„Kant=Studien" ^^^^^^^^
Ergänzungshefte im Auftrag der Kant-Gesellschaft
herausg. von H. ValhJnger, M. Frischeisen-Köhler und A. Lieberf. Nr. 54
Kants Lebensanschauung
in ihren Qrundzügen
von
Albert Qoedecl<emeyer
o. ö. Professor an der Universität Königsberg
Motto: Was nutzt Philosophie, wenn sie nicht die
Mittel des Unterrichts der Menschen auf ihr wahres
Bestes lenkt. Kant.
Berlin
Verlag von Reuther & Reichard
1921
Alle Rechte vorbehalten.
Druck von H. L a u p p jr in Tübingen.
III
Inhalt.
Seite
I. Die Bestimmung des Menschen.
1. Der methodische Standpunkt i
2. Das Wesen des Menschen 6
3. Das Weltbeste 29
II. Die besonderen sittlichen Aufgaben.
1. Eigene Vollkommenheit 35
2. Fremde Glückseligkeit 53
III. Die Realisierbarkeit des Weltbesten.
1. Ihre Bedeutung für die sittlichen Aufgaben 56
2. Die Realisierbarkeit als Glaubenssache 57
3. Die Postulate der moralisch-praktischen Vernunft 59
IV. Die Realisierung des Weltbesten.
1. Der Fortschritt der Menschheit 64
2. Die Realisierung der Sittlichkeit 69
3. Die Realisierung der Glückseligkeit 89
IV
Vorbemerkung.
Es steht fest, daß die theoretischen Untersuchungen für Kant
nicht Selbstzweck gewesen sind, sondern im Dienste einer Lebens-
philosophie gestanden haben. Sie zielen in letzter Linie alle auf
die Beantwortung der Frage nach der richtigen Lebensführung hin.
Kants Philosophie ist in ihrem tiefsten Grunde Weisheitslehre
gewesen »in der Bedeutung, wie die Alten das Wort verstanden,
bei denen sie eine Anweisung zu dem Begriffe war, worin das höchste
Gut zu setzen, und zum Verhalten, durch welches es zu erwerben
sei«^). Ihr eigentlichstes Problem ist daher kein anderes als das,
was von verschwindenden Ausnahmen abgesehen immer im
Brennpunkte philosophischen Interesses gestanden hat, seitdem
ihm durch den epochemachenden Kampf der griechischen Sophistik
gegen die Naturphilosophie diese zentrale Stellung zuteil geworden
ist. »Die größte Angelegenheit des Menschen ist, zu wissen, wie
er seine Stellung in der Schöpfung gehörig erfülle uud recht ver-
stehe, was man sein muß, um ein Mensch zu sein«^). Die Frage
nach des Menschen Bestimmung und der Art, in der er ihr gerecht
zu werden vermag, ist für Kant das wichtigste.
i) Kritik der praktischen Vernunft S. 130/31 R.
2) WW. VIII S. 623 Hart. Vgl. Logik S. 25 Jäsche.
I. Die Bestimmung des Menschen.
I. Der methodische Standpunkt.
Wer von einer Bestimmung des Menschen spricht, muß sich
darüber klar sein, ob eine solche Redeweise überhaupt und unter
welchen Voraussetzungen sie berechtigt ist. Kant hat sich dieser
Aufgabe nicht entzogen. Folgendes ist die Lösung, die er gibt.
Solange, heißt es bei ihm, kann von einer Bestimmung des
Menschen keine Rede sein, als man sich mit einer rein mechani-
schen Erklärung der Welt und aller Dinge in ihr begnügt und
zugleich auf ihr besteht. Das zu tun ist aber wegen der Bedeutung
der mechanischen Erklärung für die Einsicht in die Natur der
Dinge durchaus begreiflich. Denn man sieht nur soviel voll-
ständig ein, als man aus einem klar und deutlich erkannten Prinzip
abzuleiten vermag und darum nach bekannten Gesetzen auch
selbst machen und zustandebringen kann. Deshalb ist die Natur-
wissenschaft bestrebt, an den Prinzipien festzuhalten, die es
ihr ermöglichen, ihre Objekte selbst — auf dem Wege des Ex-
periments — hervorzubringen. Das aber sind nicht selbsterdachte
Kräfte und keiner Belege fähige Gesetze, sondern Grundsätze,
deren Gegenstand in einer möglichen Erfahrung gegeben werden
kann, die sich also empirisch bestätigen lassen, d. h, die Prin-
zipien des Mechanismus als der Verbindung der Materie nach
ihren eigenen Kräften, der Anziehung und Abstoßung, und ihrem
eigenen Vermögen, dem Bewegungsvermögen. Aus Gründen der
einsichtigen Erkenntnis also hat die Vernunft das größte Interesse
daran, alle Naturerscheinungen auf die bloßen Bewegungsgesetze
der Materie zurückzuführen und am Mechanismus festzuhalten.
Täte sie das nicht, so würde es überhaupt keine Natur erkennt-
n i s mehr geben; eine »faule Philosophie« oder bloße »Träumerei«
würde an ihre Stelle treten, die keine Naturphilosophie mehr wäre,
Goedeckemeyer, Kants Lebensanschauung. I
2 Die Bestimmung des Menschen.
sondern das Geständnis, daß man mit seiner Philosophie zu
Ende sei i).
Eben deshalb ist es für die Naturwissenschaft auch ganz un-
möglich, von einer Bestimmung des Menschen zu sprechen. Der
Gedanke der Bestimmung setzt den Begriff eines Zweckes voraus
und weist damit auf eine Kausalverbindung hin, die in der Natur-
wissenschaft keine Stelle haben kann. Denn der Begriff des
Zweckes ist ein reiner Vernunftbegriff oder eine Idee, ist m. a. W.
ein Begriff, für den die Erfahrung, auf die sich die Naturwissen-
schaft immer stützen muß, ein adäquates Beispiel nicht an die
Hand gibt. Er kann in der Naturwissenschaft nur als ein »Fremd-
ling« angesehen werden, die Kausalverbindung der Endursachen
hat in ihr nichts zu suchen.
Läßt sich aber nur dann von einer Bestimmung des Menschen
reden, wenn man den Zweckbegriff voraussetzt, so erhebt sich
die Frage, ob man allem Interesse der Naturwissenschaft zum
Trotz Grund hat, sich seiner zu bedienen, und vor allem, ihn
auf den Menschen anzuwenden. Wobei es sich nach allem schon
Gesagten natürlich von selbst versteht , daß die Anwendung
eines solchen teleologischen Prinzips immer nur den Wert einer
bloß subjektiven, d. h. einer nur für uns Menschen gültigen Be-
trachtungsweise haben kann. Sie würde m. a. W. nicht sagen
wollen, daß das teleologisch interpretierte Objekt durch eine
zwecktätige Ursache wirklich zustande gekommen sei, sondern
nur, daß wir es so beurteilen müssen, als ob es auf diese Weise
entstanden wäre.
Daß nun Gründe zur Anwendung des Zweckprinzips vorhan-
den sind, ist Kants Ueberzeugung. Freilich ist er ein entschie-
dener Anhänger des Grundsatzes, daß man die Prinzipien der
Erkenntnis nicht ohne Not vermehren soll. Er betont mit aller
Schärfe, daß man im Interesse der Naturwissenschaft soweit wie
irgend möglich an der mechanischen Erklärungsart festzuhalten
und ihr auch im Fortgange einer Untersuchung stets das »Recht
des Vortritts« vor aller teleologischen Betrachtung zu sichern habe.
Aber schließlich ist es, wie er meint 2), doch
das Ziel der Philosophie, sich alles in der
Welt durch Vernunft begreiflich zu machen
i) Vgl. Krit. d. pr Vern. S. i66 R. ; Kritik der Urteilskraft S. 308 R.
WW. II 331; VIII 137 Ak.-Ausg
2) Vgl. WW. VIII S. 169 Ak.-Ausg.
Der methodische Standpunkt. o
und darüber wenigstens so weit zu urteilen,
als es uns nach unserer eigenen Natur, d.h.
nach den Bedingungen und Schranken un-
serer Vernunft möglich ist. Darum muß man dem
Menschen die »Befugnis« zugestehen, sich dort des teleologischen
Prinzips zu bedienen, wo theoretische Erkenntnisquellen nicht zu-
langen. Man erhält dadurch »doch wenigstens ein Prinzip mehr« ^),
die Erscheinungen der Natur unter Regeln zu bringen, also eine
weitere Möglichkeit, Nachforschungen über sie anzustellen und
sie sich auch in dem Falle wenigstens begreiflich zu machen, daß
die mechanische Erklärung nicht ausreicht.
Dieser Fall liegt nun nach Kants Ueberzeugung in den Or-
ganismen wirklich vor. Jedermann weiß, daß der Philosoph die
der Erfahrung auch heute noch allein entsprechende Ansicht ver-
treten hat, daß der bloße Mechanismus der Natur die Entstehung
organisierter Wesen nicht erklären kann. Einen Organismus, so
führt er aus ^) , müssen wir uns notwendig als Natur zweck vor-
stellen, d. h. als ein materielles Ding, dessen Teile ihrem Dasein
und ihrer Verbindung nach nicht nur die Idee eines Ganzen voraus-
setzen — das gilt auch vom Kunstwerke als dem Produkte einer
von den Teilen desselben verschiedenen vernünftigen Ursache — ,
sondern sich auch nur dadurch zu einer Einheit verbinden, daß
sie sich ihrem Zusammensein nach insgesamt wechselseitig be-
stimmen und so aus eigener Kausalität ein Ganzes hervor-
bringen. Und er hat diese Ansicht mit solcher — vielleicht zu weit-
gehender — Schärfe vertreten, daß er erklärt: man könne dreist
sagen, es sei für Menschen ungereimt, auch nur den A n-
schlag einer mechanischen Erklärung der Organismen zu
fassen oder zu hoffen, daß noch etwa dereinst ein Newton auf-
stehen könne, der auch nur die Erzeugung eines Grashalms nach
Naturgesetzen, die keine Absicht geordnet hat, begreiflich machen
werde. Hier also ist nach Kants Ueberzeugung die mechanische
Erklärungsart für den Menschen endgültig an ihrer Grenze ange-
langt. Will er daher die Organismen überhaupt zu verstehen
suchen, will er sie m. a. W. überhaupt als Fälle einer allgemeinen
Regel subsumieren, so bleibt ihm nichts anderes übrig als sie so
aufzufassen, a 1 s o b die Natur sie nach Zwecken hervorgebracht
hätte.
1) Krit. d. Urteilskraft S. 238 R.
2) Krit. d. Urteilskraft § 64 ff.
I*
4 Die Bestimmung des Menschen.
Aber diese Betrachtungsweise, mit der der auf Verstehen
bedachte Mensch den Organismen gegenübertritt und gegenüber-
treten muß, führt einmal zugelassen mit Notwendigkeit weiter.
Sie führt zur Auffassung der ganzen Natur als eines Systems
von Zwecken. Gewiß sind wir berechtigt, ja genötigt, in der
Naturwissenschaft die teleologische Beurteilungsart auf die Or-
ganismen anzuwenden, ohne die Frage aufzuwerfen, w i e
sich die Zwecktätigkeit der Natur hinsichtlich der Organismen
denken lasse. Aber vom Standpunkte der mechanischen Natur-
gesetze aus sind die Organismen etwas Zufälliges, und die Vernunft,
die überall darauf ausgeht, nach Grundsätzen zu urteilen,
strebt danach, auch für dieses Zufällige einen Grund zu finden;
und darum wird sich jene Frage am Ende doch nicht umgehen
lassen.
Nun sieht Kant freilich sehr wohl ein, daß dieses ganze Streben
der Vernunft lediglich auf ihrem subjektiven Bedürfnis nach Be-
friedigung beruht. Er fügt sogar hinzu, daß dieses Bedürfnis für
die theoretische Vernunft keineswegs unbedingt gilt, es vielmehr
in letzter Linie vom Wollen des einzelnen abhängt, ob er ihm
nachgibt oder nicht ^). Statt sich nun aber hier zu beschränken
und damit einer positivistischen Philosophie und einem positivisti-
schen Idealismus Raum zu schaffen, entscheidet er sich aus Grün-
den der praktischen Vernunft, in letzter Linie also aus Motiven,
die nur aus seiner stark pietistisch gefärbten Erziehung begreiflich
werden, dafür, diesem Bedürfnis ein Recht zuzuerkennen.
Tritt man ihm hierin bei, so kann ein die Vernunft befriedigen-
der Grund für die Zweckmäßigkeit der Organismen nicht etwa in
einer zwar zweckmäßig, aber doch ohne Absicht wirkenden Natur-
kraft gefunden werden, sondern nur in einem über die Natur
hinausliegenden Verstände. Denn die einzige, uns durch Erfahrung
bekannte Grundkraft, die nach Zwecken wirkt, ist die Ver-
nunft. Wir haben aber, sagt Kant ^) und spricht damit das Urteil
über den ganzen sog. Vitalismus, nicht das geringste Recht, un-
abhängig von der Erfahrung irgendeine neue Grundkraft zu er-
denken. Ein solches Operieren mit erdichteten Prinzipien würde
der Vernunft die Möglichkeit geben , alles , was sie will und
wie sie will, zu erklären, und würde sie verleiten, dichterisch zu
schwärmen, d. h. grundsätzlich ihre Grenzen zu überschreiten,
1) Vgl. Krit. d. Urteilskraft S. 330 R.; WW. VIII S. 139 Ak.-Ausg.
2) Krit. d. Urteilskraft S. 284/5 R.
Der methodische Standpunkt. " c
»welches zu verhüten eben ihre vorzüglichste Bestimmung ist«^).
Als ein für uns verständlicher Grund der Zweckmäßigkeit der
Organismen kann daher nur ein architektonischer Verstand in
Betracht kommen.
Soll aber von dessen Tätigkeit die Struktur der Organis-
men abhängen, so muß er auch für ihre Materie und deren mecha-
nische Wirksamkeit bestimmend sein. Teleologie und Mechanis-
mus der Naturzwecke müssen in einem einzigen obersten Prinzip
miteinander zusammenhängen, weil nur so die Anwendung bei-
der auf die Organismen begreiflich wird, die einerseits materielle
Dinge sind und andererseits allein teleologisch verstanden werden
können. Da es aber, wenigstens für uns, unmöglich ist, beide
Arten der Kausalität als identisch anzusehen, so ist ihr Zusammen-
hang nur in der Form der Unterordnung denkbar. Und hier kann
es nach Kant keinem Zweifel unterliegen, daß der Mechanismus dem
teleologischen Prinzipe unterzuordnen ist. Dort, wo es nötig ist,
Zwecke als Gründe für die Möglichkeit gewisser Dinge anzunehmen,
müssen auch Mittel vorausgesetzt werden, die diesen Zwecken
dienen können. Nichts aber steht dem im Wege, deren Gesetz-
mäßigkeit als eine rein mechanische aufzufassen.
Hängen aber Mechanismus und Teleologie von einem einzigen
Prinzip ab, soweit es sich um Organismen handelt, so ergibt sich
angesichts des Umstandes, daß dieses Prinzip als im Gebiete des
Uebersinnlichen gelegen unserer Erkenntnis entzogen ist, wir in
ihm also nur den unbestimmten Grund für die Beur-
teilung der Natur sehen können, die Möglichkeit, aus der Einheit
des Prinzips der mechanischen und teleologischen Kausalität in
bestimmten Fällen zu folgern, daß auch die Produkte der
Natur ihm unterstehen, die eine teleologische Beurteilung an sich
nicht nötig machen, und anzunehmen, daß auch sie zu einem
System der Zwecke gehören. Es ergibt sich m. a. W. die Möglich-
keit, daß die Natur durchgängig von beiden Arten der
Kausalität bestimmt wird. Und dieser wenigstens als Hypothese
erlaubten Annahme wird man nach Kants Meinung um so eher
nachgeben, als man dazu nicht nur durch die unendliche Menge
der organischen Produkte geradezu veranlaßt wird, sondern mit
ihr auch ein heuristisches Prinzip zur Auffindung von besonderen
Gesetzen der Natur in die Hand bekommt, die uns sonst verborgen
bleiben würden. So ist man in seinen Augen durch das Beispiel,
i) a. a. O. S. 299.
5 Die Bestimmung des Menschen.
das die Natur an ihren organischen Produkten gibt, nicht nur
berechtigt, sondern sogar berufen, die Welt so aufzufassen, als
ob sie das Werk eines Verstandes wäre, in dem jedes Ding auf
das beste eingerichtet und nichts umsonst, sondern alles irgend-
wozu gut ist. Damit ist dann aber das Recht erwiesen, auch
von einer Bestimmung des Menschen zu sprechen. —
2. Das Wesen des Menschen.
Will man wissen, worin des Menschen Bestimmung besteht,
so kann darüber nach Kants Erklärungen nur eine Untersuchung
über sein von dem Weltprinzip gesetztes Wesen oder über seinen
Charakter Auskunft geben. Dabei versteht Kant unter Charakter
dasjenige am Menschen, wodurch ihm im System der lebenden
Natur seine Klasse angewiesen wird.
Diese Untersuchung zeigt den Menschen zunächst als ein
tierisches Wesen, das wie alle Tiere die Materie, aus der es ent-
stand, dem Planeten verdankt, auf dem es lebt, und das gewissen
sinnlich bedingten, d. h. von der Einwirkung äußerer Gegenstände
abhängigen und rein mechanisch wirkenden Antrieben unterliegt,
die auf die Erhaltung seiner selbst, die Erhaltung der Art und die
Erhaltung seines Vermögens zum angenehmen, aber doch nur
tierischen Lebensgenuß gehen. M. a. W.: sie zeigt den Menschen
als »eine von den Erscheinungen der Sinnenwelt« ^), als welche
er auch der rein mechanischen Kausalität untersteht, die in dieser
Welt herrscht.
Aber er ist doch nicht lediglich eine solche »lebende
Maschine«. Denn nach Kants nur vom Boden einer unbewußten
petitio principii aus möglichen Behauptung muß nicht nur der
nachdenkende Mensch urteilen, sondern nimmt vermutlich auch
schon der gemeinste Verstand ohne weiteres an, daß wie hinter
jeder Erscheinung, so auch hinter dem Menschen noch etwas
anderes vorhanden sein wird, das nicht Erscheinung ist 2). Wäh-
rend wir nun aber bei allen übrigen Dingen nichts davon wissen
können, was sie an sich sind, steht es mit dem Menschen anders.
Sich selbst erkennt er nicht wie die ganze übrige Natur lediglich
durch Sinne, sondern auch unmittelbar, durch reine Apperzeption.
i) Kritik d. reinen Vern. S. 437 R.
2) Vgl. Grundl. zur Met. d. Sitten S. 91 R.
Das Wesen des Menschen. ^
Durch sie, die Kant als intellektuelle innere Anschauung aus-
drücklich vom inneren Sinn unterscheidet ^), wird sich der Mensch
gewisser Gemütshandlungen bewußt, die gänzlich spontan sind
und daher von aller Affizierung durch sinnliche Eindrücke unab-
hängig sein müssen und gar nicht als zur Sinnlichkeit gehörig
angesehen werden können. Man wird diese Behauptung bei der
ablehnenden Haltung, die Kant sonst der intellektuellen An-
schauung gegenüber einnimmt, gewiß erstaunlich finden, darf
aber bei ihrer Beurteilung doch nicht außer acht lassen, daß sie
sich in diesem Falle nicht auf materiale Inhalte, sondern auf
Formen, nicht auf Gegenstände, sondern auf Funktionen bezieht,
und muß sich außerdem vor Augen halten, daß es für Kant gar
keinen anderen Weg gab, um den Menschen aus der Bedingtheit
der sinnlichen Welt herauszuheben und ihm die Stellung zu ver-
schaffen, die er ihm von Anfang an verschaffen wollte. Zu diesen
reinen Tätigkeiten aber, deren sich der Mensch so unmittelbar
bewußt wird, gehören die reinen Funktionen des Verstandes und
der Vernunft. Sie sind keine Vorstellungen, die nur entspringen,
wenn man von Dingen affiziert ist, sondern etwas ganz aus der
eigenen Tätigkeit dieser Vermögen Erzeugtes, Handlungen, die
gar nicht zur Rezeptivität der Sinnlichkeit gezählt werden können.
Während wir daher bei der ganzen leblosen oder bloß tierisch-
belebten Natur keinen Grund finden, uns irgendein Vermögen
anders als sinnlich bedingt zu denken, sehen wir ein, daß beim
Menschen etwas vorliegt, was einen ganz anderen Charakter trägt
und ihn von allen Tieren fundamental unterscheidet. Der Mensch
ist nicht nur ein tierisches Geschöpf und als solches ein sinnliches
Wesen, sondern zugleich — und auf Erden allein — eine Intelligenz.
Er ist ein niit Vernunftfähigkeit begabtes Tier.
Ist aber der Verstand als das Vermögen zu denken, sich
etwas durch selbstgemachte Begriffe oder Regeln vorzustellen, so
wird, wer ihn besitzt, nicht mehr allein auf die ihm durch die
Sinne gegebenen Einzelheiten angewiesen, sondern imstande sein,
nach allgemeinen Regeln und in letzter Linie nach Grundsätzen
zu urteilen und, da ihm dieses Vermögen zugleich als praktisches
zugeteilt ist, d. h. als ein solches, das Einfluß auf den Willen
haben soll, auch nach Grundsätzen zu handeln. Der Mensch ist
also schon als Naturwesen dadurch in charakteristischer Weise
von allen Tieren unterschieden, daß er kraft seiner Vernunft die
i) WW. VII S. 142, 161 Ak.-Ausg.
g Die Bestimmung des Menschen.
Fähigkeit besitzt, sich über das, was seine Sinne unmittelbar affi-
ziert , zu erheben und sich Vorstellungen oder Ideen von dem
zu machen , was ihm in Ansehung seines ganzen Zustandes
nützlich ist, und demnach sein Handeln einzurichten. Er ist
m. a. W. das einzige Wesen auf Erden , das das Vermögen hat,
»sich selbst willkürlich Zwecke zu setzen« i).
Aber wenn sich der Mensch auch durch diesen Besitz der
Zwecke setzenden Vernunft vom Tiere unterscheidet, so würde
das doch nicht von großer Bedeutung sein, wenn die Natur ihm
dieses Vermögen in letzter Linie zu nichts anderem gegeben hätte,
als dazu, seine eigene Glückseligkeit zu bewirken. Dann
wäre es nur eine besondere Manier, deren sie sich bedient hätte,
um ihn für denselben Zweck auszurüsten, für den sie die Tiere
bestimmt hat. Es würde den Menschen also wohl von der Tier-
heit unterscheiden, aber nicht über sie erheben.
»Denn im Werte über die Tierheit erhebt ihn das gar nicht, daß
er Vernunft hat, wenn sie ihm nur zum Behuf desjenigen dienen
soll, was bei den Tieren der Instinkt verrichtet« 2).
Nun ist allerdings nicht zu bestreiten, daß die Vernunft auch
den Zweck hat , die individuelle Glückseligkeit des einzelnen
zu besorgen. Denn sofern der Mensch nicht ein nur vernünftiges,
sondern zugleich physisches, Neigungen unterworfenes und von
ihnen abhängiges Wesen ist, kann er sich des Strebens nach Glück-
seligkeit gar nicht entschlagen. Als Zustand eines vernünftigen
Wesens in der Welt, dem im Ganzen seiner Existenz alles nach
Wunsch und Willen geht , ist sie das natürliche Objekt
des Verlangens für jedes vernünftige, aber endliche Wesen, das
wegen seiner Endlichkeit von Gegenständen der Sinnlichkeit ab-
hängt und ihrer bedürftig ist. Darum kann es dem Menschen,
solange er existiert , gar nicht zugemutet werden , auf diesen
für ihn als natürliches Wesen völlig unvermeidlichen und un-
widerstehlichen Zweck gänzlich Verzicht zu leisten. Die Ver-
nunft hat durchaus den »nicht abzulehnenden Auftrag«^), sich
um das Interesse der sinnlichen Natur des Menschen zu kümmern
und durch Auswahl teils ihrer Bestandstücke, teüs der zu ihr
führenden Mittel auch seine eigene Glückseligkeit zu fördern.
Aber soll sich der Mensch über das Tier erheben, so
1) Kritik d. Urteilskraft S. 323 R.
2) Krit. d. prakt. Vern. S. 74 R.
3) Kritik der prakt. Vern. S. 74 R.
Das "Wesen des Menschen. g
kann das nicht ihr ganzer Zweck sein. Und die Erinnerung an
die teleologische Naturbetrachtung hilft Kant hier weiter. Ihr
gemäß muß es bei allen organisierten Wesen als Grundsatz an-
genommen werden, »daß kein Werkzeug zu irgendeinem Zwecke
in demselben angetroffen werde, als was auch zu demselben das
schicklichste und ihm am meisten angemessen ist«^). Von
dieser Voraussetzung aus kann aber die Vernunft als praktisches
Vermögen nicht dazu bestimmt sein, den Willen nur so zu leiten,
daß er zu einem guten Mittel der Befriedigung unserer Bedürf-
nisse als physischer Wesen oder der Erreichung individueller
oder auch allgemeiner Glückseligkeit wird. Denn Glückseligkeit
ist die Befriedigung aller unserer Neigungen, sowohl der Mannig-
faltigkeit als auch dem Grade und der Dauer nach. Und so sehr
sich der Mensch auch überhaupt nach ihr sehnt, so sehr die Glück-
seligkeit »eine Absicht ist, die man sicher und a priori bei jedem
Menschen voraussetzen kann «2), so macht es ihm die Beschränkt-
heit seiner Vernunft doch unmöglich, bestimmt und ohne sich
zu widersprechen anzugeben, was er denn eigentlich will und
was ihn wahrhaft und dauernd glücklich machen würde. Denn
einmal müssen die Elemente der Glückseligkeit, die als ein Ideal
nicht der Vernunft, sondern der Einbildungskraft ganz auf em-
pirischen Prinzipien ruht, sämtlich aus der Erfahrung entlehnt
werden, die allein darüber orientieren kann, welche Neigungen
da sind und welche Naturursachen zu ihrer Befriedigung dienen
können, und zudem involviert die Idee der Glückseligkeit als
eines absoluten Ganzen ein Maximum des Wohlbefindens im
gegenwärtigen und jedem zukünftigen Zustande. Der Mensch
müßte also Allwissenheit besitzen, um jene Frage zu beantworten.
Und um so mehr, wenn es sich nicht nur um seine eigene, sondern
um die Glückseligkeit aller handelt, deren Verschiedenheit in
ihrem Urteil über das, was sie begehren, nahezu unendlich ist.
Unmöglich also kann ihm die Vernunft das Ziel in ausreichender
Bestimmtheit zeigen. Dann aber ist sie auch nicht imstande,
die Mittel anzugeben, mit denen es sein Wille erreichen könnte.
Hätte also die Natur dem Menschen die Vernunft nur zum Zwecke
der Glückseligkeit gegeben, so würde sie ihre Veranstaltung dazu
sehr schlecht getroffen haben. Und um so schlechter, als selbst
dann noch nichts gebessert sein würde, wenn das erörterte Be-
i) Grundlegung zur M.
2) a. a. O. S. 49 R.
d. S. S. 23 R.
jO I^iß Bestimmung des Menschen.
denken nicht bestünde. Denn das, was der Mensch unter Glück-
seligkeit versteht, kann er auf Erden doch nie erringen. Ganz
einfach deshalb nicht, weil seine Natur als die eines nicht bloß
sinnlichen, sondern auch intelligiblen Wesens nicht von der Art
ist, »irgendwo im Besitze und Genüsse aufzuhören und befriedigt
zu werden« ^).
Hat er daher Vernunft und kann deren Aufgabe nicht darin
bestehen, seinen Willen zu einem guten Mittel für die Glück-
seligkeit und damit, da im Begriffe der Glückseligkeit alle mög-
lichen materialen Zwecke des Menschen zusammengefaßt
sind, auch nicht darin, ihn überhaupt für irgend etwas anderes
gut zu machen, so bleibt nichts übrig, als ihre eigentliche Be-
stimmung darin zu sehen, daß sie einen ohne weitere Absicht
schon für sich selbst guten Willen hervorzubringen hat.
So macht sich Kant vom reinen Eudämonismus los und gewinnt
die fundamentale These seiner Lebensphilosophie.
Inwiefern sich aber der Mensch durch diese seiner Vernunft
gestellte neue Aufgabe über das Tier erhebt, kann erst eine ge-
naue Bestimmung dieses guten Willens und seiner Voraussetzungen
zeigen.
Was dabei zunächst das erste angeht, so ist leicht ersicht-
lich, daß der schon an und für sich gute Wille nur ein solcher
sein wird, dessen Maxime zugleich und ohne mit sich selbst in
Widerspruch zu geraten, ein allgemeines Gesetz sein kann. Denn
für die Güte des Willens kann niemals der Erfolg, sondern immer
nur die Gesinnung in Betracht kommen, weil dadurch, daß ein
guter Wille, aber auch wirklich als guter, alles aufbietender Wille
und nicht als bloßer Wunsch, aus irgendwelchen äußeren Gründen,
sein Ziel nicht erreicht, seine Güte in keiner Weise berührt wird.
Durch den Ausschluß der Glückseligkeit als sein letztes Ziel
sind aber auch alle materialen Antriebe als Prinzipien
seiner Güte aufgehoben. Also bleibt nur ein formales Prinzip
übrig: die bloße Form einer allgemeinen Gesetzgebung. Der
Wille also wird unbedingt gut sein, der es sich zur Regel macht,
niemals anders zu handeln als so, daß seine Maxime jederzeit
zugleich Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung sein kann.
Ist aber das »die Formel eines schlechterdings guten Willens« ^),
so liegt auf der Hand, daß ein solcher Wille im Menschen nur
i) Kritik d. Urteilskraft S. 322 R.
2) Grundlegung zur M. d. S. S. 75 R.
Das Wesen des Menschen. II
unter zwei Voraussetzungen vorhanden sein kann. Einmal muß
sich der Mensch jener Regel oder, was auf dasselbe hinauskommt,
des Prinzips aller Sittlichkeit bewußt sein und sich ihm unter-
worfen fühlen, und außerdem muß er die Fähigkeit besitzen,
sich ihm zu fügen.
Ueber die erste Voraussetzung äußert sich Kant unter Be-
rufung auf den gesunden Menschenverstand, dessen Benutzung
im Praktischen und außerhalb der Metaphysik er auf Grund
der faktischen Leistungen desselben für völlig berechtigt erklärt.
In seiner Behandlung der Frage nach der Bekanntschaft des
Menschen mit dem Sittengesetze begegnet deshalb immer wieder
der Hinweis darauf, daß es jedem Menschen so naheliegt, als
ob es ihm buchstäblich ins Herz geschrieben wäre. Wieder und
wieder wird hervorgehoben, daß nicht nur der »gemeinste«, son-
dern auch der »eingeschränkteste« und »einfältigste« Mensch, ja
sogar schon das Kind, sobald es erst einmal Maximen des Willens
zu entwiickeln beginnt, seine Stimme hört^). Und das ist bei
Kants Auffassung desselben gar nicht überraschend. Als bloß
formales Prinzip muß das Sittengesetz eine Funktion der prak-
tischen Vernunft selbst sein und allen Wesen, die praktische
Vernunft haben, ursprünglich beiwohnen. Das moralische Gesetz,
heißt es darum auch 2), braucht nicht erst erfunden zu werden,
sondern ist in uns da und immer da gewesen, ist eine Urkunde,
die unauslöschlich in jeder Seele aufbehalten ist und vom Men-
schen unmittelbar mit dem Bewußtsein seiner Existenz ver-
knüpft wird. Daher bedarf es gar keiner besonderen wissen-
schaftlichen Bemühungen, um den Menschen von dem Vor-
handensein eines solchen Gesetzes zu überzeugen. Das Einzige,
was Wissenschaft und Philosophie tun können, im Interesse
der Sittlichkeit aber auch tun müssen, ist, daß sie das, was schon
ganz, aber noch unentwickelt in der Seele des Menschen vor-
handen ist, auf deutliche Begriffe oder auf seine Formel zu bringen
suchen, um durch diese Aufklärung über ihr Prinzip die , »dunkel
gedachte Metaphysik, die jedem Menschen in seiner Vernunft-
anlage beiwohnt«^), in ein deutliches Wissen zu verwandeln
und ihm so die Einsicht in die rein apriorische, also allgemeine
i) Vgl. Krit. d. pr. Vern. S. 35, 42 R. ; Grundl. z. M. d. S. S. 43 R.; WW.
VI S. 48, 181 Ak.-Ausg.
