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Full text of "Kant-Studien"

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ö 


KANT- 
STUDIEN. 

PHILOSOPHISCHE  ZEITSCHRIFT 

UNTER  MITWIRKUNG  VON 

E.   ADICKES,    É.   BOUTROUX,    EDW.    CAIRD, 

J.  E.  CREIGHTON.  W.  DILTHEY,  B.  ERDMANN,  R.  EUCKEN,  M.  HEINZE 

A.  RIEHL,    F.  TOCCO,    W.  WINDELBAND 

UND   MIT   UNTERSTÜTZUNG   DER   .KANTGESELLSCHAFT' 

HERAUSGEGEBEN  VON 


D«^   HANS   VAIHINGER   und  D«-  BRUNO  BAUCH 

PBOFSS80B  IN  HALLE.  PRIYATDOCRNT  IN  HAIilJC. 

DRBIZBHNTER   BAND. 


BERLIN, 

VERLAG  VON  REUTHER  &  REICHARD 
1908 

WILLIAMS  A  NOBOATK,  LEMCKS  A  BUECHVKB, 

LONDON.  NKW  YORK. 

H.  LR  SOUDISR,  CARLO  CLAüSiSN, 

PARIS.  TORINO. 


INHALT. 

8«ite 

Zur  Geschichte  des  Wortes  Person.  Nachgelassene  Abhand- 
lung von  Adolf  Trendelenburg.  Eingeführt  von 
Rudolf  Eucken      ....    - i 

Über  historische  Kausalität.    Von  Otto  Baeu seh  .    .    .    .      is 

Kant  in  neuer  ultramontan-  und  liberal-katholischer  Be- 
leuchtung.   Kritisch  gewürdigt  von  Brnno  Bauch.     .      32 

W.  V.  Humboldt  und  Kant.    Von  Dr.  Eduard  Spranger  57 

Die  deutsche  Philosophie  im  Jahre   1907.    Von  Dr.  Oskar 

Ewald       197 

Die  Frage  als  Prinzip  des  Ericennens  und  die  „Einleitung"" 

der  Kritilc  der  reinen  Vernunft.    Von  August  Stadler     238 

Die  Grundfragen  der  Ästhetik  unter  icritischer  Zugrunde- 
legung von  Kants  Kritilc  der  Urteilskraft.  Von  Prof. 
Dr.  Richard  v.  Schubert-Soldern 249 

Heinrich   Gomperz'    Weitanschauungsiehre.      Von    August 

Messer       275 

Die   neu   aufgefundenen   Kantbriefe.     Mitgeteilt  von  Prof. 

Paul  Menzer 304 

Vorschlag  zu  einer  Änderung  des  Textes  von  Kants  Kritik 

der  praktischen  Vernunft.  Von  Dr.  Heinrich  Eomundt     313 

Dm  Wesen  und  die   Voraussetzungen  der  Induktion.    Von 

Nikolai  von  Bubnoff 367 

Zum  Begriff  der  kritischen  Erkenntnislehre.    Von  Richard 

Hönigswald 409 

Untersuchungen  zur  Grundlegung  der  allgemeinen  Grammatik 

und  Sprachphilosophie.    Von  Anton  Marty  ....     457 

Thesen  zur  „Grundlegung  des  Intuitivismue*'.  Von  H.  Losskij     46i 

Dm  Erkenntnisprobiem.  Eine  Erwiderung.  Von  Ern  st  Marcus     464 

Kant  und  das  Erkenntnisprobiem.    Eine  Entgegnung.    Von 

Paul  Wüst 467 

■tazontitnen: 

Bisler,  Rudolf,  Einführung  in  die  Eirkenntnistheorie. 
I>enelbe,  Leib  und  Seele.    Von  August  Messer   ....         180 
Bnui»^  O.,  Schelling,  Friedrich  von,  Y onesungen  über  die  Methode 
des  akademischen  Studiums,  herausgeg.  v.  O.  Braun.    Von 
Karl  Hoffmann 188 


1 ^8009 


rV"  Inhalt. 

Ml 

Gestenreich,  K.,  Die  Entfremdung  derWahrnehmirngswelt  und  die 

DepersonnaUsation  in  der Psychasthenie.  Von E.  Spranger.  Itt 
Hartiiiann,E.T.,  System  d.Phüosophie  im  Grundrias.  Von  O.  B  rann  1S7 
Sigwart,  Christoph,  Vorfragen  der  Ethik.  Von  H.  Maas  .  .  19 
Marcus,  Ernst,  Das  Erkenntnisproblem.  Von  P.  Wfist  .  .  .  Itt 
Troeltsch,  Ernst,  Psychologie  und  Erkenntnistheorie  in  derBeli- 

gionswissenschaft.    Von  H.  Maas 141 

Schelling,   F.  W.  J.  t.,   Werke.    Auswahl  in  3  Bänden.    Mit 

3  Porträts  Schellings   und   einem  Geleitwort  von  Prof.  Dr. 

Arthur  Drews,    heraus^eg.    und    eingeleitet    von    Otto 

Weiss.    Von  Fritz  Medicus 817 

Hansen,  Adolph,  Prof.  Dr.,  Goethes  Metamorphose  der  Pflanzen. 

Von  J.  Cohn 318 

Ajmoldt,  Emil,   Gesammelte  Schriften.    Heransgeg.  von  Otto 

Schöndörffer.    Von  Johannes  Paulsen JRB 

Renner,    Hugo,    Immanuel    Kants    Werke   in    acht   Büchern. 

Von  Johannes  Paulsen 331 

Man,  Georg,  Die  Relig^onsphilosophie  Kaiser  Julians  in  seinen 

Reden  auf  König  Hehos  und  die  Göttermutter.  Von  M.  Wandt     381 
Bertling,   0.,   Geschichte   der   alten  Philosophie  als  Weg  der 

Erforschung    der  Kausalität   für  Studenten,   Gymnasästen 

und  Lehrer.    Von  M.  Wundt       382 

Gntberlet,  C,  Der  Kampf  um  die  Seele.    Von  E.  v.  Aster    .     333 

Ehlers,  Rudolph,  Richard  Rothe.    Von  H.  Maas 384 

Schmidtknnz,  Hans,  Einleitung  in  die  akademische  Pädagogik. 

Von  Hermann  Schwarz 384 

Speck,    Johannes,    Der  Entwickelungsgedanke    hei    GToethe. 

Von  Bruno  Bauch 385 

Stange,    Carl,     Grundriss     der    Religionsphilosophie.       Von 

Eduard  Spranger 337 

Fröhlich,   Jon.   Ans.,   Der  Wille   zur  höheren  Einheit.     Von 

Rudolf  Jorges 887 

James,  William,  Die  religiöse  Erfahrung  in  ihrer  Mannigfaltig- 
keit (deutsch  von  G.  Wobbermin).    Von  K.  Österreich      474 

James,  William,  Pragmatism  a  New  Name  for  Some  Old  Ways 
of  Thinking.  —  Dasselbe  deutsch  von  W.  Jerusalem  und 

Schiller,  F. CS. Studies  in  Humanism.  Von  Günther  Jacoby      478 

Muthesius,  Karl,  Goethe  und  Pestalozzi.    Von  J.  Cohn     .    .      480 

Sternberg,   Kurt,   Friedrich  Paulsen  ff  Nachruf  und  kritische 

Würdigung.    Von  Bruno  Bauch 481 

Paulsen,   Johannes,   Das  Problem   der  Empfindung.     I.  Die 

Empfindung  und  das  Bewusstsein.    Von  G.  Falter   .    .    .      48S 

Lang,   A.,   Das  Kausalproblem.    Erster  Teil:   Geschichte  des 

Kausalproblems.    Von  E.  König 483 

de  Sopper,  David  Humes  Erkenntnistheorie  und  Ethik.    Von 

A  der  Mouw 485 

Lasson,   G.,   Fichte  und  seine   Schrift  über  die  Bestimmung 

des  Menschen.    Von  0.  Braun   .    , »    •    •      487 

Nestle,   Wilhelm,   Die  Vorsokratiker.     In  Auswahl  übersetzt. 

Von  0.  Braun 488 

Homeffer,  A.,  Piaton:  Staat,  übersetzt.    Von  0.  Braun     .    .      489 

Leser,  H.,  Fichte:  Reden  an  die  deutsche  Nation.  Heraus- 
gegeben in  ursprünglicher  Gestalt.    Von  0.  Braun    .    .    .      489 

Gomperz,  Heinrich.  Das  Problem  der  Willensfreiheit.    Von 

0.  Braun " 489 

Gottschick,  Joh.,  Ethik.    Von  W.  Koppelmann 491 

Rüge,   Arnold,   Kritische  Betrachtung  und   Darstellung  des 

deutschen  Studentenlebens.    Von  A.  Maas 49S 

Hoffmann,  K.,  Zur  Litteratur  und  Ideengeschichte.  Von  A.  Ma  as      494 


Inhalt. 

•Ibstanzeigen: 

Paulsen, Jo  h.,  Das  Problem  der  Empfindung.  S.  152.  —  M  o  t  h  - 
Smith,  Metageometrische  Raumtheorien.  S.  163.  —  Sopper, 
David  Humes  Kenleer  en  Ethik.  S.  154.  —  Flügel,  Herbarts 
Lehren  und  Leben.  S.  156.  —  Boelitz,  Die  Lehre  vom  Zu- 
fall bei  Emile  Boutroux.  S.  167.  —  Petronievics,  Die 
typischen  Geometrien  und  das  Unendliche.  S.  158.  —  Lasson, 
Georg  Fr.  Wilh.  Hegels  Phänomenologie  des  Geistes.  S.  159. 
Rüge,  Kritische  Betrachtung  und  Darstellung  des  Studenten- 
lebens in  seinen  Grundztigen.  S.  160.  —  Koppelmann,  Die 
Ethik  Kants.  S.  161.  —  König,  Kant  und  die  Naturwissen- 
Schaft.  S.  162.  —  Conrad,  Die  Ethik  Wilhelm  Wundt«. 
S.  162.  —  Antoniade,  Iluziunea  Realista.  S.  163.  —  Bier- 
mann, Die  Weltanschauung  des  Marxismus.  S.  164.  —  Engel, 
Schiller  als  Denker.    S.  164. 

Ewald,  Oscar,  Kant«  kritischer  Idealismus  als  Grundlage 
von  Erkenntnistheorie  und  Ethik.  S.  339.-—  Bauch,  Bruno, 
Geschichte  der  neueren  Philosophie  bis  Kant.  S.  342.  ^ 
Braun,  Otto,  Hinauf  zum  Idealismus.  S.  342.  —  Hoff- 
mann,  Karl,  Zur  Literatur  und  Ideengeschichte.  S.  343.  — 
Ledere,  Albert,  La  Philosophie  grecque  avant  Socrate. 
S.  344.  —  Derselbe,  La  Morale  rationelle  dans  ses  relations 
avec  la  Philosophie  générale.  S.  344.  —  Flügel,  0.,  Monis- 
mus und  Theologie.  S.  345.  —  Walther,  Martin,  J.  J.  Her- 
bart und  die  vorsokratische  Philosophie.  S.  84.5.  —  v.  Brock- 
dorff,  Die  Geschichte  der  Philosophie  und  das  Problem  ihrer 
Begreiflichkeit.  S.  346.  —  Derselbe,  Die  Kunst  des  Ver- 
stehens.  S.  347.  —  Derselbe,  Die  wissenschaftliche  Selbst- 
erkenntnis. S.  347.  —  John  Stuart  Mill,  Eine  Prüfung  der 
Philosophie  Sir  William  Hamiltons.  Deutsch  von  mlmar 
Wilmanns  S.  348.  —  Kohlmann,  0.,  Kant  und  Haeckel. 
S.  348.—  Burckhardt,  G.  Ed.,  Die  Anfänge  einer  geschicht- 
lichen Fundamentierunç  der  Religionsphilosophie.  S.  349.  — 
Fröhlich,  Franz,  Fichtes  Reden  an  die  deutsche  Nation. 
S.  850.  —  Richert,  H.,  Philosophie.  S.  351.  —  Sanus, 
Similismus,   Grundriss    einer  neuen   Weltanschauung.    S.  861. 

—  Apel,  Max,  Kommentar  zu  Kants  „Prolegomena".    S. 352. 

—  Couturat,  Louis,  Die  philosophischen  Prinzipien  der 
Mathematik.    Deutsch  von  Dr.  Carl  Siegel.    S.  362. 

Simon,  Über  Mathematik.  S.  496.  —  Messer,  Empfindung 
und  Denken.  S.  497.  —  Krön  er,  Über  logische  und  ftsthe- 
tische  AllgemeingOltigkeit.  8.497.  —  Becher,  Philosophische 
Voraussetzungen  der  exakten  Naturwissenschaften.  S.  498.  — 
Derselbe,  Die  Grundfrage  der  Ethik.  S.  499.  —  v.  der 
Pfordten,  Vorfragen  der  Naturphilo80i)hie.  S.  500.  — 
van  Biéma,  L'espace  et  le  temps  chez  Leibniz  et  chez  Kant. 
S.  501.  —  Der  sel  oe,  Martin  Knutzen,  la  critique  de  Thar- 
monie  préétablie.  S.  502.  —  Bergmann,  Untersuchungen 
zum  Problem  der  Evidenz  der  inneren  Wahrnehmung.    S.  602, 

—  Jungmann,  René  Descartes.  Eine  Einführung  in  seine 
Werke.  S.  603.  —  Wenzig,  Die  Weltanschauungen  der 
Gegenwart  in  Gegensatz  und  Ausgleich.  S.  508.  —  Clapa- 
rèae-Spir,  Denken  und  Wirklichkeit.  S.  604.  —  Miller, 
Ham  ma,  Geschichte  und  Gmndprobleme  der  Philosophie. 
S.  505. 


Sêitm 


VI  Inhalt. 

Seit» 

BittoilMmen: 

Die  neue  Kantb&ste  Ton  Professor  Janensch.    «Mit  einer  Ab- 

bÜdnng.)    V(m  H.  Vaihinger  165 

Der  Kampt  nm  Kante  Grab  in  Königsberg.   Von  H.  Vaihinger      167 
KmlCMeltocMait.    IT.  JalirM^erlckt.    i«07  .    .    .      17& 

Veigfinsdgnng  für  neneintretende  Jahresmitglieder  der  Kant- 

gesellachaft 180 

Ummi^emtUmeMmn.    M ilsUe^^rreneiclmls  Ar  ^mm 

JmlM*  1907 181 

Dritter  internationaler  Kongress  für  Philosophie  in  Heidelberg. 
S.  186.  —  Bestimmongen  über  die  ^Ergänzungshefte**  der  Kant- 
stodien.  S.  187.  —  Mitteilung  für  Jahresmitglieder  und  Solche, 
die  es  werden  wollen.  S.  ISß.  —  Die  JahrSberichte  über  die 
deatsche  Philosophie  in  den  Kantstndien.  S.  189.  — 
I>ritte«  PrelMMiMCkrelbea  der  KmlcMeltocIimit 

(Carl  Gnttler-Preisanfgabe) 19a 

Kante  Beziehongen  znr  Medizin.  Eine  Umfrage.  S.193. — Neuauf- 
^fondene  Kantbriefe.  S.193.— An  die  Herren  Autoren.  S.  193. — 
Der  Begriff  der  Persönlichkeit  bei  Kant.    Nachtrag  zu  dem 

Tren&lenburgschen  Au&atz.    Von  H.  Vaihinger    .    .     .    .       194 

Von  der  Feier  des  60.  Geburtstages  Wilhelm  Windelbands  354 

Eine  Erweiterung  der  Dürr'schen  philosophischen  Bibliothek  .      365 
Dritter  internationaler  Kongress  füi  Philosophie  in  Heidelberg      356 

Preisau^be  506 
Erwiderung  auf  einen  Angriff  gegen  die  Kant-Studien.    Von 

H.  Vaihinger 507 

Walter  Simon-Preisaufgabe 508 

An  die  Mitglieder  der  Kant-Gesellschaft 509 

Register: 

Sachregister     .    .    , 510 

Personenregister 513 

Besprochene  Kantische  Schriften  516 

Venasser  besprochener  Novitäten 516 

Verzeichnis  der  Mitarbeiter 517 


Zur  Geschichte  des  Wortes  Person. 

Nachirelassene  Abhandlung  von  Adolf  Trendelenburg. 
Eingeführt  von  Rudolf  Eucken. 


Einfuhrung. 

Die  Vielgeschäftigkeit  des  Grossstadtlebens  und  mannigfache 
ibtiiamt  liehe  Tätigkeit  haben  Trendelen  bürg  am  Abschluss  ver- 
miedener von  ihm  geplanter  grösserer  Werke  verhindert,  das 
"Bild  geiner  wissenschaftlichen  Art  wäre  um  bedeutende  Züge  be- 
rt*ichert  worden,  hätte  er  die  Ethik  und  die  Psychologie  vollenden 
klinneii,  die  ihn  beschäftigten.  Die  Lücke  aber  aus  seinem  Nach- 
last auszufüllen,  hinderte  ein  striktes  Verbot,  irgend  etwas  unfertig 
Iliiiterlassene»  zu  veröffentlichen.  Nun  aber  fand  sich  ein  Schrift- 
-snick  vor,  das  nicht  als  unfertig  gelten  darf,  und  das  Trendelen- 
burg sicher  in  eine  Sammlung  kleinerer  Schriften  aufgenommen 
!  '\   rui    er    noch    zu    einer    solchen   gekommen   wäre:    eine 

[  ;.u  ioaciuing,  welche  das  Datum  trägt  20.  Januar  1870  und  den 
Tiî«l  führt:  „Zar  Geschichte  des  Wortes  Person". 

Diese  Arbeit  liegt  nun  freilich  über  37  Jahre  zurück,  im 
Eiimslnen  hätte  Trendelenburg  selbst  gewiss  jetzt  verschiedenes 
Wà  ergänzen  und  zu  verändern  gefunden.  Aber  das  Ganze  darf 
IrulÄ  S4^)ues  knappen  Umfangs  als  ein  wertvoller  Ausdruck  der 
Kij^entfiriilic*hk«'it  jenes  Denkers  und  Forschers  gelten,  dessen 
Li^^eosarbeit  Hire  Bedeutung  behält,  obschon  die  Bewegung  der 
Avh  iti^wiKcheü  andere  Bahnen  einschlug.  Mit  voller  Deutlichkeit 
ers<?heiftt  hier  Trendelenburgs  freundliches  Verhältnis  zur  Ge- 
lehidite.  sriu  eifriges  Streben,  die  Zeiten  in  einen  engen  Zu- 
tomnienhang  zu  bringen  und  den  Stand  der  Gegenwart  möglichst 
«QH  der  Vergangenheit  hervorwachsen  zu  lassen.  Zugleich  wird 
enricbtiich,  mit  welcher  Weite  des  Blickes,  welchem  Gleichmass 
des  Ijitêresi  ,  welcher  Besonnenheit  und  Sorgfalt  er  bei  solcher 
Art>eJt  verfuhr,  auch  welchen  künstlerischen  Reiz  seine  Darstellung 


â  A.  'Trendelenburg, 

in  ihrer  schlichten  Anmut  hat.  Für  die  „Kantstudien"  aber  hat 
diese  Abhandlung  einen  Wert,  wennschon  sie  über  Kant  selbst 
nichts  Neues  bringt.  Ein  enger  Anschluss  an  die  alte  Philosophie 
gestattete  Trendelenburg  kein  nahes  Verhältnis  zu  Kant  und  keine 
volle  Würdigung  seiner  umwälzenden  Leistung.  Wie  sehr  er  ihn 
trotzdem  schätzte,  das  lässt  diese  kleine  Untersuchung  in  vollem 
Masse  erkennen.  Denn  sie  ist  ihrer  ganzen  Ausdehnung  nach  auf 
Kant  als  Zielpunkt  gerichtet;  wie  seine  höchst  einflussreiche  Ver- 
tiefung des  Begriffs  der  Persönlichkeit  durch  die  geschichtliche 
Arbeit  verschiedenster  Gebiete  vorbereitet  war,  das  soll  hier  vor- 
geführt werden.  So  bildet  das  Ganze  eine  Hinführung  zum 
ethischen  Hauptbegriffe  Kants  und  zugleich  eine  Huldigung  für 
Kant,  der  von  hier  aus  angesehen  als  der  höchste  Gipfel  erscheint, 
zu  dem  die  verschiedenen  Wege  führen. 


Zur  Geschichte  des  Wortes  Person. 

1.  Kant  hat  den  Begriff  der  Person  für  die  Moral  neu  aus- 
geprägt; ein  guter  Teil  seiner  ethischen  Lehre  konzentriert 
sich  in  dem  Satz:  „Der  Mensch  ist  Person".  Im  Gegensatz  gegen 
den  Begriff  der  Sache  sagt  Kant  in  der  Grundlegung  der  Meta- 
physik der  Sitten"  (1786):^)  „vernünftige  Wesen  werden  Personen 
genannt,  weil  ihre  Natur  sie  schon  als  Zwecke  an  sich  selbst, 
d.  i.  als  etwas,  das  nicht  bloss  als  Mittel  gebraucht  werden  darf, 
auszeichnet,  mithin  sofern  alle  Willkür  einschränkt  und  ein  Gegen- 
stand der  Achtung  ist."  Da  die  vernünftige  Natur  als  Zweck  ah 
sich  selbst  existiert  und  nicht  bloss  als  Mittel  zum  beliebigen  Ge- 
brauch für  diesen  oder  jenen  Willen,  so  wird,  sagt  Kant,  der 
praktische  Imperativ  folgender  sein:  „Handle  so,  dass  du  die 
Menschheit  sowohl  in  deiner  Person  als  in  der  Person  eines  jeden 
andern  jederzeit  zugleich  als  Zweck,  niemals  bloss  als  Mittel 
brauchst."  „Der  Mensch  ist  zwar  unheilig  genug,"  sagt  Kant  an 
einer  anderen  Stelle,^)  „aber  die  Menschheit  in  seiner  Person  muss 
ihm  heilig  sein.  In  der  ganzen  Schöpfung  kann  alles,  was  man 
will,  und  worüber  man  etwas  vermag,  auch  bloss  als  Mittel  ge- 
braucht werden;  nur  der  Mensch,  und  mit  ihm  jedes  vernünftige 
Geschöpf,  ist  Zweck  an  sich  selbst". 


1)  S.  56  f.  Rosenkr. 

«)  Kr.  d.  pr.  V.  1788.    S.  156. 


Zur  Geschichte  des  Wortes  Person.  3 

Wenn  der  Mensch  als  vernünftiges  Wesen  Person  ist  und 
als  solche  Selbstzweck,  so  hängt  damit  zusammen,  dass  er,  dem 
vernünftigen  Zweck  entsprechend,  einer  vernünftigen  Willens- 
bestimmung fähig  sei,  was  das  Wesen  seiner  Freiheit  ausmacht. 

So  legt  Kant  in  die  Person  Selbstzweck  und  Freiheit  und 
sieht  die  Erhabenheit  der  menschlichen  Natur  in  dieser  Achtung 
erweckenden  Persönlichkeit. 

Es  ist  eine  der  wohltätigen  Wirkungen  Kants,  dass  er  den 
Begriff  der  Person  neu  erhellt.  Der  Begriff  der  Person,  in  welche 
er  die  Würde  des  Menschen  legte  (alle  Sachen  haben  einen  Wert, 
einen  Marktpreis,  nur  der  Mensch  allein  Würde),  und  der  Begriff 
der  Achtung  für  den  Menschen,  der  in  diesem  Sinne  Person  ist, 
gingen  nun  Hand  in  Hand  und  wuchsen  in  der  Anerkennung  mit 
einander.  Stillschweigend  hat  diese  Wirkung  das  Leben  in  seinen 
besten  Richtungen  mitbestimmt;  und,  was  die  wissenschaftliche 
Bedeutung  betrifft,  so  hat  dieser  Begriff  selbst  in  der  theo- 
logischen Ethik,  wie  z.  B.  in  Nitzsch  System  der  christlichen 
Lehre,  Eingang  gefunden. 

In  dem  dargestellten  Sinne  drückt  uns  der  Begriff  der 
Person  oder  die  Persönlichkeit  im  Menschen  die  Quelle  und  gleich- 
sam die  Substanz  seines  sittlichen  Wesens  aus.  Wir  wären  ratlos, 
wenn  wir  diesen  Begriff  in  die  griechische  Sprache,  welche  die 
edle  Mutter  unserer  wissenschaftlichen  ethischen  Ausdrücke  ist, 
zurückübersetzen  sollten.  In  Plato  und  Aristoteles  findet  sich 
keine  adäquate  Bezeichnung.  Sie  sprachen  von  dem  Menschen, 
nicht  von  der  Person,  wenn  sie  das  dem  Menschen  Eigentümliche 
aasdrücken  wollen.  Wo  es  Sklaven  giebt,  wird  ein  Begriff,  wie 
der  Kantische,  wenigstens  aus  dem  allgemeinen  sittlichen  Beii^iisst- 
8ein  nicht  hervorwachsen.  Es  ist  ein  Fortschritt  der  wissen- 
schaftlichen Begriffe,  wenn  die  neuere  Zeit  einen  solchen  Begriff, 
^ie  Person,  ausprägte. 

Aber,  fragen  wir,  um  unser  Thema  zu  bezeichnen,  wie  kann 
die  Person,  persona,  d.  h.  die  vorgehängte  Maske,  die  den  ange- 
Qommenen  Schein  bedeutet,  zum  Ausdruck  des  innersten  sittlichen 
W'esens,  zum  Ausdruck  des  eigensten  Kerns  im  Menschen  werden? 
Wissenschaftliche  Termini,  wie  z.  B.  das  Subjektive  und  Objek- 
tive, das  a  priori  und  a  posteriori,  die  moralische  Oewissheit  der 
lAathematischen  entgegengesetzt,  die  Idee  und  das  Konkrete,  haben 
^cht  selten  ihre  Geschichte.  Es  ist  mein  Wunsch,  einen  Beitrag 
tûT  Geschichte   des   Wortes   Person   zu   geben   und  zwar  in  der 


4  A.  Trendelenburg, 

Richtung  der  aufgeworfenen  Frage:  wie  kam  persona,  die  Maske, 
von  der  der  Fuchs  im  Phaedrus  sagt,  „welch  mächtige  Gestalt! 
Gehirn  hat  sie  nicht"  (s.  1,  7),  dazu,  im  Fortgang  des  Gebrauchs 
die  Persönlichkeit  in   der  Kantischen  Ausprägung  zu  bezeichnen? 

2.  Wo  man  von  der  Geschichte  eines  Wortes  redet,  denkt 
man  zunächst  an  seinen  Stammbaum.  Indessen  ist  bei  dem 
Worte  persona  die  Etymologie  noch  heute  nicht  sicher  gestellt. 

Es  ist  eine  bekannte  Stelle  im  Gellius  V.  7,  wo  es  heisst: 
Lepide  mehercules  et  scite  Gabius  Bassus  in  libris,  quos  de  origine 
vocabulorum  composuit,  unde  appellata  persona  sit,  interpretatur; 
a  personando  enim  id  vocabulum  factum  esse  coniectat:  „Nam 
caput",  inquit,  „et  os  cooperimento  personae  tectum  undique, 
unaque  tantum  vocis  emittendae  via  pervicera,  quoniam  non  vaga 
neque  diffusa  est,  in  unum  tantummodo  exitum  collectam  coactam- 
que  vocem  ciet  et  magis  claros  canorosque  sonitus  facit.  Quoniam 
igitur  indumentum  illud  oris  clarescere  et  resonare  vocem  facit, 
ob  eam  causam  persona  dicta  est,  o  littera  propter  vocabuli  for- 
mam  productiore.  Hiernach  hätte  persona  die  Maske  von  ihrer 
Eigenschaft,  den  Namen,  die  Stimme  zusammenzuhalten  und  den 
Laut  kräftiger  und  heller  hervorbrechen  zu  lassen.  Abgesehen 
von  der  widersprechenden  Quantität  (persbno  und  persona)  wäre 
der  Name  von  einer  Nebeneigenschaft  statt  von  dem  eigentlichen 
Wesen  der  Maske,  wie  etwa  den  charakteristischen  Gesichtszügen, 
abgeleitet.  J.  C.  Scaliger  zweifelt  schon  an  diesem  Ursprung, 
aber  die  Ableitung,  die  er  vorschlägt,  neçi  (Smfxa  oder  neql  fwju« 
trifft  noch  weniger.  Ein  alter  Vocabularius  trägt  Tieferes  in  das 
Wort  hinein  und  deutet  persona  als  per  se  una.  Die  neueste 
Ableitung,  die  ich  las,  ist  noch  tiefsinniger.  Da  ona  in  den  latei- 
nischen Wörtern  die  Fülle  bedeutet  (was  richtig  sein  mag,  wie  in 
annona,  Pomona,  Bellona),  so  bezeichne  persona,  d.  h.  per  se  ona, 
die  Fülle  aus  sich,  wie  der  Person  Christi  die  Fülle  beigelegt 
wird,  das  nkrjçœfjia,  Jacob  Grimm  in  seiner  akademischen  Ab- 
handlung vom  Jahre  1858^)  ist  nicht  abgeneigt,  persona  unter 
die  Vertretung  männlicher  durch  weibliche  Namensformen  zu 
rechnen.  Er  geht  insoweit  in  die  Ableitung  von  personare  ein, 
als  er  sich  an  der  Abweichung  der  Quantität,  die  auch  sonst  vor- 
komme,   nicht  stösst;    aber   er   erklärt  den  Sinn  anders.     Die  Be- 


^)  Denkschriften   1858  über  die  Vertretung  männlicher  durch  weib- 
liche Namensfonnen  S.  49. 


Zur  Geschichte  des  Wortes  Person.  5 

deutuüg   soll   nicht   von   einer   den  Laut   des  Reimes  erhöbenden 

Larve  herkommen,  sondern  persona  könnte  an  sich  den  Sprechenden, 

der  seine  Rede  verlauten  lässt,  bezeichnen,  ähnlich  wie  vocula  als 

Beiname,    an    sich   nichts   als  parva  vox,     einen    leise  Redenden 

meine.     Diese  Etymologie   macht  einen  weiten  Umweg  und  dürfte 

mit   dem    üblichen   Gebrauch   von   personare   nicht   stimmen.     In 

dieser  Verlegenheit   wird   man   fast   zu   einer   anderen  Ableitung 

hingetrieben,   die   schon  Forcellini   vorschlägt.     Wenn   die   Maske 

mit   dem  Theater   aus  Griechenland   nach  Rom   kam,   so  wäre  es 

möglich,  dass  das  fremde  Wort  nQoaœnov  oder  nçoGwneïov  als  ein 

fremdes   sich  eine  gewaltsame  Umformung  musste  gefallen  lassen, 

ähnlich  wie  z.  B.  der  fremde  Pflanzenname  voaxvafiog  iusquiamus 

wurde,    und   insofern  würde   die   Analogie,   dass   umgekehrt   wie 

Usçoegiovri   Proserpina   wurde,    nçoownov  oder  nçwUûnsïov  sich  in 

persona    verwandelte,    erträglicher,    so    dass    (nach    Schwencks 

Memung)  persona  etwa  für  prosopina  stände. 

Nach  diesem  Reichtum  unsicherer  oder  ungewisser  Ver- 
matUDgen  bekennen  wir,  dass  die  Stammverwandtschaft  von  per- 
sona noch  nicht  entdeckt  ist.  Wir  wenden  uns  also  zur  Be- 
deatong  zurück,  auf  welche  es  für  unseren  Zweck  allein  an- 
kommt 

3.  Das  Wort  Person  hat  schon  in  Luthers  Bibelübersetzung 
eine  mehrfache  Bedeutung.  Bei  der  Erzählung  eines  Verrats 
übersetzt  Luther  2.  Makkab.  12,  4:  sie  ersäuften  sie  alle  in  die 
zwei  hundert  Person;  und  in  Luk.  19,  3,  bei  der  Erzählung  von 
Zachäns,  der  Jesum  zu  sehen  begehrt  und  auf  einen  Maulbeerbaum 
stieg:  „denn  er  war  klein  von  Person**.  In  erster  Stelle  haben 
der  griechische  Text  und  die  Vulgata  nur  das  Zahlwort;  und 
Luther  wählt,  scheint  es,  Personen,  um  Männer  und  Weiber  zu- 
sammenzufassen. In  der  zweiten  Stelle  heisst  Zachäus  im  Grie- 
chischen f]Xixi(f  fjLixçoç,  im  Lateinischen  steht  quia  statura  posillus 
erat.  In  dem  Qebrauch:  er  war  klein  von  Person,  ist  das  Aus- 
sehen, wie  in  der  Maske,  eine  wesentliche  Vorstellung,  aber  es 
^  dabei  an  das  Aussehen  des  ganzen  Leibes  gedacht. 

Unserem  Vorwurf  stehen  andere  Zusammenfügungen  näher. 
^on  im  alten  Testament  kehrt  der  Ausdruck  :  ohne  Ansehen  der 
Person  wieder.  So  heisst  es  5.  Mos.  16,  17:  Gott,  der  keine 
Person  achtet  und  kein  Geschenk  nimmt;  2.  Chron.  19,  17:  bei 
dem  Herrn  unserm  Gott  ist  kein  Unrecht  noch  Ansehen  der 
Person  ;   Hieb  34,  19  :    „der   doch   nicht  ansiehet  die  Person  der 


6  A.  Trendelenburg, 

Fürsten".  Der  Ausdruck  des  Hebräischen  ist  sinnlicher.  Das 
„Antlitz  annehmen**  (û"»pD  x^n)  kann  wohl  nur  heissen:  den  Blick 
des  Anderen  annehmen,  d.  h.  ihm  günstig  sein.  Wenn  die  LXX 
^av(idaai  nQoawnov  übersetzt  (2.  Chrou.  19,  7,  vgl.  6.  Mos.  10,  17, 
Hiob  34,  19),  so  kann  man  fragen,  ob  hier  „ein  Antlitz  be- 
wundem" im  eigentlichen  sinnlichen  Sinne  zu  verstehen  sei,  oder 
ob  hier  der  Gebrauch  des  nçoîfwnov  schon  die  Beziehung  aufge- 
nommen hat,  die  wir  z.  B.  im  Polybius  finden,  die  Beziehung  auf 
die  Rolle,  die  jemand  im  Leben  spielt.  Die  Vulgata  übersetzt 
5.  Mos.  10,  17,  Dens,  qui  personam  non  accîpit.  2.  Chron.  19,  7, 
personarum  acceptio.  Hiob  34,  19,  qui  non  accipit  personas  prin- 
cipum.  In  dieser  Übersetzung  ist  nQoaœnov,  das  im  attischen 
Griechisch  noch  nicht  die  Person  vor  Gericht  bezeichnet,  zur  per- 
sona im  juristischen  Sinne  geworden,  und  daher  stammt  Luthers: 
ohne  Ansehen  der  Person.  Das  accipere  personam  erklärt  sich  in 
der  persona  accepta,  persona  grata. 

In   dem    nçoawnov  als  Maske  liegt  immer  die  Duichführung 
einer  Rolle,    die    Vertretung    eines    Charakters.      Ausdrücke   des 
neuen  Testaments,  welche  an  jene  des  alten  erinnern,  klingen  aî^ 
diese  Bedeutung  noch  mehr  an.    In  der  Apostelgeschichte  10,  3^ 
ruft  Petrus  nach  der  Bekehrung  des  römischen  Hauptmanns  Cof - 
ûelios   aus:    „Nun   erfahre   ich   mit   der  Wahrheit,   dass  Gott  di^ 
Person  nicht  ansieht,   sondern  in  allerlei  Volk,   wer  ihn   fürcht^"^ 
und   recht  tut,    der   ist   ihm   angenehm".      Ähnlich  der    Apost^ 
Paulus   im  Briefe  an  die  Römer,  2,  II,    „Preis   denen   die  Gute^ 
tun,  Yomehmlich  den  Juden  und  auch   den  Griechen;   denn  es  is^ 
kein   Ansehen   der  Person   vor  Gott",   vgl.  Gal.  2,  6.    Der  grie- 
chische Ausdruck  heisst  ovx  ê<ni  nçocwfrolTJmrjç  6  i^eoç  (act.  10  34)  - 
nQOiftonolfikpla  (Rom.  2,  11),    nQoawnov  o  ^eog  dv^çoinov  ov  Xafi^ 
ßdvEi  (Gal.  2,  6),  welcher  Ausdruck  der  LXX  3.  Mos.  19,  15  ent^ 
spricht.    Die  Vulgata  übersetzt  personarum  acceptio  (act.  10,  34^ 
R5m.  2,   11).     Deus   personam    hominis   non   accipit   (Gal.  2,  6). 
Während  in  dieser  lateinischen  Übersetzung  schon  der  juristische 
Gebrauch    der    Person    deutlich    hervortritt,   hat   das   griechische 
nQwUùnov   noch   die   besondere   Beziehung   im  Sinn,    wie   sie  die 
Maske  darstellte,  das  nationale  Gesicht,  ob  Jude,   ob  Grieche,   ob 
Befichneidung,  ob  Vorhaut,  das  wäre  ein  Ansehen  der  Person,  das 
im  Christentum  nicht  gilt.    In  dem  Ausdruck:   ohne  Ansehen   der 
Pdrson  tritt  der  Anspruch,   den   die  Person   auf   ein  Besonderes, 
z.  B.  das  Nationale,  gegen  das  Allgemeine  möchte  geltend  machen, 


Zur  Geschichte  des  Wortes  Person.  7 

in  die  Sprache  ein.  Im  Latein  ist  dieselbe  Beziehung  des 
Besonderen  wohl  zu  erkennen,  wenn  z.  B.  Cic.  ad  Attic.  VIII,  11, 
in  einem  Briefe  an  den  Pompejus  sagt,  im  Zusammenhang 
mit  der  Partei,  die  er  genommen,  mit  der  Rolle,  die  er  gespielt 
bat:  ut  mea  persona  semper  ad  improborum  civium  impetus  ali- 
quid videretur  habere  populäre. 

4.    Diese  Beziehung   wird  noch  wahrscheinlicher,   wenn  wir 
bei  den  Stoikern,  die  im  Leben  auf  die  Übereinstimmung  mit  sich 
selbst,    auf  die  Konsequenz   des   mit  sich  einigen  Charakters  ge- 
richtet  waren,   das   nçoawnov,    die    persona   zum   Ausdruck   des 
Ethischen  werden   sehen.     Die  Stoiker  lieben  den  Vergleich  und 
nehmen  den  Vergleich  in  die  eigentliche  Lehre  auf.    So  lesen  wir 
iû  Epiktets  kurz  gefasster  Ethik  (in  seinem  Enchiridion)  (Kap.  17): 
^Gedenke,  dass  du  Darsteller  (vnoxçni^)  einer  Rolle  bist,  welcher 
Art  der  Meister  (aiadokaXog)  will;   wenn  er  eine  kurze  will,  einer 
kurzen,   wenn   eine  lange,   einer  langen;   wenn   er   will,   dass  du 
einen   Armen   darstellst,   dann   sorge,   dass   du   einen  Armen  mit 
Geist  spielest,   ebenso   wenn  einen  Hinkenden,   wenn  eine  Obrig- 
keit, wenn  einen  gemeinen  Mann;   denn  das  ist  deine  Sache,   die 
dir  gegebene  Rolle  (nçocwnov)  schön  zu  spielen,   aber  sie  auszu- 
wählen,  eines  Anderen.^     In  demselben  Sinne  heisst  es  Kap.  37: 
nWenn   du   eine   Rolle  über  dein  Vermögen  übernimmst,  so  wirst 
du  sie   schlecht  und  linkisch  spielen^  und  eine  andere  versäumen, 
die  du  ausfüllen  könntest."    In   demselben  Sinn  gebietet  Epiktet 
m  den  Dissertationen,   die  zugewiesene  oder  übernommene  Rolle 
zu  wahren,   zu  wissen,   was  man  sein  will  und  darin  der  eigenen 
KoUe  nicht  zu   vergessen.    In  den  Dissertationen  1,  2,  12  heisst 
es:  „Als  Florus  den  Agrippinus  um  Rat  fragte,   ob   er  zu  Neros 
äcbaaspiel   gehen   und  dabei  einen  Dienst  übernehmen  solle,   ant- 
wortete Agrippinus:   geh   nur  hin;   und  als  dieser  weiter  fragte, 
warum   er  denn  nicht  selbst  hingehe,  erwiderte  er:   weil  ich  der- 
gleichen  nicht   einmal  überlege.     Denn   wer  einmal  solche  Dinge 
betrachtet,   in  den  Wert  des  Äusseren  eingeht  und  es  berechnet, 
der  ist  nicht  viel  anders  daran,   als  die,   welche  ihrer  eigenen 
Bolle  vergessen.  "^    So  soll  nach  der  stoischen  Lehre  (Diog.  Laert 
^,  §  160)  der  Weise  dem  guten  dramatischen  Künstler  (vnoxQwç) 
ähnlich  sein. 

Diese  Gedanken  sind  nicht  bloss  Lehre  des  Epiktet,  des 
Stoikers  zu  Neros  Zeit,  sondern  sie  sind  bei  den  Utesten  grie- 
chischen Stoikern  heimisch.    Wenigstens  haben  wir  ein  Fragment 


8  A.  Trendelenburg, 

des  Teles,  der  wahrscheinlich  ein  Zeitgenosse  des  Chrysipp  ist, 
das  ähnlich  wie  Epiktet  spricht;  nur  mit  dem  Unterschiede,  dass 
es  die  Tyche  (das  Glück)  und  nicht  den  vorsehenden  Gott  zum 
Dichter  der  Rollen  macht.  Die  persona  ist  in  diesem  ethischen 
Sinne  der  übertragenen  oder  übernommenen  Rolle  bei  Cicero  ge- 
läufig, z.  ß.  offic.  1,  28  und  31. 

Wir    erkennen    in    dem    Bilde    das  Eigentliche  der  stoischen 
Ethik  ohne  Schwierigkeit.     Die  gut  gedichtete  Rolle  ist  der  Natur 
gemäss,    wie    der  erete  Grundsatz  der  Stoiker  verlangt,  der  Natur 
gemäss  zu  leben,    d.  h.  der  Vernunft,   die   der  Natur  zum  Grunde 
liegt,    zu    folgen,    und    die   gut   gedichtete    Rolle   individualisiert 
ferner   das    Allgemeine    der    eigentümlichen  Natur   des   Einzelned- 
gemäss   und   gründet   es  in  einem  vernünftigen  Mittelpunkt.     Da-^ 
durch  wird  erreicht,  was  die  Stoiker  wollen.     Das  allgemeine  Ge- 
setz  der   Natur  verbindet  sich  mit  dem  Willen  der  eigenen  über- 
einstimmend.   Denn  es  wird  richtig  gehandelt,  und  es  entsteht  der* 
schöne  Fluss   des  Lebens,    wenn    der  Wille   des  Ordners  des  Alte 
und   der  Dämon    des  Einzelnen    harmonisch    stimmen*    Indem  die 
Rolle  aus  dem  Ganzen  des  Dramas  entworfen  ist  und  doch  in  dem 
Eigenen    des  Teils   ihr  Leben   hat,  ist  sie  ein  künstlerischer  Aus- 
druck jener  Lehre.     Überdies   bleibt  die  gut  gedichtete  Rolle  sich 
selbst  treu,  wie  die  vita  sibi  Concors,  auf  welche  Seneca  uns  hin- 
weist.    Der  Weise   nun,    der   einem   guten  dramatischen  Künstler 
ähnlich  sein  soll,  muss  die  Rolle  selbst  entwerfen  und  selbst  dar- 
stellen. 

Wir  haben  hier  zwar  die  persona  in  einer  ethischen  Be- 
deutung von  eigenem  Gepräge,  aber  nicht  in  der  Bedeutung,  die, 
wie  heute,  das  eigentliche  Prinzip  der  individuellen  Sittlichkeit 
ausdrückt.  Im  Deutschen  finden  wir  noch  Spuren  von  persona 
als  Maske,  Rolle,  z.  B.  in  der  Zusammenfügung,  er  hat  seine 
Person  gut  gespielt,  gut  vorgestellt. 

5.  Dasselbe  Wort,  welches  in  der  Scene  von  dem  Schau- 
spieler gebraucht  wird,  agit  personam,  gehört  der  Gerichtssprache 
an,  wenn  agere  apud  iudicem,  actio  von  der  Klage  gebraucht  wird. 
Der  Kläger  (actor)  und  der  Verteidiger  gleichen  in  Rede  und 
Gegenrede  den  Masken,  den  Personen  auf  der  Bühne.  An  den 
Kläger,  den  Verteidiger  und  den  Richter  sind  gleichsam  verschie- 
dene Rollen  dieses  Dramas  verteilt.  Daher  war  es  ein  entsprechen- 
der lebendiger,  sinnlicher  Ausdruck,  wenn  die  Gerichtssprache  das 
Wort    persona   aufnahm.      So  wird  persona  vom  Kläger  und  Ver- 


Zur  Geschiebte  des  Wortes  Person.  9 

leidiger  gern  gebraucht.  Z.  B.  Gai  institut.  IV,  §  86.  Qui 
autem  alieuo  uomine  agit  (wie  der  cognitor,  der  procurator)  inteii- 
tioneni  quidem  ex  persona  domini  sumit,  condemnationem  autem 
in  suam  personam  convertit. 

Auf  diesem  Wege,  so  scheint  es,  wurde  persona  ein  eigent- 
lich juristisches  Wort. 

Persona  bezeichnet  nun  den  Träger  der  unterscheidenden 
Rechtsbeziehungen,  die  geltend  gemacht  werden,  wie  in  dem  Bei- 
spiel der  persona  domini,  persona  procuratoris.  Wie  die  persona 
in  ihrer  eigentlichen  Bedeutung  als  Maske  auf  einen  besonderen 
oder  individuellen  Grundzug,  der  sich  in  der  allgemeinen  mensch- 
lichen Physiognomie  ausgebildet  hat,  hinweist,  so  bezeichnet  das- 
selbe Wort,  z.  B.  bei  den  Rhetoren,  die  unterscheidenden  Be- 
ziehungen des  Einzelnen  zu  anderen  Einzelnen,  ut  Hector  ad 
Priamum  pereona  filii  est,  ad  Astyanactem  persona  patris,  ad 
Andromachen  persona  mariti,  ad  Paridem  persona  fratris,  ad  Sar- 
pedonem  amici,  ad  Achillem  inimici.  Die  hier  mit  persona  ge- 
nannten Beziehungen  könnten  fast  alle,  wie  namentlich  die  Be- 
ziehungen der  Verwandtschaft,  zu  besonderen  Rechtsbeziehungen 
werden.  In  der  Regel  wird  jeder  in  Einem  und  demselben  Rechts- 
geschäft nur  Eine  Beziehung  geltend  zu  machen  haben,  aber  es 
kann  geschehen,  dass  mehrere  zusammentreffen;  wie  z.  B.,  wenn 
ein  Konsul  seinen  Sohn  emanzipiert,  die  persona  patris  und  die  per- 
sona magistratus,  bei  dem  die  Emanzipation  geschieht,  zusammen- 
kommen. Darauf  geht  das  Wort;  unus  homo,  plures  personas 
sustinet.  Cic.  de  orator.  II,  102  sagt:  très  personas  unus  solus 
snstineo  summa  animi  acquitate  meam  adversarii  iudicis. 

Hier  sieht  man,  wie  persona  der  ursprünglichen  Bedeutung 
noch  nahe  steht  und  persona  und  homo  noch  nicht  zusammen- 
fallen. In  einem  verwandten  Sinne  kann  selbst  auf  eine  Sache, 
wie  die  Erbschaft,  als  Trägerin  von  Rechtsbeziehungen,  die  an 
ihr  haften,  der  Ausdruck  persona  angewandt  werden,  wie  z.  B. 
Clpian  in  dem  Titel  de  dominio  acquirendo  XLI,  1,  34  hereditas 
non  heredis  personam  sed  defuncti  sustinet,  was  in  den  Institu- 
tionen II,  14,  2  ausgedrückt  wird,  .  .  .  nondum  enim  adita  here- 
ditas personae  vicem  sustinet  non  heredis  futuri  sed  defuncti. 

Das  römische  Recht  geht  im  Gebrauch  des  Wortes  persona 
noch  einen  aSchritt  weiter.  Da  ira  eigentlichen  Sinne  nur  Menschen, 
nicht  Sachen,  Rechte  haben  können,  so  ist  es  geschehen,  dass 
persona   in    der   Sprache    des  Rechts  Menschen   ohne  Unterschied 


10  A.  Trendelenburg, 

bezeichnet.  So  heisst  es  z.  B.  in  Gai.  inst.  I  §  8:  Omne  autem 
ius  quo  utimur  vel  ad  personas  pertinet  vel  ad  res  vel  ad  ac- 
tiones  und  9  weiter  et  quidem  summa  divisio  de  iure  personarum 
haec  est,  quod  omnes  homines  aut  liberi  sunt  aut  servi.  Freie 
und  Sklaven,  sonst  in  ihren  Rechtsbeziehungen  entgegengesetzt, 
heissen  hier  alle  personae.  Die  personae  stehen  den  res,  die 
Personen  den  Sachen  gegenüber.  In  dieser  Bedeutung  hat  sich 
persona,  aus  dem  unterschiedenen  Besonderen  menschlicher  Ver- 
hältnisse hervorgegangen,  alles  Besonderen  entkleidet  und  ist  in 
die  Vorstellung  des  Menschen  überhaupt  verblasst. 

Aus  dieser  Quelle  floss,  wenn  auch  vermittelt,  der  deutsche 
Gebrauch  der  Person,  den  wir  in  Luthers  Bibelübersetzung  ver- 
treten fanden,  2.  Macc.  12,  4  „sie  ersäuften  sie  alle  in  die  200 
Person".  Die  lateinische  Sprache  drückte  niemand  durch  die  Ne- 
gation mit  homo  aus,  ne  -|~  homo  =  nemo;  die  französische 
sagt  z.  B.  il  n'y  a  personne.  So  unbezeichnend  ist  das  bezeich 
nende  Wort  persona,  Maske  geworden;  und  wir  haben  uns  ii 
dieser  Richtung  von  jenem  prägnanten  Satze  Kants:  „der  Mensel 
ist  Person"  weit  entfernt;  denn  in  dieser  Bedeutung  wäre  dei 
Satz  das  Gegenteil  des  Prägnanten,  es  wäre  tautologisch.  Ja,  ii 
dieser  Richtung  ist  der  Gebrauch  selbst  unter  die  edle  Bedeutung 
des  Menschen  gesunken:  denn  man  fragt  z.  B.  geringschätzig 
was  will  die  Person? 

6.  Vielleicht  griff  noch  eine  andere  wissenschaftliche  Ver- 
wendung des  Wortes  in  diese  Verallgemeinerung  ein. 

Wenn  die  Griechen,  vielleicht  die  Stoiker,  die  unsere  heutige 
Grammatik  gründeten,  die  bedeutungsvolle  Flexionsendung,  die 
wir  Person  des  Verbums  nennen,  mit  dem  Worte  nQoaomov  Ant 
litz  oder  Maske  bezeichneten,  so  hatten  sie  dabei  sicher  da? 
Drama  vor  Augen,  in  welchem  sich  die  Personen  im  Ich  und  Di 
lebendig  bewegen.  Bei  Lucian  (de  calumn.  c.  6)  tritt  in  einen 
verwandten  Beispiel  diese  im  technischen  Ausdrucke  erloschene 
Beziehung  wieder  anschaulich  hervor:  iQKàv  â'ovrœv  nçoawnwv 
xa^dnBQ  èv  taîç  xwitKfiâiaiç,  tov  SiaßdXkovToc  xai  tov  otaßaXXo^evox 
xai  xov  nçoç  ov  ij  aiaßoXij  yivexai.  Die  Maske,  von  der  die  Red( 
ausgeht,  gewöhnlich  die  zuerst  auftretende,  ist  die  erste  und  di( 
von  ihr  angeredete  die  zweite.  Überhaupt  beginnt  jedes  Gespräcl 
damit,  dass  der  eine  von  zweien  etwas  denkt  oder  begehrt  um 
dem  Andern,  was  er  denkt,  mitteilt,  oder,  was  er  begehrt,  befiehlt 
Es    war    richtig,    diejenige   Person,    in    welcher   der   Impuls   dei 


Zur  Geschichte  dee  Wortes  Person.  1 1 

ganzen  Gesprächs  und  gleichsam  die  Initiative  liegt,  die  ei-ste 
Person  zu  nennen.  Wir  lehnen  billig  eine  psychologische  Deutung 
ab,  in  welcher  das  Ich  die  erste  Person  heisst,  weil  das  Ich  einem 
jeden  das  Erste  und  Nächste  ist,  oder  die  idealistische,  nach 
welcher  das  Ich.  weil  es  selbsttätig  und  schöpferisch  die  Vor- 
stellung alles  Nicht-Ich  hervorbringe,  der  ersten  Person  den  Namen 
gegeben.  Wenn  es  wahrscheinlich  ist,  dass  auf  die  angegebene 
Weise  sich  aus  dem  Dialog  die  Bezeichnung  nçocoanov  für  die 
erste  und  zweite  Person  darbot,  so  unterschied  sich  von  ihnen 
wie  von  selbst  der,  von  dem  die  Rede  ist;  und  wenn  dieser  etwa 
in  die  Handlung  selbst  eingreift,  so  heisst  er  auf  natürliche  Weise 
die  dritte  Maske.  Allerdings  wird  zur  dritten  Person  auch  die 
Bezeichnung  der  Sache  gerechnet,  sei  es,  dass  von  einer  Sache 
das  Verbum  in  der  dritten  Person  ausgesagt  oder  ein  Pronomen, 
wie  es,  auf  eine  Sache  zurückbezogen  wird.  Aber  die  Erklärung 
hat  keine  Schwierigkeit.  Wenn,  wie  in  der  dritten  Person,  von 
einem  persönlichen  Subjekt  (er,  sie)  die  Rede  ist,  so  wird  es  von 
selbst  für  das  Ich  und  für  das  Du  eine  Art  Objekt  und  in  dieser 
Beziehung  ist  eine  gewisse  Verwandtschaft  zwischen  dem  Er  als 
Person  und  dem  Er  als  Sache;  sie  sind  beide  Objekt.  Wiederum 
stellt  die  Sprache  auch  die  Sache,  wie  z.  B.  im  männlichen  oder 
weiblichen  Geschlecht  des  Wortes,  als  lebendig  dar  und  nähert 
dadurch  auch  die  Sache  der  Person. 

Schon  beim  Aristarch  (unter  Ptolemäus  Philometor)  ist  die 
grammatische  Benennung  nçôfSwnov  terminus,  und  daher  geht  nicht 
unwahrscheinlich  das  nçoatonov  als  grammatische  Person  auf  die 
Oebortsstätte  unserer  heutigen  Grammatik,  auf  die  stoische  Schuh», 
zorfick,  die,  wie  wir  sahen,  auch  ethisch  das  nçoacDnov,  die  Maske, 
verwandte.  Der  Schüler  des  Aristarch  war  Dionysius  Thrax  und 
die  unter  seinem  Namen  erhaltene  griechische  Grammatik  scheint, 
wenn  auch  im  Auszug,  wirklich  von  ihm  herzustammen.^)  In  ihr 
werden  die  nçdamna  so  bezeichnet:  ngwiov  uèv,  dif  oi  o  Xôyoç, 
tivtêfov  Se,  nçoç  ov  6  loyoç,  xçitov  de,  n&çi  ov  o  koyoç:  und 
dieser  einfachen  Erklärung  sind  wir  gefolgt.^)    M.  Terent.  Varro, 

*)  Joamies  Classen  de  gramma ticae  Graecae  primordiis,  1829, 
p.  18  f.  99. 

')  Die  Beziehung  auf  die  Bühue  deutet  Schömann  an  in  seiner 
Schrift  die  Lehre  von  den  Redeteilen  nach  den  Alten.  18ö2,  8.  97.  Vgl. 
tODft  Aber  nç6o<ona  Classen  1.  1.  p.  82.  Steinthal,  Geschichte  der 
^^chwissenschaft  bei  den  Griechen  und  Römern  mit  besonderer  Rück- 
sicht  auf  die  Logik.    S.  624,  652  f. 


12  A.  Trendelenburg, 

ein  um  zehn  Jahre  älterer  Zeitgenosse  des  Cicero,  kennt  schon 
den  grammatischen  Gebrauch  der  aus  nço^œnov  übersetzten  per- 
sona; und  Cicero  beginnt  jenen  juristischen,  welcher  in  persona 
den  Träger  einer  besonderen  Rechtsbeziehung  sieht.  Bei  Varro 
heisst  es  z.  B.  quem  ita  personarum  natura  triplex  esset,  qui  lo- 
queretur,  ad  quem,  de  quo.  So  mögen  sich  der  grammatische  und 
juristische  Gebrauch  der  persona  auf  dem  Wege  zur  Verallge- 
meinerung, auf  welchem  zuletzt  persona  und  homo  gleichbedeutend 
sind,  einander  unterstützt  haben. 

7.     Es  gehört  zur  Geschichte  des  Wortes  Person,  dass  über 
dasselbe  ein  ganzes  Konzil  zur  Prüfung  und  Entscheidung  getagt 
hat,  und  zwar  zu  Alexandrien  im  Jahre  362  zur  Zeit  Julians  des 
Abtrünnigen.     Es   handelte   sich   dabei  um  die  rechtgläubige  Auf- 
fassung der  Trinität.    Die  griechische  Kirche  unterschied  als  drei 
v7io(nd(SBiç   den  Vater,    den   Sohn  und  den  Geist,  dergestalt,  dass 
das  Eine  göttliche  Wesen  {ovaia,  çvovç)   durch  die  drei  vnotndaei^ 
hindurchgeht.     Sie  hatte   diese  Lehre  unter  Constantin  zum  nicä- 
nischen  Symbolum    erhoben.    Aber   die  lateinischen  Kirchenlehrer 
sahen   in    diesem  Worte    vnoaraaig,   v^iaudfievov^  subsistons  einea 
unangemessenen   Ausdruck,   der   drei   für   sich  bestehende  W^esea 
setze   und    die  Eine   göttliche  Substanz   darüber   verliere.     Ihnea 
war  Gott   nur   Eine  Hypostasis.    Die   griechischen   Kirchenlehrer 
fürchteten,    durch    eine    solche  Auffassung    in    die    sabellianische 
Ketzerei  zu  verfallen,  in  jene  Lehre,  dass  Vater,    Sohn  und  Geist 
nur   die   verschiedenen   Offenbarungsformen  der   höchsten  Einheit 
sind,    die   sich   in   der   Schöpfung   und  Weltgeschichte   als    Trias 
entfalte.     In    der   römischen   Kirche   hatte   zwar  Tertulian   gegen 
den    Monarchianer   Praxeas   geschrieben,    der   die  Unterscheidung 
des  Vaters,    Sohnes   und   Geistes   nicht   real,    sondern    nur   ideell 
nehmen   wollte,    aber   zugleich    vorgeschlagen,    die   drei  zu  unter- 
scheiden   personae,    non  substantiae  nomine,  ad  distinctionem,  non 
ad  divisionem.^)     So  geschah  es,   dass  die  Bischöfe  der  römischen 

1)  TertiiUian.  adv.  Praxeam  c.  12:  Qui  si  ipse  Dens  est,  secundum 
Joannein,  Deus  erat  sermo,  habes  duos,  alium  dicentem,  ut  fiat,  alium 
facientem.  Alium  autem  quomodo  accipere  debeas  iam  professus  sum, 
personae,  non  substantiae,  nomine,  ad  distinctionem,  non  ad  divisionem. 
Ceterum  ubique  teneam  unam  substantiara  in  tribus  cohaerentibus,  tamen 
alium  dicam  oportet  ex  necessitate  sensus  eum  qui  iubet  et  eum  qui  facit. 

Augustin,   de   trinitate.   VII,    7. dictum   est  a   nostris   Graecis   una 

essentia,  ires  substantiae  ;  a  Latinis  autem  una  essentia  vel  substantia,  très 
personae ,  quia  sicut  iam  diximus  non  aliter  in  sermone  nostro  id  est  Latino 
essentia  quam  substantia  solet  intelligi. 


Zur  Geschichte  des  Wortes  Person.  l3 

Kirche  nicht  den  Ausdruck  vnoovMig,  und  die  Bischöfe  der  grie- 
chischen nicht  den  Ausdruck  nQocwnov,  persona,  annehmen  wollten. 
Auf  jenera  Konzil  traten  nun  Bischöfe  aus  Italien,  Arabien, 
Ägypten  und  Libyen  mit  dem  Athanasius,  dem  Erzbischof  von 
Alexandrien,  zusammen.  Indem  sie  einander  in  der  Sache  als 
rechtgläubig  anerkannten,  erklärten  sie  den  Streit  über  vnotnaaic 
und  persona  für  einen  Wortstreit.  Seit  dieser  Zeit  wurde  das 
Wort  persona  oder  nçoatanov  gleichbedeutend  mit  imociaaiç  und 
ÄKwjua,  und  in  der  christlichen  Kirche  legitim.  So  sagt  z.  B. 
Gregor  von  Nazianz  (gest.  390)  in  einer  Predigt  (oratio  39, 
p.  630):  „Bei  dem  Namen  Gottes  werden  wir  von  einem  drei- 
fachen Lichte  durchblitzt,  von  einem  dreifachen,  in  Bezug  auf 
seine  eigentümlichen  Naturen  {lâicifiata),  mag  man  sie  Hypostasen 
oder  lieber  Personen  nennen,  mit  einem  einfachen  hingegen,  wenn  wir 
aaf  die  Substanz,  d.  h.  die  Gottheit  sehen "".  So  einigte  man  sich  in 
den  Wörtern,  aber  bedeckte  doch  eigentlich  damit  die  Differenz 
in  der  unverstandenen  Sache. 

Indessen  kehrte  noch  einmal  das  Wort  persona  seine  eigent- 
liche Bedeutung   heraus.      Servet   vertrat  sie  in  seiner  Schrift  de 
trinitatis   erroribus  (1532),    und  erklärte  die  drei  Personen  in  der 
Gottheit  als  drei  Funktionen,  gleichsam   als  drei  Rollen  und  starb 
fär  diese    erste  Bedeutung  von  persona  auf  Calvins  Anklage   hin 
den  Tod    des   Ketzers   auf   dem  Scheiterhaufen  (1653).     Dass   es 
sich  um    diese   erste  Bedeutung   der  persona  handelt,   tritt  unter 
Anderem    recht  deutlich  aus  Melanchthons  loci  hervor.     Es  heisst 
dort  (Ausg.  von  1559,   Berlin  1856,  p.  6):    Lusit   homo   fanaticus 
Seryetus  de  vocabulo  Personae  et  disputât  olim  Latinis  significasse 
habitum    aut    officii    distinctionem,    ut    dicimus.       Boscium    alias 
sostinere    personam     Achillis,    alias   sustinere    personam     Ulissis, 
sen  alia  est  persona  consulis,  alia  servi,  ut  Cicero  inquit:  magnum 
est  in  republica  tuen  personam   principis.     Et  hanc  veterem  signi- 
ficationem  vocabuli  sycophantice  detorquet  ad  articulum  de  tribus 
personis  divinitatis.    Die   kirchliche  Erklärung,   die  auch  Melanch- 
thon  giebt,  lautet  anders:   persona  est  substantia  individua  intelli- 
geos  incommunicabilis  non  sustentata  in  alia  natura.    So  gewinnt 
in  der  Theologie  die  persona,  die  die  Maske  der  Bühne  bedeutet, 
die  Bedeutung  des   eigenen  unübertragbaren  (unmitteilbaren)  ver- 
ofinftigen  Wesens,  das  durch  sich  besteht.    In  diesem  Sinne  sagt 
die  Augsborgische  Konfession  vom  Jahre  1530:   „und  wird  durch 
das  Wort  persona  verstanden,   nit  ein  Stück,   nit  ein  eygenschafft 


l4  A.  Trendelenburg, 

io  einem  andern,  sondern  es  selbig  bestadt".  Das  Wort  person 
lieh  war  in  dieser  Bedeutung  bereits  durch  die  Mystiker,  wi 
Meister  Eckhart,  in  unsere  Sprache  übergegangen.  In  Gott  werde 
Macht,  Weisheit  und  Liebe  (Güte),  der  Gedanke,  der  seit  Abälardi 
wie  noch  in  Leibniz  systema  theologicum  den  drei  Personen  de 
Trinität  zum  Grunde  gelegt  wurde,  persönlich  und  wesentlich  ar 
geschaut,  und  mit  diesem  Gott  soll  sich  der  Mensch  vereinigen 
„Ach,  lieber  Mensch,  was  schadet  es  dir,  dass  du  Gott  vergönnesi 
dass  er  in  dir  Gott  sei?  (Meister  Eckhart.  Ausg.  von  Pfeiffei 
S.  66,  36)  :  und  wenn  sich  Gott  dem  Menschen  giebt,  ist  die  erst 
Gabe  die  Minne,  in  der  er  alle  Gabe  giebt,  die  Minne  er  selbe 
personlich  und  wesentlich"  (S.  328,  10).  Indem  der  Mensc 
Gott  hat,  sagt  Meister  Eckhart  weiter  (S.  24*^,  13),  hat  er  pei 
sönliche  Macht,  persönliche  Weisheit  und  persönliche  Güte;  er  ha 
sie  alle  drei,  in  Einem  Wesen  ihre  Naturen.  Durch  diesen  Zusat 
ist  das  Wesenhafte  in  dieser  Macht  und  Weisheit  und  Güte  b< 
zeichnet.  Das  Theologische  grenzt  hier  an  das  Ethische  ;  es  lie) 
nahe  zu  sagen,  wer  Gottes  Macht,  Weisheit  und  Liebe,  alle  dr 
persönlich  in  Einem  Wesen  aufnimmt  und  hat,  wird  dadurch  selb 
Person  oder  persönlich. 

8.  Noch  einmal  kehren  wir  zum  juristischen  Gebrauch  z 
rück,  um  auch  aus  ihm  eine  ethische  Bedeutung  zu  gewinne 
Wir  sahen,  wie  im  römischen  Recht  persona  zum  Menschen  übe 
haupt  wurde,  und  dass  es,  wie  z.  ß.  im  Ausdruck  ius  personam] 
Freie  und  Sklaven  begriff.  Nach  und  nach  geschieht  das  nie 
mehr,  und  nur  der  Freie  heisst  Person. 

Es  wird  öfter  ausgesprochen,  dass  der  Sklave  kein  Rec 
hat,  z.  B.  dig.  IV,  5,  4  (de  capite  minutis)  servile  caput  nuUu 
ius  habet,  ideo  nee  minui  potest,  und  von  dem  Tage  der  Man 
mission  heisst  es,  hodie  incipit  statum  habere  (ebendaselbs 
IX,  2,  2,  §  2  ad  legem  Aquiliam,  wird  hervorgehoben,  dass 
dem  Gesetz  die  servi  den  vierfüssigeu  Tieren  gleichgeste 
werden,  servis  nostris  exaequat  quadrupèdes.  L.  17,  32  (de  r 
gulis  juris)  Quod  attinet  ad  ius  civile,  servi  pro  nullis  haben ti 
L.  17,  22  (in  personam  servilem)  nulla  cadit  obligatio,  und  i 
Sinne  des  Rechts  L.  17,  209  (de  regulis  iuris)  servitutem  mort 
litati  fere  comparamus.  Wie  nun  in  dieser  Betrachtung  d 
Sklave  nicht  rechtsfähig  ist,  so  scheidet  er  auch  aus  den  Pc 
sonen  aus.  Nov.  Theodos.  c.  17  servos  quasi  nee  persona 
habentes.    Zur  Zeit  des  Justinian  ist  es  bereits  Doctrin  geworde 


Äur  Geschichte  des  Wortes  t'erson.  16 

dass  Sklaven  keine  Personen  sind;  denn  Theophiias,  der  grie- 
chische Übersetzer  der  Institutionen,  hat  schon  den  ausgeprägten 
Terminus,  der  Sklave  sei  dnçooœnoç.  (Theophilus  ad  §  2.  Inst, 
de  hered.  instit.,  et  princ.  Inst,  de  stipulatioue  servorum.  Inst, 
in,  18),  wofür  sich  ein  entsprechender  lateinischer  Ausdruck,  wie 
etwa  impersonalis,  nicht  gebildet  hat.  Savigny  bemerkt,  dass 
diese  Lehre  verhältnismässig  spät  entstanden  sei.^)  Seit  der  Zeit 
Jnstinians  steht  es  fest,  dass  der  rechtsfähige  Mensch  und  nur 
dieser  Person  ist.  Der  Sklave  ist  Sache.  Persona  est  homo  statu 
civili  praeditus  und  die  Freiheit  ist  ihr  ausschliessendes  Attribut. 
Wenn  wir  weiter  fragen,  was  die  Freiheit  ist,  so  wird  sie  im 
römischen  Recht  als  das  natürliche  Vermögen  erklärt,  zu  tun 
WIS  jedem  beliebt,  ausser  wenn  er  durch  Gewalt  oder  Recht  ver- 
Mndert  wird  (Inst.  I,  3.  1). 

In  diesem  Begriff  der  Person  war  mehr  als  in  den  voran- 
gehenden Beziehungen  das  Wort  vorgebildet,  dessen  Kant  zum 
Ausdruck  der  ethischen  Idee  des  Menschen  bedurfte.  Wenn  Dinge, 
die  bloss  Mittel  wozu  sind,  Sachen  heissen,  so  wird  der  Ausdruck 
ftr  ein  Wesen,  das  als  vernünftig  Zweck  an  sich  ist  und  nie 
bloss  Mittel  sein  darf,  Person  sein  müssen. 

Schon  Leibniz  hat  in  dem  Briefe  an  Wagner  (de  vi  activa 
corporis,  de  anima  et  de  anima  brutorum  1710)  p.  467  ed.  Erdm. 
den  juristischen  Begriff  vor  Person  für  die  tiefere  Bezeichnung 
des  Menschlichen  verwandt.  Indem  er  Selbstbewusstsein  und  die 
Fähigkeit  einer  Gemeinschaft  mit  Gott  den  Vorzug  der  mensch- 
lichen Seele  nennt,  hält  er  dafür,  dass  die  Seele,  einmal  dieser 
Gemeinschaft  teilhaft,  niemals  die  Person  eines  Bürgers  im  Staate 
Gottes  aufgeben  werde  (sentio  nunquam  eas  deponere  personam 
dvis  in  republica  Dei).  Die  Berechtigung  der  Person  als  eines 
Bargers  im  Staate  Gottes  erscheint  in  diesem  Zusammenhang  als 
die  Würde  der  Menschheit. 

9.  Der  moralischen  Idee  der  Persönlichkeit,  die  wir  in  dem 
Untpnmg  ihres  Namen  aufsuchten,  geht  ein  psychologischer  Be- 
griff der  Persönlichkeit  voraus  (Einleitung  zu  den  metaphysischen 
Anfangsgründen  der  Rechtslehre  p.  XXII),  der  das  Vermögen  des 
Menschen   darstellt,   sich   in   den  verschiedenen  Zuständen   seines 


*)  Savigny,   System   des  heutigen  römischen  Rechts.    2.  Band.  1840. 
&  as,  Note. 


16  A.  Trendelenburg, 

Daseins  der  Identität  seiner  selbst  bewusst  zu  werden.  Ohne  di( 
Vermögen  des  sich  fortsetzenden  Selbstbewusstseins  würde  es  gi 
keine  Moralität,  namentlich  keine  Zurechnung  geben.  Ehe  noc 
Kant  den  Namen  der  Person  ethisch  vertiefte  und  darin  die  Ide 
der  Menschheit  ausprägte,  hatte  schon  Leibniz  und  nach  ihm  Ch 
Wolff  die  Vorstellung  des  in  dem  Abfluss  der  Zeit  mit  sich  idei 
tischen  Selbstbewusstseins  mit  dem  Worte  der  Person  verknüpf 
Da  Leibniz  in  dem  angeführten  Briefe  an  Wagner  (a.  a.  0.  p.  46f 
das  Selbstbewusstsein  und  die  Erinnerung  des  vorangegangene 
Zustandes  als  das  bezeichnete,  was  den  Menschen  über  das  Tie 
erhebe,  nannte  er  diesen  Vorgang  personae  conservatio.  „Itaqu 
non  tantum  vitam  et  animam,  ut  bruta,  sed  et  conscientiam  st 
et  niemoriam  pristini  status,  et,  ut  verbo  dicam,  personam  servai 
In  diesem  Namen  sagt  Chr.  Wolff  in  den  „vernünftigen  Gedanke 
von  Gott,  der  Welt  und  der  Seele  des  Menschen"  (1725)  §  92^ 
„Da  man  nun  eine  Person  nennet  ein  Ding,  das  sich  bewusst  is 
es  sei  eben  dasjenige,  was  vorher  in  diesem  oder  jenem  Zustant 
gewesen  :  so  sind  die  Tiere  auch  keine  Personen.  Hingegen  w< 
die  Menschen  sich  bewusst  sind,  dass  sie  eben  diejenigen  sin 
die  vorher  in  diesem  oder  jedem  Zustande  gewesen  :  so  sind  ^ 
Personen."  In  demselben  Sinne  fordert  z.  B.  Jacobi  im  Gege 
Satz  gegen  die  Lehre  von  der  blinden,  stummen  Notwendigke 
die  er  im  Spinozismus  sah,  einen  persönlichen  Gott;  und  v^ 
Menschen  geben  uns  schwer  zufrieden  mit  einer  unpersc: 
liehen  Weltvemunft  als  dem  letzten  Gedanken,  worin  wir  ruh 
sollen. 

Wenn  mit  dem  Begriff  der  Person  in  der  Richtung  des  d. 
menschliche  Leben  durchdringenden  Selbstbewusstseins  der  Unte 
schied  des  Menschen  vom  Tier  bezeichnet  w^ar,  so  geschah  ( 
leicht,  dass  das  unterscheidende  Wesen  des  Sittlichen,  die  Id( 
der  Menschheit,  demselben  Worte  übertragen  wurde. 

So  sehen  wir  das  Wort  der  Person  in  verschiedenen  Wisse 
Schäften  verwandt;  und  indem  es  sich  auf  der  einen  Seite  bis 
den  vulgären  Gebrauch  verallgemeinert,  geben  ihm  auf  der  andei 
die  Wissenschaften  einen  tiefen  Sinn.  Sie  halten  das  Wort  a 
der  Höhe  und  machen  es  mögUch,  dass  ihm  zuletzt  der  Stemp 
eines  ethischen  Grundgedankens  aufgeprägt  wird.  Man  sieht 
dem  Worte  der  Persönlichkeit  an,  dass  es,  wie  das  parall 
gehende  Wort  der  Individualität,  das  auch  seine  Geschichte  ha 
nicht  im  Volke  gewachsen  ist.    Aber  solche,  von  der  Wissenscha 


Zur  Geschichte  des  Wortes  t^erson.  l7 

bewusst  gebildete  Wörter,  haben,  wenn  sie  durchdringen  und  ihren 
bedeutenden  Inhalt  treu  wahren,  für  die  Gemeinschaft  vorzüg- 
lichen Wert;  denn  sie  können  zu  Massstäben  im  öffentlichen  Ur- 
teil and  selbst  zu  Antrieben  des  Willens  werden;  daher  ist  es 
Pflicht  der  Schriftsteller,  das  Gepräge  nicht  abzugreifen  und  ab- 
zuschleifen. 


KâBMttdUu  XJU. 


über  historische  Kausalität') 

Von  Otto  Baensch. 


Eine  Untersuchung  über  historische  Kausalität  kann  sich  ihrem 
Gegenstand  auf  zwei  Wegen  zu  nähern  suchen  :  entweder  sie  geht 
vom  Wesen  und  den  Aufgaben  der  Historie  aus  und  sieht  zu, 
welche  eigentümliche  Rolle  der  Begriff  der  Kausalität  im  Zu- 
sammenhang des  historischen  Denkens  spielt,  oder  sie  beginnt  mit 
einer  allgemeinen  Erörterung  des  Kausalbegriffes  und  bestimmt 
diesen  dann  zu  der  besonderen  Form,  die  er  für  die  Geschichte 
annimmt.  Beide  Wege  kreuzen  sich  gelegentlich,  ja  gehen 
streckenweise  ganz  zusammen.  Dennoch  macht  es  einen  Unter- 
schied, ob  man  dem  einen  oder  dem  anderen  folgt:  auf  dem  einen 
gelangt  man  eher  zu  einer  Orientierung  über  das  Verhältnis  des 
Kausalgedankens  zu  den  anderen  leitenden  Prinzipien  der  histo- 
rischen Betrachtung,  während  der  zweite  mehr  das  Verhältnis  der 
speziellen  historischen  Kausalität  zu  den  übrigen  Gestaltungen  des 
Kausalbegriffs  sichtbar  macht.  Wenn  es  sich  dabei  auch  nur  um 
ein  mehr  oder  minder  handelt,  so  wird  deswegen  doch  der  erste 
Weg  dort  zu  bevorzugen  sein,  wo  man  sich  die  Untersuchung  in 
den  Rahmen  einer  Geschichtslogik  hineindenkt,  der  zweite  da- 
gegen dort,  wo  man  einen  Beitrag  zur  allgemeinen  Kategorien- 
lehre zu  geben  beabsichtigt.  Führt  man  die  Untersuchung,  ohne 
genötigt  zu  sein,  auf  ein  grösseres  Ganzes,  dem  sie  einzuordnen 
wäre,  Rücksicht  zu  nehmen,  so  ist  es  natürlich  völlig  willkürlich, 
welchen  Weg  man  einschlägt.  Ich  wähle  hier  den  ersten  Weg, 
den  Weg  der  Geschichtslogik,  und  werfe  demgemäss  zunächst  einen 
Blick  auf  die  allgemeine  logische  Struktur  des  historischen  Wissens. 

Ich  sage  geflissentlich:  „des  historischen  Wissens",  denn  es 
kommt  mir  nicht  darauf  an,  die  Eigenschaften  der  historischen 
Forschung  zu  erwägen,  die  sich  auf  ihr  Ziel  zubewegt,  sondern 
allein    darauf,    dieses   Ziel    selbst    zu    charakterisieren,    also    die 

1)  Ich  verweise  ausser  auf  Rickerts  geschichtsphilosophische  Schriften 
auf  Webers  „Krit.  Stud,  auf  d.  Gebiete  der  Kulturwiss.  Logik"  (Archiv  f. 
Sozialwiss.  u.  Sozialpol.  Bd.  XXII). 


über  historische  Kausalität.  19 

Eigenschaften  desjenigen  geistigen  Gebildes,  in  dem  das  historische 
Erkenntnisstreben  zur  Ruhe  kommt. 

Zugleich  bemerke  ich,  dass  ich  diese  Charakteristik,  da  sie 
ja  im  gegenwärtigen  Zusammenhange  nur  Mittel  zum  Zweck  ist, 
nur  in  aller  Kürze,  ohne  nähere  Begründung,  geben  will,  und  ich 
moss  daher  bitten,  sie  mir  hypothetisch  zuzugestehen. 

Unter  Geschichte  im  weitesten  unpräzisierten  Sinne  des 
Wortes  verstehen  wir  die  Darstellung  wirklicher  Begebenheiten. 
Wir  wollen  wissen,  was  sich  dort  und  dann  wirklich  zugetragen 
hat.  Das  Interesse  an  der  Wirklichkeit  als  solcher  ist  die  erste 
der  sozusagen  meta-historischen  Voraussetzungen  des  historischen 
Erkennens. 

Dieses  Interesse  richtet  sich  nun  freilich  nicht  auf  alles, 
was  je  wirklich  war.  Und  wer  etwa  doch  ein  derartiges  univer- 
sales Interesse  verspüren  sollte,  würde  sich  wohl,  so  wie  er  sich 
recht  besinnt,  sehr  bald  darüber  klar  werden,  dass  dessen  Be- 
friedigung eine  für  den  Menschen  unlösbare  Aufgabe  wäre.  Denn 
der  Menschengeist,  und  sei  er  der  umfassenste,  ist  endlich,  die 
Wirklichkeit  aber,  wie  sie  sich  der  Erfahrung  darbietet,  ist  un- 
endlich, sowohl  extensiv  weil  grenzenlos  in  Raum  und  Zeit,  als 
auch  intensiv,  indem  jeder  ihrer  Teile  wieder  ins  Unendliche  teil- 
bar ist  und  in  dem  individuellen  Reichtum  seines  qualitativen 
Gehaltes  jeder  Beschreibung  spottet.  Schon  der  Natur  unseres 
Geistes  nach  sind  wir  dazu  gezwungen,  uns  mit  einer  endlichen 
Auswahl  aus  diesem  unendlichen  Reichtum  zu  begnügen. 

In  der  Tat  jedoch  ist  unser  Interesse  durchaus  nicht  ein  so 
universales:  wir  machen  garuicht  den  Versuch,  aus  der  unend- 
lichen Fülle  der  Wirklichkeiten  soviel  an  uns  zu  reissen,  als  wir 
irgend  schleppen  können,  sondern  beschränken  uns  auf  das,  was 
in  irgend  welchem  Sinne  ein  besonderes  Interesse  für  uns  hat. 
Das  Interesse  am  Wirklichen  rein  als  solchem  ist  noch  kein  aus- 
reichendes Motiv  für  den  historischen  Erkenntnistrieb,  es  muss 
sich  noch  mit  einem  weiteren  besonderen  Interesse  an  besonderen 
lohalten  der  Wirklichkeit  verbinden. 

Wir  nehmen  aber  an  allen  den  Wirklichkeitsinhalten  ein  be- 
sonderes Interesse,  die  für  uns  Objekte  positiver  oder  negativer 
Wertung  zu  werden  geeignet  sind.  Und  dieses  besondere  Inter- 
esse ist  dann  ein  wissenschaftliches,  wenn  die  Werte,  zu  denen 
diese   und  jene  Wirklichkeitsinhalte   gemäss   ihrer  Beschaffenheit 

2* 


20  O.  Baensch, 

eine  notwendige  Beziehung  haben,  allgemein-giltige  Werte,  oder 
wie  wir  auch  sagen  können,  Kulturwerte  sind. 

Solche  Wirklichkeitsinhalte,  die  zu  Kulturwerten  in  Be- 
ziehung stehen,  die  sich  also,  wenn  man  die  Wirklichkeit  unter 
dem  Gesichtspunkte  irgend  welcher  Kulturwerte  betrachtet,  be- 
deutsam aus  ihr  herausheben,  wollen  wir  um  dieser  ihrer  Kultur- 
bedeutung willen  Kultur-Erscheinungen  nennen,  und  wir  definieren 
jetzt  die  Geschichte  als  die  Darstellung  von  Kulturerschein- 
ungen. 

Formal  angesehen,  ist  hiernach  die  Geschichte  keine  unmittel- 
bare Wiedergabe,  keine  reine  Spiegelung  der  Wirklichkeit, 
sondern  vielmehr  eine  Umarbeitung  des  empirisch  Gegebenen:  von 
jedem  einzelnen  Wirklichen,  dem  sie  sich  zuwendet,  lässt  sie  eine 
Unendlichkeit  von  Merkmalen  und  Bestandteilen  beiseite,  um  nur 
diejenige  endliche  Menge  davon  übrig  zu  behalten,  deren  sie  für 
ihren  Zweck  bedarf. 

In  materialer  Hinsicht  folgt  aus  unserer  Definition  durch 
eine  Reihe  von  Schlüssen,  die  ich  hier  nicht  ausdrücklich  zn 
ziehen  brauche,  dass  die  Geschichte  es  in  der  Hauptsache  mit 
Menschen,  mit  ihren  Handlungen,  Leistungen,  Beziehungen  zu  ein- 
ander u.  s.  w.  zu  tun  hat,  und  näher  noch  mit  dem  Leben,  den 
Handlungen,  gegenseitigen  Beziehungen  von  Kulturmenschen,  weil 
nämlich  der  Kulturmensch  als  einziges  wenigstens  der  Tendenz 
nach  allgemeingültig  wertendes  Wesen  fast  ausschliesslich  im  Hin- 
blick auf  die  Kulturwerte  bedeutsam  wird  und  Bedeutsames  schafft. 
Die  Geschichte  ist  anthropozentrisch,  denn  die  Kulturerscheinungen 
sind  Menschen  und  Menschenwerk. 

Aber  wenn  sich  aus  unserer  Definition  auch  das  als  Inhalt 
der  Geschichte  ergiebt,  was  traditionell  ihren  Hauptgegenstand 
ausmacht,  so  können  wir  uns  doch  mit  ihr  noch  nicht  zufrieden 
geben.  Zwar  enthält  sie  mit  dem  Worte  Darstellung  schon  eine 
wichtige  Abgrenzung  gegen  andere  Behandlungsarten  der  Kultur- 
erscheinungen, so  vor  allem  gegen  die  direkte  Bewertung;  aber 
wenn  wir  von  einer  historischen  Darstellung  sprechen,  so  meinen 
wir  doch  noch  etwas  ganz  besonderes.  Die  blosse  Beschreibung 
eines  Gegenstandes,  die  plastische  Herausarbeitung  seines  kultur- 
bedeutungsvollen Gehalts,  die  Kenntlichmachung  der  sich  dem 
ersten  Blick  nicht  sogleich  enthüllenden  Beziehungen  seiner  Teüe 
gilt  uns  noch  nicht  als  spezifisch  historische  Tätigkeit.  Diese 
setzt   erst  dort  ein,   wo  wir  untersuchen,   wie  ein  solcher  Gegen- 


über  historische  Kausalität.  21 

stand    geworden   ist.    Die   historische    Darstellung   einer   Kcdtor- 
erscheinung  ist  immer  eine  genetische  Darstellung. 

Indem  aber  die  genetische  Darstellung  das  Werden  ihres 
Gegenstandes  verfolgt,  erblickt  sie  ihn  in  seinem  realen  chrono- 
logischen und  kausalen  Zusammenhang  mit  anderen  Gegenständen. 
Sie  schildert,  wie  eine  bestimmte,  ihm  zeitlich  vorangehende  histo- 
rische Situation  Ursache  seiner  Verwirklichung  wurde.  Gegenüber 
aller  sonstigen  wissenschaftlichen  Bearbeitung  der  Kulturerschein- 
ungen, die  dabei  stehen  bleibt,  diese  in  ihrer  Isolation  zu  be- 
trachten oder  in  bloss  ideale  Verbindung  mit  anderen  Gegen- 
ständen zu  bringen,  geht  die  Geschichte  darauf  aus,  deren 
kausale  Bedingtheit  in  der  zeitlichen  Ordnung  der  Dinge  aufzu- 
weisen. Die  Kausalität  ist  der  unterscheidende  Grundbegriff  des 
historischen  Verfahrens  im  engsten  Sinne  des  Wortes.  Um  also 
dieses  Verfahren  in  seiner  Eigenart  vorzustellen,  ist  die  ein- 
gehende Verständigung  über  den  Kausalbegriff  von  zentraler 
Wichtigkeit. 

Die  Kausalität  lässt  sich  vielleicht  am  besten  als  notwendige 
Zeitfolge  erklären.  Ein  Ereignis  ist  die  Wirkung  eines  andern, 
wenn  es  notwendig  war,  dass  es  auf  dieses  in  der  Zeit  folgte. 
Wir  müssen  demnach  zuvörderst  fragen,  unter  welchen  Voraus- 
setzungen wir  mit  Fug  von  einer  notwendigen  Folge  von  Ereig- 
nissen reden  dürfen,  und  weiterhin  dann,  wie  die  Kulturerschein- 
ongen  diesen  Voraussetzungen  untergeordnet  werden  können. 

Um  die  erstgestellte  Frage  zu  beantworten,  beginne  ich  mit 
einer  kurzen  Betrachtung  aus  der  Elementarmathematik. 

Versucht  man  die  Wurzel  2  in  Form  eines  Dezimalbruches 
darzustellen,  so  erhält  man  die  Zahl  1,  414213Ô  u.  s.  w.  ins  Un- 
endliche. Diese  Zahl  ist  eine  Irrationalzahl  und  damit  ist  gegeben, 
dass  die  unendliche  Reihe  der  hinter  dem  Komma  stehenden 
Ziffern  der  Periodizität  oder  eines  sonstigen  Merkmales  entbehrt, 
an  dem  man  erkennen  könnte,  dass  sie  nach  einem  festen  Gesetz 
erzengt  worden  sei.  Für  den  äusseren  Anblick  folgt  Ziffer  auf 
Ziffer,  ohne  dass  sich  in  dieser  Abfolge  irgend  welche  Spur  einer 
Regel  verriete,  die  als  Stempel  der  Notwendigkeit  gelten  müsste; 
die  Ordnung  der  Ziffern  macht  den  Eindruck,  als  sei  sie  ein  Spiel 
des  reinen  Zufalls.  Und  doch  ist  dieser  Schein  trügerisch,  denn 
wie  wir  wissen,  ist  die  anscheinend  ganz  zufällig  gebildete 
Ziffemreihe   das   notwendige  Ergebnis  des  an  der  Zahl  2  ansge- 


32  0.  Baensch, 

führten  Wurzelalgorithmus.  Sobald  wir  die  Wurzel  2  als  Prinzip 
der  Reihe  wissen,  verliert  diese  das  Aussehen  regelloser  Willkür 
und  Zufälligkeit,  das  ihr  an  sich  betrachtet  unabänderlich  anhaftet, 
und  gewinnt  den  Charakter  strenger  Notwendigkeit.  Aber  wir 
müssen  dieses  Prinzip  vorher  wissen:  von  ihm  aus  gelangt  man 
zwar  ohne  weiteres  zur  Bildung  der  Reihe,  während  umgekehrt 
diese  für  sich  allein  nicht  die  geringste  Handhabe  bietet,  um  von 
ihr  aus  das  Prinzip  zu  erreichen,  das  ihr  die  Notwendigkeit  erst 
verleiht,  die  ihr  ohne  es  fehlen  muss. 

Man  kann  die  Reihe  der  Ereignisse  in  der  Zeit  in  Analogie 
mit  dieser  Ziffernreihe  der  als  Dezimalbruch  ausgedrückten 
Irrationalzahl  betrachten.  Macht  man  mit  dem  schon  vorher  aus- 
gesprochenen Gedanken  ernst,  dass  die  gegebene  Wirklichkeit  in 
jedem  ihrer  Teile  unendlich  mannigfaltig  und  daher  absolut  indi- 
viduell ist,  derart,  dass  jeder  einzelne  Gegenstand  und  jeder  ein- 
zelne Vorgang  in  seiner  konkreten  Gestaltung  sich  von  jedem  an- 
deren Gegenstand  und  jedem  anderen  Vorgang,  wie  ähnlich  einer 
dem  anderen  auch  sein  mag,  immer  noch  in  unendlich  vielen  Be- 
ziehungen unterscheidet,  so  ist  der  Schluss  unausweichlich,  dass 
von  einer  aus  dem  Lauf  der  Dinge  selbst  unmittelbar  berans- 
leuchteaden  Notwendigkeit  schlechterdings  nicht  die  Rede  sein 
kano.  Im  Hinblick  auf  die  reine  Tatsächlichkeit  des  Seins  und 
Werdens  sagt  der  alte  Spruch:  „Nichts  neues  unter  der  Sonne", 
das  schnurgerade  Gegenteil  von  dem,  was  richtig  ist.  Unter 
einer  sich  rastlos  verändernden,  anderswerdenden,  also  stets  neuen 
Sonne  geschieht  immer  wieder  und  wieder  völlig  neues,  in  dem 
ganzen  unerschöpflichen  Reichtum  seines  Wirklichkeitsgehaltes 
von  keinem  noch  so  tief  dringenden  menschlichen  Verstand  vor- 
herzusehendes. Mag  die  Reihe  des  zeitlichen  Geschehens,  ähnlich 
wie  jene  Ziffernreihe  der  Irrationalzahl  1,  4142135  u.  s.  w.  von 
der  Wurzel  aus  2  abhängt,  ihrerseits  an  sich  ebenfalls  von  einem 
Prinzip  abhängen,  von  dem  aus  sie  mit  evidenter  Notwendigkeit 
konstruierbar  ist,  so  ist  doch  dieses  Prinzip,  sofern  es  überhaupt 
einen  Sinn  hat,  ein  solches  anzunehmen,  unserem  Wissen  trans- 
scendent;  uns  ist  nur  die  für  sich  allein  vollkommen  irrationale 
Reihe  der  Ereignisse  selbst  gegeben,  von  der  aus  nun  einmal 
kein  Weg  zu  jenem  mit  Recht  oder  mit  Unrecht  vermuteten 
Prinzip  hinführt.  So  scheint  demnach  die  zeitliche  Entwickelnng 
der  Wirklichkeit  unserem  an  die  Kategorie  der  Notwendigkeit 
gebimdenen  Denken  undurchdringlich  zu  sein. 


über  historische  Kausalität.  23 

In  der  Tat,  dem  ist  so:  das  konkrete  Sein  der  Dinge  bildet 
für  unser  Erkennen  eine  Grenze,  über  die  es  nie  hinausgelangep 
wird.  Dennoch  hat  man  eine  Möglichkeit  gefunden,  jene  Kate- 
gorie der  Notwendigkeit  an  die  gegebene  Welt  heranzubringen 
and  sie  wenigstens  in  beschränktem  Masse  unserem  Verstände  zu 
erscbliessen. 

E^ne  gegenständliche  Notwendigkeit  vermögen  wir  nur  dort 
zu  erkennen,  wo  sich  der  zu  erkennende  Gegenstand  unter  Regeln 
und  Gesetze  bringen  lässt.  So  würde  uns,  um  an  unser  Zahlen- 
beispiel anzuknüpfen,  eine  Ziffernreihe  schon  an  und  für  sich  als 
notwendig  erscheinen,  sowie  wir  eine  regelmässige  Periodizität 
darin  entdeckten,  oder  konstatierten,  dass  jede  Ziffer  von  den  ihr 
in  der  Reihe  zunächst  vorhergehenden  in  derselben  festen  und 
bestimmten  Weise  abhängig  sei.  Das  überall  und  immer  Gleiche 
ist  das  Schema  der  Notwendigkeit. 

Wie  aber  kann  man  dies  Schema  auf  die  Wirklichkeit  an- 
wenden, in  der  keine  zwei  Teile  sich  völlig  gleich  sind,  sondern 
die  überall  anders  ist,  und  immer  anders  und  anders  wird? 

Dies  geschieht  durch  begijffliche  Bearbeitung  der  Wirklich- 
keit, und  zwar  näher  durch  Bildung  von  Allgemeinbegriffen.  In- 
dem wir  aus  dem  unendlichen  Merkmalkomplex,  als  der  jedes 
konkrete  Ding  und  jedes  konkrete  Ereignis  vor  dem  Denken  er- 
scheint, eine  endliche  Zahl  solcher  Merkmale  herauslösen,  die  es 
mit  anderen  Dingen  und  Ereignissen  gemeinsam  hat,  und  indem 
wir  diese  theoretisch  verselbständigten  Merkmale  zu  Allgemein- 
begriffen zusammenfügen,  gewinnen  wir  die  Möglichkeit,  die  Kate- 
gorie der  Notwendigkeit  mittelbar,  nämlich  durch  das  Medium 
dieser  Welt  von  Allgemeinbegriffen,  mit  der  Welt  der  Wirklich- 
keit selbst  in  Beziehung  zu  setzen. 

Ein  konkreter  Zustand  irgend  eines  Teiles  der  Wirklichkeit 
A^^^  ist  freilich  von  anderen  konkreten  Zuständen  A^*\  A^*)  u.  s.  w. 
unendlich  verschieden.  Das  hindert  aber  nicht,  dass  gegebenen- 
falls sich  die  Merkmale  a  sowohl  in  A<*>,  wie  in  A^*>,  A(*>  u.  s.  w. 
aufweisen  lassen.  Betrachten  wir  dann  die  als  Wirklichkeiten 
qualitativ  unendlich  verschiedenen  Zustände  A(^>,  A(*>,  A<*>  u.  s.  w. 
nur  daraufhin,  dass  sie  unter  den  Begriff  a  fallen,  so  können  wir 
sie  in  dieser  Hinsicht  als  gleich  ansehen.  Dasselbe  würde  natür- 
lich auch  für  konkrete  und  insofern  unter  sich  unendlich  ver- 
schiedene Zustände  B('>,  B^^\  B(»  u.  s.  w.,  die  unter  den  Begriff  ß 
fallen,  zutreffen;  begrifflich  sind  auch  sie  gleiche  Zustände. 


24  0.  Baensch, 

Wenn  wir  nun  beobachten,  dass  in  der  Natur  der  Dinge  auf 
A(^)  B(*),  auf  A(«>  B(«),  auf  A(»)  BW  u.  s.  w.  folgt,  so  sind  zwar 
diese  konkreten  Vorgänge  unter  sich  unendlich  verschieden  und  es 
ist  ihnen  als  konkreten  Vorgängen  gegenüber  sinnlos,  von  Wider- 
holungen  des  gleichen  Vorgangs  zu  sprechen.  Wohl  aber  sind 
wir  berechtigt,  dies  zu  thun,  sobald  wir  an  jenen  konkreten  Auf- 
einanderfolgen nur  darauf  reflektieren,  dass  das  Prius  jedesmal 
unter  den  Begriff  a  das  Posterius  unter  den  Begriff  ß  fiel;  dann 
dürfen  wir  in  der  Tat  sagen,  dass  sich  der  Vorgang  der  Auf- 
einanderfolge von  a  und  ß  mehrmals  in  gleicher  Weise  wieder- 
holt habe. 

Hiermit  aber  haben  wir  den  gesuchten  Ansatzpunkt,  um 
das  Schema  der  Notwendigkeit  auf  die  Wirklichkeit  anzuwenden. 

Wenn  wir  nämlich  auf  jeden  Zustand  der  Wirklichkeit,  der 
unter  den  Begriff  a  fällt,  überall  und  immer  einen  Zustand  folgen 
sehen,  der  unter  den  Begriff  ß  fällt,  so  haben  wir  in  der  ab- 
strakten Aufeinanderfolge  von  a  und  ß,  sofern  die  einzelnen  kon- 
kreten Vorgänge  Anteil  an  ihr  haben,  ein  überall  und  immer 
Gleiches  ;  das  überall  und  immer  Gleiche  aber  ist  eben  das  Schema 
der  Notwendigkeit,  und  wir  werden  daher  füglich  jeden  Vor- 
gang;  der  sich  der  abstrakten  Auf einandei  folge  von  a  und  ß 
unterordnen  lässt,  für  notwendig  halten.  Derartige  abstrakte 
Aufeinanderfolgen  heissen  Regeln  oder  bei  streng  oder  annähernd 
ausnahmsloser  Geltung  Gesetze. 

Wir  sehen  hieraus,  dass  wir  die  notwendige  zeitliche  Folge 
eines  Ereignisses  auf  ein  anderes,  das  ist  also  nach  unserer  Er- 
klärung seine  kausale  Abhängigkeit  von  diesem  nur  auf  Grund 
einer  Kenntnis  von  Regeln  oder  Gesetzen  behaupten  können.  Das 
Wissen  um  Gesetze  ist  für  uns  die  Voraussetzung  dafür,  dass  wir 
einzelne  Ereignisse  als  durch  das  Band  der  Kausalität  mit  einander 
verbunden  betrachten.  Erst  unter  dem  Gesichtspunkte  der  Ge- 
setzmässigkeit erscheint  uns  die  Abfolge  der  Ereignisse  in  der 
Natur  als  ein  vielverschlungenes  Gewebe  einzelner  Kausalreihen 
und  nicht  mehr  als  ein  reines  bloss  zeitlich  geformtes  Geschehen. 
Das  Auge  des  Nomologen  ist  erforderlich,  damit  sich  dem  Welt- 
beschauer der  Strom  des  Werdens  sozusagen  in  eine  Summe 
teils  nebeneinander,  teils  durcheinander  fliessender  Bäche  ver- 
wandele. 

Es  ist  sehr  wichtig,  und  man  sollte  sich  dessen  klar  be- 
wusst    sein,    dass    die   Gliederung   der   Wirklichkeit    in    einzelne 


über  historische  Kausalität.  25 

Wirkangsketteo  nur  unter  der  Voraussetzung  eines  wie  weit  auch 
immer  ausgereiften  nomologischen  Wissens,  möglich  ist.  Die 
Wirklichkeit,  aufgefasst  als  ein  Kausalzusammenhang,  ist  nicht 
mehr  die  unmittelbar  gegebene  Wirklichkeit  selbst,  sondern  das 
Produkt  einer  begrifflichen  Bearbeitung  der  gegebenen  Wirk- 
lichkeit. 

In  den  allgemeinsten  Zügen  wäi-e  damit  die  Frage  nach  den 
Voraussetzungen  der  Erkenntnis  empirischer  Kausalverknüpfuugen 
beantwortet.  Wir  müssen  aber  diese  Voraussetzungen  selbst  noch 
etwas  näher  ins  Auge  fassen,  ehe  wir  auf  die  zweite  Frage  nach 
der  Unterordnung  der  Kulturerscheinungen  unter  sie  eingehen 
können. 

Wenn  wir  vorher  die  Gesetze  als  abstrakte  Aufeinander- 
folgen bezeichneten,  die  sich  überall  und  immer  in  gleicher  Weise 
wiederholen,  so  bedarf  diese  Definition  doch  noch  einer  Korrektur. 
Denn  es  lässt  sich  nicht  verkennen,  dass  die  Wirklichkeit  dein 
Bemühen  unseres  nomologischen  Denkens  erhebliche  Schwierig- 
keiten entgegensetzt.  Tatsächlich  beobachten  wir  derartige  immer 
gleiche  Aufeinanderfolgen  ziemlich  selten.  Was  wir  beobachten, 
ist  nur  ein  blosses  Meistens,  und  in  dem  überwiegenden  Teile  der 
Wirklichkeit  müssen  wir  uns  mit  solchen  relativ  allgemeinen 
Regeln  begnügen. 

Immerhin  besitzt  die  Wissenschaft  ein  gedankliches  Mittel, 
dieser  Schwierigkeiten  Herr  zu  werden.  Dieses  besteht  darin, 
dass  sie  die  gegebenen  Vorgänge  nicht  als  reine  Beispiele  der  von 
ihr  supponierten  Kausalgesetze  ansieht,  sondern  als  ein  Zugleich 
verschiedener  sich  gegenseitig,  freilich  auch  wieder  gesetzmässig, 
alterierender  Anwendungsfälle  eines  oder  mehrerer  dieser  Kausal- 
gesetze. Solche  Kausalgesetze  drücken  gewiss  auch  ein  gemein- 
sames Verhalten  dieser  und  jener  Gattung  von  Dingen  aus,  aber 
nicht  ein  Verhalten,  das  sich  tatsächlich  überall  und  immer  zeigt, 
wo  diese  Dinge  überhaupt  sind,  sondern  ein  Verhalten,  von  dem 
wir  voraussetzen,  dass  es  sich  überall  und  immer  dort  zeigen 
werde,  wo  diese  Dinge  Gelegenheit  haben,  sich  ungestört  auszu- 
wirken. 

Mit  Hilfe  des  einzelne  Vorgänge  isolierenden  Experiments 
gelingt  es  in  den  Naturwissenschaften  zum  Teil  auch,  diese  Be- 
trachtungsweise empirisch  zu  fundieren;  zum  weitaus  grösseren 
Teil  jedoch  ist  das  nicht  möglich  :  die  einzelnen  Kausalkomponenten, 
aus   denen    wir   uns   diese    und   jene  Ereignisse  zusammengesetzt 


26  0.  Baensch, 

denkeo,  bleiben  blosse  Gebilde  der  konstruktiven,  dabei  aber  ihr 
Verfahren  natürlich  stets  an  der  Wirklichkeit  orientierenden 
wissenschaftlichen  Phantasie.  Hieraus  folgt,  dass  nur  in  wenigen 
Gesetzen  sich  das  einer  Anzahl  von  wirklichen  Ereignissen  Ge- 
meinsame als  abstrakte  Formel  darstellt;  die  grössere  Menge 
dieser  Gesetze  sind  begriffliche  Konstruktionen,  denen  die  Wirk- 
lichkeit sich  bestenfalls  annähert,  ohne  dass  irgend  wann  einmal 
ein  „reiner  Fall"  ihrer  Anwendung  zu  erwarten  stünde.  Aber 
zum  Ersatz  dafür,  dass  wir  die  Wirklichkeit  nicht  direkt  unter 
sie  subsumieren  können,  haben  sie  den  Vorzug  allgemeiner  Giltig- 
keit.  Das  Erkennen  dringt  gewissermassen  unter  die  Oberfläche 
der  Wirklichkeit,  die  sich  unserer  Erfahrung  darbietet,  um  ihr 
gegenüber  seine  Ansprüche  aufrecht  erhalten  zu  können,  wobei 
denn  freilich  nicht  vergessen  werden  darf,  dass  diese  subkutanen 
Gesetzlichkeiten  keine  metaphysische  Entität  besitzen,  sondern 
eben  nur  nomologische  Konstruktionen  sind,  die  der  Aufgabe 
dienen,  die  Wirklichkeit  der  Herrschaft  der  Kausalität  zu  unter- 
werfen. 

Durch  diese  Möglichkeit  einer  begrifflichen  Dekomposition 
und  Rekonstruktion  des  Geschehens  erhalten  dann  hinwiederum 
die  bloss  relativen  Regeln,  die  die  Beobachtung  uns  zeigt,  und 
die  zur  Bildung  der  Gesetzesbegriffe  den  Anlass  gegeben, 
auch  ihrerseits  einen  verstärkten  Notwendigkeitscharakter,  indem 
sie  sich  jetzt  als  Hinweise  auf,  wenn  nicht  absolut  allgemeine,  so 
doch  zuverlässigere  Gesetze  deuten  lassen,  die  in  den  tatsäch- 
lichen Vorgängen,  von  denen  wir  sie  abstrahiert  haben,  nach 
Lage  der  Dinge  nicht  immer  zu  voller  Geltung  kommen  können. 

Es  mag  nun  das  vornehmste  Ideal  der  gesetzeswissenschaftlichen 
Erkenntnis  darin  bestehen,  die  ganze  empirische  Welt  nach  ihrer  phy- 
sischen, wie  nach  ihrer  psychischen  Seite  unter  absolut  allgemein- 
giltige,  für  jeden  Körper  und  jedeSeele  zutreffende  Gesetze  zubringen: 
daneben  bleiben  es  doch  immer  noch  selbständige  Ziele  für  sie,  beson- 
dere Teile  und  Gebiete  der  Wirklichkeit  besonderen  Regeln  unterzu- 
ordnen, einerseits,  weil  diese  besonderen  Gebiete  besondere  (wenn 
auch  innerhalb  ihrer  allgemeine)  Eigenschaften  besitzen,  von 
denen  die  allgemeine  Theorie  absehen  muss,  und  die  doch  auch 
eine  Untersuchung  ihrer  regelmässigen  Beziehungen  sowohl  zuein- 
ander als  auch  zu  den  allgemeineren  Eigenschaften  verdienen, 
andererseits,  weil  diejenigen  Regeln  besonderer  Gebiete,  die  sich 
von    der   vollendeten    allgemeinen  Theorie   aus  als  Ergebnisse  des 


über  historische  EausalitAt.  27 

imter  bestimmten  Umständen  erfolgenden  Zusammenwirkens  allge- 
meinerer Gesetze  darstellen,  auch  dann  noch  ein  selbständiges 
wisseoscbaftliches  Interesse  gewähren,  wenn  die  allgemeine  Theorie 
soweit  fortgeschritten  ist,  um  diese  Ableitung  leisten  zu  können. 

Es  fragt  sich  nur,  nach  welchem  Prinzip  die  in  Rede  stehen- 
den besonderen  Gebiete  aus  dem  ganzen  Umkreis  der  Wirklichkeit 
herausgelöst  werden.  In  den  Naturwissenschaften  ist  dieses  Prin- 
zip lediglich  dasjenige  der  formalen  Allgemeinheit.  Mechanik, 
Chemie,  Organologie  haben  das  einem  immer  kleineren  Kreise  von 
Erscheinungen  Gemeinsame  zum  Gegenstande.  Aber  nach  diesem 
Prinzip  könnte  man  ins  Unendliche  fortfahren,  die  Erscheinungen 
zu  spezifizieren  und  es  bedarf  anderer  Prinzipien,  um  das  Erkennt- 
nisstreben auf  bestimmte  Wege  zu  lenken. 

Eins  von  diesen  wäre  auch  hier  die  Beziehung  der  Wirklich- 
keit auf  Kulturwerte.  Es  begründet  den  Versuch,  die  Nomologie 
dieser  und  jener  Art  von  Kulturerscheinungen  und  dessen,  was 
mit  ihnen  zusammenhängt,  zu  gewinnen.  Das  sind  aber  die 
nomologischen  Voraussetzungen  für  die  historische  Behandlung  der 
Kalturerscheinungen. 

Es  ist  ja  klar,  dass  wir  diese  am  wenigsten  unter  den 
allerallgemeinsten  Gesetzlichkeiten  der  Natur  finden  werden.  All- 
gemeine Mechanik  und  allgemeine  Psychologie  sind  deswegen  zu- 
letzt geeignet,  der  Geschichte  als  Hilfswissenschaften  zu  dienen, 
weil  diejenigen  Eigenschaften  eines  Teiles  der  Wirklichkeit,  die 
eine  Kulturbedeutung  haben,  derentwegen  eben  dieser  Teil  für 
uns  zur  Kulturerscheinung  wird,  nicht  die  Eigenschaften  zu  sein 
pflegen,  die  er  mit  möglichst  vielen  anderen  Teilen  der  Wirklich- 
keit gemeinsam  hat,  sondern  solche,  die  ihn  vor  anderen  aus- 
zeichnen, wenn  auch  die  blosse  Besonderheit  und  Individualität 
ihn  noch  längst  nicht  als  Kulturerscheinung  qualifiziert,  wozu 
vielmehr  das  Bezogensein  auf  allgemeingültige  Werte  das  erste 
Erfordernis  ist. 

Hieraus  folgt,  dass  der  Historiker  das  iiomologische  Wissen, 
dessen  er  bedai*f,  nicht  so  sehr  besonderen  Gesetzwissenschaften 
entlehnen  wird,  als  vielmehr  aus  der  Betrachtung  seiner  Gegen- 
stände selbst  sich  bilden  muss. 

Zum  grossen  Teil  wird  er  jedoch  bereits  von  der  vorwissen- 
scbaftlichen  Regelbildung  des  Lebens  Gebrauch  machen  können. 
Denn  da  wir  in  unserem  praktischen  Leben  genötigt  sind,  gerade 
die  Regeln    des  Geschehens    zu  beachten,  denen  die  Dinge  uutei- 


28  0.  Baensch, 

liegeu,  zu  denen  wir  wertend  SteUung  nehmen,  so  werden  diese 
Regeln  mit  geringen  aus  der  Verschiedenheit  des  Materials  sich 
jeweils  leicht  ergebenden  Beschränkungen  auch  auf  die  Objekte 
möglicher  Wertung  in  der  Vergangenheit  Anwendung  finden 
können. 

Zu  einem  anderen  Teil  wird  der  Historiker  aber  auch,  um 
sich  seine  Voraussetzungen  zu  schaffen,  ein  dem  naturwissenschaft- 
lichen durchaus  analoges  Verfahren  der  Konstruktion  von  Gesetz- 
lichkeiten wählen  müssen,  die  nicht  tatsächlich  beobachtete  Regeln 
sind,  sondern  Idealtypen  von  Wirkungsreihen,  denen  die  Realität 
nur  mehr  oder  weniger  nahe  kommt.  Solche  idealtypischen 
Wirkungsreihen  werden  freilich  nie  die  Sicherheit  von  Natur- 
gesetzen haben  können,  schon  aus  dem  einen  Grunde  nicht,  weil 
ihre  einzelnen  Glieder  der  Quantifikation  unzugänglich  sind. 

Gegenüber  dem  noraologischen  Denken  nun,  das  in  der  ge- 
schilderten Weise  die  Aufstellung  von  Gesetzen  und  Regeln,  also 
abstrakter  Kausalfolgen  erstrebt,  und  für  das  jede  Erscheinung 
der  Wirklichkeit  nur  als  Ausgangspunkt  zur  Bildung  von  Qesetzes- 
begriffen  dienen  kann,  ist  das  historische  Denken,  wie  wir  sehen, 
bemüht,  für  bestimmte  Wirklichkeitsinhalte  andere  Wirklichkeits- 
inhalte aufzufinden,  von  denen  sie  (nach  allgemeinen  Regeln)  ver- 
ursacht sind.  Eine  Tatsache  nomologisch  erklären  beisst:  das 
Gesetz  angeben,  unter  das  sie  fällt;  sie  historisch  erklären  da- 
gegen heisst:  andere  Tatsachen  angeben,  die  ihre  Ursache  waren. 
Jede  historische  Erklänmg  ist  eine  kausale  Zurechnung.  Eine 
solche  setzt  aber,  wie  wir  nachwiesen,  stets  ein  nomologisches 
Wissen  voraus.  Wir  haben  daher  jetzt  zu  erwägen,  wie  das 
nomologische  Wissen  für  die  Aufgaben  der  historisch  genetischen 
Erklärung  verwendet  wird. 

Dabei  ist  nochmals  zu  beachten:  Jedes  konkrete  Wirkliche 
muss  unter  nomologischen  Gesichtspunkten  als  ein  Kreuzungspunkt 
unendlich  vieler,  sich  in  ihm  treffender  Kausalreihen  angesehen 
werden;  denn  da  es  ein  intensiv  unendliches  ist,  so  hätte  der 
Versuch,  es  in  seiner  ganzen  Konkretheit  genetisch  zu  erklären, 
für  jeden  seiner  unendlich  vielen  Bestandteile  die  Frage  nach  dem 
woher  zu  beantworten,  und  stünde  daher  vor  einer  unendlichen 
Aufgabe.  Die  Geschichte  will  aber  garnicht  die  Gesamtheit  der 
Realgründe  irgend  eines  wirklichen  Ereignisses  angeben,  und 
würde  es  auch  nicht  wollen,  wenn  das  Unternehmen  ein  mögliches 
wäre.     Sie  trachtet  ja  nur  diejenigen  Realgründe  eines  konkreten 


über  historische  Kausalität.  29 

Ereignisses  aufzuzeigen,  die  für  die  Bestandteile  seiner  bestimmend 
gewesen  sind,  die  daraus  durch  Wertbeziehung  abstrahiert  worden 
sind,  und  die  wir  als  Kulturerscheinungen  bezeichnet  haben.  Die 
historische  Erklärung  einer  Kulturerscheinung  ist  mithin  nach 
ihrem  formellen  Wesen  derselben  Art,  wie  jede  andere  kausale 
Zurechnung  eines  in  irgend  einem  wirklichen  Ereignis  enthalteneu 
besonderen  Momentes. 

Diese  vollzieht  sich  aber  in  der  Weise,  dass  wir  unter  den 
Antezedentien  des  Momentes  solche  aufzufinden  suchen,  mit  denen 
es  sich  gemäss  irgend  welchen  allgemeinen  Regeln  in  Verbindung 
setzen  lässt,  wobei  diese  Regeln  sich  entweder  direkt  auf  das  zu 
erklärende  Moment  anwenden  lassen,  oder  aber  erst  dann,  wenn 
wir  es  so  lange  in  Komponenten  zerlegen,  bis  jeder  einzelne 
dieser  Komponenten  die  Subsumption  unter  Regeln  erlaubt.  So 
einfach,  wie  diese  Operation  hierdurch  gekennzeichoet  wird,  ist  sie 
allerdings  nicht  immer  auszuführen.  Zum  Beweise  dafür,  dass 
eine  Kuiturerscheiuung  in  ihrer  bedeutungsvollen  Eigenart  die 
Wirkung  eines  bestimmten  Ereignisses  ist,  genügt  es  oft  oicht, 
zu  zeigen,  dass  sie  mit  diesem  nach  allgemeinen  Regeln  zusammen- 
hängt, sondern  man  muss  überdies  nachweisen,  dass  gerade  sie, 
in  ihrem  unterschied  von  anderen  ohne  dies  Ereignis  garuicht 
oder  nicht  so  wirklich  geworden  wäre.  Das  lässt  sich  aber  nur 
in  der  Form  machen,  dass  man  erstens  die  konstanten  Bedingungen 
jedes  Vorganges  der  betreffenden  Zeit  in  Ab2ug  bringt,  und  dass 
man  zweitens  das  als  Ursache  des  historisch  zu  erklärenden  Ob- 
jekts präsumptiv  vermutete  Ereignis  in  der  Phantasie  als  nicht 
eingetreten  betrachtet,  und  nun,  einerseits  auf  Grund  der  Kennt- 
nis sonstiger  Antezedentien  des  Objekts,  andererseits  auf  Grund 
nomologischer  Kenntnisse  sich  ein  Bild  davon  entwirft,  was  unter 
also  veränderten  Umständen  wahrscheinlich  geschehen  wäre.  Hat 
man  dann  Veranlassung,  anzuoehmen,  dass  die  zu  erklärende  Er- 
scheinung auch  auf  andere  Weise  ebenso  oder  nur  etwa  in  den 
Bestandteilen  modifiziert  zum  Dasein  gelangt  wäre,  die  unterhalb 
ihres  kulturbedentungsvoUen  Gehaltes  liegen,  so  muss  uian  sie  mit 
anderen  ihrer  Antezedentien  nach  derselben  Methode  in  Beziehung 
setzen  und  dies  so  lange,  bis  die  Überzeugung  erwächst,  dass 
man  den-  oder  diejenigen  ihrer  Realgründe  ausfindig  gemacht  hat, 
die  für  ihre  wesentlichen  Beschaffenheiten  ausschlaggebend  ge- 
wesen sind. 


30  0.  Baensch, 

Durch  die  Kausalbetrachtung  treten  aber  Gegenstände  in 
den  Gesichtskreis  des  Historikers,  die  um  ihrer  selbst  willen  von 
seiner  Seite  niemals.  Beachtung  erlangt  haben  würden.  Während 
die  Kulturerscheinungen  die  eigentlich  primären  historischen  Ob- 
jekte sind,  muss  man  die  Realgründe  von  Kulturerscheinungen, 
die  nur,  um  diese  historisch  zu  erklären,  zu  Inhalten  des  Wissens 
erhoben  werden,  sekundäre  historische  Objekte  nennen.  Für  die 
Geschichtsforschung  können  ausserdem  noch  eine  Menge  Tatbe- 
stände wichtig  werden,  die  als  Mittel  zur  Erkenntnis  von  Kultur- 
erscheinungen und  von  deren  Ursachen  brauchbar  ja  unentbehr- 
lich sind,  ohne  dass  sie  doch  für  das  Ziel  der  Forschung,  das 
historische  Wissen  als  primäre  oder  sekundäre  historische  Objekte 
irgend  in  Betracht  kämen.  Das  abgeschlossene  historische  Wissen 
kennt  nur  Kulturerscheinungen  und  Realgründe  von  Kultur- 
erscheinungen. 

Wir  haben  bisher  die  kausale  Erklärung  singulärer  Kultur- 
erscheinungen allein  ins  Auge  gefasst,  und  es  ist  kein  Zweifel, 
dass  diese  als  geschichtliches  Wissen  anzusprechen  ist.  Aber 
eine  voll  entwickelte  Geschichtswissenschaft  ist  nicht  bloss  ein 
Sammelsurium  solcher  Einzelerklärungen,  sondern  sie  strebt  danach, 
den  ganzen  Schatz  an  Kulturerscheinungen,  den  die  Vergangenheit 
birgt,  zu  einheitlichen  zeitlich  und  ursächlich  geordneten  Zu- 
sammenhängen zu  gestalten.  Hierbei  nun  geht  sie  arbeitsteilig 
vor:  die  einzelneu  historischen  Disziplinen  behandeln  die  Ver- 
gangenheit je  unter  einen  Wertgesichtspunkt  und  so  unterscheiden 
wir  politische  Geschichte,  Religionsgeschichte,  Wirtschaftsgeschichte, 
Litteraturgeschichte,  Kunstgeschichte  u.  s.  w.,  je  nachdem  wir 
als  leitendes  Prinzip  der  Auswahl  die  Wertbegriffe  der  Politik, 
Religion,  Wirtschaft,  Litteratur,  Kunst  u.  s.  w.  zugrunde  legen. 
Die  einzelnen  Wertgebiete  kann  man  dann  wieder  nach  verschie- 
denen Gesichtspunkten  in  besondere  Bezirke  einteilen,  wofür  als 
Beispiel  etwa  die  Geschichte  des  Altertums,  die  Geschichte  Frank- 
reichs, die  Geschichte  der  griechischen  Plastik,  die  Geschichte 
des  Dialogs,  die  Geschichte  der  Aussprache  des  Buchstabens  c  in 
den  romanischen  Sprachen  u.  s.  w.  zu  nennen  wären.  Ich  gehe 
darauf  nicht  näher  ein,  sondern  erörtere  noch  kurz  das  Verhältnis 
der  Kausalbetrachtung  zu  der  Abgrenzung  der  verschiedenen 
Wertgebiete  gegeneinander. 

Eine  jede  geschichtliche  Sonderdisziplin  führt  uns  die  inner- 
halb  ihres  Wertgebietes   fallenden   Kulturerscheinungen    vor   und 


über  historische  Kausalität.  31 

sucht  sie,  soweit  die  Wirklichkeit  das  zulässt,  iD  einen  Kausal- 
zusammenhang zu  bringen.  Die  historischen  Kausalzusammenhänge 
sind  demnach  nicht  vom  Gedanken  der  Kausalität  aus  gewonnen, 
sie  sind  nicht  aus  dem  Weltgeschehen  herauspräparierte  einzelne 
Wirkongsreihen,  sondern  zunächst  sind  sie  bloss  zeitliche  Folgen 
von  einsinnig  kulturbedeutungsvollen  Tatsachen  und  Ereignissen, 
zwischen  denen  dann  das  historisch  kausale  Denken  seine  Fäden 
spinnt.  Damit  ist  gegeben,  dass  in  den  Spezialgeschichten  die 
Bealgründe  der  einzelnen  Kulturerscheinungen  in  den  Vordergrund 
treten,  die  in  anderen  früheren  Kulturerscheinungen  derselben 
Art  liegen,  während  die,  sei  es  aus  anderen  Wertgebieten,  sei  es 
ans  dem  nichtwertigen  Naturgeschehen  eingreifenden  Ursachen 
diesen  gegenüber  mehr  zurückgedrängt  werden.  Dies  kann  dazu 
fuhren  und  hat  gelegentlich  dazu  geführt,  dass  man  die  einzelnen 
Gebiete  in  dem  Grade  isolierte,  als  ob  die  einzelnen  Kultur- 
erscheinungen in  jedem  von  ihnen  sich  allein  auseinander  nach 
eigener  ihnen  immanenter  Notwendigkeit  kausiert  hätten,  ja  in 
höchster  Einseitigkeit  sogar  dazu,  dass  man  von  einem  einzigen 
Gebiete  aus,  das  der  These  nach  allein  eine  zusammen- 
hängende Wirkungsreihe  repräsentiert,  die  Veränderungen  aller 
anderen  Kulturgebiete  gewissermassen  als  Seitenwirkungen  dieser 
erscheinen  liess. 

Derartigen  Bestrebungen  gegenüber  hat  die  Forderung  nach 
einer  kulturgeschichtlichen  Behandlung  der  Vergangenheit  ihren 
guten  Sinn,  weil  sie  dazu  nötigt,  den  ursächlichen  Beziehungen 
zwischen  den  einzelnen  Wertgebieten  nachzugehen  und  dadurch 
ihre  gegenseitige  Abhängigkeit  von  einander  zum  Bewusstsein  zu 
bringen.  Im  Vergleich  zu  sachgerecht  und  vorurteilslos  durchge- 
führten Spezialgeschichten  indessen,  die  die  sekundären  histo- 
rischen Objekte  ihres  Gebiets  unbefangen  dort  suchen,  wohin  die 
kausale  Betrachtung  sie  weist,  kann  die  Kulturgeschichte  nichts 
eigentlich  neues  lehren.  Denn  weil  der  Wertbegriff  der  Kultur, 
der  ihr  zum  Prinzip  der  Auswahl  dient,  nichts  anderes  ist,  als 
die  Summe  der  einzelnen  Kulturwerte,  so  kann  auch  sie  selbst 
nichts  anderes  sein,  als  eine  Summe,  nämlich  als  die  Summe  der 
historisch  kausal  begriffenen  Kulturerscheinungen,  die  unter  der 
Voraussetzung  aller  einzelnen  Kulturwerte  aus  der  Wirklichkeit 
herausgelöst  werden,  mithin  also  als  die  Summe  aller  Spezial- 
geschichten. 


Kant  in  neuer  ultramontan-  und  liberal-katholischer 

Beleuchtung. 

Kritisch  gewürdigt  von  Bruno  Bauch. 


In  Bd.  XXII,  Heft  1  des  Jahrbuchs  für  Philosophie  und 
spekulative  Theologie  ist  ein  Aufsatz  erschienen  unter  dem  Titel: 
„Kant,  der  Philosoph  des  Protestantismus".  Als  Herausgeber  des 
Jahrbuchs  zeichnet  Dr.  Ernst  Commer,  päpstlicher  Hausprälat. 
Verfasser  des  genannten  Aufsatzes  ist  ebenfalls  ein  Prälat,  näm- 
lich der  Herr  Prälat,  Kanonikus  Dr.  Michael  Glossner.  Ein  Auf- 
satz über  den  Philosophen  des  Protestantismus  in  der  Zeitschrift 
eines  päpstlichen  Hausprälaten,  aus  der  Feder  eines  anderen  Prä- 
laten hat  immerhin  etwas  Überraschendes.  Herr  Commer  hat  sich 
in  der  jüngsten  Zeit  einen  Namen  gemacht;  nicht  wie  man  nach 
dem  Titel  seiner  Zeitschrift  erwarten  dürfte,  auf  dem  Gebiete  der 
Theologie  oder  etwa  dem  der  Philosophie,  überhaupt  nicht  auf 
dem  der  Wissenschaft.  Der  päpstliche  Hausprälat  verdankt  seinen 
jungen  Ruhm  im  Gegenteil  einer  heftigen  Anfeindung  des  Ver- 
suches freierer  Regung  zu  wissenschaftlichem  Denken  innerhalb 
der  Theologie  seiner  Kirche.  Er  richtete  sich  gegen  den  ver- 
storbenen katholischen  Theologen  Hermann  Schell,  der  zwar  freier 
denken  mochte,  als  dem  Prälaten  Commer  lieb  war,  dessen  Ver- 
suche, dem  Katholizismus  wenigstens  ein  Geringes  von  kulturellem 
lieben  zuzuführen,  jeder  objektiv  über  der  Sache  Stehende  aber 
nicht  gerade  als  allzu  kühn  und  wagemutig  wird  bezeichnen  dürfen. 
Und  doch  bekämpfte  ihn  Commer  in  einer  Weise,  die  wir  hier 
zwar  nicht  näher  zu  charkterisieren  brauchen,  die  ihm  aber  seinen 
nicht  gerade  beneidenswerten  Ruhm  eingebracht  hat.  In  eben 
dieses  Herrn  Prälaten  Commer  Zeitschrift  also  erschien  ein  Auf- 
satz von  dem  anderen  Prälaten  Glossner  über  das  Thema  „Kant, 
der  Philosoph  des  Protestantismus". 

Nun  wir  sagen  nicht  :  es  wird  sich  jeder  im  voraus  denken 
können,  was  Herrn  Glossners  Aufsatz  für  ein  Machwerk  sei.    Wir 


Kant  in  neuer  ultramonian-  u.  liberal*katholischer  Beleuchtung.       3à 

sagen  es  nicht,  obwohl  wir  wissen,  dass  derselbe  Prälat  Commer 
sich  von  demselben  Prälaten  Glossner  in  einem  zweiten  Artikel 
desselben  Heftes  der  Zeitschrift,  das  den  Kant-Artikel  enthält,  ein 
hohes  Lob  auf  seine  Heldentat  gegen  den  toten  Schell  hat  singen 
and  gefallen  lassen.  Trotzdem  sage  ich  nicht,  es  könne  sich  jeder 
im  voraus  denken,  was  es  mit  Herrn  Olossners  Kant-Artikel  auf 
sich  habe.  Das  kann  sich  in  der  Tat  niemand  im  voraus  aus- 
denken, nicht  etwa,  weil  dieser  Artikel  den  Erwartungen,  die  man 
an  die  bereits  bekannten,  soeben  berichteten  Tatsachendaten  zu 
knüpfen  geneigt  sein  möchte,  widerspräche,  sondern  vielmehr  des- 
halb, weil  er  sie  alle,  und  wären  sie  noch  so  hoch  gespannt, 
übertrifft. 

Der  Herr  Verfasser  ist  auch  Doktor.  Hätte  er  das  seinem  Artikel 
nicht  ausdrücklich  beigefügt,  so  würde  ich  vermutet  haben,  dieserKant- 
Aufsatz  sei  sein  erster  schüchterner  Versuch  zu  „wissenschaftlicher** 
Betätigung;  schüchtern  natürlich  nur  der  Sache  nach.  Da  ist  denn 
aber  auch  dieser  Versuch  zu  wissenschaftlicher  Betätigung  in  der 
Tat  und  in  der  Wahrheit  gleich  der  sachlich  schüchternste,  d.  h. 
unwissenschaftlichste  und  unglücklichste,  der  mir  jemals  vorgekommen 
ist.  Der  Begriffswirrwarr  ist  —  ich  rede  immer  nur  von  der 
Sache  —  so  grob,  roh  und  verschroben,  dass  jeder  mittelmässig 
begabte,  in  der  Tertia  eines  deutschen  Gymnasiums  sitzende  Knabe, 
wollte  er  den  Ansprüchen  eines  einigermassen  tüchtigen  Lehrers 
genügen,  den  Stoff  seines  Aufsatzes  in  ganz  anderer  Weise  sichten 
und  anordnen  müsste  als  der  Herr  Kanonikus  Prälat  Dr.  Michael 
Glossner. 

Und  woher  nimmt  seine  Abhandlung  den  Stoff  über  Kant, 
den  Philosophen  des  Protestantismus?  Man  sollte  erwarten:  aus 
Kants  Werken  selbst.  Aber  auch  hier  hätten  wir  schon  unsere 
Erwartungen  zu  hoch  gespannt.  Paulsens  und  Kaftans  gleich- 
namige Aufsätze  und  Falckenbergs  kleines  Hilfsbuch  der  Ge- 
schichte der  neueren  Philosophie  seit  Kant,  sowie  Euckens  kurz- 
gefasste  Beiträge  zur  Geschichte  der  neueren  Philosophie,  nicht 
aber  die  grösseren  Werke  dieser  Autoren  hat  diese  Arbeit  benutzt. 
Und  wie  hat  sie  sie  benutzt!  Aus  ihnen  allen  werden  nach 
Gutdünken  die  gerade  beliebten  Materialien  herausgerissen.  Diese 
werden  verkümmert,  verzerrt,  verschoben  und  endlich  in  eine  eigene 
oder  besser:  so  eigenartige  Form  gebracht,  dass  sie  Jedem  an  et- 
was Besseres  Gewöhnten  einen  nicht  gerade  gelinden  Ekel  erregen 
KcBiHs4i«B  xm.  3 


ä4  6.  fiauch, 

muss.  Das  ist  dann  das  Kind  des  Geistes.  Oetanft  wir^  es  auf 
den  Namen:  „Kant,  der  Philosoph  des  Protestautismus**.  Wir 
fragen  noch  nicht:  Ist  dieser  „Kant"  des  Herrn  Glossner  auch  der 
Kant,  wie  ihn  die  Forschung  und  Wissenschaft  kennt?  Fragt 
man  auch  nur  ganz  bescheiden,  inwieweit  in  diesem  Machwerk 
überhaupt  von  Kant  die  Bede  ist,  so  müssen  wir  gleich  antworten: 
erstaunlich  wenig,  so  wenig,  dass  für  das  gedankenlose  Compilât 
auch  hätte  jeder  andere  Name  herbalten  können.  Ist  doch  in 
dieses  hineingezerrt,  was  aus  der  ganz  oberflächlichen  Lektüre 
der  erwähnten  Autoren  gerade  in  die  inkonsistentesten  Vorstellungs- 
massen eingegangen  war. 

Wie  nun  ist  es  mit  dem  Wenigen  bewandt,  das  wir  über 
Kant  selbst  hier  zu  hören  bekommen? 

Seinen  Gewährsquellen  tritt  der  Artikel,  da  er  sie  ja  in 
erster  Linie  bekämpft,  nachdem  er  ihre  Wissenschaft  zu  seiner 
Weisheit  entstellt,  mit  einem  vollkommen  selbständigen,  sou- 
veränen —  wir  wollen  keinen  stärkeren  Ausdruck  gebrauchen  — 
Unvermögen  des  Verständnisses  gegenüber.  So  beginnt  er  gleich 
mit  einer  Art  von  Polemik  gegen  Kaftans  Behauptung,  dass  „Kant 
seine  Abkunft  von  Luther  nicht  werde  verleugnen  wollen**.  Denn 
er  knüpft  daran  die  kritisch  sei  a  sollende  Bemerkung,  dass  jene 
Behauptung  „etwas  zaghaft**  klinge.  Sei  doch  „der  Glaube  im 
Sinne  Luthers  etwas  ganz  anderes  als  der  moralische  Vemunft- 
glaube  Kants**.  Auf  Grund  des  Kantischen  Rationalismus,  d.  h. 
deshalb,  weil  Kant  „von  einer  Offenbarung,  einer  anderen  Wahr- 
heitsquelle, als  der  Vernunft  nichts  wissen**  wolle,  sucht  Herr 
Glossner  zunächst  also  den  Gegensatz  von  Luther  und  Kant  — 
gegenüber  Kaftan  —  zu  verschärfen.  Man  mag  dabei  über  Kaf- 
tans Arbeit  denken,  wie  man  will,  nach  den  kurzen  Geistesproben 
kann  über  Herrn  Glossners  Arbeit  jetzt  schon,  in  zwei  Punkten 
wenigstens,  kein  Zweifel  mehr  bestehen:  erstens  trägt  sie  an 
Luther  wie  an  Kant  den  Begriff  des  Rationalismus  sowohl,  als 
denjenigen  der  Offenbarung  heran,  wie  er  in  streng  ultramontaner 
Reinkultur  grossgezogen  ist;  zweitens  begegnet  sie  dem  positiven 
Verhältnis  von  Luther  und  Kant  mit  einer  ebenfalls  in  ultmrfon- 
taner  Reinkultur  grossgezogenen  Verständnislosigkeit.  Zweifelhaft 
bleibt  aber  zunächst  nur,  ob  diese  Vei*ständnislosigkeit  grösser  ist 
gegenüber  der  Tat  Luthers  oder  gegenüber  derjenigen  Kants. 
Aber  auch  das  entscheidet  sich  sehr  bald. 


Kant  in  neuer  altramontan-  u.  liberal-katholischer  Ëeleuchtong.       36 

Was  zunächst  Kant  anlangt,  so  wird  erklärt,  die  Vernunft 
im  Eantischen  Sinne,  oder  wie  unser  Autor  zu  sagen  beliebt,  die 
«Rantische  Vernunft^,  sei  „subjektivistisch^,  so  subjektivistisch, 
dass  Kant  die  ^Objektivität  unseres  intellektuellen  Erkennens**, 
wie  wiederum  unser  Autor  sagt,  „entschieden  verwirft".  Herr 
Glossoer  kennt  also  nicht  einmal  das  fundamentalste  Problem  der 
Kantischen  Vemunftkritik,  das  gerade  die  Gegenständlichkeit,  die 
Objektivität  des  Erkennens  zum  Gegenstande  selber  hat.  Er  hat 
keine  Ahnung  davon,  dass  der  Sinn  der  Vernunftkritik  doch  ge- 
rade auf  die  Aufdeckung  objektiver  Erkeuntniskriterien  gerichtet 
ist.  Das  heisst:  er  hat  nicht  die  leiseste  Ahnung  von  der  elementarsten 
und  fundamentalsten  Prinzipienfrage  Kants.  So  erweist  es  sich  denn 
schon  an  der  Kantischen  Fragestellung,  dass  Glossners  Ver- 
ständnislosigkeit  Kant  gegenüber  die  radikalste  ist,  die 
sich  nur  ausdenken  lässt.  Was  sodann  die  Tat  Luthers  an- 
langt, so  zeigt  sich  genau  ebenso,  dass  ihm  deren  Sinn  und  Be- 
deutung nicht  minder  fremd  geblieben  ist,  als  der  Sinn  und  die 
fundamentale  Bedeutung  der  Kautischen  Philosophie.  Was  er 
über  Luther  sagt,  wirkt  geradezu  grotesk.  Wir  hörten,  dass  nach 
Herrn  Glossner  der  Rationalismus  das  Trennende  zwischen  Luther 
und  Kant  sein  solle.  Weil  er  aber  von  Kant  gering  denkt  und 
nicht  weniger  gering  vom  Protestantismus,  möchte  er  zunächst 
selber  Kant  doch  gern  als  Philosophen  des  Protestantismus  gelten 
lassen.  Er  kann  das  nicht  besser  erreichen,  als  durch  eine  Herabsetzung 
Luthers.  Dazu  muss  er  aber  Luthers  Bückkehr  zum  Evangelium 
—  ich  scherze  nicht  —  einfach  leugnen.  Um  das  wieder  tun 
zu  können,  schlägt  er  seinem  Argumente  von  der  ersten  Seite 
schon  auf  der  zweiten  vollkommen  ins  Gesicht.  Gegen  Paulsen 
sagt  unser  Argumentator:  „Schon  der  Umstand,  dass  Luther  im 
Rationalismus  und  Naturalismus  der  Renaissance  Bundesgenossen 
fand,  hätte  ihn  zur  Vorsicht  mahnen  sollen.''  Hier  soll  also  offen- 
bar nun  Luthem  doch  mit  dem  Rationalismus  und  Naturalismus  Ver- 
wandtschaft vindiziert  werden.  Ja,  damit  ist  es  nicht  genug. 
Luthers  Rechtfertigungslehre  wird  geradezu  zum  Naturalismus. 
Wer  es  nicht  für  möglich  hält,  dass  jemand  einen  solchen  ver- 
schrobenen Gedanken  fassen  könne,  der  lese  den  einen  köstlichen 
Satz:  ^Der  anscheinend  exzessive  Supernaturalismus  der  Recht- 
fertigungslehre Luthers  ist  in  Wahrheit  Naturalismus.''  Und 
wenn  man  die  daran  unmittelbar  anknüpfende  Folgerung:  „Mit 
der  Rückkehr  zum  alten  Evangelium  ist  es  demnach  nichts,"  d.  h, 

8* 


dé  Ë.  Bauch, 

eben  die  direkte  Leagnung  von  Luthers  Rückkehr  zum  Eyaogeliam 
liest,  so  ergiebt  sich  mit  zwingender  logischer  Notwendigkeit:  Herr 
Glossner  ist  nicht  etwa  bloss  aasser  Stande,  einen  Gedanken  yon 
einer  Seite  bis  zur  anderen  festzuhalten,  ohne  ihn  dnreh  kontra- 
diktorischen Gegensatz  aufzuheben,  er  hat  bei  diesem  Unvermögen 
zu  den  einfachsten  Segeln  der  formalen  Logik  auch  nicht  die 
leiseste  Ahnung  vom  inhaltlichen  Sinn  und  der  Bedeutung  von 
Luthers  Tat.  In  ihrem  einfachsten  Kern  und  Wesen  ist  ihm  diese 
so  sehr  verschlossen,  dass  sich  schon  jetzt,  was  zuerst  noch 
problematisch  war,  ob  das  Unvermögen  des  Verständnisses  —  ich 
brauche  auch  jetzt  den  mildesten  Ausdruck,  der  sich  für  die 
Charakteristik  dieser  Arbeit  finden  lässt  —  gegenüber  der  Tat 
Luthers  oder  derjenigen  Kants  grösser  ist,  entscheidet:  Dieses 
Unvermögen  zu  verstehen,  ist  in  beiden  Fällen  gleich  radikal, 
weil  es  hier  wie  da  überhaupt  das  radikalste  ist,  das  sich  nur 
ausdenken  lässt. 

Es  würde  empörend  wirken,  wäre  es  nicht  gar  zu  lächerlich, 
wie  hier  der  furor  antiprostentanticus  et  antikantianus  sich  ge- 
berdet. Erst  trennt  nach  seiner  Regel  der  Bationalismus  Luther 
und  Kant,  dann  muss  Luther  sogar  schon  „im  Bationalismus  und 
Naturalismus  der  Renaissance  Bundesgenossen  finden*',  um  schliess- 
lich selber  Naturalist  zu  werden,  bis,  da  Luthers  Glaube  nun 
doch  wieder  „etwas  ganz  anderes  ist  als  der  moralische  Vemnnft- 
glaube  Kants "*,  endlich  inbezug  auf  Luther  und  Kant  erklärt  wird: 
„die  Ähnlichkeit  reduziert  sich  auf  den  gemeinsamen  Subjektivis- 
mus"*.  Diesmal  meint  Herr  Glossner  nun  den  moralischen  „Sub- 
jektivismus**, um  sogleich  eine  wahrhaft  tragikomische  Begriffs- 
posse aufzuführen.  Er  erlässt  auf  der  einen  Seite  an  den  Pro- 
testantismus die  possierliche  Warnung  vor  Kant:  „Der  Gewinn 
aber,  den  der  Protestantismus  aus  der  philosophischen  Begründung 
durch  Kant  zu  schöpfen  vermag,  ist  ein  höchst  zweifelhafter  und 
bedenklicher;  denn  die  von  Kaftan  betonte  sittliche  Erfahrung 
spielt  bei  Kant  eine  Rolle,  die  geeignet  ist,  die  Gottheit  selbst 
vom  Throne  zu  stürzen  und  an  ihre  Stelle  die  sittliche  Welt- 
ordnung zu  setzen,  was  bekanntlich  von  Fichte  geschehen  ist.** 
Auf  diese  klägliche,  im  miserabelsten  Ultramontanendeutsch  vor- 
getragene Expektoration  folgt  aber  andererseits  gleich  die  Er- 
klärung, dass  Kant  und  der  Protestantismus  eigentlich  doch  ein- 
ahder  wert  seien  und  zusammengehören,  indem  ebenso  wie  das 
Prinzip  der  Kantischen  Philosophie,  auch  dasjenige  des  Protestan- 


Kant  in  neuer  ultramontan-  u.  liberal-katholischer  Beleuchtung:.      37 

tismas  „einer  schrankenlosen  Willkür  Tär  und  Tor  Offne,  sodass 
die  Gleichheit  der  Schicksale  des  Protestantismus  und  des  Ean- 
tianismus  ihre  Verbindung  auch  von  dieser  Seite  rechtfertigt,  eine 
Verbindung,  die  aber  keineswegs  dem  einen  wie  dem  anderen  zum 
Vorteil  und  zur  Empfehlung  gereicht.** 

Der  Herr  Kanonikus  weiss  nicht,  oder  will  es  nicht  wissen, 
dass  das  von  Luther  dem  Protestantismus  gewiesene  Prinzip  die 
Willkür  des  „Pfaffentums**,  um  einen  Ausdruck  Kants  zu  ge- 
brauchen, gebrochen  und  in  der  sittlichen  Freiheit  der  Welt  das 
objektiv-sittliche  Prinzip  gebracht,  er  weiss  nicht,  dass  Kant  eben- 
diesem  objektiv-sittlichen  Prinzip  in  der  Lehre  von  der  Autonomie 
die  objektive  philosophische  Begründung  gegeben.  Wenn  er  also 
davon  spricht,  dass  dieses  Prinzip  „einer  schrankenlosen  Willkür 
Tür  und  Tor  öffne**,  so  bringt  er  es  selbst  noch  einmal  ungewollt 
und  unabsichtlich  auf  eine  klare  und  bündige  Formel,  dass  das 
ultramontane  Unvermögen,  zu  verstehen,  gleich  radikal  ist 
gegenüber  der  reformatoriscben  Tat  Luthers,  wie  der 
philosophischen  Tat  Kants.  Trotzdem  aber  wagt  man  es, 
vom  Standpunkte  des  Ultramontanismus  aus,  über  Kant,  den  Philo- 
sophen des  Protestantismus,  zu  schreiben. 

So  also  stellen  sich  Luther  und  Kant  in  dem  Urteile  der 
ultramontanen  „Wissenschaft**  dar.  Viel  ist  sonst  von  Kant  nicht 
mehr  die  Rede,  aber  auch  in  dem  Wenigen,  das  noch  von  Kant 
handelt,  steckt  eine  solche  Überfülle  des  Absurden  und  Sinn- 
widrigen, dass  ich  gestehen  muss:  Es  ist  nur  eine  Art  der  ultra- 
montanen Befähigung,  die  meine  uneingeschränkte  Bewunderung 
erregt  hat,  die  Fähigkeit  nämlich,  in  so  wenig  Worten  so  viel 
des  horrendesten  Unsinns  zu  reden.  Da  kommt  Herr  Glossner 
z.  B.  auf  Kants  Widerlegung  der  Gottesbeweise  —  ganz  abrupt 
und  zusammenhangslos  —  zu  reden,  und  er  behauptet,  dass  »Kants 
Kritik  auf  erkenntnistheoretischen  Ansichten  beruht,  deren  Falsch- 
heit längst  nachgewiesen  ist.**  —  .Falschheit**?  •-  „Längst nach- 
gewiesen?** —  Was?  —  Wielange?  —  Wann?  —  Von  wem?  — 
Vielleicht  von  Herrn  Glossner?  Warum  hat  er  uns  hier  den 
Nachweis  vorenthalten  und  uns  einige  Minuten  herzlichsten  Humors 
missgönnt?  Indes  für  seine  Zwecke  hat  er  diesen  Nachweis  wohl 
nicht  nötig.  Da  sein  Machwerk  nun  einmal  die  Druckerei  passiert, 
in  einer  öffentlichen  Zeitschrift  Aufnahme  gefunden  hat,  wird  es 
auch  Leser  finden,  denen  die  Art,  ohne  Beweise  zu  argumentieren, 
imponiert,   obwohl  sie  uns  theoretisch  ein  hölzernes  Eäsen  ond 


38  B.  Bauch, 

praktisch  ooch  schlimmer  als  das  erscheint.  Oder,  wie  bringft 
man  es  fertig,  von  Kant,  nachdem  er  doch  zum  SabjektivisteD 
gestempelt  ist,  zn  erklären,  dass  er  sogar  „das  Allgemeine  zu 
bypostasieren""  suche?  Das  wissenschaftliche  Unvermögen  hat 
seine  eigenen  Künste,  scheints. 

Damit  genug  vom  Kant  des  Herrn  Glossner.  Man  sieht,  in 
diesem  Bilde  ist  kein  Zug  vom  Kant  der  Geschichte,  wie  ihn  die 
Wissenschaft  kennt,  und  im  Kant  der  Geschichte  darum  auch  kein 
Zug  von  dem  Bilde,  wie  es  die  ultramontane  Phantasie  des  Herrn 
Glossner  sich  malt. 

Diese  hat  auch  um  die  ganze  nachkantische  Philosophie 
ihre  witzlosen  Sagen  gesponnen.  Wenn  wir  auch  nicht  allen 
Seitensprüngen  dieser  Art  „wissenschaftlicher"  Possenreisserei,  die 
dabei  aufgeführt  werden,  unsere  Aufmerksamkeit  schenken  dürfen, 
um  nicht  vom  eigentlich  Kantischen  Thema  abzukommen,  so 
müssen  wir  doch  wenigstens  auf  das  noch  mit  einem  Wort  ein- 
gehen, was  unser  Autor  selbst  als  direkte  Wirkung  der  Eantischen 
Philosophie  ansieht. 

Zunächst  meint  er,  dass  sich  in  der  Mannigfaltigkeit  der  von 
Kant  ausgegangenen  Richtungen  die  „Zerfahrenheit  der  Anschau- 
ungen in  der  protestantischen  Welt**  widerspiegele.  Die  geistig- 
sittliche  Vornehmheit,  die  in  diesem  geschmackvollen  Ausdruck 
liegt,  brauchen  wir  nicht  zu  kritisieren.  Ea  ist  genug,  diesen 
Ausdruck,  der  den  Autor  selbst  kritisiert,  zu  verzeichnen.  Zur 
Sache  aber  mag  auch  die  Bemerkung  genügen  :  Mit  diesem  röroisdh 
nltramontanen  Blicke  kann  nur  der  absolut  Arme  im  Geiste  den 
Reichtum  des  deutschen  Geisteslebens  anschielen.  Denn  dieser 
Geistesreichtum,  das  wird  Herr  Glossner  freilich  ebensowenig  be- 
greifen, wie  die  deutsche  Geisteskultur  selbst,  beruht  in  letzt« 
Linie  auf  dem  protestantischen  Prinzip,  das  jener  so  zu  schmähen 
beliebt.  Dieser  Protestantismus  ist  freilich  etwas  Anderes,  ab 
das,  was  Herr  Glossner  so  nennt.  Denn  er  hat  in  letzter  Linie 
auch  keine  Ahnung  davon,  was  Protestantismus  ist.  Er  kommt 
von  dem  beschränkten  Gedanken  des  Konfessionalismns  nicht  los. 
Er  versteigt  sich  zu  der  Warnung:  „Indem  man  Kant  als  den 
Philosophen  des  Protestantismus  feiert,  giebt  man  den  Anqpmdi 
auf  Universalität,  auf  allgemeine  Gültigkeit,  die  vom  BegnSt 
der  Wissenschaft  unzertrennlich  ist,  und  somit  den  Anspnidi  auf 
Wissenschaftlichkeit  preis. "*    Er  meint  also.  Kant  als  Phik»o||lien 


Kant  in  nener  ultramontan-  u.  liberal-katholischer  Beleuchtung:.       39 

des  Protestantismus  anzusehen,  bedeute  eine  Eonfessionalisierung 
der  Wissenschaft.  Und  davor  will  er  warnen,  eine  Warnung,  die 
sich  gerade  aus  seinem  Munde  allerliebst  ausnimmt.  Er  will  jetzt 
auch  nichts  mehr  davon  wissen,  dass  man  Kant  als  Philosophen 
des  Protestantismus  ansehe,  er,  der  soeben  selbst  dafür  plädierte. 
Aber  was  will  er  eigentlich?  Zuerst  sucht  er  durch  verschrobene 
Begriffe  von  Bationalismus  und  Offenbarung  einen  Gegensatz  von 
Luther  und  Kant  aufzurichten,  der  nicht  vorhanden  ist.  Dann 
will  er  trotzdem  Kant  als  Philosophen  des  Protestantismus  gelten 
lassen.  Bald  aber  warnt  er  den  Protestantismus  vor  der  Kan- 
tischen Philosophie,  um  sofort  zu  erklären,  „dass  die  Gleichheit 
der  Schicksale  des  Protestantismus  und  des  Kantianismus  ihre 
Verbindung  auch  von  dieser  Seite  rechtfertigt*.  Bald  wieder 
warnt  er  umgekehrt  die  Kantische  Philosophie  vor  dem  Protestan- 
tismus, damit  jene  nicht  dem  Konfessionalismus  verfalle  und  die 
Universalität  einbüsse.  Was  soll  das,  was  wollen  diese  ewigen 
plumpen,  einfältigen  Widersprüche?  Der  Herr  Prälat  weiss  wenig, 
wissenschaftlich  weiss  er  nichts,  rein  nichts  von  dem,  worüber  er 
schreibt.  In  dem  Falle  aber  weiss  er  wenigstens,  was  er  will. 
Er  will  den  Protestantismus  und  den  Kantianismus  soviel  er  kann, 
herabsetzen,  bietet  alle  für  diesen  seinen  heiligen  Zweck  erreichbaren 
Mittel  auf,  tut  alles,  was  ihm  in  diesen  seinen  Kram  passt 
Aber  da  er  nun  einmal  von  alledem  wissenschaftlich  nichts,  rein 
nichts  weiss,  so  weiss  er  auch  nicht,  dass  das,  was  ihm  in  seinen 
Kram  passt,  gar  nicht  zu  den  Gesetzen  der  Logik  passt.  Er  hat 
nicht  einmal  ein  Gefühl  dafür,  dass  er  beständig  gegen  das  ein- 
fache Widerspruchsgesetz  verstOsst,  die  logische  Blindheit  und 
Unfähigkeit  in  wissenschaftlichen  Dingen  lässt  ihn  bei  jedem 
zweiten  Schritt  in  einen  dritten  Widerspruch  fallen.  Seinen  red- 
lichen Willen,  Protestantismus  und  Kantianismus  zu  schmähen  und 
zu  verlästern,  könnte  nur  ein  selbst  unredlicher  Wille  bezweifeln. 
Denn  jene  seine  redliche  Tendenz  ist  zu  offenbar  geworden. 
Aber  ebenso  offenbar  ist  es,  dass  sein  unzweifelhafter  Wille  nicht 
im  Stande  ist,  mit  Gründen  gegen  Protestantismus  und  Kantianis- 
mus etwas  auszurichten.  Mit  Gründen,  —  das  will  er  ja  freilich 
nicht,  er  kann  es  auch  nicht,  das  können  ja  auch  andere  Leute 
als  er  nicht,  der  er  überhaupt  in  diesen  Dingen  nichts  wissen- 
schaftlich kann.  Er  weiss  ja,  wie  wir  sahen,  nicht  einmal,  was 
Protestantismus  ist.  Lasse  er  sich  das  wenigstens  vom  Philosophen 
des  Protestantismus  sagen,  dass  zwischen  dem  protestantischen 


40  B.  Bauch, 

Prinzip  uud  dem  Konfessionalismas,  die  er  nämlich  mit  einander 
verwechselt,  um  auf  dieser  Verwechselung  das  Nest  von  Wider- 
sprüchen aufzubauen,  ein  himmelweiter  Unterschied  ist.  Diesen 
Unterschied  wird  er  freilich  nie  und  nimmer  begreifen.  Aber 
h&tte  er  Kants  „Beligion  innerhalb  der  blossen  Vernunft'',  die  er 
zwar  schmäht,  aber  doch  nicht  kennt,  wenigstens  gelesen,  so 
möchte  er  zum  mindesten  vielleicht  soviel  wissen,  dass  man  nach 
Kant  Protestant  sein  könne,  ohne  etwa  zu  einer  sichtbaren  kirch- 
lichen Anstalt  des  Protestantismus  zu  gehören.  Dass  das  auch 
ein  echt  Lutherischer,  in  Luthers  Idee  der  unsichtbaren  Kirche 
zum  Ausdruck  gelangender  Gedanke  ist,  das  weiss  er  natärlich 
auch  nicht.  Und  wenn  er  es  schon  wüsste  —  die  Aufnahme  auch 
dieses  Gedankens  läge  wohl  schliesslich  jenseits  der  Grenzen 
seines  Könnens.  Wenn  er  von  einer  „Zerfahrenheit  der  Anschau- 
ungen in  der  protestantischen  Welt"  redet,  so  zeigt  er  nur,  wie 
ferne  ihm  auch  nur  die  Vorstellung  von  einer  innerlichsten 
Überzeugung,  nicht  nur  die  innerlichste  Überzeugung  selbst, 
liegt.  Die  Wahrheit,  die  für  die  Wissenschaft  eine  ewige  Idee 
und  das  heisst  in  Kants  Sprache  eine,  ewig  lebendige  Tätigkeit 
fordernde,  Aufgabe  ist,  wird  für  den,  dem  der  Gedanke  der 
Wissens-  und  Gewissens-Freiheit  nicht  aufgegangen  ist,  zu  ein^ 
toten  Sache,  die  eine  Art  von  tjrrannischer  Gedankenpolizei  mag 
zu  hüten  glauben,  weil  sie  ebenfalls  glauben  mag,  die  Wahrheit 
lasse  sich  einfach  beschliessen,  ohne  dass  man  sie  erarbeitet,  die 
aber  nimmer  Sache  überzeugungsvoller  Gesinnung  und  geistiger 
Kultur  sein  kann.  Darum  muss  natürlich  alles,  was  Herr  Ülossner 
über  die  grossen  nachkantischen  Systeme,  die  den  allgemeinen 
Kulturbegriff  gerade  unendlich  zu  bereichem  und  zu  vertiefen  be- 
rufen waren,  zu  sagen  wagt,  nicht  nur  abermals  den  Stempel 
radikalsten  Unvermögens  zu  verstehen  tragen,  sondern  geradezu 
ins  Kindische  ausschlagen.  Am  deutlichsten  wird  das  bei  des 
Autors  Meinungsäusserung  über  Hegel  und  namentlich  über  Fichte, 
der  nach  Herrn  Glossners  tiefsinnigem  Urteil  es  unternommen 
haben  soll,  „den  Menschengeist  dem  »Absoluten'  gleichzusetzen*". 
Fichte  wird  bei  Herrn  Glossner  zum  Pantheisten,  ja  zum  Atheisten. 
Daran  ist  ihm  natürlich  in  letzter  Linie  Kant  ebenso  schuld«  wie 
an  Jacobis  „Theosophie"*  und  „Mystizismus"*.  Ja  die  ganze  böse 
plulosophische  Entwickelung,  die  in  Nietzsche  nach  unseres  Autors 
bewährter  „wissenschaftlicher"'  Sinnigkeit  und  Findigkeit  „richtig 
bei   der  Bestie   angelangt"    sei,   ist  in   letzter  Linie  Kants   Ver- 


Kant  in  neuer  ultramontan-  u.  liberal-katholischer  Beleuchtung.       41 

scbalden.  Mit  dieser  letzten  WeodQDg  erhält  Datürlich  auch  der 
^Darwinismas^  die  quittierende  Glosse  Glossners. 

Nun  gewiss  geht  die  ganze  philosophische  Arbeit  seit  Kant, 
sofern  sie  selbst  einen  philosophischen  Wert  in  der  Geschichte 
beanspruchen  darf,  auf  Kant  zurück.  Nur  stellt  sich,  eben  weil 
sie  einen  Wert  bat,  diese  Eutwickelung  in  Wahrheit  etwas  an- 
ders dar,  als  im  Urteile  des  Herrn  Glossner.  Wer  für  Luther, 
der  eine  seit  den  Tagen  Jesu  von  Nazareth  nie  wieder  erlebte 
sittlich  religiöse  Bereicherung  der  Menschheit  gebracht,  wer  für 
Kant,  der  eine  seit  Piaton  nie  wieder  erlebte  gedankliche  Ver- 
tiefung erarbeitet,  nur  verletzende  Entwürdigung  und  Entstellung 
aufzubringen  weiss,  wer  die  Männer,  die  den  ewigen  Stolz  der 
ganzen  an  der  fortschreitenden  Kultur  beteiligten  Menschheit 
bilden,  nur  mit  Kot  und  Schmutz  zu  bewerfen  strebt,  indem  er 
ihren  Glauben,  ihre  reformatorische  Tat  herabzusetzen  trachtet, 
wessen  persönliche  Neigung  darum  so  gar  nichts  vom  Fortschritt, 
sondern  alles  immer  nur  vom  Stillstand  wissen  will,  dem  muss 
natürlich  alle  Eutwickelung  ein  Graus  und  Greuel  sein;  die  geistes- 
geschichtliche  noch  mehr  als  die  organologisch-pbysische.  Aber 
auch  diese  braucht  wirklich  den  Menschen  nicht,  wie  Herr 
Glossner  erklärt  „bei  der  Bestie  angelangt**  sein  zu  lassen.  Diese 
Furcht  hörte  ich  einmal  in  einer  entwickelungstheoretischen  Dis- 
kussion —  es  war  hier  in  Halle  —  von  einem  Zoologen  durch 
ungefähr  folgende  treffende  Bemerkung  beschwichtigen:  die  An- 
nahme der  Eutwickelung  braucht  nicht  umgekehrt  zu  bedeuten 
und  kann  nicht  bedeuten,  dass  der  Mensch  sich  wieder  zum 
Affen  ^nabentwickeln'  sollte.  —  Nein,  das  ist  wahrlich  nicht  nötig, 
ob  es  manchmal  auch  so  scheinen  mag.^) 

Vielleicht  ist  dieser  wissenschaftliche  Gedanke  ein  Trost  für 
die  Wissenschaftsfeindschaft  Herrn  Glossners.  Ich  würde  mich 
freuen,  mit  diesem  Tröste  von  seinem  Machwerk,  von  dem  ich  nun 
eigentlich  Abschied  nehmen  muss,  zu  scheiden.  Sein  Elaborat 
hat  ausser  der  theoretischen  Seite  freilich  auch  noch  eine  prak- 
tische. Es  ist  eine  antiprotestantische  und  antiwissenschaftliche 
Tendenzschrift  übelster  Sorte.  In  das  moralische  Gebiet  fällt  es 
im  Einzelnen  z.  B.  schon,  wenn  man  Kant  und  dem  Protestantis- 


^)  Täusche  ich  mich  nicht,  so  hat  Übrigens  auch  schon  Liotze,  an 
dem  unser  Autor  ja  noch  etwas  Gutes  eu  finden  meint,  denselben  Ge- 
danken ganis  ähnlich  ansgedrfickt. 


42  B.  Bauch, 

mus  vorwirft,  dass  ihr  „Prinzip  einer  schrankenlosen  Willkür  Tflr 
und  Tor  öffne",  wenn  sich  Herr  Glossner  erdreistet,  vom  Refor- 
mator Luther  zu  reden  und  dabei  das  Wort  „Reformator"  in  An- 
führungsstriche zu  setzen,  ein  direkt  infames  Verfahren,  das 
seinen  Gipfel  da  erreicht,  wo  es  auch  auf  den  Glauben  Luthers 
angewandt  wird.  Wer  das  lesen  kann,  ohne  dass  ihm  im  Namen 
der  Menschheit  die  tiefste  Zornes-  und  Schamröte  aufsteigt,  der 
kann  an  der  Idee  der  Menschheit  keinen  Teil  haben.  Möchte 
darum  theoretisch  des  Herrn  Kanonikus  furor  antiprotestanticus, 
wie  ich  vorhin  sagte,  empörend  wirken,  wenn  er  nicht  so  läche^ 
lieh  wirkte,  so  muss  er  dagegen  unter  praktischem  Gesichtspunkte 
empörend  wirken,  trotzdem  er  auch  gar  so  lächerlich  wirkt.  Nach 
den  oben  gegebenen  Tatsachenproben  wird  man  freilich  erst  nicht 
mehr  fragen  dürfen:  wo  bleibt  hier  die  in  dem  obersten  christlichen 
Sittengrundsatz  eingeschlossene  Achtung  vor  dem  Nächsten  und  seiner 
Überzeugung?  Nach  jenen  Proben  wäre  diese  Forderung  freilich 
schon  zu  hoch  gestellt.  Wer  Luthers  Glauben  als  unechten  Schein 
verdächtigt  und  Kants  Vernunftreligion  herabsetzt,  der  kann  an  jener 
Forderung  nicht  mehr  gemessen  werden.  Aber  stellen  wir  jetzt 
onsere  Forderung  auch  noch  so  tief,  und  fragen  wir  bloss:  wo 
bleibt  hier  die  vom  Ultramontanismus  so  gepriesene  „Toleranz*? 
—  so  weiss  man  gleich,  wie  es  um  diese  „Toleranz**  bestellt  ist 
Die  dem  Anderen  zugemutete  Toleranz  der  eigenen  Intoleranz  hat 
nicht  nur  nicht  in  der  Politik,  sondern  auch  nicht  in  der  Philo- 
sophie, weder  in  der  theoretischen,  noch  in  der  praktischen,  einen 
logischen  Ort.  Man  braucht  nur  das  blosse  Faktum  des  Aufsatzes 
reden  zu  lassen,  so  weiss  man,  dass  man  sich  jede  moralische  Be- 
urteilung, ob  der  deutlichen  Sprache  dieses  Aufsatzes,  ersparen  kann. 
Darum  habe  ich  mich  von  vornherein  auch  nur  mit  dem  Werk, 
nicht  aber  mit  dem  Werkmeister,  um  eine  Unterscheidung  Latbeis 
anzuwenden,  beschäftigt.  Denn  das  Werk  spricht  sich  selbst  das 
Urteil  :  Dass  es  überhaupt  existiert,  dass  es  nicht  bloss  geschrieben, 
sondern  auch  gedruckt,  und  das  nicht  bloss  auf  die  alleinige  Ver- 
antwortung seines  Urhebers,  dass  es  vielmehr  auch  in  einer  Zeit- 
schrift Aufnahme  finden  und  einem  sicheren  Leserkreise  zugäog- 
lieh  gemacht  werden  konnte  —  das  alles  ist  und  bleibt  be- 
schämend und  empörend.  Darum  wollen  wir  es  uns  aacb 
tatsächlich  ersparen,  die  moralische  Seite  der  Sache  zu  beorteileo. 
Tm  ürtPÜP  jedes  gerecht  und  billiç  denkenden  Lesers  wird  dfese 
sieb  in  ihrem  Wesen  hmu  und  unverfälscht  darstellen  schon  durch 


Kant  in  neuer  ultramontan-  u.  liberal-katholischer  Beleuchtung.       48 

die  theoretische  Kenntnis  dieses  echten  Dokamentes  nitramontaner 
,  Wissenschaft**. 

Ich  erwähnte  vorhin,  dass  in  demselben  Hefte  der  Zeitschrift 
des  Herrn  Gommer  ebenfalls  aus  der  Feder  des  Herrn  Glossuer, 
ausser  dem  antikantischen  Machwerk,  ein  den  Commerschen  Schell- 
Handel  glorifizierender  Artikel  enthalten  sei.  Nun  fürchte  man 
nicht,  dass  ich  Herrn  Glossners  Pfaden  weiter  folgen  möchte.  Sie 
interessieren  mich  im  weiteren  herzlich  wenig,  habe  ich  doch  auch 
schon  von  ihnen  Abschied  genommen.  Ich  bin  ja  dem  Wege,  den 
sein  Geist  genommen,  auch  bisher  nur  gefolgt,  weil  er  sich  auf 
ein  Gebiet  verirrt  hatte,  auf  dem  er  nichts  zu  suchen  hat,  und 
nicht  Herrn  Glossners,  sondern  dieses  Gebietes  wegen  tat  ich  das. 
Einen  Geist,  wie  den  Herrn  Glossners,  musste  ich  von  diesem 
Gebiete  verweisen,  schon  der  wissenschaftlichen  Sauberkeit 
wegen.  Das  war  alles.  Sein  zweiter  Artikel  kümmert  mich  schon 
rein  gar  nichts  mehr.  Er  hatte  höchstens  ein  mittelbares  Inter- 
esse. Ausser  Schell  und  Kraus  sucht  Herr  Glossner  nämlich 
gegen  einen  Katholiken  seine  bannenden  Donnerschläge  zu  richten, 
der  vor  einiger  Zeit  auch  einmal  zu  Kant  Stellung  genommen 
hatte. 

Eine  würdigere  Stellung  zu  Kant  freilich  nimmt  die  Arbeit 
dieses  anderen  katholischen  Autors  ein.  —  Ich  meine  die  Schrift 
„Katholischer  Glaube  und  die  Entwickelung  des  Geisteslebens** 
von  Dr.  Karl  Gebert.^)  „Dieser  Vortrag  will  den  Kampf  des 
religiösen  Katholizismus  gegen  den  politischen  philosophisch-wissen- 
schaftlich rechtfertigen."  Mit  diesen  Worten  kennzeichnet  d<*r 
Autor  von  vornherein  sein  Unternehmen.  Die  klare  und  unzwei- 
dentige  Unterscheidung  zwischen  religiösem  und  politischem  Katho- 
lizismus hat  mit  besonderem  Nachdruck  in  unserer  Zeit  Franz 
Xaver  Kraus  zur  Geltung  gebracht.  In  der  Kraus-Gesellschaft  zu 
Mfincben  ward  die  Arbeit  zunächst  mündlich  vorgetragen.  Man 
weiss  also  auch  von  ihr  im  voraus  ungefähr,  was  man  zu  erwarten 
hat.  An  der  katholischen  Rechtgläubigkeit  des  Verfassers  kann 
höchstens  der  Ultramontanismus  zweifeln.  Denn  der  Verfasser 
nimmt  der  Religion  gegenüber  die  einzig  mögliche  Stellung,  näm- 
lich die  vollkommenster  -Gewissensfreiheit**  ein.     ,,Der  Glaube  ist 


1)  Katholischer  Glaube  and  die  EntwickeluDg  des  Geisteslebens. 
öffentlicher  Vortrag,  gehalten  in  der  Krausgesellschaft  in  München  am 
10.  Januar  1905  von  Dr.  Karl  Gebert.  München  1906  Selbstverlag  der 
Kraosgesellachaft.    Kommissionsverlag:  St.  Bernhards  Verlag. 


44  B.  Bauch, 

ihm  ein  rein  persönliches  Verhältnis  zu  seinem  Gott",    er  yertritt 
also  einen  persönlichen,  innerlichen  Überzeugfungsglanben,  den  der 
Ultramontane,    der   nicht   weiss,    was  Überzeugung  ist,  in  Anfüh- 
rungsstriche setzen  muss,   sobald  er  von  Luther  redet.     Dem  reli- 
giösen Katholizismus   gegenüber   wird   sich   der   politische    kaum 
anders   verhalten,   was   aber   nicht  bedeuten  soll,  dass  wir  jenen 
mit  Luthern  etwa   identifizieren.    Bekennt  doch  Gebert  ausdrück- 
lich  seine  „Liebe   zum   angestammten  Glauben  und  die  feste  Zu- 
versicht  auf   die   religiöse  Lebenskraft  des  Katholizismus**.    Wie 
man   über   diese   auch  immer  sonst  denken  möge,  die  vom  Autor 
geforderte  Gewissensfreiheit  soll  ihm  ungeschmälert  bleiben.     Sein 
persönlicher  Glaube,   für   den    er  sie  fordert,    soll  hier    unverletz- 
lich   sein.     Und    wenn   ich   auch   Gebert   gegenüber  die   Kritik 
zum   Schluss   nicht   unterdrücken   werde,   so   mag   er   im   voraus 
überzeugt    sein,     dass     sie    nie     seine     persönliche    Religiosität, 
die   ich   für  echt  und  tief  halte,    betreffen   werde,   sondern  allein 
seine  Religionspbilosophie,   die   als   Philosophie   der   Kritik   nicht 
entraten   kann,    wie    ich    vorhin    mich  ja    auch    nur    ^egen  die 
freilich    wunderliche    Philosophie    des   Ultramontanismus    wandte. 
Dabei    habe    ich    immer    nur    Geberts    Beziehung    zu    Kant   im 
Sinne     und     kann     manchen    seiner    Untersuchungen     nicht    im 
Einzelnen  folgen,    da  sie  unseren   Interessen,    wenigstens  denen 
dieser  Zeitschrift   zu   fern  liegen,  so  interessant  und  charakte- 
ristisch  sie   auch   an   und   für   sich  sein  mögen.     So  ist  ja  die 
Hauptabsicht   der  Schrift,   die  Auseinandersetzung  mit  dem  Ultra- 
montanismus, d.  h.  dem  politischen  oder  wie  der  Autor  noch  sagt, 
dem  »Zentrums-Katholizismus"*  von  grösstem  allgemeinem  Interesse. 
Man    muss   diese   verderbliche    und  gefährliche  Tendenz  so  genan 
kennen,   wie   der  Autor,   um   sie  mit  seiner  Sachlichkeit  in  ihren 
kultur-  und  religionsfeindliehen  Machenschaften  darstellen  zu  könn^ 
Von   ihren  Vertretern   sagt    Gebert   treffend:    sie    „erklären    der 
Kultur  die  Feindschaft,^)  den  Krieg  kann  man  nicht  sagen,  wdl 
der  Krieg   ein   Geisteskampf   sein   müsste,   der   ein  Eingehen  auf 
das  Wesen    der  Kultur  voraussetzen  und  ein  Kampf  mit  gleichen 
Waffen   sein   müsste**.     Und  mit  unwiderleglichem  Recht  sagt  er 
von   dieser  Teudeu«,   dt^r    ,»dor  Zentrums- Wahlzettel   als    Zeicboi 
echten  Christentums   gilt"*,   dass   sie   „das  Gegenteil  wahrer  Reü- 
giosit&t^    sei;    (Hier    „der    Ultramontanismus    ist  ja   nicht  bloss 

^)  Vom  Autur  m^WmK  iftm|ifi»rr(, 


Kant  in  neuer  nltramontan-  u.  liberal-katholischer  Beieuchtong.       4â 

koltnrwidrig,^)  sondern  auch  unchristlich".^)  Dass  Gebert 
dem  Archaismus  der  thomistischea  Lehre  ebenso  ablehnend 
gegenübersteht,  wie  er  sieh  als  Glied  des  ganzen  modernen  Kultur- 
zQsammenhanges  fühlt  und  mit  ganzer  Seele  als  deutscher  Mann 
innerhalb  des  deutschen  Geisteslebens  arbeiten  und  wirken  will, 
das  Tersteht  sich  danach  wohl  von  selbst.  Auf  alle  seine  Dar- 
legungen im  Einzelnen  einzugehen,  würde  uns,  wie  gesagt,  zu 
weit  führen.  Was  uns  aber  näher  beschäftigen  soll,  das  ist  seine 
Stellung  zu  Kant,  die  in  allen  Punkten  glücklicherweise  gerade 
das  Gegenstück  zu  derjenigen  des  Ultramontanismus  ist. 

Gilt  dem  nltramoutanen  Katholizismus  Kant  als  Gefahr  und 
Verderbnis,  so  weiss  der  Vertreter  des  liberalen  Katholizismus 
Kants  Philosophie  gar  wohl  als  Kulturwert  und  Kulturmacht  zu 
würdigen.  Darum  mahnt  er  selber  den  Katholizismus,  „wenn  er 
rieh  nicht  selbst  zu  einer  quantité  négligeable  verurteilen  will,  an 
Kant,  dem  Schöpfer  der  kritischen  Methode,  dem  Lehrer  unbe- 
stechlicher Wahrheit  und  bisher  unerhörter  Deukschärfe,  nicht 
^eichgiltig  vorüberzugehen**.  So  bezeichnet  er,  gleichsam  pro- 
grammatisch und  allgemein,  seine  eigene  Stellung  zu  Kant.  Dem 
entsprechen  auch  Geberts  besondere  Darlegungen  über  die  Kanti- 
sche Philosophie. 

Erfreulich  berührt  da  zunächst  die  verständnisvolle  Wür- 
digung  des  Prinzips  der  Autonomie,  rücksichtlich  dessen  sich  der 
Autor  ganz  auf  die  Seite  Kants  stellt.  Hatte  der  ultramontane 
Verstand,  so  wie  eben  diese  Verstandesart  Kant  „verstehen**  musste, 
behauptet,  dass  dieses  Prinzip  der  Autonomie  „der  Willkür  Tür 
md  Tor  öffne**,  so  zeigt  Gebert,  dass  gerade  im  Gegenteil  durch 
alle  Heteronomie,  ob  sie  sich  nun  unmittelbar  als  „Glückseligkeits- 
streben**  äussere,  oder  ob  sie  das  mittelbar  in  der  Form  von 
„Furcht  und  Hoffnung"  tue  —  es  liegt  etwas  vom  Witz  der 
Geschichte  in  dem  eigentümlichen  Zusammentreffen,  dass  Gebert 
die  Worte  des  Ultramontanen  längst  vor  diesem  im  entgegen- 
gesetzten Sinne  gebraucht  —  „der  Willkür  Tür  und  Tor  geöffnet 
ist**.  Gebert  weiss,  dass  die  Gesetzgebung  der  Vernunft  eben 
Gesetzgebung  ist,  dass  das  Gesetz  der  Vernunft  objektiv  bindend 
ist,  dass  „das  Sittengesetz  im  Kantischen  Sinne  . . .,  den  Wünschen 
und  Neigungen  gegenüber  mit  der  Anforderung  der  Pflicht  auf- 
tritt'' and  dass  „der  vernünftige  Mensch  .  .  .  sich  diesem  Gesetze 


^)  Vom  Autor  selbst  gesperrt. 


i^.  B,  Bauch . 

fr't^i)i\y^  ufif'-rwull'*  Zrjffleich  erkennt  er  richtig«  dass  die  all- 
*/' fuf  \u^'  V«rfi*jfiffi("îï<Ttzlichk'rit  den  Sinn  ewiger  Aafgegebenheit 
U'i>  'l;pisî  t\\o  iUr<o\'/M  iUtT  V*;niunft  ewige  Aufgaben,  die  ewige 
I'ltff/k'if  iiri'J  Wirkftaiiikf'it  fordern,  bedeuten,  und  dass  sie  nichts 
/M  Suu  liifbf'M  mit  iU'in,  whh  sich  die  Gemächlichkeit  des  Ultramon- 
tiiM^M  hU  fcftipr^n  \\i*M\\7s  ipäumen  mag.  Vernunftgesetze  dulden 
)m  )«'ni'  (iiMii/lrhli<'.hk<Mt  nicht,  von  der  Kant  sagt,  dass  sie 
.  (9f  lillfMitM't  iiIn  iill«*  (IIm«I  (leH  Lobens*'  ist. 

Ii»m  ili«wiiMNtHi*iii  fh^r  unendlichen  Aufgabe,  das  sich  uns 
fill  hl  liloMC)  Im  Krkonnon  und  in  der  Idee  der  Wahrheit,  die  für 
ili'ii  tilltiniMinlitnrn.  win  wir  Nahen,  nur  eine  tote  Sache  sein  kano, 
OHinlnin  vnr  hIIpiii  iturh  in  drr  Sittlichkeit  und  der  Idee  der  Auto- 
ihiMiip.  iMAi  IiIIommI.  von  drr  \Wv  Vltramoutane  keine  Ahnung  haben 
liiniii.  Hill  <'(*hoit.  mit  Kocht  nun  auch  „als  Vorbedingung  jeder 
Miiluon  liollfiloNitAt".  Pioso  ruht  auch  für  Gebert  auf  der  Auto- 
\\\\\\\\\\  In  ilor  Knut  ihiv  sittlioho  Grundlage  entdeckt.  Und  so 
iintMM  (Inn.  Int  ooht  ohristliohon  Sinne«  wie  ihn  Kant  philosophisch 
hoMMlndiM.  \\w  l\oli»iio«  nicht  y.u  einem  leeren  autoritativen  Be- 
lii-nnon.  HtMhIoin  >u  oiucm  innerlich  überzeugungsvoUen  Erleben 
\\\v\  y'\\w\\\  l»^tvn»hjivn  HciH^tis^Mt  nach  der  innerlich  lebendigen 
r\sM'OU>îU\\\;  wtuKnt  Oic  ^ivliciCvs^o  Krfahrung**.  das  religiöse 
IMoImu*  .Um  vuiluh  ïV;\ii^son  IVr^kV-iokkt^it,  wofür  der  Ultramon- 
r-*\ux.«u\  \\\\\  x.^*nov,  p'.ur/'jViv:^  Spo::  ;;^^*i:  haï,  der  überzengungs- 
x^vKix*  ^v\v,N«h.h,^  v^.suV.  Ô.;::  ô:*r  V.:rirr;v^L:aiîr  nichî  besser  zo 
M^.i»\,U^»\  \\,^^Nv  Äv  OÄSs  ;^r  '.'t.  ".r.  Ar.f^itruurssiriciie  setzt  — 
\\,m;  iM  \^^  «r,r,  /  rrr^Ä  r.rî^':  ,î;'^7r  o^iO-i.  4i>  >t»rX)digw  Über- 
■^MA^rtnsi    i^.v    r.vhuv  ôiV.k\'^r  k*TT  v.r:.  w:-.;  fc  fori  «-Ibsi  niemals 

\«u^:^!i^»  «^"  7^'^>v'»  V'  »-^v.-v  Î 'sr  riÄ>  Virsci.  imc  &ix$drûcklich 
>i\^\'.    tvi^i^M.    /'^v^   ^*.»     îi'.v^v    .  >oi:*rii:iiîsrukni»f    fcx    ck  zweite 

S,-  .».v,^î  =  v\»i  viv)  Î.1.1-  x^,n;  :n  Kuiii^sriifa  Sizme.  anc 
.V'V^vv  Vh>.v»")x  »*  V  X  I  \^Ni.-vvv' >-  "M  f;viürinT  uni  xirsbf«  tob 
fî^v   ,.K'N'^*    ,''»i»cx:.    i.n.     h -.     -i ! . ,1  ^txiM  î rsTiïftmunr* .  vit  tSrt«t 

i>»THî»H.O  ^vvV*  ?i\.*^?v  ->;'  :-.  ^î  w*:;:  .*.  se.ll^:  ütt  AüfzassoiSf 
«Vis  t^^M^M^^niy^N  v'^'"^  *»"•    '^^    »c-.Ä^    >s"^->aii;  aumi  öif  £a>- 


Kant  in  neuer  ultramontan-  u.  liberal-katholischer  Beleachtung.      4? 

kennbar  ist,  wenn  er  auch,  wie  wir  noch  sehen  werden,  not« 
wendig  nicht  schon  in  reiner  Gestalt  hervortreten  kann.  Jeden- 
falls  wird  aber  von  den  ultramontan-konfessionellen  Quertreibereien 
treffend  gesagt:  „sie  erwachsen  nicht  den  treibenden  Kräften  des 
Geisteslebens,  sondern  einseitig  hierarchischen  Machtgelüsten  und 
können  nur  dazu  dienen,  die  Glaubenslosigkeit  und,  in  den  meisten 
Fällen  damit  zusammenhängend,  die  Religionslosigkeit  zu  ver* 
mehren." 

Gegen  die  dogmatische  Behandlung  wird  darum  durchaus 
treffend  ausgeführt:  ,. So  behandelte  man  und  behandelt  noch  jetzt 
das  Dogma  als  ein  Primäres  bei  der  religiösen  Erziehung,  als 
ob  das  Dogma  zur  religiösen  Psyche,  nicht  vielmehr  umgekehrt, 
die  religiöse  Psyche  erst  zum  Dogma  führte.*"  Man  sieht,  wie 
Gebert  das  vom  Ultramontanismus  geschmähte  religiöse  Erlebnis 
von  dessen  dogmatischer  Fixierung  gar  wohl  unterscheidet.  Ihm 
ist  klar,  wieweit  der  Weg  vom  unmittelbaren  religiösen  Bewusst- 
sein  bis  zu  dessen  Fixierung  im  Dogma  ist.  wieviel  auf  diesem 
Wege  verloren  geht  und  wie  armselig  das  Dogma  gegenüber  der 
onmittelbaren  Religiosität  und  Sittlichkeit  ist.  Ihm  liegt  darum 
auch  „der  Schwerpunkt  des  Christentums  nicht  im  Glauben  als 
Bekenntnis,  sondern  in  seiner  lebendigen  Betätigung,  in  dem 
Handeln  aus  Liebe  zu  Gott*"  ;  in  dem  Glauben  also,  der,  nach  dem 
Apostel  Paulus,  mit  der  Liebe  eines  ist,  der  also  mit  der  Religion 
^eine  untrennbare  Einheit  in  der  Persönlichkeit  ist".  Man  er- 
kennt in  dieser  Glaubensauffassung  deutlich  die  Abkunft  von  dem, 
allem  Ultramontanismus  so  verhassten,  praktischen  Vernunftglauben 
Kants,  wenn  auch  dieser  selbst,  wie  wir  bald  zu  bemerken  haben 
werden,  noch  nicht  erreicht  ist.  Freilich  wird  deutlich,  dass  diese  Auf- 
fassung des  Christentums  nicht  nur  nicht  die  christliche  Religion  in 
den  Gegensatz  zur  Kultur  bringt,  in  den  sie  der  Ultramontanismus 
setzt,  es  wird  im  Gegenteil  die  Bedeutung  des  Christentums  für 
das  Problem  der  Weltgeschichte,  das  durch  jenes  erst  eigentlich 
entdeckt  worden,  erkannt,  es  wird  weiter  erkannt,  dass  das  echte 
Christentum  die  Arbeit  an  allen  Kultui  werten  in  sich  beziehen 
kann,  and  dass  sein  rein  innerlicher  und  verinnerlichter  Über- 
zengrungsglaube  sogar  —  das  ist  ganz  Kantisch  —  das  Prinzip 
aller  Kaltararbeit  ist,  und  dass  „ein  Christentum,  das  sich  der 
führenden  Rolle  im  Kulturleben  von  selbst  begiebt,  das  Vertrauen 
in  seine  geistige  Durchschlagskraft  verloren  hat,  mit  dem  wahren 
Cbristentam  nur  den  Namen  gemein"  hat,  dass  nur  eiaes  Pseodo- 


4^  k  èauch, 

Christentums  Maxime  sein  kann:  „Abschliessung  und  geistige 
Inferiorität  und  kein  Ende!" 

Man  sieht:  für  alle  diese  Ausführungen  dürfte  sich  Gebert 
auf  Kant  berufen  und  dessen  Einwirkungen  auf  die  Anschauungen 
Geberts  sind  unverkennbar;  und  doch  sind  es  die  prinzipiellsten 
Punkte,  rücksichtlich  deren  wir  vom  Standpunkte  des  Kantischen 
Kritizismus  aus  die  vollendete  Konsequenz  vermissen.  Zunächst  moss 
sich  unsere  Kritik  gegen  Geberts  Auffassung  —  um  an  seine  letzten 
Bemerkungen  anzuknüpfen  —  vom  Dogma  richten.  Es  ist  zwar 
schön  und  gut,  das  Dogma  des  Bekenntnisglaubens  an  die  zweite 
Stelle  gegenüber  dem  persönlichen  religiösen  Glauben  als  dem  eigent- 
lichen Glaubensprinzip  oder  Gesinnungsglauben  zu  rücken.^)  Allein 
das  Dogma  selbst  erscheint  nach  Geberts  Ausführungen  als  solches 
doch  immerhin  noch  unanfgebbar,  überhistorisch  und  absolut.  Zu 
einem  adograatischen  Christentum  hat  sich  der  Reformkatholizis- 
mus Geberts  also  doch  nicht  hindurchgearbeitet.  Wir  verspüren 
in  seinen  Anschauungen  gewiss  den  Hauch  eines  überkonfessionellen 
Triebes,  und  über  den  Konfessionalismus  ultramontaner  Observanz 
ist  er  hoch  erhaben.  Allein  ein  vollkommen  und  bewusst  fiber- 
konfessionelles Christentum  wäre  doch  erst  mit  der  prinzipiellen 
Preisgabe  des  Dogmas,  das  ja  als  solches  gerade  die  Konfession 
bestimmt,  erreicht.  Aber  gerade  das  adogmatische  Christentam 
ist  in  letzter  Linie  doch  das  der  philosophischen  Begründung  allein 
fähige,  und  darum  auch  das  Christentum  im  Sinne  Kants.  Und 
so  liegt  denn,  trotz  aller  Verwandtschaft  und  Abhängigkeit  aaf 
der  einen  Seite,  dennoch  auf  der  anderen  Seite  zwischen  der 
reformkatholischen  und  der  kritisch*philosophischen  Anscbauong 
eine  ganze  Welt,  eben  die  Welt  des  Dogmas. 

Sodann  aber  besteht  ein  ebensowenig  überbrückbarer,  darom 
auch  von  Gebert  nicht  ausgeglichener  Gegensatz  zwischen  dem 
von  Gebert  freilich  mit  grossem  Nachdruck  geforderten  Prinzip  der 
Autonomie  und  dem  anderen  Prinzip,  dem  sich  wohl  auch  der 
Reformkatholik  nicht  entziehen  kann,  solange  ihm  noch  daran 
liegt,  von  den  kirchlichen  Mächten  in  irgend  einer  Weise  wenig- 
stens anerkannt  zu  werden,  nämlich  dem  Prinzip  der  Autorität 
Duldet  die  Autonomie  in  letzter  Linie  keine  dogmatische  Bekennt- 
nisreligion,  so  duldet  sie  auch  keine  das  Dogma  hütende  Religions- 


^)  Über  diese  Unterscheidung  vgl.   genauer  meine  Schrift:  Luther 
und  Kant,  S.  20  ff. 


Kant  in  neuer  iiltramontan-  n.  liberal-katholischer  Beleuchtung.       49 

autorität.  Freilich  wendet  sich  Gebert  gegen  die  blosse  „Heeres- 
folge" der  Kirche,  auch  gegen  die  ., äussere  Autorität**.  Solange 
es  aber  möglich  ist,  dass  —  nicht  etwa  bloss  ein  Glossner  einem 
Gebert  als  kirchliche  Autorität  zu  gelten  hat,  nein  vielmehr  — 
dem  System  nach  der  Reformkatholizismus  überhaupt  eine  Auto- 
rität in  Glaubenssachen  anerkennt,  solange  er  nicht,  und  das 
kann  er  wohl  nicht,  um  auch  nur  Reformkatholizismus  zu  bleiben, 
alier  Autorität  klipp  und  klar  seine  Absage  giebt,  solange  ist  die 
von  ihm  selbst  geforderte  Autonomie  unrealisierbar.  Autonomie 
und  Autoritätsglaube,  welcher  Art  dieser  auch  sei,  schliessen  sich 
in  alle  Wege  aus.  Es  ist  darum  nach  den  Prinzipien  kritischer 
Reiigionsphilosophie  nicht  genug,  das  Dogma  gegenüber  der  Reli- 
gion an  die  zweite  Stelle  zu  rücken  und  ihm  doch  einen  starren 
Gehalt  zuschreiben  zu  wollen;  ebensowenig  ist  es  genug,  der  Au- 
torität zwar  die  Alleinherrschaft  zu  nehmen  und  ihr  dennoch  ein, 
wenn  auch  beschränktes,  als  solches  aber  bleibendes  Herrschafts- 
recht einzuräumen.  Die  Prinzipien  der  kritischen  Philosophie 
fordern,  das  Dogma  lediglich  als  den  zeitlichen  Ausdruck  eines 
religiösen  Gehaltes  anzusehen,  ein  Ausdruck,  eine  Form,  die  wegen 
der  zeitlichen  Bedingtheit  aber  niemals  für  alle  Zeit  bindende 
Kraft  haben  kann,  sondern,  um  Kantisch  zu  reden,  bloss  als  ein 
., Vehikel'*  zu  betrachten  ist,  das  man,  wie  allen  Schriftglauben, 
rauss  „dereinst  entbehren  können**,  um  dem  Prinzip  des  „guten 
Ijebenswandels'*  als  dem  alleinigen  sittlich-religiösen  Prinzip  voll- 
kommen freien  Raum  zu  geben.  Und  ebenso  fordern  die  Prin- 
zipien der  kritischen  Philosophie,  um  die  Idee  der  Autonomie  zur 
Entfaltung  gelangen  zu  lassen,  dass  das  Gängelband  der  Autorität 
auf  sittlich-religiösem  Gebiete  nicht  bloss  etwas  gelockert,  sondern, 
dass  es  endlich  vollkommen  und  radikal  abgeworfen  werde.  Das 
sind  die  Forderungen  Kants,  die  nie  aufgegeben  werden  dürfen, 
soll  der  Weg  der  Geschichte  wirklich  ein  Weg  approximativer 
Annäherung  an  das  Ideal,  die  geschichtliche  Arbeit  wenigstens 
eine  Form  der  Darstellung  des  Ewigen  in  der  Zeit  sein. 

So  interessant  dieGebertschen  reformkatholischen  Ausführungen, 
so  achtunggebietend  die  edlen  Bestrebungen  des  Autors,  so  herz- 
erfreuend ihre  Gegensätze  zum  Ultramontanismus  auch  sein  mögen, 
so  bat  das  alles  doch  mein  Urteil  über  den  Reformkatholizismus, 
das  ich  früher  schon  bei  anderer  (Telegenheit  ^)  ausgesprochen  und 

1)  Luther  o.  Kant,  S.  190. 


50  ß.  Bauch, 

das  sich  auch  mit  demPfleiderers^)  deckt,  nicht  modifizieren,  sondern 
nur  bestätigen  können.  Wie  Pfleiderer,  so  erkenne  ich,  wie  schon 
gesagt,  gerne  den  edlen  Sinn  dieser  Bestrebungen  an,  nicht  minder 
die  lautere  Absicht,  im  allgemeinen  Kulturzusammenhange  mitzu- 
arbeiten und  mitzuwirken.  Allein  sie  bleiben  dennoch  auf  halbem 
Wege  stehen.  Freilich  ist  heute  noch  keine  sichtbare  religiöse 
Gemeinschaft  —  das  mag  vielleicht  ein  Trost  für  den  Reform- 
katholizismus sein,  der  aber  vor  dem  Forum  der  kritischen  Philosophie 
nicht  bestehen  kann,  weil  diese  nicht  Trostgründe,  sondern  Wert- 
gründe zu  suchen  hat  —  soweit,  das  Autonomieprinzip  und  das 
adogmatische  Christentum  rein  ausgeprägt  zu  haben.  Auch  das 
protestantische  Kirch  en  tu  m  hat,  wie  das  Pfleiderer  sehr  treffend 
betont,  solange  das  protestantische  Prinzip  noch  nicht  rein  dar- 
gestellt, als  es  sich  von  der  Bekenntnisformel  nicht  frei  gemacht 
von  dieser  noch  die  Zugehörigkeit  abhängig  macht  und  so  gar 
manchen  protestantisch  Denkenden  von  sich  ausschliesst.  In  dieser 
Hinsicht  gilt  heute  noch,  was  zu  Kants  Zeiten  galt,  und  was  Kant 
mit  unzweideutiger  Klarheit  kritisch  bestimmt.  Allein  der  grosse 
Unterschied  ist  doch  der,  dass  im  protestantischen  Prinzip  die 
Idee  der  unsichtbaren  religiösen  Gemeinschaft  selbst  eben  zum 
Prinzip  erhoben  ist.  Mag  heute  noch  das  konkrete  Leben  der 
Wirklichkeit  darum  vom  Prinzip  noch  so  weit  entfernt  sein,  so  ist 
in  dem  Verhältnis  von  Ideal  und  Leben  doch  zuerst  da  etwas 
für  die  gestaltende  und  richtunggebende  Macht  der  Idee  auf  das 
Leben  zu  hoffen,  wo  die  Idee  wenigstens  im  Bewusstsein  ergriffen 
ist,  auch  wenn  die  konkrete  Lebensgestaltung  sich  ihr  noch  nicht 
gefügt  hat.  Aber  damit  diese  sich  ihr  füge,  dazu  ist  die  uner- 
lässliche  Bedingung,  dass  sie  sich  als  Prinzip  in  der  „reinen  Er- 
kenntnis" erst  befestige. 

Das  ist  das  Urteil,  zu  dem  die  sachliche  Kritik  der  theore- 
tischen Ausführungen  Geberts  gelangen  muss.  Mag  er  theoretisch 
fürs  erste  auch  noch  auf  halbem  Wege  stehen  geblieben  sein,  die 
persönliche  redliche  und  ernste  Bemühung  um  die  innere  sittlich- 
religiöse Freiheit  ist  nicht  zu  verkennen.  Und  wenn  seine  theoretischen 
Ausführungen  auch  noch  nicht  die  letzten  logischen  Konsequenzen 
gezogen,  so  scheint  mir  das  bei  dem  redlichen  persönlichen  Willen 
doch   nicht  daran   gelegen   zu  haben,    dass   ihm  der  Mut  zu  den 


*)  In  seiner  Abhandlung  über  den  Reformkatholizismos  (in  der  Monats- 
schrift .jDeutschland**,  Aprilheft  1903). 


Kant  in  neuer  ultramontan-  u.  liberal-katholischer  Beleuchtunpr.       ^1 

Konsequenzen  gefehlt,  sondern  daran,  dass  in  dieser  Schrift  eben 
nur  ein  erster  Versuch  vorliegt,  der  noch  nicht  zu  vollkommen 
theoretischer  Entfaltung  gelangen  konnte.  Mag  darum  Geberts 
Theorie  vom  Standpunkte  der  kritischen  Philosophie  noch  gar 
manches  vermissen  lassen,  mag  sie,  wie  wir  sagten,  auf  halbem 
Wege  stehen  geblieben  sein,  so  lässt  doch  praktisch  seine  lautere 
persönliche  Gesinnung  gerade  von  ebendem  Standpunkte  der  kritischen 
Philosophie,  der  die  Gesinnung  wohl  zu  würdigen  weiss,  doch  der 
Erwartung  Raum,  dass  sein  theoretischer  Standpunkt  noch  kein 
definitiver  ist,  dass  er  seinen  Weg  weitergehen  und  zu  einem  Ziele 
gelangen,  dass  er  in  der  kritischen  Philosophie  nicht  bloss  einen 
Bundesgenossen  gegen  den  verderblichsten  Feind  aller  Geisteskultur, 
gegen  den  Ultramontanismus,  sondern  die  Methode  finden  wird  zur 
Erarbeitung  eines  durchaus  eigenen  geistigen  Lebensinht^ltes  nach 
dem  Prinzip  der  sittlichen  Freiheit. 


Nachtrag. 

Die  vorstehende  Abhandlung  war  bereit«  im  Druck  vollendet,  als 
ich  auf  einige  Publikationen  aufmerksam  wurde,  die  den  gleichen  Ge- 
dankenkreisen angehören  und  darum  klar  und  deutlich  zeigen,  dass  wir 
es  in  den  besprochenen  Erscheinungen  nicht  mit  etwas  Vereinzeltem, 
sondern  mit  etwas  Typischem  zu  tun  haben.  Dass  dieses  auch  als  solches 
wieder  nicht  auf  unser  deutsches  Vaterland  beschränkt  bleibt,  beweist  eine 
gleich  in  zwei  Zeitschriften,  in  der  Revue  Thomiste  und  in  der  Revue  de 
Philosophie,  geführte  Kant- Kontroverse  zwischen  zwei  katholischen  Theo- 
logen, einem  Abbé  Farges  und  dem  den  Lesern  der  Kant-Studien  ja  nicht 
anbekannten  C.  Sentroul.  Herr  Farges  deutet  in  echt  ultramontaner  Art 
wieder  Kants  Lehre  zum  „Subjektivismus"  aus  und  liefert  eine  höchst 
anglückliche  „Refutation".  Seine  Art,  Kant  zu  „refutieren"  bewegt  sich, 
dem  wissenschaftlichen  Ethos  nach,  zwar  in  etwas  vornehmeren  Bahnen, 
als  diejenige  Herrn  Glossners.  Ein  gleiches  Niveau  wäre  ja  auch  dem 
radikalsten  Ultramontanen  schwer,  ein  tieferes  aber  unmöglich.  Das  Ziel 
dieser  Bahnen  ist  indes  dasselbe,  wie  das  Herrn  Glossners.  Wie  dieser, 
so  ist  auch  Herr  Farges  ultramontan.  Nur  die  Art  des  Gedankenausdrucks 
ist  durch  die  französische  Förmlichkeit  um  einige  Grade  gemässigt.  Herr 
Sentroal  wiederum  ist  in  seiner  Liberalität  ganz  erheblich  zurückhaltender, 
als  Gebert,  der  schon  als  antiultramontaner  Deutscher  dem  Begründer  des 
Autonomieprinzips  durch  theoretische  und  praktische  Sympathien  inniger 
verbanden  sein  musste,  als  der  belgische  Neu-Scholastiker,  der  im  Herzen 
ja  ein  guter  Aristoteliker  geblieben  ist.  Immerhin  knüpft  sich  ja  an 
Sentroals  Namen  die  Tatsache,  dass  er  uns  unter  den  erfolgreichen 
Bewerbern  um  den  Kant-Preis  begegnet  ist,  ein  Ereignis,  das  immer- 
liin  bemerkenswert  ist,  wenn  man  bedenkt,  dabs  Herr  Sentroul  katho- 
lischer Theolog  und  Priester  ist.    Freilich  spricht  das  noch  nicht,  wie  ans 

4* 


52  B.  Bauch, 

der  Kritik  der  Preisrichter  selber  hervorgeht,  für  ein  besonders  inniges 
Verhältnis  zu  Kant,  doch  aber  dafür,  dass  Herr  Sentroul  sich  wenigstens 
um  ein  Verständnis  für  die  Lehre  des  grössten  Denkers  der  Neuzeit  trotz 
seiner  persönlichen  -aristotelisch  -  scholastischen  Neigungen  und  Über- 
zeugungen bemüht  hat.  Belustigend  aber  wirkt  es,  dass  Herr  Sentroul 
seine  erfolgreiche  Preisbewerbung  vom  strikten  Thomisten  sich  nun  auch 
noch  vorrücken  lassen  muss.  Er  vdrd  an  seinem  Preise  wohl  überhaupt 
nicht  leicht  zu  tragen  haben.  In  der  Meinung  der  strengen  Orthodoxie 
seiner  Kirche  drückt  dieser  Preis  dem  neu-scholastischen  Priester  wohl 
gar  einen  Makel  auf,  und  wer  mit  der  kritischen  Philosophie  eine  etwas 
innigere  Fühlung  hat,  als  der  Neu-Scholastiker,  der  wird  vielleicht  be- 
dauern, dass  nur  einem  Herrn  Farges  Sentrouls  Verhältnis  zu  Kant  als  ein 
zu  inniges  erscheint,  während  in  Wahrheit  doch  der  Geist  der  kritischen 
Philosophie  in  Sentrouls  Denkweise  kaum  besonders  Macht  und  Nachdruck 
gewonnen  hat  und  hinter  dem  Scholastizismus  weit  zurücksteht.  Herrn 
Farges  gegenüber  bemüht  sich  Sentroul  freilich  in  einer  an  und  für  sich 
ganz  erfreulichen  Weise  um  eine  Aufklärung  über  den  vermeintlichen 
.Subjektivismus**  Kants  ;  aber  doch  mit  um  so  grösserer  Vorsicht  und 
Reserve,  als  er  selbst  über  die  subjektivistische  Deutung  nicht  erhebUch 
hinausgelangt  ist.  Und  dennoch  fürchten  wir,  dass  alle  Mühe  um  eine 
selbst  sehr  zurückhaltende  Aufklärung  dem  ultramontanen  Abbé  gegen- 
über vergeblich  aufgewandt  sei.  Leider  ist  auch  im  Ganzen  trotz  mancher 
Differenz  im  Einzelnen  der  Gegensatz  zwischen  Sentroul  und  Farges  viel 
weniger  scharf,  als  der  zwischen  Gebert  und  Glossner.  Innerhalb  der 
katholischen  Gläubigkeit  finden  die  Extreme  der  Stellungnahme  zu  Kant, 
wie  sie  bei  Gebert  und  Glossner  vorliegen,  in  dem  Streite  von  Sentroul 
und  Farges  eine  gewisse,  nicht  gerade  erfreuliche  Berührung,  sodass  die 
Bedeutung  dieser  ausländischen  Kontroverse  eigentlich  zu  einem  blossen 
katholisch-intratheologischen  Schulstreite  herabsinkt. 

Von  mehr  philosophischem,  wenn  auch  leider  ebenfalls  mehr  be- 
dauerlichem Interesse  ist  wieder  eine  Invektive  gegen  Kant,  die  von 
einem  Ultramontanen  deutscher  Zunge  ausgeht,  und  die  in  dem  dritten 
Bande  der  zweiten  Auflage  von  Willraanns  Geschichte  des  Idealismus 
vorliegt.!)  Fritz  Medicus  hat  in  den  Kant-Studien^)  in  der  Abhandlung 
„Zwei  Thomisten  contra  Kant",  so  eingehend  und  treffend  über  die  erste 
Auflage  dieses  Buches  berichtet,  dass  uns  über  die,  wenigstens  der  aUgemeinen 
Tendenz  nach,  nicht  erheblich  veränderte  zweite  Auflage  nicht  viel  zu  sagen 
bleibt.  Was  das  Buch  in  der  ersten  Auflage  war,  ist  es  im  ganzen  auch  in 
der  zweiten  geblieben:  „ein",  wie  Medicus  sagte,  „bedrohliches  Zeichen 
der  depravierenden  Macht  des  Ultramontanismus".  Die  zweite  Auflage 
bezeichnet  sich  zwar  als  „verbesserte".  Aber  die  „Verbesserung"  steht 
bloss  auf  dem  Titel.  Auf  den  Inhalt  des  Buches  hat  sie  sich  so  wenig 
erstreckt,  dass  nicht  einmal  die  der  ersten  Auflage  bereits  von  Medicus 
nachgewiesenen  Quartanerschnitzer  auf  dem  Gebiete  der  Elementargeome- 

1)  Geschichte  des  Idealismus  von  Dr.  Otto  Willmann,  K.  K.  Hofrat, 
Universitätsprofessor  i.  R.  2.  Aufl.  III.  Bd.  Braunschweig.  Druck  und 
Verlag  von  Friedrich  Vie  weg  &  Sohn.     1907. 

«)  Kant-Studien  UI,  S.  326  ff. 


Kant  in  neuer  ultramontau-  u.  liberal-katholischer  Beleuchtung.       53 

trie  —  alles  Mathematische  scheint  für  Willmann  überhaupt  eine  ebenso 
crosse  crux  zu  sein  wie  alles  Philosophische  —  ausgemerzt  sind,  mit  denen 
gegen  Kant  so  lustig  operiert  wird.  £s  ist  in  der  Tendenz  des  ganzen 
Buches  so  sehr  alles  beim  Alten  geblieben,  dass  wir  es  hier  nicht  mehr 
mit  einer  neuen  ultramontanen  Beleuchtung  der  Kantischen  Lehre  zu  tun 
haben,  sondern  nur  mit  einer  neuen  Projektion  des  alten  ultramontanen 
Bildes,  das  Willmann  bereits  vor  Jahren  entworfen  hatte.  Aber  ganz 
achtlos  dürfen  wir  vielleicht  doch  auch  diesmal  nicht  an  der  immerhin 
charakteristischen  Erscheinung  vorbeigehen. 

Herr  Willmann  redet  über  Kant  ja  nicht,  wie  Herr  Glossner,  d.  h. 
wie  der  Blinde  über  die  Farben.  Er  hat  ihn  wenigstens  gelesen.  Aber  er 
spricht  über  Kant  auch  nicht,  wie  der  Physiker  und  der  Physiologe  über 
die  Farben,  sondern  wie  das  Kind,  das  von  der  physikalischen  und  physio- 
logischen Optik  keine  Ahnung  hat,  das  also  von  den  Farben,  von  denen  es 
spricht,  nichts  versteht.  So  versteht  Willmann  auch  nichts  von  Kant. 
Die  Kindlichkeit  beschränkt  sich  freilich  nur  auf  dieses  Nicht- Verstehen. 
Denn  die  Mittelchen,  mit  denen  die  ultramontanen  Leser  —  dass  sie  auf 
urteilsfähige  Leser  wirken  könnten,  wird  Herr  Willmann  selber  nicht 
glauben  —  gegen  Kant  bearbeitet  werden  sollen,  wird  man  wenigstens 
praktisch  nicht  gerade  als  kindlich  bezeichnen  können,  wenn  sie  auch 
darauf  abzielen,  den  Ultramontanen  das  Gruseln  vor  Kant  zu  lehren: 
^Hochmut**,  ,, Verstiegenheit",  „Verblendung",  „Verschrobenheit",  „Pietät- 
lodgkeit",  „Hoffart",  „Unbotroässigkeit",  „Überhebung",  „Selbstherrlichkeit", 
„der  orgiastische  Aufruf  zur  Selbstanbetung",  „Zynismus",  , Aftermoral", 
—  das  aUes  sind  Prädikate,  die  Kant  besudeln  sollen.  Weil  aber  damit  der 
nltramontanen  Absicht  wohl  immer  noch  nicht  genug  gedient  ist,  und  damit 
die  gläubige  Lesergemeinde  Willmanns  nun  auch  wirklich  und  ausgerechnet 
drei  Kreuze  vor  dem  Ungeheuer  schlage,  so  muss  Kant,  dem  wohl  gegen  ein 
Dutzend  Mal  „Sophistik"  vorgeworfen  wird,  erstens  als  „völlig  irreligiös", 
zweitens  als  „Atheist",  drittens  als  „moralisierender  Anarchist"  gebrandmarkt 
werden.  Kann  man  von  einem  solchen  n^^^^R  irreligiösen"  „Atheisten" 
und  „moralisierenden  Anarchisten"  auch  nur  ein  Minimum  von  „Ehrlich- 
keit*" erwarten?  Ja,  mit  Kants  „Ehrlichkeit"  treibt  Herr  Willmann  ein 
seltsames  Spiel.  An  die  bekannte  Kantische  Erörterung  über  das  Gebet 
hatt«  Willmann  in  der  ersten  Auflage  die  Bemerkung  geknüpft  :  „Die  ganze 
Hoffart,  Verlogenheit  und  Heuchelei  der  Aufklärer  spricht  aus  diesen 
Worten,  die  zugleich  ein  grelles  Schlaglicht  auf  die  Ursachen  der  sozialen 
Dekomposition  des  protestantischen  Deutschlands  werfen".  Trotzdem  aber 
will  Herr  Willmann  Kants  Ehrlichkeit  'nicht  „in  Frage"  gezogen  haben. 
Das  sei  ein  „Missverständnis"  der  „Kritiker"  gewesen.  Nichtsdestoweniger 
heisst  es  aber  doch  in  der  zweiten  Auflage  wieder  im  Anschluss  an  jene 
Kantische  Stelle  über  das  Gebet:  „Den  Aufklärern  hat  man  oft  Hoffart, 
Verlogenheit  und  Heuchelei  schuldgegeben.  Ist  das  angesichts  solcher 
.Äusserungen  zu  verwundem?  Äusserungen,  die  zugleich  ein  grelles 
.Schlaglicht  auf  die  Ursachen  der  sozialen  Dekomposition  des  protestan- 
tischen Deutschlands  werfen."  Ja,  ja,  die  Kritiker  haben  Herrn  Will- 
mann schon  so  verstanden,  wie  ihn  freilich  nur  die  Ultramontanen 
verstehen   sollten.    Nur  reicht  das  Gedächtnis  der  Kritiker  etwas  weiter, 


64  B.  Bauch, 

als  das  der  ultramontanen  Leser,  die  vielleicht  vergessen  haben  mögen, 
was  ihr  Orakel  90  Seiten  vorher  verkündet;  was  der  Kritiker  aber  fest- 
nagelt. Und  wenn  Herr  Willmann  Kant  gegenüber  von  .geistiger  Falsch- 
münzerei —  wenngleich  ohne  dolus"  —  redet,  nun  so  wird  der  Kritiker 
freilich  zugeben,  dass  der  Begriff  der  Ehrlichkeit,  wie  ihn  Herr  Willmann 
fasst,  aUerdings  leicht  zu  einem  „Missverständnis^  führen  kann,  ja  dass  er 
diese  Auffassung  von  Ehrlichkeit  wohl  überhaupt  nicht  recht  zu  verstehen 
im  Stande  ist.  Blosse  „Veränderungen  des  Ausdruckes"  und  eine  blosse 
„Erklärung"  genügen  nicht,  damit  einem  solchen  „Missverständnis"  „abge- 
holfen" werde,  sofern  der  Kritiker  selbst  auf  dem  Standpunkte  der  auto- 
nomen Ethik  steht;  und  es  liegt  wohl  in  letzter  Linie  an  diesem  Stand- 
punkte, dass  er  jene  Auffassung  von  Ehrlichkeit  „missverstehen"  muss.^) 
Soll  er  aber  Kant  gegen  solche  Vorwürfe  in  Schutz  nehmen?  Nein,  ge- 
wiss nicht.  In  diesem  Punkte  hat  bereits  Paulsen  in  seiner  vornehmen 
und  gerechten  Kritik  der  ersten  Auflage  dieses  Buches  so  sehr  das  Rechte 
getroffen  und  in  aller  Kürze  treffend  zum  Ausdruck  gebracht,  dass  wir 
auf  die  Anschuldigungen,  die  Willmann  gegen  Kant  erhebt,  Paulsens  Ant- 
wort ohne  Einschränkung  zu  der  unsrigen  machen  können:  „Ich  meine, 
nicht  die  Ehre  Kants  ist  es,  die  hierbei  leidet,  sondern  die  Ehre  dessen, 
der  sich  so  an  ihm  vergeht."*) 

Genau  so  verzerrt  und  entstellt,  wie  das  Bild  der  Persönlichkeit 
unseres  grösst^n  Denkers,  ist  auch  seine  Lehre.  Soviel  Sätze  der  Autor 
in  diesem  Buche  über  die  Kantische  Philosophie  niedergeschrieben  hat, 
soviel  Unsinn  ist  auch  darin  zusammengetragen.  Und  die  persönlichen 
Verdächtigungen,  die  dem  ahnungslosen  Leser  stetig  versetzt  werden, 
mögen  recht  geeignet  sein,  dabei  mitzuhelfen,  dass  auch  das  Bild  der 
Lehre  in  dem  Lichte  erscheine,  in  dem  es  eben  nach  dem  Wunsche  ultra- 
montaner Zurechtmachung  gesehen  werden  soll. 

Wie  freundlich  Herr  Willmann  zu  ihr  steht,  und  welches  Schicksal 
er  ihr  wünscht,  das  hat  er  uns  an  einer  Stelle  seines  Buches  unbedacht 
verraten.  Er  meint  einmal,  wenn  Kant  sich  zu  der  scholastischen  Auf- 
fassung vom  Begriff  des  Noumenons  bekehrt  hätte,  dann  würde  er  „die 
Vemunftkritik  ins  Feuer  geworfen"  haben.  Nun  diese  scholastische  Auf- 
fassung ist,  wie  jeder  weiss,  der  Kant  verstanden  hat,  Unsinn.  Aber  sie 
ist  auch  Herrn  Willmanns  Auffassung.  Kants  Bekehrung  indes  ist  unter- 
blieben. Der  Ketzerrichterwunsch,  „die  Vemunftkritik  ins  Feuer  geworfen" 
zu  sehen,  illustriert  aber  immerhin  einigermassen  die  „geistigen"  Waffen 
des  Ultramontanismus;  und  aus  der  Geschichte  ist  ihm  ja  deren  erfolg- 
reicher Gebrauch  wohl  bekannt,  aus  Zeiten,  wo  das  Feuer  ein  machtvolle« 


1)  Logisch  kann  man  darum  aber  diesem  Begriffe  sehr  wohl  beikommen. 
Das  zeigt  am  besten  die  Art,  auf  die  Schuppe  in  den  Anwendungen  seiner 
grossen  erkenntnistheoretischen  Logik  das  tut.  Es  ist  an  und  für  sich  schon 
interessant,  zu  bemerken,  für  welche  logischen  Fragen  die  ultramontane 
Logik  das  Anwendungsmaterial  hier  geliefert  hat.  Gradezu  glänzend  aber 
ist  die  Prüfung,  die  liier  die  Prinzipien  der  ultramontanen  Logik  an  den 
Kriterien  wirklicher  Logik  finden. 

^  Philosophia militans  S.  17  (vgl.  dort  die  Abhandlung:  „Das  jüngste 
Keteergericht  über  die  moderne  Philosophie'). 


Kant  in  neuer  ultramontau-  u.  hberal-katholischer  Beleuchtung.       ô5 

'.Arf^ment^'  in  Sachen  wissenschaftlicher,  wie  religiöser  Überzeugung 
war.  Ich  erwähne  das  nicht  wiUkttrlich,  sondern  nur  um  die  Geistesart 
dieses  Kampfes  auch  gegen  die  Lehre,  nicht  bloss  gegen  die  Persönlichkeit 
Kants  zu  beleuchten.  Nur  von  der  mittelalterlichen  Anschauungsweise 
her  ist  dieser  Kampf  gegen  die  moderne  Philosophie,  gegen  die  philo- 
sophische Seite  des  „Modemismus"  zu  verstehen.  Mit  mittelalterlichen 
Mitteln  wird  auf  der  einen  Seite  die  Kantische  Lehre  verzerrt,  und  mit 
mittelalterlichen  Mitteln  wird  sie  auf  der  anderen  Seite  bekämpft.  Ptlr 
die  ganze  mittelalterliche  Verzerrung  des  Geschichtlichen  ist  schon  die 
ganze  Tendenz  charakteristisch,  mit  der  der  Kritizismus  auf  einen  begriff- 
lichen Ausdruck  gebracht  werden  soll.  „Die  Subjektivierung  des  Idealen 
durch  Kants  Autonomismus**  —  das  ist  der  Titel,  der  Kants  Lehre  auf- 
geheftet wird.  Die  Autonomie  wird  als  der  Nerv  der  Kantischen  Lehre 
erkannt.  Weil  aber  die  Autonomie  in  ihrem  Wesen  völlig  verkannt  wird, 
darum  muss  mit  Notwendigkeit  auch  die  ganze  Kantische  Lehre  als  „Sub- 
jektivierung des  Idealen"  verkannt  werden;  in  ihrem  praktischen,  wie  in 
ihrem  theoretischen  Teile. 

Der  durch  die  persönliche  Verunglimpfung  zu  Tage  tretenden  fana- 
tischen Absicht  entsprechend,  scheint  WiUmann  in  seiner  aller  logischen 
Anordnung  entbehrenden  Darstellung  den  persönlichen  Nachdruck  auf  den 
praktischen  Teil  zu  legen.  Da  er  nur  klerikal-scholastisch  zu  denken  im 
Stande  ist,  von  der  wahren  Objektivität  des  Idealen  also  keine  Ahnung 
haben  kann,  so  muss  ihm  natürlich  wieder  auf  echt  ultramontane  Art  die 
Autonomie  zur  Willkür  werden.  Sie  wird  ihm  gleichbedeutend  mit 
„schrankenloser  Willkür",  mit  der  Tendenz  des  „Übermenschen".  Was 
Wunder,  wenn  es  bei  ihm  heisst:  „Der  Autonomismus  ist  seiner  Natur 
nach  Egoismus".  Also  nicht  einmal  die  ersten  Sätze  der  Kritik  der  prak- 
tischen Vernunft,  die  zum  Einfachsten  gehören,  was  Kant  je  geschrieben 
hat,  hat  Herr  Willmann  verstanden.  Für  die  kritische  Objektivität  fehlt 
ihm  jeder  Sinn,  weil  klerikale,  autoritative,  scholastische  Schein-Objektivi- 
tät sein  Denken  gefangen  genommen  hat.  Hören  wir  ihn  selber:  „Von 
einem  Halt  kann  ja  der  Autonomismus  nichts  wissen  —  denn  woran  ich 
mich  halte,  das  muss  ausser  mir  sein,  also  meinen  Willen  heteronomisch 
bestimmen."  Mit  diesem  sensualistischen,  der  Sprache  entnommenen  „Ar- 
gument" glaubt  der  kirchenmoralistische  Thomist  wirklich  eine  Objektivi- 
tät erhärten  zu  können;  die  ideal-kritische  ist  das  wahrlich  nicht,  und 
darum  ist  es  überhaupt  keine.  Es  ist  ein  kläglicher  Schein  von  Objektivität, 
den  als  solchen  nur  der  klerikale  Dogmatist  nicht  zu  durchschauen  vermag. 

Wie  horrend  nun  auf  theoretischem  Gebiete  das  Verkennen  der 
kritischen  Objektivität  ist,  das  beweist  am  besten  vielleicht  der  Umstand, 
dass  Herr  Willmann  gerade  im  Anschluss  au  eine  Stelle,  in  der  Kant  mit 
einer  jedem  Denkfähigen  einleuchtenden  Klarheit  imd  Einfachheit  allen 
Subjektivismus  und  Ulusionismus  abweist,  seinen  gläubigen  Lesern  nun 
das  Märchen  auch  vom  theoretischen  Subjektivismus  auftischt  Er  kann 
aber  das  Ideale  immer  nur  verkörperlicht  fassen,  wie  seine  klerikal-scho- 
laatischen  Vorgänger,  die  den  tiefen  Sinn  der  platonischen  Lehre  durch 
die  Verkörperlichungssucht  zu  ertöten  versucht  hatten.  Ein  Versuch,  der 
wohl  auch  mit  der  Zeit  noch  gelungen  wäre,  wenn  die  Geschichte  nicht 


56  B   Bauch. 

gerade  an  Kant  gelernt  hätte,  Piaton  die,  durch  die  mittelalterliche 
Kirche  solange  vereitelte  und  durch  ihren  nachwirkenden  Einfluss  noch 
in  die  Neuzeit  hinein  hintangehaltene,  Gerechtigkeit  widerfahren  zu  lassen. 
Der  Aristoteliker  unserer  Tage  kann  Platon  noch  weniger  verstehen,  als 
der  Aristoteliker  des  Mittelalters.  Am  wenigsten  aber  kann  er  Kant  ver- 
stehen. Ihm  müssen  natürlich  Kants  Kategorien  zum  blossen  „Plunder" 
werden,  und  sie,  wie  die  Anschauungsformen,  zu  einer  Art  subjektiver 
Funktion,  durch  die  wir  den  Dingen  „unseren  Stempel  aufprägen". 

Diesen  thomistischen  Deutungsmitteln  entsprechen  auch  die  Wider- 
legungsmittel. Soweit  überhaupt  von  Argumenten  die  Rede  ist,  und  sich 
die  „Widerlegung**  nicht  mit  den  erwähnten  persönlichen  Prädikaten  be- 
gnügt, sind  jene  abgestandene  scholastische  Mittelchen  Die  stillschwei- 
gende Voraussetzung  ist  immer  —  oft  auch  die  ausgesprochene  —  :  Der 
heilige  Thomas  hat  Recht.  Damit  ist  von  vornherein  die  Wahrheit  als 
fertiger  Besitz  der  Kirchenlehre  verbürgt.  Nun  befindet  sich  Kant  im 
Widerspruch  mit  der  Kirchenlehre  und  dem  heiligen  Thomas.  Das  zu 
zeigen  ist  leicht,  und  ebenso  leicht  ist  der  Schluss:  Also  hat  Kant  Un- 
recht. Das  ergiebt  sich  ebenso  leicht,  wie  der  Nachweis  von  Kants 
„Hochmutes  wenn  man  einmal  erst  voraussetzt,  dass  autonomes  Denken 
Hochmut  ist.  Denn  Kant  ist  autonom  im  Denken.  Darum  ist  er  hoch- 
mütig. Also  schliesst  Herr  Willmann.  Wir  würden  freilich  von  anderen 
Prämissen  ausgehen  und  etwa  sagen:  Wer  auf  autonomes  Denken  ver- 
zichtet, der  hat  in  der  Wissenschaft  überhaupt  nicht  mitzureden.  Das 
Subjekt  des  Untersatzes  mag  vertreten,  wer  es  auch  sei,  und  wäre  es 
auch  traurigerweise  ein  Professor  der  Philosophie.  Also  —  so  würden 
wir  schliessen,  Herr  Willmann. 

Herr  Hof  rat  Willmann  spricht  einmal  mit  Entrüstung  von  „Büblein**, 
die  „mit  Steinen"  nach  den  ewigen  Ideen  geworfen,  natürlich  unbe- 
schadet der  Bedeutung  und  Geltung  der  Ideen.  Dass  er  dabei  wieder  auf 
Kant  abzielt,  versteht  sich.  Aber  er  weiss  nicht,  was  er  tut.  Darin  frei- 
lich hat  er  vollkommen  Recht,  dass  die  ewigen  Ideen  durch  Bubenstücke 
keinen  Schaden  leiden.  Und  so  Recht  hier  Herr  Willmann  hat,  ebenso 
wahr  wird  auch  der  Erkenntnis-  und  Sittlichkeitsgehalt  des  Kantischen 
Werkes  bleiben  und  seine  Wirkung  tun,  ob  auch  der  Ultramontanismus 
sich  mit  tausend  und  abertausend  Bubenstücken  an  ihm  versündige.  Alle 
ultramontane  Verdunkelung  kann  durch  Kontrastwirkung  das  Licht  der 
Vernunftkritik  nur  um  so  heller  erstrahlen  und  darum  auch  mit  zur 
Wirkung  gelangen  lassen,  so  wahr  in  der  Geschichte  der  Menschheit  ein 
ewiger  Sinn  lebendig  und  wirksam  ist.  So  wird  sich  die  Autonomie  des 
Denkens  und  Wollens  —  mag  sie  vielleicht  auch  wie  der  Protestantismus 
selbst,  aus  dem  sie  hervorgewachsen  ist,  in  Rom  als  „Pest"  bezeichnet 
werden  -—  nie  wieder  aus  dem  Bewusstsein  der  Menschheit  verdrängen 
lassen,  und  ,wenn  die  Welt  gleich  voller  Päpste  war'. 


W.  V.  Humboldt  und  Kant.' 

Von  Dr.  Eduard  Spranger. 


Abflrekörst  citierte  Schriften. 

Wilhelm  v.  Humboldt,  Gesammelte  Werke  (Herausgeber  Carl  Braiideb) 
7  Bände,  Berlin  1841  ff.     (Bd.l  Briefe  an  Forster,  Bd.  V  an  Wolf.) 

Wilhelm  v.  Humboldt,  Werke,  herausgeg.  von  Albert  Leitzmann.  (=  Ge- 
sammelte Schriften,  herausgeg.  von  der  Kgl.  preuss.  Akademie  der 
Wissenschaften.    Abteilung  I.) 

Wilhelm  v.  Humboldt,  Briefe  an  Nicolovius,  herausgeg.  von  R.  Hayni. 
Berlin  1894.    (Anhang:  Briefe  an  Beer.) 

Aas  dem  Nachlass  Varnhagens  v.  Ense  Briefe  von  Chamisso,  Gneisenau, 
Haugwitz,  W.  v.  Humboldt  etc.  Berlin  1867.  (Bd.  1  Briefe  an  Hen- 
riette Herz.) 

Wilhelm  und  Caroline  v.  Humboldt  in  ihren  Briefen.  Herausgeg.  von 
Anna  v.  Sydow.  Berlin  .1906.  Bd.  I  Briefe  aus  der  Brautzeit 
1787-1791. 

Wilhelm  v.  Humboldt,  Briefe  an  F.  H.  Jacob i.  Herausgeg.  von  Leitz- 
mann, Halle  1892. 

Briefwechsel  zwischen  Schiller  und  Wilhelm  v.  Humboldt,  herausgeg.  von 
Leitzmann,  3.  Ausgabe,  Stuttgart  1900. 

Wilhelm  v.  Humboldt,  Ansichten  über  .Ästhetik  und  Litteratur.  (Seine 
Briefe  an  Ch.  G.  Körner.)     Herausgeg.  von  Jonas.    Berlin  1880. 

Neue  Mitteilungen  aus  J.  W.  v.  Goethes  handschriftlichem  Nachlas.»^t'. 
III.  Teil.  Goethes  Briefwechsel  mit  den  Gebrüdern  v.  HumboKlt 
(1796-1832),  Leipzig  1876  (=  an  Goethe). 

Rudolf  Haym,  Wilhelm  v.  Humboldt,  Lebensbild  und  Charakteristik. 
Berün  1866. 

Kant«  K.  d.  U.  nach  den  Seiten  der  ersten  Originalauflage. 

Wilhelm  v.  Humboldt  ist  häufig  ein  Kantianer  genannt 
worden  Schon  G.  Schlesier*-^)  hat  das  dahin  berichtigt,  dass  er 
zwar  von  Kant  ausgegangen,  scliiiessiicii  aber  ebenso  wie  8chiller 


*)  Aus  einem  in  der  Vollendung  befindlichen  grösseren  Werk  : 
.,W.  V.  Humboldt  und  die  Humanitätsidee"  sind  die  auf  Kant  be- 
zfigiichen  Untersuchungen  zu  dieser  Monographie  zusammengefasst  worden. 
Sie  sind  dem  1.  Kapitel  des  2.  Abschnitts,  dem  1.  Kapitel  des  .').  und 
dem  1.  Kapitel  des  4.  Abschnitts  teils  umgearbeitet,  teils  wörtlich  ent- 
nommen. 

«)  Erinnerungen  an  W.  v.  Humboldt,  2  Teile.  Stuttgart  1843 '6. 
I.  S.  67-69.  176  ff.  288  f. 


58  K.  Spranger, 

Über  ihn  hinausgegangen  sei.  R.  Hayni  hat  dann  von  „platoni- 
siertem  Kantianismus"  und  H.  Steinthal  gar  von  „kantisiertem 
Spinozismus"  gesprochen.  Solange  keine  Einigkeit  darüber  erzielt 
ist,  was  wir  als  den  eigentlichen  Kern  von  Kants  Lehre  anzu- 
sehen haben,  ist  die  Stellungnahme  zu  der  Frage,  ob  jemand 
Kantianer  gewesen  sei,  wesentlich  erschwert.  Wenn  z.  B.  Schlesier 
Kants  Leistung  in  der  Vereinigung  und  Ausgleichung  des  Ver- 
nünftigen mit  dem  Sinnlichen  erblickt  und  daneben  recht  unbe- 
stimmt nur  noch  das  skeptische  Moment  des  transscendentaleu 
Standpunktes  geltend  macht,  so  wird  eine  Zeit,  die  seine  Haupt- 
bedeutung etwa  in  die  Kritik  der  Erfahrung  oder  die  Lehre  vom 
„Bewusstsein  überhaupt"  verlegt,  zu  erheblich  anderen  Resultaten 
kommen  müssen,  wo  es  sich  um  die  Frage  echten  Kanttums 
handelt.  Nur  eine  von  philologischen  Grundlagen  ausgehende 
Einzeluntersuchung  wird  daher  über  die  Beziehungen  Humboldts 
zur  Kantischen  Philosophie  Licht  verbreiten  können.  Nun  besitzen 
wir  allerdings  eine  ausführliche  Auslassung  Humboldts  über  Kant 
aus  dem  Jahre  1830,  die  als  sein  reifstes,  abgeschlossenstes  Urteil 
über  die  kritische  Philosophie  gelten  kann:  Es  ist  die  berühmte 
Stelle,  in  der  er  Kants  Bedeutung  für  Schiller  und  den  Gang 
seiner  Geistesentwickelung  ausführt,  und  die  schon  Rosenkranz 
„eine  der  schönsten  Charakteristiken  des  Weisen"  genannt  hat.^) 
Wir  geben  die  Zusammenfassung,  in  der  sie  gipfelt,  hier  wörtlich 
wieder:  „Wieviel  oder  wenig  sich  von  der  Kantischen  Philosophie 
bis  heute  erhalten  hat,  und  künftig  erhalten  wird,  masse  ich  mir 
nicht  an  zu  entscheiden;  allein  dreierlei  bleibt,  wenn  man  den 
Ruhm,  den  er  seiner  Nation,  den  Nutzen,  den  er  dem  spekulativen 
Denken  verliehen  hat,  bestimmen  will,  unverkennbar  gewiss. 
Einiges,  was  er  zertrümmert  hat,  wird  sich  nie  wieder  erheben; 
einiges,  was  er  begi'ündet  hat,  wird  nie  wieder  untergehen;  und 
was  das  Wichtigste  ist,  so  hat  er  eine  Reform  gestiftet,  wie  die 
gesamte  Geschichte  der  Philosophie  keine  ähnliche  aufweist,  und 
für  alle  Zeiten  hin  die  möglichen  Richtungen  der  Spekulation 
überschlagen  und  gewürdigt.  In  seinem  Zeitalter  wurde  die,  bei 
dem  Erscheinen  seiner  Kritik  der  reinen  Vernunft,  unter  uns  kaum 
noch  schwache  Kunde  von  sich  gebende  spekulative  Philosophie 
von  ihm  zu  einer  Regsamkeit  geweckt,  die  den  deutschen  Geist 
hoffentlich    noch    lange    beleben   wird."     Aber  diese  ITormulierung 


')  Leitzmann,  S.  21  ff. 


W.  V.  Humboldt  und  Kant.  59 

g^ebt  schon  ihrer  Unbestimmtheit  wegen  wenig  Aufschluss.  Mag 
auch  manches  Dunkle  an  ihr  durch  die  nähere  Ausführung  geklärt 
werden,  mag  auch  als  eigentliches  Verdienst  Kants  hervortreten, 
dass  er  die  Philosophie  in  den  Tiefen  der  menschlichen  Brust  iso- 
lierte, dass  er  nicht  Philosophie,  sondern  philosophieren  lehrte  und 
sich  dabei  den  Sinn  für  die  im  dialektischen  Denken  nicht  zu 
fassende  Wahrheit  erhielt,  —  so  befremdet  uns  doch  die  gerade 
Linie,  die  hier  zwischen  dem  kritischen  und  dem  spekulativen 
Denken  gezogen  wird.  Ist  dies  dieselbe  spekulative  Philosophie, 
über  die  ihm  sein  Freund  Schiller  schon  1805  nach  Rom  schrieb: 
„Die  spekulative  Philosophie,  wenn  sie  mich  je  gehabt  hat,  hat 
mich  durch  ihre  hohlen  Formeln  verscheucht,  ich  habe  auf  diesem 
kahlen  Oefild  keine  lebendige  Quelle  und  keine  Nahrung  für  mich 
gefunden?"^)  Sollte  Humboldt,  der  soviel  tiefer  in  Kant  ein- 
gedrungen war,  so  gänzlich  andere  Folgerungen  aus  ihm  gezogen 
haben? 

Es  waren  seltsame  philosophische  Wandlungen,  die  beide 
Freunde  miteinander  durchgemacht  hatten.  Ausgehend  von  den 
Kategorien  der  Transscendentalphilosophie,  hatten  sie  in  den  Jahren 
ihrer  innigsten  Arbeits-  und  Geistesgemeinschaft  die  ästhetischen 
Begriffe  einer  immer  subtileren  Analyse  unterzogen.  Die  Bestim- 
mung des  Menschen  zur  Kunst,  die  geistige  und  kulturelle  Funk- 
tion des  Ästhetischen  war  ihnen  zum  Lebensproblem  geworden; 
denn  in  der  Kunst  allein  war  noch  die  Darstellbarkeit  des  Idealen 
zu  suchen,  nachdem  die  kritische  Einsicht  emporgedämmert  war, 
dass  die  Vernunftidee  selbst  einer  konkreten  Darstellung  nicht 
fähig  wäre.  Ihr  Ziel  war  nunmehr  eine  transscendentalpsycho- 
logische  Konstruktion  der  Kunst.  Aber  dies  Zurückgehen  bis  ins 
einzelnste  der  Analyse  und  Abstraktion  konnte  doch  nur  eine  vor- 
übergehende Epoche  bedeuten.  Schon  als  Humboldt  im  Frühjahr 
1797  Jena  verliess,  hatte  Schiller  das  Gefühl,  dass  dies  Verhält- 
nis beschlossen  wäre  und  so  nicht  wieder  kommen  könnte.  Und 
als  ihm  dann  1798  der  Freund  das  ausgereifte  Schlusswerk  dieser 
gemeinschaftlichen  Periode,  seine  ästhetische  Analyse  von  „Her- 
mann und  Dorothea"  übersandte,  fand  er  sich  in  die  alten  Wege 
nicht  mehr  zurück.  Eine  Zeit  stärkster  poetischer  Produktion  war 
für  ihn  angebrochen:  er  gestaltete  nun  die  ästhetischen  Ideen, 
statt  sie  zu  analysieren.     Denn  die  Ideen   waren  es  doch,  die  er 


1)  Leitsmann,  S.  321. 


60  E.  Sprangrer, 

aus  (1er  Kantischen  Periode  in  die  neue  mit  hinübeniahin,  und  so 
durfte  er  an  jener,  gegen  alle  bloss  spekulative  Philosophie  ge- 
richteten Stelle  fortfahren:  ^Aber  die  tiefen  Grundideen  der  Ideal- 
philosophie bleiben  ein  ewiger  Schatz,  und  schon  allein  um  ihrent- 
willen  muss  man  sich  glücklich  preisen,  in  dieser  Zeit  gelebt  zn 
haben.** 

Man  möchte  eine  ähnliche  Entwickelung  bei  Humboldt  ver- 
muteu.  und  doch  nahm  sie  eine  charakteristisch  abweichende 
Wendung,  auf  deren  Verständnis  wir  ausgehen.  Auch  für  iho 
kam  die  Zeit,  wo  die  rein  philosophische  Musse  ihn  nicht  mehr 
befriedigte.  Er  strebte  zu  einem  tätigeren  Leben  zurück,  wie  es 
in  Rom  für  ihn  begann,  und  auch  er  nahm  in  die  neue  Lebens- 
lage dasselbe  mit,  was  für  Schiller  unverrückbar  bestehen  ge- 
blieben war:  die  Ideen.  „Der  Massstab  der  Dinge  in  mir  bleibt 
fest  und  unerschüttert;  das  Höchste  in  der  Welt  bleiben  und  sind 
die  Ideen.  Diesen  habe  ich  ehemals  gelebt,  diesen  werde  ich 
jetzt  und  ewig  getreu  bleiben,  und  hätte  ich  einen  Wirkungskreis, 
wie  der,  der  jetzt  eigentlich  Europa  beherrscht,  so  würde  ich  ihn 
doch  immer  nur  als  etwas  jenem  Höheren  Unteigeordnetes  ansehen."  *) 
Aber  dieser  Glaube  musste  für  ihn  doch  dnen  anderen  Sinn  an- 
nehmen als  für  Schiller.  Ihm  war  die  poetische  Prodoktion  ver- 
schlossen. Sein  tätiges  Wesen  richtete  ach  allein  auf  Selbs^ 
bildung,  und  daneben  auf  politische  Wirksamkeit.  Das  Künstlerische, 
mit  dem  er  es  zu  tun  hatte,  lag  in  dem  Kunstwerk,  wie  es  der 
lndividnalcharakt<^r,  wie  es  jede  Nation,  ja  wie  es  das  Wunde^ 
werk  der  Sprache  darstellt.  Für  ihn  daher  wurden  die  Ideen  zn 
metaphj'^îiisohen  Weltmächten,  die  sich  im  Leben  der  Völker  aus- 
wirken, die  in  den  hochentfalteten  Individualitäten  zn  Tage  treten, 
also  nicht  Erzeugnisse  der  dichterischen  Einbildungskraft,  sondern 
in  das  Walten  der  Natur  selbst  verflochtene  ReaUtiten.  Von 
solchen  Gt^lankensünexn  —  denn  Wachsen  von  k^mhaften  An- 
fängen zur  vollen  Entfaltung  vnr  hier  nicht  weiter  zu  verfolgen 
haben,  kam  er  der  spekulativen  Philosophie  in  ihrer  damaligen 
(^^*stalt.  dor  Identitüisphilosophie,  immer  näher,  so  w^iig  er  je- 
mals mit  soiTîî-m  oicenon  Denken  in  ihren  Formeln  aafging.  Schon 
in  Paris  hatto  ihn  Fichte  anirezoxren.  trotz  manches  Scherawortes, 
iias  vT  mh  Goethe  bneflioh  iàl»er  ihn  wechselte.  Und  Schiller 
weiss  car  auf  Grund  eines  aus  Roth  erhaltenen  Briefes  an  Goethe 

1^  IjeiteroÄDTi.  S.  .sie  tlSiJS  . 


W.  V.  Humboldt  und  Kant.  t)t 

ZU  berichteu:  „Es  ist  ordentlich  Krankheit,  wie  er  mitten  in  Rom 
nach  dem  Übersinnlichen  und  Unsinnlichen  schmachtet,  so  dass 
Schellings  Schriften  jetzt  seine  heftigste  Sehnsucht  sind;  er  wird 
ihn  nun  bald  selbst  zu  sehen  bekommen,  und  dann  wahrscheinlich 
im  Vatikan  die  Gespräche  beim  Jenaischen  Fuchsturm  erneuern'' 
(24.  V.  1803).  Ähnliche  äussere  Zeugnisse  seines  Interesses  für 
Fichte  und  Schelling  besitzen  wir  in  Fülle;  sicher  war  er  von 
ihrem  Geiste  nicht  unberührt,  und  wenn  er  gegen  Hegels  System 
eine  bekannte  Antipathie  besass,  so  stand  er  der  Gesamtrichtung 
doch  nahe  genug,  um  als  Mitglied  der  „Jahrbücher  für  wissen- 
schaftliche Kritik**  figurieren  zu  können.^)  Dass  R.  Haym^)  diese 
Wendung  —  zwar  nicht  ganz  übersehen,  -  aber  doch  erheblich 
unterschätzt  hat,  ist  verständlich,  weil  er  derartiges  nicht  sehen 
wollte,  und  weil  erst  jetzt  die  Schriften  der  römischen  Jahre  be- 
kannt geworden  sind,  in  denen  der  identitätsphilosophisch-speku- 
lative Standpunkt  mit  noch  grösserer  Deutlichkeit  zu  Tage  tritt, 
als  in  den  sprachphilosophischen  Werken.  Und  zu  ihnen  gesellen 
sich  die  Aufsätze  von  1814,  in  denen  die  Rechte  dieser  speku- 
lativen Metaphysik  mit  solcher  Energie  verfochten  werden,  dass 
sie  ihm  sogar  als  zur  Gesundheit  des  Geistes  gehörig  erscheint.^) 
Von  dem  so  gewonnenen  Standpunkte  aus  niusste  ihm  die 
Zeit,  in  der  er  mit  Schiller  die  ästhetischen  Kategorien  psycholo- 
gisch konstruierte,  als  überwunden  erscheinen.    Beide  verhehlten  sich 

M  Gentz'  Schriften,  herausg.  von  Schlesier,  Bd.  V,  S.  298  f.  —  Leitz- 
mann,  S.  68  verhält  er  sich  noch  ablehnend  zu  Fichte;  doch  nimmt  ihn 
dieser  bereit«  als  seinen  „Jünger^  in  Anspruch;  auch  hat  H.  an  eine  Re- 
zension seiner  Vorlesungen  über  die  „Bestimmung  des  Gelehrten**  gedacht. 
Wenn  die  an  Fichte  erinnernden  Wendungen  in  dem  Aufsatz  „Theorie  der 
Bildung  des  Menschen"  W.  W.  I,  283  tatsächlich  durch  diesen  beeinflusst 
sein  sollten,  so  müsste  dieses  Bruchstück  später,  als  Leitzmann  es  aus 
guten  Gründen  getan  hat,  datiert  werden.  —  Über  sein  Fichtestudium  in 
Paris  vgl.  den  Brief  an  Jacobi  S.  67,  an  Goethe  S.  64*,  153*  172*.  Am 
23.  VIII.  1804  (S.  216)  redet  er  mit  Goethe  scherzhaft  im  Fichte.schen  Stil. 
Xach  S.  236  besucht  er  im  Winter  1810  Fichtes  Vorlesungen  in  Berlin. 
—  Die  erste  Schellinglektüre  liegt  zwischen  dem  R.  Vîl.  1803  und 
dem  28.  VIII.  1804.  Vgl.  Lettres  à  Schweighaeuser,  p.  67.  An  Goethe 
217.  Leitzmann  326.  Aus  den  Schriften  vgl.  besonders:  W.  W.  III, 
139  f.,  176  f.,  191,  198  f.,  203  ff.,  207  ff..  289  f.,  297*,  343*  (Fichte  und 
Schelling),  346,  848  f.,  867,  366. 

»)  Haym,  S.  111  ff.  und  612  ff.  —  O.  Kittel,  W.  v.  Humboldt«  ge- 
sehichtliche  Weltanschauung  im  Lichte  des  klassischen  Subjektivismus  etc. 
Leipgig  1901,  hat  die  bezeichnete  historische  Wandlung  völlig  ignoriert. 

9)  W.  W.  m,  348  f. 


62  E.  Sprangei*, 

ihre  Wandlung  nicht.  Und  bei  dem  Urteil  aus  Rom  von  1803, 
das  er  seine  „Palinodie"  nannte,  ist  er  in  der  Folge  im  wesent- 
lichen stehen  geblieben.  Denn  als  er  seinen  Briefwechsel  mit 
Schiller  zum  Zweck  der  Herausgabe  sichtete,  schrieb  er  darüber 
unter  dem  ersten  Eindruck  an  Körner  am  12.  Februar  1830:  „Die 
Briefe  sind  alle  aus  einer  Zeit,  in  welcher  Schiller  in  einen  philo- 
sophischen Weg  geraten  war,  der  zwar  in  sich  einen  sicheren 
und  vortrefflichen  Grund  hatte,  allein  übrigens  doch  hätte  andere 
geführt  werden  sollen.  Ich  bin  ihm  leider  in  diesem  Wege 
zu  sehr  gefolgt,  und  habe  dazu  beigetragen,  ihn  darin  zu  be- 
stärken. ^*i) 

Jener  ,.  sichere  und  vortreffliche  Grund"  nun  war  unzweifel- 
haft die  Kantische  Philosophie.  Und  wie  der  Ausgangspunkt  von 
dem  ungünstigen  Urteil  verschont  blieb,  so  war  doch  auch  der 
Gewinn  und  Abschluss  der  Periode  bei  beiden  mehr  als  negativ: 
Sie  fanden  sich  zusammen  in  der  Schätzung  der  Ideen,  aus  der 
bei  dem  einen  die  idealistische  Tragödie,  bei  dem  andern  die 
historische  Ideenlehre  mit  all  ihren  Verzweigungen  erwuchs. 
Sollte  also  wirklich  die  ganze  Zwischenzeit,  deren  Bewegung  bei 
beiden  Denkern  so  deutlich  auf  einen  energischen  Abschluss  hin- 
ausführte, ein  Irrweg  gewesen  sein?  Dann  müsste  alles  Lernen, 
Suchen  und  Werden  ein  Irrweg  sein.  Wir  werden  im  Gegenteil 
gerade  diese  Jahre  als  die  Epoche  des  geistigen  Reifens  bei  Hum- 
boldt anzusehen  baben,^)  wenn  sie  ihm  auch  selbst,  nachdem  seine 
geistige  Konsolidation  sich  vollzogen  hatte,  als  ein  zielloses  Tasten 
erschien.  Jeder  Mensch  hat  ein  gewisses  Ausmass  von  rein  intel- 
lektuellem Trieb.  Hat  er  diese  von  der  Natur  ihm  gesetzten 
Grenzen  befriedigend  ausgefüllt,  so  wendet  er  sich  mit  grösserer 
Energie  dem  Stoffe  zu,  der  dies  bloss  kategoriale  Schema  zu 
füllen  vermag.  Aber  die  Grundlinien,  die  er  sich  in  jener  geistigen 
Arbeit  gegeben  hat,  behält  er  für  alle  Zeiten,  und  sie  sind  für 
ihn  bestimmend,  mag  er  sich  dessen  bewusst  sein  oder  nicht. 
Humboldt  nun  hat  sich  an  zwei  Geistesmächten  gebildet:  an  den 
Griechen  und  an  Kant.  Dem  letzteren  verdankt  er  seine  intellek- 
tuelle   Organisation,    soweit   der    Mensch    sie  sich  selbst  anbUdet. 


1)  Leitzmann,  S.  329  =  An  Kömer.  S.  143. 

^)  In  diesem  Sinne  äussert  er  sich  selbst  zu  Karoline  von  Wolzogen 
(deren  Lit.  Nachlass  II,  55)  am  10.  V.  1830,  ebenso  in  Bezug  auf  Schiller, 
Leitzmann  S.  33.  Rechtferti<^end  ist  auch  der  Brief  an  die  Freundin 
Charl.  Diede  vom  2.  August  1832. 


W.  V.  Humboldt  und  Kant.  63 

Weon  wir  also  Humboldts  Beziehungen  zur  Kantischen  Philosophie 
verfolgen,  so  erfahren  wir  zugleich  an  einem  bedeutsamen  Bei- 
spiel die  erziehende  Macht  der  kritischen  Philosophie,  und  diese 
erscheint  mir  philosophischer  als  ihr  Buchstabe,  an  dem  zu  haften 
die  grösste  Sünde  gegen  ihren  Geist  ist. 

Wohl  aber  folgt  aus  jener  Palinodie,  die  sich  doch  auch  auf 
sein  anfängliches  Kantverständnis  richtet,  etwas  anderes  für  diese, 
ans  einem  grösseren  Zusammenhang  herausgelöste  Monographie: 
Sie  wird  die  Schriften  von  1806  an,  in  denen  der  Einfluss  Kants 
von  einem  fremden  überwuchert  wird,  nur  noch  gelegentlich  als 
Belegstellen  heranziehen  dürfen.  Da  aber  aus  der  Zeit  von 
1798—1806  nur  wenige  philosophische  Schriften  vorliegen,  so 
haben  wir,  wie  im  einzelnen  noch  nachzuweisen  ist,  Humboldts 
strengere  Kautische  Periode  für  die  Jahre  1789—1798  anzusetzen, 
in  deren  Anfang  natürlich  noch  mancherlei  starke  Reminisceuzen 
ans  der  Berliner  Aufklärungsphilosophie  hineinreichen.  — 

Man  könnte  von  einer  Neigung  Humboldts  reden,  vergangene 
Bildungsepochen  zu  verleugnen.  Er  behauptet,  bis  in  sein  24. 
Jahr,  die  Sprachen  abgerechnet,  nichts  als  Dinge  gelernt  zu 
haben,  die  er  wieder  habe  vergessen  müssen.^)  Auch  dies  ist 
nicht  wahr;  es  ist  zum  mindesten  undankbar  gegen  die  logische 
Schalung,  die  er  von  der  Aufklärungsphilosophie  empfing.  Hum- 
boldt besass  von  Natur  eine  starke  Intellektualität.  Jacobi,  Gentz, 
Schiller,  Thérèse  Huber  sind  in  ihrer  Bewunderung  einig.  Ge- 
steigert und  geschult  wurde  sie  durch  die  Einflüsse  Engels  und 
Mendelssohns.  Der  erste  war  lange  Zeit  sein  Lehrer  in  der  Phi- 
losophie. Seine  Wirkung  auf  dem  Gebiete  der  Poetik  und  Mimik 
Iftsst  sich  bis  in  Humboldts  spätere  Werke  verfolgen.  Schon  in 
der  Vorrede  zu  einigen  aus  Plato  und  Xenophon  übersetzten 
Stücken,  der  ersten  Arbeit  Humboldts,  die  1787  gedruckt  wurde, 
wird  er  voll  lebhafter  Dankbarkeit  erwähnt.*)  Aber  nicht  nur 
äosserlich  geht  diese  Arbeit  auf  Engels  Anregung  zurück,  sondern 
sie  bewegt  sich  auch  ihrem  Inhalte  nach  ganz  in  den  Bahnen 
der  populären  Aufklärung,  für  die  Gottheit,  Vorsehung  und  Un- 
sterblichkeit demonstrable  Vernunftwahrheiten  bedeuteten.  Miss- 
fällige Seitenblicke  fallen  dabei  auf  die  Sophisten,  die  die  Waffen 
der    spitzfindigsten  Metaphysik    wählen,    um    die  Gewissheit   aller 


»)  An  Kömer  (1798)  S.  102. 

«)  W.  W.  I,   S.  5.    W.  W.    VII,  2  bringt   die   Referate    Hiimboldta 


64  Pj.  Sprangei*, 

menschlichen  Erkenntnis  bis  in  ihre  ersten  Grundfesten  zu  er- 
schüttern —  also  auf  den  vom  Hörensagen  bekannten  Königsberger 
Philosophen  —  und  auf  die  vernunftfeindlichen  Schwärmer  und 
Glaubensphilosophen,  -  d.  h.  auf  F.  H.  Jacobi  und  seine  Gefolg- 
schaft im  Streit  um  Lessings  Erbe.  Auch  in  den  Briefen  aus  der 
Brautzeit  (S.  280)  bekennt  sich  Humboldt  am  11.  XL  1790  durch- 
aus als  Engels  Schüler  in  der  Philosophie.  Doch  klingt  es  schon, 
als  redete  er  von  fernen,  vergangenen  Zeiten,  wenn  er  an  die 
,.Li"  schreibt:  „Der  Unterricht  war  ganz  Wolfisch,  fast  immer 
bloss  logisch,  und  ich  hatte  in  der  Logik  und  in  der  Wahl  erster 
scholastischer  Spitzfindigkeiten  eine  solche  Stärke,  dass  noch  jetzt 
da  ich  seitdem  dies  Zeug  nicht  mehr  angesehen  habe,  ich  kaum 
(»inen  Menschen  kenne,  der  mehr  als  ich  davon  weiss.  Denn  man 
treibt  das  jetzt  gar  nicht  mehr."  In  den  nächsten  Worten  geht 
er  dann  schon  sehr  kritisch  auf  die  Monadenlehre  ein,  als  deren 
Anhänger  wir  ihn  noch  wenige  Jahre  zuvor  in  den  Briefen  au 
seinen  Jugendfreund  Beer  finden.  Überhaupt  beweist  der  ganze 
spekulative  Inhalt  dieser  letzteren,  wie  wahr  es  ist,  wenn  er  im 
Februar  1789  an  Jacobi  schreibt,  dass  er  in  der  Wolfischen  Philo- 
sophie gesäugt  und  grossgezogen  worden  sei.  Wir  werden  bei 
der  Entwickeliiug  seiner  Erkenntnistheorie  noch  auf  diese  ganz 
an  Mendelssohns  ..Phädou'^  und  „Morgenstunden"  anknüpfenden 
Ausführungen  zurückkommen,  auf  jene  Zeit,  in  der  er  die  Über- 
einstimmung mit  Mendelssohns  Überzeugungen  für  den  richtigsten 
Massstab  seiner  eigenen  Fortschritte  in  der  Philosophie  hielt. ^) 
Und  Wegener  erzählt  uns  in  seiner  Selbstbiographie  von  Wilhelm: 
„Er  erklärte  mir  einmal  das  Eigentümliche  der  Leibnizschen  Philo- 
sophie so  deutlich,  wie  ich  es  in  keinem  Buche  fand."*) 

Das  war  während  der  Frankfurter  üniversitätszeit  im  Winter 
1787/8.  Es  ist  erwiesen,  dass  er  sich  dort  zum  ersten  Male,  unter 
der  Last  juristischer  Studien,  in  Kants  System  hinübergestohlen 
hat.^)  Zum  eigentlichen  ernsten  Studium  machte  er  es  erst  in 
den  nächsten  arbeitsfrohen  Semestern  in  Göttingen,  und  wir 
können  die  einzelnen  Phasen  seines  Bekanntwerdens  mit  der  kri- 
tischen Philosophie  fast  bis  auf  die  Daten  genau  verfolgen.  Es 
lässt  sich  eine  dreimalige  Kantlektüre  nachweisen:    die   erste  vom 


1)  An  Beer,  S.  97. 

')  Jugendbriefe  Alexander  v.  Humboldts  an  W.  G.  Wegener,  heraus- 
gegeben von  Leitzmann,  Leipzig  1896,  S.  92. 
^  An  Jacobi,  S.  6.  101. 


W.  V.  Humboldt  und  Kant.  65 

Sommer  1788  bis  Anfang  1789,  die  zweite  im  Sommer  1791  und 
die  dritte  im  Herbst  1793.  Wir  überblicken  kurz  die  Dokumente 
hierfür,  ehe  wir  auf  seine  innere  Stellunjf  zu  dieser  Lehre,  die  er 
noch  1799  Goethe  gegenüber  scheraend  „die  alleinseligmachende" 
nennt,  im  einzelnen  eingehen,  i) 

Die  früheste  Äusserung  entnehmen  wir  einem  Briefe  an 
Beer,  der  aus  Göttingen  vom  15.  Juni  1788  datiert  ist:  „Ich  lese 
jetzt  den  Kant,  ich  habe  mir  vorgenommen,  ihn  recht  sorgfältig 
zu  studieren.  Ich  schreibe  mir  jedesmal  das,  was  ich  gelesen 
habe,  wieder  selbst  auf.  In  einem  halben  Jahre  komme  ich  doch 
vielleicht  mit  der  Kritik  zu  Ende.  Sie  ist  sehr  schwer,  das  muss 
ich  gestehen,  aber  soweit  ich  nun  gelesen  habe,  belohnt  sie  doch 
auch  die  Mühe  sehr.  Und  dass  Kant  eigentlich  so  dunkel  schriebe, 
das  finde  ich  nicht.  Er  schreibt  vielmehr  sehr  bestimmt,  definiert 
und  dividiert  sehr  genau.  Die  Schwierigkeit  liegt  wohl  nur  in 
den  Sachen,  und  in  der  neuen,  ungewohnten  Darstellungsart. 
Dass  er  sich  eine  neue  Terminologie  bildet,  dünkt  mich,  verringert 
eher  die  Schwierigkeit,  als  dass  sie  dadurch  grösser  werden 
sollte  etc."*)  Wirklich  Hess  er  nicht  ab,  sich  in  die  Schriften  des 
Meisters  hineinzubohren,  ja  er  zog  auch  die  vorkritischen  Werke 
heran.  Noch  am  2.  Februar  1789  sendet  er  an  Henriette  Herz 
eine  seltsame  Epistel,  in  der  schwärmerische  Ergüsse  mit  Stellen 
aus  der  Kritik  vermischt  sind,  und  an  deren  Schluss  es  heisst: 
^Ich  studiere  jetzt  schrecklich  den  Kant."^)  Kurz  darauf  berichtet 
sein  Bruder  Alexander  an  Wegener:  „Er  wird  sich  tot  studieren, 
mein  Bruder.  Elr  hat  jetzt  alle  Werke  von  Kant  gelesen  und 
lebt  und  webt  in  seinem  Systeme."*)  Während  er  selbst  erst  um 
diese  Zeit  anfing,  sich  mit  Kant  vertraut  zu  machen,  rühmt  er 
im  August  desselben  Jahres  wiederum  Wilhelms  „tiefe  Einsicht 
in  das  Kantische  System".*)  Gefördert  nun  wurde  diese  ganze 
erste  Epoche  des  Kantstudiums  durch  den  persönlichen  Verkehr 
und  den  Briefwechsel  mit  F.  H.  Jacobi,  den  er  vom  31.  X.  bis 
5.  XI.  1788  in  Pempelfort  besuchte  und  mit  dem  er  im  Juni  1789 
noch  einmal  in  Hannover  zusammentraf.  Wie  wir  noch  sehen 
werden,    macht   er   sich  gerade  an  dem  Gegenbilde  der  Glaubens- 


»)  An  Goethe.  S.  168.    Vgl.  an  Wolf,  S.  112. 
S)  An  Beer,  S.  109  f. 
9)  An  Henriette,  S.  120. 
*)  a.  a.  0.,  S.  49. 
*)  S.  69. 

KMtHadira  XLII. 


Ö6  Ë.  Sprangef^ 

philosophie,  an  den  eigensinnigen  Thesen  dieses  impulsiven  Kant- 
gegners die  entscheidenden  Punkte  der  Transscendentalphilosophie 
klar.  Lange  schwankt  er,  ohne  mit  voller  Entschiedenheit  für 
Kant  Partei  zu  nehmen.  Im  März  1789  ist  er  mit  dem  theore- 
tischen Teil  im  Reinen;  nur  der  praktische  behagt  ihm  noch 
nicht.  Im  Juni  1790  hat  er  sich  endgiltig  für  Kant  und  gegen 
Jacobi  entschieden.  Oleichzeitig  begann  man  in  Berlin  seine  Ab- 
weichungen in  religiösen  Ideen  missfällig  zu  bemerken.^)  Gewiss 
hatte  man  dort  seinen  1789  geschriebenen  Aufsatz  „Über  Religion" 
kennen  gelernt,  der  bereits  starke  Spuren  Kantischer  Einwirkung 
zeigt  und  weit  von  der  natürlichen  Religion  jener  ersten  Arbeit 
absticht. 

Das  zweite  Kantstudium  fällt  schon  in  die  Zeit  nach  dem 
Abschied  aus  dem  Staatsdienst.  Aus  der  gelehrten  Musse  in 
Burgörner,  wo  er  seit  2  Monaten  weilte,  schreibt  er  am  22.  Au- 
gust 1791  an  Jacobi,  der  noch  immer  der  Vertraute  seines  meta- 
physichen Suchens  ist  :  „Vorzüglich  beschäftigt  mich  jetzt  wieder 
die  Metaphysik.  Ich  habe  mir  vorgenommen,  eine  neue  ernstliche 
Revision  meiner  eigenen  Überzeugungen  vorzunehmen,  und  studiere 
das  Kantische  System  von  vorn  an  von  neuem  durch.  **^  Der  neu  ge- 
wonnene Standpunkt  ist  in  der  Schrift  über  die  Grenzen  der  Staats- 
wirksamkeit ausgeprägt.  Hier  wird  auch  zum  ersten  Male  die  Kr. 
d.  U.  erwähnt,  die  in  jenem  früheren  Aufsatze  noch  nicht  benutzt 
sein  konnte.  R.  Haym,  der  den  letzteren  noch  nicht  kannte,  hat 
infolgedessen  gewisse  Gedanken  zu  Unrecht  auf  die  Kr.  d.  ü. 
zurückgeführt  und  das  Bild  dadurch  etwas  verschoben.*) 

Das  dritte  Kantstudium  endlich,  das  bereits  in  die  ästhetische 
Epoche  fällt,  steht  vorwiegend  unter  dem  Zeichen  der  Kr.  d.  U. 
Nach  einem  Aufenthalt  bei  Kömer  in  Dresden  schreibt  er  an 
diesen  enragierten  Kantianer  aus  Burgörner  am  27.  Oktober  1793: 
„Ich  habe  seit  meiner  Rückkunft  alle  Kantische  kritische  Schriften 
von  neuem  von  einem  Ende  bis  zum  anderen  durchgelesen  (weü 
diese  Schriften  doch  einmal  der  Kodex  sind,  den  man  nie  in 
philosophischen  Angelegenheiten,  so  wenig  als  das  Corpus  juris  in 
juristischen,  aus  der  Hand  legen  darf)  und  ich  danke  diesem  neuen 
Durchlesen  wiederum  sehr  viel.  Alle  Zweifel,  die  ich  sonst  wohl 
gegen   die   Kritik   der  reinen  Vernunft,   selbst   gegen  die  beiden 


*)  Alexander  an  Wegener  15.  VI.  1790. 
2)  An  Jacobi,  S.  36. 
8)  Haym,  S.  62  f. 


W.  V.  Humboldt  und  Kant.  6? 

moralischen  Werke  hatte,  sind  mir  jetzt  rein  verschwunden,  allein 
an  der  Kritik  der  Urteilskraft  glaube  ich  von  neuem  eine  gewisse, 
ich  möchte  sagen,  Flüchtigkeit  bemerkt  zu  haben,  die  nicht  bloss 
Berichtigungen  einzelner  Sätze,  sondern,  was  das  Wichtigste  sein 
würde,  Erweiterungen  des  ganzen  Systems  erlaubte."  ^)  An  den 
letztgenannten  Punkt  nun  heften  sich  Humboldts  eigene  ästhe- 
tische Untersuchungen  an,  durch  die  er  —  ähnlich  wie  Schiller  — 
einer  Theorie  der  Bildung  des  Menschen  vorzuarbeiten  strebte,  und 
auf  die  wir  unten  im  Zusammenhang  zurückkommen 

Eine  weitere  Kantlektüre  wird  nicht  ausdrücklich  erwähnt. 
Aber  durch  die  späteren  Schriften  Humboldts  zieht  sich  allent- 
halben das  feste  Netz  Kautischer  Denkweise.  Der  Philosoph  be- 
gleitet ihn  bald  als  bestimmender  Führer,  bald  als  kritischer 
Mahner.  In  der  letzten  Eigenschaft  trat  er  sogar  einmal  indirekt 
persönlich  auf,  in  dem  bekannten  Brief  an  Schiller  vom  30.  März 
1795,  in  dem  er  das  Urteil  fällte,  dass  er  sich  die  beiden  Horen- 
aufsätze  über  die  Frauen  nicht  enträtseln  könnte,  ein  so  guter 
Kopf  ihm  auch  der  Verfasser  zu  sein  schiene.  Es  war  ein  Stück 
mit  Herder  verwandter  Metaphysik,  ein  Stück  monistischer  Denk- 
weise, was  den  Königsberger  Weisen  bei  Humboldt,  wie  überall, 
wo  es  ihm  begegnete,  so  unangenehm  berührte. 

Wenn  wir  nunmehr  die  Spuren  Kants  in  Humboldts  Denken 
und  Schaffen  näher  verfolgen,  so  muss  ich  dabei  einige  Resultate 
meiner  Gesamtdarstellung  voraussetzen,  die  ich  hier  nicht  näher 
b<^gründen  kann.  Von  einem  ausgesponneneu  System  bei  Hum- 
boldt kann  äusserlich  keine  Bede  sein;  was  ihm  innerlich  ent- 
spricht, ist  jedoch  die  Humanitätsidee,  d.  h.  es  rückt  in  den 
Brennpunkt  all  seiner  philosophischen  Besinnung  ein  plastisches 
Lebensideal,  und  alle  übrigen  philosophischen  Momente  dienen 
diesem  Kuppelbau  als  Stütze.  Von  ihm  aus  allein  empfangen  sie 
ihre  Bedeutung.  Es  ist  nicht  ein  unbestimmtes,  schwärmerisches 
LebensgefQhl,  wie  bei  Herder,  sondern  eine  philosophisch  fundierte, 
in  eigenen  Kategorien  entwickelte  Idee,  worin  Humboldts  Lebens- 
auffassung gipfelt:  vom  psychologischen,  vom  ästhetischen,  vom 
ethischen  Standpunkt  gesehen  dieselbe  eine:  das  Ich  zum  Univer- 
sum zu  erweitern,  so  dass  selbst  seine  Schranken  noch  auf  die 
Unendlichkeit  hinweisen.  Zur  Voraussetzung  hat  sie  eine  stark 
nataraiistisch  gefärbte   Entwickelungsmetaphysik.    Während  diese 

1)  An  Körner,  S.  2. 


68  E.  èprangei*, 

aber  anfangs  halb  unter  der  Schwelle  des  Bewusstseins  bleibt, 
wird  die  feinste  Analyse  auf  die  erwähnten  Kategorien  verwandt, 
in  denen  das  geistige  Leben  ausdrückbar  wird.  Und  zwar  ist  es 
die  Eigentümlichkeit  dieser  Kategorien,  dass  sie  aus  einem  Wurzel- 
knoten hervorwachsen,  an  dem  die  psychologische,  ästhetische  und 
ethische  Arbeit  noch  ungeschieden  ist.  Nur  wer  sich  gegenwärtig 
hält,  dass  diese  drei  Gebiete  in  der  Humanitätsphilosophie  ab  ovo 
eng  aufeinander  bezogen  sind,  wird  sie  in  ganzem  Umfang  ver- 
stehen. Nicht  von  einer  historisch-psychologischen  Grundlegung 
der  Ethik  im  deskriptiven  Sinne  darf  hier  die  Rede  sein;  vielmehr 
wird  das  Humanitätsproblem  am  schärfsten  durch  die  beiden 
Fragen  charakterisiert  :  Inwiefern  kann  in  dem  bloss  psychologisch- 
historischen Studium  eine  unmittelbare  ethische  Bereicherung 
liegen?^)  Und  inwiefern  muss  die  ethische  Verfassung  des 
Menschen  als  eine  ästhetische  Struktur,  als  ein  Analogon  des 
Kunstwerks  gedeutet  werden?  Deshalb  nun  ist  Humboldts  Psy- 
chologie völlig  durchwachsen  von  ästhetischen  und  ethischen 
Gesichtspunkten,  die  eine  bloss  positivistische  Abstraktion  völlig 
ausschliessen. 

Für  diesen  Zusammenhang  kommt  es  auf  die  Bausteine  an, 
die  Kant  für  die  Herstellung  dieses  Gebäudes  geliefert  hat.  Sie 
sind  zahlreich  und  bedeutsam  genug.  Wenn  schon  in  der  Gesamt- 
darstellung die  innige  Verflechtung  aller  jener  Motivreihen  in 
ihre  Bestandteile  aufgelöst  werden  muss,  so  werden  wir  in  dieser 
vorbereitenden  Monographie  die  Einzelheiten  noch  abstrakter  aus- 
einanderlegen dürfen.  Wir  untersuchen  also  erstens  Humboldts 
Stellung  zu  Kant  auf  dem  Gebiete  der  Erkenntnistheorie  und 
Metaphysik,  wobei  wir  zugleich  auf  die  methodischen  Grundsätze 
seiner  Psychologie  und  Geschichtsphilosophie  geführt  werden; 
sodann  seine  Stellung  zu  Kants  Ethik,  und  endlich  zu  semer 
Ästhetik.  Freilich  muss  eine  solche  Behandlungsweise  gerade 
einem  Manne  gegenüber  unzulänglich  bleiben,  der  sich  von  Kants 
abstrakter  Denkart  von  früh  auf  eben  dadurch  unterschied,  dass 
er  bei  allen  Forschungen  über  den  Menschen  auf  die  Berücksich- 
tigung seiner  Ganzheit  drang  und  alles  schematische  Abstrahieren 
in  der  Psychologie  für  verderblich  hielt.  ^) 


1)  Dassell^e  Problem   habe  ich   bereits   in  meinen  „Grundlagen  der 
Geschichtswissenschaft",  Berlin  190B,  in  den  Mittelpunkt  gesteUt. 
*)  An  Forster,  S.  280. 


W.  V.  Humboldt  und  Kant.  69 

I. 

Die  ScbeiduDg  von  ErkenDtnistheorie  and  Metaphysik  war  zu 
der  Zeit,  auf  die  sich  unsere  Darstellung  bezieht,  noch  durch  den 
gemeinsamen  Namen  Metaphysik  verdeckt.  Erst  jetzt  begann 
sich  unter  dem  Namen  Transscendentalphilosophie  der  kritische 
Unterbau  entschiedener  von  den  systematischen  Gebäuden  abzu- 
lösen. Zwar  fehlte  es  auch  der  an  Chr.  Wolff  anknüpfenden 
Aafklärungsphilosophie  nicht  an  einer  durchaus  charakteristischen 
Erkenntnistheorie.  Aber  da  sie  keinen  Zwiespalt  zwischen  der 
rationalen  Evidenz  und  der  objektiven  liealität  für  möglich  hielt, 
so  bedeutete  für  sie  jede  Einsicht  in  die  Zusammenhänge  des 
rationalen  Denkens  sogleich  ein  neues  metaphysisches  Resultat. 
Dies  aber  ist  gerade  der  Punkt,  an  dem  das  Denken  des  jungen 
W.  V.  Humboldt  einsetzt;  zunächst  durchaus  nicht  mit  originaler 
Sicherheit,  sondern  ganz  in  den  Bahnen  der  vorangehenden  philo- 
sophischen Generation,  in  die  freilich,  ihr  selbst  halb  unbewusst, 
durch  die  lange  Infiltration  englischen  Geistes,  schon  eine  starke 
Richtung  auf  das  Empiristische  und  das  Triebhafte  gekommen 
war,  womit  ihre  eigene  Bearbeitung  der  sinnlichen  Erkenntnis  in 
der  Ästhetik  dunkel  zusammenwirkte.  Aus  den  Niederungen  des 
Sinnlichen  und  des  Gefühlslebens  kam  neuer  Saft  in  die  Auf- 
klärung, während  die  Krone:  die  natürliche  Theologie  mit  all 
ihrem  Laubwerk  von  Evidenz  und  Demonstration,  abstarb.  Ha- 
mann, Jacobi,  Herder,  Lavater  standen  der  Wirklichkeit  bereits 
mit  ganz  anderen  Augen  gegenüber,  und  Kant,  der  schon  1763 
im  Wettbewerb  mit  dem  konservativen  Mendelssohn  die  neuen 
Wege  betreten  hatte,  blieb  nur  deshalb  scheinbar  zurück,  weil  er 
neben  der  Negation  auch  aufbauende  Leistungen  erstrebte. 

Humboldt  lebte  noch  um  1787,  als  er  Nächte  opferte,  um 
mit  seinem  Freunde  Beer  brieflich  philosophische  Ideen  auszu- 
tauschen, im  alten  wohlgeebneten  Begriffsreich.  Die  Lösung  des 
atomistiscben  Problems  durch  die  Monadenlehre,  die  phänomena- 
listische  Auffassung  der  Eörperwelt,  die  Theorie  der  deutlichen 
und  undeutlichen  Vorstellungen,  der  ganze  methodische  Ansatz 
der  Mendelssohnschen  Philosophie  stehen  bei  ihm  noch  in  Geltung. 
Nor  an  einem  stösst  er  sich:  Mendelssohn  hatte  im  16.  Abschnitt 
der  ,.  Morgenstunden''  einen  neuen  Gottesbeweis  versucht,  indem 
er  aus  der  These,  dass  alles  Wirkliche  gedacht  werden  müsste, 
auf  einen  höchsten,  vollkommensten  Verstand  schloss.  Jene  These 
wiederum  hatte  der  Philosoph  aus  dem  umfassenderen  Satze  dedu- 


70  E.  Sprauger, 

ziert,  dass  alles  Mögliche  gedacht  werden  müsste,  und  zwar  des- 
halb,  weil  Möglichkeit  kein  objektives,  sondern  uar  ein  subjektives 
Prädikat  sein,  also  auch  nur  eine  idealische  Existenz  (in  irgend 
einem  denkenden  Bewusstseiu)  haben  könnte.  Humboldt  giebt  die 
Subjektivität  des  Prädikats  „Möglichkeit"  zu;  aber  gerade  dies 
hatte  Mendelssohn  unerlaubt  amplifiziert,  indem  er  behauptete,  dass 
alle  Möglichkeiten  gedacht  werden  müssten.  Dieser  Schritt  war 
nach  den  Grundsätzen  der  rationalistischen  Erkenntnistheorie  nur 
zulässig,  wenn  man  die  Möglichkeit  als  ein  subjektiv- positives 
Prädikat  auffasste.  Humboldt  konnte  sie  aber  nur  als  ein  sub- 
jektiv-negatives Prädikat  gelten  lassen:  möglich  ist,  was  ohne 
Widerspruch  gedacht  werden  kann,  aber  nicht  alles  Widerspruchs- 
lose muss  gedacht  werden.  Darin  liegt  folgende  entscheidende 
W^endung:  es  wird  nun  die  wirkliche  Welt  nicht  mehr  als  ein 
Spezialfall  zahlloser  Denkmöglichkeiten  angesehen  und  aus  diesen 
abgeleitet,  sondern  umgekehrt:  Die  Wirklichkeit  erscheint  als  be- 
stimmend für  das  Denken,  es  kann  etwas  Wirkliches  geben,  ohne 
dass  es  vorher  gedacht  wäre,  ja  ohne  dass  es  überhaupt  von 
irgend  einem  vernünftigen  Bewusstsein  gedacht  würde;  und  von 
den  Möglichkeiten  gilt  das  erst  recht.  In  dieser  empiristischen 
Behauptung  liegt  eine  völlige  Umwandlung  der  geistigen  Konsti- 
tution, nicht  nur  die  Aufdeckung  eines  logischen  Fehlers.  Die 
Kluft  zwischen  der  Welt  rationalen  Denkens  und  der  objektiven 
Wirklichkeit  tut  sich  auf.  Rationale  Demonstration  erhärtet  kein 
reales  Sein;  Wirklichkeit  ist  mehr,  als  ein  Komplement  der  Mög- 
lichkeit. „Warum  sollte  nicht  ein  Wesen  existieren  können,  ohne 
dass  es  von  irgend  jemand  gedacht  würde?  Wäre  denn  die 
Existenz  dieses  Wesens  nicht  Wahrheit,  wenngleich  niemand  diese 
Wahrheit  dächte?"  i) 

Keine  Spur  weist  darauf  hin,  dass  Humboldt  damals  bereits 
von  der  Abhandlung  Kunde  hatte,  die  ihm  hier  sofort  hätte  Hilfe 
bringen   müssen,   wie   sie   dem  jungen   F.  H.  Jacobi   mit   einem 

^)  An  Beer,  S.  100.  —  Es  bandelt  sich  hier  in  der  Tat  am  eine  Ver- 
änderung im  Daseins-  und  Realitätsgefühl;  die  Geschichte  der  Philosophie 
zeigt»  welcher  zahllosen  Abstufungen  das  Realitätsbewusstsein 
fähig  ist.  Für  den  Hegeischen  Standpunkt  wäre  der  obige  Satz  ohne 
Beweiskraft,  und  ebenso  würde  er  für  die  Ansicht,  dass  alles,  was  ist,  ins 
Bewusstsein  fällt,  unannehmbar  sein.  Er  bedeutet  also  nicht  nur  eine 
starke  Wendung  zum  Irrationalismus,  sondern  geradezu  zum  Agnostizismus 
und  Überlogismus.  Dies  tritt  ganz  besonders  deutlich  in  der  6.  Beilage 
SU  Jacobis  Briefen  über  Spinoza  hervor  (W.  W.  IVb,  S.  81  ff.). 


W.  V.  Humboldt  and  Kant  71 

Schlage  die  wunde  Stelle  des  RatioDalismos  aufgehellt  hatte: 
Kants  Schrift  über  den  „Einzig  möglichen  Beweisgrund"  von  1763, 
in  der  er  das  Prädikat  der  objektiven  Existenz  energisch  aus  der 
Reihe  der  übrigen,  bloss  logischen  Prädikate  heraushob.  Ver- 
ständlich aber  wird  nun,  was  ihn,  abgesehen  von  der  persönlichen 
Wirkung,  theoretisch  so  mächtig  zu  Jacobi  hinzog:  es  war  eben 
diese  Skepsis  gegen  die  Erfassung  des  Objektiven  im  bloss  syllo- 
gistischen  Verfahren,  worin  beide  zusammentrafen.  Schon  ehe 
Humboldt  Kant  kennen  lernte,  empfand  er  einen  Widerwillen 
gegen  seine  Wolffische  Metaphysik:  „Es  kam  mir,  schreibt  er  im 
ersten  Brief  an  Jacobi,  alles  so  trocken,  so  blosses  Gerippe,  ohne 
Geist  und  Leben,  vor;  ich  demonstrierte  und  demonstrierte,  und 
nie  brachten  doch  die  Resultate  eigentlich  Überzeugung  hervor.  **») 
In  dieser  Stimmung  mussten  Denker  wie  Jacobi  und  Kant,  in 
denen  ein  kräftigeres,  sinnlicheres  Realitätsbewusstsein  pulsierte, 
eine  gleich  tiefe  Wirkung  auf  Humboldt  ausüben.  Bei  Kant 
musste  er  schön  auf  den  ersten  Seiten  seine  eigene  Ansicht  be- 
stätigt finden,  dass  die  blosse  Analyse  der  Begriffe  nicht  aus  dem 
Formalen  in  das  Materielle  der  Erkenntnisse  führe.  Der  Sprung 
ans  dem  Reiche  der  Möglichkeit  in  das  Reich  der  Wirklichkeit, 
Wolffs  „trügerische  Syllogismenbrücke",  störte  ihn  hier  nicht 
mehr.*)  Dafür  aber  erhob  sich  nun  die  andere  Frage,  ob  Jacobi 
oder  Kant  im  Besitz  der  richtigen  Lösung  wäre.  Und  ich  bin  der 
Ansicht,  dass  Humboldt  hier  einige  Zeit  ernstlich  geschwankt  hat, 
so  sehr  er  die  allgemeine  philosophische  Überlegenheit  Kants  von 
vornherein  empfinden  musste. 

E^  ist  die  Eigentümlichkeit  der  Jacobischen  Philosophie,  dass 
sie  zwei  erkenntnistheoretische  Grundprobleme  völlig  mit  einander 
parallelisiert,   die   für  gewöhnlich  getrennt  gehalten  werden:   die 


1)  An  Jacobi,  S.  2,  7. 

s)  Vgl.  an  Forster,  S.  2gl  (28.  IX.  1789):  „Oberhaupt  ist  es  dooh 
sonderbar,  wie  die  PhUosophie,  die  gerade  am  meisten  einer  grossen  Ffille, 
eines  Reichtums  von  Ideen  fähig  wäre,  noch  immer  auf  eine  so  nnfmcht- 
bare  Weise  behandelt,  zu  einem  fleisch-  und  marklosen  Gerippe  gemacht 
wird,  wie  nur  die  Wissenschaften  es  sein  sollten,  die  sich  bloss  mit  Ana^ 
lysiemng  selbst  konstruierter  Begriffe,  also  im  eigentlichsten  Verstände 
mit  bloss  formellen  Ideen  beschäftigen  .  .  .  Gerade  das  Studium  der 
Logik  hat  in  dieser  Rücksicht  unendlich  geschadet  ...  Es  könnte  einen 
eigenen,  recht  interessanten  Aufsatz  geben,  einmal  den  ganzen  Schaden 
zu  schildern,  den  das  Formelle  in  unserer  Erkenntnis  dem  Materiellen 
derselben  gebracht  hat,  und  noch  immer  bringt** 


72  E.  Spranger, 

Frage  nach  der  objektiven  Realität  des  Sinnlichen  und  der  des 
Übersinnlichen.  Gerade  in  der  Zeit  seiner  Diskussionen  mit  Hum- 
boldt in  Pempelfort,  über  die  uns  Tagebuchaufzeichnungen  des 
letzteren  erhalten  sind,^)  hatte  sich  Jacobi  in  Reid  hineingelesen, 
auf  Hamanns  Veranlassung,  bei  dem  der  schottische  Philosoph 
nach  langer  Zeit  wieder  einmal  eine  „philosophische  Neugierde** 
erweckt  hatte,  so  wenig  er  auch  hier  eine  Auflösung  der  Frage: 
„Was  ist  der  Mensch?"  erwartete.  Hatte  Jacobi  bisher  die  Rea- 
lität der  Aussenwelt  mit  Hume  auf  einen  unmittelbaren  Glauben 
zurückgeführt,  so  bestimmte  er  ihn  nun  näher  mit  Reid  als  Er- 
zeugnis einer  „perception",  einer  instinktartigen  Fähigkeit,  die 
Dinge  aus  sich  herauszustellen  und  zu  betrachten,  im  Gegensatz 
zu  der  blossen  Sensation,  die  Reid  „conception"  nannte  und  die 
mit  Lockes  „reflexion"  oder  Kants  „innerem  Sinn"  einigermassen 
zusammenfällt.  Kants  Erkenntnistheorie  genügte  Jacobi  deshalb 
nicht,  weil  er  ihm  alles  auf  blosse  Sensation  zu  beschränken 
schien,  wie  er  ihn  überhaupt  sein  Lebenlang  fast  illusionistisch 
gedeutet  hat.  Überdies  warf  er  ihm  im  Gespräch  mit  Humboldt 
vor:  „Er  vergesse  immer  über  der  Form  die  Materie.  Er  habe 
Scharfsinn,  nicht  Tiefsinn." 

Humboldt  erzählt,  dass  er  mit  den  wenigsten  Sätzen  einig 
gewesen  sei  und  Mühe  gehabt  habe,  Jacobi  zu  verstehen.  Trotz- 
dem ging  er  in  der  Folge  auf  seine  Gedanken  voll  Interesse  ein. 
Es  muss  sehr  in  Jacobis  Sinne  gewesen  sein,  wenn  Humboldt  ihm 
schrieb  :  „Kommt  es  Ihnen  nicht  überhaupt  so  vor,  als  wäre  alles, 
was  Kant,  auch  objektiv,  von  den  Dingen  behauptet,  doch  immer 
nur  subjektiv,  und  noch  dazu  immer  nur  auf  Erscheinung  be- 
ruhend? Nicht  genug,  dass  man  nach  seinem  System  nicht  aus 
sich  her|aus  auf  die  Dinge  geht,  man  geht  auch  nicht  in  sich 
hinein;  denn  auch  von  sich  selbst  hat  man  ja  nur  immer  Er- 
scheinungen." ^  Wenn  nun  aber  Jacobi  seine  „Perzeption"  un- 
mittelbar auch  auf  die  Erfassung  des  Übersinnlich-Objektiven 
ausdehnte,  so  musste  Humboldt  dies  a  limine  mit  Entschiedenheit 
ablehnen.  „Sinnlichkeit  ist  die  einzige  Bedingung,  unter  der  wir 
neue  Begriffe  von  aussen  her  erhalten  können;  jede  Anschauung, 
die  sich  weder  mittelbar  noch  unmittelbar  auf  Sinnlichkeit  bezöge, 
würde   ich    für   Sensation,   nicht    für   Perzeption   halten."^)     In 

1)  Abgedruckt  an  Jacobi,  S.  91—96. 
'^  An  Jacobi,  S.  8. 
3)  Daselbst,  S.  8. 


W,  V.  Humboldt  und  Kant.  73 

gleichem  Sinne  schreibt  er  auch  an  Forster,  bei  dem  er  hierfür 
auf  Beistimraung  hoffen  durfte,  so  sehr  dieser  geraeinsame  Freund 
sonst  in  seinen  Begriffen  von  Wahrheit  mit  Jacobi  übereinstimmte: 
Vom  Übersinnlichen  können  wir  schlechterdings  keine  Idee  haben; 
das  führt  zur  Schwärmerei.  ^)  In  diesem  —  wenn  man  will  :  ne- 
gativen Satze  hält  er  es  also  ganz  wie  sein  Freund  Gentz  von 
vornherein  mit  Kant,  selbst  auf  die  Gefahr  hin,  dass  daran  von 
den  Deisten  der  Vorwurf  des  Atheismus  geknüpft  werden  sollte. 
Nun  aber  blieb  noch  immer  die  andere  Seite  der  Frage  offen,  ob 
sich  die  sinnliche  VS^elt  so  unmittelbar  offenbare,  wie  Jacobi  es 
annahm.  Dass  sie  aus  der  blossen  „Schmelzküche  der  Vernunft" 
nicht  herauszudestillieren  wäre,  wie  er  jetzt  mit  Anspielung  auf 
Kants  ^Einzig  möglichen  Beweisgrund"  sagt  (17.  XL  1788),  stand 
ihm  ja  fest.  Aber  in  Jacobis  Philosophie  des  unmittelbaren 
Schauens  fand  er  doch  auch  manchen  Anstoss.  Wie  er  in  Jacobis 
ganzem  Denken  Genauigkeit  der  Begriffe  vermisste,  so  fehlte  ihm 
auch  hier  ein  Kriterium,  um  Wahrheit  und  Täuschung  von  ein- 
ander zu  unterscheiden.  Auch  das  dialektische  Hin-  und  Her- 
wenden des  Gegenstandes  schien  ihm  keine  Sicherheit  gegen  diese 
Subjektivität  zu  bieten.  Er  bekennt,  einen  solchen  im  eigentlichen 
Verstände  metaphysischen  Sinn  nicht  zu  besitzen  :  „Ich  kann  Ihnen 
überall  folgen,  wo  das  rein  logische  Vermögen  ausreicht,  nicht 
aber  dahin,  wo  an  die  Stelle  desselben  unmittelbare  Wahrnehmung, 
Perzeption,  treten  muss."^)  So  neigt  er  also  weder  zur  Leibniz- 
schen  Philosophie  des  Analysierens,  noch  zu  Jacobis  Philosophie 
des  Schauens,  sondern  zu  dem  dritten,  von  Kant  vertretencMi 
Typus,  zu  der  Phüosophie,  die  postuliert  oder  —  wie  er  un- 
bestimmt genug  hinzufügt:  „schliesst''. 

Ganz  behaglich  war  es  ihm  auf  diesem  Boden  auch  nicht; 
seine  wiederholten  Versicherungen  aus  den  Jahren  1788/9,  dass 
er  sich  in  einer  ratlos  skeptischen  Verfassung  befinde,  sind  mehr 
als  Anbequemung  an  die  Denkart  des  befreundeten  Philosophen. 
Denn  auch  das  ewige  Postulieren  genügt  ihm  nicht.  Sollte  nicht 
Kant  ebenso  wie  ihm  nur  die  eigentliche  Perzeptionsfähigkeit 
fehlen?  Was  ist  eine  Freiheit,  die  nur  postuliert  wird?'^  So 
steht  er  noch  im  Oktober  1789:  „Kant  zieht  sich  in  die  eigene 
Burg   zurück.    Denn   gewiss  halten    die    meisten  sein  Postulieren 


»)  An  Forster,  S.  278. 
■)  An  Jacobi,  S.  17. 
3)  An  Jacobi,  S.  8. 


74  E.  Spranger, 

mehr  für  einen  frommen  Wunsch,  ein  banges  Sehnen  nach  dem 
geliebten  geahndeten  Lande,  als  für  einen  wirklichen  Übergang.** 
Und  hier  fühlt  er  doch  die  Grenzen  seines  rein  logischen  Bedürf- 
nisses: „Es  ist  doch  ein  unvergleichbar  grösserer  Gehalt,  vollerer 
Genuss  in  der  Empfindung  des  Seins,  als  in  dem  Existieren  m 
E]rscheinungen."  0 

Während  ihm  in  diesem  Briefe  das  ganze  Problem  noch 
immer  Gegenstand  der  Untersuchung  ist,  finden  wir  in  dem  fol- 
genden vom  20.  Juni  1790,  dass  er  sich  nun  definitiv  für  Kaut 
und  gegen  Jacobi  entschieden  hat.  Des  letzteren  Philosophie 
bleibt  ihm  ein  hochzuschätzendes,  psychologisch  interessantes  Phä- 
nomen; für  seine  Person  aber  zieht  er  sich  „gern  in  die  beschei- 
denen Schranken  zurück",  die  Kant  festsetzt.  Zum  ersten  Male 
giebt  er  auch  der  Objektivitätsdeduktion  Kants  eine  glücklichere 
Formulierung:  Kant  nimmt  deshalb  Dinge  ausser  uns  an,  „weil  io 
unseren  Vorstellungen,  wenn  wir  sie  entwickeln,  doch  etwas  Ma- 
teriales  liegt,  was  sich  auf  etwas  Wirkliches  ausser  uns  beziehen 
muss".-)  Der  Erscheinungscharakter  der  äusseren  wie  der  inneren 
Welt  steht  ihm  jetzt  fest.  Obwohl  Kant  und  Jacobi  sich  im  Re- 
sultat, d.  h.  hinsichtlich  der  Irrationalität  des  Objektitätserleb- 
nisses  nicht  allzufern  stehen,  findet  Humboldt  jetzt  bezeichnender 
Weise  den  Unterschied  zwischen  beiden  ungeheuer  gross.  Er 
tadelt  den  Rezensenten  der  Spinozabriefe,  der  beide  Denker  für 
nahe  verwandt  hielt,  weil  er  nunmehr  dies  Verhältnis  vom  Stand- 
punkt seiner  mühsam  errungenen  Entscheidung  ansah.  „Meiner 
Empfindung  nach  ist  zwischen  Ihnen  und  Kant  auch  nicht  der 
kleinste  Berührungspunkt."  Worin  aber  lag  für  ihn  diese  tief- 
gehende Differenz?  Sie  wäre  nicht  scharf  genug  bezeichnet, 
wenn  wir  nur  darauf  den  Ton  legten,  dass  für  Jacobi  das  Objekt 
ein  unmittelbares  Faktum,  für  Kant  „Annehmen  aus  einer  Art 
der  Notwendigkeit"  war.  Vielmehr  liegt  darin  der  springende 
Punkt:  er  hatte  die  Überzeugung  gewonnen,  dass  Kant  vom  Sub- 
jekt ausging,  Jacobi  aber  vom  Objekt.  Der  eine  ist  gegen  die 
Demonstration,  weil  der  Gegenstand  sich  ihm  (gleichsam  impulsiv 
gefühlsmässig)  aufdrängt,  der  andere,  weil  er  durch  philosophische 
Operationen,  durch  Zergliederung  des  Bewusstseins  zu  der  Einsicht 
gelangt,  dass  wir  von  Dingen  an  sich  keine  Begriffe  haben  können, 
sondern   durch   synthetische  Funktionen  des  Geistes   die    Elrschei- 

2)  S.  31, 


W.  V.  Humboldt  und  Kant.  75 

DUQgen  objektiv  vor  uus  hinstellen.  Es  ist  daher  eine  fragwürdige 
Schmeichelei  für  den  Philosophen  Jacobi,  wenn  er  seine  Eigenart 
dahin  bestimmt,  dass  bei  ihm  das  Anschauen  der  Wahrheit  alier 
Philosophie  voraufgehe;  man  wird  dadurch  bedenklich  an  die 
attischen  Worte  erinnert,  die  Schopenhauer  später  gegen  Jacobi 
richtete.  —  Nach  dieser  Auseinandersetzung,  auf  die  Jacobi 
übrigens  die  Antwort  schuldig  blieb,  ist  dessen  Philosophie  für 
Humboldt  nicht  wieder  zum  Problem  geworden,  so  lebhaft  er  ihn 
auch  ferner  als  Mensch  und  psychologisch  interessanter  Denker 
beschäftigte.  Seine  Lehre  war  ihm  begrifflich  zu  unbestimmt  und 
schon  deshalb  zu  individuell  gefärbt,  weil  er  in  diesen  Jahren  das 
religiöse  Bedürfnis  —  für  das  ihm  übrigens  das  Verständnis  nicht 
fehlte  —  nicht  in  solcher  Stärke  und  Richtung  empfand  wie 
Jacobi,  der  die  Wärme  seiner  religiösen  Zustände  gleichsam  mit 
dem  Thermometer  verfolgte.^) 

Damit  hat  nun  Humboldt  seineu  Standpunkt  auf  Kantischem 
Boden  gewonnen.  Und  indem  wir  von  der  ent\^ickelungsgeschicht- 
lichen  zur  mehr  systematischen  Darstellung  seiner  Erkenntnis- 
theorie übergehen,  heben  wir  als  erstes  und  wesentlichstes  Moment 
an  ihr  eben  diesen  Ausgangspunkt  hervor,  nämlich: 

1.  Das  Ausgehen  der  Analyse  vom  Subjekt.  Dies  eben  war 
es  ja,  was  er  noch  1830  als  Kants  höchstes  Verdienst  rühmte:  er 
führte  im  wahrsten  Sinne  des  Wortes  die  Philosophie  in  die  Tiefen 
des  menschlichen  Busens  zurück.  Eine  Köper nikanische  Wandlung 
nicht  nur  im  erkenntnistheoretischen  Sinne!  Der  Ausgangspunkt 
für  alle  trebiete,  die  jemals  Humboldts  Geist  beschäftigten,  war 
nnn  festgelegt:  Ethik  und  Politik,  Geschichte  und  Psychologie, 
Ästhetik  und  Sprachwissenschaft  —  sie  alle  waren  zuletzt  im 
Subjekt  verankert.  Diese  Wendung,  deren  vorbereitende  Momente 
in  der  Leibnizschen  Monadenlehre,  in  Psychologie  und  Ästhetik 
uns  Robert  Sommer   ausgezeichnet  dargelegt  hat,-)   ist  zunächst 


*)  An  Jacobi,  S.  »4.  —  Die  meisten  dieser  Probleme  werden  natttr- 
lieh  in  der  Woldemarrezension  (1794)  von  neuem  gestreift.  Auch  sonst 
finden  sich  in  den  früheren  Jahren  gelegentliche  Anklänge  an  Jacobi.  So 
enth&lt  noch  das  8.  Kapitel  der  Schrift  über  die  Grenzen  der  Staatswirk- 
samkeit  (W.  W.  I,  170  f.)  Gedanken  aus  dem  Pempelforter  Gespräch  (vgl. 
an  Jacobi,  S.  98).  Bekanntlich  beruht  das  Kapitel  zum  grossen  Teil  auf 
Vorarbeiten  aus  der  Zeit  des  Aufsatzes  „Über  Religion'\  Vgl.  Leitzmann, 
Enphorion  KIV,  374. 

■)  Grnndzüge  einer  Geschichte  der  deutschen  Psychologie  und  Ästhe- 
tik von  Wolff-Baumgarten  bis  Kant-Schiller.    Würzburg  1892. 


76  E.  Spranger, 

von  methodischer  Bedeutung.  Auf  all  den  genannten  Ge- 
bieten entfaltet  sich  nun  eine  erkenntnistheoretisch-psychologische 
Arbeit,  die  die  Erscheinungen  vom  Subjekt  und  seinen  Funktionen 
ans  zu  begreifen  sucht.  Nur  darf  man  nicht  annehmen,  dass  der 
Gegensatz  von  erkenntnistheoretischem  und  psychologischem  Sub- 
jekt für  Humboldt  jemals  von  prinzipieller  Bedeutung  geworden 
sei.  Er  trat  um  so  weniger  in  seinen  Gesichtskreis,  als  er  Kants 
Ansätze  ja  fast  ausschliesslich  nach  der  Seite  der  Geisteswissen- 
schaften hin  ausgestaltete.  Sein  Hauptinteresse  ist  die  Begründung 
einer  (übrigens  nicht  rein  deskriptiven)  Psychologie;  aber  die 
Frage  nach  Erkenntnisleistung  und  objektiver  Geltung  dieser  Psy- 
chologie ist  natürlich  überall  hineingewoben.  Und  ebenso  werden 
wir  sehen,  dass  Humboldt  Kants  Phänomenalismus  vor  der  er- 
wähnten spekulativen  Epoche  nie  als  völlige  Bewusstseinsimmanenz 
gedeutet  hat,  dass  er  vielmehr  den  subjektiven  Ausgangspunkt 
mit  einer  naturalistisch-monistischen  Metaphysik  in  Einklang  zu 
bringen  wusste,  die  weit  über  die  vorsichtigen  Andeutungen  der 
K.  d.  U.  hinausging.  Diese  kritische  Seite,  in  der  ja  unzweifel- 
haft der  Formalismus  nicht  minder  herrscht  als  in  der  rationa- 
listischen Spekulation,  war  überhaupt  für  Humboldts  auf  Fülle  des 
Materialen  gerichteten  Geist  nicht  das  Wesentliche  an  Kant:  eine 
andere  Seite  seines  Denkens  stand  ihm  höher;  denn  zweitens 
bedeutet  nun  jene  Wendung  zum  Subjekt  ein  Weltan- 
schauungsmoment. Der  subjektivistische  Zug  der  Neuzeit 
spiegelt  sich  in  dieser  Methode,  die  von  innen  nach  aussen  geht: 
Die  Versenkung  in  die  Innerlichkeit  enthüllt  dem  modernen  Geist, 
der  in  den  Tiefen  seiner  Individualität  für  sich  ist,  die  eigentliche 
Bedeutung  des  Lebens.  Bei  Humboldt  strebte  von  früh  auf  alles 
dahin,  sich  in  dieser  Domäne  anzusiedeln,  durch  Selbstkultur  den 
Selbstwert  zu  erhöhen,  alles  Äussere  sich  durch  Aufnahme  in 
diesen  Innenbezirk  zu  assimilieren,  ohne  sich  doch  je  an  dies 
Fremde  zu  verlieren  oder  in  ihm  etwas  Eigenwertiges  zu  erblicken. 
„Aus  des  Busens  Tiefe  strömt  Gedeihen."^)  Je  älter  er  wurde, 
desto  mehr  fühlte  er  die  Bänder,  die  die  Tiefen  des  Selbst  mit  den 
Tiefen  des  Weltgeheimnisses  verknüpfen.  Ganz  wie  Fichte  und 
Schelling  sah  er  zuletzt  in  jeder  Individualität  eine  Idee,  d.  h.  eine  Er- 
scheinungsform des  Absoluten.  Es  ist  nicht  der  Ort,  auf  diese 
Folgerungen  aus  dem  Kantisch-subjektiven  Ausgangspunkt-e  hier 
näher  einzugehen. 

»)  Haym,  S.  50  f.,  196  ff.,  258  f. 


W.  V.  Humboldt  und  Kant.  77 

2.  Dieser  Ausgangspunkt  aber  ist  noch  nicht  das  Üanze; 
um  ihn  in  seiner  eigentlich  Kantischen  Bedeutung  zu  fassen, 
müssen  wir  hinzunehmen,  dass  Kant  nicht  in  einem  anarchischen 
Subjektivismus  stecken  blieb.  Das  Eigentümliche  seines  Verfahrens 
liegt  vielmehr  gerade  darin,  dass  er  im  Subjekt  den  festen 
Angelpunkt  aller  üewissheit  findet,  dass  er  in  ihm  und  nur  in 
ihm  die  feststehenden  Funktionen  findet,  aus  denen  alles  in  der 
Welt  hervorgeht,  was  in  irgend  einer  Rücksicht  als  allgemein- 
giltig,  notwendig,  verpflichtend  auftritt.  Alles  Bisherige 
würde  also  Humboldt  noch  nicht  zum  Kritizisten  machen;  das 
kritische  Moment  liegt  eben  in  der  Richtung  auf  das  Allgemeingiltig- 
Notwendige.  Es  handelt  sich  bei  Kant  um  die  Deduktion  der 
Giltigkeit  dieser  Funktionen,  d.  h.  um  den  Nachweis,  dass  nur 
durch  sie  die  gesetzliche  Welt  konstruierbar  wird.  Es  handelt 
sich  um  die  konstituierenden  Grundbedingungen  aller  (urteilenden) 
Erfahrung  überhaupt.  Der  Objektivitätsanspruch  ist  das  eigent- 
liche Problem.  Und  gleichviel,  ob  Kant  diesen  Anspruch  bewiesen, 
oder  ihn  nur  ans  Licht  gezogen  hat,  so  liegt  hierin  jedenfalls  das 
Geniale  seiner  Problemstellung  und  dasjenige,  was  die  an  Wolffs 
Dogmatismus  müde  gewordenen  besonders  anziehen  musste.  Hum- 
boldts hochentwickeltes  intellektuelles  Bedürfnis  hatte  diese 
Richtung  der  Analyse  auf  Überindividualität,  Objektivität,  durch- 
gängige Ordnung  und  Verknüpfung  früh  erkannt  und  gewürdigt. 
Daher  äussert  er  Körner  gegenüber,  wenn  er  auch  als  „ein  in 
hohem  Grade  skeptischer  Kopf"  nirgends  das  Recht  selbständiger 
Prüfung  aufgiebt:  „Wir  besitzen  eine  feste,  auf  streng  bewiesenen 
Grundsätzen  mit  kritischer  Genauigkeit  aufgeführte  Philosophie 
(denn  wer  kann  diese  Kriterien  iü  der  Kantischen  verkennen?)."^) 

Die  Tendenz  zur  Allgemeingiltigkeit  und  Notwendigkeit, 
m.  a.  W.  zur  Wissenschaftlichkeit,  tritt  uns  wiederum  durch  den 
Kontrast  zu  F.  H.  Jacobis  Richtung  am  schärfsten  entgegen.  Die 
Woldemarresension  rollt  die  ganze  Frage  noch  einmal  auf.  Sie 
definiert  als  einziges  Ziel  alles  Philosophierens  „die  Erkenntnis 
aussersinnlicher  Wahrheiten  und  die  strenge  Prüfung  der  Festig- 
keit dieser  Erkenntnis".  Die  Forderung,  die  Humboldt  früher,*) 
vielleicht  aus  Konnivenz  gegen  Jacobi,  problematisch  gelassen 
hatte,    begegnet   uns   nun    wiederholt    mit   aller   Entschiedenheit: 


1)  An  Körner,  S.  10  f. 
^  An  Jacobi,  S.  31. 


