Skip to main content

Full text of "Kants lebensanschauung in ihren grundzügen"

See other formats


„Kant=Studien"  ^^^^^^^^ 

Ergänzungshefte  im  Auftrag  der  Kant-Gesellschaft 
herausg.  von  H.  ValhJnger,  M.  Frischeisen-Köhler  und  A.  Lieberf.      Nr.  54 


Kants  Lebensanschauung 

in  ihren  Qrundzügen 


von 


Albert  Qoedecl<emeyer 

o.  ö.  Professor  an  der  Universität  Königsberg 


Motto:  Was  nutzt  Philosophie,  wenn  sie  nicht  die 
Mittel  des  Unterrichts  der  Menschen  auf  ihr  wahres 
Bestes  lenkt.  Kant. 


Berlin 

Verlag  von  Reuther  &  Reichard 
1921 


Alle  Rechte  vorbehalten. 


Druck  von  H.  L  a  u  p  p  jr  in  Tübingen. 


III 


Inhalt. 

Seite 

I.  Die  Bestimmung  des  Menschen. 

1.  Der  methodische  Standpunkt i 

2.  Das  Wesen  des  Menschen 6 

3.  Das  Weltbeste 29 

II.  Die  besonderen  sittlichen  Aufgaben. 

1.  Eigene  Vollkommenheit 35 

2.  Fremde  Glückseligkeit 53 

III.  Die  Realisierbarkeit  des  Weltbesten. 

1.  Ihre  Bedeutung  für  die  sittlichen  Aufgaben 56 

2.  Die  Realisierbarkeit  als   Glaubenssache        57 

3.  Die  Postulate  der  moralisch-praktischen   Vernunft 59 

IV.  Die  Realisierung  des  Weltbesten. 

1.  Der  Fortschritt  der  Menschheit 64 

2.  Die  Realisierung  der   Sittlichkeit 69 

3.  Die  Realisierung  der   Glückseligkeit 89 


IV 


Vorbemerkung. 

Es  steht  fest,  daß  die  theoretischen  Untersuchungen  für  Kant 
nicht  Selbstzweck  gewesen  sind,  sondern  im  Dienste  einer  Lebens- 
philosophie gestanden  haben.  Sie  zielen  in  letzter  Linie  alle  auf 
die  Beantwortung  der  Frage  nach  der  richtigen  Lebensführung  hin. 
Kants  Philosophie  ist  in  ihrem  tiefsten  Grunde  Weisheitslehre 
gewesen  »in  der  Bedeutung,  wie  die  Alten  das  Wort  verstanden, 
bei  denen  sie  eine  Anweisung  zu  dem  Begriffe  war,  worin  das  höchste 
Gut  zu  setzen,  und  zum  Verhalten,  durch  welches  es  zu  erwerben 
sei«^).  Ihr  eigentlichstes  Problem  ist  daher  kein  anderes  als  das, 
was  von  verschwindenden  Ausnahmen  abgesehen  immer  im 
Brennpunkte  philosophischen  Interesses  gestanden  hat,  seitdem 
ihm  durch  den  epochemachenden  Kampf  der  griechischen  Sophistik 
gegen  die  Naturphilosophie  diese  zentrale  Stellung  zuteil  geworden 
ist.  »Die  größte  Angelegenheit  des  Menschen  ist,  zu  wissen,  wie 
er  seine  Stellung  in  der  Schöpfung  gehörig  erfülle  uud  recht  ver- 
stehe, was  man  sein  muß,  um  ein  Mensch  zu  sein«^).  Die  Frage 
nach  des  Menschen  Bestimmung  und  der  Art,  in  der  er  ihr  gerecht 
zu  werden  vermag,  ist  für  Kant  das  wichtigste. 

i)   Kritik  der  praktischen  Vernunft  S.  130/31  R. 

2)   WW.  VIII  S.  623  Hart.    Vgl.  Logik  S.  25  Jäsche. 


I.  Die  Bestimmung  des  Menschen. 

I.  Der  methodische  Standpunkt. 

Wer  von  einer  Bestimmung  des  Menschen  spricht,  muß  sich 
darüber  klar  sein,  ob  eine  solche  Redeweise  überhaupt  und  unter 
welchen  Voraussetzungen  sie  berechtigt  ist.  Kant  hat  sich  dieser 
Aufgabe  nicht  entzogen.    Folgendes  ist  die  Lösung,  die  er  gibt. 

Solange,  heißt  es  bei  ihm,  kann  von  einer  Bestimmung  des 
Menschen  keine  Rede  sein,  als  man  sich  mit  einer  rein  mechani- 
schen Erklärung  der  Welt  und  aller  Dinge  in  ihr  begnügt  und 
zugleich  auf  ihr  besteht.  Das  zu  tun  ist  aber  wegen  der  Bedeutung 
der  mechanischen  Erklärung  für  die  Einsicht  in  die  Natur  der 
Dinge  durchaus  begreiflich.  Denn  man  sieht  nur  soviel  voll- 
ständig ein,  als  man  aus  einem  klar  und  deutlich  erkannten  Prinzip 
abzuleiten  vermag  und  darum  nach  bekannten  Gesetzen  auch 
selbst  machen  und  zustandebringen  kann.  Deshalb  ist  die  Natur- 
wissenschaft bestrebt,  an  den  Prinzipien  festzuhalten,  die  es 
ihr  ermöglichen,  ihre  Objekte  selbst  —  auf  dem  Wege  des  Ex- 
periments —  hervorzubringen.  Das  aber  sind  nicht  selbsterdachte 
Kräfte  und  keiner  Belege  fähige  Gesetze,  sondern  Grundsätze, 
deren  Gegenstand  in  einer  möglichen  Erfahrung  gegeben  werden 
kann,  die  sich  also  empirisch  bestätigen  lassen,  d.  h,  die  Prin- 
zipien des  Mechanismus  als  der  Verbindung  der  Materie  nach 
ihren  eigenen  Kräften,  der  Anziehung  und  Abstoßung,  und  ihrem 
eigenen  Vermögen,  dem  Bewegungsvermögen.  Aus  Gründen  der 
einsichtigen  Erkenntnis  also  hat  die  Vernunft  das  größte  Interesse 
daran,  alle  Naturerscheinungen  auf  die  bloßen  Bewegungsgesetze 
der  Materie  zurückzuführen  und  am  Mechanismus  festzuhalten. 
Täte  sie  das  nicht,  so  würde  es  überhaupt  keine  Natur  erkennt- 
n  i  s  mehr  geben;  eine  »faule  Philosophie«  oder  bloße  »Träumerei« 
würde  an  ihre  Stelle  treten,  die  keine  Naturphilosophie  mehr  wäre, 

Goedeckemeyer,  Kants  Lebensanschauung.  I 


2  Die  Bestimmung  des  Menschen. 

sondern  das  Geständnis,  daß  man  mit  seiner  Philosophie  zu 
Ende  sei  i). 

Eben  deshalb  ist  es  für  die  Naturwissenschaft  auch  ganz  un- 
möglich, von  einer  Bestimmung  des  Menschen  zu  sprechen.  Der 
Gedanke  der  Bestimmung  setzt  den  Begriff  eines  Zweckes  voraus 
und  weist  damit  auf  eine  Kausalverbindung  hin,  die  in  der  Natur- 
wissenschaft keine  Stelle  haben  kann.  Denn  der  Begriff  des 
Zweckes  ist  ein  reiner  Vernunftbegriff  oder  eine  Idee,  ist  m.  a.  W. 
ein  Begriff,  für  den  die  Erfahrung,  auf  die  sich  die  Naturwissen- 
schaft immer  stützen  muß,  ein  adäquates  Beispiel  nicht  an  die 
Hand  gibt.  Er  kann  in  der  Naturwissenschaft  nur  als  ein  »Fremd- 
ling« angesehen  werden,  die  Kausalverbindung  der  Endursachen 
hat  in  ihr  nichts  zu  suchen. 

Läßt  sich  aber  nur  dann  von  einer  Bestimmung  des  Menschen 
reden,  wenn  man  den  Zweckbegriff  voraussetzt,  so  erhebt  sich 
die  Frage,  ob  man  allem  Interesse  der  Naturwissenschaft  zum 
Trotz  Grund  hat,  sich  seiner  zu  bedienen,  und  vor  allem,  ihn 
auf  den  Menschen  anzuwenden.  Wobei  es  sich  nach  allem  schon 
Gesagten  natürlich  von  selbst  versteht ,  daß  die  Anwendung 
eines  solchen  teleologischen  Prinzips  immer  nur  den  Wert  einer 
bloß  subjektiven,  d.  h.  einer  nur  für  uns  Menschen  gültigen  Be- 
trachtungsweise haben  kann.  Sie  würde  m.  a.  W.  nicht  sagen 
wollen,  daß  das  teleologisch  interpretierte  Objekt  durch  eine 
zwecktätige  Ursache  wirklich  zustande  gekommen  sei,  sondern 
nur,  daß  wir  es  so  beurteilen  müssen,  als  ob  es  auf  diese  Weise 
entstanden  wäre. 

Daß  nun  Gründe  zur  Anwendung  des  Zweckprinzips  vorhan- 
den sind,  ist  Kants  Ueberzeugung.  Freilich  ist  er  ein  entschie- 
dener Anhänger  des  Grundsatzes,  daß  man  die  Prinzipien  der 
Erkenntnis  nicht  ohne  Not  vermehren  soll.  Er  betont  mit  aller 
Schärfe,  daß  man  im  Interesse  der  Naturwissenschaft  soweit  wie 
irgend  möglich  an  der  mechanischen  Erklärungsart  festzuhalten 
und  ihr  auch  im  Fortgange  einer  Untersuchung  stets  das  »Recht 
des  Vortritts«  vor  aller  teleologischen  Betrachtung  zu  sichern  habe. 
Aber  schließlich  ist  es,  wie  er  meint  2),  doch 
das  Ziel  der  Philosophie,  sich  alles  in  der 
Welt    durch    Vernunft   begreiflich    zu    machen 


i)   Vgl.   Krit.   d.   pr    Vern.    S.    i66  R. ;    Kritik   der  Urteilskraft   S.  308  R. 
WW.  II  331;  VIII  137  Ak.-Ausg 

2)   Vgl.   WW.   VIII   S.    169  Ak.-Ausg. 


Der  methodische  Standpunkt.  o 

und  darüber  wenigstens  so  weit  zu  urteilen, 
als  es  uns  nach  unserer  eigenen  Natur,  d.h. 
nach  den  Bedingungen  und  Schranken  un- 
serer Vernunft  möglich  ist.  Darum  muß  man  dem 
Menschen  die  »Befugnis«  zugestehen,  sich  dort  des  teleologischen 
Prinzips  zu  bedienen,  wo  theoretische  Erkenntnisquellen  nicht  zu- 
langen. Man  erhält  dadurch  »doch  wenigstens  ein  Prinzip  mehr«  ^), 
die  Erscheinungen  der  Natur  unter  Regeln  zu  bringen,  also  eine 
weitere  Möglichkeit,  Nachforschungen  über  sie  anzustellen  und 
sie  sich  auch  in  dem  Falle  wenigstens  begreiflich  zu  machen,  daß 
die  mechanische  Erklärung  nicht  ausreicht. 

Dieser  Fall  liegt  nun  nach  Kants  Ueberzeugung  in  den  Or- 
ganismen wirklich  vor.  Jedermann  weiß,  daß  der  Philosoph  die 
der  Erfahrung  auch  heute  noch  allein  entsprechende  Ansicht  ver- 
treten hat,  daß  der  bloße  Mechanismus  der  Natur  die  Entstehung 
organisierter  Wesen  nicht  erklären  kann.  Einen  Organismus,  so 
führt  er  aus  ^) ,  müssen  wir  uns  notwendig  als  Natur  zweck  vor- 
stellen, d.  h.  als  ein  materielles  Ding,  dessen  Teile  ihrem  Dasein 
und  ihrer  Verbindung  nach  nicht  nur  die  Idee  eines  Ganzen  voraus- 
setzen —  das  gilt  auch  vom  Kunstwerke  als  dem  Produkte  einer 
von  den  Teilen  desselben  verschiedenen  vernünftigen  Ursache  — , 
sondern  sich  auch  nur  dadurch  zu  einer  Einheit  verbinden,  daß 
sie  sich  ihrem  Zusammensein  nach  insgesamt  wechselseitig  be- 
stimmen und  so  aus  eigener  Kausalität  ein  Ganzes  hervor- 
bringen. Und  er  hat  diese  Ansicht  mit  solcher  —  vielleicht  zu  weit- 
gehender —  Schärfe  vertreten,  daß  er  erklärt:  man  könne  dreist 
sagen,  es  sei  für  Menschen  ungereimt,  auch  nur  den  A  n- 
schlag  einer  mechanischen  Erklärung  der  Organismen  zu 
fassen  oder  zu  hoffen,  daß  noch  etwa  dereinst  ein  Newton  auf- 
stehen könne,  der  auch  nur  die  Erzeugung  eines  Grashalms  nach 
Naturgesetzen,  die  keine  Absicht  geordnet  hat,  begreiflich  machen 
werde.  Hier  also  ist  nach  Kants  Ueberzeugung  die  mechanische 
Erklärungsart  für  den  Menschen  endgültig  an  ihrer  Grenze  ange- 
langt. Will  er  daher  die  Organismen  überhaupt  zu  verstehen 
suchen,  will  er  sie  m.  a.  W.  überhaupt  als  Fälle  einer  allgemeinen 
Regel  subsumieren,  so  bleibt  ihm  nichts  anderes  übrig  als  sie  so 
aufzufassen,  a  1  s  o  b  die  Natur  sie  nach  Zwecken  hervorgebracht 
hätte. 


1)  Krit.  d.   Urteilskraft  S.   238  R. 

2)  Krit.   d.   Urteilskraft  §  64  ff. 

I* 


4  Die  Bestimmung  des  Menschen. 

Aber  diese  Betrachtungsweise,  mit  der  der  auf  Verstehen 
bedachte  Mensch  den  Organismen  gegenübertritt  und  gegenüber- 
treten muß,  führt  einmal  zugelassen  mit  Notwendigkeit  weiter. 
Sie  führt  zur  Auffassung  der  ganzen  Natur  als  eines  Systems 
von  Zwecken.  Gewiß  sind  wir  berechtigt,  ja  genötigt,  in  der 
Naturwissenschaft  die  teleologische  Beurteilungsart  auf  die  Or- 
ganismen anzuwenden,  ohne  die  Frage  aufzuwerfen,  w  i  e 
sich  die  Zwecktätigkeit  der  Natur  hinsichtlich  der  Organismen 
denken  lasse.  Aber  vom  Standpunkte  der  mechanischen  Natur- 
gesetze aus  sind  die  Organismen  etwas  Zufälliges,  und  die  Vernunft, 
die  überall  darauf  ausgeht,  nach  Grundsätzen  zu  urteilen, 
strebt  danach,  auch  für  dieses  Zufällige  einen  Grund  zu  finden; 
und  darum  wird  sich  jene  Frage  am  Ende  doch  nicht  umgehen 
lassen. 

Nun  sieht  Kant  freilich  sehr  wohl  ein,  daß  dieses  ganze  Streben 
der  Vernunft  lediglich  auf  ihrem  subjektiven  Bedürfnis  nach  Be- 
friedigung beruht.  Er  fügt  sogar  hinzu,  daß  dieses  Bedürfnis  für 
die  theoretische  Vernunft  keineswegs  unbedingt  gilt,  es  vielmehr 
in  letzter  Linie  vom  Wollen  des  einzelnen  abhängt,  ob  er  ihm 
nachgibt  oder  nicht  ^).  Statt  sich  nun  aber  hier  zu  beschränken 
und  damit  einer  positivistischen  Philosophie  und  einem  positivisti- 
schen Idealismus  Raum  zu  schaffen,  entscheidet  er  sich  aus  Grün- 
den der  praktischen  Vernunft,  in  letzter  Linie  also  aus  Motiven, 
die  nur  aus  seiner  stark  pietistisch  gefärbten  Erziehung  begreiflich 
werden,  dafür,  diesem  Bedürfnis  ein  Recht  zuzuerkennen. 

Tritt  man  ihm  hierin  bei,  so  kann  ein  die  Vernunft  befriedigen- 
der Grund  für  die  Zweckmäßigkeit  der  Organismen  nicht  etwa  in 
einer  zwar  zweckmäßig,  aber  doch  ohne  Absicht  wirkenden  Natur- 
kraft gefunden  werden,  sondern  nur  in  einem  über  die  Natur 
hinausliegenden  Verstände.  Denn  die  einzige,  uns  durch  Erfahrung 
bekannte  Grundkraft,  die  nach  Zwecken  wirkt,  ist  die  Ver- 
nunft. Wir  haben  aber,  sagt  Kant  ^)  und  spricht  damit  das  Urteil 
über  den  ganzen  sog.  Vitalismus,  nicht  das  geringste  Recht,  un- 
abhängig von  der  Erfahrung  irgendeine  neue  Grundkraft  zu  er- 
denken. Ein  solches  Operieren  mit  erdichteten  Prinzipien  würde 
der  Vernunft  die  Möglichkeit  geben ,  alles ,  was  sie  will  und 
wie  sie  will,  zu  erklären,  und  würde  sie  verleiten,  dichterisch  zu 
schwärmen,   d.   h.   grundsätzlich  ihre   Grenzen  zu  überschreiten, 

1)  Vgl.   Krit.  d.   Urteilskraft  S.   330  R.;  WW.   VIII   S.    139  Ak.-Ausg. 

2)  Krit.  d.   Urteilskraft   S.   284/5  R. 


Der  methodische   Standpunkt.  "  c 

»welches  zu  verhüten  eben  ihre  vorzüglichste  Bestimmung  ist«^). 
Als  ein  für  uns  verständlicher  Grund  der  Zweckmäßigkeit  der 
Organismen  kann  daher  nur  ein  architektonischer  Verstand  in 
Betracht  kommen. 

Soll  aber  von  dessen  Tätigkeit  die  Struktur  der  Organis- 
men abhängen,  so  muß  er  auch  für  ihre  Materie  und  deren  mecha- 
nische Wirksamkeit  bestimmend  sein.  Teleologie  und  Mechanis- 
mus der  Naturzwecke  müssen  in  einem  einzigen  obersten  Prinzip 
miteinander  zusammenhängen,  weil  nur  so  die  Anwendung  bei- 
der auf  die  Organismen  begreiflich  wird,  die  einerseits  materielle 
Dinge  sind  und  andererseits  allein  teleologisch  verstanden  werden 
können.  Da  es  aber,  wenigstens  für  uns,  unmöglich  ist,  beide 
Arten  der  Kausalität  als  identisch  anzusehen,  so  ist  ihr  Zusammen- 
hang nur  in  der  Form  der  Unterordnung  denkbar.  Und  hier  kann 
es  nach  Kant  keinem  Zweifel  unterliegen,  daß  der  Mechanismus  dem 
teleologischen  Prinzipe  unterzuordnen  ist.  Dort,  wo  es  nötig  ist, 
Zwecke  als  Gründe  für  die  Möglichkeit  gewisser  Dinge  anzunehmen, 
müssen  auch  Mittel  vorausgesetzt  werden,  die  diesen  Zwecken 
dienen  können.  Nichts  aber  steht  dem  im  Wege,  deren  Gesetz- 
mäßigkeit als  eine  rein  mechanische  aufzufassen. 

Hängen  aber  Mechanismus  und  Teleologie  von  einem  einzigen 
Prinzip  ab,  soweit  es  sich  um  Organismen  handelt,  so  ergibt  sich 
angesichts  des  Umstandes,  daß  dieses  Prinzip  als  im  Gebiete  des 
Uebersinnlichen  gelegen  unserer  Erkenntnis  entzogen  ist,  wir  in 
ihm  also  nur  den  unbestimmten  Grund  für  die  Beur- 
teilung der  Natur  sehen  können,  die  Möglichkeit,  aus  der  Einheit 
des  Prinzips  der  mechanischen  und  teleologischen  Kausalität  in 
bestimmten  Fällen  zu  folgern,  daß  auch  die  Produkte  der 
Natur  ihm  unterstehen,  die  eine  teleologische  Beurteilung  an  sich 
nicht  nötig  machen,  und  anzunehmen,  daß  auch  sie  zu  einem 
System  der  Zwecke  gehören.  Es  ergibt  sich  m.  a.  W.  die  Möglich- 
keit, daß  die  Natur  durchgängig  von  beiden  Arten  der 
Kausalität  bestimmt  wird.  Und  dieser  wenigstens  als  Hypothese 
erlaubten  Annahme  wird  man  nach  Kants  Meinung  um  so  eher 
nachgeben,  als  man  dazu  nicht  nur  durch  die  unendliche  Menge 
der  organischen  Produkte  geradezu  veranlaßt  wird,  sondern  mit 
ihr  auch  ein  heuristisches  Prinzip  zur  Auffindung  von  besonderen 
Gesetzen  der  Natur  in  die  Hand  bekommt,  die  uns  sonst  verborgen 
bleiben  würden.    So  ist  man  in  seinen  Augen  durch  das  Beispiel, 

i)   a.  a.  O.  S.  299. 


5  Die  Bestimmung  des  Menschen. 

das  die  Natur  an  ihren  organischen  Produkten  gibt,  nicht  nur 
berechtigt,  sondern  sogar  berufen,  die  Welt  so  aufzufassen,  als 
ob  sie  das  Werk  eines  Verstandes  wäre,  in  dem  jedes  Ding  auf 
das  beste  eingerichtet  und  nichts  umsonst,  sondern  alles  irgend- 
wozu  gut  ist.  Damit  ist  dann  aber  das  Recht  erwiesen,  auch 
von  einer  Bestimmung  des  Menschen  zu  sprechen.  — 


2.  Das  Wesen  des  Menschen. 

Will  man  wissen,  worin  des  Menschen  Bestimmung  besteht, 
so  kann  darüber  nach  Kants  Erklärungen  nur  eine  Untersuchung 
über  sein  von  dem  Weltprinzip  gesetztes  Wesen  oder  über  seinen 
Charakter  Auskunft  geben.  Dabei  versteht  Kant  unter  Charakter 
dasjenige  am  Menschen,  wodurch  ihm  im  System  der  lebenden 
Natur  seine  Klasse  angewiesen  wird. 

Diese  Untersuchung  zeigt  den  Menschen  zunächst  als  ein 
tierisches  Wesen,  das  wie  alle  Tiere  die  Materie,  aus  der  es  ent- 
stand, dem  Planeten  verdankt,  auf  dem  es  lebt,  und  das  gewissen 
sinnlich  bedingten,  d.  h.  von  der  Einwirkung  äußerer  Gegenstände 
abhängigen  und  rein  mechanisch  wirkenden  Antrieben  unterliegt, 
die  auf  die  Erhaltung  seiner  selbst,  die  Erhaltung  der  Art  und  die 
Erhaltung  seines  Vermögens  zum  angenehmen,  aber  doch  nur 
tierischen  Lebensgenuß  gehen.  M.  a.  W.:  sie  zeigt  den  Menschen 
als  »eine  von  den  Erscheinungen  der  Sinnenwelt«  ^),  als  welche 
er  auch  der  rein  mechanischen  Kausalität  untersteht,  die  in  dieser 
Welt  herrscht. 

Aber  er  ist  doch  nicht  lediglich  eine  solche  »lebende 
Maschine«.  Denn  nach  Kants  nur  vom  Boden  einer  unbewußten 
petitio  principii  aus  möglichen  Behauptung  muß  nicht  nur  der 
nachdenkende  Mensch  urteilen,  sondern  nimmt  vermutlich  auch 
schon  der  gemeinste  Verstand  ohne  weiteres  an,  daß  wie  hinter 
jeder  Erscheinung,  so  auch  hinter  dem  Menschen  noch  etwas 
anderes  vorhanden  sein  wird,  das  nicht  Erscheinung  ist  2).  Wäh- 
rend wir  nun  aber  bei  allen  übrigen  Dingen  nichts  davon  wissen 
können,  was  sie  an  sich  sind,  steht  es  mit  dem  Menschen  anders. 
Sich  selbst  erkennt  er  nicht  wie  die  ganze  übrige  Natur  lediglich 
durch  Sinne,  sondern  auch  unmittelbar,  durch  reine  Apperzeption. 

i)    Kritik  d.   reinen   Vern.    S.   437   R. 

2)    Vgl.   Grundl.  zur  Met.  d.   Sitten   S.  91   R. 


Das  Wesen  des  Menschen.  ^ 

Durch  sie,  die  Kant  als  intellektuelle  innere  Anschauung  aus- 
drücklich vom  inneren  Sinn  unterscheidet  ^),  wird  sich  der  Mensch 
gewisser  Gemütshandlungen  bewußt,  die  gänzlich  spontan  sind 
und  daher  von  aller  Affizierung  durch  sinnliche  Eindrücke  unab- 
hängig sein  müssen  und  gar  nicht  als  zur  Sinnlichkeit  gehörig 
angesehen  werden  können.  Man  wird  diese  Behauptung  bei  der 
ablehnenden  Haltung,  die  Kant  sonst  der  intellektuellen  An- 
schauung gegenüber  einnimmt,  gewiß  erstaunlich  finden,  darf 
aber  bei  ihrer  Beurteilung  doch  nicht  außer  acht  lassen,  daß  sie 
sich  in  diesem  Falle  nicht  auf  materiale  Inhalte,  sondern  auf 
Formen,  nicht  auf  Gegenstände,  sondern  auf  Funktionen  bezieht, 
und  muß  sich  außerdem  vor  Augen  halten,  daß  es  für  Kant  gar 
keinen  anderen  Weg  gab,  um  den  Menschen  aus  der  Bedingtheit 
der  sinnlichen  Welt  herauszuheben  und  ihm  die  Stellung  zu  ver- 
schaffen, die  er  ihm  von  Anfang  an  verschaffen  wollte.  Zu  diesen 
reinen  Tätigkeiten  aber,  deren  sich  der  Mensch  so  unmittelbar 
bewußt  wird,  gehören  die  reinen  Funktionen  des  Verstandes  und 
der  Vernunft.  Sie  sind  keine  Vorstellungen,  die  nur  entspringen, 
wenn  man  von  Dingen  affiziert  ist,  sondern  etwas  ganz  aus  der 
eigenen  Tätigkeit  dieser  Vermögen  Erzeugtes,  Handlungen,  die 
gar  nicht  zur  Rezeptivität  der  Sinnlichkeit  gezählt  werden  können. 
Während  wir  daher  bei  der  ganzen  leblosen  oder  bloß  tierisch- 
belebten Natur  keinen  Grund  finden,  uns  irgendein  Vermögen 
anders  als  sinnlich  bedingt  zu  denken,  sehen  wir  ein,  daß  beim 
Menschen  etwas  vorliegt,  was  einen  ganz  anderen  Charakter  trägt 
und  ihn  von  allen  Tieren  fundamental  unterscheidet.  Der  Mensch 
ist  nicht  nur  ein  tierisches  Geschöpf  und  als  solches  ein  sinnliches 
Wesen,  sondern  zugleich  —  und  auf  Erden  allein  —  eine  Intelligenz. 
Er  ist  ein  niit  Vernunftfähigkeit  begabtes  Tier. 

Ist  aber  der  Verstand  als  das  Vermögen  zu  denken,  sich 
etwas  durch  selbstgemachte  Begriffe  oder  Regeln  vorzustellen,  so 
wird,  wer  ihn  besitzt,  nicht  mehr  allein  auf  die  ihm  durch  die 
Sinne  gegebenen  Einzelheiten  angewiesen,  sondern  imstande  sein, 
nach  allgemeinen  Regeln  und  in  letzter  Linie  nach  Grundsätzen 
zu  urteilen  und,  da  ihm  dieses  Vermögen  zugleich  als  praktisches 
zugeteilt  ist,  d.  h.  als  ein  solches,  das  Einfluß  auf  den  Willen 
haben  soll,  auch  nach  Grundsätzen  zu  handeln.  Der  Mensch  ist 
also  schon  als  Naturwesen  dadurch  in  charakteristischer  Weise 
von  allen  Tieren  unterschieden,  daß  er  kraft  seiner  Vernunft  die 

i)  WW.  VII  S.   142,  161  Ak.-Ausg. 


g  Die  Bestimmung  des  Menschen. 

Fähigkeit  besitzt,  sich  über  das,  was  seine  Sinne  unmittelbar  affi- 
ziert ,  zu  erheben  und  sich  Vorstellungen  oder  Ideen  von  dem 
zu  machen ,  was  ihm  in  Ansehung  seines  ganzen  Zustandes 
nützlich  ist,  und  demnach  sein  Handeln  einzurichten.  Er  ist 
m.  a.  W.  das  einzige  Wesen  auf  Erden ,  das  das  Vermögen  hat, 
»sich  selbst  willkürlich  Zwecke  zu  setzen«  i). 

Aber  wenn  sich  der  Mensch  auch  durch  diesen  Besitz  der 
Zwecke  setzenden  Vernunft  vom  Tiere  unterscheidet,  so  würde 
das  doch  nicht  von  großer  Bedeutung  sein,  wenn  die  Natur  ihm 
dieses  Vermögen  in  letzter  Linie  zu  nichts  anderem  gegeben  hätte, 
als  dazu,  seine  eigene  Glückseligkeit  zu  bewirken.  Dann 
wäre  es  nur  eine  besondere  Manier,  deren  sie  sich  bedient  hätte, 
um  ihn  für  denselben  Zweck  auszurüsten,  für  den  sie  die  Tiere 
bestimmt  hat.  Es  würde  den  Menschen  also  wohl  von  der  Tier- 
heit  unterscheiden,  aber  nicht  über  sie  erheben. 
»Denn  im  Werte  über  die  Tierheit  erhebt  ihn  das  gar  nicht,  daß 
er  Vernunft  hat,  wenn  sie  ihm  nur  zum  Behuf  desjenigen  dienen 
soll,  was  bei  den  Tieren  der  Instinkt  verrichtet«  2). 

Nun  ist  allerdings  nicht  zu  bestreiten,  daß  die  Vernunft  auch 
den  Zweck  hat ,  die  individuelle  Glückseligkeit  des  einzelnen 
zu  besorgen.  Denn  sofern  der  Mensch  nicht  ein  nur  vernünftiges, 
sondern  zugleich  physisches,  Neigungen  unterworfenes  und  von 
ihnen  abhängiges  Wesen  ist,  kann  er  sich  des  Strebens  nach  Glück- 
seligkeit gar  nicht  entschlagen.  Als  Zustand  eines  vernünftigen 
Wesens  in  der  Welt,  dem  im  Ganzen  seiner  Existenz  alles  nach 
Wunsch  und  Willen  geht ,  ist  sie  das  natürliche  Objekt 
des  Verlangens  für  jedes  vernünftige,  aber  endliche  Wesen,  das 
wegen  seiner  Endlichkeit  von  Gegenständen  der  Sinnlichkeit  ab- 
hängt und  ihrer  bedürftig  ist.  Darum  kann  es  dem  Menschen, 
solange  er  existiert ,  gar  nicht  zugemutet  werden ,  auf  diesen 
für  ihn  als  natürliches  Wesen  völlig  unvermeidlichen  und  un- 
widerstehlichen Zweck  gänzlich  Verzicht  zu  leisten.  Die  Ver- 
nunft hat  durchaus  den  »nicht  abzulehnenden  Auftrag«^),  sich 
um  das  Interesse  der  sinnlichen  Natur  des  Menschen  zu  kümmern 
und  durch  Auswahl  teils  ihrer  Bestandstücke,  teüs  der  zu  ihr 
führenden  Mittel  auch  seine   eigene    Glückseligkeit  zu  fördern. 

Aber  soll  sich  der  Mensch  über  das  Tier    erheben,    so 


1)  Kritik  d.   Urteilskraft  S.   323   R. 

2)  Krit.  d.  prakt.   Vern.   S.   74  R. 

3)  Kritik  der  prakt.   Vern.   S.   74  R. 


Das  "Wesen  des  Menschen.  g 

kann  das  nicht  ihr  ganzer  Zweck  sein.  Und  die  Erinnerung  an 
die  teleologische  Naturbetrachtung  hilft  Kant  hier  weiter.  Ihr 
gemäß  muß  es  bei  allen  organisierten  Wesen  als  Grundsatz  an- 
genommen werden,  »daß  kein  Werkzeug  zu  irgendeinem  Zwecke 
in  demselben  angetroffen  werde,  als  was  auch  zu  demselben  das 
schicklichste  und  ihm  am  meisten  angemessen  ist«^).  Von 
dieser  Voraussetzung  aus  kann  aber  die  Vernunft  als  praktisches 
Vermögen  nicht  dazu  bestimmt  sein,  den  Willen  nur  so  zu  leiten, 
daß  er  zu  einem  guten  Mittel  der  Befriedigung  unserer  Bedürf- 
nisse als  physischer  Wesen  oder  der  Erreichung  individueller 
oder  auch  allgemeiner  Glückseligkeit  wird.  Denn  Glückseligkeit 
ist  die  Befriedigung  aller  unserer  Neigungen,  sowohl  der  Mannig- 
faltigkeit als  auch  dem  Grade  und  der  Dauer  nach.  Und  so  sehr 
sich  der  Mensch  auch  überhaupt  nach  ihr  sehnt,  so  sehr  die  Glück- 
seligkeit »eine  Absicht  ist,  die  man  sicher  und  a  priori  bei  jedem 
Menschen  voraussetzen  kann  «2),  so  macht  es  ihm  die  Beschränkt- 
heit seiner  Vernunft  doch  unmöglich,  bestimmt  und  ohne  sich 
zu  widersprechen  anzugeben,  was  er  denn  eigentlich  will  und 
was  ihn  wahrhaft  und  dauernd  glücklich  machen  würde.  Denn 
einmal  müssen  die  Elemente  der  Glückseligkeit,  die  als  ein  Ideal 
nicht  der  Vernunft,  sondern  der  Einbildungskraft  ganz  auf  em- 
pirischen Prinzipien  ruht,  sämtlich  aus  der  Erfahrung  entlehnt 
werden,  die  allein  darüber  orientieren  kann,  welche  Neigungen 
da  sind  und  welche  Naturursachen  zu  ihrer  Befriedigung  dienen 
können,  und  zudem  involviert  die  Idee  der  Glückseligkeit  als 
eines  absoluten  Ganzen  ein  Maximum  des  Wohlbefindens  im 
gegenwärtigen  und  jedem  zukünftigen  Zustande.  Der  Mensch 
müßte  also  Allwissenheit  besitzen,  um  jene  Frage  zu  beantworten. 
Und  um  so  mehr,  wenn  es  sich  nicht  nur  um  seine  eigene,  sondern 
um  die  Glückseligkeit  aller  handelt,  deren  Verschiedenheit  in 
ihrem  Urteil  über  das,  was  sie  begehren,  nahezu  unendlich  ist. 
Unmöglich  also  kann  ihm  die  Vernunft  das  Ziel  in  ausreichender 
Bestimmtheit  zeigen.  Dann  aber  ist  sie  auch  nicht  imstande, 
die  Mittel  anzugeben,  mit  denen  es  sein  Wille  erreichen  könnte. 
Hätte  also  die  Natur  dem  Menschen  die  Vernunft  nur  zum  Zwecke 
der  Glückseligkeit  gegeben,  so  würde  sie  ihre  Veranstaltung  dazu 
sehr  schlecht  getroffen  haben.  Und  um  so  schlechter,  als  selbst 
dann  noch  nichts  gebessert  sein  würde,  wenn  das  erörterte  Be- 


i)    Grundlegung  zur  M. 
2)  a.  a.  O.   S.  49  R. 


d.   S.   S.  23  R. 


jO  I^iß  Bestimmung  des  Menschen. 

denken  nicht  bestünde.  Denn  das,  was  der  Mensch  unter  Glück- 
seligkeit versteht,  kann  er  auf  Erden  doch  nie  erringen.  Ganz 
einfach  deshalb  nicht,  weil  seine  Natur  als  die  eines  nicht  bloß 
sinnlichen,  sondern  auch  intelligiblen  Wesens  nicht  von  der  Art 
ist,  »irgendwo  im  Besitze  und  Genüsse  aufzuhören  und  befriedigt 
zu  werden«  ^). 

Hat  er  daher  Vernunft  und  kann  deren  Aufgabe  nicht  darin 
bestehen,  seinen  Willen  zu  einem  guten  Mittel  für  die  Glück- 
seligkeit und  damit,  da  im  Begriffe  der  Glückseligkeit  alle  mög- 
lichen materialen  Zwecke  des  Menschen  zusammengefaßt 
sind,  auch  nicht  darin,  ihn  überhaupt  für  irgend  etwas  anderes 
gut  zu  machen,  so  bleibt  nichts  übrig,  als  ihre  eigentliche  Be- 
stimmung darin  zu  sehen,  daß  sie  einen  ohne  weitere  Absicht 
schon  für  sich  selbst  guten  Willen  hervorzubringen  hat. 
So  macht  sich  Kant  vom  reinen  Eudämonismus  los  und  gewinnt 
die  fundamentale  These  seiner  Lebensphilosophie. 

Inwiefern  sich  aber  der  Mensch  durch  diese  seiner  Vernunft 
gestellte  neue  Aufgabe  über  das  Tier  erhebt,  kann  erst  eine  ge- 
naue Bestimmung  dieses  guten  Willens  und  seiner  Voraussetzungen 
zeigen. 

Was  dabei  zunächst  das  erste  angeht,  so  ist  leicht  ersicht- 
lich, daß  der  schon  an  und  für  sich  gute  Wille  nur  ein  solcher 
sein  wird,  dessen  Maxime  zugleich  und  ohne  mit  sich  selbst  in 
Widerspruch  zu  geraten,  ein  allgemeines  Gesetz  sein  kann.  Denn 
für  die  Güte  des  Willens  kann  niemals  der  Erfolg,  sondern  immer 
nur  die  Gesinnung  in  Betracht  kommen,  weil  dadurch,  daß  ein 
guter  Wille,  aber  auch  wirklich  als  guter,  alles  aufbietender  Wille 
und  nicht  als  bloßer  Wunsch,  aus  irgendwelchen  äußeren  Gründen, 
sein  Ziel  nicht  erreicht,  seine  Güte  in  keiner  Weise  berührt  wird. 
Durch  den  Ausschluß  der  Glückseligkeit  als  sein  letztes  Ziel 
sind  aber  auch  alle  materialen  Antriebe  als  Prinzipien 
seiner  Güte  aufgehoben.  Also  bleibt  nur  ein  formales  Prinzip 
übrig:  die  bloße  Form  einer  allgemeinen  Gesetzgebung.  Der 
Wille  also  wird  unbedingt  gut  sein,  der  es  sich  zur  Regel  macht, 
niemals  anders  zu  handeln  als  so,  daß  seine  Maxime  jederzeit 
zugleich  Prinzip  einer  allgemeinen  Gesetzgebung  sein  kann. 

Ist  aber  das  »die  Formel  eines  schlechterdings  guten  Willens«  ^), 
so  liegt  auf  der  Hand,  daß  ein  solcher  Wille  im  Menschen  nur 

i)   Kritik  d.   Urteilskraft  S.   322   R. 
2)    Grundlegung  zur  M.  d.  S.  S.  75  R. 


Das  Wesen  des  Menschen.  II 

unter  zwei  Voraussetzungen  vorhanden  sein  kann.  Einmal  muß 
sich  der  Mensch  jener  Regel  oder,  was  auf  dasselbe  hinauskommt, 
des  Prinzips  aller  Sittlichkeit  bewußt  sein  und  sich  ihm  unter- 
worfen fühlen,  und  außerdem  muß  er  die  Fähigkeit  besitzen, 
sich   ihm  zu  fügen. 

Ueber  die  erste  Voraussetzung  äußert  sich  Kant  unter  Be- 
rufung auf  den  gesunden  Menschenverstand,  dessen  Benutzung 
im  Praktischen  und  außerhalb  der  Metaphysik  er  auf  Grund 
der  faktischen  Leistungen  desselben  für  völlig  berechtigt  erklärt. 
In  seiner  Behandlung  der  Frage  nach  der  Bekanntschaft  des 
Menschen  mit  dem  Sittengesetze  begegnet  deshalb  immer  wieder 
der  Hinweis  darauf,  daß  es  jedem  Menschen  so  naheliegt,  als 
ob  es  ihm  buchstäblich  ins  Herz  geschrieben  wäre.  Wieder  und 
wieder  wird  hervorgehoben,  daß  nicht  nur  der  »gemeinste«,  son- 
dern auch  der  »eingeschränkteste«  und  »einfältigste«  Mensch,  ja 
sogar  schon  das  Kind,  sobald  es  erst  einmal  Maximen  des  Willens 
zu  entwiickeln  beginnt,  seine  Stimme  hört^).  Und  das  ist  bei 
Kants  Auffassung  desselben  gar  nicht  überraschend.  Als  bloß 
formales  Prinzip  muß  das  Sittengesetz  eine  Funktion  der  prak- 
tischen Vernunft  selbst  sein  und  allen  Wesen,  die  praktische 
Vernunft  haben,  ursprünglich  beiwohnen.  Das  moralische  Gesetz, 
heißt  es  darum  auch  2),  braucht  nicht  erst  erfunden  zu  werden, 
sondern  ist  in  uns  da  und  immer  da  gewesen,  ist  eine  Urkunde, 
die  unauslöschlich  in  jeder  Seele  aufbehalten  ist  und  vom  Men- 
schen unmittelbar  mit  dem  Bewußtsein  seiner  Existenz  ver- 
knüpft wird.  Daher  bedarf  es  gar  keiner  besonderen  wissen- 
schaftlichen Bemühungen,  um  den  Menschen  von  dem  Vor- 
handensein eines  solchen  Gesetzes  zu  überzeugen.  Das  Einzige, 
was  Wissenschaft  und  Philosophie  tun  können,  im  Interesse 
der  Sittlichkeit  aber  auch  tun  müssen,  ist,  daß  sie  das,  was  schon 
ganz,  aber  noch  unentwickelt  in  der  Seele  des  Menschen  vor- 
handen ist,  auf  deutliche  Begriffe  oder  auf  seine  Formel  zu  bringen 
suchen,  um  durch  diese  Aufklärung  über  ihr  Prinzip  die  , »dunkel 
gedachte  Metaphysik,  die  jedem  Menschen  in  seiner  Vernunft- 
anlage beiwohnt«^),  in  ein  deutliches  Wissen  zu  verwandeln 
und  ihm  so  die  Einsicht  in  die  rein  apriorische,  also  allgemeine 


i)   Vgl.  Krit.  d.  pr.  Vern.  S.  35,  42  R. ;  Grundl.  z.  M.  d.  S.  S.  43  R.;  WW. 
VI  S.  48,   181  Ak.-Ausg. 