2) Vgl. Krit. d. pr. Vern. S. 127, 193; WW. VI S. 26*, 85, 183 Ak.-Ausg.
3) WW. VI S. 376 Ak.-Ausg.
12, Die Bestimmung des Menschen.
und notwendige Geltung des Sittengesetzes zu verschaffen, ohne
die es weder möglich ist, Sicherheit und Reinheit in die Moral
hineinzubringen, noch auch überhaupt reine moralische Gesin-
nungen zu bewirken und das angeborene sittliche Gefühl als
die Fähigkeit, am moralischen Gesetze ein Interesse zu nehmen, in
Bewegung und Kraft zu versetzen.
Diese wissenschaftliche Entwicklung des sittlichen Prinzipes
führt aber zu der Einsicht, daß es für den Menschen nicht ein
ihn unausbleiblich bestimmendes Gesetz bildet, sondern nur ein
ihn nötigendes Gebot, seine Formel also für ihn die eines Impera-
tivs ist. Das hängt mit der schon festgestellten Zwiespältigkeit des
Menschen zusammen. Wäre er ein bloßes Vernunftwesen, so würde
das moralische Gesetz^ als Funktion der reinen Vernunft seinen
Willen schlechthin bestimmen ; er würde vollkommen gut oder heilig
sein. Aber er ist zugleich ein Naturwesen oder ein Tier und als
solches allen möglichen sinnlichen Bestimmungsgründen unter-
worfen, die den Forderungen der Vernunft weder zu entsprechen
brauchen, noch auch wirklich entsprechen, sondern vielmehr
ein »mächtiges Gegengewicht« ^) gegen sie bilden. Diese Un-
voUkommenheit seines Willens bringt es mit sich, daß ihm das
Sittengesetz nötigend, also als Gebot in der Form eines Imperativs
entgegentritt, und zwar, da es Handlungen gebietet, die nicht
um irgendeines empirischen Zweckes willen geschehen sollen,
sondern als von der reinen und von allen empirischen Zwecken
und Bedingungen unabhängigen Vernunft gefordert für sich selbst
notwendig sind, in der eines unbedingt gebietenden oder kate-
gorischen Imperativs. Jedoch ist dabei eines nicht zu übersehen.
Wenn auch das Sittengesetz für den Menschen eine Nötigung
oder, was dasselbe ist, einen Zwang enthält, so kann dieser Zwang
kein äußerer, sondern nur Selbstzwang sein, d. h. eine innere
Nötigung zu dem, was man nicht ganz gern tut. Denn das Sitten-
gesetz ist eine Funktion der praktischen Vernunft; der Mensch
gibt es sich also als Vernunftwesen selbst. Es kann daher auch
der Zwang, den es für ihn enthält, nur ein solcher sein, den er
selbst auf sich ausübt. —
Aber das Sittengesetz ist in dieser Form des SoUens im ge-
meinen Menschenverstände nicht nur als Vorstellung oder Idee
überhaupt vorhanden. Der Mensch ist sich auch der schlecht-
hinnigen Notwendigkeit bewußt, die ihm als reinem Vernunft-
i) Grundl. zur M. d. S. S. 35 R.
Das Wesen des Menschen. Iß
prinzipe eigen ist; er weiß, daß er ihm und nur ihm unbedingten
Gehorsam schuldet. Dieses Bewußtsein tritt in ihm als eine
eigentümliche Art von Empfindung auf, die erst durch die Vor-
stellung des Sittengesetzes hervorgerufen wird, und sich somit
als ein selbstgewirktes Gefühl erweist, das von allen
durch Einfluß empfangenen Gefühlen spezifisch verschie-
den ist. Es kann im Gegensatze zu aller Lust und Unlust nur
als Gefühl der Achtung bezeichnet werden, d. h. als das Bewußt-
sein einer freien, also sinnlich unvermittelten, Unterwerfung
des Willens unter das Gesetz, die aber doch mit einem unver-
meidlichen Zwange verbunden ist, der allen Neigungen, aber
nur durch eigene Vernunft, angetan wird. Durch dieses selbst-
gewirkte Gefühl der Achtung also — mithin innerlich und völlig un-
abhängig von aller empirischen Bestätigung — ist sich der Mensch
der unbedingten Verbindlichkeit des Sittengesetzes für sein Han-
deln mit voller Deutlichkeit bewußt ; er fühlt sich verpflichtet, ihm
zu gehorchen. In dem gemeinen Begriffe der Pflicht, die nichts
anderes bedeutet als »die Notwendigkeit einer Handlung aus
Achtung fürs Gesetz« i), tritt ihm dieses Bewußtsein überall und
unmittelbar entgegen. »Jeder Mensch findet in seiner Vernunft
die Idee der Pflicht und zittert beim Anhören ihrer ehernen Stimme,
wenn sich in ihm Neigungen regen, die ihn zum Ungehorsam
gegen sie versuchen« ^), und gerade weil sich der Mensch in seinem
Urteile trotz aller Bemühung doch niemals ganz von der Vernunft
losmachen kann , gibt es keinen , der so verrucht wäre , daß er
bei der Uebertretung des Gesetzes nicht ohne weiteres einen
Widerstand in sich fühlte und eine Verabscheuung seiner selbst,
bei der er sich selbst Zwang antun muß. Als vernünftiges Wesen,
das er nun einmal ist, würde er sich der Vernunft, ja sogar des
Daseins, für unwürdig halten müssen, wenn er sich der Anerken-
nung dieses Gesetzes widersetzen wollte. Diese Unmittelbarkeit
aber und Unvermeidlichkeit, mit der das Sittengesetz ihn inner-
lich verbindet, hebt es einerseits über den Charakter eines bloßen
Postulates hinaus, macht es andererseits aber auch völlig un-
möglich und zugleich unnötig, es irgendwie zu beweisen. Man
kann und braucht es nicht aus irgendwelchen vorhergehenden
Datis der Vernunft abzuleiten, weil es unbedingt gebietet.
Man kann und braucht es aber ebensowenig durch Beispiele aus
1) Grundl. z. M. d. S. S. 29 R.
2) WW. VIII S. 402 Ak.-Ausg.
14 Die Bestimmung des Menschen.
der Erfahrung zu bestätigen. Denn ganz abgesehen davon, daß
in der Erfahrung niemals mit Sicherheit ein Beispiel dieses Ge-
setzes aufgewiesen werden kann, weil es beim moralischen Werte
einer Handlung nicht auf die Handlung ankommt, die man sieht,
sondern auf die Gesinnung, die man nicht sieht, und auch die
schärfste Selbstprüfung nicht die Gewißheit dafür zu geben ver-
mag, daß wirklich gar kein geheimer Antrieb der Selbstliebe vor-
handen ist — ist sie auch gar nicht imstande, zu der über die
Menschenwelt hinausreichenden und alle vernünftigen Wesen um-
fassenden Allgemeingültigkeit und absoluten Notwendigkeit zu
führen, die ihm als einem reinen Vernunftprinzipe zukommt. Das
Sittengesetz ist also überhaupt nicht zu begründen, sondern dringt
sich für sich selbst auf und »steht für sich selbst fest« ^). Das Be-
wußtsein dieses Gesetzes ist darum nichts anderes und nicht
weniger als ein Faktum, und zwar, da es nicht auf Anschauung,
weder reine noch empirische, sondern auf Vernunft gegründet ist,
ein, ja sogar »das einzige Faktum der reinen Vernunft« 2). »Denn
so kann man eine Willensbestimmung nennen, die unvermeidlich
ist, ob sie gleich nicht auf empirischen Prinzipien beruht«^).
Für Kant gibt es also nichts, was sicherer — und zwar unmittel-
bar — sicherer wäre als dieses, daß sich der Mensch des Sitten-
gesetzes bewußt ist und seine unbedingte Geltung anerkennt. —
Aber gut kann sein Wille erst werden, wenn er diesem Gesetze
auch zu folgen vermag. Und auch hier wird man_ noch zwei Mo-
mente auseinanderhalten müssen. Um dem Sittengesetze folgen zu
können, muß der Mensch einmal imstande sein, sich einem Ge-
setze dieser Art überhaupt zu unterwerfen und — da es in Sachen
der Sittlichkeit zuletzt aufs Handeln und beim Handeln immer
aufs Konkrete ankommt — muß er zweitens die Fähigkeit be-
sitzen, festzustellen, wie er sich im gerade vorliegenden Falle
zu benehmen hat.
Faßt man nun zunächst den ersten Gesichtspunkt ins Auge,
so liegt eine Befolgung des Sittengesetzes nicht schon dann vor,
wenn die Taten des Menschen nur äußerlich mit ihm überein-
stimmen. Eine derartige Kongruenz ist auch für Handlungen
möglich, die aus bloß selbstsüchtiger Neigung erfolgen, und die
haben mit Sittlichkeit nichts zu tun. Sie kommen alle auf eigene
Glückseligkeit hinaus, die im Gegensatz zu der in der Vernunft
i) Krit. d. pr. Vern. S. 57 R.
2) a. a. O. S. 37 R. u. ö. 3) a. a. O. S. 67 R.
Das Wesen des Menschen. ji
selbst begründeten Sittlichkeit nichts Allgemeingültiges und Not-
wendiges, sondern etwas bloß Relatives und Subjektives ist.
Von Sittlichkeit läßt sich somit erst dort sprechen, wo die Taten
nicht nur dem Sittengesetze gemäß sind, sondern auch bloß um
des Gesetzes willen, also aus der einzigen moralischen Triebfeder
heraus, die es gibt, aus Achtung vor dem Gesetze erfolgen. Und
Kant betont diese charakteristische Eigentümlichkeit des sitt-
lichen Handelns so stark, daß er auch jede Vermischung beider
Prinzipien aufs schärfste zurückweist. Hat er auch niemals daran
gedacht, durch die Forderung der Sittlichkeit vom Menschen zu
verlangen, seine Ansprüche auf Glückseligkeit aufzugeben, und
hat er sogar ausdrücklich darauf hingewiesen, daß es, um den An-
lockungen des Lasters das Gegengewicht zu halten, sogar ratsam
sein kann, auf die vielen Reize und Annehmlichkeiten des Lebens
hinzuweisen, die sich mit dem sittlichen Wohlverhalten verbinden
lassen und die wegen des zugrunde liegenden Bewußtseins erfüllter
Pflicht und der damit gegebenen Zufriedenheit sogar einen fröh-
lichen Lebensgenuß in Aussicht stellen, so ist es in seinen
Augen doch völlig unstatthaft, beim sittlichen Handeln, also in
dem Actus, in dem sich der Mensch als tugendhafter seiner Pflicht
unterwirft, irgendeine Rücksicht auf Glückseligkeit zu nehmen.
Dadurch würde die moralische Gesinnung in ihrer Quelle verun-
reinigt und aller Bestimmtheit und Festigkeit beraubt werden. Und
was immer auch das physische Leben bei einer Mischung gewinnen
möchte, das moralische würde ohne Rettung dahinschwinden.
Die Behauptung aber, daß die Natur des Menschen eine solche
Reinigkeit nicht zulasse, lehnt Kant mit größter Entschiedenheit
ab. Ihre Richtigkeit wäre »der Tod aller Moralität« ^), und ist im
übrigen auch niemals zu erweisen.
Im Gegenteil! Kant glaubt es über jeden Zweifel erheben
zu können, daß der Mensch wirklich zu einem solchen rein durch
die Idee des Sittengesetzes bestimmten Handeln imstande sei.
Und wieder ist es die teleologische Betrachtungsweise, die ihm
bei diesem Nachweise behilflich sein muß. Denn des Menschen
eigene Vernunft ist es, die ihm seine Pflicht vorschreibt. Seine
Vernunft aber ist ihm von der Natur zuerteilt, gebietet also nichts,
was zu leisten unmöglich wäre. Wenn er sich daher seines Ver-
mögens zu rein sittlichen Handlungen auch weder unmittelbar
bewußt zu werden vermag, noch es mittelbar durch Vernunft
I) WW. VIII S. 285 Ak.-Ausg.
j;5 Die Bestimmung des Menschen.
oder Erfahrung beweisen kann — denn die Vernunft kann nur
etwas Bedingtes als notwendig erweisen, während das sittliche
Tun etwas Unbedingtes ist, und in der Erfahrung läßt sich ein
sicheres Beispiel solchen Handelns nicht aufzeigen — , wenn ihm
also auch jede Möglichkeit genommen ist, dieses Vermögen theo-
retisch zu begreifen, so hat er doch das Recht, aus der unaufhörlich
in ihm ertönenden Stimme des kategorischen Imperativs zu schlie-
ßen, daß er es besitzt, daß er die Fähigkeit hat, auch für sich
• selbst praktisch zu sein und mit allen Kräften der Natur in sich
und um sich in Kampf zu treten und sie, wenn sie mit seinen sitt-
lichen Grundsätzen in Streit kommen, zu besiegen. Und dieses
Vermögen, diesen Vorsatz, einem starken, aber ungerechten
Gegner des sittlichen Gesetzes Widerstand zu leisten, diese »mo-
ralische Gesinnung im Kampfe« nennt Kant Tugend i). Der
Mensch kann also tugendhaft sein,, weil er es sein soll. Aus
dem Sollen folgt unumgänglich das Können. Und Kant nimmt
auch keinen Anstand zu behaupten, daß jeder Mensch im ge-
gebenen Falle, wenn er sich auch vielleicht nicht getrauen würde,
zu versichern, daß er seine Pflicht der Neigung faktisch vorziehen
werde, doch ohne Bedenken einräumt, daß es ihm möglich
sei, »Er urteilt also, daß er etwas kann, darum weil er sich be-
wußt ist, daß er es soll«^).
So ist die Fähigkeit des Menschen gesichert, dem Sitten-
gesetze überhaupt zu folgen. Aber er muß, wie gesagt, auch das
Vermögen haben, in jeder bestimmten Lage seine Pflicht zu tun,
und darum auch, sie zu erkennen. Das ist nun nach Kants Ueber-
zeugung außerordentlich einfach und leicht. Und gerade darin
findet er den großen Vorzug seiner Ethik vor jeder, die auf Glück-
seligkeit ausgeht. Denn zu erkennen, was dem Menschen dauern-
den Vorteil schafft, erfordert große Klugheit und umfassende
Weltkenntnis, aber »was Pflicht sei, bietet sich jedermann von
selbst dar« ^), Hier handelt es sich ja nur um Reinheit der Maxime,
und darüber wird sich jeder leicht orientieren können. Er hat
sich nur die Frage vorzulegen, ob die Maxime seiner Handlung
dem Sittengesetz entspricht, oder die Handlung selbst als Fall
desselben angesehen werden kann. Ergibt sich hier aber insofern
eine Schwierigkeit, als es unmöglich zu sein scheint, ein Gesetz,
das unbedingt gilt, auf Begebenheiten, die in der Sinnenwelt
I) WW, VI S. 380 Ak.-Ausg. 2) Krit. d. pr. Vern. S. 36 R.
3) Krit. d. pr, Vern, S. 44 R,; vgl. WW. VIII S. 287 Ak.-Ausg,
Das Wesen des Menschen.
17
geschehen — und das sind die Handlungen des Menschen —
anzuwenden, so hilft dem die Mittelstellung ab, welche das all-
gemeine Naturgesetz zwischen den konkreten Handlungen und
dem Sittengesetze einnimmt. Denn einerseits ist es auf Gegen-
stände der Sinne anwendbar, und andererseits stimmt es in der
Form der Gesetzmäßigkeit mit dem Sittengesetze überein, und
kann daher als Typus desselben verwendet werden. Die Frage,
die sich der Mensch zur Beurteilung des sittlichen Charakters
einer Handlung vorzulegen hat, nimmt daher die Form an, ob
er sie auch dann wollen kann, wenn sie nach einem Gesetze der
Natur geschähe, von der er selbst ein Teil wäre, oder ob er wollen
kann, daß ihre Maxime ein allgemeines Naturgesetz werde. Diese
Frage aber, deren Beantwortung objektive Schwierigkeiten nicht
mehr im Wege stehen, ist auch subjektiv leicht zu lösen, weil das
allgemeine Naturgesetz jedem aus seiner ständigen Anwendung
in der Erfahrung bekannt und geläufig ist. Sittlich-unmöglich
ist also eine Handlung, wenn ihre Maxime nicht so beschaffen ist,
daß sie an der Form eines Naturgesetzes überhaupt die Probe hält.
Und das wird der Fall sein, wenn sie zum allgemeinen Gesetz
erhoben entweder mit sich selbst in Widerspruch gerät, und da-
durch der Existenzbedingung einer Natur überhaupt widerstreitet,
oder aber den Forderungen eines vernünftigen oder eines vernünf-
tigen und zugleich bedürftigen Wesens, und damit den Existenz-
bedingungen einer aus vernünftigen und bedürftigen Wesen be-
stehenden Natur widerspricht. So wird z. B. die Maxime, ein
Versprechen zu geben, ohne es zu halten, zum allgemeinen Natur-
gesetz erhoben, jedes Versprechen illusorisch machen und damit
sich selbst aufheben; so wird die Maxime, seine Talente rosten zu
lassen und sich aufs Faulbett zu legen, kein allgemeines Natur-
gesetz werden können, weil sie mit dem Menschen als vernünftigem
Wesen in Widerspruch gerät, da er als solches notwendig will,
daß alle seine Vermögen entwickelt werden; und die Maxime,
andern in der Not nicht zu helfen, deshalb nicht, weil es Fälle
geben kann, in denen er als bedürftiges Wesen auf die Hilfe an-
derer angewiesen ist, auf die er aber niemals rechnen kann, sobald
diese Maxime Gesetz einer alle Menschen umfassenden Gemein-
schaft würde. Die Eignung einer Maxime zu einem solchen Gesetz
ist darum der Kanon der moralischen Beurteilung seiner Hand-
lungen überhaupt.
Die Sicherheit aber, daß er richtig urteilt oder geurteilt hat,
Goedeckem eyer, Kants Lebensanschauung. 2
j3 Die Bestimmung des Menschen.
verleiht ihm das Gewissen. Denn das ist in Kants Augen nichts
anderes als die praktische Vernunft selbst, die über unsere Hand-
lungen richtet und deren Urteil wir uns als vernünftige Wesen
trotz aller Mühe nicht entziehen, das wir aber auch nicht verfäl-
schen können, weil sie unbestechlich ist. Sie ist der »Richter in
unserem Innern«, sie ist es, die den Menschen »wider und für sich
selbst zum Zeugen aufstellt«, und weil sie nichts Erworbenes und
daher Relatives, sondern etwas Ursprüngliches und darum Abso-
lutes ist, so wie sie unwillkürlich und unvermeidlich urteilt, auch
niemals irren kann '^) . —
So ist also die Ueberzeugung, daß der Mensch die Fähigkeit
besitzt, tugendhaft zu sein, nach beiden in Frage kommenden
Gesichtspunkten hin begründet. Und sie führt Kant nun auch
zu der Eigenschaft desselben, die ihn nicht nur wie der Besitz
der Vernunft vom Tiere unterscheidet, sondern ihn über alle
Tierheit erhebt. Denn von der Fähigkeit, sittlich zu handeln,
kann, da der Begriff der Sittlichkeit die Unabhängigkeit von allen
empirischen Motiven involviert, nur dann gesprochen werden,
wenn sich der Mensch in seinem Handeln zwar nicht von der
Affizierung durch wo auch immer herkommende lusterregende
Motive, denen er als natürliches Wesen stets ausgesetzt ist, los-
^ machen kann, wohl aber von ihrem bestimmenden oder nötigenden
Einfluß, m. a. W., wenn sein Wille frei ist. Denn nichts anderes als
Unabhängigkeit des vernünftigen Willens von »allem Empirischen
und also von der Natur überhaupt« 2) als bestimmender
oder nötigender Bewegursache seiner Handlungen ist es,
was Kant zunächst unter Freiheit, genauer unter dem negativen
Begriff der Freiheit versteht.
Aber mit diesem — ersten — Begriffe der Freiheit ist es noch
nicht getan. Würde man die Freiheit des Menschen lediglich in
dieser Weise definieren können, so wäre damit der Vernunft nur
die Fähigkeit abgesprochen, in der Welt der Erscheinungen wirk-
sam zu sein, deren Geschehnisse dem Kausalgesetze unterstehen,
und daher sämtlich durch empirische Ursachen zustande kommen
müssen. Das wäre aber viel mehr als man beabsichtige kann;
jedes tugendhafte Handeln in der sinnlichen Welt würde dadurch
vernichtet werden. — Weiterzukommen ist daher nur, wenn es
gelingt, die Freiheit positiv zu bestimmen und sie in diesem Sinne
dem Menschen zuzuweisen.
I) Vgl. WW. VI S. 437 ff. Ak.-Ausg. 2) Krit. d. pr. Vern. S. 117.
Das Wesen des Menschen.
19
Diese Bestimmung ergibt sich für Kant aus dem negativen
Begriffe auf folgendem Wege. Der Wille ist das Vermögen, seinen
Vorstellungen entsprechende Gegenstände entweder hervorzubrin-
gen oder sich zu ihrer Hervorbringung zu bestimmen ^). Als
solches ist er aber eine Art von Kausalität, und die Freiheit als
seine positive Eigenschaft eine besondere Modifikation dieser
Kausalität. Im Gegensatz zur negativen Freiheit als der bloßen
Unabhängigkeit des Handelns von fremden bestimmenden Ur-
sachen kann man sie als das Vermögen bezeichnen, für sich selbst
pr9.ktisch zu sein, d. h. seine Wirkungen in der Sinnenwelt ganz
von selbst anzufangen, m. e. W. als absolute Selbsttätigkeit.
Doch bedeutet das für Kant noch nicht völlige Grundlosigkeit
und Zufälligkeit der Handlung. »Sich als ein frei handelndes
Wesen und doch von dem einem solchen angemessenen Gesetze
entbunden denken, wäre soviel, .als eine ohne alle Gesetze wirkende
Ursache denken: welches sich widerspricht« ^). Wie alle Kausalität
weist also auch die Kausalität durch Freiheit auf eine Regel
zurück, die nun natürlich nicht in dem für das Gebiet der Sinnen-
welt geltenden Naturgesetze gefunden werden kann, weil dem
der negative Begriff der Freiheit entgegensteht, sondern nur im
Willen als praktischer Vernunft selbst enthalten sein kann und ein
inneres Prinzip desselben bilden muß. M. a. W. der von äußeren
Gesetzen oder fremden bestimmenden Ursachen unabhängige und
dennoch einer Regel unterworfene Wille muß autonom sein.
Nun ist aber das einzige Gesetz, das sich der Wille selbst gibt,
das Sittengesetz. Ein im positiven Sinne freier Wille ist daher
ein Wille unter sittlichen Gesetzen, und positive Freiheit ein
rein »praktischer Begriff«^), der nichts anderes als Bestimmung
des Willens durch das eigene Gesetz bedeutet.
Ist aber das die Definition der Freiheit im positiven Sinne,
so kommt für den alle Tierheit überragenden Wert des Menschen
jetzt alles darauf an, zu entscheiden, ob man ihm eine solche
Freiheit wirklich zuschreiben kann.
Dabei ergeben sich freilich nicht unbedeutende Schwierig-
keiten. Zunächst nämlich steht fest, daß diese Freiheit in der
sinnlichen Welt nicht angetroffen werden kann. Die ganze Welt
des äußeren und des inneren Sinnes untersteht der Zeit; alles,
was hier geschieht, geschieht in der Zeit. Für alles aber, was in
i) Vgl. Krit. d. pr. Vern. S. 15.
2) Vgl. WW. VI S. 35 Ak.-Ausg. 3) WW. VI S. 227 Ak.-Ausg.
2*
20 Die Bestimmung des Menschen.
der Zeit geschieht, gilt das Naturgesetz der Kausalität, das aus-
sagt, daß jedes Ereignis mit einem vorhergehenden notwendig
verknüpft ist. Jede Begebenheit in der Sinnenwelt ist also durch
das, was vorherging, notwendig bestimmt, so daß sie, da die
Vergangenheit nicht mehr in des Menschen Gewalt ist, aus Grün-
den, die nicht in des Menschen, sondern in der Gewalt der Natur
stehen, notwendig folgt. Von Freiheit des Handelns kann also
hier keine Rede sein. Daraus ergibt sich nun die für Kants ganze
Lebensanschauung einschneidendste These, daß, wenn die sinn-
lichen Dinge das Einzige wären, was existierte, angesichts der
Unnachlaßlichkeit des Kausalgesetzes an die Existenz der Freiheit
nicht einmal gedacht werden könnte. »Sind Erscheinungen Dinge
an sich selbst, so ist Freiheit nicht zu retten«^). Sie würde als
ein nichtiger und unmöglicher Begriff verworfen werden müssen.
Doch glaubt Kant der von hier aus der Freiheit drohenden
Gefahr mit Hilfe seiner Lehre von der Idealität des Raumes und
der Zeit leicht entgehen zu können. Sind Raum und Zeit, wie
er — allerdings zu Unrecht — in der Kritik der reinen Vernunft
nachgewiesen zu haben meint, nichts Reales, sondern bloße For-
men unseres äußeren bzw. inneren Sinnes, in die alles eingehen
muß, was unsere Sinnlichkeit affiziert, so können die uns durch
die Sinne gegebenen Objekte keine Dinge an sich, sondern müssen
»bloße Vorstellungen« oder Erscheinungen sein.
Aber damit ist in seinen Augen zugleich erwiesen — und
das ist das Wesentliche — , daß sie nicht das einzig Wirkliche
sind. Als Erscheinungen müssen sie — das hörten wir schon ^) —
Erscheinungen von Etwas sein. Und dieses Etwas kann als Grund
der Erscheinungen nicht selbst wieder Erscheinung sein, sondern
muß »hinter den Erscheinungen« 3) liegen, d. h. es muß als in-
telligible — als intelligibel bezeichnet Kant an einem Gegenstande
der Sinne das, was selbst nicht Erscheinung ist ^) — Ursache
der Phänomene oder als Ding an sich gefaßt werden. Dinge
an sich gehören aber dem Gebiete an , in dem nichts g e-
schiebt; sie unterliegen nicht der Zeit und damit auch nicht
dem Gesetze der Naturnotwendigkeit. Ihr Gebiet ist also das-
jenige, in dem man die Freiheit im positiven Sinne wenigstens
suchen kann.
i) Krit. d. rein. Vern. S. 431. 2) S. .6.
3) Grundl. z. M. d. S. S. 91 R.
4) Krit. d. rein. Vern. S. 432 R.
Das Wesen des Menschen. 21
Indes sind hierdurch auch für Kant noch nicht alle Bedenken
zerstreut, die der Annahme der Freiheit entgegenstehen. Läßt
man die intelligible Ursache der Erscheinungen ihre Wirkung
in der Sinnenwelt auch »von selbst« anfangen, so untersteht
diese Wirkung als Teil der Erscheinungswelt doch zugleich dem
die ganze phänomenale Welt beherrschenden Naturgesetze, dem-
gemäß sie die notwendige Folge vorangegangener Veränderungen
ist. Dieselbe Wirkung, dieselbe menschliche Handlung muß also
sowohl für frei als auch für naturgesetzlich bestimm^^ gehalten
werden. Das aber kann angesichts des kontradiktorischen Gegen-
satzes, in dem die Begriffe von Freiheit und Naturnotwendigkeit
miteinander stehen, nur als »äußerst subtil und dunkel erschei-
nen« ^).
Aber auch dieser Schwierigkeit glaubt er Herr werden zu
können, und zwar einfach durch den Hinweis auf die Verschieden-
heit des Standpunktes, den man im einen und im andern Falle
einnimmt. Erklärt man die Handlung für notwendig, so be-
trachtet man das handelnde Subjekt als Erscheinung. Aber
bei aller seiner Zugehörigkeit zur Sinnenwelt ist der Mensch
doch zugleich auch Ding an sich! Als solches aber besitzt er
eine Kausalität, die unter keinen empirischen Bedingungen steht,
sondern völlig ursprünglich und unbedingt ist, deren in der Sinnen-
welt erscheinende Wirkungen daher auch als frei bezeichnet wer-
den müssen. Es würde also möglich, d. h. ohne Wider-
spruch sein, dieselbe Wirkung sowohl als notwendig als auch als
frei anzusehen, je nachdem man sie mit ihrer sinnlichen oder
mit ihrer intelligiblen Ursache zusammenhält, d. h. je nachdem
man sie auf den Menschen als Erscheinung oder als Ding an sich
bezieht.
Aber auch wenn man diese ohne Frage recht bedenkliche
Konstruktion, die durch den wiederholten Hinweis auf die Un-
begreiflichkeit der Freiheit keineswegs gebessert wird, akzeptiert,
ist noch nicht alles in Ordnung. So wichtig es auch ist, daß
durch diese Erwägungen nach Kants Meinung die Denkbarkeit
der Freiheit gewonnen ist , dem sittlichen Leben ist doch erst
dann gedient, wenn gezeigt werden kann, daß sie »dem mensch-
lichen Willen in der Tat zukomme« 2).
Nun liegt es von vornherein auf der Hand, daß sich dieser
i) Krit. d. rein. Vern. S. 431 R.
2) Krit. d. pr. Vern. S. 15 R.
22 Die Bestimmung des Menschen.
Nachweis nicht auf Grund irgend einer Erfahrung führen läßt.
Als Eigenschaft des Menschen als intelligiblen Wesens, mithin
als übersinnliche Bestimmung derselben, ist die Freiheit kein
psychologisches Prädikat, das durch eine empirische Unter-
suchung irgendwelcher Art festgestellt werden könnte. Dann
aber ist sie theoretisch überhaupt nicht zu beweisen, ja nicht
einmal zu begreifen. Denn alle theoretische Erkenntnis muß
sich auf Erfahrung stützen. Kann sie aber auch nicht ohne jeden
Beweis angenommen werden, so bleibt nichts anderes übrig, als
sie aus praktischen Vernunftsätzen abzuleiten. Nun muß man
aber auch hier noch zwischen technisch- und moralisch-prak-
tischen Sätzen unterscheiden, zwischen solchen, die lediglich an-
geben, was zu geschehen hat, wenn ein bestimmter Zweck erreicht
werden soll, und solchen, die etwas unbedingt, also ohne Rück-
sich auf eine bestimmte Absicht, fordern. Und da nun von diesen
beiden die technisch-praktischen, die auf sinnlich bedingte Zwecke
gehen, wiederum auf Erfahrung beruhen, so bleibt für die Sicher-
stellung der Freiheit nichts anderes übrig, als von dem moralisch-
praktischen Vernunftsatze, dem Sittengesetze, auszugehen. Das
Gebot der Sittlichkeit bildet den einzigen Erkenntnisgrund für
die Realität der Freiheit.
Aus ihm aber leitet Kant die gewünschte These auf folgendem
Wege ab. Sobald man das Sittengesetz deutlich denkt, so sagt
er^), erkennt man, daß der positive Begriff der Freiheit bereits
in ihm enthalten ist. Freiheit in diesem Sinne bedeutete nichts
anderes als das Vermögen der empirisch unbedingten Selbstbestim-
mung oder Bestimmung des Willens durch das selbst gegebene
Gesetz. Das einzige Gesetz aber, das sich der Mensch selbst
gibt, ist das Sittengesetz. Es involviert daher die Freiheit als
seinen Seinsgrund. Denn soll der Mensch sich selbst ein Gesetz
geben, so muß er frei sein. Daraus aber folgt, daß das moralische
Gesetz nicht bloß die Möglichkeit der Freiheit, sondern auch
ihre Wirklichkeit beweist. Allerdings — und das ist ein Punkt,
der für die Beurteilung der Lebensphilosophie Kants alle Be-
achtung verdient — nur für Wesen, die dieses Gesetz als für sich
verbindend anerkennen. Das aber tun, wie er nachgewiesen zu
haben glaubt ^), alle Menschen als praktische Vernunftwesen.
Dann aber können sie gar nicht anders handeln, als unter der
i) Vgl. Krit. d. pr. Vern. S. 2 *, 34 R. ; WW. VIII S. 418 Ak.-Ausg.
2) S. 12 f.
