  da,  er  wird  es  in  ihm  selbst 
schon  straffällig  finden,  ohne  daß  er  es  erst  noch  deklariret,  nur  die 


298  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

Deklaration  macht  einen  größern  Eindruck  auf  ihn.  Der  Mensch 
denkt:  Wenn  er  nicht  deklarire,  so  werde  er  auch  nicht  vor  dem  foro 
divino  gestraft,  allein,  er  mag  es  deklariren  oder  nicht,  so  wird  er 
doch  gestraft.  Es  ist  doch  sehr  ungereimt  zu  schwören  und  zu  sagen : 
Ich  will,  daß  dieses  oder  jenes  geschehe,  wofern  es  nicht  wahr  ist,  in-  5 
dem  es  nicht  auf  uns  ankommt.  Daher  das  Evangelium  hier  sehr  wohl 
sagt :  Du  solt  nicht  schwören  bey  dem  Himmel,  denn  er  ist  ja  nicht  dein 
128  etc.  Es  mag  nun  /  dieses  so  seyn  oder  nicht,  so  ist  es  doch  der  mensch- 
lichen Natur  angemessen.  Der  Mensch  stellet  sich  die  Gefährlichkeiten 
des  göttlichen  Willens  vor.  lo 

Der  Autor  redet  hier  noch  von  verschiedenen  Sachen  die  man  nur 
nachlesen  darf:  z.  E.  vom  Proceß,  Sententzen.  Der  Proceß  ist  eine 
methodische  Imputatio  legis,  wo  ich  mir  per  actionem  civilem  nur  mein 
Recht  bey  dem  foro  externo  zu  verschaffen  suche.  Die  Summa  aller 
Imputationen  sind  die  Acten.  Die  Sentenz  ist  das  Urtheil.  i5 

Finis 
Philosophiae  practicae  vniversalis 


Moralphilosophie  Collins  299 


/  Ethica.  129 

Alle  Handlungen  sind  zwar  nach  der  Dijudication  nothwendig, 
allein  es  gehört  noch  ein  Bewegungsgrund  dazu,  um  diese  Handlungen 
auszuüben.   Ist  nun  dieser  Bewegungsgrund  aus  dem  Zwang  her- 

5  genommen,  so  ist  die  Nothwendigkeit  der  Handlungen  juridisch;  ist  er 
aber  aus  der  Innern  Bonität  der  Handlungen  hergenommen,  so  ist  die 
Nothwendigkeit  ethisch.  Die  Ethic  handelt  von  der  Innern  Bonitaet 
der  Handlungen;  die  juris  prudence  von  dem  was  recht  ist,  sie  geht 
nicht  auf  Gesinnungen,  sondern  auf  Befugniß  und  Zwang.  Die  Ethic 

10  aber  geht  bloß  auf  die  Gesinnungen.  Sie  erstreckt  sich  zwar  auch  über 
die  juridischen  Gesetze,  allein  sie  fordert,  daß  man  auch  solche  Hand- 
lungen, zu  denen  man  /  gezwungen  werden  kann,  aus  der  Innern  iso 
Bonitaet  der  Gesinnungen,  und  nicht  aus  Zwang  thue.  Also  sind  die 
juridischen  Handlungen,  in  so  fern  der  Bewegungsgrund  ethisch  ist, 

15  auch  unter  der  Ethic  begriffen.  Folglich  ist  es  ein  großer  Unterschied, 
die  Nothwendigkeit  der  Handlungen  ethisch  oder  juridisch  zu  erwägen ; 
und  die  Ethic  ist  also  nicht  eine  Wissenschaft,  die  keine  Zwangsgesetze 
und  Handlungen  in  sich  faßen  sollte,  sondern  sie  erstreckt  sich  viel- 
mehr auch  über  die  Zwangs  Handlungen;  nur  der  Bewegungsgrund 

20  ist  nicht  Zwang,  sondern  die  innre  Qualität.  Die  Ethic  ist  also  eine 
Philosophie  der  Gesinnungen  und  daher  eine  praktische  Philosophie, 
denn  die  Gesinnungen  sind  Grundsätze  unserer  Handlungen  und 
Verknüpfungen  der  Handlungen  mit  dem  Bewegungsgrunde.  Es  ist  / 
schwer  zu  erklären,  was  man  unter  Gesinnung  verstehe,  z.  E.  wer  seine  131 

25  Schuld  bezahlt,  ist  deswegen  noch  kein  ehrlicher  Mann,  thut  er  es  aus 
Furcht  vor  der  Strafe  etc.,  so  ist  er  zwar  ein  guter  Bürger,  und  seine 
Handlung  hat  rectitudinem  juridicam,  allein  nicht  ethicam;  thut  er  es 
aber  wegen  der  Innern  Bonitaet  der  Handlung,  so  ist  seine  Gesinnung 
moralisch  und  hat  rectitudinem  ethicam.  Dieses  ist  sehr  zu  unter- 

30  scheiden,  z.  E.  in  der  Religion.  Wenn  Menschen  Gott  als  den  obersten 
Gesetzgeber  und  Regenten  ansehn,  als  einen,  der  die  Erfüllung  seiner 
Gesetze  fordert,  und  der  nicht  auf  den  Bewegungsgrund  aus  dem  die 
Handlung  geschieht,  siehet;  so  ist  hier  zwischen  Gott  und  einem  welt- 
lichen Regenten  kein  Unterschied  als  bloß  der,  daß  Gott  die  äußre 

35  Handlung  besser  als  der  weltliche  Richter  einsieht,  und  man  Gott 


300  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

nicht  so  leicht  als  diesen  hintergehn  könne.  Thut  nun  Jemand  seinen 
133  Gesetzen  ein  Genüge,  so  ist  die  Handlung  zwar  gut,  allein  sie  /  hat  nur 
rectitudinem  iuridicam,  indem  er  sie  aus  Furcht  vor  der  Strafe  thut. 
Wenn  aber  jemand  eine  böse  Handlung  nicht  aus  Furcht  vor  der 
Strafe,  sondern  wegen  ihrer  Abscheulichkeit  unterläßt,  so  ist  seine  5 
Handlung  ethisch.  Dieses  ist  es,  was  der  Lehrer  des  Evangelii  beson- 
ders auszuüben  empfiehlet.  Er  sagt :  man  müße  aiis  Liebe  zu  Gott  alles 
thun.  Gott  lieben  aber  heißt :  Seine  Gebote  aus  guter  Gesinnung  gern 
thun.  Wovon  unten. 

Die  Ethic  wird  auch  die  Tugendlehre  genannt,  denn  die  Tugend  lo 
bestehet  in  rectitudine  actionum  ex  principio  interno.  Wer  Zwangs-Ge- 
setze ausübt,  ist  noch  nicht  tugendhaft.  Zwar  sezt  die  Tugend  Ach- 
tung, und  pünktliche  Beobachtung  menschlicher  Gesetze  voraus,  allein 
sie  geht  auf  die  Gesinnung  aus  der  die  Handlung,  die  rectitudinem 
juridicam  hat,  entspringt.  Man  muß  daher  aus  den  äußern  Handlungen  i5 

133  die  rectitudinem  juridicam  /  haben,  noch  nicht  auf  die  Gesinnungen 
schließen.  Wenn  ich  die  moralische  Noth wendigkeit  der  Handlung, 
die  juridisch  ist,  einsehe,  so  kann  ich  sie  in  juridischem  und  ethischem 
Sinn  thun.  Im  ersten  Fall  ist  die  Handlung  dem  Gesetz  allein,  nicht 
der  Gesinnung  gemäß,  und  denn  sagt  man  auch  von  den  juridischen  20 
Gesetzen:  Es  fehle  ihnen  die  Moralität.  Moralität  wird  nur  bloß  von 
ethischen  Gesetzen  gebraucht;  denn  wenn  auch  juridische  Gesetze 
moralische  Noth  wendigkeit  haben,  so  ist  doch  der  Bewegungsgrund 
derselben  Zwang  und  nicht  Gesinnung. 

Tugend  aber  drückt  nicht  ganz  genau  die  moralische  Bonität  aus,  25 
sie  bedeutet  Stärke  in  der  Selbstbeherrschung  und  Selbstueberwin- 
dung  in  Ansehung  der  moralischen  Gesinnung.  Hier  aber  betrachte  ich 

134  die  erste  Quelle  der  Gesinnung.  Es  ist  hier  etwas  Un/wahrgenommenes, 
welches  sich  erst  in  der  Folge  aufklärt,  denn  die  Ethic  hat  lediglich 
die  Gesinnung  zum  Vorwurf.  Man  hat  das  Wort  Sittlichkeit  genom-  30 
men  um  die  Moralität  auszudrücken,  allein  Sitte  ist  der  Begriff  der 
Anständigkeit ;  zur  Tugend  aber  gehört  ein  gewißer  Grad  der  sittlichen 
Bonitaet,  ein  gewißer  Selbstzwang  und  Selbstbeherrschung.  Völcker 
können  Sitten  haben,  aber  keine  Tugend,  und  andre  können  Tugend 
haben,  aber  keine  Sitten  (conduite  ist  die  Manier  der  Sitten).  Wissen-  35 
Schaft  der  Sitten  ist  noch  keine  Tugendlehre,  und  Tugend  ist  noch 
keine  Moralität.  Weil  wir  aber  kein  andres  Wort  für  die  Moralität 
haben,  so  nehmen  wir  Sittlichlieit  vor  die  Moralität,  weil  wir  Tugend 
nicht  dafür  nehmen  können. 


Moralphilosophie  Collins  301 

Das  moralische  Gesetz  gebietet  dem  Geist  nach  die  Gesinnung,  dem 
Buchstaben  nach  die  Handlung.  /  Wir  werden  also  in  der  Ethic  sehen:  133 
Wie  das  moralische  Gesetz  dem  Geiste  nach  ausgeübt  wird,  und  uns 
an  die  Handlung  gar  nicht  kehren. 

5  Die  Ethic  kann  Gesetze  der  Sittlichkeit  vortragen,  die  nachsichtig 
sind,  und  auf  die  Schwäche  der  menschlichen  Natur  eingerichtet  sind. 
Sie  kann  sich  dem  Menschen  bequemen,  so  daß  sie  nur  so  viel  verlangt, 
als  die  Menschen  leisten  können.  Sie  kann  auf  der  andern  Seite  aber 
auch  strenge  seyn  und  die  höchste  Sittlichkeit,  Vollkommenheit,  fodern. 

10  Das  moralische  Gesetz  muß  auch  streng  seyn,  und  die  Bedingung  der 
Rechtsmäßigkeit  enunciren.  Der  Mensch  mag  solches  leisten  können 
oder  nicht,  das  Gesetz  muß  nicht  nachsichtig  seyn,  und  sich  der 
menschlichen  Schwäche  bequemen;  denn  es  enthält  die  Norm  der 
sittlichen  Vollkommenheit,  diese  aber  muß  exact  und  strenge  seyn, 

15  /  z.  E.  die  Geometrie  giebt  Regeln  an,  die  strenge  sind,  sie  kehrt  sich  i36 
nicht  daran,  ob  sie  der  Mensch  in  der  Ausübung  beobachten  kann 
oder  nicht,  z.  E.  der  Punkt  des  Zirkels  ist  zu  dick  für  den  mathe- 
matischen Punkt.  Da  nun  die  Ethic  auch  Regeln  vorträgt,  welche  die 
Richtschnur  unsrer  Handlungen  seyn  sollen,  so  müßen  sie  sich  nicht 

20  nach  dem  Vermögen  der  Menschen  richten,  sondern  zeigen:  was  mora- 
lisch nothwendig  sey.  Die  nachsichtige  Ethic  ist  das  Verderben  der 
moralischen  Vollkommenheit  des  Menschen.  Das  moralische  Gesetz 
muß  rein  seyn.  Es  giebt  aber  einen  theologischen  und  moralischen 
Purismus,  nach  welchem  man  in  gleichgültigen  Dingen  grübelt,  und 

25  durch  Spitzfindigkeit  in  demselben  was  auszudrücken  sucht.  Solchen 
Purismum  hat  die  Ethic  nicht.  Allein  die  Piiritaet  in  Ansehung  der 
Grundsätze  ist  etwas  anders.  Das  moralische  Gesez  muß  Puritaet 
haben.  Das  Evangelium  /  hat  solche  Puritaet  in  seinem  moralischen  ist 
Gesetz,  wie  keiner  der  alten  Philosophen  hatte,  die  selbst  zu  den 

30  Zeiten  des  Lehrers  des  Evangelii  nur  glänzende  Pharisäer  waren,  die 
strenge  auf  den  Cultum  externum  hielten,  wovon  das  Evangelium  oft 
sagt :  daß  es  gar  nicht  darauf,  sondern  auf  die  moralische  Reinigkeit 
ankomme.  Das  Evangelium  läßt  nicht  die  geringste  Unvollkommen- 
heit  zu,  es  ist  ganz  strenge  und  rein,  und  hält  ganz  ohne  Nachsicht  auf 

35  die  Reinigkeit  des  Gesetzes.  Ein  solches  Gesetz  ist  ein  heiliges,  es 
fordert  auch  nicht  zu  viel,  so  daß  es  in  der  Ausübung  mit  der  Hälfte 
der  Beobachtung  zufrieden  wäre,  sondern  jeder  sieht  es  ein,  daß  der 
Grund  in  seinem  Verstände  liege,  und  man  kann  den  Beweiß  aus  eines 
jeden  Verstände  hernehmen.  Diese  Pünktlichkeit,  Subtihtät,  Strenge 


302  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

und  Reinigkeit  des  moralischen  Gesetzes,  welche  die  rectitudo  heißt, 
zeigt  sich  bey  uns  in  allen  Fällen,  z.  E.  man  darf  nur  in  einer  unbe- 

138  kannten  Gesellschaft  unwißend  Jemand  /  beleidigen,  und  wenn  man 
auch  durch  eine  bevorstehende  Reise  für  alle  üble  Folgen  gewiß 
gesichert  wäre,  so  wirft  man  es  sich  doch  immer  vor.  Derjenige  ist  ein  5 
Latitudinarius,  der  sich  das  moralische  Gesetz  als  ein  nachsichtiges 
denl<;t.  Die  Ethic  muß  praecis  und  heilig  seyn.  Diese  Heiligkeit  kommt 
dem  moralischen  Gesetz  zu,  nicht,  weil  es  uns  offenbaret  ist,  sondern 
es  kann  demselben  auch  durch  die  Vernunft  zukommen,  weil  es 
ursprünglich  ist,  wornach  wir  selbst  die  Offenbahrung  beurtheilen,  10 
denn  die  Heiligkeit  ist  das  höchste  vollkommenste  sittliche  gute, 
welches  wir  doch  aus  unserm  Verstände  und  uns  selbst  nehmen. 

Der  Autor  theilt  die  Ethic  in  die  schmeichelnde  und  mürrische 
ein.  Die  Bewegungsgründe  der  Sittlichkeit  müßen  der  Moral  anständig 
seyn,  und  die  Triebfedern  derselben  müßen  so  verbunden  seyn,  als  sie  15 
sich  mit  ihr  schicken,  das  heißt:  sie  müßen  ihrer  Würde  gemäß  seyn. 

139  Es  kommt  nicht  darauf  an,  daß  die  Handlungen  geschehen  /  sondern 
aus  was  für  einer  Quelle  sie  geschehn  sind.  Der  schmeichelt  der  Ethic, 
der  das  tugendhafte  Verhalten  für  ein  feines  Wohlleben  hält.  Es  ist 
wahr :  die  Tugend  ist  auch  eine  Regel  der  Klugheit,  man  befindet  sich  20 
dabei  wohl.  So  ertheilen  viele  deswegen  Wohlthaten,  weil  sie  alsdenn 
an  der  Freude  der  Armen  ein  Vergnügen  finden;  allein  da  ist  der 
Bewegungsgrund  nicht  moralisch.  Viele  prahlen  viel  gutes  gethan  zu 
haben,  wenn  es  auch  aus  unrichtigen  Gründen  herrühre.  Eine  gute 
Sache  aber  muß  nicht  durch  falsche  Gründe  unterstützt  werden.  Die  25 
Tugend  ist  aber  eine  gute  Sache ;  man  muß  sie  also  nicht  durch  falsche 
Gründe  unterstützen,  z.  E.  daß  sie  schon  in  diesem  Leben  viele  An- 
nehmlichkeiten mit  sich  führe,  das  ist  falsch;  denn  die  tugendhafte 
Gesinnung  vergrößert  noch  den  Schmerz  dieses  Lebens,  indem  er 
denkt,  er  ist  tugendhaft,  und  doch  geht  es  ihm  schlecht,  wäre  er  nicht  so 

140  tugendhaft,  so  /  könnte  er  es  ehr  ertragen,  weil  er  es  verdient  hätte. 
Die  Ethic  muß  also  durch  solche  Schmeicheleyen  nicht  angepriesen 
werden.  Wird  sie  in  ihrer  Reinigkeit  vorgetragen,  so  führt  sie  Achtung 
mit  sich,  und  ist  ein  Gegenstand  des  Höchsten,  der  Billigung,  und  des 
höchsten  Wunsches,  und  die  Einschmeichelungen  vermindern  nur  die  35 
Triebfedern,  anstatt  daß  sie  sie  vermehren  sollten.  Die  Moralität  muß 
sich  nicht  herablassen,  man  muß  sie  durch  sie  selbst  empfehlen,  alles 
übrige,  selbst  die  himmlische  Belohnung,  ist  nichts  gegen  sie,  denn  durch 
sie  bin  ich  nur  der  Glülcseeligkeit  würdig.  Die  sittlichen  Bewegungs- 


Moralphilosophie  Collins  303 

gründe  müßen  ganz  besonders  vorgetragen  werden,  und  alle  übrige 
auch  durch  gutartige  Triebfedern  abgesondert  werden.  Die  Ursach  von 
der  wenigen  Würkung  der  Moralität  ist:  Weil  sie  nicht  rein  vorge- 
tragen worden.  Bisher  haben  /  alle  und  auch  geistliche  Moralisten  die  I4i 

öSitthchkeit  rein  zu  empfehlen  verfehlt.  Sie  gewinnt  mehr,  wenn  sie 
durch  iliren  Innern  Werth  empfohlen  wird,  als  wenn  sie  mit  simüichen 
Reizungen  und  Anlockungen  begleitet  wird.  Die  buhlerische  Ethic 
entehrt  sich  mehr,  als  daß  sie  sich  empfehlen  sollte,  gerade  so,  wie  es 
mit  den  Buhlereyen  zugeht.  Eine  stille  Sittsamkeit  nimmt  weit  eher  als 

10  alle  buhlerische  Reitze  ein.  Alle  Anreizungen  und  sinnliche  Antriebe 
müßen  bey  den  moralischen  Lehren  selbst  nicht  angebracht  werden, 
sondern  nachdem  die  Lehren  der  Sittlichkeit  ganz  rein  gefaßt  sind, 
und  man  sie  erst  hochschätzen  gelernt  hat,  denn  können  solche  Trieb- 
federn ins  Spiel  gebracht  werden,  nicht  um  deswillen,  damit  die  Hand- 

islung  um  deßwillen  geschehe,  denn  sonst  wäre  sie  alsdenn  nicht  mehr 
moralisch,  sondern  sie  sollten  nur  als  motiva  subsidiaria  dienen,  welche 
unsre  Natur  in  Ansehung  solcher  intellectualen  Begriffe,  die  für  den 
Verstand  /  sind,  gegen  die  Triebfedern  inertiam  besitzt,  wenn  aber  u^ 
diese  sinnlichen  Triebfedern  ihre  Wirkung  gethan  haben,  so  müßen  die 

20  rechten  Bewegungsgründe  wieder  den  Platz  einnehmen.  Folglich  dienen 
sie  nur  zur  Wegräumung  sinnlicher  Hindernisse,  damit  der  Verstand 
wieder  herschen  könne ;  alles  aber  unter  einander  zu  mischen,  ist  ein 
großes  Verderben,  worin  noch  sehr  gefehlt  wird.  Dieser  reine  mora- 
lische Begriff  thut  einen  Effekt  bey  demjenigen,  der  ihn  besitzt,  der 

25  ungewöhnlich  ist,  er  reizt  ihn  mehr  als  alle  sinnlichen  Antriebe.  Es 
steckt  darin  ein  großes  Hülfsmittel,  die  Sittlichkeit  den  Menschen  zu 
empfehlen,  welches  schon  in  der  Erziehung  beobachtet  werden  müste, 
dadurch  würden  wir  eines  reinen  Urtheils  und  eines  lautern  Ge- 
schmacks an  der  Sittlichkeit  fähig.  Eben  so  wenig  als  jemandem  reiner 

30  Wein,  wenn  er  mit  andern  Getränken  vermischt  ist,  nicht  schmecken 
kann,  eben  so  müßen  auch  bey  der  Moralität,  wenn  man  ihre  Reinig- 
keit  einsehn  soll,  alle  übrige  Hindernisse  weggeschafft  werden. 

/Die  buhlerische  Ethic  ist  der  mürrischen  entgegen  gesetzt,  welche  143 
leztere  man  auch  die  misanthropische  nennt.  Diese  setzt  die  Sittlich- 

35keit  allen  Vergnügungen  entgegen,  so  wie  die  buhlerische  dieselbe 
vermengt.  Diese  mürrische  setzt  alle  Vergnügungen  des  Lebens,  alle 
Annehmliclilieiten  der  Sinne  der  Sittlichkeit  nach.  Ob  es  gleich 
scheint,  daß  diese  mürrische  Ethic  einen  größern  Fehler  als  die  andre 
hat,  so  ist  es  doch  nichts  weniger,  denn  sie  kann,  weil  sie  sich  auf  den 


304  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

Stolz  des  Menschen  bezieht,  erhabene  Handlungen  hervorbringen.  Der 
Mensch  wird  durch  sie  aufgefordert,  alle  Bequemlichkeiten  des  Lebens 
einer  einzigen  erhabenen  Handlung  aufzuopfern. 

Die  schmeichlerische  Ethic  verbindet  alle  Annehmlichkeiten  des 
Lebens  mit  der  Sittlichkeit ;  die  mürrische  aber  setzt  sie  denselben  5 
entgegen,  welches    zwar  ein  Fehler  ist,  allein   so  wird  daher  eben 

144  die  /  Sittlichkeit  von  den  Annehmliclilveiten  unterschieden  und  dies  ist 
ein  großes  Verdienst.  Wenn  also  ein  Fehler  in  der  Ethic  zugelaßen 
werden  solte,  so  wäre  es  besser,  den  Fehler  der  mürrischen  zuzulaßen. 
Es  werden  zwar  viele  Annehmlichkeiten  durch  diese  Ethic  aufge-  lo 
opfert,  allein  diese  möchten  auch  bey  einem  verfeinerten  Geschmack 
nicht  einmahl  zusammen  paßen  und  von  selbst  wegfallen.  Es  hat  auch 
diese  misanthropische  Ethic  etwas  hochachtungswürdiges.  Sie  sieht 
auf  die  Strenge  und  Praecision  der  Sittlichkeit,  obgleich  sie  darinn 
fehlt,  daß  sie  die  Vergnügungen  entgegen  setzt.  Um  die  mürrische  i5 
Ethic  zu  corrigiren,  muß  man  merken :  Sittlichkeit  und  Glükseeligkeit 
sind  2  Elemente  des  höchsten  Gutes,  die  von  verschiedner  Art  sind, 

•45  und  also  unterschieden  /  werden  müßen,  sie  sind  aber  in  nothwendiger 
Beziehung  auf  einander.   Die   Glükseeligkeit  hat  nothwendige   Be- 
ziehung auf  Sittlichkeit,  denn  das  moralische  Gesetz  führt  natürliche  20 
Verheißung  mit  sich.  Habe  ich  mich  so  verhalten,  daß  ich  der  Glük- 
seeligkeit würdig  bin,  so  kann  ich  auch  dieselbe  zu  genießen  hoffen, 
und  das  sind  die  Triebfedern  der  Sittlichlveit.  Ich  kann  keinem  ver- 
sprechen, die  Glükseeligkeit  ohne  die  Sittlichkeit  zu  erlangen.  Die 
Glükseeligkeit  ist  kein  Grund,  kein  principium  der  Moralität,  aber  ein  25 
noth wendiges  corollarium  derselben.  Hierin  hat  die  schmeichlerische 
Ethic  den  Vorzug,  daß  sie  die  Glükseeligkeit  mit  der  Sittlichkeit  ver- 
bindet, die  aber  nur  eine  natürliche  Folge  der  Sittlichkeit  ist.  Die 
mürrische  aber  hat  von  der  Seite  etwas  stolzes,  daß  sie  auf  alle  Glück- 
seeligkeit  Verzicht  thut.  Die  renunciation  aller  Glückseeligkeit  aber  30 
unterscheidet  die  Sittlichkeit  von  der  Glückseeligkeit,  sie  ist  aber  von 

146  der  Seite  unnatürlich,  weil  /  sie  transcendental  ist. 

Der  Autor  redet  hier  noch  von  der  Ethica  deceptrix.  Diese  besteht 
darin,  daß  sie  ein  Ideal  realisirt.  Alles  was  einen  Schein  enthält,  der  der 
Wahrheit  entgegen  ist,ist  betrügerisch.  Die  täuschende  Ethic  aber  muß  35 
so  beschaffen  seyn,  daß  das  Täuschende  an  sich  moralisch  ist,  aber  doch 
täuschend,  indem  es  der  menschlichen  Natur  gar  nicht  angemeßen  ist, 
die  zwar  vollkommen  ist,  für  uns  aber  nicht  zureichend,  z.  E.  Das  Be- 
wustsein  seiner  selbst,  als  dem  principio  des  Wohls  aller  Menschen 


Moralphilosophie  Collins  305 

verursacht  eine  große  Freude,  die  aber  niemand  erreichen  kann.  Der 
sittHche  Grund  der  Vollkommenheit  findet  natürlicher  Weise  bey  den 
Menschen  nicht  statt.  Wir  setzen  die  höchste  Vollkommenheit  in  das 
höchste  Wesen,  und  die  Gemeinschaft  mit  dem  höchsten  Wesen  wäre 
5  die  höchste  Vollkommenheit,  /  die  wir  erreichen  könnten.  Dieses  ist  i« 
aber  ein  Ideal,  welches  nicht  erreicht  werden  kann.  Plato  realisirte 
dieses  Ideal.  Diese  Ethic  kann  auch  die  phantastische  und  schwärme- 
rische heißen. 


Von  der  natürlichen  Religion. 

10  Die  natürliche  Religion  sollte  billig  in  der  Moral  den  Schluß  machen, 
und  das  Siegel  in  der  Moralität  seyn.  Die  Idee  der  sitthchen  Vollkom- 
menheit sollte  in  derselben  excolirt  und  zu  stände  gebracht  werden, 
und  hier  solte  die  Vollendung  aller  unsrer  Sittlichkeit  in  Ansehung 
ihres   Gegenstandes  erreicht  werden.   Allein  es  hat  unserm  Autor 

15  gefallen,  sie  vorher  abzuhandeln,  und  weil  es  eben  nicht  viel  darauf 
ankommt,  so  folgen  wir  ihm,  da  ohnedem  schon  der  Begriff  von  der 
Ethic,  so  ferne  er  nöthig  ist,  vorhergegangen  ist. 

/Die  natürliche  Religion  ist  keine  Regel  der  Moralität,  sondern  die  I48 
Religion  ist  die  Moralität  auf  Gott  angewandt.  Welche  Religion  muß 

20  also  in  der  natürlichen  Religion  zum  Grunde  gelegt  werden  ?  Die 
natürhche  Religion  ist  praktisch  und  enthält  natürliche  Erkenntniße 
unserer  Pflichten  in  Ansehung  des  höchsten  Wesens.  Moralität  also 
und  Theologie  verbunden,  machen  die  Religion  aus.  Es  ist  ohne  Morali- 
tät keine  Religion  möglich.  Es  giebt  zwar  Rehgionen  ohne  Moralität, 

25  und  Menschen  glauben  Religion  zu  haben,  ob  sie  gleich  keine  Morahtät 
haben.  Solche  Religion  besteht  nur  im  äußern  Cultu  und  Observancen, 
da  ist  keine  Moralität,  sondern  Achtsamkeit  und  Beflissenheit  eines 
klugen  Verhaltens  gegen  Gott,  dem  man  durch  solche  /  Observanzen  14» 
gefällig  zu  werden  sucht.  Es  ist  da  eben  so  wenig  Religion  als  in  der 

30  Beobachtung  bürgerlicher  Gesetze  und  Observanzen  gegen  den  König. 
Weil  also  Religion  Theologie  voraussetzt,  und  die  Religion  Moralität 
haben  soll,  so  fragt  es  sich :  Welche  Theologie  der  Religion  zum  Grunde 
geleget  werden  muß  ?  —  Ob  Gott  ein  Geist  sey,  und  wie  er  allgegen- 
wärtig sey,  so,  daß  er  den  ganzen  Raum  fülle,  das  gehört  nicht  zur 

35  Theologie  so  ferne  sie  der  Grund  der  natürlichen  Religion  seyn  soll, 
sondern  es  gehört  zur  speculation.  So  machte  sich  ein  egyptischer 
Priester  ein  feyerliches  Bild  von  Gott,  und  als  man  ihm  diesen  Begriff 

20     Kant's  Schriften  XXVII/1 


306  Vorlesungen  über  Moralpliilosophie 

untersagte,  so  klagte  er  weinend,  daß  man  ihm  seinen  Gott  geraubt 

150  hätte,  denn  vorher  hätte  er  sich  doch  Gott  einigermaßen  /  vorstellen 
können,  jezt  aber  nicht.  In  der  Beobachtung  der  Pflichten  hindert  die 
Vorstellung  von  Gott  nicht,  unter  welchem  Bilde  sie  auch  geschiehet, 
wenn  sie  nur  ein  hinreichender  Grund  zur  Sittlichkeit  ist.  Zur  Theologie,  5 
die  der  Grund  der  natürlichen  Religion  ist,  gehört  die  Bedingung  der 
moralischen  Vollkommenheit.  Wir  müßen  uns  also  ein  oberstes  Wesen 
vorstellen,  welches  in  Ansehung  seiner  Gesetze  heilig,  in  Ansehung 
seiner  Regierung  gütig,  und  in  Ansehung  seiner  Bestrafungen  und 
Belohnungen  gerecht  ist.  Dieses  nun  in  einem  Wesen  ist  der  Begriff  lo 
von  Gott,  der  zur  Religion  als  dem  Grund  der  natürlichen  Religion 
nöthig  ist.  Dieses  nun  sind  die  moralischen  Eigenschaften  Gottes,  die 

151  natürlichen  sind  nur,  in  so  ferne  sie  den  Moralischen  eine  /  gi'ößere 
Vollkommenheit  geben  und  in  der  Religion  einen  größeren  Effect 
würken  können,  nöthig.  Es  finden  also  unter  der  Bedingung  der  All- 15 
wißenheit,  Allmacht,  Allgegenwart  und  Einigkeit  des  obersten  Wesens 
die  moralischen  Eigenschaften  statt.  Das  heiligste  und  gütigste  Wesen 
muß  allwißend  seyn,  damit  es  die  innere  Moralität,  die  in  der  Gesin- 
nung besteht,  wahrnehmen  könne.  Daher  muß  es  auch  allgegenwärtig 
seyn,  der  weiseste  Wille  kann  aber  nur  ein  einiger  seyn.  Daher  die  20 
Einigkeit,  weil  ohne  diese  Bedingung  das  principium  der  Moralität  er- 
dichtet werden  könnte.  Und  dieses  nun  macht  das  Wesen  der  Theo- 
logie der  natürlichen  Religion  aus.  Die  Quellen  dürfen  nicht  aus 
speculation,   sondern  aus  der  reinen  Vernunft  hergeleitet  werden. 

152  Die  spekulative  /  Erkenntniß  ist  nur  zur  Wißbegierde  nöthig,  wenns  25 
aber  um  Religion  zu  tun  ist,  und  was  im  Tun  und  Lassen  nötig  ist,  so 
ist  weiter  nichts  mehr  nötig,  als  was  durch  gesunde  Vernunft  einge- 
sehn  und  wahrgenommen  werden  kann.  Wie  entspringt  die  Theologie  ? 
Wenn  die  Sittlichkeit  vorgetragen  wird,  so  bringt  selbst  der  Begriff 
der  Moralität  zum  Glauben  an  Gott.  Durch  den  Glauben  wird  hier  in  so 
der  philosophischen  Betrachtung  nicht  das  Zutrauen,  das  man  nach 
der  Offenbahrung  haben  soll,  verstanden,  sondern  der  Glaube,  welcher 
aus  dem  Gebrauch  der  gesunden  Vernunft  entspringt.  Dieser  Glaube 
der  aus  dem  principio  der  Moralität  entspringt,  wenn  sie  practisch  ist, 
ist  so  mächtig,  daß  keine  speculative  Gründe  nöthig  sind,  diesen  35 
Glauben  aus  dem  sittHchen  Gefühl  heraus  zu  heben.  Denn  in  der 
Moralität  kommt  es  auf  die  reinste  Gesinnungen  an,  diese  aber  wären 

153  verlohren,   /  wenn  kein  Wesen  da  wäre,   welches  sie  wahrnehmen 
könnte.  Es  ist  unmöglich  daß  ein  Mensch  solchen  moralischen  Werth 


Moralphilosophie  Collins  307 

besitzen  und  fühlen  könnte,  ohne  zugleich  zu  glauben,  daß  solches  von 
einem  Wesen  wahrgenommen  werden  könne.  Denn  warum  sollte  man 
alsdenn  reine  Gesinnungen  hegen,  die  doch  außer  Gott  keiner  wahr- 
nehmen kann  ?  Man  könnte  denn  wohl  dieselben  Handlungen  thun, 

5  aber  nicht  aus  lauterer  Absicht.  Man  könnte  Wohlthaten,  aber  nur  aus 
Ehre,  aus  Vergnügen  ausüben,  die  Handlung  bliebe  immer  dieselbe  und 
die  Analoga  der  Sittlichkeit  thun  gleiche  Würkung,  folglich  ist  es 
unmöglich  moralisch  reine  Gesinnungen  zu  hegen,  ohne  zugleich  zu 
glauben :  daß  diese  Gesinnungen  mit  einem  Wesen  welches  sie  bemerket 

10  in  Verknüpfung  stehn.  Eben  so  /  unmöglich  ist  es  auch,  ohne  einen  I54 
Gott  zu  Glauben,  sich  zur  Sittlichkeit  zu  wenden.  Alle  sittlichen  Vor- 
schriften gelten  also  nichts,  wenn  nicht  ein  Wesen  wäre,  welches  auf 
sie  sähe.  Und  dieses  nun  ist  die  Vorstellung  von  Gott  aus  moralischen 
Begriffen.  Man  kann  also  glauben,  daß  ein  Gott  sey,  ohne  es  gewiß  zu 

15  wißen,  und  die  natürliche  Rehgion  hat  also  zur  Haupteigenschaft  die 
simplicitaet,  das  heißt:  der  gemeine  Mann  ist  in  der  Theologie,  als 
es  zur  natürlichen  Religion  nöthig  ist,  eben  so  weit  als  die  speculative 
Köpfe.  Alles  übrige  nun,  was  man  in  der  Theologie  hat,  dient  zu  nichts 
mehr,  als  unsre  Wißbegierde  zu  befriedigen.  Die  SittHchlieit  muß  mit 

20  der  Religion  verbunden  werden,  welches  die  alten  /  Philosophen  nicht  155 
eingesehn  haben.  Die  Religion  ist  nicht  der  Ursprung  der  Moral,  son- 
dern sie  besteht  darin :  daß  die  sittlichen  Gesetze  auf  die  Erkenntniß 
Gottes  angewandt  werden.  Man  stelle  sich  die  Religion  vor  aller  Sitt- 
lichkeit vor,  sie  müßte  doch  eine  Beziehung  auf  Gott  haben,  und  dann 

25  würde  sie  darin  bestehn,  daß  ich  Gott  als  einen  mächtigen  Herren 
ansehe,  dem  man  schmeicheln  müßte.  Alle  Religion  setzt  Moral  vor- 
aus ;  folglich  kann  diese  Moral  nicht  aus  der  Religion  abgeleitet  wer- 
den. Alle  Religion  giebt  der  Moral  Nachdruck,  Schönheit  und  Realität, 
denn  die  Moralität  an  sich  ist  etwas  ideales.  Wenn  ich  mir  vorstelle, 

30  wie  schön  es  wäre,  wenn  alle  Menschen  rechtschaffen  wären,  so  möchte 
mich  ein  solcher  /  Zustand  reitzen,  moralisch  zu  seyn;  allein  die  Moral  i56 
sagt :  du  sollst  an  sich  und  für  dich  moralisch  sejoi,  die  andern  mögen 
seyn  wie  sie  wollen.  Denn  fängt  das  moralische  Gesetz  an  in  mir 
idealisch  zu  werden;  ich  soll  der  Idee  der  Moralitaet  folgen,  ohne  ir- 

35  gend  eine  Hoffnung  glücklich  zu  seyn,  und  dies  ist  unmöglich ;  folglich 
wäre  die  Moral  ein  Ideal,  wenn  kein  Weesen  ist,  welches  die  Idee  execu- 
tirt.  Daher  muß  ein  W^eesen  seyn,  welches  den  moralischen  Gesetzen 
Nachdruck  und  Realität  giebt.  Dieses  Weesen  aber  muß  alsdenn  ein 
heiliges,  gütiges  und  gerechtes  Weesen  seyn.  Die  Religion  giebt  der  Sitt- 

20* 


308  Vorlesungen  über  Moralphilosopliie 

lichkeit  ein  Gewichte,  sie  soll  die  Triebfeder  der  Moral  seyn.  Hier 
I5T  erkennen  wir,  daß  derjenige,  der  sich  so  verhalten  hat,  /  daß  er  der 
Glückseeligkeit  würdig  ist,  auch  hoffen  könne,  dieselbe  zu  erlangen, 
weil  es  ein  Wesen  giebt,  welches  glücklich  machen  kann.  Dieses  nun  ist 
der  erste  Ursprung  der  ReHgion,  die  auch  ohne  alle  Theologie  möglich  5 
ist.  Es  ist  ein  natürlicher  Fortgang  aus  der  Moral  in  die  Religion.  Die 
Religion  hat  keine  spekulative  Kenntnis  Gottes  nöthig.  Die  Moral 
führt  also  natürliche  Verheißungen  mit  sich,  denn  sonst  könnte  sie  uns 
nicht  verbinden.  Denn  wer  mich  nicht  schützen  kann,  dem  bin  ich 
auch  keinen  Gehorsam  schuldig ;  die  Moral  aber  kann  uns  ohne  Reli-  lo 
gion  nicht  schützen.  Der  Satz:  wir  sind  zur  Seeligkeit  obligirt,  ist 
idealisch ;  denn  alle  unsre  Handlungen  bekommen  durch  die  Religion 
completudinem.  Ohne  Religion  ist  alle  Verbindhchkeit  ohne  Trieb- 
feder. Die  Religion  ist  die  Bedingung  sich  die  verbindende  Kraft  der 
Gesetze  zu  denken.  Allein  es  giebt  doch  Menschen,  die  ohne  Religion: 5 
gutes  thun.  Man  findet  es  sehr  bequem,  die  Wahrheit  zu  sagen  und 

158  ehrlich  zu  seyn,  denn  man  braucht  alsdenn  /  nicht  nachzudenken, 
sondern  die  Sache  bloß  zu  sagen,  wie  sie  an  sich  ist.  Solche  Menschen 
thun  also  nicht  aus  Grundsätzen,  sondern  aus  sinnhchen  Absichten 
gutes.  Allein,  wenn  Noth  ist,  wenn  das  Laster  sich  auf  der  feinen  Seite  20 
der  Moral  zeigt,  und  denn  nicht  Religion  da  ist,  so  ist  es  sehr  schlimm. 
Die  Erkenntniß  Gottes  durch  morahsches  Bedürfniß  ist  die  beste. 

Der  Autor  redet  von  der  Innern  Religion.  Der  Unterschied  der  Reli- 
gion in  die  innere  und  äußere  ist  sehr  schlecht.  Äußere  Handlungen 
können  entweder  Mittel  der  innern  ReHgion  oder  Würkungen  der-  25 
selben  seyn.  Die  äußere  ReHgion  aber  ist  ein  Unding.  Die  ReHgion  ist 
was  inneres,  und  besteht  in  der  Gesinnung.  Es  könnte  also  eine  zwie- 
fache ReHgion  seyn,  der  Gesinnung  und  der  Observanzen.  Die  wahre 
Religion  aber  ist  die  Religion  der  Gesinnung.  Äußere  Handlungen  sind 
keine  Religions  Handlungen,  sondern  sie  sind  Mittel  oder  Würkungen  so 
der  ReHgion.  ReHgiöse  Handlungen  sind  in  mir  selbst.  Die  Menschen 

159  können  in  allen  ihren  Handlungen  religiös  seyn,  wenn  /  nähmlich  aUe 
ihre  Handlungen  die  Religion  begleitet.  Die  innere  ReHgion  also  macht 
die  ganze  Religion  aus,  Frömmigkeit  ist  das  Wohlverhalten 
aus  dem  Bewegungsgrunde  des  göttlichen  Willens,  und  fromme  36 
Handlungen  sind  solche  die  aus  diesem  Bewegungsgrunde  ge- 
schehen. Ist  aber  der  Bewegungsgrund  aus  der  innern  Bonität  der 
Handlungen  gefloßen,  so  ist  es  Sittlichkeit  oder  Tugend.  Also  ist 
Frömmigkeit  und  Tugend  nicht  in  Handlungen,  sondern  in  Bewegungs- 


Moralphilosophie  Collins  309 

gründen  unterschieden.  Die  Frömmigkeit  schließt  nicht  die  tugend- 
haften Bewegungsgründe  aus,  sondern  sie  fordert  sie  vielmehr.  Der 
eigentliche  Bewegungsgrund  aber  der  Handlungen  muß  die  Tugend 
selbst  seyn,  denn  deswegen  verbindet  uns  Gott  wozu,  weil  es  an  sich 

5  selbst  wirklich  gut  ist.  Der  Bewegungsgrujid  ist  also  MoraHtät,  und 
nicht  der  göttliche  Wille,  denn  dieser  geht  eben  auf  die  innere  Bonität 
oder  Gesinnung.  Daß  die  Handlung  ohne  Rücksicht  auf  den  Be- 
wegungsgrund geschähe,  ist  nicht  die  Absicht  der  Religion,  sondern 
daß  die  /  Handlung  aus  guter  Gesinnung  geschehe.  Der  göttliche  Wille  160 

10  ist  eine  Triebfeder,  allein  kein  Bewegungsgrund.  Ein  frommer  Mann 
würde  seyn :  der  die  Observanzen,  die  Mittel  der  Religion,  gut  beobach  ■ 
tet.  Ein  Gottesfürchtiger  Mann  aber  bedeutet  schon  etwas  mehr, 
nähmlich  eine  gewiße  Pünlctlichlveit  in  Beobachtung  der  Mittel  der 
Rehgion.  Ein  Gewißenhafter  ist,  der  sich  einen  göttlichen  Richter 

15  vorstellt. 

Handlungen  die  tugendhaft  sind  aus  Religion,  sind  fromme  Hand- 
lungen; die  aber  lasterhaft  sind  aus  Religion,  sind  gottlose  Hand- 
lungen. 

Uebernatürliche  Religion  kann  von  der  übernatürlichen  Theologie 

20  unterschieden  werden.  Die  Theologie  kann  übernatürlich  oder  geoffen- 
bahrt  seyn,  und  die  Religion  kann  doch  natürlich  seyn,  wenn  sie 
nähmlich  nur  die  Pflichten  enthält,  die  ich  durch  die  Vernunft  in 
Ansehung  des  höchsten  Wesens  einsehe.  Also  ist  eine  natürliche 
Religion  bey  einer  übernatürlichen  Theologie  möglich.  /  Man  durch- 161 

25  suche  es  nur,  so  wird  man  finden,  daß  die  Menschen  bey  der  über- 
natürlichen Theologie  doch  natürhche  Religion  haben.  Hätten  sie 
eine  übernatürliche  Religion,  so  müste  auch  übernatürlicher  Beystand 
bey  ihnen  angetroffen  werden.  Wir  sehen  aber,  daß  die  Menschen  nur 
solche  Pflichten  ausüben,  die  sie  natürlich  durch  die  Vernunft  einsehn 

30  können.  Die  natürliche  Religion  ist  von  der  übernatürlichen  zu  unter- 
scheiden, nicht  aber,  daß  sie  sich  beyde  entgegen  gesetzt  sind,  sondern 
die  natürliche  ist  der  Gebrauch  der  Erkenntniß  Gottes,  so  ferne  sie 
durch  die  Vernunft  möglich  ist  und  mit  der  Moralität  verbunden  ist. 
Die  übernatürliche  ist  die  Ergänzung  der  natürlichen  durch  einen 

35  höheren  göttlichen  Beystand.  Wenn  auch  in  der  übernatürlichen 
Religion  vieles  ist,  was  die  Gebrechlichkeit  der  Menschen  ersetzen 
kann,  so  frägts  sich :  was  denn  dem  Menschen  kann  imputirt  werden  ? 
Alles  kann  ihm  imputirt  werden,  was  von  ihm  natürlicher  Weise  durch 
seine  eigene  Kräfte  hervorgebracht  wird.  /  Durch  solches  Verhalten  I68 


310  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

und  durch  den  guten  Gebrauch  seiner  natürlichen  Kräfte  kann  er  sich 
nun  aller  Ergänzung  seiner  Gebrechlichkeit  würdig  machen.  Die 
natürliche  Religion  wird  also  der  übernatürlichen  nicht  entgegen 
gesezt,  sondern  die  übernatürliche  ist  eine  Ergänzung  der  natürlichen. 
Die  natürliche  ist  eine  wahre  Religion,  nur  incomplet.  Durch  sie  müßen  5 
wir  erkennen,  wie  viel  wir  aus  unsern  Kräften  thun  könnten,  und  wie 
viel  uns  zugerechnet  werden  kann;  und  verhalten  wir  uns  so,  so 
machen  wir  uns  der  Ergänzung  würdig.  Was  macht  uns  fähig,  die  Voll- 
ständigkeit und  Ergänzung  unserer  VolUcommenheit,  die  übernatür- 
lichen Mittel  der  Religion  zu  bekommen  ?  Nichts,  als  der  gute  Ge-  lo 
brauch  der  natürlichen  Religion,  die  übernatürliche  setzt  also  die 
natürliche  zum  voraus.  Der  Mensch,  der  sich  nicht  so  verhält,  wie  er 
natürlich  soll,  kann  keinen  übernatürlichen  Beystand  hoffen.  Man 
kann  also  nicht  die  übernatürliche  Religion  so  gleich  annehmen,  und 

163  so  gleich  /  dvirch  den  göttlichen  Beystand  unterstüzt  werden,  und  die  i5 
natürliche  fahren  laßen.  Noch  eher  könnte  man  die  natürliche  Religion 
entbehren  und  füglich  zur  übernatürlichen  oder  geoffenbahrten  gehen. 
Die  natürliche  Religion  aber  ist  die  nothwendige  Bedingung,  unter 
welcher  wir  der  Ergänzung  würdig  werden  können,  weil  die  über- 
natürliche  ein   Supplement   der   natürlichen  ist.   Nur  unser   Wohl-  20 
verhalten  macht  uns  des  göttlichen  Bey Standes  würdig,  denn  die 
natürliche  Religion  ist  der  Innbegriff  aller  moralischen  Handlungen, 
und   die   übernatürliche   ist   die    Ergänzung   der   Unvollständigkeit 
unserer  moralischen  Handlungen.  Würden  wir  die  natürliche  Religion 
verlaßen,  so  würde  die  übernatürliche  was  paßives  seyn,  und  der  25 
Mensch  müßte  mit  sich  machen  lassen  was  Gott  wollte,  folglich  hätte 
er  nichts  zu  thun,  weil  alles  übernatürlich  zugehn  müßte.  Muß  aber 
Moralität  in  den  Handlungen  sein,  so  muß  die  natürliche  Religion  vor- 
gehen. Es  muß  also  bey  jedem  Menschen  eine  natürliche  Religion  seyn, 

164  die  ihm  zugerechnet  werden  kann,  /  und  durch  die  er  sich  der  Er- 30 
gänzung  würdig  macht. 

Von  denen  Irrthümern  in  der  Religion. 

Die  Religions  Irrthümer  sind  von  theologischen  Irrthümern  zu 
unterscheiden.    Die   lezteren   betreffen   die   Erkenntniß   Gottes,   die 
erstem  aber  die  Corruptibilitaet  der  Moralität.  Die  Irrthümer  die  die  35 
Moralität  afficiren,  sind  Ketzereyen,  die  aber  die  Theologie  angehn, 
sind  nur  Irrlehren. 


Moralphilosophie  Collins  311 

Es  kann  theologische  Irrthümer  geben,  die  die  Religion  nicht  affi- 
ciren  und  die  Religion  kann  sehr  gut  seyn,  obgleich  die  Erkenntniß 
von  Gott  sehr  anthropomorphistisch  ist.  Eine  Religion  kann  gut  seyn, 
wenn  sie  auch  nicht  vollständig  wäre,  und  die  natürliche  Religion 

5  kann  immer  gut  seyn.  Allein  sich  ganz  der  natürlichen  Kraft  ent- 
ledigen, und  sich  auf  die  übernatürliche  verlassen,  das  ist  die  Religion 
der  Handlanger.  /  Die  Unwissenheit  betrifft  theils  die  Theologie  theils  I65 
die   Religion.   In  der  Theologie  sind  wir  alle  sehr  unwissend.   Die 
Ursache  ist,  weil  der  Begriff  von  Gott  eine  Idee  ist,  welche  als  der 

10  Grenzbegriff  der  Vernunft  und  der  Innbegriff  aller  abgeleiteten 
Begriffe  anzusehn  ist.  Auf  diesen  Begriff  suche  ich  alle  Eigenschaften 
anzuwenden,  ob  sie  auch  paßen.  Dieses  nun  zu  bestimmen,  fehlt  uns 
sehr.  Die  Unwissenheit  in  der  Theologie  kann  groß  seyn,  in  Ansehung 
der  Moralität  aber  ist  sie  für  nichts  zu  achten. 

15  Was  die  Irrthümer  in  der  Theologie  betrifft,  so  haben  die  Menschen 
jederzeit  geirrt,  wenn  sie  speculirten,  und  denn  hat  der  Irrthum  gar 
nicht  die  Religion  afficirt,  sondern  er  ist  von  derselben  ganz  abge- 
sondert. Allein  in  solchen  Erkenntnißen  von  Gott,  wo  der  Einfluß  auf 
unser  Verhalten  groß  ist,  da  ist  zu  sehn,  ob  nicht  der  Irrthum  auch  die 

20  Religion  angehe.  Daher  ist  man  in  Ansehung  der  theologischen  Irr- 
thümer sehr  subtil,  weil  sie  die  Religion  afficiren  können,  und  diese 
theologischen  Irrthümer  sind  daher  so  viel  als  möglich  zu  meiden.  Das 
Hausmittel  hierbey  ist,  gar  nicht  dogmatisch  zu  urtheilen  und  denn 
fällt  man  in  keine  Irrthümer;  z.  E.  in  die  Untersuchung,  /  wie  Gott  all-  166 

25  gegenwärtig  sey,  laß  ich  mich  gar  nicht  ein,  genug  wenn  ich  nur  weiß, 
daß  er  das  Urbild  der  moralischen  Vollliommenheit  ist,  und  weil  er 
gütig  und  gerecht  ist,  so  wird  er  auch  die  Schicksale  dem  Verhalten 
gemäß  austheilen,  denn  geräth  man  in  keinen  Irrthum,  und  man 
braucht  nicht  zu  den  dogmatischen  Urtheilen  zu  gehn. 

30  Zu  den  Irrthümern  in  der  Theologie  rechnet  man  zuerst  den  Atheis- 
mum,  welcher  2fach  ist:  Die  Ohngötterey  und  Gottesläugnung.  Die 
erste  ist :  wenn  man  von  Gott  nichts  weiß,  die  2te  aber  da  man  dog- 
matisch behauptet,  es  sey  kein  Gott.  Wer  aber  von  der  Erkenntniß 
Gottes  leer  ist,  von  dem  kann  man  sagen,  er  weiß  nur  nicht  daß  ein 

35  Gott  sey,  würde  er  es  wißen,  so  möchte  er  doch  Religion  haben.  Der 
Ohngötterey  ist  also  noch  abzuhelfen.  Auf  der  andern  Seite  aber  ist 
der  Mensch  wieder  so  böse,  daß,  obgleich  er  weiß  daß  ein  Gott  ist, 
er  doch  so  lebt  als  wenn  keiner  wäre,  und  so  wäre  es  beßer,  wenn  er 
nicht  wüßte,  /  daß  ein  Gott  ist,  so  würde  er  denn  noch  zu  entschuldigen  I6T 


312  Vorlesungen  über  Moralpliilosophie 

seyn;  und  eines  solchen  Handlungen  sind  religionswidrig  und  nicht 
religionsleer. 

Der  Atheismus  kann  in  der  bloßen  Speculation  seyn,  in  der  Praxis 
aber  kann  ein  solcher  ein  Theist,  oder  ein  Verehrer  Gottes  seyn, 
deßen  Irrthum  erstreckt  sich  auf  die  Theologie,  nicht  auf  die  Religion.  5 
Solche  Personen  die  aus  Speculation  in  den  Atheismum  verfallen  sind 
nicht  so  böse  auszustreichen,  als  man  pflegt,  ihr  Verstand  war  nur  cor- 
rumpirt,  nicht  aber  ihr  Wille,  z.  E.  Spinoza  that  das,  was  ein  Mann  von 
Religion  thun  soll.  Sein  Herz  war  gut  und  wäre  leicht  zurecht  zu 
bringen  gewesen,  er  traute  nur  den  speculativen  Gründen  zu  viel  zu.  lo 
Der  Atheismus  ist  ein  solcher  theologischer  Irrthum,  der  in  der  Mora- 
lität  und  Religion  einen  Einfluß  hat,  denn  alsdenn  haben  die  Regeln 

168  des  Wohlverhaltens  keine  bewegende  Kraft.  /  Es  giebt  noch  mehr 
theologische  Irrthümer,  die  wir  aber  übergehn,  indem  sie  mehr  zur 
Theologia  naturalis  als  zur  Ethic  gehören.  Allein  in  Ansehung  des  i5 
theoretischen  führen  wir  2erley  fehlerhafte  Ausschweifungen  an :  1 )  in 
Ansehung  des  Erkenntnißes :  Vernünfteley  und  Aberglauben  2)  in  An- 
sehung des  Herzens:  Religions-Spötterey  und  Schwärmerey.  Dieses 
sind  die  Grenzen  der  Ausschweifungen.  Was  die  Vernünfteley  betrifft, 
so  besteht  sie  darin :  Wenn  man  durch  die  Vernunft  als  noth wendig  20 
die  Erkenntniß  von  Gott,  die  der  Religion  zum  Grunde  liegt,  ableiten 
will  und  es  als  noth  wendig  einsehn  und  beweisen  will.  Allein,  das  ist 
nicht  nöthig.  In  der  Religion  darf  sich  nur  die  Erkenntniß  Gottes  auf 
Glauben  gründen.  So  fern  wir  nur  Gott  als  das  principium  der  Sittlich- 
keit ansehn,  und  ihn  als  einen  heiligen  Gesetzgeber,  gütigen  Welt-  25 

169  regierer  und  gerechten  Richter  erkennen,  /  so  ist  dieses  zu  einem 
Glauben  an  Gott  hinreichend,  so  ferne  die  Religion  zum  Grunde  liegen 
soll,  ohne  solches  logisch  beweisen  zu  können.  Die  Vernünfteley  ist  also 
der  Fehler,  da  man  keine  andre  Religion  annimmt  als  solche,  die  sich 
auf  solche  Theologie,  welche  durch  die  Vernunft  eingesehn  werden  so 
kann,  gründet.  Allein,  dieses  hat  der  Mensch  nicht  nöthig  einzusehn 
und  zu  beweisen,  der  nur  die  Theologie  zur  Religion  braucht;  denn  es 
kann  eben  so  wenig  der  Atheismus,  Spinozismus,  Deismus  und  Theis- 
mus bewiesen  werden.  Es  ist  also  nur  eine  vernünftige  hypothesis 
nöthig,  nach  welcher  ich  nach  Regeln  der  Vernunft  hinreichend  alles  35 
bestimmen  kann.  Dieses  ist  eine  nothwendige  hypothesis,  wenn  man 
dieses  bey  Seite  legt,  so  kann  man  sich  von  nichts  einen  Begriff 
machen,  und  weder  die  Ordnung  der  Natur,  noch  auch  das  Zweck- 

110  mäßige  /  noch  auch  den  Grund  einsehn,  warum  man  dem  moralischen 


Moralphilosophie  Coli  ins  313 

Gesetz  gehorsam  seyn  soll.  Setze  ich  diese  noth wendige  Hypothese 
voraus,  nehme  ich  einen  heiligen  Gesetzgeber  an  etc.  etc.,  so  werde  ich 
mich  in  keine  speculative  Streitigkeiten  einlaßen,  noch  auch  solche 
Bücher  lesen,  die  das  Gegentheil  zu  behaupten  suchen,  indem  es  mir 
5  doch  nichts  hilft,  und  mich  nichts  von  diesem  Glauben  abbringen 
kann,  denn  alsdenn  würde  ich  keinen  festen  Grundsatz  haben,  wenn 
mir  solches  streitig  gemacht  würde,  und  was  soll  man  denn  thun? 
Dieses  ist  eben  so  viel,  als  ich  will  mich  entschließen:  Alle  Grundsätze 
des  moralischen  Gesetzes  bey  Seite  zu  legen,  und  ein  Bösewicht  zu 

10  seyn ;  das  moralische  Gesetz  aber  befiehlt  doch,  und  ich  sehe  es  auch  ein, 
daß  es  gut  sey,  demselben  zu  gehorchen,  welches  aber  ohne  einen 
obersten  Regierer  /  ohne  Werth  und  Gültigkeit  ist,  ich  werde  also  nicht  in 
speculative  Gründe,  sondern  meine  Bedürfniße  fragen,  und  ich  kann 
mir  kein  andres  Genüge  thun,  als  es  anzunehmen.  Demnach  ist  die 

15  Vernünfteley  in  Religionssachen  gefährlich.  Sollte  unsre  Rehgion  auf 
speculativen  Gründen  beruhen,  so  wi.irde  sie  schwach  gesichert  seyn, 
wenn  man  von  allem  Beweise  fordern  wollte,  denn  die  Vernunft  kann 
sich  irren.  Damit  also  die  Religion  feste  stehe,  so  muß  alle  Vernünfte- 
ley wegfallen. 

20  Auf  der  andern  Seite  ist  wieder  der  Aberglaube  etwas  vernunft- 
M'idriges.  Er  besteht  nicht  in  Sätzen  sondern  in  der  Methode.  Nimmt 
man  zum  principio  der  Urtheile  und  der  Religion  etwas  an,  welches 
sich  auf  Furcht,  oder  alte  Erzehlung,  oder  Ansehn  der  Persohn  gründet, 
so  sind  dieses  /  Quellen  des  Aberglaubens,  auf  dem  die  Religion  sehr  nz 

25  unsicher  und  unzuverläßig  stehet.  Der  Aberglaube  schleicht  sich 
immer  in  die  Religion,  weil  die  Menschen  nicht  geneigt  sind  den 
Maximen  der  Vernunft  zu  folgen,  wenn  sie  das  was  aus  einem  intellec- 
tualen  principio  hergeleitet  werden  muß,  aus  der  Sittlichkeit  herleiten; 
z.  E.  wenn   die  Observanzen  die    nur  Mittel  zur  Religion  sind,  als 

30  principia  angenommen  werden,  so  ist  die  Religion  abergläubisch.  Die 
Religion  ist  etwas  welches  sich  auf  die  Vernunft,  nicht  aber  auf  die 
Vernünfteley  gründet.  Wenn  ich  also  von  den  Maximen  der  Vernunft 
abgehe,  und  durch  Sinnlichkeit  mich  leiten  laße,  so  ist  es  Aberglaube. 
Die  Leitung  aber  der  Erkenntniß  durch  bloße  Speculation  in  der 

35  Religion  ist  die  Vernünfteley;  /  beydes  ist  der  Religion  schädlich.  Die  IT3 
Religion  gründet  sich  nur  auf  Glauben,  der  keine  logische  Beweise 
bedarf,  sondern  schon  hinreichend  ist,  denselben  als  eine  nothwendige 
Hypothese  voraus  zu  setzen.  Auf  der  andern  Seite  sind  der  Religion 
aus  Gesinnungen  2  Stücke  der  Ausschweifungen  entgegen,  nähmlich 


314  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

Spötterey  und  Schwärmerey.  Die  erste  ist,  wenn  man  die  Religion 
nicht  nur  als  etwas  wichtiges  nicht  ernsthaft  behandelt,  sondern 
dieselbe  auch  so  gar  als  etwas  ungereimtes,  welches  Geringschätzigkeit 
verdient,  ansieht.  Weil  die  Religion  etwas  wichtiges  ist,  so  ist  sie  kein 
Gegenstand  des  Spottes,  z.  E.  wenn  ein  Richter  einen  Uebelthäter  vor  5 

ir4  sich  hat,  so  wird  er  keinen  Spott  mit  ihm  treiben,  weil  die  Sache  /  wich- 
tig ist,  und  es  das  Leben  kosten  soll.  Alle  Religion  also,  sie  mag  solche 
Ungereimtheit  enthalten,  ist  nichts  weniger  als  ein  Gegenstand  des 
Spottes,  denn  der  Mensch  der  sie  besitzet  wird  dadurch  interessiert, 
und  es  beruhet  sein  künftiges  Wohl  oder  Wehe  darauf,  folglich  ist  er  lo 
eher  zu  bedauren,  als  zu  belachen.  Allgemein  aber  die  Religion  zu  ver- 
spotten, ist  ein  fürchterliches  Vergehn;  denn  sie  ist  weit  wichtiger. 
Doch  aber  muß  man  nicht  einen  der  über  die  Religion  launigt 
redet  so  gleich  für  einen  Spötter  halten,  denn  solche  haben  Religion 
innerlich,  sie  laßen  nur  ihrer  Laune  und  Witz  freyen  Lauf,  welches  i5 
sich  nicht  so  wohl  über  die  Religion  als  vielmehr  über  gewiße  Persohnen 
erstreckt.  Ein  solches  ist  zwar  nicht  zu  billigen ;  doch  aber  auch  nicht 

175  für  Spötterey  /  zu  halten.  Es  rühret  öfters  aus  zu  weniger  Ueberlegung, 
aus  Lebhaftigkeit,  und  aus  Mangel  genügsamer  Prüfung  her. 

Die  Schwärmerey  ist  etwas,  nach  welcher  man  auch  außer  und  über  20 
die  Maximen  der  Vernunft  ausschweift.  Der  Aberglaube  erstreckt  sich 
unterhalb  der  Maxime  der  Vernunft;  die  Schwärmerey  aber  über  die- 
selbe. Der  erste  gründet  sich  auf  sensuale,  die  letzte  aber  auf  mystische 
und  hyperphysische  principia.  Die  Spötterey  ist  theils  auf  Aber- 
glaube, theils  auf  Schwärmerey  gerichtet.  Sie  ist  zwar  nicht  geziemend,  25 
doch  aber  ein  Mittel,  solche  Personen  aus  ihrem  Wahn  zu  reissen  und 
sie  in  ihrem  Schwindel  sinnlicher  Anschauung  irre  zu  machen.  Die 
Vernünfteley  (Rationalismus)  ist  dem  Aberglauben  entgegen  gesetzt; 

newenn  wir  aber  zwey  Dinge  im  practischen  der  Religion  /  entgegen 
setzen,  so  wären  es  Frömmigkeit  und  Andächteley  (Bigotterie).  Diese  30 
bedeutet  wie  die  Vernünfteley  ein  Spiel,  ist  also  von  der  Andacht  zu 
unterscheiden.  Frömmigkeit  ist  etwas  practisches,  und  bestehet  in  der 
Beobachtung  der  göttlichen  Gesetze  aus  dem  Bewegungsgrunde  des 
göttlichen  Willens.  Andächteley  besteht  darin,  daß  man  sich  bemühet, 
Gott  dadurch  zu  verehren,  daß  man  Worte  und  Ausdrücke,  die  Unter-  35 
werfung  und  Ergebenheit  anzeigen,  gebraucht,  um  sich  durch  solche 
äußere  Ehrenbezeugungen,  Lobeserhebungen,  und  Gunst  zu  erwerben. 
Es  ist  was  häßliches  und  abscheuliches,  die  Art  der  Verehrung  Gottes 
darin  zu  setzen,  denn  alsdenn  glauben  wir  Gott  ohne  Moralität  bloß 


Moralphilosophie  Coli  ins  315 

durch  Schmeicheley  zu  gewinnen,  und  stellen  uns  denselben  als  einen 
weltlichen  Herren  vor,  dem  man  durch  unterwürfige  Dienstleistungen, 
Lobeserhebungen  und  Schmeicheleyen  zu  gefallen  sucht. 

Andacht  ist  die  mittelbare  Beziehvmg  des  Herzens  auf  Gott,  und 

5  dieselbe  auszuüben  und  die  Erkenntniß  Gottes  auf  unsern  Willen 
wirksam  zu  machen.  Die  Andacht  ist  also  keine  Handlung,  sondern 
eine  Methode,  sich  eine  Fertigkeit  in  den  /  Handlungen  zu  machen,  in 
Die  wahre  Religion  aber  besteht  in  den  Handlungen,  in  der  Ausübung 
des  moralischen  Gesetzes,  daß  man  das  thue,  was  Gott  haben  will.  Um 

10  aber  geschickt  dazu  zu  seyn,  so  wird  Uebung  dazu  erfordert,  und  das 
ist  die  Andacht.  Durch  diese  suchen  wir  uns  eine  Erkenntniß  von 
Gott  zu  erwerben,  die  solchen  Eindruck  auf  uns  macht,  daß  wir  da- 
durch practisch  zu  seyn,  und  das  moralische  Gesetz  auszuüben,  ange- 
trieben w^erden.  Es  ist  also  zu  misbilligen,  wenn  jemand  andächtig 

15  ist,  um  sich  dadurch  zur  Ausübung  gut  gesinnter  Handlungen  vorzu- 
bereiten. Allein,  übt  sich  jemand,  seine  Erkenntniß  von  Gott 
fruchtbar  zu  machen,  und  es  kommt  ein  elender  unglücklicher,  der 
ihn  um  Hülfe  anspricht,  er  will  sich  aber  dadurch  von  seiner  Andacht 
nicht  stöhren  laßen,  so  ist  es  höchst  ungereimt;  denn  die  Andacht 

20 ist  eine  Uebung  zu  guten  Handlungen;  nun  ist  aber  hier  der  Fall, 
wo  eine  gute  Handlung  ausgeübt  werden  soll,  wozu  /  er  sich  durch  it8 
die  Andacht  geübt  hat.  Die  Andacht,  als  ein  bloßes  Geschäfte  und  als 
eine  abgesonderte  Beschäftigung,  ist  an  sich  selbst  gar  nicht  nöthig; 
denn  wenn  wir  durch  Ausübung  guter  Handlungen  dazu  gekommen 

25  sind,  daß  wir  glauben  können,  die  Erkenntniß  Gottes  sey  in  uns  kräftig 
genug  einen  Eindruck  zu  machen,  noch  mehr  gute  Handlungen  auszu- 
üben, denn  ist  gar  keine  Andacht  nöthig,  denn  da  ist  nur  wahre  Gottes- 
furcht, wo  sich  jederzeit  der  Effect  durch  gute  Handlungen  zeiget,  also 
kann  die  Gottesfiu-cht  nur  durch  Handlungen,  nicht  durch  Andacht 

30  geübt  werden. 

Vom  Unglauben. 
Der  Autor  redet  schon  von  Unglauben,  ob  er  gleich  noch  nicht  von 
Glauben  geredt  hat.  Wir  A\'ollen  diesen  Begriff,  so  viel  als  es  hier  in  der 
Ethic  nöthig  ist,  erklären.  Glauben  kann  im  zwiefachen  Verstände 
genommen  werden.  Erstlich  bedeutet  es  so  viel  als  eine  Fertigkeit, 
35  einem  Zeugniße  Beyfall  /  zu  geben,  imd  dann  ist  es  der  historische  n9 
Glaube.  Viele  können  den  historischen  Glauben  nicht  haben,  aus  Un- 
fähigkeit  ihres   Verstandes,    wenn   sie   die   Zeugniße   nicht   einsehn 


316  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

können.  Das  historische  Beurt heilen  ist  bey  vielen  Menschen  ver- 
schieden, wenn  gleich  die  data  dieselbe  sind,  und  man  kann  un- 
möglich wovon  überzeugen,  da  ein  anderer  solches  nicht  glaubt, 
z.  E.  Zeitungs  Nachrichten.  Es  giebt  also  discrepantes  in  dem  histo- 
rischen Glauben,  wovon  man  eben  so  wenig  Gründe,  als  in  der  Discre-  5 
pantz  des  Geschmacks  angeben  kann.  So  glaubt  Bulenger,  daß  die 
7  Könige  in  Rom  die  7  Planeten  bedeuten.  Also  giebt  es  auch  in  An- 
sehung des  Historischen  Hang  zum  Unglauben.  Der  Mensch  ist 
geneigter  zum  Zweifel  als  zum  Beyfall.  Er  findet  es  sicherer  das  Urtheil 
aufzuschieben.  Es  beruhet  aber  dieses  auf  dem  Verstand,  und  auch  lo 
darauf,  daß  man  sonst  oft  schon  durch  Nachrichten  hintergangen  ist, 

180  wie  wohl  nicht  aus  böser  Absicht,  sondern  bloß  xxm  sich  /  für  den 
Irrthum  zu  sichern;  obgleich  dieses  der  Weg  zur  Unwissenheit  ist, 
wenn  man  allen  Zugang  abschneidet.  Hier  aber  gehet  uns  der  histo- 
rische Glaube  nichts  an,  indem  er  seine  Kraft  im  Verstände  und  nicht  i5 
im  Willen  hat,  und  hier  ist  nur  die  Rede  von  dem,  was  in  der  Moralität 
liegt.  Der  Glaube  im  andern  Verstände  ist,  wenn  man  die  Wirklichkeit 
der  Tugend  glaubt. 

Der  moralische  Unglaube  ist  also:  Wenn  man  an  die  Wirklichkeit 
der  Tugend  nicht  glaubt.  Es  ist  ein  Misanthropischer  Zustand  zu  20 
glauben,  sie  sey  eine  Idee.  Es  ist  eine  Eitelkeit,  seiner  Neigung  ein 
Gnüge  zu  thun,  man  kann  darin  weit  gehn,  und  es  nicht  einmal  so 
weit  bringen,  daß  man  für  einen  rechtschaffenen  Mann  gehalten  werde, 
und  dann  wird  man  sich  auch  nie  einer  zu  werden  bemühen.  Es  ist 
nicht  gut,  die  Tugend  und  den  Keim  zum  Glauben  beim  Menschen  ver-  20 

181  dächtig  zu  machen,  welches  viele  Gelehrte  thaten,  /  um  dem  Menschen 
um  so  viel  beßer  seinen  verderbten  Zustand  zu  zeigen,  und  ihm  den 
Gedanl^en,  daß  er  tugendhaft  sey,  zu  benehmen.  Solches  aber  ist  sehr 
verhaßt,  denn  die  UnvoUlvommenheit  zeigt  sich  schon  genug,  nachher 
bey  der  Reinigkeit  des  moralischen  Gesetzes.  Der  den  Keim  des  Bösen  30 
beim  Menschen  aufsucht,  ist  beinahe  ein  Advocat  des  Teufels.  So 
suchte  wider  den  Belisaire  der  Hofstede  die  Tugend  zu  untergraben; 
was  nützt  das  aber  für  die  Religion  ?  Weit  mehr  nützet  es  hingegen, 
wenn  ich  z.B.  den  Charakter  eines  Sokrates,  er  mag  nun  erdichtet  oder 
wahr  seyn,  als  vollkommen  tugendhaft  schildern  höre,  und  dieses  Bild  35 
noch  vollkommener  zu  machen  suche,  als  daß  ich  darinn  Flecken  auf- 
suchen sollte.  Es  erhebt  doch  meine  Seele  zur  Nachahmung  in  der 

183  Tugend,  und  ist  eine  Triebfeder  für  mich.  Wer  aber  /  solchen  Un- 
glauben wider  die  Tugend  und  den  Keim  des  Guten  im  Menschen 


Moralphilosophie  Collins  317 

predigt,  der  will  damit  so  viel  sagen,  daß  wir  alle  zusammen  Spitzbu- 
ben von  Natur  sind,  und  daß  keinem  Menschen  zu  trauen  sey,  der 
nicht  durch  die  Gnade  und  Beystand  Christi  erleuchtet  wäre.  Allein, 
diejenigen  bedenken  nicht,  daß  eine  solche  Gesellschaft  von  grund- 

5  bösen  Leuten  gar  nicht  des  göttlichen  Beistandes  würdig  wäre.  Denn 
die  Idee  des  teufelischen  Bösen  ist  ganz  was  reines  in  ihrer  Art,  wo  gar 
kein  Keim  zum  guten,  ja  nicht  einmahl  ein  guter  Wille  ist,  so  wie  hin- 
gegen das  enghsche  gute  rein  vom  Bösen  ist.  Es  ist  alsdenn  auch  gar 
nicht  möglich,  daß  solche  Menschen  Beystand  erhalten  können,  es 

10  müßte  sie  Gott  neu  umschaffen,  aber  nicht  ihnen  beystehn.  Folglich 
hat  der  Mensch  Tugend ;  der  Eigendünkel  aber  /  von  seiner  Tugend  I83 
wird  schon  durch  die  Reinigkeit  des  moralischen  Gesetzes  unter- 
drückt. Demnach  muß  man  an  Tugend  glauben.  Wäre  das  nicht,  so 
würde  der  ärgste  Dieb  eben  so  gut  als  ein  andrer  seyn,  indem  er  doch 

15  schon  den  Keim  zum  stehlen  hat,  nur  die  Umstände  fügen  es,  daß  er 
der  Dieb  ist  und  nicht  der  andre.  Viele  haben  behauptet,  daß  in  dem 
Menschen  kein  Keim  zum  Guten,  sondern  zum  Bösen  sey,  nur  allein 
Roußeau  behauptet  das  Gegentheil.  Dieses  nun  ist  der  moralische 
Unglaube.   Der  2te  ist  der  Religions  Unglaube.  Wenn  man  nicht 

20  glaubt,  daß  es  ein  Wesen  gäbe,  welches  so  wohl  den  guten  Gesinnungen 
Zulänglichkeit  zum  göttlichen  Wohlgefallen,  als  auch  unserm  Wohl- 
verhalten gehörige  Folgen  ertheile.  Wir  finden  uns  durch  ein  moralisch 
Gesetz  zu  /  guten  Gesinnungen  als  zu  principien  unsrer  Handlungen  I84 
angewiesen,  und  durch  die  Heiligkeit  desselben  werden  wir  zurgewißen 

25praecision  des  Gesetzes  adstringirt,  so,  daß  wir  ein  heiliges  Gesetz 
haben.  Allein,  wir  können  dieses  Gesetz  nicht  so  rein  ausüben,  unsre 
Handlungen  sind  dem  Gesetze  nach  sehr  unvollkommen,  daß  sie 
sogar  selbst  in  unsern  Augen  tadelhaft  sind,  wenn  wir  nur  nicht 
unsern    Innern    Richter,   der  nach  diesen  Gesetzen  urtheilt,   über- 

30  täuben.  Wer  dieses  betrachtet,  der  müßte  es  zulezt  aufgeben,  dieses 
Gesetz  zu  beobachten,  weil  er  vor  einem  solchen  heiligen  und  gerechten 
Richter,  der  nach  diesem  Gesetze  urtheilt,  nicht  bestehn  könnte.  Es 
findet  sich  also  der  Mensch  nach  dem  moralischen  Gesetz  sehr  fehler- 
haft. Allein  der  Glaube  an  eine  himmlische  Ergänzung  unserer  /  Un- 185 

35  Vollständigkeit  in  der  Moralität  ersetzt  unsern  Mangel.  Wenn  wir  nur 
gute  Gesinnungen  heben  und  alle  unsre  Kräfte  aufbieten  zur  Erfüllung 
des  moralischen  Gesetzes,  so  können  wir  hoffen,  daß  Gott  Mittel  haben 
werde,  dieser  Un  Vollkommenheit  abzuhelfen.  Thun  wir  dieses  nun, 
so  sind  wir  auch  des  göttlichen  Beystandes  würdig.  Hat  nun  jemand 


318  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

diesen  Glauben,  so  ist  es  der  Religions- Glaube  in  Ansehung  unsers 
Verhaltens,  und  der  erste  Theil  des  Glaubens.  Der  andre  ist  nur  als  eine 
Folge  anzusehn,  nähmlich  wenn  wir  uns  so  verhalten  haben,  so  können 
wir  eine  Belohnung  hoffen. 

Es  giebt  also  einen  Unglauben  in  der  natürlichen  Religion,  und  die  5 
Ursache  aller  Gebräuche  in  der  Religion  ist  der  Unglaube,  denn  die 
Menschen  glauben  die  Moralität  dadurch  zu  ersetzen,  sie  suchen  Gott 

186  durch  moralische  Handlungen  zu  gewinnen.  /  Wenn  also  der  wahre 
Religions  Glaube  fehlt,  so  entspringt  daraus :  daß  man,  weil  man  die 
UnVollständigkeit  in  sich  findet,  und  daher  an  der  Stelle  eine  himm- 10 
lische  Ergänzung  glauben  sollte,  zu  Ceremonien,  Wallfahrten,  Castey- 
ungen,  Fasten  etc.  schreitet,  wodurch  man  selbst  seine  UnvolUcom- 
menheit  ergänzen  will,  und  da  unterläßt  man,  was  uns  eines  himm- 
lischen Bey Standes  würdig  machen  könnte. 

Erbauung  bedeutet  die  Vollführung  einer  thätigen  Gesinnung,  so  15 
fern  sie  aus  der  Andacht  entspringt.  Menschen  können  andächtig  seyn, 
ohne  sich  zu  erbauen.  Erbauen  heißt  so  viel,  als  etwas  bauen.  Wir 
müssen  also  ein  besondres  Gebäude  der  Gesinnung  und  der  Sittlichlveit 
errichten.  Dieses  hat  zum  Grunde  die  Erkenntniß  von  Gott,  die  dem 

181  sittlichen  Gesetz,   Nachdruck,  Leben  /  und  bewegende  Kraft  giebt.  20 
Die  Erbauung  ist  also  eine  Wirkung  der  Andacht,  eine  Vollendung 
einer  willkührlichen  thätigen  Gesinnung  des  Herzens,  dem  Willen 
Gottes  gemäß  zu  handeln.  Wenn  also  gesagt  wird,  der  Prediger  hat 
erbaulich  gepredigt,  so  bedeutet  es  nicht,  daß  er  was  dadurch  gebaut 
hat,  sondern  daß  dadurch  eine  Erbauung  möglich  sey,  ein  System  von  25 
thätigen    Gesinnungen    aufzurichten,    alsdenn   ist    aber   noch   nicht 
gebaut,  denn  es  ist  ja  noch  nichts.  Der  Mensch  kann  erst  die  Wahrheit 
seiner  Erbauung  aus  seinem  nachfolgenden  Leben  schließen,  und  der 
Prediger  eben  aus  den  Folgen  die  seine  Erbauung  hervorgebracht  hat. 
Die  Erbauung  des  Predigers  bestellt  also  nicht  in  Worten,  äußern  Aus-  3o 
drücken,  Stimmen  etc.  sondern  in  so  fern  seine  Rede  die  Kraft  hat, 
Gebäude  der  Gottesfurcht  in  den  Zuhörern  zu  errichten.  Erbauen  will 

188  also  so  viel  sagen,  /  wie  angezeigt  ist,  und  erbaut  ist :  wenn  ein  Ge- 
bäude der  Gottesfurcht  in  Jemandem  errichtet  ist. 

Der  Autor  redet  noch  von  der  theoretischen  und  praktischen  Er-  35 
kenntniß  Gottes,  wovon  wir  schon  oben  etwas  erinnert  haben.  Zur 
Speculation  in  Ansehung  Gottes  gehört  viel,  sie  gehört  aber  nicht  zur 
Religion,    sondern   die   Religions   Erkenntniß   muß   praktisch  seyn. 
Theologie  kann  zwar  spekulative  Erkenntniß  enthalten,  die  aber  in 


Moralphilosophie  Collins  319 

so  weit  nicht  zur  Religion  gehört.  Rechtschaffene  Lehrer  werden  also 
spekulative  Erkenntniß  aus  der  Religion  weglassen,  damit  der  Mensch 
auf  das  praktische  desto  aufmerksamer  werde.  Religionsgrübeley, 
Spitzfindigkeit,  können  als  Hindernisse  der  Religion  angesehn  werden, 

5  indem  sie  vom  praktischen  abAvendig  machen. 

Um  nun  zu  wissen,  was  zur  Religion  und  Speculation  /  gehöre,  so  189 
muß  man  folgende  Prüfung  anstellen:  Was  keinen  Unterschied  in 
meinen  Handlungen  macht,  es  mag  so,  oder  anders  beantwortet  wer- 
den, gehört  nicht  zur  Religion,  sondern  zur  Spekulation.  Wenn  also  die 

10  Regel  des  Verhaltens  dieselbe  bleibt,  so  gehört  es  zur  Spekulation  und 
nicht  zur  Religion. 

Der  Autor  redet  von  der  Zufriedenheit  des  göttlichen  Willens.  Man 
kann  geduldig  seyn  aus  Noth,  weil  man  es  nicht  ändern  kann,  und  das 
Klagen  vergeblich  ist.  Diese  scheinbare  Zufriedenheit  ist  nicht  mit  der 

15  moralischen  Bonitaet  und  dem  göttlichen  Willen  verbunden,  sondern 
die  Zufriedenheit  mit  dem  göttlichen  Willen  besteht  in  dem  Wolil- 
gefallen  und  Vergnügen  an  der  göttlichen  Regierung.  Weil  diese 
Zufriedenheit  allgemein  ist,  so  muß  sie  in  allen  Umständen  ange- 
troffen werden,  in  die  man  nur  /  gerathen  kann,  sie  mögen  schlecht  190 

20  oder  gut  seyn.  Ist  auch  solche  Zufriedenheit  möglich  ?  Wir  müßen  den 
Menschen  nicht  heuchlerisch  machen.  Es  ist  wider  die  Natur  des 
Menschen  in  Kummer  und  Noth  zu  seyn,  und  Gott  noch  dafür  zu 
danlvcn,  ist  sehr  schwer.  Denn  danke  ich  Gott  dafür,  so  bin  ich  zu- 
frieden, und  so  ist  es  dann  kein  Kummer,  wie  soll  man  aber  für  etwas 

25  danken,  was  wir  als  nie  geschehn  wünschen  ?  Gleichwohl  aber  ist  es 
doch  möglich  bey  aller  Noth  und  Drangsal  seine  Ruhe  und  Zufrieden- 
heit zu  besitzen.  Wir  können  traurig  und  doch  zufrieden  seyn,  obgleich 
nicht  durch  die  Sinne.  Wir  können  durch  die  Vernunft  einsehn 
(welches  uns  auch  einen  Grund  zum  Glauben  giebt),  daß  der  Regierer 

30  der  Welt  nichts  thue,  was  nicht  einen  Zweck  haben  sollte,  demnach 
haben  wir  Trost  bey  den  Uebeln  des  Lebens. 

/  Wir  können  Gott  auf  eine  2fache  Art  etwas  verdanken :  entweder  i9i 
in  Hinsicht  auf  seine  außerordentliche  Direction,  oder  auf  seine  all- 
gemeine Vorsorge.  Das  erste  ist  Vorwitz  unsers  UrtheUs  über  seine 

35  Regierung  und  Zwecke,  dagegen  ist  das  Urtheü,  nach  welchem  wir 
Gott  seiner  allgemeinen  Vorsorge  etwas  beymessen,  der  pflichtmäßigen 
Bescheidenheit,  die  wir  in  der  Beurtheilung  der  W^ege  Gottes  zu 
beobachten  haben,  angemeßen.  Die  Wege  Gottes  sind  götthche  Ab- 
sichten, die  die  Regierung  der  Welt  besthnmen.  Diese  müssen  wir 


320  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

nicht  besonders  bestimmen,  sondern  generaliter  urtheilen,  daß  darin- 
nen Heiligkeit  und  Gerechtigkeit  herrsche.  Es  ist  Vermessenheit,  die 
besondern  Wege  Gottes  erkennen  zu  wollen,  und  eben  so  vermessen  ist 
es,  das  Gute,  was  uns  besonders  wiederfährt,  in  Ansehung  unsrer 
bestimmen  zu  wollen,  z.  E.  man  hat  in  der  Lotterie  gewonnen,  und  man  5 
19a  will  dieses  Gott  als  eine  besondre  Schickung  /  zuschreiben,  so  liegt  es 
zwar  im  allgemeinen  der  göttlichen  Vorsehung,  aber  zu  glauben,  es  sey 
ein  Beweis,  daß  ich  als  ein  Glückskind  von  Gott  auserlesen  seyn  sollte, 
ist  vermessen.  Gott  hat  allgemeine  Absichten  und  Zwecke,  und  es 
kann  etwas  eine  Nebenfolge  einer  größern  Absicht  seyn,  aber  nicht  lo 
eine  besondre  Absicht.  Solche  Personen  demnach,  die  alle  besondre 
Fälle  der  Vorsicht  Gottes  zuschreiben,  und  sagen :  Gott  hätte  sie  mit 
Wohlthaten  und  Glück  überhäuft,  glauben  darum  gottesfürchtig  zu 
seyn,  und  meinen,  solches  gehöre  mit  zur  Religion,  daß  man  Ehrfurcht 
vor  Gott  haben  soll,  die  sie  darin  setzen,  daß  sie  alles  unmittelbar  i5 
seiner  speciellen  Direction  zuschreiben.  Es  liegt  alles  in  der  allgemeinen 
Vorsorge.  Es  ist  doch  besser  in  seiner  Rede  nichts  von  den  Absichten 
Gottes  bestimmen  zu  wollen.  Im  Lauf  der  Welt  im  ganzen  genommen, 
gründet  sich  alles  auf  die  gütige  Vorsorge,  und  wir  können  hoffen,  / 

193  daß  alles  im  allgemeinen  nach  der  Vorsorge  Gottes  geschähe.  Das  20 
allgemeine  der  Natur  soll  unsre  Dankbarkeit  auffordern,  und  nicht 
besondre  Umstände,  die  uns  zwar  in  Ansehung  unsrer  mehr  angehn, 
so  ist  es  doch  nicht  so  edel. 

