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Full text of "Kant-studien;: philosophische Zeitschrift"

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\^L. 




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KANT- 
STUDIEN. 



PHILOSOPHISCHE ZEITSCHRIFT 

UNTER MITWIRKUNG VON 

E. ADICKES, t. BOUTROÜX. EDW. CAIRD. 

J. E. CREIGHTON, W. DILTHEY, B. ERDMANN, R. EUCKEN, M. HEINZE 

A. RIEHL, F. TOCCO, W. WINDELBAND 

UND MIT UNTERSTÜTZUNG DER .KANTGESELLSCHAFT" 

HERAUSOEOEBEN VON 



D*- HANS VAIHINGER vm D^ BRUNO BAUCH 

PKomeoB ur ballk. pbivatdoouht im hallx. 

ZWÖLFTER BAND. 




BERLIN, 

VERLAG VON REUTHER & REICHARD 

1907. 



WILLLUI« A ROKOATK, 


LWCU A BnCRMKR, 


LONDON. 


HBW tOBK. 


aUBOUSUB, 


CABLO OLAUflBII, 


PABIB. 


TOBINO. 






INHALT. 



Kant und die moderne Mathematik. (Mit Bezug anf Bertrand 
Rossells und Louis Couturats Werke über die Prinzipien 
der Mathematik). Von Ernst Cassirer 1 

Kant und die gegenwartige Aufgabe der LogiiL Von Fritz 

Medicus 50 

Die Grenzen dee Empiriemue und dee Rationaliemue in 

Kante Kritiic der reinen Vernunft. Von Oskar Ewald 76 

Dae Clirietuebiid bei Kant Von H. Staeps 104 

Kanfe Critique of Judgment. Von W. B. Waterman . . in 

Ober Kante Lehre vom Schematiemue der reinen Vernunft. 

Aus dem Nachlass von Walter Zschocke, heraus- 
gegeben von Heinrich Bickert 157 

Erfahrung und Geometrie in ihrem erkenntnietheoretieehen 

Verhaitnie. Von Bruno Bauch 213 

Kuno Fiecher f. Von Bruno Bauch 269 

Die deuteche Phiioeophie im Jahre 1906. Von Oskar Ewald 273 

Kante Lehre vom radikalen Böeen. Von Gottfried Fittbogen 308 

Die unabhängigen Realitäten. Von Alois Höfler .... sei 

Sinnlichkeit und Denken, ein Beitrag zur Kantiechen Er- 

kenntnietheorie. Von Felix Euberka 393 

Aue Hegeie FrOhzeit Von Anton Thomson 407 

Kant und Friea. Von W. Beinecke 417 

Neue Dareteiiung und Deutung der Lehre Kante vom Glauben. 

Von E. Sänger 426 

Eine neue Auegabt der Werke Nietzechee. Von Bruno 

Bauch 432 

Der 7. Band der Berliner Kant-Auegabe. Von E. y. Aster 436 
Receneionen : 

Ravä, Adolfe, I cömpiti della filosofia di fronte al diritto. 

Von Fritz Medicus 124 

y orllinder, Karl, Kants Grundleg^ong zur Metaphysik der Sitten, 
herausgegeben mit Einleitung, Personen- und Sachregister; 

— Kants Kritik der praktischen Vernunft, herausgegeben mit 
Einleitung, Personen- und Sachregister. Von R.Hön igs w ald 125 

Valentiner, Theodor, Kants Kritik der reinen Vemunit (revi- 
dierte Auflage). Von B. Hönigswald 127 

Höfler. Alois, Zur gegenwärtigen Naturphilosophie. Von W. 
Beinecke 127 



IV Inhalt. 

Seite 

Lipps, Th., Naturwissenschaft und Weltanschauung. Von W. 

Keinecke 129 

Banmann, J., Welt- und Lebensansicht in ihren realwissen- 
schaftlichen und philos. Grundlagen. Von W. Reinecke. 131 

Talbot, Ellen, Bliss, The fundamental principle of Fichtes 

philosophy. Von Fritz Medicus 236 

Delbos, Victor, La Philosophie pratique de Kant. Von A.Messer 238 

Paulsen, Friedrich, David Hume, Dialoge über natürliche 
Religion. Über Selbstmord und Unsterblichkeit der Seele. 
Ins deutsche übersetzt und mit einer Einleitung versehen. 
Von R. Honigs wald 239 

Wyneken, Ernst Fr., Das Naturgesetz der Seele und die 

menschliche Freiheit. Von H. Staeps 241 

Sehrader, Ernst, Elemente der Psychologie des Urteils. 

I. Band: Analyse des Urteils. Von K. Oesterreich . . 243 

Messer, August, Kants Ethik. Eine Einführung in ihre 
Hauptprobleme und Beiträge zu deren Lösung. — Derselbe, 
Kritik der reinen Vernunft von I. Kant m verkürzter 
Form (mit Abschnitten aus den Prole^omena) herausgefi;eben. 
— Derselbe, Kants Ethik und Religionsphilosophie. Aus£;e- 
wählte Abschnitte aus: Grundlegung zur Metaphysik der 
Sitten; Kritik der praktischen Vernunft; Religion innerhalb 
der Grenzen der blossen Vernunft, herausgegeben. — Von 
Bruno Bauch • 248 

Vorländer, K., Kant, Schiller, Goethe. Von J. Cohn . • . 441 

Hoffmann, A., Ren^ Descartes. Von B. Christiansen . . 442 

Dupr^el, E., Essai sur les Cat^gories. Von P. Hauck . . . 443 

Böhm, P., Die vorkritischsn Schriften Kants. Von E.v. Aster 445 

Domer, A., Individuelle und soziale Ethik. Von E. Franz . 449 

Falter, G., Beiträge zur Geschichte der Idee. Teil I. Philon 

und Plotin. Von E. Franz 460 

Raich, M., Fichte, seine Ethik und seine Stellung zum Problem 
des Individualismus. Von 0. Braun 451 

Leclöre, A., Le mysticisme catholique et Täme de Dante. 
Von K. Oesterreich 452 

Selbetanzelgen : 

Honigs wald, Beiträge zur Erkenntnistheorie und Methoden- 
lehre. S. 132. — Elsenhans, Kant und Fries, H. Tl S. 182. 
— Talbot, The Fundamental Principle of Fichtes Philosophy. 
S. 133. — Fischer, Die geschichtlichen Vorlagen zur Dialektik 
in Kants Kr. d. r. V. S. 136. — Romundt, Der Professoren- 
kant. S. 136. — TV ernicke, Kant und kein Ende. S. 138. — 
Habrucker, Rechtsempirie und Rechtstheorie. S. 139. — 
Braun, Schellings Vorlesungen über die Methode des akad. 
Studiums. S. 1^. — Derselbe, Schellings geistige Wand- 
lungen von 1800—1810. S. 140. — Boehm, Die vorkritischen 
Schriften Kants. S. 141. — Flu gel, Herbarts Werke, XH. Bd. 
S. 141. — Derselbe, Religionsphilosophie in Einzeldarstellungen. 
S. 142. 

Jenson, Die Ursache der Widersprüche im Schopenhauerschen 
Sjrsteme (Schopenhauers Philosophie als Kunst). S. 254. — 
Eisler, Einführung in die Erkenntnistheorie. S. 256. — 
Eleutheropulos, Einführung in eine wissenschaftliche Phi- 
losophie. S. 256. — Weissield, Kants Gesellschaftslehre. 



Inhalt. V 

Ctolte 

S. 257. — Kern, Das Wesen des menschlichen Seelen- und 
Geisteslebens als Grundriss einer Philosophie des Denkens. 
S. 258. — Marcus, Die Philosophie des Monoi)lunöismus. 
S. 259. — Camerer, Philosophie und Naturwissenschaft. 
S. 261. — V. Brockdorff, Die Geschichte der Philosophie 
und das Problem ihrer Begreiflichkeit. S. 262. — Feugere, 
Lamennais avant T^Essai sur Tlndiff^ence^, d'apr^ des docu- 
ments inödits. S. 262. 

Levy, Kants Lehre vom Schematismus. S. 454. — Schultz, 
Die drei Welten der .Erkenntnistheorie. S. 455. — Jacoby, 
Herders und Kants Ästhetik. S. 457. — Ho ff mann, Die 
Umbildung der Kantischen Lehre vom Genie in Schellings 
System des transscendentalen Idealismus. S.458. — Willems, 
£ne Erkenntnislehre des modernen Ideidismus. S. 459. 

Nttteilungen: 

Eine Kantstatue von Johannes Schilling. S. 143. — Studien 
zur Geschichte des Protestantismus. S. 144. — Langes Ge- 
schichte des Materialismus. S. 145. — Hamanns Nachlass. 
S. 145. — Eine Kantstiftung. S. 145. 

Kant-Kritiken aus dem Jahre 1799. S. 268. — Ein unbe- 
kanntes Gedicht auf die Kantische Philosophie. S. 263. — 
Kants Grabstätte. S. 264. 

Ein ungedruckter Brief Kants. S.460. — Berichtigungen. 460. 

KuftifMeUMhaA. m. Jahresbertcht. 190« 146 

MliifllederTermelehiils der Kaniifesellschall 158 

KamiifeselUiehaft. ürste Prelsanfgabe der Kani- 
gesellMhallt : Kants Begriff der Erkenntnis, ver- 
glichen mit dem des Aristoteles. Bericht der Preis- 
richterkommission über die zur Preisbewerbung eingegangenen 
Schriften 265 

Kaniifeeellsehalt: Generalversammlung vom 22. April 1907 . . 461 

BeTldlerCe Statnten der Kaniiresellsehalt 462 

Register : 

Sach-Eegister 466 

Personen-Register 4ri9 

Besprochene Kaniische Schriften 471 

Venasser besprochener Novitäten 471 

Verzeichnis der Mitarbeiter 472 



Kant und die moderne Mathematik. 

(Mit Bezag auf Bertrand Russells und Louis Couturats Werke 

über die Prinzipien der Mathematik.) 
Von Ernst Cassirer. 



Das Schicksal und die Zukunft der kritischen Philosophie 
wird durch ihr Verhältnis zur exakten Wissenschaft bedingt. Wenn 
es gelänge, das Band zwischen ihr und der Mathematik und ma- 
thematischen Physik zu zerschneiden, so wäre sie damit ihres 
Wertes und Inhalts beraubt. Wie hier die geschichtlichen 
Wurzeln ihrer Entstehung liegen, so kann auch ihre Fortdauer 
nur durch diesen lebendigen Zusammenhang gesichert werden. 
Der Bestand ihrer Sätze bildet somit keinen fertigen und ein 
ffir alle Mal gesicherten Besitz, sondern er muss sich gegenüber 
den Wandlungen der wissenschaftlichen Überzeugungen und Be- 
griffe stets von Neuem rechtfertigen. Hier giebt es keine selbst- 
sicheren Dogmen, die auf ihre „unmittelbare Evidenz*' hin ange- 
nommen und für alle Zeiten festgestellt werden könnten: dauernd 
ist allein die Aufgabe der ständig erneuten Prüfung der wissen- 
schaftlichen Grundbegriffe, die für die Kritik zugleich zu strenger 
subjektiver Selbstprüfung wird. 

Von diesem Gesichtspunkt aus darf jeder Versuch einer lo- 
gisdien Vertiefung und Klärung der Grundlagen der Mathematik 
von vornherein des grössten philosophischen Interesses gewiss 
sein, — gleichviel in welcher Tendenz er unternommen wird. 
Die Methode der Untei*suchung allein kann über ihren wissen- 
lehaftlichen Charakter entscheiden. Wenn die Grundfrage mit 
^cberheit und Gründlichkeit erfasst, wenn ihre Verzweigungen in 
die besonderen Gebiete des Wissens mit voller Sachkunde verfolgt 
werden, so liegt, wie immer man über das schliessliche Ergebnis 
irteilen mag, schon in dieser Art der Forschung ein dauernder 
Gewinn. Alle diese Eigenschaften aber vereinen sich in Louis 
]UiH«t«dt«n xn. X 



nvH 



2 ES. Cassirer, 

Contnrats neuem Werke über die Prinzipien der Mathematik.^) 
Für alle die, die den erkenntniskritischen Diskussionen der letzten 
Zeit gefolgt sind, ist Couturat kein Fremder: verfolgt er doch 
seit einem Jahrzehnt in all seinen Schriften und Abhandlungen 
unablässig das Ziel, weitere philosophische Kreise für die Teil- 
nahme an den Errungenschaften der neueren Mathematik zu ge- 
winnen. Wie er sich in seinem Werke „De Tlnfini math6matique^^ 
Tor allem die Aufgabe gestellt hat, den Cantorschen „transfiniten*' 
Zahlen das Bürgerrecht in der Philosophie zu erkämpfen, so hat 
er seither jede wichtige neuere Leistung auf dem Gebiet der 
mathematischen Prinzipienlehre mit ausführlichen und anregenden 
Kommentaren begleitet. Auch sein hist^orisches Werk über Leibniz 
liegt wenigstens mittelbar in der Richtung dieser Studien, indem 
es an einem typischen geschichtlichen Beispiel die philosophische 
Fruchtbarkeit der mathematischen Logik, die Leibniz in seinem 
Oedanken der allgemeinen Charakteristik zuerst begründet hat, zu 
erweisen sucht.») Wenn Couturat nunmehr aus all diesen bis- 
herigen Arbeiten die Summe zieht und wenn er dabei überall za 
schärfstem Widerspruch gegen die Grundgedanken der Kantischen 
Philosophie geführt wird, so fordert dieses Ergebnis eingehende 
Beachtung und Prüfung. Handelt es sich doch um einen Denker, 
der ursprünglich der kritischen Philosophie keineswegs fern 
stand, und der, wenn er manche ihrer besonderen Resultat« be- 
kämpfte, doch ihre allgemeine Auffassung der Mathematik durch- 
aus zu teilen schien. Die Wahrheiten der Mathematik^ selbst die 
der reinen Arithmetik, sind ihm, in seinen ersten Schriften, „syn- 
thetische Sätze a priori". „Es war vielleicht nicht ohne Inte^ 
esse, zu konstatieren" — so schreibt er in seiner Kritik der 
Schröderschen Definition der Zahl -- „dass die übrigens sehr 
berechtigte Tendenz der modernen Mathematiker, die Ursprung' 
liehen Daten ihrer Wissenschaft auf rein logische Begriffe zuräck- 
zuführen und die Rolle der „Anschauung" so viel wie möglich 
einzuschränken, die Kant is che Theorie der mathematischea 



1) Les Principes des Math^matiques, avec an appendice sur la Philo- 
sophie des Math6matiques de Kant. Paris (F. Alcan) 1905. 

2) Paris (Alcan) 1906. 
8) La Logique de Leibniz d'aprte des documents in^dits. — Vgl 

über dieses Werk das ausführliche kritische Referat in meiner Schrift 
»Leibniz' System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen^. Mart>aTglM 
S. 641-48. 



kant und die moderne Mathematik. 3 

Urteile, indem sie sie einer strengen Kontrole und einer Art 
Gegenprobe unterwirft, nur umsomehr bestätigt und festigt, "i) 
Wenn Couturat, wenige Jahre darauf, dahin geführt wird, in eben 
dieser Theorie den Grundmangel der kritischen Philosophie zu 
sehen, wenn er Kant vorwirft, dass seine gesamte Erkenntniskritik 
in einer beschränkten und engen Auffassung der Mathematik und 
ihres Geltungswertes wurzle, — so müssen es wichtige und be- 
achtenswerte Motive sein, die diese Umkehr bewirkt haben. 



I. 

Wer den Fortschritten der modernen Mathematik auch nur 
von fernher mit philosophischem Interesse gefolgt ist, der muss 
von Bewunderung über die Kraft und Reinheit des begrifflichen 
Denkens erfüllt werden, die sich hier bekundet. Wenn es eine 
Zeit lang schien, als ob die Strenge der antiken Beweismethoden 
nach der Entdeckung der Infinitesimalrechnung verlassen und ver- 
dunkelt sei, so zeigte es sich im weiteren Fortschritt immer deut- 
licher, dass erst in dieser Erweiterung ihres Gesichtskreises die 
Mathematik ihre volle Freiheit und Sicherheit zu gewinnen ver- 
mochte. Wie die allgemeine Funktionentheorie, in der scharfen 
und strengen Bedeutung, die sie dem Begriff der Grenze gab, 
die Analysis auf ein festes Fundament stellte, so wurde auch die 
Geometrie durch die allgemeinere Fassung des Raumbegriffs zu 
immer tieferer Einsicht in den Zusammenhang und in die Not- 
wendigkeit der einzelnen Axiome geführt. Wenn früher, um eine 
Lücke im begrifflichen Beweisverfahren zu decken, auf irgend 
eine evidente „Anschauung" zurückgegriffen Wurde: so hat dieses 
Verfahren längst alles Recht verwirkt. Nur was sich aus den 
ersten Definitionen, aus den ursprünglichen Setzungen des Denkens 
in lückenloser deduktiver Folge gewinnen lässt, darf Anspruch 
auf Anerkennung erheben. So ist die neuere Mathematik im 
tiefsten platonischen Sinne des Wortes „dialektisch" geworden: 
ihre „Hypothesen" sind ihr nicht beliebig aufgegriffene Ansatz- 
punkte, die sich nur in der bunten Fülle ihrer Folgerungen mittel- 
bar bewähren, sondern sie stellen die notwendigen und hinreichen- 
den gedanklichen Bedingungen dar, die ein bestimmtes Gebiet von 



^) „Sur une d^finition logique du nombre^. Revue de M^taphysique 
et de Morale Vni (1900). S. 36. 

r 



4 fi. Öassirei*, 

Lehrsätzen vollständig begründen, die aber ihrerseits wieder nur 
dann als begründet gelten können, wenn es gelingt, sie aus all- 
gemeineren logischen Ursprungsbegriffen abzuleiten. i) 

Diese Grundtendenz, die sich bisher nur im Aufbau der be- 
sonderen mathematischen Disziplinen bethätigte, verlangt immer 
stärker nach einem einheitlichen philosophischen Ausdruck. 
Aus dieser Forderung heraus ist das Werk Bertrand Russells 
über die Prinzipien der Mathematik entstanden, das es — gestützt 
auf die Vorarbeiten Peanos und Cantors — zum ersten Male unter- 
nimmt, das Oesamtgebiet der modernen Mathematik nach einem 
strengen Plane darzustellen.^) In diesem Werke, das er all seinen 
Ausführungen durchweg zu Grunde legt, erblickt Couturat die 
Krönung und die Synthese aller kritischen Untersuchungen, mit 
denen die Mathematiker seit einem halben Jahrhundert beschäftigt 
sind. Hier sind Logik und Mathematik zu wahrhafter, fortan un- 
löslicher Einheit verschmolzen; und aus diesem ihrem inneren Zu- 
sammenhang erwächst für beide ein neuer Begriff ihrer Aufgabe 
und ihres Gegenstandes. Die Mathematik ist nicht länger — wo- 
für sie Jahrhunderte lang gehalten wurde — die Wissenschaft 
von Grösse und Zahl, sie erstreckt sich fortan auf alle Inhalte, 
in denen vollkommene gesetzliche Bestimmtheit und stetige deduk- 
tive Verknüpfung erreichbar ist. Analog erfährt die Logik, die 
bisher kaum irgend ein anderes Verhältnis, als die Subsumption 
eines bestimmten Subjekts unter einen umfassenden Prädikats- 
begriff betrachtete, eine Emeuening und Erweiterung ihres Ge- 
haltes: sie wird zur allgemeinen Logik der Relationen, die 
die verschiedenen möglichen Grundtypen der Beziehung analysiert 
und auf ihre formalen Momente zurückführt. Dieser Aufgabe aber 
kann sie erst genügen, nachdem sie sich eine feste Zeichensprache 
geschaffen hat, in der sie die Grundbegriffe selbst und ihre Ver- 
knüpfungsformen zu fixieren und auszudrücken vermag. Die Um- 
wandlung der Logik in die „Logistik" — wie Couturat fortan den 
symbolischen Logikkalkül benennen will — ist der entscheidende 
und notwendige Schritt, der ihr erst ihre positive wissenschaftliche 
Fruchtbarkeit sichert 

Es kann hier nicht versucht werden, den Beweisgang, den 
Couturat einschlägt, um diese seine Grundthese zu erhärten, im 

1) Vgl. Piaton, Repübl. 611 A u. B. 

^ Bertrand Russell, The Principles of Mathematics, 1. 1 (Cambridge 
ÜPiversity Press, 19a«i). 



Kant und die moderne Mathematik. 5 

Einzelneu zu verfolgen. Seine Schrift ist bereits eine knappe 
und prägnante Übersicht über die Probleme, die Russells umfassen- 
des Werk ausführlich bebandelt; man würde ihren Inhalt unkennt- 
lich machen, wenn man versuchen wollte, ihn von Neuem in einen 
kurzen Bericht zusammenzudrängen. Mathematische Entwickelungen 
können nicht im Auszug dargeboten werden: sie müssen als 
Ganzes erfasst und beurteilt werden. So muss es genügen, im 
Folgenden nui* die leitenden philosophischen Gesichtspunkte 
aus Bussells und Couturats Entwickelungen herauszuheben. Was 
den eigentlichen Logikkalkül angeht, der von Boole begründet, 
von Ernst Schroeder weitergebildet und ausgebaut worden ist, so 
lässt er sich im Ganzen unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten 
betrachten, je nachdem man die Elemente, die in die Formeln 
eingehen, als Begriffe oder als Urteile ansieht. Im ersteren 
Falle besteht die fundamentale logische Beziehung zwischen zwei 
Inhalten a und b darin, dass der eine als eine besondere Spezies 
des anderen betrachtet und unter ihn als Gattungsbegriff sub- 
sumiert wird: dass somit vom Standpunkt des Umfangs aus, die 
Klasse der a in der Klasse der b enthalten gedacht wird, während, 
vom Standpunkt des Inhalts aus, das Merkmal a als eine Be- 
dingung angesehen wird, die das andere Merkmal b notwendig 
nach sich zieht. Fasst man dagegen die beiden Glieder der Ver- 
knüpfung als Urteile auf, so bedeutet der Satz, dass a in b 
„eingeschlossen" ist, (a < b), dass die Wahrheit des Urteils a 
diejenige von b verbürgt und mit sich führt. ^) Neben dem Kalkül 
der Urteile und dem der Klassen aber steht eine dritte Form, 
die für die logische Analyse der Mathematik von ungleich grösserem 
and allgemeinerem Werte ist. Es handelt sich um den Rela- 
tionskalkül, der namentlich in Russells Werk eine erweiterte 
und vertiefte Bedeutung gewonnen hat. Da wir es in der Mathe- 
matik beständig mit Beziehungen zu thun haben, so entsteht 
die Aufgabe, die verschiedenen Relationstypen gesondert zu stu- 
dieren und sie in bequemen und leicht zu handhabenden Symbolen 
zu verkörpern. Wenn Schroeder und Peirce hierbei davon ausge- 
gangen waren, die Relation selbst einzig durch ihre beiden Ter- 
mini definiert zu denken, wenn sie sie also lediglich durch 
^Paare" von Elementen (x, y) (u, v) (z, w) bezeichneten, so 

») Vgl. hierzu Couturats kurzes Handbuch über die Algebra der 
Logik, das zur ersten Einfülirung in den Logikkalkul vortrefflich geeignet 
iat. (L'Algöbre de la Lo^que. Paris, Oauthier YiUars, 1905.) 



6 E. Gassirer, 

SGhliesst dies, wie Russell hervorhebt, vom philosophischen Stand- 
punkt, einen Zirkel ein. Denn die Paare, die hier zur Be- 
stimmung der Relation verwendet werden, sind nicht als Klassen 
im gewöhnlichen Sinne zu behandeln, sondern schliessen eine be- 
stimmte Ordnung ein: da es z. B. nicht erlaubt ist, die beiden 
Glieder umzukehren, und an Stelle der Beziehung (x, y) die andere 
(y, x) zu setzen. Der Begriff der Ordnung selbst aber ist nur 
eine besondere Art der Beziehung, sodass diese Definition das 
Moment, das sie zur Bestimmung bringen will, implicit bereits 
voraussetzen muss. Nicht die „Klasse" ist somit der erste und 
ursprüngliche Begriff; sondern umgekehrt ist es die bestimmte 
Eigenart einer Relation, die es erst ermöglicht, feste Klassen 
zu setzen und abzugrenzen.^) 

Es ist, wie mir scheint, in der That ein neuer und frucht- 
barer Gesichtspunkt, der hier von Russell in die Behandlung der 
formalen Logik eingeführt wird. Die gesamte „klassische" Logik 
hat es seit Aristoteles mit nichts anderem als mit der Sub- 
sumption von Inhalten, mit der Über- und Unterordnung der 
„Sphären" zweier Begriffe zu thun. Diese Fragestellung erklärt 
sich zwanglos aus den metaphysischen Grundlagen der ari- 
stotelischen Lehre: weil die höchste Wirklichkeit die der Sub- 
stanz ist, alles andere aber nur nachträglich und sekundär 
an ihr in die Erscheinung tritt, darum kann auch das Urteil, 
das keinen anderen Beruf hat, als die Verhältnisse des Seienden 
zu wiederholen und nachzubilden, nur von festen Subjekten 
ausgehen, um ihnen nacheinander verschiedene Prädikate zuzu- 
sprechen. Es ist ein merkwürdiges Geschick, dass diese Grund- 
anschauung, die, wie man sieht, im System des Aristoteles ihr 
Recht und ihre natürliche Stelle hat, die Lebenskraft dieses 
Systems selbst bei weitem überdauert hat. Von der Renaissance 
an beginnt in der Philosophie, wie in der Wissenschaft der 
Kampf gegen die substantielle Weltansicht. Immer deutlicher 
spricht sich die Erkenntnis aus, dass nicht die absoluten Sub- 
stanzen, sondern die Gesetze den eigentlichen Inhalt und Vor- 
wurf der wissenschaftlichen Forschung zu bilden haben. Kepler 
und Galilei arbeiten in Gemeinschaft mit Descartes an dieser 



Russell, § 27—28 ; Couturat S. 27 f. — Das Werk von Russell wird 
im Folgenden durchweg nach der Paragrapheneinteilung, dasjenige von 
Couturat nach der Seitenzahl citiert, 



Kant and die moderne Mathematik. 7 

neuen Ersieht. >) Aber je mehr die aristotelische Anschauung in 
der Wissenschaft und in der allgemeinen Weltansicht zurück- 
gedrängt wird, um so unumschränkter bleibt ihre Herrschaft in 
der Logik. An diesem einen Punkte kann sich die scholastische 
Denkart, die überall sonst beständig an Boden verlieit, dauernd 
behaupten. So erscheint die Syllogistik überall als das eigentlich 
reaktionäre und hemmende Moment. Die Logik bleibt an den 
Gesichtspunkt der Substanz und somit an die Grundform des Urteils 
der Prädikation gebunden,^ während das lebendige wissenschaft- 
liche Denken immer deutlicher auf den Funktionsbegriff als 
seinen eigentlichen systematischen Mittelpunkt hinzielt. Man er- 
kennt in diesem Zusammenhang den Wert und die Notwendigkeit 
der neuen Grundlage, auf die Russell die Logik zu stellen sucht. 
Die Mathematik ist in seiner Darstellung nichts anderes als eine 
spezielle Anwendung der allgemeinen Logik der Relationen; der 
Relationsbegriff aber geht seinerseits auf den fundamentaleren 
Gedanken der „Funktionalität" zurück.-^) Es ist für die ge- 
schichtliche und sachliche Problemlage charakteristisch, dass über- 
all, wo auf eine strenge deduktive Ableitung der mathematischen 
Prinzipien gedrungen wird, dieser Gedanke an die Spitze tritt. 
In diesem Sinne hat Dedekind versucht, die gesamte Arithmetik 
auf die einzige Operation der Beziehung und gegenseitigen 
Zuordnung von Inhalten zu gründen.'^) Überblickt man das 



1) Vergl. hierzu die ausführliche Darstellung in meiner Schrift ^Daa 
Erkenntniaproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit^, 
Bd. I, Berlin 1906. 

*) Als Beweis dafür, wie sehr dieser Gesichtspunkt auch in der 
neueren Gestaltung der Logik noch herrschend geblieben ist, hätte Russell 
die eigentümlichen Schwierigkeiten anführen können, die die Logiker 
sich mit der Darstellung und Einordnung der sog. „Impersonalien^ ge- 
macht haben. Das Problem, das man hier gesehen hat, verschwindet, so- 
bald allgemein eingesehen ist, dass es grosse Klassen von Urteilen giebt, 
die dch dem gewöhnlichen Schema, kraft dessen einem bestimmten „Sub- 
jekt** eine Eigenschaft als Prädikat beigelegt wird, in keiner Weise ein- 
fügen lassen, daas vielmehr dieses Schema gerade gegenüber den wich- 
tigsten GrundurteUen der Mathematik versagt. — Vgl. RusseU §§ 214, 
815, 436 u. 8. 

3) Über die allgemeinste Bedeutung des Funktionsbegriffs vgL 
Russell § 254 sowie Revue de M^taphysique XIII (1906), 906 ff. 

*) „Verfolgt man genau, was wir bei dem Zählen der Menge oder 
Ansahl von Dingen thun, so wird man auf die Betrachtung der Fähigkeit 
des Geistes geftihrt, Dinge auf Dinge m beziehen, einem Ding ein 



8 £. Cassirer, 

Ganze dieser Entwickelungen, so kann man schon hier, in den 
ersten Anfängen, ein vorläufiges Urteil über den Wert der „Lo- 
gistik" fällen. Wie immer man über ihre Bedeutung für die Ge- 
samtheit der philosophischen Probleme denken mag: es lässt 
sich nicht leugnen, dass sie die „formale Logik" erneuert 
und sie wiederum mit dem Lebenssaft der Wissenschaft erfüllt 
hat. Auch mit Rücksicht auf die Kantische Lehre ist dieses 
Ergebnis von Wichtigkeit. Die Logistik kann — aus Gründen, 
die später entwickelt werden sollen — die „transscendentale" 
Logik niemals verdrängen oder ersetzen; aber es ist nicht zu 
bezweifeln, dass sie in ihrer modernen Gestalt für die eigentlichen 
erkenntniskritischen Probleme reichere Anregungen bietet und 
einen sichereren „Leitfaden" enthält, als Kant ihn in der tradi- 
tionellen Logik seiner Zeit besass. 



II. 

1. Der konstruktive Aufbau der mathematischen Prin- 
zipienlehre beginnt bei Russell und Couturat mit einer eingehenden 
Zergliederung des Zahlbegriffs. Die Ansicht zwar, die hier 
das einzige Fundament der Mathematik sieht, und die es unter- 
nimmt, das gesamte Gebiet der Analysis aus dem blossen Begriff 
der Zahl, ja der ganzen Zahl, aufzubauen, darf heute, wie beide 
betonen, als überwunden gelten. Die modernen Mannigfaltigkeits- 
untersuchongen, sowie die Gruppentheorie lassen klar erkennen, 
dass es dem wahren Charakter der Mathematik widerstreitet, wenn 
man sie auf das Gebiet der Quantität einzuschränken sucht. 
Die Mathematik ist — nach einer Definition, die Gregor Itelson 
vorgeschlagen und die Couturat angenommen hat^) — „die 
Wissenschaft der geordneten Gegenstände": sie erstreckt sich auf 
alle qualitativen Beziehungen überhaupt, sofern sie nach einer 
strengen begrifflichen Regel erkennbar sind. Es entspricht somit 



Ding entsprechen zu lassen, oder ein Ding durch ein Ding abzu- 
bilden, ohne welche Fähigkeit überhaupt kein Denken möglich ist. Auf 
dieser einzigen auch sonst ganz unentbehrlichen Grundlage muss nach 
meiner Ansicht . . . die gesamte Wissenschaft der Zahlen errichtet werden.^ 
(Dedekind, Was sind und was sollen die Zahlen ? 2. AufL Braunschweig 
1893, S. vm.) 

1) S. Couturats Bericht über den Genfer Philosophen-Kongress. 
Rev. de Mötaphys. Xil (1904), 



Kant nnd die moderne Mathematik. 9 

dem logischen Rangverhältnis der Probleme, wenn wir — im 
Gegensatz zu der Darstellung Russeis und Couturats — sogleich 
den Begriff der Ordnung an die Spitze stellen und erst von ihm 
aus den Zugang zum Begriff der Zahl zu gewinnen suchen.^) 
Hierbei gilt es zunächst, die allgemeinsten Bestimmungen zu 
betrachten, die der Logik der Relationen zu Grunde liegen.^) In 
jeder Relation zwischen zwei Gliedern x und y bietet sich zu- 
nächst ein Unterschied des „Sinnes" dar, je nachdem wir die Be- 
ziehung von X zu y oder die entgegengesetzte von y zu x ins 
Auge fassen: wir werden — wenn wir die erstere Beziehung mit 
X R y bezeichnen — die zweite als ihre Umkehrung oder ihre 
„converse* Relation auffassen und durch das Symbol y R x zum 
Ausdruck bringen. Die Elemente, zwischen denen eine bestimmte 
Relation stattfindet, zerfallen nun in zwei Klassen, deren erste 
die „sich beziehenden", deren zweite die „bezogenen" Glieder 
oder, mit anderen Worten, die Vorder- resp. die Hinterglieder der 
Relation („referent" und „relatum") umfasst. Bezeichnen wir 
jetzt als den „Bereich" (domain) einer Beziehung R den Inbegriff 
ihrer Vorderglieder, so wird der Inbegriff ihrer Hinterglieder den 
Bereich der zugehörigen conversen Beziehung R ausmachen: die 
Gesamtheit der Vorder- und Hinterglieder soll das „Gebiet" (field) 
der betreffenden Beziehung genannt werden. Eine Relation (x R y) 
heisst „symmetrisch", wenn sie mit ihrer Umkehrung identisch 
ist, d. h. wenn x R y stets und notwendig y R x nach sich zieht, 
sie heisst „nicht-symmetrisch", sobald dies nicht der Fall ist und 
„asymmetrisch", sobald aus x R y die Unmöglichkeit vony R x 
hervorgeht. Wir bezeichnen sie fem er als „transitiv", wenn 
daraus, dass sie zwischen je zwei Gliedern x und y und y und z 
besteht, stets auch ihre Geltung für x und z folgt, während sie 
im entgegengesetzten Falle als „nicht-transititiv" oder, wenn das 
Znsammenbestehen von x R y und y R z mit x R z nicht nur 
nicht notwendig, sondern unmöglich ist, als „intransitiv" be- 
zeichnet wird.^) 



^) Auf die logische Definition der Kardinalzahlen, insbesondere 
der NoU und der Eins, die ein schwieriges und strittiges Kapitel der Lo- 
gistik bildet, soll hier nicht eingegangen werden; ich denke in anderem 
Zusammenhang auf sie zurückzukommen. 

«) Zum Folgendem vgl. Russell § 94 ff.; Couturat S. 27 ff. 

*) Als bequeme Beispiele für diese verschiedenen Relationstypen 
fuhrt BuBsell (§ 208) die mannigfachen Verwandtschaftsbeziehungen an: 



10 E. Cassirer, 

Nachdem diese aUgemeinen Festsetzungen getroffen sind, 
können wir den Begriff der Ordnung schärfer umgrenzen. Wir 
müssen zunächst erkennen, dass die Ordnung in einer bestimmten 
„Schar^ von Elementen niemals schon als fertige Eigenschaft au 
den einzelnen Elementen selber haftet und mit ihnen mitgegeben 
ist, sondern dass sie erst durch die erzeugende Relation, aus 
der die einzelnen Glieder hervorgehen, bestimmt wird. Mit dieser 
Relation ist auch ihr „Gebiet^ und somit der Inbegriff der Ele- 
mente gegeben; nicht aber bestimmt umgekehrt das Gebiet die 
Art und den Charakter der Relation (Russell § 231). Wir werden 
somit vor allem die verschiedenartigen erzeugenden Relationen, 
aus denen irgendwelche geordnete Reihen sich ergeben können, 
ins Auge zu fassen und näher zu zergliedern haben. Diese Ana- 
lyse, die Russell im Einzelnen durchfuhrt, führt nun insofern zu 
einem einfachen Ergebnis, als sich zeigt, dass jede bestimmte 
Ordnung im letzten Grunde stets auf eine transitive und asym- 
metrische Beziehung zurückzuführen und in ihr erschöpfend 
darzustellen ist (Russell § 196 ff.). Betrachten wir nun zwei ge- 
ordnete Folgen u und v, so werden wir sie „ähnlich" nennen, 
wenn zwischen ihnen eine eindeutige und umkehrbare Entsprechung 
der Art besteht, dass, wenn in der Folge u ein Element a^ einem 
anderen bi vorangeht, auch in v das entsprechende Element a^ 
dem entsprechenden b2 vorangeht. Genauer gesprochen, betrifft 
diese Definition der Ähnlichkeit nicht sowohl die Inbegriffe u und 
V selber, als ihre erzeugenden Relationen: zwei Relationen P 
und Q heissen ähnlich, wenn zwischen ihren beiderseitigen Ge- 
bieten eine eindeutige und umkehrbare Entsprechung von der 
Art besteht, dass zwei Elementen, die in der Beziehung P stehen, 
stets zwei andere entsprechen, die zueinander die Beziehung Q 
besitzen. Bezeichnen wir die beiderseits eindeutige Relation, 
kraft deren die Glieder von u denen von v zugeordnet sind, mit 
S, so können wir uns das Verhältnis in folgendem schematischem 
Bilde veranschaulichen: 

ai P bi P Cj P dl . . . 
8 S S S 
a, Q bj Q C2 y dj . . . 

80 ist die Beziehung zwischen „Geschwistern^ symmetrisch und transitiv, 
die Beziehung „Bruder^ nicht symmetrisch, aber transitiv; die Beziehung 
.Nachkomme*" asymmetrisch und transitiv, die Beziehung „Vater*' asym- 
metrisch und intransitiv u. 9. w, 



Kant und die moderne Mathematik. 11 

Da ferner die Relation der Ähnlichkeit kraft ihrer Definition 
qrmmetrisch und transitiv ist, so werden alle Reihen, die irgend 
einer ursprünglichen Reihe ähnlich sind, damit auch untereinander 
in bestimmter einzigartiger Weise verknüpft: wir können sie so- 
mit s&mtlich — sofern sie die Eigenschaft besitzen, sich unter 
Wahrung der Ordnung ihrer Elemente wechselseitig eindeutig 
dnander zuordnen zu lassen — unter einen gemeinsamen Begriff 
be&ssen, indem wir ihnen denselben „Ordnungstypus*^ zu- 
sprechen. — 

Die Untersuchungen der bedeutendsten modernen Mathe- 
matiker — insbesondere die Theorieen von Helmholtz, Kronecker 
and Dedekind — haben gezeigt, dass es zur Begründung der 
gesamten Arithmetik genügt, wenn wir die natürliche Zahlenreihe 
lediglich als eine Folge von Elementen definieren, die durch eine 
bestimmte Ordnung miteinander verknüpft sind, — wenn wir 
ilso die einzelnen endlichen Zahlen, ohne sie als „Vielheiten^ von 
Einheiten zu betrachten, lediglich durch die „Stellung*', die ihnen 
imierhalb der Gesamtreihe zukommt, charakterisiert denken. Die 
elementaren Rechnungsoperationen, wie Addition und Multiplikation, 
können unter dieser Voraussetzung definiert und ihre formalen 
Eigent&mlichkeiten, wie das associative und kommutative Gesetz, 
vollständig bewiesen werden. Auch die Verallgemeinerung des 
Zihlbegriffs lässt sich durchaus innerhalb dieser Grenzen voll- 
ziehen und erklären. Was zunächst die Brüche angeht, so 
hindelt es sich in ihnen nicht sowohl um ein neues Gebiet von 
Zahlobjekten, als vielmehr um Ausdrücke für bestimmte Opera- 
tionen, die wir innerhalb der ganzen Zahlen vollziehen: also um 
n Verhältnisse'' oder Relationen, die zwischen ganzen Zahlen statt- 
finden. Analog ergiebt sich der Unterschied positiver und nega- 
tiver Zahlen, sobald wir darauf achten, dass die erzeugende Re- 
lation, aus der die Glieder der natürlichen Zahlenreihe entstanden 
sind, wie jede Beziehung doppelseitig ist, und eine Verschieden- 
heit des „Sinnes** einschliesst. (Siehe oben S. 9.) Nennen wir 
B die beiderseitig eindeutige Relation, die zwischen einer Zahl 
and der ihr zunächst folgenden besteht, so ist unmittelbar mit 
ihr auch ihre Umkehrung R (d. h. die Beziehung, die zwischen 



1) Vgl. bes. Heimholt z, Zählen und Messen, erkenntnistheoretisch 
betrachtet, sowie Kronecker, Über den Zahlbegriff (Philosoph. AufsAtze» 
Ed. Zeller zu seinem fiOjAhr. DoktoijubilAum gewidmet, Leipzig 1887). 



12 E. Cassirer, 

einer Zahl und der ihr vorangehenden stattfindet) gegeben. 
Die positive Zahl + a soll alsdann die Operation anzeigen, die 
der Relation R» entspricht, während die negative Zahl — a die 
Operation angiebt, die der „conversen" Relation R* entspricht: 
die erstere besagt somit, mit anderen Worten, dass luan in der 
Zahlenreihe um a-Stellen fortschreiten, die letztere, dass man in 
ihr um a-Stellen zurückschreiten soll.^) Diese Erklärung entspricht, 
wie Couturat betont, völlig der populären Auffassung des Nega- 
tiven und den anschaulichen Beispielen, die man von ihm zu geben 
pflegt: aber sie ist nichtsdestoweniger auf den reinen Begriff der 
Relation gegründet und somit von jeder geometrischen Betrachtung 
und jeder Anschauung unabhängig.^) 

2. Die gleiche Erwägung bestätigt sich in der Betrachtung 
der Irrationalzahl, in deren Einführung Russell und Couturat 
im wesentlichen der bekannten Dedekind'schen Erklärung folgen, 
nach welcher die Irrationalzahl durch den „Schnitt^, den sie 
innerhalb der Reihe der rationalen Zahlen hervorbringt, definiert 
wird. Betrachten wir zunächst eine beliebige rationale Zahl a, 
so sehen wir, dass durch sie das Ganze der übrigen Rationalzahlen 
in zwei Klassen Aj und A2 geteilt wird, von denen die erste 
alle Zahlen umfasst, die kleiner als a sind, während die zweite 



^) Couturat S. 80; vgl. hierzu besonders die Ausführungen von 
Natorp in der „Bibliothöque du congr^s international de Philosophie^: 
„Nombre, Temps et Espace dans leurs rapports avec les fonctions primi- 
tives de la pens^e*^ § 20. S. auch die Ableitung der negativen Zahlen in 
Natorps „Logik in Leitsätzen zu akadem. Vorlesungen'S Marb. 1904, § 28. 

8) Mit diesen Sätzen giebt Couturat die Ansicht auf, die er in seinem 
Werke „De Tlnfini math^matique^ verfochten hatte: dass nämlich die ne- 
gativen und die irrationalen Zahlen nur als Symbole konkreter Grössen 
zu verstehen seien, und dass somit die YeraUgemeinemng der ganzen Zahl 
keine natürliche und spontane Entwickelung ihrer Idee, sondern ihr von 
aussen durch die Bücksicht auf die kontinuierliche Grösse aufgezwungen 
sei (a. a. 0. S. 179 u. ö.). Dagegen scheint es allerdings an einer späteren 
SteUe, als soUe diese frühere Auffassung wieder in ihr Recht treten, da 
hier ausdrücklich gelehrt vimrd, dass die Erweiterung des Zahlbegriffs 
nicht aus einer immanenten Notwendigkeit, sondern aus der Idee der 
Grösse stammt (S. 115). Ich vermag indes diese Auffassung mit der 
Grundtendenz, von der Couturats Werk beherrscht wird, nicht zu ver- 
einen: denn da nach Couturat die Grösse ein empirisches Element ein- 
schliessen soll, so würde auch die Zahl, sofern sie sich auf sie stützt und 
sie voraussetzt, in die gleiche Bedingtheit hineingezogen; sie wäre somit 
nicht mehr aus rein „loschen Konstanten^ ableitbar. 






Itant und die moderne iiattiematik. lo 

alle diejenigen, die grösser als a sind, in sich enthält, sodass 
weiterhin auch jede Zahl der Klasse Ai kleiner als jede Zahl der 
Klasse A2 ist. Bewirkt somit jede rationale Zahl einen „Schnitt" 
der Zahlenreihe, so gilt doch nicht der umgekehrte Satz, da es, 
wie man sich leicht überzeugt, unendlich viele Schnitte der 
Zahlenreihe giebt, die durch keine Rationalzahl hervorgebracht 
werden. Sei z. B. D eine positive ganze Zahl, die aber nicht das 
Quadrat einer ganzen Zahl sein soll, so giebt es eine positive 
ganze Zahl A von der Art, dass A^ <; D < (A -[- 1)*. Nimmt 
man also in die erste Klasse A| jede positive rationale Zahl auf, 
deren Quadrat <] D ist, in die zweite Klasse A2 dagegen alle 
übrigen rationalen Zahlen, so ist damit wiederum eine voll- 
ständige Einteilung des gesamten Systems der Ratio- 
nalzahlen gegeben, ohne dass sich doch — da es keine rationale 
Zahl giebt, deren Quadrat gleich D wäre — in diesem System 
selber ein Element aufweisen Hesse, das diese Einteilung bewirkte 
ind dass somit grösser als alle Zahlen der ersten und kleiner als 
alle Zahlen der zweiten Klasse wäre.^) Trotzdem weisen alle 
diese Schnitte, wenn man sie untereinander und mit den übrigen, 
durch Bationalzahlen hervorgebrachten Einteilungen vorgleicht, 
dne eindeutige und vollständige Bestimmtheit auf, sodass sie 
sich sämtlich voneinander unterscheiden und gemäss der Art, 
wie sie aufeinander folgen, in eine Reihe ordnen lassen. Damit 
aber — und dies ist der entscheidende logische Gesichtspunkt — 
haben wir an ihnen genau diejenigen Momente wiedergefunden, 
die auch das wesentliche begriffliche Charakteristikum der uns 
bisher allein bekannten Rationalzahlen ausmachen: wir sind somit 
berechtigt, fortan nur diese allgemeine Eigentümlichkeit festzu- 
halten and überall dort, wo sie vorliegt, eine neue Zahl durch sie 
definiert anzusehen. Während wir anfangs von gegebenen 
Zahlen ausgingen und an ihnen bestimmte Merkmale feststellten, 
erschaffen wir jetzt umgekehrt, wo immer uns eine analoge 
Bestimmtheit entgegentritt, für ihren Ausdruck ein neues 
Zahlensymbol. Wir sehen somit, dass wir, um zum Begriff der 
Irrationalzahl zu gelangen, nirgends auf die anschaulichen geo- 
metrischen Verhältnisse der Grössen zu reflektieren brauchten, 
sondern vielmehr dieses Ziel innerhalb des rein arithmetischen 



^) Dedekind, Stetigkeit und irrationale Zahlen, 2* Aufl., Braun- 
•chweig 1893, | 4. 



14 ß. Cassiref , 

Gebietes zu erreichen vermochten.*) Die Zahl bedeutet, als reine 
Ordnungszahl angesehen, ihrem ganzen Inhalt nach nichts anderes 
als eine „Stelle*^: es ist somit eine notwendige und konsequente 
Weiterführung, dass wir überall dort, wo es uns gelingt, kraft 
einer bestimmten begrifflichen Vorschrift eine Stelle als einzelne 
zu fixieren, umgekehrt eine neue Zahl als „gegeben^ betrachten. 
Denn Gegebenheit kann hier, wo wir uns ganz im Bereich rein 
ideeller Setzungen bewegen, nichts anderes bedeuten, als völlige 
logische Bestimmtheit, als die Eindeutigkeit einer gedanklichen 
Operation.*) 



*) Um die Stetigkeit des Gebietes der reellen Zahlen zu definieren, 
war Dedekind ursprünglich von der Betrachtung der Punkte auf einer 
Geraden ausgegangen, um erst nachträglich die begrifflichen Bestimmungen, 
die er hier verwirklicht fand, in die Sprache der reinen Arithmetik zu 
fibersetzen. Wenn somit auch bei ihm geometrische Betrachtungen die 
erste Anregung gebildet haben, so gehen sie doch — wie er später mit 
Recht hervorgehoben hat — nicht als logische Gründe in die Ableitung 
der Irrationalzahl ein; diese bleibt vielmehr ohne jede Einmischung der 
messbaren Grössen in sich völlig verständlich und zureichend. 

^ Ich habe in der obigen Darstellung von der Änderung, die Russell 
an Dedekinds Theorie vorgenommen hat, abgesehen, da sie mir in rein 
logischer Beziehung kein wesentlich neues Moment zu enthalten scheint. 
Nach Russells Anschauung wird, wenn irgend eine vollständige Einteilung 
des Gebietes der Rationalzahlen in eine „untere^ und eine „obere^ Klasse 
gegeben ist, nicht sowohl eine einzelne Zahl postuliert, die diesen 
„Schnitt** hervorbringt, als vielmehr der Inbegriff aller Elemente der 
unteren Klasse betrachtet. Bei den Einteilungen des Systems der Ratio- 
nalzahlen kann nun ein doppelter FaU eintreten: sofern einmal die Glieder 
der unteren E^asse sämtlich kleiner als eine bestimmte Rationalzahl 
sind, während sie ein anderes Mal zwar nicht kleiner als ein einzelner 
Wert, aber kleiner als eine bestimmte Klasse von unendlich vielen ra- 
tionalen Werten sind. In beiden Fällen betrachten wir lediglich die Ge- 
samtheit deijenigen Glieder, die der kleineren Klasse angehören, und be- 
zeichnen jede dieser Gesamtheiten durch eine .reeUe Zahl^, sodass diese 
letztere also in jedem Falle eine „Zahlenstreck e^, einen unendlichen 
Inbegriff rationaler Zahlen bedeuten soll. Auch in dieser Einftlhrung liegt 
indessen der Nerv des ganzen Gedankenganges darin, dass die so ge- 
schaffenen Zahlenstrecken miteinander vergleichbar sind, sofern, wenn 
irgend zwei verschiedene von ihnen gegeben sind, die eine stets in der 
anderen als „Teil** enthalten ist; dass wir somit die unendliche Mannig- 
faltigkeit der Zahlenstrecken in eine Reihe ordnen können. Mehr 
als eben diese Bestimmtheit aber will auch die „Existenz^ der Irra- 
tionalzahl im Sinne Dedekinds nicht besagen: ihr „Sein^ besteht lediglich 
in ihrer Funktion, eine mögliche Einteilung des Gebietes der Rational- 
zahlen und damit eine mögliche „Stelle*^ zu bezeichnen. Dass diese Funk- 



kant und die moderne Mathematik. lö 

Dedekind selbst spricht das entscheidende Ergebnis seiner 
Theorie dahin aus, dass „der Mensch ohne jede Vorstellung von 
messbaren Grössen, und zwar durch ein endliches System ein- 
f^her Denkschritte, sich zur Schöpfung des reinen stetigen Zahlen- 
reiches aufschwingen^ könne, und dass es ihm erst mit diesem 
Hilfsmittel möglich werde, „die Vorstellung vom stetigen Baume 
zn einer deutlichen auszubilden "".^ Die gleiche Orundansicht ist 
es, die auch in den Definitionen des Continuums, die 6 eorg Cantor 
fortschreitend entwickelt hat, zu immer schärferer Ausprägung 
gelangt ist. Nicht die „Anschauung'' des Raumes oder der Zeit 
ist es, in der wir die Erklärung und Begründung der Stetigkeit 
VOL Sachen haben, sondern umgekehrt können wir zum eigentlichen 
Verständnis des räumlichen und zeitlichen Continuums erst dann 
gelangen, wenn wir den allgemeinen Begriff der Stetigkeit zuvor 
entwickelt und auf einen klaren logischen Ausdruck gebracht 
haben.^) Gelingt es, diese Auffassung durchzuführen, so wäre 
damit in der That dem „reinen Denken" ein Gebiet erobert, das 
— seit den Zenonischen Aporien — immer wieder als seine 
Schranke und als sein Widerpart erschien. An diesem Punkte, 
der für Busseils und Couturats Beweisführung eine entscheidende 
Instanz darstellt, müssen wir daher länger verweilen. Mit Recht 
hebt Gonturat es als eines der wesentlichen Verdienste von Gantors 
ErkUrnng hervor, dass sie nicht nur auf alle besonderen sinn- 
lichen Daten, sondern selbst auf den reinen Begriff der Grösse 
Terzichtet, um lediglich den allgemeinen Begriff der Ordnung zu 
Grande zu legen. Wir können von einem stetigen Zusammenhang 
?0D Elementen selbst dann sprechen, wenn wir lediglich ihre 
wechselseitige Stellung und Abfolge betrachten, ohne zwischen 
ihnen irgend eine metrische Beziehung des Abstandes anzu- 
nehmen. Um dies im Einzelnen zu erweisen, muss zunächst — 
wie es übrigens dem geschichtlichen Gang von Cantors ünter- 



tkm ziur Setzmig eines eigenen gedanklichen Inhalts Anlass giebt, ist 
freilich ein Vorgang, der von höchstem erkenntnistheoretischen Interesse 
itt; — das Recht dieser logischen „Ablösung*^ eines Denkinhalts von der 
BenehoDg, in der er ursprünglich wurzelt, aber kann nicht bestritten 
weiden, da hier eine allgemeine Voraussetzung vorliegt, die in8l)esondere 
die mathematische Begriffsbildung überaU beherrscht. 

1) nWaa sind and was sollen die Zahlen P"" S. XIII. 

^ Oeorg Oantor, Grundlagen einer allgemeinen Mannigfaltigkeitt- 
lelire, Leipsig 1888, S. 29. 



l6 t. Cassirei*, 

suchuDgen entspricht — die „metrische" Definition des Continuums 
festgestellt und sodann die Umformung aufgezeigt werden, kraft 
deren sie yon allen Grössenbegriffen befreit und in eine rein 
„ordinale" Erklärung übergeführt werden kann. Eine Mannig- 
faltigkeit ist, nach Cantors früheren Erklärungen, als stetig anzu- 
sehen, wenn sie „perfekt" und „zusammenhängend" ist. Die 
letztere Bedingung ist für eine Menge T dann erfüllt, wenn für 
je zwei ihrer Punkte t und t' bei vorgegebener beliebig kleiner 
Zahl € immer eine endliche Anzahl Punkte t^, t g, . . . tv vo n T 
vorhanden ist, sodass die Entfernungen tt^, tit2, tsts, . . . t, t' 
sämtlich kleiner sind als e;^) wenn also zwischen zwei Punkten 
niemals ein endliches Intervall besteht, dem kein Punkt der Menge 
mehr angehört. „Perfekt" dagegen heisst eine Menge, wenn alle 
ihre Punkte Grenzpunkte sind und wenn sie femer alle ihre 
Grenzpunkte selbst enthält.^) Die Erklärung der Stetigkeit läuft 
also auf diejenige des „Grenzpunktes" hinaus. Nun heisst ein 
Punkt X der Grenzpunkt einer Menge T, wenn sich, — gleichviel 
ob er selbst T angehört, oder nicht — in seiner Nachbarschaft 
jedenfalls unendlich viele Punkte angeben lassen, die der Menge 
angehören: wenn sich also für jede vorgegebene beliebig kleine 
Zahl € zum Mindesten ein Punkt von T angeben lässt, dessen 
Abstand von x kleiner als eist. Man sieht, dass beide Attribute, 
die hier in die Erklärung der Stetigkeit eingehen, dass sowohl die 
Definition der „perfekten" wie der „zusammenhängenden" Menge 
den Begriff der Grösse und des Grössenabstandes notwendig 
einschliessen. 

Soll diese Bestimmung eliminiert werden, so muss eine 
veränderte Fassung des Grenzbegriffs eintreten. Betrachten wir 
vorerst das Ganze der rationalen Zahlen, so haben wir hier 
einen Inbegriff vor uns, der durch drei wesentliche Eigenschaften 
charakterisiert ist: er ist ab zählbar (sofern sich alle seine Eie- 



1) G. Cantor, a. a. 0. S. 31 f. 

^ Das System der rationalen Zahlen R erfüllt die erste Be- 
dingung, ohne der zweiten zu genügen: aUe seine Punkte sind Grenz- 
punkte, — da sich, wenn eine bestimmte rationale Zahl gegeben ist, in 
jeder noch so kleinen Entfernung von ihr andere rationale Zahlen angeben 
lassen — ; dagegen giebt es unendlich viele Reihen rationaler Zahlen, deren 
Grenze nicht dem System R selber angehört. (Auf die Modifikation der 
Cantorschen Erklärung, die durch RusseUs Begriffsbestimmung des Irratio- 
nalen notwendig wird, soll hier der Kürze wegen nicht eingegangen 
werden. Vgl. hierzu Russell § 274 f.) 



Kant und die moderne Mathematik. 17 

mente deu Gliedern der natürlichen Zahlenreihe eindeutig zuordnen 
lassen),!) er besitzt weder ein erstes, noch ein letztes Glied, 
imd er ist „überall dicht", sofern sich zwischen zwei noch so 
nahen Rationalzahlen immer wieder eine Rationalzahl angeben 
l&sst. Diese drei Merkmale — die, wie sich zeigen lässt, ledig- 
lich die Ordnung der Elemente untereinander angehen — kon- 
stituieren einen bestimmten Ordnungstypus ?;, der somit nach 
einer früheren Erklärung auch jedem Inbegriff, der dem System 
der rationalen Zahlen „ähnlich^ ist, zuzusprechen ist (vgl. o. S. 11). 
Legen wir nun irgend eine Menge E vom Ordnungstypus ij zu 
Grande und greifen wir aus ihr eine beliebige unendliche Folge von 
Gliedern heraus, von denen wir der Einfachheit halber annehmen 
wollen, dass sie alle in aufsteigender Ordnung aufeinander folgen, 
so sagen wir von einer derartigen „Fundamentalreihe" S, dass 
sie eine Grenze besitzt, wenn es in der Menge E ein Glied giebt, 
das das erste nach allen Gliedern von S ist. Das Glied x heisst, 
mit anderen Worten, die Grenze der Fundamentalreihe S, wenn 
alle EUemente der Reihe „unter" x bleiben, wenn aber anderer- 
seits jedes Element von E, das x vorangeht, von den Gliedern 
der Reihe S schliesslich irgend einmal überschritten wird; — 
wobei, wie wir festhalten müssen, nirgends von der „Entfernung" 
der einzelnen Glieder die Rede ist, sondern lediglich die Ordnung 
ihrer Abfolge ins Auge gefasst wird. Nachdem diese Festsetz- 
nngen getroffen sind, soll eine Punktmenge perfekt heissen, wenn 
alle ihre Fundamentalreihen Grenzen haben und wenn alle ihre 
Glieder Grenzen von Fundameutalreihen sind; sie heisst stetig, 
wenn sie ausserdem noch die Bedingung erfüllt, dass sie eine 
Mannigfaltigkeit E vom Grundtypus rj derart in sich schliesst, 
dass es zwischen zweien ihrer Glieder immer wenigstens ein 
Glied von E giebt. 

Ein einfaches Beispiel, dass Couturat anführt, mag genügen, 
am den Unterschied der beiden Erklärungen der Stetigkeit, die 
hier gegeben wurden, zu veranschaulichen.'^) Betrachten wir den 
Inbegriff der reellen Zahlen von — 2, den wir durch eine gerade 
Linie dargestellt denken, 

I i 1 

1 2 



*) S. hierüber weiter unten No. III. 

^ VgL zum Folgenden den Aufsatz Couturats: ^Sur la d^finition du 
eonti]m<<, Revue de M^taphysique VIII (1900), 157 ff. 

2 



l8 E. Cassirei', 

SO haben wir eine Menge vor uns, die sowohl nach der metrischen, 
wie nach der „ordinalen* Erklärung als stetig zu bezeichnen ist. 
Denken wir uns indessen jetzt die Strecke — 2 in zwei Stücke 
zerlegt, derart, dass das erste Stück alle Punkte von — 1, jedoch 
mit Ausschluss des Punktes 1 selbst enthält, während das 
zweite die Punkte von 1 — 2 (inklusive) in sich fasst, und denken 

wir uns weiterhin beide Stücke gesondert gegeben, 

I I 1 

1 2 

so bilden sie im metrischen Sinne kein Continuum mehr.^) Legt 
man jedoch diejenige Definition der Stetigkeit zu Grunde, die aus 
der Betrachtung der Ordnung entspringt, so sieht man, dass sie 
nach wie vor in kraft bleibt. Denn in der Abfolge der Ele- 
mente ist durch die Zerlegung, die wir vorgenommen haben, er- 
sichtlich nichts geändert: der Punkt 1 ist noch immer die Grenze 
der Punkte, die ihm voraufgehen, da er der erste ist, der 
innerhalb der Menge auf sie folgt. Der Unterschied der 
beiden Betrachtungsweisen beruht, wie mau sieht, darauf, dass 
wir in der letzten Erklärung lediglich die inneren Beziehungen 
zwischen den Elementen selbst berücksichtigt haben, während in 
der ersten gleichsam die „Lage" einer Punktmeuge mit Bezug 
auf ein äusseres Medium betrachtet wurde. Die „Trennung" 
der beiden Stücke, die wir vorgenommen haben, konnte nur da- 
durch geschehen, dass wir andere Elemente zwischen ihnen ein- 
geschoben dachten, dass wir somit unsere Betrachtung nicht auf 
die immanenten Verhältnisse des durch Definition abgegrenzten 
Inbegriffs beschränkten, sondern diesen stillschweigend mit einer 
anderen stetigen Mannigfaltigkeit verglichen, die wir als gegeben 
betrachteten. Damit aber kehrt die Forderung einer tieferen Ab- 
leitung der Stetigkeit von Neuem zurück: sie richtet sich jetzt, 
statt auf den besonderen Inbegriff, von dem wir ausgingen, auf 
das allgemeine Substrat, das wir ihm unterbreiten mussten, um 
ihn völlig zu bestimmen. Die metrische Definition schliesst einen 
Zirkel ein: denn sie rouss den Begriff der Distanz, damit aber 
den Begriff des — Continuums bereits voraussetzen. Soll diese 
petitio principü vermieden werden, so giebt es keinen anderen 



1) Denn die Punktmenge, die sie darstellen, ist nicht mehr „zu- 
sammenhängend^, da jetzt zwischen dem Punkt 1 und allen ihm vorauf- 
gehenden Punkten ein endlicher Abstand besteht, in den kein Punkt der 
Men^ hineinfftllt (vgl. o. S. 16). 



ßant lind die niodeme Mathematik. 19 

Weg, als die „ordinale" Erklänmg an die Spitze zu stellen: der 
Begi'iff der Stetigkeit muss aus reinen Ordnungsverhältnisseu ab- 
geleitet werden, um erst mittelbar auf die Verhältnisse der 
Grössen übertragen zu werden. Dass mit dieser Ableitung bereits 
alle Probleme, die dieser Begriff in sich birgt, erledigt sind, ist 
damit freilich nicht erwiesen, — und auch Couturat und Russell 
scheinen es nicht behaupten zu wollen; es genügt, dass für sie 
eine allgemeine logische Vorbereitung geschaffen worden ist, 
die sich später an den komplexeren Fragen der Kontinuität der 
Grösse und der Veränderung bewähren kann. 

Ein Moment aber tritt in dieser gesamten Entwickelung 
unbestreitbar hervor: die Herrschaft, die der reine und abstrakte 
Zahlbegriff in ein Gebiet hinein erstreckt, das gewöhnlich 
schlechthin der sinnlichen Anschauung zugewiesen wird. Der 
Gedanke insbesondere, dass der mathematische Begriff der Stetig- 
keit nach dem Muster und Vorbild eines irgendwie vorhandenen 
physischen Continuums geformt und aus ihm durch die Er- 
fahrung abgelesen werde, ist nunmehr völlig unhaltbar geworden. 
Wir mögen die Schärfe unserer Beobachtung ins üngemessene 
gesteigert denken, so könnte sie uns doch niemals zu einer wirk- 
lichen empirischen Konstatierung eines objektiv vorhandenen 
Continuums verhelfen. Denn wie sehr wir auch die Zwischen- 
werte zwischen zwei Elementen, die die Beobachtung uns liefert, 
hänfen wollten, ja wenn wir zwischen ihnen ins Unendliche 
neue Elemente eingeschaltet denken wollten, so wäre uns doch 
damit niemals eine stetige Mannigfaltigkeit im strengen mathe- 
matischen Sinne des Wortes gegeben. Wir würden selbst in 
diesem Falle nur zu einem Inbegriff gelangen, der — wie das 
System der rationalen Zahlen - zwar, „überall dicht" und somit ins 
Unendliche teilbar wäre, ohne indessen continuierlich zu sein (vgl. 
S. 16 Anm. 2). Um diese erkenntnistheoretische Grundeinsicht 
völlig klar zu stellen, können wir uns auf das Urteil eines der 
ersten modernen Mathematiker berufen, dem niemand eine Ver- 
kennung der Rechte der wissenschaftlichen Erfahrung wird zu- 
schreiben wollen. In einem interessanten Aufsatz über „Cournot 
und die Prinzipien des Infinitesimalkalküls ** hat neuerdings 
Poincar^ das Problem, das hier in Frage steht, auf einen scharfen 
und prägnanten Ausdruck gebracht. i) Die unmittelbare Be- 



1) Revue de M^taphysiqne XIU, 29g ff. 



2ö fe. Cassirei', 

obachtung liefert uns, wie er ausführt, niemals einen exakten 
Zahlenwert; denn Alles, was sie uns giebt, ist eine Em- 
pfindung, die niemals durch eine strenge Zahl ausdrückbar ist, 
da sie — nach dem psychologischen Gesetz der ünterschieds- 
schwelle — von anderen, sehr nahen Empfindungen nicht mehr 
unterscheidbar ist. So können wir, wie bekannt, den Druck 
eines Gewichtes von 10 Gramm und denjenigen eines Gewichtes 
von 11 Gramm, in der blossen Wahrnehmung auf keine Weise 
mehr auseinander halten ; wollten wir also hier eine zahlenmässige 
Fixierung versuchen, so müssten wir den beiden Sensationen, die 
den Gewichten von 10 und 11 Gramm entsprechen, aus demselben 
Grunde aber auch denen, die durch Gewichte von 11, 12, 13, 
14 Gramm in uns hervorgerufen werden, notwendig einen und 
denselben numerischen Wert zusprechen. Damit aber würden 
wir uns in einen offenbaren Widei'spruch verwickeln: denn da die 
beiden extremen Fälle des Druckes von 10 und 14 Gramm von 
uns sehr wohl unterschieden werden können, so können sie nicht 
durch denselben mathematischen Ausdruck wahrhaft bezeichnet 
werden. Diese Schwierigkeit kann auch nicht dadurch behoben 
werden, dass wir immer schärfere und feinere Massmethoden ein- 
führen, dass wir also z. B. das Verhältnis der Gewichte, statt 
beide in der blossen Hand zu prüfen, mittels einer Präzisionswage 
bestimmen. Denn auch hier müssen wir, um das Ergebnis fest- 
zustellen, zuletzt doch auf irgend ein sinnliches Datum zurück- 
greifen, womit sich die Schranken unserer Unterscheidungsfähig- 
keit wiederum geltend machen. Aber was der Sinnlichkeit für 
immer versagt bleibt, das leistet der mathematische Begriff. Er 
fordert die durchgängige Unterscheidung der Zustände des Seins, 
wie nahe sie einander in Raum und Zeit auch stehen mögen; er 
geht auf die punktuelle Bestimmung und Abgrenzung der Ele- 
mente, die durch keine Erfahrung jemals geleistet werden kann. 
So bleibt die Kontinuität im echten wissenschaftlichen Sinne immer 
ein Idealbegriff, den wir der Beobachtung als Regel vorhalten, 
nicht ein Ergebnis, das wir unmittelbar aus ihr ziehen könnten. 
Was die Einsicht in diesen Zusammenhang immer von Neuem 
verdunkelt, ist nur die vage und unklare Vorstellung der Stetig- 
keit, bei der das populäre Denken sich begnügt. „Stetig" heisst, 
ihm eine Mannigfaltigkeit, wenn ihre einzelnen Bestandteile zu 
einem lückenlosen sinnlichen „Ganzen^ zusammenfliessen, wenn die 
Grenzen der Elemente sich nivellieren und verwischen. Der 



Kant und die moderne Mathematik. 21 

wissenschaftliche Begriff der Stetigkeit indessen besagt das genaue 
Gegenteil: er fordert, dass die Sonderung und die einzigartige 
Bestimmtheit der Elemente allen sinnlichen Schranken unserer 
üuterscheidungsfähigkeit zum Trotz, logisch aufrecht erhalten 
wird. So ist jeder „Schnitt** der Zahlenreihe von jedem anderen, 
so nahe er ihm immer liegen mag, gedanklich völlig geschieden: 
die Eindeutigkeit der begrifflichen Vorschrift, dui-ch die wh- den 
Schnitt definiert denken, leistet uns, was die Empfindung, soweit 
wir ihre Befugnis auch ausgedehnt denken wollten, uns für 
immer versagen müsste.>) 



UI. 

Nachdem wir die Vervollständigung betrachtet haben, die 
das Zahlgebiet „nach innen hin"" durch die Setzung der Irrational- 
zahlen erfährt, wenden wir uns nunmehr der nicht minder bedeut- 
samen Erweiterung seines ursprünglichen Bereichs zu, die 
durch die Einführung der Cantorschen transfiuiten Zahlen 
erfolgt. Vei'suchen wir zunächst, die Gründe dieser Erweiterung 
in möglichst elementarer Form zur Darstellung zu bringen, so 

^) Eine schärfere erkenntnistheoretische ZergUederung des Stetig- 
keitsbegriffs , die hier nicht versucht werden kann , würde zu 
zeigen haben, dass dieser Begriff auf zwei verschiedene und scheinbar 
entgegengesetzte Operationen des Denkens zurückgeht, sofern er das eine 
Mal die durchgängige und strenge Sonderung der Elemente, sodann 
aber ihre synthetische Verknüpfung zu einer Grösse verlangt. Die 
Elemente, die es zu einer Einheit zusammen zu fassen gilt, sind nicht 
schon ursprünglich vorhanden ; sondern sie werden durch begriffliche Akte 
der Unterscheidung erst gesetzt und gewonnen. Aus dieser zwiefachen 
Bedingtheit der Stetigkeit erklärt es sich auch, dass wir, um ihren Begriff 
festzusteUen, zunächst aus dem Gebiet blosser Zahibetrachtungen 
nirgends herauszugehen brauchen; dass also — was zunächst vom erkennt- 
nistheoretischen Standpunkt aus äusserst paradox erscheinen muss — das 
reine Prinzip der „Diskretion^ in seiner unbeschränkten VeraUgemeinerong 
von selbst zum Begriff des Stetigen hinleitet. Zugleich aber wird es in 
diesem Zusammenhange deutlich, dass die rein numerische Ableitung der 
Kontinuität nicht allen Problemen, vor die dieaUgeraeine Grösse n lehre, 
wie insbesondere die mathematische Physik uns steUt, gleichmässig zu 
genügen vermag, sondern dass zur Lösung dieser Probleme neue logische 
Synthesen erforderlich werden. Ich hoffe, auf diese Fragen, sowie auf 
Rnssells DarsteUung der Prinzipien der Infinitesimalmethode demnächst 
in einem Aufsatz „Das Problem der Kontinuität und der Grenzbegriff ** 
aosfOhrlicb ^urttckzukommen, 



22 E. Cassirer, 

werden wir wiederum von dem Begriff der wechselseitigen ein- 
deutigen Zuordnung zweier Mannigfaltigkeiten auszugehen haben.^) 
Wir nennen zwei Inbegriffe „äquivalent" oder von gleicher 
Mächtigkeit, wenn die Elemente des einen sich denen des an- 
deren auf irgend eine Weise gegenseitig eindeutig zuordnen lassen. 
Legen wir diese Definition zu Grunde, so ergiebt sich aus ihr 
zunächst eine charakteristische Unterscheidung zwischen endlichen 
und unendlichen Inbegriffen: während nämlich bei den ersteren 
irgend ein Teil, den wir aus ihnen herausgreifen, mit dem 
Ganzen, aus dem er entnommen ist, niemals von gleicher 
Mächtigkeit ist, so bildet es eine wesentliche Eigenschaft der un- 
endlichen Mannigfaltigkeiten, dass sie sich einem echten Teile 
ihrer selbst eindeutig zuordnen lassen.«) Betrachten wir etwa — 
um ein bekanntes, schon von Galilei angewandtes Beispiel zu 
brauchen — den Inbegriff aller Quadratzahlen, so sehen wir, dass 
jeder positiven ganzen Zahl eine und nur eine Quadratzahl ent- 
spricht, dass somit dieser Inbegriff der Reihe der natürlichen 
Zahlen, die ihn doch als Teil in sich enthält, äquivalent ist. 
Nennt man nun jede Menge, die sich der Reihe der positiven 
ganzen Zahlen, gemäss irgend einer Vorschrift, eindeutig zuordnen 
lässt, „abzahlbar^, so entsteht die Frage, ob alle uns bekannten 
Mannigfaltigkeiten unter diesen Begriff fallen, ob sie mit anderen 
Worten, untereinander und mit der natürlichen Zahlenreihe sämtlich 
von gleicher Mächtigkeit sind, oder aber ob sich andere „höhere" 
Mächtigkeiten definieren lassen. 

Denken wir uns nun zunächst die Mannigfaltigkeit der posi- 
tiven ganzen Zahlen zum System der Rationalzahlen, also zu 
einer überall dichten und somit ins Unendliche teilbaren Menge 
erweitert, so lässt sich zeigen, dass trotz der unendlichen Be- 
reicherung an Elementen, die die Zahlenreihe hierdurch erfährt, 
die Mächtigkeit des neuen Inbegriffs keine grössere geworden ist: 
das Ganze der Rationalzahlen bleibt nach wie vor abzählbar. Ja 
das Gleiche gilt selbst dann, wenn wir dem Gebiet, das auf diese 
Weise entstanden ist, noch alle diejenigen Irrationalzahlen 



1) Eine Darlegung des wesentlichen Gehalts der Cantorschen Unter- 
suchungen findet man ausser inSchoenflies' „Bericht über die Mengenlehre^ 
(Jahresbericht der deutschen Mathematiker- Vereinigung Bd. VIII, 1900) bei 
Couturat (De Tlnfini math6matique, Note IV), sowie bei Benno Kerry, 
System einer Theorie der Grenzbegrriffe, Leipzig u. Wien 1900, S. 63 ff. 

2) Vgl. Dedekind, Wa§ sind und was sollen die Zahlen? § 5. 



Kant und die moderne Mathematik. 23 

hiuzufttgen, die die Wurzeln irgend einer algebraischen Oleicbang 
bestimmten Grades uiit ganzzahligen positiven oder negativen 
Coefficienten sind: auch die Vielheit der reellen ^algebraischen 
Zahlen'', die auf diese Weise definiert ist, lässt sich noch immer, 
auf Grund einer einfachen Vorschrift, der Folge der positiven 
ganzen Zahlen eindeutig zuordnen. Sobald man indessen von 
hier aus zu dem Inbegriff aller Zahlen irgend eines Intervalls 
fortschreitet — sobald man also neben den algebraischen Zahlen 
auch die „transscendenten" einführt und betrachtet — , so erweist 
es sich, dass der frühere Modus der Zuordnung nicht länger fort- 
bestehend gedacht werden kann: der so geschaffene Inbegriff ist 
in der That von höherer als von erster Mächtigkeit. Es zeigt 
sich mit anderen Worten, dass die Gesamtheit der reellen Zahlen, 
die zwischen zwei reellen Werten a und ß liegen — , so nahe diese 
übrigens sein mögen — , sich niemals durch irgend eine einfache 
unendliche Reihe ausdrücken und erschöpfen lässt: während an- 
dererseits jede stetige Mannigfaltigkeit von n Dimensionen dem 
linearen Continuum oder irgend einem endlichen und stetigen Teil 
von ihm äquivalent ist. Wenn wir somit nunmehr, um die Unter- 
schiede der Mächtigkeit unendlicher Mannigfaltigkeiten zu be- 
zeichnen, zur Schöpfung neuer „transfiniter Zahlen^ schreiten, 
so werden wir allen „abzahlbaren^ Mengen eine kleinste trans- 
fiuite Zahl a^ als gemeinsames Merkmal zusprechen müssen, 
während wir die Mengen zweiter Mächtigkeit durch die „nächst- 
höhere" Zahl «1 bezeichnen werden. 

£ine reichere Entfaltung des neuen Zahlgebietes tritt uns 
entgegen, wenn wir die unendlichen Mannigfaltigkeiten, die wir 
miteinander vergleichen, nicht nur mit Rücksicht auf ihre Mächtig- 
keit, sondern auch mit Rücksicht auf die Ordnung ihrer Ele- 
mente betrachten. Zwei Mengen hiessen uns äquivalent, wenn 
sich zwischen ihren Elementen auf irgend eine Weise eine 
gegenseitig eindeutige Zuordnung herstellen liess. Auf die Art, 
in der diese Entsprechung aufgewiesen wurde, auf die Ordnung, 
in die die Glieder der beiden Inbegriffe gebracht wurden, um den 
Nachweis dieser ihrer wechselseitigen Beziehung zu erbringen, 
wurde hierbei nicht besonders reflektiert: es genügte, wenn sich 
unter all den unendlichen möglichen Anordnungen der Glieder 
der beiden Inbegriffe nur überhaupt eine aufzeigen liess, die uns 
der Möglichkeit der eindeutigen Entsprechung der Elemente ver- 
sicherte. Von diesem allgemeinsten Gesichtspunkt, unter 



24 E. Oassirer, 

welchem unendliche Inbegriffe sich vergleichen lassen, gelangen 
wir zu einer spezielleren Betrachtungsweise, wenn wir uns die 
beiden Mannigfaltigkeiten in einer festen Rangordnung ge- 
geben und einander gegenüber gestellt denken. Wir nennen als- 
dann, wie wir bereits gesehen haben, zwei Inbegriffe ähnlich 
oder von gleichem „Ordnungstypus", wenn sie sich unter 
Wahrung dieser ihrer festgesetzten Rangordnung ein- 
ander gegenseitig eindeutig zuordnen lassen (s. oben S. 10 f.). Auch 
hier nun zeigt sich sogleich ein wichtiger Unterschied zwischen 
endlichen und unendlichen Inbegriffen. Sind nämlich zwei end- 
liche Reihen einander ähnlich, so bleiben sie dies auch, wenn 
man die Elemente in ihnen in beliebiger Weise umstellt und mit- 
einander vertauscht, sodass also sämtliche Reihen, die aus einer 
gleichen Anzahl von Gliedern bestehen, auch ein und denselben 
Ordnungstypus aufweisen. Bei unendlichen Mannigfaltigkeiten 
dagegen zeigt sich das Gegenteil: zwei Mengen, die von gleicher 
Mächtigkeit sind, und denen demgemäss dieselbe „transfiuite 
Kardinalzahl" zukommt, können von ganz verschiedenem Ordnungs- 
typus sein. So bildet z. B. das System der Rationalzahlen, wenn 
wir es im gewöhnlichen Sinne „der Grösse nach" geordnet denken, 
eine überall dichte Menge, die weder ein erstes, noch ein letztes 
Glied besitzt, während es in derjenigen Ordnung, die wir zu 
Grunde le^en müssen, um seine „Abzählbarkeit" zu erweisen, der 
natürlichen Zahlenreihe ähnlich ist und somit deren völlig ab- 
weichenden Ordnungstypus aufweist (vgl. Russell § 293). Be- 
zeichnen wir den zuletzt erwähnten Ordnuugstypus, der also allen 
abzählbaren Mengen gemeinsam zukommt, mit w, so lassen sich, 
hieran anschliessend, die verschiedenen Typen 

ft) + 1, ft) + 2, . . ., ft) + w, . . . 
definieren, weiterhin aber Reihen aufweisen, die vom Typus 

2 (Oy 3 (Oy . , , n o , . . 
ja auch vom Typus 

0)2, ft)^, . . . a)** . . . 0)*" 
sind u. s. f. Damit ist ein neues grosses Zahlengebiet: das der 
transfiniten Ordnungszahlen, geschaffen, die, wie man sieht, 
nicht willkürlich erdacht sind, sondern zum Ausdruck wahrhafter 
Beziehungen zwischen unendlichen Inbegriffen dienen. Da ferner 
für die neuen Zahlen auch bestimmte Rechnungsgesetze festge- 
stellt werden können, — die freilich von denjenigen, die für die 
endlichen Zahleu gelten, wesentlich abweichen — so hindert 



Kant und die moderne Mathematik. 25 

nichts, sie im logischen Sinne als völlig bestimmt anzusehen und 
ihnen somit die gleiche ideale „Existenz"^ eiuzuräumen, die wir 
den endlichen Zahlen zusprechen. 

Auf die einzelnen technisch-mathematischen Probleme, die 
zur Schöpfung der transfiniten Zahlen geführt haben, kann hier 
nicht weiter eingegangen werden: dagegen muss versucht werden, 
den logischen Grundgedanken, der hierbei leitend ist, in seiner 
Allgemeinheit zu erfassen. Cantor selbst giebt hierzu die klare 
Anweisung, indem er ein doppeltes Prinzip der Zahlbildung unter- 
seheidet. „Die Reihe der positiven realen ganzen Zahlen 1, 2, 
3 . . ., V, . . . hat ihren Entstehungsgrund in der wiederholten 
Setzung und Vereinigung von zu Grunde gelegten als gleich an- 
gesehenen Einheiten ; die Zahl v ist der Ausdruck sowohl für eine 
bestimmte endliche Anzahl solcher aufeinander folgender Setzungen, 
wie auch für die Vereinigung der gesetzten Einheiten zu einem 
Ganzen. Es beruht somit die Bildung der endlichen ganzen 
Zahlen auf dem Prinzip der Hinzufügung einer Einheit zu einer 
vorhandenen schon gebildeten Zahl; ich nenne dieses Moment . . . 
das erste Erzeugungsprinzip. Die Anzahl der so zu bilden- 
den Zahlen v der Klasse (I) ist unendlich und es giebt unter ihnen 
keine grösste. So widerspruchsvoll es daher wäre, von einer 
grössten Zahl der Klasse (I) zu reden, hat es doch andererseits 
nichts anstössiges, sich eine neue Zahl, wir wollen sie (o nennen, 
zu denken, welche der Ausdruck dafür sein soll, dass der ganze 
Inbegriff (I) in seiner natürlichen Succession dem Gesetze nach 
gegeben sei ... Die logische Funktion, welche uns (diese 
Zahl w) geliefert hat, ist offenbar verschieden von dem ersten 
Erzeuguugsprinzip, ich nenne sie das zweite Erzeugungs- 
prinzip ganzer realer Zahlen und definiere dasselbe näher dahin, 
dass, wenn irgend eine bestimmte Succession definierter ganzer 
realer Zahlen vorliegt, von denen keine grösste existiert, auf 
Grund dieses zweiten Erzeugungsprinzips eine neue Zahl geschaffen 
wird, welche als Grenze jener Zahlen gedacht, d. h. als die 
ihnen allen nächst grössere Zahl definiert wird.''^) Aus dieser 
Darstellung erkennt man bereits, dass die „unendliche Zahl" ein 
Problem von allgemeinster philosophischer Bedeutung in sich birgt. 
Sie macht es völlig deutlich, dass der Begriff der Zahl nicht aus 
der wirklichen Abzahlung irgend einer gegebeneu empirischen 



1) Cantor, Mannigfaltigkeitslehre § 11, S. 32 f. 



26 E. Cassirer, 

Vielheit erwächst, sondern dass er viehnehr auf der allgcmeiuen 
gedanklichen Funktion beruht, vermöge deren wir ein Mannig- 
faltiges kraft seines erzeugenden Gesetzes, dass wir uns ganz und 
auf einmal vergegenwärtigen können, zur Einheit verknüpfen. 
Wenn man die unendliche Zahl als widersprechend ansieht, so 
beruht dies zuletzt immer auf dem empiristischen Vorurteil, 
dass man irgend ein „Ganzes"' erst dann erfassen könne, wenn 
man zuvor alle seine Teüe einzeln durchlaufen und aneinander 
gefügt habe. Jeder echte logische Begriff aber vermag uns be- 
reits das Gegenteil zu lehren. Um zu wissen, was irgend ein 
allgemeiner Begriff bedeutet, brauchen wir nicht sämtliche 
Exemplare, die unter ihn fallen, einzeln vorzustellen, um aus ihrer 
Gesamtheit sodann ein gemeinsames Merkmal zu „abstrahieren''; 
sondern es genügt hierzu, wenn wir uns — ohne den Umfang 
des Begriffs irgend in Betracht zu ziehen — lediglich seineu In- 
halt, d. h. die konstitutiven Merkmale, die seine Definition 
enthält, vergegenwärtigen. Dieser Inhalt erst ist es, der seiner- 
seits den Umfang bestimmt und umgienzt, sofern er uns von 
jedem beliebigen Gegenstand, der uns nur immer gegeben 
werden mag, mit Sicherheit zu entscheiden gestattet, ob er unter 
den betreffenden Begriff fällt oder nicht. Wir müssen somit — 
um diesen Gedanken in der Sprache Russells auszudrücken — 
Ganze, die vermöge ihrer „Extension", d. h. durch die Aufzählung 
ihrer einzelnen Elemente definiert werden können, von anderen 
unterscheiden, die sich nur durch ihre „Intension" begreifen lassen. 
Eine „Klasse** ist völlig bestimmt und von jeder anderen unter- 
schieden, wenn wir irgend eine allgemeine Beziehung denken, in 
der alle ihre Glieder zu einem bestimmten gegebenen Terminus 
stehen; es genügt, diese Beziehung in einem einzigen geistigen 
Akte zu überschauen, um in und mit ihr die Allheit der Ele- 
mente der Klasse zu erfassen. Diese einfache logische Grund- 
erkenntnis ist auch der Schlüssel des ganzen Geheimnisses der 
„unendlichen Zahlen''. Es wäre freilich absurd, unendliche Inbe- 
griffe in Bezug auf ihre Mächtigkeit und somit auf ihre „Kardinal- 
zahl" vergleichen zu wollen, wenn es hierzu erforderlich wäre, 
sie einzeln durchzugehen und sie Glied für Glied einander gegen- 
über zu stellen. Aber wir begreifen nach allem Früheren auch, 
dass dieses primitive Verfahren hier verlassen und überboten ist: 
wir erkennen den Zusammenhang der beiden Reihun, indem wir 
sie nicht nach ihrem Umfang, sondern nach ihrer erzeugenden 



Kant und die moderne Mathematik. 27 

Relation betrachten. Das Gesetz der Relation ist es, das ihr 
„Gebiet" — es sei endlich oder unendlich — eindeutig feststellt 
und zu einem in sich bestimmten Inhalt des Denkens macht (vgl. 
bes. Russell §§ 330, 338, 342). Die transfiniten Zahlen bringen 
somit nur eine logische Grundeinsicht, die von aller mathematischen 
Erkenntnis überhaupt, insbesondere von der Analysis des Unend- 
lichen, beständig vorausgesetzt werden muss, zu klarstem nnd 
prägnantesten Ausdruck: sie sind ein neuer unzweideutiger Beleg 
dafür, dass der Zahlbegriff kein Dingbegriff, sondern ein reiner 
Funktionsbegriff des Denkens ist. 



IV. 

Wir mussten bei der Entwickelung des Zahlbegriffs länger 
verweilen, da hier die Frage nach dem Verhältnis von Mathematik 
und Logik zum eigentlich typischen Ausdruck gelangt. Die 
neue Wendung, die diese Frage beim Übergang zur Geometrie 
erhält, kann hier Dicht im Einzelnen verfolgt werden: es mnss 
genügen, auf die ausführlichen Darlegungen Couturats und Russells 
za verweisen. Insbesondere müssen wir hier von den schwierigen 
Prinzipienfragen der Metageometrie absehen, da Couturat selbst 
sie nicht im Zusammenhang behandelt und keine endgiltige 
Lösung für sie zu geben versucht hat. Die Geometrie stellt sich 
uns in dreifacher Gestalt: als projektive, deskriptive und metrische 
Geometrie dar, deren jede sich in lückenlosem Fortschritt aus be- 
stimmten Definitionen, die wir hypothetisch zu Grunde legen, ge- 
winnen lässt. Allen drei Formen ist der Begriff des Punktes 
gemeinsam: aber während die projektive Geometrie daneben die 
unbegrenzte projektivische Grade voraussetzt, geht die deskriptive 
vom Begriff der begrenzten geraden Strecke, die metrische von 
den Begriffen der Entfernung, der Kongruenz oder der Bewegung 
ans. Die Sätze der verschiedenen Geometrien sind nichts anderes, 
als die vollständige analytische Entwickelung des Gehalts ihrer 
Grundbegriffe und Postulate. So besitzt die Geometrie fortan, 
neben den allgemeinen logischen Axiomen keine selbständigen, 
unbeweisbaren Lehrsätze mehr: was man die „geometrischen 
Axiome^ zu nennen pflegt, sind vielmehr lediglich verhüllte 
Definitionen. Die Geometrie sagt nichts anderes aus, als dass, 
wenn gewisse Bedingungen, die wir willkürlich fixieren, erfüllt 
sind, sich au sie bestimmte Folgerungen knüpfen. Ihre ^Wahr- 



28 E. Cassirer, 

heit" besteht einzig iu diesem hypothetischen Uiteil: sie ist 
somit völlig unabhängig davon, ob den Elementen, von denen 
dieses Urteil spricht, irgend welche „Realität" zukommt. Die 
geometrischen „Punkte*" bedeuten nichts anderes, als die Termini 
bestimmter Beziehungen; sie haben keinen anderen Inhalt als 
denjenigen, den ihnen eben diese Beziehungen selbst verleihen. 
„Man weiss nur, dass, wenn irgendwelche Inhalte (mau mag sie 
nun Punkte oder anders benennen) untereinander gewisse funda- 
mentale Relationen besitzen (die sich in den Axiomen aussprechen), 
alle Theoreme, die sich hieraus logisch ableiten lassen, von ihnen 
gelten müssen. So behauptet die reine Geometrie, da sie nichts 
anderes als ein System formaler Verknüpfungen ist, nichts über 
die Natur der Punkte: sie kennt sie, streng genommen, nicht und 
bedarf ihrer nicht" (Couturat S. 206). 

Die Bedeutung dieser Grundansicht mag hier nur an einem 
einzehien charakteristischen Beispiel erläutert werden. Das Ge- 
setz der Dualität in der projektiven Geometrie besteht bekannt- 
lich darin, dass jeder projektivische Satz wahr bleibt, auch wenn 
man in ihm die Worte „Punkt" und „Ebene** miteinander ver- 
tauscht, während man die Geraden mit allen dem'enigen Be- 
ziehungen, die sie zu den Punkten oder Ebenen besitzen, unver- 
ändert beibehält. Der eigentliche logische Grund dieser Rezi- 
prozität liegt darin, dass in der geometrischen Theorie, die wir 
hier vor uns haben, die Begriffe des „Punktes** und der „Geraden** 
als undefinierbar zu Grunde gelegt wurden, dass also ihr Inhalt 
für die Wahrheit der Theorie nicht massgebend sein kann, diese 
vielmehr auch dann giltig bleiben muss, wenn man diesen Wesen- 
heiten eine andere Bedeutung beilegt; vorausgesetzt, dass man 
ihnen nur genau die nämlichen Beziehungen zuspricht, die sie 
zuvor besassen. „Es muss in der That** — wie Pasch ausführt — , 
„wenn anders die Geometrie wirklich deduktiv sein soll, der 
Prozess des Folgerns überall unabhängig sein vom Sinn der 
geometrischen Begriffe, wie er unabhängig sein muss von den 
Figuren; nur die in den benutzten Sätzen bezw. Definitionen 
niedergelegten Beziehungen zwischen den geometrischen Be- 
griffen dürfen in Betracht kommen. Während der Deduktion ist 
es zwar statthaft und nützlich, aber keineswegs nötig, an die 
Bedeutung der auftretenden geometrischen Begriffe zu denken; 
sodass geradezu, wenn dies nötig wird, daraus die Lückenhaftig- 
keit der Deduktion (und wen« sich die Ivücke nicht durch Ab- 



tfant uncl die moderne liathematik. 29 

änderuDg des Raisonuements beseitigen lässt), die Uuzuläuglichkeit 
der als Beweismittel vorausgeschickten Sätze hervorgeht."^) 
Diese Bemerkungen bezeichnen in der That schlagend, wie sehr 
die ganze Tendenz der wissenschaftlichen Geometrie darauf ge- 
richtet ist, die anschaulichen Elemente, die sie zur ersten An- 
knüpfung nicht entbehren kann, im Fortgang der Untersuchung 
mehr und mehr zurückzudrängen, ja sie für die eigentliche Me- 
thode des Beweises entbehrlich zu machen. Es muss anfangs 
äusserst paradox scheinen, wenn dem Oeometer zugemutet wird, 
vom „Sinn" seiner Begriffe zu abstrahieren: denn scheint dadurch 
nicht seine gesamte Deduktion zu einem Spiel mit sinnleeren 
Symbolen zu werden? Aber man sieht leicht ein, dass sich hinter 
dieser Paradoxie vielmehr eine Umgestaltung dessen verbirgt, was 
eigentlich, in wissenschaftlicher Hinsicht, als die „Bedeutung" 
einer bestimmten Figur zu bezeichnen ist. Der wahrhafte „Sinn" 
einer geometrischen Gestalt besteht nicht in ihrem sinnlich-an- 
schaulichen Sein ; er ergiebt sich erst aus den begrifflichen Eigen- 
thümlichkeiten, die wir ihr mittelst der Definition zusprechen und 
aus den logischen Beziehungen, in die wir sie eingehen lassen. 
Hier wie in der gesamten übrigen Mathematik handelt es sich 
nicht darum, an einem Inhalt, der uns irgendwie fertig und als 
unauflöslicher Bestand gegeben wäre, bestimmte Eigenschaften zu 
entdecken: sondern der Begriff ist nichts anderes als das, wozu 
wir selbst kraft der Bedingungen, die wir ihm auferlegen, ihn 
machen.^) Die Elemente, die wir anfänglich der Anschauung ent- 

^) Pasch, Vorlesungen über neuere Geometrie, Leipsig 1882, S. 98. 

^ Über diesen Punkt lässt sich, wie ich glaube, auch mit dem „Em- 
pirismus^, zu einem EinverstAndnis gelangen, sofern er nicht, wie bei 
Mill, als dogmatische Behauptung auftritt, sondern lediglich auf der Be- 
obachtung und Zergliederung der psychologischen Thatsachen ruht. Denn 
auch durch die psychologische Theorie der Relation, wie sie z. B. 
Meinong vertritt, wird das Ergebnis, zu dem die logische Analyse der 
Mathematik an dieser St«Ue führt, mittelbar durchaus bestätigt. Die 
Forderung zwar, dass jeder Beziehung zuletzt irgendwelche absolute 
Elemente zu Grunde liegen müssen, wird hier zunächst in aller Schärfe 
betont. „In letzter Linie ist niemals die Relation der Ausgangspunkt, 
von dem man zu den Fundamenten gelangt, vielmehr sind es die Funda- 
mente, die ihrer Natur nach zuerst gegeben sein müssen, ohne welche die 
Relation gar nicht gegeben sein kann, die daher auf die Relation führen. 
Eine Relation ohne absolute Elemente wäre ein Vergleich, in dem nichts 
vergehen wird** (Meinong, Hume-Studien II: Zur Relationstheorie. ~ 
Sitcongsber. d. Wiener Akad. d. Wissensch. Bd. 101 (1882) S. 616). Nun 



äö fi. Cassirei', 

nehmen, müssen immer schärfer zergliedert, sie müssen immer 
vollständiger iu reine begriffliche Definitionen aufgelöst werden, 
um wahrhaft zu Gegenständen mathematischer Betrachtungsweise 
zu werden. So bedeutet die Anschauung, wo immer wir uns auf 
sie berufen, doch nicht den eigentlichen Wahrheitsgrund der 
Theoreme. Sie ist vielmehr gleichsam ein letzter, nicht aufgelöster 
Rest, der der weiteren gedanklichen Zerlegung und Bearbeitung 
harrt; sie ist das Ziel, das unserer reinen logischen Begriffsbildung 
den Weg anzeigt. Wie weit sich in dieser logischen Bearbeitung 
gelangen lässt, dafür ist die Geometrie der Lage ein untrüglicher 
Beweis: denn gerade sie, die sich der Anschauung unmittelbar 



liefert aber schon das „indirekte Vorstellen", das gleich darauf von M. 
eingehend analysiert wird, einen Beleg dafür, dass zum mindesten das 
eine der Elemente, die in die Beziehung eingehen, lediglich durch diese 
Beziehung selbst erschaffen werden kann, nicht aber ihr als unab- 
hängiges Datum vorausliegt. Und dass diese Bedingtheit sich weiterhin 
auf beide Relationsglieder erstrecken kann, wird von M. ebenfalls aus- 
drücklich zugestanden: „es giebt Fälle, wo die Relationsvorstellung allein 
ausreichen muss, um das indirekte Vorstellen von zwei Attributen zu er- 
möglichen, von denen man nichts weiss, als dass sie eben in dieser Rela- 
tion zu einander stehen*^ (S. 658). Es lässt sich leicht erkennen, dass ge- 
rade die mathematischen Grundurteile — wenn man ihre psycholo- 
gische Charakteristik ins Auge fasst— dieser letzteren Gattung zugehören: 
die Inhalte, die in ihnen gesetzt und verglichen werden, empfangen 
ihre gesamte Bestimmtheit erst von den Beziehungen, in die sie eintreten. 
Das „absolute" Element, das wir der Anschauung entlehnen, mag als psy- 
chologischer Ausgangspunkt, als erste Anknüpfung tauglich sein: die 
logische Bedeutung und der Erkenntniswert der Beziehung!: selbst 
aber lässt sich unabhängig von ihm einsehen und begreiflich machen. Je 
tiefer wir daher die mathematischen Urteüe „verstehen", um so mehr 
lösen sie sich in reine Beziehungen auf; um so mehr erscheint da^enige, 
was wir zunächst als eine „absolute" Qualität hingenommen haben, als 
Ergebnis reiner Relationen und Setzungen des Denkens. Wenn z. B. 
Meinong als Grundlage für aUe „Distanzbestimraungen" letzte „absolute" 
Ortsbestimmungen verlangt, so ist leicht ersichtlich, dass der Ort kein 
Inhalt ist, der ausserhalb eines Systems möglicher Lagebeziehungen 
noch irgendwelche Bedeutung besässe. Vom logischen Standpunkt wäre 
daher nicht die „einzelne" Vorstellung, die wir als Subjekt der Aussage 
zu Grunde legen, als das Fundament der Relation, sondern umgekehrt 
diese Relation selbst als „Grundlage" ihres „Subjekts" zu bezeichnen: die 
Elemente wären die „fundierten Inhalte", die aus der Beziehung, aus 
unserer „apperceptiven Synthese" erst ihren eigentlichen Sinn erhalten. — 
(VgL die analoge Bemerkung bei Lipps, Einheiten und Relationen, 
Leipzig 1902, S. 104.) 



ifant nncl die moderne Mathematik. 31 

anzuschmiegen und ihr, ohne jede fremde Vermittelung von Mass 
und Zahl zu folgen scheint, hat erst das Ideal wahrhafter lo- 
gischer Strenge verwirklicht. 

Die Überzeugung von dem reinen rationalen Charakter 
der mathematischen Begriffe und Grundsätze hält also auch hier 
vollkommen Stand. Um sie allseitig zu bewähren, und zu festigen, 
braucht man nur das Ganze der modernen mathematischen Pro- 
bleme, wie es sich in Russells Werk oder in Whiteheads „Allge- 
meiner Algebra" darstellt, kurz zu überblicken.^) Was hier ge- 
leistet ist, das liegt in der That durchaus in der Richtung 
des Ideals, das Leibniz in seinem Gedanken der allgemeinen 
Charakteristik der Philosophie und Wissenschaft vorgezeichnet 
hat. Die Einheit der Mathematik liegt fortan nicht mehr in 
ihrem Objekt — vermag sie doch die Lehre von Grösse und 
Zahl, die Ausdehnungslehre, wie die allgemeine Mannigfaltigkeits- 
lehre, die Theorie der Bewegung, wie die der Kräfte gleichmässig 
zu umfassen — : sie liegt in dbr deduktiven Methode, die in 
all ihren Anwendungen die nämliche bleibt und auf denselben 
Grundlagen beruht. Dieser Gedanke, den schon die Begründer 
der neueren Wissenschaft, den Descartes und Galilei erfasst und 
in schlichter Klarheit ausgesprochen haben, hat jetzt seine kon- 
krete und wahrhafte Erfüllung gefunden. Die moderne Ent- 
wickelung der Mathematik hat somit in der That ein neues „Fak- 
tum"' geschaffen, an dem die kritische Philosophie, die die 
Wissenschaften nicht meistern, sondern verstehen will, nicht mehr 
vorbeigehen kann. Und es ist wichtig und bezeichnend, dass die 
immanente Fortbildung der Kantischen Lehre von selber zu 
dem gleichen Ergebnis geführt hat, dass durch den Fortgang der 
Wissenschaft immer deutlicher gefordert wird. Wie die „Logistik", 
so ist auch die moderne kritische Logik über Kants Lehre von 
der „reinen Sinnlichkeit" hinweggeschritten. Auch ihr bedeutet 
die Sinnlichkeit zwar ein erkenntniskritisches Problem, nicht 
aber einen selbständigen und eigentümlichen Quell der Ge- 
wissheit mehr.^) So stimmt sie in ihrem Grundgedanken mit 
der Tendenz, von der die Werke RusseUs und Couturats erfüllt 
sind, überein: in der Forderung einer rein logischen Ableitung 

>) Whitehead, A Treatise on Universal Algebra with applicationa. 
T. I. Cambridge (University Preaa) 1898. 

*) S. Cohen, Logik der reinen Erkenntnis (System der Phüosophie I). 
Beriin 1902, bes. S. 11 f., S. 188 n. 0. 



3ä E. Cassirei', 

der mathematischen Grundprinzipien, durch die wir die „An- 
schauung" selbst, durch die wir Raum und Zeit erst völlig ver- 
stehen und begrifflich beherrschen lernen. 

V. 

Muss somit die Aufgabe, die die Logistik sich stellt, ohne 
Einschränkung anerkannt werden, so könnte es müssig erscheinen, 
mit ihr über die Deutung der Kantischen Philosophie und über 
die Kritik, die sie an ihr übt, rechten zu wollen. Denn wie hoch 
man die Kantische Lehre auch stellen mag: die Sorge um ihre richtige 
historische Würdigung und Auslegung muss zurücktreten gegen- 
über dem Bemühen, zu einer Verständigung über das Ziel und 
über die Wege der philosophischen Forschung der Gegenwart zu 
gelangen. Es ist indessen nicht nur eine Forderung geschicht- 
licher Gerechtigkeit, die uns zwingt, auf Couturats Einwände 
näher einzugehen» Die Sache selbst verlangt, dass wir bei ihnen 
verweilen: denn hier handelt es sich nicht mehr bloss um die 
Philosophie der Mathematik, sondern um die Grundansicht vom 
Wesen und von der Bedeutung der kritischen Methode. Kants 
Auffassung der Mathematik mag, nach dem heutigen Stande der 
Wissenschaft, mannigfach modifizieit werden müssen: dennoch 
bleibt das Problem, das er als Erster der Philosophie gestellt 
hat, nach wie vor in Kraft. Indem die Logistik, bei aller Schärfe 
der Einzeluntersuchung, dieses allgemeinste Problem ausser Acht 
lässt, muss sie damit notwendig die Bedeutung verkennen, die 
die Kantische Lehre für das Ganze der wissenschaftlichen Welt- 
auffassung und der ethischen Lebensanschauung besitzt. 

Zunächst lässt sich nicht verkennen, dass die Lehre von 
der Sinnlichkeit bei Kant selbst keinen festen und unverrück- 
baren systematischen Bestand darstellt, sondern dass sie, noch 
innerhalb der kritischen Periode, mannigfache innere Wandlungen 
erfährt. Die Trennung von Verstand und Sinnlichkeit ist in der 
Art, wie sie in der transscendentalen Ästhetik eingeführt wird, 
zunächst durchaus überzeugend: denn hier handelt es sich nur 
darum, die mathematischen Begriffe von den allgemeinen Gat- 
tungsbegriffen der traditionellen Logik, die durch Genus und 
Differenz definiert werden, zu unterscheiden.^) Dass die Defini- 

*) Eine Unterscheidung, die Couturat selbst anzuerkennen scheint, 
da er ausdrücklich erklärt, dass die geometrischen Begriffe nicht „per 
genus et differentiam", sondern „per generationem" zu definieren sind 
(S. 290). 



ttant und die moderne ilathematik. 33 

tionen der Mathematik der reinen Anscbauang entstammen, das 
bedeutet hier nur, dass sie nicht, wie die „diskursiven** Begriffe 
der formalen Logik, aus einer Vielheit verschiedener Inhalte als 
deren gemeinsames Merkmal abstrahiert sind, sondern in einem 
völlig bestimmten, einzigartigen Akt der Konstruktion ihren 
Ursprung haben. Dieser Gegensatz zwischen der blossen Sub- 
sumption und der „sjmthetischen** Erschaffung eines Inhalts ist 
in sich völlig klar: aber er betrifft, wie man sieht, nur die Ab- 
grenzung gegen die herkömmliche logische Technik, nicht gegen 
die neue positive Auffassung der Begriffsbildung, die Kant selber 
in seiner eigenen „transscendentalen** Logik begründet. Die 
reinen Verstandesbegriffe, die hier festgestellt werden, sind 
nicht minder, als zuvor die mathematischen „Anschauungen*' ihrem 
ganzen Sinne nach von den logischen „Allgemeinbegriffen** völlig 
geschieden, sofern auch sie nicht von irgendwelchen, an sich be- 
stehenden Einzelinhalten nachträglich abgezogen sind, sondern 
vielmehr einer ursprünglichen Funktion des Denkens ent- 
stammen, die allem fertigen Sein als Bedingung seiner Möglichkeit 
voranliegt. Der Unterschied zwischen Anschauung und Begriff 
kann also — wenn wir den neuen kritischen Sinn des „Begriffs** 
festhalten wollen — nur die Verschiedenheit zweier Arten der 
^Synthesis** besagen wollen: eine erste Stufe der Objektivierung 
der Erscheinungen wäre durch Raum und Zeit, eine zweite durch 
die reinen Kategorien, wie Einheit und Vielheit, Substanz und 
Kausalität bezeichnet. Diese Trennung ist methodisch wichtig 
and unanfechtbar: müssen sich doch in der That alle Begriffe, 
am gegenständliche Erkenntnis zu geben, nicht sowohl un- 
mittelbar auf die Inhalte der Empfindung, als auf die reinen 
ideellen Orundordnungen von Raum und Zeit beziehen, in die 
jene Inhalte zunächst eingehen.)) 

Wenn indessen die Verstandesbegriffe, um irgend einen 
empirischen Gegenstand zu bestimmen, zuletzt notwendig auf 
Raum und Zeit hingewiesen sind, so wäre doch ihr eigent- 
licher Rechtsgrund lediglich im Denken selbst zu suchen. Die 
Anschauung wäre dann nicht der Ursprung der logischen und 
mathematischen Prinzipien, sondern würde sie vielmehr bereits 
involvieren und nur zu konkreter Darstellung bringen. Dass 

1) Vgl. hierzu die Ausführungen Kinkels in seiner Einleitung zur 
Ausgabe der Kantischen Logik (Philos. Bibl., Bd. 48, Leipzig 1904 
S. XV f.). 

XABtftadiMi XU. 3 



34 ^. Öassireif, 

Kant selbst sich dieser Auffassung wiederholt genähert hat, 
ist unzweifelhaft. Ausdrücklich betont die transscendentale De- 
duktion der Eategx)rien, dass die reine intellektuelle 
«^ynthesis der Apprehension'' die Bedingung ist, ohne weiche 
wir weder d^ie Vorstellung des Raumes noch d^ Zeit a priori 
haben könnten (Kritik der reinen Vernunft, S. 99 {.)• Und die 
Prolegomena ziehen hieraus die Schlussfolgerung flu* die Qiarakte- 
ristik der geonietrischen Erkenntnis. Liegen — so wird hier ge- 
tragt — die geometrischen Gesetze, die weiterhin auf die Natur 
auflgedebnt werden können, „im Räume und lernt sie der Ver- 
stand, indem er den rdchhaltigen Sinn, der in jenem liegt, bloss 
zu erforschen sucht, oder liegen sie im Verstände und in der 
Art, wie dieser 4en Raum nach Bedingungen der synthetischen 
Einheit, darauf seine Begriffe insgesamt auslaufen, bestimmt?'' 
„Der Raum" — so lautet die Antwort — „ist etwas so Gleich- 
förmiges und in Ansehung aller besonderen Eigenschaften so Un- 
bestimmtes, dass man in ihm gewiss keinen Schatz von Natur- 
gesetzen suchen wird. Dagegen ist das, was den Raum zur 
Zirkelgestalt, der Figur des Kegels und der Kugel bestimmt, der 
Verstand, sofern er den Grund der Einheit der Konstruktion 
derselben enthält" (Proleg. § 38). Und wie hier zum mindesten 
jede Bestimmtheit der geometrischen Gestalt auf eine reine 
Operation des Denkens zorückgeleitet wird, so macht analog die 
transscendentale Analytik die Entstehung der einzelnen Zahl- 
begriffe, also mittelbar die gesamte Arithmetik, von einer synthe- 
tischen Leistung des Intellekts abhängig. „Die reine Synthesis, 
allgemein vorgestellt, giebt nun den reinen Verstandesbegriff. Ich 
verstehe aber unter dieser Synthesis diejenige, welche auf einem 
Grunde der synthetischen Einheit a priori beruht: so ist unser 
Zählen eine Synthesis nach Begriffen, weil es nach einem 
gemeinschaftlichen Grunde der Einheit geschieht (z. B. der Deka- 
dik)" (B. 104).^) Couturat hat diese Stellen, nebst manchen an- 



*) Wenn Kant sonst allgemein die arithmetifichen Begriffe and 
Sitze aus der reinen Zeitanschauung ableitet, so hat auch diese 
Lehre, wieviel sich immer gegen sie einwenden lassen mag, doch zweifel- 
los nicht den lediglich psychologischen Sinn, den die meisten ihrer 
Kritiker ihr beigelegt haben. Enthielte sie nicht mehr als den trivialen 
ijti^anken, dass der empirische Akt des Zfthlens Zeit beansprucht, so liesse 
sie sich freilich mit dem bekannten Einwand, den z. B. Beneke formoliert 
hat, völlig erledigen: „Dass über dem Zählen Zeit verfliesst, kann k^en 



Itant und die moderne Mathematik. 35 

deren verwandten Äusserungen, selbst hervorgehoben; aber er 
sieht in ihnen nur gelegentliche, vom Standpunkt Kants ungerecht- 
fertigte Zugeständnisse an den „Intellektualismus^, statt in ihnen 
eine Fortbildung der ursprünglichen Ansicht zu erkennen, die 
um so deutlicher hervortritt, je entschiedener und bewusster der 
kritische Grundgedanke sich durchsetzt. Für die Entwicke- 
lungsgeschichte des Systems ist es von hoher Bedeutung, 
dass die scharfe Betonung der Sinnlichkeit als eines selbst- 
genügsamen Erkenntnisprinzips vor allem denjenigen Teilen der 
Vemunftkritik angehört, die, wie die transscendentale Ästhetik 
oder wie einzelne Kapitel der Methodenlehre, mit früheren vor- 
kritischen Schriften — wie insbesondere der Dissertation 
und der Abhandlung über die Deutlichkeit der Grundsätze der 
natürlichen Theologie und Moral — fast voUständig überein- 
stimmen: während gerade diejenigen Abschnitte, die, wie die 
transscendentale Deduktion der Kategorien, das eigentlich neue 
und originale Ergebnis der Vemunftkritik enthalten, die Funktionen 
des reinen Verstandes als Vorbedingungen der „Sinnlichkeit 
erscheinen lassen. 

Sehen wir indessen von diesen schwierigen und strittigen 
Fragen der inneren gedanklichen Entwickelung völlig ab, und 
betrachten wir das System nur als ein fertiges und geschlossenes 
Ganzes: so wird doch, wie sehr man die rein logische Natur 
der mathematischen Urteile betonen mag, damit keineswegs ihr 
analytischer Charakter erwiesen. Es ist der Grundmangel von 
Couturats Kritik, dass sie diese beiden Gesichtspunkte nirgends 
auseinanderhält: „synthetisch*" heissen ihr solche Begriffe und 



Beweis abgeben, denn worüber verflösse wohl nicht Zeit!" („System der 
Logik'' I, 279; Näheres bei Hubs er 1, Philosophie der Arithmetik, I (1891), 
S. 28 ff.). Man sieht indes leicht, dass es sich für Kant hier nur um die 
„transscendentale'' Begriffsbestimmung der Zeit handeln kann, nach welcher 
sie als der Typus einer geordneten Folge erscheint •— wie denn auch 
William Hamilton, der Kants Lehre annimmt, die Algebra als „Science of 
pure time or order in progression" definiert. Dass aber der gesamte 
Inbegriff der arithmetischen Begriffe sich in der That aus dem Grund- 
begriff der Ordnung in lückenloser Entwickelung gewinnen lässt, wird 
gerade durch Russells Darstellung durchweg bestätigt. Allerdings muss 
dann gegenüber der Kantischen Theorie betont werden, dass nicht die 
konkrete Form der Zeitanschauung den Grund des Zahlbegriffe am- 
macht, sondern, dass in dieser vielmehr die rein logischen Begriffe der 
Folge und der Ordnung bereits implizit enthalten und verkörpert sind. 



36 £. Cassiref, 

Sätze, die sich nur aus der Anschauung gewinnen, „analytisch'' 
solche, die sich aus reinem Denken begründen lassen. Diese Be- 
griffsbestimmang aber enthält eine deutliche petitio principii: sie 
nimmt die Entscheidung über das Problem schon in der Art der 
Fragestellung vorweg. Denn zweifellos kennt doch die kritische 
Lehre Formen der reinen intellektuellen Synthesis, die 
sich zwar, um empirische Erkenntnisse zu ermöglichen» auf die 
Anschauung von Raum und Zeit beziehen müssen, die aber ihre 
Wahrheit und Geltung nichtsdestoweniger dem „reinen Verstände'' 
verdanken, und betrachtet man das System der „Logistik", wie 
es sich bei Russell und Couturat darstellt, so sieht man, dass es 
nichts anderes, als eben ein Inbegriff derartiger synthetischer 
Grundformen ist. Verstehen wir, nach der Erklärung Kants, 
unter „Synthesis in der allgemeinsten Bedeutung die Handlung, 
verschiedene Vorstellungen zueinander hinzuzuthun und ihre Mannig- 
faltigkeit in einer Erkenntnis zu begreifen", so lässt sich diese 
Begriffsbestimmung geradezu als eine Umschreibung des Verfahrens 
bezeichnen, das der logische Kalkül überall zu Grunde legt. In 
der That — was bedeutet der Kalkül der Klassen oder der Rela- 
tionskalkül anderes, als dass wir eine Vielheit von Elementen 
durch die gemeinsame Beziehung auf den Klassenbegriff oder auf 
die Relation, deren Gebiet sie darstellt, zu einer gedanklichen 
Einheit zusammenschliessen ? Und betrachten wir weiterhin die 
speziellen Denkmittel der Logistik: fassen wir etwa die Beziehung 
des Ganzen zum Teil oder den allgemeinen Begriff der Funk- 
tion, oder die Begriffe der Identität und Verschiedenheit 
ins Auge, so handelt es sich in ihnen allen — nach Bussells 
eigener Auffassung — um fundamentale, nicht weiter ableitbare 
Grundverhältnisse,^) deren Bedeutung indes nicht lediglich darin 
besteht, dass sie dem Satz des Widerspruchs genügen, sondern 
die vielmehr neue und eigentümliche Setzungen und Ver- 
knüpfungsweisen des Denkens bilden, und einen neuen Inhalt 
konstruktiv erschaffen. Die mathematischen Begriffe auf derlei 
Voraussetzungen zurückführen, heisst also sie in allgemeinsten 
primitiven Synthesen begründen. Und um diesen Satz gegen 
Couturat zu erweisen, brauchen wir uns auf keinen anderen Ge- 



i) Über „Ganze«** und „TeU** s. bea. Russell § 184 und 135; über 
den Funktionsbegriff s. § 254; über den Begriff der Relation und des 
verschiedenen „Sinnes** einer Relation s. § 217; über „Identität** und 
„Verschiedenheit** s. z, B. § 326 u. s. f. 



Kant und die moderne Mathematik. 37 

währsmann, als auf — Russell selber zu berufen. Während C!oa- 
turat beständig betont, dass Kant die bloss analytische Bedeutung 
der mathematischen Sätze verkannt habe, sieht Russell umgekehrt 
die Schwäche der kritischen Philosophie darin, dass sie, die die 
synthetische Natur der mathematischen Urteile zuerst ans 
Licht gestellt habe, die gleiche Bestimmong nicht auch für die 
logischen Urteile durchgeführt habe. In dem ganzen Gebiet 
der Erkenntnis giebt es, wie er einwirft, keine Wahrheit, die 
sich lediglich aus dem Satze des Widerspruchs und ohne ver- 
mittelnde „synthetische" Ober- und Hilfssätze gewinnen Hesse. ^) 
Man muss gestehen, dass — wenn man einmal die Alternative, 
die hier gestellt ist, annimmt — dieser letztere Standpunkt in 
sich durchaus berechtigt und verständlich ist. In der That muss 
jedes Urteil, das irgendwelchen Wert für den Fortschritt der 
Wissenschaft besitzen soll, seinem letzten Ursprung nach syn- 
thetisch heissen. Kant selbst hat keinen Zweifel darüber gelassen, 
dass in seiner Unterscheidung Analysis und Synthesis nicht als 
gleichberechtigte Faktoren nebeneinander stehen, sondern dass 
vielmehr die erstere stets nur auf Grund der letzteren möglich 
sei: „denn wo der Verstand vorher nichts verbunden hat, da 
kann er auch nichts auflösen*" (B. 130). Wenn dennoch bei 
ihm das analytische Urteil noch als ein selbständiges Problem 
erscheint, so erklärt sich dies wesentlich aus der geschichtlichen 
Bedingtheit und aus der geschichtlichen Mission der Vemunftr 
kritik. Der Ausdruck des „analytischen Urteils" richtet sich nicht 
sowohl gegen die formale Logik, als gegen die logische Meta- 
physik der Wolffschen Schule. Die metaphysischen Urteile sind 
analytisch, weil sie von irgend einem feststehenden dogma- 
tischen Begriff, ohne sich auf dessen Ursprung zu besinnen, ihren 
Ausgang nehmen und aus ihm nur immer weitere und complexere 
Folgerungen abzuleiten suchen. Nur wenn man diesen pole- 
mischen Gesichtspunkt dauernd festhält, gewinnt die Unter- 
scheidung zwischen analytischem und synthetischem Urteil ihre 
kritische Schärfe und ihre spezifische Bedeutung. Es ist daher 
freilich begreiflich, wenn ein moderner Mathematiker, der den 
Einzelheiten der Geschichte der Metaphysik fem steht. Mühe hat, 
sich in Kants eigentümliche Fragestellung zu versetzen: aber es 



1) Bossen § 4d4; vgl. bes. Busseils Schrift: „A critical exposition of 
the Phüoeophy of Le\hmz\ Gambrid^ 1900, § U und 18, 



38 E. GaBsirer, 

liegt hierin keine Widerlegung, sondern ein Triumph der Kan- 
tischen Lehre. Denn ihr Verdienst ist es, wenn die strenge 
Scheidung zwischen Metaphysik und Wissenschaft immer 
mehr zum Gemeingut des wissenschaftlichen Bewusstseins geworden 
ist: so sehr, dass man darüber, wie es scheint, allmählich die 
entscheidende Leistung der kritischen Philosophie zu vergessen 
beginnt. 

Wenn indessen zwei Denker, wie Russell und Couturat, die 
in all ihren Prämissen völlig übereinstimmen, an diesem einen 
Punkte zu durchaus entgegengesetzten Ergebnissen gelangen — 
ein Gegensatz, der übrigens von Couturat selbst nicht bemerkt 
worden zu sein scheint — so weist schon dies darauf hin, dass 
es sich im Grunde zwischen ihnen nur um einen verschiedenen 
Wortsinn handeln kann, den sie beide der Kantischen Unter- 
scheidung beilegen. In der That zeigt es sich, dass Couturat 
diese Unterscheidung durchweg in einem viel zu engen Sinne 
aufgefasst hat. Er geht von der bekannten Erklärung, die sich 
zu Beginn der Vernunftkritik findet, aus: und auch weiterhin 
bleibt sie ihm der Mittelpunkt, auf den all seine Einwände zielen. 
Diese Erklärung aber — nach der ein Urteil analytisch heisst, 
wenn der Prädikatsbegriff im Subjekt enthalten ist, synthetisch 
dagegen, wenn er ganz ausserhalb des Subjektes liegt — enthält 
keineswegs Kants letzte und endgiltige Entscheidung, sondern be- 
deutet nur eine erste vorläufige Anknüpfung; sie will das neue 
Problem anzeigen, ohne es schon seiner ganzen Bedeutung nach 
aussprechen, geschweige lösen zu können. Die Sonderung der 
analytischen und synthetischen Urteile hat hier lediglich den 
Wert einer Nominaldefinition, die zunächst völlig willkürlich 
scheinen kann: ihr Sinn und ihr realer Gehalt erschliesst sich erst 
in der positiven Ausführung der synthetischen Grundsätze.^) 
Gerade diese letzteren aber hat Couturat nirgends berücksichtigt: 
seine Kritik macht vor dem System der Grundsätze 
Halt. Und doch weist er selbst deutlich auf den Grund hin, ans 
welchem die anfängliche Erklärung Kants unvollkommen geblieben 
ist, ja unvollkommen bleiben musste. Diese Erklärung — so 
wendet er ein — setzt voraus, dass alle Urteile in nichts an- 
derem bestehen, als darin, irgend einem Subjekt ein bestimmtes 



1) S. Cohen, Kants Theorie der Erfahrung, 2. AufL, Berlin 1886, 
S. 400. 



Kant und die madenie Mathematilc. 99 

Prädikat zuzuordnen; während die moderne Logik ans Urteite 
kennen gelehrt hat, die sich der Zurückfiifarung auf diese Form 
prinzipiell entziehen (vgl. oben S. 7). So treffend dieser Einwarf 
ist: so zeigt es sich doch bei näherer Betrachtung sogleich, dass 
gerade diejenigen Verknüpfungsweisen, die für Kant im eigent- 
lichen und typischen Sinne synthetisch hetssen, eben dieser letz- 
teren Gattung angehören. Sie alle — wie etwa der OntndMtz 
der Kausalität oder der Wechselwirknng — sagen Verbältniase 
ans, die innerhalb des gewöhnlichen Schemas der „Prädikatiou^ 
niemals ihren vollen logischen Ausdruck finden können: woUra 
sie doch nicht irgendwelchen festen Dingen bestimmte Eigen- 
schaften zuschreiben, sondern die Geltung reiner gesetzlicber 
Beziehungen zwischen Erscheinungen feststellen. Hier gilt 
also der umgekehrte Schluss: die allgemeine systematische Be- 
deutung der Synthesis kann sich in der Charakteristik des Urteils 
der Prädikation niemals erschöpfend darstellen. Kaut hat seine 
Erläuterung an diese Urteilsart, die er in der überlieferten Logih 
überall herrschend fand, angeknüpft; aber man sieht zugleich, wie 
das Schema, das diese Logik ihm aufzwingt, sich alsbald zu eng 
erweist, um seinen neuen erkenntniskritischen Grundgedanken 
zu fassen und zum adäquaten Ausdruck zu bringen. 

Um zu einer giltigen Entscheidung über den analytischen 
oder synthetischen Charakter einer Aussage zu gelangen^ genügt 
es daher niemals, die Verknüpfung von Subjekt und Prädikat 
bloss nach ihrer formalen Seite ins Auge zu fassen; sondern es 
muss hier stets zugleich auf den „transscendentalen'' Ursprung 
derjenigen Erkenntnis reflektiert werden, die im Subjektbegriff 
selber niedergelegt ist. Nicht darauf kommt es an, ob der Be- 
weis sich in lauter identische Sätze auflösen lässt, sondern ob 
die Prämissen, auf denen er ruht, der gleichen Zerlegung fähig 
sind. Dass „die Schlüsse der Mathematiker alle nach dem Satze 
des Widerspruches fortgehen**, ja dass eben hierin die „Natur einer 
jeden apodiktischen Gewissheit^ bestehe, dies hat Kant selbst klar 
ausgesprochen. Aber er findet in diesem Verhältnis keine Gegen- 
instanz gegen seine Grundansicht : „denn ein synthetischer Satz 
kann allerdings nach dem Satze des Widerspruchs eingesehen 
werden, aber nur so, dass ein anderer synthetischer Satz voraus- 
gesetzt wird, aus dem er gefolgert werden kann, niemals aber an 
sich selbst** (B 14). Man kann diese unzweideutigen Kantischen 



40 E. Oassirer, 

Sätze nur dann ablehnen und der Inkonsequenz zeihen,^) wenn 
man, wie Couturat, darauf beharrt, lediglich den Wortlaut der 
ersten populären Erklärung gelten zu lassen und sich gegen alle spä- 
teren Erläuterungen und Ergänzungen zu verschliessen. Die Ent- 
scheidung kann — was immer Couturat hiergegen einwenden 
Diag — nicht aus der Technik des mathematischen Beweises, 
sondern lediglich aus der Natur der mathematischen Definitionen 
und- A^xiome gewonnen werden.*) Legen wir aber einmal diesen 
Ma$sstab au, so muss es, wie ich glaube, möglich sein, zu einer 
Waren Verständigung mit Couturat zu gelangen. Denn er selber 
i3t es, der beständig betont, dass eine mathematische Definition, 
wenngleich sie zunächst als willkürliche und conventioneile Setzung 
eingeführt werden mag, doch ihre wissenschaftliche Bedeutung und 
Geltung nicht einer blossen formalen Verknüpfung von Namen 
verdankt. Jede Erklärung eines mathematischen Grundbegriffs 
schliesst vielmehr — in rein logischem Sinne — eine „Ekisten- 
tialbehauptung^' ein: sofern sie gleichzeitig aussagt, dass unter 
den definierten Begriff irgend ein „Gegenstand", d. h. ein ein- 
deutig bestimmter Inhalt des Denkens, überhaupt fällt. Dieses 
Existenztheorem aber, das nach Couturat zur Eechtfertigung der 
Definition erforderlich ist und das den eigentlichen Quell ihrer 
„Wahrheit" bildet, 3) ruht ersichtlich nicht auf dem blossen Satze 
des Widerspruchs; es ist, im Sinne Kants, ein synthetischer Satz. 
Couturat selbst hat sich hierüber neuerdings mit aller wünschens- 
werten Deutlichkeit erklärt. In seiner Polemik gegen Poincar6 



*) Couturat nennt diese Sätze ein „unvorsichtiges Zugeständnis an 
diejenigen, die die mathematischen Urteile für analytisch halten", während 
sie schon äusserlich als bewusste methodische Erläuterungen erkennbar 
sind, die zuerst in den „Prolegomena" (§ 2c) auftreten, um sodann der 
zweiten Auflage der Yemunftkritik eingefügt zu werden (vgl. Couturat, 
S. 261). 

^ Wenn Couturat einwirft, dass es sich nicht darum handle, wie 
das Subjekt des Urteils gebildet worden sei, sondern darum, ob es, wenn 
wir es als fertig und gegeben voraussetzen, das Prädikat enthält, — 
wenn er femer alle mathematischen Urteile für analytisch erklärt, weü 
sie apriorisch erzeugt sind, und somit nichts anderes enthalten können, als 
was der Geist selber in sie gelegt hat, so wird das Missverständnis sehr 
deutlich: denn eben jener Akt des ursprünglichen „Hineinlegens" ist es, 
den Kant — dem wir zum mindesten das Recht zuerkennen müssen, sein 
eigenes Problem zu fixieren und zu benennen — fort und fort als ^Syn- 
thesis" kennzeichnet (s. Couturat S. 249, 261, 2G7). 

3) Vgl. Couturat S, 39 f., ferner S. 83 Anm. 2, S. 178 u. s. t 



Kant und die moderne Mathematik. . 41 

kommt er aaf die Frage von Neuem zurück, um sie eingehender 
zu analysieren.^) Wenn Poincarä behauptet hatte, dass jede De- 
finition die Bürgschaft der ^fExistenz*" in sich trage, sobald wir 
sicher sind, dass in ihr keine unvereinbaren Bestimmungen mit- 
einander verbunden seien, so weist Couturat diese Erklärung mit 
Entschiedenheit ab. Die logische und mathematische Existenz sei 
etwas völlig anderes, als die blosse „Abwesenheit des Wider- 
Spruchs"". „Der Widerspruch ist ein rein negatives Kriterium 
der Existenz: er ist das Kriterium der Nichtexistenz. Nicht das 
Fehlen des Widerspruches ist es, was die Existenz eines Begriffe 
beweist, sondern umgekehrt ist es die Existenz eines Begriffs, die 
seine Widerspruchsiosigkeit verbürgt."" Ist es Couturat ent- 
gangen, dass es die Grundanschauung Kants ist, die er hier — 
entgegen der sonstigen Stellung der beiden Gegner — gegen 
Poincarä verteidigt?') In der That genügt es nicht, dass eine 
Definition sich nicht selber widerstreitet, solange wir nicht sicher 
sind, ob sie nicht völlig leer ist, sodass kein bestimmter gedank- 
licher Inhalt unter sie fällt Um aber hierüber zur Klarheit 
zu gelangen, müssen wir die Synthese, die sie uns zu- 
mutet, vollziehen und uns ihres eindeutigen Sinnes und ihrer 
eigentümlichen spezifischen Bedeutung bewusst werden. So 
lässt sich z. B. irgend ein mathematischer Satz, wie 7 -\- b=zl2, 
in der That vollständig auf analytischem Wege beweisen; aber 
der Begriff der Summe selbst, den wir hierfür zu Grunde 
legen müssen, enthält eine synthetische Voraussetzung, da er das 
associative Gesetz (d. h. den Satz, dass a+(h4-l) = (Ä+b)+l) 
in sich enthält. Man kann dieses Gesetz weiterhin abzuleiten ver- 
suchen, man kann den Begriff der mathematischen Summe auf den 



>) S. Ck>aturat6 Abhandlmig „Pour la Logistiqae" (Revue de Möta- 
physiqne XIV, No. 2, März 1906). 