Das Wesen des Menschen. 23
Idee der Freiheit, und sind darum in praktischer Rück-
sicht wirklich frei. So kommt nach Kant dem Menschen
die positive Freiheit, weil sie Voraussetzung des über jeden Zweifel
erhabenen kategorischen Imperativs ist — ganz gleichgültig, daß
sie sich theoretisch weder beweisen noch auch begreifen läßt — ,
als Eigenschaft eines Willens mit völliger Sicherheit wenn auch
nur in praktischer Hinsicht zu. Und so verstanden kann sie
trotz ihrer theoretischen Unbegreiflichkeit auch nicht einmal für
ein Geheimnis gehalten werden, weil ihr Dasein nach genügen-
der Vorbereitung jedermann klargemacht werden kann, da wenig-
stens ihr Gesetz hinreichend erkannt ist. Ja, sofern die von der
Vernunft kategorisch geforderten sittlichen Handlungen, als deren
Voraussetzung sich die Freiheit erwiesen hatte, in der Sinnen-
welt wenigstens möglich sind, es also von den Wirkungen der
Freiheit eine, wenn auch nur mögliche Erfahrung gibt, glaubt
Kant sie sogar als Tatsache bezeichnen zu dürfen ^) . —
Mit dieser Eigenschaft der Freiheit ist nun das Moment
gewonnen, das dem Menschen einen entschiedenen Vorzug vor
allen Tieren verleiht. Sie macht es gewiß, daß seine Vernunft
nicht bloß dazu da ist, unter der Herrschaft der Naturgesetze
»Dienerin« seines natürlichen Strebens nach Glückseligkeit zu
sein, sondern auch imstande, im Felde der Erfahrung durch Ideen
selbst wirkende Ursache zu sein. Eben damit aber führt sie
zu der Einsicht, daß der Mensch nicht nur ein mit Vernunft be-
gabtes Sinnenwesen ist, sondern — wenigstens in prak-
tischer Rücksicht — auch als ein Subjekt angesehen werden
muß, dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind, d. h. als
ein moralisches Wesen. Und das eben ist es , was
ihn über alle Tierheit erhebt. Ist er daher auch ein bedürftiges
Sinnenwesen und als solches nur auf seine Glückseligkeit be-
dacht, so ist er doch nicht so ganz Tier, daß er seine Vernunft
lediglich als Werkzeug zur Befriedigung seiner sinnlichen Be-
dürfnisse zu gebrauchen suchte; als freies Wesen hat er sie noch
zu einem höheren Zwecke bekommen, dazu nämlich, auch das,
was sie für sich selbst sagt, nicht nur mit in Erwägung zu ziehen,
sondern es von der auf sein Wohl gerichteten Betrachtung gänz-
lich zu unterscheiden und wegen seiner absoluten Geltung sogar
zur obersten Bedingung aller Glückseligkeit und alles Stre-
bens nach ihr zu machen.
i) Vgl. Krit. d. Urteilskraft S. 370 R.
24 Die Bestimmung des Menschen.
Aber diese Annahme der Freiheit als fundamentaler Eigen-,
Schaft des Menschen führt in ihren Folgen noch zu einer neuen
Beleuchtung seines Wesens. Dadurch, daß er sich als frei be-
trachtet, ist er, wie wir schon gesehen haben ^), genötigt, sich trotz
seiner Zugehörigkeit zur Sinnenwelt zugleich, also schon hier
und jetzt, als Glied einer nur intelligiblen Welt oder einer über-
sinnlichen Natur anzusehen. Nun ist aber Natur im allgemeinsten
Sinne die Existenz der Dinge in einer gesetzmäßigen Ordnung.
Also muß auch in der übersinnlichen Welt — und das ist das
einzig Positive, was wir von ihr erkennen können — eine Gesetz-
mäßigkeit und eine bestimmte Ordnung herrschen. Und deren
Kenntnis wird es sein, die das Wesen des Menschen noch weiter
zu bestimmen erlaubt.
Wegen der prinzipiellen Verschiedenheit der intelligiblen Welt
von der sinnlichen können die dort herrschende Gesetzlichkeit
und die dort bestehende Ordnung nicht dieselben sein wie die
der Sinnenwelt, wie die bloße Natürgesetzlichkeit also oder die Ord-
nung der wirkenden Ursachen. Welche es aber positiv gesprochen
sind, das wird sich zunächst hinsichtlich der Gesetzlichkeit aus
folgender Ueberlegung ergeben.
Was den Gedanken einer intelligiblen Welt überhaupt nötig
machte, war die Spontaneität des Menschen. Mit eigener Kausali-
tät aber konnte sie dem Menschen nur in praktischer Rücksicht
zugesprochen werden, d. h. sofern er durch bloße Vernunft tätige
Ursache oder — was auf dasselbe hinauskommt — reiner Wille
war. Nur als reiner Wille also kann sich der Mensch positiv in die
intelligible Welt versetzen, und in diesem Willen allein hat er
darum auch sein »eigentliches Wesen« oder das zu sehen, was
an ihm Ding an sich ist ^) . Von diesem Willen aber geht nur ein
Gesetz aus: das moralische. Das muß es daher auch sein, das
in der übersinnlichen Welt herrscht und ihr Grundgesetz aus-
macht.
Aus der Einsicht aber, daß sich der Mensch nur als reiner
Wille in eine intelligible Welt hineindenken kann, ergibt sich
nun für Kant auch die Bestimmung der dort bestehenden Ord-
nung. Allerdings genügt es dazu nicht, diesen vom bloßen Be-
gehrungsvermögen noch verschiedenen Willen lediglich als das
Vermögen zu fassen, sich selbst und unabhängig von Natur-
instinkten zum Handeln zu bestimmen ; man muß noch eine andere
I) S. 20 f. 2) Vgl. Grundleg. z. M. d. S. S. 99 f. R.
Das Wesen des Menschen.
25
Seite desselben in Rücksicht ziehen. Man muß beachten, daß der
sittliche Wille trotz aller Unabhängigkeit von Gegenständlichen
als seinem Bestimmungsgrunde, doch eine Materie oder
einen Gegenstand überhaupt haben muß, der dann auch
als sein Zweck zu bezeichnen ist, trotzdem dasjenige, was wir
Zweck nennen, »jederzeit der Gegenstand einer Zuneigung« ^) ist.
Daß sich die Sache aber faktisch so verhält, läßt sich aus
dem Gesetze des sittlichen Handelns allein nicht ableiten. Die
Moral als solche bedarf einer Zweckvorstellung nicht. Ihre Ge-
setze gebieten schlechthin, und sie nötigen, wie schon gesagt ^),
sogar dazu, bei der jeweiligen Erfüllung seiner Pflicht von dem
Gedanken an den Erfolg gänzlich zu abstrahieren. Muß trotz-
dem von einem Zwecke auch des sittlichen Wollens gesprochen
werden, so muß der Grund davon anderswo als im moralischen
Gesetze liegen. Kant findet ihn in letzter Linie im Wesen des
Willens. Wie man nicht überhaupt handeln kann, sondern immer
etwas Bestimmtes tun muß, so kann man auch nicht schlecht-
h i n wollen , sondern muß etwas wollen. Keine Willens-
bestimmung kann ohne alle Wirkung und damit auch nicht ohne
die Vorstellung einer Wirkung sein. Und diese Vorstellung denkt
sich nun der Mensch, wenn auch nich'' als Bestimmungsgrund,
so doch als Folge zu der von ihm beabsichtigten Handlung hinzu
und muß sie hinzudenken, weil eine Willkür, die zwar angewiesen
wäre, wie, nicht aber auch wohin sie zu wirken habe,
»sich selbst nich^" Genüge tun kann«^). Darum ist es, wie viel-
leicht auch aller anderen Weltwesen, so jedenfalls eine Natur-
eigenschaft oder »eine von den unvermeidlichen Einschränkungen
des Menschen und seines praktischen Vernunftvermögens, sich
bei allen Handlungen nach dem Erfolg aus denselben umzusehen,
um in diesem etwas aufzufinden, was zum Zweck für ihn dienen . . .
könnte«*). Er hat trotz aller Unbedingtheit der Geltung des
Sittengesetzes doch auch als moralisches Wesen Gegenstände
seines Handelns oder Zwecke, auf die seine freien Handlungen
als auf ihre Objekte gerichtet sind. Da er sich diese Zwecke aber
als moralisches Wesen setzt, so handelt es sich dabei nicht mehr
um solche, die er sich nach sinnlichen Antrieben seiner Natur
macht, sondern um solche, die er sich nach Gesetzen seiner
i) Religion usw. S. 7 A. R. 2) S. 14 f.
3) Religion usw. S. 5 R.
4) a. a. O. S. 7 A.
20 Die Bestimmung des Menschen.
praktischen Vernunft machen soll, nicht um relative, son-
dern um absolute Zwecke.
Und noch eine weitere Differenz kommt hinzu. Sind die
von seinen Neigungen bestimmten Zwecke von der Art, daß er
sie durch seine eigenen Kräfte erst zu verwirklichen sucht, hängt
darum aber auch die Güte des auf sie gerichteten Wollens ganz
von dem Grade ab, in dem es sein Ziel zu erreichen vermag, so
muß es sich mit den sittlichen oder absoluten Zwecken auch in
dieser Hinsicht anders verhalten. Denn der sittliche Wille soll
unbedingt gut sein, darf also in seiner Güte nicht von der Ver-
wirklichung irgendeines Zweckes abhängig sein. Der Zweck, den
er sich dennoch setzt und setzen muß, kann also nicht ein erst
zu bewirkender sein, sondern muß schon unabhängig von jedem
Tun existieren, muß ein »selbständiger Zweck« sein, der nicht
als positives Ziel, sondern als negative Schranke zu denken ist,
oder als etwas, dem niemals zuwidergehandelt werden darf, das
also niemals bloß als Mittel, sondern jederzeit zugleich als Zweck in
jedem Wollen geschätzt werden muß ^).
Sucht der Mensch aber diesen Begriff des absoluten und
seine Handlungen bloß einschränkenden Zwecks mit einem In-
halt zu erfüllen und tritt zu dem Ende mit seiner Fähigkeit der
Zwecksetzung nach moralischen Gesichtspunkten an die Dinge
in der Welt heran, so wird er sich eines wichtiges Unterschiedes
zwischen ihnen bewußt, der dann auch zu der Bestimmung der
in der intelligiblen Welt herrschenden Ordnung führt. Denn
während in der ganzen Schöpfung alles, worüber er etwas vermag,
auch bloß als Mittel gebraucht werden kann, verhält es sich mit
ihm selbst anders. Wegen der ihm als Subjekt des moralischen
Gesetzes zukommenden Freiheit und Autonomie muß sich ihm
gegenüber jeder Wille soweit einschränken, daß er mit seiner
Freiheit übereinstimmen kann und ihn keiner Absicht unter-
wirft, die nicht nach einem Gesetze möglich wäre, das aus dem
Willen des leidenden Subjektes selbst zu entspringen vermöchte,
dem es nicht selbst zustimmen könnte. Um dieser seiner Freiheit
und Autonomie willen darf also kein Mensch als bloßes Mittel
benutzt, sondern muß — und zwar nicht nur von sich selbst und
von anderen seinesgleichen, sondern auch von Gott — jederzeit
zugleich als Zweck betrachtet werden. Der Mensch allein ist
also absoluter Zweck.
i) Vgl. Grundleg. z. M. d. S. S. 75 R.
Das Wesen des Menschen.
27
Als Zwecke an sich selbst stehen nun aber alle vernünftigen
Wesen unter dem Sittengesetze. Dadurch nun werden sie zu
einem Reiche zusammengefaßt. Denn ein Reich bedeutet die
systematische Verbindung vernünftiger Wesen durch gemein-
schaftliche Gesetze. Und da sie als Zwecke an sich selbst und
mitsamt den Zwecken, die sie sich setzen mögen, zu dieser Ver-
bindung vereinigt werden, so ist das Reich, das so entsteht, ein
Reich der Zwecke, und die Ordnung, die hier gilt, eine Ordnung
der Zwecke, d. h. eine solche, in der die in sie eingehenden Faktoren
als Mittel und Zwecke aufeinander bezogen werden. Die Ord-
nung, die in der intelligiblen Welt besteht, ist also keine andere
als die Kausalverknüpfung der Endursachen oder die Ordnung
dei Zwecke.
Aus dieser Erkenntnis, daß der Mensch als intelligibles Wesen
zu einer Ordnung der Zwecke gehört, ergibt sich nun auch die
Einsicht in sein Wesen, auf die Kant das allergrößte Gewicht
legt und in deren Konsequenz seine Ausführungen über das Wesen
des Menschen erst ihre Vollendung erhalten. Im Reiche der
Zwecke hat alles entweder einen Preis oder eine Würde. Jenes,
wenn es durch etwas anderes als Aequivalent ersetzt werden kann,
dieses, wenn das nicht möglich ist. Für den Menschen gilt, daß
er Würde hat. Denn aller Wert wird im Reiche der Zwecke durch
das moralische Gesetz bestimmt. Darum hat es selbst einen un-
bedingten und unvergleichbaren Wert. Eben das muß dann in
abgeleiteter Weise auch von dem gelten, was der Sittlichkeit
fähig ist, genauer ausgedrückt von dem, was sich in seinen
Handlungen einem selbstgegebenen Gesetze unterwirft, dem Men-
schen als moralischem oder autonomem Wesen, in einem Worte
als Persönlichkeit. Denn wenn er auch insofern keine Würde
besitzt, als er dem moralischen Gesetze unterworfen ist,
so doch insofern, als er selbst sich dieses Gesetz gibt, sich ihm
daher nur als einem selbstgegebenen unterwirft. Denn das ist
die Idee der Würde .eines vernünftigen Wesens, daß es keinem
Gesetze gehorcht als dem, das es zugleich selbst gibt. So ver-
leiht dem Menschen seine Autonomie auch noch einen »Zweck-
vorzug« ^) vor allen anderen Weltwesen und verschafft ihm einen
Wert, der ihn vor allen Geschöpfen adelt, eine Erhabenheit seiner
Person, mit der verglichen die Beschaffenheit seines Z u-
Standes als etwas gänzlich Indifferentes erscheint. Aber weil
i) Grundl. z. M. d. S. S. 68 R.
23 I^ie Bestimmung des Menschen.
es die freie Unterwerfung unter das Sittengesetz ist, der er diese
Würde verdankt, darum kann sie ihm auch niemals von einem
andern verHehen werden; nur er selbst kann sie sich geben.
Tut er das aber, dadurch daß er auf dem Posten, auf dem
er steht, in dem früher i) festgelegten Sinne seine Pflicht erfüllt,
so hat er ebenso wie jedes andere Vernunftwesen, das sich ebenso
verhält, Anspruch auf eine besondere Art der Schätzung, die
durch keinen anderen Ausdruck bezeichnet werden kann als
durch den, der auch für die Schätzung des Sittengesetzes galt,
den Ausdruck der Achtung. Durch seine Würde also wiid er für
alle vernünftigen Weltwesen ein Gegenstand der Achtung, und
ist dadurch zugleich berechtigt, sich mit jedem andern zu mes-
sen und auf den Fuß der Gleichheit zu schätzen. Denn wenn je-
mand nur seine Pflicht tut, so ist kein Grund dafür abzusehen,
daß i h m bloß die Pflicht zu gehorchen, einem andern dagegen
das Recht zu befehlen zukommen sollte. Solchen Ueberlegungen
verdankt Kants berühmtes Wort über Rousseau seinen Ursprung:
»Es war eine Zeit, da ich glaubte, der ganze Durst nach Erkenntnis
und die begierige Unruhe, darin weiterzukommen, könnte die
Ehre der Menschheit ausmachen, und ich verachtete den Pöbel,
der von nichts weiß. Rousseau hat mich zurechtgebracht. Dieser
verblendete Vorzug verschwindet, ich lerne die Menschen ehren« ^).
So tritt zur Freiheit vermittels der erfüllten Pflicht, die sie erst
möglich macht, als ihre Konsequenz die Gleichheit hinzu.
Damit ist das Wesen des Menschen festgelegt. Es hat sich
herausgestellt, daß er eine von den übrigen auf Erden lebenden
Wesen sehr wohl zu unterscheidende Klasse bildet. Während
alle andern nur Maschinen sind, die als bloße Sinnenwesen
schlechthin dem Prinzip der Naturkausalität unterliegen und
in ihrer Willkür objektiv allein durch sinnliche Eindrücke
und subjektiv durch das Gefühl der Lust und Unlust nicht bloß
affiziert, sondern nezessitiert werden, ist der Mensch trotz aller
seiner Zugehörigkeit zur Sinnenwelt nicht nur schon als Naturwesen
darin vom Tiere verschieden, daß er Verstand und Ver-
nunft besitzt und sich mit ihrer Hilfe Vorstellungen von dem,
was auf entferntere Art nützlich oder schädlich ist, machen oder
Zwecke setzen kann, mit denen er die gerade gegenwärtigen Ein-
drücke auf sein sinnliches Begehrungsvermögen zu überwinden
vermag, sondern erhebt sich, was weit wichtiger ist, dadurch
I) S. 14 f. ' 2) WW. VIII. S. 624 Hart.
Das Weltbeste.
29
unendlich über alle Tierheit, daß er in praktischer Rücksicht
als ein Wesen zu betrachten ist, das die Fähigkeit hat, sich un-
abhängig von allen empirischen Triebfedern und ohne Voraus-
setzung irgendeines Gefühls der Lust oder Unlust von selbst zu
bestimmen, m. a. W. als ein Wesen, das frei ist und, sofern es
von dieser Freiheit Gebrauch macht, zugleich das Recht hat, sich
allen andern freien Wesen gleichzustellen.
3. Das Weltbeste.
Aus der Eigentümlichkeit des Menschen muß sich nun seine
Bestimmung ergeben.
Jedoch ist, dies Ergebnis zu erhalten, noch eine weitere
Erwägung erforderlich, die es mit der Stellung des Menschen im
Ganzen der Natur zu tun hat. Sieht man nämlich die Natur,
wie es ein vernunftgemäßes Urteilen verlangt ^), als ein teleo-
logisches System an, dann ergibt sich mit Notwendigkeit der
Begriff eines Endzwecks in ihm. Denn da ein solches System
nur von einer verständigen Ursache herrühren kann, die nach
Absichten wirkt, so muß sie auch auf einen Abschluß der Kette
der einander untergeordneten Zwecke bedacht gewesen sein.
Dieser Endzweck der Schöpfung kann aber als ein nicht weiter
mehr bedingter Zweck, nur ein solches Naturwesen sein, das den
Zweck seiner Existenz in sich selbst hat. Das ist allein der Mensch.
Aber auch er nicht schon als sinnliches, sondern erst als Ver-
standeswesen oder als das einzige Wesen in der Welt, das sich
selbst Zwecke zu setzen vermag, und auch jetzt noch nicht als
Verstandeswesen schlechthin, sondern nur unter der Bedingung,
daß er die Zwecke, die er sich setzt, dem moralischen Gesetze
unterordnet, m. a. W. der Mensch als moralisches Wesen. Denn
das Prinzip der Moralität ist »das einzige Mögliche in der Ord-
nung der Zwecke, was in Ansehung der Natur schlechthin un-
bedingt ist und ihr Subjekt dadurch zum Endzweck der Schöp-
fung allein qualifiziert « ^) . Als moralisches Wesen also ist der
Mensch Endzweck der ganzen Natur, weil er als solches den Zweck
seiner Existenz in sich selbst hat. Und dieser in ihm als mora-
lischem Wesen belegene Zweck ist identisch mit seinem End-
zweck, dessen Erkenntnis die letzte Voraussetzung für die Fest-
legung seiner Bestimmung bildet.
I) Vgl. S. 5 f. 2) Kritik d. Urteilskraft S. 329 * R.
OQ Die Bestimmung des Menschen.
Dieser Endzweck besteht nun in nichts anderem als im
höchsten Gut. Als moralisches Wesen ist der Mensch dadurch
charakterisiert, daß er alle seine Maximen mit dem Sittengesetze
in Einklang bringt, oder die Zwecke, die er sich schon als mit
Verstand und Willkür begabtes Sinnenwesen setzt und die die ein-
zigen »äußeren Verhältnisse« sind, in denen er als endliches Wesen
seinem moralischen Willen den für ihn unvermeidlichen Zweck
überhaupt setzen kann ^), dem Sittengesetze unterwirft und so
das moralische Gesetz zur obersten Bedingung aller seiner
Neigungen und »Privatabsichten« macht. Solche moralischen oder
uneigennützigen Zwecke bezeichnet Kant aber als das Gute. Das
Gute ist also nichts anderes, als die dem Sittengesetze entsprechende
Einschränkung der Gegenstände des von Lust und Unlust
bestimmten unteren Begehrungsvermögens oder der subjektiven
Zwecke des Menschen dahin, daß sie in dem Urteile jedes ver-
nünftigen Wesens Gegenstände des Begehrungsvermögens sein
können. Die unvermeidlichen Objekte des reinen Willens ent-
springen also aus der Einschränkung der natürlichen Ziele. Sie
zu setzen ist aber nach Kants Ueberzeugung für den Menschen
als moralisch-sinnliches Wesen nicht nur ein Gebot der praktischen
Vernunft, sondern auch deshalb unerläßlich, weil ihn seine sinn-
lichen Neigungen zu Zwecken verleiten, die der Pflicht wenigstens
zuwider sein können, und deren Einfluß die gesetzgebende Ver-
nunft nicht anders abzuwehren vermag, als dadurch, daß sie
ihnen entgegengesetzte Zwecke aufstellt.
Nun setzt sich aber der Mensch als vernünftiges Wesen nicht
nur überhaupt Zwecke, 'sondern hat auf Grund des Einheits-
strebens der Vernunft die Tendenz, sie alle zu einer Einheit zu-
sammenzufassen. So macht er es schon als bloßes Sinnenwesen,
indem er alle seine natürlichen Zwecke unter dem Namen der
Glückseligkeit zusammenfaßt; so auch als moralisches Wesen,
und erhält dadurch die Idee eines höchsten Gutes in der Welt,
das, da das einzelne Gute die Einschränkung einer b e-
stimmten Neigungsmaxime auf die Bedingung ihrer Allgemein-
gültigkeit hin ist, selbst ^nichts weiter sein kann, als die gleiche
Einschränkung aller seiner materialen Zwecke oder m. a, W.
seiner Glückseligkeit. Das höchste Gut ist also ein dem Menschen
von seiner praktischen Vernunft gebotenes Objekt, »welches die
formale Bedingung aller Zwecke, wie wir sie haben sollen (die
I) Vgl. WW. VIII S. 279 * Ak.-Ausg.
Das Weltbeste.
31
Pflicht), und zugleich alles damit zusammenstimmende Bedingte
aller derjenigen Zwecke, die wir haben (die jener ihrer Beob-
achtung angemessene Glückseligkeit) zusammen vereinigt in sich
enthält « ^) .
Danach sind im höchsten Gute zwei Elemente beschlossen:
die Sittlichkeit oder genauer — da es sich ja in allen diesen Fragen
um den Menschen als vernünftig-sinnliches Wesen handelt —
die Sittlichkeit in der Form, wie sie für solche Wesen allein mög-
lich ist, nämlich als moralische Gesinnung im Kampfe mit der
Selbstsucht als der Summe aller Neigungen, d. h. in der Form
der Tugend, und zweitens die Glückseligkeit. Und bei aller Ab-
lehnung des Eudämonismus betont Kant diese Doppeltheit des
sittlichen Endzwecks nicht nur mit aller Entschiedenheit, son-
dern hält auch allen Einwänden gegenüber an ihr fest. Denn
ein Zweck, so sahen wir schon ^), ist »jederzeit der Gegenstand
einer Zuneigung«. Darum sucht der Mensch auch am moralischen
Endzwecke etwas, was er »lieben« kann ^). Das aber kann das
in diesem enthaltene Sittengesetz nicht sein. Denn das ist für ihn
niemals ein Gegenstand der Liebe, sondern immer nur der Ach-
tung, weil dem Pflichtbegriffe gerade um seiner Würde willen
keine Anmut beigesellt werden kann. Also muß zu ihm noch ein
zweites, der Neigung zugängliches Element hinzukommen, um
es zum Endzweck tauglich zu machen: die Glückseligkeit. Und
auf sie gänzlich Verzicht zu leisten wird dem Menschen vom
Sittengesetze auch gar nicht zugemutet. Es fordert nur die Ein-
schränkung des Glückseligkeitstrebens, nicht seine Vernichtung.
Bleibt darum auch jetzt das schon früher *) festgestellte Wert-
verhältnis zwischen Tugend und Glückseligkeit, wonach die
Tugend die objektive Bedingung aller Glückseligkeit, im voll-
endeten Gute also das oberste ist, völlig bestehen, so bildet doch
die Glückseligkeit für den Menschen die subjektive Bedingung,
unter der er sich in seiner Unterordnung unter das moralische
Gesetz allein einen Endzweck setzen kann. Erst in ihrer not-
wendigen Verbindung machen Tugend und Glückseligkeit das
höchste Gut aus.
Die Notwendigkeit dieser Verbindung bedarf nun aber noch
einer genaueren Bestimmung. Das Verhältnis zwischen zwei
Elementen, die miteinander notwendig verbunden sind, kann
i) Rel. usw. S. 5 R. 2) S. 25.
3) Rel. usw. S. 7 A. R. 4) S. 15.
02 ** Die Bestimmung des Menschen.
entweder das logische der Identität oder das reale der Kausalität
sein. Von Identität kann nun bei Tugend und Glückseligkeit
keine Rede sein, weil sie auf ganz verschiedenen, ja diametral
entgegengesetzten Prinzipien beruhen, dem des Sittengesetzes
oder der Uneigennützigkeit, das jede Maxime an der Möglichkeit
ihrer allgemeinen Geltung mißt, und dem der Selbstliebe, das
lediglich das eigene Wohl zur Richtschnur nimmt. Somit ist
nur an das Verhältnis der Kausalität zu denken. Und hier kann
von den beiden denkbaren Fällen der eine, daß die Glückseligkeit
Ursache der Tugend sei, schon deshalb nicht in Frage kommen,
weil das Prinzip der Selbstliebe, das auf das stets subjektive
und relative Gefühl von Lust und Unlust gegründet ist, empirisch
bedingt ist und daher niemals zu einem immer allgemeingültigen
praktischen Gesetze führen kann, wie es der Tugend zugrunde
liegt. Also kann nur die Tugend Ursache und zugleich Bedingung
der Glückseligkeit sein.
Jedoch scheint auch diese Annahme auf ein Bedenken zu
stoßen. Alle von unserer Willensbestimmung abhängige Ver-
knüpfung von Ursachen und Wirkungen in der Welt richtet sich
nicht nach der moralischen Gesinnung, sondern nur nach unserer
Kenntnis der Naturgesetze und unserem physischen Vermögen,
sie unseren Absichten unterzuordnen. Es sieht also so aus, als
könnte mit der Tugend Glückseligkeit wohl einmal zufällig zu-
sammentreffen, keineswegs aber so, als habe sie sie notwendig
im Gefolge.
Kant glaubt dieses Bedenken durch die Erinnerung an die
Doppelseitigkeit des Menschen als Erscheinung und als Ding
an sich leicht zum Schweigen bringen zu können. Nur dann
nämlich würde es direkt falsch sein, zu sagen, daß die Tugend
notwendig zur Glückseligkeit führe, wenn man sie nur für eine
Ursache in der Sinnenwelt und die sinnliche Existenz für die
einzige Seinsart des vernünftigen Wesens halten wollte. Hier
richtet sich der physische Zustand allerdings nicht nach der Ge-
sinnung, sondern ist lediglich das Ergebnis des Naturmechanismus.
Faßt man sie dagegen — wozu man wegen der Befugnis, den
Menschen auch als Noumenon zu denken, s. E, vollauf berechtigt
ist — als einen rein intelligiblen Bestimmungsgrund des mensch-
lichen Willens in der Erscheinungswelt auf, so ist es wenigstens
nicht unmöglich, anzunehmen, daß die Güte der Ge-
sinnung auch eine glückliche Beschaffenheit des natürlichen Zu-
Das Weltbeste.
33
Standes nach sich zieht, weil man wie das Reich der Sitten, so
auch das der Natur als das Werk eines intelligenten Urhebers
betrachten, und somit beide als in einem obersten Prinzipe
zusammenhängend denken darf.
Ist damit aber in Kants Augen wenigstens die Möglich-
keit einer notwendigen Verbindung von Tugend und Glück-
seligkeit gesichert, so daß ihr, wenn sie, wie es der Fall ist, aus
praktischen Gründen angenommen werden muß, theoretische
Bedenken nicht mehr entgegengehalten werden können, so erhebt
sich nun sogleich die weitere Frage nach dem quantitativen Ver-
hältnis zwischen beiden. Darauf aber erteilt er die Antwort,
daß es sich nur um eine genaue Proportion handeln könne. Denn
wie eine unparteiische Vernunft auf Grund der praktischen Idee
vom höchsten Gute nicht umhin kann, zu urteilen, daß derjenige,
welcher als endliches Wesen der Glückseligkeit bedürftig und durch
Tugend auch würdig ist, ihrer überhaupt teilhaftig werden muß,
so kann sie auf die Frage nach dem quantitativen Verhältnis
zwischen beiden nur die Antwort erteilen, daß die Glückseligkeit
dem einzelnen nach Maßgabe seiner Uebereinstimmung mit dem
Sittengesetze zuteil werden muß.
Nur mit dieser Bestimmung kann also die Idee des höchsten
Gutes den Endzweck des Menschen als moralischen Wesens, ja,
sofern sie die Tugend als, oberste Bedingung aller Glückseligkeit
enthält, auch den Bestimmungsgrund des reinen Willens
bilden. Denn so enthält sie die Glückseligkeit nicht als das, was
wir unbedingt begehren, sondern nur als Folge der Sitt-
lichkeit, und nicht die Glückseligkeit, sondern die Würdigkeit,
glücklich zu sein^ ist jetzt das Erste und der unbedingte Gegen-
stand unserer Maximen. Und »eine Willensbestimmung, die sich
. . . auf diese Bedingung einschränkt, ist nicht eigennützig« i).
Zugleich aber ergibt sich daraus, daß das höchste Gut mora-
lischer und somit objektiv-notwendiger Endzweck des Menschen ist,
es also nicht das Ziel dieses oder jenes bestimmten, sondern nur
des Menschen oder der Menschheit sein kann, daß es
sich dabei nicht um ein individuelles, sondern um ein gemein-
schaftliches Gut handelt. Nicht das Privatbeste, sondern das
»höchste Weltbeste« 2), d. h. die im Weltganzen oder im Ganzen
aller miteinander in Gemeinschaft stehender Wesen an die reinste
1) WW. VIII S. 280 A. Ak.-Ausg.
2) Kritik d. Urteilskraft S. 348 R.
Goedeckemeyer, Kants Lebensanschauung.
34
Die Bestimmung des Menschen.
Sittlichkeit geknüpfte, allgemeine und ihr angemessene Glück-
seligkeit ist es also, was den Sinn dieser Idee ausmacht.
Jedoch muß dazu hinsichtlich des einen Elements dieses
Weltbesten, der Glückseligkeit, noch eine weitere Bestimmung
treten. Wenn es sich im höchsten Gute auch um eine all-
gemeine Glückseligkeit handelt , so ist diese Glückseligkeit
doch nicht für alle dieselbe. Was der einzelne zu seiner Glück-
seligkeit rechnet, ist wegen der empirischen Bedingtheit derselben
durchaus relativ und subjektiv. Als freies und allen andern gleiches
Wesen hat aber jeder das Recht, »nach seiner eigenen Wahl glück-
lich zu sein « ^) . Er darf seine Glückseligkeit auf dem Wege suchen,
»welcher ihm selbst gut dünkt, wenn er nur der Freiheit anderer,
einem ähnlichen Zwecke nachzustreben, die mit der Freiheit von
jedermann nach einem möglichen allgemeinen Gesetze zusammen
bestehen kann , . . . nicht Abbruch tut « ^) ; und niemand kann
ihn zwingen, auf die ihm richtig scheinende Art glücklich zu
sein. So besteht das Weltbeste zuguterletzt darin, daß jeder im
angemessenen Verhältnis zu seiner Würdigkeit glücklich zu sein
der Güter teilhaftig wird, in denen er selbst sein Glück findet.
So verstanden also ist das höchste Gut der Endzweck des
Menschen. Dadurch aber, daß es das moralische Gesetz ist, das
ihm diesen Zweck vor Augen stellt, erhält auch dieses selbst noch
eine neue Gestalt. Es erweitert sich zu einem »kategorischen
Imperativ der der Materie nach praktischen Vernunft, welche
zum Menschen sagt: ich will, daß deine Handlungen zum End-
zweck aller Dinge zusammenstimmen«^). Und in diesem Impera-
tiv liegt das vor, was nach Kant die Bestimmung des Menschen
ausmacht. In ihm erst findet sie ihren Sinn und ihren vollen
Ausdruck. Sie sagt mithin nichts anderes, als daß das höchste
Gut nicht etwas ist, das sich der Mensch nach Belieben zum
Objekt machen könnte, sondern daß es eine praktisch-notwendige
Aufgabe oder eine Pflicht bedeutet : der Mensch soll das höchste
in der Welt mögliche Gut zu seinem Endzweck machen, s o 1
durch seine Handlungen das Weltbeste an sich und andern nach
allen Kräften zu befördern und an seiner Realisierung mitzuwirken
suchen oder m. a. W. : der Sinnenwelt als einem Ganzen ver-
nünftiger Wesen die Form ihres Urbildes, der übersinnlichen
Natur, und damit diejenige Beschaffenheit geben, die mit dem
1) WW. VI S. 454 Ak.-Ausg. 2) WW. VIII S. 290 Ak.-Ausg.