Die  Entsagung  (Resignation)  in  Ansehung  des  göttlichen  Willens 
ist  unsre  Pflicht.  Wir  entsagen  unserm  Wülen,  und  überlassen  etwas  25 
einem  andern,  der  es  besser  versteht,  und  es  mit  uns  gut  meynt.  Folg- 
lich haben  wir  Ursache,  Gott  alles  zu  übergeben,  und  den  göttlichen 
Willen  schalten  zu  lassen ;  das  heißt  aber  nicht :  Wir  sollen  nichts  thun, 
und  Gott  alles  thun  lassen,  sondern  wir  sollen  das,  was  nicht  in  unsrer 
Gewalt  stehet,  Gott  abgeben,  und  das  unsrige,  was  in  unsrer  Gewalt  30 
stehet,  thun.  Und  dieses  ist  die  Ergebung  in  den  göttlichen  Willen. 

194  /  Vom  Zutraun  auf  Gott  unter  dem  Begriff 

des  Glaubens. 

Glauben  nehmen  wir  hier  in  dem  Sinn,  daß  wir  das  beste  thun  sollen, 
was  in  unsrer  Gewalt  stehet,  und  zwar  in  der  Hoffnung:  Gott  werde  35 
nach  seiner  Güte  und  Weisheit  die  Gebrechlichkeit  unsers  Verhaltens 
ersetzen.  Der  Glaube  bedeutet  also  das  Zutrauen,  daß  Gott  das,  was 


Moralphilosophie  Collins  321 

nicht  in  unsrer  Gewalt  stehet,  wenn  wir  auch  alles,  was  uns  möglich  ist, 
werden  gethan  haben,  ersetzen  werde.  Dieses  ist  der  Glaube  der 
Demuth  und  Bescheidenheit,  die  mit  der  Ergebenheit  verbunden  ist. 
Dieser  Glaube  schreibt  nichts  vor,  sondern  thut  das,  was  nach  seinem 

5  Vermögen  zu  thun  seine  Pflicht  ist,  und  hofft  ohne  Bestimmung  eine 
Ergänzung,  und  von  solchem  kann  man  sagen :  Er  /  hat  einen  unbe- 195 
dingten  Glauben,  und  dieses  ist  der  praktische  Glaube.  Der  praktische 
Glaube  bestehet  also  nicht  darinn,  daß  Gott  unsre  Absichten  erfüllen 
werde,  wenn  wir  ihm  nur  fest  zutraun,  sondern  darinn:  daß  wir  Gott 

10  durch  unsern  Willen  auf  keine  Weise  etwas  vorschreiben,  sondern  es 
seinem  Willen  überlassen  und  hoffen,  Gott  werde,  wenn  wir  das,  was 
in  unserm  natürlichen  Vermögen  steht,  gethan  haben,  durch  Mittel, 
die  er  am  besten  weiß,  unserer  Gebrechlichkeit  und  unserm  Unver- 
mögen abhelfen.  Das  fleischliche  Vertraun  besteht  im  festen  Zutraun 

15  wodurch  man  Gott  zu  bewegen  sucht,  unsern  fleischlichen  Neigungen 
ein  Genüge  zu  leisten.  Fleischliche  Absichten  betreffen  jede  Befriedi- 
gung unserer  Neigungen,  die  aufs  sinnliche  gerichtet  sind.  Fleischliches 
Vertrauen  ist,  wenn  wir  die  /  weltlichen  Zwecke  unserer  Neigungen  196 
selbst  bestimmen.  Wir  können  unmöglich  also  glauben,  daß  unser 

20  Zutraun  in  Absicht  auf  die  Befriedigung  unsrer  Neigungen  für  Gott 
ein  Bewegungsgrund  seyn  sollte,  unsere  Wünsche  zu  erfüllen.  Die 
Zwecke  der  Gottheit  müßen  von  Gott  bestimmt  werden  und  wir 
können  keine  weltlichen  Zwecke  bestimmen. 

Der  einzige  Gegenstand  des  geistlichen  Vertrauens  ist:  die  reine 

25  Sittlichkeit,  die  Heiligkeit  des  Menschen,  und  dann  seine  ewige  Glück- 
seeligkeit  unter  der  Bedingung  der  Sittlichkeit.  Darauf  nun  können  wir 
mit  aller  Sicherheit  ein  Vertrauen  setzen,  welches  auch  in  Ansehung 
dieses  unbedingt  ist.  Fleischlich  Vertrauen  auf  Gott  haben,  nennt  der 
Autor  tentatio  dei,  das  heißt,  versuchen,  ob  unser  Vertrauen  auf  Gott 

30  nicht  ein  Bewegungsgrund  seyn  kann,  unsere  /  fleischliche  Absichten  i»r 
zu  erfüllen.  Ich  kann  mit  Vernunft  auf  nichts  vertrauen,  daß  es  Gott 
thun  werde,  als  was  im  allgemeinen  Plan  seiner  Weisheit  beschlossen 
ist.  Da  ich  dieses  nun  nicht  wißen  kann,  so  ist  es  Vermessenheit,  die 
Zwecke  der  göttlichen  Weltregierung  zu  bestimmen  und  zu  glauben : 

35  Mein  thörichter  Wunsch  liege  in  dem  Plan  der  göttlichen  Weisheit. 
Wer  also  Gott  durch  zeitliche  Wünsche  zu  bewegen  sucht,  um  von  dem 
höchsten  Plan  der  Weisheit  abzugehn,  der  versucht  Gott.  Es  ist  so  gar 
eine  Beleidigung  für  Gott.  W^as  soll  man  nun  von  denen  sagen,  welche 
dieses  für  den  rechten  Glauben  halten  ?  Damit  nun  aber  unser  Ver- 

21     Kant's  Schriften  XXVII/1 


322  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

trauen  mit  dem  Plan  der  Weisheit  übereinstimme,  so  muß  es  weise 
seyn,  und  unbedingt,  so  daß  wir  überhaupt  glauben,  Gott  werde  nach 
seiner  Gütigkeit  und  Heiligkeit  uns  so  wohl  in  Ansehung  des  sittlichen 

198  /  Beystand  leisten,  als  auch  uns  die  Glückseeligkeit  zutheil  werden 
laßen.  Unser  Verhalten  gegen  Gott  ist  von  3erley  Art.  Wir  können  5 
Gott  ehren,  fürchten  und  lieben.  Wir  ehren  Gott  als  einen  heiligen 
Gesetzgeber,  wir  lieben  ihn  als  einen  gütigen  Regierer,  und  wir  fürch- 
ten ihn  als  einen  gerechten  Richter. 

Gott  ehren  heißt :  Sein  Gesetz  als  heilig  und  gerecht  ansehn ;  es  ver- 
ehren und  dasselbe  in  seinen  Gesinnungen  zu  erfüllen  suchen.  Wir  lo 
können  jemand  äußerlich  verehren,  allein  die  Verehrung  entspringt 
aus  der  Gesinnung  des  Herzens.  Das  moralische  Gesetz  ist  in  unsern 
Augen  ehrbahr,  schätzbahr  und  ehren werth.  Betrachten  wir  nun  Gott 
als  den  Geber  desselben,  so  müßen  wir  ihn  auch  nach  der  höchsten 
moralischen  Würde  ehren.  Es  giebt  keine  andre  Fälle  Gott  praktisch  zu  i5 

199  ehren.  Wir  können  Gott  zwar  bewundern,  über  seine  Größe  /  und 
Unermeßlichkeit  in  Erstaunen  gerathen,  auch  unsre  Niedrigkeit  gegen 
ihn  erkennen,  allein  ehren  können  wir  Gott  nur  allein  der  Moralität 
nach.  Wir  können  auch  einen  Menschen  nur  bloß  seiner  Moralität 
wegen  verehren,  seine  Geschicklichkeit  aber  und  Fleiß  können  wir  nur  20 
bewundern.  Wir  können  Gott  auch  nur  als  einen  gütigen  Regierer 
lieben,  nicht  wegen  seiner  Vollkommenheiten,  denn  die  sind  für  ihn, 
sie  sind  nur  bewundernswürdig,  nicht  aber  liebenswürdig.  Wir  können 
nur  den  lieben,  der  uns  Wohlthaten  zu  erzeigen  im  Stande  ist,  wir 
lieben  in  Gott  also  nur  den  gütigen  Willen.  Die  Furcht  Gottes  geht  nur  25 
bloß  auf  die  Gerechtigkeit  seines  Gerichts.  Die  Furcht  Gottes  ist  von 

äooder  Furcht  vor  Gott  /  zu  unterscheiden.  Die  Furcht  vor  Gott  ist: 
wenn  man  sich  eines  Vergehens  schuldig  findet.  Die  Furcht  Gottes  aber 
ist  die  Gesinnung,  sich  so  zu  führen,  zu  handeln,  daß  man  vor  ihm 
bestehn  könne.  Es  ist  also  die  Furcht  Gottes  ein  Mittel  wider  die  so 
Furcht  vor  Gott.  Wenn  die  Furcht  Gottes  mit  der  Liebe  zu  Gott  ver- 
bunden ist,  so  heißt  sie  die  kindliche  Furcht,  da  man  die  Gebote 
Gottes  gern  und  aus  guter  Gesinnung  thut,  da  hingegen  die  Furcht 
vor  Gott  eine  sklavische  Furcht  ist,  und  daher  entsteht,  wenn  unser 
Gehorsam  in  Ansehung  Gottes  ungern  seinen  Geboten  folgt ;  oder  man  35 
fürchtet  sich  auch  vor  Gott,  wenn  man  entweder  schon  seine  Gebote 
übertreten  hat,  oder  noch  Lust  hat,  dieselbe  zu  übertreten.  Nachah- 
mung Gottes  ist  nicht  gut  gewählt.  Wenn  Gott  sagt:  Seyd  heilig,  so  ist 

301  das  nicht  gesagt,  /  wir  solten  ihn  nachahmen,  sondern  dem  Ideal  der 


Moralphilosophie  Collins  323 

Heiligkeit  nachgehn,  welches  wir  nicht  erreichen  können.  Ein  Wesen, 
welches  darnach  unterschieden  ist,  kann  unmöglich  nachgeahmt 
werden,  allein  wir  können  Folge  leisten  und  gehorsam  seyn.  Es  soll 
dieses  Urbild  nicht  nachgeahmt  werden,  sondern  wir  müßen  suchen, 
5  demselben  conform  zu  seyn. 


Vom  Gebet. 

Allgemein  erwogen  scheint  es,  daß  das  Gebet  in  Ansehung  des 
höchsten  Wesens  unnöthig  sey,  denn  es  sind  demselben  unsre  Bedürf- 
niße  beßer  als  uns  bekannt.  Alle  Erklärung  in  Ansehung  unsrer  Be- 

lodürfniße  scheint  unnütz  zu  seyn,  weil  Gott  unsre  Bedürftigkeit  und 
Beschaffenheit  unserer  Gesinnungen  offenbahr  einsieht.  Die  Erklärung 
unsrer  Gesinnungen  durch  Worte  ist  eben  so  unnütz,  weil  Gott  unser 
Innerstes  siehet.  /  Objective  sind  die  Gebete  also  ganz  unnöthig.  Eine  ä02 
Erklärung  ist  nur  gegen  ein  solches  Wesen  nöthig,  welches  nicht  weiß 

15  was  man  verlangt.  Subjective  aber  ist  das  Gebet  nöthig,  nicht  damit 
Gott,  welcher  der  Gegenstand  desselben  ist,  etwas  erfahre,  imd  da- 
durch es  zu  ertheilen  bewogen  werde,  sondern  um  unsers  Subjekts 
willen.  Wir  Menschen  können  unsre  Begriffe  nicht  anders  faßlich 
machen,  als  sie  in  Worte  einzulvleiden.  Wir  kleiden  also  unsre  fromme 

20  Wünsche  und  unser  Zutrauen  in  Worte  ein,  damit  wir  sie  uns  lebhafter 
vorstellen  können. 

Dagegen  giebt  es  Gegenstände  des  Gebets,  die  nicht  die  Absicht 
haben,  moralische  Gesinnungen  vermittelst  des  Gebets  in  uns  zu  er- 
reichen, sondern  die  auf  die  Bedürfniße  abgezielt  sind,  und  dann  ist  das 

25  Gebet  niemals  /  nöthig;  z.  E.  man  ist  in  einer  Noth,  dann  ist  das  Gebet  203 
objective  nicht  nöthig,  denn  Gott  weiß  es,  daß  ich  in  Noth  bin,  und 
subjective  auch  nicht,  indem  ich  mir  hier  den  Begriff  lebhaft  vorzu- 
stellen nicht  nöthig  habe.  Gebete  sind  dennoch  in  moralischen  Ab- 
sichten nöthig,  wenn  sie  in  uns  eine  moralische  Gesinnung  errichten 

30  sollen,  niemals  aber  in  pragmatischen  Absichten,  als  Mittel  zur  Er- 
werbung unsrer  Bedürfniße.  Sie  dienen  dazu,  die  Moralität  in  dem 
Innersten  des  Herzens  anzuf euren.  Sie  sind  Mittel  der  Andacht;  diese 
aber  besteht  in  der  Uebung,  daß  die  Erkenntniß  Gottes  in  Ansehung 
unsers  Thun  und  Laßens  einen  Eindruck  mache ;  die  Gebete  nun  sind 

35  solche  Andachtsübungen.  Es  ist  überhaupt  etwas  widersinniges  mit 
Gott  reden  zu  woUen.  Wir  können  nur  /  mit  dem  reden,  den  wii  sehn  204 
können;   da  wdr  aber  Gott  nicht  anschauen  können,   sondern  nvir 


324  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

glauben,  daß  ein  Gott  sey,  so  ist  es  ganz  widersinnig  mit  dem  zu  reden, 
den  man  nicht  anschaut.  Das  Gebet  hat  also  nur  einen  subjectiven 
Nutzen.  Es  ist  eine  Schwäche  des  Menschen,  daß  er  seine  Gedanken 
durch  Worte  ausdrücken  muß.  Er  redet  alsdenn,  wenn  er  betet,  mit 
sich  selbst,  und  drückt  seine  Gedanken  und  Worte  aus,  damit  er  sich  5 
nicht  irre,  und  deswegen  ist  es  auch  widersinnig;  aber  ohnerachtet 
dessen  ist  es  doch  ein  subjectiv  nothwendiges  Mittel,  seiner  Seele 
Stärke,  und  seinen  Gesinnungen  zu  Handlungen  Kraft  zu  geben. 
Gemeine  Menschen  können  oft  nicht  anders  als  laut  beten,  indem  sie 
im  Stillen  nachzudenlvcn  nicht  im  Stande  sind,  und  das  laute  Beten  /  lo 

805  ihnen  einen  größern  Nachdruck  giebt;  wer  sich  aber  geübt  hat,  seine 
Gesinnungen  in  der  Stille  zu  eröfnen,  der  darf  nicht  laut  beten.  Wenn 
nun  die  moralische  Gott  ergebene  Gesinnung  in  einer  Person  Stärke 
genug  hat,  so  brauchen  solche  Menschen  alsdenn  nicht  den  Buchstaben, 
sondern  den  Geist  des  Gebets.  Wer  schon  geübt  ist  Ideen  und  Gesin- 15 
nungen  zu  haben,  der  hat  das  Mittel  der  Worte  und  Erldärung  nicht 
nöthig.  Nehme  ich  nun  dieses  vom  Gebet  weg,  so  bleibt  der  Geist  des 
Gebets  übrig,  d.  i.  die  Gott  ergebene  Gesinnung,  die  Richtung  des 
Herzens  zu  Gott,  so  ferne  wir  zu  ihm  im  Glauben  das  Zutrauen  faßen, 
er   werde    unsre    moralische    Gebrechlichkeit    wegnehmen   und   die  20 

806  Glückseeligkeit  ertheilen.  /  Der  Geist  des  Gebets  findet  ohne  allen 
Buchstaben  statt.  Der  Buchstabe  hat  keine  Absicht  in  Ansehung 
Gottes,  indem  Gott  unmittelbahr  die  Gesinnung  sieliet,  deswegen  ist 
aber  doch  der  Buchstabe  des  Gebets  nicht  tadelhaft,  sondern,  wenn  es 
feyerlich  z.  E.  in  der  Kirche  geschieht,  so  hat  es  bey  jedem  Menschen  25 
großen  Effect;  an  und  für  sich  ist  der  Buchstabe  todt. 

Woher  kommt  es,  daß  Menschen,  die  beten,  ihre  Stellungen  die  sie 
sonst  im  gemeinen  Leben  haben,  verändern,  und  wenn  sie  darin  be- 
troffen werden,  sich  schämen  ?  Weil  es  widersinnig  ist,   Gott  seine 
Wünsche  zu  deklariren,  da  er  sie  doch  schon  weiß,  und  weil  es  eine  30 
Schwäche  des  Menschen  ist,  seine  Gesinnungen  in  Stimme  und  Worte 
einzukleiden.  Dieser  Gebrauch  aber  des  Mittels  ist  der  Schwäche  des 
Menschen  angemeßen. 
201      /  Auf  den  Geist  des  Gebets  kommt  alles  an.  Im  Evangelio  wird  wider 
das  laute  und  öffentliche  Gebet  auf  den  Straßen  geeifert.  Das  Gebet,  35 
welches  in  eine  Formel  eingekleidet  ist,  lehrt  uns,  daß  man  keine  wort- 
reiche Gebete  haben  soll,  und  enthält  nur  das  noth wendigste  unsrer 
Bedürfniße;  es  sollen  die  Gebete  nur  auf  Gesinnungen  gehn.  Kein 
Gebet  soll  ein  bestimmendes  Gebet  seyn,  als  das,  welches  auf  mora- 


Moralphilosophic  Collins  325 

lisclie  Gesinnungen  geht.  Hierum  kann  ich  categorisch  und  unbedingt 
bitten,  um  alles  übrige  aber  bedingt. 

Warum  aber  ist  es  nöthig,  eine  Bedingung  zu  proponiren,  wodurch 
ich  doch  gestehe,  daß  meine  Bitte  dumm  und  mir  selbst  nachtheilig 

5  seyn  könnte  ?  Die  Vernunft  sagt  uns  also :  daß  unsre  Gebete  gar  nichts 
bestimmendes  enthalten  sollen,  sondern  wir  es  überhaupt  in  Ansehung 
unsrer  Bedürfniße  der  Weisheit  Gottes  überlassen,  und  das  Ertheilte 
von  ihr  annehmen.  /  Weil  aber  die  Menschen  schwach  sind,  so  giebtaos 
das  Evangelium  Erlaubniß,  in  weltlichen  Sachen  bedingt  zu  bitten. 

10  Bedingte  Gebete  sind  als  vorwitzige  anzusehn,  denn  der  Eigendünkel 
ist  verkehrt.  Ich  würde  selbst  erschrecken,  wenn  mir  Gott  besondre 
Bitten  gewähren  sollte,  denn  ich  könnte  nicht  wißen,  ob  ich  mir  nicht 
selbst  Unglück  erbeten  hätte.  Bestimmte  Gebete  sind  ungläubige 
Gebete,  denn  ich  bitte  unter  einer  Bedingung,  und  glaube  nicht,  daß 

15  etwas  ganz  gewiß  erhöret  werde,  denn  sonst  würde  ich  nicht  mit  Be- 
dingung beten.  Gebete  aber  im  Glauben  sind  gar  nicht  bestimmende, 
und  der  gerne  wünschet,  daß  es  ihm  so  recht  nach  seinem  Willen  gehn 
möchte,  der  hat  kein  Zutraun  zu  Gott.  Der  Geist  des  Gebets,  der  uns 
zu  guten  Handlungen  geschickt  macht,  ist  das  VoUkommne,  /  was  wir  209 

20  suchen ;  der  Buchstabe  aber  ist  nur  ein  Mittel  zum  Geist  zu  gelangen. 
Es  müßen  dahero  die  Gebete  nicht  als  eine  besondre  Art  Gott  zu 
dienen  angesehn  werden,  sondern  nur  als  Mittel  die  Gott  ergebene 
Gesinnungen  zu  erwecken.  Wir  dienen  Gott  nicht  mit  Worten,  Cere- 
monien  und  Grimassen,  sondern,  wenn  wir  die  Gott  ergebene  Gesin- 

25  nungen  in  unsern  Handlungen  äußern.  Der  also  gebetet  hat,  hat  noch 
dadurch  nichts  gutes  gethan,  sondern  er  hat  sich  nur  geübt  Gutes  in 
seinen  Handlungen  zu  äußern.  Wir  müßen  alles  von  dem,  was  practisch 
gut  ist  removiren  und  den  reinsten  Begrif  aufsuchen.  Das  Resultat  ist 
also:  daß  das  Gebet  die  Bonitaet  eines  IVIittels  habe.  Wenn  nun  die 

30  Gebete  die  nur  den  Werth  des  Mittels  haben,  /  für  besondre  Arten  Gott  8io 
zu  dienen,  für  ein  unmittelbahres  Gut  angesehn  werden,  so  ist  das  ein 
falscher  Wahn  der  Religion.  Ein  Irrthum  in  der  ReHgion  ist  eher  als 
ein  Wahn  in  der  Religion  zu  verzeihen ;  denn  die  irrende  Religion  kann 
gebeßert  werden,  aber  der  Wahn  hat  nicht  nur  nichts,  sondern  er 

35  widersteht  auch  noch  der  Realitaet  der  Religion. 

Das  Gebet  scheint  eine  Vermessenheit,  und  Mißtrauen  auf  Gott  zu 
erwecken,  als  traue  man  Gott  nicht  zu,  daß  er  wüste  was  uns  nüzlich 
ist.  Auf  der  andern  Seite  scheint  das  anhaltende  unabläßige  Bitten 
eine  Versuchung  Gottes  zu  seyn,  wodurch  wir  also  Gott  bewegen  wol- 


326  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

len,  unsere  Wünsche  zu  befriedigen.  Es  fragt  sich  also :  Ob  ein  solches 
anhaltendes  Gebet  von  Effect  sey  ?  Ist  das  Gebet  im  Glauben  ge- 
schehen, und  man  hat  den  Geist  und  nicht  den  Buchstaben  desselben, 
so  ist  dieses  Zutraun  auf  Gott  ein  Bewegungs-Grund  der  Ertheilung 
der  Bitte,  die  Bestimmung  aber  des  Gegenstandes  des  Gebets  ist  kein  5 

211  Bewegungs  Grund.  Der  Gegenstand  des  Gebets  muß  /  allgemein  und 
nicht  bestimmt  sein,  wo  sich  die  Weisheit  Gottes  am  allerangemessen- 
sten  hervorthun  kann.  Allgemein  aber  ist,  wenn  wir  um  die  Würdigkeit 
aller  Wohlthaten,  die  uns  Gott  zu  geben  bereit  ist,  bitten,  und  nur  ein 
solches  Gebet  ist  erhörlich ;  denn  es  ist  moralisch  und  also  der  Weisheit  10 
Gottes  gemäß.  Im  Zeitlichen  aber  ist  die  bestimmte  Bitte  unnöthig, 
denn  alsdenn  muß  man  stets  hinzusetzen :  wofern  es  Gott  anständig  ist ; 
die  Bedingung  aber  hebt  schon  die  Bestimmung  auf.  Obgleich  nun  aber 
bestimmte  Bitten  unnöthig  sind,  der  Mensch  aber  ein  hüHloses  und 
unvermögendes  Geschöpf  ist,  welches  mit  Unwissenheit  wegen  des  15 
künftigen  Schicksals  umgeben  ist,  so  ist  es  ihm  nicht  zu  verdenl^en, 
wenn  er  bestimmt  bittet,  z.  E.  in  Noth  auf  der  See.  Es  ist  eine  Äuße- 
rung der  Bedürfniß  eines  hülflosen  Geschöpfs  in  der  größten  Noth.  / 

8ia  Diese  Bitte  ist  in  so  fern  erhört,  indem  das  Zutraun  ein  Bewegungs- 
grund seyn  kann,  daß  ihm  Gott  entweder  diese  Bitte  gewähren  oder  20 
auf  eine  andere  Art  heKen  werden,  ob  er  gleich  nicht  fest  glauben 
kann,  daß  ihm  Gott  gerade  den  Gegenstand  ertheilen  werde.  Im 
Glauben  beten  heißt:  Das  von  Gott  bitten,  wovon  man  auf  eine  ver- 
nünftige Weise  hoffen  kann,  Gott  werde  ihm  solches  ertheilen.  Dieses 
aber  sind  nur  geistliche  Gegenstände.  Bitte  ich  nun  darum  aus  reiner  25 
Gesinnung,  so  ist  mein  Gebet  aus  dem  Glauben,  und  denn  bin  ich  auch 
der  Ergänzung  meiner  moralischen  Gebrechlichkeiten  würdig;  bitte 
ich  aber  um  zeitliches  Gut,  so  kann  ich  vernünftiger  Weise  nicht 
hoffen,  Gott  werde  mir  dasselbe  gewähren  und  folglich  kann  ich  darum 

aisrncht  im  Glauben  /  beten.  Der  Geist  ist  von  dem  Buchstaben  des  30 
Gebets  zu  unterscheiden.  Der  Buchstabe  ist  in  Ansehung  unsrer  nur 
nöthig,  in  so  ferne  er  in  uns  den  Geist  des  Gebetes  erwecket.  Der  Geist 
aber  ist  die  Gott  devote  Gesinnung.  Beten  ist  also  eine  Handlung  der 
Andacht.  Wenn  die  Uebung  im  Leben  dahin  gerichtet  ist,  damit  das 
Gebet  in  uns  thätige  Gesinnungen,  die  sich  in  Handlungen  äußern  35 
erwecke,  denn  ist  das  Gebet  andächtig. 

Der  Autor  redet  von  der  Reiaigkeit  der  Religion.  Rein  ist  dem  ver- 
mischten entgegengesetzt  oder  auch  dem  Befleckten.  Reine  Religion, 
so  ferne  sie  der  vermischten  entgegen  gesetzt  ist,  bedeutet :  Eine  Reli- 


Moralphilosophie  Collins  327 

gion  der  bloßen  Gesinnungen,  die  auf  Gott  gerichtet  sind,  und  Morali- 
tät  enthalten.  Vermischte  Religion  ist,  in  so  ferne  sie  mit  Sinnlichkeit  / 
vermengt  ist:  die  nur  ein  Mittel  der  Moralität  ist.  Nun  können  wir 214 
sagen:  Beym  Menschen  ist  keine  reine  Religion  möglich,  denn  der 

5  Mensch  ist  sinnlich,  doch  sind  die  sinnlichen  Mittel  in  der  Religion 
nicht  zu  tadeln.  Allein  die  reine  Idee  der  Religion  muß  uns  ein  Urbild 
seyn,  und  zum  Grunde  dienen;  denn  dieses  ist  das  Ziel,  daher  hier  in 
der  Moral  stark  darauf  gesehn  wird. 

Ferner  redet  der  Autor  vom  Religionseifer.  Eifer  ist  ein  unwandel- 

10  barer  entschlossener  Wille  mit  unveränderlicher  Gesinnung  den 
Zweck  zu  erlangen.  Solcher  Eifer  ist  in  allen  Sachen  gut;  allein,  wenn 
er  in  der  Religion  affect  bedeutet,  welcher  dahin  gerichtet  ist,  alles  in 
der  Religion  zu  befördern,  denn  ist  er  blind,  und  wo  man  nur  irgend 
die  Augen  /  offen  haben  soll,  so  ist  es  in  der  Religion.  Folglich  muß  inais 

15  der  Religion  kein  Eifer,  sondern  ein  unwandelbarer  Ernst  seyn. 
Fromme  Einfalt,  in  so  fern  sie  der  gekünstelten  entgegengesetzt  ist, 
bedeutet:  Praecision  im  Gebrauch  der  Mittel,  vermittelst  der  die 
Handlung  der  Größe  nach,  gerade  den  Zwecken  angemeßen  ist.  In  der 
Religion  ist  nur  darauf  zu  sehn,  was  auf  den  Zweck  abzielet.  Theologie 

20  bedarf  Gelehrsamkeit,  Religion  aber  Einfalt.  Ein  praktischer  Atheist 
lebt  so,  daß  man  glauben  sollte,  er  behauptete :  Es  sey  kein  Gott.  Man 
nennt  diejenigen,  die  so  leben,  praktische  Atheisten,  allein  das  ist 
übertrieben.  Der  praktische  Atheist  ist  der  Gottlose,  denn  die  Gott- 
losigkeit ist  eine  Ai-t  frecher  Bosheit,  die  den  Strafen  die  uns  die 

25  Vorstellung  von  Gott  /  einflößet,  Trotz  bietet.  Vernünfteley,  Andächte-  21« 
ley  und  Aberglaube  sind  3  Abweichungen  von  der  Religion,  wovon 
schon  oben  etwas  erwehnt  worden  ist.  Andächteley  ist,  wenn  der 
Buchstabe  der  Religion  für  den  Geist  gehalten  wird.   Aberglaube 
besteht  in  der  Vorstellung,  nach  welcher  wir  das.  was  der  Maxime  der 

30  Vernunft  wesentlich  entgegen  ist,  zum  Grunde  der  Vernunft  an- 
nehmen. Religions-Aberglaube  ist  mehrentheils  Religionswahn.  Reh- 
gionsschwärmerey  ist  ein  Betrug  des  innern  Sinnes,  nach  welchem  man 
in  Gemeinschaft  mit  Gott  und  andern  Geistern  zu  stehn  glaubt. 


De  cultu  externo. 

35  So  wie  wir  Gottesfurcht  und  Gottesdienst  von  einander  unterschie- 
den haben,  so  unterscheiden  wir  auch  die  religieuse  Handlungen  in  / 
Gottesfürchtige  und  Gottesdienstliche  Handlungen.  Der  Anthropo-  21T 


328  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

niorphismus  ist  Ursache,  daß  man  sich  die  Pflichten  gegen  Gott  nach 
der  Analogie  mit  den  Pflichten  der  Menschen  vorstellt.  Man  glaubt 
Gottesdienstliche  Handlungen  auszuüben,  wenn  man  Gott  seine 
Unterwürfigkeit  und  Demuth  durch  Verehrung,  Lobeserhebungen  und 
Erklärungen  bekannt  macht.  Wir  können  zwar  jedem  Menschen,  so  5 
groß  er  immer  seyn  mag,  einen  Dienst  erzeigen.  Unter  den  Diensten 
sind  einige  gezehlet,  die  bloß  in  Versicherungen  der  Bereitwilligkeit 
dem  andern  zu  beliebigen  Diensten  zu  stehen.  Dahin  gehört :  Das  Cour- 
machen, wo  man  nur  seine  Person  als  bereit  zu  gefälligen  Diensten  dar- 
stellt. Ein  Fürst  ist  ehrbegierig  und  also  geschieht  ihm  dadurch  ein  lO 

218  Dienst.  Nun  aber  sind  die  Menschen  geneigt,  solche  /  Dienstleistungen 
auf  Gott  anzuwenden  und  ihm  Dienste  zu  erzeigen  und  Cour  bey  ihm 
zu  machen  mit  Unterwürfigkeit  und  Demuth,  und  durch  solche  Ehren- 
bezeigungen glauben  sie  ihm  schon  einen  Dienst  erwiesen  zu  haben. 
Daher  ist  der  Einfall  entstanden,  daß  die  Gottheit,  um  die  Menschen  is 
in  Uebung  zu  erhalten.  Befehle  gegeben  habe,  die  an  sich  leer  sind, 
wodurch  die  Menschen  auf  die  Befehle  zu  merken  geübt  wurden,  und 
wodurch  sie  immer  dienstbahr  erhalten  wurden.  Daher  haben  einige 
Religionen  Fasten,  Wallfahrten,  Kasteyungen,  wodurch  sie  beweisen, 
daß  sie  die  Befehle  zu  befolgen  bereit  sind.  Dieses  sind  bloß  Obser-  20 
vanzen,  die  gar  keine  Bonitaet  haben,  und  keinem  etwas  helfen.  Alle 

319  Religionen  sind  voll  davon.  /  Man  nennt  den  Inbegrif  der  Handlungen, 
die  keine  andre  Absicht  haben,  als  die  Dienstbeflißenheit,  den  Befehlen 
Gottes  ein  Genüge  zu  leisten,  den  Gottesdienst.  Der  wahre  Gottesdienst 
besteht  aber  nicht  in  den  äußern  Observanzen,  sondern  in  den  Gott  25 
geheiligten  Gesinnungen,  die  im  Leben  durch  Handlungen  thätig  sind. 
Der  Mensch  ist  gottesfürchtig,  der  für  Gottes  allerheiligstes  Gesetz 
Ehrfurcht  hat  und  dessen  Gottesfurcht  alle  seine  Handlungen  begleitet, 
also  sind  die  gottesdienstliche  Handlungen  keine  besondere  Hand- 
lungen, sondern  in  allen  Handlungen  kann  ich  Gott  dienen ;  und  das  so 
ist  ein  unaufhörlicher  Gottesdienst,  der  durch  das  ganze  Leben  sich 
erstrecket,  aber  nicht  in  besondern  Handlungen  besteht,  die  man  nur 

330  zu  gewißer  Zeit  zu  beobachten  hat.  /  Die  Gottesfurcht  und  der  Gottes- 
dienst sind  keine  besondre  Handlungen,  sondern  die  Form  aller  Hand- 
lungen. Man  hat  aber  in  der  Religion  Handlungen,  wodurch  man  35 
glaubt,  unmittelbahr  Gott  damit  zu  dienen ;  allein  wir  können  keine 
Handlungen  thun,  als  deren  Würkung  sich  auf  diese  Welt  erstreckt. 
Wir  können  auf  Gott  gar  nicht  würken,  als  nur  allein  ihm  ergebne 
Gesinnungen  widmen.  Demnach  giebt  es  gar  keine  Gott  religieuse 


Moralphilosophie  Collins  329 

Handlungen,  wodurch  man  Gott  einen  Dienst  erzeigen  könnte,  und 
alle  Andachtsübungen  haben  gar  nicht  die  Absicht,  dadurch  zu 
gefallen  und  einen  Dienst  zu  erzwingen,  sondern  nur  in  uns  die  Gesin- 
nungen der  Seele  zu  stärken,  damit  /  Avir  Gott  in  unserm  Leben  gefällig  221 

5  werden  durch  Handlungen.  Dazu  gehört  z.  E.  das  Gebet  und  alle  sinn- 
lichen Mittel,  die  nur  Vorbereitungen  sind,  unsre  Gesinnungen  prac- 
tisch  zu  machen.  Der  wahre  Gottesdienst  besteht  im  Lebenswandel, 
der  durch  wahre  Gottesfurcht  geläutert  ist.  Man  gehet  also  nicht  zum 
Dienst  Gottes,  wenn  man  in  die  Kirche  geht,  sondern  man  geht  nur  zur 

10  Uebung  dahin,  um  hernach  Gott  im  Leben  dienen  zu  können.  Kömmt 
man  man  aus  der  Kirche,  so  muß  man  das  ausüben,  wozu  man  sich 
darinnen  geübt  hat,  und  so  erst  im  Leben  Gott  dienen.  Zum  Cultus 
gehören  2  Stücke :  Dasjenige,  was  dazu  als  eine  moralische  Uebung  und 
als  bloße  Observanz  gehört,  z.  E.  das  Gebet,  Vortrag  und  die  Predigt 

15  und  auch  einige  körperliche  Handlungen,  die  dazu  dienen  sollen,  um 
den  /  Glauben  in  uns  zu  erhöhen  und  unsern  moralischen  Handlungen  233 
mehr  Nachdruck  zu  geben.  Je  mehr  der  Cultus  aber  mit  Observanzen 
beladen  ist,  desto  leerer  ist  er  von  moralischen  Uebungen.  Der  Cultus 
hat  nur  einen  Werth  als  Mittel,  und  unmittelbahr  ist  Gott  dadurch  gar 

20  nicht  gedient,  und  er  dient  nur  dazu,  um  das  Gemüth  des  Menschen  in 
Gesinnungen  zu  üben  und  sich  dem  höchsten  Willen  im  Leben  gemäß 
zu  verhalten.  Die  Menschen  sind  geneigt,  das,  was  den  Werth  des  Mit- 
tels hat,  für  die  Sache  selbst  zu  halten,  und  also  die  Observanzen  für 
wirkliche    gottesdienstliche    Handlungen    anzusehn.    Dieses    ist   das 

25  größte  Uebel,  welches  alle  Religionen  an  sich  haben,  und  nicht  wegen 
/  ihrer  Beschaffenheit,  sondern  wegen  der  allen  Menschen  so  eigenen  323 
Neigung.  Allein,  in  der  That  Gott  zu  dienen  und  Gott  ergebene  Gesin- 
nungen anzunehmen,  ist  sehr  schwer,  denn  durch  diese  müßen  die 
Menschen  ihren  Neigungen  Zwang  anthun,  und  sie  beständig  hegen. 

30  Eine  gewiße  Anzahl  von  Gebeten  aber,  Fasten  und  Wallfahrten,  sind 
Sachen,  die  uns  nicht  unaufhörlich  verpflichten,  sondern  nur  eine  Zeit 
dauren,  und  dann  ist  man  wieder  frey,  denn  kann  man  thun  was  man 
will,  auch  wohl  wieder  ein  bisgen  betrügen  und  dann  wiederum  das 
vorige  gut  machen,  Observanzen  beobachten  und  mit  Unterwerfung 

35  eine  Reue  deklariren.  /  Es  mögen  die  Menschen  gern  für  die  moralischen  334 
Gesinnungen  den  Cultum  ausüben,  weil  jene  sehr  lästig  fallen  und  un- 
aufhörlich beobachtet  werden  müßen,  daher  sie  sich  lieber  ein  System 
vom  Cultu  machen.  Daher  ist  es  gekommen,  daß  die  Menschen  die 
Religion  für  ein  Pflaster  des  Gewißens  hielten,  wodurch  sie  das,  was 


330  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

sie  gegen  Gott  gesündigt,  gut  zu  machen  glaubten.  Es  ist  also  der 
Cultus  eine  Erfindung  der  Menschen,  da  sie  2  Wege  Gott  zu  gefallen 
haben,  durch  Moralität  und  Cultu,  so  fallen  sie  auf  das  lezte  um  das 
erste  zu  ersetzen;  denn  wenn  Menschen  in  Ansehung  der  MoraUtät 
nicht  pünktlich  sind,  so  sind  sie  in  Ansehung  des  Cultus  desto  pünkt-  5 
lieber.  Es  ist  daher  nöthig,  daß  Lehrer  der  Gemeine  solches  zu  be- 

335  nehmen  und  /  auszurotten  suchen.  Es  hat  demnach  der  Cultus  und 
die  Observanz  gar  keinen  Werth  in  Ansehung  Gottes,  sondern  nur  in 
Ansehung  unserer,  als  ein  Mittel  die  Gesinnungen  zu  stärken  und  zu 
erwecken,  die  in  Handlungen  aus  Liebe  gegen  Gott  geäußert  werden  10 
sollen.  Wenn  weiß  aber  der  Mensch  daß  er  den  Cultum  nur  als  ein 
Mittel  braucht  ?  Wenn  er  in  seinem  Leben  auf  seine  Handlungen 
Acht  hat,  ob  in  ihnen  moralische  Gesinnungen  und  Gottesfm'cht  anzu- 
treffen sey. 

Äußere  Religion  ist  ein  Widerspruch.  Alle  Religion  ist  innerlich.  Es  15 
können  wohl  äußerliche  Handlungen  seyn,  die  aber  gar  nicht  die 

%%6  Religion  ausmachen,  und  durch  die  wir  Gott  /  gar  nicht  dienen  können, 
sondern  alle  diese  auf  Gott  gerichtete  Handlungen  sind  nur  Mittel, 
die  Gott  ergebene  Gesinnungen  kräftig  zu  machen.  Zum  Cultu  externo 
gehören  äußere  Mittel,  die  die  Seele  zu  guten  Gesinnungen,  die  sich  im  20 
Leben  und  Handlungen  zeigen  sollen,  beleben  sollen.  Es  giebt  also 
wirklich  äußere  Mittel,  die  die  innere  Gesinnungen,  Vorstellungen  und 
Erkenntniße  verstärken  und  denenselben  Leben  und  Nachdi'uck 
schaffen,  z.  E.  in  einer  ganzen  Versammlung  der  Gemeine,  Gott  heilige 
Gesinnungen  einstimmig  zu  widmen.  Wer  Gott  aber  schon  dadurch  25 
einen  Dienst  gethan  zu  haben  glaubt,  der  hat  den  abscheulichsten 
Wahn.  Ein  Umstand  des  Mißverständnißes  in  diesem  Stück  hat  in  der 

221  Religion  einen  großen  Schaden  gemacht.  Weil  die  Menschen  /  in  allen 
Handlungen  der  Sittlichiieit  große  Gebrechlichkeit  haben,  und  nicht 
allein  dasjenige  sehr  mangelhaft  und  befleckt  ist,  was  sie  als  eine  gute  so 
Handlung  ausüben,  sondern  sie  auch  noch  mit  Bewußtseyn  und  Willen 
das  göttliche  Gesetz  übertreten,  so  können  sie  also  gar  nicht  vor  einem 
heüigen  und  gerechten  Richter,  der  das  Laster  nicht  simpliciter  ver- 
geben kann,  bestehn.  Es  fragt  sich:  Ob  wir  von  der  Gütigkeit  Gottes 
durch  unser  heftiges  Bitten  und  Flehn  Vergebung  aller  Laster  hoffen  35 
und  erlangen  können  ?  Nein,  man  kann  sich  ohne  einen  Widerspruch 
keinen  gütigen  Richter  vorstellen,  ein  Richter  muß  gerecht  seyn,  als 
Regierer  kann  er  wohl  gütig  sein ;  denn  könnte  Gott  alle  Laster  ver- 
geben, so  könnte  er  sie  auch  erlaubt  machen,  und  kann  er  sie  straflos 


Moralphilosophie  Collins  331 

erklären,  so  beruht  es  auch  auf  seinem  Willen,  /  sie  erlaubt  zu  machen,  328 
alsdenn  aber  wären  die   moralischen  Gesetze  etwas  willkührliches ; 
nun  aber  sind  sie  nicht  willkührlich,  sondern  eben  so  noth wendig  und 
ewig  wie  Gott.  Die  Gerechtigkeit  Gottes  ist  die  praecise  Beurtheilung 

5  der  Strafen  und  Belohnungen  nach  dem  Wohl  oder  Wohlverhalten  der 
Menschen.  Der  göttliche  Wille  ist  unwandelbahr.  Demnach  können 
wir  nicht  hoffen,  daß  Gott  unseres  Bittens  und  Flehens  wegen  uns 
alles  vergeben  werde,  denn  alsdenn  kommt  es  nicht  auf  Wohlverhalten, 
sondern  auf  Bitten  und  Flehn  an.  Wir  können  uns  also  keinen  gütigen 

10  Richter  denken,  ohne  zu  wünschen,  daß  er  diesmal  die  Augen  schheßen 
möge,  und  sich  durch  Bitten  und  Schmeicheleien  bewegen  laße ;  dieses 
aber  könnte  alsdann  nur  einigen  widerfahren  und  müste  stül  gehalten 
werden;  denn  wenn  es  allgemein  bekannt  würde,  so  würde  es  jeder- 
man  so  haben  wollen,  und  dann  würde  mit  dem  Gesetz  Gespött 

15  getrieben  werden.  /  Das  Bitten  kann  also  keine  Erlassung  der  Strafe  3ä9 
zu  wege  bringen,  das  heilige  Gesetz  bringt  nothwendig  mit  sich,  daß 
die  Strafen  den  Handlungen  angemeßen  sein  sollen.  Allein,  soll  denn 
der  Mensch  keine  Hülfe  haben,  da  er  doch  in  Ansehung  der  Sittlichlieit 
gebrechlich  ist  ?  Ja,  er  kann  zwar  von  einem  gütigen  Regierer  nicht  die 

20  Erlaßung  der  Strafen  für  seine  Laster  hoffen,  denn  alsdenn  wäre  der 
göttliche  Wille  nicht  heilig;  er  ist  aber  heilig  in  so  fern  er  dem  mora- 
lischen Gesetz  adaequat  ist ;  sondern  er  kann  nicht  allein  in  Ansehung 
des  physischen,  wo  schon  selbst  die  Handlungen  an  sich  gute  Folgen 
bringen,  sondern  auch  in  Ansehung  des  moralischen  eine  Gütigkeit 

25  von  dem  gütigen  Regierer  hoffen,  aber  nicht  von  der  Moralität  und 
von  den  Folgen  der  Uebertretung  derselben  dispensirt  werden; 
sondern  die  Gütigkeit  Gottes  besteht  in  den  HüHsmitteln,  wodurch 
Gott  die  Mängel  unserer  natürlichen  Gebrechlichkeit  ergänzen  kann, 
und  darin  seine  Gütigkeit  beweisen.  Wenn  wir  in  Ansehung  unsrer 

30  alles  thun,  was  wir  können,  so  können  wir  /  eine  Ergänzung  hoffen,  330 
daß  wir  vor  Gottes  Gerechtigkeit  bestehn,  und  den  heiligen  Gesetzen 
adaequat  seyn  können.  Wie  Gott  diese  Ergänzung  zu  wege  bringe  und 
was  für  Mittel  er  dazu  brauche,  wißen  wir  nicht,  und  es  ist  auch  nicht 
zu  wißen  nöthig;  wir  können  es  aber  hoffen.  Alsdenn  also  haben  wir, 

35  anstatt  einer  nachsichtlichen  Gerechtigkeit,  eine  Ergänzung  der 
Gerechtigkeit.  Weil  die  Menschen  aber  geglaubt  haben,  daß  sie  alle- 
mahl, so  weit  sie  es  auch  im  guten  bringen,  dennoch  in  ilnren  Augen 
viel  mehr  als  in  den  Augen  Gottes  mangelhaft  wären,  so  glaubten  sie 
Gott  müße  alles  in  ihnen  thun,  oder  ihnen  alle  Schulden  erlaßen,  daher 


332  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

haben  sie  sich  äußerer  Mittel  bedienet,  solches  von  Gott  zu  erflehn, 
und  seine  Gunst  zu  erlangen,  und  ergaben  sich  also  dem  Bitten.  Ihre 
Religion  war  also  eine  Religion  der  Gunstbewerbung.  Demnach  giebt  es 
eine  Religion  der  Gunstbewerbung  und  des  guten  Lebenswandels,  wel- 
che darin  besteht,  daß  man  das  heilige  Gesetz  aus  reiner  Gesinnung  5 

231  pünktlich  zu  beobachten  sucht,  und  hofft,  /  daß  seiner  Gebrechlichkeit 
eine  Ergänzung  verstattet  werde.  Ein  solcher  nun  hat  nicht  eine  Reli- 
gion der  Gunstbewerbung,  sondern  des  guten  Lebenswandels.  Die  Reli- 
gion der  Gunstbewerbung  ist  schädlich,  und  dem  Begriff  von  Gott  ganz 
zuwider,  und  ist  ein  System  der  Religions-Schminke  und  Verstellung,  lo 
wo  man  unter  dem  Schein  der  Religion  und  des  äußern  Gottesdienstes, 
wodurch  man  alles  vorige  gut  zu  machen  denkt,  hernach  wieder  aufs 
neue  drauflos  sündigt,  in  Hof fnung ,  solches  durch  dergleichen  äußere 
Mittel  wieder  gut  zu  machen.  Was  helfen  z.  E.  einem  Kaufmann  alle 
seine  Morgen-  und  Abend-Andachten,  wenn  er  gleich  nach  der  Früh- 15 
mette  den  einfältigen  Käufer  durch  den  Handel  mit  seiner  Waare 
hintergeht  ?  und  noch  dazu  Gott  dafür  durch  ein  Paar  Stooßgebete  im 
Vorübergehen  an  einer  Kirchenthüre  dankt,  das  heißt  recht:  Gott 
durch  Jesuitische  Ränke  zu  hintergehn  suchen.  Hierin  kommt  die 
Vernunft  mit  dem  Evangelio  völlig  überein,  welches  das  Beyspiel  der  20 
Brüder,  wovon  der  eine  ein  Gunstbewerber,  Complementarius  war,  und 

«32  sogleich  den  /  Willen  seines  Vaters  zu  befolgen  versprach,  es  aber  nicht 
that,  der  andre  Schwürigkeiten  machte,  aber  doch  seine  Pflichten 
gegen  seinen  Vater  beobachtete,  beweiset.  Solche  Religion  ist  schäd- 
licher als  alle  Irreligionen,  denn  dafür  ist  kein  Mittel  mehr.  Einen  Gott-  25 
losen  kann  man  oft  durch  ein  Wort  auf  den  rechten  Weg  bringen,  aber 
nicht  den  Heuchler.  Alle  diese  Beobachtung  dienet  dazu,  daß  man 
einsehe :  daß  das  Äußere  der  Religion,  der  Cultus,  nur  einen  Werth  des 
Mittels  in  Ansehung  unsrer  habe,  unmittelbahr  aber  in  Ansehung 
Gottes  gar  nicht  gelte,  und  daß  man  nicht  glaube,  daß  unsre  sittlichen  so 
Un Vollkommenheiten  durch  den  Cultum  externum  ergänzt  werden, 
sondern  daß  sie  durch  Gott  bekannte  Mittel  dem  heiligen  Gesez  ad- 
aequat  gemacht  werden. 

Von  Beyspiel  und  Muster  in  der  Religion. 

Ein  Beyspiel  ist,  wenn  ein  allgemeiner  Satz  der  Vernunft  im  gegeb-  35 
nen  Fall  in  concreto  statt  findet.  Wir  müßen  von  den  Sätzen  a  priori 
233  bewiesen  haben,  daß  sie  auch  in  concreto  statt  finden,  und  nicht  /  nur 


Moralphilosophie  Coli  ins  333 

in  dem  Verstände  residiren ;  denn  sonst  werden  sie  unter  die  fictiones 
gerechnet,  z.  E.  ein  durch  die  Vernunft  erdachter  Regierungsplan  muß 
durch  ein  Beispiel  auch  als  in  concreto  möglich  erwiesen  werden.  Nun 
fragt  es  sich :  Ob  auch  in  der  Moral  und  Religion  Beyspiele  zugelaßen 

5  werden  sollen  ?  Was  apodictisch  a  priori  ist,  bedarf  keines  Beyspiels, 
denn  da  sehe  ich  die  Nothwendigkeit  a  priori  ein.  Z.  E.  Mathematische 
Sätze  bedürfen  keiner  Beyspiele;  denn  das  Beyspiel  dient  nicht  zum 
Beweise,  sondern  zur  Illustration.  Dahingegen  können  wir  von  Be- 
griffen, die  aus  der  Erfahrung  genommen  sind,  nicht  eher  wißen,  ob  sie 

10  möglich  sind,  bis  ein  Beyspiel  im  gegebnen  Fall  in  concreto  da  ist. 
Alle  Erkenntniße  des  »Sittlichen  und  der  Religion  lassen  sich  apodic- 
tisch durch  die  Vernunft  a  priori  darthun.  Die  Nothwendigkeit,  sich  so 
und  nicht  anders  zu  verhalten,  sehn  wir  a  priori  ein;  doch  sind  keine 
Beyspiele  in  Sachen  der  Religion  und  Moral  nötliig.  Es  giebt  also  /  kein  234 

15  Muster  in  der  Religion,  weil  der  Grund,  das  principium  des  Verhaltens, 
in  der  Vernunft  liegen  muß,  und  nicht  a  posteriori  abgeleitet  werden 
kann,  und  wenn  mir  auch  die  Erfahrung  kein  einziges  Beyspiel  der 
Ehrlichkeit,  der  Rechtschaffenheit  und  der  Tugend  giebt,  so  sagt  mir 
doch  die  Vernunft  ich  soll  so  seyn.  Ja,  die  Beyspiele  selbst  müßen  in 

20  der  Religion  aus  allgemeinen  principiis  beurtheilt  werden,  ob  sie  gut 
sind  oder  nicht.  Die  Beyspiele  müßen  also  nach  sittlichen  Regeln 
beurtheilt  werden,  aber  nicht  die  Sittliclilceit  und  Religion  aus  den 
Bey spielen.  Das  Urbild  Hegt  in  dem  Verstände. 

Wenn  uns  also  heilige  Leute  als  Muster  in  der  Religion  vorgestellt 

25  werden,  so  muß  ich  sie  doch  nicht,  sie  mögen  gleich  noch  so  heilig  seyn, 
nachahmen,  sondern  sie  nach  allgemeinen  Regeln  der  Sittlichlceit  be- 
urtheilen.  Es  giebt  zwar  Beyspiele  der  Rechtschaffenheit  und  der 
Tugend,  ja  auch  der  Heiligkeit,  so  wie  uns  das  Evangelium  ein  solches 
darbeut,  allein  ich  lege  /  dieses  Beyspiel  der  Heiligkeit  nicht  zum  335 

30  Grunde,  sondern  beurtheile  es  nach  dem  heiligen  Gesetz.  Stimmt  es 
mit  demselben  überein,  so  sehe  ich  erst  ein,  daß  es  ein  Beyspiel  der 
Heiligkeit  ist.  Die  Beyspiele  dienen  uns  zur  Aufmunterung  und  zur 
Nachfolge;  als  Muster  aber  müßen  sie  nicht  gebraucht  werden.  Sehe 
ich  etwas  in  concreto,  so  erkenne  ichs  desto  deutlicher.  Die  Ursache, 

35  warum  Menschen  in  Religions-Sachen  gern  nachahmen  mögen,  ist : 
Sie  bilden  sich  ein,  wenn  sie  sich  so  verhalten,  wie  die  größte  Anzahl 
unter  ihnen,  so  wollen  sie  Gott  dadurch  nöthigen,  indem  er  sie  doch 
nicht  alle  bestrafen  kann,  denn  wenn  er  allen  vergiebt,  er  doch  auch 
ihnen    vergiebt.    Ferner   so    mögen   die    Menschen   doch   gerne  das 


334  Vorlesungen  über  Moralpliilosophie 

beibehalten,  was  ihre  Vorfahren  glaubten;  denn  alsdenn  glauben  sie, 
sie  sind,  wenn  es  etwa  falsch  ist,  außer  der  Schuld,  sondern  ihre  Vor- 
836  fahren  die  sie  dazu  anhielten,  und  kann  der  Mensch  /  nur  die  Schuld 
auf  andre  schieben,  so  ist  er  ruhig,  man  glaubt  sich  dadurch  vor  der 
Verantwortung  zu  schützen.  Doch  wird  derjenige,  der  die  Religion  5 
seiner  Eltern  und  Vorfahren  verändert,  und  eine  andre  annimmt,  für 
einen  Waghals  gehalten,  der  etwas  sehr  gefährliches  unternimmt,  weil 
er  alle  Schuld  alsdenn  auf  sich  nimmt.  Wenn  wir  das  Allgemeine  der 
Religion  annehmen,  was  bey  jeder  Religion  statt  haben  muß,  nähm- 
lich  durch  innere  Gesinnungen  Gott  zu  gefallen,  und  sein  heiliges  10 
Gesetz  auszuüben,  und  von  seiner  Gütigkeit  eine  Ergänzung  unsrer 
Gebrechliclil^eiten  zu  hoffen,  so  mag  ein  jeder  immer  der  Religion  der 
Väter  folgen,  es  schadet  ihm  nichts,  wenn  er  nur  nicht  glaubt,  durch 
den  Cultum  seiner  Religion  eher  Gott  zu  gefallen  als  durch  den  Cultum 
einer  andern.  Die  Observanzen  mögen  seyn  wie  sie  wollen,  wenn  sie  15 
nur  als  Mittel,  wodurch  Gott  ergebne  Gesinnungen  erweckt  werden 
sollen,  angesehn  werden;  werden  sie  aber  für  einen  unmittelbaren 
Dienst  Gottes  gehalten,  so  ist  dieses  ein  großer  Schade  einer  Religion 
und  denn  ist  eine  Religion  so  schädlich  als  die  andre. 


23»  /  Vom  Anstoß.  20 

Ein  Beyspiel  ist  nicht,  zur  Nachahmung  wohl  aber  zur  Nachfolge. 
Der  Grund  der  Handlung  muß  nicht  aus  dem  Beyspiel,  sondern  aus  der 
Regel  abgeleitet  werden ;  wenn  aber  andre  gezeigt  haben,  daß  solches 
möglich  sey,  so  müßen  wir  ihrem  Beyspiel  nachfolgen,  und  uns  auch 
bemühen,  solche  sittlichen  Handlungen  auszuüben,  und  nicht  andre  25 
uns  darin  übertreffen  zu  lassen.  Es  mögen  die  Menschen  überhaupt 
gerne  Beyspiele  haben,  und  ist  kein  Beyspiel,  so  mögen  sie  sich  gern 
damit  entschuldigen,  daß  jeder  so  lebe.  Sind  aber  Beyspiele  da,  auf  die 
man  sich  berufen  kann,  so  ermuntert  solches  zur  Nachfolge.  Ein 
schlimmes  Beyspiel  aber  ist  ein  Anstoß  und  giebt  zu  2  Uebeln  Gelegen-  so 
heit:  zur  Nachahmung  als  ein  Muster,  und  zur  Entschuldigung.  So 
geben  Männer  im  vornehmen  oder  im  geistlichen  Stande  Gelegenheit 
durch  ihr  Beyspiel  zur  Nachahmung,  obgleich  man  in  der  Religion 
238  gar  nicht  nachahmen  soll,  allein  es  /  geschieht  doch.  Wenn  aber  ein 
Beyspiel  zur  Entschuldigung  Anlaß  giebt,  so  ist  es  auch  ein  Scanda-  35 
lum.  Kein  Mensch  will  gerne  allein  böse  sein,  so  wie  er  auch  nicht  gerne 
allein  eine  Pflicht  thun  will,  sondern  er  beruft  sich  immer  auf  andre. 


Moralphilosophie  Collins  335 

Und  je  mehr  Bcyspiele  von  der  Art  sind,  desto  mehr  sieht  man  es 
gerne,  um  sich  auf  mehrere  berufen  zu  können. 

Alle  Scandala  sind  entweder  data  oder  accepta.  Das  erstere  ist,  was 
nothwendiger  Weise  ein  nothwendiger  Grund  von  bösen  Folgen  für 
5  die  Sittlichkeit  andrer  ist.  Das  leztere  ist,  was  nur  ein  zufälliger  Grund 
ist.  Obgleich  nicht  das  mir  zugerechnet  werden  kann,  wenn  ein  andrer 
von  meinen  Handlungen  einen  Mißbrauch  macht,  welches  denn  zwar 
in  Ansehung  seiner  Sittliclikeit  üble  Folgen  haben  kann,  aber  nicht  in 
Ansehung  meiner  Sittlichkeit;  denn  ich  kann  solches  anders  angesehen 

10  haben,  so  daß  es  mit  meiner  Sittlichkeit  wohl  übereinstimmt,  und 
obgleich  ich  nicht  dafür  kann,  daß  ein  andrer  von  meinen  Handlungen 
einen  verkehrten  Gebrauch  macht,  so  muß  man  sich  doch  zwingen, 
keine  Gelegenheit  /  zu  geben.  Allein  wenn  ich  die  Gelegenheit  zu  83» 
solchem  Scandalo  accepto  vermeiden  muß,  dadurch,  daß  ich  in  meinen 

15  Handlungen  affectiren  und  selbst  wider  mein  Gewißen  handeln  muß, 
so  brauche  ich  es  nicht  zu  vermeiden,  wenn  mir  kein  andrer  Weg  übrig 
bleibt,  denn  es  müßen  alle  meine  Handlungen  rechtschaffen  und  nicht 
affeetirt  sein,  und  bin  ich  in  meinem  Gewißen  vom  Gegentheil  der 
Sache  überzeugt,  so  müßte  ich  dadurch,  daß  ich  dem  andren  keinen 

20  Anstoß  geben  wollte,  wider  mein  eigen  Gewißen  handeln;  z.  E.  bin  ich 
in  meinem  Gewißen  überzeugt,  daß  das  Niederfallen  vor  Bildern  eine 
Abgötterey  sey,  und  ich  bin  an  einem  Orte,  wo  das  geschieht,  so  würde 
ich,  wenn  ich  es  um  andern  keinen  Anstoß  zu  geben  thäte,  wider  mein 
Gewißen  handeln,  denn  dieses  muß  mir  heilig  seyn.  Es  kann  mir  zwar 

25  leid  thun,  daß  sich  Jemand  daran  stoßt,  allein  meine  Schuld  ist  es 
nicht. 

Zur  Religion  gehören  2  Stücke:  Gott  ehren  und  Gott  lieben.  Ich 
kann  Jemand  auf  2faclie  Weise  ehren,  practisch,  wenn  ich  das  thue,  was 
sein  WiUe  ist,  und  schmeichlerisch  durch  äußere  Merkmale  der  Hoch- 
30  achtung.  Gott  kann  ich  nicht  schmeichlerisch  durch  Versicherungen 
der  Hochachtung  ehren,  sondern  praktisch  durch  Handlungen.  / 
Wenn  ich  also  das  heilige  Gesetz  aus  erkannter  Schuldigkeit  und  240 
Hochachtung  gegen  Gott,  als  den  Gesetzgeber,  ausübe,  und  bereit- 
willig seine  Gebothe,  die  ehrenwerth  sind,  erfülle,  so  ehre  ich  Gott. 

35  Gott  practisch  lieben,  heißt:  seine  Gebothe  weil  sie  liebenswürdig 
sind,  gern  thun.  Ich  liebe  Gott,  wenn  ich  sein  Gesetz  liebe,  und  es  aus 
Liebe  erfülle.  Die  falsche  Deutung  der  Ehre  Gottes  hat  der  Aber- 
glaube hervorgebracht,  und  die  falsche  Liebe  Gottes  die  Schwärmerey. 


336  Vorlesungen  über  Moralphilosopliie 

Was  heißt  Gott  loben  ?  die  Größe  Gottes  sich  als  einen  Bewegungs- 
grund unsers  Willens  dem  göttlichen  Willen  gemäß  zu  leben,  lebendig 
vorstellen.  Die  Bemühung,  die  Vollkommenheit  Gottes  einzusehn, 
gehört  nothwendig  zur  Religion,  die  unserm  Willen  Kraft  und  Nach- 
druck geben  soll,  dem  heiligen  Willen  Gottes  gemäß  zu  leben.  Auf  der  5 
andern  Seite  aber  ist  die  Frage :  Was  das  Lob  Gottes  dazu  beitrage  ? 
Das  Lob  Gottes  in  Worten  und  Lobgesängen  eingekleidet,  welches 
Mittel  unserer  Begriffe  sind,  dient  nur  dazu,  um  die  praktische  Ehr- 
furcht gegen  Gott  in  uns  zu  vergrößern,  also  hat  es  in  Ansehung  / 

341  unserer  einen  subjectiven  nicht  objectiven  Nutzen,  denn  durch  das  lo 
Loben  geschieht  Gott  unmittelbahr  kein  Gefallen.  Wir  loben  Gott  nur 
alsdenn,  wenn  wir  seine  Vollkommenheiten  und  die  Verherrlichung 
derselben  als  einen  Bewegungsgrund  gebrauchen,  in  uns  praktische 
gute  Gesinnungen  zu  erwecken.  Wir  können  bey  Gott  keine  Neigungen 
von  uns  gelobt  zu  werden,  statt  finden  lassen.  Unsere  Erkenntniß  von  i5 
Gott  ist  auch  der  Größe  desselben  sehr  unangemeßen,  und  diejenige 
Begriffe,  wodurch  wir  Gott  zu  loben  glauben,  sind  sehr  irrig,  also  sind 
die  Lobeserhebungen  gar  nicht  den  Vollkommenheiten  Gottes  gleich- 
förmig. Der  Nutzen  ist  also  nur  subjectiv,  und  der  indirecte  dadurch 
objectiv.  Es  wäre  besser,  wenn  man  dem  Menschen  angewöhnte,  wie  20 
er  wahre  Ehrfurcht  gegen  Gott  in  seiner  Seele  empfinden  sollte,  als  daß 
man  ihn  einige  Lobeserhebungen  in  Worten  und  Formeln  ausdrücken 
läßt,  welches  er  doch  nicht  empfindet.  Wie  kann  man  aber  einen 
Begriff,  der  solche  Ehrfurcht  in  der  Seele  zu  wege  bringt,  von  Gott 

843  erhalten  ?  Das  geschieht  nicht  durch  /  Ausdrücke  und  nachgesagte  25 
Formeln  von  Lobes-Erhebungen  der  göttlichen  Vollkommenheiten, 
und  die  die  Formeln  der  Erhebung  der  Güte  und  Allmacht  Gottes  für 
ein  Lob  Gottes  ansehn,  irren  sich  sehr.  Damit  wir  aber  die  Größe 
Gottes  in  uns  empfinden,  so  müßen  wir  sie  anschauen  können,  doch 
wäre  es  sehr  gut,  wenn  in  der  Religion  die  Gemeinde  nicht  durch  allge-  30 
meine  Begriffe  von  der  Hochpreisung  der  Allmacht  Gottes  unterrichtet 
würde,  sondern  daß  sie  die  Stärke  Gottes  zu  erkennen  angeführt 
würde,  deßen  alle  Menschen  fähig  sind,  z.  E.  den  unendlichen  Weltbau, 
in  welchem  viele  Weltkörper  da  sind,  die  mit  vernünftigen  Geschöpfen 
angefüllt  sind.  Solche  Vorstellung  und  Anschauung  der  Größe  Gottes  35 
würket  weit  mehr  in  unserer  Seele,  als  alle  Lobgesänge.  Die  Menschen 
glauben  aber,  daß  solche  Lobsprüche  Gott  unmittelbahr  gefallen.  Die 

343  Observanzen  aber  sind  kein  Theil  der  Religion,  sondern  nur  /  Mittel 
derselben.  Die  wahre  Religion  ist  die  Religion  der  Gottesfurcht  und 


Moralphilosophie  CoUins  337 

des  Lebenswandels.  Wenn  bey  einem  Menschen  in  seinen  Handlungen 
nichts  zu  besehn  ist,  so  hat  der  Mensch  keine  Rehgion,  er  mag  reden 
was  er  will. 

Die  Zeichen  der  Religion  sind  2fach:  wesentliche  und  zweydeutige. 

5  Zu  den  ersten  gehört  z.  E.  Gewdßenhaftigkeit  des  Lebenswandels. 
Zu  den  letztern  aber  z.  E.  die  Beobachtung  des  Cultus.  Weil  aber  der 
Cultus  ein  zweydeutiges  Zeichen  ist,  so  darf  er  deswegen  doch  nicht 
verworfen  werden;  er  ist  ein  Zeichen,  daß  Menschen  sich  bemühen 
durch  den  Cultus  Gott  ergebene  Gesinnungen  in  sich  zu  erwecken. 

10  In  der  Beurtheilung  beyder  aber  ist  der  Cultus  ein  zweydeutiges 
Zeichen.  Andre  aber  können  das  an  ihm  nicht  sehen.  Der  Mensch  kann 
in  sich  selbst  fühlen,  daß  er  den  Ciiltum  beobachtet,  um  Gott  ergebene 
Gesinnungen  in  sich  dadurch  zu  erwecken,  andren  aber  kann  er  es  nur 
im  Leben  durch  Handlungen  beweisen. 

15  /Von  der  Schaam  in  Ansehung  der  Andacht.  »44 

Der  Frömmigkeit  und  Gottesfurcht  scheint  sich  kein  Mensch  zu 
schämen,  es  sey  denn,  wenn  man  in  solcher  Gesellschaft  ist,  die  ganz 
boshaft  ist,  und  allem  Trotz  bietet,  und  denn  schämt  man  sich  ein 
Gewißen  zu  haben,  so  wie  man  sich  unter  Spitzbuben  ein  ehrlicher 

20  Mann  zu  seyn  schämet,  unter  gesitteten  Menschen  aber  wird  keiner 
sich  der  wahren  Gottesfurcht  schämen.  Allein  der  Andacht  schämen 
sich  die  Menschen.  Wir  fülu-en  dieses  nur  zur  Betrachtung  und  nicht 
als  zur  Rehgion  gehörig  an.  Je  rechtschaffener  der  Mensch  ist,  desto 
eher  schämt  er  sich,  wenn  er  bey  einer  Andachts  Handlung  ertappt 

25  wird.  Ein  Heuchler  wkd  sich  nicht  schämen,  sondern  er  will  sich  viel- 
mehr sehn  lassen.  Wenn  das  Evangelium  saget:  Wenn  du  betest, 
so  gehe  in  dein  Kämmerlein,  so  ist  dieses  nur,  um  den  Schein  eines 
Heuchlers  zu  vermeiden,  denn  der  Mensch  schämt  sich,  wenn  ein 
andrer  etwas  arges  von  ihm  denket,  wenn  er  es  nicht  begangen  hat, 

30  z.  E.  es  wird  etwas  in  einer  Gesellschaft  vermißet  und  darnach  /  ge-  345 
fraget,  und  man  sieht  ihn  an,  so  wird  er  roth.  Die  erste  Ursache  der 
Schaam  also  ist,  nicht  für  einen  Heuchler  gehalten  zu  werden,  die  2te 
aber:  wir  erkennen  Gott  nicht  durch  Anschauen,  sondern  durch  Glau- 
ben. AVir  können  also  von  Gott  als  von  einem  Gegenstande  des  Glau- 

35  bens  also  sprechen :  Wenn  es  Gott  nach  seiner  Güte  in  der  Erziehung 
der  Kinder  dahin  lenken  wollte,  daß  sie  etc.,  so  wird  man  sich  solches 
W^unsches  gar  nicht  schämen,  und  so  können  wir  auch  in  Gesellschaft 

22     Kanfs  Schriften  XXVII/1 


338  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

davon  reden;  gesezt  aber,  es  würde  jemand  in  der  Gesellschaft  die 
Hände  aufheben  und  beten,  ob  er  gleich  nichts  sagte,  so  würde  es  doch 
sehr  frappiren.  Woher  kommt  dieses  ?  Es  wird  der  Gegenstand  des 
Glaubens  zum  Gegenstand  der  Anschauung  gemacht.  Zwar  ist  der 
Glaube  eben  so  stark  als  die  Anschauung ;  aber  Gott  ist  doch  nun  ein-  5 
mal  kein  Gegenstand  der  Anschauung,  sondern  des  Glaubens,  und 
246  folglich  muß  ich  ihn  als  einen  solchen  anreden.  Allein,  warum  /  betet 
man  denn  ?  Wenn  ich  allein  bete,  so  kann  ich  eine  Anschauung  nach- 
ahmen und  meine  Seele  zusammenfaßen.  In  der  Kirche  aber  hat  das 
Gebet  etwas  pathetisches  an  sich,  indem  der  Gegenstand  des  Glaubens  10 
zum  Gegenstand  der  Anschauung  gemacht  wird.  Es  kann  aber  auch 
ein  Prediger  zu  Gott  als  einem  Gegenstande  des  Glaubens  beten,  allein 
das  Pathema  läßt  sich  in  solcher  Gemeine  gut  erregen,  in  andrer  Ge- 
sellschaft aber  wäre  es  sehr  phantastisch. 

Vom  Bekenntniß  der  Religion  und  in  wie  fern  etwas  ein  15 
Status     confeßionis     sey,     und     die     Bedingungen,     unter 
denen  derselbe  statt  finde. 

Es  läßt  sich  dieses  in  Beyspielen  am  besten  einsehn.  In  fremden 
Ländern,  wo  eine  abergläubische  Religion  ist,  hat  mans  nicht  nöthig 
seine  Religion  zu  deklariren.  Wenn  ich  glaube :  die  Ceremonien  und  20 
das  Hinfallen  vor  den  Heiligen  sind  eine  Hinderniß  der  Religion,  und 
ereignet  sich  ein  Fall,  daß  da,  wo  ich  bin,  alle  vor  einem  Heilgen  hin- 

241  fallen,  /  so  schadet  es  mir  nicht,  und  ich  brauch  auch  meine  Religion 
nicht  zu  deklariren,  denn  Gott  siehet  das  gebeugte  Hertz  und  nicht 
den  gebeugten  Körper  an.  Allein,  wenn  ich  durch  Lebensgefahr  25 
gezwungen  werde,  die  Rehgion  oder  die  Gebräuche  mit  zu  machen,  so 
wie  Niebuhr  von  den  Reisenden  erzählt,  die  nach  Mecca  die  Gebräuche 
des  Mahomeds  zu  sehn  gehn,  daß  sie  entweder  ihr  Leben  verlieren, 
oder  sich  beschneiden  laßen  müßen,  welches  auch  mit  einem  Fran- 
zosen geschehn  war,  so  ist  dieses  auch  kein  status  confeßionis,  ich  so 
kann  mich  immer  beschneiden  laßen,  es  schadet  nichts,  vornehmlich 
wenn  ich  dadurch  mein  Leben  retten  kann.  Allein,  wenn  Jemand 
gezwungen  wird,  seine  Gesinnungen  zu  deklariren,  und  das,  was  er  für 
falsch  hält,  durch  Verschwörung  und  Betheurung  anzunehmen,  und 
das  zu  verwerfen,  was  er  hoch  zu  schätzen  verbunden  ist ;  so  ist  das  ein  35 

248  Status  confeßionis,  und  denn  kann  ich  sagen :  Eure  Gebräuche  /  will 
ich  immerhin  annehmen,  allein  sogleich  neue  Gesinnungen  zu  faßen, 


Moralphilosophie  Collins  339 

das  geht  nicht  an,  demnach  muß  ich  in  Ansehung  der  Gesinnungen 
nichts  declariren.  Wenn  ich  glaube:  die  Ceremonien  und  das  Hinfallen 
vor  dem  Heiligen  sind  eine  Hinderniß  der  Religion,  und  es  ereignet 
sich  ein  Fall,  daß  da,  wo  ich  bin  alle  vor  ■(bricht  ab} 

5  Der  seine  Religion  verleugnet  ist  ein  Renegat  oder  auch  Apostat. 
Man  kann  ein  Apostat  seyn  ohne  ein  Renegat  zu  seyn,  das  heißt,  man 
kann  aus  freyen  Stücken  von  einer  Religion  abtrünnig  werden,  z.  E. 
wie  Spinoza  von  der  jüdischen,  aber  deswegen  hat  man  noch  nicht 
renegirt.  Der  göttliche  Name  kann  zur  Heucheley  und  Ruchlosigkeit 

ingemißbraucht  werden.  Man  muß  nicht  Menschen  sogleich  für  ruchlos 
halten,  z.B.  wenn  sie  fluchen,  oft  sind  es  die  sanftesten  Menschen, 
es  ist  dieses  nur  eine  Sache  der  Gewohnheit  bey  ihnen.  Als  z.  B.  bey 
einem  commandirenden  Officier :  diese  thun  /  es  bloß,  um  ihren  Wor-  24» 
ten  einen  Nachdruck  zu  geben,  obgleich  sie  wolil  wißen,  daß  sie  das 

15  heiige  Donner- Wetter  so  nicht  regieren  können,  daß  es  in  die  Soldaten 
einschlagen  sollte. 

Hiemit  ist  der  Theil  der  natürlichen  Religion  geendiget,  und  jezt 
kommen  wir  zu  der  eigentlichen  Moralität. 


22» 


340  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 


850  /  Von  der  Moralität  und  zwar 

1)  Von  den  Pflichten  gegen  sich  selbst. 

Nachdem  wir  nun  bisher  alles  abgehandelt  haben  was  zur  natür- 
lichen Rehgion  gehört,  so  gehn  wir  jezt  zu  der  eigentUchen  Moralität, 
und  zu  den  natürlichen  Pflichten  gegen  alles,  was  in  der  Welt  ist.     5 

Das  erste  Object  aber  sind  die  Pflichten  gegen  uns  selbst.  Diese 
werden  nicht  juridisch  betrachtet,  denn  das  Recht  betrifft  nur 
das  Verhältniß  gegen  andre  Menschen.  Recht  kann  nicht  gegen  mich 
selbst  beobachtet  werden,  denn  was  ich  gegen  mich  selbst  thue,  das 
thue  ich  mit  meiner  Einwilligung,  und  ich  handle  nicht  wider  die  lo 
öffentliche  Gerechtigkeit,  wenn  ich  wider  mich  selbst  handle.  Wir 
werden  hier  von  dem  Gebrauch  der  Freyheit  in  Ansehung  seiner  selbst 

251  reden.  Als  eine  Einleitung  ist  zu  merken,  daß/kein  Stück  in  der 
Moral  mangelhafter  abgehandelt  worden  als  dieses  von  den  Pflichten 
gegen  sich  selbst.  Es  hat  sich  keiner  einen  rechten  Begriff  von  der  i5 
Pflicht  gegen  sich  selbst  gemacht,  man  hielt  sie  für  eine  Kleinigkeit, 
und  erwog  sie  nur  als  ein  Supplement  in  der  Moralität  ziiletzt  und 
glaubte,  wenn  der  Mensch  alle  Pflichten  erfüllt  habe,  so  könne  er 
zulezt  auch  an  sich  denken.  In  diesem  Stück  also  sind  alle  philo- 
sophischen Moralen  falsch.  Geliert  aber  verdient  hier  kaum  genannt  zu  20 
werden,  denn  er  kommt  nicht  einmal  auf  den  Einfall  von  den  Pflichten 
gegen  sich  selbst  zu  reden.  Er  redet  bloß  von  Gütigkeit  und  Wohl- 
verhalten,  als  dem  dichterischen  Steckenpferd,  zulezt  aber,  um  sich 
auch  nicht  ganz  zu  vergeßen,  denkt  er  an  sich,  sowie  ein  Gastwirth, 

85»  der  schon  alle  Gäste  gespeiset,  auch/zulezt  an  sich  denkt.  Hieher  25 
gehört  auch  Hutcheson,  der  zwar  sonst  mit  mehrerem  philosophischen 
Geiste  gedacht  hat.  Es  rülirt  alles  daher,  weil  man  keinen  reinen 
Begriff  hatte,  worauf  eine  Pflicht  gegen  sich  selbst  beruhe.  Man 
glaubte:  die  Pflicht  gegen  sich  selbst  bestehe  darin,  daß  man  seine 
eigene  Glückseeligkeit  befördere,  so  wie  auch  WoK  sie  definirte ;  nun  so 
kommt  es  darauf  an,  wie  jeder  seine  Glückseeligkeit  bestimmt,  denn 
würde  die  Pflicht  gegen  sich  selbst  in  einer  allgemeinen  Regel  alle 
seine  Neigungen  zu  befriedigen  und  seine  Glückseeligkeit  zu  befördern, 
bestehn.  Es  würde  aber  dieses  nachher  ein  großes  Hinderniß  der 


Moralphilosophie  Collins  341 

Pflicht  gegen  andre  seyn.  Dieses  aber  ist  auf  keine  Art  das  principium 
der  Pflichten  gegen  uns  selbst,  und  sie  gehn  gar  nicht  auf  Wohl- 
befinden und  auf/unsere  zeitliche  Glückseeligkeit.  25$ 
Weit  gefehlt,  daß  diese  Pflichten  die  niedrigsten  sind,  sie  haben  viel- 
5  mehr  den  ersten  Rang,  und  sind  unter  allen  die  wichtigsten,  denn  ohne 
noch  erst  zu  erklären,  was  die  Pflicht  gegen  sich  selbst  sey  ?  so  kann 
man  sagen:  Wenn  ein  Mensch  seine  eigne  Person  entehrt,  was  kann 
man  von  dem  noch  fordern  ?  Wer  die  Pflichten  gegen  sich  selbst  über- 
tritt, wirft  die  Menschheit  weg,  und  ist  nicht  mehr  im  Stande  Pflichten 

10  gegen  andre  auszuüben.  So  kann  ein  Mensch,  der  die  Pflichten  gegen 
andre  schlecht  ausgeübt  hat,  der  nicht  großmüthig,  gütig,  mitleidig 
gewesen,  der  aber  die  Pflicht  gegen  sich  selbst  beobachtet  hat,  und  so 
gelebt  hat,  wie  es  sich  geziemet,  doch  an  sich  einen  gewißen  innern 
Werth  haben. 

15      Der  aber  die  Pflichten  gegen  sich  selbst  übertreten  hat,  hat  /  keinen  254 
innern  Werth.  Die  Verletzung  der  Pflichten  gegen  sich  selbst  also 
nimmt  dem  Menschen  seinen  ganzen  Werth,  und  die  Verletzung  der 
Pflichten  gegen  andre  nimmt  demselben  nur  einen  respectiven  Werth 
Folglich  sind  sie  die  erstem  die  Bedingung,  unter  welcher  die  andern 

20  beobachtet  werden  können.  Wir  wollen  zuerst  die  Verlezzung  der 
Pflichten  gegen  sich  selbst  in  einigen  Beispielen  zeigen,  z.  E.  ein 
Säufer  thut  keinem  Menschen  Schaden,  und  ist  seine  Natur  stark,  so 
schadet  er  sich  auch  selbst  nicht.  Er  ist  aber  ein  Gegenstand  der 
Verachtung.  So  ist  mir  eine  kriechende  Unterwürfigkeit  nicht  gleich- 

25  gültig,  ein  solcher  entehrt  seine  Person,  denn  man  muß  nicht  kriechend 
seyn,  man  vergiebt  dadurch  seine  Menschheit.  Oder  wenn  sich  jemand 
um  des  Gewinstes  wegen,  wie  ein  Ball  von  einem  andern  zu  allem 
gebrauchen  läßt,  der  verwirft  den  Werth  /  des  Menschen.  Die  Lüge  255 
ist  mehr  eine  Verletzung  der  Pflicht  gegen  sich  selbst  als  gegen  andere, 

30  und  wenn  gleich  ein  Lügner  keinem  Menschen  dadurch  schadet,  so  ist 
er  doch  ein  Gegenstand  der  Verachtung,  er  ist  niederträchtig,  er  über- 
tritt die  Pflichten  gegen  sich  selbst.  Ja,  gehn  wir  noch  weiter,  so  ist 
es  auch  schon  der  Pflicht  gegen  sich  selbst  zuwider,  wenn  man  Wohl- 
thaten  annimt;  denn  wer  Wohlthaten  annimmt,  macht  Schulden,  die 

35  er  nicht  bezahlen  kann,  er  kann  seinem  Wohlthäter  nie  zuvor  kom- 
men, weil  dieser  ihm  dieselben  zuerst  aus  freyen  Stücken  ertheilte; 
erzeigt  er  ihm  auch  gleich  wieder  Wohlthaten,  so  thut  er  es  nur  in  so 
fern,  weil  jener  ihm  darin  zuvor  gegangen  ist,  und  so  bleibt  er  ihm 
ewig  Dank  schuldig ;  wer  wird  sich  aber  verschulden  ?  Wer  schuldig  ist. 


342  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

ist  jederzeit  unter  dem  Zwange,  er  muß  dem,  dem  er  verbunden  ist, 
höflich  und  schmeichelhaft  begegnen,  thut  er  es  nicht,  so  läßt  der 
Wohlthäter  es  ihn  bald  empfinden,  oft  muß  er  demselben  durch  viele  / 

256  Umschweife  aus  dem  Wege  gehn  und  sich  sehr  zwingen.  Allein,  wer 
alles  gleich  bezahlt,  kann  frey  handeln  und  niemand  wird  ihn  daran  5 
hindern.  So  ist  auch  der  Zaghafte,  der  über  sein  Schicksal  klagt,  seufzt 
und  weint,  in  unsern  Augen  ein  Gegenstand  der  Geringschätzung,  wir 
suchen  uns  von  ihm  zu  entfernen,  anstatt  daß  wir  Mitleiden  mit  ihm 
haben  sollten.  Allein  der  Mensch,  der  in  seinem  Unglück  einen  stand- 
haften Muth  zeigt,  der  zwar  den  Schmerz  darüber  empfindet,  aber  lo 
doch  nicht  Imechend  Idagt,  sondern  sich  darinnen  zu  finden  weiß,  der 
erregt  unser  Mitleiden.  Ferner,  der  seine  eigne  Freiheit  wegwirft  und 
sie  für  Geld  verkauft,  handelt  wider  die  Menschheit.  Das  ganze  Leben 
ist  nicht  so  hoch  zu  schätzen,  als  daß  man  sein  ganzes  Leben  hindurch 
als  ein  Mensch  lebe,  das  heißt  nicht  im  Wohlleben,  sondern  so  daß  i5 
man  die  Menschheit  nicht  entehrt ;  er  muß  als  ein  Mensch  würdig  leben, 
und  alles  was  ihn  darum  bringet,  macht  ihn  zu  allem  unfähig,  und  hebt 
ihn  als  einen  Menschen  auf.  Ferner,  wer  seinen  Körper  dem  Muthwillen 

25r  anderer  um  etwas  zu  gewinnen  /  Preis  giebt,  und  auch  die,  die  das  Geld 
geben,  handeln  gleich  niederträchtig.  So  kann  sich  auch  eine  Person  20 
nicht  zur  Befriedigung  anderer  preisgeben,  und  könnte  sie  auch  gleich 
dadurch  ihre  Eltern  und  Freunde  vom  Tode  erretten,  sonst  wirft  sie 
ihre  Person  weg.  Noch  weniger  kann  solches  vor  Geld  geschehn.  Thut 
es  eine  Person,  um  ihre  eigne  Neigung  zu  befriedigen,  so  ist  es  doch 
noch  natürlich,  obgleich  es  sehr  untugendhaft  ist  und  wider  die  Mora-  25 
lität  läuft ;  geschieht  es  aber  um  Geld  oder  aus  einer  andern  Absicht, 
so  wirft  sie  den  Werth  der  Menschheit  weg,  indem  sie  sieh  als  ein 
Werkzeug  gebrauchen  läßt.  So  sind  auch  die  Laster  Avider  sich  selbst, 
die  man  Crimina  corporis  nennt,  die  auch  daher  unehrbahr  beschaffen 
sind.  Es  wird  kein  Mensch  dadurch  verletzt,  allein,  es  ist  die  Ent-  30 
ehrung  der  Würde  der  Menschheit  in  seiner  eignen  Person.  Der  Selbst- 
mord ist  die  höchste  Verletzung  der  Pflichten  gegen  sich  selbst.  Worin 
besteht  denn  nun  die  Abscheulichkeit  dieser  Handlung  ?  Von  allen  / 

258  solchen  Pflichten  muß  man  nicht  den  Grund  in  dem  Verbote  Gottes 
suchen,  denn  der  Selbstmord  ist  nicht  abscheulich,  weil  ihn  Gott  ver-  35 
bothen  hat,  sondern  Gott  hat  ihn  vielmehr  verbothen,  weil  er  abscheu- 
lich ist.  Wäre  das  erste,  so  wäre  der  Selbstmord  nur  im  Verboth 
Gottes  abscheulich,  und  denn  wüste  ich  nicht,  warum  ihn  Gott  ver- 
bothen hätte,  wenn  er  an  sich  nicht  abscheulich  wäre.  Der  Grund  also. 