2)  Vgl.  Krit.  d.  pr.  Vern.  S.  127,  193;  WW.  VI  S.  26*,  85,  183  Ak.-Ausg. 

3)  WW.   VI   S.   376  Ak.-Ausg. 


12,  Die  Bestimmung  des  Menschen. 

und  notwendige  Geltung  des  Sittengesetzes  zu  verschaffen,  ohne 
die  es  weder  möglich  ist,  Sicherheit  und  Reinheit  in  die  Moral 
hineinzubringen,  noch  auch  überhaupt  reine  moralische  Gesin- 
nungen zu  bewirken  und  das  angeborene  sittliche  Gefühl  als 
die  Fähigkeit,  am  moralischen  Gesetze  ein  Interesse  zu  nehmen,  in 
Bewegung  und  Kraft  zu  versetzen. 

Diese  wissenschaftliche  Entwicklung  des  sittlichen  Prinzipes 
führt  aber  zu  der  Einsicht,  daß  es  für  den  Menschen  nicht  ein 
ihn  unausbleiblich  bestimmendes  Gesetz  bildet,  sondern  nur  ein 
ihn  nötigendes  Gebot,  seine  Formel  also  für  ihn  die  eines  Impera- 
tivs ist.  Das  hängt  mit  der  schon  festgestellten  Zwiespältigkeit  des 
Menschen  zusammen.  Wäre  er  ein  bloßes  Vernunftwesen,  so  würde 
das  moralische  Gesetz^  als  Funktion  der  reinen  Vernunft  seinen 
Willen  schlechthin  bestimmen ;  er  würde  vollkommen  gut  oder  heilig 
sein.  Aber  er  ist  zugleich  ein  Naturwesen  oder  ein  Tier  und  als 
solches  allen  möglichen  sinnlichen  Bestimmungsgründen  unter- 
worfen, die  den  Forderungen  der  Vernunft  weder  zu  entsprechen 
brauchen,  noch  auch  wirklich  entsprechen,  sondern  vielmehr 
ein  »mächtiges  Gegengewicht«  ^)  gegen  sie  bilden.  Diese  Un- 
voUkommenheit  seines  Willens  bringt  es  mit  sich,  daß  ihm  das 
Sittengesetz  nötigend,  also  als  Gebot  in  der  Form  eines  Imperativs 
entgegentritt,  und  zwar,  da  es  Handlungen  gebietet,  die  nicht 
um  irgendeines  empirischen  Zweckes  willen  geschehen  sollen, 
sondern  als  von  der  reinen  und  von  allen  empirischen  Zwecken 
und  Bedingungen  unabhängigen  Vernunft  gefordert  für  sich  selbst 
notwendig  sind,  in  der  eines  unbedingt  gebietenden  oder  kate- 
gorischen Imperativs.  Jedoch  ist  dabei  eines  nicht  zu  übersehen. 
Wenn  auch  das  Sittengesetz  für  den  Menschen  eine  Nötigung 
oder,  was  dasselbe  ist,  einen  Zwang  enthält,  so  kann  dieser  Zwang 
kein  äußerer,  sondern  nur  Selbstzwang  sein,  d.  h.  eine  innere 
Nötigung  zu  dem,  was  man  nicht  ganz  gern  tut.  Denn  das  Sitten- 
gesetz ist  eine  Funktion  der  praktischen  Vernunft;  der  Mensch 
gibt  es  sich  also  als  Vernunftwesen  selbst.  Es  kann  daher  auch 
der  Zwang,  den  es  für  ihn  enthält,  nur  ein  solcher  sein,  den  er 
selbst  auf  sich  ausübt.  — 

Aber  das  Sittengesetz  ist  in  dieser  Form  des  SoUens  im  ge- 
meinen Menschenverstände  nicht  nur  als  Vorstellung  oder  Idee 
überhaupt  vorhanden.  Der  Mensch  ist  sich  auch  der  schlecht- 
hinnigen  Notwendigkeit  bewußt,   die  ihm  als  reinem  Vernunft- 

i)    Grundl.   zur  M.   d.   S.   S.   35  R. 


Das  Wesen  des  Menschen.  Iß 

prinzipe  eigen  ist;  er  weiß,  daß  er  ihm  und  nur  ihm  unbedingten 
Gehorsam  schuldet.  Dieses  Bewußtsein  tritt  in  ihm  als  eine 
eigentümliche  Art  von  Empfindung  auf,  die  erst  durch  die  Vor- 
stellung des  Sittengesetzes  hervorgerufen  wird,  und  sich  somit 
als  ein  selbstgewirktes  Gefühl  erweist,  das  von  allen 
durch  Einfluß  empfangenen  Gefühlen  spezifisch  verschie- 
den ist.  Es  kann  im  Gegensatze  zu  aller  Lust  und  Unlust  nur 
als  Gefühl  der  Achtung  bezeichnet  werden,  d.  h.  als  das  Bewußt- 
sein einer  freien,  also  sinnlich  unvermittelten,  Unterwerfung 
des  Willens  unter  das  Gesetz,  die  aber  doch  mit  einem  unver- 
meidlichen Zwange  verbunden  ist,  der  allen  Neigungen,  aber 
nur  durch  eigene  Vernunft,  angetan  wird.  Durch  dieses  selbst- 
gewirkte Gefühl  der  Achtung  also  —  mithin  innerlich  und  völlig  un- 
abhängig von  aller  empirischen  Bestätigung  —  ist  sich  der  Mensch 
der  unbedingten  Verbindlichkeit  des  Sittengesetzes  für  sein  Han- 
deln mit  voller  Deutlichkeit  bewußt ;  er  fühlt  sich  verpflichtet,  ihm 
zu  gehorchen.  In  dem  gemeinen  Begriffe  der  Pflicht,  die  nichts 
anderes  bedeutet  als  »die  Notwendigkeit  einer  Handlung  aus 
Achtung  fürs  Gesetz«  i),  tritt  ihm  dieses  Bewußtsein  überall  und 
unmittelbar  entgegen.  »Jeder  Mensch  findet  in  seiner  Vernunft 
die  Idee  der  Pflicht  und  zittert  beim  Anhören  ihrer  ehernen  Stimme, 
wenn  sich  in  ihm  Neigungen  regen,  die  ihn  zum  Ungehorsam 
gegen  sie  versuchen«  ^),  und  gerade  weil  sich  der  Mensch  in  seinem 
Urteile  trotz  aller  Bemühung  doch  niemals  ganz  von  der  Vernunft 
losmachen  kann ,  gibt  es  keinen ,  der  so  verrucht  wäre ,  daß  er 
bei  der  Uebertretung  des  Gesetzes  nicht  ohne  weiteres  einen 
Widerstand  in  sich  fühlte  und  eine  Verabscheuung  seiner  selbst, 
bei  der  er  sich  selbst  Zwang  antun  muß.  Als  vernünftiges  Wesen, 
das  er  nun  einmal  ist,  würde  er  sich  der  Vernunft,  ja  sogar  des 
Daseins,  für  unwürdig  halten  müssen,  wenn  er  sich  der  Anerken- 
nung dieses  Gesetzes  widersetzen  wollte.  Diese  Unmittelbarkeit 
aber  und  Unvermeidlichkeit,  mit  der  das  Sittengesetz  ihn  inner- 
lich verbindet,  hebt  es  einerseits  über  den  Charakter  eines  bloßen 
Postulates  hinaus,  macht  es  andererseits  aber  auch  völlig  un- 
möglich und  zugleich  unnötig,  es  irgendwie  zu  beweisen.  Man 
kann  und  braucht  es  nicht  aus  irgendwelchen  vorhergehenden 
Datis  der  Vernunft  abzuleiten,  weil  es  unbedingt  gebietet. 
Man  kann  und  braucht  es  aber  ebensowenig  durch  Beispiele  aus 


1)  Grundl.   z.  M.  d.   S.   S.   29  R. 

2)  WW.   VIII   S.   402  Ak.-Ausg. 


14  Die  Bestimmung  des  Menschen. 

der  Erfahrung  zu  bestätigen.  Denn  ganz  abgesehen  davon,  daß 
in  der  Erfahrung  niemals  mit  Sicherheit  ein  Beispiel  dieses  Ge- 
setzes aufgewiesen  werden  kann,  weil  es  beim  moralischen  Werte 
einer  Handlung  nicht  auf  die  Handlung  ankommt,  die  man  sieht, 
sondern  auf  die  Gesinnung,  die  man  nicht  sieht,  und  auch  die 
schärfste  Selbstprüfung  nicht  die  Gewißheit  dafür  zu  geben  ver- 
mag, daß  wirklich  gar  kein  geheimer  Antrieb  der  Selbstliebe  vor- 
handen ist  —  ist  sie  auch  gar  nicht  imstande,  zu  der  über  die 
Menschenwelt  hinausreichenden  und  alle  vernünftigen  Wesen  um- 
fassenden Allgemeingültigkeit  und  absoluten  Notwendigkeit  zu 
führen,  die  ihm  als  einem  reinen  Vernunftprinzipe  zukommt.  Das 
Sittengesetz  ist  also  überhaupt  nicht  zu  begründen,  sondern  dringt 
sich  für  sich  selbst  auf  und  »steht  für  sich  selbst  fest«  ^).  Das  Be- 
wußtsein dieses  Gesetzes  ist  darum  nichts  anderes  und  nicht 
weniger  als  ein  Faktum,  und  zwar,  da  es  nicht  auf  Anschauung, 
weder  reine  noch  empirische,  sondern  auf  Vernunft  gegründet  ist, 
ein,  ja  sogar  »das  einzige  Faktum  der  reinen  Vernunft«  2).  »Denn 
so  kann  man  eine  Willensbestimmung  nennen,  die  unvermeidlich 
ist,  ob  sie  gleich  nicht  auf  empirischen  Prinzipien  beruht«^). 
Für  Kant  gibt  es  also  nichts,  was  sicherer  —  und  zwar  unmittel- 
bar —  sicherer  wäre  als  dieses,  daß  sich  der  Mensch  des  Sitten- 
gesetzes bewußt  ist  und  seine  unbedingte  Geltung  anerkennt.  — 

Aber  gut  kann  sein  Wille  erst  werden,  wenn  er  diesem  Gesetze 
auch  zu  folgen  vermag.  Und  auch  hier  wird  man_  noch  zwei  Mo- 
mente auseinanderhalten  müssen.  Um  dem  Sittengesetze  folgen  zu 
können,  muß  der  Mensch  einmal  imstande  sein,  sich  einem  Ge- 
setze dieser  Art  überhaupt  zu  unterwerfen  und  —  da  es  in  Sachen 
der  Sittlichkeit  zuletzt  aufs  Handeln  und  beim  Handeln  immer 
aufs  Konkrete  ankommt  —  muß  er  zweitens  die  Fähigkeit  be- 
sitzen, festzustellen,  wie  er  sich  im  gerade  vorliegenden  Falle 
zu  benehmen  hat. 

Faßt  man  nun  zunächst  den  ersten  Gesichtspunkt  ins  Auge, 
so  liegt  eine  Befolgung  des  Sittengesetzes  nicht  schon  dann  vor, 
wenn  die  Taten  des  Menschen  nur  äußerlich  mit  ihm  überein- 
stimmen. Eine  derartige  Kongruenz  ist  auch  für  Handlungen 
möglich,  die  aus  bloß  selbstsüchtiger  Neigung  erfolgen,  und  die 
haben  mit  Sittlichkeit  nichts  zu  tun.  Sie  kommen  alle  auf  eigene 
Glückseligkeit  hinaus,  die  im  Gegensatz  zu  der  in  der  Vernunft 

i)    Krit.   d.   pr.   Vern.    S.   57   R. 

2)   a.   a.   O.   S.   37   R.  u.   ö.  3)   a.   a.   O.   S.   67  R. 


Das  Wesen  des  Menschen.  ji 

selbst  begründeten  Sittlichkeit  nichts  Allgemeingültiges  und  Not- 
wendiges, sondern  etwas  bloß  Relatives  und  Subjektives  ist. 
Von  Sittlichkeit  läßt  sich  somit  erst  dort  sprechen,  wo  die  Taten 
nicht  nur  dem  Sittengesetze  gemäß  sind,  sondern  auch  bloß  um 
des  Gesetzes  willen,  also  aus  der  einzigen  moralischen  Triebfeder 
heraus,  die  es  gibt,  aus  Achtung  vor  dem  Gesetze  erfolgen.  Und 
Kant  betont  diese  charakteristische  Eigentümlichkeit  des  sitt- 
lichen Handelns  so  stark,  daß  er  auch  jede  Vermischung  beider 
Prinzipien  aufs  schärfste  zurückweist.  Hat  er  auch  niemals  daran 
gedacht,  durch  die  Forderung  der  Sittlichkeit  vom  Menschen  zu 
verlangen,  seine  Ansprüche  auf  Glückseligkeit  aufzugeben,  und 
hat  er  sogar  ausdrücklich  darauf  hingewiesen,  daß  es,  um  den  An- 
lockungen des  Lasters  das  Gegengewicht  zu  halten,  sogar  ratsam 
sein  kann,  auf  die  vielen  Reize  und  Annehmlichkeiten  des  Lebens 
hinzuweisen,  die  sich  mit  dem  sittlichen  Wohlverhalten  verbinden 
lassen  und  die  wegen  des  zugrunde  liegenden  Bewußtseins  erfüllter 
Pflicht  und  der  damit  gegebenen  Zufriedenheit  sogar  einen  fröh- 
lichen Lebensgenuß  in  Aussicht  stellen,  so  ist  es  in  seinen 
Augen  doch  völlig  unstatthaft,  beim  sittlichen  Handeln,  also  in 
dem  Actus,  in  dem  sich  der  Mensch  als  tugendhafter  seiner  Pflicht 
unterwirft,  irgendeine  Rücksicht  auf  Glückseligkeit  zu  nehmen. 
Dadurch  würde  die  moralische  Gesinnung  in  ihrer  Quelle  verun- 
reinigt und  aller  Bestimmtheit  und  Festigkeit  beraubt  werden.  Und 
was  immer  auch  das  physische  Leben  bei  einer  Mischung  gewinnen 
möchte,  das  moralische  würde  ohne  Rettung  dahinschwinden. 
Die  Behauptung  aber,  daß  die  Natur  des  Menschen  eine  solche 
Reinigkeit  nicht  zulasse,  lehnt  Kant  mit  größter  Entschiedenheit 
ab.  Ihre  Richtigkeit  wäre  »der  Tod  aller  Moralität«  ^),  und  ist  im 
übrigen  auch  niemals  zu  erweisen. 

Im  Gegenteil!  Kant  glaubt  es  über  jeden  Zweifel  erheben 
zu  können,  daß  der  Mensch  wirklich  zu  einem  solchen  rein  durch 
die  Idee  des  Sittengesetzes  bestimmten  Handeln  imstande  sei. 
Und  wieder  ist  es  die  teleologische  Betrachtungsweise,  die  ihm 
bei  diesem  Nachweise  behilflich  sein  muß.  Denn  des  Menschen 
eigene  Vernunft  ist  es,  die  ihm  seine  Pflicht  vorschreibt.  Seine 
Vernunft  aber  ist  ihm  von  der  Natur  zuerteilt,  gebietet  also  nichts, 
was  zu  leisten  unmöglich  wäre.  Wenn  er  sich  daher  seines  Ver- 
mögens zu  rein  sittlichen  Handlungen  auch  weder  unmittelbar 
bewußt  zu  werden  vermag,   noch  es  mittelbar  durch  Vernunft 

I)   WW.   VIII   S.   285  Ak.-Ausg. 


j;5  Die  Bestimmung  des  Menschen. 

oder  Erfahrung  beweisen  kann  —  denn  die  Vernunft  kann  nur 
etwas  Bedingtes  als  notwendig  erweisen,  während  das  sittliche 
Tun  etwas  Unbedingtes  ist,  und  in  der  Erfahrung  läßt  sich  ein 
sicheres  Beispiel  solchen  Handelns  nicht  aufzeigen  — ,  wenn  ihm 
also  auch  jede  Möglichkeit  genommen  ist,  dieses  Vermögen  theo- 
retisch zu  begreifen,  so  hat  er  doch  das  Recht,  aus  der  unaufhörlich 
in  ihm  ertönenden  Stimme  des  kategorischen  Imperativs  zu  schlie- 
ßen, daß  er  es  besitzt,  daß  er  die  Fähigkeit  hat,  auch  für  sich 
•  selbst  praktisch  zu  sein  und  mit  allen  Kräften  der  Natur  in  sich 
und  um  sich  in  Kampf  zu  treten  und  sie,  wenn  sie  mit  seinen  sitt- 
lichen Grundsätzen  in  Streit  kommen,  zu  besiegen.  Und  dieses 
Vermögen,  diesen  Vorsatz,  einem  starken,  aber  ungerechten 
Gegner  des  sittlichen  Gesetzes  Widerstand  zu  leisten,  diese  »mo- 
ralische Gesinnung  im  Kampfe«  nennt  Kant  Tugend  i).  Der 
Mensch  kann  also  tugendhaft  sein,,  weil  er  es  sein  soll.  Aus 
dem  Sollen  folgt  unumgänglich  das  Können.  Und  Kant  nimmt 
auch  keinen  Anstand  zu  behaupten,  daß  jeder  Mensch  im  ge- 
gebenen Falle,  wenn  er  sich  auch  vielleicht  nicht  getrauen  würde, 
zu  versichern,  daß  er  seine  Pflicht  der  Neigung  faktisch  vorziehen 
werde,  doch  ohne  Bedenken  einräumt,  daß  es  ihm  möglich 
sei,  »Er  urteilt  also,  daß  er  etwas  kann,  darum  weil  er  sich  be- 
wußt ist,  daß  er  es  soll«^). 

So  ist  die  Fähigkeit  des  Menschen  gesichert,  dem  Sitten- 
gesetze überhaupt  zu  folgen.  Aber  er  muß,  wie  gesagt,  auch  das 
Vermögen  haben,  in  jeder  bestimmten  Lage  seine  Pflicht  zu  tun, 
und  darum  auch,  sie  zu  erkennen.  Das  ist  nun  nach  Kants  Ueber- 
zeugung  außerordentlich  einfach  und  leicht.  Und  gerade  darin 
findet  er  den  großen  Vorzug  seiner  Ethik  vor  jeder,  die  auf  Glück- 
seligkeit ausgeht.  Denn  zu  erkennen,  was  dem  Menschen  dauern- 
den Vorteil  schafft,  erfordert  große  Klugheit  und  umfassende 
Weltkenntnis,  aber  »was  Pflicht  sei,  bietet  sich  jedermann  von 
selbst  dar«  ^),  Hier  handelt  es  sich  ja  nur  um  Reinheit  der  Maxime, 
und  darüber  wird  sich  jeder  leicht  orientieren  können.  Er  hat 
sich  nur  die  Frage  vorzulegen,  ob  die  Maxime  seiner  Handlung 
dem  Sittengesetz  entspricht,  oder  die  Handlung  selbst  als  Fall 
desselben  angesehen  werden  kann.  Ergibt  sich  hier  aber  insofern 
eine  Schwierigkeit,  als  es  unmöglich  zu  sein  scheint,  ein  Gesetz, 
das   unbedingt   gilt,    auf   Begebenheiten,    die   in   der    Sinnenwelt 

I)   WW,   VI   S.   380  Ak.-Ausg.  2)   Krit.   d.   pr.   Vern.   S.   36  R. 

3)   Krit.  d.  pr,   Vern,   S.   44  R,;  vgl.  WW.  VIII  S.  287  Ak.-Ausg, 


Das  Wesen  des  Menschen. 


17 


geschehen  —  und  das  sind  die  Handlungen  des  Menschen  — 
anzuwenden,  so  hilft  dem  die  Mittelstellung  ab,  welche  das  all- 
gemeine Naturgesetz  zwischen  den  konkreten  Handlungen  und 
dem  Sittengesetze  einnimmt.  Denn  einerseits  ist  es  auf  Gegen- 
stände der  Sinne  anwendbar,  und  andererseits  stimmt  es  in  der 
Form  der  Gesetzmäßigkeit  mit  dem  Sittengesetze  überein,  und 
kann  daher  als  Typus  desselben  verwendet  werden.  Die  Frage, 
die  sich  der  Mensch  zur  Beurteilung  des  sittlichen  Charakters 
einer  Handlung  vorzulegen  hat,  nimmt  daher  die  Form  an,  ob 
er  sie  auch  dann  wollen  kann,  wenn  sie  nach  einem  Gesetze  der 
Natur  geschähe,  von  der  er  selbst  ein  Teil  wäre,  oder  ob  er  wollen 
kann,  daß  ihre  Maxime  ein  allgemeines  Naturgesetz  werde.  Diese 
Frage  aber,  deren  Beantwortung  objektive  Schwierigkeiten  nicht 
mehr  im  Wege  stehen,  ist  auch  subjektiv  leicht  zu  lösen,  weil  das 
allgemeine  Naturgesetz  jedem  aus  seiner  ständigen  Anwendung 
in  der  Erfahrung  bekannt  und  geläufig  ist.  Sittlich-unmöglich 
ist  also  eine  Handlung,  wenn  ihre  Maxime  nicht  so  beschaffen  ist, 
daß  sie  an  der  Form  eines  Naturgesetzes  überhaupt  die  Probe  hält. 
Und  das  wird  der  Fall  sein,  wenn  sie  zum  allgemeinen  Gesetz 
erhoben  entweder  mit  sich  selbst  in  Widerspruch  gerät,  und  da- 
durch der  Existenzbedingung  einer  Natur  überhaupt  widerstreitet, 
oder  aber  den  Forderungen  eines  vernünftigen  oder  eines  vernünf- 
tigen und  zugleich  bedürftigen  Wesens,  und  damit  den  Existenz- 
bedingungen einer  aus  vernünftigen  und  bedürftigen  Wesen  be- 
stehenden Natur  widerspricht.  So  wird  z.  B.  die  Maxime,  ein 
Versprechen  zu  geben,  ohne  es  zu  halten,  zum  allgemeinen  Natur- 
gesetz erhoben,  jedes  Versprechen  illusorisch  machen  und  damit 
sich  selbst  aufheben;  so  wird  die  Maxime,  seine  Talente  rosten  zu 
lassen  und  sich  aufs  Faulbett  zu  legen,  kein  allgemeines  Natur- 
gesetz werden  können,  weil  sie  mit  dem  Menschen  als  vernünftigem 
Wesen  in  Widerspruch  gerät,  da  er  als  solches  notwendig  will, 
daß  alle  seine  Vermögen  entwickelt  werden;  und  die  Maxime, 
andern  in  der  Not  nicht  zu  helfen,  deshalb  nicht,  weil  es  Fälle 
geben  kann,  in  denen  er  als  bedürftiges  Wesen  auf  die  Hilfe  an- 
derer angewiesen  ist,  auf  die  er  aber  niemals  rechnen  kann,  sobald 
diese  Maxime  Gesetz  einer  alle  Menschen  umfassenden  Gemein- 
schaft würde.  Die  Eignung  einer  Maxime  zu  einem  solchen  Gesetz 
ist  darum  der  Kanon  der  moralischen  Beurteilung  seiner  Hand- 
lungen überhaupt. 

Die  Sicherheit  aber,  daß  er  richtig  urteilt  oder  geurteilt  hat, 

Goedeckem  eyer,  Kants  Lebensanschauung.  2 


j3  Die  Bestimmung  des  Menschen. 

verleiht  ihm  das  Gewissen.  Denn  das  ist  in  Kants  Augen  nichts 
anderes  als  die  praktische  Vernunft  selbst,  die  über  unsere  Hand- 
lungen richtet  und  deren  Urteil  wir  uns  als  vernünftige  Wesen 
trotz  aller  Mühe  nicht  entziehen,  das  wir  aber  auch  nicht  verfäl- 
schen können,  weil  sie  unbestechlich  ist.  Sie  ist  der  »Richter  in 
unserem  Innern«,  sie  ist  es,  die  den  Menschen  »wider  und  für  sich 
selbst  zum  Zeugen  aufstellt«,  und  weil  sie  nichts  Erworbenes  und 
daher  Relatives,  sondern  etwas  Ursprüngliches  und  darum  Abso- 
lutes ist,  so  wie  sie  unwillkürlich  und  unvermeidlich  urteilt,  auch 
niemals  irren  kann  '^) .  — 

So  ist  also  die  Ueberzeugung,  daß  der  Mensch  die  Fähigkeit 
besitzt,  tugendhaft  zu  sein,  nach  beiden  in  Frage  kommenden 
Gesichtspunkten  hin  begründet.  Und  sie  führt  Kant  nun  auch 
zu  der  Eigenschaft  desselben,  die  ihn  nicht  nur  wie  der  Besitz 
der  Vernunft  vom  Tiere  unterscheidet,  sondern  ihn  über  alle 
Tierheit  erhebt.  Denn  von  der  Fähigkeit,  sittlich  zu  handeln, 
kann,  da  der  Begriff  der  Sittlichkeit  die  Unabhängigkeit  von  allen 
empirischen  Motiven  involviert,  nur  dann  gesprochen  werden, 
wenn  sich  der  Mensch  in  seinem  Handeln  zwar  nicht  von  der 
Affizierung  durch  wo  auch  immer  herkommende  lusterregende 
Motive,  denen  er  als  natürliches  Wesen  stets  ausgesetzt  ist,  los- 
^  machen  kann,  wohl  aber  von  ihrem  bestimmenden  oder  nötigenden 
Einfluß,  m.  a.  W.,  wenn  sein  Wille  frei  ist.  Denn  nichts  anderes  als 
Unabhängigkeit  des  vernünftigen  Willens  von  »allem  Empirischen 
und  also  von  der  Natur  überhaupt«  2)  als  bestimmender 
oder  nötigender  Bewegursache  seiner  Handlungen  ist  es, 
was  Kant  zunächst  unter  Freiheit,  genauer  unter  dem  negativen 
Begriff  der  Freiheit  versteht. 

Aber  mit  diesem  —  ersten  —  Begriffe  der  Freiheit  ist  es  noch 
nicht  getan.  Würde  man  die  Freiheit  des  Menschen  lediglich  in 
dieser  Weise  definieren  können,  so  wäre  damit  der  Vernunft  nur 
die  Fähigkeit  abgesprochen,  in  der  Welt  der  Erscheinungen  wirk- 
sam zu  sein,  deren  Geschehnisse  dem  Kausalgesetze  unterstehen, 
und  daher  sämtlich  durch  empirische  Ursachen  zustande  kommen 
müssen.  Das  wäre  aber  viel  mehr  als  man  beabsichtige  kann; 
jedes  tugendhafte  Handeln  in  der  sinnlichen  Welt  würde  dadurch 
vernichtet  werden.  —  Weiterzukommen  ist  daher  nur,  wenn  es 
gelingt,  die  Freiheit  positiv  zu  bestimmen  und  sie  in  diesem  Sinne 
dem  Menschen  zuzuweisen. 

I)   Vgl.  WW.  VI  S.  437  ff.  Ak.-Ausg.  2)   Krit.   d.   pr.   Vern.   S.   117. 


Das  Wesen  des  Menschen. 


19 


Diese  Bestimmung  ergibt  sich  für  Kant  aus  dem  negativen 
Begriffe  auf  folgendem  Wege.  Der  Wille  ist  das  Vermögen,  seinen 
Vorstellungen  entsprechende  Gegenstände  entweder  hervorzubrin- 
gen oder  sich  zu  ihrer  Hervorbringung  zu  bestimmen  ^).  Als 
solches  ist  er  aber  eine  Art  von  Kausalität,  und  die  Freiheit  als 
seine  positive  Eigenschaft  eine  besondere  Modifikation  dieser 
Kausalität.  Im  Gegensatz  zur  negativen  Freiheit  als  der  bloßen 
Unabhängigkeit  des  Handelns  von  fremden  bestimmenden  Ur- 
sachen kann  man  sie  als  das  Vermögen  bezeichnen,  für  sich  selbst 
pr9.ktisch  zu  sein,  d.  h.  seine  Wirkungen  in  der  Sinnenwelt  ganz 
von  selbst  anzufangen,  m.  e.  W.  als  absolute  Selbsttätigkeit. 
Doch  bedeutet  das  für  Kant  noch  nicht  völlige  Grundlosigkeit 
und  Zufälligkeit  der  Handlung.  »Sich  als  ein  frei  handelndes 
Wesen  und  doch  von  dem  einem  solchen  angemessenen  Gesetze 
entbunden  denken,  wäre  soviel, .als  eine  ohne  alle  Gesetze  wirkende 
Ursache  denken:  welches  sich  widerspricht«  ^).  Wie  alle  Kausalität 
weist  also  auch  die  Kausalität  durch  Freiheit  auf  eine  Regel 
zurück,  die  nun  natürlich  nicht  in  dem  für  das  Gebiet  der  Sinnen- 
welt geltenden  Naturgesetze  gefunden  werden  kann,  weil  dem 
der  negative  Begriff  der  Freiheit  entgegensteht,  sondern  nur  im 
Willen  als  praktischer  Vernunft  selbst  enthalten  sein  kann  und  ein 
inneres  Prinzip  desselben  bilden  muß.  M.  a.  W.  der  von  äußeren 
Gesetzen  oder  fremden  bestimmenden  Ursachen  unabhängige  und 
dennoch  einer  Regel  unterworfene  Wille  muß  autonom  sein. 
Nun  ist  aber  das  einzige  Gesetz,  das  sich  der  Wille  selbst  gibt, 
das  Sittengesetz.  Ein  im  positiven  Sinne  freier  Wille  ist  daher 
ein  Wille  unter  sittlichen  Gesetzen,  und  positive  Freiheit  ein 
rein  »praktischer  Begriff«^),  der  nichts  anderes  als  Bestimmung 
des  Willens  durch  das  eigene  Gesetz  bedeutet. 

Ist  aber  das  die  Definition  der  Freiheit  im  positiven  Sinne, 
so  kommt  für  den  alle  Tierheit  überragenden  Wert  des  Menschen 
jetzt  alles  darauf  an,  zu  entscheiden,  ob  man  ihm  eine  solche 
Freiheit  wirklich  zuschreiben  kann. 

Dabei  ergeben  sich  freilich  nicht  unbedeutende  Schwierig- 
keiten. Zunächst  nämlich  steht  fest,  daß  diese  Freiheit  in  der 
sinnlichen  Welt  nicht  angetroffen  werden  kann.  Die  ganze  Welt 
des  äußeren  und  des  inneren  Sinnes  untersteht  der  Zeit;  alles, 
was  hier  geschieht,  geschieht  in  der  Zeit.    Für  alles  aber,  was  in 

i)   Vgl.   Krit.   d.  pr.   Vern.   S.   15. 

2)   Vgl.  WW.   VI   S.   35  Ak.-Ausg.  3)   WW.   VI   S.   227  Ak.-Ausg. 

2* 


20  Die  Bestimmung  des  Menschen. 

der  Zeit  geschieht,  gilt  das  Naturgesetz  der  Kausalität,  das  aus- 
sagt, daß  jedes  Ereignis  mit  einem  vorhergehenden  notwendig 
verknüpft  ist.  Jede  Begebenheit  in  der  Sinnenwelt  ist  also  durch 
das,  was  vorherging,  notwendig  bestimmt,  so  daß  sie,  da  die 
Vergangenheit  nicht  mehr  in  des  Menschen  Gewalt  ist,  aus  Grün- 
den, die  nicht  in  des  Menschen,  sondern  in  der  Gewalt  der  Natur 
stehen,  notwendig  folgt.  Von  Freiheit  des  Handelns  kann  also 
hier  keine  Rede  sein.  Daraus  ergibt  sich  nun  die  für  Kants  ganze 
Lebensanschauung  einschneidendste  These,  daß,  wenn  die  sinn- 
lichen Dinge  das  Einzige  wären,  was  existierte,  angesichts  der 
Unnachlaßlichkeit  des  Kausalgesetzes  an  die  Existenz  der  Freiheit 
nicht  einmal  gedacht  werden  könnte.  »Sind  Erscheinungen  Dinge 
an  sich  selbst,  so  ist  Freiheit  nicht  zu  retten«^).  Sie  würde  als 
ein  nichtiger  und  unmöglicher  Begriff  verworfen  werden  müssen. 

Doch  glaubt  Kant  der  von  hier  aus  der  Freiheit  drohenden 
Gefahr  mit  Hilfe  seiner  Lehre  von  der  Idealität  des  Raumes  und 
der  Zeit  leicht  entgehen  zu  können.  Sind  Raum  und  Zeit,  wie 
er  —  allerdings  zu  Unrecht  —  in  der  Kritik  der  reinen  Vernunft 
nachgewiesen  zu  haben  meint,  nichts  Reales,  sondern  bloße  For- 
men unseres  äußeren  bzw.  inneren  Sinnes,  in  die  alles  eingehen 
muß,  was  unsere  Sinnlichkeit  affiziert,  so  können  die  uns  durch 
die  Sinne  gegebenen  Objekte  keine  Dinge  an  sich,  sondern  müssen 
»bloße  Vorstellungen«  oder  Erscheinungen  sein. 

Aber  damit  ist  in  seinen  Augen  zugleich  erwiesen  —  und 
das  ist  das  Wesentliche  — ,  daß  sie  nicht  das  einzig  Wirkliche 
sind.  Als  Erscheinungen  müssen  sie  —  das  hörten  wir  schon  ^)  — 
Erscheinungen  von  Etwas  sein.  Und  dieses  Etwas  kann  als  Grund 
der  Erscheinungen  nicht  selbst  wieder  Erscheinung  sein,  sondern 
muß  »hinter  den  Erscheinungen«  3)  liegen,  d.  h.  es  muß  als  in- 
telligible  —  als  intelligibel  bezeichnet  Kant  an  einem  Gegenstande 
der  Sinne  das,  was  selbst  nicht  Erscheinung  ist  ^)  —  Ursache 
der  Phänomene  oder  als  Ding  an  sich  gefaßt  werden.  Dinge 
an  sich  gehören  aber  dem  Gebiete  an ,  in  dem  nichts  g  e- 
schiebt;  sie  unterliegen  nicht  der  Zeit  und  damit  auch  nicht 
dem  Gesetze  der  Naturnotwendigkeit.  Ihr  Gebiet  ist  also  das- 
jenige, in  dem  man  die  Freiheit  im  positiven  Sinne  wenigstens 
suchen  kann. 


i)   Krit.  d.   rein.   Vern.   S.   431.  2)   S.  .6. 

3)  Grundl.   z.   M.   d.    S.    S.   91   R. 

4)  Krit.  d.  rein.   Vern.   S.  432  R. 


Das  Wesen  des  Menschen.  21 

Indes  sind  hierdurch  auch  für  Kant  noch  nicht  alle  Bedenken 
zerstreut,  die  der  Annahme  der  Freiheit  entgegenstehen.  Läßt 
man  die  intelligible  Ursache  der  Erscheinungen  ihre  Wirkung 
in  der  Sinnenwelt  auch  »von  selbst«  anfangen,  so  untersteht 
diese  Wirkung  als  Teil  der  Erscheinungswelt  doch  zugleich  dem 
die  ganze  phänomenale  Welt  beherrschenden  Naturgesetze,  dem- 
gemäß sie  die  notwendige  Folge  vorangegangener  Veränderungen 
ist.  Dieselbe  Wirkung,  dieselbe  menschliche  Handlung  muß  also 
sowohl  für  frei  als  auch  für  naturgesetzlich  bestimm^^  gehalten 
werden.  Das  aber  kann  angesichts  des  kontradiktorischen  Gegen- 
satzes, in  dem  die  Begriffe  von  Freiheit  und  Naturnotwendigkeit 
miteinander  stehen,  nur  als  »äußerst  subtil  und  dunkel  erschei- 
nen« ^). 

Aber  auch  dieser  Schwierigkeit  glaubt  er  Herr  werden  zu 
können,  und  zwar  einfach  durch  den  Hinweis  auf  die  Verschieden- 
heit des  Standpunktes,  den  man  im  einen  und  im  andern  Falle 
einnimmt.  Erklärt  man  die  Handlung  für  notwendig,  so  be- 
trachtet man  das  handelnde  Subjekt  als  Erscheinung.  Aber 
bei  aller  seiner  Zugehörigkeit  zur  Sinnenwelt  ist  der  Mensch 
doch  zugleich  auch  Ding  an  sich!  Als  solches  aber  besitzt  er 
eine  Kausalität,  die  unter  keinen  empirischen  Bedingungen  steht, 
sondern  völlig  ursprünglich  und  unbedingt  ist,  deren  in  der  Sinnen- 
welt erscheinende  Wirkungen  daher  auch  als  frei  bezeichnet  wer- 
den müssen.  Es  würde  also  möglich,  d.  h.  ohne  Wider- 
spruch sein,  dieselbe  Wirkung  sowohl  als  notwendig  als  auch  als 
frei  anzusehen,  je  nachdem  man  sie  mit  ihrer  sinnlichen  oder 
mit  ihrer  intelligiblen  Ursache  zusammenhält,  d.  h.  je  nachdem 
man  sie  auf  den  Menschen  als  Erscheinung  oder  als  Ding  an  sich 
bezieht. 

Aber  auch  wenn  man  diese  ohne  Frage  recht  bedenkliche 
Konstruktion,  die  durch  den  wiederholten  Hinweis  auf  die  Un- 
begreiflichkeit der  Freiheit  keineswegs  gebessert  wird,  akzeptiert, 
ist  noch  nicht  alles  in  Ordnung.  So  wichtig  es  auch  ist,  daß 
durch  diese  Erwägungen  nach  Kants  Meinung  die  Denkbarkeit 
der  Freiheit  gewonnen  ist ,  dem  sittlichen  Leben  ist  doch  erst 
dann  gedient,  wenn  gezeigt  werden  kann,  daß  sie  »dem  mensch- 
lichen Willen  in  der  Tat  zukomme«  2). 

Nun  liegt  es  von  vornherein  auf  der  Hand,  daß  sich  dieser 

i)   Krit.  d.  rein.   Vern.   S.   431   R. 
2)   Krit.  d.  pr.   Vern.   S.   15  R. 


22  Die  Bestimmung  des  Menschen. 

Nachweis  nicht  auf  Grund  irgend  einer  Erfahrung  führen  läßt. 
Als  Eigenschaft  des  Menschen  als  intelligiblen  Wesens,  mithin 
als  übersinnliche  Bestimmung  derselben,  ist  die  Freiheit  kein 
psychologisches  Prädikat,  das  durch  eine  empirische  Unter- 
suchung irgendwelcher  Art  festgestellt  werden  könnte.  Dann 
aber  ist  sie  theoretisch  überhaupt  nicht  zu  beweisen,  ja  nicht 
einmal  zu  begreifen.  Denn  alle  theoretische  Erkenntnis  muß 
sich  auf  Erfahrung  stützen.  Kann  sie  aber  auch  nicht  ohne  jeden 
Beweis  angenommen  werden,  so  bleibt  nichts  anderes  übrig,  als 
sie  aus  praktischen  Vernunftsätzen  abzuleiten.  Nun  muß  man 
aber  auch  hier  noch  zwischen  technisch-  und  moralisch-prak- 
tischen Sätzen  unterscheiden,  zwischen  solchen,  die  lediglich  an- 
geben, was  zu  geschehen  hat,  wenn  ein  bestimmter  Zweck  erreicht 
werden  soll,  und  solchen,  die  etwas  unbedingt,  also  ohne  Rück- 
sich  auf  eine  bestimmte  Absicht,  fordern.  Und  da  nun  von  diesen 
beiden  die  technisch-praktischen,  die  auf  sinnlich  bedingte  Zwecke 
gehen,  wiederum  auf  Erfahrung  beruhen,  so  bleibt  für  die  Sicher- 
stellung der  Freiheit  nichts  anderes  übrig,  als  von  dem  moralisch- 
praktischen Vernunftsatze,  dem  Sittengesetze,  auszugehen.  Das 
Gebot  der  Sittlichkeit  bildet  den  einzigen  Erkenntnisgrund  für 
die  Realität  der  Freiheit. 

Aus  ihm  aber  leitet  Kant  die  gewünschte  These  auf  folgendem 
Wege  ab.  Sobald  man  das  Sittengesetz  deutlich  denkt,  so  sagt 
er^),  erkennt  man,  daß  der  positive  Begriff  der  Freiheit  bereits 
in  ihm  enthalten  ist.  Freiheit  in  diesem  Sinne  bedeutete  nichts 
anderes  als  das  Vermögen  der  empirisch  unbedingten  Selbstbestim- 
mung oder  Bestimmung  des  Willens  durch  das  selbst  gegebene 
Gesetz.  Das  einzige  Gesetz  aber,  das  sich  der  Mensch  selbst 
gibt,  ist  das  Sittengesetz.  Es  involviert  daher  die  Freiheit  als 
seinen  Seinsgrund.  Denn  soll  der  Mensch  sich  selbst  ein  Gesetz 
geben,  so  muß  er  frei  sein.  Daraus  aber  folgt,  daß  das  moralische 
Gesetz  nicht  bloß  die  Möglichkeit  der  Freiheit,  sondern  auch 
ihre  Wirklichkeit  beweist.  Allerdings  —  und  das  ist  ein  Punkt, 
der  für  die  Beurteilung  der  Lebensphilosophie  Kants  alle  Be- 
achtung verdient  —  nur  für  Wesen,  die  dieses  Gesetz  als  für  sich 
verbindend  anerkennen.  Das  aber  tun,  wie  er  nachgewiesen  zu 
haben  glaubt  ^),  alle  Menschen  als  praktische  Vernunftwesen. 
Dann  aber  können  sie  gar  nicht  anders  handeln,  als  unter  der 

i)  Vgl.  Krit.  d.  pr.  Vern.  S.  2  *,  34  R. ;  WW.  VIII  S.  418  Ak.-Ausg. 
2)    S.    12  f. 