78  K.  Sprangei*, 

„die  Wahrheit  ist  durchaus  objektiv  uod  allgemein".  0  „Die  Philo- 
sophie sollte  am  wenigsten  Spuren  der  Eigentfimlichkeit  des 
Philosophierenden  tragen."-)  Von  dieser  strengen  Philosophie, 
die  die  ^Möglichkeit  objektiver  Erkenntnis"  bestimmen  will,  unter- 
scheidet sich  scharf  eine  andere,  die  mehr  ein  getreuer  Ausdruck 
der  geistigen  Individualität  ihres  Urhebers  ist.  Und  da  jede  Philoso- 
phie, wie  Humboldt  in  Übereinstimmung  mit  Jacobi  (nnd  Fichte!)  zo- 
giebt,  „zuletzt  auf  ein  unmittelbares  Bewusstsein  als  auf  eine  Tatsache 
fussen"  muss,  so  wird  dieser  subjektive  Einschlag  in  gewissem 
Grade  an  jeder  Philosophie  feststellbar  sein.*)  Danach  ergeben 
sich  auch  zwei  ganz  verschiedene  Ziele  für  die  Geschichts- 
schreibung der  Philosophie,  jenachdem  sie  auf  das  objektive  Re- 
sultat oder  den  subjektiven  Ursprung  Wert  legt.  Hamboldt  be- 
rührt sich  hier  durchaus  mit  Friedrich  Schlegel,  wenn  er  Jacobi 
als  den  Philosophen  seiner  eigenen  Subjektivität  hinstellt;  aber  er 
fühlt  das  Recht  dieser  Subjektivität  und  ihren  schöpferischen 
Wert  tiefer  als  jener,  und  er  musste  es,  da  er  die  Individualit&t 
durchgängig  als  einen  positiven  Wert  empfand.  So  geht  er  hier 
auf  Kantische  Weise  unvermerkt  über  Kantische  Wege  hinaas: 
Soll  dem  subjektiven  Schauen  noch  ein  Mass  von  Allgemeingiltig- 
keit  zukommen,  so  ist  dies  nur  dadurch  möglich,  dass  eine  solche 
schöpferische  Persönlichkeit  in  sich  selbst  „eine  hohe  Menschheit*' 
trägt,  die  das  Zufällige  des  Charakters  von  sich  abgesondert  und 
sich  der  Menschheit  in  ihrer  idealen  Gestalt  genähert  hat.*) 
Diesen  fruchtbaren  Gedanken  von  der  typischen  Bedeutung  der 
individuellen  Produktion  hat  Humboldt  schon  in  der  nächsten 
Schrift  weiter  verfolgt.  Es  war  doch  mehr  als  freundschaftliche 
Nachsicht,^)  was  ihn  an  Jacobi  fesselte:  in  ihm  trat  ihm  zum 
ersten  Male  echte  Genialität  gegenüber.  Wie  nun  schafft  das 
Genie?  Nicht  anders,  als  dass  es  alles  Zufällige  von  sich  ab- 
streift, das  Notwendige  aus  der  Tiefe  seiner  Vernunft  hervorzieht 
und  „sein  Ich  zu  dem  Umfang  einer  Welt  erweitert".  „Daher 
erfordert  dasselbe,  wofern  es  schöpferisch  werden  soll,  die  höchste 


1)  w.  W.  I,  382. 

2)  W.  W.  I,  267. 

3)  W.  W.  I,  289. 

*)  W  W.  I,  290.  Übrigens  geht  Schillers  Matthissonrezension  von 
demselbeu  Gedanken  aus. 

s)  Die  Stellen  Leitzmann,  S.  137  und  an  Kömer,  S.  36  f.  sind  mir 
bekannt 


W.  V.  Humboldt  und  Kant.  79 

jektivität,  d.  h.  eio  io  Bedürfnis  übergehendes  Vermögen,  das 
twendige  zu  ergreifen.  Dieses  aber  kann  es  nur  aus  seinem 
lern  schöpfen,  oder  es  muss  vielmehr  sein  eigenes  subjektives 
i  zufälliges  Dasein  in  ein  notwendiges  verwandeln."^)  Offenbar 
iz  die  Auffassung  der  Kr.  d.  ü.  (§  46  ff.)  von  dem  Genie,  das 
s  Natur  die  Regel  giebt"!  Ja  es  klingt  wie  eine  blosse  üm- 
treibnng  des  dort  Gelesenen,  wenn  er  diese  Gedankenreihen 
ler  ausführt:  „Das  wahrhaft  Genialische  ist  keine  Folgerung 
;  bloss  schnell  übersehenen,  mittelbar  zusammenhängenden 
Äen,  es  ist  wirkliche  Erfindung,  wenngleich  das,  was  nicht 
ser  Art  ist,  ebenfalls  auf  genieähnliche  Weise  hervorgebracht 
Q  kann.  Was  hingegen  das  echte  Gepräge  des  Genies  an  der 
m  trägt,  gleicht  einem  eigenen  Wesen  für  sich,  mit  eigenem 
ranischem  Leben  [K.  Ph.  Moritz].  Durch  seine  Natur  schreibt 
Gesetze  vor.  Nicht  wie  die  Theorie,  welche  der  Verstand 
g^am  auf  Begriffe  gründet,  giebt  es  die  Regel  in  toten  Buch- 
ben, sondern  unmittelbar  durch  sich  selbst,  und  mit  ihr  zugleich 
I  Sporn,  sie  zu  üben.  Denn  jedes  Werk  des  Genies  ist  wiederum 
geisternd  für  das  Genie,  und  pflanzt  so  sein  eigenes  Geschlecht 
t.**^)  So  wird  also  zuletzt  auch  die  subjektiv-geniale  Philosophie 
r  nach  ihrem  objektiv-giltigen  Gehalt  bewertet.  Und  zugleich 
t)eD  wir  hierin  den  ersten  Beleg  dafür,  wie  bei  Humboldt  das 
ilosophisch-Erkenntnistheoretische  gleichsam  naturnotwendig  ins 
thetische  ausmündet  (vgl.  sub  III). 

Am  interessantesten  aber  ist  die  Anwendung  des  kritischen 
sichtspnnktes  auf  die  Psychologie.  Humboldts  ganzes  wissen- 
laftlicbes  Interesse  ist  auf  geistige  Tatsachen  gerichtet:  auf 
schichte  und  Psychologie  wendet  er  den  Forscher-  und  Ent- 
;kerblick,  mit  dem  sein  Bruder  die  Welt  durchwanderte.  Zur 
turwissenschaft  hat  Wilhelm  sich  um  ihrer  selbst  willen  nie 
ilfezogen  gefühlt.  Kant  seinerseits  hatte  zwei  Gebiete  seiner 
itik  unterworfen:  vor  allem  die  Naturwissenschaft,  sodann  die 
rausche  Welt,  diese  aber  nur,  sofern  es  sich  um  die  Begründung 
er  wissenschaftlichen  normativen  Ethik,  um  die  Kritik  des 
liens  handelte.  Es  kam  ihm  zunächst  darauf  an,  die  äussere 
îlt,  die  durch  den  extremen  Psychologismus  Humes  problema- 
:h  geworden  war,  zu  retten.  Durch  dieses  vorwaltende  Inter- 
e  erhielt  nun  die  Kategorienlehre  eine  einseitige  Gestalt.     Das 

0  W.  W.  I,  318. 
«)  W.  W.  I,  317. 


HO  K.  Spran^ef, 

ganze  psychophysische  Gebiet  fiel  heraus,  und  das  psychologische 
wurde  in  zwei  unverbindbare  Hälften  zenissen;  zwischen  dem 
Mechanismus  der  Neigungen,  der  als  blosser  kausaler  Ablauf  ge- 
dacht wird,  und  dem  normativen  Gebiet,  in  dem  das  Phänomen 
der  Verpflichtung  dominiert,  klafft  ein  ungeheurer  Spalt,  der  für 
die  Geisteswissenschaften,  wie  mit  Energie  festgehalten  werden 
muss,  methodisch  so  nicht  bestehen  bleiben  kaun.^)  Natur  und 
Vernunft,  oder  nach  Humboldts  Ausdruck:  Naturcharakter  und 
V^ernunftcharakter  wurden  in  eine  Dualität  auseinandergerissen,  in 
der  sie  kraft  ihres  Zusammenwirkens  nicht  stehen  können.  Das 
Problem  des  Schematismus:  wie  sind  reine  Vernunftgesetze  auf 
das  Triebsystem  eines  der  Natur  eingegliederten  Wesens  anwend- 
bar? blieb  im  wesentlichen  unerörtert.  Fichte,  Schiller,  Humboldt 
haben  hier  Auf  Kants  Grunde  weitergebaut;  aber  für  Humboldt 
wurde  nun  das  Problem  einer  wissenschaftlichen  Psychologie  be- 
sonders dringend,  weil  sein  Denken  ihn  immer  wieder  auf  die  zwei 
Themata  führte  :  Charakterologie  (einschliesslich  der  Charakteristik 
ganzer  historischer  Zeitalter)  und  Theorie  der  Bildung  des 
Menschen.  Wie  sollte  jemand,  für  den  Geschichte,  Psychologie 
und  Ethik  ein  grosses  Ganzes  bedeuteten,  mit  dem  bei  Kant  vor- 
gefundenen Dualismus  von  Kategorien  arbeiten  können?  Wie 
sollte  ihre  Grenze  und  ihr  Verhältnis  zu  einander  im  konkreten 
Fall  bestimmt  werden? 

In  dieser  Lage  macht  nun  Humboldt  den  interessanten  Ver- 
such, die  kritischen  Postulate  auf  die  Psychologie  zu  übertragen, 
d.  h.  in  der  seelischen  Welt  eine  analoge,  eigene  Gesetzlichkeit 
zur  Grundlage  zu  machen,  wie  in  der  physischen.  Diesen  G^ 
danken  deutet  er  zuerst  in  dem  „Plan  einer  vergleichenden  Anthro- 
pologie" (1795)  an;  mit  voller  Schärfe  formuliert  er  ihn  in  der 
grossen  Charakterologie  „Das  18.  Jahrhundert".  Gleichwohl  hat 
er  diese  Antinomie  zwischen  Ablauf  und  Normativität 
niemals  ganz  überwunden  ;  sie  gehört  zu  dem  Grundproblematischen 
des  Lebens. 

An  der  erstgenannten  Stelle  scheidet  er  zunächst  die  drei 
Gesichtspunkte,  unter  denen  der  Mensch  betrachtet  werden  kann. 
Er  ist  erstens  ein  Glied  der  physischen  Natur;   als    solches  ist  er 


1)  Wie  tief  dieses  Problem  das  ganze  Denken  der  Zeit  beeinflnsst, 
habe  ich  bereits  dargestellt  in  m.  Abhandlung:  Altensteins  Denkschrift 
von  1807  und  ihre  Beziehungen  zur  Philosophie.  Forschungen  zur  brdbg.- 
preuss.  Geschichte  XVIII,  S.  486. 


W.  V   Öumboldt  una  Kant.  81 

festen  Naturgesetzen,  denen  der  organischen  Natur,  unterworfen 
matürwissenschaftliche  Behandlung).  Sodann  ist  er  Vemunft- 
wesen,  zwar  frei,  aber  die  Freiheit  giebt  sich  im  Kantischen  Sinne 
selbst  das  Gesetz,  und  diese  Gesetze  sind  ebenso  notwendig  wie 
die  der  Natur  (philosophische  und  ästhetische  Beurteilung).  End- 
lich ist  der  Mensch  ein  Mittelwesen,  das  beiden  Reihen  einge- 
gliedert ist,  in  dem  also  Wirkungen  beider  zusammentreffen.  Als 
solches  kann  er  bloss  historisch  dargestellt  werden  ;  hier  ist  vieles 
zufällig:  „Das  Warum?  erlaubt  keine  befriedigende  Antwort**;  die 
Willkür  herrscht  oder  das  Schicksal  (historische  Behandlung).  — 
Es  liegt  am  Tage,  dass  dieses  Mittelreich,  in  dem  die  sinnlichen 
und  rein  geistigen  Kräfte  zusammenwirken,  als  ein  völlig  ir- 
rationales Gebiet  der  wissenschaftlichen  Behandlung  am  meisten 
widerstrebt.  Humboldt  ahnt,  dass  die  psychologische  Inter- 
pretation auch  hier  von  Erfolg  gekrönt  sein  wird;  aber  er  geht 
dieser  Ideenrichtung  nicht  weiter  nach.^) 

Grosszügiger  behandelt  er  ein  Jahr  später^)  dasselbe  Pro- 
blem: Das  irrationale  Mittelgebiet  wird  hier  mutig  —  wenigstens 
dem  Postulat  nach  —  ausgeschaltet.  „Das  allgemeinste  Bestreben 
der  menschlichen  Vernunft  ist  auf  die  Vernichtung  des  Zufalls 
gerichtet.  Im  Gebiete  des  Willens  soll  er  nie  herrschen;  im 
Reiche  der  Natur  nirgends  zu  herrschen  scheinen."  Zunächst  das 
letztere:  jede  Naturerscheinung  steht  unter  notwendigen  Gesetzen. 
So  ist  auch  der  individuelle  Charakter  eines  Menschen  oder  einer 
Zeit  im  Zusammenwirken  zahlloser  Umstände,  wie  wir  voraus- 
setzen, mit  strenger  Notwendigkeit  entstanden.  Darüber  aber  er- 
hebt sich  mit  gleicher  Strenge  die  Gesetzlichkeit  des  Vernunft- 
reichs: „Der  Inbegriff  aller  unserer  Handlungen,  auch  die  kleinste 
nicht  ausgenommen,  kann  durch  die  Kraft  unseres  Willens  allein 
von  den  Grundsätzen  unserer  Vernunft  abhängig  gemacht  werden.** 
Trotz  aller  scheinbaren  Willkür  darf  auch  hier  dem  Zufall  kein 
Raum  gestattet  werden.  Das  gilt  nicht  nur  vom  einzelnen  Ge- 
schehen, sondern  auch  von  der  Gesamtbewegung  der  menschlichen 
Geschichte.  „Das  Gebot  der  Vernunft,  tiberall  mit  Verbannung 
des  Zufälligen  feste  Gesetze  zu  suchen  und  aufzustellen,  muss 
auch  hier  seine  Anwendung  finden.**  Gesetzt  selbst,  dass  die 
Wissenschaft   auf  dieses  Postulat  verzichten  könnte,   so   könnten 


1)  W.  W.  I,  396  ff. 
«)  W.  W.  II.  6  ff. 

JCaiitatttdUn  Xlil. 


8â  È.  Spränget*, 

wir  doch  für  unsere  praktischen  Aufgaben  eine  solche  Voraus- 
setzung nicht  entbehren:  „Dass  wir  in  unseren  Handlungen  dem 
Zufalle  keinen  Raum  verstatten,  darauf  beruht  unsere  Sittlichkeit 
und  Menschlichkeit  selbst,  und  hier  dürfen  wir  daher  weder  müssig 
noch  gleichgiltig  sein.""  Beide  Gesetzmässigkeiten  in  ihrem  Zu- 
sammenwirken, oder  —  nach  einer  später  zu  universaler  Bedentang 
gelangenden  Terminologie:  Das  harmonische  Zusammen- 
fallen von  Freiheit  und  Notwendigkeit^)  —  bilden  die  un- 
erlässliche  Voraussetzung  für  unser  Handeln.  Die  eine  entspricht 
dem  mechanisch-naturhaften  Prinzip,  das  Kant  als  Antagonismus 
der  Gesellschaft  bezeichnete,  die  andere  der  regulativen  Idee  eines 
planmässigen  Fortschreitens  der  Menschheit  zu  einem  höchsten 
Ziel.  Diese  Erziehung  des  Menschengeschlechtes  ist  freilich  nur 
eine  leitende  Idee:  „Nur  unser  Geist  soll  von  dem  erhabenen  Ge- 
danken eines  allgemeinen  Zusammenwirkens  aller  Wesen  und 
Kräfte  durchdrungen  sein,  nur  die  leitenden  Grundsätze  unseres 
Verhaltens  sollen  wir,  um  der  allgemeinsten  Übereinstimmung  unter 
ihnen  gewiss  zu  sein,  auch  an  diesem  Probierstein  prüfen,  nur 
unsere  Einbildungskraft  mit  diesen  grossen  Bildern  begeisternd 
beschäftigen."^) 

Die  Verwandtschaft  dieser  Gedanken  mit  Kants  „Idee  einer 
allgemeinen  Geschichte  in  weltbürgerlicher  Absicht"  ist  nicht  zu 
verkennen.  Es  mag  uns  befremden,  dass  Humboldt  bei  seinem 
hochentwickelten  psychologischen  Interesse  die  Vernunftidee,  also 
etwas  halb  Metaphysisches,  so  in  den  Vordergrund  stellt.  Fand 
doch  selbst  Schiller  das  Thema  zu  philosophisch  und  zu  wenig 
psychologisch  behandelt;  fühlte  er  doch  einen  ihn  störenden  An- 
klang an  '„die  Weltverbesserer,  z.  B.  Fichte  und  Konsorten", 
heraus.  Aber  gerade  dies  ist  nun  die  Eigentümlichkeit  der  Hum- 
boldtschen  Psychologie,  dass  sie  durchgängig  dies  normative  Mo- 
ment der  Beziehung  auf  das  Ideal  in  sich  trägt.^  Jede  Indivi- 
dualität muss  von  der  Idealität  aus  beurteilt  werden.  So  heilt  er 
von  innen  heraus  den  Bruch,  den  Kant  zwischen  den  Leiden- 
schaften  und   ihrem   ethisch   wertvollen   Produkt   hatte   bestehen 


1)  W.  W.  I,  342.    Vgl  an  eine  Freundin  6.  IX.  1826. 

2)  W.  W.  n,  12. 

')  Dass  aUe  Begriffe  von  geistigen  Tatsachen  an  sich  normativen 
Charakter  tragen,  hat  Kühnemann,  (Kants  und  SchiUers  BegrOnduDg 
der  Ästhetik,  S.  107  ff.)  für  die  Ästhetik  mit  feinem  Sinn  dargelegt.  Der 
Gesichtspunkt  ist  von  der  höchsten  Bedeutung. 


W.  V.  Humboldt  und  Kant.  83 

lassen  uod  den  Hegel  gleich  unerträglich  als  „List  der  Vernunft" 
mythologisierte.  Das  also  ist  Humboldts  geschichtsphilosophisches 
Problem,  noch  ehe  er  seine  historische  Ideenlehre  voll  ausgebildet 
hatte,  den  inneren  Zusammenhang  von  Individualität  und  Idee 
zu  erahnen.  Sein  bleibendes  Bestreben  ist  es  daher,  die  Indivi- 
dualität der  historischen  Wirklichkeit  aufs  zarteste  zu  schonen,  ohne 
doch  die  durchgängige  teleologische  Beziehung  des  Historischen  auf  ein 
Ideal  aufzugeben.  Nur  kann  dies  dann  kein  einförmiges  oder  for- 
males Ideal  sein,  sondern  es  muss  das  Menschliche  in  seiner  aller- 
höchsten Weite,  die  reich  und  voll  bis  zur  Allseitigkeit  entfaltete 
Menschennatur  ausdrücken.  Kein  einzelner  Mensch  und  keine 
einzelne  Nation  vermag  dieses  Ideal  konkret  darzustellen.  Jede 
Zeit  verwirklicht  nur  einen  einseitigen  Teil  davon,  obwohl  ihr 
Blick  immer  auf  das  Ganze,  auf  diejenige  Latitude  gerichtet  sein 
mnss,  die  nur  alle  Menschen  aller  Zeiten  zusammen  darstellen, 
also  auf  das  Humanität  s  ideal.  Dies  Ideal  —  darin  haben  wir  die 
zweite  Brücke  der  Erkenntnistheorie  zur  Ästhetik  —  ist  in  den 
Individuen  in  einer  ästhetischen  Weise  immanent.  Deshalb  muss 
anch  die  methodische  Operation  des  Historikers,  die  Interpretation, 
immer  diesen  ästhetischen  Zug  an  sich  tragen  :  Er  hegt  in  sich, 
in  seiner  Phantasie,  das  Bild  jener  reichen  und  vollen  Menschheit; 
an  diesem  humanistischen  Ideal  allein  misst  er  die  einzelne  Er- 
scheinung, auf  ihrem  Hintergrunde  allein  vermag  er  ihre  Besonder- 
heit abzuzeichnen,  in  der  Beziehung  auf  sie  allein  erfasst  er  das 
innere  Bildungsgesetz  und  die  „reine  Form"  der  Menschheit. 
Deshalb  also  ist  der  Historiker  Künstler,  weil  er  an  dem  Indi- 
viduellen die  Idee  (mit  ihrer  Gesetzlichkeit,  Notwendigkeit  und 
Unendlichkeit  zugleich)  zur  Darstellung  bringen  muss,  weil  er  in 
der  Fülle  des  Stoffes,  den  ihm  die  Mannigfaltigkeit  historisch-psy- 
chologischer Versenkung  bietet,  die  ideelle  Einheit  und  Gesetz- 
lichkeit erfasst. 

Wir  haben  mit  den  letzten  Folgerungen  bereits  bis  in  die 
Zeit  der  berühmten  Akademierede  von  1821  vorgegriffen,  nicht 
ohne  geheime  Polemik  gegen  moderne  Kantianer,  für  die  die  Ge- 
schichte Darstellung  des  Einmaligen  ist.  Aber  auch  Humboldt 
hat  diesen  Gedanken  einer  geistigen  Gesetzmässigkeit  und  der  in 
der  Interpretation  liegenden  formalen  Kategorien  nicht  bis  zu 
Ende  durchgeführt.  Hätte  er  es  getan,  so  würde  uns  deutlicher 
geworden  sein,  welcher  tiefe  Gedanke  in  dieser  methodischen  Be- 
ziehung der  Individualität  auf  die  Idealität  liegt.    Es  folgt  daraus, 

6* 


84  Ê.  Sprangef, 

dass  es  eine  streng  deskriptive  Psychologie  nicht  g^ebt,  sondern 
dass  jede  psychologische  Interpretation  erstens  abhängig  ist 
von  dem  Gesamtsystem  unserer  eigenen  Werte  und  Weiten,  und 
zweitens  auf  diese  unmittelbar  befruchtend  (also  normaÜT) 
zurückwirkt.  M.  a.  W.  :  Jede  historisch-psychologische  Arbeit  hat 
unmittelbar  eine  ethische  Voraussetzung  und  ebenso  unmittelbar 
eine  ethisch  bereichernde  Konsequenz.  Doch  greife  ich  damit  der 
Gesamtdarstellung  vor,  ohne  das  Problem  hier  erschöpfen  zn 
können. 

3.  Gerade  im  Zusammenhang  des  historischen  Erkennens 
aber  steigt  ein  verwandtes  Problem  vor  Humboldt  auf,  das  seine 
Stellung  zu  Kants  Erkenntnistheorie  erheblich  beeinflusst  Schon 
in  seinem  frühesten  geschichtsphilosophischen  Aufsatz  („Über  die 
Gesetze  der  Entwickelung  der  menschlichen  Kräfte**  1791),  der 
die  eben  entwickelten  Gedanken  keimhaft  andeutet,  findet  er  sich 
vor  der  Kluft,  die  sich  zwischen  der  Individualität  der  Wirklich- 
keitserfahrung und  dem  Streben  der  Erkenntnis  nach  dem  All- 
gemeinen auftut.  Indem  er  das  Gewebe  der  menschlichen  Krftfte 
zu  entwirren,  ein  Gesetz  der  Entwickelung  zu  entdecken  suchte 
kommt  er  zu  dem  Resultat,  dass  die  so  gefundenen  Gesetze  auf 
die  wirkliche  Welt  ganz  und  gar  keine  Anwendung  finden,  ja 
dass  alle  unsere  Erkenntnis  an  dem  Fehler  krankt,  „Individuali- 
täten der  Wirklichkeit  in  Allgemeinheiten  der  Idee  zu  ve^ 
wandeln**. 

Dass  Humboldt  diese  alte  Antinomie,  um  die  sich  Bealismns 
und  Nominalismus  stritten  und  die  man  noch  heute  ä  la  Wolff 
trotz  ihrer  Hoffnungslosigkeit  zur  Grundlage  ganzer  Wissenschafts- 
theorien macht,  empfand,  ist  nicht  zu  verwundem.  Bei  seiner 
Geistesart  aber  musste  sie  zu  einer  höchst  charakteristischen 
Wendung  führen.  Humboldt  lebt  in  einem  frischen  Gefühl  seiner 
Sinnlichkeit;  die  konkrete  Welt  in  Raum  und  Zeit  ist  ihm  etwas 
Reales,  Individualität  echt  Leibnizisch  nicht  eine  Schranke,  sondern 
ein  Reichtum.  Nun  war  es  bei  Kant  der  Begriff  der  Vernunft, 
der  alles  normalisierte,  der  Begriff  der  Einbildungskraft  hingegen, 
der  zur  konkreten,  farbenreichen  Wirklichkeit  hinüberführte.  Es 
ist  leicht  zu  sagen,  für  welchen  von  beiden^Humboldt  Partei  er- 
greifen musste. 

Schon  den  Ausdruck  Vernunft  finden  wir  bei  ihm  im 
engeren  (kritischen)  und  in  einem  weiteren,  mehr  an  Jacobi  er- 
innernden  Sinne   gebraucht.     Im  ersten  ist  sie  eine  blosse  Form, 


W.  V.  Humboldt  und  Kant.  85 

leeres  Ordnungsprinzip.  Vernunft  ist  die  „Fähigkeit,  die 
terie  zu  ordnen,  ihr  die  Form  zu  geben**. ^)  „Die  Vernunft  hat 
hl  Fähigkeit,  vorhandenen  Stoff  zu  bilden,  aber  nicht  Kraft, 
len  zu  erzeugen."*)      „Was  hilft  uns  die  Fähigkeit,   der  Kraft 

Richtung  zu  geben  —  und  ist  Vernunft  wohl  mehr?  —  wenn 
$  die  Kraft  selbst  gebricht?"  3)    Noch  in  der  Charakteristik  des 

Jahrhunderts  gilt  ihm  die  blosse  Vernunft  als  kalt  und  un- 
ion; im  Rückblick  auf  das  Zeitalter,  das  sie  beherrschte,  wirft 
ihr  vor,  dass  sie  dem  Geiste  „eine  gewisse  Kälte  und  Nüchtem- 
t**  mitgeteilt  habe>)  Alle  diese  und  manche  andere  Stellen 
liten  sich  doch,  wie  wir  bei  der  Darstellung  der  Ethik  noch 
ler  sehen  werden,  implicite  gegen  Kant.  Denn  Humboldts 
ndenz  ist  nicht  auf  das  „Reine**  im  Sinne  der  Abstraktion, 
idern  auf  Erfassung  der  „Totalität**  im  Sinne  der  Lebendigkeit 
richtet. ö)  Ihm  schwebte  daher  ein  weiterer  Begriff  der  Ver- 
aft  vor,  den  er  einmal  sehr  ausführUch  mit  folgenden  Worten 
•iniert  :  „Ich  verstehe  unter  der  Vernunft  das  ganze  intellektuelle 
rmögen  des  Menschen,  seine  ganze  Fähigkeit,  Ideen  aufzufassen, 
's  durch  Beobachtung  der  Sinne  oder  durch  das  Anstrengen  der 
3le  auf  der  Dinge  innere  Beschaffenheiten;  und  die  aufgefassten 
len  zu  verarbeiten  durch  Vergleichung,  Verknüpfung  und 
ennung.**^)  Dieser  Gedanke,  dass  das  vernünftige  Wesen  des 
nschen  in  dem  Reichtum,  der  Fülle  und  Lebhaftigkeit  von 
len  besteht,  weist  ganz  unverkennbar  auf  die  ästhetische  Theorie 
1  Dubos  zurück,  die  Mendelssohn,  Sulzer,  Engel,  jeder  nach 
ner  Art  im  Sinne  der  Leibnizschen  Monadenlehre,  ausgestaltet 
:ten.  Es  giebt  der  Seele,  wie  er  an  Karoline  v.  Beulwitz  7) 
treibt,   ein  Bewusstsein   der  Kraft,   wenn   sie  unermüdet  Ideen 

Ideen  reiht  und  sie  von  allen  Gesichtspunkten  und  Seiten 
-chprüft.    „Fülle  der  Ideen  und  Innigkeit  ihres  Zusammenhanges 

doch  das,  was  den  Grad  alles  intellektuellen  Genusses  be- 
nmt.**  ^)    So  haben  wir  hier  die  dritte  Brücke  von  der  Erkennt- 

»)  An  Jacobi,  S.  94.    W.  W.  H,  92. 
«)  W.  W.  I,  80. 

')  An  Karoline  v.  Beulwitz,  23.  L  1789.    Deutsche  Bundschan,  1891, 
66,  S.  239. 
*)  W.  W.  U.  103.  109. 

^)  Vgl.  die  oben  erwähnten  Stellen  an  Forster  280,  281. 
«)  W.  W.  I,  60. 
?)  a,  a.  O.,  S.  243. 
»)  W.  W.  I,  61. 


86  E.  Spranger, 

nistheorie  zur  Ästhetik.  Ihre  klassische  Formulierung  bieten  die 
Worte  an  die  Braut:  „Der  Mensch  ist  eigentlich  in  seiner  wahren 
Würde,  sieht  die  Wahrheit  der  Wesen  um  ihn  her,  empfindet  sich 
in  seinem  eigentümlichen  Sein  und  stellt  die  Schönheit  wieder 
dar,  wenn  das,  was  wir  mehrenteils  Stoff  des  Verstandes,  des 
kalten  Denkens  nennen,  in  ihm  in  Empfindung  übergeht.  Aber 
hier  ist  er  zwischen  schmalen,  leichttäuschenden  Grenzen.  Auf 
der  einen  Seite  das  helle  Sein  der  trockenen,  kalten  Vernunft,  auf 
der  andern  —  das  Herabsinken  von  der  Sinnlichkeit  zum  mehr 
körperlichen  Genuss.  Das  freieste  Bewusstsein  in  der  höchsten, 
glühendsten  Empfindung  ist  des  Menschen  höchstes  Ziel."  ^)  Also 
wieder  das  starke  Bewusstsein  von  der  Naturgrundlage  des 
geistigen  Wesens  im  Menschen,  das  Streben,  den  Dualismus  Kants 
zu  überbrücken  und  zur  harmonischen  Totalität  der  menschlichen 
Seele  zu  gelangen. 

Naturgemäss  heftet  sich  deshalb  sein  Hauptinteresse  an  den 
Begriff  der  Einbildungskraft,  die  schon  bei  Kant  diese 
Mittlerrolle  spielte.  „Die  Seelenfähigkeit,  welche  uns  vorzüglich 
zu  dieser  Verknüpfung  des  Sinnlichen  mit  dem  Unsinnlichen  dient, 
ist  die  Einbildungskraft.'''^)  Sie  ist  es,  die  den  Reichtum  des 
geistigen  Gehaltes  ans  Licht  bringt,  indem  sie  ihn  sensifiziert  und 
konkretisiert;  daher  die  grosse  philosophische  Bedeutung  der  Dar- 
stellung durch  ästhetische  Symbole.  '^)  Sie  ist  es  auch,  die  die 
Einförmigkeit  des  Sittengesetzes  belebt,  indem  sie  ihm  konkrete 
Anwendungsfälle  verschafft  (s.  u.).  Und  sie  ist  es  endlich,  in 
deren  Tätigkeit  alle  übrigen  Seelenäusserungen  zusammenwirken: 
beim  Kunstschaffen,  beim  Kunstgenuss  und  in  der  psychologisch* 
historischen  Interpretation;  denn  nur  in  der  Vereinigung  aller 
Gemütskräfte  zur  Nachempfindung  erfassen  wir  das  geistige  Leben 
in  seiner  Totalität,  das  der  blossen  Abstraktion  immer  verschlossen 
bleibt.*)  In  dem  Begriff  der  Einbildungskraft  also  haben  wir 
diejenige  Stelle,  an  der  Humboldt  Kants  System  am  selbständigsten 
weitergebildet  hat.^)  — 

So  leitet  denn  die  Erkenntnistheorie  gerade  in  ihren  Kan- 
tischen  Momenten   ganz   von   selbst  zur  Ästhetik  und  Ethik  über. 


1)  Briefe  aus  der  Brautzeit,  S.  322.    Vgl.  R.  220. 

2)  W.  W.  I.  57. 
^  W.  W.  I,  3.36. 
*)  I,  313. 

*)  Näheres  (besonders  über  das  Genie)  s.  sub  lu. 


W.  V.  Humboldt  und  Kant.  87 

I  SO  loser  aber  ist  die  Verbindang,  in  der  sie  mit  Humboldts 
taphysischen  Grundanschauungen  steht.  Wir  beobachten  hier 
s  eigentümliche  Phänomen,  dass  jemand,  der  durch  die  Schule 
*  Wolffschen  Philosophie  hindurchgegangen  ist  und  sich  in  ent- 
teidenden  Punkten  seines  Denkens  zu  Kant  bekennt,  von  früh 
l  seinem  Lebensgefühl  nach  zu  einer  naturalistischen  Metaphysik 
gt.  Natürlich  handelt  es  sich  um  den  monistischen  Naturalis- 
s,  der  —  von  Shaftesbury  herkommend  —  damals  dem  Spinoza 
patiert  wird  und  in  Herders  organische  Allbeseelungslehre  aus^ 
ndet,  nicht  um  den  französischen  Materialismus.  Charakteristisch 
for  diese  Richtung  von  vornherein  die  gefühlsmässige,  ästhetische 
uition,  vermöge  deren  sie  Geistiges  und  Körperliches  in  eins 
ht.  Es  ist  das  Grundgefühl,  das  in  Winckelmann  lebendig 
•d  und  das  Auge  für  die  Skulptur  erweckt,  das  durch  Bousseaus 
tursinn  fortklingt,  das  sich  in  all  den  zahllosen  physiognomischen 
ten  äussert,  an  denen  auch  Humboldt  sein  Lebenlang  festhielt.^) 
n  eigentliches  Interesse  ist  durchaus  und  überall  psychologisch; 

siedelt  sich  in  dem  Grenzgebiet  an,  wo  sich  Geistiges  und 
mliches  durchdringen.  Dabei  muss  map  festhalten,  dass  der 
griff  des  Sinnlichen  damals  weiter  war  als  heute.  Die  ganze 
bare  der  unteren  Seelenkräfte,  also  das  Trieb-  und  Gefühlsleben, 
rd  mit  in  ihn  einbezogen.  „Sinn^  bedeutet  für  Humboldt,  ganz 
3  für  Jacobi,  den  ganzen  Umkreis  von  Zuständen,  in  denen  der 
nsch  Empfänglichkeit  im  Gegensatz  zu  der  Selbsttätigkeit  be- 
ist,  auf  die  sich  Kants  Analyse  in  allen  drei  Kritiken  fast  aus- 
kliesslich  bezogen  hatte.  Der  Begriff  der  Natur  hat  entsprechend 
n  Gegensatz  nicht  das  Psychische,  sondern  die  Vernunft, 
imboldts  ganzes  Wesen  ist  angelegt,  dies  primäre  Recht  der 
inlichkeit  (=  Empfänglichkeit  und  Reizbarkeit  überhaupt)  an- 
erkennen, weil  er  sie  in  sich  selbst  mächtig  entwickelt  fühlte, 
.her  verbindet  für  ihn  nicht  nur  ein  geheimnisvolles  Band  das 
mliche  mit  dem  Unsinnlichen,  sondern  er  erklärt  wiederholt 
3  Geistige   nur  für  die  feinste  Blüte  der  Körperlichkeit    Das 

eine  These,  die  nach  unserer  Kantauffassung  mit  dem  eigent- 
hen  kritischen  Standpunkte  unvereinbar  ist.  Sie  ist  platonischen 
Sprungs,  aber  sie  hängt  auch  mit  panentheistischen  Ideen  zu- 
nmen  und  kann  so  später  in  die  eigenartige  Identitätsphilosophie 


0  Dies  alles  deute  ich  hier  nur  an.    Die  Aufftthnmg  bringt  die 
BmmtdarsteUung  in  dem  Kapitel:  „Die  Chiffreachrift  der  Natur*. 


88  E.  Spranger, 

ausmündeo,  die  in  den  Menschen  nnd  Völkern  zugleich  Pflanzeo 
und  ürideen  des  Absoluten  sieht.  Die  Konstruktion  der  Wirklich- 
keit vom  Subjekt  aus,  wie  wir  sie  oben  als  Humboldts  von  Kant 
übernommenes  Verfahren  beschrieben,  hat  also  anfangs  nur  me- 
thodische Bedeutung,  nicht  konstitutive.  Doch  erkennt  man,  dass 
bei  ihm  wie  bei  Schelling  diese  doppelte  Bewegung  schliesslich 
zu  einem  Gleichgewichtszustande  führen  musste,  der  in  der 
K.  d.  U.  vorgebildet  lag  und  in  der  spekulativen  Versöhnung 
von  Transscendentalphilosophie  und  Naturphilosophie  seine  Voll- 
endung fand. 

Oleichwohl  mussten  nun  dieser  Naturalismus  und  die  subjek- 
tive  Konstruktion   vielfach   antinomisch   zusammenstossen.      Jene 
Deutung  der  Natur,  die  das  Sinnliche  als  ein  Zeichen  des  Unsinn- 
liehen   ansieht   und   geistige  und  physische  Zeugung  und  Bildung 
mit  einander  parallelisiert,  überschreitet  in  Wahrheit  die  von  Kant 
gezogenen   Grenzen;    dessen   ist   sich    Humboldt   bald   deutlicher, 
bald   leiser   bewusst.     Aber   diese   symbolische  Interpretation  lag 
nun    einmal   in    der   unhemmbaren  Bewegung  des  metaphysischen 
Denkens  der  Zeit.     Hat  doch  selbst  Kant  gelegentlich  diesen  Be- 
griff der  Natur,  der  ihr  eine  „Technik"  (K.  d.  U.  §  17)  und  eine 
immanente  Zweckmässigkeit  mehr  als  regulativ  beilegt;  ja  in  der 
K.  d.  ü.    und   in   den   geschichtsphilosophischen   Aufsätzen   wh^ 
dieser  Gedanke   vielleicht   weiter  ausgesponnen,   als  Kants  eigene 
Grundsätze   es   gestatten.^)     Trotzdem  bleibt  Kant  im  ganzen  bei 
der  Analyse    der   subjektiven  Reflexionsmaxime   stehen   und  folgt 
den   metaphysischen   Perspektiven,   die   sie    eröffnet,    nicht  allzu 
weit.     Humboldt  hingegen,    und   mit  ihm  doch   schliesslich   Schel- 
ling,   Fichte,   Hegel   durchbrechen   die   kritischen   Schranken  und 
machen   aus   dem   Regulativen  etwas  Konstitutives.    Anfangs  be- 
herrscht ihn   das  Interesse  für  Bildhauerkunst,  Physiognomik  und 
Mimik  ;  später  das  psychophysische  Phänomen,  das  im  gesprochenen 
Wort   vorliegt.     In   beiden  Fällen   führt   ihn   ein    metaphysischer 
Trieb  weit  über  das  hinaus,  was  Kant  aus  den  subjektiven  Funk- 
tionen  abgelesen   hätte.     Deshalb  waren  z.  B.  Humboldts  Horen- 
aufsätze  für  Kant  das  Werk  eines  Schwärmers,  der  —  im  besten 
Falle   Herders   Phantasien   mit   Kantischen   Kategorien   umkleidet 
hatte.    Dies   ist   es,    was   R.  Haym    platonisierten    Kantianismos, 
Steinthal   kantisierten  Spinozismus  genannt,   und    was  R.  Sommer 


0  Vgl  hierzu  W.  W.  I,  171. 


W.  V.  Humboldt  und  Kant.  89 

sehr  richtig  uoter  dem  Namen  der  Herderschen  Naturanschauung 
ails  Hintergrund  der  ganzen  klassischen  Ästhetik,  einschliesslich 
der  Schillers,  nachgewiesen  hat. 

Ein  Irrtum  aber  war  es,  wenn  R.  Haym  diesen  Symbolismus 
selbst  auf  die  Anregung  der  K.  d.  U.  zurückführte.  Abgesehen 
davon,  dass  er  überhaupt  nichts  spezifisch  Kantisches,  sondern 
ZeitÄtmosphäre  war,  ist  er  bei  Humboldt  schon  ein  Jahr  vor  Er- 
scheinen der  K.  d.  U.  ausgesprochen,  in  dem  Aufsatz  ^Über  Reli- 
gion", (der  freilich,  als  Haym  seine  Biographie  verfasste,  noch 
nicht  bekannt  war),  und  in  mehreren  Brief  stellen.^)  Humboldt  wie 
Kant  stehen  auf  den  Schultern  der  vorangegangenen  Ästhetiker. 
Es  spricht  aber  für  Humboldts  Originalität  wenigstens  Kant  und 
Schiller  gegenüber,  dass  ihm  1789  bereits  der  dreiteilige  Ge- 
dankenkomplex feststand:  Das  Sinnliche  ist  durch  Natur  oder 
Kunst  ein  Zeichen  des  Geistigen;  nur  der  ästhetische  Sinn  ver- 
mag diese  konkrete  Darstellung  von  Vernunftideen  im  Physischen 
aafzofassen;  also  liegt  auch  deshalb  in  der  ästhetischen  Aus- 
weitung und  Bildung  eine  natumotwendige  Vorstufe  der  wahrhaft 
ethischen  Bildung.  —  Zugleich  entsteht  so  die  Betrachtungsweise, 
die  den  Menschen  als  sinnlich-vernünftiges  Wesen  in  seiner 
geistigen  Totalität  anffasst  und  allein  den  geisteswissenschaft- 
lichen Problemen  methodisch  zu  genügen  vermag. 


II. 
Ob  es  sich  beim  Verhältnis  Schillers  und  Humboldts  zu 
Kants  Ethik  um  eine  Gegnerschaft  oder  um  eine  Ergänzung 
handelt,  ist  unfruchtbarer  Wortstreit;  denn  wer  eine  Ergänzung 
für  notwendig  hält,  wird  eben  dadurch  zum  Gegner  der  vorge- 
fundenen Enge.  Belangvoller  ist  die  Frage,  ob  diejenigen  Lebens- 
werte, die  über  die  Pflichtmässigkeit  des  Handelns  hinausgreifen, 
noch  als  sittliche  oder  bereits  als  ausserethische  zu  bezeichnen 
sind.  ^)  Wenn  wir  uns  dafür  entscheiden,  sie  mit  in  den  Kreis 
des  Ethischen  einzubeziehen,  so  können  wir  den  Grund  nur  an- 
deuten: er  liegt  darin,  dass  das  Pflichtmässige  selbst  von  einem 
konkret-historischen  Lebensideal  abhängig  ist,  ja  gerade  von 
seiner  Höhe  aus  erst  die  Sanktion  empfängt.    Christliche  Pflichten 


1)  W.  W.  I,  Ö6-68. 

>)  Vgl.  B.  Bauch,  Schiller  und  die  Idee  der  Freiheit.   Kantetudien  X, 
S.  361. 


90  E.  Spranger, 

giebt   es    nur,    sofern   es  ein  christliches  Lebensideal  giebt,   nicht 
umgekehrt. 

Cm  Kant  hier  richtig  zu  beurteilen,  müssen  wir  ganz  wie 
bei  seiner  Erkenntnistheorie  auch  in  der  Ethik  das  methodische 
Prinzip  und  den  Weltanschauungsfaktor  sondern.  In  erster  Hin- 
sicht ist  sie  Metaphysik  der  Sitten,  d.  h.  sie  sucht  in  höchster 
Abstraktion  das  reine  sittliche  Phänomen  und  findet  es  in  dem 
absohlten  Verpflichtungscharakter  der  sittlichen  Maximen,  die  auf 
nichts  anderes  teleologisch  bezogen  werden  können,  am  aller- 
wenigsten auf  bloss  individuelle  Glückseligkeitswerte.  Sofern  es 
sich  um  die  Feststellung  dieses  (nach  Kant)  spezifisch  Ethischen 
handelt,  darf  man  natürlich  keine  psychologische  Analyse  der 
andersartigen  Faktoren  erwarten,  in  die  es  verflochten  ist:  es  soll 
ja  eben  herausgelöst  werden.  Als  Weltanschauung  anderer- 
seits ist  Kants  Ethik  ein  Evangelium  der  höchsten  Werte,  ein 
Kanon  der  sittlichen  Pflicht,  inneren  Freiheit  und  Menschen- 
würde. Was  sie  auf  jener  Seite  an  Wirklichkeitsnähe  einbüsst, 
gewinnt  sie  auf  dieser  an  Kraft,  obwohl  sie  keine  neue  ethische 
Wertung  schafft,  sondern  nur  die  bestehende  in  ihrer  wahren 
Würde  zeigt.  Gerade  dies  hat  Humboldt  als  Kants  Verdienst 
empfunden:  Auch  die  Aufklärung  zwar  wollte  den  sittlichen  Werten 
dienen;  aber  sie  rückte  sie  philanthropisch  in  eine  vertrauUche 
Nähe  und  machte  aus  ihnen  ein  tägliches  Gebrauchsmittel.  Die 
Geniemäuner  und  Sentimentalitätskreise  mit  ihrem  Seelenkultus 
andererseits  lieferten  sie  an  das  blosse  Gefühl  und  seine  Launen 
aus.  Kant  erhob  sie  aus  der  Sphäre  der  Nützlichkeit,  Vollkommen- 
heit, Liebenswürdigkeit  energisch  und  streng  in  die  der  Erhabenheit 
Auch  die  Anhänger  der  ästhetischen  Erziehung  haben  das  allezeit 
gebilligt. 

Nun  aber  hat  Kant  die  Neigung,  was  nur  Methode  ist,  in 
einen  inhaltlichen  Satz  zu  verwandeln,  oder  die  Reinheit  der  Ab- 
straktion mit  dem  sittlichen  (resp.  ästhetischen)  Begriff  der  Rein- 
heit zu  verwechseln.  Die  Wurzel  dieser  Neigung  liegt  tiefer  als 
in  bloss  methodischen  Rücksichten.  Sie  liegt  in  seinem  Lebens- 
gefühl,  in  den  harten  Eindrücken  der  Umgebung,  aus  der  er 
stammte.  Er  ist  zur  stoischen  Haltung  erzogen:  nichts  begehren, 
sich  hüten  vor  den  Dingen  dieser  Welt,  die  nie  andere  als  un- 
lautere, eigennützige  Motive  in  uns  erzeugen  können!  Also  m 
euergisclier  Rückzug  auf  uns  selbst,  auf  den  tätigen,  vernünftigen 
Teil  unserer  Seele.     Ihn  gilt  es  durchzusetzen;   alle  Empfänglich- 


W.  V.  Humboldt  und  Kant.  91 

keit  ist  „pathologisch",  d.  h.  eii^e  Art  von  Selbstwegwerfung.  Ein 
grandioser  ethischer  Typus,  und  doch  wieder  kleinlich!  Naturen 
von  dem  Reichtum  und  der  Kenaissancefärbung  Schillers  konnten 
darin  ein  Zeichen  finden,  dass  „dieser  heiteie  und  jovialische 
Geist  seine  Flügel  nicht  ganz  von  dem  Lebensschmutz  hat  los- 
machen können".  0  Hier  erfassen  wir  den  tiefsten  Unterschied 
dieser  Geister:  die  Neuhumanisten  geben  sich  der  Fülle  des 
Lebens  mit  empfänglicher  Freude,  mit  reizbaren  Organen  unö  leb- 
hafter Sinnlichkeit  hin.  Sie  bereichern  ihr  Selbst  und  wollen  es 
zum  Universum  erweitern.  Aber  auch  sie  wollen  ihre  Innerlich- 
keit nicht  aufgeben.  Auch  ihnen  ist  die  äussere  Welt  etwas 
Fremdes;  erst  wenn  sie  sie  assimiliert  haben,  erst  wenn  sie  ein 
Eigentum,  ja  ein  Stück  ihres  Selbst  ist,  gewinnt  sie  ethische  Be- 
deutung.*) Das  also  ist  es,  was  Humboldt  von  vornherein  von 
Kant  unterscheidet:  er  glaubt  nicht  daran,  dass  Empfänglichkeit 
und  Autonomie  sich  ausschliessen.  Weil  er  nun  aber  die  Funktion 
der  autonomen  Gestaltung  weiter  ausdehnt,  muss  natürlich  auch 
die  Methode  erweitert  werden,  muss  er  die  Einzelfälle,  in  denen 
das  von  Kant  aufgefundene  ethische  Grundphänomen  auftritt,  im 
einzelnen  studieren.^ 

Und  fast  möchte  man  es  als  einen  apriori  wahrscheinlichen 
Satz  hinstellen,  dass  die  Arbeit,  die  die  englische  Moralphilosophie 
für  die  Analyse  des  sittlichen  Bewusstseins  geleistet  hatte,  unmög- 
lich ganz  verloren  sein  konnte.  Hatte  sich  doch  aus  der  All- 
einheitsmetaphysik Shaftesburys,  deren  Grundbegriffe  Technik  der 
Natur  und  Harmonie  der  Relationen  waren,  eine  Ethik  heraus- 
differenziert, die  die  sittlichen  Beziehungen  nach  allen  Seiten 
hin  verfolgte.  Ferguson  stellte  die  Idee  der  Gattungsvollkommen- 
heit an  die  Spitze,  Ad.  Smith  das  Phänomen  der  Sympathie,  Hut- 
cheson  den  sittlich-ästhetischen  Sinn,  Clarke  die  Analogien  mit 
dem  Logischen  u.  s.  w.  Dabei  war  ihnen  gemäss  jener  Shaftes- 
buryschen    Metaphysik   Voraussetzung,    dass    das    Centrum     des 


»)  An  Goethe  21.  XII.  1798,  also  in  einer  Zeit,  in  der  SchiUer  über 
methodologische  Probleme  längst  hinaus  war. 

«)  Vgl.  das  Sonett:  „Die  Gesinnung".    Sonette  18ô3.    S.  07. 

3)  Die  humanistische  Moral  ist  aristokratisch  :  sie  gilt  nur  von  dem 
bereit«  £delgeborenen  ;  Kants  Moral  ist  demokratisch  ;  er  vergass  nicht, 
daas  Herkules  Ungeheuer  zu  bezwingen  hat,  ehe  er  Musaget  wird.  Der 
Demokratismus  Kants  aber  war  Humboldt  zuwider.  Vgl.  Leitzmann, 
S.  189. 


90  E.  Spranger, 

giebt   es    nur,    sofern   es  ein  christliches  Lebensideal  giebt,   nicht 
umgekehrt. 

um  Kant  hier  richtig  zu  beurteilen,  müssen  wir  ganz  wie 
bei  seiner  Erkenntnistheorie  auch  in  der  Ethik  das  methodische 
Prinzip  und  den  Weltanschauungsfaktor  sondern.  In  erster  Hin- 
sicht ist  sie  Metaphysik  der  Sitten,  d.  h.  sie  sucht  in  höchster 
Abstraktion  das  reine  sittliche  Phänomen  und  findet  es  in  dem 
absoluten  Verpflichtungscharakter  der  sittlichen  Maximen,  die  auf 
nichts  anderes  teleologisch  bezogen  werden  können,  am  aller- 
wenigsten auf  bloss  individuelle  Glückseligkeitswerte.  Sofern  es 
sich  um  die  Feststellung  dieses  (nach  Kant)  spezifisch  Ethischen 
handelt,  darf  man  natürlich  keine  psychologische  Analyse  der 
andersartigen  Faktoren  erwarten,  in  die  es  verflochten  ist:  es  soll 
ja  eben  herausgelöst  werden.  Als  Weltanschauung  anderer- 
seits ist  Kants  Ethik  ein  Evangelium  der  höchsten  Werte,  ein 
Kanon  der  sittlichen  Pflicht,  inneren  Freiheit  und  Menschen- 
würde. Was  sie  auf  jener  Seite  an  Wirklichkeitsnähe  einbüsst, 
gewinnt  sie  auf  dieser  an  Kraft,  obwohl  sie  keine  neue  ethische 
Wertung  schafft,  sondern  nur  die  bestehende  in  ihrer  wahren 
Würde  zeigt.  Gerade  dies  hat  Humboldt  als  Kants  Verdienst 
empfunden:  Auch  die  Aufklärung  zwar  wollte  den  sittlichen  Werten 
dienen;  aber  sie  rückte  sie  philanthropisch  in  eine  vertrauliche 
Nähe  und  machte  aus  ihnen  ein  tägliches  Gebrauchsmittel.  Die 
Geniemänner  und  Sentimentalitätskreise  mit  ihrem  Seelenkultus 
andererseits  lieferten  sie  an  das  blosse  Gefühl  und  seine  Launen 
aus.  Kant  erhob  sie  aus  der  Sphäre  der  Nützlichkeit,  Vollkommen- 
heit, Liebenswürdigkeit  energisch  und  streng  in  die  der  Erhabenheit 
Auch  die  Anhänger  der  ästhetischen  Erziehung  haben  das  allezeit 
gebilligt. 

Nun  aber  hat  Kant  die  Neigung,  was  nur  Methode  ist,  in 
einen  inhaltlichen  Satz  zu  verwandeln,  oder  die  Reinheit  der  Ab- 
straktion mit  dem  sittlichen  (resp.  ästhetischen)  Begriff  der  Rein- 
heit zu  verwechseln.  Die  Wurzel  dieser  Neigung  liegt  tiefer  als 
in  bloss  methodischen  Rücksichten.  Sie  liegt  in  seinem  Lebens- 
gefühl, in  den  harten  Eindrücken  der  Umgebung,  aus  der  er 
stammte.  Er  ist  zur  stoischen  Haltung  erzogen:  nichts  begehren, 
sich  hüten  vor  den  Dingen  dieser  Welt,  die  nie  andere  als  un- 
lautere, eigennützige  Motive  in  uns  erzeugen  können!  Also  ein 
energischer  Rückzug  auf  uns  selbst,  auf  den  tätigen,  vernünftigen 
Teil  unserer  Seele.     Ihn  gilt  es  durchzusetzen;   alle  Empfänglich- 


W.  V.  Humboldt  und  Kant.  91 

keit  ist  „pathologisch",  d.  h.  eii\e  Art  von  Selbstwegwerfung.  Ein 
grandioser  ethischer  Typus,  und  doch  wieder  kleinlich!  Naturen 
von  dem  Reichtum  und  der  Renaissancefärbung  Schillers  konnten 
darin  ein  Zeichen  finden,  dass  „dieser  heiteie  und  jovialische 
Geist  seine  Flügel  nicht  ganz  von  dem  Lebensschmutz  hat  los- 
machen können".  >)  Hier  erfassen  wir  den  tiefsten  Unterschied 
dieser  Geister:  die  Neuhumanisten  geben  sich  der  Fülle  des 
Lebens  mit  empfänglicher  Freude,  mit  reizbaren  Organen  unfi  leb- 
hafter Sinnlichkeit  hin.  Sie  bereichern  ihr  Selbst  und  wollen  es 
zum  Universum  erweitern.  Aber  auch  sie  wollen  ihre  Innerlich- 
keit nicht  aufgeben.  Auch  ihnen  ist  die  äussere  Welt  etwas 
Fremdes;  erst  wenn  sie  sie  assimiliert  haben,  erst  wenn  sie  ein 
Eigentum,  ja  ein  Stück  ihres  Selbst  ist,  gewinnt  sie  ethische  Be- 
deutung.^) Das  also  ist  es,  was  Humboldt  von  vornherein  von 
Kant  unterscheidet:  er  glaubt  nicht  daran,  dass  Empfänglichkeit 
und  Autonomie  sich  ausschliessen.  Weil  er  nun  aber  die  Funktion 
der  autonomen  Gestaltung  weiter  ausdehnt,  muss  natürlich  auch 
die  Methode  erweitert  werden,  muss  er  die  Einzelfälle,  in  denen 
das  von  Kant  aufgefundene  ethische  Grundphänomen  auftritt,  im 
einzehien  studieren.^ 

Und  fast  möchte  man  es  als  einen  apriori  wahrscheinlichen 
Satz  hinstellen,  dass  die  Arbeit,  die  die  englische  Moralphilosophie 
für  die  Analyse  des  sittlichen  Bewusstseins  geleistet  hatte,  unmög- 
lich ganz  verloren  sein  konnte.  Hatte  sich  doch  aus  der  All- 
einheitsmetaphysik Shaftesburys,  deren  Grundbegriffe  Technik  der 
Natur  und  Harmonie  der  Relationen  waren,  eine  Ethik  heraus- 
differenziert, die  die  sittlichen  Beziehungen  nach  allen  Seiten 
hin  verfolgte.  Ferguson  stellte  die  Idee  der  Gattungsvollkommen- 
heit an  die  Spitze,  Ad.  Smith  das  Phänomen  der  Sympathie,  Hut- 
cheson  den  sittlich-ästhetischen  Sinn,  Clarke  die  Analogien  mit 
dem  Logischen  u.  s.  w.  Dabei  war  ihnen  gemäss  jener  Shaftes- 
buryschen    Metaphysik   Voraussetzung,    dass    das    Centrum     des 


»)  An  Goethe  21.  XII.  1798,  also  in  einer  Zeit,  in  der  SchiUer  über 
methodologische  Probleme  längst  hinaus  war. 

«)  Vgl.  das  Sonett:  „Die  Gesinnung".    Sonette  1863.    S.  67. 

3)  Die  humanistische  Moral  ist  aristokratisch  :  sie  gilt  nur  von  dem 
bereits  Ëdelgeborenen ;  Kants  Moral  ist  demokratisch;  er  vergass  nicht, 
dam  Herkules  Ungeheuer  zu  bezwingen  hat,  ehe  er  Musaget  wird.  Der 
Demokratismus  Kants  aber  war  Humboldt  zuwider.  Vgl.  Leitzmann, 
S.  189. 


90  E.  Spranger, 

giebt   es    nur,    sofern   es  ein  christliches  Lebensideal  giebt,   nicht 
umgekehrt. 

um  Kant  hier  richtig  zu  beurteilen,  müssen  wir  ganz  wie 
bei  seiner  Erkenntnistheorie  auch  in  der  Ethik  das  methodische 
Prinzip  und  den  Weltanschauungsfaktor  sondern.  In  erster  Hin- 
sicht ist  sie  Metaphysik  der  Sitten,  d.  h.  sie  sucht  in  höchster 
Abstraktion  das  reine  sittliche  Phänomen  und  findet  es  in  dem 
absoluten  Verpflichtungscharakter  der  sittlichen  Maximen,  die  auf 
nichts  anderes  teleologisch  bezogen  werden  können,  am  aller- 
wenigsten auf  bloss  individuelle  Glückseligkeitswerte.  Sofern  es 
sich  um  die  Feststellung  dieses  (nach  Kant)  spezifisch  Ethischen 
handelt,  darf  man  natürlich  keine  psychologische  Analyse  der 
andersartigen  Faktoren  erwarten,  in  die  es  verflochten  ist  :  es  soll 
ja  eben  herausgelöst  werden.  Als  Weltanschauung  anderer- 
seits ist  Kants  Ethik  ein  Evangelium  der  höchsten  Werte,  ein 
Kanon  der  sittlichen  Pflicht,  inneren  Freiheit  und  Menschen- 
würde. Was  sie  auf  jener  Seite  an  Wirklichkeitsnähe  einbüsst, 
gewinnt  sie  auf  dieser  an  Kraft,  obwohl  sie  keine  neue  ethische 
Wertung  schafft,  sondern  nur  die  bestehende  in  ihrer  wahren 
Würde  zeigt.  Gerade  dies  hat  Humboldt  als  Kants  Verdienst 
empfunden  :  Auch  die  Aufklärung  zwar  wollte  den  sittlichen  Werten 
dienen;  aber  sie  rückte  sie  philanthropisch  in  eine  vertrauliche 
Nähe  und  machte  aus  ihnen  ein  tägliches  Gebrauchsmittel.  Die 
Geniemänner  und  Sentimentalitätskreise  mit  ihrem  Seelenkultus 
andererseits  lieferten  sie  an  das  blosse  Gefühl  und  seine  Launen 
aus.  Kant  erhob  sie  aus  der  Sphäre  der  Nützlichkeit,  Vollkommen- 
heit, Liebenswürdigkeit  energisch  und  streng  in  die  der  Erhabenheit 
Auch  die  Anhänger  der  ästhetischen  Erziehung  haben  das  allezeit 
gebilligt. 

Nun  aber  hat  Kant  die  Neigung,  was  nur  Methode  ist,  in 
einen  inhaltlichen  Satz  zu  verwandeln,  oder  die  Reinheit  der  Ab- 
straktion mit  dem  sittlichen  (resp.  ästhetischen)  Begriff  der  Reb- 
heit  zu  verwechseln.  Die  Wurzel  dieser  Neigung  liegt  tiefer  als 
in  bloss  methodischen  Rücksichten.  Sie  liegt  in  seinem  Lebens- 
gefühl, in  den  harten  Eindrücken  der  Umgebung,  aus  der  er 
stammte.  Er  ist  zur  stoischen  Haltung  erzogen:  nichts  begehren, 
sich  hüten  vor  den  Dingen  dieser  Welt,  die  nie  andere  als  un- 
lautere, eigennützige  Motive  in  uns  erzeugen  können!  Also  ein 
energischer  Rückzug  auf  uns  selbst,  auf  den  tätigen,  vernünftigen 
Teil  unserer  Seele.     Ihn  gilt  es  durchzusetzen;   alle  Empfänglich- 


W.  V.  Humboldt  und  Kant.  91 

keit  ist  „pathologisch",  d.  h.  eirye  Art  von  Selbst  wegwerfung.  Ein 
grandioser  ethischer  Typus,  und  doch  wieder  kleinlich!  Naturen 
von  dem  Reichtum  und  der  Renaissancefärbung  Schillers  konnten 
darin  ein  Zeichen  finden,  dass  „dieser  heiteie  und  jovialische 
Geist  seine  Flügel  nicht  ganz  von  dem  Lebensschmutz  hat  los- 
machen können".  >)  Hier  erfassen  wir  den  tiefsten  Unterschied 
dieser  Geister:  die  Neuhumanisten  geben  sich  der  Fülle  des 
Lebens  mit  empfänglicher  Freude,  mit  reizbaren  Organen  unfi  leb- 
hafter Sinnlichkeit  hin.  Sie  bereichern  ihr  Selbst  und  wollen  es 
zum  Universum  erweitern.  Aber  auch  sie  wollen  ihre  Innerlich- 
keit nicht  aufgeben.  Auch  ihnen  ist  die  äussere  Welt  etwas 
Fremdes;  erst  wenn  sie  sie  assimiliert  haben,  erst  wenn  sie  ein 
Eigentum,  ja  ein  Stück  ihres  Selbst  ist,  gewinnt  sie  ethische  Be- 
deutung.^) Das  also  ist  es,  was  Humboldt  von  vornherein  von 
Kant  unterscheidet:  er  glaubt  nicht  daran,  dass  Empfänglichkeit 
und  Autonomie  sich  ausschliessen.  Weil  er  nun  aber  die  Funktion 
der  autonomen  Gestaltung  weiter  ausdehnt,  muss  natürlich  auch 
die  Methode  erweitert  werden,  muss  er  die  Einzelfälle,  in  denen 
das  von  Kant  aufgefundene  ethische  Grundphänomen  auftritt,  im 
einzelnen  studieren.^ 

Und  fast  möchte  man  es  als  einen  apriori  wahrscheinlichen 
Satz  hinstellen,  dass  die  Arbeit,  die  die  englische  Moralphilosophie 
für  die  Analyse  des  sittlichen  Bewusstseins  geleistet  hatte,  unmög- 
lich ganz  verloren  sein  konnte.  Hatte  sich  doch  aus  der  All- 
einheitsmetaphysik Shaftesburys,  deren  Grundbegriffe  Technik  der 
Natur  und  Harmonie  der  Relationen  waren,  eine  Ethik  heraus- 
differenziert, die  die  sittlichen  Beziehungen  nach  allen  Seiten 
hin  verfolgte.  Ferguson  stellte  die  Idee  der  Gattungsvollkommen- 
heit an  die  Spitze,  Ad.  Smith  das  Phänomen  der  Sympathie,  Hut- 
cheson  den  sittlich-ästhetischen  Sinn,  Clarke  die  Analogien  mit 
dem  Logischen  u.  s.  w.  Dabei  war  ihnen  gemäss  jener  Shaftes- 
buryschen    Metaphysik   Voraussetzung,    dass    das    Centrum     des 


0  An  Goethe  21.  XII.  1798,  also  in  einer  Zeit,  in  der  SchiUer  über 
methodologische  Probleme  längst  hinaus  war. 

«)  Vgl.  das  Sonett:  „Die  Gesinnung".    Sonette  1863.    S.  67. 

3)  Die  humanistische  Moral  ist  aristokratisch:  sie  gilt  nur  von  dem 
bereits  Ëdelgeborenen  ;  Kants  Moral  ist  demokratisch  ;  er  vergass  nicht, 
daat  Herkules  Ungeheuer  zu  bezwingen  hat,  ehe  er  Musaget  wird.  Der 
Demokratismus  Kants  aber  war  Humboldt  zuwider.  Vgl.  Leitzmann, 
S.  189. 


90  E.  Spranger, 

giebt   es    nur,    sofern   es  ein  christliches  Lebensideal  giebt,   nicht 
umgekehrt. 

um  Kant  hier  richtig  zu  beurteilen,  müssen  wir  ganz  wie 
bei  seiner  Erkenntnistheorie  auch  in  der  Ethik  das  methodische 
Prinzip  und  den  Weltanschauungsfaktor  sondern.  In  erster  Hin- 
sicht ist  sie  Metaphysik  der  Sitten,  d.  h.  sie  sucht  in  höchster 
Abstraktion  das  reine  sittliche  Phänomen  und  findet  es  in  dem 
absoluten  Verpflichtungscharakter  der  sittlichen  Maximen,  die  auf 
nichts  anderes  teleologisch  bezogen  werden  können,  am  aller- 
wenigsten auf  bloss  individuelle  Glückseligkeitswerte.  Sofern  es 
sich  um  die  Feststellung  dieses  (nach  Kant)  spezifisch  Ethischen 
handelt,  darf  man  natürlich  keine  psychologische  Analyse  der 
andersartigen  Faktoren  erwarten,  in  die  es  verflochten  ist:  es  soll 
ja  eben  herausgelöst  werden.  Als  Weltanschauung  anderer- 
seits ist  Kants  Ethik  ein  Evangelium  der  höchsten  Werte,  ein 
Kanon  der  sittlichen  Pflicht,  inneren  Freiheit  und  Menschen- 
würde. Was  sie  auf  jener  Seite  an  Wirklichkeitsnähe  einbüsst, 
gewinnt  sie  auf  dieser  an  Kraft,  obwohl  sie  keine  neue  ethische 
Wertung  schafft,  sondern  nur  die  bestehende  in  ihrer  wahren 
Würde  zeigt.  Gerade  dies  hat  Humboldt  als  Kants  Verdienst 
empfunden  :  Auch  die  Aufklärung  zwar  wollte  den  sittlichen  Werten 
dienen;  aber  sie  rückte  sie  philanthropisch  in  eine  vertrauliche 
Nähe  und  machte  aus  ihnen  ein  tägliches  Gebrauchsmittel.  Die 
Geniemänner  und  Sentimentalitätskreise  mit  ihrem  Seelenkultus 
andererseits  lieferten  sie  an  das  blosse  Gefühl  und  seine  Launen 
aus.  Kant  erhob  sie  aus  der  Sphäre  der  Nützlichkeit,  Vollkommen- 
heit, Liebenswürdigkeit  energisch  und  streng  in  die  der  Erhabenheit. 
Auch  die  Anhänger  der  ästhetischen  Erziehung  haben  das  allezeit 
gebilligt. 

Nun  aber  hat  Kant  die  Neigung,  was  nur  Methode  ist,  in 
einen  inhaltlichen  Satz  zu  verwandeln,  oder  die  Reinheit  der  Ab- 
straktion mit  dem  sittlichen  (resp.  ästhetischen)  Begriff  der  Rein- 
heit zu  verwechseln.  Die  Wurzel  dieser  Neigung  liegt  tiefer  als 
in  bloss  methodischen  Rücksichten.  Sie  liegt  in  seinem  Lebens- 
gefühl, in  den  harten  Eindrücken  der  Umgebung,  aus  der  er 
stammte.  Er  ist  zur  stoischen  Haltung  erzogen:  nichts  begehren, 
sich  hüten  vor  den  Dingen  dieser  Welt,  die  nie  andere  als  un- 
lautere, eigennützige  Motive  in  uns  erzeugen  können!  Also  em 
energischer  Rückzug  auf  uns  selbst,  auf  den  tätigen,  vernünftigen 
Teil  unserer  Seele.    Ihn  gilt  es  durchzusetzen;   alle  Empfänglich- 


W.  V.  Humboldt  und  Kant.  91 

keit  ist  „pathologisch",  d.  h.  eii\e  Art  von  Selbst  weg  werf  ung.  Ein 
grandioser  ethischer  Typus,  und  doch  wieder  kleinlich!  Naturen 
Yon  dem  Reichtum  und  der  Renaissancefärbung  Schillers  konnten 
darin  ein  Zeichen  finden,  dass  „dieser  heiteie  und  jovialische 
Geist  seine  Flügel  nicht  ganz  von  dem  Lebensschmutz  hat  los- 
machen können".  >)  Hier  erfassen  wir  den  tiefsten  Unterschied 
dieser  Geister:  die  Neuhumanisten  geben  sich  der  Fülle  des 
Lebens  mit  empfänglicher  Freude,  mit  reizbaren  Organen  unfi  leb- 
hafter Sinnlichkeit  hin.  Sie  bereichern  ihr  Selbst  und  wollen  es 
zum  Universum  erweitern.  Aber  auch  sie  wollen  ihre  Innerlich- 
keit nicht  aufgeben.  Auch  ihnen  ist  die  äussere  Welt  etwas 
Fremdes;  erst  wenn  sie  sie  assimiliert  haben,  erst  wenn  sie  ein 
Eigentum,  ja  ein  Stück  ihres  Selbst  ist,  gewinnt  sie  ethische  Be- 
deutung.^) Das  also  ist  es,  was  Humboldt  von  vornherein  von 
Kant  unterscheidet:  er  glaubt  nicht  daran,  dass  Empfänglichkeit 
und  Autonomie  sich  ausschliessen.  Weil  er  nun  aber  die  Funktion 
der  autonomen  Gestaltung  weiter  ausdehnt,  muss  natürlich  auch 
die  Methode  erweitert  werden,  muss  er  die  Einzelfälle,  in  denen 
das  von  Kant  aufgefundene  ethische  Grundphänomen  auftritt,  im 
einzelnen  studieren.  ^ 

Und  fast  möchte  man  es  als  einen  apriori  wahrscheinlichen 
Satz  hinstellen,  dass  die  Arbeit,  die  die  englische  Moralphilosophie 
für  die  Analyse  des  sittlichen  Bewusstseins  geleistet  hatte,  unmög- 
lich ganz  verloren  sein  konnte.  Hatte  sich  doch  aus  der  All- 
einheitsmetaphysik Shaftesburys,  deren  Grundbegriffe  Technik  der 
Natur  und  Harmonie  der  Relationen  waren,  eine  Ethik  heraus- 
differenziert, die  die  sittlichen  Beziehungen  nach  allen  Seiten 
hin  verfolgte.  Ferguson  stellte  die  Idee  der  Gattungsvollkommen- 
heit an  die  Spitze,  Ad.  Smith  das  Phänomen  der  Sympathie,  Hut- 
cbeson  den  sittlich-ästhetischen  Sinn,  Clarke  die  Analogien  mit 
dem  Logischen  u.  s.  w.  Dabei  war  ihnen  gemäss  jener  Shaftes- 
buryschen    Metaphysik   Voraussetzung,    dass    das    Centrum     des 


*)  An  Goethe  21.  XU.  17d8,  also  in  einer  Zeit,  in  der  Schiller  über 
methodologische  Probleme  längst  hinaus  war. 

«)  Vgl.  das  Sonett:  „Die  Gesinnung".    Sonette  1853.    S.  67. 

3)  Die  humanistische  Moral  ist  aristokratisch:  sie  gilt  nur  von  dem 
bereits  Ëdelgeborenen  ;  Kants  Moral  ist  demokratisch  ;  er  vergass  nicht, 
daat  Herkules  Ungeheuer  zu  bezwingen  hat,  ehe  er  Musaget  wird.  Der 
Demokratismns  Kants  aber  war  Humboldt  zuwider.  Vgl.  Leitzmann, 
S.  189. 


90  E.  Spranger, 

^iebt   es    nur,    sofern   es  ein  christliches  Lebensideal  giebt,   nicht 
umgekehrt. 

um  Kant  hier  richtig  zu  beurteilen,  müssen  wir  ganz  wie 
bei  seiner  Erkenntnistheorie  auch  in  der  Ethik  das  methodische 
Prinzip  und  den  Weltanschauungsfaktor  sondern.  In  erster  Hin- 
sicht ist  sie  Metaphysik  der  Sitten,  d.  h.  sie  sucht  in  höchster 
Abstraktion  das  reine  sittliche  Phänomen  und  findet  es  in  dem 
absoluten  Verpflichtungscharakter  der  sittlichen  Maximen,  die  auf 
nichts  anderes  teleologisch  bezogen  werden  können,  am  aller- 
wenigsten auf  bloss  individuelle  Glückseligkeitswerte.  Sofern  es 
sich  um  die  Feststellung  dieses  (nach  Kant)  spezifisch  Ethischen 
handelt,  darf  man  natürlich  keine  psychologische  Analyse  der 
andersartigen  Faktoren  erwarten,  in  die  es  verflochten  ist:  es  soll 
ja  eben  herausgelöst  werden.  Als  Weltanschauung  anderer- 
seits ist  Kants  Ethik  ein  Evangelium  der  höchsten  Werte,  ein 
Kanon  der  sittlichen  Pflicht,  inneren  Freiheit  und  Menschen- 
würde. Was  sie  auf  jener  Seite  an  Wirklichkeitsnähe  einbüsst, 
gewinnt  sie  auf  dieser  an  Kraft,  obwohl  sie  keine  neue  ethische 
Wertung  schafft,  sondern  nur  die  bestehende  in  ihrer  wahren 
Würde  zeigt.  Gerade  dies  hat  Humboldt  als  Kants  Verdienst 
empfunden  :  Auch  die  Aufklärung  zwar  wollte  den  sittlichen  Werten 
dienen;  aber  sie  rückte  sie  philanthropisch  in  eine  vertrauliche 
Nähe  und  machte  aus  ihnen  ein  tägliches  Gebrauchsmittel.  Die 
Geniemänner  und  Sentimentalitätskreise  mit  ihrem  Seelenkultns 
andererseits  lieferten  sie  an  das  blosse  Gefühl  und  seine  Launen 
aus.  Kant  erhob  sie  aus  der  Sphäre  der  Nützlichkeit,  Vollkommen- 
heit, Liebenswürdigkeit  energisch  und  streng  in  die  der  Erhabenheit 
Auch  die  Anhänger  der  ästhetischen  Erziehung  haben  das  allezeit 
gebilligt. 

Nun  aber  hat  Kant  die  Neigung,  was  nur  Methode  ist,  in 
einen  inhaltlichen  Satz  zu  verwandeln,  oder  die  Reinheit  der  Ab- 
straktion mit  dem  sittlichen  (resp.  ästhetischen)  Begriff  der  Rein- 
heit zu  verwechseln.  Die  Wurzel  dieser  Neigung  liegt  tiefer  als 
in  bloss  methodischen  Rücksichten.  Sie  liegt  in  seinem  Lebens- 
gefühl, in  den  harten  Eindrücken  der  Umgebung,  aus  der  er 
stammte.  Er  ist  zur  stoischen  Haltung  erzogen:  nichts  begehren, 
sich  hüten  vor  den  Dingen  dieser  Welt,  die  nie  andere  als  un- 
lautere, eigennützige  Motive  in  uns  erzeugen  können!  Also  eb 
euergisclier  Rückzug  auf  uns  selbst,  auf  den  tätigen,  vernünftigen 
Teil  unserer  Seele.    Ihn  gilt  es  durchzusetzen;   alle  Empfänglich- 


W.  V.  Humboldt  und  Kant.  91 

keit  ist  „pathologisch",  d.  h.  eii\e  Art  von  Selbstwegwerfung.  Ein 
grandioser  ethischer  Typus,  und  doch  wieder  kleinlich!  Naturen 
von  dem  Reichtum  und  der  Renaissancefärbung  Schillers  konnten 
darin  ein  Zeichen  finden,  dass  „dieser  heiteie  und  jovialische 
Geist  seine  Flügel  nicht  ganz  von  dem  Lebensschmutz  hat  los- 
machen können".  >)  Hier  erfassen  wir  den  tiefsten  Unterschied 
dieser  Geister:  die  Neuhuraanisten  geben  sich  der  Fülle  des 
Lebens  mit  empfänglicher  Freude,  mit  reizbaren  Organen  unfi  leb- 
hafter Sinnlichkeit  hin.  Sie  bereichern  ihr  Selbst  und  wollen  es 
zum  Universum  erweitern.  Aber  auch  sie  wollen  ihre  Innerlich- 
keit nicht  aufgeben.  Auch  ihnen  ist  die  äussere  Welt  etwas 
Fremdes;  erst  wenn  sie  sie  assimiliert  haben,  erst  wenn  sie  ein 
Eigentum,  ja  ein  Stück  ihres  Selbst  ist,  gewinnt  sie  ethische  Be- 
deutung.^) Das  also  ist  es,  was  Humboldt  von  vornherein  von 
Kant  unterscheidet:  er  glaubt  nicht  daran,  dass  Empfänglichkeit 
und  Autonomie  sich  ausschliessen.  Weil  er  nun  aber  die  Funktion 
der  autonomen  Gestaltung  weiter  ausdehnt,  muss  natürlich  auch 
die  Methode  erweitert  werden,  muss  er  die  Einzelfälle,  in  denen 
das  von  Kant  aufgefundene  ethische  Grundphänomen  auftritt,  im 
einzelnen  studieren.^ 

Und  fast  möchte  man  es  als  einen  apriori  wahrscheinlichen 
Satz  hinstellen,  dass  die  Arbeit,  die  die  englische  Moralphilosophie 
für  die  Analyse  des  sittlichen  Bewusstseins  geleistet  hatte,  unmög- 
lich ganz  verloren  sein  konnte.  Hatte  sich  doch  aus  der  All- 
einheitsmetaphysik Shaftesburys,  deren  Grundbegriffe  Technik  der 
Natur  und  Harmonie  der  Relationen  waren,  eine  Ethik  heraus- 
differenziert, die  die  sittlichen  Beziehungen  nach  allen  Seiten 
hin  verfolgte.  Ferguson  stellte  die  Idee  der  Gattungsvollkommen- 
heit an  die  Spitze,  Ad.  Smith  das  Phänomen  der  Sympathie,  Hut- 
cheson  den  sittlich-ästhetischen  Sinn,  Clarke  die  Analogien  mit 
dem  Logischen  u.  s.  w.  Dabei  war  ihnen  gemäss  jener  Shaftes- 
buryschen    Metaphysik   Voraussetzung,    dass    das    Centrum     des 


*)  An  Goethe  21.  XII.  1798,  also  in  einer  Zeit,  in  der  SchiUer  über 
methodologische  Probleme  längst  hinaus  war. 

«)  Vgl.  das  Sonett:  „Die  Gesinnung".    Sonette  1863.    S.  67. 

3)  Die  humanistische  Moral  ist  aristokratisch  :  sie  gilt  nur  von  dem 
bereits  Ëdelgeborenen  ;  Kants  Moral  ist  demokratisch  ;  er  vergass  nicht, 
daM  Herkules  Ungeheuer  zu  bezwingen  hat,  ehe  er  Musaget  wird.  Der 
Demokratismus  Kants  aber  war  Humboldt  zuwider.  Vgl.  Leitzmann, 
S.  189. 


92  B,  Spranger, 

MenscheD  sein  zur  Reflexion  erhobenes  Triebsystem,  und  also  auch 
in  diesem  der  sittliche  Vorgang  zu  suchen  sei.  Kant  hingegeo 
rechnet  diese  ganze  naturhaft  sinnliche  Sphäre  überhaupt  nicht 
zum  Ethischen,  sondern  nimmt  ein  ihnen  allen  heterogenes,  intelli- 
gibles Vermögen  im  Menschen  an,  eine  als  Freiheit  ins  Bewusst- 
sein  tretende  Vernunft,  deren  sittliches  Wesen  sich  in  der  logischen 
Form  eines  allgemeingiltigen  Satzes  äussert.  Der  Satz  hat  die 
Form  des  Imperativs;  seine  am  wenigsten  formale  Fassung  aber 
sagt  wieder  nichts  anderes  aus,  als  dass  die  Befolgung  dieses  for- 
malen Imperativs  der  inhaltliche  Zweck  des  Menschen  sei,  den 
man  folglich  auch  in  jedem  anderen  Menschen  zu  ehren  habe. 

Wenn  wir  die  Absicht  dieses  Formalismus  deuten  sollen,  so 
können  wir  nichts  anderes  darin  ausgedrückt  finden,  als  den 
Formalcharakter  der  höchsten  Werte,  der  darin  besteht, 
dass  sie  sich  alle  andern  Werte  mediatisieren,  dass  sie  die  Giltig- 
keit  ihres  Rechtsanspruches  in  sich  selbst  tragen  und  so  mit  Im- 
perativisch-normativem Accent  auftreten.  Wie  aber  der  formal 
beschriebene  Vorgang  konkret  verläuft,  vor  allem  welche  Gestalt 
in  unserem  Kultur-  und  Geschichtskreise  der  höchste  ethische 
Wert  etwa  annehmen  kann,  hat  Kant  nicht  angedeutet.  Nur 
zwei  inhaltliche  Punkte  hat  er  als  wesentlich  hervorgehoben: 
erstens  den  Zug  der  Autonomie,  d.  h.  doch  also  die  Tatsache, 
dass  er  als  eigentlicher  Kern  unserer  geistigen  Konstitution  und 
als  aus  ihr  hervorwachsend  angesehen  werden  muss,  und  zweitens 
das  Interesse  für  diesen  Imperativ,  das  als  Achtung,  also  als 
freigezollter  Beifall  erscheint. 

An  diesen  beiden  Stellen  liegen  deutlich  die  Punkte,  wo  die 
englische  Moral  des  Triebsystems  sich  hätte  anknüpfen  lassen, 
etwa  durch  eine  dualistische  Hierarchie  der  Triebe.  Diesen  Weg 
schlug  nach  Kant,^)  doch  vor  Humboldt  und  Schiller,  bereits  Jacobi 
ein.  Schon  vor  dem  Auftreten  der  kritischen  Philosophie  hatt« 
ihn  in  seinen  beiden  Romanen  „Allwill"  und  „Woldemar**  die 
Frage  beschäftigt:  Sind  edle,  ursprüngliche  Neigungen  unserer 
Seele  ausreichend  zur  Sicherung  unserer  Moralität,  oder  bedarf  es 
dazu  einer  eigentlichen  Disziplin  durch  Grundsätze?    Dem  ersten 


^)  Die  Einflüsse  Rousseaus  und  der  englischen  Moralphilosophie  zeigt 
Jacobi  von  seinen  ersten  Schriften  an;  die  theoretische  Konstmktion  aber, 
die  ich  als  Hierarchie  der  Triebe  bezeichne,  und  in  der  der  auch  bei  Kant 
vsdrksame  metaphysische  Vemunftbegriff  eine  Rolle  spielt,  erst  in  der 
Vorrede  zur  Allwillausgabe  von  1792. 


W.  V.  Humboldt  und  Kant.  03 

LÎlaaben  wendet  sich  seine  stille  Sehnsucht  zu:  „Was  ist  zuver- 
lässiger, ruft  All  will  aus,  als  das  Herz  des  edel  Geborenen?^ 
Aber  die  Notwendigkeit  des  zweiten  lehrt  ihn  eine  ebenso  tiefe 
sittliche  Erfahrung,  und  sie  ist  es,  die  er  schliesslich  als  Resultat 
aus  Schicksalen  und  Reflexionen  seiner  Helden  herausspringen 
l&sst:  Grundsätze  müssen  das  Heer  der  Triebe  zu  einer  Einheit 
gemeinden.  Darin  lag  aber  keine  direkte  Wendung  zu  Kants 
imperativischer  Ethik;  sondern  er  baute  auf  dem  Grunde  der 
Triebmoral  fort,  indem  er  nun  einen  höchsten,  auf  Einheit  und 
Zusammenhang,  zuletzt  auf  blosse  Personalität  gerichteten  In- 
stinkt vernünftiger  Wesen  annahm.^)  Hierin  fand  er  die  Er- 
klärung des  kategorischen  Imperativs;  und  diese  Ethik  gestaltete 
er  durch  Anknüpfung  an  Reid  und  Aristoteles  weiter  aus. 

Der  junge  Humboldt  stand  in  den  Jahren,  in  denen  er  mit 
Jacobi  verkehrte,  in  der  Praxis  den  Allwill  und  Woldemar  nicht 
allzufern.  Es  war  die  Zeit  seiner  höchsten  Sentimentalität,  die 
Zeit,  in  der  Henriette  Herz,  Thérèse  Forster,  Caroline  v.  Dacheröden 
and  Caroline  v.  Beulwitz  ihm  den  Einblick  in  die  seelische  Struk- 
tur eines  Frauenherzens  eröffneten.  Er  gehörte  dem  Geheimbund 
dieses  Frauenkreises  an,  der  die  Pflege  edler  Empfindungen, 
tugendhafter  Handlungen,  seelischer  Sympathie  und  Einfühlung  in 
seinen  Statuten  führte.  Dazu  kommt,  dass  wirklich  in  eine  fein- 
organisierte,  ästhetisch  erregbare  Jünglingsseele  bei  freier,  glück- 
licher Lage  die  sittliche  Erfahrung  der  Pflicht  nicht  so  leicht 
eintreten  wird,  als  die  einer  triebhaften,  unmittelbar  gewollten 
Hingabe  an  alle  Empfindungen  des  Guten  und  Schönen.^)  „Die 
Liebe  kennt  keine  Pflichten."^)  Denn  die  Seelen,  die  sich  lieben, 
bedürfen  nicht  der  Regeln  und  Vorschriften  :  sie  gehorchen  höheren, 
t)eglückenderen  Prinzipien.*)  In  diesem  Sinne  änderte  er  geradezu 
iie  Vorschriften  des  Bundes:  „Was  man  tut,  tut  man  aus  Liebe, 
weil  man  will,  weil  man  Freude,  Seligkeit  darin  findet,  nicht  weil 
man  muss,  oder  weil  der  andere  ein  Recht  hat."^)  Wie  wir 
wissen,  erwies  sich  natürlich  der  Bund  trotzdem  als  ein  unerträg- 


1)  Jacobi,  W.  W.  I,  XIV  f. 

*)  Gewiss  war  Humboldt  auch  sinnlich  veranlagt;  dass  er  aber  an 
len  Aosschweifungen  von  Gentz  teilgenommen  habe,  scheint  mir  nicht 
irerbOrgt. 

»)  An  Henriette,  S.  115  (1788). 

«}  An  Karoline  v.  Beulwitz,  Dtsch.  Rdsch.,  a.  a.O.,  S.  239  1^1789;. 

5)  Daselbst,  S.  241. 


94  E.  Sprauger, 

liebes  Hemmnis  freier  Seeleuhingabe,  und  erst  der  Herzensbnnd 
mit  Li  enthüllte  dem  jungen  Schwärmer  diesen  Zusammenhang  von 
Trieb  und  Tugend  ganz:  „Freiheit  ist  sein  erstes  Gesetz.  Ach! 
und  nicht  Gesetz,  wie  kennten  wir  das  Wort;  aber  es  ist  die 
milde  Luft,  in  der  allein  die  Blüten  unserer  Freude  gedeihen."^) 
Durch  die  letzten  Worte  klingt  bereits  der  impulsive  Gegensatz 
gegen  Kant  ausdrücklich  hindurch;  denn  mit  dem  praktischen 
Teil  seiner  Philosophie  konnte  er  sich  anfangs  garnicht  ver- 
tragen.  ^) 

Derjenige,  an  den  sich  seine  strengeren  Auseinandersetzungen 
mit  und  seine  Bedenken  gegen  Kant  richten,  ist  auch  hier  wieder 
Jacobi,  bei  dem  er  ein  Verständnis  für  seine  Schätzung  des  Trieb- 
momentes voraussetzen  durfte.  Seine  Skepsis  auf  diesem  Gebiet 
ist  fast  noch  stärker  als  auf  rein  theoretischem.  Für  seine  natur- 
rechtlichen Probleme  tut  ihm  weder  die  Ethik  der  Glückseligkeit 
noch  die  der  Vollkommenheit  Genüge;  aber  auch  Kants  formales 
Prinzip  befriedigt  ihn  nicht.^  Schon  die  Gründe,  worauf  Kant 
die  Freiheit  baut,  sind  ihm  nicht  überzeugend,  weil  sie  nur  auf 
Grund  von  apriori  konstruierten  und  als  bloss  formell  proklamierten 
Grundsätzen  postuliert  wird.  Wie  viel  plastischer  war  die  Frei-  i 
heitsidee,  die  Jacobi  in  den  Beilagen  zu  den  Spinozabriefen  ver- 
trat! Es  ist  aber  verständlich,  dass  gerade  Jacobi  gegenüber 
diese  negativen  Urteile  über  Kant  mehr  hervortreten,  als  die  posi- 
tiven. Fühlte  sich  doch  dieser  Philosoph  des  Glaubens  in  allen 
Stücken  als  der  eigentliche  Ergänzer  Kants,  als  der  Habende,  wo 
jener  der  Suchende  war:  so  in  der  Erkenntnistheorie,  Ethik  und 
Religionsphilosophie. 

Um  also  ein  vollständiges  Bild  zu  gewinnen,  müssen  wir  den 
um  dieselbe  Zeit  (1789)  in  Göttingen  wohl  aus  politischen  Inter- 
essen*) entstandenen  Aufsatz  „Über  Religion"  mit  heranziehen. 
Die  ethische  Grundstimmung  dieser  Skizze  ist  ganz  Kantisch:  das 
im  strengsten  Sinne  Moralische  ist  der  Seele  inneres  Sein.  Denn 
der  Wohnsitz  der  Tugend  ist  allein  das  Innere  der  Seele.  Die 
Sittlichkeit  wird  von  aller  Beziehung  auf  äussere  Zwecke  und 
Folgen,  ebenso  aber  auch  von  aller  Regelung  durch  politischen 
oder   pädagogischen  Zwang   losgelöst.     Und    der   in    den  Vorder- 


1)  Briefe  aus  der  Brautzeit,  S.  429  (1791). 

2)  An  Jacobi,  S.  14. 
=»)  An  Jacobi,  S.  10. 

*)  Im  Hintergninde  scheint  mir  das  Religionsedikt  zu  stehen. 


W.  V.  Humboldt  und  Kant.  95 

^rund  gestellte  Satz:  „dass  der  Zweck  des  Menschen  im  Menschen 
iegt,  in  seiner  inneren  Bildung",  steht  ganz  gewiss  auch  ira 
Mittelpunkt  der  Kantischen  Ethik J)  Aber  dazu  tritt  nun  sogleich 
die  Ergänzung  durch  die  beiden  Gedanken,  die  sich  von  der  ersten 
bis  zur  letzten  Schrift  Humboldts  finden,  also  durchaus  nicht  etwa 
auf  Schillerschen  Einfluss  zurückgeführt  werden  dürfen:  Einmal 
wird  der  Wert  einer  kräftig  entwickelten  Sinnlichkeit  (im  obigen, 
die  Empfänglichkeit  einschliessenden  Sinne)  stark  betont;  sie  darf 
nicht  erstickt,  sondern  muss  im  Gegenteil  individuell  gestärkt 
werden.^)  Und  darin  liegt  schon  das  zweite:  Humboldt  glaubt 
nicht  wie  Kant  (K.  d.  ü.,  S.  120)  an  ein  naturnotwendiges 
Kampfverhältnis  zwischen  den  sinnlichen  Neigungen  und  dem  sitt- 
lichen Sollen.  Gewiss,  es  kann  eintreten,  und  dann  gilt  allein 
die  Stimme  der  Pflicht.  Aber  im  ethischen  Grundgefühl  Hum- 
boldts liegt  dieses  Verhältnis  nicht,  so  wenig  er  jemals  au  das 
Radikal-Böse  glaubte  oder  unter  dem  Drucke  der  Sündenlast 
seufzte.  Er  glaubte  und  wünschte  vielmehr  eine  ästhetisch  prästa- 
bilierte  Harmonie  zwischen  dem  Sinnlichen  und  dem  Sittlichen,  die 
er  schon  damals  —  1789  —  eben  durch  die  Pflege  des  Binde- 
gliedes beider,  des  Ästhetischen,  rein  herauszubilden  strebte.  Die 
Frage,  wie  der  ästhetisch  ganz  unkultivierte  Mensch  zum  Sittlichen 
stehe,  hat  diesen  Aristokraten  nie  interessiert  :  nur  der  höherdiffe- 
renzierte Geist  beschäftigt  ihn.  Seine  ursprüngliche  ethische 
Überzeugung  bewegt  sich  demgemäss  ganz  in  den  optimistischen 
Bahnen,  ja  in  den  Worten  Shaftesbury-Eousseaus :  „Die  Tugend 
stimmt  so  sehr  mit  den  ursprünglichen  Neigungen  des  Menschen 
äberein,  die  Gefühle  der  Liebe,  der  Verträglichkeit,  der  Gerechtig- 
keit haben  so  etwas  Süsses,  .  .  .  dass  es  weit  weniger  notwendig 
ist,  neue  Triebfedern  zu  tugendhaften  Handlungen  hervorzusuchen, 
ils  nur  denen,  welche  schon  von  selbst  in  der  Seele  liegen. 
Freiere  und  ungehindertere  Wirksamkeit  zu  verschaffen.**  »)  Trotz 
iieser  unverkennbaren  Abweichung  von  Kant  lässt  er  nun  aber 
loch  dessen  Standpunkt  als  eine  mögliche  Form  ethischer  Geistes- 
verfassung gelten.  So  bildet  er  sich  die  von  nun  an  feststehende 
Lehre  von  den  beiden  ethischen  Typen:  Indem  er  das,  was 
lie    Moral   zur   Pflicht   macht,   von  dem  unterscheidet,  was  ihren 


1)  w.  w.  I,  76. 

«)  Daher  seine  Schätzung  der  8.  Beilage  zu  .Tacobis  Spinozabrief  en. 
V.  W.  IVb,  163.    Vgl.  an  Forster,  S.  274. 
>)  W.  W.  I,  73  =  159  f.    Vgl.  S.  176. 


96  È.  Spränget*, 

Gesetzen  Interesse  für  den  Willen  verleiht,  spricht  er  nun  von 
moralischer  Stärke,  wenn  die  ursprüngliche  Neigung  dem 
Willen  widerspricht,  und  von  moralischer  Güte,  wenn  sie  dem 
Willen  die  Hand  bietet.^)  Und  da  ihn  auch  vom  Ethischen  so- 
gleich eine  Brücke  zum  Ästhetischen  hinüberführt,  so  verschmilzt 
ihm  dieser  Gegensatz  mit  den  halb  ästhetischen  Kategorien  des 
sittlich  Schönen  und  des  sittlich  Erhabenen,  der  schönen  und  der 
grossen  Seele:  beide  verwirklichen  das  allgemeine  Sittengesetz 
in  konkreter  Form;  beide  stellen  also  die  ästhetischen  Grund- 
formen des  Sittlichen  dar. 

In  den  folgenden  Schriften  entwickeln  sich  Humboldts  ethische 
Anschauungen  kontinuierlich  weiter.  Die  Abhandlung  über  die 
Grenzen  der  Staats  Wirksamkeit  ruht  geradezu  auf  Kantischer 
Basis:  an  die  innere  Würde  des  Menschen  kann  der  Staatsmecha- 
nismus nicht  heran.2)  Hierin  ist  Humboldt  Kantischer,  als  er 
selbst  weiss  :  er  teilt  Kants  dualistische  Psychologie,  wenn  er  den 
Staat  ganz  in  die  Sphäre  des  blossen  Mechanismus  herabsetzt. 
Wie  einen  Schnitt  legt  er  die  Grenze,  und  man  darf  behaupten, 
dass  ihm  auch  später  der  Ideenstaat  nie  rechte  Überzeugung  ge- 
worden ist.  Gedanken  von  Menschenrecht  und  Menschenwürde, 
von  Autonomie  und  sittlichem  Selbstwert  machen  den  Kern  jener 
Eousseauisierenden  Schrift  aus.  Nicht  auf  die  äusseren  Folgen, 
sondern  allein  auf  die  Reinheit  der  Gesinnung  und  den  inneren 
Wert  kommt  es  an.  Ja  es  wird  jetzt  sogar  Kant  die  Anerkennung 
gezollt,  dass  er  in  seiner  (übrigens  mit  falschem  Titel  zitierten) 
„Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten"  die  Moralität  in  ihrer 
höchsten  Eeinheit  gesehen  und  dargestellt  habe.*)  Aber  auch  hier 
noch  nimmt  er  Anstoss  daran,  dass  Kant  das  wahre  Glückselig- 
keitsinteresse  und  die  Tugend  in  eine  Antinomie  versetzt,  die  erst 
im  Jenseits  zur  Harmonie  werden  soll.  Dieser  unechten  Ethik 
wird  als  Muster  der  wahren  Aristoteles  gegenübergestellt:  „Was 
einem  jeden,    seiner   Natur   nach,    nigentümlich   ist,    ist   ihm  das 


1)  W.  W.  I,  68.  69. 

2)  Vgl.  m.  Abhandlung  über  Altenstein,  a.  a.  0.  —  Um  diese  Staats- 
auffassung richtig  zu  würdigen,  muss  man  sich  erinnern,  dass  der  damalige 
Staat  selbst  die  Theorie  des  Egoismus  unverhohlen  zu  seiner  Devise  ge- 
macht hatte.  Vgl.  Dil  they,  Die  deutsche  Aufklärung  im  Staat  und  in 
der  Akademie  Friedrichs  des  Grossen.  Deutsche  Rundschau,  Bd.  107  (1901), 
S.  218. 

3)  W.  W.  I,  104  f. 


W.  V.  ftumboldt  und  Kant.  9*? 

;te  und  Süsseste.  Daher  auch  den  Menschen  das  Leben  nach 
Vernunft,  wenn  nämlich  darin  am  meisten  der  Mensch  besteht, 
meisten  beseligt."^)  Humboldt  leugnete  die  Möglichkeit  des 
iespaltes  auch  jetzt  nicht;  aber  er  sah  einen  anderen  Weg  der 
rsöhnung  als  jenen  transscendenten,  nämlich  den  Weg  der  ästhe- 
^hen  Erziehung.  Nach  seiner  damaligen  Auffassung,  die  aus 
iftesburyschem  Geiste  entsprang,  sind  die  moralischen  Ideen 
ibhängig  von  den  religiösen.^)  Andererseits  nun  aber  kann  von 
•  „kalten  Vernunft"  und  dem  in  ethisch-individuellen  Dingen 
ner  unfeinen  Verstand  nicht  die  ethische  Vollendung  erwartet 
rden  :  Man  muss  das  Gefühl  der  „ünangemessenheit  der  mensch- 
len  Kräfte  zum  moralischen  Gesetz^  dadurch  mildern,  dass  man 
1  dieses  ethische  Verhältnis  unter  der  ästhetischen  Idee  der 
babenheit  darstellt.^)  Das  Ästhetische  hat  nach  Kant  mit  dem 
lischen  die  UneigennUtzigkeit  wie  das  unmittelbare  Wohlgefallen 
le  Begriff  und  Zweck  gemein.  Trotzdem  scheint  „die  Bei- 
K^hung  des  Schönheitsgefühls  der  Eeinheit  des  moralischen 
Uens  Abbruch  zu  tun**.*)  Aber  es  soll  ja  nicht  selbst  eigent- 
ler  moralischer  Antrieb  werden,  sondern  nur  dazu  dienen, 
eichsam  mannigfaltigere  Anwendungen  für  das  moralische  6e- 
z  aufzufinden.*"  Was  also  Kant  offengelassen  hatte,  die  An- 
ndung des  formalen  Gesetzes  auf  den  in  den  Trieben  gegebenen 
)ff,  setzt  Humboldt  seiner  Ethik  als  Ziel,  und  zwar  fasst  er  die 
bsumtion  des  Einzelfalles  unter  das  allgemeine  Gesetz  als  eine 
hetische,  nicht  als  eine  bloss  logische!  Dies  allein  beweist, 
»s  er  die  praktische  Vernunft  mit  der  Sphäre  des  Gefühls  (statt 
,  der  des  Verstandes)  zu  verbinden  strebte.  Damit  ist  eine 
t  endlose  Fülle  von  Perspektiven  aufgetan,  deren  Bedeutung 
\ï  Humboldt  erst  nach  und  nach  in  seiner  ethischen  Denkarbeit 
r  macht.  Zunächst  setzt  er  diesen  Gedanken  mit  seiner  Griechen- 
ätzung dadurch  in  Zusammenhang,  dass  er  —  in  dem  ganz  Kan- 
;hen  §  9  der  Skizze  über  die  Griechen  —  die  Wichtigkeit  des  psy- 
»logischen  Studiums  der  Individualitäten  auch  für  den  Ethiker  her- 
habt.^)   Diesen  ganzen  Gedankenkomplex  aber  versteht  man  nur 


1)  Nie.  Eth.  X.  7,  p.  1178a. 

«;  Aufsatz  ^Über  Religion"  und  W.  W.  I,  161. 

s)  W.  W.  I,  172  f.     So  Kant  selbst   unter  Zeiteinflflaten  K.  d.  U., 
14. 

*)  W.  W.  I,  173. 

'^)  W.  W.  I,  259.    V(fl.  381  und  Leitzmann.  S.  278*. 

Katitttudi«u   Xlll.  7 


98  Ë.  Sprangel«, 

dann,  wenn  man  erwägt,  dass  Humboldt  die  Individaalität  als  ein 
Sein  von  selbständigem  Rechte  ansieht,  nicht  als  etwas,  das  dorch 
Begriffe  zu  vernichten  oder  auch  nur  zu  fassen  wäre.  Deshalb 
ist  nun  auch  das  wirkliche  Sittliche  immer  und  notwendig  ästhe- 
tischer Natur,  weil  es  immer  und  notwendig  das  unkonstroierbare  all- 
gemeine Gesetz  in  einer  konkreten  Anschauung  darstellt.  Nachdem 
dieser  Gedanke  einmal  gedacht  ist,  ergiebt  sich  daraus  die  gran- 
diose Eonsequenz,  die  Humboldt  freilich  erst  später  aussprach  : 
die  Normativität  eines  ethischen  Standpunktes  ist  wie  die  einer 
künstlerischen  Schöpfung  nicht  apriori  demonstrierbar,  sondern  sie 
ist  damit  gegeben,  dass  —  wie  er  selbst  an  der  Pforte  seiner 
Selbstbildungsära  ahnte  —  ein  solcher  Mensch  einmal  da 
ist.    Darin  allein  liegt  die  Genialität  der  ethischen  Produktion! 

Wenn  Humboldt  im  Herbst  1793  sagen  kann,  dass  sich  seine 
Zweifel  gegen  das  Kantische  System,  auch  gegen  den  ethischen 
Teil;  gelöst  hätten,  so  bedeutet  das  keinen  Abzug  an  der  geschil- 
derten eigenen  Ideenrichtung,  sondern  er  gewann  nur  ein  deut- 
licheres Bèwusstsein  dafür,  dass  Kants  Standpunkt  eine  solche 
Fortbildung  vertrüge.  Mit  voller  Deutlichkeit  tritt  dies  in  der 
Woldemarrezension  von  1794  hervor,  die  für  Humboldts  Ethik  von 
besonderer  Bedeutung  ist.  Vieles  ist  darin  Entgegenkommen  für 
Jacobi;  anderes  aber  echte  Überzeugung.  Dazu  rechne  ich  auch 
seine  Behauptung,  Jacobis  Ethik  wolle  nichts  anderes,  „als  eben 
das,  wovon  auch  das  rechtverstandene  Moralsystem  der 
kritischen  Philosophie  ausgeht  —  sittliches  Gefühl,  Gewissen, 
Freiheit.**^)  Das  unbedingte  Sittengesetz  ist  für  Jacobi  nichts 
anderes  als  des  Menschen  eigener  höchster  Trieb.  Der  „Wolde- 
mar"  soll  nun  erläutern,  dass  auch  unsere  edelsten  Triebe  uns 
vielfach  irreführen  können,  sofern  sie  blosse  Triebe  bleiben.  Dem 
stimmt  Humboldt  lebhaft  bei  :  „ Woldemar,  sagt  er  in  seiner  Re- 
zension, erfüllt  mehr  Pflichten,  die  er  liebt,  als  dass  er  sich  Gre- 
setzen  unterwirft,  die  er  achtet."  So  geht  zwar  sein  ganzes  Tnn 
„aus  der  Mitte  seiner  Triebe"  hervor;  aber  er  erfährt  zugleich 
die  ganze  Gefahr  der  blossen  Gefühlsmoral.  Hier  stellt  sich  nun 
Humboldt  ganz  auf  die  Seite  Kants.  In  einer  solchen  Lage  giebt 
es  nichts,  als  allein  dem  dürren  Buchstaben  des  Gesetzes  zu 
folgen.  „Wie  edel  auch  ein  Trieb  sein  mag,  so  ist  er  inuuer 
etwas  sinnlich  Bedingtes  und  nicht  fähig,    weder  sichere  —  denn 

»)  W.  W.  I,  308. 


W.  V.  Humboldt  und  gant.  Ô9 

im  Gebiete  der  Sinnlichkeit  sind  tansendfältige,  auch  dem  Wach- 
samsten nicht  immer  bemerkbare  Täuschungen  möglich  —  noch 
weniger  aber  reine  Moralität  zu  begründen.**^)  Er  spricht  damit 
nichts  aus,  als  Jacobis  eigenste  Einsicht;  gerade  damals  ent- 
wickelte dieser  in  dem  dritten  Stück  seines  Horenäufsatzes,  den 
Humboldt  freilich  noch  nicht  kannte,  zustimmend  seine  Stellung 
zu  Kant:  dass  das  Prinzip  der  Sittlichkeit  unabhängig  von  dem 
Prinzip  der  Selbstliebe  sei,  dass  Pflichterfüllung  und  Glücklichsein 
von  Natur  verschiedene  Dinge  seien. 2) 

Und  doch  strebten  beide  über  diesen  Standpunkt  hinaus,  ja 
sie  konnten  ihn  eigentlich  nur  als  einen  niederen  gelten  lassen. 
Es  lebt  eine  tiefe  Sehnsucht  im  Menschen,  schon  hier  mit  dem 
ethischen  Willen  seiner  Gottheit  eins  zu  werden.  Wenn  Jacobi 
einen  Trieb  in  der  Seele  annahm,  der  auf  Sittlichkeit,  Personalität, 
Selbstachtung,  auf  innere  Übereinstimmung  und  durchgängigen 
Zusammenhang  gerichtet  wäre,  so  fand  sich  Humboldt  gerade  des- 
halb sympathisch  davon  berührt,  weil  er  damit  den  notwendigen 
Znsammenhang  der  Glückseligkeit  mit  der  Tugend  angedeutet 
fand  und  eine  Möglichkeit  sah,  ohne  Flucht  ins  Transscendente 
die  Einheit  und  Ganzheit  des  Menschen  zu  bewahren.  So  wenig 
ihm  diese  Theorie  streng  genug  entwickelt  schien  —  und  sie 
drückt  in  der  Tat  nicht  das  Ganze  unserer  ethischen  Erfahrung 
aus  —  so  fand  er  doch  die  höchste  Reinheit  der  Moralität  darin 
durchaus  unentweiht.  Vor  allem  zog  ihn  der  griechische  Zug  zur 
Totalität  darin  an,  der  sich  ja  auch  in  der  gemeinsamen  Schätzung 
des  Aristoteles  aussprach,  und  überdies  die  enge  Beziehung  zur 
Wirklichkeit,  die  er  bei  Kant  vermisste.  Dass  Kant  und  Aristoteles- 
Jacobi  ihm  aber  völlig  gleichwertige  ethische  Typen  bedeuten, 
geht  daraus  hervor,  dass  er  um  dieselbe  Zeit  die  kritische  Philo- 
sophie als  „die  wahre""  bezeichnet  und  doch  zugleich  Voll- 
kommenheit als  Inhalt  des  formalen  Gesetzes  auffasst.') 

Wir  sind  damit  bereits  in  die  Zeit  der  engeren  Geistes- 
gemeinschaft  mit  Schiller  eingetreten,  und  es  muss  uns  nach  allem 
heute  noch  deutlicher  als  R.  Haym  vor  Äugen  stehen,  dass  Hum* 


Ï)  W.  W.  I,  2d8  ff. 

»J  Jacobi,  W.  W.  I,  297,  bes.  S.  304. 

^  An  Körner,  S.  12.  An  Wolf,  S.  112.  Aus  der  letzten  Stelle  er- 
giebt  sich,  dass  ihm  die  Reinheit  des  platonischen  Moralsystems  nicht 
fçitnz  lauter  erschien;  wahrscheinlich  weil  darin  die  Herrschaft  der  Ver- 
nunft durch  ein  blosses  Gleichgewicht  der  Vermögen  ersetzt  war. 


lOÔ  E.  Spranger, 

boldt  selbständig,  ja  z.  T.  früher  als  Schiller,  die  allgemeinphilo- 
sophischen,  ethischen  und  ästhetischen  Gedanken  in  sich  ausge- 
bildet hatte,  an  denen  sie  nun  gemeinsam  fortarbeiteten.  Beide 
trugen  sie  die  neubelebte  Renaissancetendenz  in  sich,  Natur  und 
Sinnlichkeit  mit  geistigem  Oehalt  zu  beleben,  Seelen  in  die  Fels- 
gesteine zu  träumen.  Wenn  Schiller  damals  in  der  Portfühnmg 
seiner  Kalliaspläne  Schönheit  als  Freiheit  in  der  Erscheinung 
definierte,  so  suchte  er,  ganz  wie  Humboldt,  im  Sinnlichen  eine 
unsinnliche,  eine  ethische  Idee.  In  der  Ethik  aber  dachten  sie 
völlig  verwandt:  sie  wussten  es  Kant  Dank,  dass  er  die  so  rühr- 
selig, gefällig  und  lieblich  dargestellte  „Tugend"  wieder  mit  dem 
Adel  der  Erhabenheit  umkleidet  hatte  ;  andererseits  aber  fanden  sie 
das  Stehenbleiben  bei  der  Feindschaft  zwischen  dem  Sinnlichen  und 
Sittlichen  eben  wegen  ihrer  universalen  Tendenz  zu  rigoros.  Da- 
her berichtet  Humboldt  von  Schillers  erster  Berührung  mit  Kant: 
Schiller  fand  „seinem  Ideeugange  nach,  die  sinnlichen  Kräfte  des 
Menschen  teils  verletzt,  teils  nicht  hinlänglich  geachtet,  und  die 
durch  das  ästhetische  Prinzip  in  sie  gelegte  Möglichkeit  freiwilliger 
Übereinstimmung  mit  der  Vernunfteinheit  nicht  genug  heraus- 
gehoben. So  geschah  es,  dass  Schiller,  als  er  zuerst  Kants 
Namen  öffentlich  aussprach,  in  Anmut  und  Würde,  als  sein 
Gegner  auftrat."^)  Auch  hier  wird  der  Pflichtcharakter  des  Sitt- 
lichen nicht  völlig  verwischt.  Die  beiden  ethischen  Typen,  die 
Humboldt  sich  gebildet  hatte,  finden  wir  bei  Schiller  wieder  in 
den  ästhetisierten  Begriffen  der  Anmut  und  Würde,  der  schönen 
und  erhabenen  Seele.  Die  beiden  Möglichkeiten:  freie  Harmonie 
des  Sinnlichen  mit  dem  Sittlichen  oder  siegreicher  Kampf  des 
Sittlichen  gegen  das  Sinnliche  bilden  die  Grundlage.  Beide 
Formen  sind  zugleich  eine  ästhetische  Darstellung  des  allgemeinen 
Vernunftgesetzes,  d.  h.  die  Verwirklichung  einer  Idee  in  einer 
Anschauung. 

Für  Humboldt  nahm  diese  Typisierung  nun  noch  eine  be- 
sondere Gestalt  an  :  Das  psychologische  Problem  der  Individualität 
ging  für  ihn  von  der  polaren  Erscheinung  des  Geschlechtsgegen- 
satzes aus;  ebenso  das  physiognomische,  das  Hindurchscheinen  der 
Seele  durch  die  Gestalt,  von  der  männlichen  und  weiblichen 
Bildung.    Er   versucht,   das   darin   liegende  psychologisch-ethisch- 


^)  Leitzmann,  S.  23.    V^l.  S.  339.    Schiller,  Werke,  Jubiläumsausgabe 
-((Jutta)  Bd.  XT,  S.  216. 


W.  y.  Humboldt  und  Kant.  101 

sthetische  Problem  mit  Kantischen  Kategorien  zu  konstruieren.*) 
[ants  (unbewusst  aus  ästhetischem  Geiste  geborener)  Fundamental- 
egensatz von  Form  und  Stoff  soll  dazu  dienen.  Sinnlichkeit  und 
fefühlsleben  galten  ihm  als  Stoff,  Intellektualität  und  Vernunft- 
esetz  als  Form.  Die  erste  Seite  ist  charakterisiert  durch  über- 
riegende  Empfänglichkeit,  die  zweite  durch  Selbsttätigkeit 
[ommt  der  einen  grössere  Naturnähe  zu,  so  weist  die  andere  ins 
ieenreich.  Nun  überwiegt  im  Manne  der  Verstand;  dies  stellt 
ich  physisch-symbolisch  durch  die  Bestimmtheit  seiner  Züge  dar; 
eim  Weib  das  Gefühl  :  daher  schon  physisch  die  Fülle  des  Stoffes, 
lur  wo  beide  Einseitigkeiten  zu  vollem  Gleichgewicht  ausge- 
liehen sind,  findet  sich  vollendete  Schönheit  des  Körpers  und  der 
»eele;  denn  die  höchste  idealische  Schönheit  streift  an  die  Idee 
es  Intersexuellen.  Im  Hintergrunde  liegt  die  hier  nicht  zu  ent- 
nckelnde  organische  Naturphilosophie,  die  die  Erscheinungen  aus 
em  Kampf  und  Zusammenwirken  polarer  Kräfte  erklärt.  Als 
olche  stehen  sich  Form  (Selbsttätigkeit)  und  Stoff  (Empfänglich- 
eit)  gegenüber;  das  männliche  und  weibliche  Prinzip  aber  be- 
enten  nur  einen  Spezialfall  beider.  Je  reicher  die  Fülle  und 
)ifferenzierung  des  letzteren,  um  so  edler  und  vollkommener  die 
urch  Integrierung  erfolgende  Formung:  auch  dies  Gesetz  stammt 
US  der  Ästhetik.  Damit  geht  das  rein  organische  Prinzip  von 
Empfängnis  und  Zeugung  parallel.^  So  verbinden  sich  also  die 
Laotischen  Kategorienpaare:  Form— Stoff  und  Rezeptivität— Spon- 
aneität  mit  der  monistischen  Analogienmetaphysik,  in  der  sich 
deen  Hallers,  Herders,  Blumenbachs,  Goethes  und  der  damaligen 
Chemie  mischen.^)  Doch  Kants  Einfluss  geht  noch  weiter:  das 
eugende,  formgebende  Prinzip  entspringt  auch  im  Organischen 
Qiimer  aus  Freiheit:  „Wunderbar  ist  es  zu  sehen,  wie  die  Natur, 
adem  sie  sich  jener  körperlichen  Kräfte  nur  insoweit  bedient,  als 
s  ihr  gleichsam  unentbehrlich  schien,  die  Freiheit,  dies  grosse 
^orrecht  der  Geisterwelt,  auch  in  das  andere  Gebiet  ihres  Reichs 

1)  Über  einen  ähnlichen  modernen  Versuch  (Weininger,  „G^eschlecht 
nd  Charakter^)  vgl.  m.  Bericht  in  Jahresber.  f.  neuere  deutsche  Litteratur- 
€8chichte.    1903.    S.  715. 

^  Die  Parallelität  des  Physischen  und  Psychischen  auf  diesem  Ge- 
iete  hatte  Hemsterbuis  mit  Strenge  abgewiesen.  So  auch  Humboldt 
a  einem  seiner  ersten  Gespräche  mit  Schiller  (Brantbriefe,  S.  414).  Bald 
inden  wir  ihn  ganz  entgegengesetzter  Meinung. 

^  Vgl.    Alexander  y.  Humboldts    Horenaa&atz:    ,|Der    Rhodische 


lOÎ  B.  Spranger, 

hinüberzuführen  strebt."^)  Aber  alle  Schärfe  und  Bestimmtheit 
der  Kantischen  Begriffe  ist  hier  in  natnrphilosophiscbe  Metaphysik 
verflüchtigt.  Wichtig  ist  uns  hier  nur  die  ethische  Konsequenz: 
Der  Natur  des  Weibes  entspricht  als  ethischer  Typus  die  Tugend 
aus  Neigung,  der  des  Mannes  die  aus  Charakter.  Beide  Organi- 
sationen sind  physisch  und  geistig  einseitig.  Ihre  ideale  Gestalt 
erhalten  sie  nur  in  der  ästhetischen  Ausbildung.  Da  v^e  denn 
das  Höchste  die  Gattungsschönheit,  die  sich  über  den  Geschlechts- 
gegensatz erhebt.  Neben  dieser  Idee,  oder  vielmehr  ihr  unter- 
geordnet, steht  der  ideale  Geschlechtscharakter.  Auch  er  kann 
nur  ästhetisch  zur  Darstellung  gebracht  werden;  so  stellt  die 
Bildhauerkunst  den  idealen  weiblichen  Körper  dar,  indem  sie  die 
die  Idee  des  Weibes  in  ein  Individuum  verwandelt.  Aus  ihm 
leuchtet  dann  auch  der  ethische  Charakter  des  Weibes  hervor, 
nicht  der  blosse  Natur-,  sondern  der  Ideal-  oder  Willenscharakter. 
Er  wird  bei  der  Frau  immer  die  Züge  der  Anmut  tragen,  weil 
bei  ihr  die  Empfänglichkeit  frei  entgegenkommend  mit  dem  Ge- 
setz hwmoniert;  beim  Manne  aber  die  Züge  der  Würde,  wenD 
seine  überwiegende  Selbsttätigkeit  zur  harmonischen  Herrschaft 
über  die  Neigungen  gelangt  ist.  In  beiden  ist  die  Form  Sieger 
geworden  über  den  Stoff:  die  eigentliche  Schönheit  aber  bat  auch 
die  Spuren  jedes  Kampfes  verlöscht:  „Wie  in  der  veredelten 
Menschheit  das  Gebot  der  Vernunft  als  der  freie  Wunsch  der 
Neigung,  und  die  Stimme  des  Affekts  als  der  Ausdruck  des  ver- 
nünftigen Willens  erscheint,  so  erscheint  in  der  hohen  Schönheit 
die  Gesetzmässigkeit  der  Form  als  ein  freies  Spiel  der  Materie, 
und  die  Geburt  der  Willkür  als  ein  Werk  des  Gesetzes.***^) 

Diese  Parallelisierung  des  Gescblechtsgegensatzes  mit  dem 
Gegensatz  der  beiden  ethischen  Typen  hat  Humboldt  seitdem 
immer  wieder  beschäftigt.^)  Ebenso  aber  hält  er  daran  fest,  dass 
beide  Typen,  die  FflichterfuUung  aus  halb  widerstrebender  Achtung 
oder  aus  unmittelbarer  Neigung,  als  blosse  Naturanlagen  noch 
nlQbt  ißn  höchsten  ethischen  Wert  darstellen.  Diesen  erhalten 
m  erst  dorch  ästhetische  Kultur.  Und  wie  er  hier  inhaltlich 
ganz  mit  Schillers  Ideen  zusammentraf,  so  bedient  er  sich  auch 
immer  häufiger   der  Schillerschen   Kategorien,  wie  Stofftrieb  und 


1)  W.  W.  1,  330  f. 

2)  W.W.  I,  351.    Vgl  besondere  die  Formnlierang  der  beiden  Typen. 
W.  W.  I,  821  1,  auch  338. 

«)  W.  W.  I,  410.    n,  102. 


W.  V.  Humboldt  und  Kant.  103 

Fonntrieb,  naiv  und  sentimental  etc.  Auch  in  ihrem  Briefwechsel 
klingen  diese  Oedankenreihen  immer  wieder  an,  so  besonders  in 
Humboldts  Brief  über  „Das  Reich  der  Schatten''  vom  21.  August 
179Ö.  Es  scheint  ihm  noch  nicht  deutlich  genug  herausgekommen 
zu  sein,  was  doch  die  eigentliche  Grundidee  des  Gedichtes  aus- 
macht: „Der  bloss  moralisch  ausgebildete  Mensch  gerät  in  eine 
ängstliche  Verlegenheit,  wenn  er  die  unendliche  Forderung  des 
Gesetzes  mit  den  Schranken  seiner  endlichen  Kraft  vergleicht. 
Wenn  er  sich  aber  zugleich  ästhetisch  ausbildet,  wenn  er  sein 
Inneres,  vermittelst  der  Idee  der  Schönheit,  zu  einer  höheren 
Natur  umschafft,  so  dass  Harmonie  in  seine  Triebe  kommt,  und 
was  vorher  ihm  bloss  Pflicht  war,  freiwillige  Neigung  wird,  so 
hört  jener  Widerstreit  in  ihm  auf.***) 

Die  grossen  Abhandlungen  der  Jahre  1796/8  enthalten  nichts, 
was  in  diesem  Jugendstandpunkt  nicht  bereits  vorgebildet  wäre: 
Die  Humanitätsidee  ist  Kant  gegenüber  definitiv  proklamiert;  nur 
die  Bestimmung  ihres  Inhaltes  kann  noch  schwanken.  In  der 
Charakteristik  des  18.  Jahrhunderts  muss  natürlich  der  Gedanke 
besonders  hervortreten,  dass  die  Anerkennung  des  allgemeinen 
Gesetzes  allein  nicht  ausreicht:  die  unverkürzte  AnertLennong  der 
individuellen  Triebnatur  und  die  Synthese  beider  in  der  ästhetisch- 
ethischen  Struktur  des  vollendeten  Menschen  muss  hinzutreten. 
„Nichts  auf  der  Welt  wirkt  so  feindselig  gegen  Heroismus  und 
Enthusiasmus,  als  ein  übermässiger  Hang  zum  Raisonnement.*'') 
Nicht  ein  Ideal  ist  dem  Menschen  aufzudrängen,  sondern  es  ist 
ihm,  „wenn  nur  gewisse  unerlässliche  Forderungen  erfüllt  sind, 
eine  grosse  Freiheit  in  der  Annahme  eines  bestimmten  Charakters 
erlaubt**^  Deshalb  ist  es  nun  auch  die  eigentliche  Aufgabe  jeder 
ethisch-psychologischen  Charakteristik,  zu  zeigen,  „wie  das  allge- 
meine Gesetz  und  die  besondere  Eigentümlichkeit  sich  gegenseitig 
verfeinern  und  erweitern.**^)  „Der  wirkliche  .Charakter  ist  nicht 
und  darf  nicht  der  blosse  und  reine  Willenscharakter,  er  ist  und 
moss  immer  ein  Zusammengesetztes  von  beiden  sein:  die  ursprüng- 
liche Natur  berichtigt  und  gebilligt  durch  die  Vernunft  und  die 
Freiheit.**^)     Denn  es  giebt  einen  angeborenen  Charakter,    der 


1)  Leitemann,  S.  86  f. 
«)  W.  W.  n,  108  f.,  109. 
»)n,86. 

♦)  w.  w.  n,  41. 

•)  W.  W.  H  88. 


104  E.  Spranger, 

„blosse  und  ursprüngliche  Natur  ist";  „auch  die  moralischen 
Neigungen  sind  ursprünglich  im  Menschen  instinktartig  da."*^) 
Wir  müssen  uns  hüten,  durch  Künsteleien  der  Vernunft  die  Natur 
zu  verdrehen,  die  wir  nur  besser  entwickeln  und  ausbilden  sollten.^) 
Aber  hier  macht  sich  nun  Humboldt  selbst  einen  Einwurf:  es  er- 
hebt sich  das  Problem,  von  dem  oben  bereits  kurz  die  Rede  war, 
ob  auf  solchem  Wege  nicht  unübersteigliche  Hindernisse  eintreten 
können,  ob  jene  ästhetische  Harmonie  immer  erreichbar  ist?  Wird 
es  immer  möglich  sein,  die  moralische  Individualität  mit  den  völlig 
allgemeinen  Forderungen  der  Moral  zu  versöhnen?  Die  Lösung 
ist  optimistisch  genug,  ganz  wie  das  Ean tische:  „Was  ich  soll, 
muss  ich  können"  :  Der  ursprüngliche  Charakter  des  Menschen  ist 
schon  der  seiner  Persönlichkeit;  die  Vernunft  ist  nichts,  als  gleich- 
sam ihre  höchste  Formgebung.  So  erklärt  es  sich,  dass  in 
Wahrheit  „nichts  dem  Gebote  der  Vernunft  und  des  Willens 
widerstehen  darf."^)  Hier  liegt  mehr  im  Hintergrunde,  als  die 
Formel  durchscheinen  lässt:  Die  Antimonie  von  Natur  und  Frei- 
heit im  Menschen  war  durch  Kants  Zweiweltentheorie  mehr 
umschrieben  als  gelöst.  Ei-st  eine  Einheitsmetaphysik  wie  die 
Schellings  oder  Humboldts  durfte  das  positive  Zusammenfallen 
von  Naturnotwendigkeit  und  Vernunftfreiheit  behaupten,  weil  ihr 
die  moralischen  Bildungsgesetze  schliesslich  nichts  anderes  waren 
als  letzte  Fortsetzungen  und  höchste  Sublimierungen  des  in  der 
Natur  waltenden  organischen  und  künstlerischen  Bildungstriebes, 
und  weU  sie  der  optimistische  Qlaube  an  eine  ideale,  ästhetische 
Harmonie  beseelte.  So  tritt  die  innere  Notwendigkeit,  mit  der 
aus  Kants  Dualismus  die  Identitätsphilosophie  hervorwächst,  in 
immer  helleres  Licht. 

Diese  ganze  vielverschlungene  ethische  Ideenreihe  erreicht 
ihren  Gipfel  in  der  Analyse  von  „Hermann  und  Dorothea**.  Auch 
sie  will  nicht  ein  bloss  psychologisch-ästhetisches  unternehmen 
sein,  sondern  es  macht  den  Grundgedanken  Humboldts  aus,  dass 
jede  Charakteristik  des  menschlichen  Geistes  nach  seiner  ganzen 
Weite  unmittelbar  in  den  Dienst  der  ethischen  Ausbildung 
tritt.  So  wie  er  von  der  psychologischen  Versenkung  in  das 
klassische  Altertum  eine  Ausweitung  der  eigenen  Seelenkräfte  er- 
wartete, so  versenkte  er  sich  in  Goethes  griechischen  Dichtergeist, 

1)  W.  W.  II,  88  f. 

«)  n,  97. 
3)  n,  92. 


W.  V.  Humboldt  und  Kant.  105 

um  seine  ästhetisch-ethische  Struktur  zu  ergründen.  In  solcher 
Arbeit  sah  er  einen  Weg,  den  Begriff  der  Menschheit,  ihre  Grenzen 
selbst  zu  erweitern.  „Man  gewinnt  eine  Idee,  welche  durch  Be- 
geisterung zugleich  Kraft  mitteilt,  da  das  Gesetz  die  Schritte  nur 
leitet,  nicht  auch  beflügelt,  und  den  Mut  mehr  daniederschlägt, 
als  erhebt."^)  So  leitet  also  von  der  Psychologie  und  Ästhetik 
eine  Brücke  zur  Ethik,  und  zwar  zu  jenem  Humanitätsideal,  das 
die  Ausbildung  der  natürlichen  Individualität  zur  weitesten  Fülle 
bedeutet,  das  aus  der  allgemeinen  Verschiedenheit  doch  Einheit 
im  Ganzen  erzeugt  und  das  nach  seiner  Auffassung  auch  das 
eigentliche  Hauptthema  in  Goethes  Dichtung  bildet.^). 

Wie  er  selbst  sich  Inhalt  und  Wirkung  dieser  letzten  und 
höchsten  Idee  dachte,  hat  er  in  einem  wenig  gekannten,  skizzen- 
haften Aufsatz  des  Jahres  1798  „Der  Geist  der  Menschheit"  in 
komprimiertester  Form  entwickelt.  Die  Einzelheiten  gehören  nicht 
in  diesen  Zusammenhang.  Aber  Kant  gegenüber  bleibt  seine 
Stellung  dieselbe.  Der  moralische  Wert  und  die  Gesinnung  machen 
zwar  die  Würde  des  Menschen  aus;  aber  sie  bedeuten  doch  nur 
einen  Teil  unseres  Wesens,  sie  erschöpfen  noch  nicht  die  Totalität 
des  Menschheitsideales;  denn  die  Bildung  der  Menschheit  kann 
eben  nicht  als  bloss  moralische  aufgefasst  werden.^)  „Diese 
wahrhaft  idealische  Bildung  ist  es,  sagt  er  in  der  gleich- 
zeitigen Rezension  der  »Agnes  von  Lilien«,  die  noch  über  die 
moralische  hinausgeht."^)  Der  ideale  Charakter  ist  ein  Kunst- 
werk. Und  als  die  beiden  Typen  dieses  Kunstwerkes  werden 
wieder  Schönheit  und  Erhabenheit  (oder  Anmut  und  Würde)  ge- 
nannt. Hier  aber  tritt  nun  der  Gedanke  hervor,  dass  in  dem 
edler  gebildeten,  nicht  bloss  sittlichen  Menschen  beide  Arten  der 
Sittlichkeit  eigentlich  in  einander  aufgehen:  „Die  beiden  hier  an- 
geführten Arten  der  Sittlichkeit  setzen  sich  nur  dann  eigentlich 
gegeneinander  ab,  wenn  jede  nicht  mehr  vollkommen  rein  ist,  die 
.schöne  zu  einer  bloss  pathologischen  Zartheit  des  Gefühls  herab- 
sinkt, die  erhabene  in  Strenge  und  Rauhigkeit  ausartet;  in  ihrer 
echten  Gestalt  hingegen  nähern  sie  sich  unaufhörlich  einander, 
und  gehen  nach  Massgabe  der  Lagen  und  Stimmungen  gegenseitig 


»)  W.  W.  n,  118. 
«)  W.  W.  U,  278  f. 
9)  W.  W.  U,  826. 
*)  W.  W.  n,  848. 


106  Ë.  Spranger, 

in  einander   über."^)    Als  Repräsentanten  jener  Extreme  dr&ngen 
sich  uns  Woldemar  und  Kant  auf.  — 

Aus  dieser  entwickelungsgeschichtlichen  Skizze  ergiebt  sich 
Humboldts  systematische  Stellung  zur  Eantischen  Ethik  von  selbst 
Alle  wesentlichen  Gesichtspunkte  stehen  bis  1798  fest;  seitdem 
erfolgt  allmählich  die  Wendung  zu  der  Ideenlehre,  die  halb  m^- 
physisch,  halb  psychologisch  verankert  ist.  Das  Problem  derV«^ 
flochtenheit  des  Individuums  in  die  Weltbegebenheiten,  das  Ge- 
heimnis, wie  die  vergängliche  Einzelexistenz  mit  der  ewigen  Idee 
verbunden  ist,  wird  nun  das  ethische  Hauptproblem.  Aber  eine 
ethische  Grundtatsache  bleibt  in  allen  Perioden  seines  Denkens 
gleich  fest,  wenn  er  ihr  auch  nicht  in  der  Eantischen  Schalsprache 
Ausdruck  gegeben  hat,  von  der  er  sich  überhaupt  relativ  weiter 
entfernt,  als  Schiller.^)  Wieder  ist  es  dies,  dass  Kant  die  Philo- 
sophie in  den  Tiefen  der  menschlichen  Brust  isolierte:  in  Kants 
eigener  Formel:  die  Lehre  vom  intelligiblen  Charakter.  Der  volle 
Gedanke,  der  dahinter  lebt,  ist  doch  der,  dass  aller  Wert  des 
Menschen  aus  den  Tiefen  seines  eigentlichen  Selbst  stammt,  ans 
jener  letzten  Sphäre,  die  von  Raum  und  Zeit  nicht  berührbar  und 
nicht  an  sie  verlierbar  ist,  aus  einem  wurzelhaften  metaphysisdien 
Reich,  wo  das  Taghelle  des  Bewusstseins  sich  verliert  in  das 
Schweigen  des  Weltzusammenhanges.  Es  ist  die  Eigenart  von 
Kants  ethischem  Erleben,  dass  für  ihn  die  sinnliche  und  triebhafte 
Seite  seiner  selbst  nicht  innig  mit  diesen  Wurzeln  zusammenhing, 
sondern  dass  er  sie  in  einem  Gegensatz  zu  seinem  Selbst  fühlte 
und  daher  das  Ich  in  eine  Dualität  zerriss.  Anders  lebten  und 
erlebten  Reuaissancegeister,  wie  Goethe,  Herder,  Humboldt,  selbst 
Schiller.  Deshalb  verwandelt  sich  ihnen  jener  Dualismus  mdir 
oder  weniger  in  einen  naturalistisch-mystischen  Monismus  :  mina 
^ەa,  dvi^Qwmva  ndvxa.  Der  Ansatzpunkt  aber  blieb  derselbe: 
das  Ich,  das  mit  sich  selbst  allein  ist,  das  in  seinen  ethischen 
Erfahrungen  und  in  seinem  Handehi  sich  selbst  erst  entdeckt  und 
darin  zugleich  den  höchsten,  eigentlichen  Wert  der  Welt  erfährt 
Einen  intelligiblen  Charakter  in  diesem  Sinne  musste  auch  Hnin- 
boldt  kennen  (vgl  oben).  Schon  1795  spricht  er  von  dem  ge- 
heimen Leben  und  der  inneren  Kraft  jedes  Wesens,   „von  welcher 


1)  Im   gleichen  Jahre  1798  findet  sich  die  Zweitypentlieorie  noch 
einmal  in  den  Briefen  an  Jacobi,  S.  63. 
>)  Leitzmami,  S.  24/5. 


W.  V.  Humboldt  und  Kant.  107 

le  sichtbaren  Veränderangen  nur  unvollkommene  und  vorüber- 
ende  Erscheinungen  sind,  und  auf  deren  unmittelbarem  und 
>fem  unerkanntem  Wirken  dasjenige  beruht,  was  wir  Schicksal 
nen^.^)  Immer  mehr  fand  er  in  diesem  Unerkennbaren  das 
sntlicbe  Lebensprinzip,  den  Quell  aller  Kraft  und  Selbsttätig- 
t.     Und   zwar  ist   er   von   früh   an  Identitätsphilosoph  genug, 

in  ihm  sowohl  den  eigentlichen  plastischen,  organischen 
Inngstrieb,  als  auch  den  geistigen  Trieb,  der  die  „innere 
stesform''  ausmacht,  zu  suchen.    Und  andererseits  bedeutet  ihm 

Individualität  so  wenig  eine  metaphysische  Negation,  dass 
zugleich  den  „Grundtrieb  der  Individualität**  bis  in  diese  Tiefen 
legt.^  Bei  aller  Analyse  bleibt  doch  „eine  unbekannte  Grösse" 
ück:  „die  primitive  Kraft,  das  ursprüngliche  Ich,  die  mit  dem 
)en  zugleich  gegebene  Persönlichkeit.  Auf  ihr  beruht  die  Frei- 
t  des  Menschen,  und  sie  ist  daher  sein  eigentlicher  Charakter"/) 
er  Mensch  ist  mehr  und  noch  etwas  anderes,  als  alle 
ne  Reden  und  Handlungen  und  selbst  als  alle  seine  Em- 
idungen  und  Gedanken;  und  wie  genau  man  auch  ein  Indi- 
anm  kennen  mag,  so  versteht  man  immer  nur  einzelne  seiner 
sserungen  und  leistet  sich  niemals  ein  Genüge,  wenn  man  nun- 
hr  alles  zusammennehmen,  dasjenige,  was  es  eigentlich  ist,  und 
8  auf  einmal  aussprechen  will.  .  .  .  Und  dies  führt  notwendig 
:  eine  innere  und  ursprüngliche  Kraft  in  ihm,  die  sein  eigent- 
les  Ich,  seinen  wahren  Charakter  ausmacht  und  der  wir  uns 
hl  nähern  können,  die  wir  aber  nie  ganz  zu  enthüllen  hoffen 
•fen."*) 

Humboldt  ist  echter  Kantianer,  sofern  er  diese  Selbsttätigkeit 
Quell  des  sittlich  Wertvollen  bezeichnet.  Er  entfernt  sich  aber 
doppelter  Weise  von  ihm.  Einmal,  insofern  er  dieses  schon  bei 
Dt  die  Brücke  zur  Metaphysik  bildende  Faktum  metaphysisch 
liter  ausdeutet  als  Kant.  Was  durch  die  Naturphilosophie  der 
renaufsätze  bereits  vorgebildet  ist,  dass  nämlich  für  Humboldt 
tor  und  Geist  eine  unlösbare  Einheit  bedeuten,  was  ihm  in  der 
irra   Morena   als   dichterische   Intuition    vorschwebt,  wird   seit 

1)  Leitzmann,  8.  77.    An  Jacobi,  S.  61.  65. 

*)  Individualität  folgt  also  für  ihn  nicht  aua  der  blossen  Differen- 
ning  in  Zeit  und  Raum,  so  wenig  wie  für  Leibniz.  Über  Kants  Indi- 
oaÜBmus  vgl.  Si  m  me  1,  Kant,  16.  Vorlesung. 

»)  W.  W.  n,  90. 

*)  W.  W.  n,  88  f. 


108  E.  Spranger/ 

1806  zur  ausgesprocheneu  Identitätsphilosophie.  Der  schöpferische 
Grundtrieb  der  Individualität  ist  für  ihn  in  dieser  Epoche 
etwas  Unendliches,  das  sich  in  der  Erscheinung  nie  rein  and  ganz 
offenbaren  kann.^)  Ganz  ebenso  sah  ja  Fichte  in  der  Individuali- 
tät die  inadäquate  Erscheinungsform  des  Absoluten.  Aber  er  folgt 
ihm  und  Schelling  noch  weiter,  wenn  er  diese  Individualität  geradezu 
eine  selbsttätige  Idee  nennt,  wenn  er  in  diesem  Lebensprinzip 
Freiheit  und  Notwendigkeit  zusammenfallen  oder  vielmehr  in  einer 
dritten  höheren  Idee  untergehen  lässt,  und  ei  folgt  rein  Schelliugschen 
Bahnen,  wenn  er  als  ihren  Inhalt  die  kämpfende  Sehnsucht  be- 
zeichnet, deren  unendlicher  Trieb  sich  in  drei  analogen  Bildungen: 
dem  Organismus,  dem  Kunstwerk  und  der  Persönlichkeitsfonn 
offenbart.  Dieses  innere  Lebensprinzip,  das  im  Sinne  der  Iden- 
titätsphilosophie psychophysisch  wirksam  gedacht  werden  moss, 
ist  es  ja  auch,  das  Humboldt  in  seinem  Hauptwerke  immer  wieder 
als  den  eigentlich  spracherzeugenden  Faktor  betont.  Damit  also 
verlassen  wir  die  Kantischen  Bahnen  und  betreten  den  Boden 
nachkantischer  Spekulation,  mit  der  sich  bereits  die  ersten  Wir 
kungen  der  indischen  Renaissance  verbinden,  und  von  der  hier  nicht 
ausführlicher  zu  reden  ist.^ 

Aber  fast  noch  charakteristischer  ist  die  zweite  Abweichung: 
Humboldt  bleibt  in  seinem  ethischen  Ideal  nicht  bei  der  rigorosen 
Betonung  der  Selbsttätigkeit  und  ihrer  Isolierung  vom  empirischen 
Stoff  stehen,  sondern,  gerade  weil  er  sich  diese  Selbsttätigkeit 
immer  individuell  gerichtet  denkt,  fordert  er,  dass  sie  sich  sovid 
Welt  als  möglich  assimiliere.  Zum  sittlichen  Wert  der  indivi- 
duell-einseitigen Selbsttätigkeit  gehört  es  also,  dass  sie  Empfäng- 
lichkeit besitzt  und  übt,  um  sich  über  ihre  Schranken  hinans 
zur  menschlichen  Universalität  zu  bilden,  ganz  wie  das  Kunst- 
werk, nach  Moritzscher  Theorie,  im  kleinen  das  Universum  und 
seine  Harmonie  widerspiegelt.  Deshalb  ist  für  Humboldt  das 
Nicht-Ich  ethisch  nicht  indifferent,  sondern  ganz  wie  Fichte  sieht 
er  darin  den  eigentlichen  Übungsstoff  unserer  Kräfte.^  Wo  Kant 
ängstlich,  fast  m()nchisch,  negiert  und  abschneidet,  dringt  Hum- 
boldt auf  vollo  Durchdringung.  Deshalb  wird  er  zum  Apostel  der 
Humanität  neben  Herder,  Schiller,  Goethe  und  dem  Jenaer  Kchte. 


»)  W.  W.  Ill,  204  und  865*. 
«)  Vgl.  Leitzmann,  H.  18. 
8)  W.  W.  I,  ^88. 


W.  V.  Humboldt  und  gant.  109 

eon  er  von  Schillers  Dichtergeist  sagen  konnte,  dass  er  Kant 
id  Goethe  verknüpfe,  weil  er  die  Selbsttätigkeit  der  Idee  mit  der 
mpfänglichkeit  für  den  Stoff  vereine,^)  so  gilt  dasselbe  von  seiner 
thik:  sie  verbindet  Kant  und  die  Griechen  in  einem  universa- 
(tiscben  Geiste.  Deshalb  trägt  sie,  besonders  in  seinen  jungen 
ihren,  einen  eudämonistischen  Zug,  als  er  das  Beruhen  in  einem 
»jektiven  Lebensinhalte  noch  mit  dem  Namen  Glück  identifi- 
erte;  später  behauptete  er,  dass  es  auf  Glück  nicht  ankomme: 

„Aus  des  Busens  Tiefe  strömt  Gedeihen 

Der  festen  Duldung  und  entschlossner  Tat. 

Nicht  Schmerz  ist  Unglück,  Glück  nicht  immer  Freude; 

Wer  sein  Geschick  erfüllt,  dem  lächeln  beide."    (1808.) 

'^ie  es  natürlich  ist,  zeigt  er  im  Alter  deutliche  Spuren  von  Ab- 
hliessung  und  Resignation,  ohne  dass  darum  der  humanistische 
edanke  widerrufen  würde.  Besonders  in  den  Briefen  au  Char- 
ité Diede  tritt  dieser  stoische  Zug  hervor,  wie  sie  auch  eine 
arke  Wendung  zu  christlich-religiösen  Ideen  hervorkehren.  Es 
t  in  Wahrheit  der  uralte  ethische  Typus  der  Stoa,  nichts,  was 
an  mit  methodischem  Grunde  ausdrücklich  auf  Kant  zurückführen 
Jiinte.2)  Diesem  gegenüber  bleibt  vielmehr  seine  Stellung  bis  an 
in  Lebensende  unverändert.  Das  bezeugt  uns  ein  Brief,  den  er 
)ch  zwei  Monate  vor  seinem  Tode  an  die  Freundin  schrieb  und 
it  dem  wir  daher  auch  diesen  Überblick  über  seine  Ethik  ab- 
hliessen  dürfen:  „Die  Pflichtmässigkeit  ist  nicht  der  Endpunkt 
T  Moralität,  vielmehr  nur  ihre  unerlässliche  Grundlage.  Das 
5chste  ist  der  sittlich-schöne  Charakter,  der  durch  die  Ehrfurcht 
\r  dem  Heiligen,  den  edlen  Widerwillen  gegen  alles  Unreine, 
Qzarte  und  Unfeine,  und  durch  die  tief  empfundene  Liebe  zum 
in  Guten  und  Wahren  gebildet  wird**.^ 


1)  Leitzmann,  S.  197. 

S)  Gegen  R.  Haym,  S.  613. 

^  Ausgabe  der  Univ.-Bibl.,  S.  587.  Weitere  auf  Kant  bezügliche 
eilen  das.  S.  131.  190.  233.  267.  483.  —  £s  ist  hier  ein  nicht  genau  da- 
irbares  Fragment  „Über  das  Verhältnis  der  Religion  und  der  Poesie  zu 
r  sittlichen  Bildung**  zu  erwähnen,  das  Alex.  v.  Humboldt  in  der  Vor- 
ie  zu  der  Sammlung  der  Sonette  seines  Bruders,  Berlin  1868,  mitteilt. 
I  soll  vor  1824  niedergeschrieben  sein;  doch  wohl  kaum  viel  früher,  da 
eine  weit  höhere  Schätzung  der  Religion  in  ihrem  Einfluss  auf  die 
ttlichkeit  zeigt,  als  Humboldt  selbst  in  seinen  mittleren  Jahren  hesass, 
id  da  es  ganz  an  den  Brief  an  Charl.  Diede  vom  21.  Mai  1825  anklingt, 
icr  ist   sein    Standpunkt  näher  präcisiert,  als   an   den  meisten  anderen 


llÔ  ft.  Sprangei*, 

m. 

Humboldts  Kantstudium  darf  nicht  nur  insofern  für  inten- 
siver gelten  als  das  Schillers,  weil  er  ihm  mehrere  Jahre  hindurch 
wiederholt  ganze  Zeitabschnitte  widmete,  sondern  auch  deshalb, 
weil  er  mit  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  begann,  w&hr«id 
Schiller  von  der  Kritik  der  Urteilskraft  und  der  Sittenlehre  aus- 
gegangen zu  sein  scheint.^)  Wir  wissen  aber,  dass  von  vornherein 
der  Trieb  nach  der  Ganzheit  der  menschlichen  Natur  in  ihm  lag, 
dass  ihm  Plato  ein  Führer  wurde,  das  Physische  moralisch  zu 
deuten,  und  dass  er  gerade  diese  These  der  Aufklärungspbilosophie 
mit  Enthusiasmus  aufgriff:  im  Ästhetischen  liegt  die  Brücke  von 
den  unteren  Seelenkräften  des  Menschen  zu  den  oberen. 

Diese  Lehre  hatte  ihren  Ursprung  in  der  Leibnizischen  Phi- 
losophie: die  Vollkommenheit  der  Seelenmonade  wächst,  je  aktive 
sie  wird,  d.  h.  je  mehr  Vorstellungen  sie  hat.  Nun  ist  die  Kunst 
ein  Mittel,  unsere  Vorstellungstätigkeit  zu  bereichern  und  ihre 
Energie  intensiver  zu  gestalten.  Also  ist  sie  auch  eine  Vorstufe 
zur  moralischen  Vollkommenheit  in  dem  Sinne,  wie  sie  die  Aaf- 
klärungsethik  fasste.  Diesen  Qedanken  hatte  Sulzer  in  zahllosen 
Aufsätzen  und  Artikeln  immer  wieder  entwickelt,  Mendelssohn 
und  Engel  bewegten  sich  in  gleicher  Linie,  und  so  stieg  die  an- 
fangs noch  von  Baumgarten  und  Meier  geringgeschätzte  ver- 
worrene ästhetische  Erkenntnis  immer  höher,  löste  sie  sich  immff 
energischer  von  der  unteren  Seelenkraft,  der  bloss  sinnlichen,  sb, 
um  schliesslich  ein  eigenes  Zwischenreich  und  ein  eigenes  Seelen- 
vermögen, das  des  Gefühls,  für  sich  in  Anspruch  zu  nehmen. 
Dazu  kam  der  an  Shaftesbury  anknüpfende  Ästheticismus  d«r 
Engländer,  dessen  Kraft  in  dem  wallenden  Untergrunde  eines 
sinnenfreudigen  Lebensgefühls  liegt.  Sein  metaphysischer  Aus- 
druck wirkt  in  Herder,  Goethe,  K.  Ph.  Moritz  u.  a.  fort,  sein 
Geist  aber  nicht  minder  in  Winckelmanns  plastischer  Art  zu  sehen: 


Stellen:  Vollendete  Sittlichkeit  ist  erst  da,  wo  sie  in  die  Gesinnung  fibe^ 
gegangen  ist;  also  darf  sie  auch  nicht  auf  blossen  G-efühlen,  sondern  moss 
auf  Grundsätzen  beruhen,  die  ihrerseits  wieder  zur  Empfindung  geworden 
sind.  Soll  die  Poesie  auf  die  Moralität  einwirken,  so  muss  eine  doppelte 
Grundlage  bereits  vorhanden  sein:  ein  Mass  von  sittlioh-religiöser  Ge- 
sinnung (erläutert  an  Shakespeares  Macbeth)  und  ein  umfassenderes  Mass 
von  Kenntnissen.  Hier  also  liegt  die  Idee  einer  ethischen  Stufenordonng 
im  Hintergrunde,  der  wir  auch  bei  Fichte  und  Hegel  begegnen. 
^)  Leitzmann,  831  f. 


W.  V.  Hnmboldt  und  Kant.  Ill 

ill  ihm  erschloss  sich  ein  neuer  Sinn  für  das,  was  Piatos  Seh- 
organ ausmachte:  für  die  Zeichea  des  Geistigen  im  Körperlichen, 
die  Chiffreschrift  der  Natur.  Der  künstlerische  Faktor  trat 
m&chtig  in  das  Triebwerk  des  geistigen  Lebens  ein.  So  bewertete 
man  das  Ästhetische,  ehe  Kant  ihm  von  seinem  neu  gewonnenen 
Standpunkte  Aufmerksamkeit  schenkte.  Die  Stufe  war  erreicht, 
ehe  man  sie  in  Kantischen  Formeln  aussprach.  Als  glänzendstes 
Denkmal  dafür  haben  wir  Schillers  „Künstler'',  dem  wir  nun  aber 
ein  aus  dem  gleichen  Jahre  stammendes  Dokument  von  Humboldt, 
den  Aufsatz  „Über  Religion**,  an  die  Seite  stellen  dürfen.  Vom 
sinnlichen  Zustande  „bis  zur  moralischen  Bildung  ist  eine  unüber- 
springbare  Kluft,  zu  welcher  nur  die  ästhetische  den  Übergang 
bahnen  kann**.^)  „Ausbildung  und  Verfeinerung  muss  das  bloss 
sinnliche  Gefühl  erhalten  durch  das  Ästhetische.**^)  Und  an 
Forster  schreibt  er  gleichzeitig  von  dem  ästhetischen  Sinn  als  dem 
»Mittler  zwischen  dem  sterblichen  Blick  und  der  unsterblichen 
Uridee**.«) 

Von  solchen  Gesichtspunkten  aus  musste  natürlich  Kants 
K.  d.  U.  bei  ihrem  Erscheinen  den  tiefsten  Eindruck  auf  Hum- 
boldt machen;  denn  hier  war  das  alte  Problem  in  die  neue  Be- 
leuchtung gerückt:  wie  gewinnen  wir  den  Zusammenhang  zwischen 
der  EIrscheinungswelt  und  dem  intelligiblen  Reich?  In  der  Tat 
sind  1792  in  den  Stellen,  die  Humboldt  wörtlich  oder  umgearbeitet 
ans  dem  genannten  Aufsatz  in  seine  politische  Schrift  übernahm, 
die  früheren  Platozitate  durch  Verweisungen  auf  Kants  K.  d.  U. 
ersetzt*)  An  keiner  anderen  Stelle  geht  Humboldt  so  auf  die 
Einzelheiten  Kantischer  Philosophie  ein;  ein  Beweis,  wie  tief  ihn 
gerade  die  dritte  Kritik  beschäftigte,  und  es  scheint  mir  ebenso 
nor  ein  weiterer  Beleg  dieses  zentralen  Interesses,  wenn  er  gerade 
an  ihr  auch  nach  dem  dritten  Kantstudium  „eine  gewisse  Flüchtig- 
keit*' zu  bemerken  glaubte.  Auf  diesem  Gebiet  nämlich  strömten 
ihm  eigene  Ideen  in  Fülle  zu,  und  er  fühlte  sich  berufen,  zu 
Kant  Stellung  zu  nehmen,  ihn  zu  ergänzen  und  fortzubilden. 

Daher  würde  nur  eine  Zusammenfassung  all  seiner  systema- 
tischen und  verstreuten  Äusserungen  über  das  Schöne  sein  Ver- 
hältnis zu  Kants  Ästhetik  erschöpfen.     Dies  aber  kann  hier  nicht 


1)  W.  w.  I.  es. 

»)  w.  w.  I,  68. 

^  An  Forster,  S.  2S6. 

*)  Vgl.  W.  W.  I.  166  ff.  mit  67  ff- 


il2  fe.  Spranger, 

unsere  Aufgabe  sein  ;  auch  gewinnen  wir  mehr,  wenn  wir  zun&chst 
die  drei  Hauptberührungspunkte  mit  aller  Schärfe  hervorheben. 
Im  Zentrum  nämlich  stehen  die  drei  Fragen: 

1.  Giebt  es  eine  objektive  oder  nur  eine  subjektiye 
Ästhetik? 

2.  In  welchem  Sinne  ist  das  Schöne  symbolischer  Ausdrad 
von  Ideen? 

3.  In  welchem  Sinne  kommt  der  Kunst  eine  ethische  Be- 
deutung zu? 

1.  Es  mag  uns  überraschen,  dass  das  erstgenannte  Problem 
den  frühesten  Nachfolgern  Kants  auf  dem  Gebiete  der  Ästhetik  so 
brennend  erschien.  Wir  sind  heute  im  allgemeinen  dahin  erzogen, 
bei  dem  irrationalen  Phänomen  des  „ästhetischen  Erlebnisses*"  als 
einem  letzten  stehen  zu  bleiben,  das  durch  keine  metaphysische 
Ausdeutung  eigentlich  aufgehellt  werden  kann.  Kant  aber  hatte 
immer  noch  mit  dem  alten  Glauben  zu  kämpfen,  dass  das  Ästbe- 
tische eine  besondere  (verworrene)  Art  der  Erkenntnis  sei,  also 
vom  Gegenstand  aus  bestimmt  werden  könne.  Der  produkti?e 
Künstler  fand  nun  bei  Kant  insofern  keine  rechte  Stütze,  weU  er 
sich  immer  nur  auf  die  geheimnisvolle,  in  Begriffen  nicht  fassbare 
Fähigkeit  hingewiesen  sah,  als  Natur  der  Kunst  die  Regel  zu 
geben  ;  und  der  Kritiker  nicht,  weil  Kant  erklärte,  dass  das  spezifisch 
Schöne  nicht  in  Begriffe  auflösbar  sei,  und  daher  ein  objektives 
Prinzip  des  Geschmacks  ablehnte.  Geschmack  bedeutete  für  ihn 
eine  gewisse,  subjektiv  zweckmässige  Stimmung  der  Erkenntnis- 
vermögen, aus  der  immer  nur  einzelne  Reflexionsurteile,  nie  all- 
gemeine Erkenntnisurteile  hervorgingen.  Das  Grossartige  dieses 
Kantischen  Verzichts  wurde  weder  von  Schiller  noch  von  Köm» 
sogleich  erkannt;  sie  suchten  eine  objektive  Ästhetik  und  spannen 
die  Fäden  zum  Metaphysischen  fort,  die  Kant  in  der  Dialektik  der 
K.  d.  ü.  nicht  ohne  kritische  Reserve  leicht  angesponnen  hatte.  Noch 
in  „Anmut  und  Würde^  klingen  die  Grundgedanken  des  nicht  zur 
Ausführung  gelangten  Kalliasdialogs  nach.  Später  erkannte 
Schiller  deutlich,  dass  über  eine  subjektive  Ästhetik  von  Kan- 
tischen Voraussetzungen  aus  nicht  hinauszukommen  wäre. 

In  dieses  Suchen  und  Disputieren  trat  nun  Hnmboidt  auch 
ein,  und  zwar  zuerst  in  brieflichen  Auseinandersetzungen  mit 
Körner,  während  Schillers  ästhetische  Wege  ihm  bis  zum  persön- 
lichen Zusammenleben  in  Jena  1794  nur  indirekt  bekannt  wurden. 
Seine  eigene  Stellung  lässt  sich  mit  voller  Schärfe  bestiromen:  es 


W.  V.  Mumboldt  und  Kant.  lia 

bandelt  sich  um  einen  Vermittelungsversuch,  den  wohl  auch  Kant 
nicht  unbedingt  abgelehnt  hätte,  da  er  ja  das  scheinbar  Objektive 
des  Ästhetischen  sachlich  und  methodisch  wiederholt  durchaus  an- 
erkennt.^) Die  Elxposition  (metaphysische  Deduktion)  der  ästhe- 
tischen Urteile  nach  den  vier  Kategorien  in  den  §§  1—22  nimmt 
Humboldt  als  unwiderleglich  an.  Das  Urteil  über  das  Schöne  ist  für 
ihn:  a)  unabhängig  von  Interesse  und  weder  mit  dem  Angenehmen 
noch  mit  dem  „Reiz^  identisch;  b)  sofern  es  rein  ist,  unabhängig 
vom  Erkenntnisbegriff;  c)  Ausdruck  einer  nicht  objektiven,  aber 
subjektiven  Zweckmässigkeit  des  Gegenstandes,  und  d)  ein  not- 
wendiges Urteil.*)  Ganz  Kantisch  definiert  er  einmal  :  „Schönheit 
ist  das  allgemeine,  notwendige,  reine  Wohlgefallen  an  einem 
Gegenstand  ohne  Begriff.^^)  Sein  eigenes  Weiterdenken  aber  heftet 
sich  unmittelbar  an  die  Formulierung  der  transscendentslen  Deduk- 
tion im  §  35  der  Kritik.  Selbstverständlich  will  er  nicht  den 
subjektiven  Ausgangspunkt  verlassen:  „Ich  gehe  schlechterdings 
hierin  den  Kantischen  Weg  und  fange  daher  nicht  von  den 
Gegenständen  an,  die  man  schön  nennt,  sondern  von  der  Vor- 
stellung der  Schönheit,  welche  durch  diese  hervorgebracht  wird.^^) 
Aber  über  diese  bloss  subjektive  Betrachtungsweise  lässt  sich 
hinausgehen:  „Es  muss,  meiner  Überzeugung  nach,  notwendig 
einen  Weg  geben  von  der  Bestimmung  der  Schönheit  durch  sub- 
jektive Merkmale  zur  Bestimmung  derselben  durch  objektive.^^) 
Wenn  nämlich  das  Gefühl  der  Schönheit  dadurch  entsteht,  dass 
die  Einbildungskraft  in  ihrer  Freiheit  mit  der  Gesetzmässigkeit 
des  Verstandes  übereinstimmt,  so  müssen  sich  doch  diejenigen 
Kategorien  des  Verstandes  bestimmen  lassen,  deren  „Regowerdung"" 
der  schöne  Gegenstand  veranlasst  hat:  In  ihnen  besässe  man  dann 
gleichsam   die   objektiven   Begleitqualitäten   der    schönen   Gegen- 


Ï)  K.  d.  U.  (1.  Aufl.),  S.  18.  20.  181.  136.  287  f. 

«)  An  Körner,  S.  28.  Bebpiele  für  a):  u.  a.  W.  W.  I,  366.  369.  862. 
II,  228.  280.  828.  —  Für  b):  W.  W.  I,  170.  U,  129.  281.  286  f.  —  Über 
c)  vgl.  oben  8ub  2)  H.8  Symbolismua.  —  Für  d):  W.  W.  I,  403.  Allgemein- 
giltigkeit  fasst  H.  nicht  so  streng  wie  Kant.  Vgl.  W.  W.  II,  226.  —  Über 
das  Problem  des  Erhabenen  hat  sich  Humboldt  nur  im  Zusammenhang 
mit  der  Ethik  ge&ussert.  Anfangs  folgte  er  auch  hierin  ganz  Kant  (vgl 
W.  W.  I,  170);  sp&ter  hielt  er  diese  Burkesche  Unterscheidung  fflr  sekun- 
där (vgl.  W.  W.  II.  141). 

•)  W.  W.  I,  269. 

<)  An  Kömer,  S.  21,  vgl.  8.  80. 

»)  Das.,  8.  28. 
KMM«4i«B  xm.  g 


114  E.  Spränget^, 

Stände.  Daher  formuliert  Humboldt  nun  sein  Problem:  „Wie 
muss  der  Gegenstand  beschaffen  sein,  bei  welchem  der  Geschmack 
den  Ausspruch  tun  soll,  dass  jene  Übereinstimmung  vorhanden 
ist?"*^)  Und  er  antwortet:  Er  muss  die  Form  des  Verstandes 
sinnlich  gleichsam  an  sich  tragen.  Die  Form  des  Verstandes  aber 
ist  ausgeprägt  in  den  Kategorien.  Das  Schöne  ist  das  Znsammen- 
treffen (Einssein)  der  Kategorien  oder  Verstandesform  mit  da* 
Erscheinung:  die  unsinnliche  Form  verwandelt  sich  voll  und  ganz 
in  die  sinnlich  erscheinende  Gestalt. 

Man  sieht:  nicht  auf  eigentliche  Vemunftideen,  sondern  anf 
die  Verstandeskategorien  führt  Humboldt  in  diesen  ästhetischen 
Präliminarien  das  Schöne  zurück.^)  Einen  anderen  Weg  hatte 
Körner  eingeschlagen  :  er  hatte  dadurch  eine  objektive  Begründung 
der  Ästhetik  erhofft,  dass  er  die  Merkmale  der  als  schön  bezeich- 
neten  Gegenstände  zusammenfasste.  Aus  dieser  induktiven  Me- 
thode hatte  sich  ihm  dann  als  „Prinzip"  der  Schönheit  ein  Zu- 
stand des  Gleichgewichts  ergeben.  Dagegen  wendet  Humboldt, 
ohne  den  dogmatisch-objektiven  Weg  selbst  anzugreifen,  nur  die 
Frage  ein,  ob  dieser  Zustand  des  Gleichgewichts  ausschliesslich 
dem  Schönen  und  nicht  auch  dem  Vollkommenen  zukomme.^)  Dasselbe 
Bedenken  aber  hatte  Körner  gegen  Humboldts  Theorie  aufge- 
worfen. Er  meinte,  dass  seine  Unterscheidung  des  Charakteristi- 
schen (als  des  associativ  an  das  ünsinnliche  Erinnernden)  von 
Schönen  (als  der  Übereinstimmung  von  Verstandesform  und  B> 
scheinung)  dahin  führe,  das  Schöne  mit  dem  Vollkommenen  zq 
verwechseln  und  einen  willkürlichen  Sinn  in  die  Ek^cheinnngen 
der  Sinnenwelt  zu  legen.^)  Davor  schützt  aber  nach  Humboldts 
Auffassung  schon  die  Betonung  des  Sinnlichen:  das  Schöne  unter- 
scheidet sich  prinzipiell  vom  Vollkommenen  dadurch,  dass  das 
letztere  immer  eine  unsinnliche  Beziehung,  das  erstere  immer 
eine  sinnliche  Darstellung  in  der  Erscheinung  durch  die  Ein- 
bildungskraft bedeutet.^) 

Nicht  mit  Unrecht  bemerkt  Humboldt,  dass  schliesslich  der 
ganze  Streitfall  auf  ein,  infolge  verschiedener  Veranlagung,  divö^ 
gierendes  Interesse  hinauslaufe:    Kömer   halte  sich  an  die  objet 


1)  Daa.,  S.  24. 

«)  Das.,  S.  80. 

3)  Leitzmann,  S.  176. 

*)  An  Kömer.  S.  29. 

&)  An  Kömer,  S.  26. 


W.  V.  Humboldt  und  Kant.  îlo 

Live  Seite  des  Schönen,  weil  ihn  die  Technik  der  Kunst  inter- 
essiere; er  selbst  an  die  subjektive,  weil,  wie  in  allem,  auch  hier 
ias  psychologische  Interesse  und  der  Trieb  nach  voller  Kenntnis 
des  Menschen  ihn  leite.^)  Aus  diesem  Grunde  ist  er  denn  anch 
in  seinen  späteren  Schriften  auf  dem  Boden  der  subjektiven 
Ästhetik  im  Kantischen  Sinne  stehen  geblieben.  In  seiner  Ab- 
handlung über  „Hermann  und  Dorothea",  die  wir  hier  als  Haupt- 
quelle  seiner  ästhetischen  Ansichten  heranziehen,  finden  sich  zahl- 
lose Stellen  dieses  Sinnes.  2)  Hier,  wo  es  sich  um  die  Einteilung 
der  Dichtungsarten  aus  inneren  Prinzipien  heraus  handelt,  em- 
pfängt der  Grundgedanke  noch  eine  besondere  psychologische 
Wendung:  die  dichterische  Einbildungskraft  bearbeitet  nur  Zu- 
stände, die  sie  in  dem  Gemüte  bereits  vorfindet;  in  ihnen  sind 
also  die  besonderen  Dichtungsarten  bereits  vorgebildet.  Oder 
richtiger  gesagt:  sie  findet  den  Zustand  nicht  vor,  sondern  erzeugt 
ihn,  aber  doch  indem  sie  der  besonderen  Natur  des  Gemütes  folgt, 
mit  dem  sie  ja  von  Art  und  Ursprung  innigst  verwandt  ist.*) 
Natürlich  kommt  es  ihm  auch  hier  darauf  an,  zuletzt  zu  einer  ob- 
jektiven Definition  der  einzelnen  Dichtungsart  vorzudringen.  Diese 
jedoch  ist,  wie  er  wiederholt  betont,  nicht  erreichbar,  ohne  dass 
man  ihre  spezielle  subjektive  Wirkung  mit  aufnimmt.^) 

2.  Sobald  der  subjektive  Ausgangspunkt  festgestellt  ist, 
kann  das  ästhetische  Problem  des  Symbolischen  nicht  mehr  auf 
metaphysisch-transscendentem  Wege  gelöst  werden,  sondern  es  be- 
darf besonderer  Zurüstungen,  mit  denen  Schiller  und  Humboldt 
gleich  viel  Mühe  gehabt  haben,  während  diese  Frage  für  Herders 
Dogmatismus  kaum  zum  Problem  wurde.^)  Schon  Kant  empfand 
ja  die  hier  vorliegende  Schwierigkeit.  An  der  Stelle  der  K.  d.  ü., 
wo  er  sich  am  meisten  von  der  Schulsprache  loslöst,  bezeichnet 
er  das  Schöne  allgemein  als  den  Ausdruck  ästhetischer 
Ideen.^)  Hier  erheben  sich  sogleich  die  beiden  Fragen  nach  dem 
Wie?  und  dem  Was?  dieses  Ausdrucks. 


»)  An  Könier,  S.  22.    1803  an  Goethe,  S.  187:    „Beide,   Technik  und 
Metaphysik  müssen  freilich  zuletzt  in  eins  zusammenfallen.'' 

«)  W.  W.    IT,    127.    181—133.    137.    151^.   228   f.   237.   241.   246.   261 
383.  318. 

»)  Vgl.  W.  W.  II,  S.  237  u.  247  mit  258. 

*)  W.  W.  II.  133.  226.  241.  262.  318. 

^)  VgL  m.  Kritik  des  Buches  v.  Günther  Jacoby  :  Herders  und  Kants 
^Vsthetik  i.  ^Archiv  für  die  gesamte  Psychologie **,  Bd.  X. 

«)  K.  d.  IT..  S.  204. 

8* 


116  È.  Spränge!*, 

a)  Mit  der  ersten  rühren  wir  an  den  tiefeinnigsten  Punkt 
des  ganzen  Problemgebietes.  Kant  definiert:  „Unter  einer  ästhe- 
tischen Idee  verstehe  ich  diejenige  Vorstellung  der  Einbildungskraft, 
die  viel  zu  denken  veranlasst,  ohne  dass  ihr  doch  irgend  ein  be- 
stimmter Gedanke,  d.  i.  Begriff,  adäquat  sein  kann,  die  folglich 
keine  Sprache  völlig  erreicht  und  verständlich  machen  kann/^) 
Ihr  Gegenstück  (Pendant,  nicht  Gegenteil!)  ist  die  Vemunftidee: 
„Eine  ästhetische  Idee  kann  keine  Erkenntnis  werden,  weil 
sie  eine  Anschauung  (der  Einbildungskraft)  ist,  der  niemals  ein 
Begriff  adäquat  gefunden  werden  kann.  Eine  Vernunftidee 
kann  nie  Erkenntnis  werden,  weil  sie  einen  Begriff  (vom  Ober- 
sinnlichen) enthält,  dem  niemals  eine  Anschauung  angemessen  ge- 
geben werden  kann.***)  Wenn  wir  uns  den  letzten,  der  K.  d. 
r.  V.3)  entlehnten  Satz  in  seiner  Bedeutung  entwickeln,  so  dringen 
wir  damit  in  die  tiefsten  Motive  der  Schiller-Humboldtschen  Philo- 
sophie ein.  Die  eigentliche  Idee  ist  undarstellbar,  sie  ist  trans- 
scendent,  der  eigentlichen  Erkenntnis  verschlossen:  kein  „Schema** 
fasst  sie,  um  sie  unserer  Erkenntnis  darzubieten.  Wie,  wenn  nun 
diese  Idee  symbolisch  darstellbar  wäre,  wenn  sie  einginge  in 
eine  Anschauung  der  produktiven  Einbildungskraft,  die  zwar  in 
keinen  Begriff  gefasst  werden  kann,  aber  eine  „Welt"  (Totalitat) 
des  Erlebens  rege  macht?  —  Wir  sehen  hier  noch  ab  von  der  Frage 
des  „Was?",  von  der  Frage,  ob  es  wirklich  die  höchsten  „Verounfir 
ideen''  sind,  die  sich  in  solchen  „ästhetischen''  Ideen  ausprägen,  und 
fragen  zunächst  nach  der  bloss  formalen  Beschaffenheit  der  letzteren. 
Eine  solche  ästhetische  Idee  stellt  immer  ein  Individuum  dar;  in 
und  mit  diesem  Individuum  aber  das  Ideal.^)  Nicht  als  blosse 
Normalidee,  (wie  Raphael  Mengs  unter  dem  Einfluss  der  Batteox- 
schen  Nachahmungslehre  behauptet  hatte),  die  das  Typische  und 
Gattungsmässige  des  naturhaften  Objektes  wiedergiebt;  diese  ist  „nicht 


1)  K.  d.  IT.,  S.  192  ff.  In  diesem  Begriff  laufen  alle  wichtigen 
Linien  der  vorkantischen  Ästhetik,  wie  man  sieht,  zusammen.  Das  Unaa»- 
schöpfbare,  Totale  des  ästhetischen  Zustandes  hatten  in  der  Sprache  ihrer 
Begriffswelt  Dubos,  Sulzer,  Diderot,  Uemsterhuis,  Winckelmann,  Herder, 
Moritz  in  gleicher  Weise  betont.  All  dies  Irrationale  deckt  Kant  mit 
seinem  Begriff  der  ästhetischen  Idee. 

2)  K.  d.  U.,  S.  240. 

8)  Über  die  Rolle,  die  die  symbolisch-anthropomorphe  IdeenerkeIln^ 
nis  schon  in  der  theoretischen  Philosophie  spielt,  vgl.  K.  Oesterreich, 
Kant  und  die  Metaphysik.    1906.    S.  104  ff. 

*;  K.  d.  U.,  S.  54  f. 


W.  V.  Humboldt  und  Kant.  117 

1  ganze  Urbild  der  Schönheit";  sondern  jene  ästhetische  Idee  erhebt 
Natur  über  sich  selbst,  wie  Winckelmann  es  zuerst  empfunden 
te,  sie  „idealisiert".  In  beiden  Fällen  handelt  es  sich  natürlich 
ht  mehr  um  das  rein  ästhetische  Urteil  im  abstraktesten  Sinne, 
idem  um  die  von  Begriffen  bereits  beeinflusste  Schönheit, 
îsen  ganzen  Gedankengang  eignet  sich  Humboldt  unverkürzt 
Die  Beschränkung  auf  die  Verstandesform,  die  uns  in  der 
rrespondenz  mit  Körner  entgegentrat,  fällt  zu  gunsten  der 
munftidee  dahin. ^)  Die  Vernunft  leiht  ihren  Ideen  Symbole  von 
•  Phantasie.^)  Besonders  der  zweite  Horenaufsatz  beruht  auf 
n  Winckelmannschen  Gedanken,  dass  es  gerade  dem  griechischen 
Qstler  gelang,  „das  Ideal  selbst  zu  einem  Individuum  zu 
€hen."^  Die  produktive  Einbildungskraft  erhebt  sich  über  die 
sse  Erfahrung  und  ihre  Erkenntnisfunktion  in  ein  idealisches 
biet;  sie  ist  es,  die  „allen  zufälligen  Überfluss  und  alle  zufällige 
tranken  von  ihrem  Gegenstand  absondert  und  das  Unendliche 
-  Vernunft  in  ebenso  bestimmte  Formen  einkleidet,  als  sonst 
r  die  zufällige  und  beschränkte  Geburt  der  Zeit,  das  wirkliche 
lividunm,  zeigt".  So  spiegelt  sich  dann  in  der  Natur  der  Charakter 
ner,  idealischer  Menschheit  überhaupt.  Und  dasselbe  ist  es, 
s  ihn  an  „Hermann  und  Dorothea"  so  unendlich  anzieht,  dass 
dem  Dichter  gelungen  ist,    „durch  ein  Individuum  einer  Idee 


0  Kant,  K.  d.  U.,  S.  54.  „Ideal  bedeutet  die  Yorstellung  einet  ein- 
nen  als  einer  Idee  ad&quaten  Wesens."  Humboldt  W.  W.  II,  188:  „Wir 
men  ein  Ideal  die  Darstellung  einer  Idee  in  einem  Individuum."  — 
Kühnemann,  Kants  und  Schillers  Begründung  der  Ästhetik,  S.  48 
/  mit  Recht  darauf  hingewiesen,  dass  dieses  Schwanken  zwischen  der 
rstandeskate^orie  und  der  Vemunftidee  als  dem  in  der  Darstellung 
mbolisierten  bei  Kant  selbst  vorliegt,  aber  zu  gunsten  der  letzteren  zu 
:8cheiden  ist.  —  Deshalb  muss  ich  mich  entschieden  gegen  die  Behaup- 
lg  O.  Harnacks,  die  klassische  Ästhetik  der  Deutschen,  S.  145  f. 
nden,  dass  Humboldt  eine  Erhöhung  der  Natur  durch  den  Künstler 
{^wiesen  habe.  Er  hat  vielmehr  den  Begriff  des  „Idealisierend"  ganz 
in  den  Vordergrund  gestellt  und  so  weit  gefasst,  wie  Winckelmann  und 
nt,  freilich  ohne  Abzug  an  der  poetischen  Wahrheit  und  sinnlichen 
irheit.  Die  Behandlung  Humboldts  in  Hamacks  verdienstlichem  Werke 
lürfte  heute  überhaupt  der  Revision.  Vgl.  besonders  W.  W.  I,  S.  406: 
3  selbsttätige  Einbildungskraft  erhalt  ihr  Produkt  „durchaus  individueU 
1  doch  ganz  und  gar  idealisch,  gleichsam  in  der  Mitte  zwischen  der 
tur  und  der  Idee  schwebend,"    Auch  W.  W.  m,  146. 

»}  W.  W.  I.  295. 

3)  W.  W.  I,  336. 


118  E.  Spranger, 

Genüge  zu  leisten** .1)  So  „hebt  er  die  Natur  aus  den  Schranken 
der  Wirklichkeit  empor  und  führt  sie  in  das  Land  der  Ideen  hin- 
über, schafft  er  seine  Individuen  in  Ideale  um**. 2)  Der  Stoff  des 
ganzen  Gedichtes  scheint  ihm  nichts  anderes  als  die  fortschreitende 
Veredlung  unseres  Geschlechts,  diese  nun  aber,  echt  künstlerisch, 
„dargestellt  in  einer  einzelnen  Begebenheit".^) 

Hier  also  erscheint  die  Kunst  als  Mittlerin  des  Unendlichen 
und  Endlichen,  wie  überhaupt  die  von  R.  Sommer  treffend  hervor- 
gehobene Dualität  der  ästhetischen  Begriffswelt  jedesmal  in  einer 
höheren,  eben  künstlerischen  Synthese  verklingt.  Ihre  Funktion 
ist  es,  das  allgemeine  Gesetz  in  einem  einzelnen  Fall  darzustellen, 
an  ihm  die  Totalität  einer  Welt  rege  zu  machen,  oder,  nach  der 
alten  ästhetischen  Formel,  Einheit  in  der  Mannigfaltigkeit  zn 
zeigen.^)  Sie  zeigt  dies  alles  aber  nach  Kants  Forderung  so,  dass 
sie  trotz  ihrer  Regelhaftigkeit  doch  freie  Natur  scheint.  Gegai 
diese  Ansicht  Kants,  die  er  anfangs  übernahm,  hat  sich  Humboldt 
später  aus  hier  nicht  zu  erörternden  Gründen  erklärt.*)  Der  Übergang 
vom  Individuellen  zum  Idealen  aber  blieb  ihm  für  alle  Zeiten  ein  uni- 
versales, ja  das  Problem.  (Vgl.  oben  unter  I,  2.)  Später  begegnete  e8 
ihm  wieder  in  der  Aufgabe  des  Geschichtschreibers,  die  Reinheit  der 
Idee  mit  der  Individualität  der  Wirklichkeit  zu  verbinden.  Es 
blieb  ihm  das  Wesen  der  Kunst  auf  allen  ihren  Gebieten,  „die 
Wirklichkeit,  so  rein  und  so  treu  als  möglich  zum  Symbol  der 
Unendlichkeit  zu  machen "".  Denn  „die  Einfachheit  der  Idee  Ifisst 
sich,  ähnlich  einem  vielseitig  geschliffenen  Spiegel,  einmal  nur  in 
der  Vielfachheit  der  Erscheinungen  erkennen".  Wir  verzichten  aber 
darauf,  diese  späteren  Dokumente  im  vorliegenden  Zusammenhang 
weiter  zu  verfolgen,   weil  in  ihnen  der  Einfluss  Schellings  weit 


1)  W.  W.  II,  126. 

«)  W.  W.  II,  132. 

3)  W.  W.  n,  278.  Rickert  hat  in  seiner  logischen  Theorie  die  Tatr 
sache  zu  wenig  berücksichtigt,  dass  die  Immanenz  des  Allgemeinen  im 
Individuellen,  auch  auf  dem  Gebiete  der  Erkenntnis,  immer  nur  ästhetisch 
fassbar  wird. 

^)  Vgl.  Leitzmann,  S.  79  und  durchgehends.  Es  sei  hier  wieder  auf 
Sulzer  (z.  B.  Vermischte  Schriften  I,  S.  23  ff.),  Hemsterhuis,  u.  a.  ve^ 
wiesen,  die  diesen  subjektiven  VoUkommenheitsbegriff  (cf.  Sommer)  ifl 
der  Fortbildung  Baumgartenscher  Lehren  vertreten. 

5)  Vgl.  W.  W.  I,  361.  363  mit  ÎII,  146.  Ein  Beispiel  dafür,  wie  Kants 
Ästhetik  bei  ihm  durch  die  ScheUings  abgelöst  wird.  Vgl.  dessen  W.  W. 
m,  622. 


W.  V.  Humboldt  und  Kant.  119 

mächtiger  hervortritt,  als  Kants  Gedanken,  von  dem  natorgemäss 
nichts  Neues  aufgenommen  ist.^) 

b)  Wenn  nun  aber  auch  die  konkrete  künstlerische  Dar- 
stellung eine  Fülle  von  Ideen  in  uns  anspielt,  so  bleibt  immer 
noch  die  Frage,  welche  Ideen  in  dem  Schönen  symbolisiert  sind 
und  ob  sie  zu  den  eigentlichen  Vemunftideen,  speziell  zu  dem 
Sittlichen,  in  notwendiger  innerer  Beziehung  stehen.  Diese  Frage 
ist  eigentlich  nur  durch  einen  Sprung  ins  Metaphysische  zu  lösen. 
Deshalb  bebandelt  sie  Kant  mit  besonderer  Vorsicht.  Gerade 
wegen  dieser  ernsten  und  tiefen  Beziehung  zum  Metaphysischen 
will  er  in  der  Analytik  der  K.  d.  U.  nur  dem  Naturschönen  den 
Wert  zugestehen,  Symbol  des  Sittlich-Guten  zu  sein,  nicht  dem 
Spiele  der  Kunst.  In  der  Dialektik  weist  er  (auch  für  die  Kunst- 
schönheit) schon  entschiedener  auf  das  ^^übersinnliche  Substrat"" 
hin,  das  den  EIrscheinungen  in  uns  und  um  uns  zu  Grunde  liegt. 
In  ihm  muss  die  Ursache  jener  seltsamen,  durch  bestimmte  Be- 
griffe nicht  zu  erklärenden  Zusammenstimmung  des  schönen 
Gegenstandes  mit  unsem  subjektiven  Vermögen  liegen.  Aber  vom 
Obersinnlichen  haben  wir  keinen  Begriff,  können  also  aus  ihm 
auch  nichts  erklären.  Deshalb  bleibt  nun  Kant,  soweit  es  geht, 
bei  subjektiven  Erwägungen  stehen  und  sucht  aus  der  Analogie, 
die  zwischen  dem  formalen  Charakter  des  ästhetischen  und  des 
ethischen  Urteils  besteht,  einen  Hinweis  auf  die  Gleichartigkeit 
ihrer  metaphysischen  Wurzel  zu  gewinnen.  Jene  von  den  ästhe- 
tischen Ideen  erweckten  Nebengedanken  rufen  associativ  in  uns 
die  sittlichen  Ideen  wach.  Deshalb  können  die  einen  als  Symbole 
der  anderen  gelten. 

Für  Humboldt  steht  dies  alles,  wie  wir  wissen,  metaphysisch 
fest.  Nicht  umsonst  ist  er  durch  die  Schule  Piatos  gegangen. 
Schon  in  den  frühesten  Aufsätzen  ist  ihm  das  Sinnliche  überhaupt 
ein  Zeichen  des  Geistigen.  Die  Schönheit  ist  nur  ein  Spezialfall 
dieser  universalen  Symbolik.  Deshalb  verwendet  er,  ganz  wie 
Herder,  Mendelssohn  und  Schiller  (Anmut  und  Würde),  viel  Mühe 
darauf,  das  Charakteristische  vom  Schönen  zu  unterscheiden.  Das 
Charakteristische  ist  „Ausdruck*'  (im  Hintergrund  liegt  die  alte 
ästhetische   Zeichentheorie);   aber  es  drückt  immer  nur  einzelne 


J)  Vgl.  z.  B.  W.  W.  m.  187.  140.  144.  149  ff.  197.  216.  Der  Bin- 
fliiM  ScheUings  auf  die  Rede  „Über  die  Aufgabe  des  Gteschichtsohreiben^ 
ist  besonders  gross.  —  Der  Einzelnachweis  hierfOr  erscheint  in  der  Histo- 
rischen  Zeitschrift  (Meinecke)  Bd.  100,  8. 


120  £.  Spranger, 

onsinnliche  Züge  aus  oder  erinnert  an  sie  durch  irgendwelche 
Gedankenverbindungen.*)  Die  Schönheit  aber  ist  etwas  Totales: 
in  ihr  haben  die  beiden  Naturen  des  Sinnlichen  und  Unsinnlichen 
sich  völlig  durchdrungen:  „der  in  der  Sinnenwelt  erscheinende 
Gegenstand  hat  die  unsinnliche  Form  angenommen''.^)  Noch 
schwankt  Humboldt  zwischen  Verstandesform  und  Vernunftidee, 
findet  aber  doch  schon  das  Wesentliche  der  Schönheit  darin,  dass  sie 
„eine  moralische,  d.  i.  unsinnliche  Idee"  sinnlich  darstellt.^)  Frei- 
lich hält  er  sich  vor,  dass  wir  die  gemeinschaftliche,  dem  Sinn- 
lichen und  Unsinnlichen  zugrunde  liegende  Natur  nicht  kennen; 
dennoch  finden  wir  ihn  nur  ganz  früh  auf  Kants  ebenso  vorsich- 
tigem als  künstlichem  Wege>)  Bald  weiss  er  die  Chiffreschrift 
der  Natur  in  ihren  schönen  Formen,  von  der  auch  das  Motto  der 
neuen,  mit  Hamanns  „Brocken''  vermehrten  Âllwillausgabe  (1792) 
sprach,^)  wohl  zu  deuten.  Er  verweilt  mit  Interesse  bei  der 
Stelle  der  £.  d.  U.,  an  der  Kant,  von  plötzlicher  Phantasieregang 
ergriffen,  zu  der  Idee  einer  moralischen  Farbensymbolik  fort- 
schreitet.^ Lavater  ist  ihm  durchaus  nicht  ganz  verächtlich,  nnd 
immer  wieder  beschäftigen  ihn  physiognomische  Ideen.  Gewiss 
hatten  die  nicht  ganz  unrecht,  die  die  Horenaufsätze  „transscen- 
dent"  nahmen.?)  Denn  nicht  nur  das  psychologische  Interesse  hat 
sie  geboren,  sondern  eine  ganz  bestimmte  Metaphysik.  Humboldts 
ganze  Geistesart  ist  auf  das  Plastische  gerichtet  :  überall  sieht  er 
echt  platonisch  Seele  durch  Gestalt.  Sind  ihm  doch  Engels  Um 
über  Mimik,  seine  Unterscheidung  von  malenden  und  ausdrückenden 
Gebärden  bis  in  die  Pariser  Zeit  hinein  interessant  geblieben.') 
Ja  selbst  das  Ballett  zieht  ihn  von  diesem  Gesichtspunkt  aus  an, 
und  mit  Körner  korrespondiert  er  (der  absolut  Unmusikalische) 
sogar  über  die  Ausdrucksfähigkeit  der  Musik,  wobei  ihn  wiederum 


1)  W.  W.  I,  S.  363.  besonders  S.  364. 

«)  An  Kömer,  S.  25. 

8)  Das.  S.  17. 

*)  W.  W.  I,  170. 

^)  Auf  die  Herkunft  dieses  wichtigen  Kantischen  Begriffs  vA 
Schlapp  in  seinem  Buch  über  „Kants  Lehre  vom  Genie  und  die  K  d.  ü." 
mit  keinem  Wort  eingegangen. 

*)  W.  W.  I,  171.  Kant  rechnet  die  Farbe  sonst  zum  Reiz.  Anden 
Humboldt  W.  W.  II,  149.  167.  220  f.  Vgl.  Leitzmann,  S.  21.  An  eine 
Freundin,  S.  427. 

^)  An  Kömer,  S.  41. 

»)  An  Kömer,  S.  39  u.  ö. 


W.  V.  Humboldt  und  Kant  121 

r  Unterschied  des  bloss  Charakteristischen  und  der  schönen 
rm  beschäftigt.  Noch  im  Alter  wird  ihm  die  Landschaft  von 
gel  zum  Symbol  ewiger  Wahrheiten,  und  aus  den  Tönen  der 
räche  weiss  er  die  ganze  Geistesart  von  Zeiten  und  Nationen 
rauszulauschen.  Also  haben  wir  in  seiner  Philosophie  einen 
iversalen  Symbolismus. >)  Aber  dies  ist  nun  das  Wesentliche: 
ch  ihm  gipfelt  dieser  Symbolismus  in  dem  alten  (Platonisch- 
inckelmannschen)  Dogma,  dass  die  Form,  die  sich  sinnlich  als 
hönbeit  darstellt,  identisch  ist  mit  der  Form,  die  das  höchste 
liische  besitzt.  Bei  seiner  Richtung  auf  die  Totalität  und  sinn- 
he  Fülle  des  Charakters  konnte  er  diesen  Gedanken  auch  viel 
ffer  und  weiter  ausspinnen  als  Kant,  für  den  schliesslich  das 
ithetische  und  Ethische  nur  durch  die  gemeinsamen  Merkmale 
r  Unmittelbarkeit,  Interesselosigkeit,  Gesetzmässigkeit  und  All- 
meingiltigkeit  zusammenhingen.  Freilich  fand  Humboldt  später 
i  Schelling  Anschauungen,  die  ihm  die  Parallelität  der  in  der 
gfanischen  Natur,  im  Kunstwerk  und  im  Charakter  wirksamen 
Idongskräfte  noch  weit  adäquater  ausdrückten.^ 

3.  Der  Symbolismus  stellt  eine  metaphysische  Verbindung 
fischen  dem  Schönen  und  dem  Sittlichen  her,  insofern  das  Sinn- 
iie  als  Ausdruck  (Zeichen)  des  Geistigen  gedeutet  wird.  Damit 
isamroen  hängt  eine  zweite,  doch  mehr  psychologische  Gedanken- 
^htung,  die  das  ästhetische  Gefühl  als  Mittelglied  zwischen  den 
ederen  sinnlichen  und  den  höheren  geistigen  Seelenkräften  be- 
achtet.    Von  diesem  Gesichtspunkt  aus  konnten  Mendelssohn  und 


1)  W.  W.  I,  260.  270  u.  passim.  An  Jacobi,  S.  77  :  „Meiner  Ansicht 
ich  bleibt  das  Symbolische  immer  das  Charakteristische  aUes  Grossen  in 
issenachaft  und  Kunst,  und  also  das  Tragisch-Symbolische  auch  der  Tra- 
^e.  AUein  das  Symbol  ist  kein  Satz,  keine  Idee  einmal,  die  sich  in 
^orten  ausdrücken  lasst,  und  noch  weniger  kann  zum  Symbol  (wie  zur 
oral  einer  Fabel)  ein  konkreter  Fall  erfunden  werden.  Der  Gang  aller 
^mbolik  ist  vielmehr  umgekehrt  immer  vom  gegebenen  Endlichen  zum 
e  ganz  erkannten  Unendlichen.  Dem  Inhalte  nach  ist  mir  das  Symbol 
US  mit  den  Platonischen  Ideen  —  das  Höchste,  das  Unendliche,  Ursprüng- 
;he  .  .  .  Die  im  Symbol  vorgehende  Verschmelzung  des  Endlichen  und 
Qcndlichen  ist  objektiv  unmöglich,  aber  subjektiv  in  erhöheter  und  be- 
sisterter  Stimmung  des  Gemüts  ist  sie  es  Gottlob!  ebenso  wenig  als 
ine  Liebe  in  dem  an  sich  fleischlichen  und  sinnlichen,  sittliche  Freiheit 
dem  an  sich  naturbedingten,  oder  Tugend  in  dem  an  sich  eigennützigen 
enschen."*  (1806.)  Diese  Äusserung  charakterisiert  zugleich  seine  Stellung 
I  Schelling. 

»)  K.  d.  U.,  S.  269.  -  W.  W.  U,  336.  340.    m,  167.  216  ff. 


122  £.  Spranger, 

Sulzer  der  Kunst  eine  ethische  (und  doch  nicht  moraMerende) 
Bedeutung  zuschreiben,  konnte  später  Schiller  zwischen  Sachtrieb 
und  Formtrieb  den  Spieltrieb  einschieben.  Von  diesem  Gesichts- 
punkt aus  erwächst  auch  Humboldts  eigentliches  Interesse  an 
solchen  Fragen:  „Bei  allen  Untersuchungen  über  Schönheit  stdk 
ich  mir  dieselbe  gern  als  ein  Mittelwesen  zwischen  den  vorstelle 
den  und  tierisch  empfindenden  Kräften  vor."*)  „Alles  Eigentoa- 
liehe  des  Schönheitsgefühls  entspringt  aus  der  Verknüpfung  d« 
denkenden  und  empfindenden  Kräfte. '*>)  Es  ist  daher  ,, eigentlich 
das,  was  alle  menschliche  Kraft  erst  in  Eins  verknüpft.  Dies  ist 
nun  eigentlich  der  Gesichtspunkt,  von  dem  für  mich  diese  Unte^ 
suchungen  das  meiste  Interesse  erhalten,  da  ich  so  sehr  wünschte, 
endlich  einmal  die  Kenntnis  des  Menschen  und  die  Prinzipiei 
seiner  Bildung  in  ihrem  ganzen  Zusammenhang  behandelt  n 
sehen.""  ^)  Es  ist  also  der  grosse  Gedanke  der  ästhetischen  & 
Ziehung,  der  uns  schon  in  Humboldts  frühestem  Anfsatz  entgegen- 
trat  und  der  zuletzt  in  den  Satz  der  Monadenlehre  zurückfohit» 
dass  alles,  was  unsere  seelische  Aktivität  vermehrt,  unsere  mon- 
lische  Vollkommenheit  erhöht. 

Wie  stellte  Kant  sich  zu  diesem  Gedankengange?  Dk 
K.  d.  U.  lässt  dreierlei  Ansichten  über  die  seelische  Funktion  uri 
Bedeutung  des  Ästhetischen  unterscheiden  (eine  übrigens  für  Kaoti 
Problemstellung  ziemlich  sekundäre  Angelegenheit).  Die  erste 
Ansicht  liegt  der  Leibnizschen  Monadenlehre  und  der  Bauffigarteo- 
sehen  Ästhetik  am  nächsten,  wie  ja  denn  überhaupt,  obwoU 
Kant  die  Selbständigkeit  des  ästhetischen  Gefühls  voll  heno»' 
arbeitet  und  der  Irrationalität  des  Gefühls  dabei  alle  Rechte 
gönnt,  die  eigentliche  Deduktion  das  Schönheitsgefühl  wieder  fBr 
eine  Art  verworrener  (nicht  begrifflich  gewordener)  Erkenntnis 
erklärt.  Daher  findet  sich  am  häufigsten  der  alte  Gedanke,  da« 
durch  das  Ästhetische  eine  Belebung  unserer  gesamten  Er- 
kenntniskräfte bewirkt  werde.^)  —  Der  zweite  Ideengtfg 
jedoch  fasst  die  Bedeutung  des  Schönen  universaler,  indem  er  A 
nach  dem  Vorgange  des  Aristoteles,  Epikur  und  Burke  und  in 
einer  für  den  kritischen  Philosophen  recht  kühnen  Weise  auf  das 


1)  An  Kömer.  S.  17.    Leitzmann,  S.  141. 
«)  An  Kömer,  S.  16. 
3)  Das.,  S.  5. 

*)  K.  d.  U.,   S.  198.  206.  214  f.  (Geisteskultur.)  220  f.  (Urbanität  der 
oberen  Erkenntniskräfte.) 


W.  V.  Humboldt  und  Kant.  123 

chophysische  Ganze  unserer  Konstitution  ausdehnt.  Jede  Art 
1  Vergnügen  bewirkt  ein  Gefühl  der  Beförderung  des  gesamten 
>ens  im  Menschen.  So  befördert  nun  auch  das  ästhetische 
el  der  Empfindungen  das  Gefühl  der  Gesundheit  und  das  ganze 
lensgeschäft  im  Körper.  ^)  Von  dieser  allseitigen  Befruchtung 
in  ja  nun  auch  das  Moralische  nicht  ausgeschlossen  sein.  In 
Tat  lässt  Kant  auch  diese  dritte  Wendung  gelten.  Wenn 
schönen  Künste  garnicht  mit  moralischen  Ideen  in  Verbindung 
»rächt  werden  —  das  hatte  Sulzer  bis  zum  Überdruss  wieder- 
t  —  so  dienen  sie  bloss  zur  Zerstreuung.«)  Wenn  aber  Ge- 
mack  und  Vernunft  zusammenwirken,  so  gewinnt  das  gé- 
nie Vermögen  der  Vorstellungskraft.  Vermöge  seines  Zu- 
imenhangs  mit  dem  übersinnlichen  Substrat,  in  dem  wir  unsern 
5ten  Zweck  zu  suchen  haben,  steht  das  ästhetische  Vermögen 
.ürlich  in  Beziehung  zu  dem  Ethischen.^)  Denn  in  diesem 
eliigiblen  müssen  wir  uns  das  theoretische  Vermögen  mit  dem 
Attischen  —  freilich  auf  unbekannte  Art  -  zur  Einheit  ver- 
iden  denken.*)  Insofern  also  giebt  Kant  zu:  „Der  Geschmack 
cht  gleichsam  den  Übergang  vom  Sinnenreiz  zum  habituellen 
rauschen  Interesse  ohne  einen  zu  gewaltsamen  Sprung  mög- 
h.***J  Aber  dieser  Satz  ist  auch  der  äusserste,  zu  dem  er  vor- 
ireitet.  Von  einer  eigentlichen  Unterstützung  des  Ethischen 
rch  das  Ästhetische  will  er  nichts  wissen.  „Geschmack  in 
iner  Aufführung  zeigen,  ist  etwas  ganz  anderes,  als  seine 
)ralische  Denkungsart  äussern."^)  Soll  das  Moralische  überhaupt 
thetisch  beurteilt  werden,  so  hat  man  die  Kategorie  des  Er- 
benen,  nicht  die  des  Schönen  anzuwenden,  „weil  die  menschliche 
itur  nicht  so  von  selbst,  sondern  nur  durch  Gewalt,  welche  die 
imunft  der  Sinnlichkeit  antut,  mit  jenem  Guten  zusammen- 
mmt.**^)  Hier  zeigt  sich  die  Grundverschiedenheit  im  ethischen 
leben  Kants  und  Schiller-Humboldts.  Schon  alle  rhetorische 
^ral  ist  Kant  zuwider,  weil  sie  die  Pflicht  herabwürdigt  und 
>   subjektiven    Maximen    und  Gesinnungen  verdirbt.**®)    Ganz  in 


S.  214. 


')  822  ff. 

*)  K.  d.  U, 

»)  242. 

*)  268  f. 

»)280. 

•)  S.  16. 

»)  120  f. 

»)216. 

124  E.  Spranger, 

Gegensatz  zu  Humboldt  erklärt  er  den  Geschmack  für  „minder 
edeP  als  die  moralische  Achtung  des  Gesetzes,  and  so  kann 
natürlich  auch  von  ästhetischer  Erziehung  zur  Sittlichkeit  nicht 
die  Rede  sein  :  im  Gegenteil,  er  kehrt  das  Verhältnis  um  und  b^ 
zeichnet  die  Entwickelung  sittlicher  Ideen  und  die  Kultur  des 
moralischen  Gefühls  als  die  „wahre  Propädeutik  zur  Gründung 
des  Geschmacks".^) 

Die  tieferen,   aus  Lebensgefübl  und  Methode  eutspringendeo 
Motive,   weshalb   Humboldt   hier  anderer  Ansicht   war   als  Kant» 
haben  wir  bereits  angedeutet.     Wir  wissen,   dass  Psychologie  wie 
Ästhetik  ihm  unmittelbare  Vorstufen  zu  seiner  ITieorie  der  Bildoi^ 
des   Menschen   bedeuteten,   die   wiederum   in   seinem  Humanititf- 
ideale   der  höchsten   Geistesverfeinerung  gipfelte.     Nur  in  ihr« 
Dienste  unternahm  er  die  ästhetische  Analyse  von  „Hermann  lori 
Dorothea".    In   der  Schrift   über  die  Grenzen  der  StaatswiriaaE-^^f^ 
keit  schliesst   sich   dieser  Gedanke   eigentlich  noch   mehr  an 
Aufklärungsästhetik  als  an  die  zitierte  Eantische  Kritik  an 
die   Funktion   des  Ästhetischen  wird   hier  mit  Sulzer  vorwißpri; 
darin  gesehen,  dass  sie  die  sinnlichen  Empfindungen 
dem  sie  die  „energisch  wirkenden"  sinnlichen  Regungen  b( 
Aber  der  Gedanke  einer  Physiognomik  der  Natur  leitet  schon 
zu  der  späteren  Auffassung  der  ästhetischen  Erziehung,  in 
Idee   und   die  durch  künstlerische  Darstellung  der  Idee  be^ 
Geisteskultur   im  Vordergrund   steht.     So   erwächst  der 
„dass   die  Kunst   nicht  zu  den  mechanischen  und  untei 
Geschäften  gehört,  durch  die  wir  uns  zu  unserer  eigentlichen 
Stimmung    bloss   vorbereiten,   sondern    zu   den   höchsten  nnd 
habensten,  durch  die  wir  sie  selbst  unmittelbar  erffiUei** 
Dies  Ziel   wird  nicht   nur   dadurch   eiTeicht,  dass   die  Knnat 
menschlichen  Seelenkräfte    zu    einer  Einheit  (Totalität]  V( 
sondern  auch  dadurch,   dass  sie  unsere  Individualität  zn  den 
Sachen  der  Welt  und  des  Lebens  in  innigste,  allseitige 
versetzt  und  die  formende  Kraft  in  uns  zur  Beberrschnng 
Realitäten  stärkt.    In  welcher  Weise  dies  geschieht,  setet  n 
79.    Abschnitt    der   Abhandlung   über    „Hermann   und 
auseinander.  —   — 


^)  228.  263  f.     Vgl.   Humboldts  gleiche  Äusserung  in  der  ftH*!J 

aumerkung  zu  11.  ■  :7^ 

«)  W.  W.  II,  129.    Vgl.  S.  140.  142.  210.  271.  I  .  ^ 


W.  V.  Humboldt  und  Kant.  126 

Mögen  aber  Kant   und  Humboldt  in   dieser  Bewertung  der 

differieren:   in   der  Auffassung  ihres  Wesens  sind  sie  prin- 

einig.    Beide  gehen  aus  von  der  Einbildungskraft  als  ihrem 

dpunkte,  beide  sehen  in  dem  Begriff  der  Form  ihren  Gipfel. 

entwickeln   sie   in  jenen   Gegensatzpaaren   wie   Stoff  und 

Freiheit    der   Einbildungskraft   und   Gesetzmässigkeit   des 

indes,    Empfänglichkeit   und  Selbsttätigkeit,   Natur  und  Idee 

die  jedoch   nur   die   Abstraktion    auseinanderhält  und  deren 

igewicht  (Synthese!)   zu   verwirklichen   die   wesentliche  Auf- 

der  Kunst  eben  ist. 

Behen-schend  ist  der  Begriff  der  Form.     Er  entstammt  der 

tik;    in    tiefsinniger    Erfassung    eines    rätselhaften    Grund- 

imenhanges  übertrug  ihn  Kant  einerseits  auf  die  Theorie  des 

nens,    andererseits    auf    die    Ethik.      Dabei    bedeutet    nun 

,    wie   Sommer  und  Kühnemann   mit  Recht   hervorgehoben 

,  keineswegs  Inhaltlosigkeit,  sondern  ein  geistiges,  lebendiges 

nftprinzip,    das    aus   den   Tiefen    unseres    einheitlichen   Be- 

$eins  entspringt  und  mehr  als  eine  blosse  Ordnungskategorie 

Ut.     Gerade   dies  „Mehr"  aber  ist  das  GeheimnisvoU-ünfass- 

das  Unumschreibbare.    Bei   aller   begrifflichen  Schärfe,   die 

:ritischen  Philosophen    auszeichnet,   bleibt   daher  dem  Form- 

t  all  das  Mystisch- Weihevolle,    das   den  höchsten  Tatsachen 

!S  Lebens  eigen  ist.     Ein  kräftiger  Griff  in  die  Metaphysik, 

:helling  ihn  tat,  ein  grosser  produktiver  Wurf,  wie  er  Goethe 

chilier  gelang,    sind  besser  geeignet,    dies  Formerlebnis  auf- 

3n,    als   seine  Umschreibung  mit   den  immer  unzulänglichen 

fen  der  abstrakten  ästhetischen  Analyse.    Humboldt  hat  dies 

eingesehen.      Damals    folgte    er    dem    Wege    Kants,    der 

islich  auch  nicht  darüber  hinauskam,  mit  seinen  Kategorien 

Irücken,  was  man  vor  ihm  als  „Einheit  in  der  Vielheif*  oder 

tiver   als    „Zusammenfassbarkeit^    bezeichnet   hatte.     Denn 

Bindung   eines  vielgegliederten  Stoffs    zur  Form   ist   und 

das  Charakteristische   an  dem  künstlerischen  Vorgang.    In 

neuer  Formulierung   sucht  sich  Humboldt   dies  Zusammen- 

von  Erscheinung   und  Verstandesform,   besser  Vernunftidee 

:u   macheu.    Die  Gesetzmässigkeit  der  Form  muss  die  Herr- 

über  die  Freiheit  des  Stoffes  gewinnen.*)     „Alle  Schönheit 

auf  einer  freien  Verbindung  der  Form  mit  dem  Stoff*. *) 

rwfw.  I,  168  f.  336.  361. 
)  W.  W.  T,  364.  369  ff. 


126  E.  Spranger, 

Doch  muss  diese  Gesetzmässigkeit  ganz  als  die  natürlichste  Frei- 
heit erscheinen,  wie  es  ja  auch  Kant  gefordert  hatte. ^)  Das  My- 
thologische dieser  Wendungen  ist  nicht  zufällig  :  besteht  doch  eben 
alle  Formgebung  der  Kunst  darin,  dass  das  eigentümlich-mensch- 
liche Lebensprinzip  dem  Stoff  eingebildet  wird.  In  ihrem  Wesen 
und  Ursprung  aus  den  Tiefen  des  menschlichen  Geistes  selbst  aber 
bleibt  diese  Form  ewig  unergründet  :  nur  in  den  konkreten  Gegen- 
bildern des  Organismus,  des  Kunstwerkes,  der  Persönlichkeit  er- 
fasst  sie  sich  selbst.  Deshalb  der  ewige  Drang  nach  dieser  Pro- 
jektion. Und  wenn  Humboldt  die  Kunst  zurückführt  auf  die 
Fähigkeit,  die  Einbildungskraft  nach  Gesetzen  produktiv  zu 
machen  und  rein  aus  dem  Geiste  solcher  Gesetze  heraus  das 
Wirkliche  in  ein  Bild  zu  verwandeln,  so  bleibt  das  eigentM 
Ästhetische  dieser  Gesetze^)  völlig  unerklärt:  sie  haben  ihren  Ort 
zwischen  Wirklichkeit  und  Idee;  gerade  deshalb  aber  können  sie 
nur  am  konkreten  Kunstwerk  erlebt  werden;  gerade  deshalb 
weisen  sie  auf  ein  originales  Vermögen  der  Regelgebung  zurück, 
das  wiederum  unerklärt  bleibt.  Dies  war  ja  Kants  grandiose 
Gedanke:  die  Gesetze  des  Genies  und  die  Gesetze  der  Kunst 
können  nicht  in  Begriffen  formuliert  werden:  nur  eine  Analyse 
ex  post  am  Kunstwerk  selbst  kann  sich  ihnen  nähern. 

Wie  genau  Humboldts  Auffassung  von  diesem  produktiven  Kunst- 
vermögen, dem  Genie,  mit  der  Kants  übereinstimmt,  hatten  wir  be- 
reits im  Znsammenhang  mit  der  Erkenntnistheorie  angedeutet.  Aach 
dieses  Problem  behandelte  er  noch  1792  mehr  im  Sinne  der  Mo- 
nadenlehre: im  dichterischen  Genie,  so  hatte  er  sich  schon  1788 
mit  Jacobi  geeinigt,  überwiegt  die  Sensation,  d.  h.  die  bloss 
innere  Ideenproduktion,  im  Philosophen  die  Perzeption,  d.  h.  der 
Wirklichkeitssinn.^j  Bald  aber  treten  auch  hier  zum  VorteU  der 
Sache  die  Kantischen  Kategorien  ein:  Als  er  Schillers  Genie  einer 
eingehenden  Analyse  unterwirft  (4.  VIII.  1795),  findet  er  den 
Unterschied  beider  Geistesarten  darin,  dass  in  der  Philosophie 
mehr  Notwendigkeit  des  Ideals,  in  der  Poesie  mehr  Natur  md 
Wesen,  insofern  es  der  blossen  Form,  dem  System  entgegensteht, 
herrsche.   Schlesier*)  hat  mit  Recht  hervorgehoben,  dass  Humboldt 

1)  K.  d,  U.,  S.  69,  bes.  §  46.     An  Kömer,  S.  29.  39.  82.    Leitzmann, 
106.  118.  142  etc.    Au  Goethe,  S.  17  etc.    An  Wolf,  S.  149  f. 

2)  An  Wolf,  S.  165. 

3)  An  Jacobi,  S   93.    W.  W.  I,  170. 
*)  I,  68.    Vgl.  Haym,  136. 


W.  V.  Humboldt  und  Kant.  127 

nais  noch  durch  seinen  Verkehr  mit  Schiller  geneigt  war,  die  dich- 
iache  Bedeutung  des  ersten  Moments  zu  überschätzen.  Später 
îr,  als  Goethe  sein  Dichterideal  wurde,  forderte  er  von  dem  Genie 
schieden  dasselbe  Gleichgewicht  von  Selbsttätigkeit  und  Em- 
.nglichkeit  (Kant:  Genie  und  Geschmack),  wie  er  von  der  Kunst 
Eichgewicht  zwischen  Ideal  und  Natur  (Individualität)  verlangte. 

seinen  Jugendschriften  behandelte  er  immer  von  neuem  diese 
Eige.  Auf  die  Woldemarrezension  hatten  wir  schon  in  anderem 
sammenhang  hingewiesen.^)  Vorher,  in  den  „Ideen  über  die 
enzen  der  Staatswirksamkeit"  und  in  der  „Theorie  der  Bildung 
;  Menschen"  versenkte  er  sich  mit  Vorliebe  in  die  Analogie 
ischen  dem  geistigen  und  körperlichen  Zeugen,  jenen  unsterb- 
len  Erosgedanken  Piatos,  den  eben  damals  K.  Ph.  Moritz, 
V.  Dalberg,  der  Bruder  des  Koadjutors,  und  in  anderem  Sinne 
msterhuis  neu  entwickelt  hatten.  Diese  Idee  trat  mit  seiner 
ntischen  Auffassung  des  Geschlechtsgegensatzes  (s.  o.)  in  Ver- 
dang.   Der  Bildhauer   wird    von   dem  Zeugungstriebe  gequält. 

Fülle  seiner  plastischen  Einbildungskraft  in  Gestalt  auszu- 
icken.^  Aber  diese  Überfülle  der  Produktivität  muss  durch  das 
eptive  Vermögen  zum  Gleichmass  ausgeglichen  werden.  „Die 
stige  Zeugungskraft  ist  das  Genie. **^  „Durch  seine  Natur 
reibt  es  Gesetze  vor."*)  Es  muss  sich  also  selbst  gesetzmässig 
eben;  dies  ist  nur  möglich,  wenn  Selbsttätigkeit  und  Empfang- 
ikeit  in  ihm  gleich  geschäftig  sind,  wenn  es  nach  höchster 
jektivität  und  Notwendigkeit  strebt,  wenn  es  sein  zufälliges 
sein  abstreift  und  sein  enges  Ich  zu  dem  Umfang  einer  Welt 
^eitert.ö)  Diesen  Gedanken  des  ersten  Horenaufsatzes  erweitert 
in  der  „Vergleichenden  Anthropologie":  Sinnlichkeit  und  Ver- 
nd,  Wirklichkeit  und  reine  Geistigkeit  müssen  miteinander  aus- 
glichen werden.^)  Statt  dieser  Gegensätze  treten  auch  die  von 
tur  und  Idee,  Realität  und  Idealität,  Freiheit  und  Notwendig- 
t  ein.  Dem  Weibe  wird  ein  solches  Gleichgewicht  eher  im 
[üessen    als   in  der  Produktion  gelingen.^)     Nichts  anderes  ist 


1)  W.  W.  I,  290.  —  Vgl  oben  S.  78. 

^  W.  W.  I.  286. 

»)  I,  316. 

*)  317. 

^)  818. 

•)  W.  W.  I,  403  ff. 

7)  Leitzmann,  S.  142. 


las  Ê.  Sprangei*, 

es,  was  er  in  den  Briefen  an  Goethe  als  zeugende  und  bild 
Kraft  des  Genies  unterscheidet,  deren  Zusammenwirken  den; 
heber  selbst  ein  Geheimnis  sei.^)  In  seiner  Lehre  vom  Geni 
also  Humboldt  echter  Kantianer;  und  nicht  nur  in  den  Fon 
so  wie  Kant  den  Gedanken  seiner  Zeit  teilte,  dass  das  Bild 
gesetz  des  Organismus  und  das  des  Kunstwerks  in  der  W 
verwandt  seien,  dass  also  die  Philosophie  der  Kunst  und  dei 
ganischen  zusammenzustellen  wären,  so  lebte  diese  univ( 
organische  Auffassung,  wie  sie  uns  etwa  bei  Moritz  scharf 
gegentritt,  auch  in  Humboldt.  Und  damit  eröffnet  sich 
weitere,  letzte  Perspektive  auf  Schelling. 


An  dieser  Schwelle  der  neuen  Entwickelungsperiode 
brechen  wir  unsere  Untersuchung  ab,  in  dem  Bewusstsein 
Thema  mit  ihr  nicht  erschöpft  zu  haben.  Es  würde 
Stoff  einer  eigenen  Abhandlung  ausmachen,  die  Kantis 
Momente  in  Humboldts  sprachphilosophischen  Werken,  die  sie 
übrigen  in  Schellingschen  Bahnen  bewegen,  zur  Darstellung 
bringen.  Wie  tief  diese  von  Kants  Kategorienlehre  und 
seiner  Theorie  des  Schematismus  beeinflusst  sind,  hat  be 
K.  Haym  in  seinem  unübertrefflichen  Werk  herausgehobc 
Steinthal  hat  in  seiner  Art  die  gleichen  Probleme  verfolgt, 
noch  neuerdings  hat  F.  N.  Finck  sie  in  höchst  geistvoller  \ 
wieder  aufgenommen.  Wollen  wir  zum  Schluss  in  wenige  5 
zusammenfassen,  in  welchem  Sinne  Humboldt  Kantianer  war, 
dabei  an  der  Formel  zu  haften,  so  dürften  wir  sagen:  Sie 
einig  darin,  dass  in  den  Tiefen  des  Geistes  ein  grosses  gesta 
des  Prinzip  wohnt,  das  hier  als  Erkenntnis,  dort  als  sittl 
Wert,  dort  als  Kunstschaffen  wirksam  wird.  Für  Kant  nun 
die  grosse  Analogie,  von  der  aus  er  diese  geheimnisvoll  form 
Macht  des  Geistes  beleuchtete,  die  Logik,  d.  h.  die  Gesetzlicl 
des  Erkennens;  für  Fichte  war  es  das  Ethische;  für  Hural 
war  es  das  ästhetische  Schaffen:  deshalb  vermochte  er  die  St 
tur  und  die  Wirkungsweise  des  Geistes  selbst  nur  als  eine  ki 


1)  An  Goethe,  S.  61  ff. 
^  Haym,  S.  446  ff. 


W.  V.  Humboldt  und  Kant.  l20 

lerische  zu  deuten:  Das  Geistige  ist  in  seinem  Wesen  weder 
Mechanismus  noch  Organismus,  sondern  es  unterliegt  denselben  — 
ästhetischen  —  Bildungsgesetzen,  die  wir  in  abgeleiteter  Form 
am  Kunstwerk  erfassen.  Und  somit  ist  in  der  Welt  der  Objekte 
das  Kunstwerk  das  vollkommenste  Spiegelbild  dessen,  was  die 
höchste  Kunstform  des  menschlichen  Daseins  selbst  bedeutet:  der 
Persönlichkeit,  der  Humanität,^) 


^)  Vgl.  Ktthnemann,   Kants   und  Schillers  Begründung  der  Ästhetik. 
S.  52  f.  164*. 


'^«»titadUii  XI II. 


Rezensionen. 


Eisler,  Radolf,  Dr.  Einführung  in  die  Erkenntnistheorie. 
Darstellung  und  Kritik  der  erkenntnistheoretischen  Richtungen.  Leipzig 
1907,  J.  A.  Barth.    (XU  u.  272  S.) 

Derselbe.  Leib  und  Seele.  Darstellung  und  Kritik  der  neueren 
Theorien  des  Verhältnisses  zwischen  physischem  und  psychischem  Dasein. 
Leipzig  19()6,  J.  A.  Barth.  (VI  u.  217  S.)  [Natur-  u.  kulturphilosophiache 
Bibliothek  Bd.  IV.J 

Das  an  erster  Stelle  genannte  Buch  ist  wohl  geeignet,  über  die 
wichtigsten  Probleme  der  Erkenntnistheorie  und  die  verschiedenen 
Richtungen,  in  denen  man  ihre  Lösung  gesucht  hat,  zu  orientieren.  FQr 
eine  „Einführung"  dürfte  die  Darstellungsweise  bisweilen  etwas  zu  ab- 
strakt sein;  mehr  Verwendung  geeigneter  Beispiele  hätte  grössere  An- 
schaulichkeit mit  sich  gebracht.  Andererseits  hat  der  Verfasser  in  der 
Mitteilung  einzelner  Spielarten  der  erkenntnistheoretischen  Hauptrichtnngen, 
in  knappen  historischen  Notizen  und  in  Litteraturangaben  oft  wohl  de« 
Guten  zu  viel  getan.  Derartiges  wird  gerade  auf  den  Anfänger  ve^ 
wirrend  wirken,  und  ihm  ist  mehr  gedient,  wenn  man  ihm  wenige  wirk- 
lich gute  Bücher  nennt,  als  wenn  man  ihn  mit  Buchtiteln  geradezu  über- 
schüttet. 

In  dem  I.Abschnitt,  der  von  der  „Möglichkeit  desErkennens* 
(dem  „Wahrheitsproblem")  handelt,  ist  der  Verf.  mit  Recht  bestrebt,  die 
psychologische  Betrachtung  des  Denkens  und  Erkennens  von  der  logisch- 
erkenntnistheoretischen  zu  scheiden.  Doch  scheint  mir  der  Unter^hied 
nicht  immer  klar  herausgearbeitet  und  scharf  festgehalten  zu  sein.  Auch 
die  Polemik  ist  nicht  immer  glücklich.  So  heisst  es  z  B.  S.  57:  „Es  giebt 
objektive,  allgemeingültige,  aenknotwendige,  für  iedes  Subjekt  gCUtige 
Wahrheiten  (Urteile),  aber  keine  „Wahrheiten  an  sich",  keine  nngedacbten, 
vom  Denken  ablösbare,  in  sich  auf  unbegreifliche  Weise  ruhende,  als  halb 
logische,  halb  metaphysische  Wesenheiten  fungierende  Wahrheiten,  weder 
im  Sinne  von  Bolzano,  noch  auch  in  dem  etwas  nebulosen  Sinne,  den 
die  „Wahrheit  an  sich"  bei  Husserl  hat."  Diese  Vorwürfe  sind  aoe^ 
rechtfertigt.  Bolzano  erklärt  in  seiner  „Wissenschaftslehre"  Bd.  I:  „Ich 
verstehe  unter  einer  „Wahrheit  an  sich"  jeden  beliebigen  Satz,  der  etwas 
so,  wie  es  ist,  aussagt,  wobei  ich  unbestimmt  lasse,  ob  dieser  Satz  von 
irgend  jemand  wirklich  gedacht  und  ausgesprochen  sei  oder  nicht.  So  ist 
z.  B.  die  Menge  der  Blüten,  die  ein  gewisser,  an  einem  bestimmten  Ort 
stehender  Baum  im  verflossenen  Frühling  getragen,  eine  angebliche  (d.  h. 
aneebbare]  Zahl,  auch  wenn  sie  niemand  weiss;  ein  Satz  abo,  der  diese 
Zahl  angiebt,  heisst  mir  eine  objektive  Wahrheit,  auch  wenn  ihn  niemand 
kennt."  Die  „Wahrheit  an  sich"  ist  also  für  Bolzano  ein  wahrer  „Satz  an 
sich".  Mithin  gilt  für  jene  auch,  was  er  für  den  letzteren  Begriff  a  a.  0. 
I,  78  ausführt:  „Man  darf  den  Sätzen  an  sich  kein  Dasein  (keine  Existeni 
oder  Wirklichkeit)  beilegen:  Nur  der  gedachte  oder  behauptete  Satz,  d.h. 
nur  der  Gedanke  an  einen  Satz,  ingleichen  das  einen  gewissen  Satz  ent- 
haltende Urteil  hat  Dasein  in  einem  Gemüte  des  Wesens,  das  den  Ge- 
danken denkt  oder  das  Urteil  fällt  ;  allein  der  Satz  an  sich,  der  den  Inhalt 


Rezensionen  (Eisler).  131 

des  Gedankens  oder  Urteils  ausmacht,  ist  nichts  Existierendes;  demstalt, 
dass  es  ebenso  ungereimt  wäre  zu  saeren,  ein  Satz  habe  ewiges  Dasein, 
als  er  sei  in  einem  gewissen  Augenolick  entstanden  und  habe  in  einem 
andern  wieder  aufgehört." 

Wie  kann  man  unter  diesen  Umstanden  Bolzanos  „Wahrheiten  an 
sich^  —  „halb  metaphysische  Wesenheiten^  nennen?!  Es  handelt  sich  bei 
ihnen  lediglich  um  Abstraktionen,  die  durchaus  zweckmässig,  ja  unentbehr- 
lich sind.  Wir  reden  alle  von  den  „Wahrheiten"  einer  Wissenschaft,  einer 
Religion,  den  .Sätzen"  der  Geometrie,  einer  Abhandlung  u.  s.  w.  Diese 
uns  ganz  geläuiige  Abstraktion  hat  Bolzano  lediglich  zu  wissenschaftlicher 
Bestimmtheit  erhoben. 

In  gleichem  Sinne  verwendet  nun  auch  Husserl  den  Ausdruck 
^ Wahrheit^,  z.  B.  Logische  Unters.  I,  76  f.  Er  hat  aber  ausserdem  die 
verschiedenen  Bedeutungsnüancen  dieses  Terminus  mit  der  ihm  gewohnten 
Scharfe  a.a.O.  11.  694 ff.  unterschieden.  Angesichts  solcher  mustergültiger 
Be^iffsanalysen  mutet  es  seltsam  an,  wenn  Eisler  von  einem  „etwas 
nebalosen  Sinn"  des  Wahrheitsbegriffs  bei  Busserl  spricht. 

Im  II.  Abschnitt,  der  dem  „Problem  des  Erkenntnis- 
Ursprungs"  gewidmet  ist,  vertritt  er  den  Kritizismus,  der  zwei  Quellen 
der  Erkenntnis,  Verstand  und  Sinnlichkeit,  annimmt.  Das  Denken  ist  es, 
das  den  materialen  Gehalt  der  Sinneswahmehmuugen,  die  Empfindungen, 
za  wirklicher  Erkenntnis  von  objektivem  Gehalt  verarbeitet.  Die  Erkennt- 
nis^egenstände  sind  also  solche  [d.  h.  doch  wohl  als  Inhalte  menschlichen 
Erkenn  ens]  nicht  von  vornherein  fertig  gegeben,  sondern  aufgegeben. 
„Das  Denken  erst  weist  uns  das  »Sein«  auÇ  d.  h  erst  die  denkende  Ver- 
arbeitung der  Erfahrungsdaten  ermöglicht  es,  in  verschiedenem  Grade 
der  Sicherheit  zwischen  Schein  und  Wirklichkeit,  subjektiver  und  objek- 
tiver Realität  zu  unterscheiden,  bestimmte  Inhalte  als  Realitäten  auszu- 
zeichnen" (S.  1&6  f). 

Mit  Recht  aber  betont  Eisler  gegenüber  der  irreftthrenden  Rede 
Cohens  und  seiner  Anhänger  von  dem  „Erzeugen  des  Seins  darch  das 
Denken":  „Das  Denken  bestimmt  Realität,  aoer  —  es  erzeugt  sie 
nicht"  .  .  .  „In  dem  Anschaulichen  der  Erkenntnis  ist  das  Reale  ange- 
kündigt, und  kein  Denken  der  Welt  würde  Realität  begründen  und  setzen, 
wenn  es  nicht  den  Begriff  des  Realen  an  der  Hand  des  anschaulich  Ge- 
gebenen entwickelte"  (S.  157). 

Diese  Erörterungen  führen  uns  unmittelbar  zu  dem  III.  Abschnitt, 
der  Behandlung  des  Realitäts-Problems.  Bei  aller  Anerkennung  der 
relativen  Wahrheit  des  Idealismus  wird  hier  mit  vollem  Recht  daran  fest- 
Rhalten,  dass  das  Wesen  des  Erkennens  darin  bestehe,  eine  von  allen 
Subjekten  und  ihren  Erkenn tnisvor^ngen  und  Erkenntnisinhalten  ver- 
schiedene „Realität"  zu  bestimmen.  Sehr  am  Platze  ist  die  Mahnung,  der 
Idealismus  müsse  „methodisch"  bleiben,  er  dürfe  nicht  selbst  zu  einem 
ontologisch-meta physischen  Standpunkt  werden.  —  „Es  ist  ein  Irrtum,  zu 
glauben,  die  Wirklichkeit  erschöpfe  sich  darin,  Innalt  des  erkennenden 
Bewusstseins  zu  sein,  es  i>t  ein  intellektualistiscbes  Vorurteil  oder  Dogma, 
die  gedanklich-fixierte  Welt  der  Forschungsobjekte  für  das  einzige  und 
leiste  Sein  zu  halten"  (S.  224).  Auch  mir  scheint  es  die  „befriedigendste" 
Annahme  zu  sein,  dass  „objektive  Erkenntnis  das  Produkt  des  »Zusammen- 
wirkens« zweier  Faktoren  ist,  von  denen  der  eine  das  Snlvjekt  mit  seiner 
reaktiv  und  aktiv  den  Erfahruugsstoff  gestaltenden  Geistesarbeit,  der 
andere  das  «Ansich«  der  Wirklichen  ist"  (S.  268). 

Für  das  Buch  über  „Leib  und  Seele"  gelten  ebenfalls  die  allge- 
meinen Bemerkungen,  die  ich  an  den  Anfang  der  vorhergehenden  Be- 
sprechung gestellt  habe. 

Seinen  Stoff  gliedert  der  Verfasser  in  der  Weise,  dass  er  zunächst 
die  drei  metaphysischen  Richtungen  des  Dualismus,  des  Materialismus  und 
der  Identitfttalehre   bespricht,  sodann  —  am   ausfflhrlichiten  —  auf  das 


132  âesensionen  (Eûler). 

Problem:  Wechselwirkunfi;  oder  Parallelismiis ?  eingeht,  und  endlich  noch 
kurz  die  Unsterblichkeitsfrage  streift 

Den  Dualismus  sucht  Eisler  hauptsächlich  durch  folgende  Er- 
wägung zurückzuweisen:  „Ist  es  ein  Merkmal  alles  Physischen,  Inhalt 
eines  Bewusstseins  zu  sein,  irgend  ein  Subjektmoment  als  korrelat  voraoB- 
zusetzen,  so  hat  es  keinen  Sinn  mehr,  zwei  von  einander  absolut  ver- 
schiedene  und  getrennte,  selbständige  Welten  anzunehmen.  Es  giebt 
demnach  weder  zwei  heterogene  Substanzen,  noch  zwei  heterogene  reale 
Geschehnisse,  die  irgendwie  mit  einander  verknüpft  sind"  (8.  24).  Dieser 
Gedankengang  wäre  zutreffend,  wenn  sozusagen  das  ganze  Wesen  des 
Physischen  darin  bestände,  Bewusstseinsinhalt  zu  sein.  Tatsächlich 
meinen  wir  im  gewöhnlichen  Leben  wie  in  den  Einzelwissenschaften  mit 
dem  Worte  ^ewusstseinsinhalt"  Psychisches,  d.  h.  eben  ^rade  nichts 
Physisches.  Würde  aber  der  Verfasser  behaupten,  erkenntnistheoretische 
Erwägungen  führten  dazu,  im  Physischen  lediglich  Bewusstseinsinhalt  zu 
sehen,  so  würde  er  damit  seinen  eigenen  realistischen  Standpunkt  in  der 
Erkenntnistheorie  aufgeben. 

Die  Darstellung  und  Widerlegung  des  Materialismus  ist  klar  UDd 
treffend. 

Unter  dem  Titel  „Identitätslehre"  werden  sodann  die  verschie- 
denen Formen  des  Monismus  behandelt.  Der  Verfasser  entscheidet  sich 
schliesslich  für  einen  spiritualistischen  Monismus.  (Hierin  liegt  auch  der 
Grund,  warum  wir  uns  unter  den  von  ihm  aufgezählten  metaphysischen 
Standpunkten  vergebens  nach  dem  Spiritualismus  umsehen.)  Der  Mensch 
ist  demnach  „eine  bestimmte  Organisation  des  Wirklichen,  die  sich  un- 
mittelbar als  Subjekt,  als  Einheit  von  Subjektaktionen,  von  psychischen 
Erlebnissen  weiss,  sinnlich  und  naturwissenschaftlich  aber  als  Oojekt  unter 
Objekten,  als  Leib,  als  physischen  Organismus  erkennt.  Das  Pftvchische 
ist  das  unmittelbare  Sein  desselben  Wirklichen,  welches  mittelbar  fflr 
andere  und  für  seine  eigene  Sinnesperzeption  und  deren  begriffliche  Ve^ 
arbeitung  sich  als  Körper  und  physisch  darstellt^  (S.  94).  Das  Psychische 
also  oder  das  „Intelligible^^  (auch  so  nennt  es  Eisler  S.  146),  „das  uns  im 
Selbstbewusstsein  unmittelbar  vorliegt*^,  ist  das  allein  Beale,  das  „Ding 
an  sich^,  das  auch  den  physischen  Phänomenen  zu  Grunde  liegt. 

Wenn  nun  aber  alles  eigentlich  psychisch  ist,  woher  kommt  dann 
das  Physische  oder  wenigstens  die  Erscheinung  des  Physischen?  Aus  der 
oben  angeführten  Steile  (von  S.  94)  können  wir  zunächst  die  Antwort 
darauf  entnehmen:  Das  psychische  Einzelwesen  erfasst  sich  zwar  selbst 
als  psychisch,  aber  es  stellt  sich  anderen  psychischen  Wesen  als  physisch 
dar.  Warum  das  nun  freilich  so  sein  soll,  darüber  erhalten  wir  keinen 
weiteren  Aufschluss.  Aber,  geben  wir  uns  f^uch  einmal  damit  zufrieden, 
so  steigt  uns  doch  noch  ein  schweres  Bedenken  auf.  Hängt  die  Erschein- 
ung des  Physischen  lediglich  davon  ab,  dass  Psychisches  durch  andere 
psychische  Wesen  aufgef asst  wird,  so  müssen  wir  selbst  uns  doch  ledighch 
als  Seele  erscheinen  :  wie  ist  es  zu  erklären,  dass  wir  nicht  bloss  fflr 
andere,  sondern  auch  für  uns  selbst  zugleich  als  Leib  erscheinen?  Darauf 
antwortet  uns  die  zitierte  Stelle:  Das  erklärt  sich  durch  „unsere  ei^ne 
Sinnesperzeption",  die  wir  von  uns  selbst  haben.  Aber  das  führt  in  emen 
Zirkel.  Unsere  Sinne  wären  also  die  Voraussetzung  dafür,  dass  wir  uns 
selbst  als  körperlich  erscheinen,  andererseits  sind  sie  selbst  nur  Erscheinung 
—  und  zwar  für  wen?  für  die  Seele  vermöge  ihrer  Sinne.  Die  Sinne 
wären  also  zugleich  Voraussetzung  der  physischen  Erscheinung  und  selbst 
eine  solche  Erscheinung,  sie  wären  Bedingung  und  Bedingtes.  Das  ift 
unmöglich. 

Aber  ein  Ausweg  scheint  sich  zu  bieten.  Man  kann  ja  annehmen, 
dass  unsere  Sinnesorgane  wie  überhaupt  unser  Leib  selbst  schon  aas 
Seelenwesen  (aus  Monaden)  bestehen,  und  dass  diese  eben  unserer  Seelen- 
monade  wie  überhaupt  alles  andere  Psychische  als  physisch  erscheinen. 
Dann  bleibt  aber  einmal  die  schon  oben  angedeutete  Frage  (woher  übet- 


Reeenûonen  (Braan).  133 

haapt  diese  Erscheinungsweise?)  nngeltet;  sodann  ffiit  der  Sats  Eislers 
nicht  mehr,  dass  unsere  Seele  „dasselbe  (!)  Wirkliche^  sei,  welches  nns 
and  anderen  als  Leib  erscheine. 

Die  Behandlung,  die  der  Verfasser  der  Frage  nach  dem  Verhält- 
nis von  Leib  und  Seele  an^deihen  lässt,  ist  natürlich  abhänji^g  von 
seiner  metaphjrsischen  Grundposition,  dem  spiritua listischen  Monismus  Er 
lehnt  darum  eine  psychophysische  Wechselwirkung  ab  und  behauptet 
einen  Parallelismus  zwischen  den  beiden  Arten,  wie  das  Wirkliche  sich 
darsteUe.  „Dieser  Parallelismus  schwebt  aber  nicht  in  der  Luft,  sondern 
iat  durch  intelligible  Ordnungen  des  Geschehens  bedingt,  so  dass  dieses 
Intelligible,  welches  für  sich  selbst  psychisch  ist,  den  Grund  für  das  Aul- 
treten physischer  Kausalverbindun^en  darbietet,  ohne  jemals  als  Ursache 
die  Reme  des  Physischen,  Objektiven,  Phänomenalen  zu  durchbrechen"^ 
(S.  147). 

Seine  Auffassung  und  Begründung  des  Parallelismus  wird  also  von 
dem  Einwand  getroffen,  den  wir  gegen  seine  metaphysische  Grundansicht 
erhoben  haben.  Auch  abgesehen  davon,  dürfte  es  der  ganzen  La^ 
der  Diskussion  dieses  Problems  entsprechender  sein,  es  noch  als  ein 
offenes  zn  behandeln. 

Giessen.  August  Messer. 

Brann,  Otto,  Dr.  Schelling,  Friedrich  von,  Vorlesungen  über 
die  Methode  des  akademischen  •  Studiums.  Herausgegeben  von 
Otto  Braun,  Dr.  phil.     Leipzig  1907.    Quelle  &  Meyer.    (XXIII  u.  170  S.) 

In  dreifacher  Hinsicht  vielleicht  stellt  sich  eine  solche  handliche 
Nenausgabe  von  Schellings  „Vorlesungen  über  die  Methode  des  akade- 
mischen Studiums"  als  ganz  glücklicher  Griff  dar.  Erstens:  dem  offen- 
sichtlichen Verlangen  nach  der  Synthese,  von  dem  heute  das  geistig 
Wollen  besonders  der  jüngeren  Generation,  die  nach  einer  einheit- 
lichen und  überschauenden  Verarbeitung  der  in  dem  verflossenen  Jahr- 
hondert  vollzogenen  ungeheuren  Anhäufung  an  positivem  Wissensmaterial 
strebt,  wieder  beherrscht  wird,  kommt  der  durchaus  synthetische  Charakter 
der  wissenschaftlichen  Denkungsart  in  den  Schellingschen  Vorlesungen  als 
anschaulicher  T^pus  fördernd  entgegen.  Sodann  ist  diese  Schrift,  die  in 
einem  verhältnismässig  allgemeinverständlichen  Stile  geschrieben  ist  und 
neben  der  Behandlung  ihres  eigentlichen  Themas  zujg^leich  das  Identitäts- 
system  des  Philosophen  im  Umriss  darbietet,  weil  sie  eben  ihren  Ges^en- 
stand  allein  ai^  Grund  dieses  Systems  angesehen  wissen  will,  vor  allem 
ceeignet,  einen  Laien  unmittelbar  in  Schellings  Philosophie  einzuführen. 
Und  zum  Dritten  ist  es  auch  für  den  Fachmann  nicht  ohne  Wert,  dass 
ihm  gerade  die  Vorlesungen,  bisher  nur  in  der  Ausgabe  der  S.  W.  erreich- 
bar, nun  in  bequemerer  Weise  zugänglich  geworden  sind.  Denn  sie  sind 
insofern  von  besonderem  Beiz  und  Siteresse,  als  in  ihnen  das  gleichsam 
private  Element  in  der  wissenschaftlichen  Persönlichkeit  ihres  Schöpfers 
so  deutlich  wie  sonst  nirgends  zum  Ausdruck  gelangt:  Schellings  Be- 
geisterung für  die  Erhabenneit  des  reinen  Gedaiu:ens  und  für  die  gewal- 
ugen  Ziele,  denen  das  Denken  nachzustreben  habe  und  die  nur  diesem 
erreichbar  seien,  und  der  hochfahrende  Dünkel,  mit  dem  der  Siebenund- 
zwanzigjährige  auf  die  fleissige  Arbeit  mühsamer,  gewissenhafter  Forschung 
verftchthch  herabsieht;  seine  persönliche  Stellungnahme  zu  den  wissen- 
schaftlichen und  allgemeinen  geistigen  Richtungen  und  Bewegungen  der 
damaligen  Gegenwart,  sein  felsenfes&r  Glaube  an  den  eigenen  priester- 
lieben  Beruf,  den  Geist  des  Zeitalters  und  der  Nation,  den  Menscnengeist 
überhaupt  zu  erlösen,  und  die  überlegene  Gönnerhaftigkeit,  mit  der  er  die 
grossen  Vorgänger  nur  allenfalls  gelten  lässt,  auch  Kant,  den  er  als  eine 
Art  von  vorbereitendem  und  immerhin  verdienstvollem  Erneuerer  betrachtet, 
der  sich  aber  über  den  wahrhaften  Sinn  seiner  Philosophie  und  deren 
Verhältnis  zum  „Urwissen"  selbst  nicht  klar  gewesen  sei,  weil  ihm  eben 
dms  Licht  der  arooluten  Indifferenz  noch  nicht  aufgegangen  war. 


134  Beaenaoiien  .Bnoa). 


hat  Bnm  die  dankenswerte  Av%»be»  der  er  sieh  ostenog, 
wesentlicheii  Ponkten  nickt  zor  Genfige  cif&Ilt. 

Er  giebt  in  seiner  Aosçabe  ausser  dem  Tezt  ein^e  erünternde  Âs- 
Beiknngen  nnd  eine  allgemeine  Einleitang. 

Don  Text  ist  die  Originalansgabe  Ton  1âQ8  xb  Gnmde  gelegt;  die 
in  den  S.  W.  znm  Teil  in  eckigen  Klammem,  zum  Teil  in  Fonnoten 
^'^<^^>¥*l^l>^°^^  Znsitze  ans  dem  Handexemplar  d»  Terfaaaers  sind  Te^ 
stindigenreise  durchweg,  Ton  einer  der  Sachlage  nach  nickt  za  nmgehes- 
den  Aôsaahme  (S.  56)  abgesehen,  in  eckige  Klammem  gesetzt,  sodaa  der 
Henosgeber  ftr  seine  eigenen  Anmerksngen  freien  S|iMraam  tfbilt 
Kinne  imd  belanglose  Znsitze  ans  dem  Handexempinr  sind  mas^hmn 
anf  Sl  -iiBi»  73  and  73w  Meist  ebenfdis  durch  das  AnsiasBeii  Ton  WörteiB 
•mden.  Tom  Heransgeber  noch  etliche  Änderungen  des  Textes  Tor|^ 
nommen.  fir  die  ein  zareichender  Grand  indessen  nicht  einzos^en  nt 
Darüber  hinaas  hat  Rel  aber  an  sinnentstelLenden  oder  das  Tersfeindmi 
des  Sinnes  erschwerenden  Anderan^^n.  bezw.  Venehen  oder  Dmekiriilm 
eiae  ganze  Reihe  bemerkt,  namhch  S.  &  II.  Z.  t.  n.  Jm  absolntei 
Formen  Tcrhârtec*  statt  Jn  obsoleten  Formen  Terhärtet*^;  S.  2S^  1  2. 
T.  n.  ^Verwendon^  statt  ^nwendan«*;  S.  Ä.  IL  Z.  v.  o.  ..kdnntei' 
statt  ^können*:  S.'iT,  Mitte  .Tergebtiifae*  statt  ^Tor^ebuche-^;  S- Ä 
3l  Z.  T.  o.  am  Ende  fehlt  .aach  einer  Dirne*:  S.  43,.  12.  Z.  t.  v.  jbn  ill- 
gcmcxnen-"  statt  Jm  Allgemeinen*,  was  deshalb  dem  Sina  des  Saties 
zmrwVriairft.  weil  hier,  wie  aas  dem  Zasammenhan^  hetimgeht,  .du 
Aüeemenie*  {=  das  Wissen  aof  der  idealen  Seite^  d.  L  îaa  Toiücgendei 
Falle  der  konstnikcive  Faktor  des  W£«ens  in  scObstlmdigez'  sabtfoti- 
Tveher  Bedeittan^  als  Gegensatz  za  .<km  Besonderes.^  (==  dem  Wbki 
anf  der  realen  Sete.  d.L  im  Torüegenden  Falle  dem  EmpizisdLatj  gemdit 
ÎK:  S.  «0.  14  Z.  T.  o.  ^welchem-  statt  .wekh«-^:  S  fft^  &  Z  t.  «.  for 
.jgpuMMgr^  fehlt  «Tagenden*:  S.  67,  &.  Z.  t.  a  ^odgmell'^  statt  ^ofi|:îiih 
^.  IL  13.  ZL  T.  o.  .Tagf  die  KansC  aof  <&  Togcnii  machoL'^  art  m  den 
Znaarz  des  Haouiexemçlars  hinter  ,  Religion*  anagelaai«i;  S.  88^  3.  Z.  t.i. 
^derjenige-*^  ssatt  ^d  ie j**ni«e*  :  S»  93,  II.  Z.  t.  o.  ^weut^  statt  ^den": 
S  9K,  «.  ZL  ▼.  o.  ^dennoch*"  statt  ^demnach*":  S.  UX  I.  ZI  r.  «.  ^ter 
hteitec^  statt  «vorbereitet*:  S.  lil.  8.  Z  t  ol  ^nscxonale**'  statt  jmtio- 
nelle*^:  S.  US.  lOtte  fehlt  .^za  entweihen»  imum  num.  se  in  Dia^ 
hinter  .^Pftflaaaphie^:  S.  130^  a  Z.  t.  o.  Tor  ^wenn*"  Üehlt  ^würes^^i  S.  ISI. 
i  Z  T.  o.  TQT  .^Mnvh'^  Milz  .nicht^:  S.  X-&  i  Z  t.  o.  .^▼«wischt-  sciit 
^Tcrmischtr*;  5.  l-C.  5.  Z.  v.  o.  .»sällen'*  statt  ^▼irien**-;  Sw  150^  14 1 
T.  o.  JblhereK*  statt  ^hercs-":  S  I5L  (5u  Z  t.  o.  hint»  .,mt^'^  fiehlt  nod 
cmmal  .^-':  S.  151.  II.  Z  t.  o.  hinter  .^Sofjekciràit^  fidhit  ^  &  Ob- 
iekcrriiat^:  S.  153.  i  Z  t.  a.  ,,ihre-  statt  .»seine*:  S.  !«„  3.  Z  ▼.o^ 
^kiwmtr*^  statt  ^nnte^.  Fem«  wird  S.  >^  li.  Z  t^  o.  <&irch  êm  Am- 
liwerr  des  Komma»  hinter  .^bjektire'^  and  S.  94^  Î-4  Z  ▼.  o.  <inck  du 
AoBUHsen  des  Kolons  hmter  .ymCgüch'^  der  Sinn,  der  becreflSenäen  Süs 
tesshmkeliL  Xan.  wird  demnach  zageben  müssisfL,  (&as  Bl  dm  hull 
gegiebeien  Tee:  mit  etnem  erht^buchen  Xangel  tm  Soriarfiil]:  behandrit  kst 
mit  gjnfflr  5achiflaBgkât.  die  seh  ein  Philologe  oder  titecaghiacocikBr  in 
analogen  Falle  kaiim  za  Schalden  kommen  lassen  dâzfbe.  ohne  v^  dei 
hif(1ii|piüat  Angriffen  and  Vor  würfen  anazoaetzen. 

Die  Anm^cnng!«!,  die  seh  anf  das  ^twendiigste»  auf  einge  E^ 
äbmrangaa  and  seiesoddiche  Hinwose,  besciuänken.  soQen  (fie  CxniîeîtBVf 
bai  der  Sriminiang  iiirer  AbsÉchc  onteistätzen ;  and  zwar  iiiifi  iiiiaiMi  o 
<fiB  ISniacang.  mic  Gesciiick  and  innerer  Beceüitring  an  (te*  Seche  ficvftt- 
bne  Basxennngen  zwischen  dem  Ideengehalt  1er  «oriesmmn  Sfacr  ei 
Methode  and  isn  gesogoi  Leb^i  dior  Gegenwart  jnznkitâpâen.  and  zxcv 
«ine  Paraten  nng  Wi  Scheilincs  ideengesciüehciicaer  SteUnng:  an  gekci- 
Dem  Darsteflnnç  «esciiiehc  aber  vun^  einem  eriweitigen  CoaiLhiayakte 
en^  Derau£.  «hmt  Scheîlings  Wirken  zit  einem  weaenracdhet  Teäe  in  et 
gadmirfrhe   Sphftte  der  ronuutoadLen  Bewegoag 


Re^^siQnen  (Oesterr^icb).  195 

ihr  hervorging,  wird  nicht  Bezug  genommen.  Und  doch  hat  der  Philosoph 
wiederholt  auf  die  romantische  Bewegung  und  ihre  Ziele  unverkennbare 
Ajispielungeu  gemacht,  vornehmlich  am  Anfange  und  am  Ende  der  Vor- 
lesangen  (vgl.  S.  8  und  167  68).  In  dem  Grundgedanken  von  Schellings 
Auffassung  vom  Wesen  der  Wissenschaft,  dass  nämlich  jede  Wissenschaft 
Euletzt  auf  einem  pliilosophischen  Prinzip  und  die  Philosophie  selbst  auf 
einem  künstlerischen  Prinzip  beruhe,  das  überdies  in  der  Religion  sich 
ebenso  ausdrücke,  sniegelt  sich  deutlich  die  Grundtendenz  des  roman- 
tiscben  Geistes  wieaer,  die  Poesie,  Philosophie  und  Religion  ineinander- 
Diessen  lassen  wollte.  Das  Schellingsche  Bildungsideal  war  eine  Syste- 
mati8i«*rung  des  romantischen  Bildungsideals.  Von  diesen  wichtigen  Zu- 
sammenhängen erwähnt  der  Herausgeber  nichts  Die  historische  Stellung 
Sehellinurs  ist  in  rein  fachphilosophiegeschichtlichem  Sinne  ins  Auge  ge- 
fftsst  und  in* diesem  Sinne  allerdings  in  einer  für  den  Laien  verständlichen 
und  anregenden  Weise  geschildert.  Nur  über  eine  Stelle  hat  Ref.  selbst 
■ich  nicht  klar  werden  können.  Auf  S.  X  heisst  es:  ,,Bei  Kant  herrscht 
aoch  hier  (d.  i.  bei  dem  erkenntnistheoretischen  Verhältnis  zwischen 
Mensch"  und  ^Welt")  der  durch  seine  Geistesart  bedingte  Dualismus: 
Welt  und  Mensch  sind  von  Anfang  an  getrennt  und  eine  wesenhafte  Ver- 
bindung ist  dann  unmöglich  Es  ist  im  Grunde  derselbe  Fehler  des  Aus- 
ranitrspnnktes,  wie  ihn  die  übliche  Erkenntnistheorie  stets  begeht:  sie 
be^nnt  vom  Ich,  dem  notwendig  ein  Nicht-Ich  entgegengesetzt  wird. 
Bei  konsequentem  Denken  ist  dann  dem  Solipsismus,  dem  ^Einzig-Sein*^, 
nicht  zu  entgehen.*^    Es  ist  doch  schwerlich  anzunehmen,  dass  der  Heraus- 

g^ber  mit  diesen  Sätzen  sagen  wollte,  dass  der  Standpunkt  der  Kantischen 
rkenntnistheorie  bei  konsequentem  Denken  zum  Sohpsismus  führe.    Was 
aber  in  aller  Welt  wollte  er  damit  sagen? 

Charlottenburg.  Karl  Hoffmann. 

Oesterreich,  Konstantin,  Dr.  phil.  Die  Entfremdung  der 
Wahrnehmungswelt  und  die  Depersonnalisation  in  der 
Paye  h  asthénie.  Ein  Beitrag  zur  Gefühlspsychologie.  Sonderabdruck 
ana  dem  Journal  für  Psychologie  und  Neurologie.  Bd.  VII,  S.  256 — 276. 
Bd.  VIII,  S.  61—97,  141-174,  220-237.  Bd.  IX,  S.  16—53.  Leipzig, 
J.  A.  Barth,  1907.    Gr.  8fi. 

Kant  hat  bei  seinem  ausgedehnten  psychologischen  Interesse  auch 
den  psychopathologischen  Erscheinungen  eine  mehr  als  g^elegentliche  Auf- 
merksamkeit zugewandt.  Im  „Versuch  über  die  Krankheiten  des  Kopfes^, 
in  den  „Träumen  eines  Geistersehers*',  in  der  „Anthropologie**  —  immer 
«rieder  kommt  er  auf  sie  zurück  und  sucht  auch  in  dieses  scheinbar  ver- 
worrenste Gebiet  mit  seiner  scharf  sondernden  wissenschaftlichen  Analyse 
einzudringen.  Freilich  bleibt  er  dabei  ganz  in  den  psychologischen  An- 
schauungen seiner  Zeit  stehen  :  er  nimmt  eine  Reihe  deutlich  geschiedener 
Seelen  vermögen  an  und  bestimmt  die  einzelnen  Krankheitsformen  nach 
den\jenigen  Vermögen,  das  im  jeweiligen  Falle  gestört  erscheint.  Gf'gen- 
Qher  dieser  halb  deduktiven  Methode  zeisrt  uns  die  moderne  Psychopatho- 
lo^e  die  sorgfältigste  Anwendung  der  Empirie.  Die  vorliegende  bedeut- 
same Arbeit  fusst  zunächst  auf  drei  neuen,  höchst  interessanten  Krank- 
hei taf allen;  die  eigenen  Aufzeichnungen  der  Patienten  werden  mit  Recht 
völlig  unverkürzt  wiedergegeben.  Ausserdem  aber  zieht  der  Verf.  eine 
Fülle  älterer  und  neuester  Litteratur  sowohl  von  der  klinischen  als  der 
theoretischen  Seite  heran. 

Die  beiden  Krankheitserscheinungen,  um  die  es  sich  hier  handelt, 
die  Entfremdung  der  Wahmehmuuffswelt  und  die,  von  Dugas  als  ^Deper- 
sonnalisation*' bezeichnete,  bis  zur  Bewusstseinsspaltung  sich  steigernde 
Entfremdung  der  eigenen  Persönlichkeit  gehören  dem  Gebiet  der  sog. 
Psycbasthenie  an  und  sind  mit  der  Hysterie  nicht  zu  verwechseln.  Kris- 
haber,  der  ihnen  zuerst  eingehendere  Untersuchungen  widmete,  führte 
aie  anf  Störungen  in  den  Sinnesempfindungen  zurück,  und  neuere  Autoren, 
wie  Taine  und  Ribot,  sind  ihm  noch  in  dieter  Auffassung  gefolgt.    Man 


136  Rezensionen  (Öest erreich). 

wird  dadurch  an  die  von  Kant  immer  wiederholte  Unterscheiduig  von 
Wahnsinn  (als  krankhaften  Sinnesillusionen)  und  Wahnwitz  (als  Störong 
der  intellektuellen  Funktionen)  erinnert  und  möchte,  jenen  sensualistischen 
Theorien  folgend,  die  betreffenden  Phänomene  nach  Kantischem  Sprach- 
gebrauch um  so  eher  zum  Wahnsinn  rechnen,  als  sie  durchgängig 
durch  das  Bestehen  völliger,  deutlicher  Krankheitseinsicht 
ausgezeichnet  sind.  Der  Verf.  liefert  nun  aber  in  höchst  überzec^en- 
der  Weise  an  der  Hand  der  Krankheitsaussagen  den  Nachweis,  dass  diese 
Erklärung  durch  Störung  der  Sinnesempfinaungen  irrig  ist.  Er  beginnt 
mit  der  Entfremdung  der  Wahmehmungswelt  und  zeigt,  dass  die  Sinne»- 
emp findungen  vöfiig  unverändert  sina.  Ebensowenig  kann  er  sich  den 
Theorien  von  Leroy  und  Pick  anschliessen,  die  die  Entfremdung  als  eine 
Störung  des  normalen  Bekanntheitsgefühles  ansehen,  oder  den^n  vonLippi 
und  anderen,  die  eine  Erinnerungsstörun^  annehmen.  Seine  eigene  Ana- 
hrse  führt  zu  dem  interessanten  psychologischen  Resultat,  dass  bei  völliger 
Intaktheit  der  Sinnesempfindungen  doch  die  Sinneswahrnehmun^en 
alteriert  sein  können.  Denn  die  Wahrnehmungen  sind  nicht  identisch 
mit  den  einfachen  Empfindungen:  sie  sind  komplexe  Gebilde  aus  dieses 
und  hinzutretenden  weiteren  Prozessen.  Im  Gegensatz  zu  der  physio- 
logischen Schule  Wemickes  sucht  er  aber  die  psychasthenische  Stömng 
nicht   in  den  begleitenden  Muskelempfindungen,  sondern  in  den  Gheffihl»- 

Srozessen,  die  mit  den  Empfindungen  verschmolzen  sind.  Aue  Aussagen 
er  Kranken  weisen  darauf  hin,  dass  ihnen  die  Aussenwelt  deshalb 
fremd  erscheint,  weil  in  ihnen  die  emotionellen  Vorgang  gehemmt  sind. 
Und  diese  Auffassung  wird  unterstützt  durch  die  Beobachtungen 
bei  der  Depersonnalisation,  die  häufig  mit  jener  ersten  Krank heitsform 
verbunden  auftritt.  Auch  hier  sind  keine  intellektuellen  Störungen  oder 
Sinnesabnormitäten  nachweisbar:  die  vollste  Krankheitseinsicht  besteht, 
und  die  Kranken  klagen  einstimmig  nur  darüber,  dass  in  ihnen  die  Ge- 
fühle herabgesetzt  oder  erstorben  sind.  Merkwürdigerweise  geht  die 
Krankheitseinsicht  so  weit,  dass  sie  diese  allgemeine  Gefühllosigkeit  doch 
als  etwas  Schreckliches  fühlen  und  sich  ihres  früheren  Zustande«  deutlich 
(eigentlich  auch  gefühlsmässig)  erinnern.  Auch  die  Depersonnalisation 
beruht  also  im  wesentlichen  auf  der  Hemmung  der  emotioneUen  Prozesse. 
Der  Einfluss  dieses  Zustandes  auf  die  intellektuellen  Betätigungen  wird 
eingehend  verfolgt;  kürzer  wird  die  Willensseite  behandelt,  doch  eine 
Herabsetzung  des  Aktivitätsgefühles  allgemein  konstatiert. 

Der  normalpsychologische  Ertrag  dieser  Analyse  an  pathologischen 
Fällen  ist  höchst  bedeutend.  Der  Verf.  findet  dadurch  die  Anscnannng 
von  Lipps  bestätigt,  dass  der  Kern  unseres  Ich  in  den  Gefühlen  zu  suchen 
ist.  Er  geht  aber  insofern  über  ihn  hinaus,  als  er  daraus  die  Möglichkeit 
einer  innerlichen  graduellen  Abstufung  des  —  numerisch  immer  einheit- 
lichen —  Selbstbewusstseins  folgert,  je  nach  der  Stärke  und  Beteiligone 
der  Gefühle,  die  zu  seinen  konstituierenden  Bestandteilen  gehören.  (Vgl 
auch  die  Litteraturübersicht  zur  Theorie  des  Selbstbewusst^ins,  Bd.  VQI, 
S.  162.) 

Was  die  erkenntnistheoretische  Seite  dieser  Untersuchungen  betrifft, 
so  kommt  der  Verf.  wiederholt  selbst  darauf  zu  sprechen  und  weist  be- 
sonders auf  Dil  they  hin,  der  in  seiner  Akademieabhandlung  „Beiträge 
zur  Lösung  der  Frage  vom  Ursprung  unseres  Glaubens  an  die  Beaütit 
der  Aussenwelt  und  seinem  Recht^  im  Anschluss  an  die  sensnalistiscbe 
Erklärung  von  Krishaber  betont  hatte,  dass  unser  Selbstbewusstsein  ab- 
hängig ist  von  dem  Spannungsverhältnis,  das  zwischen  unserem  Selbst  and 
der  Wahmehmungswelt  existiert.  Der  Verf.,  der  hierfür  seine  eigene 
Theorie  einsetzt,  hat  jedenfalls  das  bedeutende  Verdienst,  den  unlöslichen 
Zusammenhang  der  Erkenntnisfunktionen  mit  den  im  weiteren  Sinne 
psychologischen  Prozessen  sowohl  für  das  Gebiet  der  Wahrnehmung 
als  der  Apperzeption  einmal  eindringlich  in  Erinnerung  gebracht  zu  haben. 
Die  exklusiven  Anhänger  deijenigen  Erkenntnistheorie,   deren  Kick  ma 


Rezensionen  (Hart mann).  137 

aaf  das  Zustandekommen  einer  objektiven,  allgemeingilti^n,  streng  ratio- 
nalen Erkenntnis  —  eines  rein  abstrakten  Ideals  —  gerichtet  ist,  werden 
vermutlich  hier  wieder  nichts  finden,  was  sie  aus  ihrer  konstruktiven  Bahn 
zu  bringen  vermag.  Um  so  mehr  aber  wird  der  Historiker  diesen  Unter- 
suchungen seine  Aufmerksamkeit  zuwenden,  die  über  die  zahllosen  Stufen 
des  Realitätsbewusstseins,  wie  sie  etwa  bei  Augustin,  Descartes,  Male- 
branche, Berkeley,  Kant,  Fichte  (s.  Bd.  IX,  S.  32),  Schopenhauer  hervor- 
treten, oder  ttber  die  Fälle  mystischer  Selbstentäussemn^  und  andere  reli- 
giöse Zust&nde  ein  helles  Licht  verbreiten.  Es  ist  völhg  undenkbar,  die 
grosse  philosophische  Bedeutung  dieser  Arbeiten  an  den  Grenzen 
aes  Normalen  zu  übersehen:  sicher  liefern  sie  in  dieser  Hinsicht  einen 
weit  grösseren  Gewinn  als  die  physiologische  Sinnespsychologie,  die 
ans  insofern  im  wesentlichen  Enttäuschungen  beschert  hat.  Wir  hoffen, 
dass  uns  der  scharfsinnige  Verf.  dieser  Schrift,  bei  dem  sich  in  ^Ittck- 
lichster  Weise  Kenntnisse  und  Interessen  auf  beiden  Gebieten  verbinden, 
noch  mit  mancher  gleich  ergebnisreichen  Arbeit  verwandter  Richtung 
beschenken  möge! 

Charlottenburg.  Eduard  Spranger. 

Hartmann,  E.  y.  System  der  Philosophie  im  Grundriss. 
1.  Band:  Grundriss  der  Erkenntnistheorie.  Haacke,  Sachsa  i.  H.,  1907. 
(X  u.  222  S.) 

E.  V.  Hartmann  ist  es  vergönnt  gewesen,  sein  Lebenswerk  end- 
gültig abzuschliessen.  Er  hat  sein  zusammenfassendes  „System  der  Philo- 
sophie^ vollenden  können  und  jetzt  ist  der  erste  Band  davon  erschienen, 
in  2  Jahren  wird  das  ganze  Werk  vorliegen.  Es  ist  —  wie  H.  selbst 
bemerkt  —  das  erste  Mal  in  der  Geschichte  der  Philosophie,  dass  eine 
solche  Zusammenfassung  einem  Denker  in  so  ausgeglichener  Weise  ge- 
lingt. Hegels  und  Lotzes  Versuche  nach  dieser  Richtung  sind  unvollendet 
oder  sehr  ungleich  in  den  Teilen. 

Für  die  weitere  Ausbreitung  der  Hartmannschen  Gedanken  kann 
dieses  System  von  grösster  Bedeutung  werden,  denn  diese  kurzen  Dar- 
stellungen kann  jeder  ohne  zu  grossen  Zeitaufwand  durchstudieren,  und 
dann  wird  sich  ja  entscheiden,  ob  er  zu  den  umfangreicheren  Werken 
Lost  verspürt  oder  nicht.  Hoffentlich  wird  jedenfalls  der  unwürdige 
Zustand  gehoben  werden,  dass  sich  die  meisten  Philosophen  der  Mühe 
enthoben  glauben,  sich  mit  H.  auseinanderzusetzen.  Denn  ernst  zu 
nehmen  ist  dieser  Denker  wie  selten  einer,  rastlos  nur  der  Wahrheit 
nachstrebend,  ist  sein  Leben  dahingegangen,  ohne  laute  Anerkennung  - 
bis  auf  den  schnell  verrauschten  Erfolg  seiner  „Philosophie  des  Unbe- 
wnssten^  ~,  ja  getrübt  durch  die  erbittertsten  Angriffe.  Und  unbeirrt 
ist  H.  weiter  geschritten,  er  wollte  ja  nicht  Ruhm,  sondern  nur  Wahrheit. 

Der  vorliegende  Band  ist  der  Erkenntnistheorie  gewidmet,  die  ia 
die  Grundpfeiler  jedes  Systems  schaffen  muss.  Aber  H.  fundiert,  nicht 
nnr  sein  System,  sondern  stellt  eingehend  alle  möglichen  Standpunkte  der 
Erkenntnistheorie  dar,  beleuchtet  sie  kritisch  und  zeigt,  wie  sie  über  sich 
selbst  hinaus  auf  eine  höhere  Synthese  weisen,  die  H.  ja  im  „transscen- 
dentalen  Realismus*'  sieht.  So  ist  sein  Buch  eine  Einleitung  in  die  Philo- 
sophie überhaupt,  und  zwar  eine  sehr  gute,  denn  H.s  klare  und  sachliche 
Art  ist  für  eine  Einführung  in  die  abstrakten  Regionen  der  Philosophie 
wie  geschaffen. 

In  3  grosse  Abschnitte  gliedert  sich  das  Buch:  Das  Erkennen,  Über- 
sicht der  möglichen  erkenntnistheoretiscben  Standpunkte,  die  Kategorien 
der  Erscheinungswelt.  Zunächst  werden  die  verschiedenen  Stufen  des 
Erkennens  behandelt:  Erfahrung,  Kunde,  Wissenschaft.  Dabei  wird  H.s 
eigentümliche  Stellung  zur  früheren  spekulativen  Philosophie  schon  klar. 
,^Alle  Erkenntnis  beginnt  mit  der  Erfahrung  und  stützt  sich  auf  sie^ 
(S.  1).  Diesen  Grundsatz  hält  er  fest  auch  für  die  ganze  Philosophie. 
„Aach  die  Philosophie  muss  Empirismus  sein,  indem  sie  von  der  Erfahrung 
ausgeht,   ihre  Schritte  fortlaufend  an  der  Erfahrong  kontrolliert,  und  ein 


138  Rezensionen  (Hartmipn). 

um  so  breiteres  empirisches  Fundament  herrichtet,  je  höher  sie  den  pyra- 
midalen Bau  ihrer  Erkenntnis  in  die  Wolken  hinaufzuführen  wünscht. 
In  diesem  Sinne  muss  auch  der  letzte  und  höchste  Gipfel  der  Philosophie, 
die  Metaphysik,  Empirismus  sein,  d.  h.  ihre  spekulativen  Turmbauten 
müssen  auf  dem  Boden  der  Empirie  .  .  ruhen,  um  nicht  als  bodenlose 
Luftschlösser  zu  erscheinen*'  (S.  19).  Mit  dieser  prinzipiellen  Einsieht, 
dass  für  die  Philosophie  keine  andere  Methode  existieren  kann,  wie  für 
die  übrigen  Wissenschaften,  scheidet  sich  H.  von  der  Begiiffsspekulation, 
mit  der  er  so  oft  zusammengreworfen  wird.  Allerdings  ist  seine  Philo- 
sophie nicht  „Positivismus",  denn  er  ist  sich  klar,  dass  der  Begriff  der 
„reinen  Erfahrung:"  ein  Unbegriff  ist  —  jede  Erfahrung  ist  mit  geistigen 
Momenten  verbunden,  wenn  man  diese  entfernt,  bleibt  nichts  Fassbares 
mehr  übrig  Aber  H  geht  stets  von  der  Erfahrung  im  wahren  Sinne 
aus,  nicht  von  vorgefassten  Begriffen;  er  denkt  die  Erfahrung  nur  durch 
und  klärt  sie  mit  dem  Gedanken.  Jedenfalls  darf  sich  die  Philosophie 
niemals  von  den  Spezialwissenschaften  feindlich  abtrennen  —  aber  meat 
auch  nicht  von  ihr  „Eine  Philosophie,  die  den  Schatz  an  Ergebnissa 
der  Spezialwissenschaften  entbehren  und  allen  Inhalt  wie  die  Spinne  ihr 
Netz  aus  sich  selbst  heraushaspeln  zu  können  glaubt,  befindet  sich  eben- 
sosehr auf  dem  Irrwege,  wie  eine  SpezialWissenschaft,  welche  die  erkennt- 
nistheoretische Grundlegung  ihrer  selbst,  ihren  durch  die  Philosophie  ver- 
mittelten Zusammenhang  mit  der  einheitlichen  Gesamterkenntnis  und  äit 
Befruchtung  mit  metaphysischen  Per^pektiven  verschmäht"  (S.  16). 

So  nimmt  H.  die  Fülle  der  von  der  modernen  Wissenschaft  e^ 
rungenen  Kenntnisse  auf  und  befriedigt  andererseits  in  wissenschaftlichiff 
Weise  das  „metaphysische  Bedürfnis"  des  Menschen.  Er  ist  damit  in 
hohem  Masse  berufen,  unserer  Zeit  zum  Führer  zu  dienen. 

Dann  prüft  H.  die  Zuverlässigkeitsgrade  und  die  Methoden  des  Er- 
kennens;  er  zeigt,  dass  die  Metaphysik  z.  B.  sich  mit  einer  geringeren 
Wahrscheinlichkeit  zufrieden  geben  mnss,  als  sie  die  Spezialwissenschaften 
haben.  Die  Induktion  ist  die  einzige  Methode  der  Erkenntnis,  die  Dednk* 
tion  hat  nur  didaktischen  Wert.  Schliesslich  werden  noch  Dogmatisons, 
Skeptizismus  und  Kritizismus  behandelt. 

Im  2.  Abschnitt  bespricht  H.  die  erkenntnistheoretischen  Standponkte 
des  naiven  Realismus,  des  transscendentalen  Idealismus  und  transscenden- 
talen  Realismus.  An  diesem  Kritik  zu  üben  ist  hier  nicht  der  Plats,  dan 
müssten   andere   Schriften   H.s   berücksichtigt  werden,    vor   AUem  seine 

gegen  Kant  gerichtete  „kritische  GrundL^gung  des  transscendentalen  Bet- 
smus".    Jedenfalls   ist  das  Resultat  H.s  unbestreitbar,   dass   ein   konse- 
quenter transscendentaler  Idealismus  zum  absoluten  Illusionismns  führt. 

Es  folgt  ein  Abriss  der  Kategorienlebre,  so  weit  er  in  die  Erkennt- 
nistheorie gehört.  „Die  Kategorialfunktionen  .  .  .  sind  Begriffe  eines 
Seienden,  nämlich  die  Formen  der  unbewu^sten,  produktiven  Tätigkeit... 
Sie  sind  nun  typische  Formen  der  logischen  Selbstdetermination  der  pro- 
duktiven Tätigkeit,  also  durchaus  formal  im  Vergleich  zu  dem  Inhalt,  der 
die  konkrete  Bestimmtheit  der  produktiven  Tätigkeit  und  ihres  Produktes 
ausmacht"  (S.  137).  Aber  nicht  deduktiv  lassen  sich  die  Kategorien  anf- 
weisen,  sondern  nur  induktiv.  „Eine  induktive  Behandlung  der  Kate- 
gorienlehre wird  nicht  umhin  können,  die  Kategorien  aus  der  Erfabrunp 
a  posteriori  zu  erschliessen,  wird  sich  aber  dabei  weder  vom  Zufall  noch 
von  Willkür,  sondern  von  dem  genetischen  Verlauf  des  Erkenntnisprozesses 
leiten   lassen   und   das  Wesentliche  vor  den  Unwesentlichen  bevorzugen'' 

(S   186). 

Dieses  „Wesentliche"  kann  auch  nur  induktiv  gefunden  werden. 
.Es  giebt  keine  feste  Grenzlinie  für  die  Selbstdifferenzierung  derlntellek- 
tualfunktion,  an  welcher  sie  aufhörte,  kategoriale  Bedeutung  zu  haben . . . 
Je  häufiger  die  Umstände  wiederkehren,  unter  denen  eine  bestimmte 
kategorialfunktion  logisch  gefordert  ist,  desto  allgemeiner  und  richtiger 
wird  diese  Kategorie  sein"  (S.  136). 


Rezensionen  (Sigwart).  139 

Zunächst  werden  die  Kateçrorien  der  Sinnlichkeit  aufgesucht;  diese 
fallen  in  Kategorien  des  Empfindens  und  des  Anschauens.  Die  ersteren 
1:  Intensität.  Zeitlichkeit  und  Qualität,  die  letztere  ist  die  Räumlich- 
t.  Durch  3  Sphären  hindurch  muss  die  Untersuchung  führen:  Durch 
subjektiv-ideale,  die  objektiv-reale  und  die  metaphysische  Sphäre, 
imlichkeit  und  Zeitlichkeit  kommen  den  Dingen  an  sich  zu. 

£s  folgen  die  Kategorien  des  reflektierenden  und  spekulativen 
ikens,  ihnen  voraus  wird  die  Urkategorie  der  Relation  besprochen; 
Ji  „Sein  ist  in  Beziehungen  stehen"  (S.  165). 

„Die  Kategorien  des  reflektierenden  Denkens  beschränken  sich 
auf,  die  im  Wahmehmungsinhalt  implizite  mitgesetzten  Beziehungen 
lizierend  zu  konstatieren,  die  des  spekulativen  Denkens  legren  durch 
aktive  Rückschlüsse  in  den  Daseinsgehalt  der  Dinge  an  sich  etwas 
ein,  was  im  Wahmehmungsinhalt  als  solchem  nicht  zu  finden  ist,  über- 
reiten also  spekulierend  die  Erfahrung  in  ihrer  repräsentativen  Rekon- 
iktion  des  Seins  im  Bewusstsein^  (169).  Sein  ist  ja  nicht  identisch  mit 
Timsstsein,  vom  Bewusstsein  aus  lässt  sich  nur  induktiv,  tastend  auf  das 
Q  schliessen. 

Die    Kategorien    des    reflektierenden   Denkens   sind   die    des   ver- 

ichenden,  trennenden,  verbindenden,  messenden,. schliessenden,  modalen 

Qkens.    Die  des  spekulativen  Denkens  sind  die  Kategorien  derKausali- 

Finalität  und  Substantialität.    Die  Kausalität  gehört  ganz  der  meta- 

rsischen  Sphäre  an. 

Zur   kritischen   Stellungnahme   der  Kategorienlehre  gegenüber  sei 

aerkt,  dass  die  Induktion  wohl  doch  nicht  immer  die  Methode  gewesen 

mit  der  H.  die  Kategorien  entdeckt  hat.    Die  begriffliche  Entwicke- 

g    schwingt  sich    öfter  ganz  frei   empor,   namentlich  in   der   grossen 

iteçorienlehre". 

£in  reifes  und  abgeklärtes  Werk  liegt  vor  uns,  dem  gegenüber  die 
tik  im  Einzelnen  unfruchtbar  ist;  es  ist  ja  der  Schlussakkord  eines 
Breu  Denkerlebens,  es  ist  das  letzte  Werk  eines  Grossen.  Mit  einem 
rfihl  der  Pietät  möge  jeder  an  das  Buch  herantreten,  wenn  er  dem 
üker  auch  nicht  in  Allem  zustimmen  mag  Vor  Allem  wäre  es  ein 
ren,  wenn  die  studierende  Jugend  sich  mit  diesem  idealistischen  Denker 
:annt  machen  würde,  denn  ihr  sind  der  tiefe  sittliche  Ernst  und  die 
lige  Ehrfurcht  vor  der  Wahrheit,  die  aus  H.S  ganzem  Lebenswerk 
Lcht,  sehr  zu  wünschen. 

Hamburg.  Dr.  0.  Braun. 

Sigwart,  Cbristopb,  Vorfragen  der  Ethik.  Tübingen,  J.  C.  B. 
hr    Paul  Siebeck),  «1907. 

Prot  Hch.  Maier  in  Tübingen  hat  das  Schriftchen  neu  herausgegeben, 
1886  in  I.Auflage  erschien  und  schon  Jahre  lang  vergriffen  war.  Hier 
l  nur  wieder  erinnert  werden  an  die  heute  noch  gleich  wertvolle  Dar- 
llnng  der  Probleme  und  Methodenlehre  der  Ethik.  Gewinn  freilich 
rden  diejenifiren  von  der  überaus  klaren,  in  übersichtlicher  Form  ge- 
riebenen Abhandlung  haben,  die  selbst  eine  klare,  feste  Stellung  auf 
D  Boden  der  entschiedenen  kritischen  Ethik  einnehmen,  für  die  ja  seit 
(6  manche  Neudarstellung,  Neubegründung  und  Neuausgestaltunç  er- 
lesen ist.  Denn  die  „Vorfragen"  legen  im  I.  Teile  einen  besonderen 
*Tt  darauf,  zu  betonen«  dass  Eadämonismus  und  Egoismus  in  iedem 
nschlichen  Wollen  enthalten  seien,  natürlich  in  weiterem  und  edlerem 
ine  als  das  gewöhnlich  geschehe.  Denn  der  gute  Wille  sei  nur  dann 
t,  wenn  er  das  Sichbemühen  um  die  Erreichung  seines  Zwecks  ein- 
iliesse  und  dieser  Zweck  müsse  in  seiner  Verwirklichung  dem  Handehi- 
1  irgendwie  Befriedigung  versprechen.  Im  II.  Teil  fordert  S.  darum 
1  der  Ethik  die  Feststellung  eines  höchsten  Gutes,  das  ein  künftiger, 
rklicher  Zustand  realer  Wesen  sein  müsse,  der  durch  menschliche  Tat ig- 
it  innerhalb  der  gegebenen  Welt  her^stellt  werden  könne,  um  im 
.  Teil  die  weitere  Folgerung  daraus  zu  ziehen,  daas  nunmehr  von  diesem 


140  Rezensionen  (Marcus). 

Zwecke  her  die  Normen  gegeben  werden  müssten,  die  zu  seiner  Erreichung 
befähigften  Nur  das  tüchtige  Individuum  freilich,  d.  h.  das  Individaun, 
dessen  Wille  konstant  auf  das  höchste  Gut  gerichtet  sei,  das  also  — 
nach  Sigwarts  Definition  —  ,,sittliche  Gesinnung"  habe,  würde  diese 
Normen  anwenden.  Im  IV.  Teil  handeln  dann  schhesslich  die  „Vorfragen" 
vom  Inhalt  des  höchsten  Gutes  selbst  als  einer  universalen  Kultnr,  dessen 
Verwirklichung  das  treibende  Motiv  der  Ethik  und  das  zugleich  ein  Ziel 
aller  sittlichen  Erziehung  sei,  damit  jedes  Individuum  zur  normalen  Em- 
pfänglichkeit für  diesen  all^emein^tigen  und  notwendigen  Zweck  heran- 
reife und  so  die  Heteronomie  durch  die  Autonomie  ersetzt  werde. 

In  den  Eantstudien  braucht  nicht  erst  ausführlich  dargelegt  za 
werden,  wie  sehr  all'  diese  Sätze  von  den  prinzipiellen  Sätzen  der  kri- 
tischen Ethik  abweichen,  zumal  wenn  wir  sie  fragen  nach  der  sittlichen 
Gesinnung  und  dem  treibenden  Motiv  aller  Sittlichkeit.  Wer  aber  der 
prinzipiellen  Fundamente  der  Ethik  sicher  ist,  und  wer  die  S.sche  Schrift 
nicht  fragt  nach  dem,  was  das  Gesetz  des  sittlichen  Sollens  in  der  kri- 
tischen Ethik  an  sich  ist,  und  was  das  Prinzip  der  sittlichen  Benrteiliuif^ 
sondern  was  jenes  Gesetz  für  das  Leben  bedeutet,  das  erst  wertvoll  wirf, 
wenn  es  nach  jenem  allein  wertvollen  Gesetz  gestaltet  wird,  der  findet 
mancherlei  Anregung  in  den  „Vorfragen",  die  ja  energisch  auf  die  histo- 
rische Darstellung  des  Reiches  der  Zwecke,  auf  ôm  Feld,  wo  die  sitt- 
liche Bestimmung  ausgewirkt  werden  kann,  hinweisen,  wenn  auch  die 
Wertung  der  Kultur  eine  von  der  kritischen  Ethik  prinzipiell  verschiedene 
ist  und  die  kritische  Methode  einen  diametral  anderen  Weg  einschlägt 
zur  Gewinnung  eines  ethischen  Systems,  als  Sigwart  in  der  vorliegendâi 
methodologischen  Schrift. 

Laufen  i.  B.  Hermann  Maas. 

Marcus,  Ernst.  Das  Erkenntnisproblem  oder  wie  man  mit  der 
„Radiernadel*^  philosophiert.  Eine  philosophische  Trilogie  mit  einem  Vo^ 
spiel.    Herford,  W.  Menckhoff,  1906.    go.    ^95  s.) 

Es  trifft  sich  recht  unglücklich,  dass  mir  fast  gleichzeitig  mit  Ma^ 
eus'  Schrift,  der  S.  48  f.   sich   noch  rühmen  konnte,   altein  „die  Versoche 

fewisser  Philosophen  unter  dem  festen  und  einheitlichen  Gesichtspunkte 
es  Erkenntnisproblems"  betrachtet  zu  haben,i)  das  Werk  E.  Caasurers  über 
„Das  Erkenntnisproblem  in  der  Philosophie  und  Wissenschaft  der  nenerea 
Zeit"  (1, 1906;  II,  1907)  zur  Anzeige  zugeht.  Denn  sofort  drängt  die  Obereiih 
Stimmung  im  Haupttitel  zu  einem  Vergleich,  und  dabei  wird  das  propftdeutisek- 
pädagogische  Verdienst  des  Büchleins,  das  zeigen  will,  „wie  man  mit  der 
Radierrädel  philosophiert,"  durch  die  grosse  und  vornehme,  zugleich  schliclit 
und  anspruchslos  dargebotene  Leistung  Cassirers  so  sehr  in  den  Schatten 
gestellt,  6(ûne  historischen  Mängel  treten  so  grell  zutage,  dass  der  befaneene 
Berichterstatter  nur  zu  leicht  geneigt  ist,  jenes  Verdienst  ganz  zu  übersäen, 
zumal  da  Marcus  in  dem  vorliegenden  Heftchen  einen  überaus  ansprodts* 
vollen  Ton  anschlägt  und  nicht  undeutlich  zu  verstehen  giebt,  dass  er  ach 
nahezu  allein  für  den  Kolumbus  halte,  der  das  Ei  der  geschichtlichen  Be- 
trachtung des  Erkenntnisproblems  und  des  rechten  Kantverstftndnissei  ia 
Händen  habe.  Wir  werden  sehen,  wie  es  mit  diesem  Anspruch  bestellt 
ist,  das  heisst,  um  Ms  geschmackvolle  Variante  von  S.  49  im  Interesse  der 
Erhaltung  eines  wahrhaft  attisch  gewürzten  philosophischen  Stiles  nidit 
umkommen  zu  lassen:  „Ei  oder  Windei,  das  ist  hier  die  Frage.''  Ja>  j*i 
der  Stil  —  M.  steckt  mich  an  mit  seiner  jovialen  Art,  wissenschaftlichea 
Materien  gerecht  zu  werden  —  der  Stil!  Ohne  Zweifel  mögen  Polemik 
und  Satire  eine  gewisse  Lockerung  des  Stiles  bei  der  Darbietung  phito- 
sophischer  Gnindfragen  rechtfertigen;  das  ist  zumal  bei  einer  profÂdeo- 
tischen  Schrift  zulässig,  aber  muss  man  denn  in  Hemdsarmem  geboi, 
wenn   man    demonstrieren   will,   „wie   man   mit  der  Radiernadel  philoso- 

})  Das  Buch  von  E.  Grimm,  Zur  Geschichte  des  Erkenntnisproblems 
von  Bacon  zu  Hume  (1890)  ist  ihm  dabei  entgangen. 


llezeiisionen  (Marcos).  141 

phiert^?  Aus  den  schönen  Sätzen,  mit  denen  M.  (S.  13  Anm.)  eine  von 
ihm  ausgesprochene  Vermutung  abschliesst:  „Das  ist  übrigens  —  wohlge- 
merkt —  nur  eine  Vermutung  von  mir.  Ich  sage  das  ausdrücklich,  denn 
in  diesem  Vortrag  befasse  ich  mich  sonst  grun&ätziich  nicht  mit  blossen 
Vermutungen  und  unbewiesenen  Meinungen*'  —  aus  diesen  Worten,  meine 
ich,  darf  doch  wohl  auf  den  äusseren  Anlass  zur  Entstehung  des  Buches 
geschlossen  werden  —  aber  ist  das  eine  vollief  genügende  Entschuldigung 
nir  Auswüchse  und  Schnörkel?  Da  wird  bala  dem  Leser  erlaubt,  „noch- 
mals ein  erstauntes  Laiengesicht  aufzusetzen**  (S  13),  alle  drei  Zeilen 
wird  der  Leser  um  irgend  etwas  gebeten,  S.  26  ertönt  die  aufregende 
Frage:  „Merkt  der  Leser  was**?  u.  s.  w.  —  bald  erhalt  Kant  die  —  popu- 
llre  Bezeichnung  „Der  alte  Fuchs**  (S.  80)  oder  „der  alte  Herr**  (S.  11). 
S.  82  bes.  wimmelt  von  interessanten  Wendungen,  und  M.  bemerkt  dann 
am  Schluss  derselben  treffend:  „Man  kann  über  die  Theorie  des  Sensua- 
Hsten  genau  so  gut  dumme  Witze  machen,  als  ob  er  ein  geborener  Philo- 
soph wäre**  —  nun,  er  hat  sich  die  Oelegenheit  dazu  nicht  entgehen 
lassen.  Nichts  Erfrischenderes  als  „fröhliche  Wissenschaft**  —  ich  sage 
das  auf  die  Gefahr  hin,  von  M.  für  einen  verkappten  Nietzschejünger 
gehalten  zu  werden  —  als  Witz  und  Spott  in  einer  polemischen  Schrift; 
aber  wenn  die  Munterkeit  des  „Vortrags**  auswuchert,  so  lacht  man  bald 
nicht  nur  mehr  über  die  Witze,  sondern  auch  über  den  Verfasser.  Und 
das  um  so  mehr,  als  in  der  Hitze  des  Gefechtes  sprachliche  Ent- 
gleisungen auftreten  wie:  „Mitarbeiter  am  gemeinsamen  Ziele**  (S.  94). 
^Dass  aber  .  .  .  der  Gedanke  .  .  .  fruchtbar  ist,  .  .  .  ergiebt  sich  daraus, 
dass  nun  die  Anhänger  dieser  Kant-Konfession  ein  jeder,  ohne 
einen  Fehler  zu  machen,  Kant  auf  ganz  entgegengesetzte 
Weise  auslegen  .  .  .  kann""  (S.  10)  oder  „Eännte  er  nicht  jenen  .  .  . 
wirklichen  Blitz**  (S.  32)  (statt  „kennte**)  -  sinds  Druckfehler?  Ich 
fürchte  nein! 

Doch  wäre  es  ungerecht,  zu  verschweigen,  dass  er  oft  auch 
echte,  seiner  ehrlichen  Entrüstung  rein  entströmende  Töne  eines 
ironischen  Pathos  gefunden  hat,  das  organisch  aus  der  jeweiligen  Materie 
herauswächst  und  ^nz  ungesucht  ist:  „Kant  bemerkt  gelegentlich, 
„dass  man  auf  diesem  Gebiete  mit  der  Radiernadel  arbeiten 
mflMey**  und  ich  setze  zur  Blustration  hinzu:  Kant  war  ein  Benveuuto 
Gellini,  aber  seine  „Bearbeiter**  sind  Grobschmiede,  sie  ^philosophieren 
mit  dem  Hammer,**  so  dass  die  Funken  in  Gestalt  von  Widersprüchen 
hemmwirbeln  und  die  ganze  Atmosphäre  erfüllen**  (S.  30)  —  es  ist  bei 
weitem  nicht  die  einzige  Stelle,  die  man  mit  Vergnügen  liest;  aber  meist 
wird  die  schöne  Harmonie  zwischen  Autor  und  Leser  durch  eine  grelle 
Dissonanz  gestört,  weil  der  erstere  sich  doch  gar  zu  oft  im  Ton  vergreift. 

Es  tut  mir  leid,  dass  über  M.s  Schrift  so  viel  Bitterböses  zu  sagen 
ist.  Wenn  der  innerste  Kern  eines  Buches  nichts  taugt,  so  nimmt 
man  auch  Verzierungen  der  oben  gekennzeichneten  Art  gleichmütig  hin, 
weil  ja  das  Ganze  doch  nun  einmal  für  den  Papierkorb  bestimmt  ist. 
Anders  steht  es,  wenn  eine  Schrift  Brauchbares  enthält,  und  das  ist 
bei  der  M.schen  der  Fall  —  dann  bedauert  man  solche  Entstellungen. 
Und  dabei  hat  M.,  wie  es  scheint,  seiner  Diktion  die  humoristische  Färbung 
gegeben,  um  die  Lektüre  auch  einem  grösseren  Kreise  anziehend  zu 
machen.  .  .  . 

Indes  mag  es  jetzt  des  ästhetischen  Räsonnierens  genug  sein; 
es  ist  Zeit,  von  Her  Form  zum  Inhalt  überzugehen. 

Da  ein  Inhaltsverzeichnis  fehlt,  so  schicke  ich  ein  solches  voraus: 

Vorspiel  :  Philosophische  Walpurgisnacht:  Von  Kant  zum  Erkenntnisproblem 
fe.  3-16). 
I.  Beleuchtung  des  peripherischen  Dunkels  (S.  17—63): 

1.  Cartesius  und  das  kritische  Problem  (S.  19-21). 
8.  Locke  und  das  Sensaalproblem  (S.  82—86). 


142  Rezensionen  (Marcus). 

3.  Das  Sensualproblem  und  die  Naturwissenschaft  (S.  36—47). 

4.  Das  Erkenntnisproblem  bei  Berkeley  und  Leibniz  (S.  48— Ô3). 
II.  Beleuchtung  des  zentralen  Dunkels  (S.  55—79}: 

1.  Hume  und  das  Zentrum  des  Erkenntnisproblems  (S.  57— 63\ 

2.  Der  Empiriker  und  das  Zentralproblem  (S.  64 — 74). 

3.  Der   Charakter   des  Zentralproblems   und    die   VoranssetEüng 
seiner  Lösbarkeit  (S.  76 — 79). 

ill.  Erkenntnisdämmerung.    Aufgang  der  Sonne  Kants  (S.  81—92): 

1.  Erkenntnisdämmerung  (S.  83—84). 

2.  Die  Sonne  Kants  (S.  85—90). 

3.  Die  Befestigung  des  Problems  (S.  91—92). 
Nachwort  (S.  93-95). 

M.  ist  von  K.  Vorländer  (Gesch.  der  Philos,  n  [1903]  S.  473  f.)  unt» 
die  sogenannten  „Altkantianer**  neben  Goldschmidt  eingereiht  worden. 
Ob  mit  Recht,  frage  ich  mich  nach  der  Lektüre  dieser  Schrift.  Zu.  den 
Glücklichen,  die  nach  S.  95  von  M.s  Angriffen  nicht  getroffen  werden 
sollen,  gehören  dann  ausser  Goldschmidt  noch  R.  Drill,  der  bei  Voriänder 
nicht  verzeichnet  ist,  jedoch  den  „Altkantianem**  nahesteht,  sowie  Rdcke 
und  Arnold  (sie!).  M.  setzt  hinzu:  ^Es  ist  möglich,  dass  vorstehendes 
Verzeichnis  zu  klein  ist,  doch  sind  mir  weitere  Forscher  dieser  Richtung 
nicht  bekannt  geworden,**  und  „Es  bedarf  wohl  kaum  der  Ërwfthnimg, 
dass  mein  Angriff  sich  gegen  vielfach  erfolgreiche  philologische  und 
historische  Bemühungen  insoweit  nicht  richtet,  als  sie  mit  der  Anffosrang 
der  Lehre  (Kants)  selbst  nicht  im  Zusammenhang  stehen.  Aber  leider 
stehen  sie  meist  damit  in  verhängnisvoller  Verbindung.** 

Worin  besteht  nun  M.s  Aunassung,  auf  deren  rast  alleinigen  Besiti 
er  sich  so  viel  zu  Gute  tut?  Er  fordert  die  widerspruchsfreie,  eindeutige 
Auslegung  Kantus  unter  Berufung  auf  jene  Stelle  in  der  Vorrede  zur  1 
Auflage  der  Kr.  d.  r.  V.,  an  deren  Schluss  es  heisst  :  „Nil  actum  repotans, 
si  quid  superesset  agendum.**  Gegen  diese  Forderung  sei  von  den  „KiBt^ 
forschem**  (mit  Ausnahme  der  obengenannten)  immerzu  in  gröblicher 
Weise  gesündigt  worden.  Ein  jeder  „Kantforscher**  grübele  über  Kant 
und  verstehe  ihn  nicht,  weil  er  so  und  so  viele  Widersprüche  in  ihm  ent- 
decke :  diese  Widersprüche  bei  Kant  finde  er  dann  „genial**,  und  all  diese 
Kantforscher  beglückwünschten  sich  dann  noch  gegenseitig  wegen  ihrec 
untereinander  sich  abermals  widersprechenden,  „scharfsinnigen  Kantanf- 
fassimgen**.  So  werde  Kant  teils  absichtlich,  teils  aus  —  Unbegabtheit 
verdunkelt  und  gegen  eine  Grundforderung  Verstössen,  die  eine  einheitp 
liehe,  mathematisch  exakte  und  ohne  inneren  Widerspruch  geschlossene 
Auslegung  des  ^nzen  Systems  zur  Pflicht  macht. 

Es  ist  nicht  zu  leugnen,  dass  in  der  Kantauslegung  ungemein  viel 
gesündigt  worden  ist  und  noch  gesündigt  wird,  und  jeder  verrichtet  eine 
dankenswerte  Arbeit,  der  auf  offenkundige  Schäden  hinweist  und  sie  ans- 
zubessem  sucht:  Ludw.  Goldschmidts  Beispiel  zeigt,  dass  man  das  mit 
ganz  bestimmten  Belegen  tun  kann,  und  dass  (ue  namenlose  Verdam- 
mung in  Bausch  und  Bogen  (siehe  das  Vorspiel)  nicht  der  einzige  Weg 
dazu  ist.  Es  wäre  viel  verdienstlicher  gewesen,  wenn  M.,  anstatt  nur 
einige  wenige  Forscher  zu  nennen,  die  er  nicht  angreift,  lieber  die 
Forscher,  die  Schriften,  die  bestimmten  Ausführungen  namhaft  gemacht 
hätte,  die  er  angreift.  Dann  allenfalls  wäre  seine  Äusserung  von  S.  98 
„Ich  würde  es  sehr  bedauern,  wenn  meine  Kritik  persönlich  verletsen 
sollte*-,  verständlich.  Indes  wäre  eine  Diskussion  mö^ich  gewesen,  nnd 
zudem  hätte  man  ersehen  können,  ob  M.  (um  von  anderen  Forscbem  n 
schweigen)  eine  Richtung,  die  seit  Jahrzehnten  unermüdlich  an  dem  Sta- 
dium, der  Auslegung  und  der  Fruchtbarmachung  des  Kantiachen  System! 
arbeitet  und  deren  Senior  Hermann  Cohen  erst  neuerdings  wieder  einen 
^Kommentar  zu  Immanuel  Kants  Kr.  d.  r.  V.**  [Leipzig,  Dürr,  1907  (Philoa. 
Bibl  Bd.  113)1  geliefert  hat,  in  dem  uns  die  Grundlage  des  Systems  wie 
auA   einem  Gusse  erKheint,   ob  M.  die  Maxturger  Sdrale,  deren  Tendeni 


Rezensionen  (Marcus).  l43 

1  seinen  hier  ausgesprochenen  Prinzipien  gemäss  sympathisch  sein 
sste,  auch  mit  seinen,  was  die  Bestimmung  des  Objekts  angeht,  form- 
en Angriffen  hat  treffen  wollen.  Ich  bin  indes  geneigt,  zu  glauben, 
s  er  weder  Hermann  Cohens  Buch  über  „Kants  Theorie  der  Er- 
rangt (2.  Aufl.  188Ô),  noch  die  anderen  Eantschriften  Cohens,  noch 
Natorps  Arbeiten  überhaupt  kennt.  Denn  er  hätte  dann  sehen  müssen, 
(8  hier  geleistet  wird,  was  er,  freilich  in  unklarer  Weise,  fordert:  die 
Kenntnis  des  Kantischen  Systems  als  einer  in  sich  notwendigen  Einheit, 
eines  Ganzen,  in  dem  die  Teile  sich  bedingen.^)  Ich  weiss  nicht,  ob  M. 
1  mit  Cohens  Werk  würde  zufrieden  gegeben  haben,  aber  sicher  hätte  er 
'  vieles  daraus  gelernt  und  ihn  dann  wenigstens  nennen  müssen.  Dass 
ihn  nicht  kennt,  ist  unverantwortlich  bei  einem  Forscher,  der  in  Kant- 

rn  so  laut  seine  Stimme  erhebt,  wie  M.  in  dem  vorliegenden  Buche, 
wenn  er  ihn  kennte,  so  wäie  dies  Totschweigen  oder,  was  ebenso 
1  ist,  das  stillschweigende  Subsumieren  unter  jene  von  M.  so  schlecht 
Dachte  Horde  der  widerspruchsreichen  und  eben  darum  „scharfsinnigen^ 
mtforscher"  noch  leichtfertiger  zu  nennen. 

Die  Verirrungen  dieser  Kantausleger  nimmt  M.  viel  zu  tragisch. 
„Nachwort"  redet  er  von  einer  „heillosen  Verwirrung",  wodurch  „die 
Llosophie  in  Misskredit  gebracht  werde;  dadurch  werde  „ein  grosses 
>blem  oder  gar  eine  grosse  Wissenschaft  mit  Verfall  oder  Unterganç" 
Iroht  —  es  sei  höchste  Zeit,  dass  „energisch  die  öffentliche  Aufmerk- 
ikeit"  auf  diese  bedauerlichen  Zustände  gelenkt  werde  u.  s.  f.  —  nun, 
'  Bufer  im  Streite  tut  so,  als  ob  es  nicht  schon  seitdem  philosophiert 
d,  d.  h.  beinahe  so  lange  die  Welt  steht,  Verwirrung  und  Verirrunç  in 
losopbicis  gegeben  hätte.  Und  die  Philosophie  ist  doch  noch  nicht 
itergegangen".  Glaubt  er  wirklich,  Kants  Werk  werde  verschüttet 
rden,  weil  seine  Ausleser  ein  Schauspiel  gewähren  wie  die  Kärrner  beim 
-mbau  zu  Babel?  Und  meint  doch  ein  jeder  das  Beste.  Immer  wo  ein 
Mes  Werk  gefördert  wird,  çiebt  es  Missverständnis,  Verirrun^r  und  Gewühl 
Meinungen.  Um  darauf  aufmerksam  zu  werden,  bedarf  man  der  Weckrufe 
nicht  mehr.  Wenn  all  das,  was  Hermann  Cohen,  um  nur  diesen  einen  zu 
inen,  seit  Jahrzehnten  für  das  Verständnis  Kants  gatan,  den  am  Worte 
benden  „Kantforschern"  die  Augen  für  die  Einheit  des  Systems  nicht  hat 
len  können,  so  wird  es  die  regellose  Polemik  M.s  noch  weniger  vermögen. 
I  Problem  Kant  muss  still,  sicher  und  gewaltig  seine  Arbeit  tun.  War- 
an seinem  Fortbestand  zweifeln,  wenn  einige  daran  scheitern?  Nun, 
Kant  gelebt  hat,  kann  die  Lage  nicht  mehr  so  trostlos  werden,  wie  sie 
\  als  Kant  seine  Kopemikanische  Umwälzung  vollzog.  Und  das  Be- 
istaein  ihrer  Wirkung  kann  nicht  mehr  verkümmern,  trotz  aller  Irr- 
ter,  denen  viele  seiner  Ausleger  verfallen. 

M.  hat  Recht:  wie  ein  mathematisches  Lehrbuch,  wie  ein  lücken- 
ir  mathematischer  Beweis  muss  Kants  System  von  Grund  aus  studiert 
"den.  Gelingt  es  nicht,  es  als  in  sich  widerspruchsfreie  Einheit  zu  er- 
tcn,  wie  Kant  es  verlangt,  so  darf  man  nicht  glauben,  es  seien  Widersprüche 
System  die  Ursache,  sondern  „dieser  Widerspruch  ist . . .  ein  sicherer  Be- 
s,  dass  man  Kant  noch  nicht  verstanden"  (S.  84),  und  man  darf  nicht 
en,  bis  die  von  Kant  behauptete  Einheitlichkeit  entdeckt  ist.  Der 
gleich  des  Systems  mit  einem  mathematischen  Satz  mag  nun  gelten, 
trn  die  Exaktheit  der  Durchführung  des  firrundlegenden  Gedankens  dadurch 
ennzeichnet  werden  soll;  indes  hegt  aie  Gefahr  nahe,  dass  ein  solcher 
gleich  weiter  ausgedehnt  wird  auf  die  schriftstellerische  Fixierung  des 
tems,  und  so  führt  der  Vergleich  den  Unerfahrenen  leicht  zu  einer  starren, 
irteilsvoUen  Betrachtung  von  Kants  Werk.  Denn  den  Anfänger,  und 
dessen  Anleitung  soll  doch  die  Schrift  hauptsächlich  dienen,   verwirrt 

^)  Dass  es  Cohen  gelungen,  Kants  System  als  geschlossene  Einheit 
erweisen,  giebt  auch  R.  Falckenberg  in  seiner  Rede  „Kant  und  das 
rhandert"  (2.  Aufl.  1907),  S.  14—15  zu,  wenn  er  auch  sonst  an  C. 
ik  übt. 


144  Êezensionen  (Marcus). 

diese  Forderung  und  er  wagt  nicht,  über  die  ZcifiLlli|rkeiten  der  Fomrn- 
lierun^  hinweg;  zu  schauen  und  bleibt  so  in  den  ersten  Studien  stecken. 
Der  htterariscben  Formung  eines  Systems  kann  nicht  dieselbe  Straffheit 
des  Gefüges  eignen,  wie  der  Formulierung  eines  mathematischen  Beweises. 
Irrationale  Faktoren  und  Infinitesimales  spielen  dort  noch  mehr  hinein 
als  hier  und  machen  es  dem  Forscher  zur  Pflicht,  über  der  zuftlligen 
Zweideutigkeit  des  Wortes,  durch  die  der  SchriftsteUer  dem  Denker  n 
widersprechen  scheint,  die  lückenlosen  „Zusammenhang  geschlossener 
Gedanken**  (Cohen)  zu  erfassen.  Ein  Haften  an  der  Form,  trete  es  nun 
im  Gefolge  einer  mathematisierenden  Dogmatik  oder  einer  kurzsichtig 
logischen  Philologie  auf,  erschwert  nur  eine  solche  Arbeit  Noch  verkehrter 
ist  es,  die  Form  Kants  als  notwendiges  Übel  zu  behandeln,  wie  das  M.  tot; 
ich  begreife  nicht  recht,  wie  sich  das  mit  seiner  sonst  konservativen  (Be- 
sinnung verträgt.  Nur  ein  pietätvolles  Versenken  in  alle  wechaelvollen  Fein- 
heiten des  Ausdruckes  kann  hier  helfen,  und  diese  ^^philoloçische  Genauigkeit" 
allein,  eine  Genauigkeit  höherer  Art,  als  die  „mathematische**,  eine  höhere 
als  M.  sie  zu  kennen  scheint,  kann  all  die  Rätsel  der  Kantischen  Worte 
lösen,  ihre  Abweichungen  erklären,  ihre  „Widersprüche'^  und  anfänglidwo 
Dunkelheiten  erhellen.  Die  Ehrfurcht  vor  der  Form  erschließt  den 
Inhalt,  weil  sie  uns  das  Verständnis  auch  der  Unregelmässigkeiten  ge 
währt,  die  wir  aus  ihren  psychologischen  nnd  historischen  Bedinfongen 
verstehen  lernen.  So  ermöghcht  sich  uns  ein  Hinausschreiten  Aber  ne 
zur  tieferen  Einheit  des  Systems,  so  nur  mögen  vnr  erkennen,  wie  hei 
Kant  „alles  sich  zum  Ganzen  webt^.  „Man  muss  .  .  .  gleichsam  die  pe^ 
sönliche  Kontrapunktik  dieser  Gedanken  durchschauen  und  handhaoen' 
(Cohen,  Kommentar  S.  IV}.  Sagt  doch  Kant  selbst  gelegentlich  (Kr.  d.  r. 
V.  ed.  Kehrbach,  S.  274),  „dass  es  gar  nichts  ungew(mnliches  sei, . . . 
durch  die  Vergleichung  der  Gedanken,  welche  ein  Verfasser  über  seinen 
Gegenstand  äussert,  ihn  soçar  besser  zu  verstehen,  als  er  sich  selbst  ver- 
stand." —  Verweilen  wir  bei  der  Stilfrage! 