*) „Von welchem Inhalt auch unsere Erkenntnis sei und wie sie 
sich auf das Objekt beziehen mag, so ist doch die allgemeine, obzwar nur 
negative Bedingung aUer unserer Urteile überhaupt, dass sie sich nicht 
selbst widersprechen; widrigenfalls diese Urteile an sich selbst (auch ohne 
Bflcksicht aufs Objekt) nichts sind. Wenn aber auch gleich in unserem 
Urteile kein Widerspruch ist, so kann es demungeachtet doch Begriffe so 
verbinden, wie es der Gegenstand nicht mit sich bringt, oder auch, ohne 
dass uns ein Grund weder a priori, noch a posteriori gegeben ist, welcher 
ein solches Urteil berechtigte ; und so kann ein Urteil bei aUem dem, dass 
es von aUem inneren Widerspruche frei ist, doch entweder falsch oder 
grundlos ^ein*" (B. 189 f.). 



42 . £. Cassirer, 

der ^og^hea Summe ^ stützen and zorückführeu : immer muss 
dabei doch das Kecht eines allgpemeinen Verfahrens behauptet 
werden, das uns gestattet, die Elemente einer Vielheit, ohne ihre 
Ordnung ins Auge zu fassen, zusammenzufassen und zu einem 
neuen Inhalt zu vereinen. Dass ein solches Verfahren möglich 
ist, ufld dass es ein eindeutig bestimmtes Ergebnis liefere, 
kann au& dem Satz der Identität oder des Widerspruchs niemals 
eiflgesehen werden: es ist eine neue schöpferische Setzung des 
Denkens, die wir in der Behauptung einer derartigen Möglichkeit 
vollziehen. 



VI. 

Wird indessen einmal die Zurückführbarkeit der mathema- 
tischen Urteile auf logische Operationen zugestanden, so köunte 
der Streit darüber, ob man diese letzteren selbst als „analjrtisch" 
oder „synthetisch^ anzusehen habe, wie ein blosser Wortstreit 
erscheinen. Und in der That dürfte man diese iYage fortan 
völlig auf sich beruhen lassen, wenn sie innerhalb des Systems 
der kritischen Philosophie keine andere Bedeutung besässe, als 
diejenige, die Couturat ihr beUegt. Die Trennung von Analysis 
und Synthesis, von „Anschauung" und „Denken" aber gereift bei 
Kant über jede bloss logische oder psychologische Problemstellung 
hinaus. Sie betrifft die Grundfrage der Erkenntniskritik: 
sofern sie nicht ein blosses Verhältnis der Begriffe untereinander 
angeht, sondern das Verhältnis unserer logischen und mathema- 
tischen Begriffe zur Erfahrung und zum Gegenstand der 
Erfahrung feststellen wilL Dass alle unsere gedanklichen Ver- 
knüpfungsformen sich schliesslich auf die Grundordnungen des 
Raumes und der Zeit beziehen und in ihnen „schematisieren" 
müssen: dies besagt für Kant nichts anderes, als dass sie ihre 
Geltung letzten Endes in der Bestimmung des empirischen 
Gegenstandes zu bewähren haben. Hier liegt das eigentliche 
Feld ihrer Thätigkeit und die Probe ihres Wertes. Wenn es 
nicht geb'ngt, den Nachweis zu führen, dass das System der 
reinen Verstandesbegriffe die notwendige Bedingung ist, unter der 
wir allein von einer Regel und Verknüpfung der Erscheinungen, 
unter der wir somit von einer empirischen „Natur" sprechen 
können, — so müsste dieses System, bei all seiner Konsequenz 
und Geschlossenheit, doch wie ein blosses „HirngÄspinnat" er- 



Kant und di« modame Kathematik. 43 

scheinen. Dass unsere Begriffe sich auf Ansdiauungen zu be- 
ziehen haben, bedeutet daher, dass sie sich auf die mathema- 
tische Physik zu beziehen und in ihrer Gestaltung fruchtbar 
zu erweisen haben. Die logischen und mathematischen Begriffe 
sollen nicht länger die Werkzeuge bilden, mit denen wir eine 
metaphysische „Gedankenwelt"^ aufbauen: sie haben ihre Funk- 
tion und ihre berechtigte Anwendung lediglich innerhalb der 
Erfahrungswissenschaft selbst. Diese ihre Begrenzung erst 
ist es, die ihnen ihre Realität sichert. In diesem Sinne hat Kant 
den „obersten Grundsatz aller synthetischen Urteile^ formuliert: 
„Die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sdnd 
zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Er- 
fahrung und haben darum objektive Giltigkeit in einem synthe- 
tischen Urteile a priori" (B. 197). 

Damit aber ist ein Problem gestellt, das völlig ausserhalb 
des Gesichtskreises der „Logistik" liegt und das somit von ihrer 
Kritik auch nicht berührt wird. Alle empirischen Urteile liegen 
jenseit ihres Bereiches: sie macht an der Grenze der EIrfahrung 
Halt. Was sie entwickelt, ist ein System hypothetischer Voraus- 
setzungen, von denen wir aber niemals wissen können, ob sie 
sich jemals in irgend einer Elrfahrung verwirklicht finden, ob sie 
daher jemals irgend eine mittelbare oder unmittelbare konkrete 
Anwendung verstatten werden. So fällt nach Russell schon der 
allgemeine Begriff der Grösse aus dem Umkreis der reinen Mathe- 
matik und Logik heraus: er enthält ein empirisches Element, das 
UBS nur durch die sinnliche Wahrnehmung gegeben werden kann. 
Nach der Grundansicht der Logistik ist die Aufgabe des Denkens 
beendet, wenn es gelungen ist, unter all seinen Gebilden und Er- 
zeugungen eine strenge deduktive Verknüpfung herzustellen. Die 
Sorge um die Gesetzlichkeit der Welt der Objekte dagegen bleibt 
gänzlich der direkten Beobachtung überlassen, die allein uns 
innerhalb ihrer eigenen, sehr eng gesteckten Grenzen zu lehren 
vermag, ob auch hier bestimmte Regelmässigkeiten sich finden, 
oder aber ein reines Chaos herrscht. Logik und Mathematik 
haben es nur mit der Ordnung der Begriffe zu thun; die Ordnung 
oder Verwirrung unter den Gegenständen ficht sie nicht an und 
braucht sie nicht zu beirren. 

So bleibt, wieweit man auf diesem Standpunkt die Analyse 
der Begriffe auch treiben mag, das empirische Sein ein ewig un- 
begriffenes Problem. Je deutlicher der Wert und die Kraft der 



44 E. Cassirer, 

Deduktion im Gebiete der Mathematik sich vor uns offenbart, um 
so weniger verstehen wir die gewaltige und entscheidende Be- 
deutung, die der Deduktion im Gebiet der theoretischen Natur- 
wissenschaft zufällt; — eine Bedeutung, die übrigens Couturat 
nach der ganzen Richtung seines Denkens am allerwenigsten be- 
streiten wird. Die logischen und mathematischen Sätze mögen 
von rein hypothetischer Geltung sein: aber ist es lediglich ein 
„glücklicher Zufall", dass diese Hypothesen sich zureichend er- 
weisen, die empirischen „Thatsachen" zu meistern und ihren Ver- 
lauf im Voraus zu bestimmen? Wäre es so, dann liesse es sich 
wohl denken, dass dieser Zusammenhang mit einem Schlage jäh 
unterbrochen würde, dass also etwa unsere künftige Erfahrung 
uns niemals mehr mit irgendwelchen objektiven Daten bekannt 
machen würde, die die begrifflichen Postulate der Grösse erfüllten 
und die damit der Messung zugänglich wären. Die Allgemein- 
heit und apriorische Notwendigkeit der mathematischen Wahr- 
heiten sucht Couturat mit ihrem rein „formalen'' Charakter zu 
erklären: „diese Wahrheiten sind objektiv, nicht weil sie aus dem 
Studium der Objekte hervorgegangen sind, sondern weil sie sich, 
ohne von irgend einem besonderen Objekt zu handeln, auf alle 
möglichen Objekte überhaupt beziehen'' (S. 207). Diese Lösung 
aber mag für die kritische Erkenntnistheorie und für ihre Be- 
griffsbestimmung der „möglichen Erfahrung" zulässig und ver- 
ständlich sein: für die Logistik ist sie es nicht. Wie vermöchte 
sie es zu rechtfertigen, dass wir die logischen Gesetze, die wir 
gänzlich unabhängig von der Betrachtung der Dinge gewonnen 
haben, nachträglich den Dingen aufzwingen; wie vermöchte sie 
zu beweisen, dass die künftige Erfahrung den Folgerungen ge- 
mäss sein werde, die wir aus rein logischen Prämissen und ohne 
jede Eücksicht auf Anschauung und Beobachtung gezogen haben? 
So beginnt an dem Punkte, an dem die Logistik endet, eine 
neue Aufgabe. Was die kritische Philosophie sucht und was sie 
fordern muss, ist eine Logik der gegenständlichen Erkennt- 
nis. Nur vom Standpunkt dieser Fragestellung kann der Gegen- 
satz zwischen analytischem und synthetischen Urteil ganz ver- 
standen und gewürdigt werden. „Die Erklärung der Möglichkeit 
synthetischer Urteile ist" — wie Kant selbst scharf hervorhebt — 
„eine Aufgabe, mit der die allgemeine Logik gar nichts zu 
schaffen hat, die auch sogar ihren Namen nicht einmal 
kennen darf. Sie ist aber iu einer tran$scendentalen 



Kant und die moderne Mathematik. 4o 

Logik das wichtigste Geschäft anter allen, und sogar das einzige, 
wenn von der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori die Rede 
ist, imgleichen den Bedingungen und dem Umfange ihrer Gültig- 
keit. Denn nach Vollendung desselben kann sie ihrem Zwecke, 
nAmlich den Umfang und die Grenzen des reinen Verstandes zu 
bestimmen, vollkommen ein Genüge thun* (B. 193). Erst wenn 
wir begriffen haben, dass dieselben Grundsyntheseu, auf denen 
Logik und Mathematik beruhen, auch den wissenschaftlichen Auf- 
bau der Erfahrungserkenntnis beherrschen, dass erst sie es uns 
ermöglichen, von einer festen gesetzlichen Ordnung unter Er- 
scheinungen und somit von ihrer gegenständlichen Bedeutung zu 
sprechen: erst dann ist die wahre Rechtfertigung der Prinzipien 
erreicht. Couturats Werk zeigt von Neuem, wie dieses Problem 
sich noch heute gegen dieselben widerstrebenden Denkrichtungen 
durchzusetzen hat, die Kant zu seiner Zeit entgegenstanden. Der 
kritische Gedanke, dass die Grundlagen unserer Erkenntnis zwar 
nicht aus der Erfahrung stammen, aber nur für diese und inner- 
halb ihres Bereichs gelten wollen, wird heute, wie damals, sei es 
in „rationalistischer'', sei es in „empiristischer'' Tendenz verkannt 
und bestritten. In der That trifft Couturat, der gegen Kant den 
Vorwurf erhebt, dass er „zu wenig Rationalisf* gewesen sei, in 
seiner Auffassung, nach der alle mathematischen Urteile analytisch, 
alle empirischen synthetisch seien, mit einem Empiristen wie 
Paulsen zusammen. Und diese Übereinstimmung ist nicht zu- 
fällig, sondern eine innere, wenngleich unbeabsichtigte Konsequenz 
seines Gedankens: indem er die Mathematik, um ihre Reinheit zu 
wahren, zu immer abstrakteren Höhen hebt, wird er immer mehr 
dazu gedrängt, die Erfahrung nur noch als ihren Gegensatz, nicht 
als ihr Korrelat oder als das konkrete Gebiet ihrer Anwendung 
zu denken. So entsteht, je selbstbewusster und selbstgenügsamer 
die Vernunft ihr Recht behauptet, eine um so grössere Kluft 
zwischen dem Vernunftgesetz und den Thatsachen, wodurch 
der Triumph des Empirismus auf dessen eigenstem Gebiete vor- 
bereitet wird. Es ist ein wesentliches Verdienst von Couturats 
früheren Werken, dass sie die unverbrüchliche Einheit der 
wissenschaftlichen Methode in voller Schärfe und Klarheit aus- 
sprechen und durchführen. Die Erfahrungswissenschaften besitzen 
— wie er insbesondere in seiner Schrift über Leibniz ausführt — 
im letzten Grunde keine anderen theoretischen Denkmittel als die 
rationalen Wissenschaften: denn in beiden ist es zuletzt die De« 



46 fi. CeLSBiret, 

duktioD, die ein einzelnes Urteil dem systematischen Zosammeü- 
hang der Erkenntnis einreiht und die ihm damit erst seine Wahr- 
heit verbürgt.^) Gerade diese Grundeinsicht jedoch ist es, die 
sich in seiner neuesten Schrift zu verdunkeln droht: indem die 
mathematischen und die empirischen Sätze unter zwei völlig ver- 
schiedene Urteilsklassen subsumiert werden, scheinen damit 
zwei heterogene Grundmethoden zugelassen, deren Beziehung und 
deren Zusammenwirken nicht ersichtlich wird.^ 

Und selbst innerhalb des Gebietes der reinen Mathematik 
bleibt zuletzt der „Anschauung^ dennoch ein weiterer Bereich und 
eine grössere Bedeutung, als die Logistik ihr zugesteht. So 
sehr sie im Fortschritt der Wissenschaft als selbständiges Be- 
weismittel zurücktritt, so unerlässlich ist sie, um die Aufgabe, 
die unseren logischen Synthesen zuletzt gestellt ist, zu bezeichnen 
und damit deren Richtung zu bestimmen. So bleibt ihr gegen- 
über dem reinen Denken etwa dieselbe Funktion, die der „Er- 
fahrung" im physikalischen System Dcscartes' zukommt: so wenig 
sie die mathematischen Begriffe für sich allein begründen und 
rechtfertigen kann, so sehr dient sie dazu, sie näher zu deter- 
minieren und zwischen den verschiedenen möglichen Prinzipien, 
die wir mit gleichem logischen Recht an die Spitze unserer De- 



i)Couturat, La Logique de Leibniz. S. 271; vgl. Principes des 
Math^m. S. 306 f. 

^ Den gleichen Einwand gegen die Logistik hat, wie ich nachtrftg> 
lieh sehe, M. Winter in seinem Aufsatz „M^taphysique et Logique 
math^matique (Revue de M^taphys. XIII (1905), S. 589 ff.) erhoben. „Das 
Schicksal der Transscendentalphilosophie" — so bemerkt er mit Recht — 
ist mit der Philosophie der Mathematik nicht unlöslich verbunden. 
Selbst wenn dieser Teil der Kritik hinfällig würde, so würde sich das 
transscendentale Problem von neuem erheben, wenn man sich fragt — 
und diese Frage ist unvermeidlich — , wie der mathematische Formalismas 
mit der Erfahrung zusammenstimmt. Dies ist ohne Zweifel der tiefe Sinn 
der Kantischen Philosophie, die vor allem eine Theorie der Erfahrung 
bleibt." . . . „Es hiesse den Geist der Logik der Wissenschaften völlig 
verkennen, wenn man in ihr etwas anderes, als das erste Kapitel der posi- 
tiven Wissenschaften sähe. Der schwache Punkt in Couturats schönen 
Studien über Russell besteht zweifellos darin, dass man nicht deutlich er- 
kennt, ob man es hier mit einer Philosophie, oder nur mit dem abstrak- 
testen Zweige der Mathematik zu thun hat. . . . Man kann, ohne die Ein- 
heit des Denkens zu verletzen, nicht zwei verschiedene Methoden der 
Wissenschaft schaffen, deren eine für ihren allgemeinen Teil, deren andere 
für ihren besonderen Teil bestimmt wäre." 



t^ant lind die moderne Mathematik. 47 

daktioDen stellen könnten, eine Aaswabl zu treffen. Würden 
wir diese ihre Funktion bestreiten, so gerieten wir in Gefahr, die 
geometrischen Grundbegriffe jedes eindeutigen Sinnes zu be- 
rauben; so besässen wir kein Mittel, zwischen den verschieden- 
artigsten komplexen Gebilden, sofern sie nur alle die Bedingungen 
erfüllen, die wir in den Axiomen niedergelegt haben, noch irgend 
einen Untersehied zu treffen. In der That ist es diese Konse- 
quenz, die Russell und Couturat mit aller Entschiedenheit ziehen. 
„Da die Grundbegriffe, mit denen die Geometrie arbeitet, undefi- 
nierbar sind, so ist ihr Sinn nicht bestimmt und geht auf 
keine Weise in die deduktive Verknüpfung der Einzelsätze ein; 
man kann diese Begriffe somit als reine Symbole ansehen, deren 
Bedeutung unbestimmt und gleich giltig ist^ (Couturat S. 37). 
Das relative logische Recht dieser Auffassung haben wir früher 
bereits hervorgehoben: sie will im Grunde nur besagen, dass uns 
in der Mathematik nichts als „an sich^ bestimmt gelten darf, was 
wir jiicht vermöge einer reinen begrifflichen Setzung selbst be- 
stimmt haben (vgl. o. S. 29). Aber ebenso unbestreitbar ist es, 
dass in der Art dieser Setzung nicht lediglich Willkür waltet, 
dass sie nicht völlig wahllos erfolgt, sondern dass die „Anschauung^ 
als das letzte Ziel vor uns steht, dem unsere Begriffe ein Genüge 
leisten sollen. Zweifellos haben doch bisher die Geometer, wenn 
sie von Punkten, Geraden und Ebenen sprachen, etwas Bestimmtes 
„ gemeint ""; zweifellos haben sie, gleich dem Platonischen Demiurgen, 
auf eine bestimmte „Idee' hingeblickt, die sie zum Ausdruck zu 
bringen trachteten. Wenn diese ihre „Meinung^ noch nicht ge- 
nügend expliziert war, so gilt es, sie logisch weiter zu klären; 
wobei jedoch unsere Begriffe so genau und eindeutig umschrieben 
werden müssen, dass sie dem Spezifischen dieser Grundgestalten 
mehr und mehr gerecht werden. Wollte man auf diese Forderung 
zu Gunsten einer unbestimmten logischen „Allgemeinheit*" ver- 
zichten, so hiesse dies das Band zwischen reiner und angewandter 
Matl&ematik zerschneiden. Das „paradoxe und humoristische Wort** 
Rossells, das Couturat zitiert: dass nämUch die Mathematik eine 
Wissenschaft sei, in der man niemals wisse, wovon man spricht, 
noch ob das, was man sagt, wahr sei, wüi*de dann zur buchstäb- 
lichen Wahrheit werden. 

Freilich handelt es sich an diesem Punkte um einen allge- 
■leinen, heute noch ungeschlichteten Widerstreit. Wenn man die 
Entwickelung der modernen Mathematik betrachtet, so sieht man. 



48 E. Cassirei*, 

wie überall in ihr die Tendenz hervortritt, bei der Aasbildung 
einer Theorie sich lediglich durch die Forderung innerer logischer 
Widerspnichslosigkeit leiten zu lassen, ohne sich durch die Frage 
der möglichen Anwendbarkeit beirren zu lassen. So strebt sie 
iipmer deutlicher und bewusster dem Ziele zu, für welches Georg 
Cantor den Begriff der „freien Mathematik^ geprägt hat: 
lediglich die immanente gedankliche Folgerichtigkeit, nicht die 
Darstellung und Bewährung in irgend einer „transienten^ objek- 
tiven Realität ist der Massstab, den sie für ihre Prinzipien an- 
erkennt.^) Niemand wird das Recht dieses Anspruchs bestreiten, 
niemand wird aus philosophischen Gründen versuchen dürfen, der 
Freiheit der Mathematik, die die Bedingung ihrer Fruchtbarkeit 
ist, Schranken zu setzen. Und dennoch beginnt die Erkennt- 
niskritik erst mit derjenigen Frage, die der Mathematiker nicht 
kennt und nicht zu kennen braucht. Ihr eigentliches Problem ist 
nicht sowohl der Inhalt der mathematischen Prinzipien, als die 
Rolle, die sie im Aufbau unseres Begriffs einer „gegenständlichen^ 
Wirklichkeit spielen. Der Blick der Philosophie darf — wenn 
man dieses Verhältnis einmal schroff und paradox ausdrücken 
will — weder auf die Mathematik, noch auf die Physik gerichtet 
sein ; er richtet sich einzig auf den Zusammenhang beider Gebiete. 
Es wäre vergeblich, dieses Problem als „metaphysisch" von den 
Schranken der Mathematik und der Logistik zu verweisen. Denn 
damit wäre nur von neuem bewiesen, dass beide das systema- 
tische Ganze der notwendigen Grundfragen nicht zu bewältigen 
vermögen: haben wir es doch hier in keinem Sinne mit irgend 
einem transscendenten Gegenstande, sondern nur mit der ob- 
jektiven Gewissheit unserer Erfahrnngserkenntnis selbst zu thun. 
So wenig daher die kritische Philosophie der Logistik das Recht 
zur selbständigen Ableitung und Formulierung der mathematischen 
Prinzipien verkürzen darf: so wenig wird sie von ihr die end- 
gilt ige Lösung ihrer Schwierigkeiten erwarten. Für das Ver- 
hältnis beider Forschungs- und Betrachtungsweisen gilt heute 
vielleicht das Wort, das Schiller über die Beziehung von Natur- 
forschung und Transscendentalphilosophie gesprochen hat: erst 
wenn sie sich im Suchen trennen, kann die Wahrheit, auf die sie 
gemeinsam hinzielen, erkannt werden. 

Aber dass diese Trennung nicht zu einer Verkennung und 
zu einem w echselseitigen Missverstehen führe: dazu will dieser 

^) S. Cantor, Mannigfaltigkeitslehre § 8. 



^ant und die moderne Mathematik. 49 

Bericht über Russells und Coutarats Arbeiten beitragen. Man 
kann den Leibnizschen Satz, den Coutnrat Kant entgegenhält: 
dass nämlich sein System in allem, was es positiv behaupte, wahr, 
— in allem, was es negiere, falsch sei, gegen seine eigene Dar- 
stellung zurückwenden: so wichtig sein Hinweis auf die reine 
logische Ableitung der mathematischen Prinzipien ist, so sehr ver- 
fehlt sein Angriff auf die Eantische Philosophie deren eigentlichen 
und entscheidenden Grundgedanken. Mögen trotzdem die Anhänger 
der kritischen Lehre sich nicht bestimmen lassen, an den Leist- 
ungen Russells und Ck)uturats achtlos vorbeizugehen: denn wo 
immer mit solchem Scharfsinn und solcher Gründlichkeit an der 
rationalen Vertiefung der wissenschaftlichen Prinzipien gearbeitet 
wird, wie hier, da wird auch für ihre eigene Aufgabe die Vorbe- 
reitong geschaffen und der Boden bereitet 



ITtnlttvdlea XSt, 



Kant und die gegenwärtige Aufgabe der Logik. 

Von Fritz Medicus. 



Man weiss, dass Kant der Logik überhaupt keine gegen- 
wärtige Aufgabe mehr zugesteht. Sie habe seit Aristoteles keinen 
Schritt rückwärts zu thun gehabt und keinen Schritt vorwärts 
thun können; sie erscheine als geschlossen und vollendet (Kr. d. 
r. V. B. VIII). Kant stellt diese These nicht ohne Begründung 
auf: Die Logik, sagt er, sei „eine Wissenschaft, welche nichts als 
die formalen Regeln alles Denkens (es mag a priori oder empi- 
risch sein, einen Ursprung oder Objekt haben, welches es wolle) 
ausführlich darlegt und strenge beweist'*, und darum habe die 
Logik ihre Sicherheit und Geschlossenheit nur „ihrer Eünge- 
schränktheit zu verdanken, dadurch sie berechtigt, ja verbunden 
ist, von allen Objekten der Erkenntnis zu abstrahieren, und in 
ihr also der Verstand es mit nichts weiter als sich selbst und 
seiner Form zu thun hat". Wogegen in den übrigen Disziplinen 
die allgemeine Verworrenheit eben daher komme, dass dort die 
Vernunft „nicht bloss mit sich selbst, sondern auch mit Objekten 
zu schaffen hat". 

Allein schon als Kants Leben zu Ende ging, war es kaum 
mehr möglich, seine Ansicht von der Logik festzuhalten. J äs che, 
der im Jahre 1800 in Kants Auftrag dessen Logik herausgab, ist 
in seiner Vorrede bemüht, den Standpunkt des Meisters zu ent- 
schuldigen. Ficht es Wissenschaftslehre hat die Grundsätze des 
Denkens in einem neuen Lichte gezeigt; und Jäsche hat von 
Fichtes Deduktionen doch zu viel verstanden, als dass er ihre 
Bedeutung wegzuleugnen vermöchte. So sucht er bescheiden 
lavierend der Logik Kants die Unbestreitbarkeit eines relativen 
Rechtes zu sichern: mag es um die letztentscheidende Einsicht in 
die logische Gesetzmässigkeit wie auch immer bestellt sein — 
genug, dass innerhalb des herkömmlicher Weise der Logik zuge- 



j^ant und die gegenwärtige Aufgabe der Logik. 51 

billi(2ften ßahmens die formalen Beziehungen ihre Geltung be- 
haupten. 

Bescheiden in der That war diese Vorrede Jäsches. Denn 
wenn die Frage nach dem Verhältnis von Logik and Erkenntnis- 
theorie, die Frage nach der Einheit des theoretischen Bewosstseins 
in dubio gelassen wurde, so war damit auch gar manches integ- 
rierende Lehrstück der Er. d. r. V. in die Schwebe geraten. 
Die Kr. d. r. V. steht auf der Voraussetzung, dass die formal- 
logischen Prinzipien selbstevident sind und den erkenntnistheore- 
tischen Untersuchungen zugrunde liegen: Die Form des Denkens 
steht für sich selbst fest. Richtet sich aber die intellektuelle 
Thätigkeit auf Gegenstände, so kommt etwas neues hinzu: die 
Denkformen genügen nicht, es bedarf spezifischer Erkenntnis- 
formen, die die (unter dem Gesichtspunkt der einheitlichen Ord- 
nung der Vorstellungen) möglichen Beziehungen der intellektuellen 
Thätigkeit auf einen Gegenstand überhaupt, den „transscendentalen 
Gegenstand" ausdrücken. Wie sehr hierbei die formallogischen 
Denkformen vorausgesetzt sind, zeigt z. B. der vielberufene Um- 
stand, dass die Tafel dieser möglichen Beziehungen des transscen- 
dentalen Bewusstseins auf den transscendentalen Gegenstand ihr 
Deduktionsprinzip in der formallogischen Tafel der Urteile findet. 
Oder man denke daran, wie in der Kr. d. r. V. die traditionelle 
Stufenfolge Begriff — Urteil — Schluss den Aufbau der trans- 
scendentalen Logik bestimmt.^) 

Das sind Beziehungen, die offen am Tage liegen und einen 
äusserlichen Charakter tragen. Aber in Wahrheit reichen die 
Konsequenzen der Unterordnung unter die formale Logik bis in 
die letzten und entscheidenden Aufstellungen der Kr. d. r. V. 
hinein. Hier sei vor allem an die Lehre von den Dingen an 
sich erinnert: es ist kein Zufall, dass Fichte und Hegel, die Be- 
kämpfer der formalen Logik, zugleich Bekämpfer der Dinge an 
sich waren. Denn in der Position einer sich selbst genügenden, 
in sich selbst geschlossenen Logik, die keinerlei Beziehung auf 
Gegenstände hat, liegt bereits der Dualismus von Bewusstsein und 
Wirklichkeit : das Bewusstsein ist für sich schon etwas, es braucht 
um seinetwillen keine Wirklichkeit, auf die es sich bezieht So 
fordert die formale Logik ein von den Dingen unabhängiges Ich 

^) Über die vollständige Wertlosigkeit dieser Disposition der lo- 
gischen Gebilde muss man Schuppes „Erkenntnistheoretische Logik'' 
(S. 117 ff.) nachlesen. 



^2 B^. Medicüs, 

und als den anderen Grandfaktor der Welt die vom tch unab^ 
hängigen Dinge. Auf der anderen Seite schliesst die Ablehnung 
der Dinge an sich auch die Ablehnung einer selbständigen for- 
malen Logik ein: Denn giebt es keine Dinge an sich, so ist auch 
keine Rede mehr davon, dass dem Bewusstsein die Vorstellungen 
„gegeben" würden. Das Erkennen der Wirklichkeit ist mithin 
nichts Sekundäres, sondern es ist — nicht nur der Zeit sondern 
auch der logischen Reihenfolge nach — primär, und die Grund- 
sätze der aristotelischen Logik erhalten den Charakter blosser 
Abstraktionen. Als selbständige, in sich gegründete Prinzipien 
kommen sie nicht mehr in Frage. 

Und noch eine weitere höchst wichtige Thatsache hängt — 
allerdings in loserer Konsequenz — mit der von Fichte und Hegel 
vollzogenen Degradation der formalen Logik zusammen : das Streben 
nach einheitlicher, streng systematischer Erfassung der theore- 
tischen Funktionen, d. h. nach dialektischer Entwickelung. 
Dieses Streben ist hintangehalten, so lange die formale Logik als 
ein Gebiet für sich gilt. Sowie aber bestimmt ist, dass die for- 
malen Denkbeziehungen ihre Stelle erst innerhalb einer transscen- 
dentalen Logik zu finden haben, ist auch das Problem der 
Systematik brennend geworden. Was in der Kr. d. r. V. an 
Systematik vorhanden ist, setzt die Selbständigkeit der formalen 
Logik voraus, ist also nicht mehr brauchbar. Das Verhältnis der 
Kategorien zu einander, ihr Verhältnis zu den Grundsätzen der 
aristotelischen Logik, zu Raum und Zeit, zu den von Kant als 
„dialektisch" bezeichneten Problemen — kurz, der ganze Umfang 
der theoretischen Philosophie erscheint mit einem Male als eine 
ungeheuere Aufgabe, die ihre architektonische Lösung fordert 
Wer die Eigengesetzmässigkeit des Bewusstseins in der formalen 
Logik sieht und konsequenter Weise den Dualismus von Bewuss^ 
sein und Wirklichkeit bekennt, wird sein Bedürfnis nach syste- 
matischem Aufbau im Wesentlichen befriedigt sehen, wenn er für 
die formallogischen Funktionen ein schematisches Gerüst hat (wie 
etwa die Stufenfolge Begriff — Urteil — Schluss). Denn weiter 
reicht ja das Gebiet des von der Wirklichkeit unbehelligten 
Geisteslebens nicht, und deshalb wird dieses Schema Grundlage 
jeder weiteren rationalen Architektonik. Man vergleiche die 
Kr. d. r. V. 

Dieser alten Auffassung gegenüber bedeutete die Emanzipa- 
tion der transscendentalen Logik, wie sie zuerst in Ficbtes 



Kant und die gegenwärtige Aufgabe der Logik. 53 

Wissenschaftslehre erfolgte, eine eminente Erweiterung des Reiches 
der Vernunft, und es war darum nicht etwa scholastische Pedan- 
terie sondern Notwendigkeit, dass die Aufgabe einer umfassenden 
Systematik in Angriff genommen wurde. Dass aber die eigentüm- 
liche Gestalt der neuen Systematik bei beiden grossen Logikern 
jener Zeit, bei Fichte und bei Hegel, trotz tiefgreifender Unter- 
schiede die Dialektik gewesen ist, kann nur dann auffallen, 
wenn man verkennt, dass auf dem Boden der Transscendental- 
Philosophie überhaupt kein anderes Prinzip zulässig ist als das 
dialektische. Denn Transscendentalphilosophie bedeutet Über- 
windung alles bloss Faktischen durch teleologische Notwendigkeit; 
die Transscendentalphilosophie lässt in ihren Grenzen nichts zu, 
was als blosse Thatsache hinzunehmen wäre, sondern alles muss 
kritisch eingesehen werden — eingesehen als notwendig für den 
Zweck der Wahrheit. Wird nun die Frage nach dem System der 
Logik gestellt, so ist auch hier festzuhalten, dass die einzelnen 
Funktionen nicht in willkürlicher Ordnung verlangt werden, 
sondern in derjenigen Ordnung, von der eingesehen werden kann, 
dass sie die notwendige ist. Der Philosoph soll die Verbindung 
zwischen den einzelneu Denkbestimmungen nicht schaffen, 
sondern er soll nur „zusehen", wie die einzelnen Denk- 
bestimmungeu im notwendigen Wesen der Vernunft mit einander 
verbunden sind. Denn die Vernunft ist selbst nichts Faktisches, 
nichts Thatsächliches, nichts, was nun einmal so und nicht anders 
ist und in seinem Sosein hingenommen werden muss, sondern 
Vernunft ist durch und durch nur Notwendigkeit; nichts an ihr 
kann anders sein als so, wie es ist, und die ganze Aufgabe der 
Philosophie besteht oben darin, diese Notwendigkeit zu geson- 
dertem Bewusstsein zu bringen. 

Nun erfasst sich, wie Kant gezeigt hat, das notwendige 
Wesen der Vernunft darin, dass es die Mannigfaltigkeit des bloss 
Faktischen einheitlich zusammeugreift. Aus dem bloss Mannig- 
faltigen gestaltet die Vernunft eine synthetische Einheit des 
Mannigfaltigen. Alles eigentliche Begreifen, alles Einsehen reicht 
gerade so weit, wie es jeweils möglich ist, trotz des Mannig- 
faltigen Einheit zu erfassen: denn gerade so weit ist die Vernunft 
ihrer Identität mit sich selbst gewiss. Die Denkbestimmungen 
der Logik sind Identitätsfunktionen, Elinheitsfunktionen. 

Gesetzt nun, der Philosoph stehe mitten in seinen Bemüh- 
ungen um das System der Logik l>ei irgepd ein^r dieser Penk- 



54 F. Medicus, 

bestimmuagen und frage jetzt nach der vernunftnotwendigen 
Überleitung zur nächsten. Nach dem Gesagten ist klar, dass sich 
der methodische Fortgang in folgender Weise bestimmt: Es ist 
festgestellt worden, was die soeben untersuchte Funktion positiv 
leistet. Diese Feststellung erforderte eine Beziehung der be- 
treffenden Funktion auf die Idee des Wissens. (Die apriorische 
Idee des Wissens ist Voraussetzung, axiomatischer Anfang der 
Philosophie. Wir müssen wissen, was Wissen oder Wahrheit ist 
Wer nach einer Definition der Wahrheit fragen wollte, setzte in 
der Frage schon das Wissen davon, wonach er fragt, voraus.) 
Eben diese Beziehung der fraglichen Denkbestimmung auf die 
Idee des Wissens zeigt aber notwendiger Weise zugleich auch, in 
wiefern diese Idee selbst hier noch nicht erreicht ist, warum also 
das System der Logik hier noch nicht seinen Abschluss hat; d. h. 
es ergiebt sich, dass die geforderte Überwindung des Mannig- 
faltigen noch keine vollkommene ist. Selbstverständlich erfolgt 
diese Feststellung in keinem Sinne auf Qrund von Erfahrungsthat- 
sachen, z. B. der Thatsache, dass wir mit dem Dingbegriff allein 
nicht auskommen, da es bekanntlich auch Veränderungen giebt, 
denen gegenüber die Kategorie der Dinghaftigkeit versagt; sondern 
es kommt darauf an, den logischen Charakter der gewonnenen 
Denkbestimmung so weit zu entwickeln, dass deutlich wird, warum 
die ihre Selbstgewissheit (absolute Identität) suchende Vernunft 
hier zwar etwas von ihrem Wesen, aber doch nicht ihr ganzes 
Wesen selbst findet. Diese Besinnung auf die Eigenart des un- 
überwunden gebliebenen Mannigfaltigen (der Antithese) aber stellt 
in bestimmter Form die Aufgabe der nun geforderten neuen, 
höheren Synthese. 

Das ist die Idee der Dialektik, die in soweit nichts ist 
als Ausdehnung der Eantischen Konzeption, dass in der Philo- 
sophie nur das in seiner Notwendigkeit Einzusehende eine Stelle 
finden darf, auf die Methode des Philosophierens und damit auf 
den Zusammenhang der philosophischen Sätze unter einander. — 
Wie wenig Klarheit bei Kant selbst in dieser Beziehung vor- 
handen ist, wird von der charakteristischen Thatsache grell be- 
leuchtet, dass das „Kant-Fries'sche Problem" von den Anhängern 
Kants ernst genommen zu werden pflegt. 

Wohl zu unterscheiden von der Idee der Dialektik sind die 
Ausführungen, die ihr zu Teil geworden sind. Die weitaus grösste 
historische Wirksamkeit unter diesen Versuchen hat, wie man 



Kant und die gegenwärtige Aufgabe der Logik. 55 

weiss, die Logik Hegels gehabt. Ihre Gedanken sind heute 
nicht mehr modern; doch fühlt man sich vielfach noch immer ge- 
drungen, ihr, wenn es die Gelegenheit gerade mit sich bringt, die 
Ehre einer kurzen Widerlegung zu geben. Dass diese Wider- 
legungen sich ihre Sache meist viel zu bequem machen, kann 
allerdings niemandem entgehen, der Hegels Logik kennt; dem von 
manchen Seiten prophezeiten und gefürchteten Wiederaufkommen 
des Hegelianismus würde daher kaum ein ernstlicher Widerstand 
drohen. — Hegel schaut auf die unaufhörliche Bewegung alles 
Endlichen, und dieses heraklitische Fliessen will er begrifflich 
einfangen. Seine Logik sucht die „objektiven Gedanken^, und 
das können nur solche sein, die dem steten Wechsel gerecht 
werden. Ein Begriff rein als solcher (z. B. „Tier" oder „Leben") 
drückt eine zeitlos ewige Wahrheit aus: aber kein endliches 
Elinzelding thut dieser begrifflichen Ewigkeit genug. „Gott allein 
ist die wahrhafte Übereinstimmung des Begriffs und der Realität; 
alle endlichen Dinge aber haben eine Unwahrheit an sich, sie 
haben einen Begriff und eine Existenz, die aber ihrem Begriff 
unangemessen ist. Deshalb müssen sie zu Grunde gehen, wodurch 
die Uuangemessenheit ihres Begriffs und ihrer Existenz mani- 
festiert wird. Das Tier als Einzelnes hat seinen Begriff in seiner 
Gattung, und die Gattung befreit sich von der Einzelnheit durch 
den Tod" (Encykl. § 24, Zusatz 2). Die Logik hat die Aufgabe, 
in ihren objektiven Gedanken die „wahrhafte Auffassung" der 
objektiven Verhältnisse zu leisten, und im vorliegenden Beispiel 
ist die wahrhafte Auffassung diese, »dass das Leben als solches 
den Keim des Todes in sich trägt, und dass überhaupt das End- 
liche sich in sich selbst widerspricht und dadurch sich aufhebt" 
(Encykl. § 81, Zusatz 1).^) Lotze, gewiss keiner der sorglosesten 
unter den Kritikern Hegels, hat in offenbarem Hinblick auf diese 
Stelleu gegen Hegel eingewendet: „Das Leben als solches stirbt 
nicht, und der allgemeine Begriff des Lebens verpflichtet das 
Lebendige nur zum Leben, aber nicht zum Tode; nur die einzelnen 
lebendigen Körper tragen den Keim des Todes in sich. Und auch 
sio nicht vermöge der Idee des Lebens, die sich in ihnen reali- 



^) Vgl. auch die „Lineamenti di una logica come scienza del con- 
cetto puro** des geistvoUen Neuhegelianers Benedetto Croce (Napoli 
1905): „La morte non h la semplice antitesi della vita, ma ^ la condizione 
»tessa della vita, la quäle si esplica come vita mediante la morte- hf^ 
morte ^ intrinseca alla vita*^ (d8). 



56 F. Medicus, 

siert hat, sondern nur um des äosserlichen Umstandes willen, weil 
die Verknüpfung der realen Elemente, durch die sich auf der 
Oberfläche der Erde das Leben allein verwirklicht findet, im Zu- 
sammenhang mit den allgemeinen hier wirksamen Naturbedingungen 
nicht ausreicht, oder im Zusammenhang mit einem universalen 
Weltplan nicht ausreichen soll, um der Idee des Lebens ein . . . 
ewig dauerndes Beispiel zu geben" (Logik ^ 250/51). Allein diese 
Kritik trifft nicht, und zwar darum nicht, weil sie gar nicht auf 
die Absicht der Hegeischen Logik eingeht, sondern die Begriffe 
in der arglosen Sphäre der blossen Verständigkeit belässt. Und 
wenn Lotze weiter bemerkt, dem Begriff des Lebens würde ein 
Beispiel ewiger Lebensdauer durchaus nicht widersprechen, so ist 
doch zu sagen, dass dies zwar in der Sphäre der Verständigkeit 
wiederum zweifellos gilt, aber doch nur darum, weil der in Be- 
tracht kommende Widerspruch in dieser Sphäre nicht vorkommt; 
der Verstand wäre ohnehin nicht in der Lage, die vorgebliche 
Ewigkeit des Einzeldinges zu konstatieren. Was aber Hegel in 
der Logik fordert, ist die Vernunfteinsicht, dass in diejenigen 
Denkbestimmungen, durch die das Einzelding zu begreifen ist, 
notwendig nur Vergängliches eingeht. 

Die wirklich prinzipiell bedenkliche Seite der dialektischen 
Methode Hegels liegt anderswo. Hegel lehrt ein „eignes Sich- 
Aufheben der endlichen Bestimmungen und ihr Übergehen in ihre 
entgegengesetzte" (Encykl. § 81). Alle Verstandesbestimmungen 
gelten ihm (nicht mit Unrecht) als einseitig und beschränkt, und 
in ihrer Einseitigkeit und Beschränktheit, meint er, haben sie ihre 
eigene Negation in sich, durch die sie sich selbst aufheben. „Das, 
wodurch sich der Begriff selbst weiter leitet, ist das Negative, 
das er in sich selbst hat; dies macht das wahrhaft Dialektische 
aus" (Wissenschaft der Logik, Nürnberg 1812, I, 1, S. XXE). 
Diese Stellen sollen hier zeigen, dass Hegel über die oben dar- 
gelegte Idee der Dialektik dadurch hinausgeht, dass er ein 
selbsteignes Sich-Weiterleiten der endlichen Denkbestim- 
mungen behauptet. Dagegen aber ist geltend zu machen, dass 
das Weitertreibende nur das lebendige Bewusstsein von der über- 
greifenden Bedeutung der Idee des Wissens sein kann. Hegel 
nennt die Verstandesfunktionen einseitig und beschränkt: gewiss 
sind sie das; aber sie sind es doch nur insofern, als sie auf die 
Idee des Wissens bezogen sind — und zwar auf die Idee des 
Wissens nicht, sofern sich diese in ihnen realisiert, sondern so- 



Kant und die gegenwärtige Aufgabe der Logik. 57 

fern sie über die gegenwärtige Leistung hinausweist. Also die 
Denkbestimmungen negieren sich nicht selbst, sondern die Idee 
des Wissens negiert — nun wiederum nicht die Denkbestimmungen 
selber sondern — den Anspruch der einzelnen Denkbestimmungen, 
die Aufgabe des Wissens zu erschöpfen. Nichts anderes liegt 
in der Idee der Dialektik. Aus dieser Einsicht aber ergiebt sich, 
dass die Auffassung vom Umschlagen der Denkbestimmungen in 
ihre entgegengesetzte erheblich modifiziert werden muss: Die 
Elntgegensetzung, die allein in Betracht kommt, ist die kontradik- 
torische; diese aber führt hier so wenig wie anderwärts zu einer 
inhaltlich bestimmten Position: sie besagt nur, dass die erreichte 
Denkbestimmung nicht der Abschluss ist. Das antithetische 
Moment kann mithin keine andere Bedeutung haben als die, dass 
es vor eine neue Aufgabe stellt. Die bisherige Synthese ist 
nicht die letzte, es gilt diejenige höhere zu finden, die von dem 
erreichten Stadium der Selbsterfassung des logischen Bewusstseins 
ans, d. h. dem nunmehr noch vorliegenden Mannigfaltigen gegen- 
über notwendig ist. Wie es aber zu machen sei, um die Eigen- 
art dieser höheren Synthese zu entdecken, mag der Logiker selbst 
»zusehen*"; ohne eigene Thätigkeit geht es beim philosophischen 
Zusehen nicht ab. 

Man hat Hegels Logik emanatistisch genannt (Emil 
Lask, Fichtes Idealismus und die Qeschichte, Tübingen 1902, 
S. 56 ff.). Der Ausdruck trifft genau diejenige Eigentümlichkeit 
seiner dialektischen Methode, gegen die sich diese Ausführungen 
wenden. Es ist nicht so, dass die eine Sjmthese aus der anderen 
hervorginge; sondern die einzelnen Synthesen sind Produkte des 
von der Idee des Wissens geleiteten Strebens, und jede Synthese 
bleibt das, was sie ist: die höhere Synthese wird dadurch ge- 
wonnen, dass das Streben auf der erreichten Stufe nicht Halt 
macht, sondern den Kampf um die Idee weiter kämpft. — 

Es hat nach der Ablehnung der Methode Hegels in diesem 
Zusammenhang kein Interesse mehr, nun noch den Ausgangspunkt 
seiner dialektischen Entwickelungen zu untersuchen. Dagegen ist 
es nunmehr dringend nötig, an die noch immer nicht beantwortete 
Frage heranzutreten, ob es überhaupt geboten ist, die formale 
Logik zu Gunsten einer dialektischen aufzugeben. Die Antwort 
sei im Folgenden in der Weise gegeben, dass an den logischen 
Grundsätzen selbst die immanente Beziehung auf das dialek- 
tische Wesen der Vernunft gezeigt wird. Die formale Logik be- 



58 F. Medicus, 

trachtet ihre Grundsätze für die allerersten Prinzipien jedweder 
theoretischen Bethätiguug, gleichviel ob sich diese auf gegen- 
ständliches Erkennen oder auf reines Denken bezieht. Genau die 
allerersten Prinzipien sind auch hier in Frage. Ob aber die be- 
kannten Grundsätze der formalen Logik diesen Platz behaupten 
können, wird sich bald ergeben. 

Man kann als die grundlegende, ganz allgemeine Bedingung 
aller theoretischen Bethätigung die Überzeugung vom Werte der 
Wahrheit, den Glauben an die Wahrheit, an die Idee des 
Wissens bezeichnen. Wo diese Willensfunktion nicht realisiert 
wird, ist kein Wissen möglich. Kantianer werden geneigt sein, 
hier einzuwerfen, das sei ^war psychologisch richtig, gehe aber 
die Logik nichts an. Allein dieser Einwand übersieht, dass man 
von der Wahrheit nicht wie von einer von der lebendigen Be- 
wegung des Denkens unabhängigen Sache reden kann. Wahrheit 
ist nichts Totes, Gegenständliches, was man jemandem geben 
könnte, sondern sie besteht nur in jener lebendigen Thätigkeit, 
die ein jeder nur für sich selbst vollziehen, zu der niemand ge- 
zwungen werden kann. Man kann darum nur sehr uneigentlich 
sagen, dass etwa in einem Buche Wahrheiten gedruckt zu finden 
seien; die Wahrheit kann nie gedruckt werden; was gedruckt 
werden kann, kann nur der Niederschlag der lebendigen Thätig- 
keit sein, in der allein die Wahrheit wirklich da ist. Und wer 
das gedruckte Buch liest, kann sich die Wahrheiten, deren Nieder- 
schlag es enthält, nur dadurch aneignen, dass er die Bedeutung 
dessen sucht, was er gedruckt vor sich hat. Diese Bedeutung 
aber hat er nicht gedruckt vor sich, sondern sie muss er in 
sich suchen, und die Beschäftigung mit dem gedruckten Buch 
kann nie etwas anderes als der Anlass dazu sein, dass er neue 
Wahrheiten kennen lernt. Im Buch stehen die Wahrheiten nicht; 
denn Wahrheiten sind lebendig, und die Bedingungen dieses eigen- 
tümlichen Lebens hat der Leser in sich selbst zu erzeugen. Be- 
deutung ist ichhaft, und es macht in dieser Hinsicht keinen 
Unterschied, ob das Buch von Logik, von Mathematik, von Natur- 
wissenschaft, von Geschichte handelt. Nicht nur die Bedeutung 
des Begriffes Identität sondern auch die des Begriffes Tintenfisch 
besteht ausschliesslich in einer bestimmten Thätigkeit des Ich, 
und solche ichhafte Bedeutung ist das einzige, was überhaupt 
wissbar ist. Alles Wissen ist ein Wissen von Bedeutungen. Das 
theoretische Bewusstsein sucht nie etwas anderes als dieses leb- 



Kant und die gegenwärtige Aufgabe der Logik. 59 

hafte — das Ich sucht immer nur sich selbst. Alle theoretische 
Bethätigung hat zum Ziel die Identität des Ich mit sich 
selbst. Auch am Gegenstand sucht das Ich nur sich. ^Bei der 
Erforschung der Wahrheit steht nicht in Frage, den nackten Be- 
fund der Sinnlichkeit zur abspiegelnden Wiederholung in das Be- 
wusstsein aufzunehmen, sondern es wird ein neues Weltbild heraus« 
gearbeitet, das nur im Geiste seinen Bestand hat^ (Eucken, Die 
Einheit des Geisteslebens in Bewusstsein und That der Mensch- 
heit 374). Das Ich will nicht das Objekt ergreifen, das da 
draussen im Räume steht, sondern es will die Bedeutung des 
Objektes im Bewusstsein erfassen, und diese Bedeutung eignet es 
sich an in einem Akt der Selbstyergewisserung, durch Bethätigung 
einer Identitätsfunktion. 

Diese Erwägungen sind entscheidend für die Auffassung des 
ersten Grundsatzes der Logik, des Prinzips der Identität. 
Das, was in allem Wissen als identisch behauptet wird, ist die 
Bedeutung, das Ichhafte, niemals etwas anderes. Darum hat 
Fichte mit vollem Recht betont, dass der Grund der Giltigkeit 
der Formel A = A in jener absoluten Thesis liegt, die als 
Ich = Ich formuliert werden müsste. Identisch ist die ichhafte 
Bedeutung. Solche Identität aber ist in allem Wissen vorhanden. 
Eine Veränderung erkennen z. B. heisst: das Identische trotz der 
Veränderung erkennen. Bei einer elektrolytischen Verbindung 
sind nicht die sinnlichen Erscheinungen der einzelnen Elemente 
mit der sinnlichen Erscheinung der unzerlegten Verbindung iden- 
tisch, aber die beiden Zustände bedeuten in einer bestimmten 
Beziehung dasselbe. Die Handlung eines Menschen verstehen 
heisst: verstehen, inwiefern sie aus dem in allen Handlungen 
dieses Menschen identischen Charakter geflossen ist: jede einzelne 
Handlung bedeutet diesen Charakter. 

Da nun, wie gezeigt, die Identität, das eigentliche Ziel des 
Wissens, lediglich in der Bedeutung liegt, die Bedeutung aber 
niemandem aufgenötigt oder „gegeben^ werden, sondern nur durch 
eigene That erzeugt werden kann, ist es niemals möglich, den 
Skeptiker zu überführen. Die Skepsis hat ihr Wesen in süffis- 
santem Verzichten auf jene Thätigkeit, die die Bedeutung sucht. 
Wenn jemand dem chemischen Experiment zusieht, um nachher 
zu erklären, er habe wohl gesehen, dass die ursprüngliche Sub- 
stanz verschwunden sei und nun ein paar andere Substanzen da 
seien; aber niemand köune ihm beweiseii^ dass das, was er jetzt 



60 F. Medicus, 

sehe, mit dem vorhin Gesehenen identisch sei, -r- so kann man 
ihm nur recht geben. Die Identität kann ihm nicht gezeigt 
werden : denn sie ist nichts als die Bedeutung des ganzen Experi- 
ments. Bedeutung aber ist etwas Ichhaftes, und das Ich ist 
nichts als Thätigkeit. Der Unthätigkeit des Skeptikers erschliesst 
sich keine Wahrheit. Eine selbstlose Aufnahme von Eindrücken 
ist nie Erkenntnis; dem Philosophen, dem die Seele einem unbe- 
schriebenen Blatt Papier, einer tabula rasa vergleichbar war, 
musste die Substanzialität zum Welträtsel werden.^) 

Fichte hat bekanntlich den für den Charakter seines ganzen 
Systems entscheidenden Unterschied zwischen der formalistischen 
Auffassung des Identitätsprinzips (A = A) und der von ihm ge- 
lehrten Zurückführung der logischen Form auf die Selbstgewiss- 
heit des sich setzenden Ich dahin ausgesprochen, dass er erklärte: 
Während in der Formel A = A nichts über Existenz des A aus- 
gesagt, sondern nur eine denknotwendige Beziehung behauptet ist, 
ist die Formel Ich = Ich gleichbedeutend mit Ich bin. A = A, 
das bedeutet nur: wenn A ist, so ist A; Ich = Ich aber kann 
nicht gedacht werden, ohne dass das Ich seine Wirklichkeit setzt 
— diejenige Wirklichkeit, die das Wesen des Ich ausmacht, 
lebendige Thätigkeit, Überzeugung vom Werte der Wahrheit, 
Qlaube an die Idee des Wissens. Es wurde oben (58) darauf 
hingewiesen, dass der Eantianismus den Glauben an die Wahrheit 
für ein psychologisches Phänomen ausgeben möchte. Man erkennt 
hier, wie genau dieser Versuch damit zusammenhängt, dass die 
Er. d. r. V. mit der alten Schullogik noch eine Selbstevidenz der 
formalistischen „Grundsätze^' annimmt. Hat man aber eingesehen, 
dass die Formel A = A durchaus nicht aus eigener Kraft fest- 
steht, sondern dass sie das mit sich identische wirkliche Ich vor- 
aussetzt, ja dass diese Identität des wirklichen Ich überhaupt 
ihren eigentlichen Sinn ausmacht, so muss man auch zugeben, 
dass die Logik keine rein formale Wissenschaft in dem Sinne 
sein kann, dass sie die Wirklichkeit überhaupt nichts anginge. 
Die Logik hat es mit der wirklichen Wahrheit zu thun, nicht 
mit der toten Wahrheit, wie sie in gedruckten Büchern steht. 
Und die wirkliche Wahrheit ist nur da, wo auch der lebendige 



Feinsinnige Bemerkungen hierzu in F. Lassalles Festrede JOie 
Philosophie Fichtes und die Bedeutung des deutschen Yplks^istQs^ (Berlia 
1862), S. 9. 



ELant und die gegenwärtig Aufgabe der Logik. 61 

Glaube an die Wahrheit ist. Wenn der Kantianismus hier psy- 
chologistischen Einschlag wittert, so verrät er damit nnr, dass er 
die Grenzlinie zwischen Philosophie und Psychologie nicht scharf 
genug hat bestimmen können. Der lebendige Glaube an die 
Wahrheit ist vom Sinn des Wortes Wahrheit unabtrennlich, und 
deshalb gehört er in die Logik. — 

Im Grundsatz der Identität (Ich = Ich) findet der Glaube an 
die Wahrheit oder an die Idee des Wissens seine erste Fixierung. 
Allein diese Fixierung ist nicht die abschliessende. Der Glaube 
an die Wahrheit ist Glaube an die Freiheit des theoretischen Ich; 
das Bewusstsein der Freiheit aber ist Bewusstsein eines Wert- 
anterschiedes zwischen wahr und falsch. Die Wahrheit 
kann nur eine sein, und es kommt in jedem Falle darauf an, 
dass die freie intellektuelle Thätigkeit richtig entscheidet und 
demgemäss eine Vorstellungsverknüpfung entweder bejaht oder 
verneint.^) Darin eben wirkt sich die Freiheit des theoretischen 
Ich aus: in der Bethätigung des Glaubens an die Wahrheit durch 
selbstbewusstes Bejahen oder Verneinen. Natürlich lassen sich 
Fragen stellen, auf die nicht mit einfachem Ja oder Nein geant- 
wortet werden kann: aber in solchem Falle hat auch die Frage 
nur einen vorbereitenden Wert, und der Antwortende hat die Auf- 
gabe, erst so weit Klärung zu schaffen, dass eine Entscheidung 
zwischen Ja und Nein möglich ist. Abschliessende Antworten 
sind stets glatte Bejahungen oder glatte Verneinungen. Denn die 
Wahrheit liegt nie in der Mitte, sondern sie ist die schroffste 
aller Einseitigkeiten. 

Indem durch Reflexion auf den Freiheitscharakter der Idee 
des Wissens oder der Wahrheit dieses Bewusstsein eines Wert- 
unterschiedes von wahr und falsch entsteht, der in jedem ein- 
zelnen Falle eine Entscheidung zwischen Bejahung und Verneinung 
nötig macht, entdeckt sich die Grenze des Prinzips der 
Identität. Denn dieses kennt nur das seiner selbst gewisse 
Ich; die Verneinung aber ist eine Handlung des Ich, die ihrer 
logischen Bedeutung nach nur da möglich ist, wo dieses eine lo- 
gische Situation anerkennt, in der es sich nicht erfasst hat, ^ 
sie ist nur da möglich, wo eine Beziehung auf ein Nicht-Ich 



1) Vgl. W. Windelband, „Beiträge zur Lehre vom negativen ürteü" 
in den Strassbarger Abhandlungen zur Philosophie, E. Zeller gewidmet 
(Tübingen 1884). 



6^ f. Medicud, 

vorliegt. Von hier aus erhellt die ursprüngliche Bedeutung des 
zweiten Grundsatzes, des Satzes vom Widerspruch. Das 
theoretische Ich kann ein Sich-nicht-erfasst-haben, d. h. ein 
Nicht-erfüUt-sein von logischer Bedeutung unmöglich als etwas 
Letztgiltiges anerkennen: denn sein ganzes Wesen und Leben be- 
steht nur darin, dass es sich selbst erfasst. Es kann darum das 
Nicht-Ich nur insofern gelten lassen, als es in ihm etwas zu 
Überwindendes setzt: es giebt ihm die Bedeutung der zu über- 
windenden Aufgabe, der Schranke (wie die sehr treffenden 
Ausdrücke der Wissenschaftslehre lauten). Das also will der 
Satz des Widerspruchs ursprünglich sagen, dass sich das Ich bei 
einem Befund, in dem es sich nicht findet, nie beruhigen kann, 
sondern dass es an ihm eine zu überwindende Schranke hat. Das 
Nicht-Ich ist nicht = Ich, das Ich aber will seine Selbstgewissheit 
behaupten und kann darum nichts zugeben, was diese Selbst- 
gewissheit aufhebt. Es hält an der Überzeugung von seiner un- 
bedingten Selbstgewissheit fest; diese aber gewinnt die neue Ge- 
stalt, dass das Nicht-Ich nichts Letztgiltiges, sondern dass es 
Aufgabe ist. — Jedes negative Urteil hat die Bedingung seiner 
Möglichkeit in dieser logisch ursprünglichen Stellung des Ich zum 
Nicht-Ich. Jede Negation (Non-A) setzt voraus, dass die ent- 
gegengesetzte positive Grösse (A) schon bekannt ist. Die logische 
Bedeutung von A muss feststehen : erst von dieser ichhaiten Posi- 
tion aus erhält Non-A überhaupt einen Sinn. Affirmation und 
Negation sind nicht logisch gleichwertig. Nur eine Affirmation 
kann selbständige Bedeutung haben; die Negation hingegen be- 
zeichnet stets nur dasjenige, worin sich das Ich noch keine selbst- 
gewisse Position geschaffen hat. Darum kann, wie schon Eant 
(Kr. d. r. V. B. 737) bemerkt hat und wie Sigwart und Windel- 
band eingehend gezeigt haben, das negative Urteil niemals ab- 
schliessendes Wissen enthalten. 

Auch vom Grundsatz des Widerspiiichs selbst muss das 
gelten: er hat seine Bedeutung nicht in sich, sondern in seiner 
Beziehung auf den positiven Wert der absoluten Identität. Be- 
deutung ist nie etwas Negatives. Darum die Bedeutungslosigkeit 
jener ekelhaften Schwätzer, die nur zu widersprechen wissen und 
aus der Negation nicht herauskommen ; die witzig zu sein meinen, 
wenn sie der Kritik der reinen Vernunft die wohlfeile Antithese 
Kritik der reinen Unvernunft oder dem Wesen des Hegelianismus 
das Unwesen des Hegelianismus gegenüberstellen. Fichte hat 



Kant und die gegenwärtige Aufgabe iet Logik. 63 

diesem Typus in der Konstruktion des Nicolai dasjenige unver- 
gängliche Denkmal gesetzt, das er verdient. Das Ziel des Wissens 
ist nie die Negation ; ihre Bedeutung, ihre positive Bedeutung liegt 
jenseits ihrer selbst, da, wo sie überwunden ist und das Ich sich 
selbst erf asst hat. So ist die Negation ein selbst zu Negierendes ; 
soweit sie vom Wissen negiert, d. h. überwunden ist, ist die Auf- 
gabe gelöst und eine neue Position vom Ich errungen. Das Ich 
treibt über jede Negation hinaus, weil es sein Streben nach Be- 
deutung in ihr nicht erfüllen kann. Ein Urteil wie „Die Blind- 
schleiche ist keine Schlange" genügt ihm nicht; es fordert zu 
wissen, was die Blindschleiche denn nun in Wahrheit sei. Erst 
das Urteil „Die Blindschleiche ist keine Schlange, sondern eine 
Echse ^ befriedigt. Was nicht in seiner Bedeutung bekannt ist, 
ist Aufgabe. Das Bekannte und das Aufgegebene sind einander 
ansschliessende und zur Totalität des Wissbaren ergänzende 
Gegensätze — sie stehen in kontradiktorischer Disjunktion: 
alles nicht Bekannte ist Aufgabe, dass nicht Aufgegebene ist nur 
das Bekannte. 

Unter Abstraktion von der teleologischen Beziehung hat die 
formale Logik aus diesem logischen Grundverhältnis ihren dritten 
„Grundsatz**, den Satz vom ausgeschlossenen Dritten ab- 
geleitet — abgeleitet natürlich, ohne es zu wissen. Während es 
für das lebendige Denken zunächst heisst: „Die Blindschleiche ist 
nicht Schlange sondern . . . eine Aufgabe für die Erkenntnis- 
betbätigung**, heisst es für die phlegmatische Schullogik: „Die 
Blindschleiche ist nicht Schlange, sondern Nicht-Schlange", und 
sie philosophiert weiter: „Wie die Blindschleiche, ist auch alles 
andere, was nicht Schlange ist, Nicht-Schlange — omne A atit B 
aiii ^on-B.*^ Offenbar setzt dieser formale Satz jene Gestalt der 
Selbstgewissheit des Ich voraus, in der dieses trotz des Negativen 
sich nicht aufgiebt. Und nur in dieser Selbstgewissheit liegt der 
Grund der Giltigkeit des Satzes. Denn wie könnte von einem 
Non-B, von dieser bestimmungslosen Unendlichkeit des vom 
Wissen nicht Durchdrungenen doch etwas gewusst werden, wenn 
sich nicht das Ich eines ursprünglichen logischen Rechtes darauf 
bewusst wäre? Die Logik hat die Aufgabe, ein Verständnis dieses 
Rechtes zu schaffen : deshalb ist gezeigt worden« dass jene Selbst- 
gewissheit in der Stellung wurzelt, die der in seinem ursprüng- 
lichen Sinne genommene Satz des Widerspruchs dem Ich in Be- 
ziehung auf das Negative zuweist. Indem der Satz des Wider- 



64 i^. Medicud, 

Spruchs das Negative als das noch zu Erobernde, die Schranke, 
die Aufgabe, etwas nicht Letztgiltiges auffassen lehrt, setzt er 
Ich und Nicht-Ich in das Verhältnis der kontradiktorischen Dis- 
junktion zu einander. 

Die formale Logik stellt ihr Prindpvfdm exdtisi iertii als 
selbständigen „Grundsatz" neben ihr Principium contradiciionis, 
weil sie keines aus dem andern herleiten kann. Eichtig ist auch, 
dass sich die beiden Formeln nicht aus einander herleiten lassen; 
allein es giebt eine übergeordnete und prinzipielle Betrachtung 
dieser Verhältnisse, und diese lehrt, dass beide derselben Wurzel 
entstammen, dem ursprünglichen (nicht formalistisch verblassten) 
Grundsatz des Widerspruchs, der das Beharren beim Negativen, 
vom Ich nicht Bewältigten verbietet und so das Ich auf die Auf- 
gabe hinweist, in deren Erfüllung es sich selbst findet. 

Der zweite Grundsatz ist damit dargelegt. Er steht der 
absoluten Thesis des mit sich identischen Ich als Antithese gegen- 
über: das Ich ist nicht mit sich identisch, wo es nein zu sagen 
hat, und deshalb hat es überall da noch Aufgaben vor sich. Die 
absolute Identität ist ein im Unendlichen liegendes Ideal. Aber 
alles endliche Denken ist mit Negativem behaftet, omnis deter- 
minatio est negatio. Alles Erkennen ist ein Identisch-setzen, jeder 
Erkenntnisakt ein Schritt in der Richtung auf das geforderte 
Ziel hin: aber es kann nie gelingen, die Negativität rein in 
Wissen aufzulösen und dadurch die absolute Identität des theore- 
tischen Ich zu realisieren; und zwar eben darum nicht, weil Er- 
kennen Identisch-setzen ist. Das Nicht-Ich wird nie in dem Sinne 
erkannt, dass es mit dem Ich identisch gesetzt werden dürfte: 
dies ist durch den Satz des Widerspruchs ausgeschlossen* Viel- 
mehr muss sich die Erkenntnisbethätigung dem Nicht-Ich gegen- 
über darauf beschränken, durch zweckmässig geschaffene Modifika- 
tionen der Verstandesgesetze (d. h. durch logische Gebilde) die 
Selbstgewissheit des Ich in solcher Weise zur Geltung zu bringen, 
dass das Nicht-Ich in seinen Daseinsweisen vom Ich umklammert 
wird. Damit wird nun allerdings das Nicht-Ich in seinem Wesen 
erfasst. Denn es ist in Wahrheit das Wesen des Nicht-Ich, dem 
die Wissenschaft nachgeht und das sie in ihren Urteilen festzu- 
legen bestrebt ist. Es giebt keine Dinge an sich, die das Inn're 
der Natur den erschaffnen Geistern entzögen. Freilich ist richtig, 
dass die Erkenntnis des Nicht-Ich eine relative bleibt, dass es 
niemals dahin kommen kann, dass eine historische Thatsache oder 



Kant unci die gegenwärtige Aufgabe der Logik. 65 

ein spezielles Naturgesetz in seiner Notwendigkeit eingesehen 
würde, wie etwa der Pythagoreische Lehrsatz in seiner Not- 
wendigkeit einzusehen ist. Aber der Grund dieses Unterschiedes 
zwischen empirischen und rationalen Erkenntnissen liegt aus- 
schliesslich darin, dass alles Wissen auf Identitätsfunktionen be- 
ruht und es niemals erlaubt sein kann, ein Nicht-Ich mit dem Ich 
identisch zu setzen. Darum wird das rein Faktische nie in ein 
Sationales umgewandelt Durch die Erkenntnis, dass Na Gl eine 
elekti-olj^ische Verbindung ist, wird nichts von der Thatsächlich- 
keit des Kochsalzes in reine Vernunft aufgelöst. Das Thatsäch- 
liche kann immer nur insofern begriffen werden, als es sich durch 
Bethätigung von Identitätsfunktionen auf anderes Thatsächliche 
zurückführen lässt, und die Hoffnung, dass zuletzt alle „zufälligen 
Wahrheiten^ in den „notwendigen Wahrheiten^ aufgehen müssten, 
wäre trügerisch.^) 

Es bleibt also in jeder Thatsache auch selbst für einen voll- 
kommenen Verstand ein undurchdringliches Moment, etwas nicht 
Bationales, etwas, was nicht in ein blosses Thun des Verstandes 
aufgelöst werden kann. Und wennLeibnitz aus dieser Einsicht 
heraus lehrte, die verit^ etemdles hätten ihren Ursprung im gött- 
lichen Verstände, die veriies de fait im göttlichen Willen, so ist 
von dieser Formulierung mindestens so viel anzunehmen, dass eine 
rein theoretische Position kein Weltverständnis giebt. Darum 
waren die Eleaten konsequent, wenn sie von dem Gedanken der 
Rationalität ausgehend^ die Möglichkeit der Sinnenwelt leugneten 
oder sie doch zum blossen trügerischen Schein herabsetzten; sie 
ist in der That etwas nicht Bationales. (In jüngster Zeit hat 
namentlich Bickert die hiermit zusammenhängenden logischen 
Fragen lichtvoll erörtert.) 

Wollte man mit den Voraussetzungen und Denkgewöhnungen 
der Schullogik an diese Ausführungen herantreten, so müsste 
man den Eindruck bekommen, dass zwischen diesen letzten von 
der Ergänzungsbedürftigkeit des Bationalismus handelnden Sätzen 
und dem unmittelbar vorher über das Wesen des Nicht-Ich Ge- 
sagten ein schroffer Widerspruch bestehe. Allein in der Logik 
„handelt es sich nicht sowohl darum, die Grenzen der mensch- 



') Sehr gute Bemerkungen hierüber bei Windelband in der Rek- 
toratsrede „Oeschichte und Naturwissenschaft^ von 1894 und besonders in 
dem An&atE ,Jia science et l'histoire devant la logique contemporaine** in 
der Revne de Synthäse historique, 1904. 



66 V. Medien^, 

liehen Erkenntnis festzustellen (wie man mit einer Wendung zn 
sagen pflegt, die etwas Absurdes an sich hat), als vielmehr um 
die Frage, was die Erkenntnis sei^ (B. Croce, Ldneamenti di 
una logica come scienza del concetto puro 111). Wer — wie 
jeder, der Dinge an sich annimmt — von Grenzen der Elrkenntnis 
spricht, setzt das eigentliche Wesen der Dinge in ein onzugSng- 
liches Reich jenseits des Bewusstseins. Die Behauptung, dass das 
Wesen der Dinge unerkennbar sei, kann nur bedeuten, dass die 
letzte und höchste Wahrheit über die Dinge deshalb unerreichbar 
ist, weil es eine vom Bewusstsein unabhängige Wahrheit ist. Es 
würde nicht genügen, zu formulieren, dass es eine vom Bewusst- 
sein unabhängige Wahrheit sein müsste: denn damit wäre die 
Realität jenes an sich seienden Wesens geleugnet. Wer an Dinge 
an sich glaubt, glaubt an eine Wahrheit, die das Wesen dieser 
Dinge an sich ausdrückt: nur dass uns diese Wahrheit unzugäng- 
lich ist, weil wir an die von der Gesetzmässigkeit des Bewusst^ 
Seins abhängigen Wahrheiten gebunden sind. Wesen und Wahr- 
heit können nicht von einander getrennt werden. Eben deshalb 
aber hat ts auch keinen Sinn, von einem an sich seienden Wesen 
zu reden, und die Dinge an sich entpuppen sich als wesenlose 
Gespenster. Wie das Wort Wahrheit nur Sinn hat in Beziehung 
auf ein erkennendes Bewusstsein, so nicht minder das Wort 
Wesen. Das Wesen der Dinge ist es, das in wahren ürteüen 
ausgesprochen wird. Ein prinzipiell unbegreifliches Wesen wäre 
der Gegenstand einer prinzipiell dem Bewusstsein unzugänglichen 
Wahrheit. Dies die Absurdität, von der der italienische Denker 
spricht. Wollte man einen letzten Bettungsversuch der Dinge an 
sich wagen, so müsste man deren Unerkennbarkeit auf die 
mangelhafte Organisation des menschlichen Bewusstseins ab- 
schieben: damit aber wäre man beim Psychologismus, über den 
doch der Kautianismus hinaus zu sein glaubt. Und gewiss: vom 
psychologistischen Boden aus ist eine Logik, wie sie hier allein in 
Frage kommt, nicht möglich. Die Logik strebt eine Erkenntnis 
des Wissens in seiner teleologischen Notwendigkeit an, und so 
verstanden ist das Wissen, das sie untersucht, nicht eine That- 
sache, wie sie das menschliche Wissen mit den zufälligen 
Schranken seiner Eigenart sein müsste — : alle Thatsachen sind 
Objekte des Wissens. Die Logik untersucht nicht Thatsachen, 
nicht das Wissbare, sondern das Wissen, jenes Thun, das Be- 
dingung alles Wissbaren, alles Thatsächlichen ist. Nach prinzipiellen 



Kant und die gegenwärtijBre Aufgabe der Logik. 6y 

Grenzen dieses Wissens zu fragen, ist, wie gezeigt, in sich 
widersprechend; die thatsächlichen Grenzen aber, die sich in der 
Geschichte der Wissenschaft fortwährend verschieben, können für 
die Logik nur erst in gewissen viel spezielleren Zusammenhängen 
in Betracht kommen. Also nicht das ist die Frage, wo die 
Grenzen der menschlichen Erkenntnis liegen, sondern was die Er- 
kenntnis ist, wie sich diejenige Stellungnahme zur Wirklichkeit 
charakterisiert, die diese in ihrem Wesen zu erfassen strebt. 

Diese Frage kann nach zwei Seiten hin verstanden werden: 
einmal handelt es sich um eine immanente Charakteristik, eine 
Darlegung des organischen Zusammenhangs der einzelnen Er- 
kenntnisfunktionen; dann aber auch um eine Charakteristik der 
Stellung, die die Erkenntnis im System der Freiheitsbethätiguligen 
einnimmt. Diese zweite Aufgabe weist offenbar über den Umfang 
der logischen Untersuchungen hinaus; doch wird die Logik nicht 
umhin können, wenigstens die Grundzüge dieses Verhältnisses zu 
fixieren; wie auch die oben gemachte Bemerkung über die Er- 
gänzungsbedürftigkeit des rein theoretischen Standpunktes in diese 
Richtung deutet. — 

Die Unmittelbarkeit des Erlebens also wird von der Erkennt- 
nis nicht ausgeschöpft. Doch ist die Erkenntnis, auch wo sie sich 
auf das Nicht-Ich bezieht, in uneingeschränkter Bedeutung 
Wesenserkenntnis. Freilich war hierbei zu erinnern, dass das 
Ich mit seiner Erkenntnisbethätigung niemals über sich hinaus- 
greifen kann: erkannt wird, um genau zu sprechen, nie etwas 
aosser dem Ich Gelegenes, sondern erkannt wird immer nur die 
Bedeutung des Erkenntnisobjektes; die Bedeutung aber ist, wie 
längst festgestellt, ichhaft. In den unendlich mannigfachen Modi- 
fikationen der Verstandesgesetze, in denen das Ich das Wesen 
des Nicht-Ich erkennt, hat es nie etwas anderes als sein eigenes 
Wesen vor sich. So ist mithin auch die Erkenntnis des Nicht-Ich 
Selbstvergewisserung der Identität des Ich mit sich selbst. Das 
Ich erkennt ein bestimmtes Objekt, heisst: das Ich wird sich 
diesem Objekt gegenüber seiner Identität mit sich selbst gewiss. 
Nor in solcher Fassung ist die Aufgabe begreiflich, deren allge- 
meinste Form in den beiden ersten Grundsätzen, in Thesis und 
Antithesis, enthalten war. 

Nun erst ist es möglich, von dem Prinzip zu sprechen, das 
die Lösung dieser Aufgabe beherrscht. Offenbar geben die beiden 
ersten Grundsätze dieses Prinzip noch nicht. Der Satz der Iden- 

5* 



tität zeigt das unendlich ferne Ideal, das absolute Bei-sich-selbst- 
sein. Der Satz des Widerspruchs verbietet, beim Negativen, Be- 
deutungsleeren stehen zu bleiben. Es fehlt der Zusammenhang. 
Man sieht, dass der zweite Grundsatz auf den ersten hindeutet, 
aber man sieht nicht, kraft welchen Vemunftgesetzes die ge- 
forderte Überwindung des Negativen geschehen und mithin nach 
welchem Kriterium sie gemessen werden soll. Wie werde ich 
dessen gewiss, dass und inwiefern mich meine intellektuellen An- 
strengungen wirklich dem Ziel der absoluten Identität entgegen- 
bringen? Der Satz der Identität rein als solcher kann hier nicht 
als Kriterium dienen; er ist kein Massstab, der ans Endliche an- 
gelegt werden könnte. Darum aber handelt es sich: ein Prinzip 
zu finden, das die Selbstgewissheit des Ich in der Be- 
schränkung auf Endliches (d. h. gegenüber den Daseinsmög- 
lichkeiten des Nicht-Ich) ausdrückt. Die vorigen Ausführungen 
haben gezeigt, dass dieses gesuchte Prinzip der synthetischen 
Einheit des Bewusstseins die Selbstmodifikationen (Selbst- 
beschränkungen) des theoretischen Bewusstseins begründen soll, in 
denen dieses die möglichen Daseinsweisen des Nicht-Ich umspannt, 
und die Frage ist also diese: welche reinen Verstandeshandlungen 
thun der Forderung Genüge, das Ich in der Selbstbeschränkung 
auf ein endliches Ziel seiner selbst zn vergewissem? Wie man 
sieht, spezifiziert sich damit die Frage nach dem dritten Grund- 
satz zur Frage nach den Kategorien. Das allgemeine Prinzip 
der einzelnen Kategorien, der Rechtsgrund ihrer Giltigkeit liegt 
darin, dass die Aufgabe als notwendig einzusehen ist, deren 
Lösung sich in der Bethätigung der Kategorien erfüllt: es ist die 
Aufgabe, die durch die beiden ersten Grundsätze gestellt ist, die 
Aufgabe, trotz des Nicht-Ich den absoluten Anspruch des Ich in 
nichts aufzugeben, die unendliche Aufgabe, das Nicht-Ich in der 
Erkenntnis zu überwinden. An dem niemals endenden Widerstand 
des Nicht-Ich hat das Ich in immer neuen Akten der Konzentration 
die Fülle der Bedeutung zu entwickeln, die in ihm liegt. Die 
konkrete Verwirklichung dieser Aufgabe ist die Geschichte des 
Wissens; das Bewusstsein aber der Notwendigkeit, die in allen 
einzelnen Gestalten des Wissens lebt, ist die Logik; und die 
Kategorien sind die (den allgemeinen Grundsätzen gegenüber) 
besonderen Gesetze, die die Gestalten des Wissens als solche kon- 
stituieren. 



Kant und die gegenwärtige Aufgabe der Logik. 69 

Diese Fassung des Eategorienproblems berührt sich nahe 
mit der Eantischen, ist aber nicht mit ihr identisch. Kant 
nämlich hat zwar zur Überwindung der Abbildtheorie den ent- 
scheidenden Anstoss gegeben;^) aber auch an diesem Punkte ist 
ihm sein Schicksal treu geblieben, das ihm nirgends gönnen wollte, 
den gewaltigen Umfang zu sehen, den die neuen Einsichten mit 
ihren Konsequenzen erfüllten. Der nicht abgestreifte Rest der 
Abbildtheorie nun macht sich beim Problem der transscendentalen 
Analytik entscheidend darin bemerklich, dass als der eigentliche 
Gegenstand der Erkenntnis das vorgestellte oder verstellbare 
„Gegebene^ betrachtet wird. Es fehlt ein klares Bewusstsein 
davon, dass das Ich sich nichts anderes aneignet als Bedeutung: 
Bedeutung aber wird nicht vorgestellt, nicht abgebildet, sondern 
nur erlebt, erlebt durch lebendige Bethätigung. Eant meint, in 
der Erkenntnissynthese bekomme das Gegebene Bedeutung, und 
die Erkenntnissynthese selbst hält er für eine einheitliche Ver- 
knüpfung des mannigfaltigen Gegebenen. Man sieht, wie die 
Auffassung zu Grunde liegt, die Wahrheit sei etwas, das gedruckt 
werden kann (vgl. oben 58), wie also der Ausgang nicht bei den 
lebendigen Urteilssynthesen genommen wii*d, die allein Bedeutung 
und Wahi'heit haben, sondern bei den objektivierten Urteilssyn- 
tbesen, die erst in das lebendige geistige Thun zurückübersetzt 
werden müssen, wenn sie etwas bedeuten sollen. Es ist begreif- 
lich, wie man das Urteil im gedruckten Buch eine synthetische 
Einheit des gegebenen Mannigfaltigen (oder der Vorstellungen) 
nennen kann; aber niemand wird diese Formulierung passend 
finden, nachdem er sich klar gemacht hat, dass Eitenntnis eine 
lebendige Bethätigung der Uiteüsfunktiou ist, aktives Erleben der 
durchaus unvorstellbaren — nur erlebbaren Bedeutung. Die „ge- 
gebenen Vorstellungen^ kommen im ursprünglichen Erkenntnisakt 
überhaupt nicht vor (es sei denn als spezielle Objekte etwa der 
psychologischen Erkenntnis, was aber im gegenwärtigen Zusammen- 
hang völlig belanglos ist); in der Unmittelbarkeit des intellektuellen 
Erlebens weiss ich nichts davon, dass mir Vorstellungen gegeben 
wären. Das Gegebene ist erst Resultat einer Objektivierung. •) 
Für die Logik, die es mit dem Denken nur insofern zu thun hat, 



>) Vgl. Windelband, Präludien, Artikel „Immanuel Kant**. 
S) VgL hierzu besonders die ausgezeichneten Untersuchungen 
liflnsterbergs in den „Orondztlgen der Psychologie'' 9d. I, S. 48 u. ö. 



70 F. Medicus, 

als es etwas bedeutet, giebt es kein Gegebenes, sondern an dessen 
Stelle ein Aufgegebenes, d. h. etwas, dessen Bedeutung noch Auf- 
gabe ist. Nun ist schon gezeigt worden, dass das rein Faktische 
in diesem Aufgegebenen niemals in ein blosses Thun des Ich auf- 
gelöst werden kann; denn das Ich kann sich nie mit ihm identi- 
fizieren. In einem Erkenntnisurteil wie „das Kochsalz ist eine 
elektrolytische Verbindung" enthalten die empirischen Begriffe 
Kochsalz, Elektrolyse, chemische Verbindung unendliche Aufgaben, 
die nur teilweise durch kategoriale Thätigkeit gelöst sind und 
niemals ganz gelöst werden können; wirkliche Erkenntnis ist das 
Urteil nur so weit, als es lebendige Thätigkeit des Ich, kate- 
goriale Thätigkeit ist. Das Ich kann sich nur mit sich selbst 
identifizieren : der eigentliche Gegenstand der Erkenntnis, das was 
wirklich erkannt wird, sind die Kategorien: die einzelnen Be- 
griffe Kochsalz und Elektrolyse sind, so weit die in ihnen ge- 
stellten Aufgaben gelöst sind, Modifikationen der Kategorien Sub- 
stanzialität und Kausalität, Selbstbeschränkungen kategorialer 
Th&tigkeiten. Alle Erforschung von Substanzen hat zum Ziel 
die Substanz, alle Untersuchung kausaler Zusammenhänge strebt 
nach Erkenntnis der Kausalität. Und damit kommt der Unter- 
schied von der Kantischen Lehre auf seinen schärfsten Ausdruck: 
fflr Kant sind die Kategorien blosse Mittel der Erkenntnis; 
mittels der Kategorie der Substanzialität, meint er, werde das 
Salz erkannt und mittels der Kategorie der Kausalität seine 
elektrolytische Natur. Wogegen die völlige Beseitigung jeder 
transscendenten Beziehung, die völlige Beseitigung der Abbild- 
theorie das Verhältnis gerade umkehrt: am Salz oder mittels des 
Salzes wird etwas von der Kategorie der Substanzialität erkannt 
und mittels der elektrolytischen Erscheinungen etwas von der 
Kategorie der Kausalität. — 

Damit seien diese Erörterungen abgebrochen. Das Wesen 
der logischen Grundsätze ist hinlänglich festgelegt, die weitere 
Entwickelung würde zunächst das System der Kategorien geben 
müssen. Es ist deutlich geworden, dass die von der forma- 
listischen Logik proklamierten „Prinzipien'' sekundären Ursprungs 
sind, da sie den Grund ihrer Giltigkeit in den übergeordneten 
Vemunfthandlungen haben, in denen das Ich seine Selbstgewiss- 
heit setzt. Zugleich hat sich gezeigt, dass diese Selbstgewissheit 
nur insofern behauptet werden kann, als die Notwendigkeit einer 
jedes Handlung eingeben werden kann: was nicht in seiner 



Kant and die gegenwärtige Aufgabe der Logik. 71 

Notwendigiceit eingesehen werden kann, ist Nicht-Ich. Die Ver- 
nunft ist nur soweit ihrer selbst gewiss, als sie ihrer absoluten 
Rationalität gewiss ist. Darum können die einzelnen Vemunft- 
funktionen nicht in zufälliger Ordnung neben einander stehen, 
sondern die Logik hat die Aufgabe, den vernunftnotwendigen Zu- 
sammenhang zwischen ihnen klarzustellen. Die damit geforderte 
dialektische £ntwickelung ist an den Grundsätzen des Denkens 
aufgewiesen worden, und es versteht sich von selbst, dass auch 
die weiteren Kapitel der Logik nur nach dieser Methode be- 
handelt werden können. Jeder Versuch einer anderen Behandlung 
ist unvermeidlich mit empirischen Voraussetzungen belastet, thut 
also dem Verlangen einer kritischen Philosophie kein Genüge. 
Der durchgeführte Kritizismus ist die Dialektik. — 

Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts war die Philosophie 
einer tiefen „Verschlackung durch die Materie^ verfallen. Lang- 
sam aber unaufhaltsam hat sie dann daran gearbeitet, wieder frei 
zu werden und sich selbst zu gewinnen. Physiologische und psy- 
chologische Erkenntnisse und Meinungen wurden anfangs noch 
arglos als integrierende Bestandstücke der „kritischen "* Philosophie 
mitgenommen; in Anbetracht der damaligen historischen Lage 
wäre es thöricht, wollte man das Verdienst solcher „Kantianer^, 
wie Helmholtz einer gewesen ist, gering schätzen.^ In den 
letzten Jahrzehnten aber ist mehr und mehr die Einsicht durch- 
gedrungen, dass empirisch begründete Erkenntnisse keine philo- 
sophische Argumentation tragen können. In Husserls „Lo- 
gischen Untersuchungen^ ist zuletzt der Psychologismus mit 
Scharfeinn und Gründlichkeit zerfasert worden. Aber noch immer 
drängt der lebendige Trieb, der die Entwickelung der kritischen 
Philosophie bis zur Überwindung des Psychologismus geführt hat, 
vorwärts. Die empirischen v^oraussetzungen sind noch nicht rest- 
los beseitigt: auf die Kantianer von heute macht die Philosophie 
des absoluten Thuns, die Dialektik, den Eindruck einer nebelhaften 
Schwärmerei nur aus denselben Motiven, aus denen die transscen- 
dentale Apperzeption, das gehimlose Subjekt der Kantischen 
Lehre, auf die Psychologisten den gleichen Eindruck macht. — 
Carlyle sagt einmal, dass im Tode des Gerechten Zeit und Ewig- 
keit zosammenfliessen und der verklärende Glanz dieser letzten 



1) Vgi A. Riebl, Hermann von Helmholtz in seinem Verhältnis zu 
Kant (KSt IX.). 



72 F. Medicus, 

hervorstrahlt (Sartor Resartus III, 3 „Symbols"). Solchen Deaih 
of the Just muss auch die Philosophie Kants sterben, und sie 
stirbt ihn, wenn sich die Überzeugung durchsetzt, dass es die 
gegenwärtige Aufgabe der Logik sein muss, das System der 
Denkbestimmungen in der Notwendigkeit seines von der Idee des 
Wissens bestimmten Zusammenhangs zu entwickeln. 

Die Denkbestimmungen aber sind die Bethätigungs weisen, in 
denen Bedeutung erfasst wird. Da nun die Besinnung auf den 
logischen Charakter dieser Bethätigungsweisen nicht geleistet 
werden kann ohne sachliche Einsicht in die Wirklichkeit, an deren er- 
kennender Überwindung sich die betreffenden Funktionen zu bethä- 
tigen bestimmt sind, da m. a. W. die Aufgabe des Logikers ein leben- 
diges Bewusstsein von der Eigenart der Bedeutungen voraussetzt, 
die eine jede Funktion dem Erkennen erschliesst, so kann es 
nicht fehlen, dass die geforderte restlose Durchführung des kri- 
tischen Programms in ihren höchsten dialektischen Synthesen 
wieder wie bei Fichte und Hegel zur Frage nach der Bedeutung, 
d. h. nach dem Gehalt oder Sinn des Daseins selbst 
führen muss. 

Gewiss hat die Logik nur mit der reinen Vernunft zu thun 
— aber die Vernunft ist keine leere Form; der Offenbarungseid, 
den ihr der seiner selbst erst halb bewusst gewordene Kritizismus 
zuschieben wollte, wird nicht geleistet: die eigenen Konsequenzen 
des Kritizismus haben die Philosophie auf eine Bahn geführt, auf 
der die Unzulänglichkeit des blossen Formalismus deutlich ge- 
worden ist. Fichte ist der erste gewesen, der den Kritizismus 
aus der „Beschränkung auf den halben Teil" befreit hat, und zu- 
gleich der erste, dem die „Materie der Ichheit" sichtbar geworden 
ist. Es ist eigentlich eine seltsame Thatsache, dass sich nach 
der Hegeischen Epoche niemand mehr um die logische Eigenart 
dieser Begriffe bekümmert hat, in denen die Materie der Ichheit 
(der Persönlichkeitsgehalt) erfasst wird, — der inhaltlich be- 
stimmten Begriffe wie Treue oder Keuschheit oder Musik, deren 
logische Bedeutung nicht als Resultat angebbarer Denkoperationen 
konstruiert werden, sondern nur durch Selbstbesinnung und zwar 
durch Besinnung auf das intelligible, das nicht-empirische Selbst 
zum Bewusstsein gebracht werden kann; jener Begriffe, die in 
der Mannigfaltigkeit ihrer inhaltlichen Bestimmtheiten doch ins- 
gesamt nichts als Freiheit, nichts als Ichheit bedeuten, die in 
ihrer unendlichen Mannigfaltigkeit nur den unendlichen Inhalt der 



Kant und die gegenwärtige Aufgabe der Logik. 73 

reinen Vernunft fär das diskorsive Bewusstsein diff erenziieren ; 
jener Begriffe, für die sich auf induktivein Wege zwar ein not- 
dürftiger und keineswegs zu sicherer Beurteilung der zugehörigen 
Elrfahrungsthatsachen ausreichender Ersatz gewinnen lässt, die 
aber ihre eigentümliche Bedeutung lediglich dem offenbaren, der 
sie durch die That der Selbstbesinnung gesucht und sich damit 
den bedingungslosen Glauben an sie erstritten hat Man kann die 
Ideen nicht schauen, ohne vom Glauben an sie in dem Masse er- 
griffen zu werden, dass sich die guten Werke von selbst ver- 
stehen. — Die Frage nach der logischen Bedeutung dieser Be- 
griffe fordert, wie man sieht, Stellungnahme zu einem Grund- 
problem der praktischen Philosophie, und zwar eine nicht bloss 
theoretische, sondern selbst praktische Stellungnahme. Und diese 
lebendige Überzeugung von der Materie der Ichheit oder vom 
Sinn des Daseins, die hiermit vom Logiker verlangt wird, und die 
bei dem berührten Problem entscheidend zur Geltung kommt, zieht 
sich doch in Wahrheit durch seine gesamte Arbeit hindurch: sie 
beherrscht den systematischen Aufbau. Denn die Idee des 
Wissens erweist im dialektischen System nur so lange ihre orga- 
nisierende, die Antithesen bestimmende und von Stufe zu Stufe 
weiter treibende Kraft, als das Bewusstsein davon lebendig ist, 
dass in den bereits erfassten Vernunftfunktionen die Aufgabe der 
Wahrheitserkenntnis noch nicht begriffen ist. Wer etwa der 
Meinung wäre, in mathematischen und naturwissenschaftlichen 
Begriffen die Wirklichkeit so einfangen zu können, dass die letzten 
Weltrfttsel gelöst werden, wird auch an der dialektischen Methode 
kein Hilfsmittel haben, das ihn weiter bringen könnte. Es ist 
für den Logiker unerlässlich, dass er sich durch persönliche That 
den Blick öffne für die Bedeutung des Daseins, dass er sich ver- 
tiefe in das „Wesen^ der Wirklichkeit, dass ihm der Gehalt der 
Vernunft nicht fremd bleibe. Im System der Denkbestimmungen 
liegt aller begriffliche Gehalt, alle logische Bedeutung überhaupt 
eingeschlossen. Es ist Sache der wissenschaftlichen Spezialarbeit, 
diesen Gehalt explizite zu entbinden; aber Sache der logischen 
Besinnung, die einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen eben in 
dieser Hinsicht zu begreifen, also zu zeigen, dass und inwiefern 
es sich bei der Arbeit einer jeden von ihnen um ein Herausstellen 
des Gehaltes der Ichheit handelt. Oder, um mit Fichte zu 
reden: die Logik bat zu zeigen, inwiefern die gelehile Bildung 



74 F. Medicus, Kant und die gegenwärtige Aufgabe der Logik« 

zur Erkenntnis der göttlichen Idee führt (Erlanger Vor- 
lesungen über das Wesen des Gelehrten). 

Den meisten Logikern mag heute eine solche Auffassung 
ihrer eigentlichen Aufgabe abenteuerlich vorkommen. Doch ist 
gerade unter denjenigen Antrieben, die sich in der derzeitigen 
philosophischen Arbeit als wirklich lebendig und fruchtbar er- 
weisen, ein starker Zug in der angegebenen Eichtung nicht zu 
verkennen. Hier muss der Name Euckens genannt werden, 
dessen gewaltig angelegtes Werk „Die Einheit des Geisteslebens 
in Bewusstsein und That der Menschheit" der wertvollste Beitrag 
ist, den die auf Ergreifen des Gehaltes der Wirklichkeit hin- 
strebende Philosophie^) nach Hegel bekommen hat Das Werk 
ist in seinem dialektischen Aufbau eine Phänomenologie des 
Geisteslebens, die so wuchtig und zwingend grosse Probleme 
wachgerufen hat, dass ihr eine dialektische Durcharbeitung der 
logischen Fragen folgen muss. So bedeutet jenes Buch für die 
Gehaltslogik Aufgabe und Aufmunterung zugleich. 



^) Vgl. a. a. O. 3: „Unsere Arbeit stellt sich lediglich in den Dienst 
der Aufgabe, Wirklichkeit zu entdecken und Wirklichkeit zur Anerkennung 
zu bringen. Wir woUen . . . durch eine den Dingen immanente Dialektik 
uns von einer bloss scheinenden zur echten Wirklichkeit führen lassen.^ 



Die Grenzen des Empirismus und des Rationalismus 
in Kants ,,Kritil( der reinen Yernunft^^ 

Von Dr. Oskar Ewald. 



1. Das Ding an sich. 

Wohl der dunkelste Punkt der Eantischen Philosophie ist der 
Begriff des Dinges an sich. Ein tragisches Schicksal will es, dass 
eben dieser Punkt dennoch zu dem einen Brennpunkt des kritischen 
Systems wurde. Alle späteren Auslegungsversuche und Fortbildungen 
haben ihre natürliche Beziehung zu ihm und müssen in erster 
Reihe an ihm orientiert werden. 

Wie ist es zu erklären, dass ein weltumwälzender Denker 
wie Eant eben über diesem Eardinalteil seiner Lehre ein dämmer- 
haftes Zwielicht walten liess, darin die entgegengesetztesten Theorien 
und Motive ineinander zu verschwimmen scheinen? Der naive Ver- 
stand, der hungrig nach Bätseilösung und Realität in das Oehege 
des Eritizismus tritt, weicht enttäuscht zurück, wenn er dieses 
scheinbar gleichgewichtslosen Schwankens in den Grundfragen der 
Metaphysik inne wird. Für ihn gibt es kein höheres Interesse als 
die geradlinige metaphysische Entscheidung zwischen Immanenz und 
Transscendenz. Dass Eants Bedeutung wenigstens zum Teil darin 
wurzelt, seine Methode in relativer Unabhängigkeit von aller Meta- 
phjrsik begründet und entfaltet zu haben, diese fundamentale Er- 
kenntnis erschliesst sich ihm schwer. 

Dennoch darf das Transscendenzproblem nicht verstopft werden. 
Und Eant selber würde einer derartigen Verkürzung der Philosophie, 
sei es auch bloss als Moraltheoretiker, keineswegs das Wort 
geredet haben. Bald scheint ihm das Ding an sich zum problema- 
tischen Phantasma zusammenzuschrumpfen, bald wieder zum Träger 
aller Wirklichkeiten zu erwachsen : immer bleibt es ihm ein be- 
deatangsvoller Gegenstand des Nachdenkens, dem gegenüber er 
weder den Standpunkt des wissenschaftlichen Indifferentisten noch 
den des aotimetaphysischen Positivisten einnimmt. 



76 0. Ewald, 

Vor allem bürgt die Philosophie des 19. Jahrhunderts von 
ihren idealistischen Anfängen bis zur Gründung des Neukantianismus 
für die eminente Bedeutung jenes Begriffes. Für Fichte, für 
Schelling, für Schopenhauer bot er den unmittelbaren Ausgangs- 
punkt zu neuen Systemschöpfungen. Der Neukantianismus hat 
ihn teilweise wohl zu verschleiern, zu entwerten gestrebt. Gleich- 
wohl erhielt sich seine Bedeutung, und man kann sagen, dass eben 
die schillernde Vieldeutigkeit seines problematischen Inhalts den 
Denkern ein neuer Sporn zur Entfaltung ihrer kritischen F&higkeiten 
war. Der weiteste Abstand zwischen den verschiedenen Interpreta- 
tionen ist zunächst dadurch bezeichnet, dass die einen im Ding 
an sich einen störenden Fremdkörper erblicken, der die Einheit des 
Kantischen Systems bedroht, die anderen darin den schützenden 
Anker suchen, der sie von phänomeualistischem und solipsistischem 
Verderbnis zu retten vermag. Jenen ist besagter Begriff ein 
ewiges Ärgernis, diesen erscheint die Stellungnahme wider ihn als 
ein Skandal der Philosophie. Aber sogar innerhalb des Kantiams- 
mus, zumal des Neukantianismus, mangelt es nicht an ähnlichen 
Konflikten. Auch diejenigen, die den Begriff anerkennen, ihm eine 
zentrale Stellung innerhalb des Transscendentalismus einzuräumen 
bereit sind, gehen in seiner Anwendung und Deutung unendlich 
weit auseinander. Als allgemeiner Orientierungspunkt dient ihnen 
eine fundamentale BehauptungKants: „Alles erkennbare Sein, äusseres 
wie inneres, objektives wie subjektives Sein ist Erscheinung. Nicht 
allein die Dinge ausser uns, sondern auch wir selber sind uns bloss 
als Erscheinung gegeben.^ Selten sind so divergente Standpunkte 
in der Anerkennung und Übernahme eines so prinzipiellen Grund- 
satzes zusammengekommen. An der phänomenalistischen Wendung, 
die Kant hierin nahm, fanden Realisten nicht weniger als Idealisten 
und Mystiker reichlich Erbauung. Das machte: sie hatten den 
Satz insgesammt in verschiedenem Sinn interpretiert. Die Realisten, 
insbesond^ere Eduard von Hartmaun, erblickten darin einen unver- 
kennbaren Fingerzeig auf das Ding an sich. Wenn Kant nicht 
einmal die Unmittelbarkeit innerer Erlebnisse zur absoluten Realität 
erklärte, so musste er den Wirklichkeitsbegriff wohl im Sinn des 
metaphysischen Realismus gefasst haben. Auch der Mystiker meint, 
dass damit eine Scheidewand zwischen Erscheinung und Ansichsein 
aufgetürmt ist. Ihm aber ist der Kern der Realität, dem gegenüber 
die empirische Welt zur „blossen Erscheinung^ zusammenschrumpft, 
nicht mehr wie dem Realisten durch Verstandesschlüsse, sondern im 



Die Gretizen des Empirismus Und des Rationalismus etc. 77 

We^e innerer Ahnung und Erleuchtung zugänglich. Der Idealist 
schliesslich, der mit besserem Rechte Phänomenalist genannt werden 
dürfte, schränkt sich ruhig auf die Erscheinung ein. Kants Leistung 
in jenem Grundsatz besteht für ihn darin, dass er auch der zweiten 
metaphysischen Möglichkeit, einer Metaphysik der Innenwelt, der 
Seele, des Geistes, den Weg gewehrt hat. Objekt und Subjekt 
sind Erscheinung, weder dort noch hier ragt der Schatten eines 
Dinges an sich in unsere Erfahrung und Wahrnehmung herein. 

Das sind weite Gegensätze: sie zu überbrücken ist unmöglich, 
und so bleibt es beim naiven Erstaunen darüber, dass Kant seine eigene 
Metaphysik nicht in klar umrissenen Zügen festgelegt und damit der 
Willkür eigenmächtiger Interpreten von vornherein vorgebeugt hat. 
Es ist in Wahrheit kein Leichtes, der Vemunftkritik eine bestimmte, 
UDomstössliche Lehrmeinung über das Ding an sich zu entnehmen. 
Bald ist die Rede von Gegenständen, die uns affizieren und dadurch 
erst Vorstellungen in uns wecken. Dann wiederum von einem 
Noumenon in negativer und in positiver Bedeutung. In der trans- 
scendentalen Dialektik erfährt das Ding an sich die Transformation 
zum Absoluten. In der praktischen Vernunft tritt es als intelligibles 
Subjekt auf. Und es ist nirgends völlig klar, ob es sich um nichts 
anderes als einen Begriff oder ob es sich um eine Realität handle. 

Wir sehen hier von letzterem ab und beschränken uns auf 
das erstere. Soviel ist sicher : wenn es auch ein Ding an sich als 
transscendente Wesenheit geben sollte, zunächst ist es ein Begriff, 
der seinen Ort in unserem Bewusstsein findet. Es birgt sich darin 
ein ontologisches Problem von unermesslicher Tragweite. Zuvörderst 
aber eignet ihm als Begriff seine immanente logische Bedeutung. 
Und mit dieser haben wir uns nunmehr zu beschäftigen. 

Woraus entspringt der Begriff eines Dinges an sich? Aber 
hier heisst es, einem Missverständnis vorbeugen. Die Frage könnte 
falsch ausgelegt werden. Nicht von dem psychologischen Ursprung, 
sondern von dem logischen ist die Rede. Es giebt ja eine Menge 
psychologistischer Definitionen und Erklärungen, unter denen man 
nach Belieben wählen könnte, will man die Physiologie des Trans- 
scendenzproblems betreiben. So hat man das Ding an sich zuweilen 
als subjektive Projektion der Empfindungen auf einen unsichtbaren 
Hintergrund betrachtet. Die Einheit der Seele spiegelt sich wieder 
in einer fiktiven Einheit äusserer Gegenständlichkeit. Eine Erklärung, 
die durch Schopenhauer vorbereitet, in Wundt von Neuem Ausdruck 
fmd. Andere haben dieser Spiegelung das Phänomen des Willens 



7Ö Ö. Eiwald, 

zugrumde gelegt. So Maine de Biran, der in der ans Berührung 
äusserer Objekte entspringenden Widerstandsempfindung eine 
Willensheramung und damit den Hinweis auf eine den Dingen wie 
dem Menschen innewohnende metaphysische Willenskraft erblickte. 
Bei Herbart, wiederum bei Wundt kehren ähnliche Motive wieder. 
Aber all das sind psychologistische Entscheidungen, da sie den An- 
lass für die Entstehung des Dingansichbegriffes in seelischen Vor- 
gängen, nicht in logischen Beziehungen suchen. 

Das letztere fassen wir hier ins Auge. Überlassen wir die Be- 
antwortung der Frage nach transscendenten Wesensgiünden dem 
Metaphysiker, dessen eigentliche Aufgabe sie bildet. Und ebenso 
entäussem wir uns der psychologischen Analyse, die uns lediglich 
subjektive Zusammenhänge, keine objektiven Prinzipien zu gewähr- 
leisten vermag. Die Logik des Begriffes obliegt uns, nichts anderes. 
Wir haben bereits bemerkt, dass dem Ding an sich eine lange 
Reihe möglicher Bedeutungen entspricht, die der Reihe nach in der 
Kantforschung Ausdruck gefunden haben. Windelband hat eine 
treffliche Übersicht dieser verschiedenen Deutungsmöglichkeiten 
gegeben. Alle einzelnen Punkte abzustecken, ist hier nicht von- 
nöthen. Wir wollen bloss die am meisten charakteristischen, die 
überdies am stärksten von einander abweichen, hervorheben. Ihre 
markante Bedeutung, desgleichen ihre Diskrepanz ist bereits dadurch 
bezeichnet, dass sie in der Vemunftkritik durch den grössten räum- 
lichen Abstand von einander getrennt sind, sich an beiden entgegen- 
gesetzten Enden finden. Die eine beherrscht vor allem die trans- 
scendentale Ästhetik, die andere äussert ihren Einfluss erst in der 
Dialektik. Jene redet vom Ding an sich als der Affektionsquelle. 
Das berühmte Wort von den Gegenständen, die uns affizieren und 
in uns Vorstellungen hervorbringen, erscheint im Rahmen besagter 
Erklärung. Sie nähert sich für den ersten Aspekt dem naiven 
und dogmatischen Realismus. Diese im Gegenteil trägt streng 
idealistisches Gepräge. Das Ding an sich tritt als das Absolute, 
Unbedingte auf und wird als höchste Vemunfteinheit, als ein 
synthetisches Prinzip des Geistes gefeiert. 

Idealismus und Realismus bilden aber nicht die eigentliche 
Korrelation, um die es sich hier handelt. Vielmehr Rationalismus 
und Empirismus. Denn es handelt sich uns nicht um transscendente 
Probleme sondern um immanente Methode. Wir wollen dem Begriff 
des Dinges an sich nicht sein metaphysisches "Geheimnis ent- 
locken, wir woUen seine inwendige, logische BewisstseiBSstnilEtBr 



bie (ji^renzen des fempirismus und des Rationalismns etc. 79 

prüfen. Die rationalistische Auffassung des Dinges an sicli, die 
wir zuvor die idealistische nannten, lernen wir erst begreifen, wenn 
wir das Ding an sich nicht mehr als Begriff, sondern als Idee 
wflrdigen. 

Da zeigt sich zunächst, dass das Ding an sich als das Un- 
bedingte nicht etwa eine Idee neben den anderen, der Seele, der 
Welt, der Gtottheit koordiniert, darstellt, sondern die Idee der Ideen, 
das gemeinsame Mass und die gemeinsame Wurzel aller Ideen ab- 
giebt. Denn das unbedingte, somit das Ding an sich, sollen sie ins- 
gesamt realisieren, jede in ihrerj Sphäre. Seele ist ein Ding an 
sich, Welt und Gott desgleichen. Das Ding an sich ist also 
der unmittelbarste Ausdruck des rationalistischen Prinzips, es ist 
der Kern and immanente Sinn der Vernunftfnnktion selber. 

Demgegenüber verdichten sich andere Hinweise und Aus- 
führungen des Denkers zu einer entgegengesetzten Auffassung des 
Begriffes. Das Ding an sich wird zu demjenigen Moment, das sich 
grundsätzlich dem rationalistischen Erkenntnisprinzip entzieht. An 
ein mystisches, ausserweltliches Sein zu denken, verbietet uns zwar 
hier die immanente Tendenz vorliegender Erörterung. Aber davon 
sollte und musste gar nicht die Rede sein, um den Begriff der 
Erkenntnisgrenze zu legitimieren. Es handelt sich Kant um eine 
Grenze des rationalen Erkennens, um eine der transscendentalen 
Methodik gesetzte Grenze. Man erwäge, dass Kant die Materie 
der Empfindung in unmittelbarste Relation gesetzt hat zur Rezep- 
tivit&t oder, wie er es mit einer metaphysischen Wendung nennt, 
zur Fähigkeit affiziert zu werden und diese Fähigkeit wiederum 
zn dem Ding an sich als Affektionsquelle. Man pflegt besagte 
Wendung mit Vorliebe zu unterdrücken, bleibt bei der Rezeptivität 
stehen und schneidet die Frage nach deren metaphysischen Vor- 
bedingungen ab. Es ist auch richtig, dass die Wendung zum 
„transscendentalen Realismus^ hin ein Wagnis ist. Aber auch ohne 
ihm Raum zn geben, kann man jene Erörterung sinnvoll inter- 
pretieren. Was einen daran hindert, dem naiven Bedürfnis nach 
Realität nachgehend, in Dingen an sich die Ursachen der Empfind- 
ungen zu suchen, ist die kritische Überlegung, dass die Kategorie 
der Kausalität bloss von EIrscheinungen zu Erscheinungen leitet 
a keine Brücke zwischen Transscendenz und Immanenz baut. 
Wohl ist dagegen Protest erhoben worden: aber der Geist der 
Kantischen Philosophie scheint denen Recht zu geben, die sich 
hmeitalb der Phänomene bescheiden. Gleichwohl bleibt hier Raum 



ÖÖ ö. Ewald, 

für einen Begriff des Dinges an sich, deutlicher gesagt, für den 
Grenzbegriff des Dinges an sich. Diese wichtige Unideutung 
hat Maimon geleistet. Nicht jenes naiv realistische Ding an sich 
ist gemeint, das von aussen auf unsern Organismus stösst und in Ge- 
meinschaft mit diesem die Empfindungen erzeugt, sondern das Ding an 
sich figuriert hier bloss als Symbol des Unbegreiflichen. Es bezeichnet 
ein Etwas, das die Vernunft nicht zu deduzieren aber auch nicht zu 
durchdringen vermag. Es bezeichnet eben deswegen das schlechtweg 
Gegebene. Dasjenige, das nicht innerhalb des Bewusstseins nach den 
Gesetzen des Bewusstseins gebildet ist, sondern von demselben als 
ein Faktum vorgefunden wird. Und dies ist die Empfindung 
selber, beziehungsweise der Ursprung der Empfindung. Er ist un- 
ergründlich, für den Intellekt unfassbar. Alle Denkgesetze und 
Erkenntnisformen sind einsichtig gegeben, unser Verständnis ver- 
mag ihrer sich zu bemächtigen, und damit werden wir auch ihres 
Entstehungsgrundes inne. Die Empfindung dagegen, das Materials 
unserer Erkenntnis, der Stoff des Universums entzieht sich dieser Ein- 
sichtnahme. Er ist, er erzwingt sich unsere Anerkennung, ohne 
seine Existenzberechtigung vor höherer logischer Instanz zu er- 
weisen. Wir sind nicht imstande zu erklären, weshalb es Töne, 
Farben gebe. Weshalb wir mit Lust und Unlust auf aussenwelt- 
liche Vorgänge reagieren. Es sind Fakta, die bloss sich selber 
künden, und auf keinen höheren, rechtfertigenden Grund hinweisen. 
All nnser einsichtiges Denken und Erkennen vollzieht sich in Be- 
griffen : hier, vor der Frage nach dem Ursprünge der Empfindungen 
ist die untere Grenze erreicht, wo der Begriff der dinglichen Realität 
der Materie gegenüber seine Macht verliert. Entstehung und Her- 
kunft der Empfindung in unserem Bewusstsein ist kein rationales 
Problem mehr, kein Problem, dem die Vernunft gewachsen wäre. 
Es bezeichnet eigentlich keinen Grenzbegriff, denn es bezeichnet über- 
haupt keinen Begriff. Wohl aber bezeichnet es eine Grenze für 
das begriffliche Denken. Aus eben demselben Grunde nennt es 
Maimon ein Differentiale des Bewusstseins. Gedankliche, formale 
Beziehungen werden von unserem Geiste geschaffen und vermögen 
so von ihm gemeistert zu werden. Die Empfindungen sind gegeben: 
ihr Gegebensein widersetzt sich jeder logischen Deduktion. Sehr 
deutlich hat neuerdings Simmel in seiner Kantschrift diesen Stand- 
punkt präzisiert. „Es sind also bloss Unterschiede innerhalb 
des Vorstellens überhaupt, die Kant durch den Gegensatz von Ding- 
an-sicb und Erscheinung charakterisiert, nicht der absolute, zwischen 



t)ie Örenzen des fimpiiismos und des Rationalismus etc. 81 

dem Vorstellen überhaupt und dem, was innerhalb des Vorstellens 
liegt. Behält man diese Wendung des Interesses ausschliesslich nach 
dem Innern des Erkennens zu im Auge, so beantwortet sich ohne 
weiteres die alte Frage der Eant-Deutung : mit welchem Rechte 
er denn Dinge-an-sich als Ursache der Sinnesempfindung bezeichne, 
da die Kategorie der Ursache bloss auf sinnliche Erscheinungen, 
ausdrücklich aber nicht auf Dinge an sich anwendbar sei? That- 
sächlich wird hier durch die „Verursachung** unsrer Empfindungen 
bloss eine innere Qualität ihrer ausgedrückt, sie kommen uns in einer 
eigentümlichen Weise zum Bewusstsein, die wir als Passivität oder 
Rezeptivität bezeichnen, gegenüber der Färbung des Denkens, das 
das Gefühl des Schöpferischen, Spontanen mit sich bringt. Diese 
psychologische Färbung der Empfindungen wird so ausgedrückt, 
dass sie von etwas schlechthin Äusserlichem verursacht sind. Die 
Beziehung des Dinges-an-sich zum Subjekt ist also ausschliesslich 
von der Seite des Subjektes her epfasst. Wie sich jenes Äussere 
anch an sich verhalten möge : die Bedeutung dieses Verhaltens für uns 
kann bloss als Verursachung von Empfindung ausgedrückt werden, dies 
ist unser Anteil an dem Verhältnis zwischen uns und ihm.** Hier 
erscheint der Gedanke, von der psychologischen Wendung abgesehen, 
rein und klar herauskrystallisiert. Das Ding an sich als Affektionsqaelle 
ist bloss ein Symbol für die Grenze unseres Begreifens. Es bezeichnet 
den Punkt, vor dem der Verstand notgedrungen halt machen muss. 
So haben wir jene zwei Bedeutungen des Dinges an sich 
herausgehoben, die von einander um den weitesten Abstand ent- 
fernt sind. Das eine Mal erhob es sich als das Absolute, Unbe- 
dingte, als höchste Vernunfteinheit, als Schöpfung des denkenden 
Geistes, als reinste Form, als Inbegriff aller Form, das andere Mal 
tauchte es zur Materie, zum Relativen der Empfindung nieder, und 
stellte sich demgemäss dar als absolute Grenze des vernünftigen 
Geistes, als Inhalt, als Inbegriff aller Inhalte. Dort war es der 
Triumph, hier ist es der Bankerott des Intellekts und des 
Rationalismus. Aber wir begnügen uns nicht mit solch effekt- 
voller Gegenüberstellung, sondern nutzen dieselbe lediglich als 
Ansgangsort höherer Problemstellungen. Vom Ding an sich, das 
ans erst als rationalistisches Erkenntnisprinzip, dann als absolut 
irrationalistisches Element begegnete, ergiebt sich ungezwungen 
der Übergang zur Frage nach den Grenzen des Rationalismus 
überhaupt, nach seinem Verhältnis zum Irrationalismus. Ans 
dem Vorigen ging hervor, dass es etwas gebe, was schlechterdings 

KaatttodlM XIX. g 



82 0. Ewald, 

nicht deduziert zu werden yermochte : Eben jenes Ding an sich der 
zweiten Bedeutung, das Ding an sich als Empfindnngsquelle. Es 
ist nunmehr geboten, sich über die Bedeutung und den Umfang 
dieses Grenzwertes zu orientieren. Denn es könnte wohl sein, dass 
sich seine negative Wirkungssphäre auf den verhältnismässig eog 
bezirkten Raum der Empfindungen beschränkt. Aber auch die 
Möglichkeit steht offen, dass er von da aus gleichsam in die Region 
des Verstandes, selbst der Vernunft überfliesst, ihnen von seinen 
Mängeln mitteilt. Die trotz der Dualität von Anschauung und 
Denken im Grunde einheitliche Organisation unseres Geistes legt 
die letztere Auffassung nahe. Der reine Rationalismus, das reine 
Denken bliebe dann ein Ideal, ein Grenzwert nach oben, sowie aaf 
der andern Seite die reine, ungeformte Empfindung einen unteren 
Grenzwert bedeutet. 



2. Die Grenzen des Rationalismus und Empirismus. 

Die empirische „Behaftung**. 

Wir wenden uns zum historischen Kant und fahnden nach 
einem Anker zur Beantwortung der vorgelegten Frage. Dass es 
Grenzen für den Rationalismus giebt, ist Kants unumstösslicbe 
Meinung gewesen. Eben dieser entscheidende Umstand trennt ihn 
von Hegel, der solche Grenzen nicht anerkennen mochte. Aber 
nicht bloss von Hegel oder Schelling, sondern ebensowohl von all 
denen, die das Erkenntnisvermögen des menschlichen Geistes ins 
Unbegrenzte ausdehnen und ein Welträtsel leugnen: einerlei ob 
der Höhenflug eines ontologischen Rationalismus sie zu so über- 
schwänglichen Ansprüchen begeistert, oder die nüchterne Begi'enzt- 
heit der positivistischen Forschung ihnen die transscendenten Sphären 
verdunkelt. Kant selber war trotz seines unerschütterlichen Glaubens 
an die Macht der menschlichen Vernunft nicht frei von erkenntnis- 
theoretischem Pessimismus. 

Indem wir nunmehr von Terminologie und Definition des 
Kantischen Dinges an sich absehen, wenden wir uns den rein sach- 
lichen Gesichtspunkten zu, die daraus zu gewinnen waren. Wir 
wurden auf eine Grenze rationalen Erkennens verwiesen: und wir 
fanden dieselbe im Inhalt der Empfindung geborgen. Aber die 
Frage geht weiter, sie geht danach, ob dieser irrationale Faktor 
sich nicht nach oben bemerkbar macht und im Bereich des Denkens 
und Erkennens Ausdruck erhält. 



t>ie Örenzen des fimpirismns und des l^tionalismus etc. 63 

Sinnlichkeit, Verstand, Vernunft sind die drei Sphären der 
Kantischen Philosophie und zugleich die drei Etappen seiner er- 
kenntniskritischen Analyse. Alle drei haben ihr reines Apriori 
nndKant giebt der Annahme Ausdruck, es könne dieses Apriori im 
letzten Wesensgrunde überall dasselbe sein. Es könnten auch 
Raum und Zeit aus der reinen produktiven Vernunft erfliessen, 
ans der die Ideen und die Kategorien hervorgehen. Daneben steht 
das Aposteriori, das der einsichtigen Verstandesdeduktion spottet. 
Solch ein Aposteriori stellten uns, wie erwähnt, zunächst die 
Empfindungsqualitäten dar. Dass wir auf eine bestimmte Zahl von 
Ätberschwingungen just mit der Farbe Grün reagieren, dass wir 
jenen Temperaturgrad mit einem Gefühl der Unlust, diesen mit 
einem Lustgefühl perzipieren, vermögen wir nicht zu erklären 
sondern lediglich als Faktum anzuerkennen. Dagegen scheinen 
Verstand und Vernunft von solcher Beschränkung frei. Allerdings 
auch in dem unerschöpflichen Inventar der empirischen Begriffe ist 
der Verstand an die empirische Sinnlichkeit gewiesen, ans der der 
Stoff zu derartigen Begriffen gezogen wird. Aber der reine Ver- 
stand, der seine Grundzüge in die Kategorientafel einzeichnet, sollte 
dieser Bedingnni( enthoben sein. 

Ist er es in Wirklichkeit? Die Frage lässt sich von Kantischem 
Standpunkte schwer beantworten, weil das Wesen der Kategorien 
im Dunklen liegt. Eine völlig befriedigende Deduktion vermag uns 
die Kritik nicht eigentlich zu bieten. Die metaphysische Deduktion 
aas den Urteilsformen ist, wie Herbart richtig erkannt hat, keine 
zulängliche. Im Grunde ist sie wohl auch provisorisch gedacht: 
bloss als Vorbereitung der transscendentalen, die ihrerseits indessen 
lediglich auf die Kategorie im Allgemeinen, nicht auf die einzelnen 
Kategorien gerichtet ist. Auch die vorausschauende Bezugnahme 
auf die Grundsätze, auf die Cohen so viel Gewicht legt, verleiht 
keine sichere Stütze. Denn woraus entnimmt man die Gewähr, dass die 
Kategorientafel unfehlbar und komplet, dass ihre Zwölfteilung un- 
trüglich sei? Die Grundsätze der mathematischen Physik oder der 
Allgemeinerfahrung, die die beiden Hälften, Physik und Physiologie, 
in sich befasst, sind ja auch nicht so völlig geschlossen und in 
sich vollendet, auch sie mögen der Ergänzung und Vervollkommnung 
gewärtig sein. Die schematische Geschlossenheit der Kategorien 
wird sonach von keinem unumstösslich fixen Prinzip bestimmt. Man 
wird des Gefühles nicht ledig, dass die Art und Gestaltung der 
einzelnen Kate^rie kein Apriori im strengsten Sinn darstelle. 

r 



84 0. Ewald, 

Als ein solches Apriori erscheint uns lediglich die transscendentale 
Apperzeption, die synthetische Vernunfteinheit selber, die die Quelle 
aller einzelnen und bestimmten Synthesen ist. Die Vernunft 
allein gewährleistet jenen idealen Apriorismus: die Vernunft, in 
der die höchste, universale Einheit sich birgt. Bereits dem Über- 
gang zum Verstände haftet eine unleugbare Schwierigkeit an. Was 
ist der Verstand, dieser Verstand, der auf der einen Seite so viel 
konkreter ist 'als die reine Vernunft, auf der andern Seite sich 
gleichwohl des Attributes der Reinheit nicht entäussern mag? Wie 
ist sein Ursprung, wie sein inneres Wesen zu denken ? An Defini- 
tionen hat es Kant nicht mangeln lassen. Es herrscht aber keine 
durchgreifende Harmonie unter diesen und sie geben keine Antwort 
auf unsere Frage. 

Die Kategorien sind die Verstandeswelt. Das Problem, das 
uns bewegt, ist also schlechtweg dieses: ist ein direkter Ober- 
gang von der Vernunft zum Verstände denkbar? Denn die Ver- 
nunft, als höchstes Prinzip synthetischer Einheit, markiert selbs^ 
verständlich den äussersten antipolaren Gegensatz zu jeglicher 
Erfahrung. Der Verstand aber, der durch die Vielzahl der Kate- 
gorien repräsentiert wird, schien jener aprioristischen Reinheit zu 
entbehren. Wodurch unterschiede sich übrigens der Verstand von 
der Vernunft, wenn nicht eben durch dies eine Moment? Dass 
beide aus derselben Wurzel entspringen, ist Kants eigene Ansicht, 
der sogar von einer uns unbekannten Einheit der sinnlichen 
und der intellektuellen Spontaneität redet. Dass jener in sich 
die Grundbegriffe der Natur, der allgemeinen Ei*fahrung, diese die 
Ideen der intelligiblen Welt konstituiere, darf nicht als das 
trennende Merkmal angesehen werden, da eben nach dem Grunde 
dieses Unterschiedes in ihrer Funktion gefragt wird. Es wäre 
die krudeste und simpelste Wiederaufnahme der alten Vermögens- 
theorie, wollte man jene beiden Sphären, Natur und Geisteswelt, 
aus Verstand und Vernunft, wie aus einem Gehäuse hervorgehen 
lassen. So wäre das Moment der Unterscheidung am nächsten 
wohl darin zu suchen, dass der Verstand bereits eine besondere 
Anwendung der Vernunftfunktion auf empirisches Material bedeute, 
nicht im Sinne der psychologistischen Projektionstheorie, sondern 
in der rein logischen Bedeutung, dass in die konkreten Einheits- 
formeln der Kategorien bereits die irrationalistischen Elemente 
der sinnlichen Realität sich eingenistet haben. Wie in jedem 
konkreten Urteil über Phänomene zweierlei enthalten ist, die syn- 



Die Grenzen des Empirismus und des Rationalismos etc. 86 

thetische Einheit der Verstandeshandlung und der sinnliche Stoff, 
der zur Einheit gebunden werden soll, so könnte auch in den 
Kategorien selber diese Duplizität auf entsprechend höherer Stufe 
gedacht werden. Freilich Hessen sich die zwei Elemente hier 
nicht so säuberlich sondern und von einander isolieren. Die Kate- 
gorien wären vielmehr in ihrer Besonderheit als ein Produkt ge- 
geben» dessen einen Faktor die reine transscendentale Einheit der 
Apperzeption bildet, dessen anderer Faktor bereits irgendwie von der 
irrationalen Mannigfaltigkeit empirischer Anschauung imprägniert 
ist. Die höchsten Synthesen wären demnach noch nicht in den 
Kategorien zu suchen, vielmehr in der reinen Vernunfthandlung 
der transscendentalen Apperzeption, die die Synthese aller Syn- 
thesen darstellt. Man wird gegen diese Deutung schwere Be- 
denken äussern. Sondert denn Kant nicht selber die Kategorien 
als abstrakte Verstandesbegriffe von aller Sinnlichkeit ab, um sie 
erst durch die Schematisierung in konkrete Grundsätze münden 
zu lassen, die auf Ei*fahrnng angewandt werden können? Von 
uns aber wird der Einfluss der Erfahrung auch auf die Kate^ 
gorien ausgedehnt. Der Vorwurf wäre gerecht, würde der Stand- 
punkt vertreten, die Kategorien seien aus der Erfahrung abstra- 
hiert, in ihr also vorfindbare Elemente. Das ist aber keineswegs 
behauptet worden. Bloss dies ist behauptet worden, dass auf die 
Konfiguration des Kategoriensystems, man möchte sagen: unsicht- 
bar das irrationale Moment der Sinnlichkeit einwirkt. Dass sich 
die Vernunft nicht von selber, einem rätselhaften Drange ge- 
horchend, in die Kategorien verästelt, sonder.n dieser Differenzierung 
and Spezialisierung einer ursprünglich elementaren Vernunfteinheit 
ein Zwang von aussen zu Grunde liegt. So lässt sich auch der 
Baum als sinnliches Ordunngsprinzip der Erscheinungen nicht em- 
pirisch erklären, sondern in transscendentaler Beweisführung als 
apriorisches Element nachweisen. Aber der bestimmte dreidimen- 
sionale Raum, der in unserem Kosmos ruht, lässt sich nicht logisch 
deduzieren, sondern ist ein Faktum, das wie jeder andere Erfah- 
rangsinhalt vorgefunden und geglaubt wird. Ebenso könnten die 
Kategorien mit Empirie behaftet sein, ohne deswegen vollinhaltlich 
zu empirischen Daten degradiert zu werden. Sie wären empirisch, 
soweit sie irrational, in ihrer Vielheit und Qualifikation nicht 
dedozierbar sind, sondern ein Urfaktum abgeben. Sie wären 
apriorisch, sofern sie Spielarten der einen reinen transscenden- 
talen Synthese sind. Und der Verstand, ihr Inbegriff, dürfte 



66 0. Ewald, 

einerseits als eine Funktion der sinnlichen Mannigfaltigkeit, an- 
dererseits der Vernunft betrachtet werden. Man könnte nach 
dieser Erklärung von einer empirischen Behaftung der Kate- 
gorien sprechen. 

Aber die Konsequenzen würden sich noch weiter erstrecken. 
Tief in die transscendentale Dialektik hinein. Auch die Ideen 
der reinen Vernunft sind dann in bestimmtem Sinn empirisch be- 
haftet. Denn sie lösen sich von den drei kategorialen Formen 
der Relation, von Substanz, Kausalität, Wechselwirkung ab, die 
sie in die Sphäre des Unbedingten, Absolnten versetzen. Nicht 
die reine Funktion der Vernunft, die schöpferische Synthese würde 
damit zu etwas Empirischem gestempelt werden, wohl aber das 
Material, an dem sie ansetzt. Auch die Ideen der Seele, des 
Universums, Gottes Hessen sich dann, analog wie die Kategorien, 
denen sie entstammen, nicht weiter deduzieren, sondern wären als 
ein vorgefundenes Datum, wenigstens relativ empirisch. Das ist 
der höchste Punkt, den innerhalb des Kritizismus die Empirie er- 
reichen kann. Diese Deutung erscheint vielleicht paradox, aber 
sie entbehrt nicht der inneren Berechtigung, auch wenn man sich 
auf den Boden des historischen Kant stellt. Es ist bloss die ab- 
strakte Darstellung der Kritik, ihre säuberliche Grenzscheidnng 
der einzelnen Gebiete, die die Fiktion erwecken könnte, Sinnlich- 
keit, Verstand, Vernunft, aprioristische Form, aposteriorischer In- 
halt lägen auch in der Wirklichkeit so himmelweit auseinander 
und ständen, gleich den ägyptischen oder indischen Kasten ausser- 
halb jeglichen realen .Verbandes. Man hat Kant dieser Geistes- 
anatomie halber getadelt und ihn einen Pedanten gescholten. 
Dieses Urteil war aus dem Missverständnis erwachsen, es handle 
sich dem Philosophen um eine sachgetreue Aufnahme des psy- 
chischen Thatbestandes, um deskriptive Psychologie also, nicht um 
eine methodische Abstraktion, die lediglich aus erkenntniskritischen, 
transscendentalen Rücksichten geschehen war. Kant isolierte Sinn- 
lichkeit, Verstand, Vernunft, Form und Stoff, um jeden einzelnen 
dieser Faktoren in seiner Eigenart und Einzigkeit zu erkunden 
und dafür eine sichere Basis der Forschung zu gewinnen. Dass 
sich dies bei den ersten drei Gliedern so und nicht anders ver- 
halte, lässt sich unschwer nachweisen, und auf diesem Beweis 
allein ruht das richtige Verständnis der Kantischen Erkenntnis- 
lefare. Die Deduktion von Raum und Zeit erfliesst nicht bloss 
ans der Ästhetik, sondern auch aus der Analytik. Der Z^itsinn 



Die Greiusen des Empiriämos und des Rationalismus etc. 69 

Denn fürs erste giebt es empirische Formen, zweitens ist die 
Trennung von Inhalt und Form nicht psychologisch, sie ist trans- 
scendental zn verstehen. Foim bedeutet einen einsichtig gegebenen, 
gesetzlichen Zusammenhang, Inhalt das irrationale Element, das 
jederzeit gegeben sein muss als ein Äusserliches, den Gesetzen des 
Verstandes nicht Zugängliches. Was wir in Bezug auf die gegen- 
ständliche Wahrnehmung als Form und Inhalt auseinanderhalten, 
hat mit jener Distinktion wenig gemeinschaftlich. Es könnten der- 
selben demnach auch die Kategorien teilweise wenigstens als Inhalte 
gesetzt sein, soweit ihr spezifischer gesetzlicher Ausdruck nicht 
aas dem allgemeinen Gesetz der Apperception einsichtsvoll hervor- 
leuchtet, vielmehr ein nicht weiter rational zu durchdringendes 
Faktum abgiebt. 

Diese Deutung, die hier nicht dogmatisch vertreten, sondern 
bloss gekennzeichnet wird, würde den reinen Rationalismus dem 
Empirismus gegenüber am wirksamsten beschränken, die Grenzen 
des letzteren dagegen am höchsten hinaufrückeu. Nicht bloss Sinn- 
lichkeit und Verstand, sondern sogar die Vernunft wiese sich als 
empirisch behaftet. Darin entfaltete sich sonach die stärkste 
empiristische Möglichkeit des Kritizismus. 