3) WW. VIII S. 397 A. Ak.-Ausg.
Eigene Vollkommenheit. os
Endzweck der reinen praktischen Vernunft übereinstimmen würde;
ja er soll — was der Begriff des sittlichen Gebotes mit sich
bringt — um seinetwillen auch alle möglichen Leiden auf sich
nehmen und sich seines Fortschritts freuen, wenn es auch nicht
der Vorteil des Vaterlandes oder eigener Gewinn ist. Die Reali-
sierung des höchsten Gutes in der Welt oder des Weltbesten
— ^und gar nichts anderes — • ist es also, worin Kant
die durch den kategorischen Imperativ gebotene höchste und
letzte menschhche Pflicht sieht. Darin allein besteht nach seiner
Ueberzeugung des Menschen Bestimmung.
IL Die besonderen sittlichen Aufgaben.
I. Eigene Vollkommenheit.
Aus der Bestimmung des Menschen, das Weltbeste zu reali-
sieren, ergeben sich nun besondere Aufgaben. Zum höchsten Gute
in der Welt gehörten die beiden Elemente Tugend und Glück-
seligkeit. Um sie sich zu bemühen ist daher seine größte Pflicht.
Aber nur um eigene Tugend und um fremde Glückseligkeit. Denn
die Tugend konnte nur der einzelne selbst sich verleihen, und es
würde s.'nnlos sein, für etwas an einem anderen zu sorgen, das
nur er selbst sich geben kann, und nach eigener Glückseligkeit
strebt der Mensch auch ohne Pflichtgebot schon von Natur *).
Tugend und Glückseligkeit gehörten aber so zum höchsten
Gut, daß jene die Bedingung dieser war. Um eigene Tugend als
die fundamentalste Voraussetzung des Weltbesten hat sich daher
der Mensch vor allem zu kümmern. Es ist seine Pflicht, die ihm
als moralischem Wesen ursprünglich eigene und nie verlierbare
moralische Anlage nach Möglichkeit zu entwickeln oder sich
zu moralisieren.
Daraus ergeben sich für Kant gleich zwei Probleme. Es
gilt zunächst, sich über den Inhalt dieser Pflicht ganz klar zu
werden, weiterhin aber auch, ihre Bedeutung für den einzelnen noch
präziser zu bestimmen.
Was das erstere angeht, so muß seine Lösung aus einer Ueber-
legung über Sinn und Voraussetzung der Tugend als moralisch-
I) Vgl. S. 8.
og Die besonderen sittlichen Aufgaben.
praktischer Vollkommenheit hervorgehen. Vollkommenheit des
Menschen in diesem Sinne bedeutet, daß er das Vermögen hat, sich
selbst seinen Zweck nach seinen eigenen Begriffen von Pflicht
zu setzen. Dazu aber ist zunächst zweierlei erforderlich. Einmal,
daß er sich in der ihm von der Natur verliehenen moralischen
Vollkommenheit erhält, also alles vermeidet, wodurch er
sich des ihm eigenen Vorzuges eines moralischen Wesens, der
inneren Freiheit als seiner angeborenen Würde, berauben und
sich zur bloßen Sache machen würde, die Lüge nämlich, den
Geiz und alle Kriecherei. Und weiterhin, daß er vollkom-
mener zu werden sucht als die bloße Natur ihn schuf,
und daher bestrebt ist, alles zu tun, um subjektiv beständig an
Lauterkeit der Gesinnung zuzunehmen und objektiv alle speziellen
Zwecke, die den Charakter der Pflicht an sich tragen, auch zu
seinen Zwecken zu machen. Doch ist von diesen Forderungen
die zweite nur von weiter Verbindlichkeit. Da es dem Menschen
nicht möglich ist, so in die Tiefe seines eigenen Herzens hinein-
zuschauen, daß er jemals auch nur bei einer Handlung Völlig
gewiß sein könnte, daß seine moralische Absicht rein und seine
Gesinnung lauter war, so betrifft die Pflicht der Erhöhung seines
moralischen Zustandes nicht die Handlungen selbst, sondern nur
ihre Maxime. Sie verlangt vom Menschen nur, daß er nach allem
Vermögen darauf ausgeht, bei allen pflichtmäßigen Hand-
lungen ohne jede Rücksicht auf persönlichen Vorteil oder Nachteil
den Gedanken der Pflicht ausreichendes Motiv sein zu lassen.
Zu diesen beiden Erfordernissen der Erhaltung und Erhöhung
seines moralischen Zustandes kommt nun aber noch ein weiteres
als ihre Voraussetzung hinzu. Um moralisch gut oder so gesinnt
zu werden, daß er nur lauter gute Zwecke wählt, muß sich der
Mensch zuerst einmal in den Stand setzen, überhaupt selbständig
und unabhängig von der Natur irgendwelche Zwecke
aufzustellen. Dem dient seine Kultivierung, die im Unterschiede
von der Moralisierung und weiter reichend als sie »die Hervor-
bringung der Tauglichkeit eines vernünftigen V/esens zu be-
liebigen Zwecken überhaupt «i) ist. Sie bezieht sich also nicht
auf seine moralische Anlage, sondern auf seine Naturanlagen,
nicht auf seinen Willen oder seine sittliche Denkungsart, sondern
auf seine Geistes-, Seelen- und Leibeskräfte und geht darauf aus,
ihn aus der Rohigkeit seiner Natur, aus der bloß passiv allen
i) Krit. d. Urteilskraft S. 323 R.
Eigene Vollkommenheit. q^
Reizen überlassenen und mechanisch durch sie bewegten Tierheit
immer mehr zu einer von der Vernunft geleiteten Aktivität, und
damit zur Menschheit, zu erheben, wodurch allein er befähigt
wird, sich selbst Zwecke zu setzen. Aber auch sie enthält jene
Doppeltheit, auf die Kant schon bei der Moralisierung hinwies.
Es ist dem Menschen nicht etwa nur verboten, sich in
irgendeiner Weise, durch Selbstentleibung oder Selbstverstümme-
lung, durch Selbstschändung und durch Selbstbetäubung des
Vermögens zu berauben, von seinen natürlichen Kräften über-
haupt Gebrauch zu machen, sondern darüber hinaus geboten,
sie alle auszubauen, um dadurch ein in allerlei Absicht brauch-
barer Mensch oder ein der Welt nützliches Glied und somit auch
in pragmatischer Rücksicht, d. h. in Rücksicht auf seine Fähigkeit
zur Beförderung der allgemeinen Wohlfahrt, dem letzten Zwecke
seines Daseins angemessen zu werden. Und auch hier gilt wieder,
daß die auf die physische Vervollkommnung gerichteten
Gebote nur von weiter Verbindlichkeit sind. Die verschiedenen
Berufsneigungen der Menschen und die Verschiedenheit der
Lagen, in die sie kommen können, läßt für diese Pflichten keine
präzisere Formulierung zu, als die, es sich zur Maxime zu
machen, Gemüts- und Leibeskräfte zur Tauglichkeit für alle
Zwecke anzubauen, die einem vorkommen können, macht es aber
unmöglich, dem einzelnen in der Wahl seiner besonderen Lebens-
art bestimmtere Vorschriften zu geben. —
So also steht es mit dem Inhalt der dem Menschen durch
seine Bestimmung aufgegebenen Pflicht, für die moralisch-prak-
tische Vollkommenheit zu sorgen. Was aber ihre Bedeutung für
den einzelnen betrifft, so stellt sich folgendes heraus. Betrachtet
man die Entwicklung der natürlichen Anlagen wie Ge-
schicklichkeit in Künsten und Wissenschaften, Geschmack, Ge-
wandtheit des Körpers u. a. m., so ergibt sich, daß die Vernunft,
der ihre Ausbildung obliegt, nicht instinktmäßig wirkt, sondern
allerlei Versuche, allerlei Uebung und Unterricht nötig hat, um
sie von einer Stufe zur andern fortzubilden. Daraus aber folgt,
daß der einzelne unmäßig lange würde leben müssen, um wirklich
die ganze Vollkommenheit seiner Naturanlagen zu erringen. Nun
ist jedoch das Leben des einzelnen begrenzt; ist es dennoch Pflicht
der Menschen, sich zu kultivieren, so bleibt nichts anderes übrig,
als anzunehmen, daß die natürliche Vollkommenheit erst in einer
langen, ja vielleicht unabsehbaren Reihe von Generationen er-
o8 Die besonderen sittlichen Aufgaben.
langt werden kann, deren eine der anderen ihre Aufklärung über-
liefert, beim Menschen also im Gegensatz zu allen andern Tieren
nicht der einzelne, sondern »allenfalls nur die Gattung« ^) hoffen
kann, im unaufhörlichen Fortschreiten die physische Bestimmung
der Menschheit zu erreichen. Dann aber bleibt für den
einzelnen nichts anderes übrig, als beständig und unermüdlich
nach ihr zu s t r e b e n.
Und ganz dasselbe gilt auch für die Entwicklung der mora-
lischen Anlage. Da der Mensch als endliches Wesen immer
von physischen Dingen abhängig ist, so kann er niemals ganz
frei von Begierden und Neigungen sein, die ihm Anlaß geben, von
den Vorschriften des moralischen Gesetzes abzuweichen. Des-
halb ist auch der moralische Zustand, auf dem er steht, niemals
der der Heiligkeit, d. h. des Besitzes einer völligen Reinigkeit
der Gesinnung, sondern immer nur der der Tugend 2). Auch in
Ansehung der moralischen Vollkommenheit kann also für den
einzelnen, wenigstens in diesem Leben, nur das Streben nach ihr
oder das Fortschreiten zu ihr, nicht aber das Erreichen Pflicht
sein.
Ist es also seine Aufgabe, sich zu kultivieren und zu morali-
sieren, so bedeutet das für ihn nur, daß er alles tun soll, um einer-
seits seine Naturanlagen soweit wie möglich auszubilden, und
andererseits and vor allem die von der praktischen Vernunft ge-
forderte Üeberordnung des moralischen Gesetzes über die Selbst-
liebe, diese sittliche Ordnung der beiden in ihm als sinnlich-
übersinnlichem Wesen »natürlicherweise « enthaltenen Triebfedern ^) ,
auch zum subjektiven Prinzip seines Wollens, zu seiner obersten
Maxime zu machen. Er hat dem guten Prinzip zum Siege über
das böse zu verhelfen, das ihn bei allem Bewußtsein vom mora-
lischen Gesetze doch die gelegentliche Abweichung von ihm in
seine Maxime aufnehmen läßt. —
Aber mit dieser Bemühung allein ist es nach Kant noch nicht
getan. Es treten dem Menschen bei seinem Streben nach Vollkom-
menheit allerlei Anfechtungen entgegen, allerlei Anlockungen, die
ihn zu verleiten suchen, die sittliche Ordnung der beiden Trieb-
federn umzukehren. Und sie bleiben' nicht ohne Erfolg. Sie führen
dazu, daß er als einzelner trotz aller seiner Mühen nicht mehr
erreichen kann, als sich von der Herrschaft des bösen Prin-
x) WW. VII S. 324 Ak.-Ausg. 2) Vgl. S. 16.
3) Vgl. Religion usw. S. 36 R.
Eigene Vollkommenheit. og
zips zu befreien, während er seinen Angriffen immer noch aus-
gesetzt bleibt , und daher genötigt ist , stets zum Kampfe ge-
rüstet zu sein, um die Freiheit, wenn er sie einmal gewonnen
hat, auch zu behaupten.
Dieser Zustand ist nun aber sittlich von der größten Gefahr.
Die Erfahrung zeigt, daß alle Menschen, auch die besten, einen
Hang zum Bösen haben. Sie erkennen das Sittengesetz zwar
an , neigen aber doch in verschiedenem Maße dazu , von ihm
abzuweichen und den Anfechtungen, die an sie herantreten,
nachzugeben. Es fehlt ihnen an Festigkeit oder Lauterkeit ihrer
moralischen Gesinnung oder gar völlig an ihr. Das aber ist nach
Kants Ueberzeugung, weil es die oberste Maxime des Handelns
verdirbt , das radikale Böse im Menschen und recht eigentlich
»der faule Fleck unserer Gattung « *) . Er macht es den Menschen
so schwer, den fortwährenden Angriffen des bösen Prinzips zu
widerstehen und ihre Freiheit auch zu sichern. Deshalb
ergibt sich für sie als moralische Wesen noch die weitere Aufgabe,
alle Kraft anzuwenden, um sich aus diesem für ihre Sittlichkeit
so gefahrvollen Zustande soweit es irgend geht herauszuhelfen.
Dieser Aufgabe können sie allerdings in Kants Augen nicht
dadurch Genüge tun, daß sie seine subjektive Ursache, den Hang
zum Bösen, aufzuheben suchen. Der ist, wie seine Allgemeinheit
zeigt, »mit der Menschheit selbst, es sei wodurch es wolle, verwebt
und darin gleichsam gewurzelt «2). Er kann darum durch die Ver-
nunft wohl getadelt, allenfalls auch gebändigt, aber nie ganz ver-
tilgt werden. Es bleibt also nichts anderes übrig, als nach Mög-
lichkeit die Anfechtungen zu beseitigen, die den Menschen in
den erwähnten Zustand versetzen.
Nun bestehen diese Anfechtungen in den Leidenschaften, die
in ihm auftreten. Die aber entspringen nicht sowohl aus seiner
eigenen rohen Natur als vielmehr aus seiner Verbindung mit
anderen Menschen. Denn die ursprünglichen Anlagen des Men-
schen sind gut und zwar nicht nur in dem negativen Sinne, daß
sie dem moralischen Gesetze nicht widerstreben, sondern auch
in dem positiven, daß sie, richtig entwickelt, die Befolgung des-
selben befördern. Darum sind auch die Anreize, die von ihnen,
wie etwa von dem Streben nach Selbsterhaltung oder Fortpflanzung,
ausgehen, und die Bedürfnisse, die aus ihnen entstehen, an sich nur
klein und ohne Störung der Gemütsruhe zu befriedigen. Sie bil-
I) a. a. O. S. 39 R. 2) a. a. O. S. 32.
40
Die besonderen sittlichen Aufgaben.
den an und für sich keine Gefahr für die SittHchkeit. Wohl aber
können sie gefahrbringend werden , sobald der Mensch mit an-
deren zusammenkommt. Denn dann fängt er als vernunftbesitzen-
des Wesen an, seinen Zustand mit dem der andern zu vergleichen
und sich je nach Ausfall dieses Vergleichs für glücklich oder un-
glücklich zu halten, dann wird der Wunsch in ihm wach, sich
auch in der Meinung anderer einen Wert zu Verschaffen. Und liegt
ihm ursprünglich nur an Gleichheit, so führt ihn die Besorgnis,
daß sich der andere über ihn erheben könnte, nach und nach dazu,
ihm durch List oder Gewalt zuvorzukommen. So entsteht allmählich
ein scharfer Wettstreit zwischen den einzelnen, aus dem sich die
fundamentalsten sozialen Laster des Menschen, die Leidenschaften
der Ehrsucht , Habsucht und Herrschsucht ergeben , und alle
die feindseligen Neigungen, die damit verbunden sind. Sie erst
sind es, durch die seine ursprünglich gute Anlage verdorben wird,
und die harmlosen Reize, die von ihr ausgehen, zu gefährlichen
Anfechtungen werden. Und von der Ursache dieser Verderbnis
vermag er sich nicht einmal loszumachen. Denn so sehr er auch
wegen des ihm kraft seiner moralischen Beschaffenheit zustehen-
den ursprünglichen und unveränderlichen Rechtes auf Freiheit
schon von Anfang an nach Freiheit strebt und darum eher ein
einsiedlerisches als geselliges Tier ist, so kann er es doch nicht
über sich gewinnen, sich ganz von den andern zurückzuziehen.
Denn erst durch die in der Gesellschaft entstehende vergleichende
Selbstliebe und den mit ihr gegebenen Wetteifer wird er aus
seinem tierischen Hange zur Passivität herausgerissen und ge-
zwungen, seine natürlichen Anlagen zu entv/ickeln. Erst hier
kommt er zum Bewußtsein seiner selbst als »vernünftiger
Natur «^) oder zum Bewußtsein seiner Selbsttätigkeit, und erhält
erst so die Möglichkeit, sich wirklich als Mensch zu fühlen,
dem ja gerade die Fähigkeit spontanen Handelns vor allen Tieren
eigen war ^). Darum ist er durch seine Vernunftanlage geradezu
dazu bestimmt, in einer Gesellschaft mit Menschen zu sein, und
spürt als vernünftiges Tier neben dem Hange zur Iso-
lierung zugleich auch einen Trieb zur Gesellschaft.
So findet Kant in diesem unvermeidlichen Zusammensein
des Menschen mit andern Menschen, »die er nicht wohl leiden,
von denen er aber auch nicht lassen kann«^), den Faktor, von
I) WW. VIII S. 21 Ak.-Ausg. 2) Vgl. S. 23.
3) WW. VIII S. 21 Ak.-Ausg.
Eigene Vollkommenheit. aj
dem die Anfechtungen ausgehen, die sein Streben nach Sitt-
lichkeit gefährden. Aber daß das der Fall ist, ist am Ende doch
wieder seine eigene Schuld. Denn nicht das Zusammensein mit
Menschen überhaupt, sondern die Beschaffenheit dieses Zusammen-
seins ist es, die Gefahren bringt. Die aber hängt wenigstens bis
zu einem hohen Grade vom Menschen selbst ab. Und darum
ist es nun für ihn als moralisches Wesen auch Pflicht, den
gesellschaftlichen Zustand so zu gestalten, daß die Gefahren,
mit denen er seine Sittlichkeit bedroht, soweit als möglich be-
seitigt werden. Außer den Geboten, die die moralisch gesetz-
gebende Vernunft jedem einzelnen sozusagen als seine Privat-
pflichten vorschreibt, ist dahSr von ihr »noch über dem eine
Fahne der Tugend als Vereinigungspunkt für alle, die das Gute
lieben, ausgesteckt, um sich darunter zu versammeln und so aller-
erst über das sie rastlos anfechtende Böse die Oberhand zu be-
kom.men«^), und damit den letzten Zweck der Menschheit, das
höchste Gut, soweit es in ihrer Macht steht, zu verwirklichen.
Weil aber dieser letzte Zweck als ein gemeinschaftliches Gut
eine Angelegenheit der ganzen Menschheit ist, haben wir es bei
der Gestaltung des gesellschaftlichen Zustandes nach Kants
Erklärung nicht mit einer Pflicht der einzelnen Menschen gegen
einander, sondern des ganzen menschlichen Geschlechts gegen
sich selbst oder der einzelnen als Glieder eines Ganzen zu tun.
Und die treibt sie an, eine bloß auf die Erhaltung und Förderung
der Sittlichkeit angelegte Gesellschaft, die mit vereinten Kräften
dem Bösen entgegenwirkt, oder ein ethisches Gemeinwesen, ein
Reich der Tugend zu errichten und auszubreiten, und so die
Sinnenwelt der praktischen Idee einer moralischen Welt »so-
viel als möglich gemäß zu machen «2). Denn nur dadurch, daß
die ursprüngliche Natur der Menschen auf diesem Wege nach
und nach so umgestaltet wird, daß alle nach einerlei Grundsätzen,
den moralischen Prinzipien nämlich, handeln, und ihnen diese
Prinzipien gewissermaßen zur andern Natur geworden sind — nur
dadurch wird es möglich sein, alle die Laster zu überwinden,
die das menschliche Leben verunehren und die Quelle der m.annig-
faltigsten Uebel sind, von denen die Menschen bedrückt werden.
Nun fängt aber, wie wir sahen ^), beim Menschen die Ent-
wicklung nicht der Vorschrift der Vernunft gemäß mit der Morali-
i) Religion usw. S. 98 R.
2) Kritik d. rein. Vern. S. 612 R. 3) S. 36.
42
Die besonderen sittlichen Aufgaben.
tat an, sondern beginnt mit der Kultur. Und das gleiche gilt
für das menschliche Geschlecht. Auch in seiner Entwick-
lung geht die Kultivierung der natürlichen Anlagen der Ausbil-
dung der moralischen Anlage voran. Bevor daher die Mensch-
heit durch den Zusammenschluß zu einem ethischen Gemein-
wesen ihre moralische Vollkommenheit bewirken und sichern
kann, ist es für sie nötig und damit als Voraussetzung einer Pflicht
zugleich Pflicht, ihre Naturanlagen in möglichst vollkommener
Weise zu entwickeln.
Das ist aber in dem Zustande, in dem sie sich von Natur
befindet, ausgeschlossen. Denn der Naturzustand der Mensch-
heit ist ein Zustand wilder Gesetzlosigkeit und Ungerechtigkeit,
und wenn auch nicht ein Zustand beständiger Kriege, so doch
ein Zustand beständiger Kriegsgefahr. Das folgt aus dem An-
tagonismus der menschlichen Neigungen in der Gesellschaft, aus
der ungeselligen Geselligkeit, die den Menschen wegen des Wider-
streits zwischen ihrem Hange zur Gesellschaft und dem zur Iso-
lierung eigentümlich ist. Daher kommt es, daß der Naturmensch,
in dem der Freiheitsdrang alle Leidenschaften an Heftigkeit
überragt und der darum ohne Rücksicht auf andere oder auf
ein allgemeingültiges Gesetz alles nach seinem Belieben gestalten
und »selbst Richter über das sein will, was ihm gegen andere
recht sei, aber auch für dieses keine Sicherheit von andern hat
oder ihnen gibt als jedes seine eigene Gewalt«^), überall Wider-
stand erwartet und ebenso bereit ist, Widerstand zu leisten. Und
solange die Menschen es sich zum Vorsatz machen, in diesem
Zustande äußerlich gesetzloser Freiheit zu sein und zu bleiben,
läßt sich auch nicht einmal behaupten, daß die Eröffnung wirk-
licher Feindseligkeiten von irgendeiner Seite ein Unrecht sei.
Denn einmal gilt der Satz: volenti non fit iniuria; und ferner
bedroht in einem Zustande, in dem jede Sicherheit gewährende
Obrigkeit fehlt, jeder den andern schon durch seine bloße Gegen-
wart in der ihm auf Grund seines Rechts auf Freiheit zustehenden
Selbstbestimmung seiner — wie wir schon früher sahen ^) , durchaus
individuellen — Glückseligkeit. Denn dafür, daß sein Neben-
mensch in dem Urteile über sein Wohl mit ihm zusammenstimmen
werde, hat der einzelne angesichts der Relativität aller Glück-
seligkeit gar keine Gewähr. Unter solchen Umständen ist der
Wilde aber auch völlig befugt, die ihm drohende Gefahr abzu-
i) Religion usw. S. loi * R. 2) S. 34.
Eigene Vollkommenheit. ao
wenden und seinen natürlichen Gegner durch jedes Mittel soweit
wie möglich von sich fernzuhalten. So ist es auch begreiflich,
daß er die Kriegstapferkeit für die höchste Tugend hält. Sie
ist das einzige Mittel, das ihm hier sein Recht zu wahren ge-
stattet.
Aber obgleich dem Menschen kein Vorwurf daraus gemacht
werden kann, daß er Gewalt in diesem Zustande anwendet, ist
er doch darin im Unrecht, daß er überhaupt in ihm bleiben will.
Als »vernünftige Natur« hat er die Pflicht, seine natür-
lichen Anlagen soweit es geht zu vervollkommnen. Das aber
ist im Naturzustande nicht möglich. Allerdings führt auch schon
der in ihm vorhandene Antagonismus zu einer gewissen natür-
lichen Entwicklung derselben. Aber die Gefahr, mit der die
hier herrschende Wildheit nicht nur die Voraussetzung aller
Entwicklung, die Freiheit, sondern auch die Existenz der ein-
zelnen beständig bedroht, schließt ihre vollständigere Entfaltung,
die nur durch Kunst zu bewirken ist, aus. Davon kann erst dann
die Rede sein, wenn Existenz und Freiheit aller dadurch ge-
sichert sind, daß die äußere Freiheit jedes einzelnen soweit ein-
geschränkt ist, daß die Freiheit aller anderen ungefährdet mit
ihr zusammenbestehen kann.
Diese Einschränkung vollzieht aber das öffentliche Recht
als der Inbegriff der äußeren und allgemein bekanntgemachten
Gesetze. Es bildet somit die Voraussetzung dafür, daß unter
einer Mehrheit von Menschen von äußerer Freiheit überhaupt
gesprochen werden kann, und macht es dem Menschen erst mög-
lich, die an ihn gestellte sittliche Forderung zu erfüllen. Daher
sein integrierender Wert, der es gegen jede Verletzung in Schutz
nimmt und verlangt, daß es unter allen Umständen heilig ge-
halten werde. Es ist der »Augapfel Gottes auf Erden «^), dem
nahezutreten man sich jederzeit hüten muß. Und es ist für die
Kantische Lebensphilosophie von höchster Wichtigkeit, daß sie
durch solche Bemerkungen von den beiden Teilen der Moral, der
Ethik und der Rechtslehre, dieser den ersten Platz anweisen will.
Nun fühlen sich aber die Menschen, trotzdem sie als ver-
nünftige Wesen ein Gesetz wünschen, das der Freiheit aller Schran-
ken setzt, durch die ihnen natürliche »selbstsüchtige, tierische
Neigung« 2) veranlaßt, sich selbst, wenn irgend möglich, davon
i) Paedagogik ed. Rink S. 87, vgl. WW. VIII S. 353 A. Ak.-Ausg.
2) WW. a. a. O. S. 23.
44
Die besonderen sittlichen Aufgaben.
auszunehmen. Eine rechtliche Vereinigung, eine solche also, in
der das Gesetz für alle gilt, kann daher nur unter der Voraus-
setzung bestehen, daß als Oberhaupt ein Wille vorhanden ist,
der nicht nur als oberster Gesetzgeber fungiert, sondern auch zu-
gleich über unwiderstehliche Gewalt verfügt, die ihn instand
setzt, jedem die Grenzen seiner Freiheit aufs genaueste sowohl
zu bestimmen als auch zu sichern. Sie kann m. a. W. nur be-
stehen unter Voraussetzung einer Verfassung. Das ist der Grund
dafür, daß die Gesetze, die diese Vereinigung konstituieren, nicht
bloß äußere und öffentliche sind — denn weil sie als aus einem
öffentlichen Willen entsprungen gedacht werden müssen, können
sie nicht geheim, sondern müssen öffentlich sein — , sondern zu-
gleich Zwangsgesetze. Denn jede Einschränkung der Freiheit durch
die Willkür eines andern, der sich dabei allemal empirischer
Triebfedern bedienen muß, heißt Zwang. Freiheit, Gesetz und
Zwang machen daher die drei Faktoren aus, die für jede rechtlich-
bürgerliche Vereinigung wesentlich sind, und die bürgerliche
Verfassung selbst ist nichts anderes als ein Verhältnis freier, aber
doch unter äußeren Zwangsgesetzen stehender Menschen, in dem,
jedem das, was als das Seine anerkannt werden soll, gesetz-
lich bestimmt und durch hinreichende Macht, die aber nicht
die seinige, sondern eine fremde ist, zuerteilt wird. Sie ist also
kein moralisches Ganzes, sondern eine »pathologisch-abgedrungene
Zusammenstimmung zu einer Gesellschaft « ^) oder eine mechani-
sche Einhelligkeit; kein Zustand der Sittlichkeit, der, weil er
nur die innere Idee der Pflicht als Motiv kennt, des äußeren
Zwanges entbehrt, und allein auf dem Selbstzwange des einzelnen
ruht, aber doch ein Zustand der Gesittung oder äußeren Anständig-
keit, in dem an die Stelle der Rohigkeit der bloßen Selbstgewalt
eine öffentliche Gesetzgebung getreten ist, der alle einzelnen fak-
tisch unterworfen sind.
In dieser vom Rechtsbegriff getragenen bürgerlichen Ver-
fassung allein können also nach Kants Auffassung die Natur-
anlagen des Menschen vollständiger entwickelt werden, kann
auf der einen Seite durch umfassenden Unterricht das Vermögen
zur Ausführung aller möglichen Zwecke oder die Geschicklich-
keit, können auf der andern Seite durch geeignete, auf die Be-
freiung des Willens vom Despotismus der Begierden gerichtete
Zucht die Umgangseigenschaften auf einen hohen Grad der Zivili-
i) WW. a. a. O. S. 21.
Eigene Vollkommenheit. ^e.
sation gebracht werden. Ja, die bürgerliche Verfassung ist geradezu
»der höchste Grad der künsthchen Steigerung der guten Anlage
in der Menschengattung zum Endzweck ihrer Bestimmung«'),
Und selbst die Entwicklung der moralischen Anlage bekommt
hier wenigstens eine große Erleichterung, sofern ein jeder von
sich glaubt, daß er den Rechtsbegriff als Grundlage des Gemein-
wesens wohl heilig halten werde, wenn er sich nur von jedem
andern eines Gleichen gewärtigen könnte, und die Regierung
ihm eben dies z. T. sichert. Denn dadurch wird ein großer Schritt
wenigstens zur Moralität getan, dazu also, dem Pflichtbegriffe
auch um seiner selbst willen und ohne Rücksicht auf Gegen-
leistung anzuhängen.
Aus diesen Gründen bildet in der Entwicklung der Mensch-
heit die auf äußere Zwangsgesetze gegründete politische Verfassung
die Voraussetzung für die" auf inneren Tugendgesetzen ruhende
ethische. Der Mensch muß erst ein gesittetes Wesen sein, ehe er
ein sittliches werden kann; und nur die durch Gründung des
staatlichen Gemeinwesens möglich gemachte allmähliche Ver-
vollkommnung aller seiner Anlagen kann jene pathologisch ab-
gedrungene Zusammenstimmung zu einer Gesellschaft endlich
in ein moralisches Ganzes verwandeln.
Als vollkommene Vorstufe dieses ethischen Ganzen kann
der politische Zustand indessen nur dann angesehen werden,
wenn er durchaus gerecht ist. Das trifft zu, sobald er dem einzigen
natürlichen Rechte des Menschen, dem Rechte auf Freiheit,
völlig angemessen ist, d. h. wenn er der Freiheit seiner Glieder
das größte in einer Gesellschaft überhaupt mögliche Ausmaß
zugesteht. Dieser Bedingung entspricht er aber, wenn er so ein-
gerichtet ist, daß er durch seine Gesetze niemandem Unrecht
tun kann. Das wird der Fall sein, wenn von den drei in ihm vor-
handenen Gewalten, der gesetzgebenden, vollziehenden und recht-
sprechenden, diejenige, von der alles Recht ausgeht — und das
ist die gesetzgebende — nicht nur von der ausführenden getrennt
ist, sondern auch — wenigstens prinzipiell — in der Hand des
vereinigten Willens aller liegt, mag man sich auch faktisch mit
einer Majorität von Repräsentanten begnügen
müssen. Denn dann wirkt jeder an der Gesetzgebung mit, ge-
horcht also nur den Gesetzen, zu denen er seine Beistimmung
hat geben können. Sich selbst aber kann keiner Unrecht tun.
i) WW. VII S. 327 Ak.-Ausg.
a(q " Die besonderen sittlichen Aufgaben.
Und in diesem Zustande wird zugleich jedem einzelnen die größt-
mögliche Freiheit gelassen. Denn wenn nur das gemeinsam
gegebene Gesetz herrscht, so gibt jeder bloß das Brutale seiner
Freiheit auf, um sie selbst als Glied eines gemeinen V/esens, also
in gesetzlicher Abhängigkeit, sofort und, weil diese Abhängig-
keit aus seinem eigenen gesetzgebenden Willen entspringt, auch
unvermindert wieder aufzunehmen. Dieser Akt aber, durch den
sich das Volk selbst zu einem Staate konstituiert, oder besser,
da es sich auch in Kants Augen nicht um ein Faktum, sondern
allein um ein Vernunftprinzip für die Beurteilung aller bürger-
lichen Verfassung überhaupt handelt, die Idee dieses Aktes heißt
der ursprüngliche Vertrag. Darum ist nur die Verfassung
vollkommen und zugleich die beste unter allen, die der Idee des
ursprünglichen Vertrages, diesem Prinzipe aller Rechte, ent-
spricht. Das aber ist die reine Republik. Und einerlei, ob sie
auch der Staatsform oder nur der Regierungsart nach vorhanden
ist, ob m. a. W. das Volk selbst die Gesetzgebung in der Hand
hat oder die gesetzgebende Gewalt nur solche Gesetze gibt, wie
ein Volk mit reifer Vernunft sie sich selbst vorschreiben würde,
sie erst ist in vollem Maße aus dem reinen Quell des Rechts-
begriffs entsprungen, und nur in ihr herrscht jene Gerechtig-
keit, von der Kant sagt: wenn die Gerechtigkeit untergeht, so
hat es keinen Wert mehr, daß Menschen auf Erden leben ^).