Kants  „Sachlichkeit  giebt  seinem  Stil  das  Geprä^.  Er  hat  mit  der 
Macht  der  Ursprünglichkeit  auch  die  Feierlichkeit,  wie  sie  Winckelman 
hatte  ;  aber  sie  ist  ausgebreitet  über  den  gewaltigen  Gliederban  der  Peri- 
oden, in  denen  seine  Gedanken  sich  gestalten;  sie  atmet  nicht  in  den 
Pathos  der  Ideen,  geschweige  in  dem  Hochgeftlht  seiner  Gedanken;  mr 
selten  lässt  er  bei  der  Wiedererweckung  der  ethischen  Ideen  den  Schwingen 
der  Sehnsucht  und  des  Glaubens  ihren  Lauf.  Seiner  Dialektik  fehlt  ei 
freilich  nicht  an  Salz  und  Lauge,  ebensowenig  aber  an  Schmelz  nnd  Bil- 
sam,  die  Antithesen  mit  ihren  epigrammatischen  Spitzen  ringen  sich  immer 
aus  der  Wucht  der  Begriffe  und  ihrer  Gegensätze  hervor.  Dabei  i^  die 
Einfalt  des  Humors,  der  Sokratischen  Ironie  vergleichbar,  die  dnreh- 
gehende  Grundstimmung;  sie  liegt  wie  ein  zarter  m>rffendnft  über  dieser 
gothischen  Architektur.  Anschaulichkeit  wetteifert  üben&ll  mit  der  ab- 
strakten Strenge  und  Tiefe.  Der  Sinn  für  die  Natur  hält  diese  FÜsehe 
der  Anschaulichkeit  lebendig.  Der  Stil  hat  überall  die  angemessene  FflUe; 
nirgends  ist  Kargheit  noch  Eile,  sondern  ein  beschauliches  Ausatmen  der 
quellenden  Gedanken;  ein  Reichtum  auch  an  Worten  und  wechselnden 
Wendungen.  £s  ist,  wie  bei  Beethoven,  dem  dieser  brüderliche  Genim 
nicht  fremd  geblieben  ist,  eine  Stetigkeit  der  Motive,  nnd  ein  unerschöpf- 
licher Wandel  in  ihrer  Verarbeitung.  —  An  seinem  Stil  —  der  groîn 
Mensch  wenigstens  stellt  sich  unverhüllt  in  ihm  dar  —  kann  daher  inch 
derLeser  seiner  Werke  über  das  Mass  seines  eigenen  VermOgeBi 
sich  orientiere n.i)  Man  tadelt  Michelangelo  nicht,  ohne  sich  selbst  oto- 
zustellen.  Man  hat  Kant  nicht  zu  lesen,  sonaem  sich  in  ihn  zu  versenken.  Ab 
ein  grösstes  Kunstwerk  muss  man  sein  Leben  setzen.  In  der  Welt  des  Genioi 
stumpft  sich  das  Erleben  nicht  ab;  es  wächst  vielmehr,  indem  es  immer 
wieder  sich  erneuert,  und  immer  neues  Licht  aufgehen  lässt.  Das  Indifi* 
duum  ist,  wie  Schiller  sagt,  unerschöpflich.^ 

»)  Von  mir  gesperrt. 


Aezensionön  (Marcus).  146 

Ich  habe  diese  Beurteilung  des  Eantischen  Stiles,  die  sich  in  Her- 
Ein  Cohens  Kantrede  zum  14.  Februar  1904  [Marburg,  Elwert  1904] 
29  f.  findet,  in  aller  Ausführlichkeit  hergesetzt,  weu  sie  mit  einer 
^naiven  Überzeugung  von  der  Einheit  und  inneren  Notwendigkeit  der 
Lanklichen  Struktur  des  Systems  eng  verwachsen,  ja  aus  im*  hervor- 
^achsen  ist;  sie  ist  so  entschieden  und  unzweideutig,  sie  stimmt,  aus 
ihen  Munde  kommend,  so  sehr  zum  Nachdenken,  besonders  wenn  man 

vielen  fast  verzweifelnden  Äusserungen  anderer  Eantforscher  daneben 
t,  dass  ich  eini^rmassen  erstaunt  bin,  sie  in  der  neuesten  Arbeit 
r  „Kants  Stil  in  der  Ejritik  d.  r.  Vernunft"  von  H.  Ernst  Fischer 
ntstudien,  Ergänzunsshefte  Nr.  5,  1907]  nicht  unter  den  „allgemeinen 
eilen  über  Kants  Stü''  (S.  ISO  ff.)  angeführt  und  diskutiert  zu  finden, 
ist  schade,  dass  auch  M.,  der  es  nicht  unterlassen  kann,  Kants  Sprache 
tadeln  (ein  bedenkliches  Zeichen),  keine  Notiz  davon  genommen  hat. 
lleicht  hAtte  er  darüber  nachgedacht,  ob  es  nicht  doch  möglich  sein 
inte,  dass  ein  exakter  Denker  wie  Kant  nicht  nur  Gedankenrecher, 
dem  zugleich  ein  Genius  sein  kann.  Ein  Genius,  gross  auch  und 
z  er  selbst  in  der  Form,  die  hier  als  organische  Hülle  des  Gehalts  er- 
eint. 

Ich  weiss,  M.  sind  die  Begriffe  genial  und  Genie  fatal  in  Verbindung 

Philosophie.  Er  folgt  in  dieser  Abneigung  R.  Drill,  der,  wie  wir  S.  93 
ihren,  ihn  „zuerst  aus  dem  Schlummer  des  Theoretikers  weckte"  (!  die 
iolastische,  trockene  Sprache"  (s.  u.)  reizt  also  doch  zur  Nachalmiung  !) 
.  der  in  einer  Besprechung  von  Chamberlains  Kantbuch  [Frankfurter 
tung  vom  3.  2.  1906]  zu  den  Sätzen  sich  versteigt,  „dass  Genie  noch 
nais  eine  Hieorie  gemacht  hat  und  nie  eine  machen  wird|^  und  es  sei 
ilimm  genug,  wenn  man  von  einem  wissenschaftlichen  Werke  sagen 
n,  dass  es  genial  sei^  —  Nun,  dem  vorlieeenden  wird  man  diesen 
"warf  nicht  machen  ;  aber  der  Sül  erinnert  lebhaft  an  das  Temperament 

Genieperiode,  und  Drill  mag  darin  Recht  haben,  dass  diese  Art  der 
lialitat  für  die  Theorie  verhängnisvoll  werden  kann.  Genug!  —  man 
it,  bis  zu  welchen  Paradoxen  me  Versteifung  auf  den  oberuAchlichen 
{gleich  des  Kantischen  Werkes  mit  einer  mathematischen  Konstruktion 
ren  kann.  M.  vertritt  die  Auffassung,  Kant  habe  sein  Werk  voll- 
st, ffe Wissermassen  gestossen  von  dem  unaufhaltsam  sich  ihm  auf* 
Agenden  Erkenntnisproblem  (S.  86),  dessen  mathematisch  exakter 
ang  durch  den  logischen  Kant  der  Genius  Kant  hätte  somit 
Iti^  zusehen  müssen  —  der  sachliche  Fehler,  der  in  einer  Veidlng^ 
ung  des  Problems  liegt,  ist  bereits  durch  Gassirer  (a.  a.  0.  S.  18) 
Dauert  worden;  ein  Fehler,  der,  nebenbei  bemerkt,  so  grau  metaphy- 
h  and  also  so  unkantisch  wie  möglich  ist;  —  doch  einen  zweiten  Felder 

jene  mathematisierende  Dogmatik,  die  sich  der  Einsicht,  dass  daas 
tem  Kants  das  Werk  eines  Genius  ist,  nicht  Offnen  will,  im  Gefolge: 
fahrt  (hier  passt  Cohens  Ausdruck)  zu  „frevelhaften  Verdächtigungen^ 
its. 

Kants  System  :  objektives  Gebilde  mathematischer  Gewalten  —  Sein 
:  kraus  und  unklar  —  Ursache:  geheime  Absichten  —  so  läuft  die 
te  der  Missverständnisse  bei  M.  Er,  der  über  die  Sünden  der  namenlosen 
ntforscher^  die  ganze  Lauge  seines  Spottes  ausgiesst,  er,  der  sorgsam 
fendes  Eindringen  in  das  exakte  Gefüge  des  Systems  fordert,  er  weiss 
it,  dass  nur  die  Pietät  dem  Philosophen  firegenüber  den  Schlüssel 
1  geben  kann.    Es  kommen  bei  ihm  (S.  13)  xo^^ende  Sätze  vor:   „In 

meisten  wissenschaftlichen  Werken  merkt  man  nämlich  sofort,  welche 
gäbe  ihnen  zu  Grunde  laff.  In  der  Regel  kann  der  Schriftsteller  es  gar 
it  vermeiden,  sie  fi^nz  klar  hinzustellen.  Aber  ^  bei  Kant  liegt  die 
le  ganz  anders.  Hier  tritt  das  Grundproblem,  jenes  grosse 
blem,  dessen  Lösung  die  Grundlage  des  Systems  ausmacnt,  gar  nicht 
itlich  zu  Tage.^)    Nur  die  Losung  ist  gegeben,  nicht  das  Grund- 

1)  Die  Hervorhebung  der  Stellen  durch  gesperrten  Druck  ist  von  mir. 

Cafifvttidlon   XTTI.  ]0 


1^6  ttegenmonen  (Marciu). 

Sroblem,  und  sie  tritt  nur  als  Mittel  zum  Zwecke  der  sogenannten  Kritik 
er  Erkenntnis  auf.  Ein  crosses  Weltproblem  ist  es,  das  Kant  lösen 
mnsste,  um  die  Kritik  der  reinen  Vemuntt  schreiben  zu  können,  und  statt 
nun  dieses  grosse  Problem  selbständig  und  scharf  hinzustellen, 
versteckt  er  seine  Lösung  in  der  Kritik  der  reinen  Vernanft 
und  gebraucht  sie  nur  als  Mittel  zum  Zweck,  nämlich  zu  dem 
Zweck,  die  Grenzen  unserer  Erkenntnis  festzustellen,  gerade 
als  ob  ein  grosses  Problem  und  seine  Lösung  nicht  schon  für  sich  Interesn 
genug  böte."  Und  in  der  Anmerkung  spricht  M.  dann  eine  Veimutimg 
über  den  Grund  dieser  —  Zurückhaltung  Kants  aus:  .Warum  hat  Kant 
diesen  Kern  seiner  Lehre,  sein  Fundament  versteckt?  Hat  er  etwa 
selbst    nicht    gemerkt,    was    ihm    gelungen    war?    —    Das  ist 

Sanz  ausgeschlossen.  Aber  ich  vermute,  <&S8  ihm  selbst  vorder 
rosse  der  Umwälzung,  die  er  vorbrachte,  bangte,  dass  er  sick 
fürchtete,  mit  einer  so  gegen  die  Meinungen  aller  verstossenden  Lehre 
als  erster  mit  Ostentation  vor  die  Öffentlichkeit  zu  treten.  Er  fürchtete 
den  Lärm;  eine  Art  litterarischen  Lampenfiebers  mag  ihn  verui- 
lasst  haben,  die  Grösse  der  Umwälzung  durch  eine  schola- 
stische, trockene  Sprache  abzuschwächen.  Warum  wurden  die 
enochemachenden  Schriften  des  Kopernikus  erst  nach  seinem  Tode  ▼e^ 
öifentlicht?  Wahrscheinlich  fürchtete  er  sich  nicht  nur  vor  dem  geistlichen, 
sondern  auch  vor  dem  litterarischen  Liquisitionsgerichte,  einem  Gerichte, 
das,  aus  inferioren  Geistern  zusammengesetzt,  über  das  Nene  mit  grossem 
Lärin  den  Stab  zu  brechen  pflegt.^ 

Man  weiss  nicht,  was  man  auf  solche  Ausführungen  antworten  sofl. 
Es  hiesse  die  Kritik  der  reinen  Vernunft  und  besonders  die  Prolegonsena 
ausschreiben,  wenn  man  Kant  gegen  seinen  Yerteidifer  in  Schutz  nehmen 
wollte.  Was  den  Stil  angeht,  so  mag  M.  jetzt  kurz  auch  auf  H  S. 
Fischer,  a.  a.  0.  S.  131  ff.  hingewiesen  werden,  der  zwar  auch  den  Kan- 
tischen Stil  künstlerisch  nicht  gerade  hoch  stellt,  aber  doch  dem  Qu* 
rakter  Kants  gerecht  wird,  indem  er  durch  seine  statistisch  genauen 
Untersuchungen  zu  dem  Ergebnis  kommt,  da&s  nichts  dem  „schwanen 
Argwohn"  einer  willkürlichen  Verdunkelung  in  Kants  Stil  Recht  giebt 

Weil  Kant  also  sein  Grundproblem,  das  Erkenntnisproblem,  „ve^ 
steckt*'  hat,  muss  es  klar  herausgearbeitet  und  in  seiner  geschichtlichen 
Ent Wickelung  dargestellt  werden.  Eine  peinliche  Dissonanz  schon  im 
Vorspiel!  Cassirer  hat  sich  jeglicher  subjektiven  Anknüpfung  enthalten 
und  sich  mit  der  geschichtlichen  und  systematischen  Begitbidung  Ix^flgt 
Betrachten  wir  kurz  M.s  Darstellung  der  Geschichte  des  Problems  bis  n 
seiner  Lösung  durch  Kant. 

M.  sagt  S.  22  „Unsere  Elritik  philosophischer  Versuche  reicht . . . 
nur  soweit,  wie  es  die  Feststellung  des  Problems  fordert,  und  aus  d^Ge* 
schichte  der  Philosophie  und  ihrer  Systeme  wird  hier  eine  Geschichte  dei 
Erkenntnisproblems.  Aber  auch  nicht  seine  Geschichte  zu  schreiben  iit 
hier  die  Absicht,  sondern  es  handelt  sich  darum,  die  Bestandteile  dei 
Problems  klar  vor  Augen  zu  stellen  und  zugleich  zu  zei|;en,  dass  dasPnh 
blem  das  Zentrum  ist,  um  das  sich  die  Versuche  der  bedeutendsten  Philo- 
sophen lagern,  und  unter  dessen  Drucke  ihre  Systeme  geschaffen  sind, 
ferade  so  wie  sich  die  Versuche  der  Astronomen  um  das  Problem  der 
osmischen  Bewegungen  drehten.^  Beicht  nun  die  geschichtliche  Be- 
trachtung M.8  zur  genauen  Feststellung  der  Entwickelun^  des  Piobleni 
aus  ?  Ich  fürchte  nein.  Zunächst  erscheint  die  Besdiränkong  der  ünttt^ 
suchung  auf  die  bedeutendsten  Philosophen  der  Neuzeit,  auf  Descarteii 
Locke,  Berkeley,  Leibniz,  Hume  durchaus  willkürlich  —  auch  weim  man 
annehmen  will,  dass  M.  gerade  nur  die  Denker  zu  behandeln  gedachte,  n 
denen  Kant  in  seinen  Schriften  des  öfteren  und  am  Uebsteu  Stdhmg 
nimmt.  Denn  an  der  Lösung  des  Problems  sind  seit  Descartes  nicht  sie 
allein  tätig  gewesen;  auch  wird  das  historische  Bild  ihres  Anteiles  sdbst 
ungenau,  wenn  man  sich  bei  der  Darstellung  ihrer  philosoj^üachen  Leistang 


Rezensionen  (Marcus).  147 

mbewosst  oder  bewnsst  von  Kant  beeinflnssen  Iftsst.  Es  ist  ja  bekannt, 
laas  er  von  diesen  Philosophen  nur  eine  teilweise  Kenntnis  besass,  was 
och  einfach  daraus  erklärt,  dass  viele  ihrer  wichtigsten  Schriften  im  18. 
Fahrhondert  entweder  nicht  ^nücend  bekannt  oder  überhaupt  noch  nicht 
gedruckt  waren;  ich  nenne  die  wichtigen  Beçulae  Descartes^;  von  Leibniz 
|ui2  SU  geschweigen,  dessen  Bedeutung  zu  erkennen  erst  unserer  Zeit  vor- 
behalten war,  die  seine  Schriften  sozusagen  hat  neu  entdecken  müssen, 
vfthrend  Kant  von  ihm  nur  das  einseitige  Bild  kannte,  das  die  Wolffianer 
hm  fiberliefert  hatten.  Selbst  Humes  wichtigste  Jugendschrift,  der 
nreatise,  war  noch  nicht  in  Kants  Händen  gewesen,  S\s  er  die  Kritik 
«hrieb.  M.  musste  hier  den  Vorteil  ausnutzen,  den  unsere  sründlichere 
Kenntnis  jener  Denker  dem  Oeschichtschreiber  von  heute  bietet.  Und 
ferner:  Kant  knüpfte  wohl  an  Newtons  Begriff  einer  exakten  Wissenschaft 
kn;  aber  wieviel  die  engere  mathematische  und  naturwissenschaftliche 
i^onchung  der  vergangenen  Jahrhunderte  zur  Vorbereitung  seiner  Lösung 
Mittragen,  fühlte  er  mehr,  als  ihm  geschichtlich  genau  bewusst  war. 
In  der  Lösung  des  Erkenntnisproblems  haben  seit  Nikolaus  von  Cues 
Philosophie  und  exakte  Wissenschaft  gemeinsam  gearbeitet  ;  ich  kann  nur 
mmer  wieder  auf  Gassirers  grundlegendes  Such  verweisen.  Es  ist 
mtaonlich,  dass  M.,  der  sich  ort  und  gern  auf  Beziehungen  zwischen 
Philosophie  und  Ilathematik,  sowie  exakter  Naturwissenschaft  beruft,  diese 
irt  des  Zusammenhanges  einer  geschichtlichen  oder  systematischen  Er* 
^rtemng  nicht  für  wert  hält,  sondern  sich,  Kant  folgend,  mit  einigen 
mizen  Hinweisen  auf  Kopernikus  begnügt  und  nur  in  I,  3  (siehe  das  In- 
laltaverzeichnis)  einige  moderne  physikalische  und  physiologische 
^Osongsversuche  des  Erkenntnisproblems,  allerdings  an  sich  lehmich, 
TÖTtert. 

Dass  M.  seine  Untersuchuns:  erst  mit  Descartes  beginnt,  ist  durch 
lie  hervorngende  Stellung,  die  dieser  in  der  Geschichte  des  Erkenntnis- 
Problems  einnimmt,  gerechtfertigt.  Aber  eine  geschichtliche  Darstellung 
lat,  wenn  sie  systematische  Zwecke  verfolgt  und  besonders  dann  die 
^eht,  von  der  philosophischen  Leistung  des  jeweiligen  Denkers  auf 
rkenntnistheoretischem  Gebiete  ein  vollständiges,  ein  wahres  Bild  zu 
lefern,  wenn  auch  die  Umstände  nur  eine  kurze  Skizze  zulassen. 

Dieser  Verpflichtung  ist  M.  für  Descartes  wie  für  Leibniz  nicht 
aehgekommen. 

R.  Drill  hält  zwar  (a.  a.  0.)  Chamberlain  vor,  aus  der  hier  vorliegen- 
len  S^rift  von  M.  könne  „er  entnehmen,  wie  man  Descartes  —  und  <utnn 
foeke,  Berkeley,  Leibniz  und  Hume  —  zur  Einführung  in  Kant  verwerten 
mas''  —  ich  habe  schon  bei  anderer  Gelegenheit  (Anzeige  von  Cassirer, 
«rfcenntnisproblem  I  in  dem  letzten  Hefte  der  Altpreuss.  Monatsschrift) 
ie  Oberflächlichkeit  des  Descartesabschnittes  bei  M.  betont.  Die  flber- 
TO00e  Kürze  (30  Zeilen)  der  Behandlung  von  Descartes*  Verdienst  um  das 
Ubiern  (worauf  M.  doch  so  ausdrucksvoll  hinweist)  mag  hingehen,  über- 
wmcht  aber,  wenn  man  die  Länge  des  Abschnittes  über  Locke  dagegen- 
Êitf  der  viele  Vorgänger  hat,  über  die  er  kaum  hinauskommt.  Doch  recht 
lautlich  zu  tadeln  ist,  was  M.  über  das  zentrale  Verdienst  Descartes 
avert:  es  bleibt  bei  dem  cogito.  Von  der  methodischen  Funda- 
lentierung  der  Erkenntnis  in  den  Prinzipien  des  Intellekts,  deren  reinste 
ÎDtialtung  uns  die  Mathematik  gnebt,  von  allem,  was  seit  Natorps 
wa^Ur  Descartesschrift  (1882)  über  den  Mittelpunkt  von  Descartes*  Erkennt- 
ittheorie hauptsächlich  aus  den  Regulae  ad  directionem  ingenii  heraus- 
^eaen  worden  ist  (ich  habe  die  wichtigste  diesbezügliche  Litteratur 
«eigentlich  der  Besprechung  einer  Neuausgabe  una  deutschen  Be- 
ibeitong  der  Regulae  durch  Buchenau  im  Litterarischen  Zentralblatt 
907,  Nr.  36  (81.  VIII.  07),  S.  1109  f.  zusammengestellt),  von  alledem  findet 
leh  bei  M.  kein  Wort;  es  sei  denn,  dass  man  in  der  Bemerkung,  D.  sei 
iroA  Beml  nicht  dn  Philosoph,  ein  Philologe  oder  ein  Histor&er  (wie 
■eere  heatigen  KaatfonckerX  sondern  ein  rhysiker  und  Mathematiker^ 


148  Bezensionen  (Marcus). 

gewesen  (S.  20),  einen  solchen  Hinweis  erblicken  will  .  .  .  Der  etwaite 
Einwand,  das  Büchlein  verfolge  nnr  propädeutische  und  polemische  Ab- 
sichten und  könne  daher  auf  ausführliche  Darstellung  sich  nicht  einlasBen, 
würde  nicht  stichhaltig  sein,  denn  es  soll  ja  von  einer  derarti^n  Schrift 
keine  extensive  Vollständigkeit  verlangt  werden;  Ynnseßen.  wird  eine 
intensiv  erschöpfende  Auskunft  über  den  Anteil  gefeitLert^  den  Des- 
cartes an  der  Lösung  des  Erkenntnisproblems  hat. 

Leibniz  wird  (S.  52—53)  in  28  Zeilen  abgetan  mit  einer  schiefen 
und  dürftigen  Skizzierung  der  metaphysischen  Seite  der  Monadenlebre^ 
wonach  es  neisst:  ^Die  Beurteilung  dieser  Theorie  des  neuerdings  wieder 
eifrig  angepriesenen  Philosophen  überlasse  ich  getrost  dem  Leser  in  der 
Voraussetzung,  dass  er  seinen  Laienverstand  (bei  Kant  ^den  gemeinen 
Verstand*')  gebraucht.  Gebraucht  er  einen  anderen,  so  stehe  ich  fBr 
nichts.^  Von  den  grundlegenden  mathematischen  und  dynamischen  Theo- 
rien Leibnizens  und  ihrem  Verhältnis  zum  Erkenntnisproblem  schweigt 
M.,  er,  der  mit  Hinweisen  auf  die  exakten  Wissenschaften  und  ihra 
Beziehungen  zur  Philosophie  an  anderen  Orten  nicht  zu  kargen  pfl^ 
Möge  er  es  nicht  verschmähen,  da  er  von  Gassirers  Buch  über  L.  (1908) 
als  einer  „Anpreisung^  wohl  nichts  wird  wissen  wollen,  sich  ans  den 
Leibnizkapitel  in  Vorländers  Geschichte  der  Philosophie  II,  S.  113  fL, 
einem  Buche,  das  er  S.  48  recht  von  oben  herab  behandelt^  die  nötige 
Orientierung  zu  holen. 

Für  solche  Mängel  werden  wir  aber  dadurch  entschftdigt,  da« 
jedesmal,  wenn  wieder  ein  neuer  Philosoph  von  M.  vorgefühlt 
wird,  in  Klammer  das  Geburts-  und  das  Tode^ahr  beigeffifft  wüd. 
Solcher  —  Exaktheit  gegenüber  wirkt  es  dann  äusserst  ftttu,  wenn 
es  S.  20  heisst:  „.  .  .  die  ...  Kopemikanische  Lösung  (des  astrono- 
mischen Problems)  mit  ihren  ungeheuren  kulturellen  Folgen  (Ve^ 
nichtung  des  Himmels  und  damit  eines  Teiles  des  Kkchenglaubens  . . . 
die  Eröffnung  des  Weçes  zur  Entdeckung  Amerikas  u.  s.  w.). 
Aber!  —  in  der  oben  zitierten  schönen  Stelle  hatten  wir  doch  g^ 
hört,  dass  „die  epochemachenden  Schriften  des  Kopernikus  erst  nra 
seinem  Tode  veröffentlicht^  wurden  —  d  i.  nach  1543  —  und  sollte  midi 
meine  Erinnerung  aus  der  Geschichtstunde  täuschen,  wenn  ich  vermute, 
dass  Amerika  --  1492  entdeckt  wurde!    Erkläret  mir,  Graf  Örindnr  .  . .! 

Ich  habe  nur  die  auffallendsten  Mängel  zu  kennzeiclmen  ver- 
sucht. Sie  sind  derart,  dass  ma^  das  Gute,  welches  ICs  Buch  tat- 
sächlich enthält,  leicht  zu  vergessen  geneigt  ist.  Ich  hebe  deshalb 
hervor,  dass  die  Besprechung  des  Lockeschen  Lösungsversnches,  wenn 
auch  mit  einigen  der  oben  gerügten  Schnörkel  verziert,  klar  und  seine 
Widerlegung  emwandfrei  ist.  Dasselbe  ^t  von  dem  Kapitel  über  J[kÊ 
Sensualproblem  und  die  (seil,  moderne)  r^aturwissenschaft,*^  (s.  o.}  sowie 
von  dem  Abschnitt  über  Berkeley.  Weiterhin  hat  mich  besondexs  die 
Erörterung  über  Humes  Auffindung  des  zentralen  Problems  und  das  klaie 
Verständms  für  die  Zwiespältigkeit  seiner  Lösung  (111,1—3)  angesproehen. 
Die  Sätze  „Wir  wollen  ihm  (Hume)  nicht  vorwerfen,  dass  er  das  Probte 
nicht  zu  lösen  vermochte,  ja  ihm  eine  falsche  Lösung  gab;  wir  wdlea 
ihm  danken,  dass  er  es  entdeckte^  und  „Jedenfalls  ist  es  eine  andere  iJt 
von  Begabung^,  die  Humes  Fra^e,  und  eine  andere,  die  Kants  Antwort 
erstehen  liess^  (S.  57),  entschädigen  für  vieles.  M.  findet  sich  in  dieser 
Auffassung  ungefähr  zusammen  mit  Höniffswald,  Über  die  Lehre  Hamei 
von  der  Realität  der  Aussendinge  (1904) ,  S.  63,  einem  Buche,  das  M.  ft 
seinen  Abschnitt  manchen  Beitrat  hätte  ffeben  können.  Bei  der  Skis- 
zierung  der  Kantischen  Lösung  indes  bleibt  M.  wieder  wesentlich  in  einff 
kurzen  (wohl  aus  propädeutischen  Gründen  stark  psychologisch  geÜMm) 
Erörterung  des  a  priori  und  der  transscendentalen  ÄMihetik  stecken. 
Man  vermisst  eine  klare  Herausarbeitung  des  a  priori  als  einer  koniti- 
tutiven  Grundleeun^  der  Erfahrung  so  wie  eine  Darstellung  des  BamMS 
und  der  Zeit  cOs  der  reinen  Mö^chkeit  des  Zusanunen  und  des  Naob- 


Rezennonen  (Troeltseh).  149 

einander,  eine  Heransarbeitiing  der  beiden  Elemente  als  der  reinen 
Formen  einer  jeden  möglichen  Anschanong  der  Entfaltung  jener  ^un- 
mittelbar ^wissen  apriorischen  Vorstellungen^.  Von  den  übrigen  konsti- 
iativen  Teilen  der  Theorie  der  Erfahmne  bringt  M.  nichts  —  ein  propäden- 
tische»  Bfichlein  indes  hätte  vor  allem  darauf  hinweisen  sollen,  aass  Kant 
jene  Frage,  als  welche  zuerst  das  Erkenntnisproblem  sich  aufdrängt: 
Wie  ist  Erfahrung,  die  uns  gewöhnlich  doch  als  ein  fertig  Gegebenes 
erscheint,  flberhaui)t  möglich,  welches  sind  ihre  Grundlagen?,  als  Erster 
einheitlich  und  widerspruchslos  beantwortet  hat.  —  Aber  ich  wollte 
diese  Besension  mit  einer  Anerkennung  des  Positiven  in  Ms  Buch  ab- 
schllessen  und  nicht  mit  Ausstellungen. 

Es  wäre  schade,  wenn  M.  das  Wort,  „Ich  habe  entweder  alles  oder 
gmr  nichts  geleistet'*  (vgl.  S.  92),  auch  auf  sein  Buch  angewendet  wissen 
wollte.  Denn  es  enthält  Gutes,  das  der  Erhaltung  wert  ist.  Aber  wenn 
dies  nicht  verloren  sein  soll,  so  bedarf  die  Schrift  einer  Reformation 
SB  Hanpt  und  Gliedern.  Alsdann,  aber  auch  nur  dann  wird  sie  neben 
Oassirers  monumentalem  Werke  einen  eigenen,  durch  ihre  propädeutische 
Aufgabe  genügend  gerechtfertigten  Platz  beanspruchen  dürien.  Vorläufig 
kann  man  aus  ihr  nicht  lernen,  „wie  man  mit  der  Badiemadel  philo- 
sopbiert«'. 

Dflsseidorf.  Dr.  Paul  Wüst 

Troeltsch,  Ernst  Psychologie  und  Erkenntnistheorie  in 
der  Religionswissenschaft  Tübmgen,  J.  G.  B.  Mohr  (Paul  Siebeck), 
1906.    (65  8.) 

-Eine  Untersuchung  über  die  Bedeutung  der  Kantischen  Religions- 
lehre  für  die  heutige  Reufiionswissenschaft*'  nennt  der  Heidelberger  Theo- 
loge im  Untertitel  diesen  Vortrag,  den  er  auf  dem  International  Gongress 
CXI  arts  snd  sciences  in  St.  Louis  gehalten  hat.  Aber  hier  ist  mehr.  Das 
Bfichlein  enthält  in  scharfer,  geistvoller  Ausführung  die  Grundlinien  einer 
Religionsphilosophie.  Als  philosophische  Schrift  steht  es  in  der  Reihe  der 
erkenntnistheoretischen  Werke  von  Windelband  und  Rickert,  weist  jedoch 
so  viel  eigene,  energische  Förderung  in  der  Stellung,  Bestimmung  und 
Losung  der  Probleme  auf,  dass  wir  seinen  Standpunkt  nur  mit  seinem 
eigenen  Namen  bezeichnen  können. 

Die  Scheidung  der  Psychologie  und  Erkenntnistheorie  ist  die  Ean- 
tische.  Dss  snbpeküve  religiöse Bewusstsein  selbst  ist  das  Tatsächliche, 
sa  dss  sich  die  Religionswissenschaft  hält  Es  erfordert  eine  psycholo- 
nsche  Analyse.  Diese  empirisch-psychologische  Untersuchung  ist  nötig, 
äer  sach  möglich  trotz  aller  Übertreibung  der  (Gefahren  derselben  dural 
den  Positivismns.  Sie  muss  zuerst  die  besondere  Form  deijenigen  See- 
fischen Vorgfoge  und  Zustände,  die  wir  als  religiöse  bezeichnen,  und  dann 
dss  Verhältnis  der  einzelnen  Inhalte  zu  dieser  Form  feststellen.  Das  ist 
rein  psychologische  Arbeit.  Freilich  muss  hier  Troeltsch  den  Wert  der 
dentschen  Psychologie  in  sehr  richtiger  Weise  einschränken.  Psycho- 
pkysiologie  ist  nicht  fähig,  dies  Gebiet  psjrchologisch  zu  untersuchen.  Der 
sQslitativen  Eigentümlichkeit  der  religiösen  Zuständlichkeiten  kommt 
oa  Pqrchophysik  mcht  bei  Dagegen  weist  Tr.  auf  die  beste  und  feinste 
Leistnng  modemer  Religions-P^chologie  hin,  die  die  charakteristische 
Eigttiart,  die  Form  dieser  Zustände  und  Erfahrungen  gefunden  habe,  z.  T, 
wenigstens,  ohne  den  gedanklichen  Inhalt  gemäss  der  Wahrheitsfrage  zu 
«dnen.  Es  sind  das  cue  Gifford  Lectures:  The  varieties  of  religious  ex- 
perience von  Will.  James.  Hier  stört  nicht  das  Ghesetz  vom  kausalnot- 
wendlgen  Aufbau  des  Bewußtseins.  Das  Eintreten  auch  qualitativ  selbst- 
iMiidiger  Erfahrungen  wird  nicht  ausgeschlossen.  Und  als  das  Oharskte- 
dslis^  der  religiösen  Zuständlichkeiten  findet  James  die  Empfindung 
der  Gegenwart  des  „Göttlichen*^  mit  den  Gefühlswirkungen  feierlicher 
Ahsteiiasempfindung  und  enthusiastischer  Erhebung. 

Aber  freilich,  dss  Alles  ist  bloss  Psychologie.  Damit  ist  noch  nichts 
gesagt  über  Wahrheitsgehalt  und  Reslitits^shslt  dieser  Brsoheiniingsn. 


150  Besen&donen  (Troeltsoh). 

Die  Frage  nach  dem  Geltenden  setzt  hier  ein.  Dbeu  iat  der  BiBcà- 
gang  auf  allgemeingültige,  dem  reinen  Denken  oder  der  Vernunft  inne- 
wohnende Begriffe  nötig.  Es  becrinnt  das  Problem  der  Erkenntnistheorie. 
Ohne  sie  ist  me  Frange  nach  der  Notwendigkeit  und  dem  Wahrheitsgehalt 
der  Religion  gar  nicht  zu  entscheiden.  Die  Erscheinungen  müssen  och 
aus  einheitlichen  Gesetzen  des  Bewusstseins  begreifen  lassen.  Und  diese 
Gesetze  müssen  aus  eigener  autonomer  Notwendigkeit  in  die  bunte  see- 
lische Manni^alti^keit  Einheit  und  Zusammenhang  hinein  wirken.  Troeltedi 
ringt  hier  m  geistvoller,  scharfisinniger  Weise  um  die  klare  Feststellung 
des  Problems.  Besonders  gilt  es  hier  zwei  Sätze  neben  einander  zu  stellen. 
Einmal  den:  Die  Gesetze  wirken  aus  eigener,  autonomer  Notwendigkeit 
in  die  bunte  seelische  Mannigfaltigkeit  Einheit  hinein.  Und  den  anderen: 
Die  Gleichartigkeit  der  einen  oder  anderen  Gruppe  psychischer  Erschedn- 
ungen  ist  nicht  durch  das  Fatum  mechanischer  Verknüpfung,  sondern  in 
einer  inneren  Notwendigkeit  und  Allgemeingültigkeit  der  sie  hervo^ 
bringenden  Tätigkeit  begründet.  Das  Âl^meine  ist  im  rein  Tatsächlichen 
entl^ten.  Das  apriorische  Gesetz  schon  in  der  Buntheit  der  Erscheinungen. 
Es  muss  also  eruiert  werden.  Es  handelt  sich  somit  in  der  Erkenntnis- 
theorie um  eine  Selbsterfassung  des  Rationalen,  das  im  Tatsftchliohen  ent- 
halten ist.  Durch  sie  wird  eine  gesicherte  Realitätserkenntnis  gesohate 
und  der  Schein  und  Irrtum  im  verwirrenden  Strom  des  psychologischen 
Gemenges  zurückgedrängt.  Es  ist  der  formale,  erfidirungsimmanente 
Rationalismus,  der  überafi  in  der  elementaren  Erfahrnng  selbst  schon  dsi 
Walten  des  logischen  Apriori  konstatiert.  Nur  muss  meeer  von  der  S^ 
fahrung  angesponnene  Rationalismus  sich  nun  mit  Klarheit  und  Kon- 
seq[uenz  erfassen  und  die  Erfahrung  dadurch  zu  einer  rationell  geordimten 
Wirklichkeit  umformen.  Es  handelt  sich  hier  doch  wohl,  so  zu  sagen, 
nach  Tr.  um  ein  Sich-suchen  und  Sich-wiedererkennen  der  Vemnnft  in 
einem  durch  den  Schein  getrübten  Spiegel.  Es  ist  eine  in  ihrer  logischei 
Schärfe  und  ihrem  straffen  Fortgang  hinreissende  Darstellang,  die  Tr.  Mer 
giebt  (s.  besonders  S.  21—26). 

Damit  stellt  Tr.  auch  scharf  heraus,  dass  das  eigentliche  Kennzeichen 
einer  kantisierenden  Religionslehre  gar  nicht  die  Lehre  über  Glauben  und 
Wissen,  resp.  die  Scheidung  der  theoretischen  und  praktischen  Vemunfl 
ist.  Damit  ist  nur  das  Verhältnis  der  Religionswissenschaft  znr  Speko- 
lation  beschrieben.  Auf  dem  praktischen  Charakter  beruht  für  Kant  nor 
die  Trennung  der  Religion  von  der  exakt-theoretischen  Wissenschaft,  aber 
nicht  die  Wcmrheits^ltung  der  Religion.  Diese  beruht  auf  dem  rationaleo, 
d.  h.  auf  dem  apriorisch  transscendentalen  G^etzesgehalt  der  Beüsjon. 
Damit  trennt  sich  Tr.  auch  scharf  von  den  von  Ritschi  ausgehendenKsn- 
tisierenden  Theologen.  Die  Verknüpfung  des  rationalen  Elements  mit 
einer  unbefangenen  Psychologie  ist  nir  ihn  das  eigentliche  und  wirkUdie 
Problem  der  Reli^onslehre.  Jene  Werturteilstheologie  iWt  der  Wunsch- 
und  niusionstneone  Feuerbachs  in  die  Arme,  da  sie  £e  Notwendig^keit  des 
Objekts  verliert,  an  dem  die  Werte  haften.  Die  Tr.sche  Theolosie  sucht 
das  apriorische  Bewusstseinsgesetc,  das  sich  in  der  TatsachlicmLeit  dei 
reliffiOsen  Lebens  äussert,  und  daraus  den  letzten  Grund  für  die  Fleet- 
Stellung  des  Wahrheitsgehaltes  der  Religion  und  das  Mittel  der  kritisclieB 
Reinigung  und  Fortentvnckelung  der  psychologischen  Religion.  Mit  der 
Notwendigkeit  der  apriorischen  reli^Osen  Vernunft  ist  aber  auch  das  in 
ihr  gesetzte  Objekt  notwendig.  Damit  steht  Tr.  fester  im  Prinzip  in  est 
Kantischen  Erkenntnistheorie  als  die  Werturteilstheologie. 

Freilich  beweist  nun  Tr.  in  gedrängter,  tie&inniger  Weise,  wie  die 
Kantische  Religionslehre  um  der  neutigen  verfeinerten  Psychologie  und 
um  der  Konsequenz  der  Gedanken  willen  Modifikationen  erleiden  mflsM. 
Er  weist  das  in  4  Punkten  nach. 

Erstens  darf  sich  die  Vernunft  in  der  psychologischen  GemeafS- 
läge  als  enthalten  voraussetzen.  Die  Selbsterkennung  das  Logischen  ut 
dmm  nötig  bei  der  Eruierung  und  Fixierung  der  erk^antnistheoieliseaei 


ReEensionen  (Troeltsch).  151 

etE6.    Es  ist  ein.  ] lang  des  Willens,  dies  Enthaltensein  eines 

ifinftigfen    and    teleologisch  zusammenhängenden   Oharakten   in   der 
klichkeit  vorauszusetzen. 

Die  Emierung  wird  dann  natürlich  eine  stets  neue  Aufgabe  und  ist 
it  eine  schon  geschlossene  Arbeit  wie  bei  Kant,  der  ein  geschlossenes 
bem  der  Grundbegriffe  hat.  Der  latente  Yemunftgehalt  der  WirkHch- 
>  ist  immer  noch  reicher  als  der  gefundene.  Hier  konstatiert  Tr.  das 
te  Irrationale.  Die  Wirklichkeit  ist  nie  völlig  rational,  ein  unbe- 
ilicher  Best,  der  Schein  und  Irrtum  einschliesst,  ist  stets  untermischt. 

Zweitens.  Die  Eantische  Beligionspsycholojg;ie  beruht  auf  dem 
nniis.  Deshalb  drän^  hier  die  Ge^nwart  weit  über  die  Urformen 
Kantischen  Lehre  mnaus,  da  ja  die  psychologische  Analyse  Voraus- 
img für  die  erkenntnistheoretische  Eruierun^  der  Vemunftgesetze  ist, 
heutige  Eeligionspsychologie  eine  weit  reichere  ist  als  die  deistische. 

Drittens.  Kant  hat  gegen  den  Monismus  die  Freiheit  aufgerichtet. 
ir  nur  für  die  intelligible  Welt.  Er  hat  das  empirische  und  intelligible 
unterschieden,  was  stets  zu  ZusammenstiVssen  zwischen  beiden  führt. 
ade  in  der  Religions-Psychologie  zeigt  sich  aber  nur  die  Grundempfin- 
g  aller  Itelia;ion,  nicht  ein  Produkt  des  mechanischen  Ablaufs,  sondern 
)  Wirkung  des  in  ihr  empfundenen  Obersinnlichen  selbst  zu  sein.  Die 
igion  lässt  sich  auf   nichts  Anderes  kausal  reduzieren.    Hier  müssen 

die  erkenntnistheoretischen  Sfttz  aufgegeben  werden,  die  dem  psy- 
logischen  Befund  widersprechen.  In  me  phänomenale  Zeit  ^ifen 
onaleAkte  ein,  die  ihre  intelligible  Zeitlichkeit  haben.    Das  empirische 

intelligible  Ich  liegen  nicht  neben,  sondern  in  und  über  euander. 
tit  alles,  was  in  die  Zeit  fällt,  ist  kausalnotwendig  verknüpft.  Das  in- 
gible  Ich,  das  latent  im  phänomenalen  wirksam  ist,  behauptet  sich, 
lafft  die  Persönlichkeit  als  <ue  Verwirklichune  der  autonomen  Vernunft, 
)m  es  aus  dem  Psychologischen  als  das  Intemgible  herausbricht,  es  be- 
utet und  geordnete  Wechselwirkung  schafft,  nicht  kausalen  Zwang, 
r  ist  ein  Ineinander^eifen,  ein  Kampf,  denn  es  ist  eine  Unterbrechung 

kausalen  Notwendigkeit  (nur  angeregt,  gefordert,  gehemmt  und  ge- 
xrtcht  durch  diesen  Verlauf).    So  ist  Religion  eine  Tat  der  Freiheit 

Gheschenk  der  Gnade,  eine  Durchbrechung  des  Übersinnlichen  und 
)  freie  Tat  der  Hingebung.  Die  Freiheit  wiät  also  auch  in  die  phäno- 
lale  Welt  ein  und  diese  empirische  phänomenale  Kausalität  ist  auf 
«Einwirkung  eingerichtet.  Hier  konstatiert  Tr.  das  zweite  Irratio- 
e:  Das  Problem  der  Freiheit  und  schöpferischen  Wahrheitserzeugung. 
ihr   erfasst  das  Rational* Allgemeingültige  in  der  Reli^on  sich  selbst 

gestaltet  von  hier  aus  die  Wertabstiuung  der  geschichtlichen  Reli- 
len.  Hier  steht  Tr.  sehr  nahe  bei  Rickerts  erkenntnistheoretischem 
mbewusstsein. 

Viertens:  Das  Religion-haben  gehört  zwar  zum  Apriori  der  Ver- 
ft  Die  Religion  ist  alM>  mit  der  Vernunft  selbst  geseäst,  auch  wenn 
et  sich  selbst  nicht  zum  Bewusstsein  brächte.  Aber  was  ist  schliesslich 
[gion  als  Form  des  rationalen  Vemunftffesetzes  allein  ohne  die  Aktua- 
imiig  in  spezifischen,  psychologischen  Enebnissen,  ohne  die  inhaltlichen, 
Bhologisehen  Erscheinungen? 

Hier  gilt  es,  das  dritte  Irrationale  zuzugestehen,  das  Einmalige, 
tTiduelle,  Tatsächliche.    Der  Zusammenklang  des  Allgemein-Rationalen 

dem  Tatsächlich-Irrationalen-Einmaligen  bleibt  ein  unenträtselbares 
ndgeheimnis  des  Lebens.  In  der  verborgensten  Einheit  der  meta- 
machen  Vernunft  hat  das  Allgemein-Notwendig-Rationale  und  das 
liehlich-Individuell-Gegebene  eine  unbegreifliche  Einheit.  Hier  ent- 
it  die  Empfindunar  der  Gegenwart  und  Wirkung  des  Göttlichen, 
iffende  Urkraft,         Inbegrm  des  Seinsollenden  und  Mannigfaltigen 

doch  sa  ergreif!  durch  eine  freie  Tat  der  denkenden  und  prak- 

tien  Autonomie. 


152  Selbstanzeigen  (Paulsen). 

Mit  Eucken  betont  hier  Tr.  dies  tie&te  religiöse  Problem,  ohne  es 
freilich  lösen  zu  wollen,  wie  jener  durch  die  nooloçische  Methode. 

So  zwingt  Tr,  den  erkenntnistheoretischen  formalen  Bationalismns 
zu  mancherlei  Zugeständnissen  an  die  Irrationalität  der  p^chologischen 
Tatsächlichkeit  und  durchbricht  den  strengen  Kantischen  Aationalismas 
an  verschiedenen  Punkten.  Aber  andererseits  betont  er  doch  stets  vah 
Neue,  wie  sehr  es  nötig  ist,  das  psycholonsche  Datum  stets  wieder  ans 
seinem  rationalen  Kern,  durch  sein  rationales  Kriterium,  d.  h.  durch  du 
rationale  Apriori  der  Vernunft,  das  zur  Gesamtheit  des  Vemui^ftlebeDt 
gehört,  von  Schein  und  Irrtum  zu  befreien.  Von  hier  aus  nur  Ifisst  sich 
ja  die  Wahrheitsgeltung  der  Religion  be^^rttnden.  Die  Wissenachaft,  in 
der  beides  zu  seinem  Hechte  kommt,  ist  die  wahre  Religionswissenschaft 

Ein  bloisser  Hinweis  auf  die  Schrift  mit  wenigen  Sätzen  genfift 
nicht,  auch  nur  die  Fülle  der  Probleme  ahnen  zu  lassen,  an  dieTr.s  phib- 
sophisches  Denken  sich  auf  wenig  Seiten  wagte.  Die  ausführliche  Iimalts- 
angäbe  aber,  die  übri^ns  auch  auf  mancherlei  wichtig  anweise  nicht 
zu  sprechen  kam,  wiO  nichts  anderes,  als  die  prinzipielle  Wichti^dt 
dieses  Vortrages  mit  voller  Energie  betonen.  Die  realistische  Betonung 
des  Tatsächlidien  in  seinem  vollem  Umfang  fordert,  ebenso  zur  p^eho- 
logischen  und  praktischen,  wie  die  Kantische  Forderung  des  Bationalumns 
zur  logischen  Mitarbeit  an  der  Religionswissenschaft  heraus.  Es  muss  sich 
Widerspruch  erheben  gegen  Tr.  von  Seiten  der  Ritschlschen  Schule  zueni, 
und  ebenso  von  Seiten  £rer,  die  die  Rationalisierung  des  psychologisch- 
Irrationalen  nicht  bloss  für  schwer,  sondern  für  unmöglich  halten.  Arn 
meisten  werden  die,  die  von  Windelband  und  Rickert  nerkommen,  sich 
an^ereçt  fühlen  von  den  Tr.schen  Gedanken  und  von  Tr.,  wenn  auch 
nient  die  neue  Bewegung  in  der  Religions-Philosophie  —  das  ist  doch 
wohl  Euckens  Verdienst  —  aber  doch  eine  äusserst  wichtige  Förderung 
derselben  teils  schon  gewirkt  sehen,  teils  —  und  das  noch  viel  mdur  - 
erwarten.  Denn  die  Auf^be,  die  hier  der  Erkenntnistheorie  gestellt  ist, 
harrt  mindestens  ebenso  ihrer  Lösung,  als  die  der  religiösen  nycholo^ 
gestellte. 

Laufen  (Baden).  Hermann  Maas. 


Selbstanzeigen. 

Paulsen,  Johannes.  Das  Problem  der  Empfindung.  Philoso- 
phische Arbeiten,  herausgeg.  von  H.  Cohen  und  Paul  Natorp.  Heft  4. 
Giessen,  Verlag  von  A.  Toepelmann,  1907.    (115  Seiten.) 

In  dieser  Schrift  wird  der  Versuch  erneuert,  die  Position  deijenigm 
philosophischen  Richtung  zu  erschüttern,  welche  darauf  ausgeht,  den  In- 
halt der  Philosophie  als  Logik  auf  Psychologie  zurückzuf&ren  und  die 
systematische  Erörterung  über  den  Erfahrungsbegriff —  durch  Erfahrunf 
zu  ersetzen.    Diese  Richtung,  —  welche  so  alt  ist  wie  der  WiderspniJ 

fegen  den  Idealismus  der  Erkenntnis  —  hat  in  neuerer  Zeit  ihre  festeste 
tütze  gefunden  in  dem  anscheinend  erfolgreichen  Bestreben,  dasVerhSUr 
nis  von  Sein  und  Bewusstsein,  von  Erkenntnis  und  G^egenstand  direkt 
und  exnerimentell  zu  bestimmen. 

Die  Empfindung,  welche  dies  Verhältnis  vermittelt  und  bestimmt, 
wurde  zur  empirischen  Gegebenheit  der  inneren  Erfahrung  und  die 
Messung  der  Empfindung  in  Beziehung  auf  den  äusseren  Reiz  schien  jene 
Grundmige  der  philosophischen  Spekulation  nicht  allein  auf  einen  ein- 
ziehen, sondern  auf  einen  eiiahnmgsmässig  bestimmbaren  Ansdrack  xa 
bringen. 


Selb8tanzeigen  (Moth-Smith).  163 

Diese  Ansicht  hat  ihre  sachliche  und  historische  Grandlage  in 
chners  Psychophysik,  ihre  Fortbildung  in  Wundts  Psychologie  ge- 
den.  Die  grandsätzliche  Erörterang  wird  an  diese  beiden  Repräsen- 
ten immer  anzuknüpfen  haben. 

Die  Möglichkeit  dieser  neuen  Erfahrung,  welche  Âussenwelt  und 
wusstsein  ^eichermassen  zu  durchdringen  vorgiebt,  wird  in  der  vor- 
[penden  Schrift  bestritten.  Diese  Kritik  wird  an  dem  Grandbemff  der 
ipfindung  durchgeführt.  Dabei  wird  die  Aufmerksamkeit  nicht  allein 
!  den  mathematischen  Ausdrack  psychophysischer  Sätze,  noch  allein  auf 
empirische  Grundlage  der  Empfindung  gerichtet,  sondern  die  Rr- 
erung  bezieht  sich  vornehmlich  auf  das  Verhältnis  der  mathematischen 
l^riffe  zu  ihrem  empirischen  Problem,  der  Empfindung.  In  diesem 
rhftltnis  determiniert  sich  der  Betriff  einer  möglichen  Erfahrang. 

Die  Prüfung  des  Zusammenhangs  von  Iransscendentalismus  und 
^choloçie  wird  immer  dazu  führen,  dass  nicht  die  logischen  Begriffe 
I  p^cholosischen  Vorgängen  abzuleiten  sind,  sondern  umgekehrt  die 
mffe  der  Psychologie  nur  unter  transsccndentalen  Gesichtspunkten  zu 
aen  sind.  Diese  Wendung  bezeichnet  indessen  nur  ein  Problem.  Der 
istentialbeweis  ihrer  Lösung  kann  erbracht  werden  durch  Angabe  der- 
i£en  wissenschaftlichen  Methode,  in  der  sich  dies  Verhältnis  tatsächlich 
ruisetzt.  Mit  dieser  Fra^  beschäftigt  sich  der  dritte  Teil  meiner  Ar- 
ty wo  von  den  Begriffen  und  Methoden  der  Sinnesphysiologie 
hannes  Müllers  die  Kede  ist. 

Altona.  Johannes  Paulsen. 

Moth  Smith,  Morton  B.  Metageometrische  Raumtheorien. 
ktor-Dissertation,  Halle  1907.    (243  S.) 

Man  überredet  selten  seinen  Gegner  durch  blosses  Gegenargument, 
der  Mehrzahl  der  Fälle  bleibt  jeder  bei  seiner  eigenen  Oberzeugung 
ito  fester.  Wie  zwei  feindliche  Heere  ziehen  sich  oft  beide  auf  ihre 
:enen  Festungen  zurück  und  da  freuen  sie  in  Sicherheit  sich  über  ihre 
bezwin^ichkeit  und  Stärke.  In  einem  solchen  Fall,  wo  alle  direkten 
tacken  auf  die  feindliche  Front  misslingen,  giebt  es  nur  einen  einzigen 
3ff,  den  Feind  von  seiner  Stellung  zu  vertreiben.  Man  muss  eme 
llone  unter  das  Fundament  der  feindlichen  Befestigungen  graben  und 
»selbe  zersprengen.  So  in  der  PhilosopMe,  wenn  alle  direkte  Geffen- 
^umente  ohne  iSrfolg  sind,  muss  man  das  Fundament  der  Gedamien 
nes  Gegners  aufsuchen.  Man  muss  fragen,  was  ihn  bestimmt,  so  hart- 
ikig  auf  seinen  Ansichten  zu  bestehen.  Nur  so  kann  man  hoffen,  ihn 
vas  davon  abzubringen.  Zwar  wird  es  manchmal  geschehen,  dass  der 
gner  nicht  so  völlig  Unrecht  hat,  wie  man  zuerst  geglaubt.  Bei  fast 
»n  Diskussionen  g^eot  es  auf  beiden  Seiten  Recht  und  Unrecht.  Man 
rd  daher  selten  seine  eigene  Ansicht  unbeschadet  durchsetzen  können, 
aber  wann  wurde  eine  Schlacht  jemals  gewonnen,  ohne  Verluste  auf 
den  Seiten?  Dazu  kommt,  dass  man  nur  auf  diese  Weise  hoffen 
m,  etwas  für  beide  Seiten  ^tiges  herauszuholen. 

Nun  ist  seit  langer  Zeit  über  die  metageometrische  Raumtheorien 
rade  in  dieser  Weise  disputiert  worden.  Jeder  hat  seinen  Gegner  in 
ter  sich  selbst  völlig  befriedigenden  Weise  widerlegt,  ohne  ihn  aoer  im 
ringsten  von  seiner  Stellung  zu  bewegen.  Es  ist  jetzt  Zeit,  also  die 
1ère  Methode  anzuwenden.  Daher  hat  der  Verfasser  in  der  oben  er- 
hnten  Schrift  zuerst  versucht,  durch  eine  historische  Untersuchung  den 
hren  Ursprung  der  metafcometrischen  Theorien  zu  finden.  Was  hat 
\  Mathematiker  zu  diesen  Theorien  (  Ihrt  und  was  stützt  ihren  Glauben 
rmn  heute?  Wie  das  oft  der  Fall  i»u,  d  die  wahren  Gründe  in  unbe- 
aten psychologischen  Eigentümlic  und  verborgenen  Tendenzen 
finden,  welche  in  den  Arsrumeni  wvmit  sie  ihre  Theorien  zu  ver- 
digen  suchen,  ni  sht  et»  ch/  findet  der  Autor,  dass  die  nicht- 
didische  Geomel  das  x^  At  ist  des  mathematischen  Enojpirismus 
d  nicht  umgekel   i;,  wie       t              behauptet,  letzterer  ein  Ergebnis 


1Ö4  Selbstanzeigen  (Sopper). 

der  nichteuklidiBchen  Geometrie  ist.  Dieser  Empirismus  wiederom  ist 
das  Resultat  einer  Identifizierung  der  Anschauung  mit  der  Erfahrong, 
verbunden  mit  dem  realistischen  Glauben,  dass  hinter  der  Erscheinungi- 
welt  eine  reale  Welt  zu  suchen  sei.  Dies  führt  zu  einer  völligen  Abtren- 
nung der  Gedankenwelt  von  der  Erfahrungswelt,  so  dass  sie  keine  not- 
wendige Beziehung  zu  einander  haben.  So  wird  das  eine  widerspruchslose 
System  gleichwertig  mit  jedem  anderen,  und  der  Widersprochssati 
aUeiniges  Kriterium  der  Wahrheit.  Daher  ebenfalls  die  Verwechsehmg 
des  „Angeboren^  mit  dem  ,,A  priori^,  des  Absolutismus  mit  dem  Kritizis- 
mus, (so  auffallend  bei  Helmholtz  und  Erdmann).  Schuld  daran  war  merk- 
würdigerweise hauptsächlich  Kant  selbst  durch  seine  unmögliche  und  un- 
verständliche Auffassung  der  Anschauung,  und  die  Bezienungslosiffkeit 
zwischen  der  transscendentalen  Analytik  und  der  transscendentalefi 
Ästhetik. 

Das  Heilmittel  für  das  alles  ist  erstens:  das  Fallenlassen  der  rea- 
listischen Hypothese,  und  des  Ontologismus  und  zweitens  die  Korri^erong 
der  Kantischen  Auffassung  der  Anschauung.  Hier  müssen  wir  die  erste 
Konzession  an  die  Empiristen  machen,  denn  über  die  Natur  der  An- 
schauung haben  sie  Recht,  nur  ist  der  Prozess  der  Erwerbung  geo- 
metrischer Kenntnisse  nicht,  wie  sie  behaupten,  ausschliesslich  ein  Er- 
fahrungsprozess,  noch  mit  Kant  l^glich  eine  Sache  der  reinen  Anschauang, 
sondern  ein  Prozess,  woran  Anschauung  und  Denken,  beide,  beteiligt  sino. 
Die  wahre  Ermittelung  dieses  Prozesses  sowie  also  das  Verhältnis  der 
Mathematik  zur  Erfahrung  war  das  Verdienst  Kromans.  Nur  setzt  sein 
Prozess  ein  von  ihm  nicht  erkanntes  Axiom  voraus,  welches,  wenn  wir 
das  richtige  Kriterium  der  Apriorität  gefunden  haben,  sich  als  völlig  be- 
rechtigt zei^.  Dieses  Axiom,  so  finden  wir,  liefi^  nicht  nur  allem  mathe- 
matischen Denken  zu  Grunde,  sondern  gleicherweise  aller  unserer 
Erfahrungserkenntnis  überhaupt,  weil  es  uns  die  einzig  berechtigte 
Weise  angiebt,  über  unsere  unmittelbaren  individuellen  EmptinduDgen 
hinauszugehen  und  etwas  mehr  als  das,  was  in  ihnen  enthalten  ist,  nämfich 
etwas  allgemein-  und  für  alle  Zeit  gtlltiges,  zu  behaupten.  Dies  Axiom 
zeigt  dann  wie  es  kommt,  dass  die  euklidische  Geomeme  die  einzige  ist, 
welche  zu  einer  wissenschaftlichen  Erfahrungserkenntnis  führen  kann, 
warum  die  anderen,  obwohl  ebenfalls  in  sich  widerspruchslos  und  auf  die 
Erfahrung  anwendbar,  doch  keinen  notwendigen  Zusammenhans  mit  ihr 
haben  können.  Sie  gelten  nur  als  Abstraktion,  während  die  eâJidiscbe 
Geometrie  als  wirklich  bezeichnet  wird,  zwar  nicht  im  absoluten  Sinn, 
sondern  nur  als  die  Geometrie  unserer  Erfahrungsrealität,  welche  die  em- 
zige  Realität  ist,  die  wir  kennen  können. 

Florenz.  Dr.  M.  Moth-Smith. 

Sopper,  Arthur  J.,  Dr.  theol.  David  Humes  Kenleer  en 
E thick.  Eerste,  inleidend  deel  Van  Bacon  tot  Hume.  A.  W.  Sythotb 
Uitg.  My,  Leiden  1907.    (XH  en  200  pçs.) 

Diese  Leidener  Dissertation  ist  der  erste  Band  einer  umfassenderen 
historischen  Untersuchung,  die  auf  ein  systematisches  Ziel  hinaus  will 

Ich  stellte  mir  dann  folgendes  Problem  :  welchen  Einfluss  hat  eine 
empiristisch-skeptische  Erkenntnistheorie  auf  die  Ethik,  in  welcher  Rieh- 
tung  wird  sich  diese  lo^sch  bewegen  müssen,  wenn  ihr  eine  solche  E^ 
kenntnistheorie  zu  Grunde  Uegt? 

Das  Recht  zu  dieser  Rroblemstellune  entnehme  ich  der  einfaehen 
Wahrheit,  dass  die  Natur  unserer  menschlicnen  Erkenntnis  im  Allgemeinen 
auch  in  der  Erkenntnis  jedes  Spezialgebietes  zum  Ausdruck  kommen 
muss.  Daraus  lässt  sich  unmittelbar  folgern,  dass  im  Gedankensystem 
eines  Philosophen,  der  neben  der  Erkenntnistheorie  eine  besondere 
Wissenschaft  behandelt,  diese  mit  jener  übereinstimmen  soll,  und  dies 
auch  tun  wird  in  dem  Masse,  als  beide  ihrem  Ideal  entsprechen.  Weiter 
wird  angedeutet,  warum  dies  im  besonderen  gilt,  mit  Hinsicht  wat  dat 
Verhältnis  zwischen  Erkenntnistheorie  und  Ethik. 


SelbftanzeigeH  (Sopper).  1&5 

Nach  einer  ausführlichen  Beleuchtung  dieser  Problemstellung  be- 
ide ich  in  diesem  ersten  Bande  die  Warn  decjenigen  Philosophen,  den 
gleichsam  zu  einem  Experiment  benutzen  will,  um  das  Problem  zu 
n.  Wie  mir  schien,  war  kaum  jemand  mehr  dazu  geeignet,  als  David 
ae.  Wahrend  er  zu  einer  historischen  Behandlung  in  eine  genügende 
femung  gerückt  ist,  nimmt  er  doch  wegen  seiner  grundlegenden  Be- 
biing  nicht  nur  unser  historisches  Interesse  in  Anspruch.  Er  ist  jetzt 
ur  in  hohem  Masse  aktuell.  Zudem,  wenn  wir  seine  Erkenntnistheorie 
Ethik  zusammen  betrachten,  so  entspricht  dies  nicht  nur  dem  Wesen 
Sache,  sondern  er  hat  es  auch  ausdrücklich  selbst  gewollt.  Aus  seinen 
riften  weise  ich  nach,  dass  er  selbst  die  Erkenntnistheorie  als  Vorarbeit 
Grundlaçe  seiner  Ethik  betrachtet.  Wenn  diese  letztere  auch  in 
icher  Hinsicht  sich  anders  zeigen  wird  als  wir  zu  erwarten  Grund  hatten, 
lat  die  erstere  ihr  doch  im  grossen  und  ganzen  den  Stempel  aufgedrückt. 

Zur  Erreichung  meines  Zieles  :  die  Beantwortung  der  Fra^  nach 
1  Verhältnis  von  Humes  Erkenntnislehre  zu  seiner  Ethik  als  versuch 
r  den  Einfluss  einer  empiristisch-skeptischen  Erkenntnistheorie  auf 
e  Disziplin,  wird  es  somit  nötig  sein  zu  untersuchen  :  erstens  was  seine 
enntnistheorie  uns  lehrt  in  Bezug  auf  die  menschliche  Erkenntnis  im 
{gemeinen,  und  sodann,  was  er  daraus  folgert  und  eigentlich  folgern 
te  mit  Hinsicht  auf  unsere  Erkenntnis  in  einem  bestimmten  Gebiete, 
ijeni^n  der  Ethik.  Es  wird  sich  dabei  hoffentlich  zeigen,  dass  der 
Königsberger  den  englischen  Empiriker  richtiger  beurteilte,  als  einige 
sr  den  neuesten  Philosophen  es  tun,  die  Humes  Skeptizismus  in  me 
elwelt  verbannen  möchten.  Meine  Arbeit  trennt  sich  somit  in  zwei 
iptteile:  in  einen  erkenntnistheoretischen  und  einen  ethischen  Teil, 
vorliegenden  einleitenden  Teil  kommt  dann  noch,  um  ein  klares  Ver- 
idnis  von  Humes  Erkenntnistheoretischem  Standpunkt,  der  sein  ganzes 
iken  beherrscht,  zu  erzielen,  eine  Besprechung  seiner  VorlAufer  Bacon, 
ibes.  Locke  und  Berkeley  hinzu. 

Nach  einer  kurzen  Skizze  des  kulturhisterischen  Hintergrundes,  von 
ehern  der  englische  Empirismus  des  1-7.  und  18.  Jahrhunderte  sich  ab- 
t,  verfolge  ich  in  grossem  Zu^  die  Hauptlinien,  in  denen  er  sich 
bewegt.  Den  ganzen  Verlauf  semer  Geschichte  zeige  ich  wie  eine  an- 
emde  Selbstzerstörung,  wobei  unwillkürlich  das  Bild  eines  Mannes 
)orteucht,  der  mit  grosser  Anstrengung  den  Ast,  auf  dem  er  sitzt, 
chsägt.  In  Hume  kommt  dieser  Empirismus  zur  Selbsteersetzung  und 
urch  wird  von  dieser  Seite  aus  (jiferade  wie  von  der  anderen  Seite 
ch  das  Ausleben  des  Rationalismus  m  Wolff)  das  Erscheinen  Kants  auf 
Bühne  des  europäischen  Denkens  vorbereitet.  Die  gewaltige  Be- 
tung  des  Empirismus,  vor  allem  bei  Hume,  in  dem  er  seme  äussersten 
osequenzen  erreicht,  beruht  darin,  dass  er  nicht  nur  in  der  Geschichte, 
dem  auch  in  der  persönlichen  Entwickelung  ein  notwendiger  Durch- 
igspunkt  ist  für  jeaen,  der  nur  über  die  Erkenntnisprobleme  zu  einer 
ren  Einsicht  kommen  wilL 

Vom  Anfang  bis  zum  Ende  habe  ich  aUes  möglichst  ausführlich 
iimentiert.  Meistenteils  erteilte  ich  den  betreffenden  Philosophen 
i0t  das  Wort.  Die  Vorteile  dieser  Methode  schienen  mir  so  gross,  dass 
die  Gefahr  von  oberflächlichen  Lesern  dahin  missverstenden  zu  werden, 
lAge  hier  nicht  viel  mehr  vor,  als  eine  Blütenlese,  gerne  mit  in  den 
if  nahm. 

Velsen.  A.  J.  de  Sopper. 

Flfigel,  O.  Herbarts  Lehren  und  Leben.  Leipzig,  Teubner, 
1.    Aus  Natur  und  Geisteswelt.    Bd.  164.    (166  S.)i) 

1)  Diese  Selbstenzeige  ist  als  Vorwort  zu  dem  angezeigten  Werke 
mckt  mit  dem  Motte:  „Wessen  praktische  Philosophie  nocn  schwankt, 
mn  Oemfit  kann  bei  spekulativen  Untersuchungen  nicht  in  Buhe  sein'*, 
•hart  V,  262.  K.  V,  232. 


156  Selbstanzeigen  (Flügel). 

„Gewöhnlich  kommt  nur  deijenige  in  die  Philosophie,  den  sein  Geist 
in  die  Mitte  trug,  ohne  dass  er  es  merkte  und  wollte;  der  von  früh  ad 
dachte,  ehe  er  die  Erklärungen,  was  Philosophie  sei,  vernahm ^.i)  Nach 
diesen  Worten  Herbarts  will  ich  versuchen,  sorort  in  die  Mitte  nicht  blo« 
der  Herbartschen,  sondern  der  Philosophie  überhaupt,  auch  der  heutigen, 
zu  versetzen,  in  das  Problem  des  Ich,  in  die  Frage  :  giebt  es  eine  Anssen- 
weit?  Der  Leser  möge  erst  philosophieren  und  dann  die  Erklärung 
über  den  Begriff  der  Philosophie  vernehmen,  erst  versuchen,  logisch  za 
denken  in  den  verschiedenen  Zweigen  der  Philosophie  und  dann  hören, 
warum  man  die  Philosophie  in  mehrere  Disziplinen  einteilt  und  wii 
Logik  sei.  Dieser  Gedanke  hat  mich  bei  der  Keihenfolge  der  folgend« 
DarsteUung  greleitet. 

Man  wird  sich  für  das  Leben  eines  Künstlers  oder  eines  Gelehrten 
oder  Erfinders  erst  dann  interessieren,  wenn  man  sich  ernstlich  mit  seinem 
Werke  beschäftigt  hat,  zumal  das  Leben  Herbarts  ein  stilles  Gelehrten- 
leben  ist.  Er  hat  es  ja  absichtlich  vermieden,  mit  seiner  Person  oder  mit 
seiner  Lehre  in  den  äusseren  Gang  der  Ereignisse  einzugreifen. 

„Der  echte  Lehrer  der  Philosophie,  sagt  er,  zeigt  sich  den  Schfllem 
in  so  schwerer  Arbeit  begriffen,  dass  sie  sich  glücklich  schfttzen,  wenn  sie, 
nachdem  das  Einzelne  verstanden  war,  alsdann  sich  Hoffnung  machen,  du 
Ganze  zusammenhalten  zu  können:  allein  jeder  fühlt,  dass,  wenn  er 
Gleiches  zu  leisten  unternimmt,  er  sein  ganzes  irdisches  Dasein  daran 
wasen  muss.^*)  Darum  soll  die  Lebensbeschreibung  Herbarts  den  Be- 
schluss  des  Büchleins  machen. 

Bei  der  Darstellung  der  einzelnen  Disziplinen  hat  mich  auch  ein 
Wort  Herbarts  geleitet;  er  sagt,  er  habe  sien  frei  gemacht  von  denGe* 
Wohnungen  der  Gelehrten,  die  ihr  Wissen  unbedingt  so  wiederzugeben 
pflegen,  wie  sie  es  sich  zum  gelehrten  Gebrauche  geordnet  und  raormt 
haben.')  Darum  hat  ja  Herbart  selbst  sein  System  in  sehr  mannigraltiM 
Formen  vorgetragen,  er  sah  solche  Mitteilungen  immer  als  ein  didaktiscnes 
Problem  an,  sich  der  Apperzeption  der  Hörer  oder  Leser  anzupassen. 
„Das  Wahre  wirkt  zunächst  mcht  durch  seine  Wahrheit  auf  den  HOrer, 
sondern  durch  sein  Verhältnis  zu  dessen  schon  vorhandener  Gedanken- 
Sphäre.^)  Er  hat  alle  Formen  versucht,  er  hat  Abhandlungen,  Bezensionen, 
Beden,  Kritiken,  Briefe,  Gespräche,  Systeme,  Aphorismen,  deutsch  nnd 
lateinisch  geschrieben  und  zwar  frei  von  jeder  Schwerfälligkeit. 

Ich  habe  die  Lehren  Herbarts  bereits  oft  und  sehr  verschieden 
dargestellt,^)  möge  es  mir  hier  gelungen  sein,  das  Rechte  zu  treffen.  ISi 
ist  durchaus  nient  immer  die  Reihenfolge  und  Darstellungsform  einge- 
halten, die  Herbart  selbst  gewählt  hat.  Es  kam  mir  auch  nicht  darnf 
an,  eine  enzyklopädische  Übersicht  über  Herb  arts  System,  nicht  einen 
Abriss  der  einzelnen  Disziplinen  zu  geben,  sondern  das  für  sein  System 
und  seine  Person  charakteristische  nach  der  Methode  des  Denkens  nnd 
den  Ergebnissen  seiner  Forschung  kenntlich  zu  machen. 

H.  bedeutet  Hartensteins  Ausgabe  der  sämtlichen  Werke  Herbarts.   Bei 

L.  Voss  in  Hamburg  und  Leipzig. 
K.  bedeutet   Kehrbachs  Ausgabe  der  sämtlichen  Werke  Herbarts.    BA 

Beyer  &  Mann  in  Langensalza. 
Wansleben  bei  Halle  a.  S.  O.  Flügel 


1)  H.  I,  363;  K.  I,  298. 

2)  H.  Xn,  548;  K.  XU,  294. 

3)  H.  xn,  237. 

*)  H.  xn,  87;  K.  I,  331. 

5)  Der  Philosoph  L  F.  Herbart.  1905,  Leipzig.  W.  Weicher.  47  S. 
—  Die  Probleme  der  Philosophie  und  ihre  Lösungen.  4.  Aufl.  1906. 
Cöthen,  Schulze.  306  S.  —  Die  Bedeutung  der  Metaphysik  Herfoarts  f&r 
die  Gegenwart.    1902.    Langensalza,  Beyer.    218  S. 


Selbstanzeigen  (Boelitz).  157 

Boelitz,  Otto  Dr.  Die  Lehre  vom  Zufall  bei  Emile  Bontroux. 
Ein  Beitrag  zur  Geschichte  der  neuesten  französischen  Philosophie.  Leipzig 
1907.  QueUe  &  Meyer.  (Heft  3  der  Abhandlungen  zur  Philosophie  und 
ihrer  Geschichte,  herausgeg.  von  Prof.  Dr.  R.  Falckenberg-Erlangen.) 
(Vm.  120  S.) 

Der  bedeutendste  französische  Philosoph  des  vergangenen  Jahr- 
hunderts, A.  Comte,  verleiht  auch  heute  noch,  wenn  auch  ein  immer 
st&rker  werdender  Einfluss  Kants  bemerkbar  ist,  den  philosophischen  Pro- 
blemen in  Frankreich  ihre  ganz  besonders  scharfe  Fragestellung  und  weist 
ihrer  Behandlung  die  Wege.  Der  moderne  Positivismus,  Neokritizismus 
und  die  neuere  metaphysische  Richtung  der  französischen  Philosophie,  alle 
•etcen  sich  eingehend  mit  Comte  auseinander,  um  teils  zu  einem  auf  Kant 
sich  jnrûndenden  erkenntnistheoretischen  unterbau  des  Positivismus,  oder 
war  fievision  Kants  durch  die  positiven  Ergebnisse  der  Wissenschaft  oder 
mar  Krönung  einer  mehr  oder  minder  positivistischen  Wissenschaftslehre 
durch  eine  Metaphysik  auf  grand  der  Kantischen  Metaphysik  der  Sitten 
so  gelangen. 

Will  man  Boutroux  einer  der  drei  genannten  Richtungen  unter- 
ordnen, so  ist  es  die  letztere.  Seine  beiden  weittragenden  Schnften  :  „De 
la  Contingence  des  Lois  de  la  Nature^  1902^  und  „De  Tldée  de  Loi  Natu- 
relle*^  1893,  die  in  erster  Linie  den  Determinismus  durch  die  Lehre  von 
der  Kontingenz  wissenschaftlich  widerlegen  wollen,  zeigen  in  der  philo- 
sophischen Würdigung  der  exakten  Wissenschaften  einen  starken  Einfluss 
des  Poeitivismus,  wie  überhaupt  die  eindringende  Untersuchung  der  Natur- 
ffesetze  in  der  neuesten  fnmzösischen  Philosophie  auf  Comte  zurückzu- 
mhren  ist.  Dabei  ist  aber  trotzdem  das  Resultat  ein  von  Comte  sehr 
abweichendes:  Comte  „^laubte^  an  die  „ewigen,  ehernen  Naturgesetze^, 
die  trotz  aller  Relativität  als  eine  feststehende,  sich  nie  verändernde 
Grösse  auùmfassen  seien.  Boutroux  lenket  auf  Orand  sorgfältigster 
Untersuchungen  der  Ergebnisse  der  Einzelwissenschaften  den  notwen<ügen 
Charakter  der  Naturgesetze  und  gelangt  durch  eingehende  Kritik  des 
Kausalgesetzes  zu  dem  Er^bnis,  dass  in  der  Welt  der  Erscheinungen 
nicht  die  strenge  Notwendigkeit^herrsche,  sondern  dass  wir  an  entschei- 
denden Stellen  ein  Auch-anders-sein-können,  d.  h.  den  Zufall,  konstatieren 
kOnnexL 

Den  Ausgangspunkt  der  Boutrouxschen  Philosophie  bildet  so  zu- 
nichst  eine  scharfsinnige  Untersuchung  der  Frage  Kausalität  und  Not- 
wendigkeit und  er  kommt,  von  Hume  und  St.  Mill  beeinflusst,  zu  dem 
ESrgebnis,  dass  das  i^Gesetz^  der  Kausalität  lediglich  der  allgemeinste  Aus- 
dmek  fCLr  die  Beziehungen  sei,  die  wir  in  der  Natur  der  gegebenen 
Dinge,  soweit  sie  unserer  Beobachtung  zugänglich  sind,  feststellen  können. 
Das  Kausalgesetz  wie  das  Gesetz  von  der  Erhaltung  der  Kraft  sind  durch 
Beobachtung,  Vergleichung,  Abstraktion  gewonnen,  d.  h.  niemals  a  priori, 
niemals  notwendig.  Aber  auch  die  Gesetze  der  einzelnen  Wissenschafts- 
gebiete entbehren  nach  Boutroux  des  Charakters  der  strengen  Notwendig- 
keit, der  allgemein  als  das  unabweisbare  Ergebnis  moaemer  exakter 
Forschung  angegeben  wird.  Boutroux  stützt  siä  dabei  (besonders  in  der 
trefflichen  Darstellung  „De  Fiée  de  Loi  Naturelle^)  auf  das  von  Comte 
Uligestellte  Prinzip  der  Spezialisierung  der  einzelnen  Gebiete  der  Wissen- 
schaften, das  fttr  jede  höhere,  Übergeordnete  Wissenschaft  ein  „Etwas^, 
ein  ,yNeues^  annimmt,  das  jeweilig  als  neuer  Bestandteil  zu  den  bereits 
bestehenden  Gesetzen  hinzukommt.  Er  untersucht  so  die  logischen  und 
mathematischen  Gesetze,  die  Gesetze  der  Mechanik,  Physik  und  Chemie 
und  als  letzte  Gruppe  die  Gesetze  der  Biologie,  Psychologie  und 
Sociologie. 

Nach  Boutroux'  klaren  und  scharfeinnigen  Untersuchungen  ist  es 
unmöglich,  alle  Naturgesetze  auf  den  einfachen  Typus  der  Notwendigkeit, 
die  mathematischen  Gesetze,  zurttckznfflhren,  ja  die  mathematischen  Ge- 
setae  scdbst  müssen  Postulate,  Definitionen,  Axiome  und  Urteile  a  priori 


158  Selbstanzeigen  (Petronievics). 

zn  Hülfe  nehmen,  um  den  Charakter  der  logischen  Notwendigkeit  zu  er- 
weisen. Zwischen  je  zwei  Gruppen  springen  immer  irreduzible  Bestand- 
teile hervor:  „Begriff**,  „Schluss**,  „synthetisches  Urteil  a  priori",  „phy- 
sische Kausalität",  „Qualität  der  Kraft".  „Leben**,  Seele**,  „Mensch**.  - 
Unter  „Gesetz**  ist  deshalb  nach  Boutroux  nichts  anderes  zu  verstehen  ab 
das  Bemühen  des  menschlichen  Geist-es,  die  Realität  mit  Hülfe  des  Geeist« 
zu  verarbeiten  ;  „Gesetz**  ist  nur  das  in  Formeln  gefasste  Ergebnis  der 
Anstrengungen  des  menschlichen  Geistes,  eine  Vorstellung  von  dem  Ge* 
schehen  der  Wirklichkeit  zu  gewinnen. 

In  dieser  ganzen  Auffassung  von  Gesetz  und  Notwendigkeit  steht 
Boutroux  auf  antikantischem  Boden,  für  Boutroux  beruht  Kants  Bedeutung 
neben  der  mehr  negativen  Grenzregulierung  seiner  Elritik  der  reinen  V«^ 
nunft  vor  allem  in  der  positiven  Ëitik  der  praktischen  Vernunft  Eanti 
Metaphysik  der  Sitten  wird  für  ihn  zum  Ausgangspunkt  einer  allumfossen- 
den  gültigen  Metaphysik.  Ihr  fällt  die  grosse  Aufgabe  zu  :  de  combler  le 
vide  laissé  par  la  philosophie.  Muss  Boutroux  so  auch  eine  Metaphysik 
als  apriorische  Erkenntnis  der  Erscheinungswelt  ablehnen,  so  liefert  ihm 
die  der  sinnlichen  Erkenntnis  und  der  Verstandeserkenntnis  übergeordnete 
höhere  Funktion  der  Vernunft  eine  Erkenntnis,  die  zwar  im  Grunde  prak- 
tische Erkenntnis  ist,  aber  von  der  praktischen  Erkenntnis  des  Guten 
überleitet  zur  Erkenntnis  der  Harmonie  und  Ordnung  der  Welt. 

Brüssel.  Otto  Boelitz. 

Petronievics,  Branislav,  Dr.  phil.  Die  typischen  Geometrien 
und  das  Unendliche.  Carl  Winters  Universitätsbuchhandlung,  Heidel- 
berg 1907.    (Vm  u.  87  S.) 

Dieses  Buch  verfolgt  zwei  einander  entgegensetzte  Aufgaben.  Es 
will  einerseits  die  neue  diskrete  Geometrie,  cQe  ich  vor  drei  Jahren  in 
meinem  bei  derselben  Verlagshandlung  erschienenen  metaphysisch-mathe- 
matischen Werke  „Prinzipien  der  Metaphysik**  begründet  habe,  mit  dem 
Infinitismus  versöhnen,  und  andererseits  will  sie  feststellen,  dass  diese 
Versöhnung;  nicht  möglich,  dass  der  Infinitismus  unhaltbar  ist.  Während 
ich  nämlich  in  meinem  eben  erwähnten  Werke  die  neue  Geometrie  durch- 
aus finitistisch  gefasst  und  dieselbe  auf  Grund  der  allgemeinen  Elritik  dei 
Unendlichkeitsbegriffs  begründet  habe,  kehre  ich  hier  das  Verhältnis  am, 
ich  setze  die  konsekutive  diskrete  Baumform,  die  Baumform  meiner  neuen 
Geometrie,  als  gegeben  voraus  und  zeige  dann,  dass  die  transfiniten  Zahlen 
auf  dieselbe  nicht  anwendbar  sind,  dass  insbesondere  eine  aus  konsekutivea 
Punkten  bestehende  Gerade  mit  einem  Endpunkt  im  Unendlichen  mdit 
denkbar  ist.  Ich  übertrage  dann  dieselbe  Betrachtungsweise  auf  die  Q^ 
rade  überhaupt,  und  gelange  so  zu  dem  allgemeinen  Schluss,  dasi  der  In* 
finitismus  unhaltbar  ist. 

Dieser  Nachweis  der  Unhaltbarkeit  des  Infinitismus  wird  in  dem 
dritten  von  den  vier  Abschnitten,  in  die  die  ganze  Abhandlung  serftltt, 
geführt.  Die  Leser  werden  darin  die  Darstellung  der  Veroncoeschen 
transfiniten  Zahlentheorie  finden,  die  in  philosophischen  Kreisen  imbe> 
kannt  zu  sein  scheint,  die  aber  ernste  Berücksichtigung  verdient,  da  oe 
unmittelbar  aus  geometrischen  Betrachtungen  an  der  Geraden  hervorgeht 
im  Unterschied  von  der  Cantorschen,  die  rein  arithmetischen  Urmnnfl 
ist.  Ich  zeige,  dass  die  transfinitite  Zahlenlehre  Cantors  zwar  fogiiâi 
scharf  gefasst,  auf  die  Gerade  aber  unanwendbar  ist,  während  dic^jenige 
Veroneses  zwar  formell  auf  die  Gerade  anwendbar,  aber  nicht  logisch 
scharf  gefasst  und  deshalb  logisch  unhaltbar  ist. 

Iq  den  zwei  ersten  Abschnitten  der  Abhandlung  habe  ich  die  spe- 
zielle Aufgabe  der  Versöhnung  der  neuen  Geometrie  mit  dem  Infinitisim 
mit  einer  allgemeineren  Aufgabe  in  Verbindung  gebracht  :  mit  der  Antgthe 
der  Bestimmung  der  typischen  Geometrien.  &  dem  ersten  Abschnitte 
werden  alle  die  formell  denkbaren  Baumformen  auf  Grund  der  vier  fol* 
genden  Gesichtspunkte  aufgestellt  :  1.  nach  dem  Gesichtspunkte  der  Bea- 
lität  (der  Baum  ist  reell  oder  leer);  2.  nach  dem  Qeaichtspiinkte  dtf 


àelbttanseigen  (Laason).  löd 

reilanff  in  Punkte  (kontinuierlich,  diskret);  8.  nach  dem  Oedchts- 
»onkte  der  Sequenz  der  Punkte  (inkonsekutiv,  konsekutiv);  4.  nach 
lern  Gesichtspunkte  der  Zahl  der  Punkte  (unendlich,  endlich).  Ich 
;ei^  dass  man,  wenn  man  von  dem  ersten  Gesichtspunkte  abstrahiert 
da  er  die  reelle  Existenzart  des  Raumes  betrifft)  zu  den  folgenden  vier 
emer  möglichen  Raumformen  gelangt:  1.  zum  konsekutiven  unend- 
ichen  Ajontinuum;  2,  zum  inkonsekutiven  unendliehen  Dis- 
cretum;  8.  zum  konsekutiven  unendlichen  Diskretum  und  4. 
nun  konsekutiven  endlichen  Diskretum.  In  dem  zweiten  Ab- 
ehnitte  werden  dann  die  diesen  Raumformen  entsprechenden  Geometrien 
mteraucht,  wobei  die  der  ersten  und  der  letzten  von  ihnen  entsprechenden 
Ja  typische  feststellt  und  dann  nachgewiesen  wird,  dass  die  Geo- 
netrie  der  ersten  Kaumform  auch  für  die  zweite  und  ebenso  diejenige 
1er  vierten  für  die  dritte  ^t. 

Schliesslich  werden  m  dem  vierten  und  letzten  Abschnitte  der  Ab- 
landlung  einige  Bemerkungen  über  das  sogenannte  Kontinuumproblem 
«macht;  so  wird  darin  insbesondere  festgestellt,  dass  das  Problem  des 
Sahlenkontinunms  mit  den^jenigen  des  Raumkontinuums  nicht  zusaromen- 
illt,  vrie  dies  gewöhnlich  vorausgesetzt  wird. 

Belgrad.  Dr.  Branislav  Petronievics. 

Laason,  Georp^,  Pastor  an  St.  Bartholomäus  in  Berlin.  Georg 
Wilhelm  Friedrich  Hegels  Phänomenologi|e  des  Geistes. 
Tabiläumsausgabe.  In  revidiertem  Text  herausgegeben  und  mit  einer 
Einleitung  versehen.  Leipzig,  Dürrsche  Buchhandlung,  1907.  (CXX  u. 
a2  S.) 

Allgemein  gilt  Hebels  Phänomenologie  als  das  eigentliche  Rätsel- 
»ach  der  deutschen  Philosophie.  Sollte  sie  im  hundertsten  Jahre  nach 
hrem  ersten  Erscheinen  dem  heutigen  Geschlechte  nahe  gebracht  werden, 
o  Mit  es  vor  allem  den  Versuch,  das  Labyrinth  ihrer  dialektischen  G^e- 
lanEenwindnngen  dem  Leser  leichter  zugänglich  zu  machen.  Die 
lehwierigkeit  des  Werkes  beruht  nämlich  fast  ausschliesslich  auf  seiner 
nhaltlichen  Gestaltung.  Von  fremdsprachiger  und  fremdarti^r  Termino- 
ogie,  die  so  oft  den  Genuss  philosophischer  Werke  unerfreulich  trübt,  ist 
-  von  dem  „Ansich,  Fürsich  und  Anundfürsich**  abgesehen  —  überhaupt 
iehts  darin  zu  finden.  Und  wenn  man  Hegel  oft  die  Schwerfälligkeit 
md  Ungelenkheit  seiner  Sprache  vorgeworfen  hat,  so  ist  vielmehr  die 
*hiDomenologie  geradezu  glänzend  geschrieben  und  bildet  eine  wahre 
\uiagrube  von  geistreich  zugespitzten  Wendungen.  Was  sie  dennoch  so 
ohwer  verständuch  macht,  ist  in  erster  Linie  die  subtile  Anwendung  der 
ialektischen  Methode,  die  sich  nicht  genug  tun  kann  im  Nachweise  aller 
lesiehungen,  die  zwischen  dem  denkenden  Subjekt  und  seinem  jedes- 
laligen  Objekte  hin  und  her  laufen.  In  der  vorliegenden  Ausgabe  habe 
sh  es  versucht,  den  Einblick  in  die  Gedankenverbindungen,  die  uns 
Iflgel  vorführt,  dadurch  zu  erleichtem,  dass  ich  in  seinen  langen  Kapiteln 
ie  sinngemässen  Haupt-  und  Unterabschnitte  markiert  und  durch  kurze 
)1>eischnften  die  Stellen  hervorgehoben  habe,  wo  jedesmal  ein  neuer 
hmg  der  dialektischen  Betrachtung  anhebt. 

Indessen,  wenn  ich  auch  hoffen  möchte,  dadurch  den  Aufbau  des 
VmAes  in  allen  seinen  Teilen  durchsichtiger  gemacht  zu  haben,  so  bleibt 
far  die  Leser  doch  noch  die  Vorbedingung  übrig,  dass  sie  überhaupt 
kàk  auf  den  Standpunkt  Hegels  hinfinden,  von  dem  allein  ans  auch  seine 
lethode  verständlich  wird.  Die  hundert  Seiten  umfassende  Einleitung, 
ie  ich  dem  Werke  Hegels  vorangeschickt  habe,  unternimmt  es,  den 
leser  au  diesem  Standpunkte  hinzuleiten.  Es  war  meine  Absicht,  die 
liiiKmienologie  als  den  Abschluss  der  Bewegung  verständlich  zu  machen, 
ib  Kant  mit  seiner  Kritik  der  reinen  Vernunft  begonnen  hat.  Indem 
fogel  in  der  Phäp^  nologie  eine  Kritik  des  Bewusstseins  giebt,  sofern 
ies  die  gesamte  1  müofakeit  zum  Gegenstande  hat,  und  eine  Sjritik  der 
l^iiUichEeit,  sofei  i  diese  der  G^genstend  des  Bewusstseins  ist,  indem  er 


15â  Selbstanzdigen  (Petronievics). 

zu  Hülfe  nehmen,  um  den  Charakter  der  logischen  Notwendigkeit  m  e^ 
weisen.  Zwischen  je  zwei  Gruppen  springen  immer  irrednzible  Bestand» 
teile  hervor:  ^Begriff",  .Schluss**,  „synthetisches  Urteil  a  priori*,  ^phy- 
sische Kausalität'',  „Qualität  der  Kraft",  „Leben«",  Seele*,  «Mensch*".  - 
Unter  „Gesetz**  ist  deshalb  nach  Boutroux  nichts  anderes  zu  verstehen  ab 
das  Bemühen  des  menschlicheu  Geistes,  die  Realität  mit  Hülfe  des  Geistes 
zu  verarbeiten  ;  „Gesetz*  ist  nur  das  in  Formeln  gefaaste  Ergebnis  der 
Anstrengungen  des  menschlichen  Geistes,  eine  Vorstellung  von  denn  Ge- 
schehen der  Wirklichkeit  zu  gewinnen. 

In  dieser  ranzen  Auffassung  von  Gesetz  und  Notwendigkeit  stellt 
Boutroux  auf  antikantischem  Boden,  für  Boutroux  beruht  Kante  Bedeutuf 
neben  der  mehr  negativen  Grenzrej^ulierung  seiner  Kritik  der  reinen  Ve^ 
nunft  vor  allem  in  der  positiven  SSitik  der  praktischen  Vernunft  Kanti 
Metaphysik  der  Sitten  wird  für  ihn  zum  Ausgangspunkt  einer  allum&ssen- 
den  gültigen  Metaphysik.  Ihr  fällt  die  grosse  Aufgabe  zu  :  de  combler  le 
vide  laissé  par  la  philosophie.  Muss  Boutroux  so  auch  eine  Metaph;^ 
als  apriorische  Erkenntnis  der  Erscheinungswelt  ablehnen,  so  liefert  ihm 
die  der  sinnlichen  Erkenntnis  und  der  Verstandeserkenntnis  übergeordnete 
höhere  Funktion  der  Vernunft  eine  Erkenntnis,  die  zwar  im  Grunde  prak- 
tische Erkenntnis  ist,  aber  von  der  praktischen  Erkenntnis  des  Gaten 
überleitet  zur  Erkenntnis  der  Harmonie  und  Ordnung  der  Welt. 

Brüssel.  Otto  Boelitz. 

Petronievics,  Branislav,  Dr.  phil.  Die  typischen  Geometrien 
und  das  Unendliche.  Carl  Winters  Universitätsbuchhandlung,  Heidel- 
berg 1907.    (Vm  u.  87  S.) 

Dieses  Buch  verfolgt  zwei  einander  entgegensetzte  Aufgaben.  Si 
will  einerseits  die  neue  diskrete  Geometrie,  me  ich  vor  drei  Jahren  in 
meinem  bei  derselben  Verlagshandlung  erschienenen  metaphysisch-math»' 
matischen  Werke  „Prinzipien  der  Metaphysik*  begründet  nahe,  mit  dem 
Infinitismus  versöhnen,  und  andererseits  will  sie  feststellen,  dass  die» 
Versöhnung  nicht  möglich,  dass  der  Infinitismus  unhaltbar  ist.  Wählend 
ich  nämlich  in  meinem  eben  erwähnten  Werke  die  neue  Geometrie  durch- 
aus finitistisch  gefasst  und  dieselbe  auf  Grund  der  allgemeinen  Kritik  dei 
Unendlichkeitsbegriffs  begründet  habe,  kehre  ich  hier  das  Verhältnis  nm, 
ich  setze  die  konsekutive  diskrete  Raumform,  die  Raumform  meiner  neuen 
Geomettie,  als  gegeben  voraus  und  zeige  dann,  dass  die  transfiniten  Zahlen 
auf  dieselbe  nicht  anwendbar  sind,  dass  insbesondere  eine  aus  konsekutiven 
Punkten  bestehende  Gerade  mit  einem  Endpunkt  im  Unendlichen  sieht 
denkbar  ist.  Ich  übertrage  dann  dieselbe  Betrachtungsweise  auf  die  Ge- 
rade überhaupt,  und  gelange  so  zu  dem  allgemeinen  Schluss,  dass  der  In* 
finitismus  unhaltbar  ist. 

Dieser  Nachweis  der  Unhaltbarkeit  des  Infinitismus  wird  in  dem 
dritten  von  den  vier  Abschnitten,  in  die  die  ganze  Abhandlung  serftltt» 
geführt.  Die  Leser  werden  darin  die  Darstellung  der  Veroneseseben 
transfiniten  Zahlentheorie  finden,  die  in  philosophischen  Elreisen  unbe> 
kannt  zu  sein  scheint,  die  aber  ernste  Berücksichtigung  verdient,  da  fle 
unmittelbar  aus  geometrischen  Betrachtungen  an  der  Geraden  hervorgeht 
im  Unterschied  von  der  Cantorschen,  die  rein  arithmetischen  Urminfli 
ist.  Ich  zeige,  dass  die  transfinitite  Zahlenlehre  Cantors  Ewar  fogiaca 
scharf  gefasst,  auf  die  Gerade  aber  unanwendbar  ist,  während  diejenige 
Veroneses  zwar  formell  auf  die  Gerade  anwendbar,  aber  nidit  logisch 
scharf  gefasst  und  deshalb  logisch  unhaltbar  ist. 

UÏ  den  zwei  ersten  Abschnitten  der  Abhandlung  habe  ich  die  ^ 
zielle  Aufgabe  der  Versöhnung  der  neuen  Geometrie  mit  dem  InfinitisMW 
mit  einer  allgemeineren  Aufgabe  in  Verbindung  gebracht:  mit  derAu^iabe 
der  Bestimmung  der  typischen  Geometrien.  In  dem  ersten  Abschnitte 
werden  alle  die  formell  denkbaren  Raumformen  auf  Grund  der  vier  loi* 
genden  Gesichtspunkte  angestellt  :  1.  nach  dem  Gesichtspunkte  der  Rea- 
lität (der  Raum  ist  reell  oder  leer);  2.  nach  dem  Gmiebtspnnkte  d«r 


àelbttanseigen  (Laason).  löd 

[*eilanff  in  Punkte  (kontinuierlich,  diskret);  8.  nach  dem  Gedchts- 
itmkte  der  Sequenz  der  Punkte  (inkonsekutiv,  konsekutiv);  4.  nach 
lern  Gesichtspunkte  der  Zahl  der  Punkte  (unendlich,  endlich).  Ich 
eige  dass  man,  wenn  man  von  dem  ersten  Gesichtspunkte  abstrahiert 
da  er  die  reelle  Existenzart  des  Raumes  betrifft)  zu  den  folgenden  vier 
emer  möglichen  Raumformen  gelangt:  1.  zum  konsekutiven  unend- 
ichen  E^ontinuum;  2,  zum  inkonsekutiven  unendliehen  Dis- 
Lretum;  8.  zum  konsekutiven  unendlichen  Diskretum  und  4. 
•um  konsekutiven  endlichen  Diskretum.  In  dem  zweiten  Ab- 
chnitte  werden  dann  die  diesen  Raumformen  entsprechenden  Geometrien 
mteraucht,  wobei  die  der  ersten  und  der  letzten  von  ihnen  entsprechenden 
Ja  typische  feststellt  und  dann  nachgewiesen  wird,  dass  die  Geo- 
aetrie  der  ersten  Kaumform  auch  für  die  zweite  und  ebenso  diejenige 
1er  vierten  fttr  die  dritte  ^t. 

Schliesslich  werden  m  dem  vierten  und  letzten  Abschnitte  der  Ab- 
landlung  einige  Bemerkungen  über  das  sogenannte  Kontinuumproblem 
miacht;  so  wird  darin  insbesondere  festg^tellt,  dass  das  Problem  des 
«ahlenkontinuums  mit  den^jenigen  des  Raumkontinuums  nicht  zusaromen- 
ftUt,  wie  dies  gewöhnlich  vorausgesetzt  wird. 

Belgrad.  Dr.  Branislav  Petronievics. 

LaMon,  Georp^,  Pastor  an  St.  Bartholomäus  in  Berlin.  Georg 
y^ilhelm  Friedrich  Hegels  Phänomenologi|e  des  Geistes, 
abilftumsausgabe.  In  revidiertem  Text  herausgegeben  und  mit  einer 
i^leitung  versehen.  Leipzig,  Ddrrsche  Buchhandlung^  1907.  (CXX  u. 
82  S.) 

Allgemein  gilt  Hebels  Phänomenologie  als  das  eigentliche  Rätsel- 
»ach  der  deutschen  Phik)sophie.  Sollte  sie  im  hundertsten  Jahre  nach 
turem  ersten  Erscheinen  dem  heutigen  Geschlechte  nahe  gebracht  werden, 
o  galt  es  vor  allem  den  Versuch,  das  Labyrinth  ihrer  dialektischen  Qe- 
iankenwindnngen  dem  Leser  leichter  zugänglich  zu  machen.  Die 
Ichwierigkeit  des  Werkes  beruht  nämlich  fast  ausschliesslich  auf  seiner 
ahaltlichen  Gestaltung.  Von  fremdsprachiger  und  fremdarti^r  Termino- 
igie,  die  so  oft  den  Genuss  philosophischer  Werke  unerfreuhch  trflbt,  ist 
-  von  dem  „Ansich,  Fttrsich  und  Anundfürsich"  abgesehen  —  überhaupt 
lehts  darin  zu  finden.  Und  wenn  man  Hegel  oft  die  Schwerfälligkeit 
nd  Ungelenkheit  seiner  Sprache  vorgeworfen  hat,  so  ist  vielmehr  die 
liftnomenologie  geradezu  glänzend  geschrieben  und  bildet  eine  wahre 
imâgrube  von  geistreich  zugespitzten  Wendungen.  Was  sie  dennoch  so 
dhwer  verständEch  macht,  ist  in  erster  Linie  die  subtile  Anwendung  der 
ialektischen  Methode,  die  sich  nicht  genug  tun  kann  im  Nachweise  aller 
lesiehungen,  die  zwischen  dem  denkenden  Subjekt  und  seinem  jedes- 
laligen  Objekte  hin  und  her  laufen.  In  der  vorliegenden  Ausgabe  habe 
:h  es  versucht,  den  Einblick  in  die  Gedankenverbindungen,  die  uns 
[egel  vorfahrt,  dadurch  zu  erleichtem,  dass  ich  in  seinen  langen  Kapiteln 
ie  ainngemässen  Haupt-  und  Unterabschnitte  markiert  und  durch  kurze 
Ibenchnften  die  Stellen  hervorgehoben  habe,  wo  jedesmal  ein  neuer 
hmg  der  dialektischen  Betrachtung  anhebt. 

Indessen,  wenn  ich  auch  hoffen  möchte,  dadurch  den  Aufbau  des 
VeAea  in  allen  seinen  Teilen  durchsichtiger  gemacht  zu  haben,  so  bleibt 
ir  die  Leser  doch  noch  die  Vorbedingung  übrig,  dass  sie  überhaupt 
ich  auf  den  Standpunkt  Hegels  hinfinden,  von  dem  allein  aus  auch  seine 
lethode  verständlich  wird.  Die  hundert  Seiten  umfassende  Einleitung, 
ie  ich  dem  Werke  Hegels  vorangeschickt  habe,  unternimmt  es,  den 
leier  £a  diesem  Standpunkte  hinzuleiten.  Es  war  meine  Absicht,  die 
Unomenologie  als  den  Abschluss  der  Bewegung  verständlich  zu  machen, 
ie  Kant  mit  seiner  Sjritik  der  reinen  Vernunft  begonnen  hat.  Indem 
lege!  in  der  Phäi>  )logie  eine  Slritik  des  Bewusstseins  giebt,  sofern 

iea  die  geeamte  1  «■&  hkeit  zum  Gegenstande  hat,  und  eine  Kritik  der 
^iiidkhleit,  tofem  d         der  Gegenstand  des  Bewusstseins  ist,  indem  er 


16Ô  Selbstanzeigen  (ttuge). 

hierbei  Schritt  für  Schritt  nachweist,  dass  jedesmal  Bewnsstsein  und 
Gegenstand  eins  sind,  und  dass  der  Fortschritt  des  Wissens  ebenso  ein 
Fortschritt  des  Bewusstseins  zur  Erkenntnis  seiner  Einheit  mit  dem 
Gegenstande  wie  ein  Fortschritt  des  Gegenstandes  zur  Offenbaninir  seiner 
Einheit  mit  dem  Bewusstsein  ist,  führt  er  den  Gedanken  Kants,  dass  die 
Welt  der  Gedanke  des  Subjekts,  dass  in  der  Kategorie  die  Wahrheit  «- 
geben  sei,  an  dem  gesamten  Inhalt  des  Bewusstseins  durch.  Wenn  Eichte 
und  Schellinfi;  dem  gewöhnlichen  Verhalten  des  Bewusstseins  die  philo- 
sophische Ei^enntnis  entgegenfi;estellt  haben  als  die  Anschauung  der 
Wahrheit  über  die  Beziehung  des  Ich  zum  Nichtich,  so  geht  He^  auf 
dieses  unphilosophische  und  vorphilosophische  Bewusstsein  selber  em  imd 
weist  nach,  dass  in  ihm  überall  eben  die  Wahrheit  zum  Ausdruck  kommt, 
die  in  dem  philosophischen  Denken  ihre  begriffliche  Erkenntnis  findet 
-Nie  ist  mit  dem  Gedanken  der  Identität  von  Ich  und  Nichtich  grosserer 
Ernst  gemacht  worden  als  in  dieser  Darstellung  des  dialektischen  Pro- 
zesses, in  dem  sich  durch  die  Beziehung  des  üewusstseins  auf  seinen 
Gegenstand  diese  beiden  fortwährend  genauer  bestimmen,  bis  sie  für  das 
Bewusstsein  selbst  als  identisch  erscheinen.  Und  niemals  ist  der  Gedanke 
des  Idealismus  genialer  vertreten  worden  als  hier,  wo  die  gesamte  Tl^rk- 
lichkeit  als  das  Wissen  des  Ich  von  sich  selbst  und  seinem  Objekt  vor  uns 
aufgebaut  wird." 

Für  die  Textgestalt  des  Werkes  ist  mir  die  erste  AuM;abe  vom 
Jahre  1807,  die  einzige,  die  Hegel  selbst  besorgt  hat,  massgebend  gewesen. 
Alle  der  Verständlichkeit  dienenden  fremden  Zusätze  sind  als  solche  wi 
mir  gekennzeichnet  worden.  Über  alle  Abweichungen  der  verschiedenen 
Drucke  giebt  ein  Lesartenverzeichnis  am  Schlüsse  des  Bandes  genaue 
Auskunft. 

Berlin.  Georg  Lasson« 

Rage,  Arnold.  Kritische  Betrachtung  und  Darstellonf 
des  Deutschen  Studentenlebens  in  seinen  Grundzftgen.  Tft- 
bingen  1906.    I.  C.  B.  Mohr.    (X  u.  184  S.) 

Es  kann  hier  lediglich  darauf  ankommen,  den  Zusammenhang  der 
vorliegenden  Schrift  mit  der  Kantischen  Philosophie  anzuweisen,  der  Ton 
vornherein  bezweifelt  werden  könnte,  wenn  nur  auf  das  Gkufenständliehe 
des  Titels  reflektiert  wird;  denn  Kant  hat  nur  an  wenigen  Stellen  seiner 
Werke  von  einem  gleichen  Gegenstande  geredet  und  auch  seine  Erleb- 
nisse als  akademischer  Lehrer  berechtigen  wohl  kaum,  darauf  eine  Theorie 
aufzubauen.  Der  Zusammenhang  liegt  ganz  auf  dem  methodischen 
Gebiete.  Wer  Kants  Verdienst  um  £e  philosophische  Methode  darin  e^ 
blickt,  dass  er  ausgehend  von  der  Tatsächlichkeit  synthetischer  ürteite 
das  was  in  ihnen  an  transscendentalen  Wertmomenten  liegt 
zu  begründen  suchte,  wird  ohne  Sträuben  den  in  vorliegender  Schrift  be> 
tretenen  We^  mitwandem.  E^ant  beschränkte  seine  Aiialyse  im  Weaei^ 
liehen  auf  die  Erkenntnisurteile,  ethischen  und  ästhetischen  urteile,  die 
nachkantische  Phüosophie  hat  diese  Grenzen  erweitert  und  zum  Gegen- 
stande kritischer  Methode  jede  Wissenschaft  erhoben;  doch  sind  amà 
diese  Grenzen  zu  eng,  denn  Wertungen  repräsentieren  sich  ebensowohl 
in  Kulturerscheinungen,  welche  die  Jahrhunderte  überdauert  haben, 
denen  man  eben  deshalb  weil  sie  gewertet  wurden,  intellektuelle  mora- 
lische und  materielle  Opfer  brachte.  Was  an  Gültigkeiten  liegt  in  dieaoi 
Kulturerscheinungen?  Was  an  Wertungen  kann  aus  ihrer  Tatsächlichkeit 
analysiert  werden?  Welche  Massstäbe  sind  auf  Grund  dieser  Analyse  an 
die  einzelnen  Erscheinungen  selbst  zu  legen,  um  an  ihnen  auch  das  Wert* 
lose  zu  erkennen?  Dies  sind  Fragen,  welche  nicht  von  einer  G^esellacbalts- 
psychologie,  sondern  lediglich  von  einer  Philosophie  beantwortet  werden 
können.  Darin  liegt  der  methodische  Zweck  der  hier  angezeigten  Schrifti 
die  zur  Voraussetzung  die  historische  Tatsache  hat,  dass  die  Hochschulen 
„als  wertvoll"  beurteilte  Kulturerscheinun^n  sind.  In  der  Durchführung 
seiner  methodischen  Absicht  auf  dem  von  ihm  gewählten  Gebiete  musste 


Selbstanzeigen  (Eoppelmann).  161 

1er  Verfasser  mit  der  Notwendigkeit  paktieren,  für  ein  grosseres  Publi- 
nun  verständlich  zu  schreiben.  Wie  er  dementsprechend  den  Inhalt  an- 
mordnen  und  zu  gestalten  suchte,  das  zu  berichten,  fehlt  es  hier  an 
iaum,  ob  und  wie  weit  es  ihm  £elang,  seine  methodische  Absicht  mit 
leinen  allgemeinen  Plftnen  zu  verbinden,  das  zu  entscheiden  ist  nicht 
Lnfgabe  der  Selbstanzeige. 

Heidelberg.  Arnold  Buge» 

Koppelmann.  Wilhelm.  Die  Ethik  Kants.  Entwurf  zu  einem 
■Neubau  auf  Gruna  einer  Kritik  des  Kantischen  Moralprinzips.  Berlin, 
leather  &  Beichard,  1907.    (VIII  u.  92  S.) 

Die  in  dieser  Schrift  vertretene  etlusche  Theorie  gilt  nur  von  den, 
für  alle  Vernunftwesen  bleichen  Bedingungen  der  geistigen  Oemeinschaft. 
für  die  theoretischen  Beziehungen  vernünftiger  Wesen  zu  einander  ist 
Nahrhaftigkeit,  für  die  praktischen  (Verbindung  zu  gemeinsamen  Unter- 
lehmungen,  Bechts-  und  Staatsleben  etc.)  Zuverlässigkeit  das  Grundgesetz. 
I*emer  muss,  wenn  die  geistige  Gemeinschaft  gedeihen  soll,  auf  dem  theo- 
eüschen  Gebiet  Freiheit  des  Gedankenaustausches,  auf  dem  praktischen 
^Veiheit  des  Handelns  (Selbstbestimmungsrecht)  herrschen.  Natürlich  wird 
iicht  durch  jede  Verletzung  dieser  Gesetze  die  geistige  Gemeinschaft  so- 
gleich aufgehoben,  aber  je  mehr  sie  beobachtet  werden,  desto  melir  be- 
leiht die  ^istige  Gemeinschaft,  je  mehr  sie  verletzt  werden,  desto  mehr 
Oat  sie  sich  auf.  Die  Achtung  vor  diesen  Gesetzen  habe  ich  aus  den 
l.  89  entwickelten  Gründen  zusammenfassend  Wahrhaftigkeit  genannt. 
>a8  Prinzip  der  Wahrhaftigkeit  in  diesem  Sinne  ist,  wie  ich  behaupte, 
1er  Schlüssel  für  das  ethische  Denken  der  Menschheit,  und  alle  sittlicnen 
•Forderungen  gehen,  wie  S.  39  ff  nachgewiesen  wird,  im  letzten  Grunde 
kof  die  Forderung  der  Wahrhaftigkeit  zurück,  welche  mit  dem  innersten 
i^esen  des  Menschen  in  so  enger  Verbindung  steht,  dass  selbst  innerhalb 
•iner  Bftuberbande  die  Grundforderung  der  Wahrhaftigkeit  und  Zuver- 
aaaigkeit  als  Massstab  für  die  sittliche  Beurteilung  zurückbleibt 

Dass  diese  Auffassung  des  Wesens  der  Sittlichkeit  richtig  istbew&hrt 
ich  auch  darin,  dass  durch  sie  ohne  weiteres  verständlich  wird,  woher 
las  Bewusstsein  der  sittlichen  Verpflichtung  kommt.  An  der  geistigen 
Gemeinschaft  und  also  auch  an  der  allgemeinen  Beobachtung  der  Gesetze 
1er  geistigen  Gemeinschaft  hat  der  Mensch  als  Vernunftwesen  ein  unaus- 
ilg^bares  uiteresse  (S.  48  ff.),  schon  deswegen,  weil  die  Entwickelung  und 
letäti^nc  dessen,  was  man  Persönlichkeit  nennt,  darauf  angewiesen  ist. 
naoweit  ist  das  moralische  Sollen  in  der  Tat,  wie  Kant  behauptet,  im 
Gronde  ein  Wollen.  Als  Vernunftwesen  wollen  wir  die  Herrschaft  der 
Gesetze  der  geistigen  Gemeinschaft  und  würden  sie,  wenn  wir  bloss  Ver- 
ionftwesen  waren,  auch  unverbrüchlich  halten,  schon  deswegen,  weil  ihre 
Beobachtung  den  normalen  Funktionen  unserer  Vernunft  entspricht 
3.  44  ff.).  Dass  wir  von  der  an  sich  für  uns  natürlichen  und  selbstver- 
tftndlichen  Bahn  der  Wahrhaftigkeit  abweichen,  dafür  liegen  die  Gründe 
B  der  sinnlichen  Seite  unseres  Wesens,  deren  Interessen  durch  die  Wahr- 
Aftigkeit  nicht  immer  gedient  ist.  Daher  entsteht  dann  eine  Spannung 
wischen  unseren  Interessen  als  Vernunftwesen  und  unseren  Interessen 
Is  Sinnenwesen,  und  das  moralische  Wollen  verwandelt  sich  für  den 
[enschen  als  Sinnenwesen  in  ein  moralisches  Sollen. 

Die  Wahrhaftigkeit  als  Prinzip  der  Sittlichkeit  ist  nach  meiner 
^rzengun^  die  einzig  mögliche  Konsequenz  auch  der  Kantisohen  Pr&- 
lissen.  Dies  habe  ich  in  einer  Kritik  des  Kantischen  Moralprinzips 
nd  seiner  Begründung  nachgewiesen  (S.  1—88).  Dort  ist  auch  der 
hmnd  angegel^n,  welcher  nach  meiner  Meinung  Kant  auf  ein  falsches 
Geleise  geführt  hat,  nämlich  die  Oberspannung  des  GMankens  der 
i.atoDomie. 

Durch  die  von  mir  vertretene  Auffassung  des  Wesens  der  Sittlich- 
eit  erfahren  auch  die  weiteren  ethischen  Positionen  Kants,  insbesondere 

gMWii—  JUL  «  « 


16Ô  Selbstanzeigen  (ttuge). 

hierbei  Schritt  für  Schritt  nachweist,  dass  jedesmal  Bewusstsein  and 
Gegenstand  eins  sind,  und  dass  der  Fortschritt  des  Wissens  ebenso  ein 
Fortschritt  des  Bewusstseins  zur  Erkenntnis  seiner  Einheit  mit  dem 
Gegenstände  wie  ein  Fortschritt  des  Gegenstandes  zur  Offenbanmi?  seiner 
Einheit  mit  dem  Bewusstsein  ist,  führt  er  den  Gedanken  Kants,  dass  die 
Welt  der  Gedanke  des  Subjekts,  dass  in  der  Kategorie  die  Wahrheit  «- 
geben  sei,  an  dem  gesamten  Inhalt  des  Bewusstseins  durch.  Wenn  Fichte 
und  Schellinfi;  dem  gewöhnlichen  Verhalten  des  Bewusstseins  die  philo- 
sophische Ei^enntnis  entgegengestellt  haben  als  die  Anschauung  der 
Wahrheit  über  die  Beziehung  des  Ich  zum  Nichtich,  so  geht  He^  auf 
dieses  unphilosophische  und  vorphilosophische  Bewusstsein  selber  em  imd 
weist  nach,  dass  in  ihm  überall  eben  die  Wahrheit  zum  Ausdruck  kommt, 
die  in  dem  philosophischen  Denken  ihre  begriffliche  Erkenntnis  findet 
„Nie  ist  mit  dem  Gedanken  der  Identität  von  Ich  und  Nichtich  ffrOsserer 
Ernst  gemacht  worden  als  in  dieser  Darstellung  des  dialektiflchen  Pro- 
zesses, in  dem  sich  durch  die  Beziehung  des  Bewusstseins  auf  seinen 
Gegenstand  diese  beiden  fortwährend  genauer  bestimmen,  bis  sie  für  das 
Bewusstsein  selbst  als  identisch  erscheinen.  Und  niemals  ist  der  Gedaiüce 
des  Idealismus  genialer  vertreten  worden  als  hier,  wo  die  gesamte  Wirk- 
lichkeit als  das  Wissen  des  Ich  von  sich  selbst  und  seinem  Objekt  Tor  ans 
aufgebaut  wird." 

Für  die  Textgestalt  des  Werkes  ist  mir  die  erste  AuM;abe  vom 
Jahre  1807,  die  einzige,  die  Hegel  selbst  besorgt  hat,  massgebend  gewesen. 
Alle  der  Verständlichkeit  dienenden  fremden  Zusätze  sind  als  solche  von 
mir  fi^ekennzeichnet  worden.  Über  alle  Abweichungen  der  verschiedenen 
Drucke  giebt  ein  Lesartenverzeichnis  am  Schlüsse  des  Bandes  gensoe 
Auskunft. 

Berlin.  Georg  Lassen« 

Rnge,  Arnold.  Kritische  Betrachtung  und  Darstellaof 
des  Deutschen  Studentenlebens  in  seinen  Grundztigen.  Tl- 
bingen  1906.    I.  C.  B.  Mohr.    (X  u.  184  S.) 

Es  kann  hier  lediglich  darauf  ankommen,  den  Zusammenhang  der 
vorliegenden  Schrift  mit  der  Kantischen  Philosophie  au&uweisen,  der  ?on 
vornherein  bezweifelt  werden  könnte,  wenn  nur  auf  das  G^egenstftndliche 
des  Titels  reflektiert  wird;  denn  Kant  hat  nur  an  wenigen  Stellen  seiner 
Werke  von  einem  gleichen  Gegenstande  geredet  und  auch  seine  Eri^ 
nisse  als  akademischer  Lehrer  berechtigen  wohl  kaum,  darauf  eine  llieorie 
aufzubauen.  Der  Zusammenhang  liest  ganz  auf  dem  methodischen 
Gebiete.  Wer  Kants  Verdienst  um  <ne  philosophische  Methode  darin  e^ 
blickt,  dass  er  ausgehend  von  der  Tatsächlichkeit  synthetischer  Urteile 
das  was  in  ihnen  an  transscendentalen  Wertmomenten  liegt 
zu  begründen  suchte,  wird  olme  Sträuben  den  in  vorliegender  Schrift  be- 
tretenen Weg  mitwandem.  Kant  beschränkte  seine  Analyse  im  Wesei^ 
liehen  auf  <ue  Erkenntnisurteile,  ethischen  und  ästhetischen  Urteile,  die 
nachkantische  Philosophie  hat  diese  Grenzen  erweitert  und  zum  Ghegea- 
Stande  kritischer  Methode  jede  Wissenschaft  erhoben;  doch  sind  aoeà 
diese  Grenzen  zu  eng,  denn  Wertungen  repräsentieren  sich  ebensowohl 
in  Kulturerscheinungen,  welche  die  Jahrhunderte  überdauert  haben, 
denen  man  eben  deshalb  weil  sie  gewertet  wurden,  intellektuelle  monr 
lische  und  materielle  Opfer  brachte.  Was  an  Gültigkeiten  liegt  in  diesen 
Kulturerscheinungen?  Was  an  Wertungen  kann  aus  ihrer  Tatsftchlfchkeft 
analysiert  werden?  Welche  Massstäbe  sind  auf  Grund  dieser  Analyse  u 
die  einzelnen  Erscheinungen  selbst  zu  legen,  um  an  ihnen  auch  das  Weii- 
lose  zu  erkennen?  Dies  sind  Fragen,  welche  nicht  von  einer  Ghesellschalts* 
psychologie,  sondern  lediglich  von  einer  Philosophie  beantwortet  werden 
können.  Darin  liegt  der  methodische  Zweck  der  hier  angezeigten  Sdirifli 
die  zur  Voraussetzung  die  historische  Tatsache  hat,  dass  die  HochschnleB 
„als  wertvoll"  beurteilte  Kulturerscheinun^n  sind.  In  der  DurchfiUmmg 
seiner  methodischen  Absicht  auf  dem  von  ihm  gewählten  Gebiete  moiste 


Selbstanzeigen  (Eoppelnuum).  161 

der  Verfasser  mit  der  Notwendigkeit  paktieren,  für  ein  grosseres  Publi- 
kmn  verständlich  zu  schreiben.  Wie  er  dementeprechend  den  Inhalt  an- 
zuordnen  and  zu  gestalten  suchte,  das  zu  berichten,  fehlt  es  hier  an 
Raum,  ob  und  wie  weit  es  ihm  spelang,  seine  methodische  Absicht  mit 
•einen  allgemeinen  Planen  zu  verbinden,  das  zu  entscheiden  ist  nicht 
Aufgabe  der  Selbstanzeige. 

Heidelberg.  Arnold  Buge» 

Koppelmann.  Wilhelm.  Die  Ethik  Kants.  Entwurf  zu  einem 
Neubau  auf  Gruna  einer  Kritik  des  Kantischen  Moralprinzips.  Berlin, 
Beuther  &  Reichard,  1907.    (VIII  n.  92  S.) 

Die  in  dieser  Schrift  vertretene  etlusche  Theorie  gilt  nur  von  den« 
für  alle  Vemunftwesen  bleichen  Bedingungen  der  geistigen  Oemeinschaft. 
Für  die  theoretischen  Beziehungen  vernünftiger  Wesen  zu  einander  ist 
Wahrhaftigkeit,  für  die  praktischen  (Verbindung  zu  gemeinsamen  Unter- 
nehmungen, Rechts-  und  Staatsleben  etc.)  Zuverl&Bsigkeit  das  Grundgesetz. 
Femer  muss,  wenn  die  ji^eistige  Gemeinschaft  gedeihen  soll,  auf  dem  theo- 
retischen Gebiet  Freiheit  des  Gedankenaustausches,  auf  dem  praktischen 
Freiheit  des  Handelns  (Selbstbestimmungsrecht)  herrschen.  Natürlich  wird 
nicht  durch  jede  Verletzung  dieser  Gesetze  die  geistige  Gemeinschaft  so- 

Sleich  aufgehoben,  aber  je  mehr  sie  beobachtet  werden,  desto  melir  ge- 
eiht  die  ^istige  Gemeinschaft,  je  mehr  sie  verletzt  werden,  desto  mehr 
Itet  sie  sich  auf.  Die  Achtung  vor  diesen  Gesetzen  habe  ich  aus  den 
S.  89  entwickelten  Gründen  zusammenfassend  Wahrhaftigkeit  genannt. 
Das  Prinzip  der  Wahrhaftigkeit  in  diesem  Sinne  ist,  wie  ich  behaupte, 
der  Schlüssel  für  das  ethische  Denken  der  Menschheit,  und  alle  sittlicnen 
Forderungen  gehen,  wie  S  39  ff  nachgewiesen  wird,  im  letzten  Grunde 
auf  die  Forderung  der  Wahrhaftigkeit  zurück,  welche  mit  dem  innersten 
Wesen  des  Menscnen  in  so  enger  Verbindung  steht,  dass  selbst  innerhalb 
einer  Räuberbande  die  Grundf orderung  der  Wahrhaftigkeit  und  Zuver- 
Liaaigkeit  als  Massstab  für  die  sittliche  Beurteilung  zurückbleibt 

Dass  diese  Auffassung  des  Wesens  der  Sittlichkeit  richtig  istbew&hrt 
sich  auch  darin,  dass  durch  sie  ohne  weiteres  verständlich  wird,  woher 
das  Bewusstsein  der  sittlichen  Verpflichtung  kommt.  An  der  geistigen 
Gemeinschaft  und  also  auch  an  der  allgemeinen  Beobachtung  der  Gesetze 
der  geistigen  Gemeinschaft  hat  der  Mensch  als  Vemunftwesen  ein  unaus- 
tilgbares Interesse  (S.  48  ff.),  schon  deswegen,  weU  die  Entwickelung  und 
Betftti^unç  dessen,  was  man  Persönlichkeit  nennt,  darauf  angewiesen  ist. 
Insoweit  ist  das  moralische  Sollen  in  der  Tat,  wie  Kant  behauptet,  im 
Grunde  ein  Wollen.  Als  Vemunftwesen  wollen  wir  die  Herrscnaft  der 
Gesetze  der  geistigen  Gemeinschaft  und  würden  sie,  wenn  wir  bloss  Ver- 
Dunftwesen  waren,  auch  unverbrüchlich  halten,  schon  deswegen,  weil  ihre 
Beobachtung  den  normalen  Funktionen  unserer  Vernunft  entspricht 
[S.  44  ff.).  Dass  wir  von  der  an  sich  für  uns  natürlichen  und  selbstver- 
itändlichen  Bahn  der  Wahrhaftigkeit  abweichen,  dafür  liegen  die  Gründe 
In  der  sinnlichen  Seite  unseres  Wesens,  deren  Interessen  durch  die  Wahr- 
bafti^keit  nicht  immer  gedient  ist.  Daher  entsteht  dann  eine  Spannung 
Ewiaäen  unseren  Interessen  als  Vemunftwesen  und  unseren  Interessen 
üs  Sinnenwesen,  und  das  moralische  Wollen  verwandelt  sich  für  den 
JCenschen  als  Sinnenwesen  in  ein  moralisches  Sollen. 

Die  Wahrhaftigkeit  als  Prinzip  der  Sittlichkeit  ist  nach  meiner 
Überzeugung  die  einzig  mögliche  Konsequenz  auch  der  Kantisohen  Pr&- 
masen.  Dies  habe  ich  in  einer  Kritik  des  Kantischen  Moralprinzips 
md  seiner  Begründung  nachgewiesen  (S.  1—88).  Dort  ist  auch  der 
Jmnd  angegel^n,  welcher  nach  meiner  Meinung  Kant  auf  ein  falsches 
Geleise  geführt  hat,  nämlich  die  Oberspannung  des  GMankens  der 
katonomie. 

Durch  die  von  mir  vertretene  Auffassung  des  Wesens  der  Sittlich- 
ceit  erfahren  auch  die  weiteren  ethischen  Positionen  Kants,  insbesondere 
Jan.  jl 


16Ô  Selbstanzeigen  (ttnge). 

hierbei  Schritt  für  Schritt  nachweist  dass  jedesmal  Bewnsstsein  und 
Gegenstand  eins  sind,  und  dass  der  Portechntt  des  Wissens  ebenso  ein 
Fortschritt  des  Bewusstseins  zur  Erkenntnis  seiner  Einheit  mit  dem 
Gegenstande  wie  ein  Fortschritt  des  Gegenstandes  zur  Offenbamnir  seiner 
Einheit  mit  dem  Bewusstsein  ist,  führt  er  den  Gedanken  Kants,  dass  die 
Welt  der  Gedanke  des  Subjekts,  dass  in  der  Kategorie  die  W^iiieit  m- 
geben  sei,  an  dem  gesamten  Inhalt  des  Bewusstseins  durch.  Wenn  Fichte 
und  Schellinff  dem  gewöhnlichen  Verhalten  des  Bewusstseins  die  philo- 
sophische Erkenntnis  entgegeng^estellt  haben  als  die  Anschauung  der 
Wahrheit  über  die  Beziehung  des  Ich  zum  Nichtich,  so  geht  Hi^el  auf 
dieses  unphilosophische  und  vorphilosophische  Bewusstsein  selber  ^  and 
weist  nach,  dass  in  ihm  überall  eben  die  Wahrheit  zum  Ausdruck  kommt, 
die  in  dem  philosophischen  Denken  ihre  begriffliche  Erkenntnis  findet 
-Nie  ist  mit  dem  Gedanken  der  Identität  von  Ich  und  Nichtich  grOsseier 
Ernst  gemacht  worden  als  in  dieser  Darstellung  des  dialektischen  Pro- 
zesses, in  dem  sich  durch  die  Beziehung  des  Bewusstseins  auf  seinen 
Gegenstand  diese  beiden  fortwährend  genauer  bestimmen,  bis  sie  für  das 
Bewusstsein  selbst  als  identisch  erscheinen.  Und  niemals  ist  der  Gedanke 
des  Idealismus  genialer  vertreten  worden  als  hier,  wo  die  gesamte  Wirk- 
lichkeit als  das  Wissen  des  Ich  von  sich  selbst  und  seinem  Objekt  vor  nu 
aufgebaut  wird." 

Für  die  Textgestalt  des  Werkes  ist  mir  die  erste  Ausgabe  vom 
Jahre  1807,  die  einzige,  die  Hegel  selbst  besorgt  hat,  massgebena  gewesen. 
Alle  der  Verständlichkeit  dienenden  fremden  Zusätze  sind  als  solche  tob 
mir  gekennzeichnet  worden.  Über  alle  Abweichungen  der  verschiedenen 
Drucke  giebt  ein  Lesartenverzeichnis  am  Schlüsse  des  Bandes  gentoe 
Auskunft. 

Berlin.  Georg  Lassen. 

Rage,  Arnold.  Kritische  Betrachtung  und  DarstelUnf 
des  Deutschen  Studentenlebens  in  seinen  Grundzftgen.  Tl- 
hingen  1906.    I.  C.  B.  Mohr.    (X  u.  184  S.) 

Es  kann  hier  lediglich  darauf  ankommen,  den  Zusammenhang  der 
vorliegenden  Schrift  mit  der  Kantischen  Philosophie  au&uweisen,  der  tob 
vornherein  bezweifelt  werden  könnte,  wenn  nur  auf  das  Gegenständliche 
des  Titels  reflektiert  wird;  denn  Kant  hat  nur  an  wenigen  Stellen  seiner 
Werke  von  einem  gleichen  Gegenstande  geredet  und  auch  seine  Srieb> 
nisse  als  akademischer  Lehrer  berechtigen  wohl  kaum,  darauf  eine  Tbi&m 
aufzubauen.     Der  Zusanmienhang  liegt  ganz  auf  dem  methodischen 
Gebiete.    Wer  Kants  Verdienst  um  me  philosophische  Methode  darin  er 
blickt,  dass  er  ausgehend  von   der  Tatsächlichkeit  synthetischer  Vttàk 
das  was  in  ihnen  an  transscendentalen  Wertmomenten  lieft 
zu  begründen  suchte,  wird  ohne  Sträuben  den  in  vorliegender  Schrift  be- 
tretenen Weg  mitwandem.     B^ant  beschränkte  seine  Analyse  im  Wesent- 
lichen auf  <ne  Erkenntnisurteile,   ethischen  und  ästhetischen  Urteile,  ék 
nachkantische  Philosophie   hat  diese  Grenzen  erweitert  und  zum  Gegen* 
Stande  kritischer  Methode  jede  Wissenschaft  erhoben;  doch  sind  aneh 
diese  Grenzen  zu   eng,   denn  Wertungen  repräsentieren  sich  ebensowohl 
in  Kulturerscheinungen,  welche  die  Jahrhunderte  überdauert  haben, 
denen  man  eben   deshalb  weil  sie  gewertet  wurden,  intellektuelle  moi^ 
lische  und  materielle  Opfer  brachte.    Was  an  Gültigkeiten  liegt  in  diesen 
Kulturerscheinungen?    Was  an  Wertungen  kann  aus  ihrer  Tatsächlichkert 
analysiert  werden?    Welche  Massstäbe  sind  auf  Grund  dieser  Analyse  aa 
die  einzelnen  Erscheinungen  selbst  zu  legen,  um  an  ihnen  auch  das  Wat- 
lose  zu  erkennen?   Dies  sind  Fragen,  welche  nicht  von  emer  (JeseUs^» 
Psychologie,  sondern   lediglich  von  einer  Philosophie  beantwortet  wertj 
können.    Darin  Hegt  der  methodische  Zweck  der  luer  angezeigten  Sitoft 
die  zur  Voraussetzung  die  historische  Tatsache  hat,  dass  die  Hodttchnfen 
nais  wertvoll«   beurteüte  Kulturerscheinungen  sind,    hi  dw  DurchftthrMJ 
semer  methodischen  Absicht  auf  dem  von  ihm  gewählten  Gebiete  muerte 


Selbstanzei^n  (Eoppelmann).  161 

1er  Verfasser  mit  der  Notwendigkeit  paktieren,  für  ein  grOaseres  Public 
nun  verstftndlich  zu  schreiben.  Wie  er  dementsprechend  den  Inhalt  an» 
mordnen  und  zu  gestalten  sachte,  das  za  berichten,  fehlt  es  hier  an 
ianm,  ob  and  wie  weit  es  ihm  gelang,  seine  methodische  Absicht  mit 
einen  allgemeinen  Plänen  za  verbinden,  das  za  entscheiden  ist  nicht 
Ln^be  der  Selbstanzeige. 

Heidelberg.  Arnold  Bage, 

Koppelmann.  Wilhelm.  Die  Ethik  Kants.  Entwarf  za  einem 
fenbaa  auf  Gruna  einer  Kritik  des  Kantischen  Moralprinzips.  Berlin, 
leather  &  Beichard,  1907.    (Vill  a.  92  S.) 

Die  in  dieser  Schrift  vertretene  ethische  Theorie  gilt  nur  von  den, 
llr  alle  Vernunftwesen  bleichen  Bedingungen  der  geistigen  Gemeinschaft. 
*llr  die  theoretischen  Beziehungen  vernünftiger  Wesen  zu  einander  ist 
Nahrhaftigkeit,  für  die  praktischen  (Verbindang  za  gemeinsamen  Unter- 
ehmungen,  Bechts-  und  Staatsleben  etc. ^  Zuverlässigkeit  das  Grundgesetz. 
*emer  muss,  wenn  die  j^eistige  Gemeinschaft  gedeihen  soll,  auf  dem  theo- 
eüschen  Gebiet  Freiheit  des  Gedankenaustausches,  auf  dem  praktischen 
Veiheit  des  Handelns  (Selbstbestimmungsrecht)  herrschen.  Natürlich  wird 
icht  durch  jede  Verletzung  dieser  G^e^tze  die  geistige  Gemeinschaft  so- 
ieich  aufgehoben,  aber  je  mehr  sie  beobachtet  werden,  desto  melir  ffe- 
eiht  die  ^istige  Gemeinschaft,  je  mehr  sie  verletzt  werden,  desto  mehr 
tet  sie  sich  auf.  Die  Achtung  vor  diesen  Gesetzen  habe  ich  aus  den 
I.  39  entwickelten  Gründen  zusammenfassend  Wahrhaftigkeit  genannt. 
>a8  Prinzip  der  Wahrhaftigkeit  in  diesem  Sinne  ist,  wie  ich  behaupte, 
er  Schlüssel  für  das  ethische  Denken  der  Menschheit,  und  alle  sittlicnen 
'orderungen  gehen,  wie  S  39  ff  nachgewiesen  wird,  im  letzten  Grunde 
of  die  Forderung  der  Wahrhaftigkeit  zurück,  welche  mit  dem  innersten 
Vesen  des  Menschen  in  so  enger  Verbindung  steht,  dass  selbst  innerhalb 
iner  Bäuberbande  die  Grundf orderung  der  Wahrhaftigkeit  und  Zuver- 
lasigkeit  als  Massstab  für  die  sittliche  Beurteilung  zurückbleibt 

Dass  diese  Auffassung  des  Wesens  der  Sittlichkeit  richtig  ist  bewährt 
ich  auch  darin,  dass  durch  sie  ohne  weiteres  verständlich  wird,  woher 
■•  Bewusstsein  der  sittlichen  Verpflichtung  kommt.  An  der  geistigen 
femeinschaft  und  also  auch  an  der  allgemeinen  Beobachtung  der  Gesetze 
er  geistigen  Gemeinschaft  hat  der  Mensch  als  Vernunftwesen  ein  unaos- 
Urbares  uiteresse  (S.  48  ff.),  schon  deswe^n,  weil  die  Entwickelang  und 
letld^anç  dessen,  was  man  Persönlichkeit  nennt,  darauf  angewiesen  ist. 
Moweit  ist  das  moralische  Sollen  in  der  Tat,  wie  Kant  behauptet,  im 
^mnde  ein  Wollen.  Als  Vernunftwesen  wollen  wir  die  Herrscnaft  der 
feaetze  der  geistigen  Gemeinschaft  und  würden  tie,  wenn  wir  bloss  Ver- 
imftwesen  wären,  auch  unverbrüchlich  halten,  schon  deswegen,  weU  ihre 
^obachtung  den  normalen  Funktionen  unserer  Vernunft  entspricht 
\.  44  ff.).  Dass  wir  von  der  an  sich  für  uns  natürlichen  und  selbstver- 
ftndlichen  Bahn  der  Wahrhaftigkeit  abweichen,  dafür  liegen  die  Gründe 
I  der  sinnlichen  Seite  unseres  Wesens,  deren  Interessen  durch  die  Wahr- 
ifügkeit  nicht  immer  gedient  ist.  Daher  entsteht  dann  eine  Spannung 
imehen  onseren  Interessen  als  Vernunftwesen  und  unseren  Interessan 
m  Sinnenweaen,  und  das  moralische  Wollen  verwandelt  sich  für  den 
[coaehen  als  Sinnenwesen  in  ein  moralisches  Sollen. 

Die   Wahrhaftigkeit   als  Prinzip  der  Sittlichkeit         naeh 
berzengang  die   einzig  mögliche  Konsequenz  auch  der  aj 
Micn       Dies  habe    ich   in  einer  Kritik  des  Kantischen 
id    aeiner  Begründung  nachgewiesen  (S.   i— 88).      Dort  i 

irnnd  angegeben,  welcher  nach  meiner  Meinung  Kant  i     i 
j^führt    hat,    nämlich    die   Obenpannong    des   Cr< 


Dueh  die  von  mir  vertretene  Auffassonf  des  W« 
Bt  erfahren  anch  die  weiteren  ethischen  Potittonen  Kanui, 


103  SelbstAiizeigen  (EOnig— Gonmd). 

seine  Freiheitslehre  und  die  Lehre  vom  höchsten  Gut,  eine  bessere  Fonda- 
mentierunff.  Dies  wird  im  4.  und  5,  Abschnitt  meiner  Abhandlung  aus- 
geführt Daraus  leite  ich  das  Recht  her,  diese  als  einen  Entwurf  eu 
einem  Neubau  der  Ethik  Kants  zu  bezeichnen. 

Münster  L  W.  Wilhelm  Koppelmann. 

feönigy  JB.  Kant  und  die  Naturwissenschaft.  Heft  23  von 
-die  Wissenschaft".  Sammlung  naturwissenschaftlicher  und  mathematischer 
Monographien.    Braunschweig  1907. 

Die  Schrift  ist  aus  der  Absicht  hervorgegangeUi  das  erfreulicher- 
weise sidi  redende  Interesse  der  Naturforscher  rar  Kant  zu  steigern  und 
zu  verallgemeinem.  Sie  zerfällt  in  einen  mehr  historischen  und  einen 
mehr  svstematischen  Teil.  In  dem  ersteren  giebt  der  Verf.  einen  Ob^ 
blick  Über  die  eigenen  Arbeiten  Kants  auf  naturwissenschaftlichem  Ge- 
biete, er  geht  den  Anregungen  nach,  die  er  als  Philosoph  von  der  Nation 
Wissenschaft  seiner  Zeit  empfangen,  und  den  Einwirkungen,  die  er  seine^ 
seits  auf  die  Naturforscher  des  19.  Jahrhunderts  geübt  hat.  Der  zweite 
Teil  bietet  eine  Skizze  der  kritischen  Erkenntni^eorie  und  beleuchtet 
vom  Standpunkte  derselben  die  EUtuptprobleme  der  Naturphilosophie  anter 
Bezugnahme  auf  die  anderweiten  Lösun^versuche,  die  in  der  Gegenwart 
hervorgetreten  sind.  Polemisch  wendet  sich  der  Verf.  haupteftchlich  gecen 
den  empiristischen  Phftnomenalismus,  der  augenblicklich  neben  dem  Iri- 
tischen Idealismus  die  einflussreichste  erkenntnistheoretische  Richtung 
darstellt 

Sondershausen.  Dr.  E.  König. 

Conrad,  Otto,  Dr.  Die  Ethik  Wilhelm  Wundts  in  ihrem 
Verhältnis  zum  Eudämonismus.  Halle  a.  S.,  C.  A.  Kaemmerer 
éb  Co.,  1906. 

Die  vorliegende  Schrift  beschäftigt  sich  mit  einer  üntersochnng 
der  Ethik  Wilheun  Wundts,  und  zwar  von  einem  bestimmten  Oesichtt- 
punkte  aus.  Die  Frage  nach  dem  Verhältnis  von  Sittlicheit  und  Giflck- 
seligkeit  ist  eine  der  wichtigsten  in  der  modernen  Ethik  tlberhaupt,  nnd 
bei  Wundt  tritt  sie  ganz  besonders  hervor.  Denn  neben  der  Zorfl^- 
weisung  des  IndividuaBsmus  bildet  die  Bekämpfung  des  Utilitarismus,  vor 
allem  m  der  Gestalt  der  englischen  Wohlfahrtsmoral,  ein  Hauptziel  dei 
Philosophen.  Für  das  Verständnis  seines  ethischen  Systems  ist  me  Unte^ 
suchuüg  des  Verhältnisses  Wundts  zum  Eudtoionismus  nfltelich  und  not- 
wendig. 

Die  Arbeit  behandelt  nacheinander:  Inhalt  und  Grundprinzipien  der 
Wundtschen  Ethik  ;  Wundts  Anschauung  über  Begriff  und  Geschichte  des 
Eudämonismus  ;  die  Widerlegung  der  eudämonistischen  Moralsysteme;  den 
Begriff  der  Glückseligkeit  bei  Wundt.  Der  letzte  Teil  briufi^  das  Besoltai 
Wundt  unterscheidet  die  Lust  als  Motiv  und  Zweck  des  sittlichen  üandeh». 
Dass  das  Gute  mit  Lust  getan  werden  müsse,  ist  ihm  im  Gegensats  m 
Kant  ein  unbestreitbarer  Grundsatz.  Der  subjektiv-formale  Eudämomsmni 
wird  also  von  ihm  anerkannt,  der  objektiv-materiale  dagegen  aufs  schärfste 
verurteilt.  Seine  Ethik  bewegt  sich  hier  im  strengsten  Gegensätze  nr 
englischen  Wohlfahrtsmoral,  die  das  Gesamtwohl  als  letzten  Zweek  dei 
sittlichen  Handelns  betrachtet.  An  Stelle  dieser  subjektiven  Zwecke  setzt 
Wundt  den  Betriff  der  obi'ektiven  Werte.  Feilich  muss  Wundt  dodi 
wider  seinen  Willen  dem  objektiv-materialen  Eudämonismus  Zugeständ- 
nisse machen,  welche  zei^n,  dass  selbst  von  dem  antiutilitaristischeB 
Standpunkt  aus  der  Begriff  des  Eudämonismus  in  materialer  Hinsicht 
nicht  zu  entbehren  ist. 

Die  Schrift  ist  von  Wundt  selbst  als  „gründliche,  verstftndnisvoBa 
Arbeit**  beurteilt  worden. 

Zehlendorf-Berlin.  O.  Conrad, 


Selbetftnseigeii  (Àntomade).  168 

Antoniade,  C,  Dr.  phil.  Ilaziunea  Realitta.^)  GM.  Bukarest, 
1907.    (Mb  S.) 

Üie  Arbeit  bietet  eine  Untersacbung  des  gesamten  Gebietes  unseres 
Erkennens  vom  erkennt nistheoretischen  Standpunkte,  und  versucht  es,  den 
Charakter  und  d^n  Wert  von  dessen  Formen  zu  erklären.  Die  Erkennt- 
niafahigkeit  verwirklicht  sich  in  drei  über  einander  gereihten  Erkenntnis- 
stafen.  Die  erste  Stufe  ist  die  der  gemeinen  VorsteUnng,  fOr  die  die 
äussere  Welt  das  System  unserer  objektivierten  Empfindungen  darstellt 
ond  eine  objektive  Wirklichkeit  besitzt,  die  von  der  Erkenntnis  unab« 
hftngig  ist.  Dies  ist  die  Stufe  des  naiven  Realismus  der  gemeinen 
Vorstellung.  Über  derselben  erscheint  die  wissenschaftliche  Erkenntnis,  ctie 
Weltauffassung  der  Physik  (im  weitesten  Sinne  des  Wortes).  Diese 
Natarwissenschaft  betrachtet  die  objektive  Welt  nicht  mehr  als  mit 
unseren  Empfindungen  identisch,  sondern  sie  führt  sie  auf  eine  Reihe 

auantitativer  Beziehungen  zwischen  den  Erscheinungen  zurück  und  ai:^ 
eren  Grund  wird  die  mechanistische  Weltanschauung  aufgestellt. 
Zwischen  dieser  Stufe  der  Erkenntnis  und  der  vorigen  ist  eine  fundamen- 
tale Ähnlichkeit  vorhanden:  beide  g^lauben,  ohne  voranaehende  Kritik, 
an  die  absolute  Wirklichkeit  des  Objektes,  das  für  die  Physik  ein  not- 
wendiges Postulat  ist.  Die  Erkenntnis  der  physikalischen  Wissenschaft  ist 
also  ebenfalls  ein  Realismus,  allein  dieser  Realismus  ist  nur  eine  Forderung, 
die  die  Wissenschaft  ermöglichen  soll.  Die  letzten  Begriffe  der  Physä 
können  keinen  ontologischen  Wert  haben:  Kraft  und  Stoff "^ind  keine  ob- 
jektiven Wirklichkeiten,  sondern  Begriffe,  die  von  verschiedenen  Daten 
der  Sinne  nach  Analog[ie  mit  den  entsprechenden  Begriffen  der  Mechanik 
zustande  gekommen  sind.  Auf  ihren  Ursprung  hin,  in  den  Gleichungen 
der  Dynamik,  sind  sie  nur  gewisse  Funktionen.  Hier  erörtert  der  Ver- 
fasser die  traditionellen  atomistisch-mechanistischen  und  die  neueren 
energetischen  Theorien,  die  er  vom  Standpunkte  ihres  Wertes  für  die  Er- 
kenntnistheorie beurteilt.  —  Die  dritte  Erkenntnisstufe,  die  philosophische 
Auffassung  über  das  Dasein,  ist  eine  Verneinung  sowohl  der  von  der  ge- 
meinen Vorstellung  wie  von  der  physikalischen  Wissenschaft  eingenom- 
menen Stellung.  „Die  philosophische  Spekulation  verneint  von  Anfang 
an  die  sinnliche  Wirklicnkeit  und  erkennt  eine  unbedinffte  Natur  der 
Dinge,  zu  deren  Erkenntnis  sie  glaubt  gelangen  zu  können.^  Die  Kritik 
der  reinen  Vernunft  aber  verneint  mit  aller  Bestimmtheit  die  Möglichkeit, 
die  unbedingte  Natur  der  Dinge  zu  erkennen.  Fast  möchte  es  scheinen, 
dass  der  metaphysische  Realismus  end^tig  von  Kant  begraben  worden 
sei,  allein  die  zweifelhafte  Art,  wie  dieser  die  Existenz  des  Dinges  an 
sich  hingestellt,  bedingt  den  Realismus,  denn  an  vielen  Stellen  des  Werkes 
Kants  ist  das  Ding  an  sich  nicht  nur  ein  Grenzbegriff,  sondern  es  gilt  im 
positiven  Sinne  als  Substrat  und  Ursache  der  Erscneinungswelt.  Der  Ver- 
fasser  untersucht  femer  die  nach  dem  Kantianismus  aufgestellten  Systeme 
und  zeigt,  dass  im  absoluten  Idealismus  Fichtes  und  Hegels,  in  der  Lehre 
▼om  Ding  an  sich  als  Wille  bei  Schopenhauer,  im  Agnostidsmus  Spencers 
und  in  der  positiven  Philosophie  Comtes  die  „realistische  Illusion^  eben- 
falls mit  einbegriffen  ist,  der  Glaube  an  ein  unbedingtes,  unabhängiges 
Dasein  von  der  Erkenntnis.  „Unsere  Erkenntnis  ist  auf  diese  Illusion  oe- 
crflndet  und  unsere  gesamte  Erfahrung  ist  die  G^estaltung  einer  Täuschung, 
denn  während  die  Spontaneität  unseres  Verstandes  uns  alle  Gtogenstänoe 
als  unbedingt  darstellt,  will  die  spätere  Reflexion  nirgends  etwas  durch 
seine  Natur  unbedingtes  anerkennen.'* 

Wie  erklärt  sich  diese  realistische  Illusion  ?  In  welchem  Sinne  kann 
ohne  Widerspruch  das  Problem  des  Realen  glöst  werden?  Der  Verfasser 
glaubt,  dass  „der  lebendiare  Grundsatz  des  Kantischen  Kritizismus  in  sich 
Sie  Möglichkeit  enthält,  oiesem  Problem  eine  widerspruchslose  Lösung  zu 

Ssben**.    Der  dritte  Abschnitt  der  Arbeit  enthält  eine  Untersuchung  über 
e  Natur  der  Erkenntnis.     Das  Ergebnis  dieser  Unterrachung  St  die 

*)  Die  realistiBche  Illusion. 


164  Selbfltanzeigen  (Biermann). 

Onterscheidung  innerhalb  der  Vorstellung  (der  Ausdruck  wird  hier  im 
weitesten  Sinne  als  Erkenntniszustand  gebraucht)  eines  Aktes  und  eines 
Inhalts,  eine  Unterscheidung,  die  jener  zwischen  Subjekt  und  Objekt 
gleich  ist,  nur  dass  nichts  von  einer  Exterioritat  oder  eines  unabhftngigen 
Dasein  der  objektiven  Welt  oder  der  Einheit  unseres  Ichs  vorausgesetzt 
wird.  Die  beiden  Ausdrücke  Akt-Inhalt  sind  wechselbeziehend  innerhalb 
der  gleichen  Wirklichkeit,  der  VorsteUung,  und  können  nicht  als  von 
einander  verschieden  und  getrennt  gültig  angesehen  werden,  denn  ne 
beziehen  sich  gegenseitig  ein.  Diese  oeiden  Ausdrücke,  obwohl  en^  ver- 
bunden, bieten  einen  Charakter,  der  uns  den  Schlüssel  der  realistuchen 
Illusion  der  Erkenntnis  liefert  In  der  Einheit  der  psychischen  Tatsache, 
stellt  sich  der  Inhalt  stets  als  verschieden  von  dem  Aicte  der  Erkenntnis 
dar,  als  das  Zeichen  einer  von  dieser  verschiedenen  Wirklichkeit.  Die 
Feststellung  dieser  universalen  Tatsache,  die  ein  Gesetz  unserer  Intelligenz 
ist,  zeigt  uns,  warum  „die  Vorstellung  nichts  von  dem  sei,  das  sie  yo^ 
stelle*',  weshalb  sich  ihr  Inhalt  uns  mit  dem  objektiven  und  onbediogten 
Charakter  der  äusseren  Welt  darstellt,  warum  unsere  gesuamte  mannigfache 
Erkenntnis  uns  als  substanzialistischer  Realismus  ers^eint,  warum  selbst 
„die  Geschichte  der  Philosophie  eine  Geschichte  der  Substanz  genannt 
werden  kann^.  ~  Dieses  Gesetz  veranlasst  uns  also,  die  Wirklichkeit  des 
Unbedingten,  die  überall  von  unserer  Erkenntnis  bezeugt  wird,  als  eine 
Denknotwendigkeit  anzusehen,  der  keine  von  der  Erkenntnis  verschiedene 
Wirklichkeit  entspricht.  Diese  in  der  Erkenntnistheorie  eingenommene 
Stellung  drängt  einen  Schluss  auch  in  der  Theorie  des  Daseins  auf,  und 
zwar  die  Abweisung  des  Dinges  an  sich,  der  Substanz,  des  unerkennbaren 
Unbedingten,  als  positives  Dasein  und  Substrat  des  plùbiomenalen  Daseins. 
Bukarest.  Dr.  C.  Antoniade. 

Biermann,  W, Ed.,Dr.  Die  Weltanschauung  des  Marxismns 
an  der  materialistischen  Geschichtsauffassung  und  an  der  Mehrwertlehre 
erörtert.    Leipzig,  Roth  &  Schunke,  1908.    (83  S.) 

Anfang  Oktober  1907  wurde  in  der  Universität  Leipzig  auf  Binladnng 
der  Sächsischen  „Evangelisch-Sozialen  Vereinigung*^  ein  y^scMdaler  Leh^ 
kursus"  abgehalten,  an  dem  ein  Historiker,  ein  Philosoph  und  ein  National- 
ökonom (der  Unterzeichnete)  teilnahmen.  Die  bei  dieser  Gelegenheit  vo^ 
^tragenen  Ausführungen  über  „die  Weltanschauung  des  Marxismus^  habe 
ich  in  dem  obenstehenden  Schriftchen  niedergele^  Sie  versuchen,  den 
Materialismus  (im  philos.-metaphysischen  und  im  ökonomischen  Sänne) 
als  die  Weltanschauung  von  Marx  und  Engel  nachzuweisen,  und  zwar  an 
der  materialistischen  Geschichtsauffassung  und  an  der  Mehrwertlehre, 
„den  beiden  grossen  Entdeckungen  von  Marx^.  Die  materialistische  Ge- 
schichtsauffassung wird  auf  ihre  Belege,  ihren  Namen,  ihre  Vorsänger, 
endlich  auf  ihre  philosophischen  Voraussetzungen  (naiver  Ideal-Bedismos, 
roher  Empirismus  und  metaphysischer  Materiiüismus)  geprüft.  Die  Mehr- 
wertlehre wird  im  engen  Anschluss  an  Bd.  I  und  Bd.  Ul  des  „Kapital" 
erörtert,  und  ihre  Unhaltbarkeit  als  Preis-  und  als  Ausbeutni^^eorie 
dargetan. 

Die  Schrift  steht  unter  dem  Zeichen  Kants.  Er  wird  als  Kron- 
zeuge gegen  reinen  Empirismus  und  Materialismus  aufgerufen.  „Kant 
contra  Marx",  so  muss  oie  Losung  heissen!  In  diesen  Btä  klingt  das 
Büchlein  aus,  das  sich  bemüht,  in  dem  Rahmen  eines  reichen  Anmerkungen- 
apparates  die  sozialphilosophische  Litteratur  über  den  Marxismus,  über 
das  Verhältnis  von  Causa  und  Telos  in  den  Sozialwissenschaften,  über  das 
Problem  „Natur  und  Geschichte"  (Windelband)  und  anderes  mehr  kritiaeh 
zusammenzustellen. 

Leipzig.  W.  Ed.  Biermann. 

Engel,  Bernhard  Carl.  Schiller  als  Denker.  Prolegomena  n 
Schillers  philosophischen  Schriften.  Berlin,  Weidmannsche  Buchbandlong, 
1908.    (Vin  und  182  S.) 


Selbstanseigen  (Engel).  166 

Eine  zusammenfassende  Würdigung  der  philosophischen  Lebensarbeit 
Schillers  ist  hier  von  wesentlich  systematischen  Gesichtspunkten  aus  ver- 
sucht worden.  Schillers  Ausgangs-  und  ständiger  Orientierungspunkt  ist 
Kant.  Dieser  bestimmt  die  Kategorien  von  Schillers  Denken  und  über- 
liefert ihm  die  zentrale  Idee,  die  der  Freiheit.  Aber  das  Verhältnis  der 
reinen  praktischen  Vernunft  zu  Natur  und  Geschichte  wird  unter  Schillers 
Händen  ein  anderes:  Schiller  geht  von  einem  symbolischen  Gebrauch  der 
reinen  Vernunft  zu  einem  schematischen  über.  So  wird  eine  geschichts- 
l^osoçhische  Fundierun^  der  Ästhetik  möfi[lich  und  die  transscendentale 
i)ednktion  einer  „ästhetischen  Kultur"  wird  der  Hauptinhalt  derselben. 
Die  Begriffe  „Freiheit  in  der  Erscheinung",  „Spieltrieb",  ästhetischer 
Mittelzustand"  sind  aus  dieser  Erweiterung  der  Idee  der  praktischen  Ver- 
nunft entstanden  und  weisen  zugleich  auf  die  ursprüngliche  aristotelisch- 
leibnizische  Richtune  seines  Denkens  zurück.  Die  in  der  Schillerschen 
Auffassung  des  Verhutnisses  von  Form  und  Inhalt,  Innerem  und  Äusserem, 
ESndlichem  und  Unendlichem,  Freiheit  und  Notwendigkeit  sich  ausprä^nde 
Geisteebestimmtheit  bezeichnet  Verf.  als  das  „konkrete  Gesetz  des  Geistes". 
Der  Boden,  auf  dem  Schiller  die  genannten  Gegensätze  zu  vereiniijfen 
socht,  ist  das  Triebleben  des  Menschen  (im  Fichteschen  Sinne),  das  Mittel 
der  Vereinigung  die  Dialektik.  Die  Einheitsfuuktion,  die  er  findet,  ist 
aber  keine  walu«.  Sie  ist  entweder  der  ihm  von  Fichte  überlieferte  Be- 
griff der  Wechselwirkung,  in  dem  die  Gegensätze  nicht  aufgehoben 
werden,  sondern  bestehen  bleiben,  oder  der  der  Indifferenz  zwischen 
Sinnlichem  und  Geistigem,  wie  er  dem  Idealtypus  der  schönen  Seele  zu 
Grunde  liegt.  So  fruchtbar  die  letztere  Formulierung  durch  ihre  syste- 
matische Ausbildung  bei  Schelling  wird,  als  Ganzes  unterliegt  die  Anf- 
fasaung,  als  sei  das  Ideal  der  blosse  neutrale  Schauplatz  eines  (ausbleichen- 
den) Tuns,  nicht  aber  selber  ein  Tun,  Denken  und  Wollen,  allen  Ein- 
wendungen, die  Hegel  im  Sinne  leerer  Abstraktion  und  eines  weltfremden 
Formalismus  dagegen  erhoben  hat.  Gleichwohl  sind,  wie  Verf.  nachzu- 
weisen sucht,  auch  direkte  Übergänge  zu  Hegel  in  Schillers  Gedankenwelt 
vorhanden,  sowohl  in  der  Auffaœung  der  Natur  wie  der  Geschichte.  Ins- 
besondere werden  die  Fäden,  die  von  Kants  G^schichtsphilosophie  über 
Schiller  zu  Hearel  hinüberleiten,  dargelegt 

Die  transscendentale  Deduktion  der  ästhetischen  Kultur  bildet  sonach 
den  ersten  Hauptteil  des  Inlialts.  Er  gliedert  sich  in  die  drei  oben  an- 
eedeuteten  Abschnitte  (IVeiheit  in  der  E»cheinung,  Spieltrieb,  ästhetischer 
Mittelzustand),  zu  denen  noch  die  Deduktion  des  Erhabenen  hinzukommt. 
Der  zweite  Hauptteil  behandelt  zunächst  unter  dem  Titel  „Die  ästhetische 
Kultur  als  System  der  Künste^  die  schöne  Kunst,  den  Ktlnstler,  Realismus 
und  Idealismus.  In  dem  Kapitel  über  den  Künstler  wird  der  Versuch 
einer  vergleichenden  Würdigung  von  Goethes  und  Schillers  künstlerischer 
Art,  ihres  Schönheitsbefirriffe,  i&es  Verhältnisses  zur  Kunst  erneuert  Es 
fol^n  sodann  noch  Abschnitte  über  „die  ästhetische  Kultur  und  die  G^ 
aehichte",  über  „die  ästhetische  Religion"  und  ein  Schlnsskapitel  „Von 
Schiller  zu  Schelling  und  Hegel". 

Ein  Register  erleichtert  die  Übersicht  über  die  historische  Auf« 
faaaonff  der  in  Betracht  kommenden  Philosophen  und  ihrer  Systeme. 

Berlin.  Bernhard  Carl  BngeL 


Mitteilungen. 

Die  neue  Kantbfiste  von  Professor  Janensch. 

Wiederum  sind  wir  in  der  angenehmen  Lage,  dem  1.  Heft  des  neuen 
Bandes  einen  wertvollen  bildnerischen  Schmuck  mitzugeben,    Diesmal  ist 


166 


66  Jedoch  nicht  ein  ne«  tmigeimmàtmm  ihmJttÊà,  êÊm  mir  m  Beprodaktion 
darbieten,  sondern  die  Wiedergabe  ôbs  iurfiiwi  Werkes,  aber  eines 
modernen  Werkes,  das  jedem  der  n^aäeoieA  ^iâcteâdiren  plastischen 
Darstelluniten  Kante  an  Koastwcit  mrâftntena  ^fcichmkf,  die  meisten  aber 
übem^rt  und  keinem  aa  Ähalickkcia  macktfBefec.  Ekm  Ksnstwerk  ist  von 
dem  Unterzeichneten  schon  in  BednB  üvKeoHmL  tLJmkr^^  Heft  18  vom 
SO.  Janaar  1908,  jedoch  in  kleiiier  KfJiliMaa^g,  ylliiinl  worden  Aach 
n  der  hier  zuerst  wiedergeirdwaeB  ^rtleatna  yadUbûdmB^  paast  jedoch 
der  Text,  mit  dem  ich  die  Publikatâoa  im  ^übwiibb'*'  begleitet  hsbe, 
den  ieh  daher  mit  gfitigper  Erlanbma  >o»  Henm  FIl  Bedna,  Danermitgüed 
der  Kant^eaellschaft,  mit  geringen  Ändenmgem  kier  wieder  abdmcke  : 

Um  Kants  Philosophie,  wekbe  mit  dem  Jahre  1781  ans  Licht  gt- 
treten  ist.  streiten  sich  seit  dieser  Zeit  die  Gelekrtes  in  aDer  Welt;  nm 
Kants  Grab,  das  sich  im  Jahre  1804  fiber  ihm  ^eaeUossen  bat,  streiten  sich 
gsfide  jetxt  die  Parteien  in  Köni^nberg:  die  einen  woQen  doi  Pbüoeophen 
mhen  lassen  in  seiner  Qrabkapelle  an  der  Anaaenaeite  des  Königsberger 
Doms«  die  anderen  wollen  Kante  Gebeine  in  das  Innere  der  Kirche  yer- 
bringen«  So  mag  gerade  in  diesem  Angeabiîek  eine  nene  Bfiste  Kanti 
dae  allgemeine  Intereseie  erregen,  welche,  zum  TeA  nacb  der  fiber  Kanti 
Grmb  angebrachten  Schadowscnen  Bfiste  bearbeüet»  der  Meisterhand  oder 
Ttelmebr  dem  Meisterauge  von  Gerhard  Janenscb  ihre  &itstehnng  ye^ 
daakts  Janeasoh  hat  diese  auf  private  Bestdlnag  (seitens  der  Fran  Pro- 
fe«Kvr  V»  Lippmann  in  Halle  a.  S.  als  Gteschenk  ffir  ikraa  Gatten,  den  be- 
kaaaten  uaa  verdienten  Naturforscher,  Mitglied  der  Kantgesellscbaft) 
gearbeilele  Bfiste  mit  dem  divinatorischen  Bliä  des  eckten  Kfinstlers  ge- 
scbaff^n:  Schadows  und  Rauchs  Bildwerke  dienten  ikm  wohl  als  Vorbilder, 
^b6>r  tr  bat  ee  veratanden,  den  dem  Kenner  anch  nock  ans  anderen  ori- 
ginale« Abbildungen  vertrauten  Zfigen  des  „Alten  Yon  Königsberg^  nenen, 
»igtntrtiirtp  Reis  in  verleihen.  Dies  ist  dem  KfinsUer  besmiders  dadnreh 
Mhing«n»  dass  er  wagte,  was  Schadow  bei  einer  sonst  nackten  Bfiste  nicht 
^nut^n  SU  können  «aubte:  Janensch  hat  dem  Pkilosopken  seine  ffir  ihn 
«nX  (Hr  seine  Zeit  charakteristische  Perficke  gegeben:  gerade  dadnreh  be- 
1^1^^^^  ^1^  Bfiate  den  Wert  eines  historischen  Dokuments,  den  es  als 
aiatbgasckaftrnr'  Werk  aus  unseren  Tagen  nicht  haben  könnte.  Und  weit 
ettll^fnk  da»»  diese  sonst  uns  leicht  etwas  Iftcheriich  erscheinende  Perücke 
^lünnd  odrr  hembstimmend  wirkte  —  im  Gegenteil,  serade  dadnreh  wird 
S*  tT>gt»m»in  v«ratandesklare  Gesicht  um  so  mehr  gtmoben. 

{%  nngekeure  Geistesschärfe  des  Philosophen  ist  wchl  nock  nie  so 
MlkeirttT  i^lr\^ft^n  worden,  als  in  diesem  Meisterwerke. 

Milita  aic^  ài%  KöniMoerger  um  Kants  Grab  streiten:  uns  ,,dranssen 
im  IfcMrkF  aiM)  allen  «InteUektuellen^  draussen  in  der  Welt  ist  es  nm  den 
Stf^iHgt»  Kaa^  *u  tun,  den  uns  unser  Kfinstler  auch  als  Lebende  hin- 


jUban  vitl«  Kanalwerke  sind  dem  Meister  gelungen.  In  seinem  2S. 
wv-^  1^  ^  .^  (\Nnmeni  1860  geborene)  junge  Ktlnstler  mit  einer  aka- 
JaMLSiik  fj^rm^»«^  ^Bâchant  mit  Panthern*'  an  die  Offentuohkeit  In 
MtiMNitKrfiM^vurde  er  bekannt  durch  folgende  Werke:  Statue  des 
SasaiVel«^  v^^^^  ^^^^^^  Museum  in  Berlin),  Bngenhagen-Denkmal  in 
J^citaaYfM.  iUuMKlVukmal  in  Berlin,  femer  besonders  das  bekannte 
^'Y^Ij'aL  Kurt^nuaen  Friedrich  Wilhekn  (der  Grosse  Kurffirst  in  der 
^LtaaTiirt  «iN>Mi  Huud  in  Kfistrin  und  in  Berlin  u.  s.  w.  Eine  der  besten 
""^Cian  JNa  KUiMitl«^  ist  jedenfalls  unsere  Kantbfiste;  mit  wunderbarer 

^•^'^^^ ""1^,       a. ^     l^»%.«k»A^     nne    ana    îlir    Hoia   DAtilrAraviflifv   ^Qg  ^nrOSSen 


kairvT^  il tarl*""^-^  leuchtet  uns  aus  ihr  das  Denkerantlitz  des  grossen 


MitteUiuigen.  167 

Der  Kampf  um  Kants  Grab  in  KSnigsberg. 

Wie  wir  schon  Bd  XII,  Heft  2,  S.  264  vorläufig  gemeldet  haben,  soll 
die  Orabstatte  Kants  aus  ihrem  bisherigen  Raam,  der  ehemaligen  8toa 
Eantiana  an  der  Nordseite  des  Eönigsberger  Domes,  in  das  binere  dieser 
Kirche  verlegt  werden.  Zur  Orientierung  fiber  diese  allgemein  inter- 
essierende Frage  bringen  wir  zunächst  einenmstorisch-refeiierenden  Artikel 
▼on  Professor  Dr.  Paul  Stettiner  in  Königsberg  aus  der  „Königsberger 
Hartungschen  Zeitung**  vom  22.  April  1898  mit  gütiger  Erlaubnis  des 
Autors  und  der  Redaktion  zum  Wiederabdruck,  um  daran  als  zweites 
Aktenstück  den  Antrag  des  Königsberger  Magistrats  an  die  dortige 
Stadtverordneten- Versammlung  anzuschliessen,  betreffend  die  Zu^timmniig 
der  Letzteren  zu  jener  Verlegung. 

Die  Stoa  Kantfana  in  Königaberg. 
Von  Paul  Stettiner. 
Vielen  Königsbergem  ist  die  Stoa  Kantiana  bereits  aus  dem  G^ 
dftchtnis  entschwunden  und  von  den  jüngeren  mag  wohl  hier  und  da 
mancher  dabei  die  Vorstellung  sich  bilden,  dass  Kant  wie  die  Philo9ophen 
des  Altertums  wandelnd  in  einer  Halle  den  Schülern  seine  Lehre  über- 
mittelt habe  Die  Stoa  Kantiana  hat  in  Wirklichkeit  dem  liebenden 
nicbts  bedeutet  und  für  den  Toten  ist  sie  nur  fanz  kurze  Zeit  eine  Ruhe- 
stätte gewesen.  Eine  Reihe  von  Schülern  und  Verehrern  Kants  brachte 
Im  Jahre  1809  durch  Sammlung  und  eigene  Beitrftge  die  Mittel  auf,  qm 
aus  dem  an  der  Nordseite  des  Domes  angebauten  Gewölbe  eine  Halle  mit 
offenen  Arkaden  zu  machen,  die  einen  Spaziergang  für  die  Studenten 
bieten  sollte.    Durch  ein  Gitter  trennte  man  die  Graostfttte  Kants  ab  und 

gestaltete  diese  zu  einer  Kapelle.  Jn  sie  brachte  man  die  zu  Lebzeiten 
ante  modellierte  und  in  Marmor  gefertigte  Büste  Kants,  die  von 
einem  Schüler  Schadows,  Ha^mann,^)  hergcStellt,  bereits  1804  im  alten 
Auditorium  maximum  der  Universit&t  aufgestellt  war.  Von  aussen  trog 
die  Halle  die  Inschrift:  Stoa  Kantiana,  von  innen  das  von  dem  ftltesten 
fVeunde  Kants,  dem  Kriegsrat  Scheffner,  unter  der  bessernden  Band 
des  Staatsrat  Süvem  abgefasste  Distichon: 

Hier,  von  den  Geistern  umschwebt,  ehrwürdiger  Lehrer  der  Vorveit, 
Sinne,  dass,  Jüngling,  auch  dich  rühme  noch  spAtes  Geschlecht. 
Am  22.  April  1810,  dem  Geburtstage  des  Grossen,  begaben  sich  die 
Urheber  des  Denkmals,  die  Lehrer  und  Studenten  der  Albertina,  in  d#ron 
Bftnmen  Herbart  die  Festrede  gehalten,  nach  der  Halle,  und  nach  fdufr 
ernsten  Musik  vollzog  Scheffner,  der  greise  Veteran  aus  dem  sieben* 
jAhrigen  Krie^,  die  Weihe:  ^war  sorgen  £[rosse  M&nner  selbst  )ün- 
reichend  für  ihr  Ilnvergeadicholeiben  im  Geiste  der  Nachwelt  dorth 
Schriften  und  Taten;  da  wir  aber  insgesamt  zu  sehr  an  das  Sinnliche  ge- 
wöhnt sind,  so  wäre  es  unbillig,  das  Erleichtem  solcher  Erinnerang  dum 
das  Errichten  sichtbarer  Denkmftler  nicht  eingestehen  oder  es  (&  ttbf(r- 
flflssig  erklären  zu  wollen.^  Die  „Hartungsche  ZSeitung^  sehrieb  zu  diesem 
Ta^e  (22.  April  1810):  „Das  sind  flache  Völker,  die  von  hervorragenden 
schöpferischen  Männern  aus  ihrer  Mitte  keinen  Eindruck  bewahrea,  keine 
Tage  frommer  Rührung  und  gemeinschaftlicher  Erhebung  begebsBt  Die 
Bewohner  Königsbergs  sind  frei  von  diesem  Vorwurfe.*^  Scheitner  selbst, 
dem  die  Anregung  und  Ausführung  des  Gkuizen  wesentlich  vfidsokt 
wurde,  fürchtete  den  Vorwurf  der  Eitelkeit  und  erinnerte  an  dM  WitiE- 
wort  Mirabeaus  gegen  einen  ungefährlichen  G^egner:  Es  schiene  ihm,  eis 

1)  Sie  befindet  sich  Jetzt  im  Senatszimmer  der  neuen  Univenität. 
Die  meisten  Handbücher  über  Königsberg  nennen  sie  infolge  eines  schon 
in  die  ältesten  Akten  eingeschlichenen  Irrtums  ein  Werk  Sehadows,  der 
weder  das  Modell  noch  die  Ausführung[  in  Marmor  gefertigt  hat  H.  ist 
ein  Schüler  des  Meisters,  der  sehr  jung  in  Italien  (18Û5)  geworben  ist 


168  Httteilongeii. 

ob  sein  kleiner  Widersacher  zu  ihm  spräche:  yfienàem  moi  un  peu  ridicule, 

Soor  que  le  profite  de  votre  immortalité.^  In  Wirklichkeit  hätte  für 
cheffner,  von  dessen  Dasein  noch  manches  schöne  Denkmal  übrig  ge- 
blieben ist,  Goethes  Wort  gelten  sollen  :  ,,Solche  Männer  haben  den  Vor- 
zug, doppelte  Wohltäter  zu  sein,  einmal  für  die  Gegenwart,  die  sie  be- 
glücken, und  sodann  für  die  Zukunft,  deren  Gefühl  und  Mut  sie  nähien 
und  aufrecht  erhalten.^ 

Allein  in  diesem  Falle  ist  der  Nachwelt  durch  eigene  Schuld  bald 
die  Freude  an  diesem  Denkmale  veidorben,  das  man  wie  ein  Palladium 
der  Stadtehre  hätte  hüten  und  bewahren  sollen.  Im  Jahre  1812  diente  die 
Stoa  als  Wagenremise  für  die  Franzosen  bei  ihrem  Aufenthalte  auf  dem 
Durchmarsche  nach  Russland.  Schon  im  Jahre  1816  war  eine  Beparatnr 
des  Daches  notwendig,  und  bald  darauf  entfernte  man  die  Büste  aus  der 
Kapelle,  weil  sie  do^  nicht  genügenden  Schutz  fand.  Im  Jahre  1825  be- 
richtet der  Kurator  der  Universität,  dass  sich  die  Halle  und  Kapelle  in 
einem  gräulichen  Zustande  des  Schmutzes  befänden  ;  es  müsse  auffall^, 
wie  wenig  die  Asche  jenes  Mannes  und  der  vielen  würdigen  Lehrer,  die 
daselbst  rahen,  geachtet  werde.  Dann  trat,  wie  es  scheint,  eine  vorüber- 
gehende Besserung  ein.  Wenigstens  sagt  Rosenkranz  in  seinen  Skizzes 
um  das  Jahr  1840:  „Kants  Gebeine  ruhen  gegenwärtig^  im  Albertinum.^ 
£in  offener  Q&ng  an  der  Seite  des  Domes  endigt  mit  einem  Gewölbe, 
worin  der  Sarg  oeigesetzt  ist.  Bei  Regenwetter  geht  man  auf  seinen 
Steinhallen  spazieren.  Die  Kuchenmarketenderinnen  der  Studenten  haboi 
hier  ihren  Lieblingsplatz.  £s  ist  schön,  dass  Kant  an  den  Aussenwerken 
der  Kirche  in  einer  offenen  Halle,  in  welche  die  Linden  sommerlich  ihren 
Duft  hineinstreuen,  wie  ein  König  allein  ruhet.  Er  lässt  hier  die  akade- 
mische Jugend  nicht  ohne  Erinnerung  an  sich.  Er  zwingt  sie,  ihn  nicht 
zu  vergessen.** 

Marktfrauen  und  mutwillige  Musensöhne  pflegen  aber  der  Eîrhaltiuig 
und  Reinlichkeit  solcher  Hallen  nicht  immer  die  notwendige  ^cksicht 
und  Beachtung  zu  widmen.  So  schloss  man  bald  die  Halle  durch  einen 
Lattenzaun.  Diese  Missstände,  wie  der  Wunsch,  dem  Philosophen  ein 
allen  sichtbares  Denkmal  zu  errichten,  das  man  damals  für  den  Phikh 
sophendamm  gegenüber  dem  eben  im  Jahre  1863  eröffneten  Ostbahnhof 
plante,  erklären  eine  völlige  Wandelung  in  den  Ansdiauungen  von  Rosen- 
kranz. So  lesen  sich  Rosenkranz'  Wone  von  ganz  anderer  Auffassung  in 
einem  etwas  befremdenden  Gegensätze  zu  den  früher  angeführten  Lob- 

Sprüchen  über  dieselbe  Stätte:  ^  einer  der  Domkirche  angebauten  Halle, 
em  ehemaligen  Professorengewölbe,  erblickt  man  am  Ende  des  ver- 
schlossenen Ganges  ein  schwarzes  Gitter,  hinter  demselben  einen 
dunkeln,  feuchten,  spinnenumkleideten  Raum.  In  der  Mitte  dieses  Ranmee 
einen  unansehnlichen,  grauen  Marmorstein.  Das  ist  das  Grabdenkmal 
Kants.  Er,  der  Mann  der  Aufklärung,  ruht  hier  in  echt  humoristischem 
Gegensatz  an  einem  düsteren  Ort,  er  der  Mann  des  gemeinnützen  Wirk^is 
hinter  einem  Lattenverschlage,  der  eher  einen  Gefangenen,  als  die  Reste 
des  christlichen  Sokrates  bergen  soUte.^  Noch  unwürdiger  wurde  der  Zustand, 
als  man  das  Gebäude  der  alten  Universität  im  Jahre  1862  verliess  und  snm 
Neubau  des  Kneiphöfechen  Gymnasiums  schritt.  Rosenkranz  erhielt  von  dem 
dort  wohnenden  Oberlehrer  Gasteil  genauere  Mitteilungen.  Man  benutite 
die  Halle  zum  Kalklöschen  und  anderen  für  den  Bau  notwendigen  Vorbe- 
reitungen. Der  Lattenverschla^  und  das  Schloss  wurden  erbn^en.  AU- 
nächthch  zogen  sich  verdächtige  Gestalten  in  den  dunklen  Raum  zurück 
und  feierten  über  dem  Grabe  Kants  Orgien,  die  bisweilen  selbst  zu  Ve^ 
haftnngen  führten.  gWenn  jetzt  —  sagt  Rosenkranz  in  einem  Berichte 
an  den  Senat  —  ein  Fremder  Kants,  des  grössten  Mannes,  den  Königsbeig 
hervorgebracht  hat,  Grab  besucht,  was  würde  er  über  den  Zustand  sagen, 

^)  Das  Albertinum  ist  das  unmittelbar  an  die  Nordseite  des  Domes 
anstossende  alte  Universitätsgebäude,  zwischen  welchem  und  dem  Dom 
eben  die  Stoa  Kantiana  sich  befindet. 


MitteUangen.  169 

worin  er  es  findet.^  Eine  wesentliche  Änderung  trat  nicht  ein.  Im  Jahre 
1869  besuchte  der  amerikanische  Gesandte  und  Historiker  Bran  er  oft 
onsem  Ort,  um  Kants  Grab  und  Wohnhaus  zu  besichtigen.  Es  scheint, 
als  ob  man  jetzt  endlich  das  Gefühl  der  Scham  über  diese  Pietätlosigkeit 
empfand.  Denn  bald  darauf,  am  22.  April  des  Jahres  1870,  wurde  von  der 
Kantgesellschaft  die  Bildung  eines  Komités  zur  würdigen  Herstellung 
der  Graft  und  Kapelle  in  Aussicht  genommen.  Es  bildete  sich  dann  ein 
Komité  aus  Männern  aller  Stande  und  Berufsarten.  Es  vergingen  aber 
noch  11  Jahre,  bis  man  die  Ehrenschuld  den  Manen  Kants  löste  und  die 
•ehliehte,  aber  würdige  Grabkapelle  über  der  neu  gemauerten  Gruft  am 
9.  Jani  1881  der  Stadt  übergeben  konnte.  Die  Büste  Kants  durch  Sieme- 
Tiiiff,  nach  der  älteren  von  Hafiremann  geschaffen  sowie  eine  Kopie  von 
Baiiielg  Schule  von  Athen,  die  Neide  ausgeführt  hat,  dienen  dem  pietät- 
vollen Pilger  als  liebevolle  Weisung  über  den  Zweck  dieser  Stätte,  die 
al^fthrlich  am  22.  April  allen  zugänglich  ist.^) 

Den  Manen  aes  Toten  war  nun  auch  der  fassliche  Ausdruck  der 
Yerehrung  gezollt.  Nur  die  Stoa  selbst  blieb  in  ihrem  unerfreulichen  Zu- 
stande, an  dem  niemand  mehr  Anteil  zu  nehmen  schien.  Man  schlug  be- 
reits im  Jahre  1881  ihren  Abbruch  vor,  aber  das  Ministerium  erlaubte 
nicht  die  Beseitigung  des  Denkmals,  vermutlirh  weil  es  seine  Bedeutung 
flberschätzte.  Zur  Zeit  des  Universitätsjubiläums  (1894)  entzog  man  die 
Halle  den  Augen  durch  einen  Bretterzaun,  der  sie  noch  jetzt  von  der  Seite 
deckt.  Nach  längeren  Verhandlungen  hat  man  endlich  im  letzten  Winter 
n997|8]  die  Erlaubnis  zur  Beseitigung  des  Baues  erhalten,  der  seit  Jahren 
durch  sein  immer  weiter  und  weiter  vom  Wind  und  Regen  abgedecktes 
Dach  einen  peinlichen  Eindruck  neben  der  Grabstätte  Kants  macht.  Nie- 
mand wird  gegen  die  Beseitigung  des  Trümmerhaufens  ernsten  Wider- 
qimch  erheben  wollen.  Wohl  aber  verdient  diese  Stätte  eine  Erinnerung 
an  die  Toten,  die  einst  hier  vom  Kampfe  ausnihten.  Seit  dem  Jahre  1587 
war  me  die  Gruft  der  Professoren,  die  ein  Lehrer  der  Albertina  begründet 
hatte.  Im  Jahre  1806  ist  der  letzte  dort  zur  Ruhe  gebettet.  Wie  der 
Baum  über  der  Krypta  Academica  schon  im  achtzehnten  Jahrhundert  bis 
sum  nachdrücklichen  Verbote  Friedrich  Wilhelms  I.  zur  Aufbewahrung 
▼on  Yiehfutter  diente,  war  er  bereits  im  Jahre  1808  wieder,  bevor  die 
Stoa  ffebaut  wurde,  zum  Schaf-  und  Schweinestall  herabgewürdigt.  Mag 
nunmenr  der  hässliche  Bau  fallen,  um  nicht  wieder  ähnlichen  Zufällen 
ausgesetzt  zu  sein,  aber  den  vielen  Kämpfern,  denen  er  zur  letzten  Ruhe 
gewidmet  wurde,  den  Männern,  die  von  ihren  Jüngern  und  Mitbürgern 
▼erehrt  wurden,  gebührt  auch  ein  Erinnerun^smal,  mag^  es  noch  so  be- 
sdieiden  sein.  Gewiss  erscheint  vom  Ausblick  auf  die  Ewigkeit  es  hin- 
reiehend,  dem  Heros  ein  Denkmal  gesetzt  zu  haben.  Doch  „es  erzeugt 
nicht  gleich  ein  Haus  den  Halbgott.^  Ohne  Überschätzung  der  meist  ver- 
sehoUraen  Namen  jener  Lehrer  der  Wissenschaft  hat  ein  dem  Verdacht 
des  engbegrenzten  Patriotismus  nicht  ausgesetzter  Philosoph, 
wie  Benno  Erdmann,  ein  warmes  Wort  für  das  geistige  Leben  Königs- 
borgs zur  Zeit  der  Jugend  Kants  gesprochen.  Neben  den  Lehrern  Kants 
kat  hier  die  Asche  Simon  Dachs  geruht,  dessen  Werke  erst  süddeutsche 
Litterarhistoriker  mît  genügender  ^rgfalt  hervorgesucht  haben.  Nur  das 
Medaillon  Dachs  hoch  am  First  der  Universität  erinnert  hier  an  den 
SÊngtr  des  Volksliedes  vom  Annchen  von  Tharau,  wie  des  Preisliedes  der 
F^reondschaft  „Der  Mensch  hat  nichts  so  eigen  u.  s.  w.^.   So  mag  denn  das  alte 

^)  Die  Besichtigung  kann  auch  nach  Meldung  beim  Schuldiener  des 
KneiphOfschen  Gymnasiums  täglich  stattfinden.  Dort  erhält  man  auch 
ein  Ueines  Schriftchen:  Kants  Grabstätte  mit  einer  Erklärung  des  Bildes 
und  einem  kurzen  Berichte  über  die  Wiederherstellung  der  Grabstätte. 
Beide,  wie  die  vorgedruckte  Biographie  Kants,  sind,  wie  vielen  unbekannt 
ist,  von  der  Meisterhand  des  verstorbenen  Professors  Witt  verfasst.  Das 
Leben  Kants  ist  in  seiner  kurzen  und  volkstümlichen  Fassung  ein  Kabinett- 
stftck  seiner  unübertrefflichen  Kunst,  zu  erzählen. 


170  MitteUtingfiiL 

Gemäuer  der  Stoa  Eantiana,  des  Professoren^wOlbes,  fallen,  aber  mDr, 
um  einer  Gedenktafel  für  die  vielen,  die  hier  bestattet  wurden,  PUti 
zu  schaffen  Vielleicht  setzt  dann  ehrfurchtsvoller  Bürgersinn  noch  m 
besonderes  Mal  dem  einst  von  Köni^sber^em  Bürgern  so  hoch  gefeierte 
und  doch  von  schwerer  Not  heimgesuchten  Dichter  Simon  Dach.  Dum 
wird  erst  volle  Sühne  geboten  werden  für  das,  was  drei  Menschenaltw  in 
jener  Stätte  gesündigt  haben  und  was  durch  die  Niederreiasong  der  SU» 
Kantiana  nur  zum  Teil  getilgt  werden  kann. 

Nachdem  also  schon  vor  nunmehr  10  Jahren  das  in  die  Stoa  Ku- 
tiana  umgewandelte  alte  Gewölbe  abgebrochen  wurde,  soll  nunmehr  an 
bautechnischen  und  künstlerischen  Gründen  auch  die  seinerzeit  mit  der 
Stoa  Eantiana  verbunden  gewesene  Grabkapelle  Eanta,^)  die  1881  erbist 
und  eingeweiht  wurde,  wieder  abgerissen  werden.  Hierüber  orientint 
uns  folgender  Antrag. 

Königsberg,  den  3.  Dezember  1907. 
Urschriftlich  mit  Anlagen  gegen  gefällige  Bückgabe  an  die 
Stadtverordn  ten- Versammlung 

hier 
mit  dem  Antrag: 

1.  sich  mit  dem  Abbruch  der  an  der  nördlichen  Seite  des  Dom 
befindlichen  Kantkapelle  und  mit  der  Verlegung  der  Grabstätte 
Kants  in  den  Dom  grundsätzlich  einverstanden  zu  erklären, 

2.  zur  Durchführung  des  unter  1.  genannten  Planes  einen  Betnf 
bis  zur  Höhe  von  etwa  60000  M.  vorbehaltlich  der  spätm 
Begelung  der  Deckungsfrage  zur  Verfügung  zn  stellen. 

Als  die  Wiederherstellungsarbeiten  am  Dom  sich  ihrem  Ende  näheiiMi 
wurde  uns  seitens  der  Königlidien  Regierung  der  dringende  Wonach  g»* 
äussert,  die  an  der  Nordseite  des  Doms  befindliche  Kapelle,  in  welehff 
die  Gebeine  Kaats  ruhen,  neu  zu  erbauen,  weil  sie  in  ihrer  jetzigen,  wem| 
glücklichen  Gestaltung  den  schönen  Chor  des  Domes  in  häJaslichater  Wd» 
entstelle  und  weil  sie  baufällig  zu  werden  anfange  und  bald  grOotere  B^ 

Saraturen  erfordern  würde.  Gleichzeitig  wurde  uns  unter  Hinweis  danil^ 
ass  eine  Erneuerung  der  Gruft  aus  Ersparnissen  der  Dombaosnmme  a 
keinem  Falle  zu  erwarten  sei  und  wir  zur  Unterhaitang  der  Grabstätte 
Kants  verpflichtet  seien,  ein  Entwurf  nebst  Kostenanschlag  für  den  Net* 
bau  der  Halle  mit  dem  Ersuchen  vorgelegt,  uns  darüber  zu  äüsseni,  ob 
die  Stadtgemeinde  geneigt  und  in  der  Lage  sei,  die  Mittel  zor  AasfOhnBl 
dieses  Projekts  zur  Vemlgung  zu  stellen.  Wir  mussten  zugeben,  dM 
die  Stadt  zur  Unterhaltung  der  im  Jahre  1881  aus  den  Ergebnissen  eiDtf 
Sammlung  errichteten  Grabkapelle  verpflichtet  ist.  Cf.  act.  I  Fach  74 
Nr.  23  vol.  1  paç.  156.  Ebenso  mussten  wir  die  baulichen  Mängel  sowie 
die  wenig  befriedigenden  Bauformen  der  GruftkapeUe  and  üuren  u* 
günstigen  Anschluss  an  den  Dom  anerkennen.  Deshalb  erklärten  wir  an 
vorbehaltlich  der  Zustimmung  der  Stadtverordneten- Versammlung  b«reit) 
die  Mittel  für  eine  würdige,  .der  Wiederherstellung  des  Domes  eitp 
sprechende  Instandsetzung  und  Umgestaltung  der  Kanthalle  in  den  b» 
herigen  Abmessungen  flüssig  zu  madien,  lehnten  es  aber  ab,  die  Heigibe 
städtischer  Mittel  für  einen  vollständigen  Neubau  nach  dem  uns  Amt- 
mittelten  Entwurf  zu  befürworten,  da  derselbe  als  eine  wirklich  befriedi- 
gende Lösung  nicht  angesehen  werden  konnte.  Die  Königliche  Be«6fnf 
forderte  uns  demzufolge  auf,  einen  unseren  Wünschen  ent^redieote 
Entwurf  selbst  anfertigen  zu  lassen. 

^)  Man  nennt  diese  GrabkapeUe  Kants,  welche  an  die  firtther  fQ^ 
handene,  ^etzt  abgebrochene  Stoa  Èantiana  anstiess,  vielfach  knizw^  sMr 
irrigerweise  selbst  die  Stoa  Kantiana.  Wie  aus  der  obigen  DaisteUiB; 
hervorgeht,  ist  die  eigentliche  Stoa  Kantiana  aber  schon  1^  abgebtoehai 
worden. 


Mitteüimgeii.  171 

Wir  konnten  uns  hierzu  jedoch  nach  reiflicher  Erwftgunff  nicht  ent- 
•chliessen,  grelangten  vielmehr  bei  erneuter  Beratung  zu  der  Überzeugung, 
daas  durch  einen  Anbau  an  den  Dom  eine  zufriedenstellende  L(y8ung  über- 
luinpt  nicht  erzielt  werden  könnte.  Wir  empfahlen  deshalb,  von  einem 
Anbaa  ganz  Abstand  zu  nehmen,  dagegen  die  Grabbtfttte  Kants  im  Innern 
des  Domes  selbst  an  geeijirueter  Stelle  in  würdiger  Weise  unterzubringen. 

Wir  gingen  hierbei  von  der  Ansicht  aus,  dass  auf  diese  Weise  im 
Inneren  des  erhebendsten  Werkes  alter  Baukunst,  dessen  würdige  Erhaltung 
lllr  Jahrhunderte  neu  gesichert  ist,  am  besten  eine  würdige  und  vor 
allem  dauernde  Ruhestätte  für  Königsbergs  grössten  Gelehrten  ge- 
•dtoffen  werden  könnte. 

Dieser  Vorschlag  erhielt  die  Zustimmung  sowohl  des  Gemeinde- 
Kirehenrats,  wie  die  der  Königlichen  Regierung.  Auch  die  Universität, 
welche  gegen  den  Abbruch  der  Grabstätte  Kants  und  gegen  die  Ober- 
fflhrnng  der  Gebeine  Kants  in  den  Dom  anfangs  Einspruch  erhoben  hatte, 
bat  sich  später  mit  unserem  Vorschlage  grundsätzlich  voll  einverstanden 

Nachdem  somit  die  Vorbereitungen  für  die  eventuelle  Durchführung 
unseres  Planes  durch  Erzielung  eines  grundsätzlichen  Einverständnisses 
aller  in  Betracht  kommenden  Stellen  getroffen  sind,  ersuchen  wir  die  ge- 
ehrte Versammlung  ergebenst,  unserem  eingangs  angeführten  Antrag  ge- 
lUligst  zuzustimmen. 

Wir  bemerken  hierzu,  dass  das  Grabmal  an  der  nördlichen  Wand 
der  Gruftkirche  des  Domes  etwa  im  letzten  Drittel  ihrer  Länge  geplant 
ist,  wo  es  einen  unseres  Erachtens  durchaus  würdigen  Platz  haben  würde. 
Zur  Vorbereitung  der  Verwirklichung  des  Planes  gleichzeitig  aber  im 
Interesse  der  Förderung  der  von  Königsberg  ausgehenden  Kunst  halten 
wir  es  für  empfehlenswert,  den  als  Nachfolger  des  Herrn  Professor  Reu  seh 
sum  Lehrer  für  Plastik  an  der  hiesigen  Kunstakademie  berufenen  Professor 
Oaner  zur  Einreichung  von  Entwurfsskizzen  aufzufordern.  Von  dem 
▲ntftdl  dieser  Skizzen  würde  dann  die  endgültige  Auftragserteilung  ab- 
liingig  zn  machen  sein. 

Als  Betrag  für  das  Denkmal  glauben  wir  etwa  60000  M.  in  Aussicht 
n^men  zu  sollen,  da  wir  der  Ansicht  sind,  dass  in  diesem  Falle  ein  Denk- 
smI  geschaffen  werden  muss,  das  nicht  nur  Kants,  sondern  auch  seiner 
▼ateratadt  würdig  ist.  Ober  die  endgültige  Höhe  der  Denkmalskosten 
«id  die  Art  ihrer  Deckung  möchten  wir  uns  deshalb  zurzeit  noch  eines 
apesieUen  Vorschlages  enthalten,  die  würdige  und  befriedigende  Lösnng 
der  Frage  vielmenr  zunächst  nur  grundätzlich  wie  beantragt  fest- 
gelegt täien. 

Magistrat 

Königlicher  Haupt-  und  Residenzstadt. 

Körte.        Dr.  Erdmann.        Mühlbach. 

Ober  diesen  Antrag  ist  in  der  Königsberger  Stadtverordneten- Ver- 
Maunlung  vom  14.  Januar  1908  über  3  Stunden  verhandelt  resp.  lebhaft 
hin  and  her  debattiert  worden.  Der  Magistratsantrag  ist  jedoch  mit  71 
Summen  gegen  21  abgelehnt  worden.  Die  Verhandlungen  dieses  Tages 
kiäben  in  und  ausser  Deutschland  grosses  Interesse  hervorgerufen,  die  Presse 
nahm  teilweise  sehr  energisch  pro  oder  contra  Partei,  und  so  wird  es  die 
Iieeer  der  „Kantstudien^  sicherlich  interessieren  über  das  Nähere  orientiert 
an  werden.  Wir  teilen  hier  das  Nötigste  mit,  nach  der  Königsberger 
Haitongschen  Zeitung  No.  88  und  24,  nach  der  Ostpreussischen  Zeitung 
Ko.  16,  sowie  nach  der  Königsb.  AUg.  Zeitung  No  24,  welche  uns  alle 
freandlichat  von  den  betr.  Redaktionen  zur  Verfügung  gestellt  worden  sind. 

Für  die  Verlegung  des  Orabes  wurde  zeltend  gemacht:  nach  dem 
üitail  der  Sachverständigen  werde  die  Kapefle  in  sidi  selbst  zosammen- 

i;  sie  sei  gar  nicht  fundamentiert  und  erst  in  sehr  grossier  Tiefe  finde 
*  Baagnmd;  aneh  das  Daoh  sei  aohadhafii  das  Innere  der  Kapelle 


170  MitteUtuigeii. 

Gemäuer  der  Stoa  Eantiana,  des  Professoren^wölbes,  fallen,  aber 
um  einer  Gedenktafel  für  die  vielen,  die  hier  bestattet  wurden,  I 
zu   schaffen     Vielleicht  setzt  dann   ehrfurchtsvoller  Bürgersinn   nocb4 
besonderes  Mal  dem  einst  von  Köni^sbergem  Bürgrem  so  hoch  gefeie 
und  doch  von  schwerer  Not  heimgesuchten  Dichter  Si  mon  Dach, 
wird  erst  volle  Sühne  geboten  werden  für  das,  was  drei  Menschenalt 
jener  Stätte  gesündigt  haben  und  was  durch  die  Niederreissung  der  i 
Kantiana  nur  zum  Teil  getilgt  werden  kann. 

Nachdem  also  schon  vor  nunmehr  10  Jahren  das  in  die  Stoa 
tiana   umgewandelte   alte  Gewölbe  abgebrochen  wurde,   soll  nunme 
bautechnischen   und   künstlerischen  Gründen   auch   die   seinerzeit 
Stoa  Eantiana  verbunden   gewesene  Grabkapelle  Eants,^)   die  1881 
und  eingeweiht  wurde,  wieder  abgerissen  werden.    Hierüber   or 
uns  folgender  Antrag. 

Königsberg,  den  3.  Dezember  1907. 
Urschriftlich  mit  Anlagen  gegen  gnfftllige  Rückgabe  an  die 
Stadtverordn  ten- Versammlung 

hier 
mit  dem  Antrag: 

1.  sich  mit  dem  Abbruch   der  an  der  nördlichen  Seite  dea  ] 
befindlichen  Kantkapelle  und  mit  der  Verlegung  der  Gr 
Kants  in  den  Dom  grundsätzlich  einverstanden  zu  erklär« 

2.  zur  Durchführung  des  unter   1.   genannten  Planes  einen 
bis   zur  Höhe    von    etwa   60000  M.    vorbehaltlich    der 
Regelung  der  Deckungsfrage  zur  Verfügung  zu  stellen. 

Als  die  Wiederherstellungsarbeiten  am  Dom  sich  ihrem  Ende  i 
wurde  uns  seitens  der  Königlichen  Regierung  der  dringende  Wu 
äussert,   die   an   der  Nordseite   des  Doms  befindliche  Kapelle,   in 
die  Gebeine  Kaats  ruhen,  neu  zu  erbauen,  weil  sie  in  ihrer  jetzigen»  j 
glücklichen  Gestaltung  den  schönen  Chor  des  Domes  in  hässlic' 
entstelle  und  weil  sie  baufällig  zu  werden  anfange  und  bald  g 

Saraturen  erfordern  würde.    Gleichzeitig  wurde  uns  unter  Hinweis  < 
ass   eine  Erneuerung  der  Gruft   aus  Ersparnissen  der  Domban 
keinem  Falle   zu   erwarten  sei   und   wir  zur  Unterhaltung  der 
Kants  verpflichtet  seien,   ein  Entwurf  nebst  Kostenanschlag  für 
bau  der  Halle  mit  dem  Ersuchen  vorgelegt,   uns  darüber  zu  äni 
die  Stadtgemeinde  geneigt  und  in  der  Lage  sei,  die  Mittel  zur  Au 
dieses  Projekts  zur  Verfügung  zu  stellen.     Wir  mussten   zngeb 
die  Stadt  zur  Unterhaltung  der  im  Jahre  1881  aus  den  Ergebnis! 
Sammlung  errichteten   Grabkapelle   verpflichtet  ist.     Cf.  act.   I  VÊÊ^ 
Nr.  23  vol.  1  paç.  Iö6.     Ebenso   mussten   wir  die  baulichen  Mängel  ic 
die   wenig    befriedigenden   Bauformen    der   Gruftkapelle    und  uirflp 
günstigen  Anschluss   an  den  Dom  anerkennen.    Deshalb  erkl&rten  t^ 
vorbehaltlich   der  Zustimmung  der  Stadtverordneten- Versammlung 
die    Mittel    für   eine    würdige,    -der   Wiederherstellung    des    Doi 
sprechende   Instandsetzung  und  Umgestaltung  der  Kanthdle   in 
herigen  Abmessungen  flüssig  zu  macnen,  lehnten  es  aber  ab,  die 
städtischer   Mittel  für  einen  vollständigen   Neubau   nach   dem  u 
mittelten  Entwurf  zu  befürworten,   da  derselbe  als  eine  wirklich 
gende  Lösung  nicht  angesehen  werden  konnte.    Die  Königliche  B 
forderte  uns  demzufolge  auf,   einen  unseren    Wünschen    ent^r 
Entwurf  selbst  anfertigen  zu  lassen. 

^)  Man  nennt  diese  Grabkapelle  Kants,  welche  an  die 
handene,  ^etzt  abgebrochene  Stoa  Eantiana  anstiess,  vielfach  koi 
irrigerweise  selbst  die  Stoa  KanHana,     Wie  aus  der  obigen 
hervorgeht,  ist  die  eigentliche  Stoa  Kantiana  aber  schon  1898  ab 
worden. 


MitteUimgeii.  169 

worin  er  es  findet.^  Eine  wesentliche  Änderung  trat  nicht  ein.  Im  Jahre 
1889  betachte  der  amerikanische  Gesandte  und  Historiker  Brancroft 
oosem  Ort,  um  Kants  Grab  und  Wohnhaus  zu  besichtigen.  Es  scheint, 
alt  ob  man  jetzt  endlich  das  Gefühl  der  Scham  über  diese  Pietätlosigkeit 
empftind.  Denn  bald  darauf,  am  22.  April  des  Jahres  1870,  wurde  von  der 
Ktntgeselltchaft  die  Bildung  eines  Komités  zur  würdigen  Herstellung 
der  Omft  und  Kapelle  in  Aussicht  genommen.  Es  bildete  sich  dann  ein 
Komité  ant  Männern  aller  Stande  und  Berufsarten.  Es  vergingen  aber 
noch  11  Jahre,  bis  man  die  Ehrenschuld  den  Manen  Kants  löste  und  die 
lehlichte,  aber  würdige  Grabkapelle  über  der  neu  gemauerten  Gruft  am 
9.  Jani  1881  der  Stadt  übergeben  konnte.  Die  Büste  Kants  durch  Sieme- 
ritff,  n«eh  der  älteren  von  Hafiremann  geschaffen  sowie  eine  Kopie  von 
Rinelt  Schale  von  Athen,  die  Neide  ausgeführt  hat,  dienen  dem  pietät- 
vollen Pilger  als  liebevolle  Weisung  über  den  Zweck  dieser  Stätte,  die 
alQihrlich  am  22.  April  allen  zugänglich  ist.^) 

Den  Manen  aes  Toten  war  nun  auch  der  fassliche  Ausdruck  der 
Verehrang  gezollt.  Nur  die  Stoa  selbst  blieb  in  ihrem  unerfreulichen  Zu- 
itendc^  an  dem  niemand  mehr  Anteil  zu  nehmen  schien.  Man  schlug  be- 
reut im  Jahre  1881  ihren  Abbruch  vor,  aber  das  Ministerium  erlaubte 
ideht  die  Beseitigung  des  Denkmals,  vermutlirh  weil  es  seine  Bedeutung 
flberKhätzte.  Zur  Zeit  des  Universitätsjubiläums  (1894)  entzog  man  die 
Haue  den  Aagen  durch  einen  Bretterzaun,  der  sie  noch  jetzt  von  der  Seite 
deckt  Nach  längeren  Verhandlungen  hat  man  endlich  im  letzten  Winter 
(188718]  die  Brlaubnis  zur  Beseitigung  des  Baues  erhalten,  der  seit  Jahren 
area  tein  immer  weiter  und  weiter  vom  Wind  und  Regen  abgedecktes 
DMk  einen  peinlichen  Eindruck  neben  der  Grabstätte  Kants  macht.  Nie- 
Btad  wird  gegen  die  Beseitigung  des  Trümmerhaufens  ernsten  Wider- 
^fndtk  erbeben  wollen.  Wohl  aber  verdient  diese  Stätte  eine  Erinnerung 
n  die  Toten,  die  einst  hier  vom  Kampfe  ausruhten.  Seit  dem  Jahre  1587 
Wir  tie  die  Graft  der  Professoren,  die  ein  Lehrer  der  Albertina  begründet 
kitte.  Im  Jahre  1806  ist  der  letzte  dort  zur  Ruhe  gebettet,  wie  der 
Btam  Aber  der  Krypta  Academica  schon  im  achtzehnten  Jahrhundert  bis 
HB  nacbdrflcklichen  Verbote  Friedrich  Wilhelms  I.  zur  Aufbewahrung 
im  Viehfotter  diente,  war  er  bereits  im  Jahre  1808  wieder,  bevor  die 
Stoa  cebaut  warde,  zum  Schaf-  und  Schweinestall  herabgewürdigt.  Mag 
wniidir  der  hästliche  Bau  fallen,  um  nicht  wieder  ähnlichen  Zufällen 
mitteüit  £a  tein,  aber  den  vielen  Kämpfern,  denen  er  zur  letzten  Ruhe 
fewidmet  worde,  den  Männern,  die  von  ihren  Jüngern  und  Mitbürgern 
iwefart  worden,  gebührt  auch  ein  Erinnerungsmal,  mag^  es  noch  so  be- 
•Aeiden  tein.  Oewits  erscheint  vom  Ausblick  auf  die  Ewigkeit  es  hin- 
nieheiid,  dem  Heros  ein  Denkmal  gesetzt  zu  haben.  Doch  „es  erzeugt 
lidit  gleieh  ein  Haus  den  Halbgott.*^  Ohne  Überschätzung  der  meist  ver- 
NkoDoien  Namen  jener  Lehrer  der  Wissenschaft  hat  ein  dem  Verdacht 
te  en^begrenzten  Patriotismus  nicht  ausgesetzter  Philosoph, 
^Benno  Erdmann,  ein  warmes  Wort  für  das  geistige  Leben  Königs- 
^p  sur  Zeit  der  Jugend  Kants  gesprochen.  Neben  den  Lehrern  Kants 
Wtkier  die  Atche  Simon  Dachs  geruht,  dessen  Werke  erst  süddeutsche 
Uteiirliittoriker  mit  genügender  ^rgfalt  hervorgesucht  haben.  Nur  das 
lUbilloii  Dacht  hoch  am  First  der  Universität  erinnert  hier  an  den 
^Her  des  Volktliedes  vom  Annchen  von  Tharau,  wie  des  Preisliedes  der 
nwiidtehaft  i»Der  Mensch  hat  nichts  so  eigen  u.  s.  w.^.  So  mag  denn  das  alte 

^)  Die  Betichtigang  kann  auch  nach  Meldung  beim  Schuldiener  des 
bâphflfbchen  Gymnasiums  täglich  stattfinden.  Dort  erhält  man  auch 
ÂUeiiiet  Schriftchen:  Kants  Grabstätte  mit  einer  Erklärung  des  Bildes 
Jid  anem  korzen  Berichte  über  die  Wiederherstellung  der  Grabstätte. 
Bädt,  wie  die  vorgedruckte  Biographie  Kants,  sind,  wie  vielen  unbekannt 
<>t»tQii  der  Meittc?hand  des  verstorbenen  Professors  Witt  verfasst.  Das 
Utes  Kante  itt  in  teiner  kurzen  und  volkttümlichen  Fassung  ein  Kabinett- 
<M  atiner  imflbertrefflichen  Kunst,  zu  erzählen. 


172  MittaUongen. 

gehe  daher  allmählich  durch  Feuchtigkeit  zu  Grunde.  Eine  provisonsche 
Ausbesserung  sei  auf  die  Dauer  unbefriedi^nd.  Als  Bauwerk  sei  die 
Kapelle  künstlerisch  ohne  ^eden  Wert,  ein  Produkt  missverstandener  OotiL 
Die  Kapelle  sei  weder  ein  historisches  noch  ein  künstlerisches  DenkxnaL 
Das  Innere  der  Kapelle  bestehe  aus  lauter  Nachahmungen,  ohne  selbständige 
künstlerische  Gedanken  Die  Verlegung  des  Grabes  in  das  Innere  & 
Domes  sei  daher  die  einzig  mögliche  Lösung  der  Frage.  Die  Domkirche 
sei  stets  die  Universitätskirche  gewesen,  indem  in  ihr  auch  rein  weltliehe 
akademische  Akte  stattgefunden  haben.  Der  Chor  des  Domes,  in  den  das 
Grab  verlegt  werden  soll,  sei  von  der  eigentlichen  Predigtkirche  durdi 
einen  Vorhang  getrennt;  dieser  Chor,  in  dem  u.  A.  der  Gründer  der 
Universität  liegt,  sei  ein  Oampo  santo  für  Königsberg.  Wenn  man  st^ 
dass  Kant,  der  Philosoph,  nicht  in  eine  Kirche  hineingehöre,  so  sei  dani 
zu  erinnern,  dass  auch  Kopernikus  und  Galilei  in  einer  Kirche  beigesetsk 
worden  seien.  Die  Domgemeinde  sei  stolz  darauf,  den  grossen  Toten  auf- 
zunehmen. (Prof.  Dr.  Stettiner.)  —  Die  Vorlage  des  Magistrats  soDe 
man  nicht  aus  aprioristischen  Gründen  von  vornherein  verurteilen,  sonden 
sie  kühl  beurteilen  aus  den  nüchternen  praktischen  Gründen,  welche  is 
der  Vorlage  selbst  angegeben  seien.  Aus  der  Geschichte  der  Stoa  Kantmi 
und  ihren  vielen  Wandlungen  ergebe  sich,  dass  man  nach  all  den  Ver 
legungen  des  Grabes  nun  endlich  einmal  dem  unglücklichen  Kant  Rohe 
im  Innern  des  Domes  verschaffen  solle,  wo  er  nicht  mehr  hin  und  her 
getragen  werde.  Da  die  jetzige  Grabkapelle  so  baufäll^  sei,  so  mflsste  lie 
immer  wieder  von  Zeit  zu  Zeit  repariert  werden,  wobei  dann  die  GebeiM 
Kants  immer  wieder  exhumiert  werden  müssten.  Wer  die  Hnndertiahrfcier 
Kants  1904  mitgemacht  habe,  müsse  auf  den  Gedanken  kommen,  dass  sieh 
Königsberg  eigentlich  der  jetzigen  Grabstätte  Kants  schämen  müsse.  Dmé 
ein  Epitaph  im  Innern  des  Domes  würden  alle  Obelstände  dauernd  ve^ 
schwinden.  Hierin  bestehe  eine  Ehrenpflicht  der  Stadt  Königsberg  gegtt 
ihren  grössten  Sohn.  Eine  angebliche  Disharmonie  zwischen  der  Veri^goy 
der  Grabstätte  in  das  Innere  des  Domes  und  dem  Inhalt  seiner  Philosophie 
sei  nicht  einzusehen,  Kant  sei  nicht  antireligiös  gewesen;  eine  waiO' 
herzigere  Auffassung  von  Religion,  als  sie  Kant  geäussert  habe,  werde  maB 
schwerlich  antreffen.  Auch  der  Kirche  sei  er  nicht  abhold  gewesen,  ift 
seiner  Schrift  über  die  Reli^on  betone  er  vielmehr  ausdrücklich,  àm 
Religion  ohne  Kirche  unmöglich  sei.  Als  Grabmal  Kants  in  Dom  sei  é» 
kraftvolle,  künstlerische  Allegorie  zu  erhoffen,  die  den  Beschauer  lebhaft  la 
den  unter  dem  Epitaph  Ruhenden  erinnere.  (Oberbürizrermeister  Dr.  Körtej 
—  Auch  ein  grosser  Teil  der  Mitglieder  der  Königsberger  KantgeseUscbft 
sei  für  die  Verlegung  in  den  Dom,  da.  es  notwendig  sei,  Kants  G^)eiii 
an  eine  weniger  baufällige  Stelle  zu  bringen.  Die  Abneigung,  Kant  is 
eine  Kirche  zu  bringen,  sei  in  diesem  Falle  ungerechtfertigt;  denn  es  handk 
sich  ja  nicht  um  eine  Predigt kirche,  sondern  nur  um  eine  Gmftkirche.  Der 
Dom  sei  nicht  als  Repräsentant  des  starren  Elirchentums  zu  betrachtes, 
geçen  das  sich  ja  allerdings  Kant  erklärt  habe.  Ob  Kant  ein  Freund  oder 
Feind  des  offiziellen  Kirchentums  war,  sei  gänzlich  ffleichg^tig  bei  B** 
urteilung  dieser  Sache;  Kant  sei  jedenfalls  kein  Feina  des  Ohri8teatia& 
(Dr.  Dirichlet,  Bühnenkönig  der  Königsbergper  Kantgesellschaft)  — 

.  Dagegen  wurden  folgende  Argumente  ins  Feld  ^führt:  IMe  gcsef 
wärtige  Kapelle  entspreche,  wenn  sie  auch  kein  künstlerisch  anromchmOer 
Bau  sei,  doch  aUen  Anforderungen  an  eine  Grabstätte  Kante,  aer  ja  sdioi 
ein  sehr  schönes  Denkmal  in  Königsberg  habe  ;  die  jetzige  Kapelle  sei  eil 
würdiges  und  einfaches  Grabmal.  Zum  Dom  aber  habe  Kant  gar  käi 
Verhältnis  gehabt.  Auch  die  alte  Stoa  Eantiana,  der  die  Grabkapella  » 
gegliedert  worden  sei,  habe  gar  nicht  zum  Dom  gehört,  sondern  ne  sei  irf 
Universitätsgrund  gebaut  gewesen.  Eine  Kants  wür^se  Ghrabsifttte  sei  W 
dann  vorhanden,  wenn  man  Kant  allein  begrabe,  nient  aber  mit  Andena 
zusammen.  Im  Dome  würde  er  unter  einer  Crossen  Arn  »hl  vom  PenoMB 
ruhen,  mit  denen  er  gar  nichts  zu  tun  habe:  m  diesen  Kreis  gehöre  Kii^ 
nun  einmal  schlechterdings  nicht  hinein.     Auch,  würde  das  gesdüoMM 


Mitteüangen.  173 

Bild,  das  der  Domchor  jetzt  darbiete,  dnrch  ein  weiteres  Grabmal  gestört. 
(Uniyersitatsprofessor  Dr.  Rühl.)  —  Im  Dome  werde  sich  die  Wirkung 
eines  Eantdenkmales  neben  den  übrigen  Denkmälern  gänzlich  verlieren. 
Diese  würden  Kants  Denkmal  erdrücken.  Die  an  demselben  Vormittag 
Torgenommene  offizielle  Besichtig^ong  habe  ergeben,  dass  die  Grabkapelle 
Kmnts  gar  nicht  so  baufällig  sei,  wie  ^esaj^  worden  sei;  sie  sei  nur 
lestaorationsbedürftig,  aber  auch  restaurationsrahig.  (Ewert.)  —  Die  Vor- 
li^  enthalte  nichts  oesonders  Ehrendes  für  Kant.  Beziehungen  zwischen 
Kmnt  and  der  Domgemeinde  seien  car  nicht  vorhanden.  Kant  sei  zwar  ein 
tiefrelifi^iOser  Mann  gewesen,  aber  sein  Verhältnis  zur  äusseren  Ausgestaltung 
der  Beu^on  sei  keineswegs  so  innig  gewesen,  dass  es  angebracht  sei,  ihn 
mrade  im  Innern  einer  Kirche  zu  begraben.  Man  sei  sehr  wohl  in  der 
Lege,  an  der  jetzigen  Begräbnisstätte  Kants  ein  würdiges  und  dauerndes 
Grabmal  zu  schaffen.  Auch  die  Art,  wie  das  neue  Grabmal  geplant  sei, 
entspreche  dem  schlichten  Wesen  Kants  nicht;  ein  prunkvolles,  vornehmes, 
»ossartiges  Epitaph  sei  gar  nicht  in  Kants  Sinn.  (Dr.  Lichtenstein.)  — 
Kent  sei  nie  mr  eine  dogmatische  Religion  gewesen,  gehöre  also  nicht  in 
eine  Kirche  (Orlopp.)  —  Besonders  folgender  Gegengrund  wurde  noch 
geltend  gemacht:  Die  Gebeine  Kants  ruhen  zur  Zeit  auf  städtischem  Grund 
und  Boden;  mit  der  Verlegung  in  das  Innere  des  Domes  höre  dies  enge 
YerhAltnis  der  Stadtverwaltung  zu  Kants  Grab  auf;  dann  habe  die  Stadt 
kein  Verfflgunj^recht  mehr  über  Kants  Grab,  und  während  es  jetzt  Jeder- 
aenn  zugänghch  sei,  könne  diese  Öffentlichkeit  nachher  ohne  jedes  Ein- 
sprochsrecht  der  Stadt  beschränkt  werden.  Natürlich  wurden  auch  finanzielle 
»edenken  geltend  gemacht.  Königsberg  hat  bekanntlich  (in  Nachwirkung 
der  Besetzung  durch  die  Franzosen  vor  nunmehr  100  Jahren)  sehr  schlechte 
Finanzen. 

Aas  diesen  Gründen,  und  da  auch  der  Oberbürgermeister  zugeben 
amsste,  dass  die  jetzige  Grabkapelle,  bei  geeigneter  l^staurierung,  noch 
100  Jahre  stehen  könne,  wurde  der  Magistratsantrag  abgelehnt,  und  ein 
Antrag  auf  Restaurierung  der  jetzigen  Grabkapelle  Kants  angenommen. 

In  dieser  Debatte  wnrde  auch  ein  Brief  verlesen,  den  der  Unter- 
leiehnete,  auf  eine  Anfrage  des  Stadtverordnetenvorstehers  Prof.  Dr. 
P.  Stettiner  in  dieser  Angelegenheit  an  Letzteren  geschrieben  hatte.  Der 
Brief  lautet: 

Halle  a.  S.,  den  11.  Janaar  1908. 

Sehr  geehrter  Herr! 

Ich  muss  gestehen,  dass  es  mir,  wie  ja  wohl  den  Meisten,  das 
Schönste  and  Würdigste  erschiene,  wenn  die  Grabstätte  Kants,  da,  wo  sie 
bisher  war,  erhalten  oleiben  könnte,  und  wenn  es  möglich  gemacht  würde, 
dass  der  diese  Grabstätte  enthaltende  kleine  weihevolle  £um  in  irgend- 
einer künstlerisch  befriedigenden  Form  als  Aussenglied  der  Kirche  be- 
stehen bleiben  würde. 

Ob  die  Gründe,  welche  der  Magistrat  der  Stadt  Königsberg  für 
die  Verlegung  der  Grabstätte  ins  Innere  der  Kirche  geltend  macht, 
stichhaltig  sind,  kann  deijenige  nicht  beurteilen,  der  nicht  an  Ort  und 
Stelle  ist  und  nicht  in  der  Lage  sich  befindet,  die  Pläne,  die  zum  Umbau 
der  Grabstätte  gemacht  wurden,  die  aber  verworfen  worden  sind,  selbst 
adt  kunstverständigem  Blick  zu  prüfen. 

Wenn  aber  mese  Gründe  stichhaltig  sind  —  und  sie  müssen  es  doch 
wohl  sein,  da  doch  sonst  weder  die  Regierung,  noch  die  Universität,  noch 
der  Kirchengemeinderat  zugestimmt  hätten  —,  so  ist  ^gen  die  Verlegung 
der  Grabstätte  Kants  in  das  Innere  der  Kirche,  meines  Erachtens  vom 
fhüosophischen  Standpunkt  aus  gamichts  einzuwenden,  sofern  nur  dafür 
cesor^  wird,  dass  das  zu  erricntende  Grabdenkmal  Kants  nicht  eine 
neehnft  oder  ein  Syinbol  bekommt,  welche  dem  unabhängigen  Charakter 

Philosophie  widersprächen. 

Wenn  ich  mir  erlauben  darf,  zu  diesem  Denkmal  eine  Idee  auszu- 
so  ist  et  folgende:  ein  flberiebenigroaser,  ein  Kolpssalkppf 


172  MitteUangen. 

gehe  daher  allmählich  durch  Feuchtigkeit  zu  Grunde.  Eine  proviaoïische 
Ausbesserung  sei  auf  die  Dauer  unbefriedigend.  Als  Bauwerk  sei  die 
Kapelle  künstlerisch  ohne  jeden  Wert,  ein  Produkt  missverstandener  OotiL 
Die  Kapelle  sei  weder  ein  historisches  noch  ein  künstlerisches  DenkxnaL 
Das  Innere  der  Kapelle  bestehe  aus  lauter  Nachahmungen,  ohne  selbständige 
künstlerische  Gedanken  Die  Verlegung  des  Grabes  in  das  Innere  doi 
Domes  sei  daher  die  einzig  mögliche  Lösung  der  Frage.  Die  Domkirche 
sei  stets  die  Universitätskirche  gewesen,  indem  in  ihr  auch  rein  weltliehe 
akademische  Akte  stattgefunden  haben.  Der  Chor  des  Domes,  in  den  das 
Grab  verlegt  werden  soll,  sei  von  der  eigentlichen  Predigtkirche  dordi 
einen  Vorhang  getrennt;  dieser  Chor,  in  dem  u.  A.  der  Gründer  der 
Universität  liegt,  sei  ein  Oampo  santo  für  Königsberg.  Wenn  man  stgt^ 
dass  Kant,  der  Philosoph,  nicht  in  eine  Kirche  hineingehöre,  so  sei  dani 
zu  erinnern,  dass  auch  Kopernikus  und  Galilei  in  einer  Kirche  beigesetit 
worden  seien.  Die  Domgemeinde  sei  stolz  darauf,  den  grossen  Tot&k  anf* 
zunehmen.  (Prof.  Dr.  Stettiner.)  —  Die  Vorlage  des  Magistrats  soDe 
man  nicht  aus  aprioristischen  Gründen  von  vornherein  verurteilen,  sonden 
sie  kühl  beurteilen  aus  den  nüchternen  praktischen  Gründen,  welche  io 
der  Vorlage  selbst  angegeben  seien.  Aus  der  Geschichte  der  Staa  Ktmtûm 
und  ihren  vielen  Wandlungen  ergebe  sich,  dass  man  nach  all  den  Ver 
legungen  des  Grabes  nun  endlich  einmal  dem  unglücklichen  Kant  Rohe 
im  Innern  des  Domes  verschaffen  solle,  wo  er  nicht  mehr  hin  und  her 
getragen  werde.  Da  die  jetzige  Grabkapelle  so  baufällc  sei,  so  mflsste  lie 
immer  wieder  von  Zeit  zu  Zeit  repariert  werden,  wobei  dann  die  Gebeue 
Kants  immer  wieder  exhumiert  werden  müssten.  Wer  die  Hnnderiîahrfeîer 
Kants  1904  mitgemacht  habe,  müsse  auf  den  Gedanken  kommen,  dasi  sieh 
Königsberg  eigentlich  der  jetzigen  Grabstätte  Kants  schämen  müsse.  Tksé 
ein  Epitaph  im  Innern  des  Domes  würden  alle  Übelstände  dauernd  ve^ 
schwinden.  Hierin  bestehe  eine  Ehrenpflicht  der  Stadt  Köni^berg  gegtt 
ihren  grössten  Sohn.  Eine  angebliche  Disharmonie  zwischen  der  Verl^g^my 
der  Grabstätte  in  das  Innere  des  Domes  und  dem  Inhalt  seiner  Philosophie 
sei  nicht  einzusehen,  Kant  sei  nicht  antireligiös  gewesen;  eine  wan' 
herzigere  Auffassung  von  Religion,  als  sie  Kant  geäussert  habe,  werde  mu 
schwerlich  antreffen.  Auch  der  Kirche  sei  er  nicht  abhold  gewesen,  is 
seiner  Schrift  über  die  ReU^on  betone  er  vielmehr  ausdrücklich,  daa  < 
Religion  ohne  Kirche  unmöghch  sei.  Als  Grabmal  Kants  in  Dom  sei  eine 
kraftvolle,  künstlerische  Allegorie  zu  erhoffen,  die  den  Beschauer  lebhaft  ib 
den  unter  dem  Epitaph  Ruhenden  erinnere.  (Oberbürgermeister  Dr.  KörteJ 
—  Auch  ein  grosser  Teil  der  Mitglieder  der  Königsberger  Kantgesellschift 
sei  für  die  Verlegung  in  den  Dom,  da.  es  notwendig  sei,  Kants  GebeiM 
an  eine  weniger  baufällige  Stelle  zu  bringen.  Die  Abneigung,  Kant  h 
eine  Kirche  zu  bringen,  sei  in  diesem  Falle  ungerechtfertigt;  denn  es  handle 
sich  ja  nicht  um  eine  Predigtkirche,  sondern  nur  um  eine  Gruftkirche.  Dv 
Dom  sei  nicht  als  Repräsentant  des  starren  Elirchentums  zu  betrachteSt 
geçen  das  sich  ja  allerdings  Kant  erklärt  habe.  Ob  Kant  ein  Freund  oder 
Feind  des  offiziellen  Kirchentums  war,  sei  gänzlich  çleich^ttlt^  bei  Be- 
urteilung dieser  Sache;  Kant  sei  jedenfalls  kein  Feina  des  GhristeiitiBi» 
(Dr.  Dirichlet,  Bühnenkönig  der  Königsber^r  Kantgesellschaft)  — 

.  Dagegen  wurden  folgende  Argumente  ins  Feld  geführt:  Die  g^ff^ 
wärtige  Kapelle  entspreche,  wenn  sie  auch  kein  ktlnstlensch  anromchsfoiler 
Bau  sei,  doch  allen  Anforderungen  an  eine  Grabstätte  Kante,  dar  ja  sdioi 
ein  sehr  schönes  Denkmal  in  Königsberg  habe  ;  die  jetzige  Kapelle  sei  éà 
würdiges  und  einfaches  Grabmal.  Zum  Dom  aber  habe  Kant  gar  kdi 
Verhältnis  gehabt.  Auch  die  alte  Stoa  Eantiana,  der  die  Gràbkalpeile  ai' 
gegliedert  worden  sei,  habe  gar  nicht  zum  Dom  gehört,  sondern  sie  sei  irf 
umversitätsgrund  gebaut  gewesen.  Eine  Kants  würdige  Gtebstätte  sei  ntf 
dann  vorhanden,  wenn  man  Kant  allein  begrabe,  nidit  aber  mit  Andene 
zusammen.  Im  Dome  würde  er  unter  einer  grossen  Aneahl  von  PenoMB 
ruhen,  mit  denen  er  gar  nichts  zu  tun  habe:  m  diesen  Kreis  gehöre  Kan^ 
nun  einmal  schlechterdings  nicht  hinein.     Auch,  würde  da»  gtBMtmm 


Mitteüimgeti.  I7â 

Bild,  das  der  Domchor  jetzt  darbiete,  durch  ein  weiteres  Grabmal  gestört. 
(UniTersitätsprof essor  Dr.  Rühl.)  —  Im  Dome  werde  sich  die  Wirkung 
eines  Kantdenkmales  neben  den  übrigen  Denkmälern  gänzlich  verlieren. 
Diese  würden  Kants  Denkmal  erdrücken.  Die  an  demselben  Vormittag 
▼cnrgenommene  offizielle  Besichtig[ung  habe  ergeben,  dass  die  Grabkapelle 
Kmnts  gar  nicht  so  baufällig  sei,  wie  ^esaj^  worden  sei;  sie  sei  nur 
lestaorationsbedürftig,  aber  auch  restaurations&hig.  (Ewert.)  —  Die  Vor- 
li^  enthalte  nichts  oesonders  Ehrendes  für  Kant.  Beziehungen  zwischen 
Kmnt  und  der  Domgemeinde  seien  ^r  nicht  vorhanden.  Kant  sei  zwar  ein 
tiefreligiOser  Mann  gewesen,  aber  sein  Verhältnis  zur  äusseren  Ausgestaltung 
der  Beu^on  sei  keineswegs  so  innig  gewesen,  dass  es  angebracht  sei,  ihn 
mrade  im  Innern  einer  Kirche  zu  begraben.  Man  sei  sehr  wohl  in  der 
Lege,  an  der  jetzigen  Begräbnisstätte  Kants  ein  würdiges  und  dauerndes 
Grabmal  zu  schaffen.  Auch  die  Art,  wie  das  neue  Grabmal  geplant  sei, 
entspreche  dem  schlichten  Wesen  Kants  nicht;  ein  prunkvolles,  vornehmes, 
»ossartiges  Epitaph  sei  gar  nicht  in  Kants  Sinn.  (Dr.  Lichtenstein.)  — 
Kent  sei  nie  mr  eine  dogmatische  Religion  gewesen,  gehöre  also  nicht  in 
eine  Kirche  (Orlopp.)  —  Besonders  folgender  Gegengrund  wurde  noch 
geltend  gemacht:  Die  Gebeine  Kants  ruhen  zur  Zeit  auf  städtischem  Grund 
und  Boden;  mit  der  Verlegung  in  das  Innere  des  Domes  höre  dies  enge 
Veriiftltnis  der  Stadtverwaltung  zu  Kants  Grab  auf;  dann  habe  die  Stadt 
kein  Verfflgunj^recht  mehr  über  Kants  Grab,  und  während  es  jetzt  Jeder- 
nenn  zugänghch  sei,  könne  diese  Öffentlichkeit  nachher  ohne  jedes  Ein- 
•nmchsrecht  der  Stadt  beschränkt  werden.  Natürlich  wurden  auch  finanzielle 
Bedenken  geltend  gemacht.  Königsberg  hat  bekanntlich  (in  Nachwirkung 
der  Besetzung  durch  die  Franzosen  vor  nunmehr  100  Jahren)  sehr  schlechte 
Finenzen. 

Aus  diesen  Gründen,  und  da  auch  der  Oberbürgermeister  zugeben 
amaste,  dass  die  jetzige  Grabkapelle,  bei  geeigneter  I&staurierung,  noch 
100  Jahre  stehen  könne,  wurde  der  Magistratsantrag  abgelehnt,  und  ein 
Antrag  auf  Restaurierung  der  jetzigen  Grabkapelle  Kants  angenommen. 

In  dieser  Debatte  wurde  auch  ein  Brief  verlesen,  den  der  Unter- 
leiehnete,  auf  eine  Anfrage  des  Stadtverordnetenvorstehers  Prof.  Dr. 
P.  Stettiner  in  dieser  Angelegenheit  an  Letzteren  geschrieben  hatte.  Der 
Btrief  lautet: 

Halle  a.  S.,  den  11.  Januar  1908. 

Sehr  geehrter  Herr! 

Ich  muss  gestehen,  dass  es  mir,  wie  ja  wohl  den  Meisten,  das 
Schönste  und  w£digste  erschiene,  wenn  die  Grabstätte  Kants,  da,  wo  sie 
Iviaher  war,  erhalten  oleiben  könnte,  und  wenn  es  möglich  gemacht  würde, 
dees  der  diese  Grabstätte  enthaltende  kleine  weihevolle  ^um  in  irgend- 
einer künstlerisch  befriedigenden  Form  als  Aussenglied  der  Kirche  be- 
stehen bleiben  würde. 

Ob  die  Gründe,  welche  der  Magistrat  der  Stadt  Königsberg  für 
die  Verlegung  der  Grabstätte  ins  Innere  der  Kirche  geltend  macht, 
•tiehhaltig  sind,  kann  deijenige  nicht  beurteilen,  der  nicht  an  Ort  und 
Stelle  ist  und  nicht  in  der  Lage  sich  befindet,  die  Pläne,  die  zum  Umbau 
der  Grabstätte  gemacht  wurden,  die  aber  verworfen  worden  sind,  selbst 
Wûit  kunstverständigem  Blick  zu  prüfen. 

Wenn  aber  oiese  Gründe  stichhaltig  sind  —  und  sie  müssen  es  doch 
wohl  sein,  da  doch  sonst  weder  die  Regierung,  noch  die  Universität,  noch 
der  Kirchengemeinderat  zugestimmt  hätten  —  ,so  ist  çegen  die  Verlegung 
der  Grabstätte  Kants  in  &m  Innere  der  Kirche,  mêmes  Erachtens  vom 
fhflnenphitnhrn  Standpunkt  aus  gamichts  einzuwenden,  sofern  nur  dafür 
Mtor^  wird,  dass  das  zu  errichtende  Grabdenkmal  Kants  nicht  eine 
beehnft  oder  ein  Syinbol  bekommt,  welche  dem  unabhängigen  Charakter 

Philosophie  widersprächen. 

Wenn  ich  mir  erlauben  darf,  zu  diesem  Denkmal  eine  Idee  auszu- 
•0  ist  et  folgende:  ein  flberlebenignmer,  ein  Kolpssalkppf 


174  Mitteilungen. 

Kants,  und  daneben  eine  fackelhaltende  weibliche  Fiirur,  am  dai 
berühmte  Wort  Kants  lebendig  vor  Augen  zu  führen  :  die  Philosophie  lei 
nicht  eine  Dienerin  der  Theologie,  die  ihr  die  Schleppe  nachtrage,  sondon 
eine  solcht^  die  ihr  die  Fackel  vorantrage. 

So  wird  auch  der  am  weitesten  links  stehende  Freand  der  Kantisdiei 
Philosophie  in  der  Verbringuug:  der  Gebeine  Kants  in  eine  Kirche  ktm 
Verleugnung  seiner  Lehre  erblicken,  sondern  im  Gegenteil  ein  Symbol 
dafür,  dass  Kants  Geist  immer  mehr  in  die  Kirche  hineingetragen  weidet 
möge.  In  ausgezeichneter  Hochachtung 

Professor  Dr.  H.  Vaihinger. 

Dieser  Brief  ist  in  der  Presse  vielfach  kommentiert,  aber  mehr&tk 
miss  verstanden  worden.  Eine  aufmerksame  Lektüre  desselben  zeigt,  ém 
ich  die  Erhaltung  des  Status  quo  für  das  Beste  halte,  und  dass  mir  Kanti 
jetzige  Grabstätte  gerade  in  ihrer  Einfachheit  einen  würdigen  EÜDdroek 
macht,  dass  eine  Restaurierung^  der  Kapelle,  wobei  das  Innere  eventuell 
noch  etwas  künstlerischer,  aber  ja  nicht  komplizierter  gestaltet  würde, 
mir  das  Geeignetste  erscheint.  Über  die  angebliche  Notwendigkeit  einer 
Entfernung  der  Kapelle  habe  ich  mich  überaus  vorsichtig  geäussert;  wie 
sich  gezeigt  hat,  mit  Recht,  da  die  Beaugenscheinigung  durch  die  Stadt- 
verordneten ergeben  hat,  dass  die  Kapelle  gar  nicht  so  sehr  baufällig  ist 
Wäre  aber  diese  Baufälligkeit  erwiesen  gewesen,  und  wäre  die  Errichtimg 
eines  Neubaues  an  der  bisheri^ren  Stelle  untunlich  gewesen  —  für  dieseo 
Fall  und  nur  für  diesen  Fall  habe  ich  der  Verlegang  der  Grabstätte 
in  das  Innere  des  Domes  das  Wort  geredet;  aber  man  wird  anerkennea, 
dass  ich  diese  Verlegung  sehr  verklausuliert  habe:  nichts,  was  der  Untb* 
hängigkeit  der  Kantischen  Philosophie  Abbruch  tun  könnte,  ja  im  Gege&> 
teil  —  der  Vorschlag  eines  Epitaphs,  dessen  Ausführung  der  Verlepmg 
der  Gebeine  des  kritischsten  aber  Philosophen  in  das  Innere  einer  Kireke 
das  notwendige  Gegengewicht  geben  würde:  die  bildliche  Dantellnig 
jenes  berühmten  Ausspruches  Kants,  durch  den  er  das  alte  bOse  Wort  im 
der  Philosophie  als  ancilla  theohgiœ  so  glücklich,  so  ^^eistreich  panlyaeit 
hat.    Man   muss   doch  sehr  schwerhörig  sein,   um   nicht   daraus  eine  Art 


Einzug 

druck  zu  bringen  —  fast,  wie  wenn  Jemand  den  Bewohnern  Iliums  anrät^  àm 
trojanische  Pferd  in  ihre  Mauern  zu  ziehen.  Denn  ein  Denkmal  in  der 
angegebenen  Art  würde,  auch  wenn  es  in  der  Gmftkirche  steht,  doch  des 
Rednern  in  der  anstossenden  Predi^kirche  und  in  jeder  Kirche  überlnayt 
eine  Mahnung  sein,  ihr  Haupt  mit  einem  Tropfen  kritischen  Öles  sn  aalbô. 

Diesen  Sinn  meines  Briefes  hat  ein  Teil  der  Iieser  flbenèhea 
Am  schlimmsten  geschah  dies  seitens  meines  alten  lieben  Lndwig  OoM- 
Schmidt,  der  in  der  Frankf.  Zeitung  No.  19  (vom  19.  Januar  1908)  gejpi 
jene  „Idee*^  polemisiert,  weil  ein  prächtiges  Marmor-Denkmal  mit  taaat 
fackelhaltenden  Figur  nicht  im  Smne  des  einfachen  Philosophen  sei! 
Gt)ldschmidt,  dem  es  an  Humor  fehlt,  hat  den  ironischen  Unterton  meton 
Vorschlages  nicht  herausgehört:  so  wird  man  von  seinen  besten  Fremta 
verkannt.  — 

Nachdem  ich  aber  in  extenso  Alles  gelesen  habe,  was  pro  jsnàwén 
in  Königsberg  vorgebracht  worden  ist,  würde  ich  im  ErnstfsUe  àoà 
ge^en  die  Verlegung  der  Grabstätte  Kants  ins  Innere  des  Domes  stimnen, 
und  zwar  wäre  nir  mich  ausschlaggebend  der  Umstand,  dass  Kants  Qfù 
damit  aus  der  Jurisdiktion  der  Stadtverwaltung  a^e^ben  wflrde:  äe 
Stadt  muss  unumschränkte  Eig^entümerin  der  Qebeme  ihres  giMtoi 
Sohnes  sein  und  immerdar  bleiben.  Eine  Verbringong  ins  LuMSie  te 
Domes  könnte  dann  doch  zur  Folge  haben,  dass  —  wenn  auch  ent  ii 
späten  Zeiten  —  mit  der  Grabstätte  resp.  mit  dem  Ghrab  lale  Kants  manA 
Aenderungen  vorgenommen  würden,  weiche  nicht  w  àenswert  siiid:  lO 
könnte  s.  B.  eine  spätere  Zeit,  etwa  eine  ortiu 


Kantgesellschaft.  175 

hierin  störend  eingreifen.  In  zweiter  Linie  würde  für  mich  sodann  aus- 
•chlag^bend  sein,  dass  ig^eltend  gemacht  wurde,  dass  die  anderen  Denk- 
■lAler  in  dem  Domchor  das  Grabmal  Kants  „erdrücken*^  würden;  es  macht 
dagegen  einen  ungleich  würdigeren,  einen  erhabenen  Eindruck,  wenn  der 
crosse  Tote  einen  weihevollen  Raum  für  sich  allein  hat.  Und  da  nun 
drittens  festgestellt  worden  ist,  dass  die  jetzige  Grabkapelle,  wenn  auch 
reparationsbedürftig,  so  doch  reparationsfähig  ist,  so  wird  die  Erhaltung 
dieses  einfachen  aber  würdigen  Raumes  auch  aas  Einfachste  und  Würdigste 
sein.  Sollte  man  aber  jetzt  oder  später  einmal  finden,  da^s  der  jetzige 
Bao,  weil  zu  schwach  fundiert,  nicht  zu  erhalten  sei,  so  errichte  man  an 
derselben  Stelle  dem  grossen  Denker  wieder  wie  bisher  seine  eigene  Grab- 
ki^lle,  einfach  und  würdig,  licht  und  hell  —  wie  sein  Wesen  war,  wie 
— ne  Philosophie  ist.  H.  Vai hinger. 

Kantgesellschaft 

IT.  Jahresbericht.    1007. 


A.    Jahres-Einnahmen  und  -Ausgaben. 

L    Einnahmen. 

1)  Die  Jahresrechnung  für  1906  schloss  mit  einem  ÜberachoBS  von 
470  Mk.  30  Pf.  ab. 

2)  Die  Zahl  der  Jahreemitglieder  (Jahresbeitrag  20  Mk.)  ist  wiederum 
«tiegoi,  und  zwar  von  118  auf  154  Mitglieder  —  eine  überaus  erfreuliche 
Zunahme.  Die  Jahresbeiträge  dieser  154  Mitglieder  betragen  3080  Mk.  Ein 
MitgUed  (Mr.  Webb  in  Oxford)  hat  dankenswerter  Weise  wieder  25  Mk.  ein- 
fletendet.  Dieser  Mehrzahlung  von  5  Mk.  stehen  andererseits  6  Mk.  25  Pf. 
Btaiiehungskosten  für  die  154  Beitragssendungen  (Bestellgelder  und  Bankspesen) 
gegenüber.    An  Jahresbeiträgen  sind  somit  eingegangen  :  3078  Mk.  75  Pf. 

3)  Die  Zinsen  der  Kantstiftung,  welche  seitens  der  Kgl.  Universitäts- 
kaase  in  Halle  dem  Geschäftsführer  am  l.  April,  l.  Juli,  1.  Oktober  und 
81.  Dezember  eingehändigt  wurden,  betrugen:  1218  Mk.  27  Pf. 

4)  Die  Bankainsen  für  sämtliche  bei  der  Firma  H.  F.  Lehmann  in 
Halle  a.  S.  liegenden  Gelder  betrugen:  178  Mk.  5  Pf. 

5)  Wie  im  vorigen  Jahresbericht  mitgeteilt  worden  ist,  werden  die  von 
«M  herausgegebenen  ErgKnaungsbefte,  welche  den  Mitgliedern  gratis  zuge- 
aMn  werden,  auch  an  Nichtmitglieder  verkauft,  und  zwar  kommissionsweise 
dwdi   den  Verlag  von  Reuther  &  Reichard  in  Berlin.  —  Vom  Erc 


Ha  1  (Guttmann,  Kants  Gottesbegriff  in  seiner  positiven  Entwickelunj?)  sind 
in  Jahre  1906  verkauft  worden:  147  Exemplare,  wofür  wir  144  Mk.  25  Pf.  ver- 
ctenahmt  haben.    Die  Verrechnung  für  die  im  Jahre  1907  verkauften  Exemplare 
kann,  nach  Buchhändlerusancen,  erst  nach  Ostern  1908  erfolgen. 
Die  Geaamteinnahmen  betrugen  somit:  5089  Mk.  62  Pf. 

IL    Ausgaben. 

1)  Honorare  für  die  Mitarbeiter  der  ^Kantatodien^,  Es  wurden  an 
Honoraren  für  den  Band  XII  im  Ganzen  ausbezahlt:  966  Mk.  20  Pf.  Die 
KniKeaellschaft  glaubt  u.  A.  auch  durch  reichliche  Bemessung  der  Honorare 
flir  me  Mitart>eiter  der  Kantstudien  die  Ziele,  die  sie  in  ihren  Satzungen  nieder- 
Miegt  hat,  zweckmässig  zu  fördern.  Über  die  Honorarzahlungen  im  Einzelnen 
fit  «km  Veiwaltungsausschuss  Rechenschaft  abgelegt  werden. 

2)  Fretexemplare  der  ^Kantatndien^  für  die  Jahreamitglieder  und 
■èereefctigteii  DaneradIgUeder.     Nach  dtai  cwtochen  der  Kantgetell- 


176  Kantgesellschaft. 

Schaft  und  der  Verlagshandlung  Reuther  &  Reichard  am  15./6.  Mai  1905  fl|^ 
schlossenen  Vertrag  ist  die  Letztere  verpflichtet,  an  die  obengenannten  Mit- 
glieder der  Kantgesellschaft  je  ein  Freiexemplar  der  Kantstudien  heftweise  gratis 
und  franko  zu  senden.  Auf  Grund  der  darüber  stipulierten  Bedingungen  erbitt 
die  Verlagshandlung  für  diese  Versendung  an  154  Jahresmitglieder  und  24  te- 
zugsberechtigte  Dauermitglieder  an  Entschädigungen:  736  Mk. 

3)  Herausgabe  von  Ergänzungsheften  an  den  ^^Kantatadien^, 

a)  Herstellungskosten. 

Über  die  von  uns  getroffene  Einrichtung  von  .Ergflnzungsheften'  zu  den 
Kantstudien  ist  im  vorigen  Rechenschaftsbericht  pro  lW6  ausführlich  beriditd 
worden.  Es  wird  daher  hier  nur  das  Nötigste  wiederholt.  Es  stellte  sieb  als 
zweckmässig  heraus,  grössere,  der  Redaktion  der  Kantstudien  anvertraute  Unter- 
suchungen aus  dem  Rahmen  der  regulären  Hefte  herauszulösen  und  separat  in 
Form  von  Supplementen  erscheinen  zu  lassen  ;  diese  Ergänzungshefte  sind  bod- 
händlerisch  selbständige  Schriften,  mit  eigenem  Titel.  Die  Jahresmitglieder 
und  bezugsberechtigten  Dauermitglieder  erhalten  diese  Supplemente  gratis  nnd 
franko  zugesendet,  ausserdem  werden  aber  auch  Exemplare  an  Nichtroitglieder 
durch  die  Verlagshandlung  Reuther  &  Reichard  kommissionsweise  für  unsere 
Rechnung  vertrieben.  Die  Herstellungskosten  der  Ergänzungshefte  trägt  die 
Kantgesellschaft. 

Für  das  Ergänzungsheft  No.  4  (G.  Kertz,  Die  Religionsphilosophie  Job. 
Heinr.  Tief  trunks)  betrugen  die  Herstellunfigkosten:  355  Mk.  70  Pf. 

Für  das  Ergänzungsheft  No.  5  (H.  E.  Fischer,  Kants  Stil  in  der  Kr.  d. 
r.  V.,  nebst  Ausführungen  über  ein  neues  Stilgesetz  auf  historisch-kritischer  und 
sprachpsychologischer  Grundlage)  betrugen  die  Herstellungskosten  473Mk.  60Pt 
Hiervon  trug  jedoch  der  Autor  selbst  —  entsprechend  dem  Vermerk  der  Redak- 
tion am  Schluss  der  Vorrede  des  betr.  Ergänzungsheftes  —  150  Mk.  Rest  der 
Herstellungskosten:  323  Mk.  60  Pf. 

Für  des  Ergänzungsheft  No.  6  (S.  A  ich  er,  Kants  Begriff  der  Ericenntnii 
verglichen  mit  dem  des  Aristoteles)  betrugen  die  Herstellungskosten  :  656  Mk.  35PL 

Für  das  Ergänzungsheft  No.  7  (H.  Dreyer,  Der  Begriff  Oeist  in  der 
deutschen  Philosophie  von  Kant  bis  Hegel)  betrugen  die  Herstellungskoitn: 
406  Mk.  40  Pf. 

Die  Herstellungskosten  der  einzelnen  Hefte  variieren  nicht  bloss  nadi 
dem  Umfang  des  Henes,  sondern  auch  nach  der  Höhe  der  Auflage. 

Herstellungskosten  für  die  4  Ergänzungshefte  No.  4»  5,  6,  7  znsamiiiei: 
1742  Mk.  5  Pf. 

b)  Remuneration  für  den  zweiten  Redakteur  der  Kantstudiea. 
Die  Herausgabe  der  Ergänzungshefte  (in  diesem  Rechnungsjahre  Aber  30 
Bogen)  bürdet  dem  die  Geschäfte  der  Redaktion  allein  und  selbständig  fflbtcs- 
den  zweiten  Redakteur  eine  beträchtliche  Mehrarbeit  an  Durchsicht  von  Maas- 
Skripten,  an  Korrespondenzen,  Korrekturen  u.  s.  w.  auf.  Dafür  und  da  wir 
ausserdem  die  Förderung  von  jüngeren  Gelehrten  Kantischer  Richtung  onfter 
unsere  Ziele  satzungsgemäss  aufgenommen  haben,  hat  der  Verwaltungsanssdmi 
für  die  Herausgabe  der  4  Ergänzungshefte  dem  Betreffenden  eine  ausserordest- 
liehe  Remuneration  von  400  Mk.  zugebilligt. 

c)  Versendung  der  Ergänzungshefte  an  die  Mitglieder. 

Die  Versendung  besorgt  die  Hofbuchdruckerei  C.  A.  Kaemmerer  ft  Ox 
in  Halle  a.  S.,  welche  auch  die  Ergänzungshefte  herstellt  Die  Versendnnp- 
kosten  betrugen:  29  Mk.  15  Pf.  +  48  Mk.  30  Pf.  +  52  Mk.  25  Pf.  +  36Ä 
65  Pf.,  insgesamt  166  Mk.  35  Pf. 

4)  Versendung  verschiedener  Drucksachen  der  Kantigesellsehifli 
Die  neueintretenden  Jahresmitglieder  erhalten,  so  lange  noch  der  Vomi 
reicht,  zum  Eintritt  je  ein  Exemplar  unserer  im  Jahre  1904  herausfi[q;el)eacB 
Kantfestschrift  (360  Seiten  und  4  Abbildungen)  suwie  i  tn  im  &m  I^ 
herausgegebene  Schillerfestschrift  (150  Seiten  nebst  5  Abuuuungen)  mtis  rod 
franko  zugesendet    Infolge  Spezialabkommens  erhält  die  >    rlagshocnhiiidM? 


EantgesellBchafi.  177 

von  Reuther  &  Reichard,  in  deren  Besitz  sich  der  ganze  Vorrat  jener  Festhefte 
befindet,  hierfür  die  Entschädigung  von  82  Mk. 

Durch  die  Hofbuchdruckerei  von  C.  A.  Kaemmerer  &  Co.  in  Halle  a.  S. 
haben  wir  eine  grössere  Anzahl  von  Exemplaren  der  Kantstudien  im  Umtausdi 
an  die  Redaktionen  anderer  philosophischer  Zeitschriften  gesendet;  femer  be- 
sorgte dieselbe  Firma  die  Versendung  der  zahlreichen  Separate  von  Abhand- 
hingen, Rezensionen  und  Selbstanzeigen  an  deren  verschiedene  Verfasser; 
Kosten:  34  Mk.  75  Pf. 

Gesamtbetrag  für  diese  Versendungen:  116  Mk.  75  Pf. 

5)  Beijcabe  von  Porträt».  Dem  1.  Heft  unseres  XII.  Bandes  haben  wir 
eine  vortrefflich  gelungene  Wiedergabe  der  Schillingschen  Kantstatue  beigegeben, 
Kosten:  58  Mk. 

Dem  Ergänzungsheft  No.  4  (Kertz,  die  Religionsphilosophie  Joh.  Heinr. 
Tleftninks.  Ein  Beitrag  zur  Geschichte  der  Kantischen  Schule)  haben  wir  ein 
Porträt  Tieftrunks  nach  der  uns  von  seinen  Nachkommen  geschenkten  Büste 
beigefügt;  Kosten:  37  Mk.  25  Pf.    Zusammen:  95  Mk.  25  Pf. 

6)  Verteilung  der  ,,Kant8tndien<^  an  Institute  und  Bibliotheken. 

Mit  dieser  schon  in  den  beiden  Vorjahren  begonnenen  Überweisung  von  ganzen 
Serien  der  bisher  erschienenen  Bände  der  Kantstudien  an  Bibliotheken  u.  s.  w. 
haben  wir  auch  in  diesem  Jahre  fortgefahren,  in  der  Überzeugung,  dass  wir  auf 
diese  Weise  die  Ziele  der  Kantgesellschaft  in  sehr  zweckmässiger  Weise  fördern, 
und  auch  ausserdem  dazu  beitragen,  die  Kenntnis  der  Kantgesellschaft  und  ihrer 
Ziele  in  immer  weitere  Kreise  zu  tragen.  In  diesem  Jahre  haben  wir  das  vor 
Kurzem  neugegründete  Philosophische  Seminar  der  Universität  Marburg  bedacht, 
in  welchem  eine  hervorragende  Trias  von  Kantkennem  wirksam  ist:  Cohen, 
Natorp  und  Menzer.  Femer  haben  wir  der  Bibliothek  der  Psychologischen 
Sammlung  an  der  Universität  Halle  einige  ihr  fehlende  Bände  überwiesen. 
Wir  erhalten  die  betr.  Bände  zu  ermässigten  Preisen  von  unserer  Verlagshand- 
hmg  Reuther  &  Reichard,  und  lassen  dieselben  binden,  da  wir  nur  gebundene 
Binde  verschenken,  in  die  ein  Widmungsblatt  mit  dem  Kantkopf  und  der 
Devise:  .Geschenk  der  Kantgesellschaft'  emgeklebt  wird.  Qesamtkosten  (inkl. 
von  41  Mk.  Buchbinderkosten  aus  dem  Vorjahr):  158  Mk.  75  Pf. 

7)  DruclL  veraehiedener  Mitteilungen,  Formulare  u.  s.  w.  Seitens 
der  Hofbuchdruckerei  von  C.  A.  Kaemmerer  &  Co.  in  Halle  a.  S.  sind  für  den 
Zweck  der  Gesellschaft  verschiedene  Druckaufträge  ausgeführt  worden:  die 
Neujahrszirkulare  im  Januar  1907,  Separatabdrücke  des  Jahresberichtes  und  des 
Mitgiiederverzeichnisses  von  1907,  sowie  der  revidierten  Satzungen,  Mitglieds- 
karten, Muster  für  Selbstanzeigen  u.  s.  w.    Zusammen:  101  Mk.  25  Pf. 

8)  Versehiedenea.  Gerichtskosten  für  Eintragung  ins  Vereinsregister: 
2  Mk.  65  Pf.,  Wiederherstellung  der  Tieftrunkbüste  (vgl.  vorigen  Jahresbericht): 
15  Mk.;  Beschaffung  nicht  gelieferter  Rezensionsexemplare:  16  Mk.  90  Pf.;  für 
Kouverts  und  Brieq>apier  mit  Vordruck:  29  Mk.  50  Pf.;  Schreibhilfe  durch 
einen   Abschreiber:   24  Mk.;   zusammen:  88  Mk.  5  Pf. 

9)  Korrespondena.  Die  Zahl  der  von  dem  Geschäftsführer  ausge- 
gangenen Postsendungen  betrug  laut  vorliegendem  und  vorgelegtem  Journal: 
TlOl.    Die  dafür  aufgewendeten  Portokosten  betrugen  :  HO  Mk.  80  Pf. 

10)  Zuaeliuaa  sum  Diipotitionsfonds.  Dem  aus  den  weiter  unten  ent- 
wickelten Gründen  neugeschaffenen  Dispositionsfonds  sind  aus  den  laufenden 
lUtteln  400  Mk.  zugewiesen  worden,  um  diesen  für  unsere  Zwecke  wichtigen 
Food  hinreichend  zu  fundieren. 


lUotvtttdtou  xiu.  V^ 


I 


116  Kantgefielkchaft 

Wiederholung. 
L    Einnahmeii. 

1)  Übertrag  aus  dem  Vorjahr 47OMk.30PL 

2)  Jahresbeiträge  der  Mitglieder 3078    .    75  . 

3)  Zinsen  der  .Kantstiftung' 1218    ,   27  , 

4)  Bankzinsen 178    ,     5  , 

5)  Verkaufte  Ergänzungshefte .    144    .   25  . 

Summe  der  Einnahmen:  5089 Mk.  62 PL 
U.    Ausgaben. 
1)  Honorare  an  die  Mitarbeiter     .    .    .    .    966  Mk.  20  Pf. 
Freiexemplare  für  die  Mitglieder  ...    736    .    —    . 

3)  Ergänzungshefte  No.  4,  5,  6,  7 

a)  Hersteilungskosten       1742    .      5    . 

b)  Remuneration  für  den  2.  Redakteur    400    .    —•    . 

c)  Versendung 166    .    35    . 

4)  Verschiedene  Versendungen     ....    116    ,    75    , 

5)  Beigabe  von  Porträts 95    .    25    . 

6)  Verteiltfng  der  KSt.  an  Bibliotiieken     .    158    .    75    . 

7)  Verschiedene  Drucksachen 101    •    25    • 

8)  Verschiedenes 88    .      5    , 

9)  Korrespondenz .    110    .    80    . 

Ausgaben:  4681  Mk.  45  Pf. 
10)  Zuschuss  zum  Dispositionsfond    .    .    .    400    ,    —    . 

Gesamtsumme  der^usgaben:  5081  Mk.  45  Pf.  «°  5081  Mk.  45PL 
Rest.und  Übertrag  Iflr  1908:       8  Mk.  17PL 


B.    Fonds. 

L    Kantstiftung. 

Die  .Kantstiftung',  welche  im  Jahre  1906  auf  die  Summe  von  32000 Mk. 

gebracht  worden  ist,  hat  auch  im  verflossenen  Jahre  wiederum  neue  Zawfidae 

erhalten.    Es  stifteten: 

Herr  August  Ludowici,  Genf,  Route  de  Florissant  36  .  .  .  MLIOQ,- 
(zu  den  schon  früher  gestifteten  Mk.  300,—) 
.  Kurt  Sternberg,  Berlin  W  15,  Uhlandstrasse  175  .  .  .  .  25,- 
.  Professor  Dr.  Adam kie wie z,  Wien,  Wiedner  Hauptstrasse  16  .  50.- 
.  Hauptmann  v.  St.  Paul,  Insterburg.  Feldartillerie-Regt  No.  1  .  25,- 
.  Dr.  phil.  R.  Jorges,  Halle  a.  S.,  Mühlweg  21  (4.  Rate)  .  .  5a- 
.  Schriftsteller  Hugo  Marcus,  Berlin  W  50,  Fürtherstrasse  IIa  .  25,- 
.    E.  S.  in  Ch 5,- 

Frau  Oeheimrätin  Sanio,  Halle  a.  S.    (4.  Rate)  .        .        .    .     30.- 

Summa:  Mk.310.- 
Wir  quittieren  dankbarst  für  diese  erfreulichen  Beweise  des  fortdanenidai 
grossen  Interesses  an  unseren  Bestrebungen.  Die  Geber  haben  unsere  Daoer- 
mitgliedskarte  erhalten.  Diese,  der  Kantstiftung  gehörenden  Gelder,  sind 
einstweilen  beim  Bankhaus  H.  F.  Lehmann  in  Halle  a.  S.  zinsbar  angelegt,  Ni 
wiederum  1000  Mk.  beisammen  sind,  welche  dann  dem  im  Besitz  der  Univeni' 
tat  Halle  und  in  der  Verwaltung  des  Kgl.  Universitäts-Kuratoriunn  befindlidieD 
Hauptiond  zugeführt  werden. 

Wir  bitten  unsere  Freunde,  auch  fernerhin  unausgesetzt  aal  Vennelintiig 
dieses  unseres  eisernen  Fonds  bedacht  zu  sein  :  je  höher  derselbe  ist  und  je 
mehr  Zinsen  wir  daraus  beziehen,  desto  höher  können  wir  unsere  Ziele  stedefl 
und  desto  unabhängiger  ist  die  dem  Studium  der  Kantischen  Pfaik)8opttte 
dienende  Zeitschrift  von  Gunst  und  Ungunst  der  Zeiten. 


Kant^gételbehaft.  1?9 

Wir  bemerken,  dass  die  Kantgesellschaft  als  ^EingetrMiener  Verein'  und 
damit  als  juristische  Person  auch  in  der  Lage  ist,  eventuelle  Legate  araiefaÉien 
zn  können. 

IL    Preisaufgabenfond. 

Wie  aus  den  früheren  Jahresberichten  als  bekannt  vorausgesetzt  werden 
darf,  haben  wir  seinerzeit  1000  Mk.  aus  den  laufenden  iSditteln  der  Kantoesell- 
schaft  in  Reserve  gestellt  für  unsere  1.  Preisaufgabe:  .Kants  Begriff  £r  Er- 
kenntnis verglichen  mit  dem  des  Aristoteles."  wie  in  den  Kantstudieh  XII, 
S.  268  mitgeteilt  worden  ist,  konnte  der  erste  Preis  von  600  Mk.  nicht  ver- 
geben werden,  dagegen  ist  der  zweite  Preis  von  400  Mk.  zweimal  vergeben 
worden:  an  Herrn  Dr.  Ch.  Sentroul,  Agrégé  de  Philosophie  à  TEcole  St 
Thomas  in  Löwen,  und  an  Herrn  Dr.  Severin  A  icher  in  Tübingen.  Die  übrig 
bleibenden  200  Mk.  sind  dem  Dispositionsfond  überwiesen  worden. 

Für  unsere  2.  Preisaufgabe:  .Das  Problem  der  Theodicee  in  der  Philo- 
sophie und  Litteratur  des  18.  Jahrhunderts,  mit  bes.  Rücksicht  auf  Kant  und 
Schiller",  sind  uns,  wie  seinerzeit  gemeldet  worden  ist,  von  unserem  Ehrenmit- 
glied, Herrn  Stadtrat  a.  D.  Professor  Dr.  Walter  Simon  in  Königsberg  i.  Pr., 
welcher  diese  Aufgabe  aus  eigener  Initiative  gestellt  und  formuliert  hat,  1600  Mk. 
rar  Verfügung  gestellt  worden. 

Ausserdem  haben  wir  von  demselben  Gönner  und  Freund  unserer  Gesell- 
Bchaft  soeben  vor  Abschluss  des  Jahresberichtes  und  als  Neujahrsgruss  einen 
leuen,  sehr  dankenswerten  Beweis  seiner  verständnisvollen  Teilnahme  an  unseren 
Bestrebungen  ei halten:  zur  Erteilung  eines  zweiten  Preises  von  400  Mk.  und 
Mnes  dritten  von  300  Mk.  für  die  besten  Bearbeitungen  der  von  ihm  gestellten 
Preisaufgabe  hat  uns  Herr  Stadtrat  a.  D.  Professor  Dr.  Walter  Simon  in 
iCönigsberg  i.  Pr.  die  Summe  von  700  Mk.  zu  überweisen  die  grosse  Güte  jgehabt 

Diese  Summen  sind  beim  Bankhaus  H.  F.  Lehmann  in  Halle  a.  S,  zins- 
>ar  angelegt 

III.     Disposiiionsfond. 

Es  hat  sich  als  wünschenswert  und  zweckmässig  herausgestellt,  einen 
>ispositionsfond  anzusammeln  für  unvorgesehene  Ausgaben,  für  eventuelle 
|[rOssere  Unternehmungen,  zu  denen  die  laiSenden  Mittel  nicht  hinreichen,  sowie 
Qr  Zuschüsse  zur  .Kantstiftung',  deren  beständige  Erhöhung  wir  niemals  aus 
len  Augen  verlieren  dürfen,  und  für  ähnliche  Zwecke.  Diesem  Fond  ist  die 
^estsumme  aus  der  Kant-Aristoteles-Preisaufgabe  von  200  Mk.  überwiesen 
worden.  Ausserdem  sind  aus  laufenden  Mitteln  diesem  Fond  noch  400  Mk. 
»gewiesen  worden.  Diese  Summe  von  600  Mk.  ist  ebenfalls  beim  Bankhaus 
i.  F.  Lehmann  in  Halle  a.  S.  zinsbar  angelegt. 


Vorstehender  Jahresbericht  ist  von  den  Mitgliedern  des  Verwaltungs- 
oisschusses  genehmigt  worden. 


Wie  schon  KSt  XH,  H.  3  4,  S.  461  berichtet  worden  ist,  hat  untere 
leneralversammlung  für  das  Jahr  1907  satzungs-  und  ordnungsgemäss  Montag, 
ten  22.  April  statt^^efunden.  Nach  den  schon  früher  gegebenen  Mitteilungen 
icstand  der  Vorstand  resp.  der  Verwaltungsausschuss  ckr  Kantgesellschaft  pro 
.907  aus  folgenden  Personen: 

Vorstand:  der  Kurator  der  Universität,  Geh.  Reg.-Rat  G.  Meyer, 
Professor  Dr.  Ebbinghaus, 
Professor  Dr.  Busse, 

Geh.  Justizrat  Dr.  iur.  et  phil.  (h.  c.)  Stammler, 
Direktor  der  Univ.  Bibliothek  Geh.  Rat  Dr.  Gerhard, 
Geh.  Kommerzienrat  Dr.  phiL  (h.  c.)  H.  F.  Lehmann, 
Geh.  Reg.-Rat  Professor  Dr.  Vaihinger,  Geschäftsführer. 


übrige 
Mitglieder 
des 
Verwaltungs- 
ausschusses 


180  EantgesellBchaft. 

Sämtliche  Personen  wohnen  in  Halle.  Leider  ist  uns  Professor  Dr. 
L.  Busse,  von  dessen  Umsicht  und  Erfahrung  wir  viel  für  die  Förderung 
unserer  Gesellschaft  hoffen  durften,  am  12.  September  jäh  und  viel  zu  früh 
entrissen  worden. 

Zu  der  am  Donnerstag,  den  23.  April,  abends  6  Uhr,  in  den  Räumen 
des  Kuratoriums  der  Universität  Halle  stattfindenden  allgemeinen  Mitglied«^ 
Versammlung  wird  hiermit  gebührend  eingeladen,  mit  dem  Bemerken,  dass 
diese  Sitzung  mit  Rücksicht  auf  die  Osterfeiertage  nicht  schon  am  22.  statt- 
finden kann. 

Tagesordnung. 

1.  Ablegung  der  Jahresrechnung  für  1907. 

2.  Wahl  der  wechselnden  Mitglieder  des  Verwaltungsausschusses, 
sowie  des  Geschäftsführers. 

3.  Entgegennahme  der  zu  diesem  Tage  als  Ablieferungstermin  ein- 
laufenden Arbeiten  zur  Preisbewertung  um  die  Walter  Simon- 
Preisaufgabe:  ,Das  Problem  der  Theodicee  in  der  Philosophie 
und  Literatur  des  18.  Jahrhunderts  mit  besonderer  Rücksicht  auf 
Kant  und  Schiller'. 

4.  Mitteilungen. 

Diejenigen  Jahresmitglieder,  welche  bis  zum  Erscheinen  dieses  Jahres- 
berichtes ihre  Jahresbeiträge  noch  nicht  eingesendet  haben  sollten,  werden  höf- 
lichst gebeten,  die  Einsendung  an  den  Unterzeichneten  oder  an  das  Bankhans 
H.  F.  Lehmann  hier  baldigst  zu  bewerkstelligen. 

Halle  a.  S.,  15.  Januar  1908. 
Reichardtstr.  15. 

Der  Geschäftsführer: 

H.  Valhinger. 


Vergflnsiigung 
Ar  neueintretende  Jahresmitglieder  der  Kantgeaellachafi. 

Neueintretende  Jahresmit^eder  der  Kantgesellschaft  erhalten,  so 
lange  der  Vorrat  reicht,  unsere  Kantfestschrift  vom  Jahre  1904,  sowie 
unsere  Schillerfestschrift  von  1905  zum  Eintritt  firatis.  Die  Kant^ 
festschrift:  Zu  Kants  Gedächtnis  (360  Seiten)  enäalt  Beiträge  von 
O.  Liebmann,  W.  Windelband,  F.  Paulsen,  A.  Biehl,  E.  KtUmemum, 
E.  Troeltsch,  F.  Heman,  F.  Staudinger,  G.  Runze,  B.  Bauch,  F.  A.  Schmid, 
E.  y.  Aster,  nebst  4  Abbildungen  :  Schattenriss  von  Kant  (altes  Albombktt), 
Brustbild  Kants  (wahrscheinlich  von  Elisabeth  v.  Stägemann)^  Kants  Wohn- 
haus, Kant  und  Friedrich  d.  Gr.  nach  Bildhauer  A.  Heinrich.  ^  Unsere 
Schillerfestschrift:  Schiller  als  Philosoph  nnd  seine  Be- 
ziehungen zu  Kant  (160  Seiten)  enthält  Beiträffe  von  R.  Eucken, 
0.  Liebmann,  W.  Windelband,  J.  Cohn,  F.  A.  Sdimid,  Tim  Klein, 
B.  Bauch,  H.  Vaihinger,  nebst  3  Schillerporträts. 

Statuten  der  Kantgesellschaft  durch  den  unterzeichneten  G^eschlfii' 
führer,  der  auch  jederzeit  Beitrittserklärungen  entgegen  nimmt. 

H.  Valhinger. 


Kantgesellschaft 

Itgliederrerselehiils  für  das  Jahr  1907« 


fitareniiilifUed. 

dtrat  a.  D.  Professor  Dr.  Walter  Simon,  Königsberg  L  Pr. 


JaMrenBltfUeder  10d7. 

(Jahresbeitrag  20  IL) 

jphiL  Severin  Aicher,  Bottenborg,  Priesterseminar. 

Bernât  Alexander,  Professor  an  der  Universität  Budapest IV^  Frans- 

Josef-Qnai  27. 
phil.  Johannes  Amrhein,  Direktor  der  Deutschen  Schule  in  Lttttich 

(Belgien).  Rue  des  Cannes  18. 
A  pel,  Beriin-Clharlottenburg,  ühlandstrasse  124. 

(Clemens  Baeumker,  Professor  an  der  Universität  Strassburg  i  E., 

Wenkerstrasse  8. 
W.  E.  Biermann,  Privatdozent,  Leipzig,  Wiesenstrasse  8b. 
George  Ashton  Black,  New  York,  621  W.  118^  Street 
Iwan  Bloch,  Charlottenburg,  Schlttterstrasse  78. 
«ktor  Dr.  Paul  Boehm,  Achem  in  Baden. 

Botte,  Pfarrer,  AUendorf  (Werra). 
ixcellenz  Staatsminister  Dr.  v.  Boetticher,  Obeipräsident  a.  D^  Naum- 
burg a.  S. 
id.  jur.  G.  A.  E.  Bogeng,  Berlin  W.  80,  Martin  Lutherstrasse  74. 
rmann  BoUmann,  (Jlvenstedt  bei  Magdeburg, 
dtfttsrat  Dr.  Brennecke,  Magdeburg,  Westendstrasse  86. 
Baron  Cay  v.  Brockdorf f,  JPrivataozent  am  Polytechnikum,  Braun- 
schweig, Kasemenstrasse  4. 
Emil  BuTlaty,  Wien  XIX,  4,  Langackersasse  12. 
)r.  Ludwig  Busse,  Professor  an  der  Umverdtit  Halle  a.  8.,  Maden- 
Strasse  18a. 

med.  W.  Camerer,  Medizinalrat.  Urach  (Wflrttemberff). 
Ernst  Cassirer,  Privatdozent,  Berlin  W.  80,  HohenstoulanstrasM  46. 
sriehrer  A.  Cramer,  am  kgL  Luthergymnasium  in  Bisleben,  Lindenstr.9. 
B.  Christiansen,  Freiburg  L  Br.,  liOrettostrasse  88. 

Delbos,  Professor,  Paris,  Quai  Henry  IV  46. 

pbiL  Ludwig  Dilles,  Bielitz,  Oesterr.  Schlesien,  Elisabethstrasse  2. 

Êhil.  et  jur.  0.  Döring,  Hoffnungstal  bei  Köln  a.  Bh. 
[.  Dreyer,  Bibliothekar,  Florenz,  Via  Bolognete  66,  Villa  Landau 
alla  Pietra. 
lannes  Fr.  Dürr,  Verlagsbuchhändler  u.  Landtagsabgeordneter,  Leipzig, 
Querstrasse  14. 


182  Eantgesellschaft. 

Prof.  Dr.  Ebbinghans,  Halle  a.  S.,  Friedenstrasse  25. 
Dr.  0.  A.  Ellissen,  Professor,  Einbeck  (Hannover). 
Jacob  H.  Epstein,  Frankfurt  a.  M.,  Hermannstrasse  22. 
Dr.  phil.  O^kar  Ewald,  Wien  I,  Qetreidemarkt  10. 

Dr.   Richard   Falckenb|erg,    Professor    an    der   Universit&t  Erlangen, 

Goethestrasse  20. 
Dr.  Anton  Feigs,  Qross-Lichterfelde,  Carstennstrasse  6. 
Obermedizinalrat  Dr.  v.  Fetzer,  Kgl.  Leibarzt,  Stattgart,  Akademie. 
Dr.  Ernst  Fischer,  Posen,  St.  Martin  27. 
Oberlehrer  G.  Fittboeen,  Bixdorf,  Bichardplatz  9. 
Dr.  Erich  Franz,  Obenehrer,  Magdeburg,  Königgr&tzerstrasse  2. 
Dr.  med.  Paul  C.  Franz e,  Bad  Nauheim. 

Dr.  B.  Gaul,  Sanitätsrat,  Stoln  i.  P. 
Dr.  Earl  Gebert,  München,  Von  der  Tannstrasse  23. 
v.  Geisler,  Prediger,  Friedenau,  Friedrich- Wilhelmplatz  11. 
Dr.  Alfred  Giesecke,  Verlagsbuchhändler,  Leipzig,  Poststrassse  3. 
Rudolf  Goldscheid,  Wien  UI,  Richardstrasse  1. 
Dr.  Julius  Guttmann,  Breslau,  Gartenstrasse  61. 

Dr.  med.   H.  Gutzmann,  Privatdozent  an  der  Universität  Berlin  W., 
Schöneberger  Ufer  11. 

Dr.  P.  Hauck,  Oberlehrer  in  Essen  a.  R.,  Bemhardstrasse  26. 

Seminaroberlehrer  G.  Hecke,  Braunschweig,  Fasanenstrasse  52  A. 

Eugen  Heck  er,  Fabrikdirektor,  Braunschweig,   Kaiser-Wilhelmstrasse  50. 

J.  N.  Hei  de  mann.  Geb.  Kommerzienrat,  Köln  a.  Rh. 

Dr.  phil  J.  U.  Herz,  Wien  VIII,  Josephstädterstrasse  29. 

Dr.  phil.  G.  Dawes  Hicks,  Professor  of  Philosophy  in  University  (College, 

London. 
Dr.  phil.  J.  W.  A.  Hick  son,  Montreal  (Canada),  Mountain  street  272. 
Dr.  karl  Hoffmann,  Charlotten  burg,  Schlüterstrasse  62. 
Dr  K.  B.  Hofmann,  Professor  an  (Ter  Universität  Graz,  Schillerstrasse  1. 
Dr.  A.  Höfler,  Universitätsprofessor,  Wien  VIII,  Florianigasse  ft6. 
Dr.  Richard  Hönigswald,  Privatdozent  an  der  Universität  Breslau,  Xm, 

Hohenzollemstrasse  20. 
Friedrich  Freiherr  v.  Hügel,  London-Kensington  W.,  Vicarage  Gkite  18. 

Dr.  Jacobs,  Oberlehrer,  Essen-Rüttenscheid,  Elfriedenstrasse  2a 
Dr.  W.  Jerusalem,  Professor,  Wien  XVm  3,  Plötzleinsdorferstrasse  91 
Dr.  R  Jorges,  Halle  a.  S.,  Mühlweg  21. 

Dr.  Wladimir  Iwan o vsky ,  Privatdozent,  Kasan,  Wosdwischensk^ja,  13 Hans 
Korsakowa. 

Privatdozent  Dr.  Willy  Kabitz,  Breslau. 

Qr.  Katzer,  Pastor  prim.,  Loebau  i.  S. 

Professor  Dr.  Kern,   Generalarzt,  Subdirektor  der  Kaiser- Wilhelms-Akft- 

demie,  Berlin  NW.  7,  Friedrichstrasse  141. 
Dr.  Gustav  Kertz,  Stadtvikar  in  Karlsruhe  (Baden\  Zirkel  18. 
Otto  Sohlmann,  Greiz,  Elstersteig  7. 
Pfolassor  Lie.  theol.  Dr.  Koppelmann,  Privatdozent  an  der  Univerntit 

Münster  i.  W.,  Hereonstrasse  6. 
Dr.  Felix  Kuberka,  an  der  Oberrealschule  in  Suhl  i.  Th. 
Dr.  Friedrich  Kuntze,  Nordhausen  a.  Harz,  Bahnhofstrasse  8. 
Georg  Kttspert,  Gymn.-Prakt.,  Präfekt  am  Schülerpensionat^  Schweinfntt 

GMl  Begierungsrat  Dr.  A.  Lassen,  Professor,  Friedenau-Berlin,  Han^'eiy- 

strasse  49. 
^otar  jQstizrat  Leibl,  Dflren,  Westfalen. 

Heinrich  Levy,  Suhl  in  Thüringen  (z.Z.Friedenaa,  WühelmstnsselS). 


g? 


KantgesdllBohaft.  188 

Dr.  J.  A^  Levy,  Advokat,  Amsterdam. 

Dr.  Levy -Brühig  Professor,  Paris,  Rue  Lincoln  7. 

Dr.  Edmund  v.  Lippmann,  Professor,  Halle  a.  S.,  Baffineriestrasse. 

D.  Dr.  Loofs,  Professor  an  der  Universität  Halle  a.  S.,  Lafontainestrasse. 

Dr.  Victor  Lowinsky,  Charlottenburg,  Königin  Elisabethstrasse  61. 

Emil  Luck  a,  Schriftsteller,  Wien  IX.,  Rossauergasse  4. 

Karl  Maisch,  Buchdruckereibesitzer,  Karlsruhe. 

M.  P.  Mason,  Boston  (Mass.)  U.  S.  A.,  Commonwealth  Avenue  Ifr.  347. 

Dr.  Fritz  Mauthner,  Freiburg  i.  Br.,  Mozartstrasse  8. 

Dr.  W.  Meinecke,  Magdeburg,  Bismarckstr.  8. 

Dr.  A.  V.  Mein  on  g,  Professor  an  der  Universität  Graz. 

Dr.  Mendel,  Pastor,  Leipzig-Volkmarsdorf,  Konradstrasse  68a. 

Dr.  Paul  Menzer,  Professor  an  der  Universität  Marburg,  Wörthstrasse  60. 

Frau  Bertha  Meyer,  Dresden  A.,  Lennéstrasse  2. 

Frau  Justizrat  Meyer,  Dresden  A.,  Lennéstrasse. 

Dr.  phil.  Martin  Meyer,  Berlin  W.,  Königin- Augustastrasse  21. 

Dr.  Georg  Misch,  Frivatdozent,  Berlin-Charlottenburg  4,  Kantstrasse  101. 

Archivar  Dr.  Leo  Müffelmann,  Berlin  W.,  Eisenacherstrasse  62. 

t  Dr.  med.  Arthur  M ül berger,  Oberamtsarzt,  Crailsheim. 

Professor  Conrad  Müller,  Charlottenburg,  Oranienstiasse  2. 

Dr.  H.  Nohl,  Jena,  Stoystrasse  3. 

Dr.  Konstantin  Oesterreic^,  Berlin  W.  30,  Goltzstrasse  19. 

Otto  Pas  quay,  Königl.  Bezirksamtmann  a.  D.,  München,  Hermann  Schmid- 

stasse  8^ 
Dr.  Johannes  Paulsen,  Altona,  Kl.  Gärtnerstrasse  109. 
Lehrer  am  Realgymnasium  F.  Pinski,  Berlin,  Kniprodestrasse  118b. 
Lie.  Dr.  Arno  Pommrich,  Dresden  A.,  Fürstenstrasse  24. 

Reichardt,  Stadtrat,  Magdeburg,  Beethovenstrasse  2. 

Dr.  Jobannes  Reicke,  Bibliothekar,  GOttingen,  Friedländerweg  28. 

Dr.  phil.  W.  Reinecke,  Oberlehrer,  Bitterfeld. 

Dr.  R.  Reininger,  Privatdozent,  Wien  IX,  Giessergasse  6. 

Dr.  phil.  H.  Renner,  Berlin-Charlottenburg  4,  Kantstrasse  49. 

Riedel,  Geh.  Kommerzienrat,  Halle  a.  S.,  Advokatenweg  36. 

Dr.  Inr.  Francisco  Rivera,  Madrid,  Museo  Pedagögico  Nacional,  Daoiz  7. 

Erich  Rothacker,  Pforzheim.  Luisenstrasse  68. 

Dr.  Maximilian  Runze,  Prediger  und  Dozent  an  der  HnmboldtpAkademie, 

Berlin  NW.  62,  Thomasiusstrasse  22. 
Dr.  Th.  Ruyssen,  Professor,  Chargé  de  cours  de  philosophie  à  la  Faculté. 

des  Lettres,  Dgou,  Rue  Docteur  Lavalle  29. 

Dr.jnr.  J.  Sacker,  St.  Petersburg,  Nadejdinsksja  34,  Gesellschaft  „Energie'*. 

Oberlehrer  Dr.  Sänger,  Oels,  Schlesien. 

Professor  Léon  Sautreaux,  Agrégé  de  Philosophie,  Lycée  de  Grenoble, 
Rue  Denfert-Rochereau  9. 

Max  Schersath,  Versicherungsbeamter,  Berlin,  Warsohauerstrasse  86. 

Dr.  med.  C.  J.  M.  Schmidt,  Odessa,  Boulevard  6. 

Dr.  Ernst  Schrader,  Privatdozent  an  der  Technisohen  Hoohsohule,  Darm- 
stadt, Hoffmannstrasse  18. 

Franz  Schraube,  Hauptmann  a.  D.,  Halberstadt,  Yoigtei  48. 

Oberlehrer  Dr.  Julius  Schultz,  Berlin  NO.,  Friedenstrasse  111. 

Dr.  Fritz  Schnitze,  Professor  an  der  Technischen  Hochschule,  (Geheimer 
Hofrat,  Dresden  A ,  Würzburgerstrasse  44. 

A.  Schulze,  Direktor,  Halle  a.  S.,  Raffineriestrasse  28. 

Dr.  Charles  Sen tr oui,  Agrégé  à  l'École  St  Thomas,  Louvain,  Bue  de 
Tirlemont  126. 


184  KantgMellscliaft. 

Siebert.  Rittergutsbesitzer,  Corben  bei  Mollehnen  L  Ostpr. 

Qeh,  Honrat  Dr.  phil.  hon.  c.  Ernst  Sieglin,  Fabrikbesitzer,  Stuttgart, 

Felfirersburg. 
Dr.  Ed.  Simon,  Kommerzienrat,  Berlin,  Victoriastrasse  7. 
Dr.  Sitzler,  Re^erungsreferendar,  Brieç. 
Dr.  H.  Spitta,  Professor  an  der  Universität  Tübingen. 
Dr.  H.  Staeps,  Pfarrer  in  Theningen  (Baden). 

Gymnasialprofessor  a.  D.  Dr.  Staudinger,  Darmstadt,  Inselstrasse  26. 
Dr.  J.  Hutchison  Stirling,  Professor,  Edinburgh,  Laverock  Bank  Boad  4. 
Pfarrer  Strothmann,  Marten  bei  Dortmund. 

Dr.  Anton  Thomsen,  Privatdozent,  Kopenhagen,  Skindergade  29. 
Cand.  jur.  K'uno  Tie  mann,  Berlin,  Brückenallee  4. 

Dr.  Hans  Vaihinger,  Professor  an  der  Universität  Halle  a.  S.,  Geh.  Reg.- 

Rat,  Reichardtstrasse  16. 
G.  Vocke,  Amtsrichter,  Günzburg  i.  B. 

Dr.  Volkelt,  Professor  an  der  Universität  Leipzig,  Auenstrasse  3. 
Dr.  h.  c.  Vollert,  Verlagsbuchhändler,  Berlin  Sw,  Zimmerstrasse  94. 
Dr.  E.  Vowinkel,  Realschuldirektor,  Mettmann,  Rheinprovinz. 

Gustav  Wagner,  Privatmann,  Achem  (Baden). 

Julius  Wagner,  Tulln  a.  d.  Donau  bei  Wien. 

A.  Warda,  Amtsrichter,  Königsberg  i.  Pr.,  Tragheim,  Pulverstrasse  21. 

W.  B.  Waterman,  Boston  (Roxbury)  Mass.  U.  S.  A.,  Wanmbeckstreet 41. 

Lecturer  C.  C.  J.  Webb,  M.  A.  Oxford,  Magdalen  College. 

Dr.  R.  Wedel,  Privatgelehrter,  München,  Rinzregentenstrasse  8. 

Dr.  Alexander  Wernicke,  Professor  am  Polytechnikum  Braunschweig. 

Verlagsbuchhändler  H.  We  s  sei,  Wolfenbüttel. 

Privatdozent  Dr.  R.  Wilbrandt,  Berlin  W.  16,  Bleibtreustrasse  26. 

Edmund  Wirth,  Kommerzienrat,  Sorau  N.-L. 

Dr.  Erich  Witte,  Misdroy. 

Wladimir  Wrana,  Lehrer  in  Zlabings  (Mähren). 

I^vatdozent  Dr.  M.  Wundt,  Strassburg  i.  E.,  Stemwartenstrasse  28. 

Dr.  Theobald  Ziegler,  Professor  an  der  Universität  Strassburg  L  E. 

Bibliothek    der    St.    Nicolai-Kirche    in    Berlin    (Prediger    06hrke, 

Berlin  C  2,  Poststrasse  15). 
Bibliothek  des  Kgl.  Wilhelmsgymnasiums  in  Berlin   (Direktor  Geh. 

Reg.-Rat  Prof.  Dr.  Leuchtenberger,  Bibliothekar  I^f.  Dr.  Draheim). 

Vermittlungsstelle  :   Webersche  JBuchhandlung,  Berlin   W.   8,  Cha^ 

lottenstrasse  48. 
Bibliothek  des  Realgymnasiums  Coblenz  (Direktor  Dr.  Goossen). 
Magistrat  der  Stadt  Hildesheim. 
Ein  ungenannt  bleibendes  Mitglied. 

Summa:  164  Jahresmitglieder. 


Besugsberectatlgte  Danermltglleder. 

(Einmaliger  Beitrag  von  mindestens  400  Mark.) 
Geh.  Kommerzienrat  Ludwig  Bethoke,  Halle  a.  S.,  Burgstrasse. 
Konsul  B.  Brons  jr.^  Emden. 

Frau  Geh.  Kommerzienrat  Albert  Dehne,  Halle  a.  S.,   Schimmelstrasse  7. 
Verlagsbuchhändler  Dr.  Robert  Faber,  Magdeburg,  Westendstrasse  13. 
Kommerzienrat  Robert  Frank,  Ludwigsbur^. 

Direktor  der  deutschen  Bank  Arthur  G  winner,  Berlin  W.,  Rauchstrassel. 
Professor  Dr.  G.  fl.  Howison,  Berkeley  (Calif.),  Bancroft-Way  2731. 
Fabrikbesitzer  und  Baumeister  Friedrich  Kuhnt,  Halle  a.  S.,  Steinweg. 
Justizrat  Dr.  Lachmann,  Berlin  W.  10,  Bendlerstrasse  9. 


Kant^MellMhaft.  185 

eh.  Kommersienrat  Heinrich  Lehmann,  Halle  a.  S.,  Bargstrasse  46. 
u^^t  Lud ow ici,  Genf,  Route  de  Florissant  36. 
rof.  Dr.  Götz  Martins,  an  der  Universität  Kiel,  Hohenbergstrasse. 
erlagsbuchhändler   Bittergutsbesitzer   Rudolf   Mos  se,    Berlin    SW.    19, 

Jerusalemerstrasse  46/9. 
rof  essor  Dr.  Friedrich  Paulsen,  Steglitz  bei  Berlin,  Fichtestrasse, 
ibrikbesitzer  W.  v.  Siemens,  Berlin  W.,  Tierjrartenstrasse  10. 
»dtrata.  D.  Professor  Dr.  Walter  Simon,  Königsberg  i.Pr.,  Kopemikus- 

strasse,  Ehrenmitglied  der  Kanteesellschaft. 
rof  essor  Dr.  August  Stadler,  Zürich,  Bleicherweg. 
eneralarzt  Dr.  med.  Stechow,  Hannover,  Hohenzollemstrasse  44. 
rof  essor  Dr.  Strong,  New- York,  Columbia  University. 
erlafi:sbuchhändlerDrphil.hon.c. Ernst V oller t,  Berlin  SW.  12,Zimmerstr.94. 
»brikbesitzer  Ernst  Weise,  Halle  a.  S.,  Händelstrasse. 
eh.  Kommerzienrat  Carl  Wessel.  Bembuig. 
he    Philosophical    Union    of    the   University    of   California, 

(President:  Professor  G.  H.  Howison),  Berkeley,  (Calif.) 
ociety  of  Ethical  Culture  (President:   Professor  Dr.  Felix  Adler), 

New-York  123  E,  60*^  Street. 

Summa:  24  bezugsberechtigte  Dauermitglieder. 

unerdem  noch  ca.  350  Mitglieder  mit  einmaligen  Beiträgen  unter  400  Mk. 


Anhang. 

Nenelngetretene  Jataresmttglleder  für  1908. 

^.  Erich  A  dick  es,  Professor  an  der  Universität  Tübingen. 

»r.Otto  Boelitz,  Oberlehrer  a.d.Deut8ch.  Schule  in  Brüssel,  Rue  Forestière  41. 

hr.  jur.  Bernhard  Carl  Engel,  Berlin  W.  80,  Heilbronnerstrasse  3. 

lie   theol.  Dr.   phil.  Karl  Heim,  Privatdozent  und  Konviktsinspektor, 

Halle  a.  S ,  Wilhelmstrasse  10. 
hr.  phiL  G.  Huber,  Qrassau  (Oberbayem). 
hr.  A.  J.  de  Sopper,  Velsen  (Holland). 

Professor  Dr.  Otto  Schneider,  Küstrin-Neustadt,  Landsbereerstrasse  107. 
)r.  Johannes  Schubert,  Qröbers  bei  Halle  a.  S.,  Villa  Bayl 
hr.  Karl  Wollf ,  Dramaturg  des  Grossh.  Hoftheaters  in  Karlsruhe  (Baden), 

Kriegsstrasse  63.  

hr.  G.  E.  Burckhardt,  Gr.  Krauschen  (Kreis  Bunzlau). 

hr.  Ph.  Bridel,  Professeur  à  la  Faculté  de  Théologie  de   TÉglise  libre, 

Lausanne,  Clos-Maria. 
'astor  E  be  ling  in  Erbisdorf  bei  Freiberg  i.  Sa. 
irtLU  Dr.  Elisabeth  Förster-Nietzsche,  Weimar,  Nietzsche-Archiv. 
fr.  Hans  Lindau,  Berlin-CHiarlottenburg,  Kantstrasse  123. 
tadtachulrat  Dr.  Carl  Michaelis,  Berlin  W.,  Kurfürstenstrasse  14. 
rivatrelehrter  Carl  Müller,  Braunschweig,  an  der  Martinikirche  2. 
r.  phu.  John  M.  O'S  u  1 1  i  v  a  n ,  Dublin  (Irland),  N.  C.  R.  Bessborough-Terrace  22, 
r.  ph.  Stefan  Pawlicki,  Universitätsprofessor  in  Krakau. 
T.  Franz  Rademaker,  Bonn,  Hohenzollemstrasse  21. 
rof  essor  Dr.  Carl  Stumpf,  Geh.  Reg.-Rat,  Berlin  W.,  Augsburgerstr.  61. 
tadtrat  Tourbie,  Berlin  NW.,  Wickmger  Ufer  1, 
berst  a.  D.  Vitzthum  von  Eckstädt,  Berlin  W.  15,  Fasanenstr.  37. 
latizrat  Dr.  Wolf,  Dresden,  Johann  Georgen- Allée  6. 

ibliothek  der  Latin  a,  Halle  a.  S.  (Direktor  Dr.  Rausch.) 
hilosophisches  Seminar  der  Universität  Heidelberg, 
hilosophisches  Seminar  der  Universität  StrassburgiJj.  (KoUegien- 
gebände.) 


186  Mitteilnngen. 

Dritter  internationaler  Kongress  fikr  Philosophie 

Heidelberg,  31.  Anif^ist  bis  5.  September  1908. 

Der  internationale  Kongress  für  Philosophie,  der  im  Jahre  1900  is 
Paris  bei  Gelegenheit  der  Weltausstellung  begründet  wurde  und  zum 
zweiten  Male  1904  in  Genf  tagte,  soll  nach  dem  dort  gefassten  BesehhuM 
in  diesem  Jahre  in  Heidelberg  zusammentreten. 

Die  staatlichen,  städtischen  und  akademischen  Behörden  haben  ihn 
bereitwillige  Unterstützung  in  dankenswerter  Weise  zugesagt,  und  vir 
beehren  uns,  zum  Besuche  der  Versammlung  einzuladen,  welche  in  der 
Woche  vom  31.  August  bis  5.  September  stattfinden  wird. 

Nach  einem  Begrüssungsabend  am  Montag,  den  31.  August  soll  am 
Dienstag,  den  1.  September  die  erste  der  vier  allgemeinen  Sitzungen  asd 
am  Vormittag  des  Samstag,  5.  September,  die  Schlusssitsung  abgehalten 
werden,  an  die  sich  am  Nachmittag  ein  Ausflug  anschliessen  wird. 

Für  die  besonderen  Arbeiten  wird  sich  der  Kongress  in  folgende 
7  Sektionen  gliedern:  1.  Geschichte  der  Philosophie;  2.  Allgemeine  Philo- 
sophie, Metaphysik  und  Naturphilosophie;  3.  Psychologie;  4.  Logik  imd 
Erkenntnistheorie;  5.  Ethik;  6.  Ästhetik;  7.  Religionsphüosophie. 

Die  Verhandlungen  des  Kongresses  werden  in  deutscher,  englischer, 
französischer  und  italienischer  Sprache  geführt. 

Anmeldungen  zu  Vorträgen  für  die  Sektionen  werden  zunächst  es 
den  Generalsekretär  Dr.  Elseuhans  (Heidelberg,  Plöck  79)  erbeten,  der 
sie  den  noch  zu  bestimmenden  Sektionsvorständen  überweisen  wird.  Die 
Ausdehnung  der  einzelnen  Mitteilungen  sollte  die  Zeit  Ton  15  Minotei 
nicht  überschreiten  ;  den  Zeitraum  für  die  Diskussion  nach  Massgabe  der  ZiU 
der  Anmeldungen  zu  begrenzen,  bleibt  den  Sektionsvorständen  vorbehaltei. 

Der  Preis  der  Mitgliedskarte  beträgt  20  Mk.;  sie  berechtigt  nr 
Teilnahme  an  allen  Veranstaltungen  des  Kongresses  und  zum  unentgelt- 
lichen Bezufire  des  Eongressberichtes.  Für  Damen,  welche  zur  Familie 
eines  Eongressmitgliedes  gehören,  werden  besondere  Karten  zu  10  Mk. 
ausgegeben,  welche  dieselben  Berechtigungen  wie  die  Mitgliedskartes, 
mit  Ausnahme  des  Anspruchs  auf  den  Kongressbericht,  gewähren. 

Anmeldungen  zur  Beteiligung  sind  im  Interesse  der  Schätzung  dei 
zu  erwartenden  Besuchs  so  früh  wie  möglich  erwünscht;  sie  erfolgen  ib 
besten  in  der  Form  der  Einzahlung  des  Beitrags  mit  Postanweisung  tt 
die  Rheinische  Kreditbank,  Depositenkasse,  Ludwigsplatz,  in  Heidelheigt 
mit  möglichst  genauer  Angabe  der  Adresse,  an  welche  sodann  die  Ifit* 
gliedskarte  durch  die  Post  zugestellt  werden  wird. 

Im  Monat  Mai  wird  eine  zweite  Einladung  mit  genaueren  Angtbei 
erfolgen,  die  auch  Mitteilungen  über  die  Unterkunft  in  Heidelberg  est* 
halten  werden. 

Das  Heidelberger  Organisationa-Komltee. 

Gerne  bringen  wir  vorstehende  Einladung  zum  Abdruck  auf  des 
Wunsch  des  Organisations-Komitees,  dem  u.  A.  unsere  Mitarbeiter  Gek. 
Rat  Prof.  Dr,  Windelband,  Präsident  des  Kongresses,  Geh.  Kircbeont 
Dr.    Troeltsch,   und   die   Privatdozenten   Dr.   Elsenhans,  Dr.  F.  A. 


Mitteilungen.  187 

ïchxnid  und  Dr.  Lask  ang;ehOren.  Auf  dem  Eongress,  an  dem  îeder 
>hilo8ophi8ch  Interessierte  ohne  weiteres  teilnehmen  kann, 
werden  voraussichtlich  auch  die  beiden  Herausgeber  der  Eantstudien  an- 
lesend sein,  um  so  mehr,  als  der  Eine  derselben,  Prof.  Vaihinger,  Mitglied 
1er  vom  Genfer  Eongress  ernannten  „permanenten  internationalen  Eom- 
Diasion*^  ist,  dem  auch  n.  A.  die  Mitglieder  der  Eantgesellschaft  Prof. 
>Uthey-BerliD,  Prof.  Riehl-Berlin,  Prof.  Lasson-Berlin  angehören.  Mit- 
pJLieder  und  Freunde  der  Eantiresellschaft  werden  somit  den 
leidelberger  Eongress  als  Treftpunkt  betrachten  können. 


Bestimmungen 
Ober  die  Ergänzungshefte  der  Kantstudien. 

Mannigfache  Erfahrungen  veranlassen  uns,  folgende  Bestimmungen, 
betreffend  die  Aufnahme  von  Arbeiten  in  die  „Ergänzungshefte**  der  von 
ins  herausgegebenen  „Eantstudien"  allgemeiner  bekannt  zu  machen: 

1.  Die  Ergänzungshefte  der  Eantstudien  werden,  entsprechend  den 
Ifitteilungen  in  dem  Jahresbericht  der  Eantgesellschaft  pro  1906  (ESt. 
EU,  H.  1,  S.  147)  auf  Eosten  der  Eantgesellschaft|  hergestellt,  die 
leren  Exemplare  an  ihre  Jahresmitglieder  und  bezugsberechtigten 
Daaermitglieder  gratis  und  franko  versendet.  Ausserdem  werden  Exem- 
;>lAre  auch  an  Nicht-Mitglieder  abgegeben:  dies  geschieht  durch  Ver- 
nittelung  der  Verlagsbuchhandlung  Reuther  &  Reichard  in  Berlin.  Er- 
Imbrnng^sgemäss  werden  auf  diese  Weise  nur  verhältnismässig  wenige 
Exemplare  abgesetzt,  da  ja  schon  so  viele  Freiexemplare  durch  die  Ver- 
teUang  seitens  der  Eantgesellschaft  an  ihre  Mitglieder  verbreitet  werden. 
Selbst  im  allergünstigsten  Falle  kann  die  Gesellschaft  durch  die  Ein- 
ttmhmen  aus  jenen  Verkaufsexemplaren  niemals  ihre  Auslagen  ersetzt 
bekommen.  Aus  diesem  Grunde  kann  für  die  Ergänzungshefte  kein 
àatorenhonorar  gewährt  werden. 

2.  Die  Autoren  werden  —  mindestens  fttr  das  Jahr,  in  dem 
ihre  Arbeit  als  Ergänzungsheft  der  Eantstudien  erscheint  —  Mitglieder 
der  Kantgesellschaft,  mit  dem  gewöhnlichen  Jahresbeitrag. 

8.  Manuskripte,  welche  zur  Aufnahme  in  die  Ergänzungshefte  der 
SLmntbtiidien  bestimmt  sind,  müssen  gut  leserlich  hergestellt  und  gänzlich 
dmekfertig  sein.  Wenn  durch  Verschulden  des  Autors  nachträgliche 
Korrekturen  im  Satz  gemacht  werden  mttssen,  so  hat  der  Autor  die  Eosten 
Uarfflr  zu  tragen. 

Es  empfiehlt  sich  daher  für  die  Herren  Autoren,  dass  sie  ihre 
Korrekturbogen,  welche  sie  gelegentlich  der  Revision  resp.  der  Super- 
terision  zurückerhalten,  aufbewahren,  um  eine  eventuelle  Eostenrechnung 
tber  die  etwa  von  ihnen  verschuldeten  Autorenkorrekturen  nachkontro- 
tteren  su  können. 

4.  Jeder  Autor  erhält  80  Freiexemplare.  Deren  Absendung  erfolgt 
Mcb  Berichtigung  des  sub  2.  erwähnten  Jahresbeitrages,  sowie  der 
iab  8.  erwähnten  event,  entstandenen  Unkosten. 

5.  Wenn  Arbeiten  Dissertationen  sind,  so  werden  die  Abzüge, 
Welche  den  betr.  Fakultäten  einzureichen  sind,  in  vorgeschriebener  Anzahl 
terck  untere  Drookeiei  hergestellt    Die  Kosten  für  diese  Separatabzflge 


188  Mitteilangen. 

tragen  die  Autoren  selbst.  Die  G^esamtkosten  (inkl.  Neusatz  des  Tifceli, 
der  Vita,  der  ev.  Widmung,  Papier,  Broschur  u.  s.  w.)  betragen  ämur 
schnittlich  pro  Bogen  nur  8—10  Mk.,  z.  B.  eine  Dissertation  von  6  Bog«i 
Umfang  kostet  also  40— 60Mk.  Diese  Kosten  sind  an  die  Druckerei  einxa- 
senden,  worauf  dieselbe  die  Dissertationsexemplare  an  die  angegebene 
Adresse  absendet. 

6.  Die  Autoren  übertragen  das  Eigentumsrecht  ihrer  Arbeit  anf 
die  Kantgesellschaft  für  deren  erste  Auflage.  Ist  von  einem  E^ 
gänzungs-heft  die  ganze  erste  Auflage  (welche  der  Regel  nach  insgesml 
5 — 600  Exemplare  beträgt,  exkl.  der  ev.  Dissertationsexemplare)  yergriffon, 
so  verbleibt  dem  Autor  das  Eigentumsrecht  für  jede  folgende  Auflag; 
doch  hat  er  die  Verpflichtung,  den  Verlag  der  Neuauflage  der  Krmi 
Reuther  &  Reichard  in  Berlin  zuerst  anzubieten.  Führen  die  Veriuuid- 
lungen  zu  keinem  Ziel,  so  hat  der  Autor  völlig  freie  Hand. 

Halle  a.  S.,  im  März  1908. 

Die  Herausgeber: 
Vaihiiiger.    BaaelL 

Mitteilung  für  Jahresmitglieder  und  Solche, 
die  es  werden  wollen. 

Die  Jahresmitglieder  und  bezugsberechtigten  Dauermitgliedcr 
der  Kantgesellschaft  gemessen  folgende  Vergünstigungen: 

1.  Frühere  Bände  der  „Kantstudien",  sowohl  die  ganze 
Serie,  als  einzelne  Bände  stehen  zu  dem  Vorzugspreis  von  6  M. 
pro  Band  (statt  12  M.)  zu  Gebote.  Mitglieder,  welche  von  dieser 
Vergünstigung  Gebrauch  machen  wollen,  mögen  sich  direkt  an 
die  Verlagsbuchhandlung  von  Reuther  &  Reichard,  Berlin  W  9, 
Köthenerstrasse  4,  wenden. 

2.  Die  früher  erschienenen  Ergänzungshefte  können  zu  dem 
ermässigten  Preise  nachbezogen  werden,  der  in  dem  auf  S.  197 
folgenden  Verzeichnis  der  Erg.-Hefte  angegeben  ist  Der  Bezug 
kann  direkt  durch  die  Verlagsbuchhandlung  Reuther  &  Reichard 
oder  durch  die  eigene  Sortimentsbuchhandlung  geschehen. 

3.  Von  unserem  Mitglied,  Dr.  Oskar  Ewald,  dem  Verfasser 
der  im  vorigen  Heft  erschienenen  vielbeachteten  Abhandlung: 
Die  deutsche  Philosophie  im  Jahre  1906  (von  dem  auch  in  den 
folgenden  Bänden  solche  Jahresübersichten  kommen  werden),  ist 
im  Verlag  von  Ernst  Hofmann  &  Co.  in  Berlin  soeben  erschienen: 
Kants  kritischer  Idealismus  als  Grundlage  von  Erkenntnistheorie 
und  Ethik  (314  S.).  Durch  SpezialVertrag  mit  dem  Verlag  er- 
halten unsere  Mitglieder  dieses  Werk  für  8  M.  (statt  10  M.).  Ebenso 
ist  das  im  vorigen  Jahr  erschienene  Buch  desselben  Verfossers: 


Mitteilcmgen.  189 

»Kants  Methodologie  in  ihren  Grundzügen.  Eine  erkenntnis- 
ttieoretische  Untersuchung«  (125  S.)  für  3  M.  (statt  4  M.)  zu  be- 
adehen.  Interessenten  wollen  sich  direkt  an  die  Verlagsbuchhand- 
lung Ernst  Hofmann  &  Co.,  Berlin  W  35,  Derfflingerstrasse  16, 
wenden.  Die  in  Deutschland  und  Österreich-Ungarn  wohnenden 
Mitglieder  erhalten  die  betr.  Sendung  auch  postfrei.  (Auch  Be- 
stellungen, welche  dem  genannten  Verlage  auf  dem  üblichen  Buch- 
handlerwege  zugehen,  werden  zu  den  Vorzugspreisen  ausgeführt.) 

Die  Jahresmitglieder  der  „KarUgeseUschafl^  (Jahresbeitrag  20  M.) 
erhalten  die  yyKantstudien^  (4  Hefte  im  Umfang  von  ca.  500  Seiten), 
moune  die  dazu  gehörigen  Ergänzungshefte  (im  JaJir  3 — 4,  im  Um- 
fang von  ca.  3 — 400  Seiten)  gratis  und  franko.  Statuten  sind 
durch  den  OeschäftsfUhrer  der  Kantgesellschaft,  Prof  Dr.  Vaihinger 
{^Halle  a.  S.,  Reichardtsbrasse  15),  zu  beziehen,  der  auch  jederzeit 
Beitrittserklärungen  entgegen  nimmt. 