Das  Wesen  des  Menschen.  23 

Idee  der  Freiheit,  und  sind  darum  in  praktischer  Rück- 
sicht wirklich  frei.  So  kommt  nach  Kant  dem  Menschen 
die  positive  Freiheit,  weil  sie  Voraussetzung  des  über  jeden  Zweifel 
erhabenen  kategorischen  Imperativs  ist  —  ganz  gleichgültig,  daß 
sie  sich  theoretisch  weder  beweisen  noch  auch  begreifen  läßt  — , 
als  Eigenschaft  eines  Willens  mit  völliger  Sicherheit  wenn  auch 
nur  in  praktischer  Hinsicht  zu.  Und  so  verstanden  kann  sie 
trotz  ihrer  theoretischen  Unbegreiflichkeit  auch  nicht  einmal  für 
ein  Geheimnis  gehalten  werden,  weil  ihr  Dasein  nach  genügen- 
der Vorbereitung  jedermann  klargemacht  werden  kann,  da  wenig- 
stens ihr  Gesetz  hinreichend  erkannt  ist.  Ja,  sofern  die  von  der 
Vernunft  kategorisch  geforderten  sittlichen  Handlungen,  als  deren 
Voraussetzung  sich  die  Freiheit  erwiesen  hatte,  in  der  Sinnen- 
welt wenigstens  möglich  sind,  es  also  von  den  Wirkungen  der 
Freiheit  eine,  wenn  auch  nur  mögliche  Erfahrung  gibt,  glaubt 
Kant  sie  sogar  als  Tatsache  bezeichnen  zu  dürfen  ^) .  — 

Mit  dieser  Eigenschaft  der  Freiheit  ist  nun  das  Moment 
gewonnen,  das  dem  Menschen  einen  entschiedenen  Vorzug  vor 
allen  Tieren  verleiht.  Sie  macht  es  gewiß,  daß  seine  Vernunft 
nicht  bloß  dazu  da  ist,  unter  der  Herrschaft  der  Naturgesetze 
»Dienerin«  seines  natürlichen  Strebens  nach  Glückseligkeit  zu 
sein,  sondern  auch  imstande,  im  Felde  der  Erfahrung  durch  Ideen 
selbst  wirkende  Ursache  zu  sein.  Eben  damit  aber  führt  sie 
zu  der  Einsicht,  daß  der  Mensch  nicht  nur  ein  mit  Vernunft  be- 
gabtes Sinnenwesen  ist,  sondern  —  wenigstens  in  prak- 
tischer Rücksicht  —  auch  als  ein  Subjekt  angesehen  werden 
muß,  dessen  Handlungen  einer  Zurechnung  fähig  sind,  d.  h.  als 
ein  moralisches  Wesen.  Und  das  eben  ist  es ,  was 
ihn  über  alle  Tierheit  erhebt.  Ist  er  daher  auch  ein  bedürftiges 
Sinnenwesen  und  als  solches  nur  auf  seine  Glückseligkeit  be- 
dacht, so  ist  er  doch  nicht  so  ganz  Tier,  daß  er  seine  Vernunft 
lediglich  als  Werkzeug  zur  Befriedigung  seiner  sinnlichen  Be- 
dürfnisse zu  gebrauchen  suchte;  als  freies  Wesen  hat  er  sie  noch 
zu  einem  höheren  Zwecke  bekommen,  dazu  nämlich,  auch  das, 
was  sie  für  sich  selbst  sagt,  nicht  nur  mit  in  Erwägung  zu  ziehen, 
sondern  es  von  der  auf  sein  Wohl  gerichteten  Betrachtung  gänz- 
lich zu  unterscheiden  und  wegen  seiner  absoluten  Geltung  sogar 
zur  obersten  Bedingung  aller  Glückseligkeit  und  alles  Stre- 
bens nach  ihr  zu  machen. 

i)   Vgl.   Krit.   d.   Urteilskraft  S.   370  R. 


24  Die  Bestimmung  des  Menschen. 

Aber  diese  Annahme  der  Freiheit  als  fundamentaler  Eigen-, 
Schaft  des  Menschen  führt  in  ihren  Folgen  noch  zu  einer  neuen 
Beleuchtung  seines  Wesens.  Dadurch,  daß  er  sich  als  frei  be- 
trachtet, ist  er,  wie  wir  schon  gesehen  haben  ^),  genötigt,  sich  trotz 
seiner  Zugehörigkeit  zur  Sinnenwelt  zugleich,  also  schon  hier 
und  jetzt,  als  Glied  einer  nur  intelligiblen  Welt  oder  einer  über- 
sinnlichen Natur  anzusehen.  Nun  ist  aber  Natur  im  allgemeinsten 
Sinne  die  Existenz  der  Dinge  in  einer  gesetzmäßigen  Ordnung. 
Also  muß  auch  in  der  übersinnlichen  Welt  —  und  das  ist  das 
einzig  Positive,  was  wir  von  ihr  erkennen  können  —  eine  Gesetz- 
mäßigkeit und  eine  bestimmte  Ordnung  herrschen.  Und  deren 
Kenntnis  wird  es  sein,  die  das  Wesen  des  Menschen  noch  weiter 
zu  bestimmen  erlaubt. 

Wegen  der  prinzipiellen  Verschiedenheit  der  intelligiblen  Welt 
von  der  sinnlichen  können  die  dort  herrschende  Gesetzlichkeit 
und  die  dort  bestehende  Ordnung  nicht  dieselben  sein  wie  die 
der  Sinnenwelt,  wie  die  bloße  Natürgesetzlichkeit  also  oder  die  Ord- 
nung der  wirkenden  Ursachen.  Welche  es  aber  positiv  gesprochen 
sind,  das  wird  sich  zunächst  hinsichtlich  der  Gesetzlichkeit  aus 
folgender  Ueberlegung  ergeben. 

Was  den  Gedanken  einer  intelligiblen  Welt  überhaupt  nötig 
machte,  war  die  Spontaneität  des  Menschen.  Mit  eigener  Kausali- 
tät aber  konnte  sie  dem  Menschen  nur  in  praktischer  Rücksicht 
zugesprochen  werden,  d.  h.  sofern  er  durch  bloße  Vernunft  tätige 
Ursache  oder  —  was  auf  dasselbe  hinauskommt  —  reiner  Wille 
war.  Nur  als  reiner  Wille  also  kann  sich  der  Mensch  positiv  in  die 
intelligible  Welt  versetzen,  und  in  diesem  Willen  allein  hat  er 
darum  auch  sein  »eigentliches  Wesen«  oder  das  zu  sehen,  was 
an  ihm  Ding  an  sich  ist  ^) .  Von  diesem  Willen  aber  geht  nur  ein 
Gesetz  aus:  das  moralische.  Das  muß  es  daher  auch  sein,  das 
in  der  übersinnlichen  Welt  herrscht  und  ihr  Grundgesetz  aus- 
macht. 

Aus  der  Einsicht  aber,  daß  sich  der  Mensch  nur  als  reiner 
Wille  in  eine  intelligible  Welt  hineindenken  kann,  ergibt  sich 
nun  für  Kant  auch  die  Bestimmung  der  dort  bestehenden  Ord- 
nung. Allerdings  genügt  es  dazu  nicht,  diesen  vom  bloßen  Be- 
gehrungsvermögen noch  verschiedenen  Willen  lediglich  als  das 
Vermögen  zu  fassen,  sich  selbst  und  unabhängig  von  Natur- 
instinkten zum  Handeln  zu  bestimmen ;  man  muß  noch  eine  andere 

I)   S.   20  f.  2)   Vgl.  Grundleg.  z.  M.  d.  S.  S.  99  f.  R. 


Das  Wesen  des  Menschen. 


25 


Seite  desselben  in  Rücksicht  ziehen.  Man  muß  beachten,  daß  der 
sittliche  Wille  trotz  aller  Unabhängigkeit  von  Gegenständlichen 
als  seinem  Bestimmungsgrunde,  doch  eine  Materie  oder 
einen  Gegenstand  überhaupt  haben  muß,  der  dann  auch 
als  sein  Zweck  zu  bezeichnen  ist,  trotzdem  dasjenige,  was  wir 
Zweck  nennen,  »jederzeit  der  Gegenstand  einer  Zuneigung«  ^)  ist. 
Daß  sich  die  Sache  aber  faktisch  so  verhält,  läßt  sich  aus 
dem  Gesetze  des  sittlichen  Handelns  allein  nicht  ableiten.  Die 
Moral  als  solche  bedarf  einer  Zweckvorstellung  nicht.  Ihre  Ge- 
setze gebieten  schlechthin,  und  sie  nötigen,  wie  schon  gesagt  ^), 
sogar  dazu,  bei  der  jeweiligen  Erfüllung  seiner  Pflicht  von  dem 
Gedanken  an  den  Erfolg  gänzlich  zu  abstrahieren.  Muß  trotz- 
dem von  einem  Zwecke  auch  des  sittlichen  Wollens  gesprochen 
werden,  so  muß  der  Grund  davon  anderswo  als  im  moralischen 
Gesetze  liegen.  Kant  findet  ihn  in  letzter  Linie  im  Wesen  des 
Willens.  Wie  man  nicht  überhaupt  handeln  kann,  sondern  immer 
etwas  Bestimmtes  tun  muß,  so  kann  man  auch  nicht  schlecht- 
h  i  n  wollen ,  sondern  muß  etwas  wollen.  Keine  Willens- 
bestimmung kann  ohne  alle  Wirkung  und  damit  auch  nicht  ohne 
die  Vorstellung  einer  Wirkung  sein.  Und  diese  Vorstellung  denkt 
sich  nun  der  Mensch,  wenn  auch  nich''  als  Bestimmungsgrund, 
so  doch  als  Folge  zu  der  von  ihm  beabsichtigten  Handlung  hinzu 
und  muß  sie  hinzudenken,  weil  eine  Willkür,  die  zwar  angewiesen 
wäre,  wie,  nicht  aber  auch  wohin  sie  zu  wirken  habe, 
»sich  selbst  nich^"  Genüge  tun  kann«^).  Darum  ist  es,  wie  viel- 
leicht auch  aller  anderen  Weltwesen,  so  jedenfalls  eine  Natur- 
eigenschaft oder  »eine  von  den  unvermeidlichen  Einschränkungen 
des  Menschen  und  seines  praktischen  Vernunftvermögens,  sich 
bei  allen  Handlungen  nach  dem  Erfolg  aus  denselben  umzusehen, 
um  in  diesem  etwas  aufzufinden,  was  zum  Zweck  für  ihn  dienen  .  .  . 
könnte«*).  Er  hat  trotz  aller  Unbedingtheit  der  Geltung  des 
Sittengesetzes  doch  auch  als  moralisches  Wesen  Gegenstände 
seines  Handelns  oder  Zwecke,  auf  die  seine  freien  Handlungen 
als  auf  ihre  Objekte  gerichtet  sind.  Da  er  sich  diese  Zwecke  aber 
als  moralisches  Wesen  setzt,  so  handelt  es  sich  dabei  nicht  mehr 
um  solche,  die  er  sich  nach  sinnlichen  Antrieben  seiner  Natur 
macht,    sondern  um  solche,    die  er  sich  nach   Gesetzen  seiner 


i)   Religion  usw.    S.   7  A.   R.  2)   S.   14  f. 

3)  Religion  usw.   S.   5  R. 

4)  a.  a.  O.   S.  7  A. 


20  Die  Bestimmung  des  Menschen. 

praktischen  Vernunft  machen  soll,  nicht  um  relative,  son- 
dern um  absolute  Zwecke. 

Und  noch  eine  weitere  Differenz  kommt  hinzu.  Sind  die 
von  seinen  Neigungen  bestimmten  Zwecke  von  der  Art,  daß  er 
sie  durch  seine  eigenen  Kräfte  erst  zu  verwirklichen  sucht,  hängt 
darum  aber  auch  die  Güte  des  auf  sie  gerichteten  Wollens  ganz 
von  dem  Grade  ab,  in  dem  es  sein  Ziel  zu  erreichen  vermag,  so 
muß  es  sich  mit  den  sittlichen  oder  absoluten  Zwecken  auch  in 
dieser  Hinsicht  anders  verhalten.  Denn  der  sittliche  Wille  soll 
unbedingt  gut  sein,  darf  also  in  seiner  Güte  nicht  von  der  Ver- 
wirklichung irgendeines  Zweckes  abhängig  sein.  Der  Zweck,  den 
er  sich  dennoch  setzt  und  setzen  muß,  kann  also  nicht  ein  erst 
zu  bewirkender  sein,  sondern  muß  schon  unabhängig  von  jedem 
Tun  existieren,  muß  ein  »selbständiger  Zweck«  sein,  der  nicht 
als  positives  Ziel,  sondern  als  negative  Schranke  zu  denken  ist, 
oder  als  etwas,  dem  niemals  zuwidergehandelt  werden  darf,  das 
also  niemals  bloß  als  Mittel,  sondern  jederzeit  zugleich  als  Zweck  in 
jedem  Wollen  geschätzt  werden  muß  ^). 

Sucht  der  Mensch  aber  diesen  Begriff  des  absoluten  und 
seine  Handlungen  bloß  einschränkenden  Zwecks  mit  einem  In- 
halt zu  erfüllen  und  tritt  zu  dem  Ende  mit  seiner  Fähigkeit  der 
Zwecksetzung  nach  moralischen  Gesichtspunkten  an  die  Dinge 
in  der  Welt  heran,  so  wird  er  sich  eines  wichtiges  Unterschiedes 
zwischen  ihnen  bewußt,  der  dann  auch  zu  der  Bestimmung  der 
in  der  intelligiblen  Welt  herrschenden  Ordnung  führt.  Denn 
während  in  der  ganzen  Schöpfung  alles,  worüber  er  etwas  vermag, 
auch  bloß  als  Mittel  gebraucht  werden  kann,  verhält  es  sich  mit 
ihm  selbst  anders.  Wegen  der  ihm  als  Subjekt  des  moralischen 
Gesetzes  zukommenden  Freiheit  und  Autonomie  muß  sich  ihm 
gegenüber  jeder  Wille  soweit  einschränken,  daß  er  mit  seiner 
Freiheit  übereinstimmen  kann  und  ihn  keiner  Absicht  unter- 
wirft, die  nicht  nach  einem  Gesetze  möglich  wäre,  das  aus  dem 
Willen  des  leidenden  Subjektes  selbst  zu  entspringen  vermöchte, 
dem  es  nicht  selbst  zustimmen  könnte.  Um  dieser  seiner  Freiheit 
und  Autonomie  willen  darf  also  kein  Mensch  als  bloßes  Mittel 
benutzt,  sondern  muß  —  und  zwar  nicht  nur  von  sich  selbst  und 
von  anderen  seinesgleichen,  sondern  auch  von  Gott  —  jederzeit 
zugleich  als  Zweck  betrachtet  werden.  Der  Mensch  allein  ist 
also  absoluter  Zweck. 

i)  Vgl.   Grundleg.  z.  M.  d.   S.   S.  75  R. 


Das  Wesen  des  Menschen. 


27 


Als  Zwecke  an  sich  selbst  stehen  nun  aber  alle  vernünftigen 
Wesen  unter  dem  Sittengesetze.  Dadurch  nun  werden  sie  zu 
einem  Reiche  zusammengefaßt.  Denn  ein  Reich  bedeutet  die 
systematische  Verbindung  vernünftiger  Wesen  durch  gemein- 
schaftliche Gesetze.  Und  da  sie  als  Zwecke  an  sich  selbst  und 
mitsamt  den  Zwecken,  die  sie  sich  setzen  mögen,  zu  dieser  Ver- 
bindung vereinigt  werden,  so  ist  das  Reich,  das  so  entsteht,  ein 
Reich  der  Zwecke,  und  die  Ordnung,  die  hier  gilt,  eine  Ordnung 
der  Zwecke,  d.  h.  eine  solche,  in  der  die  in  sie  eingehenden  Faktoren 
als  Mittel  und  Zwecke  aufeinander  bezogen  werden.  Die  Ord- 
nung, die  in  der  intelligiblen  Welt  besteht,  ist  also  keine  andere 
als  die  Kausalverknüpfung  der  Endursachen  oder  die  Ordnung 
dei  Zwecke. 

Aus  dieser  Erkenntnis,  daß  der  Mensch  als  intelligibles  Wesen 
zu  einer  Ordnung  der  Zwecke  gehört,  ergibt  sich  nun  auch  die 
Einsicht  in  sein  Wesen,  auf  die  Kant  das  allergrößte  Gewicht 
legt  und  in  deren  Konsequenz  seine  Ausführungen  über  das  Wesen 
des  Menschen  erst  ihre  Vollendung  erhalten.  Im  Reiche  der 
Zwecke  hat  alles  entweder  einen  Preis  oder  eine  Würde.  Jenes, 
wenn  es  durch  etwas  anderes  als  Aequivalent  ersetzt  werden  kann, 
dieses,  wenn  das  nicht  möglich  ist.  Für  den  Menschen  gilt,  daß 
er  Würde  hat.  Denn  aller  Wert  wird  im  Reiche  der  Zwecke  durch 
das  moralische  Gesetz  bestimmt.  Darum  hat  es  selbst  einen  un- 
bedingten und  unvergleichbaren  Wert.  Eben  das  muß  dann  in 
abgeleiteter  Weise  auch  von  dem  gelten,  was  der  Sittlichkeit 
fähig  ist,  genauer  ausgedrückt  von  dem,  was  sich  in  seinen 
Handlungen  einem  selbstgegebenen  Gesetze  unterwirft,  dem  Men- 
schen als  moralischem  oder  autonomem  Wesen,  in  einem  Worte 
als  Persönlichkeit.  Denn  wenn  er  auch  insofern  keine  Würde 
besitzt,  als  er  dem  moralischen  Gesetze  unterworfen  ist, 
so  doch  insofern,  als  er  selbst  sich  dieses  Gesetz  gibt,  sich  ihm 
daher  nur  als  einem  selbstgegebenen  unterwirft.  Denn  das  ist 
die  Idee  der  Würde  .eines  vernünftigen  Wesens,  daß  es  keinem 
Gesetze  gehorcht  als  dem,  das  es  zugleich  selbst  gibt.  So  ver- 
leiht dem  Menschen  seine  Autonomie  auch  noch  einen  »Zweck- 
vorzug« ^)  vor  allen  anderen  Weltwesen  und  verschafft  ihm  einen 
Wert,  der  ihn  vor  allen  Geschöpfen  adelt,  eine  Erhabenheit  seiner 
Person,  mit  der  verglichen  die  Beschaffenheit  seines  Z  u- 
Standes  als  etwas  gänzlich  Indifferentes  erscheint.    Aber  weil 

i)   Grundl.   z.  M.  d.   S.   S.   68  R. 


23  I^ie  Bestimmung  des  Menschen. 

es  die  freie  Unterwerfung  unter  das  Sittengesetz  ist,  der  er  diese 
Würde  verdankt,  darum  kann  sie  ihm  auch  niemals  von  einem 
andern  verHehen  werden;  nur  er  selbst  kann  sie  sich  geben. 

Tut  er  das  aber,  dadurch  daß  er  auf  dem  Posten,  auf  dem 
er  steht,  in  dem  früher  i)  festgelegten  Sinne  seine  Pflicht  erfüllt, 
so  hat  er  ebenso  wie  jedes  andere  Vernunftwesen,  das  sich  ebenso 
verhält,  Anspruch  auf  eine  besondere  Art  der  Schätzung,  die 
durch  keinen  anderen  Ausdruck  bezeichnet  werden  kann  als 
durch  den,  der  auch  für  die  Schätzung  des  Sittengesetzes  galt, 
den  Ausdruck  der  Achtung.  Durch  seine  Würde  also  wiid  er  für 
alle  vernünftigen  Weltwesen  ein  Gegenstand  der  Achtung,  und 
ist  dadurch  zugleich  berechtigt,  sich  mit  jedem  andern  zu  mes- 
sen und  auf  den  Fuß  der  Gleichheit  zu  schätzen.  Denn  wenn  je- 
mand nur  seine  Pflicht  tut,  so  ist  kein  Grund  dafür  abzusehen, 
daß  i  h  m  bloß  die  Pflicht  zu  gehorchen,  einem  andern  dagegen 
das  Recht  zu  befehlen  zukommen  sollte.  Solchen  Ueberlegungen 
verdankt  Kants  berühmtes  Wort  über  Rousseau  seinen  Ursprung: 
»Es  war  eine  Zeit,  da  ich  glaubte,  der  ganze  Durst  nach  Erkenntnis 
und  die  begierige  Unruhe,  darin  weiterzukommen,  könnte  die 
Ehre  der  Menschheit  ausmachen,  und  ich  verachtete  den  Pöbel, 
der  von  nichts  weiß.  Rousseau  hat  mich  zurechtgebracht.  Dieser 
verblendete  Vorzug  verschwindet,  ich  lerne  die  Menschen  ehren«  ^). 
So  tritt  zur  Freiheit  vermittels  der  erfüllten  Pflicht,  die  sie  erst 
möglich  macht,  als  ihre  Konsequenz  die  Gleichheit  hinzu. 

Damit  ist  das  Wesen  des  Menschen  festgelegt.  Es  hat  sich 
herausgestellt,  daß  er  eine  von  den  übrigen  auf  Erden  lebenden 
Wesen  sehr  wohl  zu  unterscheidende  Klasse  bildet.  Während 
alle  andern  nur  Maschinen  sind,  die  als  bloße  Sinnenwesen 
schlechthin  dem  Prinzip  der  Naturkausalität  unterliegen  und 
in  ihrer  Willkür  objektiv  allein  durch  sinnliche  Eindrücke 
und  subjektiv  durch  das  Gefühl  der  Lust  und  Unlust  nicht  bloß 
affiziert,  sondern  nezessitiert  werden,  ist  der  Mensch  trotz  aller 
seiner  Zugehörigkeit  zur  Sinnenwelt  nicht  nur  schon  als  Naturwesen 
darin  vom  Tiere  verschieden,  daß  er  Verstand  und  Ver- 
nunft besitzt  und  sich  mit  ihrer  Hilfe  Vorstellungen  von  dem, 
was  auf  entferntere  Art  nützlich  oder  schädlich  ist,  machen  oder 
Zwecke  setzen  kann,  mit  denen  er  die  gerade  gegenwärtigen  Ein- 
drücke auf  sein  sinnliches  Begehrungsvermögen  zu  überwinden 
vermag,   sondern  erhebt   sich,   was  weit  wichtiger  ist,   dadurch 

I)   S.   14  f.  '  2)  WW.  VIII.  S.  624  Hart. 


Das  Weltbeste. 


29 


unendlich  über  alle  Tierheit,  daß  er  in  praktischer  Rücksicht 
als  ein  Wesen  zu  betrachten  ist,  das  die  Fähigkeit  hat,  sich  un- 
abhängig von  allen  empirischen  Triebfedern  und  ohne  Voraus- 
setzung irgendeines  Gefühls  der  Lust  oder  Unlust  von  selbst  zu 
bestimmen,  m.  a.  W.  als  ein  Wesen,  das  frei  ist  und,  sofern  es 
von  dieser  Freiheit  Gebrauch  macht,  zugleich  das  Recht  hat,  sich 
allen  andern  freien  Wesen  gleichzustellen. 

3.  Das  Weltbeste. 

Aus  der  Eigentümlichkeit  des  Menschen  muß  sich  nun  seine 
Bestimmung  ergeben. 

Jedoch  ist,  dies  Ergebnis  zu  erhalten,  noch  eine  weitere 
Erwägung  erforderlich,  die  es  mit  der  Stellung  des  Menschen  im 
Ganzen  der  Natur  zu  tun  hat.  Sieht  man  nämlich  die  Natur, 
wie  es  ein  vernunftgemäßes  Urteilen  verlangt  ^),  als  ein  teleo- 
logisches System  an,  dann  ergibt  sich  mit  Notwendigkeit  der 
Begriff  eines  Endzwecks  in  ihm.  Denn  da  ein  solches  System 
nur  von  einer  verständigen  Ursache  herrühren  kann,  die  nach 
Absichten  wirkt,  so  muß  sie  auch  auf  einen  Abschluß  der  Kette 
der  einander  untergeordneten  Zwecke  bedacht  gewesen  sein. 
Dieser  Endzweck  der  Schöpfung  kann  aber  als  ein  nicht  weiter 
mehr  bedingter  Zweck,  nur  ein  solches  Naturwesen  sein,  das  den 
Zweck  seiner  Existenz  in  sich  selbst  hat.  Das  ist  allein  der  Mensch. 
Aber  auch  er  nicht  schon  als  sinnliches,  sondern  erst  als  Ver- 
standeswesen oder  als  das  einzige  Wesen  in  der  Welt,  das  sich 
selbst  Zwecke  zu  setzen  vermag,  und  auch  jetzt  noch  nicht  als 
Verstandeswesen  schlechthin,  sondern  nur  unter  der  Bedingung, 
daß  er  die  Zwecke,  die  er  sich  setzt,  dem  moralischen  Gesetze 
unterordnet,  m.  a.  W.  der  Mensch  als  moralisches  Wesen.  Denn 
das  Prinzip  der  Moralität  ist  »das  einzige  Mögliche  in  der  Ord- 
nung der  Zwecke,  was  in  Ansehung  der  Natur  schlechthin  un- 
bedingt ist  und  ihr  Subjekt  dadurch  zum  Endzweck  der  Schöp- 
fung allein  qualifiziert « ^) .  Als  moralisches  Wesen  also  ist  der 
Mensch  Endzweck  der  ganzen  Natur,  weil  er  als  solches  den  Zweck 
seiner  Existenz  in  sich  selbst  hat.  Und  dieser  in  ihm  als  mora- 
lischem Wesen  belegene  Zweck  ist  identisch  mit  seinem  End- 
zweck, dessen  Erkenntnis  die  letzte  Voraussetzung  für  die  Fest- 
legung seiner  Bestimmung  bildet. 

I)   Vgl.   S.   5  f.  2)   Kritik  d.   Urteilskraft  S.   329  *  R. 


OQ  Die  Bestimmung  des  Menschen. 

Dieser  Endzweck  besteht  nun  in  nichts  anderem  als  im 
höchsten  Gut.  Als  moralisches  Wesen  ist  der  Mensch  dadurch 
charakterisiert,  daß  er  alle  seine  Maximen  mit  dem  Sittengesetze 
in  Einklang  bringt,  oder  die  Zwecke,  die  er  sich  schon  als  mit 
Verstand  und  Willkür  begabtes  Sinnenwesen  setzt  und  die  die  ein- 
zigen »äußeren  Verhältnisse«  sind,  in  denen  er  als  endliches  Wesen 
seinem  moralischen  Willen  den  für  ihn  unvermeidlichen  Zweck 
überhaupt  setzen  kann  ^),  dem  Sittengesetze  unterwirft  und  so 
das  moralische  Gesetz  zur  obersten  Bedingung  aller  seiner 
Neigungen  und  »Privatabsichten«  macht.  Solche  moralischen  oder 
uneigennützigen  Zwecke  bezeichnet  Kant  aber  als  das  Gute.  Das 
Gute  ist  also  nichts  anderes,  als  die  dem  Sittengesetze  entsprechende 
Einschränkung  der  Gegenstände  des  von  Lust  und  Unlust 
bestimmten  unteren  Begehrungsvermögens  oder  der  subjektiven 
Zwecke  des  Menschen  dahin,  daß  sie  in  dem  Urteile  jedes  ver- 
nünftigen Wesens  Gegenstände  des  Begehrungsvermögens  sein 
können.  Die  unvermeidlichen  Objekte  des  reinen  Willens  ent- 
springen also  aus  der  Einschränkung  der  natürlichen  Ziele.  Sie 
zu  setzen  ist  aber  nach  Kants  Ueberzeugung  für  den  Menschen 
als  moralisch-sinnliches  Wesen  nicht  nur  ein  Gebot  der  praktischen 
Vernunft,  sondern  auch  deshalb  unerläßlich,  weil  ihn  seine  sinn- 
lichen Neigungen  zu  Zwecken  verleiten,  die  der  Pflicht  wenigstens 
zuwider  sein  können,  und  deren  Einfluß  die  gesetzgebende  Ver- 
nunft nicht  anders  abzuwehren  vermag,  als  dadurch,  daß  sie 
ihnen  entgegengesetzte  Zwecke  aufstellt. 

Nun  setzt  sich  aber  der  Mensch  als  vernünftiges  Wesen  nicht 
nur  überhaupt  Zwecke,  'sondern  hat  auf  Grund  des  Einheits- 
strebens der  Vernunft  die  Tendenz,  sie  alle  zu  einer  Einheit  zu- 
sammenzufassen. So  macht  er  es  schon  als  bloßes  Sinnenwesen, 
indem  er  alle  seine  natürlichen  Zwecke  unter  dem  Namen  der 
Glückseligkeit  zusammenfaßt;  so  auch  als  moralisches  Wesen, 
und  erhält  dadurch  die  Idee  eines  höchsten  Gutes  in  der  Welt, 
das,  da  das  einzelne  Gute  die  Einschränkung  einer  b  e- 
stimmten  Neigungsmaxime  auf  die  Bedingung  ihrer  Allgemein- 
gültigkeit hin  ist,  selbst  ^nichts  weiter  sein  kann,  als  die  gleiche 
Einschränkung  aller  seiner  materialen  Zwecke  oder  m.  a,  W. 
seiner  Glückseligkeit.  Das  höchste  Gut  ist  also  ein  dem  Menschen 
von  seiner  praktischen  Vernunft  gebotenes  Objekt,  »welches  die 
formale  Bedingung  aller  Zwecke,    wie  wir  sie  haben  sollen   (die 

I)   Vgl.  WW.   VIII   S.   279  *  Ak.-Ausg. 


Das  Weltbeste. 


31 


Pflicht),  und  zugleich  alles  damit  zusammenstimmende  Bedingte 
aller  derjenigen  Zwecke,  die  wir  haben  (die  jener  ihrer  Beob- 
achtung angemessene  Glückseligkeit)  zusammen  vereinigt  in  sich 
enthält « ^) . 

Danach  sind  im  höchsten  Gute  zwei  Elemente  beschlossen: 
die  Sittlichkeit  oder  genauer  —  da  es  sich  ja  in  allen  diesen  Fragen 
um  den  Menschen  als  vernünftig-sinnliches  Wesen  handelt  — 
die  Sittlichkeit  in  der  Form,  wie  sie  für  solche  Wesen  allein  mög- 
lich ist,  nämlich  als  moralische  Gesinnung  im  Kampfe  mit  der 
Selbstsucht  als  der  Summe  aller  Neigungen,  d.  h.  in  der  Form 
der  Tugend,  und  zweitens  die  Glückseligkeit.  Und  bei  aller  Ab- 
lehnung des  Eudämonismus  betont  Kant  diese  Doppeltheit  des 
sittlichen  Endzwecks  nicht  nur  mit  aller  Entschiedenheit,  son- 
dern hält  auch  allen  Einwänden  gegenüber  an  ihr  fest.  Denn 
ein  Zweck,  so  sahen  wir  schon  ^),  ist  »jederzeit  der  Gegenstand 
einer  Zuneigung«.  Darum  sucht  der  Mensch  auch  am  moralischen 
Endzwecke  etwas,  was  er  »lieben«  kann  ^).  Das  aber  kann  das 
in  diesem  enthaltene  Sittengesetz  nicht  sein.  Denn  das  ist  für  ihn 
niemals  ein  Gegenstand  der  Liebe,  sondern  immer  nur  der  Ach- 
tung, weil  dem  Pflichtbegriffe  gerade  um  seiner  Würde  willen 
keine  Anmut  beigesellt  werden  kann.  Also  muß  zu  ihm  noch  ein 
zweites,  der  Neigung  zugängliches  Element  hinzukommen,  um 
es  zum  Endzweck  tauglich  zu  machen:  die  Glückseligkeit.  Und 
auf  sie  gänzlich  Verzicht  zu  leisten  wird  dem  Menschen  vom 
Sittengesetze  auch  gar  nicht  zugemutet.  Es  fordert  nur  die  Ein- 
schränkung des  Glückseligkeitstrebens,  nicht  seine  Vernichtung. 
Bleibt  darum  auch  jetzt  das  schon  früher  *)  festgestellte  Wert- 
verhältnis zwischen  Tugend  und  Glückseligkeit,  wonach  die 
Tugend  die  objektive  Bedingung  aller  Glückseligkeit,  im  voll- 
endeten Gute  also  das  oberste  ist,  völlig  bestehen,  so  bildet  doch 
die  Glückseligkeit  für  den  Menschen  die  subjektive  Bedingung, 
unter  der  er  sich  in  seiner  Unterordnung  unter  das  moralische 
Gesetz  allein  einen  Endzweck  setzen  kann.  Erst  in  ihrer  not- 
wendigen Verbindung  machen  Tugend  und  Glückseligkeit  das 
höchste   Gut  aus. 

Die  Notwendigkeit  dieser  Verbindung  bedarf  nun  aber  noch 
einer  genaueren  Bestimmung.  Das  Verhältnis  zwischen  zwei 
Elementen,    die    miteinander    notwendig    verbunden    sind,    kann 

i)   Rel.  usw.   S.   5  R.  2)    S.   25. 

3)   Rel.  usw.   S.   7  A.   R.  4)   S.   15. 


02  **  Die  Bestimmung  des  Menschen. 

entweder  das  logische  der  Identität  oder  das  reale  der  Kausalität 
sein.  Von  Identität  kann  nun  bei  Tugend  und  Glückseligkeit 
keine  Rede  sein,  weil  sie  auf  ganz  verschiedenen,  ja  diametral 
entgegengesetzten  Prinzipien  beruhen,  dem  des  Sittengesetzes 
oder  der  Uneigennützigkeit,  das  jede  Maxime  an  der  Möglichkeit 
ihrer  allgemeinen  Geltung  mißt,  und  dem  der  Selbstliebe,  das 
lediglich  das  eigene  Wohl  zur  Richtschnur  nimmt.  Somit  ist 
nur  an  das  Verhältnis  der  Kausalität  zu  denken.  Und  hier  kann 
von  den  beiden  denkbaren  Fällen  der  eine,  daß  die  Glückseligkeit 
Ursache  der  Tugend  sei,  schon  deshalb  nicht  in  Frage  kommen, 
weil  das  Prinzip  der  Selbstliebe,  das  auf  das  stets  subjektive 
und  relative  Gefühl  von  Lust  und  Unlust  gegründet  ist,  empirisch 
bedingt  ist  und  daher  niemals  zu  einem  immer  allgemeingültigen 
praktischen  Gesetze  führen  kann,  wie  es  der  Tugend  zugrunde 
liegt.  Also  kann  nur  die  Tugend  Ursache  und  zugleich  Bedingung 
der  Glückseligkeit  sein. 

Jedoch  scheint  auch  diese  Annahme  auf  ein  Bedenken  zu 
stoßen.  Alle  von  unserer  Willensbestimmung  abhängige  Ver- 
knüpfung von  Ursachen  und  Wirkungen  in  der  Welt  richtet  sich 
nicht  nach  der  moralischen  Gesinnung,  sondern  nur  nach  unserer 
Kenntnis  der  Naturgesetze  und  unserem  physischen  Vermögen, 
sie  unseren  Absichten  unterzuordnen.  Es  sieht  also  so  aus,  als 
könnte  mit  der  Tugend  Glückseligkeit  wohl  einmal  zufällig  zu- 
sammentreffen, keineswegs  aber  so,  als  habe  sie  sie  notwendig 
im  Gefolge. 

Kant  glaubt  dieses  Bedenken  durch  die  Erinnerung  an  die 
Doppelseitigkeit  des  Menschen  als  Erscheinung  und  als  Ding 
an  sich  leicht  zum  Schweigen  bringen  zu  können.  Nur  dann 
nämlich  würde  es  direkt  falsch  sein,  zu  sagen,  daß  die  Tugend 
notwendig  zur  Glückseligkeit  führe,  wenn  man  sie  nur  für  eine 
Ursache  in  der  Sinnenwelt  und  die  sinnliche  Existenz  für  die 
einzige  Seinsart  des  vernünftigen  Wesens  halten  wollte.  Hier 
richtet  sich  der  physische  Zustand  allerdings  nicht  nach  der  Ge- 
sinnung, sondern  ist  lediglich  das  Ergebnis  des  Naturmechanismus. 
Faßt  man  sie  dagegen  —  wozu  man  wegen  der  Befugnis,  den 
Menschen  auch  als  Noumenon  zu  denken,  s.  E,  vollauf  berechtigt 
ist  —  als  einen  rein  intelligiblen  Bestimmungsgrund  des  mensch- 
lichen Willens  in  der  Erscheinungswelt  auf,  so  ist  es  wenigstens 
nicht  unmöglich,  anzunehmen,  daß  die  Güte  der  Ge- 
sinnung auch  eine  glückliche  Beschaffenheit  des  natürlichen  Zu- 


Das  Weltbeste. 


33 


Standes  nach  sich  zieht,  weil  man  wie  das  Reich  der  Sitten,  so 
auch  das  der  Natur  als  das  Werk  eines  intelligenten  Urhebers 
betrachten,  und  somit  beide  als  in  einem  obersten  Prinzipe 
zusammenhängend  denken  darf. 

Ist  damit  aber  in  Kants  Augen  wenigstens  die  Möglich- 
keit einer  notwendigen  Verbindung  von  Tugend  und  Glück- 
seligkeit gesichert,  so  daß  ihr,  wenn  sie,  wie  es  der  Fall  ist,  aus 
praktischen  Gründen  angenommen  werden  muß,  theoretische 
Bedenken  nicht  mehr  entgegengehalten  werden  können,  so  erhebt 
sich  nun  sogleich  die  weitere  Frage  nach  dem  quantitativen  Ver- 
hältnis zwischen  beiden.  Darauf  aber  erteilt  er  die  Antwort, 
daß  es  sich  nur  um  eine  genaue  Proportion  handeln  könne.  Denn 
wie  eine  unparteiische  Vernunft  auf  Grund  der  praktischen  Idee 
vom  höchsten  Gute  nicht  umhin  kann,  zu  urteilen,  daß  derjenige, 
welcher  als  endliches  Wesen  der  Glückseligkeit  bedürftig  und  durch 
Tugend  auch  würdig  ist,  ihrer  überhaupt  teilhaftig  werden  muß, 
so  kann  sie  auf  die  Frage  nach  dem  quantitativen  Verhältnis 
zwischen  beiden  nur  die  Antwort  erteilen,  daß  die  Glückseligkeit 
dem  einzelnen  nach  Maßgabe  seiner  Uebereinstimmung  mit  dem 
Sittengesetze  zuteil  werden  muß. 

Nur  mit  dieser  Bestimmung  kann  also  die  Idee  des  höchsten 
Gutes  den  Endzweck  des  Menschen  als  moralischen  Wesens,  ja, 
sofern  sie  die  Tugend  als,  oberste  Bedingung  aller  Glückseligkeit 
enthält,  auch  den  Bestimmungsgrund  des  reinen  Willens 
bilden.  Denn  so  enthält  sie  die  Glückseligkeit  nicht  als  das,  was 
wir  unbedingt  begehren,  sondern  nur  als  Folge  der  Sitt- 
lichkeit, und  nicht  die  Glückseligkeit,  sondern  die  Würdigkeit, 
glücklich  zu  sein^  ist  jetzt  das  Erste  und  der  unbedingte  Gegen- 
stand unserer  Maximen.  Und  »eine  Willensbestimmung,  die  sich 
.  .  .  auf  diese  Bedingung  einschränkt,   ist  nicht  eigennützig«  i). 

Zugleich  aber  ergibt  sich  daraus,  daß  das  höchste  Gut  mora- 
lischer und  somit  objektiv-notwendiger  Endzweck  des  Menschen  ist, 
es  also  nicht  das  Ziel  dieses  oder  jenes  bestimmten,  sondern  nur 
des  Menschen  oder  der  Menschheit  sein  kann,  daß  es 
sich  dabei  nicht  um  ein  individuelles,  sondern  um  ein  gemein- 
schaftliches Gut  handelt.  Nicht  das  Privatbeste,  sondern  das 
»höchste  Weltbeste«  2),  d.  h.  die  im  Weltganzen  oder  im  Ganzen 
aller  miteinander  in  Gemeinschaft  stehender  Wesen  an  die  reinste 


1)  WW.  VIII  S.  280  A.  Ak.-Ausg. 

2)  Kritik  d.   Urteilskraft  S.   348  R. 
Goedeckemeyer,  Kants  Lebensanschauung. 


34 


Die  Bestimmung  des  Menschen. 


Sittlichkeit   geknüpfte,  allgemeine   und   ihr   angemessene    Glück- 
seligkeit ist  es  also,  was  den  Sinn  dieser  Idee  ausmacht. 

Jedoch  muß  dazu  hinsichtlich  des  einen  Elements  dieses 
Weltbesten,  der  Glückseligkeit,  noch  eine  weitere  Bestimmung 
treten.  Wenn  es  sich  im  höchsten  Gute  auch  um  eine  all- 
gemeine Glückseligkeit  handelt ,  so  ist  diese  Glückseligkeit 
doch  nicht  für  alle  dieselbe.  Was  der  einzelne  zu  seiner  Glück- 
seligkeit rechnet,  ist  wegen  der  empirischen  Bedingtheit  derselben 
durchaus  relativ  und  subjektiv.  Als  freies  und  allen  andern  gleiches 
Wesen  hat  aber  jeder  das  Recht,  »nach  seiner  eigenen  Wahl  glück- 
lich zu  sein «  ^) .  Er  darf  seine  Glückseligkeit  auf  dem  Wege  suchen, 
»welcher  ihm  selbst  gut  dünkt,  wenn  er  nur  der  Freiheit  anderer, 
einem  ähnlichen  Zwecke  nachzustreben,  die  mit  der  Freiheit  von 
jedermann  nach  einem  möglichen  allgemeinen  Gesetze  zusammen 
bestehen  kann ,  .  .  .  nicht  Abbruch  tut « ^) ;  und  niemand  kann 
ihn  zwingen,  auf  die  ihm  richtig  scheinende  Art  glücklich  zu 
sein.  So  besteht  das  Weltbeste  zuguterletzt  darin,  daß  jeder  im 
angemessenen  Verhältnis  zu  seiner  Würdigkeit  glücklich  zu  sein 
der  Güter  teilhaftig  wird,  in  denen  er  selbst  sein  Glück  findet. 