Wenden wir uns nunmehr ihrem Gegenpol, der rationalistischen 
Möglichkeit zu. Da wechselt auch das Gebiet, in dem sich der 
Grenzkonflikt zwischen Rationalismus und Empirismus abspielt. 
Es liegt jetzt unterhalb der Ideen und Kategorien, in der Sphäre 
der Empfindungen, der Sinnesinhalte. Die Schwierigkeit scheint 
hier viel geringer, die Lösung derselben viel mehr auf der Hand 
gelegen. Dem äusseren Aspekt nach ist die Grenzbestimmung 
zwischen Rationalismus und Empirismus hier im Wesen der Sache 
begründet. Insbesondere für den Kantischen Kritizismus. Das 
rationalistische Prinzip vermag offenbar in der Sphäre der Em- 
pfindungsmacnigfaltigkeit keinen Halt zu gewinnen. Der Gegen- 
stand, als Gewebe begrifflicher Beziehungen, wird gedacht. Der 
Gegenstand, als ein Bündel von Empfindungselementen ist gegeben. 
Das Oegebensein markiert den Zwang des Bewusstseins, sich in 
ein Faktum zu fügen, das es nicht zu produzieren noch zu deduzieren 
vermag, das es einfach vorfindet und acceptieren soll. Die Empfindung 
ist ein Uifaktum, an das der Verstand als ein ihm Fremdes heran- 
tritt. Sie entzieht sich der Deduktion, der bloss die Form, nicht 
der Inhalt zugänglich ist. Wenn es ein gesichertes Ergebnis der 
Kantinterpretation giebt, so scheint es dies eine zu sein, an dem 



88 0. Ewald, 

Einheit im Allgemeinen zu, nicht aber die der einzelnen Kategorien. 
Dieselben sind danach wenigstens als ein Singnläres, Irrationales, 
als Faktisches gesetzt, und von da ist der Übergang zur Behauptung, 
sie seien empirisch behaftet, nicht mehr weit. Es soll abermals 
hervorgehoben werden, dass sie auch hier keineswegs als Produkte 
einer Abstraktion aus der Sinneserfahrung erscheinen, da dies 
mit dem Grundgedanken der transscendentalen Analytik unverträg- 
lich wäre. Deswegen sollte ausdrücklich bloss von empirischer 
Behaftung die Rede sei. Es sind keinerlei Einzelerfahmngen, die 
sich zu Kategorien gestalten, aber nichtsdestoweniger könnte das 
Wesen der sinnlichen Realität überhaupt auf das Kategorienschema 
unsichtbar einwirken. Wir wollen uns hier auf Simmel berufen, 
der eine dieser nahe kommende Ansicht vertreten hat. Er nimmt 
für das Erfahrungsurteil die Möglichkeit eines kontinuierlichen Über- 
ganges von blosser Wahrnehmungsfolge zu apriorischer Allgemein- 
heit an. „Schon das flüchtigste Wahmebmungsurteil dürfte mit 
einem ersten Ansatz an den Erfahrungsformen teilhaben, und das 
gefestetste empirische Urteil, dem mathematischen sich ins Unend- 
liche nähernd ist gegen Umänderung durch neue Wahrnehmungen 
niemals vollständig gesichert." Dies könnte man aber auch auf 
die einzelnen Kategorien ausdehnen und in ihnen nicht den reinsten 
Ausdruck rationaler Einheit und Gesetzlichkeit sehen, den vielmehr 
bloss die transscendentale Apperception gewährleiste. Die Kate- 
gorien bedeuteten ein strenges Apriori, sofern sie an dieser AnteU 
haben, sie wären aber empirisch behaftet zu nennen, sofern man 
ihrer spezifischen Eigentümlichkeit Rechnung trägt. 

Diese Auffassung mag grossem Widerspruch begegnen: wir 
vertreten sie hier auch keineswegs als Dogma, sondern bloss als 
eine erkenntniskritische Möglichkeit. Man wird ihr besser gerecht 
zu werden vermögen, wenn man zwischen empirischer Ableitung, 
Deduktion aus einzelnen Erfahrungen, und empirischer Behaftnng 
im Allgemeinen unterscheiden gelernt hat. Einer Ableitung in erster 
Bedeutung entziehen sich die Kategorien freilich. Aber sofern sie 
auch nicht rational zu deduzieren sind, sondern uns als ein Faktum 
gegenübertreten, das wir übernehmen müssen, ohne einsichtig seiner 
Entstehungsgründe gewahr zu werden, ist es wohl nicht so ver- 
fehlt, von empirischer Behaftung zu reden. Denn im strengen 
Kantischen Sprachgebrauch ist es so ziemlich dasselbe, als Faktum 
oder empirisch gegeben sein. Man sehe auch von dem Einwand 
ab, die Kategorien seien Formen und somit nicht empirisch behaftet 



Die Greiusen des Empirismos und des Rationalismus etc. 69 

Denn fürs erste giebt es empirische Formen, zweitens ist die 
Trennung von Inhalt und Form nicht psychologisch, sie ist trans- 
scendental zu verstehen. Form bedeutet einen einsichtig gegebenen, 
gesetzlichen Zusammenhang, Inhalt das irrationale Element, das 
jederzeit gegeben sein muss als ein Äusserliches, den Gesetzen des 
Verstandes nicht Zugängliches. Was wir in Bezug auf die gegen- 
ständliche Wahrnehmung als Form und Inhalt auseinanderhalten, 
hat mit jener Distinktion wenig gemeinschaftlich. Es könnten der- 
selben demnach auch die Kategorien teilweise wenigstens als Inhalte 
gesetzt sein, soweit ihr spezifischer gesetzlicher Ausdruck nicht 
aas dem allgemeinen Gesetz der Apperception einsichtsvoll bervor- 
leachtet, vielmehr ein nicht weiter rational zu durchdringendes 
Faktum abgiebt. 

Diese Deutung, die hier nicht dogmatisch vertreten, sondern 
bloss gekennzeichnet wird, würde den reinen Rationalismus dem 
Empirismus gegenüber am wirksamsten beschränken, die Grenzen 
des letzteren dagegen am höchsten hinaufrücken. Nicht bloss Sinn- 
lichkeit und Verstand, sondern sogar die Vernunft wiese sich als 
empirisch behaftet. Darin entfaltete sich sonach die stärkste 
empiristische Möglichkeit des Kritizismus. 

Wenden wir uns nunmehr ihrem Gegenpol, der rationalistischen 
Möglichkeit zu. Da wechselt auch das Gebiet, in dem sich der 
Grenzkonflikt zwischen Rationalismus und Empirismus abspielt. 
Es liegt jetzt unterhalb der Ideen und Kategorien, in der Sphäre 
der Empfindungen, der Sinnesinhalte. Die Schwierigkeit scheint 
hier viel geringer, die Lösung derselben viel mehr auf der Hand 
gelegen. Dem äusseren Aspekt nach ist die Grenzbestim mung 
zwischen Rationalismus und Empirismus hier im Wesen der Sache 
begründet. Insbesondere für den Kantischen Kritizismus. Das 
rationalistische Prinzip vermag offenbar in der Sphäre der Em- 
pfindnngsmannigfaltigkeit keinen Halt zu gewinnen. Der Gegen- 
stand, als Gewebe begrifflicher Beziehungen, wird gedacht. Der 
Gegenstand, als ein Bündel von Empfindungselementen ist gegeben. 
Das Oegebensein markiert den Zwang des Bewnsstseins, sich in 
ein Faktum zu fügen, das es nicht zu produzieren noch zu deduzieren 
vermag, das es einfach vorfindet und acceptieren soll. Die Empfindung 
ist ein Uifaktum, an das der Verstand als ein ihm Fremdes heran- 
tritt. Sie entzieht sich der Deduktion, der bloss die Form, nicht 
der Inhalt zugänglich ist. Wenn es ein gesichertes Ergebnis der 
Kantinterpretation giebt, so scheint es dies eine zn sein, an dem 



dO 0. £wald, 

sich der Unterschied zwischen dogmatischer Metaphysik und Kritizis- 
mus emporrankt. Im übrigen hebt sich Kant eben durch diese 
Grenzsetzung auch von seinen Epigonen, den Identitätsphilosophen 
ab, die die Grenze nicht anerkennen wollten und auch die Welt- 
materie, die Inhalte der Natur zu begreifen und zu deduzieren 
erstrebten. Aber der Sachverhalt liegt dennoch so einfach nicht. 
Kant hat die Empfindung nicht deduziereu wollen, aber er hat sie 
dennoch von der Deduktion nicht völlig ausgeschlossen. In den 
Antizipationen der Wahrnehmung hat er dem eigentümlichen 
Verhältnis, das sich an dieser Stelle zwischen Rationalismus und 
Empirie entfaltet, einen präzisen Ausdruck geliehen. Die Empfindung 
lässt sich nicht begreiflich machen, rationalistisch verarbeiten. 
Aber etwas an ihr, der Grad ihrer Realität lässt sich a priori 
antizipieren. Kant drückt selber sein Erstaunen über diesen höchsten 
Trumpf aus, den der Intellektualismus der Erfahrung gegenüber 
ausspielt. Es sieht beinahe so aus, als könne man, mit der Gesetzes- 
tafel des Eategorienschemas in Händen, das Wunder aller Wunder 
leisten und einen Blick um die Ecke werfen. 

Der Grad der Realität wird antizipiert, die Realität selber, 
das heisst, die Empfindung lässt sich nicht apriorisieren. So ein- 
leuchtend dies zu sein scheint, so zweideutig giebt es sich für 
den Anfang. Die Empfindung lässt sich nicht apriorisieren. Der 
Verstand hat kein Kriterium, wonach einem bestimmten Tone, 
einer bestimmten Farbe ein prinzipieller Vorrang vor den übrigen 
zukäme. Die inhaltliche Qualifikation eines Objektes, sein Em- 
pfindungsmaterial lässt sich in kein kategoriales Gefüge zwängen. 
Aber das Urfaktum der Empfindung, die Empfindung über- 
haupt scheint in der Kategorie der Qualität und ihren Teil- 
momenten, der Realität, Negation, Limitation a priori einsichtig 
zu sein. Denn mit dem Grade der Empfindung ist die Em- 
pfindung ihrem Begriff nach bereits vorausgesetzt, freilich 
ohne Rücksicht auf ihre qualitative Bestimmtheit. Somit erfährt 
das rationalistische Prinzip eine ungeahnte Erweiterung. Wenn 
ihm auch die sinnliche Fülle der Erscheinungen verschlossen 
bleibt, an das Thor der Erscheinungswelt vermag es dennoch vor- 
zudringen. Der Verstand begreift nicht die einzelnen Erschein- 
ungen, die einzelnen Empfindungen. Aber er deduziert ihr be- 
griffliches, abstraktes Sein. Es nimmt sich indessen wie ein selt- 
samer Widerspruch aus, dass der Verstand auf der einen Seite 
nicht die Kraft besitzen sollte, aus sich heraus die Kategorien zu 



Die Grenzen des Empirismus und des Rationalismus etc. 91 

dedazieren, auf der anderen Seite gewürdigt wird, das Faktum 
der empirischen Empfindung in seinen eigenen Tiefen zu be- 
gründen. Dieser Widerspruch löst sich freilich, sofern man ihn 
an der Wurzel fasst. Wir leugnen jenes dem Verstände zuge- 
schriebene Vermögen, ein ihm so völlig Fremdes, wie die Em- 
pfindungsmannigfaltigkeit, den Stoff der Sinnenwelt, zu deduzieren. 
Ein so unfassbares Heraustreten aus seinem Bereich wäre ein 
Mysterium. Der Verstand ist nichts als die Einheit jener Funk- 
tion, die sich in der Systematik der Kategorien zu bewähren hat. 
Wie er sich im Sinne Kants der Empfindung, eben desjenigen, 
das ausserhalb der Kategorien ruht, sollte bemächtigen, wäre kaum 
zu begreifen. Das Argument, die Aktivität des Verstandes, 
könne bloss an ihrem Gegenteil sichtbar werden, bedinge also als 
Korrelat das passive Gegebensein der Empfindungsmaterie ist purster 
Psychologismus. Für die subjektive, psychologische Auffassung 
mag es sich dergestalt verhalten, und so wie die Aufnahme einer 
einzigen Empfindung losgelöst von allen anderen Empfindungen 
ein Ding der Unmöglichkeit ist, so wird die innere Erfassung der 
Spontaneität des Verstandes bloss in seinem Kontraste zur Rezep- 
tivit&t der sinnlichen Inhalte vor sich gehen können. Aber ein 
Rekurs auf psychische Verhältnisse ist keine transscendentale De- 
duktion. Logisch ist eine Realität nicht erst durch Entgegen- 
setzung einer anderen bedingt. Ebenso könnte man zum Exempel 
argumentieren, der Begriff des Bewusstseins setze zugleich ein 
ausserhalb der Bewusstseinssphäre Gegebenes voraus, die imma- 
nente Philosophie sei also auch analytisch, nach dem Satz des 
Widerspruchs, ein Unbegriff. Und so Hesse sich Metaphysik 
gleichsam aus der hohlen Hand schöpfen, aus vermeintlichen Denk- 
notwendigkeiten würden fadenscheinige Seinsnotwendigkeiten her- 
vorgesponnen. Zum Überflusse darf noch bemerkt werden, dass 
jenes Gegenstück, an dem sich in seiner Eigenart der Verstand 
erst durchsichtig werden müsse, ebenso gut in der Vernunft als 
in der Sinnlichkeit gesucht werden könne. 

Auf dem Wege einer sinnlichen transscendentalen Deduktion 
gelangt man also niemals zum Begriff eines Etwas, das als Em- 
pfindnngsinhalt qualifiziert erscheint. Dieser Begriff kann der 
transscendentalen Logik bloss vorausgesetzt, nicht erst von ihr 
geschaffen werden. Erst an diesem vorausgesetzten, in der Er- 
fahrung vorgefundenen Etwas vermag die transscendentale Methode 
anzusetzen und aus ihm das apriorische Element der Intensität 



92 0. Ewald, 

herauszuziehen. Allerdings ist dies ein Apriori zweiten Grades, 
denn es ist nicht bloss aus der Möglichkeit der Gegenstände, viel- 
mehr aus deren Wirklichkeit gezogen. Man suche dem nicht mit 
dem Einwand zu begegnen, Kant habe in seiner Abweisung der 
Theorie vom leeren Eaum als einem blossen Hirngespinnste die 
Erfüllung des Baumes mit Materie, also mit Empfindungsinhalten 
a priori deduziert. Denn eben jene Abweisung gründet sich auf 
keine abstrakte Vernunfthandlung, sondern auf die konkrete Be- 
rücksichtigung der empirischen Wirklichkeit, die sich immer auch 
als Empfindung nicht bloss als Anschauung manifestiert. 

Die Empfindung bildet die untere Grenze der transscenden- 
talen Logik. Aber sie ist nicht einmal als Grenzbegriff aus 
der transscendentalen Logik selber gezogen. Sonst ergäbe sich 
der seltsame Widerspruch, dass sie, die dem Kantischen System 
den Ort der Realität zu vertreten hat, ein logisch völlig imagi- 
näres, bloss methodisch wertvolles Element repräsentierte, ähnlich 
der Idee des Dinges an sich, dem oberen Grenzbegriff. Also ist 
sie unmittelbar ans der Anschauung geholt, in der Breite und 
Fülle eines empirischen Faktums gesetzt. Das steht in vollem 
Einklänge mit Kants Erörterung seiner Methode in den „meta- 
physischen Anfangsgründön", wo die Materie, der Gegenstand der 
Physik als etwas empirisches hingestellt wird, das der Transscen- 
dentalismus zwar nicht aus eigenen Begriffen erzeugen, wohl aber 
seinen Begriffen entsprechend bearbeiten könne. Dieser Methode 
der „metaphysischen Anfangsgründe^ >) gehen die Antizipationen 



nl^lcse muss nun zwar jederzeit lauter Prinzipien, die nicht em- 
pirisch sind, enthalten — denn darum führt sie eben den Namen einer 
Metaphysik — aber sie kann doch sogar entweder ohne Beziehung auch 
irgend ein bestimmtes Erfahrungsol jekt, mithin unbestimmt in Ansehung 
der Natur dieses oder jenes Dinges der Sinnenwelt, von den Gesetzen, 
die den Begriff einer Natur überhaupt möglich machen, handeln, und als- 
dann ist es der transscendentale Teil der Metaphysik der Natur; oder 
sie beschäftigt sich mit einer besonderen Natur dieser oder jener Art 
Dinge, von denen ein empirischer Begriff gegeben ist, doch so, dass ausser 
dem, was in diesem Begriff liegt, kein anderes empirisches Prinzip zur 
Erkenntnis derselben gebraucht wird, z. B. sie legt den empirischen Be- 
griff einer Materie oder eines denkenden Wesens zum Grunde und sucht 
den Umfang der Erkenntnis, deren die Vernunft über diese Gegenstände 
a priori fähig ist, und da muss eine solche Wissenschaft noch immer eine 
Metaphysik der Natur, nämlich der körperlichen oder denkenden Natur 
heissen, aber es ist alsdann keine allgemeine, sondern besondere meta- 
physische Naturwissenschaft ~ Physik und Psychologie — in der jene 



Die C^renzen des Ümpirismos und des Rationalismus ete. 93 

der Wahrnehraang in der Kritik der reinen .Vernunft wegweisend 
voran. Auch sie setzen mit dem transscendentaleu Apparat an 
empirische Werte an und apriorisieren sie, soweit dies sich mög- 
lich zeigt. 

Es stünde im seltsamsten Widerspruche mit der früher vor- 
gebrachten Auffassung der Kategorien als empirisch behafteter 
Vernunftfunktionen, wenn die Vernunft, die einerseits in ihrer 
eigenen Domäne eine breite Einflusssphäre der Sinnlichkeit ein- 
räumen muss, dennoch andererseits sogar über die Empfindung 
Macht besässe. Wenn aber das letztere Verhältnis in unserem 
Sinn interpretiert wird, schwindet der offenkundige Widerspruch. 
Beide Auffassungen treten sodann vielmehr zu harmonischer Er- 
gänzung zusammen, verdeutlichen und vollenden einander. Wie 
die reine Vemunfthandlung der transscendentaleu Appei^zeption 
den Ur begriff schafft, so btellt die Materie der Empfindung 
das ürfaktum dar. Die Macht dieses Urfaktums würde sich 
dann einerseits in seiner unsichtbaren Einwirkung auf die Kon- 
stituierung der Kategorien und der von denselben abgeleiteten 
Begriffe, die Macht des Urbegriffes in der transscendentaleu Be- 
handlung der Empfindungsmaterie äussern, wie sie vornehmlich in 
den Antizipationen zu Tage tritt. Es fände zwischen den beiden 
Gebieten, dem der Vernunft und dem der Sinnlichkeit eine Art 
Wechselwirkung statt, die sich in Verstandesbegriffen und Grund- 
sätzen kundgäbe. 

Das sind die äussersten Aspekte, in die Kants Methodologie 
einmündet. Rationalismus und Empirismus stehen sich nicht mehr 
fremd und unnahbar gegenüber, den Blick auf eine in gerader 
Richtung verlaufende Grenzlinie geheftet, sondern durchdringen 
einander und lösen wechselseitig neue Kräfte aus. Es darf uns 
nicht mehr Wunder nehmen, dass einerseits von empirischer Be- 
haftung der Kategorien gesprochen wui'de, andererseits das irra- 
tionale Element der Materie, der Empfindung in einer bestimmten 
Beziehung rationalisiert, kategorial fixiert wurde: solche schein- 
bare Gegensätzlichkeit der Resultate soll uns keineswegs zu einem 
unzersetzbaren Widerspruch gerinnen. Aus der vermeintlichen 
Dissonanz erwächst uns in Wahrheit eine neue Harmonie. Es ist 



transscendentaleu Prinzipien auf die zwei Gattungen der Gegenstände 
unserer Sinne angewandt werden.'^ Vorrede zu den „Metaphysischen An- 
fangsgründen der Naturwissenschaften^. 



04 0. iiwald, 

eine Bestätigung für die empirische Behaftung der EategorieD, 
keine Widerlegung derselben, wenn sogar ein Element der Wahr- 
nehmung, nämlich das intensive Element apriorisiert werden durfte. 
Denn darin ist nicht die Zusicherung enthalten, dem Verstände 
eigne eine geheimnisvolle Macht über die Sinnenwelt, jene Macht, 
die Schelling und Hegel im Zeichen der Dialektik sich entfalten 
liessen, sondern im Gegenteile das einfache Geständnis, der Ver- 
stand setze dort, wo er in kategoriale Wirksamkeit trete, bereits 
die Empfindung als Urfaktum voraus, wenngleich lediglich als 
abstraktes Urfaktum und nicht in bestimmter, inhaltlicher Quali- 
fikation. Es lässt sich für dies eigentümliche Wechselverhältnis 
ein zwiefacher Ausdruck finden, ein rationalistischer und ein em- 
piristischer, die aber im Grunde das Gleiche besagen. Jener 
würde lauten: der Verstand apriorisiert mit der Intensitätsskala 
der Empfindung zugleich das allgemeine, abstrakte Urfaktum der 
Empfindung. Dieser: der Verstand ist an das Faktum der Em- 
pfindung gewiesen, um an ihr apriorisiercnd in Funktion zu treten 
und ihre Intensität zu antizipieren. Letzterer Ausdruck ist kor- 
rekter und erreicht den Kern der Sache. Er charakterisiert deut- 
lich die Aufgabe und Bestimmung des Verstandes in seiner Rich- 
tung auf die Möglichkeit der Erfahning. Nicht die besondere 
Beschaffenheit der Sinnenwirklichkeit, ihre Inhaltsfülle, der Reich- 
tum an Tönen und Farben, die Nuancen von Licht und Schatten, 
sondern einzig dies eine, dass es sinnliche und empirische Inhalte 
giebt, das dürre Faktum der Existenz ist ihm Voraussetzung. 
Aber auch dies bereits muss empirische Behaftung und Beschrän- 
kung genannt werden. Denn ein völlig reines Apriori weiss sich 
auch frei von dem blossen Dasein eines anders gearteten, erfah- 
rungsmässig zu bestimmenden Etwas. Die transscendentale Ana- 
lytik weist uns demnach keinerlei ideale Apriorität, sondern 
höchstens eine approximative, sie zeigt uns wohl den reinen Ver- 
stand, der aus der Apperzeption entspringt und sich in kategorialen 
Einheitsformen bewährt, aber sie zeigt uns zu gleicher Zeit die 
absolute Grenze des Verstandes, jenes Differenziale des Bewusst- 
Seins, Maimons Ding an sich, den irrationalen Faktor der Em- 
pfindung in seiner Einwirkung auf jenen ersteren. Und besagte 
Einwirkung liesse sich wohl in allen einzelnen Kategorien und 
Grundsätzen, nicht bloss in den Antizipationen der Wahrnehmung 
nachweisen. Hier ist es von Interesse, auf Kants Unterscheidung 
^wischen mathematischen und dynamischen Kategorien hinzuweisen. 



l>ie Örenzen des fimpirismns und des Rationalismus etc. 96 

and seine Erläntening, dass jene auf Gegenstände der Anschanung, 
der reinen sowie der empirischen geben, diese anf die Existenz 
besagter Gegenstände gerichtet seien. Es scheint für den ersten 
Augenblick einzuleuchten, dass die dynamischen Kategorien einer 
noch stärkeren empirischen Behaftnng unterworfen sind, da das 
Dasein ein Faktum ist, und über den blossen Begriff hinausgeht 
„In der Anwendung der reinen Verstandesbegriffe auf mögliche 
Erfahrung ist der Gebrauch ihrer Synthesis entweder mathema- 
tisch oder dynamisch; denn sie geht teils bloss auf die An- 
schauung, teils auf das Dasein einer Erscheinung überhaupt. 
Die Bedingungen a priori der Anschauung sind aber in Ansehung 
einer möglichen Erfahrung durchaus notwendig, die des Daseins 
der Objekte einer möglichen empirischen Anschauung an sich bloss 
zufällig. Daher werden die Ginindsätze des mathematischen Ge- 
brauches unbedingt notwendig, apodiktisch lauten, die aber des 
dynamischen Gebrauches werden zwar auch den Charakter einer 
Notwendigkeit a priori, aber bloss unter der Bedingung des empi- 
rischen Denkens in einer Erfahrung, mithin bloss mittelbar und 
indirekt bei sich führen, folglich diejenige Evideoz nicht enthalten 
— obzwar ihrer auf Erfahrung allgemein bezogenen Gewissheit 
unbeschadet — die jenen eigen ist.** Diese Sätze sind ein klassi- 
scher Ausdruck für jene Relation, die in der empirischen Behaf- 
tnng der Kategorien gegeben war. Es mag einen wundem, dass 
wir sie nicht als wirksamen Stützpunkt an die Spitze unserer 
Ausführungen gesetzt haben. Aber Kant spricht ja lediglich von 
den djmamischen Kategorien: und wir redeten Ton den Kategorien 
im Aligemeinen« Die dynamischen sind nicht mehr in jeuer ideal 
aprioristischen Reinheit gegeben, weil sie ein empirisches Denken 
und sonach einen Gegenstand des empirischen Denkens voraus- 
setzen. Das offenbart sich insbesondere am Relationsbegriff, in 
den Analogien der Erfahrung. Hier wird das Zeitverhältnis näher 
bestimmt, das Zeitverhältnis zwischen Dingen, Phänomenen, Gegen- 
ständen der Wahrnehmung. Das letztere leuchtet von selber ein. 
Wo von Zeitverhältnissen die Rede ist, da handelt es sich natur- 
gemäss um das Verhältnis einzelner Phänomene zu einander, da 
die Zeitform von Kant nicht auf die Sphäre der Dinge an sich 
bezogen wird. Wenn also diese Verhältnisse auch an sich apriori- 
siert werden können, in den Begriffen der Kausalität, der Sub- 
stanz, der Wechselwirkung, so bedeutet ihre unvermeidliche Bezug- 
aabme auf Erfahrung eine empirische Bebaftung. 



96 0. Ewald, 

Aber die Linie der transscendentalen Unterscheidung ist von 
Kant nicht völlig richtig gezogen: mathematische und dynamische 
Kategorien mögen im bezeichneten Punkte von einander abweichen : 
immerhin geht es nicht an, den Verstand säuberlich in zwei 
Hälften zu zerlegen, deren eine, die mathematische, eine streng 
apriorische Konstitution besitzt, deren andere, die dynamische, 
sich empirisch behaftet zeigt. Das letztere Schicksal erreicht 
auch die erstere Gruppe, wenn auch wieder in anderem Sinn, als 
es sich bei den Analogien der Erfahrung und den Postulaten des 
empirischen Denkens weist. In den Antizipationen der Wahrnehmung 
durften wir sogar den klassischen Beleg dafür gewinnen. Auch 
hier wird die Existenz einer wahrnehmbaren Empfindungsmannig- 
faltigkeit, die Existenz eines Etwas überhaupt, vorausgesetzt. Der 
Unterschied dieser und der dynamischen Kategorien ist darin 
gegeben, dass für die Konfiguration der ersteren das Dasein der 
Dinge nicht in Anbetracht kommt, sofern sich die Intensitätsskala 
der Erscheinungen vom Nullpunkte an zu jedem beliebigen Grade 
unabhängig von den Erscheinungen selber und ihrer Existenz 
nach mathematischen Prinzipien frei darstellen lässt: wogegen für 
die einzelnen dynamischen Kategorien, für Kausalität, für Substanz 
und Wechselwirkung, für Möglichkeit, Wirklichkeit, Notwendigkeit, 
der Dingd Dasein selber, als ein sie konstituierender Faktor in An- 
betracht kommt. Denn was ist „Ursächlichkeit** oder „Möglichkeit** 
anderes als eine bestimmte Daseinsform, nach der nicht gefragt 
werden kann, ohne dass zugleich nach dem Dasein der Objekte 
gefragt würde? Die dynamischen Kategorien sind ihrem Bestände 
nach somit nicht bloss an das Faktum gebunden, dass es Inhalte, 
Gegenstände der Erfahrung giebt, sondern sie zeigen sich von 
diesem Faktum gleichsam innerlich imprägniert, sie sind ihrer 
Wesensart nach von jener empirischen Voraussetzung bestimmt. 
Betrachten wir dagegen die mathematischen Kategorien und unter 
diesen zunächst die Qualität als Basis für die Antizipationen der 
Wahrnehmung. Hier hat sich die empirische Behaftung in anderem 
Ausmasse, in anderer Gestalt gewiesen. Das stoffliche Etwas, der 
empirische Inhalt ist auch hier Voraussetzung: eine Intensitätsskala 
muss ja auf Empfindungselemente bezogen werden, sie kann nicht 
losgelöst von diesen gleichsam im Freien schweben. Aber wie 
bereits hervorgehoben, diese Abhängigkeit wächst nicht in die innere 
Struktur der genannten Kategorie ein, wie bei den Analogien der 
Erfahrung und den Postulaten des empirischen Denkens. Und 



Die Grenzen des Empirismus und des Bationalismus etc. 9? 

ebenso verhält es sich im Prinzip mit den Axiomen der Anschauung, 
bei denen vom Stoffe völlig abgesehen wird und bloss die räum- 
liche Konfiguration der Dinge, ihre Gestaltung in Erwägung kommt. 
Der Unterschied ist somit keineswegs darin gegeben, dass die 
mathematischen Kategorien vollständig jeglichen empirischen Mate- 
riales ledig sind, im Gegensatz zu den dynamischen. Es sind viel- 
mehr beide an jenes sinnliche Etwas gewiesen, das nicht zu dedu- 
zieren ist. Das ist auch bereits in der Problemstellung vorbereitet, 
die auf die Möglichkeit der Erfahrung abgeht. Indessen die mathe- 
matischen Kategorien haben, die einen an der Kontinuität räum- 
licher Gestalt, die anderen an der Kontinuität des Empfindungs- 
grades, ausserhalb jenes Etwas ein Mannigfaltiges der reinen An- 
schauung, an dem ihre Arbeit, von jedweder empirischen Materie 
absehend, ansetzen kann. Wogegen die dynamischen Kategorien mit 
besagtem Etwas so völlig verwoben sind, dass sie sich nicht bloss von 
aussen darauf, als ein Mögliches, beziehen, an dem mathematische 
Verhältnisse statuiert werden, sondern es völlig in sich aufnehmen, 
in seiner Rationalisierung, die ebenso seine Existenzialisierung 
bedeutet, sich erschöpfen. 

Bei dieser Untersuchung muss man allerdings den zwiefachen 
Begriff der Anschauung im Auge behalten und zwischen reiner 
and empirischer Anschauung unterscheiden. Dass die Kategorien 
ein bestimmtes, konstantes Verhältnis zu ersterer haben, und zwar 
zunächst zur Zeitanschauung, das sich in den Schematismen und 
auch in den Grundsätzen entfaltet, bedeutet noch keineswegs eine 
empirische Behaftnng derselben. Denn diese Anschauung ist 
a priori vorhanden wie das Kategorienschema. Dasselbe ist fest- 
zuhalten, wenn man auf Kants am Abschlüsse der Lehre von den 
Grundsätzen verzeichnete Bemerkung hinweist, es sei in letzter 
Linie nicht innere, sondern äussere Anschauung, auf die die Kate- 
gorien bezogen werden müssten. „Noch merkwürdiger aber ist, 
dass wir, um die Möglichkeit der Dinge zufolge der Kategorien 
darznthun, nicht bloss Anschauungen, sondern immer sogar äussere 
Anschauungen bedürfen.*' Sind diese äusseren Anschauungen rein, 
dann gehören sie der Apriorität des Baumes an und die Beziehung 
des Verstandes auf sie ist keinerlei empirischer Behaftnng gleich- 
zusetzen. Allerdings handelt es sich nicht bloss um reine, sondern 
auch um empirische äussere Anschauung. Kant schreibt: „Wenn wir 
zum Beispiel die reinen Begriffe der Relation nehmen, so finden wir, 
dass L, um dem Begriff der Substanz korrespondierend, etwas 



98 0. Ewald, 

Beharrliches in der Anschannng zu geben . . . wir eine AnschauüDg 
im Raum, der Materie bedürfen, weil der Raum allein beharrlich 
bestimmt ist, die Zeit aber, mithin alles, was im innem Sinn ist, 
beständig fliesst." Noch klarer im Folgenden: „Um Veränderung 
als die dem Begriff der Kausalität korrespondierende Anschauung 
darzustellen, müssen wir Bewegung als Veränderung im Raum 
zum Beispiele nehmen, ja sogar dadurch allein können wir uns 
Veränderungen, deren Möglichkeit kein reiner Verstand begreifen 
kann, anschaulich machen.*" Wenn Kausalität auf Bewegung be- 
zogen wird, so ist sie zu einem empirisch sinnlichen Datum in Be- 
ziehung gesetzt, denn Kant nennt bereits in der transscendentalen 
Ästhetik die Bewegung zum Unterschiede von Raum und Zeit ein 
bloss Empirisches. Indessen, diese Beziehung auf empirische 
Sinnlichkeit bleibt durch die reine Sinnlichkeit vermittelt, wie es 
der Schematismus der reinen Verstandesbegriffe zeigt. Die Kate- 
gorien werden unmittelbar bloss auf die Formen reiner Zeitlichkeit 
bezogen, und aus diesem Verhältnis, das naturgemäss keine em- 
pirische Behaftung bedeutet, erwächst das transscendentale System 
der Grundsätze. 

Dass jene reinen Anschauungsformen, Raum und Zeit, selber 
wiederum der empirischen Vertretung bedürfen, bestimmter räum- 
licher und zeitlicher Gebilde, ist eine Angelegenheit, die in 
höherem Masse die Ästhetik als die Analytik interessiert. Und 
wenn von einer empirischen Behaftung hier überhaupt die Rede 
sein dürfte, würde sie die Sinnlichkeit angehen, nicht Verstand 
noch Vernunft. Denn dies berührt bloss die Anwendung der Ver- 
standesbegriffe, nicht auch ihre Entstehung und innere Struktur. 
Die Frage, die uns angeht, ist nicht die, ob die Kategorien auf 
Gegenstände der Sinnenwelt angewendet und dadurch auf empi- 
risches Niveau herabgezogen werden, denn die Beantwortung 
dieser Frage lässt die genetische Apriorität der Kategorien unbe- 
rührt und berücksichtigt eigentlich bloss die nachträgliche Ver- 
wendung im Dienste der Erfahrung. Der Kausalitätsbegriff könnte 
in völlig aprioristischer Reinheit entsprungen sein, und dennodi 
auf siunliche Objekle bezogen werden. Entstehung und Ver- 
wendung sind zweierlei, Der Intellekt wäre gleichsam sein 
Heimatsort, die Sinnlichkeit das Gebiet seiner praktischen Wirk- 
samkeit. Aber hier ist die Frage nicht nach der Anwendung der 
Kategorien, nicht nach dem Weg, den sie nehmen, um sich in 
sachlich bestimmte Erkenntnisse umzusetzen, vielmehr nach ihrer 



tHe Grenzen des Empirismus und des llationaiismiis etc. öd 

iDDeren, ursprünglichen Struktur. Die Entscheidung jener Frage 
gehört also mehr in den Rahmen der Ästhetik, als in den der 
Analytik. 

Wir müssen aber noch einen tieferen Einblick in das Wesen 
der empirischen Behaftung gewinnen. Dass dieselbe nicht mit 
empirischer Herkunft verwechselt werden darf, ist bereits erwähnt 
worden. Die Kategorien sind nicht durch Übung noch durch 
Assoziation entstanden. Kant selber hat eine empirische Deduk- 
tion derselben als ein Missverständuis bezeichnet. Diese Physio- 
logie des Verstandes, die Locke betrieben habe, scheint ihm 
fruchtlos für die Aufgabe der Vernunftkritik. Auch wenn es ge- 
länge, die psychologische Gelegenheitsursache für die reinen Be- 
griffe zu entdecken, so bliebe das immer bloss eine Gelegenheits- 
ursache, keineswegs wäre es als erschöpfender Grund ihrer Aprio- 
rität anzusehen. Die letztere ist nicht empirisch, nicht genetisch 
zu erklären, eben um ihrer logischen Bedeutung, um ihrer lo- 
gischen Ursprünglichkeit willen, sondern ist uns einsichtsvoll 
gegeben. 

Wenn wir dennoch das Apriori nicht als ein völlig Reines 
bezeichnen, so ist das keine Annäherung an den trivialen psycho- 
logistischen Empirismus. Die empirische Behaftung will anders 
verstanden sein. Zu diesem Zwecke werden wir eine kurze Über- 
sicht über die einzelnen aprioristischen Geistesgebilde halten. 

Ein vollkommen reines Apriori gewährleistet uns die formale 
Logik. Der Satz der Identität ist frei von jedwedem Empirismus 
und es kommt ihm unbegrenzte Allgemeinheit zu. Desgleichen 
der Satz des Widerspruches, der Satz des ausgeschlossenen Dritten. 
Zumeist wird auch der Satz vom zureichenden Grunde in diese 
Reihe aufgenommen. Kein empirischer Faktor kann hier nach- 
gewiesen werden. Dass ein Ding mit sich selber identisch ist, 
sich nicht selber widerspricht, ist ein Grundsatz, der von der be- 
sonderen Eigenart jenes Dinges absieht, es als ein beliebiges Et- 
was betrachtet. Der Satz A = A und die anderen Axiome der 
formalen Logik bleiben, so paradox es klingt, zu Recht bestehen, 
auch wenn es gar keine konkreten Inhalte giebt, durch die der 
Begriff A erfüllt werden könnte. Was durch A bezeichnet wird, 
das ist dem axiomatischen und apodiktischen Charakter des Satzes 
gegenüber völlig unwesentlich. Dieser Satz hat seinen Sinn und 
Wert in sich selber. Er rührt unmittelbar an eine innerliche 
Wesensart des Geistes and der Welt. Man kann dies charakte» 

r 



100 0. fiwald, 

ristische Verhältnis auch folgendermassen ausdrücken: Für die 
Grundsätze der analytischen Logik fungiert jeglicher konkreter 
Gegenstand lediglich als Symbol, als nichts mehr denn als Symbol. 
Es ist bloss die sinnliche Schwäche unserer Sprache und unseres 
Denkens, die uns nötigt, für jenes völlig allgemeine und abstrakte 
X irgend ein besonderes, bestimmtes Element, sei es auch bloss 
den Buchstaben A, einzusetzen, das die Stellvertretung für die 
höchste formale Abstraktion zu übernehmen hat. Denn auch ^A*" 
ist, sofern es ein akustisches Lautbild oder ein optisches Schrift- 
zeichen bedeutet, für den völlig allgemeinen Inbalt des Satzes der 
Identität bereits ein sinnlicher Überfluss, ein Superplus über seine 
rein rationale Bedeutung, ein blosses Symbol. 

Anders die Lehrsätze der Mathematik. Auch sie tragen das 
aprioristische Gepräge des sie ursprünglich in freier Schöpferkraft 
darstellenden und konstruierenden Geistes. Aber die sinnliche 
Darstellung, das Bildhafte der Anschauung ist ihnen wesentlich: 
nicht mehr Symbol oder Stellvertretung. Die geometrischen 
Formeln, die die Eigenart des Kreises, der Ellipse beschreiben, 
sind ohne Ellipse oder Kreis sinnlos und leer. Ihr Wert, ihre 
Bedeutung entsteht gleichzeitig mit dem geometrischen Gebilde, 
dessen Wesensart sie kennzeichnen. Freilich ist damit nicht die 
empirische, sondern die reine, ideale Anschauung gemeint. Einen 
absoluten Kreis, eine absolute Ellipse sehen wir nirgends, viel- 
mehr konstruieren wir sie bloss nach den Prinzipien reiner Sinn- 
lichkeit. Aber wie gesagt: an die anschauliche Realität dieser 
Konstruktion bleiben wir gebunden. An ihr gestaltet sich das 
Gebäude der Philosophie. Immerbin ist das noch keine empirische 
Behaftung, da es die freie Produktivität reiner Sinnlichkeit ist, 
die mit ihren Gebilden zugleich das logische Gesetz dieser Gebilde 
schafft. 

Wieder anders die transscendentale Logik, die Logik der 
Naturforschung in der weitesten Bedeutung des Wortes. Sie 
unterscheidet sich von der formalen und von der mathematischen 
Logik. Von jener abermals dadurch, dass die gegenständliche 
Unterlage ihr wesentlich, nicht bloss stellvertretendes Symbol ist. 
Aber dennoch nicht völlig im Sinne der mathematischen Logik. 
Diese ist durchaus an ihr anschauliches Substrat gebunden, ist 
mit demselben in bestimmter Bedeutung identisch. Nicht so die 
transscendentale Gegenstandslogik. Vor allem mnss man, um 
sogleich den Unterschied zwischen ihr und der . mathematischen zu 



r 



Die Grenzen des Empirismus und des Rationalismus etc. 101 

markieren, sich darauf besinnen, dass die adäquaten Objekte der 
letzteren reine Formen, die der ersteren hingegen empirische Ma- 
terien sind. Das Gesetz des Kreises ist der Kreis selber, gleich- 
sam von einer anderen Seite betrachtet. Das Gravitationsgesetz, 
das Gesetz der Massenanziehung, dagegen hat mit der Masse selber 
nichts zu schaffen, es konstruiert eine mechanische Beziehung 
zwischen abstrakten Massenpunkten, nic)it aber die Masse in ihrer 
sinnlichen Mannigfaltigkeit. Dennoch ist auch diese Logik an 
ihren Gegenstand gebunden. Nicht bloss das Newtonsche Gesetz, 
das nicht mehr der transscendentalen Logik, sondern der speziellen 
Physik angehört, auch der allgemeine Satz der Kausalität hätte 
keinen Sinn mehr, wenn es nicht sinnliche Gegenstände gäbe, die 
ihm entsprechend sich wechselweise verketten. Man kann freilich 
sagen, dass ein Gesetz zu Rechte bestehe, unabhängig von dem 
Stoffe, auf den es Bezug nimmt. Denn es sei das Wesen der 
Norm, nicht an die einzelnen, die individuellen Vorkommnisse ge- 
bunden zu sein. Dem Gravitationsgesetz eigne vollster Wahr- 
beitswert, auch wenn es nirgends eine Materie gäbe: da seine 
Richtigkeit in eben dem Augenblicke, in dem die letztere in 
Existenz träte, erhellen müsste. Das ist allerdings wahr, aber 
nicht im Widerspruch mit unseren Behauptungen. Eben das be- 
sagt der überindividuelle Wert jedweden Gesetzes, eines 
apriorischen oder empirischen, dass es sich nicht in einem ein- 
zelnen Faktum und auch nicht in der Summe aller Fakta er- 
schöpft. Es ist eine Formel, eine Norm fiir jegliches mögliche 
Faktum und daher nicht im strengen Sinn au deren Wirklich- 
keit gebunden. Diese ÜDabhängigkeit indessen ist bloss eine 
formale, keine inhaltliche. Da ein Gesetz die einsichtvolle Erfassung 
bestimmter, innerer, bestimmter wesentlicher Zusammenhänge 
bedeutet, die individuelle, die vergängliche Existenz eines Dinges 
nicht aber das ihm Wesentliche, seine Essenz bedeutet, so ist dem 
Gesetz seiner Allgemeinheit entsprechend seine formale Reinheit, 
seine Unabhängigkeit vom einzelnen Dasein garantiert. Wir aber 
fordern eine viel höhere Reinheit und Idealität, als diese Freiheit 
in der äusseren Form und Anwendbarkeit. Wir fordern eine 
materiale Reinheit und Unabhängigkeit. Und diese vermag bloss 
ein apriorisches Gesetz zu gewährleisten, in das keinerlei empi- 
rische Faktoren aufgenommen worden sind. Die Erfüllung jener 
Fordemng bot im strengsten Sinn bloss die formale Logik, deren 
Prinzipien eben wegen ihrer vollkommenen Erfahrungsreinheit 



102 O.Ewald, 

^metalogische^ genannt werden dürfen. Sie sind unmittelbar ein- 
sichtig gegeben, wie das Wesen des Geistes selber, sie sind reinste 
Essenz, an gar keine Existenz gebunden. Die Logik der Mathe- 
matik kommt dieser Apriorität nahe, aber sie setzt auch, wenn 
man von ihrer Darstellung im empirischen Raum absieht, den 
Raum überhaupt, die Zeit überhaupt voraus, im Besonderen ferner 
den dreidimensionalen Raum und die eindimensionale Zeit. Inwie- 
weit Raum und Zeit ihrerseits selber als apriorische Daten, in- 
wieweit sie als Erfahrungsfakta zu betrachtdn sind, das ist eine 
Frage, die anderswo zu entscheiden ist. Sicherlich aber ist hier 
das Mass «von Voraussetzungen ein grösseres, als in der formalen 
Logik, auch wenn es nicht angeht, von empirischer Behaftung 
zu reden. Die transscendentale Logik aber ist unzweifelhaft em- 
pirisch behaftet. Sie hat vor sich eine Welt der Gegenstände, 
der Gegenständlichkeit, eine Natur in weitester Bedeutung, von 
der sie nicht absehen kann. Und zwar setzt sich die Stufenleiter 
der Behaftung hier kontinuierlich fort. Die transscendentale Logik 
setzt unter allen Umständen, mit der mathematischen, Raum und 
Zeit voraus. Diese Prämissen sind keineswegs zu umgehen: die 
Kategorien werden, wie Kant in den Schematismen und Grund- 
sätzen darstellt; hohl und leer, wenn man von der Sinnlichkeit 
und ihren Formen, von Raum und Zeit absehen will. Aber reine 
Raumbestimmungen und Zeitbestimmungen, wodurch transscenden- 
tale Analytik in Mathematik aufgehoben würde, erschöpfen ihr 
Wesen keineswegs. Wir liefern ein Beispiel. Die Kausalität ist 
nicht reine mathematische Topik, Fixierung zweier Zeitpunkte in 
ihrem wechselseitigen Verhältnis. Raum und Zeit sind hier eben 
bloss sinnliche Medien und Schematismen, unerlässlich für konkrete 
Darstellung der Verstandesbegriffe, keineswegs aber wesenseins 
mit ihnen, sie vollinhaltlich definierend. Dass dem so ist, lehrt 
bereits die Einleitung der „Kritik**. „Man nehme den Satz: Alles, 
was geschieht, hat seine Ursache. In dem Begriff von Etwas, 
das geschieht, denke ich zwar ein Dasein, vor dem eine Zeit vor- 
hergeht, und daraus lassen sich analsrtische Urteile ziehen. Aber 
der Begriff einer Ursache liegt ganz ausser jenem Begriff und 
zeigt etwas von dem, was geschieht, Verschiedenes an, ist 
also m dieser letzteren Vorstellung gar nicht mit enthalten.^ 
Es ist also nicht lediglich reine abstrakte Zeitbestimmung, 
sondern die Bestimmung von einem Etwas, das einem andern 
vorhergeht 



Die Grenzen des Empirismus und des Rationalismus etc. 103 

Hierin also ist das gelegen, was wir als empirische Be- 
baftung charakterisierten, in der Unmöglichkeit, die Kategorien, 
nicht bloss ihrer Anwendung, sondern auch ihrer begrifflichen 
Struktur nach von aller empirischen Materie abgelöst zu halten. 
Wenn unsere Ausführungen etwas langwierig und schleppend er- 
schienen, so beruht das auf der Schwierigkeit, vor allem der 
Zweideutigkeit des Themas. Denn eine drohende Verwechselung, 
die uns dem empfindlichen Vorwurf der Verflachung ausgesetzt 
hatte, war unbedingt abzuwehren, die von empirischer Behaftung 
und von empirischem Ursprünge. Das letztere wäre müssiges Be- 
ginnen. Es wäre damit behauptet, dass sämtliche logischen Ele- 
mente der Kategorien sich aus Erfahrungen, wohl aus Em- 
pfindungen, zusammensetzen, sowie ein Gestein unter der Lupe 
eine geschlossene, bestimmte Menge von Mineralien als seine Be- 
standteile aufweist, in die es sich restlos zerlegen lässt. Derlei 
Komposita sind dem Empirismus die Verstandesbegriffe. Wir 
hielten uns indessen geflissentlich fem von dieser Deutung. Em- 
pirische Behaftung war uns lediglich eine Grenzvorstellung, ein 
Ausdruck dafür, dass das synthetische Bewusstsein nicht alles zu 
deduzieren vermag, was innerhalb der Kategorien Gesetzesform 
erhält. Dass diese Theorie noch der Vervollkommnung bedarf, 
soll keineswegs geleugnet werden. Unsere Ausführungen bean- 
spruchen nicht mehr zu sein, als ein Fingerzeig. 



Das Christusbild bei Kant 

Von Pfarrer Dr. H. Staeps in Theningen (Baden). 

Dass der Stifter der wahren Kirche, der Lehrer des Evan- 
geliums, die Person Christi bei Kant wohl eine historische Be- 
deutung hat, das Historische an dieser Person aber sehr un- 
wesentlich ist, dürfte jedem Leser Kants gewiss sein. In einer 
Beligion der reinen Vernunft hat ein historisches Christusbild 
keinen Platz. Zwar hat E. Troeltsch „Das Historische in Kants 
Beligionsphilosophie* (Kantstudien 1904, Bd. IX) eingehend ge- 
würdigt als eine „Lösung der praktischen Aufgabe, wie die Keli- 
gionsphilosophie sich zu dem die Praxis beherrschenden Element, 
dem christlichen Landeskirchentum zu verhalten habe'', und hat 
die Einflüsse, unter denen die religionsphilosophischen Arbeiten 
Kants gestanden haben, und damit die Religion i. d. bl. V. als 
eine Kompromissschrift gekennzeichnet, betrachtet aber dennoch 
diese Schrift als eine „Fortbildung und Vertiefung des Kantischen 
Religionsbegriffes'' und bringt als Ergebnis den Kantischen Satz: 
„Das Historische dient nur zur Illustration, nicht zur Demonstra- 
tion." Id genanntem Aufsatz ist auch das Historische bei Kant 
über die Person Jesu kurz gezeichnet. Wollte man aber die Be- 
achtung, die Kant der christlichen Religion zollt, auf die wenigen 
historischen Notizen darüber beschränken, so würde man damit 
der religiösen Vertiefung und der moralphilosophischen Deutung, 
namentlich der Person Jesu bei Kant einfach aus dem Wege 
gehen. In seiner religiösen Tiefe ist das sog. Christusbild bei 
Kant im Unterschied von einem Christus der Geschichte ein 
Christus des Glaubens, dieser aber wiederum nicht ein zu den 
vielen historischen Glaubensvorstellungen über die Person Christi 
neu hinzugefügtes Bild, sondern ein in der reinen, von der Ge- 
schichte unverfälscht bleibenden, Vernunft liegendes, göttliches 
Urbild. Über dieses Urbild redet Kaut in der Sprache der Bibel.* 



Das Cbristusbüd bei Kant. 105 

Die biblischen Ausdrücke aber sind ihm Sinobilder für allgemein 
gütige, reine Vernonftwahrheiten ; sie dienen dazu, solche aus 
Vernunft und Gewissen notwendig sich ergebende Wahrheiten für 
den praktischen Gebrauch anschaulich zu machen, die uns auf 
spekulativem Wege nicht erreichbar sind. Das bleibend Wert- 
Tolle an dem sog. Christusbild bei Kant dürfte sich leicht erkennen 
lassen, nachdem dasselbe einmal aus der Umrahmung der Kan- 
tischen Religionsphilosophie herausgestellt ist. 

Das Sittengesetz ist der diamantene Felsen, auf dem und in 
den hinein Kant den Bau seiner Beligionslehre baut. Religion ist 
Moral. Oberstes Weltgesetz ist das Sittengesetz, wie es lediglich 
formal ursprünglich ins Herz des Menschen geschrieben ist und 
im Innern der Person wurzelt. Zweck und Ziel des Menschen ist 
die Herstellung einer gottwohlgefälligen, d. h. guten, nach den 
Vorschriften ihrer Pflicht handelnden Menschheit gemäss dem 
Ideal des in unserer Vernunft liegenden Urbildes eines moralisch 
ToUkommenen Menschen. Zwei Mächte, ein gutes und ein böses 
Prinzip, liegen im Kampf um die Herrschaft über den Menschen. 
Jedes hat einen Anspruch geltend zu machen; das gute als 
das ältere, weil es die ersten Anrechte auf den Menschen hat, 
das böse, weil es der Mensch mit Freiheit in seine Grundsätze 
aufgenommen hat — und zwar mit Freiheit deshalb, weil die 
bösen Thaten dem Menschen sonst nicht zugerechnet werden 
könnten, solches aber das im Gewissen offenbar werdende Sitten- 
gesetz fordert und mit dem Sollen auch das Können zugleich ge- 
geben ist. Nun ist dieses radikal Böse weder eine Unterlassung 
des Guten, noch eine Schwäche der menschlichen Natur, sondern 
eine Umkehr der sittlichen Maximen in die gesetzeswidrigen. 
,iDenn wie auch sein Toriges Verhalten gewesen sein mag, und 
welcherlei auch die auf ihn einfliessenden Naturursachen sein 
mögen, imgleichen ob sie in oder ausser ihm anzutreffen seien, 
80 ist seine Handlung doch frei und durch keine dieser Ursachen 
bestimmt, kann also und muss immer als ein ursprünglicher Ge- 
brauch seiner Willkür beurteilt werden. Er sollte sie unterlassen 
haben, in welchen Zeitumständen und Verbindungen er auch immer 
gewesen sein mag; denn durch keine Ursache in der Welt kann 
er aufhören, ein frei handelndes Wesen zu sein.** Diese selbst 
Terschuldete Willensthat darf nicht in der Zeitfolge empirischer 
Erscheinungen zu suchen sein, man kann also nicht nach irgend 
einem zeitlichen Ursprung fragen, da eine sog. Erbsünde uns nicht 



106 H. Staeps, 

zugerechnet werden kann. Die Freiheitsthaten haben ihren Ur- 
sprung im intelligibien Charakter, und dieser ist ebenso wie das 
Sittengesetz ausserzeitlich, übersinnlich, deshalb unerklärbar. Hier 
heisst es vielmehr: in Adam haben alle gesündigt; denn wir 
machen es täglich ebenso. „Die Geschichte vom Sündenfall be- 
trifft dich, nur unter anderem Namen. Mutato nomine de te 
fabula narratur." Solche und ähnliche biblische Ausdrücke dienen 
nicht dazu, um unsere Erkenntnis über die Sinnenwelt hinaus zu 
erweitern, sondern nur, um den Begriff des für uns Unergründ- 
lichen für den praktischen Gebrauch anschaulich zu machen. Ge- 
nug, das gute Prinzip fordert die Wiedergeburt, d. h. die Umkehr 
zu einem dem Sittengesetz entsprechenden guten Lebenswandel. 

Es liegt nun in unserer moralisch gesetzgebenden Vernunft 
oder religiös ausgedrückt auf dem Grunde unserer Seele das U^ 
bild eines moralisch vollkommenen Menschen. „Dieser allein Gott 
wohlgefällige Mensch ist in ihm von Ewigkeit her; die Idee des- 
selben geht von seinem Wesen aus; er ist sofern kein erschaffenes 
Ding, sondern sein eingeborener Sohn; das Wort (das Werde!), 
durch welches alle anderen Dinge sind, und ohne das nichts 
existiert, was gemacht ist." (Denn um seinet- d. i. des vernünf- 
tigen Wesens in der Welt willen, so wie es seiner moralischen 
Bestimmung nach gedacht werden kann, ist alles gemacht.) „Er 
ist der Abglanz seiner HeiTlichkeit. In ihm hat Gott die Welt 
geliebt und nur in ihm und durch Annehmung seiner Gesinnungen 
können wir hoffen, Kinder Gottes zu werden." 

Dieses Ideal einer Gott wohlgefälligen Menschheit hat objek- 
tive Realität nur in unserer Vernunft und ist durch kein Beispiel 
in der Erfahrung zu belegen. Wenn es auch nie einen Menschen 
gegeben hätte, der diesem Urbild vollkommen adäquat oder dem 
Sittengesetz unbedingten Gehorsam geleistet hätte, so ist doch die 
objektive Notwendigkeit, ein solcher zu sein, von selbst einleuch- 
tend. Ja es kann überhaupt in der Erfahrung keinen mit diesem 
Vorbild sittlicher Gesinnungen übereinstimmenden Lebenswandel 
eines Menschen geben, da das Innere der Gesinnungen nicht auf- 
zudecken, die Tiefen des Herzens nie zu durchschauen sind, man 
niemals von der Lauterkeit und Festigkeit der sittlichen Grund- 
sätze (Maximen) sichere Kenntnis erlangen kann. Jenes Urbild 
kann nicht empirisch werden, es bleibt was es ist, ein Ideal» eine 
Idee, aber mit objektiver Realität in der menschlichen Vernunft 
Die Vereinigung mit dieser unserer menschlichen Vernunft kann 



Das Christusbild bei Kant. 1Ö7 

als ein Stand der Erniedrigung des Sohnes Gottes angesehen 
werden, und weil wir nicht die Urheber dieser Idee sind, so kann 
man sagen, jenes Urbild ist vom Himmel zu uns herabgekommen. 
Wir können es uns freilich nicht anders als personifiziert denken, 
nur unter der Idee eines Menschen, der durch Lehre und Leben 
das Gute trotz allen Anlockungen zum Bösen durch Leiden bis 
zum schmählichen Tode um des Weltbesten willen zu verwirk- 
lichen bestrebt ist. Gleichwohl musste ein solcher Mensch kein 
übernatürlicher Heiliger, sondern ein natürlich erzeugter Mensch 
sein. Denn ersterer wäre der praktischen Durchführung im 
Lebenswandel eher hinderlich als förderlich. Ein göttlicher 
Mensch mit einer angeborenen, unveränderlichen, nicht errungenen 
Heiligkeit des Willens könnte für den natürlichen Menschen nicht 
mehr als Beispiel aufgestellt werden. „Der letztere würde sagen : 
man gebe mir einen ganz heiligen Willen, so wird alle Versuchung 
zum Bösen von selbst an mir scheitern; man gebe mir die innere 
vollkommenste Gewissheit, dass, nach einem kurzen Erdenleben, 
ich (zufolge jener Heiligkeit) der ganzen ewigen Herrlichkeit des 
Himmels sofort teilhaftig werden soll, so werde ich alle Leiden, so 
schwer sie auch immer sein mögen, bis zum schmählichsten Tode, 
nicht allein willig, sondern auch mit Fröhlichkeit übernehmen, da 
ich den herrlichen und nahen Ausgang mit Augen vor mir sehe.'' 
Eine solche Liebestbat, um Unwürdige, ja Feinde vom ewigen 
Tode zu erretten, würde unser Gemüt wohl zur Bewunderung, 
Liebe und Dankbarkeit stimmen, nicht aber als Beispiel der Nach- 
ahmung für uns aufgestellt werden, ja für uns überhaupt nicht 
erreichbar sein. — Die Hoffnung, durch die Aufnahme dieses 
Ideals in unsere Gesinnung ein gottwohlgefälliger Mensch zu 
werden, das Vertrauen auf sich selbst, man könne dem Urbilde 
der Menschheit in treuer Nachfolge ähnlich bleiben, nennt Kant 
den praktischen Glauben an den Sohn Gottes. (Dieser Glaube ist 
also nicht ein Fürwahrhalten eines irgendwo und -wann geschicht- 
lich dargestellten Ideals, kein Glaube an ein historisches Faktum.) 
In diesem Glauben ist der Ursprung für die Herzensänderung des 
Menschen zu suchen. Die moralische Anlage in uns ist zwar 
unbegreiflich, wir fragen vergebens, was es ist, was uns, durch 
80 viele Bedürfnisse von der Natur abhängige Wesen, doch zu- 
gleich über die Natur erhebt; aber die Hoheit des Sittengesetzes, 
das nichts verheisst und nichts droht, gebietet uns einfach dieses 
«Stirb und Werde **; dadurch seine göttliche Abkunft verkündend, 



108 a Staeps, 

mass es aaf das Oemüt des Menschen bis znr Begeisterang 
wirken und es zu den Aufopferungen stärken, welche ihm die 
Achtung für seine Pflicht auferlegt, und stellt die unbedingte 
Forderung, die Anlage zum Guten im menschlichen Herzen in 
ihrer Reinheit wiederherzustellen. „Eines ist in unserer Seele, 
welches, wenn wir es gehörig ins Auge fassen, wir nicht aufhören 
können, mit der höchsten Verwunderung zu betrachten, und wo 
die Bewunderung rechtmässig, zugleich auch seelenerhebend ist, 
und das ist: die ursprüngliche moralische Anlage in uns über- 
haupt.^ In solchen Oedanken Kants sind die Triebe und Wurzeh 
der Herzensänderung im Menschen zu suchen. Möglich, dass eine 
höhere Mitwirkung das Streben nach einem guten Lebenswandel 
ergänzt, aber das zu wissen ist nicht notwendig; wesentlich aber 
ist, zu wissen, was wir selbst zu unserer Erlösung und Seligkeit 
thun müssen. Die Wiedergeburt soll eben eigene That sein und 
ist daher zu allererst das Erfordernis für eine Gottwohlgefälligkeit. 
In der moralischen Besserung muss der Anfang nicht bei Gott 
gemacht werden, sondern bei uns, bei dem, was wir thun sollen; 
erst die Tugend, dann die Begnadigung — nicht umgekehrt. 
Diese Besserung ist aber nicht eine Besserung der Sitten, nicht 
ein Kampf wider einzelne Laster, sondern eine innere Umwand- 
lung der Denkungsart, eine Charaktergrüudung. Durch eigene 
EntschliessuDg kehrt der Mensch das Böse um in die vom Sitten- 
gesetz gewollte Ordnung, d. h. fortan soll das Sittengesetz oberster 
Grundsatz, Maxime aller unserer Handlungen sein. So wird aus 
einem radikal bösen ein radikal guter Mensch. In dieser neuen 
Gesinnung nun kann er hoffen, ein des göttlichen Wohlgefallens 
nicht ganz unwürdiger Mensch zu sein. — Man bezeichnet diese 
Lehre Kants am besten mit dem Schlagwort: Autonomie der sitt- 
lichen Persönlichkeit. — Indes erheben sich bei der Verwirklichung 
des Ideals einer gottwohlgefälligen Menschheit drei Schwierig- 
keiten. Die erste betrifft die menschliche UnvoUkommenheit trotz 
der Wiedergeburt. Der Mensch bleibt, obwohl er den Grundsatz 
des Guten in sich aufgenommen hat, stets hinter dem Ideal der 
Heiligkeit zurück. Er soll heilig sein, so gebietet das Gesetz, er 
ist es aber in keinem Zeitpunkt wirklich; es besteht zwischen 
diesem und jenem nicht nur ein unendlicher Abstand, sondern ge- 
nau genommen, eine unüberbrückbare Kluft. Die zweite Schwierig- 
keit besteht in der wankelmütigen Gesinnung. Wie sind wir vor 
einem Rückfall ins Böse geschützt? Die dritte betrifft die Schuld. 



Das OhristuBbüd bei Kant. lOd 

Selbst der Wiedergeborene hat dennoch nicht die alte Schuld be- 
zahlt, selbst wenn er keine neuen Schulden mehr macht. — Wie 
löst Kant diese drei Schwierigkeiten? Die erste: der fortwährende 
Abstand zwischen Ideal und Wirklichkeit, der Mangel eines gott- 
woblgefälligen Lebenswandels bleibt bestehen. Aber Gott nimmt 
die Gesinnung für die That. Ist nur die Gesinnung gut, so wird 
sie vom Herzenskündiger als ein vollendetes Ganze auch der That 
nach angesehen. Die Gesinnung verbürgt einen unendlichen Fort- 
schritt im Guten. Wir können deshalb erwarten, im Ganzen und 
überhaupt Gott wohlgefällig zu sein. — Die zweite: Bei allem 
Wankelmut und dem steten Unvermögen, zu wissen und zu be- 
urteiien, ob wir wirklich im Guten Fortschritte machen, giebt uns 
Beharrlichkeit das Zutrauen zur guten und lauteren Gesinnung. 
Dieses ist wie ein guter uns regierender Geist, ein Tröster (Para- 
klet), der uns schützt vor Trostlosigkeit, oder wilder Verzweiflung. 
Schaffet eure Seligkeit mit Furcht und Zittern, trachtet unaufhör- 
lich nach dem Reiche Gottes! Daran knüpft sich dann das 
Vertrauen an die Festigkeit der Gesinnung, der Glaube, dass sie 
beharren werde. — Die dritte Schwierigkeit endlich stellt die 
Frage: wer büsst die alte Schuld auch im wiedergeborenen 
Menschen? Ein Überschuss guter Werke im neuen Leben ist 
ausgeschlossen. Jeder hat die Pflicht, alles Gute zu thun, was 
in seinem Vermögen steht und bleibt dabei nur ein unnützer 
Knecht. Aber doch erfordert die göttliche Gerechtigkeit Strafe 
für alle Sünden. Eine Geldschuld kann wohl durch einen andern 
bezahlt werden, niemals aber eine Sündenschuld. Denn diese ist 
die allerpersönlicbste und nicht übertragbar. Vor der Wieder- 
geburt kann die Strafe nicht stattfinden, da sie zugleich den 
MeuKchen bessern soll. Letzteres wird aber erst nach der Wieder- 
geburt erreicht. Nach der Wiedergeburt aber ist der Mensch 
nicht mehr strafbar, da er doch den neuen Menschen in seiner 
Gesinnung angezogen hat. Dennoch muss der höchsten Gerechtig- 
keit ein Genüge geschahen. Dies geschieht, indem der neue 
Mensch für den alten leidet. Die schmerzvollen Opfer, die Übel, 
die Leiden, die Entbehrungen und Entsagungen, die der neue 
Mensch nach der Wiedergeburt auf sich nimmt, sind die Strafen, 
die er an Stelle des alten übernimmt. Diese Übel und Leiden 
sind sowohl gefühlte Strafen, die der alte Mensch verdiente, als 
auch Anlässe der Prüfung und Übung der guten Gesinnung des 
neuen Menschen. Im Absterben des alten Menschen leidet der 



llÖ H. ätaepö, 

neue. Nach unserem empirischen Charakter sind wir zwar noch 
die alten sündigen, moralisch betrachtet aber doch andere Mensehen, 
deren neue Gesinnung einem göttlichen Richter als That gilt. — 
So kann Gott, nachdem er die gebührende Genugthuung erhalten, 
uns aller Verantwortung entheben und aus Gnaden als Menschen 
ansehen, an denen er sein Wohlgefallen hat. Diese Idee der 
Rechtfertigung, wie Kant sie nennt, hat nach ihm nur ein speku- 
latives Interesse, praktischen Wert hat diese Deduktion nur inso- 
fern, als man ersehen kann, dass sich nur unter der Voraussetzung 
gänzlicher Herzensänderuug für den mit Schuld belasteten Menschen 
eine Lossprechung vor der himmlischen Gerechtigkeit denken lässt. 
Denn das Ideal des gottwohlgefälligen Menschen muss in unsere 
Gesinnung aufgenommen sein, um an Stelle der That zu gelten. — 
Soweit ist das sog. Christusbild bei Kant farblos und abstrakt. 
Aber Kant giebt ihm doch einige lebensvolle Farben, da, wo das 
gute Prinzip als Darstellung der Menschheit in ihrer 
moralischen Vollkommenheit in dem geschichtlichen Stifter 
der christlichen Kirche erscheint. — Dieser Lehrer des Evan- 
geliums erklärt den moralischen Glauben des Herzens für den 
alleinseligmachenden; der allein macht die Menschen heilig, wie 
ihr Vater im Himmel heilig ist, und beweist seine Echtheit nur 
durch den guten Lebenswandel. Nicht die Beobachtung äusserer 
Kirchenpflichten, sondern nur die rein moralische Herzensgesinnung 
macht den Menschen Gott wohlgefällig. Heiligkeit soll das Ziel 
seines Strebens sein. Sünde in Gedanken ist vor Gott der That 
gleich, im Herzen hassen, soviel als töten. Ein dem Nächsten 
zugefügtes Unrecht kann nur durch Genugthuung an ihm selbst, 
nicht durch gottesdienstliche Handlungen vergütet werden. Der 
Eid ist ein bürgerliches Erpressungsmittel und thut der Achtung 
vor Wahrheit im gewöhnlichen Leben nur Abbruch. Der böse 
Hang des Herzens muss gänzlich umgekehrt werden, das süsse 
Gefühl der Rache muss in Duldsamkeit, der Hass gegen die 
Feinde in Wohlthätigkeit übergehen. Die wahre moralische 
Pflichterfüllung ist der schmale Weg im Evangelium, sich schad- 
los halten durch Erfüllung äusserer Kirchenpflichten, um sich an 
der engen Pforte vorbeizudrücken, heisst den breiten Weg gehen. 
Denen, die den Mangel ihrer guten Werke durch Anrufung und 
Hochpreisung des Gesandten des höchsten Gesetzgebers ersetzen 
und sich dadurch nur seine Gunst erschmeicheln wollen, spricht 
der Gottessohn die Erfüllung ihrer hinterlistigen Hoffnung ab. — 



t>B8 ChristoBbild bei Kant. lll 

Die g^ten Werke sollen in fröhlicher Oemätsstimmung, nicht als 
knechtisch abgedrungene Handlungen aasgeübt werden. Alle 
Pflichten werden in einer allgemeinen Regel zusammengefasst, in 
den bekannten zwei Geboten: Liebe Gott und einen jeden 
Menschen als dich selbst, d. h. erstens: „Thue deine Pflicht aus 
keiner anderen Triebfeder als der unmittelbaren Wertschätzung 
derselben," zweitens: „Befördere das Wohl deines Nächsten aus 
unmittelbarem, nicht von eigennützigen Triebfedern abgeleitetem 
Wohlwollen !" Letzteres schliesst jegliche Lohusucht aus. That- 
kräftig mit den gegebenen guten Anlagen Wucher treiben, nicht 
das Gute von Oben herab ganz passiv mit der Hand im Schosse 
erwarten, das ist der Wille des Stifters unserer Religion, nein, 
nicht unserer Religion, sondern der christlichen Kirche. Denn 
jene war eher da, als diese. Das gute Prinzip als Ideal der 
gottwohlgefälligen Menschheit war längst schon vom ersten Ur- 
sprung des Menschengeschlechts an vorhanden, ehe Jesus Christus 
in die Welt kam, und der reine, von allen Satzungen freie Reli- 
gionsglaube ist allen Menschen von jeher ins Herz geschrieben; 
wird er au die Vernunft unbelehrter, aber auch unverdorbener 
Menschen gebracht, so ist er für diese von selbst einleuchtend, 
fasslich und überzeugend. — So hat Christus den Anlass gegeben, 
die reine Vemunftreligion in der ersten wahren Kirche historisch 
darzustellen. Die darin zum Ausdruck gekommene christliche 
Glaubenslehre nennt Kant die gelehrte Religion, jene die natür- 
liche. Letztere bedarf weder einer äusseren Beglaubigung durch 
Wunder, noch kann sie jemals durch eine historische Urkunde er- 
setzt werden, da sie unauslöschlich in jeder Seele aufbehalten ist. 
Die gelehrte Religion dagegen führt zum Wissen, Glauben, Be- 
kennen und Nachsagen unbegreiflicher Dinge, die für sich noch 
keinen guten Menschen machen. — Da also das gute Prinzip 
nicht bloss zu einer gewissen Zeit, sondern von dem Ursprung 
des menschlichen Geschlechtes an unsichtbarer Weise vom Himmel 
in die Menschheit herabkommt, so kann man sagen: „Der Sohn 
Gottes kam in sein Eigentum und die Seinen nahmen ihn nicht 
auf, denen aber, die ihn aufnahmen, hat er Macht gegeben, 
Gottes Kinder zu heissen, die an seinen Namen glauben, d. i. 
durch das Beispiel desselben (in der moralischen Idee) eröffnet er 
die Pforte der Freiheit für Jedermann, die ebenso wie er allem 
dem absterben wollen, was sie zum Nachteil der Sittlichkeit an 
das Erdenleben gefesselt hält, und sammelt sich unter diesen ein 



llä H. Staepä, 

Volk, das fleissig wäre in guten Werken, zum Eigentum und 
unter seine Herrschaft, indessen dass er die, so die moralische 
Knechtschaft vorziehen, der ihren überlässt." — Der moralische 
Kampf zwischen dem guten und dem bösen Prinzip um die Herr- 
schaft übiBr den Menschen führt zwar nicht zu einer Besiegung 
des bösen Prinzips durch den Helden, in dem sich das gute Prin- 
zip darstellt, sondern nur zu einer Brechung seiner Macht über 
die menschlichen Gemüter. Diejenigen, die sich nun der Herr- 
schaft des guten Prinzips vermöge ihrer Freiheit unterstellen, 
haben wiederum die Pflicht, sich Alle unter einer gemeinsamen 
Fahne zu sammeln, um ein ethisches Reich nach Tugendgesetzen, 
eine Gemeinschaft Aller, die das Gute lieben, ein Reich Gottes 
zu errichten und auszubreiten. Denn nicht anders als durch die 
Gesamtheit ist die Herrschaft des guten Prinzips über das Böse 
erreichbar. — 

Nach dieser voraufgegangenen Darstellung des Christusbildes 
bei Kant ist ersichtlich: Kant hält sich keineswegs an das histo- 
rische Charakterbild Jesu von Nazareth. Das Historische ist das 
Zufällige, Nebensächliche, die äussere Schale, die mystische Hülle, 
die das Wesentliche, das Notwendige, das Allgemeine enthält 
Alles Historische ist moralisch gedeutet und ausgelegt, biblische 
Erzählungen werden ausschliesslich moralphilosophiscb gedeutet. 
Setzen wir an die Stelle des biblischen Christus einfach das 
Ideal moralischer Vollkommenheit in unserer Vernunft, so haben 
wir den Kantischen Christus. Der christliche Glaube ist nicht 
ein Glaube an den sichtbar erschienenen Gottessohn, sondern: das 
sittliche Urbild in unserer Gesinnung als eine umschaffende 
Lebensmacht aufzunehmen, ist religiöser Glaube. — 

Ein kritischer Blick auf die Kantische Christuslehre dürfte 
zu dem Ergebnis führen, dass die ausschliessliche Deduktion des 
Idealbildes aus Vernunft und Gewissen zwar nicht gerechtfertigt 
erscheint, dass aber dennoch in dem Hinweis auf das in unserer 
praktischen Vernunft ruhende Idealbild einer sittlich-religiösen 
Persönlichkeit eine Wahrheit von bleibendem Wert liegt. Eine 
kurze Beurteilung des Kantischen Christusbildes möge vorliegenden 
Aufsatz beschliessen. — 

Man hat Kaut den Philosophen des Protestantismus genannt, 
und zwar nicht nur von theologischer Seite, sondern auch wieder- 
holt philosophischerseits. Versteht man unter Protestantismus die 
Gesamtbezeichnung aller aus der Reformation hervorgegangenen 



Das Christusbiid bei £ant. Il3 

kirchlicbeu Richtungeu, so dürfte Kaut sich nirgends in den Pro- 
testantismus einreihen. Bedeutet aber dieser Ausdruck die religiöse 
Selbständigkeit, die Selbstgewissheit des Geistes, befreit von jeder 
äusseren Autorität und nur gegründet auf die selbst erkannte, 
erforschte, errungene und erlebte religiöse Glaubensüberzeugung, 
so ist Kant durchaus ein protestantischer Philosoph, der den Pro- 
testantismus auf eine philosophische Grundlage gestellt hat in der 
Autonomie der sittlichen Persönlichkeit. Gerade in der Verselb- 
ständigung der Person, in dem Bewusstsein des Wertes und der 
Autonomie des Einzelnen sieht man philosophischerseits (vergl. 
Bauch, „Luther und Kant*") das Bedeutsame und den Kern von 
Luthers Reformation. „Die Lossagung von der Unfehlbarkeit der 
Kirche, die Erklärung des eigenen Gewissens zur letzten Instanz 
in sittlichen Dingen, das ist Luthers That, das ist die Magna 
Charta der Freiheit, die auf dem Tage zu Worms erkämpft 
worden ist." (Paulsen, „Kant, der Philosoph des Protestantismus".) 
„Die Selbständigkeit der Persönlichkeit gründet sich darauf, dass 
sie den Entscheid darüber, was dieser höheren Instanz des gött- 
lichen Willens gemäss sei, sich nicht durch äussere autoritative 
Bestimmungen geben lässt, sondern in ihrem eigenen Innern durch 
den Ausspruch des Gewissens empfängt. "^ „In Kant ist Luthers 
sittlich-religiöses Fühlen auf den Standpunkt der Vernunft ge- 
langt." (Bauch, „Luther und Kant".) Nun ist freilich diese pro- 
testantische Selbständigkeit keine so hoch gespannte, keine so 
„unerhörte Verstiegenheit", kein „Aufruf zur Selbstanbetung", 
keine Revolution gegen göttliche Gebote, wie die Gegner Kants 
ihm unterstellen (vergl, Otto Willmann, „Geschichte des Idealis- 
mus", III. Band, „Der Idealismus der Neuzeit"), indessen dürfte 
Kant sowohl als Rationalist wie als Protestant doch die objektiven 
Mächte in Geschichte und menschlicher Gesellschaft unterschätzt 
haben. Das zeigt sich auch in seinem Christusbild. Kant will 
nicht in irgend einer historischen Erscheinung das Urbild gott- 
wohlgefälliger Vollkommenheit verwirklicht finden. Wenn er den- 
noch den Stifter des Christentums als eine Darstellung des guten 
Prinzips auffasst, so soll hiermit nur die Idee veranschaulicht, 
aber nicht historisch gedeutet werden. Hier muss das Kantische 
Denken in seiner Originalität bestehen bleiben, nämlich: Die ge- 
schichtliche Religion hat zu ihrem Ausleger nur den moralischen 
Vemunftglauben. Ob dem Urbild ein Beispiel in der äusseren 
Erscheinung adäquat ist, lässt sich nicht entscheiden, ist auch 

KMtotndiM XU. 9 



114 fi. Staepä, 

unwesentlich. Hier ist Kant Skeptiker und Bationalist zugleich. 
Ideal und Empirie, Vernunft und Historie, Noumen und Phänomen 
klaffen auseinander wie Diesseits und Jenseits. Kant bleibt hier 
unerschütterlich auf dem Lessingschen Fundament: „Zufällige Ge- 
Schichtswahrheiten können der Beweis von notwendigen Vernunft- 
wahrheiten nie werden." (Lessing, „Über den Beweis des Geistes 
und der Kraft"".) — Indes kann das Kantische Christusbild, ledig- 
lich aus Vernunft und Gewissen geschöpft, als reines Abstraktum 
weder abgeleitet werden, noch wirksam sein. Wie in der Erkennt- 
nistheorie Apriorisches und Empirisches nicht absolut (sondern 
nur in Beziehung auf einander) von einander getrennt werden 
kann, so auch hier nicht das Idealbild in uns von dem historischen 
Christus ausser uns. Mehr als Kant wissen will, hat der letztere 
ihm die Farben zu ersterem gegeben. Im Verein mit den lebens- 
vollen Bildern der Geschichte geben wir dem Ideal sowohl Kolorit 
wie Umrisse. Indem das Urbild in uns sich wieder erkennt in 
dem historischen Jesus, indem sein geschichtliches Bild wiederum 
das Urbild in uns weckt, es gleichsam anhauchend ins Leben ruft, 
ist erst der historische Christus überhaupt in dem Strom des ge- 
schichtlichen Lebens aufgetaucht. Beide, Urbild und Historie, 
können aber nicht rein von einander getrennt werden. Dass der 
historische Christus gerade dem Urbild in uns adäquat sei, hat 
Kant nicht zu entscheiden gewagt, ja auch garnicht entscheiden 
können. Die Entscheidung darüber wird mit Recht in den 
Glauben des Einzelnen verlegt. Das Objekt des seligmachenden 
Glaubens aber — das dürfte ganz gewiss sein — ist nach Kant 
nicht die Erscheinung des Gottmenschen oder das was von ihm 
in die Sinne fällt, sondern das in unserer Vernunft liegende Ur- 
bild, welches wir jener unterlegen. — 

Wie Kant nun einerseits die objektiven, historischen Mächte 
unterschätzt hat, so hat er andererseits die Autonomie der sitt- 
lichen Persönlichkeit — ebenfalls historisch wenigstens — über- 
spannt. Das zeigt sich an seiner Lehre von der Wiedergeburt. 
Diese seine Auffassung, wie sie oben im Zusammenhang mit dem 
Ideal der gottwohlgefälligen Menschheit dargestellt ist, wird durch 
keine Erfahrung bestätigt, im Gegenteil, durch die Erfahrung 
widerlegt. Der Mensch als Einzelwesen kann noch so oft heroische 
Entschlüsse fassen, er bringt dadurch keine Umänderung seines 
Wesens und Charakters zustande. (Man kann sich auch auf den 
Kopf stellen, aber nicht lange auf den Händen gehen. Man kann 



t)a8 Öhristusbild bei Kant. llo 

eine Feder mit dem befiederten Teil nach unten gekehrt fallen 
lassen, aber sie wird sich stets umdrehen; der natürliche Schwer- 
punkt zieht den ungefiederten Teil zur Erde hinab.) Nur eine in 
die Gesinnung aufgenommene Idee hat noch nie einen neuen 
Menschen gemacht. Dass der Herzenskündiger die Gesinnung für 
die That nimmt, ändert daran gamichts. Um Menschen wirklich 
umzuändern — denn die Umänderung soll ja nicht bloss Idee, 
sondern historisch wirkliche Gestaltung nach der Idee sein — , 
bedarf es der wechselseitigen Einwirkung lebendiger, geschieht* 
lieber Persönlichkeiten. Die realen Mächte der Gesellschaft, der 
Umgebung, des Milieu müssen ihren Einfluss auf das Individuum 
geltend machen. Die objektiven Mächte in Staat, Kirche, Gesell- 
schaft, Familie wirken umgestaltend, neubelebeud auf die Einzel- 
persöulichkeit. Erst in diesen geschichtlichen Mächten, durch 
diese und trotz diesen macht sich die Selbständigkeit des Subjekts 
geltend. Das Eant-Schillersche „Du kannst, denn Du sollst** be- 
steht zwar zu Recht, aber man darf nicht übersehen, dass das Sitten- 
gesetz nur innerhalb einer Gesellschaft wirksam sein kann. In dieser 
wird das Sollen verlangt, in dieser und durch diese ist zugleich 
das Können gegeben. — Ist nun Kant in der sog. Autonomie der 
reinen Vernunft zu weit gegangen, indem er die historischen 
Einflüsse verkannt und das subjektive Moment überspannt hat, so 
liegt doch in dieser Einseitigkeit der wertvolle Kern auch seiner 
Christusidee, nämlich die moralphilosophische und religiöse Be- 
gründung dieser Idee in unserer Seele (oder, wie Kant will, in 
der reinen, moralisch-gesetzgebenden Vernunft). Kant hat damit 
die Fundamente unserer sittlich religiösen Persönlichkeit aufge- 
graben. Dass diese letztere ausschliesslich moralisch gefasst ist, 
liegt an Kants einseitig moralischer Beurteilung überhaupt, dass 
sie aber auch zugleich religiös vertieft wird, weist den Weg, jene 
Fundamente noch weiter aufzudecken. Liegt nun einmal das 
Urbild einer gottwohlgefälligen Menschheit in unserer Bestimmung, 
so ist nicht einzusehen, warum nicht dieser Keim irgendwo und 
-wann einmal zur vollen Blüte gelangt sein sollte. Gar, um 
Früchte der Wiedergeburt in neuen Menschen zu bringen, bedarf 
es unbedingt der historischen Verwirklichung jener Idee als Bei- 
spiel und Wirksamkeit für alle andern. Aber, selbst wenn wir 
den historischen Jesus als das verwirklichte Menschheitsideal be- 
jahen, so wäre dieser Glaube doch nur ein historischer; jenes Ur- 
bild, wo immer es in Geschichte und Einzelerfahrung auf uns 

8* 



il6 &. Staeps, Üas Christusbild bei E^t. 

wirkt, aufzunehmen in unsere Gesinnung, in unsere Orundsätze 
und in unser Handeln, erst das wäre Herzens- und Charakter- 
änderung, Wiedergeburt, Herrschaft des guten Prinzips, praktischer 
Vernunftglaube. Will man der abstrakten Idee des Kantischeo 
Christus einigen Inhalt geben, so ist, in der Sprache des 
Christentums geredet, das Christusbild bei Kant der Christus 
in uns. — 



Kant's Critique of Judgment 

By W. B. Waterman, Boston (Mass.) 



My object, for the most pari, is to investigate the relation of the 
Introduction of the Critique of Judgment to the two critiques of that 
book, and to set forth the outcome of the Critique of Aesthetical Judg- 
ment. I find tbat leading historians of philosophy have left much to be 
done here, and various errors to be swept away. 

I shall show that the first critique depends on a peculiar principle 
of Judgment that plays no part in the second, and that therefore the 
second critique is much less influenced than the first by the Judgment. 
Next, it will become clear that the second critique has nothing to do 
with feelings of pleasure and pain. I shall then set forth the extreme 
importance of the Critique of Aesthetical Judgment in relation to the 
earlier critiques. We shall see that in it, and not in the Critique of 
Teleological Judgment, Kant solves the problem of the Judgment, the 
transition from Understanding to Reason. 

Sometimes I shall make use of Kant's essay Ueber Philosophie 
überhaupt, which was meant-in its original form-to be the introduction 
to the Critique of Judgment, but was discarded as too lengthy. It ought 
to be published with editions of the Critique of Judgment, for it throws 
a great .deal of ligbt on the relation of the parts of the Critique. I hope 
that the question of printing the original essay in its entirety in the new 
edition of Kant will be considered. >) ') 

Reflective Judgment — I disregard determinant Judgment — sub* 
snmes the particular under a universal supplied by itself. It is therefore 
not constitutive. The peculiar principle of this Judgment is: „Nature 
particularizes its general laws to empirical ones according to the form of 
a logical principle on behalf of the Judgment^ (Kant's Works, VI. 385 
(H. 68). Only because of this principle does Judgment belong to the 
System of the pure faculties of knowledge through concepts (VI. 400). 
The perception of nature in conformity with this principle is a source of 
pleasure (§ VI, Introduction). 



>) For the whereabouts of the Ms., see the Archiv f. d. Oesch. der 
Phil. U. 594. 

*) The remarks on taste in the Anthropology (VII. 588—564 (11—60 
do not concero na. 



118 W. B. Waterman, 

This a priori law of specification ^ves rise to the concept of the 
purposiveness of nature for our cognitive faculty, to expiain the 
harmouy of nature with our faculty. „We thus ascribe to nature as it 
were a regard to our cognitive faculty according to the analogy of pur- 
pose^ (VI. 386j. This purposiveness is a concept of Judgment, peculiar to 
it, and not of Reason, for it sets the purpose in the subject, and not in 
the object. This transscendental law of purposiveness is, like the law of 
specification, a subjective principle. 

Now the law of specification is raerely for the logical use of the 
Judgment, and it is left undecided in what particular case it applies 
l§ VIII, Introduction). [Translations of the Critique of Judgment are 
from Bemard. References are to him and Hartenstein.] The aesthetic 
Judgment decides the concrete case of application by taste. For 
the Critique of Aesthetical Judgment „alone contains a principle which 
the Judgment places quite a priori at the basis of its reflection upon 
nature, viz. the principle of a formal purposiveness of nature, according 
to its particular (empirical) laws, for our cognitive faculty, without which 
the Understanding could not find itself in nature^ (§ VIII, Introduction). 
Notice that this principle is that peculiar to Judgment. — It is only in 
Taste — and in relation to nature — that it shows itself, and not in 
teleological Judgment. 

The aesthetical judgment — not of sense, but reflective — alone 
depends wholhy upon the Judgment. It only exhibits Judgment as beion- 
ging to the System of pure faculties of knowledge. 

But teleological Judgment — the other kind of reflective Judgment 
— is no special faculty, and its application comes under the heading of 
theoretical philosophy. It is „only the reflective Judgment in general, so 
far as it proceeds, as it always does in theoretical Cognition, according to 
concepta". This judgment can only be made by combining Reason with 
empirical concepts. There is no need, therefore, of a particular principle 
of Judgment to base it on, for this possibility foUows from Reason. The 
purpose of nature in this a priori judgment we leam from experience 
(VI. 397). 

This Judgment „presupposes a concept of the object<* — while 
aesthetical Judgment precedes the concept of the object — ^ which Reason 
brings under the principle of purposive connection, only that this concept 
of a natural purpose is used by the Judgment merely in reflective, not 
in determinant, judgment" (VI. 401). 

It is clear then, that the Critique of Teleological Judgment is not 
concemed with a principle peculiar to Judgment. The first critique, 
according to Kant, exhausted the subject of the a priori law of specifi- 
cation. In fact, this second critique at the most does no more than judge 
subjectively of a purpose of nature, with the help of Reason and ex- 
perience.^) 



^) The Introduction should be regarded as an introduction to the 
Oritique of aesthetical Judgment. It has extremely little to do with the 
second critique. 



Kant*8 Criüqae of Judgment. 119 

Secondly, the aesthetic Judgment is alone concerned with pleasure 
and pain. For Kant says that the representation of objective purpoeivenesa 
— the subject of the Critique of Teleological Judgment — „has nothing 
to do with a feeling of pleasure in things, bat only with the Understanding 
in its judgment upon them^ (§ VIIL Introduction). Again he statea-jnst 
beyond-that subjective purposiveness is judged by pleasure and pain, ob« 
jective by Understanding and Reason. Moreover, nothing is said in tbe 
Critique of Teleological Judgment about pleasure and pain. Therefore 
the Statement that Kant holds that purposiveness is always a souroe of 
pleasure is whoUy falae. Windelband makes this error.^) We also plainly 
see how misleading he is in entitling his account of the Critique of Judg- 
ment „Kant*s aesthetical philosophy^, in spite of his subsequent ex- 
planations.') 

From reading the Introduction of the Critique of Judgment you 
might suppose that, as the Critique is concerned so deeply with a priori 
feelings of pleasure and pain, both of these critiques would have to do 
with these feelings. We now see that it is not so, and thus discem a 
aecond great difference between these critiques. 

The Critique of Judgment aims, according to the Introduction, to 
connect the concepts of nature and freedom, and to inquire if there are 
a priori principles of pleasure and pain. Now I say that you would 
expect that these problems would be solved, if anywhere, in the CritiquQ 
of Aesthetical Judgment, for it alone has to do with the principle peculiar 
to Judgment, and with the feelings of pleasure and pain. Kant teils ua, 
in the preface, that it is the most important part of the Critique of 
Jadgment. 

This first critique ia concerned with aubjective purposiveness, i. e«, 
purposiveness for the subject. The judgment is here constitutive, and 
not merely regulative (§ IX. Introduction). It is autonomous (§IX. Intro- 
duction and § 58), and although subjective is subjectively universal 

I now set forthKant*s Solution of the antinomy of taste. The anti- 
nomy of taste, that its judgment does and does not depend upon a con- 
cept, is solved by the consideration that such a concept is an indeter- 
minate one. „Such a concept is the mere pure rational concept of the 
supersensible which underliea the Object (and also the subject judging 
it) regarded as an object of sense and thua as phenomenal.^ This indeter- 
minate concept is that of the supersensible Substrate of phenomena. ,A11 
contradiction disappears if I say: the judgment of taste is based on a 
concept (viz. the concept of the general ground [Gründet ttbeiiianpt] of 
the subjective purposiveness of nature for the Judgment); from which, 
however, nothing can be known and proved in reapect of the Object, 
because it is in itself undeterminable and useless for knowledge. Yet at 
the same time and on that very account the judgment haa validity, for 
every one . . . becauae its determining groond lies perhapa in the concept 



1) Gesch. d. neueren PhiL U. 149 — not in his later Hiatory 
(Ut Ed.). 

<) Gesch. d. neueren Phil IL 146 and 160. 



120 W. B. Waterman, 

of that which may be regarded as the supersenaible Substrate pf huma- 
nity" 1) (§ 67). 

As in the Critique of Pure and that of Practical Beason antinomy 
forces US to regard objects of sense as phenomena, with a supersensible 
Substrate,^ and to seek in the supersensible the point of union of all our 
a priori faculties, by which recourse, however, no proper knowledge is 
attained to. 

Three Ideas manifest themselves as the result of Kant's deduction. 
^First, there is the Idea of the supersensible in general, without any 
further determination of it, as the Substrate of nature. Secondly, there 
is the Idea of the same as the principle of the subjective purposiveness 
of nature for our coernitive faculty. And, thirdly, there is the Idea of 
the same as the principle of the purposes of freedom, and of the agree- 
ment of freedom, with its purposes in the moral sphere.***) 

Kant's last Statement is that ^both on account of this inner possi- 
bility in the subject „[of giving the law to itself in judging the beautiful]" 
and of the extemal possibility of a nature that agrees with it, it finds 
itself to be referred to something within the subject as well as without 
him, something which is neither nature nor freedom, but which yet is 
connected with the supersensible ground of the latter>) In this super- 
sensible faculty, therefore, the theoretical faculty is bound together in 
unity with the practical, in a way which though common is yet unknown.*"^) 

It may be added that taste „looks out to^ the intelligible, inasmuch 
as it only clairas universal assent for the beautiful when the latter is 
regarded as symbol of the morally good (§ 59). 

Kant's thought in the preceding quotations and statements is this. 
The judgment of the beautiful is only explicable through the theoretically 
nndeterminable concept of the supersensible. Therefore there is a super- 
sensible Substrate of subject and object regarded as phenomena. The 
three parallel critiques of Pure Reason, Practical Reason, and Aesthetical 
Judgment are all forced by antinomy to regard the world as phenomenal. 

Now for the next step. Kant stat^s that thereis the. Idea of the 
supersensible as principle of purposiveness.*) This determination — which 
is not theoretical or practical knowledge, and yet a means of transition 
between them (§ II, Introduction) — is a distinct advance on the concept 
of the Substrate of nature. There is the Idea of the supersensible as the 



1) cf. VI. 401. 402. 

*) § 57, Remark IL See also VI. 402, 404. 

^ § 57, Remark 11. cf. § IX, Introduction. 

^) Betten translated, „the ground of the latter, viz. the super- 
sensible^. 

^) Cf. the end of § II, Introduction, and where, in the treatment of 
the sublime, our concept of nature is carried to „a supersensible Substrate 
(which lies at its basis and also at the basis of our faculty of thought^ 
(§ 26, see also § 29). 

*) Kant does not make clear why the judgment of taste requires 
this Step. 



Kant's Oritique of Jadgment. 121 

gpronnd of the subjective purposiveness of natare for the Jadgment. There 
is no mere ^parposiveness without purpose** in this Statement. It is a 
very remarkable assertion for Kant to make, and a fonndation principle 
of bis pbilosophy. 

Fortbermore, „tbe inner purposiveness in tbe relation of our mental 
faculties in judging certain^ of tbe producta of natare is also to be ex- 
plained on supersensible grounds (§§ 68, 59).*) We tbus see wbat an im- 
portant part in Kant's System tbe beautiful plays. 

Tbe transcendental concept of a purposiveness of nature in tbe 
specifying of general laws is tbe concept from wbicb is derived tbe con- 
cept of tbe purposiveness of natare in tbe case of tbe beautiful. Now tbis 
general concept of purposiveness in specification is a subjective maxim 
(§ V, Introduction), but it is important to notice tbat purposiveness in 
relation to tbe beautiful is explained bere on supersensible grounds. If 
you are looking for teleology in Kant, tbis is tbe one place to consider. 

Kant advances from tbe roere rational concept of tbe supersensible 
implied in tbe Critique of Pure Reason. It sbould be firmly grasped tbat 
tbe Jadgment accomplisbes its task of fumisbing a passage from Under- 
standing to Beason by effecting tbe transition from tbe sen- 
suous Substrate of nature to tbe intelligible Substrate of 
freedom.S) Tbe Understanding implies (anzeigen) tbat tbere is a super- 
sensible Substrate to object and suhject. „Tbe Judgment by it« a priori 
principle for tbe judging of nature according to its possible particular 
laws, makes tbe*) supersensible Substrate (botb in us and witbout us) 
determinable by means of tbe intellectual faculty. But tbe 
Reason by its practical a priori law determines it.^ 

First, conceming tbe supersensible in ns. Jadgment makes tbe 
nndetermined concept of it as Substrate of nature determinable, and as 
follows Kant in tbe quotation above bolds tbat to explain tbe judgment 
of taste one is referred to ,sometbing witbin tbe sulject as well as 
witbout bim, sometbing wbicb is neitber nature nor freedom, but wbicb 
yet is connected with tbe grouud of tbe latter, viz. tbe supersensihle.^) 
In tbis sapersensible ground, tberefore, tbe tbeoretical faculty, is boand 
togetber in unity >vitb tbe practical, in a way wbicb tbougb common is 
yet unknown.^ 

Tbe great aim of tbe Critique of Judcrment is tbus reacbed,^) for 
freedom is sbown to be capable of actualization, since tbe laws of nature 
and freedom depend on tbe same supersensible Substrate. Tbat super- 
sensible wbicb Understanding implies tums out to be identical witb tbat 
implied in freedom. 

Secondly, I consider tbe supersensible Substrate „witbout us*'. Kant 
affirms tbat tbe Judgment also makes tbat determinable by means of tbe 



*) See also tbe end of Remark I, § 57. 

S) VI. 403, And § IX, Introduction. 

S) „its** is better — ibrem in tbe originaL 

*) Not Bemard*^ translation. 

^) See towards tbe end of § IX, Introduction. 



122 W. B. Waterman, 

inteUectnal faculty. Here is the bridge between the Üäng in itself and 
the intelligible, not merely for the thing in itself „within ns^ bat „withoat 
ns^. A flood of light is thns thrown on Kant's doctrine of the thing 
in itself. 

Kant refers, as I understand him, to thesnbstrate withont us, when 
he declares, in the previonsly cited passage that „both ou account of this 
inner possibility and of the extemal possibility of a nature that agrees 
with it, it finds itself to be referred to soroething within the snbject as 
well as withont him, soroething which is neither natore nor freedom, 
bat which yet is connected with the groand of the latter, vis. the aoper- 
sensible^.i) In a note to § IX, Introdaction, he says directly „that intelli- 
gible . . . which Constitates the sapersensible sabstrate of natare**. 

The advance from the concept of ünderstanding is made by means 
of the concept of pnrposiveness. Kant is in eamest with this concept 
It is foanded on no mere regulative principle. We are referred to a 
sopersensible which is the groond of the pnrposiveness of that which we 
judge as beantiful, and of the relation of oor cognitive foculties in this 
jadgment. 

These two purposes — do they depeud on the sapersensible within 
or withont as? Taken strictly the passage jast qaot«d aeems to State 
that they both depend „on soroething within the snbject as well as 
withoat hiro.' 

Bat in § 57 Kant says that from the concept of the general groond 
of the sabjective parposiveness of natnre for the Jadgroent „nothing can 
be known and proved in respect of the Object.^ This passage shows that 
the concept of the snpersensible roentioned refers to the Substrate of the 
Object. 

E^nt then reaches the Idea of a sapersensible „withoat os^ that is 
the groand of purposiveness. It is highly interesting that directly after 
he declares that the deterroining ground of the judgment of taste „lies 
perhaps in the concept of that which may be regarded as the snper- 
sensible Substrate of huroanity^. Kant here identifies the concept of the 
general ground of the subjective pnrposiveness of nature for the Judgment 
with that of the supersensible Substrate of humanity. What have we 
here but a unity of the world?*)*) 

The relation of the Critique of aesthetical Judgment and of Teleo- 
logical Judgment has already been considered. In the latter work Kant 
Starts froro the organic. Organisros are regarded a priori as porposed. 
From this position Kant is led to the stateroent that nature as a whole 
is purposed (§ 67, § 76 et seq.). The explanation of the organic brings 
one to the supersensible (§ 67), and the unity of the sapersensible to 
regarding the whole of nature as a system. This is a result identical 
with the presupposition which the principle peculiar to reflective Jadg- 



*) Italics are mine. Not Bemard*s translation at the end. 
*) Cf . the deducdon of the categories in the Critique of Pore Beason. 
^ I have cot cared to point out roy lack of agreement with this 
writer and that in interpreting Kant The book by Baach Ihave notseen. 



Kant'8 Critiqae of Jadgment. 123 

ment makes, and which lies at the basis of the Critiqae of Aesthetical 
Judginent. 

Kant rids himself of the antinomy between mechanisni and teleo- 
logy by throwing over board the latter. We have the Idea of an intuitive 
understanding which would not act from purpose. Tliis result offers no 
help to the Solution of the problem how freedom is actualized in nature. 

We have seen that the Critique of Aesthetical Judgment is founded 
on a principle, the law of specification, peculiar to reflective Judgment, 
and thus differs fundamentally from the Critique of TeleologicalJudgment. 
We have also seen that the aesthetical Judgment is alone concemed with 
pleasure and pain. In this first critique Kant is brought to the Idea of 
the supersensible as a ground of the purposiveness of nature foi the Judg- 
ment, and as a ground of the relation of the mental powers in the judg- 
ment of taste. As a result he is enabled to make the nndetermined con- 
cept of the supersensible Substrate of nature implied by Understanding 
determinable by means of the intellectual faculty. He thus effects the 
transition from the sensnons Substrate of nature to the intelli- 
gible Substrate of freedom. This is trueof the Substrate ,,both in us 
and without us^. 

Kant here — and here alone — brings the powers of the mind to 
a point of unity, into a System, and asserts a reconciliation of thedualism 
of the two earlier critiques in the union of theoretical and practical reason. 

Of the two aspect« of the supersensible as ground of purposiveness 
which have been mentioned, Kant discusses more that in relation to 
the purposiveness of nature for the Judgment. liy it the Substrate 
„without us^ becomes determinables, bnt this Idea does not grant 
knowledge, yet affords transition to the realm of practical reason. Kant 
even identifies this Idea with that of the Substrate of humanity. 

In the Critique of Aesthetical Judgment, and not in that of Teleo- 
logical Judgment, the transition from the concept of nature to that of 
freedom is effected. 



Recensionen. 



Rav&, Adolfo, Professore di filosofia del diritto all' ÜDiveraitä di 
Camerino. I cömpiti della filosofia di fronte al diritto. Roma, 
Ermanno Loescher e Co., 1907. (80 p) 

Die kleine Schrift kann einen Deutseben stolz und beschämt zu- 
gleich machen. Stolz: denn sie ist ein schönes Dokument dafür, wie die 
Gedanken unseres Knnt und der ihm folgenden Klassiker des deutschen 
Idealismus, insbesondere Fichtes, im Ausland eine Macht geworden sind; 
beschämt : denn es ist doch ein eigentümliches Gefühl, zu enahren, dass an 
dem Universitätchen zu Camerino ein Rechtspbilosoph wirkt, der in einer 
Schrift über „die Aufgaben der Philosophie gegenüber dem Rechte" Ein- 
sichten zu entwickeln weiss, die „ihre Wurzeln im Kantischen Kritizisrons 
haben" (29), die aber in Deutschland nur ganz wenigen Vertretern dieser 
Disziplin geläufig sind. (Auffallend ist übrigens, dass der Verfasser, der 
eine Reihe moderner deutscher Arbeiten zitiert, den Namen Stammlers 
nicht nennt.) 

Ravä entwickelt zunächst die beiden Grundprobleme der Rechts- 
philosophie: die Frage nach dem Begriff des Recht« (dem Prinzip, nach 
dem wir bestimmten Thatsachen den Charakter juristischer Thatsachen 
zusprechen) und die nach der Idee des richtigen Rechts (dem Prinzip, nach 
dem wir ein faktisches Recht als gerecht beurteilen). Dabei zeigt sich, 
dass die Idee dessen, was das Recht sein soll, also die Idee des richtigen 
Rechts, bereits Voraussetzung dafür ist, überhaupt irgend ein Phänomen 
als juristisches Phänomen zu erkennen (11). Die Idee des Rechts gilt 
a priori (12); sie ist regulatives Prinzip oder Norm, jedoch keine meta- 
physische Wesenheit, „non un qualche cosa che ^, ma solo nn qualche cosa 
che vige^, wie Lotzes bekannte Unterscheidung von Sein und Gelten über- 
setzt wird 13) Also „das was das Recht sein soll, ist der Erkenntnis- 
grund für das, was das Recht ist. Der Begriff des Rechts ist abgeleitet 
aus der Rechtsidee" (14). So enthält auch schon der blosse Begriff des 
Rechts ein normatives, „deontologisches'' Moment, und darum muss auch 
seine Feststellung der Rechtsphilosophie anheim gegeben werden, die ihre 
essentielle Aufgabe in der Spekulation darüber findet, was das Recht sein 
soll; in ein Wort zusammengedrängt: die Aufgabe der Rechtsphilosophie 
ist die Bestimmung des juristischen Allgemeinen (15). — Doch wie verhält 
sich dieses „universale t/iuridico^ zu den einzelnen historisch realisierten 
Rechtssystemen? Die Antwort hält sich unter Ablehnung der Hegeischen 
Metaphysik in den Schranken des Kantischen Kritizismus' (17 f.): das Uni- 
VI rsale, Vernünftige ist rein formal, der jeweilige Inhalt ist empirisch- 
zufällig. Doch ist das Empirische von verschieden weitem Umfang; völlig 
allgemein ist die empirische Thatsache, dass das Recht eine Beziehung 
zwischen Menschen ist. Indem darum die Idee des Rechts auf die mensch- 
liche Natur angewendet wird, ergeben sich allgemeine Bestimmungen für 
jedes menschliche Rechtssystem; z.B. haben hier die juristischen Begriffe 
des Eigentums, der Schuldverhältnisse, der Familie, aer Strafe ihren Ur- 
sprung. Ravä fasst diese zwar nicht apriorii>chen sondern thatsächlichen, 



äecensioneii (Vorländer). 125 

aber doch allgemeinen Bestimmangen unter dem alten Namen .Natur- 
recht^ zusammen (19), natürlich ohne zu verkennen, dass es erst der An- 
wendung dieser völlig schematischen Beziehungen auf eine individuelle 
historische Situation bedarf, uro im einzelnen Falle festzustellen, was hier 
richti|3:es Recht ist (20^. Die wirklichen positiven Rechtsbestimmungen 
sind irrational (22). Allein alle diese manni^altiffen empirischen That- 
sdchlichkeiten haben an der Idee des Rechts ihre Norm; ihre geschicht- 
liche Abfolge stellt dem Philosophen das neue grosse Problem des Sinnes 
der juristischen und politischen Entwickelung der Menschheit (23). 

Dies die leitenden Oedanken der Programmschrift, die bei ihren 
liesem die zuversichtliche Hoffnung erwecken muss, dass das ausgeführte 
System der Rechtsphilosophie, dessen baldiges Erscheinen sie in Aussicht 
stellt, ein recht tüchtiges Buch sein wird. 

Halle a. S. Fritz Medicus. 

Vorländer, Karl. Immanuel Kants Grundlegung zur Meta- 
physik der Sitten. Dritte Auflage. Mit einer Einleitung sowie einem 
Personen- und Sachregister. Leipzig. Verlag der Dürrschen Buchhand- 
lang. 1906. Philosoplusche Bibliothek Bd. 41. 

Wie in allen Ausgaben des hervorragenden Kant-Forschers, begegnen 
wir auch hier dem kritisch durchgearbeiteten Texte dieser klarsten 
ethischen Schrift Kants zwischen einer ausführlichen, 80 Seiten umfass^^n- 
den Einleitung und einem trefflichen Personen- und Sachregister. Die 
Einleitung zenäUt in drei Abschnitte: I. Entstehnn^geschichte und erste 
Wirkung der Schrift U. Zum Inhalt der Schrift. UI. Textphilologisches. 

Mit klarer Entschiedenheit vertritt Vorländer — so darf man hier 
wohl anstatt des mehr farblosen Wortes „schildert** sagen — im zweiten 
Abschnitte der Einleitung den Standpunkt des Philosophen. Damit ver- 
tauscht er vielfach — und zwar unzweifelhaft zum Vorteile seiner „Ein- 
leitung** — die Zurückhaltung des Herausgebers mit der Wärme des be- 
geisterten Interpreten. Ausdrücklich erwähnen möchte ich in diesem 
Zusammenhange die energische Zurückweisung, welche jede psycholo- 
mtische Deutung der Kantischen Ethik durcn Vorländer erfährt, die 
Verteidigung des Orundsatzes also, „dass das Sittengesetz nicht bloss 
für Menschen sondern für alle vernünftigen Wesen überhaupt gelte*', 
daas das Sittengesetz das Naturgesetz vernünftiger Wesen überhaupt 
zum Ausdruck bringe. 

Die Bedeutung der vorkritischen Periode für die Entwickelung 
der Kantischen Ethik hält Vorländer — vielleicht nicht ganz zutreffend 
(ygL hierzu mein Referat in Heft 2 des vorigen Bandes der ,. Kantstudien*' 
Aber seine Ausgabe zu Kants kleineren Schriften zur Logik und Meta- 
physik) — für gering. Gleichwohl enthält seine Ausgabe ein durchaus 
Bureichendes Vf rzeicnnis der neueren Litteratur über den Entwickelungs- 
gang der Ethik Kants. Das interessante Verhältnis der „Grundlegung** 
zur „Kritik der praktischen Vernunft** behandelt der Herausgeber in seiner 
„Einleitung** nicht. Doch steht eine Erörterung dieses Verhältnisses in 
seiner alsbald erscheinenden Ausgabe der systematischen Hauptschrift 
Kants auf ethischem Gebiete in Aussicht 

Dem Texte der Vorländerschen Ausgabe ist der der zweiten Origi« 
nalausgabe zugrunde gelegt. Doch wurde stellenweise auch der Text der 
ersten Originalansgabe beibehalten. Spätere Vorschläge zu Textver- 
besserungen sind vom Herausgeber, der natürlich auch cue Akaderoieaus- 
gäbe benutzen konnte, durchaus berücksichtigt, wenn auch nicht überall 
befolgt worden. 

Breslau. R. HOnigswald« 

VorlKnder, Karl. Immanuel Kants Kritik der praktischen 
Vernunft. Fünfte Auflage. Mit Einleitung sowie einem Personen- und 



126 ttecensionen (Vorländer). 

Sachre^ter. Leipzig. Verlag der Dürrschen Buchhandlung 1906. Philo- 
sophische Bibliothek Bd. 88. 

Vorländers Ausgabe der „Kr. d. pr. V.**, die ich in meiner Anzeige 
der „Grundlegung: zur Metapliysik der Sitten" als bevorstehend bezeichnen 
konnte, ist mittlerweile erschienen. Sie bietet dem Kenner der bisher 
vorliegenden Kant-Ausgaben Vorländers nichts neues, d. h. auch sie be- 
friedigt, gleich ihren Vorgängerinnen, die Bedürfnisse des Kant-Studioms 
in hervorragender Weise. Für den Text und die Entstehunesgeschichte 
der Schrift konnte Vorländer die Korrekturbogen der von Satorp he* 
sorgten Akademie-Ausgabe des Werkes benutzen. 

An der Spitze der Ausgabe steht eine 47 Seiten umfassende Ein- 
leitung, an ihrem Ende, wie in allen Kant-Ausgaben Vorländers, ein Per- 
sonen- und Sachregister von trefflicher Übersichtlichkeit und f^Üle. 

Der erste Teil der Einleitung umfasst die ^Entstehungsgeschichte 
und erste Wirkung der Schrift", von den Motiven Kants zur Abfassung 
des Werkes hebt Vorländer hier mit Recht neben den systematischen au<m 
die polemischen Rücksichten hervor und schliesst hieran eine gedrängte 
Übersicht deijenigen gegnerischen Recensionen, die Kant in seiner „Kr. 
d. pr. V." vor allen Dmgen berücksichtigt hat. — Der Passus der Ein- 
leitung über die erste Wirkung der Schrift ist ein interessanter Beitrag 
zur Kultur- und Wissenschaftsgeschichte der Zeit. Eine lan^e Reihe von 
Bewunderem Kants zieht, durch Briefauszüge wohl charakterisiert, an uns 
vorüber. Von Interesse wäre hier vielleicht auch eine übersichtliche Zu- 
sammenstellung der direkt ablehnenden Urteile über das ethische 
Hauptwerk Kants gewesen. 

Der zweite Teil der Einleitung ist dem „Gedankengang der Schrift' 
gewidmet. In grossen Zügen, aber in klarer Weise, wird nier unter steter 
Beziehjing auf den Text der Inhalt der „Kr. d. pr. V." geschildert. Von 
tiefergehenden kritischen Erörterlingen ist dem ausschliesslichen Zweck 
dieser Einleitung, das Studium der Kantschen Oedanken selbst zu fördern, 
entsprechend, naturgemäss abgesehen worden. Dennoch wäre vielleicht 
eine wohlmotivierte Abweisung der immer noch nicht verstummenden 
Vorwürfe gegen Kants „ethischen Rigorismus" an dieser Stelle nicht un- 
zweckmässig gewesen. — Die spätere Wirkung Kants erörtert ein kurzer 
Passus am Schlüsse des zweiten Teiles der Einleitung. An diesen schliesst 
sich sodann die in der Einleitung zur „Orundlegung*' absichtlich ve^ 
miedene kurze Darlegung über das Verhältnis der „Grundlegung^ und der 
„Kr. d. pr. V.**, beziehungsweise der 1797 erschienenen jSetaphysik der 
Sitten". „Die Grundlegung giebt eine umfassende Einführung, die 
„Kr d. pr. V.** den systematischen Kern, die Metaphysik der Sitten die 
Anwendung (in Tugend- und Rechtslehre)." (XLIU.) — Wie Natorp in 
seiner Einleitung zur Akademie-Ausgabe, so betont auch Vorländer die 
methodischen Differenzen zwischen „Grundlegung" und „Kr. d. pr. V.": 
die erstere im wesentlichen analytisch, die letztere synthetisch. Mit Recht 
verweist Vorländer darauf, dass in der „Kr. d. pr. V." die eigentlich syste- 
matischen Begriffe der Kantischen Ethik vor den „mehr einführenden und 
populären" der Grundlegung hervortreten, ein Verhalten, welches an der 
Hand des gerade in solchen Punkten sich besonders bewährenden Sach- 
registers leichtzu kontrollieren ist. 

Der dritte Teil der Einleituni^ betrifft „Textphilologisches" und 
bringt zunächst eine Übersicht über die bisherigen Ausgaben des Werkes, 
sodann Beiträge zur Geschichte seines Textes und dessen Kritik, um mit 
einem Verzeichnis der in der vorliegenden Ausgabe vorgenommenen, 
bezw. vorgeschlagenen Textänderungen abzuschliessen. Diese selbst dienen 
durchaus sachlichen Zwecken. — Am Rande der Seiten sind die Seiten- 
zahlen der Akademie-Ausgaben in zweckmässiger Weise kenntlich ge- 
macht. — Die Ausstattung des Bandes ist, wie alle Erscheinungen des 
Dürrschen Verlages, mustergiltig. 

Breslau. R. Hönigswald. 



RecensioDen (Valentiner— ttöfler). l2? 

Valentiner, Theodor, Dr. Immanuel Kants Kritik der 
reinen Vernunft In achter Auflage revidiert. Neunte Auflage. Kants 
sämtliche Werke. I. Band. Leipzig, Verlag der Dürrschen Buchhandlung. 
19v;6. Philosophische Bibliothek Band 37. 

In neunter Auflage erscheint wieder in der „Philosophischen Biblio- 
thek" des Dürrschen Verlages Kants Kritik der reinen Vernunft, heraus- 
gegeben von Th. Valentiner. Dem Texte ist auch hier, gleichwie der vor 
6 Jaiirt n erschienenen achten Auflage die zweite Ausgabe der ,,Kritik der 
reinen Vernunft" von 1787 zugrunde gelegt, wobei die Abweichungen 
dieses Grundtextes von dem Texte der ersten Ausgabe in Anmerkungen 
und Beilagen verzeichnet wurde. — Die Seitenzahlen der Originalausgabe 
sind durch Randziffern kenntlich. — Die textkritischen Grundsätze des 
Herausgebers und ihre Handhabung ist einwandsfrei, die Kantphilologische 
Litteratur gründlich und vollständig berücksichtigt. ~ Ein nicht unerheb- 
licher Vorteil gegenüber den anderen Herausgebern von Spezia lausgaben 
der „Kr. d. r. v.** erwuchs Valentiner aus der Möglichkeit, Erdmanns 
neueste Edition aus der Kant-Ausgabe der Berliner Akademie benutzen 
zn können Aber auch dieser gegenüber ist Valentiner durchaus selb- 
ständig. Einen Nachteil der Ausgabe bildet, insbesondere im Vergleich zu 
der von K. Vorländer, der Mangel eines das Studium so wesentlich för- 
dernden Personen- und Sachregisters. 

Breslau. R. Honigs wald. 

HHfler, Alolfi, Dr. Zur gegenwärtigen Naturphilosophie (Ab- 
handlungen zur Didaktik und Philosophie der Naturwissenschaft, Heft 2). 
Berlin, Julius Springer 1904. (136 S.) 

Es ist wohl nützlich, zunächst das Inhaltsverzeichnis der vorliegenden 
Schrift anzuführen: Einleitung. — I. Teil (S. 15 — ßü): Anknüpfungen an 
Wilhelm Ostwalds Vorlesungen und Annalen. A. Naturwissenschan liches. 
B. Philosophisches. C. Didaktisches. II. Teil (S. 61-128): Weiterführungen. 
— Einige Aufgaben einer Philosophie der Physik. — Aus einer künftigen 
Philosophie der Physik, a) Aus der Psychologie, b) Aus der Theorie der 
Relationen und Komplexionen, c) Aus der Logik und Erkenntnistheorie. 
d) Aus der Metaphysik, e) Der physikalische Ausschnitt aus einer philo- 
sophischen Weltanschauung. — Beilagen. 

Ernste Erwägungen über die Zukunft der Naturphilosophie und 
Besorgnisse um das Ansehen der ganzen Philosophie, welche aus jenen 
Erwägungen entstehen müssen, haben H. nach seinen Worten bei der 
Abfassung der Schrift geleitet. Er wendet sich insbesondere an die 
Philosophen mit der Mahnung, der Naturphilosophie mehr entgegen- 
zukommen und in Gemeinschaft mit den Naturforschem am Werke zu 
schaffen, damit nicht jetzt deren Bemühungen aus philosophischen Mängeln 
erfolglos bleiben, wie einst die Schellingschen durch Verstösse gegen die 
Naturwissenschaft zum Gespötte wurden. 

bei einer Kritik der Ostwaldschen Naturphilosophie steht die Frage 
yoran, ob der Begriff ^Energie^ ein Grundbegriff sei. Kann also ohne den 
Kraftbegriff als Grundlage eine neue Physik gestaltet werden? Ostwald 
sucht durch ^Erfahrungen^ zu einer Zerlegung mechanischer Arbeit in die 
Faktoren Kraft und Weg zu kommen. H. führt g^Rcn die Ableitung drei 
gewichtige Einsprüche Poskes an und fügt selbst Bedenken psychologischer 
Art hinzu. Dem Leser der von H. herausgegebenen .Studien zur gegen- 
wärtigen Philosophie der Mechanik** sind sie wohlbekannt. Die phäno- 
raenale Grundlage des kategorialen Kraftbegriffs ist die Spannung. 
Untersuchen wir dagegen etwa die Muskelarbeit beim Heben eines 
Gewichts, so finden wir zwei Teilphänomene: Spannung und Bewegung. 
Aus der „psychologischen Zusammengesetztheit** des Phänomens sduiewt 
H. auf die lo^^ische Zusammengesetztheit des logischen Begriffe der mecha- 
nischen Arbeit. „Im kausalen Sinne** interessiert uns allerdings am meisten 
^die Arbeit, nämlicli die trotz ihrer Zerle^barkeit in „Faktoren** einbeit- 



128 Recensionen (Hofler). 

liehe Ursache von selbst wieder nntereinander einheitlichen, weil in Aeqai- 
valenzbeziehungen stehenden Wirkangen." 

Aenner bleibt eine solche Darsteilong immer, als wenn wir den Vor- 
wog in Differentiale zerfallen. In letzterem Falle ist wieder der Kraft- 
Segriff unvermeidlich. Das g:ilt für die Energie fiberhanpt. ,Ener;ßie ist die 
Fälligkeit, Arbeit zu leisten> Sie wird /gemessen durch das Maiimam der 
Arbeit^ das auf ihre Kosten wirklich gleistet werden kann. Arbeit und 
Energie ist nicht von vornherein identisch. Dessen soll man sich bewnsst 
bleiben, wenn man von der Erhaltung und Verwandlung der Energie 
spricht. 

Lassen wir indessen einmal Ostwalds ^^phänomenologische Umdentung" 
der Energie zu. Selbst dann wäre der Fortschritt von dem „idles ist Wasser^ 
des Thaies zum „alles ist Energie*' Ostwalds in philosophischer Hinsicht 
„unendlich klein^. In dem Substanzproblem bleibt nach H. die Energetik 
stecken. Was aber, fährt er fort, unterschiede dann die „Umwandlungen 
der Energie** von dem Wunderglauben der Transsubstantiationen ? Und 
nun erhebt er laut die Forderung: „Wir brauchen eine Phyhik ohne Sub- 
stanz, aber mit Kausalität.** Das Substanzproblem verweist er in eine 
künftige Metaphysik. 

Es ist nun deutlich zu erkennen, dass der Gegensatz zwischen HOfler 
und Ostwald auf eine verschiedene Auslegung der „Erfahrung** hinaus- 
kommt. Auch H. selbst spricht davon und fasst sein Urteil über Ostwalds 
^energetische Philosophie** darin zusammen: „Was an ihr energetisch ist, 
ist nicht gut, und was an ihr gut ist, ist nicht energetisch.** 

Der zweite Teil knüpft an die früher aufgeworfene Frage an: kann 
es Naturphilosophie ^eben? Antwort: Nein, die Erforschung der Natur 
ist Sache der Naturwissenschaft. Jedoch vermag neben der Erkenntnis- 
praxis des Naturforschers eine Erkenntnistheorie bestehen, welche die 
Praxis zu ihrem Gegenstände macht, also in Abhängigkeit von jener be- 
steht. „Es giebt keine Philosophie der Natur, aber: es giebt eine Philo- 
sophie der Physik**, d i. „Philosophie des physikalischen Denkens*^. 

Sicher hat H. damit nicht den philosophischen Geist überhaupt aus 
der Physik austreiben wollen. Denn gleich darauf redet er von den f^den, 
die sich zwischen Erkenntnistheorie und -praxis hin- und herziehen, von 
dem Nutzen der Erkenntnistheorie für den Physiker. Was für ein Nutzea, 
wenn das Abhängigkeitsverhältnis wirklich so einseitig wäre ? Die Erkennt- 
nistheorie steht nicht nur als System neben der Erkenntnispraxis, sondern 
ist in ihr stückweise enthalten, wie die Lo^ik im „richtigen Denken**. 
Insofern kann eben, wie H. sagt, eine richtige Erkenntnistheorie „den 
physikalischen Erkenntnispraktiker in hundertfacher Weise fördern". 

Aus dieser künftigen Philosophie der Physik will H. nur einijB^e 
Proben bringen. Zunächst aus der Psychologie. Er bekämpft Machs Ein- 
teilung der Physik nach den Sinnesgebieten, da diese z. B keinen Unter- 
schied zwischen optischen und Bewegungserscheinungen zu liefern weiss. 

Auf das Problem der Gestaltsqualitäten hat H schon öfter hingewiesen. 
Es verlangt ein Fortschreiten der Psychologie über den blossen Atomismus 
hinaus — und das ist vielleicht, meint er, vorbildlich für die Physik. 

In der Theorie der Relationen und Komplexionen begegnen wir 
den Problemen der Relativität, Substantialität und Kausalität. Lietzteres 
steht im engsten Zusammenhange mit dem Energiebegriff. Jedoch das 
Bestreben Ostwalds, den leeren Kausalsatz durch den Energiesatz gleich- 
sam zu füllen, hält H. für verfehlt; die apriorische Natur des Satzes „Alles 
Anfangen muss eine Ursache haben'*, würde sonst verwischt. Die Logik 
will R. trotz Husserl auch fernerhin als die Lehre vom richtigen Denken 
definieren. Ihr Verhältnis zur Erkenntnistheorie soll dem zwischen Elektro- 
technik und theoretischer Elektrizitätslehre entsprechen. Auch alle psycho- 
logischen Vorgänge der Begriffsbildung rechnet er in ihren Interessenbereich. 
Da fragt man sich überrascht: kann H. psychologische Unterscheidungs- 
merkmale des richtigen und falschen Denkens angeben? Vielleicht will er 



ftecensionen (Lipps). 129 

aber nnr Irrtümer, das logisch Unerklärliche, psychologisch erklftrt wissen, 
s. B. hingewiesen wissen auf gewisse leichte Associationen, die den logischen 
Aufbau fälschen können? Dann wäre seine Behauptung verständlich. 

Weitherzig ist H. auch bei der Definition der Erkenntnistheorie. 
Sie ist ihm Theorie des Erkennens einschliesslich des Erkannten. Sie hat 
Aber die Denktätigkeit des Physikers nachzusinnen, ihr fällt femer die 
Aufgabe zu, den Gegensatz zwischen Phänomenologie und Materialismus 
auszugleichen. Solange der Physiker zu der Arbeit, die von den Philo- 
sophen zu tun ist, kein Vertrauen hat, möge er — schlägt H. vor — fllr 
seinen Hausgebrauch lieber bei dem naiven Realismus bleiben, als sich 
selbst eine Erkenntnistheorie und Metaphysik zu bilden, die nicht den aller- 
ersten Angriffen philosophischer Kritik standhält. Eine hart« Forderung, 
wenn wir mit H. selbst an einen „oft geleugneten oder gescholtenen, aber 
nie wirklich gebändigten Trieb*' zur Metaphysik glauben, — aber doch 
durch schlimme Erfahrungen gerechtfertigt. 

In die Metaphysik gehört nach H. vornehmlich die Frage nach dem 
Wesen der Materie. Denn: „Gegenstand der Metaphysik ist das Meta- 
phänomenale". Zwei Arten des Metaphänomenalen werden unterschieden : 
Relationen und Realitäten. Zu den letzteren gehören die physikalischen 
Realitäten, in denen das ungelöste Problem der Materie liegt Hier ver- 
langt H. „Ausgehen von positiven Sinnesdaten . . . dazu aber das Ab- 
legen der Scheu vor dem Gedanken an existierende, wenn auch durch 
keinerlei anschauliches Merkmal vorzustellende Realitäten, also „Dinge an 
sich", die aber das Zeug in sich haben müssen, Teilursachen für das Auf- 
treten jener Sinnesdaten zu werden.'* Nach dem Prinzip der „Relations- 
übertragung" soll das Erkennen über sich hinauskommen zum „Din^ an 
sich** ; wie ich an einem Brückenkopf in finsterer Nacht stehend auf einen 
Brückenkopf jenseits schliesse. Er erinnert an Helmholtz* Zeichentheorie, 
gegen die noch kein triftiges Argument beigebracht wäre. Eine „phäno- 
menologische Auflösung der Materie in Empfindungen*' wäre also erst 
nötig, wenn in den Gesetzmässigkeiten der Empfinoung kein Anzeichen 
läge, „dass diese Materie Gesetze m sich trägt**. Physik und Chemie werden 
niemals wie die Phänomenologie auf Hypothesen über die Konstruktion 
der Materie verzichten können. Und wenn wir auch nicht mit den Hypo- 
thesen Wirklichkeiten haben wollen, suchen wir doch damit so gut als 
möglich Wirklichkeiten zu „treffen". So bleibt nach H. das Reich der 
physikalischen Realitäten nur ein „Zwischen reich zwischen unseren Sinnes- 
empfindungen und den Dingen an sich**. 

H. hat uns scheinbar zu einer physikalischen Weltanschauung hinüber- 
geleitet. Aber er selbst leugnet deren Möglichkeit, weil die Physik nach 
Aaswahl ihrer Gegenstände von allen anderen abstrahiert Es giebt nur 
einen „physikalischen Ausschnitt aus einer philosophischen Weltanschauung'. 
Hier kommen Heinrich von Stein und F. Poske zum Wort. Es liegt eine 
religiöse Stimmung in diesem letzten Teile, und darum schweige der Bericht. 

Dass die Schrift Höflers der gegenseitigen Verständigung der Natur- 
forscher und Philosophen dienen kann, ist mit Freuden zu bejahen. Sicher- 
lich werden die geistvollen Darlegungen jeden Leser, zu welcher Partei 
er auch gehören mag, zu ernstem Nachdenken anregen und sich Beachtung 
sn erzwingen wissen. 

Bitterfeld. W. Reinecke. 

LIppa, Th. Naturwissenschaft und Weltanschauung. Vortrag 
gehalten auf der 78. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte. 
C. Winter, Heidelberg 190«. 

In dem grösseren Teile des geistreichen und lesenswerten Vortrages 
behandelt L. die Aufgabe der Naturwissenschaft an dem Wirklichen, der 
Materie. Im Schlüsse folgen Grundzüge einer aus der Naturwissenschaft 
erwachsenden Metaphysik. 

L. wendet sich zunächst gegen die Annahme, dass Aufgabe der 
Natarwissenschaft allein die Beschreibung der Erscheinungen sei. Die 

KMititiidiM xn. 2 



130 ftecensionen (Lipps). 

Naturwissenschaft beschreibt die Din^e nicht so, wie sie uns gegeben sind. 
Der denkende Geist geht in gesetzmässiger Weise weit darüber hinaus, 
nnd zwar nach dem Identitätsgesetz, aas dem bei Anwendung auf die 
Wirklichkeit das Kausalitätsgesetz wird. Es behauptet nämlich nach L., 
dass es Gesetzmäshigkeit gebe. Innerhalb dieses allgemeinen Rahmens geht 
die Naturwissenschaft auf Naturgesetze, das sind ideale „allgem^'ine That- 
Sachen** oder „Komponenten", die in einen Umkreis von Thatsachen so, wie 
diese es erlauben, „hineingedacht** werden können. Im Zusammenhange 
mit vorkommenden Umständen schaffen sie die empirischen Thatsachen 
nach oder voraus. Darin besteht das naturwissenschaftliche „Erklären**. — 
Warum nur L. den wunderlichen Gebrauch des Ausdruckes „allgemeine 
Tatsachen** mitmacht ! Liegt nicht in dem „allgemein*' und „Thatsache** bei 
wörtlicher Auffassung ein Widerspruch? Warum nennt er das Fallgesets 
nicht ruhig ein Gesetz? 

Dass jene ,,Rechnung** des denkenden Geistes in ihrem Ergebnis 
immer wieder mit den Thatsachen zusammentrifft, darin sieht L. „das 
grosse Rätsel'*. „Gesetzt, die Natur wäre in ihrem letzten Giunde der 
Geist, ich meine der Geist, in welchem der individuelle Geist, auch des 
Naturforschers, nur ein Punkt ist, dann freilich, aber auch nur dann, wäre 
dies Rätsel kein Rätsel mehr.** Diese Stelle weist auf den Schluss des 
Vortrages hin. 