Die  Jahresberichte  fiber  die  deutsche  Philosophie 
in  den  ,,Kantstudien'^ 

===  Mitteilung  an  Autoren  und  Verleger.  === 
Der  Jahresbericht  über  die  deutsche  Philosophie  des  Jahres  1906 
im  Heft  3  und  4  des  Xn.  Bandes  der  „Kantstudien**,  erstattet  von  Herrn 
Dr.  Oskar  Ewald,  Mitglied  der  Kantgesellschaft,  hat  allseitig  Beifall 
fefonden.  Die  Bedaktion  der  „Kantstudien^  hat  daher  beschlossen,  von 
nm  an  regelmassig  von  demselben  Autor  über  jedes  Jahr  einen  solchen 
Bericht  zu  bringen.  Um  diesen  Bericht  recht  ergiebig  zu  machen,  ist  es 
notwendig,  dass  die  Herren  Autoren  resp.  Verleger  von  neuen  Erschein- 
sngen,  welche  auf  deren  Erwähnung  in  dem  genannten  Jahresbericht 
Wert  legen,  ihre  Schriften  an  den  Herrn  Berichterstatter  senden.  Die 
YerMndung  soll  direkt  an  Herrn  Dr.  Oskar  Ewald,  Wien  I,  Getreide- 
fliarkt  10,  erfolgen.  Natürlich  übernimmt  der  Berichterstatter  damit  nicht 
die  Verpflichtung,  nun  auch  jede  ihn  zugesendete  Neuerscheinung  zu  er- 
wihnen;  doch  wird  er  selbstverständlich  bestrebt  sein,  nichts  Wertvolles 
imerwähnt  zu  lassen. 

Der  Jahresbericht  des  Herrn  Dr.  Oskar  Ewald  ändert  absolut  nichts 
an  unserer  bisherigen  Einrichtung  der  Rezensionen  und  ist  von  diesen 
gSDB  unabhängig.  Diejenigen  Bücher,  von  denen  selbständige  Rezensionen 
la  den  ,,Kant8tudien*'  erscheinen  sollen,  bitten  wir,  wie  bisher,  in  einem 
besonderen  Exemplar  an  den  mitunterzeichneten  Herausgeber  der  „Kant- 
stodien*',  Privatdozent  Dr.  B.  Bauch,  Halle  a.  S.,  Goethestrasse  86,  ein« 
landen  zu  woüen. 

Halle  a.  S.,  im  März  1906. 

Die  BedAktion  der  „Kantitadiea<<. 
Ytibinger,   Biuoh, 


190  Mitteilungen. 


Drittes  Preisausschreiben  der  „Kantgesellstf. 

Carl  Gütticr-Prcisaufgabc. 


Welches  sind  die  urtrMichen  Fortschritte, 
die  die  Metaphysik  seit  Hegels  und  Herbarts  Zeiten 
i/n  Deutschland  gemacht  hat? 


Das  Thema  ist  der  von  der  Berliner  Akademie  der  Wissen- 
schaften für  1791  gestellten  und  bis  1795  verlängerten  Aufgabe  nach- 
gebildet, zu  deren  Bearbeitung  Kant  selbst  Entwürfe  gemacht  hatte: 
„Welches  sind  die  wirklichen  Fortschritte,  die  die  Metaphysik  seit 
Leibniz'  und  Wolff's  Zeiten  in  Deutschland  gemacht  hat?^  Das 
jetzt  gestellte  Thema  könnte  auch  lauten:  „Welche  definitivea 
Resultate  hat  die  Metaphysik  seit  dem  Zusammenbruch  des  deotscbeo 
Idealismus  erzielt?''  Hierbei  ist  „Metaphysik**  wie  in  jener  Akademie- 
Aufgabe  und  wie  bei  Kant,  im  weiteren  Sinne  genommen,  derart, 
dass  auch  erkenntnistheoretische  und  naturphilosophische  Probleme 
darunter  fallen.  Das  Thema  ist  nicht  so  gemeint,  dass  notwendig 
„wirkliche  Fortschritte"  aufgewiesen  werden  sollen;  auch  einem 
einem  negativen  Ergebnis  kommende  Arbeit  kann,  wenn  sie  nur 
wissenschaftlich  gut  durchgeführt  ist,  preisgekrönt  werden. 

Die  zeitliche  Begrenzung  nach  rückwärts  ist  so  zu  Te^ 
stehen,  dass  eine  eingehende  Würdigung  Schopenhauers,  des 
letzten  Schelling,  Benekes  und  Krauses  ausserhalb  des  Themas 
liegen  soll 

Es  handelt  sich  hierbei  nicht  um  eine  ausführliche  histo- 
rische Darstellung  aller  in  Betracht  kommenden  Systeme  nod 
Richtungen,  —  im  Gegenteil,  die  Kenntnis  derselben  wird  in 
den  Beantwortungen  des  Themas  vorausgesetzt;  Aufgabe  des 
Autors  ist  es  vielmehr,  das  Haltbare,  Gemeinsame,  Dauernde  aus 
dem  historischen  Material  jener  Systeme  und  Richtungen  heraus- 
zuarbeiten,  das  Veraltete,  Individuelle,   Wandelbare  abzuscheiden 


Mitteilnngen.  191 

d,  an  den  so  gewonnenen  Resultaten,  die  Fortschritte  gegenüber 
r  Periode  Hegel-Herbart,  event,  auch  gegenüber  der  Kantischen 
;d  Vorkantischen  Metaphysik  festzustellen.  Arn  zweckmässigsten 
irde  dies  durch  zusammenfassende  Thesen  am  Schlüsse  der  Arbeit 
Ibst  geschehen. 

Die  Ausschreibung  dieser  dritten  Preisaufgabe  verdankt  die 
[antgesellschaft  der  Anregung  ihres  Mitgliedes,  des  Herrn  Pro- 
essor  Dr.  Carl  Güttier  an  der  Universität  München, 
welcher  nicht  nur  das  oben  formulierte  Thema  nebst  Erläute- 
Mgen  uns  selbst  angegeben,  sondern  auch  der  Gesellschaft  für 
lie  beste  Beantwortung  der  Aufgabe 

Eintausend  PlarK 

ind  für  die  zweitbeste  Bearbeitung 

Sechshundert  Plarl^ 

^  Verfügung  gestellt  hat. 

Für  die  Bewerbung  an  diesem  Preisausschreiben  gelten  fol- 
"ende  Bestimmungen: 

1.  Die  Bewerbungsschriften  sind  einzusenden  an  das  „Kuratorium 
der  Universität  Halle". 

l  Ablieferungsfrist:  22.  April  (Kants  Geburtstag)  1910. 

t.  Jede  Arbeit  ist  mit  einem  Motto  zu  versehen.  Name  und 
Adresse  des  Verfassers  dürfen  nur  in  geschlossenem  Kouvert 
beigefügt  werden,  das  mit  dem  gleichen  Motto  zu  über- 
schreiben ist. 

.  Jeder  Arbeit  ist  ein  genaues  Verzeichnis  der  benützten  Litte- 
ratur,  sowie  eine  detaillierte  Inhaltsangabe  beizufügen. 

.  Nur  gut  lesbar  hergestellte  Bewerbungsschriften 
werden  berücksichtigt.  Undeutlich  geschriebene, 
schwer  lesbare  Manuskripte  werden  unbedingt  von 
Yorn  herein  von  der  Konkurrenz  ausgeschlossen. 
Daher  werden  die  eingesendeten  Arbeiten  am  besten 
mittelst  guter  Schreibmaschinenschrift  hergestellt. 

Die  Bi&tter  des  Manuskripts  müssen  paginiert  und  mit  Rand 
yersehen  sein.     Nur  die  Vorderseite  der  Bl&tter  mlite  be« 


192  Mitteüungen. 

schrieben   werden.    Das  Manuskript  kann  aus  losen  Blättern 
in  einer  mit  Bändern  versehenen  Mappe  bestehen. 

7.  Die  Arbeiten  müssen  in  deutscher  Sprache  abgefasst  sein. 

8.  Als  Preisrichter  fungieren:  Geheimrat  Professor  Dr.  A  Biebl 
und  Geheimrat  Professor  Dr.  K.  Stumpf  an  der  üniversitit 
Berlin,  sowie  Professor  Dr.  0.  Külpe  an  der  üniversitit 
Würzburg. 

9.  Die  Verkündigung  der  Preiserteilung  findet  Ende  1910  ii 
den  ,,Kantstudien^  statt. 

10.  Sind  überhaupt  keine  preiswürdigen  Arbeiten  eingelaufen,  » 
können  die  relativ -befriedigendsten  Beantwortungen  nadi 
dem  Ermessen  der  Preisrichter  aus  dem  Preisfond  Bemiuie- 
rationen  erhalten. 

11.  Die  Redaktion  der  „Kantstudien^  ist  berechtigt,  aber  nidit 
verpflichtet,  preisgekrönte  Arbeiten  in  ihrer  Zeitschrift  (resp. 
in  den  zugehörigen  „Ergänzungsheften^)  abzudrucken. 

12.  Nichtgekrönte  Arbeiten  werden  seitens  des  Geschäftsführen 
der  Kantgesellschaft  demjenigen  zurückgegeben,  welcher  sich 
durch  Angabe  des  betreffenden  Mottos  legitimiert.  Kickt- 
reklamierte  Arbeiten  werden  nach  Verlauf  eines  Jahres,  «■ 
31.  Dezember  1911,  samt  dem  zugehörigen  uner5fbeta 
Rouvert  vernichtet. 

Halle  a.  S.,  im  März  1908. 
(Reichardtstr.  15.) 


Der  Geschäftsführer  der  »»Kantsesellscbaft''. 

Professor  Dr.  H.  Vaihinger. 


NB.  Exemplare  dieses  Preisausschreibens^  das  eine  hn0^ 
Revision  der  deutschen  Philosophie  seit  ca.  SO — 60  Jahren  veri/ff^ 
sind  durch  den  obengenannten  Geschäftsführer  der  ^KantgesMkß? 
tu  hmehen. 


MitteiloDgen.  l98 

Kants  Beziehungen  zur  Medizin. 

—  Eine  Umfrage.  -- 

Herr  Dr.  med.  Erich  Ebstein  in  München,  Assistent  am  Kranken- 
ans  links  der  Isar,  hat  vor  Karzern  einen  sehr  interessanten  Beitrag  zur 
enntnis  Kants  veröffentlicht:  „Ein  vergessenes  Dokument  I.  Kants  zur 
eschichte  der  Influenza^  (Deutsche  Medizinische  Wochenschrift  1907, 
o.  47).  Es  wird  darin  ein  Brief  Kants  an  Hof  rat  Metzger  vom  81.  De- 
imber  1782  mitgeteilt,  in  welchem  Kant  das  von  ihm  aach  sonst  mehr- 
ch  berührte  Thema  der  damals  grassierenden  Influenza  (leider  auch 
)ute  noch  nach  126  Jahren  ein  aktuelles  Thema  —  zumal  in  diesem 
^inter)  instruktiv  behandelt.  Über  dieses  bisher  vergessene  und  von  Eb- 
ein  ausgegrabene  Schreiben  Kants  wird  im  nächsten  Hefte  Professor  Dr. 
enzer  referieren.  Hier  sei  nur  auf  Wunsch  von  Herrn  Dr.  Eb- 
«ein  darauf  aufmerksam  gemacht,  dass  derselbe  beabsichtigt,  Kants  Be- 
ehuDgen  zur  Medizin  zum  ersten  Mal  in  umfassender  Weise  zu  behandeln 
enn  was  Bohn  1872  in  der  Altpr.  Monatsschr.  Bd. 9  und  Eohut  in  der 
tiarmazeutischen  Zeitung  vom  6.  Februar  1904  —  „Kant  als  Arzt  und 
potheker^  —  geboten  haben,  sind  nur  Anfänge).  Herr  Dr.  Ebstein  wird  für 
den  Nachweis  und  Hinweis  in  dieser  Hinsicht  dankbar  sein.  V. 


Neuaufgefundene  Kantbriefe« 

In  letzter  Zeit  sind  einige  bisher  unbekannt  gebliebene  Briefe  Kants 
f gefunden  worden:  1.  an  Professor  Metzger  in  Königsberg,  vomSl.  De- 
DQoer  1782,  betr.  die  damalige  Epidemie  der  Influenza;  —  2.  An  Herrn 
tgister  Rath  in  Halle,  vom  16.  Oktober  1792,  betr.  eine  lateinische 
>er8etzung  der  Kritik  d.  r.  V.;  —  3.  an  Professor  Hufeland  in 
KU,  vom  19.  April  1797,  betr.  Kants  Schrift  .über  die  Macht  des  Gemüts** 
8.  w.  —  Leider  hatten  wir  im  vorliegenden  Hefte  keinen  Baum  mehr 
r  Mitteilung  dieser  Briefe,  über  welche  nun  im  nächsten  Hefte  Herr 
of  essor  Dr.  P.  M  enzer  in  Marburg,  welcher  bekanntlich  seit  Jahren 
der  grossen  Berliner  Akademie-Ausgabe  tätig  ist,  berichten  wird. 

V. 


An  die  Herren  Autorenl 

Es  ist  in  der  letzten  Zeit  mehrmals  vorgekommen,  dass  nachträglichf 
ch  während  der  Korrektur,  Textänderungen  vorgenommen  wurden, 
^inm  machen  wir  die  Herren  Autoren  darauf  aufmerksam,  dass  die 
^rrektur-Fahnen  und  -Bogen  nur  sam  Zwecke  der  Drackfehlerver- 
ftsemng  übersandt  werden.  Sogenannte  Aatorkorrektaren  (d.  Il 
idemngen  des  im  Manuskript  vorgelegten  Textes)  sind  unxiilftasig. 
)  lind  mit  grossem  Aufwand  von  Zeit  und  Kosten  verbunden,  halten  die 
ueklegung  auf  und  können  nur  auf  Rechnung  der  Autoren  selbst  aus- 
fahrt werden. 

Redaktion  und  Verlag  der  „Kantstudien^. 

XuUMidlM  XIll.  ^^ 


194  Mitteilungen. 

Der  Begriff  der  Persönlichkeit  bei  Kant 

Nachtrag 
zu  dem Trendelenburgschen  Aufsatz:  „Zur  Geschichte  des  Wortes  Per8on^ 

Der  ausserordentlich  anziehende  Aufsatz  aus  dem  Nachlass  Trendekn- 
burgs,  den  wir  an  der  Spitze  dieses  Heftes  abgedruckt  haben,  findet 
interessante  Ergänzimg  und  wertvolle  Bestätigung  durch  verschiedene 
Publikationen,  welche  gerade  jetzt,  resp.  vor  Kurzem  erschienen  sind. 

Was  zunächst  die  tnerkwürdige  Vorgeschichte  des  Ausdruckes  PenoM 
betrifft.,  so  sei  aufmerksam  gemacht  auf  eine  kürzlich  erschienene  Schnft 
des  Kieler  Juristen  Professor  Dr.  Siegmund  Schi oss mann:  PenoM 
und  nçôçamoy  im  Recht  und  im  chrisSichen  Dogma  (Kiel  und  Leipo^ 
Lipsius  &  Tischer  1906,  12A  S.).  Der  Verf.  geht  vom  juristischen  Penon» 
begriff  aus,  zu  dem  er  viele  wichtige  Litteratur  beibringt,  übrigens  mit 
der  ausgesprochenen  Tendenz,  das  juristische  Bemffssystem  von  diesen 
„Schädlinge  zu  befreien,  da  der  Begriff  unklar  und  unbestimmt  seL  Wjt 
müssen  uns  hier  damit  begnügen,  auf  diese  gelehrte  Schrift  hinznweistti^ 
in  der  sich  Klassische  Philologie,  Archäologie,  Kirchengeschichte  undJuii^ 
prudenz  ein  Stelldichein  geben. 

Femer  sei  hingewiesen  auf  eine  mir  soeben  zufiüü^  bekannt  ge> 
wordene  Abhandlung  von  Professor  Dr.  Sawicki  in  Pelplin  (in  Wes^ 
preussen  bei  Danziç):  „Das  Problem  der  Persönlichkeit  bei  Kant*'  (in  der 
Zeitschrift:  »Der  Katholik^,  87.  Jahrg.,  Mainz,  Kirchheim  &  Co.  1903^ 
S.  44—66).  Der  Verf.  knüpft  an  die  Dissertation  von  D.  Greiner  an: 
gDer  Begriff  der  Persönlichkeit  bei  Kant^  im  Archiv  f.  Ghesch.  d.  Phitoi 
Bd.  X,  1896,  über  welche  die  KSt.  schon  in  ihrem  ersten  Bande,  S.  481^ 
eine  Selbstanzeige  gebracht  haben.  Die  Abhandluns^  von  Sawidd  kt 
natürlich  ihrer  Tendenz  nach  schon  charakterisiert  durch  den  Umstand, 
dass  sie  in  einer  „Zeitschrift  für  katholische  Wissenschaft  und  kirchlicto 
Leben"  erschienen  ist,  deren  beide  Redakteure  „Professoren  am  bischOf* 
liehen  Seminar  zu  Mainz^  sind.  Aber  sie  zeugt  dodi  von  erfreulicher 
Objektivität,  ist  in  anständigem  und  verständigem  Ton  gehalten,  und  eil 
dankenswerter  Beweis  dafür,  dass  die  Polemik  gegen  Kant  selbst  toi 
konservativer  Seite  aus  nicht  notwendig  in  dem  gehässigen  Tone  Wut 
manns  gehalten  zu  sein  braucht;  insofern  ist  der  Au&atz  Sawickis  lad 
ein  bemerkenswerter  Nachtrag  zu  der  Abhandlung  von  Dr.  Bauch  iB 
diesem  Hefte  :  „Kant  in  neuer  ultramontan-  und  uberal-katholischer  Bt^ 
leuchtung<*.  Sawicki  führt  u.  A.  Folgendes  aus  :  „Der  Begriff  der  PttHte* 
lichkeit  hat  in  der  Philosophie  ein  uraltes  Heimatsrecht.  Aber  die  ilteie 
Zeit  kultiviert  nur  den  metaphysischen  Begriff;  seine  Übertesciof 
auf  das  ethische  G^ebiet  vollzieht  erst  die  Moderne.  Die  FortbUaung 
des  Begriffes  ist  eine  glückliche  zu  nennen:  Der  Begriff  der  ethischa 
Persönlichkeit  bezeichnet  treffend  ein  sittliches  Ideal,  das  zugleich  eis 
eminent  christliches  ist.^  Hier  verweist  Sawicki  auf  seine  Studie:  «Emt 
und  Würde  der  Persönlichkeit  im  Christentum"  (Köln  1906).  i)  -Die  Ver 
Wendung  des  Begriffes  in  ethischer  Bedeutung  ^ht  in  der  Haöptstche 
auf  Kant  zurück.  Sein  Werk  ist  nicht  nur  die  Einführung,  senden 
auch  die  Durcharbeitung  und  Bestimmung  des  Begriffes  Was  die  Fol|^ 
zeit  in  dieser  Beziehung  geleistet  hat,  findet  sich  oei  ihm  Eum  wenigitei 
im  Keime  vorgebildet."  Hier  beruft  sich  Sawicki  auf  HOffdiBgi 
schönen  Ausspruch  :  „Von  dem  Gekünstelten  der  Ableitung  abgesehen,  hak 
Kant  zuerst  ein  grosses  und  bedeutungsvolles  Prinzip  ausgesprochen.  Bi 


1)  In  diesem  Zusammenhang  sei  erinnert  an  die  im  liberalen  Pro* 
testantismus  hervortretenden  Bestrebungen  der  jüngsten  Zeit  um  ein  „pe^ 
sönliches  Christentum",  sowie   an   die   von  Dr  , Johannes  Müller  henai' 

gegebenen  Blätter  für  das  persönliche  Leben  u.  Ä.   Persönlichkeit^  ptfi0B- 
ches   Leben    u.  s.  w.   sind   Schlagworte    der  jüngsten   Zeit    gewurdeo, 
zusammenhängend  mit  der  Neuromantik, 


Mitteilungen.  196 

18  Prinzip  der  Persönlichkeit  in  seiner  edelsten  Form,  ein  Oedanke, 
ler  leben   wird,   wenn  Kants  .  .  .  Begründung  längst  vergessen  sein 

ein  Gedanke  von  grossem  ethischen  Wert,  sowohl  dem  Autoritats- 
^P  gegenüber,  wenn  dieses  etwas  mehr  sein  will,  als  ein  erziehendes 
ip,  als  auch .  jgegenüber  der  Lehre  von  dem  äusseren  Nutzen  and 
L,  die  sich  mit  den  Schalen  begnügt  und  den  Kern  vergisst.^  — 
r  dem  metaphysischen  Begriff  der  Persönlichkeit,  meint  Sawioki, 

man  verstanden:  eine  vernünftige  selbstbewusste  Substanz.  Kant 
diese  Metaphysik  zerstört,  und  habe  ausdrücklich  vor  dem  Paralo- 
us  der  Personalität  gewarnt;  so  sei  der  Begriff  der  PersönUch- 
um  das  Merkmal  der  Substantialität  ärmer  geworden:  aber  Kant 
den  Begriff  in  ethischer  Beziehung  bereichert.  Doch  müsse  man  bei 
ethischen  Persönlichkeitsbegriff  unterscheiden  zwischen  Persönlich- 
als  Grundlage,  Voraussetzung  oder  Anlage,  und  Penönlichkeit  als 
unkt  der  Entwickelung  und  vollkommenste  Realisierung  des  ethischen 
IS.  Im  ersteren  Sinn  sei  die  transscendentale  Freiheit  der  eigent- 
e  Inhalt  der  menschlichen  Persönlichkeit,  aber  sie  sei  noch  nicht 
wahrhaft  sittliche  Grösse,  sondern  erst  die  Grundlage  zu  einer 
3n  und  die  wahre  sittliche  Grösse  stehe  nicht  am  Anfang,  sondern 
Snde  einer  Entwickelung.  In  diesem  Sinne  eben  sei  der  Ausspruch 
i  zu  verstehen:  Der  Mensch  sei  Persönlichkeit  seiner  Be* 
mungnach.  Auch  sei  im  Sinne  Kants  zu  unterscheiden  zwischen 
iver  Freiheit  =  Selbstbehauptung  gegenüber  aller  Natur,  und  posi- 
Freiheit  =  Autonomie;  hiermit  stehen  noch  zwei  andere  Bestim- 
en  im  Zusammenhang:  Persönlichkeit  im  Kantischen  Sinne  sei 
tzweck  und  Endzweck;  und  Persönlichkeit  sei  die  realisierte  Idee 
Menschheit.  —  „Wir  anerkennen  freudig,  dass  die  wesentlichen  Mo- 
3  des  Begriffes,  wie  sie  uns  bei  Kant  entgegentreten,  wahr  and  be- 
igt  sind     Es  ist  eine  edle  Auffassung  der  sittlichen  Lebensaufgabe, 

sie  als  Realisierung  der  Idee  der  Menschheit  oder  tAa  Pflege  der 
ten  Güter  des  Geistes  bestimmt  wird,  und  es  stimmt  mit  der  Wahr- 
Iberein,  wenn  als  höchste  Vollkommenheit  des  Geistes  die  Freiheit 
int  wird.^  „Ein  Geist,  gross  und  stark  in  sich  selbst,  frei  nach  innen 
lach  aussen,  das  ist  das  Bild  sittlichen  Geistes  bei  Kant,  ein  wahres 
der  sittlichen  Persönlichkeit.  Ebenso  treffend  ist  der  Begriff  des 
tzweckes,  den  Kant  zur  Charakteristik  der  Persönlichkeit  gebraucht .  . 
Mensch  als  sittliches  Wesen  ist  Selbstzweck,  er  darf  nicht  als  blosses 
1  zur  Realisierung  fremder  Zwecke  gebraucht  werden  .  .  .  das  ^t, 
Kant  mit  Recht  betont,  selbst  Gott  gegenüber.  Wenn  Gott  den 
chen  zu  einem  vernünftigen  Wesen  gesdiaffen  hat,  so  hat  er  sich 
)  verpflichtet,  seinen  Eigenwert  zu  achten  und  ihn  nicht  zu  einem 
mftwidrigen  Lebensziel  zu  berufen."  —  «Volle  Zustimmung  verdient 

dass  Kant  den  sozialen  Charakter  des  Menschen  berücksichtigt  .  •  . 
kennunff  müssen  wir  schliesslich  Kant  zollen,  wenn  er  alle  Menschen 
schiedsjos  zur  Würde  der  Persönlichkeit  berufen  sein  lässt.**  „Diesen 
Igen  Kantischer  Ethik  stehen  aber  doch  auch  bedeutende  Fehler 
&hwächen  gegenüber"  ...  als  solche  betont  Sawicki  den  rein  for- 
1  Charakter  des  Sitten^esetzes,  femer  den  rein  aprioristischen  Cha- 
r,  den  mangelnden  Anschluss  an  die  Erfahrung  ;  femer  besonders  noch 
langelnde  XJnterscheidung  zwischen  Persönlichkeit  und  Individualität, 
langelnde  Berücksichtigung  letzterer.    Unter  Persönlichkeit  verstehe 

die  Realisierung  der  allgemeinen  Idee  der  Menschheit  in  Jedem 
îlnen  ohne  Unterschied,  aber  die  individuellen  Unterschiede  der  Binsel- 
oder  die  nachher  von  Schleiermacher  mit  Recht  hervorgehobene  und 
isgehobene  Individualität  in  ihrer  Eigenart,  audi  in  ihrer  ethisoheii 
lart,  habe  Kant  nicht  zur  Geltung  kommen  lassen.  —  Natürlidi  sieht  dann 
:ki  den  letzten  Fehler  Kants  in  der  absoluten  Autonomie:  Die  Sittlich- 
des  Menschen  sei  eben  nicht  rein  autonom,  sondem  enthalte  notwendig 
leteronome  Element  der  Abhän^keit  von  Gott  als  der  höchsten 
e  des  Sittengesetzes  ;  nur  die  Religion,  zu  *der  Kant  ein  inneres  Ver- 


196  Mitteilungen. 

haltnis  weder  gehabt  noch  gelehrt  habe,  ermögliche  die  höchste  VoUendiing 
der  Persönlichkeit. 

Noch  auf  eine  weitere  neuere  Publikation  möchte  ich  in  diesem 
Zusammenhang  aufmerksam  machen:  Professor  Victor  Delbos,  Maître 
de  conférences  à  la  Faculté  des  Lettres  de  l'Université  de  Paris  hat  dm 
Verlage  von  Ch.  Delagrave,  Paris,  Rue  Soufflot  15)  eine  neue  Übersetzung 
der  „Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten^  herausgegeben  unter  dem 
Titel:  Fondements  de  la  Métaphysique  des  Moeurs.  Traduction 
Nouvelle,  avec  introduction  et  notes  (210  S.).  Da  Kant  gerade  in  dieser 
Schrift  zuerst  seinen  neuen  Begriff  der  ethischen  Person  formuliert,  n 
hat  diese  ganze  Schrift  gerade  für  den  Sinn  und  die  Tragweite  dieses 
Kantischen  Begriffes  besondere  Bedeutung,  und  der  Herausgeber  ist  des- 
halb auch  gebdhrend  auf  diesen  Begriff  eingegangen,  wie  er  überhaupt 
durch  seine  ausführliche  und  sorgfältige  Einleitung  (Notice  sur  la  vie  et  les 
oeuvres  de  Kant;  les  conceptions  morales  de  Kant  dans  la  Période  ante- 
critique;  la  morale  de  Kant  dans  la  Période  de  la  Philosophie  critique: 
la  préparation  de  la  Morale  par  la  critique  de  la  raison  speculative,  la  pré- 
paration de  la  Morale  per  la  Philosophie  de  l'histoire  etc.)  ailes  eetan  hat| 
um  die  Lektüre  der  Schrift  nutzbar  und  erfolgreich  zu  gestalten.  Aal 
diese  70  >*^eiten  lange  treffliche  Einleitung  folgt  die  Obersetzung  nebst 
fortlaufendem  Kommentar,  in  welchem  der  Begriff  der  Person  verstlad- 
nisvoll  gewürdigt  wird. 

Auch   in   der  Schrift  über  ^ersonalismus  und   Realismus*'   (Berlin, 
Renther  &  Reichard,    1905)   von  Hans  Dreyer  findet  der   Begriff  der 
Persönlichkeit  eine   interessante  Darstellung.    Er  wird  des  dogmatischeo 
Charakters,   mit  dem   Kants  intelligibler  Charakter  noch   behaftet  bliebe 
entkleidet.    Die  Persönlichkeit  wird  zur  Idee  der  Einheit  der  persönlichei 
„Fakultäten^  und  „Qualitäten^     Diese  Idee  wird  nun  im  Kantischen  Sinne 
als   „Auf^be^   verstanden,   sodass  Dreyer  sagt:   „Eine  Persönlichkeit  n 
werden,   ist  Aufgabe  des  Menschen^  (a.  a.  0.  S   71  f.).     Dreyer  verweist 
hier  auf  die  ebenfalls  rein  begriffliche,  nicht  metaphysische  Unterscheidniy 
der  drei  Momente:    Selbstbewusstsein,  Individuaütät  und  Charakter,  die 
B.  Bauch  fin  der  Schrift  „Glückseligkeit  lud  Persönlichkeit  in  der  kn- 
tischen  Ethik",  (Stutt^rt,  Frommann,  1902)^)  unterscheidet,  und  dem  der 
Charakter  ebenfalls  die  Aufgabe  bedeutet,   dass  „die  individuellen  Ebsei- 
qualitäten"  .  .  .  „einen  Gegensatz  bilden  zu  allem  Verschwommenen  ond 
Zerflossenen,  Unsicheren  und  Unbestimmten",  indem  sie  durch  den  selM 
bewussten  Willen  eine   „fest  bestimmte  Richtung  zur,, Einheit  erfohreo* 
(a.  a.  0.  S.  19  ff.).     Dreyer  macht  übrigens  auf  eine  Äusserung  Goetbei 
aufmerksam,  die  mit  dieser  Auffassung  fast  genau  übereinstinunt.  Während 
bei  Elant  im  intelligiblen  Charakter  zwei  Bestimmungen  neben  einandff    i 
lieçen,   von  denen  man  die  eine  lediglich  als  res^latives  Prinzip  oder  ils    I 
Aiu^be  bezeichnen  kann,  die  andere  aber,  wohl  vermittelst  des  I>ing«i- 
sich-Begriffs,   eine  Art  metaphysischen  Dinges  bedeutet,  hat  auch  Goethft 
den  Charakter  lediglich  als  Einheit  der  Eigenschaften  der  Persönlichkeit 
aufgefasst.    Er  bemerkt,  wie  Dreyer  hervorhebt:  man  bediene  sich  de^ 
Wortes  Charakter,^ wenn  eine  Persönlichkeit  von  bedeutenden  Eigefc?— 
Schäften  auf  ihre  Weise  verharret  und  sich  durch  nichts  davon  abwenall^ 
machen  lässt.^  H.  Vaihinger. 

^)  Über  diese  bemerkenswerte  Schrift  habe  ich  in  einer  ausführlicbees 
Besprechung  (KSt.  VIII,  S.  478  ff.)  gehandelt  und  brauche  hier  nicht  noc*»- 
mais  näher  darauf  einzugehen.     Die  Persönlichkeit  wird  hier  im  driiliurw 
Kapitel  (die  Stelliug  der  Persönlidikeit  in  der  kritischen  Ethik)  aosflbKr 
lieh  und  treffend  behandelt. 


tëoo.,mÊa»^§. 


Die  deutsche  Philosophie  im  Jahre  1907.0 

Von  Dr.  Oskar  Ewald. 


In  meinem  vorigen  Bericht  über  „die  deutsche  Philosophie 
Fahre  1906"  hatte  ich  die  Auffassung  vertreten,  dass  der  Ent- 
celungsgang  der  modernen  philosophischen  Spekulation  in 
techiand  auf  einer  neuen  Basis  die  Entwickelung  der  idea- 
sehen  Weltanschauung  von  Kant  bis  Hegel  zu  wiederholen 
(ine.  Ich  sagte  mit  Vorbedacht:  auf  einer  neuen  Basis;  denn 
eine  blinde,  geistlose  Wiederholung,  die  dann  im  schlimmsten 
le   ßeaktion   genannt   werden   müsste,   handelt  es  sich  nicht. 

neue  Basis  ist  dadurch  gegeben,  dass  die  Prinzipien  der 
itischen  Philosophie  sich  gefestigt  haben  und  gleichsam  fixiert 
den  sind.  Die  klare  Auseinanderhaltung  der  transscenden- 
^n  und  psychologischen,  dann  aber  vornehmlich  der  traos- 
identalen  und  metaphysischen  Betrachtungsart  ist  auch  bei 
jenigen,  die  über  Kant  hinaus  zu  Fichte,  Schelling  und  Hegel 
ben,  im  Allgemeinen  konsequenter  gewahrt,  als  bei  ihren 
isen  Vorbildern.  Mit  Recht  schreibt  Rickert:  „Man  braucht 
it  zu  fürchten,  dass  wir  den  Entwickelungsgang  von  Kant  zu 
lite,   von   diesem   zur  Romantik  Schellings  oder  Schopenhauers 

von  dort  weiter  zu  Hegel  noch  einmal  durchzumachen  hätten, 
wie  sie  vorliegen,  können  wir  die  Systeme  der  Vergangenheit 
ii  brauchen.  Unsere  neue  Zeit  bringt  neue  Aufgaben,  die  neue 
Worten  verlangen,  und  noch  niemals  hat  sich  etwas  im  ge- 
chtlichen   Leben   wiederholt.     Aber   der   Einsicht  sollte  man 

nicht  verschliessen,  dass  der  Kantische  und  Nachkantische 
lisiuus  einen  Schatz  von  Gedanken  enthält,  der  noch  lange 
t  vollständig  ausgemünzt  ist  und  aus  dem  wir  eine  Fülle 
voller  Anregungen  holen  können,  wenn  wir  mit  den  philo- 
ischen  Problemen  unserer  Zeit  zu  ringen  haben^.^)    In  ganz 

1)  Anm.  d.  Red.:  Wir  verweisen  für  die  vorstehcDde  Abhandlung 
Ue  Notiz  zum  vorigen  Jahresbericht. 

*)  ^Die  Philosophie   im  Beginn   des  20.  Jahrhunderts",  Artikel  „Ge- 
btsphilosophie",  p.  322. 
^tstadi*n  xm.  \\ 


198  O.  Ewald. 

ähnlichem  Sinne  habe  ich  mich  in  meinem  letzten  Jahresbericbti) 
über  das  Verhältnis  der  philosophischen  Gegenwart  zur  klassischea 
Vergangenheit  geäussert. 

Soweit  ich  die  Produktion  des  vergangenen  Jahres  überbMe, 
kann  ich  meine  damals  ausgesprochenen  Ansichten  über  Ziele  hdI 
Eichtungen  der  neuen  Forschung  bloss  bestätigt  finden.  M 
immer  ist  Kant  der  ideale  Mittelpunkt:  sein  Einfluss  teilt  sidi 
stets  weiteren  Kreisen  mit.  Die  Wiederemeuerung  der  ideaüsfr 
sehen  Spekulation  von  Kant  bis  Hegel  ist  noch  immer  im  Gange, 
die  neuromantische  Bewegung  hat  an  Intensität  wenig  eingebSsiL 
Im  Einklänge  mit  der  von  mir  entworfenen  Perspektive  wird  der 
phantastische  Überschwang  dieser  ßichtung  in  steigendem  Masse 
durch  nüchterne  Erwägung  eingedämmt  und  so  zeigt  die  pliikh 
sophische  Literatur  des  Jahres  1907  im  Allgemeinen  ein  Uarens 
Qepräge  als  die  vom  Jahre  1906.  Da  sich  die  theoretische  Sitoir 
tion  im  Laufe  eines  Jahres  sonst  naturgemäss  wenig  verindeit 
hat,  kann  ich  meine  alte  Einteilung  und  Disposition  des  Theinis 
beibehalten. 

Vor  allem  will  ich  auf  eine  Erscheinung  hinweisen,  die  aek 
seit  längerer  Zeit  vorbereitet,  im  vergangenen  Jahre  aber  zv 
vollsten  Entfaltung  gedieh:  die  Annäherung  zwischen  der  WisaeD- 
schaft  und  der  Philosophie,  die  charakteristischer  Weise  von  beideD 
Seiten  vollzogen  wird,  seitens  der  Philosophen  nicht  weniger  ib 
seitens  der  Forscher.  Gerade  im  Zusammenhang  mit  der  Eafi- 
tischen  Philosophie  war  der  Anlass  zu  diesen  Wechselseitigkeiteo 
gegeben.  Die  Frage  nach  den  Grundlagen  der  Erfahrung,  sie 
mochte  noch  so  allgemein  gefasst  werden,  wies  von  selber  dariif 
hin,  dass  man  auch  nach  dem  Wesen  der  einzelnen  Wissenschaft* 
liehen  Erfahrungen  fragte.  So  hat  auch  Kant  neben  seioeo 
Hauptwerke,  das  weder  der  Grundlegung  der  Psychologie  no4 
der  der  mathematischen  Physik,  sondern  der  Begründung  eioei 
innere  und  äussere  Phänomene  umfassenden  Naturbegriffes  dient» 
in  einer  Reihe  von  Werken  die  konkreten  Anfangsgründe  einzdner 
Disziplinen,  wie  der  Physik,  der  Kechtslehre,  der  Anthropologe 
untersucht.  Fichte  und  Schelling  haben  in  der  gleichen  Bichtoog 
fortgewirkt.  Und  in  Hegel  ist  diese  Tendenz  einer  Vereinigt!* 
und  sogar  Identifizierung  von  abstraktem  Begreifen  und  konkretem 
Erfahren  zu  einem  alle  Gebiete  der  Forschung  enzyklopädisch 
umspannenden  Versuch  erwachsen.  So  hat  auch  der  Neokantiaius« 
mus  das  Erbe   des  Meisters   vielfach   in  dem  Sinne  übemommeBr 


î)ie  deutsche  Philosophie  im  Jahre  1907.  199 

I  er  YOD  der  Höbe  allgemeinster  Begriffe  den  Abstieg  zur 
erie  der  einzelnen  Forscbungszweige  zu  gewinnen  tracbtete. 
ch  die  Marburger  Schule  ist  die  Verbindung  mit  der  mathe- 
iscben  Physik  hergestellt,  durch  Rickert  der  Weg  zur  Historie 
fnet  worden.  In  dieselbe  Zeit  reichen  Natorps  und  Stammlers 
luche,  den  Neukantianismus  zur  Grundlegung  der  Soziologie 
verwenden.  Neuerdings  hat  die  Auseinandersetzung  mit  physi- 
;cben,   insbesondere   aber    mit   mathematischen   Problemen   so 

überhand  genommen,  dass  sie  das  allgemein  philosophische 
resse  zu  verdunkeln  droht.  Damit  hängt  femer  die  intensivere 
ihäftigung  mit  Leibniz  zusammen  und  die  hohe  Wertschätzung, 
Q  sich  dieser  Philosoph  in  unseren  Tagen  erfreut. 

Andererseits  streben  die  einzelnen  Forscher  nach  philo- 
ischer  Vertiefung.  Auch  hier  wiederholt  sich  zum  Teil  die 
ition  der  Nachkantischen  Epoche.  Damals  standen  Historiker, 
îhologen,  Physiker  und  Biologen  zumeist  unter  dem  Bann  einer 
listischen  Weltanschauung  und  waren  bemüht,  derselben  ihr 
îffsgebiet  einzuordnen.  Dieser  Zug  spiegelt  sich  in  der  gegen- 
igen Bewegung  wieder:  in  Natur  und  Geisteswelt  ist  ein  un- 
^  Verlangen  nach  logischer  Klärung  der  Grundlagen,  Arbeits- 
loden  und  Ziele  erwacht,  das  sich  in  zahlreichen  mehr  oder 
iger  exakten  Versuchen  der  Forscher,  das  Wesen  ihrer  eigenen 
iplin  zu  bestimmen,  äussert.  Die  Erkenntnistheorie  der  Mathe- 
k  ist  im  Ausland  von  Gelehrten,  wie  Poincaré,  Goumot, 
urat,  ßussell  geschrieben  worden:  in  Deutschland  knüpft  sie 
zumal  an  den  Namen  Huberts  und  seinen  interessanten  Ent- 
'  eines  möglichst  anschauungsfreien  geometrischen  Axiomen- 
^ms.    In   der  Physik  hat  die  Kontroverse  zwischen  Atomistik 

Energetik  vorgeherrscht.  Die  Biologie  ist  zwischen  Mecha- 
os  und  Neovitalismus  geteilt.  Wie  in  der  Energetik  der  Sub- 
zbegriff,  so  findet  sich  in  der  neovitalistischen  Lehre  der 
salitätsbegriff  bedroht.  Demzufolge  wird  das  Interesse  der 
inntnistheorie  nach  beiden  Seiten  gezogen.  Noch  heftiger  ist 
Währung  in  der  Psychologie  ;  hier  ist  nicht  allein  die  Methode, 
em  auch  der  Gegenstand  strittig.    Denn  die  Psychologie  wird 

auf  das  Psychische  beschränkt,  bald  wieder  auf  das  Phy- 
e  ausgedehnt  Bald  wird  sie  als  Theorie  des  Bewusstseins 
lebtet,  bald  wird  auch  das  Unbewusste  ihr  zu  eigen  ge- 
D.  Bald  wird  sie  als  Lehre  von  den  seelischen  Phänomenen 
liert,  bald  als  Lehre  von  der  Seele  selber.    Kein  Wunder,  dass 


202  O.  Ewald, 


1 


„Hetaphysik"*  des  oben  erwähnten  Sammelwerkes  „Kultur  der 
Gegenwart".  „Metaphysik",  schreibt  er,  „ist  der  auf  der  Grand- 
läge  des  gesamten  wissenschaftlichen  Bewusstseins  eines  Zeitalters 
oder  besonders  hervortretender  Inhalte  desselben  unternommene 
Versuch,  eine  die  Bestandteile  des  Einzelwissens  verbindende 
Weltanschauung  zu  gewinnen.  Darin  liegt  ausgesprochen,  dass 
die  Metaphysik  weder  ein  unveränderliches  noch  auch  ein  imma 
in  gleicher  Richtung  sich  entwickehides  System  sein  kann*". 
Wundts  Definition  der  Metaphysik  deckt  sich,  wie  aus  seinen 
anderen  Werken  hervorgeht,  im  Wesentlichen  mit  seiner  Definition 
der  Philosophie.  Und  es  ist  völlig  klar:  wenn  Metaphysik  und 
Philosophie  nichts  sind  als  widerspruchslose  Verbindungen  der  & 
gebnisse  der  einzelnen  Forschungszweige,  dann  sind  sie  unmittel- 
bar von  all  den  Wandlungen  abhängig,  denen  letztere  in  Form 
und  Inhalt  unterstehen.  Diese  Auffassung  entfernt  sich  von  der 
Kants  überaus  weit.  Kant  erblickt  die  Grundlagen  des  Phflo- 
sophierens  in  der  synthetischen,  transscendentalen  Logik.  Die 
widerspruchslose  Vereinigung  der  Tatsachen  dagegen  ist  ein  Werk 
der  allgemeinen,  formalen  Logik,  und  diese  müsste  für  Wandt 
somit  zum  Werkzeuge  der  philosophischen  Forschung  werden. 
In  diesem  Au&atz  entwirft  Wundt  auch  den  interessanten  Plan 
einer  Entwickelungsgeschichte  der  Metaphysik,  die  sich  in  drei 
Stadien  abspielen  soll,  den  der  poetischen,  der  dialektischen  und 
der  kritischen  Metaphysik;  in  den  naturphilosophischen  Werken 
Haeckels,  Ostwalds,  Machs,  die  nur  scheinbar  ametaphysisch  sind« 
findet  er  der  Reihe  nach  diese  drei  Stadien  vertreten. 

Hier  ist  besonders  die  Feststellung  von  Wert,  dass  Mad^ 
Prinzip  der  Ökonomie  bei  Lichte  besehen,  ein  Prinzip  aprioristiscb^ 
Synthese  ist,  das  aus  der  kritischen  Metaphysik  Kants  übemomiB^^ 
worden.  Nicht  das  teleologische  Sparsamkeitsprinzip,  das  A^ 
kleinsten  Anstrengung,  vielmehr  das  logische  Prinzip  des  atf^^ 
schliessenden  Widerspruchs  soll  die  Führung  übernehmen.  Schlia^ 
lieh  hebt  Wundt  hervor,  dass  die  Metaphysik  bloss  im  Sinne  eii^ 
regressus  von  den  einzelnen  Tatsachen  zu  den  höchsten  Ue^^ 
nicht  aber  als  progressus  von  den  Ideen  aus  eigenmächtig  d^ 
Weg  zu  den  einzelnen  lediglich  durch  Erfahrung  erreichbaren  T^* 
Sachen  gewinnen  könne.  In  dieser  scheinbaren  Paradoxie  ist  eiP^ 
tiefe  Wahrheit  gelegen,  deren  Ausserachtlassung  in  der  Philosopb^^ 
eine  Fülle  unlösbarer  Probleme  logischer,  religiöser,  ethischer  lU^ 
ästhetischer  Natur  heraufbeschworen  hat:  ihr  allgemeiner  AMadrüd^ 


Die  deutsche  Philosophie  im  Jahre  1907.  203 

\,  die  Frage,  wie  aus  dem  Vollkommenen  das  Unvollkommene, 
IS  dem  Ewigen  das  Vergängliche,  aus  dem  universellen  das  Be- 
ndere  habe  entspringen  können. 

Die  Ausführungen  Wundts  und  Stumpfs  gehen  dahin,  Wissen- 
haft und  Philosophie  einander  möglichst  anzunähern.  Grössere 
ilbständigkeit  erkennen  Paulsen  und  DUthey  der  Philosophie  zu. 
e  Abhandlungen  beider  Denker  finden  sich  in  der  „Kultur  der 
igenwart"  und  bewegen  sich,  wiewohl  von  verschiedenen  Themen 
sgehend,  um  den  Mittelpunkt  des  gleichen  Problems.  Diltheys 
ife  und  reiche  Studie  „Das  Wesen  der  Philosophie"  beginnt  mit 
ler  E^twickelungsgeschichte  des  Begriffes  der  Philosophie  von 
n  Griechen  an  bis  zur  Neuzeit  und  neuesten  Zeit,  bis  zum  Posi- 
ismus und  Psychologismus.  All  das  sind  geschichtlich  bedingte 
^finitionen,  die  bloss  eine  Seite  der  Sache,  nicht  ihren  Total- 
samnienhaug  erschliessen. 

Drei  wesentliche  Richtungen  hält  DUthey  auseinander:  den 
•sitivismus,  den  objektiven  Idealismus  und  den  Idealismus  der 
leren  Freiheit.  Die  Unzulänglichkeit  der  Metaphysik  mit  Räck- 
ht  auf  die  letzten  Fragen  bedeutet  keineswegs  ihre  EIntwertung. 
licht  die  Relativität  jeder  Weltanschauung  ist  das  letzte  Wort 
s  Geistes,  der  sie  alle  durchlaufen  hat,  sondern  die  Souveränität 
s  Geistes  gegenüber  einer  jeden  einzelnen  von  ihnen  und  zu- 
dch  das  positive  Bewusstsein  davon,  wie  in  den  verschiedenen 
rhaltuugsweisen  des  Geistes  die  Eine  Realität  der  Welt  für  uns 

ist."  Diese  bedeutsame  Anschauung  von  der  notwendigen  Ein- 
tigkeit  und  Relativität  jeder  Metaphysik  verfechten  auch  Wundt, 
luard  V.  Hartmann,  Volkelt,  vor  allem  Simmel.  Das  Wesen  der 
lilosophie  bestimmt  DUthey  in  tiefsinniger  Abgrenzung  gegen 
iligion  und  Kunst  als  eine  Mannigfaltigkeit  von  Aufgaben,  deren 
»meinsames  die  Herrschaft  der  Vernunft  ttber  die  Instinkte  und 
s  Streben  nach  universeUen  Einheiteidealen  ist. 

Auch  Paulsen  wiU  in  seinem  Aufsatz  „Die  Zukunfteauf gaben 
r   Philosophie"   die    phüosophische  Forschung  verselbständigen. 

ontologischer  Beziehung  nennt  Paulsen  seine  Lehre  objektiven 
ealismus,  er  ist  von  der  AUbeseelung  der  Welt  überzeugt*  In 
smologischer  Beziehung  wiU  er  den  Atomismus  durch  einen  ma- 
stischen Pantheismus  ersetzen,  auf  den  die  vom  Kleinsten  bis  ins 
rösste  sich  erstreckende  Wechselwirkung  der  Phänomene  in 
iom  und  Zeit  hinweist    Diese  Metaphysik  trachtet  er  mit  Kant 

Einklang  zu  bringen. 


204  0.  Ewald, 

Die  Philosophie   geht   weder   in  empirischer  Einzelforsc 
auf,   noch   lässt  sie   sich   auf   eine   widerspruchslose  Vereini 
ihrer  Ergebnisse   beschränken:   dies  können  wir  als  Ergebnii 
verschiedenen  Ausführungen  hinstellen.     Alle  Forschung  geh 
Tatsächliches,   sie   setzt  den  Begriff  der  Tatsache  voraus. 
Tatsache,  Realität  heisst,  ist  eine  spezifisch  philosophische  F 
die   aller  Einzelforschung   vorausgeht   und   auch  nicht   durcl 
Verbindung    sämtlicher   Tatsächlichkeiten    der   Welt   beantw 
werden    kann.      Die    philosophische    Erkenntnislehre    enthält 
Prinzipien  der  Ontologie   und   darf  füglich  auf  den  Namen 
„ersten  Philosophie"  Anspruch   erheben.     Bevor  man    die  In 
des  Seienden  aufsucht,  muss  man  über  den  Seinsbegriff  überl 
ins  klare   gelangen.     Bevor   man  die  Natur  erforscht,   muss 
den  Begriff   der   Natur  logisch  erläutert  haben.    So  fordert 
das  Studium  der  Psychologie  eine  philosophische  Begründung 
jenigen,   was   unter  psychischem  Sein  verstanden  wird:   eine 
gründung,    die    sich   kaum   auf   die  negative   Bestimmung  < 
Psychologie   ohne   Seele   (Fr.  A.  Lange)   beschränken  lässt. 
nach  dieser   allgemeinen  Grundlegung,   die   an  keinerlei  eim 
Kenntnisse  gebunden  ist,  kann  der  Versuch  unternommen  wei 
die  verschiedenen  Disziplinen  im  Detail  philosophisch  zu  behanl 
Physik,    Biologie,    Geschichte,    Psychologie   und   Soziologie,  i 
Range  der   „ersten  Philosophie",   der  allgemeinen  Erkenntnifl^ 
und  Ontologie,   stehen   wohl   auch  Ethik,  Ästhetik  und  Rel^ 
philosophie,    die   mit  ihr  den  normativen,    wertenden   Char 
teilen  und  daher  nicht  aus  dem  Reiche  der  Tatsachen  herge 
werden  können.      An  dritter   Stelle  lässt  sich  schliesslich 
Philosophie    denken,    die    den    enzyklopädischen    Versuch  < 
widerspruchslosen   Durchdringung,    Vereinigung    und    Vereil 
lichung  sämtlicher  Wissensgebiete  unternimmt.    Die  verschid 
Definitionen  der  Philosophie  vertragen  sich  eben  recht  wohl 
einander:  in  Wahrheit  dürfte  ihr  Begriff,   wie   die  Geschieh 
eindringlich  lehrt,  kein  streng  einheitlicher  sein.  <i 

Es  ist  nach  dem  Gesagten  einleuchtend,  dass  die  Std 
nähme  der  verschiedenen  Denker  zur  Aufgabe  der  Philodl 
sich  vor  Allem  in  ihrem  Verhältnis  zu  Logik,  Ethik  und  A4 
spiegeln  muss.  Die  Logik  finden  wir  in  der  „Phüosophie  iflj 
ginn  des  20.  Jahrhunders"  von  Windelband,  in  der  „EultÉ 
Gegenwart**  von  Riehl  behandelt.  Da  beide  Denker  vosi 
ausgehen,   herrscht  kein   prinzipieller  Gegensatz   zwischen  1 


Die  deutsche  Philosophie  im  Jahre  1907.  20Ô 

en.  Bloss  darin  weichen  sie  von  einander  ab,  dass  Riehl 
ebraiscbe  Logik  für  eine  wertvolle  Errungenschaft  hält, 
n  Windelband  in  ihr  ein  wesenloses  Spiel  sieht.  Als  Er- 
stheoretiker  stehen  beide  Denker  auf  kritischer  Basis. 
3and  schildert  die  Entwickelung  der  Logik  und  Erkenntnis- 
von  Kant  bis  zur  Gegenwart  und  zeigt  in  der  Kategorien- 
as  gemeinsame  Band  beider  Gruppen  auf,  an  dem  sich  ihre 
B  Neugestaltung  zu  vollziehen  haben  wird.  Die  zwei 
entalsten  Fragen  der  Erkenntnislehre  sind  das  Transscen- 
iblem  und  das  Problem  des  Gesetzes.  Auch  Rieh!  ist  um 
^glichst  reine  Darstellung   des  kritischen  Standpunktes  be- 

Er  verteidigt  ihn  gegen  den  Psychologismus  und  die 
phie  der  reinen  Erfahrung.  Die  Prinzipien  der  Erfahrung 
)er  der  Empirie  erhaben  und  in  ihrer  Idealität  keiner 
ing  unterworfen.  Wandelbar  und  von  den  Gesetzen  der 
kelung  beherrscht  sind  bloss  die  Inhalte  der  Erfahrung, 
i  tiefsten  Motiven  der  transscendentalen  Grundlegung 
1  mithin  beide  ausgezeichneten  Denker  überein. 
ie  Ethik  wird  in  der  Festschrift  von  Bruno  Bauch,  in  der 
'  der  Gegenwart"  von  Paulsen  behandelt.  Hier  springt  der 
ätz  von  Apriorismus  und  Empirismus  in  die  Augen.  Bauch 
»nf  Kantischer  Grundlage.  Das  Sittengesetz  ist  seinem 
«1  Wesen  nach  nicht  aus  Erfahrung  geschöpft  und  trägt 
rmales  Gepräge.  Bauch  unterscheidet  zwischen  dem  Dog- 
is  der  sozialen  Nützlichkeitsmoral,  dem  immoralistischen 
lalismus  Nietzsches  und  der  kritischen  Ethik.  Er  giebt 
16  gegen  den  Dogmatismus  Recht,  der  die  individuellen 
hiede    zugunsten    seichter   Durchschnittswerte    nivellieren 

aber  er  sieht  seinen  tiefen  Irrtum  darin,  dass  er  den  Na- 
ras  des  Willens  zur  Macht  als  Grundlage  für  eine  üm- 
j  aller  Werte  verwenden  zu  können  glaubte.  Wie  Bauch 
;ht  bemerkt,  ist  die  Macht  ein  Naturphänomen,  das  mit  der 

des  Vornehmen  nichts  zu  schaffen  hat  und  sogar  gegen 
Irkeren  entscheiden  kann.  Das  rein  formale  Moralprinzip, 
lach  im  Anschluss  an  Kant  bildet,  soll  den  persönlichen 
^eden  freien  Spielraum  lassen,  da  es  nicht  auf  den  In- 
BT  Handlung  und  ihres  Motivs  ankommt,  sondern  auf  die 
nne  Maxime  :  es  erscheint  so  als  eine  Versöhnung  des  Indi- 
wnus  uo^  juiuversalismus.  Dagegen  verwirft  Paulsen  die 
ie  Befip^^  '*'*  und   sucht   eine  Verbindung  mit  dei  BtdX;^ 


20Ö  0.  Ewald, 

sich  die  Unklarheit  auf  die  Gebiete  übertrug,  die  mit  der  Psyduh 
logie  irgendwie  im  Zusammenhang  stehen,  auf  Geschichte,  Sozi»' 
logie,  Nationalökonomie. 

So  knüpfen  sich  die  Fäden  zwischen  den  einzelnen  Wi88»i 
Schäften  und   der  Philosophie  immer  fester.    Vor  Allem  be^ 
dies  zwei  grosse  Sammelwerke,  die  umso  bedeutsamer  sind,  ab 
ihnen   die   angesehensten  Vertreter    der  deutschen  Phüosopliie 
Worte  kommen:   Die  in  zweiter,  verbesserter  Auflage  erschii 
Festschrift  für   Kuno  Fischer,    „Die  Philosophie   im   Beginn 
zwanzigsten  Jahrhunderts''    und  der  Band  „Systematische 
Sophie"   der  im  Verlag  von  Teubner  erschienenen,  von  Himii 
herausgegebenen  „Kultur  der  Gegenwart**. 

Die    dadurch    geschaffene    Situation    führt   zu   drei 
Problemen.    Fürs   erste   zur  Frage   nach  dem  Zusammenhang 
Wissenschaft   und  Philosophie   überhaupt.     Zweitens  zur 
inwieweit  die  einzelnen  Wissenschaften  sich  philosophisch  bi 
lassen.    Drittens   zur  Frage   nach   einer  Einteilung  der  Wi 
Schäften  unter  philosophischen  Gesichtspunkten.    Alle  drei  Fragflül 
deren   gegenseitige   Abhängigkeit   offenkundig  ist,   sind  von  dffj 
neuen  philosophischen  Forschung  gestellt  worden.    Wir  finden 
vornehmlich  in  den   beiden  genannten  Sammelwerken,  aber 
ausserhalb  derselben. 

Die  erste  Frage  sucht  zunächst  Stumpf  in  einer  Schrift, 
den  Titel  „Die  Wiedergeburt  der  Philosophie**  führt,  zu 
Worten.^)  Sie  ist  die  Rektoratsrede,  die  Stumpf  an  der  Univi 
Berlin  im  Oktober  1907  hielt.  Stumpf  hält  zwischen  dem  n* 
nalistischen  und  empiristischen  Extrem  die  Mitte.  Das  ratioi 
tische  Extrem,  das  in  der  Deduktion  aller  empirischen  FortfK 
und  Inhalte  aus  einem  obersten  phUosophischen  Prinzip  bestA 
ist  von  Hegel  vertreten  worden.  Das  empiristische  Extrem,  i*; 
Comte  vorbereitet,  findet  seine  Vollendung  in  Avenarius,  defi^; 
empiriokritisches  System  die  Aufgabe  der  Philosophie  dahin  b^ 
schränkt,  von  den  allgemeinsten,  innerhalb  der  einzebci 
Forschungszweige  gebildeten  Begriffen  Kenntnis  zu  nehmen  ül 
ihre  Chancen  auf  eine  relative  Dauer  nach  ihrem  ökonomisehet 
Wert  zu  erwägen.  Zwischen  beiden  Elxtremen  finden  sich  urt 
Standpunkte,   deren  einer  von  Kant  vertreten,   den  RationalismB} 


')  Berlin  1907,  Universitäts-Buchdruckerei  Gustav  Schade, 


Die  deutsche  Philosophie  im  Jahre  1907.  201 

m  anderer,  von  Wundt  befürwortet,^)  dem  Empirismus  nahe 
mt.  Der  transscendentale  Idealismus  Kants  geht  darauf  aus, 
formalen  Prinzipien  der  Philosophie  a  priori  zu  deduzieren, 
kritische  Empirismus  Wundts  spricht  der  Philosophie  die  Auf- 
)  zu,  die  von  den  verschiedenen  Forschungszweigen  zutage 
rderten  Erkenntnisse  zu  einem  widerspruchslosen  System  zu 
»inden.  Er  geht  nicht  so  weit  wie  Kant  oder  gar  Hegel,  da 
1er  Philosophie  nicht  die  Grundlegung,  sondern  lediglich  den 
bau  überlässt,  allein  er  geht  gleichwohl  weiter  als  Avenarius, 
m  er  ihr  einen  produktiven  Wert  zuerkennt.  Diese  vier 
fassungen  sind  von  prinzipieller  Bedeutung,  aus  ihnen  ergeben 

durch  Kombination  und  Vermittelung  alle  anderen. 

Was  Stumpf  angeht,  so  nimmt  er  einen  vermittelnden  Stand- 
et ein.  Er  unterscheidet  zwischen  der  aprioristischen  und  der 
iristischen  Philosophie,  und  wiewohl  er  die  Vorzüge  der 
)ren  auch  bei  Hegel  und  Schelling  rückhaltslos  anerkennt,  er- 
t  er  sich  für  letztere,  als  die  fruchtbarste  und  solideste, 
fordert  vom  Philosophen  vor  Allem  eine  gründliche  Schulung 
ier  Naturforschung,  da  in  dieser  Richtung  die  Hauptprobleme 
suchen   seien.     Dessenungeachtet  ist  der  Philosoph  nicht  mit 

Naturforscher  auf  eine  Linie  zu  setzen.    Weder  der  Physiker 

der  Mathematiker  noch  der  Erkenntnistheoretiker,  bloss  ein 
beiden  Gebieten  gleichmässig  vertrauter  Denker  könnte  diese 
i;abe  definitiv  lösen.  Stumpf  denkt  hier  vornehmlich  an  den 
)rung  des  Zahlbegriffs,  die  Wahrscheinlichkeitslehre,  die  Ato- 
ik.  Auch  für  die  uralte  Frage  nach  dem  Verhältnis  des  Phy- 
len  zum  Psychischen  erwartet  Stumpf  Aufschlüsse  von  der 
snntnistheorie  im  Bunde  mit  der  empirischen  Forschung.  Im 
gen  ist  er  der  Ansicht,  dass  die  Naturforschung  nicht  zur 
udlegung  der  Philosophie  ausreicht,  und  dass  dem  Geiste  die 
irität  gebürt,  da  er  für  uns  das  einzige  Unmittelbare  ist.  In 
em  Sinne  sind  Fichte,  Schelling,  Hegel,  Lotze  im  Rechte;  die 
euerungen  der  IdentitAtsphilosophie  indessen  verwirft  Stumpf 
edingt.  Von  dem  Denkergenie  der  Zukunft  erwartet  er  eine 
einigung  Kantischen  und  Leibnizschen  Geistes. 

Wundts  Definition  räumt  der  Philosophie  im  Grunde  noch 
iger  Rechte   ein.     Er  vertritt  sie  dies  Mal  in  einem  Aufsatz 

^)  Neuerdings  hat  ihn  auch  Heinrich  Gomperz,  wenigstens  programm- 
ai^, in  seiner  ^Methodologie**,  dem  ersten  Bande  seiner  „Weltanscbaaongs- 
9*,  ttbemommen. 


202  O.  Ewald, 

„Hetaphysik"*  des  oben  erwähnten  Sammelwerkes  „Kultor  to 
Gegenwart".  „Metaphysik",  schreibt  er,  „ist  der  auf  der  Gnmt 
läge  des  gesamten  wissenschaftlichen  Bewusstseins  eines  ZeitalUn 
oder  besonders  hervortretender  Inhalte  desselben  unternommei» 
Versuch,  eine  die  Bestandteile  des  Einzelwissens  verbindeoJe 
Weltanschauung  zu  gewinnen.  Darin  liegt  ausgesprochen,  di» 
die  Metaphysik  weder  ein  unveränderliches  noch  auch  ein  iioos 
in  gleicher  Richtung  sich  entwickelndes  System  sein  kaitf  j 
Wundts  Definition  der  Metaphysik  deckt  sich,  wie  aus  söb*' 
anderen  Werken  hervorgeht,  im  Wesentlichen  mit  seiner  Definiö* 
der  Philosophie.  Und  es  ist  völlig  klar:  wenn  Metaphysik  ^ 
Philosophie  nichts  sind  als  widerspruchslose  Verbindungen  der  ^ 
gebnisse  der  einzelnen  Forschungszweige,  dann  sind  sie  umnit^ 
bar  von  all  den  Wandlungen  abhängig,  denen  letztere  in  F^ 
und  Inhalt  unterstehen.  Diese  Auffassung  entfernt  sich  von  ^ 
Kants  überaus  weit.  Kant  erblickt  die  Grundlagen  des  ?\Mi 
sophierens  in  der  synthetischen,  transscendentalen  Logik.  1 
widerspnichslose  Vereinigung  der  Tatsachen  dagegen  ist  ein\'^^ 
der  allgemeinen,  formalen  Logik,  und  diese  müsste  für  VfxLX 
somit  zum  Werkzeuge  der  philosophischen  Forschung  werfte 
In  diesem  Au&atz  entwirft  Wundt  auch  den  interessanten  PJ 
einer  Entwickelungsgeschichte  der  Metaphysik,  die  sich  in  & 
Stadien  abspielen  soll,  den  der  poetischen,  der  dialektischen  \M 
der  kritischen  Metaphysik;  in  den  naturphilosophischen  Werl^ 
Haeckels,  Ostwalds,  Machs,  die  nur  scheinbar  ametaphysiscb  sir 
findet  er  der  Reihe  nach  diese  drei  Stadien  vertreten. 

Hier  ist  besonders  die  Feststellung  von  Wert,  dass  Mac 
Prinzip  der  Ökonomie  bei  Lichte  besehen,  ein  Prinzip  aprioristiscta 
Synthese  ist,  das  aus  der  kritischen  Metaphysik  Kants  äbemonun^ 
worden.  Nicht  das  teleologische  Sparsamkeitsprinzip,  das  i 
kleinsten  Anstrengung,  vielmehr  das  logische  Prinzip  des  a«^ 
schliessenden  Widerspruchs  soll  die  Führung  übernehmen.  Schlief 
lieh  hebt  Wundt  hervor,  dass  die  Metaphysik  bloss  im  Sinne  ersß 
regressus  von  den  einzelnen  Tatsachen  zu  den  höchsten  Idee: 
nicht  aber  als  progressus  von  den  Ideen  aus  eigenmächtig  de 
Weg  zu  den  einzelnen  lediglich  durch  Erfahrung  erreichbaren  Tai 
Sachen  gewinnen  könne.  In  dieser  scheinbaren  Paradoxic  ist  eifl 
tiefe  Wahrheit  gelegen,  deren  Ausserachtlassung  in  der  Philosoph 
eine  Fülle  unlösbarer  Probleme  logischer,  religiöser,  ethischer  M 
ästhetischer  Natur  heraufbeschworen  hat:  ihr  allgemeiner  AnsdriN 


Die  deutsche  Philosophie  im  Jahre  1907.  203 

die  Frage,  wie  aus  dem  Vollkommenen  das  Unvollkommene, 
dem  Ewigen  das  Vergängliche,  aus  dem  universellen  das  Be- 
ere habe  entspringen  können. 

Die  Ausführungen  Wundts  und  Stumpfs  gehen  dahin,  Wissen- 
ft  und  Philosophie  einander  möglichst  anzunähern.  Grössere 
ständigkeit  erkennen  Paulsen  und  Dilthey  der  Philosophie  zu. 
Abhandlungen  beider  Denker  finden  sich  in  der  „Kultur  der 
nwart"  und  bewegen  sich,  wiewohl  von  verschiedenen  Themen 
Bhend,  um  den  Mittelpunkt  des  gleichen  Problems.  Diltheys 
und  reiche  Studie  „Das  Wesen  der  Philosophie"  beginnt  mit 
Entwickelungsgeschichte  des  Begriffes  der  Philosophie  von 
Grriechen  an  bis  zur  Neuzeit  und  neuesten  Zeit,  bis  zum  Posi- 
nus  und  Psychologismus.  All  das  sind  geschichtlich  bedingte 
litionen,  die  bloss  eine  Seite  der  Sache,  nicht  ihren  Total- 
mmenhang  erschliessen. 

Drei  wesentliche  Richtungen  hält  Dilthey  auseinander:  den 
ivismus,  den  objektiven  Idealismus  und  den  Idealismus  der 
-en  Freiheit.  Die  Unzulänglichkeit  der  Metaphysik  mit  Rück- 
auf die  letzten  iYagen  bedeutet  keineswegs  ihre  Elntwertung. 
ht  die  Relativität  jeder  Weltanschauung  ist  das  letzte  Wort 
Geistes,  der  sie  alle  durchlaufen  hat,  sondern  die  Souveränität 
aeistes  gegenüber  einer  jeden  einzelnen  von  ihnen  und  zu- 
h  das  positive  Bewusstsein  davon,  wie  in  den  verschiedenen 
altuugsweisen  des  Geistes  die  Eine  Realität  der  Welt  für  uns 
it.""  Diese  bedeutsame  Anschauung  von  der  notwendigen  Ein- 
?keit  und  Relativität  jeder  Metaphysik  verfechten  auch  Wundt, 
ird  V.  Hartmann,  Volkelt,  vor  allem  Simmel.  Das  Wesen  der 
>sophie  bestimmt  Dilthey  in  tiefsinniger  Abgrenzung  gegen 
rion  und  Kunst  als  eine  Mannigfaltigkeit  von  Aufgaben,  deren 
3insames  die  Herrschaft  der  Vernunft  über  die  Instinkte  und 
Streben  nach  universellen  Einheitsidealen  ist. 
Auch  Paulsen  will  in  seinem  Aufsatz  „Die  Zukunftsauf gaben 
Philosophie"  die  philosophische  Forschung  verselbständigen, 
xtologischer  Beziehung  nennt  Paulsen  seine  Lehre  objektiven 
Sinus,  er  ist  von  der  Allbeseelung  der  Welt  überzeugt*  In 
>logischer  Beziehung  will  er  den  Atomismus  durch  einen  ma- 
chen Pantheismus  ersetzen,  auf  den  die  vom  Kleinsten  bis  ins 
^te  sich  erstreckende  Wechselwirkung  der  Phänomene  in 
^  und  Zeit  hinweist  Diese  Metaphysik  trachtet  er  mit  Kant 
Uklang  zu  bringen. 


204  0.  Ewald. 

Die  Philosophie  geht  weder  in  empirischer  Einzelforscbn 
auf,  noch  lässt  sie  sich  auf  eine  widerspruchslose  Vereinigu 
ihrer  Ergebnisse  beschränken  :  dies  können  wir  als  Ergebnis  i 
verschiedenen  Ausführungen  hinstellen.  Alle  Forschung  geht  i 
Tatsächliches,  sie  setzt  den  Begriff  der  Tatsache  voraus.  \^ 
Tatsache,  Realität  heisst,  ist  eine  spezifisch  philosophische  Fri^ 
die  aller  Einzelforschung  vorausgeht  und  auch  nicht  durch 
Verbindung  sämtlicher  Tatsächlichkeiten  der  Welt  beantwor 
werden  kann.  Die  philosophische  Erkenntnislehre  enthält 
Prinzipien  der  Ontologie  und  darf  füglich  auf  den  Namen  ei 
„ersten  Philosophie"  Anspruch  erheben.  Bevor  man  die  Inhfl 
des  Seienden  aufsucht,  muss  man  über  den  Seinsbegriff  überhai 
ins  klare  gelangen.  Bevor  man  die  Natur  erforscht,  muss  n 
den  Begriff  der  Natur  logisch  erläutert  haben.  So  fordert  ai 
das  Studium  der  Psychologie  eine  philosophische  Begründung  d 
jenigen,  was  unter  psychischem  Sein  verstanden  wird:  eine  ] 
gründung,  die  sich  kaum  auf  die  negative  Bestimmung  eil 
Psychologie  ohne  Seele  (Fr.  A.  Lange)  beschränken  lässt.  E 
nach  dieser  allgemeinen  Grundlegung,  die  an  keinerlei  einze 
Kenntnisse  gebunden  ist,  kann  der  Versuch  unternommen  werd 
die  verschiedenen  Disziplinen  im  Detail  philosophisch  zu  behandc 
Physik,  Biologie,  Geschichte,  Psychologie  und  Soziologie. 
Bange  der  „ersten  Philosophie",  der  allgemeinen  Erkenntnisle 
und  Ontologie,  stehen  wohl  auch  Ethik,  Ästhetik  und  Religio 
philosophie,  die  mit  ihr  den  normativen,  wertenden  Charah 
teilen  und  daher  nicht  aus  dem  Reiche  der  Tatsachen  hergelei 
werden  können.  An  dritter  Stelle  lässt  sich  schliesslich  € 
Philosophie  denken,  die  den  enzyklopädischen  Versuch  ei 
widerspruchslosen  Durchdringung,  Vereinigung  und  Vereinb 
lichung  sämtlicher  Wissensgebiete  unternimmt.  Die  verschiede! 
Definitionen  der  Philosophie  vertragen  sich  eben  recht  wohl  nel 
einander:  in  Wahrheit  dürfte  ihr  Begriff,  wie  die  Geschichte 
eindringlich  lehrt,  kein  streng  einheitlicher  sein. 

Es  ist  nach  dem  Gesagten  einleuchtend,  dass  die  Stellu 
nähme  der  verschiedenen  Denker  zur  Aufgabe  der  Philosof 
sich  vor  Allem  in  ihrem  Verhältnis  zu  Logik,  Ethik  und  Ästhi 
spiegeln  muss.  Die  Logik  finden  wir  in  der  „Philosophie  im 
ginn  des  20.  Jahrhunders"  von  Windelband,  in  der  „Kultur 
Gegenwart*"  von  Riehl  behandelt.  Da  beide  Denker  von  K 
ausgehen,  herrscht  kein   prinzipieller  Gegensatz  zwischen  ih 


Die  deuteche  Philosophie  im  Jahre  1907.  20Ö 

.ADsichten.    Bloss  darin  weichen  sie  von  einander  ab,   dass  Riehl 

<üe  Algebraische   Logik  für   eine   wertvolle  Errungenschaft  hält, 

"^wogfegen  Windelband   in   ihr  ein  wesenloses  Spiel  sieht.    Als  Er- 

keiiDtnistheoretiker    stehen    beide    Denker    auf    kritischer    Basis. 

^%Vindelband  schildert  die  Entwickelung  der  Logik  und  Elrkenntnis- 

C-heorie  von  Kaut  bis  zur  Gegenwart  und  zeigt  in  der  Kategorien- 

l^hre  das  gemeinsame  Band  beider  Gruppen  auf,  an  dem  sich  ihre 

künftige    Neugestaltung    zu    vollziehen   haben    wird.      Die    zwei 

fundamentalsten  Fragen   der  Erkenntnislehre   sind  das  Transscen- 

€3enzproblem   und  das  Problem   des  Gesetzes.    Auch  Rieh!  ist  um 

^ine  möglichst   reine  Darstellung   des  kritischen  Standpunktes  be- 

xnüht.     Er  verteidigt   ihn    gegen    den   Psychologismus   und   die 

Philosophie  der  reinen  Erfahrung.     Die  Prinzipien  der  Elrfahnmg 

snd   über    der   Empirie   erhaben    und   in   ihrer   Idealität   keiner 

^Wandlung  unterworfen.     Wandelbar   und   von   den  Gesetzen  der 

£Dtwickelung  beherrscht   sind   bloss   die  Inhalte  der  Erfahrung. 

In    den    tiefsten    Motiven    der    transscendentalen    Grundlegung 

stimmen  mithin  beide  ausgezeichneten  Denker  überein. 

Die  Ethik  wird   in  der  Festschrift  von  Bruno  Bauch,  in  der 
^Kultur  der  Gegenwart**  von  Paulsen  behandelt.    Hier  springt  der 
Oegensatz  von  Apriorismus  und  Empirismus  in  die  Augen.    Bauch 
^teht   auf  Kantischer   Grundlage.      Das   Sittengesetz   ist  seinem 
innersten  Wesen   nach   nicht  aus  Erfahrung  geschöpft  und  trägt 
Yein   formales   Gepräge.    Bauch  unterscheidet  zwischen  dem  Dog- 
matismus  der   sozialen   Nützlichkeitsmoral,    dem   immoralistischen 
Individualismus   Nietzsches   und   der  kritischen   Ethik.     Er  giebt 
I^ietzsche  gegen   den   Dogmatismus  Recht,   der   die   individuellen 
Unterschiede    zugunsten    seichter    Durchschnittswerte    nivellieren 
möchte,  aber  er  sieht  seinen  tiefen  Irrtum  darin,  dass  er  den  Na- 
turalismus  des   Willens   zur  Macht  als  Grundlage   für  eine  Um- 
wertung  aller  Werte  verwenden  zu  können  glaubte.    Wie  Bauch 
mit  Recht  bemerkt,  ist  die  Macht  ein  Naturphänomen,  das  mit  der 
Auslese  des  Vornehmen   nichts   zu  schaffen  hat  und  sogar  gegen 
den  Stärkeren   entscheiden   kann.    Das  rein  formale  Moralprinzip, 
das   Bauch   im  Anschluss   an   Kant  bildet,   soll   den  persönlichen 
Unterschieden   freien  Spielraum   lassen,   da  es   nicht   auf  den  In- 
halt der   Handlung   und  ihres   Motivs  ankommt,  sondern  auf  die 
allgemeine  Maxime  :  es  erscheint  so  als  eine  Versöhnung  des  Indi- 
viduaUsmus   und   Universalismus.     Dagegen   verwirft  Paulsen  die 
kritische  Begründung  und  sucht  eine  Verbindung  mit  der  Breite 


206  O.  Ewald, 

historischer  Erfahrung.  Er  geht  auf  Aristoteles  zurück,  indee 
das  Wesen  der  Moral  in  der  Entfaltung  aller  menschlichen 
kulturellen  Kräfte  sieht,  und  nähert  sich  der  naturalistischen  . 
fassung,  wenn  er  als  Kriterium  des  Sittlichen  die  Elemente  nc 
die  der  Erhaltung  der  Menschheit  förderlich  sind.  Diese  Am 
ordnet  er  seiner  antimaterialistischen  Metaphysik  unter.  Die  ^ 
ist  ein  geistiger  Zusammenhang,  der  von  sittlichen  Zweckes 
herrscht  wird.  Allerdings  kommen  beide  Denker  in  ihrer  V 
Schätzung  des  Sozialen  überein,  das  der  extreme  Individnalii 
so  entschieden  verneint.  Aber  das  Prinzip  der  Wertschätzung 
nicht  das  gleiche.  Während  Paulsen  die  Gesellschaft  als  Se 
zweck  und  als  eigentlichen  Träger  der  ethischen  Idee  hoch 
erblickt  Bauch  als  konsequenter  Kritizist  in  ihr  lediglich 
Mittel  zur  Realisierung  sittlicher  Zwecke,  wogegen  die  Autoni 
dem  Individuum  zuzusprechen  ist. 

Die  Ästhetik  behandelt  in  der  Festschrift  Groos,  in 
„Kultur  der  Gegenwart"  Lipps.  Groos  zieht  die  Linien  zwis" 
einer  transscendentalen,  normativen  und  einer  psychologisch 
kriptiven  Analyse  des  Problems  und  spricht  beiden  relative 
rechtigung  zu.  Sehr  beachtenswert  ist  sein  Hinweis  auf  die 
heimen  Beziehungen  des  Transscendentalismus  zur  Metaphysik 
berührt  hier  mit  feinem  Gefühl  den  Punkt,  wo  der  Neukantij 
mus  den  Übergang  zu  Fichte  vollzieht.  Wenn  der  Begriff 
absoluten  Wahrheit  mehr  sein  soll,  als  eine  methodische  Voi 
Setzung  des  Forschens,  dann  kann  er  nichts  sein  als  das  objel 
Korrelat  zu  einem  überindividuellen  Bewusstsein,  einem  „Bewi 
sein  überhaupt".  Und  wenn  das  „Bewusstsein  überhaupt"  i 
sein  soll  als  ein  leerer  Begriff,  dann  verdichtet  es  sich  zu  ei 
transscendenten,  göttlichen  Allbewusstsein.  Im  Gegensatz 
logischen  Normation,  die  absoluten  Wert  beansprucht,  wiewohl 
durch  die  Voraussetzung  der  Wahrheitsideen  dngeschränkt 
geht  die  psychologische  Normation  auf  relative  Werte  aus, 
durch  Erfahrung  widerlegt  werden  können.  Groos  untersucht 
dann  die  seelischen  Bedingungen  des  ästhetischen  Schaffens 
des  ästhetischen  Genusses,  bei  dem  der  Begriff  der  Einfühli 
eine  wesentliche  Rolle  spielt.  Mit  diesem  Begriff  setzt  sich  Li 
sehr  eingehend  auseinander.  Er  unterscheidet  drei  Artoi 
Einfühlung:  die  allgemeine  apperzeptive  Einfühlung  beim 
sammenfassen  einer  Mannigfaltigkeit  zur  Einheit:  die  Naton 
fühlung,  die  die  äussere  Realität  als  ein  Psychisches,  als  ein  i 


Die  deutsche  Philosophie  im  Jahre  1907.  207 

Er&ften  und  Enenpen  Erfülltes  empfängt;  die  Stimmangseinfüblung, 
die  den  subjektiven  Gefüblscharakter  als  ein  Element  der  Aussen- 
welt  selber  entgegennimmt.  Lipps  giebt  auch  eine  interessante 
Analyse  der  Künste  nach  den  Mitteln  ihrer  Darstellung.  Hier 
nnterscheidet  er  abstrakte  und  konkrete  Künste,  sofern  sie  allge- 
meine Gesetzlichkeiten  oder  individuelle  Phänomene  darstellen, 
Künste  der  Koexistenz  und  Künste  der  Sukzession,  Künste,  die 
sich  an  das  Auge,  und  Künste,  die  sich  ans  Ohr  wenden,  mittelbar 
nnd  unmittelbar  darstellende  Künste. 

Die  Religionsphilosophie  wird  bloss  in  der  Festschrift  bear- 
beitet, und  zwar  von  Troeltsch.  Der  Verfasser  gliedert  seine 
Untersuchung  nach  fünf  Gesichtspunkten:  dem  Verhältnis  der  Re- 
ligion zur  Philosophie,  zur  Theologie,  zur  Erkenntnistheorie,  zur 
Psychologie  und  nach  der  Tradition  der  klassischen  Religionsphilo- 
sophie. Er  hält  Erkenntnis  und  Glauben  im  Sinne  Kants  aus- 
einander und  spricht  sich  gegen  den  von  Kant  unternommenen 
Versuch  einer  abstrakten  Intellektualisierung  spezifisch  religiöser 
Inhalte  aus,  wie  der  Inspiration  und  Offenbarung.  Die  Zukunft 
der  Religion  erwartet  er  von  einer  Verbindung  des  kirchlichen 
mit  dem  rein  gedanklichen,  philosophisch  vergeistigten  Glauben. 

Auch  die  Geschichte  der  Philosophie  wird  in  der  Festschrift 
erörtert:  Windelband  urteilt  in  einem  geistvollen  Aufsatz 
über  ihre  Ziele  und  Aufgaben.  Es  scheint  ein  Widerspruch,  dass 
auch  die  Erkenntnis  absoluter  Wahrheiten  eine  Geschichte  und 
Entwickelung  hat,  ja  dass  diese  Geschichte  ihr  wesentlich,  sozu- 
sagen selber  ein  Stück  Philosophie  sein  soll.  Aber  uns  klärt  fol- 
gende Erwägung  auf.  Der  Mensch  kann  die  absoluten  Wahrheiten 
nicht  in  ihrer  eigensten  Form,  sondern  bloss  in  der  unvollständigen 
Form  seines  persönlichen  Bewusstseins  ergreifen,  das  sich  erst 
allmählich  in  ihrem  Besitz  zu  sichern  vermag.  Daraus  erklärt  sich 
abermals  der  Widerstreit  der  philosophischen  Systeme  und  die 
Denkbarkeit  einer  relativen  Berechtigung  entgegengesetzter  An- 
schauungen. Und  ebenso  die  Bedeutung  einer  Geschichte  der 
Philosophie  für  das  Wesen  der  Philosophie  selber.  Die  Psycho- 
logie behandelt  den  Menschen  als  ein  Stück  Natur  und  findet  da- 
her die  absoluten  Wahrheiten  neben  anderen  logisch  irrelevanten 
und  überhaupt  nicht  wertbetonten  Phänomenen.  Deshalb  verwirft 
Windelband  den  Versuch  Friesens,  aus  der  Anthropologie  die  Ver- 
nunftwahrheiten abzuleiten,  und  entscheidet  sich  für  ihre  Deduktion 
aus  der  Geschichte  der  Philosophie.     Denn  ^der  Mensch  als  Ver- 


208  O.  Ewald, 

nuuftwesen   ist   nicht  naturnotwendig  gegeben,   sondern  historisci 
aufgegeben".    Damit  ist  die  Reihe  jener  Schriften  abgeschlossen, 
die  die  Stellung  der  Philosophie  der  Wissenschaft  gegenüber  be- 
handeln.   Unmittelbar  daran  knüpft  sich  das  zweite  Problem,  ôas 
einer  philosophischen  Grundlegung  der  einzelnen  Disziplinen.    Zu- 
nächst kommen   zwei   in  Anbetracht:   Innenwelt  und  Aussenwelti 
Psychologie  und  Naturphilosophie.     Über  die  Psychologie  äussern 
sich  Wundt  und  Ebbinghaus;  jener   in   der  Festschrift,  dieser 
in   der   „Kultur    der    Gegenwart^.     Wundt  beschrankt   sich  im 
Ganzen  auf  einen  historischen  Überblick,  den  er  in  die  durch  beide 
neuen  Errungenschaften  des  19.  Jahrhunderts,  durch  eiperimenteJle 
und    Völkerpsychologie    eröffneten    Perspektiven    münden    U&st- 
Ebbinghaus   analysiert   zunächst   die   verschiedenen  Theorien  vom 
Wesen   des  Psychischen.    Er   lehnt   die  Wechselwirkungslehre  »b 
und  entscheidet  sich  zugunsten  des  Parallelismus.    Letzteren  deutlet 
er  metaphysisch:   Physisches   und  Psychisches  sind  ihm  bloss  Elx*- 
scheinungsformen  eines  identischen  Dritten.    Besondere  Aufmerli- 
samkeit  widmet  Ebbinghaus   der  Darstellung  höherer  psychisch. «r 
Sachverhalte,   des  Glaubens,   der  Kunst   und  der  Sittlichkeit,  dio 
von   einem   gemässigten  Empirismus   getragen  wird.    Hier  find^en 
sich     interessante    Beziehungen     soziologischer     und    historisd»-  ^ 
Art.     Mit   dem   Hinweis   auf  die  erstaunliche  Harmonie  der  p^  T 
chischen   Funktionen,    die    bloss    scheinbar  im   Widerspruch  n^d 
Gegensatze    unter    einander    stehen,    schliesst   Ebbinghaus  seLrM^^ 
Untersuchung. 

Schroff  stehen  einander  beide  Naturphilosophien  gegem\)^s^' 
die  von  Lipps,  die  sich  erst  in  der  zweiten  Auflage  derFe^* 
Schrift  findet,   und  die  von  Ostwald  in  der  „Kultur  der  GegeÄ^' 
wart".    Während  Ostwald   ungeachtet  seiner  empiristischen  Rid^' 
tung   einer   barocken   Metaphysik   huldigt,    steht   Lipps  auf  der 
vollen  Höhe  des  kritischen  Bewusstseins  und  durchdringt  von  dl 
aus  das  ganze  Gewebe  der  mythologischen  und  anthropologisdiea 
Begriffe,   die   noch   immer   die  Naturforschung  beherrschen.    Ostr 
walds  Ansehen   gründet  sich   auf   seine   spezialwissenschaftlicto 
Leistungen,   keineswegs   auf  seine  philosophischen  Versnche;  nnd 
so   fragt   es   sich,   ob   seine  Auswahl  überhaupt  berechtigt  war. 
Den  energetischen  Vorstellungskreis,  den  Lipps  schonungslos  seiner 
ontologischen  Bedeutung  entkleidet,   hält  Ostwald  fest,   ohne  sich 
darüber   kritische    Rechenschaft    zu    geben.      Es   mangelt  s^ner 
Studie  nicht  an  interessanten,  sachgemässen  Ausführungen.    Aber 


Die  deutsche  Philosophie  im  Jahre  ld07é  209 

urphilosophle  vermag  sie  sich  nicht  zu  legitimieren.  Was 
l  gegen  den  Apriorismus  der  Mathematik  vorbringt,  beruht 
össten  Teil  auf  der  alten,  von  Kant  selber  gerügten  Ver- 
uug  des  Ursprungs  und  Wertes  einer  Erkenntnis.  Und 
s  er  auch  nicht  die  Grenzen  zwischen  Naturforschung  und 
lilosophie  zu  befestigen,  da  er  die  letztere  ledigUch  für 
isammenfassuug  der  in  der  ersteren  niedergelegten  Er- 
en  hält.  Die  glänzende  Art,  in  der  Lipps,  von  einem 
men  entgegengesetzten  Standpunkte  aus,  das  Problem  er- 
will ich  aus  Gründen  der  Disposition  erst  später  berühren, 
in  ihr  eine  Annäherung  an  Schelling  kundgiebt.  Hier 
wohl  die  aprioristische  Methode  gerechtfertigt,  deren  Wesen 
[  missverstandeu,  als  auch  die  Unzulänglichkeit  einer  euer- 
en Weltauffassung  nachgewiesen,  von  der  sich  Ostwald  so- 
8  Lösung  der  Bewusstseinsprobleme  verspricht. 
ie  Philosophie  der  Geschichte  wird  in  ziemlich  überein- 
idera  Sinne  von  Rickert  und  Eucken  behandelt.  Von 
in  der  Festschrift,  von  diesem  in  der  „Kultur  der  Gegen- 
Rickerts  Auffassung  ist  aus  seiner  epochalen  Schrift,  „Die 
i  der  naturwissenschaftlichen  Begriffsbildung^,  bekannt. 
;t  auch  hier  nach,  dass  eine  Verschmelzung  der  Geschichte 
^  Naturforschung  unmöglich  ist,  weil  die  Begriffsbildong 
en  eine  individualisierende  und  wertende,  die  der  anderen 
[leralisiereude  ist.  Bereits  damit,  dass  etwas  aus  der  un- 
n  Fülle  des  Geschehens  als  geschichtlich  bedeutsam  heraus- 
1  wird,  bereits  im  Prinzipe  der  Auswahl  vollziehen  wir  ein 
«il.  Und  was  man  den  Sinn  der  Geschichte  nennt,  ist 
stturgesetz  der  geschichtlichen  Entwickelung,  es  ist  eine 
^orm,  die  wir  ans  natürliche  Geschehen  herantragen.  Sie 
ler  voraus,  dass  wir  an  einen  höchsten  Lebenswert  glauben, 
r  zugleich  als  absoluten  Zweck  des  historischen  Werdens 
/cn.  In  der  Entfaltung  der  Geschichtsphilosophie,  die  über- 
rst  mit  dem  Christentum  anhebt,  hält  Rickert  drei  Stadien 
ider,  das  des  Dogmatismus,  das  des  Skeptizismus  und  des 
nus.  Die  dogmatische  Geschichtsphilosophie  denkt  die 
umlich  und  zeitlich  begrenzt,  als  den  Werdegang  der  Er- 
ven der  Weltschöpfung  zum  Weltgerichte.  Während 
lie  Einsicht  in  die  Unendlichkeit  des  Universums  zunächst 
)tische  Geschichtsphilosophie  hervorgerufen  wurde,  hat  die 
iie  Scheidung  zwischen  Natur  und  Geist  in  der  Lehre  vom 


210  O.  Ewald, 

Primat  der  praktischen  Vernunft,  von  der  Autonomie  der  PersSih 
lichkeit,  von  dem  Subjekt  als  Träger  zeitloser  und  absoluter  Werte, 
der  kritischen  Geschichtsphilosophie  den  Boden  geebnet  Auch 
Eucken  unterscheidet  den  Sinn  der  Geschichte  von  ihrem  natit 
liehen  Verlauf.  Er  findet  zunächst  eine  Antinomie  zwischen  der 
äusseren  Abhängigkeit  des  Menschen  vom  Zeitgeschehen  üihI 
seinem  historischen  Triebe,  die  Vergangenheit  zu  erhalten,  der 
lediglich  aus  dem  Gefühl  erklärt  werden  kann,  es  gebe  ewige 
Werte,  die  vom  zeitlichen  Wandel  unberührt  bleiben.  Es  ist  die- 
selbe Antinomie,  um  deren  Schlichtung  wir  Windelband  in  seiner 
Abhandlung  über  Geschichte  der  Philosophie  bemüht  fanden,  und 
Eucken  löst  sie  auch  ähnlich  wie  Windelband.  Das  Geistedebeii 
ist  an  und  für  sich  ein  System  von  ewigen  Werten,  aber  es  offen- 
bart sich  dem  Menschen  bloss  stückweise,  nicht  als  Ganzes,  und 
diese  Offenbarung  bedarf  daher  der  Zeit,  in  der  sie  sich  der 
Menschheit  successive  mitteilt.  Aus  dieser  Gegensätzlichköt 
zwischen  der  begrenzten,  natürlichen,  empirischen  Art  des  mensà* 
liehen  Bewusstseins  und  dem  ewigen,  absoluten  und  geistige 
Charakter  der  Ideenwelt  entspringt  die  Notwendigkeit  der  Ge- 
schichte, der  Widerstreit  zwischen  Irrtum  und  Wahrheit,  die  V«f 
änderlichkeit  der  Kulturformen  in  Verbindung  mit  dem  Ewigkeit«- 
gefühl,  das  dem  Wesen  der  Kultur  selber  eignet  Das  ethisch« 
Moment  der  Geschichte  wird  damit  verstärkt,  dass  das  Geistofr 
leben  weniger  gegeben  als  aufgegeben  ist.  Es  wird  nicht  in 
seiner  vollkommenen  Totalität  entdeckt,  es  wird  vielmehr  Stàà 
für  Stück  erobert  und  erschlossen,  und  muss  im  Einzelnen  mähsan 
ausgebaut  und  gestaltet  werden.  Die  Tiefe  des  Geisteslehei« 
offenbart  sich  nicht  in  objektiven  Schemen,  sondern  haupts&chück 
im  Wirken  und  Walten  grosser  Persönlichkeiten.  —  Daneben  finden 
wir  in  der  Festschrift  noch  die  Rechtsphilosophie  von  Lask,  i» 
der  „Kultur  der  Gegenwart"  die  Pädagogik  von  Münch  behanddt 
Lask  will  in  die  Rechtsphilosophie  die  strenge  transscendentale 
Betrachtung  einführen  zum  Unterschiede  von  der  empirisdien,  die 
aus  einzelnen  Rechtstatsachen  den  allgemeinen  Rechtschankttf 
deduziert,  und  der  metaphysischen  des  Naturrechts,  wo  der  koD* 
krete,  historische  Inhalt  des  Rechts  durch  willkürliche  Gedanki»* 
formen  verdrängt  wurde.  Dieser  Inhalt  soll  unangetastet  UeiW 
und  die  aprioristischen,  geistigen  Normen  sollen  bloss  seW 
Wertung  dienen.  Auf  Grund  dieser  Voraussetzungen  sucht  LaA 
dem   ein  reiches  juristisches  Begriffsmaterial  zu  Gebote  steht,  iû 


Die  deutsche  Philosophie  im  Jahre  1907.  211 

llethodologie  der  Rechtslehre  einzudringen.  Auch  seine  Er- 
ungen  stehen  auf  dem  Boden  des  Neukantianismus. 

Münch  hält  den  psychologischen  und  ethischen  Charakter  der 
igogik  auseinander,  er  wirft  einen  Rückblick  auf  ihre  histo- 
e  Entwickelung.  Er  knüpft  an  die  mannigfachen  neueren 
igungen  für  eine  innere  und  äussere  Organisation  des  Unter- 
s  an  und  hebt  die  Notwendigkeit  seiner  Übereinstimmung  mit 

sich  stetig  erneuernden  Bedingungen  der  Kulturmenschheit 
or. 

Wenn   wir  zwischen  beiden  Werken  einen  Vergleich  ziehen, 

finden  wir,  dass  die  „Philosophie  im  Beginn  des  20.  Jahr- 
lert"  vor  Allem  einheitlicher  ist,  als  die  „Kultur  der  Gegen- 
^,  was  sich  allerdings  zum  Teil  aus  ihrer  Gruppierung  um 
Persönlichkeit  Kuno  Fischers  erklären  lässt.  Sie  steht  im 
mtlichen  auf  dem  Boden  des  Kritizismus.  Die  klare  Scheidung 
Wert  und  Wirklichkeit,  Ideal  und  Realität,  Idee  und  Er- 
mg  beherrscht  sie  im  Ganzen  wie  im  Einzehien.    Hingegen 

die  ^Kultur  der  Gegenwart"  wohl  jene  charakteristische 
inigung  von  Empirismus,  Psychologismus  und  Metaphysik,  die 
von  selber  einzustellen  pflegt,  wo  der  Boden  der  Transscen- 
üphilosophie  verlassen  wird.  Die  Philosophie  soll  einerseits 
innerer  und  äusserer,  physischer  und  psychischer  Erfahrung 
)baut  werden,  andererseits  durch  metaphysische  Hypothesen 
dch  notwendig  ergebenden  Lücken  des  empirischen  Welt* 
3  ausfüllen.    Natürlich   war  es  hier  sachgemäss,   die  Denker 

an  ein  bestimmtes  Programm  zu  binden.  Ob  es  aber  zweck- 
rechend  war,  unmittelbar  nach  dem  Aufsatz  Wundts,  der  die 
äche  der  Ostwaldschen  Naturphilosophie  überzeugend  dar- 
,  Ostwald  selber  die  von  Wundt  widerlegten  Thesen  als 
matische  Naturphilosophie  vorbringen  zu  lassen,  mag  dahin- 
Ut  bleiben. 

Einem  unparteüschen  Betrachter  dürfte  der  Standpunkt,  den 
estschrift  vertritt,  klarer  umrandet  und  gesicherter  erscheinen. 
Kritizismus  ist  noch  kein  abgeschlossenes  Ganzes,  das  zum 
la  werden  dürfte,  aber  er  zeichnet  der  künftigen  Elntwickelung 
7ege  vor.    Die  Fülle  von  Problemen,   die  in  ihm   enthalten 

und  die  Fruchtbarkeit  ihrer  Behandlung  wird  in  der  philo- 
3chen  Litteratur  jedes  Jahres  von  neuem  sichtbar.  Die 
tstudien^  brachten  im  vergangenen  Jahre  eine  Reihe  von 
itzen,  die  für  die  hier  berührten  Fragen  von  Bedeutung  sind. 


212  0.  Ewald, 

Das  Verhältnis  der  Logik  zur  Mathematik  untersucht  Cassirer 
in   einer  Studie    „Kant   und  die  moderne  Mathematik",  in  der  er 
unter  Bezugnahme  auf  Russells  und  Couturats  Werke  den  Nack- 
weis  erbringt,   dass  Kants  Begründung  der  Mathematik  durch  k 
modernen  Theorien  bestätigt  wird,  wenn  man  bloss  eines  im  Auge 
behält:  als  Erkenntnissystem  ist  sie  nicht  aus  der  Ästhetik,  sonden 
aus   der  Analytik,  nicht  aus  der  reinen  Anschauung,  sondern  a« 
der  transscendentalen  Logik  deduziert  worden.    In  einem  spiteni 
Hefte    veröffentlicht    Bauch    einen    interessanten    Artikel:  ,& 
fahrung  und  Geometrie  in  ihrem  erkenntnistheoretischen  VerMtt- 
nis".    In  einer  ausserordentlich  feinen  und  subtilen  Untersuchimg 
prüft   dieser   Denker   die   verschiedenen  Möglichkeiten  einer  Ver 
mittelung   zwischen  Geometrie   und   Erfahrung.     Die  BegrüDdnng 
der    „Euklidischen   Geometrie"    auf  Verallgemeinerungen  aus  der 
Erfahrung  wird  mit  Rücksicht  auf  den  apriorischen  Charakter  der 
Disziplin  verworfen.    Ihr  Vorrang  vor  den  Nicht-Euklidischen  Geo» 
metrien   Riemanns   und  Lobatschewskis  lässt   sich   auch  nicht  » 
erklären,   als   würde   sie   nachträglich   durch   die   Erfahrung  be« 
stätigt  :  denn  die  Erfahrung  reicht  überhaupt  nicht  an  die  Ideafr 
tat  der  reinen   Formen  hinan.     Schliesslich   ist   auch  Poincsrii 
Berufung   auf   die  Bequemlichkeit   als   dasjenige   Motiv,  dem  sie 
ihre  auszeichnende  Stellung  dankt,  unhaltbar.    Denn  die  Beqoei- 
lichkeit   ist  nach  Bauchs  überzeugendem   Urteil   ein  rein  psycho* 
logisches  Merkmal,   das   keine   logische  Gnindwahrheit  zu  stützei 
vermag,  und  damit  ist  auch  das  violberufene  Prinzip  der  Ökonomie 
gegenstandslos   geworden.     Solange   man   die  verschiedenen  Geo- 
metrien unter   allgemein  formallogische  Gesichtspunkte  fasst,  'lA 
jede  derselben  gleichwertig.     Erst  wenn  man  sich  auf  den  Bodeâ 
der  transscendentalen  Logik  stellt,  wo  der  Zusammenhang  zwischefi 
Denken  und  Sein  in  Erwägung  kommt,  ändert  sich  der  Sachverhalt 
Zur  Begründung    der  Erfahrung  taugt  einzig   die  Euklidische 
Geometrie,  ungefähr  so,  wie  dieselbe  nicht  durch  den  Mialytfacheft 
Satz  der  Identität,  sondern  durch  den  sjmthetischen  der  Kansalitit 
ermöglicht  wird.      Die   Frage,   was   der   Euklidischen   Geomelne 
diese  Macht  über  die  Erfahrung  gebe,   eine  Frage,  auf  die  Baach 
nicht  näher  eingeht,  lässt  sich  auch  schwerlich  in  der  Breite  ihres 
Inhaltes   beantworten:  hier  handelt  es   sich   wohl   um  ein  nicht 
weiter  deduzierbares  Grenzfaktum.    Immerhin  scheint  damit  wenig- 
stens  die  Konzession   an   die  Erfahrung  gemacht,   dass  sie  ihrer 
allgemeinen   Natur   nach   die   spezifische  Idealisierung  fordere, 


Die  deutsche  Philosophie  im  Jahre  1907.  213 

ihr  eben  in  unserer  Geometrie  geboten  werde.  Da  wir  aber 
IT  Apriorismus  kein  angeborenes  psychisches  Vermögen, 
lern  den  logischen  Idealismus  verstehen,  wird  der  Aprioris- 
\  dadurch  in  keiner  Weise  angetastet.  Die  Euklidische  Geo- 
rie  verhält  sich  zu  unserem  Erfahrungsraum  etwa  analog  wie 
Kausalität  zur  empirischen  Succession.  Man  kann  nicht  von 
)T  empirischen  Deduktion,  wohl  aber  von  einer  empirischen 
laftung  der  reinen  Formen  sprechen.  Dies  Verhältnis  der 
isscendentalen  Ästhetik  und  Logik  zur  Erfahrung  habe  ich 
einem  Aufsatz  der  „Kantstudien"  vom  vergangenen  Jahre 
e  Grenzen  des  Empirismus  und  des  Rationalismus  in  Kants 
ik  der  reinen  Vernunft"  ins  Licht  zu  setzen  versucht.  Auf 
m  anderen  bemerkenswerten  Artikel  „Kant  und  die  gegen- 
tige  Aufgabe  der  Logik"  von  Medicus  werde  ich  noch  später 
ickkommen.  Auch  in  diesem  Jahr  sind  mehrere  Elrgänzungs- 
6  von  den  Kantstudien  herausgegeben  werden,  interessante 
lographien:  „Die  Religionsphilosophie  Tieftrunks"  von  Gustav 
tz,  „Kants  Stil  in  der  Kritik  der  reinen  Vernunft"  von  Ernst 
her,  „Der  Begriff  Geist  in  der  deutschen  Philosophie  von  Kant 
Hegel"  von  Hans  Dreyer. 

Darin  bewährt  sich  die  unerschöpfliche  Fülle  von  Anregungen, 

von  Kant   ausgehen.     Umso  erfreulicher  ist  das  Unternehmen 

Berliner  Akademie   der  Wissenschaften,   Kants   Schriften  in 

r  vollständigen,   kritisch   hergestellten  Ausgabe   zu  sammeln, 

der  in  diesem  Jahre  der  6.  und  7.  Band  erschienen  sind, 
enthalten  die  Werke:  Der  Streit  der  Fakultäten",  „Anthropo- 
B",  „Metaphysik  der  Sitten",  „Die  Religion  innerhalb  der 
azen  der  blossen  Vernunft",  herausgegeben  von  Vorländer, 
pe,  Natorp  und  Wobbermin. 

Wenn  Stumpf  in  seiner  Rektoratsrede  bemerkte,  die  Philo- 
lie  der  Zukunft  müsse  eine  Synthese  von  Kant  und  Leibniz 
len,  so  scheint  Cassirers  grossangelegtes  Werk  „Das  Er- 
itnisproblem  in  der  Philosophie  und  Wissenschaft  der  neueren 
"  auf  dasselbe  hinzudeuten.  Nicht  umsonst  hat  sich  Cassirer 
er  um  eine  gediegene  Darstellung  des  Leibnizschen  Systems 
üht.  Sein  „Erkenntnisproblem",  dessen  zweiter  Band  in  diesem 
r  erschienen  ist,  zeigt  die  dominierende  Stellung,  die  Leibniz 
immt,  und  den  tiefgreifenden  Einfluss,  den  er  auf  Kants  kri- 
le  Gedankenrichtung  geübt,  ein  Einfluss,  den  man  früher  zu- 
jten  der  englischen  Empiristen  zu  unterschätzen  pflegte.    Der 

•alatodlvD  Xlll.  \^ 


âl4  O.  Ewald, 

zweite  Band  enthält  das  vierte  Buch  ^Fortbildung  und  VoUoiâoitj 
des  Rationalismus''  (Spinoza,  Leibniz),   das  fünfte  „Das  Mssm 
nisproblem  im   System   des   Empirismus^  (Bacon,  Hobbes,  Lix^| 
Berkeley,  Hume),  das  sechste  „Von  Newton  zu  Eant",  das  sii 
„Die  kritische   Philosophie".     Hier  ist  zumal  das  Verhältnis 
transscendentalen  Logik  zur  reinen  Anschauung  ins  Auge 
das  Cassirer  im  Sinne  Kants  bestimmen  will. 

Hermann  Cohen,  von  dem  sich  Cassirer  nachhaltigst 
flusst  zeigt,  hat  in  diesem  Jahre  einen  „Kommentar  zu 
Kritik  der  reinen  Vernunft^  erscheinen  lassen,  in  dem  er  an 
faden  des  Textes  eine  gedrängte,  einheitliche  Zusammi 
der  Grundgedanken  mit  stetiger,  vorausschauender  Rücksiclil 
auf  die  grossen  Ziele  und  Zwecke  des  Kritizismus  geben 
Das  Buch  ist  wohl  als  Ergänzung  zu  Cohens  grossen  EanI 
zu  betrachten. 

In  diesem  Zusammenhang  will  ich  meine  jüngst  ?( 
lichte  Schrift  „Kants  kritischer  Idealismus  als  Grundlage  m 
kenntnistheorie  und  Ethik"  ^)  erwähnen.  Auch  diese  Schrift, 
Vorarbeit  die  1906  erschienene  Monographie  „Kants  Mi 
in  ihren  Grundzügen"  war,  prüft  das  Verhältnis  yon 
und  Denken,  Mathematik  und  Logik.  Die  Mathematik  Usst 
weder  aus  reiner  noch  aus  empirischer  Anschauung  vol 
herleiten.  Die  empirische  Anschauung  liefert  die  Wahini 
formen,  die  uns  wie  die  Wahmehmungsinhalte  yon  aussen 
geben  sind.  Sie  werden  nicht  vom  menschlichen  Be^ 
ausgesponnen  und  auf  die  an  sich  formlosen  Empfindi 
projiziert.  Vielmehr  sind  Form  und  Inhalt  zu  einem  einh( 
Wahmehmungsakte  verbunden.  Die  \^derlegnng  des  subj 
Idealismus,  der  die  Form  aus  dem  Subjekt  hervorgehen 
büdet  den  ersten  Teil  meines  Buches.  Der  zweite  fasst 
Grundlegung  des  transscendentalen  Idealismus  ins  Auge,  tt 
Kategorien  entsprechen  nicht  den  unmittelbar  von  aosseo  9^ 
gebenen  Formen  der  Wahrnehmung,  sondern  sind  ideale  Erkfl^ 
nisbegriffe.  Eine  reine  Anschauung  des  Baumes  und  der  tf 
giebt  es  nicht,  sondern  lediglich  eine  empirische  Anscluiamig 
selben.  Reine  Anschauung  ist  eine  Grenzvorstellung:  aej^ 
zeichnet  den  Grundsatz  der  Mannigfaltigkeit  dem  Prinzip  der 
heit   und   Identität   gegenüber,    das   aus   dem  reinen  Ycn^ 


^)  Berlin,  Ernst  Hofmann  &  Co. 


Die  deutsche  Philosophie  im  Jahre  1907.  2l5 

Torgeht.  Die  Mathematik  entspringt  aus  dem  Bunde  der 
malen  Logik  mit  dem  Grandsatz  der  Mannigfaltigkeit,  die 
namik  ihrem  Bunde  mit  der  empirischen  Anschauung.  An 
3en  Ausbau  des  transscendentalen  Idealismus  schliesst  sich  der 
^wurf  einer  realistischen  Metaphysik. 

Sofern  die  Vertreter  der  neueren  Philosophie  nicht  dem 
itiyismus,  Psychologismus  oder  Empirismus  ergeben  sind,  finden 

sie  der  Mehrzahl  nach  im  Lager  des  Eantianismus  vereinigt. 
h  Denker,  die  wie  Rickert  und  Windelband  einen  spezifisch 
snntnistheoretischen  Neufichteanismus  begründeten,   indem  sie 

Begriff  des  überindividuellen  Bewusstseins,  des  „Bewusstseins 
rhaupt''  als  eines  Inventars  zeitloser,  logischer  Werte  klarer 
bildeten  und  desgleichen  eine  einheitliche  Deduktion  sämtlicher 
egorien  aus  einem  obersten  Erkenntniszweck  zu  geben  bestrebt 
en,  bleiben  gleichwohl  innerhalb  der  Peripherie  des  Eantischen 
tizismus;  denn  das  Wesentliche,  Fichtes  Metaphysik,  wollen 
nicht  übernehmen.    Daneben  sehen  wir  indessen  eine  Reihe 

Männern,  die  sich  viel  näher  an  die  Nachkantischen  Ideal- 
osophen,  an  Fichte,  Schelling,  Hegel  anschliessen.  Und  diese 
regung  zog  im  letzten  Jahre  sogar  weitere  Kreise  als  früher, 
u  zu  Fichte  hält  Medicus,  dessen  Fichtebuch  im  vorigen 
resberichte  EIrwähnung  gefunden.  Sein  früher  angeführter 
Batz  in  den  Kantstudien  „Kant  und  die  gegenwärtige  Angabe 

Logik*"  vertritt  diesen  Standpunkt  streng,  wenn  es  auch 
rakteristischer  Weise  nicht  an  Anklängen  an  Hegel  mangelt, 
r  durchgeführte  Kritizismus*",  sagt  Medicus,  „ist  die  Dialektik*". 

formalistische  Logik  ist  etwas  sekundäres,  die  obersten  lo- 
hen  Grundsätze   bringen  bloss   das  Verhältnis  des  Nicht-Ich 

Ich  zum  Ausdrucke.  Erst  eine  Philosophie,  die  das  einsieht, 
den  höchsten  Punkt  der  Vemunfterkenntnis  in  die  ünmittel- 
ceit  des  Ichbewusstseins  setzt,  kann  die  alte  Abbildtheorie, 
ach  alles  Erkennen  das  Spiegeln  einer  metaphysischen  Realität 
fiberwinden,  und  an  ihre  Stelle  einen  teleologischen,  vemunft- 
rendigen  Zusammenhang  reiner  Kategorien  setzen. 

Weder  Kants  noch  Fichtes  System  ist  ein  allseitig  ge- 
ossenes.  Beide  sind  vorwiegend  am  Oeiste  orientiert,  ihr 
liftltnis  zur  Natur  ist  kein  eindeutig  bestimmtes.  Das  stabile 
chgewicht  zu  begründen,  unternahmen  Schelling  und  Hegel, 
m  beide  auch  die  äussere  Natur  in  der  Fülle  ihrer  Gestalten 
ifflich  zu  meistern  strebten.    Vor  Allem  ist  Schelling  als  Be- 


216 


0.  Ewald. 


g^ründer  der  Naturphilosophie  zu  nenneD.  Ich  habe  bemts  : 
vorigen  Jahresberichte  bemerkt,  dass  Theodor  Lipps  in 
jüngsten  philosophischen  Schriften  der  Schellingschen  Wd 
anschauung  nahe  steht,  und  konnte  mich  dafür  mit 
Reserve  auf  seine  am  Stuttgarter  Naturforschertag 
Rede  berufen.  Eine  ungemein  klare  Bestätigung  hat  meine  i 
sieht  durch  die  „Naturphilosophie''  von  Lipps  erhalten,  die  in  ( 
zweite  Auflage  der  „Philosophie  im  Beginn  des  zwanzigsten  Jd 
hunderts''  neu  aufgenommen  wurde.  Diese  Schrift  gehört  zu  i 
interessantesten  und  glänzendsten  philosophischen  Leistungen  i 
letzten  Jahre.  Von  der  Breite  nüchterner  Empirie  au 
wagt  sie  einen  so  kühnen  Aufstieg  in  metaphysische 
wie  er  vielleicht  seit  Hegel  nicht  mehr  unternommen 
Was  für  einen  Standpunkt  man  sonst  vertrete,  den  Vorzügen! 
Lippsschen  Darstellung,  seiner  zwingenden  Logik  und  einem 
den  Tiefen  der  Persönlichkeit  stammenden  Weltgefühl  wird 
sich  nicht  entziehen  hönnen.  Seine  leitende  Idee  ist  audi  ( 
Mal  die,  dass  die  Natur  nicht  anders  zu  begreifen  sei,  als 
man  ihr  ein  göttliches  Allbewusstsein  zugrunde  gelegt  denke. 
Abhandlung  ist  so  bedeutsam,  dass  wir  ihren  GedankengiB|i 
einigen  Strichen  festhalten  müssen. 

Naturphilosophie  kann  nicht  Kritik  der  Tatsachen 
solche  obliegt  allein  der  Naturforschung  selber.  Naturpli 
ist  lediglich  Beantwortung  der  Frage  nach  der  Struktur  and  i 
Sinn  des  Naturerkennens  überhaupt.  Vor  allem  widerlegt  ', 
die  zur  Zeit  so  weit  verbreitete  Ansicht,  die  Naturf orschnng  I 
schränke  sich  auf  eine  vereinfachende  Beschreibung  der 
ungen  :  Das,  was  man  Beschreibung  nennt,  enthält  bertits  < 
logischen  Überschuss  über  den  sinnlichen  Anblick  der 
ungen.  Ohne  Identität  und  Kausalität,  die  für  LipfS 
und  dasselbe  bedeuten,  giebt  es  auch  keine  reine 
so  wenig  beides  aus  den  Phänomenen  selber  herausgelesen 
kann.  Es  folgt  eine  geistvolle  Analyse  der  Naturgesetze, 
nichts  anderes  sind,  als  eine  Zerlegung  des  Naturgeschdieü^ 
ideale  Komponenten.  Hierin  wurzelt  alles  Erklären.  „Nicht  T 
Natur  in  sich  selbst  ist  in  solche  Gesetze  gefasst,  sondas' 
naturforschende  Geist  fasst  sie  in  dieselben.'^  Wenn  die! 
gleichwohl  mit  unserer  auf  Grund  dieser  Gesetze  gewa 
Annahme  übereinstimmt,  so  lässt  sich  dies  bloss  dann  ynBid^ 
klären,  wenn  wir  in  ihr  dasselbe  geistige  Prinzip  wirksam  d€Ml 


Die  deutsche  Philosophie  im  Jahre  1907.  217 

S  uns  zur  Entdeckungf  von  Gesetzen  leitete.  Die  Naturforschung 
BS  femer  alle  materiellen  Inhalte  in  Formbeziehungen  auflösen, 
ieie  Beziehungen  sind  vor  Allem  räumlicher  Natur.  Der  Raum 
t  weder  ein  leeres  Gefäss,  in  dem  die  Objekte  eingeschlossen 
id,  noch  die  Summe  der  verschiedenen  örtlichen  Bestimmungen, 
idem  eine  innere  Einheit  der  Phänomene.  Diese  Einheit  ist 
i  Höchste  und  zugleich  das  Erste  :  die  einzelnen  Dinge  und 
vginge  lassen  sich  einzig  als  ihre  Teile  begreifen,  es  sind  Modi 
KT  absoluten,  einer  allumfassenden  Substanz.  Die  sich  daran 
Blenden  Ausführungen  über  Kraft,  Energie,  Arbeit  bezeichnen 
D  kritischen  Höhepunkt  der  Abhandlung.  Hier  vernichtet  Lipps 
■  dogmatischen  Wahn  der  Naturforschung,  indem  er  jene  Be- 
iffiBbildungen  als  Ergebnisse  eines  kritiklosen  Anthropomorphismus 
ntellt.  Damit  ist  auch  die  energetische  Naturanschauung,  um 
rea  Begründung  sich  Ostwald  bemüht,  definitiv  überwunden. 
Bchts  erhält  sich  in  Wirklichkeit,  wenn,  wie  man  sagt,  die 
inergie''  sich  erhält,  sondem  Möglichkeiten  erhalten  sich,  die 
!gends  als  im  denkenden  Geiste  vorkommen.^  Der  Energie- 
piff  ist  einfach  ein  Behelf  für  physikalische  Berechnung.  Er 
>  ebenso  wenig  ein  reales  Etwas  wie  die  Zweiheit  die  Substanz 
refer  Steine  ist  Mit  diesem  kraftvollen  Vergleich  reisst  uns 
pps  von  dem  Spuk  der  energetischen  Naturansicht  los.  Eine 
mgie  erfahren  wir  unmittelbar  in  unserem  Seelenleben.  Es  ist 
nter  Fetischismus,  das  subjektive  Eraftgefühl  auf  die  äusseren 
inge  zu  übertragen.  Drei  Stufen  der  Weltbetrachtung  sind  aus- 
underzuhalten:  die  naive,  die  naturwissenschaftliche  und  die 
itarphilosophische.  Die  naive  identifiziert  die  Wirklichkeit  mit 
n  Wahmehmungsinhalt^n.  Die  naturwissenschaftliche  Auffassung 
eht  über  sie  hinweg,  weil  die  Empfindungsqualitäten  keine  ein- 
stige Bestimmung  zulassen.  Sie  löst  alles  Sein  in  raumzeitlicbe 
tiationen  auf,  wird  mechanistisch.  Aber  auch  dieses  Stadium 
Verwindet  die  Naturphilosophie.  Denn  der  Raum  büsst  durch 
iBBchaitung  der  sinnlichen  Inhalte  jeden  Sinn  ein,  da  er  nichts 
tderes  ist  als  die  Ehiheit  der  Inhalte,  und  dann  ist  in  der  räum- 
hoD  Betrachtung  der  Objekte  em  Widersprach  gegeben,  der 
cht  geschlichtet  werden  kann,  solange  man  bei  ihr  stehen  bleibt. 
B  fuhrt  dazu,  die  Träger  des  natürlichen  Geschehens  in  kleinste 
tile,  in  isolierte  Atome  zu  setzen,  aber  die  Einheit  des  Welt- 
«chehens  verträgt  sich  nicht  mit  seiner  atomistischen  Zersplitte- 
dg  und  fordert  den  Zusammenschluss  in  eine  absolute  aUiun* 


218  O.  Ewald, 

fassende  Substanz,  die  als  der  Träger  anzusehen  ist.  Ans  die» 
interessanten  Antinomie  heraus,  deren  Originalität  und  Bedentpf 
betont  werden  muss,  leugnet  Lipps  die  ansichseiende  Bealit&t  ta 
Raumes.  Der  Natirphilosoph  streicht  alles,  was  das  naiye  Be- 
wusstsein  als  Wirklichkeit  anerkannt  hatte.  E^  bleibt  ihm  all 
Ding  an  sich  ein  X,  eine  von  jeder  positiven  Bestimmong  eotp 
blösste  Unbekannte.  Will  er  dieselbe  irgendwie  bestimmen  als  eil 
unmittelbar  Wirkliches,  dann  kann  er  es  lediglich  nach  Ânalogit^ 
des  menschlichen  Bewusstseins,  des  einzigen  unmittelbar  Gegebeoo, 
unmittelbar  Erlebten.  Unser  Bewusstsein  ist  nichts  BtonlidMi 
und  keine  sinnliche  Qualität.  Dennoch  ist  es  ein  Reales,  Seieoto 
und  zwar  ein  Ânsichseiendes,  nicht  blosse  Erscheinung  wie  ft 
Aussenwelt:  hier  nimmt  Lipps  gegen  die  berühmte  Behaiq^toit 
S^ts,  auch  das  Psychische  sei  bloss  EIrscheinung,  Stellung.  Kl 
Qehimvorgänge  sind  lediglich  Symbole  der  Bewussteeinserlebrnm 
Man  kann  das  Gehirn  nicht  Ursache  des  Bewusstseins  neonei^ 
weil  das  Bewusstsein  eine  innere  Einheit,  das  Gehirn  aber  m 
Räumliches  ist  und  der  Raum  nach  der  eben  angeführten  Ana^ 
keine  definitive  Einheit  darstellt.  Auch  diese  Behandlung  te 
Fjsychophysik  ist  höchst  originell  und  bemerkenswert  In  Wife^ 
heit  ist  das  individuelle  Bewusstsein  nicht  an  das  Gehirn  p* 
bunden,  viehnehr  an  die  Vernunft,  die  ihm  den  Vollzug  der  Ded[- 
gesetze  gebietet.  Diese  Vernunft  ist  ein  überindividueUes  Welt-I(if 
das  die  Welt  erschafft.  Hier  geht  Lipps  weit  über  den  Nei* 
fichteanismus  Rickerts  und  Windelbands  hinaus,  für  die  das  il* 
gemeine  „Bewusstsein  überhaupt"^  lediglich  den  Charakter  eiov 
logischen  Abstraktion  besessen  hatte,  wogegen  es  sich  hier  flr 
höchsten  metaphysischen  Realität  gestaltet.  So  gelangt  Lipps  iv 
Erneuerung  der  Monadologie  in  logischer  und  moralischer  HinscU^ 
jedes  individuelle  Ich  spiegelt  in  seiner  Art  das  Welfrich  wieto 
„Und  damit  ist  das  Ziel,  das  für  das  Individuum  gesetzt  ist,  àÊ, 
dass  es  in  sich,  in  seiner  Bewusstseinseinheit  und  der  Enge  d» 
selben  das  Welt-Ich  spiegle,  das  heisst,  an  seiner  SteDe  Ü 
gleich  werde.^  „Die  Weltgeschichte  ist  eine  solche  Entwickelfli; 
die  tendiert  auf  das  Werden  der  Gottheit,  die  an  sich  vtm  Ewip 
keit  diese  Gottheit  ist,  in  den  individuellen  Ichen,  und  in  Ichen,  £< 
immer  vollkommenere,  obzwar  endliche  Spiegelungen  seiner  seW 
sind,  Ebenbilder  der  Gottheit  So  sehr  sich  Lipps  damit  BrM 
Spinoza,  Leibniz  zu  nähern  scheint,  am  u  steht  er  Sekd- 

ÜDg:  hierin  kann  idi  meine  im  vorigen  Jahre  an  dieser  Stelle  g» 


Die  deutsche  Philosophie  im  Jahre  1907.  219 

te  Ansicht  bloss  bestätigt  finden.     Denn  wie  er  über  Kant 
g^eht,  wenn  er  in  der  Vernunft  ein  metaphysisches  Sein  er- 

so  gebt  er  über  Fichte  hinaus,  wenn  er  in  den  Gebilden 
itur  Wesen  und  Wirken  jener  metaphysischen  Weltvemunft 
erkennt.  Die  von  Lipps  gesetzte  Identität  des  Geistes  und 
atur  ist  eben  Schellingianismus«  Sicherlich  werden  nicht 
einen  kühnen  Konsequenzen  zustimmen.  Wenigstens  darin 
luss  Übereinstimmung  herrschen,  dass  Lipps  mit  glänzender 
dt  die  Anthropomorphismen  und  Mythen  einer  ihre  Grenzen 
inenden  Naturforschung  enthüllt  und  von  der  Schwelle  des 
»phischen  Denkens  gebannt  hat,  um  den  Weg  zu  einer  idea- 
len Weltanschauung  freizulegen. 

*<[och  näher  steht  die  Schule  EMuard  von  Hartmanns  der 
ng  Schellings.  Ihr  Gründer  selber  kam  darin  mit  Schelling 
1,  dass  auch  er  die  Yermittelung  zwischen  dem  Dynamismus 
Itur  und  der  Logizität  des  Geistes  suchte,  die  er  im  Unbe- 
tD  zu  finden  vermeinte.  Die  Weltanschauung  Hartmanns 
ins  in  einer  zusammenfassenden,  auf  acht  Bände  berechneten 
dlung,  „System  der  Philosophie*",  von  denen  die  ersten  zwei 
,  Erkenntnislehre  und  Psychologie  enthaltend,  erschienen 
läher  zugänglich  gemacht.  Es  ist  zu  .hoffen,  dass  darin  der 
t  des  Unbewussten  volle  Klärung  gewinnen  wird. 
Jnter  den  Anhängern  Hartmanns  ist  besonders  Arthur  Drews 
orteidiger  des  Meisters  hervorgetreten.  Er  bat  seinen  Zu- 
mbang  mit  Schelling  in  einer  Vorrede  zum  Ausdrucke  ge- 
,  die  er  zu  der  vom  Verlag  Eckardt  in  Leipzig  veran- 
en  Neuausgabe  der  Werke  Schellings  verfasste.  Diese  von 
i^eiss  in  drei  Bänden  besorgte  Auswahl  ist  auch  als  ein 
»antes  Zeichen  der  Zeit  zu  betrachten.  Hier  schreibt 
i:  „Der  Wiederholungskursus,  den  die  gegenwärtige  Philoso- 
Q  dieser  Beziehung  durchzumachen  im  Begriff  ist,  drängt  sie 
ransscendentalen  Idealismus  Kants  zum  subjektiven  Idealismus 
HS,   von    diesem   weiter   zum  absoluten  Idealismus   Hegels. 

fordert  aber  auch  der  Idealismus  Schellings  als  Durchgangs- 
and Vermittelungsglied  zwischen  Fichte  und  Hegel  seine 
kmchtigung.""  Ähnlich  wie  Plotm  in  dem  bei  Diederichs  er- 
enen  Buch  „Plotin  und  der  Untergang  der  antiken  Welt- 
Mung''  feiert  er  Schelling  als  den  Entdecker  des  Unbe- 
m^  zugleich  aber  auch  als  denjenigen,  der  sich  von  der 
alistischen  Illusion,  das  Wesen  der  Welt  restlos  im  Denken 


220  O.  Ewald, 

aufgfehen  zu  lassen,  in  seiner  letzten  „positiven  Philosophie''  los- 
gerungen habe,  um  an  ihre  Stelle  eine  empiristische  Metaplijak 
zu  setzen. 

In   einer  interessanten  bei  Diederichs  unter  Drews'  Leitung 
herausgegebenen  Schrift  „Der  Monismus"  (I.  Bd.),  die  eine  Rdlie 
philosophischer  Aufsätze  von  verschiedenen  Schriftstellern  entMlt, 
treten  ähnliche  Aspekte  in  den  Vordergrund.    Arthur  Drews  sucht 
in  dem  ersten  Au&atz   „Die  verschiedenen  Arten  des  Monismus* 
unter  Ausscheidung   der  falschen  Arten,   die  die  Welteinheit  entr 
weder  materialistisch   in   die   Natur  oder  spiritnalistisch  in  den 
Geist    verlegen,     den    wahren    Monismus    in    dem    Natur   und 
Geist   umspannenden    Unl>ewussten    zu   begründen.     Es   bestdrt 
zweifellos   ein  Unterschied   zwischen   diesen  verschiedenen  Arten, 
die  Standpunkte  Schellings  zu   erneuern:   vor  allem   darin,  dass 
Lipps  das  Absolute  in  einem  Weltbewusstsein,  die  Richtung  Hart- 
mauns  es  im  Unbewussten  sucht    Allerdings  hat  man  zu  erwiga, 
dass  das  Weltbewusstsein  keineswegs  nach  Analogie  des  begrenzten, 
eben  zufolge  seiner  Begrenztheit  bestehenden,  persönlichen  B^ 
wusstseins    zu    denken   ist,    und   dass   Hartmanns    Unbewusstei 
andererseits  nicht  Schopenhauers  blindem  Willen  gleicht»  Sonden 
von  vernünftigen  Ideen  erfüllt  ist    Das  Unbewusste  ist  ein  negßr 
tiver  B^riff,   mit   dem  man  insofeme  das  Allbewnsstsein  chant 
terisieren  kann,  als  dasselbe  eine  prinzipiell  andere  Bewusstseinsp 
art    ist.    die    nicht    unter    die   Bedingungen    des    individuellen 
Bewnsstseins  gestellt   werden  darf.     So  lassen  sich  beide  Stand- 
punkte  vielleicht  metaphysisch  zur  Deckung  bringen.    Auf  Sdiet 
ling  können  sie  beide   zurückgehen,  da  in  ihm  keine  eindea^ge 
Entscheidung  hierüber  zu  finden  ist. 

Die  Motive,  die  über  Kant  hinaus  zur  Emeaerung  EldilM 
und  Schellings  geführt  haben,  führen  auch  zur  Emeaomng  Hegek 
Der  metaphysische  und  der  monistische  Trid>  finden  in  seiner 
Lehre  einen  Bückhalt.  Vor  allem  aber  der  rein  logische  Tiieh. 
Wlîhrend  der  Erkenntnisbegnff  Kants  noch  immer  ein  anthro- 
pologisoher  bleibt,  sofern  er  von  der  menschlichen  Organisation 
bestimmt  ist  —  man  denke  an  den  prinzipiellen  Gegensalz  zwisdia 
dorn  itiskursiven  Denken  des  Menschen  und  der  Hypothese  ontf 
intuitiven  g(ittlichen  Verstandes  —  befreit  Hegel  die  Vemüß 
vollständig  von  jeder  Beziehung  auf  ein  anderes,  lisst  er  sie  aas- 
sohliesslioh  um  ihre  eigene  Axe  kreisen.  Das  grifflidie  Dente 
hat   seinen  Schwerj^unkt   in  sich  selber,  nidits  Behuf« 


i 


Die  deutsche  Philosophie  im  Jahre  1907.  221 

r,  weder  in  Bezug  auf  den  Inhalt,  der  gedacht  wird,  noch  in 
ag  auf  den  denkenden  Geist,  sondern  ein  Absolutes,  dessen 
mgnisse  ewige,  autonome  Wahrheiten  sind.  Diese  Auffassung 
t  sich  aber  vollkommen  mit  der  heute  zur  Blüte  gelangten 
len  Logik.  So  sind  neue  Anknüpfungspunkte  an  Hegel  ge- 
n  ;  ob  man  bloss  sein  allgemeines  Prinzip  des  logischen  Puris- 

oder  auch  die  Methode  der  Dialektik  aufrecht  halte.  Ein 
3res  Anzeichen  dafür  sind  die  beiden  vor  kurzem  erschienenen 
läumsausgaben  von  Hegels  „Phänomenologie'',  seinem  ersten 
dlegenden  Werke.  Neben  der  Ausgabe  des  holländischen 
essor  Holland  (bei  A.  H.  Adriani,  Leiden),  deren  im  vorigen 
esberichte  bereits  Erwähnung  geschah,  ist  nunmehr  auch  bei 
'  in  Leipzig  eine  von  Georg  Lassen,  dem  Sohn  des  bekannten 
3lianers  Adolf  Lassen,  besorgte  Ausgabe  erschienen,  die  sich 
h  grosse  Übersichtlichkeit  auszeichnet.  Lassen  hat  sie  mit 
•  umfassenden  Einleitung  versehen.  Hier  stellt  er  den  Werde- 
;  Hegels  dar,  die  Bildungseinflüsse  seiner  Jugend,  seine 
mdarbeiten  und  ersten  Veröffentlichungen.  Sodann  geht  er 
„Phänomenologie"  über,  und  bespricht  ihre  Stellung  in  der 
»sopbischen  Situation   der  Zeit.    Die  Entwickelung  von  Kant 

Fichte  zu  ScheUing  und  Hegel  ist  klar  und  fibersichtlich 
egenwärtigt.  „Bei  Kant  liegt  dieser  Punkt  (die  Einseitigkeit 
Systems)  vor  in  der  Vorstellung  des  Dinges  an  sich.  Diese 
ttellung  hat  Fichte  beseitigt,  der  das  Objekt  als  Produkt  des 
ektes  fasst.  In  Fichtes  System  wieder  ist  der  Punkt  des  An- 
ses die  Abstraktion  des  inhaltleeren,  der  Vernunft  entgegen- 
tzten   Nichtich.     Diesen  Grundschaden  heilt  seinerseits  Schel- 

indem  er  die  Identität  von  Ich  und  Nichtich  statuiert.  Dafür 
.  der  Mangel  seiner  Auffassung  offen  zutage  in  seiner  Be- 
ttung der  Indifferenz  des  Absoluten;  und  diese  Behauptung 
irlegt  zu  haben,  ist  das  Verdienst  Hegels,  durch  das  er  der 
vickelung  des  Kautianismus  die  krönende  Vollendung  gebracht 
.  .  .  Indem  Hegel  das  Absolute  als  Subjekt  begreift,  das 
'  die  Objektivität  hinübergeht,  hat  er  diese  Entgegensetzung 
st  und  die  Identität  gefunden,  die  nicht  Indifferenz,  sondern 
konkrete  Einheit  des  Entgegengesetzten,  „die  Identität  der 
tität  und  der  Nichtidentitaf"  ist.  Sodann  behandelt  Lassen 
na  und  Methodik  der  Phänomenologie.  Den  Abschluss  der 
eitung  bildet  ein  Abschnitt  über  den  Inhalt  und  die  Anlage 
Werkes.    Die  Phänomenologie  bebandelt  nach  der  einleuchten- 


222  O.  Ewald, 


\ 


den  Erläuterung  Lassons  den  Geist  im  Zustand  der  Natürlichkeit, 
in  der  Fülle  seiner  tatsächlichenBeziehungen  zur  inneren  und  äossem 
Realität.    Ihre  Aufgabe  soll   es   dementsprechend  nicht  sein,  das 
wahre  Erkennen   vom   falschen   und  unvollkommenen  zu  sondeni, 
vielmehr    die  innere   Evolution   darzustellen,   vermöge   deren  das 
letztere  kraft  einer  ihm  immanenten  logischen  Notwendigkeit  von 
selber  zur  Wahrheit  fortschreitet.    Die  Phänomenologie  ist  weder 
reine  Logik,   da   sie   das  Denken   nicht  in  seiner  abstrakten  Iso- 
lierung fasst,  noch  empirische  Psychologie,  sofern  sie  sich  nichts- 
destoweniger mit  dem  Denken  und  nicht  bloss  mit  dem  Vorstellen  ab- 
giebt.    Die  höchsten   Denkwerte   müssen   irgendwie  in  unmittel- 
barer Erfahrung  auftreten.    Sie  in  diesem  Milieu  aufzusuchen,  hier 
ihre  individualpsychologische   und  geschichtliche  Entwickelung  zu 
immer  reineren  und  selbständigeren  Geistesformen  nachzuweisen, 
unternimmt  die  Phänomenologie.     Dies  ist  ein  Punkt,   vielleicht 
der  einzige,  an  dem  sich  Hegel  und  Fries  berühren.    Die  logischen 
Ideen  in  der  inneren  Erscheinung  zu  entdecken,   wird  hier  zum 
methodischen  Leitmotiv  beider  Denker.     Der   absolute  Gegensatz 
von  Natur  und  Geist  ist  in  der  „Phänomenologie^  überwunden: 
auch  die  Natur  ist  in  ihrer  Innerlichkeit  ein  Geistiges,   auch  der 
Geist  hat  seine  natürliche  Ausdrucksform. 

Wir  werden  sehen,  wie  sehr  sich  Hegels  phänomenologische 
Untersuchungen  trotz  ihrer  dialektischen  Einkleidung  mit  spezifisch 
modernen  Bestrebungen  berühren. 

Der  Glaube  an  eine  souveräne  Machtsphäre  des  reinen 
Geistes,  die  sich  aber  irgendwie  auch  nach  der  Seite  der  Er- 
scheinungswelt hin  Ausdruck  schafft,  dieser  Glaube,  der  bereits  in 
Fichte  und  Schelling  wirkte,  um  in  Hegel  erst  zu  klarer  Voll- 
endung zu  gelangen,  ist  durch  den  späteren  Positivismus  und 
Empirismus  keineswegs  verdrängt  worden.  Unter  jenen  Denkern, 
die  ihn,  wohl  noch  unmittelbar  von  den  Identitätsphilosophen  be- 
einflusst,  vertreten,  ist  neben  Dilthey  vor  Allem  Eucken  zu  nennen. 
Eucken  hat  dieser  Auffassung  in  zahlreichen  Schriften  Ausdruck 
gegeben,  und  sich  bemüht,  auch  ausserhalb  der  Begriffisphilosophie 
in  der  Breite  des  Kulturlebens  die  Wirksamkeit  rein  geistig» 
Mächte  nachzuweisen.  Diese  Mächte  walten  aber  nicht  jenseits 
von  der  Peripherie  des  sinnlichen  Daseins  als  eine  ihm  fremde, 
feindselige  Andersheit,  sie  treten  vielmehr  in  Erscheinung,  sie  be- 
wegen sich,  mit  dem  spröden  Stoffe  der  Erfahrung  vermengt,  im 
Innern   des  Kreises    selber.     Auch   um  die  idealen  Werte  dem 


Die  deutache  Philosophie  im  Jahre  1907.  223 

menschlichen  Intellekt  und  Gemfite  zu  erschliessen,  muss  man  da- 
her den  Ausgang  von  der  Phänomenalität  des  Gegebenen  nehmen  ; 
man  sieht,  wie  nahe  sich  diese  Position  mit  der  der  Hegeischen 
Phänomenologie  berührt.  Auch  darin  steht  Eucken  Schelling  und 
Hegel  näher  als  die  meisten  Neufichteaner,  dass  er  das  Geistes- 
leben, worunter  er  die  Summe  übersinnlicher  Ideen  und  Ideale  be- 
fasst,  nicht  allein  als  einen  Inbegriff  von  Normen,  sondern  als 
metaphysische  Realität  ansieht.  Dies  kommt  beinahe  in  allen 
Schriften  Euckens  zum  Ausdruck,  so  vor  Allem  in  der  nunmehr 
in  zweiter  Auflage  erschienenen  „Der  Kampf  um  einen  geistigen 
Lebensinhalt^  und  in  seinem  neuesten  Werk  „Grundlinien  einer 
neuen  Lebensanschauung'.  Hier  zeigt  er,  wie  die  meisten  mo- 
dernen Standpunkte  an  einer  Einseitigkeit  und  Armut  leiden,  die 
sie  nicht  zur  Höhe  einer  wahren  Weltansicht  gelangen  lässt. 
Diese  Einseitigkeit  haftet  der  naturalistischen,  der  sozialistischen 
und  der  Lebensordnung  des  künstlerischen  Subjektivismus  an.  Sie 
alle  bleiben  in  einer  Seite  der  äusseren  oder  inneren  Erscheinung 
gefangen.  Zum  Ganzen  der  Welt,  zu  ihrer  geistigen  Innerlichkeit 
vermögen  sie  nicht  einzudringen.  Im  Allgemeinen  bestimmt 
Eucken  den  Begriff  des  Geistes  ziemlich  abstrakt  wie  Schelling 
and  Hegel,  obgleich  er  eine  Fülle  von  Beziehungen  zu  den  Pro- 
blemen und  Motiven  des  menschlichen  Kulturlebens  sucht. 

Einer  konkreten,  an  den  Vorgängen  des  ökonomischen  und 
sozialen  Daseins  orientierten  Fassung  dieses  Begriffes  begegnen 
wir  in  Sinmiels  „Philosophie  des  Geldes",  deren  zweite  Auflage 
1907  erschienen  ist.^)  Simmel  geht  von  einem  scheinbar  so  mate- 
riellen und  dennoch  schwer  fasslichen,  vieldeutigen  Phänomen  wie 
dem  des  Geldes  aus,  um  an  ihm  die  Macht  eines  überpersönlichen 
Kulturfaktors  zu  demonstrieren.  Die  Schrift  ist  nichts  weniger 
als  eine  nationalökonomische  Untersuchung.  Man  könnte  sie  mit 
besserem  Rechte  ein  Werk  zur  Grundlegung  des  objektiven 
Geistes  nennen,  den  sie  mit  ausserordentlicher  Feinheit  an  den 
Zusammenhängen  zwischen  den  ökonomischen  Bewegungen  und 
den  geheimnisvollsten  Schwingungen  der  Menschenseele  zu  veran- 
schaulichen weiss.  Besonders  in  dem  Kapitel  „Der  Stil  des 
Lebens**  tritt  diese  Tendenz  hervor.  Hier  läuft  die  Darstellung 
vmn  Wesen  der  Geldwirtschaft  in  zwei  diametral  entgegengesetzte 
Richtungen  aus  :  der  äusseren  Vereinheitlichung  und  Mechanisierung 


1}  Leipzig,  Duncker  &  Homblot. 


224  O.  Ewald, 

des  Lebens  entspricht  insgeheim  eine  wachsende  Möglichkeit  seiner 
Verinnerlichung  und  Differenziertheit. 

Ich  habe  femer  im  vorigen  Jahresberichte  darauf  hinge- 
wiesen, dass  die  Fülle  der  in  Kant  verschlossenen  philosophischen 
Motive  durch  die  Entwickelungslinie  von  Fichte  zu  Hegel  keines- 
wegs erschöpft  wurde.  Es  ist,  von  Herbart  und  Schopenhauer 
abgesehen,  insbesondere  Fries,  dessen  Bedeutung  hier  ins  Auge 
gefasst  werden  muss.  Wahrend  die  erstgenannten  Denker  darauf 
ausgehen,  durch  logische  Konstruktion  ein  System  absoluter  Er- 
kenntniswerte aufzusteUen  und  von  der  Überzeugung  beherrscht 
sind,  dies  liesse  sich  auf  unfehlbarem,  aprioristischem  Wege  be- 
werkstelligen, während  sie  mit  einem  Worte  an  der  objektiven 
Beweisbarkeit  der  reinen  Erkenntniswerte  festhalten,  giebt  Fries 
aus  inneren  Gründen  dies  Verfahren  preis  und  wendet  sich,  ohne 
die  Reinheit  und  Objektivität  der  Erkenntnis  psychologistisch  an- 
tasten zu  wollen,  von  dem  objektiven  Beweise  zum  subjektiven 
Nachweise  derselben.  Er  lässt  die  transscendentale  Logik  in 
die  Anthropologie  münden.  Im  Rahmen  einer  rein  historischen 
Betrachtung  könnte  er  auch  als  komplementäre  Ergänzung,  nidit 
bloss  als  Gegensatz  zu  Fichte  und  Hegel  figurieren.  Unter  dem 
Aspekt  der  Kritik  aber  spitzt  sich  die  Verschiedenheit  der  Aus- 
gangspunkte wohl  zu  einer  unausweichlichen  Alternative  zu.  Die 
Identitätsphilosophen  stehen  als  Vertreter  des  Prinzips  da,  das 
Apriorische  müsse  auch  a  priori  und  daher  logisch  entdeckt  und 
begründet  werden.  Fries  verficht  die  gegenteilige  Auffassung. 
Das  Apriorische  kann  nicht  wieder  a  priori,  sondern  bloss 
a  posteriori,  auf  empirischem  Wege,  auf  dem  Wege  der  Anthro- 
pologie entdeckt  werden.  Er  sucht  demgemäss  im  empirische 
Bewusstsein  die  Werte  auf,  die  eine  höhere  als  empirische  Be- 
deutung besitzen.  Diese  Position  hat  einerseits  Elsenhans,  Privat- 
dozent an  der  Universität  Heidelberg,  in  seinem  Buche  „Fries  und 
Kant^,  dessen  zweiter  Band  1907  erschienen  ist,  zu  klären  ge- 
sucht: andererseits  hat  sie  die  von  Leonard  Nelson  begründete 
neue  Friesschule  in  Göttingen  übernommen.  Von  der  bei  Vanden- 
hoeck  &  Ruprecht  erscheinenden  Zeitschrift  dieser  Schule,  den 
„Abhandlungen  der  Friesschen  Schule"  sind  1907  die  beiden  ersten 
Hefte  des  zweiten  Bandes  herausgekommen,  die  unter  anderem 
drei  bemerkenswerte  Aufsätze  zur  Verteidigung  der  neuen  Methode 
enthalten.  Eüne  Erwiderung  Nelsons  auf  die  Angriffe  Paul  Sterns 
in  der  „Philosophischen  Wochenschrift",  die  den  Titel  führt:  »In- 


t)ie  deutsche  Philosophie  im  Jahre  1907.  225 

halt  und  Gegenstand,  Grund  und  Begründung".  Zwei  Erwider- 
ungen auf  Ernst  Cassirers  Angriffe  in  dem  Artikel  „Der  kriüache 
Idealismus  und  die  Philosophie  des  gesunden  Menschenverstandes'' 
der  von  Cohen  und  Natorp  herausgegebenen  „Philosophischen  Ar- 
beiten": die  eine  „Kritik  und  System  in  Mathematik  und  Philo- 
sophie" von  Hessenberg,  die  andere  „Anthropologische  Vemunfts- 
kritik"  von  Grelling.  Cassirer  hatte  der  neuen  Friesschule  zum 
Vorwurf  gemacht,  dass  sie  die  schottische  Lehre  vom  common- 
sense  erneuere.  Damit  ist  der  gegen  diese  Richtung  häufig  er- 
hobene Vorwurf  des  Psychologismus  verwandt.  Er  gründet  sich 
darauf,  dass  Nelson  im  Sinne  der  Friesschen  Philosophie  die  Kritik 
der  reinen  Vernunft  als  Anthropologie  betrachtet.  Nelson  begegnet 
ihm  durch  die  Unterscheidung  von  Grund  und  Begründung,  Inhalt 
und  Gegenstand.  Die  Kritik  der  reinen  VemuBdft  steht  zu  dem 
in  den  synthetischen  Grundsätzen  sich  entfaltenden  System  der 
reinen  Vernunft  nicht  im  Verhältnis  von  Grund  und  Folge. 
Stunde  sie  zu  ihm  in  diesem  Verhältnis,  dann  allerdings  könnte 
sie  nicht  empirische  Psychologie  sein,  ohne  zu  gleicher  Zeit  auch 
das  System  der  synthetischen  Grundsätze  auf  empirisches  Niveau 
herunterzusetzen.  Sie  müsste  vielmehr  selber  apriorisch,  rational 
sein,  wie  denn  auch  zumeist  behauptet  wird.  Diese  Auffassung 
beherrscht  der  Irrtum,  die  Kritik  habe  die  Grundsätze  zu  beweisen, 
während  sie  dieselben  in  Wahrheit  bloss  nachweisen  kann. 
„Transscendental  nannte  Kant  die  Untersuchung  des  Grundes  der 
Möglichkeit  synthetischer  Urteile  a  priori.  Der  Gegenstand  der 
transscendentalen  Untersuchung,  die  den  Inhalt  der  Kritik  bilden, 
sind  also  Erkenntnisse  a  priori.  Erkenntnisse  aber  erkennen 
wir  überhaupt  nur  durch  innere  Erfahrung.  Die  transscendentale 
Erkenntnis  der  Kritik  ist  also  offenbar  Erkenntnis  aus  innerer 
Erfahrung."  Der  Gegenstand  der  transscendentalen  Kritik  ist 
Erkenntnis  a  priori,  aber  der  Inhalt  ist  empirische  Psychologie. 
„Wer  nun  nicht  hinreichend  genau  Gegenstand  und  Inhalt  der 
transscendentalen  Kritik  unterscheidet,  wer  die  transscendentale 
Erkenntnis,  den  Inhalt  der  Kritik,  mit  ihrem  Gegenstande,  der 
philosophischen  Erkenntnis  verwechselt,  der  wird  leicht  die  Un- 
gleichartigkeit  beider  übersehen,  der  wird  leicht  die  psychologische 
Natur  der  ersteren  verkennen  und  sie  selbst  für  philosophisch, 
also  für  eine  Art  der  Erkenntnis  a  priori,  halten."  Ebenso  hat 
man  Grund  und  Begründung  auseinanderzuhalten.  „Die  Kritik 
giebt  also  in  der  Deduktion  zwar  die  Begründung  der  meta- 


2âÔ  Û.  Swaid, 

physischen  Grundurteile;  aber  durch  diese  Deduktion  wird  dar 
Grund  der  metaphysischen  Grundurteile  nicht  gegeben,  sondern 
bloss  aufgewiesen.  Dieser  Grund  liegt  nicht  selbst  in  der  Kritik; 
er  gehört  nicht  zum  Inhalt,  sondern  zum  Gegenstand  der  Kritik.^ 
Der  Grund  der  metaphysischen  Grundurteile  ist  nicht  in  der  De- 
duktion, er  ist  ursprünglich  in  der  unmittelbaren  Erkenntnis  der 
reinen  Vernunft  gegeben.  Die  psychologische  Nachweisung  des 
Ursprungs  eines  metaphysischen  Satzes  wird  zu  seiner  Begrimdong 
durch  die  Beziehung  auf  das  Faktum  des  Selbstvertrauens  der 
Vernunft.  Der  Grundsatz  des  Selbstvertrauens  der  Vernunft 
verdient  allein  den  Namen  eines  kritischen  Prinzips,  sofern 
darunter  ein  Satz  verstanden  wird,  der  ohne  selbst  metiqthy- 
sisch  zu  sein,  ein  Kriterium  der  Legitimität  metaphysischer  Sitze 
an  die  Hand  gibt.^  Was  dieser  Einsicht  im  W^e  steht,  ist  das 
dogmatische  Vorurteil,  alle  unmittelbare  Erkenntnis  müsse  An- 
schauung Sern.  Die  unmittelbare  Erkenntnis  der  Vernunft  ist 
nicht  anschaulich,  denn  sie  wird  nicht  wie  die  Anschauung  un- 
mittelbar bewusst.  Wenn  man  der  Vemunfterkenntnis  deswegen 
die  Unmittelbarkeit  abspricht,  so  ist  das  eine  ungerechtfertigte 
Verwechselung  des  Ursprungs  der  Erkenntnis  mit  dem  genetischen 
Problem  der  zeitlichen  Ausbildung  des  Bewusstseins.  Die  un- 
mittelbare Vemunfterkenntnis  ist  weder  anschaulich  noch  auch 
logisch.  Es  ist  jene  höhere  EIrkenntnis,  nach  der  alle  grossen 
Denker  instinktiv  gestrebt  haben,  ohne  sie  klar  fassen  zu  können. 
Diese  Thesen  Nelsons,  insbesondere  der  prinzipielle  Verzicht  auf  eine 
logische  Deduktion  der  Kategorien  haben  im  Lager  des  Nen* 
kantianismus  viel  Widerspruch  entfesselt  und  zu  heftigen  Kontro- 
versen geführt,  deren  Fruchtbarkeit  durch  deiv  zum  Teil  persfin- 
liehen  Ton  der  wechselseitigen  Polemik  und  durch  den  Umstand, 
dass  über  die  strittigen  Begriffe  zu  wenig  Klarheit  verbreitet 
wurde,  entschieden  beeinträchtigt  worden  ist.  Die  agressire 
Haltung  der  neuen  Friesschule  hat  leider  von  Anbeginn  zu  einff 
unnötigen  Verstärkung  der  Gegensätze  beigetragen.  Was  flurra 
philosophischen  Standpunkt  angeht,  so  glaube  ich,  dass  Nelson 
mit  seiner  Opposition  gegen  die  logische  Beweisbarkeit  der  Kate- 
gorien und  Grundsätze  im  Rechte  ist.  Diese  repräsentieren  nos 
eine  höchste  Instanz,  über  die  hinaus  es  kein  regrei^ves  Beweis- 
verfahren  mehr  giebt.  Aus  der  formalen  Logik  können  die  9jit 
thetischen  Grundsätze  nicht  bewiesen  werden,  weil  beider  Gdâ^ 
heterogen  sind  und  die  Welt  ohne  letztere  zwar  nicht  erkennbar, 


Die  deutsche  Philosophie  im  Jahre  19Ô7.  22? 

imer  aber  noch  denkbar  bliebe.  Aus  dem  Prinzip  der  Möglich- 
lit  der  Erfahrung  hat  sie  Kant  zu  deduzieren  geglaubt  und 
eser  Weg  wurde  denn  auch  von  den  Neueren  betreten.  Allein 
ist  ebenso  wenig  gangbar.  Versteht  man  nämlich  unter  Er- 
hrung  dasselbe  wie  Wahrnehmung,  dann  haben  die  reinen 
rundsätze  mit  ihr  nichts  zu  schaffen,  da  sie  ja  über  die  Wahr- 
ihmung  hinaus  zur  Erkenntnis  führen,  mithin  dort  anfangen,  wo 
le  Wahrnehmung  und  Wahmehmbarkeit  zu  Ende  geht.  Versteht 
Em  unter  Erfahrung  Erkenntnis  im  Gegensatz  zur  Wahrnehmung, 
»nn  ist  es  kein  Beweis,  sondern  eine  Tautologie,  wenn  man  aus 
rer  Möglichkeit  die  synthetischen  Grundsätze  zu  deduzieren 
cht.  Denn  Erfahrung  ist  dann  selbst  nichts  anderes  als  der 
begriff  der  synthetischen  Grundsätze  und  man  sinkt  in  den 
ten  Dogmatismus  zurück,  wenn  man  die  Wirklichkeit  eines 
inges  aus  seiner  eigenen  Möglichkeit  beweisen  will.  Dass  man 
e  Succession  auf  ihr  Ideal,  die  Kausalität,  dass  man  die  Gegen- 
ändlichkeit  auf  ihr  Ideal,  die  Substanz,  bezieht,  ist  ein  letztes 
3munftfaktum,  das  Berechtigung  und.  Gewähr  in  sich  selber 
Igt.  Man  kann  es  bloss  nachweisen,  nicht  beweisen,  und  in- 
fem  ist  die  anthropologische  Wendung  vom  Objekt  zum  Subjekt 
trechtigt.  Es  bleibt  immerhin  fraglich,  ob  Bezeichnungen  wie 
ipirische  Psychologie,  Anthropologie,  gegen  die  auch  Fries 
was  misstrauisch  war,  dem  Sachverhalt  besonders  entsprechen, 
idurch  wird  der  Schein  erweckt,  Vernunft  sei  ein  spezifisch 
enschliches  Vermögen  und  ihre  Erkenntnisse  umschlössen  kein 
3ich  der  Wahrheit  an  sich,  sondern  einen  Besitz  unserer  Gattung, 
}niit  der  Nivellierung  zur  Theorie  des  gesunden  Menschen- 
irstandes  der  Boden  bereitet  wird.  Glücklicher  scheint .  mir 
osserls  Begriff  der  Phänomenologie  gewählt 

In  dem  zweiten  Bande  seines  Buches  „Fries  und  Kant**  geht 
Benhans  über  Fries  hinaus  und  behandelt  im  Anschluss  an  seine 
lilosophie  drei  umfassende  Gruppen  von  Problemen:  die  Voraus- 
tzungen  der  Erkenntnistheorie;  die  Methode  der  Erkenntnis- 
eorie;  das  Problem  der  Grenzen  des  Erkennens.  Die  Dar- 
sllung  lehnt  sich  wohl  an  Fries  an,  verfährt  aber  im  Einzelnen 
Ibständig. 

Die  Beziehung  der  Friesschen  Lehre  zu  Husserls  reiner 
>gik  und  Phänomenologie  ist  offenkundig.  Die  Reinheit  und 
ealität  der  logischen  Werte  soll  nicht  angetastet  werden,  aber 
r  gelangen  gleichwohl  zu  ihrer  Erfassung  auf  empirischem  Wege. 


228  0.  Ewald, 

Hier  begrenzt  sich   die  Psychologie  deutlich  gegen   den  Psycho- 
logismus,  der  die   logischen   Werte   durch   die  innere  Erfahrung 
nicht   allein   nachweisen,   sondern  auch  beweisen  will.    Der  reina 
Logiker,   der  seinen  Standpunkt  allseitig  befestigt,   kommt  konse— 
quenter  Weise  zur  Psychologie  oder  Phänomenologie,  denn  er  hat- 
zu  zeigen,   wie   sich   die  idealen  Werte  psychisch  realisieren  an& 
eben  in  dieser  Realisierung  von  den  variablen,  ausschliesslich  em- 
pirischen Phänomenen  unterscheiden.    Andererseits  muss  auch  der* 
Psychologe,  der   das  Gebiet   des  Bewusstsein   nach  allen  Dimen- 
sionen durchmisst,  innerhalb  desselben  Beziehungen  entdecken,  di^ 
über    den   unmittelbaren   psychischen    Bestand  hinausweisen,  die 
mehr  bedeuten,   als   sie   ihrer  sinnlichen  Erscheinungsform  nacht 
sind:  so   die   logischen   und  transscendentalen  Sätze.    Sie  unter- 
scheiden sich  von  empirischen  Gefühlen  und  Vorstellungen  dadurdi, 
dass  ihre  Bedeutung  sich  nicht  in  ihrem  Entstehen  und  Vergehen 
erschöpft,   sondern  auf  ein  überpersönliches,   zeitloses  Prinzip  der 
idealen  Einheit  gerichtet  ist,   auf   einen  idealen  Gegenstand,  d^ 
im  Inhalt   der  Vorstellung   eigentlich   bloss  ein  Symbol  und  eine 
Stellvertretung  gewinnt.    So  gelangt  der  Psychologe,  der  von  der 
Voraussetzung  ausgeht,  es  lasse  sich  alles  als  seelisches  Phänomen 
nachweisen,   zu   einer  eigenartigen  Gruppe  von  Phänomenen,  den 
logischen,  ethischen  und  ästhetischen  Werten.    Auch  diesen  We; 
haben  mehrere  Denker  zurückgelegt,  und  zwar,  was  recht  bezeich- 
nend,   zumeist   Denker,    die'  von    der   extrem   psychologistischen 
Richtung  Brentanos  ausgegangen  waren:  vor  allem  Husserl,  dann 
Meinong  und  Stumpf.    Eben  durch  eine  konsequente,  allen  Details 
und  Kombinationen  gerecht  werdende  Fortbildung  der  Psycho- 
logie gelangten  diese  Philosophen  zur  Überwindung  des  Psycho- 
logismus.   Sehr  deutlich   ist  die  berührte  Wandlung  bei  Meinong 
zu  beobachten,  der  seit  seinen  Studien  zur  Relationstheorie  immer 
ausgesprochener  nach   der   Seite  der   strengen   Logik  gravitiert. 
Bereits  in  seiner  Schrift  „Untersuchungen  zur  Gegenstandstheorie 
und  Psychologie"  war  der  entscheidende  Schritt  über  den  "Psjà^ 
logismus  hmaus  geschehen,   in   seinem  1908   erschienenen  Bacbe 
„Über  die  Stellung  der  Gegenstandstheorie  im  System  der  Wissen- 
schaften" (Leipzig,   Voigtländer)   ist  die  Position  noch  klarer  ge- 
worden.    Der  Begriff    der   Gegenstandstheorie   wird  durch  «ne 
zweifache  Unterscheidung  bestimmt:   die  von  Wirklichkeitswisseo 
und  daseinsfreiem  Wissen,   die   von   rationalem   und  ErfahmogS' 
wissen.     Für    die    Gegenstandstheorie    sind    Daseinsfreiheit  and 


î)ie  deutsche  Philosophie  im  Jahre  1907.  à2Ô 

icnale   Erkenntnis,   somit  Erfahrungsfreiheit   konstitutiv.     Für 
kommt  es  einerseits  nicht  in  Erwägung,  ob  ihr  Objekt  existiert, 
crerseits   ist   für  sie  nicht  die  Wahrnehmung  Erkenntnisquelle, 
mehr   die  Evidenz,    die  Einsicht.     Ein  glänzendes  Beispiel  ist 
Mathematik.     Meinongs   Bemühungen   um  Grundlegung  einer 
■cmeinen  Gegenstandstheorie  haben  auch  ausserhalb  der  streu- 
en Erkenntnistheorie  Anspruch  auf  gründliche  Berücksichtigung. 
Stumpf,  von  dem  bereits  gesprochen  worden,  ist  durch  diese 
icinanderhaltung  der   empirischen   und  idealen  Werte  wohl  zur 
Bgen    Scheidung   der   Erscheinungen   von    den  Funktionen  ge- 
rt  worden,    die   er  in  seiner  Schrift  „Erscheinungen  und  psy- 
5che  Funktionen"  begründet.   Auch  in  einer  anderen  interessanten 
landlung    „Zur   Einteilung   der  Wissenschaften"    trägt   Stumpf 
lern  Verhältnis   Rechnung.     Er  versucht  hier  in  eindringender, 
iegener  Analyse   die   alte  Einteilung   des  Erkenntnisstoffes   in 
xirwissenschaften  und  Geisteswissenschaften   mit  der  neuen  von 
kert  und  Windelband  durchgeführten  zu  verbinden,  wonach  der 
leralisierenden  Betrachtung   die   historische,    individualisierende 
euübersteht,   beide   aber   in  Natur  und  Geist  zur  Anwendung 
imen   können.    Daneben   bestehen   noch  folgende  Gebiete:   die 
Inoraenologie,   der   die   Beschreibung  der   in   unmittelbare  Er- 
einung  tretenden  Inhalte  und  Formen   zukommt,    die  Eidologie, 
Studium   der   inneren   logischen  Struktur  des  Denkaktes,   die 
emeine  Verhältnislehre,  die  die  abstraktesten  Relationen  unter- 
it,  die  Metaphysik,  die  Lehre  von  den  gemeinschaftlichen  Ge- 
len und  dem  einheitlichen  Zusammenhang  sämtlicher  Gegenstände. 
e  eigene  Stellung  nimmt  die  Mathematik  ein,  deren  Gegenstand 
absolut   homogener   ist.     Eine  andere  Unterscheidung  ist  die 
theoretischen    und  praktischen  Wissenschaften.     Schliesslich 
>t  Stumpf   auch  hier   eine  Definition  der  Philosophie,   die  sich 
den  Grundzügen  seiner  Rektoratsrede  deckt. 


Dies  ist  die  Richtung,  die  Philosophie,  Erkenntnislehre  und 
aphysik  im  vergangenen  Jahre  nahmen.  Wenn  auch  der  Weg 
fezeiclmet  war,  die  Forschung  ist  zweifellos  um  neue  Motive 
sichert  worden.  Wieder  sehen  wir,  wie  sich  Kant  im  Mittel- 
kt  des  philosophischen  Denkens  behauptet.  Die  Abgrenzung 
transscendentalen  von  der  metaphysischen  und  psychologischen 
ächung,  des  idealen  Wertes  von  der  empirischen  Realität,   des 

4MltftMlUn   XIII.  \^ 


230  O.  Ewald, 

SoUens  vom  Sein,  vom  transsceDdenten  and  immanenten,  ist  nadi 
wie  vor  Grundsatz  geblieben.  Weniger  nach  aussen  erschàt 
gegenwärtig  der  transscendentale  Besitzstand  bedroht  —  wem- 
gleich  die  stets  sich  erneuernden  Angriffe  von  Seiten  desEmpi* 
raus  und  seiner  Spielarten  stets  neue  Mittel  der  Verteidigung  iiiii 
Abwehr  notwendig  machen  —  als  nach  innen,  wo  der  Wider 
streit  zwischen  logischer  und  psychologischer,  phänomenologiscte 
Grundlegung  zur  grossen  Entscheidung  drängt. 

Während  die  Erkenntnislehre  demnach  immer  noch  an  Eist 
selber  orientiert  ist,  sehen  wir  die  Metaphysik  in  der  Eiàtaïf 
auf  Fichte,  Schelling,  Hegel  über  ihn  hinausstreben.  Die  Alf« 
fassung  des  Absoluten  als  eines  Grenzbegriffes  genügt  vielei 
Denkern  nicht  mehr,  sie  wollen  sich  seiner  in  konkreter  Nähe  be- 
mächtigen. Und  so  taucht  wieder  die  Lehre  vom  Weltgeiste  uS, 
der  aus  seiner  Unendlichkeit  in  die  Sphäre  der  endlichen  fr 
scheinung  tritt,  zu  der  auch  unsere  empirische  IndividaaiitSt  gC' 
hört,  freilich  nicht,  um  in  ihr  unterzugehen,  vielmehr  um  sie  not 
seinem  ewigen  Gehalt  zu  erfüllen  und  zu  verklären. 

Es  sprechen  auch  ausserhalb  des  Kreises  der  exaktei 
Forschung  viele  Anzeichen  dafür,  dass  die  Philosophie  wieder  ek 
souveräne  Machtâtellnng  im  Kulturleben  Deutschlands  einzunehna 
beginnt.  Die  Sehnsucht  nach  einer  neuen  Weltanschauung  dœ* 
dringt  die  Massen  und  versetzt  die  Gemüter  in  einen  eigentôi' 
liehen  Zustand  der  Gährung.  Weder  die  Tradition  noch  dieEnp 
des  praktischen  Wirkens  vermag  die  moderne  Gesellschaft  anf  * 
Dauer  in  das  alte  Gleichgewicht  zu  setzen.  Das  Bedürfnis  nai 
einem  einheitlichen  Zusammenschlüsse  aller  Kenntnisse  und  fr 
kenntnisse,  nach  einem  überragenden  Standpunkte,  von  dem  ^ 
sie  gewertet  werden  können,  tritt  an  die  Stelle  des  Interesses  ft 
die  kleinen  Tatsächlichkeiten,  für  die  endlosen  Details  to 
Forschung,  die  die  positivistische  Weltauffassung  znfflfr 
begriffe  aller  Weisheit  verklärt  hatte.  Der  Positivismus  ist  to* 
sein  Gegenteil  verdrängt  worden.  Er  verkleinert  das  UniTeßi* 
zu  einem  Haufen  von  Einzelerfahrungen,  Ihm  wirkt  die  StiiniDWf 
entgegen,  die  heute  zur  Herrschaft  gelangt  ist  :  jeder  noch  so  ^ 
grenzte  Ausschnitt  des  theoretischen  und  praktischen  Seins,  j^^ 
Situation  des  Geistes  und  der  Seele  soll  in  eine  kosmische  P^" 
spektive  gerückt  werden.  Wir  finden  hier  die  Tendenz  der  Ä* 
zelnen  Forscher,  ihr  Gebiet  als  ein  Stück  Philosophie  zu  behMdds, 
gleichsam    über    eine    grössere    Fläche    verbreitert    wieder.    !• 


î)îe  deutsche  Philosophie  im  Jahre  1907.  231 

ten  wirkt  hier  wohl  das  Verlangen  nach  einem  grossen  inneren 
ammenhang  aller  Dinge  and  Personen,  nach  einem  Mittelpunkt 
Weltalls.  Ein  Verlangen,  von  dem  der  Drang  nach  einem 
seren  Zosammenschluss,  der  sich  in  dem  Übergewicht  sozialer 
Werne  bekundet,  bloss  ein  matter  Reflex  ist. 

Naturgemäss  sind  die  Wege  sehr  verschieden,  auf  denen  die 
einen  Gruppen  zu  diesem  Ziele  zu  gelangen  trachten.  Wo 
letische  Motive  vorwiegen,  da  muss  der  Weg  ein  anderer  sein, 
iort,  wo  wissenschaftliche  Interessen  massgebend  sind.  Wieder 
Brs,  wo  religiöse  Aspekte  im  Vordergrund  stehen.  Der  Ein- 
$  der  Naturforschung,  durch  die  wachsende  Bedeutung  der 
iinik  gefördert,  hat  über  den  Darwinismus  zu  Haeckels  hylo- 
tischer  Weltansicht  geführt  und  den  erstaunlichen  Erfolg  des 
istenbundes   vorbereitet.      Diese   Bewegung  war  freilich   von 

alten  Vorurteil  beherrscht,   es  sei  möglich,  von  einer  Seite, 

der  blossen  Naturforschung  her,  zum  Ganzen  der  Welt  vor- 
ingen.  Mit  der  Überwindung  dieses  Vorurteils  haben  auch 
B  Konsequenzen  an  Macht  eingebüsst,  und  so  treten  dem  ma- 
ilistischen  Überschwang  mehr  und  mehr  spiritualistische  und 
listische  Gedankengänge  entgegen,  die  aus  künstlerischen  und 
fiösen  Stimmungen  hervorgehen.  Dieser  Sphäre  gehören 
stier  und  Denker  wie  Nietzsche,  Tolstoi,  Maeterlinck  an. 
*  wurzelt  die  Neuromantik,  die  ausserhalb  der  exakten  Philo- 
lie  noch  grössere  Bedeutung  gewonnen.  Hier  hat  das  Religions- 
*lem  eine  Renaissance  erlebt,  die  sich  teils  in  philosophischer 
jefung,  teils  in  mystischen  und  theosophischen  Gedankengängen 
Igiebt. 

Einen  Beweis  für  das  wachsende  Interesse  liefert  neben  den 
reichen  Neuauflagen  der  philosophischen  Klassiker  auch  das 
theinen  enzyklopädischer  Sammelwerke  und  Chrestomatsien, 
r  denen  besonders  Frischeisen-Köhlers  „Moderne  Philosophie" 
îhtung   verdient. >)    Frischeisen-Köhler   hat   in   origineller  Art 

Stoff    so    angeordnet,    dass    die    einzelnen    Problemgruppen 

>bleme    der    Erkenntnistheorie    und    Logik",     „Probleme    der 

irphilosophie",    „Probleme   der  Geistesphilosophie",   „Probleme 

Ästhetik",    „Probleme    der    praktischen   Philosophie"    durch 

riige   aus   den  Werken   hervorragender  Denker   vertreten   er- 

1)  ^ Ein  liesebuch  zur  Einführung  in  ihre  Standpunkte  und  Probleme"*, 
j,  Stuttgart  1907.  Der  Herausgeber  ist  Privatdozent  an  der  Berliner 
ereität. 


ä32  O.  Ewald, 

scheinen.  Wir  begegnen  Namen  wie  Dühring,  Mach,  Sata|,l| 
Windelband,  Sigwaii;,  Ebbinghaus,  Stumpf,  Ostwald,  Wod*,!* 
Münsterberg,  Dilthey,  Nietzsche,  Troeltsch,  Zola,  Fiedler,  Jim  |^ 
Cohn,  Lange,  Lipps,  Paulsen,  James,  Rein,  Lehmann.  In  met 
lesenswerten  Einleitung  versucht  Frischeisen-Köhler  den  Nachweis 
dass  die  Philosophie  trotz  der  persönlichen  Divergenzen,  dielikr 
mächtiger  sind,  als  in  irgend  einem  anderen  ErkenntoisgeKfl^ 
eine  innere  Einheit  und  demgemäss  auch  eine  historische  E* 
Wickelung  besitzt. 

Die  stärkste  Anziehungskraft  übt  immer  noch  Nietzscte 
Persönlichkeit  und  Weltanschauung.  Sein  Verhältnis  zur  6eg» 
wart  hat  Vaihingers  „Nietzsche  als  Philosoph",  sein  Verhältnis  a 
Kant  und  Schopenhauer,  zur  rationalistischen  VergangenW 
Simmeis  „Schopenhauer  und  Nietzsche"  aufgehellt.  Dass  Nieta* 
kein  Nihilist,  kein  Immoralist  im  gewöhnlichen  Sinne  des  Wort« 
war,  sondern  neue  moralische  Werte  schaffen  wollte,  eine  Auffassaat 
die  ich  auch  in  meiner  Schrift  „Nietzsches  Lehre  in  ihren  Qnà 
begriffen"  vertrat,  daran  ist  wohl  kein  Zweifel  mehr.  Übertt 
Verhältnis  Nietzsches  zu  Wagner  unterrichtet  eine  mehr  in  é 
Breite  als  in  die  Tiefe  gehende  Schrift  „Friedrich  Nietzsche  oJ 
Richard  Wagner"  von  Beiart.  ^) 

Jene  unverkennbare  Nuance  des  Individualismus,  die  Nietaeb 
von  Kant  und  Wagner  scheidet,  scheint  ihn  mit  Max  Stirn«  • 
verbinden.  Dieser  Ansicht  nähert  sich  auch  Messer  in  s 
interessanten  Monographie  „Max  Stirner",  2)  in  der  er  die  GrW 
Stirners  darin  sieht,  dass  derselbe  als  erster  den  ülusoriBd« 
Charakter  unpersönlicher  Ideale  gelehrt  habe  und  nichts  als  Wert 
anerkenne,  was  sich  nicht  als  persönlicher  Wert  zu  legitimier« 
vermöge.  Mit  Recht  betont  Messer,  dadurch  könne  der  wiIb« 
Idealismus  nicht  beeinträchtigt,  sondern  bloss  gefördert  werte 
Messer  führt  den  anscheinend  immoralistischen  CSiarakter  Stiniö* 
auf  sein  Bestreben  zurück,  dem  abstrakten  Moraldogma  der  Y** 
gangenheit  keinen  Widerstand  entgegenzustellen.  Überhaupt*^ 
deutet  ihm  Stimer  einen  ungeheuren  Verstoss  gegen  das  Uattf* 
nehmen  Hegels,  die  individuelle  Realität  in  ein  Gewebe  if* 
Abstraktionen  aufzulösen.  So  wenig  man  diese  Bedeutung  Stirnö^ 
der  im   übrigen   ein  weniger  reicher  als  energischer  Denker  wtf» 

1)  Berlin  1907,  Wunder. 

^)  „Die  Literatur",  herausg.  von  Georg  Brandes,  Verlag  vonBiw 
&  Marquardt,  Berlin,  Bd.  24. 


Die  deutsche  Philosophie  im  Jahre  1907.  233 

hten  darf,  man  bat  guten  Grund,  in  seiner  Vergleichung  mit 
sehe  Vorsicht  walten  zu  lassen.  Der  Individualismus  ist 
3rs,  nicht  aber  Nietzsches  letzter  Ausdruck.  Nietzsches  Welt- 
auung  ist  überhaupt  nicht  egozentrisch.  Er  findet  das  Ich 
die  Welt  eiugesponnen  in  den  grossen  Zusammenhang  eines 
ispiels,  das  der  Mensch  vom  Innersten  heraus  gestalten  und 
3n  soll,  ohne  sich  an  eine  wie  immer  geartete  singulare 
tat  zu  klammem,  und  wäre  es  auch  die  Realität  der  eigenen 
n,  da  dadurch  der  Reichtum  des  Seins  verkürzt  würde.  Er 
üe  Welt  mit  all  ihren  Widersprüchen  hinnehmen,  ohne  eine 
atische  Überwindung  derselben  zu  versuchen.  Es  ist  in 
•  schwerlosen  Betrachtungsart  etwas  enthalten,  das  an  die 
intische  Ironie"  erinnert,  wenn  es  damit  auch  keineswegs 
seh  ist.  So  ist  es  zu  erklären,  dass  Nietzsches  tiefste 
iing  trotz  seiner  äusseren  Gegnerschaft  gegen  jedwede  Mystik 
dem  scheinbar  naturalistischen  Charakter  seiner  Lehre  sich 
leuromantischen  Motiven  berührt.  Denn  es  ist  das  Wesen 
in  Novalis  und  Schelling  gipfelnden  romantischen  Welt- 
auung,  nicht  in  der  einzelnen  Individualität,  sondern  in  einem 
en  universalen  Prinzip  den  Mittelpunkt  der  Realität  zu  er- 
in.  Es  ist  bezeichnend,  dass  ein  geistvoller  Denker,  Graf 
ann  Keyserling,  der  bereits  in  seinem  fesselnden  Ek^t- 
verke  ^Das  Gefüge  der  Welt"  nahe  Beziehungen  zur  Neu- 
itik  verrät,  in  seiner  vor  Kurzem  erschienenen  Schrift  „Un- 
lichkeit"  ^)  gegen  Stirners  Individualismus  Einspruch  erhebt, 
am  Menschen  unsterblich  sei,  worauf  sich  sein  innerstes 
m,  sogar  sein  E^rhaltungstrieb  richte,  das  sei  nicht  seine 
^n,  sondern  ein  Überpersönliches,  ein  ideales,  kosmisches  Sein, 
erling  will  diese  These  in  interessanten,  aber  keineswegs 
;eugenden  Ausführungen  psychologisch  und  erkenntnistheore- 
beweisen.  Elr  bestimmt  den  Begriff  der  Person  zu  eng,  da 
1  ihm  eigentlich  gar  keine  Synthese  findet,  sondern  ihn  als 
Ausdruck  eines  gleichsam  peripherischen  psychischen  Ver- 
as betrachtet.  Damit  ist  Keyserling  freilich  im  Rechte,  dass 
Den  Standpunkt  sucht,  von  dem  aus  das  Individuum  selber  als 
^eil  des  Kosmos  gefasst  und  gewertet  werden  kann. 
Hingegen  ist  Elmst  Homeffer  im  Irrtum,  wenn  er  in  seiner 
ft  „Wege  zum  Leben"   den  strengen  Anschluss  an  Nietzsche 


1)  Lehmann,  München  1907. 


234  O.  Ewald, 

ZU  wahren  glaubt.^)  Denn  seine  Wertung  ist  eine  eitr 
individualistische  und  nähert  sich  derjenigen  Stirners.  Nicht 
Hingabe  an  ein  Allgemeines  wie  es  Gott  oder  das  Universum 
sondern  die  unaufhörliche  Gestaltung,  Besonderung  und  Indifid 
tion  soll  der  Zweck  des  menschlichen  Daseins  sein.  Hornefl 
Buch  ist  im  Übrigen  durch  seinen  schroff  antichristlichen  SU 
punkt  interessant:  das  Ideal  einer  göttlichen  Vollkommenheit 
scheint  ihm  als  ein  absolutes  Hindernis  für  die  menschli 
Schöpferkraft  und  Schaffensfreudigkeit. 

Weit  näher  steht  Saitschik  der  Neuromantik,  wenn  er 
einem  feinfühligen  Buch  „Quid  est  Veritas**,^  das  die  Form 
Dialogs  wählt,  eine  harmonische  Verbindung  individualisÜÄ 
und  universalistischer  Tendenzen  anstrebt,  den  positivistisc 
Wahn  bekämpfend,  es  könne  durch  einen  Komplex  von  Na 
gesetzen  der  Sinn  der  Welt  erschöpft  werden.  Der  Idej 
Theophil  verteidigt  dem  Naturforscher  gegenüber  das  Recht  se 
Weltanschauung,  die  ein  einheitlicher  geistiger  Organismus 
und  keine  blosse  Summe  verallgemeinernder  Erfahrungen. 
soU  das  Verhältnis  des  Menschen  zur  Natur  in  eine  ideale  Spt 
gehoben,  so  der  ewige  Gehalt  der  Religion  bewahrt  werden. 

Die  Neuromantik  ist  noch  immer  in  Blüte.  Die  Efi] 
stehen  zum  Teile  unter  ihrem  Bann,  insbesondere  die  Musik, 
durch  Richard  Wagner,  den  letzten  und  vielleicht  grössten 
mantiker,  in  diese  Richtung  gelenkt  worden.  Aber  auch 
philosophische  Weltanschauung  sahen  wir  immer  von  Neuem 
in  den  Spuren  verlieren,  die  zur  „mondbeglänzten  Zaubernai 
Schellings  und  Novalis  führen.  So  erwacht  auch  das  histori 
Interesse  für  die  Schöpfungen  jener  Zeit  und  der  mit  üff 
wandten  Kulturen.  Es  steht  im  Zusammenhang  damit,  wenn 
Philosophie  Herders  gerade  im  vergangenen  Jahr  mehrfach 
handlung  fand;  „Herder  und  Kants  Ästhetik^  nennt  sich  eii 
struktives  Buch  von  Jacoby,^)  und  das  Ganze  der  Herder» 
Weltauffassung  stellt  Carl  Siegel,  Privatdozent  an  der  Wi 
Universität,  in  dem  klaren  und  übersichtlichen  Buch  „Herder 
Philosoph"*)  dar.  Beide  betrachten  Herder  als  Vorläufer 
Nachkantischen  Idealismus   und   Siegel  feiert  ihn  sogar  als 

1)  Elinkhardt,  Leipzig  1907. 

«)  Ernst  Hofmann  &  Co.,  Berlin  1907. 

3)  Dürr,  Leipzig  1907. 

*)  Cotta,  Stuttgart  1907. 


Die  deutsche  Philosophie  im  Jahre  1907.  235 

ker,  der  die  fruchtbaren  Keime  der  Schellingschen  Naturphilo* 
ie  gesäet  habe.  Herders  Zusammenhang  mit  der  Romantik 
ibrigens  zu  offenkundig,  um  verkannt  zu  werden.  In  Siegels 
^llnng  ist  vor  Allem  die  Kennzeichnung  des  Herderschen 
ismns  gegenüber  der  dualistischen  Weltansicht  Kants,  sowie 
lichtvolle  Charakteristik  seines  Verhältnisses  zum  Evolutionis* 

bemerkenswert.  Herder  war  kein  eigentlicher  Evolutionist, 
i  kann  er  mit  Darwin  in  eine  Linie  gesetzt  werden.  Seine 
iranschauung  trägt  deutliche  Züge  des  Platonischen  Idealismus, 
auch  bei  Schelling  und  Goethe  durch  den  evolutionistischen 
3kt  bloss  zum  Scheine  verhüllt  ist. 

Im  Mittelpunkte  der  Neuromantik  steht  der  Jenenser  Verlag 
en  Diederichs,  dessen  hervorragende  Verdienste  um  die  Kultur 
sehen  Geistes  ich  bereits  im  vorigen  Jahre  eingehend  besprach. 

seinen  neueren  Publikationen  hebe  ich  die  von  Minor  besorgte 
fabe  der  Werke  des  Novalis  hervor.  Ihre  vier  Bände  eut- 
3n:  Gedichte,  Tagebücher,  Fragmente,  die  beiden  Romane 
Ï  Lehrlinge  zu  Sais"  und  „Heinrich  von  Ofterdingen".  Die 
Bbücher  und  die  Fragmente  enthalten  philosophische  Entwürfe, 
ohne  zur  Einheit  eines  Systems  verbunden  zu  sein,  voll  tiefer 
grossartiger  Gedankengänge  sind.    Femer  nenne  ich  Wilhelm 

Humboldts  „Universalität'',  ausgewählt  und  eingeleitet  von 
mnes  Schubert,  sowie  den  schönen  Almanach  „Jena  und  Wei- 
"",  der  eine  Reihe  interessanter,  vornehmlich  um  Schiller  und 
the  gruppierter  Aufsätze  alter  und  neuer  Autoren  enthält. 

Die  ästhetischen,  philosophischen  und  religiösen  Ideen  der 
romantik  nimmt  Ferdinand  Jakob  Schmidt  in  seinen  interes- 
sn  Studien  „Zur  Wiedergeburt  des  Idealismus"  auf.^)  Bereits 
einem  früheren  Werk  „Grundzüge  der  konstitutiven  Erfahrungs- 
^ophie""  nahm  Schmidt,  an  Kant  anknüpfend  und  über  ihn 
usgehend,  eine  Stellung  zwischen  Kritizismus  und  Hegelschem 
ogismus  ein.  In  seinem  neuen  Buche  hat  sich  dieser  Stand- 
et noch  mehr  nach  der  identitätsphilosophischen  Seite  Ver- 
ben und  verfestigt.  Er  behandelt  hier  in  einer  Reihe  durch 
gemeinsame  Ideenperçpektive  unter  einander  verknüpfter  Auf- 
Î  das  Wesen  der  modernen  Kultur,  die  er  vor  ihrer  Vcr- 
iung  durch  Positivismus,  Empirismus  und  Psychologismus 
5n  will,  indem  er  ihr  wieder  das  universalistische  Ziel  des  un- 


')  Verlag  der  Dürrschen  Buchhandlang. 


236  0.  Ewald, 

endlicheD  Geistes  entgegenhält.  Der  Standpunkt,  den  das  einzelne 
Individuum  in  seiner  Isolation  einnimmt,  ist  kein  solcher,  von  dem 
aus  das  Weltall  logisch  und  ethisch  gemeistert  werden  kann. 
Vielmehr  verhält  es  sich  umgekehrt:  bloss  vom  Weltgeiste  her 
kann  auch  das  Einzelindividuum  begriffen  werden. 

Für   das   Wiedererwachen   des   religiösen  Gefühls  legt  ins- 
besondere   die    neue    Zeitschrift    „Religion    und    Geisteskultur*! 
Zeugnis  ab,  die  unter  anderem  inhaltsreiche  Beiträge  von  Enckeii, 
Achelis,  Höffding  enthält.    Ohne  dogmatisch  zu  werden,  bezeichnet 
diese  Zeitschrift   gleichwohl   die  Opposition  gegen  einen  eitremeii 
Rationalismus,   der  sich  auch   in   den  Tiefen   der  Religion  fest- 
zusetzen strebt.    Immer  klarer  ringt  sich  die  Übei*zeugung  doidi, 
dass  Erkenntnis   und   Glaube   zwei  Sphären  sind,  die  einander  ii 
keinem    Punkte    stören    dürfen,    da   sie    zwei    grundverschiedene 
Seiten   des   Universums   umfassen.      Diese   Überzeugung  gewinnt 
auch   in   den   drei  Vorlesungen   Ausdruck,  die  Eucken  unter  dei 
Titel   „Hauptprobleme    der  Religionsphilosophie    der  Gegenwart' 
zusammenfasst.    Die  Religion  ist  hier  als  eine  Art  gedacht,  in  der 
sich  das  Geistesleben  dem  menschlichen  Individuum  und  derNator 
mitteilt.    Das  Geistesleben,  nach  dessen  Entdeckung  und  Erkennt' 
nis  Euckens  meiste  Bücher,  so  vor  Allem  sein  unlängst  erschienenes 
Werk  „Grundlinien  einer  neuen  Lebensanschauung"   streben,  ist 
der    Inbegriff    der    ewigen    Werte,    die    Eucken    wie    Schelliniî 
und  Hegel  als  eine  metaphysische  Realität  betrachtet.    Natur  and 
Geist  soUen   aber  nicht  in  unversöhnlicher  Entzweiung  verharren, 
sondern   der  Geist  soll   sich   der  Natur  bemächtigen,   um  sie  in 
allen  Wesenstiefen  zu  erfüllen.    Hier  übernimmt  Eucken  dasErte 
der  Identitätsphilosophie,   das  Erbe  Schellings  und  Hegels,  die  in 
der  Einheit   von  Natur  und  Geist  das  Ziel   alles  philosophiscben 
und  kulturellen  Schaffens  erblickt  hatten.    So  schliessen  sich  aacb 
hier  die  verschiedenen  Strömungen  der  gegenwärtigen  Phüosophie 
zusammen:  jene  ideale  Welt  der  Werte,  auf  die  der  Neukantianis- 
mus gerichtet  ist,   und   der  wir  auch  die  Schule  von  Fries  ^ 
Brentano  zustreben  sehen,   erfährt  in  der   um  Fichte,  ScheliiotTi 
Hegel,   Novalis   gruppierten   Neuromantik    und    in   der  moderneD 
Religionsphilosophie   bloss   die  Steigerung  zu  einer  metaphysischen 
Realität. 


1)  Vandeuhoeck  &  Ruprecht,  Göttingen. 


Die  deutsche  Philosophie  im  Jahre  1907.  237 

Damit  sind   auch   die  Wege  für  die  Zakanft  vorgezeichnet. 

Anschluss   an  Kant   bedeutet   zunächst  einen  Verstoss  gegen 

Empirismus,  Evolutionismus,  Psychologismus  und  Relativismus, 

sich    in  der  Forschung   festgesetzt  hatten.    Es  giebt  zeitlose, 

ge  Werte  der  Erkenntnis,   der  Kunst,  der  Religion,  der  Ethik. 

r  die   Entwickelung  geht   weiter:   während   Kant   sich   noch 

.los  zwischen  Transscendenz  und  Immanenz  bewegt,  ist  es  die 

denz  der  neuesten  Philosophie  —  das  ist   vor  Allem  der  Sinn 

Neuromantik    — ,   jene  Ewigkeitswerte    irgendwie    auf   eine 

aphysische  Realität  zu  beziehen.    Aber  auch  hier  bewahrt  uns 

kritische  Geist   vor  dogmatischer  Einseitigkeit:   ich  habe  ge- 

%   dass   es   mehr   und   mehr  das  Streben  der  verschiedensten 

Lker   wird,  das  Wesen   der  Welt  als  eine  Fülle  zu  betrachten, 

bloss   im   beschränkten   menschlichen   Geiste  Widersprüche 

Antinomien   zeigt.     So   wird   auch   der  einseitige   Logismus 

rwunden.     Logik,    Moral,    Kunst   und   Religion   gemessen    in 

er  Sphäre    volle   Souveränität   und  können  nicht  durch  psy- 

Logistische  und   empiristische   Versuche   zu   etwas   bloss  Rela* 

ïm,  Vergänglichem   verflacht  werden.     Aber  diese  ihre  Sphäre 

eben  nicht  das  Ganze,  sondern  bloss  ein  Teil  der  unerschöpf- 

en  Wirklichkeit. 


Die  Frage  als  Prinzip  des  Erkennens 
und  die  ,,Einleitung^^  der  Kritik  der  reinen  YernunfL 

Von  August  Stadler. 

Die  Frage  wird  in  der  Logik,  soviel  mir  bekannt  ist,  nicU 
als  eine  fundamentale  Funktion  ausgezeichnet.  Wohl  liegt  sie  ä 
stillschweigende  Voraussetzung  überall  zugrunde;  dass  sie  jedoA 
nicht  als  Grundbedingung  der  Erfahrung  eingeführt  wird,  ist  è 
Zeichen  der  Verkennung  ihres  transscendentalen  Charakters.  Hi^ 
doch  würde  durch  die  Einsetzung  dieser  Funktion  in  ihre  Bedtl» 
das  Verständnis  des  kritischen  Idealismus  nicht  unwesentlich  &' 
leichtert,  insofern  an  ihr  die  Unterscheidung  des  transscendentak^  1 
vom  physiologischen. A  priori  besonders  eindringlich  sich  volbdebf^ 
lässt.  Wie  sehr  aber  durch  die  Verwechslung  dieser  bddfl^ 
Rechtstitel  der  Idealismus  bedroht  und  verdunkelt  wird,  danl** 
hat  Hermann  Cohen  neuerdings  wieder  nachdrücklich  hingawifisa^ 
(Kommentar  zu  I.  Kants  Krit.  d.  r.  Vern.,  Leipzig  1907). 

Über  die  logische  Stellung  und  Leistung  der  Frage  könn«^ 
wir  uns  auf  Grund  der  ersten  Sätze  der  Kritik  der  reinen  Vc^ 
uunft  in  einfacher  Weise  Klarheit  verschaffen,  da  ja  schon  S0 
Einleitung  das  empirische  Missverständnis  behandelt  und  erledigte 
Ihre  Auslegung  ist  aber  bekanntlich  nicht  unbestritten  (vgl  tt^ 
Vaihinger,  Kommentar  zu  Kants  Kritik  der  reinen  Vemimft,0 
p.  1Ö8  ff.);  daher  lassen  sich  Bemerkungen,  die  den  Standpuddfl 
erläutern,  immer  noch  nicht  umgehen  ;  doch  werden  sie  kurz  seûu 

„Dass  alle  unsere  Erkenntnis  mit  der  Erfahrung  anfange^ 
daran  ist  gar  kein  Zweifel.''  Der  Stil  dieses  ersten  Satzes  UMf 
die  Emotion  erkennen,  die  Kant  von  vornherein  zu  solcher  Ab- 
wehr treibt.  Man  pflegt  doch  wissenschaftliche  Werke  nicht  wi0 
„Dass"  zu  beginnen.  Cohen  hat  (a.  a.  0.)  diesen  stilîsùcts 
merkwürdigen  Anfang  als  monologisch  bezeichnet;  mir  ersdMwra 
der  Satz  mehr  wie  ein  Stück  Zwiegespräch  ;  es  ist,  als  hätte  eb^ 
jemand,  der  von  dem  angekündigten  Werke  etwas  verlauten  hW* 


Die  Frage  als  Prinzip  des  Erkennens  etc.  239 

Kant  die  Äusserung  getan:  „Höchstzuverehrender  Herr  Pro- 
3or!  bei  allem  Respekt  vor  dero  tiefsinnigen  Untersuchungen 
SS  ich  gestehen,  dass  mir  eine  Erkenntnis,  die  nicht  von  der 
-ahrung  ausgeht,  ein  unmöglicher  Gedanke  ist.^  Worauf  Kant 
t  unwillig:   „Dass  etc.*"    Dieses  störende  Bedenken  sollte  ihm 

für  allemal  erledigt  sein,  und  kein  Leser  wird  bestreiten,  dass 

auffällige  Form  ihre  Wirkung  tut. 

„denn  wodurch  sollte  das  Erkenntnisvermögen  sonst  zur 
sübung  geweckt  werden,  geschähe  es  nicht  durch  Gegenstände, 

unsere  Sinne  rühren  ..."  Wenn  auch  in  erster  Linie  ein 
ellekt  vorhanden  sein  muss,  damit  Erkenntnis  zustande  komme, 

ist  doch   den  Sensualisten   ohne  weiteres  zuzugeben,   dass  er 

Funktion  erweckt  werden  muss  und  dass  dieser  Weckruf  in 
hts  anderem  bestehen  kann,  als  dass  die  Sinne  durch  Reize 
ührt  werden. 

„und  teils  von  selbst  Vorstellungen  bewirken,  tefls  unsere 
rstandestätigkeit  in  Bewegung  bringen  .  . ."  Von  selbst  —  das 
sst  unmittelbar,  ohne  dass  wir  etwas  dabei  zu  tun  hätten:  wir 
ten,  hören,  riechen,  tasten,  schmecken  etwas  und  fühlen  uns 
>6i  leidend,  empfangend,  im  Zustande  unsereres  Bewusstseins 
Ändert.  Dann  sagen  wir,  es  werden  uns  durch  die  Smne  Ein- 
^e  „gegeben".  Wäre  damit  die  Erweckung  erledigt  und  träte 
^ts  weiteres  ein,  so  würde  unser  Bewusstséin  in  einer  Folge 
*hsehider  Eindrücke  bestehen,  niemals  aber  zu  einer  &kenntnis 
^gen.  Allein  die  Wirkung  der  gerührten  Sinne  ist  nun  nicht 
'auf  beschränkt,  sondern  löst  weiterhin  die  Bewegung  des  Ver- 
ides  aus.  Worin  besteht  nun  diese  Bewegung?  Darin,  diese 
Stellungen 

„zu  vergleichen,  sie  zu  verknüpfen  oder  zu  trennen  ..." 
^it  ist  die  Arbeit,  die  der  Intellekt  an  den  sinnlichen  Ein- 
*ken  verrichtet,  beschrieben:  die  Verstandesbewegung  ist  Ver- 
erbung, Verknüpfung  oder  Trennung.  Die  Eindrücke  werden 
t^hsam  hin-  und  hergeschoben,  neben  einander  gestellt,  beeh- 
rt, m  die  Beziehung  der  Gleichheit  oder  der  Verschiedenheit 
^tzt,  als  in  bestimmter  Hinsicht  zusammengehörig  oder  nicht  zu- 
lïiengehorig  erklärt.  In  solcher  Bewegung  fühlen  wir  uns  nun 
^t  mehr  leidend,  sondern  tätig,  nicht  mehr  empfangend,  sondern 
tffend,  und  was  jetzt  zustande  kommt,  betrachten  wir  nicht 
U"  als  uns  gegeben,  sondern  als  durch  uns  „erzeugt".  Auf 
n  Kriterium   der  Spontaneität  muss  der  Gegensatz  dieser  Ter- 


240  A.  Stadler, 

mini  beruhen,  sonst  richten  sie  Verwirrung  an.     „Oegeben**  s 
nur  diejenige  Veränderung  des  Bewusstseins  heissen,  die  sich 
mein  Zutun  ereignet,  „erzeugt"  nur  diejenige,   die  meiner  Ab 
entspringt.    Was  nicht  eine  Folge  meines  intellektuellen  Harn 
ist,   das   habe   ich   nicht  erzeugt;   automatische  Tätigkeiten 
sind   nicht   zum  Handeln   zu   zählen,    auch  dann  nicht,   wem 
Ergebnis   aussieht   wie   ein   Produkt   des  Verstandes.    Wer 
„ein   System   der   Philosophie  .  .  .  eigentlich   gelernt   hat,  o 
gleich   alle   Grundsätze,    Erklärungen   und   Beweise,    zusamt 
Einteilung  des  ganzen  Lehrgebäudes  im  Kopfe  hätte  und  alle 
den  Fingern   abzählen   könnte  .  .  .  weiss   und   urteilt  nur  so 
als  ihm  gegeben  war  ...  Er  bildete  sich  nach  fremder  Ven 
aber  das  nachbildende  Vermögen  ist  nicht  das  erzeugende 
(Krit.  d.  r.  V.,  Ausg.  Kehrbach  631).    So  streng  soll  das  Krit( 
gehandhabt  werden. 

„und  so  den  rohen  Stoff  sinnlicher  Eindrücke  zu  eine) 
kenntnis  der  Gegenstände  zu  verarbeiten,  die  Erfahrung  hei 
Dieses  Produkt  aus  zwei  Faktoren,  dem  Rohstoff  sinnlicher 
drücke  und  der  Bearbeitung  durch  den  Verstand,  ist  nur 
„Erkenntnis"  der  Gegenstände,  die  man  „Erfahrung"  zu  ne 
pflegt»  Erfahining  in  diesem  Sinne  bedeutet  in  der  Tat  dai 
wachen  der  Erkenntnis:  „der  Zeit  nach  geht  also  keine  Erk 
nis  in  uns  vor  der  Erfahrung  vorher  und  mit  dieser  fängt 
an."  Die  Sensualisten  mögen  sich  beruhigen,  die  Erkenntnis 
sie  meinen,  wird  nicht  angefochten. 

„Wenn  aber  gleich  alle  unsere  Erkenntnis  mit  der  Erfal 
anhebt,  so  entspringt  sie  darum  doch  nicht  eben  alle  aus  de 
fahrung."  Es  ist  zu  unterscheiden  zwischen  Anheben  und 
springen,  zwischen  „mit"  und  „aus".  Ein  Ereignis  kam 
einer  Einwirkung  anheben,  ohne  „darum"  aus  dieser  Einwii 
gänzlich  zu  entspringen.  Entspringen  heisst  hervorkommen 
ein  Quell  entspringt,  da  kommt  er  mit  seinem  ganzen  Inhalt 
vor.  Mit  dem  zündenden  Funken  hebt  die  Explosion  des  Pi 
fasses  an  und  wäre  ohne  ihn  nicht  geschehen;  aber  entsi 
die  frei  werdende  Kraft  darum  alle  der  Wärme  des  Funl 
Ich  höre  meinen  Namen  rufen  —  stehe  still,  drehe  mich  um, 
dem  Rufenden  entgegen  .  .  .,  eine  ganze  Folge  von  Bew^ 
hat  angehoben,  aber  die  Arbeit,  die  ich  dabei  leiste,  entep 
doch  nicht  der  kleinen  Schallwirkung  des  Rufes.  Wir  spw 
in   solchen  Fällen   auch  nicht  vom  Hervorbringen,  sondern 


Die  Frage  als  Prinzip  des  Ërkenhettà  etc.  241 

tslösen  des  Endergebnisses.  Etwas  Ähnliches  könnte  nun  ja 
ch  bei  der  Elrfahrung  stattfinden,  die  sinnlichen  Eindrücke 
QQten  die  Rolle  bloss  auslösender  Kräfte  spielen,  und  aus  der 
ewegung  der  Verstandeskräfte"  könnte  mehr  herauskommen,  als 
jenen  enthalten  war. 

„Denn  es  könnte  wohl  sein,  dass  selbst  unsere  Erfahrungs- 
enntnis  ein  Zusammengesetztes  aus  dem  sei,  was  wir  durch 
»drücke  empfangen,  und  dem,  was  unser  eigenes  Erkenntnis- 
mögen  (durch  sinnliche  Eindrücke  bloss  veranlasst)  aus  sich 
t>st  hergibt ,  ,  ^  Wäre  dies  der  Fall,  so  müsste  der  Erfahrungs- 
ri'iff,  der  soeben  aufgestellt  wurde,  revidiert  und  berichtigt 
rden,  der  Erfahrungsprozess  müsste  dann  die  Resultante  nicht 
sier,  sondern  dreier  Komponenten  sein  :  der  sinnlichen  Eindrücke, 
ar  Verarbeitung  durch  den  Verstand,  und  dem,  was  der  Ver- 
iid  „aus  sich  selbst  hergibt".  In  diesem  Fall  würde  also  der 
^tand  als  Faktor  des  Erkenntnisprozesses  zweierlei  leisten: 
die  Verarbeitung  der  Eindrücke,  bestehend  im  Vergleichen, 
•knüpfen  und  Trennen  oder  darin,  dass  die  Eindrücke  in  eine 
t^isse  Ordnung  oder  Form  gebracht  werden;  2.  in  dem  „Her- 
ein aus  sich  selbst",  welches  letztere  demnach  nur  in  einem 
isatz"  zum  gegebenen  Inhalt  der  Erkenntnis  bestehen  kann. 
nn  aber  nicht  nur  die  Form,  sondern  auch  ein  Teil  des  In- 
es aus  der  Verstandestätigkeit  entspringt,   so   muss  allerdings 

Begriff  der  Erfahrungserkenntnis  dahin  berichtigt  werden, 
ä  der  Verstand  durch  die  sinnlichen  Eindrücke  nicht  nur  zum 
grleichen.  Verknüpfen  und  Trennen,  sondern  auch  zu  einem 
a.tz  zu  Jenem  Grundstoffe"  veranlasst  wird.  Somit  wird  alle 
enntnis  in  der  Tat  mit  der  Erfahrung  (im  alten  Sinne)  an- 
3n,  nicht  aber  alle  aus  ihr  entspringen. 

Allein  warum  ist  nicht  auch  hieran  kein  Zweifel?  Wie 
ta  denn  dieses  Verhältnis  überhaupt  verborgen  bleiben?    Wenn 

Verstand  die  Erfahrung  des  Empirikers  durch  einen  be- 
^Ynten  Beitrag  zur  Erkenntnis  erhebt,  so  muss  er  sich  doch 
^en  bewusst  sein,  denn  unbewusste  Verstandestätigkeit  ist  ein 
Ung.  Der  Einwurf  übersieht,  dass  bewusste  Funktion  zu 
örscheiden  ist  vom  Bewusstsein  der  Funktion.  Wer  denkt, 
^cht  darum  nicht  das  Bewusstsein  „cogito"  zu  haben;  aller- 
Ss  muss  das  „ich  denke"  alle  meine  Vorstellungen  begleiten 
ûnen,  aber  muss  es  nicht  in  jedem  Falle  wirklich  tun.  Ich 
^n  die  komplizierteste  Rechnung  vollziehen,  ohne  an  die  Regeln 


242  A.  Stadler, 

zu  denken,  die  ich  zur  Anwendung  bringe,  und  wie  viele  N 
forscher  kümmern  sich  darum,  ob  das  Gesetz  der  Erscheinni 
das  sie  suchen,  gänzlich  der  Erfahrung  entspringe?  Die  < 
rischen  Wissenschaften  fragen  nach  der  Brauchbarkeit,  im  i 
meinen  aber  nicht  nach  der  Herkunft  ihrer  Methoden;  die  I 
die  sich  bewährt,  wird  zur  Gewohnheit  und  lässt  neue  Erfahn 
automatisch  entstehen.  Dass  dies  eine  zweckmässige  Einricl 
der  Natur  ist,  hat  schon  Hume  hervorgehoben.  Erfahrung  is 
wesentlich  für  den  Bestand  aller  menschlichen  Geschöpfe,  dt 
nicht  wahrscheinlich  ist,  dass  sie  den  trügerischen  Deduki 
unserer  Vernunft  anvertraut  werden  konnte,  welche,  langa 
ihren  Operationen,  sich  in  den  ersten  Jahren  der  Kindheit 
bemerklich  macht  und  im  besten  Falle  in  jedem  Alter  ui 
jeder  Periode  des  menschlichen  Lebens  dem  Irrtum  und  Ver 
höchlich  ausgesetzt  ist.  Es  entspricht  der  gewöhnlichen  We 
der  Natur  besser,  einen  so  notwendigen  geistigen  Akt  durch 
Instinkt  oder  ein  mechanisches  Streben  sicher  zu  machen,  c 
seinen  Operationen  unfehlbar  sein,  sich  beim  ersten  Erscl 
des  Lebens  und  Denkens  offenbaren  und  von  allen  schwerfâ 
Deduktionen  des  Verstandes  unabhängig  sein  kann.  Wi' 
Natur  uns  den  Gebrauch  unserer  Glieder  gelehrt  hat,  ohn 
die  Kenntnis  der  Muskeln  und  Nerven,  durch  welche  sie  i 
wegung  gesetzt  werden,  zu  geben,  so  hat  sie  in  uns  einen  In 
eingepflanzt,  welcher  den  Gedanken  in  einem  Laufe  voi 
trägt,  der  demjenigen  entspricht,  den  sie  zwischen  den  äuj 
Objekten  eingerichtet  hat  .  .  ."  (An  enquiry  concerning  t 
understanding.    Sect.  V). 

Da  nun  also  diese  uneigentlich  so  genannte  Verstandes 
keit  nicht  oder  nur  unvollkommen  zum  Bewusstsein  gelang 
bleibt  auch  unausgemacht,  wie  viele  Vorstellungen  oder  wi 
an  den  Vorstellungen  die  sinnlichen  Eindrücke  „von  selbst 
wirken  und  wie  viel  noch  durch  unser  Vergleichen,  Verkn 
und  Trennen  zu  diesen  hinzugesetzt  wird.  Eine  ganz  ander 
flexion  ist  es,  wenn  der  Verstand  seine  eigene  Tätigkeit  als 
er  die  sinnlichen  Eindrücke  betrachtet,  und  je  mehr  die  le 
zur  Gewohnheit  geworden,  um  so  mehr  Anstrengung  erforde 
in  ersterer  Sicherheit  zu  erlangen. 

„. .  .  welchen  Zusatz  wir  von  jenem  Grundstoff  nicht 
unterscheiden,  als  bis  lange  Übung  uns  darauf  aufmerksan 
zur  Absonderung  desselben  geschickt  gemacht  hat.^ 


Die  Frag:e  als  Prinzip  des  Erkennens  etc.  â43 

Auf  dem  Erwerben  dieser  Geschicklichkeit  beruht  nun  alle 
itik  der  Erkenntnis,  deren  zentrale  Aufgabe  es  ist,  die  Beding- 
gen des  wissenschaftlichen  Fürwahrhaltens  zu  ergründen.  Dass 
»rfür  der  Nachweis  der  Quellen  der  Erkenntnis  unumgänglich 
,  ergiebt  sich  schon  aus  der  Tatsache,  dass  Sätze  aufgestellt 
rden,  die  allgemein  und  notwendig  gelten  sollen.  Auch  dieser 
Spruch  bildet  eine  Aufgabe  für  die  Kritik.  Nun  ist  ohne 
itères  klar,  dass  solche  Sätze  sich  nicht  empirisch  rechtfertigen 
anen.  „Erfahrung  lehrt  uns  zwar,  dass  etwas  so  oder  so  be- 
laffen  sei,  aber  nicht,  dass  es  nicht  anders  sein  könne.**  Femer 
ïtt  Erfahrung  „niemals  ihren  Urteilen  wahre  oder  strenge, 
idem  nur  angenommene  oder  komparative  Allgemeinheit  (durch 
luktion),  so  dass  es  eigentlich  heissen  muss:  so  viel  wir  bisher 
»hrgenommen  haben,  findet  sich  von  dieser  oder  jener  Regel 
ine  Ausnahme"  (Kr.  648).  Somit  giebt  es  entweder  keine  not- 
ndigen  und  allgemeinen  Sätze,  oder  sie  müssen  der  Verstandes- 
igkeit  selbst  entspringen.  Müsste  jenes  eingeräumt  werden,  so 
re  unser  ganzes  Wissen  historisch,  ein  Wissen  von  der  Ver- 
igenheit:  wir  erkannten  in  jedem  Augenblick,  was  gewesen  ist. 
Dials  aber,  was  ist  oder  sein  wird.  Nun  braucht  man  gar  nicht 
Mathematik  und  Naturwissenschaft  hinzuweisen,  um  diesen 
lanken  unerträglich  zu  finden;  nicht  nur  keine  Wissenschaft, 
dem  überhaupt  kein  vernünftiges  Handeln  wäre  möglich,  wenn 
er  Urteilen  auf  die  Komparation  der  Erfahrung  beschränkt 
be.  Alles  Handeln  beruht  auf  der  Voraussetzung,  dass  be- 
imte  Beziehungen,  welche  waren,  sein  werden,  also  unveränder- 

seien.  Für  jedes  Subjekt  wären  Natur  und  Menschen  unbe- 
lenbar,  somit  feindliche  Mächte,  ohne  die  Zuversicht,  dass  ihre 
ion  und  Reaktion  nach  Regeln  erfolge.  Wenn  in  der  Macht 
Gewohnheit  nicht  irgend  eine  objektive  Macht  zum  Ausdmck 
'-^gt,  so  ist  uns  kein  Kosmos  begründet,  so  trägt  jede  kommende 
Oxide  die  Möglichkeit  des  Chaos  in  sich. 

Das  hat  Hume  selbst  empfunden,  dass  seine  psychologische 
Deckung  der  Gewohnheit  als  Grund  des  Fürwahrhaltens  den 
eschen  aus  einer  anderen,  seiner  liebsten,  der  schönen  und 
endlichen  Gewohnheit  des  Daseins  und  Wirkens,  fortwährend 
Schrecken  müsse.  Das  macht  ihm,  wie  die  zitierte  Stelle  zeigt, 
^  Verharren  in  seinen  Zweifeln  unbehaglich,  das  treibt  ihn,  eine 
B^g  zu  finden,  die  er,  in  bescheidener  Selbsttäuschung  be- 
^en,   „skeptisch^   nennt:  er  materialisiert  die  Gewohnheit  zum 


244  A.  Stadler, 

InstiBkt  und  lässt  diesen  in  der  „ordinary  wisdom  of  nature"  be- 
gründet sein.  Damit  sehen  wir  den  Skeptiker  an  einem  objdrtiT 
sein  sollenden  Prinzipe  angelangt;  denn  wenn  unser  Glaube  u 
die  Weisheit  der  Natur  wieder  nur  eine  Gewohnheit,  obzwareaie 
allgemeinere,  wäre,  so  könnte  auch  er  nur  die  Vergangenheit  te 
greifen,  nicht  aber  die  Zweifel  des  Kommenden  lösen. 

Die  Weisheit  der  Natur  spielt  bei  Hume  dieselbe  Rolle,  n 
bei  Descartes  die  Wahrhaftigkeit  Gottes;  nur  bedeutet  sie  insolen 
einen  Rückschritt  gegen  letzteres  Prinzip,  als  Gott  und  W# 
haftigkeit  klare,  Natur  und  Weisheit  dagegen  dunkle  Begrife 
sind.  Beide  Prinzipien  aber  sind  transscendent,  d.  h.  sie  te 
schreiben  einen  jenseits  der  Erfahrung  liegenden  Gegenstand,  à 
Objekt,  das  in  keiner  Erfahrung  gegeben  werden  kann. 

Diesen  Sprung  ins  Jenseits  erspart  uns  die  Methode  KanU 
So  einfach  und  naheliegend  erscheint  uns  heute  sein  grundlegfender 
Gedanke,  dass  es  uns  wundert,  wie  er  den  Vorgängein,  namestr 
lieh,  wie  er  Hume  entgehen  konnte.  Statt  die  Erkenntnis  üb«^ 
sinnlich  zu  begründen,  macht  er  sie  selbst,  macht  er  ihreMögliek- 
keit  zum  Prinzip:  wir  nehmen  an,  dass  Erkenntnis  möglich  sei- 
darauf  beruht  alles  weitere.  Das  ist  nun  aber  nicht  die  Vorm 
Setzung  eines  Unbekannten,  sondern  lediglich  einer  Eigenscbift, 
die  alles  haben  muss,  das  ein  Bekanntes  soll  werden  können,  âo 
bezieht  sich  diese  Hypothese  zwar  auf  das  Ganze  der  Erfahrung, 
also  auf  ein  Objekt,  das  wir  nur  in  unendlicher  Annäherung  reali- 
sieren können;  aber  sie  ist  trotzdem  nicht  transscendent,  dt 
dieser  ins  Unendliche  sich  erstreckende  Gegenstand  die  Grenfl» 
des  Anschaulichen  nicht  überschreitet.  Kant  nennt  Begriffe  uri 
Sätze,  die  sich  auf  die  Grenzen  des  Immanenten,  aber  nur  bel«6 
Bestimmung  der  Erfahrung  beziehen,  transscendentai;  ein  Terni- 
nus,  den  wir  heute  nicht  mehr  Gefahr  laufen,  mit  „transscendent' 
zu  verwechseln. 

Die  transscendentale  Hypothese  bekundet  also  nicht  freu* 
Absicht  und  Weisheit,  sondere  das  eigene  Wollen  der  menschliche» 
Vernunft,  und  ist  mit  diesem  untrennbar  verknüpft.  Die  Vernioft 
kann  nicht  erkennen  wollen  und  überzeugt  sein,  dass  Erkenntnis 
unmöglich  ist;  denn,  wenn  sie  sich  zu  Handlungen  bestinunt,  t<* 
denen  sie  weiss,  dass  sie  ihren  Zweck  nicht  erreichen  können,  ^ 
handelt  sie  zwecklos  oder  für  einen  unbekannten  fremden  Zwei 
Beides  ist  gleich  unwürdig. 


bie  Frage  als  Prinzip  des  Erkennens  etc.  246 

Wo  keine  Erkenntnis  begehrt  wird,  ist  auch  keine  Kritik 
j  und  fruchtbar.  Somit  muss  die  Logik  von  diesem  Ursprung 
•  Aufgabe  ausgehen.  Daraus  ergiebt  sich  als  ihr  oberster 
idsatz:  da  Erkenntnis  gewollt  wird,  ist  sie  als  möglich  anzu- 
aen,  und  die  theoretische  Vernunft  steht  unter  dem  Gesetz: 
flaubt,  denn  sie  will.    Das  Wollen  erzeugt  das  Fürwahrhalten 

ist  sein  letzter  Grund.  Die  kritische  Besinnung  besteht  in 
Nachdenken  über  das,  was  man  eigentlich  will,  wenn  man 
onen  will,  und  die  Logik  ist  der  Nachweis  der  Hjrpothesen, 
lurch  dieses  Wollen  notwendig  werden. 

Das  ist  nun  der  Punkt,  an  welchem  die  Frage  in  ihre 
ehe  Funktion  tritt:  sie  liefert  den  Leitfaden  zu  dieser  Orien- 
ng  in  unserem  Wollen.  Schon  eine  genauere  psychologische 
achtung  hätte  darauf  führen  müssen.  Was  geht  denn  eigent- 
vor,  wenn  die  „gerührten"  Sinne  die  Verstandestätigkeit  in 
egung  bringen?    Sie   erwecken   ein   leises  Gefühl   (der  Lust 

der  Unlust  oder  beider  zusammen),  welches  das  Bewusstsein 
nlasst,  bei  den  Eindrücken  zu  verweilen,  auf  sie  „aufzumerken*; 
n  schliesst  sich  unmittelbar  ein  Wundernehmen,  d.  h.  ein  Be- 
en zu  „erfahren".  Dieses  Thaumazein  aber  ist  in  der  Tat 
Anfang  aller  Philosophie,  denn  es  löst  nun  eben  die  ursprüng- 
*e  Verstandesfunktion  aus  :  die  Frage.  Durch  die  Frage  wird 
vage  Wundem   in  feste  Richtungen  eingestellt,   in  der  Frage 

dem  Begehren  ein  fester  Inhalt  gedacht.  Mit  der  Frage 
Dut  das  Verstehen  der  Wissenschaft,  wie  das  des  Kindes,  und 
all,  wo  sie  verstummt,  ist  die  geistige  Entwickelung  zum 
stand  gekommen. 

Das  ist  nun  der  Leitfaden,  an  dem  die  Vernunft  in  ihrem 
len  sich  zurechtfinden  kann.  Dieses  Zurechtfinden  aber  ist 
fundamentaler  Bedeutung.    Denn,   sobald  die  Vernunft  weiss, 

sie  will,  wenn  sie  Erkenntnis  will,  weiss  sie  auch,  was  sie 
iori  voraussetzen  muss,  damit  Erkenntnis  möglich  sei.  Dem- 
I  müssen  sich  aus  der  Analyse  der  Frage  die  Kategorien  oder 
Grundbegriffe  der  Erkenntnis  notwendig  und  allgemeingültig 
ben. 

Auch  jene  andere  Einsicht  zu  gewinnen,  was  unser  Ver- 
en  aus  sich  selbst  zur  Ek^ahrungs-Erkenntnis  hergebe,  sind 
jetzt  geschickter  geworden;  denn  dass  zum  mindesten  das 
len  ein  „Zusatz**  sei,  wird  niemand  bestreiten.  Wollen  ist 
stbewusstsein  ;  was  aber  dem  Selbstbewnsstsein  entspringt,  ist 

lototodico  XIII.  V\ 


à46  A.  Stadler, 

leichter  vom  Vorgestellten  zu  sondern,  als  was  ihm  automatisch  zuge- 
fügt wurde.  Das  Wollen  macht  den  sinnlichen  Eindruck  zu 
Zweck,  durch  die  Frage  wird  er  zum  Objekt  der  Erkenntnis,  zu 
Problem.  Dadurch  gewinnt  er  aber  eine  Eigenschaft,  einen  Qu- 
rakter,  den  er  an  sich  nicht  besass  und  auch  durch  keine  Ve^ 
gleichung  mit  anderen  sinnlichen  Eindrücken  gewinnen  konotft 
Über  die  Art  dieser  Eigenschaft  hat  der  Sinn  der  Frage  Alf« 
schluss  zu  geben.  Welche  Fragen  aber  als  Urtatsachen  der  fr 
kenntnis  zu  gelten  haben,  offenbart  uns  unmittelbar  jede  EriDDfr 
rung  an  unser  theoretisches  Wollen:  wir  wollen  wissen,  „was  du 
ist"  und  „warum  das  ist".  Und  wenn  wir  die  WissenschafteB 
betrachten,  so  finden  wir,  dass  sie  in  Antworten  auf  diese  Fraget 
bestehen. 

Diese  Fragen  enthalten  die  grundlegenden  Hypothesen 
Erkennens,  durch  sie  wird  vorausgesetzt,  dass  „das"  „etwas 
und  dass  „das"  „wegen  etwas  sei".  „Das"  ist  die  anslöseul 
Tatsache,  der  veranlassende  sinnliche  Eindruck,  das  Qegébati 
das  wir  vor  der  Antwort  nicht  anders  bezeichnen  können  als  dnd 
den  Hinweis,  den  Fingerzeig.  Von  diesem  Gezeigten  sagt 
die  Vernunft  von  vornherein  eine  Beziehung,  ein  Verhältnis  H 
macht  es  zum  Glied  einer  synthetischen  Einheit:  das  ist  etwi! 
das  ist  wegen  etwas  !  Der  sinnliche  Eindruck  muss  etwas  vt 
stellen  und  muss  durch  etwas  bedingt  sein.  Im  ersten  Falle  wU 
etwas  zu  ihm  hinzugedacht,  das  gleichsam  in  oder  unter  iâ 
liege  und  ihn  an  sich  trage,  dem  er  anhaftend,  eigen  seL  M 
hinzugedachte  Etwas  heisst  Ding,  der  bezogene  sinnliche  ft 
druck  Eigenschaft  und  die  Art  dieser  Beziehung  Inbireoi 
Im  zweiten  Falle  wird  zu  dem  sinnlichen  Eindruck  etwas  hl* 
gedacht,  mit  dem  er  so  verknüpft  sei,  dass  er  ohne  es  niditn^ 
banden  wäre.  Man  nennt  dieses  Etwas  Bedingung,  den  so  k** 
zogenen  sinnlichen  Eindruck  das  Bedingte  und  die  Art  dieiff 
Beziehung  Dependenz. 

Diese  Voraussetzungen   macht  nun   also  die  Vemonft  m^ 
hängig  von  aller  Erfahrung,  unter  keinerlei  Vorbehalt,  auch  niÄ 
unter  dem,  sie  in  der  Erfahrung  bestätigt  zu  finden.    Sie  Btf^ 
sie  vielmehr  im  Sinne  einer  Gesetzgebung:   das   soll  etwas  80i' 
das   soll  wegen   etwas   sein  !    Dass  Erfahrung  —  im  Sinne  ^  i 
Erkenntnis  —  diesen  Gesetzen  sich  fügt,  bedarf  keiner  Bestätig*  i 
denn  Erfahrung   ist   nur,    was  ihnen  sich  fügt.     Sollten  die  Sbb^  j 
wirklich   zu  Eindrücken   gerührt   werden   können,   an  deneo  * 


Die  forage  als  Prinzip  des  Erkennens  etc.  24? 

iietischen  Normen  der  Frage  sich  nicht  erzeugen  liessen,  so 
/en  solche  Eindrücke  kein  Interesse  für  die  theoretische  Ver- 
ft,  welches  im  Wollen  der  Erkenntnis  besteht. 

Drei  prinzipielle  Voraussetzungen  also  sind  es,  die  das  Pro- 
n  der  Erkenntnis  bestimmen: 

dass  der  Vernunft  etwas  gegeben  sei, 

dass  sie  das  Gegebene  zur  Vorstellung  des  Dinges  ge- 
stalten könne, 

dass  sie  das  Gegebene  als  ein  Bedingtes  darstellen 
könne. 

Das  sind  die  Bedingungen  oder  Grundsätze  der  theoretischen 
oblemstellung  und  zugleich  die  Kategorien  der  möglichen  Ant- 
»rten  oder  Lösungen.  Aus  diesen  Kategorien  müssen  sich  alle 
rigen  Grundbegriffe  gewinnen  lassen,  wobei  Verschiedenheit  in 
r  Formulierung  und  Anordnung,  nicht  aber  in  der  Bedeutung 
flieh  ist.  Denn  der  Inhalt  der  Grundbedingungen  kann  sich 
*  mit  den  Grundfragen  ändern;  das  Problem  der  Erkenntnis 
so  beständig  als  die  Grundfrage.  Wenn  freilich  unser  Wollen 
1  ändert,  so  werden  wir  andere  Antworten  verlangen  und  da- 
das Begreifen  des  Gegebenen  auf  andere  Grundlegungen 
tzen  müssen. 

Und  damit  ist  nun  eben,  wie  mir  scheint,  die  Eigenart  des 
Qsscendentalen  oder  idealistischen  A  priori  ins  volle  Licht  ge- 
ten.  Gewiss  ist  die  Frage  auch  ein  physiologisches  A  priori; 
in  wären  wir  nicht  dazu  organisiert,  so  könnten  wir  nicht 
;en.  Nun  wird  aber  dieses  physiologische  A  priori  durch  die 
^  der  Vernunft  zum  transscendentalen  erhoben,  indem  die  Frage 

Postulat  der  Erkenntnis  zur  Grundbedingung  möglicher  Er- 
rung  gemacht  wird.  Diese  bewährt  aber  ihre  Apriorität  da- 
ch als  transscendentale,  dass  es  möglich  ist,  synthetische  Sätze 
riori  (Gimndsätze)  aus  ihr  herzuleiten.  Die  Frage  als  Reflex- 
iregnng  schafft  keine  Mathematik,  keine  Physik  und  keine 
dk,  wohl  aber  als  Erzeugnis   unseres  Wollens,   als  welches  sie 

Grundbedingungen  dieser  Wissenschaften  entwirft. 

Und  ebenso  klar  tritt  der  Idealismus  dieses  A  priori  hervor. 

ihrer   Grundfrage   verlangt   die  Vernunft  keine  Berechtigung 

der  „Erfahrung*";  sie  bettelt  nicht  bei  ihr,  ob  die  Möglichkeit 

^r  Erkenntnis  wahrscheinlich  sei;   sie   setzt  diese   Möglichkeit 

\r 


248  A.  Stadler,  Die  FSràge  aïs  Prinzip  des  Erkennetis  etc. 

voraus,  weil  sie  sie  will;  sie  macht  sich  eine  Idee  von  der 
kenntnis  und  handelt  nach  dieser  Idee,  Sie  verfährt  in  sole 
Grundlegung  nicht  anders  als  die  praktische  Vernunft,  die  ke 
Statistik  nach  dem  Für  und  Wider  der  Freiheit  befragt,  sond( 
schlechterdings  zu  handeln  gebietet,  als  ob  die  Freiheit  wirldi 
sei.  Der  Materialismus  sucht  in  den  Welten  nach  dem  Thit 
auf  dem  er  die  Gottheit  fände  —  der  Idealismus  nimmt  sie  f 
in  seinen  Willen,  d.  h.  er  schafft  sie,  um  sie  ewig  zu  besitzen. 


Die  Grundfragen  der  Ästhetik 

Iter  Icritischer  Zugrundelegung  von  Kants  Kritilc 

der  Urteilslcraft. 

Von  Prof.  Dr.  Richard  v.  Schubert-Soldern. 


Inhalt    Einleitung.   —   §   1.      Die   Subjektivität    des  Schönen.   — 

Allgemeinheit  des  Schönheitsurteiles.  —  §  3.  Unterschied  des  Schönen 

1  Guten,  Wahren  und  Angenehmen.  —  §  4.    Einteilung  des  Schönen.  — 

Das   Schöne   und  das   Hässliche.  —  §  6.     Das   Natur-  und  Kunit- 

)ne.  —  §  7.    Idealismus   und   Realismus.  —  §  8.    Die  architektonische 

geistige   Schönheit.  —  §  9.     Die   Darstellung  des   Geistigen   in   der 

iir.  —  §  10.    Das  Erhabene  und  das  Anmutige.  —  §  lt.    Das  Tragische 

Komische.  —  §  12.     Der  Humor.  —  Anhang:  Einige   Bemerkungen 

Begriff  des  Stils. 

Einleitung. 

Was  in  dieser  Arbeit  geboten  werden  soll,  ist  nicht  eine  Erörterung 
ästhetischen  Grundbegriffe  im  Sinne  Kants,  sondern  eine  Fortbildung 
«Iben  unter  Ausschluss  jeder  Metaphysik.     Diese  Fortbildung  ist  aber 

freie  und  selbständige,  sie  begnügt  sich  nicht  damit,  jede  metaphy- 
le  Begründung  auszuschliessen  und  im  übrigen  die  Ansichten  Kant« 
inehmen,  sondern  sie  untersucht  die  ästhetischen  Tatsachen  selbst  und 
bhängig  von  den  Ansichten  Kants.     Indem  sie  aber  bei  ihrer  Analyse 

den  Ansichten  Kants  ausgeht  und  sie  an  den  Tatsachen  prüft,  gestaltet 
sich  zu  einer  freien  (allerdings  oft  sehr  freien)  Umbildung  und  Fort- 
ung  seiner  ästhetischen  Grundbegriffe.  Deswegen  habe  iqh  auch  Kant 
rends  im  einzelnen  zitiert,  denn  es  war  mir  nicht  darum  zu  tun,  den 
erschied  meiner  Ansichten  von  seinen  festzustellen,  sondern  ich  habe 
De  Ansichten  selbständig  an  seinen  herangebildet  und  zwar  in  so 
er  Weise,  dass  |mir  ein  Nachweis  im  einzelnen  unmöglich  im  allge- 
Kien  aber  unnütz  erschien,  denn  die  Kenntnis  der  Ansichten  Kants  im 
«meinen  kann  ich  wohl  bei  jedem  Leser  meiner  Arbeit  voraussetzen. 

Berühren  möchte  ich  noch  die  Frage,  welchen  Zweck  ästhetische 
xlerungen  überhaupt  besitzen.  Ich  könnte  zwar  hier  die  Phrase  ge- 
K^hen,  dass  jede  Erforschung  der  Wahrheit  Selbstzweck  ist,  das  kann 
T  wohl  für  einige  Menschen  G^tung  haben,  durchaus  aber  nicht  für 

meisten  oder  für  alle.    Jede  Wissenschaft  ist  aus  praktischen  Zwecken 


250  R.  V.  Schubert-Soldern, 

hervorgegangen  und  findet  auch  nur  durch  sie  die  nötige  nuMefl« 
Unterlage.*)  Die  Wissenschaft  würde  nie  öffentliche  ünterettiteung  mid 
Förderung  erlangen,  wenn  sie  wirklich  nur  Selbstzweck  wäre,  abervoi 
die  Wissenschaft  Selbstzweck  ist,  der  wird  ihre  praktischen  Ziele  a 
besten  fördern,  weil  er  die  Wahrheit  am  höchsten  halten  wird,  welche  die 
Grundbedingung  für  alle  ihre  praktischen  Ziele  ist. 

Ich  glaube  nun,  dass  die  Ästhetik  dem  Künstler,  Dichter  n.  s.  w.  ii 
einer  Beziehung  wenig  nützen  kann,   sie  kann  ihn  nicht  anleiten,  IM 
werke  zu  schaffen,  sie  ist  m.  E.  nicht  einmal  eine  notwendige  tiieo» 
tische  Grundlage  für  ihn  wie  etwa  die  Physik  für  den  Physiologen;  à 
kann,  wie  ich  glaube,  ihm  gegenüber  nur  einen  Hauptzweck  erfüllen, oe 
kann  ihn  vor  einseitigen  ästhetischen  A^nschauungen  bewahren,  denn  jeder 
Künstler  hat  ästhetische  Anschauungen,  wenn  er  sich  ihrer  als  solcher 
auch  gar  nicht  bewusst  ist.     Sie  kann  diesen  Zweck  aber  nur  erffiHei. 
wenn  sie  selbst  nicht  einseitig  ist,  wenn  sie  nicht  eine  ästhetische  » 
schauung  aller  Welt  als  die  einzige  offenbart  und  ausruft  :  so  soll  es  een! 
Sie  muss  sagen,  so  ist  es,  so  kann  es  sein,  sie  muss  eine  Analyse  ds 
ästhetischen  Ansichten   geben,  nicht  einen  Kanon  der  Kunst.    Fflrdei 
Künstler  aber  ist   es  wichtig,  sich  eine  gewisse  Freiheit  der  ästhetiselA 
Anschauungen  zu  wahren,   weil  er  dadurch  sich  auch  Freiheit  in  der  Be^ 
nutzung  von  Natur  und  Kunst  bewahrt,  denn  seine  meist  unbewossten  ^ 
deshalb  umso  gefährlicheren  ästhetischen  Anschauungen  bestimmen  lbs  ^ 
seiner  Auswahl  des  Darzustellenden  nach  Stoff  und  Technik.*) 

Der  praktische  Hauptzweck  der  Ästhetik  liegt  aber,  wie  ich  ^i$x^ 
in  der  Erholung,  welche  die  Kunstwerke  gewähren,  diese  Erholung  ^ 
nicht  eine  Nebensache,  nicht  ein  blosses  Ausruhen,  sie  führt  auch  glei^ 
zeitig  dem  Geiste  Nahrung  zu,  wie  das  zuströmende  Blut  den  ermfideii^ 
Bestandteilen  des  menschlichen  Körpers.  An  nichts  erkennt  man  aß 
Charakter  eines  Menschen  besser  als  worin  und  wie  er  seine  ErholiiBf 
findet  und  sucht,  denn  das  hängt  von  seiner  Bildung  und  Moral  ab  td 
diese  von  Anlagen  und  Erziehung.  Die  Ästhetik  hat  nun  m.  E.  die  pith* 
tische  Aufgabe,  das  Schöne  und  die  Kunst  tiefer  erfassen  zu  lehren  mi 
dadurch  auch  die  Erholung  zu  vertiefen,  welche  das  Ästhetische  gewihit 
Doch  glaube  ich  deswegen  nicht,  dass  die  ganze  Erziehung  des  Menschtt 
eine  ästhetische  sein  soll,  gerade   weil  das  Ästhetische  als  solches  kebe 


1)  VgL  meine  Arbeit  „Die  Einteilung  der  Wissenschaft  als  Einteitasi 
in  die  Philosophie"  in  der  „Zeitschr.  f.  inomanente  Philosophie^.  Bd.  IV 
Heft  n,  228  f. 

*)  Schon  die  Erkenntnis,  dass  er  ästhetische  Ansichten  hat,  wird  da 
Künstler  vorsichtig  machen  in  ihrer  Anwendung  und  den  Weg  bahnen  H 
Freiheit  der  Auffassung.  Unter  „ästhetischer  Ansicht^  verstehe  ich  hie 
aber  eine  Ansicht,  wie  ein  Kunstwerk  beschaffen  sein  solL  Eb 
solche  Ansicht  ist  aber  m.  E.  mehr  oder  weniger  Geschmacksache,  die  u 
Regeln  gebracht  werden  kann,  die  aber  nach  Ort,  Zeit  und  Individmo 
subjektiv  verschieden  sein  müssen.  Die  Ästhetik  hat  das  Kunstwerk,  di 
Kunstschaffen,  den  Kunstgenuss  nach  ihrer  subjektiven  Seite  hin  zu  au 
lysieren,  nicht  aber  einen  Kanon  der  Kunst  zu  geben. 


Die  Grundfragen  der  Ästhetik  etc.  251 

ktiscben  Ziele  haben  darf.  Dem  Ästhetischen  praktische  Ziele  setzen 
1  es  praktisch-sozial  benutzen,  ist  zweierlei.  Es  ist  gewiss  erwünscht, 
8  das  Ästhetische  wie  ein  Blumengewinde  durch  das  praktische  Leben 
durchzieht,  aber  dieses  Blumengewinde  darf  nicht  zum  praktischen  Ziel 

Lebens   werden  (ausser  beim  Künstler)   und  darf  es  auch  nicht  über- 
chem  und  alle  seine  anderen  Zwecke  ersticken. 

Indem  ich  nun  an  meine  Aufgabe  herantrete,   will   ich   zuerst   eine 
apteigenschaft   (wenn  man  will,  zwei  Haupteigenschaften)  untersuchen, 

Kant  als  wesentliches  Erfordernis  dem   Schönen  zuschrieb.     Es  soll 
olich  subjektiv  und  doch  aUgemein  sein. 


§  1.     Die  Subjektivität  des  Schönen. 

Jede  Subjektivität  setzt  eine  Objektivität  voraus;  diese  Be- 
ffe  der  Objektivität  und  Subjektivität  werden  aber  in  den  ein- 
Ben  philosophischen  Systemen  sehr  verschieden  bestimmt;  diese 
rschiedenheit  entgeht  vor  allem  durch  die  mannigfachen  traus- 
ndenten  Annahmen  der  einzelnen  Systeme.  Dasjenige,  was  un- 
längig  von  mir  gilt,  ist  objektiv,  was  nur  für  mich  gilt,  ist 
yektiv.  Es  ist  mir  aber,  was  heute  wohl  ziemlich  allgemein 
festanden  werden  wird,  „zunächst"  alles  subjektiv  gegeben; 
8  in  diesem  Subjektiven  auch  objektiv  gelten  soll,  hängt  dann 
1  der  fraglichen  transscendenten  Unterlage  des  Subjektiven  ab. 
les  Subjektive,  das  eine  transscendente  Unterlage  hat,  besteht 
±  objektiv  und  kann,  auch  wenn  man  seine  transscendente 
terlage  nicht  oder  nicht  vollkommen  zu  erkennen  vermag,  doch 
iektiv  genannt  werden:  es  ist  das  Objektive  im  Subjektiven, 
r  den  erkenntnistheoretischen  Standpunkt  ^)  giebt  es  jedoch  keine 
msscendenz  und  doch  kann  er  den  Begriff  des  Objektiven  nicht 
ückweisen,  denn  dieser  Unterschied  wird  tatsächlich  gemacht 
i  muss  daher  irgendwie  auf  tatsächliche  Unterschiede  zurück- 
ührt  werden  können.  Objektiv  könnte  man  nun  alles  dasjenige 
inen,  was  nach  bestimmten  Gesetzen  sich  bestimmen  lässt;  diese 
jektivität  gehört  sowohl  der  Aussenwelt  wie  der  Innenwelt  an; 
;h  an  der  Innenwelt  ist  alles,  das  festen  Gesetzen  unverrückbar 
^,  „objektiv  gegeben"";  nur  das  Unbestimmbare  der  Innenwelt 
„subjektiv  gegeben"".  Was  aber  in  der  Aussenwelt  nicht  nach 
ten  Gesetzen  bestimmt  werden  kann,  ist  deswegen  noch  nicht 
bjektiv  gegeben"*,  sondern  „zufällig".  Der  aufgestellte  Begriff 
Subjektivität   und   Objektivität  ist   daher   unzureichend.     E> 

1)  Vgl  meine  „Grundlagen  einer  Erkenntnistheorie",  p.  6  ff. 


252  R.  V.  Schubert-Soldern, 

wurzelt  auch  in  dem  Unterschied  zwischen  Innenwelt  und  Ânsseo- 
welt  Objektiv  ist,  was  der  Aussenwelt  angehört,  subjektiv,  was 
der  Innenwelt  angehört.  Doch  was  die  Aussenwelt  auszeichnet, 
ist  die  unverbrüchliche  Ordnung  und  gesetzliche  Aufeinanderfolge 
ihrer  Elemente.  Soweit  wir  diese  Beschaffenheit  auch  in  der 
Innenwelt  finden,  sprechen  wir  auch  von  einer  Objektivität  der 
Innenwelt.  Deswegen  schillert  dieser  Begriff  der  Objektivität  und 
Subjektivität  zwischen  den  Unterschieden  gesetzmässiger  BestimiD- 
barkeit  und  der  Angehörigkeit  zur  Aussen-  oder  Innenwelt 

Wir  wollen  nun  den  Begriff  des  Schönen  in  beiden  Be- 
ziehungen untersuchen,  also  ob  das  Schöne  streng  gesetzlich  be- 
stimmbar  ist  und  ob  es  der  Aussenwelt  oder  der  Innenwelt  an* 
gehört. 

Würde   das   Schöne    der   Aussenwelt   allein  angehören,  so 
könnte   im  Wesentlichen   kein    Streit   darüber   herrschen.    Audi 
wer  nie   viel  Farben  und  Farbenmischungen  im  Leben  gesehen 
hat,  wird  doch,  wenn  er  nicht  farbenblind  ist,  alle  Farben,  Farbeo- 
Schattierungen   und    selbst  Farbenkontraste  unterscheiden  könno; 
Streit  kann  hier  höchstens  über  die  feinsten  FarbenschattieroDges 
und  Farbenkontraste   herrschen.    Gilt  das  auch  von  den  Urteihi 
über   das  Schöne?    Man   schenke  einem  mit  der  Kunst  ganzUs* 
bekannten  ein  meisterhaft  ausgeführtes  urhässliches  MenschenbiU; 
auch   er   wird   sich   vielleicht  dahin   äussern,   einen  solchen  Ked 
möge  er  nicht  einmal  geschenkt  haben.    Man  wird  nun  wohl  eis* 
wenden,  man  brauche  diesen  mit  der  Kunst  Unbekannten  nur  g^ 
hörig  in  die  Kunst  einzuführen  und  er  wird  nun  ein  anderes  D^ 
teil  fällen.    Gewiss!    Doch  was  hat  sich  geändert?    Am  BU 
also  in   der  Aussenwelt   rein  gar  nichts,   nur   die  Innenwelt  dtf 
Urteilenden    ist    eine    andere    geworden.      Das    Urteil   über  i^ 
Schöne  hängt  daher  jedenfalls  von  der  Innenwelt  des  Urtefl^ 
ab;  freilich  nicht  von  ihr  allein,  sondern  auch  vom  Tatbestand  it 
der  Aussenwelt.    Es  ist  das  Resultat  beider  Faktoren,  der  Inoefi' 
und   der  Aussenwelt.     Die  Innenwelt  eines   Zeitalters  bestiinirt 
deshalb   seine  Schönheitsurteile,   seine   Schönheitsideale.    Vom  6^ 
kenntnistheoretischen   Standpunkt   freilich  ist   alle  Schönhmt  sib* 
jektiv,  insofern  ein  objektiver  Tatbestand  in  der  Aussenwelt  ok* 
eine   beurteilende   Innenwelt   nicht   schön   genannt   werden  kaA 
denn  eine  jede  Schönheit  setzt  eine  subjektive  Beurteilung  vorÄ 
die  aber  ohne  äusseren  objektiven  Tatbestand  nicht  erfolgen  la^ 
Dieser   äussere   Tatbestand   braucht   aber   nicht  das  eigentlich  0 


Die  Grundfragen  der  Ästhetik  etc.  2Ö3 

irteilende  zu  sein;  er  ist  es  nur  in  den  bildenden  Künsten  und 
der  Musik;    in   der  Poesie   und   schönen  Litteratur   wird  nicht 

äussere  Tatbestand  (Buchstaben,  Einband,  Papier,  Tinte, 
ickerschwärze)  beurteilt,  sondern  ein  innerer,  durch  jenen 
seren  Tatbestand  erst  hervorgebrachter.  Das  führt  uns  zum 
îiten  Punkt. 

Ist  das  Schönheitsurteil  so  genau  und  unverrückbar  bestimmt, 
'.  etwa  das  mathematische  oder  auch  nur  naturwissenschaftliche? 
sh  io  der  Mathematik  und  Naturwissenschaft  hängen  die  Urteile 
i  der  Innenwelt  der  Urteilenden  ab.  Ein  wissenschaftlich  Un- 
âldeter  wird  den  pythagoräischen  Lehrsatz  nicht  verstehen,  das 
setz  der  Anziehung  der  Massen  nicht  begreifen;  bildet  man  ihn 
senschaftlich  aus,  so  wird  ihm  auch  das  Verständnis  kommen, 
"gleichen  wir  aber  ein  solches  wissenschaftliches  Urteil  mit  dem 
lönheitsurteii,  so  ergeben  sich  zwei  wichtige  Unterschiede. 

Erstens:  Über  ein  und  denselben  Tatbestand  kann  wissen- 
aftlich  zur  Zeit  immer  nui*  ein  giltiges  Urteil  gefällt  werden; 
mehrere  Urteile  mit  gleichem  Recht  über  ein  und  denselben 
.bestand  gefällt  werden,  sind  alle  fraglich,  nicht  aber  alle  giltig. 
Schönheitsurteile  können  über  denselben  Tatbestand  bei  ver- 
iedenen  Individuen  ganz  verschieden  lauten  und  doch  die  gleiche 
tigkeit  haben,  so  wenn  einer  vom  Standpunkt  der  idealistischen 
Fassung,  der  andere  vom  Standpunkt  der  realistischen  Auf- 
mng  urteilt.  Ja  man  kann  sogar  beide  Urteile  von  einem 
eren  Standpunkt  aus  verstehen  und  sogar  billigen. 

Zweitens:  Zwei  ganz  entgegengesetzte  Tatbestände  können 
hi  dieselbe  wissenschaftliche  Beurteilung  erfahren;  ich  kann 
bt  dasselbe  Urteil  fällen  über  einen  Stoff,  der  tötlich  wirkt  und 
30  anderen,  der  ernährend  wirkt.  Über  zwei  entgegengesetzte 
tietische  Tatbestände  kann  ich  aber  dasselbe  Urteil  fällen,  ich 
tu  ein  idealistisches  und  ein  realistisch  durchgeführtes  Kunst- 
*k  in  gleicher  Weise  schön  finden. 

Daraus  folgt,  dass  entgegengesetzte  Schönheitsurteile  nie 
K^h,  sondern  nur  einseitig  sind.  Wenn  der  eine  ein  Kunstwerk 
tuteilt,  der  andere  es  lobt,  so  kommt  das  daher,  dass  ihre 
enwelten  eine  verschiedene  Ausbildung  haben;  man  kann  aber 
hi  sagen,  das  eine  Urteil  müsse  falsch  sein,  sondern  beide  Ur- 
e  sind  einseitig.  Die  Vereinigung  beider  Urteile  erfolgt  auf 
Bm  höheren  ästhetischen  Standpunkt  nicht  durch  Vermittelung 
1*  Ausmerzung  des  einen  Urteils,  sondern  durch  die  E^rkenntnis 


254  B.  V.  Schubert-Soldern, 

ihrer  Einseitigkeit.     Der   ästhetisch   Durchgebildete  yennag 
sowohl  auf  den  einen  als  auf  den  anderen  Standpunkt  zu  sie 
er  findet    nicht    einen    Widerspruch    zwischen    beiden  Urte 
sondern  nur  eine  Verschiedenheit  im  Standpunkte  der  Beurteil 
Wenn  dagegen  der  eine  Gelehrte  behaupten  würde,    ein  Stoff 
giftig,    der    zweite,    er   sei   nicht  giftig,   so   ist   hier  keine 
schiedenheit  des  Standpunktes  möglich,  das  eine  Urteil  muss  fs 
sein,  wenn  das  andere  wahr  ist.    Dasselbe  gilt  auch  für  den 
jektiven   Tatbestand   des   Schönheitsurteils.     Über  den  objekt 
ästhetischen    Tatbestand    giebt    es    nicht   zwei    entgegenge« 
gleicherweise   gestattete   Urteile.     Man   kann   nicht   darüber 
Recht  verschiedener   Meinung   sein,   ob   ein  Fuss  verzeichnel 
oder  nicht:  entweder  er  ist  verzeichnet  oder  er  ist  es  nicht, 
darüber,   ob   mir   ein  Kunstwerk  gefällt   oder  nicht  gefällt, 
zwei   entgegengesetzte    gleichberechtigte   Urteile   möglich.    '. 
wegen   giebt   es  auch  falsche  Urteile  in  der  Kunst,   wenn  sie 
falscher   Beurteilung   des    Tatbestandes    beruhen;    nur  dass 
Kunstwerk   bei   vollem   Verständnis   seiner   Technik   gefallt 
missfällt,  kann  nie  falsch  sein,  sondern  die  Auflösung  des  Wi 
Spruches  ist  hier  die  Erkenntnis  seiner  Notwendigkeit. 

Jedes  SchönheitsurteiP)  ist  daher  insofern  subjektiv,  al 
auf  der  bestimmten  Beschaffenheit  der  Innenwelt  des  Urteile 
beruht  und  unberechenbar  ist;  es  ist  eben  unberechenbar,  wc 
nicht  zwei  Innenwelten  giebt,  die  sich  vollständig  gleichen, 
Innenwelt  hat  wenigstens  teilweise  ihre  eigenen  ästhetische] 
fahrungen  gemacht,  die  nun  auch  ihre  Schönheitsurteile  1 
flussen.  Jedem  Schönheitsurteil  muss  aber  ein  objektiver 
bestand  zugrunde  liegen,  sonst  fehlt  ja  überhaupt  der  Gegen 
der  Beurteilung.  Dieser  objektive  ästhetische  Tatbestand  ist 
aber  auch  Gegenstand  einer  eigenen  Beurteilung,  die  weni| 
teilweise  vom  Schönheitsurteil  unabhängig  ist.  Es  ist  freili( 
sonders  von  Künstlem  oft  behauptet  worden,  dass  die  T( 
(und  auf  ihr  beruht  der  objektive  ästhetische  Tatbestand)  alle 
höchstens  wurde  noch  der  Komposition  ein  bescheidenes  PlSt 
eingeräumt.  Dem  steht  die  Thatsache  entgegen,  dass  über 
technisch  gleich  vollendete  Kunstwerke  zwei  ganz  versdu' 
Schönheitsurteile   gefällt   werden   können;   will  man  das  der 

1)  Ich  spreche  hier  nur  von  „Schönheitsurteilen**,  weü  das  „I 
tische  Urteil"  oft  in  einem  weiteren  Sinn  gebraucht  wird,  der  aie  Vi 
über  den  objektiven  ästhetischen  Tatbestand  mit  umfasst 


Die  Grundfragen  der  Ästhetik  etc.  25Ö 

edenheit  der  Komposition  za  gute  rechnen,  dann  muss  man 
en  Begriff  stark  erweitern  und  vertiefen.  Die  äussere  Kompo- 
n  muss  dann  zur  inneren  künstlerischen  Auffassung  werden; 
Künstler  kann  nur  das  darstellen,  was  er  sieht  und  empfindet 

was  er  sehen  und  empfinden  will;  diese  seine  Auffassung 
hdringt  und  leitet  seine  ganze  Technik,  so  dass  beide  zü- 
rnen ein  schwer  zu  trennendes  Ganze  ausmachen.  Natürlich 
Dflusst  auch  die  Technik  seine  Auffassung,  doch  mehr  in  dem 
le,  dass  sie  sie  hemmt  und  modifiziert,  als  dass  sie  sie  fördert 

leitet.  Daher  kommt  es,  dass  auch  technisch  unvollendet« 
ke  durch  ihre  Auffassung  bezaubern  und  raffiniert  technisch 
'hgeführte  Werke  ihrer  Auffassung  wegen  abstossend  wirken 
len.  Ja  gerade  oft  jene  Werke,  in  denen  in  einer  Frühkunst 
Auffassung  noch  mit  der  Darstellung  ringt,  haben  den  eigenen 
ber  der  Blütenknospe,  den  die  voll  aufgeblühte  Rose  nicht 
r  besitzt.^) 


^)  Wenn  Marschner  (^Die  Orundfragen  der  Ästhetik*^,  Zeitschr.  f. 
inente  Philosophie,  Bd.  IV,  2,  p.  178)  behauptet,  dass  man  das  Schöne 
^^itesten  Sinne  von  drei  Standpunkten  aus  behandeln  könne,  vom 
Ipunkt  des  schaffenden  Künstlers,  vom  Standpunkt  des  Kunstwerkes 
b  (objektiver  Tatbestand,  Technik)  und  vom  Standpunkt  des  Betrach- 
»s  und  Geniessenden,  so  hat  er  gewiss  vollkommen  recht.  Nur  kann 
»  reinliche  Scheidung  dieser  Standpunkte  stattfinden.  Der  Künstler 
:b  seinem  Schaffen  gebunden  durch  die  Technik  und  das  Urteü  des 
»«htenden;  das  letzte  freilich  nicht  in  dem  Sinn,  als  ob  er  allen 
en  des  Publikums  nachgeben  sollte,  sondern  in  dem  Sinn,  dass  er 
:Yiindestens  einen  idealen  Betrachtenden  vorstellen  muss.    Er  arbeitet 

für  ein  Publikum,  sonst  könnte  er  sein  Kunstwerk  auch  verborgen 

r^  and  hätte  seinen  Zweck  doch  erreicht;  dass  das  kein  Künstler  tut, 

dass   dem  Darstellenden   ein  rein  ideelles  Publikum  nicht  genügt. 

wird  ihn  gewiss  in  seinem  Schaffen  ein  verständiger  Beurteüer 
*  Werke  nur  fördern  und  das  gilt  auch  vom  Laien  in  der  Kunst, 
iiur  durch  ihn  kann  der  Künstler  erfahren,  ob  er  auch  verständlich 
*<n  ist,  ob  er  das  ausgedrückt  hat,  was  er  ausdrücken  wollte.  Von 
Standpunkt  des  Kunstwerks  gilt  dasselbe,  eine  Technik,  die  den  Be- 
enden gänzlich  beiseite  liesse,  wäre  ohne  Ziel  und  Zweck.  Anderer- 
l^ann  der  Betrachtende  den  vollen  Genuss  nie  ohne  ein  gewisses 
"^ndnis  künstlerischen  Schaffens  sowohl  des  subjektiven  als  auch  des 
^^ven  (der  Technik)  erreichen.  Kant  hat,  wie  jeder  Laie,  hauptsäch- 
^otn  Standpunkt  des  Betrachtenden  die  ästhetischen  Fragen  beant- 
^y  und  diesen  Standpunkt  nehme  auch  ich  hier  im  wesentlichen  ein. 
^^  eben  kaum  vielen  gegönnt  sein,  Fragen  der  allgemeinen  Ästhetik 
^en  drei  Standpunkten  gemeinschaftlich  behandeln  zu  können. 


256  B.  V.  Schubert-Soldern, 

§  2.    Allgemeinheit  des  Schönheitsurteiles. 

Kant  nennt  das  Schöne  subjektiv  und  doch  allgemein,  seine 
Begriffsbestimmung  der  Allgemeinheit  oder  Allgemeingiltigkeit  des 
Schönheitsurteiles  ist  aber  ziemlich  schwankend:  bald  fällt  es  mit 
der  Uninteressiertheit  des  Wohlgefallens  zusammen,  bald  mit  dem 
Begriff   der  Apriorität,   d.  h.   mit  einem  Gefallen,   das  auf  einem. 
Urteil   a  priori   beruht,   bald,   und   das   hängt  mit   letzterem  zol- 
sammen,   mit  einem  Gefallen,   das  nicht  sinnlich  ist.     Wir  wolieü 
nun  diese  von  Kant  behaupteten  drei  Eigenschaften  des  Schönes 
prüfen. 

a)  Das  Schöne  beruht  auf  dem  uninteressierten  WohlgefallftZ3 
Der  englische  Philosoph  und  Nationalökonom  Smith  baut  dX< 
Moral  auf  dem  Urteil  des  unparteiischen  Zuschauers  auf.  Das  i^ 
allerdings  sehr  unbestimmt,  denn  welcher  Zuschauer  ist  unpart^  J 
isch  zu  nennen,  es  kommt  aber  doch  auf  das  hinaus,  was  EaX3 
uninteressiertes  Wohlgefallen  und  Missfallen  nennt;  nur  muss  m^^ 
au  Stelle  des  unparteiischen  Zuschauers  den  unbeteiligten  setze^K 
Wenn  ich  etwas  betrachte,  an  dem  ich  persönlich  durch  kein^^ 
Vorteil  beteiligt  bin,  so  dass  das  Betrachten  selbst  mein  einzige 
Zweck  ist,  so  werde  ich  im  Betrachten  Wohlgefallen,  Missfall^^ 
oder  Gleichgiltigkeit  empfinden.  Dieses  Wohlgefallen  resp.  IGs^ 
fallen  ist  uninteressiert,  weil  ich  den  Gegenstand  nicht  zu  ein^  ' 
fremden  Zweck  betrachte,  weil  alle  persönlichen  Vorteile  von  d^ 
Betrachtung  ausgeschlossen  sind.  Wenn  ich  aber  in  der  B^ 
trachtung  nicht  verbleibe,  wenn  ich  darüber  hinausgehe,  wenn  e^ 
Begehren,  ein  Verlangen  in  mir  wach  wird,  dann  ist  mein  Wohu— 
gefallen  nicht  mehr  uninteressiert,  dann  begehre  ich  etwas 
mich  seiner  persönlichen  Vorteile  wegen.  Kant  hat  das  so 
gedrückt,  dass  beim  Schönen  die  Existenz  der  Sache  mir  gleict::^ 
giltig  sein  müsse.  Das  ist  nun  m.  E.  unrichtig  ausgedrückt,  deit::::^ 
auch  bei  ganz  uninteressiertem  Wohlgefallen  ist  mir  die  Existeo — 
der  Sache  nicht  gleichgUtJg,  denn  nur  durch  ihre  Existenz  ist  de^^ 
Genuss  der  Betrachtung  möglich  ;  die  Existenz  ist  mir  nur  iiisc^ 
fem  gleichgiltig,  dass  ich  nicht  mehr  als  die  Existenz  yerlang^ 
dass  ich  keine  persönliche  Beziehung  zwischen  mir  und  der  Sacbvc. 
herstellen  will.  Bergmann  sagt  daher  sehr  richtig:^)  »De«*^ 
nicht  das  Terlangt  der  Begriff  des  Schönen,  dass  die  Lost,  1::» 
dasselbe   gewähre,  überhaupt  nicht  Befriedigung  eines  BegebremM 


')  •Über  das  SciiOn<?-,  Beriin  lögT,  p,  106. 


Die  Grundfragen  der  Ästhetik  etc.  257 

i\  sondern  nur,  dass  das  Begehren,  dem  es  Befriedigung  biete, 
liglich  das  Betrachten  des  Gegenstandes  zum  Inhalt  habe.^ 
«wegen  erzeugt  in  der  Tat  das  Schöne  eine  gewisse  Ruhe,  die 
3r  nicht  in  seiner  objektiven  Beschaffenheit  liegt,  die  oft  die 
tigste  innere  und  äussere  Bewegung  aufweisen  kann,  sondern 
Gemütszustande  des  Betrachters.  Weil  das  Begehren  in  der 
xachtung  befriedigt  erscheint,  so  hört  alles  Streben,  das  über 

Gegenwart  hinaus  will,  auf:  es  entsteht  ein  Ausruhen  von 
rgischen  Willensregungen,  vom  Kampf  des  Lebens.    Allerdings 

das   nur  vom   vollkommen  Schönen  oder  wenigstens  nur  von 
1   Schönen,  das  dem  Betrachter  vollkommen  erscheint,   denn  so 

sich  ein  Missfallen  in  das  Wohlgefallen  einmengt,  muss  auch 

Begehren  nach  der  Abänderung  des  Kunstwerkes  entstehen. 
Es  wäre  jetzt  noch  der  Begriff  der  persönlichen  Beziehung 
erläutern,  einer  der  schwierigsten  Begriffe,  so  dass  ich  nicht 
3s,  ob  mir  seine  mehr  als  negative  Bestimmung  gelingen  wird, 
'^tiv  bestimmt,  fasst  er  alles  das  in  sich,  was  über  die  blosse 
r^htung  des   Gegenstandes   hinausgeht.     Er   darf  aber  nicht 

dem  Individuellen  verwechselt  werden,  denn  die  Beziehungen 
i  Schönen  sind  stets  individuell,  sie  hängen  von  der  indivi- 
Uen  Vorstellungswelt  des  Betrachtenden   ab.    Das  Persönliche 

ästhetischen  Sinne  ist  nicht  das,  was  ein  Individuum  von 
sren  unterscheidet,  sondern  dai^enige,   was   ein  Kunstwerk  zu 

individuellen   Zwecken   des   Betrachters  in  Beziehung  setzt, 

also   em   Kunstwerk   zu  einem   Mittel  für  das  Individuum 

ht    oder  auch   nur  das  Betrachten  des  Kunstwerkes  zu  einem 

^1  macht.    Wenn  meine  eigene  Betrachtung  des  Kunstwerkes 

ein  Mittel  der  Analyse  des  Schönen  wird  (etwa  zum  Zweck 
^  Abhandlung),  so  hört  hier  das  Schöne  auf  und  die  Wissen- 
^  fängt  an.  Deswegen  ist  es  so  schwierig,  ein  Kunstwerk 
t*  bloss  seiner  Technik,  sondern  auch  seinem  ästhetischen  Ein- 
k  nach  einer  wissenschaftlichen  Analyse  zu  unterwerfen,  der 
erstand  der  Analyse  droht  immerfort  unter  den  Händen  zu 
^winden. 

Darin  aber,  dass  das  Wohlgefallen  am  Schönen  nicht  über 
Betrachtung  hinausgeht,  liegt  auch  das,  was  Kant  seine  All- 
^ingiltigkeit  nennt.  Denn  dadurch,  dass  jeder  Zweck  der 
^<ihtung,  jeder  persönliche  Vorteil,  der  aus  dem  Gegenstände 
Betrachtung  heraussieht,  ausgeschlossen  erscheint,  stelle  ich 
^     auf  einen   Standpunkt,   der  nicht  bloss  geeignet  ist,   mein 


25é  R.  V.  Schubert-Soldern, 

Standpunkt  zu  sein,  sondern  der  jedermanns  Standpunkt  sein  kann, 
vorausgesetzt,  dass  er  sich  mit  der  blossen  Betrachtung  begnügt 
Allerdings  mache  ich  dabei  aber  eine  Voraussetzung,  die  nie  nod 
nirgends  zutrifft,  dass  nämlich  die  Innenwelt  des  Andern  geniui 
dieselbe  Beschaffenheit  habe  wie  meine  eigene,  unter  denselbeo 
inneren  Bedingungen  ist  das  Schönheitsurteil  allgemeingiltig,  aber 
diese  Bedingungen  sind  niemals  gegeben,  jede  Innenwelt  hat  ihre 
eigenen  ästhetischen  Erfahrungen  gemacht,  nach  der  sich  ihre 
ästhetischen  Urteile  richten,  und  deswegen  können  die  Schönheits- 
Ursachen  zweier  Personen  nur  in  den  seltensten  Fällen,  wenn  üb»« 
haupt,  miteinander  übereinstimmen.  Nichtsdestoweniger  erscheiot 
dem  Einzelnen  sein  Schönheitsurteil  im  Augenblick,  wo  er  sich  in 
ein  Kunstwerk  vertieft,  allgemeingiltig,  weil  er  auch  beim  Ändern 
dieselbe  Innenwelt  voraussetzt.  Diese  Allgemeingiltigkeit  ist  aber 
nicht  eine  logische,  sondern  eine  psychologische  oder  vielmài 
sie  ist  ein  psychologischer  Schein,  eine  psychologische  Schrin- 
giltigkeit. 

Kant  hat  die  Zweckmässigkeit  von  der  Schönheit 
wenigstens  von  der  reinen  Schönheit,  ausgeschlossen.  Meines  JSs- 
achtens  mit  Unrecht;  denn  es  handelt  sich  doch  bloss  darum,  dft* 
im  Betrachten  nicht  über  das  Betrachtete  hinausgegangen  wirA 
dass  nicht  ein  Streben  entsteht,  das  über  die  Betrachtung  hinauf' 
geht.  Darin  ist  nicht  eingeschlossen,  dass  nur  ein  Gßgenstaa^ 
betrachtet  wird,  man  kann  auch  ein  Verhältnis  von  Gegenstände^ 
dem  Schönheitsurteil  unterwerfen:  Die  Zweckmässigkeit  ist  abe^^ 
ein  solches  Verhältnis  von  Gegenständen  zu  einander,  auch  danf^' 
wenn  der  Zweck  ein  idealer  ist,  der  in  der  Aussenwelt  nicht  ai^' 
gewiesen  werden  kann.  Man  kann  diese  Zweckmässigkeit  an  sicS^ 
betrachten,  ohne  dass  sich  ein  Verlangen  oder  Begebren  regt,  di^ 
über  diese  Betrachtung  hinausgehen.  Die  Zweckmässigkeit  kanf^ 
an  sich  gefallen,  sie  hat  eine  Schönheit  für  sich,  die  unabhängig 
von  meinen  persönlichen  Vorteilen  ist,  sie  kann  in  der  Betrachtung 
selbst  als  Zweck  und  nicht  als  Mittel  erscheinen.  Das  ist  ziffl^ 
grossen  Teil  bei  der  architektonischen  Schönheit  der  FalL- 
Hier  ist  der  Zweck  des  Gebäudes  die  Hauptsache  und  seine? 
Schönheit  liegt  zum  grossen  Teil  darin,  dass  der  Zweck  in  alte» 
Teilen  seinen  richtigen  (allerdings  auch  gefälligen)  Ausdruck  findet — 
Nur  wenn  man  nicht  bei  der  Beti^achtung  der  Zweckmässigka* 
stehen  bleibt,  wenn  man  zum  Gebrauch  und  Zweck  selbst  über- 
geht,  hört  die   Schönheit   auf.    Deswegen   ist   die  zwedunässipe 


Die  Grundfragen  der  Ästhetik  etc<  259 

taltung   eines   Gegenstandes   ebenso   eine   Schönheit,   wie  die 
taltung  eines  Gegenstandes  ohne  Zweck,  die  schön  ist. 

Die  Schönheit  der  Zweckmässigkeit  ist  aber  freilich  eine 
ene  Art  der  Schönheit  und  eine  Schönheit,  die  leichter  vom 
ssen  Betrachten  zum  Wünschen  und  Verlangen  führt;  denn  der 
reck  braucht  nur  in  enger  Beziehung  zu  meinem  Begehren  zu 
ihen,  so  wird  die  blosse  Betrachtung  der  Zweckmässigkeit  un- 
•glich,  man  strebt,  zum  Gebrauch  selbst  überzugehen. 

Man  wird  also  dreierlei  Arten  von  Schönheit  zu  unter- 
leiden  haben:  1.  Die  Schönheit  eines  Gegenstandes,  der  nur 
1  Zweck  der  Betrachtung,  keinen  über  ihn  hinausgehenden 
'eck  hat.  2.  Einen  Gegenstand,  dessen  Schönheit  in  der  An- 
nessenheit  zu  einem  bestimmten  Zwecke  ausserhalb  seiner 
teht,  einer  Schönheit,  die  sich  auch  in  der  Natur  vorfindet. 
Die  Schönheit,  die  Kant  die  anhängende  Schönheit  nennt, 
h.  die  Verbindung  einer  gefälligen  Form  mit  der  Zweckmässig- 
'  des  Gegenstandes.  Dazu  gehören  Ornamente,  Zieraten,  An- 
grsel  u.  s.  w.  So  kann  ein  Pokal  die  Schönheit  der  Zweck- 
sigkeit  und  in  seinen  Ornamenten  und  seiner  Form  anhängende 
îJnheit  besitzen. 

b)  Kant  versteht  unter  der  Allgemeingiltigkeit  des  Schönen 
i  die  Apriorität  des  ästhetischen  Urteils.  Der  Gegen- 
(3  soll  nämlich  gefallen  eines  Urteils  wegen,  das  vor  aller  Er- 
Ung  gefällt  wird;  aus  diesem  Urteil  entspringt  erst  das  Ge- 
il. „Vor  aller  Erfahrung**  hat  hier  den  Sinn,  dass  das  Urteil 
b  auf  einem  sinnlichen  Eindruck,  auf  einem  sinnlichen  Reiz 
ben  darf.    Es  bleibt  daher  nur  die  Art  und  VSTeise  übrig,  wie 

Sinnliche  aufgefasst  und  zusammengefasst  wird,  d.  h.  die 
^^llung   des   Gegenstandes  in   der  Einbildungskraft  (die   Art 

^eise,  wie  die  Einbildungskraft  ihn  auffasst)  muss  überein- 
men  mit  dem  Erkenntnisvermögen  überhaupt.  Mit  anderen 
"ti^n:  nur  die  Form  des  Gegenstandes  in  Raum  und  Zeit  macht 
^  Schönheit  aus.  Denn  nach  Kant  sind  Raum  und  Zeit 
>^en  der  Anschauung  a  priori  und  die  Einbildungskraft  ordnet 
sinnlichen  Reize  in  Raum  und  Zeit:  also  die  Anordnung  des 
blichen  in  Raum  und  Zeit  muss  Zweckmässigkeit  für  unser 
^imtnisvermögen  besitzen.  Das  heisst  wohl,  sie  muss  sich  mit 
^btigkeit  unter  einem  Begriff  überhaupt  zusammenfassen  lassen, 
^t  aber  unter  einen  empirisch  bestimmten  Begriff. 


260  R.  V.  Schubert-Soldern, 

Lassen  wir  die  Metaphysik  Kants  beiseite,  so  ergiebt  siek 
daraus,  dass  Kant  den  blossen  sinnlichen  Eindmck  nicht  n 
Schönen  rechnet  und  das  wohl  mit  Recht,  wenn  man  danmt»  & 
von  allen  Verhältnissen  und  Beziehungen  losgelösten  Sinnesinhito. 
versteht.  Grün,  ein  Geruch,  ein  Ton  u.  s.  w.  sind  an  und  fir 
sich  nicht  schön,  sie  können  nur  in  ihren  Verhältnissen  unten» 
ander  und  zum  Nachfolgenden  und  Vorangegangenen  schön  g»» 
nannt  werden.  Auch  wenn  ich  das  Grün  einer  Wiese  «Mt 
nenne,  so  tue  ich  das  nur  im  Gegensatz  zu  anderen  Elemeota 
der  Landschaft  oder  vielleicht  in  Erinnerung  an  die  toten,  st» 
bigen  Farben  der  Stadt.  Ich  sehe  hier  davon  ab,  dass  wenigst« 
nach  Kant  auch  dieses  VSTohlgefallen  an  der  Farbe  kein  WoUg^ 
fallen  am  Schönen  wäre.  Den  anderen  transscendentalen  Eröit* 
ungen  Kants  ist  aber  meines  Erachtens  kaum  etwas  zu  entnehnia^ 
was  weitere  praktische  Anwendbarkeit  besässe.  Dass  die  Vefr 
Stellung  in  der  Einbildungskraft  mit  unserem  Erkenntnisvennöga 
übereinstimmen  müsse,  ist  selbstverständlich,  so  dass  dann  eigent* 
lieh  alles  schön  sein  müsste.  Tatsächlich  kann  man  auch  nidk 
Widersprechendes  denken  noch  darstellen;  man  kann  höchstev 
unberechtigte  Erwartungen  an  das  Vorhandene  knüpfen,  d.  h.  te 
empirischen  Kausalität  Widersprechendes  vorstellen.  Das  Lebte 
ist  aber  etwas,  was  der  Schönheit  gar  nicht  entgegen  ist,  die  Dtf* 
Stellung  eines  Wunders,  eines  Märchens  widerspricht  durdi«» 
nicht  den  Gesetzen  der  Schönheit.  Auch  wenn  ich  einen  histo- 
rischen Vorgang  in  einem  Drama  oder  einem  Gemälde  g^n  & 
historische  Wahrheit  abändere,  kann  das  Dargestellte  doch  scUi 
sein.  Auch  ist  in  alledem  die  blosse  Übereinstimmung  des  V(»^ 
gestellten  mit  unserem  Erkenntnisvermögen  vorhanden,  es  ist  hitf 
nur  ein  Widerspruch  mit  dem  tatsächlichen  empirischen  Inhalt  g^ 
geben.  Nicht  weiter  kommt  man  mit  der  Zweckmässigkeit  des 
Schönen  für  unser  Erkenntnisvermögen,  denn  das  durch  die  ^ 
bildungskraft  Vorgestellte  muss  zweckmässig  für  unser  ErkenntJ** 
vermögen  sein.  Ein  positives  Moment  enthält  die  Forderung*' 
leichten  Unterordnung  des  Schönen  unter  einen  Begriff  übeAfl*' 
Denn  abgesehen  davon,  dass  diese  Leichtigkeit  ein  sehr  reWif* 
Begriff  ist  (was  dem  einen  schwer  ist,  kann  dem  andern  lei* 
sein),  liegt  darin  eine  Vermengung  des  Logischen  und  des  SchS»* 
Freilich  hat  auch  das  Logische  seine  Schönheit,  aber  diese  i» 
doch  nicht  die  einzige. 


Die  Grandfragen  der  Ästhetik  etc.  261 

c)  Kant  hat  aber  auch,  was  teilweise  schon  erörtert  wurde, 
Allgemeinheit  des  ästhetischen  Urteils  darin  gesucht,  dass  es 
t  auf  dem  Sinnlichen,  nicht  auf  dem  Empfindungsinhalt  beruht. 
m  ist  nur  empirisch,  das  ästhetische  Urteil  ist  a  priori;  das 
iori  aber  beruht  auf  Beziehungen  und  Verhältnissen,  die  ur- 
inglich und  vor  allem  sinnlichen  Inhalt,  Tor  aller  Erfahrung 
oben  sind.  Dieses  „Vor"  aber  ist  nicht  ein  zeitliches,  es 
zeit  darin,  dass  in  der  Erfahrung  Beziehungen  gegeben  sind 
bhängig  vom  sinnlichen  Inhalt  selbst,  weil  sie  ursprüngliche 
iktionen  des  Geistes  sind,  bevor  es  noch  einen  Inhalt  giebt, 
leich  sie  nur  an  einem  Inhalt  in  Erscheinung  treten  können, 
diesen  Beziehungen  der  Sinnesinhalte  auf  einander  durch  die 
bildungskraft  gemäss  dem  Erkenntnisvermögen  beruht  die 
5nheit.  Die  Schönheit  ist  daher  Form,  nicht  der  sinnliche 
lit  ist  schön,  sondern  Verhältnisse  von  Inhalten  und  diese  Ver- 
nisse sind  unabhängig  vom  sinnlichen  Inhalt,  sonst  wären  sie 
it  a  priori,  nicht  allgemeingiltig,  sie  stehen  vor  aller  möglichen 
ihrung  fest.  Darin  liegt  wieder  zweierlei:  1.  Dass  die  Schön- 
auf Verhältnissen  und  nicht  auf  dem  Inhalt  beruht,  dass  die 
5nheit  blosse  Formschönheit  ist.  2.  Dass  die  Schönheit  auf 
men  (Urteilen)  a  priori  beruht,  die  von  der  Erfahrung,  vom 
liehen  Inhalt  unabhängig  sind.  Da  der  zweite  Punkt  schon 
tert  wurde,  haben  wir  nur  noch  den  ersten  Punkt  zu  prüfen. 
Es  ist  gewiss  richtig,  dass  die  Schönheit  auf  Verhältnissen 
iht,  aber  ebenso  richtig,  dass  sie  auf  einem  Inhalt  beiniht,  weil 
cein  Verhältnis,  keine  Beziehung  ohne  Inhalt  giebt,  obgleich  es 
1  keinen  Inhalt  ohne  jede  Beziehung  giebt.  Alle  Verhältnisse 
Gleichheit,  Ähnlichkeit,  des  Gegensatzes,  alle  räumlichen  und 
liehen  Verhältnisse  u.  s.  w.  sind  ohne  Inhalte,  zwischen  denen 
bestehen,  undenkbar.  Gleichheit  und  Ähnlichkeit  finden  sich 
1er  nur  an  gleichen  und  ähnlichen  Inhalten,  nie  für  sich;  das- 
e  gilt  für  räumliche  und  zeitliche  Beziehungen,  ein  Neben- 
Nacheinander  ohne  Inhalte  hat  keinen  Sinn.  Ebensowenig 
1  etwas  schön  oder  hässlich  genannt  werden  ohne  einen  Inhalt; 
1  wenn  ich  von  allem  Inhalt  absehe,  so  bleiben  nur  Gleichheit, 
lichkeit,  Gegensatz,  Nebeneinander,  Nacheinander  als  Begriffe 
haupt  übrig.  Wie  soll  nun  ein  Nebeneinander  an  und  für 
schön  sein?  Dann  müsste  ja  auch  jedes  Nebeneinander  schön 
wenn  aller  sinnliche   Inhalt  gleichgiltig  ist,   dann  müssten 

Verhältnisse  gleicherweise  schön  oder  auch  hässlich  sein,  denn 
»iitttiidUB  xin.  •»Q. 


262  R.  v.  Schubert-Soldern, 

was  ein  Verhältnis  zu  einem  bestimmten  Verhältnis  macht,  ist 
immer  der  Inhalt.  Wodurch  soll  sich  ein  Nebeneinander  von  im 
andern  unterscheiden,  wodurch  eine  Ähnlichkeit  von  der  andern 
wenn  nicht  durch  die  Inhalte,  die  ähnlich,  die  nebeneinander  wi 
Wenn  blosse  Verhältnisse  schön  sind,  dann  müssen,  wenn  à 
Verhältnis  schön  ist,  alle  schön  sein,  wenn  ein  Verhältnis  hisstiA 
ist,  alle  hässlich  sein,  weil  dann  alle  Verschiedenheit  innerbak 
der  Verhältnisse  aufhört. 

Ebensowenig  aber  kann  man  behaupten,  dass  es  einen  Miit 
ohne  Beziehungen,  ohne  ein  Verhältnis  zu  anderen  Inhalten  gebei 
könne.  Wenn  ich  von  einer  Farbe,  etwa  „Rot",  spreche,  so  s*i 
ich  damit  schon  gewisse  Beziehungen  zu  anderen  Farben  vonn 
Ähnlichkeiten  mit  und  Gegensätze  zu  anderen  Farben.  Gäbe«: 
nämlich  nur  rote  Farben,  dann  könnte  ich  von  keiner  roten  Faih 
sprechen,  sondern  nur  von  der  Farbe  überhaupt  ;  aber  auch  Farlie 
gäbe  es  dann  nur  im  Gegensatz  zu  anderen  Inhalten,  Töoeii 
Tastinhalten  u.  s.  w.  Gäbe  es  aber  keine  anderen  Inhalte  ù 
Farben,  dann  hätte  das  Wort  Farbe  keinen  Sinn,  dann  könnü 
ich  nur  von  Inhalten  des  Bewusstseins  sprechen,  dann  wären  & 
Farben  die  einzigen  Inhalte.  Jeder  Inhalt  erscheint  daher  als  \t 
stimmter  Inhalt  nur  durch  seine  Beziehungen  zu  anderen  MaltÄ 
Wenn  ich  betone,  dass  etwas  rot  sei,  so  setze  ich  damit  vorm 
dass  es  nicht  blau,  nicht  grün,  aber  auch  kein  Ton,  kein  Geni 
sei  u.  s.  w.;  ich  setze  also  gewisse  gegensätzliche  Beziehnng« 
voraus,  durch  die  das  Rot  eben  als  rot  erscheint.  Jeder  Inhiï 
erscheint  also  als  bestimmter  Inhalt  nur  durch  seine  Verhältnis» 
der  Ähnlichkeit  und  des  Gegensatzes  zu  anderen  Inhalten,  seht 
ich  von  diesen  ab,  so  bleibt  nur  das  leere  Wort  „Inhalt"  fibiit 
Daraus  ergiebt  sich,  dass  diese  Beziehungen  (zu  anderen  Inhaltea) 
und  die  Inhalte  unauflöslich  mit  einander  verknüpft  sind,  da» 
jedes  Verhältnis  nur  durch  seine  Inhalte  bestimmt  werden  b* 
und  jeder  Inhalt  durch  seine  Verhältnisse  zu  anderen  Inhalten  ak 
bestimmter  Inhalt  erscheint. 

Wenn  das  richtig  ist,  dann  ist  es  ebenso  unmögM^B 
Schönheiten  bloss  der  Verhältnisse  wie  von  Schönheiten  bloss  *• 
Inhalts  zu  sprechen,  weil  beide  nur  in  ihrer  gegenseitigen  B^ 
Stimmung  etwas  sind:  ein  Inhalt  ohne  Beziehungen  zu  andafci 
Inhalten  ist  ein  Nichts,  ein  Verhältnis  ohne  Inhalte  ist  A 
blosses  Wort. 


Die  Grandfragen  der  Ästhetik  etc.  263 

Vielleicht  könnte  man  aber  die  formale  Schönheit  als  die 
lönheit  räumlicher  Formen  auffassen.  Hier  scheint  ein 
allen  vorhanden  zu  sein,  das  bloss  an  der  äusseren  Form 
Igt  und  mit  dem  Inhalt  nichts  zu  tun  hat.  Dagegen  spricht 
öch  zweierlei:  1.  Der  Raum  ist  nicht  blosse  Form,  er  ist  nicht 
itisch  mit  räumlichen  Verhältnissen;  2.  Raum  und  räumliche 
hältnisse  sind  nicht  vorstellbar  ohne  Inhalt,  ohne  qualitative 
verschiede. 

Was  den  ersten  Punkt  anbelangt,  so  ist  der  Raum  nicht  in 
mliche  Verhältnisse  von  Qualitäten  auflösbar  und  überhaupt 
it  in  räumliche  Verhältnisse,  immer  bleibt  ein  unauflösbares  in- 
tliches  Moment  zurück.  Wenn  ich  bei  der  Fläche  von  ihrer 
ilität  (Farbe,  Tastqualität)  absehe,  so  bleibt  nicht  eine  Be- 
lung  von  mathematischen,  ausdehnungslosen  Punkten  übrig; 
Fläche  kann  nicht  in  Beziehungen  von  unendlich  vielen  aus- 
nungslosen  Punkten  aufgelöst  werden.  Denn  der  mathematische 
ikt  ist  eine  reine  Abstraktion  und  an  sich  nicht  vorstellbar  und 
Beziehung  von  unendlich  vielen  Punkten  (aus  denen  doch  die 
che  bestehen  müsste)  ist  eine  unbeendbare  Aufgabe.  Deswegen 
n  der  Raum  nicht  durch  die  Beziehung  von  unendlich  vielen 
ikten  zu  einander  entstehen,  weil  jeder  Punkt  schon  zu  seiner 
stellbarkeit  den  Raum  voraussetzt  und  weil  die  Zusammen- 
sang des  Raumes  aus  unendlich  vielen  Punkten  eine  uubeend- 
B  Aufgabe  wäre.  Deswegen  sind  Flächen,  Körper  Ursprung- 
e  räumliche  Inhalte,  ich  möchte  sagen  Raumqualitäten,  deren 
hematische  Konstruktion  aus  Punkten  eine  mathematische  Fik- 
i  ist,  über  deren  mathematischen  Wert  ich  nicht  urteilen  will, 
psychologischer  oder  erkenntnistheoretischer  ist  aber  gleich 
1.  Daher  ist  auch  die  Schönheit  räumlicher  Gestalten  nicht 
1  formal,  sie  besteht  nicht  in  räumlichen  Verhältnissen  allein, 
dem  enthält  schon  ein  weiter  unauflösbares  inhaltliches 
nent. 

Was  den  zweiten  Punkt  anbelangt,  so  sind  Raum  und 
mliche  Verhältnisse  unauflösbar  in  der  Anschauung  mit  Em- 
idungsqualitäten  verknüpft.  Es  ist  weder  eine  Ausdehnung, 
h  ihre  Grenze  ohne  qualitative  Unterschiede  vorstellbar,  mögen 
36  nun  der  Gesichtsempfindung  oder  Tastempfindung  angehören. 
18  für  den  Raum  gilt,  gilt  auch  insofern  für  die  Zeit,  als  auch 
se  nicht  ohne  irgendwelchen  Inhalt  als  Zeit  vorgestellt  werden 
m.    Da  nun  gerade  die  Kunst  es  wesentlich  mit  Anschauungen 


â64  R.  V.  Schubert-Soldern, 

(im  philosophischen  Sinn)  zu  tan  hat  und  nicht  mit  Abstraktionei, 
so  erhellt  daraus  die  Notwendigkeit  und  Bedeutung  des  inhaltUcha 
Momentes  für  dieselbe. 

Form  und  Inhalt  sind  so  unlösbar  in  der  Anschaunngii 
einander  verbunden,  dass  die  Schönheit  nie  rein  formal  und  iick 
nie  rein  inhaltlich  sein  kann.  Es  könnte  nur  die  Frage  an^ 
nommen  werden,  ob  nicht  einmal  die  Form,  das  anderemal  te; 
Inhalt  in  einem  Kunstwerk  überwiegen  könnte,  eine  Frage,  di 
die  ich  aber  hier,  wo  nur  die  fundamentalen  Begriffe  der  ScMfr 
heit  behandelt  werden  sollen,  nicht  eingehen  kann. 


§  3.     Unterschied  des  Schönen  vom  Guten,  Wahren  unil 

Angenehmen. 

a)  Das  Angenehme. 
Kant  unterscheidet  das  Angenehme  vom  Schönen  daduri 
dass  das  Angenehme  nicht  uninteressiert  gefalle  und  das  komü 
daher,  dass  beim  Angenehmen  nur  der  sinnliche  Inhalt  gefällt,  *r 
empirisch  ist  und  der  Form  a  priori,  d.  h.  der  Übereinstimme 
des  Gegenstandes  mit  der  Urteilskraft  entbehrt.  Für  Kant  i 
daher  der  Unterschied  zwischen  dem  Schönen  und  Angeneha« 
ein  fundamentaler.  Dagegen,  dass  dieser  Unterschied  em  fundi' 
mentaler  sei,  möchte  ich  folgende  Gründe  geltend  machen:  1.  D* 
Angenehme  kann  ebenso  uninteressiert  sein,  wie  das  Schöne.  ^ 
Uninteressiertheit  haben  wir  ja  darin  gefunden,  dass  etwas  in  dff 
blossen  Betrachtung  gefällt,  dass  es  nicht  ein  Begehren  entig^ 
das  über  die  blosse  Betrachtung  hinausgeht.  Nach  Kant  soll  ato 
die  einfache  Farbe  nur  angenehm  nicht  schön  sein  können,  detf 
sie  ist  ein  sinnlicher  Inhalt.  Es  ist  aber  tatsächlich  möglich,  dis 
eine  Farbe  ganz  uninteressiert  gefällt,  dass  die  blosse  BetrachtoV 
der  Farbe  gefällt,  ohne  dass  darin  ein  Begehren  über  diese  Be» 
trachtung  hinausläge.  Deswegen  kann  man  eine  Farbe  ebenso 
wohl  schön  als  angenehm  nennen  und  der  Sprachgebrauch  nnW* 
scheidet  nicht  genau  zwischen  diesen  beiden  Ausdrücken.  Ebe»* 
kann  auch  das  Murmeln  des  Baches  ein  sinnliches  WohlgefaO^ 
erregen,  das  im  Hören  aufgeht  und  kein  Begehren  erzeugt;  «•* 
eine  gute  Speise  gefällt  mir  unmittelbar  ohne  weiteres  Begdö* 
ohne  weiteren  Zweck.  Deswegen  sagt  man  auch  in  Norddeuts* 
land,   eine  Speise   schmecke   schön   und  nicht  gut  oder  angenelü 


Oie  Orandfragen  der  Ästhetik  etc.  265 

mit  Recht,  denn  ein  fondameiitaler  Unterschied  zwischen 
en  Ausdrücken  ist  nicht  vorhanden«  Der  Feinschmecker  isst, 
zu  essen,  und  nicht  etwa,  nm  zu  leben,  wie  der  Mnsikliebhaber 
>,  weil  er  im  Hören  Vergnügen  empfindet  und  nicht  etwa,  nm 
m  zu  können,  er  sei  dagewesen.  Der  Unterschied  hier  ist 
dass  die  Töne  eine  mannigfaltigere  und  ansgesprochenere 
2hang  von  Elementen  aufweisen,  in  der  das  Einzelne  genau 
)rschieden,  doch  wieder  ein  Ganzes  bildet,  was  beim  Geschmack 
it  der  Fall  ist:  hier  gehen  die  einzelnen  Geschmäcke  viel  zu 
*  ineinander  über  und  bilden  ein  schwer  nnterscheidbares  Ge- 
^h.  Eben  weil  die  Elemente  im  Greschmack  zu  wenig  klar  und 
egrenzt  hervortreten,  eignet  er  sich  weniger  zur  Kunst,  denn 
e  verlangt  einen  Aufbau,  in  dem  ein  Element  auf  dem  andern 
iht,  aus  ihm  hervorgeht.  Also  dem  Greschmacksinn  fehlt  die 
igkeit  tieferer  ästhetischer  Ausbildung,  wenigstens  findet  sie 
nur   bei  Wenigen   und  auch  da  in  geringo'em  Kasse  als  bei 

höheren  Sinnen.  Sonst  ist  aber  nicht  abzusehen,  wanun  ein 
:enstand  des  Geschmacks  nicht  ebenso  tethetiseh  beurteilt 
den   könnte,   wie   der  Gehörsinhalt;   dasselbe  gilt  vom  Gemeb 

vom  Getast,  die  beide  freilich  die  verschwommrasten  und  ttO' 
sten  Elemente  in  sich  enthalten  und  von  denen  besoodem  der 
e  der  ästhetischen  Ausbildung  vielleicht  nodi  weniger  fiUiig  'mt 
die  andern  Sinne. 

Das,  was  man  angenehm  nennt,  kann  also  ein  ebenso  ob* 
iressiertes  Wohlgefallen  erregen  wie  das  Schöne.  Doch  nennt 
1  auch  manches  angenehm,  das  kein  unint^iessiertes  Woblgefali^n 
igt:  wenn  ich  etwa  einen  kleinen  hSsslich  geformten  Apfel  b«^ 
alte,  von  dem  ich  weiss,  dass  er  einen  feinen  Gesebmaek  bat, 
kann  sein  Anblick  für  mich  ein  sehr  angenehmer  sein.  Hein 
blick  ist  mir  aber  nur  angenehm,  weil  er  die  Haffnang  t^iwtn 
nasses  erweckt,  also  nicht  an  sich;  hier  ist  das  WoblgefaJU^u 
ht  uninteressiert,  es  geht  über  den  Gegenstand  der  Betrachtaii(( 
aas  und  erregt  ein  Begehren.  Diesen  Anblick  des  Apfels  an- 
lehm  zu  nennen,  ist  aber  nur  eine  unangemessene  AuHârtwMh- 
ise,  nicht  der  Anblick  des  Apfels  ist  angenehm,  sondern  min 
schmack,  der  mir  gar  nicht  gegeben  ist.  Dagegen  kann  d^r 
blick  eines  rotwangigen  Apfels,  der  vielleicht  schlecht  stf;tioi<f<:kt, 

aninteressiertes  Wohlgefallen  in  mir  erregen. 

2.  Das  Angenehme  kann  ebenso  Anspruch  auf  Allg'^fiHfiii' 
itigkeit  machen  wie  das  Schöne.    Wenn  einem  iMmÜfm  dun 


266  R.  V.  Schubert-Soldern, 

Wasser  schmeckt,  so  kann  er  behaupten,  dass  jedem  Durstig« 
Wassertrinken  das  höchste  Wohlgefallen  erregen  müsse;  aUenBnp 
nur  dem  Durstigen,  aber  das  gilt  auch  ähnlicherweise  vom  SchoDÄ 
Um  das  Schöne  als  solches  zu  fühlen,  muss  man  in  StimmoBf 
sein,  man  darf  nicht  abgespannt,  müde,  hungrig  sein,  man  oos 
auch  eine  gewisse  ästhetische  Vorbildung  besitzen.  Manches  An- 
genehme gefällt  sogar  in  dem  Sinn  allgemeiner  als  das  SchöiN^ 
dass  es  zu  seinem  Gefühltwerden  weniger  Vorbedingungen  als  d« 
letzte  braucht:  ein  blauer  Himmel,  das  saftige  Grün  der  Wieso, 
der  kühlende  Lufthauch  im  Sommer,  der  helle  Sonnenschein  gefiÄ 
jedem  ohne  alle  Vorbedingungen.  Deswegen  sagt  Lotze  m 
Kantischen  Standpunkt  aus  sehr  richtig,  dass  in  Bezug  auf  Sisfi* 
lichkeit  die  Menschen  nicht  minder  von  Natur  gleichartig  oigwi- 
siert  seien  als  in  Bezug  auf  Urteüskraft;^)  daher  ist  das  Gefalki 
am  Inhalt  ebenso  allgemeingiltig  wie  an  der  Form.  Das  erfieK 
ja  auch  daraus,  dass  Inhalt  und  Form  von  einander  nicht  trefln- 
bar  sind,  dass  jeder  Inhalt  eine  Form  und  jede  Form  einen  M 
haben  muss« 

So   ist  also  das  Angenehme  ebenso  uninteressiert  and  allp' 
mein  in   seinem  Wohlgefallen   wie  das  Schöne,  ein  fundamenUkr 
Unterschied  zwischen  beiden  ist  nicht  aufzufinden.    Dennoch  dmeB 
die  Sprache  einen  Unterschied  zwischen  „Angenehm**  und  „SchöB'f 
es  muss  also  doch  ein,  wenn  auch  nicht  fundamentaler,  UntersctM 
vorhanden  sein.    Lotze  findet  ihn  darin,  dass  wir  im  AngöiehB» 
nur  Reize  erleiden  und  uns  nicht  einer  von  uns  ausgeübten  W 
keit  bewusst   werden,   durch   welche  unsere  Auffassung  erst  toH* 
endet   wird.^    Das   Angenehme   hat  also  hauptsächlich  das  Sitt- 
liche   und   zwar   einfache    sinnliche   Eindrücke   zum   Gegensti»! 
Dagegen   liegt   das  Schöne  in  einer  Mannigfaltigkeit  bezieheoto» 
verknüpfender,  vergleichender  Tätigkeiten  unseres  Vorstellens  oW 
unserer  Einbildungskraft.    Das  Schöne  gehört  daher  Objdrte»  W 
höheren  Geistesvermögens  und  zusammengesetzten  sinnlichen  Bö^ 
drücken   an.    Deswegen   kann   auch   dasselbe  Objekt  schön  «*f 
angenehm   genannt   werden,  je  nachdem  sich  die  Aufmerkstf**** 
auf  die  Form  (des  in  ihm  Unterscheidbaren  Mannigfaltigen)  rieh** 
oder  sich  passiv  der  Lust  des  Eindrucks  überlässt. 

In   dieser  Erörterung  Lotzes  erscheinen  einige  Elemente^ 
einander    verbunden,    die,    wie    ich    glaube,    getrennt  beto«**^ 

^)  „Grundztige  der  Ästhetik"  (Diktate  aus  den  VorIe8nngen>  P-  ^ 
^  L.  c.  p.  7. 


I 


Die  Grundfragen  der  Ästhetik  etc.  267 

müssen.  Es  wird  darin  bekauptet,  dass  das  Angenehme 
.ssives  Gefühl,  ein  einfacher  Eindruck  sei  und  sich 
tens  überwiegend  auf  den  Inhalt   und   nicht  auf  die  Form 

lOtze  behauptet  also  zunächst,  dass  das  Angenehme  ein 
s  Gefühl  sei,  dass  man  sich  darin  keiner  Tätigkeit  bewusst 
[.  E.  ist  mau  sich  freilich  einer  Tätigkeit  überhaupt  nie 
t,  doch  lässt  das  nur  eine  erkenntnistheoretische  Begründung 
n  der  ich  hier  absehen  will.  Was  Lotze  damit  eigentlich 
ist  wohl,  dass  beim  Angenehmen  keine  Eirgänzung  vonseiten 

der  es  fühlt,  notwendig  sei.  Wenn  man  ein  Gemälde  be- 
t  oder  eine  etwas  verwickelte  Zeichnung  (ohne  an  derartige 
itungen  gewöhnt  zu  sein),  so  findet  man  sich  nicht  gleich 
,  weil  man  die  notwendigen  Ergänzungen  in  seiner  Phan- 
icht  findet,  die  Leinwand,  Farbe  und  Zeichnung  eigentlich 
im  Bild  machen.  Dazu  kommt  noch,  dass  man  auch  Ge- 
3rgänzen  muss,  die  selbst  nicht  darstellbar  sind,  sondern 
isseren  Zeichen  erschlossen  werden  müssen.  Ist  z.  B.  ein 
m  Grabe  seiner  Mutter  dargestellt,  so  kann  das  Gefühl  der 

weder  gemalt  noch  gezeichnet  werden,  ich  erschliesse  es 
a  Mienen  und  aus  der  Haltung  seines  Körpers.  Solche  Er- 
gen  sind  beim  Schönen  gewiss  notwendig,  doch  soll  man 
abei  keiner  Anstrengung,  keiner  Tätigkeit  bewusst  werden; 
^änzung  soll  sich  möglichst  von  selbst  ergeben,  so  dass  ein 

Bewusstwerden   der   Notwendigkeit  der  Ergänzung  einen 

in  •  der  Darstellung  oder  in  der  Komposition  zur  Voraus- 
:  hat.  Je  zwangloser  sich  die  Ergänzungen  ergeben,  je 
r  sie  zum  Bewusstsein  kommen,  desto  besser  ist  die  künst- 
Î  Darstellung.  Diese  „Tätigkeit",  der  man  sich  bei  der 
itung  des  Schönen  bewusst  wird,  ist  also  nicht  etwas  zum 
a  Gehörendes,  sondern  vielmehr  etwas  zu  Elliminierendes, 
es  auch  nie  vollständig  eliminiert  werden  kann.  Dieselbe 
r  Ergänzung  kommt  aber  auch  bei  jedem  noch  so  einfachen 
zk  vor.  Wir  haben  gesehen,  dass  wenn  man  auch  nur  das 
e  Element  „Rot**  an  der  Anschauung  hervorhebt,  darin  eine 
mg  auf  andere  ähnliche  und  gegensätzliche  Farben,  sowie 
1ère  Sinnesinhalte  enthalten  ist.  Es  giebt  keinen  Eindruck, 
in  von  allem  andern  auch  nur  im  Denken  isolieren  könnte, 
ndem  man  ihn  isoliert,  grenzt  man  ihn  von  anderen  ab, 
iheidet   ihn   von  anderen  und  bezieht  ihn  eben  dadurch  auf 


2è8  R.  V.  Schubert-Soldern, 

anderes.  Also  ganz  passiv  verhält  man  sich  bei  keinem  noch  »  Ir 
einfachen  Datum,  an  jedes  knüpft  sich  ein  Vorstellungsprozess  k  m 
Assoziation,  der  es  von  anderen  unterscheidet,  hervorhebt  etc.     m 

Damit  erscheint  auch  der  zweite  Punkt  erledigt,  cIass  iai  |l 
Angenehme  ein  einfacher  Eindruck  sei.  Allerdings  giebt  es  Bt 
drücke,  die  an  sich  einfach  sind,  die  nicht  weiter  analysioi 
werden  können  —  aber  sie  sind  eben  nur  an  sich  einfaà. 
Dieses  „An  sich**  enthält  schon  eine  Abstraktion  des  Subj 
das  darin  von  seinen  Zutaten  absieht.  Tatsächlich  erschemt  jedes 
Datum  in  mannigfaltigen  Beziehungen  erfasst  und  ist  gar  nicU 
anders  denkbar  und  vorstellbar.  In  diesem  Sinne  kann  man  dis 
Augenehme  auch  keinen  einfachen  Eindruck  nennen. 

Was  schliesslich   den  dritten  Punkt  betrifft,   dassdasAa» 
genehme  nur  am  Inhalt  und  nicht  an  der  Form  hängt,  so  babeo 
wir  gesehen,  dass   der  Inhalt  von  der  Form  nie  getrennt  weriei 
kann.    Man   ist  überhaupt   nur  da  von  einer  Form  zu  reden  be* 
rechtigt,  wo  eine  räumliche  Gestalt  iu  Frage  kommt,  oder  wo  à 
Zeichen  für  etwas  anderes  steht,   wie  bei  der  Sprache.    Zwar  ist 
auch  die  räumliche  Gestalt  nicht  blosse  Form,  sie  ist  auch  Inhatti 
ebenso  ist  auch  das  Wort  nicht  Form  allein,  sein   Inhalt  ist  dff 
Ton  ;  dennoch  kann  man  Wort  und  Gestalt  Form  nennen  in  Bezaf 
auf  etwas   anderes,   das   darin   eingekleidet  oder  ausgedrückt  i^  j 
Sie   erhalten   dadurch   eine   gewisse  Selbständigkeit,  wefl  sieb  i* 
Wesentlichen    derselbe    Inhalt    durch  verschiedene   Formen  a^ 
drücken   lässt,   derselbe  Gedanke  in  verschiedenen  Sprachen,  ^ 
selben  Gefühle   und  Gedanken  in  verschiedenen  Gestalten.    D<^ 
Lotze  meint,   soweit  ich  ihn  verstehe,  nicht  diese  Art  von  Fot^ 
sondern  ihm  hängt  das  Angenehme  an  einem  Inhalt,  der  beziehon^ 
los  gefällt,   das  Schöne   ist   aber  ein  Wohlgefallen,   das  auf  eii^^ 
Beziehung   des  Mannigfaltigen   beruht,   wobei   das  Mannigfailti^ 
der  Inhalt,  mehr  oder  weniger  gleichgiltig  erscheint.    Eine  solct^ 
Trennung  von  Inhalt  und  Beziehung  giebt  es  m.  E.  niemals,  dei' 
indem  das  Gefallen  auf  einem  bestimmten  Inhalt  ruht,  schliesst  ^ 
damit   alle   anderen  Inhalte   aus.     Ein  Inhalt  erscheint  nur  dnr^ 
andere  Inhalte  bestimmt,  ein  Gefallen  aber  an  einem  unbestimmte 
Inhalt  ist  sinnlos. 

Das  Angenehme  ist  daher  nicht  ein  rein  passives  Gefalm 
das  ein  einfacher  Eindruck  seinem  Inhalt  nach  hervorruft;  iBtM 
wäre  es  vom  Schönen  der  Art  nach  unterschieden,  was  nicht  d^ 
Fall  ist,  auch  in  der  Sprache  nicht.    Zugestanden  muss  dHgeg0 


Die  Grundfragen  der  Ästhetik  etc.  269 

en,  dass  das  Angenehme  ein  passives  Gefühl  wie  das  Schöne 
das  aber  an  einfactieren  Inhalten  in  einfacheren  Beziehungen 
t;  diese  Einfachheit  ist  auch  eine  gewisse  Einseitigkeit  des 
liSy  denn  das  Gefallen  an  einer  Farbe  ist  einseitiger,  als  das 
Uen  an  einem  Gemälde.  Das  Schöne  unterscheidet  sich  daher 
Angenehmen  m.  £.  nicht  der  Art  nach,  beide  sind  Modifika- 
in  desselben  Gefallens,  das,  an  einer  Linie  gedacht,  an  dem 
1  Ende  angenehm,  am  anderen  schön  erscheint,  so  dass  beide 
Ihlig  in  einander  übergehen. 


b)  Das  Gute. 
Kant  unterscheidet  das  Gute  an  sich  vom  Wozu-Guten 
zlichen).  Kant  hält  aber  das  Gute  und  Schöne  auseinander, 
ehr  er  auch  ihre  Übereinstimmung  fordert  —  auch  Schiller 
bis  zu  einem  gewissen  Grade  diese  Unterscheidung  noch  fest. 
3gen  giebt  es  Ästhetiker,  die  das  Gute  mit  dem  Schönen 
jfizieren,  wie  Plato  und  Baumgarten,  und  dazu  neigen  wohl 
idealistischen  Philosophen  nach  Kant.  Sie  identifizieren  es 
:  direkt,  aber  das  Gute,  Schöne  und  Wahre  sind  nur  drei 
}n  eines  und  desselben,  so  dass  dasselbe  gut,  schön  und  wahr 
je  nach  dem  Standpunkt  der  Betrachtung.  Lotze  fasst  da- 
n  das  Schöne  als  einen  Ausdruck  des  Guten  an  sich  auf. 
Schöne  hat  nur  seinen  Wert,  weil  in  ihm  sich  jene  Formen 
ibaren,  die  das  Gute  zur  eigenen  Verwirklichung  in  der  Er- 
inungswelt  herzustellen  strebt. 