So  verstanden  also  ist  das  höchste  Gut  der  Endzweck  des 
Menschen.  Dadurch  aber,  daß  es  das  moralische  Gesetz  ist,  das 
ihm  diesen  Zweck  vor  Augen  stellt,  erhält  auch  dieses  selbst  noch 
eine  neue  Gestalt.  Es  erweitert  sich  zu  einem  »kategorischen 
Imperativ  der  der  Materie  nach  praktischen  Vernunft,  welche 
zum  Menschen  sagt:  ich  will,  daß  deine  Handlungen  zum  End- 
zweck aller  Dinge  zusammenstimmen«^).  Und  in  diesem  Impera- 
tiv liegt  das  vor,  was  nach  Kant  die  Bestimmung  des  Menschen 
ausmacht.  In  ihm  erst  findet  sie  ihren  Sinn  und  ihren  vollen 
Ausdruck.  Sie  sagt  mithin  nichts  anderes,  als  daß  das  höchste 
Gut  nicht  etwas  ist,  das  sich  der  Mensch  nach  Belieben  zum 
Objekt  machen  könnte,  sondern  daß  es  eine  praktisch-notwendige 
Aufgabe  oder  eine  Pflicht  bedeutet :  der  Mensch  soll  das  höchste 
in  der  Welt  mögliche  Gut  zu  seinem  Endzweck  machen,  s  o  1 
durch  seine  Handlungen  das  Weltbeste  an  sich  und  andern  nach 
allen  Kräften  zu  befördern  und  an  seiner  Realisierung  mitzuwirken 
suchen  oder  m.  a.  W. :  der  Sinnenwelt  als  einem  Ganzen  ver- 
nünftiger Wesen  die  Form  ihres  Urbildes,  der  übersinnlichen 
Natur,  und  damit  diejenige  Beschaffenheit  geben,   die  mit  dem 

1)   WW.   VI   S.   454  Ak.-Ausg.  2)   WW.   VIII   S.   290  Ak.-Ausg. 

3)  WW.   VIII   S.   397  A.  Ak.-Ausg. 


Eigene  Vollkommenheit.  os 

Endzweck  der  reinen  praktischen  Vernunft  übereinstimmen  würde; 
ja  er  soll  —  was  der  Begriff  des  sittlichen  Gebotes  mit  sich 
bringt  —  um  seinetwillen  auch  alle  möglichen  Leiden  auf  sich 
nehmen  und  sich  seines  Fortschritts  freuen,  wenn  es  auch  nicht 
der  Vorteil  des  Vaterlandes  oder  eigener  Gewinn  ist.  Die  Reali- 
sierung des  höchsten  Gutes  in  der  Welt  oder  des  Weltbesten 
— ^und  gar  nichts  anderes  — •  ist  es  also,  worin  Kant 
die  durch  den  kategorischen  Imperativ  gebotene  höchste  und 
letzte  menschhche  Pflicht  sieht.  Darin  allein  besteht  nach  seiner 
Ueberzeugung  des  Menschen  Bestimmung. 


IL  Die  besonderen  sittlichen  Aufgaben. 

I.  Eigene  Vollkommenheit. 

Aus  der  Bestimmung  des  Menschen,  das  Weltbeste  zu  reali- 
sieren, ergeben  sich  nun  besondere  Aufgaben.  Zum  höchsten  Gute 
in  der  Welt  gehörten  die  beiden  Elemente  Tugend  und  Glück- 
seligkeit. Um  sie  sich  zu  bemühen  ist  daher  seine  größte  Pflicht. 
Aber  nur  um  eigene  Tugend  und  um  fremde  Glückseligkeit.  Denn 
die  Tugend  konnte  nur  der  einzelne  selbst  sich  verleihen,  und  es 
würde  s.'nnlos  sein,  für  etwas  an  einem  anderen  zu  sorgen,  das 
nur  er  selbst  sich  geben  kann,  und  nach  eigener  Glückseligkeit 
strebt  der  Mensch  auch  ohne  Pflichtgebot  schon  von  Natur  *). 

Tugend  und  Glückseligkeit  gehörten  aber  so  zum  höchsten 
Gut,  daß  jene  die  Bedingung  dieser  war.  Um  eigene  Tugend  als 
die  fundamentalste  Voraussetzung  des  Weltbesten  hat  sich  daher 
der  Mensch  vor  allem  zu  kümmern.  Es  ist  seine  Pflicht,  die  ihm 
als  moralischem  Wesen  ursprünglich  eigene  und  nie  verlierbare 
moralische  Anlage  nach  Möglichkeit  zu  entwickeln  oder  sich 
zu  moralisieren. 

Daraus  ergeben  sich  für  Kant  gleich  zwei  Probleme.  Es 
gilt  zunächst,  sich  über  den  Inhalt  dieser  Pflicht  ganz  klar  zu 
werden,  weiterhin  aber  auch,  ihre  Bedeutung  für  den  einzelnen  noch 
präziser  zu  bestimmen. 

Was  das  erstere  angeht,  so  muß  seine  Lösung  aus  einer  Ueber- 
legung  über  Sinn  und  Voraussetzung  der  Tugend  als  moralisch- 

I)   Vgl.   S.   8. 


og  Die  besonderen  sittlichen  Aufgaben. 

praktischer  Vollkommenheit  hervorgehen.  Vollkommenheit  des 
Menschen  in  diesem  Sinne  bedeutet,  daß  er  das  Vermögen  hat,  sich 
selbst  seinen  Zweck  nach  seinen  eigenen  Begriffen  von  Pflicht 
zu  setzen.  Dazu  aber  ist  zunächst  zweierlei  erforderlich.  Einmal, 
daß  er  sich  in  der  ihm  von  der  Natur  verliehenen  moralischen 
Vollkommenheit  erhält,  also  alles  vermeidet,  wodurch  er 
sich  des  ihm  eigenen  Vorzuges  eines  moralischen  Wesens,  der 
inneren  Freiheit  als  seiner  angeborenen  Würde,  berauben  und 
sich  zur  bloßen  Sache  machen  würde,  die  Lüge  nämlich,  den 
Geiz  und  alle  Kriecherei.  Und  weiterhin,  daß  er  vollkom- 
mener zu  werden  sucht  als  die  bloße  Natur  ihn  schuf, 
und  daher  bestrebt  ist,  alles  zu  tun,  um  subjektiv  beständig  an 
Lauterkeit  der  Gesinnung  zuzunehmen  und  objektiv  alle  speziellen 
Zwecke,  die  den  Charakter  der  Pflicht  an  sich  tragen,  auch  zu 
seinen  Zwecken  zu  machen.  Doch  ist  von  diesen  Forderungen 
die  zweite  nur  von  weiter  Verbindlichkeit.  Da  es  dem  Menschen 
nicht  möglich  ist,  so  in  die  Tiefe  seines  eigenen  Herzens  hinein- 
zuschauen, daß  er  jemals  auch  nur  bei  einer  Handlung  Völlig 
gewiß  sein  könnte,  daß  seine  moralische  Absicht  rein  und  seine 
Gesinnung  lauter  war,  so  betrifft  die  Pflicht  der  Erhöhung  seines 
moralischen  Zustandes  nicht  die  Handlungen  selbst,  sondern  nur 
ihre  Maxime.  Sie  verlangt  vom  Menschen  nur,  daß  er  nach  allem 
Vermögen  darauf  ausgeht,  bei  allen  pflichtmäßigen  Hand- 
lungen ohne  jede  Rücksicht  auf  persönlichen  Vorteil  oder  Nachteil 
den  Gedanken  der  Pflicht  ausreichendes  Motiv  sein  zu  lassen. 

Zu  diesen  beiden  Erfordernissen  der  Erhaltung  und  Erhöhung 
seines  moralischen  Zustandes  kommt  nun  aber  noch  ein  weiteres 
als  ihre  Voraussetzung  hinzu.  Um  moralisch  gut  oder  so  gesinnt 
zu  werden,  daß  er  nur  lauter  gute  Zwecke  wählt,  muß  sich  der 
Mensch  zuerst  einmal  in  den  Stand  setzen,  überhaupt  selbständig 
und  unabhängig  von  der  Natur  irgendwelche  Zwecke 
aufzustellen.  Dem  dient  seine  Kultivierung,  die  im  Unterschiede 
von  der  Moralisierung  und  weiter  reichend  als  sie  »die  Hervor- 
bringung der  Tauglichkeit  eines  vernünftigen  V/esens  zu  be- 
liebigen Zwecken  überhaupt «i)  ist.  Sie  bezieht  sich  also  nicht 
auf  seine  moralische  Anlage,  sondern  auf  seine  Naturanlagen, 
nicht  auf  seinen  Willen  oder  seine  sittliche  Denkungsart,  sondern 
auf  seine  Geistes-,  Seelen-  und  Leibeskräfte  und  geht  darauf  aus, 
ihn  aus  der  Rohigkeit  seiner  Natur,  aus  der  bloß  passiv  allen 

i)   Krit.  d.   Urteilskraft  S.   323   R. 


Eigene  Vollkommenheit.  q^ 

Reizen  überlassenen  und  mechanisch  durch  sie  bewegten  Tierheit 
immer  mehr  zu  einer  von  der  Vernunft  geleiteten  Aktivität,  und 
damit  zur  Menschheit,  zu  erheben,  wodurch  allein  er  befähigt 
wird,  sich  selbst  Zwecke  zu  setzen.  Aber  auch  sie  enthält  jene 
Doppeltheit,  auf  die  Kant  schon  bei  der  Moralisierung  hinwies. 
Es  ist  dem  Menschen  nicht  etwa  nur  verboten,  sich  in 
irgendeiner  Weise,  durch  Selbstentleibung  oder  Selbstverstümme- 
lung, durch  Selbstschändung  und  durch  Selbstbetäubung  des 
Vermögens  zu  berauben,  von  seinen  natürlichen  Kräften  über- 
haupt Gebrauch  zu  machen,  sondern  darüber  hinaus  geboten, 
sie  alle  auszubauen,  um  dadurch  ein  in  allerlei  Absicht  brauch- 
barer Mensch  oder  ein  der  Welt  nützliches  Glied  und  somit  auch 
in  pragmatischer  Rücksicht,  d.  h.  in  Rücksicht  auf  seine  Fähigkeit 
zur  Beförderung  der  allgemeinen  Wohlfahrt,  dem  letzten  Zwecke 
seines  Daseins  angemessen  zu  werden.  Und  auch  hier  gilt  wieder, 
daß  die  auf  die  physische  Vervollkommnung  gerichteten 
Gebote  nur  von  weiter  Verbindlichkeit  sind.  Die  verschiedenen 
Berufsneigungen  der  Menschen  und  die  Verschiedenheit  der 
Lagen,  in  die  sie  kommen  können,  läßt  für  diese  Pflichten  keine 
präzisere  Formulierung  zu,  als  die,  es  sich  zur  Maxime  zu 
machen,  Gemüts-  und  Leibeskräfte  zur  Tauglichkeit  für  alle 
Zwecke  anzubauen,  die  einem  vorkommen  können,  macht  es  aber 
unmöglich,  dem  einzelnen  in  der  Wahl  seiner  besonderen  Lebens- 
art bestimmtere  Vorschriften  zu  geben.  — 

So  also  steht  es  mit  dem  Inhalt  der  dem  Menschen  durch 
seine  Bestimmung  aufgegebenen  Pflicht,  für  die  moralisch-prak- 
tische Vollkommenheit  zu  sorgen.  Was  aber  ihre  Bedeutung  für 
den  einzelnen  betrifft,  so  stellt  sich  folgendes  heraus.  Betrachtet 
man  die  Entwicklung  der  natürlichen  Anlagen  wie  Ge- 
schicklichkeit in  Künsten  und  Wissenschaften,  Geschmack,  Ge- 
wandtheit des  Körpers  u.  a.  m.,  so  ergibt  sich,  daß  die  Vernunft, 
der  ihre  Ausbildung  obliegt,  nicht  instinktmäßig  wirkt,  sondern 
allerlei  Versuche,  allerlei  Uebung  und  Unterricht  nötig  hat,  um 
sie  von  einer  Stufe  zur  andern  fortzubilden.  Daraus  aber  folgt, 
daß  der  einzelne  unmäßig  lange  würde  leben  müssen,  um  wirklich 
die  ganze  Vollkommenheit  seiner  Naturanlagen  zu  erringen.  Nun 
ist  jedoch  das  Leben  des  einzelnen  begrenzt;  ist  es  dennoch  Pflicht 
der  Menschen,  sich  zu  kultivieren,  so  bleibt  nichts  anderes  übrig, 
als  anzunehmen,  daß  die  natürliche  Vollkommenheit  erst  in  einer 
langen,  ja  vielleicht  unabsehbaren  Reihe  von   Generationen  er- 


o8  Die  besonderen  sittlichen  Aufgaben. 

langt  werden  kann,  deren  eine  der  anderen  ihre  Aufklärung  über- 
liefert, beim  Menschen  also  im  Gegensatz  zu  allen  andern  Tieren 
nicht  der  einzelne,  sondern  »allenfalls  nur  die  Gattung«  ^)  hoffen 
kann,  im  unaufhörlichen  Fortschreiten  die  physische  Bestimmung 
der  Menschheit  zu  erreichen.  Dann  aber  bleibt  für  den 
einzelnen  nichts  anderes  übrig,  als  beständig  und  unermüdlich 
nach  ihr  zu  s  t  r  e  b  e  n. 

Und  ganz  dasselbe  gilt  auch  für  die  Entwicklung  der  mora- 
lischen Anlage.  Da  der  Mensch  als  endliches  Wesen  immer 
von  physischen  Dingen  abhängig  ist,  so  kann  er  niemals  ganz 
frei  von  Begierden  und  Neigungen  sein,  die  ihm  Anlaß  geben,  von 
den  Vorschriften  des  moralischen  Gesetzes  abzuweichen.  Des- 
halb ist  auch  der  moralische  Zustand,  auf  dem  er  steht,  niemals 
der  der  Heiligkeit,  d.  h.  des  Besitzes  einer  völligen  Reinigkeit 
der  Gesinnung,  sondern  immer  nur  der  der  Tugend  2).  Auch  in 
Ansehung  der  moralischen  Vollkommenheit  kann  also  für  den 
einzelnen,  wenigstens  in  diesem  Leben,  nur  das  Streben  nach  ihr 
oder  das  Fortschreiten  zu  ihr,  nicht  aber  das  Erreichen  Pflicht 
sein. 

Ist  es  also  seine  Aufgabe,  sich  zu  kultivieren  und  zu  morali- 
sieren, so  bedeutet  das  für  ihn  nur,  daß  er  alles  tun  soll,  um  einer- 
seits seine  Naturanlagen  soweit  wie  möglich  auszubilden,  und 
andererseits  and  vor  allem  die  von  der  praktischen  Vernunft  ge- 
forderte Üeberordnung  des  moralischen  Gesetzes  über  die  Selbst- 
liebe, diese  sittliche  Ordnung  der  beiden  in  ihm  als  sinnlich- 
übersinnlichem Wesen  »natürlicherweise  «  enthaltenen  Triebfedern  ^) , 
auch  zum  subjektiven  Prinzip  seines  Wollens,  zu  seiner  obersten 
Maxime  zu  machen.  Er  hat  dem  guten  Prinzip  zum  Siege  über 
das  böse  zu  verhelfen,  das  ihn  bei  allem  Bewußtsein  vom  mora- 
lischen Gesetze  doch  die  gelegentliche  Abweichung  von  ihm  in 
seine  Maxime  aufnehmen  läßt.  — 

Aber  mit  dieser  Bemühung  allein  ist  es  nach  Kant  noch  nicht 
getan.  Es  treten  dem  Menschen  bei  seinem  Streben  nach  Vollkom- 
menheit allerlei  Anfechtungen  entgegen,  allerlei  Anlockungen,  die 
ihn  zu  verleiten  suchen,  die  sittliche  Ordnung  der  beiden  Trieb- 
federn umzukehren.  Und  sie  bleiben' nicht  ohne  Erfolg.  Sie  führen 
dazu,  daß  er  als  einzelner  trotz  aller  seiner  Mühen  nicht  mehr 
erreichen  kann,  als  sich  von  der  Herrschaft  des  bösen  Prin- 


x)  WW.   VII   S.   324  Ak.-Ausg.  2)   Vgl.   S.   16. 

3)   Vgl.   Religion  usw.   S.   36  R. 


Eigene  Vollkommenheit.  og 

zips  zu  befreien,  während  er  seinen  Angriffen  immer  noch  aus- 
gesetzt bleibt ,  und  daher  genötigt  ist ,  stets  zum  Kampfe  ge- 
rüstet zu  sein,  um  die  Freiheit,  wenn  er  sie  einmal  gewonnen 
hat,  auch  zu  behaupten. 

Dieser  Zustand  ist  nun  aber  sittlich  von  der  größten  Gefahr. 
Die  Erfahrung  zeigt,  daß  alle  Menschen,  auch  die  besten,  einen 
Hang  zum  Bösen  haben.  Sie  erkennen  das  Sittengesetz  zwar 
an ,  neigen  aber  doch  in  verschiedenem  Maße  dazu ,  von  ihm 
abzuweichen  und  den  Anfechtungen,  die  an  sie  herantreten, 
nachzugeben.  Es  fehlt  ihnen  an  Festigkeit  oder  Lauterkeit  ihrer 
moralischen  Gesinnung  oder  gar  völlig  an  ihr.  Das  aber  ist  nach 
Kants  Ueberzeugung,  weil  es  die  oberste  Maxime  des  Handelns 
verdirbt ,  das  radikale  Böse  im  Menschen  und  recht  eigentlich 
»der  faule  Fleck  unserer  Gattung «  *) .  Er  macht  es  den  Menschen 
so  schwer,  den  fortwährenden  Angriffen  des  bösen  Prinzips  zu 
widerstehen  und  ihre  Freiheit  auch  zu  sichern.  Deshalb 
ergibt  sich  für  sie  als  moralische  Wesen  noch  die  weitere  Aufgabe, 
alle  Kraft  anzuwenden,  um  sich  aus  diesem  für  ihre  Sittlichkeit 
so  gefahrvollen  Zustande  soweit  es  irgend  geht  herauszuhelfen. 

Dieser  Aufgabe  können  sie  allerdings  in  Kants  Augen  nicht 
dadurch  Genüge  tun,  daß  sie  seine  subjektive  Ursache,  den  Hang 
zum  Bösen,  aufzuheben  suchen.  Der  ist,  wie  seine  Allgemeinheit 
zeigt,  »mit  der  Menschheit  selbst,  es  sei  wodurch  es  wolle,  verwebt 
und  darin  gleichsam  gewurzelt  «2).  Er  kann  darum  durch  die  Ver- 
nunft wohl  getadelt,  allenfalls  auch  gebändigt,  aber  nie  ganz  ver- 
tilgt werden.  Es  bleibt  also  nichts  anderes  übrig,  als  nach  Mög- 
lichkeit die  Anfechtungen  zu  beseitigen,  die  den  Menschen  in 
den  erwähnten  Zustand  versetzen. 

Nun  bestehen  diese  Anfechtungen  in  den  Leidenschaften,  die 
in  ihm  auftreten.  Die  aber  entspringen  nicht  sowohl  aus  seiner 
eigenen  rohen  Natur  als  vielmehr  aus  seiner  Verbindung  mit 
anderen  Menschen.  Denn  die  ursprünglichen  Anlagen  des  Men- 
schen sind  gut  und  zwar  nicht  nur  in  dem  negativen  Sinne,  daß 
sie  dem  moralischen  Gesetze  nicht  widerstreben,  sondern  auch 
in  dem  positiven,  daß  sie,  richtig  entwickelt,  die  Befolgung  des- 
selben befördern.  Darum  sind  auch  die  Anreize,  die  von  ihnen, 
wie  etwa  von  dem  Streben  nach  Selbsterhaltung  oder  Fortpflanzung, 
ausgehen,  und  die  Bedürfnisse,  die  aus  ihnen  entstehen,  an  sich  nur 
klein  und  ohne  Störung  der  Gemütsruhe  zu  befriedigen.    Sie  bil- 

I)  a.  a.  O.   S.  39  R.  2)  a.  a.  O.   S.  32. 


40 


Die  besonderen  sittlichen  Aufgaben. 


den  an  und  für  sich  keine  Gefahr  für  die  SittHchkeit.  Wohl  aber 
können  sie  gefahrbringend  werden ,  sobald  der  Mensch  mit  an- 
deren zusammenkommt.  Denn  dann  fängt  er  als  vernunftbesitzen- 
des Wesen  an,  seinen  Zustand  mit  dem  der  andern  zu  vergleichen 
und  sich  je  nach  Ausfall  dieses  Vergleichs  für  glücklich  oder  un- 
glücklich zu  halten,  dann  wird  der  Wunsch  in  ihm  wach,  sich 
auch  in  der  Meinung  anderer  einen  Wert  zu  Verschaffen.  Und  liegt 
ihm  ursprünglich  nur  an  Gleichheit,  so  führt  ihn  die  Besorgnis, 
daß  sich  der  andere  über  ihn  erheben  könnte,  nach  und  nach  dazu, 
ihm  durch  List  oder  Gewalt  zuvorzukommen.  So  entsteht  allmählich 
ein  scharfer  Wettstreit  zwischen  den  einzelnen,  aus  dem  sich  die 
fundamentalsten  sozialen  Laster  des  Menschen,  die  Leidenschaften 
der  Ehrsucht ,  Habsucht  und  Herrschsucht  ergeben ,  und  alle 
die  feindseligen  Neigungen,  die  damit  verbunden  sind.  Sie  erst 
sind  es,  durch  die  seine  ursprünglich  gute  Anlage  verdorben  wird, 
und  die  harmlosen  Reize,  die  von  ihr  ausgehen,  zu  gefährlichen 
Anfechtungen  werden.  Und  von  der  Ursache  dieser  Verderbnis 
vermag  er  sich  nicht  einmal  loszumachen.  Denn  so  sehr  er  auch 
wegen  des  ihm  kraft  seiner  moralischen  Beschaffenheit  zustehen- 
den ursprünglichen  und  unveränderlichen  Rechtes  auf  Freiheit 
schon  von  Anfang  an  nach  Freiheit  strebt  und  darum  eher  ein 
einsiedlerisches  als  geselliges  Tier  ist,  so  kann  er  es  doch  nicht 
über  sich  gewinnen,  sich  ganz  von  den  andern  zurückzuziehen. 
Denn  erst  durch  die  in  der  Gesellschaft  entstehende  vergleichende 
Selbstliebe  und  den  mit  ihr  gegebenen  Wetteifer  wird  er  aus 
seinem  tierischen  Hange  zur  Passivität  herausgerissen  und  ge- 
zwungen, seine  natürlichen  Anlagen  zu  entv/ickeln.  Erst  hier 
kommt  er  zum  Bewußtsein  seiner  selbst  als  »vernünftiger 
Natur  «^)  oder  zum  Bewußtsein  seiner  Selbsttätigkeit,  und  erhält 
erst  so  die  Möglichkeit,  sich  wirklich  als  Mensch  zu  fühlen, 
dem  ja  gerade  die  Fähigkeit  spontanen  Handelns  vor  allen  Tieren 
eigen  war  ^).  Darum  ist  er  durch  seine  Vernunftanlage  geradezu 
dazu  bestimmt,  in  einer  Gesellschaft  mit  Menschen  zu  sein,  und 
spürt  als  vernünftiges  Tier  neben  dem  Hange  zur  Iso- 
lierung zugleich  auch  einen  Trieb  zur  Gesellschaft. 

So  findet  Kant  in  diesem  unvermeidlichen  Zusammensein 
des  Menschen  mit  andern  Menschen,  »die  er  nicht  wohl  leiden, 
von  denen  er  aber  auch  nicht  lassen  kann«^),  den  Faktor,  von 

I)  WW.  VIII  S.  21  Ak.-Ausg.  2)   Vgl.   S.  23. 

3)  WW.   VIII   S.   21  Ak.-Ausg. 


Eigene  Vollkommenheit.  aj 

dem  die  Anfechtungen  ausgehen,  die  sein  Streben  nach  Sitt- 
lichkeit gefährden.  Aber  daß  das  der  Fall  ist,  ist  am  Ende  doch 
wieder  seine  eigene  Schuld.  Denn  nicht  das  Zusammensein  mit 
Menschen  überhaupt,  sondern  die  Beschaffenheit  dieses  Zusammen- 
seins ist  es,  die  Gefahren  bringt.  Die  aber  hängt  wenigstens  bis 
zu  einem  hohen  Grade  vom  Menschen  selbst  ab.  Und  darum 
ist  es  nun  für  ihn  als  moralisches  Wesen  auch  Pflicht,  den 
gesellschaftlichen  Zustand  so  zu  gestalten,  daß  die  Gefahren, 
mit  denen  er  seine  Sittlichkeit  bedroht,  soweit  als  möglich  be- 
seitigt werden.  Außer  den  Geboten,  die  die  moralisch  gesetz- 
gebende Vernunft  jedem  einzelnen  sozusagen  als  seine  Privat- 
pflichten vorschreibt,  ist  dahSr  von  ihr  »noch  über  dem  eine 
Fahne  der  Tugend  als  Vereinigungspunkt  für  alle,  die  das  Gute 
lieben,  ausgesteckt,  um  sich  darunter  zu  versammeln  und  so  aller- 
erst über  das  sie  rastlos  anfechtende  Böse  die  Oberhand  zu  be- 
kom.men«^),  und  damit  den  letzten  Zweck  der  Menschheit,  das 
höchste  Gut,  soweit  es  in  ihrer  Macht  steht,  zu  verwirklichen. 
Weil  aber  dieser  letzte  Zweck  als  ein  gemeinschaftliches  Gut 
eine  Angelegenheit  der  ganzen  Menschheit  ist,  haben  wir  es  bei 
der  Gestaltung  des  gesellschaftlichen  Zustandes  nach  Kants 
Erklärung  nicht  mit  einer  Pflicht  der  einzelnen  Menschen  gegen 
einander,  sondern  des  ganzen  menschlichen  Geschlechts  gegen 
sich  selbst  oder  der  einzelnen  als  Glieder  eines  Ganzen  zu  tun. 
Und  die  treibt  sie  an,  eine  bloß  auf  die  Erhaltung  und  Förderung 
der  Sittlichkeit  angelegte  Gesellschaft,  die  mit  vereinten  Kräften 
dem  Bösen  entgegenwirkt,  oder  ein  ethisches  Gemeinwesen,  ein 
Reich  der  Tugend  zu  errichten  und  auszubreiten,  und  so  die 
Sinnenwelt  der  praktischen  Idee  einer  moralischen  Welt  »so- 
viel als  möglich  gemäß  zu  machen  «2).  Denn  nur  dadurch,  daß 
die  ursprüngliche  Natur  der  Menschen  auf  diesem  Wege  nach 
und  nach  so  umgestaltet  wird,  daß  alle  nach  einerlei  Grundsätzen, 
den  moralischen  Prinzipien  nämlich,  handeln,  und  ihnen  diese 
Prinzipien  gewissermaßen  zur  andern  Natur  geworden  sind  —  nur 
dadurch  wird  es  möglich  sein,  alle  die  Laster  zu  überwinden, 
die  das  menschliche  Leben  verunehren  und  die  Quelle  der  m.annig- 
faltigsten  Uebel  sind,  von  denen  die  Menschen  bedrückt  werden. 
Nun  fängt  aber,  wie  wir  sahen  ^),  beim  Menschen  die  Ent- 
wicklung nicht  der  Vorschrift  der  Vernunft  gemäß  mit  der  Morali- 

i)   Religion  usw.   S.   98  R. 

2)   Kritik  d.  rein.   Vern.   S.   612  R.  3)   S.   36. 


42 


Die  besonderen  sittlichen  Aufgaben. 


tat  an,  sondern  beginnt  mit  der  Kultur.  Und  das  gleiche  gilt 
für  das  menschliche  Geschlecht.  Auch  in  seiner  Entwick- 
lung geht  die  Kultivierung  der  natürlichen  Anlagen  der  Ausbil- 
dung der  moralischen  Anlage  voran.  Bevor  daher  die  Mensch- 
heit durch  den  Zusammenschluß  zu  einem  ethischen  Gemein- 
wesen ihre  moralische  Vollkommenheit  bewirken  und  sichern 
kann,  ist  es  für  sie  nötig  und  damit  als  Voraussetzung  einer  Pflicht 
zugleich  Pflicht,  ihre  Naturanlagen  in  möglichst  vollkommener 
Weise  zu  entwickeln. 

Das  ist  aber  in  dem  Zustande,  in  dem  sie  sich  von  Natur 
befindet,  ausgeschlossen.  Denn  der  Naturzustand  der  Mensch- 
heit ist  ein  Zustand  wilder  Gesetzlosigkeit  und  Ungerechtigkeit, 
und  wenn  auch  nicht  ein  Zustand  beständiger  Kriege,  so  doch 
ein  Zustand  beständiger  Kriegsgefahr.  Das  folgt  aus  dem  An- 
tagonismus der  menschlichen  Neigungen  in  der  Gesellschaft,  aus 
der  ungeselligen  Geselligkeit,  die  den  Menschen  wegen  des  Wider- 
streits zwischen  ihrem  Hange  zur  Gesellschaft  und  dem  zur  Iso- 
lierung eigentümlich  ist.  Daher  kommt  es,  daß  der  Naturmensch, 
in  dem  der  Freiheitsdrang  alle  Leidenschaften  an  Heftigkeit 
überragt  und  der  darum  ohne  Rücksicht  auf  andere  oder  auf 
ein  allgemeingültiges  Gesetz  alles  nach  seinem  Belieben  gestalten 
und  »selbst  Richter  über  das  sein  will,  was  ihm  gegen  andere 
recht  sei,  aber  auch  für  dieses  keine  Sicherheit  von  andern  hat 
oder  ihnen  gibt  als  jedes  seine  eigene  Gewalt«^),  überall  Wider- 
stand erwartet  und  ebenso  bereit  ist,  Widerstand  zu  leisten.  Und 
solange  die  Menschen  es  sich  zum  Vorsatz  machen,  in  diesem 
Zustande  äußerlich  gesetzloser  Freiheit  zu  sein  und  zu  bleiben, 
läßt  sich  auch  nicht  einmal  behaupten,  daß  die  Eröffnung  wirk- 
licher Feindseligkeiten  von  irgendeiner  Seite  ein  Unrecht  sei. 
Denn  einmal  gilt  der  Satz:  volenti  non  fit  iniuria;  und  ferner 
bedroht  in  einem  Zustande,  in  dem  jede  Sicherheit  gewährende 
Obrigkeit  fehlt,  jeder  den  andern  schon  durch  seine  bloße  Gegen- 
wart in  der  ihm  auf  Grund  seines  Rechts  auf  Freiheit  zustehenden 
Selbstbestimmung  seiner  —  wie  wir  schon  früher  sahen  ^) ,  durchaus 
individuellen  —  Glückseligkeit.  Denn  dafür,  daß  sein  Neben- 
mensch in  dem  Urteile  über  sein  Wohl  mit  ihm  zusammenstimmen 
werde,  hat  der  einzelne  angesichts  der  Relativität  aller  Glück- 
seligkeit gar  keine  Gewähr.  Unter  solchen  Umständen  ist  der 
Wilde  aber  auch  völlig  befugt,  die  ihm  drohende  Gefahr  abzu- 

i)   Religion  usw.   S.   loi  *  R.  2)   S.   34. 


Eigene  Vollkommenheit.  ao 

wenden  und  seinen  natürlichen  Gegner  durch  jedes  Mittel  soweit 
wie  möglich  von  sich  fernzuhalten.  So  ist  es  auch  begreiflich, 
daß  er  die  Kriegstapferkeit  für  die  höchste  Tugend  hält.  Sie 
ist  das  einzige  Mittel,  das  ihm  hier  sein  Recht  zu  wahren  ge- 
stattet. 

Aber  obgleich  dem  Menschen  kein  Vorwurf  daraus  gemacht 
werden  kann,  daß  er  Gewalt  in  diesem  Zustande  anwendet,  ist 
er  doch  darin  im  Unrecht,  daß  er  überhaupt  in  ihm  bleiben  will. 
Als  »vernünftige  Natur«  hat  er  die  Pflicht,  seine  natür- 
lichen Anlagen  soweit  es  geht  zu  vervollkommnen.  Das  aber 
ist  im  Naturzustande  nicht  möglich.  Allerdings  führt  auch  schon 
der  in  ihm  vorhandene  Antagonismus  zu  einer  gewissen  natür- 
lichen Entwicklung  derselben.  Aber  die  Gefahr,  mit  der  die 
hier  herrschende  Wildheit  nicht  nur  die  Voraussetzung  aller 
Entwicklung,  die  Freiheit,  sondern  auch  die  Existenz  der  ein- 
zelnen beständig  bedroht,  schließt  ihre  vollständigere  Entfaltung, 
die  nur  durch  Kunst  zu  bewirken  ist,  aus.  Davon  kann  erst  dann 
die  Rede  sein,  wenn  Existenz  und  Freiheit  aller  dadurch  ge- 
sichert sind,  daß  die  äußere  Freiheit  jedes  einzelnen  soweit  ein- 
geschränkt ist,  daß  die  Freiheit  aller  anderen  ungefährdet  mit 
ihr  zusammenbestehen  kann. 

Diese  Einschränkung  vollzieht  aber  das  öffentliche  Recht 
als  der  Inbegriff  der  äußeren  und  allgemein  bekanntgemachten 
Gesetze.  Es  bildet  somit  die  Voraussetzung  dafür,  daß  unter 
einer  Mehrheit  von  Menschen  von  äußerer  Freiheit  überhaupt 
gesprochen  werden  kann,  und  macht  es  dem  Menschen  erst  mög- 
lich, die  an  ihn  gestellte  sittliche  Forderung  zu  erfüllen.  Daher 
sein  integrierender  Wert,  der  es  gegen  jede  Verletzung  in  Schutz 
nimmt  und  verlangt,  daß  es  unter  allen  Umständen  heilig  ge- 
halten werde.  Es  ist  der  »Augapfel  Gottes  auf  Erden  «^),  dem 
nahezutreten  man  sich  jederzeit  hüten  muß.  Und  es  ist  für  die 
Kantische  Lebensphilosophie  von  höchster  Wichtigkeit,  daß  sie 
durch  solche  Bemerkungen  von  den  beiden  Teilen  der  Moral,  der 
Ethik  und  der  Rechtslehre,  dieser  den  ersten  Platz  anweisen  will. 

Nun  fühlen  sich  aber  die  Menschen,  trotzdem  sie  als  ver- 
nünftige Wesen  ein  Gesetz  wünschen,  das  der  Freiheit  aller  Schran- 
ken setzt,  durch  die  ihnen  natürliche  »selbstsüchtige,  tierische 
Neigung«  2)   veranlaßt,  sich  selbst,  wenn  irgend  möglich,  davon 

i)   Paedagogik  ed.   Rink  S.   87,  vgl.  WW.  VIII   S.   353  A.  Ak.-Ausg. 
2)  WW.  a.  a.  O.   S.  23. 


44 


Die  besonderen  sittlichen  Aufgaben. 


auszunehmen.  Eine  rechtliche  Vereinigung,  eine  solche  also,  in 
der  das  Gesetz  für  alle  gilt,  kann  daher  nur  unter  der  Voraus- 
setzung bestehen,  daß  als  Oberhaupt  ein  Wille  vorhanden  ist, 
der  nicht  nur  als  oberster  Gesetzgeber  fungiert,  sondern  auch  zu- 
gleich über  unwiderstehliche  Gewalt  verfügt,  die  ihn  instand 
setzt,  jedem  die  Grenzen  seiner  Freiheit  aufs  genaueste  sowohl 
zu  bestimmen  als  auch  zu  sichern.  Sie  kann  m.  a.  W.  nur  be- 
stehen unter  Voraussetzung  einer  Verfassung.  Das  ist  der  Grund 
dafür,  daß  die  Gesetze,  die  diese  Vereinigung  konstituieren,  nicht 
bloß  äußere  und  öffentliche  sind  —  denn  weil  sie  als  aus  einem 
öffentlichen  Willen  entsprungen  gedacht  werden  müssen,  können 
sie  nicht  geheim,  sondern  müssen  öffentlich  sein  — ,  sondern  zu- 
gleich Zwangsgesetze.  Denn  jede  Einschränkung  der  Freiheit  durch 
die  Willkür  eines  andern,  der  sich  dabei  allemal  empirischer 
Triebfedern  bedienen  muß,  heißt  Zwang.  Freiheit,  Gesetz  und 
Zwang  machen  daher  die  drei  Faktoren  aus,  die  für  jede  rechtlich- 
bürgerliche Vereinigung  wesentlich  sind,  und  die  bürgerliche 
Verfassung  selbst  ist  nichts  anderes  als  ein  Verhältnis  freier,  aber 
doch  unter  äußeren  Zwangsgesetzen  stehender  Menschen,  in  dem, 
jedem  das,  was  als  das  Seine  anerkannt  werden  soll,  gesetz- 
lich bestimmt  und  durch  hinreichende  Macht,  die  aber  nicht 
die  seinige,  sondern  eine  fremde  ist,  zuerteilt  wird.  Sie  ist  also 
kein  moralisches  Ganzes,  sondern  eine  »pathologisch-abgedrungene 
Zusammenstimmung  zu  einer  Gesellschaft « ^)  oder  eine  mechani- 
sche Einhelligkeit;  kein  Zustand  der  Sittlichkeit,  der,  weil  er 
nur  die  innere  Idee  der  Pflicht  als  Motiv  kennt,  des  äußeren 
Zwanges  entbehrt,  und  allein  auf  dem  Selbstzwange  des  einzelnen 
ruht,  aber  doch  ein  Zustand  der  Gesittung  oder  äußeren  Anständig- 
keit, in  dem  an  die  Stelle  der  Rohigkeit  der  bloßen  Selbstgewalt 
eine  öffentliche  Gesetzgebung  getreten  ist,  der  alle  einzelnen  fak- 
tisch unterworfen  sind. 

In  dieser  vom  Rechtsbegriff  getragenen  bürgerlichen  Ver- 
fassung allein  können  also  nach  Kants  Auffassung  die  Natur- 
anlagen des  Menschen  vollständiger  entwickelt  werden,  kann 
auf  der  einen  Seite  durch  umfassenden  Unterricht  das  Vermögen 
zur  Ausführung  aller  möglichen  Zwecke  oder  die  Geschicklich- 
keit, können  auf  der  andern  Seite  durch  geeignete,  auf  die  Be- 
freiung des  Willens  vom  Despotismus  der  Begierden  gerichtete 
Zucht  die  Umgangseigenschaften  auf  einen  hohen  Grad  der  Zivili- 

i)  WW.  a.  a.  O.   S.  21. 


Eigene  Vollkommenheit.  ^e. 

sation  gebracht  werden.  Ja,  die  bürgerliche  Verfassung  ist  geradezu 
»der  höchste  Grad  der  künsthchen  Steigerung  der  guten  Anlage 
in  der  Menschengattung  zum  Endzweck  ihrer  Bestimmung«'), 
Und  selbst  die  Entwicklung  der  moralischen  Anlage  bekommt 
hier  wenigstens  eine  große  Erleichterung,  sofern  ein  jeder  von 
sich  glaubt,  daß  er  den  Rechtsbegriff  als  Grundlage  des  Gemein- 
wesens wohl  heilig  halten  werde,  wenn  er  sich  nur  von  jedem 
andern  eines  Gleichen  gewärtigen  könnte,  und  die  Regierung 
ihm  eben  dies  z.  T.  sichert.  Denn  dadurch  wird  ein  großer  Schritt 
wenigstens  zur  Moralität  getan,  dazu  also,  dem  Pflichtbegriffe 
auch  um  seiner  selbst  willen  und  ohne  Rücksicht  auf  Gegen- 
leistung anzuhängen. 

Aus  diesen  Gründen  bildet  in  der  Entwicklung  der  Mensch- 
heit die  auf  äußere  Zwangsgesetze  gegründete  politische  Verfassung 
die  Voraussetzung  für  die"  auf  inneren  Tugendgesetzen  ruhende 
ethische.  Der  Mensch  muß  erst  ein  gesittetes  Wesen  sein,  ehe  er 
ein  sittliches  werden  kann;  und  nur  die  durch  Gründung  des 
staatlichen  Gemeinwesens  möglich  gemachte  allmähliche  Ver- 
vollkommnung aller  seiner  Anlagen  kann  jene  pathologisch  ab- 
gedrungene Zusammenstimmung  zu  einer  Gesellschaft  endlich 
in  ein  moralisches  Ganzes  verwandeln. 

Als  vollkommene  Vorstufe  dieses  ethischen  Ganzen  kann 
der  politische  Zustand  indessen  nur  dann  angesehen  werden, 
wenn  er  durchaus  gerecht  ist.  Das  trifft  zu,  sobald  er  dem  einzigen 
natürlichen  Rechte  des  Menschen,  dem  Rechte  auf  Freiheit, 
völlig  angemessen  ist,  d.  h.  wenn  er  der  Freiheit  seiner  Glieder 
das  größte  in  einer  Gesellschaft  überhaupt  mögliche  Ausmaß 
zugesteht.  Dieser  Bedingung  entspricht  er  aber,  wenn  er  so  ein- 
gerichtet ist,  daß  er  durch  seine  Gesetze  niemandem  Unrecht 
tun  kann.  Das  wird  der  Fall  sein,  wenn  von  den  drei  in  ihm  vor- 
handenen Gewalten,  der  gesetzgebenden,  vollziehenden  und  recht- 
sprechenden, diejenige,  von  der  alles  Recht  ausgeht  —  und  das 
ist  die  gesetzgebende  —  nicht  nur  von  der  ausführenden  getrennt 
ist,  sondern  auch  —  wenigstens  prinzipiell  —  in  der  Hand  des 
vereinigten  Willens  aller  liegt,  mag  man  sich  auch  faktisch  mit 
einer  Majorität  von  Repräsentanten  begnügen 
müssen.  Denn  dann  wirkt  jeder  an  der  Gesetzgebung  mit,  ge- 
horcht also  nur  den  Gesetzen,  zu  denen  er  seine  Beistimmung 
hat  geben  können.     Sich  selbst  aber  kann  keiner  Unrecht  tun. 

i)  WW.  VII  S.   327  Ak.-Ausg. 


a(q        "  Die  besonderen  sittlichen  Aufgaben. 

Und  in  diesem  Zustande  wird  zugleich  jedem  einzelnen  die  größt- 
mögliche Freiheit  gelassen.  Denn  wenn  nur  das  gemeinsam 
gegebene  Gesetz  herrscht,  so  gibt  jeder  bloß  das  Brutale  seiner 
Freiheit  auf,  um  sie  selbst  als  Glied  eines  gemeinen  V/esens,  also 
in  gesetzlicher  Abhängigkeit,  sofort  und,  weil  diese  Abhängig- 
keit aus  seinem  eigenen  gesetzgebenden  Willen  entspringt,  auch 
unvermindert  wieder  aufzunehmen.  Dieser  Akt  aber,  durch  den 
sich  das  Volk  selbst  zu  einem  Staate  konstituiert,  oder  besser, 
da  es  sich  auch  in  Kants  Augen  nicht  um  ein  Faktum,  sondern 
allein  um  ein  Vernunftprinzip  für  die  Beurteilung  aller  bürger- 
lichen Verfassung  überhaupt  handelt,  die  Idee  dieses  Aktes  heißt 
der  ursprüngliche  Vertrag.  Darum  ist  nur  die  Verfassung 
vollkommen  und  zugleich  die  beste  unter  allen,  die  der  Idee  des 
ursprünglichen  Vertrages,  diesem  Prinzipe  aller  Rechte,  ent- 
spricht. Das  aber  ist  die  reine  Republik.  Und  einerlei,  ob  sie 
auch  der  Staatsform  oder  nur  der  Regierungsart  nach  vorhanden 
ist,  ob  m.  a.  W.  das  Volk  selbst  die  Gesetzgebung  in  der  Hand 
hat  oder  die  gesetzgebende  Gewalt  nur  solche  Gesetze  gibt,  wie 
ein  Volk  mit  reifer  Vernunft  sie  sich  selbst  vorschreiben  würde, 
sie  erst  ist  in  vollem  Maße  aus  dem  reinen  Quell  des  Rechts- 
begriffs entsprungen,  und  nur  in  ihr  herrscht  jene  Gerechtig- 
keit, von  der  Kant  sagt:  wenn  die  Gerechtigkeit  untergeht,  so 
hat  es  keinen  Wert  mehr,  daß  Menschen  auf  Erden  leben  ^). 