Moralphilosophie  Collins  343 

den  Selbstmord  und  andre  Verletzungen  der  Pflichten  für  abscheulich 
anzusehn,  muß  nicht  aus  dem  göttlichen  Willen,  sondern  ausder  innern 
Abscheulichlceit  hergeleitet  werden.  Diese  Abscheulichlceit  besteht 
nun  darin,  daß  der  Mensch  seine  Freyheit  sich  selbst  zu  destruiren 
5  braucht,  da  er  sie  nur  blos  dazu  brauchen  sollte,  daß  er  als  Mensch 
lebe;  er  kann  über  alles  was  zu  seiner  Person  gehöret  disponiren, 
nicht  aber  über  seine  Person  selbst,  auch  nicht  die  Freiheit  wider  sich 
selbst  brauchen.  Es  ist  in  diesem  Fall  sehr  schwer,  die  Pflichten  gegen 
sich  selbst  einzusehn,  /  denn  der  Mensch  hat  zwar  einen  natüi'lichen  259 

10  Abscheu  wider  den  Selbstmord,  allein  wenn  er  anfängt  zu  klügeln, 
so  kann  er  glauben,  es  sey  möglich,  Hände  an  sich  zu  legen,  und  aus  der 
Welt  zu  gehn,  und  sich  dadurch  allem  Unglück  zu  entziehn.  Es  hat 
dieses  großen  Schein,  und  nach  den  Regeln  der  Freiheit  ist  es  oft  das 
sicherste  und  das  beste  Mittel,  allein  der  Selbstmord  ist  an  sich  ab- 

15  scheulich.  Hier  ist  die  Regel  der  Sittlichkeit,  die  über  alle  Regeln  der 
Klugheit  und  Reflexion  gehet,  die  apodictisch  und  categorisch  die 
Pflichten  gegen  sich  selbst  zu  beobachten  befiehlt;  denn  der  Mensch 
bedient  sich  hier  seiner  Kräfte  und  Freiheit  wider  sich  selbst,  er  macht 
sich  selbst  zum  Aas.  Es  kann  zwar  der  Mensch  über  seinen  Zustand 

20  disponiren,  allein  nicht  über  seine  Person,  denn  er  selbst  ist  ein  Zweck 
und  kein  Mittel.  Es  ist  ganz  widersinnig,  daß  ein  vernünftiges  Wesen, 
welches  ein  Zweck  ist,  warum  alle  /  Mittel  sind,  sich  als  ein  Mittel  3«o 
gebrauche.  Es  kann  zwar  eine  Person  zum  Mittel  bey  andern  dienen, 
z.  E.  durch  seine  Arbeit,  aber  so,  daß  er  als  Person  und  Zweck  nicht 

25  aufhört.  Wer  etwas  thut,  wodurch  er  kein  Zweck  seyn  kann,  braucht 
sich  als  ein  Mittel,  und  macht  seine  Person  zur  Sache.  Ueber  seine 
Person  als  Mittel  zu  disponiren,  steht  ihm  nicht  frey,  wovon  in  der 
Folge  ein  mehreres  vorkommen  wird.  Die  Pflichten  gegen  uns  selbst 
beruhen  nicht  auf  der  Beziehung  der  Handlungen  zu  den  Zwecken  der 

30  Glückseeligkeit,  denn  sonst  würden  sie  auf  den  Neigungen  beruhen 
und  eine  Klugheits-Regel  se^ni.  Solche  Regeln  aber  sind  nicht  mora- 
lisch, die  nur  die  Nothwendigkeit  der  Mittel  in  Befriedigung  der  Ney- 
gungen  zeigen,  und  denn  könnten  sie  auch  nicht  verpflichten.  Die 
Pflichten  gegen  sich  selbst  aber  sind  unabhängig  von  allen  Vortheilen, 

35  und  gehn  nur  auf  die  Würde  der  /  Menschheit.  Sie  beruhen  darauf,  daß  sei 
wir  in  Ansehung  unserer  Person  kerne  ungebundne  Freiheit  haben, 
daß  die  Menschheit  in  unserer  eignen  Person  hochgeschätzt  werden 
müße,  weil  ohne  dieses  der  Mensch  ein  Gegenstand  der  Verachtung  ist, 
welches  ein  absoluter  Tadel  ist,  weil  er  nicht  nur  in  Ansehung  anderer. 


344  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

sondern  auch  an  sich  selbst  nichts  werth  ist.  Die  Pflichten  gegen  sich 
selbst  sind  die  oberste  Bedingung  und  das  principium  aller  Sittlich- 
keit, denn  der  Werth  der  Person  macht  den  moralischen  Werth  aus ; 
der  Werth  der  Geschicklichkeit  beziehet  sich  nur  auf  seinen  Zustand. 
Socrates  war  in  einem  elenden  Zustande,  der  gar  keinen  Werth  hatte,  5 
seine  Person  aber  war  in  diesem  Zustande  von  dem  größten  Werth. 
Wenn  auch  alle  Annehmlichkeiten  des  Lebens  aufgeopfert  werden,  so 
ersetzt  die  Erhaltung  der  Würde  der  Menschheit  den  Verlust  aller 
dieser  Annehmlichlceiten,  und  erhält  den  Beyfall,  imd  wenn  alles 

262  verlohren  /  gehet,  so  hat  man  doch  einen  Innern  Werth.  Unter  dieser  lo 
Würde  der  Menschheit  können  wir  nur  die  andern  Pflichten  ausüben. 
Das  ist  die  Basis  aller  übrigen  Pflichten.  Wer  keinen  Innern  Werth  hat, 
der  hat  seine  Person  weggeworfen  und  kann  keine  andre  Pflicht  mehr 
ausüben.  Worauf  beruhet  denn  das  principium  aller  Pflichten  gegen 
sich  selbst  ?  Die  Freyheit  ist  einestheüs  das  Vermögen,  welches  allen  i5 
übrigen  unendliche  Brauchbarkeit  giebt.  Sie  ist  der  höchste  Grad  des 
Lebens.  Sie  ist  die  Eigenschaft,  die  eine  nothwendige  Bedingung  ist, 
die  allen  Vollkommenheiten  zum  Grunde  liegt.  Alle  Thiere  haben 
Vermögen,  ihre  Kräfte  nach  Willkühr  zu  gebrauchen.  Diese  Willkühr 
aber  ist  nicht  frey,  sondern  durch  Reitze  und  stimulos  neceßitirt.  In  20 
ihren  Handlungen  ist  bruta  neceßitas.  Hätten  alle  Geschöpfe  solche  an 

263  sinnliche  Triebe  gebundene  Willkühr,  so  hätte  die  Welt  /  keinen 
Werth.  Der  innere  Werth  aber  der  Welt,  das  summum  bonum,  ist  die 
Freyheit  nach  Willkühr,  die  nicht  neceßitirt  wird  zu  handeln.  Die 
Freyheit  ist  also  der  innere  Werth  der  Welt.  Von  der  andern  Seite  aber,  25 
in  sofern  sie  nicht  unter  gewiße  Regeln  des  bedingten  Gebrauchs 
restringirt  ist,  so  ist  sie  das  schrecklichste,  was  nur  seyn  kann.  Alle 
thierische  Handlungen  sind  regelmäßig,  denn  sie  geschehn  nach  Re- 
geln, die  subjective  neceßitirt  sind.  In  der  ganzen  nicht  freyen  Natur 
finden  wir  ein  inneres  subjectives  neceßitirendes  principium,  wornach  so 
alle  Handlungen  in  der  ganzen  nicht  freyen  Natur  regelmäßig  ge- 
schehn. Nehme  ich  aber  nun  die  Freyheit  bey  Menschen,  so  ist  da  kein 
subjectiv  neceßitirendes  principium  der  Regelmäßigkeit  der  Hand- 

264  lungen;  wäre  dieses,  /  so  wäre  es  keine  Freyheit,  und  was  würde  nun 
daraus  folgen  ?  Wenn  die  Freyheit  nicht  durch  objective  Regeln  35 
restringirt  wird,  so  kommt  die  große  wilde  Unordnung  heraus.  Denn 
ist  es  ungewiß,  ob  nicht  der  Mensch  seine  Kräfte  brauchen  wird,  sich 
und  andre  und  die  ganze  Natur  zu  destruiren.  Bey  der  Freyheit  kann 
ich  alle  Regellosigkeit  denlcen,  wenn  sie  nicht  objectiv  neceßitirt  wird. 


Moralphilosophie  Coli  ins  .  345 

Diese  objectiv  neceßitirende  Gründe  müßen  im  Verstände  liegen,  die 
die  Freyheit  restringiren.  Es  ist  also  der  gute  Gebrauch  der  Freyheit  die 
oberste  Regel.  Welches  ist  denn  die  Bedingung,  unter  der  die  Freyheit 
restringirt  Avird  ?  Dieses  ist  das  allgemeine  Gesetz:  Verfahre  so,  daß  in 
6  allen  deinen  Handlungen  Regelmäßigkeit  herrsche.  Was  wird  denn  das 
seyn,  was  in  Ansehung  meiner  selbst  die  Freiheit  restringiren  soll  ? 
Dieses  ist:  den  Neigungen  nicht  zu  folgen.  Die  ursprüngliche  Regel,  /265 
nach  der  ich  die  Freyheit  restringiren  soll,  ist  die  Uebereinstimmung 
des  freyen  Verhaltens  mit  den  wesentlichen  Zwecken  der  Menschheit. 

10  Ich  werde  also  nicht  den  Neigungen  folgen,  sondern  sie  unter  eine 
Regel  bringen.  Wer  seine  Person  den  Neigungen  unterwarft,  der 
handelt  wider  den  wesentlichen  Zweck  der  Menschheit,  denn  als  ein  frey- 
liandelndes  Wesen  muß  er  nicht  den  Neigungen  unterworfen  seyn,  son- 
dern er  soll  sie  durch  Freyheit  bestimmen ;  denn  wenn  er  f  rey  ist,  so  muß 

15  er  eine  Regel  haben;  diese  Regel  ist  aber  der  wesentliche  Zweck  der 
Menschheit.  Bey  den  Thieren  sind  schon  die  Neigungen  durch  subjective 
neceßitirende  Gründe  bestimmt.  Es  kann  daher  unter  ihnen  keine 
Regellosigkeit  statt  finden.   Folgt  nun  der  Mensch  frey   /   seinen  266 
Neigungen,  so  ist  er  noch  unter  den  Thieren,  denn  es  entsteht  bey  ihm 

2oalsdenn  eine  Regellosigkeit,  die  bey  den  Thieren  nicht  ist.  Es  wider- 
streitet aber  alsdenn  der  Mensch  den  wesentlichen  Zwecken  der 
Menschheit  in  seiner  Person,  und  handelt  wider  sich  selbst.  Alle  Uebel 
in  der  Welt  kommen  aus  der  Freyheit.  Die  Thiere  handeln  nach  Regeln, 
weil  sie  nicht  frey  sind.  Freie  Wesen  können  aber  nur  in  so  ferne  regel- 

25  mäßig  handeln,  wenn  sie  ihre  Freyheit  durch  Regeln  restringiren.  Wir 
wollen  die  Handlungen  des  Menschen,  die  sich  auf  ihn  selbst  beziehn, 
erwegen,  und  da  die  Freyheit  betrachten.  Sie  entspringen  aus  Antrie- 
ben und  aus  Neigungen  oder  aus  Maximen  und  Principien.  Es  ist  also 
nöthig,  daß  sich  der  Mensch  auf  Maximen  setze  und  durch  Regeln  seine 

aofreye  Handlungen  die  sich  auf  ihn  selbst  beziehn,  restringire,  und  das 
sind  Regeln  und  Pflichten,  die  auf  ihn  selbst  gerichtet  sind.  Denn  be- 
trachten wir  den  Menschen  /  in  Ansehung  seiner  Neigungen  und  867 
Instincte,  so  ist  er  darin  ungebunden,  und  wird  durch  beyde  nicht 
neceßitirt.  In  der  ganzen  Natur  ist  nichts,  das  dem  Menschen  in  Be- 

35  friedigung  seiner  Neigungen  schädlich  wäre.  Alles  schädliche  ist  durch 
seine  Erfindxmg  und  den  Gebrauch  seiner  Freyheit,  z.  E.  alle  starke 
Getränke,  und  die  vielerley  Speisen  für  seinen  Geschmack.  Wenn  er 
nun  seiner  Neigung  die  er  sich  selbst  ersonnen  hat,  ohne  Regel  folgt, 
so  M'ird  er  der  abscheulichste  Gegenstand,  indem  er  durch  seine  Frey- 


346  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

heit  um  seine  Neigungen  zu  befriedigen  die  ganze  Natur  umformen 
kann.  Das  kann  man  ihm  wohl  zugestehn,  daß  er  vieles  zur  Befriedi- 
gung seiner  Neigung  erfinde ;  er  muß  aber  eine  Regel  haben  sich  deßen 
zu  bedienen.  Hat  er  keine,  so  ist  die  Freyheit  sein  größtes  Unglück.  Sie 
muß  also  restringirt  werden,  aber  nicht  diu-ch  andre  Eigenschaf ten  und  5 
Vermögen,  sondern  durch  sich  selbst.  Ihre  oberste  Regel  ist:  In  allen 

268  Handlungen  /  in  Ansehung  seiner  selbst  so  zu  verfahren,  daß  aller 
Gebrauch  der  Kräfte  mit  dem  größten  Gebrauch  derselben  möglich  ist, 
z.  E.  habe  ich  heute  zu  viel  getrunken,  so  bin  ich  ohnmächtig,  mich 
meiner  Freyheit,  meiner  Ivräfte  zu  bedienen,  oder  bringe  ich  mich  lo 
selbst  um,  so  nehme  ich  mir  gleichfalls  das  Vermögen  des  Gebrauchs 
derselben.  Es  streitet  dieses  also  mit  dem  größten  Gebrauch  der 
Freyheit,  daß  sie  als  das  höchste  principium  des  Lebens  sich  selbst  und 
allen  ihren  Gebrauch  aufhebe.  Unter  gewißen  Bedingungen  kann  nur 
die  Freyheit  mit  sich  selbst  übereinstimmen,  sonst  collidirt  sie  mit  sich  15 
selbst.  Gesetzt,  in  der  Natur  wäre  keine  Ordnung,  so  hörte  alles  auf, 
und  so  ist  es  auch  mit  der  zügellosen  Freyheit.  Die  Uebel  stecken  zwar 
in  der  Natur,  allein  das  wahre  Böse,  das  Laster,  in  der  Freyheit.  Einen 
Unglücklichen  bedauren  wir,  einen  Lasterhaften  aber  hassen  wir,  und  / 

869  frohlocken  über  seine  Strafen.  Die  Bedingungen  unter  denen  nur  allein  20 
der  größte  Gebrauch  der  Freyheit  möglich  ist  und  unter  welchen  sie 
mit  sich  selbst  übereinstimmen  kann,  sind  die  wesentlichen  ZAvecke 
der  Menschheit.  Mit  diesen  muß  die  Freyheit  übereinstimmen.  Das 
principium  aller  Pflichten  ist  also  die  Uebereinstimmungdes  Gebrauchs 
der  Freyheit  mit  den  wesentlichen  Zwecken  der  Menschheit.   Wir  25 
woUen  dieses  in  Beyspielen  zeigen,  z.  B.  der  Mensch  ist  nicht  befugt, 
für  Geld  seine  Gliedmaßen  zu  verkaufen,  und  wenn  er  auch  für  einen 
Finger  10000  Tlialer  bekäme,  denn  sonst  könnte  man  dem  Menschen 
aUe  Ghedmaßen  abkaufen.  Ueber  Sachen,  die  keine  Freyheit  haben, 
kann  man  disponiren,  aber  nicht  über  ein  Wesen,  welches  selbst  freye  so 
WiUkühr  hat.  Thut  nun  der  Mensch  solches,  so  macht  er  sich  zu  einer 

aio  Sache,  und  dann  kann  ein  jeder  /  mit  ihm  nach  Belieben  handeln,  weil 
er  seine  Person  weggeworfen  hat,  z.  E.  mit  der  Geschlechter-Neigung, 
wo  sich  ein  Mensch  zum  Objekt  des  Genußes,  also  zur  Sache  macht. 
Daher  darinne  auch  eine  Abwürdigung  der  Menschheit  ist,  imd  man  35 
sich  auch  dessen  schämt.  Es  ist  also  die  Freyheit  der  Grund  des  ent- 
setzlichsten Lasters,  indem  sie  sich  vieles  erkünsteln  kann,  um  ihre 
Neigung  zu  befriedigen,  z.  E.  ein  crimen  carnis  contra  naturam,  so  wie 
sie  auch  ein  Grund  der  Tugend  ist,  die  die  Menschheit  ehrt.  Einige 


Moralphilosophie  Collins  347 

Verbrechen  und  Laster  die  aus  der  Freyheit  entspringen,  bringen 
Grausen  hervor,  als  der  Selbstmord,  andere  Ekel,  ja  auch  so  gar  schon 
dann,  wenn  man  sie  bloß  nennt.  Wir  schämen  uns  ihrer,  indem 
wir  uns  dadurch  unter  die  Thiere  setzen.  Diese  sind  noch  ärger  als  der 
5  Selbstmord,  denn  den  kann  man  doch  noch  ohne  Grausen  nicht 
nennen,  jene  aber  nicht  ohne  Ekel.  Der  Selbstmord  ist  das  abscheu- 
lichste Laster/des  Grausens  und  des  Haßens,  aber  der  Zustand  des  Mi 
Ekels  und  der  Verachtung  ist  noch  abscheulicher. 

Das  principium  der  Pflichten  gegen  sich  selbst  bestehet  nicht  in  der 
10  Selbstgunst,  sondern  in  der  Selbstschätzung,  das  heißt  unsre  Hand- 
lungen müßen  mit  der  Würde  der  Menschheit  übereinstimmen.  Man 
könnte  auch  hier  sagen,  so  wie  es  beim  Recht  heißt :  neminem  laede, 
also  noli  naturam  humanam  in  te  ipso  laedere. 

Zwey  Gründe  unserer  Handlungen  haben  wir  in  uns,  die  Neigungen 
15  welche  thierisch  sind,  und  die  Menschheit  der  die  Neigungen  unter- 
worfen seyn  müßen.  Die  Pflichten  gegen  uns  selbst  sind  negativ,  und 
restringiren  unsre  Freyheit  in  Ansehung  der  Neigungen,  die  auf  unser 
Wohlbefinden  gerichtet  sind.   So  wie  die   Lelire  des  Rechts  unsre 
Freyheit  in  Ansehung  des  Betragens  gegen  andere  Menschen  restrin- 
20  giret,  so  restringiren  die  Pflichten  gegen  uns  selbst  /  unsre  Freyheit  in  373 
Ansehung  unserer  Selbsten.  Allen  Pflichten  gegen  uns  selbst  liegt  eine 
gewiße  Ehr  liebe  zum  Grunde,  die  darin  besteht,  daß  sich  der  Mensch 
selbst  schäzt,  und  in  seinen  eigenen  Augen  nicht  unwürdig  ist,  daß 
seine  Handlungen  mit  der  Menschheit  übereinstimmen.  Der  inneren 
25  Ehre  in  seinen  Augen  würdig  zu  sein,  die  Schätzung  des  Beyf  alls,  ist  das 
wesentliche  Stück  der  Pflichten  gegen  sich  selbst. 

Um  die  Pflichten  gegen  sich  selbst  beßer  einzusehn,  so  stelle  man 
sich  die  üblen  Folgen  der  Uebertretung  derselben  vor,  so  wird  man 
finden,  wie  nachtheilig  es  dem  Menschen  ist.  Es  sind  zwar  die  Folgen 

30  nicht  das  principium  der  Pflichten,  sondern  die  innere  Schändlichlceit, 
die  Folgen  aber  dienen  daher  zur  beßern  Einsicht  des  principii.  Weil 
wir  Freyheit  und  Vermögen  haben,  unsre  Neigungen  durch  allerhand 
Erfindungen  zu  befriedigen,  so  würden  ohne  Restriction  die  /  Menschen  213 
sich  selbst  zu  Grunde  richten.  Man  könnte  dieses  zwar  für  eine  Regel 

35  der  Klugheit  halten,  allein  unsere  Klugheit  kann  erst  aus  den  Folgen 
geschöpft  werden.  Es  muß  dahero  ein  principium  sein,  daß  die  Men- 
schen ihre  Freyheit  restringiren,  damit  er  sich  selbst  nicht  widerstreite, 
und  dieses  principium  ist  moralisch. 


348  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

Jezt  wollen  wir  zu  den  besondern  Pflichten  gegen  uns  selbst  gehn, 
und  zwar  in  Ansehung  unsres  Zustandes,  in  so  fern  wir  uns  als  denkende 
Wesen  betrachten. 

Der  Mensch  hat  eine  allgemeine  Pflicht  gegen  sich  selbst,  sich 
so  zu  disponiren,  daß  er  zur  Beobachtung  aller  moralischen  Pflichten  5 
fähig  sey,  daß  er  also  moralische  Reinigkeit  und  Grundsätze  in  sich 
fest  setze,  und  nach  denselben  zu  handeln  trachte.  Dieses  ist  also  die 
erste  Pflicht  gegen  sich  selbst.  Dahin  gehört  nun  die  Selbstprüfung, 
3T4und  die  /  Selbsterforschung,  ob  die  Gesinnungen  auch  moralische 
Reinigkeit  haben.  Es  müßen  die  Quellen  der  Gesinnungen  untersucht  10 
werden,  ob  es  Ehre  oder  Wahn  sey,  oder  Aberglauben  oder  reine 
Moralität.  Die  Vernachläßigung  dieses  ist  ein  großer  Schade  der 
Moralität.  Würde  mancher  untersuchen,  was  seiner  Religion  und 
Handlungen  zum  Grunde  liege,  so  würden  die  mehresten  finden,  daß 
viel  mehr  Ehre,  Mitleiden,  Klugheit  und  Gewohnheit  als  Moralität  15 
darin  sey.  Diese  Erforschung  seiner  selbst  muß  beständig  seyn.  Sie  ist 
zwar  eine  besondre  Handlung,  die  nicht  immer  fortwähren  kann, 
allein  wir  sollten  beständig  Acht  auf  uns  haben.  Es  gehört  in  Ansehung 
unserer  Handlungen  eine  gewiße  Achtsamkeit  dazu,  und  das  ist  die 

875  vigilantia  moralis.  /  Diese  Wachsamkeit  soll  auf  die  Reinigkeit  unserer  20 
Gesinnungen  und  auf  die  Pünktlichkeit  unserer  Handlungen  gerichtet 
seyn. 

Moralische  Träume  können  entweder  das  moralische  Gesetz  selbst, 
oder  unsre  moralischen  Handlungen  betreffen.  Die  erste  Erträumung 
ist  eine  Einbildung  vom  moralischen  Gesetz,  daß  dasselbe  in  Ansehung  25 
unserer  nachsichtlich  sey.  Die  andre  aber  ist  eine  Einbildung  von 
unsren  moralischen  Vollkommenheiten,  daß  dieselbe  mit  dem  morali- 
schen Gesetze  congruiren.  Die  erstere  ist  schädlicher  als  die  zweyte, 
denn  bildet  man  sich  ein,  daß  seine  Vollkommenheiten  dem  morali- 
schen Gesetz  gemäß  seyn,  so  ist  es  doch  leicht,  davon  überführt  zu  30 
werden,  wenn  man  nämlich  die  Reinigkeit  des  moralischen  Gesetzes 
zeigte.  Concipirt  man  sich  aber  ein  nachsichtliches  moralisches  Ge- 

876  setz,  so  hat  man  /  ein  falsches  Gesetz,  nach  welchem  man  sich  auch 
solche  Maximen  und  principien  macht,  da  alsdenn  auch  die  Hand- 
lungen keine  sittliche  Bonitaet  haben  können.  35 

Von  der  geziemenden  Selbstschätzung. 
Zu  dieser  Selbstschätzung  gehört  auf  einer  Seite  die  Demuth,  auf 
der  andren   aber  der  wahre  edle  Stoltz.  Die  entgegengesetzte  Seite 


Moralphilosophie  Collins  349 

hievon  ist  die  Niederträchtigkeit.  Wir  haben  Ursache  von  iinsrer 
Person  eine  kleine  Meinung  zu  hegen,  in  Ansehung  unsrer  Mensch- 
heit aber  sollten  wir  eine  große  Meinung  haben.  Denn  vergleichen  wir 
uns  mit  dem  heiligen  moralischen  Gesetz,  so  finden  wir,  wie  weit  wir 
5  mit  demselben  zu  congruiren  abstehn.  Diese  kleine  Meinung  für  unsre 
Person  entspringt  also  aus  der  Vergleichung  mit  dem  moralischen 
Gesetz,  und  da  haben  wir  Ursache  genug,  uns  zu  demüthigen.  In  der 
Vergleichung  mit  andern  aber  haben  wir  keine  Ursache  eine  geringe 
Meinung  von  uns  zu  hegen,  denn  ich  kann  mich  eben  so  Werth  halten, 

10  als  ein  anderer.  Diese  Selbstschätzung  nun  in  Vergleichung  mit  andern 
ist  der  edle  Stoltz.  Die  geringe  Meinung  von  seiner  /  Person,  in  An-.?iT 
sehung  andrer,  ist  keine  Demuth,  sondern  sie  verräth  eine  kleine  Seele, 
und  eine  kriechende  Gemüthsart.  Solche  eingebildete  Tugend,  die  nur 
ein  Analogen  der  wahren  Tugend  ist,  ist  eine  Mönchstugend,  und  diese 

15  ist  ganz  unnatürlich ;  denn  der  Mensch;  der  sich  gegen  andre  so  de- 
müthigt,  ist  eben  dadurch  stoltz.  Unsere  Selbstschätzung  ist  billig, 
denn  wir  thun  dadurch  dem  andern  keinen  Schaden,  wenn  wir  uns  mit 
ihm  gleich  werth  schätzen.  Wenn  wir  aber  ein  Urtheil  von  uns  fällen 
wollen,  so  müßen  wir  uns  mit  dem  reinen  moralischen  Gesetz  ver- 

20  gleichen,  und  da  finden  wir  Ursache  zur  Demuth.  Mit  andern  recht- 
schaffenen Männern  müßen  wir  uns  nicht  vergleichen,  denn  sie  sind 
nur  Copien  des  moralischen  Gesetzes.  Das  Evangelium  lehrt  uns  nicht 
die  Demuth,  sondern  es  macht  uns  demüthig.  Wir  können  Selbst- 
schätzung der  Selbstliebe  haben,  welches  eine  Selbstgewogenheit  und 

25  Selbstgunst  wäre.  Diese  pragmatische  Selbstschätzung  nach  Regeln 
der  Klugheit  ist  billig  und  möglich,  insofern  sie  die  Sicherheit  zu 
beobachten  sucht.  Keiner  kann  verlangen,  /  daß  ich  mich  erniedrige  ars 
und  geringer  als  andre  halten  soll;  jeder  aber  hat  recht  zu  fodern, 
daß  sich  der  andre  nicht  erhebe.  Allein,  die  moralische  Selbstschätzung, 

30  die  auf  der  Würde  der  Menschheit  beruhet,  muß  sich  nie  auf  die  Ver- 
gleichung mit  andern,  sondern  auf  die  Vergleichung  mit  dem  mora- 
lischen Gesetz  selbst  gründen.  Die  Menschen  sind  sehr  geneigt,  andre 
zum  Maaßstabe  ihres  moralischen  Werths  zu  nehmen,  und  glauben  sie 
denn  einigen  zuvorzulcommen,  so  glaubt  man,  es  wäre  der  moralische 

35  Eigendünlcel ;  allein  dieser  ist  vielmehr,  wenn  man  in  Vergleichung  mit 
dem  moralischen  Gesetz  vollkommen  zu  seyn  glaubt.  Ich  kann  immer 
glauben:  Ich  bin  besser  als  andere,  obgleich  ich,  wenn  ich  z.  E.  beßer 
als  die  schlechtesten  bin,  dennoch  gar  nicht  viel  besser  bin ;  es  ist  also 
dies  eigentlich  kein  moralischer  Eigendünkel.  Wenn  nun  die  mora- 


350  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

lische  Demuth  die  Einschränl^ung  des  Eigendünkels  in  Ansehung  des 
379  moralischen  Gesetzes  ist,  so  gehet  sie  niemals  /  auf  die  Vergleiehung 
mit  andern,  sondern  mit  dem  moralischen  Gesetz.  Die  Demuth  ist  also 
die  Einschränkung  der  großen  Meinung  von  unserm  moralischen 
Werth,  durch  die  Vergleiehung  unsrer  Handlungen  mit  dem  mora-  5 
lischen  Gesetz.  Die  Vergleiehung  der  Handlungen  mit  dem  moralischen 
Gesetz  macht  demüthig.  Der  Mensch  hat  Ursache  eine  kleine  Meinung 
von  sich  zu  haben,  weil  seine  Handlungen  so  wohl  dem  moralischen 
Gesetz  entgegen  gesetzt  sind,  als  auch  der  Reinigkeit  mangeln.  Aus 
Gebrechliclilceit  übertritt  der  Mensch  das  Gesetz,  und  handelt  ihm  lo 
zuwider,  und  aus  Schwäche  kommen  seine  guten  Handlungen  der 
Reinigkeit  des  Gesetzes  nicht  bey.  Wer  sich  das  moralische  Gesetz 
nachsichtlich  vorstellt,  der  kann  von  sich  eine  große  Meinung  haben 
und  Eigendünli^el  besitzen,  weil  der  Maaßstab  womit  er  seine  Hand- 
lungen mißt,  unrichtig  war.  Alle  Begriffe  der  Alten  von  der  Demuth  15 
und  allen  moralischen  Tugenden  waren  nicht  rein,  und  congruirten 
«80  nicht  mit  dem  moralischen  Gesetz.  Das  Evangelium  ist  /  das  erste, 
was  uns  die  Moralität  rein  vortrug,  und  nichts,  wie  es  die  Geschichte 
beweist,  kam  demselben  bey.  Es  kann  aber  diese  Demuth  nachtheilige 
Folgen  haben,  wenn  sie  übel  verstanden  wird.  Es  bringt  nämlich  eine  20 
Muthlosigkeit  und  keinen  Muth  zu  wege,  daß  der  Mensch  glaubt:  Aus 
UnVollständigkeit  der  Handlungen  nie  mit  dem  moralischen  Gesetz  zu 
congruiren,  woraus  hernach  die  Unthätigkeit  entspringt,  indem  der 
Mensch  gar  nichts  zu  thun  wagt.  Eigendünkel  und  Muthlosigkeit 
sind  die  2  Khppen,  auf  die  der  Mensch  geräth,  wenn  er  sich  auf  der  25 
einen  oder  der  andern  Seite  vom  moralischen  Gesetz  entfernt.  Auf  der 
einen  Seite  muß  der  Mensch  nicht  verzagen,  sondern  glauben,  er  habe 
Kräfte  das  moralische  Gesetz  zu  befolgen,  wenn  er  gleich  nicht  dem- 
selben conform  wird.  Auf  der  andern  Seite  aber  kann  er  in  den  Eigen- 
dünliel  verfallen,  und  gar  zu  viel  auf  seine  Kräfte  bauen.  Allein,  es  so 
»81  kann  /  dieser  Eigendünkel  durch  die  Reinigkeit  des  Gesetzes  verhütet 
werden;  denn  wenn  das  Gesetz  in  seiner  völligen  Reinigkeit  vorge- 
tragen wird,  so  wird  keiner  ein  solcher  Thor  seyn  zu  glauben,  er  könne 
das  Gesetz  durch  seine  I\Täfte  völlig  rein  erfüllen.  Daher  ist  auf  dieser 
Seite  nicht  so  viele  Gefahr  zu  befürchten,  als  wenn  der  Mensch  nie  35 
etwas  aus  Glauben  wagt.  Das  letzere  ist  die  Regel  der  Faulen,  die 
selbst  gar  nichts  thun  wollen,  sondern  alles  Gott  überlassen.  Um  dieser 
Muthlosigkeit  abzuhelfen,  merke  man,  daß  wir  hoffen  können,  es 
werde  unserer  Schwäche  und  Gebrechlichlceit  durch  göttliche  Hülfe 


Moralphilosophie  Collins  351 

eine  Ergänzung  wiederfahren,  wenn  wir  nur  so  viel  gethan,  als  nach 
Bewußtseyn  unsres  Vermögens  uns  zu  thun  möglich  ward,  allein 
nur  bloß  unter  dieser  Bedingung  können  wir  hoffen,  denn  nur  erst 
dadurch  sind  wir  der  göttlichen  Beyhülfe  würdig.  Es  ist  nicht  gut,  daß 

seinige  Autores  die  gute  Gesinnungen  dem  Menschen  zu  benelmien 
suchten  und  dadurch  den  Menschen  von  seiner  Schwäche  zu  über- 
zeugen glaubten,  wodurch  er  zur  Demuth  und  Erflehung  götthcher 
Beyhülfe  angetrieben  werden  sollte.  /  Es  ist  zwar  dem   Menschenasa 
anständig  und  gut,  seine  Schwäche  einzusehn  aber  nicht  ihn  um 

10  seine  gute  Gesinnungen  zu  bringen.  Denn,  soll  ihm  Gott  BeyhüKe 
geben,  so  muß  er  doch  wenigstens  derselben  würdig  seyn.  Die  Ver- 
ringerung des  Werths  der  menschlichen  Tugenden  muß  nothwendig 
den  Schaden  zu  wege  bringen,  daß  der  Mensch  hernach  beydes,  so 
wohl   den  Wohlthäter  als   niederträchtigen  Menschen,  für  einerley 

15  hält,  denn  dann  ist  bey  dem  Wohlthätigen  auch  keine  gute  Gesinnung. 
Jeder  Mensch  wird  daher  bey  sich  empfinden,  daß  er  wenigstens  doch 
einmal  eine  gute  Handlung  aus  guten  Gesinnungen  ausgeübt  habe, 
und  daß  er  noch  mehr  dergleichen  zu  thun  fähig  sey ;  obgleich  sie  noch 
immer  sehr  unrein  sind,  und  nie  dem  moralischen  Gesetz  völlig  gleich 

20  sein  werden,  so  nähern  sie  sich  doch  demselben  immer  mehr  und  mehr. 


Vom  Gewißen. 

Das  Gewißen  ist  ein  Instinkt,  sich  selbst  nach  moralischen  Gesetzen 
zu  richten.  Es  ist  kein  bloßes  Vermögen,  sondern  Instinkt,  nicht  über 
sich  zu  urtheilen,  sondern  zu  richten.  /  Wir  haben  ein  Vermögen  uns  283 

25  selbst  nach  moralischen  Gesetzen  zu  beurtheilen.  Von  diesem  Ver- 
mögen aber  können  wir  nach  Beheben  einen  Gebrauch  machen.  Das 
Gewißen  hat  aber  eine  treibende  Gewalt,  uns  vor  den  Richterstuhl 
wider  unsern  Willen,  wegen  der  Rechtmäßigkeit  unsrer  Handlungen 
zu  fordern.  Es  ist  also  ein  Instinkt  und  nicht  bloß  ein  Ver- 

30  mögen  der  B eurt he ilung.  Allein,  es  ist  ein  Instinkt  zu  richten  und 
nicht  zu  urtheilen.  Der  Unterschied  des  Richters  von  dem  welcher 
urtheilt,  besteht  darinn:  daß  der  Richter  valide  urtheilen  kann,  und 
das  Urtheil  nach  dem  Gesetz  wirklich  in  Ausübung  bringen  kann ;  sein 
Urtheil  ist  rechtskräftig  und  eine  Sentenz.  Ein  Richter  muß  nicht 

35  nur  urtheilen,  sondern  auch  entweder  verurtheilen  oder  loslassen. 
Wäre  das  Gewißen  ein  Trieb  zum  urtheilen,  so  wäre  es  ein  Erkenntniß- 
Vermögen,  so  wie  andre  Vermögen,  z.  B.  der  Trieb  sich  mit  andren  zu 


352  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

284  vergleichen,  sich  zu  schmeicheln;  diese  sind  /  nicht  Triebe  zu  richten. 
Ein  jeder  hat  einen  Trieb  sich  über  seine  guten  Handlungen  nach 
Regeln  der  Klugheit  Lob  zu  ertheilen.  Hingegen  macht  er  sich  auch 
Vorwürfe,  daß  er  unklug  gehandelt  habe.  Jeder  hat  also  einen  Trieb 
sich  selbst  zu  schmeicheln  oder  zu  tadeln  nach  Regeln  der  IClugheit.  5 
Dieses  aber  ist  noch  kein  Gewißen,  sondern  nur  ein  Analogon  des 
Gewißens,  nach  welchem  sich  der  Mensch  Lob  und  Tadel  ertheilt. 
Dieses  Analogon  pflegen  die  Menschen  oft  mit  dem  Gewißen  zu  ver- 
wechseln. Ein  Verbrecher  der  auf  den  Tod  sitzet,  ärgert  sich,  macht 
sich  die  härtesten  Vorwürfe,  und  beunruhiget  sich  sehr,  am  meisten  10 
aber  darüber,  daß  er  so  unklug  in  seinen  Handlungen  gewesen,  daß  er 
dabey  ertappt  worden.  Diese  Vorwürfe  nun  die  er  sich  macht,  ver- 
wechselt er  mit  den  Vorwürfen  des  Gewißens  wider  die  Moralität,  wäre 
er  aber  nur  hier  ohne  Schaden  durchgekommen,  so  hätte  er  sich  keine 
Vorwürfe  gemacht,  welches  aber  doch,  wenn  er  ein  Gewißen  hätte,  15 

285  auch  alsdenn  geschehn  wäre.  /  Es  muß  also  das  Urtheil  nach  Regeln 
der  Klugheit  von  dem  Urtheil  des  Gewißens  wohl  unterschieden 
werden. 

Viele  Menschen  haben  nur  ein  Analogon  des  Gewißens,  welches  sie 
für  das  Gewißen  selbst  halten,  und  die  Reue,  die  sich  oft  auf  dem  20 
Krankenbette  einfindet,  ist  nicht  die  Reue  über  ihr  Verhalten  in  An- 
sehung der  Moralität,  sondern  daß  sie  so  unklug  gehandelt  haben, 
daß  sie,  da  sie  jezt  vor  dem  Richter  erscheinen  sollen,  nicht  bestehn 
werden.  Wer  seine  begangene  Laster  verabscheuet,  deren  Folgen  jeder- 
zeit Strafen  sind,  welche  Strafen  daher  die  Sträflichlieit  zu  erkennen  25 
geben,  der  weiß  nicht,  ob  er  seine  Laster  wegen  der  Strafen,  oder  der 
der  Straffälligkeit  wegen  verabscheut.  Wer  kein  moralisch  Gefühl, 
das  heißt,  keinen  unmittelbahren  Abscheu  wider  das  moralische  Böse 
und  keinen  Gefallen  an  dem  moralisch  guten  hat,  der  hat  kein  Ge- 
wißen.   Wer    wegen    einer   bösen    Handlung   verklaget    zu    werden  so 

286  befürchten  muß,  /  der  macht  sich  keine  Vorwürfe  wegen  der  Ab- 
scheulichkeit der  Handlung,  sondern  wegen  den  Übeln  Folgen, 
die  er  sich  dadurch  zu  gezogen  hat;  und  ein  solcher  hat  kein  Ge- 
wißen, sondern  nur  ein  Analogon  desselben.  Wer  aber  die  Abscheu- 
lichl^eit  der  Handlungen  selbst  fühlt,  die  Folgen  mögen  auch  seyn  35 
wie  sie  wollen,  der  hat  ein  Gewißen.  Diese  beyde  Stücke  sind  keines 
weges  zu  verwechseln.  Die  Vorwürfe  wegen  der  Folgen  der  Unlvlugheit 
müßen  nicht  für  Vorwürfe  wegen  übertretener  Moralität  angesehn 
werden.  Hierauf  muß  im  Leben,  z.  E.  von  einem  Lehrer,  sehr  gesehn 


Moralphilosophie  CoUins  353 

werden,  ob  der  Mensch  aus  wahrem  Gefühl  der  Abseheulichkeit  die 
Handking  bereuet,  oder  ob  er  sich  nur  solche  Vorwürfe  macht,  weil  er 
jezt  vor  einem  Richter  erscheinen  soll,  wo  er  seiner  Handlungen 
wegen  nicht  bestehn  wird.  Wenn  sich  die  Reue  erst  auf  dem  Todtbette 
5  findet,  so  ist  da  wohl  keine  Moralität,  denn  der  nahe  Todt  ist  da  nur 
die  /  Ursache.  Wäre  dieser  nicht  zu  befürchten,  so  würde  man  schwer-  Z81 
lieh  seine  Handlungen  bereuen.  Man  gleicht  alsdenn  einem  unglück- 
lichen Spieler.  Dieser  wütet  gegen  sich  selbst  und  ärgert  sich,  daß  er  so 
unklug  gehandelt  habe,  und  schlägt  sich  selbst  vor  den  Kopf.  So  ver- 

10  abscheuet  man  auch  hier  nicht  das  Laster,  sondern  die  daher  ent- 
springenden Folgen.  Man  muß  sich  hüten  solchem  Menschen  kraft 
dieses  Analogon  des  Gewißens  Trost  zuzusprechen.  Die  Klugheit 
macht  uns  Vorwürfe,  aber  das  Gewißen  klagt  uns  an.  Hat  man  einmal 
wider  die  Klugheit  gehandelt,  quält  man  sich  nicht  lange  mit  Vor- 

15  würfen  der  Klugheit,  sondern  man  hält  nur  so  lange  sich  dabey  auf, 
als  es  zur  Belehrung  nöthig  ist,  so  ist  dies  selbst  eine  Regel  der  Klug- 
heit und  gereicht  zur  Ehre,  indem  es  eine  starke  Seele  verräth.  Die 
Anklage  des  Gewißens  aber  läßt  sich  nicht  abweisen,  und  es  muß  auch 
nicht  geschehen.  Es  beruhet  hier  nicht  auf  dem  Willen.  Man  kann  / 

20  auch  in  der  Abweisung  der  Anklage  und  der  Buße  des  Gewißens  keine  288 
Stärke  der  Seele  suchen,  sondern  es  ist  vielmehr  Ruchlosigkeit  und 
theologische  Verstockung.  Wer  die  Anklage  seines  Gewißens  nach 
Belieben  abweisen  kann,  der  ist  ein  Rebelle,  so  wie  der  einer  ist, 
welcher  die  Anklage  seines  Richters  abweisen  kann,  über  den  der 

25  Richter  keine  Gewalt  hat.  Das  Gewißen  ist  ein  Instinkt  nach  mora- 
lischen Gesetzen  rechtskräftig  zu  urtheilen,  es  fällt  einen  richterlichen 
Ausspruch,  und  so  wie  ein  Richter  nur  strafen  und  lossprechen,  nicht 
aber  belohnen  kann,  so  spricht  auch  das  Gewissen  entweder  los,  oder 
erklärt  der  Strafe  schuldig.  Das  Urtheil  des  Gewißens  ist  recht- 

somäßig,  wenn  es  empfunden  und  ausgeübt  wird.  Hieraus 
entstehn  2  Folgen.  Die  moralische  Reue  ist  die  erste 
Würkung  des  rechtskräftigen  richterlichen  Ausspruchs. 
Die  2te  Würkung,  ohne  welche  die  Sententz  keine  Wirkung  hätte,  ist: 
daß    die    Handlung   dem    richterlichen    Ausspruch   gemäß 

35  geschehe.   Das  Gewißen  ist  müßig,   wenn  es  keine  Bestrebung  I -z»» 
hervorbringt,  das  auszuüben,  was  zur  Satisfaction  des  moralischen 
Gesetzes  erfordert  wird,  und  wenn  man  auch  noch  so  viel  Reue  bezeigt, 
so  hilft  sie  nichts,  wenn  man  das  nicht  leistet,  was  man  nach  dem 
moralischen  Gesetz  schuldig  ist.  Denn  selbst  in  foro  humano  ist  ja  die 

23     Kanfs  Schriften  XXVII/1 


354  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

Schuld  nicht  durch  die  Reue,  sondern  durch  die  Zahlung  befriedigt. 
Es  müßen  daher  Prediger  vor  dem  Krankenbette  darauf 
dringen,  daß  die  Leute  zwar  die  Uebertretung  der 
Pflichten  gegen  sich  selbst  bereuen,  weil  sie  nicht  mehr 
zu  ersetzen  sind,  aber  daß  sie,  wenn  sie  einem  andernö 
Unrecht  gethan  haben,  es  würklich  zu  ersetzen  suchen; 
denn  alles  Winseln  und  Heulen  hilft  nichts,  so  wenig  in 
foro  divino  als  human o.  Noch  nie  aber  hat  man  doch  ein  Beyspiel 
einer  solchen  thätigen  Reue  auf  dem  Todtenbette,  und  dieses  ist  auch 
zugleich  ein  Beweiß  der  Vernachläßigung  eines  hier  wesentlichen  lo 
Stückes. 

Wir  können  den  innerlichen  Gerichtshof  des  Gewissens  füglich  mit 
dem  äußerlichen  Gerichtshof  vergleichen.  Wir  finden  in  uns  also  einen 
Ankläger,  welcher  aber  nicht  seyn  könnte,  wenn  nicht  ein  Gesetz 

290  wäre,  welches  aber  nicht  /  zum  bürgerlichen  positiven  Gesetz  gehört,  15 
sondern  in  der  Vernunft  liegt,  und  welches  wir  gar  nicht  corrumpiren 
noch  seine  Richtigkeit  und  Unrichtigkeit  läugnen  können.   Dieses 
moralische   Gesetz  nun  liegt  als  ein  heiliges  und  unanzutastendes 
Gesetz  dem  Menschen  zum  Grunde.  Ferner  so  ist  auch  zu  gleich  ein 
Advocat  in  dem  Menschen,  nämlich  die  Eigenliebe,  die  entschuldiget  20 
ihn  und  wendet  vieles  wider  die  Anklage  ein,  da  denn  wieder  der 
Anldäger  die  Einwürfe  zu  benehmen  sucht.  Zulezt  finden  wir  in  uns 
einen  Richter,  der  uns  entweder  losspricht,  oder  verurtheilt.  Dieser 
ist  nun  gar  nicht  zu  verblenden,  ehe  ist  es  möglich,  daß  der  Mensch 
keine  Gewißensuntersuchung  anstellt;  thut  er  es  aber,  so  urtbeilt  der  25 
Richter  unpartheiisch,  und  sein  Ausspruch  fällt  ordentlich  der  Seite 
der  Wahrheit  zu,  es  seyn  denn,  daß  er  falsche  principia  der  Moralität 
habe.   Die   Menschen  geben  freylich  zwar  dem  Vertheidiger  mehr 
Gehör,  auf  dem  Sterbebette  aber  mehr  dem  Ankläger.  Es  gehört  zu 
einem  guten  Gewißen  1)  die  Reinigkeit  des  Gesetzes,  denn  muß  der  30 
Ankläger  bey  allen  unsern  Handlungen  wach  seyn;  in  der  Beurthei- 

291  lung  der  /  Handlungen  müßen  wir  Richtigkeit  haben  und  endlich 
Moralität  und  Stärke  des  Gewißens  in  Ansehung  der  Befolgung  des 
Urtheils  nach  dem  Gesetz.  Das  Gewißen  soll  principia  der  Thätigkeit 
haben,  und  nicht  bloß  speculativ  seyn,  folglich  muß  es  ein  Ansehn  und  35 
Stärke  haben  sein  Urtheil  auszuführen.  Welcher  Richter  wird  sich 
wohl  begnügen  lassen,  nur  Verweise  zu  geben,  und  seinen  richterlichen 
Ausspruch  hören  zu  lassen  ?  Es  muß  dem  richterlichen  Ausspruch  ein 
Genüge  geleistet  werden.  Der  Unterschied  des  richtigen  und  irrenden 


Moralphilosophie  Collins  355 

Gewißens  beruhet  darauf:  der  Irrthura  des  Gewißens  muß  2fach  seyn, 
error  facti  et  legis.  Der  einem  irrenden  Gewißcn  gemäß  handelt,  der 
handelt  seinem  Gewißen  gemäß,  thut  er  es  aber,  so  ist  seine  Handlung 
zwar  fehlerhaft,  sie  kann  ihm  aber  nicht  zum  Verbrechen  angerechnet 
5  werden.  Es  giebt  errores  adstabiles  et  culpabiles.  In  Ansehung  seiner 
natürlichen  Verbindlichkeit  /  kann  keiner  im  Irrthum  sein ;  denn  die  2»» 
natürlichen  moralischen  Gesetze  können  keinem  unbekannt  seyn, 
indem  sie  in  eines  jeden  Vernunft  liegen;  folglich  ist  da  keiner  in 
solchem  Irrthum    unschuldig,   allein    in  Ansehung    eines    positiven 

10  Gesetzes  sind  errores  inculpabiles,  da  kann  man  kraft  einer  conscien- 
tiae  erroneae  als  unschuldig  handeln.  In  Ansehung  des  natürlichen 
Gesetzes  aber  giebt  es  nicht  errores  inculpabiles.  Wenn  nun  aber  ein 
positiv  Gesetz  dem  natürlichen  entgegen  zu  handeln  fordert,  z.E.  wie 
nach  einigen  Rehgionen  gegen  Leute  von  andrer  Religion  zu  wüthen 

15  und  zu  toben ;  welchem  Gesetz  soll  man  gemäß  handeln  ?  Gesetzt,  es 
wäre  jemand  darin  unterrichtet,  daß  man,  z.  E.  wie  bey  den  Jesuiten 
eine  gute  Handlung  durch  Schelmerey  ausüben  könnte,  so  handelt  ein 
solcher  nicht  seinem  Gewißen  gemäß;  denn  das  natürliche  Gesetz  ist 
ihm  bekannt,  daß  er  keine  /  Ungerechtigkeiten  aus  keiner  Absicht  293 

20  ausüben  soll,  da  hier  nun  der  Ausspruch  des  natürlichen  Gewißens, 
dem  des  informirten  Gewißens  entgegen  ist,  so  muß  er  dem  ersten 
Gehör  geben.  Das  positive  Gesetz  kann  nichts  enthalten,  das  dem 
natürlichen  zuwider  sey;  denn  das  natürliche  ist  die  Bedingung  aller 
positiven  Gesetze.   Es  ist  eine  böse   Sache  sich  mit  dem  irrenden 

25  Ge^vißen  zu  entschuldigen,  es  kann  auf  diese  Rechnung  vieles  gescho- 
ben werden,  allein,  man  muß  auch  von  den  Irrthümern  Rechenschaft 
geben.  Der  Autor  nennt  das  Gewißen  ein  natürliches;  vielleicht  will  er 
es  von  dem  geoffenbahrten  unterscheiden.  Alles  Gewißen  ist  natürlich, 
diesem  aber  kann  ein  natürliches  oder  geoffenbahrtes  Gesetz  zum 

30  Grunde  liegen.  Das  Gewißen  stellt  den  göttlichen  Gerichtshof  in  uns 
vor:  erstlich,  weil  es  unsre  Gesinnungen  und  Handlungen  nach  der 
Reinigkeit  des   Gesetzes  beurtheilt,   /  zweytens,   weil  wir  es  nicht  294 
betrügen  können,  und  endlich,  weil   wir  demselben  nicht  entgehn 
können,  weil  es  uns  gleich  der  göttlichen  Allgegenwart  gegenwärtig 

35  ist.  Es  ist  also  das  Gewißen  der  Stellvertreter  des  göttlichen  Gerichts 
in  uns;  es  muß  folglich  gar  nicht  laedirt  werden.  Der  Conscientiae 
naturali  köimte  man  die  artificialem  entgegensetzen.  Es  haben  viele 
behauptet,  das  Gewißen  sey  ein  Werk  der  Kunst  und  der  Erziehung, 
und  es  urtheile  und  spreche  bloß  nach  Gewohnheit.  Allein  wäre  dieses. 


356  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

so  könnte  der,  der  solche  Uebung  und  Erziehung  des  Gewißens  nicht 
hätte,  sich  der  Gewißensbisse  entschlagen;  welches  aber  nicht  ist. 
Kunst  und  Unterweisung  muß  zwar  freylich  das  zur  Fertigkeit 
bringen,  wozu  wir  schon  von  Natur  Anlagen  haben;  wir  müssen  also 
auch  vorher  Erkenntniß  des  Guten  und  des  Bösen  haben,  wenn  das  5 
Gewißen  richten  soll;  allein,  wenn  unser  Verstand  cultiuirt  ist,  so  darf 

295  das  /  Gewißen  nicht  cultiuirt  werden.  Das  Gewißen  ist  lediglich  also 
nur  ein  natürliches  Gewißen.  Es  kann  unterschieden  werden  in  das 
Gewißen  vor  der  That,  und  nach  der  That.  Vor  der  That  ist  das 
Gewißen  zwar  kräftig  den  Menschen  von  der  That  noch  abzuführen,  lo 
in  der  That  aber  ist  es  stärker  und  am  stärksten  nach  der  That.  Vor  der 
That  kann  das  Gewißen  noch  nicht  so  stark  seyn,  weil  die  That  noch 
nicht  geschehn  ist,  und  der  Mensch  sich  noch  nicht  so  kräftig  fühlet, 
und  weil  die  Neigung  noch  nicht  befriediget  ist,  und  also  noch  stark 
genug  ist,  dem  Gewißen  zu  widerstehn;  in  der  That  ist  es  schon  i5 
kräftiger,  und  weil  denn  schon  die  Neigung  befriedigt  ist,  ist  sie  schon 
zu  schwach,  dem  Gewißen  zu  widerstehn;  folglich  ist  es  denn  am 
stärksten.  Nach  der  Befriedigung  der  stärksten  Neigung  die  aus 
Leidenschaft  geschieht,  bekommt  der  Mensch  sogar  einen  Ekel,  weil 
ein  starker  Affect,  wenn  er  befriedigt  ist,  ganz  schlaff  wird,  und  nicht  20 

396  widerstehn  /  kann,  und  denn  ist  das  Gewißen  am  stärksten.  Denn 
kommt  die  Reue,  allein,  das  Gewißen  ist  noch  incomplet,  das  nur 
dabey  bleibt,  es  müße  dem  Gesetze  Genüge  leisten.  Die  Conscientia 
concomitans,  oder  das  begleitende  Gewißen  wird  durch  Gewohnheit 
zulezt  schwach,  und  man  gewöhnt  sich  zulezt  so  an  die  Laster,  als  an  25 
den  Tabak- Rauch.  Zulezt  kommt  das  Gewißen  um  alles  Ansehn,  und 
denn  hört  auch  die  Anklage  auf,  weil  es  entbehrlich  ist,  da  bey  dem 
Gerichtshof  nichts  mehr  entschieden  und  vollzogen  wird.  Wenn  man 
dem  Gewißen  viele  kleine  Vorwürfe  von  gleichgültigen  Sachen 
(adiaphoris)  macht,  so  ist  es  ein  micrologisches  Gewißen,  und  die  3o 
Fragen  die  demselben  vorgelegt  werden,  ist  die  Casuistic,  z.  B.  ob  man, 
um  jemanden  zum  April  zu  schicken,  ihm  etwas  vorlügen  soll  ?  Ob 
man  bey  gewißen  Gebräuchen  diese  oder  jene  Handlung  thun  soll  ?  / 

29r  Je  micrologischer  und  subtiler  das  Gewißen  in  solchen  Kleinigkeiten 
ist,  je  schlechter  ist  es  im  practischen ;  vornehmlich  pflegen  solche  in  35 
positiven  Gesetzen  zu  speculiren,  und  im  übrigen  wird  das  Thor 
geöffnet.  Ein  lebendes  Gewißen  ist :  Wenn  sich  der  Mensch  Gebrechen 
vorwerfen  kann.  Es  giebt  aber  auch  ein  schwermüthiges  Gewißen,  wo 
man  sich  in  seinen  Handlungen  böses  vorzuwerfen  sucht,  wozu  wirk- 


Moralphilosophie  Collins  357 

lieh  kein  Grund  ist ;  dieses  aber  ist  unnöthig.  Das  Gewißen  soll  in  uns 
kein  Tyrann  seyn.  Wir  können  ohne  Verletzung  des  Gewißens  in 
unsern  Handlungen  immer  heiter  seyn.  Solche,  die  ein  quälendes 
Gewißen  haben,  ermüden  hernach  gänzlich,  und  geben  ihm  zvdezt 
5  Ferien. 

Von  der  Eigenliebe. 
Die  Liebe  des  Wohlgefallens  gegen  andre  ist  das  Urtheil  des  Wohl- 
gefallens über  ihre  Vollkommenheit.   Die  Liebe  des  Wohlgefallens 
gegen  /  sich  selbst  aber,  oder  die  Eigenliebe,  ist  eine  Neigung,  mit  sich  298 

10  selbst,  über  das  Urtheil  der  Vollkommenheit  wohl  zufrieden  zu  seyn. 
Die  Philavtie  oder  die  moralische  Eigenliebe  ist  der  Arroganz,  oder 
dem  moralischen  Eigendünlcel  entgegen  gesetzt.  Der  Unterschied  der 
Philavtie  von  der  Arroganz  ist,  daß  die  erstere  nur  eine  Neygung  ist, 
mit  seinen  Vollliommenheiten  zufrieden  zu  sein,  die  leztere  aber  eine 
unbillige  Anmaßung  auf  das  Verdienst  macht.  Sie  eignet  sich  mehr 

16  moralische  Vollkommenheiten  zu,  als  ihr  zukommen;  jene  aber  macht 
keine  Forderungen,  sondern  sie  ist  immer  mit  sich  selbst  zufrieden  und 
macht  sich  keine  Vorwürfe.  Diese  ist  stolz  auf  ihre  moralische  Voll- 
kommenheiten, jene  ist  es  nicht,  sondern  sie  glaubt  unsträflich  und 
unschuldig  zu  seyn.   Die   Arrogantia  ist  also  ein  weit   schädlicher 

20  Fehler.  Die  Philavtie  /  prüft  sich  selbst  mit  dem  moralischen  Gesetz,  399 
nicht  als  nach  einer  Richtschnur,  sondern  nach  Beyspielen,  und  denn 
hat  man  wohl  Ursache  mit  sich  zufrieden  zu  seyn.  Die  Beyspiele 
moralischer  Menschen  sind  Maaßstäbe  aus  der  Erf alirung ;  das  mora- 
lische Gesetz  aber  ist  ein  Maaßstab  aus  der  Vernunft ;  gebraucht  man 

25  nun  den  ersten  Maaßstab,  so  entspringt  daraus  die  Philavtie  oder  die 
Arrogantia.  Die  Arrogantia  entsteht,  wenn  man  sich  das  moralische 
Gesetz  eingeschränkt  und  nachsichtlich  denkt;  oder  wenn  der  mora- 
lische Richter  in  uns  partheyisch  ist.  Je  weniger  strenge  man  sich  das 
moralische  Gesetz  denkt,  und  je  weniger  strenge  uns  der  innerliche 

30  Richter  beurtheilt,  desto  arroganter  kann  man  seyn.  Von  der  Eigen- 
liebe ist  die  Schätzung  unterschieden.  Diese  gehet  auf  den  Innern 
werth,  die  Liebe  auf  das  Verhältniß  meines  Werths  in  Beziehung 
auf  das  Wohlergeh  n. 

/  Wir  schätzen  das,  was  einen  Innern  Werth  hat,  und  lieben  das,  300 

35  was  verhältnißweise  einen  Werth  hat,  z.  E.  Verstand  hat  einen  Innern 
Werth,  ohne  zu  erwägen  worauf  er  angewandt  wird.  Der  seine  Pflicht 
beobachtet,  der  seine  Person  nicht  entehrt,  ist  schätzenswerth ;  der 


358  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

gesellig  ist,  ist  liebenswerth.  Es  kann  das  Urtheil  von  uns  uns  ent- 
weder Hebens-  oder  achtungswerth  vorstellen.  Wer  da  glaubt,  daß  er 
ein  gutes  Herz  habe,  daß  er  gern  allen  Menschen  helfen  möchte,  wenn 
er  nur  reich  wäre,  und  wenn  er  auch  wirklich  reich  ist,  so  denkt  er, 
wenn  er  noch  reicher  wäre,  wie  etwa  ein  anderer  ist,  denn  dieses  5 
brauche  er  nothdürftig ;  welches  alle  Geitzige  glauben,  der  findet  sich 
liebenswerth.  Der  aber  in  Ansehung  seiner  selbst  die  wesentlichen 
Zwecke  der  Menschheit  genau  zu  erfüllen  glaubt,  der  glaubt  achtungs- 
werth zu  seyn.  Wenn  ein  Mensch  gutherzig  zu  sein  glaubt  und  durch 
leere  Wünsche  das  Wohl  aller  Menschen  befördert,  der  verfällt  in  die  lo 

301  Philavtie.  /  Daß  sich  der  Mensch  alles  Gute  gönnt  ist  wohl  natürlich; 
allein  daß  er  von  sich  eine  gute  Meinung  hegt,  ist  nicht  natürlich.  Die 
Menschen  fallen  in  die  Philavtie  oder  Arroganz  nach  Verschiedenheit 
ihres  Temperaments.  Gellerts  Moral  ist  mit  Liebe  und  Gütigkeit  ange- 
füllt und  redet  viel  von  Freundschaft,  welches  das  Steckenpferd  aller  u 
Moralisten  ist,  und  solche  Moral  giebt  Gelegenheit  zur  Eigenliebe.  Der 
Mensch  aber  muß  nicht  so  wohl  liebenswerth,  als  schätzungs-  und  ach- 
tungswerth seyn.  Ein  gewissenhafter  und  rechtschaffener  Mann,  der 
nicht  partheyisch  ist,  und  keine  Geschenke  annimmt,  ist  nicht  ein 
Gegenstand  der  Liebe ;  und  weil  er  in  Ansehung  seiner  Einnahme  20 
gewissenhaft  ist,  so  wird  er  auch  wenige  Handlungen  der  Großmuth 
und  der  Liebe  ausüben  können,  folglich  wird  er  bey  andern  nicht 
hebenswerth  sein,  allein  sein  Wohl  besteht  darin,  daß  er  von  andern 

303  achtungswürdig  /  gehalten  wird,  die  Tugend  ist  sein  wahrer  innerer 
Werth.  Es  kann  also  Jemand  ein  Gegenstand  der  Achtung  und  nicht  25 
der  Liebe  seyn,  weil  er  nicht  so  einschmeichelnd  ist.  Wir  können  auch 
einen  schlechten  Mann  lieben,  nichts  weniger  aber  als  achten.  Alles 
was  in  der  Moral  die  Eigenliebe  vermehrt,  soll  abgewiesen  werden, 
und  nur  das  empfohlen  werden,  was  schätzungswerth  macht,  z.  B. 
die  Beobachtung  der  Pflichten  gegen  sich  selbst,  rechtschaffen  und  so 
gewissenhaft  zu  seyn;  und  ist  man  denn  auch  kein  Gegenstand  der 
Liebe,  so  kann  man  mit  getrostem  Muth,  zwar  nicht  mit  Trotz,  jeder- 
mann in  die  Augen  sehn,  denn  man  hat  alsdenn  einen  werth.  Dieses 
ist  aber  nicht  die  Arroganz,  denn  es  ist  hier  der  Maaßstab  des  Gesetzes 
nicht  verfehlt.  Vergleiche  ich  mich  mit  dem  moralischen  Gesetz,  so  bin  85 
ich  in  Ansehung  dessen  demüthig,  in  Vergleichung  mit  andern  aber  / 

303  kann  ich  mich  schätzungswerth  halten.  Die  moralische  Philavtie,  wo 
der  Mensch  in  Ansehung  seiner  moralischen  Vollkommenheiten  eine 
hohe  Meinung  von  sich  hat,  ist  verächtlich.  Sie  kommt  daher  wenn  der 


Moralphilosophie  Collins  359 

Mensch  seine  Gesinnungen  für  gute  Gesinnungen  halt,  durch  leere 
Wünsche  und  romantische  Ideen  das  Wohl  der  Welt  zu  befördern 
glaubt,  er  liebt  den  Tartar  und  möchte  Gütigkeit  gegen  ihn  ausüben, 
allein  an  seinen  Nächsten  denkt  er  nicht.  Wodurch  nur  das  Herz  welk 
5  wird,  das  ist  die  Philavtie  die  in  lauter  Wünschen  besteht  und  übrigens 
unthätig  ist.  Die  Eigenliebigen  sind  Süßlinge,  die  nicht  wacker,  nicht 
thätig  sind;  die  Arroganz  ist  wenigstens  doch  noch  thätig. 

Es  giebt  Sophisterey  in  dem  menschlichen  moralischen  Gerichtshof, 
welche  die  Eigenliebe  anrichtet.  Dieser  Advocat,  wenn  er  die  Gesetze 

10  zu  seinem  Vortheil  sophistisch  erklärt,  ist  ein  Rabulist,  auf  der  andern 
Seite  ist  er  aber  auch  betrügerisch,  das  factum  zu  leugnen.  Allein,  der 
Mensch  findet  doch,  daß  sein  Advocat,  ob  er  gleich  noch  so  sophistisch 
ist,  bei  ihm  in  schlechtem  Credit  steht.  Er  siehet  ihn  vielmehr  als  / 
einen  Rechtsverbrecher  an.  Der  Mensch  der  das  nicht  denlit  und  ein-  304 

15  sieht,  ist  ein  schwacher  Mensch.  Es  macht  dieser  Rabulist  allerhand 
Auslegungen  des  Gesetzes.  Er  macht  sich  den  Buchstaben  des  Ge- 
setzes zu  Nutze,  und  beim  facto  sieht  er  nicht  auf  die  Gesinnungen, 
sondern  auf  die  äußern  Umstände.  Er  handelt  nach  probabilitaet. 
Dieser  moralische  Probabilismus  ist  ein  Mittel,  wodurch  sich  der 

20  Mensch  betrügt  und  überredet,  recht  nach  Grundsätzen  gehandelt  zu 
haben.  Es  ist  nichts  ärger  und  abscheulicher,  als  sich  ein  solches 
Gesetz  zu  erkünsteln,  nach  welchem  man  unter  dem  Schutze  des 
wahren  Gesetzes  böses  thun  kann.  So  lange  der  Mensch  das  moralische 
Gesetz  übertreten  hat,  allein  es  noch  in  seiner  Reinigkeit  erkennt, 

25  kann  er  noch  gebeßert  werden,  weil  er  noch  ein  reines  Gesetz  vor  sich 
hat.  Wer  sich  aber  ein  günstiges  und  falsches  Gesetz  erkünstelt  hat, 
der  hat  einen  Grundsatz  zu  seiner  Bosheit,  und  bey  dem  ist  /  keine  305 
Beßerung  zu  hoffen. 

Der  moralische  Egoismus  ist:  Wenn  man  sich  im  Verhältnis  mit 

30  andern  allein  hochschätzt.  Man  muß  aber  seinen  Werth  nicht  in  Ver- 
hältniß  mit  andern  beurtheilen,  sondern  mit  der  Regel  des  moralischen 
Gesetzes;  denn  der  Maaßstab  mit  andern  ist  sehr  zufällig,  und  denn 
kommt  ein  ganz  andrer  Werth  heraus.  Finden  wir  hingegen,  daß  wir 
von  keinem  Werth  als  andere  sind,  so  hassen  wir  die  von  größerem 

35 Werth;  und  denn  entspringt  der  Neid  und  die  Mißgunst.  Diese 
erzeugen  die  Eltern  in  den  Kindern,  wenn  sie  dieselbe  nicht  durch 
Moralität  zu  ziehn  suchen,  sondern  ihnen  immer  fremde  Kinder  zum 
Muster  darstellen,  gegen  welche  diese  alsdenn  aufgebracht  werden; 
denn  wären  jene  nicht,  so  würden  sie  die  besten  seyn.  Der  moralische 


360  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

Solipsismus  ist:  Wenn  wir  uns  im  Verhältniß  mit  andern  allein  lieben. 
Dieses  aber  gehört  nicht  zu  den  Pflichten  gegen  sich  selbst,  sondern 
gegen  andre. 


306  /  Von  der  Oberherrschaft  über  sich  selbst. 

Das  allgemeine  principium  der  Oberherrschaft  über  sich  selbst  war :  5 
die    Schätzung   seiner   Person   in   Beziehung   auf   die    wesentlichen 
Zwecke  der  mensclilichen  Natur  und  die  Pflichten  gegen  sich  selbst 
sind  Bedingungen,  unter  welchen  die  andern  Pflichten  allein  ausgeübt 
werden  können.  Dies  ist  das  principium  der  Pflichten  gegen  sich  selbst, 
und  die  objective  Bedingung  der  Moralität.  Welches  aber  ist  nun  die  lo 
subjective  Bedingung  der  Ausübung  der  Pflichten  gegen  sich  selbst  ? 
Die  Regel  ist  diese :  Suche  über  dich  selbst  die  Herrschaft  zu  erhalten, 
denn  unter  dieser  Bedingung  bist  du  tüchtig,  die  Pflichten  gegen  dich 
selbst  auszuüben.  Es  ist  im  Menschen  ein  gewißer  Pöbel,  der  unter 
der  Regierung  stehn  muß,  und  der  ein  wachsames  Regiment  unter  der  15 
Regel  erhalten  muß,  und  wo  auch  Gewalt  sein  muß,  diesen  Pöbel  der 
Anordnung  und  Regierung  gemäß,  unter  die  Regel  zu  zwingen.  Dieser 
Pöbel  im  Menschen  sind  die  Handlungen  der  Sinnlichkeit.   Diese 

301  stimmen  /  nicht  mit  der  Regel  des  Verstandes  überein ;  sie  sind  aber 
nur  in  sofern  gut,  als  sie  damit  übereinstimmen.  Der  Mensch  muß  20 
Disciplin  haben;  der  Mensch  disciplinirt  sich  selbst  nach  den  Regeln 
der  Klugheit,  z.  E.  oft  hat  er  noch  Lust  lange  zu  schlafen,  allein  er 
zwingt  sich  aufzustehn,  weü  er  siehet  daß  es  nöthig  ist;  so  hat  er  oft 
Lust  mehr  zu  essen  oder  zu  trinken,  allein  er  siehet,  daß  es  ihm  schäd- 
lich ist.  Diese  Disciplin  ist  die  executive  Gewalt  der  Vorschrift  der  25 
Vernunft  über  die  Handlungen,  die  aus  der  Sinnlichkeit  entspringen. 
Dieses  ist  die  Disciplin  der  Klugheit,  oder  die  pragmatische.  Wir 
müßen  aber  noch  eine  andere  haben,  nämlich  die  Moral.  Nach  dieser 
müßen  wir  alle  unsre  sinnliche  Handlungen  nicht  nach  der  I^ugheit, 
sondern  den  sittlichen  Gesetzen  gemäß  zu  beherrschen  und  zu  be-  30 

308  zwingen  suchen.  In  dieser  Gewalt  besteht  die  /  moralische  Disciplin, 
und  dieses  ist  die  Bedingung,  unter  der  wir  allein  die  Pflichten  gegen 
uns  selbst  ausüben  können.  Folglich  können  wir  sagen :  Die  Herrschaft 
über  uns  selbst  besteht  darin:  daß  wir  alle  principia  dem  Vermögen 
unsrer  freyen  Willkühr  unterwerfen  können.  Diese  kann  nach  2  Regeln  35 
gedacht  werden,  nach  der  Regel  der  Klugheit  und  der  Sittlichkeit. 
Es  beruht  zwar  alle  Klugheit  auf  der  Regel  des  Verstandes ;  allein  bey 


Moralphilosophie  Collins  361 

der  Regel  der  Klugheit  dienet  der  Verstand  der  Sinnlichkeit;  er  giebt 
ihr  Mittel  an  die  Hand,  wodurch  die  Neigung  befriedigt  wird,  weil  er 
in  Ansehung  der  Zwecke  von  der  Sinnlichkeit  abhängt.  Die  wahre 
Oberherrschaft  über  uns  selbst  aber  ist  die  Moral.  Diese  ist  sou verain 

5  und  die  Gesetze  befehlen  categorisch  über  die  Sinnlichlceit  und  nicht 
wie  die  pragmatische,  denn  da  braucht  der  Verstand  eine  Sinnlichkeit 
wider  die  andre.  /  Allein  um  eine  souveraine  Gewalt  über  uns  zu  haben,  309 
müßen  wir  der  Moralität  die  höchste  Gewalt  über  uns  geben,  daß  sie 
über  unsre  Sinnlichkeit  herrsche.  Kann  der  Mensch  über  sich  herr- 

10  sehen,  wenn  er  will  1  Es  scheint  dieses  zwar  so  zu  sein,  weil  es  auf  ihm 
zu  beruhen  scheint,  und  man  glaubt,  daß  es  schwerer  sey  die  Herr- 
schaft über  andre  zu  bekommen,  als  über  sich  selbst;  allein,  eben,  weil 
es  eine  Herrschaft  über  uns  selbst  ist,  so  ist  sie  schwer,  denn  da  ist 
unsre  Gewalt  getheilt;  da  ist  die  Sinnlichkeit  wider  den  Verstand  im 

15  Streit.  Wollen  wir  aber  über  andre  eine  Herrschaft  haben,  so  sammlen 
wir  unsre  ganze  Gewalt.  Die  Herrschaft  über  uns  ist  auch  daher 
schwerer,  weil  das  moralische  Gesetz  zwar  Vorschriften  aber  keine 
Triebfedern  hat ;  es  fehlet  ihm  die  executive  Gewalt,  und  diese  ist  das 
moralische  Gefühl.  Dieses  /  ist  keine  Unterscheidung  des  Bösen  und  Gu-  3io 

20  ten,  sondern  eine  Triebfeder,  wo  unsre  Sinnlichkeit  mit  dem  Verstände 
übereinstimmt.  Menschen  können  zwar  eine  gute  Beurtheilungskraft 
im  moralischen  haben,  aber  kein  Gefühl.  Sie  sehn  wohl  ein,  daß  eine 
Handlung  nicht  gut,  sondern  strafwürdig  sey,  aber  sie  begehn  sie 
doch.  Nun  beruhet  aber  die  Herrschaft  über   sich  selbst    auf  der 

25  Stärke  des  moralischen  Gefühls.  Wir  können  gut  über  uns  herrschen, 
wenn  wir  die  widerstehende  Gewalt  schwächen.  Dieses  aber  thun  wir, 
wenn  wir  sie  theilen :  Folglich  müssen  wir  erst  uns  selbst  discipliniren, 
das  ist:  In  Ansehung  unsrer  selbst  durch  wiederholte  Handlungen 
den  Hang  ausrotten,  der  aus  der  sinnlichen  Triebfeder  entspringt.  Wer 

30  sich  moralisch  discipliniren  will,  muß  sehr  auf  sich  Acht  haben,  von 
seinen  Handlungen  oft  /  vor  dem  innerlichen  Richter  Rechenschaft  sn 
ablegen,  da  denn  durch  lange  Uebungen  dem  moralischen  Bewegungs- 
Grunde  Stärke  gegeben,  und  diu"ch  Cultur  eine  Gewohnheit  erworben 
wird,  in  Ansehung  des  moralischen  Guten  oder  Bösen  Lust  oder  Unlust 

35  zu  bezeigen.  Hiedurch  wird  das  moralische  Gefühl  cultivirt,  denn  wird 
die  Moralität  Stärke  und  Triebfeder  haben;  durch  diese  Triebfeder 
wird  die  Sinnlichkeit  geschwächt  und  überwogen,  und  auf  solche  Art 
wird  die  Herrschaft  über  sich  selbst  erlangt.  Ohne  Disciplin  seiner 
Neigungen  kann  der  Mensch  nichts  erhalten,  folglich  liegt  in  der 


362  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

Selbstbeherrschung  eine  unmittelbahre  Würde,  denn  Herr  über  sich 
selbst  zu  seyn,  zeigt  eine  Unabhängigkeit  von  allen  Sachen  an.  Wo 
nun  keine  solche  Herrschaft  über  sich  selbst  ist,  da  ist  eine  Anarchie. 
Allein  wenn  auch  eine  moralische  Anarchie  beim  Menschen  ist,  so 

312  tritt  /  doch  die  Klugheit  in  die  Stelle  der  Moralität,  und  regiert  anstatt  5 
derselben,  damit  doch  nicht  eine  völlige  Anarchie  sey.  Die  Herrschaft 
über  sich  selbst  nach  den  Regeln  der  Klugheit  ist  ein  Analogon  der 
Selbstbeherrschung. 

Die  Gewalt,  die  die  Seele  über  alle  Vermögen  und  über  den  ganzen 
Zustand  hat,  denselben  unter  ihre  freye  Willkühr,  ohne  daß  sie  dazu  lo 
genöthigt,  sich  zu  unterwerfen,  ist  eine  Monarchie.  Befleißiget  sich 
nicht  der  Mensch  auf  diese  Monarchie,  so  ist  er  ein  Spiel  von  andren 
Kräften  und  Eindrücken,  wider  seine  Willkühr;  denn  hängt  er  vom 
Zufall  und  vom  willkührlichen  Lauf  der  Umstände  ab.  Hat  er  sich 
selbst  nicht  in  Gewalt,  so  hat  seine  Imagination  freyen  Lauf;  er  kann  15 
sich  nicht  discipliniren,  sondern  er  wird  von  ihr  nach  den  Gesetzen 
der  Association  fortgerissen,  weil  er  sich  den  Sinnen  gerne  ergiebt; 

313  so  wird  er,  wenn  er  sie  nicht  einschränlcen  kann  /  ein  Spiel  derselben, 
und  sein  Urtheil  wird  durch  die  Sinne  bestimmt;  ohne  die  Neigung 
und  Leidenschaft  zu  berühren,  so  erwegen  wir  nur  seinen  denkenden  20 
Zustand,  der  sehr  willkührlich  ist,  wenn  man  ihn  nicht  in  seiner  Gewalt 
hat.  Ein  jeder  Mensch  hat  daher  darauf  zu  sehn,  daß  er  seine  Kräfte 
und  seinen  Zustand  der  Gewalt  der  freyen  Willkühr  unterwerfe.  Wir 
haben  eine  2fache  Gewalt  über  uns,  die  disciplinirende  und  hervor- 
bringende. Die  executive  Gewalt  kann  uns  zwingen,  ohnerachtet  aller  25 
Hindernisse,  gewisse  Würkungen  hervorzubringen,  alsdenn  hat  sie 
Macht.  Die  dirigirende  Gewalt  aber  ist  nur,  die  Gemüthskräfte  zu 
lenken.  Wir  haben  z.  E.  in  uns  eine  Triebfeder  zur  Trägheit,  diese 
kann  nicht  diu-ch  die  dirigirende  sondern  durch  die  Zwangs-Gewalt 
unterdrückt  werden.  Habe  ich  Vorurtheile,  so  muß  ich  nicht  bloß  30 

314  das  Gemüth  /  dirigiren,  sondern  ich  muß  Gewalt  brauchen,  um  nicht 
von  ihrem  Strom  hingerissen  zu  werden.  Menschen  haben  Kraft,  das 
Gemüth  zu  dirigiren,  aber  noch  nicht  zu  beherrschen.  Wenn  im  Ge- 
müth nichts  widerstrebt,  sondern  wenn  nur  keine  Regeln  da  sind, 
denn  kann  es  nur  dirigirt  werden.  Allein  es  ist  in  unsern  Kräften  etwas  35 
habituelles,  was  der  Macht  und  freyen  Willkühr  widerstreitet,  wo  wir 
denlcende  subjecte  sind,  z.  E.  sinnliche  Wohllust,  Faulheit,  diese 
müssen  nicht  nur  dirigirt  sondern  auch  beherrscht  werden.  Die  Avto- 
cratie  also  ist  die  Gewalt,  das  Gemüth,  trotz  aller  Hindernisse  wozu  zu 


Moralphilosophie  Collins  363 

zwingen.  Die  Herrschaft  seiner  selbst  und  nicht  bloß  die  dirigirende 
Gewalt  ist,  was  zur  Avtocratie  gehört.  Der  Autor  begehet  einen  Fehler 
in  Herzehlung  der  Pflichten  gegen  sich  selbst;  daher  wir  hier  etwas 
davon  berühren  müssen.  Er  zählt  zu  den  Pflichten  /  gegen  sich  selbst,  315 

5  alle  Vollkommenheiten  des  Menschen,  auch  die  Vollkommenheiten. 
die  sein  Talent  betreffen.  Er  redet  von  der  Volllvommenheit  der  sinn- 
lichen Kräfte,  der  Seele;  auf  solche  Art  könnte  die  Logik  imd  alle 
Wissenschaften,  die  den  Verstand  vollkommener  machen,  und  unsere 
Wißbegierde  befriedigen,  hieher  gehören;  allein,  hierin  ist  gar  nichts 

10  moralisches.  Die  Moral  zeigt  uns  ja  nicht,  was  wir  in  Ansehung  der 
Geschicklichkeit  unserer  Kräfte  vollkommener  zu  werden  thun  sollen ; 
alle  solche  Vorschriften  sind  nur  pragmatisch  und  Klugheitsregeln, 
nach  welchen  wir  unsere  Kräfte  erweitern  sollen,  indem  dieses  zu 
unserm  Wohlbefinden  beyträgt.  Wenn  aber  von  der  Sittlichkeit  die 

15  Rede  ist,  so  A\ird  hieher  nichts  gehören,  als  wie  viel  wir  uns  in  An- 
sehung unsres  inneren  Werths  vollkommener  /  machen  und  wie  wir3i6 
die  Würde  der  Menschheit  in  Ansehung  unsrer  eigenen  Person  erhalten 
sollen,  wie  wir  alles  unsrer  eignen  Willl^ühr  unterwerfen  sollen,  so  fern 
unsre  Handlungen  diu-ch  sie  den  wesentlichen  Zwecken  der  Mensch- 

2oheit  gemäß  eingerichtet  werden.  Alle  Sätze  und  Regeln  des  Autors, 
indem  er  die  Pflichten  gegen  uns  selbst  lehrt,  und  alle  seine  definitiones 
sind  tavtologische  Sätze.  Practische  Sätze  sind  tavtologisch,  aus  denen 
keine  Execution  folgen  kann,  die  die  Mittel  angeben,  nach  denen  das 
nicht  ausgeführt  werden  kann  was  gefordert  wird,  die  die  Bedingungen 

25  enthalten,  welche  mit  den  Bedingungen  und  Forderungen  einerley 
sind.  Das  ist  eine  tavtologische  resolution  des  Problems,  wenn  die 
Resolution  die  Bedingung  enthält,  die  die  Forderung  enthält.  Alle 
practische  Wissenschaften  a  priori  außer  der  /  Mathematik  enthalten  sn 
tavtologische  Sätze,  z.E.  die  practische  Logik  ist  voll  davon;  sie  sagt 

30  die  Bedingungen,  die  die  theoretische  Logik  gesagt  hat,  und  so  ist  es 
auch  in  der  Moral,  wo  kein  Mittel  angegeben  worden,  die  geforderten 
Bedingungen  zu  erfüllen.  Es  ist  dies  ein  allgemeiner  Fehler,  den  wir 
unserm  Autor  nicht  allein  zueignen  können ;  und  wenn  wir  denselben 
auch  nicht  völlig  ergänzen  können,  so  wollen  wir  doch  zeigen:  Worin 

35  er  bestehe  ?  Wodurch  wir  die  Lücken  in  den  Wissenschaften  bemerken, 
die  doch  noch  ausgefüllt  werden  können,  welches  aber  nicht  geschehn 
könnte,  wenn  wir  glaubten :  Es  sey  keine  Lücke,  sondern  es  sey  alles 
vollkommen.  Die  Beförderung  der  Vollkommenheit  seiner  Talente 
gehört  also  nicht  zu  den  Pflichten  gegen  uns  selbst,  von  welchen  der 


364  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

Autor  weitläuftig  nach  dem  Leitfaden  der  Philosophie  redet.  Wir 
können  auch  ohne   Speculation  bey  einer  schwachen  Einsicht  die 

318  Pflichten  gegen  uns  selbst  /  ausüben.  Alle  Zierrathen  der  Seele  gehören 
zwar  zum  Luxus  derselben  und  zum  melius  eße;  aber  nicht  zum  eße 
des  Gemüths.  Allein  die  Gesundheit  der  Seele  im  gesunden  Körper  ge-  5 
hört  zu  den  Pflichten  gegen  uns  selbst.  Soferne  die  Vollkommenheiten 
unserer  Seelenl<;räfte  zusammen  hängen  mit  den  wesentlichen  Zwecken 
der  Menschheit,  in  so  fern  gehört  zu  den  Pflichten  gegen  uns  selbst,  die- 
selben zu  befördern.  Alle  unsre  Gemüthszustände  und  Seelenkräfte 
können  Beziehung  auf  die   Sittlichl^eit  haben.   Die  Autocratie  des  lo 
menschlichen  Gemüths  und  aller  Kräfte  seiner  Seele  so  ferne  sie  sich  auf 
die  Moralität  beziehen,  ist  das  principium  der  Pflichten  gegen  uns 
selbst,  und  eben  dadurch  aller  übrigen  Pflichten.  Lasset  uns  die  See- 
lenkräfte, in  so  ferne  sie  Beziehung  auf  die  Moralität  haben  durch- 
gehn,  und  sehn,  wie  in  Ansehung  ihrer  die  Autocratie  oder  das  Ver-  is 
mögen,  dieselben  unter  der  freyen  Willkühr  zu   erhalten  und  zu 

319  beobachten  /  sey,  und  aus  diesem  Grunde  zuerst  die  Imagination 
nehmen.  Die  größten  Einbildungen  und  Bilder  haben  wir  nicht  von 
dem  Reitz  der  Gegenstände,  sondern  von  unsrer  Einbildungskraft, 
diese  miüssen  wir  in  unsrer  Gewalt  haben,  daß  sie  nicht  schwärme,  und  20 
uns  unwillkührlich  Bilder  andichte.  Die  Gegenstände,  die  die  Bilder  in 
uns  machen,  sind  uns  nicht  immer  gegenwärtig;  allein  die  Einbildun- 
gen können  uns  immer  gegenwärtig  seyn,  die  führen  wir  immer  mit 
uns;  daraus  nun  entstehn  große  Einbrüche  und  Verletzungen  der 
Pflichten  gegen  uns  selbst,  z.  E.  wenn  man  in  Ansehung  der  Wohllust  25 
seiner  Imagination  freyen  Lauf  läßt,  so  daß  man  so  gar  der  Imagi- 
nation Realität  giebt,  so  entstehn  dadurch  die  Laster,  die  wider  die 
Natur  laufen,  und  die  höchste  Verletzung  der  Pflichten  gegen  sich 
selbst;   also   haben  die   Einbildungen  den   Reitz   des   Gegenstandes 

380  erhöhet.  Die  Avtocratie  soll  also  darin  bestehn,  daß  der  Mensch  seine  /  3o 
Einbildungen  aus  dem  Gemüthe  verbanne,  damit  die  Imagination 
nicht  das  Zauberspiel  treibt,  die  Gegenstände  vorzustellen,  die  man 
nicht  erhalten  kann.  Das  wäre  die  Pflicht  gegen  uns  selbst  in  An- 
sehung der  Imagination.  In  Ansehung  der  Sinne  überhaupt,  weil  sie 
den  Verstand  übertölpeln  und  auch  denselben  überlisten,  so  können  35 
wir  nicht  anders,  als  daß  wir  sie  wieder  überlisten,  wenn  wir  dem 
Gemüth  statt  des  Unterhalts,  den  die  Sinne  darbieten,  einen  andern  zu 
verschaffen  suchen,  und  es  durch  Idealische  Vergnügungen,  wozu  alle 
schöne  Wissenschaften  gehören,  zu  beschäftigen  suchen.  Die  Beziehung 


Moralphilosophie  Collins  365 

des  Witzes  in  Ansehung  der  Moralität  gehört  nicht  zu  den  PfHchten 
gegen  uns  selbst. 