Mag  nun  das  Gute  was  immer  sein,  dass  seine  Erscheinungs- 
e  das  Schöne  sei,  ist  mehr  als  zweifelhaft.  Wenn  das  Schöne 
Erscheinungsweise  des  Guten  wäre,  dann  müsste  alles  Schöne 
3ntes  sein;  diese  Ansicht  ist  aber  ohne  die  geschraubtesten 
ide  und  Deutungen  nicht  durchführbar.  Wo  soll  sich  in  einem 
Den  Gebäude  das  Gute  an  sich  offenbaren?  Das  Nützliche 
,  das  ist  sein  Zweck,  der  sich  in  seinen  schönen  Formen 
ibart.  Aber  das  Gute  an  sich  soll  ja  nicht  das  Nützliche, 
em  etwas  von  zufälligen  Zwecken  ganz  unabhängiges  sein, 
ist  dieses  bei  einem  schönen  Gebäude  zu  finden  und  inwiefern 
innt  es  Ausdruck  im  Schönen.  Dasselbe  gilt  für  die  Musik. 
Musik  als  Erscheinung  des  Guten  an  sich  ist  eine  Phrase, 
schön  klingt,  aber  nichts  erklärt.  Auch  in  der  Malerei, 
ptor    und    Dichtung    kann    geradezu    das   Böse    dargestellt 


270  R.  V.  Schubert-Soldern, 

werden.     Inwiefern   ist   nun   dieses   Böse   eine   Erscheinungsfonn 
des  Guten? 

Überdies  darf  man  die  moralische  Wirkung  nicht  mit  der 
moralischen  Ursache  des  Schönen  verwechseln.  Das  Schöne  kann 
gewiss  oft  moralische  Wirkungen  hervorbringen,  und  selbst  wenn 
alles  Schöne  moralische  Wirkungen  hervorbrächte,  so  brauchte 
deswegen  das  Moralische  (Gute)  noch  nicht  die  Ursache  des 
Schönen  zu  sein.  Das  Moralische  könnte  auch  nur  ein  ständiger 
Nebenerfolg  des  Schönen  sein,  dieses  aber  wäre  deswegen  nodi 
nicht  um  des  Guten  wegen  geschaffen. 

Soll  trotz  alledem  das  Schöne  eine  Erscheinungsform  des 
Guten  sein,  dann  müssen  wir  uns  fragen,  worin  besteht  denn  das 
Gute  an  sich?  Uns  ist  nur  die  Erscheinung  des  Guten  an  sich 
gegeben,  das  Gute  an  sich,  das  hinter  ihm  stecken  soll,  kennen 
wir  nicht  und  es  kann  deswegen  auch  nichts  zur  Erklärung  bei- 
tragen. Wie  sich  das  Gute  offenbart,  können  wir  niemals  ans 
diesem  selbst,  sondern  nur  aus  seinen  Offenbarungen,  dem  Schönen, 
kennen  lernen;  das  Gute  an  sich  als  Ursache  des  Schönen  ist 
also  mindestens  eine  höchst  unnütze  Erkenntnis. 

Das  ganze  Problem  gewinnt  einen  anderen  Sinn,  wenn  wir 
an  die  Stelle  des  Guten  an  sich  den  Begriff  des  Moralischen  im 
Sinne  menschlicher  Erfahrung  setzen.  Dieser  Begriff  kann  natür- 
lich hier  nicht  im  Einzelnen  erörtert  werden,  besonders  da  zu 
vorliegendem  Zweck  die  Feststellung  einiger  Hauptpunkte  genüjft 
Moralische  Handlungen  wurzeln  im  gesellschaftlichen  Wesen  des 
Menschen,  ein  gänzlich  isoliertes  Wesen  könnte  weder  Mensdi 
noch  moralisch  sein.  Das  Moralische  ist  also  ein  bestimmtes  (von 
der  Gemeinschaft  aus  welchen  Gründen  immer  gefordertes)  gesell- 
schaftliches Verhalten  des  Menschen  (was  keine  Definition,  sondwn 
nur  eine  Hervorhebung  gewisser  wesentlicher  Punkte  sein  soll). 
Diese  Übereinstimmung  mit  den  Forderungen  der  Gemeinschaft  in 
der  der  Mensch  lebt,  gefällt  jedem  unparteiischen,  genauer  an 
dem  zu  beurteilenden  Tatbestand  ganz  unbeteiligten  Zuschaner 
(Smith).  Dieses  Wohlgefallen  am  Moralischen  ist  nun  gewiss 
nicht  unmoralisch,  aber  es  ist  für  sich  allein  noch  nicht  moralisclL 
Es  wäre  ganz  gut  denkbar,  dass  jemandem  eine  moralische  Hand- 
lung bestimmter  Art  sehr  gut  gefiele,  dass  er  selbst  aber  im  ge- 
gebenen Fall  ganz  anders  handelte.  Er  fände  dann  Gefallen  am 
Moralischen,  wäre  aber  selbst  nicht  moralisch.  Man  muss  also 
unterscheiden  zwischen   dem   Moralischen  als  Gegenstand  der  Be- 


Die  Grandfragen  der  Ästhetik  etc.  271 

teilang  und  eines  damit  verbundenen  Wohlgefallens  und  dem 
)ralischen  als  Antrieb  zum  Handeln  und  eines  damit  verbundenen 
lichtgefühls.  Es  ist  klar,  dass  die  erste  Art  der  Betrachtung 
16  ästhetische  Betrachtung  ist,  die  ein  passives,  willenloses 
ohlgefallen  erweckt.  Im  zweiten  Fall  wirkt  jedoch  die  Betrach- 
Qg  des  Moralischen  als  Antrieb  und  Nötigung  zum  Handeln  und 
hört  daher  gar  nicht  in  das  Gebiet  des  Ästhetischen.  Das  Mo- 
lische fällt  also  unter  die  ästhetische  Beurteilung,  es  gefällt 
eresselos  in  der  unmittelbaren  Betrachtung;  doch  nicht  der- 
lige  ist  moralisch,  der  das  Moralische  richtig  beurteilt,  sondern 
rjenige,  der  dem  Moralischen  gemäss  will  und  handelt,  sowie 
i  Künstler  ist,  nicht  der,  der  ästhetischen  Geschmack  hat,  sondern 
r,  der  diesem  gemäss  schafft.  Das  Ästhetische  hat  daher  moralische 
irkungen  oder  kann  sie  wenigstens  haben:  es  schafft  den  Sinn  für 
iter  esselose**»)  Betrachtung  und  Wertschätzung,  welche  Momente 
ch  dem  Moralischen  zugrunde  liegen.  Die  Erkenntnis  und  Wert- 
lätzung  des  Moralischen  ist  aber  nicht  identisch  mit  dem  Mora- 
chsein,  denn  nur  zu  oft  handelt  man  nach  dem  Prinzip:  video 
îliora  proboque,  détériora  sequor. 

Auch  soll  damit  nicht  behauptet  werden,  dass  alles  Ästhe- 
che  auch  moralisch  sei,  der  Gegenstand  des  Ästhetischen  kann 
gar  das  Unsittliche  sein,  nur  darf  die  Erzeugung  von  Unsittlich- 
it  nie  sein  Zweck  sein.  Das  Ästhetische  oder  Schöne  im 
îitesten  Sinne  will  in  der  Betrachtung  gefallen,  darf  aber  damit 
inen  andern  Zweck  verbinden,  sei  er  moralisch  oder  unmoralisch, 
ne  dadurch  aus  seinem  Gebiete  herauszutreten.  Die  Darstellung 
$0  auch  des  Unmoralischen  in  der  Kunst  kann  schön  sein,  dann 
.  aber  eben  die  Darstellung  und  nicht  das  Unmoralische  schön, 
emals  darf  aber  die  Kunst  das  Unmoralische  rechtfertigen 
)Ileu;  sobald  ein  Kunstwerk  diese  Absicht  hat,  ist  es  weder 
tbetisch   noch  moralisch,   sondern  unästhetisch  und  unmoralisch. 

Das  gilt  jedoch  nur  von  der  Kunst,  nur  in  der  Kunst  kann 
3  Darstellung  des  Unmoralischen  schön  sein,  in  der  Natur  bleibt 
s  Unmoralische  immer  unmoralisch  und  kann  durch  keine 
itrachtuug  schön  werden;  denn  schön  kann  immer  nur  die 
arakteristische  Darstellung  des  Unmoralischen  sein,  die  in  der 
itur  fehlt. 

Dass  das  Unmoralische  ein  Gegenstand  der  Kunst  sein  kann, 
rnht  darauf,  dass  auch  das  Hässliche  ihr  Gegenstand  sein  kann, 

1)  Im  Sinne  Kante. 


272  R.  V.  Schubert-Soldern, 

dadurch,  dass  es  durch  seine  charakteristische  Darstellung  gefallt; 
aber  eben  deswegen,  weil  das  Hässliche  und  Unmoralische  nur 
durch  seine  Darstellung  gefallen  kann  und  nicht  durch  seineo 
Gegenstand,  kann  es  auch  nur  in  der  Kunst  und  nie  in  der  Natur 
schön  sein.^) 


c)  Das  Wahre. 

Kant  behauptet,  dass  das  Schöne  nicht  durch  einen  be- 
stimmten Begriff  gefalle;  dass  es  durch  den  unbestimmten  BegriS 
der  Zweckmässigkeit  überhaupt  gefallen  soll,  beruht  auf  meto- 
physischen  Voraussetzungen,  die  ich  hier  beiseite  lassen  wE 
Diese,  wie  mir  scheint,  unrichtige  Behauptung  Kants  beruht  auf 
seiner  Begriffslehre.  Trotzdem  nämlich  Kant  selbst  behauptet, 
dass  Begriffe  ohne  Anschauung  leer  seien,  so  ist  er  doch  der  An- 
sicht, dass  man  solche  leere  Begriffe  wirklich  und  nicht  nur  in 
blossen  Worten  denken  kann.  Nun  haben  aber  meines  Erachten» 
schon  Berkeley  und  Hume  nachgewiesen,  dass  der  Begriff  nur  am 
Konkreten  nie  an  und  für  sich  besteht  :  so  kann  ich  mir  den  Be- 
griff des  Dreiecks  nicht  vorstellen  und  nicht  denken  ausser  an 
einem  konkreten  Dreieck  in  der  Wahrnehmung  oder  Vorstellang. 
Ich  beachte  dabei  an  diesem  konkreten  Dreieck  nur  das,  was 
jedem  Dreieck  zukommt  und  denke  so  an  einem  bestimmten  Dr»- 
eck  das  Dreieck  überhaupt  Ebenso  giebt  es  aber  auch  umge- 
kehrt keine  Anschauung,  kein  Konkretum,  das  nicht  von  anderem 
unterschieden  und  dadurch  begrifflich  bestimmt  wäre.  Wenn  ick 
einen  Apfel  male,  so  weiss  ich  und  jeder  Betrachtende,  dass  «» 
ein  Apfel  ist;  Apfel  ist  er  aber  nur  durch  seine  bestimmten  h^ 
grifflichen  Beziehungen  zu  anderen  Äpfeln  und  Nicht-Äpfeln,  ^ 
durch  Ähnlichkeit  und  Gegensatz.  Als  Apfel  kann  er  auch  d^ 
dadurch  gefallen,  dass  er  dem  Begriff  Apfel  in  der  Anscbanun? 
entspricht.  Wenn  es  mir  gleichgiltig  wäre,  welchem  Begriff  ^ 
Dargestellte  entsprechen  soll,  dann  könnte  ich  den  Apfel  auch  ^ 
eine  Kartoffel  malen. 

So  giebt  es  keinen  Begriff  ohne  Anschauung,  aber  auch  ï^ 
Anschauung,  die  nicht  begrifflich  bestimmt  wäre;  deswegen  loi^ 
auch  das  Schöne  stets  an  einer  begrifflich  bestimmten  Anschaum* 


1)  Ausser  durch  Hineintragen  der  Kunst  in  die  Natur,  wenn  mm 
z.  B.  einen  Gegenstand  von  charakteristischer  Hässlichkeit  in  der  Nat»^ 
sich  als  Gegenstand  der  Kunst  denkt. 


Die  Gnmâfragen  der  Ästhetik  etc.  273 

licht  an  einer  Anschauung  überhaupt.  Das,  was  eine  An- 
ting  bestimmt   individualisiert,   sind  ihre  bestimmten  begriff- 

Unterschiede  ;   das   Konkrete   ist   deswegen   das  begrifflich 
chöpfliche. 
Der  Unterschied  zwischen  dem  Schönen  und  Wahren  besteht 

nicht  darin,  dass  das  Schöne  durch  keinen  bestimmten  Be- 
gefällt, und  dass  die  Wahrheit  nur  durch  Begriffe  bestimmt 
îD  kann.  Das  Schöne  wie  das  Wahre  bedürfen  bestimmter 
ffe,  das  Schöne  bleibt  aber  bei  der  Darstellung  eines  be- 
iten  Begriffes  in  der  Anschauung  stehen,  es  geht  nicht 
er  hinaus.  Das  Schöne  haftet  an  der  Betrachtung  eines  be- 
iten  Begriffes  an  einer  bestimmten  Anschauung  und  mit  dieser 
lauung  hat  auch  das  Schöne  sein  ganzes  Ziel  erreicht.  Die 
chtung  eines  Gegenstandes  vom  Standpunkt  der  Wahrheit 
;en  setzt  immer  die  begriffliche  Bestimmtheit  dieses  Gegen- 
es in  Bezug  auf  ein  ganzes  System  von  Begriffen  voraus, 
lie  an  einer  Anschauung,  sondern  stets  an  einem  ganzen 
SS  (einer  ganzen  Folge)  von  Anschauungen  gegeben  ist.  Das 
e  findet  daher  sein  Ziel  nie  an  einer  Anschauung  oder  auch 
iner  bestimmten  Reihe  von  Anschauungen,  es  geht  immer 
er  hinaus  zu  einem  System  von  Begriffen,  das  unvollendbar 
Die  Schönheit  beruht  daher  auf  einem  Verweilen  bei  einer 
lauung  oder  einem  abgeschlossenen  Prozess  von  Anschauungen; 
Vahre  geht  über  jede  Anschauung,  jede  Entwickelungsreihe 
Anschauungen  hinaus,  denn  sein  Ziel  ist  ein  begrifflicher 
imenhang,  der  nur  an  der  Anschauung  des  Universums 
dbar  wäre. 

Ich  will  das  an  einem  einfachen  Beispiel  zu  erläutern  ver- 
Q.  Wenn  ein  Apfel  zu  botanischen  Zwecken  gemalt  wird, 
t  er  ein  Mittel  zur  Veranschaulichung  eines  botanischen 
ms  von  Begriffen;  zugleich  bildet  er  aber  nur  ein  Glied  in 
Anschauungen  dieses  Systems,  das  bloss  Wert  hat  durch  seine 
dung  zu  allen  anderen  Gliedern  und  das  tritt  auch  oft  in 
)arstelluiig  hervor:  hier  leistet  oft  die  schematische  Dar- 
lg  ebensoviel,  wie  die  naturwahre. 

Der  Apfel  als  Stilleben  gemalt,  hat  aber  keinen  anderen 
:,  als  seine  Darstellung  selbst;  auch  er  hat  begriffliche  Be- 
igen zu  anderen  Apfelarten  und  zu  Nicht-Äpfeln,  aber  diese 
licht  der  Zweck  seiner  Darstellung,  sondern  nur  Mittel  seiner 
fen  Charakterisierung   in  der  einzelnen  Anschauung  und  für 


274    ïl.  V.  Schubert-Soldern,  Die  Grundfragen  der  Ästhetik  etc. 


den  Betrachtenden  sind  sie  notwendig  zum  richtigen  Verständnis 
der  Darstellung.  Es  findet  hier  also  das  Umgekehrte  statt:  für 
das  Schöne  ist  das  System  von  Begriffen  nur  das  Mittel  der 
richtigen  Darstellung  des  Einzelnen;  für  das  Wahre  ist  die  ein- 
zelne Anschauung  nur  ein  Mittel  und  zugleich  nur  ein  Glied  in 
der  Darstellung  eines  ganzen  Systems  von  Begriffen. 

[Fortsetzung  folgt] 


Heinrich  Gomperz'  Weltanschauungslehre.'^ 

Von  August  Messer. 

Der  erste  Band  dieses  Werkes,  das  mindestens  vier  Bände 
ssen  soll,  behandelt  Aufgabe,  Vorbegriffe,  Methoden 
Einteilung  der  Weltanschauungslehre  (oder  „Kosmotheorie"). 
Als  ihre  Aufgabe  wird  bezeichnet,  „einen  widerspruchslosen 
ninienhang  aller  jener  Gedanken  herzustellen,  die  von  den 
?lwissenschaften,  sowie  vom  praktischen  Leben  zur  Nach- 
Dg  der  Tatsachen  verwendet  werden".  Sie  will  nicht  ge- 
le  Weltanschauungen  erklären,  sondern  selbst  eine  Welt- 
lauung  begründen. 

Im  gewöhnlichen  Sprachgebrauch  umfasst  die  Bedeutung  des 
es  „Weltanschauung"  nicht  bloss  die  theoretischen  Über- 
ingen in  den  allgemeinsten  Fragen  des  Erkennens,  sondern 
die  obersten  Prinzipien  der  praktischen  Stellungnahme  gegen- 

Dingen  und  Ereignissen:  Gomperz  dagegen  will  den  dem 
tiischen  „^ew^^'a"  entsprechenden  Sinn  von  „Anschauung" 
fer  festhalten,  und  er  unterscheidet  darum  die  „Weltanschau- 
ehre" als  allgemeinen  Teil  der  theoretischen  Philo- 
iie  von  der  „Lebensauffassungslehre",  die  er  als  allgemeinen 
der   praktischen  Philosophie  zuweist.    Die  Weltanschauungs- 

umfasst  nicht  die  ganze  theoretische  Philosophie,  weil  wir 
r  auch  die  ganze  Logik  und  Psychologie  zurechnen,  die  trotz 

engen  Beziehungen  zur  Weltanschauungslehre  doch  von  ihr 
iterscheiden  sind. 

Den  Terminus  „Metaphysik"  dafür  zu  verwenden,  lehnt 
K  Ursprünglich  decke  er  sich  zwar  in  seiner  Bedeutung  fast 
:  mit  „Weltanschauungslehre",   insofern   er  zur  Bezeichnung 


^)  Weltanschauungslehre.  Ein  Versuch,  die  Hauptprobleme  der 
Deinen  theoretischen  Phüosophie  geschichtlich  zu  entwickeln  und 
ch  zu  behandeln.  I.  Bd.:  Methodologie.  Jena  und  Leipzig, 
ederichs.    1906.    XV  und  416  S. 


276  A.  Messer, 

dessen  diente,  was  Aristoteles  selbst  n^tkrj  (piXoaoq^ia  genainil 
hatte,  aber  die  geschichtliche  Entwickelung  habe  dem  Wort  m 
ihm  fast  untrennbar  anhaftende  Nebenbedeutung  verliehen,  die  es 
empfehlenswert  mache,  es  auf  jene  philosophische  Denkrichtrag 
einzuschränken,  die  „grundsätzlich  die  Erfahrung  überschreite* 
und  „mit  ausserempirischen  Begriffen  operiere". 

Auch  die  Bezeichnung  „Erkenntnistheorie"  wird  nickt 
passend  gefunden.  Dem  „Umfang"  nach  decke  dieser  Begriff  sidi 
zwar  mit  dem  der  Weltanschauungslehre,  aber  die  Erkenntnis- 
theorie setze  das  gemeinsame  Stoffgebiet  einer  „einseitig-sab' 
jektivistischen  Betrachtungsweise"  aus  und  greife  damit  den 
Lösungen  vor. 

Insofern  die  Weltanschauungslehre  das  Vorhandensein  andenr 
Wissenschaften  voraussetzt,  ist  sie  als  „sekundäre"  Wissen« 
Schaft  zu  bezeichnen.  Es  gilt  insofern  für  sie  das  Prinzip  der 
„Sterilität".  Wenn  es  nämlich  als  Zweck  der  Einzelwissea- 
Schaft  aufgefasst  werden  kann,  „Tatsachen  festzustellen  und  fl 
ordnen",  so  trägt  die  Weltanschauungslehre  als  solche  hierzu  nicht« 
unmittelbar  bei,  sondern  sie  bezieht  sich  nur  auf  die  „gedaiiklicke 
Nachbildung  schon  anderweitig  festgestellter  und  geordneter  Tat« 
Sachen".  Sie  geht  also  nicht  von  „Tatsachen",  sondern  von  »Be- 
griffen" und  den  zwischen  ihnen  hervortretenden  Widersprud«» 
aus,  und  sie  sucht  diese  Begriffe  soweit  umzubilden,  dass  9^ 
einerseits  zur  Nachbildung  der  Tatsachen  tauglich  bleiben,  difl 
aber  andererseits  die  zwischen  ihnen  bestehenden  Widersprfi* 
gehoben  werden. 

Ist  beides   erreicht,   so  liegt  darin  die  „Verifikation*  fii^  1 
die   erreichte  Auflösung   der  Probleme.     Diese   ist  freüich  weg«>  1 
des    stetigen  Fortganges    der    praktischen   und   der«  em^Xwssf^ 
schaftlichen  BegrifiEsbildung   stets   nur   eine  einstweilige,  men» 
endgültige. 

Das  Prinzip  der  Sterilität,  der  Enthaltung  von  derBe»^ 
beitung  der  „Tatsachen"  selbst,  lässt  sich  freilich  nicht  fntà^ 
durchführen.  Insbesondere  wird  der  „Kosmotheoretiker"  vieHiß»' 
auf  psychologische  Tatsachenfragen  eingehen  müssen.  Dö** 
nötigt  ihn  die  gegenwärtige  Lage  der  Probleme  der  Weltanscb*^ 
ungslehre,  andererseits  der  „recht  unbefriedigende  Zustand  *^ 
Psychologie"  und  die  Tatsache,  dass  sie  den  hier  in  BeWfc^ 
kommenden  Fragen  „von  sich  selbst  aus  nur  eine  sehr  gerilg* 
Aufmerksamkeit   zuzuwenden   pflegt".     Freilich  ist  dabei  fß*^^ 


Heinrich  Oomperz*  Weltanschauungslehre.  277 

3D,  dass  ein  psychologischer  und  überhaupt  ein  einzelwissen- 
ftlicher  Satz  für  sich  allein  nie  ein  Problem  der  Welt- 
hauungslehre  auflösen  kann.  Doch  wird  es  sich  herausstellen, 
^der  Fortgang  von  der  Lösung  des  psychologischen  zu  der 
kosmotheoretischen  Problems  auf  gewissen  Gebieten  allmählich 
Binem  einfachen  und  leichten  schematischen  Schritt  herab- 
t.« 
Wenn  so  die  Aufgabe  der  Weltanschauungslehre  faktisch 
auf  Bearbeitung  von  Tatsachen  hinführt,  so  lehnt  Gomperz 
entschieden  jenen  Radikalismus  ab,  der  die  Weltanschauungs- 
lerne  dadurch  zu  lösen  sucht,  dass  er  „die  widersprechenden 
inken  links  liegen  lässt  und  sich  unmittelbar  an  die  Tatsachen 
'.  Niemand  kann  die  Weltanschauungslehre  als  eine  ihrem 
riffe  nach  sekundäre  Wissenschaft  von  yorne  anfangen.  Wir 
in  tatsächlich  nur  die  Wahl  zwischen  kritischer  und  un- 
scher  Rezeption  der  überlieferten  Begriffe.  Hinter  jenem 
ikalismus,  der  unmittelbar  auf  die  Tatsachen  zurückzugehen 
iebt  —  vielfach  unter  verächtlichen  Seitenblicken  auf  die 
chphilosophen",  die  „gelehrten  Herren",  die  „Philosophie- 
essoren**  etc.  —,  verbirgt  sich  in  Wahrheit  immer  eine  un- 
sche,  ihrer  selbst  nicht  bewusste  Rezeption  überlieferter  Auf- 
mgen.  Um  einer  solchen  zu  entgehen,  vertritt  der  Verfasser 
idsätjslich  eine  „kritische*"  Rezeption.  Damit  ist  gefordert, 
die  Weltanschauungslehre  bei  jedem  Schritt  vorwärts  ihre 
ne  Geschichte  den  Hauptpunkten  nach  berücksichtige.  „Sie 
J  ihre  Probleme  verfolgen  von  den  ersten  Widersprüchen,  in 
sich  die  Begriffe  der  Praxis  und  der  Einzelwissenschaften 
ickeln,  durch  alle  Formen,  in  denen  die  Kosmotheorie  selbst 
IQ  Widersprüchen  zu  entgehen  suchte,  bis  zu  ihrem  gegen- 
igen Stande;  und  erst,  wenn  sie  auch  hier  noch  Widersprüche 
bisherigen  kosmotheoretischen  Begriffe  nachweisen  kann  — 
ÎS  solche  miteinander,  sei  es  solche  mit  denen  der  Elinzel- 
tnschaften  oder  der  Praxis  — ,  beginnt  ihre  eigene  Arbeit." 
Damit  sind  wir  tatsächlich  schon  bei  der  „Methode*'  der 
iDschauungslehre  angelangt,  aber  ehe  sich  der  Verfasser  in 
Heiner  Form  über  diese  ausspricht,  behandelt  er  einige 
'begriffe*'.  Er  führt  dabei  an  einzelnen  kosmotheoretischen 
emen  die  Art  seines  Verfahrens  in  konkreten  Beispielen  vor« 
zwar  erörtert  er  in  dieser  Weise  die  Begriffe  „Substanz", 
itität",  „Relation"  und  „Form".    Diese  Darlegungen,  die  den 

Atetaditu  XIII.  \^ 


278  A.  Messer, 

Hauptteil  des  Buches  (S.  44—283)  füllen,  erheben  aber  nicht  den 
Anspruch,  die  behandelten  Probleme  „endgültig  aufzulösen,  sondern 
nur  auf  den  Weg  zu  leiten,  auf  dem  diese  Auflösung  zu  erreichen 
sein  mag**.  Der  Gedankengang  des  Verfassers  bei  dem  ersten 
der  genannten  Probleme  soll  hier  etwas  eingehender  dargestelh 
werden,  für  die  folgenden  mögen  kurze  Andeutungen  genügen. 

Der  „Substanz"begriff  wird  gefasst  als  „Korrelat  des  Ding- 
begriffes".  „Ding**  aber  bedeutet  „eine  einheitliche  und  behan^ 
liehe  Gruppe,  zu  welcher  wir  mehrere  und  wechselnde,  annM 
wahrnehmbare  Qualitäten  zusammenzufassen  pflegen**.  Das  Pro- 
blem ist  nun  :  „ob  eine  solche  Gruppe  noch  neben  jenen  Quali- 
täten ein  Element  enthalte,  das  im  Gegensatz  zu  der  Mehrheit 
und  dem  Wechsel  der  letzteren  ihre  Einheit  und  Beharrlichkeil 
begründe  :  dieses  hypothetische  Element  nämlich  nennen  wir  Snb- 
stanz**.  Die  ontologische  Frage,  ob  die  Substanzen  und  Qaau* 
täten  ein  subjektives  oder  auch  ein  objektives  Sein  besitzen,  soll 
dagegen  in  der  ganzen  Erörterung  ausser  Betracht  bleiben. 

Für  den  Standpunkt  des  praktischen  Lebens  ist  das  „Ding* 
ein  „Wirksames  und  Brauchbares,  d.  h.  etwas,  das  spontan  Eini^ 
tut  und  Anderes  sich  gefallen  lässt:  also  ein  Lebendiges**.  Die» 
Lebendigkeit,  die  dem  Ding,  nicht  seinem  Qualitäten  zakomoti 
begründet  „die  Einheit  und  Beharrlichkeit  des  Dings  gegenute 
der  Mehrheit  und  dem  Wechsel  der  Qualitäten**.  Dieser  Stand* 
punkt  wird  als  der  des  „Ânimismus**  bezeichnet,  wobei  dieser 
Ausdruck  die  Dingbelebung  überhaupt  bedeuten  soll,  also  in  ai- 
derem  Sinne  gebraucht  wird  als  gewöhnlich,  wo  er  „eine  h* 
sondere  Art  der  Naturreligion,  den  Seelenkult**  bezeichnet. 

Die  Naturwissenschaft  aber,  die  die  „Gesetzmässigköteo 
jener  Wirksamkeiten  und  Brauchbarkeiten**  nachweist,  betrachtet 
sie  als  notwendiges  Geschehen  an  den  Dingen  und  demgemi^ 
gelten  ihr  die  Dinge  selbst  (zunächst  mit  Ausnahme  der  Mensehei- 
und  Tierleiber)  nicht  als  lebendig,  sondern  als  tot.  Der  so  ei^ 
stehende  Widerspruch  treibt  den  Substanzbegriff  über  seine  ani- 
mistische  Form  hinaus. 

„Um  diesem  Widerspruch  zu  entgehen**,  legt  eine  ö* 
kosmotheoretische  Denkrichtung,  die  „metaphysische**  *• 
mehreren  und  wechselnden  sinnlich  wahrnehmbaren  QualitW 
„ein  nicht  sinnlich  wahniehmbares  Etwas**  zu  Grunde,  deflS^ 
Einheit  und  Beharrlichkeit  die  Einheit  und  Beharrlichkeit  * 
Dinges   ausmache,   und  dem   die  Qualitäten   als  Accidenzen  ^ 


j 


Heinrich  Gomperz'  Weltanschauungslehre.  279 

làrenzen  gegenübergestellt  werden.  Diese  Annahme  scheint  in 
•  Tat  die  Bedürfnisse  der  Praxis  und  die  der  Naturwissenschaft 
Tersöhnen,  denn  sie  erklärt  die  Einheit  und  Beharrlichkeit  des 
iges  ohne  dasselbe  zu  beleben  und  so  der  Notwendigkeit  des 
scbehens  zu  entziehen.  Das  naive  Denken,  das  nur  seinen 
^enständen  adäquat  sein  will,  wird  damit  befriedigt  sein,  nicht 
iv  ein    sekundäres  Denken,    das  die  „primären  Gedanken"  über 

Gegenstände  untersucht.  Und  zwar  ist  es  nach  Gomperz 
ziell  die  „Psychologie",  die  an  dem  metaphysischen  Substauz- 
rriff  Anstoss  nimmt.  Insofern  diese  nämlich  voraussetzt,  dass 
ler  Wissen  um  die  Dinge  nur  in  „Vorstellungen"  bestehen 
m,  und  indem  sie  zeigt,  dass  solche  stets  durch  „sinnliche 
ihrnehmungen"  bedingt  sind,  gelangt  sie  zu  der  Forderung, 
îh  unser  Wissen  von  der  Einheit  und  Beharrlichkeit  eines 
igs  müsse  auf  sinnlich  wahrnehmbaren  Elementen  desselben 
uhen.  Indem  die  Psychologie  so  einen  rein  „empirischen 
lg-  und  Substanzbegriff  postuliert,  entsteht  ein  neuer  Wider- 
uch,  der  den  kosmotheoretischen  Ding-  und  Substanzbegriff 
^r  seine  metaphysische  Form  hinaustreibt"  und  zwar  zu  der 
eologischen".  Unter  „Ideologie"  versteht  der  Verfasser  die 
ikrichtung,  die  ihren  typischen  Vertreter  in  Hume  hat.  Sie 
1  alle  Begriffe  auf  Erfahrung  gründen,  sie  denkt  dabei  aber 
)e  Erfahrung  lediglich  als  eine  „rezeptive",  d.  h.  als  eine 
glich  aus  „Vorstellungen"  zusammengesetzte.  Von  dieser  Vor- 
setzung aus  kommt  sie  in  dem  hier  vorliegenden  Problem  zu 
I  Ergebnis:  „das  Ding  enthält  überhaupt  kein  besonderes  sub- 
:itielles  Element,  sondern  ist  lediglich  ein  Komplex  von  Quali- 
)n,  und  auch  seine  Einheit  und  Beharrlichkeit  erschöpft  sich 
mach  in  der  relativ  beständigen  Verbindung  dieser  Qualitäten". 
Dieser  Begriff  führt  nun  aber  wieder  zu  einem  Widersprach 

der  Praxis  ;  denn  diese  postuliert  gerade  eine  von  jener  relativ 
tändigen  Qualitäten-Verbindung  unabhängige  und  über  sie 
a^usgehende  Einheit  und  Beharrlichkeit.  Dieser  Forderung  aber 
mag  die  Ideologie  nicht  Rechnung  zu  tragen,  da  sie  ja  ge- 
ezu  die  „Substanz"  leugnet.  Um  diesem  Widerspruch  zu  ent- 
len,  nimmt  eine  dritte  kosmotheoretische  Denkrichtong,  die 
'itizistische",  deren  Hauptvertreter  Kant  ist,  an:  „unser 
"Stand  sei  so  beschaffen,  dass  er  nicht  umhin  könne,  alle  vor- 
teilten, mehreren  und  wechselnden  Qualitäten  unter  den  Be- 
tt der  Substantialität  zu  bringen,  d.  h.  sie  auf  eine  einheitliche 


276  A.  Messer, 

dessen  diente,  was  Aristoteles  selbst  n^okri  ^iloao^ia  genannt 
hatte,  aber  die  geschichtliche  Entwickelung  habe  dem  Wort  eine 
ihm  fast  antrennbar  anhaftende  Nebenbedeutung  verliehen,  die  es 
empfehlenswert  mache,  es  auf  jene  philosophische  Denkriebtang 
einzuschränken,  die  „grundsätzlich  die  Erfahrung  überschreite** 
und  „mit  ausserempirischen  Begriffen  operiere". 

Auch  die  Bezeichnung  „Erkenntnistheorie"  wird  nicht 
passend  gefunden.  Dem  „Umfang"  nach  decke  dieser  Begriff  sich 
zwar  mit  dem  der  Weltanschauungslehre,  aber  die  Erkenntnis- 
theorie setze  das  gemeinsame  Stoffgebiet  einer  „einseitig-sub- 
jektivistischen  Betrachtungsweise"  aus  und  greife  damit  den 
Lösungen  vor. 

Insofern  die  Weltanschauungslehre  das  Vorhandensein  anderer 
Wissenschaften  voraussetzt,  ist  sie  als  „sekundäre"  Wissen- 
schaft zu  bezeichnen.  Es  gilt  insofern  für  sie  das  Prinzip  der 
„Sterilität".  Wenn  es  nämlich  als  Zweck  der  Elinzelwissen- 
schaft  aufgefasst  werden  kann,  „Tatsachen  festzustellen  und  zu 
ordnen",  so  trägt  die  Weltanschauungslehre  als  solche  hierzu  nichts 
unmittelbar  bei,  sondern  sie  bezieht  sich  nur  auf  die  „gedankliche 
Nachbildung  schon  anderweitig  festgestellter  und  geordneter  Tat- 
sachen". Sie  geht  also  nicht  von  „Tatsachen",  sondern  von  „Be- 
giiffen"  und  den  zwischen  ihnen  hervortretenden  Widersprüchen 
aus,  und  sie  sucht  diese  Begriffe  soweit  umzubilden,  dass  sie 
einerseits  zur  NachbUdung  der  Tatsachen  tauglich  bleiben,  dass 
aber  andererseits  die  zwischen  ihnen  bestehenden  Widersprüche 
gehoben  werden. 

Ist  beides  erreicht,  so  liegt  darin  die  „Verifikation**  für 
die  erreichte  Auflösung  der  Probleme.  Diese  ist  freilich  wegen 
des  stetigen  Fortganges  der  praktischen  und  der*  einzel wissen- 
schaftlichen Begri£Esbildung  stets  nur  eine  einstweilige,  nie  eine 
endgültige. 

Das  Prinzip  der  Sterilität,  der  Enthaltung  von  der  Bear- 
beitung der  „Tatsachen"  selbst,  lässt  sich  freilich  nicht  praktisch 
durchführen.  Insbesondere  wird  der  „Eosmotheoretiker"  vielfach 
auf  psychologische  Tatsachenfragen  eingehen  müssen.  Daxa 
nötigt  ihn  die  gegenwärtige  Lage  der  Probleme  der  Weltanschan- 
ungslehre,  andererseits  der  „recht  unbefriedigende  Zustand  der 
Psychologie"  und  die  Tatsache,  dass  sie  den  hier  in  Betracht 
kommenden  Fragen  „von  sich  selbst  aus  nur  eine  sehr  geringe 
Aufmerksamkeit  zuzuwenden  pflegt".     Freilich   ist   dabei  festn- 


Heinrich  Gomperz*  Weltanschauongslehre.  281 

^  alle  EUemente  des  Dinges  erfahrbar  sein  müssen**.    Mit  dem 

^fxistischen''    endlich    stimmt    der    „pathempirische**    insofern 

*fa,    als    beide    in   der   „Substanz"    „eine   subjektive   Zutat** 

^n,  „eine  Reaktion,  die  notwendig  aus  dem  Wesen  unserer  Or- 

ation  hervorgeht".  —  Beseitigt  sind  dagegen  die  Schwächen 

^  B^friffe.    Der  „animistische"  fasste  irriger  Weise  die  Vita- 

:  als  etwas   in   dem  Ding  Vorhandenes  statt  als  ein  von  uns 

•Ml   Qualitäten   hinzugefühltes.     Der  „metaphysische"  Begriff 

.'Ste  die  Substanz   in  das  Ding  und  „aus  der  Sphäre  des  Er- 

^am,  heraus**,   und   so  wird  die  Frage  für  ihn  verhängnisvoll, 

-4r  er  denn   davon  wisse.     Diese  Frage   aber  wird  von  dem 

.jinpHschen   Begriff   beantwortet:    „Wir  wissen  hiervon,   weil 

Einheit  und  Beharrlichkeit  des  Dinges  unmittelbar  fühlen,  und 

i  unser  Gefühl   ist  selbst  die  Substanz  des  Dinges.**    Der 

logische**  Begriff  ging  in  die  Irre,  indem  er  die  „Erfahrung**, 

;.lle  Elemente   des  Dinges   aufweisen   müsse,   zu   eng  fasste, 

ch  bloss  als  „rezeptive  Erfahrbarkeit**,  d.  i.  „Vorstellbarkeit** 

so  dazu  getrieben   wurde,   die  Substanz   zu  leugnen.    Aber 

der    „rezeptiven**    Erfahrung    (dem    Inbegriff    der    Wahr- 

'imgen   und  Vorstellungen)   ist  die   „reaktive**  anzuerkennen. 

"Gegensatz   zu  der  „passiven**  Aufnahme  der  Wahrnehmungen 

'   sich  das  Gefühl   als  ein  „aktives"  Reagieren  des  Bewusst- 

*  dar.    Erfahren  wird  die  Substanz  (als  „Totalimpression**  im 

nempirischen"  Sinne),   weil   sie   eben  als  Gefühl  erlebt  wird; 

srestellt**  dagegen  (d.  i.  wahrgenommen  oder  phantasiert)  wird 

freilich  nicht,  weil  dies  überhaupt  nicht  die  Weise  ist,  in  der 

^staflUüe  erleben. 

Im  nächsten  Abschnitt  wird   in   analoger  Weise  der  „path- 
tisehe**  Begriff  der  „Identität"  zu  entwickeln  und  zu  recht- 
;en  gesucht:   er  fasse  die  von  einem  Gegenstand  ausgesagte 
itit  als  „ein  demselben  eingelegtes  Gefühl  der  Ichstetigkeit". 
•Igenden  Kapitel  wird  dann  auf  die  „Relation"  als  ein  „Ge- 
charakterisiert, und  zwar  als  ein  solches,   „welches  vor  der 
eUiiDg  der  Relationsglieder  vorhergeht,  und  in  welches  diese, 
nachdem   sie  sich   aus  ihm  differenziert  haben,   eingebettet 
ju''.     Der   hieran    sich    anschliessende   Abschnitt   über   den 
mbegrif f "    hat   einen   allgemeineren  Inhalt  als  die  vorher- 
iden.     Als  »Form"    bezeichnet  nämlich  der  Verfasser  „alles, 
von  Erlebnissen   und  Erlebnisgegenständen  ausgesagt  wird, 
-^  h  nicht  als  Inhalt  einer  Vorstellung  aufgezeigt  werden  kann". 


280  A.  Messet*, 

und  beharrliche  Sabstanz  zu  beziehen  und  sie  somit  als  Qualitäten 
eines  einheitlichen  und  beharrlichen  Dinges  zu  denken  ;  und  es 
sei  demnach  die  Substanz  eine  subjektive  Zutat  zu  den  Quafi- 
täten." 

Dagegen  erhebt  nun  aber  wieder  die  Psychologie  Einsprach. 
Sie  fordert,  dass  „alle  subjektiven  Erlebnisse  als  ihrer  Art  nach 
bestimmte  Tatsachen  des  Bewusstseins  müssen  aufzuzeigen  sdn; 
als  solche  aber  vermag  der  Kritizismus  weder  den  »Verstandes- 
begriff  der  Substantialität*"  (die  hinzugedachte  Substanz),  noch  dis 
„Bringen  der  Qualitäten  unter  diesen  Begriffe  (das  Beziehen  de^ 
selben  auf  diese  Substanz)  nachzuweisen.  Eine  vierte  kosmo- 
theoretische  Denkrichtung,  die  „pathempirische**  löst  aber  end- 
lich auch  diesen  Widerspruch,  indem  sie  festhält,  die  von  den 
Qualitäten  zu  unterscheidende  Substanz  sei  allerdings  eine  subjek- 
tive Zutat,  aber  eine  solche,  die  sich  im  Bewusstsein  wirklich 
aufzeigen  lasse,  nämlich  ein  Gefühl,  „und  zwar  jenes  Oesamt- 
eindrucksgefühl  (Totalimpression),  welches  der  Vorstellung  der  ein- 
zelnen Qualitäten  vorangehe  und  sich  erst  in  sie  besondere,  dtf 
sie  aber  auch  nach  dieser  Besonderung  noch  einige,  indem  sie  io 
dasselbe  eingebettet  bleiben^. 

Dieser  „pathempirische""  Substanzbegriff  erfährt  nun  sem 
„Verifikation"*,  indem  gezeigt  wird,  dass  er  alle  berechtigten 
Momente  der  vorher  angeführten  Substanzbegriffe  in  sich  schliesse. 
ohne  doch  den  erwähnten  Widersprüchen  ausgesetzt  zu  sein 
Zunächst  ist  der  „animistiscbe^  Dingbegriff  in  ihm  „au^hoboi'' 
(im  Hegelscheu  Sinne).  Er  erhält  Recht,  sofern  er  „die  Substani 
auffasst  als  eine  unserer  Reaktion  korrelate,  spezifische  Vitalität 
des  Dinges  *".  Denn  wir  erleben  die  Totalimpression  der  Dinge 
nicht  lediglich  als  „unser""  Gefühl,  sondern  auch  als  „Dure* 
Lebendigkeit.  Noch  vor  der  Besonderung  der  einzelnen  Qualitäten 
stellt  sich  uns  das  Ding  dar  als  „ein  Etwas,  das  wir  abwehren 
müssen,  ja  geradezu  als  ein  Etwas,  das  uns  angreift^.  Ferner 
erhält  der  „metaphysische""  Dingbegriff  Recht,  insofern  er  zu  des 
Dinge  neben  den  Qualitäten  noch  „ein  einheitliches  und  behan^ 
liches,  nicht  sinnlich  wahrnehmbares  Etwas,  als  seine  Substam*» 
verlangte.  Denn  die  Totalimpression  ist  von  den  Qualitäten  ve^ 
schieden  und  im  Vergleich  mit  ihnen  etwas  Einheitliches  und  Be* 
harrUches.  Auch  ist  sie  nicht  sinnlich  wahrnehmbar,  da  ein  G^ 
fühl  weder  gesehen,  noch  gehört  etc.  werden  kann.  Der  «ideth 
logische^  Dingbegriff  wird   anerkannt,   insofern  er  darauf  driqft« 


Heinrich  Gomperz*  Weltanschauungslehre.  281 

„dass  alle  Elemente  des  Dinges  erfahrbar  sein  müssen**.  Mit  dem 
^kritizistischen''  endlich  stimmt  der  „pathempirische**  insofern 
überein,  als  beide  in  der  „Substanz"  „eine  subjektive  Zutat" 
sehen,  „eine  Reaktion,  die  notwendig  aus  dem  Wesen  unserer  Or- 
ganisation hervorgeht".  —  Beseitigt  sind  dagegen  die  Schwächen 
dieser  Begriffe.  Der  „animistische"  fasste  irriger  Weise  die  Vita- 
lität als  etwas  in  dem  Ding  Vorhandenes  statt  als  ein  von  uns 
zu  den  Qualitäten  hinzugefühltes.  Der  „metaphysische"  Begriff 
verlegte  die  Substanz  in  das  Ding  und  „aus  der  Sphäre  des  Er- 
lebbaren  heraus",  und  so  wird  die  Frage  für  ihn  verhängnisvoll, 
woher  er  denn  davon  wisse.  Diese  Frage  aber  wird  von  dem 
pathempirischen  Begriff  beantwortet:  „Wir  wissen  hiervon,  weU 
wir  Einheit  und  Beharrlichkeit  des  Dinges  unmittelbar  fühlen,  und 
dieses  unser  Gefühl  ist  selbst  die  Substanz  des  Dinges."  Der 
^ideologische"  Begriff  ging  in  die  Irre,  indem  er  die  „Erfahrung", 
die  alle  Elemente  des  Dinges  aufweisen  müsse,  zu  eng  fasste, 
nämlich  bloss  als  „rezeptive  Erfahrbarkeit",  d.  i.  „Vorstellbarkeit" 
und  so  dazu  getrieben  wurde,  die  Substanz  zu  leugnen.  Aber 
neben  der  „rezeptiven"  Erfahrung  (dem  Inbegriff  der  Wahr- 
nehmungen und  Vorstellungen)  ist  die  „reaktive"  anzuerkennen. 
Im  Gegensatz  zu  der  „passiven"  Aufnahme  der  Wahrnehmungen 
stellt  sich  das  Gefühl  als  ein  „aktives"  Reagieren  des  Bewusst- 
seins  dar.  Erfahren  wird  die  Substanz  (als  „Totalimpression"  im 
„pathempirischen"  Sinne),  weil  sie  eben  als  Gefühl  erlebt  wird; 
^vorgestellt"  dagegen  (d.  i.  wahrgenommen  oder  phantasiert)  wird 
sie  freilich  nicht,  weil  dies  überhaupt  nicht  die  Weise  ist,  in  der 
wir  Gefühle  erleben. 

Im  nächsten  Abschnitt  wird  in  analoger  Weise  der  „path- 
empirische"  Begriff  der  „Identität"  zu  entwickeln  und  zu  recht- 
fertigen gesucht:  er  fasse  die  von  einem  Gegenstand  ausgesagte 
Identität  als  „ein  demselben  eingelegtes  Gefühl  der  Ichstetigkeit". 
Im  folgenden  Kapitel  wird  dann  auf  die  „Relation"  als  ein  „Ge- 
fühl" charakterisiert,  und  zwar  als  ein  solches,  „welches  vor  der 
Vorstellung  der  Relationsglieder  vorhergeht,  und  in  welches  diese, 
auch  nachdem  sie  sich  aus  ihm  differenziert  haben,  eingebettet 
bleiben".  Der  hieran  sich  anschliessende  Abschnitt  über  den 
„Formbegriff"  hat  einen  allgemeineren  Inhalt  als  die  vorher- 
gehenden. Als  »Form"  bezeichnet  nämlich  der  Verfasser  „alles, 
was  von  Erlebnissen  und  Erlebnisgegenständen  ausgesagt  wird, 
jedoch  nicht  als  Inhalt  einer  Vorstellung  aufgezeigt  werden  kann^. 


282  A.  Messer, 

Der  Begriff  „Form"    umfasst  somit   auch   die   schon   vorher  be- 
handelten   Begriffe    „Substanz**,    „Identität**,    „Relation**;    nicht 
minder  —  was   hier   beiläufig   erwähnt   sei  —  die  Begriffe  „Ob- 
jektivität" und  „Subjektivität**;  denn  Wahrnehmungen  wie  Wdss, 
Hart,  Süss,  Kalt  bleiben  in  Bezug  auf  ihren  „vorsteUbaren"  Inhalt 
dieselben,  ob  nun  diese  Qualitäten  als  subjektive  Zustände  unseres 
Bewusstseins  oder  auch  als  objektive  Eigenschaften  realer  Gegen- 
stände  gedacht   werden.      Auch   hier   werden   wieder    der   Reihe 
nach  die  Auffassungen   des  Formbegriffs  durch  den  „Animismus**, 
die    „metaphysische",    „ideologische"    und    „kritizistische*"    Denk- 
richtung abgehandelt.    Die  Lösung   des  Problems,    was    denn  der 
eigentliche  Sinn  der  Formaussage  sei,   soll  auch   hier   wieder  der 
„pathempirische"  Standpunkt   geben,   nämlich:    „die  Form  ist  ein 
erfahrbares,   allein   nicht   rezeptiv  erfahrbares,  somit  ein  von  den 
erfahrbaren  Vorstellungsinhalten   verschiedenes   und  vielmehr  eine 
reaktive  Zutat  zu  denselben  darstellendes  Gefühl".     Mittun  besagt 
der  „Pathempirismus"  :    „der   gesamte   Inhalt  der  Erfahrung  wird 
durch  Vorstellungen,   ihre   sämtlichen  Formen  durch    Gefühle  im 
Bewusstsein  dargestellt." 

Nach  diesen  konkreten  Beispielen  für  das  Verfahren  bei  der 
Erörterung  der  kosmotheoretischen  Begriffe  und  der  daraus  sieb 
ergebenden  Probleme  wird  die  Methode  selbst  noch  in  allge- 
meinerer Form  einer  zusammenfassenden  Besprechung  unterzogen. 
Ihr  charakteristischstes  Merkmal  besteht,  wie  wir  gesehen  haben, 
darin,  dass  die  Entwickelung  der  kosmotheoretischen  Begriffe 
(bezw,  Probleme)  von  ihrer  „animistischen"  Gestalt  über  die 
„metaphysische",  „ideologische**,  „kritische"  bis  zu  ihren  „path- 
empirischen"  verfolgt  wird.  Wenn  in  der  seither  betrachteten 
Behandlung  der  „Vorbegriffe"  psychologische  ErörterungBn  stait 
hervortreten,  so  ist  die  Methode  doch  nicht  eine  psycholo- 
gische. Es  wurde  zwar  z.  B.  das  Substanzproblem  dorch  den 
Satz  über  die  Differenzierung  der  Totalimpression  in  die  Qoali- 
täten,  das  Relationsproblem  durch  den  Satz  über  die  Difienzienmg 
des  Relationsgefühls  in  die  Relationsglieder  aufgelöst  Insofos 
derartige  Sätze  Tatsachen  aussagen,  sind  sie  allerdings  psycho- 
logisch. Aber  die  Auflösung  des  kosmotheoretischen  Problems 
besteht  nicht  in  den  Sätzen  selbst,  sondern  in  der  Erkenntnis, 
„dass  diese  psychologischen  Tatsachen  den  Sinn  jener  kosmo- 
theoretischen Begriffe  ausmachen".  So  ist  es  auch  ein  lediglich 
psychologischer  Satz,   dass   es  Gefühle  neben  Vorstellungen  giebt, 


Heinrich  Gomperz*  Weltanscbauungslehre.  283 

^dass  aber  diese  Gefühle  die  Erfahruügsfonnen  sind,  um  die  seit 
vielen  Jahrhunderten  der  Streit  der  Metaphysiker,  Ideologen  und 
Kritizisten  tobt",  das  ist  kein  psychologischer,  sondern  ein  kosmo- 
theoretischer  Satz. 

Die  Anordnung,  in  welche  jene  fünf  Denkrichtungen  ge- 
bracht worden  sind,  ist  weder  als  eine  ausschliesslich  zeitliche, 
noch  eine  ausschliesslich  logische  anzusehen.  Die  später  ge- 
nannten treten  zwar  später  auf,  aber  dabei  können  die  früheren 
noch  sehr  wohl  fortbestehen,  und  die  oft  sehr  kleinen  Zeitunter- 
schiede des  Entstehens  kommen  neben  der  langen  Dauer  des 
gleichzeitigen  Bestandes  oft  kaum  in  Betracht.  Auch  kann  ein 
Denker  in  Bezug  auf  verschiedene  Probleme  verschiedenen  Denk- 
richtungen zugehören. 

Das  Schema  selbst  mit  seinen  fünf  Stufen  kann  nicht  etwa 
als  einzig  mögliches  „deduziert*"  werden,  sondern  es  ist  der  ge- 
schichtlichen Wirklichkeit  entnommen.  Freilich  ist  der  Standpunkt 
des  „Änimismus^,  als  der  Ausgangspunkt  der  kosmotheoretischen 
Entwickelung  und  spezifische  Standpunkt  der  Praxis  in  der  philo- 
sophischen Litteratur  fast  nur  in  Spuren  und  Rudimenten  nach- 
weisbar. Da  erst  die  Widersprüche,  in  die  der  „Animismus^  sich 
verwickelte,  das  Bedürfnis  nach  kosmotheoretischen  Untersuchungen 
überhaupt  erzeugen,  so  kann  es  eine  eigentliche  Weltanschauungs- 
lehre vom  Standpunkt  des  „Animismus""  nicht  geben.  Und  so 
moss  bei  der  Entwickelung  der  kosmotheoretischen  Probleme  von 
ihrer  animistischen  Urform  in  der  Regel  abgesehen  werden. 

Die  Methode  selbst  stellt  sich  dar  als  eine  „dialektische"" 
im  Sinne  Hegels,  und  zwar  in  dreifacher  Hinsicht:  1.  indem  sie 
die  Probleme  durch  Ausgleichung  von  Widersprüchen  aufzulösen 
sucht;  2.  insofern  sie  diese  Auflösung  zu  verifizieren  sucht  durch 
den  Nachweis,  dass  sie  die  berechtigten  Momente  der  früheren 
Auflösungsversuche  „aufgehoben""  in  sich  enthält;  3.  insofern  sie 
diesen  Auflösungsversuchen  „nicht  nur  eine  deskriptive,  sondern 
auch  eine  konstitutive  Funktion  in  Beziehung  auf  die  gedanklich 
nachzubildenden  Tatsachen  zuteilt"".  Dieser  letzte  Satz  —  in  dem 
allerdings  das  Ergebnis  späterer  Untersuchung  vorweggenommen 
wird  —  bedarf  einer  näheren  Erläuterung.  In  den  Erörterungen 
des  vorliegenden  Bandes  ist  nämlich  im  allgemeinen  vorausgesetzt, 
„dass  die  fünf  verschiedenen  kosmotheoretischen  Denkrichtungen 
mit  ihren  Begriffen  dieselben  Tatsachen  nachbilden  wollen"". 
Unter  dieser  Voraussetzung  war  das  allgemeine  Ergebnis  gewonnen 


284  A.  Messer, 

worden,  dass  die  Erfahrongsformen  sich  im  Bewusstsein  à 
Gefühle  darstellen  —  mögen  sie  nun  noch  ein  anderes  objekÜTes 
Dasein  haben  oder  nicht.  Wendet  man  aber  dieses  Verhhrai 
auf  die  Erfahrungsformen  der  Objektivität  und  Subjektivitfit  selM 
an,  so  würde  folgen  :  „Unter  Objektivität  verstehen  wir  die  Ver- 
knüpfung des  Vorstellungsinhalts  mit  gewissen  Objektivitätsgefühten, 
unter  Subjektivität  seine  Verknüpfung  mit  gewissen  SubjektiviUitfr 
gefühlen.  Und  hier  hat  er  keinen  Sinn  mehr  zu  sagen:  „Diese 
Gefühle  repräsentieren  die  Objektivität,  resp.  die  Subjektivita 
im  Bewusstsein  —  mag  nun  der  betr.  Vorstellungsinhalt  ao 
sich  objektiv  oder  subjektiv  sein."  Denn  wenn  wir  unter  Objd- 
tivität  und  Subjektivität  überhaupt  nichts  anderes  verstehen  ak 
die  Verknüpfung  mit  diesen  Gefühlen,  so  ist  ja,  sobald  diese  Ver- 
knüpfung einmal  feststeht,  die  Objektivität  resp.  Subjektivit&t  gar 
nicht  mehr  fraglich:  der  betr.  Vorstellungsinhalt  ist  eben objekti?, 
wenn  er  mit  den  einen,  und  subjektiv,  wenn  er  mit  den  aDderes 
Gefühlen  verküpft  ist.  „Animismus"  und  „Metaphysik"  hatten 
die  äusseren  Dinge  für  objektiv  (d.  h.  verknüpfen  mit  ihren  Vo^ 
Stellungen  Objektivitätsgefühle)  und  erklären  sie  darum  auch  fif 
objektiv.  „Ideologie",  „Kritizismus"  und  „Pathempirismus"  richtea 
dagegen  gerade  ihr  Augenmerk  auf  dieses  Für-objektivhalten,  «iiod 
indem  sich  ihnen  dieses  als  etwas  Subjektives  (als  eine  „Vor 
Stellung",  als  eine  „kategoriale  Beziehung")  und  endlich  riditig 
als  ein  Verknüpfen  mit  Objektivitätsgefühlen  erweist,  erkennen  sie 
jene  Dinge  als  subjektiv".  Aber  die  dialektische  Methode  fohrt 
nun  zu  der  Einsicht,  dass  eben  dieses  „ihr  Augenmerk  anf  das 
ITürobjektivhalten  richten"  und  daraufhin  „die  Dinge  für  subjektir 
erkennen"  eine  Änderung  in  der  Erlebnisweise  dieser  Dinge  M 
(nämlich  „ein  Verknüpfen  derselben  Inhalte  mit  Subjektivittta- 
gefühlen");  dass  somit  einerseits  für  die  „Animisten"  und  «Heta* 
physiker"  es  sich  in  der  Tat  so  verhält,  wie  sie  aussagen,  dasB 
nämlich  die  Dinge  objektiv  sind;  dass  es  sich  aber  andererseita 
für  „Ideologen",  „Kritizisten"  und  „Pathempiriker"  auch  so  ver 
hält,  wie  sie  aussagen,  dass  nämlich  die  Dinge  subjektiv  àsi' 
„In  Wahrheit  verhält  es  sich  eben  so,  dass  es  sich  für  den  Soea 
auf  die  eine,  für  den  Anderen  auf  die  andere  Weise  verhält* 

Gerade  diese  letzten  Ausführungen  machen  nach  derÂnsiett 
des  Verfassers  den  Terminus  „Aufheben"  verständlich  und  keott- 
zeichnen  sein  Verfahren  als  ein  „dialektisches"  in  der  Weùa 
Hegels.    Sie  zeigen  aber  auch,   dass  der  „Pathempirismus"  aelM 


Heinrich  Gompera'  Weltanschauungslehre.  285 

ewissermassen  die  letzte  Wegstrecke  in  dem  Durchwandern 
)smotheoretischen  Probleme  aasmacht,  während  die  gesamte 
de  der  Weltanscbauongslehre  vielmehr  als  eine  dialektische 
^ziehen  ist.  Das  folgende  Kapitel  ist  nun  aber  noch  einer 
eren  Betrachtung  der  „pathempirischen*"  Methode  selbst 
met. 

Das  von  Gomperz  neu  gebildete  Wort  „Pathempirismus**  soll 
Standpunkt  bedeuten,  „der  zwar  wie  der  ideologische  Em- 
us alle  Begriffe  auf  Erfahrung  zurückführt,  in  dieser  Er- 
lg  indes  nicht  wie  jener  bloss  Vorstellungen,  sondern  auch 
le  (als  ihre  Formen)  anerkennt^.  Wie  in  der  „dialektischen" 
de  an  Hegel,  so  knüpft  der  Verfasser  in  der  „pathempirischen" 
renarius  an  —  speziell  an  seine  Einteilung  der  E-Werte  in 
lente"  und  „Charaktere",  was  seiner  eigenen  Einteilung  aller 
sstseinstatsachen  in  „Vorstellungen"  und  „Gefühle"  entspreche. 
,Pathempirismus"  ist  also  „die  Denkrichtung,  welche  die 
itheoretischen  Probleme  durch  Aufzeigung  der  unseren  Form- 
fen  zu  Grunde  liegenden  Gefühle,  somit  durch  psychologische 
suchungen  aufzulösen  sucht.  Diese  psychologische  Methode 
dem  Kosmotheoretiker  durch  den  gegenwärtigen  Stand  seiner 
9me  aufgedrängt.  Denn  nachdem  die  „Ideologie"  die  Er- 
Qg  subjektiviert  und  der  „Kritizismus"  die  Formen  als  die 
Iven  Bestandteile  dieser  subjektiven  Erfahrung  aufgezeigt  hat, 

nichts  übrig,  als  von  diesem  Punkte  aus  den  Weg  weiter 
hnen,  zunächst  also  zu  zeigen,  „dass  als  solche  reaktiven 
Ddteile  der  subjektiven  Erfahrung  (des  Bewusstseins)  nur  die 
lie  in  Anspruch  genommen  werden  können".  Und  dieser 
veis  eben  macht  das  Wesen  der  „pathempirischen"  Methode 
Dem  Bedenken  gegenüber,  dass  ihre  psychologische  Natur 
rschleichung  psychologistischer  Resultate  erwarten  lasse,  wird 
f  hingewiesen,  dass  die  schliesslichen  Ergebnisse  gar  nicht 
ologistisch  sein  wUrden. 

Es  wird  sodann  die  Art  der  psychologischen  Untersuchungen, 
e  die  „pathempirische''  Methode  ausmacht,  näher  dargestellt. 
:ehören  der  analytischen  (introspektiven)  Psychologie,  nicht 
enetischen  au;  denn  die  Begriffe  des  praktischen  Lebens 
er  Einzelwissenschaften,  deren  Widersprüche  es  auszugleichen 
sind  die  Begriffe  erwachsener,  kultivierter  Menschen,  nicht 
on  Kindern,  Wilden   oder   gar   Tieren.     Diese  Ausgleichung 

geschieht    „durch   Aufzeigung  jener  Bewusstseinstatsachen 


286  A.  Messer, 

and  speziell  jener  Gefühle,  deren  gedankliche  Nachbildnng  & 
verschiedenen,  einander  widersprechenden  Begriffe  ergeben  H\ 
Ausführlich  wird  in  diesem  Zusammenhang  auf  das  gegenwirtige 
Überwuchern  der  genetischen  Betrachtungsweise  und  die  dann 
sich  ergebende  Irrtümer  eingegangen.  Ferner  wird  die  EinteÜBH 
aller  Bewusstseinstatsachen  in  Vorstellungen  und  Gefühle  gcp* 
über  anderen  Erteilungen  zu  rechtfertigen  gesucht  Die  qui* 
tative  Mannigfaltigkeit  der  Gefühle  wird  —  unter  energisd» 
Polemik  gegen  die  Beschränkung  des  Terminus  „Gefühl^  auf  Lot 
und  Unlust  —  als  unabsehbar  gross  bezeichnet.  Endlich  werta 
die  Hauptformen  der  Verknüpfung  von  Vorstellungen  und  GetSlil« 
ausführlich  dargestellt.  Diese  Verknüpfung  —  die  übriges  st* 
obwalten  soll  —  darf  selbst  nicht  auf  „Relation"  zurückgefoW 
werden,  da  „Relation"  selbst  eine  derartige  Verknüpfung  ist  h 
Wahrheit  ist  „die  Weise,  in  der  wir  Vorstellungen  und  GefSik 
erleben,  eine  der  wenigen  ganz  fundamentalen  Tatsachen  nnsenr 
Erfahrung,  die  eben  deshalb,  weil  sie  ein  Letztes  ist,  in  keiitf 
Art  mehr  auf  ein  Anderes  zurückgeführt  werden  kann".  Sie  fW 
vom  Verfasser  deshalb  mit  dem  besonderen  Namen  „Charaki» 
sierung"  bezeichnet. 

Das  den  Band  abschliessende  Kapitel  behandelt  die  Ei» 
teilung  der  Weltanschauungslehre.  Es  wird  dieser  EinteflUK 
nicht  wie  es  als  naheliegend  erscheinen  könnte,  ein  System  der  Eat» 
gorien  (Formbegriffe)  zu  Grunde  gelegt.  Die  Arbeit  der  W* 
anschauungslehre  wäre  vielmehr  als  beendet  anzusehen,  „wennÄ 
jedem  Formbegriff  das  zu  Grunde  liegende  Gefühl  aufgezeigt  ■( 
wenn  dadurch  jeder  dieser  Begriffe  von  den  ihm  anhaftai* 
Widersprüchen  gereinigt  wäre".  Damit  würde  für  einen  künftig* 
Aufbau  eines  Kategoriensystems  gerade  nur  die  erste  Gmndllp 
geschaffen  sein;  „es  würde  dann  diese  Kategorienlehre  * 
der  Weltanschauungslehre  sich  ähnlich  verhalten  wie  die  î* 
Kant  in  der  Vorrede  zur  Kritik  der  reinen  Vernunft  postoiiB* 
Metaphysik  zu  seiner  Kritik  der  reinen  Vernunft  selbst".  -  &* 
gehend  legt  übrigens  der  Verfasser  dar,  warum  er  die  HersteW 
eines  Systems  der  Kategorien  für  eine  unlösbare  Aufgabe  hato- 

Die  von  ihm  gewählte  Einteilung  des  gesamten  Sbotb^^ 
giebt  sich  ihm  aus  folgender  Erwägung:  Die  „pathempiri'*^ 
Methode,  auf  die  ontologischen  Begriffe  Objektivität  und  SalF 
tivität  angewendet,  führt  (wie  oben  gezeigt)  zu  der  for  * 
„dialektischen"    Methode    charakteristischen    Einsicht,    dass  ** 


Heinrich  Gomperz*  Weltanschauimgslehre.  287 

e  Begriffe  als  wandelbare  Bestimmungen  darstellen,  weil  ein 
derselbe  Vorstellungsinhalt  bald  durch  Objektivitäts-,  bald 
b  Snbjektivitätsgefühle  ,,charakterisiert''  sein  kann;  und  dass 
Br  Wechsel  „unserer  ontologischen  Auffassung  jener  Vor- 
ungsinhalte" für  diese  Inhalte  zugleich,  „einen  Wechsel  ihrer 
sweise"  bedeute.  Dieser  Auffassungswechsel  aber  ist,  „wie 
zeigen  wird",  innerhalb  relativ  weiter  Grenzen  vom  Willen 
ingig.  So  kann  man  den  unterscheiden:  1.  die  „Seinsweise, 
er  uns  die  Erfahrung  gegeben  ist",  2.  das  „Weltbild,  welches 
ihr  zu  gestalten  und  aufgegeben  ist".  Der  Erste  behandelt 
„Ontologie":  hier  gilt  es  festzustellen,  was  wir  unter  Ob- 
ivität,  Subjektivität  u.  s.  w.  verstehen,  und  unter  welchen 
ingungen  von  den  Bestandteilen  diese  Bestimmungen  ausgesagt 
len.  Das  Zweite  ist  der  Gegenstand  der  „Kosmologie". 
*  handelt  es  sich  darum,  zu  ermitteln,  wie  wir  diese  Auffas- 
fsformeu  gebrauchen  „sollen"  und  in  welchen  Fällen  wir  sie 
jene  Erfahrungsbestandteile  anwenden  „sollen".  Als  der 
ck  aber,  von  dem  es  abhängt,  wie  wir  das  ontologische  Auf- 
iingsvermögen  gebrauchen  sollen,  wird  sich  die  „Erzielung 
s  geordneten  Erfahrungszusammenhangs''  herausstellen. 

Vorausgeschickt   soll   diesen   beiden  Hauptteilen   eine  „Noo- 

ie"  oder  „Denklehre"  werden.  — 

Einige   Bemerkungen   zur  Beurteilung   des   Werkes   mögen 

an   dieses  Referat   über   seinen   Inhalt  anschliessen.    Schon 

bisher  Gesagte   wird  genügend  gezeigt  haben,   dass   es   sich 

um  einen  gross  angelegten  und  leicht  zu  überblickenden  Ge- 

cenaufbau  handelt.     Der  Übersichtlichkeit  ist  auch  noch  durch 

;ere  Mittel  Rechnung   getragen.     Der  Text  ist  in  eine  nicht 

frosse  Zahl  —  im   ganzen  41  —  Paragraphen  gegliedert,   die 

s  kurz   die   Hauptgedanken    zunächst   hinstellen.      An  jeden 

igraphen  schliessen  sich  dann  sehr  ausführliche  Erläuterungen, 

selbst  wieder  in  gross  und  klein  gedruckte  Partien  i)  zerfallen. 

letzteren  sind  sachlichen  Exkursen  und  historischen  und  pole- 

then   Auseinandersetzungen   gewidmet.     Durch   unsere  knappe 

ize    der   wesentlichen   Gedanken   des   Buches   kann   natürlich 


>)  Die  Benutzung  des  Buches  hätte  noch  dadurch  erleichtert  werden 
len,  dass  die  Zahl  der  Paragraphen  und  die  Nummern  der  einzelnen 
^hnitte  der  Erläuterungen  stets  am  oberen  Rande  der  Seiten  angegeben 
ien  wäre.  Da  dies  fehlt,  so  sind  Verweisungen  nicht  immer  leicht  zu 
en,  zumal  da  auch  noch  ein  Register  aussteht. 


288  A.  Messer, 

keine  Anschauung  gegeben  werden  von  dem  überaus  reichen  lo* 
halt  dieser  Erläuterungen.  Sie  beweisen  eine  ausserordentliche 
Belesenheit  des  Verfassers  und  lohnen  allein  schon  das  Stndioi 
des  Buches.  Erleichtert  wird  ein  solches  durch  die  schlichte,  an- 
regende und  frische  Darstellungsart.  So  vermag  das  Badi  W 
einer  erstmaligen,  flüchtigeren  Lektüre  recht  anziehend  zu  wirto 
Bei  genauerer  Erwägung  stellen  sich  jedoch  gar  manche  Be- 
denken heraus,  von  denen  einige  hier  ihre  Stelle  finden  mögen. 

Der  Verfasser  bezeichnet  —  in  .Anknüpfung  an  die  Auf- 
gabe, die  er  der  Weltanschauungslehre  stellt  —  sie  als  eine 
„sekundäre^  Wissenschaft,  die  es  unmittelbar  nicht  mit  ^JA 
Sachen",  sondern  mit  „Gedanken" i)  über  Tatsachen  zu  tun  kit 
Aber  indem  er  so  das  „Prinzip  der  Sterilität"  für  sie  proklamiert, 
stellt  er  einen  Grundsatz  auf,  den  er  schon  in  diesem  ersten  Banl 
faktisch  durch  seine  weitausgreifenden  psychologischen  Untemek' 
ungeu  fortgesetzt  durchbricht.  Der  allgemeine  Grund  für  diesei 
Aufgeben  des  „sekundären"  Charakters  der  Weltanschauungslekre 
scheint  mir  aber  nicht  bloss  in  dem  gegenwärtigen  Stand  der 
Psychologie  zu  liegen,  sondern  auch  in  der  Sache  selbst,  d.  h.  ii 
der  Eonsequenz  der  Aufgabe  dieser  Disziplin,  wie  er  sie  fassL  Dv 
„Verifikation"  der  kosmotheoretischen  Sätze  soll  ja  in  der  We« 
erfolgen,  dass  für  die  Auffassungen,  durch  die  die  überlieferte 
Widersprüche  ausgeglichen  werden,  der  Nachweis  erbracht  wW 
„dass  sie  auch  den  Tatsachen  adäquat  sind".  Dadurch  ist  doi 
eine  unmittelbare  Berücksichtigung  der  Tatsachen  gefordert!  Uli 
natürlich  kann  auch  schon  die  ganze  Arbeit  an  der  Ansgleichmi 
der  Widersprüche  in  den  vorliegenden  kosmotheoretischen  ^ 
danken  nur  in  steter  Fühlung  mit  den  Tatsachen  selbst  erfoll^ 
da  ja  sonst  das  entscheidende  Kriterium  für  das  Ausschsl^ 
fehlerhafter  Gedankenelemente  fehlen  würde. 

Ähnlich  steht  es,  wenn  man  das  Verhältnis  der  Weltanscb»' 
ungslehre  zu  jenen  Problemen  berücksichtigt,  die  von  kduer  * 
Einzelwissenschaften,  die  sich  im  Laufe  der  Zeit  aus  der  Pl^ 
Sophie  herausdifferenziert  haben,  übernommen  worden  sind,  ^ 
z.  B.  den  Fragen  nach  dem  Dasein  und  Wesen  Gottes  und* 
Unsterblichkeit  der  Seele.    Diese  Fragen   beziehen  sich  nicM  H» 


1)  Die  Begriffe  „Gedanken"  und  „Tatsachen"  sollen  nach  derfr 
klärung  des  Verfassers  ihre  nähere  Bestimmung  erst  später  erfahwa JJ" 
wollen  sie  daher  wie  er  selbst  „in  einem  vorläufigen  und  amrfken'»' 
gemeinverständlichen  Sinne  verstehen". 


Heinrich  Gomperz'  Weltanschauungslehre.  âSÔ 

Verhältiiis  voo  Gedanken  zu  einander,  sondern  es  sind  Tat- 
tienfragen.  Oomperz  möchte  sie  dämm  aus  der  Weitanschauungs- 
•e  ausscheiden.  „Will  man  fortfahren",  so  erklärt  er,  „diese 
ähnliche  Probleme  als  philosophische  zu  betrachten  und  sie 
it  etwa  der  spekulativen  Theologie  und  Psychologie  überant- 
len,  dann  muss  festgestellt  werden,  dass  die  Weltanschauungs- 
•e  nur  ein  Teilgebiet  der  Philosophie  ist".  Aber  kaum  hat  er 
diese  Probleme  aus  der  Weltanschauungslehre  hinausgewiesen, 
siebt  er  sich  doch  veranlasst,  sie  wieder  hereinzulassen;  denn 
ch  darauf  giebt  er  zu,  dass  die  Weltanschauungslehre  doch 
ass  habe^  sich  mit  dem  Gottesbegriff  zu  beschäftigen;  denn  da 
I  diesen  Begriff  vielfach  dazu  verwendet  habe,  kosmotheore- 
he  Probleme  „angeblich  aufzulösen,  so  werde  man  die  Durch- 
pung  jeuer  Versuche  zu  prüfen  haben".  Aber  wird  dies  mög- 
sein, ohne  in  Tatsachenfragen  einzugehen?  —  Was  ferner 
Unsterblichkeitsproblem  betrifft,  so  soll  die  Weltanschauungs- 
«  zu  zeigen  haben,  dass  zwar  zur  gedanklichen  Nachbildung 
menschlichen  Bewusstsein  der  Begriff  einer  nnkörperlichen 
stanz  unentbehrlich  sei,  dass  aber  daraus  nichts  gefolgert 
den  könne  für  eine  Fortdauer  des  Bewusstseins  nach  dem 
e.  Eine  derartige  Erörterung  führt  doch  auch  wohl  in  Tat- 
lenfragen  hinein.  —  Übrigens  würde  auch  für  eine  Disziplin, 
die  genannten  Probleme  grundsätzlich  ausschliessen  wollte,  die 
eichnung  als  Weltanschauungslehre  zu  wenig  dem  Sprach- 
rauch  angemessen  sein,  da  die  Stellungnahme  zu  Fragen  wie 
nach  Gott  und  Unsterblichkeit  doch  allgemein  als  grundlegend 
die  Weltanschauung  gilt.  Dazu  kommt  noch,  dass  auch  die 
rwiegende  Zahl  derer,  mit  denen  Gomperz  gemäss  seiner  dia- 
iscben  Methode  sich  auseinanderzusetzen  hat,  weU  sie  Ver- 
er  kosmotheoretischer  Denkrichtungen,  mithin  seine  Vorgänger 
der  Weltanschauungslehre  sind  — ,  diesen  Problemen  bei  der 
izeption  ihrer  Weltanschauungen  eine  zentrale  Stellung  zu- 
wiesen haben. 
Nach  alledem  muss  es  doch  als  recht  fraglich  erscheinen,  ob 
von  Gomperz  beliebte  Charakterisierung  seiner  Disziplin  als 
r  „sekundären*  Wissenschaft  und  die  damit  gegebene  prin- 
)Ue  Ausschliessung  aller  Tatsachenfragen  zweckmässig  und 
'hführbar  ist.  Lassen  wir  Tatsachenfragen  aber  zu,  so  werden 
passend  jene  abschliessende  philosophische  Disziplin,  die  unter 
Sendung    allgemeinster   Ergebnisse   der   Einzelwissenschaften 


â9Ô  A.  Messer. 

eine  wohl  begründete  und  in  sich  übereinstimmende  Weltanschauung 
zu  begründen  sucht,  —  im  Anschluss  an  die  Entwickelung  der 
Terminologie  —  „Metaphysik"  nennen.  Auch  haben  ja  ODtologie 
und  Kosmologie,  die  Gomperz  als  die  beiden  Hauptteile  seiner 
Weltanschauungslehre  aufzeigt,  längst  als  Teile  der  MeUphjA 
in  der  philosophischen  Systematik  ihre  allgemein  anerkannte 
Stellung  gefunden.  Freilich  hat  Gomperz  den  Terminus  „Metar 
physik"  in  seinem  System  schon  in  anderer  Weise  festgelegt,  ni 
nämlich  eine  jener  kosmotheoretischen  Denkrichtungen  zu  be« 
zeichnen,  die  in  seiner  „pathempirischen"  überwunden  sein  sollen 

Es  führt  uns  das  auf  das  Schema  der  fünf  Stufen,  der« 
Durchlaufen  das  Weseu  der  „dialektischen"  Methode  ausmacht 
Mannigfache  Bedenken  erregt  hier  die  Behandlung  der  erst« 
Stufe,  des  „Animismus",  des  „Standpunkts  der  Dingbelebong*, 
einer  „Denkweise,  die  vor  der  kosmotheoretischen  Spekulation 
hervorgeht". 

Dieser  Standpunkt  wird  in  doppelter  Weise  charakterisiert 
Zunächst  wird  er  bezeichnet  als  Standpunkt  des  „naiven  nnl 
primitiv-geschichtlichen  Bewusstseins".  Durch  dessen  Analj« 
seien  die  nötigen  Belege  dafür  herbeizubringen.  So  wird  auf  te 
Zeugnis  der  Sprachen,  die  auch  den  unbelebten  Dingen  Geschlechti' 
unterschiede  beilegen,  Vorgänge  als  Tätigkeiten  ausdrück« 
u.  s.  w.  hingewiesen,  ferner  auch  daran  erinnert,  dass  Kindern 
einer  solchen  belebenden  Auffassung  ihrer  Umgebung  neigen - 
etwa  den  Tisch  schlagen,  an  den  sie  sich  gestossen.  Oompen 
hat  nun  aber  selbst  in  anderem  Zusammenhang  so  skeptisch  üM 
die  genetische  Psychologie  sich  ausgesprochen,  dass  es  eigentüA 
auffallen  muss,  dass  er  das  „naive"  und  „primitive"  BewusstselD, 
also  das  Innenleben  von  Kindern  und  relativ  kulturlosen  Erwaek* 
senen,  zum  Ausgangspunkt  seiner  Begriffsentwickelung  nuu^ 
Denn  was  ist  für  jene  Stufe  mit  einiger  Sicherheit  festzusteHeo? 
Zunächst  doch  nur,  dass  gegenüber  gewissen  Dingen  (ob  g^ 
über  allen  —  ist  doch  sehr  die  Frage)  ein  ähnliches  praktisch^ 
Verhalten  stattfindet  wie  gegenüber  lebenden  Wesen.  Wie  w» 
nun  diesem  Verhalten  gegen  Dinge,  „als  ob"  sie  lebend  wW» 
eine  bestimmte  „Auffassungsweise",  bestimmte  „Begriffe"  ^ 
sprechen,  das  mit  einiger  Sicherheit  festzustellen,  dürfte  isà 
kaum  möglich  sein,  da  alles  Befragen  solcher  Individuen  (sff^ 
es  überhaupt  durchführbar  ist)  die  Naivität  ihres  Verhalttttf  9sir 
hebt  und  Reflexion  wachruft.    Auch  liegt  doch  der  Gedanke  ^ 


Heinrieb  Gomperz'  Weltanschauungslehre.  201 

3  weniger  irgend  eine  bestimmte  positive  Aoffassungsweise  für 

erwähnte  Verbalten  massgebend  ist  als  der  Mangel  an  einer 
ben,  die  Tatsache,  dass  die  Merkmale  „lebendige  und  ,,leblos'' 
il  nicht  als  solche  bemerkt  sind.  Was  aber  Kinder  betrifft, 
in  unserem  Kulturkreise  aufwachsen,  so  kann  man  gelegentlich 
stellen,  dass  ihre  Behandlung  lebloser  Dinge  wie  lebender 
îhaus  nicht  von  einer  entsprechenden  Auffassungsweise  be- 
bet ist.  Sie  „spielen^  eben  und  sind  sich  dessen,  wie  ich 
;h  Befragen  schon  bei  etwa  Dreijährigen  erkennen  konnte, 
1  wohl  bewusst. 

Nun  wird  aber  von  Gomperz  der  Standpunkt  des  „Animismus" 
1  als  der  der  „Praxis'*,  und  zwar  —  wie  der  ganze  Zusammen- 
Ç  nahelegt  —  als  der  der  Praxis  erwachsener  Kulturmenschen 
dehnet.  Zur  Begründung  hierfür  behauptet  der  Verfasser, 
i   das  Gegenverhalten   der  Dinge   unserem   eigenen  Verhalten, 

Hemmen  und  Sichfügen  dem  Widerstehen  und  Nachgeben 
ichartig  gedacht"  wird.  Zunächst  überschätzt  er  doch  wohl 
i  hier  das  „intellektuelle"  Moment,  das  „Denken"  beim  prak- 
len  Verhalten.  Wäre  an  Stelle  eines  „Dingbegriffs  der  Praxis" 
t  eher  zu  reden  von  der  Disposition  zu  bestimmten  Betätigungen, 
faktisch  die  Dinge  in  uns  als  Reaktionen  auszulösen  pflegen? 
Ite  man  aber  einen  erwachsenen  Kulturmenschen  —  und  sei 
auch  nur  ein  „Ungebildeter"  —  veranlassen,  sein  Verhalten 
3nüber  lebenden  und  leblosen  Wesen  sich  zum  Bewusstsein  zu 
gen,  so  würde  sich  ihm  doch  wohl  sofort  ein  Unterschied 
er  „Auffassung"  aufdrängen. 

Wenn  ferner  gesagt  wird:  „Das  Ding  sei  der  Praxis  gegen- 
'  bestimmt  als  spezifische  Lebendigkeit",  so  ist  doch  auch  das 
>edenken,  dass  „Lebendigkeit"  selbst  nur  eine  Eigenschaft  ist 
ind  nicht  einmal  die  am  meisten  dauernde.  Auch  der  erlegte 
tis  — ^  um  ein  Beispiel  von  Gomperz  zu  gebrauchen  —  hat 
i  seine  Gestalt  und  seine  rote  Farbe,  er  gilt  auch  noch  als 
elbe,  der  vorher  seine  Räubereien  verübt.  Nehmen  wir  also 
3t  einmal  an,  die  Aufgabe,  einen  „Dingbegriff"  des  „primitiven" 
iisstseins  und  einen  solchen  der  „Praxis"  festzustellen,  sei 
u*,  und  diese  beiden  Begriffe  stimmten  überein,  so  wäre  doch 
i  sehr  fraglich,  ob  sie  einfach  zu  identifizieren  wären  mit  dem 
riff  einer  „spezifischen  Lebendigkeit".  Wäre  dies  der  Fall, 
^ürde  ja  auch  der  Naturwissenschaft,  die  diese  Lebendigkeit 
Tiet,  der  Dingbegriff  sozusagen   allen   Inhalt  verlieren.    Nun 


2Ôâ  A.  Messer, 

führt  aber  Gomperz  selbst  aus,  dass  aus  dem  „animistisdieB* 
Begriff  unter  dem  Einfluss  der  Naturwissenschaft  der  „metapkj- 
sische"  entstehe,  da  die  Naturwissenschaft  „nur  (!)  gegen  & 
Lebendigkeit  der  Dinge"  etwas  einzuwenden  habe.  „Wiid  dalier 
diese  zu  einer  blossen  (qualitativ  unbestimmten)  Substanz  abp» 
schwächt,  so  steht  sie  dem  durchaus  nicht  mehr  (negati?)  ert* 
gegen."  Soll  aber  bei  dieser  „Abschwächung"  der  Begriff  irgeol 
einen  Inhalt  noch  behaupten,  so  ist  doch  wohl  an  das  Merknil 
zu  denken,  das  z.  B.  Descartes  in  seiner  Definition  der  Snbstaor. 
res,  quae  ita  existit,  ut  nulla  alia  re  îndigeat  ad  existendum,  l)^ 
sonders  scharf  hervorgehoben  hat.  Nun  giebt  Gomperz  selbst  n, 
dass  dieser  „metaphysische"  Dingbegriff  den  Bedürfnissen  der 
Praxis  genüge  und  dem  naiven  Denken  keinerlei  Anstoss  bereite; 
ja  er  erklärt  geradezu,  dass  der  Dingbegriff  der  Metaphysik  stt 
als  eine  Abstraktion  vom  Dingerlebnis  des  gemeinen  Mannes  dl^ 
stelle.^)  Wollen  wir  also  rückschliessend  einen  „Dingbegriff  te 
vorwissenschaftlichen  Bewusstseins  konstruieren,  so  müsste  gerade 
jene  Selbständigkeit,  jenes  Fürsichbest^hen  als  sein  wesentliito 
Merkmal  anerkannt  werden.  „Substanz"  bedeutete  dann  te 
„selbständig  für  sich  Bestehende",  nicht  „eine  spezifische  Lebendif 
keit",  die  doch  notwendig  attibutiv  gefasst  wird.  — 

Wie  die  erste  Stufe  der  von  Gomperz  konstruierten  ^ 
wickelungsreihe,  die  „animistische",  so  bietet  auch  die  letzte,  & 
„pathempirische"  zu  mancherlei  kritischen  Bedenken  Vertt' 
lassung.  Prüfen  wir  auch  hier  zunächst  am  SubstanzbegriK 
den  „pathempirischen"  Standpunkt.  Die  Substanz  wird  hier,  ^ 
wir  gesehen  haben,  gleichgesetzt  mit  einem  „Gesamteindrueb' 
gefühl",  einer  „Totalimpression".  Belege  für  diese  GleichseöK 
glaubt  Gomperz  allerdings  nur  in  solchen  Fällen  wirklich  •»' 
weisen  zu  können,  wo  etwas  Überraschendes  und  Neues  eriebtwiïi 
So  werde  z.  B.  bei  einem  plötzlichen  starken  Geräusch  das  ß*" 
Samteindrucksgefühl  „Schrecken"  vor  der  Qualität  „GerWek 
erlebt  ;  oder  ein  plötzlich  aus  dem  Schlafe  Aufgeweckter  habe  * 
Totalimpression  „Etwas  los!",  jedoch  keine  Vorstellung  des  ,Wtf?* 
Ähnlich  sei  es  bei  Totalimpressionen  des  Weiten,  Mächtig«!» 
Prächtigen,   die  uns  ein  bewunderndes  Ah!   entlockten,  sich«** 


^)  In  Übereinstimmung  damit  steht,  dass  GompeiB  hexXi^  ^, 
gewöhnlichen  Belationsbegriffs  erklärt,  seine  metaphysische  Aufto>Df '^ 
im  populären  Denken  die  herrschende. 


Heinrich  Gomperz*  Weltanschauungsiehre.  293 

allmählig  in  die  Wahrnehmungen  der  einzelnen  Glieder  diffe- 
jerten,  oder  bei  allgemeinen  Eindrücken  von  Gesichtern  als 
pathisch,  unsympathisch,  offen,  verschlagen,  ohne  dass  Details 

öesichtsbildung  aufgefasst  sind.  Solche  Totalimpressionen 
3n  sich  nun  nicht  restlos  in  die  Qualitäten  auf,  sondern  sie 
irrten  in  gewissem  Umfang.  Dies  werde  durch  die  Tatsache 
lesen,  dass  ein  Ding  auch  noch  nach  dem  deutlich  Wahr- 
)mmenwerden  einen  sog.  „Eindruck^  mache;  auch  die  analy- 
;e  Femsicht  sei  „weit",  das  analysierte  Gesicht  „sympathisch", 
le  Totalimpression  eines  Dinges,  in  die  die  Qualitäten  einge- 
et  seien  und  durch  die  sie  geeinigt  würden,  könne  „mit  Fug 
Recht  als  seine  Substanz  bezeichnet  werden". 

Nun  soll  das  faktische  Vorkommen  solcher  Totalimpressionen 
t  bestritten  werden,  aber  es  wird  sich  doch  sofort  der  Ein- 
i  erheben:  manche  dieser  Gesamteindrucksgefühle  sind  offenbar 
ektiv,  mit  „Substanz"  meinen  wir  dagegen  stets  Objektives! 
)arauf  finden  wir  bei  Gomperz  die  Entgegnung:  „Die  Total- 
ession  zeigt  sich  uns  einstweilen  nur  als  ein  Element  des 
fes  nach  seiner  subjektiven  Seinsweise:  die  Substanz  ist  Ge- 
sofern  die  Qualitäten  Vorstellungen  sind;  ob  aber  auch  das 
f  eine  objektive  Seinsweise  besitze,  und  was  etwa  die  Substanz 

möge,  sofern  die  Qualitäten  physische  Eigenschaften  heissen 
len  —  alle   diese  Fragen  müssen  aufgeschoben  werden  bis  zu 

späteren  ontologischen  Untersuchungen."  —  Aber  ist  damit 
r  Bedenken  wirklich  beseitigt?  Wir  können  ganz  wohl  das 
»logische  beiseite  lassen;  wir  können  uns  völlig  darauf  be- 
änken,  den  Sinn,  die  Bedeutung  des  Substanzbegriffes  fest- 
BÜen  —  und  das  will  ja  Gomperz  angeblich  auch  — :  und 
:dem  müssen  wir  sagen:  „Substanz"  bedeutet  uns  stets  Ob- 
ves,  Totalimpression  dagegen  auch  Subjektives.    Auch   ist   es 

nicht  so,  dass  solche  Gesamteindrucksgefühle  stets  für  die 
statierung  von  Dingen  bezw.  Substanzen  die  Voraussetzung 
m.  Ein  plötzlicher  Knall,  der  uns  erschreckt,  wird  doch  nicht 
Ding  aufgefasst.  Es  will  mir  also  scheinen,  dass  die  von 
perz  angeführten  psychologischen  Vorgänge  nicht  geeignet 
,  uns  über  die  Bedeutung  des  Substanzbegriffs  irgend  welche 
därung  zu  verschaffen  oder  gar  seine  „pathempirische"  Anf- 
ing des  Begriffs  irgendwie  zu  rechtfertigen. 

Die  Schwäche  dieser  Auffassung  dürfte  sich  auch  in  Fol- 
tern  verraten.     In   seinen  schon  erwähnten  Darlegungen  über 

•BtrtmlUa  XIII.  %f;^ 


294  A.  Messer, 

genetische  und  analytische  Psychologie  (S.  312  ff.)  betont  Gompen 
mit  Secbt,  die  genetische  Psychologie  könne  keinen  Schritt  tmi, 
wo  ihr  die  analytische  nicht  vorgearbeitet  habe  und  spezidl  & 
„pathempirische"  Untersuchung  könne  nur  die  analytische  zn  Gmade 
legen.  Hier  dagegen  analysiert  er  nicht  das  „Meinen"  und  Arf 
fassen  eines  Dinges  beim  gewöhnlichen  Verhalten,  sondern  er 
sucht  „genetisch"  eine  Vorstufe  davon  zu  konstruieren.  Er  erkliit 
nämlich,  Belege  für  seine  „pathempirische"  Deutung  des  Ding- 
begriffs  dürfe  man  nicht  dort  zu  finden  erwarten,  „wo  altbekannte 
und  längsterwartete  Objekte  sich  uns  darbieten,  und  wo  der 
Schlendrian  der  Gewohnheit  den  psychischen  Prozess  überhMpl 
auf  ein  Minimum  der  Lebhaftigkeit  herabgesetzt  und  ihn  damit 
auch  der  Selbstbeobachtung  entzogen  habe".  Und  auf  Gnuil 
solcher  seltenen  Fälle,  die  er  nur  der  von  ihm  selbst  verpönt«, 
genetischen  Betrachtungsweise  verdankt,  und  die,  wie  ebeng^ 
zeigt,  faktisch  für  unsere  Frage  nichts  beweisen  —  spricht  er  m 
einem  „Gesetz  (!)",  „dass  die  Qualitäten  eben  nie  (!)  anders  ent 
stehen  als  durch  Besonderung  aus  Gesamteindrucksgefühlen*. 
So  wohlfeil  sind  denn  doch  „Gesetze"  in  der  empirischen  Psycho- 
logie nicht  zu  haben! 

Die  Unhaltbarkeit  der  „pathempirischen"  Zurechtlegung  to 
Substanzbegriffs  tritt  uns  endlich  auch  bei  dem  Versuch,  ihn» 
verifizieren,  deutlich  entgegen.  Im  Anfang  des  §  15  (S.  Uî) 
nämlich  lesen  wir,  nach  dem  „Patherapirismus"  „sei  die  Substaö 
eine  subjektive  Zutat,  jedoch  eine  solche,  die  sich  im  Bewnsstsea 
wirklich  aufzeigen  lasse,  nämlich  ein  Gefühl:  und  zwar  jeaö 
Gesamteindrucksgefühl  (Totalimpression)".  Bei  der  Verifikaö« 
aber  kommt  Gomperz  selbst  das  Bedenken  —  das  wir  vorhin  gegen 
ihn  geltend  machten  —,  „dass  die  Dinge  wenigstens  (subjektW 
als  objektiv  erlebt  werden".  Deshalb  giebt  er  jetzt  zu:  ,0 
wird  daher  auch  die  Totalimpression  der  Dinge  (wenigstens  einen 
Teil  ihrer  Momente  nach)  nicht  lediglich  als  unser  Gefühl,  sondera 
auch  als  ihre  Lebendigkeit  erfahren.''  Hat  sich  damit  schon  Ä* 
wirkliche  Bedeutung  des  Substanzbegriffs  als  eines  Begriffe,  ^ 
Objektives  meint,  wieder  einigermassen  zu  Geltung  gebracht  * 
erfährt  sie  eine  noch  glänzendere  Rehabilitierung  —  freilich  wrf 
gegen  die  Absicht  unseres  Verfassers  — ,  wenn  dieser  gleich  dartP 
sagt,  der  „animistische"  Dingbegriff  sei  vollständig  im  Bechte, 
insofern  er  die  Substanz  auffasse  als  „eine  unserer  BeaktiöB 
korrekte  (!)  spezifische  Vitalität  —  des  Dinges  (!)".    Gerade  arf 


Heinrich  Gomperz'  Weltanschauungsiehre.  295 

Yorhergehenden  Seite  (126)  steht  zu  lesen,  unsere  Reaktion 
38,    „die  als  die  Totalimpression  in  unser  Bewusstsein  falle", 

die  Substanz  ausmacht;  jetzt  (S.  127)  ist  vielmehr  die  dieser 
rtion  korrelat  spezifische  Vitalität  —  als  deren  Träger  selbst 
1er  das  „Ding"   genannt  wird  —  die  Substanz.    Das  hindert 

nicht,   dass  wir   wieder   auf    der  folgenden  Seite  (128)  den 

finden:    „Dieses  unser  Gefühl  ist  die  Substanz." 

Nunmehr  ein  paar  Worte  über  den  „pathempirischen"  Iden- 
tsbegriff!  Ihm  zufolge  „besteht  die  Identität  in  einem  dem 
mstand  eingelegten  (endopathischen)  Gefühl  der  Ichstetigkeit 
Kontinuität)".  Dabei  soll  sich  der  „pathempirische"  von  dem 
mistischen"  Identitätsbegriff  dadurch   unterscheiden,   dass   er 

Identitätsbewusstsein  nicht  für  ein  solches  des  Objekts  aus- 
t,  sondern  es  als  ein  von  uns  dem  Objekt  eingelegtes  Gefühl 
Irt.  —  Aber  warum  dann  dieses  Gefühl  noch  Gefühl  der  Ich(!)- 
inuität  nennen?  Liegt  nicht  im  Ichbegriff,  wenn  er  auf  andere 
wendet  wird,  der  Nebengedanke:  „Dein  Gegenüber  meint  sich 
it?«i) 

Femer  bedeutet  doch  „Identität"  und  „Kontinuität"  nicht 
Bibel  Man  kann  einem  Begriffs-  oder  Satzinhalt,  für  sich  ho- 
ltet, Identität  mit  sich  selbst  zu  sprechen,  kann  man  dafür 
n:  er  besitzt  Kontinuität?  doch  wohl  kaum! 

Wie  stimmt  es  endlich  zu  der  Ablehnung  der  genetischen 
achtungsweise,  wenn  Gomperz  sagt:  „Am  allerverkehrtesten 
leint  uns  jetzt   die  Bestreitung   der  Identität  des  Subjekts; 

gerade  von  hier  aus  ist  der  ganze  Begriff  ursprünglich  (!) 
zogen"!? 

Wie  „Substanz"  und  „Identität",  so  wird  auch  die  „Reaktion" 

werden  schliesslich  alle  „Form "begriffe  überhaupt  vom 
hempirischen''  Standpunkt  aus  für  „Gefühle"  erklärt.  Gefühl 
lies,  was  nicht  Vorstellung  ist;  auch  „Urteile"  und  andere  sog. 
"standestätigkeiten"  werden  ausdrücklich  auf  Gefühle  reduziert. 
n  ist  hier  der  Terminus  „Gefühl"  nicht  wie  etwa  bei  Wundt 
Bezeichnung  einer  Hauptklasse  psychischer  Elemente  verwendet, 
em  auch  ganz  komplexe  Erscheinungen  werden  Gefühle 
»nnt.  Da  muss  man  doch  fragen:  hat  die  Unterordnung  irgend 
i  psychischen  Vorgangs  unter  einen  Begriff  von  so  ungeheuerem 
ang  noch  irgendwie  erheblichen  Erkenntnis  wert?    Und  führen 


^)  Vgl.  E.  Husserl,  Logische  Untersuchungen  II,  S.  83. 


2Ö6  À.  Messer, 

die  Erklärungen  der  einzelnen  Formbegriffe,  die  der  „Patbeii- 
pirismus"  mit  Hülfe  der  Reduktion  auf  Gefühle  vornimmt,  nidit 
schliesslich  auf  Tautologien  zurück  —  falls  sie  nicht  imt»Be> 
deutungsyerschiebungen  leiden?  Am  Substanzbegriff  haben  vir 
das  Erstere,  am  Identitätsbegriff  das  Zweite  gesehen.  Übrig« 
findet  sich  auch  in  Bezug  auf  ihn  der  tautologische  Satz:  ,,Bi 
Identitätsbewusstsein  ist  es  hier  wie  dort  [sc.  auf  „animistischa" 
und  „pathempirischen''  Standpunkt],  welches  in  dem  identisdia 
Objekte  noch  über  die  beiden  Erlebnisse  hinaus,  vorhanden  ^ 
und  dessen  Dasein  eben  den  eigentlichen  Inhalt  der  IdentHit»* 
aussage  bildet"  (S.  174).  Ebenso  dürfte  eine  tautologische  fr 
klärung  vorliegen,  wenn  der  Begriff  der  Mehrheit  auf  ein  ^Aii- 
merksamkeitsspaltungsgefühl*  zurückgeführt  wird  (S.  254). 

Von  viel  grösserer  Tragweite  als  diese  Frage  der  psyd»- 
logischen  Terminologie  ist  jedoch  jene  allgemeine  Behauptung  T« 
Gomperz:  „dass  diese  Gefühle  die  Erfahrungsformen  sind,  um  die 
seit  vielen  Jahrhunderten  der  Streit  der  Metaphysiker,  Ideolog« 
und  Kritizisten  tobt"  (S.  285). 

Mit  der  Aufstellung  dieses  Satzes  geht  der  „pathempirische" 
Kosmotheoretiker  über  die  lediglich  psychologische  Feststellfflit 
„dass  es  Gefühle  neben  Vorstellungen  giebt",  hinaus,  und  die« 
Satz  macht  also  recht  eigentlich  das  Charakteristische  dei 
„pathempirischen"  Standpunkts  aus.  Gerade  dieser  Satt 
aber  scheint  uns  hervorzugehen  aus  einer  Vermengung  realer 
psychischer  Vorgänge,  idealer  Bedeutungen  von  Worten  und  Sitei 
und  endlich  der  damit  gemeinten  Gegenstände,  und  eben  die» 
scheint  mir  zu  beweisen,  dass  die  ganze  „pathempirische**  Methode 
krankt  an  einem  verwirrenden  Durcheinander  der  psychologische«, 
der  logischen  und  der  erkenntnistheoretischen  Betrachtungsweise. 
Zur  Begründung  und  Veranschaulichung  meines  Urteils  miga» 
einige  Beispiele  angeführt  werden. 

Im  Anfang  der  Erörterung  über  den  Identitätsbegriff  wir! 
ganz  richtig  unterschieden  zwischen  den  „Anlässen",  bezw.  „äussert» 
Bedingungen"  der  Identitätsaussage  und  ihrem  „Inhalt'',  ihrs* 
„inneren  Sinn"  (S.  137);  und  als  das  eigentlich  zu  behandebfe 
Problem  wird  der  letztere  bezeichnet,  nämlich:  ,,was  denn  eigentÖ 
durch  die  Identitätsaussage  behauptet  wird?"^)  Später  dag^ 
wird  die  Frage  so  gefasst:    „Welche  Bewusstseinstatsache  (!)  i" 

::.•:  ij  Ähnlich  wird  das  Problem  formuliert  beasüglich  des  Beliti**' 
b^grilfs'  (is.  179)  und  der  Formbegrilfe  (S.  217). 


Heinrich  Gomperz*  Weltanschauungslehre.  297 

lie  des  kontiüierlichen  Erlebens  (und  daher  mittelbar  auch  in 
a  des  intermittierenden)  der  Aussage  numerischer  Identität  zu 
inde  liegt  (!)."^)  Und  ebenso  heisst  es  S.  311  ganz  allgemein: 
'as  wir  unter  einem  Ding  und  einer  Eigenschaft,  einem  objektiven 
anstand  und  einem  subjektiven  Zustand,  unter  Ich  und  Du, 
er  Nebeneinander  und  Nacheinander,  unter  Ursache  und  Wirkung 
stehen  (!);  d.  h.  (!)  auf  Grund  welcher  Bewusstseinstatsachen  (!) 
diese  Aussagen  machen,  das  kann  offenbar  nicht  mit  Hilfe 
i  elektrischen  Batterien  und  automatischen  Uhrwerken  ermittelt 
rden,  sondern  allein  durch  Aufmerken  auf  das,  was  in  uns 
geht(!),  wenn  wir  diese  Aussage  machen  —  somit  durch  ein 
'halten,  das  wir  ...  als  ein  bloss  introspektives  bezeichnen 
inen*".  Aber  der  (ideale)  Sinn  von  Begriffen  und  Aussagen  und 
(realen)  psychischen  Vorgänge,  d.  h.  die  Bewusstseinstatsachen, 
Grand  deren  solche  Aussagen  erfolgen,  sind  streng  auseinander- 
alten. Jene  fallen  unter  die  Kompetenz  der  Logik,  diese  unter 
der  Psychologie.  Es  ist  aber  lediglich  ein  Verfahren  im  Dienste 
Psychologie:  zu  merken  auf  das,  „was  in  uns  vorgeht",  wenn 
bestimmte  Aussagen  machen.  Das  Ergebnis  eines  derartigen 
)bachtens  wird  aber  oft  nur  in  der  Eonstatierung  einiger  — 
lieh  „sinnbelebter"  —  Wortvorstellungen  im  Bewusstsein  be- 
llen. Neue  Einsichten  in  den  Sinn,  die  Bedeutung  von  Worten, 
1.  in  Begriffe,  gewinnen  wir  auf  diesem  Wege  nicht;  dazu 
ssen  wir  unsere  Aufmerksamkeit  nicht  auf  unsere  (realen)  Be- 
Bstseinserlebnisse  bei  solchen  Aussagen,  sondern  auf  den  (idealen) 
n  von  Worten  und  Aussagen  selbst  richten,  sie  etwa  mit  in- 
Uich  verwandten  vergleichen  und  die  Unterschiede  feststellen. 
Zu  dieser  Verwechselung  von  psychischem  Inhalt  („Bewusst- 
istatsachen**)  und  logischem  Inhalt  („Sinn*",  „Bedeutung"*,  „Mei- 
ig**  etc.)  tritt  dann  noch  die  weitere  zwischen  diesen  beiden 
l  den  „Gegenständen''  von  Begriffen  und  Aussagen.  So  heisst 
z.B.  S.  276:  „Vorstellungsinhalte  brauchen  nicht  notwendig 
^as  Psychisches  zu  sein;  es  wäre  denkbar,  dass  auch  ein 
^sisches  (eventuell  auch  ein  logisches)  Gebilde  unmittelbar  in 
dr  Vorstellung  könnte  gegeben  sein.**  Gleich  darauf  lesen  wir: 
ier  verstehen  wir  unter  einer  Vorstellung  eben  den  Vorstellungs- 

1)  Dieselbe  Verschiebung  der  Problemstellung  sehen  wir  bei  dem 
^üonsbegriff  S.  191,  wo  die  Frage,  was  wir  mit  der  Relationsaussage 
>&en,  gleichgesetzt  wird  der  anderen,  was  uns  dazu  veranlasst;  vgl  auch 
'^  1&6. 


298  A.  Messer, 

Inhalt  selbst,  sofern  er  als  Teil  eines  Bewusstseins  vorkomint* 
Und  die  Beschäftigung  mit  diesen  „Vorstellungen"  bezw.  M 
Stellungsinhalten"  wird  ausdrücklich  der  „psychologischen"  Analj» 
zugewiesen.  Bei  dem  im  Anfang  des  zitierten  Satzes  gebrauchtai 
Wort  „Vorstellungsinhalte",  das  nicht  notwendig  etwas  „Psychiscbei* 
bedeuten  solle,  wäre  man  zunächst  geneigt,  an  logische  Inhaltes 
denken,  aber  das  Weitere  zeigt,  dass  der  Verfasser  an  die  in  da 
Vorstellungen  gemeinten  „Gegenstände"  denkt,  denn  nur  soldi 
können  unter  „physischen  und  logischen  Gebilden"  yerstaniei 
werden.  Freilich  können  diese  nun  wieder  nicht  als  „TeilaiKi 
Bewusstseins"  vorkommen.  Oder  hat  etwa  schon  einmal  einiBi' 
lysierender  Psychologe  bei  seiner  „introspektiven"  Arbeit  »100 
wirkliche  Taler"  oder  „den  pythagoreischen  Lehrsatz"  gefondei*. 
Dieselbe  Verwechselung  aber  zwischen  psychischen  Inhalten  ml 
Gegenständen  i)  zeigt  sich  in  dem  oben  angeführten  —  für  d« 
„Pathempirismus"  grundlegenden  Satz:  Die  „Gefühle"  seien-* 
„Formen  der  Erfahrung". 

Werden  aber  so  nicht  nur  psychische  und  logische  Inlutt^ 
sondern  auch  Gegenstände  in  die  Betrachtung  hereingezogen,  i 
ist  es  begreiflich,  dass  Gomperz  unvermerkt  aus  dem  Gebiet  4i 
Psychologischen  und  Logischen  auch  in  das  des  Erkenntnistheorrii* 
sehen  übergreift,  und  er  infolgedessen  der  Psfychologie  auch  ff* 
kenntnistheoretische  Aufgaben  zuweist.  So  wird  an  schon  ti^ 
angeführten  Stellen  behauptet,  dass  die  Psychologie  es  sei,  Ü^ 
gegen  den  „metaphysischen"  und  „kritizistischen"  Standpunkt  K^ 
Spruch  erhebe.  Und  dass  derartige  Äusserungen  nicht  auf  blofl' 
Flüchtigkeit  beruhen,  zeigt  sich  darin,  dass  der  Verfasser  spW 
in  einer  zusammenfassenden  Betrachtung  (S.  297  f.)  die  genannt« 
Gegensätze,  die  er  jetzt  als  den  „metaphysischen"  und  den  y)^ 
zistischen"  „Grundwiderspruch"  bezeichnet,  ausdrücklich  zwiscb* 
^Metaphysik"  und  „Kritizismus"  einerseits  und  „Psychologie*' •■• 
dererseits  vorfindet.  Dass  aber  jene  Sichtungen  erkenntnistheö'«' 
tische  sind  und  sie  darum  nicht  in  Gegensatz  zu  einer  Psjcholi^ 
geraten  können,  die  wirklich  diesen  Namen  verdient,  das  b«*** 
doch  wohl  nicht  näher  ausgeführt  zu  werden. 


^)  Schon  längst  wird  dem  kundigen  Leser  die  Frage  axdgiM!^ 
sein:  Kennt  denn  Gomperz  Husserls  „Logische  Untersuchangen"  Bi|^ 
•—  Ja,  er  kennt  sie;  er  zitiert  sie  wenigstens.  Freilich  kann  ick  ■>* 
finden;  dass  auch  sie  im  ^Pathempirismus"  „aufgehoben"  seien. 


Heinrich  Gomperz'  Weltanschauungslehre.  299 

•eilich  nur  durch  diese  Vermischung  der  Psychologischen 
m  Logischen  und  Erkenntnistheoretischen,  die  für  den 
ipirischen"  Standpunkt  das  eigentlich  Neue  und  Gharakteri- 
zu  sein  scheint,  ist  es  möglich,  dass  Gomperz  diesen  mit 
r  anderen  Standpunkten  (dem  „animistischen",  „metaphy- 
',  „ideologischen"  und  „kritizistischen")in  eine  Entwicklungs- 
ringt,  deren  Durchlaufen  das  Wesen  der  Methode  aus- 
soU. 

}endarum  gelingt  es  aber  auch  Gomperz  nicht,  seine  mehr- 
isgesprochene  Absicht,  in  diesem  der  „Methodologie"  ge- 
tn  Bande  zu  den  eigentlichen  ontologischen  Fragen  noch 
tellung  zu  nehmen,!)  wirklich  durchzuführen.  So  erklärt 
1  schon  hier  in  diesen  methodologischen  Erörterungen: 
¥ir  uns  schliesslich  für  transscendente  Sealitäten  entschei- 
isen,  kann  schon  jetzt  als  unwahrscheinlich  gelten"  (S.  275). 
it  eben  in  der  Tat  doch  schon  eine  Voraussetzung,  die  „der 
leorie  selbst"  (speziell  der  Ontologie)  „präjudiziert".  Er 
mlich  mit  der  „ideologischen"  Denkrichtung  die  —  als 
rständlich  hingenommene  —  Voraussetzung:  was  nicht  „psy- 
ches Datum"  ist,  das  kann  auch  nicht  „den  eigentlichen 
on  Begriffen  und  Aussagen  darstellen.  ^)  Damit  ist  gerade 
sentliche  Eigentümlichkeit  des  Denkens  verkannt,  die  man 
igs  wieder  scharf  betont  und  als  „Transscendenz  des 
$"  bezeichnet  hat,  dass  nämlich  das  Denken  sozusagen  ein 
n  auf  Gegenstände  ist,  die  von  den  psychischen  Komponenten 
akerlebnisses  wie  von  seinem  logischen  Inhalt  wohl  zu 
leiden  sind. 

isdrücklich  sei  dabei  betont,  dass  man  durch  Anerkennung 
ligenart  des  Denkens  der  ontologischen  Untersuchung  nun 
twa  nach  der  entgegengesetzten  Richtung  prl^udiziert. 
ie  Frage,  ob  und  wie  diese  „genannten"  Gegenstände 
lalb"  des  Denkens  bestehen,  kann  vorläufig  noch  ganz 
üben.  Gomperz  aber  hat  sie  tatsächlich  durch  die  erwähnte 
Btzung  schon  in  venieinendem  Sinne  beantwortet.    Damit 

So  heisst  es  z.  B.  S.  261  :    „Und  sicherlich  dürfen  wir  in  der  ko8- 
ttischen  Methodologie  keine  Voraussetzungen  machen,  welche  der 
eorie  selbst  präjudizieren  würden."    Vgl.  auch  S.  126, 176,  441  ff. 
Belege  für  diese  Übereinstimmung  von  „Pathempirismus  und  Ideo- 
eten  aUe  „Verifikationen**  der  behandelten  Begriffe;  vgL  besonden 


298  A.  Messer, 

Inhalt  selbst,  sofern  er   als  Teil  eines  Bewusstseins  vorkomnl*] 
Und  die  Beschäftigung  mit  diesen   „Vorstellungen"   bezw.  „ViH^j 
Stellungsinhalten"  wird  ausdrücklich  der  „psychologischen"  Analjal 
zugewiesen.    Bei  dem  im  Anfang  des  zitierten  Satzes  gebrand 
Wort  „Vorstellungsinhalte",  das  nicht  notwendig  etwas  „Psychiscb 
bedeuten  solle,  wäre  man  zunächst  geneigt,  an  logische  Inhaltes 
denken,  aber  das  Weitere  zeigt,  dass  der  Verfasser  an  die  in  < 
Vorstellungen  gemeinten   „Gegenstände"    denkt,   denn  nur  sokhil 
können    unter    „physischen    und   logischen   Gebilden"    yerstantol 
werden.    Freilich  können  diese  nun  wieder  nicht  als  „Teil  eioei| 
Bewusstseins"  vorkommen.    Oder  hat  etwa  schon  einmal  ein  ani'l 
lysierender  Psychologe   bei   seiner   „introspektiven"   Arbeit  „Ifl 
wirkliche  Taler"    oder   „den  pythagoreischen  Lehrsatz"  gefundei*.] 
Dieselbe  Verwechselung  aber  zwischen  psychischen  Inhalten 
Gegenständen  ^)   zeigt  sich  in  dem  oben  angeführten  —  für  dttl 
„Pathempirismus"  grundlegenden  Satz:  Die  „Gefühle"  seien  —  fc| 
„Formen  der  Erfahrung". 

Werden  aber  so  nicht  nur  psychische  und  logische  lobalh^l 
sondern  auch  Gegenstände  in  die  Betrachtung  hereingezogen,  il 
ist  es  begreiflich,  dass  Gomperz  unvermerkt  aus  dem  Gebiet  Ml 
Psychologischen  und  Logischen  auch  in  das  des  Elrkenntnistheore"!^ 
sehen  übergreift,  und  er  infolgedessen  der  Psfychologie  auch  «^^ 
kenntnistheoretische  Aufgaben  zuweist.  So  wird  an  schon  ink^l 
angeführten  Stellen  behauptet,  dass  die  Psychologie  es  sei,  d^ 
gegen  den  „metaphysischen"  und  „kritizistischen"  Standpunkt  Ei^ 
Spruch  erhebe.  Und  dass  derartige  Äusserungen  nicht  auf  blo0^ 
Flüchtigkeit  beruhen,  zeigt  sich  darin,  dass  der  Verfasser  spit^ 
in  einer  zusammenfassenden  Betrachtung  (S.  297  f.)  die  genannte 
Gegensätze,  die  er  jetzt  als  den  „metaphysischen"  und  den  „kn^ 
zistischen"  „Grundwiderspruch"  bezeichnet,  ausdrücklich  zwischen 
^Metaphysik"  und  „Kritizismus"  einerseits  und  „Psychologie"  i^ 
dererseits  vorfindet.  Dass  aber  jene  Sichtungen  erkenntnistheon^ 
tische  sind  und  sie  darum  nicht  in  Gegensatz  zu  einer  Psychologie 
geraten  können,  die  wirklich  diesen  Namen  verdient,  das  braaetf 
doch  wohl  nicht  näher  ausgeführt  zu  werden. 


^)  Schon  längst  wird  dem  kmidigen  Leser  die  Frage  axiigestkÇ^ 
sein:  Kennt  denn  Gomperz  Husserls  „Logische  üi  rsuchaogra"  nid»*' 
—  Ja,  er  kennt  sie;  er  zitiert  sie  wenigstens.  Freilich  kann  ich  «clr 
finden;  dass  auch  sie  im  „Pathempirismus"  „aushoben"  seien. 


^ 


Heinrich  Gomperz'  Weltanschauungslehre.  299 

Freilich  nur  durch  diese  Vermischung  der  Psychologischen 
mit  dem  Logischen  und  Erkenntnistheoretischen,  die  für  den 
„pathempirischen"  Standpunkt  das  eigentlich  Neue  und  Charakteri- 
stische zu  sein  scheint,  ist  es  möglich,  dass  Gomperz  diesen  mit 
den  vier  anderen  Standpunkten  (dem  „animistischen",  „metaphy- 
sischen'', „ideologischen"  und  „kritizistischen")in  eine  Entwicklungs- 
reihe bringt,  deren  Durchlaufen  das  Wesen  der  Methode  aus- 
machen soll. 

Ebendarum  gelingt  es  aber  auch  Gomperz  nicht,  seine  mehr- 
fach ausgesprochene  Absicht,  in  diesem  der  „Methodologie"  ge- 
widmeten Bande  zu  den  eigentlichen  ontologischen  Fragen  noch 
keine  Stellung  zu  nehmen,  i)  wirklich  durchzuführen.  So  erklärt 
er  denn  schon  hier  in  diesen  methodologischen  Erörterungen: 
„Dass  wir  uns  schliesslich  für  transscendente  Realitäten  entschei- 
den müssen,  kann  schon  jetzt  als  unwahrscheinlich  gelten"  (S.  275). 
Er  macht  eben  in  der  Tat  doch  schon  eine  Voraussetzung,  die  „der 
Eosmotheorie  selbst"  (speziell  der  Ontologie)  „präjudiziert".  Er 
teilt  nämlich  mit  der  „ideologischen"  Denkrichtung  die  —  als 
selbstverständlich  hingenommene  —  Voraussetzung:  was  nicht  „psy- 
chologisches Datum"  ist,  das  kann  auch  nicht  „den  eigentlichen 
Sinn"  von  Begriffen  und  Aussagen  darstellen.  ^)  Damit  ist  gerade 
jene  wesentliche  Eigentümlichkeit  des  Denkens  verkannt,  die  man 
neuerdings  wieder  scharf  betont  und  als  „Transscendenz  des 
Denkens"  bezeichnet  hat,  dass  nämlich  das  Denken  sozusagen  ein 
Hinzielen  auf  Gegenstände  ist,  die  von  den  psychischen  Komponenten 
des  Denkerlebnisses  wie  von  seinem  logischen  Inhalt  wohl  zu 
unterscheiden  sind. 

Ausdrücklich  sei  dabei  betont,  dass  man  durch  Anerkennung 
dieser  Eigenart  des  Denkens  der  ontologischen  Untersuchung  nun 
nicht  etwa  nach  der  entgegengesetzten  Richtung  prl^udiziert. 
Denn  die  Frage,  ob  und  wie  diese  „genannten"  Gegenstände 
y^ansserhalb"  des  Denkens  bestehen,  kann  vorläufig  noch  ganz 
offen  bleiben.  Gomperz  aber  hat  sie  tatsächlich  durch  die  erwähnte 
Voraussetzung  schon  in  verneinendem  Sinne  beantwortet.    Damit 


1)  So  heisst  es  z.  B.  S.  261  :  „Und  sicherlich  dürfen  wir  in  der  kos- 
motheoretischen  Methodologie  keine  Voraussetzungen  machen,  welche  der 
Kosmotheorie  selbst  prt^udizieren  würden."    Vgl.  auch  S.  126, 176,  441  ff. 

•)  Belege  für  diese  Übereinstimmung  von  „Pathempirismus  und  Ideo- 
logie*' bieten  alle  „Verifikationen*"  der  behandelten  Begriffe;  vgl  besonders 
&»0i 


300  A.  Messer, 

hat  er  sich  aber  das  Verständnis  für  jegliche  DenkrichtoDg,  die 
ausserbewusst  Existierendes  annimmt,  verbaut.    Alle  ,,Metaph]f8ik" 
hat    es    nach    ihm  mit    „grundsätzlich    unerfahrbarem  Seiendes^ 
(S.  235)  zu  tun  und  insofern  sie  doch  darüber  Aussagen  macht, 
krankt  sie  an  einem  inneren  Widerspruch. 

Aber  damit,  dass  man  Realitäten  als  bestehend  annimmt,  di^ 
von  allen  Bewusstseinsdaten  verschieden  sind  —  und  das  tut  fak- 
tisch nicht  nur  die  Metaphysik,  sondern  auch  die  Naturwissenschaft 
und  jegliche  Real  Wissenschaft  überhaupt  — ,  damit  ist  dnrchaii-^ 
nicht  ges^,  dass  diese  Realitäten  grundsätzlich  und  in  jede^ 
Hinsicht  „unerfahrbar"  seien.  Wir  könnten  ja  etwa  auf  Grun^Kd 
der  Wahmehmungsinhalte,  die  als  Wirkungen  jener  bewussteebaKr 
transscendenten  Realitäten  aufzufassen  wären,  über  diese  selbst 
Erkenntnisse  gewinnen. 

Wir  werden  aber  jene  Voraussetzung,  die  Gtomperz  mit  d^^^ 
„ideologischen"  Denkrichtung  teilt,  als  eine  „psychologistische"^*' 
bezeichnen  und  demnach  dieses  Prädikat  auch  der  „pathempirische^H^ 
Methode"  beilegen  dürfen. 

Nun  glaubt  freilich  Gomperz,  diese  Charakterisierung  aHf"^ 
gründlichste   dadurch   widerlegen   zu  können,   dass   er  betont,  e^  "^ 
werde  „gar  nicht  zu  psychologischen  Ergebnissen  gelangen"  (S.  dOSl^^ 
Er  deutet  auch  den  Gedankengang  an,  durch  den  er  dem  Psyd»— ■* 
logismus  zu  entgehen  glaubt.    Aber  prüfen  wir  diesen  QreäBSUast^--^ 
gang,  so  zeigt  sich,  dass  er  nur  infolge  der  schon  gerügten  Begiilh-   "^ 
Verwirrung  zu  dem  gewünschten  Ergebnis  führt    Gomperz  erUft^^ 
nämlich:    „In  den  Vorstellungen  haben  wir  die  Inhalte,  in  dei^^ 
Gefühlen  die  Formen  der  Erfahrung  zu  suchen.    Zu  diesen  Fonneo^^ 
aber  gehören  offenbar  auch  Objektivität  und  Subjektivitit,«^   > 
und  somit  auch  die  diesen  Begriffen  teils  äquivalenten,  teils 
ordinierten  Begriffspaare  Gegenstand  und  Zustand,  Körper  and 
Bewusstsein,  Physisch  und  Psychisch.   Auch  diesen  also  werden 
—  ganz  allgemein  und  schematisch  gesprochen  —  ObjektiTiUUs- 
und  Subjektivitätsgefühle  zu  Grunde   liegen,   und  je  nach  ilirer 
Verknüpfung  mit  Gefühlen  von  der   einen  oder  anderen  Art  yM- 
man  von  den  Inhalten  jener  Vorstellungen  Begriffe  der  einen 
der  anderen  Gruppe  aussagen.    Dann  können  jedoch  sowohl 
Vorstellungsinhalte  wie  die  Gefühle  an  sich  weder  objdtti^*" 
noch  subjektiv,  weder  körperlich  noch  bewusstseinhaft,  weder  fkj — 
sisch  noch  psychisch  sein,  da  ja  alle  diese  Prädikate  nur  auf  gewiss 
Verknüpfungsformen  von  beiden  sich  anwenden  lass^L  Sonden 


Heinrich  Gomperz*  Weltanschauungslehre.  301 

werden  dann  für  diese  elementaren  Bestandteile  der  Erfahrung 
e  Begriffe  gebildet  werden  müssen,  welche  sich  gegen  alle 
8  ontologischen  Kategorien  indifferent  verhalten"  (S.  306). 

Zunächst  lässt  sich  hiergegen  einwenden,  dass  die  Begriffs- 
ie Objektiv-Subjektiv  einerseits  und  Physisch-Psychisch  anderer- 
8  weder  „äquivalent"  noch  „subordiniert"  sind.  Denn  Physisch 
Psychisch  sind  Bezeichnungen  für  (reale)  Objekte,  während 
Begriffe  Objektiv  und  Subjektiv  sich  auf  das  Verhältnis  des 
ennens  zu  seinem  Gegenstand  beziehen,  mag  letzterer  nur 
sisch,  psychisch  oder  ideal  (d.  h.  nur  „gedacht")  sein.  Setzen 
z.  B.  den  Fall:  ich  will  einen  soeben  erlebten  Bewusstseins- 
It  analysieren  (also  etwas  Psychisches  erkennen),  so  kann 
le  Erkenntnis  objektiv  sein,  d.  h.  wirklich  den  Sachverhalt 
lanklich  nachbilden",  oder  auch  mehr  oder  minder  starken 
Bktiven  Trübungen  unterliegen. 

Aber   sehen  wir   einmal   hiervon   ab,   nehmen  wir  auch  an, 
perz   habe   den   hier  in  Betracht  kommenden  psychologischen 
bestand  richtig  wiedergegeben,   so  ist  doch  kein  Zweifel,   dass 
Worte  „Vorstellung"    und   „Gefühl"    wie  für  jedermann,   so 
i  für  ihn  —  ursprünglich  —  etwas  Psychisches  bedeuten,  und 
seine  Behauptung,  soweit  sie  psychologischen  Inhalts  ist,  be- 
:  bei  der  Aussage:   etwas  sei  objektiv,  verbinde  sich  (im  Be- 
rtfiein  des  Aussagenden)  die  Vorstellung  von  jenem  Etwas  mit 
n  Objektivitätsgefühl   (Entsprechendes   gilt   natürlich  für  den 
iff  „Subjektiv").    Nun  identifiziert  er  aber  dieses  Erlebnis  im 
^enden    mit   dem   gemeinten   gegenständlichen   Sachverhalt, 
so  wird  aus  dem  genannten  psychologischen  Satz  der  erkennt- 
leoretische   (und  zwar  „psychologistische"):   der   als  objektiv 
3hende  Sachverhalt  (und  zwar  jeder  beliebige)  ist  Verknüpfung 
Vorstellung  und  Objektivitätsgefühl.    Damit  ist  gesagt:  dass 
objektiv  Bestehende  „psychisch"  sei.    Gomperz  vermeidet  im 
ide   nur  das  Wort   und  entlässt  uns  mit  dem  tröstenden  Aus- 
auf einen  noch  zu  erfindenden  neuen  Begriff. 
Noch  deutlicher  zeigt  sich  in  einem  anderen  Gedankengang, 
er   dem  Psychologismus   nur  dem  Wortlaut,  nicht  der  Sache 
entgeht.    Die  Vermischung  von  Erkenntnisvorgang  und  Er- 
itnisgegenstand,   die   wir  soeben   bei   der  Behandlung  seiner 
^n  Ur-E^emente  Vorstellung  und  Gefühl  festeteilten,  macht  sich 
Uch  auch  geltend,   wo  er  die  Verknüpfung  beider  bespricht. 
*  belehrt  er  uns  nämlich,   wie   wir  schon  oben  gesehen  haben^ 


302  A.  Messer, 

Gefühl  und  Vorstellung  seien  stets  verknüpft;  „Verknüpfung*'  sei 
natürlich  eine  „Relation"  ;  jede  Relation  aber  sei  selbst  eine  Ve^ 
knüpfung  der  Relationsglieder  mU  einem  Relationsgefühl.  Deshalb 
habe  es  keinen  Sinn,  jene  Verknüpfung  der  Ür-Elemente  sds 
„Relation"  zu  bezeichnen  und  sie  somit  einem  weniger  allgemeineD 
Begriff  unterzuordnen  ;  er  werde  sie  darum  mit  einem  neuen  Namen 
„Charakterisierung"  nennen. 

Wer  denkt  nicht  da  an  das  „Wort",  das  „zu  rechter  Zeit 
sich  einstellt"?  Wie  steht  denn  in  Wahrheit  der  Sachverhalt? 
Erkenntnisgegenstand  ist  hier  das  Verhältnis  von  Gefühl  und 
Vorstellung.  Von  diesem  wird  ausgesagt:  es  sei  eine  „Ve^ 
knüpfung".  „Verknüpfung"  aber  als  Begriff,  also  logisch  be- 
trachtet, ist  zweifellos  dem  Begriff  „Relation"  untergeordnet.  Der 
letztere  nämlich  hat  den  grösseren  Umfang:  nicht  bloss  eine  Ver- 
knüpfung, sondern  auch  eine  Trennung,  eine  Über-  und  Unte^ 
Ordnung  u.  s.  w.  kann  als  Relation  bezeichnet  werden. 

Jetzt  steigt  aber  Gomperz  ein  Bedenken  auf  —  das  freilich 
nur  aus  einer  ganz  psychologistischen  Denkweise  entspringen 
kann.  Er  sagt  sich  nämlich:  Relation  ist  ja  selbst  nur  eine 
„Verknüpfung"  von  Vorstellung  (der  Relationsglieder)  und  (Rela- 
tions-) Gefühl;  also  ist  Relation  vielmehr  der  Verknüpfung  unte^ 
geordnet. 

Aber  —  so  müssen  wir  dagegen  erklären  —  nicht  die  Rela- 
tion selbst  ist  eine  Verknüpfung  von  Vorstellung  und  Gefühl; 
höchstens  das  psychische  Erlebnis,  in  welchem  ich  die  Relation 
„meine",  ist  eine  Verknüpfung  der  genannten  Bewusstseinselemeote; 
die  Relation  selbst  ist  der  Gegenstand  dieses  psychischen  Erleb- 
nisses, genauer:  die  das  Erlebnis  durchwaltenden  ,Jntenti(Hi" 
(„Meinung'').  Es  hat  aber  keinen  Sinn,  die  als  objektiv  konsta- 
tierte Verknüpfung  von  realen  psychischen  Ellementen  eines  Erleb- 
nisses einem  der  darin  gemeinten  Begriffe  als  (logisch)  über-  oder 
untergeordnet  zu  nennen.  Ganz  wohl  aber  können  wir  die 
Begriffe  „Verknüpfung"  und  „Relation"  —  beide  als  „Begriffe", 
als  logische  Inhalte  gefasst  —  auf  ihr  Verhältnis  logischer  Übe^ 
oder  Unterordnung  untersuchen.  — 

Hat  uns  bis  jetzt  die  „pathempirische"  Methode  beschäftigt, 
so  wollen  wir  zum  Schluss  noch  in  aller  Eürze  der  „dialektischen'' 
Methode  gedenken  und  zwar  wollen  wir  uns  auf  den  Gedanken 
beschränken,  durch  den  nach  Gomperz'  Darlegung  (S.  302)  dfe 
dialektische  Methode   auch  noch   den   Standpunkt   des   »^blossen'' 


Heinrich  Gomperz'  Weitanschauungslehre.  303 

„Pathempiristen"  überwindet  und  in  sich  aufhebt.  Abschliessend 
und  selbst  unaufhebbar  soll  nämlich  die  Erkenntnis  sein,  dass  für 
den  „Animisten"  und  „Metaphysiker"  die  Dinge  objektiv,  für  den 
„Ideologen'*,  „Kritizisten"  und  (blossen)  „Pathempiriker"  die  Dinge 
subjektiv  sind  (S.  303);  kurz,  dass  die  Dinge  objektiv  oder  sub- 
jektiv sind,  je  nachdem  sie  dafür  gehalten  werden. 

Diesen  letzten  Schritt  der  dialektischen  Methode  können  wir 
freilich  nicht  mittun;  er  führt,  soweit  wir  sehen,  ins  Bodenlose; 
der  Wahrheitsbegriff  selbst  scheint  uns  damit  „aufgehoben"  zu 
werden. 

Denn  die  beiden  gen.  Gruppen  von  Denkrichtungen  in  einen 
Gegensatz  zu  stellen,  hat  doch  nur  Sinn,  wenn  ihre  Aussagen 
denselben  Gegenstand  betreffen.  Meinen  sie  also  mit  dem  Worte 
„Dinge'*  dasselbe,  so  können  die  widersprechenden  Sätze:  „die 
Dinge  sind  subjektiv**  und  „die  Dinge  sind  objektiv**  nicht  beide 
wahr  sein  —  oder  ich  weiss  sonst  nicht,  was  das  Wort  „Wahrheit** 
bedeuten  soll. 

Aber  da  ich  vorläufig  annehme,  dass  Gomperz  nicht  auch 
den  Satz  des  Widerspruchs  zu  „überwinden**  beabsichtigt,  so  kann 
ich  mir  seine  paradoxe  Behauptung  auch  nur  wieder  durch  eine 
der  Begriffsverwechselungen  erklären,  die  uns  ja  jetzt  nichts  Auf- 
fälliges mehr  bei  ihm  sind. 

Die  Vertreter  jener  fünf  Denkrichtungen  meinten  natürlich 
mit  ihren  Aussagen  eine  von  den  Bewusstseinserlebnissen  beim 
Auffassen  und  Aussagen  selbst  verschiedene  Gegenständlichkeit. 
Und  auf  diese  bezogen,  bleiben  ihre  Sätze  nach  wie  vor  unver- 
einbar. Gomperz  aber  verwechselt  wieder  die  gemeinte  Gegen- 
ständlichkeit und  die  Erlebnisse  des  Auffassens  und  Aussagens 
und  kommt  so  zu  seinem  wunderlichen  Ergebnis.  Heben  wir  nun 
unsererseits  diese  Verwechselung  auf,  so  bleibt  es  bei  der  Fest- 
stellung, dass  die  eine  Hauptrichtung  der  Kosmotheoretiker  die 
Dinge  für  objektiv,  die  andere  für  subjektiv  hält  und  erklärt, 
weil  die  ersteren  die  Vorstellungen  der  Dinge  mit  Objektivitäts- 
gefühlen, die  anderen  sie  mit  Subjektivitätsgefühlen  verknüpfen. 
Um  diese  Erkenntnis  aber  zu  gewinnen,  hätte  es  doch  wohl  der 
neuen  „dialektischen**  Methode  und  ihres  Weges  durch  die  fünf 
Stufen  der  „Kosmotheorie**  nicht  bedurft. 


Die  neu  aufgefundenen  Kantbriefe. 

Mitgeteilt   von    Prof.    Paul   Menzer   in   Marburg. 


Seit  dem  Erscheinen  von  Kants  Briefwechsel  in  der  Ausgabe  der 
Berliner  Akademie  der  Wissenschaften  hat  sich  das  Interesse  für  Bnefe 
des  Königsberger  Weisen  erheblich  gesteigert  und  manch  wertvoUei 
Schreiben  zu  Tage  gefördert.  Und  man  darf  wohl  sagen,  dass  jeder  M 
aufgefundene  Brief  gerade  in  diesem  Falle  mit  besonderer  Freude  begM 
werden  muss.  Während  wir  von  Goethe  eine  so  überwältigende  Pulle  v« 
Selbstzeugnissen  oder  Zeugnissen  anderer  besitzen,  fliessen  unsere  QaeUen  n 
Bezug  auf  Kant  ziemlich  spärlich.  Überhaupt  war  sein  Andenken  bâ 
denen,  die  ihm  nahe  standen,  nicht  besonders  gut  aufgehoben.  Von  den 
jugendlichen  Kant  erfahren  wir  durch  seine  Biographen  nur  einige  Anekdottt 
und  von  dem  älteren  geben  sie  uns  kaum  ein  lebendiges  Bild,  sei  es^dassdieZa' 
rückhaltung  eines  Freundes,  sei  es,  dass  die  Verehrung  eines  Schälen  da 
unmittelbaren  Eindruck  seines  Wesens  nicht  geben  wollte,  oder  nicht  n 
geben  wagte.  Nur  von  seinen  letzten  Jahren  und  Tagen  besiteen  wir  cd 
treues,  wir  müssen  sagen,  allzutreues  Bild,  das  uns  nur  mit  Schmerz  Ute 
das  Hinsiechen  eines  solchen  Geistes  erfüllen  kann.  Es  ist  ein  vaiexi^ 
lieber  Verlust,  dass  wir  von  dem  jugendlichen  Kant  so  wenig  wissen,  ^ 
Kant,  der  aus  den  Vorreden  seiner  ersten  Schriften  so  jugendmutii  vi 
kühn  zu  uns  spricht,  der  so  rücksichtslos  liebgewordene  MeimmgeDi^ 
störte  und  sich  vor  gänzlicher  Verwerfung  festgeglaubter  Theoreme  iii<*^ 
fürchtete.  So  war  es  mit  grösstem  Dank  zu  begrüssen,  dass  Groethnji* 
uns  den  Brief  Kants  an  Lindner  vom  28.  Okt.  1759  mitteilte,  in  dem  dtf 
jugendliche  Magister  sich  also  vernehmen  lässt:  ^Ich  meines  Theilsiii* 
täglich  vor  demAmbos  meines  Lehrpults  und  führe  den  schweren  Haoist' 
sich  selbst  ähnlicher  Vorlesungen  in  einerley  Tacte  fort.  Bisweilen  iti^ 
mich  irgendwo  eine  Neigung  edlerer  Art  mich  über  diese  enge  ^pM* 
etwas  auszudehnen,  allein  der  Mangel  mit  ungestühmer  Stinmie  sogbî^ 
gegenwärtig  mich  anzufallen  und  immer  wahrhaftig  in  seinen  DroM* 

treibt  mich  ohne  Verzug  zur  schweren  Arbeit  zurück intentât  aap* 

atque  intonat  ore." 

Dieser  Brief  war  einer  der  letzten,  den  der  um  das  Andenken  liii^ 
so  hochverdiente  Oberbibliothekar  Rudolf  Reicke  noch  kurz  vor  seinem  1^ 
lesen  durfte.  Er  gerade  hat  mit  besonderer  Freude  es  begrüsst^  wenn  ad^ 
an  seinem  Plan  alle  Briefe  Kants  darzubieten  mitarbeiteten.  Leider  ist  eii^ 
nicht  vergönnt  gewesen,  sein  Werk  ganz  zu  vollenden:  der  vierte  Band  d» 
Briefwechsels  steht  noch  aus.    Doch  es  besteht  die  Hoffnung,  àiBt^ 


^ 


t)ie  neu  aufgefundenen  Kantbriefe.  305 

e,  von  Reicke  angesammelte  Material  in  nicht  allzu  ferner  Zeit  dem 
Lkum  dargeboten  werden  wird.  Reickes  Nichte,  Fräulein  Rose  Burger, 
reue  Mitarbeiterin  seiner  letzten  Jahre  und  mit  seinen  Manuskripten 
Plänen  vertraut,  wird  im  Verein  mit  Johannes  Reicke  und  dem  Unter- 
neten  den  Band  bearbeiten  und  zugleich  in  ihm  all  die  neu  aufge- 
3nen  Briefe  im  Zusammenhang  bringen.  Umfangreiche  Anmerkungen, 
eue  Aufschlüsse  über  Kants  Leben  enthalten,  werden  beigegeben  werden. 

Inzwischen  erscheint  es  nützlich,  die  Leser  der  „Kantstudien"  über 
1  aufgefundene  Briefe  zu  orientieren. 

Der  erste  Brief  wurde  von  Dr.  Erich  Ebstein  in  der  „Deutschen 
zinischen  Wochenschrift**  1907  in  No.  47  veröffentlicht.  Ich  gebe 
t  den  Text. 

^&0.  <^o^(geb.  ^abe  hit  S^te  meine  fo  eben  erhaltene  mebidnifc^e 
Tc^e  aujuf (Riefen,    ^ie  ^lad^tid^t  be«  ôerm  93ûron  oon  ^fc^  ift,  bem 

^fa%e  naâ^,  eben  biefelbe,  bte  6ie  in  ben  gdttingifc^en  gel.  ^n^eigen 
m  gelefen  ^aben,  unb  oermut^Uc^  oon  eben  bemfelben  auc^  bort^in  übet- 
ben,  toeil  et  mit  gebuchtet  Unioerfltât  in  ^ortefponben)  fle^t  ^oc^  ift 
itoepte  "Slbfa^  beéfelben  93latteé  neu  unb  nic^t  in  bec  gbtting.  Seitung 
Iten.  3(^  bin  in  biefem  Gtücte  ber  9Ü>{epnung  beé  5c>emi  93aron 
^f(^:  bog  nämlic^  bie  epidemia  quaest.  felbfl  oon  bet  QBeftffifle  be« 

£anbe«  oon  ameuta  ^et  fepn  möge,  n>eU  bie  9<ufftn  biefetbe  nun 
retft  )u  befuc^en  anfangen,  unb  fle  t)on  ba  nac^  ben  futilifc^en 
n  fbnnen  gebtac^t  ^aben,  mit  toelc^en  fle  gleichfalls  Q3etfe^t  tteiben,  oon 
'.  benn  but(|^  eine,  mit  stoat  unbefannte,  abet  bo(^  oetmut^lic^e  Gemein- 

bet  untet  Œ^ina  gehörigen  97{anbfuten,  t>om  ^mutfKtom  anê,  mit  ge- 
rn furilifc^en  3nfeln  (beé  ^el^toetf«  n>egen,)  f^at  nac^  Œ^ina  unb  fo 
c  oetbteitet  toetben  fönnen.  ^enn  toäte  fle  nic^t  but(^  itgenb  eine  neu 
ete  ®emeinf(^aft  auf  unfet  alte«  ^ntinent  gefommen,  toantm  f^attz  man 
ein  fo  fernen  laufenbe«  ®ift  nun  aOetetft  entfielen  fe^en?  9n  ben  eng- 
I  Seitungen  flanb  oot  einigen  QBoc^en  bie  9la(^ti(^t:  bag  bie  Snfluen^a 
Septembetmonat  in  America  unb  ben  engl.  Kolonien  flc^  ^etoot« 
n  unb  bid  ^bilobelpbiû  audgebteitet  ^ütte,  Q3on  ba  fdmtte  man  mit  bet 
nrfa^ten,  ob  bie  6eu(^e  aué  QBefKen,  folglich  bem  Snnetn  oon  America, 
aué  Often,  mithin  oetmittelft  bet  eutopäet  baJ^in  gefommen  ^ai  leitete 
t  toa^tfc^einli^et,  eben  batum,  toeil  fle  in  ^metifa  alletetft  anfleng,  ali 
ivopa  ft^on  bié  )u  beffen  toeftlic^en  5^fle  butd^taufen  ^attt;  auc^  i)ahtn 
nbianet  toenig  ®emeinf(^aft  unteteinanbet. 

3^  glaube  bepna^e,  bag  biefe«  bie  le%te  ^ladf^tic^t  fepn  toetbe,  bie  ic^ 
biefen  ^unft  ^abe  ettoatten  fönnen. 

ben  31.  ^ec.  1782.  3-  Äant-* 

Der  Brief  ist  gerichtet  an  den  Hofrat  Dr.  Johann  Daniel  Metzger, 
dessen  Beziehungen  zu  Kant  wir  schon  durch  Reickes  Abdruck  der 
iricht  an  Ärzte"  in  den  „Neuen  Preussischen  Provinzialblättem"*  aus 
Jahre  1860  erfahren  haben.  Weiter  wird  uns  das  Interesse  Kants  am 
«ten  der  Influenzaepidemie  bestätigt  durch  den  Brief  von  Arndt  an 

vom  Frülgahr  1782  (Briefwechsel  I  S.  263  f.),  den  Brief  von  Kraus  im 

1782  (Briefwechsel  I  S.  264)  und   den  von  Berens  an  Kant  vom 

^pril  1782  (Briefwechsel  I  S.  264  f.)*     Ebstein  teilt  nun  mit,  dass 


306  P.  Menzel^, 

ausser  den  erwähnten  Nachrichten  eine  solche  eintraf  von  dem  entes 
Feldarzt  der  vereinten  Armee  und  Stabsarzt  G.  Th.  Freiherr  von  kvk 
Sie  ist  von  Ernst  Baidinger  in  sein  ,,Neues  Magazin  für  Äizte""  Bil 
S.  261,  Leipzig  1783,  aufgenommen  worden.  An  dieser  Stelle  findet  nck 
auch  der  oben  abgedruckte  Brief  (S.  260)  unter  der  Überschrift:  „Hem 
Hofrath  Metzgers  Beyträge  zur  Geschichte  der  Influenza  von  1782"*.  Die 
Notiz  in  den  Göttingischen  gel.  Anz.  hat  Ebstein  ebenfalls  abgednxkt 
und  es  sei  zur  weiteren  Orientierung  auf  seine  ausführlichen  Erlftaternnges 
in  der  Med.  Woch.  verwiesen. 

Ein   anderer  Brief   wurde    von   Adolf  Kohut  in  der  „Gegenwirf 
(No.  39)   am   28.  September   1907   veröffentlicht.     Er  ist  an  Biester  mter 
dem  31.  Dez.  1784   gerichtet.     Das   Original  ist  bisher  nicht  aufgeftmdei 
und  so  sind  wir  Kohut  zu  Dank  verpflichtet,  dass  er  zuerst  eine  Abschrift 
veröffentlichte,   welche   er  in   der  Dresdener  Bibliothek  entdeckte.   Si« 
findet  sich  unter  den  „Ebertiana^  Vol.  3.    Die  Abschrift  macht  den  ^ 
druck  grösster  Sorgfalt,  die  Kantische  Gewohnheit,  Datum  und  Angabeort  | 
unter  den   Brief   zu  setzen,    ist  beibehalten   und   auch   die  sprachlidic^ 
Eigentümlichkeiten  sind  bewahrt  worden.    Leider  hat  Kohut  einen  hödtf^ 
ungenauen  Text  übermittelt.    Wichtige  Worte,  z.  B.  das  zweite  Wort  àf^ 
Briefes  „zwey'S   und   einen  ganzen  Satz   hat  er  ausgelassen,  so  dass  à^ 
folgende  Abdruck  als  der  erste  authentische  gelten  darf: 

^eiUegenbe  ^toeç  6tä(f e  überliefere  i^  toürbigftet  ^eunb  (u  beHcbi^ 
©ebtûu^e.  ©elegentli^  toünf^te  ic^  tvo^l  p  t>enie^men,  nic^t  fotoo^  «Ki^ 
bûd  ^ublifum  barûn  beifuUdn)ürbig,  fonbetn  noc^  )u  beftt>eri(en  {Itiben  xMf^ 
^enn  in  betgleidf^en  ^uffö^en  ^ûbe  id^  ^toav  mein  ^ema  {eber^eit  ooQfiMA 
bur^gebû^t,  über  in  ber  *i^udfa^ntng  ^ahe  xéb  immer  mit  einem  ddoiffe^ 
jbûnge  jur  QBeitläuftigfeit  )u  föm^fen,  ober  id^  hin  fo  ^u  fagen  bon^  ^ 
^O^enge  ber  ^inge,  bie  flc^  )ur  t)o0{tänbigen  (Sntioictltttig  barMeten,  fo  ^ 
läftigt,  t>a%  über  bem  OBeglûffen  manche«  ^Bendf^igten  bie  93oacnbttii9  he^ 
3bee,  bie  ic^  boc^  in  meiner  Semait  ^aht,  ^u  fehlen  fc^eint  ^an  t^ccfM^ 
fi(^  olébûnn  too^l  felbft  ^inreic^enb,  über  man  n>irb  ^nbetti  nic^t  bfcpfinttfl 
unb  befnebigenb  genug,  ^er  ^int  eined  einfe^enben  unb  anfdc^tfgfi' 
<?reunbe^  !ûnn  ^iebet^  nü^ttc^  toerben.  ^uc^  möd(^te  i(^  mamtigmd  M^ 
toifTen,  toelc^e  ^ûgen  bû«  ^ublitum  toof^l  um  Uebften  ottfgeldfet  fe^en  mM^ 
9lö(^ftend  n>erbe  ic^  in  ^toeç  bon  ben  bié^edgen  oerfc^^iebenen  ^S^B^  wtl^ 
f(^n)eifen,  um  ben  ©ef^mûcf  bed  gemeinen  QBefend  aud^uförfc^en.  9i  MS 
beftänbig  über  3been  brüte,  fo  fe^lf d  mir  nic^t  an  Q3ortat^,  too^l  ob«  tm 
einem  befitimmten  ®ntnbe  ber  ^uén)a^l,  ingleicben  an  3etl^  midft  obgebrot^aM^ 
^efc^öftigungen  ^u  n>ibmen;  ba  ic^  mit  einem  ^iemlic^  oudgebti^nten  CbûpuN^ 
ben  x<fy  gern  bor  bem  ^erannaf^enben  Unoermögen  bed  Wieté  onlgefW^ 
^aben  möchte,  befc^öftigt  bin. 

90^eine  moralifc^e  ^b^anblung  n>ar  etn>a  20  ^ge  bot  ^Md^  isâiflr 
bet^©runert;  aber  er  fcbrieb  mir,  ba#  er  pe  auf  bie90îeffe  nic^^t  ^gfiMf*" 
(önnte,  unb  fo  mu^  fle  bid  )u  Oftem  liegen  bleiben;  ba  i(^  bemi  oon  ^  ^ 
laubni^,  bie  6ie  mir  geben,  ©ebrauc^  machen  toerbe 

3(^  bin  mit  ber  ooUtommenften  ioo^Kic^tung 

^önigdberg  3^r  ergebenfter 

b  31.  ^ec.  1784  I  K»Dt 


Die  neu  aufgefundenen  Kantbriefe.  307 

Ebenso  unkorrekt  wie  der  Abdruck  sind  aber  auch  Kohuts  Anmerk- 
jen. Es  wimmelt  in  ihnen  geradezu  von  Fehlem  und  seine  Schluss- 
Iferungen  hätten  durch  ein  Verzeichnis  Kantischer  Schriften  eine  Wider- 
ang  erfahren  können.  Ich  gehe  deshalb  auf  sie  nicht  weiter  ein, 
dem  bemerke,  dass  die  beiden  Stücke  wahrscheinlich  die  Schriften: 
►er  die  Vulcane  im  Monde"  und  „Von  der  Unrechtmässigkeit  des 
hemachdrucks"  sind.  Die  erstere  erschien  im  Mftrzheft,  die  zweite  im 
lieft  der  von  Biester  redigierten  „Berliner  Monatsschrift".  Eine  Em- 
igsbestätigung  durch  Biester  fehlt  uns  ;  erst  im  Brief  vom  5.  Juni  1785 
Ihnt  er  „den  vortrefflichen  Aufsatz,  womit  der  Mai  geziert  ist", 
chzeitig  bezieht  er  sich  auf  die  „ähnlichen  Geschenke",  welche  Kant 
prochen  hat  und  fügt  daran  die  Bitte:  „Gebrauchen  Sie  bald  unsem 
d,  um  durch  uns  Ihre  Rede  ans  Publikum  zu  bringen." 

Dass  die  beiden  Stücke  die  bezeichneten  waren,  lässt  sich  auch 
h  Kants  Bemerkung,  er  wolle  „in  zwei  von  den  bisherigen  verschiedene 
er  ausschweifen"  wahrscheinlich  machen.  Diese  Wendung  würde  vor- 
lich  passen  auf  die  Schriften:  „Bestimmung  des  Begriffs  einer 
schenrace"  und  „Mutmasslicher  Anfang  der  Menschengeschichte", 
he  im  November  1785  und  im  Januar  1786  erschienen  sind.  Die 
^re  Schrift  lag  auf  einem  Gebiet,  auf  dem  sich  Kant  nicht  ganz  zu 
le  fühlte.  Als  Breitkopf  am  21.  März  1778  ihn  bittet,  seine  in  dem 
Ätz  „Von  den  verschiedenen  Racen  der  Menschen"  (1775)  niedergelegten 
îliten  breiter  auszubauen,  antwortet  er  im  Brief  vom  1.  April  1778 
einend,  indem  er  auf  die  seine  ganze  Kraft  in  Anspruch  nehmende 
it:  an  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  hinweist  und  dann  hinzufügt: 
it^ns  müsste  es  wolil  ein  abgesondertes  Werk  sein  und  könnte 
dxlich  einen  Teil  von  einer  durch  andere  zu  bearbeitenden  Naturge- 
^te  werden,  weil  alsdann  meine  Aussichten  sehr  müssten  erweitert 
^n  und  das  Spiel  der  Bacen  bei  den  Tier-  und  Pflanzen-Gattungen 
turlich  betrachtet  werden,  welches  mich  zu  sehr  beschäftigen  und  in 
ausgebreitete  Belesenheit  verflechten  würde,  die  doch  gewissermassen 
K*  meinem  Felde  liegt,  weil  die  Naturgeschichte  nicht  mein  Studium, 
*Ti  mein  Spiel  ist  und  meine  vornehmste  Absicht,  die  ich  mit  der- 
^  habe,  darauf  gerichtet  ist,  die  Kenntnis  der  Menschheit  auch  ver- 
^t  ihrer  zu  berichtigen  und  zu  erweitem".  In  einem  anderen  Sinne 
^^  dann  Kant  in  der  Schrift  über  den  „Mutmasslichen  Anfang  der 
-hengeschichte"  von  den  gewohnten  Bahnen  ab.  Er  will  „eine  blosse 
^ifie"  wagen  und  verwebt  kühn  geschichtsphilosophische  Konstruktion 
**ier  „heiligen  Urkunde"  (1.  Mose,  Kap.  II— VI),  die  ihm  „als  Karte" 
^  soll.  Und  gerade  diese  Schrift  kann  im  Zusammenhang  mit  dem 
^  Brief  vielleicht  zu  einigen  Betrachtungen  Anlass  geben.  Kant 
2u  dieser  Zeit  in  der  zweiten  Epoche  seiner  schriftsteUerischen 
fc^it.  Nach  der  überraschend  schneUen  Produktion  der  60ger  Jahre 
^ie  grosse  Pause  bis  zur  Veröffentlichung  der  Kritik  der  reinen  Vernunft, 
'^heinen  nun  die  grossen  systematischen  Werke  in  der  kurzen  Zeit 
^twa  10  Jahren  und  nicht  ohne  Besorgnis  sieht  Kant  auf  die  gewaltige 
^^,  wenn  er  an  sein  zunehmendes,  ihn  allzufrüh  peinigendes  Alter 
^*      Aber    das  von    ihm    so  oft  empfundene  Bedürfnis,  populär  zu 


308  P.  Menzety 

schreiben,  erwachte  erneut  in  ihm.  Er  wollte  sich  auch  wohl  gelegentlieh 
unabhängig  von  der  schweren  Rüstung  der  philosopischen  Begrif&spnuüie 
freier  ergehen  und  ausruhen  in  der  Beschäftigung  mit  leichteren  Problemen, 
für  die  er  doch  immer  die  Lösung  in  der  Kritik  der  reinen  Vemonft  mit* 
gefunden  hatte.  Auch  versuchte  er  früher  schon  behandelte,  besonden 
die  entwickelungsgeschichtlichen  Fragen  mit  den  werdenden  Ideen  seiner 
Etliik  in  Einklang  zu  bringen.  Den  so  entstandenen  Schriften  wohnt  da 
eigentümlicher  Reiz  inne.  Wir  erfreuen  uns  an  der  stolzen  Sonverftnitit 
eines  Geistes,  der  über  den  Dingen  steht  und  das  Bedürfnis  empfindet, 
aus  seiner  Höhe  zu  der  Menschheit  mahnend  und  belehrend  zu  treten; 
ein  Pädagoge  des  Menschengeschlechtes  spricht  zu  uns.  Und  mit  d& 
Leichtigkeit  des  Stoffes  scheint  Kant  auch  die  Leichtigkeit  seines  schiift* 
Steilerischen  Ausdruckes  wiederzugewinnen,  die  wir  an  den  Schriften  der 
sechziger  Jahre  beobachten.  Diese  kleinen  Aufsätze  der  80er  Jahre  sind 
oft  stilistische  Meisterwerke.  Und  wer  könnte  sich  dem  feinen  Spiel 
seines  Witzes  entziehen,  wer  wird  nicht  gern  dem  eleganten  Zuge  seiner 
Gedanken  folgen,  die  leuchtenden  Blitze  seines  Geistes  nicht  bewundern, 
die  Lösungen  mehr  ahnen  lassen,  als  sie  wirklich  geben?  G^legentlick 
hören  wir  auch  einmal  ein  kräftiges  Wort  gegen  die  seichte  Schwftnnerei 
seiner  Zeit  und  leise  pessimistische  Töne  über  das  menschliche  Leben, 
dessen  Bürde  er  schwerer  und  schwerer  empfand.  Und  wie  eine  Vo^ 
ahnung  des  Todes  mutet  es  uns  an,  wenn  es  oft  die  Fragen  nach  dei 
letzten  Dingen  sind,  die  sein  Gemüt  bewegen. 

Wir  verlassen  damit  den  Brief  an  Biester  und  bemerken  nur  noch, 
dass  die  dort  erwähnte  „moralische  Abhandlung'^  die  Grundlegung  nr 
Metaphysik  der  Sitten  ist.  Der  Brief  Grunerts  ist  nicht  erhalten,  doch 
aus  anderen  Quellen  erfahren  wir,  dass  das  Manuskript  der  genannten 
Schrift  im  September  1784  abgeschickt  war,  dass  aber  erst  am  7.  Apiil 
1785  Kant  die  ersten  gedruckten  Exemplare  erhielt  (VgL  Ausgabe  der 
Akademie  IV  S.  628.) 

Der  dritte  Brief  ist  von  A.  Hamack  der  Akademie  der  Winen- 
schaften  vorgelegt  worden,  er  befindet  sich  in  der  Handschriftenabteihinf 
der  Königlichen  Bibliothek,  wo  Direktor  L.  Stern  ihn  auf&nd.  Der 
Text  lautet: 

„iôo^ebelgebo^mer  ioert 

f»Q(^5ue^renbec  âerr  ^J^agifter. 

Sd  ift  (ändft  mein  QBunfc^  getoefen,  bag  flc^  {emanb  finben  mJUi^  bcr 
6û(^-  unb  6)>ra(^-^enntni«  gnug  ^me  unb  bie  S^riti!  ind  Satdiiiff^e  |n  &^ 
trügen  95elieben  trüge,  ein  gettjiffer  ^ofeffor  in  2t\p^iQ,  ein  ouf  be^  *t 
gefc^icfter  ^am,  ^atte  ftc^  t>or  einigen  Sauren  \>Qn  iObft  boèu  uer^oaboi; 
über  Dermut^U^  (toie  ber  feel,  iôûr^oc^  baffir  ^ielt)  koegen  fiber^ditfter  aabcm 
"^efc^äftigung,  um  feine  fc^male  Sinlttnfte  au  ergänzen,  ed  toieber  liegen  toffn- 
iberr  ^rof.  Schütz  in  3enû,  bem  bie«  ^ov^ahtn  hamM  conunonicirt  mi^ 
^ielt  bafttr,  bû§  Don  feiner  (be«  £ei))siger  Prof.)  ^eber,  bur<l^  Gefttffeii^  bcr 
äc^tloteinifc^en  eieganj,  n>ieber  bie  ^aBttcbfeit  leidet  berftofen  toecben  Wtt, 
unb  tnoUte  harnais  e«  übernehmen,  bie  (ibetfe^ung  in  biefer  QRMfic^t  fettp 
burc^ftuge^en,  loelc^e«  bann  burc^  obige  Urfac^e  jugleic^  untei^eben  ip. 


t)ie  neu  au^fundenen  Kantbriefe.  309 

^u4  bet  ^xobt,  koelc^e  6ie  bie  ®fite  gehabt  ^aben  3f»i:em93tiefe  bet^^uffigen, 
crfe^  i(^  :  ba§  6ie  bie  testete  Gc^toiedgf eit  gar  koo^l  t>ennetben  unb  bo(^  )u- 
^lei^  burc^  Gtennanismen,  toie  eö  but(^  ^eutfc^e  oft  gefd^e^en  if(,  ben  ^u4- 
n^drtigen  nic^t  unt>erfltänbU(^  fet^n  toiirben  unb,  koegen  bed  )u  treffenben  Ginned, 
ff%e  i(^  in  Sf^te  Sinfi^t,  nûcb  einem  fo  beharrlichen  Gtubium,  beffen  6ie  biefed 
QBBert  geioürbigt  f^aben,  ebenfotoof^l  t>5aiged  93ertrauen. 

fangen  6ie  atfo,  QBttrbiger  ^ann,  biefe  Arbeit  getroft  an.  QJieUefc^t 
tikdt  fie  mit  ber  93efantf(^aft,  bie  fl^  mit  biefen  Sachen  burc^  bie  93ef(^af« 
tilting  felbft  f»ert>orftnben  n>irb,  fd^neOer,  atô  6ie  felbfi  {e^t  termufben,  fort, 
fpba§  i(^  i^re  iôerauégabe  noc^  erleben  fan. 

âiesu  kofinfc^e  ic^  gute  ©efunb^eit  unb  fonft  guted  ®ebeif»en  aOer  3^rer  fib« 
ri^en  guten  ^bftd^^ten  unb  bin  mit  ber  DoQtommenfiten  iooc^ad^tung 

&o,  iooc^ebelgeboren 

1792  Koenigsberg  ergebenfter  ©iener 

d.  16  October  I.  Kant. 

Der  Adressat  ist  Rudolph  Gotthold  Raht,  welcher  im  Jahre  1814  als 
Bektor  der  vereinigten  protestantischen  Schulen  und  ausserordentlicher 
Professor  an  der  Universität  Halle  gestorben  ist.  £r  schrieb  am  8.  Sept. 
1792  an  Kant  (XI  S.  352/3):  „Ich  wage  es  £w.  Wohlgeb.  einen  Entschluss 
von  mir  mitzuteilen,  dessen  Ausführung  einer  meiner  innigsten  Wünsche 
ist;  den  Entschluss,  die  Kritik  der  reinen  Vernunft  in  das  Lateinische  zu 
fibersetzen."  Er  fasste  diesen  Entschluss,  obgleich  er  sich  klar  war,  dass 
seine  Absicht  nicht  „merkantilisch"  von  Erfolg  sein  könnte.  Ihn  trieb 
^die  Begierde,  die  überkultivierten  Nationen  mit  der  Kritik  bekannt  zu 
machen,  und  die  Begierde  nach  dem  Ruhme,  bei  déh  Völkern,  wohin  Sie 
iMrandem  würden,  Ihr  Dolmetscher  zu  sein".  Als  Probe  seines  Könnens 
legte  er  eine  Übersetzung  der  Anfangsworte  der  Einleitung  zur  Kritik 
d.  r.  V.  nach  der  zweiten  Auflage  bei.  Früher  als  Raht  hatten  sich 
bereits  der  Feldprediger  Johann  Bobrik  und  der  Leipziger  Professor 
Friedrich  Gottlob  Born  mit  einer  solchen  Übersetzung  bemüht.  Ersterer 
berichtet  am  20.  Nov.  1782  (Briefwechsel  I  S.  274  f.),  dass  er  eben  „die 
Übersetzung  der  Antinomie  der  r.  Vernunft  zu  Ende  gebracht**.  Der  Plan 
kam  nicht  zur  Ausführung.  Kant,  so  berichtet  Hamann,  war  mit  ihr. 
nicht  zufrieden:  „Er  soll  sich  beschweren,  dass  er  die  lateinische  Über- 
setzung seiner  Kritik  selbst  nicht  verstehe"".  (Hamanns  Schriften  VI.  305 
und  Oildemeister  V,  339).  Born  teilte  Kant  am  7.  Mai  1786  sein  Vorhaben 
mit.  Dieser  ging  darauf  ein,  doch  Born  arbeitete  nicht  gerade  schnell. 
Hartknoch,  welcher  der  Verleger  sein  sollte,  schreibt  am  26.  Aug.  1789 
an  Kant:  „Herr  Prof.  Born  arbeitet  scheint  gar  nicht  an  der  Über- 
setzung ...  Er  hat  schon  l&O  Thlr.  Vorschuss  erhalten**.  So  hatte  Kant 
allen  Grund  an  dem  Zustandekommen  der  Übersetzung  zu  zweifeln.  Er 
brach  deshalb  wohl  die  Korrespondenz  mit  Born  ab,  wenigstens  können 
'wir  eine  Antwort  auf  dessen  Brief  an  ihn  vom  10.  Mai  1790  nicht  nach- 
weisen. Erst  im  Jahre  1796  erschien  mit  der  Kritik  der  reinen  Vernunft 
beginnend  eine  4  bändige  lateinische  Ausgabe  von  Kants  philosophischen 
Schriften  durch  Bom.^)    Rahts  Plan  blieb  unausgeführt. 


1)  Vgl  dazu  die  Briefe  No.  249,  263,  303,  304,  819,  404. 

xui.  ^\ 


310  P.  Menzel», 

Schliesslich  seien  hier  noch  zwei  Briefe  Kants  an  Hnfeland 
mitgeteilt.  Der  erste  wurde  in  dem  Autographenkatalog  No.  XXXTX  von 
J.  Halle  in  München  angeboten  nnd  dort  zum  Teil  abgedruckt.  Er  e^ 
scheint  hier  vollständig  und  lautet: 

^oeni9«betd  b.  19  ^rU  1797 
Qxo:  QBo^tgeb. 
koecben  ^offenüxa^  meinen,  burc?>  Am.  ^.  ^eblänber  in  93ertttt  an  6if; 
mit  bet  ^antfûdung  für  3^r  ®ef^enf  be^  93u(^d  t>on  ber  SebendDedta* 
gerung  obgelûffenen,  ^rief  erholten  ^ûben.  —  Sect  erbitte  xâ^  for  l)et, 
toel^er  3f»nen  ben  gegentoärtigen  )u  überreichen  bie  ^^tt  ^,  âca 
Motherby  ^etoogenf^eit  unb  ^eunbfcbûft  einen  Don  ^ngtânbifc^er  ^M«af( 
in  ^önigeberg  gebo^renen  Jungen  ^ann  t>on  grogem  Talent,  t)te(er  fc^on  f^ 
toorbenen  S^entnié,  feftem  Q3orfû^  unb  tugenbf^after,  babeç  offener  unb  menf(^- 
freunbUcber  ^entungéûtt,  tt)ie  fein  QJater  ber  engl,  ^^ego^iont  alliier,  tm 
jebermann  geortet  unb  geliebt  unb  mein  t>ieliäf»riger  Dertrautet  ffreunb  ift  - 
QBû«  Don  mir  unb,  toaé  fonp  ûuf  unferer  UniDerfltät  in  fein  ^aâ^  (We  ^^ 
bi^in)  einf^lûgenbeé  )u  lernen  toax,  i)at  er  grfinblic^  gelernt  unb  ]o  bitte  i4 
i^m  bie  mehrere  unb  größere  ioielf^queHen  für  fein  Gtubium  au(^  S^reé  Ottt 
5U  eröfnen  ;  koobet^  er  toegen  bed  bû)u  erforberli^en  5^of^enaufh>anb4  nic^t  ii 
^erlegen^>eit  fet^n  »irb. 

^ix  ift  ber®eban!e  in  ben  ^o)>f  getommen:  eine^iäteti!  )u  entioerfci 
unb  fol^e  an  eie  au  abreffiren,  bie  blo«  ,,bie  <=ma(^tbed®emfit^i  fib« 
feine  tranf^afte  förperli^e  ^m^flnbungen  „au^  eigener  ^a^ntng  i»orfieiKf 
machen  foH  ;  toelc^e  ein,  n>ie  icb  glaube,  nic^t  )u  t>era(l^tenbed  (périment  o^e 
ein  "ianbered,  aie  )>ft^^ologif^ed  "iHraneçmittel,  boc^  in  bie  £e^ve  ber  9ReMcn 
aufgenommen  |u  n>erben  oerbiente;  n>el^ed,  ba  i<fy  mit  ^nbe  biefer  9ßo<^ii 
mein  74fted  Sebenéia^r  eintreten  unb  baburc^  bieder  glficflic^  aUt  toMS^ 
^anf^eit  (benn  Unpöglic^teit,  toie  ber  {e^t  epibemifc^  ^ertfc^enbe  Upfbt 
briicfenbe  Sat^arr,  n>irb  f^iep  nic^t  gerechnet)  abgetoe^rt  f^abe,  too^l  GlosNi 
unb  9Ra(^folge  betoirten  bürfte.  —  ®o(b  mug  i^  biefed,  toegen  anbertoeiH^er 
93efc^äftigung,  \e^t  no^  auéfe^en. 

'^em  9)^anne,  ber  £ebenöt>erlängerung  mit  fo  einleu^tenben  Qhunbo 
unb  ^e^fpielen  le^rt,  langet  unb  glüctlic^ed  geben  ju  tofinfc^en,  xft  fcbulMge 
^flic^t,  mit  beten  ^nerfennung  unb  ooQfommener  ioocbac^tung  ic^  ieber^eit  bbi 

3f>t  etgebenftet  tteuet  ^enet 
I.  Kant, 
^n  ben  Äetten 
®octot  bet  ^t^ne^gela^ttf^eit 
unb  ^tofeffot  Hufeland 
in 
b  ginf(blul.  Jena. 

Am  12.  Dez.  1796  hatte  Hufeland  sein  bekanntes  Buch  ^Makrobiotik 
oder  die  Kunst,  das  menschliche  Leben  zu  verlängernd^  an  Kant,  den  „ell^ 
würdigen  Nestor  unserer  Generation^  gesandt,  doch  erst  Mitte  Man  ge- 
langte es  in  des  letzteren  Hände,  wie  die  Nachschrift  zum  Brief  an  Hidb- 
land  ergiebt.  Deshalb  hat  ihn  Reicke  nach  dem  15.  März  1797  angeseilt 
Aus  Hufelands  Brief  vom  30.  Sept.  1797,  wo  er  zwei  Briefe  Kants  «^ 
wähnt,  hatte  der  Herausgeber  des  Briefwechsels  dann  an!  einen  änderet 


ÎMe  neu  aufgefundenen  Santbriefe.  311 

Brief  g^eschlossen  und  ihn  zu  Mitte  April  1797  angesetzt.    Der  neu  aufge- 
fundene Brief  bestätigt  also  ziemlich  genau  diese  Vermutung. 

Den  Anlass  zu  diesem  Brief  giebt  ja  der  Text  selbst,  es  war  ein 
Empfehlungsschreiben  für  William  Motherby  (1776—1847),  den  dritten 
Sohn  eines  Freundes,  über  den  sich  Hufeland  in  seinem  eben  genannten 
Brief  sehr  schmeichelhaft  äussert.  Weiter  vermehrt  der  Brief  unsere 
Kenntnis  über  die  Entstehungsgeschichte  der  Schrift  »Von  der  Macht 
des  Gemüts*'  etc.,  welche  zuerst  in  Hufelands  ,,Joumal  der  practischen 
Arsneykunde  und  Wundtarzneykunst"  im  Jahre  17d8  (V.  Bd.  4.  Stück) 
erschien  und  in  demselben  Jahre  in  den  ,,Streit  der  Facultäten'^  auf- 
l^nonunen  wurde.  Vorländer  hat  darüber  im  7.  Band  der  akademischen 
Kantausgabe  S.  340  f.  berichtet. 

Der  zweite  Brief  an  Hufeland  ist  das  Begleitschreiben  zu  der 
fertigen  Abhandlung.  Es  wurde  zuerst  von  Ebstein  als  Facsimile  ver- 
öffentlicht in  der  Festschrift  herausg.  von  der  Gesellschaft  der  Münchener 
Bibliophilen  (1908,  S.  7).    Es  lautet: 

^önt9«berd  b.  6  ^ebr  1798 

Äier  ^aben  6ic,  ®ce^rfefter  5reunbl  bie  üerfpro^ene  ^b^anbïung 
^oon  ber  ^aâ^t  be«  ©emüt^«''  zc,  toet^e  6ie  nûc^  3btem  93elieben  in  3  b  r 
3ouma(  etnrücfen,  ober  anâ^,  toenn  6te  e«  gut  finben,  [ober  auâ^]  aie  eine  ûbgefon« 
berte  Gcbrift,  mit  3^rer  93orrebe  ober  ^nmerfungen  begleitet,  ^ttani  geben 
fönnen;  n^obeç  iâ^  ftugleicb  û0en  Q3erbû(bt  ûlé  ob  icb  auâ^  n)0bl  ^utorfportetn 
beobfidt^tigte,  oerbitte. 

ossäre  etloû«  im  großen  9Reic^t^um  3b^er  mebicinif^en  ^enntniffe^  toûi 
mir  in  "^nfef^ung  meiner  ^röntli^tett,  bit  ic^  3bnen  bef^deben  f^ûbe,  iôfilfe 
ober  €rlei(bterung  t>erf^ûffen  fdnnte:  fo  toüvbt  mir  bie  90^itt^eilung  beffelben 
tn  einem  ^nDûtf(!(^reiben  ûngene^m  fe^n;  n)ien)of»l  i^  offenherzig  gefielen 
oiti§,  bag  icb  n)enig  bûDon  ectoarte  itnb  beé  iôtppocrate«  iudicium  anceps, 
experimentum  periculosiim   )u  bef^er^igen  übectoiegenbe  Urfacben  ^u  ^aben 

0lmibe. S«  ift  eine  groge  Günbe  alt  gett>orben  ^u  feçn;  bûffir  man  aber 

aucb  obne  ^erfc^onen  mit  bem  $obe  befhraft  n)irb. 

^a%  biefe«  3t^nen  nur  naâ^  einem  langen  unb  glfictlidf^en  geben  tt>ieber- 
fiM^re  tt>finf(^t 

3^r  93ere^rer  unb  ergebener 
treuer  ®iener 
I.  Kant. 

97.6.  6o  balb  n)ie  mdglicb  n)firbe  iâ^  mir  bie  iberaulgabe  biefer 
3cbrift  erbitten  unb,  tt>enn  e«  feçn  !ann,  einige  n)enige  ^emplare  berfelben. 

I.  K. 

Eine  Antwort  Hufelands  ist  un.«  nicht  erhalten,  doch  finden  sich  auf 
dem  Brief  einige  Notizen  von  ihm,  welche  eine  Diagnose  und  Medikamente 
fflr  Kant  enthalten.    Ebstein  hat  sie,  wie  folgt,  entziffert: 

{^eu>tn\â^to&â^t  be*  ^Iteri  —  Congestiones  capitis  —  irrenbe  öicbt  — 
^Ifle  ^age  Prictio  corpjoris]  —  SlaneHne  93enb[ungl  —  QBö<^>entL  einige  (?) 
^uftbaber  (?)  mit  (?)  Ganb  (Genf?)  —  tagt.  93en>egung.  QBdc^entL  2—3  mal 
^Pif.  Gu^ac[i]  3  III  Lact.  Sulph[uris]  Extr.  Seneg.  Rhab.  ann  3;  Extr. 
T[ett]crfi]  g.  s.  ut.  F.  pil.  gr.  11  12  (?)  etücf.  ^rfi^ia^r  unb  iberbft  eine  5^ 
tMqt  Ißod^tn  lang  biefe  ^\üm  tagl  Et.  caet.) 


312  P.  Men z er,  Die  neu  aufgefundenen  Kantbriefe. 

Früher  war  Marcus  Herz  medizinischer  Berater  Kants,  jetzt  sollte 
es  Hufeland  sein,   aber  seine  Mittel  konnten   den  raschen  Krftftefall  dei 
schwachen   Körpers   nicht   aufhalten.     Die  Klagen,  welche  wir  in  beiden 
Briefen  zu  hören  bekommen,   ertönten  nicht  zum  ersten  Mal.    Ergreifend 
ist  es  zu   vernehmen,   wie  Kant   den  ihn  quälenden  Kopfdruck  von  einer 
eigentümlichen   Beschaffenheit   der  Luft  abhängig  macht   und  sogar  ein 
Katzensterben   in  England   damit  in  Verbindung  bringt  und  von  der  Zu- 
kunft Besserung  seines   Zustandes   erhofft.    Ergreifender  aber  ist  es  viel- 
leicht noch,   wenn  wir  das   letzte  Werk  Kants  prüfen  und  die  hülflosen 
Bemühungen  des  Greises  verfolgen,   durch  immer  von  Neuem  wiederholte 
Definitionen   eines  und   desselben  Begriffes  die  irrenden  Gedanken  fest- 
zuhalten.    Unermüdlich   hat   er   bis   zuletzt  geschaffen   oder  zu  schaffen 
versucht  und   beide   Briefe   bezeugen   von  Neuem,   wie  er   das  Geschick 
zuerst  zu  meistern  suchte,   dann  in  ruhiger  Resignation  dem  Zerstönings- 
werke   der  Natur  an   seinem  Körper  zusah,   das  schliesslich  ihm  das  Be- 
wusstsein  und  damit  die  peinigende  Qual  seines  Unvermögens  nahm. 


Vorschlag  zu  einer  Änderung 
ixtes  von  Kants  Kritik  der  praktisclien  Vernunft. 

Von  Dr.  Heinrich  Romundt. 


Veröffentlichungen  über  Kants  praktische  Philosophie,  zamal  für 
Kreise,  wird  kaum  je  die  berühmte  Apostrophierung  der  Pflicht, 
in  der  Kritik  der  praktischen  Vernunft,  1.  Teil,  1.  Buch,  3.  Haupt- 
bn  den  Triebfedern  der  reinen  praktischen  Vernunft"  (Redam« 
3. 106)  findet,  ganz  mit  Stillschweigen  übergangen  werden.  Sie  hat 
her  stets  folgenden  Wortlaut:  „Pflicht!  Du  erhabener  grosser 
1er  du  nichts  Beliebtes,  was  Einschmeichelung  bei  sich  führt,  in 
st,  sondern  Unterwerfung  verlangst,  doch  auch  nichts  drohest,  was 
e  Abneigung  im  Oemüte  erregte  und  schreckte,  um  den  Willen 
gen,  sondern  bloss  ein  Gesetz  aufstellst,  welches  von  selbst  im 
Eingang  findet  und  doch  sich  selbst  wider  Willen  Verehrung 
leich  nicht  immer  Befolgung)  erwirbt,  vor  dem  alle  Neigungen 
aen,  wenn  sie  gleich  in  Geheim  ihm  entgegenwirken  — ,  welches 
einer  würdige  Ursprung  und  wo  findet  man  die  Wurzel  deiner 
)kunf t,  welche  alle  Verwandtschaft  mit  Neigungen  stolz  ausschlägt 
welcher  Wurzel  abzustammen,  die  unnachlassliche  Bedingung  des- 
(Verts  ist,  den  sich  Menschen  allein  selbst  geben  können?" 
ich  diesem  Wortlaut  auch  der  neueren  Ausgaben  war  schon  zu 
,  dass  ebenfalls  die  Originalausgabe  von  1788  keinen  anderen  Text 
erde.  Diese  Vermutung  ist  dem  Verfasser  durch  eine  gefftllige 
i  Mitteilung  des  Herrn  Professor  Natorp  in  Marburg,  der  die  Her- 
von  Kants  zweiter  Kritik  in  der  Berliner  Akademieausgabe  besorgt, 
worden. 

otzdem  aber  können  wir  nicht  unterlassen  zu  fragen,  ob  Kant, 
auch  bei  seinem  bereits  von  anderen  bemerkten  Mangel  an  Sorg- 
!orrekturlesen  diesen  Abschnitt  bei  der  Drucklegung  so  hat  stehen 
n  ebenso  auch  schon  geschrieben  oder  gar  gedacht  haben  kann. 
3  sofort  ganz  bestimmt  zu  sprechen:  Ist  der  vierte  Relativsatz: 
von  selbst  im  Gemüte  Eingang  findet  und  doch  sich 
ider  Willen  Verehrung  —  erwirbt"  in  einer  solchen  Verfassung, 
on  irgend  einem  Menschen  so  ohne  Widerspruch  gedacht  werden 

ih  unseren   bisherigen  Erfahrungen  in  dieser  Angelegenheit  ist 
rauf  zu  legen,    dass   der  angegebene  Relativsatz  zunftçh^t 


314  H.  Romandt, 

abgesondert  für  sich  in  seinem  eigenen  Bestände  und  inneren  Zu 
hange  untersucht  werde.   Vermutlich  ist  gerade  dies  bisher  nie 
Bei  diesem  Verfahren  aber  wird  schwerlich  jemand  bestreiten,  diu 
Worte,  welche  von  einem  vom  eigenen  reinen  Denken  aufgestelltes  fk- 
ausgesagt   werden:    ^und   doch   sich    selbst   wider    Willen    Vafplli 
erwirbt^,  zur  unentbehrlichen  Voraussetzung  haben  das  Vorhergdrii' 
Gegensatzes  nicht  ausserhalb,  sondern  ganz   notwendig  innerhaBlt.^ 
Relativsatzes  selbst.    Ein  Gegensatz  aber  ist  in  den  Worten,  dm. 
selbe  Gesetz  ,,von  selbst  im  Gemüte  Eingang^  finde,   sicheiVib 
enthalten.    Wie  dagegen,   wenn  wir  lesen  würden  :   „ein  G^setE  igit* 
welches  nicht  von  selbst  im  Gemüte  Eingang  findet   und  d4« 
selbst  wider  Willen  Verehrung  —   erwirbt?"     Durch  Einsdiiéilb 
Wörtchens   „nicht^  wäre  offenbar  der  Anstoss  innerhalb  der  Qtip 
Aogegobenen  Nebensatzes  völlig  beseitigt.  ^ 

Wird  aber  durch  die  so  gewonnene  Heilung  und  HersteBn^ 
Satzes  nicht  vielleicht  Kants  ganze  Sittenlehre  mit  ZerstOrm^^i 
nichtung  bedroht?   So  kann  nach  den  bisherigen  Erfahrungen  ag^ 
Vorschlage  bei  gelehrten  Kennern  Kants  wohl  vermutet  werda^jj 
dass  ein  Gesetz  der  Pflicht  nicht  von  selbst  im  Gemüte  Bisgaj 
erklärt  sich  aus  dem,  was  Kant  gleich  nachher  bemerkt  :  daif  aä 
Neigungen,  also  das,  was  der  blossen  Natur  im  Menschen  angèhÔr 
sie  vor  solchem  Gesetz  als   einem  höheren  verstummen,  doch  . 
he  im  en  ihm  entgegenwirken".   Auch  das,  was  der  ApostrogliF 
bar    vorangeht    und    wonach   durch   den   Pflichtgedanken    00^ 
Eigendünkel  wie  der  Eigenliebe  Schranken  gesetzt  weardmi 
dem  Menschen  natürlicherweise  nie  gefallen,  steht  in  Eiidelp 
dass  ein  Gesetz  der  Pflicht  —  und  so  künftig  zu  lesen,  sei  IH 
geschlagen  —  „nicht  von  selbst  im  Gemüte  Eingang  ündsi* 

Man  meint  vielleicht,   besonders  der  2.  Teil  von  Kantt^lt 
Methodenlehre  der  reinen  praktischen  Vernunft",  stimme' tu' 
vorgeschlagenen  Änderung.    Dieser  Meinung  gegenüber  sei  ge^ 
auf  S.  189  (bei  Redam)  innerhalb  der  Methodenlehre  hinznwoisi 
nicht  für  ausreichend  hält,  bei  blosser  müssiger  Bewundemng 
der  Sittlichkeit  schon  stehen  zu  bleiben.    Damit  sie  für  das 
Verhalten  selbst  praktisch  werden,  sei  notwendig,  sie  „in  Bein 
Menschen  und  auf  sein  Individuum  (zu)  betrachten;  da  denn  ^ 
in  einer  zwar  höchst  achtungswürdigen,   aber  nicht  so  gtML 
erscheint,  als  ob  es  zu  dem  Element  gehöre,  daran  er  net 
weise  gewohnt  ist,  sondern  wie  es  ihn  nötiget,  dieses  oft^  1« 
Selbstverleugnung,  zu  verlassen  und  sich  in  ein   L 
begeben,  darin  er  sich  mit  unaufhörlicher  Besorgnis  des  1 
mit  Mühe  erhalten  kann".    Diese  Worte  passen  sioherlic 
zn  der  herkömmlichen  Lesart,  dass  das  Gesetz  der  Pflicht  „ 
im  Gemüte  Eingang  findet*^;  sie  stimmen  aber  völlig  ftbere 
vorgeschlagenen  Änderung. 


ïnaC^JC"    -.     


■M. 

■iiii- 

He- 

\'fr- 

iiiten 
was 

iiserer 

iii.'IIin^ 
'•pliie, 
lU't  ihn 
•irel  hat 
«-oliichte 
:n«r   der 
-ik    darin 
'•  und  den 
■iri;r  hierzu 
Vaturphilo- 
-Tand,   dass 
i^niinte,   he- 
ilt** möglich 
îielbare    He- 
ir konnte  es 
;ii  iir  wisse  n- 
■  s   der   Natur 
ii/cn,  die  sich 
ilrei    Kritiken 
rliält  sich  viel 
ilien  Hedenken 
•ilich  Riehl   mit 
Metaphysik  ent- 

(It>   rîe falsche 

iu   de»   19.  Jfthr- 

Aujidniok  einer 


31  ß      H.  Romundt,  Vorschlag  zu  einer  Änderung  des  Textes  etc. 

Begriffen  auch  sicher  der  FalL  „Verehrung",  die  g<  nau  parallel  zur 
„Achtung"  steht  (siehe  besonders  den  Schluss  des  nächsten  Absatzes. 
Reclam  S.  105  f.)>  schliesst  Beugung,  ja  Demütigung  ein.  Verehren  kam 
ich  nur,  was  über  mir,  über  meinen  ^^Neigungen"  ist.  Verehrung,  nicht 
Neigung,  gebührt  dem  Wesen  des  Menschen  ,,in  Beziehung  auf  seme 
zweite  und  höchste  Bestimmung".  Das  „und  doch"  ist  also  voU  begründet 

Zur  letzten  Kl&rung  der  Sache  gehörte  vielleicht  noch  eine  genaae 
Feststellung  des  Kantischen  Gebrauchs  des  Wortes  ,,G«müt".    Es  wflide 
sich,  glaube  ich,  zeigen,  dass  dies  Wort  von  Elant  im  weitesten  Umfang 
für  animus,   tpvx^  steht,  dass  es  die  vernünftige  ebenso  wie  die  sinnüdu 
Seite  des  seelisdien  Lebens  umspannt.    So  wird  vollends  begreiflich,  àm 
die  Pflicht,  die  allerdings  den  Vemunf twillen  vertritt  und  zur  l^nlichkdt 
in  bestimmtem  (Gegensatz  steht,  im  „Gemüte"  von  selbst  Eingang  findet 
keine   „natürliche"   Abneigung  in  ihm  erregt  —  sie  entstammt  ja  der 
eigenen,   nämlich   vernünftigen    „Natur"    des   Menschen    —   „und  docb' 
zugleich  Verehrung   (welche  Beugung  einschliesst)   ihm    (nämlich 
sinnlichen  Natur)  abnötigt. 

Nach  diesem  allen  dürfte  über  den  Sinn  und  damit  über  die  fiicUjf 
keit  des  überlieferten  Textes  kein  Zweifel  mehr  sein. 

Paul  Natorjn 


Müj 


Rezensionen. 


Rebelling,  F.  W.  J.  v.,  Werke.  Auswahl  in  drei  Bänden.  Mit  3 
!i8  Schellings,  und  einem  Geleitwort  von  Prof.  Dr.  Arthur  Drews, 
gegeben  und  eingeleitet  von  Otto  Weiss.  Leipzig,  Fritz  Ëckardt, 
(CLXJI  u.  816,  682.  936  S.) 

Die  vorliegende  Auswahl  aus  Schellings  Werken  ist  umfassend  genug, 
len  starken  und  in  allen  wesentlichen  Zügen  klar  bestimmten  £in- 
von  Schellings  Philosophie  zu  gewähren,  dazu  (namentlich  bei  Be- 
htigung  der  sehr  guten  Ausstattung)  billig  genug,  um  weite  Ver- 
i^  finden  zu  können.  Einer  für  die  Kant  Studien  bestimmten 
lon  stellt  diese  Tatsache  die  Aufgabe,  danach  zu  fragen,  was 
Qg  für  den  Kantianismus,  insbesondere  für  den  Kantianismus  unserer 
u  bedeuten  hat. 

Jnter  den  grossen  Denkern  der  nachkantischen  Zeit  ist  Schelling 
ge,  der  Kant  am  nächsten  geblieben  ist.  Seine  Naturphilosophie, 
r  alle  Phasen  seines  Wirkens  wesentlich  gewesen  ist,  scheidet  ihn 
lach  den  gemeinen  Urteil  weit  von  dem  Kritiker,  aber  Hegel  hat 
licht  unrecht,  wenn  er  in  seinen  Vorlesungen  über  die  Geschichte 
dlosophie  (Werke  Bd.  XV)  sagt,  Schelling  sei  der  Stifter  der 
a  Naturphilosophie,  die  sich  von  der  gewöhnlichen  Physik  darin 
;heide,  dass  sie  über  die  Form  des  Verstandes  hinausgehe  und  den 
lativen  Be^ff  der  Natur  zu  fassen  suche:  den  Anfang  hierzu 
abe   schon  Kant  gemacht  (672  f.).    Gewiss,   Schellings  Naturphilo- 

entspricht  nicht  den  Intentionen  Kants,  aber  der  Umstand,  dass 
berhaupt  eine  Philosophie  der  Natur  hatte  und  haben  konnte,  be- 
$in  viel  positiveres  Verhältnis  zu  Kant,  als  dies  bei  Fichte  möglich 
Die  Philosophie  des  absoluten  Ich  schloss  jede  unmittelbare  Be- 
2r  zwischen  der  Natur  und  dem  Intellifiblen  aus:  für  sie  konnte  es 
Philosophie  der  Natur  geben,  sonaem  nur  eine  Naturwissen- 
;.  Fichtes  Leugnung  eines  metaphvsischen  Substrates  der  Natur 
un  wohl  reiner,  als  Schelling  ^tan  hat,  die  Konsequenzen,  die  sich 
ler  systematisch-einheitlichen  Zusammenfassung  der  drei  Kritiken 
n;  aber  von  Kant  führt  sie  viel  weiter  fort;  sie  verhält  sich  viel 
er  zu   dem   „Realismus",   der  sich   trotz  aller  kritischen  Bedenken 

wieder  durchsetzt,  und  der  darum  —  wie  namentlich  Riehl  mit 
betont  hat  —  für  das  Gesamtbild  der  Kantischen  Metaphysik  ent- 
•t. 

historisch  ist  Schelling  auf  Fichte  gefolgt,  und  die  Hegeische 
ruktion  hat  es  dem  philosophischen  Bewusstsein  des  19.  Jahr- 
ts  tief  eingeprägt,  dass  diese  historische  Abfolge  Ausdruck  einer 
ischen  Notwendigkeit  sei  :  danach  müsste  Schelling  weiter  von  Kant 
»mmen  sein,  als  es  Fichte  gewesen  ist  (vgl.  bes.  Hegel  XV,  536). 
.  Jahrhundert,  dem  ohnehin  eine  intensive  Beschäftigung  mit  den 
i  Trägem  der  nachkantischen  Bewegung  bevorsteht,  wird  hier  um- 
n  haben:  Fichte  ist  der  weitest  Fortgeschrittene  von  jenen  Dreien 
n,  und  es  ist  auch  gar  nicht  einmal  ganz  richtig,  dass  Schelling 
ch  bloss  auf  ihn  gefol^  sei;  dazu  sind  die  beiden  viel  zu  sehr 
iossen  gewesen:    Schelhngs  Naturphilosophie    war  konzipiert, 


318  Rezensionen  (Medicos). 

ehe  sich  noch  Fichte  so  weit  ausgesprochen  hatte,  dass  Seh.  i 
dass  die  Wissenschaftslehre  ein  anderes  Ziel  hatte  als  das 
angestrebte.  Gewiss  war  Seh.  von  Anfang  an  durch  F.  mächtig 
aber  gerade  in  der  Philosophie  wiederholt  es  sich  immer  wie 
Anregungen  empfangen  werden,  wo  der  eigentümliche  Gehalt 
regenden  doch  total  missverstanden  bleibt.  Jeder  nur  überh; 
regende"  akademische  Lehrer  dürfte  Fälle  solcher  Art  erlebt  hal 
es  ist  klar,  dass  es  in  solchem  Falle  schlechterdings  unmöglicl 
nicht  recht  mit  den  eigenen  Thesen  harmonierenden  Behaupte 
Schülers  sofort  anzumerken,  ob  hier  bloss  etwas  unreife  Verv 
vorliegt  oder  ein  Keim  zu  ganz  neuen  An-  oder  Einsichten, 
dieser  Lage  aber  befand  sich  Fichte  ^gen  Schelling.  Am  26.  l 
1794  hatte  ihm  dieser  seine  erste  philosophische  S<3irift  („Über 
lichkeit  einer  Form  der  Philosophie  überhaupt")  mit  einem  Bi 
sandt,  in  dem  er  sich  ihm  mit  grösster  Bescheidenheit  als  sei 
baren  und  bewundernden  Schüler  vorstellte.  Am  2.  Juli  1795, 
Seh.  inzwischen  die  Schrift  „Vom  Ich  als  Prinzip  der  Philosof 
offen tlicht  hatte,  schrieb  Fichte  an  Reinhold  :  „Schellings  Schrift 
ich  davon  habe  lesen  können,  ganz  Kommentar  der  meinigen, 
hat  die  Sache  trefflich  gefasst,  und  mehrere,  die  mich  nicht  v 
haben  seine  Schrift  sehr  deutlich  gefunden.  Warum  er  das  i 
sehe  ich  nicht  ganz  ein.  Leugnen  wird  er  es  nicht  wollen  odc 
Ich  glaube  schliessen  zu  dürfen,  er  wollte,  wenn  er  mich  nicht 
stanaen  haben  sollte,  seine  Irrtümer  nicht  auf  meine  Rechnung 
wissen,  und  es  scheint,  dass  er  mich  fürchtet.  Das  hätte  er  ni 
Ich  freue  mich  über  seine  Erscheinung.**  Und  diese  Freude  i 
greiüich  genug,  auch  dann  nicht  ernstlich  getrübt,  wenn  Seh.  ^ 
einmal  etwas  sagte  oder  schrieb,  was  auf  F.  den  Eindruck  em< 
Lapsus  machen  musste.  F.  hat  dies  selbst  später,  am  31.  Mai 
Zeit  des  beginnenden  Bruches,  an  Seh.  geschrieben:  „Ihre  ei 
Äusserung  im  „Philos.  Journal**  von  zwei  Philosophien,  einer  idei 
und  einer  realistischen,  welche,  beide  wahr,  nebeneinander 
könnten,  der  ich  auch  sogleich  sanft  widersprach,  weil  ich  sie  föi 
einsah,  erregte  freilich  in  mir  die  Vermutung,  dass  Sie  die  Wiat 
lehre  nicht  durchdrungen  hätten,  aber  Sie  äusserten  darauf  so 
viel  Klares,  Tiefes,  Richtiges,  dass  ich  hoffte,  Sie  würden  zei 
das  Fehlende  ersetzen**  (Fientes  Leben  und  Briefwechsel  *  11, 341  ; 
F.  hat  den  9.  von  Sch.s  „Briefen  über  Dogmatismus  und  Kritiz 
Auge;  seine  Entgegnung  im  Anfang  der  „Zweiten  Einleitni 
Wissenschaftslehre**.  Aber  wie  bedeutungslos  ihm  diese  Pläi 
schienen  war,  zeigt  aufs  beste  dde  ein  Jahr  darauf  in  zukonftsfn 
nahe  übermütigem  Tone  geschriebene  Vorrede  zur  2.  Auflage 
griffs  der  Wissenschaftslehre**  (1798):  es  kann  kein  Zweifel  d 
dass  er  bei  den  Jungen  geistreichen  Köpfen**,  deren  er  sich  hier 
feurigen  Anhänger  rühmt,  in  allererster  Linie  an  Seh.  gedacht  l 
wenig  Jahren  Tag  es  am  Tage,  dass  die  beiden  einander  von  à 
missverstanden  hatten.  Seh.  hat  nie  verstanden,  was  F.  eigentlic 
hat,  und  umgekehrt  hat  F.  in  seinen  heftigen  Ausfällen  gegen  < 
philosophie  niemals  deren  philosophisches  Motiv  getroffen  und 
seinem  grossen  Gegner  immer  nur  vorbeigeredet.  Es  ist  ga 
wenn  man  Sch.s  Entwickelung  gelegentlich  so  darstellt,  als  sei 
Anhänger  der  Wissenschaftslehre  gewesen,  dann  aber  abgef 
andere  Wege  gegangen:  man  darf  nur  sagen,  dass  Seh.  ein  p 
lang  geglaubt  hat,  Anhänger  der  W.-L.  zu  sein:  aber  seine 
phische  Absicht  hat  sich  niemals  mit  der  der  W.-L.  gedeckt,  dere 
Sinn  ihm  stets  verborgen  geblieben  ist.  (Dass  solches  Missverstek 
gescheiten  Menschen  widerfahren  konnte,  kann  nur  etwa  dem  v« 
Hch  sein,  der  bei  der  Lektüre  eines  ernsten  philosophischen  Buch« 
von   eigenen  Gedanken  geplagt  worden  ist.)  —  Wenn  aber  Seh 


Rezensionen  (Medicus).  319 

ÜBnersten  Antrieb  der  Fichtischen  Lehre  überhaupt  kein  Verständnis  ge- 
^  hâbt^  hat,  so  moss  die  Hegeische  Konstruktion  dahinfallen.  Hegel  sucht 
^^  die  ^olge  der  philosophischen  Svsteme  als  ihr  notwendiges  Hervorgehen 
^  AUS  einander  zu  begreifen,  ,,so  aass  die  eine  Philosophie  schlechthin  not- 
^^  Wtt&dig  die  vorhergehende  voraussetzt"  (XV.  690),  und  die  Philosophie 
af  8di.s  gilt  ihm  als  „die  höhere  echte  Form,  die  sich  an  Fichte  anschloss"^ 
^  (94S).  Allein  tatsächlich  kann  Sch.s  Lehre  darum  nicht  aus  der  Fichtischen 
3  iMTVorgegangen  sein,  weil  Seh.  das  Prinzip  der  W.-L.  gar  nicht  in  sich 
^  anfopenommen  hatte,  —  weil  er  nur  durch  Fichtes  Worte,  nicht  durch 
Bicfi^€8  Geist  angeregt  war. 

Fällt  aber  das  Recht   hinweg,   Seh.   als   den  Fortsetzer  F.s  zu  be- 
irmcliten,   so  rückt  er  ohne  weiteres  näher  an  Kant  heran.    In  den  ersten 
11794    und   96   geschriebenen)   Abhandlungen   Sch.s   ist  diese  Stellung  des 
l     kaam  SCtjährigen  Denkers  nur  dadurch  verschleiert,   dass  ihm  sein  Glaube, 
V     mit    JF.    tibereinzustimmen,   einen   gewissen  Mut   giebt,  sich  in  Anlehnung 
diesen  kritisch  ge^en  K.  zu  wenden.    Allein  man   sehe   sich   den  Fall 
flauer  an,  und  die  Täuschung  verschwindet.    Die  Schrift  „Über  dieMög- 
'seit  einer  Form  der  Philosophie  überhaupt"   bringt  z.  B.  recht  unreife 
AWHiaagungen  über  Kants  Unterscheidung  der  synthetischen   und   analy- 
tischen Urteile;  ihre  Quelle  ist  offensichtuch  die  Rezension  des  Aeneside- 
mii8  :  dass  aber  die  von  F.   dort  gegebenen  Andeutungen  gar  nicht  in  F.s 
™iip    verstanden  sind,  wird   alsbald   deutlich,   wenn   man   mit   dem  (erst 
gleichzeitig  mit  Sch.s  Schrift  gedruckten)  ersten  Teil  der  „Grundlage  d. 
9^^'  W'.-L.^  vergleicht.    Der  Geist  der  V7.-L.  hat  nie  in  Seh.  gelebt.    Und 
yui  lese  man  etwa  den  9.  Brief  über  Dogmatismus  und  Kritizismus  (1796), 
denselben,   von  dem  vorhin  schon  gesagt  wurde,  dass  er  F.s  Widerspruch 
■J'ÄUa^pef ordert   hat:    man    entdeckt   sofort,    dass    es    die    erkenntnis- 
^eoretischen   Hauptgedanken   aus   der   Kr.  d.  Urt.   sind,   die  für 
^cää     Philosophie    entscheiden:     nur   Äusserlichkeiten    der   Formulierung 
™^^^ten  auf  einen  näheren  Zusammenhang  mit  Fichte  raten  lassen:   aber 
™    j^Ährheit  ist  nicht  dessen   absolutes  Ich,   sondern  die  „Idee"  im  Kan- 
•••chen    Sinne   ScheUings   Problem,   wenn   er  schreibt:    „Der   Kritizismus 
■M««     das  letzte  Ziel  nur  als  Gegenstand  einer  unendlichen  Aufgabe  be- 
zj^^'^ten  ;  er  wird  selbst  notwendig  zum  Dogmatismus,  sobald  er  das  letzte 
^lal  ala  realisiert  (in  einem  Objekt)  oder  als  realisierbar  (in  irc^end  einem 
2^^^iiien  Zeitpunkte)  aufstellt."     „Der  Kritizismus  unterscheidet  sich  da- 
~î^om  Dogmatismus  nicht  durch  das  Ziel,  das  sie  beide  als  das  höchste 
■?*>t«lleii,  sondern   durch   die   Annäherung  zu   ihm,   durch  die  Reali- 
^^^?ÜÄ  desselben,   durch  den  Geist   seiner  praktischen  Postulate."    Die 
^^"^••^•ole  Unterscheidung  der  konstitutiven  und  regulativen   Prin- 
^/^^^^    ist  ihm  entscheidend  für  den  Charakter  der  neuen  Philoso{)hie. 
p?^^Q  kann  er  ein  Jahr  später,  im  Beginn  der  prachtvollen  „Allgemeinen 
äi2»^^^^*  der  neuesten  philosophischen  Literatur"  erklären:  „Unser  Zeit- 
2_-jr     iat  soweit  vorgerückt,   aass,   unerachtet  bei  einem  grossen  Teil  der 
l^-j^^^^oflsen  der  alte  Aberglaube  noch  in  Achtung  steht,  doch  kein  neuer 
jkwÊf^f^^^^^^  Irrtum    auf  lange  Zeit   Macht   und  Ansehen   erlangen  kann, 
o^i^    T**^tdeckungen  in  übernatürlichen  Regionen  (dem  alten  Lande  des 
^J^J^Ä^)  hat  die  Vernunft  selbst  feierlich  Verzicht  çetan."    So  hätte  Kant 
^l^yy^^^  echreiben  können;   genau  das  war  seine  Meinung  von  der  Stellung 
l^i^^^^^^taphysik.  — -  Aber  man   darf  jene  Worte   auch   nicht  mehr  sagen 
iniinoL  *     ^  '^®  sagen:   von  „übernatürlichen  Regionen"  will  Seh.  nichts 
der  ^S^    —  um  so  mehr  liegt  ihm  an  der  Natur  selbst,  an  der  Natur,  von 
j^— l^'^^  Kr,  d.  Urt   gehandelt   hat  (versteht  sich:   nach  regulativen  Prin- 
^*^  ^»    kritisch,  nicht  domiatisch).    Und  wie  Kant  die  organische  Natur 
o^w^^^tfitzpunkt  seiner  Naturteleologie   gemacht   hat,   so   tut   das   auch 
^Tr^^ig;  man  vergleiche  bes.  die  (gleichfalls  1797  erschienenen)  „Ideen 
^*^  ^^^^  Philosophie  der  Natur"   (bes.  I,  136  ff.   in  der  neuen  Ausgabe). 
™^2^%^    orffanischen   Natur    hört   die    Möglichkeit   auf,    mechanisch,   aus 
VB^I«^^^  XJnachen  zu  erklären:   „Eine  Organisation  als  solche  ist  weder 


320  Rezensionen  (Medicos). 

Ursache  noch  Wirkung  eines  Din^  ausser  ihr.  Jedes  organische  Prodnkt 
trägt  den  Grund  seines  Daseins  in  sich  selbst,  denn  es  im,  von  sich  selbit 
Ursache  und  Wirkung.  Kein  einzelner  Teil  konnte  entstehen,  als  in  dieMm 
Ganzen,  und  dieses  Ganze  selbst  besteht  nur  in  der  Wechselwirkung  dtt 
Teile^  (1,  136).  Ein  organisches  Wesen  ist  ein  Gkmzes,  eine  indiviaiuQe 
Einheit,  ^die  sich  schlechterdin^  nicht  aus  der  Materie  als  solchor  » 
klären  lässt.  Denn  es  ist  eine  Einheit  des  Begriffs^^  (138).  Diese  letite 
Wendung  scheint  weit  von  Kant  weggeführt  zu  haben.  Allein  es  ist  » 
vörderst  nötig,  genau  zu  verstehen,  was  sie  sagen  will;  die  InteipretitiflB 
kann  an  Kant  anknüpfen. 

Die  Kr.  .d.  Urt.  hatte  (Einl.  II)  erklärt,  es  müsse  ^einen  Gmnd  da 
Einheit  des  Übersinnlichen,  was  der  Natur  zum  Grunde  lieçt,  mit  do^ 
was  der  Freiheitsbe^riff  praktisch  enthält,  çeben^,  und  nut  dieser  & 
klärung  hatte  sie  die  Dinge  an  sich  preisgegeben:  das  IntellixSiiB 
kann,  wenn  dieser  Satz  ernst  genommen  werden  soll,  schlechterfinfl 
nicht  als  aus  „Dingen"  bestehend  gedacht  werden;  und  umgekehn: 
Dinge  können  nicht  „an  sich"  sein:  was  den  Dinaren  als  inteUi|<ibki 
Substrat  zugrunde  liegt,  ist  nicht  wieder  etwas  Dinghaftes,  sondern  am 
übersinnliche,  in  keiner  Verstandesreflexion  einznfangende  Wirklichkeit, 
in  der  das  din^haf  te  Sein  und  das  Sollen  ihren  gemeinsamen  Grand  haben. 
Die  Verabsolutierung  der  Unvernunft  hat  auffi^hört,  und  hier  stimmt  nm 
Schelling  genau  mit  Kant  überein,  und  nur  darin  weicht  er  von  ihm  ik 
dass  er  an  jenem  Satze  unerschütterlich  festh&lt.  Die  Dinge  an  sich  sind 
und  bleiben  ihm  ein  Gegenstand  der  Bekämpfung  und  des  Spottes,  od 
wie  mancher  seiner  Zeitgenossen  wähnt  er,  sie  seien  es  auch  mt  Kant  g» 
wesen,  der  sie  nur  eingeführt  habe,  um  sie  und  in  ihnen  den  Dogmatiani 
zu  zerstören.  Also  von  Dingen  an  sich  ist  in  Sch.s  System  nicht  die 
Rede,  wohl  aber  von  einem  intelligiblen  Grunde  der  nach  Verstandei' 
kategorien  aufgefassten  mechanischen  Naturerscheinungen.  Und  dîeeei 
InteUigible  heisst  abermals  —  hier  steht  Spinoza  Gevatter  —  Natur,  b 
dieser  (nicht  gedachten,  sondern  wirklichen)  Natur  sind  absolute  FreQieit 
und  absolute  Notwendigkeit  identisch  ^9.  Brief  über  Do^^matismiis  od 
Kritizismus).  Im  organischen  Wesen  stellt  sich  diese  wirkliche  Natur  bei 
deutlich  dar  und  giebt  damit  der  nach  Verstandeskategorien  verfahrendai 
Reflexion  eine  nie  zu  lösende  Aufgabe.  Der  Einheit,  die  im  orgamsehei 
Wesen  das  Ganze  auf  die  Teile  und  die  Teile  auf  das  Ganze  beDflK 
kommen  wir  nicht  mit  den  nur  für  tote,  abstrakte  „Dinge*^  passeoda 
Kategorien  nahe  —  denn  sie  ist  etwas  Lebendiges  —  :  wir  kommea  ikr 
nur  insofern  nahe,  als  wir  selbst  lebendig  sind  —  also  nicht  in  den  total 
Produkten  unseres  Denkens,  wohl  aber  in  der  lebendigen  Tat  des  Denksni: 
da  vollziehen  wir  selbst  fortwährend  solche  Aufeinanderbeziehung  f« 
Teilen  und  Ganzem  :  Das  will  jener  merkwürdige  Ausdruck  bedeuten,  & 
Einheit  des  Or^nismus  sei  Einheit  des  Begriffs.  »Der  Begritf  wolot 
i  n  einer  jeden  Organisation,  kann  von  ihr  sAr  nicht  getrennt  werden,  im 
organisiert  sich  selbst"^  (I,  137).  „Solange  ich  selbst  mit  der  NaI« 
identisch  bin,  verstehe  ich,  was  eine  lebendig  Natur  ist,  so  gut,  iJsicà 
mein  eigenes  Leben  verstehe;  begreife,  wie  dieses  allgemeine  Laien  dtf 
Natur  in  den  mannigfaltigsten  Formen,  in  stuf enmässigen  EntwickehnM 
in  allmählichen  Annäherungen  zur  Freiheit  sich  offenbart:  sobald  ich  aoer 
mich  und  mit  mir  alles  Ideale  von  der  Natur  trenne,  bleibt  mir  niekii 
übrig  als  ein  totes  Objekt,  und  ich  höre  auf  zu  begreifen,  wie  ein  Lebei 
ausser  mir  möfi^lich  sei^  (I,  143/4). 

Man  wird  nicht  umhin  können,  in  diesen  Sätzen  wenig  Kantiseki 
mehr  zu  entdecken;  sie  sind  bereits  von  echt  Schellinsscher  Art  Aber 
die  ihnen  vorangestellten  Hinweise  auf  die  Kr.  d,  Urt.  liaben  gleiehwobl 
gezeigt,  dass  trotz  aller  äusserlichen  Unähnlichkeit  über  die  AlmiiiUBBf 
kein  Zweifel  sein  kann.  —  Dass  Sch.s  Naturphilosophie  ans  Kants  iM^^'^ 
Anfangssfründen  der  Naturw.^'  manches  geschöpft  hat,  ist  aUbekannt;  w 
historiscne   Einsicht   in   das  Verhältnis   der  natnrphilosophischen  Anicfc» 


Rezensionen  (Medicus).  321 

angen  der  beiden  Denker  gewinnt  man  erst,  wenn  man  den  Naturbegriff 
der  Kr.  d.  Urt.  heranzieht:  von  da  aus  versteht  man,  dass  Konsequenz  in 
Schellings  Weiterftihrung  der  bei  Kant  geholten  Gedanken  ist.  —  Aller- 
dings,  wenn  Kant  von  „bloss"  regulativen  Prinzipien  handelt,  hat  man 
beim  Lesen  den  Eindruck,  dass  man  sich  zu  jedem  Satze  ein  Fragezeichen 
hinzuzudenken  habe;  diesen  Eindruck  erweckt  Seh.  durchaus  nicht.  Aber 
auch  hier  ist  Seh.  nicht  im  Unrecht:  er  verwischt  den  Unterschied  des 
kategorial  für  den  Verstand  Bestimmbaren  und  des  Intelligiblen  durchaus 
nieht,  er  ist  weit  davon  entfernt,  die  wirkliche,  die  lebendige  Natur  dem 
katefforialen  Verstand  ausliefern  zu  wollen  ;  er  nimmt  nur  das  Problem 
xttckfialtlos  ernst,  das  ihm  durch  den  (gut  Kantischen)  Dualismus  von 
Natur  und  Freiheit  gestellt  war,  und  er  macht  femer  Ernst  mit  der  von 
SL  zwar  im  Prinzip  auch  oftmals  anerkannten,  in  der  Durchfilhrung  aber 
•Denthalben  abgeschwächten  These,  dass  theoretische  und  praktische  Ge- 
wiflsheit  nur  der  Art,  nicht  dem  Grade  nach  verachieden  seien. 

Bereits  vorhin  wurde  auf  ein  Wort  aus  den  „Philosophischen  Briefen 
Iber  Defätismus  und  Kritizismus^  hingewiesen,  wonacn  Freiheit  und 
Notwenmgkeit  in  der  absoluten  Wirklichkeit  zusammenfallen.  Der  Satz 
Ist  von  zentraler  Bedeutung.  Er  ist  denn  auch  nicht  bloss  für  die  Natur- 
teleologie  wesentlich.^)  Nach  einer  charakteristischen  Seite  mag  er  hier 
aoch  besprochen  werden.  In  der  „AJlçem.  Übersicht  der  neuesten  philo- 
eophischen  Literatur"  von  1797  findet  sich  eine  Stelle,  die  über  das  Pein- 
]k3i-Enge  der  riçoristischen  Ethik  hinaushebt,  indem  sie  sich  lediglich  auf 
den  Naturbegriff  der  Kr.  d.  Urt.  stützt:  es  heisst  da  (mit  Beziehung  auf 
moralisierende  Ansprüche),  ^dass  alles  in  uns  klein  ist,  was  nicht  die 
Natur  in  uns  tut,  aass  das  Erhabene  der  Moralität  selbst,  solange  sie  uns 
nicht  zur  Notwendigkeit  geworden  ist,  unter  menschlichen  Händen 
lieh  verkleinert".  Das  ist  ein  Blick  auf  den  kategorischen  Imperativ  von 
der  Einleitung  der  Kr.  d.  Urt.  aus.  Und  Seh.  hat  den  kategorischen  Im- 
perativ stets  in  dieser  auf  dem  Boden  der  Naturphilosophie  auch  gar  nicht 
an  vermeidenden  Weise  gesehen:  Das  Wesen  der  Natur  und  das  Wesen 
der  Seele  sind  ursprünglich  eins;  aller  Gegensatz  ist  nur  scheinbar,  die 
Liebe  ist  das  Band  aller  Wesen,  und  reme  Güte  Grund  und  Inhalt  der 
ganzen  Schöpfung:  so  formuliert  Seh.  den  Grundgedanken  seiner  natur- 
philosophischen  Ethik  1807  in  der  mit  Recht  viel  bewunderten  Fest- 
rede „Ober  das  Verhältnis  der  bildenden  Künste  zu  der  Natur^  (111,411/2). 
—  Anch  hier  ist  Seh.  ein  wenig  weiter  gegangen,  als  Kant  gutgeheissen 
bitte;  allein  eigentlich  doch  nur  deshalb,  weil  K.  an  den  letzten  einheit- 
liehen Grund  von  (verstandesmässig  begriffener)  Natur  und  Freiheit  nicht 
recht  geglaubt  hat  und  darum  allen  hierher  zielenden  Fragen  gegenüber 
iaMerst  schweigsam  geblieben  ist.  Aber  wie  hätte  er  auch  an  jenen 
yChrnnd  der  Einheit^  ernstlich  glauben  können!  Wären  doch  mit  seiner 
annähme  die  Dinge  an  sieh  dahingefallen.  Wollte  man  sich  jedoch  an 
Ueeer  Konsequenz  nicht  stossen  und  jenen  „Gmnd^  gelten  lassen,  so 
mllnte  man  auch  bejahen,  was  Seh.  in  den  angeführten  Sätzen  von  ihm 
inflHtgt.  Die  Grenzen  zwischen  Vernunfterkenntnis  und  Verstandeseinsicht 
rinâ  aorchaus  gewahrt.  Man  darf  auch  nicht  etwa  meinen,  die  innere 
ubereinstimmang  der  naturphilosophisehen  Ethik  Sch.s  mit  der  Ethik  K.s 
laese  sich  durch  Berufung  auf  dielenigen  zahlreichen  Stellen  bekämpfen, 
■n  denen  K.  betont,  dass  das  sittliche  Handeln  ein  von  der  Natur  unab- 
Idbigiffes  Handeln  sei.  Dem  Wortlaut  nach  bedeuten  solche  Stellen  frei- 
Ueh  den  striktesten  Gegensatz  zu  Seh.  Allein  man  darf  nicht  vergessen, 
daas  bei  diesem  „Natur"  heisst,  was  bei  K.  weder  Natur  noch  Freiheit  ist, 

1)  Über  die  g^eschichtsphüosophisehe  Bedeutung  des  Satzes  mag 
Bd.  Vit  S.  183  ff.  dieser  Zeitschrift  nachgelesen  werden.  Es  ist  dort  ge- 
sagt, wie  in  der  Weiterentwickelung  der  fifeschichtsphilos.  Ansätze  in 
Xanti  „Idee  zu  einer  allg.  Geschichte  in  weltbürgerl.  Absicht""  Schelling 
«md  Hegel  zusammengehören,  während  Fichte  an  ganz  andere  Gedanken 
Santa  anknüpft 


à2à  ilezensionen  (Medicus). 

sondern  der  übersinnliche  Grund  beider;  und  die  Anerkennung  dieser 
übersinnlichen  Einheit  ist  auf  dem  Boden  K.s  notwendig,  weil  sonst  die 
Möglichkeit  sittlichen  Handelns  innerhalb  des  kausal  bestimmten  Daseins 
nicht  nur  unbe^eiflich,  sondern  schlechthin  ausgeschlossen  wäre. 

Ks  hat  sich  aus  allen  diesen  Darlegungen  ergeben,  wie  nahe  die 
Naturphilosophie  Sch.s  mit  K.s  Kr.  d.  Urt.  zusammenhängt  (--  mit  dem- 
jenigen Werke  also,  dem  gerade  in  den  letzten  Jahren  von  den  Kantianem 
gesteigertes  Interesse  entgegengebracht  wird).  Und  zu  allen  diesen  ent- 
scheidend wichtigen  Beziehungen  ist  nun  noch  hinzuzusetzen,  dass  Fichte 
keine  von  ihnen  teilt.  Seh.  hat  diejenigen  Motive  der  Kantischen  Be- 
wertung der  Natur  hervorgezogen,  die  F.  oei  Seite  gelassen  hat  nnd  aas 
systematischer  Notwendigkeit  auch  bei  Seite  lassen  musste.  F.  sieht  in 
der  Natur  kein  Leben,  er  gesteht  ihr  nur  die  Kraft  zu,  zu  bleiben,  was 
sie  ist,  die  vis  inertiae.  AUes  Naturgeschehen  ist  ihm  tot.  Wohl  hatten 
ihn  Sch.s  erste  naturphilosophische  Arbeiten  veranlasst,  sich  zunächst  mit 
freundlichem  Interesse  diesen  Bestrebungen  zuzuwenden.  Aber  er  konnte 
es  nicht  glauben,  dass  die  Naturphilosophie  wirklich  lehre,  die  InteUicenz 
sei  eine  höhere  Potenz  der  Natur.  In  Aufzeichnungen,  die  aas  dem  «Hihre 
1799  zu  stammen  scheinen,  schrieb  er  über  diesen  Ssitz:  „Nur  durch  seine 
hochpoetische  Seite,  welche  Poesie  stets  eine  Ahnung  des  Intelligiblen  ist, 
zieht  er  an.  Jacob  Böhme**  (N.  W.  UI,  363).  Aber  die  Philosophie  be- 
wegt sich  nicht  in  ahnungsvollen  Allegorien  ;  darum  lehnt  sie  jenen  Sets 
als  falsch  ab.  Und  doch  darf  man  sich  nur  besinnen,  was  9ch.  anter 
„Natur""  versteht,  um  einzusehen,  dass  das,  was  der  Satz  meint,  selbst  anf 
dem  Standpunkt  der  Kr.  d.  Urt.  gar  nichts  Absonderliches,  fast  etwas 
Selbstverständliches  ist.  Aber  freilich:  die  Kr.  d.  Urt  und  die  W.-L.  sind 
zwei  weit  getrennte  Welten.  —  Allein  vielleicht  könnte  hier  doch  noch 
die  Frage  erhoben  werden,  ob  sich  nicht  bei  F.  an  Stelle  derjenigen  be- 
deutsamen Berührungen  mit  K.,  die  Seh.  hat  und  die  ihm  fehlen,  andere 
aufzeigen  lassen.    Indessen,  wenn  man  von  dem  allzu  billigen  und  nur  bei 

fanz  vager  Formulierung  halbwe^  zutreffenden  Hinweis  auf  die  fttr  das 
ystem  verhältnismässig  grössere  Bedeutung  des  Praktischen  absieht  (denn 
bei  genauerem  Zusehen  entdeckt  man,  dass  sich  hier  F.  von  K.  fast  ebtm- 
sosehr  wie  von  Seh.  scheidet):  so  ist  nur  das  eine  zu  sagen,  was  unmittel- 
bar mit  der  Ablehnung  der  lebendigen  Natur  zusammen^hört  :  Ffir  Fjê 
Naturbegriff  ist  die  transscenden tale  Analytik  der  Kr.  d.r.  V.  entscheidend, 
und  infolge  davon  erhält  er  denselben  Begriff  der  Naturwissenschaft  wie 
Kant.  Die  grossen  Naturforscher  „gingen  allemal  von  Phänomenen  sqSi 
nur  suchend  das  Einheitsgesetz,  in  welchem  diese  befasst  werden  konnten, 
und  gingen,  sowie  sie  ihren  Gedanken  empfangen  hatten,  zu  den  Phäno- 
menen zurück,  um  an  ihnen  den  Gedanken  zu  prüfen;  —  ohne  Zweifel  in 
der  festen  Überzeugung,  dass  er  erst  von  der  ESrklärbarkeit  jener  aas  ihm 
seine  Bestätigung  erwarte""  (Fs  sämtl.  W.  VII,  117).  Hier  steht  V.  aller- 
dings gegen  Seh.  an  der  Seite  K.s;  allein  diese  Übereinstimmnng  kann 
schon  darum  nicht  allzuschwer  ins  Gewicht  fallen,  wenn  es  sich  am  die 
Frage  der  Verwandtschaft  zwischen  W.-L.  und  Kantischer  Phüoecmhie 
handelt,  weil  dieser  Naturbegriff  ^r  nicht  spezifisch  Kantisch  ist,  sondern 
seit  Leonardo  da  Vinci  und  Galilei  immer  wieder  von  Natorforsäiem  und 
Philosophen  in  diesem  Sinne  formuliert  worden  ist.  —  Es  ist  anbestreitbar: 
wenn  man  die  Zusammenhänge  zwischen  K.  und  Seh.  auf  der  einen,  vnd 
zwischen  K.  und  F.  auf  der  anderen  Seite  zählt,  so  zeigt  sich  Seh.  dnreh 
viel  zahlreichere  Bande  mit  dem  Altmeister  verbunden,  and  wenn  man 
die  Zusammenhänge  in  ihrer  historischen  und  sjrstematischen  Bedeotong 
wertet,  so  verschiebt  sich  das  Bild  noch  mehr  zugunsten  Schji.  Und  hier 
ist  nun  auch  sofort  die  gerade  bemerkte  Beziehung  zwischen  K.  and  F^ 
die  bei  Seh.  fehlt,  in  ihrem  Wert  noch  weiter  herabzosetseoi.  Nimliek, 
wenn  auch  Seh.  gelegentlich  heftige  Ausfälle  gegen  die  grossen  Vertreter 
der  mathematisch-mechaiiischen  Naturwissenscä^  ^namentlidi  gegen  De^ 
cartes  und  Newton)  richtet,  so  verkennt  er  doch  aurchaas  nicht,  dass  die 


ftezensionen  (Medicus).  32â 

Natarfonchanff  auch  einer  experimentell  verfahrenden  Arbeitsweise  be- 
darf, die  die  r^aturerscheinunffen  nach  blossen  Yerstandeskategorien  auf- 
fasst  („Vorlesungen  über  die  Methode  d.  akad.  Studiums^,  W.  II,  662  f.); 
nur  betont  er,  dass  die  so  entstehende  exoterische  Theorie  der  Natur- 
erscheinung:en  niemals  eine  Erklärung  der  Natur  sei,  und  diesem  An- 
spruch allein  filt  sein  Kampf  gegen  die  mechanische  Naturauffassuiig. 
_Es  ist  wahr,  dass  man  durch  Anwendung  der  Mathematik  die  Abstände 
der  Planeten,  die  Zeit  ihrer  Umläufe  und  Wiedererscheinungen  mit  Ge- 
nauigkeit vorherbestimmen  gelernt  hat,  aber  über  das  Wesen  oder  An-sich 
dieser  Bewegungen  ist  dadurch  nicht  der  mindeste  Aufschluss  gegeben 
worden.  Die  sog.  mathematische  Naturlehre  ist  also  bis  ietzt  leerer  For- 
malismus, in  welchem  von  einer  wahren  Wissenschaft  der  Natur  nichts 
anzutreffen  ist**  (II,  651/2).  Unter  der  Voraussetzung,  dass  man  sich  ernst- 
lich SU  einem  lebendigen  gemeinsamen  Grunde  der  Naturerscheinungen 
nnd  der  Freiheit  bekennt,  ist  diese  Stellung  Sch.s  die  einzig  mögliche; 
Kant  war  hier  weniger  konsequent  ;  sein  Satz  aus  der  Kr.  d.  r.  V.  (ß.  334), 
Beobachtung  und  Zergliederung  der  Erscheinungen  dringe  ins  Innre  der 
Natur,  stimmt  nicht  zur  Kr.  d.  Urt.  Nur  Fichte,  dem  die  Naturerschein- 
ungen als  metaphysisch  wesenlos  galten,  durfte  der  experimentellen  Theorie 
dieser  Erscheinungen  den  Namen  „Naturerklärung""  zuerkennen.  —  Indem 
aber  fOr  F.  die  Naturerscheinungen  wesenlos  sind,  muss  ihm  das  Grund- 
problem der  Kr.  d.  Urt.  wegfallen:  wenn  die  Natur  keine  metaphysische 
Wirklichkeit  hat,  wenn  das  Nicht-Ich  in  der  W.-L.  von  vorne  herein  dem 
endlichen  Ich  entgegengesetzt  „eine  negative  Grösse^^  ((ir^nz  im  Sinne  der 
Kmntischen  Abhandlung  von  1768),  dem  absoluten  Ich  entgegengesetzt 
aber  „schlechthin  nichts""  ist  (S.  W.  I,  110),  so  ist  jenes  Grundproblem 
einer  Kluft  zwischen  Naturbegriff  und  Freiheitsbegriff  gegenstandslos. 
Schon  im  Sommer  1793  schreibt  F.,  die  neueren  Streitigkeiten  über  die 
fVeiheit  kämen  ihm  „sehr  komisch"*  vor  (Leben  und  Briefwechsel  »  II,  612). 
Allerdings  hatte  auch  auf  ihn  die  Kr.  d.  IJrt.,  namentlich  zur  Zeit  seiner 
ersten  Mschäftigung  mit  K.,  grossen  Eindruck  gemacht;  dass  aber  die 
positiven  Ânrerungen,  die  er  aus  dem  Buche  zog,  das  ihm  übrigens  damals 
„ziemlich  dunkel"*  erschien  (Leben  und  Briefwechsel  I,  111),  anderer  Art 
gewesen  sein  müssen  als  diejenigen,  die  Seh.  ebendaher  nahm,  geht  be- 
reits aus  dem  Gesagten  hervor  (vgl.  Leben  und  Briefwechsel  I,  lw/6). 

Die  vorstehenden  Ausführungen  haben  zeigen  sollen,  wie  Seh.  von 
Anfenff  an  seine  Naturphilosophie  in  nahem  Zusammenhang  mit  Kantischen 
GMauen  entwickelt,  und  zwar  gerade  mit  solchen  Gedanken  K.s,  über 
die  F.  hinausgegangen  war.  Auch  darauf  darf  hier  schliesslich  noch  hin- 
gewiesen werden,  dass  in  den  auf  Einheit  des  Systems  gerichteten  Be- 
atarebangen  bei  Seh.  sehr  bald  —  in  grossem  Unterschied  von  F.  —  die 
Knnit  an  die  entscheidende  Stelle  tritt  ;  auch  hier  hat  die  Kr.  d.  Urt.  den 
Weg  gebahnt,  sowohl  durch  ihre  äussere  Stellung  im  kritisclien  System, 
wie  namentlich  durch  ihre  Lehre  über  das  G^nie.  Die  Hegeische  Kon- 
struktion der  Reihenfolge  Kant — Fichte— Schelling  hat  nach  alledem  als 
eriedigt  zu  gelten.  Wir  haben  gewiss  noch  vieles  auch  von  Hegel  zu 
lernen;  aber  in  seinen  Versuchen,  die  empirischen  Zusammenhänge  des 
historischen  Daseins  als  vernünftig-wirklich  nachzuweisen,  stelllr  er  nur 
sa  oft  paue  Schemata  dahin,  wo  die  echte  Forschung  frisches  Leben 
fiadet.  Denn  diese  hat  Ehrfurcht  vor  der  Geschichte  und  wagt  es  nicht, 
sie  nach  vorgefassten  Begriffen  zu  konstruieren:  sondern  sehnsuchtsvoll 
and  keusch  giebt  sie  sich  an  das  unabhängige  Leben  der  historischen 
Gestalten  hin,  um  von  ihnen  zu  empfangen,  was  an  freier,  unableitbarer 
(Mfteswirklichkeit  in  ihnen  erschienen  war.  Die  Depotenzierung  F.s  zu 
einem  abstrakt-formalistischen  Vermittler  zwischen  K.  und  Seh.  kann  als 
Qraisclies  Beispiel  für  jenes  Verschablonisieren  des  geschichtlichen  Lebens 
gelten.  Der  historische  F.  war  ein  anderer,  als  der  von  Hegel  also  be- 
Dtflsste,  in  der  dialektischen  Retorte  fabrizierte  Homunkulus,  und  mithin 
ist  auch  die  Stellung  Seh  j  in  der  Geschichte  der  Philosophie  eine  andere 


324  Rezensionen  (Medicus). 

als  die  ihm  von  Hegel  zugewiesene  und  bis  heute  allgemein  angenommene. 
Um  klar  zu  stellen,  was  Seh.  für  die  Kantische  Philosophie  bâeutet,  war 
es  nötig,  die  von  Hegel  stammende  Auffassung  zurückzuweisen.  Diese 
Absicht  aber  hat  ihrerseits  dies  nötig  gemacht,  zur  Beweiaführnng  ledig- 
lich Schriften  aus  Sch.s  früher  Zeit  heranzuziehen;  auf  spätere  durfte  nur 
da  hinfi^edeutet  werden,  wo  in  ihnen  die  Fortsetzung  emes  schon  früher 
vorhandenen  Gedankenganges  erkennbar  war.  Es  musste  gezei^  werden, 
dass  Seh.  nie  Fichtianer  gewesen  ist,  dass  er,  ohne  je  vom  eigentlichen 
Geiste  der  W.-L.  ergriffen  gewesen  zu  sein,  seine  Naturphilosophie  aufge- 
baut hat,  indem  er  çanz  unfichtische  Motive  aus  der  Kr.  d.  Urt.  ausbildete. 
Rs  mag  nun  noch  mit  wenigem  darauf  hingewiesen  werden,  dass  er  much 
später,  als  die  Probleme  der  Religionsphilosophie  in  den  Vordergrund 
seines  Interesses  getreten  sind,  näher  als  F.  bei  K.  stehen  bleibt. 

Für  die  sehr  erheblichen  ^Philosophischen  Untersuchungen  über  das 
Wesen  der  menschlichen  Freiheit  und  die  damit  zusammenhänji^nden 
Gegenstände*^  (1809)  ist  K.s  Lehre  von  der  intellieiblen  Tat  eine  der 
entscheidendsten  Stützen.  K.  hatte  die  ausnahmslose  natumotwendige 
Bedingtheit  alles  menschlichen  Handelns  behauptet,  trotzdem  aber  erklärt, 
der  Mensch  könne  von  einer  jeden  gesetzwidrigen  Handlung,  die  er  be- 
geht, mit  Recht  sagen,  dass  er  sie  Mtte  unterlassen  können  :  ^denn  sie, 
mit  allem  Vergangenen,  das  sie  bestimmt,  gehört  zu  einem  einzigen  Phä- 
nomen seines  Charakters,  den  er  sich  selbst  verschafft"  (Kr.  d.  prakt.  Y., 
Kehrbach  118).  In  derselben  Weise  spricht  auch  Seh.  von  der  ^unleug- 
baren  Notwendigkeit  aller  Handlungen"^,  die  dennoch  der  Freiheit  des 
Willens  nicht  widerspreche,  weil  der  Mensch  selbst  den  sittlichen  Charakter 
seines  Zeitlebens  bestimme  durch  eine  Tat,  die  nicht  der  Zeit,  sondern 
der  Ewigkeit  angehört:  „sie  geht  dem  Leben  nicht  der  Zeit  nach  yoruiy 
sondern  durch  die  Zeit  hindurch  als  eine  der  Natur  nach  ewige  Tat**. 
„Dass  Judas  ein  Verräter  Christi  wurde,  konnte  weder  er  selbä;^  noch 
eine  Kreatur  ändeni,  und  dennoch  verriet  er  Christum  nicht  gezwuuMn, 
sondern  willig  und  mit  völliger  Freiheit"  (III,  481  f.).  Dieser  letzte  Satz 
Sch.s  entspricht  genau  dem  berühmten  Satze  K.8,  man  könne  „einräuntoi, 
dass,  wenn  es  für  uns  möglich  wäre,  in  eines  Menschen  Denkungsart,  so 
wie  sie  sich  durch  innere  sowohl  als  äussere  Handlungen  zeigt,  so  tiefe 
Einsicht  zu  haben,  dass  jede,  auch  die  mindeste  Triebfeder  dazu  uns  be- 
kannt würde,  imgleichen  alle  auf  diese  wirkenden  äusseren  Veranlassungen, 
man  eines  Menschen  Verhalten  auf  die  Zukunft  mit  Ghswissheit,  so  wie 
eine  Mond-  oder  Sonnenfinsternis,  ausrechnen  könnte,  und  dennoch  dabei 
behaupten,  dass  der  Mensch  frei  sei^  (Kr.  d.  prakt.  V.  120).  —  Auch  hier 
führt  der  Weg  von  K.  zu  Seh.  nicht  durch  Fichte  hindurch,  sondern  an 
ihm  vorbei.  Es  ist  unverkennbar,  dass  die  Lehre  vom  intelligiblen  Cha- 
rakter als  einer  einmaligen,  das  Erscheinungsdasein  schlechthin  bestimiiien- 
den  Tat  nur  in  einer  naturphilosophischen  Ethik  möglich  ist:  sie  nimmt 
den  Charakter  als  etwas  seinem  Wesen  nach  Festes,  fertiges  und  schliestt 
so  die  sittliche  Freiheit  aus.  Das  ganze  Zeitleben  muss  als  eine  flber- 
flüssige  und  sinnlose  Veranstaltung  erscheinen,  wenn  eine  zeitlose  Tat 
entscheidet,  wie  es  abzulaufen  gezwungen  ist.  Aller  Wert  ist  in  die  seü- 
lose  Tat  verlegt,  und  man  sieht  nicht,  weshalb  man  das  Zeitdasein  ttber- 
haupt  ernst  nehmen  sollte.  F.  aber  betont,  dass  das  PfUchtbewusstMta 
unbedingt  gebietet,  die  Situationen  des  Zeitdaseins  ernst  zu  nehmen:  die 
Sinnenwelt  wird  ihm  „die  fortwährende  Deutung  des  Pfüchtgebots,  der 
lebendige  Ausdruck  dessen,  was  du  sollst^  (F.s  sämtl.  W.  V,  185).  Audi 
F.  setzt  darin  einen  Kantischen  Gedanken  fort:  denn  neben  der  erwihaten 
Lehre  K.s  steht  unvereinbar  mit  ihr  (bes.  in  der  .Grundlegung  z.  Meta]ilL 
d.  Sitten")  eine  zweite  Theorie  des  intelligiblen  Charakters,  wonach  dieser 
keineswegs  „dem  empirischen  Charakter  gemäss**  zu  denken  ist  (ygL  Kr. 
d.  r.  V.  B.  568),  sondern  vielmehr  das  von  keinen  Schlacken  getrttbte  reiae 
Ich  bedeutet:  „Als  blossen  Gliedes  der  Verstandeswelt  würden  alle  melBe 
Handlungen   dem  Prinzip  der  Autonomie  des  reinen  Willens  voUkcmmMB 


Rezensionen  (Medicns).  326 

iftn  sein**  (S.  W.,  2.  Hartensteinsche  Âosg.  IV,  301).  Den  in  dienen 
orten  angezeigten  Weg  ist  F.  gegangen;  er  führt  weit  von  Seh.  ab;  er 
fuhrt  insb^ndere  auch  nicht  znr  Lehre  von  einem  positiv  Bösen,  wo- 
rin wieder  K.  and  Seh.  ttbereinkommen  :  denn  auch  diese  Lehre  ist  nicht 
ohne  einen  naturphüosopbischen  Hintergrund  möglich,  den  namentlich  Seh. 
(in  der  genannten  Abhandlung  von  1809)  ganz  ausgezeichnet  hervorgekehrt 
bat,  der  aber  auch  bei  K.  deutlich  genug  erkennbar  ist.  In  der  „Religion 
ixmerh.  d.  Gr.  d.  bl.  V."  (Kehrbach  69)  wird  das  Böse  auf  einen  „inneren 
ersten  Grund  der  Maximen,  die  mit  den  Neigungen  im  Einverständnisse 
sind*',  zurückgeführt:  dieser  Grund  bestimmt  die  freie  Willkür,  bei  der 
intelligiblen  Tat  die  Befriedigung  der  Neigungen  zur  Bedingung  der  Be- 
folgung des  moralischen  Gesetzes  zu  machen.  Und  so  gewiss  der  „innere 
erste  Ôrund  der  Maximen**  eine  positive  Grösse  ist,  so  gewiss  ist  auch  das 
Böse  nicht  lediglich  Abwesenheit  des  Guten,  sondern  etwas  Positives. 
ScIls  Lehre  vom  Bösen  ist  zwar  unmittelbar  mehr  von  Jacob  Böhme  als 
von  K.  beeinflusst;  aber  eine  naturphilosophische  Denkweise  war  allen 
8  Denkern  eigen,  und  K.  war  immerhin  ein  prinzipiell  wichtiges  Vorbild 
ffir  die  Verknüpfung  der  Spekulationen  über  das  positive  Böse  mit  der 
neuen  Philosoplue.  Seh.  ist  im  Anschluss  an  Böhme  weit  über  K.  hinaus- 
gegangen: Woher  jener  innerste  erste  Grund  der  Maximen?  was  ist  er? 
Seh.  rahrt  ihn  zurück  auf  den  dunklen  Urgrund  in  Gott  selber,  auf  das- 
jenige in  Gott,  was  in  ihm  nicht  er  selbst  [nicht  die  lichte  Klarheit  des 
selbitbewussten  Geistes]  ist,  auf  die  Natur  in  Gott.  Alles  was  geworden 
ist,  hat  den  Grund  semer  Existenz  in  Gott,  Gott  allein  hat  den  Grund 
seiner  Existenz  in  sich:  dieser  Grund  ist  seine  Natur,  die  unergreifliche 
Basis  aller  Bealitftt,  „das  was  sich  mit  der  grössten  Anstrengung  nicht  in 
Verstand  auflösen  l&sst,  sondern  ewig  im  Grunde  bleibt**.  Aus  diesem 
„Dnnkel**,  dieser  „Sehnsucht,  die  das  ewige  Eine  empfindet,  sich  selbst  zu 

S  baren**,  stammt  der  Eigenwille  der  Kreatur,  stammt  das  positive  Böse 
I,  458  ff.).  Gewiss,  diese  Sätze  sind  nicht  mehr  Kantisch,  aber  sie 
lieffen  doch  in  einer  Richtung,  in  die  man  von  der  Kantischen  Natur- 
phuosophie  aus  kommen  kann.  Dagegen  ist  in  einer  Philosophie  des  ab- 
aolnten  Ich  ffir  eine  Verabsolutierung  des  Bösen  keinerlei  Anknüpfungs- 
mögiichkeit:  für  Fichte  kann  die  intelli^ble  Welt  nur  eine  Welt  lichter 

Stmflnftiger)  ^Freiheit  sein,  nicht  aber  eine  Welt  dunkler  ^vemnnftlosor) 
rgrflnde.  —  Ähnlich  wie  beim  Problem  des  Bösen  liegen  die  historischen 
Ymuifipfnngen  bei  der  Frage  nach  dem  Gottesgedanken.  K.  hat  ihn 
theisüsch,  persönlich  ffefasst,  und  Seh.  ist  ihm  von  1809  ab  hierin  gefolgt. 
Und  wieder  ist  Seh.  deijenige,  der  deutlich  zeigt,  wie  von  einer  Persön- 
lichkeit Gottes  nur  darum  gesprochen  werden  kann,  weil  in  Gott  eine 
Natnr,  eine  von  seiner  Existenz  unabhängige  Basis  ist  QU,  490  f.). 
DiesOT  Gedanke  war  bei  K.  nicht  entwickelt,  aber  unerkannt  trägt  er 
doch  auch  dessen  (allerdings  stets  etwas  skeptische)  Aussagen  über  Gott 
and  insbesondere  auch  seine  zweifellose  Abneigung  g[egen  den  Pantheis- 
mus: wenn  K.  Gott  denken  soll,  so  kann  er  ihn  sich  nicht  anders  denken, 
denn  als  ein  besonderes  Ding  an  sich  —  und  dieses  Ding  an  sich  hat 
selbstverständlich  seine  eigentümliche  Natur.  Dass  damit  etwas  von  der 
göttlichen  Klarheit  Unabhängiges  gesetzt  ist,  hat  K.  kaum  je  bedacht;  es 
möchte  ihn  vor  dem  Gedanken  geschaudert  haben.  Er  hat  es  hier  wie  so 
oft  Seh.  überlassen,  die  Konsequenzen  aus  seiner  halb  formulierten  Meta- 
physik zn  ziehen.  F.  aber  hält  sich  auch  in  dieser  Frage  von  der  Natur- 
nhilosophie  fem.  Er  setzt  in  Gott  allen  Persönlichkeitsgehalt,  aber  nicht 
oie  Persönlichkeitsform:  der  Persönlichkeitsgehalt  allein  ist  es,  wodurch 
wir  im  höchsten  Sinne  Ich,  wodurch  wir  frei  sind.  Alle  Form  beschränkt, 
trannt  Olijekt  von  Objekt,  Negatives  von  Negativem.  „Das  Absolute  wäre 
nidlit  das  Absolute,  wenn  es  unter  irgend  einer  Form  existierte**  (Leben 
md  Briefwechsel  «  ü,  367}. 

Spftter,  in  derPerioae  der -positiven  Philosophie^  hatSchelling 
Fkohleme  bevorzugt,  die  sich   treüich  kaum  mehr  mit  Kant  berühren. 

xm.  22 


à22  Rezensionen  (Medicus). 

sondern  der  übersinnliche  Grund  beider;  und  die  Anerkemra 
übersinnliclien  Einheit  ist  auf  dem  Boden  K.s  notwendig,  weil 
Möglichkeit  sittlichen  Handelns  innerhalb  des  kausal  bestmuntt 
nicht  nur  unbegreiflich,  sondern  schlechthin  ausgeschlossen  wftn 
Es  hat  sich  aus  allen  diesen  Darlegungen  ergeben,  wie 
Naturphilosophie  Sch.s  mit  K.s  Kr.  d.  Urt.  zusammenhängt  (- 
jenigen  Werke  also,  dem  gerade  in  den  letzten  Jahren  von  denl 
gesteigertes  Interesse  entgegengebracht  wird).  Und  zu  allen  i 
scheidend  wichtigen  Beziehungen  ist  nun  noch  hinzuzusetzen,  dl 
keine  von  ihnen  teilt.  Seh.  hat  diejenigen  Motive  der  Kant 
Wertung  der  Natur  hervorgezogen,  die  F.  bei  Seite  gelassen  h 
systematischer  Notwendigkeit  auch  bei  Seite  lassen  musste. 
der  Natur  kein  Leben,  er  gesteht  ihr  nur  die  Kraft  zu,  zu  bl< 
sie  ist,  die  vis  inertiae.  AUes  Naturgeschehen  ist  ihm  tot  Vi 
ihn  Sch.s  erste  naturphilosophische  Anleiten  veranlasst,  sich  zu 
freundlichem  Interesse  diesen  Bestrebungen  zuzuwenden.  Aber 
es  nicht  glauben,  dass  die  Naturphilosophie  wirklich  lehre,  die 
sei  eine  höhere  Potenz  der  Natur.  In  Aufzeichnungen,  die  ans 
1799  zu  stammen  scheinen,  schrieb  er  über  diesen  Satz:  „Nur  < 
hochpoetische  Seite,  welche  Poesie  stets  eine  Ahnung  des  Intel 
zieht  er  an.  Jacob  Böhme"  (N.  W.  UI,  363).  Aber  die  Phil 
wegt  sich  nicht  in  ahnungsvollen  Allegorien  ;  darum  lehnt  sie 
als  falsch  ab.  Und  doch  darf  man  sich  nur  besinnen,  was 
„Natur"  versteht,  um  einzusehen,  dass  das,  was  der  Satz  meini 
dem  Standpunkt  der  Kr.  d.  Urt.  gar  nichts  Absonderliches, 
Selbstverständliches  ist.  Aber  freilich:  die  Kr.  d.  Urt.  und  die 
zwei  weit  getrennte  Welten.  —  Allein  vielleicht  könnte  hiei 
die  Frage  erhoben  werden,  ob  sich  nicht  bei  F.  an  Stelle  dei 
deutsamen  Berührungen  mit  K.,  die  Seh.  hat  und  die  ihm  feh 
aufzeigen  lassen.    Indessen,  wenn  man  von  dem.  allzu  billigen  i 

fanz  vager  Formulierung  halbwe^  zutreffenden  Hinweis  auf 
ystem  verhältnismässig  grössere  Bedeutung  des  Praktischen  al 
bei  genauerem  Zusehen  entdeckt  man,  dass  sich  hier  F.  von  K 
sosehr  wie  von  Seh.  scheidet)  :  so  ist  nur  das  eine  zu  sagen,  wi 
bar  mit  der  Ablehnung  der  lebendigen  Natur  zusammengehe 
Naturbegriff  ist  die  transscendentale  Analytik  der  Kr.  d.  r.  V.  ei 
und  infolge  davon  erhält  er  denselben  Begriff  der  Natnrwisse 
Kant.  Die  grossen  Naturforscher  „gingen  allemal  von  PhSDi 
nur  suchend  das  Einheitsgesetz,  in  welchem  diese  befasst  werdi 
und  gingen,  sowie  sie  ihren  Gedanken  empfangen  hatten,  zu 
menen  zurück,  um  an  ihnen  den  Gedanken  zu  prüfen;  —  ofaoM 
der  festen  Überzeugung,  dass  er  erst  von  der  Erklärbarkeit  jei 
seine  Bestätigung  erwarte"  (F.s  sämtl.  W.  VII,  117).  ffier  stfl 
dings  gegen  Sen.  an  der  Seite  K.s;  allein  diese  Obereinstin 
schon  aarum  nicht  allzuschwer  ins  Gewicht  fallen,  wenn  ei  i 
Frage  der  Verwandtschaft  zwischen  W.-L.  und  Kantiscliar  '. 
handelt,  weil  dieser  Naturbegriff  gar  nicht  spezifisch  Kantisdi  i 
seit  Leonardo  da  Vinci  und  Galilei  immer  wieder  von  Natmioi 
Philosophen  in  diesem  Sinne  formuliert  worden  ist.  —  Es  ist  vbI 
wenn  man  die  Zusammenhänge  zwischen  K.  und  Seh.  auf  der« 
zwischen  K.  und  F.  auf  der  anderen  Seite  zählt,  so  zeigt  tkk 
viel  zahlreichere  Bande  mit  dem  Altmeister  verbunden,  wâ 
die  Zusammenhänge  in  ihrer  historischen  und  systematisclMli 
wertet,  so  verschiebt  sich  das  Bild  noch  mehr  zugunsten  Sdut 
ist  nun  auch  sofort  die  gerade  bemerkte  Beziehung  z^  "  "  ^ 
die  bei  Seh.  fehlt,  in  ihrem  Wert  noch  weiter  herabz^ 
wenn  auch  Seh.  gelegentlich  heftige  Ausfälle  gegen  die  „ 
der  mathematisch-mechanischen  Naturwissenschaft  (namentL 
cartes  und  Newton)  richtet,  so  verkennt  er  doch  aurchaufi 


Ëezensionen  (Medicus).  32â 

rforschanff  auch  einer  experimentell  verfahrenden  Arbeitsweise  be- 
die  die  r^aturerscheinunffen  nach  blossen  Verstandeskategorien  auf- 
<„ Vorlesungen  über  die  Methode  d.  akad.  Studiums^,  W.  II,  652  f.)  ; 
betont  er,  dass  die  so  entstehende  exoterische  Theorie  der  Natur- 
einungen  niemals  eine  Erklärung  der  Natur  sei,  und  diesem  An- 
h  allein  gilt  sein  Kampf  gegen  die  mechanische  Naturauffassung. 
Bt  wahr,  dass  man  durch  Anwendung  der  Mathematik  die  Abstände 
laneten,  die  Zeit  ihrer  Umläufe  und  Wiedererscheinungen  mit  Ge- 
keit  vorherbestimmen  gelernt  hat,  aber  über  das  Wesen  oder  An-sich 
r  Bewegungen  ist  dadurch  nicht  der  mindeste  Aufschluss  gegeben 
sn.  Die  sog.  mathematische  Naturlehre  ist  also  bis  jetzt  leerer  For- 
aius,  in  welchem  von  einer  wahren  Wissenschaft  der  Natur  nichts 
reffen  ist"  (II,  651/2).  Unter  der  Voraussetzung,  dass  man  sich  ernst- 
EU  einem  lebendigen  gemeinsamen  Grunde  der  Naturerscheinungen 
der  Freiheit  bekennt,  ist  diese  Stellung  Sch.s  die  einzig  mögliche; 
war  hier  weniger  konsequent  ;  sein  Satz  aus  der  Kr.  d.  r.  V.  (ß.  334), 
ichtung  und  Zergliederung  der  Erscheinungen  dringe  ins  Innre  der 
',  stimmt  nicht  zur  Kr.  d.  Urt.  Nur  Ficht«,  dem  die  Naturerschein- 
I  als  metaphysisch  wesenlos  galten,  durfte  der  experimentellen  Theorie 
'  Erscheinungpen  den  Namen  „Naturerklärung"  zuerkennen.  —  Indem 
für  F.  die  Naturerscheinungen  wesenlos  sind,  muss  ihm  das  Grund- 
3m  der  Kr.  d.  Urt.  wegfallen:  wenn  die  Natur  keine  metaphysische 
lichkeit  hat,  wenn  das  Nicht-Ich  in  der  W.-L.  von  vorne  herein  dem 
ihen  Ich  entgegengesetzt  „eine  negative  Grösse^'  if!^^^  iin  Sinne  der 
sehen  Abhandlung  von  1768),  dem  absoluten  Ich  entgegengesetzt 
^^schlechthin  nichts"  ist  (S.  W.  I,  110),  so  ist  jenes  Grundproblem 
Kluft  zwischen  Naturbegriff  und  Freiheitsbegriff  gegenstandslos, 
i  im  Sommer  1793  schreibt  F.,  die  neueren  Streitigkeiten  über  die 
sit  kämen  ihm  „sehr  komisch"  vor  (Leben  und  Briemechsel  *  II,  512). 
lings  hatte  auch  auf  ihn  die  Kr.  d.  Urt.,  namentlich  zur  Zeit  seiner 
i  Beschäftigung  mit  K.,  grossen  Eindruck  gemacht;  dass  aber  die 
ren  Anregungen,  die  er  aus  dem  Buche  zog,  das  ihm  übrigens  damals 
üch  dunkel"  erschien  (Leben  und  Briefwechsel  I,  111),  anderer  Art 
len  sein  müssen  als  diejenigen,  die  Seh.  ebendaher  nahm,  geht  be- 
sas  dem  Gesagten  hervor  (vgl.  Leben  und  Briefwechsel  I,  1&/6). 
Die  vorstehenden  Ausführungen  haben  zeigen  sollen,  wie  Seh.  von 
ig  an  seine  Naturphilosophie  in  nahem  Zusammenhang  mit  Kantischen 
ULen  entwickelt,  und  zwar  gerade  mit  solchen  Gedanken  K.s,  über 
,  hinausgegangen  war.  Auch  darauf  darf  hier  schliesslich  noch  hin- 
•en  werden,  dass  in  den  auf  Einheit  des  Systems  gerichteten  Be- 
lügen bei  Seh.  sehr  bald  —  in  grossem  Unterschied  von  F.  —  die 
»  an  die  entscheidende  Stelle  tritt  ;  auch  hier  hat  die  Kr.  d.  Urt.  den 
gebahnt,  sowohl  durch  ihre  äussere  Stellung  im  kritischen  System, 
riAmentlich  durch  ihre  Lehre  über  das  Genie.  Die  Hegeische  Kon- 
Ltion  der  Reihenfolge  Kant — Fichte— Schelling  hat  nach  alledem  als 
gt  zu  gelten.  Wir  haben  gewiss  noch  vieles  auch  von  Hegel  zu 
i;  aber  in  seinen  Versuchen,  die  empirischen  Zusammenhänge  des 
isehen  Daseins  als  vernünftig-wirklich  nachzuweisen,  stelltr  er  nur 
Ü  paue  Schemata  dahin,  wo  die  echte  Forschung  frisches  Leben 
^  Denn  diese  hat  Ehrfurcht  vor  der  Geschichte  und  wagt  es  nicht, 
■eh  vorgefassten  Begriffen  zu  konstruieren:  sondern  sehnsuchtsvoll 
keosch  giebt  sie  sich  an  das  unabhängige  Leben  der  historischen 
ben  hin,  um  von  ihnen  zu  empfangen,  was  an  freier,  unableitbarer 
ÜWirklichkeit  in  ihnen  erschienen  war.  Die  Depotenzierung  F.s  zu 
abstrakt-formalistischen  Vermittler  zwischen  K.  und  Seh.  kann  als 
«ta  Beispiel  für  jenes  Verschablonisieren  des  geschichtlichen  Lebens 
Der  historische  F.  war  ein  anderer,  als  der  von  Hegel  also  be- 
j»  in  der  dialektischen  Retorte  fabrizierte  Homunkulus,  und  mithin 
K  die  Stellimg  Schj  in  der  Geschichte  der  Philosophie  eine  andere 


S28  Rezensionen  (Hansen). 


den  Worten  :  „Der  Grieche  stand  am  Ufer  des  Meeres**  :  es  wire  am  Sude 
nicht  nötig  ^wesen,  s^nz  so  weit  auszuholen.  Doch  diese  Anastelltuigen 
betreffen,  wie  man  sient,  Kleinigkeiten,  die  nicht  imstande  sind,  die  Frrade 
über  die  schöne  Publikation  zu  Deeinträchtigen. 

Halle  a.  S.  Fritz  Medicos. 

Hansen,  Adolph,  Dr.,  Prof.  der  Botanik  an  der  Uniyersität  (Menen. 
Goethes  Metamorphose  der  Pflanzen.  Geschichte  einer  botaniaclien 
Hypothese.  XII  und  880  S.  Mit  9  Tafeln  von  Goethe  und  19  Tafeln  vom 
Verfasser.    Giessen  1907. 

Es  ist  eine  Freude,  dieses  vortreffliche  Werk  anzuzeigen,  das  mit 
der  grössten  Sachkenntnis  die  wärmste  Liebe  zu  seinem  Gegenstände  yer- 
bindet  Dem  Gedankenkreise  der  „Kantstudien^  liegt  sein  Thema  keines- 
wegs so  fem,  wie  es  manchem  vielleicht  im  ersten  Augenblicke  scheinen 
möchte  —  ist  doch  Gk>ethes  Verhältnis  zu  Kant  mindestens  zum  Teil 
durch  die  Grundbegriffe  der  Morphologie  vermittelt. 

Nach  einer  orientierenden  Übersicht  über  den  gegenwärtigen  Stand 
der  Lehre  von  der  Metamorphose  der  Pflanzen  wird  Goethes  Theorie  aoa- 
fOhrlich  dargele^,  dann  werden  die  Schicksale  dieser  Hvpothese  verfolgt 
—  Unverständnis  auf  Seiten  der  Linnéschen  Schule,  Zustimmung,  aber 
vielfach  Verschlechterung  durch  die  naturphilosophisch  gerichteten  Bota- 
niker. Das  ungerechte  Urteil  der  neueren  Botaniken  bes.  auch  von  Sachs, 
über  Goethe  beruht  darauf,  dass  seine  originelle  Lehre  mit  diesen  Um- 
bildungen verwechselt  wurde.  Nach  Hansens  Überzeu^pn^  gjsht  die 
Gegenwart,  ohne  es  zu  wissen,  auf  Goethe  zurück.  Sehr  wichüff  ist  dann 
die  genaue  Untersuchung  der  Vorarbeiten,  auf  die  Goethe  sich  stfttien 
konnte.  Die  tiefdringende  kritische  Analyse  von  Linnés  Ansichten  und 
die  eingehende  Darstellung  von  Caspar  Friedrich  Wolf&  bahnbrechenden 
Untersuchungen  beweisen  Goethes  Originalität.  Es  folfft  eine  historiadie 
Darstellung  von  Goethes  botanischen  Studien  —  die  treÎQiche  Wiedergabe 
der  Tafeln,  die  Goethe  zeichnen  liess,  giebt  uns  ein  unschätzbares  Doku- 
ment dazu.  Die  letzten  Abschnitte  sind  mehr  polemischer  Natur,  lie 
wenden  sich  gegen  Goethes  Verkleinerer:  L.  Celakovsky  und  seine  nor- 
dischen Gefolgsmänner  Wille  und  Warming,  die  Goethe  zum  Plagiator 
Linnés  machen  wollen,  sowie  gegen  die  unkritische  Verwechselung  der 
Metamorphosenlehre  mit  der  Descendenztheorie. 

Das  Wesentliche  an  Goethes  Metamorphosenbegriff  ist  die  Einsicht, 
dass  Cotyledonen,  Blätter,  Knospenschuppen  und  die  verschiedenen  Teile 
der  Blüte  sich  aus  gleichen  Anlagen  entwickeln  (homolog  sind),  und  dass 
ihre  verschiedene  G^taltung  durch  Funktionswechsel  zu  deuten  ist.  (Goethe 
hat  sich  auch  bemüht,  in  seiner  Lehre  von  der  „Verfeineruujg^  der  fiÛle* 
eine  chemische  Hypothese  zur  kausalen  Erklärunff^der  verschiedenen  Ao^ 
bildung  der  homologen  Anlagen  zu  ersinnen.  Die  Urpflanze  ist  keine 
„platonische  Idee*',  sondern  ein  „Schema*'.  Auf  diese  Ausfühningea 
Hansens  (S.  275  f.)  mache  ich  alle  auShnerksam,  die  sich  für  die  Frajeeaes 
Typusbegri^  interessieren  —  freilich  s'laube  ich  nicht,  dass  seine  Fxmnn- 
lierunffen  hier  endgültig  Klarheit  schafien,  wohl  aber,  dass  sie  B\d  das  oft 
übersehene  Problem  hinweisen. 

H.  hat  nachgewiesen,  dass  ungenügende  Kenntnis  des  Originals  mid 
leider  auch  rationalistische  Verfäl^hung  der  Geschichte  an  dem  ab- 
schätzigen Urteile  über  Goethes  Leistungen  Anteil  haben.  Aber  er  kennt 
auch  den  tieferen  Ges^ensatz  der  Grundanschauungen,  von  dem  das  Urteil 
über  Goethe  abhängt,  und  er  formuliert  ihn  (S.  110)  in  einer  Polemik 
ge^n  Dubois-Bevmond  in  den  Sätzen  :  „Dubois  scheint  .  .  .  nur  das  ftr 
Wissenschaft  zu  halten,  was  sich  mechanisch  aufKVsen  lässt.  Es  Hast  aiek 
aber  doch  nicht  leugnen,  dass  ausser  8chwiiia;enden  Molekülen  andi  die 
Formen  der  Natur  mit  ihrem  Reichtum  von  WirKungen  wirklich  ezistteran. 
Die  spezielle  Naturwissenschaft  lässt  sidb  neben  der  allgemeinen  doek 
nicht  wegleugnen*'.  Wohl  würde  sich  der  Philosoph  hier  anden  —  we- 
niger  reiuistisch  —   ausdrücken,   aber  sachlich  ist  die   Venchiedenhett 


Bionen  (Medicus).  â2â 


lerimentell  verfahrenden  Arbeitsweise  be- 
en nach  blossen  Verstandeskategorien  anf- 
iethode  d.  akad.  Stndinms'',  W.  11,  662  f.); 
itstehende  exoterische  Theorie  der  Natnr- 
klftrong  der  Natur  sei,  und  diesem  An- 
legen die  mechanische  Natorauffassnng. 
Anwendung  der  Mathematik  die  Abstände 
mläufe  und  Wiedererscheinnngen  mit  Qe^ 
mt  hat,  aber  ttber  das  Wesen  oder  An-sich 
i  nicht  der  mindeste  Anfsd^nss  gegeben 
le  Natnrlehre  ist  also  bis  jetzt  leerer  For^ 
er  wahren  Wissenschaft  aer  Natur  nichts 
er  der  Voraussetzang,  dass  man  sich  ernst* 
leinsamen  Grande  der  Naturerscheinungen 
diese  Stellung  Sch.s  die  einzig  mOfflicne; 
ent  ;  sein  Satz  aus  der  Kr.  d.  r.  V.  (3.  884), 
'  der  Erscheinungen  dringe  ins  Innre  der 
Urt.  Nur  Fichte,  dem  die  Natureischein- 
3  galten,  durfte  der  experimentellen  Theorie 
m  „Naturerklärung"  zuerkennen.  —  Indem 
ngen  wesenlos  sind,  muss  ihm  das  Gründ- 
en: wenn  die  Natur  keine  metaphj^aische 
ht-Ich  in  der  W.-L.  von  vome  herein  dem 
.eine  negative  Grösse"  (ganz  im  Sinne  der 
768),  dem  absoluten  Ich  entgegengesetast 
i).  W.  I,  110),  so  ist  jenes  Grnndproblem 
^ff  und  Freiheitsbegriff  gegenstandslos. 
3t  F.,  die  neueren  Streitigkeiten  fiber  die 
jch""  vor  (Leben  und  Briefwechsel  *  11, 612). 
ie  Kr.  d.  urt.,  namentlich  zur  Zeit  seiner 
3^ossen  Eindruck  gemacht;  dus  aber  die 
3  dem  Buche  zog,  das  ihm  fibrigens  damals 
ben  und  Briefwechsel  I,  111),  anderer  Art 
nigen,  die  Seh.  ebendaher  nahm,  geht  be* 
(vgl.  Leben  und  Briefwechsel  I,  1&/0). 
rungen  haben  zeigen  sollen,  wie  Seh.  von 
e  in  nahem  Zusammenhang  mit  Kantischen 
ir  gerade  mit  solchen  Gedanken  Km,  fiber 
ich  darauf  darf  hier  schliesslich  noch  hin- 
auf Einheit  des  Systems  gerichteten  Be- 
—  in  grossem  Untwrschiea  von  F.  —  die 
le  tritt;  auch  hier  hat  die  Kr.  d.  Urt.  den 
re  äussere  Stellung  im  kritischen  System, 
e  ttber  das  G^nie.  Die  Hegelsehe  Kon- 
it— Fichte— Schelling  hat  uMh  alledem  als 
n  gewiss  noch  vieles  auch  von  Hegel  zu 
en,  die  empirischen  Zusammenhänge  des 
iftig-wirklich  nachzuweisen,  stellt  er  nur 
wo  die  echte  Forschung  frisches  Leben 
;ht  vor  der  Geschichte  imd  wagt  es  niehL 
zu  konstruieren:  sondern  semisnchtsyoli 
das  unabhängige  Leben  der  historischen 
u  empfangen,  was  an  freier,  nnableitbnrer 
schienen  war.  Die  Depotenziemng  F.i  zu 
Vermittler  zwischen  K.  und  Seh.  Sann  als 
jchablonisieren  des  geschichtlichen  Lebens 
ein  anderer,  als  aer  von  Hegel  also  be- 
törte fabrizierte  Homunkulus,  und  mithin 
er  Geschichte  der  Philosophie  eine  indere 


330  Rezensionen  (Arnoldt). 

auch  den  wuchtigen  Ausdruck  dieser  Gesinnung  nicht  zurflckhftlt  noch 
mildert.  —  Wegen  dieses  Artikels  unter  Anklage  gestellt,  verteidiffte  sich 
Arnoldt  in  einer  „Bede  vor  dem  Schwurgericht^  (Noyember  loôQ)^  in 
welcher  er  den  Einzelfall  seines  persönlichen  Schicksals  unter  aUgememen 
und  grossen  Gesichtspunkten  behandelt  und  so  zu  ^mbolischer  Bedentnng 
erhebt,  unbekümmert  um  äussere  Folgen  und  Erfolge.  —  Neben  dieaen 
beiden  Aufsätzen  findet  sich  noch  eine  Reihe  Abhandlungen  in  dieaem 
Bande  vereinigt,  deren  Grundbestimmung  und  Tendenz  den  Titel  dieaea 
Bandes  rechtfertigt  und  erläutert,  so  z.  B.  die  Aufsätze:  „Herder  und  der 
Begriff  des  Fortschritts"" ;  „Öffentliches  Leben"";  ^Wahrheit  und  Wiaaen- 
scl^ft""  u.  a.  m.  •—  Ausserdem  sind  in  dem  ersten  Bande  die  Kritiken  und 
Referate  Amoldts  über  verschiedene  Werke  geschichtlichen  und  philo* 
sophischen  Inhalts  gesammelt.  Nicht  jedes  Referat  über  diese  z.  iC  Tor- 
gessenen  Schriften,  nicht  jede  Notiz  Arnoldts  würde,  für  sich  genommen, 
Siteresse  und  Bedeutung  haben.  Aber  da  es  sich  darum  handelt,  den 
Aufbau  einer  geschlossenen  und  eigenartigen  Persönlichkeit  zu  vennchen 
und  einen  selbständigen  Denker  in  seinen  Äusserungen  vor  den  Leaer  hin- 
zustellen, kann  man  mit  Recht  Vollständigkeit  zum  Prinzip  der  Heraus- 
gabe dieser  Schriften  machen. 

In  einen  grösseren  und  festeren  Zusammenhang  treten  wir  ein  mit 
dem  zweiten  Bande  :  „Kleinere  philosophische  und  kritische  Abhandlungen*". 
Diese  Aufsätze,  zusammen  mit  den  im  vierten  Bande  (Band  11  dee  Nach- 
lasses) vereinigten  Schriften:  „Erläuternde  Abhandlungen  zu  Kants  Kritik 
der  reinen  Vernunft""  sind  inhaltlich  von  Bedeutung  und  haben  Amoldts 
Namen  mit  der  Darstellung,  Ausführung  und  Verteidigung  der  Kantiachen 
Lehren  dauernd  verbunden.  Die  Reihe  dieser  Abhandlungen  wird  mit 
einer  grösseren  Arbeit  eröffnet,  welche  betitelt  ist:  „Kants  transscendentale 
Idealität  des  Raumes  und  der  Zeit.  Für  Kant  gegen  Trendelenbuiir.''  In 
diesem  Werke  wird,  aus  Anlass  der  Kontroverse  zwischen  Kuno  Fischer 
und  Trendelenburg,  die  Kantische  Lehre  mit  Gründlichkeit  und  in  ein« 
durch  eingehendes  Studium  gefestigten  Auffassung  gegen  Trendelenbmg 
vertreten  und  durchgeführt.  —  Den  Charakter  einer  mien  und  aelbstin- 
di^n,  aber  durch  vorgefasste  Meinungen  und  Eitelkeiten  nicht  beengten 
Hin^be  an  das  Gedankensystem  des  i)hilosophischen  Genius  traMn  aUe 
Schriften,  welche  Arnoldt  in  philosophischer  Betätigung  verfasat  hat.  So 
auch  seine  Habilitationsschrift,  die  sich  in  diesem  Bande  findet:  „Ober 
Kants  Idee  vom  höchsten  Gut"",  wenn^eich  Arnoldt  hier  Kanta  Lehren 
nicht  überall  zustimmt.  So  sind  diese  Schriften  wie  auch  die  erlftntemden 
Abhandlungen  zur  Kritik  der  reinen  Vernunft  besonders  geeignet,  in  die 
Kantische  Gedankenwelt  einzuführen  und  zu  lehren,  den  F^blemgehalt 
der  Kantischen  Werke  zu  erfassen  und  fortzubilden. 

In  dieser  philosophischen  Gesinnung  erwuchs  Arnoldt  die  Beachif* 
ti^^ung   mit   den   fillassikem   unserer  Litteratur.     Die  Abhandlungen   zur 
Litteratur  (Band  H)  enthalten  zwei  grössere  Aufsätze  über  Gt>ethe8  Faut 
und  Leasings  Nathan  ;  daneben  eine  &ihe  von  kleineren  Abhandlunsen  über 
Lesaings,  Schillers,  Goethes  Bedeutung,  über  den  „Gegensatz  der  SchiÜei^ 
sehen  und  Goetheschen  Weltansicht"",  Bemerkungen  zu  Goetheachen  Dra> 
men,  zu  Shakespeareschen  Stücken  u.  a.  m.    Diese  Arbeites  sind  z.  T.  IVag-* 
mente,  aber  sie  oieten  alle  etwas  inhaltlich  Bedeutendes;  in  der  auaführtiihui^ 
und  reichhaltigen  Analyse  von  Goethes  Faust  und  Leasings  Nathan  ist  eni^ 
bedeutender  Beitrag  zum  Verständnis  dieser  Werke  und  zur  Anamflngonf^ 
ihres  Ideengehaltes  geliefert 

Inzwischen  ist  ein  weiterer  Band  der  gesammelten  Schriften  Bond 
Amoldts  erschienen;  und  zwar  als  Band  In  die  zweite  Abteilnng  dea^ 
„Kleineren  philosophischen  und  kritischen  Abhandlungen*.  Dieêcr  Bancs 
enthält  drei  wertvolle  Arbeiten  Amoldts:  „Kiu  Prolegomena  nieh*^= 
doppelt  re^^ert    Widerlegunjg:  der  Benno  i  i         en  Hypothese*^ 

zweitens:  JSjmta  Jugend  und  die  fünf  ersten  Ji    :  r  Privatdosentar'^^ 


Rezensionen  (Benner— Han).  331 

und  endlidbi  einen  kritischen  Bericht  über  .Kant  nach  Knno  Fischers  neuer 
DanteUong^. 

Die  erste  und  dritte  Abhandlung,  obwohl  an  andere  Meinungen  und 
DanteUongen  anknüpfend  und  zunflchst  nur  kritisch  oder  gar  polemisch 
«dacht  und  schrieben,  sind  dem  Verfasser  Über  diesen  anfänglichen 
Zweck  der  Kntik  hinausgewachsen  und  haben  in  ihrer  sachlichen  Gründ- 
lichkeit and  gedanklichen  Schärfe  einen  selbständigen  Wert  und  bleibende 
Bedeutung.  Die  Arbeit  über  „Kants  Jugend  und  die  fünf  ersten  Jahre 
•einer  Privatdozentur*'  ist  als  grundlegend  für  die  biographische  Forschung 
allseitig  anerkannt;  in  ihrem  Inhalt  äusserst  sorgfältig  und  gediegen,  trägt 
diese  Abhandlung  in  ihrer  Form  das  Gepräge  des  selbständigen  Amoldt- 
•chen  Geistes,  der  den  Spuren  des  Genius  nachzuforschen  die  Gabe  hatte, 
in  dem  anscheinend  so  regelmässigen  und  einfachen  Ablauf  des  Kantischen 
Lebens  den  zauberhaften  Schein  der  Auserlesenheit  entdeckte  und  in  seine 
Darstellang  verweben  konnte.  — 

Altona^Hamburg.  Johannes  Paulsen. 

Benner,  Hvgo.  Immanuel  Kants  Werke  in  acht  Büchern. 
Ansigewählt  und  mit  Einleitung  versehen  von  Dr.  Hugo  Benner.  Verlag 
▼on  A«  Weichert,  Berlin.    2  Bände. 

Diese  Ausgabe  empfiehlt  sich  für  jeden,  der  den  Wunsch  hat,  die 
Hauptwerke  Kants  im  Zusammenhang  zu  lesen  und  zu  studieren.  Die 
Auswahl  ist  von  dem  Herausgeber  nach  dem  Gesichtspunkt  getroffen,  dass 
in  dieser  Ausgabe  alles  enthalten  sei,  was  für  die  kritische  Philosophie 
bedeutsam  ist.  Demgemäss  enthält  der  erste  Band  „Beobachtungen  über 
das  G^efühl  des  Schönen  und  Erhabenen^.  „Träume  eines  Geistersehers^. 
,J)ie  Kritik  der  reinen  Vernunft*'.  ^Die  Prolegomena".  Der  zweite  Band 
dieser  Ausgabe  enthält  die  „Grunolegung  zur  Metaphysik  der  Sitten". 
.Kritik  der  praktischen  Vernunft".  „Die  Kritik  der  Urteilskraft".  „Der 
Streit  der  Fakultäten".  „Ailgemeine  Naturgeschichte  und  Theorie  des 
Himmels".  —  In  diesem  zweiten  Bande  findet  man  ausserdem  interessante 
AuafOhrungen  Kants  über  die  „Philosophie  als  einem  System^,  femer  „Von 
dem  System  aller  Vermögen  des  menschlichen  Gemüts",  endlich  eine 
^ncyklopädische  Introduktion  der  Kritik  der  Urteilskraft  in  das  „System 
der  &ritik  der  reinen  Vernunft".  Diese  Stücke  sind  genommen  aus 
J.  J.  Becks  Auszug  aus  Kants  ursprünglichem  Entwurf  der  Einleitung  in 
die  Kritik  der  Urteilskraft  — 

Der  Herausgeber  hat  den  Kantischen  Schriften  eine  sachlich  orien- 
tierende Einleitung  vorausgeschickt,  welche  zugleich  über  Kants  äussere 
Lebenaechicksale  und  seine  philoso^ische  Entwicklung  unterrichtet. 

Der  Text  der  Kantischen  Werke  ist  unter  ^rücksichtigung  der 
Akademieausgabe  sorgfältigst  behandelt.  Die  hier  vorliegende  Ausgabe 
der  Prolegomenen  unterscheidet  sich  zu  ihrem  Vorteil  von  der  Akademie- 
mnbe  &durch,  dass  die  Vaihingersche  Hypothese  von  der  Blattversetzung 
fno.  hierüber  H.  Vaihinger,  Eine  Blattversetzung  in  Kants  Prolegomena. 
Ffiloe.  Monatshefte  1879.  Bd.  16.  S.  821—382}  berücksichtigt  und  die  so 
enDOffüchte  Verbesserung  des  Textes  durchgenlhrt  ist.  Es  oesteht  kein 
Grono,  an  der  Richtigkeit  der  Vaihingerschen  Hypothese  und  seines  Nach- 
weiaea  einer  Textverschiebung  in  den  fraglichen  Abschnitten  der  Prolego- 
umda  zu  zweifeln.  (Vgl.  auch:  Sitzler,  Zur  Blattversetzung  in  Kants 
PMeeomena.  Mit  einem  Nachwort  von  Hans  Vaihinger.  Kant-Studien. 
BdTDL    8.  588  ff.) 

Altona-Hamburg.  Johannes  Paulsen. 

Mm«  Georg.  Die  Beligionsphilosophie  Kaiser  Julians  in 
seinen  Reden  auf  König  Helios  und  die  Gttttermutter.  Mit  einer 
Obenetsung  der  beiden  Reden.    Leipzig.    Teubner.    1908. 

Das  Buch  çibt  keine  zusammennängende  Darstellung  von  Julians 
Beligionsphilosonhie,  sondern  zunächst  einen  Kommentar  zu  den  beiden 
Beden,  deren  Üoersetzung  im  Anhang  abgedruckt  ist.    Nur  kuxs  wird 


382  Bezensionen  (Bertling). 

jedesmal  am  Ende  der  reli^oDSDhilosophische  Inhalt  der  Bede 

gsfasst  und  zum  Schlnss  die  Stellung  Julians  innerhalb  der  nenplatoniachen 
hilosophie  überhaupt  erörtert.  Obersetzung  wie  Kommentar  sind  anaser» 
ordentlich  verdienstuch.  Diese  Reden  Julians,  die  wie  kaum  eine  andere 
Schrift  die  Vermischung  der  religiösen  Bestrebungen  der  Zeit,  insbeaon- 
dere  der  Helios-Mithras-Beligion ,  mit  der  neupUtonischen  Philosophie 
kennen  lehren,  bieten  doch  dem  Verständnis  ausserordentliche  Schwierig- 
keiten. Eine  ^naue  Kenntnis  der  Terminologie  des  Neuplatonismus  ist 
dafür  unerlAssuch.  Und  nach  dieser  Seite  liegt  auch  der  Hauptwort  der 
hier  g[ebotenen  Erklärungen.    Eine  umfassende  Belesenheit  in  der  nau- 

Slatonischen  Litteratur  setzt  den  Verfasser  in  den  Stand,  die  G^eechiehte 
er  einzelnen  Be^mff e  innerhalb  dieser  Schule,  oft  mit  Rückblicken  bis  auf 
Aristoteles  und  Hato,  zu  verfolgen.  Damit  bietet  das  Buch  eigentlich 
mehr,  als  der  Titel  anzudeuten  scheint.  Keiner,  der  sich  mit  dem  Nmi- 
platonismus  beschäftigt,  wird  an  den  hier  gegebenen  Untersuchungen  über 
einzelne  Begriffe  oder  philosophische  Lehren  vorübergehen  können«  Hier 
in  eine  Besprechung  der  Einzelheiten  einzutreten,  ist  natürlich  unmögUch. 
Nur  auf  einige  der  längeren  Exkurse  möchte  ich  hinweisen:  über  den 
Seelenbegriff,  die  Elemente,  .den  xéçfioç  voêgoç,  Materie  und  Form,  ESngel, 
Dämonen  und  Heroen  u.  a.  Über  manches  lässt  sich  natürlich  streiten. 
So  ist  es  mir  zweifelhaft,  ob  man  wirklich  so  scharf,  wie  es  der  Verf.  (S. 
6  ff.)  tut,  zwei  Richtungen  der  Seelenlehre  innerhalb  des  Nenplatonismi» 
scheiden  kann.  Deutliche  Gliederung  des  Inhalts  und  gelegenuiche  Para- 
phrasen erleichtem  das  Verständnis  der  Reden.  Die  Übersetzung  erstrebt 
natürlich  in  erster  Linie  wissenschaftliche  Genauigkeit,  weniger  eine 
künstlerische  Form.  Trotzdem  hätte  das  häufige  Wort  yoritàç  vielleicht 
etwas  kürzer  übersetzt  werden  können,  als  durch  den  umständlichen  Ana- 
dmck,  der  hier  dafür  gewählt  ist.  Hoffentlich  lässt  der  Verf.  <üe  an- 
gekündigte Sammlung  der  Jamblichos-Fragmente  bald  folgen. 

Strassburg  LE.  IL  Wundt. 

Bertling,  O.  Geschichte  der  alten  Philosophie  als  Weg  der 
Erforschung  der  Kausalität  für  Studenten,  Gymnasiasten  und 
Lehrer.    Leipzig.    Werner  Klinkhardt.    1907. 

Der  Titel  l}ezeichuet  den  Zweck  des  Buches.  Es  soll  besonden 
solchen,  die  zum  ersten  Male  an  die  antike  Philosophie  herantreten,  zur 
Einführung  dienen.  Der  Verfasser  will  hierfür  aber  nicht  nur  eine  mdmch 
historische  Darstellung  geben.  Eine  solche  lässt,  wie  er  meint,  leicht  eine 
Enttäuschung  erleben,  da  die  gesamte  Gedankenarbeit  der  alten  Philo- 
sophen uns  für  unsere  heutigen  philosophischen  Probleme  keinen  Gewinn 
mehr  zu  bieten  scheinen.  Er  will  im  Gegensatz  hierzu  zeigen,  daas  anch 
die  antike  Philosophie  einen  dauernden,  noch  für  uns  wertvoUen  Erkenntnis- 
ertrag geliefert  habe.  Er  findet  diesen  auf  dem  Gebiete  des  Kmiaal- 
problems  und  unterscheidet  zu  diesem  Zwecke  eine  dreifache  Kansditit 
Wir  wollen  erkennen,  wie  das  Wirkliche  so  geworden  ist,  wie  es  icist 
ist  (zeitliche  K),  oder  wie  jedes  Einzelne  sich  zu  dem  Andern  veraaHa 
^itlich  verbindende  EL),  oder,  woher  und  wodurch  das  Wirkliche  seine 
Existenz  habe  und  worauf  es  hinziele  (Daseinskraft).  Wie  man  sich  ainh 
zu  dieser  Einteilung  stellen  möge,  gewiss  ist,  dass  die  antike  Pfaüosoj^iie 
wichtige  und  noch  heute  durcnaus  lebendige  Erkenntnisse  in  der  Frage  « 
der  Kausalität  errungen  hat.  Aber  ob  dies  cue  einzige,  ob  dies  aoeh  nur  ' 
die  wichtigste  und  am  unmittelbarsten  noch  heute  lebendige  Wirkung  der  ' 
antiken  Philosophie  ist?  Das  wird  man  nicht  mit  UnrMht  b«sweiféfai  - 
dürfen,  wenn  man  an  die  Gebiete  der  Ethik  und  der  Religionsphüoeopya 
denkt,  die  zumal  durch  die  Vermittlung  des  Christentums  unser  Dsoikeo 
noch  auf  weiten  Strecken  beherrschen.  An  dieser  einseitigen  Betonung  dar  " 
einen  Frage  leidet  etwas  die  historische  Darstellung,  aber  doch  nicht  so 
sehr  als  man  fürchten  könnte.  Wohl  sind  die  eben  berührten  Qebiele 
gelegentlich  etwas  kurz  weggekommen;  z.  B.  werden  die  interenantea 
Spelpilationen  der  Sophisten  üoer  Staat  und  Recht  kaum  berührt^  àbw  im 


Rezensionen  (Gatberlet).  333 

Gaozen  ist  die  Dantellnng  doch  eine  gleichmässige  and  die  anfangs  auf- 
gestellte Tendenz  drängt  sich  nicht  störend  hervor.  Das  Werk  ^bt, 
gelegentlich  im  unmittelbaren  Anschluss  an  Zeller  oder  Überweg-Heinze, 
einen  kurzen  Überblick  über  die  Entwickelung,  der  im  ganzen  klar  die 
wesentlichsten  Punkte  heraushebt,  minder  wichtiges  durch  kleineren  Druck 
zorflcktreten  lässt.  Von  der  üblichen  Auffassung  entfernt  sich  der  Verf. 
wohl  am  weitesten  bei  der  Darstellung  der  elea tischen  Philosophie.  Ob 
er  mit  seiner  Behauptung,  das  Sein  der  Eleaten  bezeichne  die  in  allem 
V^irklichen  sich  betätigende  Daseinskraft,  Anklang  finden  wird,  ist  mir 
freilich  zweifelhaft  Die  jüngeren  Naturphilosophen,  Empedokles,  Anaxa- 
goras  und  Demokrit,  wären  vielleicht  oesser  gesondert  behandelt  und 
nicht,  wie  es  hier  geschehen  ist,  zusammen.  Unbillig  kurz  scheint  mir 
der  Skeptizismus  abgetan.  Gerade  die  Argumente  der  Skeptiker,  die  im 
einzelnen  überhaupt  nicht  angeführt  werden,  sind  doch  zum  Teil  noch 
hente  nicht  ganz  veraltet. 

Strassburg  i.  E.  M.  Wundt. 

Gnfberlet,  C.  Der  Kamnf  um  die  Seele.  2.  verbesserte  und 
Termehrte  Auflage.    Kirchman.    Mainz  1903. 

Referent  erhielt  schon  vor  einigen  Jahren  das  vorstehende  Buch 
von  der  Redaktion  der  ,,Kantstudien"  zum  Zweck  der  Besprechung.  Er 
muss  indessen  offen  gestehen,  dass  er  nach  der  Lektüre  einiger  Abschnitte 
diese  Aufgabe  ftlr  so  wenig  dringend  erachtete,  dass  er  das  Buch  bei  Seite 
legte,  mit  um  so  ruhigerem  Gewissen,  als  die  I.Auflage  bereits  seinerzeit 
in  den  „Eantstudien"  gewürdigt  worden  ist;  eine  Kritik,  auf  die  G.  in 
•inigen  entrüsteten  Angriffen  Quittiert.  Ich  hätte  die  Anzeige  auch  wohl 
Mnz  unterlassen,  wenn  ich  nient  zufällig  eine  Stelle  gefunden  hätte,  die 
bei  den  Lesern  der  Eantstudien  wohl  Interesse  erregen  dürfte.  Ich  setze 
sie  deshalb  wörtlich  hierher: 

„Ein  echter  Kantianer  kann  kein  wahrer  Naturforscher  sein,  denn 
das  hauptsächlichste  Objekt  der  Naturforschung,  z.  B.  der  Mechanik, 
Physik,  Chemie,  Biologie  ist  die  Bewegung.  Bewegung  ist  aber  ein 
Verhältnis  zwischen  âum  und  Zeit,  sie  vollzieht  sich  im  Raum  und  in 

der  Zeit,  ihre  Geschwindigkeit  wird  gemessen  durch  den  Quotienten  •^,  in 

t 

dem  8  den  durchlaufenen  Raum,  t  die  dazu  verwendete  Zeit  bezeichnet. 
Db,  aleo  nach  Kant  Raum  und  Zeit  nicht  in  der  wirklichen  Welt,  sondern 
als  Anschauungsformen  im  Subjekte  sich  finden,  so  ist  auch  die  Beweg^ung 
nur  ein  subjektiver  Vorgang,  die  Naturwissenschaften  haben  kein  wirkliches 
Weltot(jekL  sondern  beschäftigen  sich  mit  Seelenvorgäns^en.  Die  Natur- 
wiasensehaft  wird  zur  Psychologie:  eine  Konsequenz,  cue  von  manchen 
Kttitianem,  z.  B.  von  P.  Natorp,  wirklich  gezogen  wird;  dass  aber  da- 
mit die  Naturwissenschaft  als  solche  beseitigt  wird,  leuchtet  eiu.^  (I.  Bd., 
8.  149.) 

Diese  Interpretation  wird,  wie  gesagt,  die  Leser  der  Kantstudien 
interesaieren  ;  der  Schlusssatz  aber  insbesondere  Herrn  Professor  Natorp, 
der  doch  einigermassen  darüber  erstaunt  sein  dürfte,  dass  er  der  Haupt- 
vertreter des  von  ihm  so  scharf  bekämpften  Psychologismus  ist,  noch  dazu 
dee  PlB^chologismus  in  einer  Form,  der  man  gewiss  alles  Mögliche,  z.  B. 
ffTttodliche  Aosurdität,  aber  keinesfalls  Mangel  an  Konsequenz  vorwerfen 
leim«  —  Ich  bemerke  ausdrücklich,  dass  icn  Entdeckungen  von  so  ver- 
btllffender  Neuigkeit  trotz  einigen  Suchens  in  dem  Buche  nicht  weiter  ge- 
ftniden  habe,  im  Besonderen  wird  weder  Goethe  als  Thomist,  noch  Papst 
Leo  XDL  als  Hauptvertreter  des  Empiriokritizismus  zitiert. 

Im  Ernst:  ^antverständnis  ist  eine  schwere  Sache,  die  unfreiwillige 
Komik  seiner  Kantinterpretation  wollen  wir  Herrn  Gutberiet  verzeihen. 
Die  Behmiptunff  über  Natorp  aber,  die  G.  nicht  hätte  aufstellen  können, 
m  er  eine  Schrift  von  Natorp  gelesen  hätte,  zeugt  nicht  nur  von  gänz- 
Mangel  an  Verständnis,  sondern  auch  von  Mangel  an  ehrlichem 


.•}24  Rezensionen  (Medicus). 

als  die  ihm  von  Hegel  zugewiesene  und  bis  heute  allgemein  angenommeDe. 
Um  klar  zu  stellen,  was  Seh.  für  die  Kantische  Philosophie  bâleutet,fir 
es  nötig,  die  von  Hegel  stammende  Auffassung  zurückzuweisen.  Die» 
Absicht  aber  hat  ihrerseits  dies  nötig  gemacht,  zur  Beweisführung  ledig- 
lich Schriften  aus  Sch.s  früher  Zeit  heranzuziehen;  auf  spätere  diuntemr 
da  hingedeutet  werden,  wo  in  ihnen  die  Fortsetzung  eines  schon  frtkei 
vorhandenen  Gedankenganges  erkennbar  war.  Es  musste  gezei^  wwdei, 
dass  Seh.  nie  Fichtianer  gewesen  ist,  dass  er,  ohne  je  vom  eififentüchei 
Geiste  der  W.-L.  ergriffen  gewesen  zu  sein,  seine  Naturphilosophie  la^ 
baut  hat,  indem  er  ^anz  unfichtische  Motive  aus  der  Kr.  d.  Urt.  ausbildete. 
Es  mag  nun  noch  mit  wenigem  darauf  hingewiesen  werden,  dass  er  uä 
später,  als  die  Probleme  der  Religionsphilosophie  in  den  Vordei^rnd 
seines  Interesses  getreten  sind,  näher  als  F.  bei  K.  stehen  bleibt. 

Für  die  sehr  erheblichen  „Philosophischen  Untersuchungen  fiber  du 
Wesen    der    menschlichen   Freiheit   und   die  damit   zusammenhftn^feodei 
Gegenstände"  (1809)  ist  K.s  Lehre  von  der  intellieiblen  Tat  eine  der 
entscheidendsten   Stützen.      K.   hatte   die   ausnahmuose   natumotwendi^ 
Bedingtheit  alles  menschlichen  Handelns  behauptet,  trotzdem  aber  eikliit, 
der  Mensch   könne   von   einer  jeden  gesetzwidrigen  Handlung,  die  er  bfr 
geht,   mit  Recht  sagen,   dass   er  sie  hätte  unterlassen  können  :   ^denn  et,    ^ 
mit  allem  Vergangenen,   das  sie  bestimmt,  gehört  zu  einem  einzigen  Flii'  " 
nomen   seines  Charakters,   den  er  sich  selbst  verschafft"  (Kr.  d.  pndct  T.,  ^ 
Kehrbach   118).    In   derselben  Weise   spricht  auch   Seh.  von  der  „nnle^^  — 
baren   Notwendigkeit   aller  Handlungen",   die  dennoch   der  Freiheit  dew« 
Willens  nicht  widerspreche,  weil  der  Mensch  selbst  den  sittlichen  ChariUer^ 
seines  Zeitlebens   bestimme   durch   eine  Tat,  die   nicht  der  Zeit,  soodoi^ 
der  Ewigkeit  angehört  :   „sie   geht  dem  Leben  nicht  der  Zeit  nach  tohi^h 
sondern   durch   die   Zeit  hindurch   als   eine   der  Natur   nach  ewige  W^» 
„Dass  Judas  ein  Verräter  Ghristi  wurde,  konnte  weder  er  selb^  doc^k 
eine  Kreatur  ändern,    und  dennoch  verriet  er  Christum  nicht  geagwimgefc^ 
sondern  willig  und  mit  völliger  Freiheit"  (III,  481  f.).     Dieser  letite  »^ 
Sch.s  entspricht  genau  dem  berühmten  Satze  K.s,  man  könne  „einrlu*».. 
dass,   wenn  es  für  uns  möglich  wäre,  in  eines  Menschen  Denkungnrti 
wie   sie   sich   durch  innere  sowohl  als  äussere  Handlungen  zeigt,  soüi 
Einsicht  zu  haben,  dass  jede,   auch  die  mindeste  Triebfeder  di^  um  ^ 
kannt  würde,  imgleichen  alle  auf  diese  wirkenden  äusseren  Veranlasugo^ 
man   eines   Menschen  Verhalten   auf  die  Zukunft  mit  G^wissheit,  so  ^ 
eine  Mond-  oder  Sonnenfinsternis,   ausrechnen  könnte,   und  dennoch  dM* 
behaupten,   dass   der  Mensch  frei  sei"  (Kr.  d.  prakt.  V.  120).  —  Auch  k* 
führt  der  Weg   von  K.  zu  Seh.   nicht  durch  Fichte  hindurch,  senden^ 
ihm   vorbei.    Es   ist  unverkennbar,   dass  die  Lehre  vom  intcjligiblcn  öfr 
rakter  als  einer  einmaligen,  das  Erscheinungsdasein  schlechthin  bestiiB»^ 
den  Tat  nur   in  einer  naturphilosophischen  Ethik  möglich  ist:  sie  ■DJ* 
den  Charakter  als  etwas  seinem  Wesen  nach  Festes,  fertiges  und  sdiM 
so  die  sittliche  Freiheit  aus.     Das  ganze  Zeitleben  muss  als  eine  vj^ 
flüssige  und  sinnlose  Veranstaltung  erscheinen,  wenn   eine  zeitloie^ 
entscheidet,  wie  es  abzulaufen  gezwungen  ist.    Aller  Wert  ist  in  die  ij^ 
lose  Tat  verlegt,  und  man  sieht  nicht,  weshalb  man  das  ZeitdaseinVf 
haupt   ernst   nehmen   sollte.     F.  aber  betont,  dass  das  Pfiichtbewiait^ 
unbedingt  gebietet,  die  Situationen  des  Zeitdaseins  ernst  zu  nehmei'jj! 
Sinnenwelt   wird  ihm   „die  fortwährende  Deutung  des  Pflichtceboli)  *[ 
lebendige  Ausdruck  dessen,   was   du  sollst"  (F.s  sftmtl.  W.  V,  186).  ^ 
F.  setzt  darin  einen  Kantischen  Gedanken  fort  :  denn  neben  der  eiiifÖJJ 
Lehre  K.s  steht  unvereinbar  mit  ihr  (bes.  in  der  „Grundlegung  s.  IMr 
d.  Sitten")  eine  zweite  Theorie  des  intelligiblen  Charakters,  wonach  ^ 
keineswegs   „dem   empirischen  Charakter  gemäss^  zu  denken  ist  (igL  r 
^  "68),  sondern  vielmehr  das  von  keinen  Schlacken  getritote'** 


d.  r.  V.  B.  568), 

Ich  bedeutet:  „Als  blossen  Gliedes  der  Verstandeswelt  wttr&n  alte^ 

Handlungen   dem  Prinzip   der  Autonomie  des  reinen  Willens  toU1u)IB0^ 


i 


Rezensionen  (Medicos).  326 

Lfis  sein^  (S.  W.,  2.  Hartensteinsche  Ausg.  IV,  301).  Den  in  diesen 
:^n  angezeigten  Weg  ist  F.  gegangen;  er  führt  weit  von  Seh.  ab;  er 

insbesondere  auch  nicht  zur  Lehre  von  einem  positiv  Bösen,  wo- 
rieder  K.  und  Seh.  übereinkommen:  denn  auch  diese  Lehre  ist  nicht 

einen  naturphilosopbischen  Hintergrund  möglich,  den  namentlich  Seh. 
er  genannten  Abhandlung  von  1809)  ganz  ausgezeichnet  hervorgekehrt 
3er  aber  auch  bei  K.  deutlich  genug  erkennbar  ist.  In  der  „Aeligion 
li.  d.  Gr.  d.  bl.  V."  (Kehrbach  69)  wird  das  Böse  auf  einen  „inneren 
a  Grund  der  Maximen,  die  mit  den  Neigungen  im  Einverständnisse 
,  zurückgeführt:  dieser  Grund  bestimmt  die  freie  Willkür,  bei  der 
mgiblen  Tat  die  Befriedigung  der  Neigungen  zur  Bedingung  der  Be- 
■3g  des  moralischen  Gesetzes  zu  machen.     Und  so  gewiss  der  „innere 

Grund  der  Maximen**  eine  positive  Grösse  ist,  so  gewiss  ist  auch  das 

nicht  lediglich  Abwesenheit  des  Guten,   sondern  etwas  Positives. 

Lehre  vom  Bösen  ist  zwar  unmittelbar  mehr  von  Jacob  Böhme  als 
!K.  beeinflusst;  aber  eine  naturphilosophische  Denkweise  war  allen 
Qkem  eigen,  und  K.  war  immerhin  ein  prinzipiell  wichtiges  Vorbild 
lie  Verknüpfung  der  Si)ekulationen  über  das  positive  Böse  mit  der 
&  Philosophie.  Seh.  ist  im  Anschluss  an  Böhme  weit  über  K.  hinaus- 
igen:   Woher  jener  innerste  erste  Grund  der  Maximen?  was  ist  er? 

lührt  ihn  zurück  auf  den  dunklen  Urgrund  in  Gott  selber,  auf  das- 
e  in  Gott,  was  in  ihm  nicht  er  selbst  [nicht  die  lichte  Klarheit  des 
vbewussten  Geistes]  ist,  auf  die  Natur  in  Gott.  Alles  was  geworden 
feilt  den  Grund  seiner  Existenz  in  Gott,  Gott  allein  hat  den  Grund 
r  Existenz   in  sich:   dieser   Grund  ist  seine  Natur,  die  unergreifliche 

aller  Realität,  „das  was  sich  mit  der  grössten  Anstrengung  nicht  in 
«md  auflösen  lässt,  sondern  ewig  im  Grunde  bleibt**.  Aus  diesem 
l^el"^,  dieser  „Sehnsucht,  die  das  ewige  Eine  empfindet,  sich  selbst  zu 
:"en'',  stammt  der  Eigenwille  der  Kreatur,  stammt  das  positive  Böse 
•453  ff.).  Gewiss,  diese  Sätze  sind  nicht  mehr  Kantisch,  aber  sie 
Q  doch  in  einer  Richtung,  in  die  man  von  der  Kantischen  Natur- 
aophie  aus  kommen  kann.  Dagegen  ist  in  einer  Philosophie  des  ab- 
an  Ich  für  eine  Verabsolutierung  des  Bösen  keinerlei  Anknüpfungs- 
Ichkeit:  für  Fichte  kann  die  intellig^ible  Welt  nur  eine  Welt  lichter 
tlnftiger)  .Freiheit  sein,  nicht  aber  eine  Welt  dunkler  ^vemunftloscr) 
Unde.  —  Ähnlich  wie  beim  Problem  des  Bösen  liegen  die  historischen 
nüpfungen  bei  der  Frage  nach  dem  Gottesgedanken.  K.  hat  ihn 
bisch,  persönlich  ffefasst,  und  Seh.  ist  ihm  von  1809  ab  hierin  gefolgt, 
wieder  ist  Seh.  deijenige,  der  deutlich  zeigt,  wie  von  einer  Person - 
keit  Gottes  nur  darum  gesprochen  werden  kann,  weil  in  Gott  eine 
ir,  eine  von  seiner  Existenz  unabhängige  Basis  ist  (ni,  490  f.). 
ir  Gedanke  war  bei  K.   nicht  entwickelt,  aber  unerkannt  trägt  er 

auch  dessen  (allerdings  stets  etwas  skeptische)  Aussagen  über  Gott 
insbesondere  auch  seine  zweifellose  Abneigung  geren  den  Pantheis- 

wenn  K.  Gott  denken  soll,  so  kann  er  ihn  sich  nicht  anders  denken, 

als  ein  besonderes  Ding  an  sich  —  und  dieses  Ding  an  sich  hat 
tverständlich  seine  eigentümliche  Natur.  Dass  damit  etwas  von  der 
Ichen  Klarheit  Unabhängiges  gesetzt  ist,  hat  K.  kaum  je  bedacht;  es 
te  ihn  vor  dem  Gedanken  geschaudert  haben.  Er  hat  es  hier  wie  so 
»eh.  überlassen,  die  Konsequenzen  aus  seiner  halb  formulierten  Meta- 
^k  zu  ziehen.  F.  aber  hält  sich  auch  in  dieser  Frage  von  der  Nator- 
sophie  fem.  Er  setzt  in  Gott  allen  Persönlichkeitsgehalt,  aber  nicht 
^ersönlichkeitsform  :  der  Persönlichkeitsgehalt  allein  ist  es,  wodurch 
m  höchsten  Sinne  Ich,  wodurch  wir  frei  sind.  Alle  Form  beschränkt, 
it  Objekt  von  Objekt,  Negatives  von  Negativem.    „Das  Absolute  wäre 

das  Absolute,  wenn  es  unter  irgend  einer  Form  existierte**  (Leben 
Briefwechsel  ■  11,  367). 

Später,  in  der  Période  der  ^positiv  en  Philosophie^  hatSchelling 
eme  bevorzugt,  die  sich   creüich  kaum  mehr  mit  Kant  berühren. 


336  JEtezensionen  (Speck). 

oSchaaderf*  nach  eigenem  Geständnis  davor.  Dass  aber  die  esmkte 
Forschung  Goethe  nichts  zu  verdanken  habe,  trifft  doch  schon  mit  Rflck- 
sieht  auf  die  vom  Autor  selbst  erwähnten  Geschichtsdaten,  wie  die  Farben- 
lehre —  bei  der  m«in  freilich  scharf  die  physiologische  Seite  von  der 
physikalischen,  insbesondere  Reiz  und  Reizeffekt  zu  unterscheiden  hat  — 
wie  die  Pflanzenmetamorphose,  ja  sogar  die  Einzelentdeckung  des  Zwischen- 
kieferknochens nicht  zu.  Auf  der  anderen  Seite  ist  die  moderne  Des- 
zendenzlehre noch  nicht  notwendig  materialistische  Metaphysik,  sollte  doch 
der  Begriff  des  methodischen  Materialismus  seit  F.  A.  Lange  zum  min- 
desten —  um  nicht  zu  sagen:  seit  Kant  —  jedem  an  der  exakten 
Forschung  eini^ermassen  Orientierten  geläufig  sein;  oder  aber  man  spottet 
über  den  Begnff  der  „Exaktheit"  nicht  ungestraft,  weil  der  Spott  auf  den 
Spötter  zurückfällt  Und  um  Goethe  selber  gerecht  zu  werden,  ist  es 
mcht  genug,  seine  Ablehnung  des  materialistischen  Entwickelonesbegriffs 
zu  betonen.  Dazu  gehört  vielmehr  auch  seine  positive  Stellung  zum 
Ëntwickelungsbegriffe.  Diese  kann  jedoch  ohne  seine  Entelechienlehre  nie- 
mals ganz  verstanden  werden.  Von  ihr  aber  hören  wir  leider  in  der  Ab- 
handlung kein  Wort.  Daher  ist  in  dieser  auch  Goethes  Anschauung  vom 
Individuellen  durchaus  verkümmert.  So  richtig  es  ist,  dass  die  Entwicke- 
lung  für  Goethe  Darstellung  der  Erscheinungen  als  Glieder  gesetzmäasi^n 
Zusammenhangs  bedeutet,  so  unrichtig  ist  £e  Behauptung:  „die  Wirklich- 
keit, von  der  er  die  organischen  Wesen  ableitet,  besteht  nicht  ans  Indi- 
viduen". Das  unterscheictet  ja  besonders  Goethes  Natur  von  deijeniffen 
Spinozas,  dass  Goethes  machtvollste  Individualität  gerade  den  Gedanken 
aus  tiefinnerlichstem  Erleben  betonte:  „Jedes  ihrer  Werke  hat  ein  eigenes 
Wesen,  jede  ihrer  Erscheinungen  den  isoliertesten  Begriff,  und  doch  macht 
alles  Eins  aus",  oder  „sie  lebt  in  lauter  Kindern".  Greht  auch,  wie  Gk>ethe 
sagt,  das  Individuum  verloren,  so  ist  doch  „ihm  und  anderen  daran  ge- 
legen, dass  es  erhalten  werde^.  Denn  nj^^^r  ist  selbst  nur  Individnnm 
und  kann  sich  auch  eigentlich  nur  fürs  Individuelle  interesderen**  .  .  . 
.Wir  lieben  nur  das  Individuelle'*.  Und  der  höchst  potenzierten  Indivi- 
dualität, der  höchst  entelechierten  Persönlichkeit,  diesem  „höchsten  Glflok 
der  Erdenkinder",  gegenüber,  deren  die  Natur  „nicht  entbehren  kann*, 
ist  soear  „die  Natur  verpflichtet",  die  Erhaltung  zu  gewährleisten«  Ein 
Gedanke,  in  dem  die  Entwickelungslehre  Goethes,  so  wie  er  de  wirklich 
ausgebildet  hat,  ihren  metaphysischen  Höhepunkt  erreicht,  der  aber  yom 
Yenasser  überhaupt  nicht  berührt  wird. 