Diese  Republik  allein  darf  daher  als  die  größte  Beförderin 
aller  natürlichen  Anlagen  des  Menschen  und  als  die  wahre  Voraus- 
setzung eines  ethischen  Gemeinwesens  angesehen  werden.  Und 
darum  ist  sie  auch  das  äußerste  Ziel  der  Kultur.  Da  es  indessen 
unmöglich  ist,  unter  Menschen  ein  vollkommen  gerechtes  Ober- 
haupt einer  solchen  bürgerlichen  Gesellschaft  zu  finden,  einerlei 
ob  man  es  in  einer  einzelnen  Person  oder  in  einer  Gesamtheit 
vieler  sucht  —  denn  »aus  so  krummem  Holze,  als  woraus  der 
Mensch  gemacht  ist,  kann  nichts  ganz  Gerades  gezimmert  wer- 
den « 2)  —  so  wird  nur  die  Annäherung  an  dieses  Ziel  in  Frage 
kommen  können.  Die  ist  dann  aber  auch  nicht  Sache  des  Be- 
liebens, sondern  als  etwas,  »nach  welchem  zu  streben  uns  die  Ver- 
nunft durch  einen  kategorischen  Imperativ  verbindlich  macht  «^), 
Sache  der  Pflicht.  Und  dieser  Pflicht  kann  man  sich  nicht  durch 
»die    pöbelhafte    Berufung    auf    vorgeblich    widerstreitende    Er- 

1)  Vgl.  WW.   VI   S.   332  Ak.-Ausg. 

2)  WW.   VIII   S.   23  Ak.-Ausg.  3)   WW.   VI   S.   318  Ak.-Ausg. 


Eigene  Vollkommenheit.  ^y 

fahrung«  ^)  entziehen.  Diese  Erfahrung  würde  gar  nicht  existieren, 
wenn  man  sich  beim  ersten  Entwurf  einer  Staatsverfassung  und 
auch  bei  allen  späteren  Gesetzen  nur  nach  jener  Idee  richten 
'Wollte.  Und  daß  sie  durchführbar  ist,  geht  daraus  hervor,  daß 
es  sich  bei  ihr  um  weiter  nichts  als  um  die  rein  mechanische  und 
darum  für  den  Menschen  als  verständiges  Wesen  auch  auflösbare 
Aufgabe  handelt:  »eine  Menge  von  vernünftigen  Wesen,  die  ins- 
gesamt allgemeine  Gesetze  für  ihre  Erhaltung  verlangen,  deren 
jedes  aber  insgeheim  sich  davon  auszunehmen  geneigt  ist,  so 
zu  ordnen  .  .  .,  daß,  obgleich  sie  in  ihren  Privatgesinnungen 
einander  entgegenstreben,  diese  einander  doch  so  aufhalten,  daß 
in  ihrem  öffentlichen  Verhalten  der  Erfolg  eben  derselbe  ist, 
als  ob  sie  keine  solche  bösen  Gesinnungen  hätten«  2).  Die  Idee 
der  reinen  Republik  ist  daher  kein  leeres  Hirngespinst,  sondern 
die  ewige  Norm  für  alle  bürgerliche  Verfassung  überhaupt. 

Indessen  reicht  auch  die  Begründung  einer  solchen  Republik 
noch  nicht  aus,  um  dem  Menschen  die  vollkommene  Entwick- 
lung aller  seiner  natürlichen  Anlagen  zu  gewährleisten,  und  damit 
zugleich  die  Ausbildung  seiner  moralischen  Anlage  und  die  Kon- 
stituierung eines  ethischen  Staates  vorzubereiten.  Denn  »was 
hilfts,  an  einer  gesetzmäßigen  bürgerlichen  Verfassung  unter  ein- 
zelnen Menschen  ...  zu  arbeiten«  ^) ,  wenn  vermöge  derselben 
Ungeselligkeit,  die  s  i  e  auseinanderriß,  nun  auch  die  so  ent- 
standenen »Mächte«  wie  gesetzlose  Wilde  in  ungebundener  Frei- 
heit nebeneinander  stehen,  und  daraus  auch  für  sie  jener  immer- 
währende Kriegszustand  hervorgeht,  unter  dem  die  noch  in  Ver- 
einzelung lebenden  Menschen  litten!  Trotz  aller  Notwendigkeit, 
die  er  mit  sich  führt,  alle  Talente  in  angespanntester  Weise  zu 
entwickeln,  würde  er  der  völligen  Ausbildung  der  natürlichen 
so  gut  wie  der  moralischen  Anlage  zuguterletzt  doch  nur  wieder 
im  Wege  sein. 

Denn  zunächst  machen  die  wirklichen  Kriege  durch  die 
Kosten,  die  sie  mit  sich  bringen,  die  Verwüstungen,  die  sie  an- 
richten, die  den  Frieden  selbst  verbitternde  Schuldenlast,  die 
sie  im  Gefolge  haben,  die  moralischen  Schädigungen,  zu  denen 
sie  führen,  und  endlich  durch  die  Gefahr,  in  die  sie  die  Existenz 
des   ganzen   Menschengeschlechts   versetzen,   den   Fortschritt   in 


i)   Krit.  d.  rein.   Vern.   S.   276  R.,   vgl.  WW.   VII   S.   80  Ak.-Ausg. 

2)  WW.   VIII   S.   366  Ak.-Ausg. 

3)  a.  a.  O.   S.  24. 


^g  Die  besonderen  sittlichen  Aufgaben. 

der  Entwicklung  der  Menschheit  »immerzu  rückgängig«^).  Und 
darum  ist  Kants  ethisches  Urteil  über  den  Krieg  auch  ungemein 
scharf.  Mag  er  auch  in  dem  Falle,  daß  er  »mit  Ordnung  und 
Heilighaltung  der  bürgerlichen  Rechte  geführt  wird«  2),  vom 
ästhetischen  Standpunkte  aus  etwas  Erhabenes  an  sich  haben, 
moralisch  ist  er  auf  das  Entschiedenste  zu  verurteilen.  Seinem 
Ursprung  nach  beruht  er  auf  der  Anhänglichkeit  der  Menschen 
an  die  gesetzlose  Freiheit,  auf  »Rohigkeit«  also,  auf  »Ungeschliffen- 
heit  und  viehischer  Abwürdigung  der  Menschheit«^).  Seinem 
Wesen  nach  ist  er  eine  barbarische  Art  der  Völker,  ihre  Streitig- 
keiten zu  entscheiden,  wodurch  das  wahre  Recht  eines  Staates 
trotz  aller  Phrasen  der  Staatsmänner  niemals  ausgemacht  werden 
kann  *) .  Und  in  seinen  Folgen  führt  er  zur  Verderbnis  der  Sitten 
und  zur  Entstehung  aller  möglichen  Uebel  ^) .  Und  so  weit  geht 
Kant  in  seiner  Verurteilung,  daß  er  nicht  nur  den  kriegslüsternen 
Herrschern,  die,  ohne  sich  eben  selbst  in  Gefahr  setzen  zu  brauchen, 
die  Menschen  »in  ihren  Streitigkeiten  gegen  einander  aufstellen, 
um  sich  schlachten  zu  lassen«^),  den  Vorwurf  macht,  daß  sie 
den  Endzweck  der  Schöpfung  selbst  umkehren,  wenn  sie  das 
als  bloßes  Mittel  gebrauchen,  was  immer  zugleich  als  Zweck 
behandelt  werden  soll  —  nämlich  den  Menschen  — ,  sondern 
daß  er  überhaupt  die  stehenden  Heere  verwirft,  sowohl  wegen 
der  ständigen  Kriegsgefahr,  die  sie  mit  sich  bringen,  als  auch 
um  deswillen,  weil  »zum  Töten  oder  getötet  zu  werden  in  Sold 
genommen  zu  sein  einen  Gebrauch  von  Menschen  als  bloßer 
Maschinen  und  Werkzeuge  in  der  Hand  eines  andern  (des  Staats) 
zu  enthalten  scheint,  der  sich  nicht  wohl  mit  dem  Rechte  der 
Menschheit  in  unserer  eigenen  Person  vereinigen  läßt«  '),  wenn 
es  auch  mit  der  freiwilligen  periodischen  Waffenübung 
der  Staatsbürger  zum  Zwecke  der  Verteidigung  gegen 
Angriffe  von  außen  anders  bewandt  ist.  Und  im  Zusammenhange 
mit  diesen  Gedanken  weiß  er  sogar  dem  Laster  der  Feigheit  eine 
gute  Seite  abzugewinnen.  Denn  sie  ist  es,  die  sich  der  Menschen 
erbarmt,  damit  sie  nicht  durch  den  kriegerischen  Blutdurst  auf- 
gerieben werden.  Der  Kriegstapferkeit  aber,  d.  h.  der  Tapferkeit 
nicht  zum  Kriege  — •  denn  die  ist  schlechterdings  verwerflich  — , 

1)  WW.   VII   S.   93  Ak.-Ausg. 

2)  Krit.  d.   Urteilskr.   S.   ii8  R.  3)   Zum  ew.   Frieden   S.   18  R. 
4)   Zum  ew.  Frieden   S.   20  R. 

5    WW.   VII   S.  86,   91,   93   Ak.-Ausg. 

6)  WW.   VII   S.   89  Ak.-Ausg.  7)   Zum  ew.   Frieden   S.   7  R. 


Eigene  Vollkommenheit.  aq 

sondern  im  Kriege,  dieser  Kriegstapferkeit  stellt  er,  so  sehr  er 
auch  die  ihr  selbst  im  gesitteten  Zustande  erwiesene  Achtung 
als  nicht  völlig  grundlos  gelten  lassen  will,  sofern  sie  ein 
Zeichen  dafür  ist,  daß  der  Mensch  —  woran  freilich  die  Krieg- 
führenden selbst  nicht  zu  denken  pflegen  —  doch  etwas  haben  und 
sich  zum  Zwecke  machen  könne,  was  er  noch  höher  schätzt 
als  sein  Leben,  nämlich  seine  Ehre  im  Sinne  seines  moralischen 
Wertes  —  ihr  stellt  er  doch  als  die  wahre  Tapferkeit  oder  die 
»einzige  wahre  Kriegsehre  des  Menschen « ^)  die  sittliche  Stärke 
gegenüber,  die  sich  im  unentwegten  und  durch  keinen  Spott, 
selbst  nicht  durch  die  Scheu  vor  dem  Tode  abzuschreckenden 
Kampfe  gegen  die  Laster  als  die  Brut  gesetzwidriger  Gesinnungen 
dokumentiert,  und  die  »mancher  nicht  besitzt,  welcher  in  der 
Feldschlacht    oder    im  Duell    sich  als  einen  Braven  beweist«  2). 

Noch  mehr  als  die  wirklichen  Kriege  steht  aber  die  im  Natur- 
zustande vorhandene  Notwendigkeit,  sich  beständig  in  Kriegs- 
bereitschaft zu  halten,  der  Ausbildung  der  menschlichen  An- 
lagen im  Wege.  Die  Rüstungen  zur  Verteidigung,  die  sich  durch 
den  Wetteifer  der  einzelnen  Staaten  bis  ins  Grenzenlose  steigern, 
machen  den  Frieden  oft  noch  drückender  als  den  Krieg.  Und 
ein  moralischer  Fortschritt  ist,  solange  die  Staaten  alle  ihre  Kräfte 
auf  ihre  eitlen  und  gewaltsamen  Erweiterungsabsichten  verwenden, 
überhaupt  nicht  zu  erwarten.  Denn  zu  ihm  ist  eine  lange  innere 
Bearbeitung  erforderlich. 

Es  kann  also  gar  keine  Rede  davon  sein,  daß  sich  die  ur- 
sprünglichen Anlagen  des  Menschen  in  einem  solchen  immer- 
währenden Kriegszustande  in  wünschenswerter  Weise  zu  ent- 
wickeln vermöchten.  Daher  ergibt  sich  vom  Standpunkte  der 
Vernunft  aus  jetzt  für  die  Staaten  dieselbe  Aufgabe,  die  zuvor 
den  einzelnen  Menschen  gestellt  war:  aus  dem  rohen  Naturzu- 
stande hinauszugehen  und  sich  zu  einem  Zustande  zu  entschließen, 
in  dem  ihr  Mein  und  Dein  durch  äußere  Gesetze  sichergestellt 
ist.  Das  können  sie  aber  nur  dadurch,  daß  sie  ihre  »tolle  Frei- 
heit« 2)  aufgeben,  sich  zu  öffentlichen  Zwangsgesetzen  bequemen 
und  auf  diese  Weise  einen  Völkerstaat  bilden,  der  zuletzt,  weil 
der  Erdboden  eine  nicht  grenzenlose,  sondern  eine  sich  selbst 
schließende  Fläche  ist,  alle  Völker  der  Erde  in  sich  befaßt  und 
alle    Staaten   unter    einem    gemeinschaftlichen    Oberhaupte   und 

I)  WW.  VI  S.  405  Ak.-Ausg.        2)  WW.  VII  S.  257  Ak.-Ausg. 
3)  Vgl.  Zum  ew.  Frieden  S.  18  R. 

Goede  ckemeyer,  Kants  Lebensanschauung.  4 


tfQ  Die  besonderen  sittlichen  Aufgaben. 

in  der  vollkommensten  Form,  die  es  gibt,  in  der  Form  einer  Welt- 
republik, zu  einer  großen  Einheit  zusammenschmilzt.  Dann  wird 
an  die  Stelle  des  ununterbrochenen  Kriegszustandes  der  Zustand 
des  ewigen  Friedens  treten,  der  das  höchste  »politische  Gut«^) 
bildet,  und  als  Folge  der  unbedingt  geltenden  Rechtsidee  nicht 
etwa  nur  ein  physisches  Gut  ist,  sondern  ein  Zustand,  den  zu 
verwirklichen  die  praktische  Vernunft  zur  unmittelbaren  Pflicht 
macht. 

Indessen  —  es  erhebt  sich  hier  eine  Schwierigkeit.  Jenen 
Völkerstaat,  der  den  ewigen  Frieden  allein  sichern  könnte,  wollen 
die  Staaten  absolut  nicht.  Infolge  der  eigennützigen  und  daher  un- 
sittlichen Vorstellung  von  ihrer  Majestät,  die  sie  darin  finden, 
gar  keinem  äußeren  gesetzlichen  Zwange  unterworfen  zu  sein, 
sträuben  sie  sich  gegen  ihn  mit  aller  Macht.  Wenn  daher  »nicht 
alles  verloren  werden  soll « ^) ,  muß  an  seine  Stelle  ein  Surrogat 
treten,  das  dann  allerdings  nur  die  bescheidenere  Wirkung  aus- 
zuüben vermag,  den  Krieg  nach  Möglichkeit  abzuwehren.  Das 
aber  ist  ein  sich  immer  mehr  ausbreitender  Völker  b  u  n  d  ,  der 
sich  vom  Völker  s  t  a  a  t  e  dadurch  unterscheidet,  daß  er  als 
eine  »fortwährend-freie  Assoziation« ^),  der  jeder  zu 
jeder  Zeit  beitreten,  die  aber  auch  jeder  zu  jeder  Zeit  aufkündigen 
kann,  auf  dem  Boden  eines  gemeinschaftlich  verabredeten  und 
in  irgendeiner  Form  von  dem  vereinigten  Willen  aller  verwalteten 
Völkerrechts  ruht. 

Diesen  einzigen,  mit  der  Freiheit  der  Staaten  vereinbaren 
rechtlichen  Zustand  zwischen  ihnen  herzustellen,  ist  dann 
aber  wiederum  der  Menschen  Pflicht.  Und  erst  wenn  er  ein- 
geführt und  dadurch  —  wegen  der  Bedingtheit  der  innerlich- 
vollkommenen Staatsverfassung  durch  die  äußerlich- vollkommene 
—  auch  den  einzelnen  Staaten  für  sich  die  Möglichkeit  gegeben 
ist,  eine  vollkommene  Verfassung  zu  begründen,  werden  alle 
natürlichen  Anlagen  des  Menschen  gehörig  entwickelt  werden 
können.  Denn  dann  ist  ein  Zustand  der  Menschheit  gewonnen, 
der  einem  bürgerlichen  Gemeinwesen  ähnlich  ist  und  sich  wie 
ein  Automat  lange  Zeit  erhalten  und  beständig  zum  Bessern 
fortschreiten  kann.  Und  auch  für  die  moralische  Anlage  ist  in 
ihm  die  Möglichkeit  gegeben,  sich  fortzubilden.  Mag  auch  der 
Ertrag,   den  dieser  ganze  politische   Fortschritt   der   Völker  für 

i)  WW.   VI   S.   355  Ak.-Ausg.  2)   Zum  ew.   Frieden   S.   21   R. 

3)  a.  a.  O.   S.  52. 


Eigene  Vollkommenheit.  ^j 

das  Menschengeschlecht  abwirft,  zunächst  nur  eine  Vermehrung 
der  Produkte  ihrer  Legahtät  —  der  pfhcht  gemäßen  Hand- 
lungen —  bedeuten,  insofern  als  allmählich  die  Gewalttätigkeiten 
von  Seiten  der  Mächtigen  abnehmen,  die  Folgsamkeit  gegenüber 
den  Gesetzen  sich  hebt,  Wohltätigkeit,  Zuverlässigkeit  im  Wort- 
halten usw.  zunimmt,  so  kann  es  doch  nicht  ausbleiben,  daß 
dadurch  nach  und  nach  auch  die  Besserung  im  moralischen  Sinne 
gefördert  wird.  Je  mehr  der  einzelne  Staat  durch  den  allgemeinen 
politischen  Fortschritt  daran  gehindert  wird,  »einem  andern  ge- 
walttätig zu  schaden«,  je  mehr  er  sich  also  »allein  am  Recht  halten 
muß«^),  um  so  mehr  wird  er  auch  imstande  sein,  sich  der  mora- 
lischen Bildung  seiner  Bürger  anzunehmen.  Er  hat  nicht  mehr 
die  Möglichkeit,  alle  seine  Kräfte  und  Mittel  auf  eitle  und  gewalt- 
same Erweiterungsabsichten  anzuwenden,  ist  daher  auch  nicht 
mehr  genötigt,  aus  Mangel  an  Mitteln  die  innere  Bildung  seiner 
Angehörigen  zu  vernachlässigen  oder  gar  zu  hemmen,  sondern 
besitzt  genug,  um  tüchtige  und  ihrem  Amte  mit  Lust  obliegende 
Lehrer  zu  besolden  und  sich  durch  seinen  wohlüberlegten  Er- 
ziehungsplan positiv  um  die  langwierige  Aufgabe  der  guten  mora- 
lischen Bildung  des  Volkes  zu  kümmern. 

Um  aber  vollen  Erfolg  zu  haben,  müssen  nach  Kants  Aus- 
führungen die  Forderungen  des  Staats-  und  Völkerrechts  noch 
durch  ein  Weltbürgerrecht  vervollständigt  werden.  Von  der  Ueber- 
zeugung  aus,  daß  die  Erde  um  ihrer  Kugelform  willen,  die  es 
ihren  Bewohnern  unmöglich  macht,  sich  ins  Unendliche  zu  zer- 
streuen, allen  Menschen  gemeinsam  gehört,  und  daher  ursprünglich 
jeder  Mensch  auf  jeden  Ort  der  Erde  das  gleiche  Anrecht  hat, 
verlangt  es,  jedem  einzelnen  an  allen  Stellen  der  Erde  ein  Be- 
suchsrecht zuzugestehen,  das  zwischen  Gast-  und  Unterdrückungs- 
recht in  der  Mitte  liegt,  und  nur  die  Möglichkeit  gewährt,  un- 
gehindert den  Versuch  eines  Verkehrs  mit  den  alten  Einwohnern 
des  Landes  zu  machen.  Dadurch  aber  ergänzt  es  den  »un- 
geschriebenen Kodex«  der  beiden  andern  Teile  des  öffentlichen 
Rechts  zum  »öffentlichen  Menschenrecht  überhaupt«  2)  und  bildet 
damit  die  letzte  Voraussetzung  für  den  ewigen  Frieden  und  die 
Ausbildung  aller  und  besonders  der  moralischen  Anlagen  des 
Menschen  von  selten  des  Staates. 

Aber  so  sehr  sich  der  einzelne  Staat  um  die  Moralität  seiner 
Bürger  bemühen  mag,   so  wenig  ist  er  doch  imstande,  sie  gegen 

i)   WW.   VIII   S.   311   Ak.-Ausg.  2)  Zum  ew.  Frieden   S.  25  R. 

4* 


c|2  Die  besonderen  sittlichen  Aufgaben. 

alle  möglichen  und  unaufhörlich  stattfindenden  Angriffe  zu 
sichern.  Das  war,  wie  wir  sahen,  nur  durch  die  Gründung 
eines  ethischen  Gemeinwesens  zu  erreichen,  die  sich  damit  eben- 
falls als  eine  Pflicht  der  Menschen  erwies.  Für  sie  bildet  aber 
der  politische  Zustand  zwar  eine  Voraussetzung,  sofern  ohne  ihn 
ein  ethisches  Gemeinwesen  »von  Menschen  gar  nicht  zustande 
gebracht  werden  könnte«^),  es  wirklich  zu  schaffen,  ist  er  jedoch, 
so  sehr  er  auch  in  seinem  eigensten  Interesse  den  Wunsch  nach 
tugendhafter  Gesinnung  seiner  Bürger  haben  mag,  um  dadurch 
die  Unzulänglichkeit  seiner  Zwangsmittel  auszugleichen,  der  Natur 
der  Sache  nach  nicht  imstande.  Denn  das  Prinzip  des  rechtlichen 
Gemeinwesens  ist  der  Zwang,  das  des  ethischen  die  Freiheit. 
Die  Bürger  zu  zwingen,  in  ein  ethisches  Gemeinwesen  zu  treten, 
würde  also  eine  contradictio  in  adjecto  sein.  Darum  werden 
auch  die  Verfassung  und  Gesetze  des  ethischen  Gemeinwesens 
nicht  von  der  politischen  Macht  gegeben  werden  können,  wenn 
sie  sich  auch  insofern  eine  gewisse  Einschränkung  gefallen  lassen 
müssen,  als  sie  nichts  enthalten  dürfen,  was  der  Pflicht  wider- 
spricht, der  sich  seine  Bürger  zu  unterwerfen  haben,  sofern  sie 
zugleich  Bürger  eines  politischen  Staates  sind,  ein  Widerspruch 
der  freilich,  wie  Kant  betont,  von  vornherein  nicht  befürchtet  zu 
werden  braucht,  wenn  das  politische  Gemeinwesen  nur  »echter  Art «  ^) 
Jst,  d.  h.  wenn  seine  Obrigkeit  bloß  das  gebietet,  was  mit  dem 
Sittengesetze  im  Einklang  steht,  und  worin  sie  vom  Untertan  auch 
allein  Gehorsam  fordern  kann.  Nur  durch  freien  Entschluß  also 
können  sich  die  Bürger  eines  Staates  zu  einem  ethischen  Gemein- 
wesen vereinigen,  und  nur  durch  eine  besondere  Anstrengung 
kann  ein  ethischer  Staat  gegründet  werden.  Aber  auch  darüber 
müssen  sich  die  zu  einem  solchen  Staate  zusammentretenden 
Bürger  eines  politischen  Gemeinwesens  klar  sein,  daß  die  von 
ihnen  gestiftete  Gemeinschaft  noch  nicht  das  ethische  Gemein- 
wesen selbst,  sondern  nur  eine  besondere  Gesellschaft  ist.  Denn 
wegen  der  Allgemeingültigkeit  der  Tugendpflichten  ist  der  Be- 
griff eines  ethischen  Staates  im  Gegensatz  zu  dem  eines  politischen 
immer  auf  das  Ideal  eines  Ganzen  aller  Menschen  bezogen,  und 
erst  dadurch,  daß  jede  besondere  Gesellschaft  »zur  Einhelligkeit 
mit  allen  Menschen  .  .  .  hinstrebt « ^) ,  wird  ein  absolutes  ethisches 
Ganzes  oder  eine  nicht  bloß  —  wie  die  rechtliche  —  friedliche, 


i)   Religion  usw.   S.   98   R.  2)   a.   a.   O.   S.   100. 

3)  a.   a.   O. 


Fremde   Glückseligkeit.  t^o 

sondern  sogar  freundschaftliche  weltbürgerHche  Gemeinschaft 
Zustandekommen.  Und  erst  dann  wird  der  Welt  der  ewige  Friede 
auch  gesichert,  erst  dann  aber  auch  die  volle  Lösung  der  sitt- 
lichen Aufgaben  der  Menschheit  möglich  sein.  Denn  erst  wenn 
der  ewige  Friede  herrscht,  wird  die  Menschheit  ihre  moralische 
Anlage  zu  ihrer  höchsten  auf  Erden  möglichen  Vollkommenheit 
zu  entwickeln  vermögen.  Und  erst  mit  der  völligen  Entwicklung 
der  moralischen  Anlage  werden  auch  die  schon  im  politischen 
Zustande  entfalteten  natürlichen  Anlagen  ihre  ganze  Bedeutung 
erhalten,  die  darin  besteht,  der  allgemeinen  Glückseligkeit  zu 
dienen.  Denn  »alles  Gute,  das  nicht  auf  moralisch-gute  Gesinnung 
gepfropft  ist,  ist  nichts  als  lauter  Schein  und  schimmerndes 
Elend«  ^).  Erst  wenn  es  moralisiert  ist,  wird  also  das  Menschen- 
geschlecht aus  dem  »glänzenden  Elende«  2),  in  dem  es  sich  trotz 
aller  technischen  und  wissenschaftlichen  Kultur  und  aller  gesell- 
schaftlichen Zivilisation  bisher  befindet,  herauszukommen  und 
seine  höchste  Bestimmung  hier  auf  Erden  zu  erfüllen  vermögen, 
soweit  davon  überhaupt  gesprochen  werden  kann. 


2.  Fremde  Glückseligkeit. 

Zur  Erfüllung  ihrer  Bestimmung  bedarf  es  nun  aber  für 
die  Menschen  nicht  nur  der  Sorge  für  die  Entwicklung  ihrer 
eigenen  natürlichen  und  besonders  ihrer  moralischen  Anlage. 
Im  höchsten  Gute  war  außer  dem  Moment  der  Tugend  auch  noch 
das  der  Glückseligkeit  enthalten.  Und  bildete  auch  die  Tugend 
als  die  Würdigkeit,  glücklich  zu  sein,  die  Bedingung  der  Glück- 
seligkeit und  insofern  in  dieser  Verbindung  das  oberste  Gut, 
so  wurde  sie  doch  erst  dadurch  zum  ganzen  und  vollendeten 
Gut,  daß  die  Glückseligkeit  hinzukam.  Darum  ist  es  die  Pflicht 
der  Menschen,  auch  für  diese  zu  sorgen.  Die  mit  Vernunft  und 
Freiheit  ausgestattete  Menschheit  soll  alles  aus  sich  selbst  heraus- 
bringen, also  auch  Schöpferin  ihres  Glücks  sein. 

Aber  diese  Aufgabe  nimmt,  wie  schon  oben  angedeutet  wurde  ^), 
für  den  einzelnen  noch  ihre  besondere  Form  an.  Als  endliches 
Wesen  hat  jeder  schon  von  selbst  das  unausbleibliche  Verlangen, 
glücklich  zu  werden.  Es  wäre  also  töricht,  wenn  man  schlecht- 

1)  WW.  VIII  S.  26  Ak.-Ausg. 

2)  Krit.  d.   Urteilskraft  S.   325  R.  3)   S.   35. 


CA  Die  besonderen  sittlichen  Aufgaben. 

hin  gebieten  wollte,  daß  jeder  für  seine  individuelle  Glück- 
seligkeit sorgen  solle;  ja  man  hat  nicht  einmal  die  Möglichkeit, 
es  ihm  ohne  Widerspruch  zur  Pflicht  zu  machen,  da  diese  eine 
Nötigung  zu  einem  ungern  übernommenen  Zwecke  ist.  Nur 
insofern  kann  daher  von  einer  Pflicht  des  Menschen,  die  eigene 
Glückseligkeit  zu  befördern,  gesprochen  werden,  als  er  sich  von 
einer  einzelnen  Neigung  verleiten  läßt,  die  allerdings  schwankende 
und  unbestimmte  allgemeine  Idee  der  Glückseligkeit  hintan- 
zusetzen und  dadurch  in  die  Gefahr  gerät,  seine  übrigen  Pflichten 
nicht  in  angemessener  Weise  erfüllen  zu  können.  Denn  das  Vor- 
handensein der  Glückseligkeit  steigert  die  Fähigkeit  der  Pflicht- 
erfüllung, wie  ihr  Fehlen  leicht  zur  Versuchung  werden  kann, 
das  Pflichtgebot  zu  übertreten.  Auch  in  diesem  Falle  ist  darum 
der  eigentliche  Zweck,  auf  den  die  Bemühung  des  einzelnen  gerichtet 
wird,  nicht  die  eigene  Glückseligkeit,  sondern  die  Sittlichkeit, 
der  lediglich  Hindernisse  aus  dem  Wege  geräumt  werden  sollen. 
Nicht  direkt,  sondern  nur  indirekt  kann  es  also  Pflicht  sein,  für 
die  eigene  Glückseligkeit  zu  sorgen. 

Anders  steht  es  dagegen,  wenn  die  Glückseligkeit  der  Mit- 
menschen in  Frage  kommt.  Gibt  es  auch  manchen,  der  aus  Neigung 
andern  wohlzutun  sucht,  so  kann  doch  keine  Rede  davon  sein, 
daß  diese  Neigung  der  menschlichen  Natur  ebenso  notwendig 
wäre  wie  die,  sich  selbst  glücklich  zu  machen.  Hier  wird  daher 
die  Glückseligkeit  selbst  zum  Zweck  und  ihre  Beförderung  zur 
Pflicht,  und  zwar  gar  nicht  aus  egoistischer  Berechnung  heraus, 
wie  sie  dem  Satz  zugrunde  liegt:  was  du  nicht  willst,  daß  man 
dir  tu  usw.,  sondern  einfach  aus  Achtung  vor  dem  Sittengesetze, 
das  die  entgegengesetzte  Maxime,  andern  nicht  beizustehen, 
ausschließt  ^).  Aber  auch  jetzt  muß  jede  Handlung  erst  auf  ihre 
moralische  Zulässigkeit  hin  geprüft  werden ,  ehe  sie  in  den 
Dienst  der  fremden  Glückseligkeit  gestellt  werden  darf.  In- 
sofern ist  deren  Beförderung  nur  bedingter  Weise  Pflicht.  Es 
ergeht  daher  von  hier  aus  an  jeden  einzelnen  das  Gebot,  die  Glück- 
seligkeit anderer  einerseits  dadurch  zu  befördern,  daß  er  nichts 
tut,  was  sie  zu  Handlungen  veranlassen  könnte,  über  die  sie 
ihre  Selbstachtung  verlieren  und  Gewissensbisse  empfinden  müßten, 
andererseits  positiv  dadurch,  daß  er  ihre  erlaubten,  d.  h.  mit 
dem  Sittengesetz  vereinbaren  Zwecke  auch  zu  den  seinigen  macht. 
Hierbei  wird  er  sich  nun  wegen  der  Relativität  der  Glückseligkeit 

I)   Vgl.   S.   i6f. 


Fremde  Glückseligkeit.  ce 

im  allgemeinen  auch  nicht  nach  seinen,  sondern  nach  ihren  Be- 
griffen von  Glückseligkeit  richten  müssen.  Und  aus  diesem  Grunde 
verurteilt  Kant  auch  auf  das  lebhafteste  jede  Regierung,  die 
sich  in  patriarchalischer  Weise  ganz  souverän  die  Entscheidung 
darüber  anmaßt,  wie  die  Untertanen  glücklich  sein  sollen.  Aber 
doch  gesteht  er  dem  Wohltäter  die  Befugnis  zu,  wenigstens  manches 
zu  verweigern,  was  nach  seinem  Dafürhalten  der  Glückseligkeit 
des  andern  nicht  nützt,  es  müßte  denn  sein,  daß  dieser  ein  Recht 
hat,  es  von  ihm  zu  fordern. 

So  ist  auch  diese  Pflicht  von  weiter  Verbindlichkeit.  Sie 
hat  einen  Spielraum,  und  ihre  Grenzen  lassen  sich  nicht  genau 
angeben.  Sie  gilt  nur  für  die  Maximen,  nicht  aber  für  bestimmte 
Handlungen.  Und  doch  ist  sie  von  höchster  Bedeutung.  Denn 
erst  dann  wird  die  Idee  der  Menschheit  als  Zweck  an  sich  selbst 
bei  jedem  alle  Wirkung  tun,  wenn  er  sich  um  fremde  Glück- 
seligkeit bemüht.  »Denn  das  Subjekt,  welches  Zweck  an  sich 
selbst  ist,  dessen  Zwecke  müssen  .  .  .  auch,  soviel  möglich,  meine 
Zwecke  sein « ^) ,  Und  erst  durch  diese  Einstellung  zur  Glück- 
seligkeit erhält  auch  die  natürliche  Sorge  jedes  Menschen  für 
sein  eigenes  Wohlergehen  moralischen  Charakter  und  die 
Bedeutung  einer  Pflicht.  Denn  dann  sorgt  der  einzelne  für  sich 
nicht  mehr  unmittelbar  und  als  einzelrien,  sondern  nur  insofern, 
als  er  »einer  von  allen  ist,  auf  die  sein  ausgebreitetes  und  edles 
Gefühl  von  der  Würde  der  menschlichen  Natur  sich  ausdehnt « ^) . 
Und  dadurch,  daß  die  Maxime  seiner  Selbstliebe  durch  die  Form 
der  Allgemeinheit  für  den  einzelnen  selbst  eingeschränkt,  auf 
andere  aber  ausgedehnt  wird,  bekommt  sie  die  objektive  Geltung 
eines  Gesetzes.  Und  erst  von  hier  aus  erhält  auch  die  Forderung, 
um  fremde  Glückseligkeit  sich  zu  kümmern,  ihren  vollen  Sinn. 
Sie  bedeutet  nicht,  nur  für  die  andern  Sorge  zu  tragen,  sich  selbst 
aber  zu  vernachlässigen  oder  gar  für  andere  zu  opfern,  sondern 
verlangt  die  Beförderung  des  Wohles  aller  oder  die  der  allgemeinen 
Glückseligkeit,   die  Realisierung  des  Weltbesten. 


i)   Grundl.  z.  M.   d.   S.   S.   67  R. 
2)  WW.   II   S.   217  Ak.-Ausg. 


efß  Die  Realisierbarkeit  des  Weltbesten. 

III.  Die  Realisierbarkeit  des  Weltbesten. 

I.  Ihre  Bedeutung  für  die  sittlichen  Aufgaben. 

Die  Realisierung  des  höchsten  Gutes  war  die  Bestimmung 
der  Menschheit.  Daraus  ergab  sich  für  den  einzelnen  eine  doppelte 
Aufgabe.  Er  mußte  für  sich  selbst  nach  sittlicher  Vollkommen- 
heit streben  und  sich  außerdem  die  Förderung  der  Glückselig- 
keit aller  angelegen  sein  lassen.  Im  Interesse  der  ersten  Aufgabe 
waren  aber  auch  an  die  Gesamtheit  gewisse  Forderungen  zu  stellen. 
Sie  mußte  auf  einen  ewigen  Frieden  bedacht  sein,  der  allein  die 
volle  Entwicklung  aller  ursprünglichen  Anlagen  der  Menschheit 
in  jedem  einzelnen  ermöglichte  und  den  nur  ein  ethischer  Staat 
gewährleisten  konnte.  Der  aber  setzte  seinerseits  wiederum  eine 
vollkommene  politische  Verfassung  der  einzelnen  Staaten  sowohl 
für  sich  als  auch  im  Verhältnis  zueinander  voraus. 

So  waren  die  ethischen  Aufgaben  beschaffen,  die  sich  aus 
der  höchsten  Forderung  der  praktischen  Vernunft  ergaben.  Und 
sie  behalten  in  Kants  Augen  für  die  Menschen  als  vernünftige 
Wesen  unter  allen  Umständen  ihre  Geltung.  Es  ist  und  bleibt 
sittlich  notwendig,  daß  der  ganze  menschliche  Lebenswandel 
diesen  Aufgaben  untergeordnet  wird.  Denn  sie  alle  sind  Konse- 
quenzen des  Sittengesetzes,  und  das  gebietet  kategorisch.  Aber 
mitsamt  ihrer  Grundlage  sind  sie  doch  zunächst  bloße  Ideen,  denen 
wir  zwar  als  vernünftige  Wesen  unsern  Beifall  und  unsere 
Bewunderung  nicht  versagen  können,  die  aber  für  uns  als  end- 
liche und  von  allen  möglichen  Neigungen  affizierte  Wesen 
noch  nicht  ohne  weiteres  »Triebfedern  des  Vorsatzes  und 
der  A  u  s  ü  b  u  n  g«  ^)  bilden. 

Indes  nicht  die  Bewunderung,  sondern  die  Tätigkeit  ist  es, 
worauf  im  Praktischen  alles  ankommt.  Für  sie  werden  aber  die 
ethischen  Forderungen  erst  dann  von  Bedeutung,  wenn  wir 
wenigstens  daran  glauben  können,  daß  der  letzte  Zweck,  auf 
den  sie  alle  hinzielen,  und  »der  einem  jeden  vernünftigen  Wesen 
natürlich  und  durch  eben  dieselbe  reine  Vernunft«,  die  ihm  das 
praktische  Gesetz  gibt,  »a  priori  bestimmt  und  notwendig  ist«^), 
auch  realisiert  werden  kann,  m.  a.  W.  wenn  wir  es  wenigstens 
als  möglich  denken  und  darauf  hoffen  dürfen,  daß  die  Befolgung 

i)   Krit.  d.  rein.   Vern.   S.   615  R. 


Die  Realisierbarkeit  als  Glaubenssache. 


57 


der  sittlichen  Vorschriften  wirklich  den  Erfolg  hat,  den  die  reine 
Vernunft  mit  ihr  verknüpft,  also  wirklich  zur  Glückseligkeit 
führt.  Denn  »dem  Objekte  eines  Begriffs  nachzustreben,  welcher 
im  Grunde  leer  und  ohne  Objekt  wäre«^),  würde  praktisch  un- 
möglich sein;  und  wenn  es  feststände,  daß  das  höchste  Gut  nicht 
realisiert  werden  könnte,  so  würden  die  moralischen  Gesetze 
nichts  sein  als  bloße  Ideale  und  leere  Hirngespinste.  Nur  unter 
der  Voraussetzung  der  Realisierbarkeit  des  höchsten  Gutes  läßt 
sich  erwarten,  daß  sich  die  dem  Sittengesetze  stets  und  immer 
geschuldete  Achtung  nicht  abschwächt,  daß  der  moralischen  Ge- 
sinnung kein  Abbruch  widerfährt,  und  das  sittliche  Streben  nicht 
ermatten,  sondern  fest  und  beharrlich  seiner  Aufgabe  nachkommen 
wird.  So  wird  diese  Frage  zu  einem  wichtigen,  ja  zum  allerwich- 
tigsten  Problem  der  kantischen  Lebensphilosophie. 


2.  Die  Realisierbarkeit  als  Glaubenssache. 

Tritt  man  an  es  heran,  so  steht  es  für  Kant  aus  sittlichen 
und  in  letzter  Linie  teleologischen  Gründen  absolut  fest,  daß 
das  höchste  Gut  muß  realisiert  werden  können.  Allerdings  sind 
wir  nicht  imstande,  seine  Realität  in  der  Erfahrung,  also  für 
den  theoretischen  Vernunftgebrauch  hinreichend,  zu  erweisen. 
Aber  daraus,  daß  die  theoretische  Vernunft  der  Möglichkeit 
seiner  Existenz  auch  nicht  im  Wege  steht,  und  es  zudem  ein 
Gebot  der  reinen  praktischen  Vernunft  ist,  zu  seiner  Hervor- 
bringung alles  zu  tun,  was  in  unsern  Kräften  steht,  geht  zur 
Genüge  hervor,  daß  wir  nicht  nur  befugt  sind,  seine  Möglichkeit 
anzunehmen,  sondern  sie  sogar  annehmen  müssen.  »Denn  einem 
Zwecke,  der  für  nichts  als  Hirngespinst  erkannt  wird,  nachzugehen, 
kann  die  Vernunft  nicht  gebieten«  2).  V^er  das  behaupten  wollte, 
müßte  das  moralische  Gesetz,  von  dem  jenes  Gebot  ausgeht, 
.»als  -bloße  Täuschung  unserer  Vernunft  in  praktischer  Rück- 
sicht«^) ansehen.  Dadurch  aber  würde  er  die  Vernunft,  die  es 
als  ein  unbedingt  gültiges  Prinzip  gibt,  mit  sich  selbst  in  Wider- 
spruch bringen  und  würde,  da  sie  uns  in  erster  Linie  um  der 
Moral  willen  gegeben  ist,  nichts  geringeres  zum  Ausdruck  bringen, 


i)   Krit.  d.  pr.   Vern.   S.   171   R. 

2)  Krit.  d.   Urteilskraft  S.   375   R. 

3)  Krit.  d.  pr.   Vern.   S.   137  R. 