Der  Autor  rechnet  zu  den  PfHchten  gegen  sich  selbst  die  Beobach- 
tung seiner  selbst.  Diese  muß  aber  nicht  im  Belauschen  seiner  selbst 

5  bestehn,  sondern  man  muß  sich  selbst  /  durch  Handlungen  beobachten  321 
und  auf  seine  Handlungen  attendiren.  Die  Bemühung  uns  selbst  zu 
kennen  und  zu  wissen,  ob  wir  gut  oder  böse  sind,  müssen  wir  im  Leben 
exerciren,  und  unsere  Handlungen  betrachten,  ob  sie  gut  oder  böse 
sind.  Das  erste  ist  hier:  Sucht  euch  im  Leben  durch  Handlungen  gut 

10  und  thätig  zu  beweisen,  nicht  durch  Stoßgebete,  sondern  durch  Aus- 
übung guter  Handhingen,  durch  Ordentlichkeit  und  Arbeit,  insonder- 
heit durch  Rechtschaffenheit  und  thätiges  Wohlverhalten  gegen  den 
Nächsten,  denn  kann  man  sehen,  ob  man  gut  ist.  Eben  so  wenig  wie 
man  einen  Freund  durch  Unterredungen  kennen  lernt,  sondern  da- 

15  durch,  daß  man  sich  in  Geschäften  mit  ihm  einläßt,  eben  so  wenig 
ist  es  auch  leicht,  sich  selbst  zu  kennen  aus  seiner  Meinung,  die  man 
gegen  sich  selbst  hat,  und  überhaupt  ist  es  nicht  so  leicht  sich  /  selbst  332 
zu  kennen.  So  wissen  viele  nicht,  daß  sie  herzhaft  sind,  als  bis  sie  es 
bey  einer  Gelegenheit  durch  die  That  erfahren.  So  hat  oft  ein  Mensch 

20 eine  Gesinnung  wozu;  er  weiß  aber  nicht,  ob  er  sie  auch  alsdenn 
wirklich  ausüben  könnte,  z.  E.  es  denkt  jemand  oft,  wenn  du  in  der 
Lotterie  ein  großes  Loos  gewinnen  wirst,  so  wilst  du  diese  oder  jene 
grosmüthige  Handlung  ausüben,  wenn  es  aber  so  weit  kommt,  so 
wird  nichts  daraus.  So  geht  es  auch  mit  dem  Uebelthäter  der  den  Todt 

25  für  den  Augen  sieht.  Er  hat  alsdenn  die  ehrlichste  und  redlichste  Ge- 
sinnung, sie  kann  denn  auch  wohl  redlich  seyn,  aber  er  kennt  sich  selbst 
nicht;  er  weiß  nicht,  ob  er  sie  ausüben  möchte,  wenn  er  davon  befreyt 
würde.  Er  kann  sich  in  diesem  Zustande  das  nicht  vorstellen,  allein  würde 
dieser  hernach  vom  Tode  befreyt,  so  würde  er  eben  ein  solcher  Spitz- 

3obube  bleiben,  der  /  er  war.  Er  kann  sich  zwar  ändern,  aber  nicht  auf  333 
einniahl.  Also  muß  sich  der  Mensch  immer  nach  und  nach  kennen 
lernen. 

Anjezt  wollen  wir  zu  dem  gehn  was  der  Avtocratie  mehr  und  mehr 
näher  kömmt;  dazu  gehört  die  suspensio  iudicii.  In  diesem  Urtheil 

35  müssen  wir  so  viel  Avtocratie  haben,  daß  wir  es  aufschieben  können 
wenn  wir  wollen,  und  nicht  durch  gute  Persvasions  Gründe  bewogen 
werden  unser  Urtheil  zu  eröffnen.  Das  Aufschieben  des  Urtheils  zeigt 
große  Stärke  der  Seele  an,  das  Urtheil  mag  seyn  wie  es  will,  z.  E.  sein 
Urtheil  in  der  Wahl,  in  der  Entschließung  bis  zur  Ueberzeugung  auf- 


366  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

schieben,  zeigt  eine  Stärke  der  Seele  an,  z.  B.  wenn  ich  einen  Brief 
bekomme  und  derselbe  hat  auf  der  Stelle  einen  Zorn  in  mir  erweckt :  / 
384  antworte  ich  auf  der  Stelle,  so  lasse  ich  meinen  Zorn  sehr  merken ;  kann 
ich  es  aber  bis  auf  den  folgenden  Tag  aufschieben,  so  werd  ich  densel- 
ben aus  einem  andern  Gesichtspunkte  ansehn.  Die  suspensio  judicii  ist  5 
also  ein  großer  Artilcel  der  Avtokratie. 

In  Ansehung  der  Thätigkeit  beweißt  man  die  Avtocratie,  wenn 
man  sein  Gemüth  unter  der  Beschwerlichkeit  der  Arbeit  thätig  und 
wirksam  erhält,  wenn  es  bey  aller  Arbeit  dennoch  vergnügt  ist,  wenn 
es  satisfaction  mit  sich  selbst  hat,  wenn  es  sich  bewußt  ist,  daß  es  lo 
Stärke  genug  fühle,  solche  Arbeit  ohne  Verdruß  auszuführen,  und  wenn 
es  Kraft  hat,  die  Ungemächlich keit  der  Arbeit  zu  überwinden.  Also 
muß  man  den  Vorsatz  haben,  fest  darauf  zu  beharren,  was  man  sich 

325  vorgenommen  und  es  unerachtet  der  /  Persvasion  des  Aufschubs  zu 
verrichten.  Die  Gegenwart  des  Geistes  gehört  zur  Avtocratie.  Die  15 
Gegenwart  des  Geistes  ist  die  Vereinigung  und  Harmonie  der  Ge- 
müthslo-äfte,  die  sich  bey  der  Vollziehung  des  Geschäfts  zeigen.  Dieses 
ist  zwar  nicht  jedermanns  Ding,  sondern  es  beruhet  auf  dem  Talent. 
Es  kann  aber  doch  durch  Uebung  gestärkt  werden.  Jezt  wollen  wir  die 
Pflichten  in  Ansehung  seiner  selbst,  in  Ansehung  des  Vergnügens,  der  20 
Lust  und  Unlust,  des  Wohlgefallens  und  Mißfallens  nehmen.  Das 
Uebel  ist  das  Gegentheil  des  Wohlbefindens ;  das  Böse  aber  das  Gegen- 
theil  des  Wohl  Verhaltens.  Das  Böse  entspringt  aus  der  Freyheit  und 
daher  kömmt  auch  gänzlich  das  Uebel,  aber  auch  von  der  Natur.  In 

326  Ansehung  des  Urtheils  in  der  Welt  soll  der  Mensch  /  eine  gesetzte,  25 
gleichmüthige  und  standhafte  Seele  beweisen;  aber  in  Ansehung  des 
Bösen  ist  es  anders  bewandt,  da  geht  es  nicht  an,  daß  der  Mensch  darin 
eine  gesetzte  und  gleichmüthige  Seele  beweisen  kann,  denn  das  erhöht 
noch  mehr  seine  Bosheit,  das  ist  ein  Zustand  einer  ruchlosen  Seele  und 
einer  verruchten  Gemüthsart.  Das  Böse  der  Handlung  muß  so  viel-  30 
mehr  mit  dem  Bewußtseyn  des  Schmerzes  der  Seele  begleitet  seyn. 
Allein  die  gesetzte  und  fröhliche  Seele  bey  den  Übeln  und  Unglücks- 
fällen erhöht  den  Werth  des  Menschen.  Es  ist  wider  die  Würde  des 
Menschen  der  Gewalt  der  physischen  Uebel  zu  unterliegen,  und  vom 
Spiel  des  zufälligen  abzuhängen.  Er  hat  ein  Vermögen  des  Gemüths  in  36 
sich,  allen  Uebeln  zu  widerstehen.  Die  Gründe,  diese  standhafte  Seele 
zu  cultiviren,  sind,  daß  man  den  falschen  Schein  der  in  den  vermeinten 

33T  Gütern  /  des  Lebens  und  in  dem  vermeinten  Glück  liegt,  zu  benehmen 
sucht.  Die  größte  Ursache  des  Glücks  oder  Unglücks,  des  Wohl-  und 


Moralphilosophie  Collins  367 

Uebelbefindens,  des  Wohl-  oder  Mißfallens  liegt  in  dem  Verhältniß  mit 
andern  Menschen.  Denn  wenn  alle  zusammen  in  der  Stadt  sclilechten 
Käse  essen,  so  esse  ich  ihn  auch  mit  Vergnügen  und  mit  heiterer  Seele, 
allein,  wenn  alle  im  Wohlleben  wären  und  ich  allein  in  schlechten  Um- 

5  ständen,  so  würde  ichs  für  ein  Unglück  halten.  Es  hängt  also  alles 
Glück  oder  Unglück  von  uns  ab,  und  von  der  Art  wie  unser  Gemüth 
dasselbe  aufnimmt.  Betrachten  wir  das  Glück  dieses  Lebens,  welches 
nur  in  dem  W^ahne  besteht,  und  wo  ofte  der  Bettler  an  der  Thür  glück- 
licher ist  als  der  König  auf  dem  Thron;  erwegen  wir  die  Nichtigkeit 

10  dieses  Glücks  aus  der  Kürze  des  Lebens,  sehn  wir  darauf,  wie  ein 
großes  Unglück,  für  welchem  jedermann  schaudert,  so  erträglich  ist, 
wenn  man  sich  schon  darin  befindet ;  betrachten  /  wir,  daß  wir  keine  328 
Ansprüche  aufs  Glück  machen  können,  und  daß  wir  uns  nur  deswegen 
unglückhch  schätzen,  weil  wir  vorher  jederzeit  glücklich  waren,  und 

16  dadurch  nur  verzärtelt  sind,  und  also  jezt  jede  Verminderung  des 
Glücks  als  ein  neues  Unglück  ansehn,  so  sehen  wir,  daß  wir  vieles  mit 
Großmuth  entbehren  können  und  bey  allen  Uebeln  dennoch  eine 
tugendhafte  und  fröhliche  Seele  zeigen  können.  Weil  wir  hier  auf  kein 
beßeres  Glück  Anspruch  machen  können,  indem  uns  Gott  hier  auf  den 

20  Schauplatz  der  Erde  gesetzt  hat,  wo  er  uns  alle  Materialien  zum  Wohl- 
befinden gegeben  hat,  und  uns  auch  mit  Freiheit  versehn,  solche  nach 
unserm  Gefallen  zu  gebrauchen  und  es  hier  also  nur  darauf  ankommt, 
wie  sich  die  Menschen  mit  den  Glücksgütern  theilen.  Wenn  es  die 
Menschen  unter  sich  verderben,  so  laßt  uns  die  Güter  des  Lebens 

25  nehmen,  so  wie  wir  sie  bekommen  haben  und  mit  der  /  allgemeinen  329 
Weisheit  und  Fürsorge  Gottes  zufrieden  seyn,  und  gar  kein  Elend  und 
Unglück  auf  uns  sitzen  lassen.  Derjenige,  der  im  Elende  ist,  aber  mit 
gesetzter  und  fröhlicher  Seele  sein  Elend  trägt,  der  sich  daraus  nichts 
macht,  weil  es  einmahl  schon  da  ist  und  nicht  zu  ändern  ist,  der  ist 

30 nicht  elend;  der  aber  elend  zu  seyn  glaubt,  der  ist  elend.  Derjenige 
der  sich  unglücklich  schätzt,  ist  auch  boshaft,  denn  er  meidet  das 
Glück  des  andern.  So  sagte  ein  boshafter  Lord:  Gott  haße  den  Un- 
glücklichen, denn  sonst  würde  er  ihn  im  Unglücke  nicht  sitzen  lassen, 
und  wir  befördern  den  Zweck  Gottes,  wenn  wir  einen  Unglücklichen  noch 

35  unglücklicher  zu  machen  suchen ;  allein  wenn  wir  diesem  boshaften 
Gedanken  eine  andre  Wendung  geben,  so  können  wir  sagen,  daß  der- 
jenige, der  sich  unglücklich  schätzt,  gehaßt  zu  werden  verdient;  wer 
aber  /  in  seinem  Unglücke  noch  immer  eine  heitre  und  standhafte  330 
Seele  zeigt,  wer  einen  gesetzten  Muth  behält,  wenn  er  auch  alles 


368  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

verlohren  hat,  der  hat  doch  in  sich  das,  was  einen  Werth  in  sich 
hält,  und  ein  solcher  verdient  eher  Mitleiden.  Um  die  Seele  von  der 
Bosheit  des  Neides  frey  zu  halten,  so  müßen  wir  jedes  Unglück  zu 
ertragen  suchen  und  weil  es  schon  einmal  da  ist,  den  Vortheil,  der 
im.mer  bey  dem  Unglücke  ist,  davon  ziehen.  Es  steht  bey  uns,  uns  in  5 
eine  gewiße  Laune  zu  versetzen,  welches  eine  willkührliche  ange- 
nommene Disposition  ist,  nach  welcher  wir  die  Welt  und  ihre  Schick- 
sale betrachten,  und  nach  welcher  wir  das  Urtheil  über  die  Welt  und 
ihre  Schicksale  ergehn  lassen. 

Was  die  Direction  des  Gemüths  in  Ansehung  der  Affecten  und  10 
Leidenschaften  betrifft,  so  unterscheiden  wir  hier  die  Empfindungen 

331  und  Neigungen  von  den  /  Affecten  und  Leidenschaften,  Es  kann  einer 
etwas  empfinden  und  Neigung  wozu  haben,  ohne  dabey  Affect  und 
Leidenschaft  zu  haben.  Wenn  die  Empfindungen  und  Leidenschaften 
so  mit  der  Vernunft  verbunden  sind,  daß  ihre  Seele  mit  der  Vernunft  15 
übereinstimmt,  so  können  sie  mit  den  Pflichten  gegen  uns  zusammen 
stimmen.  Zur  Pflicht  gegen  uns  und  zur  Würde  der  Menschheit  wird 
erfordert,  daß  der  Mensch  gar  keine  Affecten  und  Leidenschaften  habe ; 
dieses  ist  die  Regel,  ob  es  gleich  eine  andre  Sache  ist,  ob  es  denn 
Menschen  wirklich  so  weit  bringen  können.  Der  Mensch  soll  in  seiner  20 
Arbeit  wacker,  ordentlich  und  standhaft  seyn,  und  sich  hüten  in  die 
Fieberhitze  der  Leidenschaften  zu  verfallen;  denn  der  Zustand  des 
Menschen  in  Leidenschaft  ist  immer  ein  wahnsinniger,  denn  ist  seine 

333  Neigung  blind  und  das  kann  mit  der  Würde  der  /  Menschheit  nicht 
übereinstimmen.  Demnach  müssen  wir  nichts  zur  Leidenschaft  25 
kommen  lassen,  und  die  Forderung  der  Stoiker  war  hier  recht.  Die 
devote  Leidenschaft  ist  die  gottloseste,  denn  da  denkt  man  unter  dem 
Mantel  der  Gottseeligkeit  alles  begehn  zu  können.  Der  Schluß  hieraus 
ist,  daß  wir  die  Avtocratie  des  Gemüths  auf  alle  Kräfte  der  Seele  als 
die  vornehmste  Bedingung  der  Beobachtung  der  Pflichten  gegen  uns  30 
selbst  halten.  Unsere  Maximen  müssen  wohl  überlegt  seyn,  und  es  ist 
ärger  böses  zu  thun  aus  Maximen  als  aus  Neigung.  Aber  gutes  muß 
man  aus  Maximen  thun.  Der  Autor  redet  noch  vom  Siege  über  sich 
selbst.  Allein,  wenn  sich  der  Mensch  so  gut  regieret,  daß  er  alle  Empö- 
rung des  Pöbels  in  seiner  Seele  verhütet  und  Friede  darinne  erhält  35 

333  (der  Friede  in  der  Seele  ist  hier  aber  nicht  die  Zufriedenheit  /  mit 
allem,  sondern  die  gute  Herrschaft  und  Einigkeit  in  der  Seele),  wenn 
er  nun  ein  solches  gutes  Regiment  in  sich  selbst  führt,  alsdenn  wird 
kein  Krieg  bey  ihm  entstehn,  und  wo  kein  Krieg  ist,  da  ist  auch  kein 


Moralphilosophie  Collins  369 

Sieg  nöthig.  Es  ist  also  weit  besser,  wenn  der  Mensch  sich  so  regieret, 
daß  er  keinen  Sieg  über  sich  zu  erhalten  bedarf. 

Von    den    Pflichten   gegen   den   Körper   in    Ansehung   des 

Lebens. 
5  Hier  kommt  die  Befugniß  vor,  die  wir  haben,  über  unser  Leben  zu 
disponiren,  und  ob  wir  diese  Befugniß  haben  ?  Auf  der  andern  Seite 
die  Befugniß  für  unser  Leben  Sorge  zu  tragen.  Vorläufig  merken  wir: 
Wenn  der  Körper  zufälliger  Weise  zum  Leben  gehörte,  nicht  als  eine 
Bedingung,  sondern  zum  Zustand  des  Lebens,  so  daß  wir  den  Körper 

10  ablegen  /  könnten,  wenn  wir  wollten;  wenn  wir  so  aus  dem  Körper  3$4 
ausschlüpfen  könnten,  und  in  einen  andern  eingehn,  so  Avie  in  ein 
Land,  denn  könnten  wir  über  den  Körper  disponiren,  denn  würde  er 
unsrer  frej^en  Willkühr  unterworfen  seyn,  allein,  denn  würden  wir 
nicht  disponiren  über  unser  Leben,  sondern  nur  über  unsern  Zustand, 

15  über  die  beweglichen  Güter,  über  die  Mobilien,  die  zum  Leben  gehörten. 
Nun  ist  aber  der  Körper  die  gänzliche  Bedingung  des  Lebens,  so  daß 
wir  keinen  andren  Begriff  von  unserm  Leben  haben,  als  vermittelst 
unsers  Körpers,  und  da  der  Gebrauch  unsrer  Freiheit  nur  durch  den 
Körper  möglich  ist,  so  sehn  wir,  daß  der  Körper  einen  Theil  unsrer 

20  selbst  ausmacht.  So  ferne  also  jemand  seinen  Körper  zerstört,  und  sich 
hiedurch  das  Leben  nimmt,  so  hat  er  seine  Willl^ühr  gebraucht,  / 
die  Macht  seiner  Willkühr  selbst  zu  zerstören,  alsdenn  aber  wieder-  335 
streitet  sich  die  freye  Willkühr  selbst.  Wenn  die  Freiheit  die  Bedin- 
gung des  Lebens  ist,  so  kann  sie  nicht  dazu  dienen,  das  Leben  auf- 

25  zuheben,  denn  sonst  zerstört  und  hebt  sie  sich  selbst  auf ;  denn  braucht 
der  Mensch  das  Leben,  um  das  Leben  aufzuheben.  Das  Leben  soll 
gebraucht  werden,  um  die  Leblosigkeit  hervorzubringen,  welches  sich 
aber  widerstreitet.  Vorläufig  sehn  wir  schon,  daß  der  Mensch  nicht 
über  sich  selbst  und  sein  Leben  disponiren  kann,  wohl  aber  über  seinen 

30  Zustand.  Vermittelst  des  Körpers  hat  der  Mensch  Macht  an  seinem 
Leben;  wäre  er  ein  Geist,  so  könnte  er  sein  Leben  nicht  zernichten; 
weil  die  Natur  in  das  absolute  Leben  eine  Unzerstörlichkeit  gelegt  hat, 
so  folgt,  daß  man  darüber  als  über  den  Zweck  nicht  disponiren  kann. 

Vom  Selbstmord. 
35      Der  Selbstmord  kann  auf  allerley  Seiten  erwogen  werden,  auf  der  / 
tadelhaften,  erlaubten,  ja  wohl  heroischen  Seite.  Der  Selbstmord  hat  336 
erstlich  eine  scheinbare  Seite  der  Zuläßigkeit  und  Erlaubtheit.  Die 

24     Kant's  Schriften  XXVII/1 


370  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

Vertheidiger  desselben  sagen:  der  Mensch  disponirt  frey,  zwar  ohne 
Verletzung  des  Rechts  des  andern,  über  die  Güter  der  Erde.  Was  seinen 
Körper  betrifft,  so  kann  er  in  Ansehung  dessen  in  vielen  Stücken 
disponiren.  Er  kann  sich  z.  E.  ein  Geschwür  öffnen  lassen,  eine  Narbe 
nicht  achten,  ein  Glied  abnehmen  etc.,  es  steht  ihm  also  frey,  in  An-  5 
sehung  des  Körpers  das  vorzunehmen,  was  ihm  rathsam  und  zuträglich 
ist,  soll  er  denn  nicht  auch  befugt  sein,  sich  das  Leben  zu  nehmen, 
wenn  er  siehet,  daß  dieses  am  zuträglichsten  und  rathsamsten  für  ihn 
ist  ?  Wenn  er  siehet,  daß  er  nunmehro  auf  keine  Weise  leben  kann, 

331  wenn  er  dadurch  so  vielen  Qualen,  Unglück  /  und  Scham  entgehn  lo 
kann  ?  Und  obgleich  dieses  eine  Beraubung  des  völligen  Lebens  ist, 
so  entgeht  man  doch  dadurch  auf  einmahl  allem  Unheü ;  dieses  scheint 
sehr  einnehmend  zu  seyn.  Wir  wollen  auf  der  andern  Seite  die  Handlung 
nur  an  sich,  und  nicht  von  der  Religions-Seite  betrachten.  So  lange 
wir  die  Absicht  haben,  uns  selbst  zu  erhalten,  so  können  wir  unter  i5 
dieser  Bedingung  über  unsern  Körper  disponiren.  So  kann  sich  z.  E. 
einer  den  Fuß  abnehmen  lassen,  so  ferne  er  ihn  am  Leben  hindert. 
Also  zur  Erhaltung  der  Person  haben  wir  die  Disposition  über  unsern 
Körper;  der  sich  aber  das  Leben  raubt,  erhält  seine  Person  nicht 
dadurch;  denn  disponirt  er  über  seine  Person,  aber  nicht  über  seinen  20 
Zustand,  denn  raubt  er  sich  die  selbst.  Dieses  ist  der  obersten  Pflicht  / 

338  gegen  sich  selbst  zu  wider,  denn  dadurch  wird  die  Bedingung  aller 
übrigen  Pflichten  aufgehoben.  Dies  geht  über  alle  Schranken  des 
Gebrauchs  der  f reyen  Wülkühr,  denn  der  Gebrauch  der  f reyen  Willkühr 
ist  nur  dadurch  möglich,  daß  das  subject  ist.  25 

Ferner  hat  der  Selbstmord  dadurch  eine  scheinbare  Seite,  wenn 
nämlich  die  Verlängerung  des  Lebens  auf  solchen  Umständen  beruht, 
die  den  Werth  des  Lebens  aufheben  können,  wo  man  nicht  mein*  der 
Tugend  und  Klugheit  gemäß  leben  kann,  und  also  dem  Leben  einen 
Abschnitt  machen  muß,  aus  edlem  Bewegungs- Grunde.  Die  von  dieser  30 
Seite  den  Selbstmord  vertheidigen,  führen  das  Bey spiel  des  Cato  an, 
der  sich  selbst  tötete,  nachdem  er  einsah,  daß  es  nicht  möglich  wäre 
den  Händen  des  Cäsars  zu  entgehn,  auf  den  aber  das  ganze  Volk  sich 

33» noch  stützte;  so  bald  er  aber  /  als  der  Verfechter  der  Freiheit  sich 
unterworfen  hätte,  so  hätten  die  andern  gedacht,  wenn  sich  Cato  35 
unterwirft,  was  soUen  wir  machen?  Wenn  er  sich  aber  tötete,  so 
könnten  doch  noch  die  Römer  ihre  letzten  Kräfte  zur  Vertheidigung 
ihrer  Freiheit  aufopfern,  was  sollte  nun  Cato  machen  ?  Es  scheint  also, 
daß  er  seinen  Tod  als  nothwendig  einsähe ;  er  dachte :  da  du  nicht  mehr 


Moralphilosophie  Collins  371 

als  Cato  leben  kannst,  so  kannst  du  gar  nicht  mehr  leben.  Man  muß 
bey  diesem  Bey spiel  freylich  gestehn,  daß  in  solchem  Fall,  wo  der 
Selbstmord  eine  Tugend  ist,  er  einen  großen  Schein  vor  sich  hat. 
Dieses  ist  auch  das  einzige  Beyspiel,  was  der  Welt  Gelegenheit  gab, 
5  den  Selbstmord  zu  vertheidigen.  Allein  es  ist  auch  nur  das  einzige  Bey- 
spiel in  seiner  Art.  Es  hat  manche  solche  ähnliche  Fälle  gegeben. 
Lucretia  ermordete  sich  auch  selbst,  aber  aus  Schamhaftigkeit  und 
Wuth  der  Rache.  Freylich  /  ist  es  eine  Pflicht,  seine  Ehre  zu  er-  340 
halten,  besonders  beim  2ten  Geschlecht,  bey  dem  es  ein  Verdienst  ist; 

10  aber  man  soll  seine  Ehre  nur  in  so  weit  zu  retten  suchen,  daß  man  sich 
nicht  aus  eigennützigen,  wollüstigen  Absichten  Preiß  giebt,  aber  nicht 
in  solchem  Fall  wie  hier,  denn  das  lag  nicht  an  ihr.  Sie  sollte  sich  also 
lieber  zur  Vertheidigung  ihrer  Ehre  solange  gewehrt  haben,  bis  sie 
wäre  umgebracht  worden,  denn  hätte  sie  Recht  gethan  und  denn  wäre 

15  es  auch  kein  Selbstmord.  Denn  sein  Leben  gegen  seine  Feinde  zu 
wagen,  und  die  Pflicht  gegen  sich  selbst  zu  beobachten,  und  auch  sein 
Leben  aufzuopfern,  ist  kein  Selbstmord.  Zum  Selbstmord  kann  mich 
keiner  unter  der  Sonne,  kein  Landesherr  verpflichten.  Der  Lan- 
desherr kann  zwar  seine  Unterthanen  verpflichten,  ihr  Leben  gegen  den 

20  Feind  fürs  Vaterland  zu  wagen,  und  wenn  /  man  da  auch  umkommt,  34i 
so  ists  kein  Selbstmord,  sondern  das  hängt  vom  Schicksal  ab.  So  ist  im 
Gegentheil  das  wieder  keine  Erhaltung  des  Lebens,  wenn  man  sich  vor 
dem  Tode,  den  das  Schicksal  schon  nothwendig  drohet,  fürchtet,  und 
feigen  Herzens  ist.  Wer  da  entflieht,  um  sein  Leben  vor  dem  Feinde  zu 

25 retten,  und  läßt  alle  die  Seinigen  im  Stich,  der  ist  ein  Feiger;  ver- 
theidigt  er  aber  sich  und  die  seinigen  bis  auf  den  Tod,  denn  ist  er  kein 
Selbstmörder,  sondern  das  ist  nobel  und  edel  gedacht ;  denn  das  Leben 
ist  an  und  für  sich  selbst  auf  keine  Weise  hoch  zu  schätzen,  sondern 
nur  in  sofern  muß  ich  mein  Leben  zu  erhalten  suchen,  als  ich  werth  bin 

30  zu  leben.  Es  muß  ein  Unterschied  gemacht  werden  zwischen  einem 
Selbstmörder  und  zwischen  einem,  der  sein  Leben  durch  das  Schicksal 
verlohren  hat.  Wer  sein  Leben  durch  /  Unmäßigkeit  verkürzt,  der  ist  348 
zwar  durch  seine  Unvorsichtigkeit  Schuld  daran,  sein  Tod  kann  ihm 
also  indirecte  imputirt  werden,  aber  nicht  directe.  Er  intendirte  doch 

35  nicht  sich  zu  töten.  Es  ist  kein  vorsetzlicher  Tod.  Denn  alle  unsere 
Vergehungen  sind  entweder  culpa  oder  dolus.  Obgleich  nun  hier  kein 
dolus  ist,  so  ist  doch  culpa.  Zu  dem  kann  man  sagen:  du  bist  selbst 
Schuld  an  deinem  Tode,  aber  nicht:  du  bist  ein  Selbstmörder.  Die 
Intention  sich  selbst  zu  destruiren  macht  den  Selbstmord  aus.  Ich 

24* 


372  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

muß  also  nicht  die  Unmäßigkeit,  die  die  Ursache  der  Verkürzung  des 
Lebens  ist,  zum  Selbstmord  machen,  denn  wenn  ich  die  Unmäßigkeit 
zum  Selbstmord  erhöhe,  so  wird  dadurch  wieder  der  Selbstmord 
erniedriget  und  zur  Unmäßigkeit  gemacht.  Es  ist  also  ein  Unterschied 

343  zwischen  der  Unvorsichtigkeit,  wobey  noch  /  ein  Wunsch  zum  Leben  5 
übrig  bleibt,  und  der  Absicht  sich  selbst  zu  ermorden.  Die  höchsten 
Verletzungen  der  Pflichten  gegen  uns  selbst  bringen  entweder  Abscheu 
mit  Grausen  hervor,  und  von  dieser  Art  ist  der  Selbstmord,  oder  Ab- 
scheu mit  Ekel,  und  von  der  Art  sind  die  Crimina  carnis.  Der  Selbst- 
mord hat  einen  Abscheu  mit  Grausen,  denn  jede  Natur  sucht  sich  lo 
selbst  zu  erhalten.  Ein  verletzter  Baum,  ein  lebendiger  Körper,  ein 
Thier ;  und  nun  soU  beym  Menschen  die  Freyheit,  die  der  höchste  Grad 
des  Lebens  ist,  und  den  Werth  desselben  ausmacht,  ein  principium 
sein,  sich  selbst  zu  zerstören  ?  Dieses  ist  das  erschrecklichste,  was  sich 
denken  läßt.  Denn  wer  es  schon  so  weit  gebracht  hat,  daß  er  jedesmal  i5 
ein  Meister  über  sein  Leben  ist,  der  ist  auch  Meister  über  jedes  andern 

344  sein  Leben,  dem  stehet  die  Thüre  zu  allen  Lastern  /  offen,  und  ehe 
man  ihn  habhaft  werden  kann,  ist  er  bereit,  sich  aus  der  Welt  wegzu- 
stehlen. Es  erweckt  also  der  Selbstmord  ein  Grausen,  indem  der 
Mensch  sich  dadurch  unter  das  Vieh  setzt.  Wir  sehen  einen  Selbst-  20 
mörder  als  ein  Aas  an;  der  durch  die  Schicksale  umkommt,  mit  dem 
hat  man  Mitleiden.  Die  Vertheidiger  des  Selbstmordes  suchen  die 
Frej^heit  des  Menschen  aufs  höchste  zu  treiben,  welches  schmeichelhaft 
ist,  und  machet,  daß  Personen  im  Stande  sind,  sich  das  Leben  zu 
nehmen,  wenn  sie  wollen.  Daher  auch  wohlgesinnete  Personen  in  25 
dieser  Rücksicht  denselben  vertheidigen.  Da  das  Leben  unter  vielen 
Bedingungen  aufzuopfern  ist,  (wenn  ich  mein  Leben  nicht  anders 
erhalten  kann,  als  durch  Verletzung  der  Pflichten  gegen  mich  selbst, 
so  bin  ich  verbunden,  dasselbe  eher  aufzuopfern,  als  daß  ich  die  Pflicht 

345  gegen  mich  selbst  verletzen  soll),  so  ist  auf  der  andern  Seite  /  der  so 
Selbstmord  unter  keiner  Bedingung  erlaubt,  Der  Mensch  hat  eine 
Unverlezlichkeit  in  seiner  Person ;  es  ist  was  heiliges,  was  uns  anvertraut 
ist.  Dem  Menschen  ist  alles  unterworfen,  nur  sich  selbst  muß  er  sich 
nicht  selbst  entreissen.  Ein  Wesen,  was  durch  seine  Nothwendigkeit 
da  wäre,  könnte  sich  unmöglich  selbst  destruiren ;  ein  Wesen,  was  nicht  35 
noth wendig  da  ist,  siebet  sein  Leben  als  die  Bedingung  von  allem  an. 
Er  siehet,  daß  das  Leben  ihm  anvertraut  ist,  er  fühlet  es,  kehret  ers 
nun  wider  sich  selbst,  so  scheint  es,  als  wenn  er  zurück  bebte,  so  ferne 
er  dieses  Heiügthum,  was  ihm  anvertrauet  ist,  antastet.  Das  worüber 


Moralphilosophie  Collins  373 

ein  Mensch  disponiren  kann,  muß  eine  Sache  sein.  Die  Thiere  werden 
hier  auch  als  Sachen  angesehn ;  der  Mensch  aber  ist  keine  Sache ;  dispo- 
nirt  er  demohngeachtet  über  sein  Leben,  so  versetzt  er  sich  also  in  den 
Werth  des  Viehes.  Wer  sich  aber  als  so  etwas  nimmt,  der  die  Mensch- 
5  heit  /  nicht  respectirt,  der  sich  zur  Sache  macht,  der  wird  ein  Object  346 
der  freyen  Willkühr  für  jedermann;  mit  dem  kann  hernach  ein  jeder 
machen  was  er  will ;  er  kann  von  andern  als  ein  Thier,  als  eine  Sache 
behandelt  werden ;  man  kann  sich  an  ihm  exerciren  so  wie  an  einem 
Pferde  oder  Hunde ;  denn  er  ist  kein  Mensch  mehr ;  er  hat  sich  selbst 

10  zur  Sache  gemacht,  demnach  kann  er  nicht  fordern,  daß  andre  seine 
Menschheit  in  ihm  respectiren  sollen,  da  er  sie  selbst  schon  wegge- 
worfen hat.  Die  Menschheit  ist  aber  achtungs werth,  und  wenn  auch 
der  Mensch  ein  schlechter  Mensch  ist,  so  ist  doch  die  Menschheit  in 
seiner  Person  achtungs  werth.  Der  Selbstmord  ist  nicht  deswegen  ab- 

15  scheulich  und  unerlaubt,  weil  das  Leben  ein  solches  Gut  ist,  denn  als- 
denn  kommt  es  nur  auf  einen  jeden  an,  ob  er  es  für  ein  hohes  Gut  hält. 
Nach  der  Regel  der  Klugheit  wäre  es  oft  das  beste  Mittel,  sich  selbst 
aus  dem  Wege  zu  räumen,  /  aber,  nach  der  Regel  der  Sittlichkeit  ist  es  34T 
unter  keiner  Bedingung  erlaubt,  weil  es  die  Destruction  der  Mensch- 

20  heit  ist,  da  die  Menschheit  unter  die  Thierheit  gesetzt  wird.  Sonst  ist 
in  der  Welt  vieles  weit  höher  als  das  Leben.  Die  Beobachtung  der 
Moralität  ist  weit  höher.  Es  ist  besser  das  Leben  aufzuopfern  als  die 
Moralität  zu  verlieren.  Es  ist  nicht  nöthig  zu  leben,  aber  das  ist 
nöthig,  daß  man  so  lange  als  man  lebet,  ehrenwerth  lebe;  wer  aber 

25  nicht  mehr  ehrenwerth  leben  kann,  der  ist  gar  nicht  mehr  werth  zu 
leben.  Es  läßt  sich  aber  jederzeit  so  lange  leben,  als  man  die  Pflichten 
gegen  sich  selbst  beobachten  kann,  ohne  Gewalt  über  sich  selbst  zu 
brauchen.  Derjenige  aber,  der  bereit  ist,  sich  das  Leben  zu  nehmen, 
ist  nicht  mehr  werth  zu  leben.  Der  pragmatische  Bewegungsgrund  zu 

30  leben  ist  die  Glückseeligkeit.  Kann  ich  mir  wohl  /  deswegen  das  Leben  348 
nehmen,  weil  ich  nicht  glücklich  leben  kann  ?  Nein,  das  ist  nicht 
nöthig,  daß  ich  so  lange  ich  lebe,  glücklich  lebe;  aber  das  ist  nöthig, 
daß  ich  so  lange  ich  lebe,  ehrenwerth  lebe.  Das  Elend  berechtigt  keinen 
Menschen,  sich  das  Leben  zu  nehmen.  Denn,  Avären  wir  befugt,  uns  aus 

35  Mangel  des  Vergnügens  das  Leben  zu  nehmen,  so  möchten  alle  unsere 
Pflichten  gegen  uns  selbst  auf  das  Vergnügen  des  Lebens  abzielen; 
nun  aber  erfordert  die  Erfüllung  der  Pflichten  gegen  sich  selbst  Auf- 
opferung des  Lebens.  Ist  bey  dem  Selbstmord  heroismus  und  Freiheit 
anzutreffen  ?  Es  ist  nicht  gut,  wenn  man  auch  aus  guter  Absicht 


374  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

sophisterey  ausübt.  Es  ist  auch  nicht  gut,  die  Tugend  und  Laster  aus 
sophisterey  zu  vertheidigen.  Es  schmähen  auch  wohldenkende  Per- 

349  sonen  auf  den  Selbstmord,  aber  nicht  mit  Gründen.  Sie  sagen,  /  es  ist 
eine  große  Feigheit  darinne ;  allein  es  giebt  auch  Selbstmörder,  wobey 
ein  großer  heroismus  ist,  z.  E.  Cato,  Atticus  etc.  Solchen  Selbstmords 
kann  ich  nicht  feighaft  nennen.  Zorn,  Affect  und  Wahnsinn  ist 
mehrentheils  die  Ursache  des  Selbstmordes,  daher  Personen  die  von 
demselben  aus  der  Hälfte  errettet  worden,  für  sich  selbst  erschrecken, 
und  es  nicht  zum  andern  mahle  wagen.  Es  ist  ein  Zeitalter  bey  den 
Kömern  und  Griechen  gewesen,  wo  der  Selbstmord  Ehre  brachte,  lo 
daher  auch  die  Römer  ihren  Sklaven  verbothen  sich  selbst  umzu- 
bringen, weil  sie  nicht  sich  selbst,  sondern  ihren  Herren  zugehörten, 
also  als  eine  Sache  angesehn  wurden,  so  wie  jedes  andre  Thier.  Der 
Stoiker  sagte :  Der  Selbstmord  sey  ein  sanfter  Tod  des  Weisen,  er  gehet 
aus  der  Welt,  wie  aus  einer  Stube,  die  da  raucht,  in  eine  andre,  weil  es  15 

350  ihm  darin  nicht  mehr  gefällt.  /  Er  gehet  aus  der  Welt,  nicht  weil  er 
keine  Glückseeligkeit  darin  hat,  sondern  weil  er  sie  verachtet.  Es  ist 
schon  vorher  berührt,  daß  es  dem  Menschen  sehr  schmeichelhaft  ist, 
die  Freyheit  zu  haben,  sich  selbst  aus  der  Welt  wegzuschaffen,  wenn  er 
wolle.  Ja,  es  scheint  auch  was  moralisches  darinne  zu  seyn,  denn  ein  20 
solcher,  der  die  Macht  hat,  aus  der  Welt  zu  gehn,  wenn  er  will,  darf 
keinem  unterworfen  seyn,  sich  durch  nichts  binden  lassen,  dem  größ- 
ten Tyrann  die  größten  Wahrheiten  sagen,  indem  ihn  derselbe  durch 
keine  Marter  zwingen  kann,  weil  er  sich  geschwinde  aus  der  Welt 
expediren  kann ;  so  wie  ein  freyer  Mensch  aus  dem  Staate  gehn  kann,  25 
wenn  er  will.  Allein,  dieser  Schein  wird  gehoben,  wenn  die  Freyheit 
nicht  durch  eine  unwandelbare  Bedingung  bestehn  kann,  die  sich 

351  unter  keinen  Umständen  ändern  kann.  /  Diese  Bedingung  ist,  daß  ich 
meine  Freyheit  nicht  wider  mich  selbst  zu  meiner  destruction  ge- 
brauche, sondern  daß  ich  meine  Freyheit  durch  nichts  äußeres  ein-  so 
schränken  lasse.  Dieses  ist  die  edle  Freyheit.  Ich  muß  mich  durch  kein 
Schicksal  und  Unglück  abschrecken  lassen  zu  leben,  sondern  solange 
leben  als  ich  ein  Mensch  bin  und  ehrenwerth  leben  kann.  Das  Klagen 
über  Schicksal  und  Unglück  entehrt  den  Menschen.  Wenn  Cato  unter 
allen  den  Martern,  die  ihm  Caesar  hätte  anthun  lassen,  dennoch  mit  35 
standhafter  Seele  bey  seinem  Entschluss  festgeblieben  wäre,  so  wäre 
das  edel,  aber  nicht,  wenn  er  Hand  an  sich  legte.  Die  Vertheidiger  und 
Lehrer  der  Befugniß  des  Selbstmordes  sind  einer  Republik  nothwendig 
sehr  nachtheilig.  Man  stehe  sich  vor,  daß  es  eine  allgemeine  Gesinnung 


Moralphilosophie  Collins  375 

wäre,  die  die  Menschen  hegten,  es  sey  eine  Befugniß,  ja  ein  Verdienst 
oder  Ehre,  sich  selbst  zu  ermorden,  /  so  wären  solche  Menschen  für  35« 
jedermann  erschrecklich;  denn  der  sein  Leben  so  gar  nach  Grund- 
sätzen nicht  achtet,  den  kann  gar  nichts  von  dem  erschrecklichsten 
5  Laster  zurückhalten ;  er  scheuet  keinen  König  und  keine  Marter.  Aller 
Schein  verliert  sich  aber,  wenn  man  den  Selbstmord  in  Ansehung 
der  Religion  erweget.  Wir  sind  in  diese  Welt  zu  gewissen  Bestim- 
mungen und  Absichten  gesetzt;  ein  Selbstmörder  aber  \Wderstreitet 
dem  Zweck  seines  Schöpfers.  Er  kommt  in  jener  Welt  an,  als  ein 

10  solcher,  der  seinen  Posten  verlassen  hat.  Er  ist  also  als  ein  Rebell  wider 
Gott  anzusehn. 

So  lange  wir  diese  Wahrheit  anerkennen,  daß  die  Erhaltung  unsers 
Lebens  zu  den  Absichten  Gottes  gehöre,  sind  wir  verpflichtet  unsre 
freye  Handlungen  denselben  gemäß  einzurichten.  Wir  haben  weder 

15  Fug  noch  Recht,  den  Erhaltungskräften  unsrer  Natur  Gewalt  anzu- 
thun  und  die  Weisheit  in  ihren  Verrichtungen  zu  stören.  Diese  Schul- 
digkeit liegt  uns  so  lange  ob,  bis  Gott  uns  den  ausdrücklichen  Befehl 
giebt,  diese  Welt  zu  verlassen. 

/  Die  Menschen  sind  hier  wie  die  Schüdwachen  ausgestellt,  und  wir  353 

20  müssen  also  unsern  Posten  nicht  verlassen,  bis  wir  von  einer  andern 
wohlthätigen  Hand  abgelöset  werden.  Er  ist  unser  Eigenthums-Herr, 
wir  sind  sein  Eigenthum,  und  seine  Vorsehung  besorgt  unser  bestes. 
Ein  Leibeigener,  der  unter  der  Vorsorge  eines  gütigen  Herren  steht, 
handelt  sträflich,  wenn  er  sich  den  Absichten  desselben  widersetzt. 

25  Der  Selbstmord  ist  aber  unerlaubt  und  abscheulich,  nicht  deswegen, 
weil  ihn  Gott  verboten  hat,  sondern  Gott  hat  ihn  verboten,  weil  er 
abscheulich  ist.  Also  muß  von  allen  Moralisten  die  innere  Abscheu- 
lichkeit des  Selbstmordes  zuerst  gezeigt  werden.  Der  Selbstmord 
findet  sich  gemeiniglich  bey  denen,  die  über  die  Glückseeligkeit  des 

30  Lebens  gekünstelt  haben.  Denn  hat  jemand  die  Künsteley  der  Ver- 
gnügen geschmeckt,  und  kann  sie  nicht  immer  besitzen,  so  versetzt 
er  sich  in  Gram  Kummer  und  Schwermuth. 

Von  der  Sorge  für  sein  Leben. 

Was  die  Pflicht  in  Ansehung  unseres  Lebens  betrifft,  für  dasselbe  Sor- 

35  ge  zu  tragen,  so  merken  wir :  das  Leben  an  und  vor  sich  selbst  ist  nicht 

das  höchste  Gut,  was  uns  anvertraut  ist,  und  wofür  wir  /  Sorge  tragen  354 

sollen.  Es  giebt  Pflichten,  die  weit  höher  sind  als  das  Leben,  und  die 

oft  mit  Aufopferung  des  Lebens  müssen  ausgeübt  werden.  Aus  der 


376  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

Beobachtung  der  Erfahrung  sieht  man,  daß  ein  Nichtswürdiger  melir 
sein  Leben  schätzt,  als  seine  Person.  Wer  also  keinen  Innern  Werth 
hat,  sezt  auf  sein  Leben  einen  großen  Werth,  wer  aber  mehr  inneren 
Werth  hat,  setzt  auf  sein  Leben  einen  weit  Ideinern  Werth.  Ein 
Mensch  von  innerm  Werthe  wird  lieber  sein  Leben  aufopfern,  als  daß  5 
er  eine  niederträchtige  Handlung  begehn  sollte;  er  zieht  also  den 
Werth  seiner  Person  seinem  Leben  vor ;  der  aber  keinen  Innern  Werth 
hat,  begeht  lieber  eine  niederträchtige  Handlung,  als  daß  er  sein 
Leben  aufopfert;  denn  er  hält  zwar  sein  Leben  werth,  aber  er  ist  nicht 
mehr  werth  zu  leben,  weil  er  die  Menschheit  und  die  Würde  derselben  10 

355  in  seiner  Person  entehrt  hat.  Wie  hängt  das  aber  zusammen,  /  daß  der 
sein  Leben  gering  schätzt,  der  einen  Werth  in  seiner  Person  hat?  Hier 
steckt  etwas  verborgenes,  ob  es  gleich  Mar  genug  ist,  daß  es  sich  so 
verhält.  Der  Mensch  sieht  das  Leben,  was  in  der  Verbindung  der  Seele 
mit  dem  Körper  besteht,  als  zufällig  an ;  wie  es  denn  auch  wirklich  ist.  15 
Das  freyhandelnde  principium  in  ihm  ist  aber  von  der  Art,  daß  das 
Leben,  welches  in  der  Verbindung  der  Seele  mit  dem  Körper  besteht, 
Idein  geachtet  wird.  Wenn  demnach  einige  Personen  unschuldiger 
Weise  wegen  einer  Verrätherey  angeklagt  wären,  unter  denen  aber 
wirklich  etliche  ehrenwerthe  Personen  wären,  aber  auch  einige  Nieder-  20 
trächtige,  die  keinen  Innern  Werth  hätten,  wenn  allen  diesen  zusam- 
men die  Strafe  dictiret  wäre  zu  sterben,  oder  auch  zeitlebens  an  der 
Karre  zu  seyn,  und  ein  jeder  sollte  sich  von  diesen  Strafen  wählen 
welche  er  wollte,  so  ists  ganz  gewiß,  daß  die  ehrenwerthe  Personen  den 

356  Tod,  die  nichtswürdigen  aber  die  Karre  wählen  würden.  Der  /  einen  25 
Innern  Werth  hat,  scheut  den  Tod  nicht,  er  stirbt  lieber,  als  daß  er  ein 
Gegenstand  der  Schande  sey  und  unter  andern  Spitzbuben  an  der 
Karre  leben  sollte.  Der  Nichtswürdige  gehet  aber  lieber  an  die  Karre, 
beinahe  als  wenn  er  schon  dahin  gehörte.  Es  giebt  also  Pflichten,  unter 
denen  das  Leben  weit  unten  an  steht,  und  um  diese  zu  erfüllen,  müssen  30 
wir  keine  Feigheit  in  Ansehung  unsers  Lebens  blicken  lassen.  Die 
Feigheit  des  Menschen  entehrt  die  Menschheit ;  die  Hochschätzung  des 
physischen  Lebens  ist  sehr  feighaft.  Der  Mensch  der  bey  einer  jeden 
Gelegenheit  wegen  einer  Kleinigkeit  sehr  bange  um  sein  Leben  thut, 
kommt  jedem  sehr  lächerlich  vor.  Man  muß  seinen  Tod  standhaft  er-  35 
warten.    Das   hat   einen   kleinen   Werth,    dessen   Verachtung   einen 

35r  großen  Werth  hat.  Auf  der  andern  /  Seite  sollten  wir  aber  unser 
Leben  nicht  wagen  und  aus  bloßem  Intereße  und  privat  Absichten 
aufs  Spiel  setzen,  alsdenn  handelt  man  nicht  allein  unklug,  sondern 


Moralphilosophie  Collins  377 

auch  niederträchtig,  z.  E.  wenn  man  wetten  wollte,  auf  wie  viel  Geld 
über  ein  Wasser  zu  schwimmen.  Wir  sind  wegen  keines  Gutes  der  Welt 
schuldig  unser  Leben  zu  wagen,  nicht  aus  Freyheit,  sondern  aus  Pflicht. 
Allein,  es  giebt  doch  solche  Zustände,  wo  man  sein  Leben  aus  Intereße 
5  wagt,  z.  E.  der  Soldaten -Stand  im  Kriege.  Das  ist  aber  keine  privat 
Absicht  sondern  ein  allgemeines  Wohl.  Weil  nun  schon  einmal  die 
Menschen  so  beschaffen  sind,  daß  sie  Kriege  führen,  so  finden  sich  auch 
Menschen,  die  sich  dazu  widmen.  Die  Frage  ist  sehr  subtil,  in  wiefern 
wir  unser  Leben  zu  schätzen  und  in  wie  fern  wir  es  zu  wagen  haben  ? 

10  Der  HauptpunJvt  ist  dieser :  Die  Menschheit  in  unsrer  Person  ist  ein 
Gegenstand  der  höchsten  Achtung  und  /  in  uns  unverletzlich.  In  den  358 
Fällen  wo  der  Mensch  dadurch  entehrt  wird,  da  ist  der  Mensch  ver- 
bunden, lieber  sein  Leben  aufzuopfern  als  seine  Menschheit  in  seiner 
Person  zu  entehren.  Denn  ehrt  er  seine  Menschheit  in  seiner  Person, 

15  wenn  sie  von  andern  soll  entehrt  werden.  Kann  der  Mensch  sein  Leben 
nicht  anders  erhalten  als  durch  Entehrung  seiner  Menschheit,  so  soll 
er  es  lieber  aufopfern.  Denn  setzt  er  zwar  thierisches  Leben  in  Gefahr, 
allein  er  füiilt  doch,  daß  er  so  lange  er  gelebet,  ehrenwerth  gelebt  hat. 
Es  liegt  nicht  daran,  daß  der  Mensch  lange  lebe  (denn  der  Mensch  ver- 

20  liert  nicht  durch  den  Zufall  sein  Leben,  sondern  nur  die  Verlängerung 
der  Jahre  seines  Lebens,  das  Urtheil  ist  ihm  schon  von  der  Natur 
gesprochen,  einmal  zu  sterben),  sondern  daß  er  so  lang  er  lebt,  ehren- 
werth lebe,  und  die  Würde  /  der  Menschheit  nicht  entehre.  Kann  er  359 
nun  länger  nicht  so  leben,  so  kann  er  gar  nicht  leben;  denn  ist  sein 

25  moralisch  Leben  zum  Ende.  Das  moralische  Leben  ist  aber  denn  zum 
Ende,  wenn  es  mit  der  Würde  der  Menschheit  nicht  mehr  überein- 
stimmt. Dieses  moralische  Leben  ist  durch  seine  Uebel  und  Marter 
determinirt.  Ich  kann  unter  aUen  Martern  dennoch  moralisch  leben. 
Ich  muß  lieber  alle  Marter,  ja  selbst  den  Tod  ausstehn,  ehe  ich  eine 

30  niederträchtige  Handlung  begehe.  In  dem  Zeitpunlit,  wo  ich  nicht 
mehr  mit  Ehren  leben  kann,  sondern  durch  eine  solche  Handlung  des 
Lebens  unwürdig  werde,  denn  kann  ich  gar  nicht  leben.  Es  ist  also 
weit  besser,  mit  Ehren  und  Ruhm  zu  sterben,  als  sein  Leben  auf  einige 
Jahre  durch  eine   niederträchtige   Handlung  zu  verlängern.   Wenn 

35  nun  z.  E.  eine  Person  ihr  Leben  nicht  länger  anders  erhalten  kann, 
als  durch  Preisgebung  /  ihrer  Person  in  den  Willen  eines  andern,  so  ist  360 
sie  verbunden  lieber  ihr  Leben  aufzuopfern,  als  die  Würde  der  Mensch- 
heit in  ihrer  Person  zu  entehren,  welches  sie  dadurch  thut,  daß  sie  sich 
als  eine  Sache  der  Wlllkühr  eines  andern  ergiebt. 


378  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

Es  ist  also  die  Erhaltung  des  Lebens  nicht  die  höchste  Pflicht 
sondern  man  muß  oft  das  Leben  aufgeben,  um  nur  ehrenwerth  gelebt 
zu  haben. 

Solche  Fälle  giebt  es  viele,  und  obgleich  die  Juristen  sagen,  daß  die 
Erhaltung  des  Lebens  die  höchste  Pflicht  ist,  und  daß  man  in  casu  5 
neceßitatis  verbunden  sey,  für  sein  Leben  zu  stehen,  so  gehört  die 
Sache  gar  nicht  vor  die  Jurisprudence,  die  soll  nur  die  schuldigen 
Pflichten  gegen  andre  entscheiden,  was  Recht  und  Unrecht  ist;  aber 
nicht  die  Pflichten  gegen  sich  selbst,  und  sie  können  auch  keinen 
361  Menschen  zwingen,  daß  er  in  solchem  Fall  sein  Leben  /  aufgeben  soll,  lo 
denn  wodurch  wollen  sie  ihn  zwingen  ?  Dadurch,  daß  sie  ihm  sein 
Leben  nehmen  ?  Die  Juristen  müssen  die  Erhaltung  des  Lebens  als  die 
größte  Pflicht  ansehn,  weil  sie  nur  durch  Androhung  der  Beraubung 
des  Lebens  einen  am  meisten  prüfen  können.  Und  über  dem  so  giebt  es 
keinen  andern  casum  neceßitatis,  allwo  mich  die  Sittlichkeit  von  der  i5 
Fürsorge  für  mein  Leben  losspricht,  alle  Noth,  Gefahr  und  Marter  ist 
kein  casus  neceßitatis  mein  Leben  zu  erhalten ;  denn  die  Noth  kann  die 
Sittlichkeit  nicht  aufheben .  Wenn  ich  also  mein  Leben  nur  durch  Nieder- 
trächtigkeit erhalten  kann,  so  spricht  mich  die  Tugend  von  der  Pflicht 
mein  Leben  zu  erhalten  los,  weil  hier  eine  höhere  Pflicht  gebietet  und  20 
mir  das  Urtheil  fället. 


363 /Von    den    Pflichten    in    Ansehung    des    Körpers    selbst. 

Unser  Körper  gehört  zu  unserm  selbst,  und  zu  den  allgemeinen 
Gesetzen  der  Freyheit,  nach  denen  uns  die  Pflichten  zukommen.  Der 
Körper  ist  uns  anvertraut,  und  unsre  Pflicht  in  Ansehung  desselben  25 
ist,  daß  das  menschliche  Gemüth  den  Körper  erstlich  disciplinire,  und 
denn  Sorge  für  ihn  tragen  soll. 

Der  Körper  muß  erstlich  disciplinirt  werden ;  denn  es  sind  im  Körper 
principia,  wodurch  das  Gemüth  afficirt  wird,  wodurch  der  Körper  den 
Zustand  des  Gemüths  verändert.  Das  Gemüth  muß  also  dafür  sorgen,  30 
daß  es  eine  Avtocratie  über  den  Körper  habe,  damit  der  Körper  den 
Zustand  des  Gemüths  nicht  ändern  kann.  Das  Gemüth  muß  also  die 
363  Obergewalt  über  den  Körper  erhalten,  daß  es  ihn  /  nach  moralischen 
und  pragmatischen  principiis  und  maximen  dirigiren  kann.  Hiezu 
wird  eine  disciplin  erfordert.  Diese  Disciplin  ist  mu"  negative,  das  35 
Gemüth  muß  nur  verliindern,  daß  der  Körper  dasselbe  nicht  wozu 
neceßitiren  kann;  daß  er  das  Gemüth  nicht  afficiren  soll,  kann  wohl 


Moralphilosophie  Collins  379 

nicht  gehindert  werden.  Es  beruht  vieles  auf  dem  Körper,  in  Ansehung 
unseres  Erkenntniß« Vermögens,  des  Vermögens  der  Lust  und  Unlust 
und  der  Begierden.  Wenn  das  Gemüth  nicht  gehörige  Herrschaft  über 
den  Körper  hat,  so  werden  die  Gewohnheiten  die  man  dem  Körper 
5  erlaubt,  zu  Nothwendigkeiten,  und  wenn  das  Gemüth  den  Hang  des 
Körpers  nicht  unterdrückt,  so  entspringt  daraus  die  Ueberwiegung 
des  Körpers  über  das  Gemüth.  Diese  Oberherrschaft  des  /  Gemüths  se-i 
über  den  Körper,  oder  die  Oberherrschaft  der  Intellectualitaet  über  die 
sensualitaet  können  wir  recht  gut  vergleichen  mit  einer  Republic, 

10  in  der  entweder  eine  gute  oder  schlechte  Oberherrschaft  ist.  Die 
Disciplin  kann  2fach  seyn,  insoferne  der  Körper  gestärkt  oder  ge- 
schwächt werden  soll.  Viele  schwermerische  Moralisten  glauben,  sich 
durch  die  Schwäche  und  Benehmung  aller  Sinnlichkeit  des  Körpers 
alles,  was  sein  sinnliches  Vergnügen  befördere,  zu  versagen,  damit  da- 

15  durch  das  thierische  des  Körpers  unterdrückt  würde,  und  das  geistige 
Leben,  welches  sie  dereinst  zu  erlangen  hoffen,  schon  hier  anticipirt 
würde,  und  der  Körper  demselben  durch  eine  allmähliche  Ablegung 
aller  Sinnlichkeit  immer  näher  käme.  Man  kann  solche  Uebungen 
nennen  die  Tötung  des  Fleisches,  welcher  Ausdruck  zwar  bey  den  / 

20  Heyden  unbekannt  war ;  solche  Uebungen  nannten  sie  aber  exercitia  ses 
coelestica,  wo  sie  sich  bemühten,  sich  von  den  Banden  des  Körpers  zu 
befreyen.  Alle  solche  Uebungen  aber,  wozu  z.  E.  Fasten,  Casteyungen 
gehören,  sind  schwermerisch  und  Mönchstugenden,  die  nur  den  Körper 
abmergeln.  Die  Vollkommenheit  der  Disciplin  des  Körpers  besteht 

25  darin,  daß  der  Mensch  seiner  Bestimmung  gemäß  leben  kann.  Der 
Körper  muß  zwar  der  Disciplin  unterworfen  seyn,  aber  er  muß  nicht 
von  Menschen  zerstöhrt,  und  seine  Kräfte  müßen  nicht  verletzt  wer- 
den. Zu  der  Disciplin  wird  also  gehören,  daß  der  Körper  des  Menschen 
gestärkt  werde,   welches  durch  alle  nützliche  Abhärtung  geschehn 

30  kann,  wo  der  Körper  zwar  versorgt,  aber  nicht  verwöhnt  M'ird.  Wir 
müssen  also  von  den  Vergnügungen  des  Körpers  nichts  /  einnisten  366 
lassen,  sondern  ihn  so  einzurichten  suchen,  daß  er  im  Stande  ist, 
ausser  der  Bedürfniß  alles  zu  entbehren,  mit  schlechter  Kost  vorlieb 
zu  nehmen,  alle  Strapatzen  und  Unglücksfälle  mit  Munterkeit  zu  er- 

35  tragen.  Der  Mensch  fühlt  sein  Leben  mehr,  je  weniger  er  bedarf,  seine 
Lebenskraft  zu  erhalten.  Wir  müßen  unsern  Körper  so  abhärten  wie 
Diogenes,  der  als  ein  Sklave  nichts  gelernt  hatte,  als  zu  resigniren, 
der  die  Kinder  seines  Herren  erzogen,  die  gegen  alle  Ungemächlich- 
keiten  des  Lebens  abgehärtet,  dabey  aber  von  muntrer  und  heitrer 


380  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

Seele  waren,  und  das  principium  der  Rechtschaffenheit  besaßen.  So 
wie  auch  die  Glückseeligkeit  des  Diogenes,  wie  zu  Anfange  gesagt  ist, 
nicht  im  Ueberfluß,  sondern  im  Mangel,  in  der  Entbehrung  der  Glücks- 
güter bestand. 

367  /  Da  wir  auf  der  einen  Seite  den  Körper  discipliniren  können  und  5 
sollen,  so  haben  wir  auf  der  andern  Seite  eine  Pflicht,  Vorsorge  für  den 
Körper  zu  tragen.  Dazu  gehört,  daß  wir  die  Lebhaftigkeit,  Thätigkeit, 
Stärke,  und  den  Muth  desselben  zu  befördern  suchen.  In  Ansehung  der 
Disciplin  des  Körpers  haben  wir  folgende  2  Pflichten  zu  beobachten, 
die  Mäßigkeit  in  Ansehung  der  Ergötzliclilceiten  des  Körpers  und  die  lo 
Genügsamlieit  in  Ansehung  der  würklichen  Bedürfniße  desselben. 
Die  Bedürfnisse  können  dem  Körper  nicht  versagt  werden,  allein  es  ist 
besser,  daß  der  Mensch  innerhalb  diesen  Schranken  bleibe,  als  daß  er 
sie  überschreite,  daß  er  lieber  dem  Körper  von  seinen  Bedürfnissen 
etwas  versage,  als  daß  er  darin  zu  weit  gehe;  denn  die  Weichlichkeit  15 
macht  ein  Unvermögen  aus.  In  Ansehung  der  Mäßigkeit  giebt  es  2erley 

368  Abwege,  die  Gefräßigkeit  /  im  Essen,  und  die  Versoffenheit  im  Trinken. 
Das  Uebermaas  im  Trinken  geht  nicht  auf  die  Quantität  (es  wird  jemand 
niemals  Lüsternheit  haben,  viel  Wasser  zu  trinken),  sondern  auf  die 
Delicateße  und  Qualität  des  Getränks ;  aber  im  Essen  kann  der  Mensch  20 
auch  durch  schlechte  Kost  verleitet  werden,  viel  zu  essen.  Beide  Abwege 
der  Mäßigkeit  sind  Verletzungen  der  Pflichten  gegen  sich  selbst ;  durch 
beyde  entehrt  sich  der  Mensch,  weil  beydes  viehisch  ist;  denn  einige 
Laster  der  Menschen  sind  menschliche ,  die  mit  seiner  Natur  zusammen- 
stimmen, ob  sie  gleich  auch  Laster  sind,  z.  E.  die  Lügen;  einige  aber  25 
sind  so,  daß  sie  außerhalb  der  Menschheit  sind;  sie  lassen  sich  gar 
nicht  mit  der  Natur  und  dem  Character  des  Menschen  zusammen- 
reimen. Von  solchen  Lastern  sind  2erley  Arten,  die  viehische  und 
teufelische  Laster.  Durch  die  viehische  Laster  setzt  sich  der  Mensch  / 

369  unter  das  Vieh,  und  die  teuflische  sind  ein  Grad  der  Bosheit,  die  weit  so 
über  die  Bosheit  des  Menschen  geht  und  wozu  wir  folgende  3  rechnen : 
Neid,  Undankbahrkeit  und  Schadenfreude.  Zu  den  viehischen  rech- 
nen wir  diese :  Fräßigkeit,  Versoffenheit  und  die  crimina  contra  natu- 
ram.  Alle  viehische  Laster  sind  Gegenstände  der  größten  Verachtung, 
die  teuflischen  aber  sind  Gegenstände  des  größten  Haßes.  Welches  35 
unter  diesen  beyden  viehischen  Lastern,  Gefräßigkeit  und  Versoffen- 
heit, ist  verächtlicher  und  niedriger  ?  Der  Hang  zum  Trunk  ist  nicht 
so  niedrig  als  die  Gefräßigkeit;  denn  der  Trunk  ist  ein  Mittel  der 
Geselligkeit  und  Gesprächigkeit  und  befördert  die  Begeisterung  des 


Moralphilosophie  Collins  381 

Menschen,  und  in  so  fern  hat  er  eine  Entschuldigung;  wenn  aber  der 
Trunk  über  diesen  Grad  steigt,  so  wird  er  ein  Laster  der  Versoffenheit. 
In  so  fern  sich  also  die  Versoffenheit  auf  den  Trunk  der  Geselligkeit 
gründet,  so  bleibt  /  es  zwar  immer  ein  viehisches  Laster,  aber  doch  3T0 
5  nicht  so  verächtlich  als  Gefräßigkeit,  die  noch  weit  niedriger  ist,  weil 
durch  Gefräßigkeit  weder  die  Geselligkeit  noch  die  Belebung  des 
Körpers  befriedigt  wird,  sondern  bloß  das  thierische  sich  zeigt.  Der 
Trunk  und  die  Versoffenheit  in  der  Einsamkeit  ist  eben  so  schimpflich ; 
denn  da  fällt  die  Ursache  weg,  die  sie  über  die  Gefräßigkeit  ein  wenig 
10  erhob. 


Von  den  Pflichten  des  Lebens  in  Ansehung  des 
Zustandes. 

Der  Mensch  fühlt  sein  Leben  durch  Handlung  und  nicht  durch 
Genuß.  Je  mehr  wir  beschäftiget  sind,  je  mehr  wir  fühlen,  daß  wir  leben, 

15  desto  mehr  sind  wir  uns  unsres  Lebens  bewußt.  In  der  Muße  fühlen 
wir  nicht  allein,  daß  uns  das  Leben  so  vorbeystreicht,  sondern  wir 
fühlen  auch  so  gar  eine  Leblosigkeit  der  Thätigkeit;  sie  gehört  also 
nicht  zum  Unterhalt  unsers  Lebens.  Der  Genuß  des  Lebens  füllt/ 
die  Zeit  nicht  aus,  sondern  läßt  sie  leer.  Vor  einer  leeren  Zeit  hat  aber  3Ti 

20  das  menschliche  Gemüth  Abscheu,  Unmuth  und  Ekel.  Die  gegen- 
wärtige Zeit  kann  uns  zwar  scheinen  ausgefüllt  zu  seyn,  aber  in  der 
Erinnerung  kommt  sie  uns  doch  leer  vor;  denn  wenn  sie  ausgefüllt 
wird  mit  Spiel  etc.,  so  scheint  sie  zwar  so  lange  voll  zu  seyn,  so  lange 
sie  gegenwärtig  ist ;  aber  in  der  Erinnerung  ist  sie  leer ;  denn  wenn  man 

25  in  seinem  Leben  nichts  gethan  hat,  sondern  die  Zeit  nur  so  verschleu- 
dert, und  man  siehet  auf  seine  Lebenszeit  zurück,  so  weiß  man  nicht, 
wie  sie  so  geschwinde  zu  Ende  gebracht  ist,  weil  man  darin  nichts 
gethan  hat.  Die  Zeit  wird  aber  nur  ausgefüllt  mit  Handlungen; 
wir  fühlen  nur  unser  Leben  in  Beschäftigungen,  im  Genuß  fühlen  wir 

30  unser  Leben  nicht  genugsam,  denn  das  Leben  ist  das  Vermögen  /  der  $T2 
Selbstthätigkeit  und  das  Gefühl  aller  Kräfte  des  Menschen.  Jemehr 
wir  aber  unsre  Kräfte  fühlen,  desto  mehr  fühlen  wir  unser  Leben. 
Empfindung  ist  nur  die  Kraft,  die  Eindrüke  wahrzunehmen,  da  ist 
man  nur  paßiv,  und  so  weit  nur  activ,  als  man  darauf  Acht  hat. 

35  Je  mehr  aber  ein  Mensch  gehandelt  hat,  desto  melu"  fühlt  er  sein  Leben, 
desto  mehr  kann  er  sich  seines  Lebens  erinnern,  weil  er  darin  viel 
gethan  hat,  und  desto  mehr  ist  er  seines  Lebens  satt,  wenn  er  stirbt. 


382  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

Seines  Lebens  satt  seyn  ist  aber  nicht,  desselben  überdrüßig  seyn. 
Der  bloße  Genuß  macht  einen  des  Lebens  überdrüßig;  aber  lebens- 
satt sterben  kann  man  nur  denn,  wenn  man  es  mit  Handlungen  und 
Beschäftigungen  ausgefüllt  hat  und  es  recht  angewendet,  so,  daß  es 

313  einem  nicht  leid  thut,  daß  man  gelebt  hat.  Man  /  stirbt  des  Lebens  5 
satt,  wenn  man,  so  lange  man  gelebt  hat,  viel  gehandelt  und  ausgeübt 
hat  und  sein  Leben  recht  genutzt  hat.  Der  wird  des  Lebens  über- 
drüßig, der  nichts  gethan  hat,  dem  kommt  es  vor,  als  wenn  er  gar 
nicht  gelebet  hätte,  sondern  erst  anfangen  woUte  zu  leben.  Dahero 
müßen  wir  unsre  Zeit  mit  Handlungen  ausfüllen ;  denn  werden  wir  uns  lo 
nicht  beschweren  über  die  Länge  der  Zeit ;  im  Ganzen  genommen  auch 
nicht  über  die  Kürze  der  Zeit,  wenn  man  auf  sie  zurücksieht.  Denn 
über  die  Länge  der  Zeit  klagen  alle  Leute,  die  nichts  thun.  Jeder  Ab- 
schnitt der  Zeit  wird  ihnen  zu  lange,  indem  sie  nichts  darin  zu  thun 
haben,  und  wenn  sie  sich  wieder  zm"ück  erinnern,  wissen  sie  nicht,  i5 
wo  die  Zeit  geblieben  ist.  Der  Mensch  aber,  der  beschäftigt  ist,  bey 

314  dem  ist  es  umgekehrt,  dem  wird  jeder  Theil  /  der  Zeit  zu  kurz,  er  weiß 
nicht,  wo  die  Zeit  bleibt  unter  seiner  Beschäftigung,  die  Stunden 
schlagen  ihm  immer  zu  geschwinde ;  wenn  er  sich  aber  herumsieht,  so 
sieht  er,  wie  viel  er  schon  in  der  Zeit  gethan  habe.  Der  Mensch  muß  20 
also  seine  Lebenski'aft,  das  heißt  die  Thätigkeit,  durch  viel  Uebung 
erhalten.  Der  Werth  des  Menschen  beruht  auf  dem  Maaß  dessen,  was 
wir  thun.  Alle  Müßigkeit  ist  demnach  eine  Veränderung  des  Grades 
des  Lebens.  Dieses  ist  die  Bedingung  aller  Pflichten,  daß  wir  in  uns 
einen  Trieb  zur  Thätigkeit  zu  erhalten  suchen,  denn  sonst  sind  alle  25 
Moralische  Vorschriften  umsonst;  denn,  hat  der  Mensch  keinen  Trieb 
zur  Thätigkeit,  so  wird  er  sich  auch  nicht  einmahl  Mühe  geben,  einen 
Anfang  darin  zu  machen.  Der  Mensch  muß  also  thätig  und  wacker 
seyn,  das  heißt :  auch  zu  schweren  Beschäftigungen  entschlossen  und 
rüstig  seyn.  30 

315  /Alle  Beschäftigung  ist  entweder  Spiel  oder  Geschäfte.  Nun  ist  es 
besser,  wenn  man  eine  Beschäftigung  hat.  Lieber  Beschäftigungen  des 
Spiels  als  gar  keine  haben,  denn  dadurch  unterhält  man  doch  wenig- 
stens die  Thätigkeit.  Ist  man  aber  ganz  unbeschäftigt,  so  verliert  man 
etwas  von  der  Lebenslo-aft,  und  deim  wird  man  immer  träger,  und  es  35 
ist  hernach  schwerer,  das  Gemüth  in  die  vorige  Thätigkeit  zu  bringen. 
Der  Mensch  kann  nicht  leben  ohne  Beschäftigung,  und  wenn  er  sich 
sein  Brot  verdient,  so  ißt  er  es  vergnügter,  als  wenn  es  ihm  zugeschnit- 
ten wird.  So  geht  der  Kaufmann  gerne  aufs  Concert  oder  in  Gesell- 


Moralphilosophie  Collins  383 

Schaft,  wenn  der  Posttag  vorbey  ist,  und  ist  vergnügter,  als  wenn 
keiner  gewesen  wäre.  Wenn  der  Mensch  viel  gethan  hat,  so  ist  er  nach 
der  Arbeit  vergnügter,  als  wenn  er  gar  nichts  gethan  hat ;  denn  durch 
die  Arbeit  hat  er  seine  Kräfte  in  Bewegung  /  gebracht,  er  fühlt  sie  37« 
5  daher  desto  besser,  und  denn  ist  auch  das  Gemüth  belebter,  Ver- 
gnügungen zu  genießen.  Wer  aber  nichts  gethan  hat,  der  fühlt  sein 
Leben  und  seine  Ivräfte  nicht,  und  ist  denn  auch  nicht  zum  Vergnügen 
aufgelegt. 

Ruhe  ist  von  der  Muße  unterschieden.  Sein  Leben  in  Ruhe  zu 
10  bringen,  geht  wohl  an,  wenn  es  am  Schluß  eines  würksamen  Lebens 
ist.  Man  kann  zwar  von  der  allgemeinen  Beschäftigung  der  Welt  oder 
des  gemeinen  Wesens  ruhn,  indem  man  die  Stelle  in  der  Welt  nieder- 
gelegt hat;  allein  man  kann  doch  noch  vor  sich  im  Privat-Leben 
beschäftiget  seyn.  Diese  Ruhe  des  Alters  ist  keine  Läßigkeit,  sondern 
15  eine  Erholung  nach  der  Beschäftigung. 

Um  also  in  der  Ruhe  zu  seyn,  muß  man  beschäftiget  gewesen  seyn; 
denn  wer  nichts  gethan  hat,  kann  nicht  ruhen.  Die  Ruhe  läßt  sich  nur 
recht  genießen  nach  der  Beschäftigung.  /  W^er  recht  viel  gethan  hat,  3Ti 
der  wird  die  Nacht  gut  schlafen  können ;  wer  aber  nichts  gethan  hat, 
20  dem  ist  die  Ruhe  nicht  so  angenehm. 


Etwas  von  der  Zeitverkürzung. 

Es  giebt  viele  Ausdrücke  und  Mittel  die  Zeit  zu  verkürzen,  in  der 
der  Mensch  ist,  z.  E.  wer  nach  der  Uhr  siehet,  dem  wird  die  Zeit  lang. 
Wer  aber  was  zu  thun  hat,  der  wird  die  Zeit  nicht  gewahr,  und  desto 

25  kürzer  kommt  sie  ihm  vor.  Wenn  wir  unsre  Aufmerksamkeit  auf 
Gegenstände  richten,  so  werden  wir  die  Zeit  nicht  gewahr,  und  denn 
ist  sie  uns  kurz,  so  bald  wir  aber  auf  die  Ausmessung  der  Zeit  denken 
und  sie  beobachten,  so  ist  sie  uns  leer.  Unser  Leben  ist  also  länger, 
jemehr  es  angefüllt  ist.  Beobachtung.  Alle  Meilen  an  der  Haupt- 

30 Stadt  scheinen  kleiner  zu  sein,  und  weiter  davon  länger;  denn  der  da 
reiset,  und  nichts  darin  /  siehet,  dem  kommt  die  Meile  lang  vor,  wenn  3T8 
er  sie  fährt;  hat  er  sie  aber  zurückgelegt,  und  besinnt  sich  darauf, 
so  kommt  sie  ihm  kurz  vor,  weil  er  in  dem  Raum  nichts  hat,  worauf  er 
sich  besinnen  kann,  indem  er  nichts  wahrgenommen  hat;  nun  ist  nahe 

35  an  der  Hauptstadt  mehr  zu  sehn  imd  wahrzunehmen  als  weit  davon. 


384  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

Von    den    Pflichten   gegen   den   Körper   in    Ansehung   der 
Geschlechts -Neigung. 

Der  Mensch  hat  eine  Neigung  die  gerichtet  ist  auf  andre  Menschen, 
nicht,  so  ferne  er  die  Arbeit  und  die  Umstände  anderer  genießen  kann, 
sondern  unmittelbar  auf  andre  Menschen  als  Objecte  seines  Genußes.  s 
Der  Mensch  hat  zwar  keine  Neygung  des  andern  Menschen  sein  Fleisch 
zu  genießen,  und  wo  das  ist,  da  ist  es  mehr  eine  Kriegesrache  als  eine 
Neygung;  aber  es  bleibt  eine  Neygung  beim  Menschen,  die  Appetit 

379  heißen  kann,  und  auf  den  Genuß  des  andern  /  Menschen  gehet.  Dieses 
ist  die  Geschlechts  Neygung.  Der  Mensch  kann  sich  zwar  des  andern  lo 
bedienen  als  eines  Instruments  zu  seinem  Dienste;  er  kann  seine 
Hände,  seine  Füße  zu  seinem  Dienste  brauchen,  aber  mit  seiner  freyen 
Willkühr.  Aber  wir  finden  gar  nicht,  daß  der  Mensch  ein  Objekt  des 
Genußes  eines  andern  sein  kann  als  durch  die  Geschlechts-Neygung. 
Da  liegt  eine  Art  von  Sinn  zum  Grunde  den  man  den  sechsten  Sinn  i5 
nennen  kann,  vermittelst  dessen  der  Mensch  ein  Genuß  vom  Appetit 
des  andern  ist.  Man  sagt:  der  Mensch  liebt  die  Person,  sofern  er  die 
Neygung  zu  ihr  hat.  Wenn  wir  diese  Liebe  als  Menschenliebe  betrach- 
ten, wenn  er  die  Person  aus  wahrer  Menschenliebe  liebt,  so  muß  ihm 
kein  Unterschied  in  Ansehung  des  Menschen  seyn.  Diese  Person  mag  20 

380  alt  oder  jung  seyn,  so  kann  er  sie  /  aus  wahrer  Menschenliebe  lieben. 
Allein  wenn  er  sie  bloß  aus  Geschlechts-Neygung  liebt,  so  kann  dies 
keine  Liebe  seyn,  sondern  Appetit.  Die  Liebe,  als  Menschenliebe,  ist 
die  Liebe  des  Wohlwollens,  Gewogenheit,  Beförderung  des  Glücks, 
und  Freude  über  das  Glück  anderer.  Allein,  nun  ist  offenbar,  daß  25 
Menschen,  die  bloß  Geschlechts-Neigung  haben,  aus  keiner  der  vorigen 
Absicht,  der  wahren  Menschenliebe,  die  Person  lieben,  sie  sind  gar 
nicht  auf  ihr  Glück  bedacht,  sondern  sie  bringen  sie  so  gar,  um  nur 
ihre  Neigung  und  nur  ihren  Appetit  zu  befriedigen,  in  ihr  größtes 
Unglück.  Wenn  sie  sie  aus  Geschlechts  Neigung  lieben,  so  machen  sie  so 
die  Person  zum  Objekt  ihres  Appetits.  So  bald  sie  nun  die  Person 

381  haben,  und  ihren  Appetit  gestület  /  so  werfen  sie  dieselbe  weg,  eben  so, 
wie  man  eine  Citrone  wegwirft,  wenn  man  den  Saft  aus  ihr  gezogen  hat. 
Die  Geschlechts-Neigung  kann  zwar  mit  der  Menschenliebe  verbunden 
werden,  und  denn  führt  sie  auch  die  Absichten  der  Menschenliebe  mit  35 
sich,  aber  wenn  sie  allein  und  an  sich  genommen  wird,  so  ist  es  nichts 
mehr  als  Appetit.  Es  liegt  doch  in  dieser  Neygung  auf  solche  Art  eine 
Erniedrigung  des  Menschen;  denn  so  bald  er  ein  Objekt  des  Appetits 


Moralphilosophie  Collins  385 

des  andern  ist,  so  fallen  alle  Triebfedern  der  sittlichen  Verhältnisse 
weg;  als  ein  Gegenstand  des  Appetits  des  andern  ist  er  nämlich  eine 
Sache,  wodurch  der  Appetit  des  andern  gestillet  wird,  und  die  von 
jedem  als  solche  Sache  kann  gemißbraucht  werden.  Es  giebt  keinen 

5  Fall,  wo  der  Mensch  schon  von  Natur  bestimmt  wäre,  ein  Gegenstand 
des  Genußes  des  andern  zu  sein  als  diesen,  wovon  die  Geschlechter 
Neigung  /  der  Grund  ist.  Dies  ist  die  Ursache  warum  man  sich  scheut  388 
solche  Nej^gung  zu  haben,  und  warum  alle  strenge  Moralisten  und  die 
als  heilige  angesehn  werden  wollen,  diese  Neigung  zu  unterdrücken 

10  und  zu  entbehren  gesucht  haben.  Zwar  wäre  ein  Mensch,  der  solche 
Neygung  nicht  hätte,  ein  unvollkommener  Mensch,  indem  man  glauben 
sollte,  daß  ihm  die  Werkzeuge  dazu  fehleten,  welches  also  eine  Un Voll- 
kommenheit von  ihm,  als  einem  Menschen,  wäre;  man  affectirte  doch 
darin  und  suchte  sich  solcher  Neygung  zu  enthalten,  weil  sie  den 

15  Menschen  erniedrigt.  Weil  die  Geschlechts-Neigung  keine  Neigung  ist, 
die  ein  Mensch  gegen  den  andern  als  Menschen  hat,  sondern  eine 
Neygung  gegen  das  Geschlecht;  so  ist  diese  Neigung  ein  principium 
der  Erniedrigung  der  Menschheit,  eine  Quelle,  ein  Geschlecht  dem 
andern  vorzuziehen  und  es  aus  Befriedigung  der  Neigung  zu  entehren. 

20  Die  Neygung  die  man  zum  Weibe  hat,  geht  nicht  auf  es  als  auf  einen 
Menschen ;  vielmehr  ist  einem  Mann  die  Menschheit  am  Weibe  gleich- 
gültig und  nur  das  Geschlecht  der  Gegenstand  seiner  Neigung. 