Diese Republik allein darf daher als die größte Beförderin
aller natürlichen Anlagen des Menschen und als die wahre Voraus-
setzung eines ethischen Gemeinwesens angesehen werden. Und
darum ist sie auch das äußerste Ziel der Kultur. Da es indessen
unmöglich ist, unter Menschen ein vollkommen gerechtes Ober-
haupt einer solchen bürgerlichen Gesellschaft zu finden, einerlei
ob man es in einer einzelnen Person oder in einer Gesamtheit
vieler sucht — denn »aus so krummem Holze, als woraus der
Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert wer-
den « 2) — so wird nur die Annäherung an dieses Ziel in Frage
kommen können. Die ist dann aber auch nicht Sache des Be-
liebens, sondern als etwas, »nach welchem zu streben uns die Ver-
nunft durch einen kategorischen Imperativ verbindlich macht «^),
Sache der Pflicht. Und dieser Pflicht kann man sich nicht durch
»die pöbelhafte Berufung auf vorgeblich widerstreitende Er-
1) Vgl. WW. VI S. 332 Ak.-Ausg.
2) WW. VIII S. 23 Ak.-Ausg. 3) WW. VI S. 318 Ak.-Ausg.
Eigene Vollkommenheit. ^y
fahrung« ^) entziehen. Diese Erfahrung würde gar nicht existieren,
wenn man sich beim ersten Entwurf einer Staatsverfassung und
auch bei allen späteren Gesetzen nur nach jener Idee richten
'Wollte. Und daß sie durchführbar ist, geht daraus hervor, daß
es sich bei ihr um weiter nichts als um die rein mechanische und
darum für den Menschen als verständiges Wesen auch auflösbare
Aufgabe handelt: »eine Menge von vernünftigen Wesen, die ins-
gesamt allgemeine Gesetze für ihre Erhaltung verlangen, deren
jedes aber insgeheim sich davon auszunehmen geneigt ist, so
zu ordnen . . ., daß, obgleich sie in ihren Privatgesinnungen
einander entgegenstreben, diese einander doch so aufhalten, daß
in ihrem öffentlichen Verhalten der Erfolg eben derselbe ist,
als ob sie keine solche bösen Gesinnungen hätten« 2). Die Idee
der reinen Republik ist daher kein leeres Hirngespinst, sondern
die ewige Norm für alle bürgerliche Verfassung überhaupt.
Indessen reicht auch die Begründung einer solchen Republik
noch nicht aus, um dem Menschen die vollkommene Entwick-
lung aller seiner natürlichen Anlagen zu gewährleisten, und damit
zugleich die Ausbildung seiner moralischen Anlage und die Kon-
stituierung eines ethischen Staates vorzubereiten. Denn »was
hilfts, an einer gesetzmäßigen bürgerlichen Verfassung unter ein-
zelnen Menschen ... zu arbeiten« ^) , wenn vermöge derselben
Ungeselligkeit, die s i e auseinanderriß, nun auch die so ent-
standenen »Mächte« wie gesetzlose Wilde in ungebundener Frei-
heit nebeneinander stehen, und daraus auch für sie jener immer-
währende Kriegszustand hervorgeht, unter dem die noch in Ver-
einzelung lebenden Menschen litten! Trotz aller Notwendigkeit,
die er mit sich führt, alle Talente in angespanntester Weise zu
entwickeln, würde er der völligen Ausbildung der natürlichen
so gut wie der moralischen Anlage zuguterletzt doch nur wieder
im Wege sein.
Denn zunächst machen die wirklichen Kriege durch die
Kosten, die sie mit sich bringen, die Verwüstungen, die sie an-
richten, die den Frieden selbst verbitternde Schuldenlast, die
sie im Gefolge haben, die moralischen Schädigungen, zu denen
sie führen, und endlich durch die Gefahr, in die sie die Existenz
des ganzen Menschengeschlechts versetzen, den Fortschritt in
i) Krit. d. rein. Vern. S. 276 R., vgl. WW. VII S. 80 Ak.-Ausg.
2) WW. VIII S. 366 Ak.-Ausg.
3) a. a. O. S. 24.
^g Die besonderen sittlichen Aufgaben.
der Entwicklung der Menschheit »immerzu rückgängig«^). Und
darum ist Kants ethisches Urteil über den Krieg auch ungemein
scharf. Mag er auch in dem Falle, daß er »mit Ordnung und
Heilighaltung der bürgerlichen Rechte geführt wird« 2), vom
ästhetischen Standpunkte aus etwas Erhabenes an sich haben,
moralisch ist er auf das Entschiedenste zu verurteilen. Seinem
Ursprung nach beruht er auf der Anhänglichkeit der Menschen
an die gesetzlose Freiheit, auf »Rohigkeit« also, auf »Ungeschliffen-
heit und viehischer Abwürdigung der Menschheit«^). Seinem
Wesen nach ist er eine barbarische Art der Völker, ihre Streitig-
keiten zu entscheiden, wodurch das wahre Recht eines Staates
trotz aller Phrasen der Staatsmänner niemals ausgemacht werden
kann *) . Und in seinen Folgen führt er zur Verderbnis der Sitten
und zur Entstehung aller möglichen Uebel ^) . Und so weit geht
Kant in seiner Verurteilung, daß er nicht nur den kriegslüsternen
Herrschern, die, ohne sich eben selbst in Gefahr setzen zu brauchen,
die Menschen »in ihren Streitigkeiten gegen einander aufstellen,
um sich schlachten zu lassen«^), den Vorwurf macht, daß sie
den Endzweck der Schöpfung selbst umkehren, wenn sie das
als bloßes Mittel gebrauchen, was immer zugleich als Zweck
behandelt werden soll — nämlich den Menschen — , sondern
daß er überhaupt die stehenden Heere verwirft, sowohl wegen
der ständigen Kriegsgefahr, die sie mit sich bringen, als auch
um deswillen, weil »zum Töten oder getötet zu werden in Sold
genommen zu sein einen Gebrauch von Menschen als bloßer
Maschinen und Werkzeuge in der Hand eines andern (des Staats)
zu enthalten scheint, der sich nicht wohl mit dem Rechte der
Menschheit in unserer eigenen Person vereinigen läßt« '), wenn
es auch mit der freiwilligen periodischen Waffenübung
der Staatsbürger zum Zwecke der Verteidigung gegen
Angriffe von außen anders bewandt ist. Und im Zusammenhange
mit diesen Gedanken weiß er sogar dem Laster der Feigheit eine
gute Seite abzugewinnen. Denn sie ist es, die sich der Menschen
erbarmt, damit sie nicht durch den kriegerischen Blutdurst auf-
gerieben werden. Der Kriegstapferkeit aber, d. h. der Tapferkeit
nicht zum Kriege — • denn die ist schlechterdings verwerflich — ,
1) WW. VII S. 93 Ak.-Ausg.
2) Krit. d. Urteilskr. S. ii8 R. 3) Zum ew. Frieden S. 18 R.
4) Zum ew. Frieden S. 20 R.
5 WW. VII S. 86, 91, 93 Ak.-Ausg.
6) WW. VII S. 89 Ak.-Ausg. 7) Zum ew. Frieden S. 7 R.
Eigene Vollkommenheit. aq
sondern im Kriege, dieser Kriegstapferkeit stellt er, so sehr er
auch die ihr selbst im gesitteten Zustande erwiesene Achtung
als nicht völlig grundlos gelten lassen will, sofern sie ein
Zeichen dafür ist, daß der Mensch — woran freilich die Krieg-
führenden selbst nicht zu denken pflegen — doch etwas haben und
sich zum Zwecke machen könne, was er noch höher schätzt
als sein Leben, nämlich seine Ehre im Sinne seines moralischen
Wertes — ihr stellt er doch als die wahre Tapferkeit oder die
»einzige wahre Kriegsehre des Menschen « ^) die sittliche Stärke
gegenüber, die sich im unentwegten und durch keinen Spott,
selbst nicht durch die Scheu vor dem Tode abzuschreckenden
Kampfe gegen die Laster als die Brut gesetzwidriger Gesinnungen
dokumentiert, und die »mancher nicht besitzt, welcher in der
Feldschlacht oder im Duell sich als einen Braven beweist« 2).
Noch mehr als die wirklichen Kriege steht aber die im Natur-
zustande vorhandene Notwendigkeit, sich beständig in Kriegs-
bereitschaft zu halten, der Ausbildung der menschlichen An-
lagen im Wege. Die Rüstungen zur Verteidigung, die sich durch
den Wetteifer der einzelnen Staaten bis ins Grenzenlose steigern,
machen den Frieden oft noch drückender als den Krieg. Und
ein moralischer Fortschritt ist, solange die Staaten alle ihre Kräfte
auf ihre eitlen und gewaltsamen Erweiterungsabsichten verwenden,
überhaupt nicht zu erwarten. Denn zu ihm ist eine lange innere
Bearbeitung erforderlich.
Es kann also gar keine Rede davon sein, daß sich die ur-
sprünglichen Anlagen des Menschen in einem solchen immer-
währenden Kriegszustande in wünschenswerter Weise zu ent-
wickeln vermöchten. Daher ergibt sich vom Standpunkte der
Vernunft aus jetzt für die Staaten dieselbe Aufgabe, die zuvor
den einzelnen Menschen gestellt war: aus dem rohen Naturzu-
stande hinauszugehen und sich zu einem Zustande zu entschließen,
in dem ihr Mein und Dein durch äußere Gesetze sichergestellt
ist. Das können sie aber nur dadurch, daß sie ihre »tolle Frei-
heit« 2) aufgeben, sich zu öffentlichen Zwangsgesetzen bequemen
und auf diese Weise einen Völkerstaat bilden, der zuletzt, weil
der Erdboden eine nicht grenzenlose, sondern eine sich selbst
schließende Fläche ist, alle Völker der Erde in sich befaßt und
alle Staaten unter einem gemeinschaftlichen Oberhaupte und
I) WW. VI S. 405 Ak.-Ausg. 2) WW. VII S. 257 Ak.-Ausg.
3) Vgl. Zum ew. Frieden S. 18 R.
Goede ckemeyer, Kants Lebensanschauung. 4
tfQ Die besonderen sittlichen Aufgaben.
in der vollkommensten Form, die es gibt, in der Form einer Welt-
republik, zu einer großen Einheit zusammenschmilzt. Dann wird
an die Stelle des ununterbrochenen Kriegszustandes der Zustand
des ewigen Friedens treten, der das höchste »politische Gut«^)
bildet, und als Folge der unbedingt geltenden Rechtsidee nicht
etwa nur ein physisches Gut ist, sondern ein Zustand, den zu
verwirklichen die praktische Vernunft zur unmittelbaren Pflicht
macht.
Indessen — es erhebt sich hier eine Schwierigkeit. Jenen
Völkerstaat, der den ewigen Frieden allein sichern könnte, wollen
die Staaten absolut nicht. Infolge der eigennützigen und daher un-
sittlichen Vorstellung von ihrer Majestät, die sie darin finden,
gar keinem äußeren gesetzlichen Zwange unterworfen zu sein,
sträuben sie sich gegen ihn mit aller Macht. Wenn daher »nicht
alles verloren werden soll « ^) , muß an seine Stelle ein Surrogat
treten, das dann allerdings nur die bescheidenere Wirkung aus-
zuüben vermag, den Krieg nach Möglichkeit abzuwehren. Das
aber ist ein sich immer mehr ausbreitender Völker b u n d , der
sich vom Völker s t a a t e dadurch unterscheidet, daß er als
eine »fortwährend-freie Assoziation« ^), der jeder zu
jeder Zeit beitreten, die aber auch jeder zu jeder Zeit aufkündigen
kann, auf dem Boden eines gemeinschaftlich verabredeten und
in irgendeiner Form von dem vereinigten Willen aller verwalteten
Völkerrechts ruht.
Diesen einzigen, mit der Freiheit der Staaten vereinbaren
rechtlichen Zustand zwischen ihnen herzustellen, ist dann
aber wiederum der Menschen Pflicht. Und erst wenn er ein-
geführt und dadurch — wegen der Bedingtheit der innerlich-
vollkommenen Staatsverfassung durch die äußerlich- vollkommene
— auch den einzelnen Staaten für sich die Möglichkeit gegeben
ist, eine vollkommene Verfassung zu begründen, werden alle
natürlichen Anlagen des Menschen gehörig entwickelt werden
können. Denn dann ist ein Zustand der Menschheit gewonnen,
der einem bürgerlichen Gemeinwesen ähnlich ist und sich wie
ein Automat lange Zeit erhalten und beständig zum Bessern
fortschreiten kann. Und auch für die moralische Anlage ist in
ihm die Möglichkeit gegeben, sich fortzubilden. Mag auch der
Ertrag, den dieser ganze politische Fortschritt der Völker für
i) WW. VI S. 355 Ak.-Ausg. 2) Zum ew. Frieden S. 21 R.
3) a. a. O. S. 52.
Eigene Vollkommenheit. ^j
das Menschengeschlecht abwirft, zunächst nur eine Vermehrung
der Produkte ihrer Legahtät — der pfhcht gemäßen Hand-
lungen — bedeuten, insofern als allmählich die Gewalttätigkeiten
von Seiten der Mächtigen abnehmen, die Folgsamkeit gegenüber
den Gesetzen sich hebt, Wohltätigkeit, Zuverlässigkeit im Wort-
halten usw. zunimmt, so kann es doch nicht ausbleiben, daß
dadurch nach und nach auch die Besserung im moralischen Sinne
gefördert wird. Je mehr der einzelne Staat durch den allgemeinen
politischen Fortschritt daran gehindert wird, »einem andern ge-
walttätig zu schaden«, je mehr er sich also »allein am Recht halten
muß«^), um so mehr wird er auch imstande sein, sich der mora-
lischen Bildung seiner Bürger anzunehmen. Er hat nicht mehr
die Möglichkeit, alle seine Kräfte und Mittel auf eitle und gewalt-
same Erweiterungsabsichten anzuwenden, ist daher auch nicht
mehr genötigt, aus Mangel an Mitteln die innere Bildung seiner
Angehörigen zu vernachlässigen oder gar zu hemmen, sondern
besitzt genug, um tüchtige und ihrem Amte mit Lust obliegende
Lehrer zu besolden und sich durch seinen wohlüberlegten Er-
ziehungsplan positiv um die langwierige Aufgabe der guten mora-
lischen Bildung des Volkes zu kümmern.
Um aber vollen Erfolg zu haben, müssen nach Kants Aus-
führungen die Forderungen des Staats- und Völkerrechts noch
durch ein Weltbürgerrecht vervollständigt werden. Von der Ueber-
zeugung aus, daß die Erde um ihrer Kugelform willen, die es
ihren Bewohnern unmöglich macht, sich ins Unendliche zu zer-
streuen, allen Menschen gemeinsam gehört, und daher ursprünglich
jeder Mensch auf jeden Ort der Erde das gleiche Anrecht hat,
verlangt es, jedem einzelnen an allen Stellen der Erde ein Be-
suchsrecht zuzugestehen, das zwischen Gast- und Unterdrückungs-
recht in der Mitte liegt, und nur die Möglichkeit gewährt, un-
gehindert den Versuch eines Verkehrs mit den alten Einwohnern
des Landes zu machen. Dadurch aber ergänzt es den »un-
geschriebenen Kodex« der beiden andern Teile des öffentlichen
Rechts zum »öffentlichen Menschenrecht überhaupt« 2) und bildet
damit die letzte Voraussetzung für den ewigen Frieden und die
Ausbildung aller und besonders der moralischen Anlagen des
Menschen von selten des Staates.
Aber so sehr sich der einzelne Staat um die Moralität seiner
Bürger bemühen mag, so wenig ist er doch imstande, sie gegen
i) WW. VIII S. 311 Ak.-Ausg. 2) Zum ew. Frieden S. 25 R.
4*
c|2 Die besonderen sittlichen Aufgaben.
alle möglichen und unaufhörlich stattfindenden Angriffe zu
sichern. Das war, wie wir sahen, nur durch die Gründung
eines ethischen Gemeinwesens zu erreichen, die sich damit eben-
falls als eine Pflicht der Menschen erwies. Für sie bildet aber
der politische Zustand zwar eine Voraussetzung, sofern ohne ihn
ein ethisches Gemeinwesen »von Menschen gar nicht zustande
gebracht werden könnte«^), es wirklich zu schaffen, ist er jedoch,
so sehr er auch in seinem eigensten Interesse den Wunsch nach
tugendhafter Gesinnung seiner Bürger haben mag, um dadurch
die Unzulänglichkeit seiner Zwangsmittel auszugleichen, der Natur
der Sache nach nicht imstande. Denn das Prinzip des rechtlichen
Gemeinwesens ist der Zwang, das des ethischen die Freiheit.
Die Bürger zu zwingen, in ein ethisches Gemeinwesen zu treten,
würde also eine contradictio in adjecto sein. Darum werden
auch die Verfassung und Gesetze des ethischen Gemeinwesens
nicht von der politischen Macht gegeben werden können, wenn
sie sich auch insofern eine gewisse Einschränkung gefallen lassen
müssen, als sie nichts enthalten dürfen, was der Pflicht wider-
spricht, der sich seine Bürger zu unterwerfen haben, sofern sie
zugleich Bürger eines politischen Staates sind, ein Widerspruch
der freilich, wie Kant betont, von vornherein nicht befürchtet zu
werden braucht, wenn das politische Gemeinwesen nur »echter Art « ^)
Jst, d. h. wenn seine Obrigkeit bloß das gebietet, was mit dem
Sittengesetze im Einklang steht, und worin sie vom Untertan auch
allein Gehorsam fordern kann. Nur durch freien Entschluß also
können sich die Bürger eines Staates zu einem ethischen Gemein-
wesen vereinigen, und nur durch eine besondere Anstrengung
kann ein ethischer Staat gegründet werden. Aber auch darüber
müssen sich die zu einem solchen Staate zusammentretenden
Bürger eines politischen Gemeinwesens klar sein, daß die von
ihnen gestiftete Gemeinschaft noch nicht das ethische Gemein-
wesen selbst, sondern nur eine besondere Gesellschaft ist. Denn
wegen der Allgemeingültigkeit der Tugendpflichten ist der Be-
griff eines ethischen Staates im Gegensatz zu dem eines politischen
immer auf das Ideal eines Ganzen aller Menschen bezogen, und
erst dadurch, daß jede besondere Gesellschaft »zur Einhelligkeit
mit allen Menschen . . . hinstrebt « ^) , wird ein absolutes ethisches
Ganzes oder eine nicht bloß — wie die rechtliche — friedliche,
i) Religion usw. S. 98 R. 2) a. a. O. S. 100.
3) a. a. O.
Fremde Glückseligkeit. t^o
sondern sogar freundschaftliche weltbürgerHche Gemeinschaft
Zustandekommen. Und erst dann wird der Welt der ewige Friede
auch gesichert, erst dann aber auch die volle Lösung der sitt-
lichen Aufgaben der Menschheit möglich sein. Denn erst wenn
der ewige Friede herrscht, wird die Menschheit ihre moralische
Anlage zu ihrer höchsten auf Erden möglichen Vollkommenheit
zu entwickeln vermögen. Und erst mit der völligen Entwicklung
der moralischen Anlage werden auch die schon im politischen
Zustande entfalteten natürlichen Anlagen ihre ganze Bedeutung
erhalten, die darin besteht, der allgemeinen Glückseligkeit zu
dienen. Denn »alles Gute, das nicht auf moralisch-gute Gesinnung
gepfropft ist, ist nichts als lauter Schein und schimmerndes
Elend« ^). Erst wenn es moralisiert ist, wird also das Menschen-
geschlecht aus dem »glänzenden Elende« 2), in dem es sich trotz
aller technischen und wissenschaftlichen Kultur und aller gesell-
schaftlichen Zivilisation bisher befindet, herauszukommen und
seine höchste Bestimmung hier auf Erden zu erfüllen vermögen,
soweit davon überhaupt gesprochen werden kann.
2. Fremde Glückseligkeit.
Zur Erfüllung ihrer Bestimmung bedarf es nun aber für
die Menschen nicht nur der Sorge für die Entwicklung ihrer
eigenen natürlichen und besonders ihrer moralischen Anlage.
Im höchsten Gute war außer dem Moment der Tugend auch noch
das der Glückseligkeit enthalten. Und bildete auch die Tugend
als die Würdigkeit, glücklich zu sein, die Bedingung der Glück-
seligkeit und insofern in dieser Verbindung das oberste Gut,
so wurde sie doch erst dadurch zum ganzen und vollendeten
Gut, daß die Glückseligkeit hinzukam. Darum ist es die Pflicht
der Menschen, auch für diese zu sorgen. Die mit Vernunft und
Freiheit ausgestattete Menschheit soll alles aus sich selbst heraus-
bringen, also auch Schöpferin ihres Glücks sein.
Aber diese Aufgabe nimmt, wie schon oben angedeutet wurde ^),
für den einzelnen noch ihre besondere Form an. Als endliches
Wesen hat jeder schon von selbst das unausbleibliche Verlangen,
glücklich zu werden. Es wäre also töricht, wenn man schlecht-
1) WW. VIII S. 26 Ak.-Ausg.
2) Krit. d. Urteilskraft S. 325 R. 3) S. 35.
CA Die besonderen sittlichen Aufgaben.
hin gebieten wollte, daß jeder für seine individuelle Glück-
seligkeit sorgen solle; ja man hat nicht einmal die Möglichkeit,
es ihm ohne Widerspruch zur Pflicht zu machen, da diese eine
Nötigung zu einem ungern übernommenen Zwecke ist. Nur
insofern kann daher von einer Pflicht des Menschen, die eigene
Glückseligkeit zu befördern, gesprochen werden, als er sich von
einer einzelnen Neigung verleiten läßt, die allerdings schwankende
und unbestimmte allgemeine Idee der Glückseligkeit hintan-
zusetzen und dadurch in die Gefahr gerät, seine übrigen Pflichten
nicht in angemessener Weise erfüllen zu können. Denn das Vor-
handensein der Glückseligkeit steigert die Fähigkeit der Pflicht-
erfüllung, wie ihr Fehlen leicht zur Versuchung werden kann,
das Pflichtgebot zu übertreten. Auch in diesem Falle ist darum
der eigentliche Zweck, auf den die Bemühung des einzelnen gerichtet
wird, nicht die eigene Glückseligkeit, sondern die Sittlichkeit,
der lediglich Hindernisse aus dem Wege geräumt werden sollen.
Nicht direkt, sondern nur indirekt kann es also Pflicht sein, für
die eigene Glückseligkeit zu sorgen.
Anders steht es dagegen, wenn die Glückseligkeit der Mit-
menschen in Frage kommt. Gibt es auch manchen, der aus Neigung
andern wohlzutun sucht, so kann doch keine Rede davon sein,
daß diese Neigung der menschlichen Natur ebenso notwendig
wäre wie die, sich selbst glücklich zu machen. Hier wird daher
die Glückseligkeit selbst zum Zweck und ihre Beförderung zur
Pflicht, und zwar gar nicht aus egoistischer Berechnung heraus,
wie sie dem Satz zugrunde liegt: was du nicht willst, daß man
dir tu usw., sondern einfach aus Achtung vor dem Sittengesetze,
das die entgegengesetzte Maxime, andern nicht beizustehen,
ausschließt ^). Aber auch jetzt muß jede Handlung erst auf ihre
moralische Zulässigkeit hin geprüft werden , ehe sie in den
Dienst der fremden Glückseligkeit gestellt werden darf. In-
sofern ist deren Beförderung nur bedingter Weise Pflicht. Es
ergeht daher von hier aus an jeden einzelnen das Gebot, die Glück-
seligkeit anderer einerseits dadurch zu befördern, daß er nichts
tut, was sie zu Handlungen veranlassen könnte, über die sie
ihre Selbstachtung verlieren und Gewissensbisse empfinden müßten,
andererseits positiv dadurch, daß er ihre erlaubten, d. h. mit
dem Sittengesetz vereinbaren Zwecke auch zu den seinigen macht.
Hierbei wird er sich nun wegen der Relativität der Glückseligkeit
I) Vgl. S. i6f.
Fremde Glückseligkeit. ce
im allgemeinen auch nicht nach seinen, sondern nach ihren Be-
griffen von Glückseligkeit richten müssen. Und aus diesem Grunde
verurteilt Kant auch auf das lebhafteste jede Regierung, die
sich in patriarchalischer Weise ganz souverän die Entscheidung
darüber anmaßt, wie die Untertanen glücklich sein sollen. Aber
doch gesteht er dem Wohltäter die Befugnis zu, wenigstens manches
zu verweigern, was nach seinem Dafürhalten der Glückseligkeit
des andern nicht nützt, es müßte denn sein, daß dieser ein Recht
hat, es von ihm zu fordern.
So ist auch diese Pflicht von weiter Verbindlichkeit. Sie
hat einen Spielraum, und ihre Grenzen lassen sich nicht genau
angeben. Sie gilt nur für die Maximen, nicht aber für bestimmte
Handlungen. Und doch ist sie von höchster Bedeutung. Denn
erst dann wird die Idee der Menschheit als Zweck an sich selbst
bei jedem alle Wirkung tun, wenn er sich um fremde Glück-
seligkeit bemüht. »Denn das Subjekt, welches Zweck an sich
selbst ist, dessen Zwecke müssen . . . auch, soviel möglich, meine
Zwecke sein « ^) , Und erst durch diese Einstellung zur Glück-
seligkeit erhält auch die natürliche Sorge jedes Menschen für
sein eigenes Wohlergehen moralischen Charakter und die
Bedeutung einer Pflicht. Denn dann sorgt der einzelne für sich
nicht mehr unmittelbar und als einzelrien, sondern nur insofern,
als er »einer von allen ist, auf die sein ausgebreitetes und edles
Gefühl von der Würde der menschlichen Natur sich ausdehnt « ^) .
Und dadurch, daß die Maxime seiner Selbstliebe durch die Form
der Allgemeinheit für den einzelnen selbst eingeschränkt, auf
andere aber ausgedehnt wird, bekommt sie die objektive Geltung
eines Gesetzes. Und erst von hier aus erhält auch die Forderung,
um fremde Glückseligkeit sich zu kümmern, ihren vollen Sinn.
Sie bedeutet nicht, nur für die andern Sorge zu tragen, sich selbst
aber zu vernachlässigen oder gar für andere zu opfern, sondern
verlangt die Beförderung des Wohles aller oder die der allgemeinen
Glückseligkeit, die Realisierung des Weltbesten.
i) Grundl. z. M. d. S. S. 67 R.
2) WW. II S. 217 Ak.-Ausg.
efß Die Realisierbarkeit des Weltbesten.
III. Die Realisierbarkeit des Weltbesten.
I. Ihre Bedeutung für die sittlichen Aufgaben.
Die Realisierung des höchsten Gutes war die Bestimmung
der Menschheit. Daraus ergab sich für den einzelnen eine doppelte
Aufgabe. Er mußte für sich selbst nach sittlicher Vollkommen-
heit streben und sich außerdem die Förderung der Glückselig-
keit aller angelegen sein lassen. Im Interesse der ersten Aufgabe
waren aber auch an die Gesamtheit gewisse Forderungen zu stellen.
Sie mußte auf einen ewigen Frieden bedacht sein, der allein die
volle Entwicklung aller ursprünglichen Anlagen der Menschheit
in jedem einzelnen ermöglichte und den nur ein ethischer Staat
gewährleisten konnte. Der aber setzte seinerseits wiederum eine
vollkommene politische Verfassung der einzelnen Staaten sowohl
für sich als auch im Verhältnis zueinander voraus.
So waren die ethischen Aufgaben beschaffen, die sich aus
der höchsten Forderung der praktischen Vernunft ergaben. Und
sie behalten in Kants Augen für die Menschen als vernünftige
Wesen unter allen Umständen ihre Geltung. Es ist und bleibt
sittlich notwendig, daß der ganze menschliche Lebenswandel
diesen Aufgaben untergeordnet wird. Denn sie alle sind Konse-
quenzen des Sittengesetzes, und das gebietet kategorisch. Aber
mitsamt ihrer Grundlage sind sie doch zunächst bloße Ideen, denen
wir zwar als vernünftige Wesen unsern Beifall und unsere
Bewunderung nicht versagen können, die aber für uns als end-
liche und von allen möglichen Neigungen affizierte Wesen
noch nicht ohne weiteres »Triebfedern des Vorsatzes und
der A u s ü b u n g« ^) bilden.
Indes nicht die Bewunderung, sondern die Tätigkeit ist es,
worauf im Praktischen alles ankommt. Für sie werden aber die
ethischen Forderungen erst dann von Bedeutung, wenn wir
wenigstens daran glauben können, daß der letzte Zweck, auf
den sie alle hinzielen, und »der einem jeden vernünftigen Wesen
natürlich und durch eben dieselbe reine Vernunft«, die ihm das
praktische Gesetz gibt, »a priori bestimmt und notwendig ist«^),
auch realisiert werden kann, m. a. W. wenn wir es wenigstens
als möglich denken und darauf hoffen dürfen, daß die Befolgung
i) Krit. d. rein. Vern. S. 615 R.
Die Realisierbarkeit als Glaubenssache.
57
der sittlichen Vorschriften wirklich den Erfolg hat, den die reine
Vernunft mit ihr verknüpft, also wirklich zur Glückseligkeit
führt. Denn »dem Objekte eines Begriffs nachzustreben, welcher
im Grunde leer und ohne Objekt wäre«^), würde praktisch un-
möglich sein; und wenn es feststände, daß das höchste Gut nicht
realisiert werden könnte, so würden die moralischen Gesetze
nichts sein als bloße Ideale und leere Hirngespinste. Nur unter
der Voraussetzung der Realisierbarkeit des höchsten Gutes läßt
sich erwarten, daß sich die dem Sittengesetze stets und immer
geschuldete Achtung nicht abschwächt, daß der moralischen Ge-
sinnung kein Abbruch widerfährt, und das sittliche Streben nicht
ermatten, sondern fest und beharrlich seiner Aufgabe nachkommen
wird. So wird diese Frage zu einem wichtigen, ja zum allerwich-
tigsten Problem der kantischen Lebensphilosophie.
2. Die Realisierbarkeit als Glaubenssache.
Tritt man an es heran, so steht es für Kant aus sittlichen
und in letzter Linie teleologischen Gründen absolut fest, daß
das höchste Gut muß realisiert werden können. Allerdings sind
wir nicht imstande, seine Realität in der Erfahrung, also für
den theoretischen Vernunftgebrauch hinreichend, zu erweisen.
Aber daraus, daß die theoretische Vernunft der Möglichkeit
seiner Existenz auch nicht im Wege steht, und es zudem ein
Gebot der reinen praktischen Vernunft ist, zu seiner Hervor-
bringung alles zu tun, was in unsern Kräften steht, geht zur
Genüge hervor, daß wir nicht nur befugt sind, seine Möglichkeit
anzunehmen, sondern sie sogar annehmen müssen. »Denn einem
Zwecke, der für nichts als Hirngespinst erkannt wird, nachzugehen,
kann die Vernunft nicht gebieten« 2). V^er das behaupten wollte,
müßte das moralische Gesetz, von dem jenes Gebot ausgeht,
.»als -bloße Täuschung unserer Vernunft in praktischer Rück-
sicht«^) ansehen. Dadurch aber würde er die Vernunft, die es
als ein unbedingt gültiges Prinzip gibt, mit sich selbst in Wider-
spruch bringen und würde, da sie uns in erster Linie um der
Moral willen gegeben ist, nichts geringeres zum Ausdruck bringen,
i) Krit. d. pr. Vern. S. 171 R.
2) Krit. d. Urteilskraft S. 375 R.
3) Krit. d. pr. Vern. S. 137 R.