Damit  wollen  wir  unsere  Kritik  beschliessen.  Dass  es  etwas  be- 
fremdlich wirkt,  die  Titel  des  Inhaltsverzeichnisses  nicht  in.  Obereinstiin- 
munff  mit  denjenigen  des  Textes  zu  finden,  das  ist  eine  Äuaserlichkeit, 
die  cue  Sache  nicht  berührt  und  über  die  wir  hinwegsehen  wollen. 

Immerhin  fanden  wir  rein  der  Sache  nach  mancherlei  zu  bean- 
standen. Ja,  das  Schriftchen  hat  in  erster  Linie  unseren  Widersnnioh 
herausgefordert.  Dass  wir  es  darum  aber  für  belanglos  halten  sollt«!, 
dagegen  spricht  wohl  schon  der  Umstand,  dass  wir  uns  mit  seinen  knaroen 
zwei  Bogen  so  einfi;ehend  beschäfti^n,  wie  wir  es  getan  haben.  Sind 
doch  der  Ernst  und  der  Fleiss,  mit  dem  der  Stoff  zusammengetragen 
wurde,  unverkennbar,  und  auch  die  blosse  Stoffsammlung  wird  manchem 
wertvolle  Hinweise  geben  können.  SoUte  der  Autor  seine  An^be  ein- 
mal in  etwas  erweitertem  Umfange  aufnehmen  und  das  jetzt  nc^  Weit- 
verzwei^  zur  Einheit  begrifflicher  Durcharbeitung  zusammenfügen,  dabei 
auch  seme  Stellung  zur  modernen  exakten  Forschung  in  manchen  StfidMn 
revidieren,  so  würde  er  wohl  noch  bieten  können,  was  er  jetzt  hat  bieten 
wollen.  Denn  eine  Vorarbeit  zu  einem  solchen  Unternehmen  dürfen  wir 
in  seiner  Schrift  schon  erblicken.  WertvoU  ist  also  immerhin  unter  dieeem 
Gesichtspunkte  die  Zusammenstellung  des  nicht  unerheblichen  Stofifee. 
Und  als  besonders  fe^lückt  seien  hier  nodi  die  mancherlei  EBnweise  anf 
die  persönliche  Grunostimmung,  die  auch  in  der  theoretischen  Anadiamnur 
Goethes  wirksam  ist,  hervorgehoben,  Hinweise,  die  oft  (wie  i«  B.  &  90 


llezensionen  (Medicos).  327 

>n8  Ideenlehre  ;  Spinozas  lange  verkanntes  Werk  findet  feierlich- 
m  Widerhall.  —  So  hat  die  neue  Zeit  der  Philosophie  eine  neue 
)  gesteUt:  die  Aufgabe,  das  neue  Selbstbewusstsein  zu  verstehen, 
ler  Inhaltlichkeit  gewiss  geworden  ist.    Oder,  was  dasselbe  heisst: 

S  be  war,  die  Inhalte  zu  verstehen,  in  denen  das  Bewusstsein  die 
eit  erfasst  und  die  es  gleichwohl  als  Gestalten  seiner  f^iheit 
Aber  wie?  Ist  denn  das  Wesen  der  Wirklichkeit,  das  Wesen 
It  —  Freiheit?  Bei  Kant  war  doch  die  Freiheit  ffanz  in  das 
Subjekt  gefallen  !  Doch  nicht  so  ganz  :  in  der  Kr.  d.  (M,  war  der 
gemacht,  die  Freiheit  noch  anderswo  aufisusnchen.  Freilich,  es  war 
isatz  geblieben.  Aber  nun,  in  der  Philosophie  der  neuen  Epoche 
dem  bloss  formalen  Subjekt  auch  die  Kluft  zwischen  freiem  Snb- 
d  Wirklichkeit  geschwunden:  Nicht  erst  in  Hegels  Philosophie, 
schon  in  den  Lehren  Fichtes  und  ScheUings  ist  (ue  Substanz  Sub- 
HTorden,  und  die  Systeme  der  3  grossen  Denker  sind  charakteristisch 
dene  Durchfüliruncen  dieses  Grundmotivs  einer  Verankerung  aller 
liischen  Probleme  in  der  lebendigen  Wahrheit.  Von«  diesen  beson- 
.nsprä^ngen,  die  jeder  dieser  3  Denker  dem  gemeinsamen  Grund- 
m  gieot,  gilt  das  Wort  Fichtes:  „Was  für  eine  Philosophie  man 
langt  davon  ab,  was  man  für  ein  Mensch  ist"  (S.  W.  I,  434);  denn 
ficht  jeder  das,  was  er  als  die  tiefste  Substanz  seines  lebendigen 
fasst  hat.  Schelling  und  Hegel  sind  Aristokraten,  Seh.  ein  ästne- 
.  ein  logisch  gerichteter;  Fichte  ist  Demokrat:  ihm  gilt  allein  die 
?eligi(yse  Bildung  als  der  Weg  zur  freimachenden  Wahrheit.  Diese 
tee  sind  sehr  gross,  und  in  den  nächsten  Jahrzehnten  wird  mancher 
tan  sie  geführt  werden.  Aber  weit  grösser  noch  als  diese  Gegen- 
i  der  Abstand,  in  dem  sich  die  idealistische  Philosophie  als  Ganzes 
«t  von  den  konventionellen  Oberflächlichkeiten  befindet,  die  sich 
lütte  des  vorigen  Jahrhunderts  in  das  „Kultur^-bewusstsein  der 
«ft  fortgepflanzt  haben. 

7X  Hitarbeit  an   den  Aufgaben,   die  hier  der  Philosophie  warten, 
«  neue  Schellingausgabe  ein  tüchtiges  Stück  beitragen.    Sie 
àaza  angetan,  Lust  und  Verständnis  für   die  Forderun^n  zu 
jJBe  die  Philosophie   heute   an  uns  stellt:   denn  wenn  wir  auch 
'^^idit   im  historischen  Studium,  in  der  Rückkehr  zu  unseren  Klas- 
joken  bleiben   wollen,  so  ist  doch  in  Anbetracht  unserer  philo- 
.Uchtlichen   La^e   kein  anderer   Weg  für  uns  möglich  als  der 
"  ernstes  historisches  Studium  hindurch.    „Nur  ein  Possenreisser 
•r  Mensch   kann  auch  übersprungen  werden"  sagt  Zarathustra 
^T  als   ein  halbes  Jahrhundert  hat  man  sich  in  dem  —  übrigens 
*^nien  — Possenreisser^  ahn  gefallen,  Fichte,  Schelling  und  B^gel 
.  -^«ni  zu  haben.    Wir  wollen  es  uns  von  Zarathustra  sagen  lassen, 
«Mensch   etwas   ist,   das   überwunden   werden   muss,  und  zum 
t  iolcher  Kerle  gehört  nicht  wenig;  zu  allererst  aber  dies,  dass 
i4dich  kennen   lernt.  —  Der  Verlag  von  Kritz  Eckardt  kündigt 
f^B  der  klassischen  deutschen  Philosophie  in  biUigen  muster- 
feetatteten  Neuaus^aben  erscheinen   zu  lassen",  und  die  vor- 
JiéUingausgabe,   mit  der  das  Unternehmen  begonnen  hat,   ent- 
ern hochem'eulichen  Vorhaben.    Papier,   Druck,   Einband  sind 
Ue  8  Schellingporträts  stehen  durchaus  auf  der  Höhe  modemer 
iien.      Im    Werktext   sind   Druckfehler   geradezu    erstaunlich 
Beihenfolge  der  Schriften   ist  chronologisch,  die  Paginierung 
samtausgabe   ist  angemerkt.    Auch  mit  der  getroffenen  Aus- 
'ium  sehr  einverstanden  sein.     Das  fast  70  Seiten  füllende 
Sadiregister  ist  eine  nicht  zu  verachtende  Zugabe.    Mancher 
-^r^eh  die   etwas  gar  knappe  Fassung  des  bibliographischen 
diuieni;    auch   nach   einer  Notiz  über  die  Herkunft  der  H 
'"WtÂd  noch  manch  einer  gleich  dem  Rezensenten  vergeblich 
^inleitiing  ist  etwas  reichbch  breit  angelegt;  sie  beginnt  mit 


328  Rezensionen  (Hansen). 

den  Worten  :  „Der  Grieche  stand  am  Ufer  des  Meeres'^  :  es  wftre  am  Ende 
nicht  nötig  gewesen,  ^anz  so  weit  auszuholen.  Doch  diese  AussteUuBgei 
betreffen,  wie  man  sieht,  Kleinigkeiten,  die  nicht  imstande  sind,  die  frndi 
über  die  schöne  Publikation  zu  Deeinträchtigen. 

Halle  a.  S.  Fritz  Medicns. 

Hansen,  Adolph,  Dr.,  Prof.  der  Botanik  an  der  Universit&t  QieMi. 
Goethes  Metamorphose  der  Pflanzen.  Geschichte  einer  botaniaditt 
Hypothese.  XH  und  380  S.  Mit  9  Tafeln  von  Goethe  und  ISTafehi  im 
Venasser.    Giessen  1907. 

Es  ist  eine  Freude,  dieses  vortreffliche  Werk  anzuzeigen,  das  mift 
der  grössten  Sachkenntnis  die  wärmste  Liebe  zu  seinem  Gegenstande  TB^ 
bindet.  Dem  Gedankenkreise  der  „Kantstudien"  liegt  sein  Thema  keiofl^ 
wegs  so  fem,  wie  es  manchem  vielleicht  im  ersten  Augenblicke  scheinai 
möchte  —  ist  doch  Goethes  Verhältnis  zu  Kant  mindestens  zum  M 
durch  die  Grundbegriffe  der  Morphologie  vermittelt. 

Nach  einer  orientierenden  Übersicht  über  den  gegenwärtigen  Stnd 
der  Lehre  von  der  Metamorphose  der  Pflanzen  wird  Goethes  Theorie  i» 
führlich  dargele^,  dann  werden  die  Schicksale  dieser  Hypothese  yer(d|k 
—  Unverständnis  auf  Seiten  der  Linnéschen  Schule,  Zustimmung,  loSr 
vielfach  Verschlechterung  durch  die  naturphilosophisch  gerichteten  Bot^ 
niker.  Das  ungerechte  urteil  der  neueren  Botaniker,  bes.  auch  vonSadn^ 
über  Goethe  beruht  darauf,  dass  seine  originelle  Lehre  mit  diesen  ü» 
bildungen  verwechselt  wurde.  Nach  Hansens  Überzeugung  ^eht  äe 
Gegenwart,  ohne  es  zu  wissen,  auf  Goethe  zurück.  Sehr  wichü^  ist  dm 
die  genaue  Untersuchung  der  Vorarbeiten,  auf  die  Goethe  sidi  sUttm 
konnte.  Die  tiefdringende  kritische  Anal^  von  Linnés  Ansichten  ni 
die  eingehende  Darstellung  von  Caspar  Friedrich  Wolf&  bahnbredieBdei 
Untersuchungen  beweisen  Goethes  Originalität.  Eb  folçt  eine  historiBete 
Darstellung  von  Goethes  botanischen  Studien  —  die  trefiOiehe  Wiedeigite 
der  Tafeln,  die  Goethe  zeichnen  liess,  giebt  uns  ein  unachätzbares  IM» 
ment  dazu.  Die  letzten  Abschnitte  sind  mehr  polemischer  Natur,  m 
wenden  sich  gegen  Goethes  Verkleinerer:  L.  Celakovsky  und  seine  imt 
dischen  Gefolgsmänner  Wille  und  Warming,  die  Goethe  zum  Plagiifeor 
Linnés  machen  wollen,  sowie  gegen  die  unkritische  Verwechselung  dff 
Metamorphosenlehre  mit  der  Descendenztheorie. 

Das  Wesentliche  an  Goethes  Metamorphosenbegriff  ist  die  Eintiebt, 
dass  Cotyledonen,  Blätter,  Knospenschuppen  und  die  verschiedenen  Teile 
der  Blüte  sich  aus  gleichen  Anlagen  entwickeln  (homolog  sind),  und  àm 
ihre  verschiedene  Gestaltung  durch  Funktionswechsel  zu  deuten  ist.  Goetti 
hat  sich  auch  bemüht,  in  seiner  Lehre  von  der  „Verfeinerung  der  SiÜai^ 
eine  chemische  Hypothese  zur  kausalen  Erklärung  der  verschiedenen  A» 
bildung  der  homologen  Anlagen  zu  ersinnen.  THe  Urpiianze  ist  Um 
„platonische  Idee",  sondern  ein  „Schema^.  Auf  diese  AusffllmmM 
Hansens  (S.  275  f.)  mache  ich  alle  aufmerksam,  die  sich  für  die  FraceOBi 
TypusbegrifEs  interessieren  —  freilich  glaube  ich  nicht,  dass  seine  FanÊt 
lierungen  hier  endgültig  Klarheit  schanen,  wohl  aber,  dass  sie  auf  das  oft 
übersehene  Problem  hinweisen. 

H.  hat  nachgewiesen,  dass  ungenügende  Kenntnis  des  Originals  ori 
leider  auch  rationalistische  Verfälschung  der  Geschichte  an  dem  ab* 
schätzigen  Urteile  über  Goethes  Leistungen  Anteil  haben.  Aber  er  kead 
auch  den  tieferen  Gegensatz  der  Grundanschauungen,  von  dem  das  VM 
über  Goethe  abhängt,  und  er  formuliert  ihn  (S.  110)  in  einer  Pûtaft 
ge^n  Dubois-Reymond  in  den  Sätzen  :  „Dubois  scheint  .  .  .  nur  das  flr 
Wissenschaft  zu  halten,  was  sich  mechanisch  auflösen  lässt.  Em  Iftsst  éà 
aber  doch  nicht  leugnen,  dass  ausser  schwingenden  Molekülen  auch  äe 
Formen  der  Natur  mit  ihrem  Reichtum  von  Wirkungen  wirklich  ezistiena 
Die  spezielle  Naturwissenschaft  lässt  sich  neben  der  allgemeinen  doch 
nicht  wegleugnen".  Wohl  würde  sich  der  Philosoph  hier  andeis  —  ^ 
niger   realistisch   —   ausdrücken,   aber  sachlich   ist   die   VenddedeoM 


Rezensionen  (Arnoldt).  329 

Bwischen  physikalischer  und  morpholoffischer  Denkweise  scharf  heraus* 
gearbeitet.  Dass  Kant  bei  vorwiegend  physikaHscher  Orientierung  das 
Morphologische  Problem  in  der  Kntik  der  teleologischen  Urteilskrät  er- 
iMBt  hat,  ergab  für  Goethe  die  erste  Möglichkeit  eines  Hinüberblickens 
in  die  ihm  zunächst  so  fremde  Welt  der  kiitischen  Philosophie.  Be- 
flierkenswert  ist  allerdings,  dass  in  einem  Entwürfe,  der  nacn  Steiners 
Dfttierun«^  vor  1790  liegt  (Hansen  54  f.,  Weimarer  (Sophien-)  Ausgabe  11, 
Bd.  6,  312—319),  „transscendentell"  und^  priori"  in  einem  von  Kant  be- 
«infinssten  Sinne  gebraucht  werden.  Wenn  Steiners  Datierung  (für  die 
m  leider  in  der  Weimarer  Ausgabe  n,  6, 369  keine  Gründe  angiebt)  richtig 
ht,  so  liegt  in  dieser  sowohl  von  Vorländer  wie  von  mir  bisher  über- 
■(dienen  Stelle  ein  Dokument  der  Wirkung  von  Goethes  ersten  Kantstudien 
(1789)  vor. 

Goethes  Verhältnis  zur  Naturphilosophie  Schellings  und  seiner  Nach- 
folger findet  bei  H.  doch  nur  eine  einseitige  Beleuchtung.  Mit  Recht  be- 
tont er,  dass  Goethe  viel  mehr  Forscher  ist  als  sie  —  aber  die  grosse 
^^orwandtschaft  der  Grundbegriffe,  bes.  der  von  H.  etwas  vernachlässigten 
'iritäf*  und  ^Steigerung^  wird  nicht  genügend  beachtet.  Die  sehr 
eifliche  Einseitigkeit  des  Naturforschers  ist  aber  g^eeignet,  den  Philo- 
ben  vor  einer  ihm  naheliegenden  vorschnellen  Identifikation  von  Goethe 
«na  Schellin^  zu  warnen. 

Sehr  mteressant  ist  Hansens  Mitteilung  (867),  dass  die  bekannte 
BtoUe  über  Shakespeare,  Spinoza  und  Linné  in  der  „Geschichte  meines 
kotanischen  Studiums^  in  aem  für  die  Ausgabe  1831  bestimmten  Manu- 
ricript  von  Goethes  eigener  Hand  mit  Bleistiit  ausgestrichen  und  überdies 
Bit  einem  Papier  überklebt  ist.  Dagegen  ist  H«  die  P^uraUelstelle  in  dem 
Briefe  an  Zelter  vom  7.  November  1816  (Weimarer  Ausgabe  m,  27, 219, 10) 
Atgangen:  „Dieser  Tage  habe  ich  wieder  liinné  gelesen  und  bin  über 
Ueeen  ausserordentlichen  Mann  erschrocken.  Ich  hal^  unendlich  viel  von 
Ihm  g^elemt,  nur  nicht  Botanik.  Ausser  Shakespeare  und  Spinoza  "wüsste 
ich  nicht,  dass  irgend  ein  Abgeschiedener  eine  solche  Wirkung  auf  mich 
Mtan.*'  Hier  ist  auf  eine  allgemeine  Einwirkung  Linnés  hiuMdeutet,  über 
Se  uns  ein  so  trefflicher  Kenner  wie  Hansen  vielleicht  nänere  Auskunft 
geben  kann.    Mir  giebt  die  Stelle  bisher  ein  BAtsel  aut 

Freiburg  L  Br.  J.  Qohn. 

Arnoldt,  Emil.  Gesammelte  Schriften.  Herausgegeben  von 
Otto  Schöndörffer.    Verlag  von  Bruno  Cassirer,  Berlin  1906.    4  Bände. 

Der  Herausgeber  hat  die  fi^esammelten  Schriften  Emil  Amoldts  in 
duronologischer  lUihenfolge  geordnet  in  würdiger  Auastattun^  erscheinen 
liasen.  von  den  vier  Bänden  trägt  der  erste  die  Überschrift:  „In  der 
Bahn  freigemeindlicher  Ansichten.  Kritiken  und  Referate'*;  der  zweite 
Bund  ist  ^titelt:  „Kleinere  philosophische  und  kritische  Abhandlungen". 
tê  folgt  dann  der  Nachlass,  Band  I:  „Zur  Littérature,  Band  H:  „Er- 
llvtemae  Abhandlungen  zu  Kants  Kritik  der  reinen  Vernunft".  ~  Einige 
wenige  Angaben  des  Vorworts  unterrichten  über  die  äusseren  Lebens- 
idiicKsale  des  Verfassers  dieser  Schriften.  Eine  Herausgabe  der  Briefe 
Araoldts  wird  in  Aussicht  gestellt  und  es  soll  dann  genaueres  über  Amoldts 
Leben  mitgeteilt  werden. 

Der  Inhalt  der  hier  gesammelten  Aufsätze  und  Abhandlun^n  ist 
raich  und  mannigfaltig.  Alle  vereint  ihr  gemeinsamer  Ursprung:  die  echte 
pliiloeophische  Gesinnung  Amoldts,  welche  in  dem  Gedankemeben  Kante 
wtaen  Nährboden  gefunden  hat.  —  Von  den  im  ersten  Bande  vereinigten 
Sehriften  werden  besonders  die  Abhandlungen  und  Aufsätze  interessieren, 
welche  sich  auf  die  Beendung  und  RechÜertigung  der  philosophischen 
Weltanaichts  Amoldts  Beziehen,  soweit  sie  sein  Verhältnis  zur  Landes- 
kirche und  zur  R'^^-'^rung  betritt  und  sich  in  der  Förderung  freigemeind- 
fieher  Bestrebung  .^  dokumentiert.  Sehr  lesenswert  ist  gleich  oie  erste 
Abhandlung:  „Di)  freien  Gemeinden  und  die  Regierungen*',  welche  von 
dem  Pathos  freiheitlicher  Gesinnung  getragen  ist  und  in  welcher  Amoldt 


330  Rezensionen  (Arnoldt). 

auch  den  wuchtigen  Ausdruck  dieser  Gesinnung  nicht  zurtckhüt  a«é 
mildert.  —  Wegen  dieses  Artikels  unter  Anklage  gestellt,  verteidigte  éà 
Arnoldt  in  einer  „Bede  vor  dem  Schwurgericht*  (November  1850),  in 
welcher  er  den  Einzelfall  seines  persönlichen  Schicksals  UDter  aligeTneinéQ 
und  grossen  Gesichtspunkten  behandelt  und  so  zu  ^mboliscber  ä&deatpf 
erhebt,  unbekümmert  um  äussere  Folgen  und  Erfolge.  —  Neben 
beiden  Aufsätzen  findet  sich  noch  eine  Reihe  AbhuidliiDgen  in 
Bande  vereinigt,  deren  Grundbestimmung  und  Tendenz  den  Titel 
Bandes  rechtfertigt  und  erläutert,  so  z«  B.  die  Aufsätze  :  ^Herder  und  dtf 
Begriff  des  Fortschritts";  „Öffentliches  Leben";  -Wahrheit  und  Wmot  i 
Schaft"  u.  a.  m.  —  Ausserdem  sind  in  dem  ersten  Bande  die  Hritaken  vd 
Referate  Amoldts  über  verschiedene  Werke  geschichtüehen  und  pliilt^ 
sophischen  Inhalts  gesammelt.  Nicht  jedes  Referat  über  diese  z.  T.  m^ 
gessenen  Schriften,  nicht  jede  Notiz  Arnoldts  würde,  für  sieb  genomoM, 
Siteresse  und  Bedeutung  haben.  Aber  da  es  sich  darum  bandelt,  àm 
Aufbau  einer  geschlossenen  und  eigenartigen  Persönlichkeit  zu  vermchei 
und  einen  selbständigen  Denker  in  seinen  Äusserungen  vor  den  Lasar  hia« 
zustellen,  kann  man  mit  Recht  Vollständigkeit  zum  Prinadp  dar  Henur 
gäbe  dieser  Schriften  machen. 

In  einen  grösseren  und  festeren  Zusammenhang  treten  wir  ein  mi 
dem  zweiten  Bande  :  „Kleinere  philosophische  und  kritische  AbbandluD^'. 
Diese  Aufsätze,  zusammen  mit  den  im  vierten  Bande  (Band  II  des  Nacb» 
lasses)  vereinigten  Schriften:  „Erläuternde  Abhandlungen  zu  Kant«  Eiiïa 
der  reinen  Vernunft"  sind  inhaltlich  von  Bedeutung  und  haben  AmdSk 
Namen  mit  der  Darstellung,  Ausführung  und  Verteidigung  der  Kantâcbs 
Lehren  dauernd  verbunden.  Die  Reihe  dieser  Abhcmdlangen  wir^  mit 
einer  grösseren  Arbeit  eröffnet,  welche  betitelt  ist:  „Kants  transseeudenUli 
Idealität  des  Raumes  und  der  Zeit.  Für  Kant  gegen  Trendeienbur^.''  [d 
diesem  Werke  wird,  aus  Anlass  der  Kontroverse  zwischen  Kuno  Fisd»f 
und  Trendelenburg,  die  Kantische  Lehre  mit  Gründlichkeit  und  in  emer 
durch  eingehendes  Studium  gefestigten  Auffassung  gegen  TreDdêleDbarg 
vertreten  und  durchgeführt.  —  Den  Charakter  einer  freien  und  s^bstlft- 
di^n,  aber  durch  vorgefasste  Meinungen  und  Eitelkeiten  nicht  be^i|;in 
Hm^be  an  das  Gedankensystem  des  i)hilosophi8chen  Genius  trageii  afla 
Schriften,  welche  Arnoldt  in  philosopmscher  Betätigung  verfasst  hat  So 
auch  seine  Habilitationsschrift,  die  sich  in  diesem  Bande  findet:  ^t^ 
Kants  Idee  vom  höchsten  Gut",  wenngleich  Arnoldt  hier  Kants  Lektt 
nicht  überall  zustimmt.  So  sind  diese  Schriften  wie  auch  die  erläuten^d« 
Abhandlungen  zur  Kritik  der  reinen  Vernunft  besonders  geeignet,  m  d» 
Kantische  Gedankenwelt  einzuführen  und  zu  lehren,  den  Probkmgehiät 
der  Kantischen  Werke  zu  erfassen  und  fortzubilden. 

In  dieser  philosophischen  Gesinnung  erwuchs  Arnoldt  die  Bmàt^ 
ti^ng  mit  den  fi^ssikem  unserer  Litteratur.  Die  Abhandlittigeii  WB 
Litteratur  (Band  IE)  enthalten  zwei  grössere  Aufsätze  über  Goethes  Fi«! 
und  Lessings  Nathan;  daneben  eine  Reihe  von  kleineren  AbbandlaugeD  ûbff 
Lessings,  Schillers,  Goethes  Bedeutung,  über  den  „Gegensatz  der  Sdülk^ 
sehen  und  Goetheschen  Weltansicht",  Bemerkungen  zu  Goethesdben  Dn- 
men,  zu  Shakespeareschen  Stücken  u.  a.  m.  Diese  Arbeiten  sind  z.  T.  Fnf^ 
mente,  aber  sie  oie  ten  alle  etwas  inhaltlich  Bedeutendes;  in  der  ausfûfariirJim 
und  reichhaltigen  Analyse  von  Gk>ethes  Faust  und  Lesüsin^  Nathan  wt  i  ' 
bedeutender  Beitrag  zum  Verständnis  dieser  Werke  und  zur 
ihres  Ideengehaltes  geliefert. 

Inzwischen  ist  ein  weiterer  Band  der  gesammelten  Schriften 
Amoldts  erschienen;  und  zwar  als  Band  m  die  zweite   AbteÜuof  iif 
„Kleineren  philosophischen  und  kritischen  Abhandlupo^n^,    Dtesar  Bftà 
enthält   drei  wertvolle   Arbeiten   Amoldts:      ^anta   .    olegomeiia   mdt^ 
doppelt  re^jg^ert     Widerlegung  der  B 
zweitens:  ,,änt6  Jugend  und  d&  fünf  er 


Rezensionen  (Benner— Mau).  331 

und  endlich  einen  kritischen  Bericht  über  „Kant  nach  Kuno  Fischers  neuer 
DuTBtellang^. 

Die  erste  und  dritte  Abhandlung,  obwohl  an  andere  Meinungen  und 
Darstellungen  anknüpfend  und  zunächst  nur  kritisch  oder  gar  polemisch 
Mdacht  und  schrieben,  sind  dem  Verfasser  über  diesen  anfänglichen 
Sweck  der  Kntik  hinausgewachsen  und  haben  in  ihrer  sachlichen  Gründ- 
lichkeit und  gedanklichen  Schärfe  einen  selbständigen  Wert  und  bleibende 
Bedeutung.  Die  Arbeit  über  „Kants  Jugend  una  die  fünf  ersten  Jiüire 
•einer  Privatdozentur"  ist  als  grundlegend  für  die  biographische  Forschung 
allseitig  anerkannt  ;  in  ihrem  uihalt  äusserst  sorgfältig  und  gediegen,  trtet 
diese  Abhandlung  in  ihrer  Form  das  Gepräge  des  abständigen  Amolot- 
achen  Geistes,  der  den  Spuren  des  Genius  nachzuforschen  die  Gabe  hatte, 
in  dem  anscheinend  so  regelmässigen  und  einfachen  Ablauf  des  Eantischen 
Liebens  den  zauberhaften  Schein  der  Auserlesenheit  entdeckte  und  in  seine 
Darstellung  verweben  konnte.  — 

Altona-Hamburg.  Johannes  Paulsen. 

Benner,  Hogo.  Immanuel  Kants  Werke  in  acht  Büchern. 
An^gewählt  und  mit  Einleitung  versehen  von  Dr.  Hugo  Benner.  Verlag 
Ton  A.  Weichert,  Berlin.    2  Bände. 

Diese  Ausgabe  empfiehlt  sich  für  jeden,  der  den  Wunsch  hat,  die 
Hauptwerke  Kants  im  Zusammenhang  zu  lesen  und  zu  studieren.  Die 
Aaswahl  ist  von  dem  Herausgeber  na<£  dem  Gesichtspunkt  getroffen,  dass 
in  dieser  Ausgabe  aUes  enthalten  sei,  was  für  die  kritische  Philosophie 
bedeutsam  ist.  Demgemäss  enthält  der  erste  Band  „Beobachtungen  über 
das  Gefühl  des  Schönen  und  Erhabenen^.  „Träume  eines  Geistersehers". 
JDie  Kritik  der  reinen  Vernunft".  .Die  Prolegomena".  Der  zweite  Band 
dieser  Ausgabe  enthält  die  „Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten". 
JKritik  der  praktischen  Vernunft".  „Die  Kritik  der  Urteilskraft".  „Der 
Streit  der  Fakultäten".  „Ailgemeine  Naturgeschichte  und  Theorie  des 
Himmels".  —  In  diesem  zweiten  Bande  findet  man  ausserdem  interessante 
Ansfflhrungen  Kants  über  die  „Philosophie  als  einem  System**,  femer  „Von 
dem  Svstem  aller  Vermögen  des  menschlichen  Gemüts",  endlich  eine 
^ncyklopädische  Introduktion  der  Kritik  der  Urteilskraft  in  das  „System 
der  Kritik  der  reinen  Vernunft".  Diese  Stücke  sind  genommen  aus 
J.  J.  Becks  Auszug  aus  Kants  ursprünglichem  Entwurf  der  Einleitung  in 
die  Kritik  der  Urteilskraft  — 

Der  Herausgeber  hat  den  Kantischen  Schriften  eine  sachlich  orien- 
tierende Einleitung  vorausgeschickt,  welche  zugleich  über  Kants  äussere 
Liebensschicksale  und  seine  philoso^ische  Entwicklung  unterrichtet. 

Der  Text  der  Kantischen  Werke  ist  unter  ^rückdchtigung  der 
Akademieausgabe  sorgfältigst  behandelt.  Die  hier  vorliegende  Ausgabe 
der  Prolegomenen  unterscheidet  sich  zu  ihrem  Vorteil  von  der  Akademie- 
anwabe  &durch,  dass  die  Vaihingersche  Hypothese  von  der  Blattversetzung 
fvgL  hierüber  H.  Vaihinger,  Eine  Blattversetzung  in  Kants  Prolegomena. 
Flulos.  Monatshefte  1879.  Bd.  15.  S.  821—332)  berücksichtigt  und  die  so 
ermöglichte  Verbesserung  des  Textes  durchgeführt  ist.  Es  oesteht  kein 
Gmno,  an  der  Richtigkeit  der  Vaihingerschen  Hypothese  und  seines  Nach- 
weises einer  Textverschiebung  in  den  fraglichen  Abschnitten  der  Prolego- 
mena zu  zweifeln.  (Vgl.  auch:  Sitzler,  Zur  Blattversetcung  in  Kants 
Prolegomena.  Mit  einem  Nachwort  von  Hans  Vaihinger.  Kant-Studien. 
Bd.  Ä.    S.  638  ff.) 

Altona-Hamburg.  Johannes  Paulsen. 

^^  Man,  Oftorg.  Die  Religionsphilosophie  Kaiser  Julians  in 
feinen  Reden  auf  König  Helios  und  die  Göttermatter.  Mit  einer 
Cbereetzung  der  beiden  Râen.  Leipzig.  Teubner.  1908. 
^L^  Das  Oticli  sribt  ke  zusammenhängende  Darstellung  von  Julians 
HM%iofi9philo«o  .  som  i  zunftdist  einen  Kommentar  zu  den  beiden 
^fmSm,  deren  Ü  uo  Anhang  abgedruckt  ist.    Nur  kuxs  wird 


330  Rezensionen  (Amoldt). 

auch  den  wuchtigen  Ausdruck  dieser  Gesinnung  nicht  zurückhfilt  nodi 
mildert.  —  Wegen  dieses  Artikels  unter  Anklage  gestellt,  verteidigte  ad 
Amoldt  in  einer  „Bede  vor  dem  Schwurgericht^  (November  186Q)f  ia 
welcher  er  den  Einzelfall  seines  persönlichen  Schicksals  unter  allgemeineB 
und  grossen  Gesichtspunkten  behandelt  und  so  zu  ^mbolischer  Bedeutmif 
erhebt,  unbekümmert  um  äussere  Folgen  und  Eriolge.  —  Neben  diesei 
beiden  Aufsätzen  findet  sich  noch  eine  Reihe  Abhimdlungen  in  dieses 
Bande  vereinigt,  deren  Grundbestimmung  und  Tendenz  den  Titel  diem 
Bandes  rechtfertigt  und  erläutert,  so  z.  B.  die  Aufsätze  :  „Herder  und  der 
Begriff  des  Fortschritts";  „Öffentliches  Leben";  -Wahrheit  und  WmBùr 
Schaft"  u.  a.  m.  —  Ausserdem  sind  in  dem  ersten  Bande  die  Kritiken  and 
Referate  Amoldts  über  verschiedene  Werke  geschichtlichen  und  jèikh 
sophischen  Inhalts  gesammelt.  Nicht  jedes  Referat  über  diese  z.  T.  Ts^ 
gessenen  Schriften,  nicht  jede  Notiz  Arnoldts  würde,  für  sich  genommei, 
biteresse  und  Bedeutung  haben.  Aber  da  es  sich  darum  handelt,  des 
Aufbau  einer  geschlossenen  und  eigenartigen  Persönlichkeit  zu  vennches 
und  einen  selbständigen  Denker  in  seinen  Äusserungen  vor  den  Leser  hin- 
zustellen, kann  man  mit  Recht  Vollständigkeit  zum  Prinzip  der  Hen» 
gäbe  dieser  Schriften  machen. 

In  einen  grösseren  und  festeren  Zusammenhang  treten  wir  ein  mit 
dem  zweiten  Bande:  „Kleinere  philosophische  und  kritische  AbhandlnsMi^ 
Diese  Aufsätze,  zusammen  mit  den  im  vierten  Bande  (Band  H  des  'SiAr 
lasses)  vereinigten  Schriften:  „Erläuternde  Abhandlungen  zu  Kants  Kritä 
der  reinen  Vernunft"  sind  inhaltlich  von  Bedeutung  und  haben  Amoktfei 
Namen  mit  der  Darstellung,  Ausführung  und  Verteidigung  der  Kantiech« 
Lehren  dauernd  verbunden.  Die  Reihe  dieser  Abhandlungen  wird  wi 
einer  grösseren  Arbeit  eröffnet,  welche  betitelt  ist:  „Kants  transscendentila 
Idealität  des  Raumes  und  der  Zeit.  Für  Kant  gegen  Trendelenbuiv."  b 
diesem  Werke  wird,  aus  Anlass  der  Kontroverse  zwischen  Knno  Fiscte 
und  Trendelenburg,  die  Kantische  Lehre  mit  Gründlichkeit  und  in  einer 
durch  eingehendes  Studium  gefestigten  Auffassung  gegen  Trendelenbuf 
vertreten  und  durchgeführt.  —  Den  Charakter  einer  freien  und  selbstlB- 
di^n,  aber  durch  vorgefasste  Meinungen  und  Eitelkeiten  nicht  beeog^tea 
Hingabe  an  das  Gedankensystem  des  i)hilosophi8chen  Ghenios  tracen  tOi 
Schriften,  welche  Amoldt  in  philosophischer  Betätigung  ver&sst  hat  So 
auch  seine  Habilitationsschrift,  die  sich  in  diesem  Bande  findet:  „Ober 
Kants  Idee  vom  höchsten  Gut",  wenngleich  Amoldt  hier  Kants  Lehnt 
nicht  überall  zustimmt.  So  sind  diese  Schriften  wie  auch  die  erlftatendet 
Abhandlungen  zur  Kritik  der  reinen  Vernunft  besonders  geeignet^  in  £t 
Kantische  Gedankenwelt  einzuführen  und  zu  lehren,  den  Ptoblemgdiift 
der  Kantischen  Werke  zu  erfassen  und  fortzubilden. 

Li  dieser  philosophischen  Gesinnung  erwuchs  Amoldt  die  Dasclilf 
ti^ng  mit  den  fi^ssikem  unserer  Litteratur.  Die  Abhandlungen  wo 
Litteratur  (Band  H)  enthalten  zwei  grössere  Aufsätze  über  €k>ethe8  fnâ 
und  Lessings  Nathan;  daneben  eine  R^ihe  von  kleineren  Abhandlangen  tiber 
Lessings,  Schillers,  Goethes  Bedeutung,  über  den  „GegensatE  der  Sefafller 
sehen  und  Goetheschen  Weltansicht",  Bemerkungen  zu  Gk>ethe8chen  D» 
men,  zu  Shakespeareschen  Stücken  u.a.m.  Diese  Arbeites  sind  s-T.!^ 
mente,  aber  sie  nieten  alle  etwas  inhaltlich  Bedeutendes;  in  der  ansfBhitiftoi 
und  reichhaltigen  Analyse  von  Gk>ethes  Faust  und  Leasings  Nathan  ût  en 
bedeutender  Beitrag  zum  Verständnis  dieser  Werke  und  snr  Anfrniflmof 
ihres  Ideengehaltes  geliefert. 

Inzwischen  ist  ein  weiterer  Band  der  gesanunelten  Schriften  Safl 
Amoldts  erschienen;  und  zwar  als  Band  HI  die  zweite  Abtahnfte 
„Kleineren  philosophischen  und  kritischen  Abhandluniren^.  Dieser  ^m 
enthlüt  drei  wertvolle  Arbeiten  Amoldts:  J^smts  '.  (degomena  iiicfei 
doppelt  re^jgfiert.  Widerlegung  der  Benno  ferdmani  hen  HypotiMee*; 
zweitens:  „änts  Jugend  und  die  fünf  ersten  Jahres  eiiioc'  IhivaäfoieBtv^t 


Rezensionen  (Benner— Mau).  331 

d  endlich  einen  kritischen  Bericht  über  „Kant  nach  Knno  Fischers  neuer 
^ntellimg''. 

Die  erste  und  dritte  Abhandlung,  obwohl  an  andere  Meinungen  und 
uretellungen  anknüpfend  und  zunächst  nur  kritisch  oder  gar  polemisch 
dacht  und  schrieben,  sind  dem  Verfasser  über  diesen  anfänglichen 
ireck  der  Kntik  hinausgewachsen  und  haben  in  ihrer  sachlichen  Gründ- 
likeit  und  gedanklichen  Schärfe  einen  selbständigen  Wert  und  bleibende 
^eotung.  Die  Arbeit  über  „Kants  Jugend  una  die  fünf  ersten  Jahre 
mer  Privatdozentur"  ist  als  grundlegend  für  die  biographische  Forschung 
aeitig  anerkannt;  in  ihrem  Inhalt  äusserst  sorgfältig  und  gediegen,  trägt 
we  Abhandlung  in  ihrer  Form  das  Gepräge  des  selbständigen  Amolot- 
ben  Geistes,  der  den  Spuren  des  Genius  nachzuforschen  die  Gabe  hatte, 
dem  anscheinend  so  regelmässigen  und  einfachen  Ablauf  des  Kantischen 
ihena  den  zauberhaften  Schein  der  Auserlesenheit  entdeckte  und  in  seine 
intellung  verweben  konnte.  — 

Altona-Hamburg.  Johannes  Paulsen. 

Renner,  Hogo.  Immanuel  Kants  Werke  in  acht  Büchern, 
lagewählt  und  mit  Einleitung  versehen  von  Dr.  Hugo  Renner.  Verlag 
n  A.  Weichert,  Berlin.    2  Bände. 

Diese  Ausgabe  empfiehlt  sidi  für  jeden,  der  den  Wunsch  hat,  die 

inptwerke  Kants  im  Zusammenhang  zu  lesen  und  zu  studieren.    Die 

iswahl  ist  von  dem  Herausgeber  nach  dem  Gesichtspunkt  getroffen,  dass 

dieser  Ausgabe  alles  enthalten  sei,  was  für  die  kritische  Philosophie 

dentsam  ist.    Demgemäss  enthält  der  erste  Band   „Beobachtungen  über 

8  Gefühl  des  Schönen  und  Erhabenen'*.  „Träume  eines  Geistersehers". 
fie  Kritik  der  reinen  Vernunft".  .Die  Prolegomena".  Der  zweite  Band 
Bser  Ausgabe  enthält  die  „Grundlegung  zur  MetaphysÜL  der  Sitten". 
[ritik  der  praktischen  Vernunft".  „Die  Kritik  der  Urteilskraft".  „Der 
reit  der  Fakultäten".  „Allgemeine  Naturgeschichte  und  Theorie  des 
immels".  —  In  diesem  zweiten  Bande  findet  man  ausserdem  interessante 
isftthrungen  Kants  über  die  „Philosophie  als  einem  System",  femer  „Von 
m  Svstem  aller  Vermögen  des  menschlichen  Gemüts",  endlich  eine 
«neyklopädische  Introduktion  der  Kritik  der  Urteilskraft  in  das  „System 
r  Kritik  der  reinen  Vernunft".  Diese  Stücke  sind  genommen  aus 
J.  Becks  Auszug  aus  Kants  ursprünglichem  Entwurf  der  Einleitung  in 

9  Kritik  der  Urteilskraft  — 

Der  Herausgeber  hat  den  Kantischen  Schriften  eine  sachlich  orien- 
krende  Einleitung  vorausgeschickt,  welche  zugleich  über  Kants  äussere 
ibensschicksale  und  seine  philosophische  Entwicklung  unterrichtet. 

Der  Text  der  Kantischen  Werke  ist  unter  ^rttcksichtigung  der 
cademieausgabe  sorgfältigst  behandelt.  Die  hier  vorliegende  Ausgabe 
r  Prolegomenen  unterscheidet  sich  zu  ihrem  Vorteil  von  der  Akademie- 

rbe  &durch,  dass  die  Vaihingersche  Hypothese  von  der  Blattversetcung 
hierüber  H.  Vaihinger,  Eine  Blattversetcung  in  Kante  Prolegomena. 
oios.  Monatshefte  1879.  Bd.  15.  S.  821—332)  Berücksichtigt  una  die  so 
Döglichte  Verbesserung  des  Textes  durchgeführt  ist  Es  oesteht  kein 
und,  an  der  Richtigkeit  der  Vaihingerschen  Hypothese  und  seines  Nach- 
lises  einer  Textverschiebung  in  den  fraglichen  Abschnitten  der  Prolego- 
ma  zu  zweifeln.  (Vgl.  auch:  Sitzler,  Zur  Blattversetzung  in  Kants 
olegomena.  Mit  einem  Nachwort  von  Hans  Vaihinger.  Kant-Studien. 
L  IX.    S.  638  ff.) 

Altona-Hamburg.  Johannes  Paulsen. 

Man,  Georg.  Die  Religionsphilosophie  Kaiser  Julians  in 
inen  Reden  auf  König  Helios  und  die  Göttermatter.  Mit  einer 
>ersetzung  der  beiden  Räen.    Leipzig.    Teubner.    1908. 

Das  Buch  çibt  keine  zusammennängende  Darstellung  von  Julians 
»ligionsphilosophie,  sondern  zunächst  einen  Kommentar  zu  den  beiden 
»den,  deren  Üoersetzung  im  Anhang  abgedraofe^  ist    Nur  koxs  wird 


332  Rezensionen  (Bertling). 

jedesmal  am  Ende  der  reli^onsphilosophische  Inhalt  der  Rede 
gefasst  nnd  zum  Schlnss  die  Stellang  Julians  innerhalb  der  neuplatoniachn 
Philosophie  überhaupt  erörtert.  Übersetzung  wie  Kommentar  sind  wasÊn- 
ordenthch  verdienstfich.  Diese  Reden  Julians,  die  wie  kaum  eine  andere 
Schrift  die  Vermischung  der  religiösen  Bestrebungen  der  Zeit,  iusbesoa- 
dere  der  Helios-Mithras-Reli|;ion ,  mit  der  neupmtoniachen  Philosopkie 
kennen  lehren,  bieten  doch  dem  Verständnis  ausserordentUche  Schwieiig- 
keiten.  Eine  Genaue  Kenntnis  der  Terminologie  des  Nenplatonisnnu  iit 
dafür  unerlftssüch.  Und  nach  dieser  Seite  liegt  auch  der  Haaptwert  der 
hier  ^botenen  Erklärungen.    Eine  umfassende  Belesenheit  in  der  neu- 

Slatonischen  Litteratur  setzt  den  Verfasser  in  den  Stand,  die  Gtoscbiebto 
er  einzelnen  Be&riff e  innerhalb  dieser  Schule,  oft  mit  Rückblicken  bis  auf 
Aristoteles  und  Hato,  zu  verfolgen.  Damit  bietet  das  Buch  eigentüdi 
mehr,  als  der  Titel  anzudeuten  scheint.  Keiner,  der  sich  mit  dem  Ne»- 
platonismus  beschäftigt,  wird  an  den  hier  gegebenen  Untersuchungen  über 
einzelne  Begri£Ee  oder  philosophische  Lehren  vorübergehen  können.  Hier 
in  eine  Besprechung  der  Einzelheiten  einzutreten,  ist  natürlich  unmöglich. 
Nur  auf  einige  der  längeren  Exkurse  möchte  ich  hinweisen:  über  den 
Seelenbegriff,  die  Elemente,  .den  xoçfioç  yoeçoç,  Materie  und  Form,  Engel 
Dämonen  und  Heroen  u.  a.  Über  manches  lässt  sich  natürlich  streiten. 
So  ist  es  mir  zweifelhaft,  ob  man  wirklich  so  scharf,  wie  es  dfir  Verf.  (S. 
6  ff.)  tut,  zwei  Richtungen  der  Seelenlehre  innerhalb  des  Nenplatonionni 
scheiden  kann.  Deutliche  Gliederung  des  Inhalts  und  gelegenuiche  Fun- 
phrasen erleichtem  das  Verständnis  der  Reden.  Die  ObersetKnn^  eistnbt 
natürlich  in  erster  Linie  wissenschaftliche  Genamgkeit,  weniger  eine 
künstlerische  Form.  Trotzdem  hätte  das  häufige  Wort  roritéç  vielleicfal 
etwas  kürzer  übersetzt  werden  können,  als  durch  den  umständlich«!  Im- 
druck,  der  hier  dafür  gewählt  ist.  Hoffentlich  lässt  der  Verf.  die  »> 
gekündigte  Sammlung  der  Jamblichos-Fragmente  bald  folgen. 

Strassburg  LE.  IC  Wondt 

Bertling,  O.  Geschichte  der  alten  Philosophie  als  Weg  der 
Erforschung  der  Kausalität  für  Studenten,  Gymnasiasten  nnd 
Lehrer.    Leipzig.    Werner  Klinkhardt.    1907. 

Der  Titel  bezeichnet  den  Zweck  des  Buches.  Es  soll  besonden 
solchen,  die  zum  ersten  Male  an  die  antike  Philosophie  herantreten,  nr 
Einführung  dienen.  Der  Verfasser  will  hierfür  aber  nicht  nur  eine  eàjafmà 
historische  Darstellung  geben.  Eine  solche  lässt,  wie  er  meinte  leicht  eine 
Enttäuschung  erleben,  da  die  gesamte  Gedankenarbeit  der  alten  Phlkh 
sophen  uns  für  unsere  heutigen  philosophischen  Probleme  keinen  Gewinn 
mehr  zu  bieten  scheinen.  Er  will  im  Gegensatz  hierzu  zeiMn,  dasi  ma 
die  antike  Philosophie  einen  dauernden,  nodi  für  uns  wertvoUen  Eikenntnii* 
ertrag  geliefert  habe.  Er  findet  diesen  auf  dem  G^ebiete  des  Kami» 
problems  und  unterscheidet  zu  diesem  Zwecke  eine  dreifache  Kansiditit 
Wir  wollen  erkennen,  wie  das  Wirkliche  so  geworden  ist^  wie  es  jetst 
ist  (zeitliche  K),  oder  wie  jedes  Einzelne  sich  zu  dem  Andern  veinttte 
^itlich  verbindende  K.),  oder,  woher  und  wodurch  das  Wirkliche  seine 
Existenz  habe  und  worauf  es  hinziele  (Daseinskraft).  Wie  man  sich  aock 
zu  dieser  Einteilung  stellen  möge,  gewiss  ist,  dass  die  antike  Fhilosoplne 
wichtige  und  noch  heute  duräaus  lebendige  Erkenntnisse  in  der  Inge 
der  Kausalität  errungen  hat.  Aber  ob  dies  &e  einzige,  ob  dies  aneh  nnr 
die  wichti^te  und  am  unmittelbarsten  noch  heute  leoendige  Wirkong  te 
antiken  Philosophie  ist?  Das  wird  man  nicht  mit  Unrecht  besweifdn 
dürfen,  wenn  man  an  die  Gebiete  der  Ethik  und  der  Religionsphiloeopliie 
denkt,  die  zumal  durch  die  Vermittlung  des  Christentums  unser  Denken 
noch  auf  weiten  Strecken  beherrschen.  An  dieser  einseitigen  Betonung  te 
einen  Frage  leidet  etwas  die  historische  Darstellung,  aber  doch  niclit  so 
sehr  als  man  fürchten  könnte.  Wohl  sind  die  eben  berührten  Gdneto 
gelegentlich  etwas  kurz  weggekommen;  z.  B.  werden  die  intereesswtei 
Spekulationen  der  Sophisten  über  Staat  und  Recht  kaum  berührt^  sto  im 


Bezensionen  (Gutberiet).  333 

Ckuizen  ist  die  Darstellung  doch  eine  gleichmässige  und  die  anfangs  auf- 
gestellte Tendenz  drftngt  sich  nicht  störend  hervor.  Das  Werk  ^bt, 
gelegentlich  im  unmittelbaren  Anschluss  an  Zeller  oder  Überweg-Hemze, 
einen  kurzen  Überblick  über  die  Entwickelung,  der  im  ganzen  klar  die 
wesentlichsten  Punkte  heraushebt,  minder  wichtiges  durch  kleineren  Druck 
snrflcktreten  Iftsst.  Von  der  üblichen  Auffassung  entfernt  sich  der  Verf. 
wohl  am  weitesten  bei  der  Darstellung  der  eleatischen  Philosophie.  Ob 
er  mit  seiner  Behauptung,  das  Sein  der  Eleaten  bezeichne  die  in  allem 
Wirklichen  sich  betätigende  Daseinskraft,  Anklang  finden  wird,  ist  mir 
freilich  zweifelhaft  Die  jüngeren  Naturphilosophen,  Empedokles,  Anaxa- 
goras  und  Demokrit,  wären  vielleicht  oesser  gesondert  behandelt  und 
nicht,  wie  es  hier  geschehen  ist,  zusammen.  Unbillig  kurz  scheint  mir 
der  Skeptizismus  abgetan.  Gerade  die  Argumente  der  Skeptiker,  die  im 
einzelnen  überhaupt  nicht  angeführt  werden,  sind  doch  zum  Teil  noch 
liente  nicht  ganz  veraltet. 

Strassburg  i.  £.  M.  Wundt. 

Gntberlet,  C.  Der  Kampf  um  die  Seele.  2.  verbesserte  und 
▼ermehrte  Auflage.    Eirchman.    Mainz  1903. 

Referent  erhielt  schon  vor  einigen  Jahren  das  vorstehende  Buch 
Ton  der  Redaktion  der  „Kantstudien"  zum  Zweck  der  Besprechung.  Er 
mnss  indessen  offen  gestehen,  dass  er  nach  der  Lektüre  einiger  Abschnitte 
diese  Aufgabe  für  so  wenig  dringend  erachtete,  dass  er  das  Buch  bei  Seite 
legte,  mit  um  so  ruhigerem  Gewissen,  als  die  1.  Auflage  bereits  seinerzeit 
in  den  „Kantstudien"  gewürdigt  worden  ist;  eine  Kritik,  auf  die  G.  in 
•inigen  entrüsteten  Angriffen  quittiert.  Ich  hätte  die  Anzeige  auch  wohl 
Mnz  unterlassen,  wenn  ich  nicht  zufällig  eine  Stelle  gefunden  hätte,  die 
Bei  den  Lesern  der  Kantstudien  wohl  Interesse  erregen  dürfte.  Ich  setze 
sie  deshalb  wörtlich  hierher: 

„Ein  echter  Kantianer  kann  kein  wahrer  Naturforscher  sein,  denn 
das  hauptsächlichste  Ob^'ekt  der  Naturforschung,  z.  B.  der  Mechanik, 
Physik,  Chemie,  Biologie  ist  die  Bewegung.  Bewegung  ist  aber  ein 
Verhältnis  zwischen  lUum  und  Zeit,  sie  vollzieht  sich  im  Raum  und  in 

der  Zeit,  ihre  Geschwindigkeit  wird  gemessen  durch  den  Quotienten  ^,  in 

dem  s  den  durchlaufenen  Raum,  t  die  dazu  verwendete  Zeit  bezeichnet. 
Da  also  nach  Kant  Raum  und  Zeit  nicht  in  der  wirklichen  Welt,  sondern 
als  Anschauunfisformen  im  Subjekte  sich  finden,  so  ist  auch  die  Beweg^g 
nnr  ein  subjektiver  Vorgang,  die  Naturwissenschaften  haben  kein  wirkhches 
Weltobjekt,  sondern  bescmlftigen  sich  mit  Seelenvorgängen.  Die  Natur- 
wissenschaft wird  zur  Psychologie:  eine  Konsequenz,  £e  von  manchen 
Ijuitianem,  z.  B.  von  P.  Natorp.  wirklich  gezogen  wird;  dass  aber  da- 
mit die  Naturwissenschaft  als  sofcne  beseitigt  wira,  leuchtet  ein.**  (I.  Bd., 
8.  149.) 

Diese  Interpretation  wird,  wie  fi^esagt,  die  Leser  der  Kantstudien 
Interessieren;  der  Schlusssatz  aber  insoesondere  Herrn  Professor  Natorp, 
der  doch  einigermassen  darüber  erstaunt  sein  dürfte,  dass  er  der  Haupt- 
Tertreter  des  von  ihm  so  scharf  bekämpften  Psychologismus  ist,  noch  dazu 
des  Ps^chologismus  in  einer  Form,  der  man  gewiss  alles  Mögliche,  z.  B. 
SjTflndliche  Aosurdität,  aber  keinesfalls  Mangel  an  Konsequenz  vorwerfen 
Sann.  —  Ich  bemerke  ausdrücklich,  dass  ich  Entdeckungen  von  so  ver- 
blflffender  Neuigkeit  trotz  einigen  Suchens  in  dem  Buche  nicht  weiter  ge- 
funden habe,  im  Besonderen  wird  weder  Goethe  als  Thomist,  noch  Papst 
Leo  Xin.  als  Hanptvertreter  des  Empiriokritizismus  zitiert. 

Im  Ernst:  Kantverständnis  ist  eine  schwere  Sache,  die  unfreiwillige 
Komik  seiner  Kantinterpretation  wollen  wir  Herrn  Gutberiet  verzeihen. 
Die  Behauptung  über  Natorp  aber,  die  G.  nicht  hätte  aufstellen  können, 
wenn  er  eine  Schrift  von  Natorp  gelesen  hätte,  zeugt  nicht  nur  von  gänz- 
Uehem  Mangel  an  Verständnis,  sondern  auch  von  Mangel  an  ehrlichem 


334  Rezensionen  (Ehlers— Schmidtkuiz). 

Wollen;  eine  solche  Behauptung  seinen  Lesern  voizusetKen,  ist  eine 
wissenschaftliche  Frivolität.  Danach  wird  man  über  die  femeren^wiss»' 
schaftlichen"  Elaborate  des  Herrn  Gutberlet,  in  denen  er  die  Vertreter 
der  modernen  Philosophie  vor  sein  Forum  zitiert,  zur  Tagesordnung  übe^ 
gehen  dürfen. 

München.  v.  Aster. 

Ehlers,  Rudolph.  Richard  Rothe.  (Heft  11  der  „Mftnner  der 
Wissenschaft".)    Leipzig,  bei  Welcker.    (58  S.) 

Es  ist  auch  heute  noch  ein  ernstes  Problem  der  ReÜA^onsphilosophie, 
die  Stellung  der  Religion  in  ihrer  Selbständigkeit  gegenüber  den  anderen 
(Gebieten  des  Geisteslebens  und  in  ihrer  organisoien  Stellung  innerhalb 
des  Organismus  der  Geisteskultur  kritisch  zu  begründen.  Ha  kann  es 
denn  nur  dankbar  begrüsst  werden,  wenn  immer  wieder  und  so  auch  ntm 
von  Ehlers  hingewiesen  wird  auf  den  scharf-  und  feinsinnigen  Religioiif' 
Philosophen,  der  zugleich  einer  der  tiefsten  und  innigsten  religifisen  Fei^ 
sönlichkeiten  des  vorigen  Jahrhunderts  war  und  dessen  Denken  sich  mit 
ganz  besonderem  Nachdruck  in  den  Dienst  jenes  Problèmes  stellte  — ,  snf 
Richard  Rothe.  In  der  Form  eines  Lebensabrisses  tritt  in  schaifon  Um- 
rissen einmal  die  edle  Persönlichkeit  und  zum  Andern  die  originale^  Denk« 
art  des  eigentümlichen  Mannes  hervor,  dem  die  Reli^on  sowohl  wie  aDei 
innerwelthche  Geistesleben  als  Erscheinungsformen  eines  ^^rossen  geisticen 
Prozesses  und  doch  wieder  als  eine  freie  Tat  des  intelligiblen  lebM,  au 
sich  selbst  setzt,  gelten,  womit  er  das  tiefste  Problem  aller  Etiiik  und 
Religionsphilosophie  im  Geiste  Kants  und  Fichtes  anzeigt.  Das  religiflie 
Leben  ist  ihm  darum  auch  notwendig  verbunden  mit  dem  sittlichen  Leben, 
und  die  allumfassende  sittliche  —  d.  i.  für  ihn  fnach  Hegel)  staatliche  Ge- 
meinschaft gilt  ihm  als  Boden  für  die  Auswirkung  der  sittlich-religifiea 
Gesinnung.  Diese  Auswirkung  ist  aber  eine  stete,  und  die  chrisÜiGlie 
Kultur  darum  nie  eine  fertige,  sondern  stets  eine  werdende,  in  der  ^eioe 
religiös  erfüllte  Humanität  das  Gesamtleben  j^;estaltet''.  Von  diesen 
Grundgedanken  aus  entwickelte  Rothe  seine  tie&ten  historischen  imd 
spekulativen  Gedanken  und  seine  praktische  Mitarbeit  an  den  allgemeiih 
geistigen  und  kirchlichen  Problemen  der  Gegenwart,  wobei  stets  der  feise 
Geist  sich  offenbart,  in  dem  sich  innige  Rdi^ositat  mit  modernem  Gent 
verbindet,  und  der  unserer  Zeit  zwar  kein  System,  aber  ein  an  tief- 
dringenden Beobachtungen,  Wahrheiten  und  Gedanken  tiberreiches  WeA 
für  die  kritische  Religionsphilosophie  und  Denkarbeit  überiiaupt  dariôetet 

Laufen  (Baden).  H.  Maaa 

Sohmidtkurz,  Hans,  Dr.  Einleitung  in  die  akademische  PI" 
dagoj^ik.  Halle  a.  S.,  Verlag  der  Buchhandlun|:  des  Waisenhauses,  IW. 
Mit  emem  Materialienanhang,  einem  bibliographischen  Anhang  und  einen 
Autorenregister.    (206  S.) 

Mit  den  kritisch  besonnenen  und  logisch  scharfen  Ansführongen  dei 
Verf. s  tritt  ein  neuer  Zweig  der  pädagogischen  Wissenschaft  ins  DaseiSi 
die  akademische  Pädagogik.  Der  akademische  Betrieb  stellt  die  eina^  der 
Schulbetrieb  die  andere  Spezies  der  ganzen  Pädagogie  dar.  Gemeinssm  iit 
beiden  der  Erfolg,  dass  Menschen  erzogen,  innerlich  gebildet  wefdei. 
Auf  der  Schule  ist  diese  Bildung  Selbstzweck,  auf  der  Univenitit  (und 
den  anderen  Hochschulen)  notwendiger  Miteifolg  der  Tradierung  vos 
Wissenschaften  und  Künsten  nach  den  akademischen  Prinnpien  der  Lehis 
Lern-  und  Lebensfreiheit.  In  sympathischer  und  klarer  Weise  fuhrt  Sek 
jene  Prinzipien  näher  aus  und  zerstreut  mit  diesen  AasfOhrongai  tos 
vornherein  den  Argwohn,  als  woUe  er  mit  der  Übertragimg  des^ameai 
der  Pädagogie  auf  den  üniversitätsbetrieb  eine  Übertragung  auch  der 
Schulmethoden  und  des  Schulzwangs  befürworten.  Im  Gk^nml  weilt  er 
überall  mit  grösster  Entschiedenheit  auf  die  ditferenten  Merkmale  Ui, 
nur  dass  es  sich  hier  eben  um  keine  Verschiedenheit  -vom  disimtes 
Dingen,  sondern  um  eine  di^unkte  Verschiedenheit  unter  der  Knheit  dei' 


Rezensionen  (Speck).  335 

selben  nächsten  Oberbesriffe  handle.  Die  praktischen  Folgerungen  unseres 
Autors  gipfeln  in  der  Forderong,  dass  sich  auch  die  Hocl^chullehrer  pftda- 
gogisch  bilden  sollen,  unbeschadet  der  akademischen  Freiheit,  ohne  Ein- 
nmrnng  irgendwelchen  Zwanges.  Entsprechend  fehlt  es  dem  Buche  nicht 
an  tremicnen,  didaktischen  Winken  für  den  Hochschulunterricht.  So  darf 
es  allen  Akademikern  zu  fruchtbarer  Selbstbesinnung  über  wichtige  Seiten 
ihrer  Tätigkeit  empfohlen  sein,  und  auch  der  Schtümann  wird  sich  durch 
dasselbe  gefördert  fühlen,  indem  er  seine  Tätigkeit  und  die  artverwandte, 
dennoch  vielfach  und  notwendig  abweichende  des  Universitätslehrers  in- 
•traktiv  verglichen  findet 

Halle  a.  S.  Hermann  Schwarz. 

Speck,  Johannes,  Dr,  phil.,  Oberlehrer  an  der  Domschule  zu  Cammin. 
Der  Entwickelungsgedanke  bei  Goethe.  Hanau,  Clauss  & Feddersen. 
1907.    (32  S.) 

Das  Schriftchen  zeugt  von  fieissigen  Goethestudien  und  .hat  eine 
reiche  Fülle  von  Stoff  auf  seinen  82  Seiten  zusammengetragen.  Über  eine 
Stoffsammlung  ist  es  freilich  nicht  hinaus^kommen.  Der  Autor  ringt  mit 
dem  reichen  Stoffe,  aber  leider  vergebhch.  Er  hat  ihn  nicht  einmal  zu 
ordnen,  geschweige  denn  zu  meistern  verstanden,  und  der  Entwickelungs- 
gedanke l)ei  Goethe  ist  so  wenig  in  streng  begriffliche  Fassung  gebracht, 
aaas  er  nirgends  klar  hervortritt,  und  dass  das  Schriftchen  ebensogut  oder 
yielmehr  besser  hätte  den  vageren  Titel:  „Goethes  Naturauffassung^^  erhalten 
können.  Wie  wenig  der  Autor  Herr  des  Stoffes  ist,  das  beweist  schon 
•eine  Disposition,  die  jeder  begrifflichen  Gliederung  ermangelt.  Im  ersten 
Kapitel  sollen  die  Einzelwissenschaften  behandelt  werden  und  zwar  nach 
den  G^egenständen  der  organischen  Natur,  der  anorg[anischen  Natur,  end- 
lich des  Menschen,  als  ob  meser  nicht  auch  zur  organischen  Natur  gehörte. 
Das  zweite  Kapitel  handelt  dann  von  der  Natur,  als  ob  organische  Natur, 
anorganische  Natur  und  Mensch  nicht  selber  zur  Natur  eehOrten.  Dieser 
Mangel  an  Kraft  des  begrifflich  gliedernden  Denkens  wira  um  so  schmerz- 
licher empfunden,  als  gelegentlich  der  materiiden  Ausführung  sich  hin  und 
wieder  manch  treffender  Gedanke  des  Autors  findet,  dem  man  gern  zu- 
stimmt, sodass  man  bei  der  Lektüre  oft  zwischen  solcher  Zustimmung  zur 
inhaltlichen  Darstellung  und  dem  Unbehagen,  das  einem  das  Unterliegen  des 
begrifflich  verarbeitenden  Denkens  gegenüber  dem  Stoffe,  der  Form 
gegenüber  der  Materie,  bereitet,  disharmonisch  geteilt  bleibt. 

Weniger  wird  man  auch  rein  material  dem  dritten  Kapitel,  das  von 
der  Erkenntnis  handelt,  zustimmen  können.  Von  der  zunächst  erörterten 
„Identifizierung  von  Erkennen  und  Sein**  wird  man,  trotzdem,,  oder  gerade 
weil  für  Goethe  das  Erkennen  eine  „aus  dem  Inneren  am  Äusseren  sich 
entwickelnde  Offenbarung^  ist,  nicht  sprechen  dürfen.  Das  Verhältnis 
Goethes  zu  Kant,  von  Idee  und  Erfahrung,  muss,  nachdem  J.  Cohns  Ab- 
handlung über  diesen  Gegenstand  in  unserem  Schiller-Festheft  vorliegt, 
dürftig  erscheinen,  und  in  dem  Abschnitte  über  Goethes  Verhältnis  zur 
exakten  Naturforschung  und  zur  Mathematik  ist  das  Methodologische  zwar 
im  Ghinzen  richtiger  charakterisiert  als  in  den  beiden  vorhergenenden  das 
E^kenntnistheoretische.  Aber  zu  Gunsten  Goethes  wird  gerade  wegen 
des  erkenntnistheoretischen  Defizits  und  des  Missverständnisses  der  mathe- 
matischen Physik,  in  der  der  „wesentlichste  Teil  doch  deijenige,  der  der 
Bechnunff  vorausgeht^,  sein  soll,  die  Bedeutung  der  Mathematik  für  die 
aulLte  Naturforschung  gänzlich  verkannt. 

Oberhaupt  wird  manchmal  die  moderne  Wissenschaft,  wie  der  Autor 
meint,  zu  Gunsten  Goethes,  in  Wahrheit  aber  auch  öfters  zu  Ungunsten 
Goethes  bei  Seite  geschoben.  Gewiss  ist  Goethes  Natur  nicht  die  Natur 
dee  exakten  Forschers,^]  gewiss  verabscheut  er  den  Materialismus,  ja  er 

^)  Vgl.  dazu  und  zum  Folgenden  meine  Antrittsvorlesung  .Über 
GkMthee  philosophische  Weltanschauung*'.  (Preuss.  Jahrbücher,  rnnd  U5, 
Heft  8,  Berlin  1904.) 


336  Rezensionen  (Speck). 

^chaaderf*  nach  eigenem  Geständnis  davor.  Dass  aber  die  exakte 
Forschung  Goethe  nichts  zu  verdanken  habe,  trifft  doch  schon  mit  Rück- 
sicht auf  die  vom  Autor  selbst  erwähnten  Geschichtsdaten,  wie  die  Farben- 
lehre —  bei  der  m«in  freilich  scharf  die  physiologische  Seite  von  der 
physikalischen,  insbesondere  Reiz  und  Reizeffekt  zu  unterscheiden  hat  — 
wie  die  Pflanzenmetamorphose,  ja  sogar  die  Einzelentdeckung  des  Zwischen- 
kieferknochens nicht  zu.  Auf  der  anderen  Seite  ist  die  moderne  Des- 
zendenzlehre noch  nicht  notwendig  materialistische  Metaphysik,  sollte  doch 
der  Begriff  des  methodischen  Materialismus  seit  F.  A.  Lange  zum  min- 
desten  —  um  nicht  zu  sagen:  seit  Kant  —  jedem  an  der  exakten 
Forschung  einigermassen  Orientierten  geläufig  sein;  oder  aber  man  spottet 
über  den  Begriff  der  „Exaktheit"'  nicht  ungestraft,  weil  der  Spott  auf  den 
Spötter  zurückfällt.  Und  um  Goethe  selber  gerecht  zu  werden,  ist  es 
mcht  genug,  seine  Ablehnung  des  materialistischen  Entwickelnnçsbegiifb 
zu  betonen.  Dazu  gehört  vielmehr  auch  seine  positive  Stellung  zmn 
Ëntwickelungsbegriffe.  Diese  kann  jedoch  ohne  seine  Entelechienlehre  nie- 
mals ganz  verstanden  werden.  Von  ihr  aber  hören  wir  leider  in  der  Ab- 
handlung kein  Wort.  Daher  ist  in  dieser  auch  Goethes  Anschauung  vom 
Individuellen  durchaus  verkümmert.  So  richtig  es  ist,  dass  die  Entwicke- 
lung  für  Goethe  DarsteUung  der  Erscheinungen  als  Glieder  gesetzmftssifien 
Zusammenhangs  bedeutet,  so  unrichtig  ist  die  Behauptung:  „die  Wirkhck- 
keit,  von  der  er  die  organischen  Wesen  ableitet,  besteht  nicht  aus  Indi- 
viduen". Das  unterscheidet  ja  besonders  Goethes  Natur  von  dexjenipen 
Spinozas,  dass  Goethes  machtvollste  Individualität  gerade  den  Gedanken 
aus  tiefinnerlichstem  Erleben  betonte:  „Jedes  ihrer  Werke  hat  ein  eigenes 
Wesen,  jede  ihrer  Erscheinungen  den  isoliertesten  Begriff,  nnd  doch  macht 
alles  Eins  aus",  oder  „sie  lebt  in  lauter  Kindern".  Geht  auch,  wie  Goethe 
sagt,  das  Individuum  verloren,  so  ist  doch  „ihm  und  anderen  daran  ge- 
legen, dass  es  erhalten  werde^.  Denn  nj^^^  ^  selbst  nur  Individuum 
und  kann  sich  auch  eigentlich  nur  fürs  Individuelle  interessieren*  . . . 
„Wir  lieben  nur  das  In<üviduelle".  und  der  höchst  potenzierten  Indivi- 
Qualität,  der  höchst  entelechierten  Persönlichkeit,  diesem  „höchsten  Glflek 
der  Erdenkinder",  gegenüber,  deren  die  Natur  „nicht  entbehren  kann*, 
ist  sofi^r  „die  Natur  verpflichtet",  die  Erhaltung  zu  gewährleisten.  Ein 
Gedanke,  in  dem  die  Entwickelungslehre  Goethes,  so  wie  er  sie  wirkHeh 
ausgebildet  hat,  ihren  metaphysischen  Höhepunkt  erreicht,  der  aber  vom 
Verfasser  überhaupt  nicht  bertöirt  wird. 

Damit  wollen  wir  unsere  Kritik  beschliessen.  Dass  es  etwas  be* 
fremdlich  wirkt,  die  Titel  des  Inhaltsverzeichnisses  nicht  in,  ObereinstiD- 
munff  mit  denjenigen  des  Textes  zu  finden,  das  ist  eine  Äusseilichkeit, 
die  oie  Sache  nicht  berührt  und  über  die  wir  hinwegsehen  wollen. 

Immerhin  fanden  wir  rein  der  Sache  nach  mancherlei  zu  bean- 
standen. Ja,  das  Schriftchen  hat  in  erster  Linie  unseren  Widerspmdi 
herausgefordert.  Dass  wir  es  darum  aber  für  belanglos  halten  sollten, 
dagegen  spricht  wohl  schon  der  Umstand,  dass  wir  uns  mit  seinen  knappen 
zwei  Bogen  so  eingehend  beschäftigen,  wie  wir  es  getan  haben.  Sind 
doch  der  Ernst  und  der  Fleiss,  mit  dem  der  Stoff  zusammengetragen 
wurde,  unverkennbar,  und  auch  die  blosse  Stoffeammlun^  wird  manchem 
wertvolle  Hinweise  geben  können.  Sollte  der  Autor  seme  Aol^gabe  ein- 
mal in  etwas  erweitertem  Umfange  aufnehmen  und  das  jetzt  nc^  Weit; 
verzweig  zur  Einheit  begrifflicher  Durcharbeitung  zusammenfügen,  dabei 
auch  seme  Stellung  zur  modernen  exakten  Forschung  in  manchen  Stöcken 
revidieren,  so  würde  er  wohl  noch  bieten  können,  was  er  jetzt  hat  bietai 
wollen.  Denn  eine  Vorarbeit  zu  einem  solchen  Unternehmen  dürfen  wir 
in  seiner  Schrift  schon  erblicken.  Wertvoll  ist  also  immerhin  unter  diesem 
Gesichtspunkte  die  Zusammenstellung  des  nicht  unerheblichen  Stoffes. 
Und  als  besonders  geglückt  seien  hier  noch  die  mancherlei  Œnweise  inf 
die  persönliche  Grundstimmung,  die  auch  in  der  theoretischen  Ansdianinf 
Goethes  wirksam  ist,  hervorgehoben,  Hinweise,  die  oft  (wie  z.  B.  S.  W 


Rezensionen  (Stange— Froehlich).  337 

o    geschickt  sind,   dass  es  sogar  befremden  kann,  wie  jene  dem  Antor 
dnsichtlich  der  Individualitätsauffassong  entgehen  konnte. 

Halle  a.  S.  Bruno  Banch. 

Stange,  Carl,  Professor  D.  Grundriss  der  Religionsphilo- 
ophie.    Leipzig,  Dieterichsche  Buchhandlung  (Th.  Weicher)  1907.  8<^.  (36  S^ 

Die  22  Paragraphen  dieses  Grundrisses  sind  Diktate,  die  der  Verf. 
>isher  seinen  Zuhörern  in  der  Vorlesung  zu  geben  pflegte.  Die  dadurch 
pebotene  Kürze  macht  die  Kritik  schwer;  denn  man  weiss  nicht,  was  in 
len  mündlichen  Ausführungen  noch  näher  begründet  wird  und  wie  einzelne 
niesen  etwa  bewiesen  werden  mögen.  In  der  vorliegenden  Form  unter- 
leget die  Erkenntnistheorie  des  Verf.  jedenfalls  erheblichen  Bedenken. 
Inter  Ablehnung  der  Ansätze  von  Kant,  Schleiermacher  und  A.  Bitschi 
peht  er  von  der  religiösen  Erfahrung  aus.  Er  bestimmt  sie  ex  ne^tivo 
larch  eine  (wiederum  allzu  gedrängte)  ablehnende  Kritik  des  Kantischen 
tiAnomenalismus  als  ein  ^nicht  auf  Verstandesschluss  beruhendes,  sondern 
rrationales)  Bewusstsein  aes  Übersinnlichen.  „Die  Überzeugung,  dass  die 
innliche  Erfahrung  den  Begriff  der  Wirklichkeit  nicht  erschöpft,  sondern 
n  sich  die  Nötigung  enthält,  den  vollständigen  Begpif  der  Wirklichkeit 
;a  suchen,  bildet  das  gemeinsame  Merkmal  in  allen  ihren  Formen."  Dabei 
As8t  nun  der  Verf.  die  ense,  anschauliche  Bezogenheit  der  religiösen 
Erfahrung  auf  das  Sinnliche  oestehen  :  es  ist  ihre  Eigentümlichkeit,  ^dass 
ie  in  analoger  Weise  wie  das  Selbstbewusstsein  ein  Urteil  über  die  Be- 
leutung  der  sinnlichen  Erfahrung  zum  Ausdruck  bringt".  Das  wäre  ganz 
1er  Grundgedanke  der  (in  §  7  kurz  und  ohne  Überzeugungskraft  abgefer- 
ig;ten]  Werturteile  Ritschis.  Man  sieht  wohl,  dass  der  Verf.  mehr  leisten 
md  der  Religion  grössere  objektive  Garantie  sichern  möchte.  Man  sieht 
iber  nicht,  dass  sein  Ansatzpunkt  dies  möglich  macht;  denn  von  welchem 
geistigen  Faktum  feht  seine  Analyse  aus?  Da  es  sich  um  religiöse  Er- 
ahrung  handelt,  doch  wohl  auch  nur  von  einem  subjektiven  !  DieWahr- 
leitskriterien,  die  er  der  „Selbständigkeit"  des  religiösen  Phänomens  (§  2) 
md  dem  „Anspruch"  (§  4)  entnimmt,  sind  längst  als  methodisch  unzulässig 
»rkannt,  sofern  sie  nicht  mit  einer  völlig  neuen  Gesamtauffassung  des 
s^eistigen  in  Verbindung  gesetzt  werden.  (Vel.  m.  Anzeige  von  Härings 
)ofi;matik,  Dtsche  Lit.  Ztg.  1907  No.  22.)  Sie  oedeuten  bisner  im  Grunde 
dcEts  als  das  dogmatische  Ausgehen  von  einer  positiven,  bereits  angenom- 
aenen  Religion.  Aber  selbst  wenn  man  das  Recht  einer  solchen  nach- 
räglichen  Konstruktion  zugibt,  so  empfiehlt  es  sich  doch,  der  geistigen 
Constitution  der  Gegenwart,  wie  sie  sich  in  der  durchgängig  von  Kant 
»eeinflnssten  philosophischen  und  religiösen  Erkenntnistheorie  ausprägt, 
Aber  zu  bleiben,  statt  ex  abrupto  vom  Übersinnlichen  auszugehen  und  so 
Lie  Einheitlichkeit  unsres  Bewusstseins  mehr  zu  vergewaltigen  als  zu  um- 
chreiben.  Die  hier  voi^tragene  Erkenntnistheorie  beruht  nicht  auf  einer 
analyse  des  frommen  2^tandes  und  der  objektiven  Religionsbildungen, 
ondem  auf  einer  spekulativen  Deduktion,  was  besonders  in  der  Apologetik 
tOrend  hervortritt 

Charlottenburg.  Eduard  Spranger. 

Froehlich«  Job.  Ans.  „Der  Wille  zur  höheren  Einheit".  Carl 
Sinters  Universitätsbuchhanolung,  Heidelberg  1905  (165  S.). 

Der  Wille  zur  höheren  Einheit  ist  der  Gesichtspunkt,  unter  dem 
lie  Welt-  und  Lebensprobleme  betrachtet  werden  müssen.  Die  Richtigkeit 
lieeer  „mit  dem  Anspruch  eines  umfassenden  Weltprinzips  auftretenden 
i'ormel"  zeigt  sich  vor  allem  bei  der  Untersuchung  aer  Frage  „nach  dem 
)egriff  des  Sittlichen  und  seiner  Bedeutung  im  Weltprozess",  einer  Fra^, 
Lie  -mit  dem  Problem  der  Willensfreiheit  zusammenfällt",  das  seinerseits 
rieder  nur  „im  einheitlichen  Zusammenhange  mit  einer  grundlegenden 
gyeltanschaunng"  gelöst  werden  kann.  Die  Wahrheit  dieser  Gedanken  zu 
irïiftrten  ist  nach  seinen  eigenen  Worten  das  Ziel  des  Verfassers,  und 
^emiss  der  Bedeutungi  die  dem  Problem  der  Willensfreiheit  bei  diesem 


àâS  Rezensionen  (Froelich). 

Versuche  zukommt,  soll  es  den  grössten  Teil  der  Untersachimg  ffir  sich  in 
Anspruch  nehmen. 

Der  innere  Gedankengang  ist  in  kurzem  Umriss  etwa  folgender:  Die 
Empfindungen  sind  subjektiv  geprägte  Abbilder  der  objektiven  Welt,  die 
wesentliche  objektive  Elemente  m  sich  bergen.  Die  Welt  der  Bewegung, 
diese  äussere  Form  der  Beziehungen,  steUt  nur  eine  Seite  der  olj^jenÎTen 
Welt,  nämlich  die  dar,  wie  sie  sich  herausgehoben  aus  unserer  subjektiven 
sinnlichen  Anschauung  zeigt,  während  die  andere  Seite  die  „Welt  in  sidi*' 
ist,  welche  an  die  Stelle  der  „Welt  an  sich"  tritt.  Zwar  ist  die  objektive 
Welt  uns  in  diesem  ihrem  subjektiven  Sein  nicht  zugänglich,  jedoch  ergibt 
sich  vermittelst  eines  Analogieschlusses,  dass  die  Welt  der  Bewesong 
ebenfalls  in  sich  leuchtet  und  klingt,  auch  wenn  ihre  Wellen  auf  Kein 
organisches  Element  treffen;  sind  doch  auch  Auge  und  Ohr  von  dem  Lieht 
und  den  Tönen  geschaffen  worden  und  nicht  umgekehrt.  Der  Vielheit 
des  Seins,  das  uns  entgegentritt,  liegt  das  Absolute  als  Ursein  zu  Gnmde; 
beide  Arten  des  Seins  sind  per  analogiam  als  Wille  zu  erschliessen.  Du 
Ursein,  das  mit  dem  persönhchen  Gott  zu  identifizieren  ist,  stellt  sich  ab 
,Jiinheitswüle"  dar,  da  in  ihm  Wille  und  Gesetz  in  eins  zusammenMen. 
Der  Kern  dieses  EinheitswiUens  ist  die  Liebe,  welche,  um  sich  zu  be- 
währen, ein  Opfer  bringen  muss,  das  der  Idee  ihres  eigenen  Seins  entspricht 
Dieses  Opfer,  wodurch  das  Ursein  etwas  von  seiner  Freiheit  als  absolutes 
Subjekt  aufgibt,  ist  die  Vielheit  des  Seins,  die  Welt,  deren  Dasein  dem- 
nach als  eine  Selbstoffenbarung  Gottes  aufisufassen  ist.  Da  hier  nun  die 
Entzweiung  und  das  Streben,  diese  in  der  Einheit  zu  überwinden,  herrscht, 
so  stellt  sich  die  Entwickelung  des  Weltgeschehens  als  „Wille  zur  höheren 
Einheit"  dar.  Daher  ist  auch  das  Merkmal  der  primären  Ejräfte,  deren  es 
6  geben  soll,  und  zu  denen  z.  B.  die  Schwerkraft  und  die  Liebe  gehört, 
die  Polarität,  das  ist  die  Sehnsucht  einer  Zwei,  zur  Eins  zu  werden,  nicht  mr 
Null  im  Ausgleich  positiver  und  negativer  Vorzeichen.  Alle  Entwickelung 
ist  demnach  Keine  Auswickelung,  sondern  die  Vereinigung  von  zwei  poltf 
entgegengesetzten  Kräften.  Der  Wille  hat  nun  verschiedene  Entwickelnngs- 
stuien  durchzumachen.  Die  oberste  ist  der  Mensch;  auf  ihr  wird  er  seiner 
selbst  bewusst,  indem  er  den  Intellekt  aus  sich  heraus  gebiert;  hier  tritt 
auch  die  Entzweiung  zwischen  Subjekt  und  Objekt  ein.  Das  Gesetz  dei 
Weltganzen,  das  in  uns  als  „Wille  zur  höheren  Einheif*  wirksam  ist,  iit 
seinem  Wesen  nach  ein  sittliches  und  unsere  sittliche  Entwickelung  dem- 
nach, da  sich  der  individuelle  Wille  aus  der  Wahllosigkeit  des  Triebei 
heraus  zum  Bewusstsein  der  Freilieit  in  der  Obereinstimmung  seiner  Nitor 
mit  dem  Gesetz  des  Weltganzen  rin^,  eine  Entwickelung  zur  Freiheit 
Diese  vollzieht  sich  dadurch,  dass  im  Laufe  derselben  alle  SchruütflB 
fallen,  die  im  Subjekt-Objektverhältnis  ein  Glied  dem  anderen  setzt  raà 
auf  diesem  Wege  alle  in  der  Richtung  des  Willens  mehr  und  mehr  ei» 
werden.  Das  Wesen  der  zu  erreichenden  Freiheit  besteht  denmach  in  dff 
Selbstbewährung  und  Selbstbeschränkung  ohne  allen  äusseren  Zwa^.  —  Dio 
ist  der  innere  Gedankengang,  möglichst  in  eigenen  Worten  desVeilttitfi 
dargestellt,  der  aus  dem  äusseren  Gan^  der  Erörterung,  welcher  ii 
9  Kapiteln  verläuft,  herauss^eschält  werden  kann.  —  Ich  Kann  nicht  be- 
haupten, dass  der  V.  die  Aufgabe,  die  er  sich  gesetzt,  gelöst  hat  l^ 
finde  die  Ausftlhrungen  von  Windelband  in  der  Schrift  ,yÜber  Wflleni' 
freiheit"  und  von  H.  Schwarz  in  seinem  Werke  „P$ychologie  des  WflleBi; 
zur  Grundlegung  der  Ethik"  bedeutend  klarer  und  das  Problem  wirfch^ 
fördernd.  Auch  ist,  meines  Erachtens,  das  Problem  der  Willensfreiheit 
von  einseitig  metaphysischem  Standpunkte  nicht  befriedigend  ra  1B»>> 
abgesehen  davon,  dass  ich  die  metaphysischen  Anschauungen  des  VeiteM^ 
redit  wenig  dem  Stande  der  heutigen  Wissenschaft  angepasst  enekta 
Dieses  leuchtet  beim  Lesen  der  Schrift  sofort  ein,  wenn  mandieheten^ 
nen  Elemente  bemerkt,  aus  denen  sich  die  Weltauffassung  des  V.  zonnaMr 
setzt:  ScheUing,  Hegel,  Schopenhauer,  Spencer,  Mystizismus  und  andeni 
mehr.    Aus  Schelling  ist  entlehnt,  dass  die  ganze  Entwickelmig  éàt  àsià 


Selbstanzeigen  (Ewald).  àâ9 

ï  Vereinigung  polar  entgegengesetzter  Kräfte  vollziehe.  Schelling  säet: 
Ue  endlidien  Formen  Ic^en  sich  in  polare  Gegensätze  zerlegen.  „Die 
iterie  ist  die  relative  Totalität,  sofern  zwei  Gegensätze  in  ihr  als  der 
[leren  vereinigt  sind."  „Sie  ist  die  Synthese  von  Attraktion  und  Repulsion 
:  Schwere."  Hegel  sagt  in  seiner  Encydopädie  auch  wie  der  V.,  dass 
I  Absolute,  das  Ursem  der  sich  selbst  offenbarende  Geist  sei.  An 
lopenhauer  erinnert  die  Art  und  Weise,  wie  das  ürsein  als  Wille  er- 
int  wird,  der  sich  in  einer  Reihe  von  Stufen  objektiviert.  Dies  genüge, 
in  es  würde  zu  weit  führen,  die  ^alyse  noch  weiter  zu  treiben.  Ich 
:e  nur  noch  die  Bemerkung  bei,  dass  das  Buch  sich  von  diesem  Gesichts- 
ikte  als  eine  Sammlung  von  Zitaten  darstellt,  die  durch  Text  ver- 
iden  sind.  Es  finden  sich  dabei  auch  eine  ganze  Reihe  von  wertvollen 
danken.  So  heisst  es  Seite  158:  „Der  Wert  der  Kultur  bestimmt  sich 
zweierlei:  einmal  in  der  Anbahnung  eines  harmonischen  Verhältnisses 
[sehen  Individuum  und  Gemeinschart,  dann  aber  in  der  immer  um- 
lenderen  und  tiefer  eindringenden  Aneignung  der  Natur  und  ihrer 
Lfte  durch  den  menschlischen  Geist."  Der  V.  bekennt  sich  hier  zur 
»^essionshypothese.  So  richtig  es  auch  ist,  dass  alle  Kulturentwickelung 
immer  höheren  Stufen  führt,  ebenso  unrichtig  ist  aber  auch,  dieses 
IT  Gebühr  zu  verallgemeinem  und  einseitig  zum  Weltgesetz  erheben 
"wollen. 

Halle  a.  S.  Dr.  Rudolf  Jorges. 


Selbstanzeigen. 


Ewald,  Oscar.  Kants  kritischer  Idealismus  als  Grundlage 
»n  Erkenntnistheorie  und  Ethik.  Berlin,  Ernst  Hofmann  &.  Co. 
l  und  814  S.) 

Ich  betrachte  das  Buch  als  Abschluss  einer  Tetralogie,  deren  erstes 
Uck  „Nietzsches  Lehre  in  ihren  Grundbegriffen''  gegen  den  ethischen, 
hbh  zweites  ^Richard  Avenarius  als  Begründer  des  Empiriokritizismus" 
C«n  den  logischen  Relativismus  gerichtet  war.  Das  dritte,  ^Kants  Me- 
•dologie  in  ihren  Grundzügen"  sollte  mit  dem  gegenwärtigen  Buche 
PTttn^lich  ein  einziges  bilden,  wurde  aber  im  Interesse  einer  einheitlichen 
position  ihm  als  selbständige  Schrift  vorausgeschickt.  Ihr  Ergebnis 
*  die  Überwindung  des  P&ychologismus,  und  zwar  des  immanenten  wie 
transscendenten,  zugunsten  der  reinen  transscendentalen  Logik.  Da 
>^  auch  letztere  weder  historisch  noch  sachlich  eindeutig  bestimmt  ist, 
^Ygiebt  sich  die  Notwendû:keit,  sie  zum  Gegenstande  einer  selbständigen 
^rsuchung  zu  machen,  £e  an  Kant  ihre  natürliche  Orientierung  hat. 
K^t  war  die  leitende  Aufgabe  meiner  neuen  Schrift  gegeben. 

Der  erste,  kritische  Teil  diente  der  Elimination  aer  falschen  oder 
»^klanglichen  transscendentalen  Betrachtungsarten.  Mit  der  Grundlegung 
^  ^amren  Methode  und  deren  konkreter  Nutzbarmachung  war  der  zweite, 
^tive  Teil  betraut.  Zwei  fundamentale  Richtungen  lassen  sich  bei  Kant 
^^licheiden:  der  progressive,  synthetische  We^  der  „Kritik  der  reinen 
^onft"  und  der  rezessive,  analytische,  den  die  „Prolegomena**  gehen. 
lier  deduziert  aus  einem  obersten  Grundsatze  ein  System  positiver  Er- 
ttkutoiswerte.  Dieser  will  aus  einem  solchen  Systeme  von  ihm  bereits 
Jl^rkannter  und  vorausgesetzter  Erkenntniswerte  die  sie  begründenden 
^ttiten  Grundsätze  erschUessen.  Das  zweite  Verfahren  ist  demnach 
lobe  und  Prüfstein  des  enteren.    Die  Teüong  der  Methoden  ist  von 


340  Selbstanzeigen  (Ewald). 

Kant  freilich  nicht  strens^  eingehalten  worden.  Insgeheim  ist  auch  die 
Kritik  der  reinen  Vernunft  von  regressiven  Gesichtspunkten  behenBchi 
Wohl  wird  aus  der  transscendentalen  Einheit  der  Apperzeption  die  Ur- 
teüsfunktion  deduziert  und  als  Erkenntnisquelle  legitimiert.  Indessen  die 
einzelnen  Urteilsformen  und  Kategorien  werden  zwar  dem  ausseien  An- 
schein nach  aus  der  von  den  Prinzipien  der  Identität  und  des  zureichenden 
Grundes  beherrschten  Urteilstafel  der  formalen  Logik  abgeleitet,  inWaln^ 
heit  aber  lehrt  eine  gründliche  Betrachtung,  dass  sie,  wie  insbesondere 
das  singulare  und  das  unendliche  Urteil,  £e  Kategorien  der  Wechsel» 
Wirkung,  in  vorausschauender  Rücksicht  auf  die  synthetischen  Grondsitze 
der  reinen  Erkenntnis  entworfen  sind.  Die  eben  erwähnte  Kategorie  der 
Wechselwirkung  ist  nicht  aus  dem  di^unktiven  Urteil,  sondern  ans  dem 
Grundsatz  von  der  Gemeinschaft  der  Substanzen  gewonnen. 

Die  Unzulänglichkeit  des  progressiven  Verfahrens   ergiebt  sich  üb- 
rigens  von   selber.     Was  soll  man  aus  den  Sätzen  der  Identität  und  dei 
Grundes  deduzieren?    Nichts,  wofern  man  nicht  Erfahrung  oder  Anechao- 
ung  zu  Hilfe  nimmt.    Man  sieht  sich  somit  von  selber  auf  den  regresàveD 
Weg  verwiesen.    Es   erscheint  vonnöten,  an  konkrete  Erkenntnisse  aMB» 
knüpfen,  um  auf  ihre  transscendentalen  Grundlagen  zurückzugehen.  Aber 
wo   sind   denn   derartige  Erkenntnisse   enthalten?    Weder  in  der  innerei 
noch  in  der  äusseren  Erfahrung,  weder  in  der  Anthropologie  noch  in  der 
mathematischen   Physik.      Beide    sind   in  stetiger  Fortentwickelang  be- 
griffene Forschungszweige,   deren  absolute  Grundbegriffe  von  Trankce»- 
dentalphilosophie    erst   zu   legitimieren,   nicht  aber  vorauszusetzen  âfld^ 
Dazu  kommt,  dass  Kant  mit  tülem  Nachdrucke  das  Thema  der  „Kritik  de^^ 
reinen  Vernunft^    in    die    Grundlegung   einer   all^meinen,   inneren  m^^ 
äusseren  Welt  umspannenden  Erfahrung  setzt,  wSirend  die  GmndlegBB^B 
der  mathematischen  Physik  und  der  Psychologie  erst  den  .metaphyoM 
Anfangsgründen"  und  der  ^Anthropologie"   vorbehalten  bleibt.    >^u 
aber  jene   Universalwissenschaft,  jene   universale  Erfahrung,  der  in  -7-- 
„Kritik"  der  Grund  gelegt  werden  soll.     Weder  in  der  Matnematik,  nod^ 
in   der  formalen  Logik,   die   an  sich  keine  Erkenntnisse  bieten,  kann  ne^ 
^sucht  werden.     So   ist  es   nahe  gelegen,  sie  mit  der  Widimehmimg  n  ^ 
identifizieren,    die    ebensowohl    innere  wie  äussere  I^iftnomene  in  sidi  -^ 
schliesst.    Man   erblickt  dann   die  Grundfrage  des  Kritizismus  darin,  wie   ^ 
aus  dem  isolieri  gedachten  Empfindungselementen  Wahrnehmung  ziuitiBde    * 
komme.    In  Wahrheit  ist  diese  Auffassung  .weit  verbreitet  und  £uit  selber 
hat   ihr  zumal   in   der  transscendentalen  Ästhetik  unleugbar  Nahron^  g^ 
geben.     Sie   hat   indessen    das  meiste   dazu  beigetragen,   den  kritiidiei 
Grundgedanken  zu  verfälschen.    Kant  unterschemet  streng  zwischen  üb* 
jektiven    Wahmehmungsformen    und    objektiven   Erkenntniaformen  ^ 
ordnet  bloss  die  letzteren  den  Kategorien  zu.    Auch  ist  es  im  Sinne  der 
transscendentalen   Dialektik   ebenso   unmöglich,    aus  EmpfindungsatoM 
die  psychische  Realität  zu  erbauen,   wie  es  nach  ihr  unmöglich  exseheiit) 
die  physische  Realität  aus  materiellen  Atomen  zusammenzusetzen,  den 
das  Atom  ist  wie  der  mathematische  Punkt  ein  idealer  Grenzbegriff  n' 
kein   realer  Teil  der  Wirklichkeit.     Schliesslich  droht  diese  AuffiMOV 
den  Unterschied  zwischen  Berkeley  und  Kant  zu  verwischen,  da  die  Ü^ 
tifizierung  der  Kategorien  mit  psychischen  Funktionen  die  piinzineBe 
Differenz  von  Innenwelt  und  Aussenwelt  verwischt  und  vom  nydndoft 
mus  zum  Subjektivismus  führt:   die   Instanz  der  Wahrnehmung  ist  ene 
bloss  subjektive   Instanz.    Das  kritische  Problem  ist  von  Anbeginn  fùà 
orientiert,  wenn  man  es  auf  den   Übergang  der  Empfindimg  zur  Wata^ 
nehmung  bezieht,  vielmehr  hat  es  den  Übergang  von  der  Wahmehnnv 
zur  Erkenntnis,  von  der  Empirie  zum  Begriff,  vom  Realen  sur  lofiichfli 
Idealität  zu  markieren.     Wenn  Kant  diese  seine  Position  selber  met  ji 
gentigender  Klarheit  erfasst  hat,  wenn  er  das  Erkenntatsproblem  seitweilV 
wiederum  zum  Wahmehmungsproblem   vergröbert,   so  ist  dies  auf  B^^ 
nung  eines  irrigen  Gedankenganges  zu  setzen.    Er  wollte  die  Anwarf* 


i 


Selbstanzeigen  (Ewald).  â4l 

larkeit  der  logischen  Idealwerte  auf  die  empirische  Wirklichkeit  durch 
len  Nachweis  sichern,  dass  beide,  logische  Erkenntnis  und  empirische 
Vjahmehmung  ihrem  Formzosammenhang  nach  von  einem  und  demselben 
einen  Verstände  auferbaut  werden.  Damit  wird  der  Verstand  aber  in 
ine  anhaltbare  Doppelstelluuff  gedrängt.  Er  soll  zuerst  die  Empfindung  zur 
Vahmehmune,  sodann  die  Wahrnehmung  zur  Erkenntnis  läutern,  was  umso 
i^enig^r  angeht,  als  die  erste  Zuordnung  eine  solche  zweier  Realitäten, 
lie  zweite  eine  zwischen  einer  realen  und  einer  idealen  Sphäre  ist. 
He  Anwendbarkeit  der  Erkenntnisbe^riffe  auf  Wahmehmungsinhalte  läefit 
ioh  überhaupt  nicht  deduzieren,  da  ein  Standort  oberhalb  der  Erkenntnis 
licht  ^Wonnen,  sondern  bloss  am  faktischen  Besitz  der  konkreten  Er- 
kenntnisse nachgewiesen  werden  kann. 

Der  zweite,  positive  Teil  versucht  eine  selbständige  Grundlegung 
ier  Erkenntnis.  Der  regressive  und  progressive  Plan,  in  ihrer  Isolation 
Bur  Sterilität  verdammt,  werden  vereinigt.  Der  Ausgang  vom  Allgemeinen 
der  Wahrnehmung  wird  beibehalten,  desgleichen  der  vom  Allgemeinen  der 
formalen  Logik.  Jenes  ist  in  den  räumuchen  und  zeitlichen  Beziehungen 
enthalten,  dieses  im  Satz  der  Identität  und  des  Grundes.  Aus  den  raum- 
zeitlichen Relationen,  die  als  solche  gleich  den  Sinnesinhalten  der  objek- 
tiven Wahnehmunç  angehören,  wird  als  Prinzip  der  reinen  Anschauung, 
das  der  Mannigfaltigkeit,  gewonnen.  Indem  sich  dasselbe  mit  dem 
logischen  Prinzip  der  Identität,  dem  Fundament  aller  Begriffsbüdunff,  ver- 
bindet, entstehen  die  Begriffe  der  Menge  und  besonders  der  Ziuil  als 
^asis  der  Arithmetik.  Durch  die  Anwendung  derselben  auf  die  konkrete 
^mensionalität  von  Raum  und  Zeit  entspringen  die  Kategorien  des  räum- 
chen und  zeitlichen  Masses  und  die  spezifisch  räumliche  Kategorie  der 
estait.  Raum  und  Zeit  haben  eine  Grösse.  Bloss  der  Raum  ist  aber 
staltet.  Umgekehrt  hat  allein  die  Zeit  eine  Relation,  eine  Richtung, 
^  der  räumliche  Richtungsbegriff  bereits  die  Bewegung,  somit  die  Zeit 
^i^Qssetzt,  also  kein  reiner,  sondern  ein  abgeleiteter,  aus  Raum  und  Zeit 
^naxnençesetzter  Be^ff  ist.  Durch  Anwendung  des  Satzes  vom  Grunde 
^^  die  zeitliche  Relation  entstehen  die  Kategorien  der  Substanz  und  der 
^^alität.  Weder  die  mathematischen  noch  die  dynamischen  Kategorien 
^^  an  und  für  sich  eine  Erkenntnis.  Diese  kommt  erst  durch  ihre  Ver- 
ödung für  die  Aussenwelt  in  der  mathematischen  Physik  zustande.  Da 
^  Möglichkeit  dieser  Verbindung  für  die  Innenwelt  nicht  besteht,  da 
^^  Vermöge  des  exklusiv  zeitlichen  Charakters  der  Seelenphänomene  und 
'^^i*  OestiQtslosigkeit  eine  Durchdrinfi^un^  mit  der  Mathematik  undenkbar 
^^jeint,  vermag  die  Psychologe  nient  m  den  Rang  der  mathematischen 
^ysilc  erhoben  zu  weiden,  sie  bleibt  auf  Beobachtung  und  Erfahrung 
^'"tlndet.  Die  Kategorien  haben  für  sie  daher  keine  eigentlich  trans- 
^i^^ental-loffische,  wohl  aber  eine  trausscendental-ethische  Bedeutung. 
^  Kinheit  aes  Bewusstseins  spiegelt  hier  das  Ideal  sittlicher  Konsequenz, 
^^  dem  der  Mensch  seine  Individualität  bilden  soll.  Der  transscenden- 
»v5^  Grundlegung  der  Physik  entspricht  als  innenweltliches  Korrelat 
'^t  eine  empirische  Fundierun^  der  Anthropologie,  sondern  eine  trans- 
^i^dentale  Bejgründung  der  ethischen  Psychologie.  Die  seelische  Reali- 
^ng  der  Kategorien,  die  Art,  in  der  Idealwerte  sich  den  Inhalten  des 
^PiHschen  Bewusssseins  mitteilen,  behandelt  ein  Kapitel,  das  der  Phä- 
^'^enolo^ie  gewidmet  ist.  Auch  ein  hypothetischer  Übergang  zur 
^^aphysik  wird  angedeutet.  Der  erkenntnistheoretische  und  ethische 
l^iig,  die  Ideale  aiu  ihrem  fremden  Gebiet  der  Erscheinung  anzn- 
^^en,  die  bei  aller  unüberbrückbaren  Distanz  der  Verstandeswelt  und 
l^enwelt  notwendige  Verbindung  beider  scheint  auf  ein  transscenden- 
|!^  Substrat  der  empirischen  R^tät  hinzuweisen,  in  dem  Ideal  und 
^^^klichkeit  versöhnt  und  zur  Einheit  verflochten  sind,  in  denen  der 
^^Tt  existiert  und  die  Existenz  selber  Wert  ist. 

Dr.  Oscar  Ewald. 


tanliftidl*n  Xllt 


342  Selbstanzeigen  (Bauch— Braun). 

Baachj  Bruno,  Privatdozent  Dr.  Geschichte  der  neueren  Phi- 
losophie bis  Kant.  (Sammlung  Göschen.)  Leipzig  1908.  G.  J.  GHtechen- 
sehe  YerlagBhandlung.    (174  S.) 

Das  Süchlein  stellt  sich  eine  bescheidene  Au^be.  Es  will  ledi^icli, 
unter  Berücksichtigung  des  allgemeinen  Charakters  der  Sammlung  eine 
einfache  und,  freüich  ohne  dem  Anspruch  auf  Wissenschaftlichkeit  etwy 
zu  vergeben,  für  weitere  Kreise  bestimmte  Darstellung  der  G^eschichte  der 
neueren  Philosophie  bis  Kant  bieten.  Diese  gliedert  sich  mir,  mdir 
innerlich  als  äusserlich,  d.  h.  auf  Grund  der  al%emeinen  systematischen 
Problemtendenzen  in  folgende  Epochen:  die  mond-  und  reli^onsphikwo- 
phische  Epoche,  die  spekulativ-dogmatische  Naturphilosophie,  die  T0^ 
wiegend  rational  gerichtete  Philosophie,  die  vorwiegend  empirisch  ge- 
richtete Philosophie,  die  an  die  exakte  Forschung  anknüpfende  Natur- 
philosophie. Sie  bilden,  mit  Ausnahme  der  zweiten,  die  histoiischen 
Grundlagen,  aus  denen  in  ihrem  gesamten  Umfange  die  kritische  Fiiüo- 
Sophie  Kants  erwächst.  Da  die  geschichtliche  Bedeutung  immer  ab- 
hängig ist  von  dem  Werte  der  systematischen  Grundüberzeugnng, 
so  musste  mit  innerer  Notwendigkeit  die  Darstellung  den  Nachdruck  isf 
das  bleibend  Wertvolle  legen  und  diesem  gegenüber  das  VergangUebe 
zurücktreten  lassen. 

Es  versteht  sich  im  übrigen  wohl  von  selbst,  dass  ich  in  ersttf 
Linie  die  Originalwerke  als  solche  befragt  habe.  Und  wenn  beidervoridn 
bezeichneten  bescheidenen  Aufgabe  mein  Schriftchen  auch  nicht  den 
stolzen  Anspruch  erheben  kann  und  nicht  erheben  will,  immer  und  fiberall 
nur  Neues  zu  bieten  oder  etwa  gar  durch  sogenannte  „Neuheit  der  Auf- 
fassung^ des  Alten  zu  glänzen,  so  hoffe  ich  doch  nicht  bloss  Altbeluumtoi 
zu  wiederholen.  Damit  ist  zugleich  gesagt,  dass  ich  neben  den  Qaelko 
auch,  wie  es  der  ganze  Plan  der  Samn3ung[  verlangt,  dem  „neuesten 
Stande  der  Forschung''  ~  von  Kuno  Fischers  richtunggebender  Geschichte 
der  neueren  Philosophie  an  bis  zu  dem  neuesten  grundlegenden  Werke 
Gassirers  über  die  Geschichte  des  Erkenntnisproblems  und  bis  auf  die 
S^eziaUiteratur  ~  Rechnung  zu  tragen  mich  bemüht  habe,  so  sehr  ich 
mich  freilich  gerade  hinsichtlich  der  Spezialliteratur  auf  das  WU^ügi/t 
und  Notwendigste  beschränken  musste.  Ein  Beschränkung,  die  in  der 
Literaturangabe  ihren  Ausdruck,  aber  auch  ihre  Begründung  findet  Dm 
der  heutigen  Forschung  bereits  eine  ganz  stattliche  Fülle  deutscher  tix^ 
trefflicher  Übersetzungen  der  fremdsprachlichen  wichtigsten  Originalweike 
zu  Gebote  steht,  ist,  wie  ich  auch  hier  dankbar  betonen  möchte,  meiser 
Arbeit  durch  den  Vergleich  von  Original  und  Übersetzung,  vielfach  n 
Gute  gekommen. 

Weil  es  mir,  wie  gesagt,  darauf  ankommt,  am  Werte  der  ^yitemir 
tischen  Grundüberzeugung  der  einzelnen  Denker  ihre  geschichtliche  B^ 
deutung  zu  ermitteln,  so  wäre  der  höchste  Zweck,  den  meine  Schnft  er- 
reichen könnte,  der,  dass  sie  der  Leser  nicht  eben  als  Selbstzweck  be* 
trachten  möchte,  dass  sie  ihn  vielmehr  dazu  anregte,  sicJi  selbst  an  d« 
Studium  wenigstens  der  grössten  Denker  ssu  begeben. 

Halle  a.  S.  Brano  Bauch. 

Braun,  Otto,  Dr.  phil.  Hinauf  zum  Idealismus.  (ScheDiOT 
Studien.)    Fritz  Eckardt,  Leipzig  .1908.    (160  S.) 

Dieses  Buch  ist  aus  der  Überzeugung  entstanden,  dass  SchdOi«! 
uns  ein  Führer  sein  kann  zu  dem  Einen,  was  Not  tut,  zu  einem  tatkifftif* 
Idealismus,  dem  das  Wesen  der  Welt  im  Geistigen  liegt  und  der  an 
Geistige  in  schaffender  Tat  in  der  Welt  zur  G^timjgp  bringen  will  l&bt 
„Zurück  zu  Schelling",  sondern  durch  Schelling  „Hmauf  zum  Idaaüsiv^' 
Mit  Schellings  reinem  und  glühendem  Geiste  d^  Idealismus  mflsMii  «^ 
uns  erfüllen,  damit  wir  Herren  des  Weltprozesses  bleiben  und  ihii  0 
einer  Geisteskultur  lenken  können  t  Schelling  aber  kann  uns  dasn  fthm 
dçnn  seine  Art  steht  uns  näher,  als  man  gewöhnlich  denkt    Wir  od 


Selbstanzeigen  (Hoffmann)«  d4d 

te  im  Sachen  und  Ringen  nach  etwas  Neuem:  da  fühlen  wir  uns  diesem 
iker  verwandt,  der  auch  nie  fertig  war,  sondern  in  dauerndem  Sieben 
h  der  Wahrheit  seine  Lehre  umbildete.  Sodann  sind  uns  die  roman- 
hen  Strömungen,  in  denen  Schellinç  als  Führer  mitten  drin  steht, 
erlich  nahe  gekommen,  sein  Ästhetizismus  kann  unserer  ästhetischen 
tur  zum  Vorbilde  dienen  und  ihr  zeigen,  nass  sie  olme  eine  begrün- 
de Metaphysik  keinen  Halt  hat.  Schellings  Philosophie  der  Kunst 
rt  uns  zu  K.  Wa^er  und  seine  Naturphilosophie  ist  zwar  in  der  Me- 
de  unbrauchbar,  aber  in  den  Resultaten  für  uns  sehr  wertvoll  Endlich 
n  Schelling  uns  in  religiösen  Dingen  den  wahren  Weg  weisen,  der  an 
Gedanken  der  alten  ^stik  anknüpft. 

Dass  wir  den  älteren  Idealismus  nicht  einfach  in  unsere  Zeit  über- 
2^n  dürfen,  ist  selbstverständlich.  Vor  allem  müssen  wir  auf  den 
üben  an  absolute  Erkenntnis  verzichten  und  uns  auf  ein  induktives 
hen  der  Wahrheit  auch  in  metaphysischen  Dingen  beschränken.  Eben- 
dürfen wir  nie  glauben,  der  Mensch  sei  in  fertigem  Besitze  seines 
stigen  Wesens!  Nein,  wir  müssen  dauernd  um  unsere  Persönlichkeit 
l^en,  das  ist  ein  Anfang  auch  des  Schaffens  nach  Aussen.  Ist  aber  der 
isch  nichts  Vollendetes,  so  ist  es  auch  die  explisdte  Darstellung  des 
stigen  in  der  Welt  nicht;  die  geistige  Welt  ist  also  ein  Ideall  Auch 
»en  wir  die  Individualität  dem  abstrakt  Einen  gegenüber  zur  Geltung 
Igen. 

Das  sind  alles  Forderungen,  die  wir  an  den  neuen  Idealismus  stellen 
isen.  Trotzdem  kann  Schelling  uns  zu  ihm  führen,  denn  er  besass  den 
ndlegenden  Geist  des  schöpferischen  und  lebenzündenden  Idealismus. 
Schellings  Lehre  aber  führt  uns  seine  grosse  einheitliche  Persönlich- 
t,  aus  der  die  Lehre  erst  entsprungen  ist.  So  habe  ich  denn  versucht, 
glichst  tief  das  Wesen  dieser  Persönlichkeit  nach  Charakter  und  Intel- 
l  zu  fassen  und  daraus  die  Ei|^enart  der  Lehre  be^eiflich  zu  madien. 
)ei  habe  ich  die  Beziehungen  des  Denkers  namenthch  zu  Goethe  näher 
ersucht,  und  hoffe,  einiges  Neue  gefunden  zu  haben,  was  auch  auf 
sthe  neues  Licht  werfen  kann.  Das  Buch  besteht  aus  7  Abhandlungen  : 
auf  zum  Idealismus,  Schelling  und  unsere  Zeit,  Schellings  geistige  Per- 
Lichkeit  und  ihr  Verhältnis  zu  Goethes  Geisteswesen,  Schellings  Mo- 
de und  ihre  Beziehungen  zu  Plato,  Goethe  und  Schiller,  Schelling  und 
Romantik,  Schellings  Gotteslehre  und  das  religiöse  Suchen  unserer 
t,  die  Entwickelung  des  Gottesbegriffes  bei  Schemng. 

O.  Braun. 

Hoffmann,  Karl.  Zur  Literatur  und  Ideengeschichte.  Zwölf 
dien.  Oharlottenburg,  Günthersche  Buchhandlung.  1908.  (IX  und 
S.) 

Ich  fürchte  zwar,  dass  diese  Essaysammlung  für  den  philosophischen 
er  von  nur  indirektem  Interesse  sein  dürfte,  da  die  in  ihr  enthaltenen 
eiten  vorzugsweise  literarische  und  literarhistorische  Stoffe  behandehi. 
en  ausgesprochen  philosophischen  oder  philosophierenden  Charakter 
en  höcnstens  fünf  Aufsätze;  manche  andere  wieder  sind,  wie  ich  ge- 
len  muss,  fast  rein  philologisch.  Nichtsdestoweniger  aber  habe  ich  in 
gern  Gegensatz  zu  aer  heute  meist  üblichen  Auffassung  der  Literatur- 
i^ichte  als  Wissenschaft  den  vielleicht  verborgenen,  doch  innieen  Zu- 
menhang  zwischen  dem  literarischen  Leben  und  dem  philosopnischen 
iken  überall  da,  wo  es  der  Stoff  mit  sich  brachte,  entsprechend  hervor^ 
Icken  versucht,  beziehungsweise  das  gerade  vorliesfende  litermiische 
ma  besonders  von  dem  auf  einen  solchen  Zusammenhang  hinzielenden 
ichtspunkte  aus  betrachtet.  Denn  sobald  ein  Dichter  sich  in  seinem 
rke  mit  der  Totalität  der  Seinsbedingungen  —  wie  ihm  diese  fferade 
dem  Bildun^vorrat  seiner  Zeit  heraus  anblicken  —  innerlich  aof- 
mdersetzen  will  und  zu  der  Gestaltung  mehr  oder  weniger  abstrakter 
on  fortschreitet,  gerät  er  unwillkürlich  unter  den  mittelMren  oder  an- 


344  .  Selbstan2eigen  (Leclëre)« 

mittelbaren  Einfluss  der  eig^entlichen  Philosophie,  deren  Tätigkeit  nftmM 
der  bewussten  Bejmffsbildung  des  sogenannten  Zeitgeistes  fttr  eewOhnlich 
vorherzugehen  puegt,  indem  ihre  Gedanken  mitunter  yerhutnismftasg 
schnell,  mitunter  nach  und  nach  in  das  Geistesleben  der  breiteren  Bildnng»- 
schichten  hinabsickem  und,  wenn  auch  für  den  flüchtigen  Blick  nn^ 
kennbar  geworden,  in  ihm  fortwirken.  Selbst  da,  wo  jenes  nicht  der 
Fall  ist,  wo  der  Dichter  keine  Ideen  gestaltet,  wird  die  literarische  Pro- 
duktion natura emäss  durch  ihre  Abhängigkeit  von  den  ideellen  StrOmnngen 
der  Zeit  mit  bestimmt,  die  ebenso  das  philosophische  Denken  z.  T.  leiten 
und  in  ihm  zu  bewusstester  Abklärung  gelangen,  z.  T.  eben  fiberhiopt 
von  ihm  herkommen.  Ein  tieferes  Emdnngen  in  die  von  der  literatiir 
uns  aufgegebenen  Probleme  erscheint  sonach  auf  rein  literaruchem  Wege, 
unter  gänzlicher  Vemachlässig[ung  des  philosophischen  Elementes,  oft  gar 
nicht  mehr  möglich.  —  Dies  ist  der  Standpunkt,  der  meine  Auf&snmf 
literarischer  Din^e  im  Grossen  und  Ganzen  beherrscht,  und  von  dem  icK 
hoffe,  dass  er  sich  auch  in  dem  von  mir  angezeigten  Buche  hie  und  da 
fruchtbringend  geltend  gemacht  hat. 

Speziell  mit  Kant  beschäftifirt  sich  nur  der  Essa^  über  „die  fttthe- 
tische  Interesselosigkeit^.  Es  handelt  sich  dort  um  die  Lehre  der  Kan- 
tischen Ästhetik,  dass  das  ästhetische  Wohlgefallen  „ohne  Interesse"  sei, 
und  es  wird  darzutun  versucht,  dass  diese  oft  angefeindete  Lehre,  richtig 
verstanden  und  ausgelegt,  zusammen  mit  der  von  Kant  gewollten  Tendenz 
der  zugleich  von  ihm  gelehrten  Begriffslosiçkeit  des  ästhetischen  Verhaltens 
einen  hohen  Grad  ästhetischer  Einsicht  bedeutet. 

Charlottenburg.  Karl  Hoff  mann. 

Ledere,  Albert,  Docteur  es  lettres,  professeur  agrégé  à  l'université  de 
Berne.   La  Philosophie  grecque  avant  Socrate,  chez  Blond,  Paria. 

Bien  que  cet  opuscule  fasse  partie  d'une  collection  de  vulgarisation, 
Fauteur,  s'inspirant  des  travaux  les  plus  récents  de  France  et  d'iOemagne, 
s'est  appliqué  à  faire,  des  Antésocratiques,  une  étude  scientifique.  Il  ne  lei 
considère  pas  exclusivement  comme  des  philosophes,  ainsi  qu'on  le  i^t  trop 
souvent  encore,  mais  comme  des  penseurs  qm  voulaient  avant  tout  faire 
de  la  science,  et  qui,  en  ces  temps  reculés  où  la  véritable  science  n'oistait 
guère  et  n'était  guère  possible,  se  sont  trouvé  forcés  de  traiter  philosophi- 
quement les  questions  scientifiques.  Dans  son  premier  chapitre,  il  a  inaaté, 
notamment,  sur  l'opposition  de  l'influence  de  la  religion  grecque  officielle 
et  de  l'influence  des  Mystères  sur  la  pensée  grecque.  H  a  risqué  qoel^ 
hypothèses  sur  Anaximandre,  Empédocle  et  Anaxagore.  Il  insiste,  dime 
manière  générale,  sur  l'importance  des  idées  pythafforéciennes  dans  tonte  la 
philosophie  postérieure  et  il  traite  des  Eléates  et  des  Atomistes  on  pea 
outrement  qu'  on  ne  le  fait  d'ordinaire.  Il  cherche  en  toute  occasion  k 
lien  des  conceptions  proprement  philosophiques  et  des  conceptions  sdenti* 
flques  de  ces  divers  philosophes.  Sans  cesse  il  a  cherché  à  se  dâEendrede 
commenter  les  textes  qui  nous  sont  parvenus  à  l'aide  de  doctrines  poaténr 
eures,  bien  qu'il  ait  la  ferme  conviction  que  l'idée  première  de  toutes  oes 
doctrines  a  été  plus  ou  moins  entrevue  par  les  Antesocratiqaes. 

Berne  (Suisse).  A.  Leclère. 

Leclère,  Albert,  Docteur  es  lettres,  professeur  agrégé  à  llJnivenité 
de  Berne.  La  Morale  rationnelle  dans  ses  relations  avec  la  Philo- 
Sophie  jg^énérale,  chez  Payot,  Lausanne  et  Alcan,  Paris. 

L'mtention  principale  de  cet  ouvrée  est  d'opposer  une  théorie  rigoo* 
reusement  rationnelle  et  normale  de  l'Ethique  à  rempirisme  et  au  sentie 
mentalisme  sous  toutes  leurs  formes,  de  fonder,  par  l'emploi  d'une  méthode 
tout  à  la  fois  positive  et  critique^  le  minimum  de  dogmatisme  sans  leqael 
l'Ethique  n'  a  plus  aucun  sens.  L'auteur  a  essayé  de  déduire  des  princqiei 
les  plus  classiques  de  la  philosophie  bien  compris,  tontes  les  audaces  aoMp 


Selbstanzeigen  (FlOgel— Walther).  845 

les  de  la  morale  moderne,  sans  craindre  de  paraître,  ans  uns.  rétrograde, 
aux  autres,  révolationnaire.  Parti  d*un  examen  d'ensemble  des  tcmdanoes 
aelles  les  plus  significatives  et  d'une  démonstration  de  la  différence 
icale  de  la  philosophie  et  de  toute  religion,  même  naturelle,  il  essaie 
)  classification,  nouvelle  i)ar  certains  points,  de  Tensemble  des  sciences  et 
I  parties  de  la  philosophie;  il  arrive  ainsi  à  construire,  en  en  rassemblant 
membres  impars  dans  les  disciplines  les  plus  diverses,  la  science  morale 
il  définit.  Puis  il  tente  de  déterminer  à  priori  les  points  de  vue  philo* 
»hiques  et  moraux  véritablement  normaux  à  l'espnt  humain;  il  établit 
si  une  logique  préalable  de  la  recherche  éthique  et  il  vérifie  la  valeur  de 
Morale  rationnelle  par  une  historié  critique  de  la  Morale  depuis  les 
ßcs  jusqu'  à  nos  jours.  —  Dans  une  deuxième  partie,  il  construit  successi- 
nent  une  Ethologie  inductive,  individuelle  et  sociale,  une  Ethocritiqne. 
3  Métamorale  discrète  et  une  Ethologie  deductive  au  cours  desquelles  il 
tache  la  notion  de  la  valeur  morale  à  la  raison,  dont  il  en  fait  une 
égorie.  Ensuite  il  établit,  en  partant  des  principes  qu'il  a  posés,  une 
raJe  pratique  délibérément  individualiste  dont  il  fait  sortir  peu  à  peu 
ites  les  conséquences  altruistiaues  dont  les  doctrines  qu'il  combat  se 
lent  le  monopole.  H  ne  s'est  dérobé  à  Texamen  d'aucun  des  problèmes 
plus  angoissants  de  notre  époque,  sans  pitié  pour  les  pr^ugâ  les  plus 
pectables  dont  il  pense  que  la  survivance,  en  dépit  des  progrès  de  la 
ence  et  de  la  critique,  est  un  danger  aussi  grand  pour  la  penMe  morale 
itemporaine  que  les  exagérations  de  l'Etatisme  ou  de  l'Anarchisme. 
§cialement,  il  s'est  appliqué  à  montrer  les  rapports  des  Questions  morales 
se  toutes  les  autres  et  à  concilier,  dans  une  synthèse  cD  un  caractère  à 
fois  scientifique  et  critique,  les  opinions  philosophiques  les  plus  diverses. 
Berne  (Suisse).  A.  Leclère. 

Flügel,  O.,  Monismus  und  Theologie.  Dritte,  umgearbeitete 
Qage  der  spekulativen  Theologie  der  Gegenwart.  1906.  Göthen, 
Schulze.    (413  S.) 

Inhalt:  I.  Monismus,  U.  Monismus  und  die  Grundbegriffe  der  Theo- 
ie,  in.  Monismus  in  theologischen  Systemen,  IV.  Monismus  der  Methode 
)r  realistischer  Pluralismus. 

Die  Kenner  Kants  wird  es  vielleicht  am  meisten  interessieren  zu 
en,  wie  philosophische  und  theologische  Monisten  Kants  Philosophie  in 
em  Sinne  deuten.  Die  Kategoriemehre  wird  gedeutet  als  Offenoarnng 
I  Weltgeistes  an  den  einzelnen  Geist.  Ein  gewisser  theologischer  Im- 
tssionismus  will  mit  Berufung  auf  Kant  der  fibersinnlichen  Dinge  un- 
i;elbar  im  Gefühle  innewerden.  Die  Postulate  Kants  werden  benutot, 
ht  blos  allgemein  zum  Glauben  an  die  Arelität  der  Ideale,  sondern  um 
"zutun:  was  vernünftig  ist,  ist  wirklich  und  umgekehrt.  Und  mehr 
gleichen. 

Wansleben  bei  Halle  a.  S.  O.  FlttgeL 

Walther,  Martin,  Dr.  phil.  J.  J.  Herbart  und  die  vorsokra- 
che  Philosophie.  Ein  Beitrag  zum  historischen  VerstAndnis  der 
rbartschen  Metaphysik.    Dissertation.    Halle,  Kaemmerer  &.  Co.,   1906. 

Man  hat  Her  oarts  Metaphysik  oft  rein  als  Produkt  der  nachkantischen 
3kulation  verstehen  wollen.  Gewiss  hat  man  in  zweierlei  Hinsicht  dazu 
«ses  Recht.  Einmal  ist  Herbart  tatsachlich  durch  Ablehnung  von 
hte*s  Ich  als  des  einzigen  Realen  zu  seinem  ^ReaUsmus**  gekommen. 
d  dann  hftngt  Herbarts  Spekulation  auch  wirkhch  eng  zusammen  mit 
I  realistischen  Elementen  in  Kants  Philosophie,  dem  G^egebensein 
I  Stoffes  unserer  Vorstellungen  und  der  Funktion  des  Affizierens  unserer 
ne.  Die  Dissertation  betont  jedoch,  dass  man  bei  diesem  Urteil  fiber 
rbarts  Metaph;$rsik  ein  wesenth<^es  Moment  fibersieht.  Der  AuÜNhwuDg 
nlich,  den  seit  Kants  Emeaemng  der  Speknlatioii  die  Qeechiebte  der 


346  Selbstanzeigen  (v.  Brockdorff). 

Philosophie  nahm,  ist  in  jener  Zeit  fifanz  besonders  Kants  zweitem  Nach- 
folger, Herbart,  zugute  gekommen.  Herbart  ist  sich  dessen  bewnsst,  daas 
alle  Versuche,  eine  Metaphysik  zu  finden,  bisher  gescheitert  sind,  well  min 
die  ursprünglichen  Fragen,  die  notwendig  ledes Nachdenken  beschfilti^ 
müssen  una  auch  das  Nachdenken  der  ältesten  Philosophen  beschiftift 
haben,  aus  den  Augen  verloren  hatte,  weil  eine  alte,  mit  jenen  nur  àviât- 
setzte  Tradition  sich  fort  und  fort  erbte,  wie  alte  Bausteine,  die  bei  ihrem 
Aufbau  nur  eine  Ruine  statt  eines  Wohnhauses  ergaben.  Und  auch  die 
erfreuliche  Aufregung,  die  der  Metaphysik  durch  Kant  zuteil  gewoidfln 
ist,  hat  nach  Heroarts  Urteil  leider  dias  eigentliche  metaphjsifiche  WisBen 
nicht  viel  weiter  gebracht,  sondern  nur  einige  Punkte  ins  helle  Licht 
gesetzt. 

Auf  Grund  dieser  Tatsache  ist  Verf.  den  Spuren  einmal  nachg;egangeii, 
die  von  Herbarts  Metaphysik  zu  der  vorsokratischen  Philosophie  fahren, 
und  hat  die  Beziehungen,  die  Herbart  auf  jene  genommen  hat,  darzulegen 
versucht.  Im  Hinter^und  lag  dabei  die  leise  Hoffnung,  dass  sich  diuch 
diese  Untersuchung  ein  Moment  ergebe,  durch  welches  das  bisherige,  nach 
Yerf.'s  Meinung  mcht  in  allen  Punkten  zutreffende  historische  Verstftnânis 
der  Herbartschen  Metaphysik  rektifiziert  werden  könnte.  Dedialb  handelt 
es  sich  hier  nicht  zunächst  um  Wahrheit  oder  Falschheit  der  Herbartschen 
Metaphysik,  sondern  nur  um  Wahrheit  oder  Falschheit  ihres  bisherigen 
historischen  Verständnisses. 

Im  1.  Abschnitt  finden  sich  die  Momente  zusammengestellt,  die 
Herbart  zu  der  alten  Philosophie  führten.  Im  2.  Abschnitt  ist  zuerst  ver- 
sucht worden,  ein  gut  Teil  des  Herbartschen  Erfahrungsbegriffes,  der  vom 
Kantischen  nicht  unwesentlich  abweicht,  auf  vorsokratische  Rechnung  n 
setzen.  Darauf  wird  unternommen,  in  Einzeluntersuchungen  die  Be- 
ziehungen Herbarts  zu  den  älteren  Joniem,  Heraklit,  den  Eleaten,  da 
jüngeren  Naturphilosophie  nachzuweisen  und  zu  zeigen,  dass  nic^t  nur  die 
SteUung,  sondern  in  mancher  Hinsicht  auch  die  Lösung  der  Probleme  der 
Herbar&chen  Metaphysik  durch  die  Spekulation  jener  Männer  wesentlich 
beeinflusst  worden  ist.  Der  3.  Abschnitt  endlich  möchte  an  Herbarts  Ge* 
danken  über  die  Geschichte  der  Philosophie  nachweisen,  wie  wenig  gnecht 
in  Herbarts  eigenem  Urteil  man  bisher  verfuhr,  wenn  man  seine  SteD&ng 
zu  der  vorsokratischen  Philosophie  meist  nur  ganz  nebenbei  in  Betradit  sog. 

Schönebeck.  M.  Walther. 

Baron  €ay  y.  Brockdorff,  Dr.,  Dozent  der  Philosophie.  Die  Ge- 
schichte der  Philosophie  und  das  Problem  ihrer  Beffreiflich* 
keit.    Osterwick-Harz,  Leipzig  und  Wien.  Verlag  v.  A.  W.  Zickfeldt.  1906. 

Diese  Greschichte  der  Philosophie  ist  zuerst  im  Jahre  1906  hd 
Aug.  Lax  in  Hildesheim  erschienen  und  nunmehr  in  innerlich  grossentdk 
äusserlich  völlig  neuer  Form  von  einem  grösseren  Verlage  dem  Publikum 
vorgelegt  worden. 

Die  vnssenschaftliche  Tendenz  der  Arbeit  hat  sich  seit  1906  in  keiner 
Beziehui^  geändert.  Wie  den  Lesern  der  Eantstudien  im  vorigen  Jahn 
auseinandergesetzt  worden  ist,  bemüht  sich  der  Verfasser,  die  âeschichto 
der  Philosophie  im  Zusammexàiange  mit  dem  Verstehen  und  dem  Begreüen 
darzustellen  und  er  sucht  geradezu  einen  Parallelismus  zwischen  des 
philosophiegeschichtlichen  und  dem  Verstftndnisfortschritt  hervortietim  n 
lassen.  Die  vollkommenste  Möglichkeit,  dem  Gange  grosser  Systanh 
entwioklungen  zu  folgen,  besteht  nämlich  in  der  Durdidrmgung  der  och 
vertiefenden  Vemunfterkenntnis.  Daher  He^  es  nahe,  hier  g^diichtlidief 
Verständnis  und  „Begreifen^  der  Vernunft  m  eins  gehen  zu  lassen. 

Auf  diese  Weise  erschliesst  sich  überall  ein  Zusammenhang  i^ite- 
matisohen  Denkens  und  historischen  Verstehens.  ^ 

Das  Werk  konnte  in  dieser  Auflage  auf  eine  schärfere  Polemik  Men 
die  katholischeti  Begrifflosi^keiten  verzichten,  da  inzwischen  die  sma 
weiter  8iirflokliegen&  Arbeit  des  Harm  Dr.  Medicus  in  den  Kant>StiidicB 


Selbstanzeigen  (v.  BrockdorfQ.  347 

S.  926  ff.  und  die  des  Herrn  Dr.  Br.  Bauch:  Kant  in  ultramontaner 
l  liberal-kath.  Beleuchtung  in  den  Eantstudien  Xm  Heft  1  und  2  weit- 
lende  und  berechtigte  Beachtung  gefunden  haben.  Es  ist  Herrn  Medicus 
)  Herrn  Bauch  gelungen,  z.  B.  £e  Beurteilungen  Kants  durch  Thomisten 
nzend  zurückzuweisen  und  ein  für  alle  mal  lächerlich  zu  machen,  sodass 
'  uns  im  ganzen  einer  objektiven  Darlegung  des  mittelalterlichen  Denkens 
Lmen  konnten.  Einige  Seitenhiebe  auszuteilen  wollten  wir  uns  freilich 
[it  versagen. 

In  der  neueren  Darlegung  sind  Kant  und  Schopenhauer  wesentlich 
ndlicher  erklärt  worden  als  m  der  ersten  Auflage  und  die  Ausführungen 
r  Heçel  und  G.  J.  P.  J.  Bolland  (über  den  der  Verfasser  auch  einen 
inen  Artikel  im  Jahrbuche  modemer  Menschen  Bd.  IH  1.  Heft  heraus- 
:eben  hat),  mussten  an  einzelnen  Stellen  verbessert  werden. 

Stil  und  Darstellunjg;8weise  dürften  in  der  jetzigen  Bearbeitung  nur 
sonnen  haben;  auch  eignet  sich  diese  Auflage  gar  wohl  zur  Yorbereitunff 
ein  philosophisches  Examen,  zumal  wenn  an  Nachschlagewerken  una 
8  mögliche  behandelnden  Kompendien,  wie  so  oft  bekutgt  wird,  die 
ersieht  verloren  zu  gehen  droht. 

Braunschweig.  Brockdorff. 

Baron  Gay  v.  Brockdorff,  Dr.,  Dozent  der  Philosophie.  Die  Kunst 
;  Verstehens.    Osterwieck-Harz,  A.  W.  Zickfeldt   1906. 

Die  kleine  Schrift  kann  als  eine  Art  Einleitung  in  die  Philosophie 

Verfassers  betrachtet  werden.     In  populärer  Form  und  mit  Heran- 

inng  vieler  Beispiele  werden  hier  aie  firossen  Fragen  behandelt,  die 

>n  seit  der  griechischen  Sophistik  über  die  Mitteilbarkeit  fremder  Ge- 

ken  aufgeworfen  worden  smd. 

Die  hier  vorliegende  kurze  Psychologie  des  Verstehens  berücksichtigt 

h  die  sprachliche  Bildung  und  ihre  Bedeutung  für  richtiffe  Auffassung 

.  Beurteilung;  sie  zeigt,  wie  sehr  in  unserem  geistigen  Lebensprozess 

Verstehen  Lebenserf ordemis  ist,  und  inwiefern  eben  der  Lebensprozess 

seiner  Periodizität  psychische  Situationen  notwendigen  Missverstehens 

beiführt. 

Die  künstlichen  Verständnisregeln  werden  als  schwache  Aushilfen 
ennzeichnet  und  auf  die  echt  künstlerische  Natur  des  Verstehens  in 
erem  Sinne  fällt  das  volle  Licht  philosophischer  Betrachtungen. 

Weltgeschichtliche  Persönlichkeiten,  wie  Napoleon  L  und  ihre 
icksale  zeigen  im  Wechsel  der  Forschungsergebnisse,  ein  wie  hoher 
id  von  Selbsterkenntnis  erreicht  sein  muss,  damit  man  bei  dem  Urteil 
.  der  Darstellung  die  richtigen  Grenzen  und  ein  weises  Mass  innehalten 
lt.  Die  Kunst  des  Verstehens,  so  au{gefasst,  wird  zu  einem  pädagogischen 
tel:  es  fördert  die  wahrhafte  geistige  Reife. 

Braunschweig.  Brockdorff. 

Baron  Gay  von  Brockdorff.  Die  wissenschaftliche  Selbst- 
:enntnis.    Verlag  von  E.  Appelhaus  &  Comp.    Braunschweig  1906. 

Es  ist  sehr  schwer,  den  positiven  Charakter  dieses  Buches  einiger- 
sen  klar  zu  charakterisieren.  Vielleicht  dient  manchem  Leser  als  ver- 
idlicher  Wink  der  Hinweis  darauf,  dass  der  Verfasser  den  Begriff  der 
taltqualität  auf  die  Formen  des  wissenschaftlichen  Denkens  ani^ewandt 

So  zeigt  er  an  den  Widersprüchen  des  religiösen  Bewusstseins  eine 
me  Art  und  Weise  auf,  sich  zu  Widersprüchen  zu.  stellen.  Rechts- 
senschaften,  Naturwissenschaften  usw.  weraen  entsprechend  untersucht. 
sc  Form  der  Selbsterkenntnis  ftlhrte  zu  einer  neuen  Begriffolehre. 
i;en  Hegel  und  seine  Schule  beweist  der  Verfasser,  dass  Begriffe  und 
zelheiten  sich  nicht  im  dialektisdien  Sinne  aufheben,  wie  wir  denn 
rhaupt  mit  vorgeblicher  Dialektik  ein  wenig  ao^eriiimt  zu  haben 
iben.    Indessen  werden  die  früheren  Bearbeitungen  mebt  dinfieh  Ter- 


348  Selbstanzeigen  (Wilmanns— Kohlmann). 

worfen,  sondern  als  Bestandteile  des  Wahren  in  einer  anderen  Auâurao^ 
nachgewiesen. 

Für  Anfönger  eignet  sich  das  vorliegende  Werk  nicht.  Minderten 
sollte  man  sich  mit  Goswin  Uphues'  „Grundzü^n"  (Osterwieck  1901)  be- 
kannt gemacht  haben.  Noch  besser  ist  es  freihch,  wenn  man  sich  dimae^ 
dnrch  Biehls  Meisterwerke  in  die  Erkenntnistheorie  hineinarbeitet 

Ich  glaube,  dass  iemand,  der  der  von  G.  Güttler  gestellten  Piôf- 
aufgäbe  der  Eantgesellschaft  näher  treten  will,  aus  meinem  Buche  manch» 
Anregungen  über  philosophische  Forschritte  empfangen  kann. 

Braunschweig.  Brockdorff. 

John  Stuart  Mill.  Eine  Prüfung  der  Philosophie  Sir  Wil-- 
liam  Hamiltons.  Deutsch  von  Hilmar  Wilmanns.  Halle  a.  S.,  äuc: 
Niemeyer.    1908.    (709  S.) 

Das  vorlie^nde  Werk  ist  nicht  allein  eine  Prüfung  der  Philosopto 
Hamiltons.  Es  ist  vielmehr  die  Kritik  einer  Philosophenschule,  der» 
Grundlehren  einer  Art  des  Philosophierens  angehören,  die,  seitdem  to 
Reaktion  gegen  Locke  und  Hume  einsetzt  hat,  die  vorherrschende  ge* 
wesen  ist,  und  in  England  von  Reid,  im  übrigen  Europa  von  Kant  ihns& 
Ausgang  genommen  hat.  Die  Stellung,  die  Hanülton  an  der  Spitze  dieser 
Schule  einnimmt,  hat  Mill  hauptsächlich  veranlasst,  mit  seinem  Namen  di» 
in  dem  Werke  enthaltenen  Betrachtungen  und  Kritiken  zu  verknfipfeiu 
Wir  besitzen  bis  heute  keine  Untersuchung,  die  den  inneren  Geg^ensitc 
der  empiristischen  und  der  rationalistischen  Denkweise  unmittelbarer  auf* 
weist,  als  das  vorliegende  Werk.  Trotzdem  seit  seinem  ersten  ErscheineL 
fast  fünfzig"  Jahre  verflossen  sind,  ist  es  für  den  Kampf  zwischen  dieaeL 
beiden  Denkweisen  auch  heute  noch  von  höchster  Bedeutung  und  berfihri 
so  au&  engste  das  Kantproblem  und  die  Grundfragen  der  Kantiachen. 
Philosophie,  auf  die  Mill  in  seinen  Untersuchungen  teils  direkt  zniflck- 
greift,  die  indirekt  aber  fast  durchweg  das  Streitobjekt  bilden. 

Das  Werk  erscheint  hier  zum  ersten  Male  in  deutscher  Übersetznof. 
Möge  diese  den  Lesern  in  unserem  Lande  willkonunen  sein  und  dazu  be^ 
tragen,  die  nähere  Bekanntschaft  mit  dem  scharfsinnigen  engliachea 
Denker  noch  weiter  zu  verbreiten,  als  dies  durch  sein  Hauptwerk  »Syatem 
der  Logik^,  das  durch  das  vorliegende  Werk  eine  Ergänzung  «rhftlt,  be- 
reits geischehen  ist. 

Hilmar  Wilmanns. 

Rohlmann,  O.  Kant  und  Haeckel.  Neue  Richtlinien  fttr  die 
Lösung  des  Zeit-Raumproblems.    Greiz,  Löffler  &  Co.    1907.    (28  S.)^ 

Inhalt:  Einleitung.  —  Erkenntnistheoretischer  Grundriss.  —  Dis 
Dimensionen  von  Raum  und  Zeit  im  Sfie^  des  Wahmehmungsgnmdei. 
—  Selbstbewusstsein  und  Weltbewusstsem  im  Spiegel  des  Wahmenmnngi' 
grandes.  —  Schlusswort. 

In  der  vorliegenden  kurzen  Abhandlung  wird  zum  ersten  Mal  der 
Versuch  Seemacht,  die  beiden  hervorragendsten  Entdeckungen  im  Gebiete 
menschli<men  Wissens,  die  Kopernikanische  und  Kantische,  unter  Anlehsiof 
an  Kants  Erkenntnistheorie,  in  das  richtige  VerhiUtnis  zu  einander  n 
bringen.  Zu  diesem  Zwecke  waren  zunädist  die  unsere  Erfahrong^-fi^ 
kenntnis  beherrschenden  Hauptstandpunkte  scharf  von  einander  zu  trennes 
bezw.  auf  ihre  letzten  Prinzipien  zurückzuführen;  und  dann  warzuzete 
wie  die  nach  jenen  Prinzipien  gegliederte  Grundlajg^  der  gesamten  JB^ 
fahrungs-Erkenntnis  eine  lückenkrae  Verbindung  zwischen  den  änssentei 
Elementen  unseres  Wissens  herstellt. 


^)  Redaktionelle  Anmerkung:  Wir  erinnern  daran,  dass  fttr  Selbf^ 
anzeigen  die  Verantwortung  allein  den  Autoren  verbleibt. 


Selbstanzeigen  (Burckhardt).  349 

Da  findet  sich  als  unentbehrliches  Glied  in  der  Grundlage  der  Er- 
ilirangs-Erkenntnis  die  Beziehung  des  wahrnehmenden  Subjekts  zu  seinem 
Ejuietensystem ,  so  dass  man  —  vom  physiologischen  Gesichtspunkte  — 
£^n  kann:  wie  dem  wahrnehmenden  Subjekt  mit  Sinnesorgan  und  Ge- 
rn Mittel  zur  Aufnahme  und  Verarbeitung  der  Sinneseindrücke  zur 
3Z-fttgung  stehen,  so  ist  dem  Subjekt  im  apriorischen  Umstand  der  Be- 
»linng  zum  Planetensystem  eine  Art  höherer  Organisation  zur  XJmspan- 
[X^  und  Vereinheitlichung  des  Sinnlichen  überhaupt  gegeben.  Erkennt- 
st^Seoretisch  betrachtet,  dient  dieser  apriorische  Umstand  der  Konsti- 
l^rang  der  Erfahrung  unter  dem  Gesichtspunkte  des  rein  Tatsächlichen, 
i^^^^usstsein  —  Zeit,  Jäaum,  Kausalität  —,  Beziehung  des  Subjekts  zum 
anetensystem  sind  drei  gleichwertige  Elemente  der  Grundlage  der  £r- 
tmsrungs-Erkenntnis.  Ohne  Bewusstsein,  Zeit,  Raum  und  Kausalität  könnten 
jr  uns  freilich  überhaupt  keine  Vorstellung;  vom  Planetensystem  machen, 
^r  ohne  die  apriorische  Beziehung  des  Subjekts  zu  dem  letzteren  wären 
IS    auch  nicht  Bewusstsein,  Zeit,  Raum  und  Kausalität  gegeben. 

Diese  Auffassung,  die  sich  zu  Kants  transscendentaler  Methode 
»enso  wie  zu  den  herrschenden  Grundsätzen  der  Naturwissenschaft  in 
fatroffen  Widerspruch  setzt,  mag  zunächst  befremdlich  erscheinen,  doch 
^xmen  Erkenntnistheorie  und  Naturwissenschaft,  so  lange  sie  sich  hier 
eilt  die  Hand  reichen,  gewisse  Schwierigkeiten  car  nicht  überwinden. 

Haeckels  Erörterunfi^en  über  Raum  und  Zeit  in  den  „Welträtseln^ 
leiben  für  die  eigentliche  Lösung  des  Problems  ohne  Bedeutung,  doch 
»»en  wir  an  anderer  Stelle  der  „Welträtsel"  in  den  Vordergrund  des 
r  eltbüdes  ein  Moment  gerückt,  welches  in  erkenntniskritischer  Beleuch- 
^^g  zu  der  unseren  Anschauungen  von  Raum  und  Zeit  entsprechenden 
^^^uidlage  der  Wahrnehmung  führt.  Darum  konnte  ich  hier  Haeckel 
Bii»  Schöpfer  der  Transscendental-Philosophie  gegenüberstellen. 

Greiz.  0.  Kohlmann. 

Bnrckhardt,  6.  Ed.  Die  Anfänge  einer  geschichtlichen 
Qndamentierung  der  Religionsphilosophie.  Grundlegende  Vor- 
^^i^uchung  zu  einer  Darstellung  von  Herders  nistorischer  Aunassung  der 
^««ion,    Berlin,  Reuther  &  Reichard  1908.    (VI  u.  90  S.) 

Prolegomena  auch  zu  einer  jeden  künftigen  Religionsphilosophie,  die 
'  ^Wisaenschaft  wird  auftreten  können,  liegen  in  Kants  kritischer  Philo - 
P^e.  Die  alte  spekulative  Reli^onsphilosophie  ist  allmählich  aus  dem 
^i^ch  der  Wissenschaft  ausgeschieden.  Nur  nach  Massgabe  und  in  den 
"^^^en  exakter  empirisch-psychologischer  und  historischer  Methode  und 
^  als  besondere  Erscheinungen  unter  anderen  können  die  gegenwärtigen 
^  die  aus  historischer  Oberlieferung  zu  erschliessenden  religiösen  Vor- 
^^S^  und  Gebilde  Gegenstand  wissenschaftlicher  Untersuchung  und  Aus- 
^^Bpunkte  philosophischer  Ergründung  werden. 

Die  historischen  Überlie^rungen  nehmen  in  den  Kulturreligionen 
^^  tiberaus  wichtige  Stellung  ein;  die  Geschichtswissenschaft  ist  daher 
^  ^Wichtige  Grunmaçe  für  cue  Religionsphilosophie.  In  Herder  pflegen 
einen  ersten  Propheten  genetisch-historischer  Betrachtungsweise  und 
L  »historischen  Sinnes''  zu  sehen.  In  der  vorliegenden  Sc&ift  ist  ver- 
J^»  die  vor  Herder  liegenden  Bedingungen  für  das  Entstehen  einer 
Z^i^ch  aufgefassten  Welt,  besonders  die  Bedingungen  für  das  Ein- 
=^^ifen  des  religiösen  Gebietes  in  diese  Welt  aufzuzeigen. 

Im  1.  Abschnitt  sind  zunächst  „Die  ältesten  Typen  einer  Reli- 
f ^^pbilosophie  ohne  den  Unterbau  genetischer  Geschichts- 
^^^88ung^  dargestellt.  Sodann  werden  „die  geistesgeschicht- 
*^^ii  Vorbedingungen  für  eine  geschichtliche  Auffassung  der 
r5^  Sehen  weit  überhaupt"  untersucht,  während  der  8.  Abschnitt  die 
^^tümliche  historische  Entwicklung  und  Verwicklung  des  Verhältnisses 
^  Äeligion  und  Geschichte  verfolgt.  Das  Problem  der  Scholastik 
^^r  besonderen  Form:  vne  verhält  sich  das  historische  Wissen  mm 


350  Selbstanzeigen  (Fröhlich). 

religiösen  Glauben?  —  Die  Frage  der  Aufklärung:  wie  verhalten  sich  » 
fällige  Greschichtswahrheiten  und  ewige  Vernunftwahrheiten  zueinander  iit 
auch  noch  in  den  religiösen  Bewegungen  der  Gegenwart  die  prinnpifilWi 
und  brennendste. 

Zur  Klärung  dieser  Frage  mag  auch  die  hier  begonnene  üntenoehnag 
der  Geschichte  dieser  Frage  beitragen. 

Halle  a.  S.  G.  Ed.  Burckhardi 

Fröhlich,  Franz,  Dr.  phil.  Oberlehrer  am  EönigL  Kaiserin  Anga^ 
Gymnasium  zu  Charlottenburg.  Fichtes  Reden  an  die  deutseli« 
Nation.  Eine  Untersuchung  ihrer  Entstehungsgeschichte.  Berlin,  Vf  A 
mann  1907.    (Ill  S.) 

Über  Fichtes  Reden  an  die  deutsche  Nation  ist  bis  in  die  ifinote 
Zeit  hinein  viel  geredet  und  geschrieben  worden,  zum  Teil  sehr  Tremicii|M^ 
aber  eine  Einzeluntersuchung  über  ihre  Entstehungsgeschichte,  wie  sie  hki 
angestellt  ist,  mit  Heranziehung  archivalischen  Materials  und  des  haait 
schriftlichen  Nachlasses  Fichtes  auf  der  Königlichen  Bibliothek  zu  Berüi, 
dürfte  vielleicht  doch  eine  Lücke  in  der  Fichte-Literatur  ausfüllen.  Mb 
hat  bisher  die  Reden,  wie  das  bei  klassischen  Werken  leicht  geschieUt 
meist  als  etwas  Gegebenes  hingenommen  und  sich  mit  der  Denâng  flm 
Inhalts  begnügt;  in  der  vorliegenden  Arbeit  handelte  es  sich  dämm,  dit 
Kräfte  zu  erkennen,  die  in  den  Reden  wirksam  geworden  sind  und  itai 
weltgeschichtliche  Bedeutung  bedingen.  Kuno  Mscher  hat  aus  Fiditv 
Reden  und  sonstigen  Schrien  von  ihm  herausgelesen,  sein  Patriotuai 
oder  Nationalismus  und  sein  Kosmopolitismus  seien  ein  und  dasselbe,  m 
Windelband  hat  in  seiner  Rede  über  Fichtes  Idee  des  deutschen  StM<* 
(1890)  die  gleiche  Auffassung  vorgetragen.  Aber  Fidite  hat  selbst  earn 
gesagt  (8,404),  man  müsse  dag'enige,  was  die  Menschen  blos  sanften,  Sas 
nicht  zum  Nachteil  anrechnen,  una  hinzugefügt:  „Die  Worte  sina  ttbeiliiiVt 
nichts,  und  nur  das  Leben  will  etwas  oedeuten."  Hier  ist  ein  M,  «• 
man  mit  der  Anwendung  dieses  Satzes  auf  Fichte  selbst  Ernst  mtdMi 
muss.  Die  Berufung  Fichtes  zum  Ordinarius  für  Philosophie  in  SdMg 
(März  1806)  erfolgte,  wie  ich  aus  den  Akten  des  Geheimen  Staatwattw 
habe  mitteilen  können,  dadurch,  dass  Hardenberg,  ungeachtet  des  Eimpir^ 
des  Herrn  v.  Massow,  des  Nachfolgers  von  Wöllner,  für  lachte  seine  ^ 
Autorität  beim  König  einsetzte.  Seit  dieser  Berufung  fühlte  sich  IM 
längst  von  Hinneigimg  zu  dem  Staat  Friedrichs  des  Grossen  ertBS&,  m 

greussischer  Staatsdiener,  ja  dieses  Ereignis  gewann  für  ihn  in  MiMi 
ochgespannten  Pflichtgefühl  eine  ausserordentliche  Tragweite.  ^JJ 
Richtung  auf  bestimmte  Ziele,  wie  sie  Hardenberg  und  Stein,  Schai^JJP 
und  Gneisenau  und  andern  preussischen  Patrioten  vorschwebten,  hstlMyi 
auch  die  Reden  an  die  Deutschen  gehalten.  Schon  vor  mehr  als  i** 
Jahren  (1895)  hat  Max  Lehmann  aus  den  Akten  des  (jleheimen  SteatKidl* 
nachgewiesen,  dass  manches  in  den  Reden,  was  jetst  allgemein  und  ^ 
verfänglich  klingt,  ursprünglich  die  unmittelbare  Beziehnng  za  dcrN* 
sondern  Lage  Preussens  an  der  Stirn  trug  und  nur  dämm  einen  an^ 
Wortlaut  bekam,  weil  es  vom  Zensor,  der  Fichte  und  die  preuniseke  w* 
gierung  vor  Verlegenheiten  bewahren  wollte,  beanstandet  wurde,  pu* 
eben  das  Grosse:  der  Yerkünder  der  Wissenschaftslehre  beteiligt  flck, * 
das  Vaterland  seiner  bedarf,  freilich  auf  seine  Weise  und  so,  wiewff* 
es  kann,  an  der  politischen  Arbeit.  Allerdings  war  Fichtes  l^s^^'Jj 
damals  um  eine  neue  Geisteskraft  bereichert,  den  geschichtlichen  Saa,  j^ 
es  ist  denkwürdig,  dass  sich  Fichte  in  dieser  Hinsidit  an  dem  fWJJJ 
Florentiner  Patrioten  Macchiavelli  gebildet  hat,  der  seiner  Nationjjjj 
die  Kraft  seines  Wortes  einen  Einiger  und  Befreier  zu  erwecken  |dg 
hatte.  „Macchiavelli  ruht  ganz  auf  dem  wirklichen  Leben  and  deaWi 
desselben,  der  Geschichte,"  so  beginnt  der  Aufeatz,  den  Fichte  Î58j«JJ 
1807  in  Königsberg  über  Macchiavelli  und  seine  Schriften  ^'^«^''JJjf 
Diese  Studie,  in  der  sich  Fichte  erst  das  Verständnis  für  pditiacbelav' 


Selbstanzeigen  (Kichert  -  Sanas).  351 

a  erschloss,  gab  ihm  einen  festen  Standpunkt  gegenüber  den  napo- 
(chen  Staatsgebüden  und  führte  unmittelbar  zu  den  Beden  hinüber. 

Fichte  mit  seinen  Ausführungen  über  Marchiavelli  ins  Schwarze 
ffen  hatte,  beweist  die  Tatsache,  dass  nach  dem  Pariser  Moniteur  vom 
iniuur  1808,  also  zu  einer  Zeit,  wo  Fichte  gerade  die  Beden  hielt,  die 
ßhrift  ^Vesta",  in  deren  erstem  Heft  der  Macchiavelli-Aufsatz  stand, 
n  Königsberg  so  in  Berlin  auf  hohem  Befehl  konfisziert  wurde.  Diese 
itungsvolle  Schrift  über  Macchiavelli  (St.  W.  3,404)  hat  Kuno  Fischer 
eben,  sie  ist  auch  in  dem  Gesamtverzeichnis  von  f^chtes  Schriften  bei 
(3.  Aufl.  1900  S.  214—220)  nicht  angeführt.  Windelband  hat  den 
ktz  zwar  in  den  Kreis  seiner  Betrachtungen  gezogen,  aber  mehr  seine 
xmderung  über  den  interessanten  Inhalt  ausgesprochen,  statt  ihn  in  das 
e  Licht  zu  rücken. 

Aus  diesen  Andeutungen  möge  man  erkennen,  am  welche  Probleme 
sh  in  der  vorliegenden  Untersuchung  handelt;  es  ist  der  Versuch,  von 
durch  Quellenforschungen  gewonnenen  historischen  Gesamtanschauung 
lern  Verständnis  der  laden  näherzukommen. 

Charlottenburg.  Franz  Fröhlich. 

Kichert,   H.    Philosophie.     Einführung  in   die  Wissenschaft,   ihr 
n  und  ihre  Probleme.    (Aas  Natur  und  Geisteswelt.)    Leipzig  1908. 
Teubner. 

Das  Büchlein  fügt  sich  einer  Bändereihe  der  Teubnerschen  Samm- 
ein, die  gebildete  Laien  in  die  einzelnen  Wissenschaften,  ihre  Stel- 
in der  Wissenschaft,  ihre  Methoden,  Probleme  und  Aufgaben  ein- 
n  8oll.  Die  Schwierigkeit  dieser  Aufgabe  für  die  Philosophie  ist 
IG  gross,  wie  die  Notwendigkeit  ihrer  Lösung  von  dem  stark  em- 
len  wird,  der  die  Batlosifi^keit  weiter  Kreise  and  die  Miss^ffe  in 
Vahl  der  Mittel,  das  erwachte  philosophische  Interesse  zu  befriedigen, 
)obachten  Gelegenheit  gehabt  hat.  Besonders  bedauernswert  erschien 
Verfasser  die  Ignorierung  der  Gegenwartsforschung  seitens  weiter 
hten  der  Gebildeten  und  die  kritiklose  Verehrung  der  Mode-  and 
itionsbücher.  Der  Verfasser,  der  seine  Anschauungen  wesentlich  auf 
jitiflche  Philosophie  gründet,  hat  versucht,  seine  Leser  über  die  Pro- 
B  der  Philosopme  möglichst  objektiv  zu  unterrichten,  die  moderne 
hang  und  ihre  Fragestellung  dabei  besonders  berücksichtigend,  und 
lie  den  Psychologismus  und  Positivismus  bekämpfenden  Forscher  he- 
ures Interesse  zu  erregen.  Literarische  Verweise  und  eine  nicht  zu 
am  bemessene  Bibliographie  dienen  den  gleichen  Zwecken.  Wo  er, 
Bigene  Formulierung  verzichtend,  den  Philosophen  selbst  das  Wort 
,  üofft  er,  den  Leser  dazu  anzuregen,  die  Philosophen  „im  stillen 
gtum  ihrer  Werke^  selbst  aufzusuchen.  Vischers  Wort,  dass  es  zu 
löchsten  Aufgaben  unserer  Zeit  gehört,  dem  Geist  Schloss  und  Biegel 
fnen  und  ihn  in  die  Massen  zu  verbreiten,  stand  dem  Verfasser  dabei 
K)  wie  jenes  andere  vor  der  Seele,  dass  dieses  Geschäft  auch  endlich 
loll  una  gestehen,  woher  der  Inhalt  geholt  ist. 
Pleschen.  H.  Biche rt 


SAnofl,  Dr.  Similismus,  Grundriss-  einer  neuen  Welt- 
hauunff.  (1.  Teil:  Positive  Darstellung  des  Similismus,  II.  Teil: 
k  christucher  Lehren.)    Dresden,  E.  Piersons  Verlag,  1907. 

Wer  eine  logische  und  damit  eine  die  menschliche  Vernunft,  den 
lehlichen  Logos   befriedigende  Lösung  des  Welträtsels  geben  will, 

die  Welt  als  die  Verwirklichung  eines  bestimmten  Be- 
fes  nachweisen.  Diese  Aufgabe  löst  der  Verfasser  obiger  Schrift 
«r  Weise,  dass  er  die  Merkmale  des  von  ihm  aufgestellten  Welt- 
lifes  als  in  der  Welt  tatsächlich  gegeben  aufzeigt.  Hierdarch  er- 
't  er  die  Welt,  macht  sie  im  wahren  and  eigentlichen  Sinne  des 


362  Selbstanzeigen  (Apel— Siegel). 

Wortes  begreiflich,  verständlich;  denn  eine  Sache  begreifei, 
verstehen  heisst  ja,  sie  als  die  Realisation  eines  bestimmten  Begriffii 
mittelst  des  Verstandes  erfassen.  Und  so  konnte  der  Aator  niuih D» 
leg^ung  des  Wesentlichen  seiner  Weltansicht  mit  Hecht  sagen:  Jim 
Weltauffassung  ist  eine  Wesenserkläruns:  der  Welt,  eine  Feststèta 
des  Weltbegriffes,  sie  ist  die  erschöpfende  Definition  der  Wer, 
was  keine  der  bisherigen  Weltanschauungen,  weder  Theismus  noch  F» 
theismus  und  Materialismus  von  sich  zu  behaupten  imstande  ist 

München.  Dr.  Sanas. 

Apel,  Max.  Kommentar  zu  Kants  „Prolegomena".  Einefii^ 
führun^  in  die  kritische  Philosophie.  I.  Teil:  Die  Grundprobleme  der  1^ 
kenntmstheorie.    Buchverlag  der  Hilfe,  Schöneberg-Berlin.    (U  Bgn.) 

Ziel  des  Werkes  soll  sein,  in  möglichst  ver^ndlicher  Weise  ii  ài 
Studium  der  Kantischen  Philosophie  einzuführen.  Zu  diesem  Zweck  fli 
Abschnitt  für  Abschnitt  der  „Prolegomena^'  mit  Erläuterungen  g8idii# 
lieber  und  sachlicher  Natur  versehen.  Von  längeren  Atisfflnninge&  Ul: 
ich  hervor:  die  Kausaltheorie  Humes,  Einfluss  Humes  auf  Kant»  gescUdl^ 
lieber  Überblick  über  die  Metaphysik,  das  Apriori  in  der  Mathematik,  df 
Streit  zwischen  Kuno  Fischer  und  Trendelenburg,  Kant  und  die  IG# 
Euklidische  Geometrie,  das  „Paradoxon",  Berkeleys  Idealismus  nnd  lÉl 
Widerlegung,  Wirklichkeit  und  Traum,  Ding  an  sich  und  EnànàBO^ 
Im  Mittelpunkt  der  Erörterungen  steht  die  Unterscheidung  derWw 
nehmungs-  und  Erfahrunssurteile  als  Kern  des  Kritizismus. 

Der  Standpunkt  des  Verfassers  ist  die  TransscendentalphiloMliUli 
wie  sie  (freilich  unter  wesentlichen  Abweichungen  von  einander)  lü 
Cohen,  Riehl,  Thiele,  vor  allem  von  Kant  selbst  vertreten  wiri  M 
Philosophie  vnrd  aufeefasst  als  ein  Kampf  mit  zwei  fönten,  gügw^ 
dogmatischen  Bationdismus  und  den  sensualistischen  Empirismns.  «^ 
Vertreter  dieses  Empirismus  Kant  gegenüber  kann  heute  Pauken  gctt* 
Die  Ausführungen  dieses  Philosophen  mussten  daher  öfters  heiangeing 
und  bekämpft  werden.  Im  übrigen  verlieren  sich  die  Erörterungen  tf* 
in  kleinliche  Polemik.  An  geeigneter  Stelle  sind  Anschauungen  ^ 
Fichte,  Jacobi,  Herbart,  Schopenhauer.  He&^l,  Adickes,  KleLnpeter,  Son 
Vaihinger,  Cohen,  Riehl,  Thiele,  Helmh(utz,  Poincaré,  E.  König,  Sitff 
u.  a.  berücksichtigt. 

Charlottenburg.  Max  ApeL 

Contnrat,  Louis.  Die  philosophischen  Prinzipien  d«( 
Mathematik.  Deutsch  von  Dr.  Carl  Siegel  Philosophisch-soeiologist^ 
Bücherei,  Bd.  VH.    Leipzig  1908. 

Dass  die  mathematischen  Urteile  synthetisch  a  priori  sind,  giltK» 
als  feststehende  Tatsache,  die  zur  Grundlage  seiner  transscendeotd* 
Ästhetik  und  damit  der  ganzen  Kritik  genommen  wird«  Lässt  sich  ^ toi 
Voraussetzung  vom  Standpunkt  der  modernen  Mathematik  noch  aoino» 
halten?  Das  ist  die  grosse,  nun  freilich  schon  wiederholt  aufgewoi^ 
Frage.  Ersetzt  man  mit  Riehl  die  Terminologie  in  analytische  und  spvt 
tische  Urteile  durch  logisch-begriffliche  und  Anschauungssätze,  so  ^ 
wandelt  sich  jene  Frage  offenbar  in  die  andere  :  In  w  e  1  c  h  e  m  Ver- 
hältnis steht  die  Mathematik  zur  Logik  und  inwieweit 
ist  sie  auf  Anschauung  gegründet? 

Gerade  diese  Frage  steht  aber  im  Mittelpunkte  des  Coutontsdci 
Werkes:  Les  principes  de  Mathématiques,  das  nunmehr  in  deutscher Üb^ 
Setzung  vorliegt,  und  schon  aus  diesem  Grunde  wäre  dieses  Weric  füf  <*f 
Kant-âteressenten  von  Bedeutung.  Allein  dazu  kommt  noch,  dass  iidi& 
in  einem  umfangreichen  Anhange  direkt  mit  Kants  „Philoso]>hi6  v 
Mathematik"  auseinandersetzt,  wobei  er  firfindlichste  Kenntnis  niclili^ 
der  Kantischen  Werke,  sondern  auch  der  aeutsoken  Kant-Literator  u  ^ 


Selbstanzeigen  (Siegel).  âoâ 

legt.  Bezüglich  der  interessanten  Argomentiening  Couturats  ge^en- 
r  Kant  im  einzelnen  muss  hier  auf  das  Werk  selbst  verwiesen  weraen. 

die  Resultate  mit  wenigen  Andeutungen  in  Richtung  der  Begründune 
pen  im  Folgenden  gekennzeichnet  weraen.    Bezüglich  der  Arithmetik 

Kant  jedenfalls  nicht  Recht:  Die  arithmetischen  Sätze  sind  nicht 
thetisch.  Treffend  ist  unter  anderen  Argumenten  insbesondere  der 
weis  darauf,  dass  Kant  selbst  die  Aussage  a  +  b  >  a  als  analytisches 
eil  bezeichnet  ;  dann  kann  aber  auch  die  Aussage  7  -f  5  =  12  nicht  syn- 
tisch  sein,  sonst  müsste  a  +  b  >  a  erst  recht  es  sein.  Anders  steht  die 
he  im  Falle  der  Geometrie.  Der  Hinweis  freilich  auf  die  in  den 
chen  geometrischen  Beweisen  zur  Anwendung  gebrachten  Konstruk- 
len  beweist  nichts  zu  Gunsten  Kants.  Denn  erstens  erschaffen  Kon- 
iktionen  in  Wahrheit  kein  neues  Element,  sondern   verwirklichen   nur 

in  der  Voraussetzung  schon  Enthaltene  oder  kurz:  Konstruktionen 
iessen  nur  scheinbar  eine  Berufung  auf  die  Anschauung  ein.  Dazu 
unt  aber  noch  zweitens  —  was  freihch  in  engem  Zusammenhange  mit 
I  eben  Gesagten  steht  — ,  dass  solche  Konstruktionen  überhaupt  ent- 
rt  werden  können,  und  man  nur  einer  genauen  Ausdrucksweise  oedarf, 
die  Beweisführung  in  rein  begrifflicher  Form  hervortreten  zu  lassen. 
3  die  Beweisführung  betrifft,  verhält  sich  also  die  Geometrie  genau  so 

die  Arithmetik.  Der  Unterschied  in  der  Natur  der  beiden  mathe- 
ischen  Disziplinen  tritt  vielmehr  nur  in  den  Axiomen  hervor.  Aus  der 
lache,  dass  es  ftlr  die  Geometrie  im  Gegensatz  zur  Arithmetik  m  e  h  - 
'e  logisch  gleich  mögliche  Axiomengruppen  giebt,  schliesst  Conturat, 
I  die  auf  den  gegebenen  Raum  bezogene  Geometrie  wenigstens  als 
ithetische  Wissenschaft  bezeichnet  werden  müsse.  Denn  nur  durch 
Berufung  auf  die  Anschauung  lässt  sich  die  Wahl  der  einen  Axiomen- 
ppe  aus  den  verschiedenen  begrifflich  gleich  möglichen  rechtfertigen. 
Qit  ist  freilich  noch  immer  nicht  entschieden,  ob  die  geometrisdien 
Ee  synthetische  Urteile  a  priori  oder  a  posteriori  sind;  auf 
le  Frage  aber,  die  nur  auf  psychologisch-erkenntnistheoretischem  Boden 
beantworten  versucht  weraen  kann,  geht  Couturat  ausdrücklich  nicht 
Ir  ein.  Immerhin  deutet  er  an,  dass  er  die  extrem  empiristischen  An- 
anungen  in  dieser  Richtung  nicht  anzuerkennen  vermöge  und  Kants 
riorismus  in  einem  freilich  sehr  eingeschränktem  Sinne  für  die  richtige 
sorie  halte. 

Wien.  C.  Siegel. 


354  Mitteilungen. 


Mitteilungen. 


Von  der  Feier  des  60.  Oebnrtstages  Wilhelm  Windelbands. 

In  diesem  Jahre,  am  11.  Mai,  vollendete  einer  unserer  bedeutendita 
Denker,  dem  insbesondere  die  Weiterentwickelung  der  kritischen  Phäo- 
Sophie  die  fruchtbarsten  Impulse  zu  verdanken  hat,  sein  sechzigstei 
Lebenqahr:  Wilhelm  Windelband.  Im  philosophischen  Seminar  da 
Heidelberger  Universität  hatten  sich,  um  den  Festtag  würdig  zu  begeho^ 
Freunde  und  Schüler  des  verehrten  Mannes  eingefunden,  in  deren  Niio 
Vertreter  sowohl  der  älteren  als  der  jüngeren  Generation  dem  Jahilir 
ihre  Glückwünsche  darbrachten.  Die  schlichten  und  herzlichen  Worte  dis 
der  ältesten  Schüler  Windelbands  und  seines  nunmehrigen  Kollegen  a 
der  Heidelberger  Universität,  Jellineks,  dürften  dem  Lehrer  besondenffr 
zeigt  haben,  was  er  seinen  Schülern  bedeutet.  Wenn  nach  dem  BeriÄ 
der  „Neuen  Badischen  Landeszeitung"  Jellinek  dem  Bewusstsein  Auadi«! 
gegeben  hat,  „er  wäre  nie  geworden,  was  er  sei,  wenn  er  "Windelbni 
nicht  als  Lehrer  und  Führer  gehabt  hätte",  so  hat  er  in  aller  schbcMB 
Kürze  am  besten  bezeichnet,  was  der  Grundgedanke  aller  war,  diek 
Erinnerung  an  ihre  akademischen  Lehijahre  an  der  Feier  unmitteltoi 
oder  auch  nur  in  der  Ferne  wenigstens  geistig  teilnahmen. 

Windelband  selbst  hat  in  einer  kurzen  Ansprache  seine  pbilo^ 
phische  Stellung  so  präzis  gekennzeichnet,  dass  wir  wenigstens  die  Gralr 
gedanken  (wieder  dem  Bericht  der  „N.  B.  L.-Ztg."  folgend)  nn«* 
Lesern  nicht  vorenthalten  woUen  :  Ausgehend  von  der  Geschichte  ^ 
Schüler  des  Mannes,  dessen  £rbe  er  in  Heidelberg  angetreten,  habe  t 
sich  in  den  60er  und  70er  Jahren  den  naturwissenschaftlichen  DisôpUB* 
zugewendet.  So  sei  er  durch  beide  Wissenschaftsformen,  die  Natnr'» 
die  Kulturwissenschaft  hindurchgegangen,  und  deren  beiderseitiges  T^ 
hältnis  habe  daher  auch  den  Gegenstand  seiner  eigenen  philosophisch 
Aufgabe  gebildet,  die  er  stets  im  Kontakte  mit  den  Einzelwissensebi^ 
aufgefasst  habe.  So  seien  ihm  seine  Gedanken  systematisch  und  histooi* 
zugleich  erwachsen.  Den  Wert  der  grossen  idealistischen  Systeme  fci" 
er  in  einer  Zeit  zu  erkennen  gelernt,  wo  zu  einer  allgemeinereD  i** 
erkennung  noch  mehr  fehlte  als  heute.  Deren  Bedeutung  erkennst 
nicht  allein  aber  für  die  Wissenschaft,  sondern  für  das  ganze  öeo^ 
schaftsieben  des  Volkes,  da  der  Auf  blick  zu  den  ewigen  Weiten  der  M«* 
den  letzten  Bückfall  alles  Volkstums  bilde.  In  diesem  Sinne  habe  er  ^ 
Anfang  an  gewirkt.  Und  wenn  von  dieser  Saat  in  den  Herzen  derJi^P 
etwas  aufginge,  so  würde  ihm  das  nicht  bloss  der  schönste  Lohn,  sob^ 
auch  der  wirksamste  Antrieb  zu  neuem  Schaffen  sein« 

Nun,  dass  diese  Saat  im  philosophischen  Leben  bereits  aui^^egtf^ 
ist,  darüber  kann  schon  in  der  Gegenwart  keine  Frage  sein;  meM^ 
ist;  das  wird  noch  deutlicher  die  Zukunft  zeigen.    Dass  für  diese  Zolf^ 


Hütteilang^n.  366 

Lehrer  selbst  noch  lange  Jahre  persönlich  wirke  in  stets  frischer 
'±  und  in  dem  von  ihm  selbst  bezeichneten  Sinne,  das  ist  der  Wunsch 
derer,  die  wissen,  was  er  bisher  gewirkt  hat.  B. 


Eine  Erweitemng  der  Därr'schen  philosophischen  Bibliothek. 

Die  durch  ausgezeichnete  Ausgaben  von  Werken  der  klassischen 
Dsophie  (zum  Teil  in  hervorragend  gelungenen  Übersetzungen,  so 
iften  von  Bruno,  Descartes,  Spinoza,  Leibniz)  rühmlichst  bekannte 
agsanstalt  von  Friedrich  Dürr  in  Leipzig  hat  nun  auch  eine  moderne 
ipendiensammlung  in  ihren  Plan  aufgenommen.  Es  sind  bis  jetzt  darin 
:e8ehen  eine  Emporleitung  in  die  Kritik  der  Vernunft  als  Traktat  der 
node  von  Professor  Messer  in  Giessen,  Ethik  und  Politik  von  Professor 
)rp  in  Marburg,  Ästhetik  von  Professor  Wentscher  in  Bonn,  Psychologie 
Professor  Witasek  in  Graz. 

Das  zuletzt  genannte  Werk  ist  bereits  erschienen.  Es  bietet  eine 
hickte  Übersicht  über  das  psychologische  Gebiet,  behandelt  zunächst 
ersten  Teile  die  allgemeine,  im  zweiten  die  spezielle  Psychologie.  In 
m  grenzt  es  zunächst  das  „Gegenstandsgebiet  der  Psychologie"  ab,  um 
nn  zu  dem  „Verhältnis  zwischen  physischer  und  psychischer  Tatsachen" 
long  zu  nehmen  und  nach  einer  Erörterung  über  die  Begriffe  „Seele, 
Unbewusstes",  die  „erste  Sichtung  des  psychologischen  Tatsachen- 
»ials"  zu  behandeln  und  mit  „Bemerkungen  über  Aufgabe  und  Methode 
Psychologie"  abzuschliessen. 

Der  zweite  Teil  handelt  in  der  ersten  Hälfte  von  der  P&ychologie 
Geisteslebens,  in  der  zweiten  von  der  des  Gemütslebens.  Jene  gliedert 
dem  Verfasser  in  die  Psychologie  der  VorsteUungen  und  die  der  Ge- 
en.  Die  zweite  Hälfte  behandelt  die  Psychologie  der  Gefühle  und  die 
^gehrungen. 

Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  in  eine  kritische  Erörterung  der  Einzel- 
Û  einzutreten.  Es  sei  nur  betont,  dass,  auch  wer  vom  Standpunkte 
Kritizismus  aus  die  philosophischen  Ansichten  des  Autors  nicht  teilt 
auch  auf  einem  anderen  psychologischen  Standpunkte  als  dieser  steht, 

bei  mancher  Differenz  im  Einzelnen  selber,  doch  auch  manche  An- 
ig  finden  dürfte.  Wegen  der  allgemein  verständlichen  Darstellongs- 
)  dürfte  sich  das  Buch  besonders  aber  für  Anfänger  und  weitere  Kreise 
ehlen. 


356  Mitteilungeti. 

Dritter  internationaler  Kongress  für  Philosophie 

Heidelberg,  81.  Angiut  bis  6.  September  1908. 

Der  internationale  Kongress  für  Philosophie,  der  im  Jahre  1900  in 
Paris  bei  Gelegenheit  der  Weltausstellung  begründet  wurde  und  zum 
zweiten  Male  1904  in  Genf  tagte,  soll  nach  dem  dort  gefaasten  Beschlnaie 
in  diesem  Jahre  in  Heidelberg  zusammentreten. 

Die  staatlichen,  städtischen  und  akademischen  Behörden  haben  ihre 
bereitwillige  Unterstützung  in  dankenswerter  Weise  zugesagt,  und  wir 
beehren  uns,  zum  Besuche  der  Versammlung  einzuladen,  welche  in  der 
Woche  vom  31.  August  bis  5.  September  stattfinden  wird« 

Nach  einem  Begrüssungsabend  am  Montag,  den  31.  August  soll  am 
Dienstag,  den  1.  September  die  erste  der  vier  allgemeinen  Sitzungen  uod 
am  Vormittag  des  Samstag,  5.  September,  die  Schlusssitzung  abgehalten 
werden,  an  die  sich  am  Nachmittag  ein  Ausflug  anschliessen  wird. 

Für  die  besonderen  Arbeiten  wird  sich  der  Kongress  in  folgende 
7  Sektionen  gliedern  :  1.  Geschichte  der  Philosophie  ;  2.  Allgemeine  Philo- 
sophie, Metaphysik  und  Naturphilosophie;  3.  Psychologie;  4.  Logik  nnd 
Erkenntnistheorie;  6.  Ethik;  6.  Ästhetik;  7.  Religionsphilosophie. 

Die  Verhandlungen  des  Kongresses  werden  in  deutscher,  englischer, 
französischer  und  italienischer  Sprache  geführt. 

Anmeldungen  zu  Vorträgen  für  die  Sektionen  werden  zunflchst  an 
den  Generalsekretär  Dr.  Elsenhans  (Heidelberg,  Pl5ck  79)  erbeten,  der 
sie  den  noch  zu  bestimmenden  Sektionsvorst&nden  überweisen  wird.  Die 
Ausdehnung  der  einzelnen  Mitteilungen  sollte  die  Zeit  von  16  Minuten 
nicht  überschreiten  ;  den  Zeitraum  fflr  die  Diskussion  nach  Massgabe  der  Zahl 
der  Anmeldungen  zu  begrenzen,  bleibt  den  Sektionsvorstftnden  vorbehalten. 

Der  Preis  der  Mitgliedskarte  beträgt  20  Mk.;  sie  berechtigt  zor 
Teilnahme  an  allen  Varanstaltungen  des  Kongresses  und  zum  unentgelt- 
lichen Bezüge  des  Kongressberichtes.  Für  Damen,  welche  zur  Familû 
eines  Kongressmitgliedes  gehören,  werden  besondere  Karten  zu  10  Mh. 
ausgegeben,  welche  dieselben  Berechtigungen  wie  die  Mitgliedskarten, 
mit  Ausnahme  des  Anspruchs  auf  den  Kongressbericht,  gewähren. 

Anmeldungen  zur  Beteiligung  sind  im  Interesse  der  Schätzung  dei 
zu  erwartenden  Besuchs  so  früh  wie  möglich  erwünscht;  sie  erfolgen  an 
besten  in  der  Form  der  Einzahlung  des  Beitrags  mit  Postanweinuig  *^ 
die  Rheinische  Kreditbank,  Depositenkasse,  Ludwigspiatz,  in  HMébttE» 
mit  möglichst  genauer  Angabe  der  Adresse,  an  welche  sodann  die  ^ 
gliedskarte  durch  die  Post  zugestellt  werden  wird. 

Im  Monat  Mai  wird  eine  zweite  Einladung  mit  genaueren  Ang*^ 
erfolgen,  die  auch  Mitteilungen  über  die  Unterkunft  in  Heidelberg  ^ 
halten  werden.  Das  Heidelberger  Organiaatioiui-Komitee. 

Gerne  bringen  wir  vorstehende  Einladung  noch  einmal  zum  Abdrflfi^ 
nnd  machen  darauf  aufmerksam,  dass  jeder  philosophiach  Intereaiie^ 
an  dem  Kongress  teilnehmen  kann. 


rftOo.,BBltoiba, 


18  Wesen  und  die  Voraussetzungen  der  Induktion. 

Von  Nicolai  von  Babnoff. 


Die  nachfolgende  logische  Untersuchung  ist  auf  die  Grund- 
'aussetzungen  der  induktiven  Methode  gerichtet.  Zu  diesem 
eck  war  eine  Feststellung  des  allgemeinen  Charakters  des  in- 
^tiyen  Verfahrens  zunächst  erforderlich.  Dies  ist  auf  Grund 
er  Darstellung  und  Kritik  der  modernen  Induktionstheorien 
rwart,  Erdmann)  geschehen.  Da  sich  nun  als  unentbehrliche 
indlage  einer  Theorie  der  Induktion  die  konstitutive  Bedeutung 
Gesetzmässigkeit  ergab,  so  wurde  eine  Auseinandersetzung  mit 
jenigen  Ansichten  notwendig,  welche  diese  These  zum  Teil  aus 
ihodologischen,  zum  Teil  aus  erkenntnistheoretischen  Gründen 
änpfen  zu  müssen  glauben. 

Es  galt  ferner,  die  Schwierigkeiten,  welche  der  induktiven 
^hode  auf  naturwissenschaftlichem  Gebiete  bei  einem  ihrer 
iptprobleme,  der  Frage  nach  der  Umkehrbarkeit  der  Natur- 
dtze,  erwachsen,  zu  erörtern,  um  festzustellen,  unter  welchen 
ingungen  die  spezielle  Voraussetzung  der  Naturgesetzmässig- 
'  im  engeren  Sinne,  welche  der  Möglichkeit  einer  solchen  Um- 
Hing  zu  Grunde  liegt,  giltig  ist.  In  diesem  Zusammenhang 
Qte  dann  auch  der  Begriff  der  Kausalgleichung  erwogen  und  die 
suche,  den  Gedanken  einer  ,,individuellen^  Kausalität  einzu- 
*en,  in  Betracht  gezogen  werden. 

Die  Induktion  in  der  Geschichtswissenschaft  ist  nur  insoweit 
^cksichtigt  worden,  als  notwendig  war,  um  nachzuweisen,  dass 
Grundvoraussetzung  des  induktiven  Verfahrens  auch  bei  der 
üfikation,  welche  dasselbe  auf  historischem  Gebiete  erfährt, 
^haus  bestehen  bleibt. 

Die  vorliegende  Schrift  zerfällt  dementsprechend  in  4  Ab- 
üitte: 

.  Allgemeine   Charakteristik    der   induktiven   Methode.     Kritik 
der  Ansichten  Erdmanns. 


3Ö8  N.  V.  Bubnoff, 

II.  Die  oberste  Voraussetzung  des  induktiven  V^fahrens.   Kritik 
der  gegen   die   konstitutive  Bedeutung   der  Gesetzmässigkeit 
gerichteten  Einwände, 
ni.  Das  Problem  der  ümkehrbarkeit  der  Naturgesetze.    Der^ 

griff  der  Kausalgleichung.     „Individuelle''  Kausalität 
IV.  Die  Induktion  in  der  Geschichte. 

Eine   kurze   historische  Orientierung   über  die  Entwickehcj 
des  Induktionsproblems   ist   dem  ersten  Abschnitt  vorausgeschickt 


Es  ist  eine  Tatsache,  welche  dem  logisch  ongeschnlten  Koff 
als  vollkommen  selbstverständlich  erscheint,  dass  im  alltägüda 
Leben  fortwährend  von  dem,  was  beobachtet  worden,  auf  du 
nicht  Beobachtete  geschlossen  wird,  ein  Verfahren,  dem  wir  da 
grössten  Teil  unseres  Erfahrungswissens  verdanken  und  das  fir 
als  Induktion  bezeichnen.  Es  hat  lange  gedauert,  bis  die  Logik 
diese  Schlussweise  zum  Gegenstand  ihrer  Untersuchung  nuditt 
und  nach  ihrer  Berechtigung  fragte.  Dieses  hängt  zusammen  flit 
der  Überschätzung  des  Begriffewissens  seitens  der  platoniiek- 
aristotelischen  Lehre,  welche  alles  Einzelne  —  dem  Begriff  gegenoto 
Zufällige  —  vernachlässigte,  weil  sie  in  dem  Begriff  „mehr  als  g^ 
nügenden  Ersatz  für  die  unzuverlässige  Wahrnehmung  zu  bata 
meinte."^) 

Wohl  finden  wir  bei  Aristoteles  eine  Schlussform,  welch 
der  in  Frage  stehenden  entspricht  ;  es  ist  dies  der  Schlnss  «i* 
dem  einzelnen  Beispiel '',  der  Analogieschluss,  wie  wirihnjeti^ 
bezeichnen  würden.  Er  nimmt  ihn  aber  als  keiner  BegrondODI 
bedürftig  einfach  hin  und  kümmert  sich  nicht  weiter  am  seiot 
Berechtigung. 

Den  stoischen  Angriffen  gegenüber  haben  dann  die  Epikm^ 
die  unvollständige  Induktion  in  Schutz  genommen  und  nmà^ 
dieselbe  als  Grundlage  aller  Naturerkenntnis  sicher  zu  stellen  tsi 
weiter  zu  entwickeln.  Obwohl  gewiss  nicht  zu  leugnen  ist,  di9 
sie  dabei  manchen  treffenden  Gedanken  ausgesprochen  haben,  ^ 
kann  trotzdem  das,  was  uns  von  ihren  Lehren  in  dieser  BiebM 
erhalten  ist,  als  erster  Versuch  einer  Theorie  der  Induktion  ni* 
angesehen   werden.^)     Nicht   die   vorurteilsfreie  Erforschung  * 

1)  Sigwart,  Logik  I,  411. 

*)  Vgl  Fr.  Bahnsch:  Des  Epikureers  Philodemus  Schrift  Uêfi 


î)sLB  Wesen  und  die  Vorauttetzongen  der  Induktion.  369 

ahrheit,  sondern  die  Verteidigung  der  Lehrsätze  Epikors  ist  das, 
>Taüf  es  ihnen  vor  allem  ankommt,  und  so  fehlt  ihren  gelegent- 
h  und  meist  in  polemischer  Absicht  niedergeschriebenen  Aus- 
hrangen  der  Charakter  der  Einheitlichkeit.  Auch  haben  sie 
:^Iit  vermocht,  die  oberste  Voraussetzung  der  Induktion,  den  6e- 
nken  einer  ausnahmslosen  Naturgesetzmässigkeit  des  Geschehens, 
Ï  klare  wissenschaftliche  Bewusstsein  zu  erheben.  Im  Oegen- 
il:  zur  Erklärung  der  scheinbaren  Abweichungen  too  den  beob- 
hteten  Gleichförmigkeiten  nahmen  sie  ihre  Zuflucht  zu  der  sehr 
quemen  Theorie  von  den  isolierten  Erscheinungen  und  blieben 
K)  auch  darin  ihrem  Master  treu,  der  ja  die  AUgemeingiltigkeit 
8  Kausalgesetzes  ausdrücklich  geleugnet  hatte. 

Die  Skeptiker  haben  die  Berechtigung  des  Induktionsyer- 
brens  in  Frage  gestellt.  So  wendet  sich  Aenesidemus  gegen 
n  epikureischen  Schluss  aus  dem  Zeichen,  das  dem  Übergang 
n  dem  Wahrnehmbaren  zu  dem  Nichtwahmehmbaren  dienen 
U,  und  sucht  dann  besonders  die  Nichtigkeit  desjenigen  Ver- 
tirens  zu  erweisen,  welches  darauf  gerichtet  ist,  mit  Hilfe  von 
diden  die  Ursachen  der  Erscheinungen  ausfindig  zu  machen,  i) 
if  die  Bestreitung  der  Giltigkeit  des  Induktionsschlusses  stützen 
»  Skeptiker  auch  ihren  Versuch  einer  Destruktion  des  Beweis- 
rfahrens,  mdem  sie  der  Möglichkeit  eines  Beweises  überhaupt 
ter  anderem  entgegenhalten,  „dass  der  allgemeine  Obersatz 
les  Syllogismus  doch  nur  durch  die  vollständigste  Induktion  ge- 
>iiDen  werden  könne,  diese  aber  den  Schlusssatz  bereits  inyol- 
5re."«) 

Im   Mittelalter  fehlte   es  an  Motiven,   welche   die  Richtung 

K*  Aufmerksamkeit  auf  das  Induktionsproblem  veranlassen  konnten, 

sich  ja  die  mittelalterliche  Logik  durchweg  in  den  Bahnen  der 

i^totelischen  Tradition  bewegte  und  sich  in  der  Hauptsache  mit 

lern  formalen  Ausbau  der  aristotelischen  Lehren  befasste. 

Das  Induktionsproblem  ist  ein  modernes  Problem.  Es  konnte 
^  entstehen,  als  die  Herrschaft  der  starren  scholastischen  Be- 
if&philosophie  gebrochen  war,  und  das  wissenschaftliche  Inter- 
^  sich  der  ganzen  Fülle  der  Erscheinungen  der  Wirklichkeit 
Wendete.  Dabei  kam  die  Unzulänglichkeit  des  Begriffswissens 
iti  Bewusstsein.      Das   tritt    uns    in    einer   charakteristischen 

1)  A.  Goedeckemeyer:  Die  Oeschichte  des  griech.  Skeptizismus, 
ipdg  1905.    S.  222  ff. 

*)  Prantl,  Geschichte  der  Logik  im  Abendlande.  Bd.  I,  S.  502« 


360  N.  V.  Bubnoff, 

Äusserung  Bacons  entgegen.  In  seiner  Schrift  „De  dignitate  et 
augmentis  scientarium''  klagt  er  darüber,  dass  noch  Niemand  vo^ 
sucht  habe,  Rechenschaft  darüber  zu  geben,  warum  einiges  in  da 
Natur  so  massenhaft,  anderes  nur  in  geringer  Menge  Torkoome 
und  vorkommen  könne  ;  mit  andern  Worten,  dass  man  sich  fir 
die  Wirklichkeit  nur  insoweit  interessiert  habe,  als  sie  in  einet 
fertigen  Begriffssystem  unterzubringen  war,  den  dem  Begriff  n* 
fälligen  Rest  aber  als  bedeutungslos  einfach  beiseite  geschobee 
habe,  während  doch  auch  die  Zahl  und  Ordnung  der  Dinge  m 
wichtiger  Gegenstand  der  Untersuchung  sei  und  einer  Erklinu; 
durchaus  bedürfe.  Allerdings  nun  war  Bacon  selbst,  wie  Sigwuto 
Darstellung  in  einleuchtender  Weise  zeigt,  noch  durchaus  in  der 
traditionellen  scholastischen  Begriffslehre  befangen,  und  wenn  er 
von  der  inductio  per  enumerationem  simplicem  als  von  eiiMr 
„kindischen  Sache''  redet,  so  passt  diese  Bezeichnung  jedenfib 
genau  so  gut  auf  die  Methode,  welche  er  an  ihre  Stelle  setiei 
will  und  als  die  allein  wissenschaftliche  yerkündet. 

„Die  Theorie  der  Induktion,  "*  sagt  Windelband  einmal,  JA 
nichts  weiter  als  die  Besinnung  auf  diejenige  Art  der  verallge- 
meinernden Association,  welche  als  allgemeine  Norm  für  jeds 
gelten  soll."^)  Den  associativen  Vorgang,  welcher  die  Gnmdligi 
für  das  induktive  Verfahren  bildet  und  auf  einem  uns  einwohnei- 
den  Triebe  der  Generalisation  beruht,  hat  Hume  in  klassisd« 
Weise  geschildert  und  damit  der  Unterscheidung  zwischen  dff 
Induktion  als  psychologischer  Tatsache  und  der  Induktion  ik 
logischer  Methode  vorgearbeitet.  Zwar  beziehen  sich  seine  & 
örterungen  alle  auf  das  psychologische  Naturgesetz  der  Geneni- 
sation.  Durch  dessen  Aufstellung  soll  aber  auch  nur  die  psytk»' 
logische  Frage  beantwortet  werden,  wie  es  zugehe,  dass  wir  m 
lauter  Einzelwahmebmungen  zu  dem  Glauben  an  allgemeine  Sito 
und  zu  Schlüssen  auf  Nichtwahrgenommenes  gelangen.  Den 
Hume  ist  sich  dessen  vollkommen  bewusst,  dass  sich  auf  dieser 
Grundlage  keine  Wissenschaft  aufbauen  lasse.  Bei  dem  flbp- 
tischen  Ergebnis  seiner  Ausführungen  konnte  es  natorUch  nidt 
sein  Bewenden  haben,  da  dies  einen  Verzicht  auf  die  Wiaei- 
Schaft  bedeutet  haben  würde,  und  so  geht  man  denn  in  der  fol- 
genden Zeit  darauf  aus,  ein  Prinzip  aufzufinden,  auf  Grund  desei 
sich  der  Prozess   der   Generalisation   logisch  :     litfertigen  fie^B* 


1)  Prftludieu  S.  289. 


Das  Wesen  und  die  Voraunsetzangen  der  Induktion.  361 

J.  St.  Mill,  welcher  noch  ganz  auf  dem  Boden  der  Humeschen 
Iiehre  steht,  glaubte  ein  solches  in  dem  „Axiom  von  der  Gleich- 
fSrniigkeit  des  Ganges  der  Natur""  entdeckt  zu  haben.  Infolge 
seiner  empiristischen  Voraussetzungen  konnte  er  aber  die  nicht 
sa  amgehende  Frage,  auf  welchem  Wege  denn  dieses  oberste 
Axiom  gewonnen  sei  und  worauf  seine  Geltung  beruhe,  nur  in 
der  Weise  beantworten,  dass  er  auf  die  Regelmassigkeiten  hin- 
wies, welche  auf  vereinzelten  Gebieten  durch  eine  Induktion  per 
ennmerationem  simplicem  konstatiert  wurden,  und  geriet  dadurch 
in  einen  yerhängnisyollen  Zirkel.  Seine  widerspruchsvollen  Aus- 
ffihmngen  sind  ganz  besonders  dazu  geeignet,  das  vollständige 
Tersagen  des  Empirismus  deutlich  zu  machen,  wenn  es  sich  um 
den  Aufbau  und  die  BegitLndung  einer  allgemeinen  Theorie 
-handelt  Es  heisst  eben,  um  mit  Sigwart  zu  reden,  den  Bock 
melken,  wenn  man  aus  einer  Summe  von  Tatsachen  irgend  eine 
Notwendigkeit  herauspressen  will.  —  Diese  kurze  historische 
Orientierung  über  das  Problem  dürfte  für  unsere  Zwecke  aus- 
reichend sein. 


L 

Allgemeine  Charakteristik  der  induktiven  Methode. 

Kritik  der  Ansichten  B.  Erdmanns. 

Um  die  Frage  nach  den  Voraussetzungen  der  Induktion  zu 
beantworten,  wird  es  vor  allem  notwendig  sein,  eine  richtige  Ein- 
sieht in  den  eigentümlichen  Charakter  derselben  zu  gewinnen. 

Dasjenige  Verfahren,  welches  man  als  „vollständige''  Induktion 
m  bezeichnen  pflegt  und  welches  schon  Aristoteles  unter  dem 
Namen  ènaymyr^  iiA  ndvrtav  beschrieben  hat,  scheidet  von  vorn- 
herein aus.  Wie  schon  der  Name  andeutet,  handelt  es  sich  dabei 
um  ein  vollständiges  Hindurchgehen  durch  alles  Einzelne,  indem 
▼on  einem  jeden  Fall  im  einzelnen  etwas  festgestellt  wird  und 
die  80  gewonnenen  Urteile  einfach  summiert,  sprachlich  in  einen 
Satz  znsammengefasst  werden.  Dies  wird  dadurch  erreicht,  daas 
die  Subjekte  der  Einzelurteile  durch  den  Gattungsbegriff,  unter 
den  sie  fallen  und  dessen  Umfang  sie  vollständig  erschöpfen, 
ersetzt  werden.  Das  ganze  Veriahren  ist  also  lediglich  ein  Prozess 
der  sprachlichen  Umformung,  und  der  Erkenntniswert  des  auf  diese 
Weise  gebildeten  copulativen  Urteils,  welches  bloss  ,,regi8trierend* 


362  N.  V.  Bubnoff, 

allgemein  ist,  ist  gleich  dem  Erkenntniswert  einer  streng  bestimmtei 
Anzahl  von  Einzelurteilen,  dnrch  deren  Aufzählung  es  jederzeü 
ersetzt  werden  kann. 

Sigwart  hat  darauf  hingewiesen,  wie  „unmerklich  oft  die 
Einzelbeobachtung  in  Schlüsse  übergeht,  welche  den  Charakter 
der  Induktion  tragen  "".  Wenn  es  gilt,  aus  intermittierenden  B^ 
obachtungen  eine  kontinuierliche  Bewegung  oder  Verändenmg  a 
bestimmen,  so  leuchtet  ein,  dass  nicht  alle  Stadien  des  kontiD1De^ 
liehen  Prozesses  auf  direktem  Wege  durch  Messung  begrifffid 
fixiert  werden.  So  können  z.  B.  beim  Hinabrollen  einer  Kugel 
auf  schiefer  Ebene  nur  für  bestimmte  Zeitabschnitte  die  in  dee- 
selben  zurückgelegten  Wegstrecken  durch  Beobachtung  mit  Sicheriiek 
festgestellt  werden.  Was  dazwischen  liegt,  moss  erschlossen  werden 
Dies  geschieht  nun  in  der  Weise,  dass  nach  einem  Gesetz,  eioor 
Formel  gesucht  wird,  aus  der  sich  die  Beobachtungsresultate  ab- 
leiten lassen.  Stimmen  letztere  dann  mit  der  konstruierten  Fonnd 
überein,  so  darf  geschlossen  werden,  dass  die  ganze  Bahn  nad 
derselben  durchlaufen  wurde,  und  es  kann  für  jeden  beliebigci 
Zeitabschnitt  die  ihm  entsprechende  Wegstrecke  berechoet 
werden. 

An  diesem  Beispiel  lässt  sich  klar  machen,  dass  die  indnktite 
Methode  ein  „Reduktionsverfahren  ist,  das  die  Prämissen  koo- 
struiert,  aus  denen  die  einzekie  Wahrnehmung  mit  syllogistiseber 
Notwendigkeit  folgt".  Die  einzelne  Tatsache,  welche  die  Br 
obachtung  darbietet,  wird  als  Fall  einer  allgemeinen  Regel  aaf- 
gefasst,  und  die  Aufgabe  besteht  nun  darin,  diese  Regel  ausfindig 
zu  machen  und  so  zu  bestimmen,  dass  alle  Konsequenzen,  wdeke 
aus  ihr  entwickelt  werden  können,  mit  dem,  was  anderweiti| 
feststeht,  durchweg  übereinstimmen.  Die  angenommene  R^;el  hit 
also  den  Charakter  einer  Hypothese,  welche  durch  negativa  b- 
stanzen  widerlegt,  durch  übereinstimmende  Erfahrungen  dagepi 
nur  in  hohem  Qrade  wahrscheinlich  gemacht  wird,  niemals  aber 
den  Orad  absoluter  Qewissheit  erreichen  kann.  Inaofeni  iW 
sich  die  induktive  Methode  auch  als  „hypothetisdies  Venoehi* 
verfahren'*  charakterisieren,  indem  eine  Reihe  von  AnoahBei 
durchgegangen  wird,  bis  man  auf  eine  stSsst,  welche  aOen  Âi- 
forderungen  genügt,  die  an  eine  berechtigte  Hypothese  gestelK 
werden  müssen.^) 


*)  Vgl  Sigwart,  Logik  ü,  S.  484  ff. 


Das  Wesen  und  die  Voraussetzungen  der  Induktion.  363 

Aus  dieser  Charakteristik  der  Induktion  geht  hervor,  dass 
dieselbe  in  keinem  absoluten  Gegensatz  zur  Deduktion  gebracht 
werden  darf,  dass  vielmehr  „die  induktiven  Methoden  gänzlich  auf 
dea  Ergebnissen  der  demonstrativen  Logik  beruhen".^)  Alle  Be- 
weisführung muss  sich  eben  immer  auf  zwei  feste  Pole  stützen, 
welche  selber  nicht  mehr  bewiesen  werden  können:  das  All- 
gemeinste und  das  Besonderste.  Die  allgemeinsten  Sätze  und  die 
einzelnen  Empfindungen  sind  die  unentbehrlichen  Grundpfeiler 
Mnes  jeden  Beweises.  Da  also  ein  jedes  wissenschaftliches  Be- 
weisverfahren nur  durch  „gemeinsame  Benutzung  beider  Ausgangs- 
punkte zustande  kommt'',  so  ist  auch  den  beiden  Beweismethoden, 
welche  zu  einander  in  dem  denkbar  grössten  Gegensatz  stehen, 
der  deduktiven  und  der  induktiven,  dennoch  ein  Grundcharakter 
gemeinsam;  dieser  ist  durch  die  Tendenz  gekennzeichnet,  die 
Abhängigkeit  begreiflich  zu  machen,  in  welcher  sich  das  Einzelne 
vom  Allgemeinen  befindet.^ 

Eine  hiermit  im  wesentlichen  übereinstimmende  Auffassung 
finden  wir  auch  bei  St.  Jevons.  Er  unterscheidet  3  Stadien  im 
Indnktionsprozess  : 

1.  den  Entwurf  einer  Hypothese  den  Charakter  des  allgemeinen 
Gesetzes  betreffend, 

2.  die  Entwicklung  der  Konsequenzen  anis  dem  Gesetz, 

3.  die  Feststellung,   ob  diese  Eonsequenzen  mit  den  der  Unter- 
*    suchung  vorliegenden  Tatsachen  übereinstimmen.^) 

Auf  die  beiden  letzteren  Stadien  legt  er  das  Hauptgewicht. 
Wir  sollen,  meint  er,  keinem  Gesetz  vertrauen,  bis  wir  es  nicht 
deduktiv  ausgearbeitet  und  gezeigt  haben,  dass  aus  den  voraus- 
g^esetzten  Bedingungen  die  Resultate  unausweichlich  hervorgehen 
mfissen.^)  Und  er  charakterisiert  dementsprechend  die  Induktion 
als  inverse  Operation,  welche  sich  zur  Deduktion  verhalte  wie 
die  Division  zur  Multiplikation,  eine  Ansicht,  der  sich  auch  Sigwart 
angeschlossen  hat,  indem  er  nur  darauf  aufmerksam  macht,  dass 
aof  diesem  Wege  lediglich  die  Möglichkeit,  nicht  aber  die  Bichtigkeit 
dee  auf  Grund  der  induktiven  Prämissen  gewonnenen  allgemeinen 
Satzes  begründet  werden  kann. 


1)  Lotze,  Logik,  S.  368. 

S)  Vgl  Windelband,  Präl.  Krit.  od.  genet.  Methode. 

^)  Jevons,  Princ.  of  so.  S.  805. 

*)  Ibid.  S.  280, 


364  N.  V.  Bubnoff, 

Wir  können  also  konstatieren,  dass  in  Bezug  anf  den  all- 
gemeinen Grundcharakter  der  Induktion  eine  Reihe  bedeutender 
moderner  Logiker  übereinstimmende  Auffassungen  entwickelt  haben 

Was  nun  die  Unterscheidung  betrifft,  welche  Sigwart  ion»- 
halb  der  induktiven  Methode  statuieren  zu  müssen  glaubt,  so  ergiebt 
eine  genaue  Prüfung,  dass  derselben  jedenfalls  die  Bedeutoof 
nicht  zuerkannt  werden  kann,  welche  er  ihr  vindizieren  möchte. 
Es  handelt  sich  nämlich  nach  seinen  Ausführungen  um  folgenden 
Unterschied:  die  Allgemeinheit  des  induzierten  Satzes  kann  entwed^ 
eine  numerische  oder  eine  generelle  sein,  d.  h.  der  SubjektsbegriS 
des  induzierten  Satzes  ist  entweder  eine  infima  species  und  nmfasst 
dann  alle  begrifflich  nicht  unterscheidbaren,  nur  in  Baum  und  Zdt 
getrennten  Fälle,  oder  er  ist  ein  Gattungsbegriff  und  begraft 
dann  spezifisch  verschiedene,  aber  in  einem  allgemeinen  BegriS 
übereinkommende  Fälle  unter  sich.  Demgemäss  sei  zu  unterscheideo 
zwischen  einer  Induktion  von  Spezialgesetzen  und  einer  generali- 
sierenden Induktion.  Von  fundamentaler  Bedeutung  sei  für  jede 
Induktion  das  Beduktionsverfahren.  Der  Prozess  der  Generalisatk» 
könne  dann  hinzukommen.  Beides  müsse  aber  streng  auseinander 
gehalten  werden. 

Nun  kommt  —  nach  Sigwarts  eigenen  Ausführungen  —  name- 
rische  Allgemeinheit  eigentlich  nur  einem  ESrinnerungsbilde  zu,  wdcbei 
auf  eine  Reihe  für  uns  ununterscheidbar  ähnlicher  Dinge  passt 
Sobald  wir  nun  aber  die  fliessenden  Unterschiede  des  Vorstellangt' 
gebildes  begrifflich  fixieren,  tritt  die  generelle  Allgemeinheit  u 
Stelle  der  numerischen.  Das  Ergebnis  einer  noch  so  erschöpfendea 
Aufzählung  von  Merkmalen  erweist  sich  doch  immer  als  eine  FamA, 
der  generelle  Allgemeinheit  zukommt,  denn  erstens  besitzen  die 
einzelnen  Merkmale  eine  gewisse  Weite  für  individuelle  Unterschkde 
und  zweitens  lassen  sich  in  der  Begel  immer  noch  andere  hhui- 
fügen.  ^)  Sobald  wir  also  in  die  logische  Sphäre  treten,  ist  mit 
einer  numerischen  Allgemeinheit  gamichts  anzufangen.  Ansserdes 
können  wir  aber  niemals  mit  Sicherheit  wissen,  ob  die  in  Betndi 
kommenden  Fälle  „vollkommen  gleichartig**  sind,  ob  nicht  viehndir 
auch  dort,  wo  die  Ähnlichkeit  die  denkbar  grOsste  ist,  doch  nod 
individuelle  Unterschiede  vorhanden  sind.  „Wollte  man  jexm 
Grundsatz,  dass  von  Gleichem  Gleiches  gelte,  als  Grundlage  der 
Induktion  anwenden,  so   wäre  er  schon  darum  unbranchbar,  weO 


1)  V^  Sigwart,  Logik  I,  S.  862  ff. 


Da«  Wesen  und  die  Voraussetzungen  der  Induktion.  366 

nicht  bloss  absolute  Gleichheit  UDerkeunbar  ist,  sondern  auch  in 
▼ielen  Gebieten  individuelle  Vei-schiedenheit  der  Objekte,  auf  welche 
ich  meinen  Begriff  anwenden  muss,  wenn  ich  irgend  einen  Ge- 
brauch davon  machen  will,  die  Regel  ist."  ^) 

Gesetzt  nun  aber  auch,  wir  wären  im  Stande,  eine  absolute 
Gleichheit  der  Fälle  zu  erkennen  und  festzustellen,  so  fiele  damit 
offenbar  die  Voraussetzung  für  einen  Induktionsschluss  weg,  der 
dann  ja  vollkommen  überflüssig  wäre,  wie  dies  Sigwart  selbst 
ausdrücklich  hervorhebt.  *) 

Wenn  das  sich  aber  so  verhält,  dann  besteht  auch  zwischen 
den  von  Sigwart  mit  so  grossem  Nachdruck  unterschiedeneu  Arten 
der  Induktion  keine  prinzipielle  Differenz.  Die  Unterscheidung 
zwischen  numerisch  und  generell  Allgemeinem  ist  für  das  induktive 
Verfahren  von  keiner  fundamentalen  Bedeutung,  weil  beide  Male 
ein  „induktiv''  Allgemeines^  vorliegt,  welches  nicht  nur  das  ge- 
gebene, sondern  auch  das  mögliche  Besondere  umfasst.  Damit 
soll  nun  natürlich  nichts  gegen  die  Unterscheidung  der  beiden 
Momente  der  Reduktion  und  der  Generalisation  im  induktiven 
Prozess  gesagt  sein.  In  abstracto  sind  sie  wohl  zu  trennen,  und 
es  kann  das  Hauptgewicht  auf  den  Entwurf  der  Hypothese  geleg 
werden.  Implicite  ist  aber  der  Gedanke  der  Verallgemeinerung 
immer  schon  in  jeder  Induktion  mit  enthalten. 

Der  in  diesem  Abschnitt  dargelegten  Auffassung  vom  Wesen 
der  induktiven  Methode  ist  B.  EIrdmann  mit  einer  anderen  Theorie^) 
entgegengetreten,  welche  er  neuerdings  den  Einwänden  Sigwarts 
gegenüber  wieder  zu  stützen  versucht.  Da  es  Fragen  von  grund- 
legender Bedeutung  sind,  die  dabei  zur  Erörterung  gelangen,  so 
dürfte  eine  kritische  Beleuchtung  der  Ansichten  Erdmanns  not- 
wendig sein.    Dieser  wenden  wir  uns  jetzt  also  zu. 

Erdmann  unterscheidet  zwei  Formen  der  „unvollständigen'' 
Induktion:  die  verallgemeinernde  und  die  ergänzende,')  welche 
sich  in  folgender  Weise  schematisieren  lassen: 


1)  Sigwart,  Logik  n,  S.  idO. 

^  Ibid.  S.  428. 

^  Erdmann,  Logik  I,  S.  766. 

^  Zur  Theorie  des  Syllogismus  und  der  Induktion.  (Festschrift  für 
E.  Zeller.) 

^  Die  „vollständige  Induktion""  in  ihren  beiden  Formen,  der  Kopu- 
lation und  Koigunktion,  gilt  auch  ihm  mit  Recht  für  keinen  besonderen 
log.  Prozess,  sondern  lediglich  für  eine  sprachliche  Umformung. 


366  N.  V.  Bubnoff, 

Verallg.  Induktion.  Ergänz.  Induktion. 

Si  ist  P  S  ist  Pa 


S,    „    P  S    „    P 


ß 


Alle  S  werden  P  sein.  S  wird  P  sein. 

Er  sucht  nun  die  These  zu  beweisen,  dass  die  Indaktioo  von 
der  Deduktion  „wesensverschieden"  sei.  Eün  zunächst  bloss  {o^ 
melier  Vergleich  der  Induktionsschlüsse  mit  den  syllogistischa 
Schlussarten  scheint  ihm  einen  deutlichen  Hinweis  auf  die  Wesens- 
verschiedenheit  beider  Methoden  zu  enthalten.  Achten  wir  nia- 
lieh  lediglich  auf  die  Stellung  der  gemeinsamen  Glieder  in  de& 
Prämissen,  so  scheint  die  erste  Form  der  Induktion  der  zweiten 
syllogistischen  Figur,  die  zweite  der  dritten  zu  entsprechen. 
Ziehen  wir  nun  aber  die  Schlussweisen  in  Betracht,  so  zeigt  sidi 
eine  Reihe  von  Unterschieden.  So  ergeben  z.  B.  die  Induktion!- 
Schlüsse  der  ersten  Form  einen  allgemein  bejahenden  Schlusssati, 
während  in  der  zweiten  Schlussfigur  aus  zwei'  bejahenden  Pii- 
missen  gar  nichts  folgt;  femer  sind  Induktionsschlüsse  aus  ver 
neinenden  Prämissen  möglich,  während  nach  ^Uogistischen  Begdn 
Schlüsse  aus  vemeihenden  Prämissen  unzulässig  sind  ;  auch  ble3)eD 
im  induktiven  Schhilsssatz  alle  materialen  Bestandteile  à&t  Pri- 
missen  erhalten,  es  wird  eine  Be:äehung  der  nicht  gemeinsamen 
zum  gemeinsamen  behauptet,  während  im  Syllogismus  ein  Ver- 
hältnis der  nicht  gemeinsamen  Glieder  zu  einander  erschlossen 
wird,  das  Mittelglied  im  Schlusssatz  wegfällt  —  und  so  sbcU 
Erdmann  noch  eine  ganze  Reihe  von  Unterschieden  aus  dem  Ve^ 
gleich  der  beiden  logischen  Prozesse  zu  gewinnen.  Diese  aif 
Grund  einer  rein  formalen  Betrachtung  festgestellten  Unteraehiede 
weisen,  meint  er,  entschieden  darauf  hin,  dass  das  Verfahren  der 
Induktion  ein  völlig  eigenartiges  sei  und  mit  dem  deduktiven  Fnh 
zess  gar  nichts  zu  tun  habe.  Ja  vom  Standpunkt  der  ^^kgii- 
tischen  Regeln  gesehen,  sei  das  induktive  Verfahren  str«au;  ge- 
nommen unzulässig,  weil  dabei  auf  ein  übergeordnetes  AUgemeiDes 
geschlossen  werde  und  die  Schlüsse  ad  subaltemantem  bekanntlich 
verboten  seien. 

Wie  soll  nun  aber  die  Berechtigung  des  indukÜTcn  Sehfiessetf 
nachgewiesen  werden?  Dies  geschieht  bei  Erdmann  in  folgender 
Weise  :  die  induktive  Behauptung  ist  ihrem  Sinn  nach  eine  Av- 
sage   über  das  nicht  gegebene  Wirkliche.    Sie  enthält  abo  eine 


Das  Wesen  und  die  Voraussetzungen  der  Induktion.  367 

»Erwartung^  und  ist  insofern  keine  assertorische  Aussage,  sondern 
eine  „Voraussage**.  Die  induktiven  Aussagen  verlieren  ihren  in- 
duktiven Charakter,  sobald  die  möglichen  Fälle  der  Bestätigung 
nachträglich  gegeben  werden;  sie  sind  nur  Induktionen,  soweit  sie 
Nicht-Gegebenes,  Ungewisses  umspannen.  Sollen  sich  nun  die 
Induktionsschlüsse  von  den  ungiltigen  Folgerungen  ad  subalter- 
nantera  unterscheiden,  so  müssen  in  dem  gegebenen  Besonderen 
Bedingungen  enthalten  sein,  die  Voraussagen  über  das  Nicht- 
Gegebene  denknotwendig  machen.  Wenn  also  eine  Induktion  der 
Art  vorliegt: 

Si  ist  P 

S2    „    P 


Alle  S  werden  P  sein, 

so  wird  di^bd  vorausgesetzt,  dass  die  Verknüpfung  der  gegebenen 
81,82...  iiût  P  keine  zufällige  ist,  sondern  ihren  Grund  in 
dem  allen  S  gemein9^men  Wesen  von  S  findet;  dass  also  in  den 
nicht  beobachteten,  aber  in  dem  Schlusssatz  mitumfassten  Fällen 
Ss»  S4  .  .  .  die  gleichen  Ursachen  für  die  Wirklichkeit  von  P  vor- 
handen sein  werden. 

Es  wird  also  nach  Erdmann  bei  dem  Induktionsschluss  die 
Voraussetzung  gemacht:  die  gleichen  gegebenen  Ursachen  bringen 
die  gleichen  Wirkungen  heryor. 

Diese  Voraussetzung  enthält  zwei  aufeinander  unreduzierbare 
Behauptungen  : 

1.  die  gleichen  Ursachen  werden  gegeben  sein, 

2.  die  gleichen  Ursachen  bringen  die  gleichen  Wirkungen  hervor. 

In  der  zweiten  Behauptung  sieht  Erdmann  das  Kausalgesetz. 
Diesem  erkennt  er  eine  „formale  Denknotwendigkeit**  zu  und  defi- 
niert diese  als  „Unmöglichkeit  der  kontradiktorischen  Behauptung"*; 
diese  sei  das  einzige  Kriterium  für  alles,  was  sich  als  denknot- 
wendig ausgiebt.  Die  dem  Kausalgesetz  entgegengesetzte  Annahme 
sei  aber  für  unser  Denken  unmöglich,  weil  sie  dem  Bestände  der 
Erfahrung  widerspreche,  auf  Grund  dessen  sich  unser  kausales 
Denken  entwickelt  hat  Wenn  das  Chaos,  von  dem  einmal  Mill 
.redet,  für  uns  wirklich  würde,  so  sei  zuzugeben,  dass  der  Glaube 
an  eine  Gleichförmigkeit  der  Zeitbeziehungen  bald  aufhören  würde. 
Der  Versuch,  sich  ein  solches  Chaos  in  der  Phantasie  aiwzumalen, 


368  N.  V.  Bubnoff, 

müsse  aber  notwendig  fehlschlagen.  Der  Einfall  Mills  erweise 
sich  mithin  als  ein  leeres  Spiel  mit  Worten.  Ein  Chaos,  wie  er 
es  fingiert,  wäre  ein  „beziehungslos  gedachter  Inbegriff  von  Be- 
ziehungen", ein  ganz  unvollziehbarer  Gedanke.^) 

Diese  Ausfährungen  sind  nun  aber  keineswegs  überzeugend, 
da  es  innerhalb  eines  logischen  Zusammenhanges  doch  gar  nicht 
darauf  ankommt,  wie  die  psychologische  Frage  nach  der  HögM- 
keit,  sich  ein  solches  Chaos  in  der  Phantasie  auszumalen,  beut- 
wertet  wird. 

Erdmann  macht  einmal  Sigwart  den  Vorwurf,  dass  letzterer 
auch  dort  Logiker  bleibe,  wo  er  von  psychologischen  GegenstÄnden 
handle,  während  er  selbst  immer  bemüht  sei,  das  Logische  vom 
Psychologischen  reinlich  zu  trennen.  Das  dürfte  nun  aber  doch 
wohl  eine  Selbsttäuschung  sein,  denn  die  Denknotwendigkeit  wird 
bei  ihm  geradezu  zu  einem  psychologischen  Zwang.  Zwar  sucht 
er  den  empiristischen  Konsequenzen  zu  entgehen;  das  gelingt  ihm 
aber  durchaus  nicht,  weil  er  auf  dem  Boden  der  Psychologie 
bleibt.  Und  so  leiden  seine  Ausführungen  an  einer  unhaltbaren  Zwie- 
spältigkeit: einerseits  hat  für  ihn  das  Kausalgesetz  den  Charakter 
einer  Forderung,  eines  Postulates;  trotzdem  scheut  er  sich  anderer 
seits,  in  demselben  eine  notwendige  Annahme  zu  sehen,  in  dem 
Sinne,  wie  dies  Lotze  und  Sigwart  getan,  weil  er  fürchtet,  da- 
durch dem  Rationalismus  in  die  Arme  zu  fallen. 

Wichtiger  für  die  Theorie  Erdmanns  ist  nun  aber  die  andere 
Voraussetzung,  welche  er  dem  Induktionsschluss  zu  Grunde  legi 
Diese  enthält  nämlich  den  eigentlich  entscheidenden  Gedanken, 
das  Fundament,  auf  dem  der  Gedankenfortschritt  der  Indukticm 
ruht.  Sie  aus  den  formalen  Grundsätzen  unseres  Denkens  zu  be- 
gründen, erweist  sich  als  unmöglich;  auch  aus  dem  Eansalgeseti 
lässt  sie  sich  nicht  ableiten.  Es  bleibt  uns  also,  meint  Erdmaim, 
nichts  übrig  als  „die  breite  Heerstrasse  der  Erfalimng  selbst*. 
Wir  müssen  annehmen,  dass  wir  lediglich  deshalb  in  dem  unbe- 
obachtbaren Gleichartigen  die  gleichen  Ursachen  als  gegeben  tot- 
aussetzen,  weU  sie  in  dem  gegebenen  Wirklieben  regelmässig  auf- 
getreten sind.  Der  Gedanke  ist  also  selbst  eine  indoktife 
Behauptung,  die  allgemeinste  unter  den  induktiven  Behauptongefl. 
Diesem  Resultat  stellt  sich  aber  ein  Eünwand  entgegen,  den  Sri- 
mann  auch  gesehen  hat.    Wenn  die  Voraussetzung  jeder  Indoktioo 


^)  B.  Erdmann,  Über  Inhalt  und  Geltung  des  KansalgeaetaseB. 


Das  Wesen  und  die  Voraussetzungen  der  Induktion.  $69 

selbst  wieder  eine  induktive  Behauptung  ist,  so  setzt  ja  die  Vor- 
aussetzung sich  selbst  voraus  —  ein  offenbarer  Zirkel.  Wie  löst 
nun  Erdmann  diese  Schwierigkeit?  Er  glaubt  dies  in  folgender 
Weise  tun  zu  können:  der  in  Frage  stehende  Satz  ist  der  Grund- 
satz der  Induktion  und  formuliert  als  solcher  das  Wesen  des  in- 
duktiven Schlusses;  er  kann  also  nichts  anderes  enthalten,  als  die 
induktive  Schlussweise  selbst.  Ihr  Verfahren  muss  in  ihm  voraus- 
gesetzt sein,  weil  er  lediglich  der  „urteilsmässige  Ausdruck"  dieses 
Verfahrens  ist.  Ist  das  aber  eine  Lösung?  Doch  sicherlich  nicht. 
Wir  suchen  nach  einer  Begründung  des  induktiven  Verfahrens 
und  erhalten  die  Auskunft,  dass  diese  Begründung  im  Verfahren 
selbst  liege.    Wir  schliessen  induktiv,  weil  wir  induktiv  schliessen. 

Weiter  äussert  sich  Erdmann  allerdings  über  den  Grund- 
satz der  Induktion  in  einer  Weise,  die  von  dem,  was  eben 
dargelegt  worden,  abweicht.  Er  sagt,  dass  dieser  Grundsatz 
unser  Denken  charakterisiere,  sofern  er  aus  dem  Wirklichen  die 
«Aufgabe"  entnimmt,  sich  auf  Grund  des  erfahrungsmässig  Er- 
kannten über  die  mögliche  EIrfahrung  zu  orientieren.  Das  ist  nun 
offenbar  etwas  anderes  und  stimmt  mit  den  anderen  Ausführungen 
Erdmanns  wenig  überein;  auch  lehnt  er  ja  ausdrücklich  die  Auf- 
fassung Sigwarts,  der  in  dem  induktiven  Grundsatz  eine  Voraus- 
setzung sieht,  welche  ^um  eines  Strebens  willen''  gemacht  sei,  ab. 

Hat  sich  somit  Erdmanns  Fassung  und  Deutung  der 
obersten  Voraussetzung  der  Induktion  als  unhaltbar  herausgestellt, 
so  werden  auch  seine  gegen  die  Verwandtschaft  der  induktiven 
Methode  mit  der  Deduktion  gerichteten  Ausführungen  hinfällig.  Die 
oben  erwähnten  formellen  Unterschiede  zwischen  Syllogismus  und 
Induktion  beweisen  natürlich  gar  nichts,  denn  es  ist  ja  Niemand 
eingefallen  zu  behaupten,  dass  Syllogismus  und  Induktion  in  allen 
Stücken  zusammenfallen,  sondern  es  ist  bloss  behauptet  worden, 
dass  die  Regeln  der  deduktiven  Schlussweise  auch  für  die  Induk- 
tionsschlüsse giltig  sind.  Erdmann  sucht  nun  nachzuweisen,  dass 
sich  die  Induktion  auf  die  Deduktion  auch  nicht  zurückführen  lasse: 
zwar  lassen  sich,  meint  er,  beide  Formen  der  Induktion  syllogistisch 
darstellen;  dadurch  wird  aber  die  Induktion  keineswegs  auf  den 
Syllogismus  reduziert,  sondern  in  dem  Obersatz  einfach  voraus- 
gesetzt, und  es  wird  also  bloss  bewiesen,  dass  unter  Voraussetzung 
ihres  Grundgedankens  denknotwendig  geschlossen  werden  kann. 
Um  zu  zeigen,  dass  die  Induktion  eine  Umkehrung  der  Deduktion 
sei,  wäre  vielmehr  der  Nachweis  erforderlich,  dass  der  Grundsatz 


370  K  V.  Bübnoff, 

der  Indaktion  den  Orundgedanken  der  Deduktion,  d.  h.  den  Ge- 
danken der  mittelbaren  syllogistischen  Prädikation,  schon  voraus- 
setze. Dieser  Nachweis  muss  aber  notwendig  missgläcken,  da 
der  induktive  Grundgedanke  dem  Grundsatze  des  Syllogismes 
gegenüber  etwas  durchaus  Neues  darbietet. 

Es  ist  ganz  klar,  dass  auch  diesen  Ausführungen  EIrdmanos 
der  Boden  entzogen  wird,  sobald  man  die  Unhaltbarkeit  seiner 
Deutung  der  Grundvoraussetzung  der  Induktion  erkannt  hat  Von 
einer  Wesensverschiedenheit  beider  logischer  Prozesse  kann,  wie 
Sigwart  sehr  richtig  bemerkt,  schon  deshalb  keine  Rede  sein,  weil 
ja  jede  einzelne  Induktion  auf  einer  allgemeinen  Voraussetzong 
beruht  und  auf  Grund  dieiser  erschlossen  ist. 

Allerdings  will  demgegenüber  Erdmann  die  Sache  so  aofge- 
fasst  wissen,  dass  die  allgemeinste  Induktion  nicht  nVor""  der  eiD- 
zelnen  vorhergehe,  sondern,  dass  sie  „in""  jeder  von  ihnen  liege. 
Wie  kann  aber  dann  von  einer  Begründung  dieser  durch  jene  die 
Rede  sein?  Wenn  femer  Erdmann  von  einer  „Bewährung''  des 
induktiven  Grundgedankens  durch  die  Erfahrung  redet  und  darin 
seine  Begründung  sieht,  so  steht  dies  in  offenbarem  Widersprach 
zu  seiner  These  von  der  Wesensverschiedenheit  der  beiden  lo- 
gischen Prozesse;  denn  eine  solche  Bewährung  kann  doch  nur  in 
der  Weise  stattfinden,  dass  jede  neue  Erfahrung  mit  den  Eoose- 
quenzen  eines  allgemeinen  Satzes  verglichen  und  als  überein- 
stimmend befunden  wird.^) 

Mit  der  Auffassung  des  induktiven  Verfahrens  hängt  anck 
die  Bedeutung  zusammen,  welche  der  Anzahl  der  Fälle  für  daa^ 
selbe  zukommt.  Wird  nämlich  die  Induktion  als  ein  hypotbetisehes 
Versuchsverfahren  aufgefasst,  welches  unter  der  Voraussetzimg 
steht,  dass  das  Gegebene  notwendig  sei,  so  besteht  der  Sinn  des 
Verfahrens  darin,  den  notwendigen  Zusammenhang  der  Erschein- 
ungen aufzudecken.  Unter  diesem  Gesichtspunkt  aber  stellt  sich 
die  Zahl  der  Fälle,  welche  den  Ausgangspunkt  für  das  lndakti?e 
Verfahren  bilden,  als  gleichgiltig  heraus,  da  sich  unter  günstigen 
Umständen  schon  in  einem  einzigen  Fall  ein  notwendiges  Ter 
halten  enthüllen  kann.  Andererseits  hilft  eine  einfache  Häufnng 
von  Fällen  garnichts,  um  einen  Einblick  in  die  Zusammengehörige 
keit  der  Eigenschaften  und  in  die  Notwendigkeit  des  Geschehens 
zu  erhalten. 


^)  Vgl,  Si^waxt,  Logik  II,  S.  441. 


bas  Wesen  und  die  Voraussetzungen  der  Induktion.  371 

Sigwart  hat  durch  ein  näheres  Eingehen  auf  die  Anwendung 
.der  induktiven  Methode  gezeigt,  dass  die  Anzahl  der  Fälle  bloss 
der  Eontrole  und  der  Ausschliessung  von  Irrtümern  dient.  Wenn 
wir  in  der  Wahrnehmung  einmal  oder  wiederholt  bestimmte  Merk- 
male vereinigt  finden,  so  veranlasst  uns  ,,der  systematisierende 
und  Notwendigkeit  suchende  Trieb"  zu  vermuten,  dass  diese  Merk- 
male zusammengehören.  Eine  einzige  negative  Instanz  genügt, 
»am  diese  Annahme  zu  widerlegen.  Je  grösser  nun  aber  das  Be- 
obachtungsfeld wird,  um  so  unwahrscheinlicher  ist  es,  dass  uns 
unserer  Annahme  widerstreitende  Fälle  begegnen  werden.  Es 
wird  also  durch  eine  Häufung  von  Beobachtungen  die  Möglichkeit 
herabgesetzt,  dass  wir  es  mit  einem  bloss  zufälligen  Zusammen- 
treffen voa  Merkmalen  zu  tun  haben.  Wenn  ferner  zwei  Ver- 
jünge kontinuierlich  auf  einander  folgen,  so  sind  wir  geneigt, 
einen  kausalen  Zusammenhang  zwischen  denselben  anzunehmen 
und  die  Succession  als  eine  notwendige  zu  begreifen. 

Wie  soll  nun  aber  entschieden  werden,  ob  diese  Annahme 
auch  in  der  Tat  zutrifft  oder  ob  die  in  Frage  stehende  Aufein- 
anderfolge lediglich  als  eine  zeitliche  aufzufassen  ist. 

Lässt  sich  in  einer  Reihe  von  Fällen  feststellen,  dass  der 
eine  Vorgang  dem  anderen  unter  den  gleichen  Umständen  nicht 
immer  folgt,  dann  ist  dadurch  entschieden,  dass  ihre  Succession 
nur  zeitlich  ist.  Dagegen  bestätigt  das  wiederholte  Aufeinander- 
folgen derselben  Veränderungen  unter  denselben  Bedingungen  die 
Hypothese  eines  kausalgesetzlichen  Zusammenhangs.  In  dem  Aus- 
schluss des  Zufalls  besteht  also  die  Rolle,  welche  der  Anzahl  von 
F&llen  zuerkannt  werden  muss.  Die  Forderung  dagegen,  von 
einem  möglichst  grossen  Umfang  von  Wahrnehmungen  auszugehen, 
wftre  zum  Teil  widersinnig,  weil  es  auf  diesem  Wege  vor  lauter 
Vorbereitungen  nie  zum  Beginn  einer  Induktion  käme;  zum  Teil 
aber  auch  deshalb  wenig  zweckmässig,  weil  mit  zunehmendem 
Umfang  der  Erscheinungen  die  Wahrscheinlichkeit,  dass  sich  in 
ihren  Zusammenhängen  einfache  Regelmässigkeiten  werden  nach- 
weisen lassen,  immer  geringer  wird.^) 

Ganz  anders  verhält  sich  nun  die  Sache  bei  Elrdmann.  In- 
folge seiner  Auffassung  des  Induktionsprozesses  ist  für  ihn  eine 
Mehrheit  von  Prämissen  von  prinzipieller  Bedeutung.  Um  sich 
davon  zu  überzeugen,  solle  man  nur  versuchen,  sich  eine  isolierte 


^)  Sigwart,  Logik  II,  S.  607. 


â72  N.  V.  Bubnoff, 

Beobachtung  zu  denken,  also  anzunehmen»  dass  gar  kein  Hilfs- 
mittel gegeben  sei,  um  zu  bestimmen,  ob  in  dem  diese  Beob- 
achtung zum  Ausdruck  bringenden  Urteil  das  P  dem  S  wesentlidi 
sei,  dass  man  lediglich  auf  diesen  Fall  der  Beobachtung  ange- 
wiesen sei.  Offenbar  lasse  sich  mit  dieser  vereinzelten  Be- 
obachtung gar  nichts  anfangen.  Wollten  wir  demnach  auf  dieeer 
Grundlage  eine  Induktion  aufbauen,  so  wäre  das  ein  blindes 
Raten,  das  Gegenteil  eines  jeden  wissenschaftlichen  Induzieren! 
Ein  Schluss  vom  einzelnen  gegebenen  Besonderen  auf  ein  proble- 
matisches Allgemeines  könne  niemals  ein  Induktionsschluss  sein. 
Scheint  demnach  ein  solcher  Schluss  in  der  Wissenschaft  vorzu- 
liegen, so  könne  man  sicher  sein,  dass  deduktive  Elemente  in 
Spiele  sind.  Es  könne  also  der  Induktionsschluss  einer  Mehrheit 
von  Beobachtungen  gar  nicht  entbehren,  und  zwar  müsse  diese 
logisch  betrachtet,  um  so  grösser  sein,  je  wahrscheinlicher  der 
Schlusssatz  werden  soll. 

Gegen  diese  ganze  Argumentation  ist  geltend  zu  machen, 
dass  es  vollkommen  unerfindlich  ist,  auf  welche  Weise  eine  blosse 
Summierung  von  Fällen  zur  Erhöhung  der  Wahrscheinlichkeit  des 
Induktionsschlusses  etwas  beitragen  kann.  Auch  hier  könnte  sus 
mit  gleichem  Recht  von  einem  „blinden  Raten"  sprechen.  Die 
Anzahl  der  Fälle  an  sich  und  als  solche  ist  gleicbgiltig  for  des 
Wahrheitswert  des  induktiven  Schlusses. 

Schon  Galilei  hat  es  gewusst,  dass  man  zur  Kenntnis  des 
Gesetzes  nicht  durch  Vergleichung  einer  möglichst  grossen  AniaU 
von  Fällen  einer  bestimmten  Klasse  gelangt,  sondern  dnrch  & 
vollständige  Analyse  eines  einzelnen  Falles.  Deshalb  ist  bei  iha 
die  „resolutive"*  Methode  von  so  grosser  Bedeutung. 

Worauf  es  bei  dem  Induktionsschluss  in  erster  Lmie  an- 
kommt, das  ist  die  sorgfältige  Ausschliessung  von  Nebentatsachen. 
Dies  hat  Lotze  in  seiner  Logik  in  besonders  einleuchtender  Weoe 
gezeigt.  Er  sieht  die  ganze  Kunst  des  induktiven  Ver&hreoii 
welches  zu  allgemeinen  Sätzen  gelangen  will,  darin,  ans  dem  ye^ 
worrenen  Material,  welches  uns  die  Beobachtung  darbietet,  & 
reinen  Fälle  einer  kausalen  Zusammengehörigkeit  herauszupripi- 
rieren.  Dies  geschieht,  indem  die  sowohl  der  Ursache  als  aaek 
der  Wirkung  anhaftenden  unwesentlichen  und  überflfissigeo  Be- 
stimmungen durch  ein  Verfahren,  welches  sich  im  EinzeUieo  neirr 
verschiedenartig  gestalten  kann,  eliminiert  v  en.  Ffir  am 
Elimination   der   unwesentlichen   Nebenb(         .teile  ist  mm  aber 


Das  Wesen  und  die  Voraiineteungen  der  Induktion.  â7â 

nicht  die  Anzahl  der  in  Betracht  kommenden  Einzelfälle,  sondern 
ihre  Beschaffenheit  von  Bedentang.  ^Für  die  Qiltigkeit  der  (in- 
duktiven) Schlnssweise  ist  die  spezifische  Verschiedenheit  der  als 
Oattongsexemplare  gewählten  Einzelheiten  eine  unerlässliche  Be- 
dingung.''^) Je  grösser  diese  Verschiedenheit  ist,  um  so  höher 
ist  der  „synthetische  Wert*'  der  Induktion  zu  veranschlagen. 


Die  oberste  Voraussetzung  des  induktiven  Verfahrens. 

Kritik  der  gegen  die  konstitutive 

Bedeutung   der   Gesetzmässigkeit   gerichteten    Einwände. 

Aus  der  Kritik  der  Ansichten  Erdmanns  muss  ganz  besonders 
deutlich  geworden  sein,  dass  eine  Theorie  der  Infunktion  nicht 
aufgestellt  werden  kann  ohne  die  Zugrundelegung  der  allge- 
meinsten Voraussetzung  eines  gesetzmässigen  Zusammenhangs  der 
Wirklichkeit. 

Dieses  „Prinzip  der  Naturgesetzmässigkeit'',  welches  sich 
auf  den  verschiedenen  Erfahrungsgebieten  je  nach  dem  vorliegen- 
den Vt^irklichkeitsmaterial  in  sehr  verschiedenen  Formen  kundgiebt, 
kann  niemals  direkt  bewiesen  werden,  da  ein  solcher  Beweis  sich 
notwendig  im  Zirkel  bewegen  würde,  indem  er  immer  schon  das- 
jenige voranssetzen  mfisste,  was  er  zu  beweisen  unternähme;  es 
kann  lediglich  auf  teleologischem  Wege  begründet  werden,  indem 
gezeigt  wird,  „dass  mit  seiner  Aufhebung  jede  Möglichkeit  eines 
erfolgreichen  Nachdenkens  über  den  Zusammenhang  unserer  Er- 
labrungswelt  ausgeschlossen  wäre*'.^ 

Wir  haben  es  also  mit  einem  Postulat  zu  tun;  nirgends  in 
der  Natur  drängt  sich  uns  ein  gesetzlicher  Zusammenhang  von 
selber  auf,  sondern  „dass  mehr  Ordnung  in  der  Welt  sei,  als  sie 
auf  den  ersten  Blick  darbietet,  wird  erst  erkannt,  wenn  die  Ord- 
nung gesucht  wird*".*)  Wir  können  das  Oegebene  zergliedern, 
m>  weit  wir  wollen,  wir  werden  darin  nie  etwas  entdecken,  wo- 
durch uns  die  Qewissheit  gewährleistet  wäre,  dass  das  wiederholt 
nsammen  Vorkommende  notwendig  zusammengehöre  und  das 
wiederholt  auf  einander  Folgende  in  einem  gesetzmässigen  Zu- 
«mynAnhAng  stehe.     Durch  keine  Ausdehnung  des  Beobachtungs- 

0  Windelband,  Die  Lehren  vom  Zufall,  S.  44. 
•)  V^indelband,  Präl.  S.  286. 
^  Sigwart,  Logik  II,  S.  432. 

D    XIII.  '^t> 


3Î4  a.  V.  Bubnoff, 

feldes,  durch  keine  Häufung  der  Fälle  lässt  sich  ein  imbediii{i 
allgemeiner  Satz  begründen.  Im  Gegenteil  mag  es  öfters  vor- 
kommen, dass  uns  die  Erfahrung  Fälle  von  scheinbarer  R^eDosig- 
keit  darbietet,  dass  unter  scheinbar  gleichen  Bedingungen  ach 
Verschiedenes  ereignet,  wo  es  dann  vielleicht  am  nächsten  Uge, 
die  Voraussetzung  der  Gesetzmässigkeit  aufzugeben.  Trotrieœ 
vertrauen  wir  ihr  unbedingt,  und  mögen  unsere  Hypothesen  anck 
noch  so  oft  im  Einzelnen  fehlschlagen  und  durch  negatiye  In- 
stanzen widerlegt  werden,  „erschüttert  wird  dadurch  niemals  die 
allgemeine  Voraussetzung  des  gesetzmässigeu  Zusammenlumges 
der  Erscheinungswelt,  sondern  nur  die  bestimmte  Annahme,  die 
wir  in  Bezug  auf  den  notwendigen  Zusammenhang  eines  be- 
stimmten Grundes  mit  einer  bestimmten  Folge  machten**.^) 

Am  eindringlichsten  hat  wohl  die  ganze  Tragweite  d« 
obersten  Postulates  des  gesamten  auf  die  Wirklichkeit  gericbtettt 
Erkennens  Lotze  hervorgehoben.  Im  Hinblick  darauf,  dass  i» 
Denken  Mittel  zur  Erkenntnis  der  Wirklichkeit  sei,  heisst  es  i» 
der  Einleitung  zu  seiner  Logik: 

„Nun  hat  jedes  Werkzeug  die  doppelte  Verpflichtung,  si* 
gerecht   und  handgerecht  zu  sein.     Sachgerecht,   sofern  es  dirà 
seinen  Bau  im  Stande  sein  muss,  den  Gegenständen,  die  es  b6l^ 
beiten   soll,   überhaupt   nahe   zu   kommen,    sie   zu   erreichen,  n 
fassen  und  an  ihnen  einen  Angriffspunkt  für  seine  umgestaltesde 
Wirkung   zu   finden  ;   und   diese  Forderung   erfüllen    wir  für  to 
Denken  durch  das  Zugeständnis,   dass  seine  Formen  und  Qesetie 
gewiss  nicht  blosse  Sonderbarkeiten  menschlicher  6eisteseinriditnn{. 
sondern  dass  sie,  so  wie  sie  sind,  beständig  und  durchgehends  aii 
das  Wesen  des  Wirklichen  berechnet  sind.**^) 

„Wir  könnten  offenbar  auf  die  Bearbeitung  der  WirkUchkeä 
durch  unser  Denken  nicht  hoffen,  wenn  wir  nicht  in  dem  empi- 
rischen Verlauf  der  Dinge  eine  allgemeine  Gesetzlichkeit  als  vor* 
banden  annehmen  dürften,  die  uns  erst  die  Möglichkeit  ver 
schafft,  von  den  formalen  Gesetzen  unseres  Denkens  Nutaeen  u 
ziehen."*) 

Und  gerade  in  Bezug  auf  eine  Theorie  der  Induktion  betoi^ 
Lotze  die  Wichtigkeit  der  in  Frage  stehenden  Voraossetznog  mit 
besonderem  Nachdruck:  „Alle  Verfahrungsweisen  der  angewandlai 

1)  Sigwart,  Logik  n,  S.  435,  . 

V  Lotze,  Logik,  Einl.  S.  10. 
^  ibid.  S.  678. 


Das  Wesen  und  die  Voraussetzungen  der  Induktion.  376 

k  bedeuten  etwas  nur  unter  der  Voraussetzung,  dass  die 
Jichkeit  den  inneren  Zusammenhang  besitzt,  den  jene  Tendenz 
Tendenz  des  Denkens,  gegebenes  Zusammensein  in  Zusammen- 
rigkeit  zu  verwandeln)  ihr  zuschreibt;  besässe  sie  ihn  nicht, 
ürde  der  Rechtsgrund  nicht  bestehen,  auf  den  jede  Induktion 
stützt,    wenn  sie  eine  bestimmte  Folgerung  aus  Erfahrungen 

nur  für  wahrscheinlicher  hält  als  eine  andere  ;  es  würde  sein 
mden  haben  bei  der  Aufzählung  der  Prämissen  und  der 
isssatz  würde  fehlen."^) 

Auf  Grund  der  dargelegten  Auffassung  erweist  sich  also  die 
bzmässigkeit  als  eine  die  Wirklichkeit  konstituierende  Form, 
iem   nun   eine  Theorie   entgegensteht,   welche  gerade  diesen 

leugnet,   so   dürfte   eine  Auseinandersetzung   mit   derselben 

wohl  zu  vermeiden  sein.  Wir  meinen  die  Rickertsche  Theorie 
laturwissenschaftlichen  Begriffsbildung,  welche  in  einem  Ge- 
sbegriff  gipfelt,  der  gewissermassen  das  höchste  Abstraktions- 
ikt  unseres  Denkens  bildet  und  dementsprechend  dessen 
te  Entfernung  von  der  erfahrbaren  Wirklichkeit  bedeutet, 
ich  nun  eine  Theorie  der  Induktion,  welche  bestrebt  ist,  zu 
meinen  von  der  Wirklichkeit  geltenden  Sätzen  zu  gelangen, 
auf  der  Grundlage  eines  für  die  Wirklichkeit  konstitutiven 
!.zesbegriffs  errichten  lassen  dürfte,  so  müssen  wir  unter- 
in, ob  die  Gründe,  welche  gegen  diesen  Gesetzesbegriff  ins 
geführt  werden,  in  der  Tat  stichhaltig  sind. 
Die  neue  Einteilung  der  Wissenschaften  unter  Zugrunde- 
lg  des  formalen  Charakters  ihrer  Erkenntnisziele  ist  eine  Tat 
entscheidender  Bedeutung  für  die  Methodenlehre.  Sie  hat 
dnen  tieferen  Einblick  in  die  eigentümliche  logische  Struktur 
^verschiedenen  Wissenschaften   eröffnet   und   allen  Versuchen, 

Universalmethode  zu  proklamieren,  den  Boden  entzogen, 
hat  aber  diese  wichtige  methodologische  Entdeckung  und  der 
)f  gegen  eine  Universalmethode  auch  auf  die  Erkenntnis- 
ie  eingewirkt,  und  zwar  hat  man  aus  der  richtigen  methodo- 
;hen  Einsicht  erkenntnistheoretische  Konsequenzen  gezogen, 
le  recht  bedenklich  sind. 

Das  Schreckgespenst  des  Naturalismus  der  Methode  hat  nicht 
sentlich  dazu  beigetragen,  dass  ein  Hauptsttick  der  Kantischen 
i    angegriffen  und   eine  Theorie    angebahnt   wurde,    gegen 


1)  ibid.  S.  580. 


376  N.  V.  Bubnoff, 

welche  sich  schwerwiegende  Einwände  erheben  lassen.  Wir 
meinen  den  Versuch,  die  Gesetzmässigkeit  aus  der  Kategorie  der 
Kausalität  zu  eliminieren,  sie  mithin  aus  der  Reihe  der  konsüto- 
tiven  Formen  zu  streichen  und  den  reflexiven  beizuordnen.  Dazu 
hielt  man  sich,  wie  mir  scheinen  will,  zunächst  durch  methodo- 
logische Erwägungen  für  berechtigt.  Man  glaubte,  anderenfâlk 
wieder  einer  Universalmethode  unrettbar  in  die  Arme  zu  fallen 
„Falls  nämlich,^  sagt  Rickert,  „Formen,  die  nur  methodologisdi 
sind,  für  konstitutiv  gehalten  werden,  kann  das  die  Folge  habeo, 
dass  man  die  Möglichkeit  verschiedener  Methoden  von  vornherein 
abweist.  Die  objektive  Wirklichkeit  ist  nur  eine,  und  was  for 
ihren  Begriff  konstitutiv  ist,  muss  sich  daher  auch  in  jeder 
wissenschaftlichen  Methode  geltend  machen. 

Wir  können  dabei  an  den  Begriff  der  Gesetzmässigkdt 
denken.  Nehmen  wir  an,  sie  sei  eine  konstitutive  Kategorie,  so 
gehören  die  Gesetze  für  den  empirischen  Realismus  zur  objektive 
AVirklichkeit  selbst,  und  alle  Wissenschaften  haben,  wenn  sie  die 
Wirklichkeit  gründlich  erkennen  wollen,  auch  nach  ihren  Gesetzen 
zu  suchen.  Scheiden  wii*  dagegen  die  Gesetzmässigkeit  als  metho- 
dologische Form  von  der  Kausalität,  so  kann  es,  obwohl  jede 
Wirklichkeit  kausal  bedingt  ist,  doch  Wissenschaften  geben,  die 
sich  um  Gesetze  gar  nicht  kümmern,  sondern  individuelle  Kanaal- 
reihen  zu  erkennen  suchen."^) 

Ist  nun,  so  fragen  wir  zunächst,  diese  Argumentation  in  der 
Tat  zwingend,  oder  lässt  sich  vielleicht,  bei  Âneiicennung  der  Ge- 
setzmässigkeit als  einer  konstitutiven  Kategorie,  die  M5glichkeä 
verschiedener  Methoden  dennoch  aufrecht  erhalten? 

Nehmen  wir  einmal  an,  dass  die  Gesetzmässigkeit  eine  die 
Wirklichkeit  konstituierende  Kategorie  sei.  Wäre  dadordi  die 
Individualität  des  Geschehens  in  Frage  gestellt?  Dies  wäre  der 
Fall,  wenn  das  Geschehen  lediglich  durch  die  Gesetze  bestisuit 
würde.  Nun  ist  aber  immer  noch  ausserdem  eine  bestimmte  Kon- 
stellation von  Elementen  erforderlich,  damit  die  G^etze  angreifen, 
in  Wirksamkeit  treten  können.  Von  der  jedesmaligen  KonsteDa- 
tion,  welche  aus  keinem  Gesetze  ableitbar  ist,  hängt  es  ab,  welche 
Gesetze  im  gegebenen  Fall  in  Wirksamkeit  treten.  Der  Satx 
also,  dass  das  Geschehen  individuell  sei,  wird  durch  die  Ânnalune, 
dass   die  Gesetzmässigkeit  für  die  Wirklichkeit  eine  konstitutife 


^)  Gegenstand  der  Erkenntnis,  S.  224. 


Das  Weian  und  die  Voraussetzungen  der  Induktion.  377 

BedentuDg  habe,  nicht  im  geringsteD  beeinträchtigt  ;  und  da  ja 
gerade  die  Einmaligkeit  und  Unwiederholbarkeit  mit  der  Wert- 
beorteilong  eng  zusammenhängt,  so  erleidet  auch  die  Methode  der 
historischen  Wissenschaften  dadurch  keinen  Abbruch,  sondern 
bleibt  in  ihrer  Eigenart  unabhängig  von  derjenigen  der  Natur- 
wissenschaften und  ihr  ebenbürtig  bestehen.  Auf  teleologischem 
Wege,  von  den  Zielen  und  Aufgaben  aus,  die  sich  die  Wissen- 
schaften setzen,  ist  ja  ihre  Einteilung  gewonnen  worden.  Es 
hftngt  also  ganz  von  den  Aufgaben  ab,  die  sich  eine  Wissenschaft 
setzt,  ob  sie  den  gesetzmässigen  Zusammenhängen  nachzuforschen 
oder  einmalige  Tatsachen  festzustellen  und  ihnen  ihre  Stelle  in 
einem  historischen  Ganzen  anzuweisen  hat.  Jedenfalls  liegt  beide 
Male  eine  begriffliche  Verarbeitung  des  Wirklichkeitsmaterials  vor; 
und  sieht  man  in  der  Begriffsarbeit  der  Naturwissenschaften  eine 
Vereinfachung  der  unübersehbaren  Mannigfaltigkeit  der  Wirklich- 
keit, so  findet  eine  solche  in  den  historischen  Wissenschaften 
natürlich  auch  statt.  Der  wesentliche  Unterschied  liegt  nur  in 
den  leitenden  Gesichtspunkten  der  begrifflichen  Bearbeitung,  welche 
in  dem  einen  Fall  mit  Rücksicht  auf  zu  gewinnende  idlgemeine 
Sfttze,  im  anderen  durch  Beziehung  auf  allgemeine  Werte  ge- 
schieht. Es  scheint  infolgedessen  keineswegs  berechtigt,  die  Ge- 
schichtswissenschaft in  eine  unmittelbarere  Nähe  zur  Wirklichkeit 
zu  rücken  als  die  Naturwissenschaft,  ja  sie  geradezu  als  Wirklich- 
keitswissenschaft zu  bezeichnen.  Die  durch  Beziehung  auf  allge- 
.  meine  Werte  gebUdeten  Individualbegriffe  der  Geschichte  sind  um 
nichts  weniger  Abstraktionsprodukte  als  die  allgemeinen  Begriffe 
-der  Naturwissenschaft,  nur  dass  sie  eben  einem  anderen  Prinzip 
ihre  Elntstehung  verdanken*  Wenn  es  sich  aber  so  verhält,  so 
ist  nun  auch  gar  nicht  einzusehen,  was  der  Anerkennung  der 
Gesetzmässigkeit  als  konstitutiver  Kategorie  noch  im  Wege  stehen 
sollte.  Rickert  behauptet  zwar,  dass,  falls  man  dies  annimmt, 
y,alle  Wissenschaften,  wenn  sie  die  Wirklichkeit  gründlich  kenneu 
wollen,  auch  nach  ihren  Gesetzen  zu  suchen  haben'',  womit  dann 
wieder  Wissenschaft  und  Gesetzeswissenschaft  gleichgesetzt  sein 
würden.  Allein  dies  ist  durchaus  nicht  der  Fall.  Viehnehr  liegt 
die  Sache  so,  dass  die  historischen  Wissenschaften  gar  kein  Inter- 
esse an  der  Erforschung  der  gesetzmässigen  Zusammenhänge 
haben  und  sich  also  darum  gar  nicht  zu  kümmern  brauchen.  Ihr 
Interesse  liegt  in   einer  ganz  anderen  Richtung;  es  ist  ihnen  ge- 


378  N.  V.  Bubnoff. 

rade  um  das  Unwiederholbare  innerhalb  des  allgemeinen  Bahmens 
der  Gesetzlichkeit  zu  tun. 

„.  .  .  die  Verarbeitung  des  Erfahrungsmaterials  (kann)  ent- 
weder auf  die  Feststellung  der  allgemeinen  Zusammenhänge  ge- 
richtet sein,  die  darin  gelten,  oder  auf  die  Sicherstellung  beson- 
derer Tatsachen  oder  Gruppen  von  Tatsachen.  Dieser  Unterschied 
ist  zugleich  begrifflich  und  zeitlich  :  das  Allgemeine  fällt  mit  dem 
dauernden  Bestand  der  erfahrbaren  Wirklichkeit,  das  Besondere 
mit  dem  unwiederholbaren  Einmaligen  zusammen.  Derselbe  empi- 
rische Wirklichkeitskomplex  kann  dabei  unter  Umständen  beiden 
Auffassungsweisen  unterworfen  werden."^) 

Sieht  man  natürlich  in  der  Geschichte  die  Wirklichkeits- 
wissenschaft xav  è^oxriv,  dann  kann  man  allerdings  so  aigumen- 
tieren:  alles,  was  für  die  objektive  Wirklichkeit  konstitutiv  ist, 
muss  sich  auch  in  ihrer  Methode  geltend  machen,  da  sie  ja  die 
Wirklichkeit  gründlich  erkennen  will,  d.  h.  möglichst  alles  aus  ihr 
herausholen  und  zum  Ausdruck  bringen,  was  in  ihr  enthalten  ist 
Sind  nun  Gesetze  auch  Wirklichkeitskategorien,  dann  muss  die 
Geschichte  eine  Herausarbeitung  derselben  anstreben.  Aber  die 
Behauptung,  dass  die  Geschichte  Wirklichkeitswissenschaft  ii 
prägnanten  Sinne  sei,  ist  eben  nicht  aufrecht  zu  erhalten.  Der 
Wirklichkeitscharakter  wird  ihr  von  Rickert  mit  Bücksicht  auf  den 
individuellen  Inhalt  ihrer  Begriffe  beigelegt,  da  ja  die  empirisdie 
Wirklichkeit  stets  individuell  sei.  Nun  hat  es  aber  die  Geschidite 
mit  Wertindividualitäten  zu  tun,  welche  aus  EHementen  bestehen, 
die  mit  Rücksicht  auf  einen  Wert  zu  einer  Einheit  zusammen- 
gefitsst  sind,  und  ist  insofern  neuerdings  nicht  mit  Unrecht  .ab 
LehTB  vom  Unwirklich-Individuellen  bezeichnet  worden.  **•) 

Sobald  man  also  die  irrtümliche  Meinung,  dass  die  Ge- 
schichte in  besonderem  Grade  „Wirklichkeitswissenschaft^  sei, 
preisgiebt^  ist  die  Möglichkeit  zweifellos  vorbanden,  Gesetze  for 
konstitutive  Formen  zu  halten,  ohne  schon  deshalb  einem  Umet- 
salismus  der  Methode  zu  huldigen. 

Die  Überzeugung,  dass  die  Geschichte  die  eigentliche  Wirk* 
lichkeitswissenschait  sei,   hat  bei  Rickert  ihre  Kehrseite  in  emer 


^)  Windelband,  Die  gegenwärtige  Aufgabe  der  Logik  and  Erkenne 
nifilehre  in  Bezug  auf  Natur-  und  Kulturwissenschaft.  Ghenfer  Kongie» 
Bericht  1904.    S.  109. 

^  Frischeisen-Köhler,  Über  die  Grenzen  der  natorw.  BegriflBifaifahnfl^ 
Arch,  f.  syst.  Philos.,  Bd.  12,  S.  252. 


Das  Wesen  und  die  Voraussetzungen  der  Induktion.  379 

Theorie  der  natorwissenschaftlicben  Begriffsbildong,  aas  welcher 
sich  ein  Gesetzesbeg;riff  ergiebt,  dessen  Prüfung  wir  uns  nun  zu- 
wenden wollen.  Im  Hinblick  auf  die  Möglichkeit  einer  Theorie 
der  Induktion  erscheint  uns  dieser  Gesetzesbegriff  als  ungenügend, 
weil  er  lediglich  als  Mittel  aufgefasst  sein  will,  die  uns  entgegen- 
tretende unübersehbare  Mannigfaltigkeit  der  Erscheinungswelt  zu 
fiberwinden.  Wir  glauben  es  bezweifeln  zu  müssen,  dass  die 
naturwissenschaftlichen  Allgemeinbegriffe  schon  dadurch  zu 
eigentlichen  Naturgesetzen  gestempelt  werden,  dass  sie  die 
Aufgabe  erfüllen,  welche  Rickert  dem  naturwissenschaftlichen 
Erkennen  zuweist. 

Fassen  wir  nun  die  Art  und  Weise  näher  ins  Auge,  wie  in 
der  in  Frage  stehenden  Theorie  der  Qesetzesbegriff  gewonnen  wird. 

Unter  der  Voraussetzung,  dass  der  Sinn  des  naturwissen- 
schaftlichen Erkennens  in  einer  Vereinfachung  und  Überwindung 
der  anschaulichen  Mannigfaltigkeit  der  Wirklichkeit  bestehe,  wird 
das  Werkzeug  dieses  Erkennens,  der  naturwissenschaftliche  Begriff, 
daraufhin  untersucht,  welche  Eigenschaften  es  zu  diesem  Zweck 
besitzen  müsse.  Es  sind  dies:  Allgemeinheit,  Bestimmtheit  und 
unbedingte  Geltung.  Die  dritte  Eigenschaft  erweist  sich  insofern 
.als  die  vornehmste,  als  erst  sie  es  ist,  welche  den  naturwissen- 
schaftlichen Befriff  befähigt,  das  zu  leisten,  was  von  ihm  in  letzter 
Instanz  verlangt  wird.  „Soll  eine  Überwindung  der  unendlichen 
Ffille  der  Erscheinungen  möglich  sein,  so  müssen  wir  Begriffe 
bilden  können,  unter  deren  umfang  notwendig  eine  unbegrenzte 
Anzahl  der  Einzelgestaltungen  iäUt.^^)  Das  können  nur  solche 
Begriffe  sein,  die  den  logischen  Wert  von  Urteüen  haben,  d.  h. 
unter  den  Gesichtspunkt  gestellt  werden  können,  dass  sie  wahr 
sind;  und  zwar  müssen  sie  UrteUen  von  unbedingt  allgemeiner 
Geltung  äquivalent  sein.  Solche  Urteile  bezeichnen  wir  als 
Naturgesetze. 

Auf  diese  Weise  gelangt  Rickert  durch  eine  teleologische 
Deduktion  zu  dem  Begriff  eines  Naturgesetzes  von  der  Forderung 
aus,  die  unübersehbare  Mannigfaltigkeit  der  Wirklichkeit  unserem 
Erkennen  zugängUch  zu  machen.  Erkennen  aber  heisst  hier  „das 
Unbekannte  in  der  Weise  als  Fall  des  Bekannten  verstehen,  dass 
das  Individuelle,  Einzigartige  ausgeschieden  und  nur  das  Gemein- 
same  in  die  Wissenschaft  aufgenommen  wird.    Das  höchste  Ziel 


1)  Rickert,  Grenzen  d.  n.  B.,  S.  63, 


380  N.  V.  Bubnoff, 

dieser  Erkenntnis  ist,  die  zu  erkennende  Wirklichkeit  so  oito 
allgemeine  Begriffe  zu  bringen,  dass  diese  sich  durch  die  Yerhili- 
nisse  der  Unter-  und  Überordnung  zu  einem  einheitlichen  System 
zusammenschliessen,  und  man  wird  dabei,  wo  es  angeht,  nach 
solchen  Begriffen  streben,  deren  Inhalt  unbedingt  allgemein  for 
die  zu  untersuchenden  Objekte  gilt.  Wo  diese  Erkenntnis  ge- 
lungen ist,  da  hat  man  das  erfasst,  was  man  die  Gesetze  der 
Wirklichkeit  nennt^.^)  Von  diesem  Gesichtspunkt  aus  betrachtet 
sind  die  Naturgesetze  weiter  nichts  als  Werkzeuge,  deren  sich 
unser  endlicher  Verstand  bedient,  um  der  Wirklichkeit  Herr  zu 
werden;  sie  werden  auf  teleologischem  Wege  postuliert,  indem  ge- 
zeigt wird,  dass  die  Naturwissenschaft  nur  mit  ihrer  Hilfe  die 
ihr  eigentümliche  Aufgabe  zu  lösen  vermag. 

Wii*  fragen  nun  aber,  unter  welchen  Bedingungen  allgemein- 
giltige  Aussagen  über  die  Wirklichkeit  gemacht  werden  können; 
oder  bestimmter,  wie  beschaffen  die  Wirklichkeit  gedacht  werden 
muss,  um  die  Bildung  von  Gesetzesbegriffen  zu  ermöglichen. 

Die  Theorie  Rickerts  sagt  uns,  dass,  wenn  es  so  etwas  wie 
naturwissenschaftliches  Erkennen  überhaupt  geben  soll,  dann  auch 
gewisse  urteile  von  unbedingter  Geltung,  welche  über  die  Wirk- 
lichkeit etwas  aussagen,  vorhanden  sem  müssen:  „Wir  nehmen 
an,  dass  wir  nicht  nur  empirisch  allgemeine,  sondern  auch  anbe- 
dingt allgemeine  Urteile  zu  bilden  im  Stande  sind,  d.  h.  Urteile, 
die  für  alle  Vorgänge  und  Dinge  gelten,  wo  und  wann  auch 
immer  sie  sich  finden  mögen.**^ 

Unter  welchen  Bedingungen  sind  wir  nun  aber  zu  dieser 
Annahme  berechtigt? 

Bei  der  Auffassung,  welche  Bickert  von  dem  VerhJUtnis  y« 
Denken  und  Wirklichkeit  hat,  scheint  ja  diese  Annahme  gerade 
ausgeschlossen  zu  sein.  Urgiert  man  nämlich  den  Satz  von  d« 
totalen  Irrationalität  der  Wirklichkeit,  so  ist  gar  nicht  mehr  an- 
zusehen, wie  es  die  Naturgesetze  anfangen  sollen  von  der  Wirk- 
lichkeit zu  gelten.  Wohl  ist  es  richtig,  dass  „vor  jeder  Beob- 
achtung die  Möglichkeit  ausser  Zweifel  stehen  muss,  auf  Omod 
des  Erfahrenen  etwas  über  Unerfahrenes  zu  wissen,  wenn  dai 
Suchen  nach  Naturgesetzen  einen  Sinn  haben  soll''  und  dass,  »to- 
lange  überhaupt  Naturwissenschaft  getrieben  werden  soll,  man  dtf 

1)  Rickert,   Geschichtephilosophie.      Festachrift   fOr  Kuno  Kieher, 
Bd.  n,  S.  64. 

«)  Grenzen  d.  n.  ß.,  S.  68. 


Das  Wesen  und  die  Voraussetasungen  der  Induktion.  381 

;ht  des  erkennenden  Subjekts  auf  den  Glauben  an  unbedingt 
gemeine  Gesetze  und  an  die  Möglichkeit  sich  ihrer  Erkenntnis 
ligstens  annähern  zu  können,  niemals  in  Frage  stellen  darf*".^) 
)r  dies  ist  eben  nur  möglich  unter  der  weiteren  Annahme  einer 
*.hen  Struktur  der  Wirklichkeit,  dass  das  Allgemeine  über  sie 
3  „bestimmende  Macht"*  gewinnen  kann.  Widrigenfalls  ständen 
Naturgesetze  der  Wirklichkeit  völlig  fremd  gegenüber,  ja  nicht 
mal  die  Möglichkeit,  an  der  Wirklichkeit  Begriffe  zu  bilden, 
se  sich  dann  mehr  rechtfertigen.') 

Während  der  Wirklichkeitscharakter  der  Geschichte  durch 
Behauptung,  dass  sie  die  eigentliche  Wirklichkeitswissenschaft 
überschätzt  wird,  so  fällt  andererseits  ein  falsches  Licht  auf 
Verhältnis  der  Naturwissenschaften  zu  der  Wirklichkeit,  wenn 
is  Gewicht  im  naturwissenschaftlichen  Wissenschaftsbetrieb  auf 
i  Prozess  der  Vereinfachung  und  Generalisation  gelegt  und 
Qgemäss  eine  Entfernung  von  der  Wirklichkeit  als  ihnen 
senüich  betrachtet  wird.  Vielmehr  ist  der  Wirklichkeitsgehalt 
den  Natur-  und  Geschichtswissenschaften  ein  ganz  gleicher, 
l  auf  beiden  Gebieten  geht  immer  das  analytische  Verfahren 
a  synthetischen  Aufbau  voran:  in  der  Geschichte  die  kritische 
htung  des  vorliegenden  Materials  zum  Zweck  der  Sicherstellung 
'  Tatsachen,  in  der  Naturwissenschaft  die  möglichst  genaue 
1  erschöpfende  Analyse  der  Erscheinungen  durch  Beobachtung 
1  Experiment.  Darin  besteht  die  Annäherung  an  die  Wirklich- 
t,  die  beide  Male  gleichmässig  stattfindet.  Es  ist  neuerdings 
einer  Besprechung  des  Rickertschen  Buches,  wie  mir  scheinen 
1,  mit  einigem  Recht  darauf  hingewiesen,  dass  die  Aufgabe  der 
torwissenschaft  nicht  lediglich  darin  besteht,  die  Wirklichkeit 
Allgemeinbegriffe  zu  klassifizieren  oder  sonst  irgendwie  über- 
bar zu  machen ""j  dass  vielmehr  die  unermüdliche  Arbeit  der 
rschung  darauf  gerichtet  sei,  die  naive,  beschränkte,   von  Fehl- 


0  Ibid.  S.  088. 

^  Vgl.  Lotse,  Logik,  S.  569:  „In  der  Tatsache  .  .  .,  dass  wir  AUge- 
nes  denken  können,  liegt  aUerdings  eine  Behauptung  von  realer 
tnng:  die  Welt  vorsteUbarer  Inhalte,  die  wir  denkend  nicht  erzeugen, 
clem  vorfinden,  zerfällt  nicht  atomistisch  in  lauter  singulare  Bestand- 
B,  deren  jeder  unvergleichbar  mit  anderen  wftre,  sondern  Ähnlichkeiten, 
wandtschaft  und  Beziehungen  zwischen  ihnen  finden  so  statt,  dass  das 
iken.  Allgemeines  bUdend,  Besonderes  ihm  unterordnend  und  einander 
enordnend,  durch  diese  seine  formale  und  subjektive  ^wegungen  mit 
Natur  der  sachlichen  Inhalte  zusammentrifft 


382  N.  V.  Bubnoff, 

Schlüssen  und  Einseitigkeiten  durchsetzte  Erfahrung  zu  reimpo, 
zu  erweitern  und  die  Wirklichkeit  .  .  .  sowohl  in  extenâTerf«  is 
intensiver  Hinsicht  nicht  sowohl  zu  überwinden,  als  zu  er*  si 
schliessen."^)  ^^Ji 

Und  nun  muss  noch  erwogen  werden,  welchen  Sinn  die  h 
„Notwendigkeit ""^  welche  doch  eben  den  Gesetzesbegriff  auszeichnet  iqiit 
und  ihn  als  solchen  von  einem  blossen  Gattungsbegriff  des  6e-  ,^^ 
schehens  unterscheidet,  innerhalb  der  Theorie  Bickerts  bat  Wir  k]& 
können  dabei  an  eine  Ausführung  in  dem  soeben  erwfihnten  Aof*  ^b 
satz  „Über  die  Grenzen  der  naturwissenschaftlichen  BegriffabildnDg*  M 
anknüpfen.  Es  wird  dort  nämlich  behauptet,  dass  aucli  ein  ré  ifa 
formales  System  von  Begriffen,  welche  zu  einander  in  dem  Ver-  i^q 
hältnis  der  Unter-  und  Überordnung  stehen,  z.  B.  das  aristote* 
lische,  das  zu  leisten  im  Stande  sei,  was  Rickert  als  Angabe  dtf  ni^ 
Naturwissenschaft  hinstelle,  nämlich  die  Mannigfaltigkeit  der  Er  eieüi 
scheinungen  übersichtlich  zu  machen.  Der  Begriff  des  Geseiiei  'm, 
sei  zu  diesem  Zwecke  überflüssig.  Zwar  unternehme  es  Bickei^  'àt 
diesen  Begriff  als  die  Vollendung  der  von  ihm  beschriebeo*  <[in 
(generalisierenden)  Begriffsbildung  darzutun.  Es  scheme  al)^  ^\ 
dass  seine  begriffliche  Entwickelung  nicht  über  das  Ideal  einv  ^lii 
blossen  Klassifikation  hinausführe  und  der  Begriff  des  GeeeUt^  Un 
durch  den  Kunstgriff  einer  neuen  Fassung  des  Begriffs  des  ,4^  ^ 
gemeinen"  gewonnen  werde,  durch  welche  dem  „Gemeiosun^  ^ 
das  „Notwendige"  substituiert  wird.  Die  Auflösung  der  Begn^ 
du  Urteile  sei  dabei  unwesentlich.^  •      i^ 

Das  dürfte  nun  schwerlich  richtig  sein.  Zonädist  kannte  W^i 
Grund  der  Rickertschen  Voraussetzungen  eine  vollständige  üb*' 1'*^ 
sieht  über  die  ganze  Mannigfaltigkeit  der  ErscheinuDgeo  ^1^ 
durch  Begriffe  gewonnen  werden,  welche  unbedingte  QAWl^  1^ 
sitzen,  und  daraus  ist  auch  ersichtlich,  dass  die  Auflösmif '^  1 1| 
Begriffe  in  Urteile  ein  sehr  wesentliches  Moment  seiner  Tl^  I  ^ 
bildet.  Der  Übergang  von  denjenigen  Begriffen,  mit  deren  flS*!" 
sich  lediglich  eine  Klassifikation  erreichen  lässt,  zu  den  Geß**  I  '' 
begriffen  geschieht  in  der  Weise,  dass  der  naturwissensduifi'^  f  ^ 
Begriff  unter  den  Gesichtspunkt  gestellt  wird,  dass  er  wahr  Ä 
und  wahr  sein  können  eben  nur  Urteile.  Hier  tritt  abo  *  ■  ^ 
Moment  der  Bejahung,   das  „praktische"  Moment  in  den  Vor*'  f  «n 

^)  Frischeisen-Köhler,  Ober  die  Grenzen  der  natnrw. 
Arch,  t  syst.  Philos.»  Bd.  12. 
«)  Ibid.  S.  238. 


Das  Wesen  und  die  Voraussetzungen  der  Induktion.  383 

und   nan  lässt  sich  auch  die  Frage  beantworten,   welchen 
die  Notwendigkeit   des  Naturgesetzes   bei  Rickert  hat.    Es 
3  „Urteilsnotwendigkeit*",   die  auf  einem  Sollen  beruht,    und 
ist    die    Naturgesetzmässigkeit    auf    ein    Sollen    reduziert, 
stimmt   auch  vollständig  mit  der  Grundthese  der  Erkennt- 
>rie  Rickerts   überein,    dem  Primat   des  SoUens,    und  ist  im 
nstand   der  Erkenntnis"    unzweideutig  ausgesprochen:    „Zu- 
ist klar,    dass  die  Form  der  Naturgesetzlichkeit  nur   dann 
ive  Bedeutung   besitzt,   wenn   sie   selbst  in  einer  Form  be- 
st ist,  und  daraus  folgt,  dass  es  ohne  die  Anerkennung  des 
s   kein   Müssen   im    Sinne   des  natnrgesetzlich  Notwendigen 
würde.  "^) 

Bei  Rickert  also  bedeutet  alle  Notwendigkeit  —  Urteilsnot- 
2:keit.  Und  da  die  Notwendigkeit  des  Naturgesetzes  auf 
Sollen  beruht,  mithin  das  Sollen  dem  Müssen  begrifflich 
^eht,  so  besteht  auch  demzufolge  zwischen  Sollen  und  Müssen 
Antinomie.  Ja  eine  solche  besteht  nicht  einmal  für  das 
sehe  Bewusstsein,  falls  eben  die  Gesetze  zu  den  methodo- 
len  Formen  gerechnet,  als  Produkte  der  Wissenschaft  be- 
et werden.  Das  Sollen,  auf  welchem  sie  beruhen,  ist  dann 
h  bloss  dem  endlichen  Bewusstsein  transscendent,  nicht 
urteilenden  Bewusstsein  überhaupt.  Man  sieht,  zu  wie 
agenden  Eonsequenzen  das  Primat  des  Sollens  führt. 
(Vären  nun  diese  Ausführungen  richtig,  so  mOsste  sich  ein 
Naturgesetz  auch  mit  Hilfe  eines  Sollens  formulieren  lassen, 
auf  einer  Norm  beruht.  Das  dürfte,  nun  aber  zum  min- 
terminologisch unzulässig  sein.  Dem  Ausdruck  MSollen"" 
3  dann  nämlich  eine  von  der  üblichen  abweichende  Bedeutung 
Bn  werden,  da  es  ja  offenbar  keinen  Sinn  hat,  zu  fordern, 
itwas  geschehe,  was  ohne  dies  überall  und  immer  stattfindet, 
beint  also  recht  bedenklich,  die  naturgesetzliche  Notwendig- 
iuf  ein  Sollen  zu  reduzieren;  es  dürfte  dieselbe  vielmehr 
irtig  neben  der  normativen  bestehen  bleiben  und  ihr  ein 
'er  Charakter  zuerkannt  werden. 

Endlich  scheint  die  Leugnung  des  konstitutiven  Charakters 
esetzmässigkeit  auch  die  Objektivität  der  Naturwissenschaft 
ch  zu  bedrohen.  Die  Naturgesetze  werden  auf  diesem 
punkt  zu  Formeln,  welche  eben  nur  insoweit  gelten,  als  man 

^)  Gegenstand  der  Erk.,  S.  840. 


384  N.  V.  Bubnoff, 

sich  im  Kreise  der  Naturwissenschaften  bewegt,  und  es  einem  da- 
rauf ankommt,  die  Mannigfaltigkeit  der  Wirklichkeit  für  das  Er- 
kennen übersichtlich  zu  machen  ;  das  naturwissenschaftliche  Er 
kennen  wird  dabei  zu  einem  „Surrogat ""^  einem  notwendigen  Ersats 
für  die  dem  endlichen  Verstand  unzugängliche  ideale  ErkenntoiB, 
während  es  doch  vielmehr  bestrebt  sein  muss,  sich  dem  wahrai 
Sachverhalt  zu  nähern,  die  „primären  Notwendigkeiten  festzih 
stellen,  mit  denen  allein  wir  das  unserer  Erfahrung  zugängliche 
Wesen  der  Dinge  zu  definieren  im  Stande  sind**,^)  wenn  ihffl 
wahre  Objektivität  zukommen  soll. 

Man  darf  natürlich  nicht  alle  Naturgesetze,  welche  in  den 
tat-sächlichen  Wissenschaftsbetrieb  als  solche  bezeichnet  werden, 
für  „eigentliche^  Naturgesetze  halten,  die  „primär,  objektiv  and 
konstitutiv''  gelten.  Ja  es  wäre  vollkommen  denkbar,  dass  de^ 
gleichen  „eigentliche^  Naturgesetze  überhaupt  noch  nicht  gefondeo 
sind,  und  dass  die  Wissenschaft  alle,  die  sie  gefunden  zu  haben 
vermeint,  einmal  für  falsch  oder  vorläufig  und  realiter  abgdeitet 
erklärte.  Auch  darf  man  die  sprachlichen  Formulierungen  der 
Naturgesetze  nicht  mit  den  sachlichen  Verhältnissen,  welche  ibnea 
zu  Grunde  liegen  und  dieselben  erst  ermöglichen,  yerwecbseln,  wie 
Liebmann  sehr  richtig  hervorgehoben  hat. 

„.  .  .  jedes  wirkliche  und  echte  Naturgesetz**  ist  „eine  ob- 
jektive Einheit  in  der  Vielheit  der  Einzelfälle,  ein  anmittelbarer 
Beleg  für  die  reale  Wesenseinheit  der  Natur,  eine  Offenbanmg 
und  Manifestation  des  weltbeherrschenden,  weltumfassenden  oide 
ordinans.  Auch  muss  wohl  erwogen  werden,  dass  unser  Verstand  ja 
gar  nicht  in  der  Lage  sein  würde,  aus  dem  Naturlauf  Oesetse  fl 
abstrahieren  und  in  £'orm  subjektiver  Gattungsarteile  mat 
sprechen,  wenn  nicht  in  Rerum  Natura  eine  objektive  GtosetsÜA- 
keit  herrschte  .  .  .  Unsere  Naturgesetze,  wie  sie  als  sprachlidie 
Sätze  oder  mathematische  Formeln  im  Buche  stehen,  sind  freiM 
universalia  post  rem;  aber  das,  was  ihnen  im  Lauf  der  Dinge 
korrespondiert,  sind  universalia  ante  rem.^^ 

„Wäre  nicht  der  Gang  der  Natur  objektiv  ein  so  gleick- 
artiger,  geregelter,  dass  uns  auf  subjektiver  Seite  die  Eonzeptioa 
einer  zahllose  Einzelfälle  unter  sich  begreifenden  Formel  mSglki 

1)  Windeiband,  Die  gegenwartige  Aufgabe  der  Logik  mid  Ibkaul* 
nialehre  in  Bezug  auf  Natur-  und  Kulturwiaaenaàhaft,  QeaSet  KùDgntt 
Bericht.    S.  112. 

>)  Gedanken  und  Tatsachen,  Bd.  I,  S.  172. 


Das  Wesen  und  die  Voraussetzungen  der  Induktion.  385 

Eürde,  verführe  die  Natur  selbst  so  regellos  lannenhaft,  dass  bei 
riederkehr  genau  derselben  Bedingungen  trotzdem  das  eine  Mal 
eser,  das  andere  Mal  ein  ganz  anderer  Effekt  einträte,  dann  . . . 
Ute  auch  die  Kenntnis  sämtlicher  Einzeltatsachen  keinen  Wert; 
wer  Verstand  .  .  .  wäre  dem  irrationalen  Lauf  der  Dinge  gegen- 
}er  zur  Ohnmacht,  zum  Müssiggang  verurteilt;  .  .  .  nicht  nur 
aturwissenschaft,  sondern  auch  Natur  gäbe  es  dann  gar  nicht, 
ir  verstünden  die  Welt  nicht  mehr  und  statt  der  Natur  hätten 
ir  um  uns  einen  Hezensabbath.*'^) 

Freilich  gerade  den  Eantischen  Begriff  der  Natur  als  eines 
aseins,  sofern  es  nach  allgemeinen  Gesetzen  bestimmt  ist,  lehnt 
ickert  aufis  entschiedenste  als  Grundlage,  von  der  alle  wissen- 
ihaftliche  Bearbeitung  auszugehen  habe,  ab.  Diese  Grundlage 
t  ihm  vielmehr  dasjenige,  was  er  mit  dem  Ausdruck  „objektive 
Wirklichkeit"  bezeichnet. 

Es  ist  nun  nicht  eine  Aufgabe  dieser  Untersuchung,  eine 
toung  der  spezifisch-erkenntnistheoretischen  Probleme  zu  ver- 
leben, welche  sich  hier  aufdrängen.  Auch  wäre  vielleicht  zu 
esem  Zweck  schon  ein  ganzes  System  der  Erkenntnistheorie  er- 
rderlich.  Vor  allem  scheint  das  Verhältnis  der  konstitutiven 
ategorien  zu  den  reflexiven  noch  einer  Klärung  zu  bedürfen  und 
üsste  die  Frage  einwandsfrei  beantwortet  werden,  welches  das 
esentliche  Moment  sei,  das  die  konstitutive  Kategorie  zu  einer 
lohen  stempelt. 

Indessen  darf  hier  vielleicht  auf  die  Schwierigkeiten  hinge- 
iesen  werden,  welche  in  diesem  erkenntnistheoretischen  Zentral- 
oblem  stecken  und  eine  endgiltige  Lösung  bisher  noch  nicht 
ifonden  haben.  Wie  gross  diese  sind,  kann  man  sich  vielleicht 
a  deutlichsten  zum  Bewusstsein  bringen,  wenn  man  von  der 
SLOüschen  Theorie  ausgeht,  dann  die  Korrekturen  in  Betracht 
3ht,  welche  Sigwart  an  derselben  vornehmen  zu  müssen  glaubt, 
id  endlich  damit  den  Rickertschen  Lösungsversnch  vergleicht, 
ir  in  dieser  Frage  ganz  andere  Wege  geht. 

Es  gilt  dabei  vor  allem,  sich  den  bedeutsamen  Kantischen 
^ff  der  Regel  zu  vergegenwärtigen.  In  diesem  haben  wir  das 
38entliche  Moment,  welches  nach  Kant  die  gegenständliche  Welt 
»DStituiert.  „Kant  hat  den  Gegenstand  in  eine  Regel  der  Vor- 
dllongsverbindung  anfgelösf   (Wmdelband).    Dieser  Begriff  der 


i)  Ibid.  S.  177. 


386  N.  V.  Bubnoff, 

Regel  schliesst  nun  bei  Kant  zwei  Qedanken  ein:  denjenigen  mts 
Norm  und  denjenigen  eines  Allgemeinen.  Letzteren  hebt  Kant 
gewöhnlich  noch  ausdrücklich  hervor,  indem  er  Ton  einer  „aIlg^ 
meinen  Regel"  redet.  Die  Gegenständlichkeit  einer  Vorstellnngs- 
beziehung,  welcher  Art  diese  immer  sei,  kommt  also  nicht  bloss 
durch  eine  Norm  zustande,  welche  gebietet,  in  diesem  besonderen 
Fall  die  Vorstellungen  oder  Vorstellungselemente  auf  eine  be- 
stimmte Art  zu  verbinden,  sondern  durch  eine  Norm,  welche  in 
einem  allgemeinen  Grundsatz  begründet  ist  und  insofern  die  all- 
gemeine Bestimmung  einschliesst,  dass  unter  bestimmten  Beding- 
ungen die  Vorstellungsverbindung  in  einer  Weise  stattzufinden 
habe,  welche  im  Allgemeinen  durch  den  Grundsatz  festgelegt  ist 
Es  sind  also  zwei  Momente,  durch  welche  die  Objektivit&t  dner 
Vorstellungsverbindung  gewährleistet  wird:  das  Verhältnis  des 
Besonderen  zum  Allgemeinen,  insofern  der  allgemeine  Grundsatz 
die  Grenzen  festlegt,  innerhalb  derer  eine  Vorstellongsverbindnng 
stattfinden  kann;  und  der  durch  die  besondere  Norm  zum  Aus- 
druck gebrachte  Imperativ,  welcher  gebietet,  innerhalb  dieser 
Grenzen  eine  ganz  bestimmte  Vorstellungsverbindong  zu  ydl- 
ziehen. 

Diese  beiden  nach  Kantischer  Lehre  die  Erfahrung  konsti* 
tuierenden  Momente  hat  Windelband  scharf  hervorgehoben:  »Jede 
besondere  Regel  aber,  welche  die  Normalität  einer  einzelnen  V<r- 
Stellungsverbindung  und  damit  ihre  Gegenständlichkeit  ausmadrt, 
erweist  sich  bei  näherer  Untersuchung  als  abhängig  von  einer 
allgemeinen  Form  der  Vorstellungsverknüpfung:  jene  ist  nur  dann 
begründet,  wenn  sie  eine  besondere  Anwendung  von  dieser  ist 
Dass  zwei  Empfindungen  a  und  b  als  die  gleichzeitigen  Eîget- 
Schäften  eines  und  desselben  Dinges  vorgestellt  werden  sollen,  ist 
nur  möglich  durch  die  Anwendung  einer  allgemeinen  Regel,  wo- 
nach überhaupt  verschiedene  Vorstellungsinhalte  in  der  Form  der 
Substanzialität  und  Inhärenz  mit  einander  verknüpft  werden  soDen. 
Alle  besonderen  normalen  Vorstellungsverknüpfnngen  stehen  âbe 
in  letzter  Instanz  unter  einer  Anzahl  von  allgemeinsten  Begds 
der  Verknüpfung,  welche  die  Voraussetzungen  des  normalei 
Denkens  überhaupt  bilden."^) 

Sigwart  schliesst  sich  der  Eantischen  Lehre  dordiaiui  in 
und  zeigt  im   Einzelnen,  wie  die  Feststellung  eiiies  objAtiyei 


1)  Pr&l.  S.  161. 


bas  Wesen  und  die  Voraussetzungen  der  Induktion.  38? 

iTerhältnisses  immer  nur  auf  Grund  eines  allgemeiuen  Gesetzes 
(tatthaben  kann.  Jede  Orts-  und  Zeitbestimmung,  Bewegungs- 
Wahrnehmung,  Beziehung  unserer  Empfindungen  auf  einen  äusseren 
gegenständ,  Feststellung  der  Eigenschaften  des  Gegenstandes  auf 
3>nind  dieser  Empfindungen,  Feststellung  eines  besonderen  Kausal- 
rerhältnisses  —  alles  das  bedarf,  um  objektive  Giltigkeit  beau- 
rprochen  zu  können,  eines  allgemeinen  Gesetzes.  So  sucht  Sig- 
irart  im  Einzelnen  nachzuweisen,  dass  »die  Forderung  vollkommen 
pltiger  Urteile  die  natürliche  Unmittelbarkeit  der  erzählenden 
[Jrteile  auflöst  und  sie  zwingt  zu  vermittelten  zu  werden,  um 
Rrahr  und  ihrer  Wahrheit  gewiss  zu  sein",^)  dass  „die  unmittel- 
>are  Gewissheit  unserer  Wahrnehmungsurteile  nicht  auf  einer  ab- 
soluten Notwendigkeit  beruht,  ehe  ein  allgemeines  Gesetz  gezeigt 
ist,  nach  welchem  das  Faktum  der  Wahrnehmung  die  Anerkennung 
ier  Existenz  eines  äusseren  Gegenstandes  notwendig  macht".*) 

Nur  mit  Rücksicht  auf  die  objektive  Zeitbestimmung  weicht 
3r  in  gewisser  Hinsicht  von  Kant  ab.  Nach  Kant  kann  eine 
lolche  lediglich  mit  Hilfe  der  Eausalitäts-Eategorie  stattfinden. 
Srst  durch  die  Anwendung  dieser  wird  eine  subjektive  Wahr- 
lehmungsfolge  zu  einer  „Begebenheit",  also  einer  objektiven  Âuf- 
linanderfolge  der  entsprechenden  Objekte.  „Wenn  wir  .  .  .  er- 
ahren,  dass  irgend  etwas  geschieht,  so  setzen  wir  dabei  jederzeit 
roraos,  dass  irgend  etwas  vorausgehe,  worauf  es  nach  einer  Regel 
vlgt,  weil  die  blosse  Folge  in  meiner  Apprehension,  wenn  sie 
licht  durch  eine  Regel  in  Beziehung  auf  ein  Vorhergehendes  be- 
iUmmt  ist,  keine  Folge  im  Objekt  berechtiget. "") 

Sigwart  gelangt  nun  im  Zusammenhang  seiner  methodo- 
og^cben  Untersuchungen  zu  dem  Ergebnis,  dass  wir  sehr  oft  nur 
lann  eine  Aufeinanderfolge  zweier  Veränderungen  mit  objektiver 
SUtigkeit  behaupten  können,  wenn  wir  den  Kausalzusammenhang 
iwiachen  denselben  schon  erkannt  haben,  womit  ja  die  Kantische 
Behauptung  vollkommen  übereinstimmt.  Dem  scheint  nun  aber 
HB  .zum  mindesten  ebenso  gewisser  Satz  entgegenzustehen,  dass 
Qjbnlich  ein  Kausalzusammenhang  zwischen  zwei  Geschehnissen 
nur  dann  erkannt  werden  kann,  wenn  ihre  zeitliche  Aufeinander- 
folge mit  objektiver  Giltigkeit  festgestellt  ist  Somit  hätten  wir 
^e   Antinomie.     Diese   Antinomie   versucht  Sigwart  auf   Grund 

1)  Logik  I,  S.  419. 
«)  Logik  I,  S.  408. 
^  Kr.  d.  r.  V.  (Kehrbach),  S.  186b 


386  N.  V.  Bubnoff, 

einer  Kritik  der  Eantischen  Lehre  zn  lösen;  er  sucht  zu  léffsù, 
dass  jede  Zeitbestimmung  auf  der  Voraussetzung  ruht,  dass  die 
wahrgenommene  Zeitfolge  mit  der  objektiven  im  AllgemdM 
übereinstimme.  In  einzelnen  Fällen  könne  diese  Annahme  afier- 
dings  nicht  zutreffen  ;  sie  sei  also  korrigierbar,  dürfe  aber  nidrt 
ganz  bei  Seite  geschoben  werden,  weil  dies  jegliche  Zeitbestüniniiog 
unmöglich  machen  würde.  Die  Grundlage  also  für  jede  Zeil- 
bestimmung bildet  nach  Sigwart  die  „empirische  Vorstellung  der 
Zeitreihe^  ;  diese  sei  in  unserem  unmittelbaren  Bewusstsein  unserer 
inneren  Vorgänge  gegeben  und  absolut  gewiss.^)  Die  Eantische 
Behauptung  müsse  daher  in  dem  Sinne  modifiziert  werden,  dflss 
nicht  etwa  die  Succession  der  Vorgänge  nach  einer  Eausalr^ 
stattfinde,  sondern  dass  diese  bloss  erforderlich  sei,  um  das  Zeit- 
verhältnis zwischen  dem  Eintritt  einer  Veränderung  und  ihrer 
Wahrnehmung  in  allgemeingiltiger  Weise  zu  bestimmen.  Wire 
Kant  im  Recht,  so  „könnte  niemals  ein  zufälliges  zeitliches  Snoee- 
dieren  zweier  von  einander  unabhängiger  Vorgänge  festgestdit 
werden, '^  sondern  die  Aufeinanderfolge  zweier  Vorgänge  (etwa  ém 
Schusses  und  eines  Olockenschlages)  müsste  allemal  nach  einer 
Eausalregel  stattfinden. 

Hier  wird  also  wieder  der  bekannte  Einwurf  gegen  die 
Eantische  Lehre  erhoben,  dass  sie  alles  Folgen  in  ein  Erfblgeo 
verwandle,  während  Eant  doch  nur  behauptet,  dass  jedem  Vor 
gang  irgend  ein  anderer  vorhergegangen  sein  muss,  auf  welebefi 
er  nach  einer  Begel  erfolgte,  womit  noch  keineswegs  gesagt 
ist,  dass  dies  der  unmittelbar  vorher  wahrgenommene  Yot- 
gang  war.*) 

Abgesehen  aber  davon,  bedeuten  die  Sigwartschen  A» 
führnngen  eine  ungerechtfertigte  Einschränkung  der  EantisdieB 
These  auf  einen  speziellen  Fall  der  zeitlichen  Aufeinanderfolge, 
denjenigen  nämlich  eines  Vorgangs  und  dessen  Wahmehmiflg* 
Nun  ist  doch  aber,  wie  Sigwart  selbst  zugiebt,  der  Eawl- 
zusammenhang  zwischen  einem  Vorgang  und  der  WabmehnHOg 
desselben  ein  Teil  des  allgemeinen  Eausalzusammenhanges,  od 
es  ist  logisch  nicht  im  mindesten  zu  rechtfertigen,  weshalb  gerade 
in  diesem  besonderen  Fall  der  Succession  die  Eantische  BestiflUDOV 
gelten  soll   und   in   den   anderen   Fällen   des  Succediermis  nicht 


1)  Vgl.  Logik  II,  S.  368. 

^)  Vgl.  König,  Entwicklung  des  Kausalproblems,  Bd.ï,B.8ISL 


t>aa  Wesen  und  die  VoraufisetEongen  der  Induktion.  389 

Wohl  ist  es  richtig,  dass  „die  Korrekturen,  welche  wir  anbringen, 
um  die  subjektive  Zeit  der  Wahrnehmung  auf  die  objektive  des 
Vorgangs  zu  reduzieren  und  die  individuellen  Differenzen  in  der 
Zeit  der  Wahrnehmungen  auszugleichen,  nicht  direkt  die  Eaosal- 
beziehungen  der  wahrgenommenen  Vorgänge  untereinander  betreffen, 
lODdern  die  Gesetze,  nach  denen  unsere  Wahrnehmungen  in  ihrer 
Zeitfolge  vom  Objekt  .  .  .  bestimmt  sind.*'^)  Aber  dies  ist  etwas, 
las  den  tatsächlichen  Wissenschaftsbetrieb  angeht,  und  jedenfalls 
lEoin  Einwand  gegen  den  Kantischen  Satz,  welcher  eine  allgemeine 
sriLenntnistheoretische  Bedeutung  besitzt. 

Während  nun  Sigwart  sich  im  grossen  und  ganzen  der  Kan- 
tischen Theorie  anschliesst,  schlägt  Rickert  einen  ganz  anderen 
Weg  ein.  Allerdings  ist  auch  für  ihn  die  „Regel"*  dasjenige,  was 
lie  Gegenständlichkeit  konstituiert.  „Die  vom  erkennenden  Sub- 
jekt unabhängige  Bedeutung  des  Dinges  als  eines  Gegenstandes 
1er  Erkenntnis  .  .  löst  sich  vom  Standpunkt  des  transscenden- 
talen  Idealismus  vollständig  in  Urteilsnotwendigkeit  auf.  Das  an- 
jfeblich  transscendent  seiende  Ding  ist  eine  transscendente  Norm 
>der  Segel  der  Vorstellungsverknüpfung.^^  Aber  die  Bestimmung 
1er  Allgemeinheit  fällt  für  Rickert  aus  dem  Begriff  der  Regel 
fort;  es  bleibt  bloss  diejenige  eines  Sollens,  eines  Imperativs. 
Sigrwart  hatte  auf  Kantischer  Lehre  fussend  in  Bezug  auf  die 
W^ahrnehmungsurteile  im  Einzelnen  zu  zeigen  versucht,  dass  eine 
CoDStatierung  von  Tatsachen  in  allgemeingiltiger  Weise  nur  auf 
^rund  von  allgemeinen  Gesetzen  erfolgen  könne.  Für  Rickert  ist 
lagregen  die  logische  Voraussetzung  einer  konstatierten  Tatsache 
lie  Kategorie  der  Gegebenheit  als  Akt  der  Anerkennung  eines 
Sollens,  welcher  lediglich  auf  individuelle  Inhalte  bezogen  werden 
Mum.  Es  dürfte  interessant  sein,  sich  die  Abweichung  Rickerts 
ron  Kant  in  Bezug  auf  die  Lehre  vom  Objektivität  verleihenden 
Prinzip  an  der  schon  vorhin  herangezogenen  Kantischen  Lehre 
ron  der  Konstituierung  einer  objektiven  Zeitfolge  zu  vergegen- 
irftrtigen.  Die  Behauptung,  dass  Jede  objektive  zeitliche  Ver- 
Lndemng  ein  kausal  bestimmter  Vorgang*'  sei,  bestehe,  meint  er, 
lann,  aber  auch  nur  dann  zu  Recht,  „wenn  die  notwendige  Auf- 
dnanderfolge  eines  Ereignisses  auf  das  andere  nicht  schon  eine 
{esetzmässige  Aufeinanderfolge  ist.^    Nun  scheint  diese  Behaup- 


»)  Sigwart,  Logik  ü,  S.  362.     \^h  M.  Wartenberg,  KSt.  V,  S.  1  ff. 
s)  Oegenst  d.  Erk.,  S.  200. 

KMHHMtto  XXU.  Ift 


386  N.  V.  Bubnoff, 

einer  Kritik  der  Kantischen  Lehre  zu  lösen; 
dass  jede  Zeitbestimmung   auf   der  Voraussei 
wahrgenommene    Zeitfolge    mit    der    objekti 
übereinstimme.     In   einzelnen  Fällen    könne 
dings  nicht  zutreffen;    sie   sei   also  korrigier 
ganz  bei  Seite  geschoben  werden,  weil  dies  je< 
unmöglich   machen   würde.      Die   Grundlage 
bestimmnng  bildet   nach  Sigwart   die  „empir 
Zeitreihe";  diese  sei  in  unserem  unmittelbarei 
inneren   Vorgänge   gegeben   und  absolut  gew 
Behauptung  müsse   daher  in  dem  Sinne  mod 
nicht   etwa  die  Succession    der  Vorgänge   m 
stattfinde,   sondern  dass  diese  bloss  erforderl 
Verhältnis   zwischen   dem    Eintritt   einer   Ve 
Wahrnehmung  in   allgemeingiltiger   Weise   z 
Kant  im  Recht,  so  „könnte  niemals  ein  zufäl 
dieren   zweier   von   einander   unabhängiger 
werden,**  sondern  die  Aufeinanderfolge  zweier 
Schusses   und   eines  Olockenschlages)   müsst( 
Kausalregel  stattfinden. 

Hier  wird  also  wieder  der  bekannte 
Kantische  Lehre  erhoben,  dass  sie  alles  F< 
verwandle,  während  Kant  doch  nur  behau] 
gang  irgend  ein  anderer  vorhergegangen  seil 
er  nach  einer  Eegel  erfolgte,  womit  noc 
ist,  dass  dies  der  unmittelbar  vorher  wa 
gang  war.*) 

Abgesehen  aber  davon,  bedeuten  die 
führungen  eine  ungerechtfertigte  Einschränl 
These  auf  einen  speziellen  Fall  der  zeitlic 
denjenigen  nämlich  eines  Vorgangs  und  d 
Nun  ist  doch  aber,  wie  Sigwart  selbst  : 
Zusammenhang  zwischen  einem  Vorgang  un 
desselben  ein  Teil  des  allgemeinen  Kausab 
es  ist  logisch  nicht  im  mindesten  zu  rechtfei 
in  diesem  besonderen  Fall  der  Succession  die  ] 
gelten  soll   und   in   den   anderen   Fällen   d< 


1)  Vgl.  Logik  II,  S.  363. 

^)  Vgl.  König,  Eutwtcklung  des  Kausalprobl 


Das  Wesen  und  die  VoraussetEungen  der  Induktion.  391 

ni. 

Das  Problem  der  Umkehrbarkeii  der  Naturgesetze. 
T  Begriff  der  Kausalgleichung.     ^Individuelle^  Kausalität. 

Die  Ânoahme  einer  gesetzmässigen  Ordnung  in  der  Er- 
leinnngswelt  hat  sich  uns  als  notwendige  Voraussetzung  der 
luktiven  Methode  erwiesen.  Sie  reicht  aber  nicht  aus,  sondern 
16  weit  speziellere  Voraussetzung  wird  erforderlich,  wenn  es 
h  um  eine  der  wesentlichsten  Aufgaben  der  naturwissenschaft- 
tien  Induktion,  am  die  Erforschung  der  das  Geschehen  beherr- 
lenden  Kausalgesetze  handelt.    Solange  das  induktive  Verfahren 

der  Richtung  von  der  Ursache  auf  die  Wirkung  stattfindet, 
^  die  Sache  verhältnismässig  einfach.  Wird  in  einer  Anzahl 
1  Fällen  beobachtet,  dass  ein  B  einem  A  succediert,  so  kann 
ter  Voraussetzung  der  Notwendigkeit  alles  Geschehens  ge- 
ilossen   werden,   dass   irgend   ein  Gesetz   dem  Eintreten  von  B 

Grunde  liegen  muss  ;  und  diese  Voraussetzung  wird  selbst  dann 
bt   umgeworfen,   wenn   die  Beobachtung  scheinbar  Fälle  zeigt, 

denen  trotz  des  Vorhandenseins  von  A  die  Veränderung  B 
ht  eintritt.  Um  diese  Differenz  zu  erklären,  läge  es  ja  viel- 
±t  am  nächsten,  die  oberste  Voraussetzung  der  Gesetzroässig- 
t  alles  Geschehens  einfach  aufzugeben  und  eine  regellose  Auf- 
anderfolge der  Erscheinungen  einzuräumen,  was  aber  offenbar 
ichbedeutend  wäre  mit  einem  Verzicht,  die  Wirklichkeit  zu  be- 
ifen.  „Die  Regel,  alles  als  Ursache  zu  eliminieren,  was  nicht 
es  Mal  einen  Erfolg  hervorbringt,  würde,  konsequent  angewendet, 
e  Gewinnung  von  Resultaten  auf  dem  Wege  der  Induktion  ver- 
)ln.-i) 

Daher  wird  die  Verschiedenheit  der  Wirkungen,  wenn  die- 
len Ursachen  vorliegen,  daraus  erklärt,  dass  entweder  die 
icbscheinenden  A  und  B  nicht  wirklich  gleich  sind  oder  mehrere 
lachen  durch  ihre  Konkurrenz  den  Effekt  modifizieren.  In  der 
',  ist  ja  auch  in  Wirklichkeit  eine  Veränderung  niemals  der 
le  und  ganze  Erfolg  einer  einzigen  einwirkenden  Ursache, 
dern  kommt  immer  durch  die  Kombination  mehrerer  unter  ver- 
iedenen  Umständen  verschieden  wirkender  Ursachen  zu  Stande. 
Nun  schliessen  wir  aber  induktiv  nicht  nur  von  dem  Vor- 
idensein  bestimmter  Ursachen  auf  das  Vorhandensein  bestimmter 
-kangen,   sondern  wir  vollziehen  regelmässig  auch  den  umge- 


1)  Sigwart,  Logik  U,  S.  498. 


392  N.  V.  Bubnoff, 

kehrten  Scbluss  yon  einer  bestimmten  Wirkung  auf  eine  bestimmte 
ürsacbe.    Ja  man  kann  sagen,  dass  gerade  diese  Schlüsse  zu  den 
wichtigsten  und  fruchtbarsten  in  dem  tatsächlichen  Wissenschafte- 
betrieb gehören.    Dabei  ist  aber  nicht  nur  die  Voraassetzung  gb- 
macht,   dass   gleiche   Ursachen   gleiche  Wirkungen,  sondern  aodi 
die  umgekehrte,  dass  nämlich  gleiche  Wirkungen  gleiche  Ursacheo 
haben.    Mit  anderen  Worten:   in   der  Richtung  von  der  Wirkmig 
auf  die   Ursache   kann   lediglich   unter  Voraussetzung   einer  ein- 
deutigen   gegenseitigen    Zuordnung    von    Zuständen    geschlofflen 
werden.    Ein  allgemeiner  Satz,  welcher  ein  derartiges  eindeotlges  i 
Eausalverhältnis   zum   Ausdruck   bringt,   ist   ein   strenges  Natto"  1 
gesetz   und   als   solches   umkehrbar.      Zu   einer   Umkebrang  der  1 
Naturgesetze   sind   wir   bei  weitem   nicht   immer   berechtigt,  fi  I 
liegt  hier  ein  schwieriges  Problem  vor.    Vor  allem  ist  darauf  Iub-  | 
zuweisen,  dass  nicht  alle  sog.  „Gesetze''  kausale  Beziehungen  zu 
Ausdruck   bringen.     Das   Wort    „Gesetz"    hat  eine  vielfache  Be 
deutung,    und    wir   bezeichnen  damit  Verhältnisse   von  sehr  Ter 
schiedenem     Erkeuntniswert.       Zwar     werden     darunter  ioiMr 
„dauernde  Regelmässigkeiten''  verstanden,  aber  der  Sinn  denelbei 
und   ihre  Tragweite,   der  Grad   der  Notwendigkeit,  welcher  ihoei 
zuerkannt    werden    darf,    ist    nicht   immer   ganz    leicht  zu  be- 
stimmen. 