/  Die  Menschheit  wird  also  hier  hinten  an  gesetzt.  Hieraus  folgt,  383 
daß  ein  jeder  Mann  und  ein  jedes  Weibsbild  sich  bemühn  wird,  nicht 

25  der  Menschheit  sondern  ihrem  Geschlecht  einen  Reitz  zu  geben,  und 
alle  Handlungen  und  Begierden  nur  aufs  Geschlecht  zu  richten.  Wenn 
dieses  ist,  so  wird  man  die  Menschheit  dem  Geschlecht  aufopfern. 
Wenn  also  ein  Mann  seine  Neygung  befriedigen  will,  und  ein  Weib 
wiederum  die  ihrige,  so  reizt  jeder  die  Neygung  des  andern  auf  sich, 

30  und  beyde  Neygungen  gerathen  gegen  einander  und  gehn  gar  nicht  auf 
die  Menschheit  sondern  aufs  Geschlecht,  und  einer  entehrt  des  andern 
seine  Menschheit.  Demnach  ist  die  Menschheit  ein  Instrument  die 
Begierden  und  Neygungen  zu  befriedigen ;  dadurch  wird  sie  aber  ent- 
ehrt und  der  Thierheit  gleich  geschäzt.  Die  Geschlechts  Neygung  setzt 

35  also  die  Menschheit  in  Gefahr,  daß  sie  der  Thierheit  gleich  werde.  Da 
nun  aber  der  Mensch  diese  Neygung  von  der  Natur  einmal  hat,  so 
fragt  es  sich:  In  wiefern  ist  jemand  befugt  von  seiner  Geschlechts- 
Neygung  einen  Gebrauch  zu  machen,  ohne  Verletzung  der  Menschheit  ? 
In  wiefern  kann  eine  Person  /  der  andern  Person  andren  Geschlechts  384 

25     Kanfs  Schriften  XXVII/1 


386  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

erlauben,  an  ihr  ihre  Neygung  zu  befriedigen?  Kann  sie  sich  verkaufen 
oder  vermieten,  oder  durch  irgend  einen  contract  erlauben  von  ihren 
facultatibus  sexualibus  Gebrauch  zu  machen  ?  Alle  Philosophen 
setzen  dieser  Neygung  nur  die  Schädlichkeit  und  die  Zerrüttung  theils 
seines  Körpers,  theils  des  gemeinen  Wesens  entgegen  und  glauben  daß  5 
in  der  Handlung  an  sich  nichts  verächtliches  wäre ;  allein  wenn  dieses 
wäre,  wenn  keine  innere  Abscheulichkeit  und  Verletzung  der  Moralität 
im  Gebrauch  der  Neygung  wäre,  so  könnte  ein  solcher,  der  allein  diesen 
Schaden  evitiren  könnte,  auf  alle  nur  mögliche  Art  von  seiner  Neygung 
Gebrauch  machen,  denn  was  nur  nach  der  Regel  der  Klugheit  verboten  lo 
ist,  das  ist  nur  bedingter  Weise  verboten,  denn  ist  die  Handlung  an 
sich  gut,  unter  einigen  Umständen  aber  nur  schädlich.  Allein  es  ist 
hier  in  der  Handlung  selbst  etwas  verächtliches,  was  wider  die  Morali- 

385  tat  /  läuft.  Demnach  müssen  Bedingungen  möglich  seyn,  unter  denen 
nur  allein  der  Gebrauch  der  facultatum  sexualium  mit  der  Moralität  i5 
übereinstimmt.  Es  muß  ein  Grund  seyn,  der  unsere  Freyheit  in  An- 
sehung des  Gebrauchs  unsrer  Neygung  restringiret,  daß  sie  mit  der 
Moralität  congruiret.  Diese  Bedingungen  und  den  Grund  wollen  wir 
aufsuchen.  Der  Mensch  kann  über  sich  selbst  nicht  disponiren,  weil  er 
keine  Sache  ist.  Der  Mensch  ist  nicht  ein  Eigenthum  von  sich  selbst,  20 
das  ist  eine  Contradiction ;  denn  so  ferne  er  eine  Person  ist,  so  ist  er  ein 
Subject,  das  ein  Eigenthum  an  andern  Dingen  haben  kann.  Wäre  er 
nun  aber  ein  Eigenthum  von  sich  selber,  so  wäre  er  eine  Sache, 
über  die  er  Eigenthum  haben  kann.  Nun  ist  er  aber  eine  Person, 
die  kein   Eigenthum  hat,   demnach  kann  er  keine  Sache  seyn,  an  25 
der  er  ein  Eigenthum  haben  kann;  denn  es  ist  ja  unmöglich  Sache 

386  und  Person  zugleich  zu  seyn,  ein  Eigenthümer  und  /  ein  Eigenthum 
zu  seyn. 

Demnach  kann  der  Mensch  nicht  über  sich  disponiren,  er  ist  nicht 
befugt  einen  Zahn  oder  ein  ander  Glied  von  sich  zu  verkaufen.  Wenn  30 
nun  aber  eine  Person  sich  aus  Intereße  als  ein  Gegenstand  der  Befriedi- 
gung der  Geschlechts-Neigung  des  andern  gebrauchen  läßt,  wenn  sie 
sich  zum  Object  des  Verlangens  des  andern  macht,  denn  disponirt  sie 
über  sich  als  über  eine  Sache,  und  macht  sich  dadurch  zu  einer  Sache, 
wodurch  der  andre  seinen  Appetit  stillt,  eben  so  wie  durch  den  35 
Schweinsbraten  seinen  Hunger.  Nun  ist  offenbar,  da  die  Neigung  des 
andern  auf  das  Geschlecht  und  nicht  auf  die  Menschheit  geht,  daß  die 
Person  ihre  Menschheit  zum  Theil  dahin  giebt,  und  dadm-ch  in  An- 
sehung der  moralischen  Zwecke  Gefahr  läuft. 


Moralphilosophie  Collins  387 

Der  Mensch  ist  also  nicht  befugt,  zur  Befriedigung  seiner  Geschlech- 
ter-Neigung aus  Intereße  sich  als  eine  Sache  dem  andren  zum  Ge- 
brauch darzugeben,  denn  alsdenn  läuft  seine  Menschheit  Gefahr,  / 
von  jedermann  als  eine  Sache,  als  ein  Instrument  der  Befriedigung  38T 
5  seiner  Neigung,  gebraucht  zu  werden.  Diese  Art  der  Befriedigung  sei- 
ner Geschlechtes-Neigung  ist  die  vaga  libido,  wo  man  aus  Intereße  die 
Neigung  des  andern  befriediget,  welches  von  beyderley  Geschlechtern 
geschehn  kann.  Dieses  ist  das  schändlichste,  sich  für  Geld  dem  andren 
zur  Befriedigung  seiner  Neigung  Preis  zu  geben  und  seine  Person  zu 

10  vermiethen.  Der  moralische  Grund  ist  also,  daß  der  Mensch  nicht  sein 
Eigenthum  sey,  und  mit  seinem  Körper  machen  kann  was  er  will; 
denn  da  der  Körper  zu  seinem  Selbst  gehört,  so  macht  er  mit  ihm  eine 
Person  aus ;  nun  kann  er  aber  seine  Person  nicht  zur  Sache  machen, 
welches  aber  durch  die  vaga  libido  geschieht.  Demnach  ist  diese  Art 

15  die  Geschlechter-Neygung  zu  befriedigen  nach  der  Moralität  nicht 
erlaubt.  Allein  ist  es  nicht  erlaubt,  seine  Neigung  durch  die  2te  Art 
und  durch  den  concubinatum  zu  befriedigen  ?  —  Wo  die  /  Personen  388 
wechselweise  ihre  Neigungen  befriedigen,  und  gar  kein  Intereße  zur 
Absicht  haben,  sondern  wo  eine  zur  Befriedigung  der  Neigung  der 

20  andern  Person  dient  ?  —  Hierin  scheint  gar  nichts  zweckwidriges  zu 
liegen;  allein  eine  Bedingung  macht  auch  diesen  Fall  unerlaubt.  Der 
concubinat  ist :  wenn  sich  eine  Person  der  andern  nur  zur  Befriedigung 
der  Neigung  Preis  giebt,  aber  in  Ansehung  ihrer  übrigen  Umstände, 
die  ihre  Person  betreffen,  die  Besorgniß  ihres  Glücks  und  ihres  Schick- 

25  sals,  sich  selbst  eine  Freyheit  und  ein  Recht  vorbehält.  Der  Mensch 
aber,  der  sich  der  andern  Person  nur  bloß  zur  Befriedigung  der  Nei- 
gung dargiebt,  der  läßt  doch  noch  immer  seine  Person  als  Sache  ge- 
brauchen; die  Neigung  geht  doch  noch  immer  bloß  aufs  Geschlecht, 
und  nicht  auf  die  Menschliclilveit.  Nun  ist  offenbar,  daß  wenn  der 

30  Mensch  einen  Theil  von  sich  dem  andern  überläßt,  so  überläßt  er  sich 
ganz.  Es  ist  nicht  möglich  über  einen  Theil  des  Menschen  zu  disponiren, 
denn  ein  Theil  des  Menschen  gehört  zum  ganzen  Menschen.  Durch 
den  /  Concubinat  habe  ich  aber  kein  Recht  auf  die  ganze  Person,  38» 
sondern  nur  auf  einen  Theil  von  ihr,  nähmlich  auf  die  Organa  sexualia. 

35  Der  Concubinat  setzt  ein  pactum  voraus,  dieses  pactum  sexuale  geht 
nur  auf  den  Genuß  eines  Theils  der  Person,  aber  nicht  auf  den  ganzen 
Zustand  derselben.  Es  ist  zwar  der  Concubinat  ein  Contract,  der  aber 
ungleich  ist,  wo  von  beyden  Theilen  nicht  die  Rechte  gleich  sind. 
Wenn  ich  aber  im  Concubinat  einen  Theil  vom  Menschen  genieße,  so 


388  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

genieße  ich  dadurch  den  ganzen  Menschen.  Ich  habe  aber  vermöge  des 
concubinats  nicht  ein  Recht  auf  den  gantzen  Menschen,  sondern  nur 
auf  einen  Theil  vom  Menschen,  folglich  mache  ich  seine  ganze  Person 
zur  Sache;  demnach  ist  auch  diese  Art  seine  Neigung  zu  befriedigen 
nach  der  Moralität  nicht  erlaubt.  Die  einzige  Bedingung,  unter  der  die  & 
Freyheit  statt  findet,  von  seiner  Geschlechter  Neigung  Gebrauch  zu 
machen,  gründet  sich  auf  das  Recht,  über  seine  ganze  Person  zu  / 

390  disponiren.  Dieses  Recht  über  die  ganze  Person  des  andern  zu  dispo- 
nüen  betrifft  den  ganzen  Zustand  des  Glücks  und  alle  Umstände  die 
ihre  ganze  Person  angehn.  Das  Recht  aber  das  ich  habe,  über  die  ganze  lo 
Person  zu  disponiren,  also  auch  die  organa  sexualia  zur  Befriedigung 
der  Geschlechter-Neigung  zu  gebrauchen,  wodurch  erlange  ich  die- 
ses Recht  über  die  ganze  Person  ?  —  Dadurch  daß  ich  der  andern 
Person  eben  ein  solches  Recht  über  meine  ganze  Person  gebe,  dies 
geschieht  nur  allein  in  der  Ehe.  Das  matrimonium  bedeutet  einen  is 
Vertrag  zweyer  Personen,  wo  sie  sich  wechselseitig  gleiche  Rechte 
restituiren,  und  die  Bedingung  eingehen,  daß  ein  jeder  seine  ganze 
Person  dem  andern  ganz  übergiebt,  so  daß  jeder  ein  völliges  Recht  auf 
die  ganze  Person  des  andern  hat.  Nun  läßt  es  sich  durch  die  Vernunft 
einsehn,  wie  ein  commercium  sexuale  ohne  Erniedrigung  der  Mensch-  20 
heit  und  Verletzung  der  Moralität  möglich  sey.  Die  Ehe  ist  also  die 
einzige  Bedingung  von  seiner  Geschlechter-Neigung  Gebrauch  zu 
machen.  Wenn  sich  nun  eine  Person  der  andern  widmet,  so  widmet  sie 
nicht  allein  ihr  Geschlecht,  sondern  ihre  ganze  Person,  dieses  läßt  sich 
nicht  separiren.  Wenn  nur  ein  Mensch  dem  andern,  seine  Person,  sein  25 

391  Glück,  /  sein  Unglück  und  alle  seine  Umstände  übergiebt,  daß  er  Recht 
darauf  hat,  und  diese  Person  nicht  wieder  eben  ein  solches,  und  das- 
selbe Recht  auf  seine  Person  hat,  so  ist  hier  eine  Ungleichheit.  Wenn 
ich  aber  meine  ganze  Person  der  andern  weggebe,  und  gewinne  da- 
durch die  Person  des  andern  in  die  Stelle,  so  gewinne  ich  mich  selbst  30 
wieder,  und  hab  mich  selbst  dadurch  reoccupirt ;  denn  ich  habe  mich 
dem  andern  zum  Eigenthum  gegeben,  ich  nehme  aber  wieder  den 
andern  zu  meinem  Eigenthum,  so  gewinne  ich  mich  selbst  wieder; 
denn  ich  gewinne  die  Person,  der  ich  mich  zum  Eigenthum  gegeben 
habe.  Demnach  machen  beyde  Personen  eine  Einheit  des  Willens  aus.  35 
Es  wird  also  keine  Person  ein  Glück  oder  Unglück,  Freude  oder  Miß- 
vergnügen erdulden,  wo  nicht  die  andre  mit  Antheil  nehmen  wird. 
Die  Geschlechter-Neigung  macht  also  unter  den  Menschen  eine  Ver- 
einigung, und  unter  dieser  Vereinigung  ist  der  Gebrauch  der  Ge- 


Moralphilosophie  Collins  389 

schlechter-Neigung  allein  möglich.  Diese  Bedingung,  die  nur  allein  in 
der  Ehe  möglich,  von  seiner  Geschlechter*Neigung  Gebrauch  zu 
machen,  ist  moralisch.  /  Wenn  dieses  noch  weiter  und  systematischer  398 
bearbeitet  wird,  so  muß  noch  folgen,  daß  keiner  auch  nicht  in  matri- 
5  monio  2  Weiber  haben  kann ;  denn  sonst  hätte  Jede  Frau  einen  halben 
Mann,  da  sie  sich  ihm  doch  ganz  ergiebt,  und  sie  also  ein  ganzes  Recht 
auf  seine  Person  hat.  Es  giebt  also  moralische  Gründe  die  der  vagae 
libidini  widerstreiten;  Gründe,  die  dem  coneubinat  widerstreiten; 
Gründe,  die  der  Polygamie  in  matrimonio  widerstreiten ;  folglich  findet 

10  nur  allein  in  matrimonio  die  Monogamie  statt.  Unter  dieser  Bedingung 
kann  ich  nur  allein  von  der  facultate  sexuali  Gebrauch  machen.  Weiter 
können  wir  hier  nicht  gehn. 

Nun  können  wir  noch  fragen,  ob  es  moralische  Gründe  geben  kann, 
die  dem  Incestui  —  Incestus  ist  die  Gemeinschaft  der  Geschlechter, 

15  die  die   Schranken  der  Gemeinschaft  übertritt,   wegen  Naheit  des 
Blutes  —  in  allen  Arten  des  Commercii  sexualis  widerstreiten  ?  — 
Die  moralischen  Gründe  in  Ansehung  des  Incestus  /  sind  nur  in  einem  393 
einzigen  Fall  unbedingt,  in  andern  Fällen  sind  sie  nur  bedingt,  z.  E. 
im  Staat  ist  es  nicht  erlaubt ;  aber  nach  der  Natur  ist  es  kein  Incestus, 

20  denn  die  ersten  Menschen  müssen  aus  den  Geschwistern  geheiratet 
haben.  Allein  die  Natur  hat  schon  von  Selbsten  einen  natürlichen 
Widerwillen  hierin  gelegt;  denn  die  Natm-  wollte,  daß  wir  uns  mit  ein- 
ander verbinden  sollten,  damit  nicht  in  einer  Gesellschaft  eine  gar  zu 
große  Verbindung  wäre,  denn  die  Neygung  in  einer  gar  zu  großen  Ver- 

25  bindung  und  Bekanntschaft  wird  gleichgültig  und  ekelhaft,  die  Men- 
schen müssen  aber  diese  Neigung  durch  Bescheidenheit  einschränken, 
daß  sie  die  Neygung  nicht  gar  zu  gemein  machen,  damit  nicht  durch 
die  gar  zu  große  Gemeinschaft  eine  Gleichgültigkeit  entspringe ;  deimi 
diese  Neygung  ist  sehr  delicat ;  die  Natur  hat  ihr  ihre  Stärke  gegeben ; 

30 aber  sie  muß   auch  durch  Schaamhaftigkeit  eingeschränkt  Merden. 
Demnach  sind  die  Wilden,  die  ganz  nackend  gehn,  /  ganz  kalt  gegen  394 
einander.  Also  ist  auch  die  Neygung  gegen  eine  Person,  die  man  von 
Jugend  auf  gekannt  hat,  sehr  kalt,  die  Neigung  gegen  eine  fremde  Per- 
son ist  viel  stärker  undreitzbarer.  Die  Natur  hat  also  schon  von  selbst 

35  die  Neigung  gegen  die  Geschwister  eingeschränkt.  Der  einzige  Fall 
aber,  wo  die  moralischen  Gründe  in  Ansehung  des  Incestus  unbedingt 
sind,  ist  die  Gemeinschaft  der  Eltern  mit  den  KLindern ;  denn  in  An- 
sehung dieser  2  Theilen  ist  eine  Achtung  nöthig,  die  auch  durch  das 
ganze  Leben  daxu-en  muß ;  die  Achtung  aber  schließt  die  Gleichheit  aus. 


390  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

Dieses  ist  der  einzige  Fall,  wo  der  Incest  unbedingt  und  schon  durch  die 
Natur  unerlaubt  ist ;  die  andren  incestus  verbieten  sich  von  sich  selbst ; 
aber  nach  der  Ordnung  der  Natur  ist  es  doch  kein  Incestus.  Eine  andre 
Ursache,  daß  dieses  nur  ein  Incestus  sey,  ist:  In  der  Geschlechter- 
Gemeinschaft    ist    die    größte    Unterwürfigkeit    beyder    Personen,  5 

395  zwischen  Eltern  /  und  Kindern  ist  aber  die  Unterwürfigkeit  nur  ein- 
seitig; die  Kinder  sind  nur  den  Eltern  unterworfen;  also  ist  keine 
Gemeinschaft. 

Von  den  Criminibus  carnis. 

Die  Crimina  carnis  sind  der  Pflicht  gegen  sich  selbst  entgegen,  weil  lo 
sie  wider  die  Zwecke  der  Menschheit  laufen.  Crimen  carnis  ist  der  Miß- 
brauch der  Geschlechtes-Neigung.  Jeder  Gebrauch  der  Geschlechtes- 
Neigung  außer  der  Bedingung  der  Ehe,  ist  ein  Mißbrauch  derselben, 
oder  ein  crimen  carnis.  Alle  crimina  carnis  sind  entweder  secundum 
naturam  oder  contra  naturam.  Die  crimina  carnis  secundum  natiuram  i5 
sind  der  gesunden  Vernunft  entgegen.  Die  Crimina  carnis  contra 
naturam  sind  der  Thierheit  entgegen.  Zu  den  criminibus  carnis 
secundum  naturam  gehört  die  vaga  libido,  welche  dem  Matrimonio 
entgegen  gesetzt  ist.  Diese  vaga  libido  ist  2fach,  entweder  scortatio 

396  oder  concubinatus.  /  Concubinatus  ist  zwar  ein  pactum  aber  inae-  20 
quäle ;  die  Rechte  sind  nicht  wechselseitig ;  nach  diesem  pacto  unter- 
wirft sich  die  Person  gänzlich  dem  Mann  in  Ansehung  des  Geschlechts. 
Es  ist  also  der  concubinat  unter  der  vaga  libidine  begriffen.  Das  zweyte 
crimen  carnis  secundum  natiu-am  ist  adulterium,  dieses  hat  nur  in  der 
Ehe  statt,  wenn  nämlich  die  Ehe  gebrochen  wird.  Da  die  Eheverlo-  25 
bung  die  größte  Verpflichtung  zwischen  2  Personen  ist,  die  auf  ihr 
ganzes  Leben  fortdauert,  also  die  unverbrüchlichste  Verlobung  ist; 
so  ist  das  adulterium  unter  allen  Treulosigkeiten  und  Brechungen 
der  VerpfUchtungen  die  größte  Treulosigkeit,  weü  keine  wichtigere 
Verlobung  ist  als  diese.  Demnach  ist  das  adulterium  auch  die  Ursache  so 
der  Trennung  des  Matrimonii;  eine  andere  Ursache  der  Trennung  ist 
auch  die  Ungeselligkeit  und  Uneinigkeit  der  Personen,  wodurch  die 
Einheit  und  Eintracht  des  Willens  der  Person  nicht  möglich  ist.  / 

39T  Es  wird  gefragt,  ob  der  Incestus,  der  an  sich  ein  Incestus  ist,  aber 
nicht  aus  bürgerlichen  Gesetzen,  ein  crimen  carnis  secundum  oder  35 
contra  naturam  sey  ?  —  Hier  muß  aber  erst  unterschieden  werden, 
ob  die  Frage  nach  dem  natürlichen  Instinct  oder  nach  der  Vernunft 


Moralphilosophie  Collins  391 

soll  beantwortet  werden  ?  Nach  dem  natürlichen  Instinkt  ist  der 
Incestus  nur  ein  crimen  carnis  secundum  naturam;  denn  es  ist  doch 
immer  eine  Gemeinschaft  beyder  Geschlechter,  also  contra  natm-am 
animalium  ist  es  nicht,  denn  die  Thiere  machen  hier  keinen  Unter- 

5  schied,  sondern  bedienen  sich  des  Geschlechts  ohne  Unterschied ;  aber 
nach  den  Urtheilen  des  Verstandes  ist  es  contra  natm-am.  Zu  den 
criminibus  carnis  contra  naturam  gehört  der  Gebrauch  der  Geschlech- 
tes Neigung,  der  dem  natürlichen  Instinkt  und  der  /  Thierheit  entgegen  398 
ist,  biezu  wird  gerechnet  die  onania.  Dieses  ist  der  Misbrauch  des 

10  Geschlechtsvermögens  ohne  allen  Gegenstand ;  wenn  nämlich  der 
Gegenstand  unserer  Geschlechtes-Neigung  ganz  und  gar  wegfällt,  und 
der  Gebrauch  unseres  Geschlechts  Vermögens  dennoch  ohne  allen 
Gegenstand  ganz  und  gar  nicht  wegfällt,  sondern  exercirt  wird.  Dieses 
läuft  offenbar  wider  die  Zwecke  der  Menschheit,  und  ist  so  gar  der 

15  Thierheit  entgegen;  hiedurch  wirft  der  Mensch  seine  Person  weg,  und 
setzt  sich  unter  das  Thier.  Zweytens  gehört  zu  den  Criminibus  carnis 
contra  naturam  die  Gemeinschaft  des  sexus  homogenii,  wenn  der 
Gegenstand  der  Geschlechtes-Neigung  zwar  unter  den  Menschen  bleibt, 
aber  verändert  wird,  wo  die  Gemeinschaft  des  sexus  nicht  heterogen, 

20  sondern  homogen  ist,  d.  i.  wenn  ein  Weib  gegen  ein  Weib,  und  ein 
Mann  gegen  einen  Mann  seine  Neigung  /  befriediget.  Dieses  läuft  auch  399 
wider  die  Zwecke  der  Menschheit,  denn  der  Zweck  der  Menschheit  in 
Ansehung  der  Neigung  ist  die  Erhaltung  der  Arten  ohne  Wegwerfung 
seiner  Person;  hiedurch  erhalte  ich  aber  gar  nicht  die  Art,  welches 

25  noch  durch  ein  crimen  carnis  contra  naturam  geschehn  kann,  nur  da 
werfe  ich  meine  Person  wieder  weg,  also  versetz  ich  mich  hiedurch 
unter  das  Thier  und  entehre  die  Menschheit.  Das  dritte  crimen  carnis 
contra  naturam:  wenn  der  Gegenstand  der  Geschlechtes-Neigung  zwar 
auf  die  Verschiedenheit  des  Geschlechts  bleibt,  aber  vom  Menschen 

30  unterschieden  ist.  Hiezu  gehören  z.  E.  die  Sodomiterey,  die  Gemein- 
schaft mit  den  Thieren.  Dieses  läuft  auch  wider  die  Zwecke  der 
Menschheit,  und  ist  dem  natürlichen  Instinkt  zuwider ;  hiedurch  unter- 
werfe ich  die  Menschheit  unter  die  Thierheit,  indem  kein  Thier  von 
seiner  species  abgeht.  Alle  crimina  carnis  contra  naturam  erniedrigen 

35  die  Menschheit  unter  die  Tliierheit,  machen  den  Menschen  der  Mensch- 
heit unwürdig ;  der  Mensch  verdient  alsdenn  nicht,  daß  er  eine  Person 
ist,  und  es  ist  /  das  unedelste  und  niedrigste,  was  der  Mensch  in400 
Ansehung  der  Pflichten  gegen  sich  selbst  begehn  kann.  Der  Selbst- 
mord ist  zwar  das  schrecklichste,  was  ein  Mensch  in  Ansehung  seiner 


392  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

begehn  kann;  er  ist  aber  doch  nicht  so  unedel  und  niedrig,  als  dies 
crimen  carnis  contra  naturam;  dieses  ist  das  verächtlichste,  was  ein 
Mensch  begehn  kann.  Deswegen  sind  auch  die  crimina  carnis  contra 
naturam  unnennbar,  weil  selbst  dadurch,  daß  man  sie  nennt,  ein  Ekel 
verursacht  wird,  welches  doch  beim  Selbstmord  nicht  ist.  Jeder  5 
scheuet  sich  diese  Laster  zu  nennen;  jeder  Lehrer  enthält  sich,  selbige 
nicht  einmal  aus  guter  Absicht,  seine  Untergebene  dafür  zu  warnen, 
zu  nennen ;  indem  sie  aber  dennoch  so  häufig  geschehn,  so  ist  man  hier 
im  Gedränge  und  in  Verlegenheit,  ob  man  sie  nennen  soll,  um  sie 
kennbar  zu  machen,  und  dadurch  zu  verhindern,  daß  sie  nicht  so  lo 
häufig  geschehn,  oder,  ob  man  sie  nicht  nennen  soll,  um  nicht  dadurch 
Gelegenheit  zu  geben,  daß  einige  sie  kennen  lernen,  und  sie  hernach 
desto  häufiger  begehn.  Die  Ursache  dieser  Schamhaftigkeit  ist,  weil 
401  die  Nennung  derselben  /  so  familiarisiret,  daß  man  den  Abscheu  da- 
wider verliert,  und  daß  sie  dadurch  daß  man  sie  nennt,  erträglicher  i5 
werden ;  wenn  man  aber  in  Nennung  derselben  behutsam  ist,  und  einen 
Widerwillen  hat,  sie  zu  nennen,  so  scheint  es,  als  wenn  man  noch  einen 
Abscheu  dagegen  hegt.  Eine  andre  Ursache  dieser  Schamhaftigkeit  ist : 
Ein  jedes  Geschlecht  schämt  sich  der  Laster,  dessen  sein  Geschlecht 
fähig  ist.  Der  Mensch  schämt  sich  also  das  zu  nennen,  dessen  sich  die  20 
Menschheit  schämen  soUte,  daß  sie  dessen  fähig  ist.  Man  muß  sich 
schämen,  daß  man  ein  Mensch  ist,  und  doch  dessen  fähig  ist,  denn  ein 
Thier  ist  aller  solcher  crimina  carnis  contra  naturam  nicht  fähig. 


Von    den    Pflichten    gegen    sich    selbst    in    Ansehung    des 

äußern  Zustandes.  25 

Es  ist  schon  oben  gesagt,  daß  der  Mensch  einen  QueU  der  Glück- 
seeligkeit  in  sich  selbst  hat;  diese  kann  zwar  nicht  darin  bestehn,  daß 
der  Mensch  eine  völlige  Unabhängigkeit  von  allen  Bedürfnissen  und 
äußern  Ursachen  sich  erwerbe,  allein  sie  kann  so  seyn,  daß  er  wenig 
4oa  bedarf.  Um  dieses  aber  zu  erlangen,  /  muß  der  Mensch  eine  Avtocrabie  so 
über  seine  Neigungen  haben.  Er  muß  seine  Neigung  auf  Sachen,  die  er 
nicht  haben  kann  oder  die  er  mit  vieler  Mühe  haben  kann,  bezähmen, 
denn  ist  er  in  Ansehung  ihrer  unabhängig.  Er  muß  ferner  solche 
principia  haben,  sich  solche  Annehmlichkeiten  des  Lebens  zu  ver- 
schaffen, die  er  in  seiner  Gewalt  haben  kann,  das  sind  die  erlaubten  35 
Vergnügungen.  Also  Genügsamkeit  und  Erhöhungen  der  geistigen 
Vergnügungen.  Was  aber  die  äußern  Dinge  betrifft,  so  fern  sie  die 


Moralphilosophie  Collins  393 

Bedingung  und  die  Mittel  des  Wohlbefindens  seyn,  so  sind  dieselben 
2facli,  entweder  Mittel  der  Bedürfniß  und  der  Notkdurft,  oder  der 
Annehmliclikeit.  Die  Mittel  der  Nothdurft  dienen  nur  dazu,  daß  man 
lebe,  aber  die  Mittel  der  Annehmlichkeit  dienen  nicht  dazu,  daß  man 
5  lebe,  sondern  daß  man  gemächlich  lebe.  Der  natürliche  Grad  der 
Zufriedenheit  ist  mit  der  Bedürfniß  verbunden,  allein,  wenn  ich 
zufrieden  bin  mit  den  Mitteln  der  Bedürfniß,  denn  habe  ich  noch  keine 
Ergötzlichkeit.  /  Die  Zufriedenheit  ist  was  negatives,  allein  die  An-  403 
nehmliclikeiten  was  positives.  Solange  ich  Lust  zu  leben  habe,  denn 

10  bin  ich  zufrieden,  und  wenn  ich  keine  Lust  zu  leben  habe,  denn  bin 
ich  unzufrieden,  nun  hab  ich  aber  Lust  zu  leben,  wenn  ich  nur  dürftig 
leben  kann,  allein  denn  habe  ich  noch  keine  Annehmliclilceiten.  Die 
Annehmlichkeiten  sind  Mittel  des  Wohlbefindens,  die  man  entbehrlich 
findet ;  wo  nun  aber  keine  Entbehrlichlceit  statt  findet,  da  ist  es  schon 

15  ein  Mittel  der  Bedürfniß.  Nun  kommt  es  darauf  an,  was  wir  für  ein 
Mittel  der  Annehmliclil\:eit  und  was  wir  für  ein  Mittel  der  Bedürfniß 
ansehn,  wie  viel  wir  zur  Annehmlichkeit,  und  wie  viel  wir  zur  Bedürf- 
niß rechnen,  und  was  wir  entbehren  können  oder  nicht.  Alle  Annehm- 
liclikeiten  und  Vergnügungen  müssen  wir  so  geniessen,  daß  wir  sie 

20  auch  entbehren  können,  wir  müßen  sie  niemals  zur  Bedürfniß  machen. 
Auf  der  andern  Seite  müssen  wir  uns  angewöhnen,  alle  Ungemächlich- 
keiten  —  das  ist  noch  kein  Unglück  —  /  standhaft  zu  ertragen.  Also  404 
in  Ansehung  der  Ergötzlichlceiten  sollen  wir  uns  zur  Entbehrlichkeit 
und  in   Ansehung  der  Ungemächlichkeiten  zur  Leidlichkeit   ange- 

25  wohnen.  Die  Alten  drückten  dieses  dadurch  aus,  wenn  sie  sagten: 
Sustine  et  abstine.  Wir  dürfen  uns  nicht  aller  Annehmlichkeiten  und 
Vergnügungen  entschlagen  und  gar  keine  genießen,  das  wäre  eine 
Mönchs  Tugend,  sich  alles  dessen  zu  entsclilagen,  was  dem  mensch- 
lichen Leben  angemeßen  ist :  aber  wir  müssen  sie  nur  so  geniessen,  daß 

30  wir  sie  auch  entbehren  können  und  nicht  zu  Bedürfnissen  machen,  als- 
denn  sind  wir  abstinent  gewesen.  Auf  der  andern  Seite  müssen  wir 
uns  angewöhnen  alle  Ungemächliclikeiten  des  Lebens  zu  ertragen  und 
unsre  Stärke  in  Ei'duldung  derselben  zu  versuchen,  und  die  Zufrieden- 
heit nicht  dabey  zu  verlieren.  Denn  besitzen  wir  Stärke  der  Seele, 

35  wenn  wir  die  Uebel,  die  nicht  zu  ändern  sind  mit  heiterer  Seele  und 
fröhlichem  Gemüthe  ertragen,  und  dieses  ist  das  sustine  der  Alten. 
Wir  dürfen  uns  nicht  selbst  Ungemächlichkeiten  auflegen,  alle  Uebel 
versuchen    und  uns    durch    Castejoing  /  züchtigen,   dieses  ist  eine  405 
Mönchstugend  von  der  sich  die  philosophische  unterscheidet,  die  allen 


394  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

Uebeln  die  da  kommen  und  unvermeidlich  sind,  fröhlich  entgegengeht ; 
zulezt  läßt  es  sich  doch  alles  ertragen.  Es  wird  also  hier  das  sustine 
und  abstine  nicht  als  eine  Disciplin  genommen,  sondern  als  eine  Ent- 
behrlichkeit in  Ansehung  der  Annehmlichkeiten,  und  als  eine  Erdul- 
dung  aller  Ungemächlichkeiten  mit  fröhlichem  Muthe.  Es  giebt  wahre  5 
Bedürfnisse  des  Lebens,  deren  Beraubung  uns  gänzlich  unzufrieden 
macht,  z.  E.  unbeldeidet  und  ohne  Nahrung  zu  seyn.  Es  giebt  aber 
auch  Bedürfnisse,  durch  deren  Beraubung  wir  zwar  unzufrieden 
werden,  die  Avir  aber  immer  entbehren  können.  Jemehr  einer  von  den 
Scheinbedürfnissen  abhängt,  desto  mehr  ist  er  in  seiner  Zufriedenheit  lo 
ein  Spielball  von  denselben.  Der  Mensch  muß  also  seine  Seele  in  An- 
sehung der  Bedürfnisse  des  Lebens  discipliniren. 

Wenn  wir  die  Bedürfnisse  unterscheiden  wollen,  so  können  wir  das 

406  /  Uebermaß  im  Genuß  von  der  Ergötzlichkeit,  Ueppigkeit,  und  das 
Uebermaß    von    der    Gemäclüichkeit,    Weichlichkeit    nennen.    Die  is 
Ueppigkeit  macht  uns  abhängig  von  einer  Menge  Sachen,  die  wir  uns 
hernach  nicht  verschaffen  können,  und  wodurch  wir  hernach  in  aller- 
ley  Kummer  versetzt  werden,  so  daß  wir  uns  auch  wohl  gar  das  Leben 
nehmen,  denn  wo  die  Ueppigkeit  ueberhand  nimmt,  da  pflegt  der 
Selbstmord  zu  herrschen.  Wenn  die  Ueppigkeit  überhand  nimmt,  20 
so  verringert  sie  das  Wohlbefinden  des  Zustandes,  und  wenn  die 
Weichlichkeit  überhand  nimmt,  so  ist  das  die  völlige  Ausrottung  der 
männhchen  Stärke.  Die  Ueppigkeit  ist  der  üppige  luxus,  die  Weich- 
lichkeit der  weichliche  Luxus ;  der  üppige  Luxus  ist  thätig,  der  weich- 
liche aber  läßig.  Die  thätige  Ueppigkeit  ist  den  Kräften  des  Menschen  25 
nüzlich,  dadm-ch  werden  die  Kräfte  des  Lebens  gestärkt,  so  gehört 
z.  E.  reiten  zum  üppigen  luxu.  Alle  Arten  von  lustiger  Weichlichlceit 

407  sind  sehr  schädlich,  dadurch  werden  /  die  Kräfte  des  Lebens  ge- 
schwächt, so  gehört  das  Sänftentragen  und  Kutschen  fahren  zur 
Weichlichl^eit.  Wer  zum  üppigen  Luxu  geneigt  ist,  der  erhält  bey  sich  so 
die  Thätigkeit  und  auch  bey  andern  Menschen ;  demnach  ist  es  besser, 
wenn  man  sich  auf  die  Verfeinerung  des  Genußes  als  auf  die  Weich- 
lichkeit legt.  Denn  der  üppige  Luxus  excolirt  unsre  Kräfte,  und  erhält 
die  Thätigkeit  bey  andern  Menschen.  In  Ansehung  der  Ueppigkeit  so 
wohl  als  der  Weichlichlceit  müssen  wir  auch  die  Regel  von  sustine  und  35 
abstine  beobachten.  Wir  müssen  uns  von  beyden  unabhängig  machen; 
denn  jemehr  der  Mensch  von  der  Ueppigkeit  und  WeichHchkeit  ab- 
hängt, desto  weniger  ist  er  frey,  und  desto  näher  ist  er  dem  Laster. 
Wir  dürfen  uns  aber  auch  nicht  sklavisch  allen  Ergötzlichkeiten  ent- 


Moralphilosophie  Collins  395 

ziehen,  sondern  sie  nur  immer  so  genüssen,  daß  wir  sie  auch  entbehren 
können.  Der  Mensch,  der  weder  seine  Pflichten  /  noch  des  andern  seine  408 
verletzt,  kann  so  viel  Vergnügen  genießen,  als  er  nur  kann  und  will. 
Er  bleibt  dabey  immer  gutartig  und  erfüllt  den  Zweck  der  Schöpfung. 
5  Auf  der  andern  Seite  dürfen  wir  uns  auch  nicht  alle  Uebel  auflegen, 
und  sie  denn  erdulden;  denn  darin  ist  kein  Verdienst  Uebel  zu  er- 
dulden, die  man  sich  selber  auferlegt,  und  deren  man  hätte  überhoben 
seyn  können ;  aber  solche  Uebel  müssen  wir  standhaft  ertragen,  die  uns 
das  Schicksal  zuschickt  und  die  nicht  zu  ändern  sind,  denn  das  Schick- 

10  sal  ist  eben  so  wenig  aufzuhalten,  als  eine  Mauer  die  schon  einfällt. 
Alles  dieses  aber  ist  an  sich  keine  Tugend,  so  me  das  Gegentheil  davon 
kein  Laster  ist,  sondern  es  ist  nur  die  Bedingung  der  Pflichten.  Der 
Mensch  kann  seine  Pflichten  nicht  erfüllen,  wenn  er  nicht  alles  ent- 
behren kann,  denn  sonst  übertäuben  ihn  die  sinnlichen  Lockungen; 

15  er  kann  nicht  tugendliaft  seyn,  wenn  er  nicht  im  LTnglück  standhaft 
ist.  Er  muß  /  also  erdulden  können,  damit  er  tugendhaft  sey.  Dieses  409 
ist  die  Ursache,  warum  Diogenes  seine  Philosophie  den  kürzesten  Weg 
zur  Seeligkeit  nannte.  Darin  fehlte  er  zwar,  daß  er  solches  für  eine 
Pflicht  hielt,  da  es  doch  nur  so  weit  geht,  daß  der  Mensch  auch  in 

20  solchem  Grad  zufrieden  seyn  kann.  Die  Epicurische  Philosophie  ist 
nicht  die  Philosophie  der  Ueppigkeit,  sondern  der  männlichen  Stärke. 
Nach  ihm  sollte  man  auch  mit  der  Polenta  zufrieden  seyn,  und  doch 
fröhlich  und  heiter  und  fähig  aller  Vergnügungen  der  Gesellschaft,  auch 
aller  Annehmliclikeiten  des  Lebens.  Also  fassen  sie  die  Glückseeligkeit 

25  an  beyden  Enden.  Der  Stoiker  hat  sich  nicht  allein  solches  nicht 
erlaubt,  sondern  so  gar  versagt.  Unter  die  Beschwerlichkeiten,  die  wir 
uns  angewöhnen  müssen  zu  ertragen  und  zu  erdulden,  gehört  die 
Arbeit,  welches  eine  zweckmäßige  Beschäftigung  ist,  und  eine  Absicht 
hat.  Es  giebt  aber  auch  Beschäftigungen,  die  gar  keine  Arbeiten  sind, 

30  sondern  nur  zum  Vergnügen  dienen,  und  /  keine  Beschwerliclilvciten  4io 
in  sich  fassen.  Solche  Beschäftigung  ist  ein  Spiel.  Je  erhabener  die 
Zwecke  sind,  desto  mehr  Hindernisse  und  Beschwerlichkeiten  faßt  die 
Arbeit  in  sich,  aber,  wenn  sie  auch  noch  so  viel  Beschwerlichlceiten  in 
sich  faßt,  so  müssen  wir  uns  doch  an  die  Arbeit  gewöhnen,  daß  sie  auch 

35  Selbsten  ein  Spiel  wird,  und  uns  gar  nicht  beschwerlich  fällt,  sondern 
uns  unterhält  und  vergnügt.  Der  Mensch  muß  aber  thätig  und  arbeit- 
sam seyn  und  die  beschwerlichen  Geschäfte  gerne  und  fröhlich  über 
sich  nehmen,  denn  sonst  hat  die  Arbeit  das  Merkmal  des  Zwanges, 
und  nicht  der  Leichtigkeit.  Es  giebt  Menschen,  die  aus  Zweck  be- 


396  Vorlesungen  über  Moralphilosopliie 

schäftiget  sind,  andre  die  es  nicht  aus  Zweck  sind;  aber  die  gar  keinen 
rechtschaffenen  Zweck  haben,  sind  geschäftige  Müssiggänger,  welches 
eine  läppische  Art  von  Beschäftigung  ist.  Wir  haben  zwar  Beschäfti- 
gung ohne  Zweck,  z.  E.  das  Spiel;  das  ist  aber  nur  eine  Erholung  von 
der  beschwerlichen  Arbeit ;  aber  beständig  ohne  Zweck  beschäftigt  zu  0 

411  seyn,  ist  noch  /  ärger  als  gar  nicht  beschäftiget  zu  seyn;  denn  dieses 
macht  noch  ein  Blendwerk  einer  Beschäftigung.  Das  größte  Glück  des 
Menschen  ist,  daß  er  selber  der  Urheber  seiner  Glückseeligkeit  ist, 
wenn  er  fühlt,  das  zu  genüssen,  was  er  sich  selbst  erworben  hat. 
Der  Mensch  kann  ohne  Arbeit  niemals  zufrieden  seyn.  Wer  sich  in  10 
Ruhe  setzen  will  und  befrejrt  sich  von  aller  Arbeit,  der  fühlt  und 
genießt  gar  nicht  sein  Leben ;  sondern,  so  fern  er  thätig  ist,  fühlt  er, 
daß  er  lebt,  und  so  fern  er  arbeitsam  ist,  kann  er  nur  zufrieden  seyn. 
Ein  Mann  muß  arbeitsam  seyn,  eine  Frau  darf  niu"  Beschäftigung 
haben.  Die  Beschäftigung,  wo  kein  Zweck  ist,  ist  eine  Beschäftigung  is 
in  der  Muße,  wo  man  sich  nur  beschäftiget,  um  sich  zu  unterhalten. 
Die  Beschäftigung  mit  dem  Zweck  des  Beschäftigens,  ist  ein  Ge- 
schäfte. Ein  Geschäfte  mit  Beschwerlichlceit  ist  eine  Arbeit.  Die 
Arbeit  ist  ein  Zwangsgeschäfte,  wo  wir  uns  entweder  selbst  zwingen, 

4n  oder  von  andern  gezwungen  werden.  /  Wir  zwingen  uns  selbst,  wenn  20 
wir  einen  Bewegungsgrund  haben,  der  alle  Beschwerlichlceiten  der 
Arbeit  überwiegt.  Auf  der  andern  Seite  zwingen  uns  viele  Sachen  zur 
Arbeit,  z.  E.  Pflicht.  Wer  zu  seiner  Arbeit  nicht  wodurch  gezwungen 
wird,  sondern  beliebig  arbeiten  kann,  der  kann  seine  Zeit  nicht  so  mit 
beliebiger  Arbeit  besetzen,  und  sie  so  ausfüllen,  als  wenn  er  die  Arbeit  25 
aus  Pflicht  thun  muß,  denn  denkt  man,  du  darfst  es  nicht  thun,  es 
zwingt  dich  keiner.  Es  gehört  also  zu  unsrer  Bedürfniß,  daß  wir 
Zwangs-Arbeiten  haben.  Wenn  die  Arbeit  verrichtet  ist,  so  empfindet 
man  eine  Annehmlichkeit,  deren  keiner  fähig  ist,  als  wer  die  Arbeit 
gethan  hat.  Es  ist  aber  auch  ein  Verdienst,  ein  Beyfall,  ein  Selbstlob,  30 
das  man  sich  geben  muß,  wenn  man  ohnerachtet  aller  Beschwerden 
dennoch  die  Arbeit  vollzogen  hat.  Der  Mensch  muß  sich  discipliniren ; 
die  größte  disciplin  aber  ist,  sich  zm-  Arbeit  zu  gewöhnen.  Dieses  ist  ein 
Trieb  zur  Tugend.  Man  hat  bey  der  Arbeit  keine  Zeit  sich  auf  Laster  zu 

413  besinnen,  und  die  Arbeit  bringt  wirklich  diejenigen  /  Vortheile  hervor,  35 

auf  die  ein  andrer  boshaft  denken  muß,  sie  durch  Betrug  zu  erlangen. 

Vom  Luxu  ist  noch  zu  merken,  daß  er  lange  ein  Gegenstand  der 

philosophischen  Betrachtung  gewesen.  Man  hat  lange  untersucht  ob  er 

zu  billigen  oder  zu  misbilligen  sey,  und  ob  er  der  Moralität  gemäß, 


Moralphilosophie  Collins  397 

oder  derselben  entgegen  gesetzt  sey  ?  Es  kann  etwas  der  Moralität 
gemäß  seyn,  was  doch  indirecte  hinderlich  ist.  Zuerst  vermehrt  der 
Luxus  die  Bedürfnisse,  er  vermehrt  die  Anlockungen  und  Anreizungen 
der   Neigungen,    und   dadurch   wird   es   schwer   die    Sittlichkeit   zu 

5  beobachten ;  denn  je  einfacher  und  einfältiger  unsere  Bedürfnisse  sind, 
desto  weniger  Verleitung  haben  wir  derselben  Gnüge  zu  thun.  In- 
directe macht  also  der  Luxus  einen  Einbruch  in  die  Moralität.  Auf  der 
andern  Seite  aber  befördert  der  Luxus  alle  Künste  und  Wissenschaf- 
ten; er  entwickelt  alle  Talente  des  Menschen,  und  es  scheint  also,  daß 

10  dieser  Zustand  die  Bestimmung  des  Menschen  sey.  Er  verfeinert  die 
Moralität;  /  denn  in  Ansehung  der  Moralität  kann  entweder  Recht- 4i4 
schaff enheit  oder  Feinheit  beobachtet  werden.  Die  Rechtschaffenheit 
ist,  wenn  man  der  Moralität  nicht  widerstehet ;  die  Feinheit  der  Morali- 
tät bestehet  aber  darin,  daß  man  auch  die  Annehmliclikeit  mit  der 

15  Sitthchlceit  verbindet,  z.  E.  gastfrey  gegen  einander  zu  seyn.  Der 
Luxus  entwickelt  also  die  Menschheit  bis  zum  größten  Grad  der 
Schönheit.  Luxus  ist  aber  von  der  Luxuries  zu  unterscheiden.  Der 
Luxus  besteht  in  der  varietaet;  die  Luxuries  aber  in  der  Quantitaet. 
Unmäßigkeit  findet  sich  bey  Menschen,  die  gar  keinen  Geschmack 

20  haben,  z.  E.  wenn  ein  reicher  Geizhals  einmal  dazu  kommt,  daß  er 
tractirt,  so  häuft  er  die  Speisen  in  großer  Menge,  und  sieht  nicht  auf 
die  Mannigfaltigkeit,  sondern  auf  die  Menge.  Der  Luxus  aber  findet 
sich  bey  Menschen,  die  Geschmack  haben.  Er  excolirt  also  durch  die 
Mannigfaltigkeit  unsre  Urtheilslo-aft,  und  beschäftigt  viele  Hände  der 

25 Menschen;  er  belebt  das  ganze  gemeine  Wesen.  Also  ist  von  der  Seite 
wider  /  den  Luxus  in  Ansehung  der  Moralität  nichts  einzuwenden ;  4I5 
nur  es  müssen  doch  Gesetze  seyn,  nicht  um  den  Luxus  einzuschränken, 
sondern  zu  dirigiren.  Man  muß  im  Luxu  nicht  zu  weit  gehn,  sondern  so 
weit  man  es  aushalten  und  bestreiten  kann.  Der  Luxus  der  Weichlich- 

sokeit  muß  eingeschränkt  seyn,  dazu  gehört  z.  E.  der  weibische  Anzug 
bey  Männern,  die  Weichliclilveit  im  Essen  und  alle  Verzärtelungen.  So 
sehen  auch  die  Frauenzimmer  auf  einen  wackern,  thätigen  und  arbeit- 
samen Mann  mehr  als  auf  einen  süßen  geputzten  Herren,  wenn  nur  der 
erste  die  Grenzen  seines  iVnzugs  auf  der  andern  Seite  nicht  gar  zu  sehr 

35  übertreibt,  daß  er  seine  Unwissenheit  und  Gleichgültigkeit  darinne 
verräth ;  sondern  wenn  er  sich  nur  so  ziemlich  seinem  Stande  und  der 
Zeit  nach  gemäß  kleidet,  alsdenn  hat  er  mehr  Anstand ;  der  andere  aber, 
der  in  seinem  Betragen  und  Kleidern  so  sehr  weichlich  imd  weibisch 
ist,  der  beschäftiget  sich  mehr  mit  sich  und  sieht  mehr  auf  sich  als  das 


398  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

Frauenzimmer.  Der  Mann  muß  demnach  männlich,  das  Weib  weibKch 
seyn.  Am  Manne  gefällt  eben  so  wenig  das  weibliche,  als  am  Weibe  / 
416  das  männliche.  Solcher  weibliche  Luxus  macht  den  Mann  weiblich. 
Zum  männhchen  luxu  und  Vergnügen  gehört  z.  E.  die  Jagd. 


Von  den  Glücksgütern.  5 

Wir  nennen  einen  Menschen  wohlhabend,  wenn  sein  Besitz  der 
Glücksgüter  seinen  Bedürfnissen  vollkommen  adaequat  ist;  wir 
nennen  ihn  bemittelt,  wenn  er  Güter  überflüßig,  so  wohl  zu  Bedürf- 
nissen als  zu  beliebigen  Zwecken  hat.  Reich  heißt  einer,  wenn  es  zu- 
langt auch  andre  wohlhabend  zu  machen.  Der  Reichthum  ist  die  lo 
sufficiens  zum  Luxu.  Auf  der  andern  Seite  ist  einer  arm,  wenn  er 
Mangel  an  Gütern  hat  zu  beliebigen  Ausgaben.  Dürftig  aber,  wenn  er 
Mangel  hat  zu  noth wendigen  Ausgaben.  Die  Glücksgüter  werden  nicht 
allein  von  dem  der  sie  besitzt,  sondern  auch  von  andern  geschätzt. 
Ein  begüterter  Mann  wird  von  andern  deswegen  hoch  geachtet,  weil  er  i5 
begütert  ist,  und  ein  dürftiger  Mann  wird  deswegen  weniger  hoch- 
geachtet, M^eil  er  dürftig  ist.  Die  Ursache  werden  wir  gleich  einsehn. 
Alle  Glücksgüter  heissen  Mittel,  so  fern  sie  Mittel  sind,  seine  Bedürf- 

4n  nisse,  seine  /  beliebige  Absichten  und  Neygungen  zu  befriedigen.  Der 
Ueberfluß  der  Glücksgüter  über  seine  Bedürfniße  und  beliebige  Ab-  20 
sichten  ist  ein  Vermögen;  dieses  ist  schon  mehr  als  bemittelt  seyn. 
Das  Vermögen  hat  2  Vortheile,  erstlich  macht  es  uns  von  andern 
unabhängig,  denn  haben  wir  Vermögen,  so  brauchen  wir  nicht  andre 
und  bedürfen  nicht  andrer  Hülfe,  zweytens  hat  aber  auch  das  Ver- 
mögen Gewalt,  man  kann  vieles  erkaufen.  Alles,  was  menschliche  25 
Kräfte  hervorbringen  können,  kann  man  für  ein  Vermögen  haben. 
Demnach  ist  Gold  und  Gut  Vermögen  im  eigentlichen  Verstände. 
Dadurch  bin  ich  unabhängig ;  ich  darf  keinem  dienen,  keinen  um  etwas 
bitten;  denn  ich  kann  alles  um  Geld  haben;  wenn  ich  Geld  habe,  so 
kann  ich  mir  andre  durch  ihren  Eigennutz  unterwerfen,  daß  sie  mir  so 
dienen,  und  mit  ihrer  Ai'beit  mir  dienen  wollen.  Der  Mensch  aber, 
so  fern  er  von  andern  unabhängig  ist  und  sich  vermögend  befindet, 
ist  ein  Gegenstand  der  Achtung;  denn  dadiu-ch  verliert  ein  Mensch 

418  seinen  Werth,  /  wenn  er  von  andern  abhängt.  Es  liegt  schon  in  der 
Natur,  den  weniger  zu  achten,  der  von  andern  abhängt;  hat  er  aber  36 
wieder  über  andre  zu  befehlen,  so  ersetzt  es  das  wieder,  z.  E.  ein 


Moralphilosophie  Collins  399 

Officier.  Daher  ein  gemeiner  Soldat  und  ein  Bedienter  weniger 
geachtet  wird.  Dieweil  also  das  Geld  unabhängig  macht,  so  wird  man 
mehr  geachtet;  man  hat  einen  Werth;  man  braucht  keinen,  man 
dependirt  von  keinem.  Weil  aber  das  Geld  uns  unabhängig  macht, 

ö  so  werden  wir  zulezt  vom  Gelde  abhängen,  und  da  uns  das  Geld  von 
andern  frey  macht,  so  macht  es  uns  wieder  zu  Sklaven  von  sich  selbst. 
Dieser  Werth,  der  von  der  Unabhängigkeit  herrührt,  ist  nur  negativ; 
der  positive  Werth,  den  das  Vermögen  giebt,  rührt  von  der  Gewalt  her, 
die  das  Vermögen  giebt.  Diu-ch  Geld  habe  ich  Gewalt,  die  Kräfte 

10  anderer  zu  meinem  Dienste  zu  gebrauchen.  Die  Alten  sagten  zwar, 
der  Reichthum  ist  nicht  erhaben.  Ein  /  reicher  Mann  hat  Einfluß  ins  419 
gemeine  Wesen,  und  in  das  gemeine  Wohl.   Er  beschäftiget  viele 
Hände.  Dieses  ist  aber  nicht  eine  Erhabenheit  der  Person.  Die  Ver- 
achtung des  Reichthums  macht  aber  die  Person  erhaben.  Der  Reich- 

15  thum  macht  nvu'  den  Zustand  der  Person,  aber  nicht  die  Person  selbst 
erhaben.  Also  ist  die  Verachtung  des  Reichthums  für  den  Verstand 
erhaben,  aber  in  der  Erscheinung  ist  der  Reichthum  erhaben. 

Von    der    Anhänglichkeit    des    Gemüths    an    die    Glücks- 
güter, oder  vom  Geitz. 

20  Der  Besitz  eines  Vermögens  zu  beliebigen  Zwecken,  ist  schon  an 
sich  allein  angenehm,  demnach  sind  Reichthümer  an  sich  angenehm 
weil  sie  sich  auf  Zwecke  beziehn;  aber  die  Reichthümer  sind  auch 
angenehm,  ehe  ich  mir  die  Zwecke  verschaffe,  wenn  ich  auf  alle 
Zwecke  Verzicht  tliue,  und  mich  nur  in  dem  Besitz  und  Vermögen 

25 fühle,  alle  Zwecke  zu  erreichen;  denn  wenn  man  erst  das  Vermögen 
in  seiner  Gewalt  hat,  so  ist  das  schon  angenehm,  indem  man  denn 
es  schon  genießen  kann ,  wenn  man  es  will ;  es  beruht  bloß  /  auf  meinem  480 
Willen;  denn  das  Geld  ist  doch  schon  in  der  Tasche,  man  genießt  also 
hier  das  Vermögen  in  Gedanken,  weil  man  es  doch  geniessen  kann, 

30  wenn  man  will.  Die  Menschen  kränken  sich,  wenn  sie  das  entbehren 
müssen,  wozu  sie  Appetit  haben,  und  es  nicht  in  ihrer  Gew^alt  ist;  aber 
das  ist  ihnen  leicht  zu  entbehren  wenn  sie  auch  Appetit  dazu  haben, 
wenn  es  nur  in  ihrer  Gewalt  ist.  So  schmerzt  es  einen  jungen  ledigen 
Menschen,  daß  er  des  Vermögens  entbehren  muß,  was  ein  Ehemann 

35  hat,  und  obgleich  dieser  Ehemann  eben  solchen  Appetit  hat,  so  ist  es 
ihm  doch  leichter  zu  entbelu-en,  indem  er  stets  denkt,  du  kannst  es 
doch  allemal  haben.  Wenn  der  Mensch  also  Appetit  wozu  hat,  und  er 


400  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

hat  kein  Vermögen  denselben  zu  befriedigen,  so  schmerzt  es  ihn 
stärker,  als  es  ihn  schmerzen  möchte,  wenn  er  bey  demselben  Appetit 
sich  solches  versagen  möchte,  da  er  das  Vermögen  dazu  hat.  Es  steckt 
also  in  dem  bloßen  Besitz  des  Vermögens  was  angenehmes,  indem  man 
dadurch  alles  haben  kann,  was  und  wenn  man  will.  Daher  gehen  5 

431  reiche  /  Personen,  die  geizig  sind,  schlecht  gekleidet,  denn  sie  achten 
die  Kleider  nicht,  indem  sie  denlven :  sie  können  solche  Kleider  immer 
haben,  indem  sie  das  Geld  dazu  haben;  sie  dürfen  nur,  wenn  sie  wollen, 
sich  Locken  abschneiden  lassen  und  sich  solche  Kleider  machen 
lassen.  Wenn  sie  Kutsche  und  Pferde  sehn,  so  denken  sie:  sie  können  lo 
das  alles  eben  so  gut  haben  wie  der  da,  wenn  sie  nur  wollen.  Sie  nähren 
sich  also  mit  dem  Gedanl^en  von  dem  Genuß,  den  sie  in  ihrer  Gewalt 
haben;  sie  gehn  alle  in  prächtigen  Kleidern;  sie  fahren  in  Kutschen 
mit  6  Pferden;  sie  eßen  täglich  12  Gerichte;  aber  alles  in  Gedanken; 
denn  wenn  sie  nvir  wollten,  so  könnten  sie  solches  allemal  haben.  i5 
Der  Besitz  des  Vermögens  dient  ihnen  zum  wirklichen  Besitz  alles 
Vergnügens ;  sie  können  durch  den  bloßen  Besitz  des  Vermögens  alles 
Vergnügen  genießen  und  alles  Vergnügen  entbehren.  Ein  Mensch  der 
ein  Vergnügen  genossen  hat,  ist  lang  nicht  so  vergnügt,  als  wenn  er 

438  noch  den  Prospect  hat  /  das  Vergnügen  zu  genießen,  und  das  Geld  20 
behalten,  als  das  Vergnügen  wirklich  empfinden  und  das  Geld  aus- 
geben. Ein  Geiziger,  der  das  Geld  in  der  Tasche  hat,  stellt  sich  vor:  Avie 
wird  dir  zu  Muthe  seyn,  wenn  du  das  Geld  für  das  Vergnügen  wirst 
ausgegeben  haben;  du  wirst  hernach  eben  so  klug  seyn,  wie  anjezt; 
also  behalt  du  lieber  das  Geld.  Er  denkt  also  nicht  an  das  Vergnügen,  25 
was  er  geniessen  wird,  sondern  wie  ihm  zu  Muthe  seyn  wird  nach  dem 
Genuß  des  Vergnügens.  Der  Verschwender  stellt  sich  aber  das  Ver- 
gnügen vor,  wenn  er  es  genießen  wird.  Er  kann  nicht  denken,  wie  ihm 
hernach  zu  Muthe  seyn  wird,  wenn  er  es  wird  genoßen  haben,  darauf 
verfällt  er  nicht.  30 

In  der  Anhänglichkeit  der  Glücksgüter  ist  etwas  anzutreffen,  was 
mit  der  Tugend  eine  Aehnlichl^eit  hat,  es  ist  ein  Analogon  der  Tugend. 
Ein  solcher  beherrscht  sich  selbst  in  seiner  Neigung,  er  entzieht  sich 
vielen  Vergnügungen ;  er  befördert  dadurch  seine  Gesundheit ;  er  ist  in 
allem  ordentlich .  Daher  auch  alte  Leute,  wenn  sie  geitzig  sind,  länger  35 

423 leben,  als  wenn  sie  es  nicht  wären;  denn  /  indem  sie  sparen,  so  leben 
sie  mäßig;  sie  würden  sonst  nicht  mäßig  leben,  wenn  es  ihnen  nicht 
Geld  kostete;  daher  können  sie  gut  essen  und  trinken,  wenn  es  aus 
einem  fremden  Beutel  geht,  indem  ihr  Magen  in  guter  Ordnung  ist. 


Moralphilosophie  CoUins  401 

Geitzige  Leute  werden  von  andern  verachtet  und  verabscheuet,  und 
sie  können  es  nicht  einsehn,  warum  ?  —  Selbst  Personen,  die  nichts 
von  ihnen  verlangen,  verachten  sie,  und  je  mehr  sie  sich  selbst  was 
entziehn,  desto  mehr  verachtet  man  sie.  Bey  allen  übrigen  Lastern 

5  findet  man,  daß  der  Mensch  sich  selbst  tadelt,  es  findet  jeder,  daß  es 
ein  Laster  ist,  und  tadelt  sich  selbst  darüber;  beim  Geitzigen  allein 
aber  findet  man,  daß  er  das  Laster  nicht  tadelt;  er  weiß  nicht,  daß  das 
ein  Laster  ist ;  er  kann  das  gar  nicht  begreifen,  wie  es  ein  Laster  seyn 
kann.  Die  Ursache  hievon  ist  diese:  Ein  Geitziger  ist  derjenige,  der  nur 

10  in  Ansehung  seiner  selbst  karg  und  hart  ist,  gegen  andre  kann  er 
immer  gerecht  seyn,  er  nimmt  sonst  keinem  was  weg,  aber  er  giebt 
auch  keinem  was;  er  kann  also  gar  nicht  begreifen,  warum  ihn  ein 
andrer  Mensch  verachten  soll,  da  er  doch  keinem  andern  was  thut, 
und  was  er  in  Ansehung  seiner  selbst  thut,  /  dadurch  entsteht  doch  424 

15  dem  andern  kein  Schade,  und  das  geht  auch  keinen  nichts  an,  ob  er 
viel  oder  wenig  oder  gar  nicht  essen  möchte ;  ob  er  prächtig  in  Kleidern 
oder  schiecht  und  koddrig  gehn  möchte,  darum  hat  sich  kein  Mensch 
zu  bekümmern.  Darin  hat  er  zwar  Recht,  und  deswegen  sieht  ers  auch 
nicht  ein,  daß  es  ein  Laster  ist.  Und  man  kann  einem  Geitzigen  nicht 

20  so  recht  dreist  antworten,  wenn  er  nm-  sonst  nicht  ungerecht  ist, 
welches  aber  Geitzige  selten  sind.  Sie  halten  sich  rein  von  aller  Schuld. 
Sie  haben  auch  einigen  Vorwand,  warum  sie  sparen,  z.  E.  sie  sagen 
sie  sparen  für  ihre  Anverwandte;  allein  das  ist  nur  ein  Blendwerk, 
das  er  sich  selbsten  macht.  Würde  die  Absicht  des  Geitzigen  seyn  für 

25  seine  Anverwandte  zu  sparen,  so  würde  er  sie  noch  in  seinem  Leben 
unterstützen,  um  das  Vergnügen  an  ihrem  Wohlseyn  zu  haben. 
Geitzige  Personen  sind  gemeinhin  auch  selir  andächtig,  denn  indem  sie 
keine  U^nterhaltung  haben,  in  keine  Gesellschaften  gehn,  weil  es  Geld 
kostet,  so  ist  ihr  Gemüth  mit  ängstlichen  Sorgen  beschäftiget.  In 

30  diesen  ängstlichen  Sorgen  wollen  sie  Trost  und  /  Unterstützung  haben ;  485 
dies  wollen  sie  also  durch  ihre  Andächteley,  die  doch  nichts  kostet, 
von  Gott  erhalten.  Besonders  denken  sie,  wie  es  sehr  gut  und  profi- 
table wäre,  wenn  sie  Gott  auf  ihre  Seite  bekommen  möchten,  das 
möchte  nicht  schaden,  und  wäre  noch  besser  als  jährlich  12  procent. 

35  So  niedrig  er  in  allen  Handlungen  ist,  eben  so  niedrig  ist  er  auch  in  der 
Religion,  und  so  wie  er  alles  erwerben  will,  so  will  er  auch  das  Himmel- 
reich erwerben.  Er  sieht  nicht  auf  den  moralischen  Werth  seiner 
Handlungen,  sondern  er  denlit,  wenn  er  niu-  inständig  bittet,  denn  das 
kostet  ihn  nichts,  so  wird  er  schon  ins  Himmelreich  kommen.  Ein 

26     Kant's  Schriften  XXVII/1 


402  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

Geiziger  ist  auch  sehr  abergläubisch.  Er  glaubt,  aus  jeder  Begebenheit 
wird  eine  Gefahr  entstehn;  daher  bittet  er  Gott,  er  wolle  doch  alle 
Menschen  vor  Gefahr  bewahren;  sich  meint  er  aber  besonders.  Wenn 
ein  Unglück  entstanden,  wo  viele  unglücklich  geworden,  so  beklagt  er 

426  sie  selir,  indem  er  denl^t,  sie  werden  etwas  aus  seinem  /  Beutel  be-  5 
gehren.  Der  Geitzige  ist  also  sich  selbst  unbekamit;  er  kennt  sich 
Selbsten  nicht;  demnach  ist  er  unverbesserlich, indem  man  ihn  gar 
nicht  vom  Laster  überzeugen  kann.  Kein  Geitziger  kann  bekehrt 
werden,  ob  es  gleich  ein  jeder  Lasterhafte  werden  kann.  Der  Geitz  ist 
vernunftwidrig,  daher  hilft  keine  vernünftige  Vorstellung  bey  einem  lo 
Geitzigen ;  denn  wäre  er  fähig  diese  Vorstellung  einzusehn,  so  wäre  er 
nicht  geitzig.  Der  Geitz  ist  aber  deswegen  vernunftwidrig,  weil  das 
Geld  einen  Werth  als  Mittel  hat,  aber  kein  Gegenstand  des  unmittel- 
baren Wohlgefallens  ist.  Unmittelbar  hat  der  Geitzige  ein  unmittel- 
bares Wohlgefallen  an  dem  Gelde,  obgleich  es  nichts  ist  als  ein  bloßes  i5 
Mittel.  Es  ist  nur  ein  Wahn  der  Möglichkeit,  davon  einen  Gebrauch 
zu  machen.  Der  Vorsatz,  das  Geld  zu  gebrauchen,  wird  niemals  würk- 
lich.  Dieser  Wahn  ist  durch  die  Vernunft  nicht  zurechte  zu  bringen; 
denn  der  wäre  schon  selbst  wahnsinnig,  der  mit  dem  Wahnsinnigen 

42T  klug  und  vernünftig  /  reden  wollte.  Wäre  dieses  Laster  nicht  durch  die  20 
Erfahrung  gegründet,  so  könnten  wir  gar  nicht  einsehn,  daß  es  möglich 
ist,  weil  es  so  sehr  der  Vernunft  widerstreitet.  Der  Geitz  verschluckt 
zwar  alle  Laster,  aber  davor  ist  er  unverbesserlich. 

Der  Geitz  entspinnt  sich  aber  auf  folgende  Weise,  wozu  schon  die 
Vernunft  einen  Grund  legt :  Wenn  man  viele  Gegenstände  und  Ver-  25 
gnügungen  des  Lebens  sieht,  so  wünscht  man  sich  auch  dieselbe  zu 
besitzen  und  zu  genießen;  da  aber  das  Vermögen  als  die  Bedingung 
und  die  Mittel  solche  zu  erhalten  fehlt,  so  nimmt  man  sich  vor,  hiezu 
die  Mittel  zu  erwerben,  so  gewöhnen  wir  uns  an,  uns  eins  nach  dem 
andern  zu  entziehn.  Wenn  dieses  nun  einen  langen  Fortgang  hat,  so 
so  entwöhnen  wir  uns  aller  der  Vergnügungen  gänzlich,  und  ihre 
Gegenwart  und  ihr  Genuß  ist  uns  gleichgültig.  Da  wir  uns  alles  dieses 
zu  entbehren  angewöhnt  haben  in  Erwerbung  der  Mittel,  so  entbehren 
wir  es  auch,  wenn  wir  schon  wirklich  die  Mittel  erworben  und  in  unsrer 
488  Gewalt  haben.  Auf  /  der  andern  Seite  haben  wir  uns  wieder  das  35 
Sammeln  angewöhnt,  daher  sammeln  wir  hernach  noch  immer  fort, 
wenn  wirs  auch  nicht  mehr  nöthig  haben  zu  sammeln  und  bey  Seite  zu  le- 
gen. Die  Erfindung  des  Geldes  ist  auch  eine  Quelle  des  Geitzes,  denn  vor 
Erfindung  des  Geldes  kann  der  Geitz  nicht  geherrscht  haben.  Daher 


Moralphilosophie  Collins  403 

ist  das  filziger  Geitz,  mit  solchen  Sachen  sparsam  umzugehn,  die 
unmittelbar  können  genoßen  und  gebraucht  werden,  z.  E.  mit  Eß- 
waaren  oder  alten  Kleidern.  Das  Geld  giebt  aber  Anlaß  zum  Geitz, 
denn  es  ist  kein  Gegenstand  des  unmittelbahren  Genußes,  sondern  ein 
5 Mittel,  alles  mögliche  dafür  zu  erhalten;  denn  wenn  ich  noch  im 
Besitze  einer  Summe  Geldes  bin,  so  kann  ich  unermeßliche  Projekte 
haben,  mir  Annehmlichlceiten  und  Gegenstände  zu  verschaffen,  zu 
denen  allen  das  Geld  tauglich  ist.  Ich  kann  also  hier  das  Geld  noch 
anwenden,  wozu  ich  wUl,  ich  sehe  alle  die  Annehmlichkeiten  und  alle 

loObjecte  /  meines  Wohlgefallens  als  solche  an,  die  ich  noch  immer  489 
haben  kann ;  habe  ich  aber  für  eines  von  alledem  schon  das  Geld  aus- 
gegeben, denn  bin  ich  nicht  mehr  in  Ansehung  der  Disposition  des 
Geldes  frey,  jezt  kann  ich  nicht  mehr  was  andres  dafür  kaufen,  und 
aUe  die  Projecte  von  Annehmlichkeiten  und  Gegenständen  haben  nun 

15  ein  Ende.  Hier  entspringt  aber  bey  uns  eine  Illusion,  wenn  wir  das 
Geld  noch  besitzen,  so  sollten  wir  es  disjunctive  bezahlen,  indem  wir  es 
entweder  dazu  oder  dazu  gebrauchen  könnten.  Wir  betrachten  es  aber 
coUective,  und  glauben  alles  dafür  zu  haben.  Wenn  der  Mensch  das 
Geld  noch  besitzt,  so  hat  er  eine  angenehme  Träumerey,  sich  aUe  die 

20  Annehmlichlceiten  zu  verschaffen.  Nun  bleibt  der  Mensch  gerne  in 
diesem  süßen  Irrthume,   daher  beraubt  er  sich  dessen  dm-ch  die 
Vernunft  nicht.  Da  er  nun  das  Geld  für  ein  Mittel  hält,  aUe  Vergnü- 
gungen dadurch  zu  geniessen,  so  hält  er  /  das  Geld  für  das  größte  Ver-  430 
gnügen,  indem  in  demselben  alle  Vergnügungen  liegen,  die  er  alle 

25  geniessen  kann,  wenn  er  will.  Er  genießt  also  solange  er  das  Geld  hat 
aUe  Vergnügungen  in  Hoffnung;  wenn  er  aber  das  Geld  auf  den 
Gegenstand  des  einen  Vergnügens  anwenden  wollte,  so  ist  die  Uner- 
meßlichkeit von  allen  übrigen  Vergnügungen  auf  einmal  weg.  Dem- 
nach siehet  der  Mensch  das  Geld  als  den  Gegenstand  des  größten  Ver- 

sognügens  an,  in  welchem  alle  übrige  Vergnügungen  und  Gegenstände 
liegen.  Dieses  Spiel  geht  täglich  in  dem  Kopf  des  Geizigen  vor,  es  ist 
eine  lUusion  bey  ihm.  Wenn  also  nun  der  Geitzige  sieht,  wie  andre  aUe 
Annehmlichlieiten  des  Lebens  geniessen,  so  denkt  er,  du  kannst  ja  das 
alles  haben,  wenn  du  nur  willst;  es  schmerzt  ihn  zwar  und  er  mißgönnt 

35  es  den  andern ;  allein  wenn  der  andre  sein  Vergnügen  schon  genossen 
hat,  und  das  Geld  dafür  auch  schon  weg  ist,  denn  ist  die  Reihe  an  ihm 
zu  triumphiren;  denn  er  hat  noch  sein  Geld  in  der  Tasche  /  und  lacht  431 
sie  alle  aus,  indem  sie  jezt  eben  so  klug  sind.  Wenn  wir  die  Verhältnisse 
des  Geitzes  in  Ansehung  des  Standes,  des  Geschlechts  und  des  Alters 


404  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

erwegen,  so  bemerken  wir  in  Ansehung  des  Standes,  daß  man  dem 
geistlichen  Stande  besonders  vorwirft,  er  sey  dem  Geitz  ergeben. 
Diesen  Vorwurf  könnte  man  aber  überhaupt  auf  alle  Gelehrte  werfen, 
und  also  auch  auf  die  Geistlichen,  so  ferne  sie  unter  die  Gelehrten 
gehören,  es  sey  denn,  wenn  ein  Geistlicher  kleine  Einkünfte  hat,  und  5 
sich  also  angewöhnt  jede  Kleinigkeit  hochzuschazen,  daß  denn  der 
Geitz  bey  ihm  besonders  entstehet.  Allein,  die  Ursache,  warum  man 
dies  allen  Gelehrten  insgemein  vorwerfen  kann,  ist  diese :  Die  Gelehr- 
samkeit ist  keine  unmittelbahre  Erwerbung  des  Vermögens,  sondern 
nur  in  so  ferne  sie  geschätzt  wird,  daher  sieht  jeder  Gelehrte  sein  lo 
Metier  als  ein  solches  an,  was  nicht  so  fruchtbahr  ist,  und  was  kein 
Geschäfte  ist,  welches  an  sich  selber  eine  Brodtkunst  sey,  wodurch 
man  unmittelbar  Geld  verdient,  so  wie  andre.  Er  ist  also  unsicherer 
bey  allen  seinen  Einkünften,  als  ein  anderer,  der  dm-ch  seine  Kunst 

432  und  Handwerk  jederzeit  sein  Brod  /  verdienet.  Dieses  kann  also  einen  i5 
Gelehrten  zum  Geitz  disponiren,  und  das  Geld  hochzuhalten.  Ferner, 
Leute,  die  ein  sitzendes  Geschäfte  haben,  gewöhnen  sich  zum  Geitz ; 
denn  indem  sie  nicht  ausgehn,  so  entwöhnen  sie  sich  aller  der  Ausgaben 
die  damit  verbunden  sind.  Wenn  sie  von  allen  Vergnügungen  und 
Belustigungen  entfernt  sind,  so  sind  sie  auch  von  dem  dazu  erforder-  20 
liehen  Aufwände  frey,  und  indem  sie  ein  sitzendes  Geschäfte  haben, 
so  unterhalten  sie  sich  mit  solchen  Vergnügungen,  die  auch  ihr  Gemüth 
unterhalten,  und  dabey  gewöhnen  sie  sich  auch  die  Enthaltsamkeit  an. 
Der  Kaufmann  wäre  wohl  mehr  zur  Habsucht  als  zum  Geitz  geneigt. 
Der  Militairstand  ist  aber  gar  nicht  zum  Geitz  geneigt,  denn  indem  sie  25 
nicht  wissen  wie  lange  und  wenn  sie  das  ihrige  genießen  können,  und 
sie  damit  auch  nicht  recht  sicher  sind,  auchd  abeie  in  Stand  sind,  der  aus 
grosser  Gesellschaft  besteht,  so  sind  bey  ihm  keine  Quellen  zum  Geitz. 

43$  In  Ansehung  des  Geschlechts  /  merken  wir,  daß  das  weibliche  Ge- 
schlecht mehr  zum  Geitz  aufgelegt  ist,  als  das  männliche,  welches  auch  30 
mit  ihrer  Natur  wohl  übereinstimmt,  denn  indem  sie  nicht  diejenige 
sind,  die  da  erwerben,  so  müssen  sie  auch  mehr  sparen,  dagegen  kann 
derjenige  schon  großmüthiger  seyn,  der  da  erwirbt.  In  Ansehung  des 
Alters  merken  wir  an,  daß  das  Alter  mehr  zum  Geitz  geneigt  ist  als  die 
Jugend,  denn  die  Jugend  ist  noch  vermögend  sich  alles  zu  erwerben ;  35 
das  Alter  ist  aber  unvermögend.  Geld  ist  aber  vermögend,  indem  es 
auch  also  so  heißt,  alle  Zwecke  zu  erreichen,  die  einem  mangeln. 
Das  Geld  hat  eine  Macht.  So  suchen  auch  zuletzt  Diebe  weiui  sie  sich 
so  viel  zusammengestohlen  haben,  durch  das  Geld  sich  eine  Sicherheit 


Moralphilosophie  Collins  405 

vor  der  Strafe  zu  erwerben,  z.  E.  er  läßt  sich  adeln,  damit  er  nicht  so 
leicht  könne  gehangen  werden.  Also  sucht  das  Alter  durch  ein  künst- 
liches Vermögen  den  Mangel  seiner  Kräfte  und  Macht  zu  ersetzen. 
Eine  andere  Ursache  ist  auch  bey  dem   Alter   die  Furcht  vor  der 

5  künftigen  Dürftigkeit  und  Mangel ;  /  denn  wenn  sie  alles  verloren  haben,  434 
so  sind  sie  nicht  mehr  vermögend  sich  mehreres  zu  erwerben.  Die 
Jugend  aber  kann  sich  mehreres  erwerben;  sie  kann  was  anderes 
anfangen,  wenn  es  mit  einem  nicht  glückt;  sie  kann  sich  neue  Pläne 
machen,  das  kann  aber  das  Alter  nicht,  daher  muß  sich  das  Alter 

10  einen  Fonds  etabliren,  wodm-ch  es  von  allem  Mangel  in  Sicherheit 
stehet.  Bey  filtzigen  Geitzigen  ist  melirentheils  die  Furcht  die  Ursache 
ihres  Geitzes,  bey  einigen  aber  auch,  um  nur  Macht  und  Gewalt  zu 
haben,  welches  sie  am  besten  durch  Geld  haben  können. 


isBetrachtung    der    Sparsamkeit,    was    es    mit    ihr   für   eine 

Bewandniß  habe. 

Die  Sparsamkeit  ist  eine  Peinlichkeit  und  Aufmerksamkeit  in 
Ansehung  des  Aufwandes  der  Güter.  Die  Sparsamlceit  ist  keine  Tu- 
gend ;  denn  zum  Sparen  gehört  weder  Geschicklichkeit  /  noch  Talent.  435 

20  Wenn  wir  sie  mit  der  Verschwendung  gegen  einander  halten,  so  gehört 
dazu,  um  ein  Verschwender  mit  Geschmack  zu  seyn,  weit  mehr 
Talent  und  Geschickliclikeit  als  zum  Sparen,  denn  Geld  ablegen  kann 
auch  der  dümmste.  Das  Geld  aber  auf  verfeinerte  Vergnügungen  zu 
verthun,   dazu   gehört   Kenntniß   und   Geschicldiclikeit;   aber   Geld 

25  durchs  Sparen  zu  erwerben,  dazu  gehört  keine  Geschiklichlieit ;  daher 
auch  solche  Personen,  die  das  Geld  diurch  Sparen  erwerben,  sehr 
niedrige  Seelen  sind.  Unter  denen  Verschwendern  findet  man  aber 
aufgeweckte  und  geistreiche  Personen. 

Wenn  wir  fragen :  Was  ist  dem  Menschen  im  Staat  schädlicher,  der 
30  Geitz  oder  die  Verschwendung  ?  so  müßen  wir  vorher  von  beyden 
dasjenige  absondern,  wodurch  sie  den  Rechten  anderer  Menschen 
Eintrag  thun  können,  nämlich  von  dem  Geitze  die  Habsucht,  /  und  436 
von  dem  Verschwender  die  Verthuung  anderer  Güter,  alsdenn  sehen 
wir,  daß  der  Verschwender  sein  Leben  genoßen  hat,  und  der  Geitzige 
35  hat  sich  selbst  betrogen,  indem  er  es  immer  in  Hoffnung  genießen 
wollte.  Er  geht  also  aus  der  Welt,  wie  ein  dummer  Tropf,  der  nicht 


406  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

einmal  weiß,  daß  er  gelebt  hat.  Wenn  wir  aber  auf  der  andern  Seite  die 
Unbehutsamkeit  erwegen,  so  ist  es  bey  dem  Verschwender  eine  Un- 
klugheit,  indem  er  doch  nicht  weiß,  wie  lange  er  lebt,  und  er  also  her- 
nach alles  entbehren  muß,  wenn  er  es  vorher  verschwendet  hat,  wel- 
ches der  Geitzige  nicht  nöthig  hat.  Aber  bey  dem  Geitzigen  ist  es  eben  5 
so,  er  beraubt  sich  des  gegenwärtigen  Lebens,  da  sich  der  Verschwen- 
der des  künftigen  Lebens  beraubt.  Es  ist  zwar  schwerer  zuerst  das 
Wohlleben  genoßen  zu  haben,  und  hernach  im  Mangel  zu  seyn,  als 
431  sich  vorher  was  zu  entziehn,  und  das  /  Vergnügen  hernach  zu  genießen ; 
allein  so  hat  doch  der  Verschwender  das  Vergnügen  schon  genossen,  lo 
und  wenn  es  der  Geitzige  auch  zuletzt  genießen  möchte,  denn  wäre  es 
gut;  allein  er  genießt  es  niemahls,  sondern  er  schiebt  es  immer  auf; 
es  ist  ihm  immer  künftig,  und  er  speist  sich  nur  mit  Hoffnung  des 
Vergnügens.  Ein  Verschwender  ist  also  ein  liebenswürdiger  Thor;  ein 
Geitziger  aber  ein  hassenwürdiger  Narr.  Der  Verschwender  hat  auch  i5 
seinen  Charakter  nicht  verdorben;  er  kann  also  noch  Muth  fassen  in 
seinem  Unglück  zu  leben ;  der  Geitzige  ist  aber  immer  von  schlechtem 
Charakter. 

Wenn  wü'  aber  in  Ansehung  anderer  fragen :  Wer  ist  beßer,  der  Ver- 
schwender oder  der  Geitzige  ?  so  antworten  wir :  so  lange  beyde  leben  20 
ist  der  Verschwender  beßer  als  der  Geitzige,  aber  nach  dem  Tode 

438  nützt  /  der  Geitzige  den  andern  mehr.  Die  Vorsehung  hat  so  gar  Mittel 
durch  den  Geitzigen  ihre  Zwecke  zu  befördern.  Sie  sind  Maschinen, 
die  in  der  Ordnung  der  Dinge  mit  allgemeinen  Zwecken  übereinstim- 
men ;  sie  sorgen  dadurch  für  ihre  Nachlvommen,  die  durch  sie  in  den  25 
völligen  Besitz  ihrer  Güter  kommen,  und  weil  daselbst  das  Geld  auf 
einem  Haufen  ist,  so  können  dadurch  große  Geschäfte  unternommen 
werden,  und  durch  diese  Unternehmungen  kommt  das  Geld  wieder 
in  Circulation.  Die  Sparsamlceit  ist  keine  Tugend  sondern  Klugheit; 
aber  die  Genügsamkeit  ist  eine  Tugend.  Die  Genügsamkeit  ist  ent-  so 
weder  Mäßigung  oder  Resignation,  gänzliche  Entschlagung.  Es  ist 
leichter  sich  etwas  gäntzlich  zu  entschlagen,  als  sich  worin  zu  mäßigen. 
Wenn  man  etwas  entsagt,  so  hat  man  doch  nichts  empfunden;  wenn 

439  man  sich  aber  mäßigen  soll,  so  muß  /  man  vorher  schon  etwas  genossen 
haben,  also  sind  da  schon  die  Appetite  angefeuert,  daher  ist  es  schwe-  35 
rer  sich  dessen  zu  enthalten,  was  man  schon  zum  Theil  genossen  hat, 
als  gänzlich  etwas  zu  entsagen.  Zur  Resignation  gehört  Tugend,  aber 
zur  Mäßigung  noch  mehr.  Diese  Tugenden  laufen  auf  die  Herrschaft 
über  sich  selbst  hinaus. 


Moralphüosophie  Collins  407 

Von   den   2   Trieben   der   Natur   und   den   sich   darauf   be- 
ziehenden Pflichten. 