^3 Die Realisierbarkeit des "Weltbesten.
als den »Abscheu erregenden Wunsch«, überhaupt aller Vernunft
»zu entbehren und sich seinen Grundsätzen nach mit den übrigen
Tierklassen in einen gleichen Mechanism der Natur . geworfen
anzusehen«^). Das aber wäre eine Vernichtung der sittlichen
Grundsätze, die jeden in seinen eigenen Augen als nichtswürdig
und verworfen erscheinen lassen müßte, weil ihm dadurch gerade
das genommen würde, worauf allein seine Würde und die Ach-
tung, die ihm im Unterschiede von allen andern Geschöpfen ge-
bührt, beruht. Will man daher diese Degradierung der Mensch-
heit vermeiden — und man muß sie vermeiden, weil die Stimme
des Sittengesetzes in uns ihr aufs Entschiedenste widerspricht — ,
so bleibt nichts anderes übrig, als zuzugestehen, daß wir das
höchste Gut, das zu befördern uns die moralisch-praktische Ver-
nunft mit aller Entschiedenheit gebietet, als ein »wahres Objekt« ^)
ansehen müssen.
Aber diese Notwendigkeit ist doch nicht selbst wieder eine
Pflicht oder ein Gebot und insofern objektiv. Denn es kann gar
keine Pflicht geben, die Existenz eines Dinges anzunehmen, weil
darüber nur durch den theoretischen Gebrauch der Vernunft
etwas ausgemacht werden kann. Sie ist vielmehr ein mit dem
Pflichtgebot verbundenes und insofern moralisch gewirktes B e-
dürfnis der reinen praktischen Vernunft, also nur subjektiv.
Die Vernunft, die in der Existenz des höchsten Gutes eine un-
umgängliche Voraussetzung dafür findet, daß der Gedanke des
moralischen Gesetzes das Tun und Lassen des Menschen auch
wirklich und beharrlich beeinflußt, und die doch ihre Unfähig-
keit einsieht, sie zu beweisen, wirkt infolge dieser Einsicht in
ihre Unzulänglichkeit durch den nach wie vor in ihr vorhandenen
Erkenntnistrieb selbst das Gefühl des Bedürfnisses, sie anzuneh-
men. Da jedoch das moralische Gesetz die Beförderung des
höchsten Gutes unbedingt gebietet, so ist das Bedürfnis, das
seine Existenz annimmt, trotz seiner Subjektivität ein schlechter-
dings notwendiges, oder ein unbedingtes Bedürfnis. Es tritt in
der Vernunft nicht bloß dann auf, wenn wir urteilen wollen,
sondern mit Notwendigkeit, »weil wir urteilen müssen«^),
und zwar urteilen müssen, daß die Idee des höchsten Gutes mit
dem moralischen Gesetze unzertrennlich verbunden ist. Damit
1) WW. VI S. 355 Ak.-Ausg.
2) Krit. d. pr. Vern. S. 138/9 R.
3) WW. VIII S. 139 Ak.-Ausg.
Die Postulate der moralisch-praktischen Vernunft. gn
aber erweist sich das höchste Gut als ein Gegenstand, der als
Folge des pflichtmäßigen Gebrauchs der reinen praktischen
Vernunft a priori gedacht werden muß, oder als ein Postulat
der praktischen Vernunft, an das wir glauben und auf dessen
Erreichung wir vertrauen dürfen. Es ist weder eine Sache des
Wissens noch auch Sache bloßer Meinung, wohl aber eine — ■ und
zwar die fundamentale — Glaubenssache. Denn »Glaube ist
ein Vertrauen zu der Erreichung einer Absicht, deren Beförde-
rung Pflicht, die Möglichkeit der Ausführung derselben aber für
uns nicht einzusehen ist« ^), ein zwar objektiv mit Bewußt-
sein unzureichendes, subjektiv aber zureichendes Fürwahrhalten.
3. Die Postulate der moralisch-praktischen Vernunft.
Steht so die Realisierbarkeit des höchsten Gutes im allge-
meinen fest, so muß sich auch die Frage beantworten lassen, wie
man sie sich im einzelnen zu denken habe. Und zwar kommt es
für Kant hierbei vor allem darauf an, wie weit der Mensch
an ihr beteiligt ist.
Es lagen aber im Begriff des höchsten Gutes zwei Elemente:
Sittlichkeit und Glückseligkeit. Und so ergeben sich aus jener
Frage zwei Probleme, von denen das eine die Realisierbarkeit
des ersten und das andere die des zweiten Elements zum Gegen-
stande hat.
Was das erste Problem angeht, so stellt sich Kant auf den
Standpunkt, daß die Sittlichkeit, wie er sich wohl auch für seine
eigene Auffassung etwas zu weitgehend ausdrückt, »gänzlich in
unserer Gewalt« ^) ist. Sie ist etwas, »was niemand als der Mensch
selbst sich geben oder nehmen kann«^). Denn als moralisch kann
nur gewertet werden, was zurechnungsfähig ist, und als zurech-
nungsfähig nur, was unsere eigene Tat ist. Darunter aber ver-
steht Kant das, was Aktus einer — dritten — Freiheit ist, die
noch hinter der sittlichen Freiheit als der Unterordnung der Hand-
lungen unter das Sittengesetz liegt, weil sich die Willkür des
Menschen durch diese Tat überhaupt erst für die Annahme des
Prinzips des Guten oder des Bösen als oberste Maxime des Han-
i) Krit. d. Urteilskr. S. 374 R.
2) Krit. d. Urteilskr. S. 373 A. R.
3) WW. VIII 27 S. 283 * Ak.-Ausg., vgl. oben S. 27/8.
^Q Die Realisierbarkeit des Weltbesten.
delns entscheidet. Was aber der Grund dieser Tat ist, das können
wir nach Kants eigenen Ausführungen nicht weiter sagen. Sie ist
als außerhalb der Zeit gelegen für uns unerklärlich — denn er-
klären können wir nur, was wir von einer Ursache nach Gesetzen
der Natur abzuleiten vermögen, und etwas Derartiges ist mit
dem Gedanken einer freien Kausalität unvereinbar — , muß aber
trotz ihrer Unerforschlichkeit angenommen werden, um die Mög-
lichkeit dafür zu erhalten , beim Menschen überhaupt von Zu-
rechnung und infolge dessen auch von moralischer Beschaffenheit
zu sprechen. Durch diese Tat der Freiheit also soll er sittlich
werden. Was er aber werden oder tun soll, muß er Kants
teleologischem Prinzipe zufolge auch werden oder tun können.
Indessen schränkt Kant diese These, sofern sie den Gedanken
an die Zulänglichkeit des eigenen Tuns enthält, doch etwas ein.
Wir dürfen keineswegs schlechthin behaupten, daß das, was w i r
zum Gut- und Besserwerden zu tun imstande sind, für sich allein
zureiche und zur Vollendung unserer moralischen Anstrengungen
nicht noch eine »übernatürliche Mitwirkung«^) nötig sei. Doch
wird dadurch an ihrem eigentlichen Inhalt nicht viel geändert.
Auch wenn eine solche Hilfe nötig sein sollte, würde der gleiche
Grund moralischer Wertung überhaupt wenigstens dafür sprechen,
daß der Mensch müßte hoffen können, auf den Weg zur
Besserung durch eigene Kräfte zu gelangen. Das um so
mehr, als er sich, ehe ihm jener Beistand zuteil werden kann,
würdig machen muß, ihn zu empfangen, und fähig, ihn anzunehmen,'
und es dazu wiederum nichts anderes gibt als ernstliche Be-
strebung, seine sittliche Beschaffenheit nach aller Möglichkeit zu
bessern. Dazu kommt, daß der Begriff eines solchen übernatür-
lichen Beistandes immer transzendent ist und eine bloße Idee,
über deren Realität uns keine Erfahrung Sicherheit verschaffen
kann. Und schließlich läßt es die um unserer Moralität willen
zu fordernde eigene Tätigkeit als äußerst gewagt erscheinen,
ihn auch nur in bloß praktischer Absicht anzunehmen. Gibt
daher der Mensch der Vernunft Gehör, so ist es schon besser, so
zu verfahren, »als ob alle Sinnesänderung und Besserung ledig-
lich von seiner eigenen angewandten Bearbeitung abhinge« ^), und
im übrigen bloß zu hoffen, daß dann das, was nicht in seinem
Vermögen steht, durch höhere Mitwirkung auf irgendeine Weise
werde ergänzt werden, um deren genauere Bestimmung er sich
I) WW. VI S. 44 f. Ak.-Ausg. 2) a. a. O. S. 88.
Die Postulate der moralisch-praktischen Vernunft. 6l
nicht weiter zu sorgen braucht. Und so gilt unter allen Um-
ständen — mag eine solche Mitwirkung höherer Art da sein oder
nicht — der Grundsatz, »daß ein jeder soviel als in seinen Kräften
ist tun müsse, um ein besserer Mensch zu werden«^).
Ist aber aus moralischen Gründen dem Menschen die Fähig-
keit, durch eigene Kraft besser zu werden, entschieden zuzu-
sprechen, so darf auf der andern Seite doch nicht übersehen
werden, daß er als endliches Wesen das Ziel seines Strebens in
vollem Maße »in keinem Zeitpunkte seines Daseins « ^) erreichen
kann. Alle moralische Vollkommenheit, Zu der der Mensch ge-
langen kann, ist — wir wissen es schon — ^) immer nur Tugend,
und es ist nichts als lauter moralische Schwärmerei und Wahn
des Eigendünkels, »der Idee seiner heiligen Pflicht sich adäquat
zu halten« *). Die Forderung sittlicher Vollendung über-
steigt die menschlichen Kräfte und bringt »Unsinn in ihr Prinzip
hinein« ^). Ist sie dennoch — als Bedingung des höchsten Gutes —
geboten, und muß sie als geboten auch möglich sein, so kann sie
nur in einem ins Unendliche gehenden Fortschritt z u der völligen
Angemessenheit des Willens an das moralische Gesetz gesehen
werden. Der also ist es, worauf der Mensch zu achten hat und
den er durch seine eigenen Bemühungen auch zu bewirken im-
stande ist.
Steht nun in diesem Sinne und mit dieser Einschränkung
die Realisierbarkeit der Sittlichkeit in der Gewalt des Menschen,
so ist es mit dem Hinzutreten der Glückseligkeit zu der so errunge-
nen Tugend wesentlich anders bestellt. Daß wir imstande wären,
der Tugend in notwendiger und zureichender V/eise die ihr an-
gemessene Glückseligkeit zuteil werden zu lassen, daran ist nicht
zu denken. Da der äußere Zustand des Menschen von natürlichen
Ursachen abhängt, die als rein mechanisch wirkend an und für
sich — wenigstens für unsere Einsicht — auf die Verbindung der
Glückseligkeit mit der Tugend durchaus nicht abzielen, so müßten
wir, wenn wir ihn der Tugend angemessen machen wollten, nicht
nur das Vermögen besitzen, uns selbst — im moralischen Gesetze —
das Gesetz unseres Handelns zu geben, sondern obendrein die
Fähigkeit, auch die Natur diesem Gesetze zu unterwerfen, um
das Reich der Natur mit dem der Zwecke auf diese Weise in
i) a. a. O. S. 52. 2) Krit. d. pr. Vern. S. 147 R.
3) Vgl. S. 16. 4) WW. VI S. 173 Ak.-Ausg.
5) a. a. O. S. 433 *.
^2 Die Realisierbarkeit des Weltbesten.
Einklang zu bringen. Davon kann aber keine Rede sein. Der
Mensch als Teil der Natur ist nicht ihre Ursache, sondern von
ihr abhängig. Soweit er daher überhaupt auf das Naturgeschehen
einzuwirken vermag, richtet sich der Erfolg seines Eingreifens
allein nach seiner Kenntnis der Naturgesetze und seinem physi-
schen Vermögen, sie seinen Absichten zu unterwerfen. Die aber
reichen beide nicht aus, die Natur hinsichtlich seiner Glückselig-
keit mit seinen praktischen Grundsätzen in Uebereinstimmung
zu bringen.
So stellt sich heraus, daß die Verwirklichung des höchsten
Gutes nur zum Teil in unserer Gewalt steht. Wir können es
zwar — wenigstens bis zu einem gewissen Grade — realisieren,
soweit die Sittlichkeit, aber gar nicht, soweit die Glückseligkeit
in Frage kommt. Haben wir als moralische Wesen trotzdem
das vernunftnotwendige Bedürfnis, an seine volle Realisierbar-
keit zu glauben, so ergibt sich für den auch hier seiner Unfähig-
keit zu einer apodiktischen Entscheidung sich bewußten Erkennt-
nistrieb das weitere Bedürfnis, unser und der Natur Unvermögen
durch die Annahme gewisser Voraussetzungen zu ergänzen, ' die
zwar über alle mögliche Erfahrung hinausliegen, aber doch die
Verwirklichung des höchsten Gutes verständlich zu machen ver-
mögen. Und auch dieses Bedürfnis ist unbedingt. Denn ein
Vernunftbedürfnis, das auf einem objektiven Bestimmungsgrunde
des Willens, dem Sittengesetze, beruht, berechtigt uns als mora-
lische Wesen nicht nur, sondern macht es für uns unvermeidlich,
dasjenige vorauszusetzen, was zur Verwirklichung seines Objekts
anzunehmen für unsere menschliche Vernunft notwendig ist.
Jedoch haben diese Voraussetzungen, wenn sie auch an sich
»theoretische Positionen«^) sind und als solche nicht nur wider-
spruchslos, sondern auch so beschaffen sein müssen, daß sie von
der theoretischen Vernunft nicht widerlegt werden können, den-
noch als Prinzipien, die die Verwirklichung eines durchs mora-
lische Gesetz aufgegebenen Objektes denkbar machen sollen,
nicht die Bedeutung »theoretischer Dogmata « ^) oder den Wert
von Einsichten, die uns eine Erkenntnis des An-sich-seienden
zu geben vermöchten. Sie können vielmehr, obwohl sie als Be-
dingungen eines praktisch-notwendigen Bedürfnisses ebenso not-
wendig sind wie dessen Grundlage, das moralische Gesetz, nur
moralisch-praktische Realität oder die Bedeutung von Postu-
i) Krit. d. pr. Vera. S. 145 R. 2) a. a. O. S. 158.
Die Postulate der moralisch-praktischen Vernunft. 53
laten der moralisch-praktischen Vernunft beanspruchen und gelten
für uns auch nur als moralische Wesen oder in Beziehung auf das
moralische Gesetz, mit dem sie als Bedingungen des von ihm
gebotenen Objekts für den, der »moralisch konsequent denken
will«^), unzertrennlich verbunden sind. Anders ausgedrückt:
sie betreffen nicht wirkliche Gegensi^ände, sondern sind einzig
und allein Maximen der Handlung, sagen also nicht, daß ihre
Objekte existieren, sondern verlangen nur, daß wir uns so ver-
halten, als ob sie existierten.
Zu diesen Postulaten gehören aber zwei: die Unsterblichkeit
der' Seele und das Dasein Gottes. Und zwar hängt jenes besonders
mit der im Begriff des höchsten Gutes enthaltenen Forderung
der Sittlichkeit, dieses mit der Verbindung von Tugend und
Glückseligkeit zusammen.
Denn die Forderung der Sittlichkeit hatte sich für eine tiefere
Betrachtung auf die Forderung eines unendlichen Fort-
schritts des Menschen zur Vollkommenheit reduziert. Ein
solcher unendlicher Progreß ist aber nur unter der Voraussetzung
möglich, daß der Mensch ins Unendliche fortdauert. So erweist
sich die Unsterblichkeit der Seele als eine für unser Denken un-
umgängliche Bedingung der durch das »unnachläßliche Gebot
der praktischen Vernunft « ^) geforderten und daher als möglich
anzusetzenden Realisierung des höchsten Gutes, Und das macht
es dem Menschen zum Vernunftbedürfnis und gibt ihm zugleich
das Recht, an sie zu glauben.
Wie aber das im höchsten Gute enthaltene Moment der
moralischen Vollkommenheit zum Glauben an ein »Uebersinn-
liches nach uns«^) führt, so nötigt die in ihm beschlossene Ver-
bindung von Tugend und Glückseligkeit zum Glauben an ein
»Uebersinnliches über uns«*). Denn da wir gar nicht einzusehen
vermögen, wie die Natur, sei es für sich, sei es unter unserer Ein-
wirkung, diese Verbindung sollte herstellen können, so sind wir
auch hier berechtigt, an die Wirklichkeit ihrer einzigen für uns
denkbaren Bedingung, d. h. an eine von der Natur unterschiedene
Ursache der gesamten Natur zu glauben. Weil sich aber in dieser
Verbindung die Glückseligkeit nach der moralischen Gesinnung
richtet, diese also den beherrschenden Faktor bildet, so müssen
wir uns die oberste Ursache weiterhin so denken, als ob sie sich
I) Krit. d. Urteilskr. S. 347 * R. 2) a. a. O. S. 383.
3) WW. I S. 534 Ros. 4) a. a. Ö. S. 533.
^A Die Realisierung des Weltbesten.
in ihrer auf die Natur gerichteten Tätigkeit von moralischen
Gesetzen leiten heße. Nun ist aber ein Wesen, das nach der Vor-
stellung von Gesetzen zu handeln vermag, eine Intelligenz und
seine Kausalität in dieser Hinsicht ein Wille. Also müssen wir
uns die oberste Ursache der Natur, sofern sie als Bedingung der
ReaHsierbarkeit des höchsten Gutes vorausgesetzt werden muß,
als ein Wesen denken, das durch Vorstellung und Wille Ursache
der Natur ist und sie zugleich nach moralischen Gesetzen be-
herrscht. M, a. W. : dieser aus der Vernunft selbst hervorgehende
Begriff einer obersten Ursache der Natur, den insofern uns selbst
zu machen die reine praktische Vernunft uns nötigt, ist
der Begriff eines moralischen Welturhebers oder, da wir einem
solchen alle Eigenschaften zuschreiben müssen, die zur Gründung
einer mit dem moralischen Endzweck, der unendlich ist, über-
einstimmenden Natur überhaupt erforderlich sind, Allwissenheit
nämlich, damit er das Innerste der Gesinnungen und deren mora-
lischen Wert erkenne, Allmacht, Allgegenwart, Ewigkeit usw.
— es ist der Begriff Gottes,
Gott und Unsterblichkeit sind also die unumgänglichen
Voraussetzungen für die Realisierbarkeit des höchsten Gutes.
Dieses selbst aber ist eine Aufgabe, die sich mit Notwendigkeit
aus dem kategorischen Imperativ ergibt. Und so bringt zuletzt
das Sittengesetz jene Objekte unvermeidlich mit sich. Der Mensch
kann daher mit Recht sagen, zwar nicht : es ist, wohl aber : ich
bin moralisch gewiß, daß es einen Gott und eine andere Welt
gibt. »Das heißt: der Glaube an einen Gott und an eine andere
Welt ist mit meiner moralischen Gesinnung so verwebt, daß,
so wenig ich Gefahr laufe, die erstere einzubüßen, ebensowenig
besorge ich, daß mir der zweite jemals entrissen werden könne« ^).
IV. Die Realisierung des Weltbesten.
I. Der Fortschritt der Menschheit.
Durch die soeben dargelegten Ueberlegungen glaubt Kant
die Realisierbarkeit des höchsten Gutes sichergestellt zu haben.
Aber es bleibt noch die Frage, wie sich die Reahsierung selbst
vollzieht, und zwar auch hier wieder mit der besonderen Zu-
i) Krit. d. rein. Vern. S. 626 R.
Der Fortschritt der Menschheit.
65
spitzung, wie und wie weit die Menschen sie bewirken und
bewirken können.
In dieser Hinsicht sieht sich nun Kant schon auf Grund
seiner Auffassung menschhcher Sitthchkeit von vornherein zu
einer Einschränkung zu weitgehender Erwartungen genötigt. Die
GlückseHgkeit sollte dem Menschen ja nur im angemessenen
Verhältnis zu seiner Sittlichkeit zuteil werden. Hier auf Erden
konnte aber gar nicht die Rede davon sein, daß der einzelne seine
sittliche Bestimmung erreichte. Nur von der Gattung ließ sich
das erwarten, von der Menschheit im Ganzen, so wie sie in Völker
und Staaten geteilt auf Erden angetroffen wird, und auch von
ihr nur im Fortschreiten durch eine unabsehliche Reihe von
Generationen ^). Und selbst das gilt nicht ohne eine weitere
Einschränkung. Nur dann nämlich würde die Gattung ihr Ziel
ganz erreichen, wenn einmal ein einzelner absolut vollkommen
und gut sein würde, so daß er imstande wäre, alle andern zu seiner
Höhe emporzuheben. Aber auch daran ist nicht zu denken.
Wegen der Unvertilgbarkeit des angeborenen Hanges zum Bösen
wird es niemals einen Menschen geben, der nicht irgendeine Ver-
dorbenheit in sich hätte. Auch die Gattung kann also die Be-
stimmung der Menschheit nie völlig erreichen, sie kann sich ihr
nur immer mehr nähern, und deshalb auch nur in dieser Form
der Annäherung ihr letztes Ziel verwirklichen. Macht man aber
darauf aufmerksam, wie befremdend es doch sei, daß die früheren
Generationen sich nur um der späteren willen abzumühen schei-
nen, so antwortet Kant: »So rätselhaft dieses auch ist, so not-
wendig ist es doch zugleich, wenn man einm.al annimmt« 2), daß
die mit Vernunft begabte Menschheit ihren Fortschritt zum
Bessern aus eigener Kraft bewirken soll. Das aber muß man
um ihrer im moralischen Interesse unentbehrlichen Freiheit willen
tun. Nun vollzieht sich dieser Prozeß des Fortschreitens zum
Bessern in der Geschichte. Und Kant ist der festen Ueberzeugung,
daß hier im großen und ganzen wirklich von einem Weiterkommen
gesprochen werden kann. Allerdings nicht in dem Sinne, daß
die Natur des Menschen im Laufe der Generationen immer
besser würde, oder die Masse des in seiner Natur angelegten
Guten beständig zunehme — denn dazu würde eine Art von
neuer Schöpfung nötig sein, während s. E. die Natur ihre dem
Boden und Klima angemessenen Formen längst erschöpft hat — ,
I) Vgl. S. 37. 2) WW. VIII S. 20 Ak.-Ausg.
Goedeckemeyer Kants Lebensanschauung. ' K
55 Die Realisierung des Weltbesten.
wohl aber in dem, daß die Menschen ihre ursprüngliche Anlage
zum Guten durch Umkehrung der aus ihrem natürlichen Hange
zum Bösen entstandenen Verkehrung der sittlichen Ordnung der
Triebfedern mit eigener Kraft wiederherstellen und gegen alle
Angriffe von selten jenes Hanges mehr und mehr sichern. Zu
stützen sucht er diese Ueberzeugung aber nicht bloß mit dem
Hinweise darauf, daß der Glaube an den Fortschritt der Welt
moralisch gefordert, und daher auch solange festzuhalten sei, als
nicht der — s. E. ganz unmögliche — Beweis für das Gegenteil
geführt werde, sondern auch durch die Erfahrung. Er meint,
daß die Erfahrung zum mindesten »ein Weniges « ^) von diesem
Fortschreiten erkennen lasse, so daß es sogar zu einem auch »für
die strengste Theorie haltbarem Satz«^) werde. Zu diesen empiri-
schen Argumenten gehört aber zunächst die fortschreitende
Kultur der Staaten im Innern. Sie besteht darin, daß jeder Staat
seinen Bürgern eine möglichst gute praktische Bildung zu ver-
leihen sucht und dazu auch genötigt ist, weil die einzelnen Staaten
schon in einem so künstlichen Verhältnis zueinander stehen,
daß keiner in der inneren Kultur nachlassen kann, ohne den an-
dern gegenüber an Macht und Einfluß einzubüßen. Und aus dem
gleichen Grunde geht mit dieser Steigerung der Tauglichkeit
Erweiterung der bürgerlichen Freiheit Hand in Hand. Die Frei-
heit der Religion tritt ebenfalls hinzu, die freie Kritik auch der
Gesetzgebung und überhaupt die für den Fortschritt eines Volkes
über alles wichtige Freiheit des Geistes, d. h. des Denkens und
der Rede, die das einzige Palladium der Volksrechte bildet, weil
dadurch allein die Beschwerden des Volkes ihren Ausdruck finden
können, und dem Staatsoberhaupt die Möglichkeit geboten wird,
Abhilfe zu schaffen. Und wenn man auch noch nicht behaupten
kann, daß sich die Menschheit schon in einem aufgeklärten Zeit-
alter befinde, einem solchen also, in dem die einzelnen imstande
wären oder auch nur in den Stand gesetzt werden könnten, sich
in allen Dingen ungeleitet ihres eigenen Verstandes sicher und gut
zu bedienen, so läßt sich doch wohl sagen, daß sie in einem Zeit-
alter der Aufklärung leben, in dem ihnen mehr und mehr die
Möglichkeit geboten wird, aus ihrer selbstverschuldeten Unmün-
digkeit herauszukommen und den M u t zu fassen , von ihrer
eigenen Vernunft öffentlich Gebrauch zu machen.
i) a. a. O. S. 27.
2) WW. VII S. 88 Ak.-Ausg.
Der Fortschritt der Menschheit.
67
Dieser ganze kulturelle Fortschritt muß nun aber auch zum
moralischen Fortschritt — auf den es in letzter Linie allein an-
kommt — führen und hat auch wirklich dazu geführt. Er muß
dazu führen, zunächst weil alle diese Errungenschaften der Kultur
unvermeidlich auf die Sinnesart des Volkes zurückwirken, indem
es durch die ihm gelassene Freiheit immer mehr zum selbständigen
Gebrauch seiner natürlichen Freiheit heranreift — »denn man
kann zu dieser nicht reifen, wenn man nicht zuvor in Frei-
heit gesetzt worden ist « ^) — , und dadurch eben der Boden für
den moralischen Fortschritt bereitet wird, der ohne Freiheit nicht
möglich ist ; dann aber auch aus dem Grunde, weil der bloße
kulturelle Fortschritt die Menschen nur zu einem glänzenden
Elende führen würde, sie also mit ihrem eigenen Streben nach
Glückseligkeit in einen Widerspruch brächte, dem sie nur dadurch
entgehen können, daß sie auch moralisch immer besser zu werden
suchen ^) .
Aber er h a t auch dazu geführt. Das glaubt Kant mancherlei
Begebenheiten seiner Zeit entnehmen zu können. Dahin rechnet
er vor allem zwei: »die allmählich zum Bessern hinstrebende,
auf wahre Rechtsbegriffe sich gründende Staatsverbesserung« ^),
wie sie in der französischen Revolution als der »Evolution einer
naturrechtlichen Verfassung« zutage getreten ist *), und das
öffentliche Auftreten der wahren Religion. Denn wenn beide
Tatsachen anfangs auch nur als Mittel zu selbstsüchtigen Zwecken
gedacht waren, so sind sie schließlich doch auch als Zwecke an
sich selbst in Achtung gekommen, wie bei der französischen Re-
volution vor allem an der allgemeinen und doch uneigennützigen,
weil gefährlichen, Teilnahme aller Zuschauer deutlich zu erkennen
ist. Eben dadurch sind sie aber auch Fortschritte auf dem Wege
zum Moralisch-Bessern geworden.
Diese allgemeine und uneigennützige Teilnahme weist nun
auch auf eine Beschaffenheit des Menschengeschlechts hin, die es
gestattet, selbst ohne Sehergeist vorauszusagen, daß es auch in
Zukunft zum Bessern fortschreiten wird — vielleicht nicht ohne
manchen Rückschlag, aber doch beharrlich und so, daß keine
menschliche Macht imstande ist, es jemals gänzlich daran zu hin-
i) Religion usw. S. 204 * R. 2) Vgl. S. 53.
3) Worin besteht der Fortschritt zum Besseren im Menschengeschlecht ed.
Kulimann S. 18.
4) WW. VII S. 88 f. Ak.-Ausg.
5*
58 Die Realisierung des "Weltbesten.
dern. Denn die Allgemeinheit der Teilnahme beweist, daß das
Menschengeschlecht im ganzen einen ganz bestimmten Charakter,
d. h. den Willen, nach festen Grundsätzen zu handeln, besitzt,
und die Uneigennützigkeit zeigt, daß dieser Charakter
wenigstens in seiner Anlage moralisch ist. In diesem moralischen
Charakter aber besitzt es die Beschaffenheit, die es ihm mög-
lich macht, selbst Urheber seines Fortschreitens zum Bessern
zu sein. Denn in dem »lebhaften Gefühl der Lust«^), das infolge
dieser moralischen Tendenz in allen aufgeklärten, d. h. ihres
Vernunftgebrauchs wirklich mächtigen Menschen beim Gelingen
eines Fortschritts zum Bessern auftritt, ist zugleich der subjektive
Grund zur Beförderung desselben gegeben, der für sinnlich-
affizierte vernünftige Wesen zur Erfüllung der ihnen von der
Vernunft vorgeschriebenen Pflicht unentbehrlich ist. Und der
wird sich sogleich bemerklich machen, wenn nur die äußeren Um-
stände eintreten, unter denen er sich betätigen kann. Wann sie
aber eintreten werden, läßt sich nicht bestimmen, nur daß sie
irgendwann einmal auftreten müssen, kann »wie beim Kalkül
der Wahrscheinlichkeit im Spiel« 2) vorausgesagt werden. Und
daß sich dann die moralische Tendenz des Menschengeschlechts
in der Tat als wirksam erweisen wird, sichert nach Kants Ansicht
wiederum die französische Revolution. »Denn ein solches Phä-
nomen in der Menschengeschichte vergißt sich nicht
mehr«; es »ist zu groß, zu sehr mit dem Interesse der Mensch-
heit verwebt .... als daß es nicht den Völkern bei irgendeiner
Veranlassung günstiger Umstände in Erinnerung gebracht und
zu Wiederholung neuer Versuche dieser Art erweckt werden
sollte « ^) .
Die so begründete Ueberzeugung vom Fortschritt des Men-
schengeschlechts v/ill sich Kant aber auch nicht durch das ab-
weichende Urteil der Politiker nehmen lassen. Berufen sich diese
auf widerstreitende Erfahrungen, um von da aus zu behaupten,
daß sich die Geschichte der Menschheit nur in einem ewigen
Zirkel drehe, ohne jemals weiterzukommen, so übersehen sie,
daß diese Erfahrungen nur deshalb möglich sind, weil ihr Un-
glaube an Tugend überhaupt und an die Kraft einer rein morali-
schen Triebfeder sie veranlaßt, vorsätzlich und nach allen Kräften
alles zu unterdrücken, was das Fortrücken zum Bessern sichern
i) Worin besteht usw. ed. Kullm. S. 21.
2) WW. VII S. 84 Ak.-Ausg. 3) a. a. O. S. 88.
Die Realisierung der Sittlichkeit. 5q
könnte, so daß sie auf diese Weise selbst Urheber von Erfah-
rungen werden, die gar nicht existieren würden, wenn sie sich
bei allen ihren Maßnahmen nur nach der Idee des Bessern richten
möchten. Aber wenn sie mit ihren »verräterischen Anschlägen«^)
auch eine Zeitlang Erfolg haben, auf die Dauer wird ihnen alles
nichts nützen. Denn, so erklärt Kant ^) mit unerschütterlichem
Vertrauen: ist das Wahre und Gute erst einmal öffentlich ge-
worden, dann wird es vermöge der natürlichen Verwandtschaft,
in der es mit der moralischen Anlage vernünftiger Wesen steht,
nicht ermangeln, sich durchgängig mitzuteilen, immer weiter
fortzuschreiten und sich fernerhin von selbst zu erhalten. Er
offenbart damit einen Glauben an die Macht des Guten, der zu
den wichtigsten Momenten seiner Lebensphilosophie gehört und
seinen entschiedensten Ausdruck vielleicht in den Worten über
die menschliche Natur gefunden hat, »welche, da in ihr immer
noch Achtung für Recht und Pflicht lebendig ist, ich nicht für
so versunken im Bösen halten kann oder will (!), daß nicht die
moralisch-praktische Vernunft nach vielen mißlungenen Ver-
suchen endlich über dasselbe siegen .... sollte«^).
2. Die Realisierung der Sittlichkeit.
So steht für Kant der Fortschritt der Menschheit zum Bessern
fest. Fragt man aber nach dem Mittel, durch das er sich befördern
läßt, so antwortet der Philosoph mit der Erziehung. Als ver-
nünftiges Geschöpf wird der Mensch nicht vom Instinkt geleitet,
sondern muß sich den Plan seines Verhaltens selbst machen.
Dazu ist er aber, roh und wild wie er auf die Welt kommt, nicht
sogleich imstande, sondern muß erst durch künstliche Bemühungen
anderer vorbereitet werden. Diese Bemühungen faßt der Begriff
der Erziehung zusammen. Sie dient dazu, sowohl die natürlichen
als auch die moralische Anlage des Menschen immer mehr zu
entwickeln, ihn dadurch aus dem rohen Zustande der Tierheit
heraustreten und erst wirklich zum — vernünftigen — Menschen
und zu einer — moralischen — Persönlichkeit werden zu lassen.