Zu  den  Gesetzen  im  weiteren  Sinne  gehören  die  von  Sigwirt 
als  Beziehungsgesetze  bezeichneten  Sätze,  welche  den  Einfitt 
von  Umständen  auf  die  Wirkung  einer  bestimmten  Ursache  » 
sagen  (z.  B.  Wasser  siedet  auf  hohen  Bergen  bei  geringerer  Tel* 
peratur  als  in  der  Tiefe;  dasselbe  Pendel  schwingt  in  hohem 
Breiten  schneller  als  am  Äquator).  Dergleichen  Sätze  woDa 
feststellen,  dass  unter  ähnlichen  Bedingungen  ähnliche  ZosUak 
aufzutreten  pflegen;  sie  drücken  nur  die  konstante  Art  und  Wein 
aus,  wie  die  Dinge  sich  verhalten,  gewähren  aber  keinen  EiidAk 
in  den  kausalen  Zusammenbang  der  Erscheinungen.  Wohl  lasMi 
sie  sich  zum  Teil  auf  eigentliche  Kausalgesetze  zarfickfOhni. 
Es  giebt  aber  auch  solche,  bei  denen  auch  eine  derartige  Zniek* 
führnng  nicht  möglich  ist  (z.  B.  die  statistische  BegelmSssigM^ 
zum  Ausdruck  bringenden  Sätze). 

Auf  vielen  Gebieten   sind   wir  gezwungen,    mit  der 
tierung  solcher  empirischer  Regelmässigkeiten  vorlieb  zu 
weil  wir  infolge   der  grossen  Kompliziertheit  der  ZosammoiUV 
nicht  im   Stande   sind,   zu   den   einfachen  kausalen 


Das  Wesen  und  die  Voraosseteungen  der  Induktion.  393 

rzadringen,  welche  ihnen  za  Grunde  liegen.  Es  ist  ohne  Wei- 
es  klar,  dass  in  allen  diesen  Fällen  ein  Schluss  in  umgekehrter 
i^htung,  d.  h.  von  dem  Vorhandensein  gewisser  Zustände  anf 
reo  Bedingungen  ganz  unsicher  wäre.  Aber  auch  wo  ein  kau- 
les  Verhältnis  vorliegt,  ist  doch  der  Schluss  auf  die  ausnahms- 
;e  Zugehörigkeit  einer  bestimmten  Ursache  zu  einem  gegebenen 
fekt  nicht  ohne  Weiteres  statthaft;  ihm  steht  immer  die  Mög- 
takeit  entgegen,  ,,dass  aus  verschiedenen  Gründen  Gleiches, 
înigstens  für  uns  ünunterscheidbares  folge".  Das  Urteil  „wenn 
ist,  so  ist  B**  schliesst  das  andere  „nur  wenn  Â  ist,  so  ist  B^ 
cht  notwendig  ein.  Wenn  auch  noch  so  sicher  feststeht,  dass 
n  Schlag  mit  dem  Hammer  eine  Glocke  zum  Klingen  bringt 
1er  ein  Schuss  durchs  Herz  den  Tod  zur  Folge  hat,  so  gilt  eben 
^h  nicht  umgekehrt,  dass  eine  Glocke  nur  durch  einen  Hammer- 
biag  zum  Klingen  gebracht  werden,  und  ein  plötzlicher  Tod  nar 
blge  eines  Schusses  durchs  Herz  eintreten  kann. 

Sigwart  hat  es  unternommen,  an  der  Hand  von  Beispielen 
zeigen,  unter  welchen  Bedingungen  ein  Schluss  von  der  Wirkung 
^  die  Ursache  möglich  sei.  Es  stellt  sich  dabei  heraus,  dass 
solcher  um  so  wahrscheinlicher  wird,  je  grösser  der  Umfang 
t*  Erfahrung  ist  und  je  mehr  sich  die  Wirkung  spezialisiert, 
mer  aber  handelt  es  sich  dabei  um  einen  grösseren  oder  ge- 
^eren  Grad  von  Wahrscheinlichkeit,  niemals  ist  uns  die  Geltung 
)8  umgekehrten  Satzes  mit  absoluter  Sicherheit  gewährleistet, 
a  alles  Geschehen  ein  vollkommen  konkret  bestimmtes  ist,  so 
ithält  die  Ursache  eine  Anzahl  gleichgiltiger  Bestimmungen,  die 
^b  in  dem  Erfolge  in  keiner  Weise  ankündigen.  Wir  sind  also 
sht  im  Stande,  sie  in  ihrer  ganzen  Bestimmtheit  aus  dem  Er- 
ige zu  rekonstruieren.  Unter  Umständen  lässt  sich  nun  aber 
ßh  auf  Grund  des  vorgefundenen  Tatbestandes  die  Überzeugung 
winnen,  dass  ein  bestimmter  Erfolg  nur  von  einer  Art  von 
dingungen  herrühren  konnte.  Dieses  ist  zunächst  dann  der 
U,  wenn  unsere  Erfahrung  einen  sehr  grossen  Umfang  besitzt. 
9iin  wir  eine  Beihe  von  Spezialgesetzen  zusammenfassen,  so 
onen  wir  um  so  sicherer  sein,  ein  umkehrbares  Gesetz  aufge- 
illt  zu  haben,  je  umfassender  das  Gebiet  ist,  dem  wir  dieselben 
Uiehmen.  Dass  es  sich  dabei  aber  nie  um  vollkommene  Ge- 
ssheit,  sondern  immer  nur  um  Wahischeinlichkeit  handeln  kann, 
zh  wenn  unsere  Kenntnis  von  der  Wirkungsweise  der  tatsäcb- 
b    vorhandenen  Bedingungen  noch  so  umfassend  ist,  lässt  sich 


394  N.  V.  Bubnoff, 

an  einem  Beispiel  leicht  einleachtend  machen:  wir  beobachteo, 
dass  überall,  wo  Organismen  entstehen,  dies  auf  dem  Wege  der 
Fortpflanzung  geschieht.  Auch  die  scheinbaren  Ausnahmen  haben 
sich  für  eine  genaue  Beobachtung  eben  als  scheinbar  erwiesen, 
indem  auch  dort  Keime  entdeckt  worden  sind,  wo  solche  froher 
der  Beobachtung  entgangen  waren.  Der  ungeheure  ümftmg  un- 
serer Erfahrung  in  dieser  Richtung  scheint  uns  zu  der  Annahme 
zu  berechtigen,  dass  Organismen  nur  auf  diesem  Wege  entsteh» 
können.  Und  doch  ist  die  Gewissheit,  welche  diesem  Besnltate 
zuerkannt  werden  darf,  eine  bloss  relatiye.  Der  Umstand,  dnss 
bisher  nirgends  eine  Entstehung  von  Organismen  ohne  frühere 
Organismen  beobachtet  worden  ist,  berechtigt  noch  lange  nicht  a 
der  Behauptung,  dass  eine  Urzeugung  überhaupt  unmöglich  sei 
Dieser  negative  Satz  kann  durch  eine  noch  so  umfassende  Et- 
fahrung  nicht  begründet  werden. 

Aber  es  lassen  sich  Bedingungen  aufzeigen,  unter  denen  der 
Bückschluss  von  der  Wirkung  auf  die  Ursache  mit  noch  grösserer 
Sicherheit  vollzogen  werden  kann,  als  wenn  er  sich  lediglich  iif 
die  Übersicht  eines  grossen  Gebietes  gründet.  Wenn  uns  FRh 
dukte  entgegentreten  von  einem  ganz  bestimmten  spezifischei 
Charakter,  der  einer  grossen  Zahl  ähnlicher  Produkte  einer  ganzen 
Klasse  gemeinsam  ist,  dann  werden  wir  wohl  mit  grösster  Wata^ 
scheinlichkeit  diese  Produkte  auf  ähnliche  Bedingungen  zmà' 
führen  können.  Dergleichen  eigenartige  Gebilde,  als  da  siai 
Vogelnester,  Korallen  u.  s.  w.,  weisen  ganz  deutlich  auf  Dra 
Ursprung  hin,  und  wollten  wir  annehmen,  dass  sie  anderswoher 
kommen,  als  von  den  Tieren,  denen  sie  gewöhnlich  zugeschrieba 
werden,  so  müssten  wir  vollkommen  unbekannte  Ursachen  ib* 
nehmen,  was  der  schon  von  Newton  mit  Becht  angestellten  Begd 
zuwider  wäre,  dass  man  bei  einer  Erklärung  nur  auf  soldie  U^ 
Sachen  rekurrieren  solle,  deren  tatsächliches  VorkommeD  be- 
kannt sei. 

Auch  dann  kann  die  Umkehrung  eines  auf  induktivem  Wep 
gewonnenen  Resultates  mit  der  höchsten  Wahrscheinlichkeit  toB- 
zogen  werden,  wenn  der  Erfolg  eine  spezifische  Eombinatitt 
vieler  von  einander  unabhängiger  Merkmale  bildet  Wenn  0 
nämlich  aus  der  Erfahrung  eine  Ursache  bekannt  ist»  durch  wdeh 
gerade  diese  bestimmte  Kombination  notwendig  r».  Stande  kotft^ 
so  ist  ja  von  vorneherein  im  höchsten  Qrade  nwahrscheiDlkk 
dass   genau  die  gleiche  Kombination  auch  von     ler  andtf^  ^ 


Das  Wesen  und  die  VoraassetEongen  der  Indoktion.  395 

sache  herriihreD  könne.  So  lehrt  uns  die  Erfahrung  bei  der 
Spektralanalyse,  dass  von  den  uns  bekannten  irdischen  Stoffen 
jeder  ein  ihm  eigentümliches  Spektrum  zeigt  Nun  sind  wir,  wie 
wohl  angenommen  werden  kann,  im  Besitz  einer  annähernd  er- 
schöpfenden Kenntnis  der  irdischen  Stoffe.  Diese  berechtigt  uns 
zu  dem  Schluss,  dass,  wo  ein  bekanntes  Spektrum  auftritt,  auch 
der  ihm  eindeutig  zugeordnete  Stoff  vorhanden  sein  muss.  An 
sich  wäre  es  nun  freilich  gar  nicht  ausgeschlossen,  dass  sich  in 
der  Welt  zwei  Stoffe  befänden,  die  gleiche  Spektra  zeigten;  aber 
da  die  Anzahl  der  Kombinationen  einzelner  Ldnien  im  Spektrum 
unabsehbar  gross  ist,  so  ist  es  in  hohem  Masse  unwahrscheinlich, 
dass  Spektra,  die  von  verschiedenen  Stoffen  herrühren,  vollständig 
zusammenfallen  sollten.  Dennoch  kann  auch  in  diesem  Fall  der 
Schluss  keine  absolute  Gewissheit  beanspruchen.  Nur  dann,  wenn 
die  Zusammenhänge  so  kompliziert  werden,  dass  eine  Wiederholung 
der  gleichen  Fälle  ausgeschlossen  ist,  wenn  das  Geschehen  ein 
streng  individuelles  Gepräge  erhält,  wie  dies  in  der  Geschichte 
der  Fall  ist,  können  Ursache  und  Wirkung  einander  eindeutig  zu- 
geordnet werden. 

Es  ist  also  ganz  klar,  dass  wir  —  mit  Ausnahme  des  letz- 
teren Grenzfalles  —  keine  Garantie  für  die  vollkommene  Sicherheit 
der  Umkehrung  eines  Naturgesetzes  ausfindig  machen  können. 
Nur  solche  Naturgesetze,  die  elementare  Kausalverhältnisse  zum 
Ausdruck  bringen,  würden  ohne  weiteres  eine  Umkehrung  gestatten, 
weil  eben  in  ihnen  die  gegenseitige  Zuordnung  von  Ursache  und 
Wirkung  eindeutig  wäre. 

Es  liegt  nun  nahe,  hier  an  den  Begriff  der  Kausalgleichung 
zu  denken  und  zu  meinen,  dass  die  Umkehrung  eines  Kausal- 
gesetzes nur  dann  möglich  sei,  wenn  dieses  sich  in  die  Form 
einer  quantitativen  Gleichung  bringen  lasse. 

Ohne  nun  hier  eine  Lösung  des  viel  umstrittenen  Kausal- 
problems  anzustreben,  müssen  wir  doch  in  diesem  Zusammenhang 
anf  den  Begriff  der  Kausalgleichung  näher  eingehen  und  greifen 
za  diesem  Zweck  etwas  weiter  aus. 

Es  ist  ein  entscheidender  Fortschritt  in  der  Entwickelung 
des  Kausalproblems  gewesen,  als  man  zur  Einsicht  gelangte,  dass 
das  logisch-analytische  Verhältnis  des  Grundes  zur  Folge  von  dem 
real-synthetischen  der  Ursache  zur  Wirkung  scharf  gesondert 
werden  müsse.  Bekanntlich  war  es  ein  Dogma  des  Rationalismus, 
dass  sich  alle  realen  Beziehungen  restlos  in  logische  müssten  auf- 


380  N.  V.  Bubnoff, 

dieser  Erkenntnis  ist,  die  zu  erkennende  Wirklichkeit  so  anr  'ter 
allgemeine  Begriffe  zu  bringen,  dass  diese  sich  dnrch  die  VerliSBIt- 
nisse  der  Unter-  und  Überordnung  zu  einem  einheitlichen  Syst-^^m 
zusammenscbliessen,  und  man  wird  dabei,  wo  es  angeht,  da — ^h 
solchen  Begriffen  streben,  deren  Inhalt  unbedingt  allgemein  ^^% 
die  zu  untersuchenden  Objekte  gilt.  Wo  diese  Erkenntnis  fjB*rû- 
lungen  ist,  da  bat  man  das  erfasst,  was  man  die  Gesetze  d.  ^«er 
Wirklichkeit  nennt''. ^)  Von  diesem  Gesichtspunkt  aus  betracht^-«et 
sind  die  Naturgesetze  weiter  nichts  als  Werkzeuge,  deren  si« 
unser  endlicher  Verstand  bedient,  um  der  Wirklichkeit  Herr 
werden;  sie  werden  auf  teleologischem  Wege  postuliert,  indem  gE"e- 
zeigt  wird,  dass  die  Naturwissenschaft  nur  mit  ihrer  Hilfe  ^Ue 
ihr  eigentümliche  Aufgabe  zu  lösen  vermag. 

Wir  fragen  nun  aber,  unter  welchen  Bedingungen  allgemeS^Ji- 
giltige  Aussagen  über  die  Wirklichkeit  gemacht  werden  kOnner::ai; 
oder  bestimmter,  wie  beschaffen  die  Wirklichkeit  gedacht  werd«^n 
muss,  um  die  Bildung  von  Gesetzesbegriffen  zu  ermöglichen. 

Die  Theorie  Rickerts  sagt  uns,  dass,  wenn  es  so  etwas  iH^e 
naturwissenschaftliches  Erkennen  überhaupt  geben  soll,  dann  am-^^ 
gewisse  Urteile  von  unbedingter  Geltung,  welche  über  die  Widert- 
lichkeit  etwas  aussagen,  vorhanden  sein  müssen:  „Wir  nehn»- 
an,  dass  whr  nicht  nur  empirisch  allgememe,  sondern  auch  onl 
dingt  allgemeine  Urteile  zu  bilden  im  Stande  sind,  d.  h.  ürte^^®« 
die  für  alle  Vorgänge  und  Dinge  gelten,  wo  und  wann  ai^  ^ 
immer  sie  sich  finden  mögen.^*) 

unter  welchen  Bedingungen  sind  wir  nun   aber  zu  die 
Annahme  berechtigt? 

Bei  der  Auffassung,  welche  Rickert  von  dem  Verhiltnis 
Denken  und  Wiridichkeit  hat,  scheint  ja  diese  Annahme 
ausgeschlossen  zu  sein,     ürgiert  man  nftmlich  den  Satz  von 
totalen  Irrationalit&t  der  Wirklichkeit,  so  ist  gar  nicht  mehr 
zusehen,  wie  es  die  Naturgesetze  anfangen  sollen  von  der  Wi^^' 
lichkeit  zu  gelten.     Wohl  ist  es  richtig,   dass  „vor  jeder 
achtung  die  Möglichkeit   ausser  Zweifel  stehen  muss,  auf  Gr 
des  Erfahrenen   etwas  über  Unerfahrenes  zu  wissen,   wenn  ä- 
Suchen  nach  Naturgesetzen  einen  Sinn  haben  soU^  and  dass, 
lange  überhaupt  Naturwissenschaft  getrieben  werden  soll, 

i>  Riekert,   Qeschichtiphüotcqiihie.      FetlMhrift   fOr  Kqbo 
Bd.  n,  8.  64. 

S)  Orensen  d.  n.  B.,  S.  6^ 


Das  Wesen  und  die  Voraussetzungen  der  Induktion.  397 

S  entschiedenste  bestritten  worden  von  all  den  Theorien,  welche 
Kausalität  auf  Identität  zurückführen  wollen.  Die  Entdeckung 
Wärmeäquivalents  durch  R.  Mayer  und  die  dadurch  veran- 
ste  Aufstellung  des  Energiegesetzes  hat  den  Begriff  der  Kausal- 
ichung  aufgebracht.  Es  wurde  behauptet,  dass  nur  eine  quan- 
ktive  Gleichung  ein  sicheres  Kriterium  für  das  Vorhandensein 
er  kausalen  Beziehung  sei;  dass  lediglich  durch  den  „roten 
den^  quantitativer  Übereinstimmung  Veränderungen  aneinander 
[ettet,  Kausalzusammenhänge  festgestellt  werden. 

„Die  Grössenäquivalenz  ist  damit  das  entscheidende  Kriterium 
es  Kausalverhältnisses  und  setzt  daher  unseren  Untersuchungen 
^h  dem  Zusammenhang  der  Veränderungen  ihr  eigentliches  Ziel. 
B  wir  von  der  Vermutung  eines  Kausalverhältnisses  auf  die 
;wendigkeit  einer  quantitativen  Gleichung  der  betreffenden 
eder  desselben  schliessen,  so  können  wir  umgekehrt  von  dem 
ttfinden  jener  quantitativen  Übereinstimmung  auf  das  Vor- 
idensein  eines  Kausalzusammenhanges  schliessen.  Alle  Kausal- 
ammenhänge  sind  darum  Grössen-Gleichheits-Kombinationen  von 
:iUiderungen  ;  alle  solche  quantitativen  Beziehungen  der  letz- 
en deuten  auf  Kausalverhältnisse  der  Erscheinungen  hin.^^) 

Der  alte  Rationalismus  erscheint  in  dieser  Theorie  wieder  in 
lemem  Gewand.  Sieht  doch  Riel  in  der  Kausalität  geradezu 
B  „Anwendung  des  Identität^prinzips  auf  die  Zeit""  und  defi- 
rt  die  Ursache  als  „die  Summe  oder  den  Teil  der  gleichviel  ob 
oittelbaren  oder  mittelbaren  positiven  oder  negativen  Ânte- 
«Qtien,  aus  denen  auf  begreifliche  (log.  giltige)  Weise  auf  die- 
ige  Summe  oder  denjenigen  Teil  der  in  der  Zeit  folgenden 
stände  geschlossen  werden  kann,  die  wir  zufolge  dieses 
Busses  in  Bezug  auf  die  Ântecedentien  Wirkung  nennen. ^^ 
E  die  Scblussoperation,  durch  welche  das  Folgende  aus  dem 
rhergehenden  entwickelt  wird,  kommt  es  also  danach  an:  diese 
istituiert  die  kausale  Beziehung.  „Der  Nachdruck  der  Kausa- 
U  liegt  in  der  Möglichkeit,  die  Vorgänge,  welche  zeitlich  gö- 
nnt sind,  durch  einen  Schluss  zu  verbinden.*'^ 


^)  Hickson,  Der  Kausalbegriff  in  der  neueren  Philosophie  und  in  den 
tanKdssenschaften.    Vierteljahrsschr.  f.  wiss.  Philos.   XXV.  Jahrg.  S.  448. 

*)  Riehl,  Kausalität  und  Identität  Vierte^ahrsschr.  f.  wias.  Philos. 
Fahrg.,  8.  872  ff. 

»)  Ibid.  S.  378. 


398  N.  V.  Bubnoff, 

Hume,  „welcher  bis  zam  Überdross  die  Bebaaptang  wiederholt, 
dass  die  Wirkung  etwas  von  ihrer  Ursache  gänzlich  Verschiedenes 
sei"  (Hickson),  wird  zurechtgewiesen,  und  ihm  wird  vorgeworfen, 
dass    er    die    logischen    und    mathematischen  Bestimmungen  des 
Eausalverhältnisses  ganz  und  gar  verkenne.    Demgemftss  wird  dib 
auch  überall  dort,  wo  die  Erscheinungen  keine  mathematische  Be- 
handlung zulassen,  ein  quantitatives  Verhältnis  zwischen  denselben 
nicht   ermittelt  werden  kann,  eine  kausale  Beziehung    einfach  ge- 
leugnet.   Vor  allem  wird  eine  Wechselwirkung  zwischen  physischen 
und    psychischen    Vorgängen    für    unmöglich    erklärt,    weil  sich 
letztere  eben  nicht  quantifizieren  lassen.    Alle  Versuche,  die  psy- 
chischen Phänomene   einer  zahlenmässigen  Behandlung  zugänglich 
zu  machen,  sind  bisher  fehlgeschlagen.     Sogar  bei  dem  einfachen 
Verhältnis  zwischen  Reiz  und  Empfindung  ist  dies  nicht  gelungen. 
Infolgedessen  stellte   man  die  Möglichkeit  einer  pgychophysischen 
Kausalität  überhaupt  in  Abrede  und  versuchte  es,   die  scheinbare 
zwischen  physischen  und  psychischen  Vorgängen  durch  die  Theorie 
des  psychophysischen  Parallelismus  zu  erklären.    Nun  hat  aber 
Rickert  unwiderleglich  nachgewiesen,  dass  die  Theorie  des  psycho- 
physischen Parallelismus,   falls   sie  nicht  etwa  bloss  als  Arbeits- 
hypothese, sondern  als  Ersatz  für  die  psychophysische  Eausalitit 
in   Betracht  kommt,    entweder    vollkommen    undurchführbar  A 
wenn  man  nämlich  an  den  Voraussetzungen  festhalten  will,  welche 
die   Aufstellung  derselben  veranlasst  haben,   oder,   da   mit  ihrer 
Durchführung  diese  Voraussetzungen  notwendig  wegfallen,  fibe^ 
flüssig   wird.    Es   ist  also  wenigstens  auf  diesem  Gebiet  dar  Be- 
griff einer  Eausalungleichung  gar  nicht  zu  vermeiden,   da  Qlààr 
heit    offenbar    nur    im    Sinne    einer    partiellen     Identität  der 
gleichzusetzenden   Glieder  oder  ihrer  Zurückführbarkeit  anf  eâ 
gemeinsames  Mass  verstanden  werden  kann,   und  weder  das  eme, 
noch  das  andere  für  die  Eausalbeziehungen  psychophysischer  oder 
rein  psychischer  Art  zutrifft.    „Überall,  wo  Ursache  und  Wirina; 
weder  als  inhaltlich  identisch,   noch  als  rein  quantitativ  besthuB- 
bare   Grössen    dargestellt   werden  können,    hat  es  auch  kebei 
Sinn,    von    einer   Gleichheit   der   Ursache    mit   dem   Effekt  fl 
sprechen.**^) 

Man   kann    aber  noch   einen   Schritt  weiter  tun  und  dea 
Begriff  der  Eausalgleichung  überhaupt  in  Frage  stellen.    Es  ist 

*)  Rickert,    Psychophys.    Kausalität    und    psydiophys.    PwiDd» 
mua,  S.  83. 


Das  Wesen  und  die  Voraussetzungen  der  Induktion.  399 

natürlich  zuzugeben,  dass  gewisse  Vorgänge  (die  mechanischen) 
eine  grössere  Einfachheit  und  Durchsichtigkeit  besitzen,  vermöge 
derer  sie  uns  im  höchsten  Grade  begreiflich  erscheinen.  Wie 
diese  „ Begreif lichkeit*"  mit  der  wachsenden  Kompliziertheit  der 
Erscheinungen  abnehme  und  die  Eausalverhältnisse  sich  dement- 
sprechend in  immer  tieferes  Dunkel  zu  hüllen  scheinen,  hat 
Schopenhauer  in  sehr  hübscher  Weise  ausgeführt,  i)  Man  darf 
sich  aber  durch  das  Wort  „Begreiflichkeit''  nicht  irreleiten  lassen. 
Anch  bei  den  für  uns  so  durchsichtigen  mechanischen  Vorgängen 
ist  die  „Begreiflichkeit''  keine  logisch-analjrtische,  sondern  hängt 
lediglich  von  ihrer  anschaulichen  Einfachheit  ab.  „Überall,  wo  es 
nns  nach  dem  Beispiel  Galileis  gelingt,  die  stets  zusammengesetzten 
Vorgänge  in  der  Natur  hinlänglich  weit  zu  zerlegen,  treffen  wir 
schliesslich  auf  Verhältnisse  so  einfacher  Art,  dass  sie  unserem 
Denken,  nachdem  sie  einmal  entdeckt  sind,  eben  vermöge  dieser 
£2infachheit  als  notwendig  erscheinen."')  Es  wäre  a  priori  gar 
nicht  vorauszusagen,  was  aas  dem  Zusammenstoss  zweier  Billard- 
kugeln erfolgen  wird,  falls  man  darüber  nicht  schon  darch  frühere 
Erfahrungen  belehrt  wäre.  Die  Übertragung  der  Bewegung  auf 
die  ruhende  Kugel  lässt  sich  aus  der  Ursache  (dem  Zusammen- 
stoss) keineswegs  deduzieren;  und  in  dieser  Übertragung  besteht 
eben  doch  der  eigentlich  kausale  Vorgang.  Insofern  ist  es  nicht 
richtig,  „dass  die  Möglichkeit  einer  mathematischen  Behandlung 
der  Bewegungsvorgänge  uns  gestattet,  die  Wirkung  mit  Sicherheit 
aus  ihren  Ursachen  oder  Bedingungen  zu  deduzieren  und  wiederum 
aus  der  ersteren  die  letztere  zu  gewinnen."')  Können  wir  doch 
keinen  begreiflichen  Grund  defür  angeben,  dass  z.  B.  Reibung 
das  eine  Mal  Wärme,  das  andere  Mal  aber  Elektrizität  erzeugt. 
Wir  können  nur  sagen,  dass,  wenn  das  eine  oder  das  andere  ein- 
tritt, es  immer  in  bestimmten  quantitativen  Verhältnissen  ge- 
schieht, welche  auf  experimentellem  Wege  festgestellt  worden  sind. 
Dass  die  quantitative  Bestimmung  der  Vorgänge  eine  em- 
pfindliche Probe  giebt  für  die  Richtigkeit  des  Gesetzes,  unter 
welches  sie  fallen,  ist  unbestreitbar.  Es  genügt  nicht,  im  Allge- 
meinen den  Satz  aufzustellen,  dass  etwa  Chinin  das  Fieber  herab- 


1)  Werke  (Griesebach),  Bd.  m,  S.  28ö  ff. 

^  Riehl,  Ober  d.  Begr.  d.  Wissenschaft  bei  Galilei.  Vierteljahnschr. 
f.  w.  Ph.,  Bd.  17. 

^  Hickson,  Der  Kausalbegriff  in  der  n.  Philos.  VierteijjabrBschr.  f. 
wiM.  Philos.,  XXIV.  Jahrg.,  S.  478. 


400  N.  V.  Bubnoff, 

setzt  und  Arsenik  tötet,  sondern  es  kommt  eben  auf  die  Dosis 
an.^)  Mit  anderen  Worten:  wenn  wir  es  mit  messbaren  Vor- 
gängen zu  tun  haben,  so  muss  die  Wirkung,  sofern  sie  messbar 
ist,  eine  mathematische  Funktion  der  Ursache  sein,  und  diese 
mathematische  Relation  muss  in  dem  betreffenden  Kausalgesetz 
zum  Ausdruck  gelangen.  Aber  damit  ist  noch  gar  nicht  gesagt, 
dass  „alle  Kausalgesetze  die  Form  von  quantitativen  Gleichnoges 
annehmen  müssen."  Vielmehr  hängt  das  lediglich  dayon  ab,  ob 
diejenigen  Vorgänge,  von  denen  das  Kausalgesetz  gelten  soll, 
messbar  sind.  Es  ist  also  sozusagen  die  Möglichkeit  einer  mathe- 
matischen Formulierung  dem  Kausalgesetz  als  solchem  zaffillig, 
und  es  ist  infolge  dessen  eine  zu  enge  Begriffebestimmung,  weno 
man  die  Naturgesetze  definiert  als  die  in  Quantitätsbestimmong» 
ausdrückbaren,  zwischen  den  veränderlichen  Erscheinungen  der 
Natur  unveränderlich  geltenden  Beziehungen.^)  Oiebt  es  doch 
Gesetzeswissenschaften,  deren  Material  sich  einer  Quantifikatioo 
vollständig  entzieht  wie  die  Psychologie.  Vielmehi-  liesse  sidi 
behaupten,  dass  die  sog.  Kausalgleichungen,  insofern  sie  Oleichnng« 
sind,  die  spezifisch  kausalen  Beziehungen  zwischen  den  Vorgängen 
gar  nicht  zum  Ausdruck  bringen  und,  insofern  sie  letzteres  too, 
eben  keine  Gleichungen  sind. 

Wenn  es  also  zunächst  scheinen  könnte,  dass  die  Umkehr- 
burkeit  eines  Naturgesetzes  davon  abhänge,  ob  es  sich  dazu  eigne, 
die  Form  einer  quantitativen  Gleichung  anzunehmen,  da  ja  die 
Glieder  einer  solchen  ohne  weiteres  vertauschbar  sind,  so  dürfte 
aus  den  obigen  Überlegungen  dennoch  hervorgehen,  dass  eine  eb- 
deutige  Zuordnung  von  Ursache  und  Wirkung  keineswegs  von  der 
Möglichkeit  einer  Quautifikation  derselben  abhängig  gemadit 
werden  darf,  da  diese  kein  für  die  Kausalverhältnisse  als  soldte 
wesentliches  Moment  ist. 

Somit  erweist  sich  die  Kausalität  gerade  in  der  vollen  quali- 
tativen Wirklichkeit  als  einheimisch  und  ist  ein  Eansalverhältnis 
als  solches  immer  eine  Kausalungleichung.  Nur  darf  man  das 
Moment  der  Gesetzmässigkeit  nicht  ebenfalls  ausscheiden  woUeo; 
denn  trennt  man  dieses  auch  los,  so  bleibt  etwas  ganz  Unanssag- 
bares  übrig,  wofür  man  sich  nur  noch  auf  ein  Elrlebnis  bemta 
kann,    und   was  sich  logisch  in  keiner  Weise  mehr  fixieren  Usst 

1)  Vgl.  Sigwart,  Logik  H,  S.  488. 

^)  Hickson,  Der  Kausalbegriff  in  der  n.  Philos.  Vierte^ahisschr.  i 
wiss.  Phüos.,  XXV.  Jahrg.,  S.  87. 


Das  Wesen  und  die  VoraussetKungen  der  Induktion.  401 

enn  logisch  fixieren  lässt  sich  jeder  Kausalzusammenhang  eben 
ir  durch  das  Schema  des  „überall  und  immer '^y  und  deshalb  hat 
ich  „alle  Wirksamkeit  immer  die  logische  Form  und  die  erkennt- 
stheoretische  Bedeutung  der  Gesetzmässigkeit ''•O 

Die  Ausscheidung  des  gesetzlichen  Faktors  aus  der  Kategorie 
)r  Kausalität  hält  Simmel  für  eine  mit  Rücksicht  auf  psycho- 
tische Strukturverhältnisse  bedeutsame  Denkmöglichkeit.  Der 
Bgriff  der  „individuellen  Kausalität",  welcher  sich  dabei  ergiebt, 
heint  ihm  ganz  besonders  geeignet  zu  sein  zur  Lösung  des  Pro- 
ems, wie  sich  die  Kausalität  mit  dem  scheinbar  gesetzlosen 
echsel  unseres  Seelenlebens  vereinigen  lasse.  Diese  individuelle 
ausalität  kann  auch  als  Orenzfall  der  Kausalgesetzlichkeit  ge- 
icbt  werden  in  der  Weise,  dass  sich  in  ihr  die  unbegrenzte 
iltigkeit  des  naturgesetzlichen  Kausalinhalts  zu  einer  einmaligen 
irkung  zusammengezogen  hat.  Erkennbar  wäre  sie  freilich 
cht.  Die  Erkennbarkeit  und  wissenschaftliche  Verwendbarkeit 
T  Kausalität  ist  bedingt  durch  die  Wiederholbarkeit  der  Kausal- 
ihen.  Trotzdem  könnte  individuelle  Kausalität  in  der  Wirklich- 
st bestehen. 

Es  ist  nun  allerdings  richtig,  dass  der  Aufstellung  von  psy- 
ologischen  Gesetzen  sehr  grosse  Schwierigkeiten  im  Wege  stehen. 
fts  liegt  an  der  Eigentümlichkeit  des  vorliegenden  Materials, 
dlches  sich  in  beständigem  Fluss  befindet.  Das  seelische  Ge- 
hehen bietet  sich  uns  dar  als  ein  „zeitlich  wandelbarer  Gesamt- 
»mplex'',  und  es  fehlt  das  Hilfsmittel  der  räumlichen  Abgrenzung, 
Biches  uns  bei  der  Untersuchung  des  äusseren  Geschehens  zu 
dbote  steht.  Der  unaufhörliche  Wandel  der  psychischen  Er- 
heinungen  und  die  Veränderlichkeit  der  Subjekte  erschweren  die 
3rgleichung  in  hohem  Grade.  Unter  diesen  Umständen  kann  es 
cht  Wunder  nehmen,  dass  exakte  Gesetze  bisher  nicht  gefunden 
id.  Denn  dass  die  sog.  Assoziationsgesetze  keine  „Gesetze"'  in 
rengem  Sinne  sind,  ist  ohne  weiteres  klar,  weil  sie  sich  als 
Iche  widersprechen.*)  Wohl  aber  müssen  ihnen  Gesetze  zu 
runde  liegen,  nur  dass  wir  infolge  der  grossen  Kompliziertheit 
T  Zusammenhänge  nicht  in  der  Lage  sind,  dieselben  aufzu- 
ßisen.  Denn  wollte  man  die  gesetzmässigen  Zusammenhänge 
if  psychologischem  Gebiete  in  Abrede  stellen,  so  wäre  hier  dem 


1)  Windelband,  Präludien,  m.  Aofl,  S.  311. 
s)  Vgl.  Sigwart,  Logik  n,  S.  568. 


396  N.  V.  Bubnoff, 

lösen  lassen  and  dass  folglich  ein  Eansalverhältnis  nor  dort  T0^ 
liege,  wo  dasselbe  logisch  vollständig  begreiflich  sei,  ^o  & 
Wirkung  schon  in  der  Ursache  enthalten  sei  und  auf  rem  syllo* 
gistischem  Wege  aus  ihr  entwickelt  werden  könne.  Durch  die 
grosse  Einfachheit  der  mechanischen  Vorgänge  irregeleitet,  nahn 
man  an,  dass  die  Kausalzusammenhänge  auf  diesem  Gebiet  gioz- 
lich  analytischer  Natur  seien. 

Die  Irrtümlichkeit  dieser  Ansicht  haben  zuerst  die  Occasio- 
nisten  eingesehen.  Sowohl  Oenlincx  als  auch  Malebranebe 
haben  die  logische  Begreiflichkeit  zunächst  der  psycho- 
physischen,  dann  aber  auch  der  physischen  Kausalität  abge- 
sprochen.^) 

Femer  hat  Joseph  Olanvil  darauf  hingewiesen,  dasswff 
ein  ursächliches  Verhältnis  niemals  aus  unmittelbarer  Anschaunog 
kennen,  sondern  dass  wir  dasselbe  immer  erst  erschliessen,  ind« 
wir  das  post  hoc  in  ein  propter  hoc  umdeuten;  dass  aber  dieser 
Schlnss  Yon  einer  zeitlichen  Folge  auf  ein  kausales  Wirken  keiiM- 
wegs  zwingend  sei.*) 

In  entscheidender  Weise  hat  dann  Hume  den  synthetisehai 
Charakter  des  Kausalverhältnisses  hervorgehoben;  immer  wieder 
sucht  er  diese  wichtige  Einsicht  in  seinen  Schriften  einzuscbirfen, 
immer  wieder  betont  er,  dass  Alles  die  Ursache  von  Allem  seil 
könne,  und  dass  wir  niemals  in  der  Lage  sein  würden,  eiiMi 
Grund  dafür  ausfindig  zu  machen,  weshalb  ein  Ding  die  Umekt 
eines  anderen  sem  oder  nicht  sein  könne.")  Ja,  er  giebt  diesei 
Oedanken  sogar  eine  paradoxe  Zuspitzung,  indem  er  behanpteli 
„dass  der  Fall  eines  Kieselsteines,  soviel  wir  wissen,  die  Sobh 
auslöschen,  oder  der  Wunsch  eines  Menschen  die  Planeten  in  ibv 
Bahn  beherrschen  könne"/) 

Der  Satz  der  Humeschen  Kausalitätstheorie,  der  deniii' 
gischen  Charakter  der  kausalen  Beziehung  1>ehaiiptet9  dürfte  ik' 
ein  dauerndes  Ergebnis  betrachtet  werden.    Trotzdem  ist  deiselki 

*)  Windelband,  Gesch.  der  n.  Phüos.  Bd.  I.  S.  199  fi  und  8481 
König,  Entwicklung  des  Kausalproblems,  Bd.  I,  S.  61. 

«)  Greenslet,  J.  Glanvü,  N.  Y.  1900,  S.  104  ff. 

^  Treatise  on  hum.  nat.  S.  306.  „I  have  inferred  from  these  pm- 
ciples,  that  to  consider  the  matter  a  priori,  any  thing  may  prodnee  ttt! 
thing,  and  that  we  shaU  never  discover  a  reason,  why  any  olgeet  BtfJ  * 
may  not  be  cause  of  any  other,  however  great  however  iittte  At 
resemblance  may  be  betwixt  them.** 

^)  Essay  on  hum.  underst.,  S.  135. 


... 


Das  Wesen  und  die  Voraussetznngen  der  Induktion.  397 

3  entschiedenste  bestritten  worden  von  all  den  Theorien,  welche 
Kausalität  auf  Identität  zurückfahren  wollen.  Die  Entdeckung 
Wärmeäquivalents  durch  R.  Mayer  und  die  dadurch  veran- 
te  Aufstellung  des  Energiegesetzes  hat  den  Begriff  der  Kausal- 
chung  aufgebracht.  Es  wurde  behauptet,  dass  nur  eine  quan- 
tive  Gleichung  ein  sicheres  Kriterium  für  das  Vorhandensein 
»r  kausalen  Beziehung  sei;  dass  lediglich  durch  den  „roten 
len^  quantitativer  Übereinstimmung  Veränderungen  aneinander 
ettet,  Kausalzusammenhänge  festgestellt  werden. 

„Die  Orössenäquivalenz  ist  damit  das  entscheidende  Kriterium 
3s  Kausalverhältnisses  und  setzt  daher  unseren  Untersuchungen 
h  dem  Zusammenhang  der  Veränderungen  ihr  eigentliches  Ziel. 
3  wir  von  der  Vermutung  eines  Kansalverhältnisses  auf  die 
wendigkeit  einer  quantitativen  Gleichung  der  betreffenden 
9der  desselben  schliessen,  so  können  wir  umgekehrt  von  dem 
ttfinden  jener  quantitativen  Übereinstimmung  auf  das  Vor- 
densein  eines  Kausalzusammenhanges  schliessen.  Alle  Kausal- 
stmmenhänge  sind  darum  Grössen-Gleichheits-Kombinationen  von 
änderungen;  alle  solche  quantitativen  Beziehungen  der  letz- 
in  deuten  auf  Kausalverhältnisse  der  Erscheinungen  hin.^^) 

Der  alte  Rationalismus  erscheint  in  dieser  Theorie  wieder  in 
lemem  Gewand.  Sieht  doch  Riel  in  der  Kausalität  geradezu 
\  „Anwendung  des  Identitätsprinzips  auf  die  Zeit"*  und  defi- 
t  die  Ursache  als  „die  Summe  oder  den  Teil  der  gleichviel  ob 
littelbaren  oder  mittelbaren  positiven  oder  negativen  Ânte- 
3ntien,  aus  denen  auf  begreifliche  (log.  gilüge)  Weise  auf  die- 
ge  Summe  oder  denjenigen  Teil  der  in  der  Zeit  folgenden 
stände  geschlossen  werden  kann,  die  wir  zufolge  dieses 
lasses  in  Bezug  auf  die  Antecedentien  Wirkung  nennen.  ^^) 
die  Schlussoperation,  durch  welche  das  Folgende  aus  dem 
hergehenden  entwickelt  wird,  kommt  es  also  danach  an:  diese 
stituiert  die  kausale  Beziehung.  „Der  Nachdruck  der  Kausa- 
b  liegt  in  der  Möglichkeit,  die  Vorgänge,  welche  zeitlich  ge- 
int sind,  durch  einen  Schluss  zu  verbinden.*") 


^}  Hickson,  Der  Kaosalbegriff  in  der  neueren  Philosophie  und  in  den 
irwissenschaften.    Vierteljahrsschr.  f.  wiss.  Pliilos.   XXV.  Jahrg.  S.  448. 

*)  Riehl,  Kausalit&t  und  Identität.  Vierte^jahrsschr.  f.  wiss.  Phüos. 
ahrg.,  S.  872  iL 

»)  Ibid.  S.  878. 


402  N.  V.  Bubnoff, 

induktiven  Verfahren  seine  Orundvoranssetzung  entzogen;  auch 
müssten  wir  dann  auf  Psychologie  als  Wissenschaft  Verzicht 
leisten.  Da  nun  aber  die  Darlegung  Simmeis  bloss  eine  Denk- 
möglichkeit  entwickelt,  welcher  eine  andere  mindestens  gleidh 
berechtigte  gegenübersteht,  so  dürfen  wir  wohl  diejenige  bevor- 
zugen, welche  sich  vom  Gesichtspunkt  der  Methodenlehre  ab 
zweckmässiger  erweist. 

In  anderer  Weise  sucht  Bickert  den  Qedanken  einer  iDdi- 
viduellen  Kausalität  einzuführen.  Die  Motive,  welche  ihn  daza 
veranlassen,  sind  schon  erwähnt  worden.  Der  Umstand,  dass 
nach  seiner  Auffassung  die  Wirklichkeit  als  individuell  gedacht 
werden  muss  in  dem  Sinne,  dass  jeder  Wirklichkeitsinhalt  vob 
jedem  anderen  verschieden  ist,  dass  also  die  Formen,  durch  welche 
diese  Wirklichkeit  konstituiert  ist,  die  eigentlichen  Weltkategorien, 
keine  „begrifflichen"  Formen,  sondern  „blosse''  Formen  sind, 
welche  nur  auf  individuelle  Inhalte  bezogen  werden  könneo, 
bringt  es  mit  sich,  dass  auch  die  Kausalität,  falls  sie  zu  den 
Wirklichkeitsformen  gerechnet  werden  soll,  individuell  sein,  das 
mithin  jede  kausale  Beziehung  sich  von  jeder  anderen  als  yer 
schieden  erweisen  muss.  Der  Gedanke  einer  individuellen  Kausa- 
lität ruht  hier  also  in  letzter  Instanz  auf  der  Überzeugung  yon 
der  absoluten  Individualität  der  Wirklichkeit;  und  diese  fällt  zu- 
sammen mit  ihrer  totalen  Irrationalität,  da  das  absolut  Individuelle 
als  solches  vom  Begriff  nicht  bezwungen  werden,  in  keinen  Be- 
griff eingehen  kann.  Nun  kann  man  aber  fragen,  worauf  sich  die 
Überzeugung  von  der  absoluten  Irrationalität  der  Wirklichkeit 
eigentlich  gründe.  Offenbar  auf  die  unmittelbare  Erfahrung,  das 
es  uns  nicht  möglich  ist,  auch  das  einfachste  in  der  Ânsdianoag 
uns  gegebene  Ding  in  erschöpfender  Weise  zu  beschreiben.  Doitk 
diese  fundamentale  Tatsache  scheint  nun  aber  doch  der  Schlutf 
auf  die  totale  Irrationalität  der  Wirklichkeit  nicht  in  genugmder 
Weise  begründet.  Denn  man  kann  diese  Tatsache  voll  nnd  gan 
zugeben  und  sich  trotzdem  das  Wirklichkeitsmaterial  in  ganz  an- 
derer Weise  denken,  etwa  ans  einer  endlichen  Anzahl  von  Ele- 
mentarfaktoren bestehend,  welche  miteinander  —  unter  Voraii- 
Setzung  der  Unendlichkeit  von  Baum  und  Zeit  —  eine  nnendlicbe 
Anzahl  von  Kombinationen  bilden  können.^)    Der  endliche  Ver 

^)  Vgl.  Bickert,  Grenzen  der  naturw.  Begriffab.,  S.  33.  „Auch  weai 
man  geneigt  sein  sollte,  das  Quantum  von  Materie,  aus  dem  die  Wdft  be- 
steht, endlich  zu  denken,  so  daaa  in  dieser  Hinaicht  nur  von  voriaiifigir 


Das  Wesen  und  die  Voranssetzangen  der  Induktion.  40â 

Stand  wäre  dann  eben  nicht  fâMg,  bis  zu  diesen  elementaren 
Wirklichkeitsfaktoren  vorzudringen,  es  wäre  hier  eine  Qrenze 
seiDer  Erkenntnisfähigkeit  zu  konstatieren,  und  die  Individualität 
1er  von  uns  unmittelbar  aufgefassten  Wirklichkeit  wäre  dabei 
irollkommen  gewahrt,  da  ja  keine  der  Kombinationen  der  Wirk- 
ichkeitselemente  sich  zu  wiederholen  braucht.  Es  soll  hier  noch 
;^ar  nicht  festgestellt  werden,  wie  die  Wirklichkeit  in  der  Tat  zu 
lenken  sei.  Nur  das  soll  gezeigt  sein,  dass  die  Tatsache  der  un- 
ibersebbaren  Mannigfaltigkeit,  welche  Bickert  seiner  Methoden- 
iehre  zu  Grunde  legt,  noch  nicht  zu  den  erkenntnistheoretischen 
Eonsequenzen  zu  berechtigen  scheint,  die  er  in  Bezug  auf  den 
Wirklichkeitsbegriff  zu  ziehen  sucht.  Die  von  uns  unmittelbar 
srfabrbare  Wirklichkeit  ist  immer  schon  eine  „aufgefasste^.  Wie 
man  sich  eine  „unaufgefasste''  Wirklichkeit  zu  denken  habe,  da- 
rüber lässt  sich  schliesslich  nur  auf  teleologischem  Wege  eine 
Entscheidung  treffen,  und  da  scheint  es  nun  bedenklich,  den  kon- 
ititativen  Charakter  der  Gesetzmässigkeit  in  Abrede  zu  stellen, 
iveil  dies  eine  für  die  induktive  Methode  unentbehrliche  Voraus- 
getzong  ist. 

IV. 
Die  Induktion  in  der  Geschichte. 

Dieser  letzte  Abschnitt  erhebt  keineswegs  den  Anspruch  auf 
eine  auch  nur  annähernd  erschöpfende  Behandlung  der  induktiven 
Methode  auf  dem  historischen  Gebiet,  sondern,  wie  schon  in  den 
einleitenden  Worten  hervorgehoben  wurde,  soll  darin  lediglich  ge- 
eeigt  werden,  dass  auch  für  die  Geschichte  die  Grundvoraussetzung 
der  Induktion  durchaus  bestehen  bleibe.  Nur  unter  der  Voraus- 
setzung, dass  gesetzmässige  Zusammenhänge  den  festen  Bestand 
der  Wirklichkeit  ausmachen,  ist  auch  auf  diesem  Gebiete  das  in- 
duktive Verfahren  möglich.  Wohl  kommen  für  die  Geschichte 
als  solche  nur  die  Einzelgestaltungen  der  Wirklichkeit  in  Betracht, 
aber  diese  bewegen  sich  eben  durchaus  in  den  Grenzen  des 
festen  Rahmens  der  Gesetzlichkeit  und  können  nicht  aus  demselben 
herausfallen. 


Unabersehbarkeit  und  nicht  von  Unendlichkeit  die  Rede  sein  könnte,  so 
nötigt  uns  doch  auch  ein  endliches  Quantum  von  Materie  in  einem  onend- 
liehen  Raum  und  in  einer  unendlichen  Zeit,  eine  unendliche  Anzahl  von 
Kombinationen  und  damit  eine  unendliche  Ansahl  von  verschiedenen  an- 
schaulichen Einzelgestaltnngen  als  wirklich 


404  N.  V.  Bubnoff, 

„.  .  .  den  festen  Rahmen  unseres  Weltbildes  giebt  jene  all- 
gemeine Gesetzmässigkeit  der  Dinge  ab,  welche,  über  allen 
Wechsel  erhaben,  die  ewig  gleiche  Wesenheit  des  Wirklichen  zna 
Ausdruck  bringt  :  und  innerhalb  dieses  Rahmens  entfaltet  sich  der 
lebendige  Zusammenhang  aller  für  das  Menschenleben  wertvoDoi 
Einzelgestaltungen  ihrer  Gattungserinnerung.  "^)  Diese  Einzel- 
gestaltungen  sind  als  Fälle  des  Gesetzes,  unter  das  sie  gehörai, 
notwendig  bedingt  ;  insofern  sie  aber  einzelne  Fälle  sind,  sind  sie 
in  Rücksicht  auf  jenes  Gesetz  zufällig;  denn  das  Gesetz  bestimmt 
eben  nicht  die  spezifischen  Eigentümlichkeiten  jedes  einzeloea 
Falles.^}  Dennoch  bilden  die  naturwissenschaftlich  grundlegeodeo 
Zusammenhänge  der  Erscheinungswelt  die  Basis  für  die  mdiTt- 
duelle  Differenzierung  der  Einzelfälle,  und  insofern  sind  die  Vor- 
aussetzungen der  Naturwissenschaft  zugleich  auch  VoraussetzoDgea 
der  Geschichte. 

Das  tut  nun  aber  der  Eigentümlichkeit  der  historischen  Me- 
thode durchaus  keinen  Abbruch.  Das  ganze  Gewicht  ist  eben  aoi 
die  Richtung  der  Verarbeitung  des  vorwissenschaftlichen  Hateriak 
und  auf  die  derselben  zu  Grunde  liegenden  Prinzipien  zu  legen. 
Den  Historiker  interessieren,  den  Aufgaben  und  Zielen  seiner 
Wissenschaft  entsprechend,  nicht  die  das  Erfahrungsmaterial  koi- 
stituierenden  dauernden  gesetzlichen  Synthesen,  nicht  diese  gitt 
es  für  ihn  herauszuarbeiten,  sondern  es  ist  ihm  um  die  Einzelfilk 
zu  tun,  deren  individuelle  Eigenart  ans  dem  Gesetz  nicht  abge- 
leitet werden  kann.  Demgemäss  kann  auch  die  Aufgabe  der  In- 
duktion auf  historischem  Gebiet  nicht  in  der  Feststellung  allg^ 
meiner  Sätze  auf  Grund  einzelner  Tatsachen  bestehen,  senden 
lediglich  in  der  Ermittelung  der  Ursachen,  durch  deren  Wirfcsas- 
keit  ein  historisches  Ereignis  zu  Stande  gekommen  ist  Darin 
besteht  die  kausale  Methode  der  Geschichte,  welche  uns  eioa 
Einblick  in  die  Notwendigkeit  einmaliger  Entwickelangsreiheo  ge- 
währen soll. 

Nun  stehen  aber  dem  Historiker  die  Hilfsmittel,  welche  dff 
Naturwissenschaftler  für  die  Erforschung  der  kausalen  Zusammen- 
hänge besitzt,  nicht  zu  Gebote.  Es  ist  ihm  nicht  möglich,  za> 
Experiment  zu  greifen  und  die  als  Ursache  eines  Gescbebeos  in 
Betracht  kommenden  Faktoren  willkürlich  zu  variieren.  Das  tat- 
sächliche  Experiment  muss   er  durch  ein  gedankliches  ersetzen 

1)  PräL,  S.  876. 

>)  Vgl  Windeiband,  Die  Lehren  vom  Zufall  S.  29. 


Das  Wesen  und  die  Voraussetzungen  der  Induktion.  40a 

nd  za  einem  Abstraktionsverfahren  seine  Zuflacht  nehmen. 
)ieses  Abstraktionsverfahren  ist  darauf  gerichtet,  „die  Bedeutung 
Ines  einzelnen  Moments  für  einen  Erfolg  festzustellen^  und  dies 
heisst  nichts  anderes,  als  die  Bedingungen  in  gewisser  Hinsicht 
ariiert  denken  und  ermitteln,  ob  derselbe  Erfolg  sich  an  die 
eränderten  Bedingungen  geknüpft  haben  würde  oder  nicht.  ^^) 
)îe  Wirkung  in  ihrer  konkreten  Totalität  kommt  für  die  Ge- 
cbichte  nicht  in  Betracht,  sondern  es  werden  durch  eine  Wert- 
aslese  gewisse  Bestandteile  derselben  herausgehoben  und  zu  einer 
historischen''  Wirkung  zusammengeschlossen;  alsdann  werden  in 
em  zeitlich  vorhergehenden  Erfahrungskomplex  gewisse  Faktoren 
bgeändert  gedacht,  um  zu  ermitteln,  ob  der  Erfolg  dadurch  in 
einen  wesentlichen  Bestandteilen  modifiziert  werde,  und  die  ent- 
prechenden  Faktoren  sich  dementsprechend  als  kausal  wichtig  er- 
reisen.^  Worauf  wir  nun  unser  Augenmerk  richten  wollen,  ist 
[er  Umstand,  dass  dieses  Verfahren  nur  unter  Hinzuziehung  des 
.gesamten  Schatzes  unseres  nomologischen  Wissens"*  statthaben 
:ann.  Denn  wir  müssen  die  kausale  Wirksamkeit  der  einzelnen 
■"aktoren  des  als  Ursache  geltenden  Komplexes  kennen,  um  fest- 
tellen  zu  können,  welche  davon  für  die  historische  Wirkung 
lausal  wichtig  sind  und  also  zu  dem  Begriff  einer  historischen 
Jrsache  zusammengeschlossen  werden  können.  Das  nomologische 
Vissen,  welches  bei  der  gegenseitigen  Zuordnung  von  historischen 
Jrsachen  und  Wirkungen  in  Betracht  kommt,  bezieht  sich  aller- 
lisgs  in  der  Regel  nicht  etwa  auf  exakte  Naturgesetze,  sondern 
kof  Regelmässigkeiten  in  laxerem  Sinn,  wie  sie  uns  in  der  alltäg- 
lehen  Erfahrung  entgegentreten.  Diese  Regelmässigkeiten  müssen 
kber  in  letzter  Instanz  in  den  eigentlichen  Naturgesetzen  begründet 
ind  im  Prinzip  auf  solche  reduzierbar  sein,  wenn  auch  eine  solche 
Deduktion  sich  für  die  Zwecke  der  Geschichte  als  überflüssig, 
a  möglicher  Weise  für  unseren  endlichen  Verstand  als  unvoU- 
dehbar  erweisen  sollte.  Jedenfalls  zeigen  sich  also  gewisse  regel- 
nässige  Zusammenhänge  als  für  die  Geschichte  unentbehrliche 
i^oraussetzungen,  wenn  es  auch  bloss  solche  sind,  die  einer 
»höheren  Schicht''  angehören,  an  der  „Oberfläche  des  Geschehens'' 
lervortreten.    Da  nun  aber  solche  Regelmässigkeiten  nicht  anders 


1)  J.  von  Kries,  Über  die  Begr.  der  objekt.  Möglichkeit  und  einige 
Anwendungen  derselben.    Leipzig  1888. 

>)  Vgl.  Max  Weber,  Krit.  Studien  auf  dem  Gebiet  der  koltnrw. 
[x^gik.    Arch.  f.  Sozialwiss.  und  Sozialpolitik.    Bd.  XXIT,  S.  192  ff. 

KaatstodUu  Xlll.  ^ 


406  N.  V.  Bubnoff, 

anfgefasst  werden  können  denn  als  Ergebnisse,  welche  durch  das 
Zasammenwirken  der  zwischen  den  Wirklichkeitselementen  herr- 
schenden ursprünglichen  Gesetzlichkeiten  zu  Stande  kommen, 
so  bilden  eben  auch  diese  letzteren  eine  Grundlage  für  die  Ge- 
schichte. 

Was  nun  die  Ermittelung  der  Ursachen,  also  die  kausale 
Erklärung  betrifft,  so  besteht  dabei  zwischen  dem  ganzen  wissen- 
schaftlichen Betrieb  der  Naturwissenschaft  einerseits  und  der  Ge- 
schichte andererseits  ein  durchgreifender  Unterschied.  Fassen  wir 
die  Richtung  ins  Auge,  in  welcher  sich  die  kausale  ErklSnmg 
innerhalb  der  Naturwissenschaft  bewegt,  so  ist  es  ganz  zweifellos, 
dass  hier  die  Ursache  in  dem  einer  Veränderung  unmittelbar 
Vorhergehenden  gesucht  wird,  und  dass  der  kausale  Zusammen- 
hang für  um  so  besser  erkannt  gilt,  je  weiter  man  in  seiner 
Zergliederung  vorgedrungen  ist.  Die  Proximität,  die  zeitliebe 
und  räumliche  Kontiguität,  darf  als  ein  wesentliches  Merkmal  der 
naturwissenschaftlichen  Ursache  gelten.  Diese  Richtung  der 
naturwissenschaftlichen  Kausalerklärung,  welche  auf  die  Ein- 
schaltung immer  neuer  kausaler  Mittelglieder  zwischen  die  or 
sprünglich  als  in  unmittelbarem  Kausalzusammenhang  stehend  an- 
genommenen Vorgänge  bedacht  ist,  hat  schon  Th.  Brown  erkannt 
und  ausführlich  beschrieben.  Er  bringt  dieselbe  in  Zusammen- 
hang mit  der  Unvollkommenheit  unserer  Sinne,  indem  er  daraif 
hinweist,  dass  wir  ausser  Stande  seien,  in  einem  Vorgang,  weldier 
uns  einfach  vorkommt,  die  ganze  progressive  Reihe  der  aufein- 
ander folgenden  Glieder  zu  unterscheiden,  und  immer  gewirtv 
sein  müssten,  neue  Zwischenglieder  zu  entdecken,  wodurch  dam 
zugleich  die  landläufige  irrtümliche  Annahme  eines  lateotei 
„Bandes""  zwischen  Ursache  und  Wirkung,  welches  bei  dem  Yet- 
such,  auch  die  elementaren  Kausalverhältnisse  begreiflieb  n 
machen,  schliesslich  zum  Vorschein  kommen  müsse,  psychologiscl 
erklärlich  sei.^) 

Während  nun  die  naturwissenschaftliche  kausale  ErkUnn; 
sich  in  der  soeben  angegebenen  Richtung  bewegt,  hat  der  Histo- 
riker im  Gegensatz  hierzu  gar  kein  Interesse  daran,  durdi  die 
Zergliederung  des  ihm  vorliegenden  Materials  bis  zu  diesmi  de* 
mentaren  Bestandteilen  und  den  gesetzlichen  Beziehungen  zwischen 
denselben   vorzudringen.     Er   treibt  die  Analyse  nur  so  weit,  ak 


1)  Th« Brown,  Inquiry  into  the  relation  of  cause  and  effect  8.Mtt> 


Das  Wesen  und  die  Voraussetzungen  der  Induktion.  40? 

es  für  seine  Zwecke,  welche  ihm  von  den  leitenden  Oesichts- 
inkten  seiner  Wissenschaft  vorgezeichnet  sind,  erforderlich  ist. 
le  Kategorie  der  Kausalität  hat  in  der  Geschichte  eine  andere 
3dentung  und  findet  hier  demgemäss  auch  eine  andere  Ver- 
endung  als  in  der  Naturwissenschaft.  Während  der  Natur- 
issenschaftler  bestrebt  ist,  die  einem  Vorgang  unmittelbar  vor- 
ergehenden  Ursachen  aufzudecken,  kommt  es  dagegen  dem  Histo- 
^er  in  der  Regel  auf  weiter  zurückliegende  Ursachen  an;  diese 
id  für  ihn  wesentlich,  weil  sie  die  Erklärung  leisten,  welche  er 
(Strebt,  wogegen  die  räumliche  und  zeitliche  Kontiguität  der  ele- 
entaren  Ursachen  für  ihn  eben  nur  eine  selbstverständliche 
^raussetzung  ist  und  nicht  das  Ziel,  auf  das  er  lossteuert.  Er 
ird  sich  also  nie  einfallen  lassen,  einen  historischen  Kausal- 
isammenhang  für  das  Erkennen  dadurch  durchsichtig  zu  machen, 
.SS  er  versucht,  denselben  in  seine  elementaren  kausalgesetz- 
ihen  Beziehungen  aufzulösen  und  ihn  auf  diese  Weise  in  die 
estnischen  gesetzlichen  Zusammenhänge  einzuordnen.  Dies  wäre 
den  meisten  Fällen  überhaupt  ein  recht  missliches  Unter- 
ihmen;  und  dann  wäre  ja  damit  auch,  vorausgesetzt,  es  gelänge, 
r  die  Zwecke  der  historischen  Erklärung  gar  nichts  geleistet, 
elmehr  wird  der  Historiker,  einem  neuen  Bedürfnis  des  Er- 
nnens  gemäss,  die  Wirklichkeit  in  einer  gewissen  Distanz  er- 
icken  wollen,  welche  er  von  sich  aus  seinen  Zwecken  entsprechend 
isteilt.  1)  Es  kann  also  eine  causa  remota,  die  in  naturwissen- 
haftlichem  Zusammenhang  nur  in  weiterem  Sinne  als  Ursache 
It,  in  einem  geschichtlichen  Zusammenhang  die  eigentliche 
rsache  sein,  auf  welche  es  ankommt.  Auch  vernichtet  die  Zer- 
iederung  des  Geschehens  in  die  im  naturwissenschaftlichen 
nne  primären,  elementaren  Kausalverhältnisse  den  spezifisch 
storischen  Kausalzusammenhang,  weil  dadurch  die  historischen 
)jekte,  die  ja  naturwissenschaftlich  keine  Einheiten  ausmachen 
>d  erst  durch  eine  axiologische  Synthese  zu  Stande  kommen, 
rstört  werden.  Den  Unterschied  beider  Erklärungsarten  hat 
mmel  in  einleuchtender  Weise  an  dem  Beispiel  einer  Erklärung 
r  Marathonschlacht  illustriert  Gesetzt  nämlich,  wir  wären  im 
ande,  das  Verhalten  jedes  einzelnen  Griechen  in  dieser  Schlacht 
i  Grund  primärer  physiologischer  und  psychologischer  Gesetze 
irchaus   begreiflich   zu   machen,   so   wäre  damit  für  eine  histo- 


^)  Simmel,  Probleme  der  Gescbicht^philosophie.    III.  Aufl.,  S.  112. 


408    N.  v.  Bubnoff,  Das  Wesen  und  die  Yoraussetzangen  der  Induktion. 

riscbe  ErkläruDg  des  Vorgangs  nicht  das  Geringste  geleistet  und 
zwar  einfach  deshalb,  weil  die  historische  Fragestellung  dadurch 
nicht  im  mindesten  berührt  wird.^)  Ginge  man  auch  in  einem 
geschichtlichen  Znsammenhang  auf  Zergliederung  in  einfachste 
Elemente  aus,  so  würde  man  damit  eine  fiewaßainc  elg  aXXo  yero; 
vollziehen  und  die  Antwort  erhalten  auf  eine  Frage,  die  in  einen 
ganz  anderen  Zusammenhang  gehört.  Die  besondere  Gestaltung 
der  Kausalverhältnisse  in  jeder  Wissenschaft  ist  von  den  Einheiten 
abhängig,  welche  die  Bausteine  derselben  ausmachen.  Und  diese 
Einheiten  sind  ihrerseits  bestimmt  durch  die  Richtung  des  Er- 
kenntnisinteresses, welches  in  der  betreffenden  Wissenschaft  ob- 
waltet und  die  „Idee^  derselben  konstituiert. 

Es  ist  also  allemal  ein  spezifisches  Elrkenntnisinteresse, 
welches  vorschreibt,  wie  weit  innerhalb  einer  bestimmten  Wissen- 
schaft in  der  Zergliederung  der  Erscheinungen  fortgeschritten 
werden  soll.  Daran  aber  ist  festzuhalten,  dass  die  komplizierteren 
Zusammenhänge  in  letzter  Instanz  auf  den  elementarsten  kausal- 
gesetzlichen  Beziehungen  aufgebaut  sind  und  dieselben  immer 
schon  voraussetzen. 

1)  Vgl.  Simmel,  Probleme  der  Geschichtsphilosophie,  S.  90  u.  108. 


Zum  Begriff  der  kritischen  Ericenntnislelire. 

(Mit  besonderer  Rücksicht  aaf 

Goswin   üphues'    „Kant  und   seine   Vorgänger".)^) 

Von  Richard  Hönigswald. 

Die  positive  Leistung  der  kritischen  Philosophie  auf  theore- 
ischem  Gebiete  liegt  in  dem  Beweise  von  der  Identität  der  Syn- 
hesis  in  analjrtischen  Sätzen  und  der  Verknüpfung  von  Vorstell- 
LDgen  im  Begriff  des  Gegenstandes  der  Erfahrung.  Sie  liegt 
Q.  a.  W.  in  der  erfahrungsfreien  und  objektiven,  d.  h.  jeden  Re- 
ativismus  ausschliessenden  Bestimmung  dieses  Begriffes,  in  der 
jünsicht,  dass  das  Sein  des  Erfahrungsobjektes  den  allgemeinen 
Bedingungen  seiner  Erkenntnis  unterliegen  müsse. 

Damit  ist  das  Ausmass,  in  welchem  der  Relativismus  — 
>der,  wie  man  ihn  a  potiori  bezeichnen  kann,  der  „Psychologis- 
nus""  —  als  Gegensatz  zum  kritischen  Denken  in  Betracht 
Lommt,  eigentlich  umschrieben  und  der  Vertreter  der  kritischen 
Erkenntnislehre  wenigstens  hat  keinen  Grund  der  Behauptung 
nnes  kürzlich  erschienenen  Werkes  zuzustimmen,  dass  man 
»chliesslich  nicht  mehr  wisse,  wer  Psychologist  sei,  wer  nicht,  ja 
lass  sich  die  Grenze  zwischen  den  Richtungen  und  Methoden  der 
^sychologisten  und  deren  Gegner  verwische.*)  Im  Gegenteil!  Je 
chärfer  der  kritische  Erkenntnistheoretiker  die  Besonderheit  seiner 
Aufgabe  erfasst,  umso  mehr  gilt  für  ihn,  gerade  im  Hinblick  auf 
ein  Verhältnis  zur  Psychologie,  auch  heute  noch  der  Eantiscbe 
latz:     „Es    ist    nicht    Vermehrung,    sondern    Verunstaltung    der 


1)  Qoswin  Uphues,  Professor  der  Philosophie  in  HaUe,  Kant  und 
eine  Vorgänger.  Was  wir  von  ihnen  lernen  können.  Berlin,  C.  A. 
«hwetschke  &  Sohn.  1906.  Im  folgenden  wird  das  Werk  abgekürzt 
itiert  als:  K.  n.  s.  V. 

*)  Dr.  Rudolf  Eisler,  Einführung  in  die  Erkenntnistheorie.  Dar- 
teilung und  Kritik  der  erkenntnistheoretiflchen  Richtungen.  Leipzig  1007. 
T^erlag  von  Johann  Ambrosius  Barth.    S.  18. 


410  R.  Hönigswald, 

Wisseuschaften,  wenn  man  ihre  Grenzen  ineinander  laufen  lässt*" 
—  Wer  erkannt  hat,  dass  Psychologie  dem  Begriffe  ihro*  Auf- 
gabe nach  keinerlei  Rechtsgrund,  also  auch  den  der  apriorischen, 
aber  dennoch  gegenständlichen  Geltung  gewisser  Sätze  nicht,  za 
erbringen  vermag,  der  hat  zugleich  die  absolute  Selbständigkeit  yon 
Aufgabe  und  Methode  der  kritischen  Erkenntniswissenschaft  erfasst 
und  anerkannt.  „Das  Bedüi^fnis  nach  Herstellung  des  begrifflichen 
Zusammenhanges  der  methodisch  isolierten  Inhalte  mit  der  kon- 
kreten, lebendigen  Wirklichkeit  des  Geistes  und  der  Wirksanikeit 
geistiger  B^unktionen''  ^)  mag  auch  im  Erkenntnistheoretiker  rege 
werden.  Die  Frage  aber  ist,  ob  er  dieses  Bedürfnis  im  Rahmen 
seiner  Wissenschaft  zu  befriedigen  vermag,  und  darauf  giebt  es 
nur  eine  Antwort. 

Auf  dem  Boden  einer  Theorie  des  Gegenstandes  der  Er- 
fahrung begegnen  also  Erkenntniswissenschaft  und  Psychologie 
einander  nicht.  —  Wo  immer  psychologische  Gesichtspunkte  in 
den  Fortgang  erkenntnistheoretischer  Erwägungen  eingreifen  oder 
doch  von  der  Theorie  der  Erfahrung  nicht  grundsätzlich  fem- 
gehalten werden,  dort  hat  sich  entweder  die  Grenze  zwischen  der 
psychologischen  und  der  erkenntnistheoretischen  Fragestellung  schon 
verwischt,  oder  es  hat  der  Begriff  der  Erkeuntnislehre  überhanpt. 
einen  von  den  Gesichtspunkten  der  Erfahrungstheorie  unabhängigen 
Inhalt  bekommen.  —  Wie  sich  ein  solcher  im  besonderen  gestalte 
mag,  ist  unter  den  Gesichtspunkten  einer  allgemeinen  und  grond- 
sätzlichen  Untersuchung  gleichgültig.  Es  ist  m.  a.  W.  von  prin- 
zipiell untergeordneter  Bedeutung,  ob  jener  Inhalt  sich  aus  eintf 
Verwechselung  der  logischen  Folgerichtigkeit  mit  objektiver  Geltong 
herleitet,  indem  er  das  Feld  der  Erkenntnistheorie  auf  das  Grebiet 
der  ersteren  beschränkt,^)  oder  ob  er  nur  den  Begriff  des  Gegen- 
standes von  den  spezifischen  Gesichtspunkten  der  E^rfahrung  zn 
emanzipieren  sucht,  um  ihm  alles  dem  Geist  bewusst  Gegenwärtige 
einzuordnen,  oder  endlich,  ob  er  sich  ausschliesslich  auf  die  Ob- 
jekte transscendenter  Begriffe  bezieht.  —  Jede  dieser  Mög^ch- 
keiten  kann  immerhin  einer  „Erkenntnislehre''  zugewiesen  werden. 
Aber  keine  von  ihnen  berührt  sich  mit  den  Problemen  der  kri- 
tischen. Denn  keine  von  ihnen  dient  einer  Theorie  des  O^fen- 
standes   der  Erfahrung.   —   Der  Erkenntniswert   der  Erfahmng 

1)  Eisler,  a.  a.  0.,  S.  19. 

^  Vgl.  Cassirer,  Kant  und  die  moderne  Mathematik.    „Kantstadien" 
Bd.  xn. 


Zum  Begriff  der  kritischen  Erkenntnislehre.  411 

wird  eben  bestimmt  durch  die  logische  Valenz  der  VerknüpfuDg 
ihrer  Wahmehmnngselemente  im  Begriff  des  Gegenstandes  und 
kritische  Erkenntnislehre  ist  nur  die  an  dem  Erfahrungsproblem 
orientierte  Theorie  des  Gegenstandes.  —  Der  Erkenntnisbegriff, 
der  sich  in  einer  von  den  Gesichtspunkten  der  Elrfahrung  unab- 
hängigen Theorie  des  Gegenstandes  ausprägt,  ist  —  er  mag  sonst 
welchen  sachlichen  Wert  immer  haben  —  auf  keinen  Fall  kri- 
tisch, d.  h.  er  berührt  das  Problem  vom  Grunde  der  objektiven 
Geltung  von  Wahrnehmungen  überhaupt  nicht.  Er  liefert  dem- 
gemäss  für  den  EIrkenntniswert  der  Erfahrung  auch  nur  einen 
schlechthin  heteronomen  Massstab, ^)  d.  i.  einen  solchen,  dessen 
Bedingungen  die  Erfahrung  ihrem  Begriffe  nach  niemals  genügen 
kann.  Und  nun  gestaltet  sich  die  erkenntnistheoretische  Situation 
in  höchst  bemerkenswerter  Weise:  Je  mehr  jene  nichtkritischen 
Erkenntnislehren  sich  ihres  Gegensatzes  zum  Relativismus  bewusst 
werden,  je  mehr  sie  die  Norm  der  absoluten  Objektivit&t  im 
Rahmen  ihrer  von  der  Erfahrung  unabhängigen  Betrachtungsweise 
zur  Geltung  bringen,  umso  konsequenter  sind  sie,  wenn  sie  die 
E^ahrungstheorie  dem  Relativismus  überliefern,  umso  mehr  fördern 
sie  also  gegen  ihre  ursprüngliche  Absicht,  mittelbar,  die  Ten- 
denzen des  Psychologismns.  Ungeachtet  ihres  primären  Rationalis- 
mus, ja  infolge  dieses  letzteren  finden  sie  sich  denn  auch  an 
allen  entscheidenden  Punkten  dem  theoretischen  Kritizismus  gegen- 
über: der  Lehre  vom  Grunde  einer  nicht  auf  Erfahrung  beruhenden 
Geltung  gewisser  Sätze  für  Gegenstände  der  Erfahrung,  der 
Lehre  vom  Begriff  und  von  der  objektiven  Berechtigung  einer 
Wissenschaft  der  Erfahrung. 


Es  soll  nicht  behauptet  werden,  dass  das  interessante  Werk, 
dessen  theoretische  Ausführungen  den  äusseren  Ânlass  dieser  Be- 


>)  Dabei  kommt  natürlich  nur  die  formalistische  mid  die  metaphy- 
sische Möglichkeit  in  Betracht,  d.  b.  die  Gleichsetzung  objektiver  Erkennt- 
nis einerseits  mit  logischer  Folgerichtigkeit,  andererseits  mit  transscen- 
denten  Seinswerten.  Denn  nur  wo  es  Aufgaben  giebt,  giebt  es  Kriterien 
and  nur  wo  es  von  der  empirischen  Tatsftchlichkeit  grundsätelich  ab- 
weichende Positionen  giebt,  giebt  es  Aufgaben.  Die  „gegenstandstheore- 
tiscbe""  Betrachtungsweise  nun  —  sie  selbst  mag  immerhin  an  solchen 
Positionen  orientiert  sein  -—  verdeckt  in  ihrer  grundsätzlichen  Verallge- 
meinerung des  Gegenstandsbegriffs  den  Gegensatz  zwischen  Tatsachen 
and  Nonnen.    Auch  Kriterien  sind  für  sie  „Gegenstände*'. 


412 


R.  Ilönig8waldy 


trachtungen  bilden,  von  den  in  ihren  Umrissen  und  Eonsequeuei 
eben  skizzierten  Gesichtspunkten  in  schematischer  Eindeotigkei 
beherrscht  ist.  Wohl  aber  ist  der  Einfluss  eines  und  des  «oileni 
dieser  Gesichtspunkte  auf  die  Erkenntnislehre  seines  Yet&aeB 
unverkennbar.  —  Dadurch  aber  wird  dessen  aosdrücklicbe  Gegi» 
Schaft  zum  Psychologismus  für  den  kritischen  Erkenntnisthe(S^ 
nur  ein  neues  Motiv  für  die  gründliche  Untersachaog  sm 
Stellung  zum  kritischen  Erfahrungsproblem. 

Denn  Uphues  ist  von  vornherein  ein  entschiedener  Oegur 
jedes  Psychologismus:  ausdrücklich  erklärt  er  die  Psychologista 
,,die  aus  den  Empfindungen  die  Welt  aufbauen  zu  können  g^aobei', 
bekämpfen  zu  wollen.  —  Aber  sein  Kampf  gilt  zugleich  m 
zweiten  Gruppe  von  Gegnern:  den  „Formalisten,  die  neben  ta 
Empfindungen  noch  allgemeingültige  Gesetze  annehmen,  sie  ate 
nur  auf  die  Empfindung  angewendet  wissen  wollen  und,  abgeseki 
davon,  für  nichts  halten".^)  Ihnen  gegenüber  verbindet  U^ 
mit  dem  Begriff  der  allgemeinen  Geltung  die  Vorstellimg  ém. 
berechtigterweise  über  die  Erfahrung  hinausgreifenden  Gebmchl 
jener  Gesetze.  Damit  stehen  wir  vor  einer  wichtigen  The»  Ér 
Uphuesschen  Erkenntnislehre,  die  in  ihrer  prinzipiellen  BedeotaV 
noch  eingehender  zu  beleuchten  sein  wird.  Hier  sei  nur 
vorweggenommen:  mit  der  Gleichsetzung  der  Begriffe  einer 
gemeinen  und  einer  über  die  Erfahrung  hinansgreifendeo 
verschwimmen  notwendig  die  Grenzen  zwischen  Wissenschaft  irij 
Metaphysik.  Für  den  kritischen  Erkenntnistheoretiker  dt 
heisst  dies  :  die  Prinzipien  der  Erfahrung  können  nicht  mdir  wà 
„Grundsätzen**,  sondern  bloss  nach  ^Maximen**  verwendet  w«to 
Auch  das  kann  für  den  Erfolg  des  Eaippfes,  der  dem  P^ychAfl^ 
mus  angekündigt  ward,  nicht  gleichgültig  sein.  Der  BelAÜfi** 
kann  nicht  endgültig  beseitigt  werden,  solange  die  Frage  va 
dem  Grade  der  Wissenschaftiichkeit  der  Metaphysik  gnmdsitfk 
unerledigt  bleibt. 

Allein,  nicht  nur  von  solcher  Art  sind  hier  die  Bezidifll* 
üphues'  zur  Metaphysik.  Mit  klarer  Absicht  und  von  vente* 
schon  stellt  er  vielmehr  seine  Untersuchung  anter  die  Henaii» 
ihrer  Gesichtspunkte  :  Objekte  der  Metaphysik  sind  fur  ihn  Tofl* 
Setzungen  jeglicher  Erkenntnis.  In  dieser  metaphyaiseUi 
Form   gewinnt  bei  Uphues   der   antirelativistische  Gedanke  p* 


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1)  K.  u.  8.  V.,  S.  6. 


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Zum  Begriff  der  kritischen  Erkeuntnislebre.  413 

Gestalt:  alle  Erkenntnis  und  Wissenschaft  soll  im 
ren  Grunde  der  Metaphysik  verankert  werden.  Allein  die 
icht  auf  eine  Verwirklichung  seines  Planes  ist  —  auch  wenn 

von  jenen  eben  genannten  Konsequenzen  seines  Âusgangs- 
tes  für  eine  Theorie  der  Erfahrung  absieht  —  schlechthin 
wiss,  solange  der  objektive  Erkenntniswert  der  Metaphysik 
Recht  bezweifelt  werden  kann,  solange  die  kritische  Lehre 
Begriff  der  Metaphysik  und  Wissenschaft,  die  jenen  Erkennt- 
ert  verneint,  nicht  widerlegt  ist. 

Diese  seine  Erkenntnismetaphysik,  seine  Lehre  von  der  nietaphy- 
en  Bedeutung  aller  Erkenntnis  also,  bestimmt  in  erster  Linie  — 
sich  von  selbst  versteht  —  die  Haltung  üphues'  gegenüber 
t  und  dem  philosophischen  Kritizismus.  Sie  ist  zustimmend, 
1er  Kritizismus  sich  in  ihren  Bahmen  einzufügen  scheint,  ab- 
>nd,   wo   er   ihren  Konsequenzen   widerspricht.  ~  Allein,   so 

auch  die  Gesichtspunkte  jener  Erkenntnismetaphysik  die 
nik  Uphues'  gegen  die  kritische  Philosophie  beherrschen,  so 
gf  ist  doch  die  Würdigung  seiner  Einwände  mit  dem  einfachen 
reise  auf  jene  Gesichtspunkte  erschöpft.  Diese  selbst  werden 
irer  erkenntnistheoretischen  Bedeutung  vielmehr  erst  dann 
icbend  bewertet  werden  können,  wenn  einige  seiner  wichtig- 
nach  mannigfachen  Richtungen  hin  ausgreifenden  und  an- 
iden  Einwände  gegen  die  kritische  Philosophie  im  besonderen 
"sucht  sind.  Von  selbst  ergiebt  sich  bei  der  Ausführung  dieses 
ÎS  eine  Rücksichtnahme  auf  mannigfache  Strömungen  in  der 
Qntnistheorie  unserer  Zeit  überhaupt  und  im  Zusammenhange 
t  eine  neuerliche,  an  manchen  Punkten  durch  die  polemischen 
thtspunkte  vielleicht  einigermassen  geschärfte  Fixierung  des 
iffes  und  der  Methoden  der  kritischen  Erkenntnislehre. 


I. 
1.  Die  Unterscheidung  der  sinnlichen  Erkenntnis  von  der 
tandeserkenntnis,  ^welche  Kant  von  der  Leibniz- Wolfschen 
le  übernimmt  und  an  der  er  auch  in  der  Kritik  der  reinen 
Unft  festhält",  vermag  Uphues  nicht  zu  billigen.  Denn  er- 
ön  heisst  —  so  argumentiert  er  —  urteilen.  Es  gebe  keiner- 
ilrkenntnis,  wenn  nicht  „in  gedanklich  und  sprachlich  in 
en  oder  Wortvorstellungen  formulierten  Urteilen".  Im  Urteil 
durch  das  Urteil  allein  nehmen  wir  für  das  in  ihm  Gemeinte 


414  R.  HönigswaU, 

allgemeine  Gültigkeit  in  Anspruch.  Das  gelte  auch  für  die  sin»- 
liehe  Erkenntnis,  so  gewiss  auch  diese  nur  durch  Urteile  and  ii 
Urteilen  möglich  ist.  „Wenn  ich  sage,  das  Zimmer  ist  warm  oder 
ich  fühle  das  Zimmer  warm,  so  erhebe  ich  damit  den  Anspruch: 
dass  ich  das  Zimmer  warm  finde,  solle  objekttv  oder  für  alle 
Denkenden  gelten.''  Nun  sei  aber  das  Urteil  auch  nach  Kant 
Sache  des  Verstandes.  Also  gebe  es  keine  von  der  Verstandes- 
erkenntnis trennbare  sinnliche  firkenntnis. 

Von  einer  historischen  Erörterung,  zu  welcher  die  Diskossk« 
der  Fragen,  inwiefern  gerade  Kant  die  überlieferte  Lehre  tm 
der  Gegensätzlichkeit  der  beiden  Erkenntnisarten  in  dem  kritiscbei 
Begriff  der  Erfahrung  überwunden  habe  und  insbesondere  w» 
sich  das  Wahmehmungsurteil  Kants  zur  Leibniz-Wolfschen  Gegei* 
überstellung  sinnlicher  und  verstandesmässiger  Erkenntnis  yerfaiki 
führen  würde,  mag  hier  abgesehen  werden.  Wohl  aber  erschäit 
es  zweckmässig,  den  Eantischen  Begriff  des  Wahmehmungsnrteik 
selbst  den  Darlegungen  Uphues'  gegenüber  kurz  ins  Auge  n 
fassen. 

„Empirische  Urteile,  sofern  sie  objektive  Gültigkeit  habei, 
sind  Erfahrungsurteile;  die  aber  so  nur  subjektiv  gältig  sioJ, 
nenne  ich  blosse  Wahrnehmungsurteile.^^)  Es  ist  klar,  das 
hier  die  Bezeichnung  Wahrnehmungsurteil  eine  denominatioi 
potiori  ist,  so  gewiss  empirische  Urteile  von  subjektiver  Gûltigfcâ 
auch  über  Tatsachen  des  Glaubens,  über  Vorurteile,  Abnnogei 
u.  s.  w.  ergehen  können.  —  Das  Subjekt  im  ,,WahmehiDaogi' 
urteil""  ist  —  mag  dessen  sprachliche  Struktur  welche  imaer 
sein  —  stets  die  Vorstellung  des  urteilenden  Subjektes,  ia 
Gegensatz  zum  „Erfahrungsurteil*",  in  welchem  es  der  BegnB 
eines  beurteilten  Gegenstandes  darstellt.  Er&hmngsorteQi 
stehen  deshalb  unter  Kategorien,  als  den  Bedingungen  der 
Möglichkeit  von  Erfahrungsobjekten.  Der  Unterscheidung  zwi3chei 
Wahrnehmungs-  und  Erfahrungsurteilen  liegt  mithin  die  BesinnB^f 
auf  die  Geltungsart  des  Prädikatsbegriffes,  worunter  bi<ff  der 
durch  die  Kopula  mit  dem  Subjektsbegriff  verbundene  VorsteDiugi- 
komplex  verstanden  ist,  zugrunde.  Der  Unterschied  zwisckei 
Wahrnehmungs-  und  Erfahrungsurteilen  bezieht  sich  nicht  auf  die 
Materie  der  Urteile,  sondern  auf  die  Form  der  Behauptung.  Dk 
beiden  Arten   von  Urteilen  unterscheiden   sich  in  Nichts,  «ab  ii 


1)  Kant,  Prolegomena.  Ausgabe  von  K«  Vorländer.  LeipiiglW.  &H 


Zum  Begriff  der  kritischen  Erkenntnislehre.  415 

1  Fehlen   oder   dem  Hinzukommen    eines  begrifflichen  Grundes 
3r  Verknüpfung**.^) 

Nun  kann  aber  auch  die  Geltung  eines  Urteils  als  solche, 
)  auch  die  eines  Wahmehmungsurtefls,    in  einem  zweiten  Ur- 

bejaht  oder  verneint  werden,  es  kann  die  durch  die  erkeunt- 
theoretische  Funktion  des  Urteils  präsumierte  Allgemeingültig- 
b  einer  Verbindung  von  Vorstellungen  ausdrücklich  zugestanden 
ir   deren    Anerkennung    verweigert    werden.      Das    „Objektiv** 

Urteils  —  wie  Meinong  sagen  würde  2)  —  kann  m.  a.  W. 
a    Subjekt    einer   Aussage   gemacht    werden,    deren    Prädikat 

Begriff  „wahr**,  bezw.  „falsch**  ist:  ,dass  ich  in  diesem 
mente  Wärme  empfinde*  —  ist  wahr.  Dies  meint  un- 
BÎfelhaft  Uphues,  wenn  er  für  das  Wahrnehmungsurteil, 
;w.  die  „sinnliche  Erkenntnis**  den  Ausspruch  erhebt,  auch 

„solle  objektiv  oder  für  alle  Denkenden  gelten**.  —  Sicherlich 
zt  er  damit  die  erkenntnistheoretische  Funktion  des  Urteils, 
rstellungen  in  allgemeingültiger  Weise  zu  verbinden,  ins 
itige  Licht:  das  logische  Subjekt  des  zweiten  Urteils  —  näm- 
i  die  Vorstellung  von  der  Geltung  des  ersten  —  ist  nur  unter 

Voraussetzung  jener  Funktion  möglich.  Allein  es  folgt 
aus  nicht,  dass  nunmehr  die  Berechtigung  einer  Gegenüber- 
Uung  von  Wahrnehmungsurteil  und  Verstandeserkenntnis  — 
)  Uphues  meint  —  erschüttert  sei.  Denn  diese  Gegenüber- 
Uong  gründet  sich  auf  eine  Verschiedenheit  im  erkenntnis- 
oretischen  Verhalten  der  Prädikatsvorstellung  —  gleichviel 
rin  diese  Verschiedenheit  bestehen  und  wie  der  Begriff  einer 
rstandeserkenntnis  definiert  werden  möchte  —  ;  sie  gründet 
1  also  auf  ein  Verhalten  innerhalb  des  Urteils  und  nicht  auf 

Tatsache  der  durch  das  Urteil  als  Ganzes  zum  Ausdruck 
mnenden  Erkenntnis. 

M.  a.  W.:  „Ich  meine**  im  Wahmehmungsurteil  zunächst 
bts  anderes,  als  was  in  ihm  unmittelbar  enthalten  ist,  nämlich 
e  eigenartige  Beziehung  zwischen  der  Prädikatsvorstellung  und 
D  begrifflich-sprachlichen  Symbol  des  urteilenden  Subjektes, 
Iches  hier  das  logische  Subjekt  der  Aussage  bildet.  Weil  und 
em  aber  diese  Beziehung  ein  Urteil  ist,  enthält  sie  die  der 
enntnistheoretischen   Funktion    des   Urteils,    Vorstellungen   in 

*)  Riehl,  Philosophischer  Kritizismus.  Bd.  I.  Zweite  Auflage.  1908. 
189. 

*)  Vgl.  A.  Meinong,  „Über  Anuahmen"".    1902.    Kap.  VII. 


4l8  R.  HOnigswald, 

Auf  die  Form  des  Urteils  allein  gründet  sich  n&mlich  dessen 
Ansprach  auf  allgemeine  Gültigkeit  der  in  ihm  vorliegenden  Ver- 
knüpfung von  Vorstellungen.  Eine  Verknüpfung  von  Vorstellungw 
beansprucht  erst  kraft  der  spezifischen  Form,  die  sie  im  Urteil 
annimmt,  eine  Art  der  Geltung,  welche  sie  über  jede  tatsftcbliche 
Anerkennung  oder  Ablehnung  erhebt.  Dieser  Anspruch  ist 
schlechterdings  jedem  Urteil  eigen,  gleichviel  ob  er  sach- 
lich, d.  h.  im  Hinblick  auf  die  Materie  des  Urteils  berechtigt 
ist,  oder  nicht;  denn  er  ist  der  Ausdruck  der  allen  Urteflen 
als  solchen  gemeinsamen  logischen  Form,  welche  ,,der  typischen, 
nicht  aufeinander  reduzierbaren  Gestalten,  in  denen  das  Wahr- 
heitsbewusstsein  auftritt'',  ^)  auch  in  ihnen  sich  verkörpern 
mag.  (Kategorisches,  hypothetisches  etc.  Urteil.)  Vermittelst  der 
Form  des  Urteils  „unterscheiden  wir  subjektive  Begriffskombina- 
tionen von  objektiven,  die  als  solche  ihren  Grund  in  der  gemein- 
schaftlichen Natur"  —  d.  i.  der  Form  des  Denkens  haben.') 

3.    Einer  Urteilsdefinition,    welche,   gleich  der  Uphuesschen, 
den   Grund    des   Anspruches    auf    allgemeine  Gültigkeit  der  in 
Urteil  vorliegenden  Vorstellungsverknüpfung  ausserhalb  des  Urteils 
selbst,  d.  h.  nicht  in  dessen  Form,   sucht,  eröffnen  sich  —  allge- 
mein  gesprochen  —  zwei  Möglichkeiten.     Entweder  man  h&lt  — 
und  diese  Möglichkeit   beschäftigte  uns  soeben  —  die  Allgemein- 
gültigkeit  jener  Vorstellungsverknüpfnng  für  verbürgt  durch  ihr 
Verhältnis    zu     einem    seinem    Wesen    nach    metaphysischen 
Faktor;   oder  man   gründet  sie  auf  das  Verhältnis  des  Urteils  zu 
einer   irgendwie    »gegebenen*'    Wirklichkeit,    die    das    Urtefl  sa 
„schildern*^  bestimmt  wäre.     Im  ersten  Fall  begiébt  man  sich  asf 
ein  der  wissenschaftlichen  Analyse  seiner  Natur  nach  und  grund- 
sätzlich entrücktes  Gebiet:   vergeblich   sucht  man  einen  eindeutig 
und   scharf  bestimmbaren  Begriff  der  Beziehung  zwischen  einer 
metaphysischen  Ewigkeitswelt   der  Wahrheit  und   dem   UrteiL  — 
Im   zweiten  Fall  präsumiert  man  zu  Gunsten  einer  dogmatischen 
„Abbildstheorie*",   oder  man   unterlässt  es  doch,  sich  auf  desk  Be- 
griff der  dem  Urteilenden  gegebenen  Wirklichkeit  zu   besinnen. 
Man  verkennt,  dass  die  „Wirklichkeit''  einer  Tatsache  als  soldie 


^)  Heimich  Maier,  Logik  und  Erkenntnistheorie,  Sigwart-'FeglwalirffL 
1900.  S.  240.  Vgl.  auch  meine  „Beitrage  zur  Erkenntnistheorie  md  Me- 
thodenlehre''.   Leipzig  1906.1    S.  42  f. 

S)  Biehl,  Beitrage  zur  Logik.  Vierteyahratehrift  f.  wi«.  FUl<wQflûe. 
1898.    S.  lö. 


Zum  Begriff  der  kritischen  Erkenntnislehre*  417 

isen  wir  im  Urteil;  das  Urteil  allein  erhebt  uns  in  ihr  zeitlos- 
•es  Gebiet.     „Mit  jedem  Urteil,  für  das  wir  einen  Erkenntnis- 
in Anspruch  nehmen,   treten   wir  in  die  Welt  der  Dinge  an 
oder   der  von  uns  unabhängig  bestehenden  Dinge  oder,   wie 
auch  sagen  dürfen,  in  eine  Ewigkeitswelt  ein."^) 

Wie  immer  man  sich  nun  auch  diese  selbst  und  mit  ihr  das 
en  der  „Wahrheit"  im  besonderen  vorstellen  mag,  die  ent- 
idende  Frage  ist  hier  zunächst  die  nach  der  Natur  jener  ge- 
nässigen  „Beziehung"  zwischen  den  im  Urteil  verbundenen 
tellungen  „auf  das  in  ihm  Gemeinte".  —  Nun  könnte  die 
chliche  Einkleidung  der  Uphuesschen  Urteilsdefinition  leicht 
Meinung  Raum  gewähren,  es  handle  sich  in  ihr  um  den  Ge- 
en,  dass  der  Urteilende  zwei  miteinander  verbundene  Vor- 
mgen,  resp.  die  Vorstellung  ihrer  Verbindung  in  „gesetz- 
liger"  Weise  auf  die  Vorstellung  des  im  üileil  Gemeinten 
5he.  Eine  genauere  Überlegung  lehrt  jedoch,  dass  hier  nicht 
der  Vorstellung  des  im  Urteil  Gemeinten,  sondern  nur  von 
im  Urteil  Gemeinten  selbst  die  Eede  sein  könne,  so  gewiss 
r  Eintritt  in  die  „Ewigkeitswelt"  sich  durch  die  Vorstellung 
•  solchen  nicht  vollziehen  würde.  Dem  im  Urteil  Gemeinten 
i  also  im  Sinne  von  Uphues  irgend  eine  Art  der  transscen- 
BD  Realität  zukommen.  Gerade  dies  aber  begründet  einen 
schwer  zu  beseitigenden  Einwand:  Es  müsste  die  Art  aufge- 
.  werden  können,  wie  sich  die  „Ewigkeitswelt"  der  Wahrheit 
dem  Ergebnis  des  zeitlich-psychischen  Prozesses,  welches  im 
il  vorliegt,  in  Beziehung  setzt.^  So  lange  dies  nicht  oder 
in  Gleichnissen  möglich  ist,  muss  die  an  die  Urteilsmaterie 
^pfende  metaphysische  Frage  nach  dem  Wesen  der 
irheit  von  dem  die  Form  des  Urteils  betreffenden  erkennt- 
heoretischen Problem  seiner  Allgemeingültigkeit  ge- 
lt bleiben. 


1)  K.  u.  8.  V.,  S.  76. 
»^  Schwierigkeiten  bereitete  —  nebenbei  bemerkt  —  auch  der  Be- 

der  ^^Gesetzmässigkeit''  jener  Beziehung.  Denn  entweder  ist  diese 
liologisch;  dann  läge  kein  zureichender  Grund  vor,  sie  von  der 
i^Uungsassoziation  —  was  Uphues  ausdrücklich  tun  zu  müssen  erklart 
Inzipiell  zu  trennen.  Oder  man  denkt  im  Gegensatze  hierzu  an  eine 
::tive  Gültigkeit  gewährleistende,  d.  h.  urteils massige  Gesetzlich- 

i&  diesem  Falle  verfiele  man  •—  wie  leicht  ersichtlich  —  einer  peti- 
Hncipii. 


420  tl.  Hönigswald, 

haltes;  vielmehr  ist  er  eine  Funktion  seiner  Form,  Aiudmek  iet 
diese  letztere  konstituierenden  ,,objektiyen  Einheit  der  Apper- 
zeption^. 

4.    Nicht  über   eine  Realität  ergeht  m.  a.  W.  die  Aussage 
im  Urteil;  vielmehr  wird  die  Realität  bezw.  die  allgemeine  Ofiltig- 
keit   der  im   Urteil   vorliegenden  Vorstellungsverknttpfnng  ausge- 
sagt.   Realität  und  allgemeine  Gültigkeit  sind  daher  nicht  Sub- 
jekt,  sondern   in   dem   bezeichneten,   erkenntnistheoretisch   genau 
umschriebenen,   Sinn  Prädikat  des  Urteils.^)  —  Dm  greifbarefl 
Ausdruck   dieses  Prädikates   bildet  die  Kopula  ist.    Sie  ist  zu- 
gleich  der  Ausdruck   für  die  Anerkennung  des   Anspruches  auf      ^ 
allgemeine  Gültigkeit,  der  zu  Begriff  und  Form  des  Urteils  ge-     — 
hört.  —  Eine  andere  Frage  ist  —  wie  erwähnt  —  die   nach   der    -:■ 
Berechtigung   dieser  Anerkennung,   die  Frage   nach  den  allge-    — 
meinen   Kriterien   für  die   materiale  Wahrheit  unserer  Aussagen.    _  i 
Obschon   den  grundsätzlichen  Verschiedenheiten  zwischen  den  Ur-  — ^ 
teilsinhalten   angepasst,   sind   sie  doch  dem  erkennenden  Bewusst-  — J 
sein   immanent.     Sie  liegen  für  reine  Begrif&urteile  im  Prinzipe  «^ 
des  Widerspruches,  sie  sind  für  synthetische  Sätze  a  priori  durch  .mM 
das  Ausmass  bestimmt,   in   welchem  diese  den  Begriff  des  Gegen- — m 
Standes   der  Erfahrung   definieren,  sie  liegen  für  Wahmebmungs-  —  m 
urteile  in   der  Evidenz   der  Wahrnehmung  selbst,   während   die'^^^i 
Wahrheit  von  Erfahrungsurteilen,  dem  komplexen  Begriff 
Gegenstandes  der  Erfahrung  gemäss,   einerseits  den  Kriterien  de 
Wahrnehmung,  andererseits  der  Norm  synthetische  Sfttse  a  prio 
unterliegen  muss. 


n. 

1.  An  die  Stelle  einer  erkenntnismetapbysischen  Okidi- 
setzung  von  Wahmehmungsurteil  und  Verstandesericenntnis  unter 
dem  Gesichtspunkte  der  formalen  Bedingungen  des  ersteran  tritt 
für  die  kritische  PhUosophie  der  Satz,  dass  Wahmehmimgen  als 
solche  schon  unter  einem  formalen  Gesetz  der  objektiveii  Ver» 
knüpfung  durch  den  Verstand  stehen  müssen.  Die  formale  Unte^ 
scheidbarkeit  der  Wahrnehmungen  an  sich  schon  setst  Einheit  der 
Synthesis  voraus.     Und  so  gewiss  jene  dem  Begriff  der  Walu^ 


0  Vgl.  Riehl,  Beiträge  zur  Logik.    VierteUabmehrift  1  wits.  Wüo- 
Sophie.    1892.    8.  19. 


Zum  Beg^riff  der  kritischen  Erkenntnislehre.  41  d 

schon  unter  Bedingungen  der  objektiven  Verknüpfung  von  Vor- 
stellungen im  Urteil  steht,  dass  m.  a.  W.  dieselbe  „Wirklichkeit", 
deren  Objektivität  die  ihrer  „Darstellung"  im  Urteil  verbürgen 
sollte,  den  Formalgesetzen  dieser  Darstellung  selbst  unterliegt, 
knrz,  man  übersieht,  dass  mit  der  Berufung  auf  die  Gegenständ- 
lichkeit jener  Tatsache  für  die  Erklärung  der  Objektivität  des 
Urteils  nichts  gewonnen  ist.  Wenn  also  z.  B.  Wundt  das  Urteil 
im  Interesse  einer  „objektiven  Begründung  der  Urteilsfunktion" 
als  „die  Zerlegung  einer  Gesaratvorstellung  in  ihre  Bestandteile* 
definiert  wissen  will,  ^)  so  wird  dagegen  vor  allen  Dingen  einzu- 
irendeu  sein,  dass  schon  jene  Gesamtvorstellung  als  „Gegen- 
stand" unter  der  formalen  Bedingung  derjenigen  Art  der  Verknüpf- 
ung von  Vorstellungen  stehen  muss,  welche  nach  Wundt  erst  die 
E^dukte  ihrer  Zerlegung  kennzeichnet.  Die  Zerlegung  einer  Ge- 
samtvorstellung zum  Zwecke  ihrer  (objektiven)  Darstellung  im  Ur- 
teil setzt  m.  a.  W.  eine  Verknüpfung  der  Teilvorstellungen  in  der 
„Gesamt" -Vorstellung  nach  der  allgemeingültigen  Norm  des  Ur- 
teils schon  voraus.  —  Wollte  man  aber  die  Objektivität  des  Urteils 
darauf  zurückführen,  dass  in  ihm  „die  Übereinstimmung  oder 
Nichtübereinstimmung  eines  Stückes  Wirklichkeit  oder  auch  der 
Wirklichkeit  überhaupt  mit  gewissen  Vorstellungen  oder  Vorstel- 
langsverknüpfungen  behauptet  werde",*)  so  mûsste  man  erst  den 
Begriff  der  Wirklichkeit  unabhängig  von  der  Form  der  „Behaup- 
tang  jener  Übereinstimmung  oder  Nichtübereinstimmung"  definiert, 
1.  h.  die  kritische  Lehre  vom  Begriff  der  Natur  widerlegt  haben. 
Entsprechendes  gälte  natürlich  auch  unter  der  Voraussetzung, 
lass  der  Begriff  der  „Wirklichkeit"  etwa  auf  die  von  Meinong") 
ils  „Objektive"  bezeichneten  Gegenstände  ausgedehnt  würde;  denn 
»ach  solche  unterliegen  dem  Gesetze  der  Verknüpfung  des 
«Mannigfaltigen"  in  der  Form  des  Urteils,  d.  h.  durch  „ein  Be- 
pnisstsein  überhaupt".^)  Der  Anspruch  des  Urteils  auf  objektive 
äfiltigkeit  gründet   sich   eben   nicht   auf   die  Eligenart  seines  In- 

1)  Wundt,  Logik.    2.  Aufl.    1893.    I.  Bd.    S.  156  f. 

*)  Vgl.  Heymans,  Gesetze  und  Elemente  des  wissenschaftlichen 
Denkens.    Leipzig  1905.    S.  44. 

*)  Vgl.  Meinong,  a.  a.  0.;  ferner  Untersuchungen  zur  Gtogenstands- 
Jieorie  und  Psychologie.  Leipzig  1904.  S.  6  und  Über  die  Stellung  der 
jFegenstandstheorie  im  System  der  Wissenschaften.    Leipzig  1907.    S.20ff. 

^)  Vgl.  hierzu  auch  Stumpf,  Zur  Einteüung  der  Wissenschaften. 
ans  den  Abhandlungen  der  Kgl.  preuss.  Akademie  der  Wissenschaften 
rom  Jahre  1906.    Berlin  1907.    S.  9  f. 


420  R.  Hönigswald, 

baltes  ;  vielmehr  ist  er  eine  Funktion  seiner  Form,  Aosdnick  te 
diese  letztere  konstituierenden  „objektiven  Einheit  der  Am«- 
zeption". 

4.  Nicht  über  eine  Realität  ergeht  m.  a.  W.  die  Aussige 
im  Urteil;  vielmehr  wird  die  Realität  bezw.  die  allgemeine 6fittig> 
keit  der  im  Urteil  vorliegenden  Vorstellungsverknüpfong  ausge- 
sagt. Realität  und  allgemeine  Gültigkeit  sind  daher  nicht  Sib- 
jekt,  sondern  in  dem  bezeichneten,  erkenntnistheoretisch  gern 
umschriebenen,  Sinn  Prädikat  des  Urteils.^)  —  Den  greifbarei 
Ausdruck  dieses  Prädikates  bildet  die  Kopula  ist.  Sie  ist» 
gleich  der  Ausdruck  für  die  Anerkennung  des  Anspruches  iif 
allgemeine  Gültigkeit,  der  zu  Begriff  und  Form  des  Urteils  g^ 
hört.  —  Eine  andere  Frage  ist  —  wie  erwähnt  —  die  nach  te 
Berechtigung  dieser  Anerkennung,  die  Frage  nach  den  allg^ 
meinen  Kriterien  für  die  materiale  Wahrheit  unserer  Aussaga. 
Obschon  den  grundsätzlichen  Verschiedenheiten  zwischen  den  ü^ 
teilsinhalten  angepasst,  sind  sie  doch  dem  erkennenden  Bewisst- 
sein  immanent.  Sie  liegen  für  reine  Begriffsurteile  im  Prinzipe 
des  Widerspruches,  sie  sind  für  synthetische  Sätze  a  priori  dnitk 
das  Ausmass  bestimmt,  in  welchem  diese  den  Begriff  des  6eg» 
Standes  der  Erfahrung  definieren,  sie  liegen  für  Wahmehmimgi' 
urteile  in  der  Evidenz  der  Wahrnehmung  selbst,  während  die 
Wahrheit  von  Erfahrungsurteilen,  dem  komplexen  Begriff  te 
Gegenstandes  der  Erfahrung  gemäss,  einerseits  den  Kriterien  te 
Wahrnehmung,  andererseits  der  Norm  synthetischer  Sätze  a  prion 
unterliegen  muss. 


n. 

1.  An  die  Stelle  einer  erkenntnismetaphysischen  Gläek- 
setzung  von  Wahmehmungsurteil  und  Verstandeserkenntnis  lutff 
dem  Gesichtspunkte  der  formalen  Bedingungen  des  ersteren  tritt 
für  die  kritische  PhUosophie  der  Satz,  dass  Wahmehmangai  >k 
solche  schon  unter  einem  formalen  Gesetz  der  objektiven  Ter 
knüpfung  durch  den  Verstand  stehen  müssen.  Die  formale  Unter 
scheidbarkeit  der  Wahrnehmungen  an  sich  schon  setzt  Einheit  te 
Synthesis   voraus.     Und   so  gewiss  jene  dem  Begriff  der  Wikr 


Sophie 


0  Vgl.  Riehl,  Beiträge  zur  Logik.    Vierteüabrsschrifl;  f.  wi«.  T» 
.    1892.    S.  19. 


2um  Begriff  der  kritischen  Ërkenntnislehre.  421 

imnng  angehört,  so  gewiss  steht  diese  anter  dem  formalen 
setze  der  Einheit.^)  Nor  sofern  Wahrnehmungen  einheitliche 
>ilde  sind,  sind  sie  „Gegenstände*",  Gegenstände  freilich  nur 
i  individueller  Gültigkeit.  Ihr  formales  Gesetz  der  Einheit 
fasst  eben  nicht  die  Bedingungen  der  objektiven  Einheit  über- 
ipt:  es  ist  auf  die  Synthesis  in  Raum  und  Zeit  beschränkt.  — 
im  und  Zeit  sind  die  formalen  Bedingungen  der  Einheit  von 
schauungen  als  solchen.  Wenn  also  Uphues  Raum  und  Zeit 
„Gesetze  für  das  Zustandekommen  der  Anschauung''  erklärt, 
wird  man  ihm  vom  Standpunkte  des  philosophischen  Kritizismus 
;  nicht  widersprechen  dürfen,  wenigstens  sofern  man  den  Be- 
ff  des  „Zustandekommens''  nicht  psychologistisch  missdeutet. — 
a  diesem,  dem  kritischen  Problem  eines  „Zustandekommens 
räumlichen  Anschauung"  aber  nicht  zu  trennen  ist  die  natür- 
i  auch  für  Uphues  grundsätzliche  Frage  nach  der  erkenntnis- 
oretischen  Natur  des  absoluten  Raumes.  Welches  ist 
n  Begriff,  welches  ist  sein  erkenntnistheoretisches 
rhältnis  zur  Geometrie? 

2.  Der  absolute  Raum  ist  nach  Uphues  —  und  entsprechen- 
gilt auch  von  der  absoluten  Zeit  —  ein  begriffliches  Gesetz, 
;  aus  Empfindungen  Anschauungen  macht.  Absoluter  Raum 
l  absolute  Zeit  sollen  sich  zu  diesen  Anschauungen  verhalten, 
ie  beispielsweise  das  Gesetz  oder  die  Formel  der  Ellipse  zur 
gestellten  oder  gezeichneten  Ellipse".*)  Dabei  leugnet  Uphues 
neswegs,  dass  es  auch  einen  Raum  als  Anschauung  gebe.  Nur 
lauptet  er,  dass  dieser  nichts  sei  als  die  Versinnbildlichung 
es  „Raumbegriffes",  vielleicht  genauer  eines  Begriffsraumes, 
,  wie  Uphues  sagt,  „in  unserem  Bewusstseiu  funktioniert".")  — 
in  Zweifel,  der  Verfasser  will  den  letzten  Satz  erkenntnistheo- 
isch,  nicht  psychologisch  verstanden  wissen.  Aber  auch  unter 
ser  Voraussetzung  kann  vor  allen  Dingen  die  kritische  Frage 
;b  den  Merkmalen  jenes  „Raumbegriffes"  nicht  umgangen 
rden.  B^es  ist  hier  von  vornherein  klar:  Kein  einziges  Merk- 
l  dieses  Begriffes  darf  der  Anschauung  entlehnt  sein,  so  gewiss 
sich  für  Uphues  nicht  um  einen  Begriff  handelt,  dessen  Gegeu- 


1)  Vgl.  hierzu  auch  Rickert,  Der  Gegenstand  der  Erkenntni«,  Ttt- 
g;en  und  Leipzig  1904.  S.  166  ff.,  femer  meine  Arbeit;  „Über  die 
ire  Humes  Ton  der  Realität  der  Aussendinge.    Berlin  1908.    S.  49. 

«)  K.  u.  s.  V.,  S.  27. 

^  Vgl  ebenda  und  S.  117. 

KMittt«di«n  Uli.  28 


424  R.  Hönigswald, 

Setzungen  oder  „Formen''  räumlich-zeitlicher  Erscheiniuigen  bflden, 
sein    mögen,   fällt   ausserhalb  des  Rahmens  der  erkenntnistheore- 
tischen  Probleme.    Daher  kommt  es   denn   auch,   dass  Kant  „in  ' 
seiner   Kritik   der  reinen   Vernunft  fast  nur  vom  anschaulichen          J 
Raum    und   von   der   anschaulichen  Zeit  redet".*)     Das,   was  die          f 
euklidische  Geometrie   vor   anderen    möglichen   und  logisch  gleich  j 
einwandsfreieu  „Geometrieen''  auszeichnet,  ist  eben  ihre  unmittel- 
bare Beziehung  zur  Anschauung.    Diese  Beziehung  kann  nicht  ver- 
leugnet werden,  solange  die  euklidische  Geometrie  selbst  als  gültige         < 
Norm  für  die  Beurteilung   des   physischen   Raumes  betrachtet         j 
wird.    So  lange  aber  muss  auch  ihre  oberste  formale  Bedingung        ^ 
Anschauung  sein  und   nicht  Begriff.  —  Dass  es  dabei  von  dieser       -a 
formalen  Bedingung  auch  einen  Begriff  giebt,  versteht  sich  von        mi 
selbst;  ja   es  ist  eine  der  wichtigsten  Aufgaben  gerade  d^  Geo-       — « 
metrie  und  nicht   zuletzt  auch  der  kritischen  Erkenntnistheorie       ^^ 
jenen  Begriff  mit  wissenschaftlicher  Schärfe  zn  entwickeln. 

Die   uichteuklidischen  Räume   sind  Begriffe  und   zwar  Be-     — ^ 
griffe   von   der  Gesetzlichkeit   einer   möglichen   Anschauung  von      mm 
Wesen,    deren   sinnliche   Vorstellungsart  nicht   die   unserige  ist;      ^ 
vom    euklidischen    Raum    hingegen,  der  Anschauung  ist,  haben      mm 
wir  einen  Begriff. 

6.  Warum  nun  gerade  diejenige  Mannigfaltigkeit,  die  wir 
den  euklidischen  Raum  nennen,  die  Form  unserer  Anschauung 
darstellt,  ist,  wenn  man  den  Ansdruck  gestattet,  eine  meta- 
erkenntnistbeoretische  Angelegenheit.  Die  Leistung  der 
Erkenntnistheorie  beschränkt  sich  auf  den  Beweis,  dass  die 
Sätze  der  euklidischen  Geometrie  auch  für  den  physischen 
Raum,  von  welchem  nnabhängig  sie  demonstriert  werden,  geltea 
müssen,  weil  sie  die  Form  seiner  Anschauung  definieren.  —  Nur 
die  Verkenuung  dieses  Sachverhaltes  konnte  die  Meinung  von 
der  Bedeutung   der  Metageometrie   für  eine  kritische  Theorie  der 


Rntwickelang  und  praktischer  Bedeotnng  znrflcksteht,  kommt  für  eine 
gmndsatxliche  KrOrtemog  nicht  weiter  in  Betneht  Auch  „die  Ailoipe 
der  Chronometrie**  sind  gleich  den  geometrischen  apriorisch  und  dennoch 
synthetisch,  d.  h.  nicht  anf  Grund  der  Erfahrung  geltende  Normen  für  dk 
erlebte  Zeit  (Einheit^  Kontinuität,  Homogenität,  unendliche  TeSbttkeit). 
Der  Begriff  der  «Chronometrie*'  findet  ach  tehon  in  Joh.  Heinr.  Lamberts 
«Neues  Orgenon**  (1764).  —  \gi,  such  Liebmsnn,  Gedanken  mtdTrtMchen 
Krster  Band.  Strassbur^r  1899.  S.  41  ;  ferner  desselben  JSor  Analjais  der 
Wirklichkeit  **  Dritte  AuH.  Strassbuifr  1900.  S.  104  f. 
')  K.  u,  s.  \\  S.  SO. 


2um  Begriff  der  kritischen  Erkenntnislehre.  423 

liarakteristik  seiner  Auffassung  von  der  begrifflichen  Natur 
laumes  gleicbnisweise  heranzieht.  In  der  Analysis  schien  die 
etrie  sich  von  den  Bedingungen  der  räumlichen  Konstruktion 
r  Tat  emanzipiert  zu  haben;  denn  hier  liefert  doch  augen- 
ilich  erst  eine  rein  logisch-mathematische  Überlegung  der 
3trie  die  Gesetze  der  Konstruktion  räumlicher  Gebilde.  Aber 
B  das  letztere  verweist  uns  unzweideutig  auf  die  ffir  die  gegen- 
^e  Diskussion  bedeutungsvollen  Grenzen  der  analytischen 
Btrie;  die  analytische  Geometrie  liefert  uns  wohl  die  Kon- 
ionsgesetze räumlicher  Gebilde,  sie  enthält  aber  nicht  die  Be- 
lügen der  Konstruktion  als  solcher.  Sie  liefert  genauer 
Konstruktionsgesetze  nur  unter  der  Voraussetzung 
r  Bedingungen.  —  Es  fragt  sich  also,  ob  nicht  der  Bê- 
les ebenen  Dreiecks,  aus  welchem  die  Winkelsumme  „folgt^,^) 
ganze  Bestimmtheit  erst  der  den  allgemeinen  Bedingungen 
)soluten  dreidimensionalen  Raumes  gemässen  Konstruktion 
Gegenstandes  verdankt.  So  gewiss  das  letztere  der  Fall 
)  gewiss  ist  der  Raum  der  euklidischen  Geometrie  An- 
lung. 

Die  analytische  Geometrie  macht  also  die  anschaulichen  Be- 
igen der  Konstruktion  nicht  nur  nicht  überflüssig,  sie  muss 
vielmehr,  um  sich  selbst  zu  verstehen,  als  ihre  unerlässliche 
ssetzung  geradezu  fordern. 

L  Dass  Uphues  der  Geometrie  als  Wissenschaft  die  ern- 
te Raum  m  essung  schroff  gegenüberstellt,  ist  vollauf  be- 
^  und  entspricht  dem  Begriff  der  Geometrie  als  apriorischer 
iemonstrierender  Disziplin.  Aber  Demonstration  schliesst 
ruktion  nicht  aus.  Ja,  die  Geometrie  demonstriert  ihre 
geradezu  mit  Hülfe  der  Konstruktion:  Demonstration  ist 
Standpunkte  der  euklidischen  Geometrie  gar  nichts 
'es  wie  Konstruktion.  Daher  ist  aber  auch  der  Begriff 
iklidischen  Geometrie  von  der  obersten  Bedingung  der  Kon- 
ion, die  als  solche  nur  Anschauung  sein  kann,  schlechter- 
nicht  zu  trennen. 

>.  Was  Raum  und  Zeit  unabhängig  davon,  dass  sie  die 
lulichen  Bedingungen  einer  Demonstration  in  Geometrie  und 
Qometrie''^)   umfassen,   dass   sie  als  solche  auch  die  Voraus- 

)  1.  c.  S.  30. 

^  Sie  ist  die  der  Geometrie  entsprechende  apriorische  Wiasentchaft 

BT  Zeit.    Wie  weit  eine  solche  hinter  der  Geometrie  an  logischer 


4â4  R.  Hönigswald, 

Setzungen  oder  „Formen"  räumlich-zeitlicher  Erscheinungen  bilden, 
sein  mögen,  fällt  ausserhalb  des  Rahmens  der  erkenntnistheore- 
tischen Probleme.  Daher  kommt  es  denn  auch,  dass  Kant  ,in 
seiner  Kritik  der  reinen  Vernunft  fast  nur  vom  anschaulichen 
Raum  und  von  der  anschaulichen  Zeit  redet". ^)  Das,  was  die 
euklidische  Geometrie  vor  anderen  möglichen  und  logisch  gleich 
einwandsfreieu  „Geometrieeu"  auszeichnet,  ist  eben  ihre  unmittel- 
bare Beziehung  zur  Anschauung.  Diese  Beziehung  kann  nicht  ver- 
leugnet werden,  solange  die  euklidische  Geometrie  selbst  als  gültige 
Norm  für  die  Beurteilung  des  physischen  Raumes  betrachtet 
wird.  So  lange  aber  muss  auch  ihre  oberste  formale  Bedingung 
Anschauung  sein  und  nicht  Begriff.  —  Dass  es  dabei  von  dieser 
formalen  Bedingung  auch  einen  Begriff  giebt,  versteht  sich  von 
selbst;  ja  es  ist  eine  der  wichtigsten  Aufgaben  gerade  der  Geo- 
metrie und  nicht  zuletzt  auch  der  kritischen  Erkenntnistheorie 
jenen  Begriff  mit  wissenschaftlicher  Schärfe  zu  entwickeln. 

Die  nichteuklidischen  Räume  sind  Begriffe  und  zwar  Be- 
griffe von  der  Gesetzlichkeit  einer  möglichen  Anschauung  tob 
Wesen,  deren  sinnliche  Vorstellungsart  nicht  die  unserige  ist; 
vom  euklidischen  Raum  hingegen,  der  Anschauung  ist,  haben 
wir  einen  Begriff. 

6.  Warum  nun  gerade  diejenige  Mannigfaltigkeit,  die  wv 
den  euklidischen  Raum  nennen,  die  Form  unserer  Anschairong 
darstellt,  ist,  wenn  man  den  Ausdruck  gestattet,  eine  meti- 
erkenntnistheoretische  Angelegenheit.  Die  Leistung  der 
Erkenntnistheorie  beschränkt  sich  auf  den  Beweis,  dass  die 
Sätze  der  euklidischen  Geometrie  auch  für  den  physischen 
Raum,  von  welchem  unabhängig  sie  demonstriert  werden,  gelten 
müssen,  weil  sie  die  Form  seiner  Anschauung  definieren.  —  Sur 
die  Verkenuung  dieses  Sachverhaltes  konnte  die  Meinung  von 
der  Bedeutung   der  Metageometrie   für  eine  kritische  Theorie  der 


Entwickelung  und  praktischer  Bedeutung  zurücksteht,  kommt  für  eine 
grundsätzliche  Erörterung  nicht  weiter  in  Betracht.  Auch  „die  Axiose 
der  Chronometrie*'  sind  gleich  den  geometrischen  apriorisch  und  dennoch 
synthetisch,  d.  h.  nicht  auf  Grund  der  Erfahrung  geltende  Nonnen  für  die 
erlebte  Zeit  (Einheit,  Kontinuität,  Homogenität,  unendliche  Teübarkeit> 
Der  Begriff  der  „Chronometrie"  findet  sich  schon  in  Joh.  Heinr.  Lamboto 
„Neues  Organon"  (1764).  —  Vgl.  auch  Liebmann,  Gedanken  undTatsadMa 
Erster  Band.  Strassburg  1899.  S.  41  ;  femer  desselben  ^Zur  Anàtpàa  dtf 
Wirklichkeit."  Dritte  Aufl.  Strassburg  1900.  S.  104  f. 
')  K.  u.  s.  V..  S.  30. 


Zum  Begriff  der  kritischen  Erkenntnislehre.  42Ô 

f abrang  erwecken.  Eine  solche  besteht  nicht;  denn  es  kann 
cb  dem  Grunde  der  Geltung  nichteuklidischer  Raumgesetze  für 
a  physischen  Raum  nicht  gefragt  werden,  solange  dieser  von 
alitÄten  erfüllt  ist,  die  nur  unter  der  Voraussetzung  des 
k lidischen  Raumes  vorgestellt  werden  können.^)  Die  Deuk- 
rkeit  von  nichteuklidischen  „Räumen"  entscheidet  nicht  über 
a  Grund  der  objektiven  Geltung  des  dreidimensionalen  und 
dtzt  daher  in  diesem  Sinne  wenigstens  auch  keinerlei 
cenntnistheoretische  Valenz.  —  Gewiss,  auch  die  Sätze  der 
îbtenklidischen  Geometrie  „gelten^*  Aber  ihre  Geltung  ist  nicht 
Q  der  Art  der  Geltung  euklidischer  Sätze.  Die  Kriterien  der 
dtong  nichteuklidischer  Geometrien  sind  —  wenigstens  vom 
andpunkte  der  für  die  Erfahrung  Geltung  beanspruchenden 
issenschaft  Euklids  aus  betrachtet  —  rein  formaler  Natur:  einer- 
its  „die  antinomiscbe  Widerspruchs losigkeit**,  wonach 
5de  Geometrie  neben  der  anderen  muss  bestehen  können," 
dererseits  „die  immanente  Widerspruchslosigkeit",  wo- 
ch  Jede  Geometrie  in  sich  selbst  widerspruchslos  sein  muss".^ 
e  Objektivität  von  Sätzen  nichteuklidischer  Geometrien  hat  ge- 
S8  nichts  zu  tun  mit  der  Objektivität  der  Elrfahrung;  m.  a.  W. 
le  Sätze  entbehren  schlechterdings  jeder  unmittelbaren  Beziehung 
r  Anschauung  und  mit  ihr  der  Beziehung  auf  den  Begriff  der 
>jektivität  des  Angeschauten.^  —  Gerade  diese  Beziehung  aber 
stimmt  den  erkenntnistheoretischen  Charakter  der  euklidischen 
^ometrie.  Nach  dem  Grunde  ihrer  objektiven  Geltung  fragen, 
isst  daher  nicht  nach  dem  Grunde  der  Geltung  ihrer  Sätze 
►erhaupt  fragen.  —  Für  die  kritische  Erkenntnislehre  als  eine 
leorie  der  Erfahrung  ist  die  Geometrie  m.  a.  W.  ein  Problem,  nur 
fem  sie  Anspruch  darauf  erhebt  von  Dingen  a  priori  zu  gelten; 
id  die  Beziehung  der  Geometrie  auf  den  Begriff  der  Ekiahmng 
rechtfertigen,  das  allein  ist  hier  die  Aufgabe  der  Erkenntnis- 
eorie:  sie  hat  unser  Recht  auf  die  Voraussetzung  etwa  zu  be- 
iinden,    dass    die    Merkmale    des    absoluten    dreidimensionalen 

1)  Vgl.  Riehl,  Helmholtz  in  seinem  Verhältnis  zu  Kant.  Kantstudien, 
l.  IX,  S.  279:  femer  Riehl,  Der  phUosophische  Kritizismus.  Bd.  I. 
ireite  Aufl.    1906.    S.  329  f. 

^  Bauch,  Erfahrung  und  Geometrie  in  ihrem  erkenntnistheoretischen 
srhältnis.    ^Kantstudien",  Bd.  Xn,  S.  223. 

S)  Das  Problem  der  Objektivität  der  nichteuklidischen  Geometrien 
ich  seiner  positiven  Seite  hin  soll  zum  Gegenstande  einer  besonderen 
ntertachong  gemacht  werden. 


428  R.  Hönigrswald, 

letzten  Sinne  vor  allem  sucht  die  kritische  Erkenntnistheorie,  nicht 
ohne  hierbei  zugleich  die  Bedingungen  für  das  Verständnis  der 
logischen  Eigenart  der  Geometrie  festzulegen. 

10.  Die  Unterscheidung  zwischen  der  Geltung  geometrischer 
Sätze   unabhängig  von   der  Existenz   entsprechender  Obfekte  und 
deren   apriorischer  Geltung  für   Objekte   der  Erfahrung  ist  aber 
gerade   auch   inbezug  auf  die  Lehre  Uphues*  nicht  bedeutungslos. 
Denn  sie  enthält,   genau   besehen,   die  Erkenntnis,   dass  die  von 
der  Existenz   entsprechender  Objekte   unabhängige  Geltung   von 
Sätzen  noch  nicht  Geltung  für  beliebige  Objekte  bedeuten  müsse, 
dass  also  die  von  Dingen  unabhängige  Begründbarkeit  eines  Satzes,     « 
seine  von  Erfahrung  unabhängig  begründete  Geltung,  sich  mit  einer    i 
Beschränkung   eben   dieser    seiner  Geltung   auf  Gegenstände  der   n 
Erfahrung  sehr  wohl  vertrage.^) 

Aber  hiervon  ganz  abgesehen  bringt  uns  jene  Unterscheidung  *s 
vor  allen  Dingen  das  Âuseinanderfallen  der  Begriffe  der  Denkbar-  — - 
barkeit  und  der  Objektivität  der  Erfahrung  zu  Bewusstsein. .  j 
Nichteuklidische  Geometrien  „gelten",  sofern  sie  —  in  begrOnd — J 
barer  Weise  —  denkbar  sind;  die  euklidische  Geometrie  „gilf  auch,«,^ 
sofern  sie  die  Norm  für  die  Beurteilung  der  räumlichen  Eigen — m, 
Schäften  von  Dingen  liefert.  Die  wissenschaftliche  Denkbar— ^-s 
keit  nichteuklidischer  Räume  beweist  höchstens  den  Satz  Kants  <9Bi 
dass  die  Axiome  der  euklidischen  Geometrie  nicht  analytisctV^ 
sind,^)  sie  hat  aber  nichts  zu  tun  mit  dem  Bechtsgrund  dnr^ 
apriorischen  und  dennoch  für  Gegenstände  der  Erfahrung  gültigeB-^^ 
Gebrauchs  dieser  Axiome,  d.  h.  mit  den  Problemen  der  kritischer  m 
Erkenntnistheorie. 

11.  Dass  auch  die  nichteuklidischen  Bäume  ungeachtet  it 
blossen  Denkbarkeit,  ja  vielleicht  schon  wegen  dieser,  genaa 
wie  der  euklidische  Baum  „Gegenstände*'  sind  —  das  Wort  in 
ihm  von  Meinong  erteilten  Allgemeinheit  verstanden  —  mag  i^^q- 
gestanden  werden.  In  diesem  Sinne  hätte  dann  freilieb  JegUc^Hie 
Geometrie,  die  euklidische  wie  die  nichteuklidische  auf  alle  FK^e 
„gegenständliche*'  Bedeutung.  Aber  so  gewiss  damit  der  Grtmjid 
der  apriorischen  Geltung  der  euklidischen  für  Gegenstände  der 
Erfahrung  noch   nicht  festgestellt  ist,  so  gewiss  wäre  auch    der 


1)  Vgl.  K.  u.  g.  V.,  S.  24  f. 

«)  Vgl.  Riehl,  Logik  und  Erkenntnistheorie  in  „Die  Kaltor  der 
Gegenwart",  Teil  I,  Abt.  VI,  S.  91  :  ferner  Eiehl,  Der  pbiloe.  "Kn^aâMom 
u.  8.  w.,  Bd.  I.    Zweite  Aufl.    1906.    S.  467. 


Zum  Begriff  der  kritischen  Erkenntnislehre.  427 

lire  als  kritischer  Erfahrungstheorie  wird  die  Geometrie  indessen 
«Tch  ihren  Anspruch  auf  objektive  Geltung,  d.  h.  durch  ihren 
rnch  die  Normen  für  die  Beurteilung  empirischer  Raumver- 
1886  zu  liefern.  Die  Erkenntnistheorie  prüft  die  Berechtigung 
I  Anspruchs,  sie  sucht  den  Rechtsgrund  etwa  für  die  Behaup- 
dass  eine  in  den  Sand  gezeichnete  Figur  in  geometrischem 
i  kein  Dreieck  ist,  weil  seine  Winkelsurame  nicht  180® 
^.  —  Die  scharfe  und  für  den  erfolgreichen  Betrieb  der 
nntnislehre  unerlässiiche  Trennung  der  beiden  Gesichtspunkte 
cht  uns  natürlich  nicht  darüber  zu  täuschen,  dass  die  Âuf- 
n,   welche   Logik   und  Erkenntnislehre   der  Geometrie  gegen- 

zu  erfüllen  haben,  sich  vielfach  berühren  und  bis  zu  einem 
Bsen  Grade  einander  bedingen.  Denn  einerseits  motiviert  nur 
logische  Eigenart   der  Geometrie,    ihre  Sätze  unabhängig  von 

Erfahrung  zu  beweisen,  die  erkenntnistheoretische 
B  nach  dem  Grunde  der  Geltung  geometrischer  Sätze  für  die 
hmng;  wäre  nämlich  die  Geometrie  Erfahrungswissenschaft, 
entbehrte  sie  jeder  Beziehung  auf  die  Frage,  „wie  synthe- 
e  Urteile  a  priori  möglich  seien  ^.  Auf  der  anderen  Seite  aber 
lag  uns  erst  die  Erkenntnislehre  das  volle  Verständnis 
logischen  Problems  der  Geometrie  zu  vermitteln.  Der  funda- 
^e  erkenntnistheoretische  Begriff  der  Synthesis  muss  fest- 
en, wenn  die  logische  Eigenart  des  geometrischen  Beweises 
«t  werden  soll.  —  Es  beruht  m.  a.  W.  auf  einer  erkennt- 
heoretischen Einsicht,  dass  ein  Beweis  für  den  Begriff 
(  geometrischen  Gebildes  nicht  ein  Beweis  aus  Begriffen  sein 
e.  Der  Beweis  als  solcher  aber  ist  als  Gegenstand  der 
k  von  der  erkenntnistheoretischen  Frage  nach  dem  Grunde 
reitung  des  Bewiesenen  füi*  die  Erfahrung  scharf  zu  trennen. 
Die  Geometrie  definiert  das  allgemeine  Formal- 
tz  der  räumlichen  Anschauung.    Die  Logik  der  Geo- 

ie  bestimmt  die  Eigenart  der  Methode  dieser  Defi- 
es und  die  kritische  Erkenntnistheorie  den  Grund 
lie  Geltung  ihrer  Resultate  in  aller  Erfahrung. 

9.    Auf  alle  Fälle  bedeutet  die  „Wahrheit*"  eines  Satzes  der 

tischen  Geometrie  dreierlei:   einmal  seine  logische  und  imma- 

Widerspruchslosigkeit,   dann   seine  Geltung  von  allen  geo- 

i  seh  en    Gebilden,    für    deren   Begriff  er   bewiesen   worden 

schliesslich    seine   Geltung    als  Norm  für  die  räumlichen 

Utnisse  in  der  Erfahrung.    Den  Grund  der  Geltung  in  diesem 


422  R.  Hönigswald, 

stand  die  Anschauung  ist,  sondern  um  einen  Begriff,  der  An- 
schauung selbst  erst  ermöglichen  soll.  —  Nun  mag  es  ja  sein, 
dass  das  bekannte  Argument  Kants,  der  Kaum  der  euklidischen 
Geometrie  müsse  Anschauung  sein,  weil  er  der  Merkmale  des  Be- 
griffs schlechterdings  entbehre,  nur  den  Klassen  begriff  im 
Auge  habe,  dass  also  der  euklidische  Raum  immer  noch  „Indiyi- 
dualbegriff^  sein  könnte.  Allein  auch  dieser  Einwand  würde  das 
Problem  des  Begriffsraumes  nichts  weniger  als  klären.  Denn  der 
Satz:  ,Der  Raum  der  euklidischen  Geometrie  ist  Individualbegriff' 
—  wäre  gleichbedeutend  mit  dem  Satz:  ,Der  Raum  der  eukli- 
dischen Geometrie  ist  der  Begriff  von  einem  einzigen  Gegenstände', 
etwa,  wie  der  Begriff  des  magnetischen  Nordpols.  Nun  fragt  es 
sich  bloss:  welches  ist  dieser  Gegenstand?  Dass  es  der  anschau- 
liche Raum  selbst  nicht  sein  kann,  steht  von  vornherein  fest,  denn 
der  anschauliche  Raum  soll  ja  durch  jenen  Begriffsraum  erst  „er- 
möglicht"^ werden.  Auch  handelt  es  sich  ja  gar  nicht  um  einen 
Begriff  vom  anschaulichen  Raum,  sondern  um  einen  Raum,  der 
selbst  Begriff  ist.  —  Wäre  also  der  Raum  der  euklidischen  Geo- 
metrie Individualbegriff,  so  müsste  er  bestimmt  werden  als  ein  Be- 
griff ohne  Gegenstand,  d.  h.  ein  Begriff  ohne  Zweck  und  Be- 
deutung. Denn  der  Begriff  ist  nichts  als  das  allgemeingültige 
Symbol  des  Gegenstandes,  den  er  bezeichnet.  Mag  auch  sein  In- 
halt von  den  Merkmalen  dieses  Gegenstandes  sich  noch  so  wdt 
entfernen  —  man  denke  an  den  Unterschied  zwischen  dem  Licht 
und  der  Vorstellung  elektromagnetischer  Induktionswirkungen, 
durch  welche  gegenwärtig  sein  Begriff  definiert  wird  —  :  seine 
methodische  Bestimmtheit  und  seinen  erkenntnistheoretischen  Sinn 
erhält  der  Begriff  nur  durch  die  Beziehung  auf  sein  Objekt  Es 
ist  daher  unmöglich,  jenen  Begriffsraum  auch  nur  zu  bezeichnen, 
der  sich  zur  Anschauung  verhalten  sollte,  wie  das  analytisdie 
Konstruktionsgesetz  zu  dem  entsprechenden  geometrischen  GebUde. 
3.  Wäre  der  Raum  Begriff  und  nicht  Anschauung,  so 
stünden  wir  augenscheinlich  vor  zwei  Möglichkeiten.  Entweder 
müsste  jeder  Zusammenhang  zwischen  dem  Räume  und  der  eukli- 
dischen Geometrie  geleugnet,  oder  aber  die  letztere  als  eine  un- 
abhängig von  jeder  räumlichen  Konstruktion  demonstrieraide 
Wissenschaft  aufgewiesen  .'werden.  Nur  die  zweite  Möglichkeit 
kommt  augenscheinlich  in  Betracht.  Und  weil  sie  ihre  praktische 
Verwirklichung  in  der  analytischen  Geometrie  bereits  erfahren  zfl 
haben  scheint,   liegt  es  durchaus  nahe,    dass  Uphues  gerade  diese 


Zum  Begriff  der  kritischen  Erkenntnislehre.  423 

r  Charakteristik  seiner  Auffassung  von  der  begrifflichen  Natur 
8  Baumes  gleichuisweise  heranzieht.  In  der  Analysis  schien  die 
3ometrie  sich  von  den  Bedingungen  der  räumlichen  Konstruktion 
der  Tat  emanzipiert  zu  haben  ;  denn  hier  liefert  doch  augen- 
heinlich  erst  eine  rein  logisch-mathematische  Überlegung  der 
M>metrie  die  Qesetze  der  Konstruktion  räumlicher  Gebilde.  Aber 
fade  das  letztere  verweist  uns  unzweideutig  auf  die  fär  die  gegen- 
Irtige  Diskussion  bedeutungsvollen  Grenzen  der  analytischen 
3ometrie;  die  analytische  Geometrie  liefert  uns  wohl  die  Kon- 
ruktionsgesetze  räumlicher  Gebilde,  sie  enthält  aber  nicht  die  Be- 
ngungen  der  Konstruktion  als  solcher.  Sie  liefert  genauer 
ne  Konstruktionsgesetze  nur  unter  der  Voraussetzung 
eser  Bedingungen.  —  Es  fragt  sich  also,  ob  nicht  der  Be- 
iff  des  ebenen  Dreiecks,  aus  welchem  die  Winkelsumme  „folgt", ^) 
ine  ganze  Bestimmtheit  erst  der  den  allgemeinen  Bedingungen 
s  absoluten  dreidimensionalen  Raumes  gemässen  Konstruktion 
Ines  Gegenstandes  verdankt.  So  gewiss  das  letztere  der  Fall 
^  so  gewiss  ist  der  Raum  der  euklidischen  Geometrie  An- 
hauung. 

Die  analytische  Geometrie  macht  also  die  anschaulichen  Be- 
[igungen  der  Konstruktion  nicht  nur  nicht  überflüssig,  sie  muss 
386  vielmehr,  um  sich  selbst  zu  verstehen,  als  ihre  unerlässliche 
iraussetzung  geradezu  fordern. 

4.  Dass  Uphues  der  Geometrie  als  Wissenschaft  die  em- 
rische  Ran  m  m  essung  schroff  gegenüberstellt,  ist  vollauf  be- 
chtigt  und  entspricht  dem  Begriff  der  Geometrie  als  apriorischer 
id  demonstrierender  Disziplin.  Aber  Demonstration  schliesst 
>D8truktion  nicht  aus.  Ja,  die  Geometrie  demonstriert  ihre 
Aze  geradezu  mit  Hülfe  der  Konstruktion:  Demonstration  ist 
)m  Standpunkte  der  euklidischen  Geometrie  gar  nichts 
ideres  wie  Konstruktion.  Daher  ist  aber  auch  der  Begriff 
r  euklidischen  Geometrie  von  der  obersten  Bedingung  der  Kon- 
ruktion,  die  als  solche  nur  Anschauung  sein  kann,  schlechter- 
igs  nicht  zu  trennen. 

ö.  Was  Raum  und  Zeit  unabhängig  davon,  dass  sie  die 
achanlichen  Bedingungen  einer  Demonstration  in  Geometrie  und 
ihronometrie"*)   umfassen,   dass   sie  als  solche  auch  die  Voraus- 

^)  L  c.  8.  80. 

*)  Sie  ist  die  der  Geometrie  entsprechende  apriorische  Wissenschaft 
n   der  Zeit.    Wie  weit  eine  solche  hinter  der  Geometrie  an  logischer 


426  R.  Hönigswald, 

Raumes  auch  die  des  physischen  Raumes  sein  müssen,  dass  das 
Erümmungsmass  unseres  Erfahrungsraumes  in  den  grössteOt 
wie  in  den  kleinsten  Dimensionen,  die  als  solche  niemals  Gegen- 
stand einer  Erfahrung  sein  können,  dasjenige  des  absolaten 
Raumes,  nämlich  Null  sein  müsse;  sie  hat  zu  zeigen,  mit  weldiem 
Rechte  wir  die  geometrischen  Eigenschaften  unserer  Erfahrungs- 
objekte  an  dem  Ideale  derjenigen  Gebilde  messen,  deren  Begrül  wir 
der  Konstruktion  im  absoluten  dreidimensionalen  Räume  verdanken. 

7.  „Gelten"   würden  also  auch  die  auf  den  Begriff  des  eu- 
klidischen Raumes  gegründeten  Sätze  „wenn  unsere  E^pfindnngeD 
so  beschaffen  wären,  dass  wir  sie  (sc.  die  geometrischen  Gesetze) 
gar  nicht  auf  diese  Empfindungen  anwenden  könnten  ;   wenn  viel- 
mehr die  Beschaffenheit  der  Empfindungen  uns  veranlasste,  sie  zu 
räumlichen   Gebilden   eines   vier-  oder  n-dimensionalen  Raumes  za 
gestalten".^)     Eine   solche  „euklidische"  Geometrie  aber  wäre,  îb 
dem  oben  dargelegten  Sinne  wenigstens,  so  wenig  Gegenstand  men 
erkenntnistheoretischen  Erörterung,  wie  es  jetzt  die  Gebflde  det 
Metageometrie  sind. 

Nicht  dies  nämlich  charakterisiert  erkenntnis- 
theoretisch  zutreffend  und  erschöpfend  die  euklidisct»^ 
Geometrie,  dass  ihre  Sätze  auch  unabhängig  von  d^^ 
Existenz  entsprechender  Objekte  gelten,  sondern  viel- 
mehr dies,  dass  die  Geltung  geometrischer  Sätze  19' 
Objekte  von  deren  Existenz  unabhängig  ist 

8.  Diese  Unterscheidung  enthält  mehr  als  eine  blosse  Formel 
zur  Kennzeichnung  der  Aufgabe,  welche  die  Geometrie  der  Er- 
kenntnislehre stellt  Sie  hilft  uns  vor  allem  die  Aufgaben  einer 
Logik  der  Geometrie  von  den  transscendentalphilosopbi- 
schen  Problemen,  welche  sich  an  die  Tatsache  der  Geometn^ 
knüpfen,  zu  trennen.  —  Dass  die  Sätze  der  euklidischen  Geometrie 
gelten,  auch  wenn  kein  Objekt  da  wäre,  das  sie  bestätigte,  ist 
nur  ein  anderer  Ausdruck  für  das  methodische  Verhalten  der  Geo- 
metrie ihre  Sätze  unabhängig  von  der  Existenz  entsprechender 
Erfahrungsobjekte  zu  beweisen.  Es  ist  der  Ausdruck  für  die  lo- 
gische Tatsache,  dass  die  Geometrie  ihre  Sätze  für  die  Begriffe 
ihrer  Gebilde  beweist,  dass  also  etwa  der  Satz  von  der  Winkelsamne 
des  ebenen  Dreiecks,  einmal  gefunden,  von  allen  im  absoluten  Bamn 
konstruierten  Dreiecken  gelten  müsse.    Zum  Objekt  der  Erkennt- 


1)  Vgl.  K.  u.  8,  V.,  S.  24  f. 


Zum  Begriff  der  kritischen  Erkenntnislehre.  42Ô 

Erfahnmg  erwecken.  Eine  solche  besteht  nicht;  denn  es  kann 
nach  dem  Grande  der  Geltung  nichtenklidischer  Raumgesetze  für 
den  physischen  Raum  nicht  gefragt  werden,  solange  dieser  von 
Realitäten  erfüllt  ist,  die  nur  unter  der  Voraussetzung  des 
euklidischen  Raumes  vorgestellt  werden  können.^)  Die  Denk- 
barkeit von  nichteuklidischen  ,, Räumen''  entscheidet  nicht  über 
deo  Grund  der  objektiven  Geltung  des  dreidimensionalen  und 
besitzt  daher  in  diesem  Sinne  wenigstens  auch  keinerlei 
erkenntnlstheoretische  Valenz.  —  Gewiss,  auch  die  Sätze  der 
oichtenklicßschen  Geometrie  „gelten'''  Aber  ihre  Geltung  ist  nicht 
von  der  Art  der  Geltung  eiiWidischer  Sätze.  Die  Kriterien  der 
Geltung  nichteuklidischer  Geometrien  sind  —  wenigstens  vom 
Standpunkte  der  für  die  Erfahrung  Geltung  beansprachenden 
f^ösenschaft  Euklids  aus  betrachtet  —  rein  formaler  Natur:  elner- 
^ts  „die  antinomische  Widerspruchs losigkeit",  wonach 
'^e  Geometrie  neben  der  anderen  muss  bestehen  können," 
'«iererseits  „die  immanente  Widerspruchslosigkelt",  wo- 
^ix  Jede  Geometrie  in  sich  selbst  wldersprachslos  sein  muss".^ 
)  Objektivität  von  Sätzen  nichteuklidischer  Geometrien  hat  ge- 
^  nichts  zu  tun  mit  der  Objektivität  der  Erfahrung;  m.  a.  W. 
^  Sätze  entbehren  schlechterdings  jeder  unmittelbaren  Beziehung 
Anschauung  und  mit  ihr  der  Beziehung  auf  den  Begriff  der 
iektlvität  des  Angeschauten.^  —  Gerade  diese  Beziehung  aber 
^mmt  den  erkenntnistheoretischen  Charakter  der  euklidischen 
^Ometrie.  Nach  dem  Grunde  ihrer  objektiven  Geltung  fragen, 
'^%st  daher  nicht  nach  dem  Grunde  der  Geltung  ihrer  Sätze 
Whaupt  fragen.  —  Für  die  kritische  Erkenntnislehre  als  eine 
'heorie  der  Erfahrung  ist  die  Geometrie  m.  a.  W.  ein  Problem,  nur 
•ofem  sie  Anspruch  darauf  erhebt  von  Dingen  a  priori  zu  gelten; 
lud  die  Beziehung  der  Geometrie  auf  den  Begriff  der  Erfahrang 
D  rechtfertigen,  das  allein  ist  hier  die  Aufgabe  der  Elrkenntnls- 
Wrie:  sie  hat  unser  Recht  auf  die  Voraussetzung  etwa  zu  be- 
riinden,    dass    die    Merkmale    des    absoluten    dreidimensionalen 

^)  Vgl.  Riehl,  Helmholtz  in  seinem  Verhältnis  zu  Kant.  Kantstudien, 
1  IX,  S.  279:  femer  Riehl,  Der  philosophische  Kritizismus.  Bd.  I. 
weàte  Aufl.    1908.    S.  329  f. 

^  Bauch,  Erfahrung  und  Geometrie  in  ihrem  erkenntnistheoretischen 
drhftltnis.    ^Kantstudien"",  Bd.  Xn,  S.  223. 

*)  Das  Problem  der  Objektivität  der  nichteuklidischen  Geometrien 
ich  seiner  positiven  Seite  hin  soll  zum  Gegenstande  einer  besonderen 
ntertachong  gemacht  werden. 


426  R.  Hönigswald, 

Raumes  anch  die  des  physischen  Raumes  sein  müssen,  dass  das 
Erümmungsmass  unseres  Erfahrungsraumes  in  den  grössten, 
wie  in  den  kleinsten  Dimensionen,  die  als  solche  niemals  Gegen- 
stand einer  Erfahrung  sein  können,  dasjenige  des  absolaten 
Raumes,  nämlich  Null  sein  müsse  ;  sie  hat  zu  zeigen,  mit  welchem 
Rechte  wir  die  geometrischen  Eigenschaften  unserer  Erfahnmgs- 
objekte  an  dem  Ideale  derjenigen  Gebilde  messen,  deren  Begriff  wir 
der  Konstruktion  im  absoluten  dreidimensionalen  Räume  verdanken. 

7.  „Gelten"'  würden  also  auch  die  auf  den  Begriff  des  eu- 
klidischen Raumes  gegründeten  Sätze  „wenn  unsere  ElmpfindaDjfeo 
so  beschaffen  wären,  dass  wir  sie  (sc.  die  geometrischen  Gesetze) 
gar  nicht  auf  diese  Empfindungen  anwenden  könnten  ;  wenn  Tiei- 
mehr  die  Beschaffenheit  der  Empfindungen  uns  veranlasste,  sie  zo 
räumlichen  Gebilden  eines  vier-  oder  n-dimensionalen  Ramnes  zs 
gestalten**.^)  Eine  solche  „enklidische*"  Geometrie  aber  wäre,  in 
dem  oben  dargelegten  Sinne  wenigstens,  so  wenig  Gegenstand  eioer 
erkenntnistheoretischen  Erörterung,  wie  es  jetzt  die  Gebüde  der 
Metageometrie   sind. 

Nicht  dies  nämlich  charakterisiert  erkenntnis- 
theoretisch  zutreffend  und  erschöpfend  die  euklidische 
Geometrie,  dass  ihre  Sätze  auch  unabhängig  von  der 
Existenz  entsprechender  Objekte  gelten,  sondern  viel- 
mehr dies,  dass  die  Geltung  geometrischer  Sätze  für 
Objekte  von  deren  Existenz  unabhängig  ist 

8.  Diese  Unterscheidung  enthält  mehr  als  eine  blosse  Formel 
zur  Kennzeichnung  der  Aufgabe,  welche  die  Geometne  der  Er- 
kenntnislehre stellt  Sie  hilft  uns  vor  allem  die  Aufgaben  einer 
Logik  der  Geometrie  von  den  transscendentalphilosophi- 
schen  Problemen,  welche  sich  an  die  Tatsache  der  Geometrie 
knüpfen,  zu  trennen.  —  Dass  die  Sätze  der  euklidischen  Geometrie 
gelten,  auch  wenn  kein  Objekt  da  wäre,  das  sie  bestätigte,  ist 
nur  ein  anderer  Ausdruck  für  das  methodische  Verhalten  der  Geo- 
metrie ihre  Sätze  unabhängig  von  der  Existenz  entsprecheoder 
Erfahrungsobjekte  zu  beweisen.  Es  ist  der  Ausdruck  für  die  lo- 
gische Tatsache,  dass  die  Geometrie  ihre  Sätze  für  die  Begriffe 
ihrer  Gebilde  beweist,  dass  also  etwa  der  Satz  von  der  Winkelsumme 
des  ebenen  Dreiecks,  einmal  gefunden,  von  allen  im  absoluten  Banio 
konstruierten  Dreiecken  gelten  müsse.    Zum  Objekt  der  Erkennt- 


1)  Vgl.  K.  u.  s,  V.,  S.  24  f. 


Zum  Begriff  der  kritischen  Erkenntnislehre.  427 

oislehre  als  kritischer  Erfahrungstheorie  wird  die  Geometrie  indessen 
sret  durch  ihren  Anspruch  auf  objektive  Geltung,  d.  h.  durch  ihren 
inspnich  die  Normen  für  die  Beurteilung  empirischer  Raurover- 
lUtoisse  zu  liefern.  Die  Erkenntnistheorie  prüft  die  Berechtigung 
lieses  Anspruchs,  sie  sucht  den  Rechtsgrund  etwa  für  die  Behaup- 
nng,  dass  eine  in  den  Sand  gezeichnete  Figur  in  geometrischem 
üirne  kein  Dreieck  ist,  weil  seine  Winkelsumme  nicht  180® 
eträgt.  —  Die  scharfe  und  für  den  erfolgreichen  Betrieb  der 
irkenntnislehre  unerlässliche  Trennung  der  beiden  Gesichtspunkte 
raucht  uns  natürlich  nicht  darüber  zu  täuschen,  dass  die  Âuf- 
aben,  welche  Logik  und  Erkenntnislehre  der  Geometrie  gegen- 
l)er  zu  erfüllen  haben,  sich  vielfach  berühren  und  bis  zu  einem 
^wissen  Grade  einander  bedingen.  Denn  einerseits  motiviert  nur 
e  logische  Eigenart  der  Geometrie,  ihre  Sätze  unabhängig  von 
1er  Erfahrung  zu  beweisen,  die  erkenntnistheoretische 
rage  nach  dem  Grunde  der  Geltung  geometrischer  Sätze  für  die 
rfahrung;  wäre  nämlich  die  Geometrie  Erfahrungswissenschaft, 
im  entbehrte  sie  jeder  Beziehung  auf  die  Frage,  „wie  synthe- 
iche  urteile  a  priori  möglich  seien  ^.  Auf  der  anderen  Seite  aber 
rmag  uns  erst  die  Erkenntnislehre  das  volle  Verständnis 
s  logischen  Problems  der  Geometrie  zu  vermitteln.  Der  funda- 
tntale  erkenntnistheoretische  Begriff  der  Synthesis  muss  fest- 
hen,  wenn  die  logische  Eigenart  des  geometrischen  Beweises 
asst  werden  soll.  —  Es  beruht  m.  a.  W.  auf  einer  erkennt- 
stheoretischen  Einsicht,  dass  ein  Beweis  für  den  Begriff 
es  geometrischen  Gebildes  nicht  ein  Beweis  aus  Begriffen  sein 
ane.  Der  Beweis  als  solcher  aber  ist  als  Gegenstand  der 
gik  von  der  erkenntnistheoretischen  Frage  nach  dem  Grunde 
•  Geltung  des  Bewiesenen  füi-  die  Erfahrung  scharf  zu  trennen. 
Die  Geometrie  definiert  das  allgemeine  Formal- 
setz der  räumlichen  Anschauung.  Die  Logik  der  Geo- 
)trie  bestimmt  die  Eigenart  der  Methode  dieser  Defi- 
tion  und  die  kritische  Erkenntnistheorie  den  Grund 
r  die  Geltung  ihrer  Resultate  in  aller  Erfahrung. 

9.  Auf  alle  Fälle  bedeutet  die  „Wahrheit*"  eines  Satzes  der 
Ididischen  Geometrie  dreierlei:  einmal  seine  logische  und  imma- 
Qte  Widerspruchslosigkeit,  dann  seine  Geltung  von  allen  geo- 
ätrischen  Gebilden,  für  deren  Begriff  er  bewiesen  worden 
ur,  schliesslich  seine  Geltung  als  Norm  für  die  räumlichen 
orhältnisse  in  der  Erfahrung.    Den  Grund  der  Geltung  in  diesem 


428  R.  Hönigswald, 

letzten  Sinne  vor  allem  sucht  die  kritische  Erkenntnistheorie,  nièt 
ohne  hierbei  zugleich  die  Bedingungen  für  das  Verständnis  der 
logischen  Eigenart  der  Geometrie  festzulegen. 

10.  Die  Unterscheidung  zwischen  der  Geltung  geometrischer 
Sätze  unabhängig  von  der  Existenz  entsprechender  Objekte  und 
deren  apriorischer  Geltung  für  Objekte  der  Erfahrung  ist  aber 
gerade  auch  inbezug  auf  die  Lehre  üphues'  nicht  bedeutungslos. 
Denn  sie  enthält,  genau  besehen,  die  Erkenntnis,  dass  die  von 
der  Existenz  entsprechender  Objekte  unabhängige  Geltung  von 
Sätzen  noch  nicht  Geltung  für  beliebige  Objekte  bedeuten  müsse, 
dass  also  die  von  Dingen  unabhängige  Begründbarkeit  eines  Satzes, 
seine  von  Erfahrung  unabhängig  begründete  Geltung,  sich  mit  einer 
Beschränkung  eben  dieser  seiner  Geltung  auf  Gegenstände  der 
Erfahrung  sehr  wohl  vertrage.^) 

Aber  hiervon  ganz  abgesehen  bringt  uns  jene  Unterscheidung 
vor  allen  Dingen  das  Âuseinanderfallen  der  Begriffe  der  Denkbar- 
barkeit  und  der  Objektivität  der  Erfahrung  zu  Bewusstsein. 
Nichteuklidische  Geometrien  „gelten",  sofern  sie  —  in  begründ- 
barer Weise  —  denkbar  sind;  die  euklidische  Geometrie  „gilt"  auch, 
sofern  sie  die  Norm  für  die  Beurteilung  der  räumlichen  Eigen- 
schaften von  Dingen  liefert.  Die  wissenschaftliche  Denkba^ 
keit  nichteuklidischer  Räume  beweist  höchstens  den  Satz  Kants, 
dass  die  Axiome  der  euklidischen  Geometrie  nicht  analytisch 
sind,^)  sie  hat  aber  nichts  zu  tun  mit  dem  Rechtsgrund  des 
apriorischen  und  dennoch  für  Gegenstände  der  Erfahrung  gültigen 
Gebrauchs  dieser  Axiome,  d.  h.  mit  den  Problemen  der  kritischen 
Erkenntnistheorie. 

11.  Dass  auch  die  nichteuklidischen  Räume  ungeachtet  Uirer 
blossen  Denkbarkeit,  ja  vielleicht  schon  wegen  dieser,  genau  so 
wie  der  euklidische  Raum  „Gegenstände"  sind  —  das  Wort  in  der 
ihm  von  Meinong  erteilten  Allgemeinheit  verstanden  —  mag  zu- 
gestanden werden.  In  diesem  Sinne  hätte  dann  freilich  jegliche 
Geometrie,  die  euklidische  wie  die  nichteuklidische  auf  alle  Fftlle 
„gegenständliche*'  Bedeutung.  Aber  so  gewiss  damit  der  Grand 
der  apriorischen  Geltung  der  euklidischen  für  Gegenstände  der 
Erfahrung  noch   nicht  festgestellt  ist,  so  gewiss  wäre  auch  der 


1)  Vgl.  K.  u.  8.  V.,  S.  24  f. 

*)  Vgl.  Riehl,  Logik  und  Erkenntnistheorie  in  „Die  Kultor  der 
Gegenwart",  Teil  I,  Abt.  VI,  S.  91  :  ferner  Riehl,  Der  philos.  Kritinsmus 
u.  8.  w.,  Bd.  I.    Zweite  Aufl.    1908,    S.  467. 


Zum  Begriff  der  kritischen  Erkenntnislehre.  429 

idamentale  erkenntnistheoretische  Gegensatz  zwischen  eukli- 
«her  und  nichteuklidiscber  Geometrie  nicht  beseitigt.  Dieser 
gensatz  wäre  nur  durch  eine  beide  Arten  von  Geometrien  um- 
seode  Betrachtungsweise  verdeckt.  Es  wäre  bloss  ein  Stand- 
nkt  gewonnen,  für  welchen  der  Gegensatz  von  wissen- 
laftlich  begründeter  Geltung  überhaupt  und  erfahruugsgemäss 
ektiver  Geltung,  von  Anschaulichkeit  und  relativer  ünanschau- 
ikeit  nicht  in  Betracht  kommt. 

Ein  solcher  Standpunkt  nun  ist  auch  die  Erkenntuisineta- 
fsA  üphues'.  In  jenem  Reiche  des  absoluten  Seins,  in  welches 
•  durch  unsere  wahren  Urteile,  gleichviel  was  sie  enthalten 
chten,  eintreten,  besteht  eben  kein  Gegensatz  zwischen  der 
femeinen  Gültigkeit  einer  Verbindung  von  Begriffen  im  Urteil 
l  der  Objektivität  der  Erfahrung.  „Begriffliche  Sätze"  haben 
insowohl  Ewigkeitswert,  wie  „Urteile".^)  Der  Gegensatz 
ischen  ihnen  wird  also  gleichsam  überbrückt;  aber  überbrückt 
ht  durch  Analyse,  sondern  durch  Abstraktion,  durch  das 
lordnen  der  gegensätzlichen  Tatbestände  unter  einen  um- 
senderen  Begriff,  dort  unter  den  des  „Gegenstandes", 
r  unter  den  der  „Wahrheit":  nur  vom  Standpunkte  des 
teren  aus  ist  jene  Art  der  prinzipiellen  Gleichsetzung  der 
iidischen  und  der  nichteuklidischen  Geometrie,  der  wir  bei 
mes  begegnet  waren,  möglich.  ^)  Deshalb  aber  ist  jener 
Ddpunkt  auch  niemals  der  des  philosophischen  Kritizismus,  als 
T  Theorie  vom  Gegenstande  der  Erfahrung.  Eine  solche  hat 
lediglich  mit  dem  Grunde  der  objektiven  Geltung  der  eukli- 
hen  Geometrie,  welcher  durch  eine  erkenntnismetaphysische 
rachtungsweise   schlechterdings   nicht   bestimmbar  ist,   zu  tun. 

eine  solche  aber  kann  der  absolute  Raum  nur  Anschauung 
i,  80  gewiss  er  den  Inbegriff  der  in  keiner  analytischen  Formel 
laltenen  Bedingungen  der  Konstruktion  darstellt. 

Nicht  die  logische  und  mathematische  Vollkommenheit  der 
lidischen  Geometrie  hat  also  die  Erkenntnislehre  zu  bewerten, 
iern  den  Grund  ihrer  absoluten  Geltung  als  Norm  für  die  Be- 
»long  erfahrungsgemässer  Raumverhältnisse  hat  sie  in  erster 
ie  zu  bestimmen.  Der  Mathematiker  mag  das  Recht  haben  zu 
[ären:  „Die  natürliche  Geometrie  ist  zwar  eine  einfache  aber  doch 

1)  Zu  dieser  Unterscheidung  vgl.  Riehl,  Beiträge  zur  Logik.    Viertel- 
wchrift  f.  wiss.  Philosophie.    1892.    S.  16  f. 
•)  Vgl.  üphues,  a.  a.  0. 


430  R.  Hönigswald, 

auch  unvollkommene  Versinnlicbung  ihres  Gedankengehaltes^.^)  Die 
Frage  der  Erkenntnislehre  ist  es,  mit  welchem  Rechte  die 
„natürliche"  Geometrie  Anspruch  darauf  erhebt  für  die  „Natur"* 
apriori  zu  gelten.  —  Es  ist  in  weitem  Umfange  eine  iünere 
Angelegenheit  der  Geometrie,  den  Begriff  des  Raumes  beliebig 
zu  erweitern.^)  Aber  es  ist  Sache  der  Erkenntnistheorie, 
festzustellen,  aus  welchem  Grunde  der  dreidimensionale  von 
Dingen  notwendig  gilt  und  was  dieser  selbst  im  Hinblick  auf 
seine  notwendige  Geltung  von  Dingen  sein  muss,  ob  Anscbaunng 
oder  Begriff. 

Dem    Standpunkt   der   Metageometrie   trägt  die  Erkenntnis- 
lehre    vollauf    Rechnung,  wenn   sie    die    Tatsächlichkeit  des 
euklidischen    Raumes   zugesteht:   er  ist  einer  unter  vielen  mög- 
lichen.    Seine  Notwendigkeit  aber  wird   von  jener  Tatsäch- 
lichkeit   nicht  berührt,   denn   sie   ist  eine   transscendentale, 
d.    h.    sie    besteht    in    notwendiger    oder    apriorischer    Geltoug 
für  Dinge:    „die   tatsächliche  Form   unserer  äusseren  Anscbannog 
ist  zugleich   die   notwendige  Form  der  angeschauten  Dinge".')  - 
Die  metageometrische  Einsicht   von   der  „blossen  TatsächUchkeit" 
des   euklidischen  Raumes  könnte  —  wie  schon  angedeutet  —  die 
Fragestellung   der  kritischen  E^kenntnislebre  nur  in  einem  Falle 
berühren  :   wenn   nämlich  jene  Einsicht  eine  Veränderung  der  Me- 
thode der   euklidischen  Geometrie   bedingen  würde.    Das  heisst 
m.  a.  W.:  Nur  wenn  die  „Tatsächlichkeit**  des  dreidimensionalen, 
ebenen   Raumes   die   euklidische  Geometrie   ans  einer  durch  Kon- 
struktion  demonstrierenden   in   eine   empirisch   messende  Wissen- 
schaft vom  Räume  verwandeln  würde,  hätte  die  euklidische  Geo- 
metrie aufgehört  ein  Gegenstand  der  E^kenntnislehre  zu  sein;  denn 
sie  hätte  ihren  Anspruch  auf  apriorische  und  dennoch  synthetiiBche 
Geltung  ihrer  Sätze   aufgegeben.     So  gewiss  jenes  nicht  zutrifft» 
so  gewiss  bleibt  die  Geometrie  eines  der  wichtigsten  Objekte  der 
kritischen  Erkenntniswissenschaft.  ^) 


1)  Vgl.  H.  Weber  und  J.  Wellatein,  EncyklopÄdie  der  dementai« 
Geometrie.    Leipzig  1905.    S.  31. 

«)  Vgl  Meinong,  a.  a.  0.,  S.  97. 

^  A.  Riehl,  Helmholtz  in  seinem  Verhältnis  zu  Kant.  „Kantstadi«*! 
Bd.  IX,  S.  277. 

^)  Einen  interessanten  Beleg  für  die  BAÜosigkeit,  mit  welcher  dar 
metageometrische  Empirismus  dem  erkenntnistheoretischen  Problem  von 
der  Notwendigkeit  der  euklidischen  Geometrie  gegenübersteht,  entbftlt 


Zum  Begriff  der  kritischen  Erkenn tnislehre.  431 

12.  Dennoch  hat  auch  die  Tatsächlichkeit  des  euklidischen 
inmes,  seine  „Gegebenheit"  weitreichende  erkenntuisiheoretische 
3deQtang:  sie  verbärgt  die  relative  Selbständigkeit  der  „Sinnlich- 
st" gegenüber  dem  „Verstände". 

Es  mag  zugestanden  werden,  dass  die  primäre  Unterscheidung 
ants  zwischen  Sinnlichkeit  und  Verstand  mit  einer  kritisch  noch 
cht  geläuterten  Vorstellung  vom  Wesen  des  Begriffes  zusammen- 
ingt.  Noch  ist  in  der  transscendentalen  Ästhetik  augenschein- 
ûi  der  aas  einer  Mannigfaltigkeit  von  Inhalten  abstrahierte 
egriff  der  Repräsentant  des  Verstandes,  dem  nun  die  anschau- 
:h  konstruierende  Sinnlichkeit  gegenübergestellt  wird.  Noch  be- 
ifft  also  diese  Unterscheidung  „zwischen  der  blossen  Subsumtion 
id  der  synthetischen  Erschaffung  eines  Inhaltes''  mehr  „eine 
bgrenzung  gegen  die  herkömmliche  logische  Technik"^)  und 
t  ist  klar,  dass  der  Unterschied  zwischen  diskursivem  und  reinem 
egriff  nicht  kleiner  ist  als  der  zwischen  dem  ersteren  und  der 
Sinnlichkeit'',  der  Gegensatz  zwischen  dieser  und  dem  Verstände 
80  weit  weniger  schroff,  als  es  die  transscendentale  Ästhetik  zu 
rdem  scheint.  So  ständen  denn  also  dem  „diskursiven"  Begriff 
if  der  gemeinsamen  Omndlage  der  reinen  Synthesis  Verstand 
id  Sinnlichkeit  gegenüber  und  es  liegt  keineswegs  ferne,  die 
dbständigkeit  der  letzteren  der  in  ihr  wirkenden  Einheit  des 
^rstandes  gegenüber  zu  unterschätzen.  —  Kant  selbst  scheint 
t  der  Frage:  Liegen  die  Sätze  der  Geometrie  „im  Räume  und 
nt  sie  der  Verstand,  indem  er  den  reichhaltigen  Sinn,  der  in 
lem   liegt,   bloss  zu   erforschen  sucht,   oder  liegen  sie  im  Ver- 


B.  die  Erwägung  Poincarés:  „Woher  stammen  die  ersten  Grundlagen 
r  Geometrie?  Sind  sie  uns  durch  die  Logik  auferlegt?  Lobatschewsky 
b  das  Gegenteü  bewiesen,  indem  er  die  nicht-Euklidische  Geometrie 
int  Ist  der  Raum  uns  durch  unsere  Sinne  offenbart?  Ebenfalls  nicht, 
an  der  Raum,  den  uns  unsere  Sinne  zeigen  können,  unterscheidet  sich 
lolut  von  dem  geometrischen  Räume.  Hat  die  Geometrie  ihren  Ur- 
mng  in  der  Erfahrung?  Eine  gründlichere  Erörterung  zeigt  uns,  dass 
»  nicht  der  FaU  ist.  Wir  schlussfolgem  also,  dass  die  Grundlagen  nur 
»ereinkommen  sind;  aber  diese  Obereinkommen  sind  nicht  willkürlich, 
d  wenn  wir  in  eine  andere  Welt  versetzt  würden,  welche  ich  die  nicht 
iklidische  Welt  nenne  und  die  ich  mir  vorzustellen  versuche,  so  müssten 
r  zu  anderen  Übereinkommen  gelangen."  Poincaré,  Wissenschaft  und 
jrpothese.  Deutsch  von  F.  und  L.  Lindemann.  Zweite  verbesserte  Aufl. 
npzig  1906.  Einleitung  S.  XV. 
1)  Gassirer,  a.  a.  0.,  S.  33. 


432  R.  Hönigswald, 

Stande  uud  in  der  Art,  wie  dieser  den  Raum  nach  den  Bedingungen 
der   synthetischen  Einheit,    darauf  seine  Begriffe   insgesamt  aus- 
laufen,  bestimmt?"   —   eine   solche   Auffassung   zu   begünstigen. 
Aber   die  Antwort   auf   diese  Frage,    so   hoch    sie  auch  die  Rolle 
des  Verstandes  gegenüber  der  Sinnlichkeit  veranschlägt,  lässt  uns 
doch  über   die   relative  Selbständigkeit  der  beiden  Faktoren  nicht 
im  Zweifel.     „Der  Raum   ist  etwas  so  Gleichförmiges  und  in  An- 
sehung aller  besonderen  Eigenschaften  so  Unbestimmtes,  dass  man 
in   ihm   gewiss   keinen   Schatz   von   Naturgesetzen   suchen  wird. 
Dagegen  ist  das,  was  den  Raum  zur  Zirkelgestalt,  der  Figur  des 
Kegels   und   der   Kugel   bestimmt,   der  Verstand,    sofern   er  den 
Grund  der  Einheit  der  Konstruktion  derselben  enthält    Die  blosse 
allgemeine  Form  der  Anschauung,  die  Raum  heisst,  ist  also  wohl 
das   Substratuni   aller   auf   besondere    Objekte   bestimmbaren  An- 
schauungen,   und   in  jenem  liegt  freilich  die  Bedingung  der  Mögr- 
lichkeit  und  Mannigfaltigkeit  der  letzteren;   aber   die  Einheit  der 
Objekte   wird    doch    lediglich   durch  den  Verstand  bestimmt,  uad 
zwar   nach   Bedingungen,   die   in   seiner  eigenen  Natur  liegen.*  ^) 
Die   Einheit   der   Konstruktion  —  das   ist   die  Leistung  des 
Verstandes  an  einem  für  sich  bestimmungslosen  Substrate  der  An- 
schauung.   Dieses   Substrat   aber   und   damit  die  dem  Verstände 
gegenüber  materialen  Bedingungen  der  Konstruktion  liefert  der 
geometrische  Raum.    Ist  dieser  „etwas  Gleichförmiges  und  in  An- 
sehung seiner  besonderen  Verhältnisse  Unbestimmtes",  so  gilt  das 
entsprechende  auch  für  den  Verstand:  Die  Tatsache  ihrer  gegen- 
seitigen  Determination    ist    der    beste   Beweis   für   ihre  relative 
logische  Selbständigkeit. 

Wo  immer  unter  mathematischen  Gesichtspunkten  die  logische 
Selbständigkeit  der  Anschauung  zugunsten  des  Verstandes  ge- 
leugnet wird,  dort  entsteht  die  Tendenz  die  Mathematik  in  eine 
abstrakte  Ordnungslehre,  um  den  Terminus  Couturats  zn  ge- 
brauchen, in  „Logistik"  zu  verwandeln,  freilich  auch  die  Gefahr, 
mit  dem  Begriff  der  Grösse  auch  auf  den  Zusammenhang  mit  der 
Erfahrung  zu  verzichten.^  Das  spezifische  Probfem  der  kritischen 
Raumlehre  vor  allem  wird  unter  solchen  Umständen  gegenstands- 
los. Wo  immer  das  transscendentale  Problem  des  Raumes  verkannt 
wird,  dort  erwacht  die  Tendenz  zur  Abstraktion  von  den  anschan- 


1)  Kant,  Prolegomena,  §  38. 
^)  Vgl.  Cassirer,  a.  a.  0. 


Zum  Begriff  der  kritischen  Erkenntnislehre.  43a 

eben  Bedingungen  der  Geometrie  überhaupt,  die  Tendenz  in  der 
feoDietrie  die  „irrationalen""  Elemente  der  Anschauung  und  der 
Jrösse  durch  die  Begriffe  der  Ordnung  und  der  Beziehung  zu 
arsetzen.^)  Rationalisten  verfallen  dieser  Tendenz  geradeso  wie 
Empiristen,  oder  Empiriokritizisten,  wenn  nur  jene  eben  genannte 
Bedingung  erfüllt  ist. 

13.  Doch  kehren  wir  zur  Uphuesschen  Raumlehre  zurück. 
Dass  „Raum  und  Zeit  den  Empfindungen  anhängende  Formen 
rind",  schliesst  unseres  Erachtens  nicht  den  Widerspruch  in  sich, 
sie  seien  selbst  schon  jenes  Neben-  und  Nacheinander,  das  sie  doch 
weh  Kant  erst  ermöglichen  sollten.^)  Es  bedeutet  für  die  kritische 
Erkenntnislehre  vielmehr  nichts  anderes  als  dies:  Raum  und  Zeit 
imfassen  den  Inbegriff  der  anschaulichen  und  nicht  dem  materi- 
Jen  Grunde  der  Erfahrung  entstammenden  gesetzlichen  Beding- 
ögen  des  Neben-  bezw.  des  Nacheinander,  deren  empirische 
estimmungen  gleich  den  Empfindungen  durch  jenen  materialen 
niad  selbst  bedingt  sind. 

Raum  und  Zeit  sind  vermöge  der  Eigenart  der  Bestimmungs- 
'Oiente  ihrer  Begriffe  anschaulich;  jene  Bestimmungselemente 
inzigkeit,  Stetigkeit,  Unendlichkeit)  können  m.  a.  W.  nur  im 
i^blick  auf  empirische  Anschauungen  bestimmt,  wenn  auch  nicht 
Ä  ihnen  abgeleitet  werden.  —  Wie  es  nun  komme,  dass  der 
«olute  Raum  und  die  absolute  Zeit  die  gültigen  Normen  für  die 
Aufteilung  empirischer  Anschauungen  liefere,  dass  sie  die  Gesetze 
^  physischen  Raumes  und  der  erlebten  Zeit  darstellen,  das 
A  m  Bezug  auf  sie  das  transscendentale  Problem.  Und  die 
•ösung  dieses  Problems  liegt  in  dem  Beweise,  dass  die  Ver- 
Dilpfung  in  der  Einheit  des  absoluten  Raumes  und  der  absoluten 
eit  zugleich  die  Bedingungen  enthalte,  unter  welchen  empirische 
Qschauungen  als  solche  stehen  müssen.  Der  physische  Raum  ist 
izigy  stetig  und  unendlich,  weil  er  dem  Gesetze  des  absoluten 
lumes,  dessen  „Sein"  sich  in  der  Geltung  für  den  relativen  er- 
höpft,  unterliegt.  —  Eben  deshalb  ist  die  Befürchtung,  Raum 
d  Zeit  könnten  mit  den  Empfindungen,  welchen  sie  als  An- 
[lauungsformen  anhaften,  „in  das  Gebiet  des  bloss  Relativen*" 
rabgezogen  werden,*)  nicht  begründet:  denn  die  Anschauungs- 
rmen  des  absoluten  Raumes  und  der  absoluten  Zeit  sind  objek- 

1)  VgL  Pasch,  Vorlesungen   über  neuere  Geometrie.     Leipzig  1882. 
«)  VgL  K.  u.  s.  V.,  S.  24  und  116. 
^  K.  u.  8.  V.,  S.  26. 


434  k.  Hönigswald, 

live  Bedingungen  der  empirischen  Anschauung.  Das  beweist  ihn 
Beziehung  zur  synthetischen  Einheit  der  Apperzeption,  der  Um- 
stand also,  dass  sie,  mit  Kant  zu  reden,  nicht  nur  „Formen  der 
Anschauung",  sondern  auch  „formale  Anschauungen"^)  and. 
„Raum  und  Zeit  sind,  subjektiv  betrachtet.  Formen  der  Sinnlich- 
keit, aber  um  von  ihnen  als  Objekten  der  reinen  AnschanuDg 
sich  einen  Begriff  zu  machen  (ohne  welches  wir  gar  nichts  von 
ihnen  sagen  könnten),  dazu  wird  a  priori  der  Begriff  eines  Zu- 
sammengesetzten, mithin  der  Zusammensetzung  (Sjrnthesis)  ta 
Mannigfaltigen  erfordert,  mithin  synthetische  Einheit  der  App«^ 
zeption  in  Verbindung  dieses  Mannigfaltigen."^  Raum  und 
Zeit  sind  Funktionen  der  Einheit  in  der  AnschanuDg. 
Sie  gehören  zu  einem  System  von  allgemeinen  Bedingungen  der 
Einheit,  welchen  nur  ein  „Bewusstsein"  genügen  kann.  Dasirt 
der  erkenntnistheoretische  Sinn  des  Satzes  von  ihrem  „subjektiveo* 
Ursprung.  Denn  Raum  und  Zeit  stammen  nicht  aus  und  Ter- 
gehen  nicht  mit  dem  empirischen  Bewusstsein,  so  wenig  wie 
Geometrie  oder  Chronometrie.  Raum  und  Zeit  entspringen  ak 
Funktionen  der  Einheit  der  Form  eines  Bewusstseins,  sie  gehM 
zu  dem  System  von  Bedingungen  der  Einheit,  in  welchem  dieie 
Form  besteht. 

Wäre  der  absolute  Raum  nicht  Form  der  Anschauung,  dm 
müsste  vor  allen  Dingen  vom  physischen  Räume  eine  vergleichead- 
empirische,  d.  h.  eine  messende  im  Gegensatz  zu  einer  demon- 
strierenden Wissenschaft  geschaffen  werden.  Wir  mfisBtei 
m.  a.  W.  den  Faden  der  Forschung  genau  dort  aufnehmen,  wi 
ihn  die  alten  Ägypter  mit  ihrer  Erfahrungsgeometrie  fall^  ge- 
lassen; und  das  Licht  vor  allem,  welches,  „dem,  der  als  erster  da 
gleichschenkligen  Triangel  demonstrierte,  aufging,^  würde  nosere 
Pfade  im  physischen  Räume  niemals  erhellen.  —  Dann  aber  win 
auch  der  physische  Raum  entweder  selbst  ein  Ding  neben  ander« 
oder  sein  Begriff  würde  zusammenfallen  mit  dem  der  Baoa- 
erfüUung.  Geometrie  wäre  „Naturphilosophie"  geworden.  AI« 
hiervon  ganz  abgesehen,  müssten  unter  der  Voraussetzung  der 
zweiten  Annahme  die  in  der  Tatsache  der  Symmetrie  b^grBo- 
deten    wahren   Unterschiede    der   räumlichen   Beschaffenheit  tob 


1)  Kr.  d.  r,  V.  (Ausgabe  von  Vorländer),  S.  161. 

1)  Kant,  Über  die  Fortschritte  der  Metaphysik  xl  s.  w.  Beiii«» 
Schriften  zur  Logik  und  Metaphysik.  Herausgegeben  von  KariToittoder. 
Leipzig  1906.    Dritte  Abteüung.    S.  102. 


Zum  Begriff  der  kritischen  Erkenntnislehre.  435 

ogen  in  dem  Verhältnisse  der  Teile  zneinander  liegen  —  ein 
bloss,  der  sich  durch  die  Tatsache  niemals  rechtfertigen  lässt. 
Das  Phänomen  der  Symmetrie  kann  nur  in  der  Beziehung  re- 
iver Ranmverhältnisse  auf  einen  absoluten  Raum  bestehen.  — 
ese  Erwägung  war  denn  auch  für  Kant  das  zeitlich  erste  Motiv 
r  die  Annahme,  „dass  nicht  die  Bestimmungen  des  Raumes 
>lgen  von  den  Lagen  der  Teile  der  Materie  gegeneinander, 
idern  diese  Folgen  von  jenen  sind":  es  wurde  ihm  klar,  „dass 
der  Beschaffenheit  der  Körper  Unterschiede  angetroffen  werden 
nnen,  und  zwar  wahre  Unterschiede,  die  sich  lediglich  auf  den 
soluten  und  ursprünglichen  Raum  beziehen,  weil  nur  durch 
r  das  Verhältnis  körperlicher  Dinge  möglich  ist;  und  dass  .  .  . 
r  dasjenige,  was  in  der  Gestalt  eines  Körpers  lediglich  die  Be- 
hung  auf  den  reinen  Raum  angeht,  nur  durch  die  Gegenhaltnng 
t  anderen  Körpern  vernehmen  können."^) 

Weil  aber  der  euklidische  Raum,  so  schloss  Kant  später, 
Dem  Begriffe  nach  als  „reine"*  Anschauung  Form  der  An- 
lauung  sein  muss,  so  müssten  einerseits  die  ihn  voraussetzenden 
setze  der  euklidischen  Geometrie  auch  für  die  angeschauten 
Ige  notwendig  gelten,  andererseits  könne  er  selbst  nicht  aus 
1  Dingen  stammen,  vielmehr  sei  er  die  Art  „des  Bewusstseins 
îrhaupt**  räumlich  vorzustellen.  Man  sucht  in  einer  solchen 
Stimmung  vergeblich  den  Keim  eines  Relativismus,  von  welchem 
liues  die  kritische  Raumlehre  bedroht  glaubt.  Ja,  gerade  in 
er  Bestimmung  überwindet  die  kritische  Erkenntnislehre 
m  Relativismus.  Der  absolute  Raum  wie  die  absolute  Zeit 
len  den  Inbegriff  der  objektiv  gültigen  Raum-  bezw.  Zeit- 
Btze,  weil  sie  dem  „Bewusstsein  überhaupt",  als  der  obersten 
lingung  aller  Gegenständlichkeit,  und  nicht  den  Dingen  selbst 
ehören. 

An  das  „Bewusstsein  überhaupt"  reicht  eine  Wissenschaft 
den  empirischen  Gesetzen  des  individuellen  Bewusstseins,  die 
cbologie,  nicht  heran.  Diese  bestimmt  daher  auch  niemals  den 
griff  des  absoluten  Raumes,  sie  kann  höchstens  die  zeitlichen 
lingungen  der  Entstehung  unserer  Vorstellung  vom  absoluten 
ime  erörtern.    Die  Psychologie  der  Geometrie  ist  keine  Wissen- 


^)  Kant,  Von  dem  ersten  Grunde  des  Unterschiedes  der  Gegenden 
Räume.  Kleinere  Schriften  zur  Logik  und  Metaphysik.  Zweite  Aof- 
5.  Herausgegeben  von  Karl  Vorlftnder.  Leipzig  1905.  Zweite  Ab- 
ang.    S.  86. 


436  R.  Honigswald, 

Schaft  von  dem  Recbtsgrund  ihrer  objektiven  Qeltang.  Dass 
dieser  von  der  Erf abrang  unabbängig,  d.  b.  apriori  erbracht 
werden  kann,  ist  daher  auch  keine  These,  zu  welcher  die  Psycho- 
logie als  solche  zustimmend  oder  ablehnend  Stelloog  nehmen 
könnte.  Es  giebt  kein  naturwissenschaftliches  Forschongsergebnis, 
das  über  die  apriorische  Lehre  des  Kriüzismas  zu  entscheiden 
vermöchte.^) 


m. 

1.  Es  ist  von  Uphues  ebenso  konsequent,  wie  es  dem 
Standpunkt  der  kritischen  Philosophie  widerspricht,  die  streng 
formale  Natur  eines  „Bewusstseins  überhaupt''  zu  leugnen.  Wie 
für  ihn  Raum  und  Zeit  nicht  Formen  der  Anschauung  waren,  so 
bestreitet  er  auch  die  formale  Natur  des  ^»Bewusstseins  uberhaupt*". 

—  An  dem  Begriff  selbst  hält  er  jedoch,  gerade  zum  Zwecke  des 
Beweises  einer  überindividuellen  Geltung  von  Baum  und  Zeit,  fest 

—  Aus  diesem  Sachverhalt  nun  ergiebt  sich  für  ihn  eine  eigen- 
artige Alternative:  wir  müssten  —  so  meint  er  —  ,,entweder  mit 
den  Indem  die  individuellen  Bewusstseine,  das  Ich  mit  dem  Du 
und  das  Du  mit  dem  Ich  verselbigen  oder  die  individuellen  Be- 
wusstseine  mit  einem  allumfassenden,  eben  dem  göttlichen  Be- 
wusstsein  in  Zusammenhang  bringen,  in  dem  die  apriorischen  Ge- 
setze Raum  und  Zeit  ihren  letzten  Grund  haben''.^)  —  Die  Folge- 
richtigkeit der  Alternative  selbst  kommt  für  die  vorliegende  Er- 
örterung nicht  in  Betracht.  Wichtiger  erscheint  es,  die  Glieder 
der  Alternative  auf  ihre  erkenntnistheoretische  Valenz  zu  prüfen. 
Und  hier  steht  vor  allen  Dingen  eines  fest:  Weder  das  erste, 
noch  das  der  Auffassung  Uphues'  augenscheinlich  näherstehende*) 
zweite  Glied  vermag  eine  über  das  individuelle  Erleben  hinaos- 
reichende  Geltung  von  Raum  und  Zeit  zu  gewährleisten. 

Das  erste  zunächst  nicht,  weil  es  sich,  kurz  gesagt,  nur  auf 
den  Inhalt  des  empirischen  Bewusstseins  bezieht.  —  Gewi», 
auch    der   kritischen   Auffassung  ist  der  allgemeine  Gedanke 


^)  Vgl.  hierzu  E.  v.  Cyon,  Das  Ende  der  apriorischen  Lehre  tod 
Kant.  Vorrede  zn  seinem  Werk:  Das  Ohriabyiinth  als  Organ  dar 
mathematischen  Sinne  für  Raum  und  Zeit.  Berlin.  Verlag  Ton  JnUni 
Springer.    1906. 

«)  K.  u.  8.  V.,  S.  27. 

^  Vgl  ebenda,  S.  107. 


2un)  Begriff  der  kritischen  Etkenntnislebfe.  437 

„Verselbigung"  der  individuellen  Bewusstseine  nicht  ganz 
Ist  doch  das  „Bewusstsein  überhaupt^  für  sie  geradezu  die 
ping,  unter  welcher  das  individuelle  und  zeitlich  wirkliche 
istsein  zum  Repräsentanten  eines  „möglichen''  wird.  —  Damit 
st  auch  schon  der  Gegensatz  zwischen  der  Auffassung  üphues* 
ier  des  philosophischen  Kritizismus  fixiert.  Denn  nicht  die 
seitige  „Verselbigung"  individueller  Bewusstseine  schlecht- 
aeint  der  Kritizismus,  also  eine  Art  empirischer  Verselbigung, 
rn  „Verselbigung"  nur  sofeni  sie  Unterordnung  aller  individuellen 
sstseine  unter  deren  gemeinsames  allgemeinstes  Gesetz  bedeutet 
5  Gesetz  eben  ist  das  „Bewusstsein  überhaupt".  Es  ist  der 
piff  jener  Bedingungen  der  Einheit  durch  Verknüpfung, 
en  nur  ein  empirisches  Bewusstsein  genügen  kann.  Für  ein 
isstsein  überhaupt"  besteht  der  Gegensatz  der  individuellen 
sstseine  nicht  mehr;  allein  nicht  deshalb,  weil  es  als  ge- 
•massen  übergeordnetes  Wesen  den  Inhalt  aller  individuellen 
sstseine  absorbiert,  gleichsam  von  allem,  was  das  individuelle 
jstsein  enthält,  „weiss",  sondern,  weil  es  die  allgemeinste 
^ung  ist,  welcher  jedes  individuelle  Bewusstsein  als  solches 
en  muss.  Das  „Bewusstsein  überhaupt"  ist  die  jedem  Be- 
sein  gemeinsame  „Möglichkeit,  zu  sich  selbst  Ich  zu  sagen".^) 
nur  im  Hinblick  auf  diese  Möglichkeit  ist  es  „in  allem  Be- 
sein  ein  und  dasselbe";^)  im  Hinblick  auf  diese  Möglichkeit 
aber  auch  —  und  das  ist  hier  das  entscheidende  —  eine 
lie  Bestimmung  des  empirischen  Bewusstseins.  —  Aber  auch 
weite  Glied  der  üphuesschen  Alternative  unterliegt  schwer- 
iden  Bedenken.  Denn  es  lässt  nicht  nur  die  Frage  nach 
rkenntnistheoretischen  Natur  des  göttlichen  Bewusstseins, 
•n  vor  allen  Dingen  auch  die  nach  dem  Verhältnis  des  letz- 
zu  Raum  und  Zeit  offen. 

2.  Allein  üphues  leugnet  die  formale  Natur  des  „Bewusst- 
überhaupt"  ganz  besonders  im  Hinblick  auf  die  Beharrlich- 
des  Ich.  „Wie  sollen  wir"  —  so  fragt  er  —  „von  Syn- 
i  in  unserem  Bewusstsein,  von  Urteilen,  Erinnern  and 
rerkennen  reden  können,  wie  sollen  wir  überhaupt  Bewusst- 
orgänge   als   unsere   eigenen   bezeichnen   und   von  fremden 

i)  Kant,   über   die   Fortschritte   der  Metaphysik  u.  s.  w.    Kleinere 

en  zur  Logik  und  Metaphysik.    Herausgegeben  von  Karl  Vorländer. 

j;  1906.    Dritte  Abteilung.    S.  95. 

^  Kr.  d.  r.  V.  (Ausgabe  Vorlünders),  S.  141. 

(•tadUu  xiu.  29 


438  R.  Hftnigswald, 

unterscheiden  können,  wenn  wir  mit  Kant  leugnen  wollen,  dass 
das  Ich  beharrlich  dasselbe  bleibt?  Und  das  muss  doch  geleugnet 
werden,  wenn  es  nichts  anderes  ist  als  die  bei  all  unseren  Akten 
beständig  wiederkehrende,  also  mit  diesen  Akten  auch  beständig 
sich  in  die  Vergangenheit  verschiebende  blosse  Form  unseres  Be- 
wusstseins."^)  —  Wie  steht  es  nun  um  diese  sachlich  weitaus- 
greifenden Einwände? 

Die    „transscendentale  Apperzeption"  —  oder  das  „Bewusst- 
sein  überhaupt "",  denn  um  dieses  handelt  es  sich  auch  hier  —  ist, 
weil  es  die  formale  Bedingung  eines  möglichen  Bewusstseins  dar- 
stellt,   zugleich    der   Inbegriff   der  Bedingungen   der   Objektivität 
sinnlicher  Vorstellungen  oder,    was  dasselbe  ist,   der  formalen  Be- 
dingungen  des   Gegenstandes   der   Erfahrung.     Sie   ist  diejenige 
Einheit,   durch    welche    wir  die  subjektiv  gültige  Mannigfaltigkeit 
der  Erfahrung   im    Begriffe   eines  allgemeingültigen  Gegenstandes 
verknüpfen.      M.  a.  W.  :    Nicht    die   Dinge    an    sich    selbst    sind 
Gegenstände   der   Erfahrung,   sondern   die  in  der  Einheit  des  Be- 
griffes  vom    Gegenstande   vereinigten  Erscheinungen  von  Dingen. 
Jene   Einheit   aber   ist   nichts   als   der  Gedanke  eines  objektiven 
Grundes   der    Erscheinungen,    mithin    in    allen  Gegenständen   der 
gleiche,   also   formal.     Und   weil   Gegenstände  in  der  Erfahrung 
keine   andere  Funktion   haben  als  die,  den  Grund  ihrer  Erschein- 
ungen  zu   bilden,   so  ist  jene  Einheit  eine  Bedingung  des  Gegen- 
standes  der   Erfahrung.     Nun  kann  aber  der  Begriff  der  Einheit  , 
nur  definiert  werden  im  Hinblick   auf  die  Verknüpfung  durch  ein  m 
Bewusstsein.    Deshalb  ist  die  jedem  Bewusstsein  als  solchem  ge — 
meinsame,    d.  h.    formale   Art   der  Verknüpfung  —  und    diese  isLM 
das   „Bewusstsein   überhaupt"  —  eine   Bedingung   des  allgemein — 
gültigen  Gegenstandes  der  Erfahrung. 

Die  tatsächliche  Erfüllung  jener  Bedingungen  durch  di^ 
Dinge  nun  ist  von  der  Existenz  empirischer  Bewusstsein^ 
schlechthin  unabhängig:  die  objektive  Natur  besteht  weiter,  andHE 
wenn  „ich"  nicht  da  bin,  d.  h.  sie  fährt  fort,  Gegenstand  eme^sö 
möglichen  Erfahrung  zu  sein.  Daraus  folgt,  dass  die  Beding^B 
ungen  für  die  Objektivität  der  Natur,  also  das  „Bewusstsein  übea^ 
haupt",  mit  dem  empirischen  Bewusstsein  nicht  zusammenfalle^ 
können.  Im  Gegensatze  zu  diesem  ist  jenes  die  zeitlich  und  ms- 
haltlich    nicht  bestimmte   Bedingung    für   die    ^'^«^chkeit,    dass 


»)  K.  u.  s.  V„  S.  244  f. 


2um  Begriff  der  kritischen  ßrkennttiislehre.  439 

Dinge   Qegenstände   der  Erfahrung   werden   können.     Sie  ist  die 
Norm,   gemäss   welcher  ein   mögliches   empirisches  Subjekt  seine 
Vorstellungen    nach    empirischen    Begeln    der    Psychologie    ver- 
knüpfen   muss,   damit   sie  allgemeingültig,   d.  h.   auf  Objekte  be- 
zogen  seien.     Im   Hinblick   gerade   hierauf   bestimmt  Kant  das 
«Bewusstsein    überhaupt"    durch    die    Möglichkeit,    das    zu    ver- 
knüpfende  mit  dem  an   sich   leeren  Qedanken  zu  begleiten:   ich 
denke.    In  der  Tat  ist  es  nichts  anderes,  als  die  mit  dieser  Mög- 
lichkeit,  die   natürlich   mit  psychologischer  „Fähigkeit"  nichts  zn 
tun   hat,   gegebene   Bedingung  der  Einheit.      Das   „Bewusstsein 
überhaupt"  ist  daher  nicht  ein  Wesen,  das  denkt,  sondern  das  in 
dem  leeren  Begriff  des  Denkens   gelegene  Formalgesetz  der  Ver- 
Iniüpfung,   zugleich   das  Formalgesetz  des  Verknüpften  selbst.  — 
Ist  nun  dieser  Begriff   eine  Bedingung  des  Gegenstandes  der  Er- 
:fahning,   dann   steht  der  letztere   zugleich   auch   unter  der  Be- 
dingung eines   möglichen  Bewusstseins   von   der  Identität  seiner 
selbst.    Denn  „nur  dadurch,  dass  ich  ein  Mannigfaltiges  in  Einem 
£ewnsstsein   verbinden   kann,   ist   es   möglich,   dass   ich   mir  die 
Identität  des  Bewusstseins  in  diesen  Vorstellungen  selbst  vorstelle, 
d.  i.  die  analytische  Einheit  der  Apperzeption  ist  nur  unter  der 
Toraussetzung   irgend    einer   synthetischen    möglich";  —   und 
andererseits   ist  nur  die  Vorstellung   der  Identität  des  Bewusst- 
seins der  psychologische  Ausdruck  seiner  Funktion  als  synthetische 
Einheit.    So   verbürgt  also  gerade   die   Reflexion  auf  den  for- 
malen Charakter  der  transscendentalen  Synthetis  den  von  Uphues 
vertretenen  Grundsatz  von  der  Identität  des  Ich. 

3.  Das  Bewusstsein  von  der  Identität  des  Ich  hängt  nun 
freilich  mit  einer  Kenntnis  der  „wahren"  —  wenn  man  so  sagen 
dürfte  —,  der  »objektiven"  Beschaffenheit  des  Subjektes  nicht 
zusammen:  Das  „Ich  der  Apperzeption"  kann  über  „die  Identität 
der  Person"  niemals  entscheiden.^)  Von  jener  spricht  denn  auch 
in  der  Kritik  einer  apriori  von  Dingen  urteilenden  Vernunft 
Kant,  von  dieser  handelt  in  dem  angeführten  Zusammenhange 
Uphnes.  Kant  erörtert  „die  Identität  des  Bewusstseins  meiner 
selbst  in  verschiedenen  Zeiten"  nur  als  „eine  formale  Bedingung 
meiner  Gedanken  und  ihres  Zusammenhangs",  welche  „die  nume- 
rische Identität  meines  Subjekts"  nicht  verbürgt;')  Uphues  da- 
gegen jenes  beharrlich  dasselbe  bleibende  Etwas,  das  unseren  Be- 

»)  Vgl.  Kant,  Kr.  d.  r.  V.  (Ausgabe  von  K.  Vorländer),  S.  846. 
>)  Ebenda  S.  788. 


440  R.  Hönigswald, 

wusstseinsvorgäügen   zugrunde   liegt.  ^)      Und    deshalb   trifft  die 
Argumentation  Uphues'  zugunsten  dieses  „Etwas"  die  Lehre  Kaots 
höchstens  nur   an  der  einen  für  das  Wesen  ihrer  Aufgabe  freilich 
recht  wenig  bedeutsamen  Stelle,  wo  Kant  gleichsam  zum  Beweise  der 
Vei*schiedenheit  zwischen  formaler  Identität  des  Bewusstseins  and 
numerischer   Identität  der  Person,    zum  Beweise    also,   dass  „ohn- 
erachtet  der  logischen  Identität  des  Ich  doch  ein  solcher  Wechsel 
vorgegangen   sein   kann,    der   es   nicht  erlaubt,  die  Identität  des- 
selben   beizubehalten",    das    bekannte    Gleichnis    der    elastischen 
Kugeln  heranzieht.^)     „Nehmt  nun,  nach  Analogie  mit  dergleicheo 
Körpern,  Substanzen  an,  deren  die  eine  der  anderen  Vorstellungen 
samt  deren  Bewusstsein  einflösste,   so  wird  sich  eine  ganze  Reihe 
derselben   denken   lassen,    deren   erste  ihren  Zustand  samt  dessen 
Bewusstsein   der   zweiten,   diese  ihren  eigenen  Zustand  samt  dem 
der    vorigen  Substanz   der   dritten  und  diese  ebenso  die  Zustinde 
aUer  vorigen  samt  ihrem  eigenen  und  deren  Bewusstsein  mitteilte. 
Die   letzte    Substanz    würde   also  aller  Zustände  der  vor  ihr  ver- 
änderten Substanzen  sich  als  ihrer  eigenen  bewusst  sein,  weil  jene 
zusamt   dem   Bewusstsein    in   sie   übertragen   worden,    und  dem- 
unerachtet   würde   sie   doch    nicht    eben    dieselbe  Person  in  allen 
diesen  Zuständen  gewesen  sein.^    Das  Kantsche  Oleicbnis  mag  ja 
in   seiner   ganzen   Anlage  —   wie   Uphues   darlegt  —  *)   verfehlt 
sein.    Was   es   aber   nach   Kants  Absicht  leisten  soll,  ist  in  dem 
Problem  der  kritischen  Philosophie  wohlbegründet.    Es  ist  nichts 
anderes  als  die  Beantwortung  der  Frage,  ob  die  formale  Identität 
des  Ich,  sofern  es  niemals  Gegenstand,  ja,  streng  genommen  unt«r 
dem  Gesichtspunkt  der  Gegenständlichkeit  nicht  einmal  gedacht 
werden  kann  oder  aber  die  numerische  Identität  der  Person,  also 
das  „mir"  zugrundeliegende  Wesen  die  oberste  Bedingung  der  Mög- 
lichkeit von  Objekten  der  Erfahrung  darstellen.     Das  Kantische 
Gleichnis,  das  den  letztgenannten  Fall  ausschliessen  will,  zeigt,  wie 
man  mit  jeder  Theorie  vom  „Wesen"  des  Ich  den  Eahmen  der  kri- 
tischen Philosophie   und   damit  auch  den  Boden  einer  fruchtbaren 
Auseinandersetzung  mit  Kant  verlässt.    Die  Frage  nach  dem  Wesen 
des  Ich'  verhält  sich  zum  kritischen  Problem  der  transscendentalen 
Apperzeption,  wie  etwa  die  Frage  nach  dem  Realgrunde  der  Drei- 
dimensionalität   des   Raumes   der   euklidischen  Geometrie  zur  Er- 

1)  K.  u.  8.  V.,  S.  246. 
•^)  Kant,  a.  a.  0. 
3)  K.  u.  s.  V.,  246  f. 


Zum  Begriff  der  kritischen  Erkenntnislehre.  441 

irteniog  des  Grundes  der  objektiven  Geltung  der  geometrischen 
Axiome  oder  —  um  ein  weiterhergeholtes  Beispiel  heranzuziehen 
—  wie  die  Leibnizsche  Lehre  von  den  Kraftzentren  zu  der 
öalileischen  Theorie  der  Bewegung. 

4.  Aber  auch  auf  dem  Boden  einer  eminent  „antimetaphy- 
nscheu''  Erkenntnislehre  kann  die  logische  Identität  des  Ich  mit 
1er  numerischen  Identität  der  Person  gleichgesetzt  werden.  Ja, 
Bese  Gleichsetzung  steht  geradezu  im  Zentrum  der  Position  des 
Empiriokritizismus  der  Gegenwart  Freilich  gilt  sie  hier  — 
Ban  denke  an  die  Philosophie  M  ach  s  —  nicht  wie  bei  Uphues 
lern  Beweise,  sondern  der  Widerlegung  der  These  von  der 
mmerischen  Identität  der  Person.  Allein,  da  dieser  üntei-schied 
Ui  der  grundsätzlichen  erkenntnistheoretischen  Bedeutung  jener 
sileichsetzung  nichts  ändert,  so  erscheint  ein  Exkurs  in  die 
Ifachscbe  Erkenntnislehre  auch  im  Zusammenhange  unserer  Dar- 
egnng  gerechtfertigt. 

Mach  bekämpft  die  Berechtigung  der  Vorstellung  von  der 
omerischen  Identität  der  Person  und  glaubt  damit  auch  die  von 
er  logischen  Identität  des  Ich  getroffen  zu  haben.  Das  Ich 
ann  nach  Mach  nicht  mit  sich  selbst  identisch  bleiben,  so  gewiss 
ie  „Elemente",  aus  welchen  es  besteht,  wechseln.  Denn  „die 
lemente  bilden  das  Ich.  Ich  empfinde  Grün,  will  sagen,  dass 
IS  Element  grün  in  einem  gewissen  Komplex  von  anderen  Ele- 
enten  (Empfindungen,  Erinnerungen)  vorkommt."^)  —  Allein  — 
Qd  das  ist  für  unsere  Haltung  entscheidend  —  die  Vorstellung 
nes  solchen  Ich-Komplexes  —  sein  Begriff  mag  vollziehbar  sein, 
1er  nicht  —  ist  niemals  eine  beweiskräftige  Instanz  gegen  die 
nnahme  einer  logischen  Identität  des  Ich;  und  zwar  deshalb 
icht,  weil  er  sie  in  der  Beziehung  seiner  Elemente  zu  einander, 
i  deren  Ordnung  nach  einem  Prinzip  der  Einheit  schon  voraus- 
itzt.  Die  Machschen  Sätze:  „Wenn  ich  aufhöre  grün  zu  em- 
ßnden,  wenn  ich  sterbe,  so  kommen  die  Elemente  nicht  mehr  in 
er  gewohnten,  geläufigen  Gesellschaft  vor.  Damit  ist  alles  ge- 
igt^) —  bestritten  höchstens  nur  die  IdentitÄt  der  Person;  — 
egen   die   logische  Identität   des   Ich  beweisen  sie  nichts.    Denn 


1)  Mach,  Analyse  der  Empfindungen.  Fünfte  Auflage.  Jena  1906.  S.  19. 

')  Ebenda;  vgl.  hierzu  Külpe,  Die  Philosophie  der  Gegenwart  in 
Deutschland.  Leipzig  1904.  S.  17—25.  Femer  meine  Schrift:  Zur  Kritik 
er  Machschen  Philosophie.  Berlin  1903  und  meinen  Aufsatz:  Empiristi- 
cher  und  kritischer  Idealismus.    Beilage  z.  Allg*  Ztg.  vom  5-  Sept.  1908. 


442  R.  Hönigswald, 

diese  ist  nur  ein  anderer  Ausdruck  für  die  formale  Voraassetzuiig 
der  Möglichkeit  einer  „Gesellschaft"  von  Elementen  überhaupt. 

Ja,   sie  ist   die  formale  Voraussetznng  jedes  einzeluen  Ele- 
mentes selbst   als   eines  von   anderen   nnterscheidbaren  Gebildes. 
„Oegeben""    sind   diese   Elemente   eben   nur  im  Hinblick  auf  die 
Spezifizität  ihres  Inhaltes  oder  als  methodische  Ausgaugsponkte  der 
erkenntnistheoretischen   Überlegung.     Als    „Elemente''   aber  sind 
sie  gedacht;^)   als  „Elemente"    sind  sie  —  um  eine  treffende  Be- 
zeichnung B.  Bauchs  zu  gebrauchen  —  schon  ^für  die  ErkenntÉ 
bestimmt".^)  —  Mach  will  die  These  von  der  Identität  des  „W 
widerlegen,  indem  er  dessen  komplexe  Struktur  enthüllt,  indem  er 
es  aus  „Elementen''  bestehend  aufweist;  in  Wahrheit  behauptet 
er   aber   die  Identität  des   Ich  schon  im  Begriff,   d.  h.  mit  der 
formalen  Einheit  seiner  Elemente.     Hume,  aid  den  der  Empim- 
mus  sich  so  gerne  beruft,   sah  hier  weitaus  schärfer.    Wohl  gibt 
es   auch  für  ihn   kein   mit   sich   selbst  identisch  bleibendes  Ick. 
Auch   für  ihn   ist   es   nur  jenes  berühmte  „Bündel  verschiedener 
Perzeptionen,  die  einander  mit  unbegreiflicher  Schnelligkeit  folg« 
und  beständig  in  Fluss  und  Bewegung  sind^.    Aber  schon  erM 
er  die   Umrisse   des   kritischen  Problems  der  formalen  Synthese 
„Alle   meine   Hoffnungen   schwinden,   wenn   ich   daran  gehe,  è 
Faktoren   zu  bezeichnen,   welche  unsere  successiven  Perzeptioneo 
für  unsere  Vorstellung  oder   unser  Bewusstsein   vereinigen.  M 
kann   keine  Theorie   ausfindig  machen,   die  in  diesem  Ponktek' 
friedigt.''^    Diese   Sätze   enthalten  die   schärfste  Kritik  der  fr 
kenntnistheorie    Humes    und    den  treffendsten   Hinweis  auf  ^ 
Punkt,  an  welchem  Kant  sie  überwand:   die  synthetische  Sokfli^ 
der  Apperzeption,   den  formalen  Grund   der  Verknüpfung  ii  ^ 
Erfahrung. 

Wo  der  scharfe  Begriff  des  letzteren  fehlt,  dort  verftDt  i» 
eben  als  Metaphysiker  wie  als  Antimetaphysiker  dem  ^Vvnkfl 
mus  der  Personalität". 

Gewiss,  die  Vorstellung  von  der  „Gegebenheit''  der  He««* 
will  bei  Mach  nur  der  „voraussetzungslose"  Ausdruck  des  6t 
dankens  sein,   dass  sie  die  derzeit  letzten  Bausteine  dar  Wiri^ 


1)  Vgl.  Hell,  Ernst  Mach«  Phüosophie.    Stuttgart  1907.  ^^  ^     . 
^  Bauch,   Zum    Begriff  der  Erfahrung.     Philos.  Wochewcariß*' 
Literaturzeitung.    Bd.  I. 

3)  Home,   A   treatise  of  human   nature.    Ausgabe  vùt  L  ^  ^^ 
^e.    Oxford  1396.    S.  636  f.    Vgl.  auch  Riehl,  a.  a.  0^  &  lÜ 


Zum  Begriff  der  kritLschen  Erkenntuislehre.  443 

bilden.  —  Es  kann  hier  nicht  untersucht  werden,  inwieweit 
üeser  Funktion  gewachsen,  inwieweit  sie  dagegen  —  wie 
h  selbst  einmal  sagt  —  „Abstraktionen"  darstellen.^)  Sicher 
[ass  sie  als  qualitativ  bestimmte  Einheiten  den  formalen,  wie 
materialen  Bedingungen  der  Erkenntnis  unterliegen  müssen: 
rie  auf  der  einen  Seite  vom  Gesetz  der  reinen  Synthesis  be- 
cht  werden,  so  wenig  entziehen  sie  sich  auf  der  anderen  den 
physischen  Gesichtspunkten  der  kritischen  Erkenntnislehre, 
7on  der  Vorstellung  der  qualitativen,  wie  der  räumlich-zeit- 
1  Spezifizität  des  „Gegebenen""  nicht  zu  trennen  siod. 
ö.  Auf  diese  letztere  konzentriert  und  in  der  Besinnung 
hren  Grund  erschöpft  sich  das  „metaphysische**  Interesse  des 
-etischen  Kritizismus.  Der  theoretische  Kritizismus  berührt, 
rs   gesagt,   seinem  Begriffe   gemäss  die  metaphysische  Frage 

dem  Sein  nur  an  einem  Punkte,  dort  nämlich,  wo  er  auf 
Sein  als  auf  eine  Bedingung  objektiver  Erkenntnis  reflektiert, 
kritische  Erkenntnistheorie  hat  in  diesem  Sinne  an  dem  „Ding 
ich"  —  Problem  nur  methodisches  Interesse:  es  ist  für  sie 
Inbegriff  der  ausserzeitlichen  Bedingungen  für  die  materiale 
die  erkenntnistheoretische  Spezifizität  der  apriori  nicht  erkenn- 
1  Elemente  des  Erfahrungsobjektes,  d.  h.  sowohl  für  die  quali- 
e  und  intensive  Besonderheit  des  Erfahrungsmaterials,  wie 
r,  dass  in  einem  bestimmten  Fall  eine  bestimmte  Kategorie 
estimmter  empirischer  Determination  die  Allgemeingültigkeit 
^Gegenstandes  der  Erfahrung  verbürgt.  Den  Begriff  solcher 
igungen  fixieren,  heisst  die  Einführung  des  vielumstrittenen 
iffes  vom  „Ding  an  sich**  rechtfertigen.  Wer  also  die  Be- 
igang dieses  letzteren  Begriffs  leugnet,  muss  vor  allem  die 
irspruchslosigkeit  jenes  ersteren  bestreiten.  Damit  ist  die 
iage  und  das  Prinzip  der  Diskussion  hinreichend  klar  be- 
nêt.   Das  Kriterium  für  das  oft  bezweifelte  Recht  zur  Frage 

der  Existenz  von  Dingen  an  sich  ist  das  Problem  der  Mog- 
elt eines  Begriffs  von  ausserzeitlichen  Bedingungen  für  die 
ifizität  des  Erfahrungsinhaltes.  Dieser  Begriff  aber  ist 
ellos  möglich,  so  gewiss  der  bekannte  Einwand  Jakobis  durch 
indamentale  Unterscheidung  der  Kritik  zwischen  „Grundsatz** 
Begriff"*,  zwischen  Denken  und  Erkennen  widerlegt  ist.  Nur 
Erkenntnis  begriff    involviert    nämlich    die   Vorstellung   der 

^)  Vgl  Mach,  Erkenntnis  und  Irrtum.  Leipzig  1906.  S.  181  Anm.; 
'  Hell,  a.  a.  0..  S.  29. 


444  R.  Hönigswald, 

„Bedingung**  einen  Widerspruch  mit  dem  Prädikat  der  Ausseraeitr 
lichkeit,   als  Denkmittel  verträgt  sie  sich  mit  ihm  durchans.    „Eß 
ist   sehr   wohl   möglich,    sich   der  Kategorien   nicht   bloss  in  Aa- 
sehung  der  Gegenstände  der  Sinne,  sondern  für  Dinge  überhaupt 
zu  bedienen,   aber  nur  für  etwas,  was  wir  sonst  nicht  erkemiett» 
als  nur,  dass  es  nicht  Erscheinung  ist.**^)    Sofern  die  smiüiclxc 
Bedingung   für   die   Anwendung   der  Kategorie  fehlt,   fungiert  sxc 
eben  nicht  als  Erkenntnisbegriff,    „indessen  doch  immer  die  objek- 
tive Realität  des  Begriffs  bleibt.  "2) 

Cas  sir  er  hat  gewiss  nicht  unrecht:  „Existenz  ist  nichts  ,ai] 
sich   selbst';   sondern   was    mit   diesem  Begriff   gemeint  ist,  kaac 
immer  erst   durch   die  Hinzufügung  einer  bestimmten  Erkenntnis- 
bedingung    festgestellt    werden.      Wir    sprechen    im    populären 
Sprachgebrauch   sowohl   von   der  „Existenz**    eines  sinnlich  wahr- 
nehmbaren Einzeldinges,  wie  von  der  der  Kraft  oder  des  Atoms; 
von  der  „Existenz**  der  Zahl  tt,   wie  von  der  der  »Einwohner  im 
Monde*.    Erst   die   schärfere  erkenntnistheoretische  Analyse  zägi 
uns,  dass  es  unkritische  Naivität  ist,  alle  diese  Bedeutungen  durch- 
einander  zu   werfen;   dass  es  sich  hier  um  eine  anschauliche  Ge- 
wissheit,  dort  um  eine  reine  gedankliche  Setzung,  dass  es  siA  in 
dem   einen  Falle   lediglich  um  die  vollkommene  logische  Determi- 
nation, in  dem  anderen  um  ein  mögliches  empirisches  Sein  handelt, 
das  wir  im  Fortgange  der  Erfahrung  dereinst  tatsächlich  antreffen 
könnten.    Somit  ist  das  ,Sein*   eines   Inhalts  überhaupt  kein  ein- 
deutiger Begriff,  sondern  wird  dies  erst,   wenn  die  Erkenntnis^ 
Instanz,  auf  die  wir  die  Aussage  beziehen,  feststeht:  wenn  wi^ 
wissen,  ob  die  Empfindung  oder  die  logische  Schlussfolgerung,  ot' 
das  Denken  oder  die  Anschauung  für  ihn  einsteben  sollen.    Immei^ 
rauss  ein  bestimmtes  prinzipielles  Forum  angegeben  werden,  imme^ 
muss  gleichsam   ein   Index  und  Exponent  des  Wissens  zugefii^ 
werden,  damit  das  Urteil  über  das  Sein  seinen  klaren  Sinn  erhti*- 
Abgelöst  von  jeder  Beziehung  auf   irgend   ein  Mittel  der  Er- 
kenntnis  überhaupt,   verliert  der  Begriff   des  Seins  jede  fesfc^ 
inhaltliche   Bedeutung.**')  —  Das   sind   Sätze   von  grosser  priozi- 
pieller  Wichtigkeit  und  hervorragender  begrifflicher  Schärfe.    Die 


1)  Kant,  Reflexionen  (Erdmann  1386). 

V  Vgl.  auch  Riehl,  a.  a.  0.,  669. 

1)  Cassirer,  Das  Erkenntnisproblem  in  der  Philosophie  und  Wiaseii- 
Schaft  der  neueren  Zeit.  Zweiter  Band.  Verlag  von  Bruno  Cassirer. 
S.  594. 


Zum  Begriff  der  kritifichen  Erkenntnislehre.  445 

irage  ist  ihnen  gegenüber  nur,  ob  wir  die  Behauptung  einer 
Ixistenz  des  Dinges  an  sich  von  jedem  Mittel  der  Erkenntnis  ab- 
äsen, wenn  wir  sie  an  die  kritische  Analyse  des  Gegenstandes 
er  Erfahrung  knüpfen.  Die  Erkenntnisinstanz  für  das  Recht  der 
^haaptnng  einer  Existenz  von  Dingen  an  sich  ist  eben  die  kri- 
sehe  Analyse  des  Begriffs  vom  Gegenstande  der  Erfahrung.  Im 
[inblick  auf  diese  Instanz  erhält  das  Ding  an  sich  die  Funktion, 
Bf  Inbegriff  der  ausserzeitlichen  Bedingungen  des  Gegenstandes 
BT  Erfahrung  zu  sein.  —  Der  Einwand,  dass  für  den  Begriff  der 
■zistenz  von  Inhalten  stets  Instanzen  einstehen,  die  bei  aller 
^'rschiedenheit  doch  darin  übereinkommen,  dass  sie  sich  der  frag- 
chen Inhalte  unmittelbar  bemächtigen,  während  die  Voi-stellung 
oer  Existenz  des  Dinges  an  sich  ihren  Sinn  und  ihre  Bedeutung 
"äi  von  dem  kritischen  Begriff  des  Erfahrungsobjektes  entlehnt, 
ïtbehrt  der  prinzipiellen  Begründung.  Denn  er  übersieht  die 
renge  methodische  Einheit  des  Erkenntnisproblems  und  der 
Möslehre  der  Kritik.  Ihr  Problem  ist  die  Begründung  des 
H^htes  gegenständlicher  Erkenntnis  und  sie  spricht  von  der  Exi- 
'nz  der  Dinge  genau  in  dem  Umfange,  in  welchem  deren  Be- 
iÖ  einen  Bestandteil  jener  Begründung  bildet.  —  Ebensowenig 
Scheidet  der  Einwand,  der  Begriff  einer  Existenz  von  Dingen 
Völlig  unbestimmt;  liegt  doch  gerade  in  seiner  Unbestimmtheit 
1  ganzer  Wert  für  die  Theorie  der  Erkenntnis.  In  jener  Un- 
tjmmtheit  allein  findet  der  Gegensatz  des  Begriffs  einer  Exi- 
^3  von  Dingen  an  sich  zur  Vorstellung  der  Existenz  als  Er- 
^Btnisbegriff,  d.  i.  zum  Begriff  der  Objektivität,  seinen 
-quaten  Ausdruck.  Die  Unbestimmtheit  des  Existenzbegriffs  in 
^^r  Anwendung  auf  Dinge  an  sich  ist  nur  eine  andere  Be- 
-Imung  für  die  Funktion  der  Ding-an-sich- Vorstellung  als  eines  so- 
^«nnten  Grenzbegriffs.  „Der  Begriff  eines  Noumenon  ist  bloss 
Orenzbegriff,  um  die  Anmassung  der  Sinnlichkeit  einzu- 
^^ken,  und  also  nur  von  negativem  Gebrauche.  Er  ist  aber 
îchwohl  nicht  willkürlich  erdichtet,  sondern  hängt  mit  der  Ein- 
^^iUiknng  der  Sinnlichkeit  zusammen,  ohne  doch  etwas  Positives 
^^er  dem  Umfang  derselben  setzen  zu  können."^) 

Gewiss,  auch  Uphues  hat  Recht:  der  einfache  Schluss  von 
^  Erscheinung  auf  etwas,  was  erscheint,  ist  analytisch  und  be- 
llst für  das  reale  Dasein  der  Dinge  au  sich  noch  nichts.    Allein, 


0  Kant,  Kr.  d.  r.  V.  (Vorländer).    S.  274. 


446  R.  Hönigswald, 

diese  Bemerkung  träfe  Kant  nur  dann,  wenn  er  das  reale  Dase^^ 
der  Dinge  mit  Hülfe  dieses  Schlusses  hätte  erweisen  wollen,  od^^^ 
wenn  er  es  unterlassen  hätte  zu  zeigen,  dass  eine  Erkenntnis  d^^ 
Dinge    nur   in   deren   Beziehung    auf    die   Einheitsfunktion  eio^ 
„Bewusstseins   überhaupt"    in   den  Formen  der  Anschauung,  d.  b« 
als  Erscheinungen  möglich  ist.    Gerade  dieser  Beweis  aber  ist  das 
Ergebnis  des  theoretischen  Kritizismus,  weil  er  die  Voraussetzung 
für  die  Beantwortung  der  fundamentalen  Frage  nach  der  Möglich- 
keit  synthetischer  Urteile   a  priori  ist.    Nicht   der  blosse  Begriff 
der  Erscheinung,   der  Beweis  für  die  Gültigkeit  dieses  Begrifis 
vielmehr  ist   der  Rechtsgrund   für   die   These   von   der   Existenz  j 
von  Dingen  an  sich.^) 

Als  Grenzbegriff  liegt  die  Vorstellung  real  existierender 
Dinge  an  sich  nicht  jenseits  einer  dogmatisch  aufgepflauzteD 
Schranke  der  Erkenntnis,  „einer  Umzäunung,  die  nicht  über- 
schritten werden  darf", 2)  sondern  einer  Grenze,  die,  eben  weil 
sie  vom  Begriff  der  Erkenntnis  gezogen  ist,  durch  Erkenntnis 
nicht  überschritten  werden  kann. —  Sie  kann  nicht  überschritteo, 
aber  sie  kann  auch  nicht  beseitigt  werden,  am  allerwenigsten  auf 
dem  Boden  und  mit  dem  methodischen  Rüstzeug  der  kritischen 
Erkenntnistheorie  selbst.  Denn  die  Frage,  die  mit  dieser  Forde 
rung  implicite  bejaht  ist,  verneint  der  Kritizismus:  der  gesamte 
Inhalt  der  Erfahrung  kann  aus  den  Formalgesetzen  der  Erkenntnis 
niemals  hergeleitet  werden.  Wohl  entspricht  es  dem  Begriff  der 
kritischen  Philosophie,  das  Walten  dieser  Formalgesetze  sich  immer 
deutlicher  zu  Bewusstsein  zu  bringen,  die  Erfahrung  methodisch 
und  erkenntnistheoretisch  immer  mehr  zu  rationalisieren.  Aber 
je  gründlicher  sie  diesen  Bedingungen  ihres  Begriffes  genugi> 
umso  schärfer  muss  sie  auch  auf  die  materialen  Angriffspunkte 
jener  Formalgesetze  reflektieren.  Denn  hier  liegen,  gleichnisweise 
gesprochen,  die  für  die  Funktion  der  Formalgesetze  der  Erfahrung 
notwendigen  Widerstände,  hier  liegen  die  Voraussetzungen  für  die 
tatsächliche  Herrschaft  der  Einheitsgesetze  des  Verstandes.  Wie 
man  diese  materialen  Voraussetzungen  der  Erfahrung  als  solde 
und  deren  Bedingungen  nennt  und  wo  man  sie  beginnen  lässt, 
ist  prinzipiell  gleichgültig.  Der  Versuch,  sie  zu  eliminieren,  aber 
involviert  den  Beweis  für  die  durchgängige  Apriorität  sämüicber 
Wissenschaften.     So   lange   dieser  nicht    erbracht  werden  kann, 

1)  Vgl.  Riehl,  a.  a.  0.,  S.  562. 

2)  K.  u.  s.  V.,  S.  45. 


Zum  Be^ff  der  kritischen  Erkenntnislehre.  447 

80  lange  hat  auch  der  methodische  Begriff  eines  „Dinges  an  sich"*, 

80  lange  hat  der  Begriff  des  Seins  neben  dem  der  Geltnng  in  der 

Erkenntnistheorie  Bürgerrecht.   —  In  dem  methodischen  Begriff 

der  Gegebenheit  konzentriert  sich  das  metaphysische  Interesse  des 

Kritizismus.     Eine  Wissenschaft  von  den  Bedingungen  des  üe- 

K^benen  als  solchen  gibt  es  nicht,  weil  diese  den  Voraussetzungen, 

fie  an  den  Begriff  der  Wissenschaft  geknüpft  sind,  widersprechen. 

»Die  Kritik   der   reinen  Vernunft   bejaht   das  Metaphysische,   sie 

verneint  die  Metaphysik."^) 

6.  Die  Position  üpbues'  freilich  treffen  diese  Bemerkungen 
nicht;  seine  Polemik  gegen  den  Ding-an-sich-Begriff  gründet  sich  auf 
Erwägungen  anderer  und  eigener  Art.  „Wer  sagt  uns  denn,  dass  die 
Empfindungen  und  die  aus  ihnen  entstehenden  Vorstellungen  Âffek- 
tionen  des  Subjekts  durch  den  Gegenstand  sind?  Soll  das  etwa 
daraus  geschlossen  werden,  dass  wir  das  Bewusstsein  haben,  sie 
würden  uns  aufgedrängt?  Aber  wie  oft  ist  das  bei  Phantasie- 
vorstellungen der  Fall,  werden  wir  doch  unter  Umständen  von 
Dinen  förmlich  verfolgt.  Oder  daraus,  dass  wir  nicht  das  Bewusst- 
sein haben/  dass  sie  aus  unserem  Inneren  stammen? "2)  —  Die 
Frage,  die  Uphues  hier  zur  Diskussion  stellt,  ist  diese  :  entscheidet 
der  Zwang  der  Wahrnehmungen  über  die  Annahme  der  realen 
Existenz  von  Dingen  an  sich  als  materialer  Voraussetzungen  all- 
gemeingültiger Objekte  der  Erfahrung?  In  Übereinstimmung  mit 
Uphues  können  wir  diese  Frage  unter  Hinweis  auf  das  Phaenomen 
der  Phantasievorstellungen  verneinen.  Aber  wir  müssen  hinzu- 
fügen: der  philosophische  Kritizismus  behauptet  auch  nicht,  was 
jene  Frage  bezweifelt.  Die  kritische  Philosophie  behauptet  die 
reale  Existenz  von  Dingen  an  sich  zunächst  nur,  sofern  gegebene 
Wahrnehmungen  den  konstitutiven  Bedingungen  der  Erfahrung 
genügen.  Diese  Beschränkung  ist  begründet  in  dem  spezifischen 
Problem  der  kritischen  Philosophie;  in  ihrer  Frage  nach  der  Mög- 
lichkeit synthetischer  Urteile  a  priori,  nach  den  Orenzen  einer 
möglichen  Erkenntnis  von  Dingen.  Genügen  nun  gegebene 
Wahrnehmungen  jenen  Bedingungen  nicht,  dann  folgt  für  die  kri- 
tische Philosophie  freilich  auch  noch  nicht,  was  Uphues  anzu- 
nehmen scheint,  dass  ihnen  Dinge  an  sich  überhaupt  nicht  zu- 
grunde lägen;  denn  wäre  es  so,  dann  müsste  der  Inhalt  auch 
dieser  Wahrnehmungen   in   formal-apriorische   Bestimmungen  auf- 

t)  Biehl,  a.  a.  0.,  S.  684. 
>)  K.  u.  8.  V.,  S.  72. 


448  R.  Hönigswald, 

gelöst  werden  können.  Vielmehr  folgert  die  kritische  Philosophie 
daraus  mit  Recht  nur  dies,  dass  die  ihnen  zugrundeliegende  Bea- 
lität  von  anderer  Beschaffenheit  sei  wie  die,  welche  die  materialen 
Bedingungen  von  Gegenständen  der  Erfahrung  ausmacht.  Sie 
folgert  die  Spezifizität  der  materialen  und  ausserzeitlichen  Be- 
dingungen jener  cerebralen  Prozesse,  die  wir  für  unsere  PhanUsie- 
gebilde  verantwortlich  machen.  —  Mit  dieser  Folgerung  wider- 
spricht sich  der  Kritizismus  durchaus  nicht.  Denn  nicht  die 
Eigenschaftslosigkeit,  sondern  nur  die  Unerkennbarkeit 
der  Beschaffenheit  von  Dingen  an  sich  selbst  hat  er  mit  Hülfe 
der  transscendentalen  Methode  erwiesen. 

Mit  solchen  Erwägungen  berühren  wir  das  komplizierte  Pro- 
blem der  „Affektion"   des  „Subjektes"   durch  „Dinge  an  sich". 
Die  historische   Frage   nach  der  vielleicht  nicht  völlig  einden- 
tigen   Stellung   Kants   zu   diesem   Problem    soll   hier   unerörtert 
bleiben.     Sie  ist  mit  hervorragendem  Scharfsinn  von  H.  Vaihinger 
diskutiert    worden.^)      Für    uns    steht    die    systematische  Be- 
deutung des   Begriffes   von   der    „Affektion"    des   Subjektes,  die 
Frage   nach   dem  Sinn  dieses  Begriffes  in  der  kritischen  Erkennt- 
nislehre   im    Vordergrund.  —  Da   der   Begriff   der  Affektion  von 
dem  der  Empfindung  nicht   zu  trennen   ist,   kann   die  Affek- 
tion auch  vom  Begriff  des  empirischen  Bewusstseins  nicht  getrennt 
werden,    d.  h.    sie    kann    nicht   getrennt   werden   von   der  durch 
irgendwelche    „Inhalte"    realisierten    Möglichkeit    zu    sich   selbst 
„ich"  zu  sagen.    Bedenkt  man  nun,  dass  der  erkenntnistheorische 
Begriff  der  Affektion  von  dem  einer  zeitlichen  Beziehung  zwischen 
einem   räumlich   äusseren   und   dem  einer  Wahrnehmung  zugeord- 
neten cerebralen  Prozess  strenge  geschieden  werden  muss,  so  darf 
man   die  Affektion   des  Subjektes   durch  Dinge   an   sich  kurz  als 
die   Determination   des   transscendentalen   Bewusstseins  im  empi- 
rischen  durch  Dinge   als  Erscheinungen  kennzeichnen.    Das  Pro- 
dukt dieser  Determination  als  solches  ist  das  Objekt  der  Psycho- 
logie,  zugleich   das  Substrat  —  soweit   die   materialen  Beding- 
ungen   hierfür    erfüllt    sind  —  für    die    weitere    Betätigung   der 
reinen  Synthesis  bei  der  Bestimmung  des  Erfahrungsobjektes. 

Das  Ding  an  sich  der  kritischen  Philosophie  ist  weder  eigen- 
Schafts-  noch  beziehungslos,  es  ist  das  Ding  ausserhalb  der  Be- 
aehuDgen  und  Bedingungen   der  Erfahrung;   zugleich   aber  das 

1)  VgL  Vaihinger,  „Zu  Kants  Widerlegung  des  Idealismus"  in  den 
Strttssbarger  Abhandlungen  zur  PhUosophie.    Freiburg  und  Tübingen  188i 


Zum  Begriff  der  kritischen  Erkenntnislehre.  449 

sofern  es  der  Beziehang  auf  die  Bedingungen  der  Erfahrung 

ist.    In  diesem  Sinne  ist  es  der  Inbegriff  der  auf  die  Formen 

Erfahrung   gerichteten    Bedingungen   des   Erfahrungsinhaltes. 

lese  Beziehung   ist   das  an  ihm  methodisch  wesentliche.    Es 

Äjenige  an  ihm,  was  einerseits  die  „Affektion"  des  Subjektes  er- 

cht,  andererseits  der  „Affinität  des  Mannigfaltigen"  zum  Grunde 

Denn  diese  ist  der  Ausdruck  dessen,  dass  Wahrnehmungen 

nögliche   Bestimmungen   empirischer   Gegenstände   von   vorn- 

II   begreiflich,    durch   Begriffe   verknüpfbar,   d.  h.    von  vorn- 

a  an  der  Form  des  Begriffes  orientiert  sein  müssen:  das  Ge- 

durch    welches    als    Erscheinungen    „gegebene"    Dinge    zu 

cten   der   Erfahrung   werden,   ist   zugleich   das  Gesetz,  nach 

lem  Dinge  als  Erscheinungen  „gegeben"  sind.^)     „Die  Dinge, 

ms  a  posteriori   gegeben  werden,    müssen  ebenso  wohl  ein 

iltnis  zum  Verstände  haben,  d.  i.    eine  Art  der  Erscheinung, 

*ch   es  möglich   ist,    von    ihnen    einen  Begriff  zu  bekommen, 

in  Verhältnis  zur  Sinnlichkeit,   d.  i.    eine  Art  des  Eindrucks, 

rch    es    möglich  ist,  Erscheinung  zu  bekommen.    Daher  wird 

was  uns  a  posteriori  durch  Sinne  nur  bekannt  werden  kann, 

der  allgemeinen  Bedingung  eines  Begriffes  stehen,  d.  i.  der 

[  gemäss  sein,   wodurch  es  möglich  ist,   von  Dingen  Begriffe 

ekommen;   demnach    wird   alles   so  erscheinen,   dass  es  eine 

chkeit   sein   muss,   es   (seiner    Form   nach)   a  priori   zu  er- 

in." 

7.  So  definiert  also  der  kritische  Begriff  der  Erfahrung 
theoretischen  Begriff  des  Dinges  an  sich  selbst  in  negativer, 
in  positiver  Beziehung.  Je  weniger  entwickelt  der  Er- 
agsbegriff  ist,  um  so  schwankender  ist  auch  der  Begriff  des 
iS  an  sich,  um  so  leichter  werden  dem  letzteren  konstitutive 
nale  des  Gegenstandes  der  Erfahrung  beigelegt.  Die  Defi- 
des  Dinges  an  sich  als  eines  obgleich  nicht  eigenschafts- 
so  doch  schlechthin  unerkennbaren  und  nur  auf  die  Form 
Erfahrung   bezogenen   Faktors   ist   vom  Standpunkte   einer 


1)  Vgl.  Rie  hl,  Einführung  in  die  Philosophie  der  Gegenwart.  Leip- 
08.  S.  126;  vgl.  auch  Rickert,  a.  a.  0.,  sowie  Groos,  Beiträge 
Noblem  des  „Gegebenen^.  Zeitschrift  f.  PhUosophie  und  phüosoph. 
.  Bd.  130,  Heft  9;  femer  Natorp,  Zur  Streitfrage  zwischen  Empi- 
ond  Kritizismus,  Arch.  f.  system.  Philosophie,  1899  und  meine 
^  „Über  die  Lehre  Iluraes  von  der  Realität  der  Aussendinge",  Berlin 
S.  51. 


450  R.  Hönigswald, 

psychologisierenden    Erfahrungstheorie,    etwa    vom    Standpwnlrt« 
Humes  aus,  nicht  möglich:  hier  wird  das  Ding  an  sich  zur  Sub- 
stanz,   hier   wird   die  Substanz,    dieses   allgemeine  Formalgesete 
des  Seins    von  Dingen   in    der  Erfahrung   zu   einem   nach  Malt 
und  Form  unbestimmten  Etwas,  zu  jenem  „dunklen  B3umpen,  den 
wir"  —  wie  Mach^)  es  einmal  ausdrückt  —  „zu  unseren  Wahr- 
nehmungen unwillkürlich  hinzudenken."  —  Dies  vor  allem  ist  es, 
was  eine  logische  Erfahrungstheorie  an  dem  Ding  an  sich  ,,der 
Philosophie  des  Inselreiches",  ausstellen  muss,  dies  der  Punkt,  an 
welchem   Uphues    mit   einem    der  bedeutendsten    Vertreter  jener 
Philosophie   übereinstimmt:   auch   für  Uphues^)   ist   das  Ding  an 
sich  wie  für  Hume  ein  „beharrliches  Etwas",  das  den  eigentlichen 
Gegenstand    der   Wahrnehmung    bildet,    es    ist    das    Objekt  der 
Lockeschen,   nicht   das   Ergebnis   der  Kantischen  Kritik  des  E^ 
fahrungsbegriffes.    Und   wie  bei  Hume,  so  wurzelt  auch  hier  die 
Lehre   von   der  Beharrlichkeit   des  Dinges  an  sich  in  einem  über 
die    Erfahrung   hinausgreifenden   Gebrauch   des    Grundsatzes  der 
Substanz.*)  —  Die   Motive   freilich   sind   im  Grunde  verschieden. 
Bei  Hume   ist  der  Verwendung  des  Substanzbegriffes  keine 
objektiv   gültige  Grenze   gesetzt,   weil   dieser  Begriff  für  ihn  nnr 

1)  Mach,  Populärwissenschaftliche  Vorlesungen.  Zweite  AiifL  Leip- 
zig 1897.  S.  225  ;  vgl.  noch  meine  Schrift,  Über  die  Lehre  Homes  tod 
der  Realität  der  Aussendinge.    Berlin  1904.    S.  96. 

2)  K.  u.  u.  V.    S.  161. 

3)  Uphues  freilich  entgeht  dieser  Konsequenz  zunächst  durch  die 
Trennung  der  Begriffe  von  Beharrrlichkeit  und  Substanz.  (Vgl  K.  n. 
s.  V.  S.  141  und  149.)  Für  ihn  ist  das  Substanzgesetz  nur  das  Gesetz  der 
Eigenörtlichkeit,  der  Satz  also:  Ein  Ding  kann  nicht  zugleich  mit  anderen 
denselben  Ort  einnehmen.  (S.  138.)  Allein,  die  Konsequenz  dieser  TrennoDg 
wird,  sofern  man  ihre  Berechtigung  überhaupt  zugestehen  sollte,  wieder 
paralysiert  durch  die  sehr  scharf  betonte  Unterscheidung  zwischen  der 
anschaulichen  und  der  gedachten  Substanz.  Jene  ist  nicht  behar^ 
lieh  und  unterliegt  dem  Fluss  des  Werdens.  Diese  ist  das  G^esetz,  doidi 
das  wir  die  Substanz  als  Träger  der  wechselnden  und  veränderlichen 
Sinneseigenschaften  betrachten  (S.  149).  — -  Wir  denken  nach  Uphues  ^in 
und  mit  der  anschaulichen  Substanz*'  auch  jenes  „beharrlichen  Etwas^;  von 
welchem  oben  die  Rede  gewesen,  um  so  auch  die  anschauliche  Substani 
als  ein  —  relativ-beharrliches  au&ufassen.  —  Daraus  ergiebt  sich  dann 
weiterhin  ein  gewisses  Schwanken  in  der  erkenntnistheoretischen  Be- 
wertung jenes  „beharrlichen  Etwas^  ;  es  ist  auf  der  einen  Seite  der  eigent- 
liche Gegenstand  der  Wahrnehmung  (S.  161),  auf  der  anderen  Seite  ist  es 
von  seiner  Erscheinung,  wozu  auch  das  Eigenörtliche  gehOrt,  durchaus 
unabhängig  (S.  163). 


Znin  Begri^  àer  kritischen  Erkenntnislehre.  451 

Betracht  kommt  als  das  Mittel  zur  Befriedigang  eines  subjek- 
60,  wenngleich  der  Laune  und  dem  Zufall  seiner  biologischen 
gründung  zufolge  entrUckten,  Erkenntnisbedürfnisses.  Seine  sub- 
lotialen  Dinge  an  sich  haben  die  Aufgabe,  den  Wahrnehmungen 
Q  vom  belief  mit  der  unwiderstehlichen  Gewalt  des  Instinktes 
forderten  Rückhalt  zu  geben.  Bei  Uphues  hingegen  wurzelt 
>  dogmatische  Verwendung  des  Substanzbegriffes  in  der  Tren- 
ag  des  Begriffes  der  „Gültigkeit"  der  Kategorien  von  dem 
er  Anwendung.    Nur  diese  letztere,   nicht   auch  die  erstere  sei 

•  die  Erfahrungswelt  beschränkt.  —  Wird  der  Begriff  einer 
renze**  der  Anwendung  von  Kategorien  nicht  psychologistisch 
sverstanden,  dann  kann  jener  Begriff  von  vornherein  nichts 
eres  bedeuten,  als  die  Grenze  eines  gültigen  Gebrauchs  von 
egorien. 

8.  Dennoch  liegt  der  Grund  für  die  Gegenüberstellung  von 
iwendung"  und  „Gültigkeit"  bei  Uphues  nicht  in  diesem 
plen  psychologistischen  Missverständnis.  Er  liegt  weitaus 
er:  er  entspricht  durchaus  seiner  Auffassung  von  der  erkennt- 
heoretischen Bedeutung  des  Raumes  und  der  Geometrie.    Auch 

•  wurde  -  wie  oben  dargelegt  —  ein  Gegensatz  konstruiert 
sehen  der  Art  und  dem  Umfange  der  Geltung,  zwischen  der 
sache  der  von  der  Existenz  entsprechender  Objekte  unab- 
gigen  Geltung  geometrischer  Lehrsätze  und  der  Beschränkung 
r  Gültigkeit  auf  Gegenstände  möglicher  Erfahrung.  Die  kri- 
tie  Philosophie  konnte  diese  Gegenüberstellung  nicht  aner- 
oen,  denn  gerade  sie  verbindet  ja  in  ihrem  Ergebnis  die  bei 
lues  getrennten  Gesichtspunkte:   sie  zeigt,  wie  es  verständlich 

dass  das  Beschränktsein  der  Geltung  der  euklidischen  Geo- 
rie  auf  die  Erfahrung  unabhängig  von  aller  Erfahrung  be- 
jen  wird.  —  Nicht  die  „Wahrheit"  jener  Sätze  an  sich  näm- 
,  sondern  deren  Geltung  für  die  Erfahrung,  ungeachtet  dessen, 
;   sie   unabhängig   von  aller  Enfahrung,  also  auch  unabhängig 

der  Existenz  entsprechender  Objekte,  bewiesen  werden,  ist 
Problem  der  kritischen  Erkenntnislehre;  und  die  Lösung  dieses 
blems  schliesst  zugleich  die  Beschränkung  der  gültigen  An- 
dbarkeit  jener  unabhängig  von  aller  Bestätigung  durch  Er- 
ung  geltenden  Sätze  auf  Gegenstände  möglicher  Erfahrung 
ich. 

Mit  der  Konstruktion  eines  erkenntnistheoretischen  Gegen- 
168  zwischen  der  Gültigkeit  und  der  Anwendung  yon  Sätzen, 


462  Ë.  Hönigswald, 

beziehungsweise    mit    der  unbedenklichen   Beschränkung  der  er- 
kenntnistheoretischen  Betrachtungsweise  auf  die  Frage  der  Gültig- 
keit von  Sätzen  schlechtweg,   verlässt  man   daher  den  Boden  der 
kritischen  Philosophie.     Denn   im   Gegensatz    hierzu  lehrt  der 
philosophische  Kritizismus,    dass   gegenständliche  Geltung  in  der 
Erfahrung    eine    besondere,    nämlich    die    durch    Wahmehmungen 
bestimmte,   Art    der    allgemeinen   Geltung    überhaupt   bedeute. 
Up  hu  es  hat  die  ideale  Geltung  allein  im  Auge.    Dies  bahnt  ihn 
den   Weg   zu   seiner   Erkenntnismetaphysik,    dies   begründet  uns 
einerseits  seine  Beziehungen  zum  —  aristotelischen  —  Piaton  und  zu 
Thomas  von  Aquino,  andererseits  die  unleugbare  Verwandtschaft 
seiner  Erkenntnisprinzipien,    sofern   man   von  deren  theologischen 
Elementen  absieht,  mit  denen  der  „Wissenschaftslehre"  Bolzanos, 
der   „Gegenstandstheorie"    Meinongs   und   der  „Logistik**   Con- 
turats.    Bei  allen  diesen  Denkern  handelt  es  sich,  —  ungeachtet 
der  tiefgehenden  Unterschiede  zwischen  ihren  besonderen  Absichten 
und  der  zur  Verwirklichung  der  letzteren  aufgewandten  Mittel  - 
gleichwie   für  Ulphues   darum,    den  Begriff   der  „Gültigkeit**  von 
Inhalten,   im   besonderen   von  Urteilen,   von  jeder  Beziehung  auf 
deren  „Anwendung"  zu  befreien;    im  Gegensatz   zur   kritischen 
Philosophie   ist  für   alle   das   letzte  ihren  erkenntnistheoretischen 
Erwägungen  subintelligierte  Ziel  daher  nicht  die  Feststellung  des  < 
Grundes   und   die   Definition   des   Begriffs   der  Objetivität  der 
Erfahrung    sondern    der    Begriff   jener   Gültigkeit,    bezw.  der 
„Wahrheit**  selbst.    Wodurch  dieser  Begriff  im  besonderen  sym- 
bolisiert wird ,   ob  in  platonisierend-thomistischer  Weise,  durch  die 
Vorstellung   einer  Existenz   in  Gott  —  oder  durch  eine  Verallge- 
meinerung  des  Gegenstandsbegriffes,   ist  von  prinzipiell  unterge- 
ordneter  Bedeutung.    Sicher  ist,   dass   konsequenterweise  keiner 
der  genannten  Standpunkte  dem  Problem  des  philosophischen  Kri- 
tizismus  gerecht  zu   werden   vermag,   obschon   keiner  von  ihnen 
dieses  Problem  beseitigt. 

Die  Rolle  der  Erkenntnislehre  beginnt  erst  diesseits  vom 
metaphysischen  Problem  der  Wahrheit.  Nicht  deren  Wesen,  son- 
dern nur  deren  Bedeutung  in  der  Erkenntnis  interessiert  sie;  in 
der  EIrkenntnis  aber  bedeutet  Wahrheit  ein  bestimmtes,  je  nach 
der  Beschaffenheit  unserer  Aussagen  verschiedenen  Grundsätze 
gemässes  Verhalten  dieser  Aussagen.  Die  Erkenntnislehre  inte^ 
essieren  bloss  jene  Grundsätze  als  die  Kriterien  der  Wahrheit. 
Ja  das  spezifische  Problem  der  kritischen  EIrkenntnislehre  ist  es. 


Zum  Begriff  der  kritischen  Ërkenntnislehre.  453 

Eriterinm  der  Wahrheit  derjenigen  Sätze  festzustellen,  die  fiir 
ge  der  Erfahrung  nicht  auf  Or  und  der  Erfahrung  gelten,  die 
lin  notwendig  gelten,  die  aber  dennoch  nicht  aus  blossen 
l^riff en  Geltung  beanspruchen.  Und  sie  findet  dieses  Kriterium 
A,   dass  jene  Sätze  implicite   die    konstitutiven   Bedingungen 

Oegenständen  der  Erfahrung  enthalten,  Bedingungen,  deren 
)griff  die  an  (anschaulichen)  Erscheinungen  von  Dingen  sich 
Ltigende  erkenntnistheoretische  Funktion  des  Urteils  darstellt. 
Nur  von  Urteilen,  nicht  aber  auch  von  der  erkenntnis- 
kretischen  Funktion  des  Urteils,  Vorstellungen  überhaupt  in 
emeiner  Weise   zu   verbinden   und   von   deren  Besonderungen, 

Kategorien,  kann  „Wahrheit*"  prädiziert  werden;  denn  Kate- 
ien  sind  material  nicht  bestimmte  logische  Formen  von  ür- 
3n.  An  Kategorien  kann  m.  a.  W.  nicht  unterschieden  werden 
wie  etwa  an  den  Sätzen  der  Metageometrie  —  zwischen 
dgkeit  und  Anwendung.    Vielmehr  sind  hier  die  Bedingungen 

letzteren   zugleich   auch   die   der  ersteren.    In  dem  Begriff 

Kategorie  schon  ist,  gleichwie  in  dem  Begriff  der  reinen 
men  der  Anschauung  die  Unmöglichkeit  einer  Trennung  zwischen 
tigkeit  und  Anwendung  begründet.  Ihre  Beziehung  auf  den 
riff  der  Erfahrung  schliesst  eine  solche  Trennung  von  vorn- 
hin aus. 

In  hohem  Grade  bestechend  ist  es  in  diesem  Zusammenhange, 
i  Uphues  das  Verhalten  der  Kategorien  mit  dem  der  Zahlen 
gleicht.  „Es  ist"  —  so  sagt  er  —  ...  „mit  den  Kategorien 
t  anders  als  mit  den  Zahlen,  die  jede  für  sich  allgemeingeltende 

objektive  Gesetze  darstellen  —  zwei  ist  die  Hälfte  von  vier, 
Doppelte  von  eins  u.  s.  w.  -—  auch  wenn  es  gar  keine  zähl- 
n  Dinge  gibt."  0  Der  kritische  Erkenntnistheoretiker  könnte 
3m  Satze  nur  unter  einer  Voraussetzung  zustimmen,  nämlich 
I,  wenn  zugleich  gezeigt  würde,  dass  die  Zahl,  als  mögliches 
^bnis  einer  arithmetischen  Operation  betrachtet,  gleich  der 
^gorie  reine  Synthesis  wäre.  Das  aber  ist  sie  nicht.  Sie 
—  um  an  das  Beispiel  Uphues'  anzuknüpfen  —  als  Summe, 
Produkt  u.  s.  w.  betrachtet  Ergebnis  der  reinen  Synthesis, 
t  aber  reine  Synthesis  selbst.  —  D.  h.  die  Synthesis  der  Kate- 
rn ist  nicht  mit  den  in  der  Zahl  gegebenen  materialen  Gesetzen 
ergleichen,   sondern   höchstens   mit  dem  formalen  Gesetz,  ge- 

1)  K.  u.  s.  V.,  S.  81  f. 
uit0todl«u  xiu.  30 


454  U.  Hönigswald, 

nauer  mit  der  Einheit  jeuer  Gesetze.  Uphues  identifiziert  liier 
m.  a.  W.  das  Ergebnis  der  Synthesis  mit  der  Synthesis  selbst 
Da  nun  aber  jenes  Produkt  der  Synthesis  —  ungeachtet  seiner 
formalen  Bedeutung  gegenüber  dem  sinnlich  bestimmten  Inhalt  der 
Erfahrung  —  der  reinen  Synthesis  gegenüber  immer  noch  ma- 
teriale  Bestimmungen  enthält,  so  geht  durch  jene  Gleichsetzong 
der  streng  formale  Begriff  der  Synthesis  verloren.  Dies  stimmt 
überein  mit  Uphues'  materialer  Bestimmung  der  synthetischen  Ein- 
heit; aber  es  vermag  der  Lösung  jener  fundamentalen  Probleme 
des  Kritizismus,  die  auch  Uphues  anerkennt,  nicht  zu  dienen. 

Kategorien  haben  also  als  konstitutive  Formalprinzipien  der 
Erfahrung  nicht,  gleich  anderen  „Wahrheiten",  eine  über  das 
mögliche  Mass  ihrer  objektiven  Anwendung  hinausreichende  „Gültig- 
keit". Ihre  Gültigkeit  erschöpft  sich  vielmehr  —  um  es  nach- 
drücklich zu  wiederholen  —  in  ihrer  Anwendung. 

Aber  auch  wenn  dies  nicht  der  Fall  wäre,  bedeutete  Gültig- 
keit schlechtweg  noch  nicht  Gültigkeit  für  „Dinge  an  sich"",  so 
gewiss  mit  der  idealen  Geltung  der  „Wahrheit"  die  Vorstellung 
der  Beschränkung  ihrer  Geltung  auf  irgend  eine  reale  Position, 
also  auch  auf  jenseits  möglicher  Erfahrung  stehende  Dinge, 
schlechterdings  unvereinbar  ist.  Eine  von  der  Anwendung  auf 
Erfahrung  schlechthin  unabhängige  Geltung  von  Kategorien  ist 
noch  keine  Geltung  von  Kategorien  für  Dinge  an  sich.^) 

Eine  Erkenntnislehre,  der  die  Metaphysik  nicht  von  vornherein 
zum  Problem  wird,  muss  den  Kontakt  mit  dem  Problem  der 
Erfahrung  verlieren.  Es  ist  nur  ein  scheinbarer,  weil  in  un- 
kontrollierbare metaphysische  Vorstellungen  ausmündender  Ersatz 
für  diesen,  wenn  Uphues  für  alle,  also  auch  für  die  erfahrungs- 
massige  Erkenntnis  auf  die  „Gedanken  Gottes"  zurückgreift  Denn 
der  Rechtsnachweis  für  die  Annahme,  dass  die  Gedanken  Gottes 
den  Realgrund  aller  Erkenntnis,  ja  sogar  der  blossen  Denkbarkeit 
von  Dingen  überhaupt  bilden,  ist  auf  dem  Boden  der  Erkenntnis 
nicht  zu  erbringen.  Und  auch  die  Argumente  der  Erkenntnis- 
Wissenschaft  versagen  dort,   wo  es  sich  z.  B.  um  Beweis  oder 


^)  „Die  reine  Logik^  —  schreibt  Ewald  im  Verlaufe  einer  Diskussion 
verwandter  Probleme  —  „bleibt  eine  Lehre  vom  Idealen.  Die  Metaphysik 
handelt  von  einer  Realität.  .  .  .  Diese  Differenz  vermag  das  Moment  des 
Absoluten  nicht  zu  überbrücken,  das  der  Logik  und  der  Metaphysik,  der 
Wertlehre,  sowie  der  Seinslehre  gemeinsam  ist.^  Ewald,  Kants  Methodo- 
logie in  ihren  Grundzügen.    Berlin  1906.    S.  99. 


2iira  Begri^  àer  kritischen  Erkenntnislehre.  455 

Widerlegung  eines  der  Hauptsätze  der  Uphnes'schen  Erkenntnis- 
metaphysik  handelt:  „Für  die  Wirklichkeiten,  die  seine  (Gottes) 
Gedanken  sind,  hat  Gott  auf  sein  Besitz-  und  Eigentumsrecht  an 
flmen  mit  seinem  Willen  verzichtet,  sich  insofern  ihrer  entäussert 
nnd  ihnen  dadurch  eine  Selbständigkeit  geliehen,  die  ihnen  ihrer 
Mator  nach  wegen  ihrer  völligen  Abhängigkeit  von  ihm  in  Wirk- 
Hehkeit  nicht  zukommt. ''^) 


IV. 
Die  Beziehungen  Kants  zu  seinen  Vorgängern  können  nicht 
geleugnet  werden.     Aber  je  klarer  das  Eigenartige  dieser  Be- 
äehnngen  zu  Bewusstsein  kommt,   umso  schärfer  tritt  auch  die 
Selbständigkeit  der  Kant'schen  Problemstellung  hervor.   Und  gerade 
hier  ist  bei  aller  Mannigfaltigkeit  jener  Beziehungen  zur  Vergangen- 
heit dies  eine  gewiss,  dass  Kants  theoretische  Philosophie  die  Kritik 
des  Begriffes  der  Metaphysik  enthält.     Dass  er  selbst  die  Meta- 
physik nicht  missen  wollte,  weil  „ihr  Grund  die  durch  empirische 
Begriffe  niemals  zu  befriedigende  Vernunft  ist^,  ')  entscheidet  eben 
nicht  über  seine  Stellung  zur  Frage  nach  dem  logischen  Rechte 
ihres  Bestandes  als  Wissenschaft.  — 

Der  Biograph  Kants  kann  an  dessen  Schicksal,  „in  die  Meta- 
physik verliebt  zu  sein**,  nicht  achtlos  vorübergehen;  und  auch  für 
die  Beurteilung  der  sachlichen  Stellung  des  Kritikers  der  reinen 
Yerannft  zur  Metaphysik  ist  es  gewiss  wichtig,  sich  darauf  zu 
besinnen,  das  ihm  alles  Wissen  nach  ihr  hin  zu  konvergieren  schien. 
„Der  Mathematikus,  der  schöne  Geist,  der  Naturphilosoph:  was 
richten  sie  aus,  wenn  sie  über  die  Metaphysik  übermütigen  Spott 
treiben?  In  ihrem  Innern  liegt  der  Ruf,  der  sie  jederzeit  auffordert, 
in  das  Feld  derselben  einen  Versuch  zu  tun.  Sie  können,  wenn 
sie  als  Menschen  ihre  letzten  Zwecke  nicht  in  Befriedigung  der 
Absichten  dieses  Lebens  suchen,  nicht  umhin,  zu  fragen:  Woher 
bin  ich?  Woher  ist  das  Ganze?  Der  Astronom  ist  zu  diesen 
Fragen  noch  mehr  aufgefordert.  Er  kann  sich  nicht  entbrechen, 
etwas  zu  suchen,  was  ihn  hierin  befriedigte.  Bei  dem  ersten 
Urteil,  was  er  hierüber  fällt,  ist  er  im  Gebiete  der  Metaphysik. ''') 


1)  K.  u.  8.  V.,  S.  208. 

S)  Metaphysische  Vorlesungen,  Pölitz,  S.  18. 

^  Reflexionen  Kants  zur  Kritik  der  reinen  Vernunft.   Herausgegeben 
von  Bmmo  £rdniann.    Leipzig  1884.    No.  128. 

80* 


4Ö6     R.  fiönigswald,  Zum  Begriff  der  kritischen  Erkenntnislehre. 

Allein,  je  mehr  man  den  tiefen  Ernst  solcher  Sätze  würdigt,  umso 
imponierender  wird  die  Absicht  von  Kants  Kritik  des  Begriffes 
eben  dieser  Metaphysik  einer  Kritik,  deren  Wesen  Ausmass  und 
Methode  der  Satz  kennzeichnet:  „Dogmatische  Metaphysik  ist,  die 
ohne  kritische  Untersuchung  der  Hauptfrage:  wie  ist  synthetische 
Erkenntnis  a  priori  möglich?  vorgeht."^)  Unter  diesen  —  metho- 
dischen —  Gesichtspunkten  hat  Kant  das  logische  Recht  des 
Bestandes  der  dogmatischen  Metaphysik  geprüft  und  verneint,  indem 
er  den  Erkenntniswert  der  Erfahrung  bejahte:  nur  von  Gegen- 
ständen der  Erfahrung  sind  von  aller  Bestätigung  durch  Erfahrung 
unabhängig  gültige  Sätze  möglich.  Das  Problem  der  Metaphysik 
ist  für  Kant  das  Problem  der  Wissenschaft  selbst. 

Uphues  verkennt  dies  sicherlich  nicht.  Nur  muss  er  in  der 
Konsequenz  seines  Standpunktes  die  Berechtigung  schon  der 
Kantischen  Frage  ablehnen.  Denn  in  der  Kantischen  Frage 
schon  liegt,  vom  Standpunkte  Uphues'  aus  betrachtet,  unzweifel- 
haft eine  petitio  principii.  Von  diesem  Standpunkte  aus  giebt  es 
auf  die  Kantische  Frage  augenscheinlich  nur  die  eine  Antwort: 
Metaphysik  ist  Wissenschaft,  weil  Wissenschaft  in  tiefstem  Grunde 
Metaphysik  ist.  Mit  metaphysischen  Voraussetzungen  tritt  Uphues 
an  die  Prüfung  erkenntnistheoretischer  Probleme  heran  und  die 
Eigenart  dieses  seines  Ausgangspunktes  bestimmt  auch  auf  der 
ganzen  Linie  sein  Verhältnis  zum  philosophischen  Kritizismus.  <- 
Gerade  dieses  Verhältnis  aber  giebt  seiner  Kritik  der  Kantischen 
Erkenntnislehre  jenen  eigenartigen  Einschlag  von  Originalität  und 
Tiefsinn,  welcher  die  Beschäftigung  mit  ihr  so  anziehend  und 
lehrreich  gestaltet.  —  Dem  Kritizismus,  der  in  seiner  negativen 
Bedeutung  nach  Kants  eigener  Meinung  „nur  das  stille  Verdienst 
hat,  Irrtümer  zu  verhüten'',  ist  die  Metaphysik  und  damit  audi 
der  Standpunkt  Uphues'  nicht  Parteisache.  Er  vermag  diese  ab- 
zulehnen, ohne  doch  die  Erhabenheit  ihrer  theologisierenden 
Wahrheitslehre  zu  verkennen.  Er  betätigt  ihr  gegenüber  das 
Prinzip,  worauf  seine  eigene  Position  sich  gründet:  die  Trennung 
der  Ansprüche  objektiver  Erkenntnis  von  den  subjektiven,  wenn 
auch  unabweisbaren  Forderungen  der  Vernunft. 

1)  Ebenda,  No.  205. 


Untersuchungen  zur  Grundlegung  der 
allgemeinen  Grammatik  und  Sprachphilosophie. 

Von  Dr.  Anton  Marty.^) 

Den  vornehmsten  Gegenstand  des  Werkes,  dessen  vorliegenden  ersten 
Bind  ich,  einer  freundlichen  Aufforderung  der  Redaktion  dieser  Zeitschrift 
folgend,  hier  in  kurzem  Auszug,  jedoch  mit  eingehender  Rücksicht  auf  mein 
Verhältnis  zu  Kant,  wiederzugeben  mir  erlaube,  bilden  die  Grundprobleme 
einer    allgemeinen,     deskriptiven    Bedeutungslehre.      Dass    ich 
als  Philosoph  an  ihre  Lösung  gehe,   wird  nicht  Wunder  nehmen.    Sie  ist 
Ja  vornehmlich  Angabe  des  Psvchologen.    Und  die  Grammatiker,   welche 
Anfang   dazu   boten,   haben   eben   damit  ein  Stück  wirklicher  oder  ver- 
ineinthcher  psychologischer  Arbeit  getan.    Meist  waren  sie  auch  bemüht, 
och  dabei  mehr  oder  weniger  an  die  Leistungen  der  Philosophen  von  Fach 
aozuBchliessen   und  auf  sie  zu  stützen;  wie   auch   umgekehrt  die  Philo- 
sophen ihrerseits  in   ihren  psychologischen,  logischen  und  metaphysischen 
Ohtersuchungen  bewusst  oaer  unbewusst  sich  an  Sprache  und  Grammatik 
inlehnten.    Das  gilt  u.   A.   auch  von  Kant  in  gewissem  Masse.    Für  das 
[Jmgekehrte   aber  sind  jedenfalls  seine  Lehren   ein  sprechendes  Zeugnis, 
md  schon  Fr.  Pott  hat  darauf  hingewiesen,   wie  einst  Gottfr.  Hermann, 
J.  F.  Bemhardi,  Reinbeck,  Roth  u.  Â.  „in  einmütiger  Gier  und  gleichwie 
/erabredetermassen"  nach  den  Kantischen  Kategonen  g^riffen,  um  sie  für 
len  Zweck  der  Grammatik  auszubeuten.     Offenbar,  indem  sie  in  ihnen 
dlgemeine  Züge  alles   menschlichen  Denkens  zu  erblicken  glaubten  oder 
Begriffe,  die  durch  Reflexion  auf  verschiedene  fundamentale  Weisen  der 
D^kt&tigkeit  gewonnen  würden. 

Was  mich  betrifft,  so  kann  ich  die  Kantische  Klassifikation  der  Ur- 
«ile,  die  ihm  bekanntlich  die  Grundlage  für  die  Deduktion  der  Kategorien 
>ot,  nicht  durchaus  als  der  Natur  der  Dinge  entsprechend  ansehen,  mdem 
ch  ffar  manche  Einteilungs^lieder  derselben  nicht  für  elementare  Modi 
1er  Urteilsfnnktion  halte,  wie  sich  dies  in  den  Ausführungen  des  zweiten 
Sandes  näher  zeigen  wird,  wo  im  Einzelnen  vom  sprachlichen  Ausdruck  des 
Jrteils,  Interesses  und  Vorstellens  die  Rede  sein  wird.  Aber  auch 
lehon  in  Hinsicht  auf  diese  Dreiteilung  der  psychischen  Vorgänge,  die 
eh  im  vorliegenden  ersten  Band  als  Grundlage  für  die  fundamentale 
teheidung  der  autosemantischen  Sprachmittel  (in  Aussagen,  Emotive  und 
iTorstelfungssuff  gestive)  darzutun  suche,  musste  ich  von  Kant  abweichen, 
ier  mir  mit  ünredit  (obwohl  mit  vielen  anderen  zusammen)  die  Phänomene 
les  Interesses  in  Gefühle  und  Willensakte,  als  zwei  vermeintlich  grond- 
irerschiedene  Klassen,  zu  scheiden  scheint,  während  er  andererseits  das 
Urteilen  nicht  fundamental  vom  Vorstellen  trennt,  sondern  beide  unter 
lern  konfusen  Namen  „Denken*'  in  eine  Grundklasse  zusammenrechnet. 

Auch  darin  konnte  ich  mit  Kant  nicht  übereinstimmen,  dass  er  (in 
len  sog.  Formen  des  äusseren  und  inneren  Sinns)  etwas  wie  subjektive  Vor - 
(tellungsmodi  lehrt.  Was  an  seiner  Lehre  von  der  Zeit  trotzdem  Rich- 
dges  ist,  wird  im  zweiten  Bande  zu  würdigen  sein.  Aber  im  höchsten 
Gerade  bedenklich  erscheint  mir,  dass  durch  die  Annahme  solcher  subjek- 
tiver Formen  des  Anschauens  und  „Denkens^  das,  was  die  innere  Erfahrung 
Beigt,  ebenso  zur  blossen  „Elrscheinung^  wird,  wie  das,  was  die  äusseren 

*)  Mit  Bezu^  auf  mein  gleichnamiges  Werk,  welches  vor  Kurzem 
bei  M.  Niemeyer  m  Halle  a.  S.  erschienen  ist. 


458  A.  Marty, 

Sinne  uns  unmittelbar  darbieten,  so  dass  es  hier  wie  dort  zweifelhaft,  ja 
nach  Kant  eine  unlösbare  Frage  ist  und  bleibt,  was  dem  im  Bewnsstsein 
Erscheinenden  in  Wirklichkeit  entspreche.  Wohl  lässt  es  sich  hören, 
wenn  die  moderne  Physik  und  Physiologie  lehrt,  die  Sinnesanschauungcn 
im  Sinne  der  Inhalte  unserer  Empfindungen  (der  Farben,  Töne  u.  s.  w.) 
seien  blosse  Erscheinungen  :  aber  wenn  dies  auch  von  den  „Sinnesanschan- 
unçen"  im  Sinne  der  psychischen  Vorgänge  des  Sehens,  Hörens  u.  s.  w. 
selbst  gelten  soll,  wo  bleibt  die  unumiänguch  nötige,  unmittelbar  sichere 
Grundlage  für  unser  Erf ahrungs wissen  ? 

So  kann  ich  die  Annahme  subjektiver  Vorstellungsmodi,  durch 
welche  all  unser  Anschauen  und  Denken  bedingt  sei,  nur  im  höchsten 
Grade  bedenklich  finden.  Aber  hinzufügen  muss  ich,  dassm.  E.  allerdings, 
wer  überhaupt  auf  dem  Gebiete  des  Vorstellens  im  strengen  Sinne  ver- 
schiedene Modi  und  Formen  statuiert,  wie  uns  dieselbe  Materie  ge^- 
wärtig  sein  könne,  sie  notwendig  für  subiektiv  halten  muss.  Objektive, 
verschiedene  Modi  des  Vorstellens  beim  selben  Objekt  scheinen  mir  durch 
die  Natur  dieser  Grundklasse  psychischer  Betätigung  ausgeschlossen.  Wie 
m.  E.  überhaupt  das  Wesen  des  Bewusstseins  in  einer  ideellen  Adäquatioo 
mit  etwas  besteht,  aber  in  so  verschiedenem  Sinne  wie  die  Grattungeo 
psychischer  Verhaltungsweisen  verschieden  sind,  so  liegt  speziell  dum 
Vorstellens  in  einer  Verähnlichung  mit  dem  Was  der  Ge^nstände,  dtf 
des  Urteils  in  einer  Konformation  mit  ihrem  Sein  und  Nichtsein,  dag 
des  Interesses  in  einer  Adä^uation  zu  ihrem  Wert  und  Unwert. 

Da  es  auf  dem  Gebiete  des  Vorstellens  nicht  in  analogem  Sinne 
wie  z.  B.  beim  Urteil,  verschiedene  Modi  giebt,  so  ist  da  auch  nicht  in 
streng  analogem  Sinne  von  einem  Inhalt  im  Unterschied  vom  Gegen- 
stand zu  reden.  Nur  in  einem  wesentlich  verschiedenen  Sinne  kann  dies 
hier  geschehen,  indem  man,  wo  etwas  eine  Mehrheit  von  Seiten  darbietet, 
wonach  es  in  die  Vorstellung  aufgenommen  sein  kann,  diese  verschiedenen 
Seiten,  wodurch  es  bald  so,  bald  so,  unvollständig  vorgestellt  ist,  den 
(wechselnden)  Inhalt,  und  das  Ganze  den  Gegenstand  nennt. 

Dagegen  scheint  es  mir  nicht  passend,  etwa  Inhalt  und  Gegenstand 
in  der  Art  zu  unterscheiden,  dass  man  Inhalt  das  nennte,  was  bloei 
Zeichen  eines  Wirklichen  ist,  wie  z.  B.  die  empfundenen  Farben,  die  Töne, 
Gegenstand  hingegen  das,  wofür  jenes  ein  Zeichen  ist,  z.  B.  die  wirklichen 
phyôkalischen  Vorgänge,  auf  welche  die  empfundenen  Farben,  Töne 
u.  8.  w.  uns  schliessen  lassen.  (Dies  heisst  eoen  besser:  das  bloss  e^ 
schlossene  Wirkliche  und  jenes  :  das  in  der  Anschauung  Gegebene  aber 
nicht  Wirkliche.)  Die  obige  Unterscheidung  aber  lässt  sich  sowohl  an 
dem  einen  wie  dem  anderen  machen;  wie  denn  der  gemeine  Mann,  der 
an  die  Existenz  von  Farbigem,  Tönendem  glaubt,  an  dem,  was  er  Körper 
nennt,  ganz  ebenso  verschiedene  Seiten  unterscheidet,  wie  der  Physiker 
an  dem,  was  ihm  Körper  heisst.  Und  beide  g^eben  dem  Ghemzen  anf 
Grund  dieser  verschiedenen  Seiten,  die  sie  an  ihm  unterscheiden,  ver- 
schiedene Namen.  Für  diese  Unterscheidung  zwischen  etwas  Zosammes- 
gesetzten,  dem  —  wenn  es  existierte  —jede  aus  einer  gewissen  Beihe  von 
Vorstellungen  unvollständig  entspräche  und  den  verschiedenen  Seiten, 
wonach  es  so  unvollständig  in  die  Vorstellung  aufgenommen  ist,  scheinen 
mir  die  Namen  Vorstellungs-Gegenstand  einerseits  und  Vorstellnngs-Inhalt 
andererseits  wohl  zu  passen,  und  darin  haben  wir,  wie  eben  angedeutet, 
die  Lösung  für  die  Frage,  was  die  Namen  nennen  einerseits  und  was 
sie  bedeuten  andererseits. 

Die  Erörterung  dieses  Problems,  samt  dengenigen  nach  der  Be- 
deutung der  Aussagen,  sowie  deijeniffen  der  interesseheischenden  Äusser- 
ungen, femer  die  Klarstellung  der  Frage,  was  im  Untersdiiede  von  der 
Bedeutung  (die  eine  vermittelte  Funktion  oder  Weise  des  Zeichenseins 
ist)  da^enige  sei,  was  jede  dieser  Klassen  autosemantischer  Sprachmiitel 
äussert  oaer  ausdrückt  (d.  h.  das,  wofür  sie  in  unmittelbarer  Weise 
Zeichen  sind),  bildet  den  Mittelpunkt  der  Untersuchungen  des  vorliegenden 
ersten  Bandes. 


Untersuchungen  zur  Grundlegung  etc.  459 

Man  hat  den  Terminus  Vorstellungsinhalt  (wie  er  denn  überhaupt 
livok  geworden  ist)  bekanntlich  auch  für  den  sosr.  immanenten  Oegen- 
ttd  der  Vorstellung  verwendet,  und  es  könnte  Einer  meinen,  in  ihm 
das  zu  suchen,  was  die  Namen  bedeuten,  im  Gegensatze  zu  dem,  was 
nennen.  Allein  —  von  aUem  anderen  abgesehen  —  wäre  diese  Lösung 
on  darum  nicht  zu  billigen,  weil  der  sog.  immanente  Gegenstand  — 
)  ich  ebenda  gezeigt  zu  haben  glaube  —  eine  Fiktion  ist  und  in  keinem 
«ntlichen  Sinne  ist,  existiert  oder  besteht.^)  Es  bleibt  also  bei  der 
ffen  Deutung  des  Unterschieds  von  Inhalt  und  Gegenstand  der  Vor- 
Qung,  und  wenn  man  unter  Vorstellungsgegenstand  das  versteht,  was 
leren  Vorstellungen  entsprechen  kann,  sofern  es  zugleich  ein  Ge- 
nntes  und  Gegenstand  der  Rede  sein  kann,  dann  darf  man  auch 
;en:  nur  unser  begriffliches  Denken  schaffe  Gegenstände.  Denn  das, 
»von  wir  zueinander  sprechen  oder  das,  was  durch  unser  Sprechen  und 
nnen  vermittelt  wird,  sind  nicht  Anschauungen,  die  bei  verschiedenen 
^chischen  Individuen  ins  Unendliche  variieren  können,  sondern  nur  Vor- 
Uungen,  von  denen  dies  nicht  gilt  und  in  diesem  Sinne  begriffliche 
danken.*) 

Ich  sagte,  die  Lehre  von  der  Bedeutung  der  autosemantischen  Sprach- 
tel  bilde  den  Mittelpunkt  der  Untersuchungen  dieses  ersten 
ndes.  Was  die  synsemantischen  (d.  h.  nicht  für  sich  bedeutenden)  be- 
ft,  die  neben  den  autosemantischen  zu  unterscheiden  sind,  so  ist  hier 
'  das  allgemeinste  über  sie  geboten,  insbesondere  ihre  Klassifikation  in 
ihe,  die  loj^isch  (d.  h.  in  einer  richtigen  Analyse  der  Bedeutungen) 
Tflndet  sina  und  solche,  von  denen  dies  nicht  gUt.  Die  weiteren  Aus- 
rungen darüber  soll  der  zweite  Band  bringen. 

Die  Unterscheidung  zwischen  selbstbedeutenden  und  bloss  mitbe- 
tenden Sprachmitteln  ist  von  fundamentaler  Wichtigkeit.  In  ihr  ist 
Wahre  an  der  Unterscheidung  von  Stoff  und  Form  auf  dem  Gebiete 
Bedeutungen  beschlossen,  die  m.  E.  recht  im  Mittelpunkte  der  deskrip- 
in  Semasiologie  liegt,  und  deren  Klarstellung  ich  darum  zur  Ha  up  tau  f- 
)e  meines  Buches  gemacht  habe.  Ihr  ist  nicht  bloss  der  grössteTeil 
zweiten  Stücks  der  „Untersuchungen"  gewidmet,  sondern  in  gewissem 
ae  auch  das  dritte  und  vierte  Stück  (die  im  zweiten  Bande  folgen 
den).     Einleitend  aber  habe  ich  (im  zweiten  Stück)  auch  über  oie 

1)  Dass  es  einen  immanenten  Gegenstand  gebe,  wird  jetzt  von  ver- 
edener  Seite  in  Abrede  gestellt,  doch  meist  nicht  mit  der  wünschens- 
ten  Klarheit  und  Konseauenz.  Eine  solche  Inkonsequenz  scheint  es 
z.  B.,  wenn  solche,  die  aas  immanente  Objekt  leugnen,  doch  wieder 
on  sprechen,  dass  Farben,  Töne  u.  s.  w.  von  uns  ^erleot"  würden  u.  dgL 
in  um  erlebt  zu  werden,  müssen  sie  doch  vor  allem  sein,  und  da  Farben, 
le  u.  s.  w.  schlechtweg  (wie  auch  diese  Autoren  zugeben)  nicht  exi- 
ren,  bliebe  doch  nichts  übrig,  als  dass,  was  da  existieren  und  erlebt  werden 
,  eben  die  Farben,  Töne  u.  s.  w.  als  immanente  Objekte  des  Bewusstseins 
n.  So  kann  ich  denn  die  Bede  von  einem  Erlebtwerden  der  Farben 
,  w.  nur  als  einen  Bückfall  in  die  Lehre  von  immanenten  Gegenständen 
shen«  und  dahin  gehört  es  natürlich  auch,  wenn  çelehrt  wird,  dass  wir 
*ch  jene  sog.  Inhidte  die  wirklichen  Gegenstände  enassten  oder^meinten*^. 
lehrten  ja  auch  die  Scholastiker  von  den  species  sensibiles  und  intelli- 
ües,  sie  seien  das  quo  intelligitur. 

*)  Natürlich  ist  auch  dann  nicht  i'edes  Vorstellen  ein  Gegenstandsbe- 
»tsein,  wenn  damit  das  begriffliche  Bewusstsein  des  Gegen- 
nds  als  solchen  und  im  Gegensatz  zum  Subjekt  des  Be- 
sstseins  gemeint  ist.  Aber  neben  diesem  engeren Smn  vomGegen- 
id  und  Gegenstandsbewusstsein  giebt  es  einen  weiteren  •—  und  er  ist 
nächste  und  natürlichste  —  wonach  es  jedem  Vorstellen  wesentlich 
einen  Gegenstand  zu  haben,  auch  den  Anschauungen,  und  hier  heisst: 
m  Gegenstand  haben,  nichts  anderes,  als  die  wirlliche  oder  mögliche 
alle  Verähnli(^ung  mit  irgend  einem  Was. 


460  A.  Marty,  Untersuchungen  zur  Grundlenong  etc. 

Termini  Stoff  und  Form  im  Allgemeinen  und  die  Äquivokationen,  die  hier 
üblich  sind,  gehandelt  (wobei  schon  Anlass  war,  Kante  zu  gedenken)  und 
habe  dann  —  um  diese  Begriffe  in  ihrer  speziellen  Anwendung  an!  sC' 
mantischem  Gebiete  noch  mehr  ins  Licht  zu  rücken  —  alle  wichtijgeD 
Bedeutungen  in  Betracht  gezogen,  welche  diese  Termini  speziell  im  BezSke 
der  Spraäe  und  Grammatik  haben.  Hier  war  neben  dem  Begriffe  der 
äusseren  vor  allem  auch  deijenige  der  „inneren  Sprachform^  zn  klären, 
und  die  richtige  Beschreibung  und  Ao^enzung  der  Erscheinungen,  die 
passend  mit  dem  letzteren  Namen  bezeichnet  werden,  war  um  so  wich- 
tiger, als  sie  vielfach  teils  Übersehen,  teils  falsch  aufgefasst  (namentlich  mit 
der  Bedeutung  verwechselt)  wurden  und  diese  Verkennunç  folgenschwere 
Irrtümer  auf  dem  Gebiete  der  deskriptiven  wie  der  genetischen  Semasio- 
logie und  weiterhin  auch  in  der  Psychologie,  Log^  und  Ethik,  ja  selbst 
in  der  Metaphysik  gezeitigt  hat.^) 

Was  aie  Fragen  der  genetischen  Semasiologie  betrifft,  deren  Behand- 
lunfi;  nicht  ei^ntliche  Aufgabe  des  Werkes  ist,  konnte  doch  der  Autornicht 
umhin,  da  und  dort  seine  bezüglichen  Ansichten  auszusprechen.  Und  da  ihnen 
aus  neuester  Zeit  insbesondere  die  Lehren  Wundts  (seine  Opposition  gegen 
die  „teleologische  Sprachbetrachtung^  und  seine  Theorie  vom  regul&ren 
und  singulären  Bedeutungswandel)  entgegenstehen,  so  wurde  demgegen- 
über —  um  nichts  versäumen  —  ein  Anhang  eigens  ihrer  Begründung 
und  Rechtfertigung  gewidmet. 

Das  erste  Stück  der  „Untersuchungen"  aber  beschäftigt  sich  mit 
dem  Begriff  und  den  Aufgaben  der  Sprachphilosophie  und  ihrem  Verhfiltnis 
zur  Psychologie,  mit  dem  Wesen  der  allgemeinen  Grammatik  und  der 
Frage  nach  der  Möglichkeit  einer  solchen. 

^)  Statt  vieler  anderer  Beispiele  sei  nur  Nietzsche  erwähnt,  der  - 
in  Folffe  Gänzlicher  Missdeutung  der  inneren  Sprachform  —  hinsichtlich 
der  eäu8(men  Termini  rundweg  leugnet,  dass  hier  etwas  wie  eine  wirk- 
liche Übertragung  von  einer  Bedeutung  auf  eine  davon  unterschiedene 
(eine  donatio  inter  vivos)  stattgefunden  nahe.  Es  handle  sich,  meint  er, 
immer  um  „Vererbung",  d.  h.  der  Bedeutungswandel  sei  stets  eine  Wirkmif 
einer  ebensolchen  Umwandlung  der  Begrine  gewesen.  Andere  ziehen  alf- 
gemein  aus  dem  Umstand,  dass  unsere  Bezeichnungen  für  Psychisches 
meist  oder  immer  von  etwas  Physischem  hergenommen  sind,  in  voreiliger 
Weise  die  (in  Wahrheit  absurde)  Konsequenz,  die  letzteren  Begriffe  hätten 
sich  aus  den  ersteren  irgendwie  umgewandelt  oder  vei^einert,  und  kein 
Geringerer  als  A.  Bain  meint,  in  jener  Tatsache  liege  ein  Beweis,  wie  viel 
die  Psychologie,  der  Phvsiolo^e  verdanke.  •—  Ein  erstaunlich  schlechtes 
Argument!  —  Überall  aber  spielt  hier  die  Verkennung  der  wahren  Natur 
der  Erscheinungen  der  inneren  Sprachform  die  bedenklichste  Bolle.  Bei- 
spiele anderer  psychologischer  Irrtümer,  wie  auch  solcher  in  der  Logik 
und  Metaphysik,  die  auf  einer  Verwechselung  der  inneren  Sprachform  und 
Bedeutung  beruhen,  wird  insbesondere  der  zweite  Band  bringen. 


Thesen  zur  ^^Grundlegung  des  Intuitivismus^^ 

Von  N.  Losskij  in  St.  Petersburg.*) 

1.  Dem  Yorkantischen  Empirismus  und  Rationalismus  liegen  folgende 
matische  Voraussetzungen  zugrunde: 

a)  das  Ich  ist  vom  Nicht-Ich  abgeschlossen,  so  dass  die  Zustände 
der  Welt  des  Nicht-Ich  nicht  als  Bestandteil  in  die  Erkenntnisse, 
die  Eigentum  des  erkennenden  Subjekts  sind,  einzugehen  vermögen  ; 

b)  der  Erkenntnisprozess  besteht  ganz  ans  Zuständen  des  erkennenden 
Subjekts; 

c)  das  Wissen  von  der  Aussenwelt  und  die  Aussenwelt  selbst  decken 
sich  nicht,  sie  sind  in  Bezug  auf  einander  transscendent; 

d)  die  Erfahrung  ist  das  Ergebnis  einer  Einwirkung  der  Aussenwelt 
auf  das  Ich,  welche  im  Ich  subjektive  Zustände  hervorruft. 

2.  Die  dogmatischen  Voraussetzungen  des  vorkantischen  Empirismus 
Rationalismus  führen  zu  einer  skeptischen  Lehre  von  der  Aussenwelt, 

dich  zur  Lehre,  dass  die  äussere  Erfahrung  bloss  aus  sinnlichen  Er- 
lifisen  besteht,  dass  das  Nichtsinnliche  nicht  Inhalt  der  äusseren  Er- 
rang sein  kann,  und  mithin  die  Zusammenhänge  und  Relationen  der 
isenwelt  nicht  in  der  Erfahrung  gegeben  sein  können. 

3.  Sofern  der  vorkantische  Empirismus  und  Rationalismus  von  der 
'aussetzunfip  ausgehen,  die  Aussenwelt  sei  inbezug  auf  das  Wissen  von 
Aussenwelt  transscendent,  stossen  ihre  Erkenntnistheorien  auf  unlösbare 
bleme  und  gelangen  zu  folgenden  widerspruchsvollen  Resultaten: 

a)  der  Empirismus  behauptet,  dass  alle  Daten  des  Wissens  von  der 
Aussenwelt  infolge  der  Einwirkung  von  aussen  auf  das  erkennende 
Subjekt  gewonnen  werden  (sie  sind  den  Bedingungen  der  Ent- 
stehung nach  transscendent);  deshalb  hat  die  Erkenntnis  keine 
transscendente  Geltung,  sie  trägt  durchweg  einen  immanenten 
(dem  Bestände  nach)  und  dabei  subjektiven  (der  Geltung  nach) 
Charakter; 

l>)  der  Rationalismus  dagegen  behauptet,  das  es  ein  —  der  Geltung 
nach  —  transscendent  es  Wissen  gibt,  dass  dasselbe  jedoch  aus- 
schliesslich aus  Elementen  besteht,  die  dem  erkennenden  Geiste 
entspringen,  d.  h.  dem  Bestände  und  der  Entstehung  nach  diesem 
immanent  sind. 

4.  Ein  Ausweg  aus  den  Schwierigkeiten  und  Widersprüchen,  an 
en  die  Erkenntnistheorien  des  vorkantischen  Empirismus  und  Ratio- 
ismus scheitern,  lässt  sich  nur  dann  finden,  wenn  die  Abgeschlossenheit 
erkennenden  Subjekts  vom  erkannten  Objekte  aufgehoben  wird,  und  zwar 
ch  die  Voraussetzung,  dass  die  transsubjektive  Welt  dem  Er- 
antnisprozesse  immanent  ist. 

5.  Kant  hat  die  Scheidewand  zwischen  dem  erkennenden  Subjekte 
l  der  transsubjektiven  Welt  vernichtet,  allein  auf  Kosten  der  Selbst- 
idigkeit  der  zu  erkennenden  transsubjektiven  Welt,  nämlich  durch  die 
ire,  dass  die  zu  erkennende  transsubjektive  Welt  bloss  eine  Erscheinung 

das  erkennende  Subjekt  sei. 

^)  Mit  Bezug  auf  das  gleichnamige  Buch  des  Verfassers  (Professor 
ier  Universität  Petersburg),  das  in  deutscher  Übersetzung  (von  K.  Strauch) 
Verlag  von  M.  Niemeyer  in  Halle  a.  S.  1908  erschienen  ist.  Ftofessor 
ak\j  hat  im  Jahre  1907  Kants  Kritik  d.  r.  V.  ins  Russische  übersetzt. 


,,Das  Erkenntnisproblem''. 

Von  Ernst  Marcus. 
(Herford  1905).    95  S.    Eine  Erwiderung  des  Autors. 

Der  Herr  Rezensent  hat  (Bd.  XIII,  S.  140  ff.  der  Kantstadien)  die 
Form,  die  Polemik  und  das  geschichtliche  Beiwerk  meiner  Schrift  sowie 
die  Vorzüge  der  Marburger  Schule  sehr  eingehend  besprochen,  da^e^ 
m.  £.  über  den  Inhalt  und  die  Tendenz  zu  wenige  mitgetdlt,  so  dass  sdi 
der  Leser  kein  vom  Rezensenten  unabhängiges  Urteil  bildcai  kann.  Ich 
bringe   daher  mit  freundlicher  ibnis  der  Redaktion  eine  knne  Dl^ 

Stellung  des  logischen  Aufbai       <     e  Art  nachtrftgücher  Selbstanzeige: 

Das  Problem  in  urspruu^ixu  t  Gestalt  z^äUt  in  die  beiden  Teil- 
probleme: Das  Sensualproblem  oder  „peripherische  Problem"  und  das  Zenini- 
problem  (Problem  des  Kausalgesetze»,  RationalçroUem).  Ich  zeige  m 
zunächst,  wie  das  Problem  auf  die  Philosophen  seit  Descartes  wirkte,  (Am 
auf  die  sonstigen  Leistungen  de  Iben  einzugehen  (denn  das  gehört  nicht 
zu  meinem  Thema,  sondern        i  Lieblingstfaema  des  Bezenfienten). 

I.    Worin  besteht  das  o  Lproblem?  —  Die  Fra^  beantwoitet 

sich,  wenn  man  untersucht,  wunui  die  Lockeecfae  Tlieorie  scheitert.  8ai 
Grundsatz  ^Alle  Erkenntnis  beruht  ]Mif  Empfindimg:"  hat  die  Koi»eqiie4 
dass  wir  unmittelbar  nur  unsere  limpfincumsen  wahmehmen.  DiM* 
erkennen  wir  nicht,  was  jenseits  der  Rmpfindnng  üc^  imd  als  oeni 
Ursache  auf sefasst  wurde,  nämlich  die  KOrperwelt.  mer  mneste  die 
Theorie  durch  Gewaltmittel  ergänzt  werden.  Locke  liewliiit  die  fr 
gänzung  durch  den  Satz:  ^die  Körper  eikemien  wir  (nicfat  umnittdlA 
sondern)  durch  Schluss"*;  Berkeley  (i  m  die  K^per  ebenso  w<^  imninei^ 
zu  machen,  wie  es  die  Empfindui  ^cn  sind)  aginst  âe  durch  den  Si^^ 
^die  Körper  sind  (unmittelbar  ei^ai^te)  Ideen^.  Hier  sicüit  maa  dentiicii« 
wie  das  Problem  beide  Forscher  in  ihre  Bahnen  swingt,  «nd  vie  die 
natürliche  Lösung  des  Problems  auf  den  Be^;ri£f  der^^hnmanenz^  yervé^ 
Aber  das  Problem  scheidet  sich  noch  nicht  djeottich  von  der  LOsosg.  ^ 
lautet  isoliert:  Wie  gelangen  wir  fiber  die  Empfindung fci>' 
aus  zur  Erkenntnis  der  Körperwelt?  I^  ^PrtAilem  wird  Ton  Lodv 
und  Be^eley  verquickt  mit  prob  atischen  Lösnagen.  Qm  Anchh** 
die  Polemik   gegen   diese  Lö  i   tnge  ksh  eine  neue  ^neciittiifN 

Theorie  der  exzentrischen  Emj  ng  tot  die  der  BeBensent  wolil  wà^ 

bemerkte.) 

IL    Das  Zentralprobl«  tet:  Wie  ist  es  snf  natftrlichea  W4>| 

zu  erklären,  dass  wir  das  Kcmw  »  tz  för  zweü^kis  ctiUâg  hattea?  i^ 
Hume,  der  Entdecker  des  Prob»         vevqfmdct  es  aât  emer  prohlflBstii^ 


Lösong,  statt  es  unabhängig  vou  «ueser  hÎBEittÉeilleiL    J&wo&ikafleLM 
einttPtoblems,  die  für  i^ihr  gel    tteii  imd  «iisge«l»en  wird,  yfSfàa^ 
das  Problem  und  entzieht  es  dem    tticke  des  FonäeB,  eben  wfâ  tf  |J|  ] 
Problem  schon  für  gelöst  ansieht,  oder  wml  das  l^äaem  tàAyot^  ; 
Losung  nicht  hinre^end  abhebt. 

m.    Kants  LösungsveisQch:   Unter  der  Hand  JLmals  füfli*"  J,^ 
Probleme  zusammen  ;  er  löst  sie  mit  eànem  Gxäf  dmvdi  m  lad  éBi0 
Theorie  ;   de   sind  für  ihn   zwei  geometrische  ^^^       die  den  gVB> 
Punkt  bestimmen:  . 

L    Das  Zentralproblem  wird  en         t         ^     isiiiart  asd  di0  dP  | 


„Das  Erkenntnisproblem".  465 

it  und  entdeckt;  so  führt  das  verallgemeinerte  Zentralproblem  zur 
orie  vom  apriorischen  Räume. 

2.  Die  Lockesche  Sphäre  der  unmittelbaren  Erkenntnis  endigrte, 
wir   sahen,   bei  der  Empfindung.     Mit  der  Entdeckung  zu  1.  drmgt 

t  ins  Jenseits  der  Empfindung  vor.  Denn  er  erweitert  die  Sphäre 
immanenten  Sinnlichkeit  ins  Unendliche  durch  den  apriorischen  imma- 
:en  Raum,  und  die  Sinnlichkeit  greift  hinüber  ins  Jenseits  der  Em- 
dung  auf  die  den  Raum  erfüllenden  Erscheinungen  und  damit  auf  die 
t  der  Körper,  die  nunmehr  unmittelbar,  nicht  mehr,  wie  bei  Locke, 
h  Schluss  oder,  wie  bei  Berkeley,  als  Ideen  erkannt  sind. 

3.  Damit  ist  zugleich  der  Grund  gelegt  zur  nattlrlichen  Erklärung 
apriorischen  Gewissneit,  d.  h.  zur  Lösung  des  Zentralproblems. 

Hier  sieht  man,  dass  Kants  Lehre  als  natürliche  Lösung  des  in 
rohesten  Grundlinien  dargestellten  Problems  auftritt,  dass  wir  also 
keine  dialektische  Philosophie  (aus  ,,blossen  Begriffen"),  sondern  eine 
a  m  is  che  (wenn  man  will:  metadynamische)  Weltkonstruktion  vor 
haben,  die  unter  dem  Drucke  zweier  natürlicher  I^obleme  entstanden 
das  Motiv  des  wahren  Forschers  ist  stets  das  Problem.  Übrigens  ent- 
ide  ich  in  dieser  Schrift  keineswegs  darüber,  ob  die  Kantische  Lösung 
\ig  ist.    Denn  das  Problem  ist  das  Thema,  nicht  seine  Lösung. 

IV.  Tendenz  :  Ich  schliesse  mit  der  Forderung  :  Schutz  dem  Pro- 
i!  Man  soll  nicht  zweifelhafte  Lösungen  für  wahr  ansehen  und  aus- 
m.  Kant  selbst  hat  das  Problem  geschützt  durch  die  Worte  der 
'orrede:  „Nil  actum  reputans,  si  quid  superesset  agendum^.  Er  fordert 
:  Das  Problem  muss  ganz  und  exakt  gelöst  sein,  oder  man  soll  ge- 
en,  dass  es  gar  nicht  gelöst  ist.  Andernfalls  wird  das  grosse  natür- 
i  Problem  durch  Scheinlösung  verschüttet.  Kants  Lehre  aber  muss 
i  der  sachlichen  Frage  beurteilt  werden,  inwiefern,  ob  und  warum 
las  Problem  gelöst  hat.  Zurück  zum  scharf  präzisierten,  von  allen 
mgen  isolierten  Problem  und  von  da  zur  Lösung  des  besonderen  Pro- 
ie der  Interpretation  Kants! 

Wir  haben  also  jetzt  zwei  Probleme  vor  uns:  das  Erkenntnisproblem 

das  Interpretationsproblem.     Die  endgültige  Lösung  beider  Probleme 

unmöglich,   wenn  man   sich   bei   einer  zweifelhaften  Lösung  beruhigt 

sie  empfiehlt,   statt  das  „non  liquet""  zuzugestehen  und  jede  proble- 

ische  Lösung  sJs  wissenschaftlich  unzureichend  zu  verwerfen. 

Wie  sehnlich  namentlich  problematische  Lösungen  des  luterpreta- 
aproblems  wirken,  zeigt  sich  deutlich  an  der  Stellungnahme  des  Herrn 
sosenten.  Er  bemerkt,  dass  ich  entweder  die  Schriften  Cohens  „nicht 
ite**,  oder  sie  „totschwieg;",  daher  „unverantwortlich"  oder  „leichtfertig" 
ohr  (S.  143).  Diese  Disjunktion  ist  unvollständig.  Es  besteht  die 
^  Möglichkeit,  dass  ich  sie  kannte,  aber  nicht  in  der  Lage  war,  ihnen 
beanspruchte  Vorzugsstellung  einzuräumen,  und  so  verhält  es  sich 
üich.  Ich  kann  nicht  anerkennen,  dass  der  Begründer  der  Marburger 
üe,  so  gross  auch  seine  Verdienste  um  die  Wiederbelebung  der  Kant- 
^ung  sind,:  „^ie  Erkenntnis  des  K. sehen  Systems  als  einer 
ich  notwendigen  Einheit,  als  eines  Ganzen,  in  dem  die 
le  sich  bedingen,  geleistet"  hat.  Das  Marburger  System  ist 
ttt  identisch  mit  dem  Kantischen,  enthält  daher  keineswegs  eine  „Er- 
iHtnis"  des  K.schen  Systems,  sondern  eine  Interpretation  Kants  von 
kitens  zweifelhafter  Richtigkeit.  Ich  erbiete  mich  zu  dem 
^weis,  dass  Cohens  Interpretation  von  Anfang  an  (d.  h.  schon  in  der 
HMrie  der  Erfahnmg")  verfehlt  ist,  woraus  sich  die  erheblichen  späteren 
eichungen  von  Kant  (die  ohne  Grund  als  Ausbau  bezeichnet  werden) 
ifen.  Der  Herr  Rezensent  würde  sich  selbst  davon  überzeugen,  wenn 
Bikachte,  die  Kritik  der  r.  Vernunft  (also  das  (^uellenwerk)  unab- 
ig  von  der  Marbur^er  Interpretation  zu  würdigen.  Dass  er  Kants 
M>hens  Lehre  identifiziert,  ist  ein  Beweis,  wie  schädlich  die  proble- 
^^  Lösung  des  Interpretationsproblems  auf  ihn  wirkte.    Sie  veran- 


466  É.  Marens,  ,,t>as  Erketititnisproblein". 

lasst  ihn,  diese  Interpretation  in  das  Kantische  System  hineinzule^n,  statt 
es  selbständig  und  unbeeinflusst  zu  interpretieren.  Um  nur  eins  anzu- 
führen :  Cohen  macht  aus  dem  Eantischen  Raum  (dem  unendlich  g:ros8en 
Platz  für  die  Eörperwelt,  dem  sinnlichen  Jenseits  der  Empfindone,  der 
„Form  der  Erscheinung**)  eine  „erscheinende  Beschaffenheit"  (Th.  q.  M 
IL  Aufl.,  S.  153),  weil  er  die  Bedenken  Trendelenburgs  u.  A.  gegen  die 
Annahme  eines  unendlichen  Gefässes  (oder  Organs)  der  Anschauung  teilt, 
und  statt  diese  Bedenken  als  Einwand  gegen  die  Lehre  geltend  zu 
machen,  die  entgegengesetzten  klaren  Aussprüche  Kants  durch 
eine  restrictive  Interpretation  beseitigt.  Von  einer  Interpretation  Kants, 
die  in  Fühlung  mit  dem  Erkenntnisproblem,  mit  seinem  Motiv  steht  und 
an  diesem  sich  orientiert,  ist  gar  nichts  zu  bemerken.  Vollends  in  der 
Logik  Cohens  geht  jede  Fühlung  mit  dem  Gmndproblem  verloren.  In 
seiner  Logik  hat  alle  Erkenntnis  ihren  Ursprung  im  reinen  Denken  (der 
Raum  wird  zur  Kates^orie),  obwohl  diese  Behauptung  zur  L(ysung  irgend 
eines  natürlichen  Phroblems  gar  nicht  erforderlich  ist,  ja  mit  natürlichen 
Factis  im  Widerspruch  steht.  Sind  in  der  Tat  die  apriorischen  Sätze  aos 
dem  Denken  (der  Logik)  ableitbar,  so  sind  sie  nicht  mehr  synthetische 
Urteile  (wie  Kant  behauptet),  sondern  analytische,  bedürfen  daher 
nicht  der  von  Kant  gegebenen  Erklärung,  und  man  kann  die  Kritik  der 
r.  Vernunft  entbehren,  braucht  also  nicht  das  Marburger  System  mit  ihr 
zu  identifizieren. 

Wenn  daher  der  Rezensent  meine  Polemik  „in  Hemdsärmeln"  tadelt, 
so  rechtfertigt  er  ihre  Enerve  selbst,  indem  er  an  der  eigenen  Person 
beweist,  wie  schwer  es  ist,  nut  meiner  hier  vorgetragenen  Tendenz  durch- 
zudringen. Er  selbst  gehört  zu  denen,  die  sich  bei  einer  von  vielen  pro- 
blematischen Kantinterpretationen  beruhigen,  sie  geradezu  als  eine  ^Er- 
kenntnis"  Kants  empfehlen  und  damit  die  Schüler  und  künftigen  Forscher 
veranlassen,  es  dabei  bewenden  zu  lassen,  statt  sich  an  neuen  Versuchen 
zu  beteiligen.  Ich  habe  also  allerdings  den  Rezensenten  (als  meinen 
Leser)  veranlassen  wollen,  die  Sache  sehr  „traffisch"  zu  nehmen;  dai 
tat  er  nicht,  nimmt  dagegen  seinerseits  meinen  polemischen  Ton  (die  natfi^ 
liehe  Stimmung  des  Schriftstellers,  vielleicht  eine  zu  übermütifi^  Laune, 
über  deren  Berechtig^ung^  man  streiten  kann)  und  das  geschichüiche  Bei- 
werk viel  zu  tragisch.  Hätte  die  Sache  —  wie  ich  beabsichtigte  —  ihn 
ergriffen,  so  war  der  Ton  (als  subjektive  Zutat)  nebensächlich.^) 

Essen-Ruhr.  Ernst  Marcus. 


^y  Der  Rezensent  wundert  sich  darüber,  dass  ich  die  Darstellnogs- 
weise  Kants  (im  Gegensatz  zur  Marburger  Schule)  angreife,  dass  ich  so 
wenig  „konservativ"  bin;  indessen  erstrebe  ich  etwas  neues,  Gasman 
heute  noch  nicht  hat,  nämlich  eine  endgültige  zweifelsfreie  Lösung 
des  Erkenntnis-  und  des  Interpretationsproblems,  und  mit  dieser  Fra^ 
hat  die  Frage  der  Pietät  gegenüber  Kant  nichts  zu  tun.  Die  Frage  ist 
eine  sachliche,  Kants  Person  ist  ohne  Einfluss  darauf,  und  Kants  Vortrags- 
weise und  Stil  ist  für  ihre  Beantwortung,  daher  für  mich  unerheblich. 
Warum  bei  mir  also  konservative  Gesinnung  vorausgesetzt  wurde, 
kann  ich  nicht  wohl  einsehen.  Rez.  hält  mir  femer  Cassirers  ^gleichnamige 
Schrift  als  Muster  vor.  Indessen  ist  meine  Abhandluns;  kein  geschicht- 
liches Compendium;  sie  trifft  nicht,  was  bisher  mit  dem  Erk.-Problem 
geschehen  ist,  sondern  was  wir  tun  sollen,  um  es  zu  lösen.  Das  Histo- 
rische ist  hier  nur  Illustrationsmittel. 


l^ant  und  das  Erkeuntnisproblem.  46? 

Kant  und  das  Erkenntnisproblem. 

Eine  Entgegnung  des  Rezensenten  auf  die  vorstehende  Erwiderung  seiner 

Anzeige. 

1.  Der  Herr  Verfasser  macht  mir  den  Vorwurf,  ich  habe  ,,ttber  den 
Inhalt  und  die  Tendenz^  seiner  Schrift  zu  wenig  mitg^eteilt,  so  dass  sich 
der  Leser  kein  vom  Rezensenten  unabhängiges  Urteil  bilden  könne,  und  er 
hält  daher  „eine  Art  nachträglicher  Selbstanzeige*'  für  Müg.  Ich  darf 
hiergegen  verweisen  auf  meine  Anzeige  S.  141,  Z.  5  v.  u.  —  S.  142,  Z.  12; 
ebenda  Z.  26-40;  S.  143,  Z.  18—23;  ebenda  Z.  42—48;  S.  146,  Z.  34—38; 
ebenda  Z.  52  —  S.  146,  Z.  24;  S.  146,  Z.  34-36;  41-50;  52—54;  S.  147. 
Z.  19-30;  ebenda  Z.  46  —  S.  148,  Z.  1;  ebenda  Z.  8—17;  28-33;  38—50; 
tô— 66;  in  allen  diesen  Abschnitten  glaube  ich  weiter  nichts  als  tatsächliche 
Inhaltsangaben  der  Marcus^schen  Schrift  gebracht  zu  haben.  An  jene 
Khliesst  sich  freilich  fast  immer  eine  weitaus  längere  Kritik  an.  Ich  bin 
mir  bewusst,  in  dieser  wie  in  jenen  die  Forderungen  der  Sachlichkeit  so 
^eit  erfüllt  zu  haben,  als  es  in  einer  Rezension,  me  niemals  die  Lektüre 
i«8  besprochenen  Werkes  selbst  ganz  ersetzen  kann,  möglich  ist. 