Die Naturwissenschaft begnügt sich also nach L. nicht, die Er- 
scheinungen zu beschreiben, sie sucht sie umzudenken in ein System gesetz- 
mässiger Abhängigkeitsbeziehungen zwischen räumlichen, zeitlichen und 
Zahlgrössen. Sie ist eine^ formale, keine materiale Wissenschaft. ~ Nun 
bedarf es aber zur Bestimmung des Wirklichen auch des Materialen, sonst 
wäre die Wirklichkeit imaginär. Dazu scheint vielen der Befirriff der 
Masse brauchbar, andern der Betriff der Kraft oder Energie. Jeaoch ver- 
flüchtigen sich alle diese Begriffe in der Naturwissenschaft zu blossen 
Beziehungsbegriffen, sind „inhaltsleere Symbole'*. 

Dabei kann es nach L. der Naturforscher lassen ; er wird sich mit 
der Aufgabe begnügen, das Naturgeschehen durch mathematische Formeln 
darzustellen, d. h durch Raum-, Zeit- und Zahlgrössen. Auch die vitalistische 
Hypothese der .Zweckmässigkeit** gehört nach L. nicht in die Naturwissen- 
schaft. Denn unerklärt bleibt das zweckmässige Auftreten des Zweckstrebens, 
vorausgesetzt wird ein zweckmässiger Mechanismus. Der Yitalismus zeigt 
nur Gebiete an, die sich „zur Zeit** noch nicht naturwissenschaftlidi 
deuten lassen, — naturwissenschaftlich, d. h. mechanistisch. 

Doch warum löst die Naturwissenschaft das Wirkliche — d. L die 
Materie — in „Raumbegriffe** auf? „Einfach, weil sie es kann, sagt L. — 
Nein, weil sie es muss, weil es im Begriffe der exakten Naturwissenschaft 
liegt, halte ich dagegen für die richtige Antwort. Sie muss nur, fährt L. 
fo^ behalten, dass diese „Räumlichkeitssprache** nur eine „Anschauunes- 
form oder Sprache** ist. Sie kann nicht wissen, ob das Wirkliche dieselbe 
Sprache spricht. Ihre Sätze gelten, auch wenn es keine Räumlichkeit 
giebt, wenn nur die Ordnung des Wirklichen die gleiche ist, die wir 
als räumliche Ordnung anschauen. Es gehört also nach L. nicht zum 
Wesen der Naturgesetze, „Gesetze des Räumlichen zu sein**. Auch für 
die Geometrie sei es ganz gleichgiltig, dass sie „Räumlichkeitscharakter** 
habe, sie gehe „auf eine dreidimensionale, stetige, homogene und unendliche 
Mannigfaltigkeit überhaupt**. — Dann ist doch mindestens, meine ich, der 
Räumhchkeitscharakter der Geometrie für die Naturwissenschaft nicht gleich- 
giltig, weil dadurch allein Mathematik auf Naturvorgänge gehen kann. 
Insofern hat z. B. auch Poincar^ einen synthetischen Cnarakterzug der 
Mathematik anerkannt. Die Naturwissenschaft aber braucht sich nicht zu 
sorgen, „ob dem Wirklichen als solchem Raumbestimmungen zukommen**, 
da sie sich doch mit der räumlichen Erscheinungsweise begnügen muss. 

Aus seinen Ausführungen schliesst L. mit sachlichem Recht, dass ein 
gewisser Materialismus Postulat der Naturwissenschaft ist. Es ist das der 



ftecensioiieii (Öanmaim). 131 

Glaube, dass sich die Gesetzmässigkeit der Wirklichkeit in die Räumlich- 
keitssprache kleiden lasse. Auch die Lebensäusserungen muss man daher 
in den mechanistischen Zusammenhang einzuordnen suchen. 

Im Gegensatz zur Naturwissenschaft darf Weltanschauung nach L. 
allein die Audchauung vom Wesen des Wirklichen heissen. Daher giebt 
es keine naturwissenschaftliche Weltanschauung. Aber das „Produkt des 
naturwissenschaftlichen Geistes*' wird Gegenstand einer Naturphilosophie 
oder Metaphysik, welche 1. eine Kritik der naturwissenschaftlichen Er- 
kenntnis giebt, 2 das formale System der Naturwissenschaft mit erlebbarem 
Inhalt füllt. Als solches Erlebbare kennen wir nur das Bewusstsein, „das 
EQgleich den eigentlichen Sinn der Worte Kraft, Thätigkeit, Energie u s. w. 
ausmacht". ,,Damit ist dann zugleich die Frage nach der objektiven Wirk- 
lichkeit der Materie negativ beantwortet'* „Ist das Wirkliche Bewusst- 
aein, Ich, Geist, ein Weltbewusstsein, ein Welt-Ich, ein Welt-Geist, dann, 
aber auch nur dann ist es für uns etwas Bestimmtes und als wirklich 
Denkbares". Aus der Sinnenwelt spricht das Wirkliche zum individuellen 
Bewusstsein. Somit ist der naturwissenschaftliche Materialismus — Idealis- 
mus oder Monismus. Die Versöhnung von Mechanismus und Zweckthätig- 
keit liegt in dem Gedanken, ,,dass alles Zweckthätigkeit sei, und alles dem 
naturwissenschaftlichen Denken als notwendig sich darstelle'^ 

Daraus kann man im Anschluss an weiter oben gegebene Aus- 
führungen von Lipps selbst folgern, dass dieser Mechanismus ein zweck- 
mässiger sein muss, dass also in den Dingen Vernunft liege, ja dass Natur 
und Vernunft ,,an sich'' dasselbe sei, — wenigstens kann man so folgern, 
wenn — um wieder an Lipps selbst anzuknüpfen — jene Zweckthätigkeit 
zweckmässig ist. Offen bliebe die Frage nach dem Zweck. Auch schillert 
der von Lipps gebrauchte Begriff „Bewusstsein'' noch in zu verschiedenen 
Farben, als dass seine (Lipps') metaphysische Lösung allgemein befriedigen 
könnte. W. Reinecke. 

Baamann, J. Welt- und Lebensansicht in ihren real- 
wissenschaftlichen und philosophischen Grundzügen. F. A. 
Perthes, Gotha 1906. 

Auf 81 Seiten hat B. eine ungeheure Menge mannigfaltigen Materials 
ans den Naturwissenschaften zusammengetragen, so dass der Leser ver- 
mutlich nach der ersten Durchsicht mit wirrem Kopfe dasitzen wird, ohne 
recht zu wissen, was er nun als den Hauptzweck des Schriftchens ansehen 
aoll. B. beschäftigt sich mit der „Realwissenschaft^. Solche ^ist, wo auf 
Grund von Thatsachen, die Jedermanns Nachprüfung offen stehen, nach 
logischen Regeln, die ihrer Natur nach alle anerkennen, Ansichten aufge- 
stellt werden können". Hierher rechnet B. die Naturwissenschaften, deren 
experimentelle Methode er treffend, „keine Kunst der Sinne", sondern eine 
fiKunst des Gedankens^ nennt. Diese realwissenschaftliche Methode stellt 
er in Gegensatz zur Kantischen Erkei;ntnislehre. Er erkennt eine Trennung 
in primäre und sekundäre — oder, wie e r sagt, in objektive und subjektive 
Qualitäten an, lehnt aber den weiteren Schritt Kantii ab. Dafür sucht er 
die Ergebnisse der Real Wissenschaften für das Verständnis und die Führung 
menschlichen Lebens auch in ästhetischer und religiöser Hinsicht auszubeuten. 

W. Reinecke. 



y 



132 Selbstanzeigen (Hönigswald—Elsenlians). 



Selbstanzeigen. 



Hönlirgwald, Richard, Dr. phil. et med., Privatdozent der Philo- 
sophie an der Universität Breslau. Beiträge zur Erkenntnistheorie 
und Methodenlehre. Leipzig 1906. (VII und 134 S.) 

Ihrem Titel entsprechend verfol/jt die vorliegende Arbeit eine dop- 
pelte Absicht. Sie will einerseits die nahen Beziehungen des philoso- 
phischen Kritizismus insbesondere in der Gestalt, die er den klassischen 
Forschungen A. Riehls verdankt, zur positiven Wissenschaft in klarstes 
Licht setzen, andererseits den Begriff der Methodenlehre in unmittelbarem 
Anschluss an die Gnmdlagen des philosophischen Kritizismus erweitem. 
Das erstere wird angestrebt durch eine Analyse des Oalileischen Begriffes 
der Naturgesetzlichkeit überhaupt, wie er für den Begründer dermoaemen 
Physik und der wissenschaftlichen Induktion aus den Ergebnissen seines 
Verfahrens zu folgen schien: das letztere durch eine von methodologischen 
Gesichtspunkten aus unternommene Scheidung zwischen Urteilsform und 
Urteilsmaterie. So setzt sich die vorliegende Arbeit in eine doppelte Be- 
ziehung zhr positiven Forschung, deren höchste Interessen nach Ansicht 
des Verfassers die allgemeine Erkenntniswissenschaft und nicht, wie man 
so oft behauptet, eine auf empirischen Giundlagen aufgebaute und auszu- 
bauende Metaphysik vertritt. 

Die Erweiterung des Begriffes der Methodenlehre erfolgt im wesent- 
lichen im Rahmen einer Diskussion der Frage, „wie der Inhalt unserer 
Aussagen auf die Bewertung ihrer logischen Form* im Zusammenhang der 
Wissenschaf tlichen Erkenntnis zurückwirkt". Das Urteil, bisher mit Recht 
im Brennpunkte des Interesses der Erkenntnistheorie und der Logik im 
engeren 2Sinne, wird damit zu einem wichtigen Problem auch der Me- 
thodenlehre und so der Begriff der letzteren über die Grenzen, welche 
ihr als Theorie des wissenschaftlichen Verfahrens gezogen sind, ent- 
sprechend erweitert. — Im besonderen eiörtert die vorliegende Studie 
unter dem dargelegten Gesichtspunkt die methodologische Bedeutung der 
singulären und der partikulären Aussag^, sowie, und zwar mit besonderem 
Nachdruck, die Rolle des hypothetischen Satzes, den sie in seinen 
Beziehungen zu den verschiedenen Arten der wissenschaftlichen Induktion 
und im Zusammenhange damit in seinem Verhältnis zu einer erkenntnis- 
theoretisch, wie methodologisch eigenartigen Form wissenschaftlicher Aus- 
sagen, den sogenannten Exponentialsätzen, untersucht 

Breslau. R. Hönigswald. 

Elsenhang, Th. Fries und Kant. Ein Beitrag zur Geschichte und 
zur systematischen Grundlegung der Erkenntnistheorie. II. Kritisch- Syste- 
matischer Teil. Grundlegung der Erkenntnistheorie als Er^bnis 
einer Auseinandersetzung mit Kant vom Standpunkte der Friesischen 
Problemstellung Giessen, Alfred Töpelmann, 1906. (223 S.) 

Der II. Teil des Werkes knüpft zunächst an das Ergebnis des 
I. historischen Teiles an, um sich dann zu einer Grundlegung der Erkennt- 
nistheorie überhaupt zu erweitem. Massgebend ist hierbei weniger der 
Inhalt der Friesischen Philosophie als die Problemstellung derselben. 
Die letztere nötigt zu eingehender Untersuchung gewisser Präliminarien der 
Erkenntnistheorie, die sonst in der Regel nur geringere Berücksichtigung 
finden. So werden in einem I. Kapitel zunäcl:^t die Voraussetzungen der 
Erkenntnistheorie erörtert, und zwar die psychologischen, die logischen 
und die im eigentlichen Sinne erkenntnistheoretischen Voraussetzungen 
derselben. Innerhalb der letzteren handelt es sich zuerst um Voraus- 
setzungen hinsichtlich des Ausgangspunktes der Untersuchung, wobei 
die Frage des Erkennens als „Objekt^, die Kantischen Be^ffe der 



Selbstanzeigen (Talbot). 133 

.Erfahrang^, des „Faktums^, der „vernünftigen Wesen^ nnd die Frage 
des Geltungsgebietes der apriorischen Formen eine eingehende Bearbeitung 
erfahren, soaann um Voraussetzungen hinsichtlich der Untersuchung 
selbst, die zur Besprechung dea erkenntnistheoretischen Zirkels und der 
Möglichkeiten seiner Überwindung führen, und endlich um Voraussetzungen 
hinsichtlich der Mitteilbarkeit der Untersuchung, wobei neben der 
Frage nach dem Verständnis der Wortbedeutungen die Anerkennung der 
Begründung durch andere und der Kantische ,,Gemeinsinn^ zur Sprache 
kommt. 

Das IL Kapitel behandelt die Methode der Erkenntnistheorie 
und sondert die Probleme in folgender Weise: A. Das Kriterium der ob- 
jektiven Oiltigkeit, I. Das Evidenzgefühl als individuelles Erlebnis. II. 
Das Evidenzgefühl als Massstab der AUgemeingiltigkeit. B. Die Methode 
der Untersuchung der Erkenntnisprinzipien, wobei unter anderem ein 
systematischer Entwurf der Erkenntnisprinzipien gegeben wird. C. Das 
Verfahren in der Feststellung der Grenzen des Erkennens. 

Ein III. Kapitel beschäftigt sich mit dem Problem der Grenzen 
des Erkennens selbst. In dem I. Abschnitt dieses Kapitels werden A. 
die Grenzen der Erkenntnisthätigkeit als solcher erörtert. Hier kommt 
zunächst die Bedeutung der Lehre von der „Unerklärlichkeit der Quali- 
täten** zur Sprache, sodann die vielerörterte Frage der Grenzen der natur- 
wissenschaftbchen Begriffsbildung und der Erkenntnis des Historischen. 

Der II. Abschnitt des letzten Kapitels: B. Die Grenzen des Erkennt- 
nisgebietes, behandelt hauptsächlich das Verhältnis der regulativen Prinzipien 
Kants zu den transscenoenten Hypothesen und gelangt zu dem Resultat, 
dass regulative Prinzipien, soweit sie Substrate der von der Wissen- 
schaft anzustrebenden grösstmö^lichen Einheit der Erfahrungserkenntnis 
liefern, mit Notwendigkeit zu eigentlichen Hypothesen werden. 

Einer der Grundgedanken des Buches ist, dass die einzelnen Er- 
kenntnisprinzipien stets nur empirisch ableitbar sind, während die unbe- 
dingte Giltigkeit derselben in aas Gebiet der unvermeidlichen, jenseits 
aller wissenschaftlichen Beweisftlhrung liegenden Voraussetzungen 
gehört. 

Das Ganze der Erkenntnistheorie aber scheint mir durch die aus 
der historischen Untersuchung erwachsene Problemstellnnf eine ei^n- 
artiure Beleuchtung zu erfahren, die da und dort einer fruchtbaren Weiter- 
bildung den Weg bahnen mag. 

Heidelberg. Th. Elsenhans. 

Talbot, Ellen Ellas. The Fundamental Principle of Fichte's 
Philosoph y. New York, The Macmillan Company, 1906. (pp. VI and 140.) 

The pnrpose of the book is to make a study of Fichte's conception 
of the ultimate principle, variously designated by him aa ,the Ego', ,the 
Absolute*, ,God', and so on. The relation between the two periods of his 
philosophy is considered only in so far as it has bearing upon this con- 
ception. 

The first chapter compares the doctrines of Kant and Fichte with 
reference to the relation between human consciousness and the ideal which 
it is ever striving to realize. In the .Kritik der reinen Vernunft^ Kant's 
conception of the ideal of knowled^ is represented by his doctrine of 
intellektuelle Anschauung. In its more developed form, intellek- 
tuelle Anschauung is an organic unity of subject and object. As con- 
trasted with it, human Cognition is inherently dualistic; the form and 
matter which we find in human knowledge are essentially opposed, and 
their Union in the act of thought is regaraed by Kant aa merely mecluiF 
nicaL Quite consistently with this view, Kant maintains that the relation 
between human knowledge and its ideal is purely negative; progress in 
knowledge can never bring us nearer to the organic unity of subject aod 
objeci. 



134 Selbstanzeigen (Talbot). 

The later writings represent no real advance npon this position. It 
is true that in the „Kritik der praktischen Vernunft** Kant recognizes the 
possibility ot our ap{)roximatin^ to the ethical ideal. But this idecd, the 
moral law, is conceived by him as purely formal; and the progress of 
morality is therefore regarded, not as an ever-growing unity of form and 
content, but as the gradu^l destruction of content, the cnishing out of 
natural desire. In the „Kritik der Urteilskraft** we have substantially the 
same view as in the „Kritik der reinen Vernunft**. 

Fichte conceives the relation between consciousness and its ideal 
quite differently He recognizes as readily as Kant that consciousness 
must appear to itself dualistic; he even insists that without the Opposition 
of subject and oVject there could be no consciousness Nevertheless, he 
maintains that the relation between experience and its ideal ib a positive 
one, that experience is steadily working toward the goal. He believes, 
in other worcls, that consciousness, with all its Opposition, is a necessary 
stage in the self-realization of the ideal unity. 

Chapter 11 is devoted to a study of the self-realizing ideal as it 
appears in the earlier writings. The ultiin»te principle is here conceived 
by Fichte as the Idea which gradually realizes itself in and through the 
world-process. This world of human consciousness exists in order that 
the Idea of the Ego may become actual An important question here is 
whether Fichte always thiuks of the ideal as organic unity of form and 
content. There are some traces, particularly in the ethical writings, of a 
tendency to regard it as mere form, and this would compel us to conceive 
of progress as the gradual disappearance of content. On the whole, it 
seems necessary to ad mit two opposed tendencies in Fichte's conception. 
Sometimes he seems to think of the ideal as mere form, and sometimes 
as organic unity of form and content. The second tendency is, however, 
the predoroinant one. 

In connection with this question, one must consider Fichte,s repeated 
Statements that if the infinite, and therefore unattainable, goal were ever 
attained, individuality and consciousness would have disappeared. This 
doctrine does not necessarily commit him to the conception of the ideal 
as merely formal. If we interpret bis earlier writings in the light of what 
he says of individuality in the second period, we see that the approxima- 
tion to the goal does not mean the gradual disappearance of content and 
of individual differences. Fichte distmguishes, in one of bis later works, 
between the higher and the lower individuality and declares that it is 
only the latter which will tend to disappear as the Idea is progressively 
realized. The lower individuality means devot ion to one^s personal interests. 
The higher individuality in the complete surrender of oneself to the divine 
Idea; and since the Idea is constantly assuming new forms, its progressive 
realization will mean the appearance of unique personalities, rather than 
the reduction of all individuals to a common level. 

The third chapter considers the ultimate principle as it is fonnd in 
the later writings. The most striking featnre of this period is the 
distinction which Fichte makes between the Sein and the Dasein of 
the Abs(^ute. What is meant by this distinction is a question upon which 
widely different opinions have been held. The Interpretation which is 
advanced in this book is as follows. The doctrine of the being of the 
Absolute is not the assertion of another actuality behind the actual world. 
In his later, as in his earlier writings, Fichte recognizes no actuality save 
that of the world-process itself. But if we say that the world of human 
consciousness is all that exists, what sort of reality can we ascribe to the 
Idea of the Ego in so far as it is still unrealized? One might say that 
its reality consists simply in the fact that we conceive it, that it is our 
ideal. Thus it would have only the actuality which belongs to any 
psychical event. Again, one might say that it is simply an objective norm, 
an absolute Standard of value, by which we may measure the progress 



Selbitanzeigen (Fischer). 136 

of the actnal world. Neither of these answers, howeyer, woold satisfy 
Fichte. For him, the Idea of the Ego is at once the sapreme valae and 
the groand of the world-process. 

We may perhaps come to a better understanding of Fichte*8 doctrine 
if we coDsider it as an attempt to explain the presence of values in tbe 
real world. In common with sonie other Geschichtsphilosophen, 
Fichte maintains that all that is actual is the world-process, and, further, 
that in this process we see absolute values more or less fuUy realized. 
But how is it, one may ask, that etemal values are realized in the tem- 
poral world? Can we in any measure explain it, or is it simply a fact 
which we may accept and rejoice in, but which we cannot hope to nnder* 
stand? If the latter is the case, of conrse we have no guarantee of any 
future realization of absolute values. Fichte maintains, however, that the 
presence of values in our world is,capable of explanation. The etemal 
values are realized in human history becanse the absolue value ~ the 
Idea of the Ego — is a self-reaiizing principle. And since the divine 
Idea is itself the directing force in human history, we may rest assured 
that the future will bring ever new realizations of the etemal values. 

South Hadley, Massachusetts. Ellen Bliss Talbot. 

Fischer, Ernst, Dr. phil. Die geschichtlichen Vorlagen zur 
Dialektik in Kants Kr. a. r. Y. Dissertation. Berlin. E. Ehering. 05. 

Die Arbeit setzt es sich zum Ziel, die metaphysischen Lehren Wolffs 
and seiner Schule — und als Oegenstück und anmerkungsweise zu den 
einzelnen Abschnitten die einschlagigen Ansichten Lockes in seinem Haupt- 
werk — im einzelnen daraufhin zu verfolgen, ob und inwieweit ihr Einfluss 
bei der Gestaltung der transscendentalen Dialektik wirksam gewesen und 
noch erkennbar ist, auch inwieweit er bei einiger geschichtlicher Orientierung 
an einzelnen Stellen wohl zum Vorteil des Ganzen hätte gewahrt und be- 
obachtet werden können. Die Untersuchung^ erscheint nicht uninteressant 
zunächst zur Charakterisiemng des dnhistonschen Standpunktes Kants, der 
hier ja in weitem Sinne berechtigt war. Es sollte keine Kritik der Bücher 
und Systeme gegeben werden. Die Nachwirkung der thatsächlichen ge- 
schichtlichen Einflüsse blieb trotzdem. Ein anderer Gesichtspunkt kommt 
hinzu. Zwei Faktoren haben auf die Gestaltung der trransscendentalen 
Dialektik eingewirkt, die Kategorientafel, die ganze Systematik Kants als 
das formgebende Prinzip, gleichsam als der Bauplan, dessen Wirkungen im 
einzelnen Adickes in seinem Werk „Kaufs Systematik als systembildender 
Faktor*^ nachgewiesen hat, und andererseits die Wolffische Metaphysik, 
als die geschichtliche Vorlage, als das Baumaterial. Die Einflüsse beider 
Faktoren haben zusammengewirkt und müssen daher gegeneinander abge- 
wogen werden. 

Die vereinigte Wirksamkeit beider Momente zeigt uns schon die 
Kantische Kritik der alten Ontologie, die nur — Kantisch zu reden — 
»rhapsodistisch^ zu Worte kommt. (Abschnitt L) 

Aus Rücksicht auf die Kategorien der Relation hat Kant die Ontolo^e 
in die eij^entliche Dialektik nicht mit aufgenommen. So findet sie keine 
systematische Darstellung und kommt nur gelegentlich in der transscendentalen 
Analytik zur Geltung. Gerade dadurch aber bleibt hier die g^eschichtliche 
Vorlage, wie im einzelnen gezeigt werden kann, mehr in ihrer wahren 
Gestalt bewahrt. Bei weniger .mapsodistischer^ Berücksichtigung hätte 
eine dieser Stellen schon hier gute Gelegenheit gegeben, auf die vOllij^ 
Antithietik zwischen Wolff und Locke in Bezug auf den leeren Raum hin- 
zuweisen, die um so schärfer ist, als beide ihre entgegengesetzten Ansichten 
auf dieselbe Thatsache, die Thatsache der Bewegung gründen. Die An- 
nahme leerer Räume ist nach Wolff unmöglich, weil mit ihrer Setzung 
zugleich der Materie feste, ursprüngliche Gestalten vorgeschrieben würden. 
Feste, ewige Körperfiguren aber wären unvereinbar mit der Stetigkeit der 
Bewegung. Stetige Bewegung und kontinuierliche RaumerftUlnng bedingen 
sich gegenseitig. Umgekehrt behauptet Locke, aus der Erfahrongstbatsache 



136 Selbstanzeigen (Romundt). 

der Bewegung folge, da sonst bei der Undnrchdringrlichkeit der EOrper 
keine Ortsveränderung möglich sei : Leerer Raum und Bewegung bedingen 
sich gegenseitig (S. 11. 21). — Diese Antithetik hat ein besonderes Inte- 
resse noch dadurch, als ihre Berücksichtigung — wie in dem Abschnitt 
über die Kosmologie näher gezeigt wird — direkt zur Aufstellung der 
dynamischen Teilbarkeitsantinomie geführt hätte, die Wundt bei seiner 
systematischen Umgestaltung der Antinomietafel an Stelle der unzulässigen 
mathematischen Teilbarkeitsantinomie eingeführt hat (S. 60). 

Das Kapitel Psychologie weist zunächst hin auf die verschiedene 
Stellung der Psychologie in der Kantischen Dialektik und im System der 
Wolffischen Metaphysik. Dort — durch die Rücksicht auf die Kategorien- 
tafel bedingt — die Anordnung: Psychologie, Kosmologie, Theologie, 
hier: Kosmologie, Psychologie, Theologie. Der ontologisch-kosmologische 
Unterbau der Wolffischen Psychologie kann schon deshalb nicht zur Geltung 
kommen Aus diesem Gesichtspunkt, der ja doch wohl mit der Annahme 
einer allgemeinen Nachwirkung sich verträgt, werden nun im einzelnen die 
Differenzen und Uebereinstimmungen in der Darstellung der rationalen 
Psychologie erörtert, über die schon die verschiedensten Meinungen laut 
geworden sind. Herbart, J B. Meyer, B. Erdmann, Adickes, Dessoir weichen 
mehr oder minder ab (bes. S. 3ß f.). 

Aus dem Kapitel über Kosmologie sei zunächst auf die mit Wolff 
übereinstimmende Definition der Welt als Weltreihe hingewiesen, femer 
auf die Bedeutung der geschichtlichen Vorlage für die Differenzierung der 
dritten und vierten Antinomie. Sie hat ihr genaues Vorbild in der Wolffischen 
Kosmologie, insofern in der die Unmöglichkeit eines „Fatum Spinozisticum*^ 
und die Notwendigkeit eines ens extramundanum zwei ausführlich be- 
handelte, zwei besondere und gesondert bewiesene Lehrstücke bilden. 
Daraus erklärt sich auch zwanglos, warum Kant das Problem der Freiheit 
„widerrechtlich** in die Kosmologie hineingezogen hat (S. 46). — Weiter 
sei noch die von Kant nicht berücksichtii^te „zweite Art unendlicher Ur- 
sachenverkettung" hervorgehoben, die sich bei Wolff, Baum garten etc. er- 
örtert findet, die kreisförmige in sich zurückkehrende Ursachenver- 
kettung. Ausführlicher als Wolff und Baumgarten behandelt Baumgartens 
Schüler G. F. Meier (Mitglied d. Berl. Akademie) diese Lehre, indem er an 
das „Platonische Jahr" und damit an die pythagoräisch-Nietzschesche Lehre 
der ewigen Wiederkunft erinnert. Meier selbst denkt sich die Reihe der 
Gründe aller möglichen Dinge fortlaufend bis in Gott, wo sie sich in einem 
unendlichen Cirkul der Gründe verliert (S. 48). 

Endlich sei aus dem letzten Kapitel über die Theologie auf die 
schon bei Wolff und Baumgarten ausschlagende Bedeutung des ontologischen 
Arguments hingewiesen und auf die Inkonsequenz in Kants Gliederung 
der rationalen Pyscholo^e und Theologie, indem hier auf die dialektischen 
Lehren über Substanzialität, SimplieitAt, Spiritualität, Singularität gar nicht 
eingegangen wird. Hier ist das unhistorische Verhalten nicht einmal durch 
die Rücksicht auf die Systematik gefordert. 

Posen. Ernst Fischer. 

Romundt, Heinrich, Dr. phil. Der Professorenkant. Ein Ende 
und ein Anfang. Gotha, Verlag von E. F. Thienemann. ]d06. (126 Seiten.) ^) 

Der Titel dieses Buches könnte Befürchtungen für öffentliche ge- 
ordnete Pflege der Philosophie veranlassen. Solche Sorgen sind jedoch 
nicht begründet. Denn unsere Schrift nimmt nicht etwa lediglich Be- 
strebungen wieder auf. wie sie in der 1850 erschienenen Abliandlung 
Schopenhauers ,Ueber aie Universitätsphilosophie**, Parerga 1. Band, zuerst 
zu Worte kamen und dann u a. in Nietzsches 3. Unzeitgemässer Betrach- 
tung „Schopenhauer als Erzieher** fortgesetzt wurden. .Der Rrofessoren- 
kant** sucht vielmehr in seiner ersten Hälfte und vor aller Polemik gerade 

1) Wir erinnern daran, dass für Selbstanzei^en die Autoren allein 
verantwortlich sind, Die Redaktion. 



Selbstanzeigen (Bomnndt). 137 

festr.astellen, darch welche Art von Pflege im öffentlichen Unterricht 
der Hochschnle die Philosophen Angriffen von der Art, wie sie von Seiten 
der genannten philosophischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts gegen 
sie eriPolgt sind, in Zukunft allen Boden zu eiitziehen vermögen. 

Den Weg aber zu einer besseren, ja für alle Zeiten gültigen Behand- 
lung der Philosophie, einen wirklichen Heeresweg, sieht unsere Schrift vor- 
gezeichnet in derjenigen Veröffentlichung, mit der Kant 1798 auf eine 
überaus bedeutsame Art seine schriftstellerische Thätigkeit abschloss, dem 
^Streit der Fakultäten*. Dieser zeigt freilich in seiner Fassung von 1798 
noch manche und nicht geringe Mängel, auf die auch sein Urheber selber 
am Schluss seiner Vorrede vorbereitete, deren Beseitigung er aber von 
der Nachw<»lt wohl erhoffen durfte, wenn sie ihm auch bisher leider gar 
nicht zu teil geworden ist. Darum unternimmt unsere Abhandlung, in 
ihrem 2. Teil .der Professor Kant (1798)* von Kants Schrift bei aller .ge- 
botenen Treue auch gegen den überlieferten Buchstaben eine Art von 
erster Herstellung* zu schaffen. Hat doch deren bisheriges Fehlen sichei- 
lich mit die auffallend geringe Beachtung und Benutzung des Kantischen 
Abschiedswortes an den Universitäten veranlasst, die mir bald nach Er- 
scheinen meiner Schrift von einem angesehenen Lehrer der Philosophie 
und besonders genauen Kenner ihrer Geschichte an einer grossen deutschen 
Universität durch eine Zuschrift ausdrücklich bestätigt wurde. 

Dasjenige, was in unserem 2. Teil, dessen I. Kapitel überschrieben ist 
„Kants Werk kann für die gesamte Universität durch Vermittelung von deren 

Shilosophischer Fakultät wertvoll werden*^, als eine „abgekürzte Neuausgabe 
es Streits der Fakultäten* beginnt, vervollständigt zuletzt ein 4. ab- 
schliessender Teil durch einen .Ausblick in die Zukunft der Philosophie^, 
und zwar besonders in die bisher kaum beachtete sehr überraschenoe Er- 
weiterung der letzteren nach verschiedensten Richtungen, sofern sie durch 
Kants Vernunftkritik ermöglicht ist. 

Alles, was bisher erwähnt wurde und was offenbar von durchaus auf- 
bauender positiver Art ist, enthält jedoch noch frar nichts von Begründung 
für den Haupttitel unserer Schrift. Eine solche findet sich allererst in dem 
dritten und ausführlichsten mit ihm gleichnamifi^en Teil : „Der Professoren- 
kant ']787->19()H u. s. w.)' Dieser Abschnitt aber bietet eine Darstellung 
eben desjenigen in der Geschichte der nachkantischen deutschen Universitäts- 
philosophie, was wohl geeignet war, hochstrebende geistvolle und mit 
ernsterem Sinn auf das Beste der Philosophie gerichtete Männer wie 
Schopenhauer und Nietzsche in einer völligen Beseitigung gerade des vom 
Staate unterstützten und erhaltenen Universitätsbetriebs einen Weg der 
Rettung und Besserung für das Streben nach letzter höchster Wissenschaft 
und Weisheit zu sehen. Freilich, so durfte S. 119 gesagt werden, „beweisen 
die eigenen Hervorbringungen dieser beiden begabten Männer durch ihre 
Beschaffenheit, dass blosse Herstellung von unbeschränktem Privatbetrieb 
in der Philosophie noch nicht gründlich bessert*. 

Indessen darin haben unsere beiden Autoren doch Recht, dass gerade 
das philosophische Katheder sich als eine erhebliche Gefahr, ja als ein 
schweres Verderben für die Philosophie am Ende des 18. und in der ersten 
H&lfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland erwiesen hat. Eben dieses be« 
gründet der „ Professoren kant** in seinem 3. Teile nnd damit auch die 
Triftigkeit gerade dieser Benennung. Für die gründlichere Ueberzeugung 
davon, dass (und wie) aus dem .ftofessor Kant*^, wie er uns im .Streit 
der Fakultäten* grossartig entgegentritt, gerade ein Professoren kant 
werden konnte und musste, wolle man iedoch gestatten, auf den dritten 
Teil der Schrift selbst zu verweisen. Und aus ihm wieder besonders sei 
das zweite Kapitel hervorgehoben. Dieses behandelt «die .Kantische* Extra- 
professur an der Universität Jena*, jene etwas übereilte and sicherlich 
sehr verhängnisvolle weimarische Gründung vom Jahre 17M7, durch die 
aus der kleinen thüringischen Universität weiterhin in kurser Zeit der Haupt« 
Schauplatz der ersten nachkantischen deutschen Spekulation wurde, an deren 



138 Selbstanseigen (Wernicke). 

niederdrückenden Nachwirkungen die Philosophie noch heute nnd ohne 
ernste Oegenvorkehrungen voraussichtlich auch fernerhin ins Unabsehbare 
schwer zu tragen hat. 

Dresden-Plauen. H. Romandt 

Wernicke, Alexander, Prof Dr. Kant . . . and kein Ende? 
2. Auflage. Braunschweig, Joh. Heinr. Meyer, 1907. gr. 8®. (XII und 
62 S.) 

Die Schrift will dem Verständnisse Kants dienen, nicht aber 
der Frage nach dem Bleibenden und nach dem Vergänglichen in seiner 
Leistung, und zwar will sie zeigen, dass es wirklich ein kritisches 
System Kants giebt. 

Der Philosoph bekennt sich selbst zu einem „Systeme der Epi- 
genesis der reinen Vernunft", d. h. zu einem Systeme der generellen 
Präformatiou, während er jede individuelle Präformation aolebnt. Da- 
mit ist der Spielraum gegeben für die Freiheit als Selbstbestimmung 
(Autonomie), die er lehrt: der einzelne Mensch hat die Möglichkeit und 
die Pflicht, sich nach dem Allgemein-Menschlichen in sich zu be- 
stimmen, sowohl auf dem Gebiete des Wissens, als auch auf dem G^ebiete 
des Handelns. 

„Quod petis, in te est . . . ne te quaesiveris extra !** 

Der Selbstbestimmung auf dem Gebiete des Wissens gilt die Kritik 
der reinen Vernunft, sie untersucht hier die Leistungsfähigkeit des 
Menschengeistes aus eigener Kraft und setzt dabei zweiBejgriffe 
voraus, den Begriff des Menschengeistes und den Begriff der 
Erkenntnis aus eigener Kraft (a priori). 

Gemäss seiner Eigenart kann der Menschengeist nur das Gegen- 
ständliche der Sinnen weit aus eigener Kraft erkennen, d. h. deren 
gesetzliches Skelett, während ihm jede Erkenntnis des Übersinnlichen 
(Metaphysik) versagt ist, und zwar weil jede gegenständliche Erkenntnis 
anschaulich-logische Erkenntnis ist und weil es für den Menschen sinn- 
liche Anschauung giebt, während ihm übersinnliche Anschauung ver- 
sagt isf . 

Damit ist die Erkenntnis- Grenze für das theoretische Gebiet 
bestimmt, and diese Bestimmung hat mit psychologischen Fragen nichts 
zu thun, die Transscendental-Philosophie verhält sich zur Sinnenwelt etwa 
wie die Grammatik einer Sprache zu dieser. 

An die Feststellung der Erkenntnis- Grenze (Hauptzweck) schliessen 
sich zwei weitere Fragen an, von denen die erstere eine Doppelfrage ist, 
es handelt sich einerseits darum, gemäss den vorausgesetzten Be- 
griffen den Anschluss an die Wissenschaft Newtons und an die Psycho- 
logie zu erreichen, es handelt sich andererseits darum, die zeitgenössische 
Metaphysik wirklich zu vernichten, sie nicht bloss begrifflich zn negieren, 
und an ihrer Stelle die praktische Erkenntnis aus Vernunft aufzubauen, 
d. h. die Selbstbestimmung auf dem Gebiete des Handelns festzustellen. 

Die Behandlung der ersten Doppel-Frage bildet den Nebenzweck 
der Kritik der reinen Vernunft, die Behandlung der zweiten wird in ihr 
nur vorbereitet und dann zunächst in der Grundlegung zur Metaphysik 
der Sitten weitergeführt. 

Auf theoretischem Gebiet besteht die Selbstbestimmung in der 
Formung der Empfindungen zu Gegenständen der Sinnenwelt gemäss den 
anschaulich -logischen Gesetzen des Menschengeistes, und darum entsprechen 
diese zugleich den allgemeinsten Naturgesetzen« So wird dem Menschen 
die Notwendigkeit in seiner Sinnenwelt zu einer That seiner 
Freiheit. 

Mit dieser Auffassung wird der Platz geschaffen für eine ent- 
sprechende Selbstbestimmung auf dem Gebiete desPraktischen, gemäss 
dem thatsächlich gegebenen „Du kannst^* und „Du sollst'^ durch 
welches jede Lebensführung und Lebensgestaltung bedingt ist. 



SelbftuuBeigen (Habracker). 139 

Alles in Freiheit Geformte verfallt der Sinnenwelt, 
aber das Formende selbst ist übersinnlich. So, aber anch nur 
so bildet die übersinnliche Welt den Grund der Sinnenwelt. 

Kants kritisches System ruht auf dem Glaubensgrund, den die 
„Traume u. s. w*' genauer bezeichnen, es steht, nicht bloss geschichtlich, 
zwischen den Systemen von Leibniz und Fichte (Spontaneität). Aus dem 
InteUektual-System der ersteren löst er sich, indem er jedes echte Wissen, 
von formaler Logik abgesehen, als logisch -anschHuliches Wissen bestimmt, 
um von dem transscendentalen Gepräge dieses Wissens aus seine eigenen 
Wege zu gehen. 

Dem System des letzteren tritt er entge^n, weil er den Menschen 
zwar als Baumeister seiner Sinnenwelt, aber nicht als deren Schöpfer an- 
erkennen kann, dem formenden Geiste muss Stoff (Empfindung) gegeben 
werden, wenn er bauen soll. 

Die neue Auflage hält die bisherige Einteilung fest: I. Wie steht 
es um das Verständnis Kants? II. Die Aufgabe der Kritik der reinen 
Vernunft und deren Beziehung zu Kants Weltanschauung. III. Anmerkungen 
und Beilagen Wahrend der Abschnitt II keine wesentlichen Änderungen 
aufweist, sind die Abschnitte I und UI einer durchgreifenden und er- 
weiternden, dem jetzigen Stande der Kantforschung angepassten Um- 
arbeitung unterzogen worden, wobei auch die Eigenart der Kantischen 
Sprache, welche die Klarheit des Gedankens so oft verhüUt, genauer be- 
rücksichtigt wird. * 

Braouschweig. Alex. Wernicke. 

Habmeker, Walther, Referendar. Rechtsempirie und Rechts- 
theorie. Inauguraldissertation zur Erlangung der juristischen Doktor- 
würde. HaUe 19i)6. 

Der Verfasser, der ein Anhänger des Kantischen Kritizismus und 
speziell der Stammlerschen Sozialphilosophie ist, geht davon aus, „dass die 
formale Jurisprudenz'' (worunter er die wissenschaftliche Beschäftigung 
mit einem konkreten Rechte, wie und weil es da ist, also als letztem 
Gegenstande der Erkenntnis, versteht) „es in der Ausbildung der formalen 
Grundsätze^ nach denen sie ihren empirischen Stoff in Sicherheit und 
Gleichmässigkeit zu verarbeiten hätte, noch nicht so weit gebracht hat, 
wie andere Wissenschaften'', und sucht nun an einzelnen Beispielen aus 
der juristischen Litteratur nachzuweisen: „dass der in ihnen enthaltene 
logische Fehler gleichmäasig ein und dieselbe Ursache hat: nämlich eine 
mangelnde Klarheit darüber, dass es für die wissenschaftliche Betrachtung 
eines konkreten Rechtes zweierlei Methoden giebt, die, obwohl sie sich 
notwendig ergänzen, doch in sich gänzlich verschieden sind." E^s sei 
Dämlich innerhalb der formalen Jurisprudenz von der Rechtsempirie 
EU unterscheiden die Rechtstheorie; jene gehe auf vollständiges und 
systematisches Wissen davon, was die Menschen einander in den einzelnen 
Fällen jeweils im Thun oder Unterlassen zu leisten haben (bei welcher 
Feststellung sie ausschliesslich auf Erfahrung angewiesen sei ; diese 
suche die dadurch festgestellten rechtlichen Pflichten und Befugnisse nach 
einheitlichen Begriffen zu klassifizieren, die sie a priori gewinne. Die 
Schrift läuft aus in die Betrachtung, dass es Zeit sein dürfte, die bewährte 
Losung der kritischen Philosophie: Wie ist Erkenntnis a priori möglich? 
auch rar die formale Jurisprudenz auszugeben. 

Die hierdurch präzisierte Frage: Wie es möglich, d.h. im Zusammen- 
hange unseres Bewusstseins begreiflich sei, dass wir den empirischen Stoff 
der einzelnen Rechtsordnung gleichwohl durch Begriffe a priori zu erfassen 
vermögen, sucht der Verfasser in einer zweiten Abhandlung so lösen, die 
demnächst unter dem Titel „Über den Grund der Möglichkeit von Recbts- 
befiriffen a priori innerhalb der formalen ^Jurispmdens'* in der ,|Pbiloao- 
phiachen Wochenschrift** erscheinen wird. 

Bkakenburg. Walther Habracker. 



140 Selbstauzeigen (Braun). 

Brann, 0,, Dr. phil. Schellin^, Vorlesungen über die Methode 
des akademischen Studiums (1803). Neu hernus^egeben mit Einleitung 
und Anmerkungen von Dr. 0. Braun. Quelle & Meyer, Leipzig, 1907. 

Man besinnt sich heute vielfach auf Schelling, die „ästhetische 
Kultur" der Neuzeit findet bei ihm viele Anknüpfungen und das Studium 
seiner Schriften könnte dieser Bewegung zur Vertiefung dienen. Über- 
haupt treibt die Reaktion gegen die naturalistische Ära zur grossen Peri- 
ode der spekulativen Philosophie zuiilck und so schien es nicht unzeit- 
gemäss, die „Vorlesungen" in neuem Gewände herauszugeben und weiteren 
Preisen zugänglich zu machen. Sind sie doch mit ihrem idealistischen 
Geiste ein getreues Spiegelbild jener ganzen Zeit. Gleichzeitig lehren sie 
uns den ganzen Schelling in seiner Eigenart und sprühenden Genialität 
kennen. Der glänzende Stil, in dem sie geschrieben sind, macht ausser- 
dem die „Vorlesungen** zu einem erstklassigen literarischen Denkmale. 

Die Einleitung versucht, ein möglichst klares Bild von der histo- 
rischen Stellung Schellings und von der Bedeutung der „Vorlesungen" zu 
geben. 

Königsberg i. Pr. 0. Brann. 

Braun, 0., Dr. phil. Schellings geistige Wandinngen in den 
Jahren 1800—1810. Leipzig, Quelle & Meyer, 1906. (76 S.) 

Verfasser hat sein Thema eng umgrenzt, um möglichst scharf den 
so merkwürdigen Wandlungsprozess in Schellings Geist seinen letzten 
Motiven nach hervortreten zu lassen. Wer Geschichte der Philosophie 
schreibt, der muss mehr thun, als bloss nüchtern die wichtigsten Lehr- 
meinungen eines gewissen Philosophen aneinanderreihen. Philosophie — 
als Weltanschauung gefasst — ist doch nicht ein neben dem Leben her- 
gehendes, unpersönliches Reflektieren; sie entspringt vielmehr aus dem 
lebendigen Boden der Persönlichkeit. So muss man auch versuchen, in 
der historischen Betrachtung diese letzten individuellen Triebfedern auf- 
zudecken, um daraus den weiteren Ausbau der Lehre zu begreifen, man 
muss die leitende Idee finden, aus der sich das Einzelne ergiebt. 

Diese letzte Triebfeder im Geiste Schellings aufzudecken und mög- 
lichst klar darzustellen, war das Hauptbestreben des Verfassers. Er glaubt 
sie darin zu finden, dass Schelling etwa von 1809 an immer mehr bemüht 
ist, seinem Weltbilde einen Abschluss zu geben, die Welt als geschlossenes, 
fertiges Ganzes anzusehen. Daraus ergiebt sich der ästhetische Cha- 
rakter seiner Weltanschauung:: denn wenn die Welt fertig ist, der Mensch 
durch sein Handeln sie nicht weiter bringen kann, so bleibt ihm nur als 

feistige Bethätigung das kontemplative verhalten zur Welt. Hier liegt 
er Grund, warum £e ethischen Probleme bei Schelling in diesen Jahren 
so zurücktreten. Diese Periode reicht bis zum Neospinozismus des Jahres 
1804 etwa hin (vgl. S. 35 ff ). Dann beginnt mit der Schrift „Philosophie 
und Religion** eine Umbildung: durch den Begriff des „Abfalls** der end- 
lichen Welt von Gott wird die bisherige Geschlossenheit durchbrochen. 
Dieser Prozess, der innerlich angeregt war durch die Eigenart der ethischen 
Probleme, die sich auf dem Standpunkt des absoluten Geeebenseins nicht 
lösen Hessen, schreitet weiter bis zu dem ethischen Weltbilde der Prei- 
heitslehre 1809—1810: hier ist WirkUchkeit ein Idealbegriff, Gott ist 
Werden, Entwickelung, nicht ruhendes Sein. Hier ist es möglich, die 
ethischen Fragen zu lösen, jetzt nimmt das Freiheitsproblem den breitesten 
Raum ein. Hier findet auch das Problem des Bösen seine Erörterung, an 
Stelle des ästhetischen Optimismus macht sich eine Neigung zum Pessimis- 
mus bemerkbar. 

Verfasser stellt den ästhetischen Standpunkt Schellings den eigenen, 
ethischen entgegen und nimmt mannigfach Gelegenheit, die eigenen, in 
ihren Grundlagen von Eucken beeinflnssten Ansichten darzustellen. 
Prinzipiell ^aubt er aus seinen historischen Erörterungen die Einsicht 
zu gewinnen, dass dasUngenügen einer bloss ästhetischen Weltanschanung 



läelbstanzeigen (Boehm— Flügel). 141 

darin seinen tiefsten Grund hat, dass sie Welt and Mensch als ein ge- 
schlossenes, gegebenes Ganzes auffasst. 

Königsberg i. Pr. 0. Braun. 

Boehm, P. Die vorkritischen Schriften Kants. Ein Beitrag 
zur Entwickelungsgeschichte der Kantischen Philosophie. 

Die Entwickelungsgeschichten der vorkritischen Philosophie Kants 
weichen in wichtigen Punkten von einander ab, so im Prinzip der Ein- 
teilung, in der Zahl der Perioden, in der Stellungnahme zu Kants Ab- 
hängigkeit von Hume und von fremden Einflüssen überhaupt. 

Der Streit über die letztere Frage rechtfertigt den Versuch, den 
Entwickelungsgang Kants einmal rein immanent zu versuchen, zumal wohl 
infolge dieses Streites allgemein die Bedeutung fremder Einwirkung auf 
Kant überschätzt worden ist. Nicht dass seiner Grösse durch solche Ab- 
hängigkeit Abbruch geschehe; die Grösse eines Mannes besteht nicht in 
der Unberührtheit von fremdem Einfiuss, sondern in der Art seiner Assi- 
milation und Verarbeitung. Aber schon der Umstand, dass der Humesche 
Einfluss, wo er auch in Frage kommt, mit derselben Entschiedenheit ge- 
leugnet wie behauptet werden konnte, schien mir darauf hinzuweisen, 
dass die Einführun^^ dieses Einflusses nirgends derart notwendig ist, dass 
durch sein Fehlen eine unüberbrückbare Lücke in der genetischen Forschung 
der Kantischen Philosophie entsteht, ein Sprung in Kants Gedanken- 
entwickelung, der sich aus inneren Prinzipien heraus nicht erklären 
lassen sollte. 

Meine Schrift will den Versuch einer immanenten Entwickelungs- 
geschichte machen und von der Herbeiziehung fremder Einflüsse nach 
Möglichkeit absehen, also jedenfalls da, wo sich das geistige Wachstum 
Kants ohne diese Voraussetzung erklären lässt und wo es nach dem vor- 
liegenden Material unentschieden bleibt, ob eine Einwirkung fremder Ge- 
dankenarbeit überhaupt stattgefunden hat. 

Das ist natürlich Hypothese. Ist die Durchführung gelungen, so 
ergiebt sich, dass fremde Einflüsse jedenfalls nicht allzuviel besagen. 

Über Humes Einfluss lauten die Aussagen Kants selbst zu bestimmt, 
als dass er geleugnet werden dürfte. Man kann also nicht wohl herum 
um die Aufgabe, ihn zeitlich und seinem Umfange nach zu bestimmen. 

Anders der Leibnizsche Einfluss. Kant hat sich zu demselben nie 
bekannt. Ausserdem lässt sich der Umschwung in Kants Denken vom 
Jahre 1769, der Übergang von der sogenannten empiristischen Periode 
zum Rationalismus der Inauguraldissertation, diese „Umkippung^, die eben 
durch die Einwirkung der „Nouveaux Essais^ Leibnizens erfolgt sein soll, 
sehr wohl aus den Motiven erklären, die Kants eigener Gedankenent- 
wickelung dieser Zeit zu Grunde lagen. Sie sind allem im Stande, diesen 
Umschwung hinreichend zu motivieren. Den Leibnizschen Einfluss den- 
noch einführen, heisst also ein Problem suchen, wo gar keines vor- 
handen ist 

Meine Schrift will auch innerhalb des abgesteckten Gebietes keinen 
Anspruch auf Vollständigkeit machen; sie untersucht den Entwickelungs- 
gang Kants lediglich auf die metaphysischen und erkenntnistheoretischen 
Probleme hin. ^Ibst von diesen sind wichtige unberücksichtigt geblieben, 
sofern sie zur Erreichung des oben bezeichneten Zwecks belanglos er- 
schienen. 

Achem (Baden). Dr. Paul Boehm. 

Flfigel, Otto. J. F. Herbarts sämtliche Werke in chrono- 
logischer Reihenfolge herausgegeben von Karl Kehrbach f. XII. Bd. 
herausgegeben von Otto FlügeL Langensalza, H. Beyer & Söhne, 1907. 

Mit dem 12. Bande sollte dem ursprünglichen Plane gemäss die 
Ausgabe abgeschlossen sein. Es bat sich aber so viel Material gefunden, 



14^ ^t>8tanzeigeii (ilügel). 

dsAs 16, vielleicht gar 16 Bände nötig werden. Der 12. Band bringt die 
Hälfte der Recensionen, darunter eine Reihe solcher, die in der Harten- 
steinschen Ausgabe fehlen 

Die hier gebotenen Recensionen Herbarts beziehen sich auf Werke 
aus allen philosophischen Disziplinen und betreffen alle philosophischen 
Richtungen seiner Zeit. 

Für eine eingehende Darstellung der nachkantischen Philosophie 
dürften diese Recensionen eine beachtenswerte Quelle sein. 

Der 18. Band wird die übrigen Recensionen und einige Nachträge 
bringen. Dann folgen die Briefe und Herbarts Berichte über das päda- 
gogische Seminar in Königsberg. 

Wansleben. 0. Flügel. 

Flügel, O. Religionsphilosophie in Einzeldarstellnnge'n- 
Langensalza, Beyer & Söhne, 1907. 

I. Kants Religionsphilosophie nach Thilo. VI. 66 Seiten. — IL 
Jacob is Religionsphilosophie nach Thilo. XX. 66 Seiten. — lU. Die 
Religionsphilosophie der Schule Herbart*s, Dro bisch und Hartenstein. 
VI. 88 Seiten — IV. Die Religionsphilosophie des absoluten Idealismus. 
Fichte, Schelling, Hegel und Schopenhauer. VI. 72 Seiten. — 
V. Schleiermachers Religionsnhilosophie nach Thilo. VI. 128 Seiten. 
— VI. Die Religionsphüosophie aes Descartes und Malebranche nach 
Thilo. VI. 76 Seiten. — VII. Spinozas Relig^onsphilosophie nach Thilo. 
V. 80 Seiten. — VIII. Leibniz' Religionspmlosophie nach Thilo. VI. 
36 Seiten. 

L. y. Ranke bemerkt: Nachdem durch die christlichen Kaiser in 
Byzanz die heidnischen Philosophenschulen in Athen geschlossen waren, 
sind in den nächsten Jahrhunderten keine bedeutenden christlichen Theo- 
logen mehr aufgetreten. Als Erläuterung dazu mag das Wort des Kirchen- 
historikers Hase hinzugefügt werden: denn Athen mit seiner heidnischen 
Philosophie war auch für die christlichen Theologen die Vorschule. Und 
so ist es nicht bloss damals gewesen. Der Zusammenhang von Philosophie 
und Theologie hat immer bestanden. Seit es wieder eine von der Theo- 
logie unabhängige Philosophie giebt, also etwa seit Descartes, ist die 
Theologie immer abhänsig von der Philosophie gewesen. 

So ist denn hier die Religionsphilosophie seit Descartes bis auf un- 
sere Zeit in ihren bedeutendsten Vertretern dargestellt und zwar nach 
den trefflichen Arbeiten C. A. Thilos, diese waren grösstenteils in der 
Zeitschrift für exakte Philosophie erschienen. Ich habe sie jedem zugäng- 
lich gemacht und sie mit Einleitungen und sonstigen Ergänzungen 
versehen. 

Man wird bald erkennen, dass alle unsere gelehrten Theologen mehr, 
als sie oft selbst wissen, von den Gedankenkreisen dieser Philosophen be- 
einflusst sind, ja davon zehren. Wer die religiösen Strömungen unserer 
Zeit verstehen will, muss zu den Quellen zurückgehen, das heisist: zu den 
religionsphilosophischen Gedanken der hier dargestellten Denker. Es ist 
ja auch natürlich : in der Reli^onsphilosophie oder spekulativen Theologie 
kann es keinen Fortschritt der Erkenntnis geben. Alle andern Gebiete 
des Wissens erweitem sich mit der Erweiterung und Genauigkeit der Er- 
fahrung. Aber die Gegenstände der Religionsphilosophie, also die ^tt- 
liehen Dincfe, bleiben für unsem irdischen Standpunkt immer in gleicher 
Weise verhüllt. Die Gedanken, die sich die Menschen nach dem ganzen 
Kulturstand darüber machen, können sich also auch immer nur in einem 
verhältnismässig engen Kreise bewegen. Wo man etwa im Gefühl oder 
durch intellektuelle Anschauung diesen Kreis hat überschreiten wollen, da 
hat der Verstand aUe die Schritte wieder zurückthun müssen, die er 
meinte vorwärts ^than zu haben. Ja das Geschäft der Geschichte der 
Religionsphilosophie besteht zum nicht geringen Teil in der Darstellung 
dieser Vorwärts- und Rückwärtsbewegnn^. 



lÜttttinngeti. l4ä 

So wird sich auch künftig die Religionsphilosophie und spekulative 
Theologie in dem hier bebchriehenen Gedankenkreise bewegen, wird sich 
ablehnend oder zustimmend zu den von den erleuchtetsten Denkern er- 
zeugten Gedanken verhalten müssen. Diese Gedanken sind zweimal 
durchlaufen, einmal anhebend mit Descartes, dem der Pantheismus Spinozas 
und als Gegenstück der Theismus von Leibniz folgte. Ähnlich, wenn 
schon viel vertiefter, verhält sich Kant zu Fichte, Schelling, Hegel, 
Schopenhauer, Schleiermacher einerseits und zu Herbart andererseits, doch 
steht hier Jacobi noch als selbständiges Glied dazwischen. Übrigens sind 
hier die sämtlichen Hauptfragen der Religionsphilosophie nicht bloss histo- 
risch-kritisch, sondern auch positiv bearbeitet, soweit sie sich überhaupt 
positiv beantworten lassen. 

Von vielen Irrtümern ist die Rede, aber es sind Irrtümer originaler 
Denker, von denen gilt, was Goethe sagt: „Jeder Irrtum, der aus dem 
Menschen und aus den Bedingungen, die ihn umgeben, unmittelbar ent- 
springt, ist verzeihlich, oft ehrwürdig. Aber alle Nachfolger im Irrtum 
können nicht so billig behandelt werden. Eine nachgesprochene Wahrheit 
verliert schon ihre Grazie; ein nachgesprochener Irrtum erscheint abge- 
schmackt und lächerlich. Sich von eigenen Irrtümern losmachen, ist schwer, 
oft unmöglich bei grossem Geist und grossen Talenten; wer aber einen 
fremden Irrtum aufnimmt und halsstarrig dabei verbleibt, zeigt von gar 
geringem Vermögen. Die Beharrlichkeit eines original Irrenden kann uns 
erzürnen; die Hartnäckigkeit der Irrtumskopisten macht verdriesslich und 
ärgerlich.'' Und wie oft sind die Irrtümer, die hier zur Sprache kommen, 
nachgeahmt und verbreitet worden! 

Auf der andern Seite gilt es, das Forschen und Erforschte, das als 
Wahrheit Gefundene zu verstehen, festzuhalten und sich anzueignen. 
Oder hört damit die eigene Arbeit auf? Man weiss, wie Gk>ethe darüber 
dachte. „Der thörichtste von allen Irrtümern ist, wenn junge Köpfe 
glauben, ihre Originalität zu verlieren, indem sie das Wahre anerkennen, 
was von anderen schon erkannt worden ist. Die Hansnarren wollen von 
vorne anfangen und unabhängig, selbständig, original, ei^nmächtig, un- 
eingreifend, gerade vor sich bin, und wie man die Thorheiten alle nennen 
möchte, wirken und dem Unerreichbaren genugthun. 

Selbsterfinden ist schön, doch glücklich von andern Gefundenes 
Fröhlich erkannt und geschätzt nennst du das weniger dein? 

Wansleben. O. Flügel. 



Mitteilungen. 



Bine Kantttatae von Johannes Schilling. 

Als vor nunmehr fast 25 Jahren das grossartige neue Strassburger 
Universitätsgebäude errichtet wurde, erhielt es eine Anzahl von Statuen 
berühmter Gelehrter aller Zeiten und Völker zum Schmuck. Leider sind 
alle jene Statuen sehr hoch angebracht: sie stehen über dem dritten 
Stockwerk in freier Luft und haben in dieser Stellung nur den Charakter 
dekorativen Beiwerks zur Architektur. Von unten ans kommen die Fein- 
heiten ihrer Ausführung natürlich nicht zur Geltung. Das ist aber sehr 
schade: denn unter den Standbildern befinden sich auch einige von selb- 
ständigem KuDStwert; die bedeutendste unter diesen ist entscldeden die 
Kantstatne des Altmeisters Johannes Schilling; des Schöpfers der Germania 



1 

144 MitteilaDgeü. 

am Niederwalddenkmal, und der ^Tageszeiten^ auf der Brühlschen Terrasse 
zu Dresden. 

Ich hatte damals — wie gesagt, vor fast 25 Jahren — in Strassborg 
Gelegenheit, durch Vermittelun^ meines Freundes Dr. Aug. Schrick er, 
des Verfassers der prächtigen Skizze: „Aus Im. Kants Leben^ („Kunst und 
Leben*^ 1881) — die in französischem Kalkstein ausgeführte Kantstatue noch 
vor ihrer Aufstellung genau zu besichtigen: sie hat mir damals einen un- 
auslöschlichen Eindruck gemacht. Immer hatte ich den Wunsch, eine Repro- 
duktion davon zu besitzen, aber, nachdem sie einmal in jener Höhe auf- 
gestellt worden ist, war eine photographische Aufnahme unmöglich ge- 
worden. Als ich nun von der Errichtung des Schilling-Museums in Dresden 
hörte, und in Erfahrung brachte, dass das Gipsmodell der Kantstatue sich 
daselbst befinde, bat ich den Altmeister um die Erlaubnis der Reproduktion, 
zum Zweck der Veröffentlichung in unseren „Kantstudien^. Excellenz 
Schilling war so liebenswürdig, uns zu diesem Zweck eine vorzügliche 
Reproduktion machen zu lassen, die nun hier in den Kantstudien erscheint, 
und die auch gleichzeitig von mir den weitesten Kreisen durch die Leip- 
ziger Illustrierte Zeitung (No. 3317) mit fast denselben Begleitworten be- 
kannt gemacht worden ist 

Kant ist von Schilling, der sich besonders an Schadows Büste als 
Vorbild gehalten hat, in sehr charakteristischer Weise dargestellt, ein Beweis, 
dass der Künstler sich in den Geist des Philosophen gründlich hinein- 

fearbeitet hat. Nicht sinnend steht der Denker da, sondern dozierend, 
emonstrierend, kritisierend. Das Wesen der „kritischen*^ Philosophie 
— so nannte Kant ja bezeichnender Weise seine Richtung im Anschlnss 
an xqiyeiy, d. h« eben scheiden, trennen — ist in äusserst glücklicher Weise 
zum Ausdruck gebracht: die rechte Hand befindet sich in deijenigen 
Haltung, die Gelehrte gelegentlich ihr geben, wenn sie haarscharf zwischen 
zwei verschiedenen Begrinen scheiden wollen. Es ist, als spräche der 
^Professor Kant**, etwa am Schluss einer Vorlesung, zum Gehen bereit, schon 
den Mantel umwerfend, das Compendienbuch, na eh. dem er las, vielleicht 
Baumgartens Metaphysica unter den Arm nehmend, noch im Weggehen zu 
seinen lauschenden Zuhörern: 

„Meine Herren! Man muss scheiden zwischen dem, was uns die 
Sinne geben, und dem, was der Verstand von sich aus dazuthut; man 
muss scheiden zwischen den Verstandesbegriffen, die die Welt der Er- 
fahrung aufbauen, und zwischen den Vemunftideen, die unserer Erfahrungs- 
welt einen architektonischen, aber nur subjektiven Abschluss geben; man 
muss scheiden zwischen der Erscheinung und dem Ding an sich, dem Er- 
kennbaren und dem überhaupt nicht mehr Erkenntnismässigen. Nichts ist 
verhängnisvoller, als wenn man die Grenzen heterogener Gebiete und Be- 
griffe durcheinander laufen lässt. Alles Andere ist Dogmatismus, nur dies 
allein ist kritisch.** 

So hören wir gerne die Stimme des grossen Denkers, aufgefangen 
und im belebten und durchgeistigten Steine ßstgehalten durch dengrossen 
Künstler. H. vT 



Stndien cnr GeiMshichte des neneren ProtestantlBmiiB. 

So nennt sich eine Sammlung von Arbeiten zur Geschichte der 
neueren Theologie, herausgegeben von den Herren Privatdozenten Lic Dr. 
Heinrich Hoffmann in Leipzig und Lic. Leopold Zschamack in Berlin. 
Es soll darin die Entwickelung der protestantischen Theologie innerhalb 
der modernen Welt behandelt werden, eine besondere Bedeutung inner- 
halb dieser Entwickelung komme der Aufklärung zu, die bis jetzt 
durch die vielfach noch üblichen absprechenden Urteile un- 
verstanden geblieben sei — ein Wort, aas, von zwei Theologen ge- 
sprochen, wahrhaft herzerquickend wirkt, gegenüber der heute überall, 
auch in jüngeren philosophischen Kreisen selbst, gewaltig zunehmenden 



tÜtteilnnfi^aü. 146 

geistigen Reaktion, ffegenfiber der steigenden Vorliebe für Mystik und Bo- 
manticismns, ge^nttber dem ungerechten und blinden Hass selbst ^ffen 
das Wort j, Aufklärung**. Auch sonst soll auf den Zusammenhanj^ zwiscnen 
Philosophie und Theologie vom 17. bis zum 19. Jahrh. gründlich eingegangen 
werden Uns interessiert hier speziell die angekündigte Schrift von Lic 
Dr. Paul Kai weit „Kants £infiuss auf die Theologie**. 

Lange*« Geschichte des Materialiamiia. 

Erfreulicherweise ist neuerdings Friedrich Albert Lange's klassische 
Geschichte des Materiaiismus in Reclams Universalbibliothek aufgenommen, 
sodass das umfangreiche Werk, das bei dem bisherigen, sehr honen Preise 
noch lansre nicht die ihm gebührende Verbreitung gefunden hat, nunmehr 
nngebunoen nur 2,40 M., nübsch gebunden 3,60 M. kostet. Dabei ist die 
neue Ausgabe» gleich den Kant- und Schopenhauersusgaben in der gleichen 
Sammlung durchaus sorgfältig redigiert und von Lange*s verdientem Bio- 
graphen, Prof. Dr. Ellissen in Einbeck, Mitglied der „Kantges.llschaft**, 
mit einer vortrefflichen Einleitung versehen, die über Lange's Leben und 
Stellung in der Gesch. d. Philos. luiappe, aber zuverlässige Auskunft giebt 



Hamann'« handschriftlicher Naehlasa. 

Wir entnehmen der „Saalezeitung** vom 7. Januar folgende Nachricht: 
Der handschriftliche Nachlass Job. Georg Hamann^ des „Magnus 
des Nordens**, ist, wie der letzte Verwaltungsbericht der Königlichen und 
Universitätsbibliothek zu Königsberg meldet, dieser Anstalt teils durch 
Ankauf, teils durch Schenkung zugefallen. Den wichti^ten Teil dieser 
Erwerbung bilden etwa 400 Original-Briefe Hamann's, m grösserer Zahl 
an Eltern und Geschwister, an cue drei Lindner und Job. Fr. Hartknoch, 
an Joh. Fr. Reichardt, Sophie Courtan, Chr. Jakob Kraus, in geringerer 
Zahl an die Baronin v. Witten, Immanuel Kant, Heinrich Schenck, Karo- 
line Herder und viele andere. Dazu kommen Briefe anderer an Hamann 
oder an die Zeitgenossen, etwa 80 Stück, darunter auch zwei Briefe Kants 
an Hamann; femer zahlreiche Briefentwürfe und Brief abschriften, Manu- 
skripte und Entwürfe der Schriften Hamanns, oft in drei bis vier Redak- 
tionen, Abschriften von Recensionen Hamannscher Schriften, Notizen, 
Koiiektaneenhefte, auch Drucke Hamannscher und anderer Schriften, end- 
lich Porträts Hamann*s und seiner Töchter. Dazu kommen noch zahlreiche 
Schriftstücke der Herausgeber der Hamannschen Werke, Friedrich v. Roth 
nnd Wiener Der Hamannsche Nachlass ist zunächst der Bearbeitung 
dorch die Berliner Akademie der Wissenschaften vorbehalten, auf deren 
Programm eine Hamann-Ausgabe steht. 



Eine Kantatiftnng, 

Ein ungenannt bleiben wollender Verehrer Chamberlains hat der 
Verlagsanstalt F. Bruckmann A.-G. in München 10000 M. zur Verfügung 
gestellt, um dafür Freiexemplare von dem in demselben Verlag erschienenen 
Kantwerk Chamberlains an Bibliotheken, insbesondere an Volksbiblio- 
theken u. 8. w. zu verteilen. Meldungen und Anfragen sind an die ge- 
nannte Verlagsanstalt zu richten. Obwohl wir von dem Kantbuche Chamber- 
lains keine Förderung des sachlichen Verständnisses für die Kantische 
Philosophie erwarten können (vgl. die ausführliche Besprechung des Buches 
KSt. Xl, S. 168 — 195), erblicken wir doch in der hochherzigen That des 
ungenannten Kantverehrers ein erfreuliches Zeichen des Interesses für 
Kant selbst. Jedes Interesse an Kant, das sich namentlich durch die 
That vorbildlich ftlr weitere Slreise erweist, begrüssen wir mit aufrichtiger 
Freode. 

¥inmsii>ii *" 10 



146 &intgeseii8ciiaft. 



Kantgesellschaft. 

III. Jahresbericht. 1906. 



I. Einnahmen. 

Die Jahresrechnung für 1906 schloss mit einem ÜberschnM von 
251 M. 6 Pf. ab. 

Die Zahl der Jahreamitirlieder (Jahresbeitrag 20 M.) «iat wiederom 
gestiegen, and zwar von 102 auf 118 Mit gut der — eine sehr erfreuliche 
Zunahme; die Jahresbeiträge dieser 118 Mitglieder betragen 2d6o M.; 
2 Mitglieaer (Staudinger und Webb) haben dankenswerter Weise je 
26 M. bezahlt; dieser Mehrzahlung von 10 M. stehen andererseits 5 M. 
64 Pf. Einziehungskosten für die 118 Beitra^endungen (Bestellgelder und 
Bankspesen) gegenüber. An Jahresmitghederbeiträgen sind somit im 
Ganzen eingegangen: 2364 M *^ Pf. 

Die Zinsen der Kant Stiftung, welche seitens der Königl. üniver- 
sitätskasse in Halle dem Geschäftsführer am 1. April, 1. Juli, I. Oktober 
und 81. Dezember eingehändigt wurden, sind, von 949 M. 82 Pt, im vorigen 
Jahr, in diesem Jahr, in Folge der beträchtlichen Zunahme der Kant- 
stiftung im Jahre 1905 um 7102 M., gestiegen auf: 1258 M. 8 Pf. 

An Bankrinsen für die bei der Firma H. F. Lehmann in Halle a. S. 
deponierten Gelder und für das Contocorrent sind eingegangen : 162 M. 10 Ft. 

Die wirklichen Neu-Einuahmen des Jahres 1906 betrugen somit: 
2864 M. 86 Pf. + 1258 M. 8 Pf. -f 162 M. 10 Pf. » 8779 M. 54 Pf.; hierzu 
tritt der oben genannte Übertrag aus dem Vorjahre mit 251 M. 5 PL; 
die Geaamteinnahme beträgt somit: 4080 M. 59 H. 

NB. Ausserhalb der vorstehenden Berechnung stehen die in Reserve 
gestellten 1000 M., welche, wie schon im vorigen Jahresbericht gemeldet 
worden ist, für die von der Kantgesellschaft gestellte Preisaufgabe („Kants 
Begriff der Erkenntnis, verglichen mit dem des Aristoteles**) zurückgelegt 
worden sind. — Dasselbe gut von den ]6(X) M., welche, wie weiter unten 
erwähnt, von unserem Ehrenmitglied, Herrn Stadtrat a.D. Professor 
Dr. Walter Simon in Königsberg i. Pr. für die von ihm veranlasste 
Preisaufgabe („Das Problem der Theodicee in der Philosophie des 18. 
Jahrhunderts mit bes Rücksicht auf Kant und Schiller*^) uns überwiesen 
worden sind. — Beide Summen sind beim Bankhaus H. F. Lehmann in 
Halle auf den Namen der Kantgesellschaft deponiert. 

II. Ausgaben. 

1) Honorare für die Mitarbeiter der ^Kantstudien^. Es wurden 
an Honoraren für den Band XI im Ganzen ausbezahlt: 1062 M. 20 PI 
Die Kantgesellhchaft glaubt u. A. auch durch reichliche Bemessung der 
Honorare lür die Mitarbeiter der „Kantstudit* n^ die Ziele, die sie in ihren 
Satzungen niedergelegt hat, zweckmässig zu fördern. Über die Honorar- 
zahlungen im Einzelnen ist dem Verwutungsausschuss Rechenschaft ab- 
gelegt worden. 

2) Freiexemplare der ^Kantstndien^ für die Jahresmitglleder nd 
beingsberecbtigten Danermitglieder. Nach dem zwischen der Kantffesell- 
schaft und der Verlagsbuchhandlung Reuther & Reichard am 15/d. Mai 



Kantgesellschaft. 14*/ 

1905 geschlossenen Vertrae ist die letztere verpflichtet, an die Jahresmit- 
glieder und bezngsherecbti^ten Daaermitglieder je ein Exemplar der 
»Kantstudien^ heftweise gratis und franko zu versenden. Auf Grand der 
darüber stipulierten Bedingungen erhält die Verla^buchbandiung für diese 
Versendung an 118 Jahresmitglieder und 28 Dauermitglieder (vgl. das 
Verzeichnis unten S. 153—166) an Entschädigungen: 604 M. 

3) Herausgabe von ErgKnsnngsheften eü den ^Kantatndien^. 

a) Herstellungskosten. 

Schon im vorigen Rechenschaftsbericht (KSt. XI, S. 147), sowie im 
Bericht über die Oeueral Versammlung vom 2H. April 1906 (KSt. XI, S.292-4, 
vgl. S. iH4) ist mitgeteilt worden, dass der Vorstand der Kantgesellschaft 
beschlossen hat, Ergänzungshefte zu den Kantstudien herauszugeben. Es 
stellte sich als zweckmässig heraus, grössere Abhandlungen, welche der 
Redaktion zur Veröffentlichung anvertraut werden, aus dem Rahmen der 
regulären Hefte herauszulösen, und nach dem bewährten Muster anderer 
namhafter Zeitschriften in Form von Er^änzungsheften erscheinen zu 
lassen; diese Ergänzungshefte, welche der Regel nach je eine in sich ab- 
geschlossene Abhandlung enthalten sollen, gelten buchhändlerisch als 
eigene Schriften und sind mit selbständigem Titel versehen. Gleichzeitig 
wurde damit der Zweck erreicht, den Jahresmit gliedern der Kantgesell- 
schaft, denen diese Ergänzungshefte gratis und franko zugesendet werden, 
eine Entschädigung zu gewähren für die Differenz des Jahresbeitrages 
zur „Kantgesellsciiaft*^ (20 M.) gegenüber dem gewöhnlichen Abonnement 
auf die „Kantstudien** ^12 M). Die Jahresmitgli^'der erhalten für ihre 
Mehrzahlung somit von nun an auch eine Mehrleistung, indem sie gegen- 
über denji'ni^n, welche bloss auf dem Bucbhändierweg auf die Kant- 
stadien abonnieren, eine beträchtlich erweiterte Ausgabe der Kantstudien 
erh «Iten (in diesem Berichtsjahre beträgt dieses Plus ca. 18 Bogen oder 
circa äüO Seiten). 

Die finanzielle Seite der Sache ist in folgender Weise geordnet. 
Während die Herstellungskosten der „Kantstudien** selbst vertragsmässig 
von der Veriairsbuchhandlung Reuther & Reichard in Berlin getragen 
werden (vgl. den vorigen Rechenschaftsbericht, KSt. XI, S. 147), konnte die 
Verlagshandlung, bei aem erfahrungsmässig sehr geringen Absatz derartiger 
Publikationen, das Ribiko der Herstellung nicht übernehmen. Die Kant- 
gesellschaft hat deshalb bei den Ergänzungsheften die Herstellungskosten 
selbst übernommen, und verteilt die betr. Hefte auch selbständig an ihre 
Mitglieder. Die übrig bleibenden Exemplare werden der Verlagshandlung 
Renther & Reichard in Kommissionsverlag gegeben, welche dieselben 
buchhändlerisch vertreibt; die Einnahmen für die so verkauften Exemplare 
erhält die Kantgesellschaft nach dem usancemässigen Abzug für die Kosten 
des Kommissionsgeschäftes. Auf hohe Einnahmen dürfen wir uns,' nach 
dem Gesagten, dabei nicht gefasst machen ; selbst im allergünstigsten Falle 
könnten wir nur die Herstellungskosten wieder ersetzt bekommen. Ans 
diesem Grunde kann für die Arbeiten, welche als Ergänzuugshefte er- 
scheinen, kein Autorenhonorar gewährt werden. 

Für das Ergänzungsheft No. 1 (Dr. Julius Guttmann, Kants 
Oottesbegriff in seiner positiven Entwickelung, 104 Seiten) betrugen die 
Herstellungskosten: 834 M. 60 Pf. 

Für das Ergänzun^heft No. 2 (Dr. Konstantin Oester reich, 
Kant und die Metaphysik, 129 Seiten) betrugen die Herstellungskosten: 
426 M. 5 Pf. 

Für das Ergänzungsheft Nr. 8 (Dr. jur. et phil. Oskar Döring, 
Feoerbachs Straftbeorie und ihr Verhältnis zur itantiscben Philosophä^ 
48 Seitea) betrogen die HersteUnngskosten : 204 M. 90 Pf . 

10* 



148 Kantgesellschaft. 

Die HerstellanfTskosten der einzelnen Hefte variieren nicht nur nach 
dem Umfang des Heftes, sondern auch nach der Höhe der Auflage. 

Hecstellnngsk ost-en filr alle drei Ergänzungshefte zusammen 965 M. 55 Pf. 

b) Remnneration an den zweiten Redakteur der „Kantstudien*'. 

Die Herausgabe der Ergänzungshefte (in diesem Berichtf jähre IK Bogen) 
bürdet dem die Geschäfte der Redaktion allein und selbständig führenden 
zweiten Redakteur eine beträchtliche Mehrarbeit an Durchsicht von Manu- 
skripten, an Korrespondenzen, Korrekturen u. s. w. auf. Dafür, und da 
wir ausserdem die Förderung von jüngeren Gelehrten Kantischer Rieh tunff 
unter unsere Ziele satzungsgemäss aufgenommen haben, hat der Vorstand 
der Kantgesellschaft dem Setreffenden eine ausserordentliche Remuneration 
von äOü M. überwiesen. 

c) Versendung der Ergänzungshefte an die Mitglieder. 

Wie schon oben bemerkt, werden die Ergänzungshefte den Jahres- 
mitgliedem, sowie den bezugsberechtigten Dauermitgliedem gratis und 
franko zur Verfügung gestellt. Die Versendun/s; dieser Hefte besorgt die 
Hofbuchdruckerei' von 0. A. Kaemmerer & Co. in Halle a. S. Die Kosten- 
rechnung hierfür beträgt bei Ergänzungsheft No. 1 (Guttmann) 28 M. ö Pf., 
bei Ergllnzungsheft No 2 und No. 8 (Gestenreich und Döring), welche 
gemeinschaftlich versendet wurden, 45 M. 99 Pf., zusammen somit 74 M. 4 Pf. 

4) Versendung verschiedener Dmcksachen der KantgesellHchaft 
Wie im vorigen Jahresbericht (XI, S. 145) berichtet worden ist, haben wir 
Ende 1906 zum Druck der Dissertation von Dr. Johannes Wolf („Verhältnis 
der beiden ersten Auflagen der Kritik d. r. V. zu einander^) die Hälfte 
der Kosten beigesteuert, und daher auch Exemplare dieser Dissertation an 
die Jahresmitgueder und bezugsberechtigten Dauermitglieder versendet. 
Wie schon damals bemerkt wurde, geschah diese Versendung erst im Januar 
1906. Die Versendungskosten hierfür betrugen 27 M. 70 Pf Femer haben 
wir Tauschexeniplare der Kantstudien an eine Reihe von Redaktionen 
philosophischer Zeitschriften, sowie an die Autoren unserer Beiträge eine 
namhafte Zahl von Separatabdrucken ihrer einzelnen Aufsätze, Recensionen 
u. s. w. versendet: Kosten 23 M. Insgesamt: 60 M. 70 Pf. 

5) Beigabe eines Kantbildes. Dem 1. Heft unseres XI. Bandes 
haben wir eine wohlgelungene Abbildung der originellen Kant-Silhouette 
von Puttrich beigegeben, hosten: 23 M. 60 Pf. 

6) Verteilung der «yKantstudien^^ an Institute und Bibliotheken« 

Wie schon im vori^n Jahresbericht (XI, S. 145) aus^führt worden ist, 
ist die geschenkweise Überlassung der bisher erschienenen Bände der 
„Kantstudien** an Institute und Bibliotheken, welche dieselben nicht 
selbst anschaffen können, eine sehr geeignete Förderung der Ziele der 
Kantgesellschaft. Im vorigen Jahre oedachten wir das Philosophische 
Seminar der Universität Heidelberg und die Bibliothek der Psychophysi- 
Bchen Sammlung in Halle a. 8. — In diesem Berichtsjahre haben wir ^anze 
Serien der bisher erschienenen Bände abgegeben an folgende Institute: 
1) an das unter der Leitung des Herrn Professor Dr. A. Meinong stehende 
und bekanntlich sehr blühende Philosophische Seminar der Universität 
Graz; 2) an die Bibliothek der Universität Jena, um so mehr, als an 
dieser Stätte von jeher, schon seit Reinhold, Fichte, Fries, K. Fischer, bis 
auf Liebmann und Eucken das Interesse an der Kantischen Philosophie 
sehr rege gewesen ist; 3) an die Bibliothek des Evangelisch-Theo- 
logischen Seminars („Stifts*') in Tübingen — haben doch seit Schellings 
und Hegels Zeiten, seit Strauss, Vischer und Sigwart, die philosophischen 
Studien daselbst von jeher geblüht, welche jetzt durch Adickes noch spesdeller 
auf Kant gelenkt werden. Endlich haben wir 4) der Bibliothek der Universität 
Rostock, an welcher Erhardt die Kantische Philosophie vertritt, die ihf 
(ebleudeQ Blinde X— III überwiesen. Oesamtkosteu: 214 M. 79 Si* 



KantgeseUschaft. 149 

7) Zo»chii«8 Eiir ^Kantfif iftniiff^. In dem verfloMenen Berichtfjahre 
hat die „Kantstiftung** uml60M. zugenommen, worflber noch weiter unten 
das NSbere mitgeteilt iüt Da nun die MEantstiftung**, welche nach dem 
vorjährigen Bericht die Höhe von 31700 M. erreicht hatte, mit jenen nen- 
eingekommenen 160 M. auf 818tK) M angelaufen ist, so sind, entsprechend 
unseren Satzungen, 140 M aus den laufenden Einnahmen zur Stirtnng ge« 
achlagen worden, um die runde Summe von 32000 M. zu erreichen. 

8) Drnck verschiedener Mitteiinngen, FormnUr^ n. s. w. Seitens 
der Hofbuchdruckerei von C. A. Kaemroerer & Co. sind für die Zwecke 
der Gesellschaft verschiedene kleinere Druokaufträge ausgrefflhrt worden 
(eine gr(Vssere Anzahl von Separatabdrücken des Jahresberichtes, Adress- 
formulare zur Versendung unserer Drucksachen, Einklebeblatter ffir die 
von uns an Institute und Bibliotheken verschenkten Exemplare der „Kant- 
Studien**, die Berichtigung hinter S. 152 des XL Bandes [am Schluss des 
1. Heftes] infolge verspäteter Einsendung der Korrektur seitens des betr. 
Autors, Sieparatabzüge der Bedingungen der II. Preisanfgabe, verschiedene 
Mitteilungen an Mitglieder und Mitarbeiter u. s. w.T. Gesamtbetrag: 
77 M. 5 Pf. 

9) Vemchfedeiiefi. Gerichtskosten für eine Eintragung in das Vereins- 
register 90 Pf.; Beschaffung einer Mappe 8 M. 75 Pf ; Beschaffung von 
Pappe zur Versendung von Kantbildem an die Mitglieder 7 M.; ftUr 
Schreibhülfe an einen Abschreiber 18 M. Insgesamt 29 M. 65 Pf. 

10) KorreapondenjE. Für Korrespondenz in Sachen der Kantgesell- 
schaft wurden an Postporti von dem Geschäftsführer ausgegeben: 63 M. 
57 Pf. Hierzu treten noch 12 M. 25 Pf. für Couverts mit Vordruck. Zu- 
sammen 75 M. 82 Pf. Ein Teil dieser Korrespondenzkosten konnte gedeckt 
werden durch einen ausserordentlichen Zuschuss seitens der Verlagsbuch- 
handlung, welche für verkaufte Sonder-Exemplare unserer Kant- und 
unserer Schiller-Festschrift uns 56 M. 96 Pf. zu diesem Zweck überwiesen 
hat. Der von der Gesellschaft selbst zu deckende Rest beträgt somit noch 
18 M. 87 Pf. 



Wiederlioliuig. 

I. Binnahmeii. 

Übertrag aus dem Voijahre 251 M. 5 Pf . 

Jahresbeiträge der Mitglieder 2864 „ 86 „ 

Zinsen der ^^Kantstiftung** 1258 „ 8 „ 

Bankzinsen . . . 162 „ 10 „ 

Summa der Einnahmen: 4080 M. 59 Pf . 

II. Ansgaben. 

1) Honorare an die Mitarbeiter . . . 1062 M. 20 Pf. 

2) Freiexemplare für die Mitglieder . 604 „ — „ 
8) Er^nznngshefte No. 1, 2, 3: 

a) Herstellungskosten 965 „ 55 „ 

b) Remuneration f. d. 2. Redakteur 800 „ — „ 

c) Versendung der Ergänzungshefte 74 „ 4 „ 

4) Verschiedene Versendungen ... 60 „ 70 •, 

5) Das Puttrichsche Kantbild .... 28 „ 50 „ 

6) Verteilung der KSt an Bibliotheken 214 „ 78 „ 

7) Zuachnss zur „Kantstiftung^ . . . 140 », — n 

8) Drucksachen 77 „ 5 „ 

9) Verschiedenes 29 „ 65 „ 

10) Korrespondenz (Rest) . . .... 18 „ 87 „ 

Summa der Ausgaben: 8560 M. 29 R — 8560 jf 2^ g<« 

Ob(urtngfar 1907: 470 M. 80 Pf . 



150 Kantgesellscbaft. 

Obiger Jahresbericht ist von den Mitgliedern des Verwaltongs- 
ansschusses genehmigt worden. 



Ans der Geschichte nnsererer Gesellschaft im vergangenen Jahre ist 
noch Folgendes %u berichten: 

1) Die ^Kantfttiftunx^ hat im verflossenen Jahre keinen beträcht- 
lichen Zugang mehr erfahren. Ein schweres Augenleiden hinderte 
den unterzeichneten Geschäftsführer an der dazu notieren Propaganda, so- 
dass alle Thätigkeit nach dieser Seite hin ganz unterbleiben musste. Von 
selbst sind folgende Beiträge eingegangen: 

Herr Dr. Bordes in Berlin M. 25 

^ Dr. Carl Detto in Leipzig „ 80 

„ Dr. R. Jorges in Düsseldorf (3. Rate) . „ 50 

„ Armin 0. Lusser in Luzem „ 25 

Frau Geheimrat Sanio in Halle a. S. (3. Rate) „ 30 

Summa M. 160. 

Wir quittieren dankbar für diese erfreulichen Beweise des Interesses 
an unseren Bestrebungen. Die Geber haben unsere Dauermitglieds- 
karte erhalten. Wir bitten unsere Freunde, auch fernerhin unausgesetzt 
auf Vermehrung dieses unseres eisernen Fonds bedacht zu sein, und be- 
merken, dass die Gesellschaft als „Eingetragener Verein^ und damit als 
juristische Person auch in der Lage ist, eventuelle Legate annehmen zn 
können. 

Wie schon bemerkt, haben wir aus den laufenden Mitteln noch 
140 M. zugeschossen, um, mit jenen 160 M. zusammen, 800 M. der bisher 
31700 M. betragenden „Kantstift ung^ zuführen zu können. Der nunmehr 
HS'KX) M. betragende Fonds befindet sich im Besitz der Universität Halle 
und in der Verwaltung des Köuigl. Universitäts-Euratoriums daselbst. 

2) Wie den Mitgliedern aus mehrfachen Mitteilungen (Band XI, 152 
und S. 295 f.) bekannt geworden ist, hat die KantgesellschaÄ eine zweite 
Preiaanfgabe ausgeschrieben: „Das Problem der Theodicee in der Philo* 
Sophie und Litteratur des 18. Jahrhunderts, mit besonderer Rücksicht auf 
Kant und Schiller^. Wir verdanken die Anregung zur Stellung gerade 
dieses Themas unserem Ehrenmitglied, Herrn Städtrat und Professor 
Dt, Walter Simon in Königsberg i. Pr., der uns schon so viele er- 
freuliche Beweise seiner verständnisvollen Teilnahme für unsere Bestreb- 
ungen gegeben hat. Seine grossen Verdienste uro unsere Gesellschaft hat 
er noch dadurch vermehrt, dass er uns auch die Mittel zur Ausschreibung 
lener Preisaufgabe gütiirst zur Verfügung gestellt hat. Er hat uns 
Eintausend Mark als Preis für die gekrönte Arbeit überwiesen, sowie 
Sechshundert Mark zur Entschädigung für die Arbeit der Preisrichter. 
Diese 1^00 M. sind, wie schon oben mitgeteilt worden ist, bei der Firma 
H. F. Lehmann in Halle deponiert worden. Herr Professor Dr. Walter 
Simon hat aber das Mass seiner Güte übervoll gemacht, indem er sich 
noch ausserdem erboten hat, falls noch weitere preiswürdige Arbeiten 
einlaufen, einen zweiten Preis von 4oO M. und einen dritten Preis von 
800 M. zn gewähren. 

8) Einem Gönner unserer Gesellschaft, Herrn Dr. phiL Ferdinand 
Tieftrunk in Berlin-Friedenau haben wir eine wertvolle Zuwendung 
zu verdanken. Sein Grossvater war der Professor der Philosophie an der 
Universität Halle- Wittenberg, Dr. Johann Heinrich Tieftrunk »geb. 1760, 
gest. 1837), welcher die Kantische Philosophie und speziell die Religions- 
Philosophie Kants in selbständiger Weise mit grossem Erfolg vertreten 
nat. Aus seinem Nachlass stammen 2 Btlsten in Gips, die eine ihn 
$^Tb$t darstellend^ die andere seinen Freund, den grossen Mediziner 



KsntgeseUidiAft. l6l 

und Gehirnforscher Reil, dessen Andenken in der Wissensdiaft durch die 
nach ihm ^eils Insel** fzrenannte Gehirnwindung festgehalten wird. Nach 
Professor Tieftrunks Tod kamen diese beiden Büsten in den Besitz seines 
Sohnes, des Arztes Dr. med. Heinrich Tieftrunk in Halle, nach dessen 
Ableben in den Besitz von dessen Tochter, Fräulein Laura Tieftrunk. 
Als Letztere im Sommer 1906 verstarb, erhielten wir auf Anregung des 
Bruders derselben, des Herrn Dr. phil. Ferdinand Tieftrunk in Berlin- 
Friedenau die beiden Büsten von den Erben, deren er selbst einer 
ist, geschenkt. Ein unglücklicher Zufall wollte, dass die eine der 
beiden Büsten, gerade die Tieftruuksche, beim Transport zerbrach. 
Es ist Hoffnung vorhanden, dass die stark beschädigte Büste von 
Künstlerhand wiederhergestellt werden kann, um so mehr, als ein glück- 
licher Zufall gewollt hat, dass Herr Dr. G. Kertz, welcher der Redaktion 
der KSt. — ein merkwürdiges Zusammentreffen! — kurz zuvor gerade 
eine gr^Vssere Abhandlung über Tieftrunks Religionsphilosophie übergeben 
hatte, nicht lange vor dem Ableben von Fräulein Laura Tieftrunk auf 
Veranlassung des Unterzeichneten sie besucht und bei dieser Gelegenheit 
eine photographische Aufnahme der Büste gemacht hat. Dieses Bild ist 
der Abhan£ung des Herrn Dr. G. Eertz, welche als Ergänzungsheft No. 4 
erscheint, beigegeben. (Dieses Ergänzungsheft erscheint gleichzeitig mit 
des XU. Bandes erstem Hefte, in welchem dieser Jah^bericht abge- 
druckt ist.) 

Ausserdem hat Herr Dr. phil Ferdinand Tieftrunk uns die erfreu- 
liche Aussicht eröffnet^ dass wir die Kantbüste von Mattersberger, welche, 
wie KSt. X, 8. 286 berichtet worden ist, einst im Besitz von Professor 
Dr. Johann Heinrich Tieftrunk war, und jetzt in seinen Händen sich be- 
findet, späterhin erhalten sollen. 

4) Über die Neueinrichtung der EririlnEiingahefte ist schon oben 
das Notwendige mitgeteilt worden. Hier ist nur noch zu bemerken, dass 
schon im Laufe des verflossenen Jahres Fürsorge getragen worden ist, 
dass auch in dem neuen Jahre tüchtige und wertvolle Arbeiten als Er- 
gänzungshefte von uns herausgegeben, und den Mitgliedern zugesendet 
werden können, damit die Jahresmitglieder dauernd eine^erweiterte Aus- 
gabe der ^Kantstudien** erhalten können. 

5) Wie schon KSt. XI, S. 294 berichtet ist, haben wir mit der Ver- 
lagshandlung Reuther & Beichard in Berlin W 9, Köthenerstrasse 4, ein 
Abkommen dahin getroffen, dass unsere Jahresmitglieder und bezugsbe- 
rechtigten Dauermitglieder die früheren Bund«» der y^Kantstadien^^, weiche 
de sich zur Kompletierung anschaffen wollen, zu dem besonderen Vor- 
zugspreis von 6 M. pro Band (statt 12 M.) erhalten. Mitglieder, welche 
von dieser Vergünstigung Gebrauch machen wollen, mögen sich an die 
genannte Verlagshandlung direkt wenden. 

6) In unserem Besit« befindet sich noch eine Anzahl von Exemplsren 
unserer Festncbriff : ««Zu Kants (4edK«*htnis** (350 Seiten mit 4 Abbildungen). 
Auf Wunsch erhalten Jahresmitglieder und bezugsberechtigte Dauermit- 
glieder solche Exemplare gratis und franko zugesendet, soweit der Vorrat 
reicht, auch zum Zwecke der Weitergabe an Andere, zur Verbreitung des 
InteresMS an unserer Gesellschaft und ihren Zielen. (Auch von verschie- 
denen anderen Dnicksachen uud Kantbildem sind noch Bestände vor- 
handen, über welche am Schloss dieses Jahres in ähnlicher Weise verfügt 
werden wird.) 

7) Die Mitglieder der Kantgesellschaft werden gebührend davon in 
Kenntnis gesetzt, dass an Stelle des am II. September v. J. verstorbenen 
Mitherausgebers der KSt., Professor Dr. Carlo Gantoni (Nachruf, s. XI, 
S. 486) Professor Dr. Feiice Tocco am ^I^tituto di Stndi Snperiori'* in 
Honiis als italimiacher Vertreter eingetreten ist Professor Tocco (Aber 



152 Kantg^etellBchaft. 

welchen Überweff-Heinze's G^chichte der Philosophie, m. Teil« 10. Aufl. 
1906, näher berichtet» hat im II. Bande der KSt die wertvolle Arbeit: 
,J)eU* opera poatuma di E. Kant sul passaggio dalla metafinca deUa Natura aüa 
Fi8ica" veröffentlicht. 

8) Wie schon KSt. XI, S. 292 berichtet worden ist, hat unsere 
Generalversammlung am 23. April v.J. ordnungsgemäss stattgefunden. Nach 
der Ablegung der Rechnuni; und Entlastung sind, abgesehen von den 
statntengemäss bleibenden Vorstandsmitgliedern (Universitätskurator und 
die Ordinarien der Philosophie), die wechselnden Mitglieder (Stammler, 
Gerhard, Lehmann) wiedergewählt worden. Danach bestand der Vorstand 
der Eantgesellschaft für 1906 aus folgenden Personen: 

Vorsitzender: der Kurator der Univers. Geh.Beg.-Rat Gott f ri e d M eyer. 



Mitglieder 
des 
Verwaltungs- 
Ausschusses: 



Professor Dr. Ebbiniphaus, 

Geh. Justiz-Rat Dr. jur. et phil. (h. c) Stammler, 
Direktor der Universitätsbibliothek Dr. Gerhard, 
Geh. Kommerzienrat H. Lehmann. 
Geschäf:sftthrer: Professor Dr. Vaihinger. 

Sämtliche Personen wohnen in Halle. Vom 1. April an wird 
statntengemäss auch der nach Halle berufene Professor der Philosophie 
Dr. Ludwig Busse, jetzt noch in Münster, Mitglied des Vorstandes. 

9) Zu der statntengemäss am Montag, den 22 April (Kants Geburts- 
tag), Abends 6 Uhr, in den Räumen des Kuratoriums der Universität Halle 
stattfindenden allgemeinen MitgUederversammliing wird hiermit gebührend 
eingeladen. 

Tagesordnung: 

a) Ablegung der Jahresrechnung für 1906. 

b) Antrag auf eine formelle Änderung der Statuten, betr. dieBe« 
Zeichnung „Vorstand*^ mit Bezug auf das Vereinsgesete. 

c) Wahl der wechselnden Mitglieder des Verwaltungsansschussei 
sowie des Geschäftsführers. 

d) Verkündigung des Resultates des Preisausschreibens: ,,Kanti 
Begriff der Erkenntnis, verglichen mit dem des Ari8totele8^ 
und Eröffnung der verschlossenen Zettel der ev. Preisträger. 

e) Mitteilungen. 

10) Diejenigen Jahresmitglieder, welche bis zum Erscheinen dieses 
Jahresberichtes mre Jahresbeiträge noch nicht eingesendet haben soUten, 
werden höflichst gebeten, die Einsendung an den Unterzeichneten baldigst 
zu bewerkstelligen. 

Halle a. S., den 16. Januar 1907. 



Der Geschäfisföhrer: 

Professor Dr. H. Vaihinger. 



KantgeMllichaft;. 163 



Kantgesellschaft. 

Mifgliederverzeichnis flir das Jahr 1906. 

Ehrenmttclled. 

Stadtrat a. D. Professor Dr. Walter Simon, Königsberg L Pr. 



JahrMmllgllcder 1906. 

Dr. BemAt Alexander, Professor an der Universit&t Budapest IV., Frani- 

Josef-Quai 27. 
Cand. phil. Johannes Amrhein, Halle a. S., Bergstrasse 7. 
Dr. Apel, Berlin-Charlottenburg, Uhlandstnisse 194. 

Dr. Clemens Baeumker, Professor an der Universit&t Strassburg i. E., 
Wenkerstrasse 8. 

Dr. Iwan Bloch, Charlottenburff, Schlflterstrasse 78. 

Excellenz Staatsminister Dr. v. Boetticher, Oberprftsident a. D., Naum- 
burg a. S. 

Cand. jur. G. A. £. Bogeng, Berlin W. 30, Martin Lutherstrasse 74. 

Hermann Bollmann, (^Tenstedt bei Magdeburg. 

Dr. Bordes, Zahnarzt, Berlin W., Schiilstrasse 10. 

Dr. Bötte, Pfarrer, Friedewald i. Hessen (bei Hersfeld). 

Dr. Baron v. Brockdorf f, Priyatdozent am Polytechnikum, Braunsohweig. 

Dr. phiL E. Cassirer, Privatdozent, Berlin W. 80, Hohenstaufenstrasse 46. 

Obenehrer A. Cramer, Burg bei Magdeburg. 

Dr. B. Christiani|en, Freiburg i. Br.. Glfimerstrasse 32. 

Dr. Delbos, Professor, Paris, Quai Henry IV 46. 

Dr. phiL Ludwig Dilles, Bielitz, Oesterr. Schlesien, Elisabethstrasse. 

Dreyer, Diakonus, Caniburg a. S. 

Johannes Dfirr, Verlagsbuchhändler, Leipzig, Qnerstrasse. 



Prof. Dr. Ebbinghaus, Halle a. S., Friedenstrasse 25. 
Dr. 0. A. Ellissen, Professor, Einbeck (Hannover). 
Jacob H. Epstein, Frankfurt a. M., Hermannstrasse 22. 
Dr. phiL Oskar Ewald, Wien I, Getreidemarkt 10. 

Dr. Richard Falckenberg, Professor an der Universit&t Erlangen, Gk>ethe- 

strasse 20. 
Cand. theoL G. Fittbogen, Schöneberg-Friedenau, Dflrerplatz 8'. 
Dr. med. Paul C. Franze, Bad Nauheim. 

Dr. R. Gaul. Sanit&tsrat, Stolp L P. 
Dr. Karl Geoert, Mflnchen, Tflrkenstrasse bi^^ 
V. Geisler, Prediger, Friedenau, Friedrich-Wilhelmplatz 11. 
Dr. Alfred Giesecke, Veriacsbuchhlndler, Leipzig, Poststrasse 8. 
Bodolf Goldscheid, Wien Ul, Richardstraste 1. 

Dr. H. Gutzmann, Privatdozent an der Universität Berlin W«, Schone^ 
berger Ufer 11, 



l64 Kantgesellsrhaft 

Cand. pbil. Harnisch, Oberleutensdorf bei Teplitz (Böhmen). 

Eugen Hecker, Fabrikdirektor, Braunschweig, Kaiser- Wilhelmstrasse 50. 

Heideraann, Geh. Koramerzienrat, Cöln a Rh. 

Dr. phil. J. U. Herz, Wien VIII, Josephstädterstrasse 29. 

Dr. phil. G Dawes Hicks, Cambridge, Cranmer Road 9. 

Dr. phil. J. W. A. Hickson, Montreal, Canada. 

Dr. K B. Hof mann, Professor an der Universität Graz, Schillerstrasse 1. 

Dr. A. Höfler, Professor an der deutschen Universität Prag-Smichow, 

Kinskystrasse 48. 
Dr. Richard Hönigswald, Privatdozent an der Universität Breslau, XYI, 

Uferstrasse Ss. 
Friedrich Freiherr v. Hügel, London-Kensington W., Vicarage Gate 13. 

Dr. W. Jerusalem, Professor, Wien XVIH 3, Pötzleinsdorferstrasse 92. 
Dr. R. Jorges, Düsseldorf, Schumannstrasse. 

Dr. Wladimir Iwanovsky, Privatdozent, Kasan, Tschemoje Osero Haas, 
Wenetziowna. 

Privatdozent Dr. Willy Kabitz, Hannover, Bleichenstr. 4. 

Dr. Kalk er, Hautarzt, Köln a. Rh., Vor St. Martin 2ö. 

Dr. Katzer, Pastor prim., Loebau i. Sa. 

Professor Dr. Kern, Generalarzt, Subdirektor der Kaiser- Wilhelms-Aka- 
demie, Berlin NW. 7, Friedrichstrasse 141. 

Otto Kohl mann, Greiz, Elstersteig 7. 

Lic. theol. Dr. Koppel mann, Privatdozent an der Universität Münster LW., 
Hereonstrasse 5. 

Dr. Felix Kuberka, Arnstadt i. Th., Marlittstrasse 4. 

Georg Küspert, Gymn.-Prakt., Schweinfurt. 

Lange, Amtsrichter, Dann i. d. Eifel. 

Geh. Regierungsrat Dr. A. Lassen, Professor, Friedenau-Berlin, Han^jery- 

strasse 49. 
Notar Justizrat Leibl, Düren, Westfalen. 
Dr J A. Levy, Advokat, Amsterdam. 
Dr. Levy-Brühl, Professor, Paris, Rue Lincoln 7. 
Dr. Edmund v. Lippmann, Professor, Halle a. S., Raffineriestrasse. 
D. Dr. Loofs, Professor an der Universität Halle a. S., Lafontainestrasse. 
Dr. Victor Lowinsky, Berlin W., Neue Winterfeldstrasse 46. 
Emil Lucka, Schriftsteller, Wien IX., Rossauergasse 4. 

Karl Maisch, Buchdruckereibesitzer, Karlsruhe. 

M. P. Mason, Boston (Mass.) U. S.A., Commonwealth Avenue Nr. «147. 

Dr. Fritz Mauthner, Freiburg i. Br., Mozartstrasse 8. 

Dr. Menge 1, Pastor, Leipzig-Thonberg, Dorotheenstrasse 23. 

Dr. A. V. Meinong, Professor an der Universität Graz. 

Dr. Paul Menzer, Professor an der Universität Marburg, Wörthstrasse 50. 

Frau Bertha Meyer, Dresden A, Lenn^strasse 2. 

Frau Justizrat Meyer, Dresden A , Lenn^strasse. 

Dr. phil. Martin Meyer, Berlin W., Königin-Augustastrasse 21. 

Archivar Dr. Leo Müffelmann, Berlin W., Eisenacherstrasse 52. 

Otto Pasquay, KönigL Bezirksamtmann a. D., München, Hermann Schmidr 

Strasse H^- 
Lehrer am Realgymnasium F. Pinski, Berlin, Knipiodestrasse 118 b. 

Reichardt, Stadtrat, Magdeburg, Beethovenstrasse 2. 

Dr. Johannes Reicke, Bibliothekar, Göttingen, Friedländerweg 88. 

Dr. phil. 0. Reineke, Oberlehrer, Bitterfeld, 



Kantgeiellichift 156 

Dr. R. Reininger, Privatdozent, Wien IX, Giessergasse 6. 

Dr. phil. H Renner, Berlin-Gharlottenburg 4, Kantatrasse 49. 

Riedel, Geh Kommerzienrat, Halle a. S., Advokatenweg. 

Dr. jur. Francisco Rivera, Madrid (Mnseo Pedagögico), Daoiz 8. 

Erich Rothacker, Pforzheim, Laisenstrasse 58. 

Dr. Maximilian Runze, Prediger und Dozent an der Humboldt-Akademie, 

Berlin N.-W. 52., Thomasiusstr. 22. 
Dr. Th. Ruyssen, Professor, Aix-en-Provence, Frankreich. 

Dr. jur. J. Sacker, Odessa, Yev. Torocul No. 9. 

Oberlehrer Dr. Sänger, Oels, Schlesien. 

Max Schersath, Versicherungsbeamter, Berlin, Warschauerstrasse 65. 

Dr. med. C. J. M. Schmidt, Odessa, Boulevard B. 

Dr. Ernst Schrader, Privatdozent am Polytechnikum, Darmstadt, Kies- 
strasse 68. 

Franz Schraube, Hauptmann a. D., Halberstadt, Voigtei 48. 

Oberlehrer Dr. Julius Schultz, Berlin NO, Friedenstrasse 111. 

Dr. Fritz Schulze, Professor am Polytechnikum, Geheimer Hofrat, 
Dresden-A., Wttrzburgerstrasse 44. 

A. Schulze, Direktor, Halle a. S., Raffineriestrasse 28. 

Siebert, Rittergutsbesitzer, Corben bei Mollehnen i. Ostpr. 

Dr. phil. hon. c. Ernst Sieglin, Fabrikbesitzer, Stuttgart, Felgersburg. 

Dr. £. Simon, Kommerzienrat, Berlin, Victoriastrasse 7. 

Dr. Sitz 1er, Regierungsreferendar, Steglitz b. Berlin, Schtttzenstrasse 53. 

Dr. H. Spitta, Professor an der Universität Tübingen. 

Gymnasialprofessor a. D Dr. Staudinger, Darmstadt, Inselstrasse 26 

Dr. J. Hutchison Stirling, Professor, Edinburgh, Laverock Bank Road 4. 

Dr. Anton Thomsen, Privatdozent, Kopenhagen, Skindergade 29. 

Dr. Hans Vaihinger, Professor an der Universität Halle a. S., Geh. Reg.- 

Rat, Reicharatstrasse 15. 
G. Vocke, Amtsrichter, Günzburg i. B. 

Dr. Volkelt, Professor an der Universität Leipzig, Auenstrasse 3. 
Dr. h. c. Ernst VoUert, Verlagsbnchhändler, Berlin SW, Zimmerstr. 94. 
Dr. E. Vowinkel, Realschnldirektor, Mettmann, Rheinprovinz. 

Gustav Wagner, Privatmann, Achem. 

Julius Wagner, Tulln a. d. Donau bei Wien. 

A. War da, Amtsrichter, Schippenbeil i. Ostpr. 

W. B. Waterman^ Bosten (Roxbury) Mass. U.S. A., Wanmbeckstreet 41. 

Dr. R. Wedel, Pnvatgelehrter, München, Prinzregentenstrasse 8. 

Lecturer C. C. J. Webb, M. A. Oxford, Macrdalen College. 

Dr. Alexander Wernicke, Professor am Polytechnikum Braonschweig. 

Edmund Wirth, Kommerzienrat, Sorau N.-L. 

Dr. Erich Witte, Misdroy. 

Dr. Theobald Ziegler, Professor an der Universität Strassbnrg L £. 

Magistrat der Stadt Hildesheim. 

Bibuothek des Realgymnasiums Ck>blenz (Direktor Dr. Gooasen). 

Ein ungenannt bleibendes Mitglied. 

Somma: 118 Jahresmitglieder. 



156 Eantgesellschaft. 



ResnflTSbereobili^le Danerintifcli^der. 

(Einmaliger Beitrag von mindestens 400 Mark.) 

Geh. Kommerzienrat Ludwig Bethcke, Halle a. S., Burgstrasse. 

Konsul B. Brous jr., Emden. 

Frau Geh. Kommerzienrat Albert Dehne, Halle a. S., Scbimmelstrasse 7. 

Verlagsbuchhändler Dr. Robert Faber, Magdeburg, Westendstrasse 13. 

Kommerzienrat Robert Frank, Ludwigsburg. 

Direktor der deutschen Bank Arthur Gwinner, Berlin W., Rauchstrassel. 

Professor Dr. G. H. Howison, Berkeley (Calif), Bancroft-Way 2731. 

Fabrikbesitzer und Baumeister Friedrich Kuhnt, Halle a. S., Stein weg. 

Justizrat Dr. Lachmann, Berlin W. 10, Bendlerstrasse 9 

Geh. Kommerzienrat Heinrich Lehmann, Halle a. S., Burgstrasse. 

Prof. Dr. Götz Martins, an der Universität Kiel, Hohenbergstrasse. 

Verlagsbuchhändler Rittergutsbesitzer Rudolf Mosse, Berlin SW. 19, 

Jerusalemerstrasse 46|9. 
Professor Dr. Friedrich Paulsen, Steglitz bei Berlin, Fichtestrasse. 
Fabrikbesitzer W. v Siemens, Berlin W., Tiergartenstrasse 10. 
Stadtrat a. D. Professor Dr. Walter Simon, Königsberg i. Pr., Kopemikus- 

strasse, Ehrenmitglied der Kantgesellschaft. 
Professor Dr. August Stadler, Zürich, Bleicherweg. 
Generalarzt Dr. med. Stechow, Hannover, Hohenzollemstrasse 44. 
Professor Dr. Strong, New- York, Columbia University. 
Verlagsbuchhändler Dr. phil hon. c. Ernst Vollert, Berlin SW. 12, 

Zimmerstrasse 94. 
Fabrikbesitzer Ernst Weise, Halle a. S., Händelstrasse. 
Geh. Kommerzienrat Carl Wessel, Bemburg. 
The Philosophical Union of the University of California, 

(President: Professor G. H. Howison) Berkeley. (Calif.) 
Society of Ethical Culture, (President: Professor Dr. Felix Adler) 

New-York 123 E, 60^ Street. 

Summa: 23 bezugsberechtigte Dauemiitglieder. 



Anhang. 

Nenetngetretene Jaliresioitglieder ftlr 1907. 

Direktor Dr. Paul Boehm, Achem in Baden. 

Dr. Ludwig Busse, Professor an der Universität Münster (vom 1. Apiil 

an in Halle a. S.). 
Dr. Anton Feigs, Gross-Lichterfelde, Carstennstrasse 6. 
Dr. Erich Franz, Oberlehrer, Magdeburg, Königgrätzerstrasse 2. 
Dr. P. Hauck, Oberlehrer am Lyceum, Metz. 
Dr. Gustav Kertz, Eschersheim bei Frankfurt a. M. 
Lic. Dr. Arno Pommrich, Dresden A., Fürstenstrasse 24. 
Pfarrer Strothmann, Märten bei Dortmund, Westfalen. 



BoAvaMiMkwti G. ▲. Zftammenr * Oix, Bau» »It 



über Kants Lehre 
vom Schematismus der reinen Vernunft. 

Aus dem Nacblass von Walter Zscbocke, 

heraus^geben von Heinrich Rickert. 



Vorbemerkung des Herausgebers. 

Walter Zscbocke ist im Alter von secbsundzwanzig Jabren 
gestorben. Anfänglich für die kaufmännische Laufbahn bestimmt, 
dann zur Jurisprudenz übergegangen, hatte er sich während der 
letzten Jahre seines Lebens in Strassburg und hier in Freiburg 
ganz dem Studium der Philosophie gewidmet. Ihr galt schon früh, 
neben Neigungen für die bildende Kunst, vor Allem sein Interesse. 
Der Tod hat ihn verhindert, die nachfolgende Arbeit, mit der er 
hier sein Doktorexamen machen wollte, zu vollenden. Trotzdem 
schien mir und anderen Freunden sein hinterlassenes Manuskript 
der Veröffentlichung wert. Dass es druckfertig gemacht werden 
konnte, ist in erster Linie Dr. Otto Baensch zu verdanken, 
mit dem der Verstorbene in den letzten Monaten seines Lebens 
hier in Freiburg täglich zusammen war, und der seine wissen- 
schaftlichen Intentionen genau kannte. Soweit es irgend anging, 
ist der Wortlaut des Manuskripts beibehalten, inhaltlich ist fast 
nichts hinzugefügt, und nur einige Stellen, die unfertig waren 
und deshalb den Zusammenbang störten, sind fortgelassen. Gewiss 
hätte Zscbocke selbst die Arbeit noch weiter ausgeführt, aber auch 
in ihrer jetzigen Gestalt ist sie gedanklich abgeschlossen und 
lässt über die Absichten des Autors keinen Zweifel. Im Übrigen 
mnss die Schrift für sich selbst sprechen. Ein Urteil über das 
Einzige, was mir von einem meiner liebsten Schüler, einem Manne 
von ungewöhnlicher Reinheit der Gesinnung und des wissenschaft- 
lichen Strebens, übrig geblieben ist, gehört nicht hierher. Wahr- 
scheinlich wird Manches auf Widerspruch stossen, und besonders 
kann man meinen, dass in Kants Urteilslehre Einiges hineininter- 

KaaMlodl«o XU. 1} 



168 W. Zschocke, 

pretiert ist, was dem Autor der Vernnnftkritik fem lag. Mit 
Rücksicht darauf möchte ich nur das eine bemerken, dass Zschocke 
niemals beabsichtigt hat, eine rein historische Kantinterpretation 
zu geben, sondern dass ihm vor Allem an der Klärung und För- 
derung der systematischen Probleme selbst gelegen war. Unter 
diesem Gesichtspunkt muss seine Arbeit gelesen und beurteilt 
werden. 



Inhalt: Erklärung der Disposition. — LTeiL I.Kapitel. Der Auf- 
bau des Kandschen Systems der Erfahrung. 2. Kapitel. Kants Lehre vom 
Schematismus. — ü. Teil. 1. Kapitel. Der eine Stamm der menschlichen 
Erkenntnis, die Sinnlichkeit. 2. KapiteL Der andere Stamm der mensch- 
lichen Erkenntnis, der Verstand. 8. Kapitel. Die Überwindung des Kant- 
ischen Schematismus. 



Erklärung der Disposition. 

In der Kritik der reinen Vernunft ist das Kapitel über den 
Schematismus der reinen Verstandesbegriffe oft als eins der un- 
yerständlichsten bezeichnet worden, und das mit Recht; denn, 
wenn man es gelesen hat, so ist man zunächst völlig ratlos da- 
rüber, was wohl Kant unter dem Worte Schematismus verstehe. 
Zur Komplikation der Schwierigkeit kommt noch hinzu, dass diese 
Lehre im Zentrum der Vemunftkritik ihre Stelle gefunden hat, 
wo die vorher begonnenen Gedankenreihen mit einander in Ver- 
bindung treten. 

Sie steht für sich zwischen der Deduktion der reinen Ve^ 
Standesbegriffe und den Grundsätzen der reinen Vernunft. Der 
äusseren Stelle entspricht die Funktion, welche sie zu erfüllen 
hat: sie soll zwischen den reinen Verstandesbegriffen und den 
Grundsätzen eine Lücke ausfüllen, die sich bei dem Aufbau d^ 
Vemunftkritik aus ihren zwei Hauptteilen, Ästhetik und Analytik, 
dort zeigte, wo beide aufeinander treffen sollten. In den Grund- 
sätzen nämlich macht Kant die Anwendung seiner Resultate der 
Analytik auf die Erscheinungswelt überhaupt, d. h. er bringt die 
apriorischen Verstandeselemente, welche er getrennt von den 
apriorischen Anschauungsformen aufgesucht und deduziert hatte, 
mit diesen wieder in lebendige Verbindung, um so in wenigen 



über Kants Lehre vom Schematismus der reinen Vernunft. 159 

Sätzen diejenigen allgemeinsten Regeln aufzustellen, unter die 
jede allgemeingiltige und notwendige naturwissenschaftliche Er- 
fahrung sich ordnen muss. Nun hatte er aber Sinnlichkeit und 
Verstand in ihrer wesentlichen Charakteristik so streng von ein- 
ander geschieden,^) — an manchen Stellen sogar durch Disjunktion,') 
— dass er ohne weiteres keinen Weg findet, sie wieder zu- 
sammen zu führen. Er muss also ein Drittes") aufsuchen, welches 
beide heterogenen Elemente umspannt, damit auf diesem neutralen 
Boden eine Verständigung für gemeinsame Weiterarbeit angebahnt 
werde, und dieses Dritte ist eben das Schema. 

Dies möge ausreichen zur vorläufigen Charakteristik der 
Eingliederung des Schematismus in der Er. d. r. V. Um sie im 
Einzelnen zu verstehen, wird es dann im ersten Teile dieser 
Arbeit nötig sein, dass wir uns etwas näher darüber orientieren, 
was Kant unter Anschauungs- und Verstandesformen versteht, und 
wie ihm auf Orund dieser seiner Voraussetzungen das Problem 
des Schematismus erwächst. Ich werde hierbei natürlich immer 
das Hauptinteresse auf die Stellung der beiden Fundamente unseres 
Erkennens zu einander legen, und das Fazit ziehen, sie seien un- 
vereinbar, so wie es Kants Meinung gewesen ist. Denn in der 
That halte ich unter den Voraussetzungen, welche die transscen- 
dentale Ästhetik und die transscendentale Analytik an die Hand 
geben, die Kantische Forderung nach einem Schematismus für un- 
erlässlich. Dass Kants Schema dieser Forderung freilich nicht 
entspricht und nicht entsprechen kann, wird der Schluss des 
ersten Teiles nachweisen. 

Nach Erledigung dieser Vorarbeit werde ich in einem zweiten 
Teile zu zeigen versuchen, dass es dennoch möglich ist, innerhalb 
des Zieles, welches sich Kant in der Kr. d. r. V. setzte, nämlich 
der Begründung der mathematischen Naturwissenschaft, ohne seinen 
Schematismus auszukommen. Nun habe ich eben Kants Konsequenz 
anerkannt, die zu seinem Schematismus führte; wenn ich jetzt 
dem entgegen seinen Schematismus beseitigen will, so kann dies 
nur dadurch geschehen, dass ich die Prämissen angreife, welche 
ihn forderten. Ich werde dementsprechend nachweisen müssen, 
dass 1. die Anschanungsformen und 2. die Kategorien amgeitaltet 



*) B. 89. 
^B. M. 
•)B.m. 



160 W. Zschocke, 

werden können, unbeschadet des Zieles, das zu erreichen sie 
dienen sollen. Dies ist der einzige Ausweg, der mir offen steht, 
um Kant zu widerlegen. Das Ziel, gilt es, immer genau im Auge 
zu behalten: die mathematische Naturwissenschaft; dann aber 
wird sich bei Betrachtung der Anschauungsformen und Kategorien 
ergeben, dass Kant mehr in sie hineingedacht hatte, als er be- 
rechtigt war und bedurfte; und dieses Zuviel ist es, welches ihn 
nachher in die Schwierigkeiten und Unklarheiten des Schematis- 
mus verstrickte. Um ihnen zu entgehen, werde ich mich Schritt 
für Schritt fragen, was die einzelnen Erkenntniselemente an 
Distanz absorbieren, damit wir unseren Weg „reinlich beschreiten'' 
können; und im Anschluss daran werde ich dann die Konse- 
quenzen besprechen, welche sich aus der teleologischen „Reini- 
gung'' der Erkenntniselemente insbesondere für den Kategoriebegriff 
ergeben. Denn es ist einleuchtend, dass ein anders konstruierter 
Verstandesbegriff auch anders „entdeckt'' und anders deduziert 
werden muss als der Kantische. Es geht nicht an, die Kantischen 
Grundbegriffe umzugestalten, ohne zugleich ihre Position in dem 
teleologischen Zusammenhange der Erfahrungsbegründuug entr 
sprechend zu modifizieren. 

Hiermit wäre in Kürze der Inhalt der ersten beiden Kapitel 
des zweiten Teiles angegeben. — Ein letztes drittes Kapitel hat 
endlich die Aufgabe, einen neuen Schematismus an Stelle des 
alten zu setzen; denn es wird sich ergeben, dass wir ganz ohne 
einen solchen doch nicht zum Ziele gelangen. Wenngleich auch 
Sinnlichkeit und Verstand nicht so auseinanderklaffen, wie es bei 
Kant der Fall zu sein scheint, so sind doch ihre Tendenzen nicht 
ohne weiteres so völlig in einander zu lenken, dass wir ohne eine 
Vermittelung in einem „Schematismus" auskommen. Doch trägt 
dieser neue Schematismus eine erheblich andere Gestalt als der 
Kantische. 

Damit ist die kurze Übersicht gegeben, welche ich zur Er- 
klärung der Disposition voranschicken wollte. Zu ihrem Beschlüsse 
nur noch eine Bemerkung: Wenn ich sage, ich gedächte, den 
Kantischen Schematismus durch einen andern zu ersetzen, so 
ist dieses nur zum Teile richtig; denn das neue Schema findet 
sich wörtlich angeführt in der Tafel der Schemata, wie sie bei 
Kant steht. Und doch, dass Kant es nennt, ist diesmal ein Fehler 
und eine Inkonsequenz. Er durfte dies Schema nicht haben, und 
nur die ungemessene philosophische Fähigkeit dieses „grossen 



Ül>er Kant« Lehre Tom Schematinnas der reinen Venrnnft. 161 

Kopfes'' versichert ans Überall» dass selbst seinen Lrrtämem in- 
teressante und bedeutende Gedanken zu Grande liegen. Hieraus 
erklärt sich auch, dass fast all die Umformungen, welche ich an 
den Eantiscben Begriffen vorzunehmen gedenke, in ihnen selbst 
in irgend einer Hinsicht schon angelegt sind, und dass sich für 
den Beleg der wichtigsten Punkte meiner anderen Auffassung 
deutliche Zitate aus Kants eigenen Worten finden lassen. Kant 
sah so ziemlich alles, nur nicht alles klar. 



L TcU. 

Der erste Teil soll uns zwei Fragen beantworten. 

1. Wie kam Kant dazu, einen Schematismus aufzustellen? 

2. Was haben wir des Genaueren unter dem zu verstehen, was 
Kant ein Schema nennt? 

Als Ergebnis dieser Untersuchung werden wir zu dem 
Schlüsse gelangen, dass Kants Schema ein in jeder Beziehung un- 
klarer Begriff ist, dass in ihm zwar ein richtiger Gedanke aus- 
gedriickt ist, dass er aber gerade das nicht leistet noch leisten 
kann, was Kant von ihm forderte. Dazu kommt noch, dass der 
Wahrheitsgehalt, den der Begriff des Schemas birgt, nicht erst 
durch das Kapitel über den Schematismus entdeckt zu werden 
brauchte, vielmehr schon längst in der Ästhetik und Analytik 
feststand.^) Somit wird dieser Teil zeigen: Kant braucht ein 
Schema, aber sein Schema ist kein Schema, und was es an Rich- 
tigem enthält, ist eine überflüssige Wiederholung. 

1. Kapitel. 
Der Aufbau des Kantischen Systems der Erfahrung. 

Unsere Pars destruens beginnt mit einer Bekonstruktion der 
Grundfaktoren und des Zieles der Erkenntnistheorie Kants. 

Das Material, an dem sich die Arbeit unseres &kennen8 
vollzieht, ist uns empirisch gegeben in dem Mannigfaltigen der 
subjektiven Empfindungsinhalte.^) Sie werden nach zwei ver- 
schiedenen Methoden geformt, bis sie befähigt sind, in der mathe- 



>) B. 126 f. 
>) B. eQp 270. 



16S W. Zsehoeke. 

matischen Naturwissenschaft uns als sichere, das heisst, als not- 
wendige und allgemeingültige Erkenntnisse entgegenzutreten. 
Durch diesen Prozess wird der Übergang vollzogen von der Sub- 
jektivität zur Objektivität; was zunächst rein subjektiv und zu- 
fällig sich als gegebene Empfindungen kennzeichnet, wird für das 
Erkennen zu einem der subjektiven Zufälligkeit Entrückten, ihr 
Entgegengestellten, ihr Objizierten, sobald es nach jenen zwei 
Methoden verarbeitet ist; aus dem gegebenen Material wird der 
Gegenstand der Erkenntnis, das Objekt gewonnen. Beide Methoden 
haben ein gemeinsames Ziel, beide ergänzen einander, und nur 
mit Hülfe der anderen ist es jeder einzelnen möglich, auf festen 
Füssen zu stehen: „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen 
ohne Begriffe sind blind." *) 

Anschauungen und Begriffe, dies sind die beiden Methoden, 
nach denen die Umgestaltung des Materials vor sich geht. 

Betrachten wir zunächst die Anschauungen. Ihrer Be- 
sprechung ist die transscendentale Ästhetik gewidmet; und für 
unsere Zwecke können wir uns mit der Erwägung ihrer Angaben 
begnügen* Allerdings will ich gleich bemerken, dass die Lehre 
von den Anschauungsformen innerhalb der transscendentalen Logik 
später erheblich umgestaltet wird, aber hiervon muss ich vorläufig 
absehen; denn hätte Kant diese Umgestaltung immer scharf im 
Auge behalten und konsequent durchgeführt, so wäre er gar nicht 
zu seinem Schematismus gekommen. Dies gerade soll in dem 
zweiten Teile dieser Arbeit bewiesen werden, und infolge dessen 
dürfen wir uns jetzt nur an das halten, was unter den mannig- 
fach variierenden Gedankenreihen gerade zu dem Schematismus 
führt, wobei natürlich diese einseitige Darstellung nicht als die 
definitive Meinung oder gar als das Wesentliche in Kants Lehre 
aufgefasst werden darf. 

Baum und Zeit werden gekennzeichnet als rezeptive Formen 
der apriorischen Anschauung. Die Welt, welche wir begreifen 
wollen, ist Erscheinung, und sie erscheint uns. Aus diesen Be- 
stimmungen ergiebt sich zweierlei: 

Einmal muss die Erscheinungswelt sich denjenigen Formen 
anpassen, welche für uns die Bedingung alles Erscheinens sind: 
Raum und Zeit. 

») B, 76. 



über KBXitM Lehre Tom Sehemttitiniii der reinen Vernunft 108 

Dann aber können wir die Gegenstände nicht so erkennen, 
wie sie an sich selber sind, sondern allein, wie sie uns er- 
scheinen. 

Das Erscheinen ist etwas von uns sowohl unabhängiges als 
auch durch uns bestimmbares, die Elrscheinung ist also als ein Ding 
mit zwei Seiten anzusehen: wir könnnen es nur rezipieren, nicht 
selber produzieren; nur in sofern es in Raum und Zeit erscheinen 
muss, um unsere Erscheinung zu sein, ist es von unseren Formen 
abhängig. 

Raum und Zeit sind demnach rezeptive Formen unserer An- 
schauung, und wir erkennen durch sie die Dinge, wie sie uns er- 
scheinen. 

Dies haben beide, der Raum sowohl als auch die Zeit, mit 
einander gemein; doch unterscheiden sie sich im übrigen sehr 
wesentlich von einander: 

Die Form des neben einander umspannt alle sogenannton 
äusseren Verhältnisse, alle Qegenstände des äusseren Sinnes. 

Die Form des nach einander ist nicht in diese Sphäre ein- 
geschränkt; zeitlich sind ebensowohl alle äusseren wie alle 
inneren Erlebnisse. 

Kant drückt dies dadurch aus, dass er die Zeit als die Form 
des inneren Sinnes bezeichnet; und da der innere Sinn der Sammel- 
name für alle Perzeptionen ist, sofern sie auf das Perzipiens be- 
zogen werden, so schliesst er auch diejenigen Perceptionen mit 
ein, welche noch dazu die Beschaffenheit des neben einander an 
sich tragen. Innere und äussere Anschauung sind also ebenso 
wenig Gegensätze, wie Raum und Zeit Gegensätze darstellen, 
sondern die Zeit ist lediglich eine umfassendere Form des Raumes : 
alles Räumliche ist notwendig zeitlich; aber nicht alles Zeitliche 
ist räumlich. Ebenso ist es nur eine spezielle Provinz im soge- 
nannten inneren Sinne, welche den Namen des äusseren Sinnes 
trägt; und so ist die Terminologie Kants zu verstehen, dass die 
Zeit die Form des inneren, der Raum die Form des äusseren 
Sinnes sei. 

Ich gehe jetzt zur Besprechung des zweiten EUementes für 
die Objektivität über, zur Besprechung der reinen Verstandes- 
begriffe. Raum und Zeit waren die beiden Komponenten in der 
Methode des Anschauens; dem Anschauen gegenübergestellt ist 
das Urteilen. Zum Urteilen brauche ich Begriffe. Es handelt 
sich also darum, die reinen Begriffe aufzusuchen, welche an ihrem 



164 W. Zschooke, 

Teile ein Stück der Arbeit vollbriDgen, die im Erkenntnisprozesse 
geleistet werden soll. Kant findet die Begriffe mit Hülfe der so- 
wohl in den Urteilen als in den Begriffen auftretenden Funktion 
der Synthesis, indem er nachweist, dass transscendentale Elrkennt- 
nis nur in Synthesen stattfinden kann, gemäss seiner schon in der 
Einleitung als Grundproblem der Kritik aufgestellten Frage: Wie 
sind synthetische Urteile a priori möglich? Die objektive Syn- 
thesis hat ihrerseits wieder zur Voraussetzung die transscendentale 
Einheit der Apperzeption. Nun kennen wir die Synthesen, welche 
im Urteile stattfinden, oder Kant meint wenigstens, ohne viele 
Schwierigkeiten eine genaue Tafel hiervon aufstellen zu können. 
Indem er dann von ihr ausgeht, ergiebt sich ihm die genau ent- 
sprechende Tafel der Kategorien.^) 

Doch mit ihrer Entdeckung ist es noch nicht genug, sie 
müssen auch noch deduziert werden. Hier ist es vor allem der 
Begriff der transscendentalen Einheit der Apperzeption, welche 
den Mittelpunkt der Untersuchung bildet. Ohne sie ist der Er- 
fahrung gewissermassen das Rückgrat genommen; sie „schafft** 
überhaupt erst die Synthesis in den Urteilen der objektiven Er- 
fahrung. Wenn daher der innerliche Zusammenhang klargelegt 
wird, in dem die Kategorien mit der transscendentalen Einheit der 
Apperzeption stehen, so sind sie deduziert. Kant erweist die 
Kategorien als die Arten der transscendentalen Einheit der Apper- 
zeption,') daher kann er mit Recht von ihnen sagen: „so sind die 
Kategorien Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung und gelten 
also a priori auch von allen Gegenständen der Erfahrung''.^) 

Das bisherige Ergebnis lässt sich folgendermassen zusammen- 
fassen. Einesteils steht die objektive Erfahrung unter den Be- 
dingungen von Raum und Zeit, das ist der reinen Sinnlichkeit, 
andererseits unter den Bedingungen der Kategorien, das ist des 
reinen Verstandes. 