^3  Die  Realisierbarkeit  des  "Weltbesten. 

als  den  »Abscheu  erregenden  Wunsch«,  überhaupt  aller  Vernunft 
»zu  entbehren  und  sich  seinen  Grundsätzen  nach  mit  den  übrigen 
Tierklassen  in  einen  gleichen  Mechanism  der  Natur .  geworfen 
anzusehen«^).  Das  aber  wäre  eine  Vernichtung  der  sittlichen 
Grundsätze,  die  jeden  in  seinen  eigenen  Augen  als  nichtswürdig 
und  verworfen  erscheinen  lassen  müßte,  weil  ihm  dadurch  gerade 
das  genommen  würde,  worauf  allein  seine  Würde  und  die  Ach- 
tung, die  ihm  im  Unterschiede  von  allen  andern  Geschöpfen  ge- 
bührt, beruht.  Will  man  daher  diese  Degradierung  der  Mensch- 
heit vermeiden  —  und  man  muß  sie  vermeiden,  weil  die  Stimme 
des  Sittengesetzes  in  uns  ihr  aufs  Entschiedenste  widerspricht  — , 
so  bleibt  nichts  anderes  übrig,  als  zuzugestehen,  daß  wir  das 
höchste  Gut,  das  zu  befördern  uns  die  moralisch-praktische  Ver- 
nunft mit  aller  Entschiedenheit  gebietet,  als  ein  »wahres  Objekt«  ^) 
ansehen  müssen. 

Aber  diese  Notwendigkeit  ist  doch  nicht  selbst  wieder  eine 
Pflicht  oder  ein  Gebot  und  insofern  objektiv.  Denn  es  kann  gar 
keine  Pflicht  geben,  die  Existenz  eines  Dinges  anzunehmen,  weil 
darüber  nur  durch  den  theoretischen  Gebrauch  der  Vernunft 
etwas  ausgemacht  werden  kann.  Sie  ist  vielmehr  ein  mit  dem 
Pflichtgebot  verbundenes  und  insofern  moralisch  gewirktes  B  e- 
dürfnis  der  reinen  praktischen  Vernunft,  also  nur  subjektiv. 
Die  Vernunft,  die  in  der  Existenz  des  höchsten  Gutes  eine  un- 
umgängliche Voraussetzung  dafür  findet,  daß  der  Gedanke  des 
moralischen  Gesetzes  das  Tun  und  Lassen  des  Menschen  auch 
wirklich  und  beharrlich  beeinflußt,  und  die  doch  ihre  Unfähig- 
keit einsieht,  sie  zu  beweisen,  wirkt  infolge  dieser  Einsicht  in 
ihre  Unzulänglichkeit  durch  den  nach  wie  vor  in  ihr  vorhandenen 
Erkenntnistrieb  selbst  das  Gefühl  des  Bedürfnisses,  sie  anzuneh- 
men. Da  jedoch  das  moralische  Gesetz  die  Beförderung  des 
höchsten  Gutes  unbedingt  gebietet,  so  ist  das  Bedürfnis,  das 
seine  Existenz  annimmt,  trotz  seiner  Subjektivität  ein  schlechter- 
dings notwendiges,  oder  ein  unbedingtes  Bedürfnis.  Es  tritt  in 
der  Vernunft  nicht  bloß  dann  auf,  wenn  wir  urteilen  wollen, 
sondern  mit  Notwendigkeit,  »weil  wir  urteilen  müssen«^), 
und  zwar  urteilen  müssen,  daß  die  Idee  des  höchsten  Gutes  mit 
dem  moralischen  Gesetze  unzertrennlich  verbunden  ist.    Damit 


1)  WW.   VI   S.   355  Ak.-Ausg. 

2)  Krit.  d.  pr.   Vern.   S.   138/9  R. 

3)  WW.   VIII   S.   139  Ak.-Ausg. 


Die  Postulate  der  moralisch-praktischen  Vernunft.  gn 

aber  erweist  sich  das  höchste  Gut  als  ein  Gegenstand,  der  als 
Folge  des  pflichtmäßigen  Gebrauchs  der  reinen  praktischen 
Vernunft  a  priori  gedacht  werden  muß,  oder  als  ein  Postulat 
der  praktischen  Vernunft,  an  das  wir  glauben  und  auf  dessen 
Erreichung  wir  vertrauen  dürfen.  Es  ist  weder  eine  Sache  des 
Wissens  noch  auch  Sache  bloßer  Meinung,  wohl  aber  eine  — ■  und 
zwar  die  fundamentale  —  Glaubenssache.  Denn  »Glaube  ist 
ein  Vertrauen  zu  der  Erreichung  einer  Absicht,  deren  Beförde- 
rung Pflicht,  die  Möglichkeit  der  Ausführung  derselben  aber  für 
uns  nicht  einzusehen  ist«  ^),  ein  zwar  objektiv  mit  Bewußt- 
sein unzureichendes,  subjektiv  aber  zureichendes  Fürwahrhalten. 


3.  Die  Postulate  der  moralisch-praktischen  Vernunft. 

Steht  so  die  Realisierbarkeit  des  höchsten  Gutes  im  allge- 
meinen fest,  so  muß  sich  auch  die  Frage  beantworten  lassen,  wie 
man  sie  sich  im  einzelnen  zu  denken  habe.  Und  zwar  kommt  es 
für  Kant  hierbei  vor  allem  darauf  an,  wie  weit  der  Mensch 
an  ihr  beteiligt  ist. 

Es  lagen  aber  im  Begriff  des  höchsten  Gutes  zwei  Elemente: 
Sittlichkeit  und  Glückseligkeit.  Und  so  ergeben  sich  aus  jener 
Frage  zwei  Probleme,  von  denen  das  eine  die  Realisierbarkeit 
des  ersten  und  das  andere  die  des  zweiten  Elements  zum  Gegen- 
stande hat. 

Was  das  erste  Problem  angeht,  so  stellt  sich  Kant  auf  den 
Standpunkt,  daß  die  Sittlichkeit,  wie  er  sich  wohl  auch  für  seine 
eigene  Auffassung  etwas  zu  weitgehend  ausdrückt,  »gänzlich  in 
unserer  Gewalt«  ^)  ist.  Sie  ist  etwas,  »was  niemand  als  der  Mensch 
selbst  sich  geben  oder  nehmen  kann«^).  Denn  als  moralisch  kann 
nur  gewertet  werden,  was  zurechnungsfähig  ist,  und  als  zurech- 
nungsfähig nur,  was  unsere  eigene  Tat  ist.  Darunter  aber  ver- 
steht Kant  das,  was  Aktus  einer  —  dritten  —  Freiheit  ist,  die 
noch  hinter  der  sittlichen  Freiheit  als  der  Unterordnung  der  Hand- 
lungen unter  das  Sittengesetz  liegt,  weil  sich  die  Willkür  des 
Menschen  durch  diese  Tat  überhaupt  erst  für  die  Annahme  des 
Prinzips  des  Guten  oder  des  Bösen  als  oberste  Maxime  des  Han- 


i)   Krit.  d.   Urteilskr.   S.   374  R. 

2)  Krit.  d.   Urteilskr.   S.   373  A.   R. 

3)  WW.   VIII  27   S.   283  *  Ak.-Ausg.,   vgl.  oben    S.   27/8. 


^Q  Die  Realisierbarkeit  des  Weltbesten. 

delns  entscheidet.  Was  aber  der  Grund  dieser  Tat  ist,  das  können 
wir  nach  Kants  eigenen  Ausführungen  nicht  weiter  sagen.  Sie  ist 
als  außerhalb  der  Zeit  gelegen  für  uns  unerklärlich  —  denn  er- 
klären können  wir  nur,  was  wir  von  einer  Ursache  nach  Gesetzen 
der  Natur  abzuleiten  vermögen,  und  etwas  Derartiges  ist  mit 
dem  Gedanken  einer  freien  Kausalität  unvereinbar  — ,  muß  aber 
trotz  ihrer  Unerforschlichkeit  angenommen  werden,  um  die  Mög- 
lichkeit dafür  zu  erhalten ,  beim  Menschen  überhaupt  von  Zu- 
rechnung und  infolge  dessen  auch  von  moralischer  Beschaffenheit 
zu  sprechen.  Durch  diese  Tat  der  Freiheit  also  soll  er  sittlich 
werden.  Was  er  aber  werden  oder  tun  soll,  muß  er  Kants 
teleologischem  Prinzipe  zufolge  auch  werden  oder  tun  können. 
Indessen  schränkt  Kant  diese  These,  sofern  sie  den  Gedanken 
an  die  Zulänglichkeit  des  eigenen  Tuns  enthält,  doch  etwas  ein. 
Wir  dürfen  keineswegs  schlechthin  behaupten,  daß  das,  was  w  i  r 
zum  Gut-  und  Besserwerden  zu  tun  imstande  sind,  für  sich  allein 
zureiche  und  zur  Vollendung  unserer  moralischen  Anstrengungen 
nicht  noch  eine  »übernatürliche  Mitwirkung«^)  nötig  sei.  Doch 
wird  dadurch  an  ihrem  eigentlichen  Inhalt  nicht  viel  geändert. 
Auch  wenn  eine  solche  Hilfe  nötig  sein  sollte,  würde  der  gleiche 
Grund  moralischer  Wertung  überhaupt  wenigstens  dafür  sprechen, 
daß  der  Mensch  müßte  hoffen  können,  auf  den  Weg  zur 
Besserung  durch  eigene  Kräfte  zu  gelangen.  Das  um  so 
mehr,  als  er  sich,  ehe  ihm  jener  Beistand  zuteil  werden  kann, 
würdig  machen  muß,  ihn  zu  empfangen,  und  fähig,  ihn  anzunehmen,' 
und  es  dazu  wiederum  nichts  anderes  gibt  als  ernstliche  Be- 
strebung, seine  sittliche  Beschaffenheit  nach  aller  Möglichkeit  zu 
bessern.  Dazu  kommt,  daß  der  Begriff  eines  solchen  übernatür- 
lichen Beistandes  immer  transzendent  ist  und  eine  bloße  Idee, 
über  deren  Realität  uns  keine  Erfahrung  Sicherheit  verschaffen 
kann.  Und  schließlich  läßt  es  die  um  unserer  Moralität  willen 
zu  fordernde  eigene  Tätigkeit  als  äußerst  gewagt  erscheinen, 
ihn  auch  nur  in  bloß  praktischer  Absicht  anzunehmen.  Gibt 
daher  der  Mensch  der  Vernunft  Gehör,  so  ist  es  schon  besser,  so 
zu  verfahren,  »als  ob  alle  Sinnesänderung  und  Besserung  ledig- 
lich von  seiner  eigenen  angewandten  Bearbeitung  abhinge«  ^),  und 
im  übrigen  bloß  zu  hoffen,  daß  dann  das,  was  nicht  in  seinem 
Vermögen  steht,  durch  höhere  Mitwirkung  auf  irgendeine  Weise 
werde  ergänzt  werden,  um  deren  genauere  Bestimmung  er  sich 

I)  WW.   VI   S.   44  f.  Ak.-Ausg.  2)   a.   a.   O.   S.   88. 


Die  Postulate  der  moralisch-praktischen  Vernunft.  6l 

nicht  weiter  zu  sorgen  braucht.  Und  so  gilt  unter  allen  Um- 
ständen —  mag  eine  solche  Mitwirkung  höherer  Art  da  sein  oder 
nicht  —  der  Grundsatz,  »daß  ein  jeder  soviel  als  in  seinen  Kräften 
ist  tun  müsse,  um  ein  besserer  Mensch  zu  werden«^). 

Ist  aber  aus  moralischen  Gründen  dem  Menschen  die  Fähig- 
keit, durch  eigene  Kraft  besser  zu  werden,  entschieden  zuzu- 
sprechen, so  darf  auf  der  andern  Seite  doch  nicht  übersehen 
werden,  daß  er  als  endliches  Wesen  das  Ziel  seines  Strebens  in 
vollem  Maße  »in  keinem  Zeitpunkte  seines  Daseins « ^)  erreichen 
kann.  Alle  moralische  Vollkommenheit,  Zu  der  der  Mensch  ge- 
langen kann,  ist  —  wir  wissen  es  schon  —  ^)  immer  nur  Tugend, 
und  es  ist  nichts  als  lauter  moralische  Schwärmerei  und  Wahn 
des  Eigendünkels,  »der  Idee  seiner  heiligen  Pflicht  sich  adäquat 
zu  halten« *).  Die  Forderung  sittlicher  Vollendung  über- 
steigt die  menschlichen  Kräfte  und  bringt  »Unsinn  in  ihr  Prinzip 
hinein«  ^).  Ist  sie  dennoch  —  als  Bedingung  des  höchsten  Gutes  — 
geboten,  und  muß  sie  als  geboten  auch  möglich  sein,  so  kann  sie 
nur  in  einem  ins  Unendliche  gehenden  Fortschritt  z  u  der  völligen 
Angemessenheit  des  Willens  an  das  moralische  Gesetz  gesehen 
werden.  Der  also  ist  es,  worauf  der  Mensch  zu  achten  hat  und 
den  er  durch  seine  eigenen  Bemühungen  auch  zu  bewirken  im- 
stande ist. 

Steht  nun  in  diesem  Sinne  und  mit  dieser  Einschränkung 
die  Realisierbarkeit  der  Sittlichkeit  in  der  Gewalt  des  Menschen, 
so  ist  es  mit  dem  Hinzutreten  der  Glückseligkeit  zu  der  so  errunge- 
nen Tugend  wesentlich  anders  bestellt.  Daß  wir  imstande  wären, 
der  Tugend  in  notwendiger  und  zureichender  V/eise  die  ihr  an- 
gemessene Glückseligkeit  zuteil  werden  zu  lassen,  daran  ist  nicht 
zu  denken.  Da  der  äußere  Zustand  des  Menschen  von  natürlichen 
Ursachen  abhängt,  die  als  rein  mechanisch  wirkend  an  und  für 
sich  —  wenigstens  für  unsere  Einsicht  —  auf  die  Verbindung  der 
Glückseligkeit  mit  der  Tugend  durchaus  nicht  abzielen,  so  müßten 
wir,  wenn  wir  ihn  der  Tugend  angemessen  machen  wollten,  nicht 
nur  das  Vermögen  besitzen,  uns  selbst  —  im  moralischen  Gesetze  — 
das  Gesetz  unseres  Handelns  zu  geben,  sondern  obendrein  die 
Fähigkeit,  auch  die  Natur  diesem  Gesetze  zu  unterwerfen,  um 
das  Reich  der  Natur  mit  dem  der  Zwecke  auf  diese  Weise  in 


i)   a.  a.   O.   S.   52.  2)   Krit.  d.  pr.   Vern.   S.   147  R. 

3)  Vgl.   S.   16.  4)  WW.  VI  S.   173  Ak.-Ausg. 

5)  a.  a.   O.   S.   433  *. 


^2  Die  Realisierbarkeit  des  Weltbesten. 

Einklang  zu  bringen.  Davon  kann  aber  keine  Rede  sein.  Der 
Mensch  als  Teil  der  Natur  ist  nicht  ihre  Ursache,  sondern  von 
ihr  abhängig.  Soweit  er  daher  überhaupt  auf  das  Naturgeschehen 
einzuwirken  vermag,  richtet  sich  der  Erfolg  seines  Eingreifens 
allein  nach  seiner  Kenntnis  der  Naturgesetze  und  seinem  physi- 
schen Vermögen,  sie  seinen  Absichten  zu  unterwerfen.  Die  aber 
reichen  beide  nicht  aus,  die  Natur  hinsichtlich  seiner  Glückselig- 
keit mit  seinen  praktischen  Grundsätzen  in  Uebereinstimmung 
zu  bringen. 

So  stellt  sich  heraus,  daß  die  Verwirklichung  des  höchsten 
Gutes  nur  zum  Teil  in  unserer  Gewalt  steht.  Wir  können  es 
zwar  —  wenigstens  bis  zu  einem  gewissen  Grade  —  realisieren, 
soweit  die  Sittlichkeit,  aber  gar  nicht,  soweit  die  Glückseligkeit 
in  Frage  kommt.  Haben  wir  als  moralische  Wesen  trotzdem 
das  vernunftnotwendige  Bedürfnis,  an  seine  volle  Realisierbar- 
keit zu  glauben,  so  ergibt  sich  für  den  auch  hier  seiner  Unfähig- 
keit zu  einer  apodiktischen  Entscheidung  sich  bewußten  Erkennt- 
nistrieb das  weitere  Bedürfnis,  unser  und  der  Natur  Unvermögen 
durch  die  Annahme  gewisser  Voraussetzungen  zu  ergänzen, ' die 
zwar  über  alle  mögliche  Erfahrung  hinausliegen,  aber  doch  die 
Verwirklichung  des  höchsten  Gutes  verständlich  zu  machen  ver- 
mögen. Und  auch  dieses  Bedürfnis  ist  unbedingt.  Denn  ein 
Vernunftbedürfnis,  das  auf  einem  objektiven  Bestimmungsgrunde 
des  Willens,  dem  Sittengesetze,  beruht,  berechtigt  uns  als  mora- 
lische Wesen  nicht  nur,  sondern  macht  es  für  uns  unvermeidlich, 
dasjenige  vorauszusetzen,  was  zur  Verwirklichung  seines  Objekts 
anzunehmen  für  unsere  menschliche  Vernunft  notwendig  ist. 
Jedoch  haben  diese  Voraussetzungen,  wenn  sie  auch  an  sich 
»theoretische  Positionen«^)  sind  und  als  solche  nicht  nur  wider- 
spruchslos, sondern  auch  so  beschaffen  sein  müssen,  daß  sie  von 
der  theoretischen  Vernunft  nicht  widerlegt  werden  können,  den- 
noch als  Prinzipien,  die  die  Verwirklichung  eines  durchs  mora- 
lische Gesetz  aufgegebenen  Objektes  denkbar  machen  sollen, 
nicht  die  Bedeutung  »theoretischer  Dogmata « ^)  oder  den  Wert 
von  Einsichten,  die  uns  eine  Erkenntnis  des  An-sich-seienden 
zu  geben  vermöchten.  Sie  können  vielmehr,  obwohl  sie  als  Be- 
dingungen eines  praktisch-notwendigen  Bedürfnisses  ebenso  not- 
wendig sind  wie  dessen  Grundlage,  das  moralische  Gesetz,  nur 
moralisch-praktische    Realität    oder    die    Bedeutung   von    Postu- 

i)   Krit.  d.  pr.   Vera.   S.   145   R.  2)   a.  a.   O.   S.   158. 


Die  Postulate  der  moralisch-praktischen  Vernunft.  53 

laten  der  moralisch-praktischen  Vernunft  beanspruchen  und  gelten 
für  uns  auch  nur  als  moralische  Wesen  oder  in  Beziehung  auf  das 
moralische  Gesetz,  mit  dem  sie  als  Bedingungen  des  von  ihm 
gebotenen  Objekts  für  den,  der  »moralisch  konsequent  denken 
will«^),  unzertrennlich  verbunden  sind.  Anders  ausgedrückt: 
sie  betreffen  nicht  wirkliche  Gegensi^ände,  sondern  sind  einzig 
und  allein  Maximen  der  Handlung,  sagen  also  nicht,  daß  ihre 
Objekte  existieren,  sondern  verlangen  nur,  daß  wir  uns  so  ver- 
halten, als  ob  sie  existierten. 

Zu  diesen  Postulaten  gehören  aber  zwei:  die  Unsterblichkeit 
der'  Seele  und  das  Dasein  Gottes.  Und  zwar  hängt  jenes  besonders 
mit  der  im  Begriff  des  höchsten  Gutes  enthaltenen  Forderung 
der  Sittlichkeit,  dieses  mit  der  Verbindung  von  Tugend  und 
Glückseligkeit  zusammen. 

Denn  die  Forderung  der  Sittlichkeit  hatte  sich  für  eine  tiefere 
Betrachtung  auf  die  Forderung  eines  unendlichen  Fort- 
schritts des  Menschen  zur  Vollkommenheit  reduziert.  Ein 
solcher  unendlicher  Progreß  ist  aber  nur  unter  der  Voraussetzung 
möglich,  daß  der  Mensch  ins  Unendliche  fortdauert.  So  erweist 
sich  die  Unsterblichkeit  der  Seele  als  eine  für  unser  Denken  un- 
umgängliche Bedingung  der  durch  das  »unnachläßliche  Gebot 
der  praktischen  Vernunft « ^)  geforderten  und  daher  als  möglich 
anzusetzenden  Realisierung  des  höchsten  Gutes,  Und  das  macht 
es  dem  Menschen  zum  Vernunftbedürfnis  und  gibt  ihm  zugleich 
das  Recht,  an  sie  zu  glauben. 

Wie  aber  das  im  höchsten  Gute  enthaltene  Moment  der 
moralischen  Vollkommenheit  zum  Glauben  an  ein  »Uebersinn- 
liches  nach  uns«^)  führt,  so  nötigt  die  in  ihm  beschlossene  Ver- 
bindung von  Tugend  und  Glückseligkeit  zum  Glauben  an  ein 
»Uebersinnliches  über  uns«*).  Denn  da  wir  gar  nicht  einzusehen 
vermögen,  wie  die  Natur,  sei  es  für  sich,  sei  es  unter  unserer  Ein- 
wirkung, diese  Verbindung  sollte  herstellen  können,  so  sind  wir 
auch  hier  berechtigt,  an  die  Wirklichkeit  ihrer  einzigen  für  uns 
denkbaren  Bedingung,  d.  h.  an  eine  von  der  Natur  unterschiedene 
Ursache  der  gesamten  Natur  zu  glauben.  Weil  sich  aber  in  dieser 
Verbindung  die  Glückseligkeit  nach  der  moralischen  Gesinnung 
richtet,  diese  also  den  beherrschenden  Faktor  bildet,  so  müssen 
wir  uns  die  oberste  Ursache  weiterhin  so  denken,  als  ob  sie  sich 


I)   Krit.  d.   Urteilskr.   S.   347  *  R.  2)   a.   a.   O.   S.   383. 

3)  WW.  I  S.  534  Ros.  4)  a.  a.  Ö.   S.  533. 


^A  Die   Realisierung  des  Weltbesten. 

in  ihrer  auf  die  Natur  gerichteten  Tätigkeit  von  moralischen 
Gesetzen  leiten  heße.  Nun  ist  aber  ein  Wesen,  das  nach  der  Vor- 
stellung von  Gesetzen  zu  handeln  vermag,  eine  Intelligenz  und 
seine  Kausalität  in  dieser  Hinsicht  ein  Wille.  Also  müssen  wir 
uns  die  oberste  Ursache  der  Natur,  sofern  sie  als  Bedingung  der 
ReaHsierbarkeit  des  höchsten  Gutes  vorausgesetzt  werden  muß, 
als  ein  Wesen  denken,  das  durch  Vorstellung  und  Wille  Ursache 
der  Natur  ist  und  sie  zugleich  nach  moralischen  Gesetzen  be- 
herrscht. M,  a.  W. :  dieser  aus  der  Vernunft  selbst  hervorgehende 
Begriff  einer  obersten  Ursache  der  Natur,  den  insofern  uns  selbst 
zu  machen  die  reine  praktische  Vernunft  uns  nötigt,  ist 
der  Begriff  eines  moralischen  Welturhebers  oder,  da  wir  einem 
solchen  alle  Eigenschaften  zuschreiben  müssen,  die  zur  Gründung 
einer  mit  dem  moralischen  Endzweck,  der  unendlich  ist,  über- 
einstimmenden Natur  überhaupt  erforderlich  sind,  Allwissenheit 
nämlich,  damit  er  das  Innerste  der  Gesinnungen  und  deren  mora- 
lischen Wert  erkenne,  Allmacht,  Allgegenwart,  Ewigkeit  usw. 
—  es  ist  der  Begriff  Gottes, 

Gott  und  Unsterblichkeit  sind  also  die  unumgänglichen 
Voraussetzungen  für  die  Realisierbarkeit  des  höchsten  Gutes. 
Dieses  selbst  aber  ist  eine  Aufgabe,  die  sich  mit  Notwendigkeit 
aus  dem  kategorischen  Imperativ  ergibt.  Und  so  bringt  zuletzt 
das  Sittengesetz  jene  Objekte  unvermeidlich  mit  sich.  Der  Mensch 
kann  daher  mit  Recht  sagen,  zwar  nicht :  es  ist,  wohl  aber :  ich 
bin  moralisch  gewiß,  daß  es  einen  Gott  und  eine  andere  Welt 
gibt.  »Das  heißt:  der  Glaube  an  einen  Gott  und  an  eine  andere 
Welt  ist  mit  meiner  moralischen  Gesinnung  so  verwebt,  daß, 
so  wenig  ich  Gefahr  laufe,  die  erstere  einzubüßen,  ebensowenig 
besorge  ich,  daß  mir  der  zweite  jemals  entrissen  werden  könne«  ^). 


IV.  Die  Realisierung  des  Weltbesten. 

I.  Der  Fortschritt  der  Menschheit. 

Durch  die  soeben  dargelegten  Ueberlegungen  glaubt  Kant 
die  Realisierbarkeit  des  höchsten  Gutes  sichergestellt  zu  haben. 
Aber  es  bleibt  noch  die  Frage,  wie  sich  die  Reahsierung  selbst 
vollzieht,   und  zwar   auch  hier  wieder  mit   der  besonderen  Zu- 


i)   Krit.  d.  rein.   Vern.   S.   626  R. 


Der  Fortschritt  der  Menschheit. 


65 


spitzung,  wie  und  wie  weit  die   Menschen   sie  bewirken  und 
bewirken   können. 

In  dieser  Hinsicht  sieht  sich  nun  Kant  schon  auf  Grund 
seiner  Auffassung  menschhcher  Sitthchkeit  von  vornherein  zu 
einer  Einschränkung  zu  weitgehender  Erwartungen  genötigt.  Die 
GlückseHgkeit  sollte  dem  Menschen  ja  nur  im  angemessenen 
Verhältnis  zu  seiner  Sittlichkeit  zuteil  werden.  Hier  auf  Erden 
konnte  aber  gar  nicht  die  Rede  davon  sein,  daß  der  einzelne  seine 
sittliche  Bestimmung  erreichte.  Nur  von  der  Gattung  ließ  sich 
das  erwarten,  von  der  Menschheit  im  Ganzen,  so  wie  sie  in  Völker 
und  Staaten  geteilt  auf  Erden  angetroffen  wird,  und  auch  von 
ihr  nur  im  Fortschreiten  durch  eine  unabsehliche  Reihe  von 
Generationen  ^).  Und  selbst  das  gilt  nicht  ohne  eine  weitere 
Einschränkung.  Nur  dann  nämlich  würde  die  Gattung  ihr  Ziel 
ganz  erreichen,  wenn  einmal  ein  einzelner  absolut  vollkommen 
und  gut  sein  würde,  so  daß  er  imstande  wäre,  alle  andern  zu  seiner 
Höhe  emporzuheben.  Aber  auch  daran  ist  nicht  zu  denken. 
Wegen  der  Unvertilgbarkeit  des  angeborenen  Hanges  zum  Bösen 
wird  es  niemals  einen  Menschen  geben,  der  nicht  irgendeine  Ver- 
dorbenheit in  sich  hätte.  Auch  die  Gattung  kann  also  die  Be- 
stimmung der  Menschheit  nie  völlig  erreichen,  sie  kann  sich  ihr 
nur  immer  mehr  nähern,  und  deshalb  auch  nur  in  dieser  Form 
der  Annäherung  ihr  letztes  Ziel  verwirklichen.  Macht  man  aber 
darauf  aufmerksam,  wie  befremdend  es  doch  sei,  daß  die  früheren 
Generationen  sich  nur  um  der  späteren  willen  abzumühen  schei- 
nen, so  antwortet  Kant:  »So  rätselhaft  dieses  auch  ist,  so  not- 
wendig ist  es  doch  zugleich,  wenn  man  einm.al  annimmt«  2),  daß 
die  mit  Vernunft  begabte  Menschheit  ihren  Fortschritt  zum 
Bessern  aus  eigener  Kraft  bewirken  soll.  Das  aber  muß  man 
um  ihrer  im  moralischen  Interesse  unentbehrlichen  Freiheit  willen 
tun.  Nun  vollzieht  sich  dieser  Prozeß  des  Fortschreitens  zum 
Bessern  in  der  Geschichte.  Und  Kant  ist  der  festen  Ueberzeugung, 
daß  hier  im  großen  und  ganzen  wirklich  von  einem  Weiterkommen 
gesprochen  werden  kann.  Allerdings  nicht  in  dem  Sinne,  daß 
die  Natur  des  Menschen  im  Laufe  der  Generationen  immer 
besser  würde,  oder  die  Masse  des  in  seiner  Natur  angelegten 
Guten  beständig  zunehme  —  denn  dazu  würde  eine  Art  von 
neuer  Schöpfung  nötig  sein,  während  s.  E.  die  Natur  ihre  dem 
Boden  und  Klima  angemessenen  Formen  längst  erschöpft  hat  — , 

I)  Vgl.   S.  37.  2)  WW.  VIII  S.  20  Ak.-Ausg. 

Goedeckemeyer     Kants  Lebensanschauung.  '  K 


55  Die  Realisierung  des  Weltbesten. 

wohl  aber  in  dem,  daß  die  Menschen  ihre  ursprüngliche  Anlage 
zum  Guten  durch  Umkehrung  der  aus  ihrem  natürlichen  Hange 
zum  Bösen  entstandenen  Verkehrung  der  sittlichen  Ordnung  der 
Triebfedern  mit  eigener  Kraft  wiederherstellen  und  gegen  alle 
Angriffe  von  selten  jenes  Hanges  mehr  und  mehr  sichern.  Zu 
stützen  sucht  er  diese  Ueberzeugung  aber  nicht  bloß  mit  dem 
Hinweise  darauf,  daß  der  Glaube  an  den  Fortschritt  der  Welt 
moralisch  gefordert,  und  daher  auch  solange  festzuhalten  sei,  als 
nicht  der  —  s.  E.  ganz  unmögliche  —  Beweis  für  das  Gegenteil 
geführt  werde,  sondern  auch  durch  die  Erfahrung.  Er  meint, 
daß  die  Erfahrung  zum  mindesten  »ein  Weniges « ^)  von  diesem 
Fortschreiten  erkennen  lasse,  so  daß  es  sogar  zu  einem  auch  »für 
die  strengste  Theorie  haltbarem  Satz«^)  werde.  Zu  diesen  empiri- 
schen Argumenten  gehört  aber  zunächst  die  fortschreitende 
Kultur  der  Staaten  im  Innern.  Sie  besteht  darin,  daß  jeder  Staat 
seinen  Bürgern  eine  möglichst  gute  praktische  Bildung  zu  ver- 
leihen sucht  und  dazu  auch  genötigt  ist,  weil  die  einzelnen  Staaten 
schon  in  einem  so  künstlichen  Verhältnis  zueinander  stehen, 
daß  keiner  in  der  inneren  Kultur  nachlassen  kann,  ohne  den  an- 
dern gegenüber  an  Macht  und  Einfluß  einzubüßen.  Und  aus  dem 
gleichen  Grunde  geht  mit  dieser  Steigerung  der  Tauglichkeit 
Erweiterung  der  bürgerlichen  Freiheit  Hand  in  Hand.  Die  Frei- 
heit der  Religion  tritt  ebenfalls  hinzu,  die  freie  Kritik  auch  der 
Gesetzgebung  und  überhaupt  die  für  den  Fortschritt  eines  Volkes 
über  alles  wichtige  Freiheit  des  Geistes,  d.  h.  des  Denkens  und 
der  Rede,  die  das  einzige  Palladium  der  Volksrechte  bildet,  weil 
dadurch  allein  die  Beschwerden  des  Volkes  ihren  Ausdruck  finden 
können,  und  dem  Staatsoberhaupt  die  Möglichkeit  geboten  wird, 
Abhilfe  zu  schaffen.  Und  wenn  man  auch  noch  nicht  behaupten 
kann,  daß  sich  die  Menschheit  schon  in  einem  aufgeklärten  Zeit- 
alter befinde,  einem  solchen  also,  in  dem  die  einzelnen  imstande 
wären  oder  auch  nur  in  den  Stand  gesetzt  werden  könnten,  sich 
in  allen  Dingen  ungeleitet  ihres  eigenen  Verstandes  sicher  und  gut 
zu  bedienen,  so  läßt  sich  doch  wohl  sagen,  daß  sie  in  einem  Zeit- 
alter der  Aufklärung  leben,  in  dem  ihnen  mehr  und  mehr  die 
Möglichkeit  geboten  wird,  aus  ihrer  selbstverschuldeten  Unmün- 
digkeit herauszukommen  und  den  M  u  t  zu  fassen ,  von  ihrer 
eigenen  Vernunft  öffentlich  Gebrauch  zu  machen. 

i)   a.   a.   O.   S.   27. 

2)   WW.   VII   S.   88  Ak.-Ausg. 


Der  Fortschritt  der  Menschheit. 


67 


Dieser  ganze  kulturelle  Fortschritt  muß  nun  aber  auch  zum 
moralischen  Fortschritt  —  auf  den  es  in  letzter  Linie  allein  an- 
kommt —  führen  und  hat  auch  wirklich  dazu  geführt.  Er  muß 
dazu  führen,  zunächst  weil  alle  diese  Errungenschaften  der  Kultur 
unvermeidlich  auf  die  Sinnesart  des  Volkes  zurückwirken,  indem 
es  durch  die  ihm  gelassene  Freiheit  immer  mehr  zum  selbständigen 
Gebrauch  seiner  natürlichen  Freiheit  heranreift  —  »denn  man 
kann  zu  dieser  nicht  reifen,  wenn  man  nicht  zuvor  in  Frei- 
heit gesetzt  worden  ist « ^)  — ,  und  dadurch  eben  der  Boden  für 
den  moralischen  Fortschritt  bereitet  wird,  der  ohne  Freiheit  nicht 
möglich  ist ;  dann  aber  auch  aus  dem  Grunde,  weil  der  bloße 
kulturelle  Fortschritt  die  Menschen  nur  zu  einem  glänzenden 
Elende  führen  würde,  sie  also  mit  ihrem  eigenen  Streben  nach 
Glückseligkeit  in  einen  Widerspruch  brächte,  dem  sie  nur  dadurch 
entgehen  können,  daß  sie  auch  moralisch  immer  besser  zu  werden 
suchen  ^) . 

Aber  er  h  a  t  auch  dazu  geführt.  Das  glaubt  Kant  mancherlei 
Begebenheiten  seiner  Zeit  entnehmen  zu  können.  Dahin  rechnet 
er  vor  allem  zwei:  »die  allmählich  zum  Bessern  hinstrebende, 
auf  wahre  Rechtsbegriffe  sich  gründende  Staatsverbesserung«  ^), 
wie  sie  in  der  französischen  Revolution  als  der  »Evolution  einer 
naturrechtlichen  Verfassung«  zutage  getreten  ist  *),  und  das 
öffentliche  Auftreten  der  wahren  Religion.  Denn  wenn  beide 
Tatsachen  anfangs  auch  nur  als  Mittel  zu  selbstsüchtigen  Zwecken 
gedacht  waren,  so  sind  sie  schließlich  doch  auch  als  Zwecke  an 
sich  selbst  in  Achtung  gekommen,  wie  bei  der  französischen  Re- 
volution vor  allem  an  der  allgemeinen  und  doch  uneigennützigen, 
weil  gefährlichen,  Teilnahme  aller  Zuschauer  deutlich  zu  erkennen 
ist.  Eben  dadurch  sind  sie  aber  auch  Fortschritte  auf  dem  Wege 
zum  Moralisch-Bessern  geworden. 

Diese  allgemeine  und  uneigennützige  Teilnahme  weist  nun 
auch  auf  eine  Beschaffenheit  des  Menschengeschlechts  hin,  die  es 
gestattet,  selbst  ohne  Sehergeist  vorauszusagen,  daß  es  auch  in 
Zukunft  zum  Bessern  fortschreiten  wird  —  vielleicht  nicht  ohne 
manchen  Rückschlag,  aber  doch  beharrlich  und  so,  daß  keine 
menschliche  Macht  imstande  ist,  es  jemals  gänzlich  daran  zu  hin- 


i)   Religion  usw.   S.   204  *  R.  2)   Vgl.   S.   53. 

3)  Worin  besteht  der  Fortschritt  zum  Besseren  im  Menschengeschlecht  ed. 
Kulimann  S.  18. 

4)  WW.  VII  S.  88  f.  Ak.-Ausg. 

5* 


58  Die  Realisierung  des  "Weltbesten. 

dern.  Denn  die  Allgemeinheit  der  Teilnahme  beweist,  daß  das 
Menschengeschlecht  im  ganzen  einen  ganz  bestimmten  Charakter, 
d.  h.  den  Willen,  nach  festen  Grundsätzen  zu  handeln,  besitzt, 
und  die  Uneigennützigkeit  zeigt,  daß  dieser  Charakter 
wenigstens  in  seiner  Anlage  moralisch  ist.  In  diesem  moralischen 
Charakter  aber  besitzt  es  die  Beschaffenheit,  die  es  ihm  mög- 
lich macht,  selbst  Urheber  seines  Fortschreitens  zum  Bessern 
zu  sein.  Denn  in  dem  »lebhaften  Gefühl  der  Lust«^),  das  infolge 
dieser  moralischen  Tendenz  in  allen  aufgeklärten,  d.  h.  ihres 
Vernunftgebrauchs  wirklich  mächtigen  Menschen  beim  Gelingen 
eines  Fortschritts  zum  Bessern  auftritt,  ist  zugleich  der  subjektive 
Grund  zur  Beförderung  desselben  gegeben,  der  für  sinnlich- 
affizierte  vernünftige  Wesen  zur  Erfüllung  der  ihnen  von  der 
Vernunft  vorgeschriebenen  Pflicht  unentbehrlich  ist.  Und  der 
wird  sich  sogleich  bemerklich  machen,  wenn  nur  die  äußeren  Um- 
stände eintreten,  unter  denen  er  sich  betätigen  kann.  Wann  sie 
aber  eintreten  werden,  läßt  sich  nicht  bestimmen,  nur  daß  sie 
irgendwann  einmal  auftreten  müssen,  kann  »wie  beim  Kalkül 
der  Wahrscheinlichkeit  im  Spiel«  2)  vorausgesagt  werden.  Und 
daß  sich  dann  die  moralische  Tendenz  des  Menschengeschlechts 
in  der  Tat  als  wirksam  erweisen  wird,  sichert  nach  Kants  Ansicht 
wiederum  die  französische  Revolution.  »Denn  ein  solches  Phä- 
nomen in  der  Menschengeschichte  vergißt  sich  nicht 
mehr«;  es  »ist  zu  groß,  zu  sehr  mit  dem  Interesse  der  Mensch- 
heit verwebt  ....  als  daß  es  nicht  den  Völkern  bei  irgendeiner 
Veranlassung  günstiger  Umstände  in  Erinnerung  gebracht  und 
zu  Wiederholung  neuer  Versuche  dieser  Art  erweckt  werden 
sollte  «  ^) . 

Die  so  begründete  Ueberzeugung  vom  Fortschritt  des  Men- 
schengeschlechts v/ill  sich  Kant  aber  auch  nicht  durch  das  ab- 
weichende Urteil  der  Politiker  nehmen  lassen.  Berufen  sich  diese 
auf  widerstreitende  Erfahrungen,  um  von  da  aus  zu  behaupten, 
daß  sich  die  Geschichte  der  Menschheit  nur  in  einem  ewigen 
Zirkel  drehe,  ohne  jemals  weiterzukommen,  so  übersehen  sie, 
daß  diese  Erfahrungen  nur  deshalb  möglich  sind,  weil  ihr  Un- 
glaube an  Tugend  überhaupt  und  an  die  Kraft  einer  rein  morali- 
schen Triebfeder  sie  veranlaßt,  vorsätzlich  und  nach  allen  Kräften 
alles  zu  unterdrücken,  was  das  Fortrücken  zum  Bessern  sichern 


i)   Worin  besteht  usw.  ed.  Kullm.  S.  21. 

2)   WW.   VII   S.   84  Ak.-Ausg.  3)   a.  a.   O.   S.   88. 


Die  Realisierung  der  Sittlichkeit.  5q 

könnte,  so  daß  sie  auf  diese  Weise  selbst  Urheber  von  Erfah- 
rungen werden,  die  gar  nicht  existieren  würden,  wenn  sie  sich 
bei  allen  ihren  Maßnahmen  nur  nach  der  Idee  des  Bessern  richten 
möchten.  Aber  wenn  sie  mit  ihren  »verräterischen  Anschlägen«^) 
auch  eine  Zeitlang  Erfolg  haben,  auf  die  Dauer  wird  ihnen  alles 
nichts  nützen.  Denn,  so  erklärt  Kant  ^)  mit  unerschütterlichem 
Vertrauen:  ist  das  Wahre  und  Gute  erst  einmal  öffentlich  ge- 
worden, dann  wird  es  vermöge  der  natürlichen  Verwandtschaft, 
in  der  es  mit  der  moralischen  Anlage  vernünftiger  Wesen  steht, 
nicht  ermangeln,  sich  durchgängig  mitzuteilen,  immer  weiter 
fortzuschreiten  und  sich  fernerhin  von  selbst  zu  erhalten.  Er 
offenbart  damit  einen  Glauben  an  die  Macht  des  Guten,  der  zu 
den  wichtigsten  Momenten  seiner  Lebensphilosophie  gehört  und 
seinen  entschiedensten  Ausdruck  vielleicht  in  den  Worten  über 
die  menschliche  Natur  gefunden  hat,  »welche,  da  in  ihr  immer 
noch  Achtung  für  Recht  und  Pflicht  lebendig  ist,  ich  nicht  für 
so  versunken  im  Bösen  halten  kann  oder  will  (!),  daß  nicht  die 
moralisch-praktische  Vernunft  nach  vielen  mißlungenen  Ver- 
suchen endlich  über  dasselbe  siegen  ....  sollte«^). 


2.  Die  Realisierung  der  Sittlichkeit. 

So  steht  für  Kant  der  Fortschritt  der  Menschheit  zum  Bessern 
fest.  Fragt  man  aber  nach  dem  Mittel,  durch  das  er  sich  befördern 
läßt,  so  antwortet  der  Philosoph  mit  der  Erziehung.  Als  ver- 
nünftiges Geschöpf  wird  der  Mensch  nicht  vom  Instinkt  geleitet, 
sondern  muß  sich  den  Plan  seines  Verhaltens  selbst  machen. 
Dazu  ist  er  aber,  roh  und  wild  wie  er  auf  die  Welt  kommt,  nicht 
sogleich  imstande,  sondern  muß  erst  durch  künstliche  Bemühungen 
anderer  vorbereitet  werden.  Diese  Bemühungen  faßt  der  Begriff 
der  Erziehung  zusammen.  Sie  dient  dazu,  sowohl  die  natürlichen 
als  auch  die  moralische  Anlage  des  Menschen  immer  mehr  zu 
entwickeln,  ihn  dadurch  aus  dem  rohen  Zustande  der  Tierheit 
heraustreten  und  erst  wirklich  zum  —  vernünftigen  —  Menschen 
und  zu  einer  —  moralischen  —  Persönlichkeit  werden  zu  lassen. 
Erst  als  solche  ist  er  ein  freihandelndes  Wesen,  »das  sich  selbst 
erhalten,  in  der  Gesellschaft  ein  Glied  ausmachen,  für  sich  selbst 


i)   a.   a.   O.   S.   80.  2)   Religion  usw.  S.  131  R. 