Wir  haben  von  Natur  2  Triebe  nach  denen  wir  verlangen,  von  andern 

5  geachtet  und  geliebet  zu  werden.  Diese  Triebe  beziehen  sich  also  auf 
die  Gesinnung  anderer.  Welche  Neigung  ist  von  diesen  die  stärkste  ? 
Die  Neigung  der  Achtung.  Die  Ursache  ist  2fach.  Die  Achtung  geht 
auf  unsern  Innern  Werth ;  die  Liebe  aber  nur  auf  den  relativen  Werth 
andrer  Menschen.  Man  wird  geachtet,  weil  man  einen  innern  Werth 

10  hat.  Die  andere  Ursache  ist:  weil  uns  die  Achtung  eine  größere  Sicher- 
heit für  andre  stellt  als  die  Liebe.  Durch  die  Achtung  sind  wir  mehr 
unverletzlich  und  gesicherter  vor  Beleidigungen.  Die  Liebe  kann  aber 
auch  bey  der  /  Geringschätzung  statt  finden.  Die  Liebe  beruht  auf  dem  440 
Lieben  anderer  Menschen.  Es  kommt  auf  andere  an,  ob  sie  mich  lieben 

15  oder  verstoßen  oder  haßen  wollen.  Wenn  ich  aber  einen  innern  Werth 
habe,  so  werde  ich  von  jedermann  geachtet,  es  kommt  hier  nicht  auf 
Jemandes  Belieben  an,  sondern  wer  meinen  innern  Werth  einsieht, 
der  \Aärd  mich  auch  achten.  Wenn  wir  das  Gegentheil  von  beyden 
nehmen,  so  ist  die  Verachtung  schmerzhafter  als  der  Haß.  Bej^de  sind 

20  unangenehm.  Wenn  ich  aber  ein  Gegenstand  des  Haßes  bin,  so  werde 
ich  doch  nur  von  einem  und  dem  andern  gehaßt  und  wenn  ich  auch 
viel  Unglück  vom  Haß  zu  erwarten  habe,  so  werde  ich  doch,  wenn 
andre  nur  einen  Werth  kennen,  Muth  und  Mittel  genug  finden,  den 
Haß  zu  ertragen  und  mich  ihm  entgegen  zu  setzen.  Die  Verachtung 

25  ist  aber  unerträglich.  Ein  Gegenstand  der  Verachtung  ist  ein  /  allge-  44i 
meiner  Gegenstand  der  Verachtung.  Sie  nimmt  uns  den  Werth  bey 
andern  weg  und  nimmt  uns  auch  das  BeAvußtseyn  unsres  eignen 
Werths  weg.  Wenn  wir  wollen  geachtet  seyn,  so  müssen  wir  auch  Ach- 
tung für  andre  Menschen  haben  und  die  Menschheit  überhaupt  achten. 

30  Auf  der  andern  Seite  liegt  uns  dieselbe  Pflicht  ob,  daß  wir,  wenn  wir 
wollen  geliebt  seyn,  auch  Menschenliebe  beweisen.  Also  müssen  wir 
das  thun,  was  wir  von  andern  fordern,  das  sie  gegen  uns  thun  sollen. 
Wenn  wir  die  Achtung,  die  wir  von  andern  gerne  haben,  noch  weiter 
analysiren,  so  finden  wir,  daß  die  Vorsicht  will,  daß  uns  das  Urtheil 

35  anderer  nicht  gleichgültig  seyn  soll,  sondern  daß  uns  unmittelbahr 
soll  daran  gelegen  sein,  was  andre  von  uns  urtheilen.  Dieses  fordern 
wir  aber  von  andern  nicht  aus  Nutzen,  Vortheil  und  andern  Absichten, 
denn  sonst  wären  wir  nicht  ehrliebig,  sondern  /  ehrbegierig,  ehrgeizig,  wz 
In  dieser  Absicht  will  ein  Kaufmann  für  reich  gehalten  werden,  denn 


408  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

er  hat  davon  Nutzen.  Die  Sachen  müssen  aber  nicht  von  den  Mitteln, 
sondern  von  dem  Zweck  benannt  werden.  So  ist  derjenige  nicht 
geitzig,  der  Geld  zusammenspart,  um  es  hernach  in  allem  Pomp  zu 
verprassen,  sondern  ehrsüchtig.  Also  ist  auch  die  Neygung,  von  andern 
ein  günstiges  Urtheil  zu  erhalten,  nicht  eine  Folge  des  Vortheils,  5 
sondern  es  ist  eine  unmittelbahre  Neygung,  die  bloß  auf  Ehre  gerichtet 
ist  und  keinen  Vortheil  zmn  Object  hat,  und  deswegen  kann  man 
nicht  ehrgeitzig,  sondern  ehrliebig  genannt  werden.  Die  Vorsicht 
hat  also  die  Neygung  in  uns  gelegt;  daher  ist  kein  Mensch,  wenn  er 
auch  ein  großer  Herr  ist,  gegen  die  Urtheile  anderer  gleichgültig,  lo 

443  Zwar  siehet  einer  mehr  darauf  als  der  andre,  /  so  scheint  es  z.  E.  daß 
dem  Edelmann  das  Urtheil  der  Bauren  oder  auch  wohl  gar  der  Bürger 
gleichgültig  ist,  und  dem  Fürsten  das  Urtheil  seiner  sämtlichen  Unter- 
thanen;  allein  ein  jeder  wird  doch  nach  dem  Urtheil  seines  gleichen 
fragen,  welches  ihm  nicht  gleichgültig  ist,  so  wird  z.  E.  dem  Fürsten  15 
das  Urtheil  eines  andern  Fürsten  nicht  gleichgültig  seyn,  obgleich  die 
Achtung  dessen,  der  unter  ihm  ist,  nicht  so  beträchtlich  zu  seyn 
scheint,  weil  man  über  einen  solchen  Gewalt  hat,  und  also  seine 
Achtung  nicht  so  vielen  Werth  hat  als  dessen,  über  den  er  keine 
Gewalt  hat,  aber  auf  seines  gleichen  scheint  sich  die  Ehrliebe  sehr  zu  20 
beziehn,  so  schämt  sich  z.  E.  ein  junges  Frauenzimmer  niedrigen 
Standes  mehr  vor  ihres  gleichen,  als  vor  den  Vornehmen,  von  denen 
sie  lieber  Verachtung  aussteht  als  von  ihres  gleichen.  Die  Achtung 

444  größerer  Personen  gegen  uns  /  schmeichelt  uns  daher  mehr  als  der 
niedrigen ;  der  aber  auch  gegen  die  Achtung  der  Geringen  nicht  gleich-  25 
gültig  ist,  der  schätzt  die  Menschheit  überhaupt,  dem  ist  das  Urtheil 
der  schlechtesten  Menschen  eben  so  wenig  gleichgültig,  als  der  Vor- 
nehmen. 

Die  Absicht  dieser  Neigung  der  Achtung  von  andern  ist  bey  der 
Vorsehung  diese,  daß  wir  unsre  Handlungen  mit  dem  Urtheil  anderer  so 
abwiegen  möchten,  damit  unsre  Handlungen  nicht  allein  aus  eigen- 
liebigen Absichten  geschehn  möchten,  weil  unser  Urtheil  allein  die 
Handlungen  corrumpirt,  sondern  daß  auch  andre  über  unsre  Hand- 
lungen richten  möchten.  Von  der  Ehrliebe  muß  die  Ehrbegierde  unter- 
schieden werden.  Wenn  wir  also  beyde  im  Verhältniß  halten,  so  ist  die  35 
Ehrliebe  was  negatives;  man  ist  nur  bedacht,  kein  Gegenstand  der 
Verachtung  zu  seyn.  Die  Ehrbegierde  aber  begehrt,  ein  Gegenstand 
der  Hochachtung  von  andern  zu  seyn.  Die  Ehrliebe  könnten  wir 
honestatem  nennen,  sie  müßte  aber  denn  von  der  Ehrbarkeit  unter- 


Moralphilosophie  Collins  409 

schieden  werden,  Ehrbegierde  ist  /  aber  Ambition.  Man  kann  ehrhebig  445 
seyn  wenn  man  auch  nicht  in  Gesellschaft  von  andern  Menschen  ist. 
Man  kann  aus  Ehrliebe  die  Einsamkeit  suchen,  um  nur  kein  Gegen- 
stand der  Verachtung  zu  seyn.  Ehrbegierig  kann  man  aber  nicht  in  der 
5  Einsamkeit  seyn,  denn  man  will  von  andern  hochgeachtet  werden. 
Es  ist  also  die  Ehrbegierde  eine  Anmaßung,  eine  Anfoderung  an  andere, 
daß  man  mich  hochachten  soll.  Ehrliebe  billigen  wir  an  jedermann 
allerwärts,  aber  Ehrbegierde  wollen  wir  an  keinem  haben.  Das  ist  die 
Bescheidenheit,  wenn  die  Ehrliebe  zu  keiner  Ehrbegierde  wird.  Nach 

10  der  Ehrliebe  wollen  wir  von  jedermann  Achtung  haben,  so,  daß  wir 
nicht  verachtet  werden,  nach  der  Ehrbegierde  aber  verlangen  wir, 
mehr  hochgeachtet  zu  werden,  als  es  gemeinhin  geschiehet.  Man  will 
vorzüglich  geachtet  seyn,  man  maßt  sich  an,  die  Urtheile  anderer 
nach  /  seiner  Meinung  zu  zwingen.  Da  aber  die  Urtheile  anderer  in  446 

15  Ansehung  unserer  frey  sind,  so  müßen  die  Gründe  unserer  Achtung 
so  seyn,  daß  die  Urtheile  anderer  unzudringlich  erfolgen,  der  aber  ehr- 
begierig ist,  der  sucht  die  Urtheile  anderer  zu  seiner  Achtung  zu 
zwingen,  er  fordert,  daß  ihn  die  andern  achten  sollen,  und  dadurch 
macht  er  sich  lächerlich,  er  thut  einen  Eingriff  in  die  Rechte  aller 

20  Menschen. 

Demnach  werden  wir  dem  Menschen,  der  ehrbegierig  ist,  gleich 
Wiederstand  leisten,  wer  aber  nur  ehrliebig  ist,  und  auf  seine  Achtung 
hält,  um  nur  nicht  verachtet  zu  werden,  den  achten  wir  auch  und 
jemehr  er  der  Achtung  werth  ist,  und  je  weniger  er  Anmaßung  drauf 

25  macht,  desto  eher  kommen  wir  ihm  mit  Achtung  entgegen.  In  der  Ehr- 
begierde sind  2  Stücke  zu  unterscheiden :  die  Eitelkeit  und  die  wahre 
Ehrbegierde.  Die  Eitelkeit  ist  eine  Begierde  nach  Ehre,  in  Ansehung 
dessen,  was  nicht  zu  unserer  Person  gehört,  z.  E.  wer  eine  Ehre  /  im  44T 
Titul,  in  der  Kleidung  etc.  sucht.  Die  wahre  Ehrbegierde  ist  aber  eine 

30  Begierde  nach  Ehre  in  Ansehung  dessen,  was  zum  Werth  unserer 
Person  gehört.  Alle  Ehrbegierde,  ob  sie  gleich  dem  Menschen  natürlich 
ist,  muß  doch  zurückgehalten  werden.  Alle  Menschen  sind  ehrbegierig, 
aber  keiner  muß  sie  verrüken,  denn  alsdenn  verfehlt  die  Ehrbegierde 
ihren  Zweck,  indem  die  Menschen  die  Anmaßung  auf  ihr  günstiges 

35  Urtheil  sogleich  zurücktreiben,  indem  sie  in  ihrem  Urtheil  frey  seyn 
wollen  und  gar  nicht  gezwamgen  werden  wollen.  Wir  können  etwas  an 
sich  werth  schätzen,  aber  hochschätzen  und  ehren  können  wir  nur  das, 
was  einen  verdienstlichen  Werth  hat.  Alltägliche  Menschen  sind,  die 
solchen  Werth  haben,  den  man  von  jedermann  ohne  Unterschied 


410  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

fordern  kann.  Und  deswegen  verdient  man  geachtet  und  geschätzt, 
aber  nicht  hochgeschätzt  und  geehrt  zu  werden,  wenn  man  redlich, 
ehrhch,  pünktHch  in  Beobachtimg  seiner  Schuldigkeit  ist,  denn  dies 
kann  man  von  jedem  fodern.  Weil  einer  ehrlich  ist,  kann  er  deswegen 

448 noch  keine  Beehrung  verlangen,  sondern  nur  /  Achtung;  denn  er  hat  5 
keinen  vorzüglich  hervorragenden  Werth.  In  allen  Zeitaltern,  wo  die 
Ehrlichkeit  Ehre  erwdrbt,  und  wo  es  ein  Punct  der  Ehrbegierde  ist, 
und  man  dadurch  einen  verdienstlichen  Werth  hat,  daß  man  ehrlich 
ist,  da  ist  schon  Corruption  der  Sitten,  da  ist  die  Ehrlichkeit  schon 
selten,  man  rechnet  sie  als  ein  Verdienst,  da  sie  doch  eine  alltägliche  lo 
Eigenschaft  eines  jeden  seyn  sollte,  denn  wer  einen  sehr  kleinen  Theil 
weniger  ist  als  ehrlich,  der  ist  schon  ein  Schelm.  So  wird  an  türkischen 
Richtern  als  etwas  verdienstliches  gelobt,  daß  sie  sich  nicht  haben 
bestechen  lassen,  und  wenn  Aristides  der  Gerechte  genannt  worden, 
so  ist  dies  zwar  Lob  für  ihn,  aber  ein  Schimpf  für  sein  Zeitalter,  indem  i5 
alsdenn,  da  es  so  sehr  von  ihm  gerühmt  wird,  wenige  Gerechte  ge- 
wesen. Zu  den  verdienstlichen  Handlungen  aber  gehört  z.  E.  Groß- 
muth,  Güte  etc.,  denn  dieses  kann  ich  nicht  von  jedem  fodern,  dem- 
nach werden  solche  Menschen  nicht  allein  geachtet,  sondern  hoch- 
geschätzt und  geehrt.  Achtung  erwirbt  man  sich  wegen  des  Wohl-  20 
Verhaltens;  Ehre  aber  wegen  der  verdienstlichen  Handlungen.  Man 
bringt  sich  um  die  Achtung  wenn  man  schuldige  Pflichten  unterläßt. 
Eben  so  wie  die  Natur  gebietet,  die  Geschlechter-Neygung  zu  ver- 
heelen,  und  ein  Geheimniß  daraus  zu  machen,  ob  sie  gleich  in  jedes 

449  Natur  ist,  diese  Verheelung  /  aber  dazu  dienet,  diesem  Hange  und  25 
Neygung  Schranken  zu  setzen,  und  sie  nicht  so  gemein  und  offenbar 
zu  machen,  damit  sie  desto  stärker  erhalten  werde,  eben  so  fordert 
auch  die  Natur,  daß  man  seine  Ne3^gung  zur  Ehrbegierde  zu  verbergen 
suche,  denn  so  bald  sie  sich  äußert,  so  ist  es  schon  eine  unbillige 
Anmaßung.  Der  Mensch  hat  einen  Trieb  zur  Ehre,  der  ganz  uneigen-  30 
nützig  ist,  oft  ist  die  Ehrbegierde  auch  eigennützig,  wenn  er  nähmlich 
deswegen  Ehre  sucht,  um  seinen  Zustand  zu  verbeßern,  ein  Amt  oder 
eine  Frau  dadurch  zu  bekommen;  wer  aber  Ehre  ohne  alle  Absicht 
nur  in  dem  Beyfall  anderer  sucht,  der  ist  ehrliebig.  Wenn  wir  den 
Trieb  zur  Ehre  nehmen,  den  die  Menschen  dadurch  zeigen,  daß  sie  35 
auch  nach  dem  Tode  gern  von  andern  Beyfall  erhalten  wollen,  so 
sehen  wir,  daß  darin  nichts  eigennütziges  ist.  Ohne  diese  Ehre  würde 
sich  keiner  bemühn,  sich  den  Wissenschaften  zu  widmen.  Wenn  er  auf 
der  wüsten  Insel  wäre,  so  würde  er  alle  Bücher  wegwerfen  und  lieber 


Moralphilosophie  Collins  411 

Wurzeln  suchen.  Es  fragt  sich,  ob  dieser  Trieb  der  Ehre  rechter  oder 
unrechter  Trieb  zu  Wissenschaften  sey  ?  Die  Vorsehung  hat  in  uns  den 
Trieb  zur  Ehre  gelegt,  damit  /  unsre  Handlungen  und  unser  Verfahren  450 
mit  dem  allgemeinen  Urtheil  anderer  übereinstimmen  möchten.  Denn 
5  hätten  wir  diesen  Trieb  nicht,  so  würden  wir  unsere  Handlungen  nicht 
so  gemeinnützig  machen.  Wir  könnten  uns  in  unserm  eigenen  Urtheil 
irren,  demnach  würden  unsere  Erkenntnisse  oft  sehr  falsch  sein,  wenn 
sie  nur  allein  auf  unserm  eignen  Urtheile  beruhn  sollten.  Daher  ist 
dieser  Trieb  unabhängig,  unsere  Urtheile  über  unsre  Erkenntnisse 

10  mit  dem  Urtheile  anderer  zu  vergleichen.  Dieses  ist  der  Probierstein, 
daß  wir  unsere  Erkenntniße  dem  Urtheil  vieler  Köpfe  unterwerfen. 
Die  allgemeine  Vernunft,  das  Urtheil  aller,  ist  der  Richterstuhl,  vor 
den  sich  unsre  Erkenntnisse  stellen  müssen,  denn  sonst  könnte  ich 
nicht  wissen,  ob  ich  mich  geirret  oder  nicht  geirret  hätte,  welches  aus 

15  vielen  Ursachen  seyn  könnte.  Ein  anderer  könnte  sich  wohl  irren,  aber 
nicht  gerade  da,  wo  ich.  Wir  haben  also  einen  Trieb  zur  Ehre,  unsre 
Erkenntnisse  dem  Urtheil  anderer  zu  communiciren.  Es  ist  wahr, 
dieser  Trieb  artet  hernach  in  die  Ehrbegierde  aus,  /  wo  man  die  fal-  45i 
sehen  Sachen  und  Erkenntnisse  durch  scheinbare  Gründe  auszuputzen 

20  suchet,  um  den  BeyfaU  anderer  zu  erschleichen  und  Ehre  erhalten  zu 
wollen;  aber  in  der  ersten  Quelle  ist  er  ein  reiner  und  ächter  Trieb, 
wenn  er  aber  ausartet,  so  fällt  auch  der  Zweck  der  Vorsehung  dadurch 
weg.  Die  Ehrbegierde  ist  nicht  so  natürlich,  sondern  nur  unter  Be- 
dingungen ;  die  Ehrliebe  aber  ist  natürlich.  Ohne  alle  Ehrliebe  hätten 

25  die  Wissenschaften  keinen  Antrieb.  Es  fragt  sich,  ob  diese  Ehrliebe  an 
und  vor  sich  selbst  ohne  allen  Eigennutzen,  die  auch  nach  dem  Tode 
nicht  gleichgültig  seyn  kann,  ja  auch  wohl  noch  stärker  ist,  weü  man 
nach  dem  Tode  nicht  mehr  etwas  von  sich  abwischen  kann,  mit  den 
Pflichten  gegen  sich  selbst  zusammenstimme,  ja,  ob  es  auch  ein  Gegen- 

30  stand  der  Pflicht  gegen  sich  selbst  ist  ?  Allerdings  stimmt  dieser  Trieb 
nicht  nur  mit  den  Pflichten  zusammen,  sondern  er  ist  auch  ein 
Gegenstand  unserer  Pflicht.  Der  Mensch  muß  ehrliebig  seyn.  Wer 
gleichgültig  in  Ansehung  der  Ehre  ist,  ist  niederträchtig.  Die  Ehre 
ist  die  Bonitaet  der  Handlungen  in  der  Erscheinung.  Die  /  Handlungen  458 

35  der  Menschen  müssen  aber  nicht  allein  gut  seyn,  sondern  auch  vor 
Augen  anderer  Menschen  als  gut  erscheinen.  Die  Moralität,  der  gute 
Wille  und  die  Gesinnung  geben  dem  mensclilichen  Geschlecht  den 
Werth.  Da  dieses  auch  die  moralische  Verbindung  ist,  so  muß  ein 
jeder  sehen,  daß  seine  Handhingen  nicht  nur  ein  negatives  Bej-spiel 


412  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

geben,  daß  sie  nichts  böses  in  sich  fassen,  sondern  daß  sie  auch  ein 
positives  Beyspiel  geben,  und  was  gutes  in  sich  enthalten.  Unsre 
Handlungen  müssen  also  nicht  allein  gut  seyn,  sondern  auch  als  ein 
Beyspiel  anderen  in  die  Augen  fallen.  Unsre  Handlungen  müssen  aus 
der  Ehrliebe  fließen.  Es  fragt  sich  nun:  Soll  man  sich  in  Ansehung  5 
der  Ehre  nach  der  Meinung  anderer  richten,  die  sie  von  dem,  was 
Billigung  oder  Mißbilligung  verdient,  genommen  haben,  oder  soll  man 
sich  nach  seinem  principio  richten?  Die  Meynungen  anderer  sind 
2fach,  aus  empirischen  Gründen,  und  da  haben  sie  Gewalt,  und  aus  der 
Vernunft,  da  haben  sie  keine  Gewalt.  In  Ansehung  der  Rechtschaffen- 10 
453heit,  /  die  ich  durch  meine  Vernunft  einsehe,  da  kann  ich  kemer 
Meynung  folgen,  sondern  nach  meinem  principio,  das  ich  aus  der  Ver- 
nunft einsehe,  muß  ich  mich  richten.  Wenn  es  aber  z.  E.  eine  Sache 
der  Gewohnheit  ist,  da  muß  ich  mich  nach  der  Meynung  anderer 
richten.  i5 

Die  Ehrbegierde  kann  auch  2fach  seyn :  Wenn  man  das  für  den  Ge- 
genstand der  Ehre  hält,  was  die  Leute  von  einem  sagen,  und  was  sie 
von  einem  denken.  Jeder  muß  das  für  einen  Gegenstand  der  Ehre 
halten,  was  die  Leute  von  einem  denken,  das  ist  schon  schlecht,  wenn 
man  sich  nur  daran  kehrt,  was  die  Leute  von  einem  sagen.  20 

Ehrbarkeit  ist  die  Würdigkeit  des  Verhaltens,  geehrt  zu  werden, 
das  heißt,  kein  Gegenstand  der  Verachtung  zu  seyn. 

Ende  der  Abhandlung 
von  den  Pflichten  gegen  sich  selbst. 


Moralphilosophie  Collins  413 


/  II.  Von  den  Pflichten  gegen  andre  Menschen.  454 

Der  Autor  begeht  hier  eine  Ausschweifung,  indem  er  redet  von  den 
Pfhchten  gegen  Unbelebte,  gegen  belebte  oder  unvernünftige  and 
gegen  vernünftige  Wesen.  Wir  haben  aber  nur  Pflichten  gegen  andre 
5  Menschen,  die  unbelebten  sind  unsrer  Willkühr  gänzlich  unterworfen, 
und  die  Pflichten  gegen  die  Thiere  sind  Pflichten,  in  so  weit  sie  in 
Ansehung  unserer  gehn.  Demnach  werden  wir  alle  Pflichten  reduciren, 
auf  die  Pflichten  gegen  andre  Menschen.  Bey  diesen  Pfhchten  bemer- 
ken wir  2  Hauptgattungen: 

10       I,  Die  Pflichten  des  Wohlwollens  oder  Gütigkeit 

II,  Die  Pflichten  der  Schuldigkeit  oder  Gerechtigkeit. 

Im  ersten  Fall  sind  unsre  Handlungen  gütig,  im  zweyten  aber 
gerechte  und  schuldige  Handlungen. 

Wenn  wir  zuerst  die  Pflichten  des  Wohlwollens  nehmen,  so  können 

15  wir  nicht  sagen,  wir  sind  /  verbunden,  andre  Menschen  zu  lieben,  455 
und  ihnen  Wohl  zu  thun ;  denn  wer  den  andern  Hebt,  will  ihm  wohl, 
aber  ohne  daß  er  ihm  solches  schuldig  ist,  sondern  aus  willigen  Gesin- 
nungen, gerne  und  aus  eignem  Triebe.  Liebe  ist  Wohlwollen  aus 
Neygung.  Es  kann  aber  auch  Gütigkeit  statt  finden  aus  Grundsätzen. 

20  Demnach  ist  unser  Vergnügen  und  Wohlgefallen  am  Wohlthun 
anderer  entweder  ein  unmittelbares  oder  ein  mittelbares  Vergnügen. 
Das  unmittelbare  Vergnügen  am  Wohlthun  anderer  ist  die  Liebe,  das 
mittelbare  Vergnügen  des  Wohlthuns,  wo  wir  uns  zugleich  bewußt 
sejm,  unsre  Pflicht  erfüllet  zu  haben,  ist  das  Wohlthun  nach  Verbind- 

25  lichlceit.  Das  Wohlthun  aus  Liebe  entspringt  aus  dem  Herzen,  das 
Wohlthun  aus  Verbindlichkeit  entspringt  aber  aus  Grundsätzen  des 
Verstandes.  Man  kann  z.  E.  seiner  Frau  wohlthun  aus  Liebe;  wo  aber 
schon  die  Neygung  /  weggefallen  ist,  da  thut  man  es  aus  Verbindlich-  45« 
keit.  Es  fragt  sich,  ob  ein  Moralist  sagen  kann  wir  haben  eine  Pfhcht 

30  andre  zu  lieben  ?  Liebe  ist  ein  Wohlwollen  aus  Neigung ;  nur  kann  mir 
nichts  zur  Pflicht  auferlegt  werden,  was  nicht  auf  meinem  Willen 
beruht,  sondern  auf  meiner  Neigung,  denn  ich  kann  ja  nicht  Heben, 
wenn  ich  will,  sondern  wenn  ich  einen  Trieb  dazu  habe.  Pflicht  ist  aber 
jederzeit  ein  Zwang;  entweder  muß  ich  mich  selbst  zwingen,  oder  ich 


414  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

werde  von  andern  gezwungen.  Worin  besteht  aber  die  Quelle  der 
Verbindlichkeit  des  Wohlthuns  an  andern  aus  Grundsätzen  ?  Hier 
müssen  wir  den  Schauplatz  der  Welt  anschauen,  auf  den  wir  als  Gäste 
von  der  Natur  gesetzt  sind,  und  auf  dem  wir  alles  finden,  was  zu 
unserm  zeitlichen  Glück  nöthig  ist.  Von  diesen  Gütern  der  Welt  hat  5 
jeder  Recht  sie  zu  genießen.  Da  nun  aber  jeder  daran  einen  gleichen 
Antheil  hat,  Gott  aber  keinem  seine  Portion  zugeschnitten  hat,  sondern 
45r  es  /  dem  Menschen  überlassen,  sie  unter  sich  zu  theilen,  so  muß  ein 
jeder  diese  Güter  des  Lebens  so  gemessen,  daß  er  auch  auf  die  Glück- 
seeligkeit  anderer  bedacht  sey,  die  ein  gleiches  Antheil  daran  haben,  lo 
und  ihnen  nichts  vorentziehn.  Weil  also  die  Vorsorge  allgemein  ist, 
so  muß  man  nicht  gleichgültig  seyn  in  Ansehung  der  Glückseeligkeit 
anderer.  Wenn  ich  z.  E.  einen  gedeckten  Tisch  mit  Speisen  im  Walde 
finde,  so  muß  ich  nicht  denlvcn,  daß  das  allein  für  mich  ist,  ich  kann 
davon  gemessen,  aber  ich  muß  auch  bedacht  seyn,  andren  auch  etwas  i5 
übrig  zu  lassen,  auch  nicht  ein  Gericht  ganz  allein  aufessen,  denn  ein 
anderer  könnte  auch  dazu  Appetit  haben.  Wo  ich  also  sehe,  daß  die 
Vorsorge  allgemein  ist,  so  habe  ich  Verbindlichkeiten,  meinen  Ge- 
brauch einzuschränlicn  und  zu  denken,  daß  die  Natur  die  Anstalten 
für  alle  gemacht  hat.  Dieses  ist  der  Quell  des  Wohlthuns  aus  Verbind-  20 
lichlceit.  Wenn  wir  aber  auf  der  andern  Seite  das  Wohlthun  aus  Liebe 
nehmen,  und  einen  Menschen,  der  da  aus  Neygung  liebt,  betrachten, 
so  finden  wir,  daß  ein  solcher  Mensch  anderer  Menschen  bedarf,  gegen 

458  die  er  sich  gütig  beweisen  kann.  Er  /  ist  nicht  befriediget,  wenn  er 
nicht  Menschen  findet,  denen  er  wohlthun  kann.  Ein  liebreiches  Herz  25 
hat  ein  unmittelbares  Vergnügen  und  Wohlgefallen  am  Wohlthun; 
es  hat  mehr  Vergnügen  als  wenn  es  selbst  genießt.  Diese  Neygung  muß 
befriediget  werden,  denn  es  ist  ein  Bedürfniß.  Dieses  ist  eine  Gut- 
artigkeit des  Gemüths  und  des  Herzens,  aber  kein  Moralist  soll  solches 
zu  cultiviren  suchen,  sondern  das  Wohlwollen  aus  Grundsätzen  muß  30 
cultivirt  werden,  denn  die  erste  gründet  sich  auf  Neygung  und  Bedürf- 
niß des  Menschen,  woraus  ein  um-egelmäßiges  Verhalten  entspringt. 
Ein  solcher  Mensch  wird  aus  Neygung  gegen  jedermann  wohlthätig 
seyn,  wenn  er  aber  von  einigen  hintergangen  wird,  wird  es  ihn  ge- 
reuen, denn  entschließt  er  sich  wieder  anders,  und  macht  sich  eine  35 
Regel,  von  nun  an  keinem  Wohl  zu  thun.  Sein  Verhalten  ist  also  gar 
nicht  nach  Grundsätzen  abgemessen.  Moralisten  müssen  demnach 
Grundsätze  festsetzen  und  das  Wohlleben  aus  Verbindlichkeit  emp- 

459  fehlen  und  cultiviren,  /  und  wenn  alle  Verbindlichice it  durch  die  Natur 


Moralphilosophie  Collins  415 

auch  durch  die  Rehgiou  vorgelegt  ist,  so  kann  auch  die  Neigung 
cultivirt  werden,  aber  nui-  in  so  fern  sie  unter  den  Grundsätzen  stehn 
muß,  denn  können  sie  als  Triebfedern  zu  den  Handlungen  der  Gütig- 
keit aus  Neygung  vorgelegt  werden. 
5  Wir  gehn  nun  zu  der  2ten  Art  von  Pflichten  gegen  andere  Menschen, 
nämlich  zu  den  Pflichten  der  Schuldigkeit  und  der  Gerechtigkeit. 
Diese  Pflichten  entspringen  nicht  aus  Neygung,  sondern  aus  dem 
Rechte  anderer  Menschen.  Hier  wird  nicht  auf  die  Bedürfniß  des 
andren  Menschen,  wie  bey  den  vorigen  gesehn,  sondern  auf  das  Recht; 

10  der  andere  Mensch  mags  nöthig  haben  oder  nicht,  er  mag  elend  oder 
nicht  elend  seyn,  wenn  es  sein  Recht  betrifft,  so  bin  ich  ihm  schuldig 
zu  satisfaciren.  Diese  Pflichten  beruhen  auf  der  allgemeinen  Regel 
des  Rechts.  Die  höchste  unter  allen  diesen  Pflichten  ist  die  Hochach- 
tung für  das  Recht  anderer  Menschen.  Ich  bin  verbunden  das  Recht 

15  anderer  Menschen  hochzuhalten,  und  es  als  heilig  anzusehn.  Es  ist  in 
der  ganzen  Welt  nichts  so  heilig,  als  das  Recht  anderer  Menschen, 
dieses  ist  unantastbar  und  un verletzbahr.  /  Wehe  dem!  der  das  Recht  460 
anderer  kränlvt  und  es  mit  Füssen  tritt.  Das  Recht  des  andern  Men- 
schen soll  ihn  für  alles  in  Sicherheit  halten,  es  ist  stärker  denn  alle 

20  Wehr  und  Mauer.  Wir  haben  einen  heiligen  Regierer,  und  das  was  er 
den  Menschen  als  heilig  gegeben  hat,  ist  das  Recht  der  Menschen. 
Wenn  wir  uns  einen  Menschen  vorstellen,  der  nur  nach  Recht  und 
nicht  nach  Gütigkeit  handelt,  so  kann  dieser  Mensch  immer  sein  Herz 
vor  jedem  andren  verschliessen,  er  kann  gleichgültig  seyn  gegen  sein 

25  elendes  und  jämmerliches  Schicksahl,  wenn  er  aber  niu'  gewissenhaft 
ist  in  Beobachtung  seiner  schuldigen  Pflichten  gegen  jedermann,  wenn 
er  nur  jedes  Menschen  sein  Recht  als  ein  heiliges  und  hochachtungs- 
würdiges Stück,  das  der  Regierer  der  Welt  den  Menschen  gegeben  hat, 
hält;  wenn  er  keinem  Menschen  nicht  das  geringste  umsonst  giebt, 

30  aber  auch  darin  pünJctlich  ist,  daß  er  ihm  nichts  entzieht,  so  handelt 
er  recht,  und  wenn  alle  so  handeln  möchten,  wenn  alle  keine  Handlung 
der  Liebe  und  Gütigkeit  ausüben  möchten,  aber  das  Recht  jedes  Men- 
schen unverletzt  ließen,  denn  wäre  kein  Elend  in  der  Welt,  ausser  nur 
ein  solches  /  Elend  was  nicht  aus  der  Verletzung  anderer  entspringt,  46i 

35  z.  E.  Krankheiten  und  Unglücksfälle.  Das  gröste  und  mehreste  Elend 
des  Menschen  beruht  mehr  auf  dem  Unrecht  der  Menschen  als  auf  dem 
Unglück.  Da  die  Achtung  des  Rechts  eine  Folge  der  Grundsätze  ist, 
die  Menschen  aber  einen  Mangel  an  Grundsätzen  haben,  so  hat  die 
Vorsicht  einen  andren  Quell  in  uns  gelegt,  nähmlich  den  Instinkt  der 


416  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

Gütigkeit,  wodurch  wir  das  ersetzen,  was  wir  auf  unrechtmäßige  Art 
erlangt  haben.  Wir  haben  demnach  Instinkt  zur  Gütigkeit,  aber  nicht 
zur  Gerechtigkeit.  Nach  diesem  Triebe  erbarmen  sich  Menschen  über 
andere  und  erzeigen  demjenigen  Wohlthaten,  dem  sie  es  vorher  ent- 
rissen, obgleich  sie  sich  keiner  Ungerechtigkeit  bewußt  sind,  das  5 
kommt  daher,  weil  sie  es  nicht  recht  untersuchen.  Man  kann  mit 
Antheil  haben  an  der  allgemeinen  Ungerechtigkeit,  wenn  man  auch 
keinem    nach    den   bürgerlichen    Gesetzen   und    Einrichtungen    ein 

46»  Unrecht  thut.  Wenn  man  nun  einem  Elenden  /  eine  Wohlthat  erzeiget, 
so  hat  man  ihm  nichts  umsonst  gegeben,  sondern  man  hat  ihm  das  lo 
gegeben,  was  man  ihm  durch  eine  allgemeine  Ungerechtigkeit  hat 
entziehen  heKen.  Denn  wenn  keiner  die  Güter  des  Lebens  mehr  an 
sich  ziehen  möchte,  als  der  andre,  so  wären  keine  Reiche  aber  auch 
keine  Arme.  Demnach   sind   selbst  die  Handlungen  der  Gütigkeit 
Handlungen  der  Pflicht  und  Schuldigkeit,  die  aus  dem  Recht  anderer  is 
entspringen.  Wenn  wir  auf  der  andern  Seite  einen  Menschen  betrach- 
ten, der  das  Recht  anderer  nicht  achtet,  sondern  gewohnt  ist,  auch 
seine  schuldige  Handlungen  aus  Gütigkeit  zu  thun,  dem  man  nichts 
von  Recht  und  Schuldigkeit  vorreden  soll,  der  wird  viele  Handlungen 
aus  Gütigkeit  ausüben,  —  wenn  aber  einer  kommen  wird,  seine  Schuld  20 
abzufordern,  weil  er  in  der  größten  Noth  ist,  und  seine  Wechsel 
Schuld  wieder  bezahlen  soll,  wenn  nun  dieser  die  ordentliche  Sprache 
der  Schuldigkeit  führet,  so  wird  er  von  jenem  angefahren,  daß  er  so 

46$  grob  ist,  und  alles  mit  Zwang  haben  will,  /  ob  er  es  gleich  mit  Recht 
zwangsmäßig  fordern  kann.  Wenn  er  nun  diesem  Menschen  seine  25 
Schuld  nicht  abgiebt,  dieser  aber  dadurch  unglücklich  wird,  so  be- 
tragen alle  seine  gütige  und  wohlthätige  Handlungen,  die  er  in  seinem 
ganzen  Leben  ausgeübt  hat,  nicht  so  viel  als  das  eine  Uiu:'echt,  was  er 
diesem  Menschen  angethan  hat,  denn  dieses  ist  eine  ganz  andere  Art 
von  Rechnung,  in  der  jene  Handlungen  gar  nicht  in  Anschlag  kom-  so 
men.  Er  kann  Gütigkeit  ausüben,  von  dem  was  er  übrig  hat,  aber  er 
muß  keinem  das  Seinige  abziehen.  Wenn  nun  alle  Menschen  nur  bloß 
aus  Gütigkeit  handeln  wollten,  so  wäre  gar  kein  Mein  und  Dein, 
denn  wäre  die  Welt  kein  Schauplatz  der  Vernunft,  sondern  der 
Neygung,  denn  würde  sich  keiner  bemühen  was  zu  erwerben,  sondern  35 
sich  auf  die  Gütigkeit  des  andern  verlassen ;  alsdenn  aber  müßte  alles 
in  größtem  Ueberfluß  seyn,  es  wäre  alles  paßiv,  so  als  wenn  Kinder 
zusammen  was  genüssen,  wo  eins  dem  andern  was  giebt,  so  lange  was 
da  ist.  Demnach  ist  es  gut,  daß  Menschen  durch  Arbeit  ihr  Glück 


Moralphilosophie  Coli  ins  417 

besorgen  müßen,  und  jeder  Achtung  für  das  Recht  des  andern  haben 
muß.  Demnach  müssen  alle  Moralisten  und  Lehrer  darauf  sehn,  daß  sie 
die  Handlungen  /  der  Gütigkeit  so  viel  als  möglich  als  Handlungen  der  4«4 
Schuldigkeit  ausgeben  und  sie  aufs  Recht  reduciren.  Man  muß  dem 
5  Menschen  nicht  schmeicheln,  wenn  er  Handlungen  der  Gütigkeit 
ausgeübt  hat,  denn  sonst  bläht  er  sein  Herz  von  Großmuth  auf  und 
will,  daß  alle  seine  Handlungen  alsdenn  Handlungen  der  Gütigkeit 
seyn  sollen. 

Wir  wollen  noch  etwas  von  den  Pflichten  des  Wohlwollens  und  der 

10  Gütigkeit  anführen.  Das  Wohlwollen  aus  Liebe  kann  nicht  geboten 
werden,  wohl  aber  das  Wohlwollen  aus  Verbindlichkeit.  Wenn  wir  aber 
einem  wohlthun  aus  Pflicht,  so  gewöhnen  wir  uns  daran,  so  daß  wir 
es  auch  hernach  aus  Liebe  und  Neygung  thun.  Wenn  wir  von  jemandem 
Gutes  reden,  blos  weil  wir  sehn  er  hat  es  verdient,  so  gewöhnen  wir 

15  uns  daran,  so  daß  wir  ihm  hernach  alles  gute  nachsagen.  Also  ist  auch 
die  Liebe  aus  Neigung  eine  moralische  Tugend  und  könnte  in  so  weit 
geboten  werden,  damit  man  sich  üben  möchte,  erst  aus  Verbindlich- 
keit wohlzuthun  und  durch  das  Angewöhnen  hernach  auch  aus 
Neigung.  /  Alle  Liebe  ist  entweder  Liebe  des  Wohlwollens  oder  Liebe  465 

20  des  Wohlgefallens.  Die  Liebe  des  Wohlwollens  besteht  im  Wunsch 
und  in  der  Neigung  das  Glück  anderer  zu  befördern.  Die  Liebe  des 
Wohlgefallens  ist  das  Vergnügen,  welches  wir  haben,  den  Voll- 
kommenheiten des  andern  Beyfall  zu  beweisen.  Dieses  Wohlgefallen 
kann   sinnlich   und   intellectual   seyn.   Alles  Wohlgefallen,  wenn   es 

25  Liebe  ist,  muß  doch  vorher  Neigung  seyn.  Die  Liebe  des  sinnlichen 
Wohlgefallens  ist  ein  Gefallen  an  der  sinnlichen  Anschauung,  aus 
sinnlicher  Neigung,  z.  E.  die  Geschlechter-Neigung  ist  ein  sinn- 
liches Wohlgefallen;  es  geht  nicht  sowohl  auf  die  Glückseeligkeit,  als 
auf  die  Gemeinschaft  der  Personen.  Die  Liebe  des  intellectualen  Wohl- 

sogefallens  ist  schon  schwerer  zu  concipiren.  Das  intellectuale  Wohl- 
gefallen ist  nicht  schwer  sich  vorzustellen,  aber  die  Liebe  des  intellec- 
tualen Wohlgefallens  ist  schwer  sich  vorzustellen.  Welches  intellec- 
tuelle  Wolilgefallen  bringt  Neigung  hervor  ?  Die  gute  Gesinnung  der 
Gütigkeit.  Wenn  es  nun  heißt:  du  sollst  deinen  Nächsten  lieben, 

35  wie  ist  das  zu  verstehen  ?  Nicht  mit  der  Liebe  des  Wohlgefallens  soll 
ich  ihn  lieben,  mit  solcher  kann  ich  auch  den  größten  Bösewicht  / 
lieben,  sondern  mit  der  Liebe  des  Wohlwollens.  Das  moralische  Wohl-  46« 
wollen  bestehet  aber  nicht  darin,  daß  man  ihm  wohl  will,  sondern  daß 
man  ihm  eigentlich  wünsche,  er  möchte  doch  dessen  würdig  werden, 

27     Kant's  Schriften  XXVII/1 


418  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

und  eben  solche  Liebe  des  Wohlwollens  können  wir  auch  gegen  Feinde 
haben.  Dieses  Wohlwollen  kann  immer  herzlich  seyn.  Ich  wünsche,  daß 
er  zu  sich  selbst  gebracht  werde  und  sich  dadiu-ch  alles  Glücks  würdig 
machen  möge,  und  es  wirklich  erreichen.  Solches  Wohlwollen  kann  ein 
König  gegen  seinen  Verräther  haben.  Er  kann  ihn  zwar  bestrafen  und  5 
hängen  lassen,  er  kann  ihn  aber  auch  beklagen,  daß  er  so  unglücklich 
ist,  daß  er  solche  Strafe  an  ihm  ausüben  muß  nach  den  Gesetzen,  allein 
er  kann  ihm  auch  herzlich  wünschen,  daß  er  sich  der  Seeligkeit  würdig 
machen  möge,  und  sie  wirkhch  erlange.  Demnach  kann  die  Liebe  des 
Wohlwollens  gegen  seinen  Nächsten  jedermann  gebothen  werden,  lo 
Allein  die  Liebe  des  Wohlgefallens  gegen  seinen  Nächsten  kann  nicht 
allgemein   gebothen  werden,   indem  keiner  ein  Wohlgefallen  daran 

461  haben  kann,  da  wo  kein  Objekt  der  Billigung  ist;  allein  /  an  dem 
Menschen  selbst  ist  ein  Unterschied  zu  machen  zwischen  dem  Menschen 
selbst  und  seiner  Menschheit.  Demnach  kann  ich  ein  Wohlgefallen  an  i5 
der  Menschheit  haben,  ob  ich  gleich  kein  Wohlgefallen  an  dem  Men- 
schen habe.  Ich  kann  ein  solches  Wohlgefallen  auch  am  Bösewicht 
haben,  wenn  ich  den  Bösewicht  und  die  Menschheit  von  einander 
unterscheide;  denn  auch  in  dem  größten  Bösewicht  ist  noch  ein 
Keim  des  guten  Willens.  Es  ist  kein  Bösewicht,  der  nicht  einsehn  und  20 
unterscheiden  könnte  das  Gute  vom  Bösen,  und  der  nicht  wünschen 
sollte  tugendhaft  zu  seyn.  Also  ein  moralisch  Gefühl  und  der  gute 
WiUe  ist  da,  nur  die  Kraft  und  die  Triebfeder  fehlen;  denn  wenn  er 
auch  ein  solcher  Bösewicht  ist,  so  kann  ich  doch  noch  denken,  wer 
weiß  was  ihn  dazu  bewogen  hat ;  vielleicht  ist  dieses  nach  seinem  25 
Temperament  eben  eine  solche  Kleinigkeit  gewesen,  als  ein  kleines 
Vergehn  von  meinem.  Wenn  ich  mich  nun  in  sein  Gefühl  versetze, 
so  kann  ich  doch  noch  in  ihm  ein  Gefühl  zur  Tugend  finden,  also  muß 
die  Menschheit  doch  in  ihm  gehebt  werden.   Demnach  kann  mit 

468  Recht  gesagt  werden,  wir  /  sollen  unsern  Nächsten  lieben.  Ich  bin  30 
nicht  allein  zum  Wohlthun  verbunden,  sondern  auch  zur  Liebe  gegen 
andre  mit  Wohlwollen  und  Wohlgefallen.  Da  die  Menschen  Gegen- 
stände der  Liebe  des  Wohlgefallens  sind,  indem  wir  in  ihnen  die 
Menschheit  lieben  sollen,  so  müßen  auch  die  Richter  in  Bestrafung 
der  Verbrechen  die  Menschheit  nicht  entehren;  zwar  den  Bösewicht 35 
bestrafen,  aber  nicht  seine  Menschheit  verletzen  durch  niedrige 
Strafen;  denn  wenn  ein  anderer  jemandes  Menschheit  entehrt,  so  setzt 
der  Mensch  selbst  in  seine  Menschheit  keinen  Werth ;  es  sey  denn  wenn 
der  Bösewicht  selbst  seine  Menschheit  so  erniedrigt  hat,  daß  er  nicht 


Moralphilosophie  Collins  419 

mehr  werth  ist,  ein  Mensch  zu  seyn,  denn  muß  man  ihn  als  einen 
allgemeinen  Gegenstand  der  Verachtung  behandeln.  Es  ist  also  das 
Geboth  der  Liebe  gegen  andre  so  wohl  auf  die  Liebe  aus  Verbindlich- 
keit als  aus  Neigung  eingeschränkt;  denn  wenn  ich  andre  aus  Ver- 
5  bindlichlceit  liebe,  so  erwerbe  ich  mir  dadurch  Geschmack  an  der 
Liebe,  und  aus  Uebung  wird  die  Liebe  aus  Verbindlichkeit  zur  Liebe 
aus  Neigung.  Die  Liebe  aus  Pflicht  und  überhaupt  jede  Pflicht  die 
künstelt,  /  da  denkt  der  Mensch  nach,  ob  er  auch  dazu  verbunden  469 
wäre,  allein  die  Neygung  geht  ihren  graden  Weg ;  allein  sie  muß  auch 

10  ihren  Weg  so  grade  gehn,  denn  sie  hat  keine  Regel.  Die  Leutseeligkeit 
ist  nichts  anders  als  eine  Manier  im  äußern  Betragen  gegen  andre. 
Sie  ist  ein  Abscheu  vor  jeder  Beleidigung,  die  dem  andern  kann 
zugefügt  werden.  Sie  entspringt  aus  der  Menschenliebe  und  moderirt 
den  Zorn  und  die  Rachbegierde  gegen  andre.  Im  Grunde  ist  sie  was 

15 positives;  denn  Leutseelige  thun  nichts,  um  das  Wohl  des  andern  zu 
verhindern;  aber  sie  sind  auch  nicht  großmüthig,  es  zu  befördern. 
Freylich  sollte  beides  verbunden  seyn ;  allein  die  Großmuth,  die  mit 
Wackerheit  und  Stärke  der  Seele  verbunden  ist,  läßt  sich  mit  der 
Leutseeligkeit,  die  nur  in  Sanftmuth  und  Gelindigkeit  bestehet,  nicht 

20  verbinden.  Menschlichkeit  ist  das  Theilnehmen  an  dem  Schicksale 
anderer  Menschen;  die  Unmenschlichlveit  ist,  wenn  man  keinen  An- 
theil  an  dem  Schicksal  anderer  nimmt.  Warum  heissen  einige  Wissen- 
schaften humaniora  ?  Weil  sie  den  Menschen  verfeinern.  Es  bleibt  / 
daher  bey  jedem  Studirenden,  wenn  er  auch  sonst  nicht  viel  Gelehr-  4T0 

25  samkeit  erworben  hat,  dennoch  eine  solche  Verfeinerung  und  Gelindig- 
keit; denn  die  Wissenschaften,  indem  sie  das  Gemüth  occupiren,  geben 
ihm  solche  Gelindigkeit,  die  jedem  hernach  eigen  bleibt.  Der  Kauf- 
mann wird  demnach  jeden  nach  seinem  Vermögen  schätzen,  wie  viel 
er  werth  ist ;  ein  Studirender  wird  aber  schon  nach  einem  andern  Wert 

30  schätzen. 

Leutseeligkeit  mit  Offenherzigkeit  ist  Freimüthigkeit,  welche  sehr 
beliebt  ist.  Jede  Freundlichlveit,  Höflichkeit,  Geschliffenheit,  Ai'tigkeit 
ist  schon  immer  die  Tugend  selbst,  aber  nur  im  Kleinen  ausgeübt. 
Daß  sich  aber  die  Tugend  mit  ihrer  Stärke,  Freundschaftsdienst  und 

35  Aufopferung  der  eigenen  Glückseeligkeit  anstrengt,  das  ist  sehr  selten. 
Es  ist  daher  nicht  gut,  wenn  man  einen  Freund  hat,  den  man  mit 
Ansprüchen  in  der  Noth  zu  helfen  belästiget,  man  fällt  dadurch  seinem 
Freunde  beschwerlich;  denn  denkt  er  gleich,  man  wird  ihm  öfter  so 
kommen.  Es  ist  besser,  wenn  man  lieber  selbst  die  Ungemächlichkeiten 


420  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

471  erduldet,  als  den  andern  belästiget.  Diejenige,  die  über  Mangel  /  der 
Freunde  klagen,  sind  eigennützige  Leute,  sie  mögen  immer  gerne  von 
ihren  Freunden  profitieren.  Ich  verlange  solchen  Freund,  nicht  von  dem 
ich  was  ziehn  kann,  sondern  nur  dessen  Umgang  ich  geniessen  kann 
und  dem  ich  mich  decouvrrren  kann,  aber  Höflichkeit  verlange  ich  5 
von  jedem.  Jeder  Umgang  ist  schon  eine  Cultur  der  Tugend  und  eine 
Vorbereitung  zu  ge wißer  Ausübung  der  Tugend.  Die  Höflichl<:eit 
bedeutet  diejenige  Gefälligkeit,  nach  welcher  wir  bis  auf  die  geringste 
Kleinigkeit  fein  genug  sind,  uns  dem  andern  gefällig  zu  bezeigen.  Die 
Geschliffenheit  ist  die  Abfeilung  der  Grobheit.  Die  Menschen  schleifen  lo 
und  reiben  sich  an  einander  so  lange  ab,  bis  sie  sich  hassen.  Diese 
Geschicklichkeit  zeigt  Feinheit  in  der  Beurtheilungskraft,  solches 
einzusehn,  was  dem  andern  gefällig  oder  mißfällig  ist. 

Kaltblütigkeit  des  Gemüths  gegen  andre  ist,  was  keine  Affection 
der   Liebe,    keine    Gemüthsbewegung   beweiset.    Dem   keine    wohl- 15 
wollende  Gemüthsbewegung  bewußt  ist,  der  ist  kalt.  Die  Kaltblütig- 

47akeit  ist  eben  so  nicht  zu  /  tadeln.  Die  Dichter  mögen  gerne  vom 
warmen  Gefühl  und  Affection  durchdrungen  seyn  und  schelten  auf  die 
Kaltblütigkeit;  allein  wenn  die  Kaltblütigkeit  mit  Grundsätzen  und 
guten  Gesinnungen  begleitet  ist,  so  sind  solche  Menschen,  die  das  ha-  20 
ben,  allemal  Leute,  auf  die  man  sich  verlassen  kann.  Ein  kaltblütiger 
Vormund,  der  es  gut  mit  mir  meint,  ein  solcher  Ad vocat,  ein  Patriot, 
sind  Leute,  die  beständig  sind,  und  die  gewiß  alles  zu  meinem  besten 
anwenden  werden.  Aber  Kaltblütigkeit  im  Bösen  ist  auch  wieder  desto 
schlimmer ;  aber  im  Guten,  ob  es  gleich  nicht  so  gut  klingt,  ist  sie  doch  25 
besser,  als  ein  warmes  Gefühl  von  Affection,  denn  sie  ist  beständiger. 
Kaltsinnigkeit  ist  ein  Mangel  der  Liebe ;  Kaltblütigkeit  ist  aber  ein 
Mangel  des  Affekts  der  Liebe.  Kaltblütigkeit  der  Liebe  giebt  Regel- 
mäßigkeit und  Ordnung;  Kaltsinnigkeit  ist  aber  der  Mangel  des 
Gefühls  von  dem  Zustande  anderer  afficirt  zu  werden.  Wir  sollen  andre  30 

4T3  lieben,  weil  es  gut  ist  andre  zu  lieben  und  weil  wir  dadurch  /  gutartig 
werden.  Wie  kann  man  aber  lieben,  wenn  der  andre  nicht  liebens- 
würdig ist  ?  Hier  ist  diese  Liebe  nicht  eine  Neygung  an  dem  andern  ein 
Wohlgefallen  zu  haben,  sondern  eine  Neigung  damit  der  andre  des 
Wohlgefallens  würdig  wäre.  Wir  sollen  geneigt  seyn  zu  wünschen,  den  35 
andren  der  Liebe  würdig  zu  finden,  und  ein  solcher,  der  an  dem  Men- 
schen etwas  suchet,  was  der  Liebe  würdig  wäre,  der  wird  auch  gewiß 
was  an  ihm  finden,  was  seiner  Liebe  würdig  ist,  so  wie  ein  liebloser 
Mensch  der  an  andern  das  aufsucht,  was  ihn  der  Liebe  unwürdig 


Moralphilosophie  Collins  421 

macht,  auch  wirklich  solches  in  ihm  findet.  Man  soll  des  andern  Glück 
wünschen,  aber  man  soll  auch  wünschen  ihn  liebenswürdig  zu  finden. 
Eine  Regel  ist  hiebey  zu  bemerken:  Wir  müßen  suchen,  daß  unsre 
Neygungen  den  andern  zu  lieben  und  sein  Glück  zu  wünschen,  nicht 

5  müssige  Sehnsüchten  sind,  welches  Begierden  ohne  Erfolg  sind,  son- 
dern daß  sie  praktische  Begierden  sind.  Eine  praktische  Begierde  ist, 
die  nicht  so  sehr  nach  dem  Gegenstand  gerichtet  ist,  als  auf  die 
Handlungen,  wodurch  dieser  Gegenstand  vollführt  wird.  Wir  sollen 
nicht  allein  Wohlgefallen  an  der  Wohlfahrt  und  dem  Glück  anderer 

10  haben,  sondern  dieses  Wohlgefallen  muß  sich  auf  thätige  Handlungen 
beziehn,  die  zu  dieser  Wohlfahrt  /  was  beytragen.  Eben  so  soll  ich4T4 
nicht  wünschen,  wenn  der  andre  im  Elend  ist,  daß  er  davon  befreyet 
wäre,  sondern  ich  soll  solchen  zu  befreyen  suchen.  Alles  Unglück  und 
alle  Uebel  der  Menschen  sind  nicht  in  so  fern  Gegenstände  unsres 

15  Misfallens,  daß  dieses  Uebel  sind,  sondern  in  so  fern,  daß  diese  Uebel 
von  Menschen  hervorgebracht  sind.  Wenn  ein  Mensch  an  seiner 
Gesundheit  oder  Vermögen  Schaden  gelitten  hat,  so  hat  dieses  weiter 
nichts  zu  sagen,  wenn  es  durch  ein  allgemeines  Schicksal  geschehen  ist, 
indem  solches  oft  im  Leben  vorkommen  kann,  aber  wenn  dieses  Uebel 

20  von  einem  andren  Menschen  zugefügt  ist,  so  ist  das  ein  Gegenstand 
unsres  größten  Mißfallens.  Wenn  ich  nun  einen  solchen  Menschen  in 
solchem  Elende  sitzen  sehe,  und  ich  sehe,  daß  ich  solches  auf  keine 
andre  Art  ändern  kann,  daß  ich  ihm  auf  keine  Weise  zu  Hülfe  kommen 
kann,  so  kann  ich  mich  kalt  umkehren,  und  wie  der  Stoiker  sagen, 

25  was  geht  mich  das  an ;  meine  Wünsche  können  ihm  /  nicht  helfen.  «5 
Aber  so  ferne  ich  meine  Hand  ausstrecken  kann  ihm  zu  heKen,  so 
kann  ich  in  so  fern  sein  Glück  befördern  und  Antheil  an  seinem 
Unglück  nehmen ;  aber  denn  nehme  ich  gar  keinen  Antheil  an  seinem 
Unglück,  wenn  ich  sehnliche  Wünsche  hege,  damit  er  davon  möchte 

30  befreyt  werden.  Das  Herz  ist  also  nur  so  fern  ein  gutes  Herz,  in  so  fern 
es  etwas  zum  Glück  des  andern  beytragen  kann,  und  nicht  wenn  es  nur 
des  andern  sein  Glück  -wünscht.  Menschen  rühmen  sich  ein  gutes  Herz 
zu  haben,  wenn  sie  nur  wünschen,  daß  jeder  glücklich  seyn  möchte. 
Der  hat  aber  nur  allein  ein  gutes  Herz,  der  dazu  etwas  beyträgt.  Alle 

35  moralische  Unterweisung  wh'd  also  darauf  beruhn,  daß  unser  Wohl- 
gefallen an  dem  Glück  anderer  nur  in  so  fern  bestehn  soll,  als  wir  ein 
Vergnügen  finden  des  andern  sein  Glück  zu  befördern.  Demnach  ist 
das  Glück  /  des  andern  an  und  vor  sich  selbst  nicht  ein  Gegenstand  «6 
des  Wohlgefallens,  sondern  in  so  fern  wir  Beyhülfe  daran  geleistet 


422  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

haben.  Hier  aber  glauben  die  Menschen  die  Theilnehmung  an  des 
andren  seinem  Schicksaal  und  das  gute  Herz  bestehe  schon  im 
Gefühl  und  in  den  Wünschen.  Derjenige  Mensch  aber,  der  aufs  Elend 
anderer  gar  nicht  siehet,  wo  er  nicht  helfen  kann,  der  bey  allem 
Unglück  was  nicht  zu  ändern  ist,  gleichgültig  ist,  aber  darum  beküm- 
mert ist,  wo  er  etwas  ausrichten  und  helfen  kann,  ein  solcher  Mensch 
ist  praktisch  und  sein  Herz  ist  ein  gutes  Herz,  weil  es  thätig  ist,  ob  er 
gleich  damit  nicht  solche  Parade  macht  als  andere,  die  durch  Wünsche 
Antheil  nehmen  und  darin  schon  die  Freundschaft  setzen. 


Von  der  Freundschaft.  lo 

Dieses  ist  das  Steckenpferd  aller  dichterischen  Moralisten,  und 
4T1'  hierin  suchen  sie  Nectar  und  Ambrosia.  Die  Menschen  werden  /  von  2 
Triebfedern  bewegt;  eine  ist  von  ihnen  selbst  hergenommen  und  das 
ist  die  Triebfeder  der  Selbsthebe;  die  andre  ist  die  moralische  Trieb- 
feder, die  von  andern  hergenommen  ist  und  das  ist  die  Triebfeder  15 
der  allgemeinen  Menschenliebe.  Diese  2  Triebfedern  sind  bey  dem 
Menschen  im  Streit.  Die  Menschen  würden  andre  lieben  und  ihr  Glück 
besorgen,  wenn  sie  nicht  die  Absichten  ihrer  Selbstliebe  auszuführen 
hätten.  Von  der  andern  Seite  sehn  sie  auch,  daß  die  Handlungen  der 
Selbstliebe  kein  morahsches  Verdienst  haben,  sondern  nur  durch  die  20 
moralischen  Gesetze  an  sich  erlaubt  sind.  Dagegen  ist  es  ein  großes 
Verdienst,  wenn  der  Mensch  durch  allgemeine  Menschenliebe  bewogen 
wird,  das  Glück  andrer  zu  befördern.  Nun  hält  aber  der  Mensch 
besonders  darauf,  was  seiner  Person  einen  Werth  giebt.  Aus  dieser 
Idee  fließt  die  Freundschaft.  Wie  fange  ichs  aber  nun  an  ?  Soll  ich  25 
zuerst  aus  der  Selbstliebe  mein  Glück  besorgen,  und  hernach  wenn  es 
478  besorgt  ist,  das  Glück  /  anderer  zu  befördern  suchen  ?  Allein,  alsdenn 
wird  das  Glück  anderer  hintenangesetzt  und  die  Neigung  zu  meinem 
Glück  wächst  immer  stärker,  so,  daß  ich  niemals  in  der  Besorgung 
meines  Glücks  zum  Ende  komme,  und  auf  solche  Art  das  fremde  30 
gar  unterbleibt.  Fange  ich  aber  zuerst  an,  des  andern  sein  Glück  zu 
besorgen,  so  bleibt  mein  Glück  zurück.  Wenn  aber  die  Menschen  alle 
so  gesinnt  sind,  daß  jeder  für  das  Glück  des  andern  sorgt,  so  wird 
jedes  Wohlfahrt  durch  den  andern  besorgt;  wenn  ich  wüßte  daß  andre 
für  mein  Glück  so  sorgten,  wie  ich  vor  anderer  ihres  sorgen  möchte,  35 
so  müßte  ich  in  einer  Besorgung  meines  Glücks  nicht  zu  kurz  kommen, 


Moralphilosophie  Cons  423 

denn  das  würde  mir  dadurch  ersetzt,  daß  ich  das  Glück  des  andern 
besorgte,  also  würden  wir  unsre  Wohlfahrt  vertauschen  und  keiner 
würde  Schaden  leiden ;  denn  so  gut  er  das  Glück  des  andern  besorgt, 
so  besorgt  der  andre  sein  Glück  eben  so  gut.  Es  scheint  als  wenn  der 
6  Mensch  verliehrt,  wenn  er  für  das  Glück  des  andern  sorgt;  allein,  wenn 
andre  wieder  für  ihn  sorgen,  /  so  verhehrt  er  nichts.  Alsdenn  würde  «» 
jedes  sein  Glück  durch  die  Großmuth  des  andern  befördert,  dieses  ist 
die  Idee  der  Freundschaft,  wo  die  Selbstliebe  verschlungen  ist  in  der 
Idee  der  großmüthigen  Wechselliebe.  Wenn  wir  nun  wieder  die  andre 

10  Seite  nehmen,  wo  jeder  sein  eignes  Glück  besorgt  und  gleichgültig  ist 
gegen  andre,  so  ist  zwar  freylich  jeder  befugt  sein  Glück  zu  besorgen. 
Dieses  ist  zwar  nur  eine  Erlaubniß  der  morahschen  Regel,  aber  kein 
Verdienst ;  wenn  jeder  nur  das  Glück  des  andern  nicht  gehindert  hat, 
indem  er  sein  eignes  besorgte,  so  hat  er  zwar  kein  morahsch  Verdienst, 

15  aber  auch  kein  moralisch  Verbrechen.  Wenn  wir  nun  wählen  sollten, 
was  würden  wir  wählen  ?  Freundschaft  oder  Selbsthebe  ?  Aus  mora- 
lischen Gründen  würden  wir  die  Freundschaft  wählen,  aber  aus  prak- 
tischen die  Selbstliebe,  denn  keiner  könnte  doch  mein  Glück  so  gut 
besorgen  /  als  ich.  Wenn  ich  aber  eines  von  beyden  nehme,  so  ist  doch  480 

20  immer  was  fehlerhaftes.  Wähle  ich  bloße  Freundschaft,  so  leidet  dadurch 
mein  Glück;  wähle  ich  bloße  Selbstliebe,  so  ist  darin  kein  morahsches 
Verdienst  und  Werth.  Die  Freundschaft  ist  eine  Idee,  weil  sie  nicht  aus 
der  Erfahrung  abgezogen  ist,  indem  sie  da  sehr  mangelhaft  ist,  sondern 
in  dem  Verstände  ihren  Sitz  hat,  in  der  Moral  aber  sehr  nöthig  ist. 

25  Bey  dieser  Gelegenheit  können  Avir  merken,  was  eine  Idee  und  was  ein 
Ideal  ist.  Wir  haben  ein  Maaß  nöthig,  wornach  wir  die  Grade  schätzen 
können.  Dieses  Maaß  ist  entweder  willkührlich,  wenn  nähmlich  die 
Größe  nach  Begriffen  a  priori  nicht  bestimmt  ist,  oder  ein  natürliches 
Maaß,  wenn  die  Größe  nach  Begriffen  a  priori  bestimmt  ist.  In  Anse- 

30  hung  der  Größen,  so  fern  sie  a  priori  bestimmt  werden,  welches  ist  da 
das  bestimmte  Maaß,  nach  welchem  wir  /  sie  schätzen  können  ?  Ilir  48i 
Maaß  ist  immer  das  größeste ;  so  fern  dieses  größeste  ein  Maaß  in  An- 
sehung anderer  Größen  ist,  die  minder  sind,  so  ist  dieses  Maaß  eine  Idee, 
so  fern  es  aber  ein  Muster  anderer  ist,  so  ist  es  ein  Ideal.  Wenn  wir  nun 

35  die  liebreichen  Neigungen  der  Menschen  gegen  einander  nehmen,  so  sind 
da  viele  Grade  und  Proportionen  in  Ansehung  derer,  die  ihre  Liebe 
unter  sich  und  unter  andern  vertheilen.  Das  Maximum  der  Wechsel- 
liebe ist  die  Freundschaft  und  diese  ist  eine  Idee,  denn  sie  dient  zum 
Maaß,  die  Wechselliebe  zu  bestimmen.  Die  größte  Liebe  gegen  andre 


424  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

ist  die,  wenn  ich  ihn  so  Hebe  als  mich  selbst,  ich  kann  einen  andern 
nicht  mehr  heben  als  mich;  wenn  ich  ihn  aber  so  lieben  will  als  mich, 
so  kann  ich  dieses  nicht  anders  thun,  als  wenn  ich  versichert  bin, 

482  daß  mich  der  andre  eben  so  lieben  wird  als  sich,  /  alsdenn  wird  mir  das 
ersetzt,  was  ich  mir  selbst  entgehn  lasse,  ich  reokkupire  mich  selbsten  5 
dadurch.  Diese  Idee  der  Freundschaft  dient  dazu,  daß  wir  dadurch  die 
Freundschaft  bestimmen  können  und  sehen,  wie  viel  daran  noch  fehlt. 
Wenn  daher  Sokrates  sagte:  Meine  lieben  Freunde,  es  giebt  keine 
Freunde,  so  heißt  das  so  viel,  keine  Freundschaft  congruirt  mit  der 
Idee  der  Freundschaft;  darin  hat  er  also  recht,  denn  es  ist  auch  nicht  lo 
möglich.  Die  Idee  ist  aber  was  wahres.  Wenn  ich  bloß  Freundschaft 
wähle,  und  des  andern  Glück  allein  besorge,  in  der  Versicherung,  der 
andre  besorgt  auch  mein  Glück  eben  so;  so  ist  dieses  zwar  eine 
Wechselliebe,  wodurch  ich  wieder  ersetzt  werde.  Hier  würde  jeder  das 
Glück  des  andern  aus  Großmuth  besorgen,  ich  werfe  mein  Glück  nicht  i5 

483  weg,  sondern  ich  habe  es  nur  in  andern  Händen,  indem  ich  /  des 
andern  seines  in  meinen  Händen  habe ;  allein  diese  Idee  ist  nur  gut  in 
der  Reflection,  aber  unter  den  Menschen  findet  solches  nicht  statt. 
Wenn  nun  aber  jeder  nur  allein  für  sich  sorgte,  ohne  für  den  andern 
bekümmert  zu  seyn,  so  würde  gar  keine  Freundschaft  statt  finden.  20 
Also  muß  beydes  unter  einander  gemischt  seyn.  Der  Mensch  sorgt  für 
sich  und  auch  für  das  Glück  anderer.  Weil  hier  aber  die  Grenzen  nicht 
bestimmt  sind  und  der  Grad  nicht  bezeichnet  werden  kann,  wie  weit 
ich  für  mich  und  wie  weit  ich  für  andre  sorgen  soll,  so  läßt  sich  das 
Maaß  in  der  freundschaftlichen  Gesinnung  durch  kein  Gesetz  und  25 
Regel  bestimmen.  Ich  bin  verbunden  für  meine  Bedürfnisse  und  für 
die  Zufriedenheit  des  Lebens  zu  sorgen ;  wenn  ich  nun  das  Glück  des 

484  andern  nicht  anders,  als  /  durch  Aufgebung  meiner  Bedürfniße  und 
Zufriedenheit  des  Lebens  besorgen  kann,  so  kann  mich  keiner  ver- 
pflichten alsdenn  das  Glück  des  andern  zu  besorgen,  und  die  Freund-  so 
Schaft  gegen  ihn  auszuüben.  Indem  aber  jedes  seine  Bedürfnisse 
steigen  können  und  jeder  sich  so  viel  zur  Bedürfniß  machen  kann  als 
er  will,  so  läßt  sich  hier  der  Grad  nicht  bestimmen,  unter  welcher  Auf- 
hebung der  Bedürfnisse  nur  allein  die  Freundschaft  statt  finden 
kann;  denn  es  ist  vieles  von  unsern  Bedürfnissen,  die  wir  uns  zur  35 
Bedürfniß  gemacht  haben,  so  beschaffen,  daß  wir  viele  derselben 
gegen  unsern  Freund  aufopfern  können.  Die  Freundschaft  wird  einge- 
theilt :  in  die  Freundschaft  der  Bedürfnisse,  in  die  Freundschaft  des 
Geschmacks  und  in  die  Freundschaft  der  Gesinnung.  Die  Freund- 


Moralphilosophie  Collins  425 

Schaft  /  der  Bedürfnisse  ist,  nach  welcher  die  Personen  in  Ansehung  485 
ihrer  Bedürfnisse  des  Lebens  sich  einander  eine  wechselseitige  Vor- 
sorge vertrauen  können.  Dieses  ist  der  erste  Anfang  der  Freundschaft 
unter  den  Menschen  gewesen.  Sie  findet  aber  nur  in  dem  rohesten 
5  Zustande  am  meisten  statt.  Wenn  daher  Wilde  auf  die  Jagd  gehn  und 
sie  stehn  in  Freundschaft,  so  steht  einer  für  die  Bedürf niße  des  andern, 
einer  sucht  die  Bedürfnisse  des  andern  zu  befördern.  Je  weniger  die 
Menschen  Bedürfnisse  haben,  desto  mehr  haben  sie  solche  Freund- 
schaft ;  denn  wenn  der  Mensch  in  dem  Zustande  des  Luxus  ist,  wo  er 

10  viele  Bedürfnisse  hat,  denn  hat  er  auch  viele  eigene  Angelegenheiten, 
und  alsdenn  kann  er  sich  desto  weniger  mit  den  Angelegenheiten 
anderer  beschäftigen,  weil  /  er  mit  sich  zu  thun  hat.  In  dem  Zustand  486 
des  Luxus  findet  also  solche  Freundschaft  nicht  statt,  ja  man  will 
nicht  einmal  in  diesem  Zustand  solche  Freundschaft  haben;  denn 

15  wenn  der  eine  weiß,  daß  die  Absicht  des  andern  in  der  Freundschaft 
diese  ist,  daß  er  einige  Besorgung  der  Bedürfnisse  durch  diese  Freund- 
schaft erreichen  will,  so  wird  die  Freundschaft  unintereßant,  und 
denn  wird  sie  auch  aufgehoben.  Ist  diese  Freundschaft  activ,  das 
heißt,  wenn  der  eine  wirklich  die  Bedürfnisse  des  andern  besorgt,  so  ist 

20  sie  großmüthig ;  aber  der  paßive  Theil,  der  darauf  ausgeht,  solches  von 
andern  zu  erreichen,  ist  sehr  ungroßmüthig.  Demnach  wird  keiner 
seinem  Freunde  durch  seine  Angelegenheiten  Ungemächlichlieiten 
verursachen,  sondern  jeder  wird  lieber  sein  Uebel  Selbsten  ertragen, 
als  daß  er  seinen  Freund  damit  belästige.  Sobald  also  die  Freundschaft 

25  unter  2  Personen  /  von  beyden  Seiten  edel  ist,  so  abhorrirt  jeder  davon.  48T 
Keiner  wird  dem  andern  durch  seine  Angelegenheiten  Ungemächlich- 
keiten  verursachen.  Jedoch  aber  müssen  wir  doch  in  jeder  Freund- 
schaft diese  Freundschaft  der  Bedürfnisse  voraus  setzen,  aber  nicht 
um  sie  zu  genießen,  sondern  zu  vertrauen,  d.  h.  ich  muß  von  jedem 

30  meinem  waliren  Freunde  das  Vertrauen  haben,  daß  er  im  Stande  wäre 
mir  meine  Angelegenheiten  zu  besorgen,  um  meine  Bedürfnisse  zu  be- 
fördern, nur  ich  muß  solches  von  ihm  nicht  fodern,  um  es  zu  genießen. 
Das  ist  ein  wahrer  Freund,  von  dem  ich  weiß  und  voraussetzen  kann, 
daß  er  mir  wirklich  in  der  Noth  heKen  werde ;  weil  ich  aber  auch  ein 

35  wahrer  Freund  von  ihm  bin,  so  muß  ich  ihm  solches  nicht  anmuthen 
und  ihn  in  solche  Umstände  und  Verlegenheit  setzen,  /  ich  muß  solches  488 
nur  ihm  vertrauen,  aber  nicht  fodern  und  lieber  selbst  erdulden,  als 
den  andern  damit  belästigen.  Der  andre  muß  solches  Vertrauen  auch 
wieder  auf  mich  setzen,  aber  eben  so  wenig  solches  fodern.  Also  das 


426  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

Vertrauen  auf  die  wohlwollende  Gesinnung  des  andern  und  auf  die 
beystehende  Freundschaft  bey  unsern  Bedürfnissen  wird  voraus- 
gesetzt, obgleich  ein  andrer  Grundsatz  ist,  laut  dem  wir  solches  nicht 
können  mißbrauchen.  Weil  mein  Freund  so  großmüthig  ist,  daß  er 
solche  gute  Gesinnungen  gegen  mich  hat,  mir  wohl  zu  wollen,  und  in  5 
aller  Noth  beyzustehn,  so  muß  ich  auch  so  großmüthig  seyn  und 
solches  nicht  von  ihm  fodern.  Die  Freundschaft,  die  sich  so  weit 
erstrecket,  daß  man  dem  andern  mit  seinem  Schaden  hilft,  ist  sehr 
selten  und  auch  sehr  delicat  und  fein.  Die  Ursache  ist  diese :  Weil  man  / 

489  dem  andern  solches  nicht  anmuthen  kann.  Das  süßeste  und  delicateste  lo 
der  Freundschaft  sind  die  wohlwollende  Gesinnungen ;  diese  muß  aber 
der  andere  nicht  zu  verringern  suchen,  weil  das  delicate  der  Freund- 
schaft nicht  darin  besteht,  daß  ich  sehe  in  des  Freundes  Geldl^asten 
liegt  auch  ein  Schilling  für  mich.  Die  andere  Ursache  ist  aber,  weil  das 
Verhältniß  geändert  wird.  Das  Verhältniß  der  Freundschaft  ist  das  i5 
Verhältniß  der  Gleichheit ;  wenn  nun  aber  ein  Freund  dem  andern  mit 
seinem  Schaden  hilft,  so  ist  er  mein  Wohlthäter  gewesen,  und  ich  bin 
in  seiner  Schuld ;  ist  dieses  aber,  so  bin  ich  dadurch  blind  gemacht,  und 
kann  ihm  nicht  mehr  so  dreist  unter  die  Augen  sehn,  also  ist  da  schon 
das  wahre  Verhältniß  aufgehoben,  und  deim  ist  es  keine  Freundschaft  20 
mehr.  Die  Freundschaft  des  Geschmacks  ist  ein  Analogon  der  Freund- 
schaft und  bestehet  im  Wohlgefallen  am  Umgange  und  wechselseitiger 

490  /  Gesellschaft  und  nicht  an  der  Glückseeligkeit  des  einen  und  des 
andern.  Zwischen  Personen  von  einerley  Stande  oder  Gewerbe  findet 
die  Freundschaft  des  Geschmacks  nicht  so  statt  als  zwischen  Personen  25 
von  verschiedenem  Metier,  so  wird  ein  Gelehrter  mit  einem  andern  in 
keiner  Freundschaft  des  Geschmacks  stehn,  denn  der  eine  kann 
dasselbe,  was  der  andre  kann;  sie  können  sich  nicht  satisfaciren  und 
unterhalten;  was  der  eine  weiß,  das  weis  der  andre  auch;  aber  ein 
Gelehrter  mit  dem  Kaufmann  oder  Soldaten  kann  wohl  in  der  Freund-  30 
Schaft  des  Geschmacks  stehn ;  wenn  der  Gelehrte  nur  kein  Pedant  und 
der  Kaufmann  kein  dummer  Kerl  ist,  denn  kann  der  eine  den  andern 
unterhalten,  jeder  von  seiner  Sache ;  denn  die  Menschen  sind  nur  durch 
das  verbunden,  was  der  eine  zur  Bedürfniß  des  andern  beytragen 

491  kann,  nicht  durch  das,  was  der  andre  schon  hat,  sondern  wenn  /  der  35 
eine  das  besitzt,  was  dem  andern  den  Mangel  ersetzt,  also  nicht  durch 
die  Einerleyheit,  sondern  durch  die  Verschiedenheit.  Die  Freundschaft 
der  Gesinnung  und  des  Sentiments  kann  im  Deutschen  nicht  so 
recht  ausgedruckt  werden.  Es  sind  Gesinnungen  der  Empfindung  und 


Moralphilosophie  Collins  427 

nicht  der  wirklichen  Dienstleistungen.  Die  Freundschaft  des  Senti- 
ments  gründet  sich  darauf:  Es  ist  besonders,  daß  wir,  wenn  wir 
auch  im  Umgange  und  in  der  Gesellschaft  stehn,  noch  nicht  gänzlich 
in  der  Gesellschaft  stehn.  In  jeder  Gesellschaft  ist  man  zurückhaltend 

5  mit  dem  größten  Tlieil  seiner  Gesinnung ;  man  schüttet  nicht  so  gleich 
alle  seine  Empfindungen,  seine  Gesinnungen,  und  seine  Urtheile  aus. 
Jeder  urtheilt  so,  wie  es  nach  Umständen  rathsam  ist;  es  ruhet  auf 
jedem  ein  Zwang;  jeder  hegt  ein  Mißtraun  gegen  andre,  worauf  denn 
eine  Zurückhaltung  erfolgt,  laut  der  wir  /  entweder  unsere  Schwäche  49» 

loverheelen,  um  nicht  gering  geschäzt  zu  werden;  aber  auch  unsre 
Urtheile  zurückhalten.  Wenn  wir  uns  aber  von  diesem  Zwange 
entledigen  können,  wenn  wir  das,  was  wir  empfinden,  dem  andern 
zukommen  lassen,  denn  sind  wir  gänzlich  in  Gesellschaft.  Damit  also 
ein  jeder  von  diesem  Zwange  loswerden  könnte,  so  verlangt  jeder 

15  einen  Freund,  dem  er  sich  eröffnen  kann,  gegen  den  er  ganz  seine 
Gesinnungen  und  Urtheile  ausschütten  kann ;  dem  er  nichts  verheelen 
kann  und  darf;  dem  er  sich  völlig  communiciren  kann.  Hierauf 
beruht  also  die  Freundschaft  der  Gesinnungen  und  der  Geselligkeit. 
Hiezu  haben  wir  einen  großen  Trieb,  um  sich  zu  eröfnen,  und  ganz  in 

20  Gesellschaft  zu  seyn.  Dieses  kann  aber  nur  in  Gesellschaft  eines  oder 
2er  Freunde  seyn.  Ferner,  so  haben  die  /  Menschen  es  auch  nöthig  sich  4»3 
zu  eröfnen,  denn  dadurch  können  sie  nur  ihre  Urtheile  reflectiren. 
Wenn  ich  einen  solchen  Freund  habe,  von  dem  ich  weiß,  er  hat  eine 
aufrichtige  Gesinnung,  er  ist  liebreich,  er  ist  nicht  hämisch,  nicht 

25  falsch,  der  wird  mich  schon  in  meinem  Urtheile  zurechthelfen,  wenn  ich 
ge irret  habe.  Dieses  ist  der  ganze  Zweck  des  Menschen,  was  ihn  seines 
Daseyns  geniessen  läßt.  Es  fragt  sich:  Ob  in  solcher  Freundschaft 
Zurückhaltung  nöthig  ist  ?  Ja,  aber  nicht  so  wohl  um  sein  selbst,  als 
um  des  andern  Willen ;  denn  die  Menschen  haben  Schwachheiten  und 

30  die  muß  man  auch  gegen  seinen  Freund  verheelen.  Die  Vertraulichl^eit 
betrifft  nur  die  Gesinnung  und  die  Sentiments,  aber  nicht  den  An- 
stand, den  muß  man  doch  beobachten  und  seine  Schwäche  liierin 
zurückhalten,  damit  die  Menschheit  nicht  dadurch  verletzt  werde. 
Man  muß  sich  seinem  besten  Freunde  nicht  so  entdecken,  als  /  man  494 

35  natürlich  ist  und  sich  kennt,  denn  sonst  würde  das  ekelhaft  sejm. 
In  welchem  Grad  verbeßert  es  die  Menschen,  wenn  sie  Freundschaft 
machen  ?  —  Die  Menschen  machen  sich  nicht  allgemein  mit  ihrem 
Wohlwollen,  sondern  mögen  sich  gern  darin  restringiren  auf  einen 
kleinen  Zirkel.  Die  Menschen  haben  Lust,  eine  Sekte,  eine  Parthei, 


428  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

eine  Gesellschaft  zu  flechten.  Die  erstem  Gesellschaften  sind,  die  aus 
der  Familie  entspringen,  daher  einige  nur  allein  in  der  Familie  ver- 
kehren. Andre  Gesellschaften  werden  durch  Sekten,  Religions- 
partheien etc.  gestiftet,  wodurch  sie  sich  unter  einander  verbinden. 
Dies  ist  etwas  rühmliches,  es  hat  den  Anschein,  als  wenn  sich  die  5 
Menschen  bemülin  in  Verbindung  ihre  Empfindungen,  ihre  Urtheile 
etc.  zu  cultiviren;  allein  es  bringt  die  Wirkung  hervor,  daß  das 
menschliche  Herz  gegen  die,  die  ausser  diesen  Gesellschaften  sind, 

495  sich  verschließt,  z.  E.  in  der  Religions-Parthei.  /  Was  aber  das  Allge- 
meine des  Wohlwollens  verringert,  und  das  Herz  gegen  andre  ver-  lo 
schließt,  das  schwächt  die  wahre  Bonität  der  Seele,  welche  aufs  allge- 
meine Wohlwollen  hinausläuft.  Die  Freundschaft  ist  also  eine  Noth- 
hülfe,  sich  von  dem  Zwang,  dem  man  sich  aus  Mißtrauen  ergiebt,  gegen 
Personen,  mit  denen  man  in  Verbindung  steht,  zu  entdecken,  und 
denselben  sich  ohne  Zurückhaltung  zu  eröffnen.  Allein,  wenn  wir  in  i5 
solcher  Freundschaft  stehn,  so  müssen  wir  uns  hüten,  unser  Herz 
gegen  andre  zu  verschließen,  die  nicht  in  unsrer  Gesellschaft  stehn. 
Freundschaft  findet  nicht  im  Himmel  statt,  denn  Himmel  ist  die 
größte  Moralische  Vollkommenheit,  und  diese  ist  allgemein;  Freund- 
schaft ist  aber  eine  besondre  Vereinigung  gewisser  Personen ;  also  ist  20 
dieses  nur  in  der  Welt  eine  Zuflucht,  seine  Gesinnung  dem  andern  zu 
eröffnen,  und  sich  ihm  zu  communiciren,  indem  man  hier  in  Mistrauen 

496  gegen  einander  steht.  /  Wenn  Menschen  über  den  Mangel  der  Freund- 
schaft klagen,  so  kommt  solches  daher,  weil  sie  kein  freundschaftliches 
Herz  und  Gesinnungen  haben,  und  denn  sagen  sie,  die  andren  sind  25 
keine  Freunde ;  solche  haben  immer  was  von  ihren  Freunden  zu  fodern 
und  sie  zu  belästigen.  Ein  anderer  der  das  nicht  nöthig  hat,  entzieht 
sich  der  Freundschaft  solcher  Personen.  Allein  die  allgemeine  Klage 
des  Mangels  der  Freunde  ist  eben  so  als  die  allgemeine  Klage  des 
Mangels  an  Gelde.  Je  mehr  die  Menschen  gesittet  werden,  desto  allge-  so 
meiner  werden  sie,  und  desto  weniger  finden  die  besondern  Freund- 
schaften statt.  Der  Gesittete  sucht  eine  allgemeine  Freundschaft  und 
Annehmlichlceit,  ohne  besondre  Verbindung  zu  haben.  Je  mehr  Wild- 
heit in  den  Sitten  herrscht,  destomehr  sind  solche  Verbindungen 
nöthig,  die  man  sich  nach  seinen  Gesinnungen  und  Geschmack  aus-  35 

49T  sucht.  Solche  Freundschaft  /  sezt  von  beyden  Theilen  Schwachheiten 
voraus,  daß  von  keiner  Seite  dem  andern  kann  ein  Vorwurf  gemacht 
werden;  wo  aber  einer  dem  andern  was  nachzusehen  hat,  wo  sich 
keiner  was  vorzuwerfen  hat,  denn  ist  unter  beyden  Gleichheit,  und 


Moralphilosophie  Coli  ins  429 

keiner  kann  sieh  dem  andern  vorziehn.  Worauf  beruht  es  denn  bey  der 
Zusammenpaßung  und  Verbindung  der  Freundschaft  ?  Hierzu  wird 
nicht  die  Identitaet  des  Denkens  erfordert,  im  Gegentheil  errichtet 
vielmehr  die  Verschiedenheit  die  Freundschaft,  denn  da  ersetzt  der 
5  eine  das,  was  dem  andern  fehlt,  aber  in  einem  Stück  müssen  sie  über- 
einkommen: Sie  müssen  gleiche  Principia  des  Verstandes  und  der 
Moralität  haben,  denn  können  sie  sich  complet  verstehn;  sind  sie  darin 
nicht  gleich,  so  können  sie  gar  nicht  mit  einander  /  einig  werden,  weil  498 
sie  im  Urtheil  weit  aus  einander  sind.  Jeder  suche,  daß  er  würdig  sey 

10  ein  Freund  zu  seyn ;  dieses  kann  er  durch  rechtschaffene  Gesinnung, 
Offenherzigkeit,  Vertrauliclilieit,  durch  ein  Verhalten,  das  von  Bosheit 
und  Falschheit  frey  ist;  aber  mit  Munterkeit,  Lieblichkeit,  Fröhlichkeit 
des  Gemüths  verbunden  ist.  Dieses  macht  uns  zu  Gegenständen,  die 
einer  Freundschaft  würdig  sind.  Hat  man  sich  würdig  gemacht,  ein 

15  Freund  zu  seyn,  so  wird  sich  schon  einer  oder  der  andre  finden,  der  an 
uns  einen  Geschmack  haben  und  uns  zum  Freunde  wählen  wird,  bis 
diese  Freundschaft  durch  eine  nähere  Verbindung  immer  mehr  und 
mehr  zunimmt.  Freundschaft  kann  auch  ein  Ende  nehmen,  denn  die 
Menschen  können  sich  nicht  durchschauen,  sie  finden  oft  das  /  nicht,  499 

20  was  sie  an  den  andern  vermutheten  und  suchten.  Bey  Freundschaften 
des  Geschmacks  verliert  sich  die  Freundschaft,  weil  sich  der  Geschmack 
durch  die  Länge  verliert  und  auf  neue  Gegenstände  verfällt,  und  denn 
verdrängt  einer  den  andern.  Die  Freundschaft  aus  Gesinnung  ist  rar, 
weil  die  Menschen  selten  Grundsätze  haben.  Es  hört  demnach  die 

25  Freundschaft  auf,  weil  es  keine  Freundschaft  der  Gesinnung  war. 
In  Ansehung  der  vorigen  Freundschaft  muß  man  folgendes  merken. 
Man  muß  Achtung  vor  dem  Namen  der  Freundschaft  haben,  und 
wenn  auch  unser  Freund  wodurch  Feind  geworden  ist,  so  müßen  wir 
doch  die  vorige  Freundschaft  veneriren  und  nicht  zeigen  daß  wir  des 

30  Hasses  fähig  sind.  Es  ist  nicht  allein  an  sich  schlecht,  /  von  seinem  soo 
Freunde  nachtheilig  zu  sprechen,  indem  man  dadurch  beweist,  daß 
man  keine  Achtung  vor  der  Freundschaft  hat,  daß  man  in  der  Wahl 
seines  Freundes  schlecht  gehandelt  hat,  und  daß  man  jezt  gegen  ihn 
undankbar  ist,  sondern  es  ist  auch  wider  die  Regel  der  Klugheit; 

35  denn  diejenige  gegen  die  er  solches  spricht,  denken,  es  kann  ihnen 
auch  so  gehn,  wenn  sie  seine  Freunde  werden,  und  sich  hernach 
erzürnen  und  machen  also  keine  Freundschaft.  Gegen  den  Freund  hat 
man  sich  aufzuführen,  daß  es  uns  nicht  schadet,  wenn  er  unser  Feind 
wäre,  wir  müssen  ihm  nichts  in  die  Hände  geben.  Zwar  muß  man  nicht 


430  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

voraussetzen,  daß  er  unser  Feind  werden  kann,  denn  sonst  wäre  keine 

501  Vertraulichlceit.  Wenn  man  sich  aber  seinem  Freunde  /  ganz  überläßt, 
und  ihm  alle  Geheimniße  anvertrauet,  die  mein  Glück  verringern 
möchten,  die  er  ausplaudern  möchte,  wenn  er  mein  Feind  würde, 
so  ist  dies  sehr  unvorsichtig  ihm  solche  anzuvertrauen,  denn  er  könnte  5 
solche  theils  aus  Unvorsichtigkeit  ausplaudern,  theils  könnte  er  uns 
dadurch  schaden,  wenn  er  unser  Feind  würde.  Wer  einen  hitzigen 
Menschen  zum  Freunde  hat,  der,  wenn  er  aufgebracht  ist,  uns  wohl 
an  den  Galgen  bringen  möchte,  so  bald  er  aber  besänftigt  ist,  selbst 
abbittet,  solchem  muß  man  nichts  in  die  Hände  geben.  Es  fragt  sich,  lo 
ob  man  von  jedem  Menschen  ein  Freund  seyn  kann  ?  —  Die  allgemeine 

502  Freundschaft  ist,  ein  /  Menschen  Freund  überhaupt  zu  seyn,  ein  allge- 
meines Wohlwollen  gegen  jedermann  zu  haben;  aber  jedermanns 
Freund  zu  seyn,  das  geht  nicht  an,  denn  wer  ein  Freund  von  allen  ist, 
hat  keinen  besondern  Freund;  die  Freundschaft  ist  aber  eine  beson- 15 
dere  Verbindung.  Allein,  man  könnte  doch  von  einigen  sagen,  daß  sie 
Freunde  von  Jedermann  sind,  wenn  sie  fähig  sind,  mit  jedermann 
Freundschaft  zu  machen.  Solche  Weltbürger  giebts  nur  wenige,  sie 
sind  von  guter  Gesinnung  und  geneigt  alles  auf  die  beste  Seite  auszu- 
legen. Diese  Gutherzigkeit  mit  Verstand  und  Geschmack  verbunden,  20 
macht  einen  allgemeinen  Freund  aus.  Dies  ist  schon  ein  großer  Grad 
der  Vollkommenheit.  Aber  die  Menschen  sind  doch  sehr  geneigt, 
besondre  Verbindungen  zu  machen.  Die  Ursache  ist,  weil  der  Mensch 
vom  Besonderen  anfängt,  und  zum  allgemeinen  fortgeht,  und  denn 

503  ist  /  es  auch  ein  Trieb  der  Natur.  Ohne  Freund  ist  der  Mensch  ganz  25 
isolirt.  Durch  die  Freundschaft  wird  die  Tugend  im  Kleinen  culti- 
virt. 