Nun zieht sich durch die ganze Kritik der reinen Vernunft 
wie ein roter Faden die immer wiederkehrende Belehrung, dass 
die reinen Verstandesbegriffe nur auf das Material der Sinnesdata 
angewandt Wissenschaft ergeben, dass sie über das so begrenzte 
Gebiet hinausschweifend sich nur in unhaltbaren Hypothesen ver- 

1) B. 94. 

*) Vgl. B. 143, 169 und Cohen, Kants Theorie der Erfahnmg. 
2. AufL 369. 
") B. 161. 



über Kant« Lehre vom Sehematismiig der reinen Vernunft. 165 

lieren, dass dadurch Metaphysik als Wissenschaft vom Ding an 
sich ein für alle Mal widerlegt ist. 

Kant steht jedoch noch in der transscendentalen Ästhetik auf 
einem wesentlich anderen Boden. In ihr macht sich noch stark 
der Einfluss der Inangural-Dissertation geltend, in welcher er 
folgende Anschauungen vertrat. 

Durch die Sinnlichkeit erkennen wir die Welt der Erschei- 
nungen ; infolgedessen muss sie sich unsern subjektiven Anschauungs- 
formen anpassen, um von uns erkannt zu werden. Durch den 
Verstand erfassen wir die Welt der Noumena. Dementsprechend 
giebt es Erkenntnis zweier Welten und damit zweier Arten 
von Objekten: Erkenntnis von Phänomena und Erkenntnis von 
Noumena. Ebenso wie wir durch den Verstand erkennen, „er- 
kennen'' wir auch im Anschauen.^) 

Die Kritik der reinen Vernunft steht auf einem ganz anderen 
Standpunkte. Aber Kant hat nicht vermocht, radikal in jeder Be- 
ziehung mit der Lehre von der zweifachen Wahrheit aus An- 
schauung und Verstand zu brechen. Er hatte sich zu sehr in die 
alte Anschauung hineingelebt. Daher bietet uns die Kritik der 
reinen Vernunft das Schauspiel eines stetigen Kampfes mit diesen 
alten Überresten; immer wieder werden sie glänzend besiegt, aber 
immer wieder legt der tückische Gegner Kant eine Falle. 

In der Ästhetik zunächst hat Kant sich noch wenig von den 
alten Ansichten losgerungen; anstatt allein die kritische Frage zu 
beantworten: wie sind die synthetischen Urteile der Mathematik 
möglich? wird noch nebenbei die ganze Metaphysik der Dinge an 
sich und die Behauptung vorgetragen, durch Anschauung werde 
uns eine „Erkenntnis*' von Erscheinungen gegeben. 

In der Analytik wird der dogmatische Gegner energisch zu 
Boden geschlagen dadurch, dass unausgesetzt betont wird, die 
Verstandesbegriffe müsst^n sich auf das durch die Sinnlichkeit 
gegebene Material beziehen, sonst sei keine Erkenntnis mög- 
lich, und nur im Urteile, das der Verstand fällt, gebe es überhaupt 
Erkenntnis. 

Doch ein dogmatisches Überbleibsel ist immer noch vor- 
handen, und worin dies besteht, zeigt uns das Kapitel über den 
Schematismus. 



^) Inaugural-Dissertation § 4. § IL vgl. B. 60. 



166 W. Ztehoeke, 

2. Kapitel. 
Kants Lehre vom Scbematismus. 

ErkeDutnis giebt allein der Verstand in seiner Vereinigang 
mit der Sinnlichkeit, ich mnss daher die Kategorie auf die Er- 
scheinungen Überhaupt anwenden. Aas dieser Anwendung ent- 
stehen die Grundsätze des reinen Verstandes. Aber kann ich 
denn ohne weiteres jene Subsumption ausführen? Es ist doch 
noch sehr die Frage, mit welchen Mitteln ich Sinnlichkeit und 
Verstand verbinde. Beide sind völlig getrennt von einander auf- 
gefunden worden und haben nichts gemeinsam. Der Verstand ist 
nicht anschaulich, die Anschauung nicht diskursiv. „Nun sind 
aber reine Verstandesbegriffe, in Vergleichung mit empirischen (ja 
Überhaupt sinnlichen) Anschauungen, ganz ungleichartig, und können 
niemals in irgend einer Anschauung angetroffen werden. Wie ist 
nun die Subsumption der letzteren unter die erste, mithin die 
Anwendung der Kategorie auf Erscheinungen möglich*" . . .7^) 
Hier steckt das Problem des Schemas. Kant löst es in folgender 
Weise: Bei jeder Subsumption zweier verschiedener Elemente muss 
sich ein drittes aufdecken lassen, welches dem ersten and zweiten 
gemeinsam ist, wie zum Beispiel die Begriffe eines Zirkels und 
Tellers in der Eigentümlichkeit der Rundung einen Vereinigungs- 
punkt darbieten. Also werden wir uns zwischen dem reinen Ve^ 
Standesbegriff und den Anschauungen überhaupt ebenfalls nach 
einem Dritten umsehen, welches mit einem jeden dieser beiden 
Antipoden in Verbindung stehe. Dies Tertium hat demnach fol- 
gende Merkmale aufzuweisen: 

1. Es muss rein sein, weU es ja nur darauf ankommt, die 
,, Sinnlichkeit überhaupt^ mit den Verstandesbegriffen zu ve^ 
einigen, um die Grundsätze der reinen Naturwissenschaft zu e^ 
halten, weshalb wir als das eine Extrem nur die reinen Formen 
der Anschauung erhalten, nicht aber sie mit ihrem empirischen 
Inhalt 

Zu dem MissverstAndnisse, dass anch der Inhalt in Betracht komme, 
konnte die eben angeführte Stelle führen, in der Kant hervorhebt, das 
empiriaeke Anschauungen ganz ungleichartig sind mit reinen Ventandes- 
begriffen. Aber dieses Problem, wie sich das empirisch Wirkliche, das heiaBt 
das Inhaltliche der Erfahrung, zu seiner apriorischen Form verhalte und 
mit ihr vereinbar sei, gehört auf keinen FaU in diesen Zusammenhang, 
welcher die Vereinigung der verschiedenen Methoden der Objektivität he- 

>> a 17^ 



über Kants Lehre vom Sehematimniia der reinen Vemnnft. 167 

Lcht; denn der Inhalt der Erkenntnis tritt in eine direkte Beziehung 
EU den Anscbanungsformen, wie er denn überhaupt durchgängig 
die „Sinnesdata^ bezeichnet wird. Und wie sollte er in der Kantischen 
losophie auch eine Stelle finden? Kant will nur aufzeigen, welche 
mung des sinnlich gegebenen Inhalte» objektiv sei; für ihn ist die 
^nständlichkeit ja keineswegs der inhaltliche Begriff eines Dinges, das 
Erkenntnis abzubilden hätte, sondern eine gültige Relation. Er will 
seiner formalen Philosophie nur zeigen, wodurch sich die wertvolle 
lation von Inhalten von der wertlosen Relation unterscheide, und die Me- 
de angeben, durch die teleologisch die Voraussetzungen der wertvollen 
lation erfüllt werden. 

Man könnte femer auf die Vermutung kommen, Kant habe folgen- 
mit dem Schema gemeint: Die Sinnesdata sind empirisch und anschau- 
I, die Verstandesbegriffe sind rein und diskursiv. Es gelte also, zwischen 
Ben beiden Extremen eine Vermittelung zu finden, und sie bestünde in 
Zeit. Denn die Zeit hat sowohl mit den Sinnesdata etwas gemein: 
Anschaulichkeit, als auch mit dem Verstände: die Reinheit, wodurch 
denn ausgezeichnet sei zu einem Bindeglied. Aber hiergegen sprechen 
^nde Erwägungen. Kant fordert selbst von seinem y^ritten**, dass es 
erseits intellektuell, andererseits sinnlich sei; die Zeit ist aber als reine 
Behauung niemals intellektuell. Und dann entsteht doch überhaupt die 
Ige, was an den Erscheinungen noch anschaulich ist, wenn man sie als 
sse Inhaltsdata, losgelöst von unserer apriorischen Anschauungsform, 
rächtet. Was ist denn die Anschaulichkeit der Erscheinungen anderes, 
das Eingefasstsein in unsere Anschauungsformen? Und wenn ich ihre 
nlichen ursprünglichen Qualitäten, die Röte und dergleichen als An- 
auung bezeichnen will, so ist mit diesem gleichen Terminus doch noch 
neswegs die Frage gelöst, wie sich das Zusanunen dieser empirischen 
Behauung mit der reinen Anschauungsform soll erklären lassen, falls 
fle Frage überhaupt einen Sinn und einen Wert hat. Nein, es geht auf 
Ben Fall, den Kantischen Satz : „Nun sind aber reine Verstandesbegriffe, 
Vergleichung mit empirischen (ja überhaupt sinnlichen) Anschauungen, 
iz ungleichartig ...,*' derart zu interpretieren, dass Kant das Gegen- 
zpaar in der Weise habe bestimmen wollen, dass auf die eine Seite 
n, Verstand, Begriff, auf die andere Seite empirisch, sinnlich. Anschau- 
^ zu setzen sei, wodurch ja freilich äusserst scharf das reine dem em- 
ischen, der Verstand der Sinnlichkeit, der Begriff der Anschauung op- 
liert würde; man könnte vielleicht zur Verteidigung dieses Standpunktes 
:h anführen, dass Kant in den nächstfolgenden Sätzen öfters anstatt 
Behauung den Terminus Erscheinung gebraucht; Erscheinung umfasst 
sr seiner eigentlichen Bedeutung nach immer den Inhalt mit, sodass 
hierin eine gewisse Bestätigung für das Element des empirischen, 
laltlichen zu finden wäre. Aber trotzdem ist diese Auffassung ganz 
baltbar, denn was soll wohl in einer Philosophie der objektiven Formen 
) Frage nach einer Subsumption des Inhaltes unter die Form? Und 
Uends, sollte es gar ein Tertium geben zwischen Form und Inhalt? 
rm und Inhalt stehen überhaupt gar nie in dem Verhältnis der Sub- 
npüon; sie sind Korrelate, welche sich gegenseitig fordern. Wohl aber 



168 W. Zsohooke, 

hat 66 einen guten Sinn zu frageui wie zwei verschiedene Formen in Zu- 
sammenhang gebracht werden können; und wenn man sagt, dass die Kate- 
gorien doch erst durch die Sinnlichkeit einen Inhalt bekommen, so ist 
jedenfalls das Eine ganz gewiss, dass s i e es den Anschauungsformen über- 
lassen müssen, sich mit ihrem Inhalt auseinanderzusetzen; selber aber be- 
deutet der Verstand nur eine Form, die in der Stufenfolge zur objektiven 
Gegenständlichkeit der Sinnlichkeitsform übergeordnet ist und zu dieser 
allein in Beziehung tritt. 

Wir dürfen also das „empirisch^ nicht als eins von den beiden 
Oegensatzgliedem auffassen, welche in dem dritten, dem Schema, zu ve^ 
einigen sind. Das Empirische ist in diesem Zusammenhange zwar wohl 
berechtigt, denn es drückt den Gedanken aus, dass unsere reinen Ver- 
standes- und Sinnlichkeitsformen nur in einer möglichen Erfahrung Sinn 
und Bedeutung erlangen, dass sie abgezogen davon nur als ^yHimgespinste^ 
aufzufassen sind.^) Aber wir müssen, um das eine fragliche Ende des 
Gegensatzes zu entdecken unsere Aufmerksamkeit auf die Klammer 
richten: „(ja überhaupt sinnlichen)*'; denn durch das „überhaupt'' wird ganz 
deutlich, dass damit nur die reinen Anschauungsformen gemeint sein 
können, da es ausser der empirischen „Sinnlichkeit ** nur noch die reine 
giebt, welche Raum und Zeit ausdrücken. 

Somit ist erwiesen, dass jenes fragliche Gegensatzpaar, zwischen 
welchem wir das „Tertium** finden möchten, einerseits in den reinen Ka- 
tegorien, andererseits den reinen Anschauungsformen besteht, und hieraus 
ergiebt sich ohne weiteres, dass das Tertium die Eigenschaft der Reinheit 
an sich tragen muss. 

2. Es muss das Tertium intellektaell sein, um mit dem 
verstaDdesmässigeD Faktor zu harmonieren. 

3. Es muss sinnlich sein, um in Berähnmg mit den 
Anschauungen zu treten. 

„Schema^ soll es genannt werden, und weil es ein notwen- 
diges Glied in der Kette reiner Erkenntnisbedingungen bildet, er- 
hält es den Vornamen „transscendentales" Schema.*) 

Die transscendentale Zeitbestimmung vereinigt in sich das 
Geforderte und ist daher geeignet, die Dienste des Schemas zu 
übernehmen. Unter ihr müssen wir uns eine Vereinigung von 
Eategorialem und Anschaulichem vorstellen. Die Kategorie soll 
die Einheit in ihr vermitteln, die Zeit aber ist uns als die, jede 
Anschauung umspannende, Form des inneren Sinnes bekannt. 

Nach Kants Einteilung der Erkenntnisvermögen ist das 
„Schema** der Einbildungskraft zuzuordnen. Es ist deshalb ihr 
Produkt, weil, wie das Schema die Mittelstellung zwischen Kate- 



1) B. 196, 706. 
«) B. 177. 



über Kants Lehre vom Schematismus der reinen Vernunft 169 

gorie und ÄDSchauung, die EiDbilduDgskraft die MittelstellaDg 
zwischen Verstand und Sinnlichkeit ausfällt. 

Nun hat Kant zwölf Kategorien; ihnen entsprechend sieht 
er sich genötigt, zwölf Scbemate aufzustellen, in denen er jede 
der verschiedenen Kategorien für sich eine andere Funktion der 
Einheit in der Zeitbestimmung ausführen lässt; und somit ergeben 
sich vier mal drei Schemate, die aber, bei der Verfehltheit der 
Kategorientafel, nicht einmal von Kant alle aufgezählt werden 
können. In der That, es ist ganz unmöglich, das auszuführen, 
was Kant unterliess, und wenn wir die einzelnen Schemate ge- 
nauer nachprüfen, die angegeben sind, so geraten wir in ein 
Nebelmeer von Unklarheiten hinein. 

Das Schema sollte nach Kant ein Drittes sein, zwischen 
Anschauung und Verstandesbegriff; und worin besteht es that- 
sächlich? Es ist nichts mehr und nichts weniger als die Ver- 
bindung von Anschauung und Begriff selber, die doch eben das 
Problem war: die Zeit ist die Anschauungsform, die Kategorie ist 
der Verstandesbegriff, das Schema ist eine Vereinigung beider, 
sonst nichts; anstatt eines Dritten, welches wir suchten, legt 
Kant Eins und Zwei kurzerhand zusammen. Das Problem wird 
dadurch höchst einfach gelöst, dass es ignoriert wird. So hete- 
rogen Anschauung und Begriffe sein mögen, wie Kant zunächst 
behauptete, im Schema verbindet er sie durch den Machtspruch: 
fügt euch zusammen. Das Dritte zur Anwendung wird Kant 
anter den Händen die Anwendung selber. 

Doch Kant ist nicht einmal in seiner Terminologie einheit- 
lich, wodurch denn allerdings der Begriff des Schemas zu einem 
unentwirrbaren Knäuel von Widersprüchen wird. So heisst es 
z. B.: „Wir wollen diese formale und reine Bedingung der Sinn- 
lichkeit, auf welche der Verstandesbegriff in seinem Gebrauch 
restringiert ist, das Schema dieses Verstandesbegriffes . . . nennen. ''^) 
Oder: 

„Die Verstandeshandlungen aber, ohne Schemate der Sinnlich- 
keit, sind unbestimmt.*^ Oder: 

„Man sieht nun aus allem diesem, dass das Schema einer Jeden 
Kategorie, als das der Grösse, die Erzeugung (Syuthesis) der Zeit 



1) B. 179. 
^ B. 698. 



l'?0 W. Zschockc, 

selbst, in der successiven ApprehensioD eines Gegenstandes . . . 
enthalte und vorstellig mache. "^) 

Aus diesen drei Stellen spricht deutlich, dass wir anter dem 
Schema ein sinnliches Element, also kein Zwischenglied, senden 
die eine Seite des Gegensatzes zu verstehen haben; und wenn 
dazu noch Kant sagt: 

„Es fällt aber doch auch in die Augen, dass, obgleich die Sch^ 
mate der Sinnlichkeit die Kategorien allererst realisieren, sie dodi 
selbige gleichwohl auch restringieren, d. i. auf Bedingungen ein- 
schränken, die ausser dem Verstände liegen (nämlich in der Sinn- 
Uchkeit)."«) 

„Also sind die Kategorien, ohne Schemate, nur Funktionen 
des Verstandes zu Begriffen, stellen aber keinen Gegenstand vor. 
Diese Bedeutung kommt ihnen von der Sinnlichkeit, die den Ver- 
stand realisiert, indem sie ihn zugleich restringiert.***) 

Wenn also Kant dieses sagt, so müssen wir doch wohl seinen 
Gedanken derart verstehen, dass er hier durch den Begriff des 
Schemas nur die Forderung ausgedrückt wissen wollte, die Kate- 
gorien nicht auf Dinge an sich anzuwenden, sondern allein aof 
Erscheinungen, wie er ausführt: 

„So sollten die Kategorien in ihrer reinen Bedeutung, ohne 
alle Bedingungen der Sinnlichkeit, von Dingen überhaupt gelten, 
wie sie sind, anstatt, dass ihre Schemate sie nur vorstellen, 
wie sie erscheinen, jene also eine von allen Schematen unab- 
hängige und viel weiter erstreckte Bedeutung haben."*) 

Aber hat nicht schon die ganze Deduktion uns vor Angen 
geführt, dass die reinen Verstandesbegriffe unabhängig von der 
Sinnlichkeit gar keine Gegenständlichkeit ergeben?^) Im Schema- 
tismus sollten wir erfahren, wie nun mit Hilfe der Sinnlichkeit 
der Gegenstand durch die Kategorien erzeugt wird, und gerade 
hierüber werden wir nicht aufgeklärt. Weshalb Kant gamicbt 
die Möglichkeit dazu besass, soll in dem zweiten Teile der Arbeit 
besprochen werden. Hier ist uns diese Vermutung nur dadurch 
wahrscheinlich gemacht, dass Kants Begriff des Schemas an 



i)B. 


184. 


•)B. 


186 f. 


•)B. 


187. 


*)B. 


186. 


») B. § ». 



über Kants Lehre vom SchematiBmiis der reinen Vernunft. 17 1 

keiner Stelle wirklich klar erkenneD lässt, dass es ein Tertiam 
zwischen Begaff und Anschauung sei. 

Wenn ich ausführte, dass unter dem Schema bald die frag- 
liche Vereinigung, bald die eine Seite des Gegensatzes, die Zeit, 
bald die blosse Forderung gemeint sei, die reinen Verstandes- 
begriffe nur auf die Sinnlichkeit anzuwenden, so ist es damit noch 
nicht genug. Die Schemate sollen die Bedingung enthalten zur 
Projizierung der Kategorien in die Erscheinungswelt überhaupt, 
d. h. die Bedingung für die Grundsätze des reinen Verstandes. 
Nun aber fliesst die Bedingung zum Grundsatze mit dem 
Grundsätze selbst zusammen. In dem Kapitel „von dem 
Orunde der Unterscheidung ..." wird behauptet:^) „Die Grund- 
sätze des reinen Verstandes . . . enthalten nichts als gleichsam nur 
das reine Schema zur möglichen Erfahrung. '^ Und sehen wir 
uns doch einmal die Schemate im einzelnen etwas näher an: 

„Das Schema der Substanz ist die Beharrlichkeit des 
Realen in der Zeit, d. i. die Vorstellung desselben, als eines Sub- 
strates der empirischen Zeitbestimmung überhaupt, welches also 
bleibt, indem alles andere wechselt. ***) 

Die erste Analogie lautet in der zweiten Auflage: 

„Grundsatz der Beharrlichkeit der Substanz**. 

„Bei allem Wechsel der Erscheinungen beharrt die Substanz, 
und das Quantum derselben wird in der Natur weder vermehrt 
noch vermindert."*) 

Femer : 

„Das Schema der Ursache und der Kausalität eines Dinges 
überhaupt ist das Reale, worauf, wenn es nach Belieben gesetzt 
wird, jederzeit etwas anderes folgt."*) 

Die zweite Analogie lautet in der ersten Auflage: 

„Alles, was geschieht (anhebt, zu sein), setzt etwas voraus, 
worauf es nach einer Regel folgt." ^) 

Es ist klar, die Schemate enthalten eine kurze Zusammen- 
fassung dessen, was die Grundsätze leisten, und sind in der Form 
80 wenig von ihnen verschieden, dass eben dieselben Wendungen 
in dem Schema und Grundsatze wiederkehren; und dabei ist wohl 



«)B. 


296 f. 


•)B. 


188. 


•)B. 


224. 


*)B. 


188. 


•) A.U». 



172 W. ZschockÄ, 

zu beachten, dass in dem Schema schon alles gesagt ist, und der 
Grundsatz lediglich wiederholt. 

Weshalb unterscheidet dann aber Kant noch überhaupt das 
Schema vom Grundsatz; was soll es heissen, dass Kant in der 
Einleitung zur Analytik der Grundsätze ausführt, das erste Haupt- 
stück handele von den sinnlichen Bedingungen, „anter welche 
reine Verstandesbegriffe allein gebraucht werden können, d. L von 
dem Schematismus; das zweite aber von den synthetischen ur- 
teilen, welche aus reinen Verstandesbegriffen unter diesen Be- 
dingungen apriori herfliessen ... d. i. von den Grundsätzen des 
reinen Verstandes."^) 

Doch es hat keinen Wert, dass wir uns noch länger bei 
diesen inneren Widersprüchen und Unklarheiten aufhalten, welche 
sämtlich daraus entspringen, dass jenes geforderte Tertium nicht 
als ein solches scharf charakterisiert ist; lohnend wird das A^ 
beiten mit Kants Unklarheiten erst dann, wenn man die Grunde 
aufzudecken vermag, weshalb Kant notwendig zu ihnen gedrängt 
wurde. Alsdann sind sie nur die Bestätigung dafür, dass irgend- 
wo an der Wurzel ein wunder Punkt liegen muss; und bat man 
ihn erst gefunden, so wird man in jedem Falle für die Arbeit der 
Besserung reichlich dadurch belohnt, dass man lernt, klarer in 
dem ewigen Bestand unter den Gedanken Kants zu sehen. 

Bevor ich mich jedoch zu dem positiven Teile meiner Be- 
sprechung wende, muss ich noch die frühere Behauptung be- 
weisen, dass sich in dem Schematismus ein dogmatisches Vomrtefl 
geltend macht, welches aus der Inaugural-Dissertation übernommen 
wurde. 

Der Schematismus beruht auf der Entgegensetzung von 
Sinnlichkeit und Verstand. Allerdings hält Kant die Meinung für 
gründlich überwunden, dass wir durch den Verstand die Dinge an 
sich, durch die Sinnlichkeit die Erscheinung erkennen könnten.') 
Aber wenn er es für zunächst ganz unerklärlich hält, wie man An- 
schauungen unter Begriffe subsumiert, liegt dem dann nicht doch 
noch ein Überrest von dem Standpunkt zu Grunde, demgemäss der Ve^ 
stand und die Sinnlichkeit, durch ihre Anwendung und Geltung in 
einander ausschliessenden Gebieten, selber zu gänzlich heterogenen 
Faktoren gestempelt werden? Weshalb sind sie denn heterogen? 

>) B. 175. 

^ Vgl. B. 178. „Nach dengenigen, was in der Deduktion der Kategorien 
gezeigt worden, wird hoffentlich niemand im Zweifel stehen u, s. w. . . ^ 



über Kants Lehre vom Schematismus der reinen Vernunft 1 f 3 

Kant meint, Niemand werde sagen, „die Kausalität, könne auch 
durch Sinne angeschaut werden und sei in der Erscheinung ent- 
halten.^^) Wo ist sie denn enthalten? Im reinen Verstände! 
Aber weshalb geht dieser nicht auf Erscheinungen? Doch offen- 
bar nur aus dem einzigen Grunde, weil eben die Sinnlichkeit allein 
das Prinzip der Erscheinungen ist, der Verstand, die Intelligenz, 
aber mit dem Intelligibeln ursprünglich zusammengehört. Hier 
also stehen wir wieder im engsten Zusammenhange mit der vor- 
kritischen Dogmatik. 

Die Kr. d. r. V. brauchte doch überhaupt von einem Dinge 
an sich garnichts zu wissen, wenn sie konsequent kritisch in 
allen ihren Teilen wäre! Dann aber geht es nicht mehr an, die 
Anschauungsformen als rezeptiv, die Verstandesformen als spontan 
zu betrachten. Dann fragt es sich nur, nachdem die Anschau- 
ungen des Raumes und der Zeit als apriorisch erwiesen worden 
sind, welcher notwendigen Ergänzung sie noch bedürfen, um das 
Ziel der Objektivität zu erreichen, welche Methoden das erkennende 
Bewusstsein ausserdem anzuwenden habe, um diejenigen Pro- 
bleme zu lösen, die ihm Raum und Zeit stellen, resp. übrig- 
lassen. Unter diesem Gesichtspunkte erscheinen dann Sinnlichkeit 
und Verstand nicht mehr als feindliche Antipoden, die zu ihrer 
transscendentalen Eheschliessung des schematischen Priesters be- 
dürfen, sondern im Gegenteile als ein sich ohne fremde Hülfe 
harmonisch zusammenschliessendes Paar von Methoden, deren jede 
den Teil ihrer gemeinsamen Arbeit übernimmt, welchen die andere 
nicht zu leisten vermag. So wird jenes geforderte Ineinander als 
ein teleologisches Ineiuanderarbeiten verstanden, bei welchem gar 
nicht erfordert, ja nicht einmal erwünscht ist, dass jeder Teil mit 
dem andern wesensgleich gemacht werde. Keineswegs aber soll 
das Zusammen als eine teilweise Übereinstimmung gedacht werden. 

Weshalb fragt denn auch Kant garnicht danach, wodurch die 
Beziehung von Raum und Zeit zu einander ermöglicht werde? 
Das „Neben*" und das „Nach* sind genau so urspiünglich ge- 
schieden, wie das „Nach** und die sogen. „Kategorie**. Und was 
bedeutet der Ausdruck der „Subsumption"* im Zusammenhange des 
Schematismus? Hier steckt noch ein dogmatischer Rest; aller- 
dings ganz anderer Herkunft. In der scholastischen Logik ist 
eine Vereinigung nur als Subsumption von Begriffen denkbar, und 



1) B. 177, 

X«i«tt«41to XU lg 



174 W. Zschocke, 

iü diesem Falle ist allerdings das Übereinstimmen in einem Merk- 
mal, wie bei Teller und Zirkel in dem der Rundung,^) notwendig, 
um die Sabsamption zu vollziehen. Aber will ich denn Anschan- 
ongsformen den Verstandesformen „subsumieren" ? Keineswegs! 
In dem teleologischen Zusammenhange der Erkenntnisvoraussetz- 
ungen ist von einer „Subsumption" der einen unter die andern 
keine Rede. Ergänzen sollen sie sich; die in dem einen Elrkennt- 
nisfaktor vermisste und unerfüllte (gleichsam dialektisch angelegte 
und geforderte) Bedingung soll der andere hinzufügen, sodass sich 
alle zu einem einheitlichen Systeme zusammenschliessen. 

Die Darstellung dieser Zusammenhänge bildet den Inhalt des 
folgenden Teiles. Während Kant Kategorien und Anschaunngs- 
formen aus Verstand und Sinnlichkeit getrennt ableitet und dami 
im Schematismus vereinigen möchte, will ich zu beweisen ver- 
suchen, dass schon in der Ableitung selbst die Vereinigung im 
Sinne der Ergänzung implicite enthalten sein müsste. Hierbei 
wird sich ergeben, dass die Darstellung, welche ich zu Anfang 
dieses Kapitels von dem Aufbau des Kantischen Systemes bis 
zum Schematismus gegeben habe, nur teilweise richtig ist; jedoch 
kam es an jener Stelle einzig darauf an, die Oedankenreihen 
herauszuheben, welche die Lehre von Schematismus tragen. 
Wenn ich jetzt abermals daran gehe, die Grundlagen der Ver- 
nunftkritik zu mustern, so werde ich nun gerade darauf mein 
Augenmerk richten, was den Schematismus überflüssig macht, and 
worin, wie ich glaube, der eigentliche Kern des Kantischen 
Denkens beschlossen liegt. Daraus resultiert meine Überzeugung, 
dass die hier vorgetragene Meinung im letzten Grunde mit Kants 
Gedanken in einer viel engeren Verwandtschaft steht, als die an- 
scheinend radikale Polemik gegen seinen Hauptbegriff, den der 
Kategorie, vermuten liesse. 

1) B. 176. 



t)her Kants Lehre vom Schematismus der reinen Vernunft. 175 



U. Teü. 

1. Kapitel. 

Der eine Stamm der meDschlicben Erkenntnis: 

die Sinnlichkeit. 

Was haben wir unter Anschauung zu verstehen? Diese 
Frage scheint zunächst leicht zu beantworten zu sein : Raum und 
Zeit als die rezeptiven Formen unserer apriorischen Sinnlichkeit.^) 
Des näheren führt Kant aus, dass wir es dann mit der Form 
der Anschauung zu thun haben, wenn die Anschauung nichts enthält 
„als blosse Verhältnisse". 2) Raum und Zeit sind also Anschauungs- 
verhäituisse oder, um es spezieller auszudrücken: Raum und Zeit 
enthalten das als mannigfaltig gegebene Material der Empfind- 
ungen, ■**) welche durch dieses Enthaltensein zueinander in Be- 
ziehung treten. 

Dadurch wird zweierlei mit Raum und Zeit in engere Ver- 
bindung gebracht: Einmal die Empfindungsinhalte und 
zweitens deren Form, die Mannigfaltigkeit. Wir wollen 
untersuchen, in welchem Verhältnis Raum und Zeit zu diesen 
beiden Faktoren stehen. 

Was zunächst ihr Verhältnis zu den Empfindungsinhalten 
angeht, so werden gerade in Bezug hierauf Raum und Zeit mit 
dem Prädikate der Rezeptivität ausgestattet.*) Und weil nun der 
Verstand nach Kant spontan gedacht wird, so entsteht eine ge- 
wisse Stufenfolge und Überordnung zwischen reiner Sinnlichkeit 
und reinem Verstände, entsprechend ihrer Stellung zu dem Em- 
pfindungsmateriale.^) Danach wird der Verstand das „obere" Er- 
kenntnisvermögen genannt,«) dementsprechend der Sinnlichkeit der 
Titel des „unteren" Erkenntnisvermögens zufällt. Denn diese 
rückt dem Empfindungsmateriale dadurch näher, dass in ihr allein 
uns Gegenstände gegeben werden, wohingegen der Verstand die- 
selben denkt; „weil die Bedingungen, worunter allein die Gegen- 



1) B. 48. 93. 
«) B. 67. 
») B. 34. 
*) B. 33. 61. 
*) B. 93. 
«) B. 169. 



12* 



176 W. Zschocke, 

stände der menschlichen Erkenntnis gegeben werden, denjenigen 
vorgehen, unter welchen selbige gedacht werden**.^) 

Dies ist im Wesentlichen derjenige Standpunkt, welchen 
Kant in der Ästhetik vertritt, auf dem er also Sinnlichkeit und 
Verstand auf das entschiedenste scheidet. Hier finden wir noch 
deutlich die Anklänge an den vorkantischen Rationalismus, in dem 
Leibniz die Materie als blosse Passivität, Gott als reine Aktion 
darstellt, wobei mit den unklaren und verworrenen Vorstellungen 
der Sinnlichkeit der Zustand des Leidens, mit den klaren und 
deutlichen Vorstellungen des Verstandes der Zustand der Spon- 
taneität verbunden ist. Obgleich nun Kant aufs energischste die 
Ansicht bekämpft, dass die Sinnlichkeit nur eine korrumpierte 
Vorstufe zum Verstände bedeute,') so ist es ihm doch noch nicht 
völlig gelungen, alle jene dogmatischen Vorurteile über Bord 2U 
werfen. Leibniz hatte nämlich durch den Verstand die inneren, 
metaphysischen Beziehungen der Dinge an sich erkennen wollen 
und die Erscheinungsweise in Raum und Zeit nur als ihre 
„äusseren^ Verhältnisse anerkannt. Kant lässt uns zwar über- 
haupt keine Dinge an sich mehr erkennen, aber anstatt nun dem 
Erkenntnisinhalte, den Empfindungen, die Gesamtheit der Erkennt- 
nismethoden einheitlich und gleichberechtigt gegenüber zu stellen, 
• lässt er hier noch eine ganz unberechtigte, derjenigen von Leibniz 
analoge, Stufenfolge bestehen, indem er Sinnlichkeit und Verstand 
als rezeptives und spontanes Vermögen von einander trennt. 

Wenn wir den Gegensatz von Rezeptivität und Spontaneität 
anbringen wollen, so dürfen wir ihn allein auf das Verhältnis von 
Erkenntnisinhalt und Erkenntnisform überhaupt anwenden, d. h. 
reine Sinnlichkeit und reiner Verstand sind in gleicher Weise als 
spontan zu erklären. Und was den Terminus der Rezeptivität 
angeht, so hat er allerdings in Kants System eine Berechtigung; 
dann aber kann er nur das bedeuten, was Kant sonst die mögliche 
Erfahrung nennt. In dieser Beziehung ist wiederum der ganze 
Komplex von Methoden zur Objectivität rezeptiv zu denken. Mit 
anderen Worten: Sobald wir die Erkenntnismethoden als a priori, 
vor aller Erfahrung gegeben ansehen, dürfen wir sie spontan 
nennen; sobald wir aber ausdrücklich wollen, dass sie sich stets 
auf eine empirische Gegebenheit beziehen, heissen sie rezeptiv. 



>) B. 30. 
^ B. 60|6t 



über Kant» Lehre vom Schematumus der reinen Vernunft. 177 

Doch wäre es überhaupt besser, diese Terminologie ganz aa6su- 
geben, da sie gar zu leicht irre führen kann. 

Jedenfalls ist das Verhältnis ; von Raum und Zeit zu den 
Empfindungsinhalten prinzipiell kein anderes als das der Erkennt- 
nisformen überhaupt zu den Inhalten; beide Methoden stehen als 
Formen dem Inhalte gleichwertig gegenüber. Denn beide sind 
nur in engsten Wechselbeziehungen zu einander aufzufassen. 

Wie steht es nun zweitens mit der Mannigfaltigkeitsform, 
welche mit Raum und Zeit im Zusammenhange auftritt? Sie ist 
fOr unsere Zwecke von ungleich erheblicherer Bedeutung. Bei 
ihrer Zergliederung sehen wir uns ebenfalls gezwungen, über die 
transscendentale Ästhetik hinauszugehen. Aber diesmal können 
wir uns auf Kant selbst berufen, da er in der transscendentalen 
Analytik die transscententale Ästhetik selber überwand. 

Wenn wir von dem gegebenen Inhalte absehen, so bleiben 
uns noch zwei Bestandteile für die reine Anschauung. Einmal 
der, den jenes nicht weiter definierbare „Nach" und „Neben** aus- 
drückt, und dann die Mannigfaltigkeitsform. In dem „Nach** und 
^ Neben** müssen wir offenbar dasjenige erblicken, was spezifisch 
,. anschaulich** ist; wir können es nicht weiter zurückführen, wir 
sind uns dessen unmittelbar bewusst und wissen keinen Orund 
anzugeben, warum gerade hierin allein das Empirische gegeben 
wird. Doch folgt etwa hieraus, dass dieses „Nach** und „Neben" 
auch ein gänzlich yoraussetzungsloses Bestehen für sich allein 
einschliesse? Ich meine, können wir die blosse Anschauung 
des Nach und Neben erfassen, d. h. bloss jene typische Direktion, 
welche in ihnen ausgedrückt ist, ohne dass diese Direktion ausser 
einem zugehörigen Inhalte für die Anwendung noch anderer 
Formen zur Voraussetzung bedürfe? Ist die Form des anschau- 
lichen „Nach*" und „Neben** eine selbständige und von anderen 
Formen unabhängige Form? Nein!^) Schon in dem Ausdrucke 
der „Direktion** ist die Bedingung angedeutet, welche die blosse 
Anschauung zur Voraussetzung hat. Eine Direktion ist nur denk- 
bar zwischen zwei Punkten, das heisst zwischen einer Mannig- 
faltigkeit! Wenn ich daher den Begriff des Neben und Nach zu 
Ende denke, stosse ich notwendigerweise auf den Begriff eines 
„Vielen** überhaupt. Nun setzt aber die Vielheit wiederum den 



^) Dagegen Kant, B. 128: „die Anschauung bedarf der Funktionen 
des Denkens auf keine 



178 W. Zschocke, 

Begriff der Einheit voraus; denn ohne die Zusammenfassang ist 
das Hinausgehen über das Eine zum Vielen unmöglich.^) Vielheit 
und Einheit sind Korrelate, ßie drücken ein Verhältnis aus, und 
zwar das einfachste Verhältnis unter allen möglichen, dasjenige, 
welches unumgängliche Voraussetzung aller anderen Verhältnisse 
ist. Dadurch ist dies Verhältnis auch Voraussetzung von Zeit 
und Raum, welche, wie wir vorher sahen, Kant als „Verhältnisse* 
bezeichnet. Es ergiebt sich, dass die Anschauungsformen ganz 
spezielle Verhältnisse ausdrücken, während in dem Begriffe der 
Mannigfaltigkeit das allgemeinste Verhältnis überhaupt ange- 
geben wird. 

Werfen wir jetzt noch einen kurzen Blick rückwärts auf 
jenes Prädikat der Rezeptivität, welches Kant der Sinnlichkeit 
beilegt. Wie ist es wohl zu denken, dass mit einer Verhältnis- 
vorstellung als solcher Passivität verbunden sei?! Wenn ich aus 
A in der Weise des Nach und Neben heraus- und hinübergehe zu 
B, ist dieses Verhalten mit dem Begriffe des Empfangens verein- 
bar? Im Gegenteil, es ist allein als eine Thätigkeit zu bezeichnen, 
sonst verlieren diese Worte jeden verständlichen Sinn! 

Ich gehe jetzt weiter: jene Mannigfaltigkeit in ihrem Be- 
zogensein auf Einheit nennt Kant Synthesis und im Gegensatze 
zu Affektionen der Sinnlichkeit Funktion des Verstandes.^) 

„Ich verstehe aber unter Funktion die Einheit der Hand- 
lung, verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinschaftlichen zn 
ordnen. "3) 

Demgemäss wäre die Maunigfaltigkeitsform eine Funktion zn 
nennen und als solche dem Verstände zuzurechnen. Nun setzen 
Raum und Zeit diese Form voraus; folgt nicht hiernach, dass die 
Anschauungsformen den Verstand zur Bedingung ihres Bestehens 
machen? Kant hat sich selber dies Problem gestellt. In § 26 
sagt er in einer Anmerkung:*) 

„Der Raum, als Gegenstand vorgestellt, (wie man es wirklich 
in der Geometrie bedarf), enthält mehr als blosse Form der An- 
schauung, nämlich Zusammenfassung des Mannigfaltigen, nach 
der Form der Sinnlichkeit gegebenen, in eine anschauliche Vor- 
stellung, sodass die Form der Anschauung bloss Mannigfaltiges, 






B. 


130. 


•) 


B. 


1021103. 


•) 


B. 


93. 


*) 


B. 


161. 



über Kants Lehre vom Schematianas der reinen Vernunft. 179 

die formale Anschauung aber Einheit der Vorstellung giebt. 
Diese Einheit hatte ich in der Ästhetik bloss zur Sinnlichkeit 
gezählt, um nur zu bemerken, dass sie vor allem Begriffe vorher- 
gehe, ob sie zwar eine Synthesis, die nicht den Sinnen 
angehört, durch welche aber alle Begriffe von Raum und Zeit 
zuerst möglich werden, voraussetzt. Denn da durch sie (indem der 
Verstand die Sinnlichkeit bestimmt [!]) der Raum oder die Zeit 
als Anschauungen zuerst gegeben werden, so gehört die Einheit 
dieser Anschauung a priori zum Raum und der Zeit, und nicht 
zum Begriffe des Verstandes.* 

Schon vorher^) führt Kant in Übereinstimmung mit der so- 
eben mitgeteilten Anmerkung aufs deutlichste aus, dass der Raum 
der Geometrie unter eine sjmthetische Einheit des Bewusstseins 
gebracht werden müsse. „Um aber irgend etwas im Räume zu 
erkennen, z. B. eine Linie, muss ich sie ziehen, und also eine be- 
stimmte Verbindung des gegebenen Mannigfaltigen synthetisch zu 
Stande bringen, so, dass die Einheit dieser Handlung zugleich die 
Einheit des Bewusstseins )im Begriffe einer Linie) ist, und da- 
durch allererst ein Objekt (ein bestimmter Raum) erkannt wird.**^ 

B. 162 heisst es: „Eben dieselbe synthetische Einheit aber, 
wenn ich von der Form des Raumes abstrahiere, hat im Verstände 
ihren Sitz.'' Hiemach also bedarf die Geometrie eines verstände»- 
massigen Elementes. 

Nun vergleiche man dies : „In der transscendentalen Ästhetik 
also werden wir zuerst die Sinnlichkeit isolieren, dadurch, dass 
wir alles absondern, was der Verstand durch seine Begriffe dabei 
denkt." 8) 

Und: „Zeit und Raum sind demnach zwei ICrkenntnisquellen, 
aus denen a priori verschiedene synthetische Erkenntnisse ge- 
scliöpft werden können, wie vornehmlich die reine Mathematik 
io Ansehung der Erkenntnis vom Räume und dessen VerhUtuissen 
ein glänzendes Beispiel giebt.^^) 

Ans diesen beiden Stellen ersehen wir, dass Kant in der 
Ästhetik ohne jegliche Verstandeselemente die Geometrie dedu- 

») B. 137|88. 

^ Vgl. Fortschritte (Dürrscbe Ausgabe) S. 102, wo Raum u. Zeit nur 
durch die tr. Binht. d. App. objektiv werden, ohne welche „wir gamichts 
von ihnen aussagen könnten.^ 

•) B. 36. 

*) B. 66. 



180 W. Zachocke, 

ziert, und wir haben hier somit die epochemachende Wandlmig 
verdeutlicht, welche Kant in der transscendentalen Analytik den 
Standpunkt der transscendentalen Ästhetik überwinden liess. 

Doch wenn sich sein Standpunkt änderte, weshalb änderte 
er nicht auch seine Terminologie? Weshalb passte er sie nicht 
seinen neuen Resultaten an? Nachdem einmal feststand, dass die 
Geometrie des zum „Gegenstand'' und zur „formalen Anschanung" 
gewordenen Raumes bedurfte, war es nicht mehr möglich, die 
Funktion der Syuthesis als blossen Verstandesfaktor aufzufassen, 
und sogar als dessen oberstes Charakteristikum hinzustellen,^) 
wenn anders der Standpunkt beibehalten werden sollte, dass die 
reine Sinnlichkeit zur Deduktion der Geometrie ausreiche. 

Eant suchte, um diesen Komplikationen zu entgehen, nach 
einem Auswege und fand ihn in dem Vermögen der Einbildungs- 
kraft, jenem schwer zu verstehenden Mitteldinge zwischen Sinn- 
lichkeit und Verstand, dem er nunmehr die Funktion der Synthe- 
sis zuweist. Im Grunde genommen verschleiert sie nur den 
Bruch, der zwischen Analytik und Ästhetik klafft; denn während 
ich hier zu zeigen versuchte, dass in der inneren Struktur von 
Raum und Zeit schon der Begriff der Syuthesis angelegt ist, hat 
Eant, wie schon bemerkt, einen anderen Weg eingeschlagen, um 
den Begriff der Syuthesis aufzudecken. Er fand ihn in einem 
von der Sinnlichkeit schroff geschiedenen zweiten Grund „vermögen" 
unserer Erkenntniskräfte, in einem ganz anderen Zusammenhange. 
Nun wird ihm im Fortgange seiner Untersuchung bewusst, dass 
der Raum, wenn man mit diesem Begriffe die Vorstellung einer 
„unendlichen gegebenen Grösse** 2) verbinden soll, schon die Syuthesis 
und Einheit der Apperzeption erfordert. Und da diese erforder- 
liche Verbindung von rezeptiven Anschauungsformen und der 
spontanen ürfunktion des Verstandes^) rätselhaft bleibt, so muss 
die „Einbildungskraft" zur Hülfe gerufen werden als ein drittes 
Vermögen der Vermittlung. An einer Stelle*) heisst es: „Diese 
Syuthesis des Mannigfaltigen der sinnlichen Anschauung, die apriori 
möglich und notwendig ist, kann figürlich (syuthesis speciosa) genannt 
werden . . . Allein die figürliche Syuthesis, wenn sie bloss anf 
die ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption, d. i. diese 



•)B. 


187. 


•)B. 


89. 


OB. 


161. 


•)B. 


161. 



über Kantfi Lehre vom Schematismas der reinen Vernunft. iBl 

transscendeDtale Einheit geht, welche in den Kategorien gedacht 
wird, mnss, znm Unterschiede von der bloss intellektuellen Ver- 
bindung, die transscendentale Synthesis der Einbildungskraft 
heissen" . . . 

Diese Stelle ist nur so zu verstehen, dass die Einbildungskraft 
von der Verstandesverbindung (synthesis intellectualis) zur Anschau- 
ung herüberleitet: Kant spricht von der „transscendentalen Synthesis 
der Einbildungskraft*", „welches eine Wirkung des Verstandes auf 
die Sinnlichkeit^ ist. ^ Hier steckt schön in nuce das ganze Pro- 
blem, das der Schematismus später aufwirft; jedoch dies kann ich 
erst dann des näheren erläutern, wenn ich das Verhältnis der Kate- 
f^orien zur transscendentalen Einheit der Apperzeption besprochen 
habe, da ja der Schematismus von einer Subsumption der An- 
schauungen unter reine Verstandesbegriffe redet, und hier nur die 
Einheit der Apperzeption mit den Anschauungen durch das tertium 
der synthesis speziosa verbunden wird. Soviel aber ist sicher, 
dass, wenn meine Behauptung richtig ist, es sei hier schon der 
Schematismus zu fixieren,*) Kant das in ihm enthaltene Problem 
auf jeden Fall schon in der Deduktion zu lösen hatte, nicht aber 
erst in dem zweiten Buche der Analytik, das von den Grundsätzen 
handelt. 

Jetzt möchte ich noch hervorheben, dass der Begriff der 
Einbildungskraft genau jene schwankende Bedeutung aufweist, 
welche ich oben für die Bedeutung des Schemas hervorhob. Zu 
diesem Behufe stelle ich fünf Stellen nebeneinander, welche in 
kurzem Abstände in der Analytik zu finden sind: 

„Die Synthesis überhaupt ist . . . die blosse Wirkung der 
Einbildungskraft.**«) 

„Das erste reine Verstandeserkenntnis also ... ist nun der 
Grundsatz der ursprünglichen synthetischen Einheit der Apper- 
zeption.***) 

„Verbindung ... ist allein eine Verrichtung des Verstandes.**^) 



^) B. 162. 

*) Eb stimmt hiermit übrigens auch Kants Anweisung B. 181 überein, 
wo er das Schema „Ein transscendentales Produkt der Einbildungskraft** 
nennt. 

*) B. 108. 

^ B. 187. 

^ B. 1841185. 



182 W. Zschocke, 

„Da nun alle unsere Anschauung sinnlich ist, so gehört die 
Einbildungskraft . . . zur Sinnlichkeit."^) 

„So ist die Einbildungskraft ... ein Vermögen, die Sinnlichkeit 
apriori zu bestimmen ... die transscendentale Synthesis der 
Einbildungskraft . . ., welches eine Wirkung des Verstandes auf die 
Sinnlichkeit" ist.^) 

Sonach vereinigt die Einbildungskraft sowohl Verstand als 
Sinnlichkeit unter sich, bald wird sie dem einen Erkenntnisfaktor, 
bald dem anderen zugezählt, und schliesslich wird sie als eine 
Wirkung des einen auf den anderen charakterisiert, woraus erhellt, 
dass in ihr nichts weiter als der Gedanke zum Ausdruck kommt, 
es solle der Verstand mit der Sinnlichkeit in Beziehung gesetzt 
werden. 3) Wie diese Beziehung zu denken sei, darüber finden wir 
in jenem Vermögen keinen sicheren Aufschluss. 

Jedenfalls aber hat Kant in der Einbildungskraft einen Be- 
griff gefunden, welcher es ihm ermöglicht, die Resultate und die 
Terminologie der transscendentalen Ästhetik beizubehalten, ohne 
mit den Ausführungen der transscendentalen Analjrtik in offen- 
kundige, unvereinbare Widersprüche zu geraten. Denn wenn man 
ihm vorhalten würde, dass doch schon Raum und Zeit ein Ver- 
standeselement erforderlich machen, sofern man deren Begriffe zu 
Ende denkt, hätte Kant die Entgegnung in Bereitschaft, dass es 
eben jene sinnliche Einbildungskraft ist, welche die Sjmthesis für 
Raum und Zeit liefere. 

Doch ich will diese Terminologie Kants nicht gebrauchen, 
da sie nur zu geeignet ist, Probleme zu verschleiern. Vielmehr 
fasse ich das Resultat der bisherigen Untersuchung folgender- 
massen zusammen. 

1. Die transscendentale Ästhetik kann für sich allein nicht 
bestehen bleiben, bedarf vielmehr einer Vervollständigung und 
Umgestaltung durch die transscendentale Logik.*) 

Die Frage: Was haben wir unter reinen Anschauungen zu 
verstehen, darf nicht mehr im Sinne der transscendentalen Ästhe- 
thik beantwortet werden: Raum und Zeit sind gleich den rezep- 
tiven Formen unserer apriorischen Sinnlichkeit. 



1) B. 161. 
«) B. 162. 
3; A. 124. 
*) cf Riehl, Kritizismus I, 386 und 866. 



über Kants Lehre vom SchematismiM der reinen Vernunft. 183 

Sondern, sofern Raum und Zeit die Mathematik begründen, 
sind sie keineswegs blosse Anschauungen; sie enthalten vielmehr 
notwendig ein verstandesmässiges Element: die Synthesis und die 
transscendentale Feinheit der Apperzeption. 

„Dass sie" (nämlich die transscendentale Einheit der Apper- 
zeption) „diesen Namen verdiene, erhellet schon daraus: dass selbst 
die reineste objektive Einheit, nämlich die der Begriffe apriori 
(Raum und Zeit), nur durch Beziehung der Anschauungen auf sie 
möglich sind.^) 

II. Ferner sind Raum und Zeit nicht als rezeptiv zu ver- 
stehen, sondern eben wegen ihrer Beziehung zur Verstandesfunk- 
tion der Synthesis sind sie ebenso spontan wie diese. 

III. Dasjenige, was im eigentlichen Sinne des Wortes reine 
Anschauung ist, d. h. was in Raum und Zeit ausschliesslich „an- 
geschaut" wird, ist allein die „Direktion** des „Nach" und 
„Neben". 

Wohlverstanden! Nicht etwa das Nach-Einander! Das 
„Einander" erfordert schon die Hülfe der Synthesis; das Eine 
nnd das Andere ist nicht zu denken ohne die Beziehung beider 
vermittelst eines Dritten. 

IV. Die Synthesis des Mannigfaltigen überhaupt, die in dem 
„Einander" ausgedrückt wird, ist die Grundlage jedes Verhält- 
nisses.*) Demgegenüber bedeutet die Direktion des „Nach" und 
„Neben" eine Spezialisierung der Synthese, ein ganz bestimmtes 
Verhältnis. Dieses letztere bitte ich wohl zu beachten, da es uns 
bald von Erheblichkeit werden wird. 

Der Einfachheit halber und in Übereinstimmung mit Kants 
Formulierung in der ersten Anmerkung zu § 26 nenne ich den 
ganzen Komplex von Erkenntnismethoden, welche die reine Mathe- 
matik erstehen lassen, die formale Anschauung, d. h. also 
das Zusammen von 1. Form der Anschauung, d. i. des „Neben" 
und „Nach" mit 2. der Synthesis oder der Funktion der Beziehung 
einer Mannigfaltigkeit auf die transscendentale Einheit der Apper- 
zeption. 



*) A. 107. Dies in dimeiitralem Gegensatz zu der Stelle: B. 123: 
„Denn die Anschauung bedarf der Funktionen des Denkens auf keine 
Weise." 

•) Vgl. W. Windelband, Vom System der Kategorien (Philosophische 
Abhandlungen. Chr. Sigwart zum 70. Geburtstage gewidmet. Tübingen, 
1900. 8. 43 if.) 



184 W. Zschockc, 

Soweit es für unsere Zwecke benötigt wird, ist somit der 
£ine Stamm ^) der menschlichen Erkenntnis besprochen, die Sinn- 
lichkeit als Vermögen der Anschauungen. Es bleibt noch der 
andere zu erledigen, der Verstand oder das Vermögen der Be- 
griffe. 



2. Kapitel 

Der andere Stamm der menschlichen Erkenntnis: 

Der Verstand. 

Was haben wir unter den reinen Verstandesbegriffen, unter 
den Kategorien, zu verstehen? 

Um diese Frage zu beantworten, wollen wir uns vergegeD- 
wärtigen, woher Kant sie bekommt, und dann, welche Aufgabe 
sie zu lösen haben. 

Wie findet Kant seine Kategorien? Neben der Sinnlichkeit 
steht der Verstand, das Vermögen der Begriffe. „Von diesen Be- 
griffen kann nun der Verstand keinen andern Oebrauch machen, 
als dass er dadurch urteilt."*) 

Das Urteil ist dementsprechend das Problem, um welches 
sich die ganze transscendentale Analytik gruppiert.^ Eis gilt also, 
genau festzustellen, was ein Urteil ist. 

Nun hat aber Kant zwei verschiedene Theorien über das 
Wesen des Urteils, woraus die ausserordentliche Schwierigkeit ffir 
das Verständnis der Kategorien und deren mangelhafte Eonstrak- 
tion resultiert. 

Kants erste Urteilstheorie. 

Um die eine von diesen Urteilstheorien, welche meiner Über- 
zeugung nach dauern wird, zu verstehen, soll uns zunächst eine 
Gegenüberstellung von UrteU und Anschauung behülflich sein. 

Die Einleitung zur transscendentalen Dialektik giebt uns den 
Kernpunkt, auf den es ankommt. Nach ihr treten Wahrheit und 
Irrtum niemals in einer Anschauung auf.^) Die Vorstellung der 
Sinne ist rein subjektiv, und da sie folglich keinen Anspruch aof 
Geltung erhebt, so kann sie nicht vor dem Richterstuhle der 



») 


B. 


29. 


*) 


B. 


98. 


') 


B. 


94. 


*) 


B. 


360 f. 



über Kants Lehre vom Schematismus der reinen Vernunft. 185 

Wahrheit verurteilt werden. Erst indem ich urteile, setze ich 
eine Beziehung zur Norm, erst das Urteil trägt die Vorstellungen 
aus dem Bereich der Subjektivität in dasjenige der Objektivität 
hinüber; meine Vorstellungen habe ich, meine Urteile behaupte 
ich; was ich habe, kann man nur versuchen, mir zu entreissen; 
erst und allein, was ich behaupte, kann man versuchen, mir zu 
widerlegen. Kant führt diesen Gedanken näher aus:>) Eine Vor- 
stellungsbeziehung trägt nur dann die Dignität eines Urteiles an 
sich, wenn sie unter der „objektiven Einheit der Apperzeption*' 
steht: „Dadurch allein wird aus diesem Verhältnisse ein Urteil, 
d. i. ein Verhältnis, das objektiv gültig ist"') . . . Und „darauf zielt 
das Verhältniswörtchen „ist^ in denselben, um die objektive Einheit 
gegebener Vorstellungen von der subjektiven zu unterscheiden.**^ 
Das Beispiel, welches Kant giebt, ist zwar nicht in jeder Be- 
ziehung unangreifbar, aber was er meint, wird dadurch deutlich, 
and ich führe es deshalb an, weil es zugleich ein Kuriosum zur 
Widerlegung seiner eigenen Urteilstafel enthält, das genau den 
wunden Punkt trifft, an welchem die ganze Urteils- und Katego- 
rienlehre krankt: „Nach den letzteren [gemeint sind die Gesetze 
der subjektiven Assoziation in der blossen Wahrnehmung] würde 
ich nur sagen können: wenn ich einen Körper trage, so fühle 
ich einen Druck der Schwere; aber nicht: er, der Körper, ist 
schwer."*) — In dem ersten „Satze" (wie ich ihn im Unter- 
schiede zum Urteile nennen will) meint Kant, wird nichts Objek- 
tives gesagt; und weshalb? Bloss weil ich die Behauptung hypo- 
thetisch auf mich selber eingeschränkt habe. Nun kann ich aber 
erwidern: dieses Ich, von welchem hier die Rede ist, repräsentiert 
ein Stück der empirischen Wirklichkeit. Es ist keinenfalls das 
logische Subjekt, welches in dem ganz unpersönlichen „ich denke" 
alle meine Vorstellung „muss begleiten können''.^) Folglich wird 
in dem vorliegenden hypothetischen Satze ein Verhältnis behauptet, 
zwischen einem Druckgefühl und dem einen Körper tragenden 
Ich. Man kann ohne weiteres den Sinn dieses hypothetischen 
Satzes so umformen, dass aus ihm ein Urteil entsteht, in dem auch 
jenes Verhältniswörtchen „ist" auftritt, das auf objektive Einheit 



»)§ 


19. 


«)B. 


U1|14S. 


»)B. 


148. 


«)B. 


14S. 


»)B. 


181. 



186 W. Zschocke. 

zielt: „Das Tragen eines Körpers ist bei mir begleitet durch m 
Gefühl der Schwere.** 

Dies ist aber zweifellos nicht derjenige Sinn des Satzes, den 
Kant meinte; dieser Sinn entspricht ja völlig allen Anforderungen, 
die er an ein „Urteil** stellt; und aus dem hypothetischen Satze 
wäre ein Urteil geworden. Kant wollte etwas anderes ausdrücken: 
Die Vorstellungsbeziehung zwischen dem Druck der Schwere und 
dem Tragen eines Körpers sollte nicht objektiviert werden, sie 
sollte in dem Bewusstsein eines Individuums lediglich da sein. 
Aber ist dies überhaupt möglich, wenn ich die Vorstellnogs- 
beziehung in die Form eines Satzes kleide? Genügt hierzu schon 
die Einschränkung durch die Form der Hypothese? Nein, denn 
jeglicher Satz, welcher Art er auch sei, wird dadurch, dass ich 
ihn aufstelle, bejaht oder verneint, damit aber in Beziehung zur 
Objektivität und Gegenständlichkeit gebracht. Denn wie durch die 
neuere Logik (Sigwart, Brentano, Lotze, Bergmann, Windelband, 
Kickert) bewiesen ist, hat die Qualität des Urteiles jedenfalls nnr 
insofern zwei Seiten: die Bejahung und die Verneinung, als das 
hypothetische Urteil nicht ein drittes gleichberechtigtes Glied 
neben jenen beiden ist, sondern sich bei näherer Analyse jederzeit 
als eine positive Aussage über eine Vorstellungsbeziehung erweist 
Ausserdem aber hat die Klasse der Qualität noch insofern eine 
ganz besondere Stellung, als in ihr dasjenige zum Ausdruck ge- 
langt, was den typischen Unterschied zwischen subjektivem und 
objektivem überhaupt ausmacht. Die Subjektivität nämlich hegt 
allein in der Sphäre des Vorstellens; die Beziehung zur Objektivi- 
tät tritt sofort auf, sobald die Vorstellungen in ein Urteil gefasst 
werden, mag in diesem Urteile inhaltlich auch immer eine hypo- 
thetische Einschränkung enthalten sein. Hier handelt es sich 
keineswegs um den Unterschied der Wahrheit und Falschheit, in 
inhaltlicher Beziehung; es kommt nicht darauf an, ob das Gefühl 
der Schwere thatsächlich auftritt oder nicht, sondern es interessiert 
uns nur die Frage, wann das theoretische Verhalten keinen An- 
spruch auf Objektivität erhebt, und wann im Gegenteile es sich 
darum bewirbt. Das erstere ist lediglich dann der Fall, wenn 
ein blosses Vorstellen oder Beziehen von Vorstellungen aufeinander 
vorliegt. 

In der Frage ist insofern schon eine gewisse Stellungnahme 
zur Objektivität angebahnt, als in ihr das Verlangen ausgesprochen 
wird, diese Stellungnahme auszuführen. Und das Urteil, d. b. 



über Kants Lehre vom Schematismus der reinen Vernunft. 187 

jeder Satz, welcher eine Bejahung oder Verneinung enthält, be- 
zieht das rein vorstellungsmässige Gebilde auf den Wert, welcher 
die Schranken der Subjektivität überwindet; denn im Bejahen 
drücke ich aus, dass der Vorstellungsinhalt Gültigkeit i;ind Not- 
wendigkeit habe, in der Verneinung verwerfe ich sie. 

Kants inhaltliche Einschränkung auf das individuelle Subjekt 
ist als solche ohne Belang, wofern dieser Satz als ein gültiger 
ausgesprochen werden soll. Denn das individuelle Subjekt ist 
selber ein Stück des empirischen Seins, eine Objektivität. Also 
fällt das logische Subjekt in diesem Falle ein Urteil über ein 
Stück der empirischen Wirklichkeit, welches prinzipiell vor allen 
andern keine Sonderstellung einnimmt. Eine Restriktion im In- 
halte des Urteils hilft uns noch garnichts, um die Subjektivität 
gegen die Objektivität abzugrenzen; wir müssen vielmehr formal 
aus der Urteilsform herauskommen. Dies geschieht dadurch, dass 
wir überhaupt nicht urteilen, und nur dadurch. Bewusstseins- 
inhalte und deren Verknüpfungen sind allein subjektiv; nie aber 
Urteile, und mögen sie sich noch so sehr inhaltlich auf eine indi- 
viduelle Thatsache einschränken. Als Urteile setzen sie immer 
die Bejahung oder Verneinung des Wertvollen oder Wertwidrigen 
voraus; auch das Thatsachenurteil ist seinem logischen Sinne nach 
vom Werte abhängig; und so ist das Urteilen nur in einem Wert- 
zosammenhange möglich, dadurch aber immer auf Objektivität be- 
zogen; und Objektivität ist ein Wertbegriff J) 

Kant konnte also auf die reine Assoziation in der bloss 
subjektiven Wahrnehmung solange nicht unbedingt koirekt exem- 
plifizieren, als er sie in einem bejahten Satze formulierte. Nichts- 
destoweniger wird jedermann verstehen, was Kant meinte, nämlich 
die blosse Assoziation in der Wahrnehmung vom Tragen de^ 
Körpers und dem Gefühl . der Schwere, im Gegensatze zu der 
Behauptung, dass Schwere und Körper im Objekte verbunden seien. 

Der Gegensatz also von subjektiv und objektiv fällt zu- 
sammen mit dem Gegensatze von Vorstellungssynthese und Be- 
jahung dieser Synthese. Wie ginge auch Kant sonst über Hume 
hinaus! Die Geltung der einzelnen assoziativen Vorstellungsver- 
knüpfungen hatte Hume zum Problem gemacht und durch eine 
Betrachtung in der Sphäre des Seins zu erledigen gesucht. Kant 
sah ein, dass das Sein von dem Gelten abhängt, dass erst im Urteile 

*) \^l Biokert, GegensUnd der firkenntnii, 2. Aufl., 190*, S. 105, lao. 



188 W. Zschocke, 

ein Verhältnis ausgedrückt wird, welches objektiv „grültig** ist, dass 
im Vorstellen allein nie Objektivität auftreten kann. Die blossen 
Vorstellungsverhältnisse haben noch gamichts mit Objektivität 
zu thun. Erkenntnistheoretisch ist „objektiv" von „gültig** ab- 
hängig. Kant also hebt hier, streng beim Wort genommen, die 
Sphäre des Geltens über die Sphäre des Seins hinaus, giebt ihr 
die logische Priorität; d. h. er behandelt die Frage nach der 
Geltung der assoziativen Vorstellungsbeziehungen als ein Wert- 
problem. Hume sah nicht ein, dass zwischen Urteilen und Asso- 
zieren ein prinzipieller Unterschied bestünde, Kant war der erste, 
welcher ihn kritisch zu verwerten verstand. 

Kants zweite Urteilstheorie. 

Aber Kant hat diesen Unterschied leider nicht immer mit 
voller Schärfe gemacht: Urteilen und Assozieren gehen gar zn 
oft in einander über; denn Assoziation im weitesten Sinne ist 
Synthese, und die Funktion der Synthesis ist die Grundlage des 
Verstandes. Demgemäss definiert Kant anderwärts ^) das Urteil 
erheblich anders als wir eben gesehen haben : „Alle Urteile sind dem- 
nach Funktionen der Einheit unter unseren Vorstellungen." In dem 
ersten Zusammenhange hatte Kant unter „Urteil** nur dasjenige Ver- 
hältnis von Vorstellungen verstanden wissen wollen, welches zur ob- 
jektiven Einheit der Apperzeption gebracht wird; keineswegs die 
blosse Einheit unter unseren Vorstellungen. Nun könnte man 
vielleicht diese letztere Bestimmung nur als eine vorläufige an- 
sehen, weil sie in dem Leitfaden der Entdeckung aller reinen 
Verstandesbegriffe aufgestellt wird, während die andere, strengere 
Anforderung an das Wesen des Urteils erst später, im Zusammen- 
hange der Deduktion«) auftritt. Aber diese Überlegung ist nicht 
von entscheidender Wichtigkeit; denn wir haben unser Interesse 
darauf zu richten, wo Kant seine Kategorien hernimmt; und dazu 
soll der Leitfaden der Entdeckung, nicht aber die transscenden- 
tale Deduktion die Mittel geben. Aufgefunden werden bei Kaut 
die Kategorien an der Hand der Einheitsfunktion zwischen unseren 
Vorstellungen, nicht aber in derjenigen Handlung des Verstandes, 
welche die Vorstellungssynthesen zur Objektivität bringt; oder, 
um es modern auszudrücken: im Anschlüsse an die rein „theore- 



1) B. 94. 



i)her Kant« Lehre vom Sohematismus der reinen Vernunft. 189 

tischen'', d. h. vorstellangsmässigen Bestandteile des Urteiles, 
nicht im AnscUass an das „praktische*' Moment der Bejahung. 
Und da die theoretischen Elemente genau ebenso in der Frage auf- 
treten wie in der Bejahung oder Verneinung, so wäre es prinzipiell 
gleichgültig gewesen, ob Kant seine Kategorien mit Hülfe einer Tafel 
der Fragen errichtet hätte oder mit einer Tafel der Urteile. Ferner 
ist es gänzlich ohne Belang, ob die Kantische Urteilstafel aus ob- 
jektiv gültigen oder ungültigen Urteilen besteht; soviel ist jeden- 
falls sicher: da einmal Kant in seiner Uiteilstafel allein auf die 
rein theoretische Synthese sein Augenmerk richtete, so können die 
ihr entsprechenden Kategorien auch nur die rein theoretischen 
Beziehungsarten zum Ausdruck bringen, ohne auf die Objektivität 
der Beziehungen den mindesten Einfluss auszuüben. Dies letztere 
könnte nur dann der Fall sein, wenn in der Kategorie das trans- 
scendental-philosophische Korrelat zu dem praktischen Elemente 
des Urteils enthalten wäre, dessen logischer Ort in der Bejahung 
liegt. Bei Kant kann die Kategorien tafel wohl alle die verschie- 
denen Formen aufzeigen, in denen die objektive Natur gedacht 
wird; nicht aber kann die Kategorie auch das mitenthalten, was 
jene Gedanken, jene Urteile zur Basis einer objektiv notwen- 
digen Natur macht, was sie über die subjektive Zufälligkeit 
erhebt. 

Aber geben denn überhaupt erst die Urteilssynthesen die 
gewünschten Formen der Verknüpfung? Wie, wenn wir des Ur- 
teils hierzu garnicht benötigen? Wir hatten doch in dem ersten 
Kapitel dieses Teiles gesehen, dass schon Raum und Zeit zur 
Begründung ihrer Gegenständlichkeit eine Funktion der Synthesis 
bedürfen, die der Einbildungskraft zugeschrieben wurde, jenem 
etwas unbestimmten „Vermögen'', von dem wir nicht recht wnssten, 
ob es zum Verstand oder zur Sinnlichkeit gehöre. Ich will ver- 
suchen, zu zeigen, dass wir die Urteile garnicht brauchen, um 
„die Funktionen der Einheit unter unseren Vorstellungen" zu 
entdecken, dass vielmehr hierzu die beiden Formen unserer aprio- 
rischen Ansbhauungen mit Einschluss der Voraussetzungen, welche 
ich als logisch gefordert darzustellen, mich bemüht habe, völlig 
genügen. Es käme also darauf an, festzustellen, ob in den „for- 
malen Anschauungen" schon alles gegeben ist, was die Urteils- 
synthesen erst aufdecken sollen. 

Um diesen Beweis zu führen, muss ich einen Umweg über die 
tirondsätze des reinen Verstandes machen. Sie enthalten die 

KADtttadl*n XII. \Q 



190 W. i^schocke, 

Grandurteile der mathematischen Naturwissenschaft, d. i. die An- 
wendung der apriorischen Formen des Verstandes auf die Gesamt- 
heit der empirischen Erscheinungswelt überhaupt. In ihnen ist 
das Ziel alles dessen erreicht, was sich Kant in der Ästhetik and 
Analytik erarbeiten wollte. Falls es nun gelingen sollte, fest- 
zustellen, dass diese Sätze auch dann formulierbar bleiben, wenn 
wir auf die Hülfe der Verstandessynthesen in dem Vorstellungs- 
komplexe der Urteüe verzichten, uns also lediglich auf die 
Synthesen der formalen Anschauung stützen, so wäre doch offen- 
bar die Verstandessynthese überflüssig, und alles überflüssige ist 
falsch, wenn es Anspruch auf selbständige Geltung erhebt. 

Bei diesem Geschäfte kommt uns die Beachtung einer In- 
konsequenz bei Eant sehr zu statten; denn streng genommen 
müssten wir von allen zwölf Grundsätzen den besprochenen Nach- 
weis führen. Doch obschon er ohne Schwierigkeiten zu erbringen 
ist, giebt es einen kürzeren und bequemeren Weg, den wir ein- 
schlagen wollen. Eant sagt^): „Die Funktionen des Verstandes 
können also insgesamt gefunden werden, wenn man die Funk- 
tionen der Einheit in den Urteilen vollständig darstellen kann.'' 
Aber handelt er auch nach diesem Programme? Eeineswegs! 
Weder Quantität noch Qualität, noch gar die Modalität eines 
ürteiles haben das geringste mit der Funktion der Einheit unter 
den Vorstellungen zu schaffen. Diese wird allein durch die Eo- 
pula hergestellt; an sie knüpft die Elasse der Relation an, in 
deren Namen schon der Hinweis ausgedrückt liegt, dass nur sie 
in Frage kommt. Infolgedessen brauche ich nur diese eine Elasse 
zum Gegenstand meiner Untersuchung zu machen; und da die 
Grundsätze über dem gleichen Schema wie die vier mal drei 
Eategorien aufgebaut sind, so darf ich mich auf die Analogien 
der Erfahrung beschränken.^ 

Die Grundsätze enthalten die Anwendung der Eategorien 
auf die empirische Erscheinungswelt überhaupt; in ihnen sollen 
sich die Verstandesformen in die Gesamtheit der inhaltlich erfüllten 
Erfahrung projizieren. Eategorien und Grundsätze unterscheiden 
sich darin, dass die Eategorien leere Formen des Verstandes sind, 



1) B. 94. 

3) Der Verfasser woUte hier noch begründen, warum er die Kate- 
gorie der Wechselwirkung zu besprechen, gleichfalls für unnötig hielt. 

Anm. des Herausgebers. 



t'ber Kants Lehre vom Schematismus der reinen Veniunft. 191 

die Grundsätze aber die kategorialen Bdgriffe in Urteile nmbilden, 

welche den Inhalt der Erfahrung mitumspannen. 

Die erste Analogie lautet nun folgendermassen : 
„Grundsatz der Beharrlichkeit der Substanz. Bei allem 

Wechsel der Erscheinungen beharrt die Substanz, und das Quantum 

derselben wird in der Natur weder vermehrt noch vermindert.**^) 

Wie wird das jetzt bewiesen? Wir sollten annehmen, dass der 
Beweis nach folgendem Schema aufgebaut sein müsste: 

1. Die Kategorie der Substanz drückt eine verstandesmässig- 
begriffliche Einheit der Synthesis aus. 

2. Diese substantielle Synthesis unterscheidet sich durch 
einen gewissen Verstandesfaktor von den übrigen Kategorien, wo- 
durch gerade sie ihre Individualität erhält. Das Spezifische der 
Substanz-Synthesis wäre klarzulegen. 

3. Auf diese besondere Synthesis wäre die Gesamtheit der 
Erscheinungswelt zu beziehen. 

4. Hierbei müsste sich als Resultat der oben zitierte Satz 
ergeben. 

Anstatt dessen lautet der Beweis ganz anders: 

1. Die Apprehension des Mannigfaltigen der Erscheinung 
ist jederzeit successiv, also immer wechselnd. 

2. Ohne ein Beharrliches ist kein Zeitverhältnis. 

3. Nnn kann die Zeit an sich nicht wahrgenommen werden. 

4. Folglich muss in den Gegenständen der Wahrnehmung 
das Substrat anzutreffen sein, welches die „Zeit überhaupt** vor- 
stellt, aber selbst nie wechseln kann. 

5. Dieses Substrat ist die Substanz. 

6. Folglich beharrt die Substanz bei unveränderlichem 
Quantum. 

In diesem Beweise Kants ist von der Anwendung eines Ver- 
standeselementes auf die Erscheinungswelt gamicht die Rede; es 
handelt sich dabei vielmehr darum, die Zeit überhaupt, d. i. ein 
Anschauungselement, in Zusammenhang mit der Erscheinungswelt 
zu setzen; wobei sich ergiebt, dass ein Beharrendes als not- 
wendige Voraussetzung für die Vorstellung der „Zeit überhaupt** 
in den Gegenständen anzutreffen sein müsse. Dieses Beharrliche 
ist der Begriff der Substanz! 

xr 



1Ö2 W. Zschocke, 

Hier scheiut mir doch Kant einen wesentlich anderen Weg 
gewählt zn haben znr Entdeckung der Kategorie, als wie sein 
Leitfaden ihn vorschlug. Diesem entsprechend mosste die Sab- 
stanz mit dem kategorischen Urteil in Verbindung gebracht 
werden; eine völlige Unbegreiflichkeit! In dem Beweise des 
Grundsatzes entpuppt sich die Kategorie der Substanz als die 
Bedingung für die Vorstellung der Zeit überhaupt. Weshalb 
konnte man da nicht kürzer gehen und direkt die „formale An- 
schauung^ weiter zergliedern, anstatt mit dem ganzen UDgehenren 
Apparat des Verstandesvermögens die ohnehin schon schwierige 
Untersuchung nur noch weiter zu belasten? Man hätte auch 
ohne die Urteilsanalyse die Substanz entdeckt! 

Weshalb aber thut Kant dies nicht? Ich habe den Orond 
schon früher genannt: Weil er nur aus demjenigen Teile des 
vollständigen Urteiles die Kategorien der Naturwissenschaft (!) 
ableitet, welcher lediglich die Synthese der Vorstellungen enthält 
Aber ist denn die formale Anschauung nicht auch schon eine 
Synthese von Vorstellungen? Worin unterscheiden sich d^rn 
Kategorie und formale Anschauung? Darin auf jeden Fall nicht, 
dass in beiden eine verschiedene Funktion der Einheit anzutreffen 
wäre. Überhaupt erklärt doch Kant als das alleinige Prinzip 
jeder giltigen apriorischen Synthese die Anschauung : „Was ist nur 
aber dieses Dritte, als das Medium aller synthetischen Urteile? Es ist 
nur ein Inbegriff, darin alle unsere Vorstellungen enthalten sind, nftn- 
lieh der innere Sinn, und die Form desselben a priori, die Zeif^) 
Die metaphysischen Synthesen bestehen bloss deswegen nicht za- 
recht, weil ihnen das Band der Anschauungen fehlt. Die Mathe- 
matik aber und die Naturwissenschaft gelten nur, weil die aprio- 
rischen Anschauungsformen ihre Synthesen möglich machen. Also 
muss doch die Synthese der Naturwissenschaft (!), d. i. die ans 
der Einheitsfunktion des Urteils abgeleitete Kategorie, notwendig 
mit der Synthese der apriorischen Anschauung übereinstimmen, 
muss sie enthalten! Denn es kommt ja nur darauf an, dass die 
Anschauung eine Synthese zustande bringt, und so muss die 
Funktion der Einheit des Vorstellungskomplexes im Urteile bereits 
auf die Anschauung hin orientiert sein, falls diese Einheit objektiv 
sein soll. Die Vorstellungssynthese eines auf die Omndvoraus- 
setzungen der Kantischen Naturwissenschaft gerichteten Urteiles 

') B, 194. 



über Kants Lehre vom Schematumus der reinen Vemonft. 198 

ist notwendig der Sjmthese gleich, die in der formalen Anschauung 
auftritt. 

Wir haben also gesehen: die Substanz lässt nach Kants 
eigner Darlegung sich gewinnen, auch ohne eine Analyse der Eiu- 
heitsfunktionen des Verstandes im ürteUe. 

Und die Kausalität? 

Ihr ist die zweite Analogie gewidmet: 

„Grundsatz der Erzeugung. Alles, was geschieht (anhebt 
zu sein) setzt etwas voraus, worauf es nach einer Begel folgt*^) 

Der in der zweiten Auflage hinzugekommene „Beweis* hebt 
folgendes hervor: Wir können die Zeit selbst nicht wahrnehmen; 
daher können wir nicht gleichsam empirisch feststellen, was im 
Objekte vorhergehe, der Zustand A, oder der Zustand B; und es 
ist ein scharfer Unterschied zu machen zwischen der Abfolge der 
Vorstellungen A und B in meiner Imagination und ihrer Abfolge 
im Objekte. Zum Begriffe der Erfahrung aber gehört, dass eine 
objektiv notwendige Abfolge von A und B erkannt werde. Hierzu 
verhilft mir nun nicht die blosse Vorstellung von A und B im 
inneren Sinne und in dessen Form, der Zeit. Vielmehr muss die 
zeitliche Reihe noch ein reiner Verstandesbegriff umformen und 
in die Objektivität überleiten, dadurch, dass er sie notwendig 
macht und einer Regel unterwirft. Dies leistet die Kausalität, 
folglich „geschehen^ in einer möglichen Erfahrung „alle Ver- 
änderungen nach dem Gesetze der Verknüpfung der Ursache und 
Wirkung".») 

Hier scheint Kant den Ansprüchen viel vollkommener zu ge- 
nügen, die wir an den Beweis der Grundsätze stellen dürfen, als 
in der ersten Analogie: Hier ist es in der That der reine Ver- 
standesbegriff, welcher in seiner Anwendung auf die Erscheinungs- 
welt den betreffenden Grundsatz der reinen Naturwissenschaft er- 
giebt, und es ist zunächst nicht abzusehen, wie wir ohne ihn aus- 
kommen können. 

Doch betrachten wir einmal genauer, was denn eigentlich 
dasjenige ist, das über die formale Anschauung zur Objektivität 
hinausgeht: 

Kant unterscheidet eine zweifache Verknüpfung zwischen A und 
B durch die Einbildungskraft: 1. die unbestimmte, subjektive, in der 



1) A. 1». 
*) B. 28S. 



194 W. Zschocke, 

es gleichgffiltig ist, ob der Zustand A vor B vorangeht oder um- 
gekehrt, und 2. das bestimmte objektive Verhältnis der beiden 
Zustände „dadurch als notwendig bestimmt wird, welcher derselben 
vorher, welcher nachher und nicht umgekehrt müsse gesetzt 
werden".^) Diese Notwendigkeit fügt der reine Verstandesbegriff 
hinzu; denn nur in ihm kann sie erhalten sein, da sie nicht „in 
der Wahrnehmung liegt".«) Die subjektive Verknüpfung setzt 
also „die formale Anschauung" voraus; die objektive Verknüpfan(( 
ausserdem noch die Kategorie. 

Da nun subjektive und objektive Verknüpfung in der Zeit 
sich nur durch den Gedanken der Notwendigkeit unterscheiden, 
welcher das Verbundensein im Gegenstande bewirkt, so folgt 
durch ein einfaches Substraktionsexempel, dass die Kategorie der 
Kausalität lediglich in diesem Gedanken der Notwendigkeit bestehe, 
herangetragen an die formale Anschauung der Zeit. 

Wie lässt sich aber dieses Resultat mit der Ableitung der 
Kategorie aus der Einheitsfuuktion im Urteile in Einklang bringen? 
Nur auf einem einzigen Wege: durch die Annahme nämlich, dass 
die Synthese der vorstellungsmässigen Elemente im Urteüe mit 
der Synthese in den Anschauungsformen gleichgesetzt wird; damit 
ist das Zugeständnis verbunden, dass die Synthese gamicht im 
Gebiete des „Verstandes" liege, sondern im Bereiche der Sinnlich- 
keit, d. h. der „formalen Anschauung"; und wir können bierin 
eine Bestätigung jener strengeren Definition des Urteils erblicken, 
wonach Kant nur das als ein Urteil gelten lässt, was eine 
Vorstellungssynthese zur Objektivität führt; dem Verstände bleibt 
hiernach nicht mehr das Geschäft des Verknüpfens, er hat nur 
noch das des Objektivierens. Dies aber geschieht in Wahrheit 
durch den Gedanken der Notwendigkeit; und somit können wir 
allerdings die Kategorie dann noch aus dem Verstände und aas 
dem Urteile ableiten, wenn wir dem Verstände das „praktische'' 
Moment des Bejahens und Verneinens zuzählen. Freilich, gerade 
unter „Verstand" die Funktion des Bejahens zu verstehen, ist 
eine anscheinend willkürliche Terminologie; doch sehe ich mich 
deshalb zu ihr gedrängt, weü all die anderen Methoden der 
Formung durch die Termini Sinnlichkeit und Einbildungskraft be- 
setzt sind und für das Bejahen nur noch dieser letzte übrig 
bleibt. 

») B. 234. 
>) Ebenda. 



über Kantfi Lehre vom Schematiamus der reinen Vernunft. 106 

So ist es der Kaasalität nicht besser ergangen als der Sub- 
stanz: die in ihr ausgesprochene Synthese lässt sich gewinnen 
ohne Analyse der Einheitsfunktionen im Urteile: sie stammt aus 
dem, was Kant mit formaler Anschauung bezeichnet, nicht aus 
einer Urteils-Synthese des Verstandes. 

Noch einmal: die formale Anschauung der Zeit liefert uns 
schon die zeitliche Succession, die Synthesis, das Mannig- 
faltige, die Einheit desselben. Zur notwendigen Synthesis 
der Erfahrungswelt fehlt uns nichts mehr als der Gedanke 
der Notwendigkeit! Würde daher die Kategorie mehr enthalten 
als den blossen Gedanken der Notwendigkeit, so würden wir dies 
„Mehr"" gamicht brauchen können. 

In diesem Zusammenhange kommen wir auch wieder auf die 
Substanz zurück: Die formale Anschauung des Raumes nämlich 
enthält analog das räumliche Beisammen, das Mannigfaltige, die 
Synthesis und die Einheit desselben. Sollte vielleicht auch hier 
das Hinzutreten des Gedankens der Notwendigkeit die Kategorie 
ergeben, die Substanz ? Wäre demnach die Substanz der Gedanke 
des notwendigen Beisammen der Accidenzen? 

In der That: was soll ich mir im Zusammenbange einer 
kritischen Erkenntnistheorie auf phänomenaler Grundlage unter 
dem Begriffe der Substanz noch anderes denken? Wenn ich 
transscendental-idealistisch nur den Standpunkt der Immanenz 
Igelten lasse, so kann die Substanz gamicht mehr bedeuten als 
dieses notwendige räumliche Beisammen von Bewusstseinsinhalten ; 
anderenfalls sie sich nur noch zu jenem unglückseligen Dinge an 
sich verdichten kann, das den wechselnden Accidenzen zum 
Grunde liegt. Aber die Berkeleysche Kirsche hat uns bewiesen, 
dass garnichts übrig bleibt, wenn ich von ihr alle Eigen- 
schaften abziehe. Auf dem Standpunkte der Immanenz 
lässt sich eben der Unterschied zwischen dem Zusammen 
verschiedener Accidenzen in einem objektiven Gegenstände und 
ihrem zufälligen Zusammen in dem äusseren Sinne und dessen 
Form des Raumes nur dadurch machen, dass wir im ersteren 
Falle die räumliche Synthese als eine notwendige bezeichnen. Mit 
anderen Worten: was der empirische Realist als ein ihm gegen- 
überstehendes, seiendes Ding auffasst, das analysiert der trans- 
sccndentale Idealist als eine notwendige Synthese von räumlichen 
Vorstellungen. 



196 W. ^schocke, 

Der empirische Realist kennt Substanzen als Dinge, die aitf 
einander wirken, d. h. die in ihnen liegenden Kräfte gegendn- 
ander gebrauchen. Der trausscendentale Idealist kennt nur Be- 
wusstseinsiuhalte und die formale Anschauung des Baumes und 
der Zeit; und was für den empirischen Realisten das Seiende 
oder das Nicht-Seiende bedeutet, das ist jenem das wahre positive 
oder das wahre negative Urteil, welches der richtige Akt der 
Bejahung oder Verneinung in Harmonie mit dem notwendig gelten- 
den Werte der Wahrheit fallt. 

Wir müssen noch einen Blick auf das Verhältnis der Sub- 
stanz zur Zeit werfen, welches in dem Beweisgange der erstes 
Analogie eine solche erhebliche Rolle spielte. Vielleicht kann 
es dann auch gelingen, die erste und zweite Analogie in ein 
ebenso entsprechendes Verhältnis zu bringen, wie es zwischen 
Raum und Zeit stattfindet; denn wenn ich für die Kategorie im 
eigentlichen Sinne nur noch den Gedanken der Notwendigkeit be- 
stehen lasse, die Systhese aber in die Sinnlichkeit, d. h. formale 
Anschauung verweise, so ist [notwendig das Verhältnis zwischen 
der Anwendung der räumlichen und andererseits der zeitlichen Not- 
wendigkeit auf die empirische Erscheinungswelt überhaupt pro- 
portional dem Verhältnisse und den inneren Beziehungen von 
Raum und Zeit zueinander. 

Die Substanz soll nach Kant dasjenige sein, welches in der 
empirischen Wirklichkeit das Beharrende darstellt; und zwar soll 
sie ein Korrelat für die Zeit bedeuten; denn „die Zeit verläuft 
sich nicht", sie ist „unwandelbar und bleibend."^) Diese Zusammen- 
stellung der Substanz mit der Zeit und nicht mit dem Räume 
scheint meine soeben aufgestellte Behauptung, dass wir unter 
Substanz erkenntniskritisch nur das notwendige räumliche Bei- 
sammen zu verstehen hätten, völlig umzustossen. Aber erscheint 
es nicht sonderbar, dass die Zeit beharrt? Sie soll doch gerade 
das Prinzipium des ewigen Hinfliessens sein, wie kann sie dann 
selber beharren? Was Kant sich darunter denkt, scheint aus 
B. 183 hervorzugehen. In der Zeit „verläuft sich das Dasein 
des Wandelbaren**, sie selbst verläuft sich daher nicht. Wenn 
Kant damit ausdrücken will, dass die Grundlage, die Voraussetzung 
des Fliessens nicht selber fliessen kann, so wie die Voraussetzung 
der Erfahrung nicht selbst Erfahrung ist, so hat er anbedingt 



1) B. 183. vgl. B. 225. 



über Kante Lehre vom Schematismus der reinen Vernunft. 197 

recht; aber die Grundlage des Fliessens ist auch Grundlage des 
Beharrens; denn die Korrelate des Fliessens und Beharrens liegen 
in derselben Sphäre. Solange also Kant sich bloss auf die nega- 
tive Behauptung beschränkt, die Zeit fliesst selbst nicht, so 
können wir verstehen, was er damit meint; wenn er aber daraus 
IK)sitiv folgert: also ist die Zeit bleibend und beharrt, so müssen 
wir ihm energisch widersprechen. Wir können dies um so sorg- 
loser thun, als wir eine mächtige Autorität zu unserem Schutze 
finden: Kant selber. In der allgemeinen Anmerkung zum System 
der Grundsätze steht wörtlich zu lesen: „. . . die Zeit aber, mit- 
hin alles was im inneren Sinne ist, beständig fliesst. *">) Dazu 
nehme man folgende Worte:*) „. . . »anstatt dass die Zeit, welche 
die einzige Form unserer inneren Anschauung ist, nichts Bleiben- 
des hat, mithin nur den Wechsel der Bestimmungen, nicht aber 
den bestimmbaren Gegenstand zu erkennen giebt.^ 

Wenn wir diese beiden Stellen berücksichtigen, so wird uns 
klar, dass es mit der Argumentation der ersten Analogie nicht 
ganz stimmt, d^s die Substanz sicher nicht als die Vorstellung 
der ,,Zeit überhaupt^ in der empirischen Wirklichkeit angesprochen 
werden darf. 

Aber mit der Konstatierung dieses Mangels dürfen wir uns 
nicht begnügen: wir müssen den Grund aufdecken, der Kant not- 
wendig dazu veranlasste, und dieses bringt uns für einen Augen- 
blick wieder in Zusammenhang mit unserem eigentlichen Thema, 
dem Schematismus, zu dessen Verständnis allein ich es unter- 
nommen habe, diesen grossen Umweg über die Zergliederung von 
Kants Grundbegriffen zurückzulegen. 

Kant hatte seinen Schematismus zu dem Zwecke aufgestellt, 
die Kategorien anzuwenden; d. h. die Grundsätze zu formulieren. 
Um in einen Grundsatz eingehen zu können, muss sich die Kate- 
gorie in ein Schema verwandeln. Das Schema aber war allein 
an der Zeit orientiert, weil der sog. „innere Sinn^ den äusseren 
Sinn mitumfasst; das Schema ist die transscendentale Zeitbe- 
stimmung, und nun musste Kant wohl oder übel zwölf Zeitbe- 
stimmungen finden. Die Substanz tritt lediglich deshalb in jener 
anverständlichen Beziehung zur Zeit in den Grundsätzen auf. Im 
Zusammenhange der Grundsätze durfte Kant garnicht die Substanz 



1) B. 891. vgl S98. 
S) A. 881. 



198 W. Zschocke, 

als die empirisch-realistisch naturwissenschaftliche Hypostasiemng 
der notwendigen Eaumsynthese auffassen, eben weil der Baam 
durch das Zeitschema bereit« aus seiner berechtigten Eigenstellnng 
eliminiert worden war. Um so interessanter ist es, zu beobachten, 
dass Kant an keiner anderen Stelle der Zeit die Eigenschaft des 
Fliessens abspricht, als nur in dieser direkten Verbindung mit dem 
Schematismus. 

Wenn wir aber der Zeit das Fliessen beigesellen müssen, 
tritt dann vielleicht zum Räume das Moment des Beharrens? 

... „so finden wir, dass 1. um dem Begriffe der Substanz 
korrespondierend etwas Beharrliches in der Anschauung zu geben . . . 
wir eine Anschauung im Räume (der Materie) bedürfen, weil der 
Raum allein beharrlich bestimmt** ist.^ Hier haben wir ja voll- 
kommen ausgesprochen, was wir suchen, und den Beweis dafür, 
dass die Substanz oder das Beharrliche den Raum überhaupt und 
nicht die Zeit überhaupt zur empirisch-realistischen Ekischeinaog 
bringt. 

Um diese These noch weiter zu stützen, wird es von Wichtig- 
keit, wie ich fiiiher ausfühi-te, das Verhältnis von Raum und Zeit 
untereinander mit demjenigen von Kausalität und Substanz zu 
vergleichen, ob sich vielleicht beide Verhältnisse entsprechen 
möchten. 

Nun ist aber leider die gegenseitige Beziehung von Ranm 
und Zeit zu einander bei Kant kaum besprochen, und es finden 
sich nur sehr wenige Stellen, auf die ich mich stützen könnte. 
Kant führt nur einen Gedanken da und dort^ aus, der uns hier 
behülflich sein kann. Die Zeit nämlich lässt sich, meint er, an 
der geraden Linie symbolisieren, mit deren eindimensionaler Be 
Stimmung die ihrige zusammenfällt. Wenn wir demnach anstelle 
des „neben" im Räumlichen das „nach" setzen, so enthüllt uns 
die Charakteristik der geraden Linie alle Eigenschaften der Zeit. 
Hier sagt Kant, dass die Teile der räumlichen Linie „zugleich**, 
die der Zeit aber nacheinander seien, welches den einzigen Unter- 
schied zwischen einer Raumreihe und Zeitreihe enthält. Die 



1) B. 291. vgl. auch B. 270 und A. 381. A. 381 sogar noch klarer: 
„so hat doch die Erscheinung vor dem äusseren Sinne etwas Stehendes 
oder Bleibendes, welches ein, den wandelbaren Bestimmungen zum Grande 
liegendes Substratum und mithin einen synthetischen Begriff, nämlich den 
vom Räume und einer Erscheinung in demselben, an die Hand giebt*'. 

2) B. öO. B. 165il56, B. 292. 



über Kants Lehre vom Schematismos der reinen Vernunft. 199 

Ranmreihe ist also „zugleich*', d. h. der Raum hat eine zeitliche 
Eügenschaft, wenn anders wir die Stelle B. 67 acceptieren wollen, 
wo es heisst, dass die Zeit schon das Verhältnis des «Zugleich- 
seins'' enthält. 

Doch hier ist etwas nicht in Ordnung. Einmal soll die Zeit 
sich gerade in dem nacheinander von dem Räume unterscheiden, 
dessen Teile allein zugleich sind; dann soll andererseits auch die 
Zeit schon ein zugleich enthalten? Das zugleich ist aber doch 
offenbar ein Modus der Zeit, daran ist kein Zweifel! Die ent- 
standene Verwirrung lässt sich nur so lösen, dass wir das „zu- 
gleich'' aus dem ineinander von Raum und Zeit erklären. 
Die Zeit ist das Prinzip des ewigen Flusses in dem Beharrlichen, 
der Raum ist das Prinzip des ewigen Bestehens in dem Fliessen- 
den. Fliessen und Bestehen sind Korrelatbegriffe. Beide erst in 
ihrer Verbindung gestatten den Begriff des zugleich. 

Das Verhältnis der empirisch-realistisch aufgefassten Sub- 
stanz zur Kausalität als wirkender Kraft ist ein analoges: Die 
Wechselwirkung setzt eine Verbindung durch den Raum voraus.^) 
Der Wechselwirkung entspricht das zeitliche zugleich ; das Wirken 
ist in zeitlicher Abfolge zu denken. Wirkungen aber sind nur 
zwischen Substanzen möglich, eine Wirkung, die nicht Substanzen 
mit einander verbindet, schwebt in der Luft. In dem Begriffe 
des Wirkens liegt ferner der Gedanke, dass beide Substanzen 
durch ihn verbunden werden, sich in einer Einheit zusammen- 
fassen, und doch beide in ihrem Bestände erhalten bleiben. So 
sehen wir auch hier wieder jene Vereinigung von dem Fliessen 
und Bestehen, von jenen beiden Prädikaten, welche wir eben dem 
Räume und der Zeit beigesellt fanden.^ 

Sollte nach all diesem noch ein Zweifel darüber bestehen, ob 
die Substanz in Verbindung mit dem Raum oder aber mit der Zeit 
zu bringen sei, so führe ich als letzten Beweisgrund meiner Be- 
hauptung, dass sie zum Raum gehöre, folgende Stelle an: ^I^^nD 
weil er [nämlich der transscendentale Idealist] diese Materie und 
sogar deren innere Möglichkeit bloss für Erscheinung gelten 
lässt, die von unserer Sinnlichkeit abgetrennt, nichts ist: so ist 
sie bei ihm nur eine Ait Vorstellungen (Anschauung), welche 
äosserlich heissen, nicht, als ob sie sich auf an sich selbst äussere 

1) B. 292|9d. 

>) Vgl B. 249 ff. über: KauMOität, Handlung, Kraft, Sabttanz. 



200 W. Zschocke, 

Gegenstände bezögen, sondern weil sie Wahrnehmungen auf den 
Raum beziehen, in welchem alles aussereinander, er selbst der 
Raum aber in uns ist."^) 

In der Erörterung des transsceudentalen Idealismus and em- 
pirischen Realismus, welche dieses Citat enthält, giebi uns Kant 
den Schlüssel zum Verständnis der Ausdrucksweise in dem Grund- 
satze über die Substanz. Als Grundsatz der Naturwissenschaft 
ist er empirisch-realistisch formuliert: „Bei allem Wechsel der 
Erscheinungen beharrt die Substanz . . /,^) wobei die Substanz als 
ein Seiendes, an sich existierendes auftritt, wie es in der Seins- 
wissenschaft der Natur selbstverständlich ist. Vom Standpunkte 
des transscendental-idealistischen Erkenntnistheoretikers dagegen 
giebt es nur „eine Art Vorstellungen . . ., welche äusserlich heissen, 
nicht, als ob sie sich auf an sich selbst äussere Gegenstände be- 
zögen, sondern weil sie Wahrnehmungen auf den Raum beziehen **. . .*) 
Die seiende Substanz der Naturwissenschaft entspricht daher der 
räumlichen Synthese für den Kritizisten, welche ich in einem ü^ 
teile gemäss dem Werte bejahen kann ; und zwar ist die Bejahung 
nach Kant dann objektiv, wenn sie nach einer Regel geschieht, 
welche sie auf eine gewisse Art notwendig macht.*) 

Hatten wir die Kausalität als die objektive Zeitsynthese er- 
kannt, so erweist sich nun also die Substanz als die objektive 
Raumsynthese. 

Die Beispiele der Apprehension eines Hauses und eines den 
Strom herabgleitenden Schiffes mögen auch hier zur Erläuterung 
dienen und die genaue Analogie zwischen Substanz und Kausalität 
einerseits und Raumsynthese und Zeitsynthese andererseits zur 
Anschauung bringen.'^) Die Apprehension eines Mannigfaltigen ist 
der Kausalität entsprechend und objektiv, wenn in ihrer zeitlichen 
Abfolge eine Notwendigkeit ausgedrückt wird; so bei dem Schiffe. 
Wohingegen die zeitliche Succession in der Apprehension des 
Hauses beliebig verändert werden kann; ich kann ebensogut von 



^) A. 370, vgl. auch B. 18 : „Denn in dem Begriffe der Materie denke 
ich . . . ihre Gegenwart im Räume durch die Erfüllung desselben^, und 
A. 385: „Materie bedeutet ... uur die Ungleichartigkeit der Erscheinungen 
von Gegenständen . . ., deren Vorstellungen wir äussere nennen . . ." 

^ B. 224. 

3) A. 370. 

*) B. 242. 

^) B. 235 und B. 237 f. 



fjher Kants Lehre vom Schematismus der reinen Vernunft. 201 

der rechten Ecke ausgehend meine Betrachtungen beginnen wie 
von der linken, von oben so gut wie von unten. Aber hört darum 
das Haus etwa auf, ein Objekt zu sein? Nenne ich es darum 
weniger ein Ding mit seinen Eigenschaften? Gewiss nicht. Doch 
wenn es ein Gegenstand sein soll, so muss in ihm eine Not- 
wendigkeit, eine Regel ausgedrückt sein. Wo finde ich sie? Nicht 
in der zeitlichen Abfolge der Vorstellungen, das ist richtig; wohl 
aber in ihrer räumlichen Anordnung; denn es ist ebenso unmöglich, 
den rechten Flügel des Hauses mit dem linken zu vertauschen, 
oder das Dach mit dem Fundament, wie es bei der kausalen Ver- 
knüpfung unmöglich ist, die Ursache mit der Wirkung in zeitlicher 
Rücksicht zu vertauschen. Und was unterscheidet denn z. B. das 
prismatisch umgekehrte Hans in meiner Apprehension von dem 
Hause selber? E^ ist nichts anderes als das Fehlen der Not- 
wendigkeit und Regel in der räumlichen Synthese. Genau so gut 
wie die zeitliche Succession nur dann objektiv ist, wenn sie nach 
einer Regel abläuft, ebenso hat das räumliche Beisammen nur in 
dem Gedanken der Notwendigkeit die Gewähr der Gegenständ- 
lichkeit. 

Nach all diesem müssen wir innerhalb der Kantischen 
Kategorie zweierlei unterscheiden: 

1. den Gedanken der „Notwendigkeit" in Form der „Regel"; 
sie tritt in allen Kategorien in gleicher Weise auf und ist das- 
jenige, was die Gegenständlichkeit über die blosse Subjektivität 
in der Imagination erhebt. 

2. die Synthese; sie liegt in dem alleinigen Medinm aller 
Synthesen, in der Sinnlichkeit, nnd ist schon in der „formalen An- 
schaanng" ausgedrückt. Da es zwei Formen der Anschauung 
giebt, so giebt es auch zwei Formen der Synthese in der Kate- 
gorie; und hierdurch sind die Substanz und die Kausalität ab- 
geleitet. 

Ich werde im Folgenden unter Kategorie schlechthin nur 
noch den Gedanken der Notwendigkeit verstehen, und dabei ist 
es ohne weiteres klar, dass wir in ihm ein Produkt des Ver- 
standes, des Denkens zu erblicken haben; denn dass ich den Ge- 
danken der Notwendigkeit nur denken, nicht aber auch anschauen 
kann, bedarf keines Beweises. Die Kategorie der Notwendigkeit 
unterscheidet sich von der Kantischen Kategorie dadurch, dass 
erstere eine blosse Verstandesform, letztere aber eine sinnlich an- 
gewandte Verstandesform repräsentiert. 



202 W. Zschockö, 

Dass im Grunde genommen diese Auffassung Kant garnicht 
so fern steht, als man zunächst glauben möchte, beweisen einige 
interessante Stellen. Kant will zeigen, dass durch die Kategorie 
der Kausalität Objektivität in die subjektive Succession unserer Vor- 
stellungen komme. Wenn ich daher, die subjektive mit der objektiven 
Succession vergleichend, das Plus herausstellen kann, welches diese 
von jener unterscheidet, so muss in diesem Plus die Kategorie 
enthalten sein: „Wenn wir untersuchen, was denn die Beziehung 
auf einen Gegenstand unsern Vorstellungen für eine neue Be- 
schaffenheit gebe, und welches die Dignität sei, die sie da- 
durch erhalten, so finden wir, dass sie nichts weiter thue, als die 
Verbindung der Vorstellungen auf eine gewisse Art notwendig zn 
machen, und sie einer Regel zu unterwerfen; dass umgekehrt nor 
dadurch, dass eine gewisse Ordnung in dem Zeitverhältnisse 
unserer Vorstellungen notwendig ist, ihnen objektive Bedeutung 
erteilt wird."^) 

„Die Begriffe, welche dieser reinen Synthesis [sc. der Ein- 
bildungskraft] Einheit geben, und lediglich in der Vorstellung 
dieser notwendigen synthetischen Einheit bestehen, thun das dritte 
zum Erkenntnisse eines vorkommenden Gegenstandes, und beruhen 
auf dem Verstände. "2) 

„Man sieht bald, dass . . . Erscheinung, im Gegenveiiiältnis 
mit den Vorstellungen der Apprehension, nur dadurch als das da- 
von unterschiedene Objekt derselben könne vorgestellt werden, 
wenn sie unter einer Eegel steht, welche sie von jeder anderen 
Apprehension unterscheidet, und eine Art der Verbindung des 
Mannigfaltigen notwendig macht/^) 

In allen drei Stellen ist die Eede von dem Unterschiede des 
Objektes und der subjektiven Vorstellung der Apprehension, und 
„nichts weiter" erteilt die Objektivität, „lediglich^, „nur dadurch'* 
steht die Objektivität höher, dass in ihr die Notwendigkeit als 
Regel enthalten ist. Wenn also die Kategorie mehr enthielte, als 
den Gedanken der Notwendigkeit, so könnten wir dieses Mehr 
garnicht brauchen. 

Kant nennt das Objektivität begründende Element „B^;riff . 
Es ist interessant, sich den Grund dieser Terminologie klar xn 



1) B. 242|43. 

2) B. 104. 
^ B. 286. 



Tiber Kants Lehre vom Schematismus der reinen Vernunft. 203 

machen: objektiv ist das aligemeingültige und einer Regel ent- 
sprechende; nun sind nur Begriffe allgemein und enthalten eine 
Regel, Anschauungen aber individuell.*) Infolgedessen ist die 
Hülfes eines Begriffes nötig, um die Objektivität zu erreichen.^ 
Weil ferner Begriffe allein in Urteilen ihre Verwendung finden, 
und Kant die Gegenständlichkeit der synthetischen Urteile unter- 
suchen will, so bringt er die Allgemeinheit des Begriffes mit der 
Synthese des Vorstellungskomplexes im Urteile in eine, wie ge- 
zeigt, widerspruchsvolle Verbindung, auf welche Weise seine oben 
angeführte unhaltbare Theorie entsteht, dass die Urteilssynthese 
rait der Funktion der objektiven Einheit im Begriffe überein- 
stimme. Auch hieraus ersehen wir wieder das feine Gefühl Kants 
für das Richtige; denn was ihn zu seinem Fehler bewog, war die 
heute erwiesene Thatsache, dass das Urteil noch mehr enthalte, 
als den bloss theoretischen Vorstellungskomplex, dass gerade im 
Jasagen das Urteilen bestehe. Nun sollte die Kategorie die 
Gegenständlichkeit erzeugen; also durfte sie für Kant nicht mit 
einer sinnlichen Synthese erschöpft sein. Hätte Kant das Ja von 
dem Vorstellungskomplexe unterschieden, so hätte er kein Be- 
denken zu tragen brauchen, die Kategorie von der Synthese los- 
zutrennen, weil nicht in der Synthese, sondern in dem Ja Wahr- 
heit und Irrtum ruhen. 

Wir können damit den Begriff der Kategorie verlassen, und 
ich stelle als Resultat des zweiten Kapitels nochmals fest, dass 
wir unter einer Kategorie im strengen Sinne nur den Gedanken 
der Notwendigkeit zu verstehen haben; es giebt nur Eine Kate- 
gorie, und ihr gemäss ist das Sein der empirischen Wirklichkeit 
für den Erkenntnistheoretiker abhängig von der Bejahung eines 
Wertes. 



3. Kapitel. 

Die Überwindung des Kantischen Schematismus. 

Die Nutzanwendung der bisherigen Überlegungen auf den 
Schematismus ergiebt sich leicht: Kant hatte Verstand und Sinn- 
lichkeit getrennt, hatte die Kategorien immanent logischen Funk- 
tionen des Urteilens beigesellt, und als er daran geben wollte, die 

1) A. 106. 
«) A. 112, 



204 W. ZschocicÄ. 

Grundsätze zu formulieren, konnte er seinem obersten Prinzipe 
zunächst nicht gerecht werden, Anschauungen und Begriffe za 
verbinden, damit sie nicht blind und leer blieben. Das Schema 
half ihm, die Schwierigkeiten zu überwinden. 

Nach der hier vertretenen Überzeugung ist die Sachlage eine 
ganz andere: Die „foimale Anschauung'' der Geometrie und Arith- 
metik schliesst schon eine Reihe von Bestandstücken ein, welche 
Kant zum Verstände zählt: Synthesis und Einheit der Apperzeption 
in der Mannigfaltigkeit. Ja, wir haben gesehen, dass die schlecht- 
hin anschauliche, undefinierbare Direktion des „ Neben ** und „Nach* 
überhaupt die Synthesis voraussetzt, um zu Ende gedacht werd^ 
zu können. Dem entspricht dann genau Kants Meinung, dass 
allein Anschauungen das übergreifende Band für jede gültige 
Synthese abzugeben vermögen. 

So haben wir einen überaus nahen Zusammenhang erkannt 
zwischen Sinnlichkeit und Verstand auf dem gemeinsamen Felde 
der formalen Anschauung; was die eine nicht leisten konnte, das 
liefert der andere, und beide fordern überhaupt derart einander, 
dass sie ohne gegenseitige Ergänzung des eigentümlichen Be- 
stehens entbehren müssen. 

Und wie in die Sinnlichkeit der Verstand eingedrungen war, 
so schlich sich in die Kategorie die Anschauung. Was Kant 
unter einer Kategorie versteht, das setzt sich aus der Raum- resp. 
Zeitsynthese und der Kategorie im engeren Sinne, dem Gedanken 
der Notwendigkeit als Regel, zusammen : Daher denn die Kate- 
gorie Kants keineswegs ein reiner Repräsentant des Verstandes ist, 
der ohne innere Beziehung zur Sinnlichkeit stünde. 

Wenn es sich demnach für die Aufstellung der Grundsätze 
darum handelt, Kategorie und Anschauungsformen mit einander 
zu verbinden, so brauchen wir auf keinen Fall hierzu die Ver- 
mittelung des Zeitschemas in Anspruch zu nehmen. Bei Kant 
leistet es das verwickelte Geschäft, die raum-zeitliche Erscheinungs- 
welt mit den Kategorien zu verbinden, welche blosse Verstandes- 
elemente sind und doch mehr als den Gedanken der Notwendigkeit 
enthalten sollen. Dies Mehr als das in unserm Sinne verstandes- 
mässige scheint mit der Sinnlichkeit unvereinbar: das Schema 
muss erst die Brücke schlagen. Haben wir dieses „mehr'' aber 
einmal als anschaulich erkannt, so ist keine Brücke und kein 
Schematismus mehr nötig. 



über Kants Lehre vom ächematitmiui der reinen Vemnnft ^05 

Was Kant von dem Schema verlangte, dass es ein Drittes 
sein solle, das durch seinen doppelseitigen, d. h. sowohl intellek- 
taellen als auch sinnlichen, Charakter die schroff von einander ge- 
schiedenen Erkenntnisvermögen des Verstandes und der Anschauung 
zur Vereinigung bringe, das fällt in dem Augenblick alles fort, 
in dem wir erkannt haben, dass beide Stämme der Erkenntnis in 
dem Verhältnis gegenseitiger Ergänzung stehen. Allerdings, die 
TöUige Übereinstimmung in einem Stücke, die Eant^) für die 
Möglichkeit einer Subsumption verlangt, ist nicht vorhanden und 
kann der Natur der Sache nach überhaupt nicht vorliegen; denn 
die Erkenntnismethoden durch Subsumption zu vereinigen, hat gar 
keinen Wert. Ergänzen sollen sie sich; was der einen fehlt, 
soll die andere besitzen; die Übereinstimmung in einem Punkte 
würde eine ganz nutzlose Verdoppelung bedeuten, welche uns ihre 
Vereinigung trotzdem nicht begreiflich machen würde; denn die 
Vereinigung auf Grund einer Subsumption ist immer analytisch 
nnd beruht auf dem Satze der Identität; die Synthese aber zweier 
heterogener Methoden wird hierdurch nimmer verständlich. Die 
Erkenntnistheorie bedient sich vielmehr zu diesem Zwecke keines- 
wegs der Subsumption, sondern der teleologischen Beziehung, und 
deren wesentlicher Kern liegt in der Funktion der Ergänzung. 
Teleologisch konstruiere ich einen Zusammenhang mit dem Ziele, 
welches ich gewinnen will, und den Mitteln, welche zu ihm führen. 
Die Verbindung sämtlicher Mittel gewährt erst die sichere Er- 
reichung des Zieles; fehlt mir eines, so werde ich gezwungen, vor dem 
Ziele nach einer bestimmten Wegstrecke halt zu machen. Jeder 
Teil des Weges aber ist absolut verschieden von dem anderen; er 
soll es sein, damit er mich näher heranführen könne. Verbunden 
werden alle Teile einzig durch die gemeinsame Richtung auf das 
eine Ziel. Dienten sie nicht dem einen gemeinsamen Zweck, Mittel 
zu sein für das eine Ziel, so würden sie völlig gleichgültig und 
beziehungslos zu einander daliegen. Genau ebenso sind die ein- 
zelnen Methoden zur Erkenntnis nur im t^o; verbunden, jede 
giebt uns ein absolut neues und verschiedenes Werkzeug für 
unsere Arbeit in die Hand. Würde man den gemeinsamen End- 
zweck zerstören, so würden sie ohne Verbindung auseinanderfallen. 
Sofern sie aber ausserdem noch durch Subsumption verbunden 
wiren, hätte dies für die teleologische Beziehung keinerlei wesent- 



>) B. 176 «ad 17& 



206 W. 2schocfee, 

liches Interesse. Kants Methode ist durch und durch teleologisch; 
wenn eine Bedingung aufgezeigt ist, so schreitet sie nur in der 
Weise fort, dass sie fragt, welche neuen Voraussetzungen werdoi 
wieder durch die erste gefordert, zu ihrer Ergänzung? Dass auf 
diese Weise Sinnlichkeit und Verstand sich in einanderfögen, habe 
ich darzustellen versucht; so allein wird ihre Vereinigung begreif- 
lich ; das Schema für die Subsumption hingegen erwies sich in 
jeder Beziehung als unverständlich. 

Kant braucht also das Schema der transscendentaJen Zeit- 
bestimmung gamicht; denn die ihm aufgetragene Leistung ist 
schon längst vollzogen, wenn man Kategorie und Anschauung^ 
von all den dogmatischen Verhüllungen befreit, die ihnen East 
noch gelassen hat. Der Kantische Schematismus wird überflüssig 
und ist daher aus dem System der Kritik zu entfernen. 

Dies Resultat hat die Untersuchung zu einem Torläufigeo 
Abschlüsse gebracht; doch können wir bei ihm nicht stehen 
bleiben; denn wenn auch die Kantische Kategorie als mit der 
Anschauungsform zusammengehörig gedacht werden kann, so erhebt 
sich doch nunmehr die Frage, wie sich denn die Kategorie der 
Notwendigkeit zu der formalen Anschauung verhalte. Soviel 
allerdings steht von vorne herein fest, dass uns der Begriff iet 
Subsumption von gar keinem Nutzen sein kann, und dass wir 
auch nicht nach einem Dritten suchen dürfen, welches beiden g^ 
meinsam wäre. Es könnte nach den eben gemachten Ausführungen 
nur die Meinung nahe liegen, dass auch hier der Begriff der 
teleologischen Ergänzung alle Schwierigkeiten lösen müsste. Doch 
ist diesmal die Sachlage eine ganz andere. 

Kant. hatte Sinnlichkeit und Verstand als rezeptiv und spon- 
tan, als intuitiv und discursiv, als unmittelbar und mittelbar anf 
den Inhalt bezogen, unterschieden. Diese Trennung ergab sich 
uns als falsch, und eine teleologische Ergänzung war ausreichend 
zur Verbindung. Allerdings ist dabei eine Einschränkung nötig. 
Kant hält nämlich innerhalb des Begriffes der Kategorie das 
Moment der Regel und das der Synthesis, wie zumeist, so auch 
in der Lehre vom Schematismus, nicht auseinander. Er vermiscbt 
sie derartig, dass bei ihm die Kategorie als Begründerin der 
Gegenständlichkeit durch die Synthese angesehen wird. Allerdings 
ist nun die Synthese die Conditio sine qua non der Objektivität 
Aber mit ihr sind noch keineswegs die Bedingungen erschöpft, 
da, wie ich zeigte, dieselbe Synthese sowohl in der snbjÄtiven 



über Kants Lehre vom Sckematisinas der reinen Vernunft. 20? 

Vorstellung vorkommt, die weder wahr noch falsch sein kann, als 
auch in dem Urteile. Nun sollte das Schema vermitteln zwischen 
der Verstandessyntbese und der Anschauung. Beide aber erweisen 
sich als Faktoren der Synthese, nicht nur der Verstand, sondern 
auch die Sinnlichkeit; ja letztere enthält nur eine Spezialisierung 
der allgemeinsten Synthese überhaupt. Warum sie gerade in der 
Form des „neben"" und „nach^ auftritt, das lässt sich nicht sagen, 
noch mit der Synthese überhaupt vermitteln; das können wir nicht 
begreifen, noch begreifen wollen.^) So liegen Anschauung und 
Begriff in derselben Sphäre, und das gemeinsame Ziel verbindet 
sie ohne weiteres. Beide sind Formen im Gebiete der Synthese, 
and beide stehen dem Inhalte gleich nah und gleich fern 
gegenüber. 

Mit dem Begriffe der Regel in seinem Verhältnis zu den üb- 
rigen Erkenntnisbedingungen steht es jedoch erheblich anders : Sie 
liegen sozusagen nicht in derselben Ebene, und daher dürfen wir 
uns nicht mit der Forderung ihrer gegenseitigen Ergänzung zum 
Zwecke der Objektivität begnügen. Sondern hier ergiebt sich 
nun thatsächlich die Aufgabe, zu erörtern, wie denn das Zusammen 
von Regel und formaler Anschauung müsse gedacht werden, 
welchen Einfluss die Regel auf die formale Anschauung ausübe, 
welche Gestalt sie ihr gebe. Der Kantische Schematismus war 
dadurch überwunden, dass gewissermassen alles zum Schema 
wurde. Jetzt handelt es sich darum, zu zeigen, wie die Regel 
in das Gebiet der Sinnlichkeit herabsteige. Aber hierzu sehen 
wir uns nicht mehr nach einem Dritten um, welches vermittle; 
das Schema als Brücke ist ein Unding. Nein, ich will das Schema 
in dem genauen Sinne seines Wortes fassen, das cx^f^^ soll uns 
die sinnliche Gestalt zeigen, welche die Regel, die Notwendigkeit, 
annimmt, sobald sie die formale Anschauung beherrscht; diejenige 
formale Anschauung soll Schema heissen, welche die Notwendigkeit 
repräsentiert. 

Unter den zwölf Kategorien Kants tritt auch diejenige der 
Notwendigkeit auf; sie steht an dritter Stelle in der Klasse der 
Modalität, so dass wir zu unserer (Überraschung dasjenige als 
Ein Glied unter zwölfen angeführt finden, dem wir allein das 
eigentliche Prädikat der Kategorie im Sinne des die Gegenständ- 
lichkeit begründenden Begriffes zugestehen wollten. Doch dies 



1) Vgl. Proleg. S. 100 (Beklam). 

ir 



d08 W. Siscliocke. 

ist sofort begreiflich, wenn wir uns bei Kant Antwort holen, was 
die Modalität der Urteile bedeute. Kant sagt, dass sie „nur den 
Wert der Kopula in Beziehung auf das Denken überhaupt angeht**.^) 
Dieser Ausdruck ist zunächst reichlich unklar, aber wenn in den fol- 
genden Sätzen ausgeführt wird, dass die Möglichkeit, Wirklichkeit 
und Notwendigkeit des Bejahens oder Vemeinens ihre drei Modi zu- 
sammensetzen, so finden wir darin eine interessante Vorahnung d^ 
hier vertretenen Urteilstheorie. Ihr gemäss hatte ich die Kategorie 
dem praktischen Bejahen im Urteile angefügt, und in diesem Zu- 
sammenhange erklärt sich auch, was unter der „Beziehung auf 
das Denken überhaupt verstanden ist. Es ist das „ich denke* 
der transscendentalen Deduktion, und zwar das objektive „ich 
denke*", die „objektive Einheit des Selbstbewusstseins''.') Inso- 
fern daher die theoretische Synthese im Urteile durch das Ja und 
Nein auf die Objektivität bezogen wird, ist sie modal bestimmt 
Daraus würde aber folgen, dass die drei übrigen Kategorienklasseo 
kein Verhältnis zur Gegenständlichkeit ausdrücken, dass also 
z. B. die Kausalität allein noch keine Objektivität sichern kano. 
Da dies aber Kants Meinung widerstreitet, so möge es nur neben- 
bei zum Beweise dienen, dass, wie ich sagte, Kants Orundfehler 
in seiner mangelhaften Urteilslehre angelegt ist, und ihre Ver- 
besserung notwendig auf Kants Grundbegriffe umgestaltend ruck- 
wirken muss.s) 

Sonach ist es nicht nur verständlich, sondern sogar notwendig, 
dass die Kategorie im engeren Sinne auch unter der Zahl der 
Kantischen Kategorien als eine besondere derselben auftrete. 
Kant musste für alle zwölf Kategorien Schemata finden, also auch 
für die Kategorie der Notwendigkeit: Und „Das Schema der Not- 
wendigkeit ist das Dasein eines Gegenstandes zu aller Zeif.*) 

Können wir dies Schema so, wie es Kant formuh'ert, fiber- 
nehmen? Reicht es aus für unsere Zwecke, oder bedürfen wir 
noch einer Ergänzung? 

Was die erste Frage angeht, so will ich das Schema des 
mZU aller Zeit^ oder, wie wir kürzer sagen können, des „immer'' 



^) B. 100. 

^ B. 139. 

') Hiemach könnte man übrigens die vorliegende Arbeit von einem 
anderen Ende aus aufbauen und mit dem Titel belegen: Kant« Gmnd* 
begriffe der Erkenntnis im Lichte der modernen Urteilslehre. 

*) B. 184. 



über Kants Lehre vom SchemAtismus der reinen Vemanft 200 

dadurch auf seine Rechtmässigkeit hin prüfen, dass ich es mit der 
Definition vergleiche, die ich vorher von dem Begriffe des 
Schemas gab: ein Repräsentant der Notwendigkeit in der Sinn- 
lichkeit zu sein. 

Für Kant kleidet sich der Begriff der Objektivität erzeugen- 
den Notwendigkeit in die Form der Regel. Notwendigkeit und 
Allgemeingültigkeit sind in seiner Philosophie derartig eng mit- 
einander verwachsene Merkmale der Vemünftigkeit, dass er an 
ihnen sogar zum grossen Teile seine praktische Philosophie orien- 
tiert. Nur was als notwendig, d. i. aber zugleich allgemeingesetzlicb 
oder als unter einer Regel stehend begriffen werden kann, das 
allein ist vernünftig, objektiv und gegenständlich. Insofern nun 
alles Empirische in der Zeit liegt, die Zeit aber als continuierlich 
abfliessende Reihe im Bewusstsein die Möglichkeit der Apprehen« 
sion eines empirisch Mannigfaltigen schafft, so kann die Zeit nur 
als principium individuationis, nicht aber als prindpium genera- 
lisationis auftreten, sofern jeder einzelne Zeitpunkt und das ihn 
erfüllende empirisch Inhaltliche in Betracht kommt. Sobald wir 
aber etwas finden, das wir in jedem Zeitdifferentiale als seiend 
bejahen können, so ist klar, dass wir es bezüglich seiner sinnlichen 
Ekwheinung in der Zeit als unbedingt allgemein anerkennen. Die 
Zeit als ganze unendliche Reihe ist also der sinnliche Repräsentant 
des Gedankens der Notwendigkeit, und das „Immer^ ist mit Recht 
im System Kants das Schema für ihn. 

Kant wurde es leicht, ein sinnliches Widerspiel für den Ge- 
danken der Notwendigkeit aufzuweisen, eben weil bei ihm nur das 
Allgemeine notwendig ist, und weil die Sätze der Naturwissenschaft 
allein als Gesetze auf Objekte, Gegenstände gehen. Aber hier* 
aus würde durch Umkehrung folgen, dass nur diejenigen Urteile 
wahr, d. h. gültig und wertvoll sein können, deren Bejahung sich 
auf ein Gesetz richtet, und alle Urteile der Geschichte enthielten 
dann kein Schema des Wertes, dem sie ihre Geltung verdankten. 
Doch die Erledigung dieses bloss angedeuteten Problemes, desgleichen 
eine ausführliche Besprechung der Begriffe des Zufälligen, Wirk- 
lichen und Möglichen, würde weit über den Rahmen einer imma- 



1) Vgl. Inaugoral-Diflsertation § 10: AUe nnMre Anschauung ist . . . 
an ein Prinzip der Form gebunden, unter der aUein etwas unmittelbar 
oder als Einzelnes von dem Oeiste geschaut . . . werden kann; vgl hierzu 
Schopenhauer, W. a. W. u.;^V., L Bd. § 68 und K. 



210 W. Zsohooke, 

nenten Eantkritik hinausgehen; ich moss sie daher für eine 
spätere Arbeit versparen. 

Reicht nun das Schema des „immer^ für die Repräsentation 
der Notwendigkeit aus, oder bedarf es noch einer Ergänzung? 

Kant begründet seine Beschränkung des Schematismus auf 
die Zeit damit, dass die Zeit, als Form des inneren Sinnes, die 
Form des äusseren Sinnes, den Raum, einschliesst; denn der 
äussere Sinn ist nur eine Provinz in dem Weltreiche der Zeit 
Daher genügt es Kant, für die Subsumption ein Zeitschema auf- 
zustellen, da es sich nur um die Möglichkeit einer Sabsumption 
der Kategorien und der Anschauung überhaupt handelt. Da 
aber Raum und Zeit beides Anschauungen sind, so ist zwischen 
ihnen keine Vermittelung mehr erforderlich, und was mit der Zeit 
vereinbar ist, lässt sich daher auch ohne weiteres auf den Raum 
beziehen. Bei Kant erscheint es also überflüssig, auch noch ein 
Raumschema aufzustellen, weil das Zeitschema restlos die gestellte 
Aufgabe erfüllte. 

Und doch, wohin dies führte, sahen wir im Zusammenhange 
der Elrörterungen über die Substanz, deren Prädikat der Behair- 
lichkeit deshalb sich um jeden Preis in der Zeit wiederfinden 
musste, weU der Schematismus nur mit Hülfe der Zeit eine An- 
wendung der Kategorien in den Grundsätzen gestattete. 

Da in dieser Arbeit aber die Kausalität und die Substanz ledig- 
lich als die notwendige Zeit- und die notwendige Raumsynthese dar- 
gestellt sind, so werden wir auch nach einem Repräsentanten der 
Notwendigkeit im Räume suchen müssen, wenn anders die Sub- 
stanz gegenüber der Kausalität ihre berechtigte Eigenstellung ein- 
geräumt werden soll. Allerdings es bleibt dabei, dass die Zeit 
nach wie vor den Raum umschliesst; aber darum gilt nichtsdesto- 
weniger für Kant der Grundsatz, dass nur äussere Erscheinungen 
Gegenstände bergen, dass zur vollkommenen Realisation der 
Objektivität in der mathematischen Naturwissenschaft die Da^ 
stellungsmOglichkeit im Räume unerlässliche Bedingung ist, dem- 
gemäss die empirische Psychologie keine naturwissenschaftliche 
Wirklichkeit aufzuweisen hat.^) Ausserdem muss die Substanz 
schon deshalb von der Kausalität unabhängig bleiben, weil ohne 
Substanzen, zwischen denen die Kausalität verbindet, die letzere 

^) A. 381 f. 



über Kants Lehre vom SchematinnuB der reinen Vernunft. 211 

▼SUig in der Luft schweben würde, denn die Zeit „giebt nicht 
den bestimmbaren Gegenstand zu erkennen^. 

Wie in der Zeit, so muss die Notwendigkeit daher auch 

lim Räume selbst repräsentierbar sein, um die Substanz der Kau- 

lalität gegenüber selbständig zu erbalten. Dem unbeschadet 

werden natürlich zwischen der notwendigen Zeit und dem not- 

, wendigen Räume dieselben engen Wechselbeziehungen besteben 

' bleiben, wie wir sie überhaupt zwischen Raum und Zeit gefunden 

baben. 

Was für die Zeit das ^Immer'', bedeutet für den Raum das 
„Überall*^. Auch hier wird die durch das Raumdifferentiale ge- 
; setzte Individualität durch Gegebensein im Räume als Totalität 
fiberwunden. Was in allen Räumen vorkommt, ist so wenig indi- 
▼iduell wie das zu allen Zeiten vorhandene, vielmehr ist ihm das 
Prädikat der absoluten Allgemeinheit zuzuerteilen. An sich würde 
allerdings bis zu einem gewissen Grade schon das Existieren in 
manchem Raum und das zuweilen der Forderung nach Allgemeinheit 
genüge leisten. Aber eine Notwendigkeit würde darin doch noch 
nicht in die Erscheinung treten; denn was nicht ausnahmslos in 
jeder Zeit und in jedem Räume auftritt, das scheint uns immer 
dem Zufalle unterworfen, endlich und beschränkt. Die Natur- 
wissenschaft handelt von den schlechthin allgemeinen Gesetzen. 
Sie sollen nicht in und unter dieser besonderen Zeit und 
diesem besonderen Raum stehen, sondern über und ausser Zeit 
und Raum. Dies aber ist nur dadurch möglich, dass sie als über- 
all und immer bestehend aufgef asst werden ; denn dann verlieren 
Zeit und Raum alle Kraft über sie, dann sind sie überhaupt nicht 
mehr zeitlich und räumlich, sondern ewig und unendlich, alle 
Begrenzung ist überwunden und das Absolute erreicht, und 
nur das Absolute, Transscendente kann uns als notwendig ein- 
leuchten. 

Die Sphäre der sinnlichen Gegebenheiten erscheint uns als 
zufällig; in ihr wollten wir einen Repräsentanten der Notwendig- 
keit finden, eine Aufgabe, die auf den ersten Blick als unlöslich 
erscheint, da sie einander ausschliessende Oppositionen vereinigen 
soll. Doch die in der Zeit und im Raum angelegte Antinomie 
giebt uns den Schlüssel zu ihrer Lösung. Raum und Zeit, als 

A. 381. 



212 W. Zschocke, Über Kanti Lehre Tom SchemataBmne etob 

Totalität gedacht, Überwinden durch sich 8< sr den Charakter 
der Anschaulichkeit, der Intuition; die Gegebenheit einzelner 
Bäume und Zeiten verwandelt sich für deren Totalität zu einer 
unlösbaren Aufgabe, die wir nur noch als eine Aufgabe denken, 
nicht mehr als eine Gegebenheit anschauen können. So begegnet 
sich in der Totalität der Zeit- und Raumreihe Anschauen nni 
Denken, das „überall*" und „immer^ ist in Wahrheit ein echtei 
Schema, das einerseits „intellektuell*, andererseits „sinnlich'' ist 



Erfahrung und Geometrie 
in llirem ericenntnistlieoretisclien Yerliältnis. 

Von Bruno Bauch« 



I. 