Erst als solche ist er ein freihandelndes Wesen, »das sich selbst
erhalten, in der Gesellschaft ein Glied ausmachen, für sich selbst
i) a. a. O. S. 80. 2) Religion usw. S. 131 R.
3) WW. VIII S. 313 Ak.-Ausg. Das Ausrufungszeichen habe ich eingefügt.
70
Die Realisierung des Weltbesten.
aber einen innern Wert haben kann«'-), als solche erreicht er also
auch erst seine Bestimmung. Darum bedarf der Mensch
der Erziehung. Und darum konnte Kant sie auch so hoch werten,
daß er erklärte: »Hinter der Edukation steckt das große Ge-
heimnis der Vollkommenheit der menschlichen Natur « ^) .
Aber je höher er sie stellte, um so wichtiger wurde die Frage
nach ihrem Träger. Und hier glaubte er nun doch die Ansicht
vertreten zu müssen, daß der Mensch selbst nicht imstande sei,
ihrer höchsten Aufgabe, der Bildung zum Guten oder zur Beför-
derung des Weltbesten, gerecht zu werden.
Denn wer sollte diese Aufgabe übernehmen? Denkt man
an das Volk, so ist es eher geneigt, die Erziehung um der Kosten
willen, die sie mit sich bringt, von sich abzuwälzen, würde aber
auch sonst nicht imstande sein, sie in angemessener Weise durch-
zuführen. Denn eine Erziehung, die in der Hand so vieler und von
ganz verschiedenen Interessen bewegter Menschen läge, würde
nicht nur ohne jeden Zusammenhang, sondern, weil die Eltern
im allgemeinen ihre Kinder nur für ein gutes Fortkommen in der
Welt geschickt machen wollen, auch viel zu eng und beschränkt
sein.
. Denkt man an den Staat, dem das Volk die Erziehung gern
zuschieben möchte, so ergeben sich andere Bedenken. Einmal hat
er, so wie die Dinge jetzt liegen, für die Erziehung kein Geld
übrig, weil er alles zum Kriege braucht. Dazu kommt, daß auch
sein Sinn zu eng ist. Auch er hat nicht das Weltbeste, sondern
nur sein eigenes Wohl im Auge, und der Fürst sieht seine Unter-
tanen so sehr lediglich als Instrumente für seine Absichten an,
daß man geradezu behaupten kann, »daß das Glück der Staaten
zugleich mit dem Elende der Menschen wachse« ^). »Man hat keinen
Monarchen, der etwas zum Besten des menschlichen Geschlechts
tun will, auch nicht einmal zum Besten des Volks, sondern nur
vor das Ansehen des Staats, also auch nur vor das äußere«*).
So bleiben nur Privatmänner übrig, von deren Sorgfalt sich
eine der Bestimmung des Menschen entsprechende Erziehung er-
warten ließe. Und in der Tat begegnet uns bei Kant die ent-
schiedene Erklärung, daß alle Kultur vom Privatmanne an-
fange und sich von da her ausbreite, und deshalb auch »bloß
durch die Bemühung der Personen von extendierten Neigungen,
i) Paedag. ed. Rink S. 29. 2) a. a. O. S. 12.
3) a. a. O. S. 22. 4) WW. XV Nr. 1416 Ak.-Ausg.
Die Realisierung der Sittlichkeit. ^j
die Anteil an dem Weltbesten nehmen, und der Idee eines zu-
künftigen bessern Zustandes fähig\ sind, die allmähliche An-
näherung der menschlichen Natur zu ihrem Zwecke möglich«
sei 1). Aber auch hier ergeben sich noch gewisse, und zwar er-
hebliche, weil prinzipielle, Schwierigkeiten. Man hat allerdings,
wie er meint, allmählich eingesehen, was zu einer guten Erziehung
gehört — daß sie nämlich in allererster Linie kosmopolitisch
sein muß — , und hat damit wenigstens objektiv die Möglichkeit
gewonnen, mit ihr den Anfang zu machen; aber der Erfolg aller
Versuche wird doch dadurch in Frage gestellt, daß derjenige,
welcher erziehen soll, wieder ein Mensch ist und so fort. Ihnen
allen aber ist als Menschen der unvertilgbare Hang zum Bösen
eigen und macht es unmöglich, eine beharrliche moralische Fort-
bildung der Gattung von ihnen zu erwarten. Dazu kommt ein
weiteres. Bei der Erziehung des ganzen Menschengeschlechts
muß eine Einwirkung vorhanden sein, die aufs Ganze und erst
von da aus auf die Teile geht. Die auszuüben sind Menschen
aber nicht imstande. Denn sie gehen mit ihren Entwürfen immer
von den Teilen aus und erstrecken aufs Ganze höchstens ihre
Ideen, nicht aber auch ihren Einfluß, und zwar vor allem deshalb
nicht, weil sie sich schon in ihren Entwürfen widerstreiten, und
sich daher schwerlich wie vernünftige Weltbürger aus eigenem,
freien Vorsatz zu einem einheitlichen Vorgehen zusammenfinden
werden. Soll dennoch die Menschengattung um ihrer Ver-
nunft und Freiheit willen alles aus sich selbst herausbringen,
erweisen sich aber alle in Betracht gezogenen Wege als ungang-
bar, so bleibt am Ende nichts anderes übrig, als das Erreichen
dieses Zieles von der Natur oder »vielmehr, weil höchste Weisheit
zur Vollendung dieses Zwecks erfordert wird« 2), von einer Vor-
sehung, wie sie schon zur Erklärung der Zweckmäßigkeit der
organischen Welt angenommen werden zu müssen schien, zu
erwarten; und zwar in der Weise, daß sie die Menschen durch
Herbeiführung der erforderlichen Umstände, aber unbeschadet
ihrer Freiheit zu dem, was guter Wille tun sollte, faktisch aber
nicht tut, drängt und sie nötigt, schließHch doch durch
eigene Vernunft eine Bahn einzuschlagen, in die sie sich von selbst
nicht leicht begeben würden. In höchstem Maße unterstützt
werden würde aber diese »Erziehung von oben herab« ^) in Kants
I) Paed. ed. Rink S. 19/20. 2) WW. VIII S. 310 Ak.-Ausg.
3) WW. VII S. 328 Ak.-Ausg.
72
Die Realisierung des Weltbesten.
Augen, wenn es gelänge, die allgemeine Weltgeschichte dieser
teleologischen Betrachtungsweise gemäß darzustellen und so zu
zeigen, daß die oberste Weisheit nicht bloß für das vernunftlose
Naturreich Sorge trägt, sondern auch um den vernünftigen Teil
der Welt, sich kümmert, der von jenem den Zweck enthält. Denn
diese Darstellung würde die Menschen von der moralisch be-
denklichen Tendenz befreien, eine vernünftige Absicht der Schöp-
fung erst in einer jenseitigen Welt zu suchen, und würde sie im
höchsten Maße in der Erfüllung ihrer Pflicht bestärken, das Beste
dieser Welt nach allen Kräften zu befördern.
Was nun diese Erziehung von oben herab im einzelnen an-
geht, so muß man sich Kants Wunsche gemäß ^) gegenwärtig
halten, daß der moralische Fortschritt der Menschheit eine nega-
tive und eine positive Seite enthält. Die negative besteht in der
allmählichen Beseitigung des Krieges als des größten Hindernisses
alles Moralischen, oder in der Herstellung eines gesicherten Frie-
dens zwischen Menschen und Völkern, die positive im Hervor-
bringen und beharrlichen Ausbreiten des Guten. Und von ihnen
bildet die erste die Bedingung und Voraussetzung der zweiten.
Erst dadurch, daß der Krieg beseitigt und ein sicherer Friedens-
zustand gewonnen ist, wird dem Menschengeschlecht der Fort-
schritt zum Bessern insofern gesichert, als es darin wenigstens
nicht mehr gestört werden kann.
Das Mittel aber, dessen sich die Vorsehung in dieser Hin-
sicht bedient, ist, soweit sich ihr geheimer Mechanismus durch-
schauen läßt, in dem den Menschen eigentümlichen Antagonismus
ihrer Neigungen und der damit verbundenen Zwietracht zwischen
ihnen zu erblicken. Denn die führt im Naturzustande zur »kon-
tinuierlichen Läsion der Rechte aller andern« 2), zu jener Un-
sicherheit, in der sich jeder hinsichtlich des Seinen befindet, und
zu all der Not, die sich die in wilder Freiheit lebenden Menschen
selbst zufügen und die ihnen um so stärker fühlbar wird, je mehr
ihre Kultur auf dem Wege des Naturzwanges steigt. Dadurch
aber sehen sie, die sonst für ungebundene Freiheit so sehr ein-
genommen sind, sich schließlich genötigt, sich, wenn auch
ungern, dem Zwange öffentlicher Gesetze zu unterwerfen und
zu irgendeiner bürgerlichen Verfassung zusammenzutreten. Doch
bringt es die Art ihres Zustandekommens mit sich, daß sie zu-
nächst nichts weiter ist als »ein Maschinenwesen der Vorsehung,
i) Vgl. a. a. O. S. 86, 93. 2) Religion usw. S. 10 i * R.
Die Realisierung der Sittlichkeit.
73
wo die einander entgegenstrebenden Kräfte zwar durch Reibung
einander Abbruch tun, aber doch durch den Stoß oder Zug an-
derer Triebfedern lange Zeit im regelmäßigen Gange erhalten
werden«^). Und ihre höchste Form, die »wahre bürgerliche Ver-
fassung« der Republik ergibt sich aus den äußeren Kriegen, die
mit der fortschreitenden Kultur der Staaten und dem damit zu-
gleich wachsenden Hange, sich auf Kosten anderer zu vergrößern,
immer zahlreicher werden. Denn alle die Not und Mißhelhgkeit,
die sie mit sich bringen, muß die Staaten schHeßlich dazu treiben,
sich im Innern so zu organisieren, »daß nicht das Staatsoberhaupt,
dem der Krieg (weil er ihn auf eines andern, nämlich des Volks,
Kosten führt) eigenthch nichts kostet, sondern das Volk, dem er
selbst kostet, die entscheidende Stimme habe, ob Krieg sein
solle oder nicht« 2), muß sie also m. a. W. zur Realisierung der
republikanischen Verfassung veranlassen. Die ist die einzige,
die ihrer Natur nach nicht kriegssüchtig sein kann, sondern zum
Frieden geneigt sein muß, weil das Volk im Gegensatze zu den
Herrschern, die »des Krieges nie satt werden können« 2), es wohl
bleiben lassen wird, »aus .bloßer Vergrößerungsbegierde oder um
vermeinter, bloß wörtlicher Beleidigungen willen sich in Gefahr
persönlicher Dürftigkeit, die das Oberhaupt nicht trifft, zu ver-
setzen« ^).
Dieses Ziel aber wirklich, wenn auch nur annäherungsweise,
zu erreichen wird der Natur doch erst spät gelingen. Zwar kommt
sie den Menschen, deren guter Wille auf jene vollkommen gerechte
bürgerliche Verfassung gerichtet, aber zur praktischen Ausführung
ohnmächtig ist, durch die selbstsüchtigen Neigungen, die sie in sie
gelegt hat, insofern zu Hilfe, als sie ihnen zunächst nur eine rein
mechanisch zu lösende Aufgabe stellt *), und zudem durch den
Zwang, den sie auf sie ausübt, sich in ihrem äußeren Verhalten
nach der Rechtsidee zu richten, auch dieser selbst allmählich
Anerkennung und schließlich sogar die Obergewalt verschafft.
Aber der ganze Prozeß kann doch nur sehr langsam zu seinem
höchstmöglichen Ergebnis führen, weil dazu außer dem guten
Willen auch richtige Begriffe von der Natur einer möglichen
Verfassung und große durch viele Weltläufe geübte Erfahrenheit
erfordert wird; »drei solche Stücke aber sich schwer und, wenn
i) WW. VII S. 330 Ak.-Ausg.
2) Zum ew. Frieden. Vorw.
3) WW. yill S. 311 Ak.-Ausg. 4) Vgl. S. 47.
74
Die Realisierung des Weltbesten.
es geschieht, nur sehr spät, nach viel vefgebhchen Versuchen,
einmal zusammenfinden können«^).
Aber die Vorsehung sucht die einzelnen nicht nur zur Grün-
dung einer staatsbürgerlichen Verfassung zu nötigen, um inner-
halb der Völker selbst Frieden zu stiften, sondern will auch den
Zustand beständiger Kriegsverfassung zwischen den Staaten be-
seitigen. Und sie geht dabei noch ihren ganz besonderen Weg.
Jeder Staat nämlich — oder sein Oberhaupt — hegt das
Verlangen, sich auf die Weise den dauernden Friedenszustand
zu verschaffen, daß er womöglich die ganze Welt beherrscht;
er sucht eine Universalmonarchie zu gründen. Dem aber stemmt
sich die Natur entgegen. Sie will es anders. Und mit Recht.
Denn mit dem vergrößerten Umfange der Regierung würden die
Gesetze immer mehr an Nachdruck verlieren, und die unver-
meidliche Folge würde ein »seelenloser Despotismus«^) sein, der
allmählich alle Freiheit und damit auch ihre Früchte: Tugend,
Geschmack und Wissenschaft vernichten und so alle Kräfte
des Menschen schwächen würde. Das aber wäre als Gegenteil
aller menschlichen Bestimmung schlimmer als selbst die Kriegs-
gefahr, die doch wenigstens insofern die Freiheit schützt, als zur
Kriegführung Geld erforderlich ist, das nur durch eine auf Frei-
heit gestützte Betriebsamkeit gewonnen werden kann^). Darum
hat die Natur selbst dieser Entwicklung einen Riegel vorge-
schoben. Je weiter es in einem solchen Universalstaate mit der
Entkräftung der Gesetze und der Ausrottung der Keime des Guten
kommt, um so mehr pflegen Aufruhr und Zwiespalt in diesem
»Ungeheuer « *) aufzutreten und es durch Zerspaltung in viele
kleine Staaten wieder aufzulösen. Die V-erschiedenheiten der
Sprache und die der Religion sind die Mittel, die der Vorsehung
dabei zur Verfügung stehen.
Aber auch »die sogenannte Balance der Mächte in Europa«^)
kann zur Stiftung eines dauernden Friedens zwischen ihnen nicht
in Betracht kommen. Sie ist nach Kants Ueberzeugung ein »bloßes
Hirngespinst « ^) , weil sie durch den geringsten Zuwachs auf der
einen Seite sofort verloren gehen müßte.
Und so ist das Einzige, was diesen Frieden wirklich und zu-
gleich ohne Gefährdung der Freiheit und aller menschlichen
I) WW. VIII S. 23 Ak.-Ausg. 2) Zum ew. Frieden S. 33 R.
3) Vgl. S. 66. 4) Religion usw. S. 34 * R.
5) WW. VIII S. 312 Ak.-Ausg.
Die Realisierung der Sittlichkeit. ^c
Kräfte herbeiführen kann, der schon i) erwähnte Völkerstaat,
in dem alle einzelnen Staaten dadurch, daß sie sich freiwillig
unter dessen Gewalt beugen und seinen Gesetzen gehorchen, zu
einer Einheit zusammenschmelzen. Eine solche Weltrepublik
bildet daher nach Kants Ueberzeugung die höchste Absicht der
Natur und das letzte Ziel der Vorsehung.
Nun setzt aber das auf freiwilliger Unterordnung der ein-
zelnen Staaten beruhende weltbürgerliche Ganze eine moralische
Basis voraus. Daher kann seine Verwirklichung erst dann er-
wartet werden, wenn die Menschen moralisch besser geworden
sind. Jedes zu frühe Zusammenschmelzen der Staaten
dagegen würde bedenklich sein. Es müßte einerseits zu einem
Despotismus führen und könnte darum wegen der Gefahren,
die eine solche Regierungsart der Freiheit bringt, nur schädlich
wirken, würde andererseits aber auch die Entfaltung der natür-
lichen Anlagen der Menschen beeinträchtigen, die im vormorali-
schen Zustande bloßer Gesittung noch des Streites bedarf. Denn
erst »nach einer (Gott weiß wann) vollendeten Kultur würde ein
immerwährender Friede für uns heilsam sein« 2), während
er auf der Stufe der Kultur, auf der das menschliche Geschlecht
noch steht — der Stufe der Gesittung im Gegensatz zur Sitt-
lichkeit — nur »den bloßen Handelsgeist, mit ihm aber den niedri-
gen Eigennutz, Feigheit und Weichlichkeit herrschend . . machen
und die Denkungsart des Volks . . erniedrigen«^) würde. Darum
hat die Natur auch hier die Verschiedenheit der Religion und
Sprache benutzt, um das vorzeitige Eintreten jenes idealen Zu-
standes zu verhüten, und, wie die Abneigung aller Staaten gegen
die Weltrepublik zeigt, mit Erfolg. Und doch ist sie zugleich
schon bestrebt, ihn wenigstens vorzubereiten, dadurch daß sie die
Staaten zwingt, sich zu einem nicht auf moralischen Grundsätzen,
sondern auf dem bloßen Mechanismus der menschlichen Nei-
gungen ruhenden r e c h 1 1 i c h-weltbürgerlichen Zustande oder
zu einem Völker b u n d e zusammenzufinden^), in dem »jeder,
auch der kleinste Staat seine Sicherheit und Rechte nicht von
eigener Macht . . ., sondern allein von diesem großen Völker-
bunde . . . und von der Entscheidung nach Gesetzen des ver-
einigten Willens erwarten könnte « ^) .
i) Vgl. S. 49. 2) a. a. O. S. 121.
3) Krit. d. Urteilskr. S. 118 R. 4) Vgl. S. 50.
5) WW. VIII S. 24 Äk.-Ausg.
yyg Die Realisierung des Weltbesten.
Das Mittel aber, dessen sie sich dazu bedient, ist wiederum
und vor allen andern der Krieg. Man spürt die tiefe Mißachtung
des Weisen gegenüber dem Treiben und Getriebenwerden der Poli-
tiker, wenn er erklärt, daß die Menschen für vernünftige Er-
wägungen erst spät zugänglich werden, und hinzufügt, daß sie
sich darum auch erst spät für jenes »heroische Arzneimittel« i)
gegen den Krieg empfänglich zeigen, das Hume angeführt haben
soll und das auf die Einsicht hinauskommt, daß Nationen, die im
Kriege gegeneinander begriffen sind, sich ebenso betragen wie
besoffene Kerle, die sich in einem Porzellanladen mit Prügeln
herumschlagen: denn nicht genug, daß sie an den Beulen, die
sie sich wechselseitig geben, lange zu heilen haben, sie müssen
hinterher auch noch allen den Schaden bezahlen, den sie an-
-richteten. Zunächst steht es in seinen Augen jedenfalls noch so,
daß jeder Staat seine Majestät darin sieht, gar keinem Zwange
unterworfen zu sein, und sein Oberhaupt seinen Glanz darin
findet, daß es, wenn es sich auch »bisweilen den obersten Diener
des Staates nennt« 2), doch niemand, auch nicht das Volksganze
über sich duldet. »Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht vor-
nehmlich bei denen, die Gewalt in Händen haben« ^), setzen daher
dem Zustandekommen eines solchen Völkerbundes durch Ver-
nunft so große Schwierigkeiten entgegen, daß der »großen Künst-
lerin Natur«*) nichts anderes übrig bleibt, als die Menschen
auch gegen ihren Willen zur Begründung desselben zu zwingen.
Und sie tut das durch die Not und Drangsal des Krieges. Der
Krieg ist daher, wenn er vom Menschen auch nur durch zügel-
lose Leidenschaften angestiftet wird, für die Natur mehr. Er
ist die Geisel, durch die sie das menschliche Geschlecht antreibt,
immer neue Verhältnisse zwischen den Staaten ausfindig zu
machen und einzurichten, bis sie schließlich nach vielen Ver-
wüstungen, Fehlschlägen und selbst durchgängiger innerer Er-
schöpfung ihrer Kräfte zu dem getrieben werden, was
ihnen die Vernunft auch ohne so viel traurige Erfahrung hätte
sagen können, nämlich »aus dem gesetzlosen Zustande der Wilden
hinauszugehen und in einen Völkerbund zu treten«^).
Zu diesem ersten und wichtigsten Mittel der Vorsehung zur
Herbeiführung des dauernden Friedens kommt als weiteres und
I) WW. VII S. 93 Ak.-Ausg. 2) Religion usw. S. 105 f. R.
3) Krit. d. Urteilskr. S. 325 R. 4) Zum ew. Frieden S. 25 R.
5) WW. VIII S. 24 Ak.-Ausg.
Die Realisierung der Sittlichkeit. mi-,
als Surrogat gewissermaßen des Begriffs des Weltbürgerrechts
der auf dem Eigennutz beruhende Handelsgeist. Durch ihn
werden nach Kants Auffassung die Völker überhaupt zu allererst
in ein friedliches Verhältnis gebracht. Denn unter allen Mitteln,
die dem Staat zur Verfügung stehen, um seine Bürger zu seinen
Absichten zu gebrauchen, ist das Geld das zuverlässigste. Das
aber wird in erster Linie durch den Handel gewonnen, der auf
Frieden angewiesen ist. Darum bemächtigt sich nicht nur der
Handelsgeist früher oder später jedes Volkes, die Staaten sehen
sich auch im eigensten Interesse gedrängt, den »edlen Frieden«^)
zu befördern und alles zu tun, um Kriege womöglich ganz zu
verhüten oder ausgebrochene so bald es geht zum Stillstand zu
bringen und auf diese Weise, wenn auch nur ganz von fern, zu-
gleich jenen großen Staatskörper vorzubereiten, durch den der
dauernde Friede allein erhalten werden kann.
Krieg und Handelsgeist sind also die Mittel, durch welche die
Natur die Menschen, die um ihrer Erhaltung willen »das fried-
liche Zusammensein nicht entbehren und dabei dennoch einander
beständig widerwärtig zu sein nicht vermeiden können« 2), auf rein
mechanischem Wege zwingt, mit Hilfe ihrer eigenen Vernunft
einen Ausgleich ihrer selbstsüchtigen und einander natürlicher-
weise widerstreitenden Interessen zu suchen, sie zwingt, sich
zu einem Völkerbunde zusammenzuschließen, in dem zwar keines-
wegs jede Gefahr beseitigt ist, damit die Kräfte der Menschheit
nicht einschlafen, in dem aber doch auch ein Prinzip der Aus-
gleichung vorhanden ist, damit sie sich nicht zerstören. Und
während so die »Hoffnung zu dem Ruhestande einer Volksglück-
seligkeit« ^) , d. h. aber nichts anderes als die Hoffnung auf ein in
untätiger Genügsamkeit aufgehendes »arkadisches Schäferleben«*)
immer mehr verschwindet, bringt sie in einer weltbürgerlichen
Gesellschaft eine gesetzmäßige Ordnung und damit einen Frieden
zustande, »der nicht wie jener Despotism (auf dem Kirchhofe
der Freiheit) durch Schwächung aller Kräfte, sondern durch ihr
Gleichgewicht im lebhaftesten Wetteifer derselben hervorgebracht
und gesichert wird«^).
Fragt man aber nach dem Grade der Sicherheit, die diesem
von der Natur »garantierten« Frieden zukommt, so ist doch eine
i) Zum ew. Frieden S. 34 R. 2) WW. VII S. 331 Ak.-Ausg.
3) Krit. d. Urteilskr. S. 326. 4) WW. VIII S. 21 Ak.-Ausg
5) Zum ew. Frieden S. 34 R.
fjß Die Realisierung des Weltbesten.
Einschränkung zu machen. Nur ein Völker Staat würde,
wie gesagt ^), eine absolute Garantie des Friedens sein; der Völker-
b u n d dagegen, zu dem die Natur die Menschen zwingt, kann
den ewigen Frieden nicht durchaus sichern. Er beruht nicht wie
jener auf der unverrückbaren moralischen Gesinnung, sondern
ist nur ein zwar sehr kunstreicher und lange regelmäßig fort-
laufender, aber doch stets labiler Mechanismus, schließt also den
Krieg nicht einfach aus, sondern wehrt ihn nur nach Möglich-
keit ab.
Und hieraus ergibt sich nun auch, welchen Sinn man dem
ewigen Frieden als letztem Ziele des Völkerrechts allein
zuweisen kann. Da der Völker b u n d den einzigen von Menschen
wirklich realisierbaren Zustand zwischen Staaten bildet, wegen
seines bloß mechanischen, nicht aber moralischen Charakters in-
dessen nicht ausreicht, um die Kriegsgefahr zu beseitigen, so
wäre es unberechtigt, das Eintreten des ewigen Friedens theo-
retisch behaupten und vorhersagen zu wollen. So betrachtet
ist er nicht mehr als ein »süßer Traum« ^) oder ein »frommer
Wunsch « ^) . Da aber andererseits auch seine Unmöglichkeit
nicht erwiesen werden kann, und wir als moralische Wesen ein
dringendes Interesse daran haben, seine Möglichkeit anzunehmen —
denn die moralisch-praktische Vernunft in uns spricht ihr un-
widerstehliches Veto aus: es soll kein Krieg sein — , so reicht
jene Sicherung des Friedens von seifen der Natur doch aus, um
seine Idee zur Richtschnur unseres Handelns zu nehmen. Ganz
gleichgültig daher, ob der ewige Friede ein Ding oder Unding
ist — bei dieser Lage der Sache müssen wir — Herrscher so gut
wie Untertanen — so handeln, als ob das Ding wäre, das vielleicht
nicht ist, und müssen ein jeder, soviel an ihm ist, alles tun, was
zur kontinuierlichen Annäherung an den Friedenszustand dienen
und dem »heillosen Kriegführen«*) ein Ende machen kann. Dabei
lehnt aber Kant, soweit die Untertanen in Betracht kommen,
die Benutzung der Revolution aus Gründen der Moral mit größter
Entschiedenheit und absolut konsequent ab. Diese Art, sein
Recht zu suchen, macht zur Maxime genommen alle rechtliche
Verfassung unsicher und führt den Naturzustand völliger Gesetz-
losigkeit herbei, also das gerade Gegenteil von dem, was das
Volk eigentlich will. Als in sich selbst widerspruchsvoll kann
i) S. 49 f. 2) Zum ew. Frieden. Vorw.
3) WW. VI S. 354/5 Ak.-Ausg. 4) a. a. O. S. 354.
Die Realisierung der Sittlichkeit.
79
daher ein solcher Wille seine Absicht nicht planmäßig undder
Freiheit unbeschadet einleiten. Revolutionen bleiben, wie Kant
bemerkt, »der Vorsehung überlassen«^). Das einzige rechtmäßige
Mittel, dessen sich die Untertanen zur Herbeiführung des Friedens
bedienen können, ist vielmehr die aufklärende Belehrung durch
Wort und Schrift. Und sie darf ihnen, gerade weil sie das allein
erlaubte Mittel zur Erfüllung einer pflichtmäßigen Aufgabe ist,
auch nicht genommen werden und muß Kants Zutrauen eu der
moralischen Anlage der Menschheit zufolge nach und nach sogar
»bis zu den Thronen hinaufgehen und selbst auf ihre Regierungs-
grundsätze Einfluß haben« 2). Die Politiker aber und vor allem
die Staatsoberhäupter haben für den Frieden durch angemessene
Reformen Sorge zu tragen. ^Nur dadurch können sie, die nur als
Repräsentanten des allgemeinen Volkswillens den Untertanen als
Bürgern Befehle zu geben haben, mit diesem in Einklang bleiben
und sich davor bewahren, sich mit sich selbst in Widerspruch zu
setzen.
Das also sind die Pflichten, die beiden Teilen als moralischen
Wesen obliegen. Und so ist und bleibt der ewige Friede, wenn er
auch auf dem Boden des Völker b u n d e s eine »unausführbare
Idee« ist, dennoch als auf dem Pflichtbegriffe ruhend keine »leere
Idee, sondern eine Aufgabe, die nach und nach aufgelöst ihrem
Ziele beständig näherkommt « ^) . —
Bloß die Förderung der negativen Seite des moralischen Fort-
schritts ist, wenn auch immer nur unter dem Drängen der Na-
tur, vom Menschen zu erwarten. Der positive Fortschritt zum
Guten dagegen darf nur von Gott erwartet werden. Denn der kann
nicht mehr aus der mechanisch zu lösenden Aufgabe der Ent-
wicldung des politischen Gemeinwesens *) erwachsen, sondern
hängt von der Gründung eines ethischen Staates ab. Ein ethisches
Gemeinwesen aber läßt sich nur als ein Volk denken, das unter
Tugendgesetzen steht; das aber heißt als Reich Gottes. Soll
nämlich ein solches Gemeinwesen Zustandekommen, so ist es
wie in jedem Gemeinwesen erforderlich, daß alle seine Ange-
hörigen einer öffentlichen Gesetzgebung unterworfen sind, deren
Gesetze als Gebote eines gemeinschaftlichen Gesetzgebers müssen
angesehen werden können. Als Gesetze eines ethischen Gemein-
wesens dürfen sie aber keinen Zwangscharakter tragen. Sie
]) Religion usw. S. 131 R. 2) WW. VIII S. 28 Ak.-Ausg.
3) Zum ew. Frieden. Schluß. 4) Vgl. S. 47.
go Die Realisierung des Weltbesten.
können deshalb nicht so aufgefaßt werden, als gingen sie u r-
sprünglich von dem Willen des gemeinschaftlichen Gesetz-
gebers aus, so daß sie nur durch seinen Befehl verbindend wären,
sondern müssen prinzipiell als in dem Einzelnen selbst liegend
angesehen und ohne Rücksicht auf jenen Obern für verbindlich
gehalten werden. Sie können also nur »zugleich als seine
Gebote vorgestellt werden«^). Wegen ihrer Innerlichkeit aber
muß das Oberhaupt des ethischen Gemeinwesens auch imstande
sein, das Innerste der Gesinnung eines jeden zu durchschauen,
um darauf gestützt jedem das zukommen zu lassen, was seine
Taten wert sind. Es muß m. a. W. allwissend, weiterhin aber
auch allmächtig, allgütig usw. sein. »Dieses ist aber der Begriff
von Gott als einem moralischen Welturheber « 2) . Nur von Gott
kann also ein solcher ethischer Staat oder — was dasselbe ist —
eine unsichtbare Kirche, »die alle Wohldenkenden in sich be-
faßt«^), in vollkommener Weise realisiert werden.
Dennoch bleibt die Verwirklichung dieses ethischen Gemein-
wesens ein Gebot der reinen praktischen Vernunft. Als moralisches
Wesen ist der Mensch darum keineswegs berechtigt, allein die
Vorsehung walten zu lassen. Er ist trotz allem und auch trotz
aller Mißerfolge verpflichtet, so zu verfahren, als ob alles auf ihn
ankäme. Nur unter dieser Bedingung darf er hoffen, »daß höhere
Weisheit seiner wohlgemeinten Bemühung die Vollendung werde
angedeihen lassen«*). Werden aber unter diesen Umständen,
wie sich von selbst versteht, alle seine Anstrengungen nur Erfolg
haben, wenn sie mit dem Willen Gottes übereinstimmen, der
allein Urheber eines solchen Reiches sein kann, so folgt,
daß der Mensch alle Pflichten, die ihm im HinbHck auf die Be-
gründung eines ethischen Staates erwachsen und, da ihr in letzter
Linie die Gesamtheit seiner Pflichten dient, alle seine Pflichten
überhaupt als göttliche Gebote aufzufassen hat. Unter der
Beurteilung aller unserer Pflichten a 1 s göttlicher Gebote ver-
steht aber Kant das, was als Religion bezeichnet wird; und so
ergibt sich zuguterletzt, daß ein solches ethisches Gemeinwesen
von Menschen nur mit Hilfe der Religion in Angriff genommen
werden kann.
Aber auch so werden sie diese »erhabene Idee« nur in dürftiger
Weise verwirklichen können. Wegen der unvermeidlichen Oeffent-
i) Religion usw. S. 103 R. 2) a. a. O. S. 103/4.
3) a. a. O. S. 190/1. 4) a. a. O. S. 105.