3)  WW.  VIII  S.  313  Ak.-Ausg.    Das  Ausrufungszeichen  habe  ich  eingefügt. 


70 


Die  Realisierung  des  Weltbesten. 


aber  einen  innern  Wert  haben  kann«'-),  als  solche  erreicht  er  also 
auch  erst  seine  Bestimmung.  Darum  bedarf  der  Mensch 
der  Erziehung.  Und  darum  konnte  Kant  sie  auch  so  hoch  werten, 
daß  er  erklärte:  »Hinter  der  Edukation  steckt  das  große  Ge- 
heimnis der  Vollkommenheit  der  menschlichen  Natur «  ^) . 

Aber  je  höher  er  sie  stellte,  um  so  wichtiger  wurde  die  Frage 
nach  ihrem  Träger.  Und  hier  glaubte  er  nun  doch  die  Ansicht 
vertreten  zu  müssen,  daß  der  Mensch  selbst  nicht  imstande  sei, 
ihrer  höchsten  Aufgabe,  der  Bildung  zum  Guten  oder  zur  Beför- 
derung des  Weltbesten,  gerecht  zu  werden. 

Denn  wer  sollte  diese  Aufgabe  übernehmen?  Denkt  man 
an  das  Volk,  so  ist  es  eher  geneigt,  die  Erziehung  um  der  Kosten 
willen,  die  sie  mit  sich  bringt,  von  sich  abzuwälzen,  würde  aber 
auch  sonst  nicht  imstande  sein,  sie  in  angemessener  Weise  durch- 
zuführen. Denn  eine  Erziehung,  die  in  der  Hand  so  vieler  und  von 
ganz  verschiedenen  Interessen  bewegter  Menschen  läge,  würde 
nicht  nur  ohne  jeden  Zusammenhang,  sondern,  weil  die  Eltern 
im  allgemeinen  ihre  Kinder  nur  für  ein  gutes  Fortkommen  in  der 
Welt  geschickt  machen  wollen,  auch  viel  zu  eng  und  beschränkt 
sein. 

.  Denkt  man  an  den  Staat,  dem  das  Volk  die  Erziehung  gern 
zuschieben  möchte,  so  ergeben  sich  andere  Bedenken.  Einmal  hat 
er,  so  wie  die  Dinge  jetzt  liegen,  für  die  Erziehung  kein  Geld 
übrig,  weil  er  alles  zum  Kriege  braucht.  Dazu  kommt,  daß  auch 
sein  Sinn  zu  eng  ist.  Auch  er  hat  nicht  das  Weltbeste,  sondern 
nur  sein  eigenes  Wohl  im  Auge,  und  der  Fürst  sieht  seine  Unter- 
tanen so  sehr  lediglich  als  Instrumente  für  seine  Absichten  an, 
daß  man  geradezu  behaupten  kann,  »daß  das  Glück  der  Staaten 
zugleich  mit  dem  Elende  der  Menschen  wachse«  ^).  »Man  hat  keinen 
Monarchen,  der  etwas  zum  Besten  des  menschlichen  Geschlechts 
tun  will,  auch  nicht  einmal  zum  Besten  des  Volks,  sondern  nur 
vor  das  Ansehen  des   Staats,  also  auch  nur  vor  das  äußere«*). 

So  bleiben  nur  Privatmänner  übrig,  von  deren  Sorgfalt  sich 
eine  der  Bestimmung  des  Menschen  entsprechende  Erziehung  er- 
warten ließe.  Und  in  der  Tat  begegnet  uns  bei  Kant  die  ent- 
schiedene Erklärung,  daß  alle  Kultur  vom  Privatmanne  an- 
fange und  sich  von  da  her  ausbreite,  und  deshalb  auch  »bloß 
durch  die  Bemühung  der  Personen  von  extendierten  Neigungen, 

i)  Paedag.  ed.   Rink  S.   29.  2)   a.  a.   O.   S.   12. 

3)   a.  a.   O.    S.   22.  4)  WW.   XV  Nr.   1416  Ak.-Ausg. 


Die   Realisierung  der  Sittlichkeit.  ^j 

die  Anteil  an  dem  Weltbesten  nehmen,  und  der  Idee  eines  zu- 
künftigen bessern  Zustandes  fähig\  sind,  die  allmähliche  An- 
näherung der  menschlichen  Natur  zu  ihrem  Zwecke  möglich« 
sei  1).  Aber  auch  hier  ergeben  sich  noch  gewisse,  und  zwar  er- 
hebliche, weil  prinzipielle,  Schwierigkeiten.  Man  hat  allerdings, 
wie  er  meint,  allmählich  eingesehen,  was  zu  einer  guten  Erziehung 
gehört  —  daß  sie  nämlich  in  allererster  Linie  kosmopolitisch 
sein  muß  — ,  und  hat  damit  wenigstens  objektiv  die  Möglichkeit 
gewonnen,  mit  ihr  den  Anfang  zu  machen;  aber  der  Erfolg  aller 
Versuche  wird  doch  dadurch  in  Frage  gestellt,  daß  derjenige, 
welcher  erziehen  soll,  wieder  ein  Mensch  ist  und  so  fort.  Ihnen 
allen  aber  ist  als  Menschen  der  unvertilgbare  Hang  zum  Bösen 
eigen  und  macht  es  unmöglich,  eine  beharrliche  moralische  Fort- 
bildung der  Gattung  von  ihnen  zu  erwarten.  Dazu  kommt  ein 
weiteres.  Bei  der  Erziehung  des  ganzen  Menschengeschlechts 
muß  eine  Einwirkung  vorhanden  sein,  die  aufs  Ganze  und  erst 
von  da  aus  auf  die  Teile  geht.  Die  auszuüben  sind  Menschen 
aber  nicht  imstande.  Denn  sie  gehen  mit  ihren  Entwürfen  immer 
von  den  Teilen  aus  und  erstrecken  aufs  Ganze  höchstens  ihre 
Ideen,  nicht  aber  auch  ihren  Einfluß,  und  zwar  vor  allem  deshalb 
nicht,  weil  sie  sich  schon  in  ihren  Entwürfen  widerstreiten,  und 
sich  daher  schwerlich  wie  vernünftige  Weltbürger  aus  eigenem, 
freien  Vorsatz  zu  einem  einheitlichen  Vorgehen  zusammenfinden 
werden.  Soll  dennoch  die  Menschengattung  um  ihrer  Ver- 
nunft und  Freiheit  willen  alles  aus  sich  selbst  herausbringen, 
erweisen  sich  aber  alle  in  Betracht  gezogenen  Wege  als  ungang- 
bar, so  bleibt  am  Ende  nichts  anderes  übrig,  als  das  Erreichen 
dieses  Zieles  von  der  Natur  oder  »vielmehr,  weil  höchste  Weisheit 
zur  Vollendung  dieses  Zwecks  erfordert  wird«  2),  von  einer  Vor- 
sehung, wie  sie  schon  zur  Erklärung  der  Zweckmäßigkeit  der 
organischen  Welt  angenommen  werden  zu  müssen  schien,  zu 
erwarten;  und  zwar  in  der  Weise,  daß  sie  die  Menschen  durch 
Herbeiführung  der  erforderlichen  Umstände,  aber  unbeschadet 
ihrer  Freiheit  zu  dem,  was  guter  Wille  tun  sollte,  faktisch  aber 
nicht  tut,  drängt  und  sie  nötigt,  schließHch  doch  durch 
eigene  Vernunft  eine  Bahn  einzuschlagen,  in  die  sie  sich  von  selbst 
nicht  leicht  begeben  würden.  In  höchstem  Maße  unterstützt 
werden  würde  aber  diese  »Erziehung  von  oben  herab«  ^)  in  Kants 


I)   Paed.  ed.   Rink  S.   19/20.  2)   WW.   VIII   S.   310  Ak.-Ausg. 

3)   WW.   VII   S.   328  Ak.-Ausg. 


72 


Die  Realisierung  des  Weltbesten. 


Augen,  wenn  es  gelänge,  die  allgemeine  Weltgeschichte  dieser 
teleologischen  Betrachtungsweise  gemäß  darzustellen  und  so  zu 
zeigen,  daß  die  oberste  Weisheit  nicht  bloß  für  das  vernunftlose 
Naturreich  Sorge  trägt,  sondern  auch  um  den  vernünftigen  Teil 
der  Welt,  sich  kümmert,  der  von  jenem  den  Zweck  enthält.  Denn 
diese  Darstellung  würde  die  Menschen  von  der  moralisch  be- 
denklichen Tendenz  befreien,  eine  vernünftige  Absicht  der  Schöp- 
fung erst  in  einer  jenseitigen  Welt  zu  suchen,  und  würde  sie  im 
höchsten  Maße  in  der  Erfüllung  ihrer  Pflicht  bestärken,  das  Beste 
dieser  Welt  nach  allen  Kräften  zu  befördern. 

Was  nun  diese  Erziehung  von  oben  herab  im  einzelnen  an- 
geht, so  muß  man  sich  Kants  Wunsche  gemäß  ^)  gegenwärtig 
halten,  daß  der  moralische  Fortschritt  der  Menschheit  eine  nega- 
tive und  eine  positive  Seite  enthält.  Die  negative  besteht  in  der 
allmählichen  Beseitigung  des  Krieges  als  des  größten  Hindernisses 
alles  Moralischen,  oder  in  der  Herstellung  eines  gesicherten  Frie- 
dens zwischen  Menschen  und  Völkern,  die  positive  im  Hervor- 
bringen und  beharrlichen  Ausbreiten  des  Guten.  Und  von  ihnen 
bildet  die  erste  die  Bedingung  und  Voraussetzung  der  zweiten. 
Erst  dadurch,  daß  der  Krieg  beseitigt  und  ein  sicherer  Friedens- 
zustand gewonnen  ist,  wird  dem  Menschengeschlecht  der  Fort- 
schritt zum  Bessern  insofern  gesichert,  als  es  darin  wenigstens 
nicht  mehr  gestört  werden  kann. 

Das  Mittel  aber,  dessen  sich  die  Vorsehung  in  dieser  Hin- 
sicht bedient,  ist,  soweit  sich  ihr  geheimer  Mechanismus  durch- 
schauen läßt,  in  dem  den  Menschen  eigentümlichen  Antagonismus 
ihrer  Neigungen  und  der  damit  verbundenen  Zwietracht  zwischen 
ihnen  zu  erblicken.  Denn  die  führt  im  Naturzustande  zur  »kon- 
tinuierlichen Läsion  der  Rechte  aller  andern«  2),  zu  jener  Un- 
sicherheit, in  der  sich  jeder  hinsichtlich  des  Seinen  befindet,  und 
zu  all  der  Not,  die  sich  die  in  wilder  Freiheit  lebenden  Menschen 
selbst  zufügen  und  die  ihnen  um  so  stärker  fühlbar  wird,  je  mehr 
ihre  Kultur  auf  dem  Wege  des  Naturzwanges  steigt.  Dadurch 
aber  sehen  sie,  die  sonst  für  ungebundene  Freiheit  so  sehr  ein- 
genommen sind,  sich  schließlich  genötigt,  sich,  wenn  auch 
ungern,  dem  Zwange  öffentlicher  Gesetze  zu  unterwerfen  und 
zu  irgendeiner  bürgerlichen  Verfassung  zusammenzutreten.  Doch 
bringt  es  die  Art  ihres  Zustandekommens  mit  sich,  daß  sie  zu- 
nächst nichts  weiter  ist  als  »ein  Maschinenwesen  der  Vorsehung, 

i)   Vgl.   a.   a.   O.   S.   86,  93.  2)   Religion  usw.  S.  10  i  *  R. 


Die  Realisierung  der  Sittlichkeit. 


73 


wo  die  einander  entgegenstrebenden  Kräfte  zwar  durch  Reibung 
einander  Abbruch  tun,  aber  doch  durch  den  Stoß  oder  Zug  an- 
derer Triebfedern  lange  Zeit  im  regelmäßigen  Gange  erhalten 
werden«^).  Und  ihre  höchste  Form,  die  »wahre  bürgerliche  Ver- 
fassung« der  Republik  ergibt  sich  aus  den  äußeren  Kriegen,  die 
mit  der  fortschreitenden  Kultur  der  Staaten  und  dem  damit  zu- 
gleich wachsenden  Hange,  sich  auf  Kosten  anderer  zu  vergrößern, 
immer  zahlreicher  werden.  Denn  alle  die  Not  und  Mißhelhgkeit, 
die  sie  mit  sich  bringen,  muß  die  Staaten  schHeßlich  dazu  treiben, 
sich  im  Innern  so  zu  organisieren,  »daß  nicht  das  Staatsoberhaupt, 
dem  der  Krieg  (weil  er  ihn  auf  eines  andern,  nämlich  des  Volks, 
Kosten  führt)  eigenthch  nichts  kostet,  sondern  das  Volk,  dem  er 
selbst  kostet,  die  entscheidende  Stimme  habe,  ob  Krieg  sein 
solle  oder  nicht« 2),  muß  sie  also  m.  a.  W.  zur  Realisierung  der 
republikanischen  Verfassung  veranlassen.  Die  ist  die  einzige, 
die  ihrer  Natur  nach  nicht  kriegssüchtig  sein  kann,  sondern  zum 
Frieden  geneigt  sein  muß,  weil  das  Volk  im  Gegensatze  zu  den 
Herrschern,  die  »des  Krieges  nie  satt  werden  können«  2),  es  wohl 
bleiben  lassen  wird,  »aus  .bloßer  Vergrößerungsbegierde  oder  um 
vermeinter,  bloß  wörtlicher  Beleidigungen  willen  sich  in  Gefahr 
persönlicher  Dürftigkeit,  die  das  Oberhaupt  nicht  trifft,  zu  ver- 
setzen« ^). 

Dieses  Ziel  aber  wirklich,  wenn  auch  nur  annäherungsweise, 
zu  erreichen  wird  der  Natur  doch  erst  spät  gelingen.  Zwar  kommt 
sie  den  Menschen,  deren  guter  Wille  auf  jene  vollkommen  gerechte 
bürgerliche  Verfassung  gerichtet,  aber  zur  praktischen  Ausführung 
ohnmächtig  ist,  durch  die  selbstsüchtigen  Neigungen,  die  sie  in  sie 
gelegt  hat,  insofern  zu  Hilfe,  als  sie  ihnen  zunächst  nur  eine  rein 
mechanisch  zu  lösende  Aufgabe  stellt  *),  und  zudem  durch  den 
Zwang,  den  sie  auf  sie  ausübt,  sich  in  ihrem  äußeren  Verhalten 
nach  der  Rechtsidee  zu  richten,  auch  dieser  selbst  allmählich 
Anerkennung  und  schließlich  sogar  die  Obergewalt  verschafft. 
Aber  der  ganze  Prozeß  kann  doch  nur  sehr  langsam  zu  seinem 
höchstmöglichen  Ergebnis  führen,  weil  dazu  außer  dem  guten 
Willen  auch  richtige  Begriffe  von  der  Natur  einer  möglichen 
Verfassung  und  große  durch  viele  Weltläufe  geübte  Erfahrenheit 
erfordert  wird;  »drei  solche  Stücke  aber  sich  schwer  und,  wenn 


i)  WW.   VII   S.   330  Ak.-Ausg. 

2)  Zum  ew.  Frieden.    Vorw. 

3)  WW.   yill   S.   311   Ak.-Ausg.  4)   Vgl.   S.  47. 


74 


Die  Realisierung  des  Weltbesten. 


es  geschieht,  nur  sehr  spät,  nach  viel  vefgebhchen  Versuchen, 
einmal  zusammenfinden  können«^). 

Aber  die  Vorsehung  sucht  die  einzelnen  nicht  nur  zur  Grün- 
dung einer  staatsbürgerlichen  Verfassung  zu  nötigen,  um  inner- 
halb der  Völker  selbst  Frieden  zu  stiften,  sondern  will  auch  den 
Zustand  beständiger  Kriegsverfassung  zwischen  den  Staaten  be- 
seitigen.   Und  sie  geht  dabei  noch  ihren  ganz  besonderen  Weg. 

Jeder  Staat  nämlich  —  oder  sein  Oberhaupt  —  hegt  das 
Verlangen,  sich  auf  die  Weise  den  dauernden  Friedenszustand 
zu  verschaffen,  daß  er  womöglich  die  ganze  Welt  beherrscht; 
er  sucht  eine  Universalmonarchie  zu  gründen.  Dem  aber  stemmt 
sich  die  Natur  entgegen.  Sie  will  es  anders.  Und  mit  Recht. 
Denn  mit  dem  vergrößerten  Umfange  der  Regierung  würden  die 
Gesetze  immer  mehr  an  Nachdruck  verlieren,  und  die  unver- 
meidliche Folge  würde  ein  »seelenloser  Despotismus«^)  sein,  der 
allmählich  alle  Freiheit  und  damit  auch  ihre  Früchte:  Tugend, 
Geschmack  und  Wissenschaft  vernichten  und  so  alle  Kräfte 
des  Menschen  schwächen  würde.  Das  aber  wäre  als  Gegenteil 
aller  menschlichen  Bestimmung  schlimmer  als  selbst  die  Kriegs- 
gefahr, die  doch  wenigstens  insofern  die  Freiheit  schützt,  als  zur 
Kriegführung  Geld  erforderlich  ist,  das  nur  durch  eine  auf  Frei- 
heit gestützte  Betriebsamkeit  gewonnen  werden  kann^).  Darum 
hat  die  Natur  selbst  dieser  Entwicklung  einen  Riegel  vorge- 
schoben. Je  weiter  es  in  einem  solchen  Universalstaate  mit  der 
Entkräftung  der  Gesetze  und  der  Ausrottung  der  Keime  des  Guten 
kommt,  um  so  mehr  pflegen  Aufruhr  und  Zwiespalt  in  diesem 
»Ungeheuer « *)  aufzutreten  und  es  durch  Zerspaltung  in  viele 
kleine  Staaten  wieder  aufzulösen.  Die  V-erschiedenheiten  der 
Sprache  und  die  der  Religion  sind  die  Mittel,  die  der  Vorsehung 
dabei  zur  Verfügung  stehen. 

Aber  auch  »die  sogenannte  Balance  der  Mächte  in  Europa«^) 
kann  zur  Stiftung  eines  dauernden  Friedens  zwischen  ihnen  nicht 
in  Betracht  kommen.  Sie  ist  nach  Kants  Ueberzeugung  ein  »bloßes 
Hirngespinst « ^) ,  weil  sie  durch  den  geringsten  Zuwachs  auf  der 
einen  Seite  sofort  verloren  gehen  müßte. 

Und  so  ist  das  Einzige,  was  diesen  Frieden  wirklich  und  zu- 
gleich   ohne    Gefährdung    der    Freiheit   und    aller    menschlichen 


I)  WW.   VIII   S.   23  Ak.-Ausg.  2)   Zum  ew.  Frieden   S.   33  R. 

3)   Vgl.   S.   66.  4)   Religion  usw.   S.   34  *  R. 

5)   WW.   VIII   S.   312  Ak.-Ausg. 


Die   Realisierung  der  Sittlichkeit.  ^c 

Kräfte  herbeiführen  kann,  der  schon  i)  erwähnte  Völkerstaat, 
in  dem  alle  einzelnen  Staaten  dadurch,  daß  sie  sich  freiwillig 
unter  dessen  Gewalt  beugen  und  seinen  Gesetzen  gehorchen,  zu 
einer  Einheit  zusammenschmelzen.  Eine  solche  Weltrepublik 
bildet  daher  nach  Kants  Ueberzeugung  die  höchste  Absicht  der 
Natur  und  das  letzte  Ziel  der  Vorsehung. 

Nun  setzt  aber  das  auf  freiwilliger  Unterordnung  der  ein- 
zelnen Staaten  beruhende  weltbürgerliche  Ganze  eine  moralische 
Basis  voraus.  Daher  kann  seine  Verwirklichung  erst  dann  er- 
wartet werden,  wenn  die  Menschen  moralisch  besser  geworden 
sind.  Jedes  zu  frühe  Zusammenschmelzen  der  Staaten 
dagegen  würde  bedenklich  sein.  Es  müßte  einerseits  zu  einem 
Despotismus  führen  und  könnte  darum  wegen  der  Gefahren, 
die  eine  solche  Regierungsart  der  Freiheit  bringt,  nur  schädlich 
wirken,  würde  andererseits  aber  auch  die  Entfaltung  der  natür- 
lichen Anlagen  der  Menschen  beeinträchtigen,  die  im  vormorali- 
schen Zustande  bloßer  Gesittung  noch  des  Streites  bedarf.  Denn 
erst  »nach  einer  (Gott  weiß  wann)  vollendeten  Kultur  würde  ein 

immerwährender  Friede  für  uns  heilsam sein«  2),  während 

er  auf  der  Stufe  der  Kultur,  auf  der  das  menschliche  Geschlecht 
noch  steht  —  der  Stufe  der  Gesittung  im  Gegensatz  zur  Sitt- 
lichkeit —  nur  »den  bloßen  Handelsgeist,  mit  ihm  aber  den  niedri- 
gen Eigennutz,  Feigheit  und  Weichlichkeit  herrschend  .  .  machen 
und  die  Denkungsart  des  Volks  .  .  erniedrigen«^)  würde.  Darum 
hat  die  Natur  auch  hier  die  Verschiedenheit  der  Religion  und 
Sprache  benutzt,  um  das  vorzeitige  Eintreten  jenes  idealen  Zu- 
standes  zu  verhüten,  und,  wie  die  Abneigung  aller  Staaten  gegen 
die  Weltrepublik  zeigt,  mit  Erfolg.  Und  doch  ist  sie  zugleich 
schon  bestrebt,  ihn  wenigstens  vorzubereiten,  dadurch  daß  sie  die 
Staaten  zwingt,  sich  zu  einem  nicht  auf  moralischen  Grundsätzen, 
sondern  auf  dem  bloßen  Mechanismus  der  menschlichen  Nei- 
gungen ruhenden  r  e  c  h  1 1  i  c  h-weltbürgerlichen  Zustande  oder 
zu  einem  Völker  b  u  n  d  e  zusammenzufinden^),  in  dem  »jeder, 
auch  der  kleinste  Staat  seine  Sicherheit  und  Rechte  nicht  von 
eigener  Macht  .  .  .,  sondern  allein  von  diesem  großen  Völker- 
bunde .  .  .  und  von  der  Entscheidung  nach  Gesetzen  des  ver- 
einigten Willens  erwarten  könnte  «  ^) . 

i)   Vgl.   S.  49.  2)   a.   a.   O.   S.   121. 

3)   Krit.  d.   Urteilskr.   S.   118  R.  4)   Vgl.   S.   50. 

5)  WW.   VIII   S.   24  Äk.-Ausg. 


yyg  Die  Realisierung  des  Weltbesten. 

Das  Mittel  aber,  dessen  sie  sich  dazu  bedient,  ist  wiederum 
und  vor  allen  andern  der  Krieg.  Man  spürt  die  tiefe  Mißachtung 
des  Weisen  gegenüber  dem  Treiben  und  Getriebenwerden  der  Poli- 
tiker, wenn  er  erklärt,  daß  die  Menschen  für  vernünftige  Er- 
wägungen erst  spät  zugänglich  werden,  und  hinzufügt,  daß  sie 
sich  darum  auch  erst  spät  für  jenes  »heroische  Arzneimittel«  i) 
gegen  den  Krieg  empfänglich  zeigen,  das  Hume  angeführt  haben 
soll  und  das  auf  die  Einsicht  hinauskommt,  daß  Nationen,  die  im 
Kriege  gegeneinander  begriffen  sind,  sich  ebenso  betragen  wie 
besoffene  Kerle,  die  sich  in  einem  Porzellanladen  mit  Prügeln 
herumschlagen:  denn  nicht  genug,  daß  sie  an  den  Beulen,  die 
sie  sich  wechselseitig  geben,  lange  zu  heilen  haben,  sie  müssen 
hinterher  auch  noch  allen  den  Schaden  bezahlen,  den  sie  an- 
-richteten.  Zunächst  steht  es  in  seinen  Augen  jedenfalls  noch  so, 
daß  jeder  Staat  seine  Majestät  darin  sieht,  gar  keinem  Zwange 
unterworfen  zu  sein,  und  sein  Oberhaupt  seinen  Glanz  darin 
findet,  daß  es,  wenn  es  sich  auch  »bisweilen  den  obersten  Diener 
des  Staates  nennt«  2),  doch  niemand,  auch  nicht  das  Volksganze 
über  sich  duldet.  »Ehrsucht,  Herrschsucht  und  Habsucht  vor- 
nehmlich bei  denen,  die  Gewalt  in  Händen  haben«  ^),  setzen  daher 
dem  Zustandekommen  eines  solchen  Völkerbundes  durch  Ver- 
nunft so  große  Schwierigkeiten  entgegen,  daß  der  »großen  Künst- 
lerin Natur«*)  nichts  anderes  übrig  bleibt,  als  die  Menschen 
auch  gegen  ihren  Willen  zur  Begründung  desselben  zu  zwingen. 
Und  sie  tut  das  durch  die  Not  und  Drangsal  des  Krieges.  Der 
Krieg  ist  daher,  wenn  er  vom  Menschen  auch  nur  durch  zügel- 
lose Leidenschaften  angestiftet  wird,  für  die  Natur  mehr.  Er 
ist  die  Geisel,  durch  die  sie  das  menschliche  Geschlecht  antreibt, 
immer  neue  Verhältnisse  zwischen  den  Staaten  ausfindig  zu 
machen  und  einzurichten,  bis  sie  schließlich  nach  vielen  Ver- 
wüstungen, Fehlschlägen  und  selbst  durchgängiger  innerer  Er- 
schöpfung ihrer  Kräfte  zu  dem  getrieben  werden,  was 
ihnen  die  Vernunft  auch  ohne  so  viel  traurige  Erfahrung  hätte 
sagen  können,  nämlich  »aus  dem  gesetzlosen  Zustande  der  Wilden 
hinauszugehen  und  in  einen  Völkerbund  zu  treten«^). 

Zu  diesem  ersten  und  wichtigsten  Mittel  der  Vorsehung  zur 
Herbeiführung  des  dauernden  Friedens  kommt  als  weiteres  und 


I)  WW.   VII   S.   93  Ak.-Ausg.  2)   Religion  usw.   S.   105  f.   R. 

3)   Krit.   d.   Urteilskr.   S.   325  R.  4)   Zum  ew.  Frieden   S.   25  R. 

5)  WW.   VIII   S.   24  Ak.-Ausg. 


Die  Realisierung  der   Sittlichkeit.  mi-, 

als  Surrogat  gewissermaßen  des  Begriffs  des  Weltbürgerrechts 
der  auf  dem  Eigennutz  beruhende  Handelsgeist.  Durch  ihn 
werden  nach  Kants  Auffassung  die  Völker  überhaupt  zu  allererst 
in  ein  friedliches  Verhältnis  gebracht.  Denn  unter  allen  Mitteln, 
die  dem  Staat  zur  Verfügung  stehen,  um  seine  Bürger  zu  seinen 
Absichten  zu  gebrauchen,  ist  das  Geld  das  zuverlässigste.  Das 
aber  wird  in  erster  Linie  durch  den  Handel  gewonnen,  der  auf 
Frieden  angewiesen  ist.  Darum  bemächtigt  sich  nicht  nur  der 
Handelsgeist  früher  oder  später  jedes  Volkes,  die  Staaten  sehen 
sich  auch  im  eigensten  Interesse  gedrängt,  den  »edlen  Frieden«^) 
zu  befördern  und  alles  zu  tun,  um  Kriege  womöglich  ganz  zu 
verhüten  oder  ausgebrochene  so  bald  es  geht  zum  Stillstand  zu 
bringen  und  auf  diese  Weise,  wenn  auch  nur  ganz  von  fern,  zu- 
gleich jenen  großen  Staatskörper  vorzubereiten,  durch  den  der 
dauernde  Friede  allein  erhalten  werden  kann. 

Krieg  und  Handelsgeist  sind  also  die  Mittel,  durch  welche  die 
Natur  die  Menschen,  die  um  ihrer  Erhaltung  willen  »das  fried- 
liche Zusammensein  nicht  entbehren  und  dabei  dennoch  einander 
beständig  widerwärtig  zu  sein  nicht  vermeiden  können«  2),  auf  rein 
mechanischem  Wege  zwingt,  mit  Hilfe  ihrer  eigenen  Vernunft 
einen  Ausgleich  ihrer  selbstsüchtigen  und  einander  natürlicher- 
weise widerstreitenden  Interessen  zu  suchen,  sie  zwingt,  sich 
zu  einem  Völkerbunde  zusammenzuschließen,  in  dem  zwar  keines- 
wegs jede  Gefahr  beseitigt  ist,  damit  die  Kräfte  der  Menschheit 
nicht  einschlafen,  in  dem  aber  doch  auch  ein  Prinzip  der  Aus- 
gleichung vorhanden  ist,  damit  sie  sich  nicht  zerstören.  Und 
während  so  die  »Hoffnung  zu  dem  Ruhestande  einer  Volksglück- 
seligkeit«  ^) ,  d.  h.  aber  nichts  anderes  als  die  Hoffnung  auf  ein  in 
untätiger  Genügsamkeit  aufgehendes  »arkadisches  Schäferleben«*) 
immer  mehr  verschwindet,  bringt  sie  in  einer  weltbürgerlichen 
Gesellschaft  eine  gesetzmäßige  Ordnung  und  damit  einen  Frieden 
zustande,  »der  nicht  wie  jener  Despotism  (auf  dem  Kirchhofe 
der  Freiheit)  durch  Schwächung  aller  Kräfte,  sondern  durch  ihr 
Gleichgewicht  im  lebhaftesten  Wetteifer  derselben  hervorgebracht 
und  gesichert  wird«^). 

Fragt  man  aber  nach  dem  Grade  der  Sicherheit,  die  diesem 
von  der  Natur  »garantierten«  Frieden  zukommt,  so  ist  doch  eine 

i)   Zum  ew.  Frieden   S.   34  R.  2)   WW.   VII   S.   331  Ak.-Ausg. 

3)   Krit.  d.   Urteilskr.   S.   326.  4)   WW.   VIII   S.   21   Ak.-Ausg 

5)   Zum  ew.  Frieden   S.   34  R. 


fjß  Die  Realisierung  des  Weltbesten. 

Einschränkung  zu  machen.  Nur  ein  Völker  Staat  würde, 
wie  gesagt  ^),  eine  absolute  Garantie  des  Friedens  sein;  der  Völker- 
b  u  n  d  dagegen,  zu  dem  die  Natur  die  Menschen  zwingt,  kann 
den  ewigen  Frieden  nicht  durchaus  sichern.  Er  beruht  nicht  wie 
jener  auf  der  unverrückbaren  moralischen  Gesinnung,  sondern 
ist  nur  ein  zwar  sehr  kunstreicher  und  lange  regelmäßig  fort- 
laufender, aber  doch  stets  labiler  Mechanismus,  schließt  also  den 
Krieg  nicht  einfach  aus,  sondern  wehrt  ihn  nur  nach  Möglich- 
keit ab. 

Und  hieraus  ergibt  sich  nun  auch,  welchen  Sinn  man  dem 
ewigen  Frieden  als  letztem  Ziele  des  Völkerrechts  allein 
zuweisen  kann.  Da  der  Völker  b  u  n  d  den  einzigen  von  Menschen 
wirklich  realisierbaren  Zustand  zwischen  Staaten  bildet,  wegen 
seines  bloß  mechanischen,  nicht  aber  moralischen  Charakters  in- 
dessen nicht  ausreicht,  um  die  Kriegsgefahr  zu  beseitigen,  so 
wäre  es  unberechtigt,  das  Eintreten  des  ewigen  Friedens  theo- 
retisch behaupten  und  vorhersagen  zu  wollen.  So  betrachtet 
ist  er  nicht  mehr  als  ein  »süßer  Traum«  ^)  oder  ein  »frommer 
Wunsch « ^) .  Da  aber  andererseits  auch  seine  Unmöglichkeit 
nicht  erwiesen  werden  kann,  und  wir  als  moralische  Wesen  ein 
dringendes  Interesse  daran  haben,  seine  Möglichkeit  anzunehmen  — 
denn  die  moralisch-praktische  Vernunft  in  uns  spricht  ihr  un- 
widerstehliches Veto  aus:  es  soll  kein  Krieg  sein  — ,  so  reicht 
jene  Sicherung  des  Friedens  von  seifen  der  Natur  doch  aus,  um 
seine  Idee  zur  Richtschnur  unseres  Handelns  zu  nehmen.  Ganz 
gleichgültig  daher,  ob  der  ewige  Friede  ein  Ding  oder  Unding 
ist  —  bei  dieser  Lage  der  Sache  müssen  wir  —  Herrscher  so  gut 
wie  Untertanen  —  so  handeln,  als  ob  das  Ding  wäre,  das  vielleicht 
nicht  ist,  und  müssen  ein  jeder,  soviel  an  ihm  ist,  alles  tun,  was 
zur  kontinuierlichen  Annäherung  an  den  Friedenszustand  dienen 
und  dem  »heillosen  Kriegführen«*)  ein  Ende  machen  kann.  Dabei 
lehnt  aber  Kant,  soweit  die  Untertanen  in  Betracht  kommen, 
die  Benutzung  der  Revolution  aus  Gründen  der  Moral  mit  größter 
Entschiedenheit  und  absolut  konsequent  ab.  Diese  Art,  sein 
Recht  zu  suchen,  macht  zur  Maxime  genommen  alle  rechtliche 
Verfassung  unsicher  und  führt  den  Naturzustand  völliger  Gesetz- 
losigkeit herbei,  also  das  gerade  Gegenteil  von  dem,  was  das 
Volk  eigentlich   will.     Als   in  sich   selbst  widerspruchsvoll  kann 

i)   S.   49  f.  2)   Zum  ew.   Frieden.     Vorw. 

3)  WW.   VI   S.   354/5  Ak.-Ausg.  4)   a.   a.   O.   S.   354. 


Die   Realisierung  der   Sittlichkeit. 


79 


daher  ein  solcher  Wille  seine  Absicht  nicht  planmäßig  undder 
Freiheit  unbeschadet  einleiten.  Revolutionen  bleiben,  wie  Kant 
bemerkt,  »der  Vorsehung  überlassen«^).  Das  einzige  rechtmäßige 
Mittel,  dessen  sich  die  Untertanen  zur  Herbeiführung  des  Friedens 
bedienen  können,  ist  vielmehr  die  aufklärende  Belehrung  durch 
Wort  und  Schrift.  Und  sie  darf  ihnen,  gerade  weil  sie  das  allein 
erlaubte  Mittel  zur  Erfüllung  einer  pflichtmäßigen  Aufgabe  ist, 
auch  nicht  genommen  werden  und  muß  Kants  Zutrauen  eu  der 
moralischen  Anlage  der  Menschheit  zufolge  nach  und  nach  sogar 
»bis  zu  den  Thronen  hinaufgehen  und  selbst  auf  ihre  Regierungs- 
grundsätze Einfluß  haben«  2).  Die  Politiker  aber  und  vor  allem 
die  Staatsoberhäupter  haben  für  den  Frieden  durch  angemessene 
Reformen  Sorge  zu  tragen.  ^Nur  dadurch  können  sie,  die  nur  als 
Repräsentanten  des  allgemeinen  Volkswillens  den  Untertanen  als 
Bürgern  Befehle  zu  geben  haben,  mit  diesem  in  Einklang  bleiben 
und  sich  davor  bewahren,  sich  mit  sich  selbst  in  Widerspruch  zu 
setzen. 

Das  also  sind  die  Pflichten,  die  beiden  Teilen  als  moralischen 
Wesen  obliegen.  Und  so  ist  und  bleibt  der  ewige  Friede,  wenn  er 
auch  auf  dem  Boden  des  Völker  b  u  n  d  e  s  eine  »unausführbare 
Idee«  ist,  dennoch  als  auf  dem  Pflichtbegriffe  ruhend  keine  »leere 
Idee,  sondern  eine  Aufgabe,  die  nach  und  nach  aufgelöst  ihrem 
Ziele beständig  näherkommt «  ^) .   — 

Bloß  die  Förderung  der  negativen  Seite  des  moralischen  Fort- 
schritts ist,  wenn  auch  immer  nur  unter  dem  Drängen  der  Na- 
tur, vom  Menschen  zu  erwarten.  Der  positive  Fortschritt  zum 
Guten  dagegen  darf  nur  von  Gott  erwartet  werden.  Denn  der  kann 
nicht  mehr  aus  der  mechanisch  zu  lösenden  Aufgabe  der  Ent- 
wicldung  des  politischen  Gemeinwesens  *)  erwachsen,  sondern 
hängt  von  der  Gründung  eines  ethischen  Staates  ab.  Ein  ethisches 
Gemeinwesen  aber  läßt  sich  nur  als  ein  Volk  denken,  das  unter 
Tugendgesetzen  steht;  das  aber  heißt  als  Reich  Gottes.  Soll 
nämlich  ein  solches  Gemeinwesen  Zustandekommen,  so  ist  es 
wie  in  jedem  Gemeinwesen  erforderlich,  daß  alle  seine  Ange- 
hörigen einer  öffentlichen  Gesetzgebung  unterworfen  sind,  deren 
Gesetze  als  Gebote  eines  gemeinschaftlichen  Gesetzgebers  müssen 
angesehen  werden  können.  Als  Gesetze  eines  ethischen  Gemein- 
wesens   dürfen    sie    aber    keinen    Zwangscharakter    tragen.     Sie 

])   Religion  usw.   S.   131   R.  2)   WW.   VIII   S.   28  Ak.-Ausg. 

3)   Zum  ew.   Frieden.     Schluß.  4)   Vgl.   S.   47. 


go  Die  Realisierung  des  Weltbesten. 

können  deshalb  nicht  so  aufgefaßt  werden,  als  gingen  sie  u  r- 
sprünglich  von  dem  Willen  des  gemeinschaftlichen  Gesetz- 
gebers aus,  so  daß  sie  nur  durch  seinen  Befehl  verbindend  wären, 
sondern  müssen  prinzipiell  als  in  dem  Einzelnen  selbst  liegend 
angesehen  und  ohne  Rücksicht  auf  jenen  Obern  für  verbindlich 
gehalten  werden.  Sie  können  also  nur  »zugleich  als  seine 
Gebote  vorgestellt  werden«^).  Wegen  ihrer  Innerlichkeit  aber 
muß  das  Oberhaupt  des  ethischen  Gemeinwesens  auch  imstande 
sein,  das  Innerste  der  Gesinnung  eines  jeden  zu  durchschauen, 
um  darauf  gestützt  jedem  das  zukommen  zu  lassen,  was  seine 
Taten  wert  sind.  Es  muß  m.  a.  W.  allwissend,  weiterhin  aber 
auch  allmächtig,  allgütig  usw.  sein.  »Dieses  ist  aber  der  Begriff 
von  Gott  als  einem  moralischen  Welturheber «  2) .  Nur  von  Gott 
kann  also  ein  solcher  ethischer  Staat  oder  —  was  dasselbe  ist  — 
eine  unsichtbare  Kirche,  »die  alle  Wohldenkenden  in  sich  be- 
faßt«^), in  vollkommener  Weise  realisiert  werden. 

Dennoch  bleibt  die  Verwirklichung  dieses  ethischen  Gemein- 
wesens ein  Gebot  der  reinen  praktischen  Vernunft.  Als  moralisches 
Wesen  ist  der  Mensch  darum  keineswegs  berechtigt,  allein  die 
Vorsehung  walten  zu  lassen.  Er  ist  trotz  allem  und  auch  trotz 
aller  Mißerfolge  verpflichtet,  so  zu  verfahren,  als  ob  alles  auf  ihn 
ankäme.  Nur  unter  dieser  Bedingung  darf  er  hoffen,  »daß  höhere 
Weisheit  seiner  wohlgemeinten  Bemühung  die  Vollendung  werde 
angedeihen  lassen«*).  Werden  aber  unter  diesen  Umständen, 
wie  sich  von  selbst  versteht,  alle  seine  Anstrengungen  nur  Erfolg 
haben,  wenn  sie  mit  dem  Willen  Gottes  übereinstimmen,  der 
allein  Urheber  eines  solchen  Reiches  sein  kann,  so  folgt, 
daß  der  Mensch  alle  Pflichten,  die  ihm  im  HinbHck  auf  die  Be- 
gründung eines  ethischen  Staates  erwachsen  und,  da  ihr  in  letzter 
Linie  die  Gesamtheit  seiner  Pflichten  dient,  alle  seine  Pflichten 
überhaupt  als  göttliche  Gebote  aufzufassen  hat.  Unter  der 
Beurteilung  aller  unserer  Pflichten  a  1  s  göttlicher  Gebote  ver- 
steht aber  Kant  das,  was  als  Religion  bezeichnet  wird;  und  so 
ergibt  sich  zuguterletzt,  daß  ein  solches  ethisches  Gemeinwesen 
von  Menschen  nur  mit  Hilfe  der  Religion  in  Angriff  genommen 
werden  kann. 

Aber  auch  so  werden  sie  diese  »erhabene  Idee«  nur  in  dürftiger 
Weise  verwirklichen  können.   Wegen  der  unvermeidlichen  Oeffent- 

i)   Religion  usw.   S.   103  R.  2)   a.  a.  O.   S.   103/4. 

3)   a.  a.   O.   S.   190/1.  4)   a.  a.   O.    S.   105. 