Von  der  Feindschaft. 

Feindschaft  ist  mehr  als  ein  Mangel  der  Freundschaft.  Wenn  der 
Mensch  keinen  Freund  hat,  so  folget  daraus  noch  nicht,  daß  er  ein  30 
Feind  von  jedem  ist.  Er  kann  immer  ein  gutes  Herz  haben,  allein, 
er  hat  nicht  die  Gabe  zu  gefallen  und  einzunehmen.  Er  kann  auch 
rechtschaffene  Gesinnungen  haben,  nur  er  weiß  sich  nicht  beliebt 
zu  machen,  alle  Fehler  zu  gut  zu  halten;  ein  solcher  kann  keinen 
Freund  haben,  daraus  folgt  aber  noch  nicht,  daß  er  deswegen  eine  35 
schlimme  Gemüthsart  haben  soll.  So  wie  die  Freundschaft  besteht  im 
gegenseitigen  Wohlwollen  und  Wohlgefallen,  so  besteht  die  Feind- 


Moralphilosophie  Collins  431 

Schaft  in  gegenseitiger  Mißgunst  und  Misf allen.  Wir  können  an  /  je-  504 
mandem  Misf  allen  haben,  aber  keine  Ungunst.  Wir  haben  an  einem 
Misfallen,  wenn  wir  nicht  das  Gute  an  ihm  finden  was  wir  suchen,  wir 
können  mit  ihm  nicht  umgehn;  er  kann  unser  Freund  nicht  seyn; 

5  übrigens  aber  haben  wir  noch  keine  Ungunst  gegen  ihn;  wir  wünschen 
ihm  alles  gute,  ja  wir  würden  ihm  auch  noch  wohl  was  geben,  wenn  er 
wegbhebe.  Ungunst  aber  haben  wir  gegen  jemanden,  wenn  wir  ibm 
nichts  Gutes  wünschen.  Da  nun  die  Feindschaft  in  Ungunst  und  Mis- 
fallen besteht,  wo  man  ein  Vergnügen  an  dem  Uebel  anderer  findet, 

10  so  müssen  wir  gegen  keinen  eine  Feindschaft  hegen,  denn  das  ist  an 
dem  Menschen  selber  häßlich,  wenn  er  andre  haßt  und  ihnen  übel  will. 
Der  Mensch  ist  alsdenn  in  seinen  eigenen  Augen  liebenswürdig,  wenn 
er  sich  Hebens  voll  findet.  Man  kann  auch  /  ohne  Feindschaft  auf  seinen  505 
Feind  zu  haben,  doch  einen  Feind  haben;  man  kann  ihn  meiden;  man 

15  kann  auch  wünschen,  daß  er  das  empfinden  möge,  was  dazu  gehört, 
die  Billigkeit  des  andern  zu  überschreiten;  man  kann  gegen  ihn  böse 
und  aufgebracht  seyn,  ohne  ein  Feind  von  ihm  zu  seyn;  denn  man 
sucht  ihn  deswegen  noch  nicht  unglücklich  zu  machen.  Also  wahre 
Feindschaft  müssen  wir  gegen  keinen  hegen ;  wir  können  zwar  einen 

20  hassen ;  wenn  er  sich  so  gegen  uns  verhalten  hat,  unsre  Geheimnisse 
wodurch  uns  Schaden  geschehn,  auszuplaudern,  denn  er  ist  hassens- 
werth,  aber  deswegen  noch  nicht  ein  Feind,  wir  dürfen  ihm  deswegen 
noch  nicht  böses  thun,  denn  Feindschaft  ist  eine  declarirte  Gesinnung, 
dem  andern  was  Böses  zu  thun. 

25      /  Friedfertig  ist  ein  Mensch  der  vor  aller  Art  von  Feindschaft  Ab-  506 
scheu  hat.  Friedliebend  ist  man  auf  2faclie  Art.  Wenn  man  an  seiner 
Person  Friede  haben  will,  und  wenn  man  bey  andren  Friede  stiftet; 
das  letzte  ist  großmüthiger.  Diese  friedliebende  Gesinnung  ist  unter- 
schieden von  der  Indolenz,  nach  der  man  allem  Streit  und  Ungemäch- 

30  lichkeiten  aus  dem  Wege  gehet,  weils  Incommoditaet  verursacht,  die 
aber  nicht  aus  dem  sanften  Character  herkommt,  sondern  aus  gutem 
Gemüth  und  Gutherzigkeit.  Die  friedliebende  Gesinnung  aus  Grund- 
sätzen ist  aber,  wenn  man  ohnerachtet  des  sanften  Temperaments 
dennoch  aus  Grundsätzen  friedliebend  ist.  Die  Misanthropie  ist  der 

35  Menschen-Haß,    welcher    2fach   ist,    der   Menschenscheue    und   der 
Menschen  Feind.  Der  Menschenscheue  fürchtet  sich  vor  Menschen  / 
indem  er  sie  als  seine  Feinde  ansieht,  der  Menschen  Feind  aber  ist,  507 
wenn  er  selbst  ein  Feind  von  andern  ist,  der  Menschenscheue  scheut 
die  Menschen  aus  Temperament,  er  sieht  sich  selbst  nicht  für  gut  für 


432  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

andre  an,  er  hält  sich  zu  gering  für  andere ;  und  weil  er  dennoch  etwas 
ehrliebig  ist,  so  verbirgt  er  sich  vor  ihnen  und  flieht  sie.  Der  Menschen 
Feind  scheuet  die  Menschen  aus  Grundsätzen,  er  hält  sich  selbst  für 
zu  gut  für  andere.  Die  Misanthropie  kommt  theils  aus  Misf allen,  theils 
aus  Ungunst.  Der  Misanthrop  aus  Misf  allen  sieht  alle  Menschen  für  5 
schlecht  an;  er  findet  an  ihnen  das  nicht,  was  er  gesucht  hat;  er  haßt 
sie  nicht;  er  wünscht  allen  was  Gutes,  nur  er  hat  Misfallen  an  ihnen. 
Solche  sind  trübsinnige  Menschen,  die  sich  keine  Vorstellung  vom 
menschlichen  Geschlecht  machen  können.  Der  Misanthrop  aus  Un- 
gunst ist  der,  der  keinem  Gutes,  sondern  Böses  gönnt.  lo 


508/ Von    den    Pflichten,    die    aus    dem    Recht   der    Menschen 

entspringen. 

Im  jure  wird  bestimmt,  was  Recht  sey.  Das  jus  zeigt  die  Noth- 
wendigkeit  der  Handlungen  aus  Befugniß  oder  aus  Zwang.  Die  Ethic 
aber  zeigt  die  Nothwendigkeit  der  Handlungen  aus  der  innern  Ver- 15 
bindlichkeit,  die  aus  dem  Recht  anderer  entspringt,  so  ferne  man  dazu 
nicht  gezwungen  wird.  Zuerst  müssen  wir  vorzüglich  Acht  haben,  aus 
welchen  principiis  die  Pflichten  entsprungen  sind.  Wenn  wir  einem 
was  schuldig  sind  nach  seinem  Recht,  so  müssen  wir  dieses  nicht  als 
eine  Handlung  der  Gütigkeit  und  der  Großmuth  ansehn,  die  Handlung  20 
der  Schuldigkeit  nicht  als  eine  Liebes  Handlung  verwenden.  Die  Titel 
der  Pflichten  müßen  nicht  verändert  werden.  Wenn  man  einem  was 

509  entzogen  hat,  und  man  ihm  in  der  Noth  /  eine  Wohlthat  erzeigt,  so  ist 
das  keine  Grosmuth,  sondern  schwache  Ersetzung  dessen,  was  man 
ihm  entzogen  hat.  Selbst  die  bürgerliche  Verfassung  ist  so  eingerichtet,  25 
daß  wir  mit  Antheil  nehmen  an  den  öffentlichen  und  allgemeinen  Un- 
terdrückungen, demnach  müssen  wir  eine  Handlung,  die  wir  ausüben 
gegen  andre,  nicht  als  eine  Handlung  der  Gütigkeit  und  Großmuth 
ansehn,  sondern  als  eine  kleine  Erstattung  dessen,  was  wir  ihm  durch 
allgemeine  Einrichtung  entzogen  haben.  Zweytens  sind  alle  Hand-  so 
lungen  und  Pflichten,  die  aus  dem  Recht  anderer  entspringen,  die  größ- 
ten unter  den  Pflichten  gegen  andre.  Alle  Handlungen  der  Gütigkeit 
sind  nur  in  sofern  erlaubt,  als  sie  dem  Recht  eines  andern  nicht  ent- 
gegen sind ;  sind  sie  das,  so  ist  die  Handlung  moralisch  nicht  erlaubt.  Ich 

510  kann  also  keine  Familie  vom  Elende  /  erretten  und  hernach  Schulden  35 
hinterlassen.  Es  ist  also  nichts  in  der  Welt  so  heilig,  als  das  Recht  des  an- 
dern. Gütigkeit  ist  ein  Ueberfluß.  Wer  keine  gütige  Handlung  ausübet. 


Moralphilosophie  Collins  433 

aber  auch  nicht  das  Recht  anderer  gekränlcet  hat,  der  kann  immer  recht- 
schaffen seyn,  und  wenn  alle  so  wären,  so  würde  es  keine  Arme  geben. 
Wer  aber  sein  ganzes  Leben  durch  gütige  Handlungen  geübet,  und  hat 
nur  das  Recht  eines  Menschen  gekränkt,  der  kann  dieses  durch  alle 

5  gütige  Handlungen  nicht  auslöschen.  Doch  gleichwohl  sind  die 
Pflichten  des  Rechts  und  der  Gütigkeit  nicht  so  hoch,  als  die  Pflichten 
gegen  mich  selbst.  Die  Pflichten  aus  dem  Recht  anderer  müßen  nicht 
zur  Triebfeder  den  Zwang  haben;  denn  sonst  sind  solche  nur  Schelme, 
die  die  Rechte  ausüben,  aus  Furcht  vor  der  Strafe ;  die  Triebfeder  soll 

10  auch  nicht  seyn  aus  Furcht  vor  der  Strafe  Gottes. 


/  Von  der  Billigkeit.  Sil 

Die  Billigkeit  ist  ein  Recht,  welches  aber  keine  Befugniß  giebt  den 
andern  zu  zwingen.  Es  ist  ein  Recht  aber  kein  Zwangs^Recht.  Hat 
jemand  für  mich  gearbeitet  für  einen  abgemachten  Lohn,  hat  aber 

15  mehr  gethan  als  ich  gefordert,  so  hat  er  zwar  ein  Recht,  für  seine  übrige 
Arbeit  Bezahlung  zu  fordern,  aber  er  kann  mich  nicht  dazu  zwingen. 
Will  er  die  Sache  wieder  in  den  vorigen  Zustand  bringen,  so  kann  er 
solches  auch  nicht  thun,  wenn  ichs  nicht  haben  will,  denn  an  meiner 
Sache  hat  weiter  keiner  mehr  Recht  daran ;  er  hat  also  keine  Befugniß 

20  mich  zu  zwingen,  weil  es  nicht  abgemacht  war.  Es  ist  keine  Declara- 
tion.  Denn  damit  einer  befugt  sey  mich  zu  zwingen,  so  muß  erstlich 
die  Handlung  aus  dem  Recht  des  andern  selbst  entsprungen  seyn; 
denn  aber  muß  sie  auch  auf  hinreichend  äußerlichen  Bedingungen  der 
Imputation  des  Rechts  /  beruhn,  diese  werden  durch  Beweise,  die  512 

25  äußerlich  sufficient  sind,  dargethan.  Coram  foro  interno  ist  die  Billig- 
keit ein  strenges  Recht,  aber  nicht  coram  foro  externo.  Die  Billigkeit 
ist  also  ein  Recht,  wo  die  Gründe  der  äußern  Imputation  coram  foro 
externo  nicht  gelten,  wohl  aber  vor  dem  Gewißen. 


Von  der  Unschuld. 

30  Juridisch  ist  jemand  schuldig,  so  fern  er  eine  Handlung  gethan, 
die  dem  Recht  des  andern  zuwider  ist.  Ethisch  ist  er  aber  schuldig, 
wenn  er  nur  den  Gedanken  gehabt  hat,  die  Handlung  zu  begehn, 
Christus  sagt  das  deutlich,  wenn  er  spricht :  so  bald  du  ein  Weib  an- 

28     Kanfs  Schriften  XXVII/1 


434  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

siehst  sie  zu  begehren  etc.  Wenn  also  einer  seine  Gesinnung  nicht 
bessert,  so  bleibt  er  immer  ethisch  schuldig  bey  den  Verbrechen  die 
er  nicht  begangen  hat,  denn  es  fehlte  nur  die  Gelegenheit,  so  wäre  die 

513  Handlung  geschehn,  /  weil  der  Entschluß  schon  im  Gedanken  gefaßt 
war,  die  Umstände  verhinderten  es  nur.  Die  Reinlichl^eit  in  Gesin-  5 
nungen  befreyt  uns  von  der  Schuld  der  ethischen  Pflichten.  Ohne  die 
Reinlichlieit  der  Gesinnungen  wird  der  Mensch  im  moralischen  Gericht 
so  angesehn,  als  wenn  er  die  Handlungen  gethan  hat,  denn  auch  im 
äußerlichen  Gericht  ist  der  Mensch  der  Handlungen  schuldig,  wenn  er 
auch  nur  durch  Umstände  und  Gelegenheit  dazu  verleitet  ist.  Wie  lo 
mancher  geht,  der  des  Verbrechens  nicht  schuldig  ist,  weil  er  nicht  in 
dieselbe  Umstände  gerathen;  wäre  er  nur  in  dieselbe  Versuchung 
gekommen,  so  wäre  er  auch  desselben  Verbrechens  schuldig  geworden. 
Also  lag  es  nur  an  äußern  Umständen.  Es  ist  demnach  keine  Tugend 
so  stark,  für  die  nicht  könnte  Versuchung  gefunden  werden.  Wir  i5 
kennen  unsre  Gesinnungen  nicht  recht,  als  bis  wir  in  die  Umstände 

514  kommen  /  wo  wir  solche  äußern  können ;  denn  wünschen  gut  zu  seyn 
und  sich  davor  halten,  das  thut  jeder  Bösewicht  auch.  Aber  wer  kann 
sagen,  der  und  jener  ist  in  der  Versuchung  gewesen,  seinen  Neben- 
Menschen  zu  hintergehn  und  hat  es  nicht  gethan !  —  Die  Reinlichkeit  20 
der  Gesinnung  bey  jeder  Gelegenheit  practisch  zu  zeigen,  das  ist  eine 
moralische  Unschuld.  Oft  rühmt  man  sich  unschuldig  zu  sejai,  und 
man  hat  die  Versuchung  nicht  ausgestanden,  man  hat  daher  Ursache 
sich  vor  jeder  Versuchung  zu  hüten ;  daher  auch  Christus  in  dem  Vater- 
Unser  —  welches  ein  ganz  moralisches  Gebeth  ist;  ja  selbst  wenn  wir 25 
ums  täglich  Brod  bitten,  mehr  die  Genügsamkeit  anzeigt,  als  Sorge 
für  die  Nahrung  —  angezeigt  hat  zu  bitten,  nicht  in  Versuchung 
geführt  zu  werden.  Denn  wer  weiß,  wie  weit  unsre  moralische  Gesin- 
nungen gehn,  und  wer  hat  schon  alle  Proben  ausgestanden.  Der 
Himmel  weiß  unsre  Schuld  am  besten ;  moralisch  unschuldig  zu  sejm,  30 

515  wer  kann  das  sagen.  /  Vor  dem  foro  externo  können  wir  zwar  un- 
schuldig seyn,  aber  nicht  hier. 


Vom  Schaden. 

Hievon  kann  nichts  gesagt  werden,  weil  das  schon  die  Rechte  ande- 
rer betrifft.  Wer  mich  betrogen  oder  belogen  hat,  dem  thue  ich  kein  35 
Unrecht,  wenn  ich  ihn  wieder  betrüge  oder  ihm  etwas  vorlüge;  aber 


Moralphilosophie  Coli  ins  435 

ich  habe  üherhaupt  nach  dem  allgemeinen  Rechte  der  Menschheit 
Unrecht  gethan.  Derjenige  kann  sich  zwar  über  mich  nicht  beklagen, 
aber  ich  habe  doch  auch  Unrecht,  daß  ich  das  überhaupt  gethan  habe. 
Also  ist  das  nichts,  wenn  wir  uns  rühmen  können,  Menschen  nicht 

5  Unrecht  gethan  zuhaben ;  wir  können  doch  überhaupt  Unrecht  gethan 
haben.  Bey  der  Beleidigung  ist  eine  Entschuldigung  oder  Genugthu- 
ung  nöthig;  wenn  das  nicht  geschehn  kann,  so  muß  Abbitte  folgen. 
Wenn  man  über  die  Beleidigung  sein  Leid  beweiset,  und  darüber 
betrübt  ist,  daß  man  den  andern  beleidiget  hat,  der  andre  /  damit  nicht  5i« 

10 zufrieden  ist, so  gereicht  mir  das  zur  Ehre, wenn  ich  ihm  abbitte;  die 
Abbitte  ist  also  keine  Erniedrigung. 


Von  der  Rache. 

Rachbegierde  ist  von  Rechtsbegierde  zu  unterscheiden.  Jeder 
Mensch  ist  verbunden  sein  Recht  zu  behaupten  und  zu  sehn,  daß  sein 

15  Recht  nicht  von  andern  mit  Füssen  getreten  werde.  Diesen  Vorzug 
der  Menschheit  ein  Recht  zu  haben,  muß  er  nicht  aufgeben,  sondern 
so  lange  verfechten,  wie  er  kann,  denn  sonst,  wenn  er  sein  Recht 
wegwirft,  so  wirft  er  seine  Menschheit  weg.  Alle  Menschen  haben  also 
eine  Rechtsbegierde,  ihr  Recht  zu  schützen,  so  daß  sie  auch  Gewalt 

20  verlangen,  dem  Recht  anderer  Menschen,  welches  beleidiget  ist,  zu 
satisfaciren.  Wenn  wir  hören,  daß  einem  Unrecht  geschehn  ist,  so 
ärgert  es  uns;  wir  sind  begierig,  ihn  empfinden  zu  laßen,  was  das  heißt 
das  Recht  anderer  zu  kränken. 

/  Gesetzt  wir  haben  für  jemanden  was  gearbeitet,  und  er  hat  nicht  sn 

25  Lust  solches  zu  bezahlen,  sondern  er  macht  viele  Einwendungen,  so 

ist  das  schon  eine  Sache  die  unser  Recht  angeht,  mit  dem  müssen  wir 

nicht  spielen  lassen.  Hier  ist  es  uns  nicht  mehr  um  die  einige  Thaler 

zu  thun,  sondern  um  unser  Recht,  welches  mehr  werth  ist,  als  100  oder 

1000  Thaler.  Wenn  diese  Rechtsbegierde  aber  weiter  geht,  als  ^vi^ 

30  nöthig  haben  unser  Recht  zu  verfechten,  so  ist  das  schon  eine  Rache. 

Diese  geht  auf  die  Unversöhnlichkeit,  und  auf  den  Schmerz  und  Uebel, 

welches   wir   wünschen,   daß   demjenigen   solches   möchte   zugefügt 

werden,  der  unser  Recht  gekränlcet  hat ;  wenn  wir  ihm  auch  dadiu'ch 

keine  Achtung  mehr  für  unser  Recht  einflößen.  Diese  Begierde  ist 

35  schon  lasterhaft  und  die  eigentliche  Rache. 


436  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

518  /  Vom  Ohrenbläser. 

Es  muß  ein  Unterschied  gemacht  werden,  zwischen  einem  wahren 
und  hinterhstigen  Feind.  Der  schmeichelnde,  heimliche  und  hinter- 
hstige  Feind  erscheint  wei  tniederträchtiger,  als  die  offenbahre  Bosheit, 
wenn  sie  auch  mit  Gewalt  verknüpft  ist,  denn  alsdenn  kann  man  sich  5 
dafür  hüten,  aber  wider  die  hinterlistige  Bosheit  nicht,  die  hebt  alles 
Zutraun  der  Menschen  auf ;  aber  die  offenbahre  Feindschaft  nicht.  Wer 
offenbahr  declarirt,  er  sey  ein  Feind,  auf  den  kann  man  sich  verlaßen ; 
aber  die  hinterlistige  geheime  Bosheit,  wenn  die  allgemein  wäre, 
so  hörte  das  ganze  Vertrauen  auf.  Diese  Bosheit  verachten  wir  mehr  lo 
als  die  gewaltsame,  denn  die  hinterlistige  hat  gar  keinen  valeur,  ist 

519  niederträchtig,  hat  gar  keinen  Quell  des  guten  in  sich.  Der  /  off enbahre 
Bösewicht  kann  noch  disciplinirt  werden,  seine  Wildheit  kann  ihm 
benommen  werden;  der  aber  keinen  Quell  des  Guten  hat,  dem  kann 
man  keines  geben.  is 


Von   der   Eifersucht  und  der  daraus  entspringenden  Mis- 
gunst  und  Neid. 

Die  Menschen  haben  2  Mittel  sich  zu  schätzen.  Wenn  sie  sich  mit  der 
Idee  der  Vollkommenheit  vergleichen  und  wenn  sie  sich  im  Verhältniß 
mit  andern  vergleichen.  Schätzt  man  sich  mit  der  Idee  der  VoUkom-  20 
menheit,  so  hat  man  einen  guten  Maßstab ;  schätzt  man  sich  aber  in 
Vergleichung  mit  andern,  so  kann  dadurch  oft  das  Gegentheil  von  dem 
herauskommen,  wenn  man  sich  nach  der  Idee  der  Vollkommenheit 
schätzt,  denn  nun  kommts  darauf  an,  wie  diejenigen  beschaffen  sind, 
mit  denen  er  sich  vergleicht.  Vergleicht  er  sich  mit  der  Idee  der  Voll-  25 
580  kommenheit,  so  bleibt  er  darin  /  sehr  zurück  und  er  muß  sich  sehr 
beeifern,  derselben  ähnlicher  zu  werden;  vergleicht  er  sich  aber  mit 
andern,  so  kann  er  doch  noch  einen  großen  Werth  haben,  indem  die, 
mit  denen  er  sich  vergleicht,  große  Schelme  seyn  können.  Die  Men- 
schen mögen  sich  gerne  mit  andern  vergleichen  und  sich  darnach  30 
schätzen,  denn  da  haben  sie  immer  Vortheile.  Selbst  von  denen  mit 
welchen  sie  sich  vergleichen  woUen,  wählen  sie  immer  die  schlechte- 
sten und  nicht  die  besten,  denn  da  können  sie  am  meisten  hervor- 
strahlen. Vergleichen  sie  sich  mit  Menschen,  die  größern  Werth  haben, 
so  kömmt  das  facit  ihrer  Selbstschätzung  zu  ihrem  Nachtheil  heraus.  35 
Nun  sind  nur  2  Wege  übrig  mit  den  Vollkommenheiten  des  andern 


Moralphilosophie  Collins  437 

gleich  zu  werden.  Entweder  ich  suche  die  Vollkommenheiten,  die  der 
andre  hat,  mir  auch  zu  erwerben,  oder  ich  suche  die  Volllcommenheiten 
des  andern  zu  verringern.  Ich  vergrößere  /  also  entweder  meine  Voll-  5«i 
kommenheit,  oder  ich  verringere  die  Vollkommenheit  des  andern, 
5  denn  bin  ich  immer  superior.  Weil  nun  das  letztere  commoder  ist, 
so  mögen  die  Menschen  lieber  die  Vollkommenheiten  des  andern  ver- 
ringern, als  die  ihrige  erhöhn.  Dieses  ist  der  Ursprung  der  Eifersucht. 
Wenn  Menschen  sich  mit  andern  vergleichen,  und  sie  finden  an  dem 
andern  Vollkommenheiten,  so  werden  sie  über  jede  Vollkommenheit, 

10  die  sie  an  dem  andern  gewahr  werden,  eifersüchtig  und  suchen  sie  zu 
verringern,  damit  die  ihrige  hervorragen  möge.  Dieses  ist  die  mis- 
günstige  Eifersucht.  Suche  ich  aber  meine  Vollkommenheiten  zu 
vermehren,  daß  sie  dem  andern  gleich  werden,  so  ist  dieses  eine  Nach- 
eiferey.  Die  Eifersucht  ist  also  das  genus,  und  ist  also  entweder  eine 

15  misgünstige  oder  eine  nacheifernde  Eifersucht.  Weil  nun  die  nach- 
eifernde Eifersucht  schwerer  ist,  so  ist  natürlich,  daß  die  Menschen  auf 
die  misgünstige  Eifersucht  verfallen. 

/  Eltern  haben  demnach  in  der  Erziehung  der  Kinder  darauf  zu  523 
sehn,  daß  sie  die  Kinder  zu  guten  Handlungen  nicht  durch  die  Nach- 

20  eiferung  der  andern  zu  bewegen  suchen,  denn  dadurch  entspringt 
bey  ihnen  eine  misgünstige  Eifersucht,  und  sie  werden  demjenigen 
gram  und  suchen  ihm  hernach  nachzustellen,  der  ihnen  als  ein  Muster 
in  der  Nacheiferung  vorgelegt  ist.  Wenn  daher  die  Mutter  sagt:  Sieh 
einmahl  Junge,  wie  des  Nachbahrs  Fritze  ist,  "wie  schön  daß  er  sich 

25  hält,  wie  fleissig  er  ist,  so  ärgert  sich  dieser  gleich  über  des  Nachbahrs 
Fritze  und  denkt:  wenn  der  Junge  nur  nicht  wäre,  so  möchtest  du 
ihm  nicht  verglichen  werden,  denn  wärst  du  der  beste.  Nun  kann  sich 
zwar  das  Kind  beeifern,  eben  dieselben  Vollkommenheiten  zu  erhalten, 
die  des  Nachbahrs  Kind  hat,  weil  das  aber  schwerer  ist,  so  verfällt  es 

30  auf  Misgunst.  Das  Gute  muß  also  den  Kindern  an  und  vor  sich  selbst 
angepriesen  werden,  /  die  andren  mögen  besser  oder  schlechter  seyn,  523 
denn  wenn  der  andre  nicht  besser  wäre,  so  hätte  dieser  alsdenn  keinen 
Bewegungs  Grund  auch  beßer  zu  seyn.  Denn  so  gut  die  Mutter  sagen 
kann:  Sieh  einmahl,  der  ist  besser  wie  du,  so  könnte  ihr  der  Sohn  ant- 

35  Worten,  ja  der  ist  zwar  beßer  als  ich,  aber  sehn  Sie  einmahl  die  andern 
an,  da  sind  ihrer  mehr,  die  noch  weit  schlechter  sind.  Denn  wenn  die 
VergJeichungen  auf  der  einen  Seite  auf  mich  passen,  so  können  sie  auf 
der  andern  Seite  eben  so  gut  passen.  Dieses  sind  Fehler  der  Erziehung, 
die  hernach  sehr  einwurzeln.  Dadurch  cultiviren  die  Eltern  die  Eifer- 


438  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

sucht,  die  sie  doch  bey  den  Kindern  voraussetzen,  wenn  sie  ihnen 
andre  zum  Muster  vorlegen,  denn  sonst  könnten  die  Kinder  ganz 
gleichgültig  gegen  andre  seyn.  Da  sie  nun  hierin  den  letzten  Weg 
nehmen,  weil  das  leichter  ist  des  andern  seine  Vollkommenheiten  zu 
524  destruiren  /  als  seine  so  weit  zu  erheben,  so  entspringt  hieraus  die  Mis-  5 
2unst.  Es  ist  uns  zwar  die  Eifersucht  sehr  natürlich,  aber  das  entschul- 
digt  uns  gar  nicht,  daß  wir  sie  cultiviren,  sondern  sie  ist  nur  ein  Subsi- 
dium,  eine  Triebfeder,  wenn  noch  keine  maximen  der  Vernunft  sind; 
da  wir  aber  schon  maximen  der  Vernunft  haben,  so  müssen  wir  sie 
durch  Vernunft  einschränken.  Denn  da  wir  als  thätige  Menschen  lo 
bestimmt  sind,  so  sind  uns  viele  Triebfedern  gegeben,  als  Ehrbegierde 
etc.,  und  unter  diesen  ist  auch  die  Eifersucht.  Sobald  aber  die  Vernunft 
herrscht,  so  müssen  wir  nicht  suchen  deswegen  vollkommen  zu  wer- 
den, weil  uns  andre  vorkommen,  sondern  an  sich.  Denn  muß  die 
Triebfeder  aufhören  und  an  ihrer  Stelle  die  Vernunft  herrschen.  Die  i5 
Eifersucht  herrscht  besonders  bey  Personen  von  gleichem  Stande  und 
Metier,  z.  E.  die  Kaufleute  unter  einander;  besonders  aber  bey 
Gelehrten  von  einer  Profession,  denn  ein  andrer  kann  ihnen  nicht  so 

535  zuvorkommen.  /  Das  weibliche  Geschlecht  ist  unter  einander  eifer- 
süchtig, in  Ansehung  des  andern  Geschlechts.  20 

Misgunst  ist,  wenn  man  misvergnügt  ist  über  den  Vorzug  des  an- 
dern ;  wir  werden  durch  das  Glück  des  andern  zu  sehr  erniedrigt  und 
deswegen  misgönnen  wir  es  ihm.  Sind  wir  aber  darüber  misvergnügt, 
daß  der  andre  Antheil  am  Glück  hat,  so  ist  das  der  Neid.  Der  Neid 
ist  also,  wenn  wir  die  Unvollkommenheit  und  das  Unglück  anderer  25 
wünschen,  nicht  damit  wir  dadurch  möchten  vollkommen  oder  glück- 
lich seyn,  sondern  damit  wir  alsdenn  allein  vollkommen  und  glücklich 
seyn  möchten.  Der  Mensch  sucht  glücklich  zu  seyn,  so  daß  alle  um  ihn 
unglücklich  sind  und  sucht  die  Süßigkeit  des  Glücks  darin,  daß  er  allein 
dasselbe  geniesse  und  alle  andre  unglücklich  sind.  Dies  ist  der  Neid  30 
von  dem  wir  hernach  hören  werden,  daß  er  teuflisch  ist.  Die  Misgunst 

536  ist  natürlicher,  obgleich  sie  auch  nicht  /  zu  billigen  ist.  Auch  gut- 
artige Seelen  sind  misgünstig,  z.  E.  wenn  man  misvergnügt  ist  und  alle 
andre  sind  fröhlich,  so  misgönne  ich  den  andern  das.  Denn  allein  mis- 
vergnügt zu  seyn,  da  alle  um  ihn  fröhlich  sind,  das  ist  schwer.  Habe  35 
ich  allein  ein  schlechtes  Gericht  zu  eßen,  und  alle  andre  haben  gut 
zu  eßen,  so  kränkt  mich  das,  und  ich  misgönne  es  ihnen;  wenn  aber 
alle  in  der  ganzen  Stadt  solches  nicht  beßer  haben,  so  bin  ich  ver- 
gnügt. Der  Tod  ist  erträglich,  weil  alle  Menschen  sterben  müssen; 


Moralphilosophie  Collins  439 

sollten  aber  alle  leben  und  ich  allein  möchte  sterben  müssen,  so 
möchte  mich  das  sehr  kränken.  Wir  setzen  uns  in  die  Verhältniße  der 
Dinge  und  nicht  in  die  Dinge  selbst.  Wir  sind  misgünstig,  weil  andere 
glücklicher  sind  als  wir.  Wenn  aber  eine  gutartige  Seele  glücklieh  und 

5  fröhlich  ist,  so  wünscht  sie,  daß  alles  in  der  Welt  eben  so  glücklich  und 
fröhlich  wäre,  denn  misgönnt  sie  solches  keinem.  /  Abgunst  ist,  wenn  5äT 
man  einem  andern  nicht  einmahl  das  gönnt,  was  man  selbst  nicht 
verlangt.  Dieses  ist  schon  eine  Bösartigkeit  der  Seele,  aber  noch  kein 
Neid,  denn  dadurch  daß  ich  dem  andern  dasjenige  von  meinem  Eigen- 

10  thume  nicht  gönne,  was  ich  nicht  brauchen  kann,  will  ich  noch  nicht 
haben,  daß  ich  allein  was  haben  soll  und  der  andre  gar  nichts;  ich  mis- 
gönne  ihm  doch  nicht  sein  Eigenthum.  Es  liegt  schon  viel  in  der 
Natur  des  Menschen  von  Misgunst,  was  Neid  werden  könnte;  aber 
noch  nicht  Neid  ist.  Die  Erzehlung  in  einer  Gesellschaft  vom  Unglück 

15  des  andern,  welches  aber  noch  erträglich  seyn  muß,  oder  vom  Fall 
gewisser  reicher  Personen,  sind  wir  sehr  geneigt  zu  hören,  und  ob  wir 
gleich  keinen  Gefallen  beweisen,  so  gefällt  es  uns  doch  bey  sich  selbst. 
Aber  wenn  wir  bey  Sturm  und  üblem  Wetter  am  warmen  Ofen  und  am 
Caffe-Tische  sitzen,  und  wir  bringen  den  Mann,  der  bey  solchem  Wetter 

20  unterwegens  oder  auf  der  See  ist,  aufs  Tapet,  so  gemessen  wir  dadurch 
unser  Glück  beßer,  /  es  erhöhet  die  Annehmlichkeit.  Es  liegt  also  die  528 
Mißgunst  in  unserer  Natur,  welches  aber  noch  kein  Neid  ist.  Diejenige 
3  Laster,  die  wir  hier  zusammen  nehmen  können,  und  die  der  Inn- 
begriff  der  niederträchtigsten  und  boshaftesten  Laster  sind,  sind  diese : 

25  die  Undankbarkeit,  der  Neid,  und  die  Schadenfreude.  Wenn  diese 
ihren  völligen  Grad  erreichen,  so  sind  es  teuflische  Laster.  Alle 
Menschen  werden  durch  Wohlthaten  beschämt,  indem  man  dadurch 
verbunden  ist,  und  der  andre  Verbindlichkeiten  und  Ansprüche  auf 
den  hat,  dem  er  Wohlthaten  erzeigt  hat.  Daher  schämt  sich  jeder 

30  verbunden  zu  seyn ;  und  ein  großmüthiger  Mann  wird  also  nicht  Wohl- 
thaten annehmen  um  nicht  verbunden  zu  seyn.  Dies  ist  schon  eine 
Anlage  zur  Undankbarkeit,  wenn  der  Mensch,  der  Wohlthaten 
genoßen  hat,  stolz  und  eigennützig  ist,  denn  aus  Stolz  schämt  er  sich 
dem  andern  verbunden  zu  seyn,  /  und  aus  Eigennutz  will  er  solches  5«9 

35  dem  andern  nicht  zukommen  lassen,  daher  wird  er  trotzig  und  un- 
dankbar. W^ächst  diese  Undankbarkeit  so  weit,  daß  er  seinen  Wohl- 
thäter  nicht  leiden  kann,  daß  er  ihm  Feind  wird,  so  ist  das  der  Grad 
des  teufelischen  Lasters,  indem  es  gar  nicht  mit  der  menschlichen 
Natur  zusammenstimmt,  denjenigen  zu  hassen  und  zu  verfolgen,  der 


440  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

einem  Wohlthaten  erzeigt  hat,  und  indem  es  auch  einen  entsetzHchen 
Schaden  verursachen  würde,  wenn  alle  Menschen  dadurch  von  allen 
Wohlthaten  abgeschreckt  würden,  und  dadurch  Misanthropen  wür- 
den, weil  sie  sehn  möchten,  daß  sie  dafür  schlecht  behandelt  würden. 
Das  2te  Laster  ist  der  Neid.  Dieses  ist  äußerst  verhaßt,  denn  da  wül  5 
der  Mensch  nicht  nur  glückhch  seyn,  sondern  allein  glücklich  seyn. 
Er  wünscht  sein  Glück  so  zu  gemessen,  daß  allerwärts  Unglück  ist, 

530  und  er  alsdenn  in  seinem  Glück  recht  vergnügt  seyn  kann.  /  Ein 
solcher  will  auf  die  Art  die  Glückseeligkeit  in  der  ganzen  Welt  aus- 
rotten und  deswegen  ist  er  ein  unerträgliches  Geschöpf.  Die  3te  teufe-  lo 
lische  Bosheit  ist  die  Schadenfreude,  die  darin  besteht,  daß  man  ein 
unmittelbares  Vergnügen  an  dem  Schaden  anderer  findet  z.  E.  wenn 
man  Feindschaften  in  der  Ehe  und  sonst  anzurichten  sucht,  und  sich 
über  den  Schaden  der  andern  freuet.  Hier  muß  man  sich  eine  Regel 
machen,  daß  man  keinem  Menschen  das  wiedersage,  was  von  ihm  i5 
nachtheiliges  von  andern  gegen  mich  gesagt  worden;  es  sey  denn, 
wenn  durch  das  Verschweigen  dem  andern  Schaden  entspringt,  denn 
alsdenn  rieht  ich  Feindschaften  an,  wodurch  der  andre  beunruhiget 
wird,  welches  nicht  geschehn  möchte,  wenn  ich  es  verschwiegen  hätte, 
und  denn,  so  handle  ich  auch  gegen  den  andern,  der  es  mir  gesagt  hat,  20 

531  treulos.  Unsere  Sorge  hiebey  ist,  sich  rechtschaffen  zu  verhalten  und  / 
denn  mag  die  ganze  weite  Welt  sagen,  was  sie  will,  so  muß  ich  solches 
nicht  durch  meine  Worte,  sondern  durch  meinen  Lebenswandel  wieder- 
legen, wie  Sokrates  sagte:  Wir  müssen  uns  so  offenbaren,  daß  die 
Leute  das  nicht  glauben  werden,  was  uns  zum  Nachtheil  gesagt  wird.  25 
Alle  3,  die  Undankbarkeit  (ingratitudo  qualificata),  Neid  und  Schaden- 
freude sind  teuflische  Laster,  weil  sie  eine  unmittelbare  Neigung  zum 
Bösen  anzeigen.  Daß  der  Mensch  mittelbare  Neigung  zum  Bösen  hat, 
ist  menschlich  und  natürlich,  z.  E.  der  Geizige  will  gerne  alles  an  sich 
ziehn;  er  hat  aber  kein  Vergnügen,  wenn  der  andre  gar  nichts  hat.  30 
Es  giebt  also  Laster,  die  directe  und  indirecte  böse  sind.  Diese  3  Laster 
sind  die,  die  directe  böse  sind.  Es  fragt  sich,  ob  in  der  menschlichen 
Seele  eine  unmittelbare  Neigung  zum  Bösen,  also  eine  Neigung  zum 

532  teuflischen  Laster  ist  ?  Teuflisch  nennen  /  wir  das,  wenn  das  Böse  bey 
den  Menschen  so  weit  getrieben  wird,  daß  es  den  Grad  der  mensch-  35 
liehen  Natur  überschreitet,  so  wie  wir  das  Gute,  was  über  die  Natur  des 
Menschen  getrieben  wird,  englisch  nennen.  Alles  Glück  referiren  wir 
in  den  Himmel  und  alles  Böse  in  die  Hölle,  und  das  Mittel  auf  die 
Erde.  Es  ist  aber  zu  glauben,  daß  in  der  Natur  der  menschlichen 


Moralphilosophie  ColUns  441 

Seele  eine  unmittelbare  Neigung  zum  Bösen  nicht  stattfinde,  sondern 
daß  solches  nur  indirecte  böse  sey.  Der  Mensch  kann  nicht  so  undank- 
bar seyn,  daß  er  den  andern  sogar  hassen  sollte ;  nur  er  ist  gar  zu  stolz, 
dankbar  gegen  ihn  zu  seyn,  übrigens  wünscht  er  ihm  alles  Glück,  nur 
5  er  wollte  gern  von  ihm  entfernt  seyn.  So  freut  er  sich  auch  nicht  un- 
mittelbar über  den  Schaden  des  andern,  sondern  wenn  z.  E.  einer 
unglücklich  geworden  ist,  so  freut  man  sich,  weil  er  aufgeblasen,  reich 
und  eigennützig  war ;  /  denn  die  Menschen  mögen  gern  die  Gleichheit  533 
erhalten.  Der  Mensch  hat  also  keine  directe  Neigung  zum  Bösen  als 

10  Bösen,  sondern  nur  eine  indirecte.  Die  Schadenfreude  zeigt  sich  aber 
oft  schon  stark  in  der  Jugend.  So  sind  z.  E.  die  Kinder  gewohnt, 
andern  mit  einer  Nadel  unvermuthet  einen  Stich  zu  geben,  sie  thun 
es  nur  aus  Spaaß  und  denken  nicht,  daß  es  der  andre  fühlen  muß,  und 
andre  dergleichen  Streiche  mehr;  so  auch  den  Tliieren  Angst  aus- 

iszupreßen,  wenn  sie  z.  E.  dem  Hunde  oder  der  Katze  den  Schwantz 
einldemmen.  Da  sieht  man  es  schon,  wo  es  hinaus  will,  und  diesem 
muß  man  frühe  vorbeugen.  Dieses  ist  aber  eine  Art  von  Thierheit, 
wo  der  Mensch  etwas  vom  Raubthier  an  sich  hat,  welches  er  nicht 
überwältigen  kann.  Den  Quell  davon  wißen  wir  nicht.  Von  einigen 

20  Eigenschaften  können  wir  gar  keinen  Grund  anführen.  So  giebt  es 
Thiere,  die  solchen  Hang  haben,  alles  wegzunehmen,  ohne  einen 
Gebrauch  davon  zu  machen,  und  es  scheint,  als  wenn  der  Mensch 
diesen  Hang  von  der  Thierheit  übrig  behalten  hat. 

/  Von  der  Undankbarkeit  insbesondere  können  wir  uns  noch  fol-  534 

25  gendes  merken :  Der  Beystand  des  andern  in  Ansehung  der  Nothdurft 
ist  eine  Wohlthat,  in  Ansehung  anderer  Bedürfniße  ist  Gütigkeit,  und 
in  Ansehung  der  Annehmlichkeit  ists  Höflichkeit.  Wir  können  von 
dem  andern  eine  Wohlthat  erhalten,  obgleich  sie  dem  nicht  viel  kostet. 
Wir  sind  dem  andern  für  die  Wohlthat  nach  der  Größe  des  Grades  des 

30  Wohlwollens,  die  ihn  angetrieben  uns  solches  zu  erzeigen,  dankbar, 
wir  richten  unsre  Dankbarkeit  nach  der  Ueberwindung,  die  es  dem 
andern  gekostet  hat  es  uns  zu  geben,  ein.  Wir  sind  dankbar  nicht  bloß 
für  das  Gute,  das  wir  bekommen  haben,  sondern  auch  für  die  gute 
Gesinnung  des  andern  gegen  uns.  Die  Dankbarkeit  ist  2fach:  Aus 

35  Pflicht  und  aus  Neigung.  Aus  Pflicht,  wenn  wir  nicht  durch  die 
Gütigkeit  des  andern  gerührt  sind,  /  sondern  weil  wir  sehn,  daß  es  535 
sich  geziemte  dankbar  zu  seyn,  denn  haben  wir  kein  dankbares  Herz, 
sondern  Grundsätze  der  Dankbarkeit.  Aus  Neigung  sind  wir  danlcbar, 
so  fern  Avir  Gegenliebe  in  uns  empfinden.  Unser  Verstand  hat  eine 


442  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

Schwäche,  die  wir  oft  erkennen,  so,  daß  wir  die  Bedingung  in  die 
Sachen  setzen,  da  es  doch  eine  Bedingung  unsres  Verstandes  ist;  wir 
schätzen  nicht  anders  die  Kraft,  als  nach  den  Hindernissen;  also 
können  wir  auch  nicht  den  Grad  des  Wohlthuns  anderer  schätzen, 
als  nach  dem  Grad  der  Hindernisse.  Nun  können  wir  das  Wohlthun  5 
und  die  Liebe  eines  solchen  Wesens,  was  gar  keine  Hindernisse  hat, 
gar  nicht  einsehn.  Wenn  Gott  einem  wohlthut,  so  denkt  der  Mensch, 
das  hat  Gott  gar  keine  Mühe  gemacht,  und  wenn  er  danlibar  ist,  so 
schmeichelt  er  Gott.  So  denkt  der  Mensch  natürlich.  Der  Mensch  ist 
sehr  fähig  Gott  zu  fürchten,  aber  nicht  so  leicht  fähig  Gott  aus  Neigung  lo 
536  zu  lieben,  weil  er  hier  /  ein  Wesen  erkennet,  dessen  Gütigkeit  aus  dem 
größten  Ueberfluße  entspringet  und  den  nichts  hindert  uns  Gutes  zu 
erzeigen.  Dieses  dient  nicht  dazu,  daß  Menschen  solches  so  thun  sollen, 
sondern  daß  das  menschliche  Herz,  wenn  man  es  erforscht,  wirklich  so 
denlit.  Daher  auch  Völker  die  Gottheit  misgünstig  vorstellten  und  i5 
sagten:  die  Götter  wären  zurückhaltend  mit  ihren  Wohlthaten,  sie 
wollten  nur  viel  gebethen  seyn,  und  man  sollte  nur  die  Altäre  mit  viel 
Opfer  belegen,  da  sie  doch  sahen,  daß  es  Gott  nichts  kostete,  ihnen 
mehr  zu  geben;  es  liegt  aber  solches  in  dem  Herzen  der  Menschen. 
Allein  wenn  wir  die  Vernunft  zu  Hülfe  nehmen,  so  sehn  wir  ein,  daß  20 
ein  großer  Grad  der   Gütigkeit  zu  einem  solchen  Wesen   gehöret, 
wenn  es  einem  Wesen  gütig  seyn  soll,  das  so  unwürdig  ist.  Hiedurch 
können  wir  uns  helfen.  Wir  sind  Gott  Dank  schuldig  nicht  aus  Nei- 
gung, sondern  aus  Pflicht,  weil  Gott  ein  ganz  andres  Wesen  und  kein 
53?  Gegenstand  unserer  Neigung  seyn  kann.  /  Man  muß  sich  hüten  Wohl-  25 
thaten  anzunehmen,  es  sey  denn  unter  dieser  2fachen  Bedingung: 
Erstlich  aus  großer  Noth  und  denn  aus  großem  Vertrauen  zu  seinem 
Gönner.  Der  Wohlthäter  ist  kein  Freund  mehr,  sondern  mein  Gönner. 
Ohne  Unterschied  aber  Wohlthaten  anzunehmen  und  solche  immer  zu 
suchen,  ist  nicht  grosmüthig,  denn  dadurch  macht  man  sich  verbind-  30 
lieh;  ist  man  aber  in  großer  Noth,  so  muß  man  Verzicht  thun  auf 
seinen  Werth,  und  solche  aus  treibender  Noth  annehmen;  oder  man 
ist  überzeugt  von  seinem  Gönner,  daß  er  sie  als  keine  Verbindlichkeit 
ansehe ;  im  übrigen  aber  muß  man  sich  lieber  was  entziehen,  als  Wohl- 
thaten annehmen;  denn  die  Wohlthat  ist  eine  solche  Schuld,  die  nie-  35 
mals  getilgt  werden  kann,  denn  wenn  ich  auch  meinem  Wohlthäter 
50  mal  mehr  gebe,  als  er  mir  gegeben  hat,  so  bin  ich  doch  noch  nicht 
quitt,  denn  der  andre  hat  mir  eine  Wohlthat  erzeigt,  die  er  mir  nicht 
schuldig  war,  er  hat  mir  solche  zuerst  erzeigt;  wenn  ich  es  aber  auch 


Moralphilosophie  Collins  443 

SOfach  wieder  gebe,  so  thue  ich  es  doch  nur  deswegen,  um  ihm  die  / 
Wohlthat  zu  vergelten  und  die  Schuld  zu  bezahlen.  Ich  kann  ihm  hier  538 
nicht  mehr  zuvor  kommen ;  er  bleibt  doch  immer  der,  der  mir  zuerst 
Wohlthaten  erzeigt  hat.  Der  Wohlthäter  kann  seine  Wohlthatcn  dem 

5  andern  als  eine  Schuld  oder  als  eine  Äußerung  seiner  Pflicht  aufer- 
legen. Legt  er  sie  ihm  als  eine  Schuld  auf,  so  empört  er  des  andern 
seinen  Stoltz  und  verringert  dadurch  die  Dankbarkeit  des  andern; 
will  er  aber  nicht,  daß  man  undankbar  seyn  soll,  so  muß  er  denken  eine 
Menschen-Pflicht  ausgeübt  zu  haben,  und  es  dem  andern  nicht  als 

10  Schuld  anrechnen,  daß  er  darauf  zu  sinnen  hat,  solche  wieder  gut  zu 
machen.  Der  andre  muß  aber  diese  Wohlthat  doch  als  eine  Verbind- 
lichkeit annehmen  und  danicbar  gegen  seinen  Wohlthäter  seyn;  denn 
können  Wohlthaten  statt  finden.  Ein  wohldenkender  Mensch  nimmt 
nicht  einmal  Gütigkeit  an,  viel  weniger  noch  Wohlthaten.  Danlvbare 

15  Gesinnungen  sind  sehr  liebenswürdig,  so  daß  solche  Züge  auch  in  der 
Comoedie  Thränen  zuwege  /  bringen ;  aber  großmüthige  Gesinnungen  539 
sind  noch  süßer.  Die  Undankbarkeit  haßen  wir  erstaunend,  und  wenn 
sie  auch  nicht  gegen  uns  gerichtet  ist,  so  ärgert  es  uns  doch  so,  daß  wir 
uns  selbst  ins  Mittel  setzen  möchten.  Dieses  kommt  daher,  weil  da- 

20  durch  die  Großmuth  verringert  wird.  Der  Neid  besteht  nicht  darin, 
daß  man  vorzüglich  glücklich  seyn  will,  als  wie  die  Mißgunst,  sondern 
daß  man  allein  glücldich  seyn  will.  Dieses  ist  das  ärgste  bey  dem  Neide, 
warum  sollen  andre  nicht  auch  glücklich  seyn,  wenn  ich  glücklich  bin  ? 
Der  Neid  äußert  sich  auch  in  einigen  Sachen  der  Seltenheit:  z.E.  bey 

25  den  Holländern,  welches  überhaupt  eine  neidische  Nation  ist,  galten 
einmal  die  Tulpen  einige  100  holländische  Gulden.  Ein  reicher  Kauf- 
mann aber  hatte  eine  von  den  besten  und  seltensten,  aber  als  er  hörte, 
daß  ein  anderer  auch  eine  solche  hatte,  so  kaufte  er  sie  ihm  für  200 
holländische  Gulden  ab,  zertrat  sie,  indem  er  sagte :  Was  soll  ich  damit, 

solch  habe  ja  eine,  ich  wollte  nur  dieses,  daß  sie  kein  anderer  haben 
sollte  als  ich.  Und   so   ist  es  auch  in  Ansehung  des  Glücks.  Mit  der 
Schadenfreude  ist  es  anders  bewandt,  solche  Menschen  können  da 
lachen,  wo  andre  /  weinen;  sie  haben  da  Vergnügen,  wo  andre  Schmerz  540 
haben.   Macht  man  andre  unglücklich,   so  ist  dieses  Grausamkeit, 

35 entspringt  daraus  ein  körperlicher  Schmerz,  so  ist  es  Blutdürstigkeit; 
alles  zusammen  ist  Unmenschlichkeit,  sowie  das  Mitleiden  und  Theil- 
nehmung  Menschlichkeit  ist,  weil  dieses  den  Menschen  von  den 
Thieren  unterscheidet.  Wie  eine  grausame  Gesinnung  statt  finden 
kann,  ist  schwer  zu  erklähren.  Es  muß  ausder  Vorstellung  von  der  Bös- 


444  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

artigkeit  anderer  herrühren,  so  daß  man  gegen  sie  Haß  hat.  Menschen 
die  da  glauben  von  andern  Menschen  gehaßt  zu  seyn,  hassen  sie  des- 
wegen wieder;  obgleich  jene  aus  gerechten  Ursachen  Haß  gegen  sie 
gefaßt  haben.  Denn  wenn  ein  Mensch  durch  Eigennutz  und  andre 
Laster  ein  Gegenstand  des  Haßes  wird  und  er  weiß,  daß  ihn  die  andern  5 
deswegen  hassen,  obgleich  sie  ihm  nicht  Unrecht  thun,  so  haßt  er  sie 
wieder.  So  werden  Könige,  weil  sie  wissen,daßsie  vondenUnterthanen 
gehaßt  werden,  noch  grausamer.  Eben  so  ist  es  auch,  wenn  jemand  da 
541  er  es  weiß,  daß  dieser  ihn  liebt  / so  liebt  er  den  andern  wieder;  er  liebt 
ihn  wegen  der  Gegenliebe,  und  so  haßt  einer  den  andern  wegen  des  10 
Gegenhaßes.  Man  muß  sich  hüten,  von  andern  gehaßt  zu  werden 
um  seiner  selbst  willen,  denn  sonst  wird  man  vom  Haß  gegen  die  an- 
dern wieder  afficirt.  Dieses  beunruhigt  aber  den  Menschen  mehr, 
der  da  haßt,  als  den  andern  der  da  gehaßt  wird. 

Von  den  ethischen  Pflichten  gegen   andre  und  zwar    von  15 
der  Wahrhaftigkeit. 

In  der  Gesellschaft  der  Menschen  ist  die  Mittheilung  der  Gesinnun- 
gen die  Hauptsache,  und  da  ist  die  Hauptsache,  daß  ein  jeder  in 
Beziehung  seiner  Gedanken  wahrhaft  sey,  denn  ohne  das  hört  aller 
Werth  des  Umgangs  auf.  Aus  der  Bezeichnung  der  Gedanken  kann  20 
der  andre  nur  urtheilen,  was  er  denkt,  und  wenn  er  deklarirt,  er  wolle 
seine  Gedanken  äußern,  so  muß  er  es  auch  thun,  denn  sonst  kann  keine 
Gesellschaft  unter  den  Menschen  statt  finden.  Die  Gemeinschaft  unter 
den  Menschen  ist  nur  die  2te  Bedingung  der  Gesellschaft.  Der  Lügner 
hebt  aber  die  Gemeinschaft  auf,  dahero  verachtet  man  den  Lügner,  25 
weil  die  Lüge  den  Menschen  unfähig  macht  aus  dem  Gespräch  des 
543  andern  /  was  gutes  zu  ziehn.  Der  Mensch  hat  einen  Hang  sich  zurück- 
zuhalten und  sich  zu  verstellen.  Die  Zurückhaltung  ist  die  Dissimula- 
tio,  und  die  Verstellung  die  Simulatio.  Der  Mensch  hält  sich  in  An- 
sehung seiner  Schwachheiten  und  Vergehungen  zurück  und  kann  sich  so 
auch  verstellen  und  einen  Schein  annehmen.  Die  Neigung  sich  zurück 
zu  halten  und  zu  verbergen,  beruht  darauf,  daß  die  Vorsicht  gewollt 
hat,  der  Mensch  soll  nicht  ganz  offen  seyn,  weil  er  voll  Gebrechen  ist; 
weil  wir  viele  Eigenschaften  und  Begierden  haben,  die  dem  andern 
verwerflich  sind,  so  möchten  wir  dem  andern  von  der  Seite  der  Thor-  35 
heit  und  des  Haßes  in  die  Augen  fallen.  Alsdenn  aber  möchte  dieses 
entstehn,  daß  sich  die  Menschen  an  die  böse  Eigenschaften  ange- 


Moralphilosophie  Collins  445 

wohnen  möchten,  weil  sie  dasselbe  bey  allen  sehn  möchten.  Demnach 
richten  wir  unser  Verhalten  so  ein,  daß  wir  theils  unser  Vergehn  ver- 
heelen,  theils  auch  einen  andern  Schein  annehmen  und  die  Kunst 
besitzen  anders  zu  erscheinen,  als  war  sind;  folglich  fällt  andern  Men- 
5  sehen  von  unsern  Vergehn  und  Schwachheiten  nichts  in  die  Augen 
als  solche  Erscheinungen  vom  Wohlergehn,  und  hiedurch  /  gewöhnen  543 
wir  uns  an  Gesinnungen,  die  Wohlverhalten  zuwege  bringen.  Dem- 
nach ist  kein  Mensch  im  wahren  Verstände  offenherzig.  Würde  das 
seyn,  wie  Momus  verlangte,  daß  Jupiter  hätte  ein  Fenster  ins  Herz 

10  sollen  setzen  lassen,  damit  man  jedes  Menschen  seine  Gesinnung 
wißen  möchte,  so  müßten  die  Menschen  beßer  beschaffen  seyn  und 
gute  Grundsätze  haben,  denn  wenn  alle  Menschen  gut  wären,  so 
dürfte  keiner  zurückhaltend  seyn ;  da  das  aber  nicht  ist,  so  müssen  wir 
unsre  Fensterladen  zu  machen.  Eben  so  wie  die  Unreinigkeit  im  Hause 

15  am  besondern  Orte  ist,  und  so  wie  wir  einen  Menschen  nicht  ins 
Schlafzimmer,  wo  Nachtgeschirre  sind,  hineinnöthigen,  ob  er  gleich 
weiß,  daß  wir  solches  eben  so  gut  haben  wie  er,  so  thun  wir  es  doch 
nicht,  indem  wir  uns  daran  gewöhnen  möchten  und  unsern  Geschmack 
verderben  würden.  Eben  so  verbergen  wir  unsre  Fehler  und  suchen 

20  einen  andern  Schein  anzunehmen  und  affectiren  in  der  Höflichkeit, 
obgleich  wir  sonst  mistrauisch  sind ;  allein  dadurch  gewöhnen  wir  uns 
an  die  Höflichkeit,  und  zulezt  wird  sie  uns  eigen,  und  geben  /  dadurch  544 
noch  ein  scheinbares  gutes  Exempel;  wäre  das  nicht,  so  würde  sich 
jeder  vernachläßigen,  indem  er  keinen  fände,  der  beßer  wäre.  Es 

25  macht  also  diese  Bestrebung  einen  Schein  anzunehmen,  daß  man  wirk- 
lich hernach  so  wird.  Wären  die  Menschen  alle  gut,  so  könnten  sie 
offenherzig  seyn,  aber  jezt  nicht.  Die  Zurückhaltung  besteht  darin, 
daß  man  seine  Gesinnung  nicht  äußert.  Dieses  kann  man  erstlich 
dadurch  thun,  daß  man  ganz  schweigt.  Das  ist  ein  kurzes  Mittel 

30  zurückhaltend  zu  seyn.  Es  ist  aber  ein  Mangel  eines  geselligen  Um- 
ganges. Es  raubt  dem  Menschen  das  Vergnügen  des  Umganges,  und 
solche  stille  Menschen  sind  nicht  allein  in  der  Gesellschaft  überflüßig, 
sondern  sie  machen  sich  auch  verdächtig  und  jeder  glaubt,  er  paße  auf. 
Denn  wenn  er  gefragt  wird,  was  er  von  dem  urtheilt,  und  er  sagt,  ich 

35  schweige,  so  ist  das  so  viel  als  daß  er  das  nachtheilige  bejahe,  denn 
würde  er  gut  urtheilen,  so  könnte  er  es  ja  sagen.  Da  das  Schweigen  im- 
mer verräth,  so  ist  es  nicht  einmahl  der  Klugheit  gemäß,  zurückhal- 
tend zu  seyn,  man  kann  aber  auch  /mit  Klugheit  ohne  Schweigen  zu-  545 
rückhaltend  seyn.  Zu  dieser  Zurückhaltung  aus  Klugheit  wird  Ueber- 


446  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

legung  erfodert.  Man  muß  urtlieilen  und  sprechen  von  allem,  nur  von 
dem  nicht,  worinne  man  zurückhaltend  seyn  will.  Die  Verschwiegen- 
heit ist  ganz  was  anders  als  das  Zurückhalten.  Ich  kann  etwas  zurück- 
halten, wo  ich  keine  Neigung  habe  es  zu  äußern,  z.  E.  seine  Verbrechen 
zurückhalten,  da  treibt  mich  die  Natur  gar  nicht  sie  zu  verrathen ;  des-  5 
wegen  hat  jeder  Mensch  seine  Heimlichkeiten  und  die  kann  er  leicht 
zurückhalten,  aber  es  giebt  Sachen,  wozu  Stärke  gehört,  wenn  man  sie 
zurückhalten  will.  Die  Geheimnisse  sind  von  der  Art,  daß  sie  aus- 
brechen M^ollen  und  dazu  gehört  Stärke  sie  nicht  zu  verrathen,  und  das 
ist  Verschwiegenheit.  Die  Geheimnisse  sind  immer  deposita  des  andern,  lo 
diese  muß  ich  nicht  andern  zum  Gebrauch  überlaßen.  Da  aber  die 
Gesprächigkeit  den  Menschen  sehr  interessirt,  so  ist  die  Erzählung  der 

546  Geheimniße  das,  was  die  Gesprächigkeit  sehr  unterhält,  /  denn  da  sieht 
der  andre  solches  als  ein  Geschenk  an.  Wie  kann  man  Geheimnisse 
bewahren  ?  Menschen  die  selbst  nicht  viel  gesprächig  sind,  pflegen  gut  15 
Geheimnisse  zu  bewahren,  aber  beßer  können  die  Geheimniße  be- 
wahren, die  gesprächig  aber  klug  dabey  sind,  denn  den  ersten  könnte 
man  doch  etwas  herauslocken,  aber  diesen   nicht,  denn  die  wissen 
immer  was  anders  in  die  Stelle  zu  verzählen.  So  wie  die  praktische 
Sprachlosigkeit  eine  Ausschweifung  auf  der  einen  Seite  ist,  so  ist  die  20 
Sprachhaftigkeit  eine  Ausschweifung  auf  der  andern  Seite.  Der  erste 
ist  ein  männlicher,  der  andre  ein  weiblicher  Fehler.  Ein  Autor  sagt : 
die  Weiber  sind  darum  schwazhaftig,  weil  ihnen  die  Erziehung  der 
kleinsten  Kinder  anvertraut  ist,  und  die  sie  durch  ihre  Schwazhaftig- 
keit  bald  reden  lehren,  indem  sie  im  Stande  sind  den  Kindern  den  25 
ganzen  Tag  was  vorzuplaudern;  bey  den  Männern  aber  würden  die 

54T  Kinder  lange  nicht  so  bald  reden  lernen.  Die  Sprachlosigkeit  /  ist 
hassenwerth.  Man  ärgert  sich  über  Menschen,  die  nicht  reden.  Sie  ver- 
rathen einen  Stolz.  Die  Schwazhaftigkeit  bey  den  Männern  ist  ver- 
ächtlich und  wider  ihre  Stärke.  Dieses  war  nur  etwas  in  Ansehung  des  so 
pragmatischen.  Jezt  gehn  wir  zu  etwas  wichtigerm. 

Wenn  der  Mensch  sich  äußert,  daß  er  seine  Gesinnungen  entdecken 
will,  soll  er  sie  ganz  mit  Bewußtseyn  entdecken  oder  zurückhaltend 
seyn  ?  —  Aeußert  er  sich,  daß  er  seine  Gesinnungen  entdecken  will, 
und  er  entdeckt  sie  nicht,  sondern  sagt  eine  falsche  Aussage,  so  ist  das  35 
ein  Falsiloquium,  eine  Unwahrheit.  Falsiloquium  kann  geschehn,  wenn 
der  andre  nicht  praesumiren  kann,  daß  ich  meine  Gesinnung  äußern 
werde.  Man  kann  jemanden  hintergehn,  ohne  ihm  überhaupt  was  zu 
sagen.   Ich  kann  mich  simuliren,   ich  kann  eine  Aeußerung  thun, 


Moralphilosophie  CoUins  447 

Avoraus  der  andre  das  abnehmen  kann,  was  icli  will;  der  andre  hat  aber 
kein  Recht  von  meiner  Aeußerung  die  Declaration  meiner  Gesinnung  / 
zu  fodern,  und  denn  hab  ich  ihn  nicht  belogen ;  denn  habe  ich  nicht  548 
declarirt,  meine  Gesinnungen  zu  äußern,  z.  E.  wenn  ich  einpacke,  so 

5  denken  die  andern,  ich  reise  weg,  und  das  will  ich  auch  haben ;  die  an- 
dern aber  haben  kein  Recht  die  declaration  des  Willens  von  mir  zu 
fordern.  So  machte  es  der  berühmte  Law,  er  baute  und  wie  sie  alle 
dachten,  der  wird  nicht  weggehn,  so  reiste  er  ab.  Ich  kann  aber  auch 
ein  Falsiloquium  begehn,  wo  ich  Absicht  habe  dem  andern  meine 

10  Gesinnungen  zu  verheelen,  und  wo  der  andre  auch  praesumiren  kann, 
daß  ich  meine  Gesinnung  verheelen  werde,  indem  er  Gesinnung  hat 
von  meiner  Wahrheit  einen  Misbrauch  zu  machen,  z.  E.  ein  Feind 
kommt  mir  auf  den  Hals  und  fragt  mich,  wo  ich  das  Geld  habe,  so  kann 
ich  hier  die  Gedanken  verheelen,  indem  er  die  Wahrheit  misbrauchen 

15  will.  Das  ist  noch  kein  Mendacium,  denn  der  andre  weiß,  daß  ich  meine 
Gedanken  zurückhalten  werde  und  daß  er  auch  gar  nicht  Recht  hat 
von  mir  die  Wahrheit  zu  fordern.  Gesetzt  /  aber,  ich  äußere  wirklich,  549 
daß  ich  meine  Gesinnung  deklariren  wollte,  und  der  andre  ist  sich 
vollkommen  bewußt,  daß  er  kein  Recht  hat  solches  von  mir  zu  fordern, 

20  weil  er  ein  Betrüger  ist,  so  fragt  es  sich:  Bin  ich  denn  ein  Lügner  ? 
Wenn  mich  der  andre  betrogen  hat  und  ich  betrüge  ihn  wieder  davor, 
so  habe  ich  zwar  diesem  Menschen  kein  Unrecht  gethan,  weil  er  mich 
betrogen  hat,  er  kann  sich  darüber  nicht  beklagen,  allein  ich  bin  doch 
ein  Lügner,  Aveil  ich  dem  Recht  der  Menschheit  zuwider  gehandelt 

25  habe.  Es  kann  demnach  ein  Falsiloquium  ein  Mendacium  —  eine 
Lüge  —  seyn,  wenn  es  dem  Recht  eines  Menschen  besonders  entgegen 
ist.  Wer  mir  immer  was  vorgelogen,  dem  thue  ich  kein  Unrecht,  wenn 
ich  ihm  wieder  vorlüge,  aber  ich  handle  wider  das  Recht  der  Mensch- 
heit; denn  ich  habe  wider  die  Bedingung  gehandelt,  und  wdder  die 

30  Mittel,  unter  denen  eine  Gesellschaft  der  Menschen  statt  finden  kann, 
und  also  wider  das  Recht  der  Menschheit.  Wenn  also  ein  Staat  einmal 
Friede  gebrochen  hat,  so  kann  der  andre  zur  Vergeltung  keinen  Frie- 
den brechen,  denn  würde  das  stattfinden  können,  so  würde  kein 
Friede  sicher  seyn.  /  Wenn  also  auch  etwas  dem  bestimmten  Recht  des  550 

35  Menschen  nicht  entgegen  ist,  so  ist  es  doch  schon  eine  Lüge,  weil  es 
dem  Recht  der  Menschheit  entgegen  ist.  Wenn  nun  ein  Mensch  falsche 
Nachrichten  ergreift,  so  thut  er  dadurch  keinem  Menschen  insbesondre 
Tort,  aber  der  Menschheit,  denn  wenn  das  allgemein  wäre,  so  würde  die 
W^ißbegierde  des  Menschen  vereitelt,  denn  ich  kann  nur  außer  der 


448  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

Speculation  durch  2  Wege  meine  Erkenntniße  erweitern,  durch  Er- 
fahrung und  Erzählung;  weil  ich  nun  aber  nicht  alles  selbst  erfahren 
kann,  und  die  Erzählungen  andrer  falsche  Nachrichten  seyn  sollten, 
so  kann  die  Wisbegierde  nicht  befriediget  werden.  Ein  Mendacium  ist 
also  ein  Falsiloquium  in  praeiudicium  humanitatis,  wenn  es  gleich  5 
nicht  wider  ein  bestimmtes  jus  quaesitum  des  andern  ist.  Juridisch  ist 
ein  Mendacium  ein  Falsiloquium  in  praejudicium  alterius,  und  da  kann 
es  auch  nicht  anders  seyn  aber  moralisch  ist  mendacium  ein  Falsi- 
loquium in  praejudicium  humanitatis.  Nicht  jede  Unwahrheit  ist 

551  Lüge,  sondern  wenn  man  sich  äußerlich  /  declariret,  daß  man  dem  10 
andern  seinen  Sinn  wolle  zu  verstehn  geben.  Jede  Lüge  ist  was  ver- 
werfliches und  verachtungs würdiges,  denn  declariren  wir  einmal,  dem 
andern  unsern  Sinn  zu  äußern  und  thun  es  nicht,  so  haben  wir  das 
pactum  gebrochen  und  wider  das  Recht  der  Menschheit  gehandelt. 
Wenn  wir  aber  in  allen  Fällen  der  PünktHchl<:eit  der  Wahrheit  möch- 15 
ten  treu  bleiben,  so  möchten  wir  uns  oft  der  Bosheit  anderer  Preis 
geben,  die  aus  unsrer  Wahrheit  einen  Mißbrauch  machen  wollten. 
Wenn  alle  gut  gesinnt  wären,  so  würde  es  nicht  allein  Pflicht  seyn 
nicht  zu  lügen,  sondern  es  möchte  es  auch  keiner  thun,  weil  er  nichts 
zu  besorgen  hätte.  Aber  jezt,  da  die  Menschen  boshaft  sind,  so  ist  es  20 
wahr,   daß   man  oft  durch  pünktliche   Beobachtung  der  Wahrheit 
Gefahr  läuft,  und  daher  hat  man  den  Begriff  der  Nothlüge  bekommen, 
welches  ein  sehr  critischer  Punkt  für  einen  moralischen  Philosophen 

552  ist.  Da  man  aber  nun  aus  Noth  stehlen,  töten  und  betrügen  /  kann,  so 
vertritt  der  Nothfall  die  ganze  Moralität,  denn,  wdrd  ein  Nothfall  25 
behauptet,  so  beruht  es  auf  jedem  seinem  Urtheil,  ob  er  es  für  Nothfall 
hält  oder  nicht,  und  da  hier  der  Grund  nicht  bestimmt  ist,  wo  ein 
Nothfall  ist,  so  sind  die  moralischen  Regeln  nicht  sicher,  z.  E.  es  fragt 
mich  jemand,  der  da  weiß  daß  ich  Geld  habe,  hast  du  denn  Geld  bey 
dir  ?  —  Schweige  ich  still,  so  schließt  der  andre  daraus,  daß  ich  es  habe,  so 
sage  ich  ja,  so  nimmt  er  mir  es  ab,  sage  ich  nein,  so  lüge  ich,  was  ist 
hiebey  zu  thun  ?  So  fern  ich  gezwungen  werde  durch  Gewalt,  die  gegen 
mich  ausgeübt  wird,  ein  Geständniß  von  mir  zu  geben  und  von  meiner 
Aussage  ein  unrechtmäßiger  Gebrauch  gemacht  wird,  und  ich  mich 
durchs  Stillschweigen  nicht  retten  kann,  so  ist  die  Lüge  eine  Gegen-  35 
wehr;  die  abgenöthigte  Declaration,  die  gemißbraucht  wird,  erlaubt 
mir  mich  zu  vertheidigen,  denn  ob  er  mir  mein  Geständniß  oder  mein 

553  Geld  ablockt,  /  das  ist  einerley.  Also  ist  kein  Fall,  wo  eine  Nothlüge 
statt  finden  soll,  als  wenn  die  Declaration  abgezwungen  wird  und  ich 


Moralphilosophie  Collins  449 

auch  überzeugt  bin,  daß  der  andre  einen  unrechtmäßigen  Gebrauch 
davon  machen  will.  Es  fragt  sich:  ob  eine  Lüge,  die  keinen  interessiret, 
die  keinem  Schaden  thut,  auch  eine  Lüge  sey  ?  Ja,  denn  ich  declarire 
meine  Gesinnung  zu  äußern,  und  wenn  ich  sie  nicht  richtig  declarire, 

5  so  handle  ich  zwar  nicht  in  praejudicium  des  bestirnten  Menschen, 
aber  doch  in  praeiudicium  der  Menschheit.  Es  giebt  ferner  Lügen, 
wodurch  der  andre  betrogen  wird.  Betrug  ist  ein  lügenhaftes  Ver- 
sprechen. Untreue  ist,  wenn  wir  etwas  mit  Wahrhaftigkeit  ver- 
sprechen, aber  unser  Versprechen  nicht  so  hoch  halten,  daß  wir  es 

10  erfüllen.  Aber  das  lügenhafte  Versprechen  ist  eine  Beleidigung  des 
andern,  und  ob  es  gleich  nicht  immer  eine  Beleidigung  ist,  so  ist  es  doch 
immer  /  was  niederträchtiges,  z.  E.  ich  verspreche  einem  Wein  zu  554 
schenken,  hernach  aber  lache  ich  ihn  aus,  so  ist  das  schon  Betrug,  denn 
ob  er  zwar  kein  Recht  hat  solches  von  mir  zu  fodern,  so  ist  es  doch  ein 

15  Betrug,  indem  es  schon  in  der  Idee  ein  Theil  von  meinem  Eigenthume 
war.  Die  Reservatio  mentalis  gehört  zur  Dissimulation,  und  die  aequi- 
vocatio  zur  Simulation.  Aequivocatio  ist  erlaubt,  um  den  andern  zum 
Stillschweigen  zu  bringen  und  ihn  abzufertigen,  damit  er  nicht  weiter 
von  uns  die  Wahrheit  zu  erforschen  suche,  wenn  er  siehet,  daß  wir  die 

20  Wahrheit  nicht  sagen  können  und  ihm  nicht  vorlügen  wollen.  Ist  der 
andre  klug,  so  wird  er  sich  dadurch  auch  abfertigen  lassen.  Ganz  anders 
ist  es  aber,  sich  der  aequivocation  zu  bedienen,  wenn  man  äußert  und 
declarirt,  seine  Gesinnungen  bekannt  zu  machen,  denn  alsdenn  kann 
der  andre  aus  der  Aequivocation  was  anders  schließen  und  denn  hab 

25  ich  ihn  betrogen.  /  Solche  Lügen  wodurch  man  was  gutes  zu  stiften  555 
vorgab,  nannten  die  Jesuiten  peccatum  philosophicum  oder  peccatil- 
lum  woher  hernach  Bagatell  entstanden.  Die  Lüge  ist  aber  an  sich 
etwas  nichtswürdiges,  sie  mag  gute  oder  böse  Absichten  haben,  weil  sie 
der  Form  nach  böse  ist;  sie  ist  aber  noch  vielmehr  was  nichtswürdiges, 

30  wenn  sie  auch  der  Materie  nach  böse  ist.  Denn  durch  Lüge  kann  immer 
was  böses  entstehn.  Ein  Lügner  ist  ein  feiger  Mensch,  denn  weil  er  sich 
auf  keine  andre  Art  was  erwerben  oder  aus  der  Noth  helfen  kann,  so 
fängt  er  an  zu  lügen.  Ein  herzhafter  aber  wird  die  Wahrheit  lieben  und 
keinen  casum  necesßitatis  stattfinden  lassen.  Alle  solche  Methoden 

35  wodurch  der  andre  Mensch  nicht  auf  seiner  Hut  seyn  kann,  sind 
äußerst  niederträchtig.  Dahin  gehört  die  Lüge,  der  Meuchelmord,  die 
Giftmischerey.  Ein  Anfall  auf  der  Strasse  ist  nicht  so  niedrig,  denn  da 
kann  /  man  sich  vorsehn,  aber  für  dem  Giftmischer  nicht,  denn  man  556 
muß   doch   eßen.    Schmeicheley   ist   nicht   immer   Lügenhaftigkeit, 

29     Kant's  Schriften  XXVII/1 


450  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

sondern  ein  Mangel  der  Selbstschätzung,  wo  man  kein  Bedenken  trägt, 
seinen  Werth  der  Schätzung  unter  den  Werth  des  andern  zu  setzen 
und  den  andern  zu  erheben,  um  dadurch  was  zu  gewinnen.  Man  kann 
aber  auch  aus  Gutherzigkeit  schmeicheln,  dies  thun  einige  gutherzige 
Seelen  die  von  dem  andern  eine  hohe  Meinung  haben.  Es  giebt  also  5 
gutherzige  und  falsche  Schmeicheley.  Die  erste  ist  schwach  die  andre 
aber  niederträchtig.  Wenn  die  Menschen  nicht  schmeicheln,  so  ver- 
fallen sie  auf  den  Tadel. 

Wenn  man  nun  in  der  Gesellschaft  oft  von  einem  Mann  urtheilt, 
so  critisirt  man  ihn.  Von  seinem  Freund  muß  man  aber  nicht  immer  lo 
was  gutes  reden,  denn  sonst  werden  die  andern  drüber  eifersüchtig 

55r  und  misgünstig,  indem  sie  nicht  /  glauben,  daß  es  möglich  ist,  da  der 
andre  doch  auch  ein  Mensch  ist,  daß  er  alle  gute  Volllcommenheiten 
habe;  also  muß  man  etwas  der  Mißgunst  anderer  Menschen  Preis 
geben  und  einige  Fehler  von  dem  andern  sagen ;  der  andre  wird  mir  is 
solches  nicht  übel  nehmen;  indem  ich  seine  Verdienste  hervorragen 
lasse,  so  kann  ich  solche  Fehler  Preis  geben,  die  allgemein  sind,  und 
keine  wesentlichen  Fehler  sind.  Schmarotzer  sind,  die  in  der  Gesell- 
schaft andre  erheben  um  was  zu  gewinnen.  Die  Menschen  sind  dazu 
gemacht,  daß  sie  andre  beurtheilen  sollen.  Sie  sind  aber  auch  durch  die  20 
Natur  zu  Richtern  bestimmt,  denn  sonst  möchten  wir  uns  nicht  in 
solchen  Sachen,  die  nicht  für  die  äußere  gesetzgebende  Gewalt 
gehören,  in  den  Augen  anderer  so  stellen,  als  vor  einem  Gerichtshof; 
z.  E.  einer  hat  eine  Person  geschändet,  das  straft  die  Obrigkeit  nicht, 
die  andern  beurtheilen  ihn  aber  und  strafen  ihn  auch,  aber  nur  sofern  25 

558  es  in  ihrer  Gewalt  steht  ihn  zu  /  strafen  und  dadurch  dem  andern  keine 
Gewalt  geschiehet,  z.  E.  Es  geht  keiner  mit  ihm,  da  ist  er  schon  genug 
gestraft.  Wäre  das  nicht,  so  möchten  solche  Handlungen,  die  die 
Obrigkeit  nicht  straft,  ganz  und  gar  ungestraft  bleiben.  Was  heißt 
aber  das,  wenn  es  heißt :  Wir  sollen  andre  nicht  richten  ?  Wir  können  30 
nicht  den  andren  nach  complet  moralischen  Urtheilen  richten,  ob  er 
vor  dem  göttlichen  Gericht  strafbar  ist  oder  nicht,  indem  wir  seine 
Gesinnung  nicht  wissen.  Anderer  moralische  Gesinnungen  gehören  also 
vor  Gott,  in  Ansehung  meiner  eigenen  Gesinnung  aber  bin  ich  com- 
pleter  Richter.  Also  über  das  innere  der  Moralität  können  wir  nicht  35 
richten,  indem  die  kein  Mensch  kennen  kann.  Aber  in  Ansehung 
des  äußern  sind  wir  competente  Richter.  Wir  sind  also  in  Ansehung 
des  moralischen  nicht  Richter  über  die  Menschen;  wir  haben  aber 
Recht  von  der  Natur  über  andre  zu  urtheilen,  und  die  Natur  hat  uns 


Moralphilosophie  Collins  451 

bestimmt,  daß  wir  uns  nach  dem  Urtheil  andrer  richten  sollen.  /  Wer  559 
das  Urtheil  anderer  nicht  achtet,  ist  tadelhaft  und  niederträchtig. 
Es  geschieht  nichts  in  der  Welt  worüber  wir  nicht  urtheilen  sollen,  und 
wir  sind  auch  sehr  subtil  in  Beurtheilung  der  Handlungen.  Das  sind 
5  die  besten  Freunde,  die  genau  über  ihre  Handlungen  urtheilen,  solche 
Offenherzigkeit  kann  nur  unter  2  Freunden  statt  finden. 