Bei aller Grösse des Kantiscbeii Denkens wird man doch 
behaupten dürfen, dass es der mathematischen Erkenntnis nicht 
dorchaos gerecht gewoi'den ist. Das dürfte um so seltsamer 
klingen, als wir schliesslich wieder anerkennen müssen, dass Kant 
im System des Wissens der Mathematik doch die rechte Stelle 
angewiesen hat. Allein das betrifft eben in der That nur den 
logischen Ort, den die Mathematik innerhalb des Wissenschafts- 
amfanges überhaupt einnimmt, nicht aber die mathematische Er- 
kenntnisweise selbst. In dieser Unterscheidung haben wir das 
Mittel, Kants Leistung sowohl in ihrer Bedeutung, wie in den 
Grenzen dieser Bedeutung gerecht zu werden. 

Man kann in der That mit Cantoni sagen, Kant sei auf mathe- 
matischem Gebiete zu wenig Logiker gewesen, um den Mangel der 
Kantischen Mathemathikauffassung zu bezeichnen. In Deutschland 
hat sich diese Einsicht unmittelbar aus der Kantischen Schule selbst 
herausgebildet. Vor allem haben Cohen und Cassirer die damit be- 
zeichnete Korrektur im mathematischen Denken Kants angebracht 
and dieses fruchtbar weiter geführt. Und von der Mathematik 
selbst erhalten wir zu einer solchen Weiterführung die glück- 
lichsten Impulse. Im Auslande sind es sogar fast mehr 
die mathematischen, als die philosophischen Kreise, von denen 
für die Gewinnung eines Verständnisses für das Verhältnis von 
Philosophie und Mathematik die lehrreichsten Antriebe ausgehen. 
Und es scheint, als sollten wir Deutschen gegenwärtig gerade 
beim Aaslande für dies Verhältnis recht viel lernen können, mögen 
auch wieder vielleicht zu Gunsten Kants, zu Gunsten dessen, 
worin wir die positive Bedeutung der Kantiscben Mathematik- 



214 B. Bauch, 

aaffassung sehen, gerade den ausländischen Forschem gegenüber 
einige Einschränkungen notwendig werden. Der Punkt aber, 
an dem wir auch hier über Kant hinausgehen müssen, and an 
dem sich die Grenze der Bedeutung seiner Auffassung zeigt, wird 
in Deutschland wie im Auslande wohl in gleicher Weise richtig 
bezeichnet. Die Anschauung spielt bei Kant eine zu grosse, weil 
der Analysis gegenüber zu verselbständigte Bolle; und ebendarum 
weist er der Analysis eine zu bescheidene Rolle an. Damit ist 
zugleich der Gegensatz, der zwischen der transscendentalen Ästhetik 
und der transscendentalen Analytik besteht, bezeichnet. Elr ver- 
schuldet, wie wir noch sehen werden, seinen „Ding-an-sich** -Dog- 
matismus, der in das Ganze seiner Lehre jene schillernde Unbe- 
stimmtheit bringt, sodass wir in der That ohne das Ding an sich 
in seine Lehre nicht eintreten und mit dem Dinge an sich in ihr 
nicht verbleiben können. Diese Unbestimmtheit lässt sich allein 
erklären aus der ungenügenden Bedeutung, die der Analysis in 
Kants Lehre zufällt, sodass der berühmte Ausspruch Jacobis da- 
durch seine vollkommene, von Jacobi selbst aber wohl kaum ge- 
nugsam erkannte Berechtigung erhält. So auch wird es verständ- 
lich und erscheint nicht als blosser Zufall, dass ein Mann, der 
der Mathematik gegenüber eine solche, kaum überbietbare Ver- 
ständnislosigkeit an den Tag legte, wie Schopenhauer, sich für 
einen Jünger, ja den Thronerben Kants halten konnte nnd in dem 
Teile des Kantischen Systems, der dessen eigentliche Schwäche 
bezeichnet, den Glanzpunkt der Leistung Kants sah, eben in der 
transscendentalen Ästhetik. 

In dieser steht in der That die Anschauung als ein dem 
Begriffe Fremdes diesem gegenüber. Damit hat Kant eine der 
grössten mathematischen Thaten, eben die Analysis, in der Ästhe- 
tik nicht zur Geltung kommen lassen, obwohl seine eigene Ana- 
lytik selber den Weg zu ihr weist. Wie wir etwa, um den Sach- 
verhalt an einem einfachen Beispiele zu verdeutlichen, das 
sogenannte physische Continuum durch den Begriff des mathe- 
matischen Continuums überwinden, indem wir, was die Anschauung 
als ununterscheidbar hinnimmt, und woran die anschauliche Unter- 
scheidbarkeit scheitert, logisch nichtsdestoweniger stetig sondern, 
und wie wir dadurch die einzelnen Elemente in ihrer begriff- 
lichen Bestimmtheit und Diskretion gesondert fassen durch begriff- 
liche „Schnitte", wie die der Zahlenreihe, so geht die gesamte 
Richtung der Analysis auf das Ziel, die Anschaulichkeit, die sie 



Erfidurang und Geometrie in ihrem erkenntnistheoret. Verhältnis. 215 

swar zum Ausgangspunkte bat, begrifflich zu meistern. Mit 
Becht bezeichnet darum David Hubert den Weg, auf dem wir zu 
den „Grundlagen der Geometrie'' gelangen, als „logische Analyse 
unserer räumlichen Anschauungen''.^) Kürzer und treffender kann 
die Unterstellung der Anschauung unter die Logik nicht bezeichnet 
werden. Hier wird vollkommen deutlich, was wir eben bei Kant 
yermissen, gefordert, dass durch die wissenschaftliche Geometrie 
die Anschauung der logischen Analyse zugänglich gemacht und 
logisch bestimmt werde. 

Dieses Ziel bestimmte in gewisser Weise ja auch schon im 
Besonderen die analjrtische Geometrie in dem Augenblicke, da sie 
in der genialen Erfindungskraft eines Descartes geboren ward. 
Es ist also der Wissenschaft keineswegs erst in unserer Zeit ge- 
wiesen worden. Was aber unserer Zeit zu besonderem Verdienste 
gereicht, das ist gerade, um mit Cassirer zu reden, die allgemeine 
„Tendenz der wissenschaftlichen Geometrie, die anschaulichen 
Elemente, die sie zur ersten Anknüpfung nicht entbehren kann, 
im Fortgange der Untersuchung mehr und mehr zurückzudrängen, 
ja sie für die eigentliche Methode des Beweises entbehrlich zu 
machen",') und wie ich bloss explizite hinzufügen möchte, den 
Beweis wirklich logisch zu gestalten. 



n. 

1. Mit dieser Tendenz hängt sowohl logisch, als auch 
historisch, die sich zum Heil der Wissenschaft immer mehr 
dorchsetzende Überwindung des Empirismus in der Geometrie, 
die Einsicht, dass die Geometrie keine Erfahrungswissenschaft sei, 
zusammen. Soweit ich sehe, sind die Versuche, die Geometrie 
aof Erfahrung zu gründen, innerhalb der letzten Jahrzehnte so 
zuriickgegangen, dass sie für manchen Mathematiker kaum noch 
ernstlich in Betracht zu kommen scheinen. In der Philosophie ist 
freilich auch der mathematische Empirismus noch nicht soweit er- 
storben. Aber mancher Mathematiker, der in vorbildlicher Klar- 
heit dem Philosophen in der Überwindung des Empirismus voraus- 



1) Grundlagen der Geometrie von Dr. David Hubert, o. Professor 
an der Universität Göttingen (Leipzig 1899), Einleitung. 

*) Ernst Cassirer: Kant und die moderne Mathematik. (Mit Bezug 
auf Bertrand Russells und Louis (Doutnrats Werke Aber die Prinzipien der 
Mathematik.) Kant-Studien XU, 1, S. 29. 



216 B. Bauch, 

geeilt ist, sieht in diesem höchstens noch eine VemunftyeriiTQBg 
und sinnlose Absonderlichkeit. ^Es bleibt anmöglich, mit dem 
Empirismus in der Geometrie einen vemünftigen Sinn zu yer 
binden."^) Dieses Wort Poincar6s dürfte wohl der Ansdiack 
einer allgemeineren, um nicht zu sagen: der allgemeinen, An- 
schauung unter den bedeutenden, zugleich philosophisch gerich- 
teten modernen Mathematikern sein. Ich will, um jedem Missver 
ständnis für die Folge vorzubeugen, schon hier bemerken, dus 
ich diesem Ausspruche Poincar^s rückhaltlos beistimme. Dea 
Empirismus in der Geometrie, unter dem ich das Bestreben ye^ 
stehe, die Geometrie auf Erfahrung zu gründen, kann auch idi 
absolut keinen „vernünftigen Sinn'' beimessen. Und ihm zu den 
vielen bereits vorhandenen Widerlegungen noch eine weitere an- 
gedeihen zu lassen, hiesse einerseits seine Bedeutung überschätzen, 
andererseits die respektabelsten Leistungen der modernen Mathe- 
matik nicht gebührend respektieren; ja nicht nur deren Leistungen, 
sondern auch die der grossen Philosophen von Kant zurück über 
Leibniz und Descartes bis letzlich hin zu Piaton. Wenn ich abo 
von vornherein weit davon entfernt bin, dem geometrischen Empi- 
rismus das Wort reden zu wollen, so darf ich nun hoffen, gegen 
ein Missverständnis gesichert zu sein, wenn ich auf der anderen 
Seite erkläre : So unabhängig die Geometrie logisch von der & 
fahrung auch sein mag, so braucht doch keine gänzliche Be- 
ziehungslosigkeit zwischen Geometrie und Erfahrung zu bestehen. 
Denn weder braucht das Verhältnis der logischen Abhängigk^ 
der Geometrie von der Erfahrung das einzig mögliche Ver- 
hältnis zwischen beiden, noch braucht das Verhältiüs der ver- 
schiedenen Geometrien zui* Erfahrung das gleiche za sein. 

2. Da ich hier immer nur von einer logischen Beziehongs- 
möglichkeit rede, so brauche ich auf das faktisch-genetische 
Abhängigkeitsverhältnis der Geometrie von der Er&hmng nicht 
besonders hinzuweisen. Denn das wird ja auch von denj^iigen 
Mathematikern nicht bezweifelt, die fast mit einer Art von Leiden- 
schaftlichkeit das logische Abhängigkeitsverhältnis leugnen und 
gerade durch die genetische Veranlassung der Erfahrung, wie das 
Poincar^. thut, die vermeintliche wissenschaftliche „Konvention* gegen 
den Verdacht der Willkühr zu sichern suchen. Dass durch dieses 



1) Poincare, Wissenschaft und Hypothese (deutsch von F. u. L. lande- 
mann) S. 81. 



BrCahnmg und Geometrie in ihrem erkenntnistheoret. Verhältnis. 21? 

letzte Bestreben aber die eigene Position wieder zu Gunsten des 
Empirismus gefährdet wird, thut hier noch nichts zur Sache. Da- 
von werden wir später handeln. Zunächst kommt es nur darauf 
an, die Meinung abzuwehren, dass wir ein genetisches Verhält- 
nis, und nicht ein logisches, im Sinne hätten, und dass wir 
meinten, die geometrischen Erkenntnisse entstünden unabhängig 
von aller Erfahrung. Dass wir nur immer an der Hand der Er- 
fahrung auch zu unseren mathematischen Einsichten überhaupt 
und den geometrischen insbesondere gelangen, dass diese in uns 
immer auf Veranlassung der EIrfahrung entstehen, und dass sie 
ohne alle Erfahrung auch in ihrer abstraktesten Form nicht ent- 
stehen könnten, das dürfte nur ein von Kant als philosophia 
pigrorum bezeichneter, noch an angeborene Vorstellungen glaubender 
Dogmatismus, zu dem man doch weder den modernen Mathe- 
matiker noch den kritischen Philosophen zählen darf, in Abrede 
stellen. 

Und es war selbst nur eine Verwechselung eines solchen 
mit Recht bekämpften Dogmatismus mit dem Apriorismus, des 
^Angeboren'' mit dem „A-priori'', der erkenntnistheoretischen mit 
der psychologischen Bestimmung, die einen Mann von der Be- 
deutung eines Helmholtz zu seinen Konzessionen an den Empiris- 
mus drängte. Und darüber brauchen wir uns um so weniger zu 
yerwundem, als sich Kants Prophezeiung, nach hundert Jahren 
werde man ihn verstehen, sich nicht einmal an der Philosophie 
ganz erfüllt hat. Da hat also der Philosoph heute immer noch 
recht wenig Grund, auf den Mathematiker und Physiker, der vor 
Jahrzehnten jene Prophezeiung noch nicht wahr gemacht hatte, 
mit Tomehmer Geringschätzung herabzublicken, wenn er auch, wie 
das vor jetzt genau dreissig Jahren noch Benno Elrdmann ^) ge- 



*) In seiner Schrift; „Die Axiome der Geometrie. Eine phüosophiBche 
Untersuehnng der Riemann-Helmholtsschen Raamtheorie**. (Leipzig 1877.) 
Benno Erdmann selbst dürfte, wie gesagt, schwerlich yon seinem eigenen 
Standpunkte aus, den er in seinem logischen Hauptwerke (Logik, II. AnfL, 
Halle a. S. 1907) einnimmt, darin heute noch den Hauptwert jener seiner 
Schrift erblicken, worin er im Jahre 1877 ihren Hauptzweck sah; nämlich 
in dem „Nachweis, dass die neue geometrische Raumlehre lediglich in 
psychologischer Hinsicht zu positiv wertvollen Konsequenzen fflhrt, sofern 
sie der empirischen Banmtheorie der modernen Physiologie zur Bestätigung 
dient, dass sie dagegen fttr die Erkenntnistheorie nur die negative Be> 
deutong besitze, die rationalistische Auffassung des Baumes als einer not- 
wendigen und allein miVgliohen Form der Sinnlichkeit ausraachlieasen^. 



218 



fi. Bauch, 



than, ohne es aber wohl in Konsequenz zu seinem jetzigen lo- 
gischen Standpunkte, noch heute selbst thun zu können, jetzt 
nicht mehr mit Helmholtz' Grundanschauungen gehen kann. 

3. Vor einer Verwechselung von genetischer mit logischer 
Abhängigkeit sind wir jetzt auf keinem Gebiete sicherer bewahrt, 
als auf dem der Mathematik überhaupt und dem der Geometrie 
insbesondere. Sowenig der wissenschaftliche Mathematiker eine 
genetische Abhängigkeit der Geometrie von der Erfahrung be- 
streitet, sowenig kommt es ihm noch in den Sinn, eine logische 
Abhängigkeit der Geometrie von der Erfahrung herzusteUeo. 
Daran hindert ihn mit Recht die bereits von Piaton gewonnene 
Einsicht, dass wir die Inhalte mathematischer Erkenntnis schlecht- 
weg nicht „erfahren^ können. Die Erfahrung zeigt nns z. B., nn 
ein bekanntes, geläufiges Beispiel zu wählen, nie eine Linie im 
mathematischen Sinne, sondern immer nur einen „ Streif en**, den 
wir, wie weit wir ihn auch „zusammenschrumpfen*' lassen, nie ba 
zur breitelosen Linie in der Erfahrungswahmehmung verschmälero 
können, wenn er eben noch „erfahrbar** sein soll. Freilich setzt 
seine wissenschaftliche „Erfahrbarkeit^ seine mathematische Be- 
stimmbarkeit voraus; ebendarum aber ist sie nicht diese; sowenig 
je das, was vorausgesetzt wird, mit dem zusammenfällt, wofür es 
vorausgesetzt wird. Das eine beginnt da, wo das andere aufhört 
und umgekehrt. Das hat, wie gesagt, schon Piaton gesehen. Die 
Beispiele liesen sich ins Ungezählte häufen. Um statt vieler, nur 
noch wenige zu erwähnen, so sei an die fundamentale, jedem Mathe- 
matiker geläufige Unterscheidung zwischen dem mathematischen 
Baume und dem empirischen Vorstellungsraume erinnert» von 



So wenig hier trotz der formalen Trennung der erkenntnistheoretiflcbeB 
und der psychologischen Bestimmung auch schon die si^harfe inhaltliche 
Trennung erreicht ist, so sehr uns gerade diese zweite Seite der Unter- 
scheidung für den zweiten, negativen Teil der Behauptung £rdmaiUM ge- 
rade zu entgegengesetzten Eonsequenzen führt, so sehr endlich hier noch 
der Empirismus sein Feld zu behaupten sucht, so bedeutsam ist et doch, 
dass hier überhaupt der bei Helmholtz verkümmerte, durch immanente 
Kritik eigentlich schon über den Empirismus hinausftlhrende unterschied 
der psychologischen und der erkenntnistheoretischen Seite auf mathana^ 
tischem Gebiete angewandt wird; ganz abgesehen davon, dass Sidmaiui 
im Einzelnen, sowenig ich mich mit dem Hauptzwecke seiner Schrift ein- 
verstanden exklären kann, eine Mannigfaltigkeit von Darlegungen bringt» 
die mir auch jetzt noch lesenswert erscheinen, wenn ich auch hier nicht 
auf sie eingehen kann, eben weil ich einem aaderan Zweck verfolfe. 



£rf abrang und Geometrie in ihrem erkenntnistheoret. Verhältnis. 219 

denen diesem, wenn wir genau zusehen, gerade die wesentlichsten 
Eigenschaften jenes fehlen, nämlich: — von der Anzahl der 
Dimensionen ganz abgesehen — die Unendlichkeit, die Homogenei- 
tät, die Isotropie, die mathematische Kontinuität. Vor allem denke 
man aber auch au das Verhältnis von mathematischem und phy- 
sischem Kontinuum selbst. Jeder, der auf mathematischem Gebiete 
kein ganzer Fremdling ist, wird die Beispiele nach Belieben ver- 
mehren können. Ich ^kann hier auf weitere verzichten. Die we- 
nigen erwähnten sollten mir nur dazu dienen, dass für die fol- 
gende Darlegung der Schein vermieden würde, als ob die von den 
Mathematikern behauptete logische Unabhängigkeit nicht nur der 
Mathematik überhaupt, sondern auch insbesondere der Geometrie 
von aller Erfahrung hier verkannt würde. Sie sei also ohne 
weiteres eingeräumt, auch wenn damit nicht eine absolute Be- 
ziehungslosigkeit — und zwar jetzt selbst im logischen, nicht im 
genetischen Sinne — zugegeben werden soll. Denn, wie schon 
gesagt, wenngleich es vollkommen richtig ist, dass die Geometrie 
nicht von der Erfahrung logisch abhängig ist, so brauchte das 
doch keineswegs das einzig mögliche logische Verhältnis zwischen 
ihnen zu sein. Wäre es doch möglich, dass umgekehrt die Er- 
fahrung von der Geometrie — wenn auch nicht in deren ge- 
samten Umfange — logisch abhängig wäre; worauf wir ja bereits 
mit unserem ersterwähnten Beispiele soeben, wenigstens andeu- 
tungsweise, hinwiesen. Und wenn das der Fall wäre, hätten wir 
in der That ein innigeres erkenntnistheoretisches Verhältnis ge- 
wonnen, als es etwa ein so hervorragender Mathematiker, wie 
Poincar^, wohl infolge seiner etwas leidenschaftlichen Abneigung 
gegen den Empirismus, anzuerkennen geneigt zu sein scheint. Da- 
bei sei aber auch gleich bemerkt, dass wir der Erfahrung selbst 
nicht einmal die Kraft einer „Bestätigung'' der Geometrie, etwa 
im Hinblick auf die Resultate der Astronomie, einzuräumen 
brauchen.^) 

4. Man hat dies versucht, um unter den verschiedenen Geo- 
metrien „die richtige'' herauszufinden. Poincar^ sieht mit Recht 
einen solchen Versuch als absurd an. An diesem Punkte knüpfe 
ich besonders an Poincar^ an. Ich thue es deshalb, weil Poin- 



^) Dazu vergleiche man: W. Meinecke, „Die Bedeutung der Nioht- 
Euküdischen Geometrie in ihrem Verhältnis zu Kant« Theorie der mathe- 
matitohen Erkenntnis''. (Kant-Studien XI, 8, S. 880.) 



220 B. fiaucii» 

car6s Anschauungen gegenwärtig ganz besonders für eine gegen- 
seitige Orientierung von Philosophie und Mathematik wirksam 
sind ; zugleich aber auch, weil von diesem Punkte ans am ehesten 
deutlich wird, worin Poincares Anschauungen einer philosophischen 
Berichtigung bedürfen. Für so wertvoll ich also auch die An- 
regungen halte, die für die Philosophie der Mathematik von ihnen 
ausgegangen sind und soviel ich diesen selbst verdanke, so ist 
diese meine Anknüpfung an Poincar^ doch vorwiegend kritischer 
Absicht. Was nun den Versuch, vermittels der Bestätigung durch 
Erfahrung die „richtige Geometrie^ herauszufinden anlangt, so be- 
merkt Poincar6: „Eine Geometrie kann nicht richtiger sein, als 
die andere; sie kann nur bequemer sein. Und die Euklidische ist 
die bequemste, und wird es immer bleiben: 1. weil sie die ein- 
fachste ist, und das ist sie nicht nur infolge der Gewohnheit un- 
seres Verstandes oder infolge irgend welcher direkten Anschauung, 
sondern sie ist die einfachste in sich, gleichwie ein Polynom 
ersten Grades einfacher ist, als ein Polynom zweiten Grades; 2. 
weil sie sich hinreichend gut den Eigenschaften der natürlichen 
festen Körper anpasst, dieser Körper, welche uns durch unsere 
Glieder und unsere Augen zum Bewusstsein kommen, und aus 
denen wir unsere Messinstrumente herstellen."^) 

Ich habe diese Bemerkung ausführlich hergesetzt, weil sie 
ebenso interessant, wie lehrreich ist; und das wiederum ist sie, 
weil sie nach der einen Seite hin ebenso zutreffend, wie nach der 
anderen Seite hin unzutreffend ist und wir trotzdem nach beiden 
Seiten hin von ihr lernen können. Wir können den einen Grund- 
gedanken ebenso rückhaltlos acceptieren, wie wir den anderen 
rücksichtslos um- und fortbilden müssen. Was nämlich Poincar^ 
über die Richtigkeit der Geometrien sagt, erscheint uns ebenso 
richtig selber, wie uns das unannehmbar ist, was er über ihre 
„Bequemlichkeit'' bemerkt, obwohl er darin ebenfalls mit Recht 
keine „Bestätigung durch Erfahrung*' sieht. 

ö. Was zunächst die Richtigkeit anlangt, so ist es gewiss, 
dass der Satz: keine Geometrie kann richtiger sein, als die 
andere, durchaus zutrifft, wenn wir ihn auch vielleicht anders 
begründen, als der berühmte Mathematiker. Die Richtigkeit 
als solche lässt aber jedenfalls, wenn wir sie streng logisch 
fassen — und nicht im psychologischen Sinne als mehr oder 



1) a. a. 0. S. 52. 



Erfahrung und Geometrie in ihrem erkenntnistheoret. Verhältnis. 22 1 

minder grosse Annähemog des Denkens an das Erkennen — , keine 
Einteilung in Grade zu. Sie duldet, wie man in der Logik ge- 
sagt hat, keinen „Kompromiss''. Es ist danach etwas nicht rich- 
tiger, als etwas anderes; sondern es ist entweder richtig oder es 
ist nicht richtig. Tertium non datur. Daraus folgt nun auch, 
dass eine Geometrie nicht richtiger sein kann, als eine andere, 
sondern eben nur, dass sie entweder richtig ist, oder dass sie es 
nicht ist, und dass es auch hier kein Drittes giebt. 

Hier scheint uns nun aber gerade die moderne Geometrie in 
Verlegenheit zu bringen. Folgt zwar auch für uns, dass keine 
Geometrie richtiger sein kann, .als die andere, so scheint sich aber 
gleich eine Schwierigkeit aus unserer Alternative: entweder richtig 
oder nicht richtig zu ergeben; eine Schwierigkeit, die uns in 
Widerspruch gerade damit zu setzen scheint, dass jede. Geometrie 
„gleich richtig" sein soll. Es erhebt sich hier doch sofort die 
Frage: wie steht es aber denn da mit jeder „anderen", wenn man 
annimmt, dass die eine richtig ist? Muss dann eben die „andere" 
nicht notwendigerweise nicht richtig, d. h. falsch sein, wenn es 
ein drittes nicht giebt? Nehmen wir einmal an, die Euklidische 
Geometrie sei richtig, müssen dann nicht die von Lobatschewsky 
und die von Riemann falsch sein? Oder wenn die von Lobat- 
schewsky richtig ist, müsste dann nicht die Euklidische und die 
Riemannsche falsch sein; oder wenn diese letzte richtig ist, sind 
dann nicht die beiden anderen notwendig falsch? Kurz, wenn 
man sich n Geometrien ausdenkt, müssen dann nicht immer n— 1 
Geometrien falsch sein, sobald man annimmt, die eine sei richtig? 
Allein ergiebt sich, so fragen wir gleich weiter, dieser Schein 
wirklich daraus, dass etwas nicht mehr oder weniger richtig sein 
kann, weil die Richtigkeit keine Grade kennt? Wenn wir mit 
Poincar^ zugeben, dass keine Geometrie richtiger sein kann, als 
die andere; wenn wir dies aber zum Unterschiede von Poincar^ 
deshalb thun, weil logisch die Frage nach grösserer oder geringerer 
Richtigkeit ihren Sinn verliert, folgt daraus wirklich schon gegen 
Poincar^ und die ganze moderne Geometrie, dass wenn eine Geo- 
metrie richtig ist, die andere falsch sein müsse? 

Um die Sache etwas konkreter zu wenden, diene folgende 
Überlegung, die sich auf eine bestimmte Einzelbehauptung aus 
jeder der drei erwähnten Geometrien bezieht und uns zugleich das 
Gesamtverbftltnis deutlich macht. 

KMimiAiM XU. 15 



222 B. Bauch, 

Nach Euklid ist die Winkelsumme im Dreieck = 2 R 
„ LobatBchewsky „ „ » » ^ 2 B 

r Riemann „ „ • « ) 2 R. 

Diese Sätze widersprechen sich augenscheinlich. Nun ist mit 
den drei Difljjunktionsgliedem des „Gleichen^, des „OrOsser^i'' 
und des „Kleineren*" (als 2 R) offenbar eine sogenannte yoUstin- 
dige Disjunktion erreicht. Stünden wir dieser nur mit dem 
Widerspruchsgesetze gegenüber, so müssten gewiss, wenn emt 
dieser S&tze richtig wäre, die anderen falsch s^in, ohne dass einer 
richtiger, als der andere zu sein brauchte. Wir würden also tod 
dem Poincar^schen Ausgangspunkte her, gerade weil von einer 
grösseren oder geringeren Richtigkeit nicht die Rede sein soll, 
gerade dadurch, dass wir alle Richtigkeits-„Eompromisse'' stroif 
ablehnen, scheinbar zu ganz anderen Konsequenzen geführt. 

Nun ist aber wahrlich nicht wenig und nicht fruchtlose Mähe 
darauf verwendet worden, zu zeigen, dass keine der Geometrien 
durch die andern gefährdet werden könne. Das ist selbst auch 
durchaus richtig. Wie aber ist das im Hinblick auf jene drei, wie 
es scheint, einander disjunktiv ausschliessenden, also einander doch 
wohl widersprechenden Sätze möglich? Nur dann ist es, wie das 
natürlich jeder Mathematiker weiss, und was zunächst nur den 
Laien befremdet, möglich, wenn wir es hier gar nicht mit dem 
vielgepriesenen Widerspruchsgesetze, das nur die Axiome z. T. trennt, 
zu thun haben, sondern vielmehr vor jenem^logischen Verhältnis 
stünden, das wir in der Logik als Antinomie zu bezeichnen 
pflegen, wonach, wenn scheinbar von einer Beziehung f eine an- 
dere fi zu gegenseitiger Aufeinanderbeziehung im Urteil behauptet 
wird, die scheinbar zu einer zweiten f| und einer dritten f^ eben- 
falls behaupteten Beziehung in Widerspruch steht, die erste Be- 
ziehung f in den einzelnen DisjunktionsurteUen nicht identisch ist, 
sondern in ihnen als {\ i'\ i'" etc. auftritt. Dasheisst, auf unser 
Beispiel angewandt, nichts anderes, als was jedem Mathematiker 
geläufig ist: dass das Dreieck Euklids eben nicht auch das von 
Lobatschewsky und von Riemann ist und keines mit dem anderen 
vertauscht werden kann. Dieser antinomische Oedanke anf das 
Ganze der verschiedenen Geometrien erweitert, scheidet diese eist 
vollkommen von einander. Die hier dargelegte Antinomie, in 
ihrer Setzung und Auflösung, ist die implizite Voraussetarnng ftr 
die Möglichkeit der verschiedenen Geometrien. Die Gtoometer 
machen sie, indem sie die verschiedenen Geometrie-Gebiete ato voa 



Erfahrung und Geometrie in ihrem erkenntnistheoret. Verhältni«. 223 

Widerspracbsgesetze nicht betroffen, bezw. z. T. nur in den Axiomen 
betroffen, scheiden.^) Hier sollte nnr die implizite methodische 
Voraussetzung kurz expliziert werden. Wenn es also auch ein 
Drittes zwischen Richtigkeit und Unrichtigkeit nicht giebt, so be- 
zieht sich das stets auf eine bestimmte Setzung. Ist diese richtig, 
so kann sie freilich nicht auch unrichtig sein. Aber neben ihr 
sind selbst Setzungen möglich, die zur ersten zwar in einem anti- 
nomisch-gegensätzlichen, aber nicht in einem contradiktorischen 
Widerspruchsverhältnis stehen. Mithin war die Schwierigkeit, die 
sich aus der Ablehnung einer Richtigkeitseinteilung in grössere 
oder geringere Richtigkeit zu ergeben schien, eben nur Schein. 

Danach haben wir also streng zu unterscheiden zwischen 
antinoroischem Gegensätze und logischem Widerspruch. Beide 
fallen nicht zusammen. Ja, der antinomische Gegensatz ist nur 
möglich, wenn die antithetischen Disjunktionsglieder im Verhältnis 
zu einander widerspruchslos sind, den Widerspruch ausschliessen. 
Das ist demnach die Voraussetzung auch dafür, dass die ver- 
schiedenen Geometrien zu einander — obwohl im Gegensatz, so 
doch nicht im Widerspruch — stehen, d. h. also neben einander 
logisch möglich sind. Dafür ist aber schliesslich für jede einzelne 
selbst ein eindeutiger und in sich selbst widerspruchsloser Gehalt 
gefordert. Und so tritt hier zu der ersten Forderung anti- 
nomischer Widerspruchslosigkeit, wonach jede Geometrie 
neben der anderen muss bestehen können, die zweite Forderung 
immanenter Widerspruchslosigkeit, wonach jede Geometrie 
muss für sich selbst bestehen können, in sich selbst widerspruchslos 
sein muss; nur so kann sie ja auch die erste Forderung erfüllen. 

Diese immanente Widerspruchslosigkeit ist es, auf die von 
mathematischer Seite darum ein besonderer Nachdruck gelegt 
wird. Und sie meint man, wenn man von den verschiedenen Geo- 
metrien in einer logisch nicht ganz korrekten Weise sagt, 



1) Über die Richtigkeit oder Umiohtigkeit der freilich e. T. wider- 
gpreehenden, und von ihren nur anünomischen Systemen wohl ra unter- 
•cheidenden Axiome entacheidet aber bekanntlich nicht immeir ein Beweis. 
Wenn wir schliesslich trotzdem eine Wertnnterscheidnng treffen, so ist 
dies nicht selbst eine bloss formale im eigentlichen Sinne Richtigkeitsent* 
Scheidung, sondern eine LieistnngsfiUiigkeitsentscheidung eben über das 
auf ihnen aufgebaute Wissenssystem. Freilich werden wir, wie sich zeigen 
wird, diese Leistnngsfähigkeitsentscheidong nicht mit Poincar^ durch das 
Kriterium der Bequemlichkeit herbeifOhren dürfen. 

16* 



224 ß. fiaucli, 

dass keine richtiger sei als die andere. Streng genommen darf 
man nur sagen: jede sei widerspruchslos.^) Denn so allein haben 
wir jene formale Richtigkeit zu verstehen, als welche Wider- 
spruchslosigkeit des Denkens bedeutet. In der That kann man 
ja bekanntlich jede der verschiedenen Geometrien von ihren 
Axiomen her konstruieren. Euklid baut von seinen Axiomen ans 
seine Geometrie auf. Durch Fallen-Lassen seines Parallelenaxioms 
und Annahme seines numerischen Gegensatzes, sowie unter Bei- 
behaltung der anderen Axiomer folgt rein logisch und widerspruchs- 
los konstruiert, d. h. also „richtig'', die Geometrie Lobatschewskjfs 
— von der Poincar^ mit Recht sagt, dass „ihre unfehlbare Logik 
in nichts derjenigen der Euklidischen Geometrie nachsteht^* (a. a. 
0. S. 38) — , wie durch weiteres Fallen-Lassen des ersten Geraden- 
axioms die neuen ebenso mit den Euklidischen, wie mit den 
Lobatschewskyschen Sätzen im antinomischen Gegensatz stehenden, 
in sich aber widerspruchslosen Sätze Riemanns folgen. 



m. 

1. In Rücksicht auf das rein formal-logische G^etz des 
Widerspruchs sind also die verschiedenen Geometrien vollkommen 
gleichwertig. Und doch sind sie nicht absolut gleichwertig. Auch 

^) Das thut korrekterweise auch David Hubert a. a. O. S. 19 ff. 
Da ich hier immer schon die spezifisch mathematischen Entwickelangen 
voraussetze, verweise ich für die nächsten Bemerkungen hier wieder anf 
dessen Werk; insbesondere für die mathematische Entwickelang des Be- 
griffs der „Unabhängigkeit*^ der Axiome und der Methode des „Eallen- 
Lassens^ der Axiome auf die überaus klaren und auch methodologisch 
instruktiven Darlegungen auf S. 21 f. und S. 23 ff. Ich füge hier selbst 
nur noch eine kurze methodische Bemerkung hinzu. Man hat zweierlei 
auch hier, das logische und das psychologische Moment, zu unterscheiden. 
Es ist gewiss richtig, dass man die „Unabhängigkeit^ durch die „Methode 
des Fallen-Lassens^ erkennt, was auch gerade Hilberts Verfahren charak- 
terisiert. Darum ist es ungereimt, gegen Hubert einzuwenden, dass er 
die Unabhängigkeit für das Fallen-Lassen ja schon voraussetze. Ss ist 
eben zu unterscheiden zwischen der Unabhängigkeit an und für sich nnd 
der Ermittelung der Unabhängigkeit in der thatsächlichen ErkenntniSi 
d. h. zwischen dem logischen und den psychologischen Moment. Hubert 
wahrt also gerade durch sein Verfahren den reinlichen Unterschied nnd 
begeht keineswegs eine Vermischung beider Momente: durch Fallen-LasMn 
erkennt man die Unabhängigkeit, und weil die Unabhängigkeit logisch 
bQ^teht, kann man das Fallen-Lassen bewirken. 



Erfahrung und Geometrie in ihrem erkenntnistheoret. Verhältnis. 225 

Poincare erkennt einen Wertnnterschied an, der logischerweise ia 
den, allein widersprechend geschiedenen, Axiomen als vno^taf^tg 
im echt Platonischen Sinne liegen mnss, in Rücksicht auf das, 
was sie in dem von ihnen aas konstruierten Wissenssysteme 
leisten. Allein so sehr ich, auf Grund der Unmöglichkeit einer 
Gradeinteilung innerhalb des Richtigkeitsbegriffes, die Frage, 
welche Geometrie — in Rücksicht auf den formalen Richtigkeits- 
begriff — richtiger sei, als die andere, als sinnlos erkenne, so 
wenig kann ich den Wertunterschied in einer bloss grösseren oder 
geringeren Bequemlichkeit setzen. Indem Poincar^ das thut, ist 
er gerade dem Empirismus, dem er so eifrig zu entgehen strebt, 
wieder verfallen, wie es besonders seine Tendenz, die Axiome, um 
sie nicht auf Erfahrung gründen zu müssen, in der „Konvention'' 
zu begründen beweist. Denn „BequemUchkeit'' und „Konvention"' 
sind selbst durchaus empirische Faktoren. Und doch hängt die 
auch von Poincar6 anerkannte Wertdifferenz — nach diesem 
selbst in gewisser, aber für ihn freilich in anderer als der hier 
darzulegenden Weise — mit der Erfahrung zusammen. Das aber 
nicht in dem von Poincar^ ebenfalls abgelehnten Sinne, als ob die 
eine von ihnen durch Erfahrung bestätigt werden könnte, die 
andere aber nicht. Wir werden vielmehr sehen, dass gerade die 
Art dieses Zusammenhanges eine Bestätigung durch Erfahrung 
ausschliesst. Femer aber auch nicht in dem Sinne, dass die eine 
von ihnen der Erfahrung widerspräche, die andere aber nicht 
Hier ist es gerade Poincar^, der sehr treffend erklärt: „Keine 
EIrfahrung wird jemals mit dem Euklidischen Postulate im Wider- 
spruch sein, ebenso aber andererseits: keine Erfahrung wird 
jemals im Widerspruch mit dem Lobatschewskyschen Postulate 
sein.** ^) 

Wir stossen so auf eine dritte Widerspruchslosigkeit, die zu 
der bereits geforderten, einerseits der antinomischen, andererseits 
der immanenten, hinzukommt als Widerspruchslosigkeit der Geo- 
metrie zu der Erfahrung. Wenn also auf solche Weise weder das 
Euklidische noch das Lobatschewskysche Postulat einen Wider- 
spruch zur Ehiahrung enthält, so scheinen die verschiedenen Geo- 
metrien mit der Erfahrung gleich verträglich zu sein. Allein es 
besteht dennoch ein Unterschied in diesem Verträglichkeits- 
verhältnis. Seine Auflösung eröffnet uns einen neuen Ausblick 



») a- a. O. S. 77. 



226 B. Bauch, 

und ermöglicht uns in letzter Linie die Bestimmung des erkemit- 
nistbeoretischen Verhältnisses von Geometrie und Erfahrung. 

2. Es kommt dabei auf eine genauere Fassung einerseits 
des Wesens der Verträglichkeit, andererseits desjenigen der 
Erfahrung an. Sie sind verträglich mit der Erfahrung in dem 
Sinne, dass die „gegebene'', vermeintlich „fertige ** EHahnmg 
beide zulässt; und zwar aus dem einfachen Grunde, weil sie als 
solche uns weder das eine noch das andere in sinnfälliger Evidem 
an die Hand giebt. Auch hier vermochte schon die Platonisdie 
Einsicht, auf die sich gerade für das mathematische Gebiet keiner 
je so nachdrucksvoll berufen sollte, als Galilei, den Gedanken zur 
grössten Klarheit zu entwickeln, dass das empirische Eiicenntius- 
gebiet das mathematische Gesetz überhaupt nie erreichen, es 
darum ebensowenig je widerlegen, wie je bestätigen könne. 

Etwas Anderes aber ist die „fertige**, die „gegebene** & 
fahrung; etwas Anderes die aufgegebene Erfahrung, das Problem 
jener Erfahrung, die von der Wissenschaft erst zu leisten ist. 
Zu den Leistungsmethoden aber gehört ganz allgemein die Mathe- 
matik. Von ihren methodischen Leistungsmitteln ist es unter den 
Geometrien diejenige Euklids, die dem Erfahrungsgegenstande 
gegenüber mit den überhaupt möglichen Geometrien, wie wir ge- 
sehen haben, das Gemeinsame hat, dass sie dem ErfahnmgsgegNi- 
stande weder widerspricht, noch von ihm bestätigt wird; und, wie 
wir jetzt sehen werden, das Auszeichnende besitzt, dass sie den 
Erfahrungsgegenstand erst ermöglicht, ihm eben seine Gegenständ- 
lichkeit mit verbürgt. Ihre Verträglichkeit mit der Erfahrong 
ist also nicht blosse Widerspruchslosigkeit im Verhältnis zur Er 
fahrung — jene dritte Form der Widerspruchslosigkeit, die zur 
antinomischen und immanenten Form hinzutritt — sondern posi- 
tive Erträglichkeit, d. h. Grundstiftung der Erfahrung. Mithin 
liegt das Wertentscheidende nicht in der formalen, sondern der 
transscendentalen Logik. 

In diesem Sinne behält auch Kant, was die Stellung der 
Geometrie im System des Wissens anlangt, Recht, mag er auch 
ihrer eigentlichen Erkenntnisweise nicht gerecht geworden seui, 
trotzdem auch er schon den Gedanken einer „höchsten** Geometrie, 
von der die Euklidische nur eine besondere Form sein soll, gefasst 
hatte. Unter diesem Gesichtspunkte wird in der That seine geo- 
metrische Anschauungsweise von der nicht-euklidischen ebenso- 
wenig getroffen, wie sie selbst diese trifft. Sie bestehen rein 



Erfahmng und Geometrie in ihrem erkenntnistheoret. Verhältnis. 227 

logisch wohl und gut zusammen, nur erhält die Euklidische 6eo- 
metrie im Wissenssystem das Plus der erfahrungsstiftenden Funk- 
tion. Und wenn Poiucare, um ihn hier wieder zum Vergleich 
heranzuziehen, in der „Angepasstheit^ der Euklidischen Geometrie 
an die ^Körperwelt" — d. i. doch wohl Naturerfahrung — das 
Wertentscheidende sieht, so hat er als implizite Voraussetzung 
unbewusst bereits die transscendentale Logik gefordert. Wenn 
wir nun mit einer geringen Verschiebung des gewöhnlichen Wort- 
gebrauchs sagen: die Euklidische Geometrie ist im Verhältnis zur 
Erfahrung transscendentale Voraussetzung, die nicht-euklidische 
Geometrie hingegen ist transscendent, so könnten wir damit selbst 
Poincar^s Behauptung über die Euklidische Geometrie erkenntnis- 
theoretisch begründen: »sie ist die einfachste in sich, gleichwie 
ein Polynom ersten Grades einfacher ist als ein Polynom zweiten 
Grades". 

Indes jene transscendentale Forderung hat Poincare nur im- 
plizite gestellt. Wir können sogar genau den Punkt bezeichnen, 
der ihn zu der expliziten Formulierung nicht kommen lässt: näm- 
lich die Verkennung des Unterschiedes von formaler und trans- 
scendentaler Logik. Indem wir dies noch aufdecken, geben wir 
einerseits unserer Aufstellung von der erfahrungsstiftenden Funk- 
tion der Euklidischen Geometrie allein die eigentliche Begründung, 
wie wir andererseits zugleich jeden Einwand gegen unsere Dar- 
legung abschneiden. 

3. Es könnte zunächst freilich scheinen, als ob wir jede 
Geometrie zur Grundlage der Erfahrung machen könnten, indem 
wir diese eben in die „Sprache" der verschiedenen Geometrien 
^übersetzen", wie wir etwa die mechanischen Thatsachen auch 
ganz anders „aussprechen" können, als wir es in der klassischen 
oder auch noch in der energetischen Mechanik zu thun pflegen, 
^ indem wir sie auf einen nicht-euklidschen Raum übertragen".^) 
Allein ich brauche hier nicht besonders darauf aufmerioam zu 
machen, dass wir, um beim BUde zu bleiben, dann doch immer 
von einer Art „Grundsprache" ausgehen. Wichtiger ist es, daas 
die ȟbertragenen" Thatsachen dann eben doch nicht die 
realen Thatsachen sind. Und das ist es auch, was einen Unter- 
schied im erkenntnistheoretischen Verhältnis der verschiedenen 
Geometrien zur Erfahrung begründet. 



1) Poincarö «. a. 0. S. 92. 



228 B. Bauch, 

Wer freilich des Glaubens ist, dass aus dem blossen Begriffe 
und seiner widerspruchslosen Definition auch schon die Existenz 
des Definierten folge, mag auch glauben, dass jede Geometrie in 
gleicher Weise Erfahrung zu begründen vermöge, denn wider 
sprechen kann ihr ja nach den vorangehenden Ausfiihrungen 
keine. Allein wer bedenkt, dass die Existenz eine eigene logische 
Gesetzmässigkeit bedeutet, die im Verhältnis zum Widerspruchs- 
gesetze etwas ganz neues zu besagen hat, dem geht hier gleidi 
ein weiterer Unterschied unter transscendentalem Betracht anf. 
Der Transscendentalphilosophie kommt es nicht darauf an, die 
formal möglichen Erfahrungen in eben dieser formalen Möglichkeit, 
sondern die reale Erfahrung in ihrer realen Möglichkeit m 
begreifen. Die Widerspruchslosigkeit bezeichnet aber immer nnr 
formale, nicht reale Möglichkeit. Wir können dämm ruhig zu- 
geben, dass auch die nicht-euklidische Geometrie formal-mögliche 
Erfahrung logisch bedingen kann. Aber allein die euklidische 
Geometrie ermöglicht logisch reale Erfahrung. Sie ist Möglich- 
keitsgrundlage für Wirklichkeitserkenntnis, die anderen sind solche 
Grundlage immer nur für Mögliches. Es ist daher, wie Gassirer^) 
bemerkt, ganz im Kantischen Sinne, wenn Gouturat gegen Poincart 
die völlige Verschiedenheit des Widerspruchsgesetzes und des 
Existenzialgesetzes betont, indem er in den von Cassirer wiede^ 
gegebenen Sätzen ausführt: „der Widerspruch ist ein rein n^- 
tives Kriterium der Existenz; er ist ein Kriterium der Nicht- 
Existenz. Nicht das Fehlen des Widerspruchs ist es, was die 
Existenz eines Begriffs beweist, sondern umgekehrt ist es die 
Existenz eines Begriffs, die seine Widerspruchslosigkeit verbürgt* 

Aber so sehr Kant auch den Ontologismus zurückgewiesen 
hat, so macht sich doch gerade hier eine historisch recht interes- 
sante Problemkonstellation bemerkbar. Man wird es schon be- 
achtet haben, wie gerade hier der von Kant zurückgewiesene 
Ontologismus und der von Kant mit verschuldete „Ding-an-sich"- 
Dogmatismus, der das „An-Sich'' in Dingen sieht, trotz alto 
Verschiedenheit, in gewissem Sinne Hand in Hand gehen. Wenn 
der Ontologismus aus der formalen Widerspruchslosigkeit auf die 
Existenz schliesst, muss er konsequenterweise die Gleichwertigkeit 



1) a. a. O. S. 41. Hier giebt Cassirer, der ja eigens Kants Verhftltaii 
zur modernen Mathematik behandelt, die eingehende und ausffihriiche 
Parallelstelle aus der Kr. d. r. V. S. 181 f. 



Erfahrung und Geometrie in ihrem erkenntnistheoret. Verhältnis. 229 

der verschiedenen Geometrien für die Erfahrung und damit aber 
auch eine Mehrheit von Erfahrungen einräumen, deren einzelne 
einer bestimmten Geometrie entspricht. Anders verfährt der 
Ding-an-sich-Dogmatismus.^) Aber er muss doch, wenngleich von 
anderem Ausgange her zum gleichen Ziele gelangen. Er geht aus 
vom Dasein absolut existierender, vom Erkennen und dessen Ge- 
setzen unabhängiger Dinge, sieht also die Existenz und die Ding- 
lichkeit nicht selbst als Erkenntnisgesetze, sondern als von diesen 
unabhängige Absoluta au. Wenn er aber diesen Ausgangspunkt 
hat, so muss er, da er die formal-widerspruchslose Möglich- 
heit der verschiedenen Geometrien doch ebenso wenig leugnen 
kann, so wenig wir sie leugnen und so wenig der Ontologismus 
sie leugnet, zu der Konsequenz einer Mehrheit möglicher Erfahr- 
ungen gelangen. Bestünden wirklich seine absoluten „Dinge-an-' 
sich^ zurecht, so müssten sie in der That in einer Mehrheit 
von Erfahrungen als mannigfache „Erscheinungen'' darstellbar 
sein, je nachdem sie nämlich unter dem Anschauungsgewand — 
zu einem solchen würden ja dann die verschiedenen Geometrien 
nach Schopenhauers berüchtigtem Vorgang herabgesetzt — dieser 
oder jener Geometrie erscheinen. Hier Hesse sich Poincar^s Auf- 
fassung von der grösseren oder geringeren Angepasstheit einer 
Oeometrie an die Erfahrungsgegenstände aufs glücklichste mit 
dem Ding-an-sich-Dogmatismus harmonisch verbinden. Poincar^s 
eigener, treffender Gedanke, es nicht mit Dingen, sondern mit 
Beziehungen zu thun zu haben, wird über Bord geworfen, sobald 



^) An diesem Ponkte macht sich der fundamentale Widerspruch 
zwischen der transscendentalen Ästhetik und der transscendentalen Logik 
Kants und mit jenem auch die schroffe Gegensätzlichkeit von Anschauung 
und Analysis am schärfsten bemerkbar. Die Ästhetik setzt absolut exi- 
stierende nDinge an sich*^ voraus, die vermittels der Anschauungsformen 
nur „erscheinen*^. Darum können wir ohne das Ding an sich nicht in das 
Lehrgebäude Kants eintreten. In der Analytik treten Existenz, wie Ding- 
lichkeit als Kategorien — Dasein und Realität — auf. Darum können 
wir mit dem nDing an sich^ in der That nicht länger im Lehrgebäude 
Kants verbleiben. Es hat sein Heimatsrecht verloren; und das — von 
Rechts wegen. — Das charakteristische Widerspiel von Anscliauung und 
Begriff in der Kantischen Lehre behandelt, zwar ohne die besondere Be- 
Eiehung auf das mathematische Problem, doch in allgemein erkenntnis- 
theoretischer Beziehung durchaus zutreffend auch die das vorliegende Heft 
eröffnende Arbeit Zschockes ; und zwar ausführlicher, als ich es für meinen 
besonderen Zusammenhang, für den mir Kant vorwiegend bloss zur histo- 
rischen ^Illustration" dient, nötig habe. 



23() B. Bauch, 

er voD jener Angepasstheit spricht. Denn der Elrfahrong^g^eo- 
stand wird, sobald wir von einer Angepasstheit einer Gtoometrie 
an ihn reden, immer noch im dogmatischen Sinne eines „Diogos- 
an-sich"* genommen, dem etwa Wesen verschiedener Geometrien 
nur immer die eigene als Anschauongsgewand überziehen, sodass 
ein Gegenstand, der „an sich*" A ist, etwa dem Euklidischea 
Wesen als a, dem Lobatschewskyschen als a etc. „erscheinai' 
müsste. Eine solche Auffassung,^) die selbst wieder den Sinn dv 
Analysis ins Schwanken bringt, kommt nicht los von einer Ab- 
bildungstheorie. Man wird diese mit der naiven Abbildungstheorie, 
der ja die Vorstellung ein adäquates Abbild des Oegenstandes 
geben soll, nicht verwechseln dürfen. Aber Abbildtheorie ist auch 
sie. Wir könnten sie, zum Unterschiede von der naiven, vielleicht 
am besten als „Theorie des schlechten Abbildes*' bezeichnen, 
da die Vorstellung das Ding, das da erscheinen soll, nie adftqatt, 
sondern nur als „Erscheinung" wiedergiebt, aber dadurch eben 
doch auf ein absolutes Ding hindeutet. 

5. Für die kritische Philosophie aber, der das Existenzial- 
gesetz, wie die Dinglichkeit eben Gesetz ist, diejdas Gesetz je- 
doch nicht dinglich hypostasiert, und der eben deshalb der Gegen- 
stand als kategorial bedingt gilt, verliert es darum allen Sinn zi 
sagen : ein Gegenstand A könne sowohl als a, wie als a, je nadi 
der Anschauungsform der Sinnlichkeit erscheinen, für sie ist 
er eben schlechtweg der Gegenstand A. Und A ist ihr der 
Gegenstand, au dem die geometrischen Bedingungen im Verein 
mit den Kategorien, wie Existenz und Realität, zu seiner Bestimm- 
ung beteiligt sind. Welcher der verschiedenen Geometrien dieser 
Anteil zukommt, kann darum jetzt kaum noch länger fragücb 
sein, und damit erhält unsere These ihre eigentliche Begründung. 
Stellen wir uns aber zunächst noch einmal auf den Standpunkt 
der Fiktion von Wesen einer nicht-euklidschen Anschanong. Da 
es für den kritischen Standpunkt sinnlos ist, hinter den Gegen- 
ständen der Erfahrung noch Dinge zu suchen, so könnten wir 



1; Sie scheint mitunter sogar zum Mystizismus zu führen. Ich glaabe, 
nur von ihr aus ist wenigstens der psychologische Znsammenhang ver- 
ständlich, der einen sonst so eminent klaren Kopf, wie Biemann, zu so 
seltsamen „Abenteuern der Vernunft^ verführen konnte, dass gegen dessen 
„Erdseele*^ z. B. die „Weltseele^ der ersten spekulativen Naturphilo- 
sophie des vorigen Jahrhunderts als ein fast rationalistisch nüchternes Denk- 
gebilde erscheint. 



Erfahrung und Geometrie in ihrem erkenntnistheoret. Verhältnis. 231 

aber trotz der Fiktion jener nicht-euklidischen Wesen nicht zu- 
geben, dass etwa ein Gegenstand A den Euklidischen Wesen als 
a, den nicht-euklidischen etwa als a erscheine, hinter welchen Er- 
scheinungen beide das A zu suchen hätten. A würde, wenn wir 
vom Existenzial- und Dinglichkeitsgesetze alle verwesentlichende 
Hypostasierung fern halten, allen Sinn verlieren, a und a wären 
nicht verschiedene Ei*scheinungs weisen eines und desselben Gegen- 
standes; vielmehr müssten, so wahr Existenz und Dinglichkeit 
Gegenstandsgesetze, Kategorien, nicht Wesenheiten sind, ebenso 
wahr auch a und a selbst als zwei verschiedene Gegenstände 
gelten. Transscendentalphilosophie und Illusionismus sind toto 
coelo verschieden und schliessen sich in alle Wege aus.^) 

6. Wer also das* „An-Sich" nicht in Dingen sehen und dem 
Ding-an-sich-niusionismus entgehen will, dem blieben rücksichtlich 
des Verhältnisses von E^rfahrung und Geometrie nur zwei disjunk- 
tive Wege. Auf der einen Seite müsste er, anstatt verschiedener 
Erscheinungsweisen eines und desselben Gegenstandes, überhaupt 
verschiedene gegenständliche Erfahrungsrealitäten als durch die 
verschiedenen Geometrien gefordert annehmen, sodass zwar nicht, 
wie in der Ding-an-sich-Metaphysik, hinter unserer Erfahrungs- 
realität noch eine Ding-an-sich-Realität steckte, sondern so, dass 
neben unserer Erfahrungsrealität noch andere Erfahrungsreali- 
täten parallel gingen. Hier wäre zwar der eine Dogmatismus 
überwunden, indem Existenz und Dinglingkeit nicht verwesentlicht 
zu werden brauchten. Allein man wäre zu einem anderen Dog- 
matismus, dem Ontologismus, gelangt, der aus der bloss wider- 
spruchslosen Möglichkeit schon die Existenz erschlossen glaubt. 
Hätte der Ding-an-sich-Dogmatismus der Existenz, gegenüber der 
transscendentalen Logik, zu viel eingeräumt, so hätte der Onto- 
logismus ihr, gegenüber der formalen Logik, zu wenig eingeräumt. 

Auf der anderen Seite aber — und das ist die zweite Mög- 
lichkeit, dem Ding-an-sich-Dogmatismus zu entgehen — wird er- 
kannt, dass Existenz weder zu verwesentlichen sei, noch auch 
ans dem blpssen Widerspruchsgesetze folge, sondern transscenden- 
tales Gesetz, logische „Funktion'' sei, die wir wohl kaum noch 



1) Das beweisen heute vielleicht am klarsten Rickerts „Gegenstand 
der Erkenntnis** und Ck>hen8 „Logik des reinen Denkens^. In beiden er- 
scheint die Überwindung des Ding-an-sich-Dogmatismus und damit die 
des lUiiaionismus in prätiseiter Form. 



232 B. Bauch, 

ausdrücklich vor der Verwechselung mit der psychologisdieE 
Funktion eines existenten Bewusstseins, das immer schon das 
Existenzialgesetz voraussetzt, zu sichern brauchen. Dann er- 
kennen wir ausser der Erfahrungsrealität weder eine Hinterreali- 
tät von Diugen-an-sich, noch eine parallele Nebenrealität mehr an, 
und wir ergreifen in jener keinen Schein, sondern transscendental- 
logisch bedingte empirische Realität selbst. 

7. Sind wir aber da nicht zu einem Standpunkte gelangt 
den man mit Schuppe gerade als „konsequenten Empirismus'' be- 
zeichnen könnte? Ich hätte schliesslich gegen diese Bezeichnung 
nichts sonderlich einzuwenden, wenn man sie nur auch wie Schuppe 
richtig versteht, und sich dabei auch daran erinnert, dass ich zwei 
Seiten an der Erfahrung unterschieden habe. Dass diese Art 
„Empirismus'^ gerade das Gegenteil des von den Mathematikern be- 
kämpften Empirismus ist, der die Erfahrung zur letzten Grundlage 
der Erkenntnis machen will, dürfte klar sein. Hier soll nicht die 
Erfahrung zur alleinigen grundstiftenden Funktion der Erkenntnis ge- 
macht werden, sondern umgekehrt fähren hier die Grundlagen der 
Erkenntnis zur alleinigen, erlebbaren Erfahrungsrealit&t, weder zu 
einer metaphysischen Hinter-, noch einer parallelen Nebenrealität 
In diesem Sinne dürfte man mit Schuppe wohl von „konsequentem 
Empirismus'' sprechen. Das wäre derselbe Sinn, in den man auch 
Kants Standpunkt und den konsequenten Kritizismus überhaupt als 
„Empirismus'' bezeichnen könnte. In dessen transscendentaler Methode 
ist die Erfahrung doch nicht die letzte Grundlage der EIrkenntnis, 
sondern in ihrer Möglichkeit das Problem der Erkenntnis, das die 
Grundlagen der Erfahrungserkenntnis ermitteln soll. Diese Er- 
mittelung führt zur Erfahrungsgegenständlichkeit als einziger 
Realität. 

Erkennen wir aber auf transscendentaler Grundlage nur 
diese eine Erfabrungsrealität an, so können wir als erfahrungs- 
bedingend auch nur eine Geometrie anerkennen, nämlich die 
ICuklidische, von der ja Poincar^ schon die „Angepasstheif an die 
Erfahrung behauptet hatte, so streng widerspruchslos und in sich 
zusammenhängend auch, wie von vornherein zugegeben; die nicht- 
euklidsche Geometrie sein mag. Dadurch wird klar, in welcher 
Weise die Anschauung des grossen französischen Mathematikers 
umzubilden ist. Sobald der letzte Rest von Ding-an-sich-Dogma- 
tismus beseitigt ist, muss die „Angepasstheit" der bedingende 



firfahmng mid Geometrie in ihrem erkenntnistheoret. Yerliältnis. 23d 

Funktion weichen. Und gerade durch diese Art von ^Empirismus*', 
wie ihn die transscendentale Methode bedingt, kann der von den 
Mathematikern bekämpfte methodische Empirismus auf mathema- 
tischem Gebiete endgültig überwunden werden. Hier zeigt sich, 
welcher circulus vitiosus es wäre, diejenige Geometrie, die die ^ 
Erfahrung begründen und verbürgen hilft, durch Erfahrung be- 
gründen oder auch nur bestätigen zu wollen. 



IV. 

Wenn wir zurückblicken auf den Ausgangspunkt der Unter- 
suchung, um zugleich die Summe zu ziehen, zu der uns die 
Weiterentwickelung am Schluss geführt hat, so können wir sagen : 
Es bleibt freilich von vornherein unmöglich, von einer grösseren 
oder geringeren Richtigkeit im formalen Sinne rücksichtlich der 
verschiedenen Geometrien zu reden. Aber die formale Logik ist 
überhaupt ausser Stande, mit dem Widerspruchsgesetze einen 
Wertunterschied zwischen ihnen zu begründen. Je mehr wir indes 
auch mit einer tTberwindung des landläufigen Empirismus Ernst 
machen, d. h. je weniger wir auch der Erfahrung als Grundlage 
und Ausgangspunkt die Funktion einer Wertentscheidung ein- 
räumen, um so weniger werden wir diese Funktion auch den 
empirischen Begriffen der »Angepasstheit'' und „Bequemlichkeit^ 
zugestehen können. Die Angepasstheit weicht, je mehr wir die 
Logik zu ihrem Rechte kommen lassen, desto mehr einer die 
Angepasstheit erst ermöglichenden Bedingung, bis die erk^nntnis- 
theoretische Logik die Erfahrung selbst nicht mehr zum Ausgangs- 
punkte, sondern zum Zielpunkte des Problems nimmt. Indem sie 
deren Möglichkeitsbedingungen überhaupt ins Auge fasst, be- 
ruhigt sie sich nicht mehr bei blosser Angepasstheit, sondem 
sucht gegenständliche Erfahrungserkenntnis selbst zu begründen. 
So kann für sie in Rücksicht auf dieses Problem der Vorzug der 
Euklidischen Geometrie weder freilich in einer grösseren Richtigkeit, 
noch aber auch in grösserer Bequemlichkeit der Erfahrung gegen- 
über bestehen. Ist sie endgültig über den Dogmatismus hinaus, 
so mnss für sie dieser Vorzug allein in der Funktion eines Be- 
gründungsmittels für gegenständliches Erfahrungswissen liegen. 

Mit Cantors glücklichem Begriffe der „freien Mathematik'' 
könnte man, diesen einmal in besonderem Sinne auf geometrisches 



'2U B. Bauck, 

Gebiet einschränkend, das Verhältnis ebenfalls klar madien. 
Dieser Begriff kann das Verhältnis ?on Geometrie nnd Erfahnmg 
zum Schluss noch einmal ins rechte Licht setzen. Nicht so ist 
es hier zu verstehen, als ob die eine Geometrie von der Elrfahrofig 
unabhängig, „frei"" wäre, die andere nicht; sondern so, dass die 
Erfahi-ung unabhängig wäre von der einen, nicht von der anderen. 
Jene Geometrien könnten wir frei nennen, weil die Erfahnmg 
ebenso von ihnen, wie sie von ihr, unabhängig ist; sie helfen 
keine Erfahrung begründen (wenn man nicht dem Dogmatismos 
verfallen will), sondern sind lediglich auf ihren eigenen, inneren, 
widerspruchslosen Zusammenhang gerichtet. Der freien Geometrie 
würde also nicht eine eigentlich unfreie gegenüber stehen, aber 
doch eioe Geometrie, die allein mit realer Erfahrung im Verhält- 
nis steht. Unfrei wieder wäre dies Verhältnis darum nicht, weil 
sie nicht von der Erfahrung abhängig ist, vielmehr umgekehrt sie 
für die Erfahrung eine begründende Funktion besitzt. Und sie 
wäre deshalb die einzige Geometrie, die dieses Verhältnis hat, 
weil wir, sofern wir uns vom Dogmatismus frei halten, nur ein 
Reich realer Erfahrung anerkennen können. 

Den Wert der freien Geometrie wird, wie den der freien 
Mathematik überhaupt, kein Philosoph verkennen, der mit einigem 
logischen Interesse und Verständnis der geometrischen Spekulation 
gefolgt ist. Nur interessiert ihn als Erkenntnistheoretiker mehr 
jenes geometrische Gebiet, dessen Umfang wenigstens gleichsam 
in Grenzberührung mit dem bescheidenen Erdendasein gelangt 
Wir erleben so die Sonderbarkeit, dass die so sehr als spekulatiy 
verrufene Erkenntnistheorie sich eben an spekulativer Höhe den 
höchsten geometrischen Spekulationen nicht vergleichen kann, 
dass sie ihnen gegenüber gleichsam in bescheidener Erdennähe 
verbleibt. Was Cassirer, zwar ohne Beziehung auf die Geometrie 
insbesondere, über das Verhältnis der Ek*kenntnistheorie zur 
Mathematik im allgemeinen sagt, das gilt ohne Einschränkung 
auch von ihrem Verhältnis zur Geometrie. Dies kann kaum 
treffender formuliert werden, als es in folgenden, deshalb hier 
unverkürzt verzeichneten Worten geschieht: „Niemand wird ans 
philosophischen Gründen versuchen dürfen, der Freiheit der 
Mathematik, die die Bedingung ihrer Fruchtbarkeit ist, Schranken 
zu setzen. Und dennoch beginnt die Erkenntniskritik erst mit 
der Frage, die der Mathematiker nicht kennt und nicht zu kennen 
braucht Ihr eigentliches Problem ist nicht sowohl der Inbalt 



£rfahrung uncl Geometrie in ihrem erkennt nistheoret. Verhältnis. 235 

der mathematischen Prinzipien, als die Rolle, die sie im Aufbau 
unseres Begriffs einer »gegenständlichen' Wirklichkeit spielen. 
Der Blick der Philosophie darf — wenn man dieses Verhältnis 
einmal schroff und paradox ausdrücken will — weder auf die 
Mathematik, noch auf die Physik gerichtet sein; er richtet sich 
einzig auf den Zusammenhang beider Gebiete.*"^) 



1) a. a. O. S. 48. 



Recensionen. 



Talbot, Ellen Bliss, Professor of philosophy in Monnt Holyoke 
College. The fundamental principle of Fichte's philosophj: 
(Comell studies in philosophy, No. 7.) New York, Macmillan 19(W. (Vi 
und 140 S.) 

Das Buch hat mit der Kantischen Philosophie mehr za thirn, alt der 
Titel schliessen lässt. Das erste Kapitel (,,Kant and Fichte: The rektioa 
of human consciousness to its ideal^, S. 1 — 21, zu dem die beiden An- 
merkungen über ^die verschiedenen Formen von Kants Begriff der intel- 
lektuellen Anschauung", S. 123—133, und über Kants „Ich denke^, S. 194 
bis 136 gehören), ist eine Erörterung über das prinzipiell Ungenflgende ib 
Kants Fassung des Verhältnisses von Form und Materie und über die Not- 
wendigkeit, die Weiterarbeit an diesem Punkt zunächst mit den Wak- 
zeugen der Wissenschaftslehre zu unternehmen. Der Doalismas der KiB- 
tiscnen Philosophie wird an den drei kritischen Hauptwerken dargestdlt 
In der Kr. d. r. V. charakterisiert er sich wesentlich als Untendiied 
zwischen menschlichem Begreifen und intellektueller Anschaaong, in der 
Kr. d. prakt. V. als rigoristische Ablehnung des Gedankens, „die Neigug 
in das Gesetz aufzunehmen und zu veredeln, bis sie wert ist, Inhalt dn 
sittlichen Lebens zu sein" (11). (Etwas genauer wäre es wohl ffeweMB, 
den Gedanken dahin zu fassen, dass bei Kant der Fichtische Gedanke, 
dass die Sinnen weit das Materiale der Pflichterfüllung ist, noch TflOi| 
fehlt, und dass infolgedessen im Rahmen der Kantischen Philosophie über 
haupt nicht eingesehen werden kann, wie der sittliche Entschlnss in der 
kausal geordneten Welt wirksam wird; diese Fassung des polenusdiei 
Gedankens wäre vor allem deshalb vorzuziehen, weil Kant mit seiner Ab- 
lehnung der Neigung aller Sentimentalitätsmoral gegenüber dnrchans m 
Rechte ist.) Auch die Kr. d. Urt. giebt keine wir^che Überwindung dei 
Dualismus : Hindeutungen auf eine letzte Harmonie von Subjekt nra Ob- 
jekt werden zwar herausgearbeitet: aber Kant vergisst nicht, eion- 
schärfen, dass er hier nur regulative Prinzipien der Urteilskraft, keine 
konstitutiven Prinzipien gegenständlich giltiger Erkenntnis behandelt 
Mit gutem Recht wendet sich darum die Vemsserin geffen die oft auf- 
gestellte Behauptung, in den beiden späteren Kritiken nabe Kant den 
dualistischen Standpunkt der Kr. d. r. V. zu Gunsten einer moniBti8clie& 
Metaphysik erheblich modifiziert; Kants Begriff der Erfahrung ist in der 
Kr. d. Urt. noch derselbe, der er 1781 gewesen war QO, 15). 

Im Anschluss an diese Darlegungen wird Fichtes VerhftltniB sa 
Kant charakterisiert. Fichte setzt die fchheit in die absolute Idenftittt 
des Subjektiven und Objektiven — eine Identität, die nicht mehr £0* 
dacht werden kann: denn alles Denken denkt Objekte, setet also sofaoa 
die Sjpaltung von Subjekt und Objekt voraus; die absolute Identitftt ÜMt 
diesseits des Erkennens. In manchem Betracht ist aber in dieaen & 
sammenhängen der Verfasserin die Darstellung Fichtes doch zu dogmatisch 

fersten; besonders S. 17 f. sieht es geradezu aus, als habe Fichte (fie 
ransscendentalphilosophie deshalb weitergebildet, weil ihm der Kantisdie 
Dualismus unsvmpathisch gewesen sei; daä der entscheidende Schritt dea 
Fichte über Kant hinaus gethan hat, durch den Kritizismus als adeben 



ftecensionen (Talbot). 237 

gefordert war, Itest sich aas diesen Ausftthnuigeii nicht entnehmen. Sehr 
fibsch ist aber dann wieder entwickelt, wie derselbe Vergleich unserer 
begrifflichen Erkenntnis mit der Idee eines absoluten Wissens für Kant 
die enge Grenzbestimmung des menschlichen Bewusstseins notwendig su 
machen scheint, während er für Fichte zum Schlflssel seiner Problemlösung 
wird (19 f.). 

Das zweite Kapitel («The idea of the E^**) untersucht hierauf die 
Werke der sog. ersten, das dritte Kapitel (,3^mg and existence'^) die der 
sog. zweiten Periode Fichtes (vom Jahre 1800 an). Zutreffend wird darauf 
aufmerksam gemacht, dass die Werke der früheren Zeit in viel deutlicherer 
Beziehung zu Kant stehen. Die Annahme eines eigentlichen Bruches in 
Fichtes philosophischer Entwicklung wird jedoch abgelehnt: das Prinzip 
der Wissenschaftslehre ist von Anfang an kein formales Ich, sondern 
Identität des Subjektiven und Objektiven (25 f.). In der That lumn nie- 
mand, der auch nur die Einladungsschrift von 1794 mit Verständnis durdi- 
^lesen hat, daran zweifeln. Die Verfasserin giebt eine geschickte Über- 
sieht über die Gedankenführung der „GrundCige der gesamten Wissen- 
achaftslehre'^ und kommt im Anschluss daran nochmals auf Slant zurück. 
Der teleolo^che Kern des Fichtischen Systems, die Einsicht, dass im 
Sollen der Real- und Erklärungsgrund des Daseins gesucht werden muss, 
ist die vollere Entwickelun^ einer Tendenz, die säon bei Kant da ist, 
freilich nur in der Gestalt emer regulativen Idee (36). Doch ist der durch 
die Erhebung des regulativen Prinzips zum konstitutiven zwischen Kant 
und Fichte entstandene Gegensatz darum nicht so gross, wie es scheinen 
könnte, weil auch nach Fichte das Ziel des unendlichen Strebens, das ab- 
solute Telos niemals im Dasein realisiert werden kann (37). Der Unter- 
sehied darf darum freilich nicht übersehen werden : bei Kant bleiben Form 
und Inhalt schlechthin getrennt; für Flehte bedeutet die fortschreitende 
Ihitwickelung eine wirUiche Annäherung an das Ziel der Einheit von 
Form und lüaterie (37). — Gar nicht übereinstimmen kann ich nun aller- 
dings mit der Verfasserin, wenn sie die Einheit von Form und Materie 
dsmrch begreiflich machen will, dass das Ich bei Fichte als sich selbst 
entwickelnde Form (40) gedacht sei. Fichte hat nie versucht, aus der 
Form die Materie heranszuklauben ; die Stelle, auf die sich die Verfasserin 
stutzt (S. W. I, 616), macht ihre Interpretation keineswegs notwendig, 
und die Erklärun^n der Einladungsschruft von 1794 (bes. I, 62) schliessen 
sie ans. Das rem formale Ich J„Ich als Anschauung^), von dem die 
Wissensehaftslehre ausgeht, ist eine blosse Abstraktion, durchaus nicht 
das aus sich selbst heraus Gehalt entwickelnde Prinzip. Dieses sich selbst 
entwickelnde Prinzip ist vielmehr gerade jenes „höchste Ziel des Strebens 
der Vernunft**, das «nur Idee ist und nie wirklich sein wird** (I, 616). 
Von diesem „Ich als Idee** aus, in dem „die vollständige Materie der Idi- 
heit gedacht wird**, ist zuletzt das „Ich als Anschauung** zu verstehen 
(eben als dessen abstrahierte Form); darum betont auch Fichte oft als 
eigentümliche Schwierigkeit der Wissenschaftslehre, dass sich ihr Anfang 
nieht vor ihrem Ende verstehen lasse. Sehr richtig erklärt die Verfasserin, 
dass die Umwandlung des absoluten Ich vom Anfang der Wissenschafts- 
lehre in das „Ich ab Idee** dem „Anstoss** sein dualistisches Aussehen 
nehme (42} : nur darf man sich nicht über die Richtung täuschen, aus der 
die Überwmdung der metaphysischen Absolutheit des Anstosses herkommt. 
— Der im AnMhluss daran erörterte Widerspruch zwischen zwei Ten- 
denzen Fidites (die Materie entweder in der Form versinken zu lassen, 
so dass das höchste Prinzip rein formal wäre, oder aber zu einer letzten 
Einheit von Form und Materie hinzuführen) löst sich mir sehr einfach 
dahin, dass Fichte entweder vom „Inhalt** im Kantischen Sinne des Wortes 
9pri6btf den er stets lüs die blosse, in sich wesenlose Erscheinung fasst, 
oder dass er von der „Materie der Ichheit** redet, womit er etwas wesent- 
Heh anderes meint, etwas, wovon Kant allenfalls in seiner Ldire vom 
Genie (Kr. d. Urt. g 46 ff.) eine leise Ahnung gezeigt hat; ein Zusammen- 

16 



^38 ttecensionen (t)eli)08). 

hang zwischen den beiden Thematen besteht alleidings: weil nftmlidi die 
Materie der Ichheit „nur durch das Denken einer Welt denkbar iat* 
(I, 616). Die sehr scharfsinnigen Bemerkungen, mit denen sich schUev- 
lieh die Verfasserin bemüht, den „Widerspruch^ der beiden Tendenzen 
Fichtes als nicht ^ zu hart empfinden zu lassen (54 ff.), weisen um 
allerdings ebendahin: aber das Reisultat wäre mit erheblich fleringeieo 
Aufgebot von Scharfsinn reiner zu erreichen gewesen; aucm die den 
chronologischen Gang doch etwas störende Anleihe bei der Individnalittti- 
lehre der „zweiten Periode*^ (60 ff.) hätte dann wegbleiben können. (Dt» 
in diesem Zusammenhang der Sinn der Fichtischen Forderung der Hin- 
gabe des individuellen Selbst an das Absolute sehr aasdrflcuich unter- 
schieden wird vom Altruismus, hätte übrigens nicht zu kommen brauchen. 
Ich kann nicht finden, dass Fichtes Lehre darum der Klarheit ermangele, 
weil ihr Urheber, wie die Verfasserin richtig bemerkt hat, sich nir^^nds 
die Mühe nimmt, auf diesen Punkt einzugehen. Wer Fichtes £ntwiek^ 
lungen lesen kann, ohne selbst zu merken, dass er hier eine ethische Ein- 
sicht findet, die ganz unvergleichlich viel höher steht als aller Altmisrnns, 
— den mag man seiner Wege gehen lassen.) 

Das dritte Kapitel geht auf die späteren Werke Fichtes ein; dabei 
soll gezeigt werden, dass die neuen Wendungen doch in der Hanptsaehe 
mit den Aufteilungen der älteren Schriften zusammenstimmen, so dm 
zwar von einer £ntwickelung des Systems, aber nicht von einem neneo 
System fi;esprochen werden darf. Im Ganzen dürfte die Ver&sseiin daiin 
recht haben; über manche Einzelheiten der Auffassung lässt sich allerdin^ 
diskutieren. Für ganz unzutreffend möchte ich die Meinung halten, der 
Wechsel der Terminologie, insbesondere die beinahe gänzliche VermeijdnBff 
des Wortes „Ich*^, hänge mit der Absicht zusammen, dem miasventim- 
liehen Vorwurf des Solipsismus vorzubeugen (75): Fichte war viel sn stok 
und viel zu sehr Philosoph, als dass er imstande gewesen wäre, auf einen 
Vorwurf von solcher Qualität Bücksicht zu nenmen. Doch diese Be- 
merkung betriM die Persönlichkeit Fichtes, nicht sein System. Was die 
Interpretation des Systems anlangt, so habe ich den Eindruck, dnss die 
Verfasserin den Schriften der späteren Zeit mit intimerem Verständnis 
gegenübersteht als denen der früheren: die Darlegungen enthalten dne 
^nze Reihe wirklicher Feinheiten und manche glüälicne Richti^^tellonp 
irrtümlicher Auffassungen. Den beiden Fragen nach der Besreiflidikeil 
des Auftretens der ewigen Ideen in der Geschichte (106 ff.) und nach dem 
Qrund des Übels (118 if.) möchte man vielleicht eine noch eingehendere 
Behandlung, besonders eine umfassendere Berücksichtigung der religioot- 
philosophischen Lehren wünschen: doch das sind unerhebliche Ans- 
stellungen. 

Mein Endurteil reiht das Buch zu dei\jenigen, die von Anfang an 
interessieren, über die man sich im Laufe der Lektüre gelegentlich etwas 
ärgert, die man aber doch mit wachsender Freude zu Ende liest. 

Halle a. S. Fritz Medicus. 

Delbos, Victor. La philosophie pratique de Kant. Parii, 
F^lix Alcan. 1905. (756 S.) 

Delbos hat hier ein Werk von wahrhaft — deutscher Gründlichkeit 
geschaffen. Nicht nur die von Kant selbst herausgegebenen Schriften, 
sondern auch die in Betracht kommenden Vorlesungen und die mannig- 
fachen aus seinem Nachlass herausgegebenen Au&eichnungen sind soi;^ 
fältig und mit eindringendem Verst&ianis verwertet; ebenso ist auch die 
umfangreiche Kantlitteratur, die ältere so gut wie die neuere, in weitem 
Umfange herangezogen. 

Eine ausfthrhche Inhaltsangabe seines Werkes hat der Autor selbst 
in Bd. XI (1906) S. 287—289 dieser Zeitschrift gegeben, so dass wir davon 
absehen können. Hervorgehoben sei nur, dass er die praktische Philo- 
sophie Elants im weitesten Sinne behandelt, also nicht dIoss ESthik and 
Kechtsphilosophie, sondern auch Religions- und Geschichtsphilosophie, 



kecensionen (Paulsen). 2ö9 

nnd dafis er ferner die Beziehungen, die zwischen dem theoretischen 
und dem praktischen Teil der Kantischen Philosophie bestehen, eingehend 
verfolgt. 

Auch sind nicht nur Kants Anschauungen in der kritischen Periode 
zur Darstellung gekommen, sondern seine ganze innere Entwickelung ist 
ausführlich geschildert. Gerade hierin sehen wir einen Hauptvorzug des 
Bnchesj dass die allmähliche Ausgestaltung der grundlegenden Ansichten 
Kants m sorgfältigster Weise dargelegt wird. Dabei sind auch mit Recht 
die Werke aus der kritischen Zeit nicht als Zeugnisse eines in sich völlig 
fertigen nnd widerspruchslosen Systems aufgefasst, sondern es sind die 
Um- und Weiterbildungen, die die Kantischen Gedanken teilweise auch 
noch in dieser Periode erfuhren, klar und überzeugen! nachgewiesen. 

Der Verfasser hat sich mit liebevollem VersUlndnis in die Kantische 
Oeistesart und Gedankenwelt hineingelebt und den meisten seiner Aus- 
führungen — auch über so viel behandelte und viel umstrittene Fragen 
wie den Formalismus und Rigorismus von Kants Ethik — können wir 
rückhaltlos beistimmen. Den Höhepunkt des Ganzen scheint uns die aus- 
führliche Behandlung der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten^ zu 
bilden. 

Eine ins Einzelne gehende Kritik würde bei dem ausserordentlichen 
Umfange des Werkes zu weit führen. Es ist übrigens zu fürchten, dass 
eben die allzngrosse Ausführlichkeit der Behandlung und Breite der Dar- 
stellung der Verbreitung und Wirkung des Werkes im Wege stehen 
werde. Unser Verfasser hat es für angemessen gehalten, von allen be- 
handelten Büchern und Aufsätzen Kants ausführliche Inhaltsangaben 
seinem Texte einzuverleiben. Nun bieten ja freilich diese Schriften — 
wenigstens teilweise ~ Interpretationsschwierigkeiten genug, so dass eine 
klare und übersichtliche Darstellung des Gedankenganges zumal für solche, 
die sich erst einarbeiten wollen, durchaus nicht überflüssig ist. Aber der 
Erklärung^wert, den diese Inhaltsangaben haben könnten, wird dadurch 
herabgemindert, dass sie sich zu eng an Kants Darstellung selbst an- 
schliessen, sich zu wenig frei über diese erheben. 

Und neben dem Wunsch nach grösserer Gedrängtheit der Dar- 
legungen hat sich mir noch ein zweiter bei der Lektüre immer wieder 
autgeoränfft.: hätte doch der Autor sich nicht allzusehr auf eine historisch- 
referierenae und interpretierende Behandlungsart beschränkt! Er geht 
zwar auch auf gar manche kritische Bedenken ein, die man ^gen Kant 
erhoben hat, aber in der Hauptsache doch nur, um sie abzuweisen. Aber 
diese Widerlegungen sind nicht immer gerade überzeugend, und gar 
manche tiefer liegende Schwierigkeiten, die Kants Lehre bietet — so 
etwa in seinem ^griff der praktischen Vernunft, in seiner Behandlung 
des Freiheitsproblems — bleiben unerörtert. Dass Delbos selbst kein 
„orthodoxer*' Kantianer ist, hat er im Schlusswort deutlich genug gesagt, 
und gerade die kurzen Andeutungen, die sich hier finden, lassen den 
Mangel einer durchgeführten kritischen Stellungnahme um so schmerz- 
lieber vermissen. Doch bleibt auch so das, was das Werk bietet, wert- 
voll genug. 

Giessen. A. Messer. 

PMÜsen, Friedrieb, Dr., Professor an'der Universität Berlin: Dialoge 
Aber natürliche Religion. Über Selbstmord und Unsterblich- 
keit der Seele. Von David Hume. Ins Deutsche übersetzt nnd mit 
einer Einleitung versehen. Dritte Auflage. Leipzig, Verlag der Dürr- 
schen Bnchhanmnng. 1906. Philosophische Bibliothek. Bd. 86. 

Die Dialoge Hnmes über natürliche Religion, sowie dessen kleine 
Aafsitse über den Selbstmord und die Unsterblichkeit der Seele, die 
Pftnlsen in treffUcher Übersetzung nach achtundzwanzi^ Jahren nunmehr 
neu ervcheinen liess, dürfen in unseren Tagen sicherlich auf verstAndnis* 
▼olle Wfirdigunff rechnen. Denn einmal entsprechen religionsphilosophische 
Erörterungen iielfach den heute herrschenden Stimmungen; dann aber ist 

16* 



242 Recension^n (Wyneken). 

gewonnen, nicht empirisch nachgewiesen werden. — Gleichwohl finM 
nun Verf. sein neues einfaches Naturgesetz der Seele auf empiriscliai 
Wege. — Nach der althergebrachten Dreiteilung der seelischen Tldtif* 
keiten, Fühlen, Erkennen. Wollen wird das neu entdeckte Naturgeeete dar 
Seele aufgezeigt. Das Einzelsubjekt erlebt zunächst einen äusseren fin- 
druck von etwas Unbestimmtem = Fühlen. Darauf folgt Unterscheiding 
des Gegenstandes, von dem der Eindruck herrührt, von anderen Gim- 
ständen, und von dem Ich = Erkennen. Hierauf Entscheidung über 
meine Stellung zu dem Gegenstande « Wille. Nun geht die BewMmg 
gleichsam rückwärts. Das ^h empfindet » erkennt seine neue SteOmif 
zu dem Gegenstand, der auf es eingewirkt hat und konamt zum AbscliliMi 
in einem Beruhigungsgefühl, wenn nicht statt diesem ein Beunmhiciuisi- 
gefühl zu einem erneuten Begehren eines anderen Zieles treiDt. ui 
letzten Fall heisst die Reihenfol^ : Begehren, Erkennen, Gefühl. Da dcf 
Wille die Grundkraft der Seele ist, so stellt sich, objektiv betrachtet, die 
Sache so dar: Überwältigtwerden der einen Dyiiamonade durch eine 
andere (als erlebt im Gefühl) Erkennen: Die zwei Willeuseinheiten smd 
im Gleichgewicht. Wollen: Überwältigen des Eindrucks durch die gleich- 
sam angegriffene Willenseinheit. Yenasser erläutert dieses Natnmseti 
der Seele an Beispielen aus der alltäglichen Erfahrung. Wie nun dieser 
nur in einer Hypothese festgestellte, aber durch die EJrfahmnff bestätigte 
Verlauf der seelischen Funktionen ein Natur^;e8etz der Seäe genannt 
werden kann, hat Verfasser im ersten Teil seines Werkes eingehend e^ 
örtert. (nDas Ding an sich und das Naturgesetz der Seele''; siehe oben.) 
Auch auf ethischem Gebiet ist der Verlauf der seelischen Funktionen der 
gleiche wie auf intellektuellem. Auf jenem Gebiete nun ist der Unte^ 
schied von sittlich und unsittlich ein spezifischer, kein gradueller. Denn 
für jedes unbefangene Empfinden sind der krasse Egoismus und der 
selbstlose Altruismus spezifische Gegensätze. Wo ist der Ursprung dei 
Sittlichen zu suchen? in der Rückwendung der Gedanken auf sich selbit 
— worin der Unterschied der menschlichen Seele von der Tierseele sutase 
tritt ~ trifft der menschliche Geist Bxd eine Stelle, wo seinen Willen en 
fremder Wille berührt. Da liegt der Quellnm^t des Sittlichen. Wir 
müssen über Kant hinausgehen. Denn es bleibt nichts anderes flbrig, ih 
mit dem Ernst zu macheu, was Kant nur als Bild angesehen wissen wiD, 
nämlich den gebietenden Willen eines Herzenskündi^rs, auf ein ausw^ 
weltliches Wesen zurückzuführen, das wir als Gottheit fiissen. Denn die 
fremde Einwirkung eines anderen Willens auf den unsrigen Iftsst sieh voa 
keinem Anschauun^gegenstand der Aussenwelt herleiten, rührt auch nickt 
von einer Mehrheit von fremden Willensäusserunfen her, weil alle, die 
dafür in Betracht kommen, Eltemgebot, Sitte una Gesetz sich als abge- 
leitet von einem absoluten Grun^inllen, der dabei schon vorausgeseSrt 
werden muss, darstellen. — Es lässt sich nun ein vollgtlltigerBeweis 
weder für noch geeen das Dasein Gottes erbringen, sondern nur ein Be- 
weis dafür, dass und warum der Mensch zur Bildung des Gk»ttesbegriffoi 
sich genötigt findet. Die Philosophie vermag nur verständlich und be- 
greifhch zu machen, dass die Gottesverehrung eine normale Seite nsttt^ 
uch menschlicher Bethätigung ist; dass aber diese normale Anlage der 
menschlichen Natur kein Phantasiegebilde ist, darüber, wie auch Aber die 
Wirkungen des unsichtbaren Gottes in der Welt, soU die innere Wucht 
des logischen Denkens entscheiden. Das Resultat ist im Glauben su er- 
fassen. Eine Verbindung zwischen Gott und Welt resp. Menschen komni 
zustande durchjenen gebietenden, fremden Willen in uns. Nach der Natur der 
menschlichen FersOnuchkeit sind wir genötigt, uns die Gottheit als eine 
zwecksetzende, sittliche, absolute PersOnlicläeit vorzustellen. Hiemaeh 
ist die Stellung des Verf. zur Willensfreiheit begreiflidi. Sittliche IM* 
heit besteht in der Übereinstimmung des eigenen mit jenem nfremden" 
Willen. Der Begriff der Sittlichkeit ist da aufgehoben, wo nur höhere 
Entwickelungsformen der sozialen Instinkte zutage treten. Sittlichkeit 



R^censionen (Schrad^r). 243 

nur durch menschliche Gemeinschaft bedingt. Zweck dieser letsteren ist 
die Herausbildung einer MehrpersOnlichkeit zu einer realen Willenseinheit. 
Zur Verwirklichung dieser Idee ist aber die Einschränkung und Be- 
kämpfung der individuellen Selbstliebe notwendig. Solche Mehrpersönlich- 
keiten sind: Familie, Staat, Kirche. Deren Entstehung und Begriff werden 
auf induktivem Wege erschlossen. Die Familie als weiter dauernde, sitt- 
Hehe Lebensgemeinschaft soll hervorgehen aus der gegenseitigen Achtung, 
Schätzung und Anerkennung des anderen individueUen Wi&ens uad ist 
ohne jenen fremden, im Gewissen gebietenden Willen nicht denkbar. Die 
Famibe hängt mit der Wirtschaft durch Arbeitsteilung zusammen. Der 
Staat entwickelt sich aus dem Wirtschaftsleben der Familie und ist in 
«einer primitivsten Form die Verbindung von Volk und Land durch die 
Willenseinheit des im Oberhaupte verkörperten Gesetzes. In der Kon- 
kurrenz mit dem Staate hat der Verein ,|Kirche^ mit seinen sittlich-reli- 
giösen Darbietungen eine dem geistigen Range nach innere Überlegenheit 
über den Staat, ist aber in seiner äusseren, rechtlichen Ausgestaltung dem 
Staate, dem auch die Zuerkennung der juristischen Person zukommt, unter- 
geordnet — Mit kurzen Notizen über Wesen. Gesetz und Philosophie der 
beschichte, deren ausführliche Bearbeitung vorbehalten war, schbesst der 
Verfasser sein Werk, das von christlich-sittlichem Geiste geleitet, sein 
Aoffenmerk auf die eine grosse Hauptsache gerichtet hält: „Gewissheit 
auch fürs Erkennen.^ 

Theningen (Baden). H. Staeps. 

Schrader, Ernst, Dr., Privatdozent an der Technischen Hochschule 
zu Darmstadt. Elemente der Psychologie des Urteils^ ^I. Band. 
Analyse des Urteils. Leipzig 1905, J. A. BurÜi. (282 S. und Vm.) 

Es ist nicht das erste Mal, dass Verf. sich zur Psychologie des Ur- 
teils äussert. Schon seine erste Schrift zielte in dieser Richtung und 1903 
erschien, nachdem noch eine andere vorausgegangen, eine Abhandlung von 
100 Seiten „Zur Grundlegung der Psychologie des Urteils^. Sie bedeutete 
eine Art Prospekt zu einem grösseren Werk, das Verf. damals in Aussicht 
steUte. 

Den ersten Band desselben bildet die vorliegende Arbeit. Es kann 
nicht verschwiegen werden, dass sein Eindruck naoi mehreren Richtungen 
nicht günstig ist. Die ^nannte kleinere Abhandlung war knapp und 
präzise gefaxt sowie reich an Gedanken. Der neue Band ist zunächst 
von recht schleppender Darstellung. Immer wieder beginnen Präliminarien, 
langsam dahin ziehende einleitenoe Bemerkungen über das, was nicht be- 
handelt werden wird, was behandelt worden ist und was behandelt werden 
wird; Nebenerörterungen werden endlos ausgedehnt, sodass der Leser 
von der breiten Darstellung ganz ermüdet ist, wenn endlich etwas 
Wesentliches kommt. Dabei kann nicht einmal gesagt werden, dass die 
Ideen des Verf. überall klar zum Ausdruck kommen. Das Buch wäre 
vielleicht in manchen Punkten klarer geworden, wenn es nicht gar so 
klar hätte sein wollen. — Auch der Aufbau des Ganzen ist nicht hin- 
reichend durchsichtig; im Verhältnis zu dem, was geboten wird, sind die 
Anforderungen, die an den Leser gestellt werden, um zu vollem Verständ- 
nis aller Zusammenhänge zu kommen, ganz unverhältnismässig gross. 

Denn eben auch seinem Inhalte nach giebt das Buch nidit besonders 
viel. Es bringt kaum irgend einen wesentlichen Ghedanken, den Verf. 
nicht bereits wenigstens einmal deutlich ausgesprochen hätte. Speziell 
das Verhältnis der „Grundlefung** zu diesem neuen Band ist ein der- 
artiges, dass gegen diese Publikationsweise nachdrücklich Einspruch er- 
hoben werden muss. Zum grösseren Teil behandeln beide Schriften die- 
selben Gegenstände, die erste in sehr gedrängter Form, die zweite in 
endlos gedehnter. Das Gebotene wäre eine einzige, zwischen beiden an 
Umfang die Mitte haltende Arbeit gewesen. 

Ehe ich mich zur Theorie des Verf. vom Urteil wende, erscheint es 
mir nötig, auf einige allgen^einere Punkte mit einem Worte einzugehen. 



244 Recensionen (Schrader). 

Zunftduit saf seine Stellung zur Selbstbeobaehtuog, der Anfanot- nd 
Endmethode aUerpsychologiBchen Fonchmiff. In seiner pQrvoi&ßaaii^ 
hatte Verf. gute Worte ffir sie gefunden; jetzt ist sie erheblich in dSa 
Hintermind ^drftngt worden. So heisst es z. B.: »Häufig kann nsi 
Sätze lesen wie den folgenden: ,Die innere Erfahrung lehrt mm, daas ...* 
und dann folgt eine psycholo^che Behauptung, mergegen mllssen wir 
protestieren. Die innere Erfiirung kann uns niemals einen Sata der 
Seelenlehre darthun. (!) Sie kann uns nur die Daten an die Hand gdwi, 
aus denen die psycholosfischen Theorien abgeleitet werden* (86). Sbendt 
wird behauptet, dass den Gefühlen gegenfioer „die innere wanmehmuBg 
beinahe vöili«' versagt^, eine Ansicht, die ein&ch durch die ThataadieD, 
z. B. Lipps* Untersuchung „Vom Fühlen, Wollen und Denken*^, wider- 
legt wird. 

Diese Zurfickschiebung der Selbstbeobachtung hat beim VerL ihren 
Grund in einem sozialen Moment, das er in der psychologischen Methodeii- 
lehre betont Wiederum in der „Ghrundleffuna^ natte er bereits henrer- 
gehoben. dass auch in der Psychologie £e Kontrolle, die Zustimmung 
oder Ablehnung der Mitarbeitenden, eine Bolle spielt. la einer im Jooamil 
ffir Psychologie und Neurologie erschienenen Becension habe ich s. Z. 
diesen, dem von Biehl für die Naturwissenschaft geffihrten analoMi, 
Hinweis als „mit Becht^ geschehen bezeichnet In dem voriiegarafla 
Bande ist dieser Gesichtspunkt nun in einem Masse betont und metho- 
disches Prinzip geworden (vgl z. B. S. 48, 46, 48, 60, 66, 89, 81 1» 84 1, 
129 f.), dass ich jetzt mit dem Verf. in keiner Weise mehr mitgehen kamL 
Kommt es doch z. B. S. 86 zu dem Ausspruch: „Wenn man wirklich mit 
dem Begriffe innere Erfahrung* Ernst macht (und Verf. will das in dem 
hier be^chneten Sinne), wenn man unter dem, was sie uns Uefert, mir 
solche Daten versteht, die jeder Kontrolle Stand halten und dedialb aDsia 
sich zur Grundlage einer gemeinschaftlichen empirischen Betrachtung 
ei^en» so dürfte der Umfang dessen, was so übrig bleibt, ein recht enger 
sem.^ Die hier zu Grunde Begende Anschauung, der permanente Hinweii 
des Verf. auf die Notwendigkeit der Kontrolle und der Zustunmunff der 
Mitforschenden, der geradezu zu einem Verbot führt, sich auf irgnra^eine 

S machte Beobachtung zu stützen, ehe nicht andere ihr placet daza^easgt 
ben, kommt mir wie ein Ansatz zu einer völligen Veräusserüchung 
unseres geistigen Lebens vor. Sollte diese Anschauung allgemeiner ve^ 
breitet sein, so wäre sie ein Symptom ffir eine bedenkhche Merabeetanng 
des gesunden Selbstvertrauens des einzelnen Forschers, ohne das die 
Wissenschaft nicht fortschreiten kann. Wie wir im Ethischen und Bell- 
giOsen das Individuum auf sich selbst stellen, so erst recht in der Wissen- 
schaft Auch hier giebt es ein: ,Ich kann nicht anders* und mag die 
ffanze Welt gegen mich sein. Wahrlich, in unablftsdger Selbstkritik nach 
aem Vorbilde Kants, der mit einer ,tiefen Gleichgifiigkeit' die eigenen 
Gedanken hin und her wandte, liegt meines Erachtens eine grOsaere Ge- 
währ, der Wahrheit näher zu kommen, als im Abwarten und der E^ 
langung der Zustimmung unter den Mitforschenden. Auf einen speneUea 
zugehörigen Punkt komme ich noch weiter unten zu sprechen. 

Was nun die Stellung des VerL zu seinem Hauptproblem, dem 
Urteil, betrifft, so glaubt er zwischen der Assoziationspsychologie, die 
auch das Urteil nur ffir einen Assoziationsvorgang hält, und dem ui 
neuerer Zeit namentlich von Lotze vertretenen Standpunkt an atehea, 
der im Urteil den Ausdruck einer besonderen Aktivität der Psyche sieht. 

Die Auseinandersetzunff mit der Assoziationspsychologie war leichi 
denn es liegt auf der Hand, dass blosse Assoziationen ncMh kein Urteu 
ergeben. 

Schwieri^r war die Bekämpfung des Aktivitätsprinzips, der Verf. 
ein ganzes Kapitel widmet, nachdem er auch hier das Wesentliche baeiti 
in der jGrunole^ng^ hervorgehoben hatte. Zum Teil wird es mit den- 
selben Worten wiederholt. So hält Verf. ffir besonders schlagend offenbar 



Recensionea (Schnder). 246 

den schon damals aufgeteilten Einwand, der Akdyit&tsbegriff kOnne kein 
Srgebnia der Selbatb^bachtong sein, denn man dürfe doch nicht sagen, 
daas die, welche das bestreiten, schlechtere Selbstbeobachter seien, als die, 
die ihn anerkennen. (!) Ich habe schon in der genannten ersten Recension 
bemerkt, dass man diesen Satz auch umkehren könne und kann das an- 
S^chts der folgenden Worte des Verf. nur wiederholen, die gleichseitig 
als Beispiel seiner sozialen Argumentationsweise angeführt seien. 

Wir hatten „früher hervorgehoben, dass nur solche Wahrnehmungen 
oder Beobachtungen als Thatsaäen angesehen werden können, welche 
von den an dem betreffenden Probleme Mitarbeitenden kontrolliert und 
bestätigt worden sind. Die Frage, ob die psychische Aktivität als eine 
Thatsache angesehen werden könne, hängt demnach wesentlich davon ab, 
ob sie — bezw. die Wahrnehmungen, durch welche sie konstatiert worden 
ist — von anderen bestätigt ist, oder ob eine solche Anerkennung wenig- 
stens zu erwarten ist. Das ist nicht der Fall. Dieses beweist einfach der 
Umatand, dass die Meinungen hinsichtlich dieses Pcmkts soweit auseinander* 
gehen, wie in wenigen Fragen der Seelenlehre. Man darf doch nicht 
annehmen, dass die Selbst&obachtunffen der Gegner der psychischen 
Aktivität wenLrer scharf sind als die der Anhäuffer dieses Begriffes. In 
dam zweiten Punkte, nämlich zu der Frage, ob eine Bestätigung der 
Wahrnehmungen, die eine besondere seelische Thätigkeit aufweisen, zu 
erwarten sei, können wir uns zunächst nur auf unsere eigene innere Be- 
obachtung beziehen. Auf Grund dieser müssen wir das Vorhandensein 
einer besonderen seelischen Thätigkeit bestreiten^ (129 f.). 

Geffen die letzten Worte ist natürlich nichts einzuwenden; Verf. 
hätte sicn überhaupt damit begnügen sollen zu erklären, dass er keine 
Aktivität in sich beobachten könne. Die vorauf gesandten Scheinargu- 
mente sind daa;effen vollkommen belanglos. £s erhellt aber aus den 
Stallen dieser Art, wohin die vom Verf. vomschlafene extreme Berück- 
sichtigung des sozialen Momentes in der mssenschaft schliesslich führt: 
zum all^meinen gleichen wissenschaftlichen Stimmrecht. In Wirklichkeit 
aber wiegen die Aussäen der verschiedenen Psychologen nicht gleich. 
Eine Behauptung vonLipps etwa dürfte denn doch von etwas grOmerem 
Gewicht sein als die eines Unbekannten, der noch keine Leistun^n auf- 
anweisen hat. Freilich giebt es audi da wieder keinen allgemem aner- 
kannten Massstab für me Bedeutung eines Psychologen, woraus eben 
von neuem folgt, dass das Forschen zuletzt auf sich selbst steht und 
stehen solL 

Aber noch ein weiteres ist zu bemerken : gerade in der Psychologie 
bedeutet die Leugnung irgend welcher Beobachtungsergebnisse von anderen 
Saiten bei weitem nicht so viel wie in der Naturwissenschaft, denn die 
psydioloffische Beobachtimg ist viel schwieiis;er als die naturwissenschaft- 
liche una darum die Zahl der zu ihr Befähigen viel geringer. Man kann 
fast sagen : mit je weniger Grundvorgängen ein Psychologe auszukommen 
meint, um so schlechter ist seine Psychologie. Man vergleiche z. B. 
Lipjps* tiefgehende, immer neue unverwechselbare Momente aufdeckende 
Analysen mit dem, was von manchen anderen Seiten vorgetragen wird. — 

Da Verf. also die Aktivität als Beobachtungsergebnis nicht aner- 
kannt, so bezeichnet er sie als eine Hypothese, die zur Erklärung be- 
stimmter Beobachtungen eingeführt sei. Als solche aber stehe sie mit der 
lax parsimoniae im Widerspruch. In diesen Begriff seien mehr Momente 
anf^nommen worden, als zur ErklJürung der Thatsachen, auf die er sich 
banehe, unbedingt notwendig seien. Verf., als Gegner der Aktivität, 
nimmt als Elemeim des seelis<Sien Geschehens, insbesondere des Gedanken- 
labans an: 1. Vorstellun^n, 2. Vorgänge an den Vorstellungen. Die 
uidare Partei dagegen mmmt an: 1. eine besondere seelische Tnätia^keit, 
8. Vorstellungen us das Material desselben, welches durch jene verarbeitet 
wird. „Man sieht, in der Zahl der Begriffe ist kein Unterschied, wohl 
tibv in ihrer Zusammensetcung, in der Zahl der Merkmale, aus denen sie 



246 Recensionen (Sehrader). 

bestehen. Der Begriff der Thätigkeit ist ein reicherer als der des VQ^ 
gangs. Er enthält alle Bestimmungen dieses letzteren und anaa^rdsB 
noch andere. Darin liegt ein Verstoss gegen die lex parsimoniae'' (14SV 

Aber darin stimmt Verf. der Aktivitatslehre bei, dass mit der Ano- 
ziation der Vorstellungen allein sich das Urteil nicht erklAren IlLast Sie 
nehme jedoch mit dem Aktivitätsbegriff mehr an, als nötig; ist, min 
komme vielmehr mit der Einführung des Begriffs der „negativen Be- 
ziehung zwischen Vorstellungen'' aus. 

Dieser Begriff ist der Zentralbegriff des Verf. Aach ihn hat er 
bereits in zwei Schriften auseinander gesetzt, in der vorliegenden erOrtert 
er ihn also zum dritten Mal, ohne dass eigentlich Neues hinzukommt 
Das stets zu Grunde gelegte Beispiel lautet: „Ich erblickte ans ziemheli 
weiter Entfernung eine Person, welche ich anfangs ffir eine Dame hielt 
Als ich sie jedoch darauf eine Karre . . . schieben sah, erkannte ich, dam 
es ein Arbeitsmann sei.'' Die ursprüngliche Vorstellung ,,Dame'* wird, 
wie man sieht, durch die des „Arbeitsmannes" verdranjgt, wobei beiden 
aber eine gewisse Zahl von Bestandteilen gemeinsam ist Dies Verhält- 
nis bezeichnet Verf. als „negative Beziehung zwischen Vorstellangen''. 

Und zwar sei die Beziehung eine bewusste. „Je Öfter wir Vorgänge, 
wie den in dem Beispiele ,Dame— Arbeitsmann' dargestellten betrachten,. 
desto weniger vermögen wir uns dem Eindrucke zu entziehen, daaa nieht 
nur die Vorstellungen selbst (Dame, Karrenschieben, Arbeitsmann) be- 
wusste Erscheinungen sind, sondern auch die Art, wie sie sich ablOsen, 
bewussten Charakters ist. Freilich auf die innere Wahrnehmung verm^eea 
wir uns dabei nicht zu stützen. (!) Diese zeigt uns immer nur die Y<u> 
stellungen selbst. Die Art, wie sie einander folgen, ist erst nachtrftglicli 
durch Vergleich feststellt" (A7). Die Grenzen des Bewusstseins reiaitea 
weiter als die der mneren Wahrnehmung. Eef.: Es muss auf jeden IUI 
bedenklich erscheinen, dass so durch wiederholte Betrachtang eines psy- 
chischen Vorgangs zwar die Überzeugung, dass die Beziehung ewisclien 
den Vorstellungen bewusst sei, zunehmen, aber die innere Wi£mehmiuf 
selbst nichts von ihr auffinden soll. Was heisst es femer: jene Besiehmiff 
werde „erst nachträglich durch Vergleich festgestellt"? Durch Vergleia 
der Vorstellungen? — aber durch vergleich zweier Vorstelianspen kum 
niemals festgestellt werden, wie sie irgendwann auf einander gefolgt sind. 
Oder wessen sonst? — es oleibt eben auch für den Verf. nur die innen 
Wahrnehmung, oder sonst nichts, als Stützpunkt übrig. 

Den Übergang vom Begriff der negativen Beziehung zwischen Yot' 
Stellungen zum Urteil findet Verf. durch Heranziehung des Beffriffs der 
Kritik. Wie überhaupt das Urteil nach ihm nur von der Für-lalsch*E^ 
klärung aus begriffen werden kann und auch von ihr aus entstanden sein 
soll. Denn, wenn es keine falschen Urteile gäbe, so wüssten wir nicht, 
meint Verf., wodurch sich die Urteilsprozesse von den Reprodoktionf- 
phänomenen unterscheiden sollten. Sie würden denselben mechanisehen 
Charakter zeigen, wie diese, sie würden sich einfach nach den G^esetsea 
der Assoziation vollziehen (vgl. Grundlegung S. 80). Verf. konstruiert einen 
gewissen Parallelismus zwischen dem Begriff der Kritik und dem der 
negativen Beziehung. Das ist ihm nur dadurch möglich, dass er erklärt, 
wenn jemand z. B. beim Anblick eines Bildes sofort saft: das Bild ist 
schlecht oder gut, so sei das gar keine wirkliche Kritik. B^tik liegt 
nach ihm nur vor, wenn eine besondere Überlej^une vorangeffan^^en ist 
„Das Urteil muss vor seinem Zustandekommen in der Schwebe sieh be- 
funden haben, wenn auch nur eine Zeit lang . . . Dieses In-der-Schwebe- 
Lassen ist notwendig, damit Kritik zustande komme. Aber es darf eben- 
sowenig allein herrschen wie sein Gegenteil, das sofortige Fällen des Ur- 
teils" (103). Eine durchaus abzulehnende These, die nur in ihrer Vei^ 
wendbarkeit für die Urteilstheorie des Verf. ihre Wurzeln hat. Auf diese 
Weise ist es ihm nämlich niOßrlicb, eine engere Beziehung zwischen der 
Kritik und der negativen Beziehung von Vorstellungen herzustellen. IHe 



Reeensionen (Schrad^r). 247 

letstere eracheint als kritische Berichti^ng (110 f.)» das heisst für Verf. 
sogleich als einfachste Form des kritischen Denkens überhaupt (102). 
Worauf SU entj^egnen ist, dass die kritische Berichtigung offenbar eine 
kompliziertere Funktion ist als die einfache Einsicht, dass irgend etwas 
unrichtig, schlecht etc. ist; und dass der genannte Wahmehmungsprozess 
»Dame — Arbeitsmann* an sich überhaupt keine Berichtigunsr darstellt. 
Das wird ersichtlich, wenn man an gewisse Latema-magica-Bflder denkt, 
die sich verwandeln: dabei ist von einer Berichtigung gar keine Rede. 
Verf. übersieht völlig die Urteile, die die Wahmehmungsakte in seinem 
Beispiel begleiten. 

Wie kommt nun schliesslich das Urteil zu Stande? Verf. erklärt: 
von der negativen Beziehung zwischen Vorstellungen, der einfachsten Form 
der kritischen Berichtigung, bilde sich infolge des häufigen Auftretens 
im Bewusstsein eine Vorstellung, von der er aber völlig dahingestellt sein 
Iftsst, ^worin dieselbe bestehe^. Jedenfalls unterliege sie, nach- 
dem sie sich i^ebildet hat, den Gesetzen der Assoziation. Sie 
gehe mit ein m die auf der Reproduktion beruhenden Oedankengänge. 
„Das ist der erste Anfang des Urteils** (115). „^ hat sicn ent- 
wickelt nicht vermittelst einer besonderen psychischen Aktivität, aber 
allerdin^ im Gegensatze zu dem rein mechanischen, lediglich auf der Re- 
produktion beruhenden Gedankenverlaufe, heraus aus dem kritischen 
Denken bezw. der einfachsten Form desselben, der kritischen Berichtigung. 
Das wichtigste Mittel, welches das Urteil über diese Sphäre hinaus geführt 
hat, ist das Hinzutreten des sprachlichen Ausdruckes'' (156). 

Ich kann nicht finden, dass Verf. sich mit diesen Behauptungen im 
Recht befindet. Im Gegenteil enthüllt sich an dieser Stelle, dass auch er 
im Grunde das Urteil assoziationspsychologisch erklärt. Was es 
nach ihm vom gewöhnlichen Assoziationsprozess unterscheidet, ist lediglich 
das Hinzutreten einer weiteren speziellen Assoziation, nämUch der vor- 
at^on^ von der negativen Beziehung. Aber nur die negative Beziehung 
•elbst ist etwas B^nderes, das über die Assoziationspsychologie hinaus 
geht, die Vorstellung von ihr dangen ist eine Vorstellung genau wie alle 
anderen, durch deren Eintritt m den Reproduktionsprozess sich dieser 
von anderen seines gleichen si)ezifisch nicht unterscheiaet. Verf. irrt also, 
wenn er glaubt, nicht Assoziationsps^chologe zu sein. Er geht allgemein, 
wie mir scheint, mit seinen Theorien am eigentlichen Urteil vorl^i. Er 
analysiert allerlei Neben- und Begleiterscheinungen, ohne das Urteil selbst 
dabei zu fa»en. 

Auch das Anstichen allein von den negativen Denkerscheinungen, 
dem Begriff des Fauchen, des Irrens etc. ist nicht einwandsfrei. Denn 
es führt zuletzt dahin zu sagen, ein zustimmendes Urteil unterscheide 
sich vom blossen Assoziationsprozess nur durch das Bewusstsein seiner 
Ablehnbarkeit Die Erteilung der Zustimmung, heisst es S. 187, „unter- 
scheidet sich von den Reproduktionsphänomenen durch den Gedanken, dass 
auch eine Ablehnung der betreffenden Ideenassoziationen möglich sei . . . 
Als Erklärungsprinzip lehnen wir die Zustimmung also ab.^ 

Meines Erachtens ist diese These nicht zu halten. 

Besonders charakteristisch für das assoziationspsvchologische Ver- 
fahren des Verf.s ist noch dieser Ausspruch: „Natüruch geben auch wir 
den Unterschied zwischen Zustimmung und Ablehnung zu. Aber wir ver- 
legen denselben, wenn es auf die definitive Stellungnahme ankommt, in 
das zu beurteilende Material, in die Vorstellun§[sverbindungen, welche 
Aiierkennung bezw. Zustimmung heischen, nicht in den Akt „der Aner- 
kennung oder Zustimmung selbst** (161)* Der Satz drückt gleichzeitig un- 
gewollt die Unmöglichkeit der Erreichung der vorgesetzten Absicht aus. 

Die Durchführung seiner Theorie im Einzelnen, besonders auch auf 
das in der Sprache fixierte Urteil, unternimmt Verf. mit Hilfe der Taine* 
8chen Substitutionstheorie, die er voll acceptiert und reproduziert. 



248 Recennonen (lieber). 

Es sei noch bemerkt^ dass er sich in der litteimtiir giUndlidi n- 
«esehen hat and die Partien des Baches, in denen er die AnaichteB n> 
oerer darstellt and charakterisiert, erscheinen mir am besten gehm^ 
and aach in der Form am anziehendsten. 

Der zweite Band wird die Tendenzen der Urteilsbildang^ behandsh. 

Beriin. K. Oesterreieh. 

MeMer, Awnat, Dr., a. o. Professor der Philosophie sa Giesna. 
Kants Ethik. Eine Einffihrung in ihre Haaptproblenie and Beitrtge n 
deren LOsonf. Leipzig, Veriag von Veit & Co., 1904. (XH and 406 &) 

Derselbe. Kritik der reinen Vernanft von Immanori Kant la 
veriLfirzter Form (mit Abschnitten aas den Prolegomena), heFan8ig<Qgeben 
von Professor Dr. Aagost Messer. (Vn and 188 S.) 

Derselbe. Kants Ethik and Belirionsphilosophie. Aoms- 
wfthlte Abschnitte aas: Orandle^inng znr Metaphysik der Sitten; Kritik 
der praktischen Vernanft; Religion innerhalb der Grenzen der Uoswn 
Vemonft, heraasgegeben von Professor Dr. Aagost Messer. (Beide letitea 
Bände in den „Büchern der Weisheit and Schönheit" erschienen, heraiis> 
gegeben von J. F. Freiherm von Grotthass. Stattgart^ Veiiag von Greiner 
& Pfeiffer. (Vn and 161 S.) 

Das ersterwähnte Bach, von dem hier besonders die Rede sein soll, 
will ganz vornehmlich znr Einffihrang in Kants Ethik dienen, wie ei 
schon sein Untertitel sagt. Aber, das deatet dieser ebenfalls schon an, 
es will doch mehr als eine bloss historische Problemdarstellang geben. 
ESs will aasser dieser zarLfleang der Kantischen Probleme selbst beitngsa. 
Damm beansprucht das Werk sowohl das Interesse des Historikers, wie 
das des Systematikers. 

Die Einleitung dient sogar vorwiegend dem svstematiachen Zwecke. 
Durch die scharfe begriffliche Trennung „der mö^^ichen Standpunkte in 
der Behandlung des Sittlichen'', nidit etwa der sittlichen Standponkte 
s^bst, werden besonders zwei wichtige G^esichtspankte der Unterscbeidmif 
gewonnen. Das eine Mal wird die euiische Beteachtnn^ fiberhaimt gwea 
die psychologische abge^;renzt. Das andere Mal wird innemalb der 
ethischen Benandlungsweise die svstematiBche von der historisch-geiift- 
tischen ^reschieden. Dabei wird klar gezeigt» dass und wie diese bmiti 
iene log^ch voraussetzt. Diese systematisdie Vorarbeit führt mit GMck 
hinüber zur Bestimmung de^enigen Standpunktes, den Kant unter den 
Oberhaupt möglichen Standpunkten in der Behandlung des Sittlichem eis* 
genommen. Dadurch wird im allgemeinen schon die wandintention Kants 
klar. „Kants ethische Untersuchungen liegen nicht auf dem Felde der 
historischen, sondern der systematischen Ethik'' (S. 7). Weiss man wenig* 
stens allgemein, was Kant gewollt hat, so erspart es sich die Bearteihmg, 
dass sie vorwürfe gegen ihn erhebt, „von denen er nicht getroffen wurd,** 
oder dass sie „die Beantwortung von Fragen bei ihm vermisst, die an näi 
berechtigt sein mögen, auf die einzugehen aber ausserhalb des Bereichei 
seiner Untersuchung lag'^ (S. 1). Aber auch nur, wenn man weiss» was 
Kant gewollt hat, ist man imstande zu erkennen, ob er das Gewollte aoefa 
erreicht hat, und in welcher Richtung Gewolltes und Erreichtes fernerer 
Weiterarbeit bedürfen. 

Mit wie bewundernswerter Energie aber auch immer das Kantische 
Denken sich von Anbeginn auf sein Ziel — die Erkenntnis des MVemnnft* 
Charakters des Sittlichen" (S. 10) — richtet, mit der Richtung sAif das 
Ziel, ist die Erreichung des Zieles noch nicht gesetzt. Kant mosste sich 
selbst erst geschichtlich zu seinem Ziele entwickeln; und erst in der 
eigentlich kritischen Periode wird ihm jener „Vemunftcharakter^ auch 
eigentlich klar. Darum fördert die Einführung in sein ethisches Werk die 
Darstellung auch jener geschichtlichen Entwickelung. Mag Kant selbst 
die historische Untersuchung gar nicht gepflegt haben, so ist er doch 
selbst eminenter Gegenstand historischer Lntersuchung. Und für das Ver- 
ständnis seiner systematischen Werke ist ihr Werden nicht ohne Belang. 



Itecennonen (Messer). 249 

Mit Recht niiDint darum das vorliegende Werk, um «Mus Verständnis ffbr die 
rjrstematische Arbeit Kants auf dem Gebiete der Ethik su ^winnen, von 
der geschichtlichen Seite her seinen Ausgang. Unter fleissiger Heran- 
ziehung der einschlägigen Litteratur wenien im zweiten Kapitel die 
numnij^achen Einwirkungen, die auf das Kantische Denken eingeströmt 
sind, dargestellt: derEinfluss der Engländer, wie deijenige Wolfe, zwischen 
denen beiden Kant zunächst zu vermitteln sucht; die Einwirkung Rousseaus 
bis hin zur Gewinnung des eigentlich kritischen Standpunktes, der auch 
fflr die Ethik bereits in der Kr. d. r. V., wie Messer recht deutlich macht, 
sich ankündigt. 

Ausgebildet wird dieser in den Schriften, die unser Autor mit Recht 
in das Zentrum seiner historischen Darstellung rückt, in denen sich ihm 
auch die systematischen Problemzentren ergeben: in der „Grundlegung 
rar Metaphysik der Sitten^ und in der „Kritik der praktischen Vernunft^. 
Von beiden giebt er zunächst in je einem Kapitel eine sehr genaue Ana- 
lyse» um in einem weiteren das Verhältnis von theoretischer und prak- 
tischer Vernunft zu untersuchen. Diese Analysen dürfen wir als wohl 
^glückt betrachten, soweit es ihren methodischen Weg angeht. Er ist 
in der That recht geeignet, zu dem Ziele des Buches — der Einführung 
in die Kantische Ethik — hinzuleiten. Über die Auffassung mancher, 
durch die Analyse gewonnenen inhaltlichen Bestandstücke der Kantischen 
Lehre müssen wir freilich noch Bedenken geltend machen, wie wir auch 
in der Darstellung des Verhältnisses von theoretischer und praktischer 
Vernunft eine schärfere Gegenüberstellung dieses Verhältnisses mit dem 
von theoretischer und praküscher Philosophie vermissen, zumal die Ver- 
mengnng beider eigentlich umgekehrter Verhältnisse in der Kant-Inter- 

£retation gar mancherlei Komplikationen verschuldet hat. denen auch 
[esser nicht g;anz entgangen ist. Hätte er sich vielleicnt etwas mehr 
Jenen Verhältnissen zugewandt und etwas weniger schon hier auf femer 
liegende Anschauungen anderer Forscher Bezug genommen, so wäre das 
wohl der Untersuchung über sein erstes Gentralproblem, das ethische 
Prinzip, zu Gute gekommen. Rücksichtlich des kategorischen Imperativs 
wird zwar mit Recht die Verwechselung von „formal^ und „inhaltlos^, die 
die Mehrzahl der Gegner der kritischen Etmk begeht, zurückgewiesen. 
Aber wir finden auch bei Messer noch nicht die hier notwendig werdende 
Unterscheidung im Be^ffe des „Inhalts^ vollkommen und explizite durch- 
geführt, sondern mehr implizite vorausgesetzt, nämlich zwischen dem Inhalte 
aer Zweckbestimmung überhaupt und dem der ethischen Zweckbestimmung 
insbesondere; in diesem wieaer einerseits die zwischen dem Inhalte des 
Prinzi|M der Ethik und dem der Ethik als solcher und andererseits endlich 
die zwischen dem Inhalte dieses Prinzips und dem der Handlung. Damit 
htagt wohl auch zusammen, dass hier inbezug auf den kategorischen Im- 
Derativ nicht streng unterschieden wird einerseits zwischen Beg[reiflichkeit, 
Beweisbarkeit und Dedüzibilität und andererseits zwischen kntischer Un- 
mittelbarkeit der Geltung und einer Evidenz der Erkenntnis dieser Geltung. 
Auf diese Unterscheidungen arbeitet aber schon die Kr. d. r. V.M hin. 
Werden sie unterlassen, so muss freilich mit einem dieser Unterscheiaungs- 
stücke audi das andere stehen und fallen. Das macht sich nun auch in 
Messers Ausführungen über die von ihm angenommene „Unbegreiflichkeit 
des kat^K>rischen Imperativs^ geltend. Freilich nicht ohne verschulden 
Kuts. Bei ihm trim jedoch die Schuld hier mehr die Form der Dar- 
stellnn^, als deren Inhalt. Über diese Schwierigkeit aber hätte, wie ge- 
mgtf die Kr. d. r. V. hinweghelfen können. In dem Mangel der eben er- 
wthnten Unterscheidungen macht sich also das schon vorhin bemerkte 
Fehlen einer schärferen Unterscheidung der beiden Veriiältnisse von theo- 



1) Besonders möchte ich hierfür auf die ersten Abschnitte der „Ana- 
der Onmdsätse«' in der Kr. d. r. V. (Kehrbachsehe Aufgabe 8. 149 ff.) 



250 Recensionen (Messer). 

retischer und praktischer Vernunft einerseits und von theoretascher und 
praktischer Philosophie andererseits von einander wiederom bemerkbar. 

So sehr ich in diesen Stücken eine Revision der Ansichten Me«en 
für notwendig erachte, so zutreffend erscheinen mir im Grande genommen 
seine folgenden Ausführungen über das Verhältnis der Kanüschen EthUi 
zum Eudftmonismus. über den „Rigorismus**, über das höchste Out und die 
Postulate. Besonders glücklich ist in der Eudftroonismusfraffe sowohl eine 
im Kantischen Denken über das Verhältnis der materialen Frinzipien und 
der Selbstliebe angebrachte Korrektur, wie auch die Ablehnung des Vor- 
wurfs, Kant sei selbst wieder dem Eudämonismus verfallen ; ebenso in der 
Rigorismusfrage die Darlegung des Verhältnisses von Pflicht und Neigong. 
Diese Ausführungen scheinen mir inhaltlich sich so sehr mit denen meiner 
Schrift über „Glückseligkeit und Persönlichkeit in der kritischen Ethik*^ 
(Stuttgart 1902) zu decken, dass ich auch einen von Messer beseichneteB 
Differenzpunkt — im allgemeinen stimmt er ja meinen Darlegnnsen aus- 
drücklich bei — kaum als solchen ansehen möchte. Er sagt amchMi 
richtig: ^nicht das Vorhandensein der Neigungen soll nach Kant beseitigt 
werden, sondern es ist nur darauf zu achten, dass sie ans bei der Erkenot- 
nis des sittlich Guten nicht irreführen^ (S. 235). Das aber scheint mir mit 
jener Kantischen Definition der Pflicht als ^Nötigun^ zu einem ungen 
genommenen Zweck^ auch jetzt noch nur aann vereinbar, wenn ich die 
Zwecksetzung als bloss „nicht aus Neigung, sondern aus Pflicht gewoDt* 
betrachte. Dass bei Kant persönlich „ngoristische Neisningen'', wenn ieh 
mir den paradoxen Ausdruck erlauben darf, mitspreäien, ist natflrlich 
nicht zu bestreiten. Davon ist aber die Grundintention seiner Lehre n 
unterscheiden. Sie aber verstehen wir doch nur dann, das weiss Messer 
so gut wie ich und sein Werk ist das beste Zeugnis dafür, wenn wir sie 
einheitlich zu erfassen streben, ihre Incondnnitäten nicht leujrnen, aber 
nicht im Geiste einer kleinlichen Widerspmchskrämerei zur Hauptsache 
machen, sondern unser Augenmerk auf das Ganze des Gedankenaufbanei 
richten. 

Eine solche InconcinnitHt liegt beispielsweise vor in der KantischeD 
Lehre vom höchsten Gut. Bei der Behandlung dieser und der PostaJate 
ist darum die Kritik unseres Autors ebenso bemerkenswert, wie die Dtr- 
stellung. Insbesondere hat mir immer die Lehre vom höchsten Oute tb 
der schwächste und widerspruchsvollste Punkt der Kantischen Eth^ jt 
als ein Fremdes in ihrem Ganzen jgegolten, der für das Ganze entbehiiieh, 
ja selbst als verhängnisvoll erschemt. Ich kann deshalb den Ausftthrunaen, 
die den schwankenden, für Kants ethische Gmudauffassun^ geraden 
verhängnisvollen Charakter dieses Lehrstückes aufdecken, nur beisttnunen. 

Lediglich im Interesse der Darstellung möchte ich nun für das Fol- 
gende ein Bedenken dagegen richten, dass Messer, ehe er zu dem neben 
die Prinzipienfrage für um als zweites Grundproblem tretenden Freiheiti- 
problem gelangt, eine Behandlung der ethischen Richtungen der Gegen- 
wart einfügt. Ich halte sie kemeswegs für überflüssig; und wenn ieh 
auch nicht allem inhaltlich beistimmen kann, so sind sie doch anregend 
und interessant. Aber wäre es im Interesse übersichtlicher Anordnang 
nicht vielleicht doch zweckvoller gewesen, sie nach der Darlegung dei 
Freiheitsproblems zu behandeln, zumal im Anschluss an das Fraaeiti- 
problem die Untersuchunj? bei ihrem Ausgang doch noch in eine ErOrterang 
des heutigen Determinismus und Indeterminismus eintritt? Von den 
ethischen Richtungen der Gegenwart wird zunächst der Eudftmonismiu 
behandelt; und zwar unter zwei Formen : als hedonistischer und energistiaeher 
Hedonismus, welch letzterem Paulsen beigezählt wird. Daran schlieft 
sich der Evolutionismus, als dessen Vertreter Wundt genannt wird. Ob 
damit in der That Paulsens sowohl wie Wundts Standpunkt einwandsfrei 
charakterisiert ist, oder ob diese Charakteristik nicht missverständlich sei, 
darüber liesse sich streiten. — Dass aber im Anschluss daran Mtlnsteibeigf 
^übersittlicher** Standpunkt unter den „wichtigsten Richtungen d&tO^^&t 



Recensionen (Messer). 251 

wart^ aufgezählt wird, halte ich für unznlässig. An und für sich waren 
mir selbst zwar auch Münsterbergs frühere Ansichten interessant genug, 
Hin mich mit ihnen auseinanderzusetzen. Als besondere ethische Richtung 
kommen sie aber wohl schon deshalb nicht mehr in Betracht, weil Münster- 
berg seinen ehemaligen „übersittlichen" Standpunkt selbst Iftngst unter 
sich gelassen hat. Seinen späteren Werken gegenüber bedeutet doch 
Münsterbergs frühere Schrift „Über den Ursprung der Sittlichkeit'*, nur 
eine, wenn auch recht interessante, Entgleisung. Sucht doch auch Messer 
in Wirklichkeit die Bedeutung Münsterbergs nicht in seiner Schrift über 
den „Ursprung der Sittlichkeit**; anch ihm gelten dessen „Orundzüge der 
Psychologie'* und „Psychology and Life**, denen er sich zum Teil auch eng 
anschliesst, für ungemein bedeutsamer als jene Schrift. Sowenig sich da- 
gegen einwenden lässt, dass sie überhaupt behandelt wird, ebenso wenig 
kann doch nach ihrem Standpunkte Münsterbergs Arbeit am ethischen 
Problem in die gegenwärtige ethische Arbeit Überhaupt eingereiht werden. 
Das kann nur nach den von Messer selbst höher bewerteten Hauptwerken 
Münsterbergs g[eschehen. Diese aber verlangen seine Einordnung in die 
Ethik des kritischen Idealismus. — Am interessantesten und wohl auch 
überraschendsten erscheinen im Zusammenhange mit der Ethik der Gegen- 
wart Messers Ausführungen über den Thomismus. Man bemerkt hier, dass 
er dem Thomismus nicnt ungünstig gegenüber steht. Freilich darf man 
dabei nicht an den Thomismus denken, wie man diesen gewöhnlich auf- 
fasst, sondern wie ihn eben Messer auffasst. Welche Auffassung aber 
hat Recht? Wir wollen diese Frage hier nicht entscheiden. Sehen wir 
erst XU, wie Messer den Thomismus beurteilt. Er urteilt, „dass auch die 
ethischen Gedanken, die man bei Kant als die reinsten und lautersten 
ansieht, sich in der thomistischen Ethik finden** (S. 32). Ausser mit 
Uphues dürfte sich Messer kaum mit einem Philosophiehistoriker sonst in 
diesem Urteil begegnen. Und doch muss man anerkennen, dass Messer 
nicht etwa bloss behauptet, sondern dass seine Behauptung auf einem 
eindringenden und scharfsinnigen Beweise beruht, ja eben das Resultat 
eines solchen Beweises ist. Steht er doch der thomistischen Ethik selbst 
kritisch und nicht als dogmatischer Anhänger gegenüber. Das versteht 
sich bei der ganzen Intention seines Buches von selbst. Aber dass sich 
das von selbst versteht, deutet das nicht gerade wieder auf eine selbst« 
verständliche, grössere Gegensätzlichkeit von thomistischer und kritischer 
Ethik hin, als sie Messer anerkennt? Muss sich nicht gleich gegen seine 
Ausführungen folgendes Bedenken erheben: Ist der Thomismus, wie ihn 
Messer auffasst, auch wirklich der Thomismus, oder vielmehr nur eine 
Seite von ihm? Hat er es am Ende nicht bloss mit einer Einströmung 
kritischer Gedanken in den Thomismus, mit einer Art kritischer Richtung 
innerhalb der thomistischen Gesamtrichtung, nicht aber mit dieser selbst 
zn thun ? Ist solch kritischer Einschlag nicht etwa bloss in einem kleinen 
Kreise der Thomisten bemerkbar? Wird dieses Bedenken nicht gestützt 
durch die Existenz der beiden thomistischen Zentren Rom und Löwen, 
von denen doch jenes in der Gegenwart überhaupt nicht mehr, dieses nur 
insoweit es kritisch beeinflusst ist, wenigstens für die Wisssenschaft, 
in Betracht kommt? Endlich, welcher ethischen Richtung ordnet Messer 
danach bei seiner Auffassung des Thomismus die allgemeine Jesuitenmoral 
so, deren allgemeine Tendenz doch bestehen bleibt, auch wenn es hie und 
da einen Jesuiten geben mag, der im besonderen von dem reinen Geiste 
kritischer Ethik nicht unberührt geblieben ist? Ich werfe diese Bedenken 
abtichtlich in der Form von Fragen auf. Solche Fragen und Bedenken 
fordert iedenfalls Messers Ansicht heraus. Darum ersdieint sie auch be- 
aonders interessant. Wenn Messer solchen Fragen nach historischen Zu- 
sammenhängen sowohl wie nach philosophischen Grenzscheiden nachginge, 
wfirde er wahrscheinlich noch manches Interessante erschliessen können, 
hat er sich doch nicht nur in den Kantianismus, sondern auch in die kri- 
tieelie Seite des Thomismus gründlich hineingearbeitet Um aber den 



252 Itecensionen (Messer). 

Thomismus, wie er will, dem Kantianismus nfther zu bringen, würde er 
wohl innerhalb des Thomismus selbst eine Kluft aufdecken mfissen, die 
^össer sein müsste, als der Gej^nsatz von Rom und Löwen. Das ist eine 
interessante Perspektive, die seine Darlegung eröffnet; aber doch voriinfig 
nur Perspektive. Möchte sich selbst ein Teil der Thomisten noch so sekr 
an Kant annähern, solange er eine unfehlbare Kirchenautoritftt anerkennty 
bleibt ihm die reinste Höhe stren^r Autonomie unerreichbar. Die ^an- 
fehlbare" Autorität wird die thomistischen Brüder immer fester aneinander 
fesseln, als sie gewisse Konzessionen an die Autonomie trennen msg. 
Denn die Autonomie kennt keine Konzessionen. Zwischen unfehlbarer 
Autorität und Autonomie besteht keine Brficke. Jene müaaten die Tbo- 
misten hinter sich lassen, wollten sie wirklich zur steilen Höhe dieser 
emporklimmen. Ob sie das können, ohne aufzuhören, Thomisten zu sein? 
Das ist die entscheidende Frage. Können sie es nicht, dann mnss aber 
die alte Alternative bestehen bleiben: „hie Thomas — hie Kant". 