Die   Realisierung  der  Sittlichkeit.  gj 

lichkeit  der  Gesetze  können  sie  ihrer  Verpflichtung  zur  Gründung 
des  ethischen  Gemeinwesens  nur  dadurch  nachkommen,  daß 
sie  sich  um  eine  sichtbare  Vereinigung  bemühen,  die  mit 
jenem  Ideal  zusammenstimmt,  d.  h.  um  die  Stiftung  einer  sicht- 
baren Kirche.  Und  d  i  e  sichtbare  Vereinigung,  die  das  Reich 
Gottes  auf  Erden  darstellt,  soweit  es  Menschen  überhaupt  möglich 
ist,  wird  dann  die  wahre  sichtbare  Kirche  sein,  die  sich  da- 
durch auszeichnet,  daß  sie  sowohl  allgemein  ist  als  auch  auf  völlig 
lauterer  Gesinnung  beruht,  der  ferner  überall,  auch  in  ihrem 
Verhältnis  zur  politischen  Macht,  das  Prinzip  der  Freiheit  zu- 
grunde liegt,  und  die  endlich  ihrer  Verfassung  nach  unveränder- 
lich ist,  die  kurz  gesagt  eine  allgemeine,  freiwillige  und  fort- 
dauernde Herzensvereinigung  unter  einem  gemeinschaftlichen, 
obgleich   unsichtbaren,    moralischen   Vater   ausmacht. 

Für  ihre  Gründung  ist  nun  ein  reiner  Religionsglaube 
von  fundamentaler  Bedeutung.  Das  aber  ist  ein  Glaube,  der  ledig- 
lich die  moralische  Besserung  der  Menschen  im  Auge  hat  und 
nur  aus  reinen  moralischen  Gesetzen  besteht,  und  der,  weil  er 
objektiv  ganz  auf  Vernunft  gegründet  ist,  auch  allein  »die  große 
Erfordernis  der  wahren  Kirche,  nämlich  die  Qualifikation  zur 
Allgemeinheit«^)  besitzt,  während  ein  bloß  auf  Fakta  gestellter 
historischer  Glaube  nur  soweit  gilt,  als  die  für  die  Beurteilung 
seiner  Glaubwürdigkeit  erforderlichen  Nachrichten  nach  Zeit- 
und  Ortsumständen  gelangen  können. 

Um  aber  eine  sichtbare  Kirche  wirklich  zu  begründen,  reicht 
dieser  reine  Religionsglaube  für  Menschen  doch  nicht  aus.  Kommt 
ihm  auch  allgemeine  Geltung  zu,  so  geht  er  jeden  einzelnen  doch 
nicht  schon  als  Bürger  eines  göttlichen  Staates  auf  Erden,  sondern 
nur  als  Menschen  an ;  es  liegt  in  ihm  noch  nichts  von  einer 
Vereinigung  der  Gläubigen.  Die  aber  macht  gerade  das 
Wesen  der  Kirche  aus.  Daher  muß  zu  ihm,  der  nur  die  Materie 
der  Gottesverehrung  enthält,  noch  eine  gewisse  Form  oder  eine 
Summe  statutarischer  Verordnungen  hinzukommen,  die  die  Gläu- 
bigen zu  einer  Kirche  vereinigt  und  dieser  Vereinigung  zugleich 
Beharrlichkeit  sichert.  Diese  Form  hängt  aber  ganz  und  gar 
von  empirischen  Zeitumständen  ab;  sie  ist  darum  an  sich  zufällig 
und  mannigfaltig.  Und  doch  ist  es  auch  hier  die  Aufgabe  des 
zur  Gründung  einer  sichtbaren  Kirche  verpflichteten  Menschen, 
die  richtige  zu  suchen.    Dabei  macht  sich  nun  aber  »eine  beson- 

I)   a.   a.   O.   S.    i68. 
Goedeckemeyer,  Kants  Lebensanschauung.  O 


§2  Die  Realisierung  des  Weltbesten. 

dere  Schwäche  der  menschHchen  Natur«  oder  eine  aus  ihrer  Ver- 
bindung mit  der  SinnHchkeit  stammende  »Beschränktheit  der 
menschhchen  Vernunft « ^)  bemerklich  und  führt  noch  auf  einen 
besonderen  Abweg. 

Die  Menschen  sind  sich  ihres  Unvermögens  bewußt,  über- 
sinnhche  Dinge  zu  erkennen,  haben  als  sinnliche  Vv^esen  aber 
doch  das  natürliche  Bedürfnis,  sich  das  Unsichtbare  durch  Ana- 
logisierung  mit  etwas  Sinnlichem  wenigstens  faßlich  zu  machen. 
Darum  stellen  sie  sich  das  unsichtbare  Oberhaupt  der  Kirche 
nach  Art  eines  menschlichen  Oberhaupts  und  analog  auch  ihr 
Verhältnis  zu  ihm  vor.  Nun  hat  aber  jeder  große  Herr  auf  Erden 
das  Bedürfnis,  von  seinen  Untertanen  geehrt  und  durch 
Unterwürfigkeitsbezeugungen  gepriesen  zu  werden.  Darum 
will  es  den  Menschen  auch  nicht  in  den  Kopf,  daß  es  dem  Unsicht- 
baren gegenüber  solche  unmittelbar  auf  ihn  bezogene  Pflichten 
nicht  gibt,  und  auch  nicht  geben  kann,  da  Gott  als  das  aller- 
vollkommenste  Wesen  von  Menschen  nichts  zu  empfangen  vermag ; 
sie  wollen  nicht  einsehen,  daß  die  ethisch-bürgerlichen  Pflichten, 
die  Pflichten  gegen  sich  und  andere,  alles  sind,  was  sie  zu  tun 
gehalten  sind,  und  es  schlechterdings  unmöglich 
ist,  Gott  auf  andere  als  moralische  Weise  zu  dienen;  sie  begreifen 
darum  auch  nicht,  daß  einerseits  der  unsichtbare  Dienst  der 
standhaften  Beflissenheit  zu  einem  moralisch-guten  Lebens- 
wandel alles  ist,  was  von  ihnen  gefordert  wird,  um  Gott  wohl- 
gefällige Untertanen  zu  sein,  sie  andrerseits  aber  auch  in  ihrem 
Tun  und  Lassen,  sofern  es  Beziehung  auf  Sittlichkeit  hat,  b  e- 
ständig  im  Dienste  Gottes  sind.  Vielmehr  glauben  sie,  ihm 
zu  irgendeinem  besonderen  Dienst  verpflichtet  zu  sein, 
und  geben  sich  wohl  gar  der  Meinung  hin,  die  Mängel  ihres  mo- 
ralischen Verhaltens  durch  solche  besondere  Leistungen  gut  machen 
zu  können  in  dem  aus  ihrem  Verhalten  irdischen  Großen  gegen- 
über geschöpften  Gedanken,  daß  es  nicht  sowohl  auf  den  morali- 
schen Wert  der  Handlungen,  als  vielmehr  darauf  ankomme,  daß 
sie  überhaupt  geleistet  werden,  und  obendrein  überzeugt  davon, 
daß  diejenigen  Leistungen -für  besonders  kräftig  zu  halten  seien, 
die  wie  Kasteiungen  usw.  an  sich  keinen  Menschen  besser  machen, 
also  »in  der  Welt  zu  gar  nichts  nutzen,  aber  doch  Mühe  kosten«  ^). 
So  aber  ■ — ■  durch  diesen  abergläubischen  Wahn,  Vv^ie  Kant  sich 
ausdrückt  —  kommt  es,  daß  zunächst  der  Begriff  einer  gottes- 

I)   a.   a.   O.   S.   66  *.  2)   a.   a.   O.   S.    182. 


Die   Realisierung  der   Sittlichkeit.  go 

dienstlichen  Religion  entspringt  oder  besser,  da  es  nur  eine  Re- 
ligion geben  kann,  der  eines  gottesdienstlichen  Glaubens. 
Der  aber  unterscheidet  sich  prinzipiell  und  zu  seinem  Nach- 
teil von  dem  rein  moralischen  Religionsglauben,  Er  enthält  nicht 
nur  —  als  unnachlaßliche  Bedingung  jeden  Religionsglaubens  — 
moralische  Gesetze,  sondern  auch  statutarische,  die,  da  er  auch  sie 
als  von  Gott  gegeben  ansieht,  nur  durch  eine  Offenbarung  er- 
kannt werden  können.  Damit  aber  stützt  er  sich  nicht  auf  Ver- 
nunft, sondern  auf  ein  empirisches  Faktum.  Er  ist  ein  bloß  histo- 
rischer Glaube,  und  als  solcher  lediglich  zufällig  und  der  Möglich- 
keit des  Irrtums  unterworfen,  besitzt  eben  deshalb  auch  vielerlei 
Arten,  die  alle  nichts  anderes  sind  als  »Versuche  armer  Sterb- 
licher, sich  das  Reich  Gottes  auf  Erden  zu  versinnlichen«  ^), 
und  darum  sämtlich  als  gleichberechtigt  gelten  müssen.  Und 
auf  dieser  Eigenart  seiner  Begründung  beruht  auch  sein  ethischer 
Unterschied  vom  reinen  Vernunft  glauben.  V\/ährend  dieser  freie 
Huldigung  gegenüber  dem  selbstgegebenen  moralischen  Gesetze 
fordert,  also  ein  freier  Glaube  ist,  verlangt  der  historische  gehor- 
same Unterwerfung  unter  gewisse  von  außen  kommende  Sat- 
zungen und  bürdet  damit  dem  Menschen,  und  vor  allem  dem 
gewissenhaften,  das  Joch  eines  Gesetzes  auf,  das  gerade  dadurch 
das  Gewissen  ganz  besonders  belastet,  daß  es  die  Menschen  nötigt, 
etwas  für  göttlich  zu  halten,  was  nur  historisch  erkannt  werden 
kann,  und  darum  nicht  für  jedermann  überzeugend  zu  sein  ver- 
mag. Diese  ethische  Differenz  bedingt  endlich  die  Minderwertig- 
keit des  Geschichtsglaubens.  Denn  es  leuchtet  von  selbst  ein, 
daß  der  moralische  Gottesdienst  Gott  unmittelbar  gefällt,  also 
die  oberste  Bedingung  alles  göttlichen  V/ohlgefallens  am  Menschen 
ausmacht.  Das  wäre  aber  unmöglich,  wenn  man  annehmen  müßte, 
daß  auch  der  von  ihm  im  Prinzip  verschiedene  Lohndienst  für 
sich  allein  Gott  wohlgefällig  wäre.  Also  bleibt  nichts  anderes 
übrig  als  Handlungen,  die  an  und  für  sich  keinen  moralischen 
Wert  besitzen,  für  »an  sich  nichtig«  2)  und  nur  insofern  für  Gott 
wohlgefälhg  zu  halten,  als  sie  als  Mittel  zur  Beförderung  und  Be- 
lebung der  Moral  dienen,  gegen  jede  andere  Auffassung  derselben 
aber  »mit  aller  Macht «2)  zu  protestieren.  Und  das  um  so  mehr, 
als  die  einzelnen  Thesen  des  Geschichtsglaubens  hinsichtlich  ihrer 
Wahrheit   sowohl   als   auch  hinsichtlich   ihres  '  Sinnes   vielfachen 


i)   a.  a.   O.   S.   190  A.  2)   a.   a.   O.    S.   138. 

3)   a.   a.   O.    S.   89. 


g^  Die  Realisierung  des  Weltbesten. 

Bedenken  und  Meinungsverschiedenheiten  unterhegen,  und  es 
»das  Widersinnigste  ist,  was  man  denken  kann«^),  einen  Glauben 
von  solcher  Beschaffenheit  zur  obersten  Bedingung  eines  a  1 1- 
gemeinen     Glaubens  zu  machen.   — 

Indessen  trotz  dieser  prinzipiellen  Inferiorität  des  historischen 
Glaubens  sind  die  Menschen  infolge  der  erwähnten  Beschränktheit 
ihrer  Vernunft  doch  geneigt,  ihm  die  größere  Wichtigkeit  zuzu- 
gestehen. Und  dieser  Hang  zum  gottesdienstlichen  Frohnglauben 
bringt  es  nun  mit  sich,  daß  sie  bei  Gründung  der  sichtbaren  Kirche 
auf  Abwege  geraten.  Es  scheint  ihnen  nur  eine  solche  Lehre  zu 
einer  unveränderlichen  und  damit  für  eine  Kirche  tauglichen 
Norm  zu  passen,  die  nicht  auf  bloßer  Vernunft,  sondern  gerade 
auf  Offenbarung  beruht.  Sie  haben  hinsichtlich  der  kirchlichen 
Form  nicht  den  Mut,  sie  auf  Grund  eigener  Vernunft  festzusetzen, 
sondern  berufen  sich  dafür  auf  eine  der  Offenbarung  bedürftige 
göttliche  Gesetzgebung.  Bei  der  Gründung  einer  sicht- 
baren Kirche  reicht  demnach  der  Vernunftglaube  nicht  nur  nicht 
aus,  es  geht  ihm  der  historische  natürlicherweise 
sogar  vorher  und  kann  deshalb  faktisch  gar  nicht  entbehrt 
werden.  Da  er  aber  seinen  Wert  immer  nur  als  Beförderungsmittel 
des  moralischen  Glaubens  besitzt,  so  ist  es,  so  wenig  es  wegen  der 
Gefahr  des  Atheismus  auch  ratsam  ist,  ihn  bei  der  Bedeutung, 
die  er  für  die  große  Masse  nun  einmal  besitzt,  ganz  aufzuheben, 
doch  nicht  etwa  nur  gestattet,  sondern  geradezu  Pflicht,  sein 
Fundament,  die  Offenbarung,  unter  allen  Umständen  einer  durch- 
gängigen Deutung  zu  unterwerfen,  die  natürlich  bei  der  Rolle, 
die  er  zu  spielen  hat,  nur  an  der  Hand  der  Vernunftreligion  und, 
da  es  sich  um  Doktrinen  aus  alter  Zeit  und  in  jetzt  toten  Sprachen 
handelt,  auch  nur  mit  Hilfe  der  Schriftgelehrsamkeit,  nicht  aber 
etwa  vermittels  eines  inneren  Gefühls  vorgenommen  werden  darf. 

So  also  ist  es  mit  diesem  Kirchenglauben  —  wie  man  ihn 
als  Grundlage  der  sichtbaren  Kirche  auch  nennen  kann  —  zu 
halten.  Durch  Vernunft  und  Schriftgelehrsamkeit  interpretiert 
ist  er  mit  dem  »ganzen  Kram  frommer,  auferlegter  Observanzen«^) 
zur  Einführung  der  Vernunftreligion  in  der  Tat  unent- 
behrlich. Aber  es  kann  gar  keine  Rede  davon  sein,  daß  er  »jeder- 
zeit als  wesentliches  Stück«  ^)  zum  reinen  Vernunftglauben  hinzu- 
kommen müßte.    Gewiß  enthält  dieser,  sofern  er  für  den  Menschen 


i)  a.  a.  O.   S.   197.  2)  a.  a.  O.   S.   179. 

3)  a.  a.  O.   S.   123. 


Die   Realisierung  der  Sittlichkeit.  gr 

die  Würdigkeit  mit  sich  führt,  der  ewigen  GlückseHgkeit  teilhaftig 
zu  werden,  und  darum  auch  als  sehgmachender  Glaube  bezeichnet 
werden  kann,  zwei  Bedingungen  seiner  Hoffnung  auf  Glückselig- 
keit :  den  Glauben  an  die  Lossprechung  von  der  auf  uns  liegenden 
Schuld,  und  den  Glauben  daran,  daß  man  Gott  durch  einen 
neuen,  der  Pflicht  gemäßen  Lebenswandel  wohlgefällig  werden 
könne.  Und  es  müssen  sich  diese  Bedingungen  als  Momente 
eines  Glaubens  auch  so  zueinander  verhalten,  daß  es  möglich 
ist,  die  eine  aus  der  andern  abzuleiten.  Aber  nur  in  dem  Falle 
würde  der  historische  Glaube  ein  stets  wesentliches-  Stück  des 
andern  sein,  wenn  der  Glaube  an  die  für  die  Sünden  des  Menschen 
geleistete  Genugtuung  die  Bedingung  für  den  künftigen  guten 
Lebenswandel  wäre,  wenn  wir  m.  a.  W.  glauben  müßten,  »daß 
es  einmal  einen  Menschen,  der  durch  seine  Heiligkeit  und  Ver- 
dienst sowohl  für  sich  als  auch  für  alle  andre  genug  getan,  ge- 
geben habe,  um  zu  hoffen,  daß  wir  selbst  in  einem  guten  Lebens- 
wandel doch  nur  kraft  jenes  Glaubens  selig  werden  können«^). 
Davon  aber  will  Kant  nichts  wissen.  Dem  widerspricht  in  seinen 
Augen  die  moralische  so  gut  wie  die  natürliche  Vernunftanlage 
des  Menschen.  Jene  dadurch,  daß  sie  uns  durch  ihr  unbedingt 
geltendes  Gebot  mit  aller  Deutlichkeit  zu  verstehen  gibt,  daß 
wir  nicht  anders  hoffen  können,  der  Zueignung  eines  fremden 
genugtuenden  Verdienstes  und  so  der  Seligkeit  teilhaftig  zu  wer- 
den, als  wenn  wir  uns  dazu  durch  unser  eigenes  Streben 
qualifizieren.  Und  diese,  weil  sie  sich  sonst  selbst  vernichten 
würde.  Denn  kein  »überlegender  Mensch«^)  kann  jenen  Glauben 
in  sich  zustandebringen,  so  daß  man  ihn  schon  als  himmlisch 
eingegeben  betrachten  müßte.  Damit  aber  würde  man  alles, 
einschließlich  der  moralischen  Beschaffenheit  des  Menschen,  auf 
einen  unbedingten  Ratschluß  Gottes  hinauslaufen  lassen,  und 
das  wäre  »der  salto  mortale  der  menschlichen  Vernunft «  ^) .  Nichts 
anderes  als  ein  bloß  provisorisches  Vehikel  des  reinen 
Religionsglaubens,  »der  allein  in  jedem  Kirchenglauben  das- 
jenige ausmacht,  was  darin  eigentliche  Religion  ist«^),  kann  also 
der  historische  Glaube  sein.  Er  hat  nur  die  Aufgabe,  ihn  als 
seinen  Zweck  vorzubereiten. 

Aus   dieser   seiner    Stellung   ergeben   sich   aber   weitgehende 
Einschränkungen   seiner   Ansprüche  und   grundsätzlich   wichtige 

i)  a.  a.  O.   S.   128.  2)  a.  a.  O.   S.   124. 

3)   a.   a.   O.   S.   130.  4)   a.   a.   O.   S.   118. 


85  Die  Realisierung  des  Weltbesten. 

Forderungen,  denen  er  sich  zu  unterwerfen  hat.  Er  muß  nicht 
nur  prinzipiell  bereit  sein,  sich  dem  reinen  Glauben  unterzuordnen, 
sondern  auch  gewillt,  ihm  kontinuierlich  näherzukommen,  um 
schließlich  mitsamt  dem  heiligen  Buche,  auf  dem  er  beruht,  ganz 
überflüssig  zu  werden.  »Das  Leitband  der  heiligen  Ueberlieferung 
mit  seinen  Anhängseln,  den  Statuten  und  Observanzen,  welches 
zu  seiner  Zeit  gute  Dienste  tat,  wird  nach  und  nach  entbehrlich, 
ja  endlich  zur  Fessel,  wenn  der  Mensch  in  das  Jünglingsalter 
eintritt.    Solange  er   (die  Menschengattung)    »ein  Kind  war,  war 

er  klug  als  ein  Kind« ;  »nun  er  aber  ein  Mann  wird,  legt 

er  ab,  was  kindisch  ist««  ^).  An  die  Stelle  eines  »erniedrigenden 
Zwangsglaubens « ^)  muß  ein  solcher  treten,  der  der  Würde  einer 
moralischen  Religion  angemessen  ist,  ein  freier,  auf  lautere  Herzens- 
gesinnung gegründeter  Glauben,  der  allein  imstande  ist,  die 
Einheit  der  allgemeinen  Kirche  zu  konstituieren.  Und  nur  unter 
der  Bedingung,  daß  sich  eine  auf  historischen  Glauben  gegründete 
sichtbare  Kirche  der  Idee  des  reinen  Religionsgiaubens  als  regu- 
lativem Prinzipe  fügt,  kann  sie  auf  der  einen  Seite  allem  Reli- 
gionswahn abhelfen  und  vorbeugen  und  auf  der  andern  selbst 
als  die  wahre  und  allgemeine  Kirche  angesehen  werden.  Und 
wenn  sie  auch  wegen  der  unvermeidlichen  Kontroversen  über 
historische  Glaubenslehren  nur  die  streitende  heißen  kann, 
so  ist  sie  doch  mit  der  Aussicht  verbunden,  »endlich  in  die  unver- 
änderliche und  alles  vereinigende,  triumphierende  aus- 
zuschlagen« ^),  die  nach  Ueberwindung  aller  Hindernisse  noch 
hier  auf  Erden  als  mit  Glückseligkeit  bekrönt  zu  denken  ist. 

Zu  erwarten  ist  aber  dieser  Uebergang  des  Kirchenglaubens 
in  den  reinen  Vernunftglauben,  sofern  er  ein  Werk  des  Menschen 
sein  soll,  wiederum  nicht  von  einer  Revolution..  Ebenso  wie  die 
Verwandlung  der  historischen  Staatsverfassungen  in  die  reine 
Republik  kann  auch  sie  nur  das  Ergebnis  wahrer  Aufklärung  sein. 
Und  erst  wenn  sich  das  Menschengeschlecht  zu  einer  solchen 
kirchlichen  Glaubenseinheit,  die  mit  Freiheit  in  Glaubenssachen 
verbunden  ist,  oder  zu  einem  ethischen  Gemeinwesen  unter  Tugend- 
gesetzen zusammengefunden  hat  —  erst  mit  dieser  »moralischen 
Weltepoche«  ^)  wird  der  ewige  Friede,  der  das  Ziel  schon  der 
politischen  Entwicklung  ausmachte,  wirklich  gesichert  und  damit 
auch  der  Zustand  geschaffen  sein,  in  dem  alle  Keime,   die  die 

i)   a.  a.   O.   S.   130.  2)   a.   a.   O.   S.   132  A. 

3)   a.   a.   O.   S.   122.  4)   Vgl.   a.   a.   O.   S.   147. 


Die  Realisierung  der  Sittlichkeit.  gy 

Natur  in  die  Menschengattiing  legte,  »völlig  können  entwickelt 
und  ihre  Bestimmung  hier  auf  Erden  kann  erfüllt  werden «i). 
Erst  dann  kann  der  beharrliche  Fortschritt  zum  höchsten  auf 
Erden  möglichen  Guten,  soweit  er  von  Menschen  abhängt,  in  die 
Wege  geleitet  werden.   — 

Nun  wird  man  allerdings  auch  auf  religiösem  Boden,  wie 
zuvor  auf  politischem,  zugeben  müssen,  daß  für  das  Erreichen 
des  letzten  Zieles,  hier  also  der  wahren  sichtbaren  Kirche,  »wenig 
Hoffnung  vorhanden  ist«  2),  und  daß  auch  von  ihr  gelten  muß, 
daß  sie  nicht  mehr  als  eine  regulative  Idee  sein  kann.  Aber  mag 
auch  das  wirkliche  Erreichen  dieses  Zieles  noch  in  unendlicher 
Ferne  Hegen,  nach  Kants  Ansicht  kann  man  schon  dann  mit 
Recht  sagen,  daß  das  Reich  Gottes  zu  uns  gekommen  ist,  wenn 
wenigstens  der  prinzipielle  Gedanke  des  fundamentalen  Unter- 
schiedes zwischen  Vernunft-  und  Geschichtsglauben  und  der 
Notwendigkeit  des  Uebergangs  zum  moralischen  Glauben  all- 
gemein und  irgendwo  auch  öffentlich  aufgetreten  ist.  »Denn 
das  ist  in  der  Verstandeswelt  schon  da,  wozu  die  Gründe,  die  es 
allein  bewirken  können,  allgemein  Wurzel  gefaßt  haben«  •^).  Und 
auch  hier  gilt  der  Satz,  daß  das  Wahre  und  Gute,  wenn  es  einmal 
öffentlich  geworden  ist,  vermöge  der  natürlichen  Affinität,  in 
der  es  mit  der  moralischen  Anlage  vernünftiger  Wesen  überhaupt 
steht,  sich  durchgängig  mitteilen,  immer  weiter  fortschreiten  und 
sich  fernerhin  von  selbst  erhalten  wird. 

Der  Kirchenglaube  aber,  in  dem  sich  dieser  Prozeß  zuerst 
vollzogen  hat  und  der  darum  auch  von  Anfang  an  die  Anlage 
zur  wahren  allgemeinen  Kirche  mit  sich  führte,  ist  nach  Kants 
Ueberzeugung  der  christliche.  Allerdings  mit  Ausschluß  des 
jüdischen.  Der  scheint  Kant  lediglich  auf  ein  politisches,  nicht 
aber  ethisches  Gemeinwesen  abgezweckt  zu  sein  und  darf  wegen 
dieses  prinzipiellen  Unterschiedes  vom  christlichen  Glauben  mit 
ihm  nicht  zu  einer  Einheit  zusammengefaßt  werden,  wenn  er 
ihm  auch  unmittelbar  vorhergegangen  ist  und  die  »physische 
Veranlassung«*)  zu  seiner  Erzeugung  gegeben  hat.  Denn  die 
christliche  Religion  ist  aus  dem  Munde  ihres  ersten  Lehrers 
nicht  als  eine  statutarische,  sondern  sofort  als  eine  moralische 
hervorgegangen,  und  Statuten  waren  mit  ihr  nur  insoweit  ver- 
bunden, als  sie  zur  Gründung  einer  Kirche  benötigt  wurden.    Sie 

I)  WW.   VIII   S.   30  Ak.-Ausg.  2)   Religion  usw.   S.    132  A.   R. 

3)   a.  a.   O.   S.   161.  4)   a.   a.   O.    S.   134. 


83  Die  Realisierung  des  Weltbesten. 

hat  darum  von  vornherein  die  Fähigkeit  gehabt,  auch  ohne  histo- 
rische Gelehrsamkeit  auf  alle  Völker  und  Zeiten  ausgebreitet 
zu  werden,  hat  also  die  Anlage  zum  wahren  und  allgemeinen 
Religionsglauben  und  damit  auch  zur  einen  allgemeinen  Kirche 
besessen.  Aber  ihrer  Entwicklung  haben  sich  Schwierigkeiten 
in  den  Weg  gestellt.  Christus  hat  sie  wegen  der  ihm  entgegen- 
stehenden Gewalt  der  Priester  nicht  realisieren  können,  und  unter 
dem  Einflüsse  der  schon  erwähnten  Schwäche  der  Menschen 
hat  sie  sich  zunächst  überhaupt  nicht  zu  entwickeln  vermocht. 
Vielmehr  hielten  es  die  ersten  Stifter  der  Gemeinden  für 
nötig  —  und  für  ihre  Zeit  mit  Recht  — ,  die  Geschichte  des  Juden- 
tums und  dessen  statutarische  Gesetze  mit  der  christlichen  Reli- 
gion zu  verflechten.  Und  durch  die  Stifter  der  christlichen  Kirche 
wurden  diese  dann  sogar  zum  Fundament  der  Religion  gemacht 
und  durch  Tradition  und  neue  Interpretationen  noch  weiter  ver- 
mehrt. Darum  ist  es  nach  Kants  Ueberzeugung  erst  zu  seiner 
Zeit  so  weit  gekommen,  daß  der  im  Christentum  von  Anfang 
an  vorhandene  Keim  des  wahren  Religionsglaubens,  wenn  auch 
erst  von  einigen,  so  doch  öffentlich  gelegt,  und  damit  zugleich 
die  in  ihm  enthaltene  Anlage  zur  allgemeinen  Kirche  ihrer  Ent- 
wicklung nahegebracht  und  dadurch  der  Vereinigung  der  Menschen 
auch  zu  einer  ethischen   Gemeinschaft   Bahn  gebrochen  ist. 

Das  faktische  Ereignis  aber,  das  diesen  Fortschritt  mit  sich 
gebracht  hat,  ist  nach  ihm  darin  zu  sehen,  daß  »wahre  Religions- 
verehrer« überall,  wenngleich  nicht  allenthalben  öffentlich,  zwei 
Grundsätze  in  Sachen  der  Religion  angenommen  haben.  Der  erste 
ist  der  »Grundsatz  der  billigen  Bescheidenheit  in  Aus- 
sprüchen über  alles,  V\^as  Offenbarung  heißt «.  Er  beruht  im  wesent- 
lichen auf  der  Ueberzeugung ,  daß  niemand  einer  Schrift ,  die 
ihrem  praktischen  Inhalte  nach  lauter  Göttliches  enthält,  die 
Möglichkeit,  hinsichtlich  ihres  historischen  Inhalts  von  Gott 
offenbart  zu  sein,  abstreiten  kann,  und  es  darum,  da  bei  dem 
gegenwärtigen  —  d.  h.  vernünftigen  —  Stande  menschlicher 
Einsicht  schwerlich  jemand  eine  neue  Offenbarung  erwarten 
wird,  »das  Vernünftigste  und  Billigste  sei,  das  Buch,  was  ein- 
mal da  ist,  fernerhin  zur  Grundlage  des  Kirchenunterrichts  zu 
brauchen  und  seinen  Wert  nicht  durch  unnütze  oder  mutwillige 
Angriffe  zu  schwächen,  dabei  aber  auch  keinem  Menschen  den 
Glauben    daran    als    zur    Seligkeit    erforderlich    aufzudringen«^). 

I)   a.   a.   O.   S.    142. 


Die  Realisierung  der   Sittlichkeit.  gn 

Der  zweite  ist  der  Grundsatz,  daß  angesichts  des  Verhältnisses 
des  historischen  zum  morahschen  Glauben  jener  »jederzeit  als 
auf  das  Moralische  abzweckend  gelehrt  und  erklärt«  und  den 
Menschen  wegen  ihres  Hanges  zum  passiven  Glauben  immer 
wieder  »eingeschärft  werden  müsse,  daß  die  wahre  Religion  nicht 
im  Wissen  oder  Bekennen  dessen,  was  Gott  zu  unserer  Seligkeit 
tue  oder  getan  habe,  sondern  in  dem,  was  wir  tun  müssen,  um 
dessen  würdig  zu  werden,  zu  setzen  sei«^). 


3.  Die  Realisierung  der  Glückseligkeit. 

So  stellt  sich  Kant  die  Realisierung  des  Fortschritts  der 
Menschen  zur  Sittlichkeit  vor.  Aber  die  Tugend  als  die  Würdig- 
keit, glücklich  zu  sein,  bildete  im  Begriff  des  höchsten  in  der  Welt 
möglichen  Gutes  nur  das  eine  Element.  Vollendet  wurde  es 
erst  durch  Hinzutritt  der  Glückseligkeit.  Darum  ergibt  sich  noch 
die  Frage,  wie  sich  diese  in  der  Idee  des  Weltbesten  gelegene 
V-ereinigung  von  Tugend  und  Glückseligkeit  verwirklichen  läßt. 

Auf  sie  konnte  Kant  erheblich  kürzer  antworten.  Denn  soviel 
war  schon  früher  ^)  festgestellt,  daß  der  Mensch  als  natürliches 
Wesen  nicht  imstande  ist,  sie  zu  realisieren,  dazu  vielmehr  die 
Annahme  eines  moralischen  Welturhebers  erforderlich  war.  Nur 
unter  dieser  Voraussetzung  konnte  überhaupt  daran  gedacht 
werden,  daß  die  moralische  Beschaffenheit  des  Menschen  für 
seinen  physischen  Zustand  von  Bedeutung  zu  sein  vermöchte. 
Macht  man  aber  diese  Voraussetzung  —  und  für  einen  moralisch 
konsequent  denkenden  Menschen  ist  sie,  wie  gezeigt  ^),  unum- 
gänglich — ,  dann  steht  nach  Kants  weiteren  Erklärungen  auch 
kein  prinzipielles  Bedenken  mehr  der  These  im  Wege,  daß  die 
Menschheit  als  moralische  Gemeinschaft  selbst  ihre  Glückseligkeit 
bewirkt.  Denn  in  dem  Willen  des  höchsten  Wesens  ist  die  Glück- 
seligkeit die  unmittelbare  Folge  der  moralischen- Vollkommenheit, 
und  »der  Glückseligkeit  bedürftig,  ihrer  auch  würdig,  dennoch 
aber  derselben  nicht  teilhaftig  zu  sein,  kann  mit  dem  vollkom- 
menen Wollen  eines  vernünftigen  Wesens,  welches  zugleich  alle 

Gewalt  hätte, ,  gar  nicht  zusammen  bestehen«*).   Es  würde 

daher  nach  seiner  Ueberzeugung  die  sittlich  geforderte  Bemühung 


I)   a.   a.   O.   S.   143.  2)   Vgl.   S.   61. 

3)   Vgl.   S.   63.  4)   Krit.   d.   pr.   Vern.   S.   133  R. 

Goedeckemeyer,  Kants  Lebensanschauung. 


QQ  Die  Realisierung  des  Weltbesten. 

der  Menschheit  um  die  allgemeine  Glückseligkeit  ihr  Ziel  auch 
wirklich  erreichen,  »wenn  wir  das  ganz  wären  oder  einmal 
würden,  was  wir  sein  sollen«  i),  wenn  m.  a.  W.  alle  Handlungen 
vernünftiger  Wesen  so  geschähen,  als  ob  sie  aus  einem  obersten 
Willen,  der  alle  Privatwillkür  in  sich  und  unter  sich  befaßt,  ent- 
sprängen. Denn  dann  wären  wir  moralisch  vollkommen,  und  die 
Wichtigkeit  der  vollkommenen  moralischen  Beschaffenheit  des 
Menschen,  deren  Wert  unendlich  ist,  überwiegt  weit  alle  anderen 
Bewegursachen,  die  Gott  als  oberster  Herr  der  Natur  in  seiner 
höchsten  Weisheit  haben  mag.  Dann  würde  also  die  Natur  unseren 
Wünschen,  die  dann  allerdings  auch  niemals  unweise  sein,  d.  h. 
dem  Endzweck  der  Schöpfung  widersprechen  würden,  gehorchen 
müssen.  Es  würde  alles  nach  der  Menschen  Wunsch  und  Willen 
gehn.  Die  triumphierende  Kirche  würde  schon  hier  auf  Erden 
realisiert  sein. 

Indessen  ist  dieses  System  der  sich  selbst  lohnenden  Moral 
doch  nur  eine  Idee,-  deren  Ausführung  auf  der  Bedingung  beruht, 
daß  jedermann  tue,  was  er  soll.  Und  darin  liegt  nun  schließlich 
doch  die  Schwierigkeit.  Denn  auf  ein  solches  Verhalten  kann  bei 
Menschen  nicht  gerechnet  werden.  Sie  sind  keine  reinen  Ver- 
nunft-, sondern  zugleich  sinnliche  Wesen,  deren  moralischer  Zu- 
stand immer  nur  Tugend,  also  morahsche  Gesinnung  im  Kampfe 
ist  2).  Und  darum  ist  es  letzten  Endes  doch  umsonst,  den  Eintritt 
einer  vollen  Glückseligkeit  der  Menschheit,  die  dann  auch  die 
jedes  einzelnen  involviert,  in  diesem  Leben  zu  erwarten.  Wie 
die  sittHche  Vollkommenheit  selbst  kann  sie  erst  für  ein  künftiges 
Leben  in  Aussicht  genommen  und  wegen  ihrer  Abhängigkeit 
von  dem  Glauben  an  ein  höchstes  Wesen,  das  nach  moralischen 
Gesetzen  die  Welt  beherrscht,  auch  nur  zum  Gegenstande  der 
Hoffnung  gemacht  werden. 

Diese  letzte  und  höchste  Hoffnung  des  Menschen  ist  nun 
aber  auch  der  eigentliche  und  tiefste  Grund,  der  den  Uebergang 
von  der  Moral  zur  Religion,  zur  Beurteilung  aller  unserer  Pflichten 
a  1  s  göttlicher  Gebote,  unausbleiblich  macht.  Nur  von  einem 
moralisch-vollkommenen  und  zugleich  allmächtigen  Willen  können 
wir  das  höchste  Gut  erwarten,  also  auch  nur  durch  Ueberein- 
stimmung  mit  ihm  dazu  zu  gelangen  hoffen.  Und  weil  wir  in 
ihm  die  letzte  und  höchste  Ursache  der  Realisierung  einer  Auf- 
gabe sehen  müssen,   die  uns  vom   Sittengesetze  zur  Pflicht  ge- 

i)   Religion  usw.   S.   214  A.   R.  2)   Vgl.   S.   16. 


Die   Realisierung  der   Sittlichkeit. 


91 


macht  ist,  werden  wir  uns  ihm  auch  von  Anfang  an  verbunden 
fühlen,  ihn  mit  der  »wahrhaftesten  Ehrfurcht,  die  gänzhch  von 
pathologischer  Furcht  verschieden  ist«,  in  unser  moralisches 
Denken  aufnehmen  und  uns  ihm  willig  unterwerfen.  So  findet 
die  ganze  Lebensphilosophie  Kants,  wie  es  angesichts  der  Eigen- 
tümlichkeit seiner  Erziehung  von  vornherein  zu  erwarten  war, 
ihren  Abschluß  in  einer  Ethikotheologie,  weil  »die  Moral  zwar 
mit  ihrer  Regel,  aber  nicht  mit  der  Endabsicht,  welche  eben 
dieselbe  auferlegt,  ohne  Theologie  bestehen«^)   kann. 

Erst  mit  der  Religion  also  hebt  die  Hoffnung  auf  Glück- 
seligkeit an.  Darum  dürfen  wir  auch  erst  jetzt,  nachdem  zur 
Beförderung  unserer  Aufgabe,  das  höchste  Gut  zu  realisieren 
oder  das  Reich  Gottes  zu  uns  zu  bringen,  dieser  Uebergang  zur 
Religion  hergestellt  worden  ist,  die  Moral,  die  an  sich  nur  Pflichten 
auferlegt,  als  Glückseligkeitslehre  bezeichnen.  Sie  wird  erst  jetzt 
zu  einer  »Anweisung,  der  Glückseligkeit  teilhaftig  zu  werden«^). 
Nur  wenn  er  sich  auf  den  Boden  der  Religion  in  dem  angegebenen 
Sinne  stellt,  kann  der  Mensch  darauf  hoffen,  daß  sein  Verlangen, 
glücklich  zu  werden,  das  ihm  als  na.türlichem  Wesen  notwendig 
ist,  und  das  er  als  moralisches  Wesen  selbst  auf  den  »moralischen 
Wunsch«,  das  Weltbeste  zu  befördern,  einschränkt,  Befriedigung 
findet.  Und  da  man  sich  den  letzten  Zweck,  den  Gott  im  Hin- 
blick auf  das  Menschengeschlecht  befolgt,  nicht  anders  »als  nur 
aus  Liebe«  ^)  denken  kann,  so  muß  die  so  bedingte  Glückselig- 
keit auch  das  sein,  was  Gott  bei  der  Schöpfung  und  Leitung  der 
Menschen  zuallerletzt  im  Auge  hat.  »Das,  was  allein  eine  Welt 
zum  Gegenstande  des  göttlichen  Ratschlusses  und  zum  Zwecke 
der  Schöpfung  machen  kann,  ist  die  Menschheit  in  ihrer 
moralischen  ganzen  Vollkommenheit,  wovon 
als  oberster  Bedingung  die  Glückseligkeit  die  unmittelbare  Folge 
in  dem  Willen  des  höchsten  Wesens  ist«*).  Verbietet  also  die 
Moral  dem  Menschen  auch,  sich  die  eigene  Glückseligkeit 
unmittelbar  zum  Ziele  zu  machen,  stellt  sie  vielmehr  den  Satz 
auf:  »Die  erste  Sorge  des  Menschen  sei  nicht,  wie  er  glücklich, 
sondern  der  Glückseligkeit  würdig  werde«  ^),  so  führt  sie  ihn  zu- 
letzt doch  selbst  und  mit  Notwendigkeit  zu  der  Hoffnung  hin,  daß 
seiner  sittlichen  Bemühung  auch  der  Lohn  nicht  fehlen  wird.  — 


1)   Krit.  d.  Urteilskr.   S.  390.  2)   Krit.  d.  pr.  Vern.   S.   156  R. 

3)   WW.   VI   S.   488  Ak.-Ausg.  4)   Religion  usw.   S.   61   R. 

5)   WW.   XII  S.   440  Ak.-Ausg. 


Q2  Die  Realisierung  des  Weltbesten. 

So  also  steht  es  mit  Kants  Lebensphilosophie.  Von  vorn- 
herein nur  teleologisch  fundiert  leitet  sie  aus  dem '  Wesen  des 
Menschen  seine  Bestimmung  ab.  Nicht  in  der  reinen  Sitt- 
lichkeit —  mit  einem  leeren  Formalismus  hat  Kants  Ethik  wirk- 
lich nichts  gemein  — ,  sondern  in  der  Tugend  findet  sie  seine 
Aufgabe.  Tugend  aber  heißt  sittliche  Gesinnung  im  Kampfe 
mit  den  Neigungen,  setzt  also  das  Vorhandensein  eines  in  der 
Natur  des  Menschen  gewurzelten  Strebens  nach  Glückseligkeit 
voraus.  Und  weit  davon  entfernt,  dieses  Streben  auszurotten, 
ist  Kant  nur  darauf  bedacht,  es  zu  »bezähmen«,  d.  h.  auf  die 
Bedingung  seiner  Allgemeingültigkeit  hin  einzuschränken,  die 
Aufgaben  festzulegen,  die  sich  aus  dem  so  bestimmten  Ziel  er- 
geben und  im  wahren  Staat  und  der  wahren  Kirche,  —  der  Zivili- 
sierung und  Moralisierung  ■ — ■  die  Mittel  aufzuweisen,  durch  die 
es  sich  erreichen  läßt.  So  wenig  er  Eudämonist  oder  Utilitarist 
im  herkömmlichen  Sinne  war,  im  Begriffe  des  Weltbesten  als 
der  auf  Sittlichkeit  gegründeten  und  in  rechtem  Maße  mit  ihr 
verbundenen  Glückseligkeit  der  Menschheit  hat  auch  er  den 
Endzweck  des  menschlichen  Strebens  gefunden,  auf  den  alle 
Pflichten  in  letzter  Linie  hinzielen.  Und  jede  andere  Auffassung 
seiner  Lebensphilosophie  —  und,  kann  man  hinzufügen,  jeder 
Lebensphilosophie,  die  für  Menschen  Sinn  und  Wert  haben 
soll  —  bringt,  um  auch  hier  noch  einmal  ein  Wort  Kants  an- 
zuwenden,  »Unsinn   (Phantasterei)  in  ihr  Prinzip  hinein«"). 


i)   WW.   VI   S.   433  *  Ak.-Ausg. 


?'il 

^