Wenn  wir  nun  den  Menschen  beurtheilen,  so  ist  die  2te  Frage: 
Was  sollen  wir  von  dem  Menschen  sagen,  ist  er  gut  oder  ist  er  böse  ? 
Alle  unsre  Urtheile  müßen  wir  so  einrichten,  daß  wir  die  Menschheit 

10  liebenswürdig  finden,  so  daß  wir  niemals  eine  Sentenz  der  Verwerfung 
oder  Lossprechung  thun,  besonders  im  Bösen.  Eine  Sentenz  spricht 
man,  wenn  man  nach  den  Handlungen  den  Menschen  entweder  der 
Verdammung  oder  der  Lossprechung  würdig  hält.  Ob  wir  gleich 
befugt  sind,  andre  zu  beurtheilen,  so  sind  wir  doch  nicht  befugt,  andre 

15  auszuspähen.  Jeder  Mensch  hat  Recht  zu  verhindern,  daß  der  andre 
seine  Handlungen  nachforsche  und  ausspähe,  ein  solcher  Mensch 
maßet  sich  ein  Recht  an  auf  fremdes  thun  und  lassen.  Das  muß  keiner 
thun,  daß  er  z.  E.  wenn  jemand  dem  andern  was  in  der  Stille  sagt, 
zuhöre ;  lieber  weiter  gehn  daß  man  nicht  einen  Laut  davon  höre,  oder 

20  wenn  man  bey  einem  in  die  Stube  kommt  und  man  wird  allein  gelas- 
sen und  es  Hegt  ein  offener  Brief  auf  dem  Tisch,  so  ist  dies  sehr  / 
niederträchtig,  wenn  man  solchen  zu  lesen  sucht,  ein  wohldenlvender  560 
Mensch  wird  auch  sogar  allen  Argwohn  und  Verdacht  zu  vermeiden 
suchen,  er  wird  nicht  gerne  allein  in  der  Stube  bleiben,  wo  Geld  auf 

25  dem  Tische  liegt,  er  wird  nicht  gerne  Geheimnisse  von  andern  anneh- 
men, damit  er  nicht  in  Verdacht  kommt  daß  er  solches  ausgeplaudert 
hat,  und  weil  ihn  auch  die  Geheimnisse  immer  geniren,  denn  bey  der 
größten  Freundschaft  kann  doch  immer  Verdacht  stattfinden.  Der 
aber  aus  Neigung  oder  Appetit  seinen  Freunden  was  entzieht,  z.  E. 

30  die  Braut  seines  Freundes,  der  handelt  bey  alle  dem  sehr  niedri,g  denn 
so  gut  er  einen  Appetit  nach  meiner  Braut  bekommen  hat,  eben  so  gut 
kann  er  auch  Appetit  nach  meinem  Geldbeutel  bekommen.  Es  ist  sehr 
niedrig  seinen  Freunden  oder  andern  aufzulauren  und  auszuspähen 
z.  E.  wenn  man  durch  das  Gesinde  die  Handlung  des  andern  zu 

35  erforschen  sucht,  alsdenn  muß  man  sich  mit  dem  Gesinde  gemein 
machen  und  hernach  will  das  Gesinde  mit  einem  immer  so  umgehn. 
Durch    alles,   was    der  Freymüthigkeit    entgegen  /  ist,   verHert  der  sei 
Mensch  seine  Würde,  z.  E.  hinter  dem  Rücken  etwas  glupsch  zu  unter- 
nehmen, weil  dieses  ein  Gebrauch  solches  Mittels  ist,  wo  der  Mensch 

29* 


452  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

nicht  freymüthig  seyn  kann  und  welches  Mittel  alle  Gesellschaft  auf- 
hebt. Alles  das  schleichende  ist  weit  niederträchtiger  als  eine  gewalt- 
same Bosheit,  denn  vor  der  kann  man  sich  doch  hüten,  der  aber  nicht 
einmahl  Muth  hat  seine  Bosheit  öffentlich  zu  äußern,  in  dem  ist  kein 
Fundament  des  edlen ;  wer  aber  gewaltsam  ist,  sonst  aber  Abscheu  hat  5 
vor  alle  dem  was  klein  ist,  kann  noch  gut  werden,  wenn  er  bezähmt 
wird.  Daher  auch  in  England  das  Vergehen  mit  Gift  eines  Mannes 
durch  seine  Frau  mit  dem  Verbrennen  bestraft  wird,  weil  wenn  das 
einreissen  möchte,  kein  Mann  vor  seiner  Frau  sicher  wäre.  Da  ich  nicht 
befugt  bin,  dem  andern  aufzupassen,  so  bin  ich  auch  nicht  befugt  dem  lo 
andern  seinen  Fehler  zu  sagen,  denn  der  andre,  wenn  er  es  auch 
568  fordern  sollte,  hört  es  niemals  ohne  Kränkung  /  an,  er  weiß  besser,  daß 
er  solche  Fehler  hat;  allein  er  glaubt,  daß  der  andere  sie  nicht  gewahr 
wird;  sagt  sie  ihm  aber  der  andre,  so  hört  er,  daß  sie  der  andre  gewahr 
worden.  Das  ist  also  nicht  gut,  wenn  man  sagt :  Freunde  müssen  sich  i5 
ihre  Fehler  sagen,  weil  sie  der  andre  besser  wissen  kann;  allein,  meine 
Fehler  kann  keiner  besser  wissen  als  ich;  das  kann  zwar  der  andre 
besser  wissen,  als  ich,  daß  ich  gerade  stehe  und  gehe  oder  nicht;  wer 
soll  mich  aber  besser  kennen  als  ich  mich  selbst,  wenn  ich  nur  Lust 
habe,  mich  zu  prüfen.  Das  ist  Vorwitz  des  andern,  wenn  er  jemandem  20 
seine  Fehler  sagt,  und  wenn  es  schon  in  der  Freundschaft  so  weit 
kommt,  denn  dauert  auch  die  Freundschaft  nicht  mehr  lange.  Man 
muß  gegen  die  Fehler  des  andern  blind  seyn,  denn  sonst  sieht  der 
andre,  daß  er  seine  Achtung  gegen  ihn  verloren  hat  und  denn  setzt  er 
auch  gegen  ihn  alle  Achtung  aus  den  Augen.  Fehler  muß  man  sagen,  25 

563  wenn  man  über  jemanden  gesetzt  ist,  alsdenn  ist  man  /  befugt  Lehren 
zu  geben  und  die  Fehler  zu  sagen,  z.  E.  ein  Mann  seiner  Frau;  da  muß 
aber  die  Gutherzigkeit,  wohlwollende  Gesinnung  und  Achtung  vor- 
leuchten, sonst,  wenn  der  Misfall  nur  allein  ist,  so  ist  es  ein  Tadel  und 
eine  Bitterkeit.  Der  Tadel  kann  aber  versüßt  werden  durch  Liebe  des  30 
Wohlwollens  und  durch  Achtung.  Alles  übrige  thut  nichts  zur  Besse- 
rung. Zur  allgemeinen  Menschen-Pflicht  gehört  die  Leutseeligkeit, 
humanitas.  Was  bedeutet  leutseehg  ?  Seelig  ist  so  viel,  als  eine  Art 
vom  Hange  zu  einer  Handlung,  z.  E.  redseelig.  Leutseelig  ist  also  eine 
habituelle  Harmonie  mit  allen  andern  Menschen.  Ist  sie  thätig,  so  ist  35 
sie  Gefälligkeit.  Diese  ist  entweder  negativ,  denn  besteht  sie  bloß  im 
Nachgeben,  oder  positiv,  denn  besteht  sie  in  der  Dienstbeflissenheit. 
Von  dieser  ist  zu  unterscheiden  die   Höflichkeit.   Höflichkeit  ist: 

564  wodurch  man  beim  andern  nicht  obligirt  ist,  die  sich  nur  auf  /  Gegen- 


Moralphilosophie  CoUins  453 

stände  der  Annehralichkeit  erstreckt,  z.  E.  es  schickt  mir  jemand 
seinen  Bedienten  mit,  so  ist  es  Höflichlceit ;  giebt  mir  aber  der  andre  zu 
eßen,  so  ist  das  Dienstbeflissenheit,  weil  es  dem  andern  Aufopferung 
kostet.  Die  negative  Gefälligkeit  ist  nicht  von  solchem  Werth  als  die 

5  Dienstbeflissenheit,  indem  sie  nur  im  Nachgeben  besteht.  So  giebts 
Leute,  die  sich  aus  Gefälligkeit  besaufen,  indem  sie  von  andern  dazu 
genöthigt  werden  und  sie  nicht  Stärke  genug  haben  es  abzuschlagen. 
Solcher  Mensch  würde  gern  sehen,  wenn  er  aus  der  Gesellschaft  weg 
wäre ;  da  er  aber  schon  einmal  da  ist,  so  ist  er  gefällig.  Es  zeigt  einen 

10  Mangel  der  Stärke  und  der  Männlichkeit  an,  wenn  man  nicht  genug 
Muth  und  Stärke  hat,  sich  nach  seinem  eigenen  Sinn  zu  determiniren. 
Solche  Menschen  sind  keines  Characters  und  keiner  Handlung  nach  / 
Grundsätzen  fähig.  Das  Gegentheil  der  GefäUigkeit  ist  der  Eigensinn,  565 
der  hat  den  Grundsatz,  sich  niemals  den  Gesinnungen  des  andern  zu 

15  accomodiren.  Der  erste  setzt  sich  niemals  den  Gesinnungendesandern 
entgegen,  und  deswegen  erscheint  er  etwas  niedriger  als  der  Eigensin- 
nige; denn  der  Eigensinnige  hat  doch  Grundsätze.  Man  soll  lieber 
suchen  etwas  eigensinnig  zu  seyn  als  sich  gänzlich  den  Gesinnungen 
des  andern  gefällig  zu  erweisen.  Die  Entschlossenheit  der  Handlungen 

20  nach  Grundsätzen  ist  nicht  mehr  Eigensinn ;  wenn  sich  aber  die  Ent- 
schlossenheit auf  eine  Privat -Neygung  und  nicht  darauf,  was  allge- 
mein gefällt,  bezieht,  so  ist  das  Eigensinn.  Der  Eigensinn  ist  eine 
Eigenschaft  der  Dummen.  Verträglichlceit  ist  ein  Abscheu  vor  Zwist 
und  vor  Widerstreit  der  Gesinnungen  des  andern.  Wer  Nej^gung  hat 

25  sich  den  Gesinnungen  des  andern  zu  bequemen,  die  moralisch  indiffe- 
rent sind,  der  ist  verträglich.  Der  ist  verträglich,  mit  dem  man  keinen 
Streit  zu  besorgen  hat.  Duldsam  ist  auch  /  der,  der  auch  das  verträgt,  566 
was  ihm  zu  wider  ist,  damit  er  nur  nicht  in  Streit  verfallen  möchte. 
Duldend  ist  der,  der  andre  wegen  ihren  Fehlern  nicht  haßt.  Der 

30  Duldende  ist  tolerant.  Intolerant  ist,  der  die  Unvollkommenheiten  des 
andern  nicht  ohne  Haß  vertragen  kann.  Es  giebt  oft  in  den  Gesell- 
schaften Menschen,  die  intolerant  sind,  weil  sie  andre  nicht  leiden 
können  und  deswegen  werden  sie  intolerable  und  werden  von  andern 
wieder  nicht  gelitten.  Hieraus  folgt,  daß  die  Toleranz  eine  allgemeine 

35  Menschen-Pflicht  ist.  Die  Menschen  haben  viele  wirkliche  und  schein- 
bare Fehler,  nur  muß  einer  die  Fehler  des  andern  dulden.  Die  Toleranz 
in  Ansehung  der  Religion  ist,  wenn  einer  die  Unvolkommenheiten  und 
Irrthümer  der  Religion  des  andern  ohne  Haß  dulden  kann;  ob  er 
gleich  ein  Mißfallen  an  ihnen  hat.  Wer  das  für  wahre  Religion  hält, 


454  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

was  nach  meiner  Religion  ein  Irrthuni  ist,  so  ist  er  auf  keine  Weise  ein 
561  Gegenstand  /  des  Haßes.  Ich  soll  keinen  Menschen  hassen,  als  wenn  er 
ein  vorsätzlicher  Urheber  des  Bösen  ist,  sofern  er  aber  durchs  Böse 
oder  Irrthum  was  gutes  zu  thun  denlvt,  so  ist  er  kein  Gegenstand  des 
Haßes.  5 

Odium  theologicum  ist  ein  Haß  der  Geistlichen,  der  dann  statt  fin- 
det, wenn  der  Theolog  seine  eigne  Sache  der  Eitelkeit  zur  Sache  Gottes 
macht,  und  einen  Haß  faßt,  der  sich  auf  Stolz  gründet  und  glaubt, 
weil  er  ein  Lehrer  Gottes  ist,  praetendiren  zu  können,  ein  Bevoll- 
mächtigter Gottes  zu  seyn,  den  Gott  als  einen  deputirten  mit  Autorität  lo 
versehn  geschickt  hat,  die  Menschen  in  seinem  Namen  zu  regieren. 
Odium  religiosum  wird  auf  einen  geworfen,  wenn  man  glaubt,  sein 
Fehler  sey  Hochverrath  der  Gottheit,  wo  man  die  Fehler  der  Rehgion 
für  crimina  laesae  majestatis  divinae  ausgiebt.  Wer  nun  die  Ur- 
theile  des  andern  verdreht,  anders  auslegt  und  vieles  daraus  folgert,  i5 
um  sie  für  crimina  laesae  majestatis  divinae  auszugeben,  der  wirft 

568  einen  /  odium  religiosum  auf  den  andern ;  der  das  thut,  ist  ein  conse- 
quentiarius,  indem  er  aus  dem  Urtheil  des  andern  folgert,  was  der 
andre  gar  nicht  gedacht  hat,  denn  giebt  er  ihm  einen  Namen  und  sagt 
z.  E.  er  ist  ein  Atheist,  denn  macht  der  andre  die  Augen  auf  und  sagt:  20 
was  ?  ein  Atheist  ?  den  will  ich  doch  kennen,  der  wie  ein  Atheist  aus- 
sieht, durch  diesen  Namen  wird  er  bey  allen  Menschen  verhaßt  und 
intolerant.  Das  crimen  laesae  majestatis  divinae  ist  ein  Unding,  indem 
solches  keiner  begehn  wird.  Der  Orthodox  behauptet,  daß  seine 
Rehgion  nach  seiner  Meinung  nothwendig  allgemein  seyn  soll.  Wer  ist  25 
nun  orthodox  ?  Wenn  wir  an  der  Himmels-Pforte  alle  erscheinen  und 
es  würde  gefragt,  wer  ist  orthodox  ?  so  wüi'de  der  Jude,  der  Türke,  der 
Christ  sagen :  Ich  bins.  Die  Orthodoxie  muß  keinen  zwingen.  Dissident 
ist,  der  in  Sachen  der  Speculation  von  andern  dissidirt,  aber  im  prak- 

569  tischen  einerley  ist.  Die  friedliebende  Gesinnung  besteht  /  darin,  daß  so 
man  aUe  Feindschaft  der  Dissidenten  vermeide.  Warum  soll  ich 
solchen  Menschen  hassen,  der  sich  dissidirt  ?  Syncretismus  ist  eine  Art 
Gefälligkeit,  mit  aller  Menschen  Gesinnungen  seine  Gesinnungen  zu- 
sammen zu  schmelzen,  um  sich  nur  zu  vertragen.  Dieser  ist  sehr 
schädlich,  denn  wer  seine  Gesinnung  mit  jedes  andern  seinen  Gesin-  35 
nungen  verschmilzt,  der  hat  weder  das  eine,  noch  das  andre.  Lieber 
lasset  Menschen  irren,  wenn  sie  nur  unterscheiden  können,  sie  könnnen 
doch  auch  aus  dem  Irrthume  befreyet  werden.  Der  geheime  Ver- 
folgungs-Geist, wo  man  den  Menschen  hinter  dem  Rücken  verfolgt, 


Vorlesungen  über  Moralphilosophie  455 

ihn  beredt  und  ihn  für  einen  Atheisten  ausgiebt,  ist  ein  sehr  nieder- 
trächtiger Verfolgungs-Geist.  Der  subtile  Verfolgungs-Geist  ist,  wenn 
ein  Mensch  den  andern  der  nicht  seiner  Meinung  ist,  gar  nicht 
mit  Haß  verfolgt,  aber  doch  einen  Abscheu  vor  ihm  hat.  Der  Ver- 

5  folgungsgeist  aus  der  Ehre  Gottes  streitet  wider  alles,  und  achtet 
weder  Wohlthäter  noch   Freund,   weder  Vater  /  noch  Mutter,  jeder  sto 
macht  sich  ein  Verdienst,  den  andern  zur  Ehre  Gottes  zu  verbrennen. 
In  Sachen  der  Wahrheit  der  Religion  muß  keine  Gewalt  gebraucht 
werden,  sondern  Gründe.  Die  Wahrheit  vertheidigt  sich  selbst,  und 

10  ein  Irrthum  erhält  sich  länger,  wenn  ihm  Gewalt  angethan  wird.  Die 
Freiheit  der  Untersuchung  ist  das  beste  Mittel  der  Wahrheit. 


Von  der  Armuth  und  den  daraus  entspringenden  gütigen 

Handlungen 

Eine  gütige  Handlung  ist,  die  den  Bedürfnißen  des  andern  gemäß 

15  ist,  und  auf  sein  Wohlbefinden  abzielt.  Gütige  Handlungen  können 
auch  grosmüthig  seyn,  durch  Aufopferung  der  Vortheile.  Betreffen 
sie  die  Nothdurft  des  andern,  so  sind  es  wohlthätige  Handlungen, 
zielen  sie  auf  die  äußerste  Nothdurft  des  Lebens  ab,  so  sind  es  Al- 
mosen. Die  Menschen  finden  sich  ab,  oder  glauben,  daß  sie  sich  ab- 

20  finden  in  Ansehung  ihrer  Pflicht  der  Menschenhebe,  wenn  sie  zuerst 
suchen  /  sich  alle  Glücksgüter  zu  verschaffen,  und  hernach  ihren  571 
Tribut  davor  dem  Wohlthäter  dadurch  abzutragen  glauben,  wenn 
sie  dem  Armen  was  geben.  Wären  die  Menschen  pünktlich  gerecht,  so 
möchte  es  keine  Arme  geben,  in  Ansehung  derer  wir  dieses  Verdienst 

25  der  Wohlthätigkeit  zu  beweisen  glauben  und  Almosen  geben.  Beßer 
ist  es,  gewissenhaft  zu  seyn  in  allen  Handlungen  und  noch  beßer  ist  es, 
durch  unser  Betragen  dem  Nothleidenden  zu  helfen,  und  nicht  nur 
dadurch  daß  man  das  überflüßige  abgiebt.  Die  Almosen  gehören  zur 
Gütigkeit,  die  mit  Stolz  ohne  Mühe  verbunden  ist,  und  zu  solcher 

30  Gütigkeit,  die  keine  Ueberlegung  erfodert.  Durch  die  Ahnosen  werden 
die  Menschen  niedrig  gemacht.  Es  wäre  besser,  es  auf  eine  andere  Art 
zu  überlegen,  dieser  Armuth  abzuhelfen,  damit  nicht  Menschen  so 
niedrig  gemacht  werden  Almosen  anzunehmen.  Viele  Moralisten 
suchen  unser  Herz  weich  zu  machen,  und  /  aus  Weichmüthigkeit  512 

35 gütige  Handlungen  anzupreisen;  allein  wahre  gute  Handlungen  ent- 
springen aus  wackerer  Seele,  und  um  tugendhaft  zu  seyn,  muß  der 
Mensch  wacker  seyn.  Die  Wohlthätigkeit  gegen  andre  muß  mehr  wie 


456  Moralphilosophie  CoUins 

eine  Schuldigkeit  als  wie  eine  Großmuth  und  Gütigkeit  angepriesen 
werden,  und  so  ist  es  auch  in  der  That;  denn  alle  gütige  Handlungen 
sind  nur  kleine  Ersetzungen  unserer  Schuldigkeit. 


Von  den  gesellschaftlichen  Tugenden. 

Der  Autor  redet  hier  von  der  Leichtigkeit  des  acceßus,  von  der  5 
Gesprächigkeit,  Politesse  und  Geschliffenheit,  Anständigkeit,  Gefäl- 
hgkeit,  Insinuation,  Einschmeichelung  oder  vielmehr  einnehmendem 
Wesen.  Allgemein  merken  wir  an,  daß  einige  nicht  zur  Tugend 
gerechnet  werden,  weil  sie  keinen  großen  Grad  der  moralischen  Ent- 
schliessung  fordern,  bewirkt  zu  werden;  sie  erfordern  keine  Selbst- lo 

573  Überwindung  und  Aufopferung,  und  gereichen  /  auch  nicht  zur  Glück- 
seeligkeit  anderer,  zielen  nicht  auf  die  Nothdurft  ab,  sondern  nur  auf 
die  Annehmlichkeit,  es  ist  weiter  nichts  als  Vergnügungen  und  An- 
nehmHchkeiten  der  Menschen  im  Umgange.  Wenn  es  aber  keine 
Tugend  ist,  so  ist  es  doch  eine  Uebung  und  Cultur  der  Tugend,  wenn  15 
sich  die  Menschen  im  Umgange  höflich  aufführen ;  sie  werden  dadurch 
sanfter  und  verfeinerter,  sie  üben  in  Kleinigkeiten  gute  Handlungen 
aus.  Oft  hat  man  nicht  Gelegenheit,  tugendhafte  Handlungen  auszu- 
üben, aber  man  hat  oft  gesellschaftliche  und  höfhche  Eigenschaften 
auszuüben.  Die  Annehnüichkeit  im  Umgange  gefällt  uns  oft  an  20 
jemandem  so,  daß  wir  seine  Laster  übersehn.  Ich  brauche  des  andern 
seine  Ehrlichkeit,  seine  Großmuth,  nicht  so  oft,  als  Bescheidenheit  und 
HöfHchkeit  im  Umgange.  Man  könnte  fragen:  Ob  die  Schriften  die  zu 
nichts  dienen  als  zur  Unterhaltung,  die  unsre  Phantasie  beschäftigen, 

5T4  ja  die  wohl  gar  in  Ansehung  einiger  /  Leidenschaften  z.  E.  der  Liebe,  25 
bis  an  den  Grad  steigen,  der  die  Schranl<;en  übersteigt,  auch  Nutzen 
haben  ?  Ja,  obgleich  die  Reitze  und  Leidenschaften  sehr  darin  über- 
trieben werden,  so  verfeinern  sie  doch  den  Menschen  in  seiner  Empfin- 
dung, wenn  sie  das,  was  ein  Object  der  thierischen  Neigung  ist,  zum 
Objecte  der  verfeinerten  Neigung  machen ;  dadurch  wird  der  Mensch  so 
fähig  gemacht  für  die  bewegende  Kraft  der  Tugend  durch  Grundsätze. 
Indirecte  hat  es  also  einen  Nutzen,  die  Menschen  werden  dadurch,  daß 
die  Neigung  excolirt  wird,  civilisirter.  Jemehr  wir  die  plumpe  Art 
verfeinern,  destomelir  verfeinert  sich  die  Menschheit,  und  dadurch 
wird  der  Mensch  fähig  gemacht,  die  bewegende  Kraft  der  Tugend  35 
Grundsätze  zu  empfinden. 


Moralphilosophie  Collins  457 

Der  Autor  redet  vom  Geist  des  Widerspruchs,  vom  Studio  der  Para- 
doxie,  oder  vom  Sonderling  der  Urtheile.  Das  Paradoxe  ist  gut, 
wenns  nicht  darauf  geht,  um  was  besondres,  was  gesagt  ist,  anzu- 
nehmen. Es  ist  das  unvermuthete  im  Denken,  dadurch  die  Menschen 

soft  auf  einen  andern  Weg  der  Gedanken  gerathen.  Der  Geist  des 
Widerspruchs  /  äußert  sich  im  Umgange  durch  Rechthaberey.  Die  »rs 
Gesellschaft  hat  aber  zur  Absicht  die  Unterhaltung,  um  dadurch  die 
Cultur  zu  befördern,  nur  muß  in  der  Gesellschaft  nichts  von  wichtigen 
Materien  vorgenommen  werden,   worin  oft  solcher  Streit  kommt. 

10  Diesen  muß  entweder  einer  entscheiden,  oder  durch  eine  neue  Er- 
zählung zum  Spiel  machen. 

Vom  Hochmuth. 

Der  Autor  nennt  ihn  superbia  —  arrogantia  ist  Stoltz,  wenn  man  sich 
einen  Werth  anmaßet,  den  man  nicht  hat ;  wenn  man  sich  aber  einen 

15  Vorzug  vor  andern  anmaßet,  so  ist  es  Hochmuth,  alsdenn  setzt  man 
den  andern  herunter  und  schätzt  ihn  geringer  und  niedriger.  Der 
Stoltze  schätzt  andere  nicht  geringer,  sondern  er  Avill  nur  eben  solche 
Verdienste  haben,  er  wird  sich  vor  andern  nicht  beugen  und  sich 
erniedrigen ;  er  glaubt,  er  hat  seinen  bestimmten  Werth,  den  er  nicht 

20  gegen  andre  vergeben  will.  Solcher  Stolz  ist  recht  und  billig,  wenn  er 
nur  nicht  die  Schranken  übertritt.  Wenn  er  aber  andern  zeigen  "ndll, 
daß  er  solchen  Werth  habe,  so  wird  dieses  fehlerhafte  /  eigentlich  Stolz  516 
genamit.  Der  Hochmuth  ist  nicht  eine  Anmaßung  des  Werths  und 
der  Schätzung  in  Ansehung  der  Gleichheit  mit  andern,  sondern  er  ist 

25  eine  Praetension  einer  höhern  Schätzung  und  eines  vorzüglichem 
Werths  in  Ansehung  seiner  selbst,  und  eine  Geringschätzung  in  An- 
sehung anderer.  Der  Hochmuth  ist  verhaßt  und  lächerlich,  denn  die 
Schätzung  ist  innerlich.  Will  nun  einer  von  andern  geehrt  werden, 
so  muß  ers  nicht  so  anfangen,  daß  ers  gebietet,  oder  den  andern 

30  geringer  schätzt,  dadurch  wird  er  bey  andern  keine  Achtung  gegen  sich 
erwecken ;  sondern  er  wird  vielmehr  verlacht,  daß  er  solches  praeten- 
diret.  Alle  Hochmüthige  sind  demnach  zugleich  Narren.  Sie  werden  ein 
Objekt  der  Verachtung,  da  sie  nur  ihren  Vorzug  blicken  lassen.  Der 
Fastus,  oder  die  Hoffarth  besteht  darin,  daß  man  den  Vorrang  und  den 

86  Vortritt  vor  andern  haben  will,  nicht  in  Ansehung  der  Gedanken  oder 
der  wirklichen  vorzüglichen  Verdienste,  sondern  in  Ansehung  des 
Äußern,  vor  dem  andern  vorzüglich  zu  scheinen.  Die  Menschen  sind 


458  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

hoff  artig,  wenn  sie  immer  die  oberste  Stelle  haben  wollen.  Es  ist  eine 
Eitelkeit  darinne  Vorzug  zu  suchen  was  keinen  Werth  hat.  Hoffärtige 
57»  Menschen  suchen  /  in  Kleinigkeiten  einen  Vorzug,  sie  eßen  lieber 
schlecht,  wenn  sie  nur  gute  equipage,  gute  schöne  Kleider  haben.  Sie 
sehn  auf  Titel  und  Stand  und  suchen  vornehmer  zu  erscheinen.  5 
Menschen  von  wahrem  Verdienst  sind  weder  hochmiüthig  noch  hof- 
f artig,  sondern  demüthig,  weil  ihre  Idee,  die  sie  vom  wahren  Werth 
haben,  so  groß  ist,  daß  sie  derselben  kein  Genüge  thun  und  ihr  nicht 
gleich  kommen.  Sie  sehn  also  ihren  Abstand  vom  Werth  ein  und  sind 
demüthig.  Hoffarth  betrifft  mehrentheils  den  niedrigen,  besonders  den  lO 
mittlem  Stand,  als  den  hohen,  denn  weil  es  ein  Klettern  zum  Hofe 
bedeutet,  so  sind  solche  hoffärtig,  die  demselben  nahe  kommen  wollen. 


Von  der  Spötterey. 

Die  Menschen  sind  theils  medisant,  theils  moquant.  Das  Medisante 
ist  Bosheit,  das  Moquante  ist  Leichtsinn,  der  da  abzielt  andere  zu  15 
belustigen  auf  Kosten  der  Fehler  anderer.  Zur  Verläumdimg  gehört 
Bosheit.  Oft  ist  der  Mangel  der  Gesprächigkeit  die  Ursache  davon, 
und  es  nährt  auch  unsre  Selbstliebe,  denn  alsdenn  erscheinen  unsre 
5T8  Fehler  klein.  Die  Menschen  fürchten  sich  mehr  vor  /  der  Raillerie, 
als  vor  dem  Medisanten.  Denn  das  Uebel  nachreden  und  verläumden  20 
geschiehet  insgeheim,  und  kann  nicht  in  jeder  Gesellschaft  angebracht 
werden,  und  ich  kann  es  auch  nicht  selbst  hören,  aber  die  Raillerie 
kann  in  jeder  Gesellschaft  statt  finden.  Durch  das  raiUiren  wird  der 
Mensch  mehr  erniedrigt,  als  durch  das  böse ;  denn  ist  man  ein  Objekt 
des  Lachens  vor  andern,  so  hat  man  keinen  Werth  und  ist  der  Verach-  25 
tung  ausgesetzt.  Man  muß  aber  sehn,  worüber  man  ein  Objekt  des 
Lachens  vor  andern  ist.  Oft  kann  man  solches  andern  gönnen,  wenn 
es  weder  mir  noch  dem  andern  was  kostet,  man  verliert  dadurch 
nichts.  Ein  Spötter  von  Profession  verräth,  daß  er  wenig  Achtung  vor 
andern  hat,  und  daß  er  die  Sachen  nicht  nach  dem  wahren  Werth  so 
beurtheilet. 

Von  den  Pflichten  gegen  Thiere  und  Geister. 

Der  Autor  redet  hier  noch  von  Pflichten  gegen  Wesen,  die  unter 
uns,  und  die  über  uns  sind.  Allein,  weil  alle  Thiere  nur  als  Mittel  da 
sind  und  nicht  um  ihrer  Selbst  willen,  indem  sie  sich  ihrer  selbst  nicht  35 


Vorlesungen  über  Moralphilosophie  459 

bewußt  sind,  der  Mensch  aber  der  Zweck  ist,  wo  ich  nicht  mehr  fragen 
kann:  warum  ist  der  Mensch  da,  welches  bey  den  Thieren  geschehn 
kann,  so  haben  wir  gegen  die  Thiere  /  unmittelbar  keine  Pf  Hebten,  579 
sondern  die  Pflichten  gegen  die  Thiere  sind  indirecte  Pflichten  gegen 
5  die  Menschheit.  Weil  die  Thiere  ein  Analogon  der  Menschheit  sind, 
so  beobachten  wir  Pflichten  gegen  die  Menschheit,  wenn  wir  sie  als 
analoga  derselben  beobachten,  und  dadurch  befördern  wir  unsre 
Pf  hebten  gegen  die  Menschheit.  Wenn  z.  E.  ein  Hund  seinem  Herren 
lange  treu  gedienet  hat,  so  ist  das  ein  Analogon  des  Verdienstes;  des- 

10  wegen  muß  ich  es  belohnen  und  den  Hund,  wenn  er  nicht  mehr  dienen 
kann,  bis  an  sein  Ende  erhalten;  denn  dadurch  befördere  ich  meine 
Pflicht  gegen  die  Menschheit,  wie  ich  solches  zu  thun  schuldig  bin. 
Wenn  also  die  Handlungen  der  Thiere  aus  demselben  principio  ent- 
springen, aus  dem  die  Handlungen  der  Menschen  entspringen,  und  die 

isthierische  davon  Analoga  sind;  so  haben  wir  Pflichten  gegen  die 
Thiere,  indem  wir  dadurch  die  Menschheit  befördern.  Wenn  also 
jemand  seinen  Hund  todtschießen  läßet,  weil  er  ihm  nicht  mehr  das 
Brodt  verdienen  kann,  so  handelt  er  gar  nicht  wider  die  Pfhcht  gegen 
den  Hund,  weil  der  nicht  urtheilen  kann,  allein  er  verletzt  dadurch  die 

20  Leutseehgkeit  und  Menschlichkeit  in  sich,  die  /  er  in  Ansehung  der  580 
Pflichten  der  Menschheit  ausüben  soll.  Damit  der  Mensch  solche  nicht 
ausrotte,  so  muß  er  schon  an  den  Thieren  solche  Gutherzigkeit  aus- 
üben ;  denn  der  Mensch,  der  schon  gegen  Thiere  solche  Grausamlceiten 
ausübt,  ist  auch  gegen  Menschen  eben  so  abgehärtet.  Man  kann  das 

25menschhche  Herz  schon  kennen  auch  in  Ansehung  der  Thiere.  So 
zeigt  Hogarth  auf  seinen  Kupferstücken  auch  einen  Anfang  der  Grau- 
samkeit, wo  schon  die  Kinder  solche  gegen  Thiere  ausüben,  z.  E.  wenn 
sie  den  Hund  oder  der  Katze  den  Schwanz  klemmen,  auf  einem  andern 
Stücke  den  Fortgang  der  Grausamkeit,  wo  er  ein  Kind  überfährt,  und 

so  denn  das  Ende  der  Grausamkeit  durch  einen  Mord,  worauf  denn  der 
Lohn  der  Grausamkeit  schrecklich  erscheint.  Dieses  giebt  gute  Lehren 
für  Kinder.  Jemehr  man  sich  mit  der  Beobachtung  der  Thiere  und  ih- 
rem Betragen  abgiebt,  desto  mehr  liebt  man  sie,  wenn  man  sieht,  wie 
sehr  sie  für  ihre  Junge  Sorge  tragen;  alsdenn  kann  man  auch  nicht 

35  gegen  den  Wolf  grausam  denken. 

Leibnitz  sezte  das  Würmchen,  welches  er  beobachtet  hatte,  wieder 
/  mit  dem  Blatt  auf  den  Baum,  damit  es  nicht  durch  seine  Schuld  zu  581 
Schaden  käme.  Es  tliut  dem  Menschen  leid,  ein  solches  Geschöpf  ohne 
Raison  zu  zerstöhren,  diese  Sanftmuth  gehet  hernach  zum  Menschen 


460  Moralphilosophie  Collins 

über.  In  Engelland  kommt  in  das  Gericht  der  12  Geschwornen  kein 
Fleischer,  noch  ein  Wundarzt  und  Medicus,  weil  sie  gegen  den  Todt 
schon  abgehärtet  sind.  Wenn  also  Anatomici  lebendige  Thiere  zu  den 
experimenten  nehmen,  so  ist  es  zwar  grausam,  obgleich  es  da  zu  was 
gutem  angewandt  wird ;  weil  nun  die  Thiere  als  Instrumente  des  Men-  5 
sehen  angesehn  werden,  so  gehts  an,  aber  auf  keine  Weise  als  ein  Spiel. 
Wenn  ein  Herr  seinen  Esel  oder  Hund  verstößt,  weil  er  nicht  mehr  das 
Brodt  verdienen  kann,  so  zeigt  das  immer  eine  sehr  kleine  Seele  vom 
Herren  an.  Die  Griechen  dachten  darin  edel,  welches  das  Beyspiel  vom 
Esel  beweiset,  der  an  die  Glocke  der  Undankbarkeit  von  ohngefähr  lo 
gezogen  hatte.  Also  sind  unsre  Pflichten  gegen  die  Thiere  indirecte 
Pflichten  gegen  die  Menschheit.  Die  Pflichten  gegen  andre  geistige 
Wesen  sind  nur  negativ.  Wir  müssen  uns  nicht  in  solche  Handlungen 
einlassen  die  ein  commercium,  eine  Unterhaltung  mit  andern  Wesen 

582  anzeigen.  Alle  /  solche  Handlungen  sind  von  der  Art,  daß  sie  den  i5 
Menschen  fanatisch,  träumerisch  und  abergläubisch  machen,  und  der 
Würde  der  Menschheit  entgegen  sind ;  denn  zur  Würde  der  Menschheit 
gehört  der  gesunde  Gebrauch  der  Vernunft,  giebt  man  sich  aber  damit 
ab,  so  ist  der  gesunde  Gebrauch  der  Vernunft  nicht  möglich.  Es 
mögen  immer  solche  Wesen  seyn,  und  es  mag  alles  von  ihnen  20 
wahr  seyn,  so  kennen  wir  sie  doch  nicht  und  können  nicht  mit 
ihnen  umgehn. 

In  Ansehung  der  bösen  Geister  hat  es  dieselbe  Bewandniß.  Wir 
haben  vom  Bösen  eben  so  gut  eine  Idee  wie  vom  Guten,  und  alles  böse 
referiren  vnr  in  die  Hölle,  so  wie  alles  gute  in  den  Himmel.  Personi-  25 
ficiren  wir  dieses  vollliommene  Böse,  so  haben  wir  die  Idee  vom  Teufel ; 
wenn  wir  nur  glauben,  daß  solcher  Einfluß  auf  uns  haben  könne,  daß 
er  des  Nachts  erscheine  und  herumspuke,  so  macht  das  in  uns  Hirn- 
gespinste, die  den  vernünftigen  Gebrauch  unserer  Kräfte  aufheben. 
Also  sind  unsre  Pflichten  gegen  solche  Wesen  negativ.  Der  Autor  redet  30 
noch  von  den  Pflichten  gegen  leblose  Sachen.  Diese  zielen  auch  in- 
directe auf  die  Pflichten  der  Menschen  ab.  Der  Zerstörungs-Geist  der 

583  Menschen  gegen  Sachen,  die  noch  können  /  gebraucht  werden,  ist  sehr 
unmoraHsch.  Kein  Mensch  soll  die  Schönheit  der  Natur  zerstöhren, 
denn,  wenn  er  sie  auch  nicht  brauchen  kann,  so  können  doch  wohl  35 
andre  Menschen  davon  Gebrauch  machen,  obgleich  er  dieses  nicht  in 
Ansehung  der  Sachen  selbst  zu  beobachten  hat,  so  doch  in  Ansehung 
anderer  Menschen.  Also  alle  Pflichten  gegen  Thiere,  andre  Wesen  und 
Sachen  zielen  indirecte  auf  die  Pflichten  gegen  die  Menschheit  ab. 


Moralphilosophie  Collins  461 

Der  Autor  führt  noch  specielle  Pflichten  an,  die  wir  haben  gegen 
besondre  Gattungen  der  Menschen;  also  Pflichten  in  Ansehung  der 
Verschiedenheit  des  Alters,  des  Geschlechts  und  der  Stände.  Allein 
alle  diese  Pflichten  lassen  sich  aus  den  obigen  allgemeinen  Pflichten 

5  der  Menschheit  ableiten.  Unter  der  Verschiedenheit  der  Stände  ist  eine 
Verschiedenheit,  die  den  Unterschied  des  Innern  Werths  macht,  das 
ist  der  Stand  des  Gelehrten,  dieser  scheint  einen  Unterschied  des 
Innern  Werths  aus  zu  machen.  Die  Unterschiede  unter  andern 
Ständen  sind  Unterschiede  eines  äußern  Werthes.  Die  andern  Stände 

10  beschäftigen  sich  mit  physischen  Sachen,  die  nur  auf  das  Leben  der 
Menschen  abzielen.  Der  Gelehrte  aber  hat  solchen  Stand,  dessen  Haupt- 
beschäftigung ist,  die  Erkenntniß  zu  erwegen.  Hier  scheint  ein  Unter- 
schied des  Innern  Werths  zu  seyn.  Es  scheint  daß  der  Gelehrte  der 
einzige  ist,  der  die  Schönheit,  die  Gott  in  die  Welt  gelegt  hat,  be- 

15  trachtet,  und  der  die  Welt  /  zu  dem  Zwecke  braucht,  zu  dem  sie  Gott  584 
gemacht  hat.  Denn  Avarum  hat  Gott  die  Schönheit  in  die  Natur  und  in 
die  Werke  derselben  gelegt,  als  daß  ich  sie  betrachten  soll.  Da  nun  die 
Gelehrten  den  völligen  Zweck  der  Schöpfung  allein  erfüllen,  so  scheint 
es,  als  wenn  sie  darin  einen  Innern  Werth  allein  haben.  Die  Erkennt- 

20  niße  die  sie  erwerben,  sind  die,  warum  Gott  die  Welt  gemacht  hat.  Ja, 
die  Talente,  die  in  dem  Menschen  liegen,  entwickeln  die  Gelehi'ten 
allein.  Es  scheint  also,  daß  dieser  Stand  einen  Vorzug  vor  andern  hat, 
weil  er  sich  durch  einen  Innern  Werth  davon  unterscheidet.  Roußeau 
kehrt  dieses  aber  um  und  sagt :  der  Zweck  der  Menschen  ist  nicht  die 

25  Gelehrsamkeit ;  die  Gelehrten  verkehren  dadurch  den  Zweck  der 
Menschheit.  Es  wird  nun  gefragt:  Ob  der  Gelehrte  deswegen,  weil  er 
die  Schönheit  der  Welt  betrachtet,  die  Talente  entwickelt,  den  Zweck 
der  Schöpfung  erfülle  und  die  Welt  für  ihn  ist?  —  Weil  jeder  einzelne 
Gelehrte  nicht  die  unmittelbahre  Beschauung  der  Schönheit  der  Natur 

30  und  die  Entwickelung  der  Talente  und  die  Beförderung  der  völligen 
Vollkommenheit  der  Menschheit  zum  Zweck  hat,  sondern  nur  die  Ehre 
die  er  davon  hat,  wenn  er  es  andern  communiciret,  so  kann  ja  der 
einzelne  Gelehrte  nicht  glauben,  daß  er  einen  Vorzug  hat  vor  jedem 
andern  Bürger ;  obgleich  alle  Gelehrten  zusammen  im  Ganzen  /  zum  »85 

35  Zweck  der  Menschheit  beytragen,  so  kann  sich  doch  das  keiner  beson- 
ders zumessen,  indem  jeder  Handwerker  durch  seine  Arbeit  eben  so  gut 
als  jeder  Gelehrte  zum  Zweck  der  Menschheit  was  beyträgt.  Es  ent- 
steht also  aus  den  allgemeinen  Quellen  der  menschlichen  Handlungen, 
nämlich  aus  der  Ehre,  eine  Zusammenstimmung  der  Zwecke  der  Welt. 


462  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

Es  fragt  sich:  Sind  die  Menschen  überhaupt  zur  Gelehrsamkeit  be- 
stimmt, und  soll  ein  jeder  suchen  ein  Gelehrter  zu  werden  ?  Nein,  die 
Kürze  des  Lebens  reicht  nicht  zu ;  aber  es  gehört  zur  Bestimmung  der 
Menschheit,  daß  sich  einige  dem  widmen,  und  ihr  Leben  darin  auf- 
opfern. Das  Leben  reicht  auch  nicht  zu,  um  von  der  Gelehrsamkeit  5 
Gebrauch  machen  zu  können.  Hätte  Gott  gewollt,  daß  der  Mensch  in 
der  Gelehrsamlveit  hätte  weit  kommen  sollen,  so  hätte  er  ihm  ein 
längeres  Leben  gegeben.  Wanmi  muß  Newton  sterben,  zu  der  Zeit,  da 
er  den  besten  Gebrauch  von  seiner  Gelehrsamkeit  hätte  machen 
können  ?  Und  ein  anderer  muß  wieder  von  A.B.C.  anfangen  und  alle  lo 
Classen  durchgehn,  bis  er  wieder  so  weit  kommt,  und  wenn  er  es  denn 
recht  anwenden  will,  so  wird  er  schwach  und  stirbt.  Also  jeder  ein- 
zelne ist  nicht  zur  Wissenschaft  gemacht,  aber  im  Ganzen  wird  da- 
durch der  Zweck  der  Menschheit  befördert.  Die  Gelehrten  sind  also 
Mittel  des  Zwecks,  und  tragen  was  zum  Werth  bey,  aber  sie  haben  i5 
586  dadurch  nicht  selbst  einen  vorzüglichen  /  Werth.  Warum  soll  ein 
Bürgers-Mann,  der  in  seinem  Beruf  fleißig  und  arbeitsam  ist,  und  sonst 
guten  Wandel  führt,  sein  Haus  gut  bestellt,  warum  soll  der  nicht  eben 
so  viel  Werth  haben  als  der  Gelehrte  ?  Weil  die  Beschäftigung  des 
Gelehrten  allgemeiner  ist  ?  das  bringt  schon  sein  Stand  und  seine  Be-  20 
Stimmung  mit  sich. 

Roußeau  hat  in  so  weit  recht ;  aber  darin  fehlt  er  sehr,  wenn  er  vom 
Schaden  der  Wissenschaften  redet.  Kein  wahrer  Gelehrte  wird  diese 
Stolze  Sprache  führen.  Die  Sprache  der  wahren  Vernunft  ist  de-  25 
müthig.  Alle  Menschen  sind  einander  gleich,  und  nur  der  hat  einen 
innern  vorzüglichen  Werth  vor  allen,  der  moralisch  gut  ist.  Die  Wis- 
senschaften sind  principia  der  Verbeßerung  der  Moralität.  Um  die 
moralischen  Begriffe  einzusehn,  gehört  Erkenntniß  und  erläuterte 
Begriffe.  Ausgebreitete  Wissenschaften  veredlen  den  Menschen  und  so 
die  Liebe  zur  Wissenschaft  vertilgt  viele  widrige  Neigung.  Hume  sagt : 
Es  ist  kein  Gelehrter,  der  nicht  wenigstens  ein  ehrlicher  Mann  seyn 
sollte.  Auf  der  andern  Seite  dient  die  Moralität  den  Wissenschaften 
zur  Beförderung  der  Rechtschaffenheit,  Achtung  für  das  Recht  ande- 
rer Menschen  und  seiner  Person,  und  befördert  sehr  die  Verstandes^ 
58r  Erkenntniße.  Redlichkeit  macht,  daß  man  /  seine  Irrthümer  in  eine  35 
Schrift  setzt,  die  schwache  Stellen  nicht  verheelt.  Der  moralische 
Charakter  hat  also  großen  Einfluß  auf  die  Wissenschaften.  Wer  deßen 
entbehrt,  der  geht  mit  den  Produkten  seines  Verstandes  so  um,  wie 


Moralphilosophie  Collins  463 

der  Kaufmann  mit  seinen  Waaren,  er  wird  die  schwache  Stellen  ver- 
heelen  und  das  publicum  hintergehn. 

Dieses  sind  die  Pflichten,  die  wir  in  Ansehung  der  Gelehrsamkeit 
zu  beobachten  haben. 


öVon  den   Pflichten  der  Tugendhaften  und  Lasterhaften. 

Tugend  ist  eine  Idee  und  keiner  kann  die  wahre  Tugend  besitzen. 
Ein  tugendhafter  Mann  ist  demnach  eben  so  wenig  gebräuchlich  zu 
sagen,  als  ein  weiser  Mann.  Jeder  strebt,  sich  der  Tugend  zu  nähern, 
so  wie  der  Weisheit;  aber  in  keinem  wird  der  höchste  Grad  erreicht. 

10  Wir  können  zwischen  Tugend  und  Laster  ein  mittleres  gedenken,  und 
das  ist  Untugend,  welches  nur  im  Mangel  besteht.  Tugend  und  Laster 
ist  was  positives.  Tugend  ist  eine  Fertigkeit  nach  moralischen  Grund- 
sätzen die  Neigung  zum  Bösen  zu  überwinden.  Also  heilige  Weesen 
sind  nicht  tugendhaft,  weil  sie  keine  Neigung  zum  Bösen  zu  überwin- 

15  den  haben,  sondern  ihr  WiUe  ist  dem  Gesetz  /  adaequat.  Der  Mensch  588 
der  nicht  tugendhaft  ist,  ist  deswegen  noch  nicht  lasterhaft,  sondern 
er  hat  niir  einen  Mangel  der  Tugend.  Laster  ist  aber  was  positives. 
Der  Mangel  der  Tugend  ist  L^ntugend,  aber  die  Verachtung  der  mora- 
lischen Gesetze  ist  Laster.  Untugend  ist  nur,  daß  man  das  moralische 

zoGesez  nicht  thue;  Laster  aber,  daß  man  das  Gegentheil  vom  mora- 
lischen Gesetze  thue.  Das  erste  ist  was  negatives,  das  2te  was  positives. 
Zum  Laster  gehört  also  sehr  viel. 

Man  kann  Gutartigkeit  des  Herzens  haben  ohne  Tugend,  denn  die 
Tugend  ist  das  Wohlverhalten  aus  Grundsätzen  und  nicht  aus  In- 

25  stinkt.  Gutartigkeit  ist  aber  eine  Uebereinstimmung  des  moralischen 
Gesetzes  aus  Instinkt.  Zur  tugend  gehört  viel.  Die  Gutartigkeit  des 
Herzens  kann  angeboren  seyn.  Tugendhaft  kann  aber  keiner  ohne 
Uebung  seyn,  weil  die  Neigung  zum  Bösen  nach  moralischen  Grund- 
sätzen unterdrückt  und  die  Handlung  mit  dem  moralischen  Gesetz 

30  übereinstimmend  gemacht  werden  muß.  Es  fragt  sich :  Ob  ein  /  Laster-  589 
hafter  tugendhaft  werden  kann  ?  Es  giebt  eine  Bösartigkeit  des  Ge- 
müths,  die  kann  nicht  corrigirt  werden,  sondern  die  bleibt  beständig; 
aber  ein  böser  Character  kann  immer  in  einen  guten  verwandelt 
werden,  weil  der  Character  nach  Grundsätzen  handelt,  so  kann  dieser 

35  nach  und  nach  durch  gute  Grundsätze  vertilgt  werden,  daß  er  über  die 
Bösartigkeit  des  Gemüths  herrsche.  So  sagt  man  vom  Sokrates,  daß  er 


464  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

von  Natur  ein  böses  Herz  gehabt,  welches  er  aber  durch  Grundsätze 
beherrscht  hat.  Menschen  verrathen  oft  in  ihrem  Gesichte,  daß  sie 
incorrigible  sind,  und  daß  sie  beynahe  schon  zum  Galgen  prädestinirt 
wären,  solchen  hält  es  schwer,  tugendhaft  zu  werden.  Eben  so  wie  ein 
rechtschaffener  und  ein  ehrlicher  Mann  nicht  lasterhaft  werden  kann,  5 
und  wenn  er  auch  in  einige  Laster  verfällt,  so  kehrt  er  wieder  zurück, 
weil  die  Grundsätze  in  ihm  schon  feste  Wurzel  geschlagen  haben. 
Die  Beßerung  ist  von  der  Bekehrung  zu  unterscheiden.  Beßerung  ist, 
wenn  man  anders  lebt,  Bekehrung  aber  ist,  wenn  man  den  festen 
Grundsatz  und  die  sichre  Grundlage  hat,  daß  man  niemahls  anders  als  10 
tugendhaft  leben  werde.  Wir  beßern  uns  oft  aus  Furcht  vor  dem  Tode, 
und  wißen  nicht  ob  wir  gebeßert  oder  bekehrt  sind.  Würden  wir  nur  / 

590  die  Hoffnung  haben  länger  zu  leben,  so  würde  die  Beßerung  nicht 
erfolgt  seyn.  Die  Bekehrung  aber  ist:  wenn  man  sich  fest  vornimmt, 
man  mag  so  lange  leben  als  man  will,  tugendhaft  zu  leben.  Buße  ist  15 
kein  gutes  Wort,  es  kommt  von  Büßungen,  Kasteyungen  her,  wo  man 
sich  wegen  seiner  Verbrechen  selbst  straft.  Wenn  der  Mensch  erkennet, 
daß  er  strafwürdig  ist,  so  straft  er  sich  selbst  und  glaubt,  daß  ihn  als- 
denn  Gott  nicht  strafen  wird.  Solche  Traurigkeit  aber  hilft  keinem 
was.  Die  innere  Traurigkeit  über  sein  Vergehn  und  die  feste  Ent-  20 
Schließung  ein  beßeres  Leben  zu  führen,  hilft  allein  was,  und  das  ist 
die  wahre  Reue. 

Der  Mensch  kann  in  Ansehung  seiner  Laster  auf  2  Abwege  geraten, 
in  Ansehung  der  Niederträchtigkeit,  das  ist  die  Brutalitaet,  wo  er  sich 
z.  E.  durch  Verletzung  der  Pflichten  gegen  seine  Person  unter  das  25 
Vieh  versetzt,  oder  in  Ansehung  der  Bosheit,  und  das  ist  teuflisch, 
wo  der  Mensch  sich  Gewerbe  macht  auf  Bosheit  zu  sinnen,  daher  keine 
gute  Neigung  mehr  ist.  Hat  er  noch  eine  gute  Gesinnung  und  den 
Wunsch  gut  zu  seyn,  so  ist  er  noch  ein  Mensch,  macht  er  sich  aber 
solche  zur  Bosheit,  so  ist  er  teuflisch.  Der  Zustand  des  Lasters  ist  der  30 

591  Zustand  der  Knechtschaft  /  unter  der  Macht  der  Neigung.  Je  mehr  der 
Mensch  tugendhaft  ist,  jemehr  frey  ist  er.  Verstockt  ist  der  Mensch, 
wenn  er  keinen  Wunsch  hat,  beßer  zu  werden.  Die  Gesellschaft  der 
Tugend  ist  das  Reich  des  Lichts  und  die  Gesellschaft  des  Lasters  ist 
das  Reich  der  Finsterniß.  So  tugendhaft  der  Mensch  immer  seyn  mag,  35 
so  sind  doch  in  ihm  Neigungen  zum  Bösen  und  er  muß  immer  im 
Kampfe  stehn.  Der  Mensch  muß  sich  hüten  vor  dem  morahschen 
Eigendünkel,  daß  er  sich  selbst  für  moralisch  gut  hält,  und  eine  vor- 
theilhafte  Meynung  von  sich  hat ;  das  ist  ein  träumerischer  Zustand, 


Moralphilosophie  Collins  465 

der  sehr  unheilbar  ist.  Er  entspringt  daher,  wenn  der  Mensch  so  lange 
am  moralischen  Gesez  künstelt,  bis  er  es  seinen  Neygungen  und  seiner 
Gemächlichkeit  gemäß  gemacht  hat. 

Die  Tugend  ist  die  moralische  VolUiommenheit  des  Menschen.  Mit 

5  der  Tugend  verknüpfen  wir  Kraft,  Stärke  und  Gewalt.  Es  ist  ein  Sieg 
über  die  Neygung.  Die  Nej^gung  an  sich  selbst  ist  regellos,  und  das  ist 
der  Zustand  des  morahschen  Menschen,  selbige  zu  unterdrücken. 
Engel  im  Himmel  können  heilig  seyn,  der  Mensch  kann  es  aber  nur  so 
weit  bringen,   daß   er  tugendhaft  ist.   Weil  die   Tugend   nicht   auf 

10  Instinkten  sondern  auf  Grundsätzen  beruht,  so  ist  die  Uebung  der 
Tugend  eine   Uebung   der   Grundsätze,   denselben   eine   bewegende 
Kraft  /  zu  geben,  daß  sie  überwiegend  sind,  und  sich  durch  nichts  59« 
ableiten  lassen,  von  ihnen  abzugehn.  Man  muß  also  einen  Charakter 
haben,  solche  Stärke  ist  die  Tugendstärke,  ja  die  Tugend  selbst. 

15  Dieser  Tugend  setzen  sich  Hindernisse  entgegen,  welche  man  aber  mit 
Religion  und  Regeln  der  Klugheit  verbinden  muß,  wozu  die  Zufrieden- 
heit des  Gemüths  gehört,  Ruhe  der  Seelen,  frey  von  allem  Vorwurf  zu 
seyn,  wahre  Ehre,  Schätzung  seiner  selbst  und  anderer,  Gleichgültig- 
keit oder  vielmehr  Gleichmüthigkeit  und  Standhaftigkeit  gegen  alle 

2oUebel,  an  denen  man  nicht  Schuld  ist.  Dies  sind  aber  nicht  Quellen 
der  Tugend,  sondern  nur  Hülfsmittel.  Das  sind  die  Pflichten  in  An- 
sehung der  Tugendhaften.  Von  der  andern  Seite  scheint  es  umsonst  zu 
seyn,  mit  dem  Lasterhaften  von  Pflichten  zu  reden;  indessen  hat  doch 
noch  jeder  Lasterhafte  Keime  der  Tugend  in  sich ;  er  hat  Verstand  das 

25  Böse  einzusehn;  er  hat  noch  ein  moralisches  Gefühl,  denn  er  ist  noch 
kein  Bösewicht,  der  nicht  wenigstens  wünschen  sollte  gut  zu  seyn. 
Auf  dieses  moralische  Gefühl  kann  das  System  der  Tugend  gegründet 
werden.  Das  moralische  Gefühl  ist  aber  nicht  der  erste  Anfang  der 
Beurtheilung  der  Tugend,  sondern  das  erste  ist  der  reine  Begriff  der 

soMoralität,  /  der  mit  dem  Gefühl  muß  verbunden  werden.  Hat  der  593 
Mensch  einen  reinen  Begriff  der  Moralität,  so  kann  er  darauf  die 
Tugend   gründen,   denn   kann   er  erst   das   moralische   Gefühl   rege 
machen  und  einen  Anfang  machen,   moralisch  zu  werden.   Dieser 
Anfang  ist  freilich  wieder  ein  weites  Feld,  er  muß  anfänglich  negativ 

35  sej'^n,  man  muß  zuerst  unschuldig  werden,  und  bloß  alles  unterlassen, 
welches  durch  allerhand  Beschäftigungen  geschieht,  die  ihn  von 
solcher  Neygung  abhalten.  Dieses  kann  der  Mensch  recht  gut,  obgleich 
das  positive  schwer  ist. 

30     Kant's  Schriften  XXVII/1 


466  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

Von  den  Pflichten  in  Ansehung  der  Verschiedenheit  des 

Alters. 

Der  Autor  hat  gar  keine  gute  Ordnung  getroffen,  er  hätte  diese 
Pflichten  können  eintheilen  in  Ansehung  der  Verschiedenheit  der 
Stände,  des  Geschlechts  und  des  Alters.  Der  Unterschied  des  Ge-  5 
schlechts  ist  nicht  so  gering,  als  man  wohl  glaubt.  Die  Triebfedern 
beim  männlichen  Geschlecht  sind  sehr  unterschieden  von  den  Trieb- 
federn des  weiblichen.  In  Ansehung  des  Unterschieds  des  Geschlechts 
kann  man  in  der  Anthropologie  nachschlagen,  woraus  sich  denn 
Pflichten  ziehen  lassen.  Was  die  Pflichten  der  Verschiedenheit  des  10 

594  Alters  betrifft,  so  /  haben  wir  Pflichten  gegen  andre  nicht  allein  als 
Menschen,  sondern  auch  als  unsre  Mitbürger,  da  kommen  bürgerliche 
Pflichten  vor.  Ueberhaupt  ist  die  Moral  ein  unerschöpfliches  Feld. 
Der  Autor  führt  Pflichten  gegen  Gesunde  und  Kranke  an.  Auf  die  Art 
hätten  wir  auch  Pflichten  gegen  Schöne  und  Häßliche,  gegen  Große  is 
und  Kleine.  Das  sind  aber  keine  besondre  Pflichten  weil  es  nur  ver- 
schiedene Zustände  sind,  in  denen  die  allgemeine  Menschen-Pflicht 
zu  beobachten  ist.  Das  Alter  können  wir  eintheilen  in  das  Alter  der 
Kindheit,  wo  man  sich  nicht  selbst  erhalten  kann,  in  das  Alter  des 
Jünglings,  wo  man  sich  selbst  erhalten,  seine  Art  erzeugen,  aber  nicht  20 
erhalten  kann,  in  das  männliche,  wenn  man  sich  selbst  erhalten,  seine 
Art  fortpflanzen  und  erhalten  kann.  Der  wilde  Zustand  stimmt  mit 
der  Natur  überein,  der  bürgerliche  aber  nicht.  Man  ist  im  bürgerlichen 
Zustande  alsdenn  noch  ein  Kind,  obgleich  man  schon  seine  Art  er- 
zeugen kann ;  man  kann  sich  aber  noch  nicht  selbst  erhalten ;  im  25 
wilden  Zustande  aber  ist  man  alsdenn  schon  ein  Mann.  Einen  weit- 

595  läuftigern  Unterschied  findet  man  in  der  Anthropologie  /  aus  einander 
gesetzt.  Weil  der  bürgerliche  Zustand  der  Natur  widerstreitet,  der 
wilde  aber  nicht,  so  meint  Roußeau,  daß  der  bürgerliche  Zustand  dem 
Zweck  der  Natur  nicht  gemäß  ist ;  allein  der  bürgerliche  Zustand  ist  so 
doch  dem  Zweck  der  Natur  gemäß.  Der  Zweck  der  Natur  der  frühen 
Männlichkeit  war  die  Vermehrung  des  menschlichen  Geschlechts. 
Würden  wir  im  30sten  Jahr  mündig  werden,  so  würde  diese  Zeit  mit 
dem  bürgerlichen  Zustande  übereinstimmen,  allein  alsdenn  würde  sich 
das  menschliche  Geschlecht  im  wilden  Zustande  nicht  so  vermehren.  35 
Im  wilden  Zustande  vermehrt  sich  das  menschliche  Geschlecht  aus 
vielen  Ursachen  sehr  schlecht,  daher  muß  die  Mündigkeit  sehr  frühe 
seyn;  da  aber  im  bürgerlichen  Zustande  die  Ursachen  gehoben  sind, 


Moralphilosophie  Collins  467 

SO  ersetzt  der  bürgerliche  Zustand  das,  was  dadurch  entgeht,  daß  man 
nicht  in  dem  Alter  den  Gebrauch  von  seiner  Neigung  machen  kann. 
Die  Zwischen-Zeit  ist  aber  mit  Lastern  angefüllt.  Wie  ist  nun  der 
Mensch  im  bürgerlichen  Zustande  zu  bilden  für  die  Natur,  und  für  die 
bürgerliche  Gesellschaft  i  Dieses  sind  die  2  Zwecke  der  Natur,  die  Er- 
5  Ziehung  der  Menschen  in  Ansehung  des  natürlichen  und  in  Ansehung 
des  bürgerlichen  Zustandes.  Die  Regel  der  Erziehung  ist  der  Haupt- 
zweck, Avodurch  der  Mensch  /  im  bürgerlichen  Zustande  gebildet  wird.  5»e 
In  der  Erziehung  sind  2  Stücke  zu  unterscheiden:  Die  Entwickelung 
der  natürlichen  Anlagen  und  die  Hinzusetzung  der  Kunst.  Das  erste 

10  ist  die  Bildung  des  Menschen,  das  2te  Unterricht  oder  Belehrung. 
Der  das  Erste  am  Kinde  thut,  könnte  der  Hofmeister  (Gouverneur) 
heissen,  der  aber  das  andere  thut,  Informator. 

In  der  Bildung  ist  darauf  zu  sehn,  daß  sie  nur  negativ  sey,  daß  man 
das  alles  abhalte,  was  der  Natur  zuwider  sey.  Die  Kunst  oder  Beleh- 

15  rung  kann  2fach  seyn :  negativ  und  positiv,  abzuhalten  und  hinzu  zu 
setzen.  Das  negative  der  Belehrung  ist,  zu  verhüten,  daß  sich  nicht 
Irrthümer  einschleichen,  das  positive,  daß  was  mehrers  von  Kennt- 
nissen hinzugesetzt  werde.  Das  negative  sowohl  der  Belehrung  als 
Bildung  des  Geschöpfs  ist  die  Disciplin,  das  positive  der  Belehrung 

20  ist  die  Doctrin.  Die  Disciplin  muß  vor  der  Doctrin  vorausgehn.  Durch 
die  Disciplin  kann  das  Temperament  und  das  Herz  gebildet  werden, 
der  Character  aber  wird  mehr  durch  die  Doctrin  gebildet.  Disciplin 
heisset  so  viel  als  Zucht ;  durch  die  Zucht  wird  aber  dem  Kinde  nichts 
neues  gelehrt,  sondern  die  regellose  Freyheit  eingeschränkt.  /  Der  597 

25  Mensch  muß  disciplinirt  werden,  denn  er  ist  von  Natur  roh  und  wild. 
Die  menschlichen  Anlagen  sind  nur  durch  Kunst  bestimmt,  gesittet  zu 
werden.  Bey  Thieren  ent%vikelt  sich  die  Natur  von  selbst,  bey  uns  aber 
durch  Kunst,  also  können  wir  nicht  der  Natur  den  Lauf  lassen,  sonst 
erziehn  wir  den  Menschen  wild.  Disciplin  ist  Zwang;  als  Zwang  ist  sie 

30  aber  der  Freiheit  entgegen.  Freyheit  ist  aber  der  Werth  des  Menschen, 
demnach  muß  der  Jüngling  durch  die  Disciplin  dem  Zwange  so  unter- 
worfen werden,  daß  die  Freyheit  erhalten  werde,  er  muß  durch  Zwang, 
aber  nicht  durch  scla vischen  Zwang  disciplinirt  werden.  Alle  Er- 
ziehung muß  also  frey  seyn,  so  fern  der  Jüngling  andere  frey  läßt. 

35  Der  vornehmste  Grund  der  Disciplin,  worauf  die  Freyheit  beruht,  ist 
diese :  Daß  das  Kind  sein  Verhältniß  als  ein  Kind  einsehe,  und  aus  dem 
Bewußtse}^!  seiner  Kindheit,  Alters  und  Vermögens  müssen  alle 
Pflichten  hergeleitet  werden.  Ein  Kind  muß  also  nicht  mehr  Kraft 

30* 


468  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

exerciren,  als  seinen  Jahren  gemäß  ist;  da  es  nun  als  ein  Kind  schwach 
ist,  so  muß  es  nicht  durch  Gebieten  und  commandiren  vieles  ausrichten 
598 können,  sondern  /  es  muß  alles  durch  Bitten  zu  erlangen  suchen;  will 
es  etwas  mit  Gewalt  haben,  und  man  erfüllts  einmal  um  es  zu  beruhigen, 
so  exercirt  es  das  öfter  mit  stärkerer  Kraft  und  vergißt  seine  Kind-  5 
heits-Schwäche.  Ein  Kind  muß  also  nicht  gebieterisch  erzogen  werden ; 
es  muß  nichts  durch  seinen  Willen  erhalten,  sondern  durch  Gefälligkeit 
der  andern.  Die  Gefälligkeit  der  andern  erhält  es  aber  dadurch,  daß  es 
sich  selbst  ihnen  gefällig  beweist;  wenn  es  also  durch  Zwang  nichts 
erhält,  so  gewöhnt  es  sich  hernach  durch  Bitten  und  gefällige  Hand-  lo 
lungen  alles  zu  erhalten.  Wenn  ein  Kind  in  seinem  Hause  seinen  Willen 
gehabt  hat,  so  wächst  es  gebieterisch  auf  und  findet  hernach  in  der 
Gesellschaft  allerwegen  Widerstand,  den  es  gar  nicht  gewohnt  ist, 
und  ist  alsdenn  für  die  Gesellschaft  unnütz.  So  wie  sich  die  Bäume  im 
Walde  unter  einander  discipliniren,  indem  sie  die  Luft  zu  ihrem  i5 
Wachsthum  nicht  neben  den  andern  sondern  über  sich  suchen,  wo  sie 
keinen  hindern,  so  wachsen  sie  auch  gerade  in  die  Höhe,  da  hingegen 
ein  Baum  auf  freyem  Felde,  wo  er  nicht  durch  andre  eingeschränkt  / 

599  wird,  ganz  krüppelicht  wächst,  es  hernach  aber  schon  zu  spät  ist  ihn 
zu  discipliniren.  Eben  so  ist  es  auch  mit  dem  Menschen ;  wird  er  frühe  20 
disciplinirt,  so  wächst  er  mit  andern  gerade  auf,  wird  es  aber  ver- 
säumet, so  wird  er  ein  krüppelichter  Baum.  Die  erste  disciplin  beruht 
auf  Gehorsam.  Diese  kann  hernach  auf  viele  Zwecke  angewandt 
werden,  auf  den  Körper,  auf  sein  Temperament  etc.  Z.  E.  ist  er  auf- 
fahrend, so  muß  er  großen  Widerstand  bekommen;  ist  er  faul,  so  muß  25 
man  auch  nicht  gegen  ihn  willfährig  seyn.  Ferner  auf  seine  Gemüths- 
Art.  Dieser  muß  man  sehr  widerstehn,  besonders,  wo  Bosheit,  Scha- 
denfreude, Neigung  zum  Zerstören  und  zum  Quälen  sich  äußert. 
In  Ansehung  des  Charakters  ist  nichts  als  Lügen  und  falsche  betrüge- 
rische Gemüths-Art  das  schädhchste.  Falschheit  und  Lügen  sind  die  so 
Fehler  des  Charakters,  und  sind  Eigenschaften  des  Feigen,  darauf 
muß  in  der  Erziehung  sehr  gesehn  werden,  daß  es  unterdrückt  wird. 
Die  Bosheit  hat  doch  noch  ihre  Stärke  und  darf  nur  disciplinirt  wer- 
den, allein  die  geheime  falsche  Niederträchtigkeit  hat  keinen  Keim  des 
Guten  mehr  in  sich.  Von  der  Disciplin  oder  Zucht  gehn  wir  zur  Unter-  35 

600  Weisung  oder  Doctrin.  Diese  ist  3fach:  Die  /  Belehrung  durch  die 
Natur  und  Erfahrung,  durch  Erzählung  und  durch  Raisonnement  oder 
Vernünfteln.  Die  Belehrung  durch  Erfahrung  ist  der  Grund  von  allem. 
Man  muß  einem  Kinde  nichts  mehr  lehren,  als  was  es  in  der  Erfahrung 


Moralphilosophie  Collins  469 

bestätiget  findet  und  beobachten  kann.  Hierauf  muß  es  angewöhnt 
werden  selbst  zu  beobachten,  wodurch  sich  Begriffe  entspinnen,  die 
von  der  Erfahrung  abgeleitet  sind.  Die  Belehrung  durch  Erzählung 
setzt  schon  Begriffe  und  Beurtheilung  voraus.  Das  Vernünfteln  muß 
5 nach  dem  Maaße  der  Jahre  eingerichtet  werden;  zu  Anfange  muß  es 
nur  empirisch  seyn  und  nicht  durch  Gründe  a  priori  sondern  durch  den 
Effect  in  der  Erfahrung,  wenn  es  z.  E.  lügt,  so  muß  man  es  gar  nicht 
des  Sprechens  würdig  halten.  Es  kommt  besonders  darauf  an,  wie  die 
Erziehung  den  verschiedenen  Jahren  des  Kindes  angemeßen  sey. 

10  In  Ansehung  des  Alters  ist  die  Erziehung  3fach,  die  Erziehung  zum 
Kinde,  zum  Jüngling  und  zum  Mann.  Die  Erziehung  geht  immer 
vorher  und  ist  die  Vorbereitung  zum  Alter.  /  Die  Erziehung  als  eine  60i 
Vorbereitung  zum  Jünglings -Alter  ist,   wenn  man  ihm  von  allem 
Grund  angiebt;  im  Kindheits-Alter  kann  das  aber  nicht  seyn,  denn 

15  Kindern  werden  die  Sachen  nur  so  vorgestellt,  als  sie  sind,  denn 
sonst  fragen  sie  immer  weg,  und  während  der  Antwort  besinnen  sie 
sich  wieder  auf  neue  Fragen.  Zum  Jünglings- Alter  gehört  aber  schon 
Vernunft.  Wenn  fängt  man  an  sich  zum  Jünglings- Alter  vorzubereiten  ? 
In  dem  Alter  wo  er  schon  nach  der  Natur  ein  Jüngling  ist,  das  ist 

2oohngefähr  im  lOten  Jahr,  denn  da  hat  er  schon  Ueberlegung.  Ein 
Jüngling  muß  schon  was  von  Anständigkeit  wissen,  ein  Kind  aber 
nicht,  dem  kann  man  nur  sagen :  es  ist  nicht  gebräuchHch.  Ein  Jüng- 
ling muß  schon  Pflichten  der  bürgerlichen  Gesellschaft  haben.  Hier 
bekommt  er  den  Begriff  der  Beständigkeit,  der  Menschen-Liebe,  da  ist 

25  er  schon  der  Grundsätze  fähig,  denn  wird  Religion  und  Moral  cultivirt, 
nun  verfeinert  er  sich  schon  selbst  und  kann  durch  Ehre  disciplinirt 
werden,  da  ein  Kind  nur  durch  Gehorsam  disciplinirt  wird.  Der  3te 
Zeitpunkt  ist,  daß  der  Jüngling  erzogen  wird  /  zum  Eintritt  in  daseoÄ 
Alter  des  Mannes,  welches  ist,  wenn  er  sich  nicht  allein  selbst  erhalten, 

30  sondern  auch  seine  Art  fortpflanzen  und  erhalten  kann.  Im  16ten  Jalir 
ist  er  nun  am  Rande  des  Mannes-Alters,  da  fällt  die  Erziehung  der 
DiscipUn  weg.  Hier  lernt  er  seine  Bestimmung  mehr  und  mehr  kennen, 
daher  muß  er  die  Welt  kennen  lernen.  In  diesem  Eintritt  in  das 
Mannes-Alter  muß   man  ihm   vorreden  von  wahrhaften   Pflichten, 

35  von  der  Würde  der  Menschheit  in  seiner  Person,  und  von  der  Schät- 
zung der  Menschheit  in  andern.  Hier  muß  die  Doctrin  den  Character 
bilden.  Was  das  Verhältniß  in  Ansehung  des  Geschlechts  betrifft,  so 
ist  darauf  die  höchste  Sorgfalt  zu  wenden,  damit  nicht  die  Affecten, 
worunter  der  Affect  der  Geschlechter-Neigung  der  stärkste  ist,  ge- 


470  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

mißbraucht  werden.  Roußeau  sagt :  Ein  Vater  soll  hier  in  diesem  Zeit- 
alter seinem  Sohn  hie  von  einen  völligen  Begriff  machen,  und  es  nicht 
als  ein  Geheimniß  behalten,  er  muß  ihm  hier  seinen  Verstand  / 

603  aufklären,  die  Bestimmung  dieser  Neigung  sagen  und  den  Schaden  der 
aus  dem  Mißbrauch  derselben  entsteht.  Er  muß  ihm  hier  aus  mora-  5 
lischen  Gründen  die  Abscheulichkeit  der  Handlung  zeigen,  und  die 
Entehrung  der  Würde  der  Menschheit  in  seiner  Person  vor  Augen 
legen.  Dieses  ist  der  dehcateste  und  der  letzte  Punkt  in  der  Erziehung. 
Ehe  die  Schulen  so  weit  kommen,  werden  noch  viele  Laster  ausgeübt 
werden.  lo 

Von     der     letzten     Bestimmung     des     menschlichen     Ge- 
schlechts. 

Die  lezte  Bestimmung  des  menschhchen  Geschlechts  ist  die  mora- 
lische Vollkommenheit,  so  fern  sie  durch  die  Freyheit  des  Menschen 
bewirkt  wird,  wodurch  alsdenn  der  Mensch  der  größten  Glückseelig- 15 
keit  fähig  ist.  Gott  hätte  die  Menschen  schon  so  vollkommen  machen 
und  jedem  die  Glückseeligkeit  haben  austheilen  können,  allein  alsdenn 
wäre  es  nicht  aus  dem  Innern  principio  der  Welt  entsprungen.  Das 
innere  principium  der  Welt  aber  ist  die  Freyheit.  Die  Bestimmung  des 
Menschen  ist  also,  seine  größte  Vollkommenheit  durch  seine  Freyheit  20 

604  zu  erlangen.  Gott  will  nicht  allein,  /  daß  wir  sollen  glückhch  seyn, 
sondern  wir  sollten  uns  glücklich  machen,  das  ist  die  wahre  Moralität. 
Der  allgemeine  Zweck  der  Menschheit  ist  die  höchste  moraHsche  Voll- 
kommenheit; wenn  sich  nun  alle  so  verhalten  möchten,  daß  ihr  Ver- 
halten mit  dem  allgemeinen  Zweck  übereinstimmen  möchte,  so  wäre  25 
dadurch  die  höchste  Vollkommenheit  erreicht.  Es  muß  sich  Jeder 
einzelne  bemühen,  sein  Verhalten  diesem  Zweck  gemäß  einzurichten 
wodurch  er  das  Seinige  dazu  beyträgt,  daß  wenn  nun  ein  jeder  es  so 
macht,  die  Volllcommenheit  erreicht  ist.  Wie  weit  ist  nun  aber  das 
menschliche  Geschlecht  auf  dem  Wege  zu  dieser  Vollkommenheit  ?  so 
Wenn  wir  den  erleuchtetsten  Theil  der  Welt  nehmen,  so  finden  wir, 
daß  alle  Staaten  gegen  einander  in  Waffen  stehn  und  jeder  schleift 
seine  Waffen  im  Frieden  gegen  den  andern.  Dieses  hat  solche  Folgen, 
die  da  verhindern,  daß  sich  die  Menschen  dem  allgemeinen  Zwecke 
der  Vollkommenheit  nähern  können.  Der  Vorschlag  des  Abt  von  St.  35 
Pierre  von  einem  allgemeinen  Völker-Senat  würde,  wenn  er  ausgeführt, 
der  Zeitpunkt  seyn,  wo  das  menschliche  Geschlecht  einen  großen 

605 Schritt  zur  Vollkommenheit  thun  würde. /Denn  könnte  die  Zeit,  die 


Moralphilosophie  Collins  471 

jezt  auf  Sicherheit  verwandt  wird,  darauf  verwendet  werden,  was  den 
Zweck  befördern  möchte.  Da  aber  die  Idee  des  Rechts  bey  den 
Fürsten  nicht  solche  Gewalt  hat,  als  die  Unabhängigkeit,  eigne 
Gewalt  und  Begierde,  nach  seiner  Willkühr  zu  regieren,  so  ist  solches 
5  von  der  Seite  auf  keine  Weise  zu  hoffen.  Wie  ist  nun  aber  diese  Voll- 
kommenheit zu  suchen  und  aus  welchem  Punlit  wird  sie  zu  hoffen 
seyn  ?  Nirgends  als  durch  die  Erziehung.  Diese  muß  allen  Zwecken  der 
Natur,  der  bürgerlichen  und  häuslichen  Gesellschaft  angemessen  seyn. 
Unsere  Erziehung  aber  im  Hause  und  in  den  Schulen  ist  noch  sehr 
10  fehlerhaft,  so  wohl  in  Ansehung  der  Cultur  der  Talente,  der  Disciplin 
und  Doctrin,  als  auch  in  Ansehung  der  Bildung  des  Charakters  nach 
moralischen  Grundsätzen.  Man  ist  mehr  auf  Geschicklichkeit,  als  auf 
Gesinnung  bedacht,  sich  derselben  gut  zu  bedienen.  Wie  kann  aber 
ein  Staat  durch  solche  Personen,  die  nicht  beßer  erzogen  sind,  anders 
15  regiert  werden  ?  Wenn  aber  die  Erziehung  so  eingerichtet  wird,  daß  die 
Talente  gut  entwickelt,  der  Charakter  moralisch  gebildet  würde,  denn 
würden  /  sie  bis  zum  Throne  hinaufsteigen,  und  die  Prinzen  würden  606 
hernach  durch  eben  solche  geschickte  Personen  erzogen  werden. 
Anjetzo  aber  hat  noch  niemals  ein  Fürst  was  zur  Vollkommenheit  der 
20  Menschheit,  der  inneren  Glückseeligkeit,  zum  Werth  der  Menschheit 
was  beygetragen,  sondern  nur  immer  auf  den  Flor  seines  Staats  ge- 
sehn, welches  bey  ihm  die  Hauptsache  ist.  Aber  nach  einer  solchen 
Erziehung  würden  sie  sich  so  ausbilden,  daß  solches  auf  die  Ver- 
tragsamkeit  einen  Einfluß  hätte.  Wenn  aber  schon  einmal  die 
25  Quellen  entstanden  wären,  so  hätte  das  Bestand,  und  wenn  es  einmal 
allgemein  ausgebreitet  ist,  so  erhält  er  sich  selbst  durch  das  Urtheil 
eines  jeden  Menschen.  Der  Monarch  kann  aber  nicht  allein,  sondern 
alle  Glieder  des  Staats  müssen  so  gebildet  seyn,  alsdenn  hätte  der 
Staat  solche  Festigkeit.  Hat  man  das  jemals  zu  hoffen  ?  Die  Base- 
so dowschen  Anstalten  der  Erziehung  machen  dazu  eine  kleine  Avarme 
Hoffnung.  Wenn  die  menschliche  Natur  ihre  völlige  Bestimmung  und 
ihre  höchstmögliche  Vollkommenheit  wird  erreicht  haben,  so  ist  dies 
das  Reich  Gottes  auf  Erden,  alsdenn  wird  das  innere  Gewissen  Recht 
und  Billigkeit  regieren,  und  keine  obrigkeitliche  Gewalt.  Dies  ist  der 
35  lezte  bestimmte  Zweck  und  die  höchste  moralische  Vollkommenheit, 
zu  der  das  menschliche  Geschlecht  gelangen  kann,  die  nach  dem 
Verlauf  vieler  Jahrhunderte  zu  hoffen  ist. 

Finis  Königsberg  den  19ten  April  1785. 


472  Vorlesungen  über  Moralphilosophie 

Verzeichniss    der    in    diesem    Buche    erläuterten    philosophischen 
Betrachtungen. 

1.  Prooemium 1 

2.  die  moralischen  Systemata  der  Alten 6 

3.  Vom  Principio  der  Moralitaet 12 

4.  de  obligatione  activa  &  paßiva 22 

5.  Vom  moralischen  Zwange 32 

6.  Von  der  practischen  Neceßitation 36 

7.  Von  den  Gesezzen 48 

8.  Vom  obersten  Principio  der  Moralitaet 53 

9.  de  littera  legis      67 

10.  Vom  Gesezzgeber 79 

11.  Von  Belohnungen  und  Bestrafungen 82 

12.  de  imputatione 98 

13.  Von  der  Imputation  der  Folgen  der  Handlungen 102 

14.  Gründe  der  moralischen  Imputation 105 

15.  de  imputatione  facti 107 

16.  Grade  der  Imputation 108 

Finis  philosophiae  practicae  universalis 

17.  Ethica 129 

18.  Von  der  natürlichen  Religion 147 

19.  Von  den  Irrthümern  in  der  Religion 164 

20.  Vom  Unglauben 178 

21.  Vom  Zutrauen  auf  Gott  und  dem  Begriff  des  Glaubens 194 

22.  Vom  Gebeth 201 

23.  de  cultu  externo      216 

24.  Vom  Beispiel  und  Muster  in  der  Religion 233 

25.  Vom  Anstoß 237 

26.  Vom  Bekenntniß  der  Religion,  in  wiefern  etwas  ein  Status  confeßionis 

sey  etc 246 

27.  Von  der  Moralität  und  zwar  1)  Von  den  Pflichten  gegen  Uns  selbst     .  250 

28.  Von  der  geziemenden  Selbstschäzzung 276 

29.  Vom  Gewißen 282 

30.  Von  der  Eigenliebe 297 

31.  Von  den  Pflichten  gegen  den  Körper  in  Ansehung  des  Lebens  ....  333 

32.  Vom  Selbstmorde 335 

33.  Von  der  Sorge  für  sein  Leben 353 

34.  Von  den  Pflichten  in  Ansehung  des  Körpers  selbst 362 

35.  Von  den  Pflichten  des  Lebens  in  Ansehung  des  Zustandes 370 

36.  Etwas  von  der  Zeitverkürzung 377 

37.  Von  den  Pflichten  gegen  den  Körper  in  Ansehung  der  Geschlechts- 
Neygung 378 

38.  Von  den  Criminibus  carnis 395 

39.  Von  den  Pflichten  gegen  sich  selbst  in  Ansehung  des  äußern  Zustandes  401 

40.  Von  den  Glücksgütern 416 

41.  Vom  Geitze 419 


Moralphilosophie  Collins  473 

42.  Von  den  zwey  Trieben  der  Natur  und  den  sich  darauf  beziehenden 
Pflichten 439 

43.  2)  Von  den  Pflichten  gegen  andre  Menschen 454 

44.  Von  der  Freundschaft 476 

45.  Von  der  Feindschaft 503 

46.  Von  der  Billigkeit 511 

47.  Von  der  Unschuld 512 

48.  Vom  Schaden 515 

49.  Von  der  Rache 516 

50.  Vom  Ohrenbläser 518 

51.  Von  der  Eifersucht,  Misgunst,  Neid  etc 519 

52.  Von  den  ethischen  Pflichten  gegen  andre,  von  der  Wahrhaftigkeit   .    .  541 

53.  Von  der  Armuth,  und  von  gütigen  Handlungen 570 

54.  Von  den  gesellschaftlichen  Tugenden 572 

55.  Vom  Hochmuth 575 

56.  Von  der  Spötterey 577 

57.  Von  den  Pflichten  der  Tugendhaften  und  Lasterhaften 587 

58.  Von  den  Pflichten  in  Ansehung  des  verschiedenen  Alters 593 

59.  Von  der  letzten  Bestimmung  des  menschl.  Geschlechts 603 


3  5282  00157  1051 


ph'fr,  '/-^   ^9'^ 


DATE  DUE 


i 


B2753 
1910 
V.27 
pta 


TÄCKS  B2753  1910  vol.  27  pt.1 

Kant,  Immanuel, 
Kants  gesammelte  sch"»ten