Unter den Darlegungen der ethischen Stuidpunkte der G^egenwirt 
hätte ich eine eingehende Auseinandersetzung mit Nietzsche fOr wfinscheai- 
wert gehalten. • 

Den abschliessenden Höhepunkt des Werkes bilden die UntersuchunffeD 
über das Freiheitsproblem, das Messer neben dem Prinzipienproblem als zweitei 
Zentralproblem gilt ; und im Zusammenhange mit ihm die Darlegungen über 
die Inteiligibilität. Damit ist schon ang^edeutet, dass der Autor auf die ¥td' 
heitslehre mehr Nachdruck legt, als wir das heute sonst zu thun pfUtteo. 
Er stellt in einem besonderen Kapitel die geschichtliche Entwickemn^ 
der Kantischen Freiheitslehre dar, in einem folgenden die versdiiedeneB 
Bedeutungen des Freiheitsbegriffs und gelangt sodann im nftchsten zur 
Intelligibuität. Dabei neigt er in der Auffassung der Kantischen Problem« 
Stellung entschieden mehr jener Kantischen Problemtendenz zu, die miB 
zum Unterschiede von der praktisch-regulativen als praktisch-metaphysische 
Tendenz bezeichnen kann, aber er verkennt keineswegs die Sichwieri^ 
keiten dabei. Die praktisch-regulative Tendenz in der Anffsasaxig der 
Kantischen Problemstellung acceptiert Messer nicht. Man hat, wie dss 
der Autor namentlich beim intelligiblen Charakter thut, freilich streng n 
unterscheiden zwischen Kant-Interpretation und Fortbildung der Kantisclien 
Lehre. Die Ansicht, dass jene aber allein auf die praktisch-metaphysische 
Tendenz führe, während die praktisch-regulative der nachkantischen, besw. 
neukantischen Fortführung der Probleme angehöre, bedajrf einer Eiih 
schränkung dahin: Diese tritt bei Kant vor jener in der That nnffemein 
zurück, ist aber doch neben ihr vorhanden, woraus freilich für Kanl nicht 
unerhebliche Schwierigkeiten folgen. 

Messer selbst macht zum Schluss seines Werkes von der regulativen 
Betrachtung den glücklichsten Oebrauch und überwindet so mancherlei 
Schwierigkeiten und Unbestimmtheiten, aus denen das Kantisehe Denken 
nicht ffanz herauszu^langen vermochte. Ich meine die Unteraochung 
über iTants Verhältnis zum gegenwärtigen Determinismus und Ind6te^ 
minismus, die zu prüfen hat, „wie sich die Erörterungen Kants Aber die 
menschliche Freiheit zu der in der neueren Ethik herrschenden Behand- 
lung dieses Problems verhalten, und inwiefern auch heute noch Kanti 
Danegungen für uns von Wert sein können" (S. 359). Er ist sich aber auch 
bewusst, dass er hier selbst den Grundgedanken Kants fortbildet^ indm 
er „in der Ausführung dieses Gedankens seine Fehler zu vermeideD* 
sucht (S. 398). Dem Determinismus und Indeterminismus tritt er nun 
nicht mit einem dogmatischen aut — aut gegenüber, sondern eben gnaä» 
mit der kritischen, besonders an Münsterberg orientierten Begnuitive: 
„Der Determinismus ist berechtigt, für das objektivierende Verfahren, des, 
wie überhaupt die erklärende Naturwissenscnaft im weitesten Sinne, so 
auch die Psychologe (die ihr einzuordnen ist^ einschliesst; der Indete^ 
minismus dagegen ist berechtigt für das aktuelle geistige Erleben und die 
Geisteswissenschaften" (S. 4M). Determinismus und Indetenninism« 
werden so zu zwei verschiedenen Verfahrungsweisen. Damit weiden sie 



Hecensionet (Messer). iöo 

beide ihres anstössigen metaphysischen Dogmatismus entkleidet and als 
Methoden wissenschaftlich brauchbar und fnichtbar gemacht. Allerdings 
— und das ^t gegenüber Münsterbers^ und Messer in gleicher Weise — 
hat man vorsichtig zu sein, um nicht S&s Methodische, in das die gesen- 
sfttzlichen Metaphysiken des Determinismus und Indeterminismus verlegt 
worden sind, nun selbst wieder ins Metaphysische zu verlegen. Auch jetzt 
noch sind beide Gebiete reinlich zu scheiden. 

Ich musste mich in dieser Besprechung auf die prinzipiellen Ge- 
sichtspunkte beschränken. Es wäre freilich über das Buch im Einzelnen 
noch manches zu sagen. Doch würde uns das über den Rahmen einer 
blossen Besprechung hinausführen. Das Vorstehende mcig genügen, um 
zu zeigen, dass wir es mit einer ernsten und gründlichen wissenschaftlichen 
Arbeit zu thun haben. Auch wo uns die Anschauungen des Autors zu 
Einwänden zwingen, müssen wir doch immer die ernste Bemühung um 
Gründlichkeit una Klarheit anerkennen. Beide Eigenschaften, in deren 
Vereinigung mit der Mannigfaltigkeit der Gedankenbewegunff wir die 
Hauptvorzüge und wahren Vorzüge des Werkes erblicken, erschuessen ein 
tieferes Verständnis für den Gegenstand, lassen den Anfänger das Darge- 
stellte leicht fassen und erleichtern bei der glücklichen Präzision dem 
bereits selbständig Mitarbeitenden kritische Stellungnahme und Verstän- 
digxing. So sehr sich das Buch für das Verständnis der Grundgedanken 
der Kantischen Ethik bemüht, so wenig gleitet es doch über die Schwierig- 
keiten, die in der Sache liegen, hinweg. Es nimmt sie tapfer in Angrfif 
und sucht sie zugänglich zu machen. Mag es sie auch noch nicht alle 
bewältigt haben, so le^ es sie doch in einer Weise dar, dass es zugleich 
immer zu ihrer Bewälti^fung mit anregt. Daher wird es sowohl den Mit- 
foracher — auch den eines anderen Swidpunktes — fördern, wie insbe- 
sondere dem Anfänger das Verständnis für die Ziele und Aufgaben der 
Kantischen Ethik erschliessen und wirklich zur Einführung in ihr Studium 
dienen können. 



Gerade mit Rücksicht auf eine Einführung des Anfängers in das 
Verständnis der Kantischen Probleme sei in diesem Zusammenhange noch 
auf zwei andere Publikationen desselben Autors aufmerksam gemacht. 
Sie sind geeignet, Kant auch weiteren Kreisen näher zu bringen. In den 
».Büchern der Weisheit und Schönheit" hat Messer eine verkürzte Form 
der Kr. d. r. V. mit Abschnitten aus den Prolegomena und eine solche 
der Kr. d. pr. V., die er mit der Grundlegung z. Met. der Sitten zu 
einem Ganzen vereinigt und denen er eine Übersicht über die Rel. innerh. 
der Grenzen d. bl. V. beigefügt hat, herausgegeben. Der Text ist in 
beiden Ausgaben erheblich verkürzt. Darum können sie zwar nicht zu 
Arbeiten über die Kantische Philosophie verwendet werden. Aber das 
ist auch nicht ihre Aufgabe. Die Verkürzung bietet immerhin die funda- 
mentalen Bestandstücke der Kantischen Lehre. Die geschickte Anordnung 
ermöglicht den Einblick in iene Fundamente und erleichtert den Über- 
blick über das Ganze, wie der Herausgeber beabsichtigt Da trotz der 
Verkürzung doch das „Ganze des Gedankenaufbaues" geboten wird, über- 
dies die DarsteUung oft ungemein glücklich vereinfacht, die Sprache 
nnaerem Sprachgefülu in ansprechender Weise angepaßt ist, können diese 
Ausgaben in der That einen recht guten Dienst leisten, nämlich den: 
einem gebildeten, aber philosophisch noch nicht geschulten Leserkreise 
onteren grössten Denker näher bringen und manchem vielleicht als Vor- 
sebole zum Studium der Lehre Kimts in seiner eigenen Darstellung 
dienen. 

Halle a. S. Bruno Bauch. 



17 



254 Selbstanzeigen (Jenson). 



Selbstanzeigen. 



Jenson, Otto. Die Ursache der Widersprüche im Schopen- 
hauerschen System (Schopenhauers Philosophie *als Kunst). Rostocker 
Dissertation. Rostock, Adlers Erben, 1906. 

Es ist ein rätselhaftes Din^ um die Schopenhauersche Philosophie. 
So voll von Widersprüchen, dass sie kaum den Namen eines Systems ver- 
dient, ist sie dennoch eine der bedeutsamsten philosophischen Enchei- 
nune:en aller Zeiten; so gering an werbender, zum Nachleben zwingender 
Kraft, dass unter ihren vielen Kennern sich vielleicht kein einziger, wahr- 
haft überzeugter Bekenner findet, ist der Name ihres Urhebers doch von 
vornehmstem philosophischen Klange. — Wie verträet sich das eine mit 
dem andern? Wie konnte in einem philosophisch so oedentendem Kopfe 
ein logisch so an^eifbares, praktisch so wirkun^armes GedankengebAade 
entstehen? Das ist das Proolem, mit dem sich die oben genannte Disser- 
tation befasst und dem sie beizukommen sucht, indem sie Ernst macht 
mit dem oft angerührten, aber nie durchgeführten Gedanken: Schopen- 
hauers Philosophie ist Kunst. 

Der Gang der Beweisführung ist in grossen Zügen folgender: 

I. Sch.s System ist, wie sich nicht nur aus einer Betrachtung der 
wichtigsten, von berufenen Kritikern ihm bisher vorgeworfenen Wider- 
sprüche, sondern auch aus einer Gegenüberstellung vieler, von jenen noch 
nicht angezogener Philosopheme ergiebt, das widersprachsvoUste aOer 
Systeme. 

n. Seine Widersprüche sind weder durch falsche Schlüsse aus rich- 
tigen Prämissen, noch durch eine allmähliche Wandlunfi" der philosophischen 
Ansichten Sch.s verursacht. Sie würden sich zum Teil erklftren lassen, 
wenn man Sch.s Philosophie als ein notwendiges Produkt ihrer Zeit oder 
als das System eines Eklektikers auffassen dürfte. Beide Ansichten süul 
jedoch unhaltbar. Vielmehr liegt die Ursache der Widersprüche darin, 
dass Sch.s Philosophie in erster Liniie Kunst ist. 

Als Genie und Künstler dokumentiert sich Seh. durch die intuitive 
Methode seines Erkennens, durch die ihm eigenthümliche Gabe einer scharf 
umrahmten Anschauung und durch die Kraft der künstlerischen Gestaltung. 
Dagegen ist er nur in beschränktem Masse der Mann der Wissenschaft; 
er besitzt zwar die scharfe Beobachtungsgabe des Forschers und Gelehrten, 
lässt es jedoch vielfach an kritischer Unbefangenheit und wissenschaftlicher 
Gründlichkeit fehlen. 

Weil er nun, von seiner Genialität und der Unfehlbarkeit genialer 
Erkenntnis überzeugt, seine Philosophie nicht nur als Kunst, sondern auch 
als Wissenschaft nahm und gab, so musste die künstlerische Mannigfaltig^ 
keit seiner Intuitionen über dasselbe Objekt in der Form wissenschaft- 
licher Widersprüche zu Taee treten. — Auch die Sch.-Ldtteratur zcijt, 
dass man die Widersprüche des Systems überwiegend auf die künstlerirae 
Geistesart seines Urhebers zurückführte. 

ni. Wenn man daher Schopenhauers Philosophie richtia' würdigen 
will, so muss man sie nicht als Wissenschaf t nehmen, sondern cua Kunst 

Der Anhang bringt zu den im 1. Teil angeführten WidersprüchNi 
Belege aus Sch.s Schriften — wobei These und Antithese meist nut ScLs 
eigenen Worten wiedergegeben sind — , sowie den Wortlaut solcher Stellen 
der Sch.-Litteratur, in denen die namhaften Sch.-Autoren einzelne Wide^ 
Sprüche konstatieren oder kritisch beleuchten. 

Berlin. Otto Jenson. 



Selbstanzeigen (Eisler). 255 

Eisler, Rudolf, Dr. Einführung in die Erkenntnistheorie. 
Darstellnnfi: und Kritik der erkenntnistheoretischen Richtungen. Leipzig 
1907. Verlag von Johann Ambrosius Barth. (Xu und 292 S.) 

In meiner ^kritischen Einführung in die Philosophie** (Berlin 1906, 
E. S. Mittler & Sohn) habe ich die Grundrichtune^n aller philosophischen 
Disziplinen dargestellt und kritisch erörtert. In dem vorlieg^enden Werke 
war ich nun bemüht, mit grösserer Ausführlichkeit und reicheren Litte- 
raturan^ben, sowie mit genauerer Darle^ng meines eigenen erkenntnis- 
theoretischen Standpunktes das Sondergebiet der Erkenntnistheorie sowohl 
jenen, welche noch wenig von dieser Wissenschaft wissen, als auch den- 
jenigen, die nicht in der La^e sind, sich in dem Gewirre erkenntnistheo- 
retischer Richtungen orientieren zu können, nftherzuführen ; zugleich 
wollte ich freilich auch dem ,,Fachmann** die Hauptpunkte jener erkennt- 
nistheoretischen Richtung vorlegen, von welcher ich glaube, dass sie, bei 
verschiedenen Denkern in verschiedenen Modifikationen und Nuancen, mit 
der Zeit immer mehr durchdringen wird. Ich gehe in meinem Buche so 
vor, dass ich zuerst das Wesen der Probleme erörtere, sodann die Grund- 
richtungen ihrer Lösung darstelle — an der Hand nicht unbeträchtlicher 
älterer und neuerer Litteratur und Zitate — und zuletzt überall zu kri- 
tisch-positiven Ergebnissen gelange. Das Buch gliedert sich in eine, die 
Aufgabe und Methode der Erkenntnistheorie behandelnden Einleitung und 
in drei Teile, deren erster die Frage nach der Möglichkeit des Erkennens 
überhaupt und das Wahrheitsproblem untersucht, w&hrend der zweite es 
mit dem Problem des „Ursprungs** und der der Gültigkeit der Erkenntnis, 
der dritte mit dem Realitätsproblem zu thun hat. Wie es die Natur einer 
yy Einführung** mit sich bringt, musste die Erörterung erkenntnistheoretischer 
Binzelfragen, wenngleich sie nicht fehlt, gegenüoer der Darstellung und 
Kritik des Allgemeinen, Typischen zurücktreten. 

Was nun meinen eigenen Standpunkt betrifft, so muss ich gestehen, 
dass ich im Laufe der Zeit dem Kantischen Kritizismus, dem ich schon 
in meiner Doktor-Dissertation vom Jahre 1894 im Prinzip zugestimmt 
hatte, merklich näher gekommen bin. Eine Weiterbildung des Kritizismus 
in einer Richtung, die in verschiedener Weise schon andere Denker 
(Wundt, Riehl, Höffding, Volkelt, Paulsen, Baumann u. a.) 
unternommen haben, erscheint mir als geboten; doch nähere ich mich in 
manchem noch mehr Denkern wie Cohen und Natorp, aber auch 
Windelband und Ricke rt, bei welch letzterem Fichte zu verdienter 
Geltung kommt. Das Neue, das ich versuche, ist die konsequente volun- 
taristische Formulierung des Kritizismus. Bei der Forschung nach den 
obersten und letzten Grundlegungen der Erkenntnis stiess ich auf etwas 
tTbertheoretisches, das aber doch noch nicht — wie Rick er t meint — 
ein Ethisches ist: auf den Einheitswillen, der auf allen Gebieten des 
Geisteslebens sich betätigt und das formale Apriori ist, welches der theo- 
retischen und der praktischen (ethischen, sozialen) Vernunft gemeinsam 
angehört Die Aktivität, die lebendige Dynamik der Vernunft, gleichsam 
die dynamische Innenseite derselben, der Motgr des Geisteslebens ist der 
Wille. Dft^enige, worauf der „reine" Wille, der „Grundwille** gerichtet 
ist, ist die «Idee**, die als Ideal wirkt, indem sie das Handeln normiert. 
Was Kant die „transscendentale Apperzeption** nennt, stellt sich als die 
Leistung des reinen Erkenntniswillens heraus, und die Erkenntnisformen 
(Kategorien) sind nichts anderes als typische Mittel zur Realisation 
des Erkenntnisideals, des reinen Erkenntniszweckes. Die Er- 
kenntnistheorie deckt die Teleologie des Erkenntnisprozesses auf, aber nicht 
— wie bei Mach u. a. — als eine biologische, sondern als eine logische 
Teleologie, die eine besondere Richtung der geistigen Finalität überhaupt 
bildet; es gilt, einem „logischen Pragmatismus**, der den „Vemunftwillen** 
Ton anders gerichteten Tendenzen scharf zu unterweisen versteht^ das 
Wort zu reden. Die „transscendentale Methode** und der reine Logismus 
sfaid dvrcbfras berechtigt, aber sie erfordern, soll das Erkennen als leben- 

17* 



äod Selbstanzeigen (Eleutheropuios). 

diger Geistesprozess begriffen werden (wie dies Eucken, Scheler 
u. a. fordern) ihre Er|[änzung durch eine willenskritisch-teleo- 
logische Fondierung, wie sie für die Kulturwissenschaften überhaupt in 
jüngster Zeit R. Goldscheid (Grundlinien zu einer Kritik der Willeiis- 
kraft, 1905) als Desiderat aufgestellt hat. Der „volontaristische Kritizis- 
mus^ betrachtet den EinheitsTimlen nicht im Sinne der Individualpsycho- 
logie, sondern als letzten „Grund^ von Erkenntnissätzen, als Urvoraiu- 
setzung, als oberstes Postulat und dann auch als eine geistige 
Macht, die im obiektiven, den Ausbau der Wissenschaft methodisch ge- 
staltenden, geschichtlich seine Potenzen entfaltenden und am Leitfa&n 
von Erfahrungserlebnissen eine allgemeingültige, überindividuelle Weh 
theoretischer Inhalte und Gegenstände erarbeitenden Intellekt („Gksamt- 
geist*') wirksam ist. Erkenntnistheorie ist nicht Psychologie, wohl aber 
psychologisch (oder „noologisch^) zu er^nzen. 

Das Bealitätsproblem suche ich im Sinne eines „Ideal-Realismus^ 
(oder „objektiven Phaenomenalismus^) zu lösen, auch hier Kjintische Ge- 
aanken weiterführend. Dieser „Ideal-Realismus^* verbindet mit der Aner- 
kennung; der jfldealität^ oder „Erf ahrungsimmanenz** der Erkenntmsobjekte 
als solcher die Setzung „transscendenter Faktoren^, die nicht „Objekte^, 
sondern „Subjekte'^ una als solche Bedingungen der objektiven Erkennte 
nis sind. Das methodisch erarbeitete Oojekt-Sein weist gebieterisch auf 
ein fdirekt nicht erkennbares, aber in uns erlebbares, bei anderen begriff- 
lich oestimmbares) „An sich** hin, als das „noumenale^ Korrelat der räum- 
lichen Phaenomene, als das Eigen — oder für sich — Sein der Dinge. 
Die „Transscendenz'* dieses Eigenseins wird nicht nur als möglich, sondern 
als notwendig dargethan, indem gezeigt wird, dass etwa« dennenigen 
Analoges, was Erkenntnisformen geistig erzeugt, was also nicht Denkinhalt, 
Denkiorm, sondern aktives Formen („Ichheit^, „Subjektivität^) ist, 
allem Sein zugrunde liegt; das „Transscendentale** giebt den Schlüssel zum 
„Transscendenten**. Die konsequente und richtige, aber abstrakte und ein- 
seitige „impersonalistische^ Naturauffassung der Einzelwissenschaft bedarf 
letzten Endes der Ergänzung durch die „Tagesansicht^ einer — um mit 
L. W. Stern, dessen Tendenzen ich freudig begrüsset, zu reden — „pe^ 
sonalifr-tischen^, konkreten, lebendigen, das qualitative Eigensein and 
Eigenthun der Wirklichkeitsfaktoren würdigenden Weltdentang. Und 
hier zeigt sich ein Weg zur „Metaphysik**, den uns besonders Leib- 
niz, dessen Zeit jetzt wiederkommen wird, zu weisen vermag, und hier 
kommt auch, wenn auch in einer Weise, welche dem Realismus derNatlI^ 
Wissenschaft voll gerecht wird, der „objektive Idealismus** der Nach- 
kantischen Spekulation zur Geltung. Die Erkenntnistheorie, die so lang 
metaphysikfeindlich war, wird die Keule des „Alleszermalmers** weg- 
werfen und mit besonnener, kritischer Vorsicht selbst zur Metaphysik, zur 
„Weltanschauungslehre** geleiten. Es ist mein höchster Wunsch, dass meine 
Arbeit ein Geringes dazu beitragen möchte. 

Wien. Dr.. Rudolf Eisler. 

Elentheropalos, Privatdozent Dr., Zürich. Einführung in eine 
wissenschaftliche Philosophie, der Wert der bisherigen und 
der Zustand der Philosophie der Gegenwart. 1906. '^(^lag von 
M. Heinsius Nachf. Gr. 8^. (Vm und 172 8,) 

Wie ich in der Einleitung meiner Schrift ausführe, giebt es in der 
Gegenwart auch philosophische Ansichten und Systeme, welche Über- 
bleibsel alter Spekulationen sind (vgl. auch S. 4&---71); aber das Streben 
nach einer Philosophie mit wissenschaftlichem Charakter bildet doch das 
spezifische Merkmal der Gegenwart im Unterschiede von der bisherigen 
Philosophie, die, wie ich kritisch beweise, psychologisch-subjektiven, wy 
chologisch-nationalen, sozialen und nur in ganz geringem Masse änsserlich 
auch positiv wissenschaftlichen Bedingungen ihre Existenz verdankt 
(S. 31—44). Gewinne ich nun hieraus, dass die bisherige Philosophie 
nicht die Quelle unseres Philosophierens bilden darf, und diM lie 



Selbstanzeigen (Weissfeld). 267 

nur kulturhistorische Bedeutung hat (S. 34 ff.) und bestimme ich 
darauf die einzig richtige Behandlungsweise der Geschichte 
der bisherigen Philosophie (S. 37 ff.) — so fasse ich nunmehr das 
weitere Problem an der Wurzel : wir streben nach einer wissenschaftlichen 
Philosophie, worin liegt nun aber die Wissenschaftlichkeit der- 
selben? Ich prüfe nun vorerst die vorhandenen Ansichten darüber. Da 
man diese Ansichten in den vertretenen Systemen nur (und nicht für sich 
direkt) ausgesprochen hat, so stelle ich dar und ich beleuchte kritisch 
diese Svsteme darauf hin, ob durch dieselben wirklich eine wissenschaft- 
liche Philosophie zum Ausdruck kommt, indem ich die Stellung und 
Lösung der Probleme erwäge. Als solche gegenwärtige philosophisch 
wissenschaftliche Anschauungen berücksichtige ich Kant, wie er m der 
Gegenwart vertreten wird, den Neokantianismus, dann die Naturforscher- 
Kritiker, weiter die Lehre vom unmittelbar Gegebenen rPositivismus, 
immanente Philosophie, Empiriokritizismus und Ernüirungslenre), die aus 
der Naturwissenschaft abgeleitete Philosophie und endlich die Philosophie 
als (hypothetische) Ergänzung der Einzelwissenschaften (Lotze, Fechner, 
Wundt und Spencer). Ich will hier in den „Kantstudien^ hervorheben, 
was ich über Kant und den Neokantianismus ausführe: ich stelle zuerst 
die Lehren Kants dar unabhängic^ von ihrer Entstehungsweise (in dieser 
Beziehung gehören sie zu der bisherigen Philosophie) nur wie sie als 
Lehren, die man erneuern will, vorhanden sind; dann bespreche ich die 
Neokantianer, die ich in reine, echte und in über Kant hinausgehende 
unterscheide (ich mache freilich auch den Unterschied zwischen ehren- 
haften und Karriere-Neokantianem); dann kritisiere ich Kants Lehren und 
ihre neokantischen Verbesserungen an sich und ich finde, dass keine zu- 
recht besteht, keine einer immanenten Kritik standhält und ich kritisiere 
das methodologische Verfahren Kants und der Neokantianer und mache 
geltend, dass sie nicht untersuchen, sondern die Begriffe von vornherein 
für wirkliche Gegenstände halten und vom Erkennbaren und Unerkenn- 
baren sprechen (S. 83 — 91); so scheint mir nicht zu recht zu bestehen, 
weder dass die strengen Neokantianer auf ein System verzichten, noch 
dass die Über Kant hinausgehenden Neokantianer auf Kan tischer Grund- 
lage zu einem System gelane^en wollen. Ich zeige nun in dieser Weise, 
dass das „Wie^ aer angestrebten philosophischen Wissenschaftlichkeit in 
der Gegenwart bei allen oben auffi^ezälüten Richtungen nicht richtig an- 
gewandt wird. Jetzt unternehme ich, dieses „Wie" direkt zu beantworten : 
ich zeij^e die Notwendigkeit der Philosophie als ein allgemeines Weltbild 
und nicht von vornherein als Metaphysik, metaphysisches Weltbild 
(S. 148 ff.), ich begründe die Möglichkeit der Aufgabe dieses allgemeinen 
Weltbildes (S. 161 ff.), ich fl;ebc die Grundlagen zur Gewinnung einer 
solchen Philosophie (S. 154 ff.), indem ich auch die Wissenschaften klassi- 
fiziere, und ich bestimme dann den wissenschaftlichen Charakter der 
Philosophie (S. 169 ff.). 

Zürich. Elentheropulos. 

Weimfeld, M., Dr. Kants Gesellschafslehre. Bern 1907. 
Scheitlin, Spring & Cie. 

Die Schrift soll zunächst eine Darstellung der Kantischen Lehren 
sein und, soweit es der Verfasser abzusehen vermag, ist das ganze auf das 
soziologische Problem sich beziehende Material, das sich in Kants Schriften 
vorfindet, berücksichtigt worden. Demgemäss werden in besonderen 
Kapiteln Kants Lehren über die sozialen Wissenschaften und ihren Gegen- 
stand, über die Bestimmungen des Gesellschaftlichen, die Familie, die 
Völker und die Nationen, den Staat, den Völkerbund und den Weltstaat, 
die Menschengattang behandelt. Eb erweist sich danach, dass die Kan- 
tische Soziologie ziemlich reich an Problemen ist, sogar an solchen Pro- 
blemen, die man gewöhnlich erst den später auftretenden soziologischen 
Systemen zuschreibt. Andererseits aber zeigt es sich, dass auch die 
Lösung der soziologischen Probleme bei Kant und den nachfolgenden 



258 SelbsUnzeigen (Kern). 

Soziologen im Allgemeinen dieselbe ist. Der Verfasser, der rein systema- 
tische Zwecke venolgte, durfte daher in seiner Arbeit jegliche historisch- 
vergleichende Betrachtungen bei Seite lassen. 

Die so im Allgemeinen charakterisierte Schrift befasst sich aber 
auch nur mit den Lebren Kants, nicht aber mit dem Menschen Kant, 
denn der Verfasser hält es für logisch unberechtigt, einen inhaltlichen 
Zusammenhang zwischen irgend welchen persönlichen Erlebnissen (sofern 
man darunter nicht etwa theoretische, sondern emotionelle und Willens 
Momente versteht) und Gedanken herstellen zu wollen. 

Wir sagten oben, dass die Kantische Soziologie sich von der nach- 
folgenden im Allgemeinen sehr wenig unterscheidet. Es muss aber auf 
einen Punkt hingewiesen werden, der der Kantischen Soziologie mehr 
oder weniger eigentümlich ist. Während die meisten Soziologen des 19. 
Jahrhunderts unbewusst die Selbstherrlichkeit des Menschen voraussetzten, 
meint Kant, dass ein Telos, eine ausser dem Menschen stehende Macht 
das soziale Leben bestimme. Fata volentem ducunt, nolentem trahunt 
Allein dieser an sich fruchtbare Gedanke ist bei Kant ziemlich fruchtlos, 
denn er verleiht ihm keine philosophische Formulierung und wendet ihm 
überhaupt sein Interesse nur in ungenügendem Masse zu. 

Aus dem systematischen Zweck der Schrift folgte auch, dass der 
Verfasser seine „kritischen^ Ansichten nicht zu unterdrücken brauchte. 
Er bringt daher einige prinzipielle Ansichten und Begriffe zum Ausdruck, 
nir.ht etwa, um an der Kantischen Soziologie eine „Flickarbeit'' zu ve^ 
richten, sondern um diejenigen Grundlagen aufzuweisen, auf denen nicht 
nur das ^.soziologische'^ De&en, sondern die theoretiscJie und die prak- 
tische Philosophie überhaupt aufgebaut werden müssen. Diese Prinzipien 
tragen aber einen mehr programmatischen Charakter, so dass sie nur 
angedeutet, nicht aber ausgeführt werden konnten. Allein, wenn auch 
diese Prinzipien nur angedeutet werden und nur einen sehr kleinen 
Teil des Buches einnehmen, so hält sie doch der Verfasser für das 
wichtigste in seiner Arbeit. Für diejenigen freilich, die die Grundlagen 
der jetzigen soziologischen Lehren für wissenschaftlich berechtigt halten, 
kann die Schrift nur die Bedeutung einer vollständigen Darlegung dst 
Kantischen Ansichten haben. 

Bern. M. Weissfeld. 

Kern, Berthold, Professor Dr.^ Generalarzt. Das Wesen des 
menschlichen Seelen- und Geisteslebens als Grundriss einer 
Philosophie des Denkens. Zweite, völlig neu bearbeitete Auflage. 
A. Hirschwald, Berlin 1907. (IX und 434 S.) 

Eine zweite Auflage ist das Werk nur in Bezug auf den Titel und 
die Probleme. Sachlich ist diese Auflage eine wissenschaftlich strengere 
und in philosophischer Hinsicht weitergeführte Bearbeitung jener So- 
bleme, welche die erste Auflage als Festschrift nur vorläufig einem be- 
grenzten medizinischen Leserkreise in gedrängter Form als lösungsbedfirftig 
und lösbar hatte vor Augen führen sollen. 

Die Tendenz aber ist dieselbe geblieben, nämlich die, den Natur- 
wissenschaften zu zeigen, dass sie in ihrer gegenwärtigen weitgreifenden 
Entwickelung das erkenntnistheoretische Fundament nicht mehr entbehren 
können, dass sie aber nicht befähigt sind, aus sich selbst heraus ein solches 
zu erzeugen, sondern dass sie angewiesen sind auf die Arbeit der Philo- 
sophie, welche sie sich zu eigen machen und zu Eate ziehen müssen, um 
ihre eigenen Grundlagen zu erkennen und ihren eigenen Geltungsw^ zn 
festigen. 

Solch gegenseitige Durchsetzung zeitigt Ergebnisse, welche rück- 
wirkend für beide Wissenschaften wertvoll und fördernd und den vor- 
handenen Erkenntnisschatz zu mehren imstande sind. Die Philosophie 
selber wird in diesem Zusammenwirken zu einer im engeren Sinne exakten 
Wissenschaft, 



Selbstanzeigen (Kern). 269 

Das sind die Voraussetzungen und zugleich die Ziele, welcher 
meiner Arbeit zugrunde liegen. Die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse 
und Grundgesetze finden ihren Geltungswert in der thatsächlichen Macht, 
welche sie uns über das Naturgeschehen verleihen. Aber auch sie be- 
dürfen der Rechtfertigung und der Läuterung durch die Erkenntniskritik. 
Letztere kann seit Kant von ihrer beherrschenden Stellung an der Spitze 
aller unserer Erkenntnis nicht mehr entfernt werden. Sie ist massgeoend 
auch für die Lösung; des Seelenproblems. 

Die Erkenntniskritik führt bei folgerichtiger Verwertung ihrer Er- 
gebnisse geraden Weges zum objektiven Idealismus, in welchem 
nicht das Sein, sondern das Denken der Urbestand, das An-sich des Welt- 
geschehens ist. Die Welt wird zu einer Welt von Begriffen in einheitlich- 
ßesetzmässigem Zusammenhange und in gesetzmftssiger Entwickelunff. 
de Natur ist ein Ausschnitt aus dieser Welt des Denkens mit dem Inhalt 
räumlicher und gegenständlicher fiegriffsbildung, der lebende Körper 
nichts anderes als die räumlich-gegenständliche Umdeutung der seelischen 
Vorgänge, das Ich ein einheitlich-zusammenhängender Denkvorgang 
(Aktualitätfitheorie). Leben ist der materielle Ausdruck für Denken. 

Der Schwerpunkt der Beweisführung für diese allgemeinsten Ergeb- 
nisse liegt in dem Nachweise der Identität von Seele und Körper. 
Diese Identität ergiebt sich mit unausweichlicher Notwendigkeit aus natur- 
wissenschaftlichen Gesichtspunkten; ihre Art und ihr Wesen aber bestimmt 
sich auf den Grundla^n der Erkenntniskritik. 

Das Denken in der bislang herrschenden Begriffsbestimmung ist 
zu eng gefasst. Das logische Denken ist nur ein Teilvorgang, ein 
Sondenall in dem weltbildenden Denken. Letzteres umfasst ausser dem 
logischen Denken auch die Empfindung, die Gefühle, den Willen, was 
naturwissenschaftlich und erkenntnistheoretisch erweisbar ist. Alle diese 
Vorgänge sind Denkvorgänge im wahren Sinne des Wortes und ent- 
haltenUrteile (Existenzialurteile, Werturteile und Zweckurteile), grössten- 
teils allerdings in mechanisch gewordenen (ererbten und erübten) Formen. 
Ebenso ist das Bewusstsein nur ein Ausschnitt aus der breiteren Grund- 
lage des unbewussten Seelenlebens. Für dieses Denken im weiteren Sinne 
ist der Ausdruck des noötischen Denkens verwendbar. In der Aktivität 
des Denkens Uegt WUle, Leben und Entwickelung einbegriffen. Die 
Entwickelung tritt so an die Spitze alles Weltgeschehens lus dessen be- 
herrschendes Prinzip im Sinne des yovf. Weiter folgt hieraus die Wieder- 
aufrichtung der geistigen Freiheit als Denkfreiheit im Gegensatz zu der 
unhaltbaren Willensfremeit, ein intellektueller Indeterminismus und eine 
erkenntnistheoretische Begründunsr der Ethik auf lediglich intellektueller 
Grundlage, — dies alles unter Wahrung; widerspruchsloser Einheit und 
Einstimmigkeit zwischen naturwissenschaftlich materieller und philoso- 
phisch immaterieller Betrachtunjg;sweise. 

Alle diese Ergebnisse übrigens weisen in ihrem vollen Umfange auf 
Kant zurück, welchem sie in mren wesentlichsten Zügen bereits vorge- 
schwebt haben, nur dass er sie nicht in gerader Linie zu entwickeln ver- 
mochte, weil die richtige Stellung des Denkens bei ihm noch nicht zum 
vollen Durchbruch gekommen war, weU ein dogmatisches Sein jenseits des 
Denkens ihm als undurchdringliches Dunkel ^t. Der Abweis jedes dog- 
matischen Mystizismus, sei er naturwissenschaftlichen, philosophischen oder 
religiösen Inhalts, ist die Vorbedin^ng für bündige wissenschaftliche Er- 
kenntnis, welcher absolute Wahrheit und unbegrenzte Entwicke- 
Inngsfähigkeit zuzusprechen ist im Gegensatz zu den Vorurteilen der 
Erscneinungswelt und der Beschränktheit menschlichen Erkenntnisver- 
mögens. 

Berlin. B. Kern. 

Marens, Hugo. Die Philosophie des Monoplnralismns. 
Grundzüge einer analytischen Naturphilosophie und eines ABC der Be- 



260 Selbstanzeigen (Marciu). 

g-iffe im Versuch. Berlin W. 50, Goncordia, deutsche TeriagsautiiL 
erm. Ehbock, 1907. (163 S.) 

Die Antinomienlehre hat Kant auf ihre Höhe geffihrt. Kant nk» 
schied vier Antinomien. Die vorliegende Arbeit nun ▼ersacht, diese vb 
Antinomien auf eine von ihnen, die Teilbarkeitsantmonde, znrackzukitai, 
die sie in die Formel fasst: Einheit und Vielheit, die einander einoiäli 
ausschliessen, existieren doch andererseits nur miteinander, — „monopfainl^. 
Auch in den einzelnen SpezialWissenschaften lassen sich Antinomien ^on* 
Ueren: historische, erkenntnistheoretische, soziologicMshe, p^ebologu^ 
ethische, ästhetische, pädagogische. Die historische Antmomie formnfiat 
beispielsweise die Thatsache, dass uns im Grande ein reines Behurs 
ebenso undenkbar ist wie ein reiner Wechsel, so dass wir diese beid« 
Widersprüche doch notwendig stets zusammendenken müssen. Anchdii 
Zahl der einzelwissenschaftlichen Antinomien aber kann man in äoer 
spezifisch antinomen Nuance auf die vorerwähnte antinome Koexiitai 
von Einheit und Vielheit zurückleiten. Und diese Koexistenz drückt ihm 
Stempel nun auch dem Verhältnis der ftussersten Kategorien auf, dierä 
überhaupt zu denken vermögen; deren werden sieben unterschieden: Zät. 
Raum, kraft, Stoff, Leben, Ordenbarkeit und bestimmte Ordnim^. Se 
lassen sich nicht auf einander zurückführen, bilden also eine \1elhat; 
jede von ihnen bedingt aber auch die Existenz sämtiicher anderer, woiii 
zufi^leich die Einheit der Welt entsteht. In dieser Erkenntnis vertHodet 
sich also das monistische Prinzip mit dem dualistischen, ja nlnraüstisGliR 
zu deijenigen Sjmthese, die den Thatsachen entspricht^ ona von da m 
jene beiden Richtungen ihren Berechtignngsgrund erhalten. An oBcr 
grossen Zahl von Erscheinungen, an fieffriffen und Aossenweltdingenin* 
an Gefühlen und Willensvorgängen wird die Koexistenz von Ein&t xd 
Vielheit im Weiteren auf^ezei^. Es erheben sich nunmehr die ^^np 
nach dem Verhältnis von Einheit und Vielheit im Nacheinander derZtf 
(historische Fra^e) und in ihrem Nebeneinander (organische, morphologiffihe 
Fragte]). Die historische Frage führt auf ein G^isetz der Erhaltung T<a 
Einheit und Vielheit, aus dem sich folgern Iftsst, dass Einheit und Vidi- 
heit blosse Vorstellung[sarten für dieselbe Sache sind; und damit eridirt 
sich alsdann, wieso einende Tendenzen wie der Sozialismus und vornd* 
fältigende wie der Liberalismus bald als die schroffsten Ge^^ensUse, bild 
als verwandt betrachtet werden und betrachtet werden können. Voa 
organischen Standpunkt aus spiegelt sich das Verhältnis von Einhat m' 
Vielheit im Verhältnis des Ganzen und seiner Teile. Wie das Chmze die 
Teile, die Teile das Ganze beeinflussen, wie die Teile zu lockreren vxA 
festeren Verbindungen, Ganzen sich gestalten, wobei sie ihr WeieB 
ändern und die Quelle der Entstehung der Verschiedenheiten, der Aitei 
werden, wie sowohl konkrete als abstrakte Teile sich überall in mItb^ 
matischen Formen vereinigen, wird auf^zeigt. Schliesslich wird ä» 
Einheitsbewusstsein und Einheitsstreben in uns selbst untersucht nnd tf' 
kannt, dass die Seele infolge ihrer Struktur, — der Enge ihres Blick- 
punktes nämlich — , nur immer eine Einheit ganz zu fassen vennig, - 
einheitsstrebig sein muss. Unserer psychischen Enge entspricht die ia 
allgemeinen sehr einfache, primitive Natur unserer höchsten vorsteüimgei 
und unserer Zielsetzungen. Aber auch komplizierte Thatsachen sacht 
sich die Seele zu Einheiten zu gestalten: durch Auswshl des Einzc^DCB. 
das hierdurch zum ,yAusser^ewöhnlichen^ wird, und durch Zusammoi- 
fassung zum „AUgemeingiltigen^. Und auf diese Weise ist dann der 
Zauber erklärt, den das Aussergewöhnliche, Heroische und das AllgemeiB- 
giltige. Typische stets auf die Menschenseele geübt hat, wfthrend am 
Genrehafte der Repräsentant der Vielheit ist uikI uns Unruhe, Wahl foA 
Qual bereitet. Mit einer Analyse der Fehler, die aus dem Einheitsstreben 
leicht enstehen können, und die zwischen Extremen und Skepsis hindmch 
ihren Läuterungsweg gehen, schliesst das System des Monopluralismns. 

Berlin. H. Marcus. 



Selbstanzeigen (Camerer). 261 

Camererf W., Dr. med., Medizinalrat. Philosophie und Natur- 
vrissenschaft. Kosmos- Verlag (Francksche Buchhandlung) Stuttgart 
1906. (800 S.) 

Das Büclilein ist aus Anlass der Naturforscherversammlung in Stutt- 
gart, September 1906, entstanden, welcher der Verfasser körperlicher 
Schwäche halber fem bleiben musste. Es sollte in leicht verständlicher 
Sprache dem Physiker und Chemiker, ausübenden Arzt und Ingenieur, 
überhaupt Freunden der Naturwissenschaft, diejenigen philosophischen 
Kenntnisse übermitteln, welche nach persönlicher Erfahrung zum mehr 
als technischen Betrieb dieser Fächer wünschenswert erschienen. 

Der erste Teil des Buches, fast die Hälfte, enthält eine dem 
ei^nartigen Zweck angepasste, ganz kurze Geschichte der Philosophie, 
in der besonders Kants Kritik der reinen Vernunft zu erörtern war. 
ESs seien hier die leitenden Grundsätze endgültig festgelegt, welche der 
Naturforscher der Philosophie für seine Zwecke zu entnehmen habe, 
dahin gehend, dass er eine unendliche Reihe von Thatsachen zu er- 
forschen, und auf Grundlage mathematisch-mechanischer Anschauungen 
nach dem Kausalit&tsprinzip zu verbinden habe, ohne jemals ans Ende zu 
kommen. Es wurde hier auch des gegenwärtig geführten Streites 
zwischen Physiologen mechanischer und neovitalistischer Richtung ge- 
dacht, in welcher die überlegene Weisheit Kants jeder der beiden 
Parteien im Voraus den ihnen zukommenden Bescheid erteilt habe. 

Der zweite Teil handelt von dem, was Anatomie und Physiologie 
des Hirns gegenwärtig über das Seelenleben des Menschen auszusagen 
iwiBsen. Zunächst, dass sinnliche Vorstellungen sich gleichzeitig mit dem 
Hirn schon während des Embryonalleben zu bilden beginnen, woran sich 
im Rückblick auf Aristoteles ein paar Worte über die heutige Ent- 
"wickelungslehre anschliessen. Sodann wird, freilich noch in groben Um- 
rissen, der Mechanismus beschrieben, durch welchen die Vorstellung von 
Raum und Zeit entstehe; jene durch das Zusammenarbeiten von 3 Smues- 
nerven und ihrer Ausbreitung im Gehirn: Der Sehnerven, Tastnerven, 
nnd als wichtigster der Muskel-Empfindungsnerven, diese durch den Bau 
der Grauhimnnde, nämlich durch Sonderung der für die Wahrnehmung 
bestimmten Ganglienzellen in sensible, und in Erinnerunfszellen. Da nun 
die Empfindungen, die wir von den „Spezialsinnen^, den bekannten 5 
Sinnen, erhalten, gej^ebenen Falls ebenfalls zu einem Gesamteindnick 
zusammenfliessen, beim Säugling z. B. zu dem der Milch, kann man an 
der Locke- Hu m eschen „Idee der Substanz*^ 3 Bestandteile unterscheiden, 
die aus den Spezialsinnen fliessende Vorstellung, die Vorstellung von 
Raum und die von Zeit, welche beim Kind und naiven Erwachsenen eine 
Einheit rein sinnlicher Art bilden. Die Eindrücke des Muskelsinns seien 
niemals mit den Geftlhlen des Angenehmen und Unang^enehmen ver- 
banden, eben sowenig das Zählen, die Funktion des Zeitsinns, während 
die Eindrücke der Spezialsinne immer mit diesen Gefühlen behaftet 
seien: daher vermöge der denkende Mensch diese Einheit nach zwei ver- 
achieaenen Seiten hin auseinanderzulegen, nach der anscheinend ^nz 
objektiven, mechanischen und nach der anscheinend ganz subjektiven, 
iaUietischen. — Am Schluss des Abschnitte« ist die mechanische (che- 
mische) Grundlaee des Fe ebner- Web er sehen Gesetzes aufgezeifft, zu 
weicher der Venasser durch eine nähere Untersuchung unserer willkür- 
lichen Bewegungen gelangt ist. 

Der dritte Teil befasst sich mit den grossen Problemen der mo- 
dernen Physik und Chemie; er ist eine Neubearbeitung von Aufsätzen, 
welche in der besonderen Beilage des Staatsanzeigers rar Württemberg, 
1900, No. 12, erschienen sind, unter der Aufschriß; Neue Wege auf 
dem Gebiet der exakten Wissenschaften. Die Entdeckung des 
Radiums und die Untersuchungen über elektrische Strahlungen in luftleer 
gemachten Röhren haben manchen Ausführungen des Verfassers uner- 
wartet schnell eine experimentelle Stütze verliehen, deren sie jedoch nicht 



262 Selbstanzeigen (Brockdorff— Feug^re). 

bedurften, denn sie standen und stehen auf dem sicheren Boden Kan- 
tischer Philosophie, nämlich auf dem Grundsatz, dass der Natarforscha 
niemals an die Stelle mechanischen Zusammenhangs mystische „Krftfte" 
setzen darf, und dass, wie bei der menschlichen Erkenntnis überhaupt, so 
bei der des Naturforschers insbesondere, die sinnlichen Vorstellungen nnd 
das Denken immer zusammen arbeiten müssen. Veranlassung zur Ver- 
öffentlichung dieser Aufsätze gab der Umstand, dass Physiker von Namen 
und von Einfluss begannen, sich auf das Gebiet leerer mathematischer 
Formeln, ja sogar leerer Phrasen zu verirren. — Am Schluss des dritten 
Teils ist von der Bildung und Bedeutung der sogenannten Naturgesetze, 
von ihrer Analogie mit den Begriffen, von ihrer etwaigen objektiven 
Realität im Anschluss an Kants Kritik der Erkenntnis die Rede. 
Urach. W. Camerer. 

Brockdorff, Baron Ca^ von, Dr. Die Geschichte der Philo- 
sophie und das Problem ihrer Begreiflichkeit. Hildesheim 1900, 
Verlag von A. Lax. 

Die vorliegende Schrift verfolg die Geschichte der Philosophie 
unter dem Gesichtspunkte eines einzigen Problems: dem der Entwicke- 
lung der Denkmittel, des Bewusstseins für die Bestimmungen, wodnrch 
wir die Dinge „begreifen^. Sie zeigt zwar, dass sich mit diesem Problem 
alle anderen verschlingen, dass aber an diesen Problemen stets eine 
Seite zu finden ist, woran wir uns über das bewusst logische Verfahren 
der Selbsterkenntnis zu orientieren haben. Sofern wir dies Verfahren 
begreifen, begreifen wir mit uns selbst den Philosophen; die Vernunft ist 
in ihrer Reinheit allgemeingültig. Um aber einen Philosophen zu „be- 
greifen'^ haben wir oft Konsequenzen zu ziehen, Voraussetzungen zu e^ 
mittein u. s. w., mit einem Worte: zu verstehen. Daher ist eine Psycho- 
logie des Verstehens zu Grunde zu le^en. So aufgefasst, erscheint die 
Forschung der Geschichte der Philosophie als ein fortschreitender Prozess 
der Selbsterkenntnis und des j,Ver8tenens^. Darin liegt ihre Begreiflich- 
keit. Man kann jedoch diesen Prozess nicht in eine „Definition^ fassen, 
sondern muss ihn mit durchmachen; denn der Begriff der Erkenntnis ist 
die Theorie der Erkenntnis. 

Das Buch enthält manches, was auch Leser mit einer ganz anderen 
Auffassung intere^eren dürfte, so z. B. ein Faksimile l^hopenhaners 
(aus dem Besitz des Herrn Geh.-Rats Vaihinger) über den Begriff der 
Vollkommenheit. — Um die kulturfi^eschichtlichen Beziehungen der Philo- 
sophie wenigstens äusserlich anzudeuten, sind die einzelnen Kapitel mit 
illustrierenden Vignetten versehen worden: ein ragender Tempel leitet 
die griechische Philosophie ein, zerfallene Säulenhallen deuten das Ab- 
sterben dieses Volkes an. Da Galileis Erkenn tnislelire besonders hervor- 
tritt, so ist sein Porträt an die Stelle des Titelbildes gesetzt worden. 

Das Buch nimmt auch zu Hegels Be^ffslehre verhältnismässig 
eingehend Stellung, was bei dem Wiederaufleben des Hegeliamsmos 
namentlich bemerkt werden mag. 

Bad Ems. Baron v. Brockdorff. 

Feuitere, Anatole, docteur es lettres: Lamennais avant l'^Essai 
sur rindiff^rence", d'apr^s des documents in6dits (1782—1817). Etüde 
sur sa vie et sur ses ouvrages suivie de la liste chronolo^que de sa cor- 
respondance et des extraits de ses lettres dispers^es ou m^dites Paris, 
Bloud, 1906. 1 vol. in 8» raisin de XUI— 460 pages. 

Pour d^gager les traits essentiels de la physionomie morale de 
Lamennais il faUait l'observer au moment oü des ciconstances fortoites 
n'avaient encore pu Talt^rer. Mais comme la p^riode la plus interes- 
sante de sa vie est la crise de 1832—1836 qui amena sa d^ection, on 
est porte ä chercher dans les faits ant^rieurs une sorte de n6cessit^ logi- 
que en vertu de la quelle cette d^fection aurait du se produire. et Ton 
risque ainsi de fausser Thistoire. II faut donc se tenir soi-m6me en garde 



Mitteilungen. 263 

eontre cette tentatioiii en 6tudiant la jeunesse de Lamennais et 8*en dö- 
fier chez les autres. Aussi j* ai attach^ une grande importance k la date 
des divers t^moignages, pour 6tablir leur valeur respective. Si, par 
exemple, Sainte-Beuve ddclare, en fevrier 1832, qua Lamennais, encore 
enfant, avait lu plusieurs philosophes du 18e si^cle, qu^il resta longtt'inps 




que Lamennais n' 6tait pas encore condamn6 k Rome lorsque 
Beuve publiait son article. On ne peut donc pr^tendre que celui-ci ait 
accueilli k la l^^re ou invent^ ce qu'il eüt jug^ de nature k expliquer comnie 
4 l'avance Tattitude de Lamennais apr^ sa condamnation. Une question 
plus delicate est celle de la vocatiou de Lamennais. Si nous la croyons 
forc^, n'est-ce pas parce que nous songeons toiuours ä son apostasie? 
Si, plus tard, il s*^tait soumis, aurions-nous encore fe droit de croire qu'il 
se trompa en se faisant pr^tre? Non, me disais-je tout d'abord, et 
j^^tais pres de voir dans la vocation contrainte de 1816 une legende 
qui se serait formte pour expliquer son attitude en 1836. Cependant j'ai 
^t^ amene par Fexamen des textes ä une conclusion oppos^e, et je peuse 
qpe Terreur de ceux qui dirigi^rent Lamennais fut de prendre pour des 
n^^es d'^lection, sa r^pugnance invincible, ses h^itations sans cesse renais- 
aantes, Tabsence enfin de tont attrait. Eut-il le tort de se laisser 
d^cider par faiblesse? C*est possible, mais une raison plus haute expli- 

äae ])ourquoi il voulut, en se faisant pr^tre, abdiquer une indöpendance 
ont il avait besoin: cet individualiste n^ prdtendit ne rien conc6der k 
rindividualisme qui choquait sa raison. Or un sacrifice qui devait mettre 
la vie en accora avec ses maximes n*^tait pas sans grandeur. Pour 
maintenir un tel accord, c'est la force qui lui manqua plutöt que le 
courage. 

Fribourg (Suisse). Anatole Feug^re. 



Mitteilungen. 

Kant-Kritikeii avs dem Jahre 1799. 

Ifitgeteilt von Edmund O. v. Lippmann. 

Die „Denkwürdigkeiten und Tagesgeschichte der Mark 
Brandenburg und der Herzogtümer Magdeburg und Pommern*", 
herausgegeben von J. W. A. Kosmann und Th. Heinsius, schreiben 
S. 1333 ihres 8. Bandes (Berlin 1799, bei Belitz & Braun) wie folgt über 
Kant, und sprechen damit sicherlich ihrem grossen und einflussreichen, 
der „besten Gesellschaft^ Berlins angehörigem Leserkreise aus dem 
Herzen : 

„Vor kurzem ist eine kleine Schrift in Berlin unter dem Titel er- 
schienen: yAbgepresste Erkl&rung an die Philosophen und Kritiker in der 
weltberühmten Wissenschaftsstadt Jena, die angegriffene Kantische Philo- 
aophie entweder zu verteidigen oder sie als ungültig zu verdammen^ 
Wer in aller Kürze wissen will, was es eigentlich für eine Bewandtnis 
mit der Kantischen Philosophie und mit dem litterarischen Despotismus 
habe, wer wissen will, wie aie Unglücklichen von den ^wältigen Littera- 
turkönigen in Jena gemisshandelt werden, welche mcht auf Kant und 
seine symbolische Kritik der reinen Vernunft schwören wollen, den wird 
es nicht gereuen, diese vier Bogen fiesen zu haben. Möge docli Gott 
helfen, dass durch diese kleine Schrift der verlorenen G^istesfreiheit in 
Deutschland einiger Dienst geleistet wird.*^ 

Diesem Ergüsse gemäss wird man es keineswegs für eine Satire zu 
halten brauchen, wenn Bd. 7, S. 727 der nämlichen Zeitschrift die be- 
rüchtigte Abhandlung Nicolais: „Beispiel einer Erscheinung mehrerer 



264 Mitteilungen. 

Phantasmen^, — die bekanntlich zur Einftthrung des Proktophantasmisten 
und zu den Versen „Er wird sich gleich in eine Pfütze setzen** u. s. t 
in Goethes ,, Faust** Anlass gab — , zunächst scharf abgewiesen, die Be- 
cension aber dann mit nachstehenden Worten beschlossen wird: 

„Herr Nicolai ist so^r . . . höchst unzufrieden, dass jetzt Deutsch- 
land von Kantianern und Fichtianem so sehr gedrückt w^ird, weil er mit 
Recht überzeugt ist, dass diese philosophischen Sekten nichts taugen, in- 
dem ihre Systeme noch zu voll Scholasticismus und mystischer Formelei 
stecken, und die Deutsche Nation in ihrem Fortgang zu einer besseren 
und reelleren Philosophie stören imd aufhalten . . . Daher sucht er 
sie . . . zum Einsturz zu bringen, und eine vollkommenere Lebeosphilo- 
sophie, die sich freundlich mit der Religion und dem Priestertum verträgt, 
auf den Thron zu erheben. Heil diesem edlen Beginnen! Glück dieses 
antikantianischen Forschungen! . . .** 



Ein unbekanntes Gedicht auf die Kantische Philosophie. 

Die von 0. Flügel veranstaltete Ausgabe der Recensionen Herbam 
(in der von K. Kehrbach unternommenen Gesamtausgabe) wird einerseiti 
manches einer unverdienten Vergessenheit entreissen. Und wenn anderer- 
seits auch unter den besprochenen Schriften vielleicht manche ist^ der nar 
Herbarts Name und seine Beschäftigung mit ihr Dauer verleiht, so bietet 
doch der Umstand, dass eben Herbart sich mit ihr beschäftigt und Aber 
sie geschrieben hat, Gewähr für manchen bedeutsamen philosophischeii 
Ausblick Herbarts selbst. Zu der zweiten Kategorie der von ihm be- 
sprochenen Schriften scheint, wie aus der Recension wohl selbst hervor- 
geht, auch das Werk von Georg Karl Fick: „Vergleichende Darsteilnoir 
der philosophischen Systeme** zu gehören. Darin findet sich ein von 
Herbart selbst zitiertes Gedicht, mit dem Pick die Darstellung der 
Kantischen Lehre eröffnet, und auf das uns der verehrte Herausj^eber 
der Herbartschen Recensionen freundlichst aufmerksam macht. Das Ge- 
dicht hat freilich weder künstlerischen noch philosophischen Wert, i«t 
aber doch von einem gewissen dokumentarischen Interesse. Darum sei e> 
hier mitgeteilt. Es lautet: 

In des Wissens trüglich helle Höhen 
Mögst du nicht zu weit versteigen dich. 
Mancher glaubt das Höchste zu verstehen, 
Aber täuscht jedoch gewaltig sich. 

Nicht wird der Vernunft es je gelingen, 

Uebersinnlichs klar zu machen sich. 

Es kann niemand dieses je erringen, 

Lass doch, Mensch, nur^sein, was nicht für dich. 

Keine Kenntnis von der Dinge Wesen können wir erhalten, 
Alles denken wir nach der Erscheinung Form ; 
Nur als Regel deines Handelns möc^e Gott im Innern walten, 
Transscendentes ist nur subjektive Norm. 

Die vorstehenden Verse finden sich bei Herbart zitiert: Bd. XIII 
S. 21 in der Ausgabe von Kehrbach (ebenso Bd. XIII S. 508 in der Harten- 
steinschen Ausgabe). B. 

Kants Grabstätte. 

Wie im Anschluss an die „Königsb. Hartungsche Ztg.*^ mehrere 
BIätt«r melden, soll die Grabstätte Kants einem kirchlichen Neuhtn 
weichen. Die sterblichen Reste des Unsterblichen sollen dann an der Ost- 
seite des Domes beigesetzt und die Grabstätte mit einem Epitaphium ge- 
schmückt werden. 



Erste Preisaufgabe der Kantgesellschaft. 

Kants Begriff der Erken/ntniHf 
verglichen mit dem des Aristoteles. 

Bericht der Preisrichterkommission 
über die zur Preisbewerbung eingegangenen Schriften. 

Das Preisthema ist in dem, zum 1. März 1906 ausgegebenen Hefte 
1 und 2 des X. Bandes der „Kantstudien*^, S. 248 öffentlicli ausgeschrieben 
worden; Heft 3 desselben Bandes, S. 415, brachte dazu einen Nachtrag. 
Als erster Preis wurden 600 M., als zweiter Preis 400 M. ausgesetzt. 
Das Preisthema, das dann auch von vielen Zeitschriften und Zeitungen 
nachgedruckt worden ist, hat 7 Bearbeitungen gefunden, welche alle 
rechtzeitig (Ablieferungstermin: 1. Oktober 1906) eingelaufen sind. 

No. 1 und 2. Die erste Arbeit (18 Seiten Folio) hat das Motto: 

Nescio quomodo nihil tarn absurde dici put est, quod non dicatur 
ab aliquo PhiloBophorum. 

Cicero, de Divin. Lib. II, LVHI, 11». 

Die zweite Arbeit (17 Seiten Folio) trftgt den Sinnspruch: 

Das ist eSj was den Menschen zieret. 
Und dcuu ward ihm der Verstand, 
Dass er im innem Herzen spüret. 
Was er erschafft mit seiner Hand, 

SchiUer in der yfllocke^. 

Diese beiden Arbeiten kommen nicht ernstlich in Betracht, sie sind 
quantitativ und qualitativ zu dürftig. No. 1 bleibt ganz auf der Oberfläche 
und giebt nicht mehr als in jedem Grundriss der Geschichte der Philo- 
sophie zu finden ist; No. 2 ist unklar in der Gedankenfttlirung und unge- 
wandt in der Darstellung. Diese beiden skizzenhaften Behana]ung(;n ent- 
behren der wissenschaftlichen Methodik und ermangeln überhaupt der 
Einsicht in das Problem. 

No. 3. Die dritte Arbeit (163 Seiten Folio, nebst XXVIII Seiten 
Inhaltsangabe) trftgt folgenden Spruch Nietzsches: 

Wille zrir DenkbarkeÜ alles Seienden: das heisse Ich euren 
Wülen. 

Diese Arbeit, welche den Aristotelischen Standpunkt als n^^y^** 
mischen Dualismus** anspricht, vertritt die Ansicht, dass einzig und allein 
von diesem Standpunkt ans das Erkenntnisproblem zu Kteen sei; die Aus- 
führungen, welche von diesem Standpunkt aus über den Aristotelischen 
Erkenntnisbegriff selbst gegeben werden, sind aber dürftig, und, was der 
Verfasser über Kants Erkenntnisbegriff sa^, ist gtna schief; so ist ihm 
£. B. das „Subjekt** bei Kant „ein physiologischer fie^ff**, Kants Stand- 
punkt sei „Monismus** u. s. w. Von 8. 53 ab giebt die Arbeit wesentlich 
nur eine weitschweifige Darstellung der eigenen unreifen Philosophie des 
XtrUmm und ttUt damit zoleUt au. dem Rahmen der Preinnlgabe 
nenut. 



26ß Erste JPreisaufgabe der Kantgesellschaft. 

No. 4. Die vierte Arbeit (134 Seiten Onart nebst 8 Seiten Mitt 
und Quellen) trägt folgendes Motto aus Condillac ans dem Essai sar 
l'origine de connaissance humaine: 

8oit que nous nous elevonSy poftr parier m^taphymqtUMod, 
jusque dans les cieux, sott que nous deacendons dans les obiMO, 
nous ne sortons pas de nous m&ne^ et ce n'est jamais que noftt 
pensSe, que nous appercevons. 

Eine einfach und verständlich geschriebene Abhandlanfi^ die aber 
nirgends in die Tiefe geht, weder bei Aristoteles, noch bei Kant. Der 
Venasser erschöpft weder den Gegenstand als Glanzes, nocb dringt er an 
den Kern des Problems. Vor allem gelingt es ihm nicht, den erkenntnb- 
theoretischen Problemgehalt gegen metaphysische und psychologische 
Grenzfragen deutlich abzustecken. Seine Kenntnisse des Aristoteles sind 
besonders mangelhaft : so findet er bei A. die Lehre von den „spezifischen 
Sinnesenergieen^, und was er zum Satze des Widerspruchs beibringt^ ist 
verfehlt. Auch sein Kantstudium scheint noch in den Anfängen m 
stehen. 

No. 5. Die fünfte Arbeit (161 Blätter Folio) trägt folgenden 
alten Sinnspruch: 

Ex praemii spe laboris fit solatium. 

Erst diese fleissige und gedankenreiche Arbeit kommt ernstlich in 
Betracht. Aber leider hat sich der Verfasser das unbefangene historische 
Verständnis der von ihm dargestellten Lehren dadurch von vornherein 
verbaut, dass er von einer ganz einseitigen Interpretation des Kantischen 
Systems ausgeht. Die Aimassung des Aristoteles durch den Verfasser 
ist bedingt durch seine nnhistorische Platonanffassung, weiche Piaton zn 
einem Kronzeugen für den nach jener spezifischen Interpretation zurecht- 
gelegten Kant macht. Piaton sei ein ^Methodiker** der Erkenntnis- 
theorie, Aristoteles nur ein „Techniker** derselben. So wird die sowohl 
systematisch als historisch bedeutsame SteUung des Aristotelismus nicht 
in das rechte Licht gesetzt. Es fehlt jeder Hinweis auf die ontologische 
Bedeutung des Satzes vom Widerspruch bei Aristoteles und doch ist diese 
von Aristoteles dem Prinzip gegebene Bedeutung der Angelpunkt, um 
den sich der Unterschied der Aristotelischen Denkart von der kritischen 
bewegt. Die Ausführungen des Verfassers über den Kantischen Erkennt- 
nisbegriff sind gründlich und zeugen von einem eindringlichen Studiom 
der Kantischen Philosophie selbst, aber sie kranken an den oben ange- 
deuteten Mängeln. Auch ist die DarsteUung gesucht, der Verfasser hebt 
es, mit mathematischen Analogien zu spielen; so heisst bei ihm das Sein 
„das Integral der Methode**; in der Methode, meint er, ,^roUe die B^ 
deutung des Seins auf**; überhaupt ist ihm Sein ein Erzeugnis der Wissen- 
schaft, die Wissenschaft die Bedingung des Seins. Unter die.sen Vono»* 
Setzungen sind aber weder Aristoteles, noch Kant richtig zu verstehen. 
Die Arbeit, die im Einzelnen viel Scharfsinniges und Treffendes bringt^ 
ist übrigens unvollendet. 

No. 6. Die sechste Arbeit (344 Seiten Quart nebst XIX Seiten 
Litteratur und Inhalt) hat sich folgendes Motto aus Pascal gewählt: 

Le coeur a des raisons, que la raison ne comprend pas. 

Diese Arbeit empfiehlt sich schon durch die klare und sachgemäße 
Gliederung des Stoffes. Nach einer allgemeinen Einleitung (über die 
Welt des Seins und des Erkennens und ihre Vermittelung bei Aiistotdei 
und Kant) und einer speadellen (über die Unterscheidung von Form und 
Stoff) erörtert der Verfasser in einem ersten Kapitel oie Erkenntnis- 
faktoren nach der Auffassung der beiden Denker, hierauf in emem 
zweiten Hauptteil ihre Lehren vom Erkenntnisprozess, um in 



Ente Preisanfgabe cier Kantgesellschaft. 26? 

Schlosskapitel zu dem wesentlichen Gegenstand seiner Betrachtang, zum 
Erkenntnisbegriff zu gelangen und damit das Er^bnis seiner Unter- 
suchung zusammenzufassen. Dabei schöpft er erst in zweiter Linie aus 
der abgeleiteten Litteratur, in erster aus den Quellen selbst, wobei er, 
wie ihm zugestanden werden muss, fast durchwegs ein sicheres Urteil be- 
währt. Ifit bekannten Lehren von Aristoteles und Kant ^ebt sich die 
Arbeit zu ausführlich ab. In der Behandlung des Erkenntnisjproblems bei 
Aristoteles ist dieses noch nicht genügend aus der metaphysischen Hülle 
herausgelöst, während in der Darstellung der Kantischen Erkenntnislehre 
noch nicht die letzte Tiefe des transscendentalen Problems erreicht ist. 
So ist eine vollständige Lösung der Aufgabe dem Verfasser nicht ge- 
lungen, obgleich er den methodischen Gegensatz, der hinsichtlich des Er- 
kenn tnisproblems zwischen Aristoteles und Kant besteht, im allfi;emeinen 
richtig erkannt hat. Indem er zu grosses Gewicht auf die psychologischen 
Elemente in Kants Lehre legte, vermochte er nicht deutlich, nicht prin- 
zipiell die subjektive Notwendigkeit von der objektiven zu unterscheiden, 
und der Satz: „nach Kant giebt erst das Bewusstsein der Notwendigkeit 
das Objekt'' — welcher Satz das Resultat der Abhandlung sein soll — ist 
zum mindesten missverständlich. Es fehlt jeder Hinweis auf das vom Be- 
wusstsein unabhängige Objekt, und den Grund und die Grenze der Über- 
einstimmung der Erkenntnis mit diesem^ Objekte — vermittelst des Be- 
griffes der Erfahrung. 

Indessen zeugt die ganze? Arbeit von dem wissenschaftlichen Ernst, 
mit dem sich der Verfasser an die Behandlung des Problems gemacht hat, 
und von methodischer Schulung; sowohl die umsichtige Art seiner Dar- 
stellung als vielfache verdienstliche Einzelausführungen beanspruchen An- 
erkennung, und so verdient diese Arbeit den zweiten Preis. 

No. 7. Die siebente Arbeit (287 Seiten Folio nebst XVIII Seiten 
Litteratur und Inhalt) ist in französischer Sprache geschrieben. Sie trägt 
das Motto aus Lafonta ine's Fabeln: 

Si de rot« agreer je n'emporte le prix, 
J*anrai dn moins l'honfteur de l'avoir entrept^is. 

Diese umfangreichste Abhandlung ist auch zugleich die Wissenschaft^ 
lieh bedeutendste unter den eingelaufenen Bearbeitungen der Preisfrage. 
Der Autor giebt eine sehr ins Emzelne gehende Vergleichung der Lehren 
von Aristoteles und Kant auf Grund einer vollständigen Übersicht ihrer 
Systeme. Bezeichnenderweise legt er dabei das Hauptgewicht auf die 
Metaphysik, nicht auf die Erkenntnistheorie, und seine Absicht ist mehr 
auf Versöhnung und Ausgleichung der Differenzen gerichtet, als auf deren 
Hervorhebung und Erklärung. 

Diese ausgleichende Tendenz der Schrift ist um so höher zu schätzen, 
je weniger sie oei dem von dem Verfasser eingenonuneneu neuscholasti- 
schen Standpunkt zu erwarten war. Der Verfasser ist insofern frei von 
der üblichen Gegnerschaft gegen Kant in dem Lager der Thomistischen 
Philosophie und dies ist ein erfreulicher Beweis wissenschaftlicher Unbe- 
fangenheit. Freilich hindert diese conciliatorische Tendenz auch andererseits 
den Verfasser, das Neue und wahrhaft Originale bei Kant zu sehen und 
gelten zu lassen. Aller Aufwand von an sich sehr beachtenswerter Ge- 
lehrsamkeit vermag nicht, diesen Grundmangel der Schrift zu verdecken. 
Aristoteles musste von dem Verfasser zu einem kritischen, Kant zu einem 
dogmatischen Philosophen gemacht werden, nur um beide einander möj^- 
iichst nahe bringen zu können. Schon jede Aporie oder Schwierigkeit, 
die Aristoteles in der Aufgabe der Erkenntnis fand, soll ein kritisches 
Problem sein; damit aber wird der eigentliche Sinn der Frage Kants: 
wie Erkenntnisse zugleich apriori und dennoch von den Objekten gfUtig 
•ein können, verkannt. Kant dagegen soll sich überhaupt, und spezieO 
der exakten Naturwistenachaft gegenüber, dogmatisch verbalten nahen: 



268 Erste Preisaufgabe der kantgesellschaft« 

darum redet der Verfasser in mehreren Paragraphen fi^radezu von einem 
angeblichen ^Dogmatismus Kants^. Zwar kennt und berührt der Autor 
im 9. § des I. Kapitels die unmittelbar ontologische Bedeutung der lo- 
gischen Wahrheit oei Aristoteles, weist aber nicht darauf hin, dass gerade 
an diesem Punkte die Grenzscheide zwischen dem Dogmatismus des 
Aristoteles und dem Kritizismus Kants sich befindet. Die Auffassung der 
Lehre Kants ist die herkömmlich subjektivistische : ^objektiv^ bedeute bei 
Kant das normal-subjektive; seine Grundlage sei die menschliche Natur. 
Dass Kant gerade dieser Auffassung ausdrücklich widersprochen hat, ist 
dem Verfasser unbekannt geblieben. 

Die Aufzeichnungen Kants in Reickes ^Losen Blättern*^, und Erd- 
manns ,,Reflexionen^ sind nicht herangezogen worden; daraus erklärt sich 
u. a. die Unsicherheit des Verfassers m der Frage des Idealismus Kants. 
Doch enthält die Schrift auch viel Scharfsinniges und Zutreffendes; so 
den Satz: Kant leite die Begriffe (Kategorien) von den Urteilen ab, 
Aristoteles die Urteile von den Begriffen. Hervorzuheben ist femer, was 
der Verfasser sehr verständig über die Nicht-Euklidische Geometrie in 
ihrem Verhältnis zu Kants lUumlehre äussert. In der Gesamtwürdigang 
beider Denker erhält freilich Aristoteles überall den Vorrang vor Kant; 
jener/ heisst es, sei systematisch und synthetisch, seine Lehre sei zur Ein- 
heit geschlossen; Kant dagejp^en sei beim Dualismus stehen gebliebra. 
Augenscheinlich ist der Verrasser in Aristoteles belesener als in den 
Schriften Kants. Die Lösung der gestellten Preisaui^be koimte ihm 
trotz seiner grossen Gründlichkeit, seiner lichtvollen Darstellung und aus- 
gebreiteten Sachkenntnis aus den aufgezählten Gründen nicht gelingen; 
jedoch verdient die Arbeit, dass ihr der zweite Preis zuerkannt wird. 

Berlin, Leipzig, Halle, im April 1907. 

Rieh!. Heiniee. Vaihinger. 



Auf Grund dieses Berichtes der Preisrichter-Kommission hat der 
Vorstend der Kantgesellschaft in seiner Sitzung am 22. April Folgendes 
beschlossen: Da eine des ersten Preises würdige Arbeit nicht eingäanfen 
ist, und da andererseits zwei Arbeiten als des zweiten Preises würdig er- 
klärt worden sind, so soll der zweite Preis von 400 M. ausnahmsweiie 
zweimal vergeben werden. In der an demselben Ta^ (Kante Gheburtsta^) 
stettgehabten Generalversammlung wurden daraufhin die betreffenden 
verschlossenen Kouverts eröffnet. 

Als Verfasser der Arbeit No. 7 ergab sich: 

Dr. Charles Sentronl 

Agr^g^ ä r^cole de St. Thomas de Louvain. 

Verfasser der Arbeit No. 6 ist: 

Dr. Severin Aicher 

cand. theol. in Tübingen. 

Die Arbeit des Letztgenannten wird als Ergänzungsheft zu doi 
Kantstudien im Laufe des Sommers erscheinen. 

Die nicht prämiierten Arbeiten werden bis 81. Dezember d. J. auf- 
bewahrt. Sind sie bis dahin nicht zurückverlangt, so werden sie Ter- 
nichtet. 

Halle a. S., im Mai 1907. 

Der Geschäftsführer der KantgesellsehAfl 

H. Vaihinger. 



0. ▲. XMammow * O«^ BiU« » §• 



Kuno Fischer f. 



Die Wissenschaft trauert um einen ihrer er- 
lesensten Verkünder, die Philosophie um jenen kraft- 
vollen Geist, der sie aus dem Banne materialistischer 
Öde und pessimistischer Blasiertheit befreien half, in- 
dem er sie durch eine historische That zurücklenkte 
auf die kritischen Pfade des grössten philosophischen 
Bahnbrechers der Neuzeit. Was ,,Kuno Fischer und 
sein Kant" für die ganze Entwickelung des modernen 
philosophischen Gedankens bedeutet, das ist in dieser 
Zeitschrift von berufenster Seite bereits behandelt 
worden, als die wissenschaftliche Welt das fünfzig- 
jährige Doktoijubiläum Euno Fischers feierte. Euno 
Fischers Werk über Eant war es, das die ganze Be- 
wegung des Neukantianismus in Fluss gebracht hat 
Und das darf zuletzt diese Zeitschrift, die den Namen 
Eants auf ihrem Titel führt, vergessen. Man mag 
manches seiner Resultate im Elinzelnen, selbst in be- 
deutsamen Einzelheiten, beanstanden, wessen Sinn sich 
aber nicht beim Einzelnen beruhigt, wer seinen Geist 
offen hUt für die geniale firfassung des zusammen- 
hangsvollen Ganzen, der wird Euno Fischer immer- 
dar den Dank zollen, den ihm die Geschichte schuldet. 

Dass ein historisches Werk, wie Euno Fischers 
Eant-Werk, zum Ausgangspunkte einer neuen philo- 
sophischen Bewegung werden konnte, das beweist, 
welch philosophischer Historiker dieser Historiker der 



KaamadUa XIL 13 



Philosophie war. Ihm ging keineswegs die Philosophie 
in ihrer geschichtlichen Erforschong auf. Vielmehr 
musste ihm umgekehrt die Wissenschaft von der 
Geschichte der Philosophie selbst zur Philosophie 
werden. 

Das ist auch der leitende Gesichtspunkt, unter 
dem sein ganzes Hauptwerk: „Die Geschichte der 
neueren Philosophie** steht. Sie hat nach ihm den 
Entwickelungsprozess d^ philosophischen Erkenntnis 
darzustellen und kann mit Notwendigkeit dämm nicht 
bloss eine Sammlung interessanter Meinungen üb^ 
allerlei Dinge und verschiedenes Anderes sein, sondern 
hat sich in erster Linie auf den Ewigkeitsgehalt zu 
richten, der in der Geschichte seinen zeitlichen Nieder- 
schlag und Ausdruck findet Kann diese Methode 
historischer Forschung auch von yornher^n der Kritik 
gar nicht entbehren — es ist das absurdeste Miss- 
Verständnis, das dieser Methode begegnen kann, wenn 
man Kuno Fischer zum Nachbeter der grossen philo- 
sophischen Heroen macht, mag hinter diesem Miss- 
verständnis selbst ein Schopenhauer stehen — mi»8 
diese Methode gerade der Relativität des Historischen 
sorgsam Bechnung tragen, so mnss sich doch alle eehte 
Kritik gerade in dm Dienst des Erkenntnisgehaltes 
selber stellen und darf sich nicht in ein kleinliches 
Klagen und pedantisches Nörgeln verlieren. Damm 
ist seine Methode darauf gerichtet, jedes der grossen 
Systeme als eine bestimmte Epoche der Elntwickeltaigr 
des philosophischen Denkens zu begreifen, es aus den 
allgemeinen geschichtlichen Grundlagen und der indivi- 
duellen Bestimmtheit seines Urhebers zu verstehen, am 
durch die Kritik des fortschreitenden Denkens in der 



Geschichte auch seine Weiterbildung verständlich zu 
machen. 

Diesen Sinn der Geschichte, wie er sich dem 
Historiker darstellte, brachte der Schriftsteller auf 
einen klassisch-einfachen, künstlerisch-schönen Ausdruck. 
Im Schriftsteller wurde der Historiker Kuno Fischer 
zum Künstler der Darstellung der Geschichte. Denn 
Kuno Fischer war nicht nur Forscher, er war auch 
Künstler. Und darum war es selbst eine geschichtliche 
Notwendigkeit, dass der Historiker der neueren Philo- 
sophie zugleich zum Historiker unserer klassischen 
Poesie wurde, die auf ihrem Höhepunkte mit der 
Philosophie die innigste Verbindung eingegangen war. 
Und ebendarum auch konnte Kuno l^^scher in den 
Herzen Tausender die Liebe zu unserer grossen 
nationalen Litteratur entzünden, und im Geiste Tausender 
den unerschöpflichen Reichtum unserer klassischen 
Poesie zu neuem Leben erwecken. 

Wie wenig andere war er deshalb zum akade- 
mischen Lehrer bestimmt, ja wahrhaft begnadet. Die 
Begeisterung, die von seinem Katheder für die von 
ihm vertretene Sache ausging, war beispiellos. Wer 
je von ihr berührt wurde, findet sie trotz aller Grösse 
natürlich. Der Geschichtsforscher, der zugleich ein 
Künstler war, er war auch ein Mann, der für seine 
Sache lebte. Jeder seiner Vorträge war nicht nur 
ein Werk der Wissenschaft, nicht nur ein Kunstwerk, 
er war ein tiefstes, überzeugungsvollstes Erlebnis, weil 
der Lehrer sich der Heiligkeit seines Berufes bewusst 
war, und die Liebe zu der ihm heiligen Sache sein 
ganzes Wesen durchströmte. Weil jedes seiner Worte 
aus tiefster Seele drang, darum vermochte er die 



ib' 



Herzen der Hörer zu zwingen. So war es im Forscher 
und Lehrer zugleich die Pei*sönlichkeit, die ihre tiefe 
Wirkung ausübte. 

Welche Wirkungsfälle umschloss in der That 
nicht diese Persönlichkeit! Zwar hat um sie schon 
zu Lebzeiten Kuno Fischers die plumpe, täppische 
Phantasie einer mehr kindischen, als kindlichen Einfalt 
ihre Sagen gesponnen, und die Tages- und Wochen- 
blättchen haben sich nicht geschämt, bei seinem Tode 
ihren Lesern die albernsten Erfindungen aufzutischen; 
und kaum eines seiner epigrammatisch geprägten, 
künstlerisch geschliffenen Dikta hat beim Eintritt in 
den Geist der Klatschsucht seine Kraft und Ursprüng- 
lichkeit bewahren können. Was will so etwas auch 
von dem Menschen Kuno Fischer verstehen? Diese 
reiche Persönlichkeit mit ihrer Wucht und Wirkungs- 
fülle, mit ihrem ganzen Zartgefühl, ihrer Vornehmheit 
und Feinheit, sie ist ja am Eiide auch nicht jedem 
verständlich und kann es nicht sein. Wer aber je von 
ihr sich berühren lassen durfte, dem bleibt persönlich 
immerdar das Bild des kraftvollen Charakters, des 
glänzenden Geistes, der feinfühlenden Seele des Mannes 
tief eingegraben im Herzen, wie nach Liebmanns Wort 
seinem Werke bleiben wird der 

^Dank der Nachwelt!" 



B. B. 



Die deutsche Philosophie im Jahre 1906.^) 

Von Dr. Oscar Ewald in Wien. 



Die philosophische Produktion des vergangenen Jahres in 
Deutschland zeigt mannigfache aber dennoch in bestimmtem Sinn 
einheitliche Motive. Man kann diese Motive nicht von Grund aus 
begreifen, wenn man nicht mit einigen Worten ihre Vorgeschichte 
berührt. Noch vor Kurzem durfte man die geistige Situation da- 
hin charakterisieren, dass sie unter dem Zeichen Kants stehe. 
Auch heute besteht dies freilich zu Recht, aber nicht ohne 
schwerwiegende Einschränkungen. Die Rückkehr zu Kant, die 
vor mehreren Dezennien von Friedrich Albert Lange, dem 
Autor der Geschichte des Materialismus, vorbereitet wurde, 
hat sich mit grosser Intensität, man möchte sogar sagen, mit 
Vehemenz vollzogen. Die Leistungen hervorragender Forscher, 
die man unter dem Kollektivbegriff des Neukantianismus zu 
vereinigen pflogt, Männer wie Vaihinger, Riehl, Volkelt, Windel- 
band, Cohen, Paulsen haben die Rezeption Kants beschleunigt und 
die Wirkung der „Kritik der reinen Vernunft** auf das jüngste 
geistige Deutschland erst befestigen geholfen. Entsprechend dem 
vielseitigen und polyphonen Charakter des Kantischen Kritizismus 
hat sich auch ihre Wiederaufnahme unter mannigfaltigen Gesichts- 
punkten vollzogen: Während die einen darin eine erkenntnistheo- 
retische Schutzwehr gegen die Metaphysik erblicken und die 
Forschung demnach auf Erfahrung beschränken wollten, errichteten 



^) Dieser Artikel ist auf Veranhtösunfc von Professor J. E. Creighton 
an der Comell University einem der Herausgeber der „Philosophical 
Review^ für letztere Zeitschrift durch Vermittelung des Unterzeichneten 
geschrieben worden. Unter Zustimmung von Prof. Creighton, der ja auch 
Mitherausgeber unserer .Kantstudien* ist, bringen wir diese Abhandlung, 
welche in der Philos. Review in englischer Übersetzung erscheint (Vol. 
XVI, 3) im deutschen Original, um die wertvoUen Ausführungen des Ver- 
fanars der deutschen Wissenschaft nicht verloren gehen zu lassen. 

Vaihinger. 



274 0. Ewald, 

die anderen auf dem Fundament des Transscendentalismus eine 
neue Metaphysik. Dennoch begegnen diese Antagonisten einander 
in dem Anspruch. Kantianer zu sein. Wir nennen hier zur Ver- 
deutlichung dieses merkwürdigen Sachverhaltes die äussersten 
Extreme: die immanente Schule, Denker wie Schuppe, Rehmke, 
Schubert-Soldern, Leclair bekennen sich zu Kant, nicht weniger 
aber entschiedene Metaphysiker wie Wundt, Eduard v. Hartmann, 
Volkelt. Gleichwohl giebt es gemeinsame Grundzüge aller Kan- 
tianer, freilich weniger nach der positiven Seite hin als nach der 
negativen, weniger in dem, was sie behaupten, als in dem, was 
sie bekämpfen. Und das ist insbesondere ein kritiklos intole- 
ranter Positivismus, Empirismus, Relativismus und Psychologismus. 
Auch dem Evolutionismus steht der Neukantianismus insofern et- 
was skeptisch gegenüber, als er nicht an die Möglichkeit glauben 
darf, sämtliche Erkenntniswerte in den Strom der Entwickelung 
aufzulösen. Im apriorischen Bestand der reinen Begriffe sind die 
Grenzen für jedwede empiristische und evolutionistische Betrach- 
tungsart gezogen. In den letzten Jahren bereitete sich zum Teil 
innerhalb, zum Teil ausserhalb des Neukantianismus eine bedeut- 
same Bewegung vor. Eine Bewegung, die bald als Renaissance 
gefeiert, bald als Reaktion geschmäht wird, und deren EigentQm- 
lichkeit darin besteht, dass sie den philosophischen and kul- 
turellen Entwickelungsgang der idealistischen Welt- 
anschauung von Kant bis Hegel auf neuer Grundlage za 
wiederholen scheint 

Der vor Kurzem verschiedene Philosoph Eduard v. Hart- 
mann, der Verfasser der berühmten „Philosophie des ünbewussten*, 
nannte diesen Vorgang ein wenig ironisch den „Repetitionskursus*. 
Seine Prophezeiung, die er mir gegenüber persönlich vor wenigen 
Jahren aussprach, nach Kant komme Fichte, nach Eichte würden 
Schelling und Hegel an die Reihe kommen, hat sich bereits e^ 
füllt. Der Neufichteanismus ist vor einigen Jahren auf den 
Schauplatz getreten und hat bald weite Kreise gezogen. Es 
kamen ihm abstrakte, theoretische, insbesondere aber praktische 
Bedürfnisse entgegen. Bereits Windelband wies in seinen „Prä- 
ludien'' darauf hin, dass Fichte Kant am richtigsten interpretiert 
hat, wenn man von den metaphysischen und dialektischen Ele- 
menten absieht. Denn während bei Kant das transscendentale 
Erkenntnisgebäude mangels einer sicheren Deduktion der einheitr 
liehen Grundlage entbehrt und daher haltlos in der Schwebe be- 



Die deutsche Philosophie im Jahre 1906. 275 

lassen wird, lehrte Fichte als erster einen höchsten, abschliessen- 
den Zweck, an dem sämtliche Kategorien und Erkenntniswerte 
orientiert werden. Dieser Zweck ist bei Fichte allerdings ein 
praktischer, während die Neufichteaner, insbesondere Eickert, ihn 
als einen theoretischen betrachten, als einen logischen Erkenntnis- 
zweck, als ein logisches Sollen. Die Bewegung ist indessen beim 
Nenfichteanismus nicht stehen geblieben, das jüngste und epochalste 
Ereignis der Philosophie ist vielmehr der Übergang zu Hegel, der 
immer weiter ausgreifende Neuhegelianismus. Diese Entwickelung 
hat sich aber nicht in einer einzigen schmalen Dimension voll- 
zogen, sodass das gesamte philosophische Schaffen erst unter dem 
Einflüsse Kants gestanden hätte, um sodann successiv unter den 
Fichtes und Hegels überzugehen. Vielmehr bestehen alle Rich- 
tungen nebeneinander, und es mangelt auch nicht an vermittelnden 
Übergangsformen und Nuancen. Allein es scheint gleichwohl eine 
Tendenz zu bestehen, weniger die Lösung als die Stellung der 
Probleme in den Gesichtskreis der Nachkantischen Denker zu 
stellen. Und was besonders bemerkenswert, wir finden bei Philo- 
sophen, die von Kant ausgingen und zum Teil sogar als orthodoxe 
Kantianer begonnen hatten, deutliche, wenn auch ihnen selber 
nicht ins Bewusstsein getretene Annäherungsversuche an Hegel. 
Als charakteristisches Merkmal der neuesten Philosophie in Deutsch- 
land können wir also dies hinstellen, dass in ihr eine zeit- 
gemässe und auf neuer Grundlage sich vollziehende Wiederholung 
der einzelnen Stadien stattfindet, durch die die Nachkantische Spe- 
kulation hindurchgegangen war. Die Bewegung begann im Neu- 
kantianismus mit der Rezeption der kritischen Hauptgedanken. 
Von Kant führte der Weg zu Fichte hinüber. Von Fichte zu 
Hegel. Und wenn man den angedeuteten Vorgang chronologisch 
genauer fixieren will, kann man in das Jahr 1906 speziell die 
Wiedergeburt des Hegelianismus setzen. Noch das Folgende ist 
zu erwähnen : Während der Elinfluss jener Nachkantischen Denker, 
die in den letzten Dezennien im Vordergrund gestanden, also ins- 
besondere der Herbarts und Schopenhauers, wenigstens für die 
reine Philosophie zurückzutreten beginnt, wendet sich die Auf- 
merksamkeit andern Männern jener Zeit neuerdings zu, einem 
Fries, einem Beneke, einem Fenerbach und sucht deren Lehre in 
den Dienst modemer Weltanschauung zu stellen. Dazu tritt ein 
weiteres, bedeutsames Phänomen. Nicht bloss innerhalb der Philo- 
sophie, auch in den weitesten Kulturkreisen gewinnt das Zeitalter 



276 0. Ewald, 

der Romantik an Ansehen und Interesse: Das LosongsTOt ^imr 
romantik** steht gegenwärtig an der Tagesordnan^. Die Folp 
davon ist abermals eine intensive Beschäftigung mit den Denken 
jener Zeit, mit Schlegel, Novalis und Schelling, wobl mndi wä 
Fichte und Hegel. Und auch hier wiegen nicht antiqnarisäe, 
sondern aktuelle Zwecke vor. Durch innigere Berührong mit da 
Ideen und Idealen jener Periode soll unsere Koltur veijöngt ond 
geläutert werden. 

So stehen wir gegenwärtig in den let2^n I^iasen dner 
scheinbar rückläufigen Bewegung, der man dennoch aber nicht 
gerecht werden könnte, erblickte man in ihr lediglich eine Reak- 
tion, eine Rückkehr zu überwundenen Standpunkten. Sie ist viel- 
leicht von diesem Vorwurf nicht ganz loszusprechen, besondos 
wofern man ihre Extreme ins Auge fasst, andererseits aber hat 
sie auch die Forschung um neue Motive bereichert und durch den 
innigeren Zusammenschluss mit der Vergangenheit das Bewusst- 
sein der kulturellen Kontinuität geweckt. Indem wir nunmehr 
daran gehen, die philosophische Arbeit des Jahres 1906 im Detafl 
zu überblicken, wollen wir dieselbe hauptsächlich an diesem soeben 
formuliertem Verhältnis zur Kantischen und Nachkantischen Phflo- 
sophie orientieren, ohne das Schema zu überspannen und das, was 
ausserhalb desselben an fruchtbaren Ideenkeimen vorhanden ist, 
zu übersehen. Einen weiteren Einteilungsgrund bezeichnet der 
angedeutete Umstand, dass die moderne Spekulation zwischen 
erkenntnistheoretischer und metaphysischer Forschung geteilt ist, 
wobei die Erkenntnistheorie hauptsächlich im Mittelpunkt der 
strengeren, exakten akademischen Philosophie steht, während die 
Metaphysik den Nerv der populären, sich vorwiegend um die Neu- 
romantik gruppierenden Bestrebungen bildet. 

Kants Einfluss, der gegenwärtig die meisten deutschen Uni- 
versitäten beherrscht, drückt der philosophischen Produktion noch 
immer den Stempel auf. In den von Vaihinger und Bauch 
herausgegebenen „Kantstudien'' ist der Kantforschung eine 
feste Basis gegeben. Sie trägt zum Teil historisches, zum Teil 
kritisches Gepräge. Unermüdlich bemüht sich die Detailforschung 
um Aufhellung der dunklen Partien im transscendentalen Kriti- 
zismus, unermüdlich sucht daneben die Erkenntniskritik auf den 
von Kant gewiesenen Pfaden nunmehr in eigener Initiative weiter 
zuschreiten und der Spekulation neue, noch unentdeckte Gebiete 



Die deutsche Philosophie im Jahre 1906. 277 

ZU erschliessen. Noch reicher wurde die Ausbeute, seit die 
„Kantstudien^ grössere, zusammenhängende Abbandlungen in Er- 
gänzungsheften erscheinen lassen. So erschienen im verflossenen 
Jahr drei wichtige Untersuchungen : „Kants Gottesbegriff in seiner 
positiven Entwickelung*" von Julius Quttmann, „Feuerbachs Straf- 
theorie und ihr Verhältnis zur Eantischen Philosophie^ von Dr. 
Oskar Döring, „Kant und die Metaphysik^ von Dr. Konstantin 
Oesterreich. Unter den anderen Artikeln hebe ich als sehr be- 
merkenswert hervor Bauchs Aufisatz „Chamberlains Kant^ im 
Junihefte und A. Messers „Die Philosophie im Beginn des zwan- 
zigsten Jahrhunderts^. Auf ersteren werden wir noch zurück- 
kommen. Der letztere ist eine Besprechung der 1904 von 
Windelband zu Kuno Fischers achtzigstem Geburtstage heraus- 
gegebenen Festschrift, zu deren Abfassung sich Bauch, Groos, 
Lask, Liebmann, Windelband, Wundt, Kickert und Troeltsch ver- 
einigt haben. Hier tritt klar hervor, wie auf sämtlichen philoso- 
phischen Gebieten die transscendentale Betrachtungsart, die 
scharfe Sonderung von Wert und Wirklichkeit sich durchgesetzt 
hat. In der Formulierung eines Systems allgemeiner Werte, die 
allerdings nicht theoretisch, sondern praktisch begriindet sind, 
sieht Messer die Aufgabe der Zukunft. Bruno Bauchs Artikel 
befasst sich, seinem Titel gemäss, mit Houston Stewarts Ghamber- 
lains 1905 im Verlag von Bruckmann erschienenem Buch „Imma- 
nuel Kant, seine Persönlichkeit als Einführung in sein Werk"". 
Er enthält eine scharfe Polemik gegen dies Werk des durch seine 
^Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts^ bekannt gewordenen 
Autors. Wie man auch im Einzelnen über Chamberlains Kantbuch 
denken mag, es kann nicht geleugnet werden, dass die beiden von 
Bauch an die Spitze gestellten Grundmängel ihren beherrschenden 
Einfluss auf das ganze Werk äussern. Erstens ist die Tendenz, 
die geistige Physiognomie Kants zu zeichnen, ohne ihr eine 
erschöpfende Darstellung seines Schaffens zugrunde gelegt zu 
haben, speziell bei einem Denker wie Kant, bei dem das Persön- 
liche so weit in den Hintergrund tritt, nicht realisierbar. Und 
Chamberlain hält sie auch nicht konsequent fest, sondern mischt in 
sein charakterologisches Bild zahlreiche rein theoretische Elemente 
aus der kritischen Philosophie. Dann hat er den Begriff des 
Transscendentalen nicht mit genügender Klarheit gefasst und 
gegen den des Psychologischen abgegrenzt. Das Buch hat üb- 
rigens auch ausserhalb der Philosophie, zumal in den verschiedenen 



278 0. Ewald, 

DiszipÜDeD der Naturforschung, zu heftigen Diskussionen für und 
wider Anlass gegeben. 

Cbamberlains Absiebt, die Philosophie im Anschloss an die 
Methoden und Wege der Naturforschung zu behandeln, findet sich 
in einem im Verlag von Bruno Cassirer in Berlin erschienenen 
Werk Ernst Oassirers ,,Das Erkenntnisproblem in der Wissenschaft 
und Philosophie der neueren Zeit" verwirklicht. Bisher ist der 
erste Band erschienen, der die Geschichte der Spekulation von der 
Renaissance bis zu Bayle umfasst. Er enthält neben einer allge- 
meinen erkenntnistheoretischen Einleitung drei Bücher: ,,Die Be- 
naissance des Erkenntnisproblems", „Die Entdeckung des Natnr- 
begriffes", „Die Grundlegung des Idealismus". Der Verfasser 
zeigt sich in der Bearbeitung seines Themas stark von der Mar- 
burger Schule, insbesondere von Cohen beeinflusst, was sich vor 
allem darin bekundet, dass er Geschichte und Systematik des E^ 
kenntnisproblems im nächsten Anschlüsse an die positiven Wissen- 
schaften, in erster Heihe an Mathematik und Phjrsik, betreibt 
Infolgedessen erfahren Denker wie Kepler und Galilei im Ver- 
gleich mit anderen historischen Darstellungen eine besonders 
gründliche Behandlung. Auch die eingehende Berücksichtigang 
des Nikolaus von Cusa ist beachtenswert. Der zweite bereits 
angekündigte Band soll die Entwickelung des philosophischen 
Denkens in seiner doppelten Richtung über Leibniz und Newton 
ins Auge fassen. Den Schlussstein der gross angelegten Arbeit 
wird die Behandlung der kritischen Philosophie bilden. Die An- 
hängerschaft an Kant offenbart sich in dem festen Glauben an 
die objektive Macht der Vernunft, nicht als einer Quelle der 
Metaphysik, sondern der Erfahrung. Cassirer hält wohl die ein- 
zelnen Kategorien der Forschung für wandelbar, betont aber, dass 
sie sich auf feste, transscendentale Grundbegriffe zurückführen 
lassen. 

Von ähnlichem Geiste getragen ist ein Unternehmen der be- 
kannten Marburger Philosophen Hermann Cohen und Paul Natorp. 
Es sind die im Verlag von Alfred Töpelmann (vormals Kickofs 
Verlag) in Giessen publizierten „Philosophischen Arbeiten", eine 
zwanglos erscheinende Zeitschrift, in der vorwiegend Dissertati(men 
aber auch andere durch die transscendentale Methode geeinigte 
Aufsätze zur Veröffentlichung kommen sollen. So heisst es in 
der Ankündigung : „Philosophie ist uns in allen Fragen mit dem 
Faktum der Wissenschaft, wie dieses sich fortbildet» logisch ver 



Die deatsche Philosophis im Jahre 1906. 279 

bunden. Philosophie ist uds daher die Priozipienlehre der Wissen- 
schaften und damit der gesamten Kultur. Diesen treibenden Kern 
der Kultur nennen wir mit Plato und mit Kant Idealismus und 
Apriorismus." Unter den bisher veröffentlichten Aufsätzen ist 
eine Studie Cassirers „Der kritische Idealismus und die Philo- 
sophie des gesunden Menschenverstandes'' hervorzuheben, die sich 
gegen die bald näher zu erwähnende Nene Friesschule und ihren 
Psychologismus wendet. Es wäre zu wünschen, dass in den 
weiteren Arbeiten nicht bloss zwischen Naturforschung und Philo- 
sophie der Zusammenhang einseitig aufgerichtet, sondern dass 
auch die Beziehung des Transscendentalismus zur Psychologie, zur 
Begründung der inneren Erfahrung, mehr als bislang geschehen, 
untersucht wird. Denn Kant hat sich in der Kritik der reinen 
Vernunft die Angabe gestellt, einer allgemeinen, Physik und 
Psychologie umspannenden Erfahrung die Basis zu bereiten, nicht 
aber bloss die spezielle physikalische Erfahrung im Auge gehabt, 
wie es nach der Auffassung Cohens und seiner Schüler scheinen 
möchte. Die unmittelbare Bezugnahme auf die Physik enthält 
vielmehr erst seine Schrift: „Metaphysische Anfangsgründe der 
Naturwissenschaften*'. Diese Prüfung des Zusammenhanges von 
Transscendentalismus und Psychologie kann keineswegs zum Psy- 
chologismus führen, da sie nicht die transscendentalen Kategorien 
ans psychologischen Begriffen ableiten, sondern umgekehrt die 
Begriffe der Psychologie unter transscendentale Gesichtspunkte 
stellen will. Diese Seite des Problemes ist noch wenig berück- 
sichtigt worden und darunter leidet in mancher Hinsicht weniger 
die neueste Kantforschung als die Psychologie, die zwischen Em- 
pirismus und Metaphysik in der Schwebe bleibt, während die 
mathematische Physik durch den Transscendentalismus reichste 
Förderung erfahren hat. Auf das berührte Verhältnis zwischen 
psychologischen und transscendentalen Kategorien habe ich in 
meiner Schrift, „Kants Methodologie in ihren Grundzügen'' (Berlin, 
Hofmann & Co., 1906) einiges Licht zu werfen gesucht. 

Von transscendentalem Geiste erfüllt ist auch ein Werk 
Walter Kinkels, „Geschichte der Philosophie^ als Einleitung in 
das System der Philosophie,^) dessen erster vor Kurzem er- 
schienener Teil von Thaies bis auf die Sophisten reicht. Es 
wird nicht so sehr von historischen wie von systematischen Rück- 

1) Verlag vou Alfred Tüpelmann in Gieasen. Der Verfasser ist 
Professor an der Universität Qiessen. 



280 0. Ewald, 

sichten getragen. Es soll mehr zur Emführong in das Wesen als 
in die Geschichte der Probleme dienen. Diese Tendenz der Dar- 
Stellung ist entschieden zu begrüssen, da die Geschidite der 
Philosophie — sofern sie nicht von grossen Philosophen seM 
geschrieben wurde, die dann freilich zumeist einseitig ihren per- 
sönlichen Standpunkt verallgemeinern — noch immer zu sehr ins 
Philosophische und Pragmatische gerät, anstatt die grossen Rieh- 
lungslinien der Probleme zu enthüllen. Man kann auf die Fort- 
führung dieser Arbeit gespannt sein. 

In dem Vorwort betont Kinkel überdies seinen Anschluss an 
die Marburger Schule, zumal an Cohen. 

Der Neufichteanismus, dem wir uns nunmehr zuwenden, ist 
auch nicht jüngsten Datums. Von Windelband, wie bereits er- 
wähnt, vorbereitet, wurde er durch Kickert präziser begründet 
Intellektuelle und seelische Bedürfnisse kamen ihm entgegoi 
Der Evolutionismus, der im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts 
sich beinahe auf sämtlichen Gebieten des Denkens und Handelns 
festgesetzt hatte, war auch in Deutschland zur Herrschaft ge- 
kommen. Hier aber, in dem klassischen Land der Metaphyak 
und des Idealismus, genügte eine Weltanschauung nicht, die ans 
der vergleichenden Physiologie abstrahiert war. Das zeigte sidi 
bereits in der eigenartig zwischen Evolutionismus und Metaphysik 
geteilten Lehre Nietzsches und ihrem nachhaltigen Einflüsse auf 
die jüngsten Generationen. Diesem zweifachen Verlangen nach 
einer Weltansicht der produktiven Energie, der unermesslichoi 
Aktivität und zugleich nach einem logischen und ontologischa 
Urgrund kam der Fichteanismus für diejenigen, die auf dem 
Boden der exakten Spekulation standen, weit mehr entgegen, da 
er sich besser mit dem Transscendentalismus in Einklang setzen 
Hess, als Nietzsches Skepsis, die in bewusster Opposition gegen 
Kant entstanden war. So trat Fichtes „Wissenschaftslehre** von 
Neuem in. den Vordergrund des Interesses. Sogar aus der Sehnte 
des strengeren Kantianismus strömten Adepten in das Lager der 
Identitätsphilosophie. Besonders charakteristisch für diese Be- 
wegung ist ein Buch des Privatdozenten Medicus über Fichte, 
eine Sammlung von dreizehn an der Universität Halle gehaltoieD 
Vorlesungen.^) In diesem Buche sucht Medicus zugleich ein Bild 
der Persönlichkeit und der Lehre des Philosophen zu entwerfoi 



1) Medicus, ^Fichte'', 1905, Verlag von Beuther & Reichardt. 



Die deutsche Philosophie im Jahre 1906. 281 

Interessant ist hier die Tendenz, Fichte nicht bloss als be- 
rufensten Interpreten Kants zu betrachten, sondern ihn sogar über 
Kant zu stellen. 

Zwischen Fichte und Hegel stand Schelling und es scheint, 
als müsse der Übergang vom Neufichteanismus zum Neuhegelianis- 
mus wenigstens als Zwischenstation auch Schellings Philosophie 
berühren. Damit verhält es sich in Wahrheit ein wenig anders: 
Bloss dann könnte man an die moderne Spekulation mit dieser 
Erwartung herantreten, wenn sie lediglich eine sklavische Repro- 
duktion der Identitätsphilosophie wäre. Das ist sie um so we- 
niger, als ein wesentliches Element der letzteren, das metaphy- 
sische, bei ihr weit in den Hintergrund rückt. Wohl hoben wir 
selber bei Fichte hervor, dass die Neigung des deutschen Geistes 
zur Metaphysik seine Wiederaufnahme förderte. Das war in- 
dessen cum grano salis zu verstehen: Bloss als allgemeine Reak- 
tion gegen den Positivismus nicht als besondere Sympathie für 
die Hypertrophie an transscendenten Spekulationen, die die Nach- 
kantischen Denker charakterisiert. In Fichte erwies sich denn 
auch ein bereits angeführtes, eminent erkenntnistheoretisches Merk- 
mal als Attraktionszentrum, der Umstand, dass er, was Kant nie- 
mals recht gelungen war, dem Anscheine nach wenigstens ge- 
leistet hatte: die Deduktion sämtlicher Denkformeh aus einem 
Prinzip teleologischer Natur. Mit einem Wort, Fichte war 
Logiker und noch mehr war das Hegel, und daher durfte eine 
yon psychologistischen Vorurteilen zur logischen Auffassung der 
Realität gereifte und vorwiegend logischen Interessen dienende 
Generation abermals an sie anknüpfen. Schellings wesentliche 
Bedeutung dagegen ist ausserhalb der Logik zu suchen und daher 
tritt auch sein Einfluss heutzutage in anderen Sphären nachdrück- 
licher zutage als in denen der exakten Philosophie. Immerhin 
fehlt es auch letzterer nicht an ähnlich gerichteten Tendenzen 
und wenn man Schellings grösste Aufgabe in der Bestimmung des 
Verhältnisses zwischen Natur und Geist, zwischen Unbewusstem 
und Bewusstem sieht, dann giebt es eine analoge Richtung in der 
gegenwärtigen Spekulation. Es ist Eduard v. Hartmanns, des Ver- 
fassers der bekannten „Philosophie des Unbewussten'' Schule. Sie 
steht bei aller Eigenart und Differenzierung der Schellingschen Natur- 
philosophie und seinem transscendentalen Idealismus am nächsten. 
Auf sie müssen wir bei dieser Gelegenheit auch anlässlich des 
Hinscheidens ihres Gründers zurückkommen. Eduard v. Hartmann 



282 0. Ewald, 

gehört zu den grossen Toten des vergangenen Jahres. Ob man 
ihn in vollster Bedeutung einen Unsterblichen nennen kann, mig 
zweifelhaft bleiben. Dass aber die Spuren seiner Wirksamkeit 
heute noch keineswegs verwischt sind, muss man zugestehen. Im 
Gegenteil, eben in den letzten Jahren hat sich seine Einfluss- 
sphäre ausserordentlich erweitert und während der erstaunlicbe 
äussere Erfolg der „Philosophie des Unbewussten" von keiner 
tieferen geistigen Wirkung begleitet, sondern das Ansehen des 
Denkers in Fachkreisen eher zu schmälern geeignet war, so dass 
die Produktionen seiner nächsten Schaffensperiode verhältnismässig 
wenig Beachtung fanden, hat er mit seinen jüngsten Werkes 
einen Eindruck in der Gelehrtenwelt erzielt, der weniger in die 
Breite, dafür aber mehr in die Tiefe geht. Seine ,yEategorieo- 
lehre", seine „Geschichte der Metaphysik", seine „moderne Psy- 
chologie", seine „Weltanschauung der modernen Physik" venr 
beiten nicht bloss ein ungeheures Material, sie sind auch reich 
an fruchtbaren Anregungen und Aspekten. Insbesondere dis 
letztgenannte Buch hat viel Aufsehen erregt und der berühmte 
russische Physiker Chwolson hat ihm in seinem Scbriftchen „Hegel, 
Haeckel, Kossuth und das zwölfte Gebot", ^) das nm so bemerkens- 
werter ist, als es in deutscher Sprache erschien, das Zeugnis aus- 
gestellt, dass er als „leuchtendes Beispiel dafür dasteht, wit 
man ein der eigenen Spezialität fernstehendes Gebiet zuerst sti- 
diert und dann erst die der eigenen Specialität entsprechendes 
Forschungsmethoden in jenem Gebiet anwendet". So urteUt eiB 
hervorragender Physiker in einer Schrift, in der er auf der aoden 
Seite die physikalischen Thesen Haeckels ad absurdum führt Die 
neuesten Arbeiten Eduard v. Hartmanns bewegen sich auf den 
Gebiet der Biologie. Vor Allem sein Werk »Das Problem des 
Lebens", das er nicht lange vor seinem Tode im vergangenei 
Jahr veröffentlicht hat.^) Hier sucht er den Neovitalismu, 
auf Grund dessen er bereits vor Jahren den Darwinismus be- 
kämpft hat, mit der Metaphysik des Unbewussten zu verbin^iL 

Unter den Schülern Hartmanns sind besonders Drews und 
Leopold Ziegler zu nennen. Beide, zumal der letztere in seineB 



1) Braunschweig, Vieweg & Sohn 1906. Man kann es als Erginnog 
der philosophischen Polemik, die Adickes in seiner Streitschiift ,Kfit 
contra Haeckel" übte, betrachten. 

^ Im Verlag Haacke, Bad Sachsa im Han, wo an^ seine andcni 
Hauptwerke erschienen sind. 



Die deutsche Philosophie im Jahre 1906. 283 

yor Kurzem erschienenen Buch „Der abendländische Rationalismus 
und der Eros*" knüpfen an das Unbewnsste an, in dem sie keine 
mystische Aberration von Kant, sondern die einzig mögliche Inter- 
pretation des Transscendentalismas sehen. Die Grundlage dieser 
Betrachtung ist freilich eine psychologistische, keine logische. Sie 
fassen die Kategorien nicht als rein intellektuelle Werte, sondern 
als seelische Vorgänge auf und gehen von hier nicht ohne Kon- 
sequenz zur Behauptung über, derartige Vorgänge müssten, da im 
Bewusstsein sich weder reine Aktivität noch reine Einheit finden, 
dem Bereich des Unbewussten angehören. Sie fussen demzufolge 
weniger auf dem Standpunkte der transscendentalen Logik als 
auf dem der Transscendentalpsychologie. Auch sie realisieren in 
einer bestimmten Art den Übergang von Kant zu Fichte und zu 
Schelling. Die Motive aber, von denen sie dabei bestimmt werden, 
gehören der Metaphysik, nicht der Erkenntnislehre an. Wertvoll 
bleibt die daraus geschöpfte Einsicht, dass innerhalb der Bewusst- 
seinspsychologie transscendentale Werte nicht psychisch hyposta- 
siert werden können, dass wo überhaupt an solche Hypostasierung 
gedacht wird, sie sich im Bezirk des unbewussten vollziehen 
muss. Auch Hartmanns Naturphilosophie hat Anhänger gefunden, 
besonders unter den Neovitalisten. Zu ihnen zählt der bekannte 
Kieler Botaniker und Biologe Reinke. 

Femer verdient es Erwähnung, dass sein Einfluss in meh- 
reren der hervorragendsten Zeitschriften, so in den von Delbrück 
herausgegebenen „Preussischen Jahrbüchern^, femer in der 
Monatsrevue „Deutschland*" herrschend ist. 

Es wird vielleicht einiges Befremden erregen, wenn ich hier 
als Parteigänger der Identitätsphilosophie auch Theodor Lipps 
anführe. Freilich soll diese Zugehörigkeit nicht als dogmatische 
Abhängigkeit betrachtet werden. Allein in der Rede, mit der der 
gefeierte Gelehrte am 17. September 1906 die Versammlung deut- 
scher Naturforscher und Ärzte in Stuttgart eröffnete, hat er sich 
immerhin prinzipiell zum Standpunkte der Identitätslehre bekannt. 
Was man ein Gesetz nennt, so führt er aus, findet sich nicht in 
den Phänomenen selber, sondem ist eine vom Menschengeiste ge- 
schaffene Norm. In den Phänomenen drücken sich lediglich sin- 
gulare Beschaffenheiten und Vorgänge aus. Die Norm geht auf 
das Allgemeine: man kann daher nicht sagen, sie sei von den 
ni&nomenen abstrahiert oder gar durch reine Beschreibung 
derselben gewonnen worden. Wenn nichts destoweniger die letz- 



284 0. Ewald, 

teren in ihrem Ablauf die erstere bestätigen, wenn die von im- 
serem Verstände konstruierten Gesetze sich überhaupt auf die 
äussere Natur anwenden lassen, so ist dies allein unter der Be- 
dingung zu verstehen, dass auch der Gestaltung der Natur meta- 
physisch ein vernünftiger, schöpferischer Geist zugrunde gelegt 
werden muss, dass ein universales Weltbewusstsein alles Sdn, 
inneres und äusseres, physisches und psychisches umspannt. Zn 
dieser Annahme führt die mechanistische Naturbetrachtnng in ihren 
weiteren Konsequenzen selber. 

Der Naturforscher kommt zu keiner wahren Realität, denn 
das einzige, was ihm die Realität vertritt, die Masse, löst er in 
mathematische Beziehungen auf, in Relationsbegriffe, die zwar 
eine Bedeutung besitzen, aber keinen Inhalt. Auch der Begriff 
der Energie ist solch ein Relationsbegriff, der nicht die objektive 
Wirklichkeit, sondern bloss das methodologische Verfahren des 
Naturforschers charakterisiert. Überhaupt sind die meisten Yet- 
suche, jener näher zu treten, anthropomorphistisch. Will man 
unter dem Unbekannten, wofür die Naturforschung das Symbol 
der Materie einsetzt, etwas Sinnvolles denken, dann bleibt nichts 
übrig, als ihm dasselbe zuzusprechen, was wir in uns unmittelbar 
erfahren, ein Bewusstsein, das wie das menschliche vom göttlichen 
AUbewusstsein umspannt wird.^ 

Das ist freilich eine in der Formulierung der Hauptthese 
der Hartmannschen Lehre konträr entgegengesetzte Auffassung. 
Denn hier steht dem Unbewussten das AUbewusstsein gegenüber, 
welches allerdings nicht weniger eine Negation individueller Bewusst^ 
seinsform bedeutet. Aber das Grundmotiv der Identitätsphilosophie, 
die gemeinsame Wurzel und innere Einheit von Natur und Geist 
eignet beiden Richtungen. Andere Anknüpfungsversuche an 
Schelling werden uns noch später in der Darstellung der neu- 
romantischen Strömung begegnen. 

Bereits früher hob ich hervor, dass das eigentliche Ereignis 
des vergangenen Jahres die Erneuerung der Hegeischen Philo- 
sophie bildet. Auch sie vollzog sich nicht spontan, sondern war 
lange vorbereitet. Hegeische Einflüsse hatten immer, wenigstens 
im Verborgenen, gewirkt, sie machten sich bei Eduard von Haii- 
mann, Bahnsen, sogar bei Nietzsche, fühlbar, sie zeigten sieh 
überall, wo der Neukantianismus entschiedener von der emi»- 

^) Der Vortrag ist im Verlag von Winter, Heidelberg, als Br^sehflre 
erschienen. 



Die deutsche Philosophie im Jahre 1906. 285 

ristischen zur rationalistischen Betrachtungsart abbog, wie bei 
Cohen und Volkelt. Auch war es auf der Hand gelegen, dass die 
Bewegung, die einmal über Kant hinausgegangen war, nicht bei 
Fichte Halt machen, sondern im Hegeischen Intellektualismus 
gipfeln musste. Denn wenn wir den Unterschied beider Denker 
auf die allgemeinste, vollständig von historischer Besonderheit ge- 
reinigte Formel bringen, finden wir in Hegel erst die äusserste 
Konsequenz des Intellektualismus realisiert, da hier nicht mehr 
eine ethische Norm Direktive des Denkens wird, sondern das 
Denken seinen Zweck in sich selber trägt und sich dement- 
sprechend selber die immanenten Mittel für seine Realisierung 
schafft. Zwei Momente sind für Hegels Philosophie bestimmend: 
einerseits die Eliminierung jedes nicht rein rationalen Faktors aus 
der Logik und Kategorienlehre, gehöre er, wie bei Kant das 
Mannigfache der Anschauung, der Sinnlichkeit an, oder der prak- 
tischen Vernunft wie Fichtes Erkenntnisprinzip, andererseits die 
dialektische Methode. So entschieden Cohen in der Logik des 
reinen Erkennens, dem ersten Bande seines „Systeme der Philo- 
sophie'', Hegel abweist, er nähert sich ihm gleichwohl darin, dass 
auch er das Prinzip der Mannigfaltigkeit nicht mehr aus der Sinn- 
lichkeit, sondern aus dem Verstände schöpft und Raum und Zeit 
deragemäss, wie bereits früher der französische Philosoph Renou- 
vier, zu Kategorien stempelt. Auch Ferdinand Jakob Schmidts 
^Grundzüge der konstitutiven Philosophie"" haben in ihrem konse- 
quenten Intellektualismus Beziehungen zum Hegelanismus. 

Was das Jahr 1906 in erster Reihe aber zum Jahr Hegels 
macht, ist Bollauds in deutscher Sprache erschienene Ausgabe 
von Hegels „Enzyklopädie", ein umfangreicher Band, der auch 
eine ausführliche Einleitung vom Verfasser enthält. Das ist eine 
bemerkenswerte Erscheinung, die Zeugnis dafür giebt, wie sehr 
die deutsche Idealphilosophie ihren Einfluss auch über Deutsch- 
lands Grenzen hinaus äussert. Zur selben Zeit, in der in Italien 
Benedetto Croce sich um eine geistvolle Erneuerung der Hegeischen 
Philosophie bemüht, unternimmt Holland in den Niederlanden das 
Gleiche. Interessant ist ferner der Weg, auf dem dieser Denker 
zu Hegel gelangte: er war anfänglich von Hartmann ausgegangen 
und vollzog erst vor einiger Zeit in seiner Schrift, „Collegium logi- 
cum", den entschiedenen Übergang zu Hegel. Er ist Hegelianer auch 
mit Rücksicht auf die Methode der Dialektik, nicht bloss als Pan- 
logist. In Hegel gipfelt die eine, streng intellektualistische Rich- 

XMilatudUu XU. 19 



286 0. Ewald, 

tung des modernen, deutschen Denkens. Wir können rückblickend 
drei unsere Zeit beherrschende Tendenzen feststellen, die in ihm 
einen Sammelpunkt gefunden haben. Erstens die transscendentale, 
logische Tendenz, die unter Ausscheidung jeder Empirie, jedes 
Psychologismus die Grundzüge und Kategorien des Erkennens 
bloss aus reinen Begriffen deduzieren will. Zweitens die meta- 
physische Tendenz, die, wie wir sahen, auch im Neufichteanismiis 
sowie in der Philosophie des Unbewussten wirksam war und sich 
als Reaktion gegen die streng immanenten Prinzipien des Posi- 
tivismus bekundete. Drittens die monistische Tendenz, die an der 
Einheitlichkeit dieses metaphysischen Seins festhält. Die er- 
wähnten Tendenzen konnten in Kant selber Nahrung finden, nicht 
aber in ihm zum rechten Gleichgewicht gebracht werden. Denn 
Kant ist, da er zwischen Psychologie und Logik geteilt war, kein 
reiner Transscendentalist gewesen. Da er femer zwischen 
der immanenten und transscendenten Realität keine deutlichen 
Schranken aufrichtet, ist er niemals ein klarer Metapbysiker ge- 
wesen. Ferner war und blieb er Dualist, sofern er die Unverein- 
barkeit und Unvergleichbarkeit von Sinnlichkeit und Vernunft, von 
empirischer und intelligibler Welt lehrt. Hegel dagegen ist reiner 
Logiker, denn er giebt dem aus sich selber sich entfaltenden Be- 
griff Macht über alle Realität, über die Formen und über die In- 
halte. Er ist Metapbysiker, denn er hypostasiert den Begriff, er 
muss ihn hypostasieren, da ein produktives, die Wirklichkeit er- 
zeugendes Prinzip selber nicht blosse Essenz, sondern eine Existenz, 
ein reales Sein repräsentiert. Er ist Monist, soweit er Panlogist 
ist, soweit er Universum und logische Funktion identisch setzt. 

Die Entwickelungsreihe, die von Kant über Fichte zu Hegel 
führt, ist im jüngsten Deutschland wohl zur Vorherrschaft ge- 
langt, sie ist aber nicht die einzige geblieben. Daneben traten 
insbesondere Versuche einer Erneuerung der Friesschen Philo- 
sophie hervor. Ihre wichtigsten Motive sollen hier zusammen- 
gefasst werden. Es ist bereits mit Rücksicht auf den Neukantia- 
nismus und die Rezeptionen Fichtes und Hegels darauf hinge- 
wiesen worden, dass die Auseinandersetzung zwischen Psfycbo- 
logismus und Logik heute im Vordergrunde der Philosophie steht 
und dass, wie es scheint, die reine Logik zum Siege gelangen 
wird. In dieser wichtigen Auseinandersetzung kommt es eigent- 
lich auf zweierlei an, auf die formale und die transseendentale 
Logik. Die Frage ist zunächst die, ob jene Gesetze, die unser 



Die deutsche Philosophie im Jahre 1906. 287 

Denken überhaupt charakterisieren, was für Inhalten immer es 
sich zawende, der Satz der Identität und des Widerspruchs und 
der Satz des ausgeschlossenen Dritten, davon unabhängig zu 
Rechte bestehen, ob und wie sie im Menschen psychologisch zum 
Ausdrucke kommen. Weiter ist die Frage, ob die Kategorien der 
transscendentalen Logik, die für unsere Erkenntnis, für unsere 
Auffassung einer objektiven Realität konstitutiv sind, sich eben 
dieser für die formalen Denkgesetze in Anspruch genommenen 
Unabhängigkeit erfreuen, oder lediglich als Regeln der psycho- 
logischen Vorstellungsverknüpfung, wie Hume sie verstand, zu 
beurteilen und anzuwenden sind. Die Psychologisten vertreten 
Hames Standpunkt, da jedes, auch das höchste und abstrakteste 
logische Gesetz, um dem Menschen zum Bewusstsein zu kommen, 
ihm als psychischer Vorgang gegeben sein müsse. Auch die Norm, 
die uns vorschreibt, wie wir denken, wie wir erkennen sollen, 
enthält lediglich einen Hinweis darauf, wie wir unter bestimmten 
Umständen wirklich denken. Die reinen Logiker leugnen das 
nicht : sicherlich sind auch ihre Normen und Ideale der psychischen 
Verwirklichung bedürftig, also psychische Phänomene, aber ihre 
Rechtskraft und ihr allgemeiner Gesetzeswert sind nicht von 
dieser seelischen Erscheinungsform abhängig, sie bestehen auch 
dann in alle Ewigkeit weiter, wenn kein menschliches Individuum 
ihrer bewusst wird. Damit die Menschheit von ihnen Kenntnis 
erbalte, müssen sie psychologisch vorfindbar sein. Allein ihre 
Wahrheit wird ihnen nicht erst in dem Moment geschenkt, in 
dem sie gefunden werden, sondern wohnt ihnen an und für sich 
iune. Die Logiker fordern daher nicht das Unmögliche, mit den 
Organen des Bewusstseins die Schranken des Bewusstseins zu 
übersteigen, vielmehr führen sie bloss eine neue Betrachtungsart 
ein: neben der psychologistischen, deskriptiven die normative, 
wertende Betrachtungsart. 

Aber da harrt ihrer eine neue Aufgabe. Eben weil sie ein- 
räumen, die logischen Normen und Ideale müssten, um erkannt zu 
werden, irgendwie dem Menschen zum Bewusstsein kommen, sehen 
sie sich vor die Notwendigkeit gestellt, den eigenartigen Zustand 
genauer zu schildern, in dem der menschliche Geist einen der- 
artigen, die Unabhängigkeit jener Normen und Ideale von ihrem 
Gedachtwerden, von ihrer jeweiligen Bewusstseinsform anerkennen- 
den Urteilsakt vollzieht. Das ist keine psychologische Aufgabe 
mehr. Denn das Merkmal des Psychologismns besteht darin, das» 



288 O. Ewald, 

er überhaupt keine allgemeinen und unabhängigen Werte und 
Normen anerkennt, dass er sie ihres absoluten Charakters ent- 
kleidet und ihnen einen bloss relativen gewährt. Sie sind ihm 
Naturgesetze des psychischen Denkens und Vorstellens und daher 
von ihrer Beziehung auf das faktische Denken und Vorstellen 
nicht zu trennen. Giebt es keinen denkenden Menschen, dann 
haben auch die Naturgesetze seines Denkens keinen Sinn mehr. 
Ebenso wie die Gesetze mechanischer Bewegung bedeutungslos, 
wenn auch nicht falsch geworden sind, sobald der Weltprozess auf- 
hört. Die Logiker dagegen treten für die Allgemeinheit und Unab- 
hängigkeit ihrer Normen ein zum Unterschied von den Natur- 
gesetzen. Wenn sie nach dem psychologischen Ausdruck dieses 
Unterschiedes fahnden, so bewegen sie sich deswegen noch nicht 
im Bann der psychologischen Theorien. Derartige Untersuchungen 
hat ein sonst so radikaler Antipsychologist wie Husserl für ununi- 
gänglich notwendig erklärt und ihnen den zweiten Band seiner 
„Logischen Untersuchungen'' gewidmet Es drückt sich hierin 
ein eigenartig widerspruchsvolles Schicksal der Vernunft aus, die 
ihren überpersönlichen Charakter bloss in persönlicher Form aussen 
kann. Die logischen Gesetze bestehen unabhängig davon, ob sie 
von einem Individuum apperzipiert werden, sie sind daher auch 
unabhängig von sämtlichen Modalitäten solcher Apperzeption, so 
vom Gefühl der Evidenz, wenngleich eben dies Gefühl dem 
Menschen zugleich Zeugnis giebt für jene Unabhängigkeit. Zum 
Unterschiede von psychologistischen Forschungen, die gegen die 
reine Logik ihre Spitze kehren, hat Husserl diese im Dienste 
der reinen Logik unternommenen Studien phänomenologische 
genannt und damit einen wichtigen Begriff eingeführt, an dem 
wir festhalten können. Auch diese Probleme gehen freilich anf 
Kant zurück. Wir haben bereits darauf aufmerksam gemacht, 
dass Kant neben der Ausbildung der transscendentalen Logik auch 
eine umfangreiche Transscendentalpsychologie entwarf, an die vor 
allem die Philosophie des Unbewussten anknüpfte. Diese Trans- 
scendentalpsychologie muss indessen nicht unbedingt metaphysisch, 
sie kann auch phänomenologisch interpretiert werden. Was Kant 
über Sinnlichkeit, Verstand, Einbildungskraft, Apperzeption und 
Reflexion schreibt, muss nicht auf unbewusste Seelenvermögen be- 
zogen werden, die auf mystischen Wegen die Kategorien erzengen, 
sondern lässt sich ebensowohl als eine phänomenologische Übersicht 
über die verschiedenen Arten betrachten, in denen uns die Te^ 



Die deutsche Philosophie im Jahre 1906. 289 

schiedenen E^kenntniswerte, mathematische, physikalische Begriffe, 
Schemen, Ideen und Symbole zum Bewusstsein kommen. Auch 
die drei Grade der Evidenz, die Kant unter dem Begriffe der 
Modalität vereinigt: Möglichkeit, Wirklichkeit, Notwendigkeit er- 
scheinen in diesem Lichte nicht eigentlich als logische, vielmehr 
als phänomenologische Werte. 

Während die grossen Nachfolger Kants, insbesondere Fichte 
und Hegel ihr Interesse auf die objektiven Inhalte der Logik 
konzentrierten, mit Hilfe deren sie tiefere Einblicke ins Getriebe 
des Weltalls zu gewinnen glaubten, wandte Fries seine Aufmerk- 
samkeit der subjektiven psychologischen Auffassung jener logischen 
Gesetze zu. Man hat ihn deswegen zumeist für einen Psycho- 
logisten gehalten, der der Erkenntnislehre die ihr von Kant ver- 
liehene Souveränität wieder entzogen und sie auf empirische 
Psychologie reduziert habe. Dementsprechend ist sein Ansehen in 
der jüngsten Zeit, in der die reine Logik zu entschiedenem Vor- 
rang gelangte, erheblich gesunken. Die neue Friesschule in 
Göttingen bedeutet eine Opposition gegen diese, man könnte bei- 
nahe sagen, offizielle Geringschätzung. Sie stützt sich vor Allem 
auf die Behauptung, Fries sei kein Psychologist, sondern Phäno- 
menologe gewesen, er habe die Kantischen Kategorien nicht auf 
empirische Regeln der Assoziation zurückzuführen, durch letztere 
in ihrem Wahrheitswerte zu begründen gesucht, sondern bloss 
zeigen wollen, wie die Kategorien dem menschlichen Bewusstsein 
sich darstellen. Sehr ausführlich hat Theodor Elsenhans, Privat- 
dozent an der Universität Heidelberg, der freilich ausserhalb der 
Friesschule, ihr zum Teil sogar feindlich gegenübersteht, diesen 
Standpunkt in einem zweibändigen Werk, „Fries und Kant, ein 
Beitrag zur Geschichte und zur systematischen Grundlegung der 
Erkenntnistheorie" darzulegen gesucht.^) Der erste historische 
Teil „Jakob Friedrich Fries als Erkenn tuiskritiker und sein Ver- 
hältnis zu Kant" will das Wesentliche der Friesschen Lehre, be- 
sonders, soweit sie eine phänomenologische Fortbildung des Kriti- 
zismus bezweckt, hervorheben. Sehr ausführlich werden seine 
Theorien der Einbildungskraft und Reflexion behandelt, zumal die 
letztere, der wichtigste Faktor seines Systemes. Es geht daraus 
hervor, dass Fries in Wahrheit kein eigentlicher Psychologist war. 