Die Realisierung der Sittlichkeit. gj
lichkeit der Gesetze können sie ihrer Verpflichtung zur Gründung
des ethischen Gemeinwesens nur dadurch nachkommen, daß
sie sich um eine sichtbare Vereinigung bemühen, die mit
jenem Ideal zusammenstimmt, d. h. um die Stiftung einer sicht-
baren Kirche. Und d i e sichtbare Vereinigung, die das Reich
Gottes auf Erden darstellt, soweit es Menschen überhaupt möglich
ist, wird dann die wahre sichtbare Kirche sein, die sich da-
durch auszeichnet, daß sie sowohl allgemein ist als auch auf völlig
lauterer Gesinnung beruht, der ferner überall, auch in ihrem
Verhältnis zur politischen Macht, das Prinzip der Freiheit zu-
grunde liegt, und die endlich ihrer Verfassung nach unveränder-
lich ist, die kurz gesagt eine allgemeine, freiwillige und fort-
dauernde Herzensvereinigung unter einem gemeinschaftlichen,
obgleich unsichtbaren, moralischen Vater ausmacht.
Für ihre Gründung ist nun ein reiner Religionsglaube
von fundamentaler Bedeutung. Das aber ist ein Glaube, der ledig-
lich die moralische Besserung der Menschen im Auge hat und
nur aus reinen moralischen Gesetzen besteht, und der, weil er
objektiv ganz auf Vernunft gegründet ist, auch allein »die große
Erfordernis der wahren Kirche, nämlich die Qualifikation zur
Allgemeinheit«^) besitzt, während ein bloß auf Fakta gestellter
historischer Glaube nur soweit gilt, als die für die Beurteilung
seiner Glaubwürdigkeit erforderlichen Nachrichten nach Zeit-
und Ortsumständen gelangen können.
Um aber eine sichtbare Kirche wirklich zu begründen, reicht
dieser reine Religionsglaube für Menschen doch nicht aus. Kommt
ihm auch allgemeine Geltung zu, so geht er jeden einzelnen doch
nicht schon als Bürger eines göttlichen Staates auf Erden, sondern
nur als Menschen an ; es liegt in ihm noch nichts von einer
Vereinigung der Gläubigen. Die aber macht gerade das
Wesen der Kirche aus. Daher muß zu ihm, der nur die Materie
der Gottesverehrung enthält, noch eine gewisse Form oder eine
Summe statutarischer Verordnungen hinzukommen, die die Gläu-
bigen zu einer Kirche vereinigt und dieser Vereinigung zugleich
Beharrlichkeit sichert. Diese Form hängt aber ganz und gar
von empirischen Zeitumständen ab; sie ist darum an sich zufällig
und mannigfaltig. Und doch ist es auch hier die Aufgabe des
zur Gründung einer sichtbaren Kirche verpflichteten Menschen,
die richtige zu suchen. Dabei macht sich nun aber »eine beson-
I) a. a. O. S. i68.
Goedeckemeyer, Kants Lebensanschauung. O
§2 Die Realisierung des Weltbesten.
dere Schwäche der menschHchen Natur« oder eine aus ihrer Ver-
bindung mit der SinnHchkeit stammende »Beschränktheit der
menschhchen Vernunft « ^) bemerklich und führt noch auf einen
besonderen Abweg.
Die Menschen sind sich ihres Unvermögens bewußt, über-
sinnhche Dinge zu erkennen, haben als sinnliche Vv^esen aber
doch das natürliche Bedürfnis, sich das Unsichtbare durch Ana-
logisierung mit etwas Sinnlichem wenigstens faßlich zu machen.
Darum stellen sie sich das unsichtbare Oberhaupt der Kirche
nach Art eines menschlichen Oberhaupts und analog auch ihr
Verhältnis zu ihm vor. Nun hat aber jeder große Herr auf Erden
das Bedürfnis, von seinen Untertanen geehrt und durch
Unterwürfigkeitsbezeugungen gepriesen zu werden. Darum
will es den Menschen auch nicht in den Kopf, daß es dem Unsicht-
baren gegenüber solche unmittelbar auf ihn bezogene Pflichten
nicht gibt, und auch nicht geben kann, da Gott als das aller-
vollkommenste Wesen von Menschen nichts zu empfangen vermag ;
sie wollen nicht einsehen, daß die ethisch-bürgerlichen Pflichten,
die Pflichten gegen sich und andere, alles sind, was sie zu tun
gehalten sind, und es schlechterdings unmöglich
ist, Gott auf andere als moralische Weise zu dienen; sie begreifen
darum auch nicht, daß einerseits der unsichtbare Dienst der
standhaften Beflissenheit zu einem moralisch-guten Lebens-
wandel alles ist, was von ihnen gefordert wird, um Gott wohl-
gefällige Untertanen zu sein, sie andrerseits aber auch in ihrem
Tun und Lassen, sofern es Beziehung auf Sittlichkeit hat, b e-
ständig im Dienste Gottes sind. Vielmehr glauben sie, ihm
zu irgendeinem besonderen Dienst verpflichtet zu sein,
und geben sich wohl gar der Meinung hin, die Mängel ihres mo-
ralischen Verhaltens durch solche besondere Leistungen gut machen
zu können in dem aus ihrem Verhalten irdischen Großen gegen-
über geschöpften Gedanken, daß es nicht sowohl auf den morali-
schen Wert der Handlungen, als vielmehr darauf ankomme, daß
sie überhaupt geleistet werden, und obendrein überzeugt davon,
daß diejenigen Leistungen -für besonders kräftig zu halten seien,
die wie Kasteiungen usw. an sich keinen Menschen besser machen,
also »in der Welt zu gar nichts nutzen, aber doch Mühe kosten« ^).
So aber ■ — ■ durch diesen abergläubischen Wahn, Vv^ie Kant sich
ausdrückt — kommt es, daß zunächst der Begriff einer gottes-
I) a. a. O. S. 66 *. 2) a. a. O. S. 182.
Die Realisierung der Sittlichkeit. go
dienstlichen Religion entspringt oder besser, da es nur eine Re-
ligion geben kann, der eines gottesdienstlichen Glaubens.
Der aber unterscheidet sich prinzipiell und zu seinem Nach-
teil von dem rein moralischen Religionsglauben, Er enthält nicht
nur — als unnachlaßliche Bedingung jeden Religionsglaubens —
moralische Gesetze, sondern auch statutarische, die, da er auch sie
als von Gott gegeben ansieht, nur durch eine Offenbarung er-
kannt werden können. Damit aber stützt er sich nicht auf Ver-
nunft, sondern auf ein empirisches Faktum. Er ist ein bloß histo-
rischer Glaube, und als solcher lediglich zufällig und der Möglich-
keit des Irrtums unterworfen, besitzt eben deshalb auch vielerlei
Arten, die alle nichts anderes sind als »Versuche armer Sterb-
licher, sich das Reich Gottes auf Erden zu versinnlichen« ^),
und darum sämtlich als gleichberechtigt gelten müssen. Und
auf dieser Eigenart seiner Begründung beruht auch sein ethischer
Unterschied vom reinen Vernunft glauben. V\/ährend dieser freie
Huldigung gegenüber dem selbstgegebenen moralischen Gesetze
fordert, also ein freier Glaube ist, verlangt der historische gehor-
same Unterwerfung unter gewisse von außen kommende Sat-
zungen und bürdet damit dem Menschen, und vor allem dem
gewissenhaften, das Joch eines Gesetzes auf, das gerade dadurch
das Gewissen ganz besonders belastet, daß es die Menschen nötigt,
etwas für göttlich zu halten, was nur historisch erkannt werden
kann, und darum nicht für jedermann überzeugend zu sein ver-
mag. Diese ethische Differenz bedingt endlich die Minderwertig-
keit des Geschichtsglaubens. Denn es leuchtet von selbst ein,
daß der moralische Gottesdienst Gott unmittelbar gefällt, also
die oberste Bedingung alles göttlichen V/ohlgefallens am Menschen
ausmacht. Das wäre aber unmöglich, wenn man annehmen müßte,
daß auch der von ihm im Prinzip verschiedene Lohndienst für
sich allein Gott wohlgefällig wäre. Also bleibt nichts anderes
übrig als Handlungen, die an und für sich keinen moralischen
Wert besitzen, für »an sich nichtig« 2) und nur insofern für Gott
wohlgefälhg zu halten, als sie als Mittel zur Beförderung und Be-
lebung der Moral dienen, gegen jede andere Auffassung derselben
aber »mit aller Macht «2) zu protestieren. Und das um so mehr,
als die einzelnen Thesen des Geschichtsglaubens hinsichtlich ihrer
Wahrheit sowohl als auch hinsichtlich ihres ' Sinnes vielfachen
i) a. a. O. S. 190 A. 2) a. a. O. S. 138.
3) a. a. O. S. 89.
g^ Die Realisierung des Weltbesten.
Bedenken und Meinungsverschiedenheiten unterhegen, und es
»das Widersinnigste ist, was man denken kann«^), einen Glauben
von solcher Beschaffenheit zur obersten Bedingung eines a 1 1-
gemeinen Glaubens zu machen. —
Indessen trotz dieser prinzipiellen Inferiorität des historischen
Glaubens sind die Menschen infolge der erwähnten Beschränktheit
ihrer Vernunft doch geneigt, ihm die größere Wichtigkeit zuzu-
gestehen. Und dieser Hang zum gottesdienstlichen Frohnglauben
bringt es nun mit sich, daß sie bei Gründung der sichtbaren Kirche
auf Abwege geraten. Es scheint ihnen nur eine solche Lehre zu
einer unveränderlichen und damit für eine Kirche tauglichen
Norm zu passen, die nicht auf bloßer Vernunft, sondern gerade
auf Offenbarung beruht. Sie haben hinsichtlich der kirchlichen
Form nicht den Mut, sie auf Grund eigener Vernunft festzusetzen,
sondern berufen sich dafür auf eine der Offenbarung bedürftige
göttliche Gesetzgebung. Bei der Gründung einer sicht-
baren Kirche reicht demnach der Vernunftglaube nicht nur nicht
aus, es geht ihm der historische natürlicherweise
sogar vorher und kann deshalb faktisch gar nicht entbehrt
werden. Da er aber seinen Wert immer nur als Beförderungsmittel
des moralischen Glaubens besitzt, so ist es, so wenig es wegen der
Gefahr des Atheismus auch ratsam ist, ihn bei der Bedeutung,
die er für die große Masse nun einmal besitzt, ganz aufzuheben,
doch nicht etwa nur gestattet, sondern geradezu Pflicht, sein
Fundament, die Offenbarung, unter allen Umständen einer durch-
gängigen Deutung zu unterwerfen, die natürlich bei der Rolle,
die er zu spielen hat, nur an der Hand der Vernunftreligion und,
da es sich um Doktrinen aus alter Zeit und in jetzt toten Sprachen
handelt, auch nur mit Hilfe der Schriftgelehrsamkeit, nicht aber
etwa vermittels eines inneren Gefühls vorgenommen werden darf.
So also ist es mit diesem Kirchenglauben — wie man ihn
als Grundlage der sichtbaren Kirche auch nennen kann — zu
halten. Durch Vernunft und Schriftgelehrsamkeit interpretiert
ist er mit dem »ganzen Kram frommer, auferlegter Observanzen«^)
zur Einführung der Vernunftreligion in der Tat unent-
behrlich. Aber es kann gar keine Rede davon sein, daß er »jeder-
zeit als wesentliches Stück« ^) zum reinen Vernunftglauben hinzu-
kommen müßte. Gewiß enthält dieser, sofern er für den Menschen
i) a. a. O. S. 197. 2) a. a. O. S. 179.
3) a. a. O. S. 123.
Die Realisierung der Sittlichkeit. gr
die Würdigkeit mit sich führt, der ewigen GlückseHgkeit teilhaftig
zu werden, und darum auch als sehgmachender Glaube bezeichnet
werden kann, zwei Bedingungen seiner Hoffnung auf Glückselig-
keit : den Glauben an die Lossprechung von der auf uns liegenden
Schuld, und den Glauben daran, daß man Gott durch einen
neuen, der Pflicht gemäßen Lebenswandel wohlgefällig werden
könne. Und es müssen sich diese Bedingungen als Momente
eines Glaubens auch so zueinander verhalten, daß es möglich
ist, die eine aus der andern abzuleiten. Aber nur in dem Falle
würde der historische Glaube ein stets wesentliches- Stück des
andern sein, wenn der Glaube an die für die Sünden des Menschen
geleistete Genugtuung die Bedingung für den künftigen guten
Lebenswandel wäre, wenn wir m. a. W. glauben müßten, »daß
es einmal einen Menschen, der durch seine Heiligkeit und Ver-
dienst sowohl für sich als auch für alle andre genug getan, ge-
geben habe, um zu hoffen, daß wir selbst in einem guten Lebens-
wandel doch nur kraft jenes Glaubens selig werden können«^).
Davon aber will Kant nichts wissen. Dem widerspricht in seinen
Augen die moralische so gut wie die natürliche Vernunftanlage
des Menschen. Jene dadurch, daß sie uns durch ihr unbedingt
geltendes Gebot mit aller Deutlichkeit zu verstehen gibt, daß
wir nicht anders hoffen können, der Zueignung eines fremden
genugtuenden Verdienstes und so der Seligkeit teilhaftig zu wer-
den, als wenn wir uns dazu durch unser eigenes Streben
qualifizieren. Und diese, weil sie sich sonst selbst vernichten
würde. Denn kein »überlegender Mensch«^) kann jenen Glauben
in sich zustandebringen, so daß man ihn schon als himmlisch
eingegeben betrachten müßte. Damit aber würde man alles,
einschließlich der moralischen Beschaffenheit des Menschen, auf
einen unbedingten Ratschluß Gottes hinauslaufen lassen, und
das wäre »der salto mortale der menschlichen Vernunft « ^) . Nichts
anderes als ein bloß provisorisches Vehikel des reinen
Religionsglaubens, »der allein in jedem Kirchenglauben das-
jenige ausmacht, was darin eigentliche Religion ist«^), kann also
der historische Glaube sein. Er hat nur die Aufgabe, ihn als
seinen Zweck vorzubereiten.
Aus dieser seiner Stellung ergeben sich aber weitgehende
Einschränkungen seiner Ansprüche und grundsätzlich wichtige
i) a. a. O. S. 128. 2) a. a. O. S. 124.
3) a. a. O. S. 130. 4) a. a. O. S. 118.
85 Die Realisierung des Weltbesten.
Forderungen, denen er sich zu unterwerfen hat. Er muß nicht
nur prinzipiell bereit sein, sich dem reinen Glauben unterzuordnen,
sondern auch gewillt, ihm kontinuierlich näherzukommen, um
schließlich mitsamt dem heiligen Buche, auf dem er beruht, ganz
überflüssig zu werden. »Das Leitband der heiligen Ueberlieferung
mit seinen Anhängseln, den Statuten und Observanzen, welches
zu seiner Zeit gute Dienste tat, wird nach und nach entbehrlich,
ja endlich zur Fessel, wenn der Mensch in das Jünglingsalter
eintritt. Solange er (die Menschengattung) »ein Kind war, war
er klug als ein Kind« ; »nun er aber ein Mann wird, legt
er ab, was kindisch ist«« ^). An die Stelle eines »erniedrigenden
Zwangsglaubens « ^) muß ein solcher treten, der der Würde einer
moralischen Religion angemessen ist, ein freier, auf lautere Herzens-
gesinnung gegründeter Glauben, der allein imstande ist, die
Einheit der allgemeinen Kirche zu konstituieren. Und nur unter
der Bedingung, daß sich eine auf historischen Glauben gegründete
sichtbare Kirche der Idee des reinen Religionsgiaubens als regu-
lativem Prinzipe fügt, kann sie auf der einen Seite allem Reli-
gionswahn abhelfen und vorbeugen und auf der andern selbst
als die wahre und allgemeine Kirche angesehen werden. Und
wenn sie auch wegen der unvermeidlichen Kontroversen über
historische Glaubenslehren nur die streitende heißen kann,
so ist sie doch mit der Aussicht verbunden, »endlich in die unver-
änderliche und alles vereinigende, triumphierende aus-
zuschlagen« ^), die nach Ueberwindung aller Hindernisse noch
hier auf Erden als mit Glückseligkeit bekrönt zu denken ist.
Zu erwarten ist aber dieser Uebergang des Kirchenglaubens
in den reinen Vernunftglauben, sofern er ein Werk des Menschen
sein soll, wiederum nicht von einer Revolution.. Ebenso wie die
Verwandlung der historischen Staatsverfassungen in die reine
Republik kann auch sie nur das Ergebnis wahrer Aufklärung sein.
Und erst wenn sich das Menschengeschlecht zu einer solchen
kirchlichen Glaubenseinheit, die mit Freiheit in Glaubenssachen
verbunden ist, oder zu einem ethischen Gemeinwesen unter Tugend-
gesetzen zusammengefunden hat — erst mit dieser »moralischen
Weltepoche« ^) wird der ewige Friede, der das Ziel schon der
politischen Entwicklung ausmachte, wirklich gesichert und damit
auch der Zustand geschaffen sein, in dem alle Keime, die die
i) a. a. O. S. 130. 2) a. a. O. S. 132 A.
3) a. a. O. S. 122. 4) Vgl. a. a. O. S. 147.
Die Realisierung der Sittlichkeit. gy
Natur in die Menschengattiing legte, »völlig können entwickelt
und ihre Bestimmung hier auf Erden kann erfüllt werden «i).
Erst dann kann der beharrliche Fortschritt zum höchsten auf
Erden möglichen Guten, soweit er von Menschen abhängt, in die
Wege geleitet werden. —
Nun wird man allerdings auch auf religiösem Boden, wie
zuvor auf politischem, zugeben müssen, daß für das Erreichen
des letzten Zieles, hier also der wahren sichtbaren Kirche, »wenig
Hoffnung vorhanden ist« 2), und daß auch von ihr gelten muß,
daß sie nicht mehr als eine regulative Idee sein kann. Aber mag
auch das wirkliche Erreichen dieses Zieles noch in unendlicher
Ferne Hegen, nach Kants Ansicht kann man schon dann mit
Recht sagen, daß das Reich Gottes zu uns gekommen ist, wenn
wenigstens der prinzipielle Gedanke des fundamentalen Unter-
schiedes zwischen Vernunft- und Geschichtsglauben und der
Notwendigkeit des Uebergangs zum moralischen Glauben all-
gemein und irgendwo auch öffentlich aufgetreten ist. »Denn
das ist in der Verstandeswelt schon da, wozu die Gründe, die es
allein bewirken können, allgemein Wurzel gefaßt haben« •^). Und
auch hier gilt der Satz, daß das Wahre und Gute, wenn es einmal
öffentlich geworden ist, vermöge der natürlichen Affinität, in
der es mit der moralischen Anlage vernünftiger Wesen überhaupt
steht, sich durchgängig mitteilen, immer weiter fortschreiten und
sich fernerhin von selbst erhalten wird.
Der Kirchenglaube aber, in dem sich dieser Prozeß zuerst
vollzogen hat und der darum auch von Anfang an die Anlage
zur wahren allgemeinen Kirche mit sich führte, ist nach Kants
Ueberzeugung der christliche. Allerdings mit Ausschluß des
jüdischen. Der scheint Kant lediglich auf ein politisches, nicht
aber ethisches Gemeinwesen abgezweckt zu sein und darf wegen
dieses prinzipiellen Unterschiedes vom christlichen Glauben mit
ihm nicht zu einer Einheit zusammengefaßt werden, wenn er
ihm auch unmittelbar vorhergegangen ist und die »physische
Veranlassung«*) zu seiner Erzeugung gegeben hat. Denn die
christliche Religion ist aus dem Munde ihres ersten Lehrers
nicht als eine statutarische, sondern sofort als eine moralische
hervorgegangen, und Statuten waren mit ihr nur insoweit ver-
bunden, als sie zur Gründung einer Kirche benötigt wurden. Sie
I) WW. VIII S. 30 Ak.-Ausg. 2) Religion usw. S. 132 A. R.
3) a. a. O. S. 161. 4) a. a. O. S. 134.
83 Die Realisierung des Weltbesten.
hat darum von vornherein die Fähigkeit gehabt, auch ohne histo-
rische Gelehrsamkeit auf alle Völker und Zeiten ausgebreitet
zu werden, hat also die Anlage zum wahren und allgemeinen
Religionsglauben und damit auch zur einen allgemeinen Kirche
besessen. Aber ihrer Entwicklung haben sich Schwierigkeiten
in den Weg gestellt. Christus hat sie wegen der ihm entgegen-
stehenden Gewalt der Priester nicht realisieren können, und unter
dem Einflüsse der schon erwähnten Schwäche der Menschen
hat sie sich zunächst überhaupt nicht zu entwickeln vermocht.
Vielmehr hielten es die ersten Stifter der Gemeinden für
nötig — und für ihre Zeit mit Recht — , die Geschichte des Juden-
tums und dessen statutarische Gesetze mit der christlichen Reli-
gion zu verflechten. Und durch die Stifter der christlichen Kirche
wurden diese dann sogar zum Fundament der Religion gemacht
und durch Tradition und neue Interpretationen noch weiter ver-
mehrt. Darum ist es nach Kants Ueberzeugung erst zu seiner
Zeit so weit gekommen, daß der im Christentum von Anfang
an vorhandene Keim des wahren Religionsglaubens, wenn auch
erst von einigen, so doch öffentlich gelegt, und damit zugleich
die in ihm enthaltene Anlage zur allgemeinen Kirche ihrer Ent-
wicklung nahegebracht und dadurch der Vereinigung der Menschen
auch zu einer ethischen Gemeinschaft Bahn gebrochen ist.
Das faktische Ereignis aber, das diesen Fortschritt mit sich
gebracht hat, ist nach ihm darin zu sehen, daß »wahre Religions-
verehrer« überall, wenngleich nicht allenthalben öffentlich, zwei
Grundsätze in Sachen der Religion angenommen haben. Der erste
ist der »Grundsatz der billigen Bescheidenheit in Aus-
sprüchen über alles, V\^as Offenbarung heißt «. Er beruht im wesent-
lichen auf der Ueberzeugung , daß niemand einer Schrift , die
ihrem praktischen Inhalte nach lauter Göttliches enthält, die
Möglichkeit, hinsichtlich ihres historischen Inhalts von Gott
offenbart zu sein, abstreiten kann, und es darum, da bei dem
gegenwärtigen — d. h. vernünftigen — Stande menschlicher
Einsicht schwerlich jemand eine neue Offenbarung erwarten
wird, »das Vernünftigste und Billigste sei, das Buch, was ein-
mal da ist, fernerhin zur Grundlage des Kirchenunterrichts zu
brauchen und seinen Wert nicht durch unnütze oder mutwillige
Angriffe zu schwächen, dabei aber auch keinem Menschen den
Glauben daran als zur Seligkeit erforderlich aufzudringen«^).
I) a. a. O. S. 142.
Die Realisierung der Sittlichkeit. gn
Der zweite ist der Grundsatz, daß angesichts des Verhältnisses
des historischen zum morahschen Glauben jener »jederzeit als
auf das Moralische abzweckend gelehrt und erklärt« und den
Menschen wegen ihres Hanges zum passiven Glauben immer
wieder »eingeschärft werden müsse, daß die wahre Religion nicht
im Wissen oder Bekennen dessen, was Gott zu unserer Seligkeit
tue oder getan habe, sondern in dem, was wir tun müssen, um
dessen würdig zu werden, zu setzen sei«^).
3. Die Realisierung der Glückseligkeit.
So stellt sich Kant die Realisierung des Fortschritts der
Menschen zur Sittlichkeit vor. Aber die Tugend als die Würdig-
keit, glücklich zu sein, bildete im Begriff des höchsten in der Welt
möglichen Gutes nur das eine Element. Vollendet wurde es
erst durch Hinzutritt der Glückseligkeit. Darum ergibt sich noch
die Frage, wie sich diese in der Idee des Weltbesten gelegene
V-ereinigung von Tugend und Glückseligkeit verwirklichen läßt.
Auf sie konnte Kant erheblich kürzer antworten. Denn soviel
war schon früher ^) festgestellt, daß der Mensch als natürliches
Wesen nicht imstande ist, sie zu realisieren, dazu vielmehr die
Annahme eines moralischen Welturhebers erforderlich war. Nur
unter dieser Voraussetzung konnte überhaupt daran gedacht
werden, daß die moralische Beschaffenheit des Menschen für
seinen physischen Zustand von Bedeutung zu sein vermöchte.
Macht man aber diese Voraussetzung — und für einen moralisch
konsequent denkenden Menschen ist sie, wie gezeigt ^), unum-
gänglich — , dann steht nach Kants weiteren Erklärungen auch
kein prinzipielles Bedenken mehr der These im Wege, daß die
Menschheit als moralische Gemeinschaft selbst ihre Glückseligkeit
bewirkt. Denn in dem Willen des höchsten Wesens ist die Glück-
seligkeit die unmittelbare Folge der moralischen- Vollkommenheit,
und »der Glückseligkeit bedürftig, ihrer auch würdig, dennoch
aber derselben nicht teilhaftig zu sein, kann mit dem vollkom-
menen Wollen eines vernünftigen Wesens, welches zugleich alle
Gewalt hätte, , gar nicht zusammen bestehen«*). Es würde
daher nach seiner Ueberzeugung die sittlich geforderte Bemühung
I) a. a. O. S. 143. 2) Vgl. S. 61.
3) Vgl. S. 63. 4) Krit. d. pr. Vern. S. 133 R.
Goedeckemeyer, Kants Lebensanschauung.
QQ Die Realisierung des Weltbesten.
der Menschheit um die allgemeine Glückseligkeit ihr Ziel auch
wirklich erreichen, »wenn wir das ganz wären oder einmal
würden, was wir sein sollen« i), wenn m. a. W. alle Handlungen
vernünftiger Wesen so geschähen, als ob sie aus einem obersten
Willen, der alle Privatwillkür in sich und unter sich befaßt, ent-
sprängen. Denn dann wären wir moralisch vollkommen, und die
Wichtigkeit der vollkommenen moralischen Beschaffenheit des
Menschen, deren Wert unendlich ist, überwiegt weit alle anderen
Bewegursachen, die Gott als oberster Herr der Natur in seiner
höchsten Weisheit haben mag. Dann würde also die Natur unseren
Wünschen, die dann allerdings auch niemals unweise sein, d. h.
dem Endzweck der Schöpfung widersprechen würden, gehorchen
müssen. Es würde alles nach der Menschen Wunsch und Willen
gehn. Die triumphierende Kirche würde schon hier auf Erden
realisiert sein.
Indessen ist dieses System der sich selbst lohnenden Moral
doch nur eine Idee,- deren Ausführung auf der Bedingung beruht,
daß jedermann tue, was er soll. Und darin liegt nun schließlich
doch die Schwierigkeit. Denn auf ein solches Verhalten kann bei
Menschen nicht gerechnet werden. Sie sind keine reinen Ver-
nunft-, sondern zugleich sinnliche Wesen, deren moralischer Zu-
stand immer nur Tugend, also morahsche Gesinnung im Kampfe
ist 2). Und darum ist es letzten Endes doch umsonst, den Eintritt
einer vollen Glückseligkeit der Menschheit, die dann auch die
jedes einzelnen involviert, in diesem Leben zu erwarten. Wie
die sittHche Vollkommenheit selbst kann sie erst für ein künftiges
Leben in Aussicht genommen und wegen ihrer Abhängigkeit
von dem Glauben an ein höchstes Wesen, das nach moralischen
Gesetzen die Welt beherrscht, auch nur zum Gegenstande der
Hoffnung gemacht werden.
Diese letzte und höchste Hoffnung des Menschen ist nun
aber auch der eigentliche und tiefste Grund, der den Uebergang
von der Moral zur Religion, zur Beurteilung aller unserer Pflichten
a 1 s göttlicher Gebote, unausbleiblich macht. Nur von einem
moralisch-vollkommenen und zugleich allmächtigen Willen können
wir das höchste Gut erwarten, also auch nur durch Ueberein-
stimmung mit ihm dazu zu gelangen hoffen. Und weil wir in
ihm die letzte und höchste Ursache der Realisierung einer Auf-
gabe sehen müssen, die uns vom Sittengesetze zur Pflicht ge-
i) Religion usw. S. 214 A. R. 2) Vgl. S. 16.
Die Realisierung der Sittlichkeit.
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macht ist, werden wir uns ihm auch von Anfang an verbunden
fühlen, ihn mit der »wahrhaftesten Ehrfurcht, die gänzhch von
pathologischer Furcht verschieden ist«, in unser moralisches
Denken aufnehmen und uns ihm willig unterwerfen. So findet
die ganze Lebensphilosophie Kants, wie es angesichts der Eigen-
tümlichkeit seiner Erziehung von vornherein zu erwarten war,
ihren Abschluß in einer Ethikotheologie, weil »die Moral zwar
mit ihrer Regel, aber nicht mit der Endabsicht, welche eben
dieselbe auferlegt, ohne Theologie bestehen«^) kann.
Erst mit der Religion also hebt die Hoffnung auf Glück-
seligkeit an. Darum dürfen wir auch erst jetzt, nachdem zur
Beförderung unserer Aufgabe, das höchste Gut zu realisieren
oder das Reich Gottes zu uns zu bringen, dieser Uebergang zur
Religion hergestellt worden ist, die Moral, die an sich nur Pflichten
auferlegt, als Glückseligkeitslehre bezeichnen. Sie wird erst jetzt
zu einer »Anweisung, der Glückseligkeit teilhaftig zu werden«^).
Nur wenn er sich auf den Boden der Religion in dem angegebenen
Sinne stellt, kann der Mensch darauf hoffen, daß sein Verlangen,
glücklich zu werden, das ihm als na.türlichem Wesen notwendig
ist, und das er als moralisches Wesen selbst auf den »moralischen
Wunsch«, das Weltbeste zu befördern, einschränkt, Befriedigung
findet. Und da man sich den letzten Zweck, den Gott im Hin-
blick auf das Menschengeschlecht befolgt, nicht anders »als nur
aus Liebe« ^) denken kann, so muß die so bedingte Glückselig-
keit auch das sein, was Gott bei der Schöpfung und Leitung der
Menschen zuallerletzt im Auge hat. »Das, was allein eine Welt
zum Gegenstande des göttlichen Ratschlusses und zum Zwecke
der Schöpfung machen kann, ist die Menschheit in ihrer
moralischen ganzen Vollkommenheit, wovon
als oberster Bedingung die Glückseligkeit die unmittelbare Folge
in dem Willen des höchsten Wesens ist«*). Verbietet also die
Moral dem Menschen auch, sich die eigene Glückseligkeit
unmittelbar zum Ziele zu machen, stellt sie vielmehr den Satz
auf: »Die erste Sorge des Menschen sei nicht, wie er glücklich,
sondern der Glückseligkeit würdig werde« ^), so führt sie ihn zu-
letzt doch selbst und mit Notwendigkeit zu der Hoffnung hin, daß
seiner sittlichen Bemühung auch der Lohn nicht fehlen wird. —
1) Krit. d. Urteilskr. S. 390. 2) Krit. d. pr. Vern. S. 156 R.
3) WW. VI S. 488 Ak.-Ausg. 4) Religion usw. S. 61 R.
5) WW. XII S. 440 Ak.-Ausg.
Q2 Die Realisierung des Weltbesten.
So also steht es mit Kants Lebensphilosophie. Von vorn-
herein nur teleologisch fundiert leitet sie aus dem ' Wesen des
Menschen seine Bestimmung ab. Nicht in der reinen Sitt-
lichkeit — mit einem leeren Formalismus hat Kants Ethik wirk-
lich nichts gemein — , sondern in der Tugend findet sie seine
Aufgabe. Tugend aber heißt sittliche Gesinnung im Kampfe
mit den Neigungen, setzt also das Vorhandensein eines in der
Natur des Menschen gewurzelten Strebens nach Glückseligkeit
voraus. Und weit davon entfernt, dieses Streben auszurotten,
ist Kant nur darauf bedacht, es zu »bezähmen«, d. h. auf die
Bedingung seiner Allgemeingültigkeit hin einzuschränken, die
Aufgaben festzulegen, die sich aus dem so bestimmten Ziel er-
geben und im wahren Staat und der wahren Kirche, — der Zivili-
sierung und Moralisierung ■ — ■ die Mittel aufzuweisen, durch die
es sich erreichen läßt. So wenig er Eudämonist oder Utilitarist
im herkömmlichen Sinne war, im Begriffe des Weltbesten als
der auf Sittlichkeit gegründeten und in rechtem Maße mit ihr
verbundenen Glückseligkeit der Menschheit hat auch er den
Endzweck des menschlichen Strebens gefunden, auf den alle
Pflichten in letzter Linie hinzielen. Und jede andere Auffassung
seiner Lebensphilosophie — und, kann man hinzufügen, jeder
Lebensphilosophie, die für Menschen Sinn und Wert haben
soll — bringt, um auch hier noch einmal ein Wort Kants an-
zuwenden, »Unsinn (Phantasterei) in ihr Prinzip hinein«").
i) WW. VI S. 433 * Ak.-Ausg.
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