2.  Was  der  Herr  Verfasser  in  I.  II.  vorbringt,  erscheint  mir  so  wenif 
leu,  dass  ich  auch  jetzt  noch  der  Meinung  bin,  dass  die  Skizze,  die  ich 
>•  148,  Z.  38—50  davon  entworfen  habe,  völlig  genüge,  um  davon  einen 
^gnff  zu  geben.  Damals  übrigens  konnte  ich  der  Formulierune,  die  M. 
f-  58  seiner  Schrift)  dem  Zentralproblem  gab:  „Was  veranlasst  den 
eoschen  zu  der  sicheren  Vorstellung,  dass  alles  Geschehen,  jede,  auch  die 
^linfffügigste  Veränderung  eine  Ursache  haben  müsse ?^  zustimmen;  die 
docn,  welche  er  nun  im  Eingange  von  II.  bringt,  scheint  mir  deshalb 
dniger  glücklich«  weil  sie  sich  zu  eng  an  die  zuSllige  Form  hält,  unter 
T  Hume  das  Problem  fasste  —  und  verfehlte  — .  Femer  behaupte  ich,  dass 
B  Erkenntnisproblem  nicht  auf  die  von  dem  Herrn  Verfasser  aufgestellten 
i<ien  Erscheinungsformen  beschränkt  ist;  als  das  Problem,  welches  jedem 
^cnntnisversuche  zum  Grunde  liegt,  drängt  es  in  der  Geschichte  der 
ilosophie  und  Wissenschaft  in  mannigfachen  Formen  zu  tage,  die  metho- 
tcli  präzisiert  erst  das  Problem  klar  erkennen  lassen.  Ich  gebe  zu,  dass 
^\e  ^  wenn  er  auch  viele  Vorgänger  hatte,  die  wie  er  das  „peripherische 
ol)lem**  bearbeiteten  —  sich  zur  Veranschaulichunç  einer  Verquickung  des 
ol)lems  besonders  eignen  mag;  die  Charakterisierung  des  Hume*schen 
•simgsversuches  habe  ich  bereits  in  meiner  Rezension  als  treffend  an- 
i^annt.  Der  Herr  Verfasser  wird  indes  zugestehen,  dass  auch  andere  Denker 
tl^ocke  und  Hume  als  Objekte  dienen  könnten,  dass  das  Problem  u.  a.  auch 

mathematischer  und  theologischer  „Verquickung"  nach  oben  drängte  und 
eilt  bloss  als  „peripherisches^  und  „zentrales"  Problem  „in  ursprünglicher 
^talt"  auftrat.  Diese  letztere  ist  natürlich  eine  —  methodisch  notwendige 
'  Abstraktion,  die  sich  durch  die  beiden  extremsten  Punkte  bestimmen 
SBt,  indes  auch  von  anderen  Punkten  her  zugänglich  ist.  Wie  das  £r- 
enntnisproblem  „ward",  wenn  der  Ausdruck  gesittet  sein  soll,  scheint 
ûr  in  trefflicher  und  exakt  er  Weise  durch  Cassirers  Buch  dargetan; 
^  S.  140  meiner  Rezension.  Dass  M.  (brieflich)  Cassirers  Schrift  a  priori 
blehut,  scheint  mir  zu  beweisen,  dass  er  bewusst  und  absichtlich  aui  eine 
l^ljkte  Einsicht  in  die  Zusammenhänge  zwischen  der  Geschichte  der 
"^^ophie  und  der  systematischen  Arbeit  am  Erkenntnisproblem  verzichtet. 

3.  Dies  tritt  auch  klar  und  offenkundig  aus  dem  zweiten  Abschnitt 
^^  Erwiderung  hervor:  „Ich  zeige  nun  zunächst,  wie  das  Problem  auf 
^  ^bilosophen  seit  Descartes  wirkte,  ohne  auf  die  sonstigen  Leistungen 
jl^^ben  einzugehen  (denn  das  gehört  nicht  zu  meinem  Thema)."  Er 
'^«fcn:  Locke,  Berkeley,  Hume.  Das  sind  „die  Philosophen  seit  Descartes^. 
'  ^^echt  zur  Auswahl  mag  schliesslich  unbestritten  bleiben,   aber  ftir 

einmal  Gewählte  muss  exakte  Behandlung  gefordert  werden.  Auch 
^^eias  zwischen  „geschichtlichem  Beiweni",  als  welches  ich  z.  B. 
^*  148  meiner  Rezension  notierten  Schnitzer  M.s  betrachte,  und  dem 


468  p.  Wüst, 

das  Problem  angehenden,  nun,  sagen  wir  einmal  in  M.s  Sinne:  eeschicht- 
liehen  Illustrationsmaterial  wohl  zu  unterscheiden.  Ist  das  Kapitel  über 
Descartes,  das  über  Leibniz  auch  „geschichtliches  Beiwerk"?  Es  scheint 
mir  nötig,  darauf  hinzuweisen,  dass  der  Herr  Verfasser  in  seiner  Erwiderung 
meine  Bemerkungen  zu  D.  u.  L.  (S.  147,  148)  mit  keinem  Worte  berührt, 
wie  es  denn  überhaupt  lehrreich  ist,  durch  einen  Vergleich  festzustellen, 
worauf  M.  nicht  erwidert.  Die  ahistorische  Einseitigkeit  des  Herrn  Ver- 
fassers schädigt  denn  auch  seine  systematische  Einsicht  in  den  Eampi  am 
das  Problem  vor  Kant  ganz  bedeutend.  Ihm  ist  es  mit  Recht  zu  tun  nm 
mathematische  Präzision  in  der  Erfassung  1.  des  peripherischen,  2.  des 
Zentralproblems,  3,  der  Vereinigung  beider.  Wodurch  aber  soll  das  ele- 
mentarste Forschungsmaterial  dargeboten  werden,  wenn  nicht  durch  Fest- 
stellung des  Problems  in  den  wichtigsten  Lösungsversuchen?  Wie  da« 
Problem  bei  Descartes  und  Leibniz  „festgestellt"  wird,  habe  ich  S.  147 1 
meiner  Rezension  zu  zeigen  versucht.  Aber  alles,  was  über  D.  und  L.  nicht 
gesagt  wird,  jedoch  gesagt  werden  müsste,  wenn  anders  es  sich  in 
jenen  Abschnitten  überhaupt  darum  handeln  soll  „die  BestandteUe  des 
Problems  klar  vor  Augen  zu  stellen  und  zugleich  zu  zeigen,  dass  das 
Problem  das  Zentrum  ist,  um  das  sich  die  Versuche  der  bedeutendsten 
Philosophen  lagern"  (Erkpr.  S.  22),  schiebt  der  Herr  Verfasser  beiseite  als 
„sonstige  Leistungen",  auf  die  er  nicht  eingehe,  weil  „das  nicht  zu  seinem 
Thema  gehöre". 

So  entfällt  denn  unter  dies  „historische  Beiwerk",  das  der  Herr 
Verfasser  zu  „kompilieren"  verschmäht,  mit  vielem  anderen  auch  Leibnis' 
klare  Erkenntnis  des  apriorischen  Raumes,  die  er  z.  B.  in  dem  Brief- 
wechsel mit  Clarke  (jetzt  am  besten  zugänglich  bei  Cassirer-Buchenao, 
L.s  Hauptschriften  zur  Grundlegung  der  Philos.  I,  120  ff.)  so  unzweidentiç 
wie  nur  möglich  entwickelt  hat.  U.  s.  w.  u.  s.  w.  !  Es  Hessen  sich  Bände  füllen 
mit  dem,  was  der  Herr  Verfasser  nicht  sehen  wollte.  So  werden  uns  denn 
bei  D.  und  L.  von  Marcus  nicht  „die  Bestandteile  des  Problems  klar  vor 
Augen"  gestellt.  Es  ist  vielmehr  des  Herrn  Verfassers  „eigner  Geist",  ia 
dem  die  oeiden  Problembearbeiter  sich  bespiegeln,  und  zwar  so,  dass  ihre 
Arbeit  in  diesem  Bilde  nicht  wiederzuerkennen  ist.  Ich  will  mit  dieser 
Bemerkung  beileibe  nicht  jener  „objektiven"  Auffassung  der  Philosophie- 

feschichte  das  Wort  reden,  die  in  geschichtlichem  Beiwerk  —  diesmal  ist 
as  Wort  ernstgemeint  —  erstickt  und  im  übrigen  nur  den  Stoff  reden 
lässt;  im  Gegenteil  glaube  ich,  dass  die  Arbeit,  welche  früher  an  dem 
Problem  geleistet  worden  ist,  nur  dann  für  uns  zur  Erkenntnis  des  Problems 
und  zu  seiner  getreuen  Bewahrung  fruchtbar  werden  kann,  wenn  die  selbst- 
erarbeitete systematische  Überzeugung  uns  bei  (freilich  peinlich  genauer) 
Betrachtung  jener  Arbeit  leitet.  Aber  eine  Arbeitsweise,  welcne  jede 
historische  Vorarbeit  zur  systematischen  Erkenntnis  des  Problems  als 
„Beiwerk"  bei  Seite  schieben  zu  können  meint,  welche  in  wesenlosem 
Scheine  das,  was  uns  alle  bändigt  —  den  ach  so  unbequemen  Stoff  weit 
hinter  sich  lässt,  um  ein  derart  emseitig  beleuchtetes  Bild  von  D.  u.  L  «i 
geben,  dass  ihre  eigentliche  Arbeit  am  Erkenntnisproblem  gar  nicht 
erscheint;  eine  solche  Arbeitsweise  läuft  Gefahr,  das  „fruchtbare  Bathos 
der  Erfahrung"  unter  den  Füssen  zu  verlieren,  eine  Niederung,  die  m 
bewohnen  ja  bekanntlich  selbst  der  eine  oder  andere  König  im  ]E&idie  des 
Geistes  nicht  verschmäht  hat. 

4.  Die  Ausführungen  des  Herrn  Verfassers  unter  III,  1—3  sind 
gleichfalls  nicht  neu.  S.  148  f.  habe  ich  darzutun  versucht,  warum  ich  sie 
zur  klaren  Darstellung  des  Kantischen  Lösungsversuches  für  nicht  geeignet 
halte.  Die  von  M.  in  III.  geforderte  Lösung  „mit  einem  Griff  durch  ein 
und  dieselbe  Theorie"  gab  Kant  dadurch,  dass  er  das  „peripherische  Pïoblem*' 
auflöste  in  die  Frage:  wie  ist  sinnliche  Wahrnehmung  möglich?  und  diese 
Frage  mit  der  Erweiterung  des  Zentralproblems,  mit  der  Frage:  wie  sind 
konstruktive  Urteile  a  priori  möglich?,  verknüpfte.  Die  so  entstehende 
vertiefte  Frage  lautet  nun  für  ihn:   wie  ist  Eitahrung  möglich?    Damit 


Kant  und  das  Erkenntnisproblem.  46? 

Kant  und  das  Erkenntnisproblem. 

Eine  Entgpegnung  des  Rezensenten  auf  die  vorstehende  Erwiderung  seiner 

Anzeige. 

1 .  Der  Herr  Verfasser  macht  mir  den  Vorwurf,  ich  habe  „über  den 
Inhalt  und  die  Tendenz^  seiner  Schrift  zu  wenig  mitg^eteilt,  so  dass  sich 
der  Leser  kein  vom  Rezensenten  unabhängiges  Urteil  bilden  kOnne,  und  er 
hAlt  daher  „eine  Art  nachträglicher  Selbstanzeige*'  für  nötig.  Ich  darf 
hiergegen  verweisen  auf  meine  Anzeige  S.  141,  Z.  6  v.  u.  —  S.  142,  Z.  12; 
ebenda  Z.  26-40;  S.  148,  Z.  18-28;  ebenda  Z.  42—48;  S.  146,  Z.  34—88; 
ebenda  Z.  52  —  S.  146,  Z.  24;  S.  146,  Z.  34-86;  41-60;  62—54;  S.  147, 
Z.  19-80;  ebenda  Z.  46  —  S.  148,  Z.  1;  ebenda  Z.  8—17;  28-88;  38—50; 
63—66;  in  allen  diesen  Abschnitten  glaube  ich  weiter  nichts  als  tatsächliche 
Inhaltsangaben  der  Marcus'schen  Schrift  gebracht  zu  haben.  An  jene 
schliesst  sich  freilich  fast  immer  eine  weitaus  längere  Kritik  an.  Ich  bin 
mir  bewusst  in  dieser  wie  in  jenen  die  Forderuns^en  der  Sachlichkeit  so 
weit  erfüllt  zu  haben,  als  es  in  einer  Rezension,  die  niemals  die  Lektüre 
des  besprochenen  Werkes  selbst  ganz  ersetzen  kann,  möglich  ist. 

2.  Was  der  Herr  Verfasser  in  L  II.  vorbringt,  erscheint  mir  so  wenig 
neu,  dass  ich  auch  jetzt  noch  der  Meinung  bin,  dass  die  Skizze,  die  ich 
S.  148,  Z.  38—50  davon  entworfen  habe,  völlig  genüge,  um  davon  einen 
Begriff  zu  geben.     Damals  übrigens  konnte  ich  oer  f^rmulierung,  die  M. 

2.  68  seiner  Schrift)  dem  Zentralproblem  gab:  „Was  veranlasst  den 
enschen  zu  der  sicheren  Vorstellung,  dass  alles  Geschehen,  jede,  auch  die 
l^ringfügigste  Veränderung  eine  Ursache  haben  müsse ?^  zustimmen;  die 
Jedocn,  welche  er  nun  im  Eingange  von  II.  bringt  scheint  mir  deshalb 
weniger  glücklich,  weil  sie  sich  zu  eng  an  die  zufiuiige  Form  hält,  unter 
der  Hume  das  Problem  fasste  —  und  verfehlte  — .  Femer  behaupte  ich,  dass 
das  Erkenntnisproblem  nicht  auf  die  von  dem  Herrn  Verfaraer  aufgestellten 
beiden  Erscheinungsformen  beschränkt  ist;  als  das  Problem,  welches  jedem 
Erkenntnisversuche  zum  Grunde  liegt,  drängt  es  in  der  Geschichte  der 
Philosophie  und  Wissenschaft  in  mannigfachen  Formen  zu  tage,  die  metho- 
disch präzisiert  erst  das  Problem  klar  erkennen  lassen.  Ich  gebe  zu,  dass 
Locke  ^  wenn  er  auch  viele  Vorgänger  hatte,  die  wie  er  das  „peripherische 
Problem*^  bearbeiteten  —  sich  zur  Veranschaulichunç  einer  Verquickung  des 
Problems  besonders  eignen  mag;  die  Charakterisierung  des  Hume'schen 
LOaongsversnches  habe  ich  bereits  in  meiner  Rezension  als  treffend  an- 
erkannt. Der  Herr  Verfasser  wird  indes  zugestehen,  dass  auch  andere  Denker 
alaLoeke  und  Hume  als  Otjekte  dienen  könnten,  dass  das  I^blem  u.  a.  auch 
in  mathematischer  und  theologischer  „Verquickung^  nach  oben  drängte  und 
nicht  bloss  als  „peripherisches"*  und  „zentndes"*  Problem  „in  ursprünglicher 
Gtetalt"  auftrat.  Diese  letztere  ist  natürlich  eine  —  methodisch  notwendige 
—  Abstraktion,  die  sich  durch  die  beiden  extremsten  Punkte  bestimmen 
lA»t,  indes  auch  von  anderen  Punkten  her  zugänglich  ist.  Wie  das  Er- 
kenntnisproblem „ward^,  wenn  der  Ausdruck  gestattet  sein  soll,  scheint 
mir  in  trefflicher  und  exakt  er  Weise  durch  Gassirers  Buch  dargetan; 
Y^  S.  140  meiner  Rezension.  Dass  M.  (brieflich)  Gassirers  Schrift  a  priori 
amehnt,  scheint  mir  zu  beweisen,  dass  er  bewusst  und  absichtlich  auf  eine 
exakte  Einsicht  in  die  Zusammenhänge  zwischen  der  Geschichte  der 
Philosophie  und  der  systematischen  Arbeit  am  Erkenntnisproblem  verzichtet. 
8.  Dies  tritt  auch  klar  und  offenkundig  aus  dem  zweiten  Abschnitt 
seiner  Erwiderung  hervor:  „Ich  zeige  nun  zunächst,  wie  das  Problem  auf 
die  Philo60i>hen  seit  Descartes  wirkte,  ohne  auf  die  sonstigen  Leistungen 
derselben  einzugehen  (denn  das  gehört  nicht  zu  meinem  Thema).^  Er 
führt  an  :  Locke,  Berkeley,  Hume.  I>as  sind  „die  Philosophen  seit  Descartes^. 
Du  Recht  zur  Auswahl  mag  schliesslich  unbestritten  bleiben,  aber  für 
das  einmal  Gewählte  muss  exakte  Behandlung  gefordert  werden.  Auch 
kh  wei«  swiachen  „geschichtlichem  BeiwenL*',  als  welches  ich  z.  B. 
die  S.  148  meiner  Rezension  notierten  Schnitaeer  M.s  betrachte,  und  dem 


470  P.  Wüst, 

eins  sind,  seiet  die  Kr.,  das  Quellenwerk,  das  „unabhängig  von  vorgefMsten 
Meinungen  (der  Herr  Verfasser  verzeihe,  dass  ich  schon  wieder  ans  seiner 
Rüstkammer  ein  Stück  gegen  ihn  abfeuere!]  gewürdigt  werden"  mm 
Wozu  Zitate!  Und  Kant  soll  „wegen  der  Grösse  seiner  Entdeckung" 
„Lampenfieber"  gehabt  und  deswegen  „die  Grösse  seiner  ümw&lzmig" 
nicht  nur  „durch  eine  scholastische,  trockene  Sprache  abgeschwacht^ 
sondern  auch  „seine  Lösung  versteckt  haben"  (Erkprobl.  S.  13  f.).  Wora, 
so  fra^e  ich  abermals  (vgl.  S.  146  meiner  Bez.),  hat  Kant  die  Prolegomeni 
geschrieben?  Wozu  hat  er  in  hunderten  von  Anmerkungen  der  Kr.  immer 
und  immer  wieder  auf  sein  Problem,  das  er  freilich  nicht  von  dem  Problem 
der  Kritik  der  Erkenntnis  losgelöst  wissen  wollte,  da  ihm  „beide"  sachlich 
als  ein  Problem  galten,  hingewiesen,  wenn  nicht,  um  es  klar  und  deutlich 
vor  jedermann  hinzustellen?  Und  dieser  Denker  soll  „Lampenfieber"  gehabt 
haben!  Es  ist  unmöglich,  diese  nicht  nur  den  Menscnen  und  Schrift- 
steller Kant,  sondern  das  innerste  Gefüge  des  Kantischen  Systems  selbst 
ansehende  Behauptung  auch  nur  mit  einem  triftigen  Belege  aus  Kants 
Briefen  oder  Schriften  zu  erhärten.  Wenn  Kant  so  dachte,  dann  handelte 
er  klüger,  wenn  er  seine  Schriften  klar  (im  Sinne  von  Marens)  abfassteond 
sie  posthum  veröffentlichte.  Er  hat  es  aber  nicht  getan,  und  des  sind 
wir  fröhlich.  Der  Herr  Verfasser  täte  also  besser,  anstatt  sich  mit  seiner 
problematischen  Lösung  des  Interpretationsproblems  zu  begnügen  —  prob- 
lematisch, weil  Kant  sehr  offen  und  sachlich  das  schreiben  wollte,  wtt 
er  dachte  —  und  gedacht  wissen  wollte  —  zuzugeben: 

1.  dass  hier  ein  Problem  der  Kantinterpretation  vorliegt, 

2.  dass  dieses  Problem  aufs  innigste  mit  Kants  Lösung  des  £^ 
kenntnisproblems  zusammenhängt, 

3.  dass  er  dies  Problem  zu  lösen  versucht  hat,   ohne  aus  Kant 
selbst  einen  Beweis   dafür  erbracht  zu  haben,  dass  a)  die 
„Kritik  der  Erkenntnis"  eine  Scheinanlage,  dass  also  b)  Kaat  • 
„literarisches  Lampenfieber"  gehabt  habe;  dass  also 

4.  das  Problem  eine  andere  Lösung  finden  muss,  als  er  sie  in 
seiner  „Vermutung"  (Erkpr.  S.  13)  zu  geben  versucht  hat. 

Ich  verlange  also  „Schutz  für  das  Problem'^ 

6.    Die  Stilfrage  hängt  nun  mit  der  unter  5  behandelten  aufs  engs^ 
zusammen.     Auch  sie  weiss  der  Herr  Verfasser  in  der  kurzen  Anmerknng 
am  Schluss  seiner  Erwiderung  als  nebensächlich  abzutun.     Wenn  ich  in 
meiner  Bezension  Pietät  bei  der  Kantinterpretation  forderte,  so  hat  das 
mit  Personenkultus  nichts  zu  tun,  sondern  ich  habe  bei  meinen  Ausführongen 
zu  Kants  Stil   die   sachliche   Achtung   gegenüber   dem    Faktum  der 
Kantischen  Wissenschaft,  als  der  ja,  leider,  nun  einmal  nicht  zu  umgehenden    < 
Grundlage  jeder  Kantinterpretation  gemeint.     Die  literarische  Form  ab 
solche   erscheint   mir  nun   einmal  als   die   „notwendige  Form   dieser  £^ 
scheinung'^^  d.  h.  des  Kantischen  Werkes.    Sie  ist  das  mstorische  Material, 
von  dem  die  Kantinterpretation  auszugehen  hat,  also  zur  Beurteilung  àsx 
8  ach  lichen  Frage  nicht  „unerheblich".    Bei  Wernicke,  Kant  . . .  und  kein 
Ende?  (^1907  S.  10  ff.)  scheinen  mir  etliche  in  dieser  Richtung  liegende 
praktische  Winke  gegeben  zu  sein.     Wohin  aber  die  Methode  des  Benm 
Verfassers,   von  dieser  sachlichen  „Pietät"  Abstand  zu  nehmen  und  das 
historische  Material  als  nebensächlich  zu  behandeln,  führt,   geht  aus  dem 
oben  skizzierten  Ergebnis  seiner  Kantinterpretation  hervor.     Wamm  ich 
bei  ihm  trotzdem  „konservative  Gesinnung  voraussetzte"  ?   Nun,  weil  seine 
Schrift  das  Kantische  Motto  trägt,  das  er  auch  in  seiner  Erwiderang  abe^ 
mais  anführt  ^Nil  actum  reputans  si  quid  superesset  agendum",  und  wol 
ich  „konservativ**  ^enug  bin,  um  Verständnis  des  Stiles  und  der  literarischen 
und  historischen  Eigenart  eines  Autors  für  die  erste  meinetwegen  Aamen 
Vorbedingung  eines  sachlichen  Verständnisses  zu  halten.   Kants  ,^erBon* 
kommt  erst  in  zweiter  Linie.     Wer  an  die  Kantiu      iiretation  herantritt 
unbekümmert  um  das  Gegebene;  wer  das  G^fäss  z<  Igt,  um  schneller 

zu  dem  gewünschten  Inhalt  zu  gelangen,  dem  wx      <  in  kostbarer  Tnl 


Kant  und  das  Erkenbtnisproblem.  471 

davon  anter  den  Händen  zerrinnen.  Vielleicht  nicht  alles;  „dass  man  nämlich 
einzelne  Sätze  von  ihm,  d.  h.  ihn  im  ""wesentlichen**  versteht,  ist 
wirklich  schwer  zu  vermeiden"  (Erkpr.  S.  14),  aber  es  bleibt  dann  doch 
ein  gewaltiges  „a^endum^.  Darf  das  liegen  bleiben?  Die  Fra^e  der 
loflseren  Tatsache  der  Kr.  mit  allen  Gegebenheiten  ist  nicht  zu  soieiden 
▼on  der  „sachlichen""  Frage  des  Interpretationsproblems,  des  Kantischen 
LOsongsversuches.  Der  Herr  Verfasser  hat  diese  Frage  beiseite  geschoben, 
tzotz  seines  Mottos.  Hier  liegt  ein  Problem,  hier  der  Weg  zu  einer 
iweifelfreien  Lösung.  Ich  weiss  nicht,  ob  der  Herr  Verfasser  ihn  ein- 
leUagen  wird.  In  seiner  Erwiderung  geht  er  auf  dürrer  Heide,  wie  mir 
scheint,  und  die  rinssumher  liegende  „schöne  grüne  Weide""  sieht  er  nicht. 
7.  Nachdem  der  Herr  Verfasser  in  seiner  Erwiderung  seine  Stellung 
so  Kant  klarer  als  vorher  aufgedeckt  hat,  indem  er  dartut,  dass  es  für  ihn 
lieh  nicht  sowohl  um  Kant,  sus  vielmehr  um  seine,  des  Verfassers,  Inter- 
pretation des  Problems,  handelt,  wobei  ihm  Kant  nur  als  unerlässliches 
niutrationsmaterial  dient,  sehe  ich  wohl  ein,  dass  ich  den  „Vorwurf"" 
ffkonservativer""  Gesinnung  zurücknehmen  muss.  Ich  hatte  darunter  das 
treue  Festhalten  an  den  Leitgedanken  des  Philosophen  verstanden,  das 
weit  über  jener  Buchstabentreue  steht,  die  vor  lauter  Bäumen  den  Wald 
sieht  sieht,  ein  Festhalten,  das  sich  rein  im  Prinzip  wenigstens  in  der  oft* 
maligen  Betonung  des  NU  actum  auszusprechen  schien,  wenn  es  auch  in 
der  Praxis  aus  den  Augen  verloren  wurde.  Und  ein  Zweites  sehe  ich  ein  : 
dan  nämlich  einer  solchen  Auslegung  Kants  die  Interpretation  Cohens 
freüich  nicht  das  erlösende  Wort  zu  sprechen  vermag.  Ich  hatte  dies 
geglaubt,  weil  mir  eben  die  Forderung  des  Nil  aäum  als  die  erste  erscheint; 
cine  Fordi rung,  die  mir,  von  M.  kommend,  jetzt  wie  jenes  Herr  Herr-sagen 
ÛD  Ohre  klingt,  weil  sie  nicht  in  die  Tat  umgesetzt  wird,  vor  allem  nicht, 
so  weit  das  Interpretationsproblem  in  Frage  kommt.  Ich  hatte  es  an- 
genommen, weil  mir  Cohens  Interpretation  die  Auswirkung  jener  Forderung 
^  büdeu  schien,  weil  ich  für  sie  das  Prädikat  iener  „konservativen^ 
Tendenz  in  Anspruch  nehmen  zu  dürfen  glaubte,  die  der  Herr  Verfasser 
K  wie  er  mich  nun  belehrt,  weit  von  sich  weist,  weil  er  aus  Kant  etwas 
•vöQig  Neues''  herauslesen  will  —  wenn  es  nur  das  Neue  wäre,  was 
Kant  erarbeitet  haben  wollte!  .  .  .  Ich  s&ge:  „glaubte"".  Nun,  ich  darf, 
^^  nach  der  Erwiderung  des  Herrn  Verfassers  noch,  das  Praesens  ge- 
sehen. Denn  ich  bin  noch  der  Meinung,  dass  Cohen  „die  Erkenntnis 
^  Kultischen  Systems,  als  einer  in  sich  notwendigen  Einheit,  als  eines 
^tmsen,  in  dem  die  Teile  sich  bedingen,  erreicht*"  hat. 

Der  Herr  Verfasser  rät  mir,  den  Versuch  zu  machen,  „die  Kr.  d.  r.  V. 
(also  das  Quellenwerk)  unabhän^g  von  der  Marburger  Interpretation 
m  würdigen*'.  Ob  ich  das  jemals  können  werde,  weiss  ich  nicht,  glaube 
BS  aber  nicht.  Denn  erst  die  Interpretationsweise  Cohens  hat  mir  den 
i^eg  zu  derjenigen  Einheitlichkeit  des  Verständnisses  erschlossen,  die 
eh  für  das  oberste  Kriterium  einer  Erkenntnis  überhaupt  halten  muss. 
)èr  Herr  Verfasser  scheint  zu  glauben,  das  Quellen  werk  komme  denen, 
ie  von  Hermann  Cohen  und  Paul  Natorp  lernen  durften,  erst  in  zweiter 
inie  und  werde  durch  die  „Interpretation""  gewissermassen  beiseite  ge- 
hoben. Es  ma^  ja  Kant„ausleger""  geben,  denen  Kant  nur  zum  Gefäss 
irer  eigenen  Meinungen  wird;  aber  das  Wesen  der  „Marburger  Schule** 
der  Ausdruck  ist  mir  nun  einmal  entschlüpft  und  mag  darum  bleiben, 
eil  ich  für  ihn  ja  doch  eine  andere  sachliche  Basis  voraussetze  als  das 
rare  in  verba  magistri,  worin  dem  Herrn  Verfasser  das  Wesen  der  Schule 
[  Hagen  scheint  —  besteht  eben  darin,  dass  sie  niemals  ein  fertiges  Er> 
unüB  der  Interpretation  überliefern  wollte,  andererseits  auch  nicht  lehrt, 
d  .einer  von  vielen  möglichen  Kantinterpretationen""  sich  zu  beruhigen, 
Mem  weil  sie  Anregung  zum  selbständigen  Eindringen  in  das  Geroge 
m  Kantiachen  Systems  geoen  will;  weil  ihr  die  Methode  auch  hier  &b 
vie.  gmndk^^de  Moment  bedeutet,  von  dessen  Verständnis  aus  die 
ÎBnBbt  selbständig  zwar,  doch  mit  gesetzlicher  Notwendigkeit  erarbeitet 
ML     Ein   bewosstes  Abstrahieren   von  jener  Grundvoraussetzung   des 

31« 


470  I>,  Wüst, 

eins  sind,  zeiflft  die  Kr.,  das  Quellenwerk,  das  „unabhängig  von  voiyfawtiqn 
Meinungen  (der  Herr  Verfasser  verzeihe,  dass  ich  schon  wieder  ans  aeiiier 
Rüstkammer  ein  Stück  gegen  ihn  abfeuere!]  gewürdigt  weiden"  nrnss. 
Wozu  Zitate!  Und  Kant  soll  „wegen  der  wiVsse  seiner  Entdeckung^ 
„Lampenfieber^  gehabt  und  deswegen  „die  Grösse  seiner  ümwftlsiing' 
nicht  nur  ^durch  eine  scholastische,  trockene  Sprache  abgeschwicht*', 
sondern  auch  „seine  Lösung  versteckt  haben"  (Brkprobl.  S.  18  f.).  Wozu, 
so  fra^  ich  abermals  (vgl.  S.  146  meiner  Bez.)>  l^t  Kant  die  Prolegomena 
geschrieben?  Wozu  hat  er  in  hunderten  von  Anmerkungen  der  Kr.  immer 
und  immer  wieder  auf  sein  Problem,  das  er  freilich  nicht  von  dem  Problem 
der  Kritik  der  Erkenntnis  losgelöst  wissen  wollte,  da  ihm  „beide"  sachlich 
als  ein  Problem  galten,  hingewiesen,  wenn  nicht,  um  es  klar  und  deutlich 
vor  jedermann  hinzustellen?  Und  dieser  Denker  soll  „Lampenfieber"  gehabt 
haben!  Es  ist  unmöglich,  diese  nicht  nur  den  Menscnen  und  l^hrift- 
steller  Kant,  sondern  das  innerste  GetfXf;e  des  Kantischen  Systems  selbst 
an^hende  Behauptung  auch  nur  mit  einem  triftigen  Belege  aus  Kants 
Briefen  oder  Schriften  zu  erhärten.  Wenn  Kant  so  dachte,  dann  handelt« 
er  klüger,  wenn  er  seine  Schriften  klar  (im  Sinne  von  Marcus)  abfasste  und 
sie  posthum  veröffentlichte.  £r  hat  es  aber  nicht  getan,  und  des  sind 
wir  fröhlich.  Der  Herr  Verfasser  täte  also  besser,  anstatt  sich  mit  seiner 
problematischen  Lösung  des  Interpretationsproblems  zu  beffnfigen  —  prob- 
lematisch, weil  Kant  sehr  offen  und  sachlich  das  schreioen  wollte,  wis 
er  dachte  —  und  gedacht  wissen  wollte  —  zuzugeben: 

1.  dass  hier  ein  Problem  der  Kantinterpretation  vorliegt, 

2.  dass  dieses  Problem  au&  innigste  mit  Kants  Lösung  des  £^ 
kenntnisproblems  zusammenhängt, 

8.  dass  er  dies  Problem  zu  lösen  versucht  hat,  ohne  aus  Kant 
selbst  einen  Beweis  dafür  erbracht  zu  haben,  dass  a)  die 
„Kritik  der  Erkenntnis"  eine  Scheinanlage,  dass  also  b)  Kant. 
Jiterarisches  Lampenfieber"  gehabt  habe;  dass  also 
4.  aas  Problem  eine  andere  Lösung  finden  muss,  als  er  sie  m 
seiner  „Vermutung"  (Erkpr.  S.  13)  zu  geben  versucht  hat. 
Ich  verlange  also  „Schutz  für  das  Problem**! 
6.    Die  Stilfrajge  hängt  nun  mit  der  unter  5  behandelten  aufo  engste 
zusammen.     Auch  sie  weiss  der  Herr  Verfasser  in  der  kurzen  Anmerkimg 
am  Schluss  seiner  Erwiderung  als  nebensächlich  abzutun.     Wenn  ich  in 
meiner  Rezension  Pietät  bei  der  Kantinterpretation  forderte,  so  hat  das 
mit  Personenkultus  nichts  zu  tun,  sondern  ich  nahe  bei  meinen  Ausführungen 
zu  Slants  Stil   die   sachliche   Achtung  gegenüber   dem   Faktum   der 
Kantischen  Wissenschaft,  als  der  ja,  leider,  nun  einmal  nicht  zu  umgehenden 
Grundlage  jeder  Kantinterpretation  gemeint.     Die  literarische  Form  als 
solche  erscheint  mir  nun  einmal  als  die  j^notwendige  Form  dieser  Er- 
scheinung**^ d.  h.  des  Kantischen  Werkes.    Sie  ist  das  historische  Material, 
von  dem  die  Kantinterpretation  auszugehen  hat,  also  zur  Beurteilung  der 
sachlichen  Frage  nient  „unerheblich".    Bei  Wernicke,  Kant  . . .  und  kein 
Ende?  ("1907  S.  10  ff.)  scheinen  mir  etliche  in  dieser  Richtung  liegende 
praktische  Winke  gegeben  zu  sein.     Wohin  aber  die  Methode  aes  fitom 
Verfassers,  von  dieser  sachlichen  „Pietät"  Abstand  zu  nehmen  und  das 
historische  Material  als  nebensächlich  zu  behandeln,  führt,  geht  aus  dem 
oben  skizzierten  Ergebnis  seiner  Kantinterpretation  hervor.     Warum  ich 
bei  ihm  trotzdem  „konservative  Gesinnung  voraussetzte"?   Nun,  weil  seine 
Schrift  das  Kantiscne  Motto  trägt,  das  er  auch  in  seiner  Erwiderung  aber- 
mals anführt  ^Nil  actum  reputans  si  quid  snpereeset  agendum",  und  weü 
ich  „konservativ**  genug  bin,  um  Verständnis  des  Stiles  und  der  literaiisohen 
und  historischen  Eigenart  eines  Autors  für  die  erste  meinetwegen  äussere 
Vorbedingung  eines  sachlichen  Verständnisses  zu  halten.   Kants  „PeiBoo*^ 
kommt  erst  m  zweiter  Linie.     Wer  an  die  Kantinterpretation  fa«rantrilt 
unbekümmert  um  das  G^egebene;  wer  das  GMte  lersoliligt,  um  sehneUer 
zu  dem  gewttnschten  Inhalt  zu  gelangen,  dem  wird  etil  koetbarar  TM 


Kant  und  das  Erkenntnisproblem.  471 

davon  anter  den  Händen  zerrinnen.  Vielleicht  nicht  alles;  „dass  man  nämlich 
einzelne  Sätze  von  ihm,  d.  h.  ihn  im  "^wesentlichen**  venteht,  ist 
wirklich  schwer  zu  vermeiden''  (Erkpr.  S.  14),  aber  es  bleibt  dann  doch 
ein  ^waltiges  „agendum''.  Darf  das  liegen  bleiben?  Die  Fra^e  der 
Inworen  Tatsache  der  Kr.  mit  allen  Gegebenheiten  ist  nicht  zu  soieiden 
von  der  ,,sachlichen''  Frage  des  Interpretationsproblems,  des  Kantischen 
Löeongsversnches.  Der  Herr  Verfasser  hat  diese  Frage  beiseite  geschoben, 
tarotz  seines  Mottos.  Hier  liegt  ein  Problem,  hier  der  Weg  zu  einer 
zweifelfreien  Lösung.  Ich  weiss  nicht,  ob  der  Herr  Verfasser  ihn  ein- 
schlagen wird.  In  seiner  Erwiderung  geht  er  auf  dürrer  Heide,  wie  mir 
scheint,  und  die  rinfisnmher  liegende  „schöne  grüne  Weide''  sieht  er  nicht. 

7.  Nachdem  der  Herr  Verfasser  in  seiner  Erwiderung  seine  Stellung 
zu  Kant  klarer  als  vorher  aufgedeckt  hat,  indem  er  dartat,  dass  es  für  ihn 
sich  nicht  sowohl  um  Kant,  als  vielmehr  um  seine,  des  Verfassers,  Inter- 
pretation des  Problems,  handelt,  wobei  ihm  Kant  nur  als  unerlässliches 
Dlottrationsmaterial  dient,  sehe  ich  wohl  ein,  dass  ich  den  „Vorwurf" 
„konservativer"  Gesinnung  zurücknehmen  muss.  Ich  hatte  darunter  das 
treue  Festhalten  an  den  Leitgedanken  des  Philosophen  verstanden,  das 
weit  über  jener  Buchstabentreue  steht,  die  vor  lauter  Bäumen  den  Wald 
nicht  sieht,  ein  Festhalten,  das  sich  rein  im  Prinzip  wenigstens  in  der  oft- 
maligen Betonung  des  NU  actum  auszusprechen  schien,  wenn  es  auch  in 
der  Praxis  aus  den  Augen  verloren  wurde.  Und  ein  Zweites  sehe  ich  ein  : 
dass  nämlich  einer  solchen  Auslegung  Kants  die  Interpretation  Cohens 
freilich  nicht  das  erlösende  Wort  zu  sprechen  vermag.  Ich  hatte  dies 
geglaubt,  weil  mir  eben  die  Forderung  des  Nil  aäum  als  die  erste  erscheint; 
eine  Fordtrung,  die  mir,  von  M.  kommend,  jetzt  wie  jenes  Herr  Herr-eagen 
im  Ohre  klingt,  weil  sie  nicht  in  die  Tat  umgesetzt  wird,  vor  allem  nicht> 
so  weit  das  Interpretationroroblem  in  Frage  kommt.  Ich  hatte  es  an- 
genommen, weil  mir  Cohens  Interpretation  die  Auswirkung  jener  Forderung 
zu  bilden  schien,  weil  ich  für  sie  das  Prädikat  iener  „konservativen^ 
Tendenz  in  Anspruch  nehmen  zu  dürfen  glaubte,  die  der  Herr  Verfasser 
ja,  wie  er  mich  nun  belehrt,  weit  von  sich  weist,  weil  er  aus  Kant  etwas 
^ydllig  Neues*^  herauslesen  will  —  wenn  es  nur  das  Neue  wäre,  was 
Kant  erarbeitet  haben  wollte!  ...  Ich  saee:  „glaubte".  Nun,  ich  darf, 
auch  nach  der  Erwiderung  des  Herrn  Verfassers  noch,  das  Praesens  ge- 
braachen.  Denn  ich  bin  noch  der  Meinung,  dass  Cohen  „die  Erkennais 
des  Kantischen  Sjrstems,  als  einer  in  sich  notwendigen  Einheit,  als  eines 
Gassen,  in  dem  die  Teile  sich  bedingen,  erreicht"  Imt. 

Der  Herr  Verfasser  rät  mir,  den  Versuch  zu  machen,  „die  Kr.  d.  r.  V. 
(alfo  das  Quellenwerk]  nnabhänffig  von  der  Marburger  Interpretation 
m  würdigen".  Ob  ich  das  jemals  Können  werde,  weiss  ich  nicht,  glaube 
es  aber  nicht.  Denn  erst  die  Interpretationsweise  Cohens  hat  mir  den 
W^  m  deijenigen  Einheitlichkeit  des  Verständnisses  erschlossen,  die 
ieh  für  das  oberste  Kriterium  einer  Erkenntnis  überhaupt  halten  mnss. 
Der  Herr  Verfasser  scheint  zu  glauben,  das  Quellenwerk  komme  denen, 
die  von  Hermann  Cohen  und  Paul  Natorp  lernen  durften,  erst  in  zweiter 
Linie  und  werde  durch  die  „Interpretation"  gewissermassen  beiseite  ge- 
sdioben.  Es  ma^  ja  Kant„ausleger"  geben,  denen  Kant  nur  zum  G«&s 
ikrar  eigenen  Meinungen  wird;  aber  das  Wesen  der  „Marburger  Schule'^ 
—  der  Ausdruck  ist  mir  nun  einmal  entschlüpft  und  mag  darum  bleiben, 
weil  ich  für  ihn  ja  doch  eine  andere  sachliche  Basis  voraussetze  als  das 
ümupe  in  verba  magistri,  worin  dem  Herrn  Verfasser  das  Wesen  der  Schule 
sa  üagen  scheint  —  besteht  eben  darin,  dass  sie  niemals  ein  fertiges  Er- 
mkm»  der  Interpretation  überliefern  wollte,  andererseits  auch  nicht  lehrt, 
Ssi  .einer  von  vielen  möglichen  Kantinterpretationen"  sich  zu  beruhf 
SflMcm  weil  sie  Amregung  zum  selbständigen  Eindringen  in  das  Ge 
to  Xanüschen  Systems  geben  will;  weil  ihr  die  Methode  auch  hier 
enUL  gnmdlegendie  Moment  bedeutet,  von  dessen  Verständnis  aus  die 
mn^ÙM  selbständig  zwar,  doch  mit  gesetzlicher  Notwendigkeit  erarbeitet 
wild.     Ein   bewusstes  Abstrahieren   von  jener  Grundvoranssetzung   des 

8l« 


472  P,  Wüst, 

Verständnisses  wäre  gegen  mein  wissenschaftliches  Gewissen  und  fOr  mich 
gleichbedeutend  mit  einem  Verzicht  auf  Erkenntnis  überhaupt. 

Denn  das  „non  liquet^'  der  Cohenschen  Interpretation  kann  ich  nicht 
zugestehen;  dazu  fehlt  ein  nicht  unwichtiges  Moment:  die  innere  Übei- 
zeug[ung  jenes  non  liquet,  die  der  Herr  Verfasser  bei  mir  yorauszusetzen 
scheint.  Auch  ich  kann  mich  nicht  „bei  einer  zweifelhaften  LOsim^ 
beruhigen".  Dass  die  Cohensche  eine  solche  sei,  davon  haben  mich  die 
allgemein  gehaltenen  Äusserungen  des  Verfassers,  auf  die  ich  nicht  dn- 
gehen  kann,  da  sie  zur  Diskussion  keine  sachliche  Handhabe..bieten,  eben- 
sowenig überzeugen '  können,  als  seine  eine  tatsächliche  Äusserung  zur 
Raumtneorie:  „Cohen  macht  aus  dem  Eantschen  Baume  (.  .  .  der  „Form 
der  Erscheinung**)  eine  „erscheinende  Beschaffenheit"  (Th.  d.  Sri,  \ 
S  153),  weil  er  die  Bedenken  .  .  .  gegen  die  Annahme  eines  unendlichen 
Gefässes  (oder  Organs)  der  Anschauung  teüt  und  statt  diese  Bedenken 
als   Einwand    gegen   die   Lehre    geltend    zu   machen,    die    entgegen- 

gesetzten  klaren  Aussprüche  Kants  durch  eine  restrictive  Interpretation 
eseitigt."  Jenes  eine  Zitat  ist  aus  dem  Zusammenhang  gerissen  und 
darum  unklar.  Es  lautet  vollständig  (a.  a.  0.,  Zeile  7  v.  u.)  :  „  . .  io 
wenig  die  Materie  einer  Erscheinung  wirkliche  Materie,  sondern  nnr 
erscheinende  ist,  so  weniç  ist  die  Form  der  Erscheinung  ein  mate- 
rielles, aufnehmendes  Behlutnis  oder  Werkzeufi^,  sondern  eine  erschei* 
nende  Beschaffenheit,  eine  isolierte  Bedingung.  Die  Form  ist 
Form  der  Erscheinung.  Durch  diese  Verbindung  allein  kann 
der  Terminus  für  eine  genaue  und  erschöpfende  Bestimmung 
vorbereitet  werden. i)  .  .  .  Von  wirklichen  Dingen,  denen  einedielän- 
drücke  derselben  aufnehmende  Subjektivität  begegnete,  ist  nirgend  die 
Bede.^  Man  sieht,  der  Nachdruck  hegt  auf  „Erscheinung";  und  „erKhei- 
nende  Beschaffenheit"*  soll  nicht  etwa  die  Beschaffenheit  eines  dinglichen 
Substrats  sein,  sondern  ist  zu  verstehen  als  zu  den  Bedingungen  der 
Möglichkeit  des  Gegenstandes  gehörige  Form,  d.  h.  Bedingung  der  & 
scheinung.  ^Aus  der  Form  der  Erscneinung'^  wird  also  nichts  andern 
„jg;emacht";  sie  wird  lückenlos,  d.  h.  ohne  Zuhülfenahme  durchaus  metaphy- 
sischer, von  den  Bedingungen  der  Gegenstände  abliegender  und  mit  ihnen 
nicht  verbindbarer  jenseitiger  „Gegenstände"  interpretiert.  Denn  „der  an- 
endlich grosse  Platz  für  <ue  Körperwelt",  wie  das  „sinnliche  Jenseits  der 
Eropfindunff^  des  Herrn  Verfassers  mtlssen  als  solche  angesprochen  weiden. 
Femer  madit  Cohen  sehr  wohl  ausführlich  a.  a.  0.  S.  154— 156  u.  iL  seine 
„Bedenken  ...  gegen  die  Annahme  eines  unendlichen  Gefösses  (oder 
Orfifans)  für  die  Anschauung"  geltend  .  .  .  allerdings  braucht  er  diei 
nicht  „als  Einwand  gegen  £e  Lehre"  Kants  zu  tun:  auch  bedürfen  die 
allerdings  „klaren  Aussprüche  Kants"  (es  handelt  sich  vor  allem  um  du 
„im  Gemüte  a  priori  bereit  liegen")  nicht  einer  „restrictiven  Interpretation", 
wie  denn  eine  solche  Cohen  auch  nicht  giebt;  jene  Wendung  findet  viel- 
mehr durch  weitere  klare  Aussprüche  Kants  ihre  lückenlose  Dentong, 
während  die  Auffassung  „Gefäss"  und  „Organ"  zu  einer  psycholoffisehen 
Metaphysik  führen,  von  der  keine  Brücke  zu  den  Bedingungen  der  E^ 
kenntnis  führt,  wie  sie  Kant  dachte. 

8.  Die  Frage  nach  dem  Verhältnis  der  „Logik"  Cohens  zu  Kant 
steht  auf  einem  anderen  Blatte;  auf  sie  habe  ich  in  meiner  Rezension 
keinen  Bezug  genommen  ;  von  einem  „Identifizieren"  in  dem  Sinne  des 
Herrn  Verfassers  kann  iJso  keine  Bede  sein.  Eine  Widerleernnf  der  Kritik 
an  Cohens  Logik  gehört  nicht  hierher.  Es  scheint  mir  über£es  zweifel- 
haft, ob  sie  Zweck  hätte,  da  der  Herr  Verfasser  schon  den  methodischen 
Begriff  des  „Ableitens"  —  der  mit  dem  methodischen  Ausgannpunkte  von 
Kants  „Analytik"  zusammenfällt  —  durchaus  verîehlt.  Von  dem  Versuche 
jenes  „Nachweises"  betr.  Cohens  Kantinterpretation  und  System  kann  und 
will  ich  den  Herrn  Verfasser  natürlich  nicht  zurückhalten.  Sein  Ergebnii 
ist  mir  nach  den  oben  behandelten  Stichproben  nicht  zweifelhaft. 

1)  Durch  mich  gesperrt. 


Kant  und  das  Erkenntnisproblem.  473 

9.  Der  Herr  Verfasser  glaubt,  ich  tadele  die  Energie  der  Form 
ner  Polemik.  O  nein!  Auch  g^egen  Niederschläge  „übermütiger  Laune" 
t)e  ich  nichts  einzuwenden.  Beides  scheint  mir  im  Ge^nteil  Kern  und 
Ebse  der  Polemik  auszumachen  (vgl.  8.  140—141  meiner  Bez.);  aber 
im  ich  von  einer  Polemik  „in  Hemdsärmeln"  sprach  und  von  einem 
ei«eifen  im  Ton",  so  meinte  ich  damit  nicht  „Unehrerbietigkeit^  oder 
rgL,  ich  meinte  und  meine  noch  jetzt,  dass  der  Ausdruck  auch  der 
iroffsten  Energie  und  der  kräMgsten  Selbstsicherheit  (der  oft  nötig  ist!) 
r  gewinnen  kann,  wenn  er  die  messerscharfe  Grenze  des  guten  Ge- 
imackes  innehält;  und  jene  Wendung  vom  „Ton"  ist  durchaus  musika- 
sh  fi;emeint.  Der  „Ton''  steht  mir  zwar,  wenn  eine  Di^uiÜLtion  ge- 
dert  würde,  in  zweiter  Linie,  aber  als  Form  ist  er  doch  mehr  als  „sub- 
tive  Zutat''.  Die  Dissonanzen  des  Herrn  Verfassers  habe  ich  nicht 
.giach  genommen.  Vom  Tragischen  zum  Komischen  giebt  es  ja  gar 
liehe  Schattierung.  .  .  . 

10.  Wenn  eine  Sache  in  sich  selbst  sicher  ruht,  so  kommt  es  wenig 
rsuf  an,  ob  sie  von  dem  und  jenen  oder  auch  vielen  verfehlt  wird.  Jen 
une  dies  so  weni^  tragisch,  wie  alle  menschlichen  Unvollkommen- 
ten  und  Disharmonien  (vgl.  S.  143  meiner  Bez.),  weil  ich  an  den  Sieg 
(  richti«^  verstandenen  Problems  glaube.  Ernst  nehme  ich  allerdings 
t  Tatsacme  des  Streites  um  Kant;  aber  es  liegt  mir  jede  „traffische" 
nenmg  darob  fem.     Der  Herr  Verfasser  hingegen  verlangt  onenbar, 

solle  die  Tatsache,  dass  man  die  Frage  nicht  nach  seiner  Weise  liest, 
agisch"  nehmen,  was  ich  einmal  leider  nicht  kann. 

Unter  allen,  denen  die  Sache  Kants  am  Herzen  liefft,  vom  selbstän* 
(sten  Philosophen  bis  zum  kurzsichtigsten  „Kärrner"^  gelten  gewisse 
twendige  Grundgesetze,  aber  noch  ist  unter  ihnen  die  Abstellung  eines 

rias  der  Unfembarkeit  bisher  nicht  für  notwendig  erachtet  worden, 
man  denn  doch  schliesslich  der  Meinung  war,  dass  das  Problem  sich 
bst  schützen  würde.  Wenn  es  aber  einmal  nötig  werden  sollte,  und 
r  Alte  von  Königsberg  sich  nach  einem  Statthalter  auf  Erden  umsehen 
iairte,  damit  sein  Erbe  unter  den  zwar  historisch  verdienstvollen,  sonst 
sr  exBC^recklich  kurzsichtigen  Kantforschem  nicht  ganz  und  gar  zerstört 
rde,  so  müsste  es  doch  zweifelhaft  erscheinen,  ob  er  jenes  verant- 
irtimgsvolle  Amt  dem  Herrn  Verfasser  zu  übertragen  sich  entachliessen 
ante,  da  er  als  Grundlage  für  die  Ausübung  der  Schlüsselgewalt  wohl 
le  gewisse  „Pietät"  in  sachlicher  Ansicht  verlangen  könn&,  eine  For- 
nmg,  deren  Erfüllung  durch  den  Herm  Verfasser  nach  allem  Obigen 
ndettens  zweifelhaft  erscheinen  muss. 

Die  Frage  nach  dem  Erkenntnisproblem  steht  für  mich  mit  der 
ntfrage  in  unzertrennlicher  Verbindung.  Ich  habe  diese  Auffassung, 
\  mir  der  sachlidien  Basis  nicht  zu  entbehren  scheint,  eingehend  genug 
lirflndet,  um  diese  Entgeffnung  für  meine  letzte  erklären  zu  dürfen. 
i  bin  auch  der  Meinung,  dass  Objektionen  und  Besponsionen  ohne  Ende, 
er  ebensolche  pldlosophische  Briefwechsel,  die  in  früheren  Zeiten  so 
1  Arbeit  getan  haben,  heute  nur  mehr  Unbefangene  zu  belehren  ver> 
igen.  Q9X  bald  müsste  nach  weiterem  Fortspinnen  der  Debatte  eine 
mmunff  kommen,  die  mich  in  modernerer  Fassung  aussprechen  liesse 
aë  Voltaire  seinen  ehrlichen  Candide,  nach  so  viel  unnützen  Schnl- 
ehâgkéiten,  zum  Beschlüsse  sagen  lässt: 

Xasst  uns  unser  Glück  besorgen,  in  den  Garten  gehen,  und  arbeiten." 
■ftome  eines  Geistersehers,  erläutert  durch  Träume  der  Metaphysik, 
ra  und  Mietan,  bei  Job.  Friedr.  Hartknoch,  1766,  S.  128.) 

Düsseldorf.  Paul  Wüst. 

Anm.  d.  Bed.:  Nachdem  sowohl  Autor,  wie  Beferent  noch  einmal  in  aus- 
lefantester  Weise  ihre  Meinung  vertreten  haben,  schliessen  wir  die  Debatte. 


Rezensionen. 


James,  William.  Die  religiöse  Erfahrung  in  ihrer  Mannig- 
faltigkeit. Materialien  und  Studien  zu  einer  Psychologie  und  Pathologie 
des  religiösen  Lebens.  Ins  Deutsche  übertragen  von  Georg  Wobber- 
min.    Leipzig,  Hinrichsche  Buchhandlung,  1907.    (XVm  und  471  S.) 

Das  vorliej?ende  Werk  gehört  zu   den  bedeutendsten  Werken  der 
amerikanischen  Psychologie  und  es  ist  deshalb  mit  Dank  zu  begrflssen, 
dass   es  jetzt   durch   eine  sehr   gute    Übersetzung   —   sie   liest  sich  » 
fi^latt  wie    das   Orignal  —  allgemein   zugänglich  geworden   ist;  denn  » 
umge   es  nur  enghsch  vorçelegen  hat,  hat  es  leider  in  Deutschland  nicht 
jene  Beachtung  gefunden,  die  es,  besonders  auch  durch  die  Verarbdtiing 
eines  umfangreichen  Materials,  verdient.  Einer  hinreichenden  WertschAtEnng 
stand   ausser   der  fremden   Sprache   freilich    wohl  mit  der  Umstand  in 
Wege,   dass,    soweit   in  Deutschland  psychologisch  gearbeitet  wird,  das 
Literesse  bei  den  meisten  lange   einseitig  und  eng  auf  die  sogenannte 
naturwissenschaftliche  Psychologie   konzentriert  gewesen  ist.    An  dieser 
Tatsache  haben  selbst  zwei  solche  Meister  der  Psychologie  wie  W.  Dil- 
they  und  Th.  Lipps,  wenigstens  insofern  weitere  Kreise  in  Betnebt 
konmien,  nur  ein  geringes  zu  ändern  vermocht.    Auch  Wundt  ist  mit 
seinen  weitergehenden  Bestrebungen   im   wesentlichen    allein  gebUeben. 
So  gross  war  aie  Missgunst  der  Zeit.    Dem  tiefer  Sehenden  kann  es  nicht 
ent^hen,  dass  ein  Umschwung  bevorsteht,  der  sich  unter  anderem  auch  dmch 
die  einsichtsvolle  Einführung  der  .systematischen  Selbstbeobachtung'  àxaà 
Ach  (Die  Wülenstätigkeit  und         T^enken)  und  die  Arbeiten  der  Wfin- 
bnrger  Schule  Eülpes  anbahnt.        i  kann  keine  Frage  sein:  mit  dem 
Steigen    der   Bewertung    sorgsamer    Selbstbeobachtung    wird    auch   die 
Sch&tzung    der    wesenuich    deskriptiven  Psychologie  wieder  zunehmen. 
Damit  m   keine  Minderschätzung  der  sogen,  naturwissenschaftlichen  Vtf' 
chologie  gegeben.     Es  ist  ledigüch  die  Gesamtaufgabe  der  Psychologe 
von  einem  höheren  lätandpunkt  aus  erfasst.    Die  naturwissenschafthäe 
Psychologie  ist  ein  Teil,  aber  sie  ist  nicht  das  Ganze  der  Ffeychologie. 
Wird  diese  Weitung  des  Blicks  sich  erst  durchgesetzt  haben,  so  wird  dinn 
auch  die  Brücke  zu   den  Geisteswissenschaften  geschlagen  *and  das  von 
Dilthey  schon   1894 1)   geforderte  Mittelglied  zwischen  ihnen  und  der 
deskriptiven  Psychologie   im    Anschluss   an   die   grossartigen  Leiston^en 
von  Lipps  geschaffen  werden.    Ein  Teil  davon  wird  die  Psychologie  der 
religiösen  Enebnistypen  sein. 

Mit  dieser  Position  befinden  wir  uns  wohl  auf  dem  Standpunkt,  den 
heute  auch  Kant  einnehmen  würde.  Er  hätte,  im  Gegensatz  zu  seinem 
bekannten  Urteil  in  den  Metaphysischen  Anfangsgründen  der  Naturwissen- 
schaft, die  Einführung  des  Experiments  in  die  ^ychologie  geschätzt  and 
ihr  die  gebührende  Stellung  eingeräumt.  Er  hätte  aber  andererseits  die 
deskriptive  Psychologie,  der  er  emen  so  grossen  Raum  in  seinen  Vorlesansen 
ffh,  nicht  geopfert.  Er  hätte  vielmenr  vor  allem  gesehen,  zu  wéâta 
Erweiterung  und  Vertiefung  uns  jetzt  durch  die  Wendung  des  fotereeses 

^)  Ideen  über  eine  beschreibende  und  zergliedernde  Psychologie 
(Abh.  d,  BerL  Akad.),  S.  140  f. 


Rezensionen  (James).  47Ô 

neunzehnten  Jahrhunderts  auf  |  das  Historische  die  Möglichkeit  ge- 
«en  ist.  Kant  ist  oft  mit  Härte  sein  ,ungeschichtlicher  Sinn'  vorge- 
rfen  worden.  Wenn  er  hier  etwas  vermissen  lässt,  so  teilt  er  es  mit 
1er  Zeit.  Es  kann  aber  wohl  kaum  die  Frage  sein,  dass  er  zu  unserer 
t  auch  für  das  Geschichtliche  vollen  Sinn  gehabt  hätte.  Sein  ganz 
versaler,  auf  volles  Bekanntwerden  mit  der  Welt  gerichteter  Sinn,  der 
^as  vom  griechischen  Geiste  in  sich  hatte  und  dem  die  sich  so  häufig 
lende  Diskrepanz  zwischen  geisteswissenschaftlichem  und  naturwissen- 
^iftlichem  Interesse  und  Verständnis  fremd  war  (was  ihn  im  eminen- 
ten Masse  zur  Philosophie  prädisponierte),  hätte  sich  dem  Historischen 
ht  verschlossen.!)  Wie  allem  anderen,  hätte  er  auch  ihm  seinen  Platz 
l^ewiesen,  freilich  auch  ein  Übermass  von  Ansprüchen  zurückgewiesen. 

Und  so  hätte  er  auch  die  Analyse  der  religiösen  Zustände,  wie  sie 
mes  vorlefi;t,  als  für  den  Philosophen  interessant,  nicht  abgelehnt,  wenn 
ihnen  auch  den  Namen  ,Erfahrunfi;'  nicht  ohne  weiteres  zugebilligt, 
idem  zum  mindesten  erst  eine  (auch  heute  noch  dringena  nötige) 
itik  der  religiösen  Erfahning<  gefordert  hätte.  — 

James  beginnt  seine  Untersuchungen  mit  einer  Darlegung  der  Be- 
iinngen,  die  zwischen  Beligiosität  und  nervöser  Veranla^ng  oestehen. 
se  Erörterungen  sind  überaus  einsichtsvoll  und  es  ergiebt  sich,  dass 
9  Beziehungen,  sobald  es  sich  um  die  höheren  Grade  des  religiösen 
)ens  handelt,  sehr  enge  sind.  Wie  denn  überhaupt  eine  gewisse  psy- 
pathische  Konstitution  infolge  ihrer  höheren  Gefühlserregbarkeit  (die, 
m  sonst  die  intellektuellen  Vorbedinj^unjg;en  erfüllt  sind,  auch  für  or- 
te intellektuelle  Leistungen  von  Wichtigkeit  ist)  der  tieferen  Ent- 
kelunç  seelisch-geistigen  Lebens  höchst  förderlich  ist.  Speziell  in  Be- 
auf  die  Beligiosität  ist  zu  sagen  :  es  giebt  wohl  keinen  Bâigionsstifter, 
len  Mystiker  oder  Heiligen,  bei  dem  nicht  eine  psychopathische  Prädisposi- 
i  bestand.  Mit  dieser  hohen  Bedeutung  des  Abnormalen  sich  abzufinden  und 
in  das  Wertbewusstsein  der  Welt  und  des  Lebens  au&unehmen  und 
in  zu  verarbeiten,  ist  eine  Aufgabe,  die  der  neuen  Philosophie  nicht 
Murt  bleibt.  Auch  James  hat  eine  klarere  Stellung  dazu  durch 
Feststellung  anzubahnen  gesucht,  dass  die  Herkunft  iiffendwelcker 
enntnisse  ^er  Erlebnisse  mit  ihrer  Richtigkeit  und  uirem  Wert 
its  zu  tun  hat,  denn  auch  die  Erlebnisse  und  Einsichten  des  normalen 
wehen  sind  in  seiner  Konstitution  nicht  weniger  begründet  als  die 
nicht  mehr  normalen. 

Der  Gegenstand  der  Untersucl  ngen  James*  ist  die  Beligiontät 
seelisches   Erlebnis;    ihre   objektiven   Erzeum  in    den    äusseren 

Stationen,  auch  die  spezielleren  D  <     .  werden  von  der 

rachtung  ausgeschlossen.  Es  zei|w-  u,  ut  lülvu  Formen  der  Reli- 
ntät  der  Ernst  und  die  Feierlicl  <       C        i  gemeinsam  ist. 

on  hier  im  Anfang  der  UntersuchuuK  of  -'"  »uch  die  gro«en 

j^ensätze,  wie  sie  etwa  zwischen  «  trotz  äusMr- 

«r  Gemeinsamkeiten  bestehen.     Li     .<  \Lmuuo  k      $t  fühl  bei 

.  HeiHgen  —  Stoische  Fassung  am  <  {     «.    ua^^s  selbst 

it  mit  seinen  Sympathien  das  ganze  .  u      ii<      durchaus  auf  der 

te  des  Christentums:  die  Stoa  ist  ihm  u  m  uiiisuu.  Dem,  der  nicht 
rohnt  ist,  dem  Ghristentum  stets  dui  di     Vorrang  zu  geben,  wird 

^)  Ganz  fremd  ist  ihm  übrigens  das  Geschichtliche  durchaus 
kit  gewesen.  Wenn  wir  auch  Jachmanns  Äusserung  (5.  Brief):  „Sr 
aas  eine  umfassende  Altertumskunde  aller  Völker  und  eine  ebenso  aus- 
breitete Kenntnis  der  alten,  neuen  und  neuesten  Geschichte^  als  wohl 
ras  übertrieben  ansehen  möchten,  so  ist  doch  Borowskis  Aus- 
e  nnerschütterbar,  dass  Kant  ihm  selbst  erklärt  hat,  er  habe  die 
Bände  der  Schröckschen  Kirchengeschichte  Wort  für  Wort  durchge- 
»n.  Das  setzt  auf  jeden  Fall  ein  wesentlich  grösseres  historisches  Inter- 
s  voraus,  als  man  Kant  gewöhnlich  zuspricht  und  Jaehmanns  Angabe 
Igt  nicht  mehr  so  fn^pierend  wie  im  ersten  Augenblick« 


476  Rezensionen  (James). 

James*  Charakteristik  der  Stoa  ebenso  ^frostig*  erscheinen,  wie  er  selbst 
diese  Geisteshaltonç  findet  Für  die  grossaîtige  SeelenTerfassmig  der 
römischen  Stoiker,  für  das  trotz  aller  Ergebung  mannhafte  Gegrflnmtsein 
dieser  Menschen  auf  sich  selbst,  hat  das  Werk  doch  wohl  nicht  die  rich- 
tige Beurteilung  gefunden. 

Ein  eigenes  Kapitel  ist  der  „Realität  des  Unsichtbaren''  sewidmet 
Sehr  oft  ist  m  den  Berichten  der  homines  religiosi  von  einem  aeatlichen 
Bewusstsein  der  Gegenwart  Gottes  die  Rede,  ein  Vorgang,  der  natürlich 
j -__x. i._i._^__i. j  _v j «__^_  philosophische 7*-^ 


das  grOsste  psychologische  und  ebenso  das  grOsste  philosophische  InteresM 
beansprucht.  Indem  James  nun  diese  Angaben  mit  anderen  das  Bealitäts- 
problem  betreffenden  kombiniert,  glaubt  er  sich  zur  Annahme  eines  be- 
sonderen spezifischen  Realitatssinnes  befugt.  So  sehr  die  nicht  gewöhn- 
liche Einsicht  in  die  Bedeutung  des  Gegenstandes  hervorzuheben  ist,  so 
kann  ich  mich  der  Lösung  des  !nroblems  durch  James  nicht  anschlieasen. 
Die  nähere  Erörterung  werde  ich  in  einer  besonderen  Abhandlung  fiber 
das  Realitätsbewusstsein  entweder  selbständig  oder  im  Zusanunenhange  einer 
grösseren  Arbeit  geben. 

Zu  den  am  besten  gelungenen  Partien  des  James'schen  Wert» 
möchte  ich  die  Herausarbeitung  zweier  religiöser  Typen:  des  leicht- 
mütiffen  und  des  schwermütigen  rechnen.  Der  erste  Typus  ist  von  einem 
fast  krankhaften  permanenten  Glücksgeffihi  und  Optimismus  erffillt:  ihm 
ist  es  geradezu  Sünde,  sich  über  irsend  einen  Gegenstand  Sorgen  zu  machen. 
Er  ist  von  einer  unbeschreiblich  heiter-leichtmütigen  Zuversicht  zur  Gk>tt- 
heit.  In  diesem  Zusammenhang  erhalten  wir  wichtige  Mitteilungen 
über  die  ^[egenwärtigen  mind-cure-  und  Christian  science-Bewegungen  in 
Nord-Amenka,  deren  psychischer  Einfluss  auf  den  seelischen  Gesamtzustand 
des  Menschen  äusserst  interessant  ist. 

Weitere  grosse  Kapitel  behandeln  das  ,Dqppel-Ich  und  den  Akt  der 
Einsweidung*  sowie  das  Phänomen  der  3^kehning':  in  beiden  Fällen  zeigt 
das  innere  Leben  einen  Bruch.  Alle  diese  Menschen  nahen  es  in  sich  er&hren, 
dass  es  zwei  Arten  des  Lebens  giebt,  ein  »natfirliches*  und  ein  »geisUiches*, 
die  im  Kampf  mit  einander  liegen  und  von  denen  das  eine  au^pegeben 
werden  muss,  um  das  andere  zu  oesitzen.  Der  erst  genannte  l^us  fühlt 
in  der  Tiefe  seiner  Brust  den  Kampf  dieser  verschieden  gmchteten  Tendenzen 
und  erst  allmählich  gelangt  er  zu  innerer  Einheitlichkeit.  Auch  die  eigent- 
liche .Bekehrung'  ist  dem  nahe  verwandt.  Sie  wird  von  James  an  der 
Hand  einer  grossen  Zahl  von  Dokumenten  einer  eingehenden  Analvse 
unterworfen,  wobei  auch  die  Bedeutsamkeit  dieser  Dinge  für  die  psycho- 
logische Erforschung  der  Struktur  der  Persönlichkeit  gestreift  wircL  Der 
Verfasser  bekennt  sich  in  diesem  Zusammenhange  von  neuem  zu  der  Lehre 
der  englisch-französischenPs^chologie  von  dem  dâoublement  de  personnalité 
d.  d.  oer  Annahme,  dass  es  in  einzielnen  Personen  zwei  getrennte  Bewusst- 
seinssphäien  giebt,  die  sich  nach  aussen  als  solche  kundgeben.  James  sieht 
darin  geradezu  den  „wichtigsten  Fortschritt^  der  Psychologie  seit  jener 
Zeit,  als  er  sich  ihrem  Studium  zu  widmen  begann,  und  zi^t  diese 
Lehre  ietzt  auch  zur  Erklärung  einzelner  religiöser  &lebnisvorgänffe  heran, 
so  auch  der  Bekehrung.  Es  ist  nicht  mö^oh,  hier  darauf  nUier  ein- 
zugehen. Allgemein  ist  zu  sagen,  dass  diese  Dinee  jetrt  dringend  die 
Ni^untersuchunj^  auch  seitens  aer  deutschen  Forschung  erfordern,  zumal 
jetzt  diese  Theorie  des  subconscious  in  der  Analyse  und  tieferen  Erforschung 
des  Seelenlebens  im  Ausland  eine  ganz  ausserordentliche  Ansdehnungan- 
nimmt.  Wir  können  einer  Untersuchung  der  zu  Grunde  liegendenPhä- 
nomene  jetzt  nicht  länger  aus  dem  Wege  gjehen.  — 

Der  Zustand  der  vollendeten  Religiosität  gleichsam  ist  der  der 
Heiligkeit,  von  dem  jB;leichfalls  eine  nähere  Analyse  unternommen  wird. 
Bei  oieser  (Gelegenheit  ^ht  James  audi  Über  das  rein  Psychologische 
hinaus  und  versucht  eine  wertphilosophische  Stellungnahme  zu  den 
,Heiligen',  diesen  Menschen,  denen  das  Religiöse  zum  ausschliesslichen 
Zentrum  ihres  Lebens  geworden  ist.    Das  abschliessende  Urteil  ist  das 


Rezensionen  (James).  477 

Bm  modernen Wertbewnsstsein  allein  entsprechende  einer  individualistischen 
oleranz.  Die  »Heiligen'  sind  wertvoll  in  ihrer  Existenz,  aber  es  kann 
Icht  jeder  ein  solcher  sein.  Weniger  in  der  Methode,  als  in  der  Tendenz 
nd  diese  Betrachtungen  sympathisch.  Es  scheint  mir,  dass  wir  hinaus 
ifissen  über  die  alten  Lebensideale,  die  selbst  im  Humanitätsideal  noch 
uner  eine  zu  starke  Tendenz  zu  einem  allgemeingiltigen  Typus  zeigen, 
uf  der  anderen  Seite  steht  eine  Auffassung,  die  allen  Wert  auf  das 
ortschreiten  der  objektiven  Werte  legt,  eine  Ansicht,  der  Fichte  zu- 
istrebt^)  und  die  auch  Nietzsche  nicht  fremd  blieb.  Diesen  Extre- 
en  gegentlber  wird  das  neue  Lebensideal  die  Synthese  bedeuten.  — 

Den  Höhepunkt  der  religiösen  Erlebnisse  bildet  die  Ekstase  der 
iystiker.  Diese  Partien  scheinen  mir  weniger  gelungen.  Hier  zeigt  sich 
»onders  deutlich,  wie  nötic  eine  Kritik  der  religiösen  Er- 
ihrnnç  ist.  Die  Versenkung  in  die  Geschichte  hat  uns  s^genüber  dem 
ationalismus  eine  ungeheure  Vertiefung  gebracht,  aber  das  Nachfühlen 
emder  Seelenzustände  darf  nicht  zu  einer  Preisgabe  der  Kritik  an  den  aus 
inen  hervorgegangenen  Behauptungen  führen,  sonst  verlieren  wir  auf  der 
nen  Seite,  was  wir  auf  der  anderen  gewannen.  Es  ist  freilich  so,  hinter 
ie  Evidenz  können  wir  nicht  mehr  zurück,  aber  es  giebt  auch  darin 
Ttnm,  wie  wir  vom  Standpunkt  Husserl's  aus  wenigstens  noch  immer 
lauben.  (Freilich  liegt  hier  ein  schwerstes  Erkenntnisproblem.)  Und  so 
ird  die  Aufgabe  einer  Ejritik^der  religiösen  Erfahrung  eben  die  sein:  zu 
rmitteln,  was  wirklich  Erfahrung  und  was  Ausdeutung  oder  noch  anderes 
L  James  selbst  zeiçt  eine  zu  grosse  Neigung,  alle  Behauptungen  der 
^jrstiker,  auch  die  über  die  Erlangung  höherer,  nicht  aussprechbarer 
maichten  sofort  für  objektiv  richtig  zu  halten.  Auch  hier  wird  wieder  das 
ibconsdous  zur  Erklärung  herangezogen.  In  ihm  finde,  so  deutet  es 
unes  an,  eine  Kommunikation  der  endlichen  Seele  mit  dem  göttlichen 
eiste  statt,  die  dann  in  der  Ekstase  ins  Bewusstsein  tritt.  Eine  Theorie, 
cf  die  ich  an  dieser  Stelle  nicht  näher  eingehen  kann. 

Die  letzten  Partien  des  Werkes  handeln  vom  Verhältnis  der  religiösen 
eflexion  zum  religiösen  Leben,  von  Opfer,  Beichte  und  Gebet  und  noch 
nmal  näher  von  der  Bedeutung  des  subliminalen  Bewusstseins  für  die 
eliffion,  und  schliesslich  erhalten  wir  eine  zusammenfassende  Charak- 
nmk  und  Beurteilung  des  religiösen  Lebens  überhaunt,  Betrachtungen,  die 
IS  dem  psychologischen  Gebiet  in  das  eigentlich  religions*philosophische 
)ertreten.  Ihre  Tendenz  ist  die  sogenannte  „pragmatische",  die  jetzt  in 
nerika  überhaupt  zur  herrschenden  geworden  ist. 

Das  ist  in  Kurzen  Zügen  der  Gedankengang  des  Werkes.  Es  ist  ein 
«ndardwork  der  Beligionspsychologie.  Dazu  macht  es  besonders 
e  Durcharbeitung  eines  umfassenden  und  weit  verstreuten  Materials  von 
dlbstzeugnissen  über  die  religiösen  Zustände.  Wertvoll  ist  dann  vor  allem 
6  Herausarbeitung  bestimmter  Typen  im  Gebiet  des  religiösen  Lebens. 
er  Gegensatz,  in  dem  sich  James  sogar  in  mehreren  grundsätzlichen 
ragen  der  Psychologie  zu  uns  befindet,  tritt  in  diesem  Werk  nicht  hervor. 
n  wenigsten  vermag  ich  mich  mit  den  mehr  zur  Philosophie  hin  ge- 
gfenen  Erörterungen  in  Übereinstimmung  zu  fühlen,  wennschon  das  Werk 
ich  darin  geistreich  ist.  Hier  sieht  man  am  deutlichsten,  wie  die  grossen 
Bistanjg;en  Xiipps*  und  Husserls  uns  vorwärts  bringen  werden. 

Ziu  der  vortrefflichen  Übersetzung  ist  nur  der  eine  Einwand  zu 
achen,  dass  leider  kein  Bericht  über  die  an  einzelnen  Stellen  vor- 
oiommenen  Kürzungen  und  Streichungen  des  Originals  erstattet  ist. 
Lese  Unterlassung  erschwert  die  Benutzung  der  Übertragung  anstelle  des 
riginals  wesentlich.  Es  wären  vielleicht  ilberhaupt  diese  Textänderungen 
wer  unterblieben,  da  sowohl  Autor  wie  Publikum  einen. .gewissen  An- 
rmdi  auf  das  unveränderte  Original  haben.    Es  blieb  dem  Übertragenden 

1)  Diesen  Nachweis  erbracht  zu  haben  ist  das  wichtigste  Verdienst 
n*  neuesten  Darstellung  der  Fichteschen  Ethik:  M.  Raich,  Fichte,  seine 
Uiik  und  seine  Stellung  zum  Problem  des  Individualismus.  Tübingen  1905. 


478  Rezensionen  (James— ^Schiller). 

ja  die  volle  Möglichkeit,  in  Vorwort  oder  Anmerkungen  seinen 
Standpmikt  zu  wahren. 

Endlich  habe  ich  bei  dieser  Gelegenheit  eine  allgemeine  Klage  fiber 
die  starke  Vemachlftssi^ng  der  religionspsycholosîschen  literator  durch 
unsere  grossen  Bibliotheken  zu  erheben.  Nicht  nur  fehlen  Haapterzeagni«e 
der  zeitgenössischen  ausländischen  religiösen  Beweffongen,  die  gewi« 
keinen  wissenschaftlichen  Selbstwert  haben,  wohl  aber  fOr  das  Stodinm 
der  Religiosität  von  Wert  sind,  sondern  selbst  wichtige  wisaenaehafftliehe 
religionspsychologische  Werke  bleiben  unaniteschafit.  So  sehr  fOr 
dieses  ganze  j^osse  Gebiet  auch  eine  Vertienmg  nnd   die   Erreichnng 

grösserer  Präzision  der  Analyse  zu  fordern  und  zu  erhoffen  ist,  so  können 
och  die  bisheri^n,  meist  englisch-amerikanischen  Arbeiten  nicht  un- 
berücksichtigt bleiben.  Sie  haben  zum  mindesten  als  Vorarbeiten  ihze 
Bedeutung.  Ich  möchte  etwa  eine  Eontrolle  anempfehlen^  was  tos 
den  Werken,  die  von  James  berücksichtigt  sind,  fehlt.  Eine  Anzahl 
n&herer  Angaben  stehen  eventuell  zu  Gebote. 

Berlin.  Dr.  E.  Oesterreich. 

James,  Wüliam.  Pragmatism  a  New  Name  for  Some  Old 
Ways  of  Thinking.  Popular  Lectures  on  Philosophy.  London,  Bombay 
and  Calcutta  1907.  (XIV  +  309  S.)  Gross  8.  Dasselbe  ins  deutsche  über- 
setzt von  Wilhelm  Jerusalem.  Philosophisch-soziologisehe  Bücherei.  Bd.  I. 
Leipzig  1908.    (XIV  +  194  S.)    Gross  8.  

Schiller,  F.  C.  S.  Studies  in  Humanism.  London  1907.  (XVm 
+  492  S.)    Gross  8. 

James'  „Pragmatism"  ist  in  Deutschland  wie  überall  seit  langem  mit 
Spannung  erwartet  worden.  Un  nun,  da  das  Buch  erschienen  ist^  macht 
sich  aller  Orten  eine  gewisse  Enttäuschung  breit.  Gar  zu  widersinnig  in 
der  Tat  sind  die  meisten  und  zumal  die  grundlegenden  Gedanken  des 
Werkes  zugespitzt.  Viel  zu  widersinnig,  um  einer  Irenndlichen  Aufnahme 
den  Weg  zu  bahnen.  So  hat  es  von  alten  Seiten  böee  Antworten  geregnet, 
und  die  Ablehnung  ist  fast  allgemein.  —  Missverständnisse!  wie  uns  James 
in  einer  Selbstverteidigung  saä;^)  aber  sicher  Missvezständnisse,  die  durch 
die  Form  des  Buches  verschuldet  sind. 

James'  „Pragmatism"  als  Buch  bringt  nicht  eigentlich  die  Grund- 
lagen seiner  Lehre:  weder  die  psychologischen,  noch  die  losîschen,  noch 
die  sachlichen,  —  wenn  man  unter  sachücJi  die  Geburt  des  Pragnuûûmns 
aus  der  Untersuchung  der  vorhandenen  Wissenschaften  veratehen  wilL  — 
Der  Zweck  des  Werkes  ist  vielmehr,  einem  weiteren  Leserkreise  in  vdks- 
tümlicher  Art  klar  zu  machen,  was  der  Pragmatismus  wolle,  und  wie  er 
sich  gewissen  philosophischen  Spitzfindigkeiten  gejgenüber  verhalte.  Der 
Büsserfolff  des  Buches  schreibt  sich  nicht  zum  wenigsten  von  dieser  seiner 
Eiffentüimichkeit  her.  Denn  jene  weiteren  Kreise,  an  die  es  sich  richtet» 
haben  nicht  verstanden.  Die  aber  verstanden  haoen,  suchten  vergebens 
nach  der  Begründung.  Das  Letztere  war  unschwer  vorauazusehen.  So 
hätte  uns  James  durch  ein  freundlicheres  Entgegenkommen  gegen  die 
natürlichen  Erwartungen  seiner  Leser  viel  langweiligen  Zank  ersparen 
können. 

Der  eigentliche  Zankapfel  zwischen  den  Pragmatisten  und  den 
Pragmatistengegnem  ist  der  Begriff  der  Wahrheit.  Ist  die  Wahrheit  ein 
je  nach  dem  Stande  der  Wissenschaft  sich  änderndes  fiQUfsmittel  des 
Denkens,  oder  ist  es  eine  ein  für  alle  Mal  gültige  Weise  der  Feststdlnmr? 
Besteht  das  Wahrsein  einer  Aussage  in  ihrer  Verwendbarkeit,  oder  bestent 
es  in  ihrer  Übereinstimmung  mit  den  behaupteten  Tatsachen?  Indem  die 
Praffmatisten  das  Erstere  m  schroffem  Gragensatz  g^gan  das  Letstere 
bejiuien,  haben  sie  den  Vertretern  der  Philosophie  als  wissensehaft  einen 
Fehdehandschuh  hingeworfen,  der  von  diesen  nur  allzu  ynSdg  mdg^ 
nommen  ist. 

1)  The  Phüosophical  Review.    Bd.  XVD  S.  1  fL    (Janqariieft  19QB.) 


jSelbstanzeigen  (James— Schiller).  479 

üi  eenug  hat  uns  der  Pragmatismus  damit  eines  jener  scholas- 
i^^^chte  bescheert,  durch  die  die  Philosophie  sich  von  Zeit 
f  den  Wissenschaften  berüchtij|;t  macht.  Als  ob  der  Begriff 
fc  ein  künstliches  Erzeugnis  sei,  dessen  Feststellung  von  den 
Cfcbhän^e!  Der  Wahrheitsbegriff  ist  ein  ausschliessliches  Eigen- 
«iche,  in  der  er  die  Meinung  der  Übereinstimmung  einer  Be- 
fc  den  behaupteten  Tatsachen  erworben  hat.  Keine  Philosophie 
an  diese  Meinung  in  die  einer  Verwendbarkeit  umwandeln. 
Inders  verhält  es  sich,  wenn  man  den  Zank  um  den  Wahrheits- 
>lchen  beiseite  schiebt  und  sich  der  Erfahrungswelt  zuwendet, 
ar  Welt  gegenüber  viele  Wahrheiten  im  eigentlichen  von  der 
«inten  Sinne  des  Wortes,  und  sind  solche  Wahrheiten  frucht- 
in  hier  die  Pragmatisten  mit  „Nein"  antworten,  so  stehen  sie 
srem  Boden.  Fast  alle  neueren  Untersuchungen  über  das  Ver- 
eisteswissenschaften  einerseits,  der  Naturwissenschaften  andrer- 
iins  in  der  Tat  gelehrt,  dass  nur  der  kleinere  Teil  unseres 
dner  wahrheitsgetreuen  Abbildung  und  der  bei  weitem  ^össere 
zweckentsprechenden  Umbildung  des  Erfahrungsstoffes  besteht. 
L  dem  diese  letzteren  Umbildungen  ihrem  Zwecke  entsprechen, 
das  Mass  ihres  Wissenschaftswertes. 

er  Anerkennung  dieses  Sachverhaltes  steht  man  dem  Pragma- 
telbar  zur  Seite.  Allein,  wäre  der  Pragmatismus  nichts  anderes, 
in  Mtlhe  haben  zu  verstehen,  inwiefern  er  oine  philosophische 
ing  sei.  Er  wäre  in  der  Tat  lediglich  eine  zusammenfassende 
[ft  der  Lehren,  die  die  Einzelwissenschaften  gegeben  haben.  — 
oes  Pragmatismus  liegt  denn  auch  an  einer  anderen  Stelle, 
hat  geglaubt,  die  Lehre  von  der  Umbildbarkeit  des  Erfahrungs- 
anfiten  eines  ihm  teuren  Gedankenganges  ausdeuten  zu  dürfen. 
8t  der  Zweck  der  Wissenschaft  letzten  Endes  der  Mensch,  der 
IGttel  der  Erkenntnis  zu  einer  Befriedigung  seiner  Lebens- 
âiin£;t.  Ist  also  Wissenschaft  Umbildung  des  Erfahrungsstoffes 
schaxtswert  zweckentsprechende  Verwendbarkeit  solcher  Um- 
m  ist  jener  Zweck,  dem  entsprochen  werden  muss,  der  Mensch. 
aschen  willen  ist  die  Wissenschaft  da;  nicht  der  Mensch  um 
ihaît  willen.  Daher  ist  jener  Wissenschaftswert,  von  dem  die 
àchaften  sprachen,  durchaus  an  die  Befriedi^ng  des  Menschen 
^wonnenen  Ergebnisse  geknüpft.  Was  aem  Menschen  am 
drlich  ist:  das  ist  das  wissenschaftlich  Wertvollste. 
nicht  wahrscheinlich,  dass  der  Pra^atismus  den  Geistes-  und 
«haften  selbst  seine  neue  Lehre  im  Ernste  würde  anbieten 
würde  damit  auch  schwerlich  Erfolg  haben.  Diese  Wissen- 
g^n  ihre  Verfahrungsweise  nicht  von  der  Philosophie  zu  borgen. 
.<Mophie  selbst  aber  und  für  die  Religion  nimmt  der  Pragma- 
nerRennunfi;  rein  menschlicher  Lebensbedürfnisse  sdlen  Ernstes 
Er  wira  damit  im  Rechte  bleiben.  Die  Philosophie  als 
mg  und  die  Religion  sind  in  ganz  anderer  Weise  mit  dem 
r  verkündiger  durchfärbt,  als  jene  rein  sachlichen  Wissen- 
t  68  aul  ihren  Arbeitsstoff,  nicht  auf  den  arbeitenden  Menschen 

auch  bei  dem  Pragmatismus  der  Philosophie  und  Religion  wird 
fnterschiede  zu  machen  haben.  Es  giebt  mehr,  und  es  giebt 
j^matistische  Philosophien  und  Religionen.    Die  Weltanschauung 

Herder,  Hegel,  Spencer,  die  ihr  Gemütaleben  den  Ergebnissen 
itnia  anzuschmiegen  suchten,  war  ihrem  Wesen  nach  weniger 
dikf  als  jene  anderen  Philosophien  der  Rousseau,  Kant,  Goeuie, 
an  der  Mensch  mehr  als  die  Welt  im  Mittelpunkte  des 
nd. 
n  Fliilosophen  dieser  letzteren  Art  gehört  James.    Der  Prag- 

der  Form,  wie  ihn  sein  neues  Buch  darbietet,  ist  weniger  das 


478  Rezensionen  (James — Schiller). 

ja   die  volle  Möglichkeit,   in  Vorwort   oder  Anmerkungen  seinen  eigenen 
Standpunkt  zu  wahren. 

Endlich  habe  ich  bei  dieser  Gelegenheit  eine  allgemeine  Klage  über 
die  starke  Vernachlässigung  der  religionspsycholoçischen  Literatur  durch 
unsere  gössen  Bibliotheken  zu  erheben.  Nicht  nur  fehlen  Haupterzeugniase 
der  zeitgenössischen  ausländischen  religiösen  Bewerbungen,  die  gewis 
keinen  wissenschaftlichen  Selbstwert  haben,  wohl  aber  für  das  Studium 
der  Religiosität  von  Wert  sind,  sondern  selbst  wichtige  wissenschaftiiche 
religionspsychologische  Werke  bleiben  unaniprescham.  So  sehr  für 
dieses   ganze  grosse   Gebiet   auch   eine  Vertiefung   und   die   Erreichung 

frösserer  Präzision  der  Analyse  zu  fordern  und  zu  erhoffen  ist,  so  können 
och  die  bisherigen,  meist  englisch-amerikanischen  Arbeiten  nicht  un- 
berücksichtigt bleiben.  Sie  haben  zum  mindesten  als  Vorarbeiten  ihre 
Bedeutung.  Ich  möchte  etwa  eine  Kontrolle  anempfehlen,  was  too 
den  Werken,  die  von  James  berücksichtigt  sind,  fenlt.  £me  Anzihl 
näherer  Angaben  stehen  eventuell  zu  Gebote. 

Berlin.  Dr.  K.  Oesterreich. 

James,  William.  Pragmatism  a  New  Name  for  Some  Old 
Ways  of  Thinking.  Popular  Lectures  on  Philosophy.  London,  Bombay 
and  Calcutta  1907.  (XIV  4-  309  S.)  Gross  8.  Dassâbe  ins  deutsche  flbe^ 
setzt  von  Wilhelm  Jerusalem.  Phüosophisch-soziologisehe  Bücherei.  Bd.  L 
Leipzig  1908.    (XIV  +  194  S.)    Gross  8. 

Schiller,  F.  C.  S.  Studies  in  Humanism.  London  1907.  (XVUI 
+  492  S.)    Gross  8. 

James'  „Pragmatism"  ist  in  Deutschland  wie  überall  seit  langem  mit 
Spannung  erwartet  worden.  Un  nun,  da  das  Buch  erschienen  ist^  macht 
sich  aller  Orten  eine  gewisse  Enttäuschung  breit.  Gar  zu  widersinnig  in 
der  Tat  sind  die  meisten  und  zumal  die  grundlegenden  Gedanken  dei 
Werkes  zugespitzt.  Viel  zu  widersinnig,  um  einer  freundlichen  Aufnahme 
den  Weg  zu  bahnen.  So  hat  es  von  allen  Seiten  böse  Antworten  geregnet, 
und  die  Ablehnung  ist  fast  allgemein.  —  Missverständnisse!  wieunsJamei 
in  einer  Selbstverteidigung  sa^;^)  al  r  sicher  Missverständnisse,  die  duieh 
die  Form  des  Buches  verschuldet  sinu. 

James'  „Pragmatism^  als  Buch  bringt  nicht  eigentlich  die  Grund- 
lagen seiner  Lehre:  weder  die  psychologischen,  noch  die  lo^schen,  noch 
die  sachlichen,  —  wenn  man  unter  sachüch  die  Geburt  des  Pragmatismiif 
aus  der  Untersuchung  der  vorhandenen  Wissenschaften  verstehen  will  — 
Der  Zweck  des  Werkes  ist  vielmehr,  einem  weiteren  Leserkreise  in  volks- 
tümlicher Art  klar  zu  machen,  was  der  Pragmatismus  wolle,  und  wie  er 
sich  gewissen  philosophischen  Spitzfindigkeiten  gegenüber  verhalte.  Der 
Misserfolg  des  Buches  schreibt  sich  nicht  zum  wenigsten  von  dieser  sâncr 
Eisten tümlichkeit  her.  Denn  jene  weiteren  Kreise,  an  die  es  sich  richtei, 
haben  nicht  verstanden.  Die  aber  verstanden  haben,  suchten  vergebeoi 
nach  der  Begründung.  Das  Letztere  war  unschwer  vorauszusehen.  So 
hätte  uns  James  durch  ein  freundlicheres  Entgegenkommen  gegen  die 
natürlichen  Erwartungen  seiner  Leser  viel  langweiligen  Zank  ersparei 
können. 

Der  eigentliche  Zankapfel  zwischen  den  Pragmatisten  und  dea 
Pragmatistengegnern  ist  der  Begriff  der  Wahrheit.  Ist  die  Wahrheit  eis 
je  nach  dem  Stande  der  Wissenschaft  sich  änderndes  HttIfsmittel  des 
Denkens,  oder  ist  es  eine  ein  für  alle  Mal  gültige  Weise  der  Feststelhmi? 
Besteht  das  Wahrsein  einer  Aussage  in  ihrer  Verwendbarkeit,  oder  bestât 
es  in  ihrer  Übereinstimmung  mit  den  behaupteten  Tatsachen?  Indem  die 
Pragmatisten  das  Erstere  m  schroffem  Gegensatz  gegen  das  Letstere 
bejahen,  haben  sie  den  Vertretern  der  Philosophie  als  Wissensdiaft  einen 
Fehdehandschuh  hingeworfen,  der  von  diesen  nur  allzu  willig  ao^ 
nommen  ist. 


1)  The  Phüosophical  Review.    Bd.  XVH  S.  1  ff.    (Januarheft  1906.) 


jSelbstanzeigen  (James— Schiller).  479 

Deutlich  genug  hat  uns  der  Pragmatismus  damit  eines  jener  scholas- 
tischen Wortgerechte  bescheert,  durch  die  die  Philosophie  sich  von  Zeit 
zu  Zeit  unter  den  Wissenschaften  berüchtigt  macht.  Als  ob  der  Begriff 
der  Wahrheit  ein  künstliches  Erzeugnis  sei,  dessen  Feststellung  von  den 
Philosophen  abhänge!  Der  Wahrheitsbegriff  ist  ein  ausschliessliches  Eigen- 
tum der  Sprache,  m  der  er  die  Meinung  der  Übereinstimmung  einer  Be- 
hauptung mit  den  behaupteten  Tatsachen  erworben  hat.  Keine  Philosophie 
der  Weß  kann  diese  Meinung  in  die  einer  Verwendbarkeit  umwandeln. 

Ganz  anders  verhält  es  sich,  wenn  man  den  Zank  um  den  Wahrheits- 
bemff  als  solchen  beiseite  schiebt  und  sich  der  Erfahrungswelt  zuwendet. 
Gibt  es  (üeser  Welt  gegenüber  viele  Wahrheiten  im  eigentlichen  von  der 
Sprache  gemeinten  Sinne  des  Wortes,  und  sind  solche  Wahrheiten  frucht- 
bar? —  Wenn  hier  die  Pragmatisten  mit  „Nein"  antworten,  so  stehen  sie 
auf  viel  festerem  Boden,  fust  alle  neueren  Untersuchungen  über  das  Ver- 
ùdiren  der  Geisteswissenschaften  einerseits,  der  Naturwissenschaften  andrer- 
seits haben  uns  in  der  Tat  gelehrt,  dass  nur  der  kleinere  Teil  unseres 
Wissens  in  einer  wahrheitsgetreuen  Abbildung  und  der  bei  weitem  grössere 
Teil  in  einer  zweckentsprechenden  Umbildung  des  Erfahrungsstoffes  besteht. 
Das  Biass,  in  dem  diese  letzteren  Umbildungen  ihrem  Zwecke  entsprechen, 
ist  zugleich  das  Mass  ihres  Wissenschaftswertes. 

Mit  der  Anerkennung  dieses  Sachverhaltes  steht  man  dem  Pragma- 
tismus unmittelbar  zur  Seite.  Allein,  wäre  der  Pragmatismus  nichts  anderes, 
80  würde  man  Mühe  haben  zu  verstehen,  inwiefern  er  eine  philosophische 
Neuerscheinung  sei.  Er  wäre  in  der  Tat  lediglich  eine  zusammenfassende 
Wiederholung  der  Lehren,  die  die  Einzelwissenschaften  gegeben  haben.  — 
Das  Wesen  des  Pragmatismus  liegt  denn  auch  an  einer  anderen  Stelle. 

James  hat  geglaubt,  die  Lehre  von  der  Umbildbarkeit  des  Erfahrungs- 
stoffes  zu  Gunsten  eines  ihm  teuren  Gedankenganges  ausdeuten  zu  dürfen. 
Für  James  ist  der  Zweck  der  Wissenschaft  leteten  Endes  der  Mensch,  der 
durch  das  Mittel  der  Erkenntnis  zu  einer  Befriedigung  seiner  Lebens- 
bedürfnisse dringt.  Ist  also  Wissenschaft  Umbildung  des  Erfahrungsstoffes 
und  Wissenschaxtswert  zweckentsprechende  Verwendbarkeit  solcher  Um- 
bildung: dann  ist  jener  Zweck,  dem  entsprochen  werden  muss,  der  Mensch. 
Um  des  Menschen  willen  ist  die  Wissenschaft  da;  nicht  der  Mensch  um 
der  Wissenschaft  willen.  Daher  ist  jener  Wissenschaftswert,  von  dem  die 
Einzelwissenschaften  sprachen,  durchaus  an  die  Befriedigung  des  Menschen 
durch  die  gewonnenen  Ergebnisse  geknüpft.  Was  dem  Menschen  am 
meisten  förderlich  ist:  das  ist  das  wissenschaftlich  Wertvollste. 

Es  ist  nicht  wahrscheinlich,  dass  der  Pragmatismus  den  Geistes-  und 
Naturwissenschaften  selbst  seine  neue  Lehre  im  Ernste  würde  anbieten 
wollen.  Er  würde  damit  auch  schwerlich  Erfolg  haben.  Diese  Wissen- 
schaften pflegen  ihre  Verfahrungsweise  nicht  von  der  Philosophie  zu  borgen. 
Für  die  Philosophie  selbst  aber  und  für  die  Religion  nimmt  der  Pragma- 
tismus die  Anerkennung  rein  menschlicher  Lebensbedürfnisse  allen  Ernstes 
in  Anspruch.  Er  wird  damit  im  Rechte  bleiben.  Die  Philosophie  als 
Weltanschauung  und  die  Religion  sind  in  ganz  anderer  Weise  mit  dem 
Wesen  ihrer  verkündiger  durchfärbt,  als  jene  rein  sachlichen  Wissen- 
schaften, die  es  auf  ihren  Arbeitsstoff,  nicht  auf  den  arbeitenden  Menschen 
absehen. 

Aber  auch  bei  dem  Pragmatismus  der  Philosophie  und  Religion  wird 
man  noch  Unterschiede  zu  machen  haben.  Es  giebt  mehr,  und  es  giebt 
weniger  pragmatistische  Philosophien  und  Religionen.  Die  Weltanschauung 
der  Spinoza,  Herder,  Hegel,  Spencer,  die  ihr  Gemütsleben  den  Ergebnissen 
ihrer  Erkenntnis  anzuschmiegen  suchten,  war  ihrem  Wesen  nach  wenifi^r 
mraffmatistisch,  als  jene  anderen  Philosophien  der  Rousseau,  Kant,  Goeuie, 
Fichte,  denen  der  Mensch  mehr  als  die  Welt  im  Mittelpunkte  des 
Denkens  stand. 

Zu  den  Philosophen  dieser  letzteren  Art  gehört  James.  Der  Prag- 
matismus in  der  Form,  wie  ihn  sein  neues  Buch  darbietet,  ist  weniger  das 


482  Resensionen  (Panlfien). 

berührt  um  so  sympathischer,  als  er  sich  dadurch  nicht  hat  beeintrftchtigen 
lassen,  dass  der  Autor  neben  der  Anerkennung  der  (Bedeutung  PiaolBent 
auch  die  Grenzen  dieser  Bedeutung  scharf  und  klar  erkannt  hat  Er 
sieht  diese  Grenzen  sehr  richtig  in  Paulsens  Stellung  zur  kritischen  Phi- 
losophie Kants,  in  deren  theoretischen  Teil,  wenigstens  in  seinen  „tieften 
Tieten*^  er  so  wenig  „eingedrungen**  ist,  dass  er  ,,Ejint  durch  die  Aa^ 
Schopenhauers"  ansieht,  und  gegen  deren  praktischen  Teil  er  „mit  einer 
ganzen  Anzahl  gftnzlich  unhaltbarer  Gründe"  zu  Felde  zieht.  Für  den 
Menschen  Paulsen  legt  gerade  das  aber  das  glänzendste  Zeugnis  ab,  dasi 
man  bei  der  schroffsten  sächlichen  Differenz  sogar  in  allen  Fundamental« 
und  Prinzipienfragen  ihm  durch  die  innigsten  Sympathien  persönlich  yer» 
bunden  sem  konnte.  Für  die  Unterscheidung  von  Penon  and  Sache  — 
das  konnte  vielleicht  gerade  der  entschiedenste  sachlidie  G^egner  am 
ehesten  erfahren,  sobald  er  mit  Paulsen  in  persönliche  Berflhrunff  kam  — 
bedeutet  dieser  ein  in  der  Gelehrtenwelt  seltenes  Vorbild  jener  Gerechtig- 
keit, die  des  anderen  Freiheit  achtet,  wenn  sie  ihre  eigene  IVeiheit  wahrt 
Das  war  auch  ein  Grundzug  des  Lehrers  Paulsens,  dem  der  Autor  mit 
Recht  eine  besondere  Beachtung  schenkt.  Dass  seine  DarsteUung  über- 
haupt auch  dem  edlen  und  lauteren  Menschen  gilt,  das  sei  besonders  an- 
erkannt. 

Halle  a.  S.  Bruno  Bauch. 

Paulsen,  Johannes.  Das  Problem  der  Empfindung.  L  Die 
Empfindung  und  das  Bewusstsein.  Philosophische  Arbeiten,  herausgegeben 
von  H.  Cohen  und  P.  Natorp.    I.  Bd.,  4.  Heft.    A.  Töpehnann,  Giessen  1907. 

In  dieser  gründlichen  und  fi^ediegenen  Arbeit  hat  Paulsen  durch  eine 
eingehende  Analyse  der  Empfinoungder  jetzt  im  Schwünge  befindlichen 
Psychophysik  und  Psychologie  den  We^  vorgezeichnet,  auf  dem  sie  ans 
ihrer  scholastischen  Befangenheit  in  die  Bahnen  exakter  Forschung  ge- 
langen kann.  Ich  kann  mer  nur  aus  der  Fülle  des  Gebotenen  einzeme 
Punkte  streifen.  Jeder,  der  sich  für  die  Probleme:  Leib  und  Seele, 
Materie  und  Bewusstsein  interessiert,  muss  zum  Paulsenschen  Buche  selbst 
greifen. 

Die  Psychophysik  im  Sinne  Fechners,  die  den  Übergang  von  Be- 
wusstsein in  Materie  und  von  Materie  in  Bewusstsein  studieren  möchte, 
konstruiert  auf  Grund  der  dogmatischen  Voraussetzung  einer  inneren  und 
einer  äusseren  Wahrnehmung  eine  doppelte  Reihe  von  Erscheinungen  :  die 
psychischen  und  die  physischen.  Obwohl  die  Annahme  der  Wesenseinheit 
des  Physischen  und  des  Psychischen  (so  dass  also  das  Physische  das  von 
einem  Subjekt  betrachtete  Psychische  ist)  die  Einheitlichkeit  jener  Reihen 
der  Erscheinung  herstellen  könnte,  wurd  diese  Folgerung  vereitelt  durch 
die  andere  Voraussetzung,  dass  gewisse  psychische  Er^einung^  eine 
vom  Bewusstsein  unabhängige  physische  Realität  besitzen.  P.  zagt,  wie 
auf  diese  Art  ein  System  entstâit,  das  sich  jeder  Kontrole  entzieht.  Der 
Ausgangspunkt  ist  verkehrt.  Verkehrt  ist  auch  das  Verhältnis  von  Reiz 
und  Empfindung  in  der  Psychophysik.  Die  Empfindung  soll  snim  Otjekt 
einer  sinnlichen  Anschauung  werden;  sie  soll  in  demselTOu  Verhältnis  zum 
Psychischen  stehen,  in  dem  der  Reiz  zum  Physischen  steht.  P.  weist 
nach,  dass  die  Empfindung  die  Empfindung  des  Reizes  ist  und  daher 
quantitative  Bestimmungen  nur  vom  Reiz  und  nicht  von  der  Empfindung 
gelten  können.  Die  Empfindung  an  sich  ist  kein  Olgekt;  sie  wird  vi^ 
mehr  im  Reize  objektiviert,  ßaraus  folgt,  dass  die  I^chophysik  das 
Webersche  G^esetz  falsch  interpretiert  Das  Webersche  GoBetc  bestammt 
die  Empfindung  als  die  ebenmerkliche  Unterscheidung  zweier  Reize.  Da- 
durch, aass  die  Psychophysik  vermittelst  der  Empfindung  nicht  den  Refi^ 
sondern  wiederum  die  Empfindung  beurteilen  will,  verwandelt  sie  die 
Unterschiedsempfindung  in  den  Empfindungsunterschied.  Empfunden  wild 
alsdann  die  Differenz  zweier  Empfindungen.  P.  legt  im  Folgenden  dar, 
wie  die  Empfindung  der  Ausdruck  der  Subjektivität  ist,  die»  um  der  ün- 
zuverlässigkeit  der  Individualität  entzogen  za  werden,  auf  olgektive  Be- 


Rezensionen  (Sternberg).  481 

dieses  Archiv  inacht,  werden  gerade  den  Lesern  der  Kantstadien  sehr 
willkommen  sein  (S.  126  f.).  Jachmann  bekämpft  den  alten  Spruch  ^non 
scholae  sed  vitae".  —  „Der  reine  Vemunftbegriff  einer  Schale  nmiasst 
also  eine  Veranstaltang  durch  Menschen,  welche  die  höchsten  Zwecke  der 
Menschheit  erkennen  und  an  sich  selbst  erreicht  haben,  der  Welt  die 
emporkeimende  Generation  zu  entziehen  und  sie  für  diese  höchsten 
Zwecke  der  Menschheit  auszubilden.^  Die  Schule  trete  also  aus  dem 
Dienste  der  Welt  and  sei  „eine  Bildnerin  zur  Humanität^.  Sie  erstrebt 
rieichmftssige  Ausbildung  aller  Kräfte  und  ist  ihrem  inneren  Wesen  nach 
fflr  alle  Stände  dieselbe. 

In  den  Dienst  dieses  von  Fichte  imd  vom  Neu-Humanismus  her  be- 
stimmten Ideals  werden  dann  Pestalozzis  Methoden  gestellt. 

Goethe  antwortete  Passow,  der  ihm  seine  und  Jachmanns  Pläne 
mitgeteilt  hatte,  durchaus  ablehnend.  Ër  hält  es  für  ein  Unglück,  „dass 
man  die  Grundsätze  und  Maximen,  nach  welchen  man  lehrt  und  handelt, 
früher  als  die  Lehre  und  das  Handeln  selbst  öffentlich  werden  lässt^,  er 
spricht  von  .der  babylonischen  Verwirrung,  welche  durch  den  Pestalozzi- 
schen  Erziehungsgang  Deutschland  ergriffen^  (130/131)  und  glaubt  dem 
Unternehmen  weniç  Glück  weissagen  zu  können.  —  Es  scheint  mir  un- 
nötig, hier  —  wie  Muthesius  es  tut  —  den  Gegensatz  Goethescher  und 
Kantischer  Betrachtungsart  heranzuziehen.  Kant  hätte  in  Jachmanns 
I^n  sicher  nur  eine  Karikatur  seiner  Lehren  gesehen.  Dass  auch  Pesta- 
lozzis eigentliche  Meinung  durch  Jachmann  verfehlt  wird,  betont  Muthe- 
sius selbst;  er  meint,  Goethe  habe  an  Pestalozzi  bes.  die  gleichartige  Er- 
ziehang  für  alle  Stände  abgelehnt. 

1814  war  dann  Goethe  in  Frankfurt  und  Wiesbaden  viel  mit  An- 
hängern Pestalozzis  zusammen.  In  Wiesbaden  besuchte  er  de  TAspées 
Sehale,  die  ganz  nach  Pestalozzis  Grundsätzen  eingerichtet  war  (168  ff.). 
1816  ging  er  wieder  zu  de  l'Aspée.  Boisserée  berichtet  nun,  wie  Goethe 
von  den  Rechenkünsten  einer  Schülerin  jener  Anstalt  abgestossen  wurde, 
and  wie  ungünstig  sein  G^samturteil  lautete  (171  f.).  Er  vermisst  die 
Ehrfurcht  in  dieser  Erziehung.  Als  Goethe  dann  die  „pädagogische  Pro- 
vinz** entwarf,  suchte  er  bei  Fellenberg  (der  doch  im  Grunde  nur  Schüler 
Pestalozzis  war)  Ersatz  für  Pestalozzi.  Muthesius  erklärt  dieses  Verhalten 
wohl  ganz  richtig  (209):  „Goethe  hat  den  Pestalozzianismus  in  seinen 
schwächsten  Seiten  kennen  gelernt,  und  seine  starken  Seiten  sind  ihm 
verborgen  geblieben*^.  Die  Überschätzung  der  Methode  —  und  welcher 
Methoae!  —  durch  Pestalozzis  Anhänger  (z.  T.  auch  durch  Pestalozzi 
selbst)  ist  in  der  Tat  äusserst  abstossend.  Dass  auch  sie  Gutes  wirkte, 
nämlich  die  Aufmerksamkeit  auf  die  zweckmässigere  Gestaltung  des  An- 
fangsunterrichts lenkte,  dem  Lehrer  einen  höheren  Begriff  seiner  Arbeit 
£b,  ist  gewiss  richtig.  Gerade  dies  aber  lag  Goethe  i^mer.  Bei  Pesta- 
si  selât  steht  die  Lebendigkeit  des  Menschen  und  die  Regelungswut 
der  Mathode  in  einem  tragischen  Gegensatze. 

Jeder,  der  sich  für  Goethe,  jeder,  der  sich  für  Geschichte  der  Pä- 
daffo^k  interessiert,  ist  Muthesius  für  seine  sorgfältige  und  gut  geschriebene 
Aroeit  Dank  schuldig. 

Freiburg  L  Br.  J.  Cohn. 

Sternberg,  Gurt.  Friedrich  Paulsen  f,  Nachruf  und  kri- 
tische Würdigung,  Tempelkunstverlag,  Berlin- Wilmersdorf  1908. 
(16  S.) 

Das  Schriftchen  will  lediglich  „mit  ein  Paar  Strichen  die  Rieht« 
linien  des  Paulsenschen  Denkens^  vergegenwärtigen.  Das  ist  ihm  — 
namentlich  bei  seiner  von  vornherein  beabsichtigten  Beschränkung  auf 
einen  Druckbogen  —  recht  gut  gelungen.  Mit  lUcht  wird  für  die  Wür- 
digung der  Verdienste  Paubens  der  Nachdruck  der  Betonung  auf  den 
Pädagogen  und  Lehrer  gelegt,  ohne  dass  dabei  die  anderen  Richtungen 
seiner  Wirksamkeit  zu  kurz  kämen.  Der  persönliche  Zug  der  Verehnuig, 
Liebe  und  Dankbarkeit,  der  durch  das  ganze  Schriftchen  hindurchgeht, 


482  Rezensionen  (Paulsen). 

berührt  um  so  sympathischer,  als  er  sich  dadurch  nicht  hat  beeinträchtigen 
lassen,  dass  der  Autor  neben  der  Anerkennung  der  [Bedeutung  Paulsens 
auch  die  Grenzen  dieser  Bedeutung  scharf  und  klar  erkannt  hat.  fö 
sieht  diese  Grenzen  sehr  richtig  in  Paulsens  Stellung  zur  kritischen  Phi- 
losophie Kants,  in  deren  theoretischen  Teil,  wenigstens  in  seinen  ^tiefiten 
Tiefen"  er  so  wenig  „eingedrungen"  ist,  dass  er  „Kant  durch  die  Augen 
Schopenhauers"  ansieht,  und  gegen  deren  praktischen  Teil  er  „mit  einer 
ganzen  Anzahl  gänzlich  unhaltbarer  Gründe"  zu  Felde  zieht.  Für  den 
Menschen  Paulsen  legt  gerade  das  aber  das  glänzendste  Zeugnis  ab,  dass 
man  bei  der  schroffsten  sachlichen  Differenz  sogar  in  allen  Fundamental- 
und  Prinzipienfragen  ihm  durch  die  innigsten  Sympathien  persönlich  ver- 
bunden sein  konnte.  Für  die  Unterscheidung  von  Person  und  Sache  — 
das  konnte  vielleicht  gerade  der  entschiedenste  sachliche  Gegner  am 
ehesten  erfaliren,  sobald  er  mit  Paulsen  in  persönliche  Berührung  kam  — 
bedeutet  dieser  ein  in  der  Gelehrtenwelt  seltenes  Vorbild  jener  Gerechtig- 
keit, die  des  anderen  Freiheit  achtet,  wenn  sie  ihre  eigene  Freiheit  wahrt 
Das  war  auch  ein  Grundzug  des  Lehrers  Paulsens,  dem  der  Autor  mit 
Recht  eine  besondere  Beachtung  schenkt.  Dass  seine  Darstellung  über- 
haupt auch  dem  edlen  und  lauteren  Menschen  gilt,  das  sei  besonders  an- 
erkannt. 

Halle  a.  S.  Bruno  Bauch. 

Paulsen,  Johannes.  Das  Problem  der  Empfindung.  1.  Die 
Empfindung  und  das  Bewusstsein.  Philosophische  Arbeiten,  herausgegeben 
von  H.  Cohen  und  P.  Natorp.    I.  Bd.,  4.  Heft.    A.  Töpelmann,  Giessen  1907. 

In  dieser  gründlichen  und  gediegenen  Arbeit  hat  Paulsen  durch  eine 
eingehende  Analyse  der  Empfindungder  jetzt  im  Schwünge  befindlichen 
Psychophysik  und  Psychologie  den  Weg  vorgezeichnet,  auf  dem  sie  ans 
ihrer  scholastischen  Befangenheit  in  die  Bahnen  exakter  Forschung  ge- 
langen kann.  Ich  kann  mer  nur  aus  der  Fülle  des  Gebotenen  einzelne 
Punkte  streifen.  Jeder,  der  sich  für  die  Probleme:  Leib  und  Seele, 
Materie  und  Bewusstsein  interessiert,  muss  zum  Paulsenschen  Buche  selbst 
greifen. 

Die  Psychophysik  im  Sinne  Fechners,  die  den  Übergang  von  Be- 
wusstsein in  Materie  und  von  Materie  in  Bewusstsein  studieren  möchte, 
konstruiert  auf  Grund  der  dogmatischen  Voraussetzung  einer  inneren  und 
einer  äusseren  Wahrnehmung  eine  doppelte  Reihe  von  Erscheinungen:  die 
psychischen  und  die  physischen.  Obwohl  die  Annahme  der  Wesenseinheit 
des  Physischen  und  des  Psychischen  (so  dass  also  das  Physische  das  von 
einem  Subjekt  betrachtete  Psychische  ist)  die  Einheitlichkeit  jener  Reihen 
der  Erscheinung  herstellen  könnte,  wird  diese  Folgerung  vereitelt  durch 
die  andere  Voraussetzung,  dass  gewisse  psychische  Erscheinung^en  eine 
vom  Bewusstsein  unabhängige  physische  Realität  besitzen.  P.  zeigt,  wie 
auf  diese  Art  ein  System  entsteht,  das  sich  jeder  Kontrole  entzieht.  Der 
Ausgangspunkt  ist  verkehrt.  Verkehrt  ist  auch  das  Verhältnis  von  Beiz 
und  Empfindung  in  der  Psychophysik.  Die  Empfindung  soll  zum  Objekt 
einer  sinnlichen  Anschauung  werden  ;  sie  soll  in  demselben  Verhältnis  tm 
Psychischen  stehen,  in  dem  der  Reiz  zum  Physischen  steht.  P.  weist 
nach,  dass  die  Empfindung  die  Empfindung  des  Reizes  ist  und  daher 
quantitative  Bestimmungen  nur  vom  Reiz  und  nicht  von  der  Empfmdimg 
gelten  können.  Die  Empfindung  an  sich  ist  kein  Objekt;  sie  irad  viel- 
mehr im  Reize  objektiviert.  Daraus  folgt,  dass  die  Psychophysik  daa 
Webersche  Gesetz  falsch  interpretiert.  Das  Webersche  Gesetz  bestimmt 
die  Empfindung  als  die  ebenmerkliche  Unterscheidung  zweier  Reize.  Da- 
durch, dass  die  Psychophysik  vermittelst  der  Empfindung  nicht  den  Bei£, 
sondern  wiederum  die  Empfindung  beurteilen  will,  verwandelt  sie  die 
Unterschiedsempfindung  in  den  Empfindungsunterschied.  Empfunden  wird 
alsdann  die  Differenz  zweier  Empfindungen.  P.  le^  im  Folgenden  dar, 
wie  die  Empfindung  der  Ausdruck  der  Subjektivität  ist,  die,  um  der  ün- 
zuverlässigkeit  der  Individualität  entzogen  za  werden,   auf  objektive  Be- 


Rezensionen  (Lang).  483 

stimmiuigen  ^bracht  werden  muss.  Darin  besteht  die  Aufgabe  der  Psy- 
chologe. „Diese  (obj.  Bestimmungen)  betreffen  alsdann  den  äusseren  und 
materiellen  Vorgang,  welcher  in  der  Physiologie  für  das  Bewusstsein  an- 
genommen und  gesucht  wird^'  (S.  27).  Die  neuere  Psychophysik  fLipps) 
will  die  Annahme  von  der  Gegebenheit  der  Empfindung  dadurcn  ver- 
bessern, dass  sie  nach  einer  Reihenfolge  und  Ordnung  der  Empfindung 
sucht.  Aber  auch  hier  bleibt  die  Empfindung  als  Grösse  erhalten.  P. 
fahrt  den  Beweis  :  „Gleichheit  und  Mass  wie  Stetigkeit  sind  Bestimmungen 
des  Denkens  und  nicht  der  Empfindung"  (S.  52). 

Bei  Wundt  ist  die  Empfinaung  nicht  mehr  etwas  ursprünglich  Ge- 
g^ebenes,  sondern  das  Ergebnis  einer  Analyse.  Trotzdem  krankt  die  phy- 
siologische Psychologie  an  einem  inneren  Widerspruch:  Es  wird  zwar  die 
Selbständigkeit  der  doppelten  Erscheinun^reihe  verworfen,  aber  durch 
den  Begrin  der  inneren  Wahrnehmung  wird  das  psychische  Geschehen 
als  konkret  wirkliches  wieder  lebendig.  Die  Empfinaung  wird  unmittel- 
barer Inhalt  der  Erfahrung.  Während  bei  Wundt  nicht  mehr  wie  bei 
Fechner  nach  einer  Ableitung  des  Psychischen  aus  dem  Physischen  ge- 
fragt wird,  sondern  die  Materie  als  ein  Erzeugnis  des  Bewusstseins  gilt, 
stimmen  beide  doch  darin  überein,  die  Tatsächlichkeit  der  Empfindung 
in  der  inneren  Wahrnehmung  zu  behaupten.  Die  Psychologie  begeht 
dabei  den  Fehler,  die  Empfindung  als  vom  Reize  verursacht  zu  denken, 
wobei  das  im  Anfang  von  Wundt  abgelehnte  Problem  der  Bewusstheit 
sich  wieder  erhebt. 

In  der  Sinnesphysiologie  wird  der  Begriff  der  Empfindung  wissen- 
aehaftlich  behandelt.  Johannes  Müller  hat  bereits  die  Problematik  des 
Begriffes  der  Empfindung  dargetan.  Seinem  wissenschaftlichen  Tiefblick 
ist  es  auch  zu  veraanken,  dass  die  Korrelation  von  Reiz  und  Empfindung 
und  damit  der  G^anke  der  Reihe  der  physischen  und  psychischen  Er- 
seheinuiiffnn  aufgegeben  wurde.  In  der  Physiologie  bedeutet  der  Reiz 
die  Objeltivität  einer  physikalischen  Bestimmung.  Er  ist  als  ein  Erzeug- 
nis des  Bewusstseins  vorausgesetzt.  Der  Reiz  ist  die  äussere  Anlass-Be- 
dingon^  zur  Änderung  des  Nervenzustandes.  Dieser  Änderung  korrespon- 
diert die  Empfindung.  Der  materielle  Vorgang  der  Nervenbeweg^ung  darf 
natOrlich  nicht  in  Gegensatz  treten  zum  Bewusstsein.  Der  logische  Be- 
griff der  Empfindung  wird  für  die  Physiologie  vorausgesetzt.  Die  Em- 
{ifindimg  bedeutet  für  die  Physiologie  das  Problem  der  biologischen  Ver- 
riehtang  der  Sinnesorgane.  Chemie  und  Phvsik  treten  in  den  Dienst  der 
Physiologie;  und  die  Empfindung  wird  dadurch  selbst  ein  Element  des 
reinen  Mwusstseins. 

Michelstedt  (Hessen).  Dr.  G.  Falter. 


ig,  A.,  Dr.  Das  Kausalproblem.  Erster  Teil:  Geschichte  des 
KanaalDroblems.    Bachem,  Köln  1904.    (V  und  618  S.) 

Die  philosophische  Literatur  wies  bisher  zwei  grössere  Monographien 
sur  G^erohichte  aes  Kausalproblems  auf,  nämlich  Goering,  Über  den 
Begriff  der  Ursache  in  der  griechischen  Philosophie  (Leipzig  1874)  und 
KOniç,  Die  Entwickelung  des  Kausalproblems  in  der  neueren  Philosophie 
(fjcipEig  1889 — 90).  Bei  idler  Anerkennung  des  wissenschaftlichen  Wertes 
dieaer  Vorarbeiten  findet  L.  doch  eine  ^ubearbeitung  desselben  Stoffes 
angeseigt,  weil  keiner  der  genannten  Historiker  die  ganze  Entwickelungs- 
geschichte  des  Kausalproblems  behandelt,  und  keiner  dabei  den  Standpunkt 
der  »intellektualistischen  Philosophie""  vertreten  habe.  Der  vorliegende 
erte  Band  des  Werkes  giebt  nach  einer  längeren  Einleitung  die  Geschichte 
dM  Kansalbegriffes  von  den  ältesten  griechischen  Naturphuosonhen  bis  auf 
Kant,  Schopenhauer  und  Maine  de  Biran;  ein  zweiter,  der  bisher  nicht 
erachienen  ist,  soll  die  geschichtliche  Entwickelung  bis  zur  Gegenwart 
wetter  verfolgen  und  eine  „Theorie  der  Kausalität  auf  geschichtlicher 
Qrnndlage*'  bwten. 

In  der  Einleitung  werden  die  im  Kausalproblem  zusammengefassten 
Fragen  vorl&afig  formuliert,  die  verschiedenen  möglichen  Arten  mrer  Be- 


484  ßezensionen  (Laûg)^ 

antwortung  dargelegt  und  nach  ihrer  Bedeutung  für  die  philosophische 
Weltanschauung  im  allgemeinen  gewürdigt.  Der  Verfasser  bedient  sich 
dabei  der  schon  vom  Ref.  in  seinem  oben  genannten  Buche  zur  Charak- 
teristik der  verschiedenen  Theorien  benutzten  Begriffsge^nsfttze  des 
Positivismus  und  Rationalismus,  Phänomenalismus  und  Realismus,  Empi- 
rismus und  Apriorismus,  denen  er  noch  diejenigen  des  Nominalismus  and 
Piatonismus,  des  Piatonismus  und  Aristotelismus,  des  Theismus  und  des 
Atheismus  hinzufügt.  Ebenso  ist  die  Reihenfolge  der  im  historischen 
Hauptteile  behandelten  Denker,  wenn  wir  von  der  antiken  und  mittel- 
alterlichen Philosophie  absehen,  naturgemäss  in  beiden  Arbeiten  dieselbe, 
die  kritische  Beurteilung  der  Theorien  führt  dagegen  zu  ganz  anderen 
Ergebnissen.  Sehr  bezeichnend  unterscheidet  L.  von  vornherein  fünf 
Perioden  in  der  Geschichte  des  Kausalbegriffes,  die  Periode  der  Vor- 
bereitung (vorsokratische  Philosophie),  die  des  Aufbaues  (Plato,  Aris- 
toteles), die  der  Auflösung  (Rationalismus  und  Empirismus  der  Neuzeit 
bis  Kant),  die  kritische  Periode  (Kant,  Schopenhauer,  Maine  de  Biran) 
und  die  Periode  der  Reproduktionen  im  19.  Jahrhundert.  Man  konnte 
dieser  Einteilung  zustimmen,  sofern  unter  „Aufbau"  nur  die  Herausarbeitong 
und  Festlegung  gewisser  Allgemeinbegriffe,  unter  »Auflösung"  die  logische 
Kritik  derselben  verstanden  würde;  aber  nach  L.  hat  man  dabei  an  die 
Schaffung  und  Vernichtung  von  Erkenntniswerten  zu  denken:  die  ganze 
Bewegung  des  Denkens  von  Descartes  bis  Hume  wird  m.  a.  W.  als  eine 
rückläufige  auffi^efasst,  die  im  absoluten  Skeptizismus  endet,  und  auch  den 
„kritischen^  Phüosophen  soll  es  nicht  gelungen  sein,  dasjenige  wieder  aof- 
zubauen,  was  der  Rationalismus  und  der  Sensualismus  zerstört  hatten,  „weil 
ihre  Opposition  gegen  die  Lehrsätze  der  Hume'schen  Kausalitfttstheorie 
nicht  gegen  das  G-anze,  sondern  bloss  gegen  einzelne  Teile  derselben 
gerichtet  war".  (S.  411.)  Auch  die  neueste  Philosophie  hat,  wie  die  Be- 
zeichnung der  fünften  Periode  erkennen  lässt,  keinen  Fortschritt  gebracht, 
und  so  sieht  man  voraus,  dass  der  etwaige  2.  Band  des  Werkes  als  der 
Weisheit  letzten  Schluss  die  Rückkehr  zur  platonisch-aristotelischen  Lehre 
empfehlen  wird.  Wir  betrachten  gerade  umgekehrt  die  Entdeckung  der 
im  Kausalbegriff  liegenden  Schwierigkeiten  und  Probleme  als  eine  hervor- 
ragende Leistung  der  Philosophen  des  17.  und  18.  Jahrhunderts,  die  danût 
den  Grund  gele^  haben  für  alle  weiteren  Forschungen  auf  diesem  Gebiete; 
aber  es  würde  vergeblich  sein,  gegen  eine  Geschichtsauffassung  zu  streiten, 
der  die  rücksicht^ose  Kritik  der  Voraussetzungen  unseres  Denkens,  die 
folgerichtige  Durchbildung  eines  Standpunktes  deswegen  als  eine  „Ve^ 
irrung"  des  Erkenntnistriebes  erscheint,  weil  sie  uns  manche  gewöhnte 
Vorstellungsweisen  zweifelhaft  macht,  und  so  beschränken  wir  uns  auf 
einige  Bemerkungen  über  die  Einzelheiten  der  Lang'schen  Darstellung. 

Die  Wiedergabe  der  in  Betracht  kommenden  Lehren  ist  sorgttltig 
und  eingehend  und  zeufft  von  gründlichem  Quellenstudium;  dass  dal^i  die 
Beziehungen  des  Kausalbegriffes  zu  den  Fragen  der  spekulativen  Theologie 
und  Psychologie  besonders  hervorgehoben  werden,  entspricht  dem  Inte^ 
essenkreise  des  Verfassers  und  der  ursprünglichen  Bestimmung  seines 
Buches.  Umso  mehr  fällt  es  auf,  dass  er  das  System  des  G^ulincx,  denen 
früher  sehr  seltenen  Schriften  durch  die  Ausgabe  von  Land  (1893)  allgemein 
zugänglich  geworden  sind,  nicht  eingehender  berücksichtig  hat.  Infolge- 
dessen tritt  auch  der  Einfluss,  den  die  Beschäftigung  mit  dem  psycho- 
physischen  Problem  auf  die  Gestaltung  der  Anschauungen  über  das  Wesen 
des  Kausalnexus  geübt  hat,  nicht  genügend  hervor.  Insbesondere  gewinnt 
man  kein  klares  Bild  von  den  treibenden  Motiven  der  Leibniz^schen  Meta- 
physik, zumal  dabei  die  Einwirkung  des  naturwissenschaftlichen  Kraft- 
begriffes ganz  übersehen  wird.  Ebenfalls  muss  gerügt  werden,  dass  der 
Verfasser  oei  der  Erörterung  des  Prinzips  vom  zureichenden  Grunde  die 
wichtige  Unterscheidung  von  Vemunftwahrheiten  und  Tatsachen  kaum 
erwähnt,  ohne  die  das  Prinzip  im  Sinne  von  Leibniz  kaum  zu  vei> 
stehen  ist. 


Rezensionen  (Lang — deSopper).  485 

Bei  Kant  giebt  der  Verf.  zunächst  eine  ausführliche  Darstellung 
des  ganzen  erkenntnistheoretischen  Systems,  das  er  auf  drei  „Grund- 
gedanken'' zurückführt:  „1.  Die  Denknotwendigkeit  ist  keine  Seinsnot- 
wendigkeit; vom  Denken  darf  man  niemals  auf  ein  jenseits  des  Bewusst- 
seins  gelegenes  Sein  schliessen.  2.  Die  Begriffe  und  die  Verstandesgesetze 
haben  einen  objektiven  Wert,  insofern  sie  Bedin^ng  der  Möglichkeit  der 
Mathematik  und  der  Erfahrungswissenschaften  sind.  3.  Das  Ding  an  sich 
ist  unerkennbar''.  Ob  die  Unterscheidung  synthetischer  und  anSytischer 
Urteile,  die  Konstatierung  des  A  priori  in  Mathematik  und  Naturwissen- 
schaften, die  idealistische  Theorie  des  Raumes  und  der  Zeit  nicht  Grund- 
gedanken von  mindestens  gleichem  Gewicht  sind,  ist  vielleicht  Ansichts- 
sache; wenn  aber  die  Ablehnung  des  ontologischen  Beweises,  die  Hervor- 
hebung des  Unterschiedes  zwischen  Folge  und  Wirkung,  der  Zweifel  an 
der  transscen deuten  Giltigkeit  der  reinen  Begriffe  unter  dem  Schlagworte 
der  Abkehr  vom  dogmatischen  Rationalismus  in  einen  (den  ersten)  Grand- 
gedanken zusammengezogen  werden,  so  liegt  hier  eine  heillose  Verwirrung 
vor,  die  weiterhin  wenig  Gutes  erwarten  lässt.  Die  Folgen  treten  dann 
auch  bald  zu  Tage.  So  wird  (S.  427)  behauptet,  dass  auch  der  Satz  des 
Widerspruches  im  Sinne  Kants  ein  synthetiscner  genannt  werden  mttsste, 
..weil  die  kritische  Philosophie  jedes  Denkgesetz,  wofern  dasselbe  Seins- 
gültigkeit beansprucht,  ein  synthetisches  Gesetz  nennt.''  Die  Lehre  von 
der  Idealität  des  Raumes  soll  sich  bei  Kant  in  Wahrheit  auf  folgende 
Schlussfolgerung  aufbauen:  ,,Die  mathematische  Denknotwendigkeit  ist 
keine  Seinsnotwendigkeit  —  nun  aber  beruht  die  erstere  auf  den  An- 
schauungen von  Raum  und  Zeit  —  also  sind  Raum  und  Zeit  keine  Sinnes- 
formen, sondern  Bewusstseinsformen^  (S.  436).  Hinsichtlich  des  Kausal- 
ßroblems  selbst  giebt  L.  zu,  dass  die  Kantische  Lösung  die  einzig  mö^ 
che  sei,  wenn  man  die  Voraussetzungen  der  phänomenalistischen  Philosophie 
als  richtig  anerkenne  (S.  490);  der  Phänomenalismus  stelle  aber  ein  Vor- 
urteil dar,  mit  dem  Kant  von  vornherein  an  das  Kausalproblem  heran- 
fstreten  sei.  Denn  nur  bei  der  Annahme,  dass  Ursache  und  Wirkung,  als 
rscheinungen  im  Räume,  lediglich  durch  Beziehungen  des  Neben-  und 
Nacheinander  verbunden  seien,  habe  die  Lehre  von  dem  „alogischen  Cha- 
rakter der  Kausalität^  einen  Sinn;  „verstehe  ich  aber  unter  Ursache  einen 
Körper,  der  auf  einen  anderen  einwirkt,  so  wäre  es  gewiss  ein  logischer 
Wiaerspruch,  wenn  nicht  auf  die  Bewegung  von  A  die  Bewegung  von  B 
folgen  würde"  fS.  418).  Zur  Bestätigung  dieser  Ansicht,  welche  verkennt, 
dass  der  Begrifi  des  Wirkens  gerade  das  Problematische  Element  in  dem 
Kausalitätsgedanken  bezeichnet,  wird  seltsamerweise  die  bekannte  Stelle 
aus  dem  Versuch  über  die  negativen  Grössen  angeführt,  wo  Kant  erklärt, 
dass  er  sich  durch  die  Wörter  Ursache  und  Kran  ,,nicht  abspeisen''  lasse. 
Nach  alledem  wird  man  sich  nicht  wundem,  wenn  L.  zu  aem  Ergebnis 
kommt,  dass  Kant  sich  um  die  Lösung  des  Kausalproblems  nicht  hätte  zu 
bemühen  brauchen,  wenn  er  Aristoteles  und  die  Scholastiker  besser  ge- 
kannt hätte,  denn  von  diesen  sei  die  von  ihm  gesuchte  Synthese  des  Em- 
pirismus und  Rationalismus  bereits  geleistet  worden. 

Sondershausen.  Dr.  Edm.  König. 

de  Sopper,  A.  J.  David  Humes  Kenleer  en  Ethick.  L 
Leiden,  A.  W.  Sythoff,  1908.    (XII  und  200  Paç.) 

Herr  A.  J.  de  Sopper  hat  den  ersten  Teil  einer  der  Humeschen  Er- 
kenntnistheorie und  Ethik  gewidmeten  Schrift  als  Dissertation  zur 
fSrlangung  der  Doktorwürde  in  der  theologischen  Fakultät  herausgegeben. 
Dass  ein  Theologe  sich  mit  einem  skeptischen  Standpunkt  gründUuch  ver- 
traut zu  machen  sucht,  ist  schon  eine  erfreuliche  Erscheinung:  doppelt 
erfreulich  ist  es.  wenn  das  Resultat  dieser  Beschäftigung  durch  die  licht- 
volle Übersichtlichkeit  der  Entwickelun^,  die  Klarheit  in  der  feinsinnig 
reproduzierten  Problemstellung,  die  kritische  Schärfe  der  Untersuchung 
und  die  bei  einem  Theologen  erst  recht  zu  schätzende,  einfache  imd  natür- 
liche Grazie  der  Darstellung  einen  vollgültigen  Beweis  liefert,  dass  dieser 

KaotttiidUn  TUt.  32 


406  Rezensionen  (de  Sopper). 

Theologe  eine  nicht  fi;ewöhnliche  philosophische  und  schriftstellerische  Be- 
gabung mitgebracht  hat. 

Dieser  erste  Teil  fän^t  mit  einer  Einleitung  an,  in  welcher  der 
Verfasser  aus  der  gegenseitigen  Abhängigkeit  von  Erkenntnistheorie  und 
Ethik  und  Humes  Anerkennung  dieses  Verbandes  (mit  ausdrfickUcber 
Bevorzugung  der  Ethik  als  des  ihn  am  meisten  interessierenden  Objektes) 
den  zu  venolgenden  Qans  der  Untersuchung  in  diesem  Sinne  ableitet, 
dass  erst  der  Standpunkt  der  Erkenntnistheorie,  den  Hume  vorfand,  durch 
eine  genaue  Darstellung  der  Leistungen  seiner  Vorgänger  klargestellt 
werden  soll.  Hier  kann  ich  die  Bemerkung  nicht  zurückhalten,  dîass  der 
Verfasser  nach  meiner  Meinung  gut  getan  hätte,  in  einer  Vornntersncbung 
zu  zeigen,  dass  man  wirklich  berechtigt  ist,  im  All^meinen  einen 
nennenswerten  Einfluss  der  Erkenntnistheorie  auf  die  Ethik  anzunehmen, 
voraus^setzt,  dass  man  unter  Ethik  nicht  nur  eine  mehr  oder  wenirar 
analytische  Beschreibung,  sondern  auch  eine  Erklärung  des  ethischen  Tat- 
bestandes, wohl  gar  eine  normierende  und  gesetzgebende  Wissenschaft 
versteht  —  wenn  solche  überhaupt  möglich  ist.  Es  liegt  ja  der  starke 
Verdacht  vor,  dass  dasjenige,  was  Einfluss  der  Erkenntnistheorie  auf  die 
Ethik  zu  sein  scheint,  entweder  auf  einer  halb-  (resp.  un-)  bewussten  Be- 
einflussung der  erkenntnistheoretischen  Gedanken  von  Seiten  einer  be- 
stimmten ethischen  Grundansicht  oder  auf  einer  parallelen  gemeinschaft- 
lichen Abhängigkeit  von  Seiten  des  Characters  bîeruht,  was  oft  auf  das- 
selbe hinausläuft,  weil  die  ethische  Grundansicht  in  den  allermeisten 
Fällen  eine  Funktion  der  charakterologischen  Bestimmtheit  der  Persön- 
lichkeit ist.  In  diesem  Falle  würde,  wenn  Schopenhauer  auch  nur  zun 
Teile  Recht  hätte  mit  seiner  Behauj^tung,  dass  der  Intellekt  der  gehorsame 
Diener  des  Willens  ist,  Hume  in  einer  Selbsttäuschung  befangen  gewesen 
sein,  als  ihm  ein  Enquiry  concerning  human  Understanding  zur  Fest- 
stellung dieser  ethischen  Vorschriften  („The  end  of  all  moral  spéculations 
is  to  teach  us  our  duty")  notwendig  erschien.  Vielleicht  dünkt  den  Ver- 
fasser der  Einfluss  der  Erkenntnistheorie  auf  die  Ethik  so  zweifellos  f^t- 
wiss,  dass  er  einen  Beweis  überflüssig  findet;  vielleicht  aber  beabsichtigt 
er  nachher,  bei  der  Darstellung  und  aer  Kritik  der  Humeschen  Ansichten, 
diese  Frage  zu  behandeln. 

Nach  Bacon,  Hobbes  und  Locke  kommt  Berkeley  an  die  Reihe. 
Die  Darstellung  und  Kritik  Berkeleys  ist  der  Glanzpunkt  des  Buches. 
Die  Gedanken  dieses  grossen  Geistes  werden  wie  ein  zartes  Gewebe  mit 
verständnisvoller  Sorgfalt,  so  dass  kein  Faden  abreisst,  analysiert  und  be- 
leuchtet, und  die  iiitellektuelle  Freude,  mit  welcher  der  Verfasser  die 
feinen  Gedanken  dieses  Kant  an  Konsequenz  überragenden  Idealisten  ver- 
folgt, zusammen  mit  dem  Scharfsinn  seiner  Kritik,  macht  den  Abschnitt 
über  Berkeley  zu  einer  ebenso  genussreichen  wie  belehrenden  Lektfire. 
Ich  behaupte:  Kant  an  Konsequenz  überragenden.  Denn  wenn  Hen 
de  Sopper  (S.  136,  Fussnote)  sagt,  Kant  habe  Recht,  wenn  er  auf  den  ein- 
schneidenden Unterschied  zwischen  seinem  und  dem  Berkeleyschen  Idea- 
lismus hinweist,  und  was  Spicker  gegen  Kant  anführt,  beruhe  nach  seinem 
Dafürhalten  auf  Missverständnis  und  Voreingenommenheit,  so  scheint  mir 
im  Gegenteil  Spickers  Urteil  nur  darum  nient  gerecht,  weil  er  die  Supe- 
riorität  Berkeleys,  was  die  idealistische  Konsequenz  anbelangt,  kaum  ge- 
nug accentuiert.  Wenn  er  Kants  Vorwurf,  „die  Erfahrung  bei  Berkeley 
könne  kein  Kriterium  der  Walirheit  haben,  weil  er  den  Erscheinungen 
nichts  a  priori  zu  Grunde  gelegt  habe,*'  mit  der  Bemerkung  abwast, 
Berkeleys  Philosophie  selbst  könne  als  eine  ^bsolute  Aprioritätslehre* 
bezeichnet  werden,  und  wenn  er  weiter  von  Kant  sagt;  „Mit  all  seiner 
Apriorität  ist  es  ihm  nicht  gelungen,  das  Ding  an  sich,  d.  h.  eine  in 
Wahrheit  objektive  und  reale  Welt  ausser  uns  zu  erreichen  ;  folglich  steht 
er  auf  einem  Boden  mit  Berkeley"  (S.  103),  so  scheint  mir  Spicker,  von 
seiner  nicht  vollkommen  genauen  Terminologie  abgesehen,  eine  evidente 
Wahrheit   auszusprechen.    Denn  Kant  sagt  zwar,   firoleg.  §  13,  Anm.  Ulf 


Rezensionen  (Lasson).  487 

die  Existenz  der  Sachen  zu  bezweifeln,  (,,die  Bezweifelung  derselben  aber 
macht  eigentlich  den  Idealismus  in  rezipierter  Bedeutung  aus"),  sei  ihm 
^niemals  in  den  Sinn  gekommen'^;  die  Frage  ist  aber,  mit  welchem 
Hechte  nicht  der  Mensch,  sondern  der  PhUosoph  Kant  nicht  gezweifelt 
hat,  und  dieses  Recht  steht  und  fällt  mit  dem  Recht,  Termini  wie  Vor- 
stellung,  Erscheinung,  Gegenstand,  Objekt,  Ding,  innerhalb  der  Grenzen 
derselben  Argumentation  in  verichiedenen  Bedeutungen  zu  gebrauchen. 
Aber  vieUeicht  ist,  hinsichtlich  der  terminologischen  Konsequenz  Kants 
in  dieser  Sache,  Dr.  de  Sopper  anderer  Meinung  und  es  wäre  wohl  eine 
längere  Auseinandersetzung  erforderlich,  uns  darüber  zu  verständigen. 

Der  jetzt  vorliegende  Teü  schliesst  mit  der  Perspektive,  dass  Hume, 
der  hoffnungsvoll  an  seine  {philosophische  Aufgabe  herantrat,  in  seiner 
allmählichen  Enttäuschung  ,,eine  ontogenetische  Rekapitulation  und  Ver- 
vollRtändi^rung^  deq'enigen  phylogenetischen  Prozesses  zeigen  wird, 
welchen  der  englische  Empirismus  von  Bacon  bis  Hume  durchhef.  Wenn 
der  in  dieser  Weise  angekündigte  zweite  Teil  dem  ersten  in  Klarheit  der 
DarsteUung,  in  kritischer  Schärfe  und  schriftstellerischer  Grazie  gleicht, 
so  wird  <ue  holländische  Litteratur  mit  einem  tüchtigen  Werk  über  die 
englische  Philosophie  bereichert  sein. 

Den  Haag.  Dr.  J.  A.  der  Mouw. 

Lasson,  G.  J.  G.  Fichte  und  seine  Schrift  über  die  Be- 
stimmung des  Menschen.  Eine  Betrachtung  des  We^es  zur  geistigen 
Freiheit.    Berlin,  Trowitzsch  &  Sohn,  1908.    (45  S.) 

Die  kleine,  klar  geschriebene  Broschüre  unternimmt  es  an  der  Hand 
von  Fichtes  „Bestimmung  des  Menschen"  den  Weg  aufzuweisen,  den  der 
nach  Freiheit  ringende  Menschengeist  notwendig  nimmt.  Fichte  ist  in 
seiner  eigenen  Entwickelung  diesen  Weg  gegangen  und  hat  ihn  in  der 
genannten  Schrift  gezeichnet.  Zweifel,  Wissen  und  Glauben  nennen  sich 
aie  drei  Bücher  derselben,  und  Fichte  bestimmt  damit  die  3  Hauptstationen 
des  Weges  zur  geistigen  Freiheit.  Mit  dem  methodischen  Zweifel  beginnt 
er,  vor  allem  mit  der  Frage:  Was  bin  ich  selbst?  Da  erkennt  denn  der 
Mensch,  dass  er  zunächst  ein  Glied  der  Natur  ist.  Ich  finde  aber  eine 
Freiheit  in  mir:  wie  lässt  sich  das  mit  dem  System  der  Natur,  das  mich 
umfangen  hält,  vereinen?  Um  das  zu  begreifen,  inuss  der  Mensch  sich 
von  sich  selbst  entfremden  und  sich  sein  eigentliches  Wesen,  die  Vernunft, 

gegenüberstellen.  Es  ist  der  Standpunkt  des  subjektiven  Idealismus.  Das 
denken  besinnt  sich  auf  sich  selbst,  um  von  sich  zu  wissen.  Damit  wird 
der  Mensch  von  dem  Irrtum  befreit,  in  der  Natur  die  wahre  Wirklichkeit 
zu  finden,  und  wird  nach  der  Entfremdung  auf  sich  selbst  zurückgewiesen  ; 
80  kommt  er  zum  „Glauben",  d.  h.  zu  innerer  Überzeugung  des  Geistes 
von  seiner  Freiheit.  Hier  liegt  der  ungeheuere  Fortschritt,  den  Fichte  in 
der  Philosophie  gebracht  hat;  er  setzt«  neben  den  Satz  „das  Ich  produ- 
ziert seine  Welt^,  den  zweiten  „das  Ich  produziert  sicli  selbst''.  Damit 
gewann  er  den  Begriff  des  Geistes  als  der  schöpferischen  Tätigkeit,  in 
er  Handeln  und  Denken  eins  ist.  Von  der  Tathandlung  des  Ich  aus 
erhält  die  Wirklichkeit  ihren  Sinn.  Durch  mein  Handeln  wim  eine  bessere 
Welt  herangeführt,  indem  wir  auch,  wie  Faust,  neues  Land  den  Menschen 
gewinnen.  Vor  allem  aber  gehört  der  Mensch  einer  ewigen,  unsichtbaren 
Welt  an,  und  das  am  meisten,  wenn  er  sich  von  der  Sinnenwelt  losreisst. 
Gott  ist  das  Gesetz  dieser  übersinnlichen  Welt,  er  ist  das  geistige  Band 
der  Vemunftwelt.  So  ist  Fichte  zum  absoluten  Idealismus  vorgedrungen. 
Lasson  ist  es  gut  gelungen,  den  Hauptgedanken  Fichtes  wiederzugeben, 
vielleicht  hätte  sich  dieser  Gedanke  noch  klarer  aus  Fichtes  eigenem 
Wesen  be^eifUch  machen  lassen.  Jedenfalls  hat  Lasson  des  Denkers  Be- 
deutung richtig  erkannt,  wenn  er  sagt,  es  sei  das  Wichtijjste  an  Ficht«, 
dass  er  sich  vor  allem  um  die  geistige  Befreiung  seiner  Zeit  bemühte. 
Hamburg.  Dr.  0.  Braun. 

82* 


488  Rezensionen  (Nestle — Horneffer). 

Nestle,   Wilhelm.     Die   Vorsokratiker.     In  Auswahl  überaetit 
und  herausgegeben.    Diederichs.    Jena  1908. 

Immer  wieder  zieht  es  den  Menschengeist  zu  den  dunklen  Regionen 
seiner  Geschichte,  immer  wieder  glaubt  er  aus  dem  geheimnisvollen  Dunkel 
Lichter  aufblitzen  zu  sehen,  die  ihm  tiefe,  alte  Wahrheiten  aufleuchten 
lassen.  Das  alte  Wahre,  fass  es  an  !  mahnt  uns  Goethe  und  spottet  über 
die  Verächter  der  längst  gefundenen  Wahrheit:  „Wer  kann  was  Dummes, 
wer  was  Kluges  denken,  das  nicht  die  Vorwelt  schon  gedacht?"  Grosse 
Gedanken  ruhen  in  den  Fragmenten  der  alten  griechischen  Kultur.  Ein 
Trümmerfeld  betreten  wir  da,  und  doch  glauben  wir  Wege  zu  finden, 
Zusammenhänge  zu  entdecken,  die  uns  zu  den  höchsten  Kulturhöhen 
führen.  Charakteristische  Gestalten  treten  uns  da  entgegen,  scharf  um- 
rissene  Persönlichkeiten,  die  wir  klar  erkennen  können  ;  wenn  wir  auch 
nur  wenige  Äusserungen  von  ihnen  haben,  so  etwa  vonHeraklit.  DeuÜidi 
sehen  wir  in  ihm  den  Aristokraten  von  starkem  Geiste,  der  in  sich  die 
schaffende  Macht  des  Genies  fühlte,  der  in  tiefen  Intuitionen  das  Wesen 
der  Welt  erfasste  und  hinter  dem  Schein  das  Sein  im  Werden  sah.  Mit 
Verachtung  blickte  er  auf  die  gemeine  Menge,  nur  das  Geistice  war  ihm 
heilig,  ihm  strebte  er  nach.  Auch  die  ganze  äussere  Welt  hielt  er  fflr 
einen  Kehrichthaufen.  Nur  an  das  Werden  der  Vernunft  glaubte  er,  das 
war  auch  der  Inhalt  seiner  Religion,  während  er  den  äusseren  Kultoi 
scharf  ablehnte. 

Diese  Gestalten  leben  in  dem  Bande  Vorsokratiker  neu  auf,  den 
Diederichs  letzt  herausgebracht  hat.  Die  Fragmente  von  27  Denkern  sind 
in  Auswahl  wiedergegeben  und  Prof.  Nestle  hat  eine  100  Seiten  lange 
Einleitung  geschrieben,  die  dem  Laien  das  Verständnis  des  Zusammen- 
hanges üoermittelt.  An  den  Laien  wenden  sich  ja  diese  Ausgaben  und 
tun  recht  damit;  denn  das  Unglück  unseres  modernen  Lebens  ist,  da» 
den  „Gebildeten  die  wahre  Bildung  verloren  gegangen  ist,  dass  sie  ratlos 
den  Aufgaben  der  Geisteskultur  gegenüberstehen^.  Auf  diesen  Grundfehler 
hat  ja  die  bewege  Versammlung  des  Goethe-Bundes  in  Berlin  hin^ 
wiesen.  Nun,  geistige  Kultur  enthalten  die  Schriften  der  Vergangenheit, 
neben  den  der  deutechen  stehen  in  erster  Reihe  die  der  griediischen 
Kulturwelt.    Möge  auch  dieser  Band  die  Geistesbildung  fördern. 

Hamburg.  Dr.  O.  Braun. 

Horneffer,  A.  Piaton:  Der  Staat.  (Antike  Kultur,  Band  1.) 
Übersetzt  von  A.  Horneffer.    Leipzig,  Klinkhardt,  1908. 

Immer  neue  Übertragungen  der  tiefsten  Werke  griechischen  Denkens 
treten  auf;  und  wir  können  uns  freuen,  dass  es  so  ist.  Denn  jede  nenc 
Sammlung  findet  wenigstens  einige  neue  Leser,  und  so  werden  immer 
mehr  Menschen  durch  die  lebenspendenden,  ewig  jungen  Denkmäler  der 
Geisteskultur  zur  Vertiefung  ihres  Wesens  geführt.  Diederichs  Verlag 
hat  schon  eine  stattliche  Anzahl  auch  von  Platon-Übersetzungen  gebracht, 
die  im  Allgemeinen  sehr  gelungen  sind.  Aber  „Der  Staat"  fehlt  noch, 
und  so  ist  es  besonders  glücklich,  dass  das  neue  Unternehmen  mit  diesem 
Hauptwerk  beginnt.  Die  Herausgeber  der  „Antiken  Kultur",  Gebrüder 
Horneffer,  haben  sich  durch  ihr  Buch  „Das  klassische  Ideal"  bereits  einen 
Namen  gemacht  und  kommen  jetzt  dem  Wunsche  nach,  die  von  ihnen  als 
so  wertvoll  hingestellte  griechische  Kultur  auch  lebendig  zu  machen.  Bei 
der  Übersetzung  haben  sie  es  sich  zur  Richtschnur  gewählt,  den  Text 
möglichst  aus  dem  Geiste  der  deutschen  Sprache  wieder  entstehen  £n 
lassen,  ohne  doch  das  Original  etwa  umzuarbeiten.  Das  ist  ja  das  Ideal 
jeder  guten  Übersetzung,  es  kommt  mm  auf  die  persönliche  Kunst  an,  es 
zu  erfüllen.  Horneffer  ist  das  in  hohem  Grade  gelungen,  die  Übersetzimg 
hat  einen  guten,  reinen  Stil,  man  merkt  seitemang  nicht,  dass  es  eine 
Übersetzung  ist  —  das  ist  wohl  das  höchste  Lob.  Die  echtgriechischen 
Redewendungen  echt  deutsch  wiederzugeben,  ist  eine  unlösbare  Schwierig- 
keit, es  wäre  vielleicht  am  besten,  sie  ganz  an  manchen  Stellen,  nament- 
lich bei  kurzen  Antworten,  fortzulassen. 


Rezensionen  (Leser— GTomperz).  489 

Apologie,  Phädon  und  Kriton  sollen  folgen,  übersetzt  von  E.  Hör- 
neffer.  Ein  Vergleich  mit  Kiefers  Übertragungen  wird  da  am  Platze 
sein.  Jetzt  können  wir  nur  den  Herausgebern  „Glück  auf"  zurufen,  denn 
die  Lösung  der  grossen  Aufgabe  scheint  uns  würdig  begonnen.  Auch 
äuBserlich  ist  der  erste  Band  besonders  glücklich  gestaltet. 

Hamburg.  Dr.  0.  Braun. 

Leser,H.,Dr.  J.G.Fichte:  Reden  an  die  deutsche  Nation. 
In  ursprünglicher  Gestalt  neu  herausgegeben.  Deutsche  Taschenbibliothek, 
Einhorn-Verlag  München  1908.    (71  u.  3ß5  S.) 

Im  Jubi&umsiahre  der  Reden  ist  eine  würdige  Neuausgabe  derselben 
erschienen.  Dass  Fichte  in  höchstem  Grade  geeignet  ist,  Erzieher  unserer 
heutigen  Nation  zu  sein,  wird  immer  mehr  eingesehen.  Den  Materialismus 
sind  wir  glücklich  los,  nun  bedroht  uns  der  Epikureismus  einer  nur  ästhe- 
tischen Kultur  oder  wieder  eine  Verflüchtigung  in  das  Reich  abstrakter 
Ideen  nnd  logischer  Begriffsentwickelungen,  wie  E.  v.  Hartmann  es  aller- 
dings in  genialer  Weise  errichtet  hat.  Fichte  aber  zeist  uns,  was  einzig 
Not  tut:  die  Umsetzung  der  Idee  in  geistige  Tat.  Das  ist  das 
Anaseichnende  des  deutschen  Wesens,  dass  bei  ihm  nie  Leben  und  Lehre 
auseinander  fallen  dürfen.  Das  Wesen  der  Welt  ist  schaffende  Tat,  und 
unsere  Au^be  ist  es,  mit  eigenem  Schaffen  an  grossen  Zielen  daran  teil- 
zonehmen!  Weil  der  Kern  des  Lebens  in  der  schaffenden  Tat  bei 
dem  Deutschen  ruht,  deswegen  ist  es  so  schwer,  das,  was  echt  deutsch 
ist,  in  Begriffen  dem  klar  zu  machen,  der  es  nicht  weiss! 

Lesers  Ausgabe  ist  mit  grosser  Freude  zu  begrüssen.  Der  Text  hält 
sich  genau  anöden  ersten  der  Reden  vom  Jahre  1808,  Erläuterungen  er- 
klären einige  Äusserungen  des  Textes  und  behandeln  das  Eingreifen  der 
Zensur.  Wertvoll  aber  ist  vor  Allem  die  Einleitung,  die  Fichtes  Wesen 
und  seine  Lehre  tief  fasst  nnd  sehr  richtig  charakterisiert.  .In  Fichte 
haben  wir  den  grossen  Philosophen  der  Tat,  den  Philosophen  des  Herois- 
mus vor  uns,  der  das  ganze  erstarrte  Sein  unseres  Lebens  in  seine  schaf- 
fenden Gründe  zurückschlingt,  um  es  von  hier  in  freier  Tat  neu  entstehen 
zu  lassen."  Fichtes  Bedeutuns^  ist  es,  dass  er  sich  nicht  einspann  in  ein 
selbstherrliches  Reich  der  Gedankenträume,  sondern  dass  er  von  der  Idee 
zur  Tat  kam!  Dass  sich  solch  schaffende  Tat  nur  in  dem  Rahmen 
der  Nation  entfalten  kann,  das  war  die  Grundeinsicht  Fichtes.  Hier 
gliedert  sich  dann  seine  Erziehungsidee  im  Sinne  Pestalozzis  an:  zur 
nationalen  Tat  muss  die  Jugend  erzogen  werden. 

Wie  gesagt:  Lesers  Einleitung  ist  sehr  g^eeignet,  Fichte  uns  inner- 
lich nahe  zu  bringen.  Mö^e  dieses  Buch  wirklich  ein  Taschenbuch  für 
recht  viele  werden,  denn  ewige  Jugend  strahlt  von  ihm  aus. 

Hamburg.  Dr.  O.  Braun. 

Gomperx,  Heinrich.  Das  Problem  der  Willensfreiheit. 
Jena,  Diederichs,  1907.    (166  S.) 

Windelbands  so  hervorragende  Vorlesungen  „Über  Willensfreiheit" 
haben  an  Gomperz'  Buch  ein  Gegenstück  gefunden:  beide  zeichnen  sich 
ans  durch  begriffliche  Klarheit  und  strenge  Wissenschaftlichkeit,  beide 
versuchen  durch  Kl&rung  des  im  allgemeinen  Bewusstsein  so  verwirrten 
Freiheitebegriffes  und  den  Vorgäns^n  beim  Zustandekommen  einer 
Willensentscheidung  das  i^eiheitsproblem  der  Lösung  nSJier  zu  bringen. 
Gomperz  unternimmt  es,  Determinismus  und  Indeterminismus  als  gleich 
onricntige  Theorien  zu  entwaffnen,  indem  er  eine  Grundvoraussetzung 
beider  zu  widerlegen  sucht:  das  Bestehen  einer  allgemeinen  Kausalität. 
Wir  müssen  scheiden  zwischen  periodischer  und  dynamischer  Kausalität, 
d.  h.  zwischen  Gesetzmässigkeit  die  Aufeinanderfolge  und  Notwendigkeit 
des  Hervorbringens.  Welcher  von  diesen  Kausalitätebegriffen  kann  auf 
das  Problem  des  Entstehens  der  einzelnen  Wollungen  und  Tätigkeiten 
angewandt  werden?  Analysieren  wir  den  dynamischen  KausalitäteDecriff, 
so   leigt   sich,   dass   wir  von   einer  „Notwendigkeit"    nur   bei   wirklich 


490  Kezensionen  (Gomperz). 

passiven    Bewegungen   sprechen   können.     „Eine  aktive  Körperbewegung 
z.  B.  ist  immerdar  begleitet  von  einem  Gefühle  der  Tätigkeit:   eben  hier 
entspringt  ja  der  Begriff  der  Tätigkeit  überhaupt.    Allein  einen  Vorgang 
als  Wirkung  denken,  heisst  . . .  dem  Gegenstande,  an  dem  dieser  Vorging 
sich  vollzieht,   in  Beziehung   auf   diesen  Vorgang   ein  Gefühl  des  Leidens 
einlegen.    Und   einen  Vorgang   als   notwendige   \Virkung   denken,   heisst. 
jenem   Gegenstande   in   Begiehung   auf   diesen   Voryang   ein   Gefühl  des 
Leidens    nach   einer  Niederlage,   somit  das  Gefühl  eines  gewaltsamen,  er- 
zwungenen   Leidens   einlegen.     Nun   ist  es  jedoch  unmöglich,   einem  und 
demselben   Gegenstande   in  Beziehung   auf   einen  und  denselben  Vorgang 
ein  Gefühl   der  Tätigkeit   und   ein  Gefühl   des  Leidens,   oder  gar  des  er- 
zwungenen  Leidens   einzulegen  —  ebenso   unmöglich,   als  es  wäre,  einen 
Menschen   zugleich   liegend   und   stehend  ...  zu   denken.     Es   ist  daher 
auch   unmöglich,   eine   willkürliche  menschliche  Tätigkeit  als  —  im  dyna- 
mischen  Sinne   —    notwendige   Wirkung    einer   bestimmten   Ursache  zu 
denken"  (S.  121  —  122).     „Im   dynamischen  Verstände  sind  demnach  Deter- 
minismus und  Indetenninismus  beide  abzulehnen  :  der  Wille  ist  weder  der 
allgemeinen    Notwendigkeit   des   Geschehens   unterworfen,   noch   von  ihr 
ausfi^enommeu,  weil  es  eine  solche  allgemeine  Notwendigkeit  gar  nicht 
giebt"  (S.  123).    Es  könnte  also  nur  die  allgemeine  Gesetzmässigkeit  sein, 
der  auch  das  Seelenleben  unterworfen  ist.    Unter  dieser  aber  können  wir 
nichts  anderes  verstehen,  als  den  Entschluss  aller  denkenden  Wesen,  jede 
gegebene   Tatsache   als   eine   gesetzlich  bedingte  aufeufassen.    So  ist  also 
die  allgemeine  Kausalität  ein^Postulat,  das  wir  an  die  Dinge  heranbringen. 
Gomperz   ist   hier  u.  A.   in  Übereinstimmung   mit  einem  uns  zu  früh  ent- 
rissenen, logisch  besonders  scharfsinnigen  Philosophen,  Ludwig  Busse,  der 
den   Charakter  der  Kausalität  als   menschliche   Voraussetzung   besonders 
scharf  betont  hat,   doch    er   wies  auch  darauf  hin,  dass  die  Welt  uns  bei 
diesem   Bestreben,   einen   Grund   für  jede  Wirkung  zu  finden,  entgegen- 
kommt, und   dass  infolgedessen   in  der  objektiven  Welt  etwas  der  Kausa- 
litätsvorstellung   entsprechendes   vorhanden   sein  muss   (vgl.  Busse,  Philo- 
sophie und  Erkenntnistheorie,  Leipzig  1894,  ein  ungemein  klares  und  wert- 
volles Buch).     Auch   die  vollständige  Bestimmtheit  menschlicher  Willens- 
akte  durch   rein    seelische   Gesetze  ist   ein   Postulat,  ja   die    Aussichten 
auf  eine  gesetzmässige  Ordnung  des  Seelenlebens  sind  noch  viel  geringer, 
als  auf  dem  physischen  Gebiet.    Ja,  ist  es  denn  überhaupt  denkbar,  diese 
Kausalität   als   allgemein   herrschend  wie  in  der  Natur  zu  postulieren? 
Die  mechanistische  Theorie  antwortet:  ja.    Ihre  Konsequenz  ist,  dass  man 
es  als  möglich  ansehen  muss,   das   Manuskript  des  „Urfaust^  etwa  aus  der 
Leistungsfähigkeit  von  Goethes   Gehirn  und  den  äusseren  Anregungen  zu 
berechnen.     Gomperz   lehnt   die   logische   Möglichkeit   einer  solchen 
Berechnung  ab,   er   entwickelt  eine  „spontanistische"  Theorie:    die  mate- 
riellen  Elemente   der  Wirklichkeit   besitzen  gewisse  individuelle  und  mo- 
mentane  Besonderheiten   ihres   Verhaltens  und   alle  ^^Natur^setze"  sind 
nur  Durchschnittsregeln.    Die  organischen  Körper  besitzen  eine  Struktur, 
bei   der  sich   diese  Besonderheiten   verstecken,  so  dass  die  Abweichungen 
von   der  Regel  hier  merklicher  werden,   als   auf  dem  anorganischen  ue* 
biete.    Absolut  gesetzlos  ist  deswegen  der  Lebensprozess   nicht,  die  Ge- 
setze  lassen   sich   nur  nicht  exakt  angeben.    So  liesse  sich  bei  Kenntnis 
der  physiologischen  und  psychologischen  Fähigkeiten  in  Goethe  etwa  von 
ihm  sagen,   er  werde   auf  den  gegebenen  Anregungen  hin  durch  Konsep- 
tion einer  cross  angelegten  Dichtung  reagieren,  diese  oder  jene  Gedanken 
werden  dann  eine  Rolle  spielen  —  mehr  aber  nicht  ! 

So  ist  denn  heute  eine  Entscheidung  zwischen  Determinismus  und 
Indeterminismus  überhaupt  unmöglich,  wir  nähern  uns  ihr  durch  genauere 
Erkenntnis  der  Gesetze  des  organischen  und  psycliischen  Lebens. 

Der  entscheidende  Punkt  der  interessanten  Untersiichnng  von  Crom- 
perz  ist  die  Überwindung  des  dynamischen  Kausalbe^riffs.  £ßer  hätte 
eine   Kritik   einzusetzeYi,   die   ich   mir  für  eine  ausführlichere  Behandlung 


Rezensionen  (Gottschick).  491 

des  Gegenstandes  verspare.  Sehr  wohltuend  berührt  an  dem  Buche,  dass 
eine  rein  theoretische  Behandlung  gegeben  wird  und  die  Freiheitsfrage 
von  allen  praktischen  „Eonsequenzen"  losgelöst  wird.  Von  der  anderen 
Seite  aus  liesse  sich  das  Freiheitsproblem  nur  auf  Grund  einer  umfassen- 
den Weltanschauung  fruchtbar  erörtern. 

Das  Buch  enthält  in  seinem  ersten  Teil  eine  Geschichte  des  Pro- 
blems in  der  bisherigen  Philosophie.  Abweisen  möchte  ich  hier  nur  die 
Behauptung,  Schelling  habe  die  Kantische  Freiheitslehre  im  wesentlichen 
wiederholt  (S.  46).  Das  ist  wohl  im  „System  des  transscendentalen  Idea- 
lismus""  der  Fall,  aber  hier  spielt  es  nur  eine  nebensächliche  Rolle.  Da- 
gegen in  den  „Untersuchungen  über  das  Wesen  der  menschlichen  Freiheit" 
(1809)  geht  Schelling  seinen  ganz  eijj^enen  Weg,  der  weit  über  Kant  hin- 
ausfüiirt.  Als  interessant  erwähne  ich  noch  die  Ausführungen  über  die 
„Wahrscheinlichkeit  der  Willensentscheidungen**.  Unrichtig  erscheint  mir 
daran  nur,  dass  die  „Stücke"  der  Motive  durch  die  Dauer  ihrer  Herr- 
schaftsphasen im  Bewusstsein  gemessen  werden  sollen!  Oft  herrscht  ein 
Motiv,  dem  ich  nachher  nicht  folge,  sehr  lange  im  Bewusstsein;  da  tritt 
ein  neuer  Gedanke  über  die  Schwelle,  der  sofort  einleuchtet  und  zum 
Motiv  wird,  —  dem  folge  ich  dann,  trotzdem  er  nur  wenige  Sekunden  im 
Bewusstsein  herrschte. 

Doch  genuç  der  kleinen  Ausstellungen  —  im  Ganzen  ist  es  ein 
ernster  und  wichtiger  Beitrag  zur  Lösung  des  Freiheitsproblems. 

Hamburg.  Dr.  O.  Braun. 

t  Gottschick,  Johannes,  D.,  Professor  der  Theologie  in  Tübingen. 
Ethik.    Tübingen  1908.    I.  C.  B.  Mohr.    (XV  und  280  S.) 

Bevor  ich  auf  den  Inhalt  des  Werkes  eingehe,  schicke  ich  eine  kurze 
Übersicht  über  die  Einteilung  desselben  voraus. 

In  den  „Prolegomena"  werden  die  ^allgemeinen  Merkmale  und  Be- 
ziehungen des  Sittlichen",  sowie  ^die  Aufgabe  der  theologischen  Ethik** 
erörteiT.  Der  1.  Teil  handelt  dann  von  den  „Prinzipien  der  christlichen 
Sittlichkeit".  Der  2.,  ausführende  Teil  gliedert  sich  in  drei  Abteilungen: 
I.  „Die  prinzipiellen  Bestandteile  des  evangelischen  Lebensideals."  U.  ^ie 
sitüichen  Gemeinschaften  im  Lichte  des  evangelischen  Lebensideals."  IE. 
„Die  Entwickelung  des  Einzelnen  in  den  sittlichen  Gemeinschaften  im 
Lichte  des  evangdischen  Lebensideals  (Individualethik)."  Ein  ausführliches 
Sach-  und  Namenregister  ist  beigefü^. 

Gottschick  gehört  zu  deigenigen  theologischen  Ethikem,  welche 
ernstlich  Fühlung  mit  der  philosophischen  Ethik  suchen.  Wie  er  über  das 
Verhältnis  der  theologischen  zur  philosophischen  Ethik  denkt,  zeigen  fol- 
^nde  Worte:  „Die  Theologie  setzt  die  Arbeit  der  philosophischen  Ethik 
msofem  voraus,  als  die  Analyse  der  sittlichen  Wirklichkeit  .  .  . 
für  sie  die  Voraussetzung  der  Erledigung  ihrer  wissenschaft- 
lichen Aufgabe,  weil  das  Mittel  ist,  den  wissenschaftlichen  Ort  ihrer 
Sonderau^be  darzustellen.  Sofern  aber  beide  ein  bestimmtes  sittliches 
Ideal  aufstellen  .  .  .,  handelt  es  sich  im  Falle  der  Differenz  um  den  Kampf 
mehr  oder  minder  entgegengesetzter  Lebensanschauungen  ....  Wer  von 
beiden  mehr  Anrecht  aiu  den  Namen  der  Wissenschaft  hat,  hängt  vom 
tatsächlichen  Verfahren  ab."  Also  auch  die  theologische  Ethik  hat  nach 
G.  unter  Benutzung  der  Leistungen  der  philosophischen  Ethik  von  einer 
Analyse  der  sittlichen  Wirklichkeit  auszugehen. 

Bei  der  Lösung  dieser  Aufgabe  zeigt  sich  G.,  wie  es  öfters  bei  theo- 
logischen Ethikem  der  Ge^nwart  der  Fall  ist,  in  hohem  Masse  von  dem 
modernen  Relativismus  beemflusst.  Am  meisten  tritt  dies  hervor  in  der  Er- 
örterung über  den  Ursprung  des  G^ewissens.  Das  Gewissen  ist  nach  G. 
^ein  geschichtlicher  und  individueller  Erwerb,  Ausdruck  der  sitt- 
lichen Bildung  der  ganzen  Persönlichkeit,  die  in  der  Wechselwirkung 
mit  dem  sittlichen  Leben  der  Gemeinschaft  gewonnen  ist**.  Dies 
folgert  G.  einerseits  aus  der  „grossen  Ungleichurtigkeit  des  Gtowissens**, 
„die  durch  Geschichte  und  Ethnologie  bezeugt  wird*,  andererseits  aas  der 


492  Rezensionen  (Gottschick). 

„offenbaren  Korrespondenz  zwischen  dieser  Verschiedenheit  und  dcB  wirt- 
schaftlichen, politischen,  reli&riösen  und  ,anderen  Lebensbedingunsen  der 
Gemeinschaft  und  ihren  geschichtlichen  Änderungen,"  sowie  aus  der  „Be- 
ziehung desjenigen  Gewissensinhalts,  der  wirklich  überall  gleichartig  ist, 
zu  den  überall  gleichen  Existenzbedingungen  ^emeiuschafthchen  Lebens". 
Ebenso  führt  er  das  Bewusstsein  des  Sollens,  der  sittlichen  Verpflichtung 
auf  den  Einfluss  des  Milieus  zurück.  „Die  Erfahrungen  in  der  Erziehung 
beweisen,  dass  die  Ehrfurcht  vor  den  Autoritäten,  welche  die 
sittlichen  Normen  in  der  Gemeinschaft  vertreten,  die  erkennbare 
psychologische  Wurzel  des  Gefühls  von  ihrer  Verbindlichkeit  ist." 
Belege  für  diese  Thesen,  bei  denen  G.  anscheinend  sehr  von  dem  von  den 
ethischen  Empirikern  beigebrachten  Material  abhängig  ist,  werden  nicht 
gegeben. 

Diese  prinzipiellen  Anschauungen  haben  auf  die  Darstellung  des 
Systems  der  christlichen  Ethik,  welche  des  Verfassers  eigentliche  Amgabe 
bildet,  den  unvermeidlichen  Einfluss  gehabt.  Wie  bei  den  philosophischen 
Ethikem,  welchen  Gottschick  nahesteht,  die  einzelnen  sittlichen  Normen 
aus  den  Gemeinschaftszwecken  (Gesamtwohl  etc.)  abgeleitet  werden,  so 
bei  ihm  aus  einem  Gemeinschaftszweck  höherer  Art,  der  Verwirklichung 
des  Reiches  Gottes.  Und  wie  jene  Ethiker  konsequenterweise  von  unbe- 
dingten sittlichen  Normen  nichts  wissen  wollen,  da  es  bei  einer  sittlichen 
Entscheidung  nach  ihrer  Voraussetzung  immer  nur  darauf  ankommt,  ob 
durch  die  betreffende  Handlung  der  jeweilige  Gesamtzweck  gefördert 
wird,  so  auch  Gottschick.  Er  redet  zwar,  ähnhch  wie  jene  philosophischen 
Vertreter  einer  teleologischen  Ethik  von  „Durchschnittsregeln^,  aber  diese 
sind  „von  einem  Rechtsgesetz  spezifisch  verschieden."  Letzteres  muss  unter 
allen  Umständen  befolgt  werden,  bei  ihnen  dagegen  muss  im  einzelnen 
Falle  ihrer  Anwendung  gefragt  werden,   ob   Handlungen,   die  nach 

ihnen    erfolgen,   unter  den  besonderen  Umständen  auch das 

rechte  Mittel  zur  Beförderung  des  Reiches  Gottes  sein  wür- 
den. Wenn  das  nicht  der  Fall  ist,  so  erleiden  sie  im  beson- 
deren Falle  keine  Anwendung.''  Auch  S.  260  wird  die  christiidie 
Ethik  eine  „gesetzesfreie,  teleologische  Moral"  genannt. 

Gegen  diese  Auffassung  gelten  natürlich  dieselben  Bedenken,  welche 
so  oft  gef^en  die  Erfolgsethik  auf  dem  philosophischen  GTebiet  vorgebracht 
worden  sind.  U.  a.  würae  von  diesem  Standpunkt  aus  eine  widerrechtUcbe 
Beseitigung  von  Ketzern  und  anderen  der  Entwickelung  des  Reiches 
Gottes  schädlichen  Menschen  sittlich  gerechtfertigt  sein,  vorausgesetzt, 
dass  der  Schein  des  Rechts  dabei  aufrechterhalten  oder  die  gewaltsame 
Beseitigung  ganz  heimlich  vorgenommen  veürde.  Andere  nicht  geringere 
Schwierigkeiten  kommen  noch  hinzu,  auf  deren  Erörtemng  ich  mer  ver- 
zichten muss  und  um  so  leichteren  Herzens  verzichten  kann,  als  ich  mich 
in  meiner  Kritik  des  sittlichen  Bevnisstseins  S.  15  ff.  ausführlich  mit  der 
teleologischen  Ethik  auseinandergesetzt  habe.  Dagegen  wird  es  sich 
empfehlen,  noch  einen  Blick  darauf  zu  werfen,  wie  ein  theologischer 
Ethiker  von  der  Bedeutung  Gottschicks  sich  zu  derjenigen  Richtung  ethi- 
scher Forschung  stellt,  welche  ich  der  Beqnenüichkeit  halber  die  aprioris- 
tische  nennen  möchte. 

Die  Entstehung  des  bestimmten  sittlichen  Bewusstseins  aus  einer 
idealen  Anlage  würde  sich,  wie  G.  S.  17  meint,  allenfalls  vorstellen  laœen, 
„wenn  man  mit  Kant  und  Fichte  die  sittliche  Vernunft  so  formell  fassen 
aürfte,  wie  sie  auch  auf  dem  theoretischen  Gebiet  sich  als  wirk- 
sam erweist^'.  Dies  ist  aber  nach  G.  nicht  möglich.  Sowohl  die  von 
Elant  als  die  von  Fichte  aufgestellte  abstrakte  Formel  für  das  Sittengesetx 

fewinne  einen  sittlichen  Sinn  erst  dann,  „wenn  man  ihnen  heimlicn  viel 
onkretere  Anschauungen  substituiert.  Mit  dieser  Bemerkung  hat  G.  nun 
freilich  durchaus  recht;  nur  würde  ich  das  missverstänfiiehe  „heim- 
lich*' beanstanden.  Welche  Kluft  zwischen  Kants  kategorischem  Im- 
perativ und  den  tatsächlichen  sittlichen  Normen  gähnt,  und  wie  Elant  die 


Rezensionen  (Rüge).  493 

etzteren  in  Wirklichkeit  auf  ganz  andere  Weise  ableitet,  als  es  zunächst 
len  Anschein  hat,  habe  ich  selbst  neuerdings  in  meiner  „Ethik  Kants"" 
Berlin  1907)  dargestellt.  Aber  daraus  folgt  noch  keineswegs,  dass  man 
las  Wesen  der  „sittlichen**  Vernunft  nicht  ebenso  formell  fassen  dürfte 
ne  das  der  theoretischen.  Vielmehr  ist  Kant  nach  meiner  Überzeugung 
rotz  der  verfehlten  Ausführung  völlig  jm  Recht.  Es  ist  m.  E.  methodisch 
iorchaus  ungerechtfertigt,  von  der  Übereinstimmung  oder  Nichtüberein- 
timmung  der  sittlichen  Einzelnormen  auszugehen  oder  auch  nur  denselben 
in  entsdieidendes  Gewicht  beizulegen.  Das  führt  mit  Notwendigkeit  zu 
iner  falschen  Problemstellung,  ebenso  wie  es  auf  dem  Gebiet  der  Logik 
•der  Erkenntnistheorie  der  fSü  sein  würde,  wenn  man  auf  dem  Wechsel 
md  der  Verschiedenheit  der  theoretischen  Anschauungen  die  Beweisführ- 
ing  aufbauen  wollte.  Hier  wie  dort  kommt  es  darauf  an,  die  gesetzmässige 
Betätigung  des  Geistes  kennen  zu  lernen,  durch  welche  die  konkreten  Ver- 
teilungen zustande  kommen,  und  ebensowenig  wie  aus  der  Verschiedenheit 
1er  theoretischen  Anschauungen  ein  Schluss  auf  die  Verschiedenheit 
las  theoretischen  Denkens  und  seine  Gesetze  gezogen  werden  kann,  eben- 
owenig  aus  der  Verschiedenheit  der  sittlichen  Anschauungen  auf  die  Ver- 
chiedenheit  des  sittlichen  Denkens  und  seiner  Gesetze.  Nun  ist  allerdings 
Cants  kategorischer  Imperativ  keineswegs  ein  vollständiger  und  zutreffen- 
1er  Ausdruck  für  die  Betätigung  der  Vernunft  auf  dem  sittlichen  Gebiet, 
lach  meiner  Meinung  würde  es  neissen  müssen:  „Die  Betätigung  der  Ver- 
lunft  auf  dem  sittlichen  Gebiet  besteht  in  der  Be^^ründung  geistiger  Ge- 
oeinschaft  Die  Gesetze  dieser  Betätigung,  d.  i.  die  Bedingungen  der 
Möglichkeit  erfolgreicher  Betätigung  der  praktischen  Vernunft  (ent- 
prechend  den  Bemn^ngen  der  Möglichkeit  der  Erfahrung  auf  theo- 
eÜBchem  Gebiet^  sind  Wahrhaftigkeit,  Zuverlässigkeit,  Freiheit  des 
3^edankenaustauscnes  und  Freiheit  des  Handelns  oder  Selbstbestimmung." 
^ie  von  hier  aus  die  konkreten  sittlichen  Anschauungen  der  Menschheit 
verständlich  werden,  auch  die  Ideale  der  christlichen  Ethik,  habe  ich  in 
Deiner  „Kritik  des  sittlichen  Bewusstseins"  und  in  meiner  „Ethik  Kants** 
m  einzelnen  dargestellt. 

Der  Ge^nsatz  zur  Prinzipienlehre  des  Verfassers  hindert  natürlich 
licht  eine  weitgehende  Zustimmung  zu  der  Beurteilung  der  konkreten 
ittUchen  Lebensverhältnisse,  welche  weitaus  den  grössten  Teil  des  Buches 
n  Anspruch  nimmt.  Hier  werden  insbesondere  oie  Theologen  manches 
bedeutsame  und  Beherzigenswerte  finden.  Vor  allem  den  vielen  Schülern 
S-ottschicks  aus  alter  und  neuer  Zeit  wird  das  gediegene  und  aus  lang- 
ähri^er  gründlichster  Beschäftigung  mit  dem  Gegenstande  erwachsene 
^erk  eine  erfreuliche  Gabe  sein. 

Mtlnsteri.  W.  Wilhelm  Koppelmann. 

Rnge,  Arnold.  Kritische  Betrachtung  und  Darstellung 
les  Deutschen  Studentenlebens  in  seinen  Grundzügen.  Tübingen 
Mohr)  1906.    (XH  und  184  S.) 

Es  ist  in  der  heutigen  Zeit  fi:ewagt,  eine  von  Sensationslust  freie, 
uritiflche  Abhandlung  über  das  akademische  Leben  und  Treiben  zu 
tchreiben.  Denn,  abj^esehen  von  den  politischen  und  reli^ösen  Bestreb- 
ingen, für  die  dabei  eingetreten  werden  kann,  steht  der  Streit  zwischen 
^^achstadium  und  allgemein  wissenschaftlicher  Bildung  im  Vordergrund. 
Cr  beschäftig  nicht  nur  die  Mittelschulen,  sondern  die  Universitäten; 
lenn  auch  sie  müssen  der  Entwickelung  folgen  und  —  wie  schon  in 
'ruberen  Zeiten  —  hat  sich  auch  hier  die  Methode  etwas  verschoben,  da 
ie  zu  der  Frage  nach  der  Fortbildung  der  Fachwissenschaften  und  nach 
len  Zugeständnissen  an  das  praktische  Leben,  ohne  die  Einheit  des  Wissens 
sa  zerreissen,  Stellung  nehmen  musste.  —  Selbst  das  werktätige  Volk 
scdgt  in  seinem  Streben,  an  der  allgemeinen  „Geistesbildung,  so  weit  es 
n  seinen  Kräften  steht,  teilzunehmen,  welche  Wege  der  Student  ein- 
«hlagen  muss,  um  den  ganzen  Vorteil  aus  seinen  Universitätqahren  zu 
liehen.    Er  wird  nicht  nur  dem  niederen  Utilitätsideal  nachstreben  dürfen. 


494  Rezensionen  (Hoffmann). 

einen  recht  grossen  Spezialwissenstoff  sich  anzueignen,  damit  er  in  der 
heutigen,  von  wirtschaftlichen  Kämpfen  schwer  bewegten  Zeit  bestehen 
kann  ;  sondern  er  wird  darauf  bedacht  sein  müssen,  sich  eine  richtige  Auf- 
fassung vom  Leben  und  seinem  Sinn  anzueignen.  Die  allgemeine  Bildung 
und  die  freiwissenschaftliche  BetÄtigung  tritt  neben  die  Forderung  der 
Erziehung  zum  tatkräftigen  Leben  und  der  gründlichen  Vorbereitung  zum 
Lebensberuf.  Die  Erkenntnis  muss  um  der  Erkenntnis  willen  gepflegt 
werden,  es  darf  nicht  nur  des  praktischen  Zwecks  halber  nach  den  Kennt- 
nissen gesucht  werden.  „Alles  Wissen  muss  aus  dem  ursprünglichen 
Wissen  fliessen;  alle  Wissenschaften  sind  Teile  der  einen  Philosophie, 
nämlich  des  Strebens,  an  dem  Urwissen  teilzunehmen"  (Schelling).  Damit 
ist  aber  der  Weg  dem  Jünger  der  Wissenschaft  gewiesen.  Er  wird  sich, 
gerade  in  den  ersten  Semestern,  bestreben,  eine  vemunftgemässe  Leben»- 
Führung  sich  anzueignen,  eine  Persönlichkeit  aus  sich  herauszubilden,  die 
auf  die  Stimme  ihres  Gewissens  achtet  und  ihre  Pflicht  erfüllt,  boUte  sie 
auch  der  Neigung  entgegentreten.  Damit  fällt  die  Pflicht  der  Charakter- 
bildung zusammen,  die  ja  für  den,  welcher  einen  oberflächlichen  realen 
Zweckstandpunkt  verschmäht,  einen  eminent  wertvollen  Faktor  selbst  für 
die  praktische  Lebensbetätigung  bildet.  Damit  ist  aber  auch  das  Ideal 
der  Universitäten  als  der  Stätten  freier,  zweckvoller  Geisteskultur  gewahrt, 
und  ganz  besonders  wird  die  Pflege  der  Philosophie  und  ihrer  Nachbar- 
gebiete wieder  in  den  Vordergrund  gerückt.  Schleiermacher  sagt:  die 
ersten  beiden  Semester  sollte  jedermann  Philosophie  studieren.  Für  die 
heutige  Zeit  giebt  er  die  beherzigenswerte  Mahnung,  in  den  erstes 
Universitätgahren  an  seiner  allgemeinen  Wissens-  und  Charakterbildung 
zu  arbeiten.  — 

Eine  Schrift,  die  von  solchen  Gesichtspunkten  geleitet  wird,  wm 
jedem,  der  für  das  Studium  der  Philosophie  in  der  heutigen  Zeit  eintritt^ 
und   der  in   der  Lebensauffassung,   wie  sie  im  deutschen  Idealismus  b^ 

gründet  ist,  die  Aufgabe  erfüllt  sieht,  willkommen  sein.  Buge  geht  von 
lesen  Gesichtspunkten  aus,  indem  er  hofft,  dass  statt  der  Vemichtong 
des  alten  Ideals  der  alte  und  der  neu  aufkommende  Bildungstrieb  bestehen 
bleiben  möge  Er  ^aubt,  trotz  der  Unmenge  von  Schriften,  die  auf  das 
akademische  Leben  Bezug  nehmen,  in  „absolut-kritischer"  Weise  Wert' 
massstäbe  für  ein  zweckmässig  einzurichtendes  Studentenleben  geben  zn 
können,  im  Kampf  gegen  die  Sensationsschriften  über  das  Studentenleben, 
und  im  Kampf  gegen  die  Unwissenheit  weiter  Kreise  über  das  Studenten- 
leben.  Er  hat  sich  neben  Schleiermacher  und  J.  E.  Erdmann  —  ein  ans- 
führUches  Litteraturverzeichnis  befindet  sich  am  Schluss  —  Fichtes  ,d^ 
duzierten  Plan  einer  zu  Berlin  zu  errichtenden  höheren  Lehranstalt* 
und  seine  Rede  „über  die  einzig  mögliche  Störung  der  akademischen 
fVeiheit^'  als  Muster  gesetzt.  Nach  Festlegung  des  obersten  Prinzipes 
kommt  er  auf  die  wichtige  Frage  der  Lehr-  und  Lemfreiheit,  um  dann 
das  akademische  Studium  und  das  akademische  Leben  im  einzelnen  za 
behandeln.  Mag  bei  diesen  Einzelfra^en  —  die  genauer  zu  erörtern  hier 
nicht  der  Ort  ist  —  da  und  dort  auch  eine  andere  Lösung  versucht  werden, 
so  behält  diese  Darstellung  des  Studentenlebens  doch  für  den  Verfechter 
echter  philosophischer  Bildung  i^en  Wert. 

freiburg  i.  Br.  Dr.  A.  Maas. 

Hoffmann,  K.  Zur  Litteratur  und  Ideengeschichte  (12  Sta- 
dien).   Charlottenburg  (Günther)  1908.    (Vm  und  iß  S.) 

Die  in  diesem  Buch  gesammelten,  früher  in  einzelnen  Zeitschriften 
veröffentlichten   Aufsätze   gehören  zum  Teil  in  das  Gebiet  der  litento^ 

feschichte,  zum  Teil  in  das  der  Philosophie.  Dazu  enthält  es  noch  eine 
tudie  über  den  „Ursprung  der  deutschen  Schriftsprache",  die  unter  ihren 
früheren  Titel  p,Zur  deutschen  Kulturbedeutung  Böhmens  im  14.  Jahr- 
hundert^ das  eigenartig  Neue,  die  sprachlichen  Bestrebungen  der  böhnü- 
sehen  Kanzlei  und  die  wichtige  Stellung  des  Prager  Deutsdi  ffir  die 
deutsche  Schriftsprache  schon  in  der  Überschrift  angedeutet  hätte,  während 


Rezensionen  (Hoffmann).  495 

unter  der  neuen  Bezeichnung  der  Aufsatz  trotz  verschiedener  gelegent- 
licher Anmerkungen  einseitig  erscheint.  —  Die  Aufsätze  „Die  dramatische 
Stimmung^,  Hauptmanns  „Symbolismus",  eine  Ehrenrettung  von  „Und 
Pippa  tanzt",  zur  nationalen  Bedeutung  des  Göttinger  Dichterbundes"  und 
„Das  deutsche  Element  in  der  modernen  Litteratur"^  seien  hier  als  litte  rar- 
historisch  wertvolle  Essays  nur  aufgezählt,  wenngleich  gerade  bei  dem 
letztgenannten  die  Zusammenhänge  mit  der  Entwickelung  der  Philosophie 
des  19.  Jahrhunderis  leicht  konstruierbar  sind. 

„Der  Irrtum  im  Ideal  der  Moderne"  zeichnet  in  scharfen  Strichen 
die  beiden  Hauptseiten  der  Weltanschauung  der  modernen  Litteratur- 
ricbtung,  die  bis  ,zur  „Lebensfreude"  gesteigerte  Bejahimg  des  einzelnen 
Lebens  und  die  Übertrag|iing  dieser  Lebensfreude  des  einzelnen  Wesens 
auf  die  ganze  Natur.  jDer  Mensch  soll  das  Universum  mit  seinem  Ich- 
geffihl  anfüllen  und  sich  dabei  vom  Universum  gleichsam  aufsaugen  lassen". 
Dieser  einzigartigen  Persönlichkeit  mit  ihrer  ungebändigten  Willenskraft 
stellt  er  als  Gegensatz  das  Ideal  des  abstrakten  Individualismus  des  18. 
Jahrhunderts  entgegen,  um  damit  zu  beweisen,  dass  der  Irrtum  im  Ideal 
der  Moderne  eben  von  der  Unterschiebung  mancher  dem  Gedankenkreis 
des  18.  Jahrhunderts  entnommenen  Ideen  über  die  Individuen  als  quali- 
tativ nicht  unterscheidbare  Wesen  herrührt,  durch  die  dann  der  Gedanke 
des  gesteigerten  Lebensgefühls  des  Einzelnen  auf  das  Leben  aller  ein- 
geführt werden  konnte.  Das  dadurch  hervorgerufene  merkwürdige 
Schwanken  zwischen  individual  gearteter  Persönlichkeit  und  Ausgleichung 
aller  Gegensätze  in  der  müden  Hingabe  an  die  Natur  behandelt  auch  der 
Aufsatz  „Dehmels  Gedankendichtung",  wobei  trotz  aller  Anerkennung  der 
Bedeutung  Dehmels  für  die  moderne  Geistesrichtung  doch  festgestellt 
wird,  dass  die  ganze  Richtung  über  Häckel  Mnaus  zuletzt  zum  Suostanz- 
begriff  Spinozas  zurückkehrt. 

In  der  Studie  „Die  ästhetische  Interesselosigkeit"  wird  der  Kan- 
tiache  Satz  „Der  Gegenstand  eines  Wohlgefallens  ohne  alles  Interesse 
ist  schön"  für  eine  notwendige  Begleiterscheinung  des  ästhetischen 
Scliauens  erklärt,  wenn  auch  damit  allein  das  ästhetische  Verhalten 
nicht  erschöpft  ist.  Das  ästhetische  Schauen  muss  ein  Lustgefühl  sein, 
das  ohne  jeden  weiteren  Nebenzweck  und  Nebengedanken  beglückt,  es 
moss  aber  auch  von  jedem  blossen  Sinnenreiz  getrennt  werden.  Gerade 
der  zweite  Punkt  ist  schwerer  zu  deduzieren;  denn  das  ästhetische  Lust- 
Mfflhl  ist  von  dem  Charakter  des  betreffenden  Gegenstandes  abhängig. 
Es  werden  bei  einem  Frauenkörper  geschleditliche  Reize  als  Bedingungen 
für  die  ästhetische  Empfänglichkeit  eine  Rolle  spielen;  sie  greifen  aber 
beim  reinen  ästhetischen  Verhalten  nicht  in  unser  Sinnesleben  ein.  Kants 
Verdienst  ist  es  femer,  das  ästhetische  Anschauen  vom  intellektuellen 
Durchdringen  eines  Gegenstands  (man  vergleiche  damit  die  unrichtige 
Wortzusammenstellung  schöne  Wissenschaften)  aber  auch  von  der  Sphäre 
des  Ethischen  abgegrenzt  zu  haben.  „Das  Kunstwerk  wird  durch  seine 
äussere  Zwecklosigkeit  aus  den  Beziehungen  unserer  theoretischen  und 
praktischen  Interessen  herausgehoben,  und  damit  das  Gemüt  des  ästhe- 
tisch Geniessenden  von  diesen  Beziehungen  gelöst".  Der  Verfasser  trennt 
die  Kantische  Lehre  scharf  von  der  aus  dem  Grundcharakter  der  Schopen- 
hanerschen  Philosophie  sich  erklärenden  Theorie  der  passiven,  willenlosen 
Hingabe  an  den  geschauten  Gegenstand;  für  ihn  ist  dies  interesselose 
Schauen  eine  eminent  aktive  Betäti^ng  des  Nacherlebens  eines  Kunst- 
werks, wenn  auch  alle  Tätigkeit,  die  nicht  zur  ästhetischen  Aufnahme 
gehört,  ausgeschaltet  wird.  Der  „Spieltrieb ".Schillers  ist  ein  Kiüturtrieb, 
und  er  stellt  im  Gegensatz  zu  den  blossen  Nützlichkeitswerten  einen 
Knlturwert  dar:  Das  ist  im  letzten  Grund  der  Kern  des  eng  mit  dem 
interesselosen  Schauen  zusammenhängenden  Aufsatzes  „über  Kulturwerte". 

Diesen  Studien  schliesst  sich  ein  Essay  über  Kierkegaard  als  Denker 
an,  in  dem  eine  Gleichstellung  der  Lebensauffassungen  Schopenhauers  und 
des  dänischen  Pessimisten   versucht  wird;   der  letzte  Aufsatz  ,,vom  Wege 


496  Selbstanzeigen  (Simon). 

des  Gedankens'^  schildert  in  kurzen  Zügen  den  Kampf  der  Philosophen 
der  neuen  Zeit  über  die  Begriffe  Geist  und  Materie,  Idealität  und  Reali- 
tät. —  Wenn  der  Verfasser  m  seinem  Vorwort  sagt,  dass  die  vereinigten 
Aufsätze  den  verschiedensten  Wissensgebieten  angehören  und  nur  durch 
die  sich  gleichbleibende  Denkungsweise  des  Autors  in  einen  inneren  Zn- 
sammenhang treten,  so  wäre  eine  andere  Anordnung  der  Aufsätze  mit 
Rücksicht  auf  ihren  stofflichen  Zusammenhang  am  Platze  gewesen.  Es 
können  gerade  bei  einem  derartigen  Buch  die  Grundgedanken  nur  in 
grossen  Zügen  angedeutet  werden,  um  den  Charakter  der  Sammlung  zn 
skizzieren.  Das  Buch  giebt  ausserdem  in  seiner  ausserordentlichen  Mannig- 
faltigkeit eine  Fülle  von  Anregungen  und  geistvollen  Erklärungen. 
Freiburg  i.  Br.  Dr.  A.  Maas. 


Selbstanzeigen. 


Simon,  M.  ,,Üb er  Mathematik",  Philos.  Arbeiten  herausgeg.  von 
H.  Cohen  und  P.  Natorp.    H.  Band,  1.  Heft. 

Die  kleine  Schrift  ist  aus  der  Erweiterung  der  Einleitung  zur  zwei- 
ten Auflage  der  Dialektik  und  Methodik  des  Rechnens  und  der  Mathematik 
in  Baumeisters  Handbuch  (München  1908)  hervorjg^gangen.  Verfasser, 
welcher  sich  bewusst  ist,  auf  philosophischem  Gebiete  nur  ein  Dilettant 
zu  sein,  hätte  es  nicht  gewagt,  diese  aogerlsseuen  Bemerkungen  über  Zeit, 
Raum,  Zahl,  Unendlichkeit,  Kontinuität  und  einiges  andere,  als  „philw. 
Arbeit^  auszugeben,  wenn  ihn  nicht  die  verehrten  Herren  Herausgeber, 
insbesondere  H.  Cohen,  dazu  ermutigt  hätten.  —  Übrigens  hat  die  Arbeit 
eine  ziemlich  lange  Entstehungsgeschichte.  Sie  ist  hervorgegangen  ans 
der  Pflicht,  die  jedem  Lehrer  und  ganz  besonders  dem  Lehrer  der  Mathe- 
matik obliegt,  sich  selbst  nach  Ejrärten  klar  zu  werden  über  das,  was  er 
zu  lehren  hat.  Mit  dem  infinitären  Prozess  und  seinem  Abschlnss,  dem 
Grenzbegriff,  habe  ich  mich  seit  1872  intensiv  beschäftigt,  seit  Ernst  Lsas 
an  mich  die  Bitte  richtete,  ihm  ein  Privatissimum  über  Mathematik  zu  lesen. 

Als  ein  kaum  zu  rechtfertigender  Übergriff  erscheint  mir  jetzt  die 
Parallele  zwischen  Kant  und  Leibniz.  Zu  meiner  Entschuldigung  kann 
ich  anführen,  dass  ich  mich,  seitdem  ich  1893  den  Artikel  Differential- 
rechnung für  die  6.  Aufl.  des  Meyerschen  Konversationslexikon  bearbeitete, 
viel  mit  Leibniz  beschäftigt  habe,  und  an  den  Werken  von  E.  Cassirer 
eine  treffliche  Unterstützung  fand. 

Mit  mehr  Berechtigung  habe  ich  über  Piaton  und  Aristoteles  eini^ 
historische  Bemerkungen  einstreuen  können,  da  auch  für  die  mathemati- 
schen Grundbegriffe  die  Pythagoreer,  Eleaten,  Demokrit,  Piaton  mid  Aris- 
toteles massgebend  sind.  Insbesondere  hat  mich  der  Timäos  stark  ang^ 
zogen,  und  von  den  vielen  Bedingungen,  welche  für  das  Verständnis  dieser 
vielleicht  merkwürdigsten  Schrift  des  grössten  Hellenen  zu  erfüllen  sind, 
konnte  ich  einigen  ziemlich  befriedigena  genügen.  Aber  mein  vorgerücktes 
Alter  und  die  Überlast  der  Arbeit  hat  mich  an  einer  Literpretation  des 
Timäos  gehindert. 

Sollte  ein  oder  der  andere  Philosoph  von  Fach  aus  dieser  Plauderei 
Anregung  schöpfen,  einige  von  den  zahlreichen  Klippen,  von  denen  die 
Grnnalagen  der  Mathematik  starren,  mit  den  Mitteln  seiner  wirklich  gründ- 
lichen erkenntniskritischen  Methode  zu  sprengen,  so  hätte  die  Arbeit  ihren 
Zweck  erfüllt. 

Strassburg  i.  £.  Max  Simon. 


Selbstamseigen  (Messer—Kroner).  497 

Messer«  A.  Professor  Dr.  Empfindung  und  Denken.  (199  S.) 
Verlag  von  Quelle  und  Meyer,  Leipzig  1908. 

Ich  versuche  in  dieser  Schritt  die  in  den  letzten  Jahren  veröffent- 
lichten Untersuchungen,  die  es  zum  ersten  Male  unternehmen,  das  „Den- 
ken" mit  den  Methoden  der  experimentellen  Psychologie  zu  erforschen, 
zusammenfassend  zur  Darstellung  zu  bringen  und  sie  zu  den  bedeutsamsten 
neueren  logischen  Werken  (Husserls  Logischen  Untersuchungen  und  der 
2.  Aufl.  von  B.  Erdmanns  Logik  Bd.  I)  in  Beziehung  zu  setzen.  —  Obwohl 
die  erwähnten  psychologischen  Untersuchungen  ohne  jede  Bezugnahme 
auf  Kant  durchgeführt  wurden,  so  haben  sie  doch  dazu  geführt,  die  Grenz- 
linien zwischen  Empfindung  und  Denken  so  zu  ziehen,  wie  sie  auch  Kant 
fezogen  hat.  In  der  Kritik  d.  r.  V.  S.  57  A.  1  (Beclam^  hat  er  mit  beson- 
erer  Deutlichkeit  ausgesprochen,  dass  er  unter  Empnndungen  Bewusst- 
seinsinhalte  versteht,  „die  an  sich  kein  Objekt  . . .  erkennen  lassen".  Eben- 
so hat  es  sich  auf  Grund  jener  psychologischen  Analyse  der  Denkvorgänge 
als  zweckmässig  erwiesen,  das  „Denken"  als  Inbegriff  der  Funktionen  des 
„Ge^enstandsbewusstseins^  (durch  das  überhaupt  erst  „Objekte"  für  uns 
da  sind)  von  den  Empfindungen  zu  scheiden.  Dadurch  ergab  sich  auch 
ein  prinzipieller  Gegensatz  gegen  die  „sensualistische"  und  „Associations"- 
psychologie,  die  diesen  Unterschied  nicht  macht  und  in  dem  Denken 
lediglich  eine  Nachwirkung,  bezw.  ein  Entwicklungsprodukt  aus  den  Em- 
pfindun^n  sieht. 

Die  nähere  Analyse  des  „Gegenstandsbewusstseins"  führte  femer 
auf  die  Kantischen  Kategorien.  Enmich  hat  das  Buch  auch  insofern  Be- 
ziehune  auf  eine  grunmegende  Frage  der  Kantinterpretation,  als  es  in 
einem  besonderen  Kapitel  den  Unterschied  der  psychologischen  und  der 
logischen  Betrachtung  des  Denkens  darzustellen  unteminunt. 

Giessen.  A.  Messer. 

Kroner,  Riehard.  Über  logische  und  ästhetische  Allge- 
meingflltigkeit.  Kritische  Bemerkungen  zu  ihrer  transscendent^en 
Begründung  und  Beziehung.  Freib.  Dissertation,  Leipzig,  Fritz  Eckardt, 
1908.    (Xm  und  99  S.) 

Die  Arbeit  steht  auf  kritischem  Boden.  Ihr  Hauptzweck  besteht  in 
einer  Nachprüfung  des  von  Kant  in  seiner  Kritik  der  Urteilskraft  dar- 
gestellten Verhältnisses  der  Allgemeingültigkeit  des  ästhetischen  Urteils 
und  der  transscendental-logischen  Allgemeingültigkeit.  Bei  dem  Versuche, 
eine  eindeutige  und  widerspruchslose  Auffassung  der  Bestimmungen  Kants 
KVL  gewinnen,  stiess  ich  auf  unüberwindliche  Schwierigkeiten.  Ich  fand, 
dass  Kant  das  Wunder  der  singularen,  auf  ein  subjektives  Gefühl  sich 
gründenden  ästhetischen  Urteile,  die  dennoch  den  unerhörten  Anspruch 
auf  apriorische  Gültigkeit  erheben,  vergeblich  zu  erklären  sich  bemüht. 
Es  gàingt  ihm  nicht,  die  ästhetische  Allgemeingültigkeit  in  den  Rahmen 
seiner  aus  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  stammenden  Begriffe  zu  spannen, 
es  bleibt  eine  von  ihm  selbst  zugestandene  Dunkelheit  zurück,  und  man 
wird  bei  aller  Genialität  seiner  Gedanken  bisweilen  das  Gefühl  gewalt- 
samer Konstruktion  nicht  los. 

Den  Grçnd  dafür  glaube  ich  in  einer  Vermischung  transscendentaler 
und  syllogistischer  Begr£idun^motive  sehen  zu  müssen.  Da  diese  Ver- 
mischung ihre  Wurzeln  bis  tief  in  die  Grundlagen  der  kritischen  Philo- 
sophie erstreckt,  so  musste  ich  meine  Anschauung  von  dem  Wesen  der 
logischen  Allgemeingültigkeit  und  der  transscendentalen  Deduktion  der 
Kategorien  entwickeln,  ene  ich  zu  meinem  eigentlichen  Thema,  der  Kritik 
des  ästhetischen  Urteils,  gelangen  konnte.  Diese  Kritik  sucht  in  ihrem 
negativen  Teile  Kants  Auffassung  auf  Grund  des  gewonnenen  Verständ- 
nisses fär  die  erwähnte  Vermischung  transscendentaler  und  syllogistischer 
Begründon^pmotive  zu  interpretieren  und  gleichzeitig  zu  zersetzen;  in 
ihrem  positiven  Teile  aber  giebt  sie  einige  Hinweise  auf  eine  einwands- 
freiere  Formiüierang  und  Lösung  des  Problems  der  Beziehung  von  logi- 
scher und  ästhetischer  Allgemeingültigkeit. 


498  Selbstanzeigen  (Becher). 

Den  wesentlichsten  Dienst  zur  Lösung  meiner  Aufgabe  leistete  mir 
die  Erkenntnistheorie  Heinrich  Rickerts,  denn  durch  sie  wurde  ich  auf  die 
Bedeutung  der  Allgemeingültigkeit  singularer  logischer  Urteile  aufmerksam 
gemacht  und  befähigt,  die  Bedeutung  der  Allgemeingültigkeit  des  ästheti- 
schen Qrteils  in  analoger  Weise  zu  verstehen. 

Freiburg  i.  Br.  Richard  Kroner. 

Becher,  Erich.  Philosophische  Voraussetzungen  der  exak- 
ten Naturwissenschaften.    Leipzig,  J.  A.  Barth,  1907.    (VI  u.  243  S.) 

,,Den  Inhalt  der  folgenden  Darstellung  bilden  eine  philosophische 
Rechtfertigung  und  Deutung  der  Grundannahmen  von  Physik  und  Chemie. 
Diese  Wissenschaften  stehen  auf  dem  Standpunkte  einer  realistischen  Auf- 
fassung der  Aussenwelt.  .  .  .  Physik  und  Chemie  fassen  die  Aussenwelt 
als  körperlich  auf,  als  zusammengesetzt  aus  elementaren  Körperteilchen, 
aus  Molekeln,  Atomen,  vielleicht  zuletzt  aus  Elektronen.  Die  exakten 
Naturwissenschaften  betrachten  endlich  alle  körperlichen  Vorgänge  als 
Bewegungsvorgänge,  die  sich  an  jenen  elementaren  Körperteilchen  oder 
an  ihren  Komplexen  abspielen.  Die  Annahme  einer  körperlichen  Aussen- 
welt, die  aus  Molekeln,  Atomen  und  Elektronen  aufgebaut  ist,  und  die  da- 
mit auf  das  engste  zusammenhängende  kinetische  Naturauffassung  sollen 
im  folgenden  erkenntnistheoretischen  Angriffen  gegenüber  verteidigt 
werden.^  Eine  erkenntnistheoretisch-methodologische  Rechtfertigung  dir 
grossen  Hypothesenbildungen,  kann  aber  nur  gelingen,  wenn  jene  Hypo- 
thesenbildungen von  jedem  unnützen  Beiwerk  oefreit  werden.  ...  So  er- 
giebt  sich  eine  besondere  Auffassung  vom  Wesen  der  grossen  physikalisch- 
chemischen Hypothesen,  eine  Deutung  der  Grundannahmen  der  exakten 
Naturwissenschaften  .  .  ."  (Vorwort  S.  in,  IV).  In  der  Einleitung  werden 
der  Siegeszug  der  kinetisch-atomistischen  Auffassung  und  die  gegen- 
wärtige Lage  skizziert.  Dann  werden  allgemein  das  Wesen  und  der 
Wert  der  Hypothesen  untersucht  und  ihre  Notwendigkeit  verteidigt,  Di- 
mit  sind  die  Mittel  zur  Prüfung  der  Aussenweltshypothese  bereitet.  Diese 
wird  zunächst  kritisch  beleuchtet,  dann  begründet,  indem  sie  ans  der  An- 
nahme der  Regelmässigkeit  des  Weltgeschehens  abgeleitet  wird.  Erkennt 
man  eine  Aussenwelt  als  regelmässiges  Antezedens  (als  Ursache)  der  Em- 
pfindungen an,  so  ergeben  sich  auch  mit  WahuBcheinlichkeit  gewisse  Er- 
kenntnisse über  dieselbe.  Wir  können  „(relativ)  beharrende  Existenzen, 
Veränderunfi:en,  kausale  Zusammenhänge,  Unterschiede,  speziell  solche, 
die  denen  des  Raumes  und  der  Zeit  in  den  Wahmehmung^en  entsprechen, 
Gleichheiten  (wenigstens  angenäherte)  und  Zahlverhältnisse  erkennen" 
(S.  113).  Wir  können  in  übertragenem  Sinne  von  Körpern  als  Dingen  der 
Aussenwelt  sprechen,  kurz  die  Grundbegriffe  der  exakten  NatorwisBen- 
schaft  und  im  übertragenen  Sinne  auf  die  Aussenwelt  anwenden«  Die 
Erfahrung  führt  zur  Bildung  der  kinetischen  Hypothesen,  wie  am  Bei- 
spiel der  mechanischen  Theorie  des  Schalles  dargetan  wird.  Die  weitere 
Durchführung  der  Fetischen  Hypothesen  wird  durch  die  Annahme  der 
Diskontinuität  der  Materie  möglich.  Auch  die  Molekular-  und  Atomhypo- 
thesen  der  modernen  Naturwissenschaft  sind  aus  der  Erfahrung  ableitmr, 
ergeben  sich  durch  einfache  Analogieschlüsse  und  Überlegungen,  wie  sie 
den  alltäglichsten  Annahmen  zu  Grunde  liegen.  Eine  Reihe  von  Gründen 
für  die  Diskontinuitätsauffassungen  wird  angeführt  und  untersucht. 

Endlich  wird  die  Elektronentheorie  ins  Auge  gefaast  and  mit  ihr 
die  „kinetisch-elektrische^^  Naturauffassung.  Ihr  VerhSltnis  zur  älteren, 
„kinetisch-elastischen"  Hypothese  wird  erörtert.  Das  führt  zur  Unte^ 
suchung  der  Begriffe  der  Trägheit,  der  Kraft  und  der  Femwirknng.  Ve^ 
fasser  sucht  zu  zeigen,  dass  die  Annahme  der  Femwirkung,  event  einer 
zeitlich  sich  fortpflanzenden,  durch  die  neueren  Erfahrungen  und  Hypo- 
thesen keineswegs  abgetan  worden  ist,  dass  eher  vielleicht  die  lllier* 
annähme  entbehrlich  scheint. 

Die  atomistisch-kinetische  Naturauffassung  erscheint  so  als  eine 
wohlbegründete  Hypothese,  nicht  als  blosse  Fiktion.    Damit  soll  die  M^ 


Selbst^nzeigen  (Becher).  499 

lichkeit  nicht  bestritten  werden,  dass  die  Aussenwelt  weit  reicher  ist,  als 
das  naturwissenschaftliche  Weltbild  ahnen  lässt,  dass  es  viele  Qualitäten 
^ben  mag,  deren  Erkenntnis  der  naturwissenschaftlichen  Erfahrung  un- 
zugänglich ist. 

Bonn.  Erich  Becher. 

Becher,  Erich.  Die  Grundfrage  der  Ethik.  Versuch  einer 
Begründung  des  Prinzips  der  grössten  allgemeinen  Glück- 
sehgkeitsförderuug.    Köln,  M.  Du  Mont-Schauberç.    (VU  u.  217  S.) 

Im  ersten  Kapitel  wird  dargelegt,  wie  die  geistige  Entwickelung 
der  Menschheit  eine  Antwort  auf  die  Frage  fordert:  wie  sollen  wir 
handeln?  Diese  Grundfrage  der  Ethik  muss  unabhän^g  von  reli^öser 
und  philosophischer  Metaphysik  beantwortet  werden.  Die  mataphysischen 
Gesamtbilder  der  «Wirklichkeit  sind  im  besten  Falle  mögliche  Hypothesen; 
wir  dürfen  nicht  einem  bestimmten  metaphysischen  Systeme  eine  Wahr- 
scheinlichkeit zusprechen,  die  praktisch  als  Gewissheit  behandelt  werden 
könnte.  Auch  ist  der  Zusammenhang  zwischen  metaphysischen  Hypo- 
theses und  ethischen  Überzeugungen  nicht  derart,  dass  die  letzteren  aus 
den  ersteren  logisch  folgten.  Vielmehr  muss  vorher  feststehen,  was  als 
gut  und  recht  zu  gelten  hat,  ehe  aus  der  Metaphysik  ethische  Konse- 
quenzen ableitbar  sind.  Die  Grundfraj^e  der  Ethik  erfordert  eine  unab- 
hängige Untersuchung.  Dann  ist  es  eine  weitere  Aufgabe  des  Metaphy- 
sikers,  eine  Verbindung  der  theoretischen  Philosophie  mit  der  Ethik  zu 
finden. 

Die  Antwort  auf  unsere  Grundfrage  bildet  die  Aufg:abe  der  nor- 
mativen Ethik.  Neben  dieser  bleibt  Raum  für  eine  deskriptive  und  er- 
klärende Moralwissenschaft.  Beide  Gebiete  hängen  vielfach  zusammen. 
Zur  Beantwortung  unseres  Grundproblems  sind  die  Begriffe  des  Handelns 
und  des  Sollens  zu  untersuchen.  Um  Einseitigkeit  zu  vermeiden,  muss 
der  Begriff  des  Handelns  weit  gefasst  werden,  im  Sinne  von  Willenshand- 
lang, sodass  auch  die  inneren  Prozesse  der  Motivation  und  des  Entschlusses 
der  Untersuchung  zugänglich  werden.  Das  Sollen  im  gewöhnlichsten 
Sinne  ist  ein  Erlebnis,  welches  einen  befehlenden  Willen  voraussetzt. 
Das  Sollen,  von  dem  unsere  Grundfrage  spricht,  kann  indess  nicht  restlos 
auf  den  Willen  der  Mitmenschen  und  ihrer  Verbände  zurückgeführt 
werden.  Ihm  entspricht  eine  Gesamtheit  von  befehlenden  Tendenzen  in 
uns,  das  Gewissen.  Doch  können  wir  bei  der  Gewissensethik  nicht  stehen 
bleiben.  Auch  Kants  Forderungen  weisen  über  diese  hinaus,  auf  eine 
Zielethik  hin.  Diese  erscheint  nicht  als  ein  Gegenstück  der  Gewissens- 
ethik, sondern  als  eine  Fortbildung,  die  durch  die  Analyse  des  Gewissens 
sich  als  notwendig  ergiebt.  Auf  aer  einen  Seite  drängen  die  grossen  in- 
dividuellen Unterschiede  in  der  Gewissensentwickelung  zur  Aufstellung 
einer  entscheidenden  Instanz;  auf  der  andern  Seite  ßrdem  die  Unvoll- 
kommenheiten  und  Widersprüche  in  den  eigenen  Gewissenstendenzen 
einen  harmonischen  Ausgleich  durch  die  Vernunft. 

Wir  versuchen,  <ne  tieferen  Gewissenstendenzen  zu  einem  „vor- 
nehmsten und  grössten  Gebot"  zu  verbinden.  Gewissen  und  Vernunft 
fordern  nicht,  dass  wir  die  Individuen  als  gleich  betrachten;  denn  diese 
sind  nicht  gleich;  sie  führen  aber  immer  mehr  dahin,  gleiche  Erlebnisse 
an  sich  gleich  hoch  anzuschlagen,  mögen  sie  in  uns  selbst  oder  in  anderen 
beseelten  Wesen  sich  finden.  Ohne  die  Inhalte  der  Freude,  Lust  und 
Seligkeit,  des  Schmerzes,  des  Leids  u.  s.  w.,  kurz  ohne  das  Algedonische 
könnte  es  uns  ganz  gleichgültig  sein,  wie  der  Strom  des  äusseren  und 
inneren  Geschehens  liefe.  Dies  führt  zu  dem  Gedanken,  dass  es  auf  die 
algedonischen  Erlebnisse  allein  ankomme,  dass  positive  Gefühle  schlecht- 
hin das  zu  erstrebende,  negative  das  zu  bekämpfende  seien.  In  Ver- 
bindung mit  der  Maxime,  gleiche  Erlebnisse  gleich  anzuschlagen,  ohne 
Bficksicht  auf  das  erlebende  Sidividuum,  kommt  man  so  zur  Forderung  der 
all^^emeinen  Glückseligkeitsförderung,  dem  (leider!)  sogenannten  Utili* 
tansmos. 


4? 

B; 


500  Selbstanzeigen  (v.  d.  Pfordten). 

Es  ist  zu  prüfen,  ob  in  der  Tat  damit  unsere  tiefste  Gtowiams- 
tendenz,  überhaupt  unser  innerstes  Wollen  gefunden  ist.  Das  Hast  sich 
nur  durch  eine  Untersuchung  der  Konsequenzen  dartun.  Zunftchst  werden 
zahlreiche  Einwände  geprüft.  Im  Interesse  der  Glückseligkettsförderuiff 
sind  feste  innere  Anlagen  vonnöten,  die  die  Tendenz  haben,  leidmindema 
und  glückbringend  zu  wirken.  Hierher  jyrehöreii  die  Tugenden.  Dia 
Gesamtheit  würde  schlecht  dabei  fahren,  wenn  vor  jeder  Handlung  das 
letzte  Ziel  ins  Auçe  ^efasst  würde.  Viel  sicherer  %virken  in  den  m  eisten 
Fallen  feste  Gefühls-  und  WilleDarichtungen^  starke  MenscIienJiehe,  Pflicht- 

fefühl,  Tapferkeit,  Besonnenheit,  Massigkeit,  Wahrhaftifi^keit,  Gerecht!^ 
eit  u.  s.  w.  So  hat  die  ülückseügkeitcethik  keine  Umwertung  aller 
Werte  zu  fordern,  sondern  eine  Entwickelnne  unseres  ethischen  Bewttsst* 
seins  in  der  Richtung  ^«n  terlauEen,  die  von  der  Menschheit  einj^e^cblagcn 
wurde,  die  im  Grossen  nnd  öan/.en  audi  von  den  Weltreliiponen  ge- 
wiesen wird. 

Der  Widerstreit  zwischen  der  Betonung  des  Zieles  der  Handlungen 
und  der  sittlichen  Wertung  der  Gesinnung  ist  nur  ein  scheinbarer.  IHe 
Gesinnung  bedeutet  mehr  als  der  einzelne  Erfolg,  weil  sie  dauernde, 
stetige  Leistungen  allein  garantieren  kann.  So  ist  es  in  der  Ordnung. 
wenn  sie  vorAÜem  betont  und  auch  dann  noch  hochjj^eschätet  wird,  wenn 
die  flandlungsfolgen  fatale  waren.  Die  Glückseli^keitsethik  hat  durchans 
jene  Hochschätzung  der  Gesinnung  zu  fordern,  jene  Maasstabe  sittlicher 
Billigung  und  Missbilligung  zu  ver&ngen,  die  ihr  so  oft  entgegengehalten 
wurden. 

Zweierlei  mag  hervorgehoben  werden  :  Die  Glflckseligkeitsethik  steht 
nicht  notwendig  im  Gegensatz  zur  Gewissensethik,  sondern  Usst  sich  aus 
dieser  entwickem.  Sie  Olsst  sich  nur  begründen,  indem  ihre  Eonseauenzen 
vor  Augen  gestellt  werden.  Dann  scheint  sie  nur  die  Yereinheitiichung 
dessen  zu  sem,  was  wir  im  Grunde  wollen,  wohin  besonnene  Menschenliebe 
und  Gewissen,  das  sittliche  Bewusstsein  überhaupt  im  ^^anzen  zielen. 

Bonn.  Erich  Becher. 

y.  d.  Pfordten,  Otto,  Freih.  Vorfragen  der  Naturphilosophie. 
Heidelberg,  Winter.    (146  S.) 

Der  für  den  Interessenkreis  der  Kantstndien  wichtigste  Teil  des 
vorliegenden  Buches  ist  der  darin  gemachte  Versuch  einer  natorphiloso- 
phischen  Erkenntnistheorie.  Kant  und  die  Erkenntnistheoretiker  nach 
ihm  gehen  im  Wesentlichen  von  einer  Kritik  unseres  Erkenntaisy  er- 
mögen s  aus,  also  von  der  rein  subjektiven  Seite,  walu:end  man  die  Ten- 
denz meiner  Arbeit  etwa  erkenntnispraktisch  nennen  könnte,  weil  sie 
nach  den  Resultaten  des  Denkens  fragt  und  von  deren  Erfolg  der  Einzel- 
wissenschaften aus  urteilen  will.  Unter  den  Gebieten  der  r^atorwiswn- 
schaft  hat  bisher  nur  die  Mathematik  und  theoretische  Ph^rsik  eine  aolche 
Anwendung  gefunden  ;  sie  ergeben  nur  einen  Phftnomenalismus  (oder  phi- 
losophischen Idealismus)  als  Erkenntnis-Standpunkt,  weil  die  Art  dieser 
Wissenschaftan  durchaus  phänomenal  ist  und  nur  auf  die  Benehangen 
und  G^esetze  geht,  ohne  einen  wirklichen  Seinabegriff  zu  ihren  Kooftnk- 
tionen  zu  benötigen. 

Dagegen  zielt  die  Chemie  auf  die  Dinge  ond  die  Yer^demngen 
der  Substanz  und  ist  daher  in  viel  höherem  Orade  geeignet,  den  Er^lg 
der  naturwissenschaftlichen  Be^ffsbüduDg  zu  zeigen.  Besonders  die  eis- 
gehende  Diskussion  der  chemischen  Synthese  (3,  15)  zeigte  d<âs  der 
eigentliche  Vorgang  dabei,  die  sogen.  Eeaktiun,  mcbt  mehr  rein  phAno* 
menai  erklftrt  weiden  kann.  Sie  findet  statt  auf  Grundlage  imierer  m- 
duktiy  gewonnenen  Hypothesen  und  die  Natnr  gehorcht  liier  unserem 
Denken,  indem  das  nacn  jenen  Hypothesen  erwartete  Resultat  in  zahl- 
losen Fällen  wirklich  eintritt.  Hier  erkennen  entweder  wir  eine  Ansäen- 
weit  bez.  etwas  von  dem  wahren  Wesen  tier  Dinge  —  oder  die  Dinge 
erkennen  uns  und  erraten  unsere  Hypothesen.  Ein  suli^ektives  Bild  oder 
Phänomen   kann  man   einen   von   uns   tieahsicl^tigten,   geJeitetan   und  in 


Selbstanzeigen  (van  Biëma).  501 

unserem  Sinne  erfolgenden  Naturrorgang  nicht  mehr  nennen;  der  Phäno- 
menalismus genügt  nur  der  Betrachtunfi^  eines  Seins,  nicht  aber  der 
Lenkung  eines  Werdens.  Kants  Gedanke  (speziell  Prolegomena  §  86): 
„Der  Verstand  .  .  .  schreibt  der  Natur  seine  Gesetze  vor"  kann  nur  dann 
Wert  behalten,  wenn  man  sagt  :  „Die  Gesetzmässigkeit",  das  apriori  dieser 
im  Allgemeinen  bleibt  diskutabel  (S.  22).  Aber  der  Erfolg  der  chemischen 
Spekulation  (und  der  auf  sie  aufgebauten  Synthese)  beweist,  dass  diese 
keine  willkürliche  ist,  sondern  dem  Wesen  der  Dinge  irgendwie  ent- 
sprechen muss. 

Um  diese  Entsprechung,  die  zwischen  naivem  Realismus  und  Idea- 
lismus die  Mitte  hält,  zu  charakterisieren,  habe  ich  das  Wort  Eonfor- 
mismus (Konformitäten)  gewählt.  Die  Begriffe  der  Chemie  speziell 
müssen  Konformitäten  zu  den  .Dingen  an  sich^  darstellen,  sonst  wäre  der 
Erfolg  unserer  Synthesen  undenkbar.  Dieser  giebt  uns  die  Gewissheit, 
dass  es  eine  Aussenwelt  ffiebt,  die  wir  erkennen,  und  dass  wir  in  unserer 
Erkenntnis  zwar  nicht  Alles  haben  (das  wäre  Identität  unserer  Begriffe 
mit  dem  Wesen  der  Dinge),  aber  auch  nicht  Nichts  (rein  subjektive 
Bilder  oder  Symbole)  (S.  34).  Das  denkende,  Begriffe  und  Wissenschaft 
bildende.  Ich  ist  dem  Realen  fremd,  ausser  und  neben  das  es  sich  denkend 
stellt,  das  ihm  verwandte,  aber  nicht  gegebene  Wesen  suchend  und  es 
niemals  völlig  erreichend. 

Die  übrigen  Teile  des  Buches  beschäftigen  sich  mit  der  Festlegung 
dieses  Konformismus  gegenüber  den  allgemeinen  Fragen  des  Monismus 
oder  Dualismus,  von  Raum  und  Zeit  und  dem  Kausal&pesetz;  sowie  den 
speziellen  naturphilosophischen  Theorien  Ostwalds  und  Machs. 

Ein  zweiter  spekulativer  Teil  ist  von  speziell  naturphilosophischem 
Interesse  und  erörtert  den  „Sinn"  der  Naturgesetze,  die  causae  fiendi  und 
das  seit  Jahrhunderten  vernachlässigte  Problem  der  Form.  In  diesem 
finden  sich  erneute  Anknüpfungspunkte  an  die  Erkenntnistheorie  und  den 
Kantischen  Formbegriff  (S.  137).  Die  durchweg  mathematisch  orien- 
tierte Denkweise  vermag  das  qualitative  und  damit  die  äussere,  reale 
F6rm,  die  den  Inhalt  unserer  Sinnesempfindungen  bildet,  niemals  zu 
treffen.  Aber  eine  umfassende  Naturphilosophie  kann  das  Qualitative  auf 
die  Dauer  nicht  ignorieren  und  von  Seite  der  Physik  her  bekommen  Be- 
firiffe  neuerdings  erhöhte  Geltung,  so  besonders  der  der  Intensität  (S.  139  ff.), 
aie  direkt  auf  das  Formproblem  hinweisen.  In  diesem  laufen  die  Fäden 
des  ganzen  Buches  in  einen  Knoten  zusammen;  diese  letzten  Erörterungen 
weisen  wesentlich  auf  die  Zukunft  hin  und  die  Aufgaben,  die  eine  Natur- 
philosophie bewälti^n  muss,  wenn  sie  ein  Gesamtbild  des  Natur- 
geflchehens  geben  will. 

StrassDurg  i.  E.  Dr.  0.  von  der  Pfordten. 

van  Biéma,  Emil,  docteur  es  lettres,  professeur  de  philosophie  au 
lycée  de  Tours.  L'espace  et  le  temps  chez  Leibniz  et  chez  Kant. 
(1  vol.  in-so.)    Félix  Alcan,  éditeur. 

Quel  est  exactement  le  fondement  de  Topposition  des  théories  de 
ren>ace  et  du  temps  de  Leibniz  et  de  Kant?  Non  seidement  il  n'est  pas 
aise  de  répondre  à  cette  question,  mais  le  sens  précis  de  chacune  de  ces 
théories  est  lui-même  bien  difficile  à  établir.  Et  pour  résoudre  ces  dé- 
licats problèmes,  le  lecteur  français  n*était  aidé,  jusqu^à  présent,  par  aucun 
livre  spécial. 

Celui  de  ranteor  vient  combler  cette  lacune.  Il  nous  guide 
à  travers  la  complexité  des  problèmes  spéciaux  que  suppose  résolus  une 
théorie  générale  de  Tespace  et  du  temps,  et  détermine,  en  fondant  chaque 
assertion  sur  des  textes  précis,  quelles  solutions  Leibniz  d'abord,  Kant  en- 
suite, ont  voulu  faire  prévaloir  de  ces  divers  problèmes. 

Cette  étude  est  précédée  d'un  exposé  des  jugements  de  Kant  sur  la 
théorie  leibnizienne  de  la  sensibilité,  et  des  raisons  qui  Tont  conduit  à 
rendre  d'abord  Leibniz,  puis  tes  disciples,  responsables  de  la  confusion  de 
l'objet  de  sensibilité  et  ae  robjet  d'entendement. 

KanUtsdivD  XUI.  38 


502  âelbstanzeigen  (van  Biétna—Bergmann). 

Elle  est  suivie  d^un  examen  approfondi  de  l'opposition  des  deox 
théories  et  de  ses  conséquences,  L'auteur  reprend  les  proolèmes  de  Taprio- 
rite,  de  rintuitivité  et  de  la  subjectivité  pour  montrer  ce  que,  sur  chaque 
point,  Kant  apporte  d'irréductiblement  opposé  aux  vues  de  Leibniz,  n  est 
surtout  préoccui)é  de  la  subordination  logique,  chez  les  deux  philosophes, 
des  idées  essentielles. 

La  subjectivité  de  l'espace  et  du  temps  apparait  chez  £[ant  conune 
la  conséquence  nécessaire  de  leur  caractère  d'intuitions  a  priori,  tonte  la 
théorie  se  trouve  ainsi  expliquée  i)ar  la  préoccupation  de  sauvegarder  le 
caractère  spécifique  du  donné  sensible  en  même  temps  que  la  valeur  de  la 
réalité  empiriq^ue,  les  preuves  d'ordre  transcendental  sont  prévalentes. 

La  relativité  de  l'espace  et  du  temps  (simples  ordres)  chez  Leibniz 
ne  résulte  pas  moins  nécessairement  de  sa  conception  de  la  réalité  absolue 
du  monde,  liée  elle-même  à  son  principe  de  raison  suffisante  et  à  sa  con- 
ception de  Dieu  ;  et  l'auteur  déss^e  des  lettres  à  Qarke  le  serme  d'une 
antinomie,  qui  correspond  assez  oien,  mutatis  mutandis,  a  la  célèbre 
antinomie  kantienne. 

Tours.  E.  van  Biéma. 

van  Biéma,  Emil,  docteur  es  lettres,  professeur  de  philosophie  an 
lycée  de  Tours.  Martin  Enutzen,  la  critique  de  l'harmonie  pré- 
établie.   (1  vol.  in-8^  3  frs.)    Félix  Alcan,  éditeur. 

Martin  Enutzen,  connu  surtout  comme  maitre  de  Kant,  est  un  des 
représentants  les  plus  intéressants  de  l'école  Wolfienne.  Son  œuvre  prin- 
cipale, une  curieuse  thèse  de  1735  qui  prétend  concilier  l'expérience,  le 
piétisme,  et  la  philosophie  leibnizienne,  est  cependant  fort  peu  connue 
en  France.  Ce  Système  des  causes  efficientes  essaye  de  fonder  l'in- 
flux physique,  théorie  condamnée  par  Leibniz,  précisément  sur  les  prind- 
Ses  ae  la  monadologie  leibnizienne,  et  d'expliquer  les  rapports  de  l'âme  et 
u  corps  de  manière  à  satisfaire  en  même  temps  les  exigences  de  la  raison 
et  celles  de  la  foi. 

L'auteur  fait  connaître  la  genèse  de  cette  œuvre;  il  en  domvB 
ensuite  une  analyse  très  fidèle  ;  enfin  dans  le  3°**chapitre,  les  objections 
de  Foucher  et  de  Bayle  contre  l'harmonie  préétablie,  auqnelles  se 
ralliait  Knutzen,  sont  examinées,  la  liaison  incussoluble  qui  unit  dies 
Leibniz  la  théorie  de  la  monade  et  celle  de  rhfuroonie  est  mise  en  pleine 
lumière,  ainsi  que  les  confusions  grâce  auqnelles  Knutzen  semble  mener  à 
bonne  fin  son  œuvre  paradoxale. 

Par  là,  ce  livre  peut  servir  d'introduction  à  l'étude  du  dogmatisme 
leibnizio-wolfien  d'Eberhard  et  de  ses  amis,  de  cette  philosophie  qui  croT- 
ait  pouvoir  atteindre  le  supra-sensible  dans  le  sensible,  et  contre  laqudue 
s'éleva  la  Critique  de  Kant. 

Tours.  E.  van  Biéma. 

Bergmann,  Hugo,  Dr.phil.  Untersuchungen  zum  Problem  der 
Evidenz  der  inneren  Wahrnehmung.    Halle  a.  S.,  Niemeyer  1906. 

Die  Lehre  von  der  Einsichtigkeit  der  innem  Wahrnehmung,  jah^ 
hundertelang  für  unanfechtbar  gehalten,  ist  in  der  letzten  Zeit  m  iCiss- 
kredit  geraten.  Dies  ist,  wie  ich  glaube,  die  Folge  davon,  dass  man  ihre 
Tragweite  nicht  abgegrenzt  hat  und  sich  dann  oft  •—  wie  ja  auch  anders- 
wo —  mit  der  Berufung  auf  die  innere  Evidenz  der  Mühe  des  Beweisens 
entschlug.  Meine  Schrift  will  eine  solche  Umerenzung  und  dadurdi  eine 
Sicherung  des  Satzes  leisten.  Resultat  ist:  Evident  sind  die  einfachen 
(thetischen)  Urteile,  mit  denen  wir  die  psychischen  Vorfi;ftnge  in  uns  ane^ 
kennen.  Dass  dieses  Anerkennen  nicht  mit  dem  einfiichen  Dasein  der 
psychischen  Tatsachen  identisch  ist,  glaubte  ich  gegen  Cornelius  und 
Up  hu  es  aufrechthalten  zu  können.  Dagegen  musste  ich  zugeben,  dass 
der  Satz  der  Evidenz  innerer  Wahrnehmung  nicht  die  Prftdikationen  be- 
trifft, in  denen  wir  das  Angeschaute  beschreiben  und  deuten.  Dass  es 
auch  hier  Richtigkeit  und  Evidenz  giebt,  bleibt  unangeswdfelt    Aber 


Selbstanzeigen  (Jungmann— Wenzîg).  oÔâ 

wahrnehmen  heisst  nicht  deuten.  Cornelius,  Husserl,  Messer  und  an- 
dere Forscher  haben  dies  zwar  bestritten  und  darauf  hingewiesen,  dass 
jede  Wahrnehmung  etwas  wahrnehme,  also  eine  „Beziehung  auf  den 
G^egenstand"  darstellt:  die  letztere  soll  aber  erst  Resultat  einer  Deutung 
sein,  während  ungedeutet  die  seelischen  Vorgänge,  und  zumal  die  Empfin- 
dungen, „erlebt  werden,  aber  nicht  gegenständlich  erscheinen".  Demgegen- 
über meine  ich,  dass  keinerlei  Deutung  die  Beziehung  auf  den  Gegenstand 
(nicht  etwa  auf  die  Dinge  ;  Begriff e  wie  „Tisch"  und  „Stuhl"  ttSlen  uns 
allerdings  erst  durch  eine  Bearbeitung  zu;)  in  die  psychischen  Vorgänge 
hineintragen  könnte,  wenn  sie  nicht  m  ihnen  als  ihr  eigenstes  Wesen  läge. 

Man  hat  dann  auch  gesagt,  dass  un  interpretiert  auch  die  äussere 
Wahrnehmung,  das  Sehen,  Hören  u.  s.  w.,  (das  Anerkennen  von  Farben, 
Tönen  u.  s.  w.)  einsichtig  ist.  Aber  wie  wollte  man  diesen  Satz  halten, 
wenn  man  der  Naturwissenschaft  zugeben  musste,  dass  mindestens  einige 
von  den  Qualitäten,  die  wir  wahrnehmen,  in  Wahrheit  nicht  existieren? 
Man  hat  diesen  Widerspruch  verhüllt,  indem  man  für  die  Farben,  Töne 
schlechtweg  die  yorgestellten  Farben  und  Töne,  für  die  wirklichen  die 
immanenten  Objekte  setzte.  Allein  die  Annahme  der  immanenten  Ob- 
jekte ist,  wie  zuletzt  Marty  überzeugend  nachgewiesen  hat,  eine  fiktive 
gewesen. 

In  einem  letzten  Abschnitt,  in  dem  ich  mich  insbesondere  mit 
Meinongs  Lehre  von  den  evidenten  Vermutungen  auseinandersetzen 
musste,  versuche  ich  einiges  zur  Lösung  der  schwierigen  Probleme  beizu- 
tra^n,  die  sich  auf  die  Zeitanschauung  in  der  Innern  Wahrnehmung 
beziehen. 

Prag.  Hugo  Bergmann. 

Jnngmann,  R.  René  Descartes.  £ine  Einführung  in  seine 
Werke.    Leipzig,  Fritz  Eckardt,  1908.    (X  und  234  S.) 

Natorps  historisch-kritische  Beurteilung  eines  fragmentarisch  er- 
haltenen Jugendwerkes  Descartes'  macht  eine  umfassende  Nachprüfung 
der  herkömmlichen  Des  car  tes -Interpretation  notwendig.  Das  Unter- 
nehmen ist  umso  mehr  am  Platze,  als  die  imponierende,  kritische  Neuaus- 
^be  der  Briefe  des  französischen  Philosophen  einen  genaueren  Einblick 
in  die  Denk- Werkstätte,  aus  der  die  künstlerisch  abgerundeten  Werke 
hervorgegangen  sind,  gestattet  als  dies  bisher  möglich  gewesen  ist.  — 

Ausgenend  von  seiner  Mathematik  und  seiner  Physik  habe  ich  diese 
Aufgabe  zu  lösen  versucht.  Es  war  mir  dabei  nicht  darum  zu  tun,  die 
Descartes'sche  Philosophie  kritisch  zu  prüfen,  sondern  darum,  Des- 
cartes verständlich  zu  machen,  zu  zeigen,  wie  er  sich  aus  dem  Tatsachen- 
material seiner  Zeit  zu  einem  dasselbe  Deherrschenden  einheitlichen  Welt- 
bilde durchgearbeitet  und  dabei  unveräusserliche  Normen  des  menschlichen 
Geisteslebens  festgelegt  hat.  Die  Resultate  führen  mich  zur  Überzeugung, 
dass  Descartes  mit  Unrecht  zum  Antipoden  Kants  gestempelt  wira. 
Sachlich-logisch  muss  er  Kant  ganz  nahe  gerückt  werden;  auf  dem  Mittel- 
wege, in  welchen  Empirismus  und  Rationalismus,  Idealismus  und  Dogma- 
tismus einmünden,  reichen  sie  sich  über  die  politischen  und  zeitlichen 
Grenzen  hin  die  Hand.  — 

Paris.  K.  Jungmann. 

Weiizig,  Carl,  Prof.  Dr.  Die  Weltanschauungen  der  Gegen- 
wart in  Gegensatz  und  Ausgleich.  Leipzig,  Queue  Sl  Meyer,  1907. 
(14.  Bd.  der  lämmlung  „Wissenschaft  und  Bildung''.)    (VI  und  162  S.) 

Die  Welt  ist  oer  in  Zeit  und  Raum  ausgespannte  gegenständliche 
Inhalt  unseres  Bewusstseins.  In  der  Analyse  dieses  Bewusstseinsinhalts 
besteht  die  Arbeit  unserer  modernen  (phänomenalistischen)  Erfahrungs- 
wissenschaft. Ihr  Ergebnis  ist  das  wissenschaftliche  Weltbild.  Ausser 
dem  Bewusstseinsinhalt  ist  mir  aber  als  psychisches  Erlebnis  noch  ge- 
geben das  Selbstbewusstsein.     Es  ist  die  psychische  Tatsache,  dass  mir  in 

33* 


504  Selbstanzeigen  (Spir). 

jedem  bewnssten  Augenblick  bewusst  ist,  dass  der  gegenständliche  Be* 
wnsstseinsinhalt  heryorgebracht  oder  bewirkt  wird  anrch  mein  tätiges 
Ich  nnd  zugleich,  da  dieses  nur  auf  Beize  hin  tätig  ist,  durch  eine  andere 
tätige  Ursache  :  die  Weltursache  oder  das  Weltpnmdp.  Beide  tätige  Ur- 
sachen, das  Ich  und  das  Weltprinzip,  sind  im  Unterschied  von  dem  ge^n- 
ständlichen  Bewusstseinsinhaft  nicht  gegenständlich^  d.  h.  können  mcht 
durch  Analyse  verdeutlicht  werden.  Die  Wissenschaft  hat  aber  geglaubt 
und  glaubt  heute  noch,  aus  dem  Selbstbewnsstsein,  das  im  Sinne  der  mo- 
dernen Psychologie  dem  Wundtschen  Apperzeptionsakt  entspricht,  durch 
Denkoperationen  mehr,  als  das  unmittelbare  p^chische  Erlebnis  bietet, 
herausbringen  und  so  zu  einer  Erkenntnis  der  tVeltursache  gelangen  zu 
können.  In  diesem  Erkennenwollen  der  Weltursache  besteht  jede  Welt- 
erklärune,  und  durch  sie  wird  das  Weltbild  der  phänomenalistischen 
Wissenschaft  zur  metaphysischen  Weltanschauung.  Der  Verf.  zeigt  nun, 
dass  in  den  verschiedenen  met^hysischen  Weltanschauungen,  die  inner- 
halb der  Wissenschaft  unserer  2feit  einander  feindlich  gegenüberstehen, 
immer  nur  dasselbe  eine  psychische  Phänomen  des  Selbstbewusstseins  ein- 
seitig aufgefasst  und  durch  das  Denken  verschieden  gedeutet  wird.  In 
dieser  Erkenntnis  liegt  ein  Verstehen  der  Berechtigung  der  verschiedenen 
Weltanschauungen  und  zugleich  auch  die  Aufdeckung  des  Er&dinmgsbe- 
Standes,  der  der  Eantischen  Fundamentallehre,  dass  keine  Wissensäaft 
über  unser  Bewusstsein  hinauszudrineen  vermag,  zu  Grunde  liegt  und  sie 
bestätigt.  Die  Kantischen  apriorischen  Formen  unserer  Erkenntnis  sind 
selbst  eine  eigenartige  erkenntnistheoretische  Ausdeutung  eben  diesei 
psychischen  Erlebnisses  des  Selbstbewusstseins. 

Breslau.  G.  Wenzig. 

Sj^ir,  A.  Denken  und  Wirklichkeit.  Versuch  einer  Erneuerung 
der  kritischen  Philosophie.  4.  Aufl.  mit  Titelbild  nebst  einer  Skizze  fiber 
des  Autors  Leben  und  Lehre  von  Helene  Claparède-Spir.  Leipzig  1906. 
Joh.  Amb.  Barth,  Verlag.    (647  S.) 

In  diesem  soeben  erschienenen  1.  Band  der  Neuausgabe  seiner 
„Gesammelten  Werke^  hat  Spir  vornehmlich  seine  Erkenntnisfehre  darge- 
stellt, die  die  Grundlage  semes  ganzen  philosophischen  Systems  bilcfot 
Im  ersten  Teil  ist  die  Norm  des  Denkens,  ab  dem  Begriff  des  Abso- 
luten, dem  Satze  der  Identität,  dem  „Ding  an  sich"  entsprechend  —  be- 
handelt; im  zweiten  Teil,  die  Welt  der  Erfahrung,  deren  Erforschung 
durch  die  Naturwissenschaften  zu  dem  endgültigen,  unwiderlegbaren  — 
schon  von  Kant  festgestellten  —  Ergebnis  führt,  dass  die  physische  Welt 
einer  absoluten  Wirklichkeit  entbeml,  uns  aber  eine  soldie  vorspiegelt, 
vermittels  unserer  Sinnesempfindungen,  die  Kraft  ihrer  unwandelbaren 
Gesetzmässigkeit  derselben  den  Schein  einer  beharrlichen,  absoluten 
Wirklichkeit  verleihen.  Tatsächlich  ist  jedoch  in  der  Körperwelt  —  der 
Welt  der  „Phänomenal  nirgends  etwas  unbedingtes,  IfitsichselbstidentischeB, 
kurz  keine  wahre  Substanz  anzutreffen.  Unsere  ganze  Erfahrung  beruht 
folglich  auf  einer  systematisch  organisierten,  natfirlichen  Täuschung,  welche 
au&udecken  und  zu  begründen  Autoibe  der  Philosophie  ist.  Die  wahre 
Erkenntnis  der  Tatsachen  kann  uns  aSein  zur  hohem  J^nsicht  fflhren,  ans 
der  sich  sodann  mit  logischer  Notwendigkeit  eine  neue  Welt  und  Lebens- 
anschauung ergiebt. 

Charakteristisch  für  A.  Spirs  geistige  Entwickelung  mag  entschieden 
der  Einfluss  Kants  gewesen  sein,  der  sich  schon  sehr  fr&  bei  ihm  geltend 
machte.  Als  er  noch  in  der  Marineschule  weilte,  fiel  ihm  eines  Tages 
die  „Kritik  der  reinen  Vernunft"  unter  die  Hände;  worfiber  er  lange  nach- 
grübelte; von  da  an  bekundete  sich  seine  Leidenschaft  zur  Phifoeophie, 
der  er  fortan  sein  Leben  weihte.  Dass  er  dem  Studium  Kants,  dem  er 
sich  femer  ganz  besonders  gewidmet  hat,  viel  verdankte,  beweist  schon 
der  Umstand,  dass  seine  Ideen  in  naher  Beziehung  zu  den  Kantischen 
fitehen,   wenngleich  er  auch  nicht  stets  mit  ihm  ûbereinstimmen  konnte, 


Selbstanzeigen  (Miller).  Ô05 

da  er,  zu  anderen  Schlüssen  geführt,  weitergehende,  selbständige  Wege 
verfemte. 

.  l)em  oben  erwähnten  Werke  habe  ich  —  die  Tochter  Spirs  —  ausser 
dem  Bilde  des  Philosophen,  eine  kleine  Einleitung  beigefügt,  in  der  ich 
seinen  Lebenslauf  kurz  zu  schildern  und  seinen  Gedankengang  im  Umriss 
zu  veranschaulichen,  mich  bestmöglich  bemüht  habe;  dabei  die  innige 
Hoffnung  und  Zuversicht  hegend,  oass  die  von  meinem  Vater  vertretenen 
Lehren  in  immer  weiteren  Kreisen  Interesse  und  Verbreitung  finden,  und 
immer  mehr  Früchte  tragen  mögen. 

Genf.  Helene  Claparède-Spir. 

Hamma,  Matthias.  Geschichte  und  Grundprobleme  der  Philo- 
sophie. 2.  Auflage.  Gr.  8«.  L  Teil  „Geschichte"  (XVI,  84  S.);  II.  Teil 
„System"  (XV,  136  S.).    Münster,  Theissing,  1908. 

Herr  Bruno  Bauch,  der  hier  einem  Vertreter  katholischer  Welt- 
anschauung die  Spalten  der  „Eantstudien"  öffnet,  glaubte  in  seinem  Auf- 
satze „Kant  in  neuer  ultramontaner  und  liberal-katholischer  Beleuchtung*' 
konstatieren  zu  müssen,  dass  „das  ultramontane  Unvermögen,  die  philo- 
sophische Tat  Kants  zu  verstehen,  ein  radikales  sei"  und  dass  wir  es  in 
den  besprochenen  Erscheinungen  nicht  mit  etwas  Vereinzeltem,  sondern 
mit  etwas  Typischem  zu  tun  hätten".  In  beiden  Fällen  scheint  mir  das 
doch  zu  schwarz  gesehen.  Von  Herrn  Sentroul,  dem  Löwener  Neoscho- 
lastiker  (und  neosâiolastisch  darf  hier  wohl  gleich  „ultramontan"-philo- 
sophisch  gesetzt  werden)  giebt  B.  selbst  zu,  dass  „er  sich  wenigstens  um  ein 
Verständnis  für  die  Lehre  des  grössten  Denkers  aer  Neuzeit  bemüht  habe^, 
von  dem  ebenfalls  preisgekrönten  Tübinger  Theologen,  Herrn  Aicher, 
wird  man  zugeben  müssen,  dass  er  nicht  beim  „Bemühen"  stehen  blieb, 

{'a  ich  behaupte  (und  werde  an  anderer  Stelle  den  erschöpfenden  Beweis 
iefem),  dass  dieses  objektive,  emstwissenschaftliche,  unbefangene  und 
unpolemische  Verhältnis  zu  Kant  bei  den  bedeutendsten  philosophischen 
Schulen  katholischen  Charakters  der  Löwener  und  der  Tübinger,  die  Regel 
war  und  ist  und  dass  deren  namhafteste  Vertreter  nie  zögerten,  mit 
Clemens  Bäumker  „einen  Immortellenkranz  niederzulegen  am  Grabe 
des  ^feisteafi^waltigen  Denkers".  Hier  erinnere  ich  nur  an  die  zahlreichen 
Tflbmger  'fiieoloffen,  die  nun  schon  fast  ein  Jahrundert  lang  bei  der  dortigen 
philosophischen  Fakultät  sich  erfolgreich  um  den  Lorbeer  bewarben.  Einen 
der  interessantesten  davon,  den  foider  allzii^ung  verstorbenen  Tübinger 
Repetenten  Matthias  Hamma,  dem  kein  geringerer  als  Christoph  Sigwart 
einst  die  Palme  reichte,  suchte  ich  durch  eine  Neuauflage  seines  einzigen 
Werkes  einer  unverdienten  Vergessenheit  zu  entreisten,  nauptsächlich  aes- 
halb,  weil  bei  seiner  Darstellung  der  modernen  Philosophie  der  Ton  ein 
ganz  besonders  würdiger  und  darum  für  seine  Glaubensgenossen  vorbild- 
licher ist.  Die  Leser  der  „Kantstudien"  werden  übeirascht  sein  zu  ver- 
nehmen, dass  für  diesen  katholischen  Priester  Kant  nicht  „das  Büblein"  ist, 
^das  mit  Steinen  nach  den  ewigen  Ideen  wirft",  sondern  „der  mächtig 
Ôeist,  der  alles  bisher  Geleistete  umgestaltete'',  der  „Stamm,  der  die  bis- 
herigen Wurzeln  in  sich  vereinigena,  Träj^er  aller  jüngeren  Gedanken- 
schöpfnngen  wurde",  dass  nach  Hamma  die  Philosophie  „als  menschliche 
Vemunftwissenschaft  sich  weder  Rat  noch  Befehl  von  einem  andern  Stand- 
pnnkt  als  dem  der  menschlidien  Vernunft  darf  geben  lassen".  Auf  dem 
Grund  eines  solchermassen  unbefangen  ausgesuchten  historisch-empirischen 
Materials  baut  der  Verfasser  sein  metaphysisches  System  auf,  das  schon 
der  Tübinger  Preisrichter  als  „originell"  rühmte  und  das  in  seinem  gene- 
rellen Teil  in  folgenden  Endsätzen  gipfelt:  1.  Das  Seiende  ist,  und  das 
Nichtsdende  ist  garnicht.  2.  Alles  Inende  ist  Setzung,  Selbsterhaltong 
geffen  Nichtsein  und  Anderssein,  ist  Tun,  Kraft,  Wirken.  3.  Alles 
Seiende  als  Setzung  gegen  Nichtsein  ist  Selbstnnterscheidun^.  4.  Alles 
Seiende  ist  Abgrenzung  von  Nichtsein  und  innere  Begrenzung  m  Einheit; 
es  ist  Wesen.    5.  Alles  Seiende  als  Wesen  ist  Unterschied  von  allem 


fi 


506  Selbstanzeigen— Mitteilungen. 

Seienden.  6.  Alles  Seiende  ist  Einheit,  welche  die  Vielheit  an  sich  tr&et; 
als  solches  ist  es  der  Zahl  zugänglich,  d.  h.  mathematisch.  7.  AUes 
Seiende  ist  ideell  räumlich  und  zeitlich;  wenn  es  real  vieles  Seiende 
giebt,  so  ist  dies  real  räumlich  und  zeitlich.  8.  Alles  Seiende  ist  in  Be- 
wegung.  9.  AUes  Seiende  ist  Substanz,  welche  Akzidenzen  an  sich 
trägt,  und  welche  konstant  bleibt  im  Wechsel  und  Werden  der  Akzi- 
denzen. 10.  Kein  Seiendes  dagegen  ist  Nichtsein,  keines  rein  all- 
gemeines, keines  rein  passives  Sein,  keines  ist  unendlich  (ohne 
Ende,  ohne  Grenze  weder  der  Zahl  noch  dem  Baum  noch  der  Zeit 
nach).  —  Auf  dem  Fundament  dieser  ontologischen  Thesen,  die  Hamma 
empirisch  und  induktiv  zu  begründen  sucht,  glaubt  er  als  Krone  seines 
Systems  den  Gottesbeweis  unter  Ausschaltung  des  Zweckmässigkeite- 
argnmentes  folgendermassen  einwandfrei  formulieren  zu  können:  Die 
Weltdinge  sind  real  viele,  und  diese  reale  Vielheit  fordert  eine  ihr  zu  Ghronde 
liegende  reale  Einheit.  Die  Weltding^e  sind  real  unterschieden  und  ids 
solche  gesetzmässige  Unterschiede.  I^derschiedensein  und  G^esetemSssij^ 
keit  setzt  aber  Unterscheidung  voraus,  folglich  ist  der  reale  Weltgrund  ein 
unterscheidendes  i.  e.  denkendes  Sein.  Abgewiesen  ist  hierdurch  der 
Materialismus  und  Naturalismus  und  sämtliche  Philosophie  des  Unbewnssteo. 
Aber  nicht  abgewiesen  ist  der  Pantheismus.  Denn  ob  der  intelliffente 
Weiterund  die  absolute  Idee  im  hegelianischen  Sinne  sei,  welche  durch 
Selbstunterscheidung  alle  Unterschiede  i.  e.  die  ^nze  Welt  aus  sich  heraoi 
gebiert,  oder  der  theistische  Gott,  das  lässt  sich  auf  der  Stufe  der  ko«- 
mologischen  und  teleologischen  Weltbetrachtung  nicht  erkennen.  Die 
Entscheidung  fällt  für  den  Verfasser  zu  Gunsten  des  Theismus  durch  die 
vom  pantheistischen  Standpunkte  aus  völlig  unerklftrbare  empirische 
Tatsache  des  sittlichen  Bewusstseins  in  seinen  maimigf altigen  Ver- 
ästelungen der  individuellen  und  sozialen  Lebensführung.  — 

Bad  Meinberg  (Lippe).  Dr.  Alfred  Miller. 


Mitteilungen. 

Preisaufgabe. 

Für  die  „Krugstiftung  *  an  der  Halleschen  Universität  hat  die  Philo- 
sophische Fakultät  auf  Antrag  von  Professor  Dr.  Paul  Menzer  folgende 
Preisaufgabe  gestellt: 

Der  Gottesbegriff 

in  seiner  Bedeutong  für  Kants  Naturphilosophie 

in  dessen  vorkrittseher  Periode. 

Zur  Bewerbung  werden  nur  Studierende  der  Universität  Halle 
zugelassen.    Ablieferungsfrist  1.  Oktober  1909.    Preis:  160  M. 


Berichtigung. 

Auf  S.328  (Heft  UI)  Z.ll  v.u.  lies:  ..nationalistischen'*  statt  ^rationalistischen" 


Mitteilungen.  507 

Erwiderung  auf  einen  Angriff  auf  die  Kantgiudien. 

In  dem  „Frankforter  Israelitischen  Familienblatt^  in  der  Nummer 
vom  4.  Dez.  1908  findet  sich  ein  Artikel  von  Maxime  Le  Maître-Giessen: 
„Jüdische  Professoren.  Ein  Beitrag  zur  jüdischen  Martyrologie."  In  diesem 
Artikel,  der  auch  sonst  sehr  viele  Uebertreibungen  enthftlt,  heisst  es  U.A.: 
^aihin^er  in  Halle  gibt  seit  Jahren  die  „Kantstudien^  heraus.  In  diesen 
Kantstudien  werden  alle  Gelehrten  und  Philosophen,  die  zur  Kantischen 
Philosophie  irgend  welches  Verhältnis  haben,  behandelt  —  der  Nestor  der 
Kantiscnen  Philosophie  in  Deutschland,  Hermann  Cohen,  wird  systematisch 
totgeschwiegen.^  Der  Verfasser  dieser  Bemerkung  kann  unmöglich  die 
,,Kant8tudien^  jemals  selbst  in  den  Händen  ^habt  haben;  jene  Behauptung 
widerspricht  vollständig  den  Tatsachen.  Diese  Tatsachen  lassen  sidi  um 
so  leichter  konstatieren,  als  jeder  der  bis  jetzt  erschienenen  13  Bände  der 
„Kantstudien^  ein  sorgfältiges  ^Personenregister^  sowie  ein  vollständiges 
^Verzeichnis  der  besprochenen  Novitäten"  enthält.  In  keinem  der  13  Bände 
fehlt  der  Name  Cohen,  in  einzelnen  ist  er  sogar  sehr  oft  genannt,  so  so- 
gleich in  Bd.  I  16  mal,  in  Bd.  IV  11  mal,  in  Bd.  XI  15  ma],  in  Bd.  XU 
11  mal,  in  Bd.  XIH  8  mal;  der  VIH.  Bd.  wird  eröffnet  mit  einer  29  Seiten 
langen  Abhandlung  über:  „Cohen's  Loffik  der  reinen  Erkenntnis"  von 
einem  ihm  nahe  stehenden  Gelehrten,  ftofessor  Dr.  Staudinger  in  Darm- 
stadt. Durch  diese  Tatsachen  wird  die  oben  angeführte  Behauptung 
von  Maxime  Le  Midtre  als  eine  völlig  irrige  widerlegt. 

Höchstens  könnte  man  sich  darüber  wundem,  dass  unter  den  auf  dem 
Umschlag  der  Kantstudien  aufgezählten  hauptsächlichsten  „Mitwirkenden^: 
(Adickes,  Boutroux,  Caird,  Crei^hton,  Dilthey,  £rdmann,  Eucken,  K.  Fischer, 
Heinze,  Reicke,  Riehl,  Windelband)  der  Name  Cohen's  fehlt.  Aber  als  ich 
im  Herbst  1896  die  „Kantstudien''  ins  Leben  rief,  habe  ich  Cohen  auf- 
sefordert,  sich  an  denselben  zu  beteiligen  und  zu  erlauben,  dass  ich  seinen 
Namen  den  eben  genannten  Namen  hinzufüge.  Ich  erhielt  folgende  Antwort  : 
Berlin  N.,  Invahdenstr.  18  I,  d.  9.  10.  95.  Hochgeehrter  Herr  Kollege! 
Ihr  Prospekt  mit  Ihrem  freun^chen  Begleitschreiben  sind  mir  nach  manchen 
Wanderungen  durch  die  Schweiz  endlicn  zugegangen  und  haben  mir  Freude 
gemacht.  Ich  danke  Ihnen  sehr  für  die  gütigen  Worte  der  Anerkennung, 
welche  Sie  mir  bei  diesem  Anlass  aussprechen,  und  mit  denen  Sie  meinem 
Arbeitereemüt  sehr  wohl  getan  haben,  umsomehr,  als  ich  in  dem  ganzen 
VierteUdrhundert,  in  dem  ich  nun  in  der  bestimmten  Richtung  arbeite, 
durch  herzliche  Anerkennung  nicht  verwöhnt  worden  bin.  Sie  müssen  mir 
daher  verzeihen,  dass  ich  jetiet,  nachdem  ich  die  W^e  lange  Zeit  einsam, 
und  nur  von  wenifien  Anhängern  begleitet,  meinen  Wes;  gegangen  bin,  mich 
nicht  mehr  entsclmessen  kami,  Ihrer  freundlichen  Aufioraerung,  der  ich  bei 
anderen  Lebenserfahrungen  gern  gefolgt  wäre,  anders  als  mit  aufrichtigem 
Danke  zu  entsprechen.  Wenn  ich  einmal  etwas  fertig  brin^n  kann,  was 
ich  Omen  anbieten  darf,  so  will  ich  es  gern  tun  und  der  Zeitschrift  selbst 
in  jedem  Sinne  das  beste  Gedeihen  wünschen.  Aber  für  die  Mitwirkung  bei 
der  Redaktion  kann  ich  mich  nicht  verantwortlich  machen.  Mit  nochmaligem 
Duike  und  kollegialem  Gmsse  ihr  sehr  ergebener  H.  Cohen. 

Leider  hat  Cohen  den  von  mir  begilndeten  und  seit  eini^ien  Jahren 
gemeinschaftlich  mit  Privatodozent  Dr.  Bauch  hier  —  der  übrigens  auch 
ULngst  seinerseits  Herrn  Dr.  Görland,  einen  der  nächsten  Schüler  Cohens, 
zu  einer  besonderen,  bis  jetzt  freilich  noch  nicht  eingelieferten  Abhand- 
lung eigens  über  das  System  Cohens  aufgefordert  hat  ~  herausgegebenen 
„Kantstudien^  keinen  Beitrat  gegeben.  Auch  zu  der  von  mir  im  Jahre 
1904  gegründeten  „Kant^esâlschaft"  habe  ich  Cohen  leider  vergeblich 
eingeladen.  Aber  |man  wird  wenigstens  zugestehen,  dass  die  Kantstudien 
das  ihrige  getan  haben,  um  Cohen  gerecht  zu  werden. 

Halle  a.  S.,  d.  8.  Dez.  1908. 

Prof.  Dr.  H.  Vaihinger. 


508  Mitteilungen. 

Walter  Simon-Preisaufgabe. 

Das  Problem  der  Theodicee  in  der  Philosophie 

und  Litteratur  des  18.  Jahrhunderts  mit 
besonderer  Rücksicht    auf  Kant  und   Schiller. 

Die  Verkündigung  des  Ergebnisses  der  Preisbewerbung  um  diese  im 
Juni  1906  ausgeschriebene  Preisaufgabe  sollte  in  den  .Kantstudien*  im  Dezember 
1908  erfolgen. 

Aus  zwei  Gründen  ist  es  jedoch  nicht  möglich  gewesen,  diesen  Termin 
einzuhalten.  Einmal  ist  einer  der  3  Preisrichter,  Professer  Dr.  Eugen  Kühnc- 
m  a  n  n  an  der  Universität  Breslau,  unerwarteter  Weise  zum  drittenmal  zum  sog. 
. Austauschprofessor ■  für  Amcrilta  ernannt  worden,  und  musste  im  September 
seine  Reise  dahin  antreten,  so  dass  er  seine  Beteiligung  an  den  Arbeiten  der 
Preisrichtericommission  mitten  abbrechen  musste.  An  seine  Steile  wurde  von  ihm 
und  von  den  beiden  anderen  Preisrichtern,  Professor  Dr.  Paul  Natorp  in 
Marburg  und  Professor  Dr.  Theobald  Ziegler  in  Strassburg  i.  E.  in  Überein- 
stimmung mit  der  Geschäftsleitung  der  Kantgesellschaft,  Professor  Dr.  Paul 
Menzer  an  der  Universität  Halle  cooptiert.  Natüriich  sind  durch  diesen 
Wechsel  die  Verhandlungen  der  Kommission  aufgehalten  worden. 

Zum  Anderen  ist  aber  auch  die  Arbeit  der  Preisrichterkommission  dadurch 
eine  unerwartet  grosse  geworden,  dass  nicht  weniger  als  7  sehr  umfang- 
reiche Abhandlungen  zur  Preisbewerbung  eingelaufen  sind,  deren  genaue  Prüfung 
mehr  Zeit  in  Anspruch  nimmt,  als  ursprünglich  in  Aussicht  genommen  war. 
Diese  7  Abhandlungen  werden  im  Folgenden  nebst  ihren  (abgekürzten)  Mottis 
hier  aufgeführt,  was  zugleich  als  Empfangsbestätigung  für  die  rechtzeitige  Ein- 
sendung der  betr.  Abhandlungen  seitens  der  unbekannten  Verfasser  dient: 

Seiten 

No.  1  Motto:  „Kannst  du  nicht  .  .  .-  .     .    .    .    652 

.     2       „        n®coç  (tvttitioç ,  .  ." 267 

.     3      ,        ^AlUs  Hödiste  .  .  .* 485 

,     4      ,        „D«M  schönste  Glück  .  .  .'       .955 

,     5      „        nOXâaiÂSv  Ott  .  .  .* 652 

dazu  noch  Anmerkungen     .    .    .    528 
n    6      „        „Unter  einer  Theodicee  .     ."    .     .    956 

«     7       ,        Principibus    .  .  .*       573 

Summa:  5068 
Es  ist  selbstverständlich  eine  überaus  grosse  und  verantwortungsvolle 
Arbeit  für  die  Preisrichter,  diese  fünftausend  Seiten  (meistens  Grossquart  und 
Folio)  sorgfältig  durchzulesen  und  gerecht  zu  prüfen.  Das  Ergebnis  wird  nun- 
mehr in  der  nächsten  Generalversammlung  der  Kantgesellschaft,  am  22.  April 
(Kants  Geburtstag)  verkündigt  und  sodann  durch  die  Presse  (speziell  die  Königs- 
berger Zeitungen,  femer  die  „Nationalzeitung*,  «Kölnische  Zeitung*  und  .Frank- 
furter Zeitung'  u.  A.)  öffentlich  bekannt  gemacht  werden.  Das  ausführiiche 
Gutachten  der  Preisrichter  wird  in  dem  2.  Hefte  des  nächsten  Jahrganges  der 
. Kantstudien •  abgedruckt  werden. 

Halle  a.  S.  im  Dezember  1908. 

Der  Geschäftsführer  der  nKantgeselIschaff". 

H.  Vaihingen 


Mitteilungen.  Ô09 

An  die  Mitglieder  der  Kantgesellschaft 

Aus  verschiedenen  Gründen,  teilweise  typographisch-technischer 
Natur,  erscheint  dieses  Schlussheft  des  Xni.  Bandes  einige  Woehen  später 
als  sonst.  Doch  ist  das  erste  Heft  des  XIV.  Bandes  auch  schon  in  Angriff 
genommen,  so  dass  dieses  voraussichtlich  ebenfalls  bald  in  die  Hände 
unserer  Mitglieder  ^langen  wird. 

Fast  gleichzeitig  mit  diesem  Hefte  versendeten  wir  das  Ergänzung- 
heft  No.  11  (Müller-üraunschweig,  Die  Methode  einer  reinen  Etmk 
u.  s.  w.)  an  unsere  Mitglieder.  Wie  schon  auf  dem  Umschlae^  und  am 
Schluss  dieses  11.  Heftes  bemerkt  wurde,  kann  Heft  No.  10  (Amrhein, 
Kants  Lehre  vom  Bewusstsein  überhaupt  u.  s.  w.)  wegen  amtlicher  Ver- 
hinderung des  Verfassers  erst  Anfang  des  nächsten  Jahres  versendet 
werden;  das  umfangreiche  Heft  ist  schon  bis  zum  8.  Bogen  gedruckt  und 
wird  ca.  11  Bogen  umfassen. 

Im  Laufe  der  letzten  Monate  haben   wir  noch  für  das  Jahr  1908 
folgende  Jahresmitglieder  gewonnen   (vgL  das  vorhergehende  Verzeichnis, 
Bd,  Xni,  Heft  1  u.  2,  S.  186): 
KgL  Universitätsbibliothek  in  Göttingen. 
Dr.  phiL  Nicolai  von  Bubnoff,  Freiburg  i.  Br.,  Zasiusstrasse  24. 
Frau  Professor  Helene  Claparède-Spir,  Genf,  Champel  11. 
Oberstabsarzt  Dr.  Jos.  Ans.  Froehlicn,  Dresden,  Loschwitzerstrasse  4. 
Adolf  Hinze,  Technischer  Direktor,  Wronke  (Prov.  Posen). 
Geheimer  Beg.-Bat  Professor  Dr.  J.  Im  elm  an  n,  Berlin-Cnarlottenburg  4, 

Giesebrechtstrasse  18. 
Dr.  Richard  Eroner,  Freiburg  i.  Br.,  Schwimmbadstrasse  19. 
Dr.  J.  Lange-Lonkorrek,  Lonkorsz,  Westpreussen. 
Dr.phil.  Iwan  Lapschin,  Privatdozent  an  der  Universität  St.  Petersburg, 

Eirotchn^ja  7. 
Professor  Dr.  Rudolf  Lehmann,  an  der  Akademie  Posen  W.  3,  Derff- 

lingerstrasse  10. 
Karl  Linnebach,  Leutnant    im    Badischen    Pionier-Bataillon    No.   14, 

Kassel,  Schlangenweg  9. 
Dr.  N.  Losskij,  Professor  an   der   Universität  St.  Peterburg,  Kabinets- 

k^a  20. 
Walter  Mechler,  cand.  phiL,  Jena  rWeimar,  Sedanstrasse  16  ^. 
Joan  Mongesco  (aus  Rumänien)  z.  Z.  Leipzig,  Hofmeisterstrasse  6  ^. 
Referendar  Fritz  Münch,  Strassbur^  i  E..  Judengasse  34. 
Dr.  med.  Robert  Nitzsche  (A.  Zosimus)  Dubuque  (Jowa)  U.  S.  A. 
Cand.  phil.  Hans  Prag  er,  Wien  XIX«  1,  Leideraorferstrasse  15. 
Kgl.  Realschuldirektor  H.  Richert,  Pleschen,  Prov.  Posen. 
Dr.  P.  H.  Ritter,  ord.  Professor  der  Philosophie  in  Utrecht. 
Professor  Dr.  P.  Schwartzkojpff,  am  Gymnasium  zu  Wemi^rode  a.Harz. 
Dr.  Theodor  Valentiner,  Oberlehrer  am   Alten  Gymnasium,  Bremen, 

Humboldtstrasse  72. 
Dr.  J.  Waldapfel,  Professor  am   Übungs^ymnasium  des  Kgl.   Unj^- 

rischen   Seminars  für  Kandidaten  des  höheren  Schulamts,    Buda- 
pest Vm,  Trefortstrasse  8. 
Achim  V.  Winterfeld,  Steglitz  bei  Berlin,  Filandastrasse  1. 
Dr.  phil.  et  med.  K.  Wize,  Jezewo  bei  Borek  (Prov.  Posen). 
Professor  D.  Dr.  G.  Wobbermin,  Breslau  18,  Carmerstrasse  17. 

Halle  a.  S.,  im  Dezember  1908. 

Der  Geschäftsführer  der  ^Kantgesellschaft^. 

H.  Vaihinger. 


Sach-Register. 


Absolute,  das  76.  200. 
Achtung  3. 

Âesthetik  97.  112.  124  f.  206.  249  ff. 
Affektion  448. 
Allgemeingültigkeit  76.  497. 
Analogieschluss  368. 
Angenehme,  das  266  ff. 
Animismus  278. 
Anmut  102. 
Anschauung  215.  424. 
Anthropologie  207. 
Anthropomorphismus  211. 
Apperzeption  (transsc.)  434.  469. 
Apriori  205.  213.  247. 
Assoziation  360.  497. 
Atom  217.  498. 
Aufklärungsphilosophie  69. 
Aussenwelt  251.  461.  498. 
Autonomie  49.  55.  92.  140. 
Autorität  49.  492. 
Axiome  428  ff. 

Begriff  424. 

Bewusstsein  überhaupt  206.  215.  437  ff. 

Bibel  5. 

Bildung  105.  494. 

Bi(^ogie  199. 

Chemie  498.  600. 
Christentum  3.  47  ff.  475. 
Chronometrie  423  ff. 
Constitutiv  375  ff. 

Darwinismus  41. 
Demonstration  423. 
Denken  485.  497.  504. 
Dependenz  246. 
Depersonnalisation  135  f. 
Deszendenztheorie  328.  336. 
Determinismus  489  f. 


Dialektik  215. 

Dichtung  115. 

Ding  (-Kategorie)  246. 

Ding-an-sich  163.  320  f.  438  ff. 

Dogmatismus  209  f. 

Doppel-Ich  476  f. 

Dynamik  215. 

Egoismus  189. 
Einbildungskraft  56.  126. 
Einfühlung  206. 
Einzelwissenschaft  276. 
Empfindung  152.  426  f.  464  f.  482  f.  497. 
Empiriokritizismus  200.  441. 
Empirismus  153.  200  f. 
Energetik  199.  217.  397. 
Erfahrung  138.  152  f.  242  ff. 
Erhabene,  das  97.  123. 
Erkenntnistheorie  69.  130  f.  409  ff. 
Erklärung  28. 
Erscheinung  438  ff.  472. 
Ethik  3.  90.  139.  491  f.  499. 
Eudämonismus  139.  162. 
Evidenz  502. 
Existenz  444. 

Form  (Begr.  d.  F.)  125.  277.  601. 

Frage  238  ff. 

Freiheit  3.  80.  320.  487  ff. 

Gefühl  296  ff. 
Oegebenheit  389.  442. 
GegenständUchkeit  35.  77.  160.  300. 
G^genstandstheorie  228.  411. 
Oeist  223. 

Gemeinschaft  421  f. 
Generalisation  360  ff. 
Genetisch  21. 
Genie  78  f.  186  f.  145. 
Geometrie  169.  212.  424  ff. 


Register. 


511 


lichte  16  ff.  79  f.  386.  403  ff. 
imack  114.  123. 
Ischaft  206. 
iz  24.  158. 
«zlichkeit  370. 
ssen  499. 
)en  42  f. 
ueligkeit  499. 
imatik  457  ff. 
Bbegriff  446  ff. 
dsätze  226.  386. 
das  269  ff. 

Tonomie  45.  140. 
inität  67.  83.  103.  481. 
•these  498. 

das  215.  437  ff.  487. 

60.  83.  116. 

ität  216.  277. 

itätsphilosophie  60.  104.  133. 

ogie  279. 

menz  76.  461  ff. 

enninismus  489. 

idaalismus  205. 

idualität  83.  107  f. 

ition  367  ff. 

itismus  158. 

-enz  246. 

iwelt  250. 

ligibel  106.  123.  320. 

esselosigkeit  (ästh.)  256.  495. 

"sion  361. 

ionalität  (d.  Wirkl.)  402  ff. 

t  als  Persönlichkeit  145. 

neue  Briefe  193  f.  304  ff. 

neue  Büste  165. 

sein  Grab  167  ff. 

sein  Persönlichkeitsbegriff  194ff. 

sein  Stil  145. 

Verhältnis  zur  Geschichte  475. 
„     Medizin  193. 
gorie  59.  139.  226. 
g.  Imperativ  93.  492. 
olizismus  32  ff.  48  ff.  505. 
algleichung  357.  391  ff. 


KausaUtät  16  ff.  21  f.  216.  358  ff .  483  f. 

489  f. 
Kausalschiuss  391  f. 
Kirche  50. 

Komposition  (künstler.)  255. 
Konfessionalismus  40.  46. 
Konformismus  501. 
Konstruktion  423. 
Kosmologie  287. 
Kritizismus  131.  206  f. 
Kultur  21.  27.  47.  160. 
Kunst  112.  124.  207. 

Logik  221.  245. 
Logistik  432  f. 

Materie  482.  498. 
Mathematik  157.  199.  496.  500. 
Menschheit  2.  103.  451. 
Metageometrie  153.  212.  424  ff. 
Metaphysik  69.  200.  499. 
Methodenlehre  375  ff. 
Monismus  182. 

üatur  80.  198.  222.  320.  487. 
Naturalismus  35. 
Naturgesetz  157.  357  ff. 
Naturphilosophie  208.  817. 
Naturwissenschaft  27.  216. 
Neovitalismus  199. 
Nicht-Ich  215. 
Nomologisch  25.  28.  405. 
Notwendigkeit  77.  485. 

Offenbarung  34. 
Ontologie  204.  286. 

Pädagogik  210  f.  334  f. 
Panlogismus  235  f. 
Parallelismus  133.  398. 
Paralogismus  442. 
Pathempinsmus  284. 
Person  1  ff. 

Persönlichkeit  3.  15.  194  ff. 
Phänomenalismus  76.  485.  501. 
Phänomenologie  222. 
Physik  199.  49a  500. 
Physiologie  199. 


512 


Register. 


Positivismus  138.  230. 
Pragmatisinus  478  ff. 
Protestantismus  82  ff. 
Psychologie  26.  124.  149.  199.  483. 
Psychologismus  79. 
Psychopathologie  135, 
Psychopliysik  482  f. 

Rationalismus  34  f. 
Raum  153.  213.  421.  472. 
Realismus  163. 
ReaUtät  131.  204.  476. 
Rechtsphilosophie  210  f. 
Regel  24. 

„Reiner  Fall"  26.  372. 
Reiz  239  f. 
Relation  277. 
Relativismus  409  ff. 
Religion  47.  149.  204.  474  ff. 
Rezeptivität  101. 
Romantik  197  f.  231. 

Sache  2. 

Schöne,  das  113.  119.  123.  253. 
Scholastik  52.  359. 
Schriftglaube  49. 
Schule  481. 
Semasiologie  459  f. 
Sinnesqualitäten  263. 
Sinnlichkeit  72.  87. 
Sittlichkeit  119. 
Skeptizismus  209  f.  359. 
Sollen  95.  383. 
„Spieltrieb"  495. 
Spiritualismus  132. 
Spontaneität  101. 
Sprachphilosophie  457  f. 
Staat  96. 
Stoizismus  475. 
Studentenleben  498. 
Substanz  227.  278. 
Succession  227.  388. 


Syllogismus  359  f.  497. 
Symmetrie  435. 
Synthesis  239.  427  ff. 

Technik  (künstler.)  254  f. 
Theologie  491  f. 

Transscendentalphilosophie  69. 153.201. 
Transscendenz  461. 
Tugend  95.  500. 

IJebersinnliche,  das  73. 
Ultramontanismus  32  ff.  43  ff. 
Universalismus  205. 
Unsterblichkeit  69. 
Urteil  360  f.  412  f.  458. 

Vernunft  46.  80.  227.  246  f. 
Vemunftwesen  81. 
Verstand  240  f. 
Vorsehung  63. 
Vorsokratiker  488. 

Wahre,  das  272  ff. 
Wahrnehmung  136.  214.  887.  502. 
Wahrscheinlichkeit  392. 
Webersche  Gesetz,  das  482. 
Wechselwirkung  133.  398. 
Weltanschauung  257  ff.  503  f. 
Weltgeist  230. 
Wert  211.  228.  337. 
Widerspruchsgesetz  485. 
Wüle  245.  489  f. 
Wirklichkeit  70.  418.  504  f. 
Wissenschaftslehre  318  f. 
Wohlgefallen  (ästh.)  256  f.  344. 
Würde  102. 

Zahl  453  f. 
Zeit  263.  421.  472. 
Zufall  81.  157.  251. 
Zweck  206. 
Zweckmässigkeit  258  ff. 


Register. 


513 


Personen-Register. 


474. 

lis  236. 

er  605. 

:agoras  338.  344. 

limander  344. 

arch  11. 

oteles  3.  93.  96.  122. 

i  276.  332. 

•Idt  142. 

larius  200  f.  286.  462. 

)n  156.  214.  486. 
aker  506. 

460. 

h  89.   205.   212.  347. 
>.  442. 
Qgarten  110. 118. 122. 

64  f.  69. 
mann  256. 
eley  146  ff.  155.  214. 
l.  340.  464.  486. 
hardt  457. 
Witz,  K.  V.  86.  93. 
lenbach  lOl. 
ne  325. 
ind  221. 
ino  130  f.  462. 
wski  476. 
roax  167. 
tano  226.  286. 
m  406. 
o  218. 
enau  147. 
er,  Rose  305. 
e  122. 

in  13. 

or  158. 

rer  140. 146  ff.  212  ff. 

K  431  f.  444   466  f. 

tovsky  32a 

•o  8.  12. 

le  91. 

en  11. 


Cohen    131.    142  ff.   214. 

238.   464  f.   471  f.   482. 

607. 
Cohn  2.82. 
Ck)mmer  32  f. 
Comte  167.  200. 
Cornelius  502  f. 
Coumot  199. 
Couturat    199,    212.    482. 

462. 
Cues.  Nik.  v.  147. 
Cyon  436. 

Dacheröden,  K.  v.  93. 
Darwin  235. 
Dehmel  496. 
Demokrit  333. 
Descartes  146  f.  292.  322. 

468.  484.  603. 
Diderot  116. 
DUthey  96.  136.  203.  222. 

232.  474. 
Dionysius  Thrax  11. 
Drews  219  f. 
Dreyer  213. 
Drill  142.  145. 
Dubois-Reymond  328. 
Dubos  85.  116. 
Dühring  232. 
Dugas  136. 

Ebbinghaus  208.  232. 
Ebstein  306. 
Eisler  409. 
Elsenhans  224.  227. 
Empedokles  833.  344. 
Engel  63.  86.  110. 
Epiktet  7. 
Epikur  122. 

Erdmann,  B.  331. 373. 497. 
Erdmann,  J.  E.  484. 
Eucken  152.209f.  222f.  236. 
Euklid  212. 
Ewald  464. 


Falckenberg  33. 
Farges  51  f. 
Fechner  163.  482. 
Ferguson  91. 
Feuerbach  160. 
Fichte   40.   60  f.   76.  80. 

82.    88.    108.    110.    128. 

160.     197  f.    201.    216. 

219  ff.    230.    236.    817. 

321   ff.    846.    360.    462. 

477.    479    f.     487.    489. 

494. 
Fiedler  232. 
Finck,  F.  N.  128. 
Fischer,  H.  E.  146.  213. 
Fischer,  K.  211.  330.  360. 
Forcellini  6. 
Forster  73.  98. 
Fries  222.  224.  227.  236. 
Frischeisen  -  Köhler    231. 

378.  382. 

Galilei  322. 
Oebert  46.  48. 
Oellius  4. 
Qentz  63.  73. 
Geulincx  396.  484. 
Glanvil  396. 
Glossner  32  iL 
Goethe  65.  101.  106.  106. 

110.   126.  127.  236.  304. 

328.  479.  490. 
Goldschmidt  142. 
Gomperz  201.  277. 
Gregor  von  Nazianz  13. 
Greiner  194. 
Grelling  225. 
Grimm,  J.  4.  140. 
Groethuysen  805. 
Groos  206. 

Haeckel  202.  348  f.  495. 
Haller  101. 
Hamann  69.  72.  120. 


514 


Register. 


Hardenberg  360. 
Hamack  117.  308. 
Hartmann,    Ed.    v.    203. 

219  f. 
Hauptmann,  Gterh.  496. 
Haym   68.  61.   66.   88  f. 

99.  128. 
Hegel  40.  61.  83.  88.  110. 
137.   169  f.  197  ff.  216. 

220  f.  230.  283  ff.  319. 
321.  323.  326.  347.  462. 
479. 

HeU  442. 

Hemsterhuis  101. 116, 118. 

127. 
Heraklit  488. 
Herbart  166  f.  346. 
Herder  67.  69.  87  f.  101. 

106.  108.  110. 116  f.  234. 

479. 
Hermann  487. 
HQrz,  Henr.  98. 
Herz,  Marc.  312. 
Hessenberg  226. 
Heymans  419. 
Hicksou  397.  399  f. 
Hubert  199. 
Hobbes  166.  214.  486. 
Höffding  194.  236. 
Hönigswald  148. 
Homeffer  233. 
Haber,  Th.  63. 
Hufeland  310  f. 
Humboldt,   Alex.   v.    66. 

101.  109. 
Humboldt,  Wilh.  v.  67  ff. 

164  f.  286. 
Hume  79. 146  ff.  167.214. 

247  f.   272.  279.  396  f. 

442.  460.  464.  467.  484. 
Husserl  130.  227  f.  298. 

477.  486  f.  497.  608. 
Hutcheson  91. 

Jachmann  476.  480  f. 
J^cobi  16.  40.  63  ff.  69  fL 

84.  87.  92  ff.  98ff.  284. 

443. 


James  149.   232.  475  479- 
Jerusalem  480. 

Kaftan  33  ff. 

Eertz  213. 

Keyserling  233. 

Kierkegaard  495. 

König  388. 

Kömer   66.   77.   112.  114. 

120. 
Kohut  306. 
Kraus  43. 
Krishaber  136  f. 
Kühnemann  82.  117.  126. 

129, 
Külpe  213.  441.  474. 

Lange  232. 
Lask  210. 
Lasson,  G.  22. 
Lavater  69.  119. 
Lehmann,  M.  232. 
Lehmann,  R.  360. 
Leibniz    16  f.   64.  78.  75. 

84  f.    HO.    122.    146  ff, 

199.   213  f.    218.   413  f, 

468.  484.  496. 
Leitzmann  61.  106  ff. 
Leroy  13. 
Lessing  64. 
Liebmann  384.  424. 
Lindner  304. 
Lipps    136.    206.    208  f. 

217  ff.  232.  474.  477. 
Lobatschewsky  212. 
Locke    146  f.    214.    450. 

464  ff.  486. 
Lotze    137.    201.    266    ff. 

374.  881. 
Lucian  10. 
Luther  5  f.  34  ff. 

RIacchiayelli    360  f. 
Mach  202.  232.  441  f.  460. 

462.  603. 
Maeterlinck  231. 
Maier  189.  418. 
Maine  de  Biran  484. 


Malebranche  396. 
Marschner  255. 
Marty  503. 
Massow  350. 
Mayer,  R.  897. 
Medicus  52.  21.S.  215.  346. 
Meier  110. 
Meinong   228  f.  415.  419. 

430.  452.  603. 
Melanchtbon  13. 
Mendelssohn  63  f.  86. 110. 

121. 
Messer  232. 
Mül  167. 
Moritz,  K.  Ph.    110.   116. 

127. 
Motherby  311. 
Müller,  Joh.  163.  483. 
Münch  211. 
Münsterberg  232. 

Natorp  143.  147.199.218. 

232.  333.  449.  471.  482. 

603. 
Nelson  224.  226. 
Newton  147.  214.  322. 
Nietzsche   40.  231  f.  460. 

477. 
Nitzsch  3. 
Novalis  233  ff. 

Oesterreich  116. 
Ostwald   202.  208  f.  211. 
217.  232. 

Pasch  433. 

Passow  480. 

Paulsen   33.  54.  203.  205. 

232.  481  f. 
Pestalozzi  480  f. 
Pfleiderer  60. 
Pick  136. 
Plato   3.   41.   56.  63.  110. 

118.  127.   332.  462.  484. 

488. 
Plotin  219. 

Poincaré  199.  212.  481. 
Polybius  6. 


Registei*. 


Ôlô 


467. 

Sebleientiacher  367.  494. 

Tolstoi  231. 

as  12. 

Schksier  57  f.  126. 

Trendelenburg  330. 

g:oras  480. 

Schlossmann  194. 

Troeltsch  207.  232. 

Schömann  11. 

Trubezkoj  462. 

309. 

Schopenhauer  75. 220. 232. 

474. 

390.  46â.  4B2.  484.  496. 

IJphues  348.  409  ff.  602. 

ke  462. 

Schubert,  Joh.  236. 

e  142.  304.  310. 

Schütz  308. 

72.  93. 

Schuppe  54.  462. 

Taihinger  238.  asi. 

232. 

Schwenck  5. 

Varro  11. 

eck  467. 

Seneca  8. 

Veronese  168. 

135. 

Sentroul  51  f.  505. 

Vinci,  Leon,  da  322. 

rt    118.    149.   161  f. 

Servet  18. 

Vischer  361. 

ff.    209.   215. 

218. 

Shaftesbury  87.  91.  96  ff. 

Volkelt  203. 

.  375  ff.   398.  403  f. 

110. 

Vorländer  142.  213.  Sil. 

449.  462.  498. 

Siegel  234. 

204  f.  317.  348.352. 

Sigwart  232.  3731  385  ff. 

Warming  328. 

ff.    416  ff.    428  ff. 

400. 

Weber  480. 

Simmel  107.  223. 232.  401. 

Wegener  64  f. 

il  150.  387. 

407. 

Wellstein  430. 

ikranz  58. 

Smith,  Ad.  91.  270. 

Wille  828. 

457. 

Sommer  88.  118.  125. 

Willmann  62  ff. 

eau  87.  92.  95. 

479. 

Spencer  479. 

Winckelmann87. 110.1161 

U  199.  212. 

Spicker  486. 

Winddhand  149. 162.2041 

Spinoza  214.  218.  479. 

210.  216.  218.  229.  232. 

328. 

SsDlowjew  462* 

850,  373.  378  ff.  404. 

;hick  234. 

Stammler  199. 

Wobbermin  213. 

iki  194  f. 

Steinthal  11.  58.  89.  128. 

WöUner  350. 

I  32  f.  43. 

Stem  308. 

Wolf,  F.  A.  480. 

ling  61.  76.  88. 

104. 

Stimer  282. 

Wolff,  Ch.    16.  64.  69  ff. 

.  118.   126.  128. 

133. 

Stumpf  200  f.  228  f.  232 

84.  87.  413  1 

.    197  f.    201. 

209. 

419. 

Wolff.  Kasp,  Fr.  328. 

.  819  ff .  230.  233  ff. 

Sulzer  85.    110.  116.  118. 

Wundt,  W.  153. 201  ff.  208 

ff.  343.  462.  491. 

122. 

211.  232.   410.  474.  483 

er  67  ff.  67.  80 

.  82. 

!.  100.  106.  108. 

112. 

Taine  136. 

.  126.  496. 

Teles  8. 

Xenophon  63. 

pp  120. 

Tertullian  12. 

çel,  Fr.  76. 

Thomas  66.  452. 

Zola  232. 

516 


Register. 


Besprochene  Kantische  Schriften. 

(Chronologisch.) 


Allgem.  Naturgeschichte  und  Theorie 

des  Himmels  331. 
Der  einzig  mögl.  Beweisgrund  zu  einer 

Demonstration  für  das  Dasein  Gottes 

71. 
Versuch    über   die   Krankheiten   des 

Kopfes  136. 
Beobachtungen  über  das  Gefühl  des 

Schönen  und  Erhabenen  331. 
Träume  eines  Geistersehers  136.  331. 
Von   dem  ersten  Grunde  des  Unter- 
schiedes der  Gegenden  im  Räume 

48Ö. 
Von    den    verschiedenen   Rassen   der 

Menschen  307. 
Kritik  der  reinen  Vernunft  66. 110. 116. 

142.  144  f.  1Ô9.  163.  240.  256.  307  ff. 

323.  413.  437.  439  f.  447.  471. 
Prolegomena  331.  413.  432.  501. 
Idee  zu  einer  allgemeinen  Geschichte 

in  weltbürgerl.  Absicht  82. 
Ober  die  Vulkane  im  Monde  307. 


Vonderünrechtmässigkeit  des  Bücher- 
nachdrucks 307. 
Bestimmung      des      Begriffs      einer 

Menschenrasse  306. 
Grundlegung     zur    Metaphysik     der 

Sitten  96.  306.  308.  331. 
Metaphysische     Anfangsgründe     der 

Naturwissenschaft  47  f. 
Kritik   der   praktischen    Vernunft  t 

313  ff.  324  f. 
Kritik  der  Urteilskraft  67.  76.  78.  88  f 
.  95  ff.   110  f.   113  ff.    121  ff.  249  ff. 

319  ff.  327  ff.  331. 
Die  Religion  innerhalb   der  Grenzen 

der  blossen  Vernunft  213.  825. 
Die  Metaphysik  der  Sitten  16.  157  ff. 
Über  die  Macht  des  Gemütes  310  f. 
Der  Streit  der  Fakultäten  213.  331. 
Anthropologie  135.  213. 
Fortschritte  der  Metaphysik  4.S4.  437. 
Vorles.  über  Metaphysik  455. 
Reflexionen  444.  555. 
Briefe  193.  304-312. 


Verfasser  besprochener  Novitäten. 


Antoniade  163. 
Apel  352. 
Amoldt  329. 

Bauch  342. 
Becher  498. 
Bergmann  502. 
Bertling  382. 
van  Biéma  501. 
Biermann  164. 
Beelitz  157. 
Braun  133.  342. 


von  Brockdorff  346. 
Burckhardt  349. 

dlaparède-Spir  504. 
Conrad  162. 

Drews  317. 

Ehlers  334. 
Eisler  130. 
Engel  164. 
Ewald  339. 


Flügel  155.  345. 
Fröhlich,  F.  36a 
Fröhlich,  J.  A.  337. 


€k>mperz  489. 
Gottschick  491. 
Gutberiet  333. 

Hamma-MiUer  505. 

Hansen  328. 

von  Hartniann  137. 


Register. 


517 


Hoffmann  343.  494. 
Homeffer  488. 


James  474.  478. 
Jungmann  503. 

König  162. 
Kohlmann  348. 
Koppelmann  161. 
Kroner  497. 


liang  483. 
Lasson  169.  487. 
Ledere  344. 
Leser  489. 
Lossk^  461. 


Marcus  140. 
Marty  467. 
Mau  331. 
Messer  497. 
Mott-Smith  163. 
Muthesius  480. 

Nestle  488. 

Gestenreich  136. 

Paulsen,  J.  162.  482. 
Petronievics  168. 
V.  d.  Pfordten  600. 

Renner  331. 
Richert  361. 
Rüge  160.  493. 


Sanus  351. 
Schiller  478. 
Schmidtkunz  334. 
Siegel-Couturat  352. 
Sigwart  139. 
Simon  496. 
de  Sopper  154.  486. 
Speck  335. 
Spir  504. 
Stange  337. 
Sternberg  481. 

Troeltsch  149. 

Walther  345. 
Weiss  317. 
Wenzig  603. 
Wilmanns  848. 


Verzeichnis  der  Mitarbeiter. 


Antoniade  163—164. 

Apel  362. 

von  Aster  .S33— 334. 

Baensch  18—31. 

Bauch   32—56.    335—337. 

342.  481—482. 
Beclier  498—500. 
Bergmann  502—503. 
van  Biéma  501—502. 
Biermann  164. 
Boelitz  157—158. 
Braun  137—139.  342—343. 

488—491. 
von  Brockdorff  346—348. 
von  Bubnoff  367-408. 
Burekhardt  349—360. 

K&ntHodlen  XIU. 


€laparède-Spir  604—505. 
Cohn  328—329.  480—481. 
Conrad  162—163. 


Engel  164—165. 
Eucken  1—17.  . 
Ewald  197—237. 339—341. 


Falter  482—483. 
Flügel  156-166.  346. 
Fröhlich  360-361, 

Honigs wald  409—466. 
Hoffmann    133-136.   348 
-344. 


Jacoby  478-480. 
Jorges  339. 
Jungmann  503. 

König  162.  483—486. 
Kohlmann  348—349. 
Koppelmann  161— 162. 491 

—493. 
Kroner  497-498. 

Lasson,  G.  159—160. 
Ledere  344—346. 
Losskij  461—463. 

Haas,  A.  493-496. 
Maas  H.  139-140.  149  - 
162.  334. 

34 


518 


Register. 


Marcus  464—466. 
Marty  457—460. 
Medicus  317—328. 
Menzer  304—312. 
Messer  130—133.274-303. 

497. 
Miller  506—006. 
Mott-Smith  153-154. 
der  Mouw  585.  587. 

Watorp  315—316. 

Oesterreich  474—478. 

Paulsen.  J.  152—153.  829 
—331. 


Petrenievics  158—159. 
V.  d.  Pfordten  500—501. 


Bichert  351. 
Eomundt  313—314. 
Buge  160—161. 


Sanus  351—352. 
von  Schubert-Soldem 

—279. 
Schwarz  334—335. 
Siegel  352—353. 
Simon  496. 
de  Sopper  154—155. 


Spranger   57—129.  135- 

137.  337. 
Stadler  238—248. 


Trendelenburg  2—17. 


Vaihinger  165-197.  607 
-509. 


Walther  345-346. 
Wenzig  503—504. 
Wümanns  348. 
Wüst  140—149.  467-473. 
Wundt,  M.  331—333. 


Ergänzungshefte  der  „Kantstudien". 

(Verlag  von  Reuther  &  Reichard  in  Berlin  W.  9.) 

Für  Abonnenten  der  „Kantstudien"  zu  ermässigtem  Preis. 
=  Für  Jahresmitglieder  der   „Kantgesellschaft**  gratis.  = 


Zum  Band  XI  (1906). 

1.  €ruitniann,  J.,  Dr.  phiL  Kants  Gottesbegriff  in  seiner 
positiven  Entwicklung.     IV  u.  104  S.     Mk.  2.80.     (Mk.  2.10.) 

2.  Oesterretch,    K.,   Dr.  phil      Kant  und    die    Metaphysik. 

VI  u.  130  S.    Mk.  3.20.     (Mk.  2.40.) 

3.  Döring,    O.,    Dr.  jtir.   et  phü.      Feuerbachs    Straftheorie 

und    ihr  Verhältnis   zur  Kantischen  Philosophie.     IV  u.  48  S. 
Mk.  1.20.     (Mk.  0.90.) 

Zum  Band  XII  (1907). 

4.  Kertz,  6?.,  Dr.  phü.  Die  Religionsphilosophie  Joh.  Heinr. 
Tieftrunks.  Ein  Beitrag  zur  Geschichte  der  Kantischen  Schule. 
Mit  einem  Bildnis  Tieftrunks.  Vni  u.  81  S.  Mk.  2.40. 
(Mk.  1.80.) 

5.  Fischer,  H.  E.,  Dr.  phü.  Kants  Stil  in  der  Kritik  der 
reinen  Vernunft  nebst  Ausführungen  über  ein  neues  Stil- 
gesetz auf  historisch -kritischer  und  sprachpsychologischer 
Grundlage.    VHI  u.  136  S.     Mk.  4.-.     (Mk.  3.—.) 

6.  Aicher,  Sev,,  Dr.  phü.  Kants  Begriff  der  Erkenntnis, 
verglichen  mit  dem  des  Aristoteles.  Gekrönte  Preis- 
schrift.   XII  u.  137  S.    Mk.  4.50.     (Mk.  3.60.) 

l.Dreyer,  M.,  Dr.  phü.  Der  Begriff  Geist  in  der  deutschen 
Philosophie  von  Kant   bis  HegeL   IV  u.  106  S.    Mk.  3.20. 

(Mk.  2.40.) 

Zum  Band  XIII  (1908). 

8.  (ySuUivan,  Joh/n  M.,  Dr.  phU.  Vergleich  der  Methoden 
Kants  und  Hegels  auf  Grund  ihrer  Behandlung  der  Kategorie 
der  Quantität.     VI  u.  129  S.     Mk.  4.50.     (Mk.  3.60.) 

9.  RndemakfiTf  Franz,  Dr.  phü.  Kants  Lehre  vom  inneren 
Sinn  in  der  Kritik  der  reinen  Vernunft.  45  S.  Mk.  1.75.  (Mk.  1.40.) 

10.  Amnrhein,  Hems,  Dr.  phü.  Kants  Lehre  vom  ^Bewusstsein 
überhaupf"  und  ihre  Entwickelung  bis  auf  die  Gegenwart. 

l\.  MiUler-Braunschweig,  KoatI.  Die  Methode  einer  reinen 
Ethiky  insbesondere  der  Kantischen,  dargestellt  an  einer  Ana- 
lyse des  Begriffes  eines  „praktischen  Gesetzes".  VI  u.  73  S. 
Mk.  2.80.    (Mk.  2.10.) 

(Fortiettung  utmtekend.) 


Ergänzungshefte  der  „Kantstudien". 

(Verlag  von  Reuther  &  Reichard  in  Berlin  W.  9.) 

Für  Abonnenten   der  „Kantstudien^  zu   ermässig^m  Preis. 
=  Für  Jahresmitglieder    der  „Kantgesellschaft"    ^atis.  = 


Zar  Publikation  in  den  „Ergänzungsheften'*  der  Eantstudioft 
sind  für  das  Jahr  1909  folgende  Arbeiten  in  Aussicht  genommmil 

Stiche,   Kurt,   Dr.  pkä.     Kants   Prinzip   der  Autonomie  itt 

Verhältnis  zur  Idee  des  Reichs  der  Zwecke. 

Jorges,    Jß*,    Dr.   phiL      Kants    Lehre    vom    Rechtszwang. 

Eine  vergleichende  Studie  mit  besonderer  Rücksicht  auf  Rudidf 
Stammler. 

Schmiti,  Karl.    Kants  Einfluss  auf  die  englische  Ethik. 

Ausserdem  noch  andere  Arbeiten,  u.  A.  voraossichtlich  eiot 
Abhandlung  über  „Das  Problem  der  Theodicee,  mit  besondmr 
Rücksicht  auf  Kant  und  Schiller". 


j^n  die  J4itglieder  der  Xantgesellschqff. 

Tjeft  //  erscheint  ausnahmsweise  vor  Jjeft  !0.  3>er  Verfasser 
vonJjefi  töy  das  schon  beinahe  fertiççestellt  ist,  ist  durch  amt-^ 
liehe  Çeschâfte  abgehalten  worden,  so  dass  das  fpe/t  erst  anfangs 
nächsten  Jahres  erscheinen  kann;  Tjeft  W  wird  noch  zum  Jahr-^. 
gang  /9Câ  als  €rgànzungshefl  nachgeliefert.  \ 

Tjalle  ff.  5.,  im  2>ezember  1908. 

Ç.  Vaihiifjftr. 


r4aex.^a*».i 


Ml 


Band  XUI.  Heft  4. 


^    8  1908 


KANT- 
STUDIEN. 


PHILOSOPHISCHE  ZEITSCHRIFT 

UNTER  MITWIRKUNG  VON 

E.   ADICKES,    É.    BOUTROUX,    EDW.    CAIRD, 

J.  E.  CREIGHTON,  W.  DILTHEY,  B.  ERDMANN,  R.  EUCKEN,  M.  HEINZE 

A.  RIEHL,    F.  TOCCO,    W.  WINDELBAND 

UND   MIT   UNTERSTÜTZUNG   DER    .KANTGESELLSCHAFT- 

HERAUSGEGEBEN  VON 
D"«-   HANS   VAIHINGER   1^3   D«   BRUNO   BAUCH 

PROFKSSOR  IN  HALLE.  PRIVATDOCRNT  IX  HALLE. 


BERLIN, 

VERLAG  VON  REUTHER  &   REICHARD 
1908. 

WILLIAMS  é  NOROATK,  LKMCKB  *  BUECHKKR, 

LONDON.  NEW  YORK. 

If   LK  hOlIDIKU.  CARLf)  rrLAVSRN, 

1>AR18.  TORINO. 


An«ir<       beB  ■«»      ••  1lea««;b«T  \%%ll.