^) Gieasen, Töpelmann, 1906. 



290 0. Ewald, 

Er selber erklärt es mit Kant für widersinnig, die Verstandes- 
gesetze auf Eegeln der empirischen Psychologie gründen zu 
wollen. Die Bedeutung dieser Gesetze hielt er für ein a priori 
Gegebenes, sonach nicht für etwas, das sich auf empirischem 
Wege ableiten liesse, er nennt sie metaphysisch. Aber die Art, 
in der der Mensch sich ihrer bewusst wird, ist keine aprioristische, 
sie stellt sich vielmehr in der Breite der inneren Erfahrung dar, 
sie ist in der Reflexion gegeben, durch die er die metaphy- 
sischen Werte und Gesetze des Geistes entdeckt. Und diesen 
subjektiven Weg der Entdeckung nennt Fries das Transscenden- 
tale, indem er sich dabei auf Kant beruft, der unter transscen- 
dentalen Erkenntnissen nicht solche versteht, die anmittelbar anf 
Objekte gerichtet sind, sondern solche, in denen das Ganze der 
menschlichen Erkenntnis selber sich offenbart. Diese bedeutsame 
Position hält Elsenhans als Leitfaden der Friesschen Untersuch- 
ungen fest. Freilich leugnet auch er keineswegs, dass Fries nicht 
konsequent an seiner phänomenologischen Tendenz festgehalten 
hat. An einzelnen Stellen treten unverkennbar psychologistische 
Ideengänge hervor. Im zweiten Band will Elsenhans im Anschlnss 
an Fries und Kant eine dem Prinzip nach selbständige Grund- 
legung der Erkenntnistheorie geben. 

Näheren Anschluss an Fries sucht die erwähnte neue Fries- 
schule in Göttingen, deren Oberhaupt Leonard Nelson ist. Ihr Organ 
sind die im Verlag von Vandenhoeck & Ruprecht erscheinenden 
Abhandlungen der Friesschule, deren 3. und 4. Heft im ver- 
gangenen Jahr herauskamen. Sie enthalten nicht uninteressant« 
Beiträge zur Philosophie, darunter zwei, die Nelson zum Verfasse 
haben: „Bemerkungen über die Nicht-Euklidische Geometrie and 
den Ursprung der mathematischen Gewissheit" und »Vier Briefe 
von Gaus und Wilhelm Weber an Fries". Das Programm dieser 
Schule hat Nelson bereits im 1. Heft angekündigt und zwar in 
dem Aufsatz: „Die kritische Methode und das Verhältnis der 
Psychologie zur Philosophie". Hier verwirft er das „transscenden- 
tale Vorurteil", das in dem Versuch einer logischen Ableitung der 
Kategorien des Erkennens bestehe und erklärt, die Philosophie 
habe keine andere Aufgabe als die, die psychologische Er- 
scheinungsform dieser Kategorien zu untersuchen. Gegen diese 
einseitige Verdrängung der Logik durch Phänomenologie wendet 
Cassirer in dem erwähnten Artikel „der kritische Idealismus und 
die Philosophie des gesunden Menschenverstandes ", wohl mit 



Die deutsche Philosophie im Jahre 1906. 291 

Recht ein, dass sie die kritische Problemstellung auf das Niveau 
des naiven Verstandes hinabziehe. 

* 

Dieser Querschnitt durch die zeitgenössische deutsche Speku- 
lation zeigt uns eine überaus interessante Gruppierung der ein- 
zelnen Schichtenkomplexe. Ihren idealen Mittelpunkt bildet 
Kants Kritizismus, um den sich gleichsam in weiteren konzent- 
rischen Kreisen die verschiedenen philosophischen Richtungen an- 
setzen. Zuerst der Neukantianismus, der auch durch die extre- 
meren idealistischen Systeme nichts an innerer Macht und äusserer 
Wirksamkeit eingebüsst hat. Dann der Neufichteanismus, die dem 
System Schellings sich annähernde Philosophie des Unbewussten 
und der Neuhegelianismus. Der erste und dritte bewegen sich 
um das Problem einer einheitlichen logischen, die zweite um das 
Problem einer einheitlichen ontologischen Methode. Alle drei 
gehen im Prinzip auf die objektive Anwendung der Kategorien, 
auf die durch sie vermittelten Erkenntnisse, wogegen die neue 
Friesschule ihr subjektives Gegebensein, ihre Position im 
menschlichen Bewusstsein ins Auge fasst und so eine eigentüm- 
liche Stellung zwischen Phänomenologie und Psychologie vertritt. 
An Kant sind all diese Richtungen orientiert und zwar in stär- 
kerem Mass, als es ihre Vorbilder, die Nachkantischen Philosophen, 
selber waren. Darin kommt die gegenwärtig dominierende Be- 
deutung des Kritizismus noch einmal zum Ausdruck. Und zu- 
gleich zeigt es sich, dass es sich in den heutigen Emeuerungs- 
versuchen, man denke wie immer über ihren definitiven Wert, 
nicht um eine leere Reaktion, vielmehr um eine Rezeption auf 
entsprechend höherer Grundlage handelt. Alle jene Denker, 
Fichte, Schelling, Hegel, Schopenhauer, Herbart, Fries strebten 
über Kant hinaus, von Kant weg. Und so kam es, dass die 
wertvollsten kritischen Ideen unter der Fülle neuer Systembild- 
ongen frühzeitig verschüttet wurden und der Neukantianismus sie 
erst entdecken musste, bevor er sie fruchtbar weiterzubilden im- 
stande war. Dagegen ist die moderne Forschung niemals in dies 
Extrem geraten. Die prinzipiellsten Ergebnisse Kants hat sie im 
Allgemeinen aufrecht erhalten: die klare Scheidung zwischen 
transscendentaler, metaphysischer und psychologischer Betrach- 
tongsart, zwischen dem Problem der logischen Werte und der 
realen Existenz, das Streben nach objektiven Erkenntnissen, die 



292 0. Ewald, 

aber nicht der Widerlegung, sondern der Begründang der Er- 
fahrung dienen. 

Das methodologische, erkenntnistheoretische Interesse be- 
herrscht die Philosophie der jüngsten Gegenwart so ausschliess- 
lich, dass die metaphysischen Fragen, die vor einig'en Jahren die 
Diskussion bewegt hatten, beinahe daiüber verstummt sind. Zur 
Charakteristik dieses Sachverhalts diene auch die neueste Schrift 
Ernst Machs „Erkenntnis und Irrtum". Der Verfasser, der mit 
seiner „Analyse der Empfindungen*" in die Reihe der AntimetA- 
physiker getreten war, zählt zu den populärsten Denkern von 
heute. Seine Polemik gegen Kant, gegen jede Form des Aprioris- 
mus und der Metaphysik, hat mehr Eindruck auf die ÖffenÜich- 
keit gemacht, als die derselben Tendenz dienenden Werke von 
Schuppe und Avenarius, die sich durch weit reichere SachkenDtnis 
und tiefere Gründlichkeit auszeichnen, aber auch viel schwieriger 
und abstrakter gehalten sind. In seinem neuesten Buch tritt 
Mach vorwiegend als Methodologe auf, indem er die Mittel und 
Werkzeuge der konkreten Forschung in den einzelnen Disziplinen 
untersuchen will. Ein anderer Denker, Richard Wähle, der 
manche Ähnlichkeit mit Mach besitzt, aber nicht die Metaphysik 
als solche, sondern bloss als subjektivistische nnd idealistische 
Metaphysik bekämpft, ist in diesem Jahre mit einem Bnche „der 
Mechanismus des geistigen Lebens" hervorgetreten, i) Der erste 
Teil des Buches ist erkenntniskritisch gehalten, der letztere psy- 
chologisch. Interessant ist die ausserordentlich heftige SteUung- 
nahme wider Kant, die im Prinzip bloss des Verfassers Positionen 
in seinen Werken „Das Ganze der Philosophie" und ^Spinoza" 
wiederholt und im Grunde wohl der sachlichen Berechtigung ent- 
behrt, da Wähle Kant psychologisch auffasst und in seinen 
Kategorien subjektive, aus den Tiefen der menschlichen Seele anf- 
steigende Energien erblickt. Dagegen leugnet Wähle jedwede 
psychische Aktivität und erblickt im Bewusstsein lediglich m 
sekundäres Produkt uns unbekannter Urfaktoren, die daher in Un- 
abhängigkeit vom Bewusstsein auch an und für sich existieren. 
Es ist eine eigenartige Mischung von Positivismus und Spinozis- 
mus, was Wähle vorträgt, und seine unverkennbare Annäherung 
an die materialistische Weltanschauung bringt mit sich, dass er 



1) Braumüller, Wien und Leipzig, 1906. 



Die deutsche Philosophie im Jahre 1906. 293 

den durch Schelling vermittelten Neospinozismus, der modifiziert 
in Lipps und Hartmann wiederkehrt, heftig abwehrt. 



Damit sind die erkenntnistheoretischen Hauptrichtungen, die 
in neuester Zeit hervortraten, damit ist überhaupt die theoretische 
Seite der jüngsten philosophischen Produktion in Umrissen charak- 
terisiert. Aber das Bild wäre unvollständig, würde es nicht 
durch die kulturellen, ethischen und ästhetischen Bestrebungen 
ergänzt, die auf breiterer Basis erwachsen, sich zu einer einheit- 
lichen Weltanschauung zusammenschliessen wollen. Hier spricht 
mehr das unmittelbare Empfinden als die abstrakte Seflexion, 
hier begehrt das Gemüt und weniger der Verstand in seine Rechte 
eingesetzt zu werden. Diese Kulturbewegungen müssen um so 
nachdrücklicher berücksichtigt werden, als das Wiedererwachen 
des Interesses für die Philosophie in Deutschland überhaupt an 
sie geknüpft ist. Für dies Erwachen spricht auch das Erscheinen 
einer neuen Philosophischen Wochenschrift und Litteraturzeitung, 
die im Leipziger Verlag Rohde von Hugo Renner herausgegeben 
wird. Es ergiebt sich beinahe von selber, dass wir hier mit dem 
Denker beginnen, der seine Spuren am tiefsten in die moderne 
Weltauffassung gezeichnet hat, mit Friedrich Nietzsche. An ihm 
erscheint das konkrete und praktische philosophische Empfinden 
der jüngsten Generation beinahe ebenso orientiert, wie die theo- 
retische Spekulation an Kant. Das Schicksal seiner Lehre von 
ihren ersten Wirkungen an bis in das letzte Jahr zu verfolgen, 
wäre hier zwecklos und müsste ins Grenzenlose führen. Auch 
hätte es keinen Sinn, die enorme Masse der Nietzschelitteratur, 
die Jahr für Jahr auf dem Büchermarkte erscheint, hier zu 
sichten und auf ihre leitenden Tendenzen zu prüfen. Bloss 
soweit in der Auffassung des Philosophen eine prinzipielle 
Wendung zu verzeichnen ist, die zugleich eine allgemeine Richtung 
widerspiegelt, soll sie Erwähnung finden. Und da muss zu- 
nächst bemerkt werden, dass Nietzsches populärer Einfluss seineu 
Zenith bereits überschritten zu haben scheint.^) In demselben 
Masse, in dem Nietzsche bei den Fachgelehrten Anerkennung fand. 



1) Hier verdient die neue Taschenausgabe Nietzaches Erwähnung, 
die bereits die ersten fünf Bände von der „Geburt der Tragödie'^ bis zur 
„Morgenröte** umfasst. 



294 0. Ewald, 

in dem er zum philosophischen Klassiker wurde, in dem der 
Einflass seines Schaffens an Breite einbüsst, gewinnt er an Tiek 
Eine Erscheinung, die sicherlich nicht beklagenswert ist. Denn 
es lässt sich nicht leugnen, dass die ausserordentliche Intensität, 
mit der die Masse sich seiner Ideen bemächtigte, den vielen Miss- 
deutungen entsprang, denen sie bei ihrem schillernden und farben- 
reichen Gepräge von Anfang an ausgesetzt war. Nietzsches Kritik 
der Ethik hielten Ästheten und Anarchisten für eine Kriegs- 
erklärung an jede Form allgemeiner Gesetzlichkeit, für eine nihi- 
listische Leugnung des Pflichtbegriffes. Die neuere Nietzsche- 
forschung hat hier mit der Zeit eine gründliche Wandlung ge- 
schaffen. Sie hat der Erkenntnis den Weg gebahnt, dass Nietzsche 
kein Immoralist, sondern im Gegenteil ein starker Moralist war, 
dass seine Skepsis bloss gegen die zur Herrschaft gelangte histo- 
rische Ethik, nicht gegen die Ethik überhaupt ging. Dieser Ein- 
sicht hatte bereits Vaihinger in seinem Buch „Nietzsche als Philo- 
soph^ beredten Ausdruck gegeben, und sie taucht „neuerdings in 
Simmeis „Schopenhauer und Nietzsche^ auf".^) Die eben angefühlte 
Schrift enthält eine überaus interessante Analyse modemer Kultur- 
Strömungen, insbesondere der pessimistischen und optimistischen 
Motive. Simmel hält Nietzsches und Schopenhauers Standpunkte 
für absolute Positionen, die ebenso wenig zu beweisen wie zu 
widerlegen sind. Sie entstammen beide einem ursprünglichen 
Wertgefühl, das der Anblick des Weltganzen in der Menschenseele 
auslöst und bezeichnen die äussersten Pole, zwischen denen das 
individuelle und soziale Empfinden sich bewegt. Im letzten 
Grunde entscheidet darüber, ob jemand Pessimist oder Optimist 
ist, nicht eine theoretische Abwägung von Leid und Lust, sondon 
die Art, in der er vom Faktum des Seins überhaupt ergriffen 
wird. Es giebt Menschen, denen nicht bloss der Schmerz, sonden 
der blosse Gedanke, dass etwas existiert, furchtbar und uner 
träglich ist, und wieder andere, die aus demselben Gedanken eine 
alle mögliche Unlust bei weitem überwiegende Glücksfülle schöpfen. 
Von der Richtigkeit der gegnerischen Auffassung sind weder diese 
noch jene zu überzeugen. Eben weil es sich hier nicht um lo- 
gische, objektive Argumente, sondern um die Willkür persönlicher 
Grundstimmuug handelt. Zum erkenntnistheoretischen Bealismos 
oder Idealismus kann man von aussen bekehrt werden. Dagegen 



^) Duoker & Humblot, Leipzig, 1906, 



Die deutsche Philosophie im Jahre 1906. 295 

ist man entweder als Optimist oder als Pessimist geboren. Es 
ist, wie Simmel meint, eigentlich unsere Aufgabe und unser Secht, 
Schopenhauer und Nietzsche nachempfindend in uns aufzunehmen, 
unsere Seele beiden extremen Polen offen zu halten, sie zwischen 
der obersten Höhenlage des Triumphes und dem tiefsten Grund- 
tone der Verzweiflung schwingen zu lassen. Besonders wichtig 
für die gegenwärtige Betrachtung ist die Beurteilung Nietzsches. 
Simmel hebt mit Nachdruck hervor, dass der Schöpfer des „Zara- 
thustra^ nicht mit den Subjektivisten der Moral, den anarchistischen 
Skeptikern verwechselt werden darf, weder mit Max Stirner noch 
mit den Sophisten. Dagegen betont auch Simmel die Nietzsche 
selber im Dunklen gebliebene Beziehung seiner Weltanschauung, 
zumal der Idee von der ewigen Wiederkunft des Gleichen zur 
Kantischen Philosophie. Es scheint, dass sich diese Auffassung 
mehr und mehr durchsetzen wird. Und das wäre ein neuer 
Schritt zur organischen Vereinheitlichung unserer geistigen Kultur. 
Die Möglichkeit, Kant und Nietzsche einander näher zu rücken, 
das Wesentliche ihrer Lehren zwar nicht zu identifizieren, wohl 
aber auf den Ausdruck einer Formel zu bringen, ist wahrhaft er- 
haben. Trotz den Verschiedenheiten, die Simmel zwischen beiden 
Philosophen konstatiert, dürfte sich dennoch seine Schrift in der 
Richtung auf dies Ziel bewegen. Denn als leitendes Ideal 
Nietzsches findet er das der Vornehmheit, also nicht eigentlich 
den Willen zur Macht, sondern den Willen zum Wert. Und 
hierin kommt er dem Ideale Kants, der freien, sittlichen Persön- 
lichkeit, um so näher, als die Differenzen zum Teil in Irrtümern 
Nietzsches, so in seiner Verwechselung des seelischen und 
sozialen Aristokratismus zu suchen sind. Den vulgären Nietzsche- 
anem, die sich lediglich an der suggestiven Kraft derartiger Irr- 
tümer berauschen, dürfte damit freilich nicht gedient sein. Um 
so mehr aber den wahren Anwälten geistiger Kultur, die wünschen 
müssen, dass ein Phänomen wie Nietzsche nicht in leeren Sen- 
sationen versinke, sondern tiefere und bleibende Spuren seiner 
Wirksamkeit hinterlasse. Und wenn wir Nietzsches Werk nicht 
mehr als unversöhnlichen Gegensatz zum Verkünder des katego- 
rischen Imperativs vielmehr als eine natürliche Ergänzung des- 
selben betrachten können, dann ist die Kontinuität deutscher 
Philosophie und Weltanschauung in grossartiger Form gewähr- 
leistet, und wir dürfen hoffen, dass auf diesem festen Fundament 
neue Schöpfungen von dauerndem Wert enstehen werden. Was 



296 0. Ewald, 

auf der anderen Seite Nietzsches Schöpfang ein wenig in den 
Hintergrund treten lässt, ist ein Umstand, der anfänglich sogar 
ihrer Wirkung Vorschub leistete. Es ist der neuromantische Zug 
unseres Zeitalters. Wohl mangelt es nicht an Beziehmigea 
zwischen Nietzsche und der Romantik. Allein sie sind Dicht 
durchsichtig genug, um beide Bewegungen auf die Daner paraHd 
gehen zu lassen. Auch ist Nietzsche in mancher Rücksicht Anti- 
romantiker. Seine religiöse Skepsis vor Allem bringt ihn in 
Widerstreit mit romantischen Ideenkreisen. Das Wiedererwadien 
religiöser Interessen ist ja beinahe die treibende Kraft dieser Be- 
wegung. Sie äussert sich in der Vorliebe für die spekolatiTOi 
theoretischen und gnostischen Gedankengänge der Nachkantischen 
Philosophen, der deutschen Mystiker des Mittelalters.^) Daza 
kamen ästhetische und litterarische Antriebe: Der Realismus und 
der Naturalismus in der Kunst hatten, auf einen steilen Höhepunkt 
getrieben, die entsprechende Reaktion entfesselt, die sich in einem 
vagen, nebelhaften Symbolismus bekundete. Man suchte mehr in 
der inneren als in der äusseren Wirklichkeit, und so wurde man 
auch von hier aus zum erneuten Studium der Romantiker geführt, 
die eigentlich zum ersten Mal die Nachtseite der menschliehen 
Seele für die Philosophie erschlossen und in die Kunst eingeführt 
hatten. Der Eindruck, den ein Verklärer des Unbewnssten wie 
Maurice Maeterlink in Deutschland übte, bereitete die begeisterte 
Verehrung vor, die Novalis heute geniesst. Und wie es ein an- 
leugbarer Reiz der Romantik bleibt, dass in ihr Kunst und Welt- 
anschauung einander durchdrangen und ein harmonisches Ganzes 
zu bilden strebten, so suchen auch die Neuromantiker den W% 
vom ästhetischen zum philosophischen Empfinden. Neben Novalis 
triumphiert Schelling, der klassische Philosoph der romantischen 
Periode. Während wir seinen Einfluss in der exakten, erkenntnis- 
theoretischen Richtung der Philosophie weniger mächtig fanden, 
und eigentlich in Hartmanns Weltauffassung noch die deutlichsten 
Spuren zu verzeichnen waren, überragt er im Kreise der Nen- 
romantiker sicherlich den Fichtes und Hegels. Die Bedentong 
des Unbewnssten für die Gebilde des Bewusstseins, seine schöpfe- 
rische Kraft, die tiefere Einheit von Natur und Geist, all das sind 
Theorien, die dem populären Fühlen näher stehen als die Dialektik 



^) Hier ist auch Karl £ugen Schmitte Werk, „Die Gnosis**, (Verlag tod 
Diederichs) zu erwähnen, deren zweiter Band soeben herausgekommen ift 



Die deutsche Philosophie im Jahre 1906. 297 

der Begriffe. Unter Schellings Zeichen entfaltet sich diese neu- 
romantische Strömung, die zwar keinen kirchlichen Dogmatismus 
anerkennt, aber dem religiösen Bewusstsein zum Siege verhelfen 
möchte, die der klaren, logischen Erkenntnis zwar nicht wider- 
strebt, aber im mystischen Empfinden ein stärkeres, unmittelbares 
Verhältnis zum Universum zu gewinnen glaubt. Für eine solche 
Richtung war Schelling, der Philosoph der Kunst, der Künstler 
unter den Philosophen, der dithyrambische Begriffspoet und der 
Mystiker der Dialektik zum geistigen Lenker prädestiniert. 

Den äusseren Mittelpunkt neuromantischer Bestrebungen in 
Deutschland bildet der Verlag von Eugen Diederichs in Jena, 
der soeben unter dem Titel „Zur Kultur der Seele" einen in dieser 
Beziehung interessanten, instruktiven Verlagsbericht herausgegeben 
hat, welcher seine Wirksamkeit vom Jahr seiner Gründung in Florenz, 
dem Jahr 1896 bis zum Jahr 1906 umspannt. Die Erscheinungen 
werden nach ihrem Thema und ihrer Tendenz eingeteilt, wobei 
der Einteilungsgrund ein spezifisch neuromantisches Gepräge 
trägt. Dies ergiebt sich aus den einzelnen Gliedern der Ein- 
teilung: „Kultur der Seele**, „Leben mit der Natur", „Volkliches 
Leben**, „Religiöse und philosophische Kultur", „Schöne Litteratur**, 
„Ältere Philosophie und Mystik", „Deutscher Idealismus". Die 
grosse Anzahl von Veröffentlichungen auf diesen Gebieten, die 
zum Teil hervorragende Schriftsteller zu Verfassern haben, bürgt 
für den erstaunlichen Umfang, den neuromantische Tendenzen im 
gegenwärtigen Deutschland angenommen haben. Recht schwer 
wäre es, einen zusammenfassenden idealen Ausdruck für sie zu 
finden. Man müsste zu diesem Zwecke nicht bloss die Neu- 
romantik, sondern auch die Romantik definieren, was noch immer 
nicht recht gelungen ist. Einzelne Züge lassen sich aber als be- 
sonders charakteristisch hervorheben. Es sind auch zum Teil 
jene Züge, die in Diederichs Bericht als gemeinsame Merkmale 
der Neuromantik ausgezeichnet werden: ein stark panthoistischer 
Zug, die Überzeugung davon, dass Materie und Geist die beiden 
miteinander verbundenen Erscheinungsformen einer Kraft sind, 
der Glaube an die organische Einheit der menschlichen Persön- 
lichkeit mit dem Universum und an das wunderbare Vermögen 
der Seele, einerseits die Schranken der Individualität zu über- 
steigen und sie ins Unendliche zu erweitem, andererseits die 
unendliche Natur und Realität selber als ein Persönliches zu em- 
pfangen. 



298 0. Ewald, 

Der Verlag hat sich ein besonderes Verdienst durch die 
Herausgabe älterer und neuerer Mystiker erworben. Darunter 
sind die Schriften und Predigten Meister Eckharts in erster Reflie 
zu erwähnen. Für die nächste Zeit sind in Aussicht genommen: 
Ruysbrock, Suso, Valentin, Weigel, Thomas a Eempis, Baader nnd 
Görres. Auch eine Reihe theoretischer Untersuchungen über 
Romantik und Neuromautik sind bei Diederichs erschienen. Es 
sind zumeist Werke metaphysischer und mystischer Tendenz. 
Hier verdient ein „Philosophie der Romantik*' betiteltes Buch von 
Erwin Kircher Beachtung, das Heinrich Simon und Margarete 
Susman aus den Aufzeichnungen des früh verstorbenen Autors 
herausgaben. Das Buch enthält den Versuch, die wichtigsten 
Motive der romantischen Philosophie darzustellen und behandelt 
mit besonderer Hingabe die einzelnen Phasen der Schelling- 
schen Weltanschauung. Auch Leopold Ziegler, dessen wir bereits 
als eines aus der Schule Hartmanns hervorgegangenen Anhängers 
der Philosophie des Unbewussten gedachten, steht der Neuromantik 
nahe, wie besonders aus seinem jüngsten Werk, „der moderne 
Rationalismus und der Eros" hervorgeht. Er versteht unter dem 
philosophischen Eros ein spezifisch romantisches Motiv, den Trieb 
der metaphysischen, intellektuellen Anschauung, den er von 
Plato an durch die gesamte abendländische Spekulation verfolgt 
Sehr ausführlich behandelt er die Identitätsphilosophen, vor Allem 
Hegel. Von den Neufichteanern und Neuhegelianern unterscheidet 
er sich in denselben zwei Tendenzen, in denen sich Hartmann 
von ihnen unterscheidet. Er erblickt in der Aufstellung einer 
metaphysischen Substanz die Grundlage seiner Weltanffassung, 
giebt aber die aprioristische Methode der Dialektik und Deduktion 
auf, an deren Stelle er die der transscendenten Induktion 
setzt. Die Philosophie soll von der Erfahrung Schlüsse ziehen 
auf ihre metaphysischen Voraussetzungen. Damit ist die weitere 
Konsequenz verbunden, dass die Philosophie keine absoluten, 
ewigen Wahrheiten zu bieten, sondern bloss approximativ das 
Wesen der Welt zu enträtseln vermag. Trotz dieser Abweichung 
von den Identitätsphilosophen, die das Weltproblem rein und rest- 
los gelöst zu haben wähnten, steht die Philosophie des Unbe- 
wussten und besonders Leopold Ziegler der Neuromantik nahe, 
denn der Glaube an eine mystische Macht der menschlichen Seele, 
in sich den Vollgehalt des Universums empfangend nachzubildsn, 
und aus sich heraus ihn andrerseits zu erzeugen, bleibt das 



Die deutsche Philosophie im Jahre 1906. 299 

gemeinsame ideelle Mass aller um diese Schule sich gruppierenden 
Oedankenreihen. 

Im Auschluss daian ist auch ein Versuch Heinrich Simons 
zu erwähnen, die Weltanschauung des Novalis in das Licht 
moderner Erkenntnislehre zu rücken: „Der magische Idealismus" 
(Heidelberg, Winter, 1906). Der Verfasser, der sich von Rickert 
beeinflusst zeigt, geht mit strenger Systematik vor und verfolgt 
sorgfältig die Spuren, die vom Kantischen Kritizismus ins Lager 
der spekulativen Metaphysik und Erkenntnislehre leiten. 

Weniger der Art der Behandlung nach, als mit Rücksicht 
auf die Probleme, die zur Behandlung gelangen, reiht sich Theodor 
Lessing mit seinem Buch „Schopenhauer, Wagner, Nietzsche", 
einer Einführung in die gegenwärtige Philosophie, an die Neu- 
romantiker an. Wer hier aber exakte philosophische Aufklärung 
erwarten wollte, würde enttäuscht werden. Es sind geist- 
reiche, aber philosophisch zum Teil unfruchtbare Psychologismen. 
Interessant ist die Auswahl der Repräsentanten moderner 
Weltansicht, besonders im Hinblicke auf Richard Wagner: es 
mnss hier bemerkt werden, dass die Neuromantik ihr eigent- 
liches ideales Zentrum in Wagner hat. Recht begreiflich, denn er 
steht als Denker und Künstler an der tirenzscheide zweier Zeit- 
alter, er schliesst einerseits die alte Periode des Klassizismus 
und der Romantik ab und bereitet andererseits sowohl in 
seinen Motiven als auch in Stil und Technik das moderne Zeit- 
alter vor. ^) 

Kn Urteil über den bleibenden Wert der Neuromantiker ab- 
zugeben, ist schwer. Denn wir stehen noch zu tief im Strom der 
Bewegung selbst, um über ihre letzten Ziele und Tendenzen im 
Reinen zu sein. Dass sie manches Phantastische und Absurde 
hervorbringt, ist nicht zu leugnen: es verdient aber andererseits 
betont zu werden, dass sie den Kreis der Probleme mächtig er- 
weitert hat, ihn um neue philosophische Möglichkeiten bereicherte 
und vor Allem einem verflachenden Naturalismus gegenüber die 



^) In diesem Zusammenhang, der aufs ästhetische Gebiet übergreift., 
müssen auch zwei interessante in Dessoirs „Zeitschrift für Ästhetik und 
allgemeinen Kunstwissenschaft** erschienenen Aufsätze von Jonas Cohn 
Erwähnung finden: .Zur Vorgeschichte eines Kantschen Ausspruclies 
über Kunst und Natur** und „die Anschaulichkeit der dichterischen 
Sprache**. 



300 0. Ewald, 

Differenzierung des menschlichen Geistes, das Recht des Gfefähls 
hervorgehoben hat und die Kontinuität mit der grossen Ver- 
gangenheit klassischer Philosophie wahrte. Es ist erfreulich, dass 
daneben auch im Kreise der Neuromantik Goethes Weltanschau- 
ung in steigendem Masse die Geister anzuregen beginnt. In 
ihrer wundersamen Harmonie, in der Art, wie sie Abstraktion und 
Anschauung, Idee und Erfahrung, Geist und Sinnlichkeit, Mystik 
und Rationalismus verwebt und versöhnt, gewährt sie ein Gegen- 
gewicht gegen einseitige Extreme, gegen phantastische Zügellosig- 
keit. Den Anteil, den neben der Kunst auch die Philosophie der 
Gegenwart an Goethe gewinnt, beweist Simmeis eben erschienene 
Schrift, „Kant und Goethe".^ Man darf im Titel bereits einen 
Hinweis auf eine kulturell bedeutsame Synthese, auf die Ver- 
bindung der beiden grössten Geistesheroen der Neuzeit erblicken. 
Simmel ist zunächst allerdings darum bemüht, bei aller schein- 
baren Gemeinsamkeit das Unterscheidende in der Gemütsrichtong 
und der intellektuellen Organisation beider Männer hervorzuheben. 
Hier bewährt er sich als Meister der Analyse. Im Anschlüsse an 
sein vor wenigen Jahren erschienenes Buch über Kant, zeigt er, 
wie Kant den Schnittpunkt von Objekt und Subjekt jenseits iet 
anschaulichen Wirklichkeit sucht, während sie Goethe in der 
Natur selber erblickt. Wie Kants wesentliche Funktion das 
Trennen und Unterscheiden bleibt, während Goethes Genie sidi in 
Vereinheitlichung und Synthese bewährt. Wie Kant das Wesen 
der Welt im Sittengesetz sieht, das zwischen Ideal und Realität 
eine unermessliche Kluft aufrichtet, während für Goethe auch die 
Moral neben Erkenntnis, Religion und Kunst bloss eine Emanation 
der kosmischen Urkraft ist. Aber bei all diesen Differenzen bleibt 
gleichwohl das Gemeinsame bestehen: Der Glaube an den meta- 
physischen Wert der Welt und die Forderung, diesen Wert im 
irdischen Dasein zu realisieren. Kant und Goethe: unter diesem 
Zeichen wird die deutsche Kultur siegen. — 

Ist es bereits schwer, die philosophischen Strömungen der 
Gegenwart zu sichten und zu beurteilen, so wächst die Schwierig- 
keit noch, wenn man daran geht, ihre Zukunft zu weissagen. 
Und dennoch ist das eine kaum ohne das andere zu denken: 
indem man die gegenwärtige philosophische Produktion auf 



^) In dem von Gurlitt herausgegebenen Sammelwerk „Die Koltor* 
erschienen im Verlag Bard & Marquard, Berlin, 1906. 



tMe deutsche Philosophie im Jahre iSOft. 301 

ihren Wahrheitegehalt und auf ihre Irrtümer prüft, überblickt 
man bereite einen Teil der Konsequenzen, die sich für das 
künftige Schaffen aus Irrtum und Wahrheit ergeben werden. 
Zunächst haben wir gesehen, dass die Philosophie unter dem 
Zeichen einer Rückkehr zum Nachkantischen Idealismus steht. 
lu einer solchen Rückkehr ist freilich die verderbliche Mög- 
lichkeit einer Reaktion, eines unkritischen Historismus gegeben, 
der von einem rein antiquarischen Interesse beherrscht, das Ver- 
gangene lediglich um der Vergangenheit willen festhält. Aber 
wir dürfen hoffen, dass die gegenwärtige Philosophie in Deutech- 
land nicht in diese Extreme sich verirrt, dass sie vielmehr von 
Fichte und Hegel allein die dauernd wertvollen Elemente erneuert. 
Darin ist insbesondere die transscendentale Idee gemeint, die von 
diesen Denkern in grösserer Reinheit dem Psychologismus gegen- 
über herausgearbeitet wurde als von Kant selber. Denn dies 
dürfen wir wohl als ein bleibendes Ergebnis der zeitgenössischen 
Philosophie festhalten: Die Scheidung zwischen Transscendentalis- 
mas und Psychologie, zwischen dem Idealen und dem Realen, 
zwischen Norm und Natur, zwischen Wert und Wirklichkeit. 
Femer dürfen wir einen Fortechritt darin erblicken, dass man 
anderei-seite wieder die psychologische Erscheinungsform der lo- 
gischen Gesetze prüft, dass man Phänomenologie der Logik treibt, 
ohne darüber zu vergessen, dass deswegen die letztere von 
ersterer nicht abhängig wird: ein Fortechritt, der sich, wenn auch 
vielfach getrübt, in der Erneuerung der Friesschen Lehre äussert. 
Einen grossen, mehr praktischen als theoretischen Fortechritt be- 
deutet femer das Streben, die Philosophie in Kultur umzusetzen, 
ihr eine breite Grundlage im Volke zu schaffen. Auch hier be- 
darf es weiser Steuerkunst, um den beiden verderblichen Möglich- 
keiten aller Popularisierung auszuweichen, dem uferlosen Mystizis- 
mus und der Flachheit. Was jenen angeht, so macht er sich 
besonders in dem Wachstum der okkultistischen Bewegung fühl- 
bar, für das viele Veröffentlichungen in Form von Zeitechriften 
und ßüchern deutliches Zeugnis geben. Das religiöse Empfinden, 
das in der neuromantischen Bewegung sich offenbart, wird, wie 
man hoffen darf, weder der Phantastik noch dem Dogmatismus 
Vorschub leisten, sondern in seiner wahren Sphäre verbleibend, 
das Unsagbare in der Menschenseele und im Universum in 
die Sprache des Gefühls übersetzen. Andererseite erwächst der 
Philosophie die Aufgabe, das Religionsproblem erkenntnistheore- 

KftBittiadUD Xn. 20 



ä02 0. Ewald, Die deutsche Philosophie im Jahre 1906. 

tisch und logisch zu untersuchen, und es mehren die Anzeichen 
sich dafür, dass ähnliche Bestrebungen bereits im Gange sind. 
Von hier aus öffnet sich der Weg zur Metaphysik, die wohl nach 
vorübergehendem Stillstand wieder energische Behandlung finden 
wird: Dafür bürgt der Einfluss Kants und Goethes, die beide, 
trotz ihres auf ßealität und Erfahrung gerichteten Intellektes, 
überall auf transscendente Werte und Ideale hinweisen. 



Kants Lehre vom radikalen Bösen. 

Von Gottfried Fittbogen. 

Übersicht. Einleitung. 1. Die Aufgabe. 2. Stellung der Lehre 
vom radikalen Bösen in der Kantischen Religionsphilosophie. — I. Das 
Problem. 1. Überblick über die Lösungsversuche. 2. Bestimmung der 
Begriffe. 3. Die richtige Fragestellung. Gewinn des ganzen Abschnitts 
für die folgende Untersuchung. — II. Die Anlagen zum Guten. 1. 
Kants Methode zu ihrer Bestimmung. 2. Die Anlagen selbst. 3. Die För- 
derung des Guten durch diese Anlagen. — III. Der Hang zum Bösen 
in der menschlichen Natur (der Mensch als Glied der intelligiblen 
Welt). 1. Die Schwierigkeit und ihre Lösung. 2. Der Hang zum Bösen 
selbst. 3. Der Gewinn für das Ganze der Untersuchung. — IV. Der 
Mensch ist von Natur böse (der Mensch das Glied beider Welten, der 
sensiblen und der intelligiblen). 1. Die These. 2. Der sensible Mensch. 
3. Der Mensch als Glied beider Welten. 4. Rückblick auf den Abschnitt. 
V. Der Ursprung des Bösen. 1. Der Sinn der Frage nach dem Ur- 
sprung des Bösen. 2. Der Ursprung der sensiblen bösen Tat. 3. Der Ver- 
nunftursprung der intelligiblen bösen Tat. — VI. Die Sinnesänderung. 
]. Die Möglichkeit. 2. Die Art (Reformation oder Revolution?). 8. Durch 
eigene Kraft. 4. Folgen für die sittliche Bildung des Menschen. 6. Wert 
und Bedeutung der Lehre vom radikalen Bösen. — VII. Müssige 
Fragen. 1. Höhere Mitwirkung. 2. Theodizee. — Schlus.s. 1. Gesamt- 
eindruck. 2. Zerstreuung von Missverstftndnissen. 

Einleitung. 

Als der Königl. preussische Kousistorialrat Hillmer der 
Kantischen Abhandlimg über das radikale Böse das Imprimatur 
erteilte, that er es nur, weil er „nach sorgfältiger Durchlesung 
diese Schrift, wie die übrigen Kantischen, nur nachdenkenden, 
untersuchungs- und unterscheidungsfähigeu Gelehrten, nicht aber 
allen Lesern überhaupt bestimmt und geniessbar*" fand. So wenig 
Neigung ich habe, das Lob dieses Zensors zu singen, in dieser 
Einschätzung des schriftstellerischen Charakters des Aufsatzes 
hat er Recht, und hierin wenigstens stimmt er mit Kant selbst 
überein. Denn wenn Kant die Rel. i. d. Gr. d. bl. V. ein für 
das Publikum „unverständliches, verschlossenes Buch^ nannte 

20« 



304 Ö. Fittbogen, 

(Streit 24), so ist natürlich ihr erster Teil mit unter dies Urtd 
einbegriffen. Und ich wüsste nicht, was uns veranlassen sollte, 
in das überraschende Lob der „populären Sprache^, die der letzte 
Herausgeber an dieser Schrift entdeckt hat (Vorländer S. XLH), 
einzustimmen. Vielmehr, glaube ich, ist in der Hauptsache dies 
Buch nicht nur dem Publikum, sondern auch manchen Oelehrtea 
verschlossen geblieben. Vor allem gilt dies für die beiden Mittel- 
stücke der Bei. i. d. Gr. d. bl. V., die den Kern der phUoso- 
phischen Religionslehre enthalten, mit ihrem eigentümlich rätsel- 
haften Charakter.^) 

In etwas anderem Sinne gilt es aber auch von dem Stück 
über das radikale Böse. Zunächst muss das Missverstehen des 
Ganzen auch das volle Verstehen des Einzelnen hindern. Wich- 
tiger aber und stärker ist noch ein anderes Hemmnis: ich meine 
nicht die Schwierigkeit der Gedanken und die Oewondenheit des 
Stils, die man bei den meisten Eantischen Schriften in Kauf 
nehmen muss ; ich meine das Fehlen fast jeder Andeutung fiber 
den beabsichtigten Gedankenfortschritt. Wie oft mnss man sich 
beim Lesen fragen: was bedeutet das? ist es Wiederholung? oder 
etwas Neues? wie ist der Zusammenhang? Man liest die Worte 
und versteht ihren eigentlichen Sinn nicht. Man sieht zunächst 
nicht ein, wanim das Einzelne gerade an der Stelle steht, die es 
nun einmal einnimmt. Der Grund aber ist nicht Verworrenheit 
oder beginnende Altersschwäche des PhUosophen, sondern die Fälle 
und Kompaktheit der Gedanken: die Abhandlung enthält mehr, 
als sie ausspricht. Kant sagt nur, was er gefunden, nicht, wie er 
es gefunden hat; er giebt nur die Resultate seines Nachdenke 
ohne die Hilfsgedanken. Es ist, als ob man einem Führer auf 
unbekannten Wegen durch unbekannte Gegenden folgt — einem 
Führer, der uns wohl zum Ziele führt, der uns aber nicht einmal 
über den eingeschlagenen Weg aufzuklären für nötig hält, sondern 
es jedem überlässt, sich selbst zu orientieren, soweit er es ohne 
Anleitung vermag. Diesen Weg genau zu beschreiben, soll meine 
Aufgabe sein. Gelingt es, so ist damit das meiste für die 
Kenntnis des Gebietes des Kantischen Gedankenreiches, das wir 
durchwandern, gethan. 

^) Vgl. meinen Aufsatz „Kants Glaube. Versuch einer nenen 
Deutung*« in den „Protestantischen Monatsheften**, 1906, S. 102—115; 
127-140. 



Kants Lehre vom radikalen Bttsen. 305 

Vor dem Antritt der Wanderung ist der Ausgangspunkt zu 
bestimmen, d. h. der Ort, den die Lehre vom radikalen Bösen im 
Ganzen der Kantischen Religionslehre einnimmt. >) 

Hat die Religionslehre Kants, wie ich meine, zum Haupt- 
inhalt den Glauben an den Sieg des Sittlichguten im Einzelnen 
und in der Gesamtheit, so ist damit von selbst eine Lehre vom 
Bösen gefordert: als Gegensatz. Es muss eine reale Macht sein, 
ein Widersacher, dessen Überwindung nicht selbstverständlich und 
mühelos ist. Nur der Gegensatz verleiht der glaubenden Hoffnung 
Spannkraft und praktischen Wert; sonst sinkt sie bedeutungslos 
zu Boden. 

Damit ist gesagt: eine Lehre vom Bösen gehört notwendig 
in Kants Religionslehre. Und zweitens: sie ist nicht Hauptsache, 
aber Voraussetzung. Beides ist wichtig. Denn nun können wir 
von vornherein annehmen, dass ihr Kern genuin Kantisch ist, 
uicht etwa durch Akkommodation als Kompromiss mit dem Dogma 
der Landeskirche entstanden. Gelegentliche Anknüpfung an Dog- 
ma und Bibel wird ^icht den Zweck haben, Kants Auffassung der 



^) Die drei Spezialarbeiten von Paul (Kants Lehre vom radikalen 
Bösen. Ein Vergleich mit der Lehre der Kirche. Halle 1865), Schult- 
h e i 8 (Kants Lehre vom radikalen Bösen. Eine kritische Abhandlung (Diss.). 
Leipzig 1873), Stehr (Üher Immanuel Kant. Eine Untersuchung des 
ersten Stücks aus Immanuel Kants „Rel. i. d. Gr. d. bl. V." ein Weg, 
den Darwinismus mit der Religion wieder in Elinklang zu bringen. Han- 
nover 1883) behandeln das radikale Böse isoliert und tragen wenig dazu 
bei, diese Lehre in sich und ihrem Zusammenhange mit der übrigen Reli- 
f^onslehre Kants durchsichtig zu machen. — Kuno Fischer (Immanuel 
Kant und seine Lehre. 2. Teil. 4. Aufl. Heidelberg 1899. S. 889 ff.) 
stellt das Oanze unter den missverstftndlichen Gesichtspunkt des £r- 
lösungBgedankens. Schweitzer (Die Rehgionsphilosophie Kants von der 
Kritik der reinen Vernunft bis zur Rel. i. d. Gr. d. bL V. Freiburg, Leip- 
zig, Tübingen 1899. S. 101—119, 169—172} koppelt die Lehre vom radi- 
kalen Bösen zu eng mit der Behandlung des Freiheitsproblems in der Kr. 
d. pr. V. zusammen. Romundt (Kants philosophische Religionslehre eine 
Frucht der gesamten Vemunftkritik. Gotha 1902. S. 18 ff.) steUt zwar 
einen richtigeren Zusammenhang her, lässt aber gerade den wichtigsten 
und eigenartigsten Punkt der Lehre (den Hang zum Bösen) aus. — Erst 
nach Abschluss dieser Arbeit habe ich die Schrift von Oster mey er 
(Kants Lehre von dem bösen und guten Prinzip im Vergleich mit der 
christlichen Lehre von der Sünde und Erlösung. Königsberg 1906) ge- 
lesen. Sie legt, wie schon der Titel andeutet, mehr Wert auf Kritik als 
auf DarsteUung und macht eine genaue Interpretation der Lehre vom 
radikalen Bösen nicht im mindesten überflttasig. 



äO^ 0. Ewald, Die deutsche Philosophie im iäiae 190^. 

tisch und logisch zu untersuchen, und es mehren die Anzeu 
sich dafür, dass ähnliche Bestrebungen bereite im Oange s 
Von hier aus öffnet sich der Weg zur Metaphysik, die wohl i 
vorübergehendem Stillstand wieder energische Behandlung & 
wird: Dafür bürgt der Einfluss Kante und Goethes, die bc 
trotz ihres auf Realität und Erfahrung gerichteten Intellel 
überall auf transscendente Werte und Ideale hinweisen. 



Kants Lehre yom radikalen Bösen. 307 

Paradiese — und der Verfall ins physisch Böse mass damit 
gleichen Schritt halten — „zam Ärgern mit acceleriertem Falle 
eilen"" lassen, die seit Jahrtausenden immer gerade Jetzt"" den 
jüngsten Tag erwarten. Nicht undeutlich ist aber auch der Spott 
über die „heroische^ entgegengesetzte Meinung, >) „die wohl allein 
unter Philosophen, und in unsern Zeiten yornehmlich unter Päda- 
gogen, Platz gefunden hat""; die „sicherlich nicht aus der Erfahrung 
geschöpft"", sondern „vermutlich bloss eine gutmütige Voraussetzung 
der Moralisten"" ist; die von einem gesunden Leib auf eine gesunde 
(d. i. gute) Seele schliessen will — als ob das etwas miteinander 
zu thun hätte! Die das Gute gewissermassen als Naturprodukt 
auffasst, das aus einer natürlichen Grundlage von selbst erwächst. 

Warum geht Kant weiter, ohne diese Ansichten einer Wider- 
legung zu würdigen? Warum sieht er so verächtlich auf sie herab? 
Weil sie sich auf einem so tiefen Niveau bewegen, dass jede Ver- 
ständigung ausgeschlossen ist. Sie kranken beide an demselben 
ürundübel: der Verquickung des Physischen und Moralischen. 
Kant aber steht auf höherer Warte: er versucht eine Bestimmung 
des Guten und Bösen, die beides aus jeder Berührung des Sinnlichen 
heraushebt. Und während bisher alle Erklärungen des Bösen nicht 
darüber hinauskamen, es von einem Widerstreit der Sinnlichkeit 
mit der Vernunft herzuleiten (cf. auch Rel. S. Ö9 Anm.), erwächst 
ihm die schwierigere Aufgabe, das Böse als rein moralische, nicht 
sinnlich affizierte Grösse im Reich der Vernunft zu bestimmen: 
ein Konflikt in der Vernunft selbst.^) — Dass bei dieser 
Höhenlage des Problems auch der dritte Vorschlag unzureichend 
ist, wird sich bald zeigen. 

So erscheint Kant hier in seiner Lieblingsstellung: als der 
überlegene Schiedsrichter (cf. Paulsen, Kant S. 135). Er verdammt 
alle — und können wir erwarten, er gesteht jedem sein partielles 
Recht zu. 

2. Doch mit dieser Bestimmung der Höhenlage sind wir 
Kant vorausgeeilt; er selbst sagt kein Wort darüber, welche Stellung 
er diesen Versuchen gegenüber einnimmt Er wendet sich sofort 
der Bestimmung der Begriffe zu, die er im Anschluss an die zweite 
Überschrift «Über das radikale Böse in der menschlichen Natur"* 



1) Bei Ostermeyer (S. 4) wird Kants Stellang zu dieser „heroischen* 
Meinung nicht klar. 

>) Diese Pointe der Kantischen Lehre vom radikalen Bösen tritt bei 
Ostermeyer nicht dentlich tu Tage, 



304 



G. PUtbogen 



(Streit 24), so ist natürlich ihr erster Teil mit anter dies Uit 
einbegriffen. Und ich wüsste nicht, w&s ans Teranlasseo sollt 
in das überraschende Lob der „populären Sprache", die der letzt 
Herausgeber an dieser Schrift entdeckt hat (Vorländer S. XUS 
einzustimmen. Vielmehr, glaube ich, ist in der Hauptsache i 
Buch nicht nur dem Publikum, sondern auch manchen Gelehrt 
verschlossen geblieben. Vor allem gilt dies für die beiden MitM 
stücke der Bei. i. d. Or. d. bl. V., die den Kern der philu 
pLischen Religionslehre enthalten, mit ihrem eigentümlich rits 
haften Charakter.») 

In etwas anderem Sinne gilt es aber auch von dem StÜt 
über das radikale Böse. Zunächst muss das Missverstehen i 
Ganzen auch das volle Verstehen des Einzelnen hindern. WiA 
tiger aber und stärker ist noch ein auderes Hemmnis: leb tocJl 
nicht die Schwierigkeit der Gedanken und die Gewnndenheit i 
Stils, die man bei den meisten Kantischen Schriften in K« 
nehmen muss ; ich meine das fehlen fast jeder Andeutung üb« 
den beabsichtigten Gedankenfortschritt. Wie oft muss man sA 
beim Lesen fragen: was bedeutet das? ist es Wiederholung? odeC 
etwas Neues? wie ist der Zusammenhang? Man liest die W« 
und versteht ihren eigentlichen Sinn nicht. Man sieht zanScta 
nicht ein, warum das Elinzelue gerade an der Stelle steht, die 
nun einmal einnimmt. Der Grund aber ist nicht Venrorrmhl 
oder beginnende Altersschwäche des Philosophen, sondern di« Fffl 
und Kompaktheit der Gedanken: die Abhandlung enth&lt md 
als sie ausspricht. Kant sagt nur, was er gefunden, nicht, wi« 
es gefunden hat; er giebt nur die Resultate seines Nachdenke 
ohne die Hilfsgedanken. Gs ist, als ob man einem Führer i 
unbekannten Wegen durch unbekannte Gegenden folgt — eim 
Führer, der uns wohl zum Ziele führt, der uns aber nicht < 
über den eingeschlagenen Weg aufzuklären für nfitig hSJt. i 
es jedem überlässt, sieb selbst zu orientieren, soweit or os oi 
Anleitung vermag. Diesen Weg genau zu beschreibeu, aoll bh 
Aufgabe sein. Gelingt es, so ist damit das meiste für 
Kenntnis des Gebietes des Kantischeo Gedankenreiches, du 
durchwandern, getban. 



■) Vgl. 
Deutung" iti 
127- J 40. 



nen Anfaatz „Kants Ol&ube. Versunh Ainer 
nProt«atantisclien Moi»tiai«ftwt"^ iim, S.- 




Kants Lehre vom radikalen Bösen. 300 

dass sie auf gute MaximeD in ihm schliessen lassen. Wenn auch 
Kaut selbst diese Definition nicht ausdrücklich giebt, so setzt er 
sie doch au späteren Stelleu voraus (so gleich S. 19, 20). Sachlich 
ist sie unentbehrlich. Denn noch ist keine Entscheidung getroffen, 
ob das Urteil auf gut oder böse oder sonstwie lauten wird. Im 
Ansatz sind die Begriffe gut und böse gleichberechtigt. Und gerade 
diese y,doppelseitige Problemstellung^ ^) ist fOr Kant charakteristisch. 

Aber indem nun die Untersuchung sich zu so hohen Regionen 
erheben will, legt sich gleich zu Anfang eine Schwierigkeit in den 
Weg, die das ganze Unternehmen von vornherein zu vereiteln 
scheint. Denn bei dieser Auffassung des Guten und Bösen scheint 
jedes Urteil darüber unmöglich zu werden. Denn eme Handlung 
kann ich wohl beurteilen, weil die Erfahrung mir hier deutlich 
zeigt, ob sie gesetzwidrig ist, und bei mir selbst sogar verkündet, 
ob diese Gesetzwidrigkeit mit Bewusstsein geschehen ist. Darüber 
hinaus aber — worauf in dieser Untersuchung alles ankommen 
soll — reicht mein Urteil nicht: Denn „die Maximen kann man 
nicht beobachten, sogar nicht allemal in sich selbsf*. Also, scheint 
es, fehlt mir jedes Hilfsmittel, zu bestimmen, ob ein Mensch in 
dem oben festgesetzten Sinn gut oder böse (der Maxime nach) 
ist — und die Untersuchung muss aufhören, ehe sie eigentlich 
begonnen hat. 

Nur eine Möglichkeit giebt es, auf der die Hoffnung beruht, 
trotzdem einen Weg zu finden in das unzugängliche Gebiet der 
Maxime: vielleicht bietet die Methode des Rückschlusses von der 
Handlung auf die Maxime einen gangbaren und zuverlässigen 
Weg. Wie müsste ein solches Schlussverfi^ren aussehen? So: 
ich müsste zuerst eine gesetzwidrige Handlung wahrnehmen und 
konstatieren, dass sie mit Bewusstsein gesetzwidrig ist. Von 
hier müsste ich auf eine böse zum Grunde liegende Maxime 
schliessen können und von hier aus wieder weiter „auf einen in 
dem Subjekt allgemein liegenden Grund aller besonderen moralisch- 
bösen Maximen, der selbst wiederum Maxime ist''.^) Dürfte ich 
so schliessen, dann könnte ich ein berechtigtes Urteil über gut 
oder böse gewinnen. Aber es ist ein Schluss rein a priori, nicht 



1) Der Ausdruck ist von Schweitzer 104 ttbemommen. 

*) Was es mit dieser obersten Maxime auf sich hat, wird erst später 
klar werden. Hier müsste sie eingeführt werden, weü sonst die Möghch- 
keit offen bUebe, dass bei böser Einzelmaxime die oberste Maxime dennoch 
gut sein könnte. 



310 G. Fittbogen, 

auf Erfahrung gegründet, und das ist ja eben die Frage, ob ich 
zu diesem Schluss a priori berechtigt bin. Zunächst muss sie 
offen bleiben. 

Zwar wird sich bald zeigen, dass dieser Schluss berechtigt 
ist (darin liegt die Bedeutung der „rigoristischen'' Betrachtungs- 
weise). Aber wir merken, dass sich hier gleich auf der Schwelle 
die Schwierigkeit ankündigt, die uns noch öfter begegnen wird: 
das Verhältnis des Intelligiblen und Sensiblen in der moralischen 
Welt ist nicht einfach. Wird auch die Verbindung gefunden durch 
den Satz: „ist eine Handlung bewusst gesetzwidrig geschehen, so 
liegt ihr, darf ich a priori annehmen, eine böse Maxime (Einzel- 
wie oberste Maxime) zu Grunde^, so sind damit doch keineswegs 
alle Schwierigkeiten gehoben und alle Dunkelheiten gelichtet. 

b) Nun, nachdem der Begriff „böse'' hinreichend geklärt ist, 
ist die nächste Frage: Wo habe ich das Böse zu suchen? Darauf 
giebt die Überschrift die merkwürdige Antwort: in der mensch- 
lichen Natur. Das Böse in der Natur? Geht nicht das Böse, wie 
alles Moralische, aus der Freiheit hervor? und steht nicht Natur 
unter dem unfreien Zwang der Kausalität? Ist die Verbindung 
dieser Gegensätze nicht der bare Unsinn? — Gewiss, wenn „Natur'' 
seinen gewöhnlichen Sinn behält! Aber den soll es hier nicht 
haben; sondern wir verbinden damit einen ganz neuen Sinn. Der 
Ausdruck „Natur" des Menschen nämlich heisst hier: „Der sub- 
jektive Grund des Gebrauchs seiner Freiheit überhaupt (unter 
objektiven moralischen Gesetzen), der vor aller in die Sinne 
fallenden Tat vorhergeht" — dieser Grund mag nun liegen, worin 
er wolle. ^) „Natur" hat also in diesem Zusammenhang so wenig 
mit dem, was sonst Natur heisst, gemein, dass sie sogar ins Reich 
der Freiheit^) gehört! — Aber warum wählt Kant dafür den 



1) Schon in der Kr. d. pr. V. 53 hat Kant im Gegensatz znr „sinn- 
lichen Natur^ den Begriff einer „übersinnlichen Nator^ gebildet: eine 
„Natur" unter dem moralischen Gesetz. Natur also lediglich als Formal- 
begriff. 

^ Die Freiheitsidee spielt in der Untersuchung über das radikale 
Böse eine grosse RoUe. Aber sie ist nicht, wie Schweitzer zu meinen 
scheint, Gegenstand der Untersuchung, sondern Voraussetzung. Wie 
sie möglich ist, ist in diesem Zusammenhang gleichgtUtig; hier kommt sie 
nur in Betracht, soweit sie ins Oebiet der praktischen Vernunft fiUlt. 
„Der praktische Begriff der Freiheit hat in der Tat mit dem spekalaÜTeni 
der den Metaphysiken) gänaUoh überlassen bleibt, gar nichts zu tun. Denn 
woher mir ursprünglich der Zustand, in welchem ich jetzt handeln aoU, 



Kants Lehre vom radikalen Bttsen. 311 

Namen Natur? Weil die Sprache Dicht ausreicht, die Feinheit 
dieses Begriffes wiederzugeben. Ist der Ausdruck also zweifellos 
nicht sehr glücklich, so liegt das nicht an Kant, sondern an der 
Schwierigkeit des Begriffs und der Unfähigkeit der Sprache, ihn 
auszudrücken: uns zwingt das um so mehr zur Aufmerksamkeit 
auf das, was damit gesagt sein soll. £rkennt man diese in der 
Sache selbst liegende Unmöglichkeit einer völlig adäquaten Aus- 
drucksweise an, so kann man gegen die Übertragung einer Be- 
zeichnung aus der sinnlichen Natur auf etwas Analoges in der 
„übersinnlichen^, in der „freien Natur"" nichts einwenden. Dies 
Analogon liegt hier darin, dass die „Natur"" (im höheren Sinne) 
etwas ist, das „vor aller in die Sinne fallenden Tat vorhergeht"". 
„Natur*" ist nur Formalbegriff. Inhaltlich haben die beiden ver- 
schiedenen „Naturen"" nichts mit einander gemein. Gerade ihre 
wesentlichsten Merkmale sind verschieden. Während Natur im 
physischen Sinne das Gegebene bezeichnet, kann es im höheren 
Sinne nur Erworbenes bedeuten; denn im Reich der Freiheit giebt 
es nichts Gegebenes. Die „freie"" Natur also, folgt daraus, muss 
im Gegensatz zur sinnlichen Natur immer wieder „selbst ein Aktus 
der Freiheit"" sein. Und weiter folgt: der Grund des Bösen wie 
des Guten kann in keinem die Willkür durch Neigung be- 
stimmenden Objekte, in keinem Naturtriebe liegen, sondern nur 
„in einer Regel, die die Willkür sich selbst für den Gebrauch ihrer 
Freiheit macht, d. i. in einer Maxime"". Und auch der Grund der 
Annehmung dieser Maxime kann nicht aus einer (Natur-)Ursache 
stammen, sondern aus der vollen Freiheit. Wenn also Kant den 
Menschen „von Natur"" gut oder böse nennt, so will er damit nur 
sagen: der Mensch enthält einen ersten Grund der Annehmung 
guter oder böser Maximen, der auf moralischem Gebiet liegend 
und aus Freiheit stammend vor aller in die Sinne fallenden Tat 
vorhergeht. 



^kommen sei, kann mir ganz gleichgültig sein , ich frage nnr, was ich sn 
thnn habe, und da ist die Freiheit eine — notwendige praktische Voraus- 
setsung und eine Idee, unter der aUein ich die Gebote der Vernunft als 
gflltig ansehen kann^ (in der Recension über Schulz* Versuch einer An- 
leitung zur — fatalistischen Sittenlehre; R. Seh. VII, 141). Die Freiheit 
also gilt hier nicht als Problem, sondern als Tatsache. Das Problem 
ist vielmehr: wie ist bei vorhandener Freiheit (d. i. der eigenen 
G^esetzgebung der reinen praktischen Vernunft — cf. Kr. d. pr. V. 39) 
doch das Böse möglich, ohne dass eins da9 andere aufhebt? 



312 G. Fittbogen, 

£iiis nur können wir von diesem ersten Onind der Annehmiing 
moralischer Maximen schon voraussehen: Da nämlich dieser Gmnd 
in einer Maxime gesucht werden muss, und diese wiedenun keinen 
andenm Bestimmungsgrund haben kann als auch eine Maxime, so 
wird der Fragende „in der Reihe der subjektiven Bestimmong»- 
grUnde ins Unendliche immer weiter zuriickgewiesen'^, ^ohne aaf 
den ersten Grund kommen zu können"* (Anmeldung auf S. 19). 
bis bleibt also nichts übrig als im Angesicht dieses regressns in 
infiuitnm^) zu gestehen, ^dass der erste subjektive Omnd der 
Anuehmung moralischer Maximen unerforschlich sei.** Dies ist 
der &usserste Punkt, bis zu dem die Begriftsbestimmnng mehr hin- 
blicken als gelangen kann. 

Ganz zuletzt fügt Kant — wie selbstverstlndlich — noch 
ein neues Merkmal zu dem bei, was er anter ^Natnr'' verstehen 
will ; dass nimlich das als Inhalt des Begri^ «Natur* Entwickelte 
vom Meiischen gelten soll «allgemein als Mensch, mithin so, dass 
er durv^h dieselbe — n&mUch die Annehmung der guten odo* höeea 
Maxime — zugleich den Charakter seiner Gattimg ansdrodil* 
^Kei :)0X Diese Bestimmung kkq^pt nach md hat kdnen inneren 
Zasanmenhaog mit dem bisher Entwickehaii. in den es sidi stets 
nar moi den Menschen als Einzelwesen handelte. Sie bringt 
lalsiclLticIi ein ganz neues Mcnenu den Gattmagscharakter, 
der hier ve« Gnlen mnd K^sen hjpothetKch gilL — Dass hier 
etwas Ne«es eioxeführt wir^. war wv>hl for Kant darch des üb- 
slaad TerhikUi« dass gerade diese Besrimwing noch aa enten 
eiwas WHi ^Natar^ ioa val^riren Sume an sich trigt; md vea 
Kant ist sie wohl aach ais selbsiverstiii^ilkh hkrmai 
wickell*^ la Wirktichkeu alsi> bedeocei „>^at«r^ ta 

Siaae sweiertet: t. jea itJierfN:sc&&'heft «nsen G^raad der 



ut ii»r 2«tt( !^n^c«f<Ki v^^RMii^ 4ceist*Hkc wtf^ svQiiera jucn sock 



^ants Lehre vom radikalen Bösen. 313 

Annehmung moralischer Maximen im einzelnen Menschen, 2. den 
Gattnngscharakter. 

Kant ist — das ist wohl keine zu gewagte Hypothese — in 
seiner Oedankenentwickelung vermutlich ursprünglich von dem 
Gattnngscharakter des Bösen ausgegangen und hat dafür den 
Ausdruck „Natur** angewandt. Bei der tieferen Durchdenkung 
des Problems aber wurde die Frage nach der Allgemeinheit zu- 
rückgedrängt durch die wichtigere Frage nach Ursprung und Mög- 
lichkeit Der Ausdruck ,,Natur" ist dann auch hierauf ausgedehnt 
und beide Fragen, so unter das Notdach eines gemeinsamen 
Namens gebracht, als enger zusammenhängend empfunden, als sie 
es wirklich sind. Denn gerade bei der Kantischen Gedanken- 
bUdung ist ihr Zusammenhang nicht selbstverständlich, sondern 
selbst wieder ein Problem: wie ist bei der Freiheit die All- 
gemeinheit erklärlich, ohne die Freiheit aufzuheben? 

Der Abschluss der Begriffsbestimmung bringt nichts eigent- 
lich Neues mehr, nur einen bequemeren Ausdruck. Die physische 
Natur heisst „angeboren^; so lag es nahe, auch die übersinnliche 
Natur so zu nennen. Passend scheint dieser Ausdruck besonders 
deswegen, weil die übersinnliche Natur „vor allem in der Er- 
fahrung gegebenen Gebrauche der Freiheit zum Grunde gelegt 
wird". Zu denken haben wir uns also dasselbe wie vorhin; vor 
allem, dass der Mensch selbst Urheber dieser „angeborenen'' Natur 
ist. Und um alles Missverständnis auszuschliessen, weist Kant 
noch ausdrücklich darauf hin, dass dieser angeborene moralische 
Charakter^) im Menschen zwar mit der Geburt zugleich vorhanden, 
nicht aber durch die Geburt verursacht sei. 

3. Nachdem nunmehr die Begriffe festgestellt sind, mit 
denen gearbeitet werden muss, kann versucht werden, das Problem 
auf eine bestimmte Fragestellung zuzuspitzen (geschieht in der 
„Anmerkung" zur Einleitung Rel. 20 — 24). 

Zwei Hauptbetrachtungsweisen giebt es: der reinlichen 
Scheidung zwischen gut und böse — und der Vermittelung. Und 



1) Was übrigens mag die Klammer (in der ersten bis dritten Zeile 
dieses letzten Abschnittes, S. 80) bedeuten, welche die menschlichen 
Charaktere als (solche) Charaktere „der Unterscheidung des Menschen von 
anderen möglichen vernünftigen Wesen*' bezeichnet? Praktischen 
Wert scheint sie nicht zu haben. 



306 G. Fittbogen, 

kirchlich-christlichea anzunähern; sie wird nur zur „Introduktion'' 
dienen sollen, indem sie dieser Lehre der reinen Vemunftreligion 
sinnliche Hüllen leiht. Und ferner wissen wir nun: der Hanpt- 
accent der Kantischeu Religionslehre ruht nicht auf der Konsta- 
tierung und Beschreibung der menschlichen Bösartigkeit, sondern 
auf der Begründung des Glaubens an das sieghafte Oute. Sein 
Streben ist darauf gerichtet, in der Ausgestaltung der Lehre bei 
dem endlichen Sieg des Guten doch das Böse nicht zur Be- 
deutungslosigkeit herabzudrücken. 

Nun zum radikalen Bösen selbst! 



L Das Problem. 

Schreitet man zur Beantwortung einer problematischen Frage, 
so trägt es zur Klarheit und zur Erleichterung der eigenen Ent- 
scheidung bei, wenn man sich die bisher gemachten Lösungsver- 
suche vergegenwärtigt. Unbedingt notwendig aber ist es, die 
Mittel und Voraussetzungen, die einem zu Gebote stehen, genau 
festzustellen und zu prüfen, und schliesslich das Problem auf eine 
bestimmte Fragestellung zu bringen. Damit beginnt auch Kant; 
die ganze (überschriftlose) Einleitung mit ihrer ausführlichen An- 
merkung (R. 17 — 24)^) ist dieser Aufgabe gewidmet. 

1. An die Spitze stellt Kant den Überblick über die ver- 
suchten Lösungen. — Gegen die älteste und verbreiteste Meinung, 
„dass die Welt im Argen liege'' und es mit ihr immer schlimmer 
werde, hat sich die neuere des Optimismus erhoben mit der ent- 
gegengesetzten Behauptung, dass die Welt „vom Schlechten zum 
Bessern unaufhörlich (obgleich kaum merklich) fortrücke''. Und 
beiden gegenüber meldet sich die überlegene Frage: „ob nicht ein 
Mittleres wenigstens möglich sei, nämlich: dass der Mensch in 
seiner Gattung weder gut noch böse; oder allenfalls auch eines 
sowohl als das andere, zum Teil gut, zum Teil böse sein könne?" 

Das Merkwürdige an diesem Verhör ist nicht der Inhalt, 
sondern der Ton. Versucht man nämlich herauszuhören, auf welcher 
Seite die Sympathie Kants mitklingt, so muss man gestehen: auf 
kemer. Deutiich klingt der Spott über die wehklagenden Pessimisten 
hindurch, die den „Verfall ins Böse" aus dem ursprünglichen 



») Die Zitate gebe ich nach der Reklamschen Ausgabe der „ReL i. 
d. Gr. d. bl V.** 



Kants Lehre vom radikalen Bteen. 307 

Paradiese — und der Verfall ins physisch Böse mnss damit 
gleichen Schritt halten — „zum Ärgern mit acceleriertem Falle 
eilen^ lassen, die seit Jahrtausenden immer gerade Jetzt** den 
jüngsten Tag erwarten. Nicht undeutlich ist aber auch der Spott 
über die „heroische** entgegengesetzte Meinung, >) „die wohl allein 
unter Philosophen, und in unsem Zeiten vornehmlich unter Päda- 
gogen, Platz gefunden hat**; die „sicherlich nicht aus der Erfahrung 
geschöpft**, sondern „vermutlich bloss eine gutmütige Voraussetzung 
der Moralisten** ist; die von einem gesunden Leib auf eine gesunde 
(d. i. gute) Seele schliessen will — als ob das etwas miteinander 
zu thun hätte! Die das Oute ge Wissermassen als Naturprodukt 
auffasst, das aus einer natürlichen Grundlage von selbst erwächst. 

Warum geht Kant weiter, ohne diese Ansichten einer Wider- 
legung zu würdigen? Warum sieht er so verächtlich auf sie herab? 
Weil sie sich auf einem so tiefen Niveau bewegen, dass jede Ver- 
ständigung ausgeschlossen ist. Sie kranken beide an demselben 
tirundübel: der Verquickung des Physischen und Moralischen. 
Kant aber steht auf höherer Warte: er versucht eine Bestimmung 
des Outen und Bösen, die beides aus jeder Berührung des Sinnlichen 
heraushebt. Und während bisher alle Erklärungen des Bösen nicht 
darüber hinauskamen, es von einem Widerstreit der Sinnlichkeit 
mit der Vernunft herzuleiten (cf. auch Rel. S. Ö9 Anm.), erwächst 
ihm die schwierigere Aufgabe, das Böse als rein moralische, nicht 
sinnlich affizierte Grösse im Reich der Vernunft zu bestimmen: 
ein Konflikt in der Vernunft selbst.«) — Dass bei dieser 
Höhenlage des Problems auch der dritte Vorschlag unzureichend 
ist, wird sich bald zeigen. 

So erscheint Kant hier in seiner Lieblingsstellung: als der 
überlegene Schiedsrichter (cf. Paulsen, Kant S. 135). Er verdammt 
alle — and können wir erwarten, er gesteht jedem sein partielles 
Recht zu. 

2. Doch mit dieser Bestimmung der Höhenlage sind wir 
Kant Toraosgeeilt; er selbst sagt kein Wort darüber, welche Stellung 
er diesen Versuchen gegenüber einnimmt. Er wendet sich sofort 
der Bestimmung der Begriffe zu, die er im Anschluss an die zweite 
Überschrift «Über das radikale Böse in der menschlichen Natur"* 



1) Bei Ostermeyer (S. 4) wird Kants SteUmig zu dieser „heroischen« 
Meinimg nicht klar. 

S) Diese Pointe der Kantischen Lehre vom radikalen Bösen tritt bei 
Oüftenaejer nieht deutlich zu Tage, 



308 G. Fittbogen, 

entwickelt. Haben wir die Sphäre, in der sich die Untersachang 
bewegen wird, richtig erkannt, so muss — können wir erwarten — 
dieses sein philosophisches Handwerkzeug anders aussehen als das 
der in empirischen Tiefen arbeitenden Fachgendssen. 

a) Der wichtigste Begriff in einer Untersuchung übers Böse 
ist das Böse selbst. Was bedeutet das Prädikat böse, das wir 
auf einen Menschen anwenden? Weshalb heisst ein Mensch „böse**? 
„Nicht darum, weil er Handlungen ausübt, welche böse (gesetz- 
widrig) sind; sondern weil diese so beschaffen sind, dass sie auf 
böse Maximen^) in ihm schliessen lassen.** Zweierlei ist damit 
gegeben: Erstens der Gegensatz von Handlung und Maxime. 
Dadurch wird die Höhenlage der Untersuchung ebenso bestimmt, 
wie wir es vorgreifend getan hatten: Das Böse unabhängig von 
allem Empirischen, das der in der Zeit geschehenen Handlung 
notwendig anhaftet, rein an sich betrachtet — nicht das Böse in 
der Erscheinung, sondern das Böse an sich.^ Zweitens: Die 
Oleichsetzung von böse und gesetzwidrig. Besteht das Böse im 
Widerspruch gegen das Gesetz, so ist die Voraussetzung des Bösen 
die Existenz des Gesetzes: 3) Denn ohne Gesetz kein Widersprach 
dagegen. Zugleich ist aber auch das Gute gegeben, als Zusümmong 
zum Gesetz. Und es folgt die Paralleldefinition des Guten: Out 
heisst ein Mensch nicht darum, weil er Handlungen ausübt, welche 
gut (gesetzmässig)^) sind, sondern weil diese so beschaffen sind, 

1) Was „Maxime^ ist, wird aus der Er. d. pr. V. vorausgesetzt; doch 
findet sich gleich auf der nächsten Seite (19) eine gelegentliche Erklftnmg: 
sie ist eine „Regel, die die Willkür sich selbst für den Gebrauch ihrer 
Freiheit macht^. Ist übrigens damit der Unterschied von Regel nud 
Maxime (aus § 1 der Kr. d. pr. V.) aufgehoben? wohl als belanglos 
ignoriert. 

*) Übrigens hält sich Kant nicht streng an diese Begriffsbestimmtuig. 
Er wendet den Ausdruck „böse** auch auf Handlungen an. .BOm*^ hat 
bei ihm also doppelten Sinn : den vulgär-populären und den von ihm ipe- 
ziell geprägten. 

^ In der Kr. d. pr. V. 76 ist dies als Fundamentalsatz — scheinbar 
paradoxer Art ausgesprochen: „Dass nämlich der Begriff des Guten nud 
Bösen nicht vor dem moralischen (den er dem Anschein nach sogar 
zu Grunde gelegt werden müsste), sondern nur (wie hier auch geschieht) 
nach demselben und durch dasselbe bestimmt werden müsse.** 

*) Den Ausdruck „gesetzmässig^, den ich des Parallelismas wegen 
beigefügt habe, hätte Kant, obwohl er sachlich richtig ist, wohl nicht ge- 
braucht; er vermeidet es z. B. auf S. 19>-20, wo es durch den ^mcheB 
Gegensatz gefordert scheint (8. 20, Zeile 1). Er wollte keinen Anitas war 
Verwechselung mit dem anders gearteten nlegal** geben. 



Kants Lehre vom radikalen Bösen. 300 

dass sie aaf gute Maximen in ihm schliesseu lassen. Wenn auch 
Kant selbst diese Definition nicht ausdrücklich giebt, so setzt er 
sie doch an späteren Stellen voraus (so gleich S. 19, 20). Sachlich 
ist sie unentbehrlich. Denn noch ist keine Entscheidung getroffen, 
ob das Urteil auf gut oder böse oder sonstwie lauten wird. Im 
Ansatz sind die Begriffe gut und böse gleichberechtigt. Und gerade 
diese y,doppelseitige Problemstellung'' ^) ist fOr Kant charakteristisch. 

Aber indem nun die Untersuchung sich zu so hohen Regionen 
erheben will, legt sich gleich zu Anfang eine Schwierigkeit in den 
Weg, die das ganze Unternehmen von vornherein zu vereiteln 
scheint. Denn bei dieser Auffassung des Guten und Bösen scheint 
jedes Urteil darüber unmöglich zu werden. Denn eine Handlung 
kann ich wohl beurteilen, weil die Erfahrung mir hier deutlich 
zeigt, ob sie gesetzwidrig ist, und bei mir selbst sogar verkündet, 
ob diese Gesetzwidrigkeit mit Bewusstsein geschehen ist. Darüber 
hinaus aber — worauf in dieser Untersuchung alles ankommen 
soll — reicht mein Urteil nicht: Denn „die Maximen kann man 
nicht beobachten, sogar nicht allemal in sich selbsf*. Also, scheint 
es, fehlt mir jedes Hilfsmittel, zu bestimmen, ob ein Mensch in 
dem oben festgesetzten Sinn gut oder böse (der Maxime nach) 
ist — und die Untersuchung muss aufhören, ehe sie eigentlich 
begonnen hat. 

Nur eine Möglichkeit giebt es, auf der die Hoffnung beruht, 
trotzdem einen Weg zu finden in das unzugängliche Gebiet der 
Maxime: vielleicht bietet die Methode des Rückschlusses von der 
Handlung auf die Maxime einen gangbaren und zuverlässigen 
Weg. Wie müsste ein solches Schlussverfi^ren aussehen? Su: 
ich müsste zuerst eine gesetzwidrige Handluiig wahrnehmen und 
konstatieren, dass sie mit Bewusstsein gesetzwidrig ist. Von 
hier müsste ich auf eine böse zum Grunde liegende Maxime 
schliessen können und von hier aus wieder weiter „auf einen in 
dem Subjekt allgemein liegenden Grund aUer besonderen moralisch- 
bösen Maximen, der selbst wiederum Maxime ist".^) Dürfte ich 
so schliessen, dann könnte ich ein berechtigtes Urteil über gut 
oder böse gewinnen. Aber es ist ein Schluss rein a priori, nicht 



1) Der Ausdruck ist von Schweitzer 104 übernommen. 

*) Was es mit dieser obersten Maxime auf sich hat, wird erst später 
«klar werden. Hier müsste sie eingeführt werden, weü sonst die Möglich- 
keit offen bliebe, dass bei böser Einzelmaxime die oberste Maxime dennoch 
gut sein könnte. 



310 G. Fittbogen, 

auf Erfahrung gegründet, und das ist ja eben die Frage, ob ich 
zu diesem Schluss a priori berechtigt bin. Zunächst rnuss sie 
offen bleiben. 

Zwar wird sich bald zeigen, dass dieser Schluss berechtigt 
ist (darin liegt die Bedeutung der „rigoristischen'' Betrachtungs- 
weise). Aber wir merken, dass sich hier gleich auf der Schwelle 
die Schwierigkeit ankündigt, die uns noch öfter begegnen wird: 
das Verhältnis des Intelligiblen und Sensiblen in der moralischen 
Welt ist nicht einfach. Wird auch die Verbindung gefanden durch 
den Satz: „ist eine Handlung bewusst gesetzwidrig geschehen, so 
liegt ihr, darf ich a priori annehmen, eine böse Maxime (Einzel- 
wie oberste Maxime) zu Grunde^, so sind damit doch keineswegs 
alle Schwierigkeiten gehoben und alle Dunkelheiten gelichtet. 

b) Nun, nachdem der Begriff „böse'' hinreichend gekl&rt ist, 
ist die nächste Frage: Wo habe ich das Böse zu suchen? Darauf 
giebt die Überschrift die merkwürdige Antwort: in der mensch- 
lichen Natur. Das Böse in der Natur? Oeht nicht das Böse, wie 
alles Moralische, aus der Freiheit hervor? und steht nicht Natur 
unter dem unfreien Zwang der Kausalität? Ist die Verbindung 
dieser Gegensätze nicht der bare Unsinn? — Gewiss, wenn „Natur* 
seinen gewöhnlichen Sinn behält! Aber den soll es hier nicht 
haben; sondern wir verbinden damit einen ganz neuen Sinn. Der 
Ausdruck „Natur** des Menschen nämlich heisst hier: „Der sub- 
jektive Grund des Gebrauchs seiner Freiheit überhaupt (unter 
objektiven moralischen Gesetzen), der vor aller in die Sinne 
fallenden Tat vorhergeht** — dieser Grund mag nun liegen, worin 
er wolle. ^) „Natur** hat also in diesem Zusammenhang so wenig 
mit dem, was sonst Natur heisst, gemein, dass sie sogar ins Reich 
der Freiheit^) gehört! — Aber warum wählt Kant dafür den 



^) Schon in der Kr. d. pr. V. 53 hat Kant im G^egensatz sur „sinii- 
lichen Natur^ den Begriff einer „übersinnlichen Natur** gebUdet: eine 
„Nator^ unter dem moralischen Gesetz. Natur also lediglich als Formal- 
begriff. 

^ Die Freiheitsidee spielt in der Untersuchung über das radikale 
Böse eine grosse Rolle. Aber sie ist nicht, wie Schweitzer zu meinea 
scheint, Gegenstand der Untersuchung, sondern Voraussetzung. Wie 
sie möglich ist, ist in diesem Zusammenhang gleichgültig; hier kommt sie 
nur in Betracht, soweit sie ins Gebiet der praktischen Vernunft ftUt 
„Der praktische Begriff der Freiheit hat in der Tat mit dem spekulatiTeni 
der den Metaphysikem gänzlich überlassen bleibt, gar nichts su ton. Den 
woher mir ursprünglich der Zustand, in welchem ich jetit handeln •oD» 



Kants Lehre vom radikalen Bösen. 311 

Namen Natur? Weil die Sprache nicht ausreicht, die Feinheit 
dieses Begriffes wiederzugeben. Ist der Ausdruck also zweifellos 
nicht sehr glücklich, so liegt das nicht an Kant, sondern an der 
Schwierigkeit des Begriffs und der Unfähigkeit der Sprache, ihn 
auszudrücken: uns zwingt das um so mehr zur Aufmerksamkeit 
auf das, was damit gesagt sein soll. £rkennt man diese in der 
Sache selbst liegende Unmöglichkeit einer völlig adäquaten Aus- 
drucksweise an, so kann man gegen die Übertragung einer Be- 
zeichnung aus der sinnlichen Natur auf etwas Analoges in der 
^übersinnlichen^, in der „freien Natur *" nichts einwenden. Dies 
Analogen liegt hier darin, dass die „Natur^ (im höheren Sinne) 
etwas ist, das „vor aller in die Sinne fallenden Tat vorhergeht". 
„Natur* ist nur Formalbegriff. Inhaltlich haben die beiden ver- 
schiedenen „Naturen" nichts mit einander gemein. Gerade ihre 
wesentlichsten Merkmale sind verschieden. Während Natur im 
physischen Sinne das Gegebene bezeichnet, kann es im höheren 
Sinne nur Erworbenes bedeuten ; denn im Reich der Freiheit giebt 
es nichts Gegebenes. Die „freie" Natur also, folgt daraus, muss 
im Gegensatz zur sinnlichen Natur immer wieder „selbst ein Aktus 
der Freiheit" sein. Und weiter folgt: der Grund des Bösen wie 
des Guten kann in keinem die Willkür durch Neigung be- 
stimmenden Objekte, in keinem Naturtriebe liegen, sondern nur 
„in einer Regel, die die Willkür sich selbst für den Gebrauch ihrer 
Freiheit macht, d. i. in einer Maxime". Und auch der Grund der 
Annehmung dieser Maxime kann nicht aus einer (Natur-)Ursache 
stammen, sondern aus der vollen Freiheit. Wenn also Kant den 
Menschen „von Natur" gut oder böse nennt, so will er damit nur 
sagen: der Mensch enthält einen ersten Grund der Annehmung 
guter oder böser Maximen, der auf moralischem Gebiet liegend 
und aus Freiheit stammend vor aller in die Sinne fallenden Tat 
vorhergeht. 



gekommen sei, kann mir ganz gleichgültig sein , ich frage nur, was ich zu 
thun habe, und da ist die Freiheit eine — notwendige praktische Voraus- 
setzung und eine Idee» unter der allein ich die Gebote der Vernunft als 
gflltig ansehen kann'' (in der Recension über Schulz' Versuch einer An- 
leitung zur — fatalistischen Sittenlehre; R. ScIl VH, 141). Die Freiheit 
also gilt hier nicht als Problem, sondern als Tatsache. Das Problem 
ist vielmehr: wie ist bei vorhandener Freiheit (d. i. der eigenen 
G^esetEgebung der reinen praktischen Vernunft — cf. Kr. d. pr. V. 39) 
doch das Böse möglich, ohne dass eins da9 »ndere »ufhebt? 



306 G. Fittbogen, 

kirchlich-christlichen aDZUüähem; sie wird nur zur „Introdaktion" 
dienen sollen, indem sie dieser Lehre der reinen VemunftreligMm 
sinnliche Hüllen leiht. Und ferner wissen wir nun: der Haupt- 
accent der Eantischen Religionslehre ruht nicht auf der Konsta- 
tierung und Beschreibung der menschlichen Bösartigkeit, sondem 
auf der Begründung des Glaubens an das sieghafte Gute. Sm 
Streben ist darauf gerichtet, in der Ausgestaltung der Lehre bei 
dem endlichen Sieg des Guten doch das Böse nicht zur Be- 
deutungslosigkeit herabzudrücken. 

Nun zum radikalen Bösen selbst! 



L Das Problem. 

Schreitet man zur Beantwortung einer problematischen Frage, 
so trägt es zur Klarheit und zur Erleichterung der eigenen Ent- 
scheidung bei, wenn man sich die bisher gemachten Lösungsrer- 
suche vergegenwärtigt. Unbedingt notwendig aber ist es, die 
Mittel und Voraussetzungen, die einem zu Gebote stehen, genau 
festzustellen und zu prüfen, und schliesslich das Problem auf eine 
bestimmte Fragestellung zu bringen. Damit beginnt auch Kant; 
die ganze (überschriftlose) Einleitung mit ihrer ausführlichen An- 
merkung (R. 17 — 24)^) ist dieser Aufgabe gewidmet. 

1. An die Spitze stellt Kant den Überblick über die ver- 
suchten Lösungen. — Gegen die älteste und verbreiteste Meinung, 
„dass die Welt im Argen liege^ und es mit ihr immer schlimmer 
werde, hat sich die neuere des Optimismus erhoben mit der ent- 
gegengesetzten Behauptung, dass die Welt „vom Schlechten zun 
Bessern unaufhörlich (obgleich kaum merklich) fortrücke''. Und 
beiden gegenüber meldet sich die überlegene Frage: „ob nicht ein 
Mittleres wenigstens möglich sei, nämlich: dass der Mensch in 
seiner Gattung weder gut noch böse; oder allenfalls auch eines 
sowohl als das andere, zum Teil gut, zum Teil böse sein könne?*" 

Das Merkwürdige an diesem Verhör ist nicht der Inhalt, 
sondern der Ton. Versucht man nämlich herauszuhören, auf welcher 
Seite die Sympathie Kants mitklingt, so muss man gestehen: aof 
keiner. Deutlich klingt der Spott über die wehklagenden Pessimisten 
hindurch, die den „Verfall ins Böse^ aus dem ursprünglichen 



^) Die Zitate gebe ich nach der Eeklamschen Ausgabe der ,fieL i* 
d. Gr. d. bl. V.** 



Kants Lehre yom radikalen Bösen. 307 

Paradiese — und der Verfall ins physisch Böse muss damit 
gleichen Schritt halten — „zum Ärgern mit acceleriertem Falle 
eilen"" lassen, die seit Jahrtausenden immer gerade Jetzt*" den 
jüngsten Tag erwarten. Nicht undeutlich ist aber auch der Spott 
über die „heroische" entgegengesetzte Meinung,") „die wohl allein 
unter Philosophen, und in unsern Zeiten vornehmlich unter Päda- 
gogen, Platz gefunden hat"; die „sicherlich nicht aus der Erfahrung 
geschöpft", sondern „vermutlich bloss eine gutmütige Voraussetzung 
der Moralisten" ist; die von einem gesunden Leib auf eine gesunde 
(d. i. gute) Seele schliessen will — als ob das etwas miteinander 
zu thun hätte! Die das Gute gewissermassen als Naturprodukt 
auffasst, das aus einer natürlichen Grundlage von selbst erwächst. 

Warum geht Kant weiter, ohne diese Ansichten einer Wider- 
legung zu würdigen? Warum sieht er so verächtlich auf sie herab? 
Weil sie sich auf einem so tiefen Niveau bewegen, dass jede Ver- 
ständigung ausgeschlossen ist. Sie kranken beide an demselben 
Gruudübel: der Verquickung des Physischen und Moralischen. 
Kant aber steht auf höherer Warte: er versucht eine Bestimmung 
des Guten und Bösen, die beides aus jeder Berührung des Sinnlichen 
heraushebt. Und während bisher alle Erklärungen des Bösen nicht 
darüber hinauskamen, es von einem Widerstreit der Sinnlichkeit 
mit der Vernunft herzuleiten (cf. auch Rel. S. 59 Anm.), erwächst 
ihm die schwierigere Aufgabe, das Böse als rein moralische, nicht 
sinnlich affizierte Grösse im Reich der Vernunft zu bestimmen: 
ein Konflikt in der Vernunft selbst.*) — Dass bei dieser 
Höhenlage des Problems auch der dritte Vorschlag unzureichend 
ist, wird sich bald zeigen. 

So erscheint Kant hier in seiner Lieblingsstellung: als der 
überlegene Schiedsrichter (cf. Paulsen, Kant S. 135). Er verdammt 
alle — - und können wir erwarten, er gesteht jedem sein partielles 
Recht zu. 

2. Doch mit dieser Bestimmung der Höhenlage sind wir 
Kant vorausgeeilt; er selbst sagt kein Wort darüber, welche Stellung 
er diesen Versuchen gegenüber einnimmt, fk* wendet sich sofort 
der Bestimmung der Begriffe zu, die er im Anschluss an die zweite 
Überschrift „Über das radikale Böse in der menschlichen Natur'' 



1) Bei Ostermeyer (S. 4) wird Kants Stellung zu dieser ^heroischen'' 
lieinung nicht klar. 

>) Diese Pointe der Kantischen Lehre vom radikalen Bösen tritt bei 
Ostermeyer nicht deutlich zu Tage« 



308 G. Fittbogen, 

entwickelt. Haben wir die Sphäre, in der sich die Untersnchung 
bewegen wird, richtig erkannt, so muss — können wir erwarten — 
dieses sein philosophisches Handwerkzeug anders aussehen als das 
der in empirischen Tiefen arbeitenden Fachgenossen. 

a) Der wichtigste Begriff in einer Untersuchung übers Böse 
ist das Böse selbst. Was bedeutet das Prädikat böse, das wir 
auf einen Menschen anwenden? Weshalb heisst ein Mensch „böse*? 
„Nicht darum, weil er Handlungen ausübt, welche böse (gesett 
widrig) sind; sondern weil diese so beschaffen sind, dass sie auf 
böse Maximen^) in ihm schliessen lassen.** Zweierlei ist damit 
gegeben: Erstens der Gegensatz von Handlung und Maxime. 
Dadurch wird die Höhenlage der Untersuchung ebenso bestimmt, 
wie wir es vorgreifend getan hatten: Das Böse unabhängig von 
allem Empirischen, das der in der Zeit geschehenen Handlmig 
notwendig anhaftet, rein an sich betrachtet — nicht das Böse in 
der Erscheinung, sondern das Böse an sich.^ Zweitens: Die 
Gleichsetzung von böse und gesetzwidrig. Besteht das Böse im 
Widerspruch gegen das Gesetz, so ist die Voraussetzung des Bösen 
die Existenz des Gesetzes:^) Denn ohne Gesetz kein Widersprach 
dagegen. Zugleich ist aber auch das Gute gegeben, als Zustimmung 
zum Gesetz. Und es folgt die Paralleldefinition des Outen: 6at 
heisst ein Mensch nicht darum, weil er Handlungen ausübt, welche 
gut (gesetzmässig)^) sind, sondern weU diese so beschaffen sind, 

1) Was „Maxime^ ist, wird aus der Er. d. pr. V. vorausgesetzt; doch 
findet sich gleich auf der nächsten Seite (19) eine gelegentliche Erklftmng: 
sie ist eine „Regel, die die Willkür sich selbst für den Gebrauch ihrer 
Freiheit macht^. Ist übrigens damit der Unterschied von Regel und 
Maxime (aus § 1 der Er. d. pr. V.) aufgehoben? wohl als belan^OB 
ignoriert. 

') Übrigens hält sichEant nicht streng an diese Begriffsbestimmimg. 
Er wendet den Ausdruck „böse*' auch auf Handlungen an. .BOse** hst 
bei ihm also doppelten Sinn: den vulgär-populären und den von ihm spe- 
ziell geprägten. 

^ In der Er. d. pr. V. 76 ist dies als Fundamentalsatz — scheinbar 
paradoxer Art ausgesprochen: „Dass nämlich der Begriff des Guten und 
Bösen nicht vor dem moralischen (den er dem Anschein nach sogar 
zu Grunde gelegt werden müsste)» sondern nur (wie hier auch geschieht) 
nach demselben und durch dasselbe bestimmt werden müsse.^ 

^) Den Ausdruck „gesetzmässig^, den ich des Parallelisxnus wegen 
beigefügt habe, hätte Eant, obwohl er sachlich richtig ist, wohl nicht ge- 
braucht; er vermeidet es z. B. auf S. 19—20, wo es durch den gleichen 
Gegensatz gefordert scheint (S. 20, Zeile 1). £r woUte keinen Anlass zur 
Verwechselung mit dem anders gearteten illegal'' geben. 



Kants Lehre vom radikalen B^en. 309 

dass sie auf gute Maximen in ihm schliessen lassen. Wenn auch ^ 

Kant selbst diese Definition nicht ausdrücklich giebt, so setzt er 
sie doch an späteren Stellen voraus (so gleich S. 19, 20). Sachlich 
ist sie unentbehrlich. Denn noch ist keine Entscheidung getroffen, 
ob das Urteil auf gut oder böse oder sonstwie lauten wird. Im 
Ansatz sind die Begriffe gut und böse gleichberechtigt. Und gerade 
diese „doppelseitige Problemstellung^ ^) ist für Kant charakteristisch. 

Aber indem nun die Untersuchung sich zu so hohen Regionen 
erheben will, legt sich gleich zu Anfang eine Schwierigkeit in den 
Weg, die das ganze Unternehmen von vornherein zu vereiteln 
scheint. Denn bei dieser Auffassung des Guten und Bösen scheint 
jedes Urteil darüber unmöglich zu werden. Denn eine Handlung 
kann ich wohl beurteilen, weil die Erfahrung mir hier deutlich 
zeigt, ob sie gesetzwidrig ist, und bei mir selbst sogar verkündet, 
ob diese Gesetzwidrigkeit mit Bewusstsein geschehen ist. Darüber 
hinaus aber — worauf in dieser Untersuchung alles ankommen 
soll — reicht mein Urteil nicht: Denn „die Maximen kann man 
nicht beobachten, sogar nicht allemal in sich selbst *". Also, scheint 
es, fehlt mir jedes Hilfsmittel, zu bestimmen, ob ein Mensch in 
dem oben festgesetzten Sinn gut oder böse (der Maxime nach) 
ist — und die Untersuchung muss aufhören, ehe sie eigentlich 
begonnen hat. 

Nur eine Möglichkeit giebt es, auf der die Hoffnung beruht, 
trotzdem einen Weg zu finden in das unzugängliche Gebiet der 
Maxime: vielleicht bietet die Methode des Rückschlusses von der 
Handlung auf die Maxime einen gangbaren und zuverlässigen 
Weg. Wie müsste ein solches Schlussverfa^ren aussehen? Su: 
ich müsste zuerst eine gesetzwidrige Handlung wahrnehmen und 
konstatieren, dass sie mit Bewusstsein gesetzwidrig ist. Von 
hier müsste ich auf eine böse zum Grunde liegende Maxime 
schliessen können und von hier aus wieder weiter „auf einen in 
dem Subjekt allgemein liegenden Grund aller besonderen moralisch- 
bösen Maximen, der selbst wiederum Maxime isf.^ Dürfte ich 
so schliessen, dann könnte ich ein berechtigtes Urteil über gut 
oder böse gewinnen. Aber es ist ein Schluss rein a priori, nicht 



1) Der Auadmck ist von Schweitzer 104 übernommen. 

*) Was es mit dieser obersten Maxime auf sich hat, wird erst später 
klar werden. Hier müsste sie eingeführt werden, weü sonst die Möglich- 
keit offen bliebe, dass bei böser Einzelmazime die oberste Maxime dennoch 
gut sein könnte. 



310 G. Fittbogen, 

auf Erfahrnng gegründet, und das ist ja eben die Frage, ob ich 
zu diesem Schluss a priori berechtigt bin. Zunächst moss sie 
offen bleiben. 

Zwar wird sich bald zeigen, dass dieser Schluss berechtigt 
ist (darin liegt die Bedeutung der „rigoristischen^ Betrachtungs- 
weise). Aber wir merken, dass sich hier gleich auf der Schwelle 
die Schwierigkeit ankündigt, die uns noch öfter begegnen wird: 
das Verhältnis des Intelligiblen und Sensiblen in der moralischoi 
Welt ist nicht einfach. Wird auch die Verbindung gefanden dorcb 
den Satz: „ist eine Handlung bewusst gesetzwidrig geschehen, so 
liegt ihr, darf ich a priori annehmen, eine böse Maxime (Einzel- 
wie oberste Maxime) zu Grunde^, so sind damit doch keineswegs 
alle Schwierigkeiten gehoben und alle Dunkelheiten gelichtet. 

b) Nun, nachdem der Begriff „böse** hinreichend geklärt ist, 
ist die nächste Frage: Wo habe ich das Böse zu suchen? Darauf 
giebt die Überschrift die merkwürdige Antwort: in der mensch- 
lichen Natur. Das Böse in der Natur? Geht nicht das Böse, w 
alles Moralische, aus der Freiheit hervor? und steht nicht Nator 
unter dem unfreien Zwang der Kausalität? Ist die Verbindoog 
dieser Gegensätze nicht der bare Unsinn? — Gewiss, wenn „Natur* 
seinen gewöhnlichen Sinn behält! Aber den soll es hier nidit 
haben; sondern wir verbinden damit einen ganz neuen Sinn. Der 
Ausdruck ^ Natur ^ des Menschen nämlich heisst hier: ^er sub- 
jektive Grund des Gebrauchs seiner Freiheit überhaupt (unter 
objektiven moralischen Gesetzen), der vor aller in die Sinne 
fallenden Tat vorhergeht" — dieser Grund mag nun liegen, wom 
er wolle. ^) „Natur" hat also in diesem Zusammenhang so wenig 
mit dem, was sonst Natur heisst, gemein, dass sie sogar ins Reich 
der Freiheit^) gehört! — Aber warum wählt Kant dafär den 



1) Schon in der Kr. d. pr. V. 53 hat Kant im Gegensatz zur „sioD* 
liehen Natur^ den Begriff einer „übersinnlichen Natur^ gebildet: eine 
„Natur^ unter dem moralischen Gesetz. Natur also lediglich als Fonnil- 
begriff. 

^ Die Freiheitsidee spielt in der Untersuchung über das radikale 
Böse eine grosse Rolle. Aber sie ist nicht, wie Sch^^eitzer za meiiNi 
scheint, Gegenstand der Untersuchung, sondern Voraussetzuig. Wie 
sie möglich ist, ist in diesem Zusammenhang gleichgültig; hier kommt sie 
nur in Betracht, soweit sie ins Gebiet der praktischen Vernunft flOt 
„Der praktische Begriff der Freiheit hat in der Tat mit dem speknktiveoi 
der den Metaphysikem gänzlich überlassen bleibt, gar nichts zutun. Des* 
woher mir ursprünglich der Zustand, in welchem ich jetst hftpdft^" kA 



Kants Lehre vom radikalen Bösen. 311 

Namen Natur? Weil die Sprache nicht ausreicht, die Feinheit 
dieses Begriffes wiederzugeben. Ist der Ausdruck also zweifellos 
nicht sehr glücklich, so liegt das nicht an Kant, sondern an der 
Schwierigkeit des Begriffs und der Unfähigkeit der Sprache, ihn 
auszudrücken: uns zwingt das um so mehr zur Aufmerksamkeit 
auf das, was damit gesagt sein soll. £rkennt man diese in der 
Sache selbst liegende Unmöglichkeit einer völlig adäquaten Aus- 
drucksweise an, so kann man gegen die Übertragung einer Be- 
zeichnung aus der sinnlichen Natur auf etwas Analoges in der 
^übersinnlichen^, in der „freien Natur*" nichts einwenden. Dies 
Analogen liegt hier darin, dass die „Natur^ (im höheren Sinne) 
etwas ist, das „vor aller in die Sinne fallenden Tat vorhergeht". 
„Natur" ist nur Formalbegriff. Inhaltlich haben die beiden ver- 
schiedenen „Naturen" nichts mit einander gemein. Gerade ihre 
wesentlichsten Merkmale sind verschieden. Während Natur im 
physischen Sinne das Gegebene bezeichnet, kann es im höheren 
Sinne nur Erworbenes bedeuten; denn im Reich der Freiheit giebt 
es nichts Gegebenes. Die „freie" Natur also, folgt daraus, muss 
im Gegensatz zur sinnlichen Natur immer wieder „selbst ein Aktus 
der Freiheit" sein. Und weiter folgt: der Grund des Bösen wie 
des Guten kann in keinem die Willkür durch Neigung be- 
stimmenden Objekte, in keinem Naturtriebe liegen, sondern nur 
^in einer Regel, die die Willkür sich selbst für den Gebrauch ihrer 
Freiheit macht, d. i. in einer Maxime**. Und auch der Grund der 
Annehmung dieser Maxime kann nicht aus einer (Natur-)Ursache 
stammen, sondern aus der vollen Freiheit. Wenn also Kant den 
Menschen „von Natur" gut oder böse nennt, so will er damit nur 
sagen: der Mensch enthält einen ersten Grund der Annebmung 
g^ter oder böser Maximen, der auf moralischem Gebiet liegend 
und aus IbYeiheit stammend vor aller in die Sinne fallenden Tat 
vorhergeht. 



I^kommen sei, kann mir ganz gleichgültig sein , ich frage nur, was ich zu 
thun habe, und da ist die Freiheit eine — notwendige praktische Voraus- 
setzung und eine Idee, unter der allein ich die Gebote der Vernunft als 
gfütig ansehen kann'' (in der Recension über Schulz' Versuch einer An- 
leitung zur — fatalistischen Sittenlehre; R. Seh. VII, 141). Die Freiheit 
also gilt hier nicht als Problem, sondern als Tatsache. Das Problem 
ist vielmehr: wie ist bei vorhandener Freiheit (d. i. der eigenen 
OesetEgebung der reinen praktischen Vernunft — cf. Kr. d. pr. V. 39) 
doch das Böse möglich, ohne dass eins da9 andere aufhebt? 



312 G. Fittbogen, 

Eins nur können wir von diesem ersten Grund der Annehmong 
moralischer Maximen schon voraussehen : Da nämlich dieser Grand 
in einer Maxime gesucht werden muss, und diese wiederum keinen 
anderen Bestimmungsgrund haben kann als auch eine Maxime, so 
wird der Fragende „in der Reihe der subjektiven Bestimmongs- 
gründe ins Unendliche immer weiter zurückgewiesen'', „ohne auf 
den ersten Grund kommen zu können^ (Anmerkung auf S. 19). 
Es bleibt also nichts übrig als im Angesicht dieses regressus in 
infinitum^) zu gestehen, ,,dass der erste subjektive Grund der 
Annebmung moralischer Maximen unerforschlich sei.'' Dies ist 
der äusserste Punkt, bis zu dem die Begriffisbestimmong mehr hin- 
blicken als gelangen kann. 

Ganz zuletzt fügt Kant — wie selbstverständlich — noch 
ein neues Merkmal zu dem bei, was er unter „Nator^ verstehen 
will ; dass nämlich das als Inhalt des Begriffs „Natur'' Entwickelte 
vom Menschen gelten soll „allgemein als Mensch, mithin so, dass 
er durch dieselbe — nämlich die Annehmung der guten oder bösen 
Maxime — zugleich den Charakter seiner Gattung ausdrückt' 
(Rel. 20). Diese Bestimmung klappt nach und hat keinen inneren 
Zusammenhang mit dem bisher Entwickelten, in dem es sich stets 
nur um den Menschen als Einzelwesen handelte. Sie bringt 
tatsächlich ein ganz neues Moment, den Gattungscharakter, 
der hier vom Guten und Bösen hypothetisch gilt. — Dass hier 
etwas Neues eingeführt wird, war wohl für Kant durch den Um- 
stand verhüllt, dass gerade diese Bestimmung noch am erst^ 
etwas von „Natur" im vulgären Sinne an sich trägt; und von 
Kant ist sie wohl auch als selbstverständlich hieraus „ausge- 
wickelt". In Wirklichkeit also bedeutet „Natur" in diesem Kan- 
tischen Sinne zweierlei: 1. den unerforscblicben ersten Grund dff 



1) Auf die hier zu Tage tretende Schwierigkeit weist Schweitzer 
103 ff. nachdrücklich hin: „Hier haben wir auf dem Gebiet des Intelli- 
gibeln eine Kausalitätsreihe, die mit jeder empirischen Kausalreihe 
nicht nur den Umstand teilt, dass die Aufeinanderfolge ihrer Glieder tb 
in der Zeit folgend vorstellig gemacht wird, sondern auch noch die 
Nötigung zu einem unlösbaren „regressus in infinitum** mit ihr gemein 
hat.^ Ob wirklich eine Zeitvorstellung vorliegt, scheint mir nicht onbe* 
dingt sicher ; sicher dagegen der Regressus in infinitom. Damit h&n^ 
der in der Darstellung unvermeidliche Schein zusammen, als gäbe es fiber 
dem „ersten'^ Grund noch einen höheren; etwa einen „ersten" allerenten, 
aller-aller-ersten und so fort. In Wahrheit kann man keines Grundes hab- 
haft werden, der wirklich der erste heisseu könnte. 



^ants Lehre vom radikalen Bösen. 313 

Annehmung moralischer Maximen im einzelnen Menschen, 2. den 
Gattungscharakter. 

Kant ist — das ist wohl keine zu gewagte Hypothese — in 
seiner Gedankenentwickelung vermutlich ursprünglich von dem 
Gattungscharakter des Bösen ausgegangen und hat dafür den 
Ausdruck „ Natur ** angewandt. Bei der tieferen Durchdenkung 
des Problems aber wurde die Frage nach der Allgemeinheit zu- 
rückgedrängt durch die wichtigere Frage nach Ursprung und Mög- 
lichkeit. Der Ausdruck „Natur" ist dann auch hierauf ausgedehnt 
und beide Fragen, so unter das Notdach eines gemeinsamen 
Namens gebracht, als enger zusammenhängend empfunden, als sie 
es wirklich sind. Denn gerade bei der Kantischen Gedanken- 
bildung ist ihr Zusammenhang nicht selbstverständlich, sondern 
selbst wieder ein Problem: wie ist bei der Freiheit die All- 
gemeinheit erklärlich, ohne die Freiheit aufzuheben? 

Der Abschluss der Begriffsbestimmung bringt nichts eigent- 
lich Neues mehr, nur einen bequemeren Ausdruck. Die physische 
Natur heisst „angeboren''; so lag es nahe, auch die übersinnliche 
Natur so zu nennen. Passend scheint dieser Ausdruck besonders 
deswegen, weil die übersinnliche Natur „vor allem in der Er- 
fahrung gegebenen Gebrauche der Freiheit zum Grunde gelegt 
wird". Zu denken haben wir uns also dasselbe wie vorhin; vor 
allem, dass der Mensch selbst Urheber dieser „angeborenen" Natur 
ist. Und um alles Missverständnis auszuschliessen, weist Kant 
noch ausdrücklich darauf hin, dass dieser angeborene moralische 
Charakter ^) im Menschen zwar mit der Geburt zugleich vorhanden, 
nicht aber durch die Geburt verursacht sei. 

3. Nachdem nunmehr die Begriffe festgestellt sind, mit 
denen gearbeitet werden muss, kann versucht werden, das Problem 
auf eine bestimmte Fragestellung zuzuspitzen (geschieht in der 
„Anmerkung" zur Einleitung Rel. 20 — 24). 

Zwei Hauptbetrachtungsweisen giebt es: der reinlichen 
Scheidung zwischen gut und böse — und der Vermittelung. Und 



1) Was übrigens mag die Klammer (in der ersten bis dritten Zeile 
letzten Abschnittes, S. SO) bedeuten, welche die menschlichen 
Charaktere als (solche) (I^araktere „der Unterscheidung des Menschen von 
Anderen möglichen vernünftigen Wesen*' bezeichnet? Praktischen 
Wert scheint sie nicht zu haben. 



Sl4 G. Fittbogen, 

da die Vermittelung wieder auf doppelte Weise geschehen kann, 
so liegen drei Möglichkeiten vor: der Mensch ist 

1. entweder sittlich gut oder sittlich böse, 

2. weder sittlich gut noch sittlich böse, 

3. sowohl sittlich gut als auch sittlich böse. 

Die letzten beiden Möglichkeiten liegen, wie gesagt, insof^n 
auf einer Linie, als sie ein Mittleres zwischen zwei Elxtremen an- 
nehmen. Von vornherein scheinen sie am plausibelsten; und ,,die 
Erfahrung scheint sogar dieses Mittlere zwischen beiden ElxtremeD 
zu bestätigen". 

Man braucht nämlich nur die Menschen, wie sie sind und 
wie die Erfahrung sie uns kennen lehrt, zu betrachten, um zu e^ 
kennen, dass beide Arten dieses Mittleren tatsächlich vorhanden 
sind. Der Säugling z. B. ist offenbar weder gut noch böse.^] 
Erst allmählich lernt er durch Ausbildung (cf. 40 Anm.), was got 
und böse ist. Ist der Mensch aber ausgebildet, so sehen wir 
überall, dass er „in einigen Stücken tugendhaft, in anderen laste^ 
haft sei" (Anm. S. 23). Also wirklich: es giebt ein Mittleres, 
„einerseits ein Negatives der Indifferenz, vor aller Ausbildong, 
andererseits ein Positives der Mischung, teils gut, teils böse zn 
sein" (S. 40 Anm.). Kant ist so weit entfernt, dies zn leugnen, 
dass er es sogar für das einzig Richtige hält, wenn es sich darom 
handelt, den „Menschen in der Erscheinung" (S. 23 Anm.) zu 
beurteilen. Also nach empirischem Massstabe. Da aber auf diese 
Weise nur die Taten, das „wirkliche Thun und Lassen", das, was 
vom moralischen Menschen der Erscheinungswelt angehört, ge- 
messen werden kann und die Gesinnung ausser Betracht bleiben 
muss, so erweist sich solche empirische Betrachtung ihrer eigenen 
Natur nach als unzulänglich für diese Untersuchung, deren Wert 
gerade darin besteht, dass sie auf die Gesinnung gebt. Wohl 
gemerkt: in ihrem Bereich bleibt sie zu Becht bestehen.*) 



1) Gut und böse gelten hier im populären Sinne, auf die sensible 
Tat bezogen. Mit dieser Eonstatierung des doppelten Sprachgebranefai 
bei Kant löst sich die Schwierigkeit» die in diesem Abschnitt vorliegt. 

^ Auf empirischen Böden gilt sogar die entwickelungsgeschichtlicbe 
Betrachtung des Bösen, die eben auf der oben beschriebenen Belativitit 
des Guten und Bösen beruht ; cf . Troeltsch, ESt. IX, 88 ff. Aber eben nnr 
auf empirischem Boden. Diese Betrachtungsweise ist bei Kant weder dk 
ßigentlich aUeinberechtigte, noch auch die wichtigste ^wie es nach Troeltseh 
scheinen könnte). 



^nts Lehre vom nuiikalen BOsen. 31 

Wie aber müssen wir Tugend und Laster „an sich in der 
Idee der Vernunft" betrachten? Wie „auf der Wage der reinen 
Vernunft"^) wägen? 

Bevor wir zur Entscheidung schreiten, müssen wir uns ver- 
gegenwärtigen, was, ohne ausdrücklich betont zu sein, nach der 
Voraussetzung vom Bösen gilt. Ist es, wie dort angenommen wurde, 
Widerspruch gegen das Gesetz, so kann es nicht einfach blosser 
Mangel des Guten, sondern es muss das positive Widerspiel des 
Guten sein. Daraus folgt: auf moralischem Gebiet giebt es keine 
indifferente Handlung. Denn da die einzelne Handlung stets aus 
Widerspruch oder aus Zustimmung zum Gesetz (der Maxime nach) 
erfolgt, so ist sie stets entweder positiv böse oder positiv gut. 
Dagegen „eine moralisch-gleichgültige Handlung würde eine bloss 
aus Naturgesetzen erfolgende Handlung sein, die also au& sittliche 
Gesetz, als Gesetz der Freiheit, in gar keiner Beziehung steht" 
(S. 21, Anm. 1, Zusatz von 1794). 

Dies gilt von der einzelnen Handlung. Was nun vom ganzen 
Menschen? - Der feste Punkt, von dem wir ausgehen können, 
ist der Grundsatz : Die Freiheit der Willkür wird durch eine Trieb- 
feder nur dann zu einer Handlung bestimmt, wenn der Mensch 
diese Triebfeder in seine Maxime aufgenommen hat;^) denn nur 
dann kann eine Triebfeder bestehen, ohne die absolute Selbst- 
bestimmung der Willkür (= Freiheit)^) einzuschränken und damit 
aufzuheben. Und wir fragen nun: ist bei Geltung dieses Grund- 
satzes eine Doppelheit der Triebfedern möglich oder nur eine Einheit? 
oder vielleicht gar eine „Keinheit*"? 

Zunächst dies Letzte. Anerkannt ist, dass „im Urteile der 
Vernunft^ das moralische Gesetz für sich selbst Triebfeder ist. 



^) Die Gleichsetzling eines Urteils »,aaf der Wage der reinen Ver- 
nanft" mit einem UrteU „vor einem göttlichen Gericht" (28 Anm.) verdient 
immerhin angemerkt za werden. 

*) Die Erläutening hierzu, die Kant in Klammem beigefügt, ist 
grammatisch inkorrekt (S. 28). Sie ist vermutUch dmrch Konstruktions- 
mischang entstanden: I. . . . sofern der Mensch ,,es sich zur allgemeinen 
Regel gemacht hat, dass er sich nach ihr (d. i. der Triebfeder) verhalten 
will (resp. sich nach ihr zu verhalten)"; — 2. . . . sofern der Mensch „sie 
(die Triebfeder) sich zur allgemeinen Regel gemacht hat, nach der er 
•ich verhalten will'^ 

>) Das Verhältnis, in dem Freiheit und WiUkflr, resp. „freie Will- 
kür'' (SchweitBer 109) zu einander stehen, ist nicht klar. Hier z. B. er- 
scheint die Freiheit zuerst als Eigenschaft der WiUkttr, dann — nach dem 
Semikolon — gelten beide als identisch. 



316 G. Fittbogen, 

Ist nun aber im Menschen das moralische Gesetz tatsächlich mcht 
Triebfeder, so wäre es völlig verfehlt and oberflächlich, darass 
auf das Fehlen jeder moralisch-beurteilbaren Triebfeder zu schliessen. 
Die einfachste Überlegung zeigt vielmehr, dass hier eine dem Gesetz 
positiv entgegenwirkende Triebfeder Einfluss auf die Willkür 
gewonnen haben muss. Denn wie sollte sonst das Gesetz als 
Triebfeder ausgeschaltet sein? Also hat der Mensch diese entgegeo- 
gesetzte Triebfeder (und damit die „Abweichung vom Gesetz*) in 
seine Maxime aufgenommen. Und wir gewinnen das Resultat: eia 
Mensch, den das Gesetz nicht als Triebfeder bestimmt, wird von 
entgegengesetzter Triebfeder bestimmt; Indifferenz ist aosgeschlosseo. 

Unrecht haben aber auch die „Synkretisten^. Denn setzen 
wir mit ihnen den Fall, dass der Mensch in einem gut ist, so 
ist er das, weil er das moralische Gesetz in seine Maxime auf- 
genommen hat. Diese aufs moralische Gesetz bezogene Maxime ist 
allgemein. Wäre nun der Mensch in einem andern Stück zugleich 
böse, hätte er also gleichzeitig eine gesetzwidrige Triebfeder in 
seine Maxime aufgenommen, so wäre die aufs Gesetz bezogene 
allgemeine zu einer Einzel-Maxime degradiert — was der Voraw- 
Setzung widerspricht. So behauptet denn die „rigoristische'* Be- 
trachtungsweise siegreich das Feld. Und mit Stolz legt sich Eaat 
den Namen eines Eigoristen bei, einen Namen, „der einen Tadel 
in sich fassen soll, in der Tat aber Lob ist^ (21). Auf sittlichen 
Gebiet giebt es im letzten Grunde nur ein Entweder-Oder: 
entweder gut oder böse.^) 

4. Damit sind wir zum Ziel gekommen und haben das wichtige 
Resultat gewonnen: Der moralische Charakter des Menschen zagt 
keine bunte Mischung oder Farblosigkeit, sondern eine bestimmte 
Farbe. „Die Gesinnung^) kann nur eine einzige sein.** (24) 
Wir haben jetzt der kommenden Untersuchung ihren Weg tot 
vorgezeichnet und das Problem auf die Frage eingeengt: Ist die 
„angeborene^' Gesinnung des Menschen gut oder böse? Ein Drittes 
giebt es nicht. Nach welcher Seite aber die Entscheidung fallea 
wird, ist bei dieser doppelseitigen Problemstellung noch nicht an- 
gedeutet. Wie wird das Urteil lauten? „Gut''? oder »Böse"? - 



1) Die berühmte Auseinandersetzung mit Schiller trftgt zur Lehre 
vom radikalen Bösen nichts bei. 

^) Von hier an wird der Terminus „Gesinnung" eingeführt fOr den 
umständlichen «»ersten subjektiven Grund der Annehmung der Maximen*' 
(vorher schon einnud S. 21, Anm. 1). 



Kants Lehre vom radikalen Bösen. 3l7 

Um völlig sicher zu gehen und jedes Missverständnis zu 
vermeiden, wiederholt Kant zum Schluss noch einmal, was mit dem 
Wort „angeborene" Gesinnung gesagt sein soll. Nämlich erstens: 
sie ist durch freie Willkür angenommen, doch nicht von irgend 
einem Zeit-Aktus der Willkür abzuleiten. Zweitens: sie gilt von 
der Gattung. Das erste steht nach der Voraussetzung fest; das 
zweite war dort auch als selbstverständlich hingestellt, während 
an dieser Stelle für den Beweis auf die Zukunft verwiesen wird. 
Zweifellos sachgemässer. Zugleich ein neues Zeichen für die 
Schwierigkeit, die Kant der Nachweis der Allgemeinheit des Bösen 
macht. 



IL Die Anlagen zum Guten. 

Wie also ist nun der Mensch? gut oder böse? — Doch nicht 
sofort kann die Antwort gegeben werden. Denn ich kann niemanden 
beurteUen, ohne zuvor seine Fähigkeiten und Anlagen zu kennen. 
Daher drängt sich uns die Vorfrage auf: welche Anlagen hat der 
Mensch? 

1. Kant stellt die Anlagen mit einer gewissen Selbstverständ- 
lichkeit hin, ohne zu sagen, wie er dazu gekommen ist. Woher 
kennt er sie? Denn kein Mensch hat sie je gesehen. Aus der 
Erfahrung hat er sie nicht; er hat sie daher, woher jeder — ob 
bewusst oder unbewusst — sie nehmen muss: aus dem Ideal. 
Natürlich müssen die Anlagen so sein, dass sie dem Ideal ent- 
sprechen. Im Keim ist schon die Vollendung gegeben. Anfang 
und Ende sind im Prinzip gleich. Die Anlagen gewinnt man daher 
durch Projizieren der gewünschten Zukunft in die Vergangenheit. 

Nun, wie der Mensch sein soll, ist für Kant keine Frage. 
Trägt er doch in sich die Idee des guten Prinzips, das moralische 
Gtesetz. Das mit dieser moralischen Bestimmung gegebene Ziel zu 
.erreichen, ist seine Aufgabe — also muss er es auch können. 
Sittlich-gut soll er werden; also hat er solche Anlagen,^) die ihn 
dazu befähigen, sein Begehrungsvermögen und den Gebrauch der 
Willkür — denn nur die Anlagen, die sich unmittelbar hierauf 
beziehen, können in Betracht kommen — sittlich zu vervollkommnen. 



1) Von seinem sonstigen Oebrauch abweichend, giebt Kant die De- 
finition Yon „Anlage" erst am Ende dieses Abschnittes. Vielleicht, um sie 
mit der Definition des „Hanges" eng zusammenzurücken? 

KMiytudUo XII. fX 



äl8 Ö. Fittbogeii, 

Diese Anlagen müssen ursprünglich sein, nicht znf&llig. Denn 
könnten sie weggedacht werden, so würde damit die Enreidiimg 
jenes Zieles völlig unmöglich, mithin das Wesen des Mensdien 
zerstört. 

2. Mustern wir also, was wir, vom Ideal ausgehend, ak 
Anlage für den Menschen fordern müssen; und zwar als Anlage 
für jeden Menschen, die dem ^»Urmenschen'' genau ebenso gebährt 
wie dem Kulturmenschen. 

a) Die höchste Bestimmung des Menschen liegt auf moraüscheB 
Gebiet. Er hat sie erreicht, wenn das moralische Gesetz die for 
sich hinreichende Triebfeder seiner Willkür geworden ist. Abo 
muss seine wichtigste Anlage die sein, dass er fähig und empfänglid 
ist, das moralische Gesetz als „für sich hinreichende Triebfeder 
der Willkür" zu achten.^) 

Der eigentliche Wert dieser in sich klaren Ableitnng wird 
erst deutlich durch das, was darin implicite enthalten ist Das 
Gefüge der einzelnen Gedanken, in denen Kant diesen Inhalt 
„auswickelt'', ist ineinander geschoben. Die Auflösung ergidrt 
diese drei Gruppen: 

Erstens. Der Wert des Zusatzes: Empfänglichkeit für die 
Achtung des moralischen Gesetzes „als einer für sich hinreichendei 
Triebfeder der Willkür''. Man könnte denken, der wäre überflusagf, 
und es genügte, als Anlage einfach die Empfänglichkeit für die 
Achtung des Gesetzes anzunehmen. Aber dass diese durch ihre 
Einfachheit anziehende Bestimmung nicht ausreicht, zeigt folgende 
Überlegung: die Fähigkeit, das Gesetz zu achten, ist identisch mit 
dem moralischen Gefühl in uns. Da dies nun nicht einen Zweck 
der Naturanlage ausmacht, sondern nur Mittel zum Zweck ist, 
kann es nicht nur zur Bestimmung der ursprünglichen Anhigen 
dienen; denn nur Zweck und Anlage sind Wechselbegriffe. 

Zweck der Naturanlage könnte man das moralische GeßU 
(und damit die Achtung für das Gesetz) nur uneig^ntlich nenoeii; 
dann nämlich, wenn es Triebfeder der Willkür wird. Wird es 



1) Sollte der merkwürdige Ausdruck „Empftnglichkeit der Aditang 
für das moralische Gesetz'' nidit vielleicht bloss eine ungenaue Wendnuf 
sein an Stelle der eigentlich vorschwebenden „Empttnglichkeit für die 
Achtung für das moralische Gesetz (oder: des moralischen G^esetzes)?^ So 
habe ich ihn aufgefasst. — Wie die Worte jetzt dastehen, können ftf 
nur bedeuten: „Die Achtung ist empfänglich für das moralische Gtosets.'' 
(Sinn??) 



Kants Lehre Voin iradikalen B(^n. 3ld 

er Triebfeder der Willkür, so geschieht das eben dadurch, dass 
) freie Willkür es in ihre^) Maxime aufnimmt, d. h. es zur allein 
rrschenden Triebfeder erhebt. Eine solche sittlich-gute Willkür 
titet also tatsächlich das Gesetz „als für sich hinreichende Trieb- 
ier^. Damit ist bewiesen, dass diese Bestimmung schon der 
ilage beigelegt werden muss. 

Zweitens. Der Wert dieser Anlage. Kant begnügt sich mit 
r kurzen Eonstatierung, dass auf sie „schlechterdings nichts 
ises gepfropft werden kann**. Warum nicht? — Zun&chst folgt 
s dem Begriff der Anlage selbst: sie ist (eben weil sie Anlage 
) unverlierbar. Während aber andere Anlagen, die keine direkte 
Ziehung aufs moralische Gesetz haben, gemissbraucht werden 
nnen, wenn sie nämlich in Kollision mit sittlichen Zwecken ge- 
ben, ist das hier ausgeschlossen: diese Anlage, die in der Fähigkeit 
steht, das Gesetz unbedingt zu achten, kann ihrer Natur nach 
) mit dem Gesetz in Widerspruch geraten. Sie würde sich 
ist selbst aufheben — was aber unmöglich ist. 

Wie ausserordentlich viel diese Bestimmung für Kant be- 
utet, leuchtet von selbst ein: von vornherein ist die sittlich-gute 
undanlage des Menschen als unvertilgbar, noch mehr: als unver- 
urbar sicher gestellt und die endliche tatsächliche Suprematie 
3 Guten ermöglicht. 

Drittens: „Persönlichkeit^ und „Anlage auf dem Gebiet der 
rsönlichkeif*. Noch von anderer Seite (als unter No. 1) lässt 
li endlich noch bestreiten, dass Kant die Anlage auf moralischem 
(biet richtig bestimmt habe. Die Anlage auf moralischem Gebiet 
nnt er „Anlage für die Persönlichkeit*'. Wäre es nun nicht 
inn der Gegner einwenden) treffender, die Anlage für die 
rsönlichkeit in die Idee des moralischen Gesetzes selbst und 
Be Achtung zu setzen? statt in die Fähigkeit, das Gesetz als 
r sich hinreichende Triebfeder zu achten? Ist nicht gerade das 
! Grundanlage des Menschen, sofern er ein moralisches Wesen 
y dass er die Idee des moralischen Gesetzes und Achtung davor 
sich hat? 



1) Vorländer ändert: „da dieses nur ledi^ch dadurch möglich wird, 
• die freie WUlkflr es in ihre (Kant seine) Maxime aofninmif^ G^ 
M, so ist es grammatisch korrekt. Aber Kant schrieb eben nicht stets 
cxekt — wie übrigens jeder normale Mensch. Ihm schwebte offenbar 
ensch'* als Besiehungswort vor. 

21* 



ä2Ö <3t. ntihogeü, 

Nein, so einleuchtend das auch scheint, richtig ist es dod 
nicht. Denn was bedeutet hier ^^Persönlichkeit*' ? Es bedeutet,^ 
dass der Mensch frei und unabhängig von dem Mechanismus te 
ganzen Natur ist und als intelligibles Wesen den eigenen Geseixa 
seiner praktischen Vernunft folgt. Denn mit der EVeiheit ist & 
eigene Gesetzgebung der Vernunft notwendig verbunden (cL Kr. 
d. pr. V. 39). Eins ist ohne das andere nicht möglich. Wir 6^ 
kennen also: die Idee des moralischen Gesetzes ist identisch dA 
der Idee von der Art des Menschen^ als eines intelligiblen^ 
Wesens. Die Art des Menschen als eines intelligiblen Wesous ut 
aber nichts anderes als was Kant sonst seine Persönlichkeit nennt 
So sind also die Idee des moralischen Gesetzes und die PenöB* 
lichkeit des Menschen Wechselbegriffe; und die Anlage auf den 
Gebiet der Persönlichkeit muss in etwas anderm gesacht werden.^ 

Ist nun zwar mit der Idee des Gesetzes nnd der Achtnof 
davor die Freiheit (Persönlichkeit) eo ipso gegeben, so ist aber 
noch nicht damit gegeben, dass diese Achtung vorm Gesetz fir 



^) Kant setzt seine Definition der „PenOnlichkeit'' ans der Kr. d. 
pr. y. 106 stillschweigend voraus: Persönlichkeit ist die „Freiheit noi 
Unabhängigkeit von dem Mechanismus der ganzen Natur", dabei ist & 
Person „als zur Sinnenwelt gehörig, ihrer eigenen PeraOnlichkeit nnte- 
werfen, sofern sie zugleich zur intelligiblen Welt gehört'*. 

^ „Menschheit" — dies Wort wird im 18. Jahrh. vom Menschii 
gebraucht, „in Bezug auf sein allgemeines, ihn als Menschen kennzeichnoh 
des Wesen und Leben" (Grimm, Deutsches Wörterbuch VI, 2077), es b^ 
deutet also etwa Menschentum, Menschenwesen und entspricht den gnt 
chischen Bildungen auf otrig. Dort sind auch zwei Belegstellen aus Kiat 
beigebracht. Die bekannteste sonst ist die Stelle im Fangt 4406: tfi^ 
Menschheit ganzer Jammer fasst mich an" (cl Hildebrand, Vom deutkha 
Sprachunterricht 1901, S. 229). Der Gegensatz von Mensch- und TitAei 
bei Schiller (Künstler 184): „Jetzt fiel der Tierheit dampfe Schndto 
Und Menschheit trat auf die entwölkte Stirn." In der BeL L d. Gr. findet 
sich das Wort (ausser im Abschnitt über die Anlagen) noch Bedamft 
32. 61. 67. 84«. 85*. 86 (2 mal}, 151*; überall im qualitativen, nicht m 
quantitativen Sinne. 

B) Eine Betrachtung; die aufs Intelligible geht, nennt Kant intel* 
lektuell (40, Anm.), die aufs Sensible geht, heisst empirisch. Dies Stick- 
wort fehlt in Yorländers Register. 

*) Ostermeyer (15) dagegen findet, dass ein unterschied swuckei 
Persönlichkeit und Anlage für die Persönlichkeit sich mclit fettatdü 
lässt. Er wird, wie mir scheint, durch die philologische Mtssdeutiuf ^ 
Ausdrucks „Anlage für die Persönlichkeit" irre gefOhrt. Darüber Mht 
S. 321, Anm. 2. 



Kanta Lehre vom radikalen Bösen. 821 

sich hinreicliende Triebfeder unserer Maxime wird. Die Fähigkeit 
also, das Gesetz als für sich hinreichende Triebfeder der Willkür 
za achten, ist etwas von der „Persönlichkeit^ Unterschiedenes und 
nichts eo ipso Gegebenes. Ist diese Fähigkeit — wie bewiesen — 
S^leichwohl vorhanden, so muss sie daher als „Znsatz'' zur Per- 
sönlichkeit bezeichnet werden. Und wir sind berechtigt, sie als 
Anlage zur Förderung^) der Persönlichkeit in Anspruch zu 
nehmen. 

Noch einmal: Anlage für die Persönlichkeit bedeutet nicht, 
dass der Mensch Anlage hat, eine Persönlichkeit zu werden') (im 
Sinne des heutigen Schlagwortes). Vielmehr: jeder Mensch ist 
eo ipso Persönlichkeit, nämlich als moralisches, intelligibles Wesen. 
Als Persönlichkeit sind ihm bestimmte Aufgaben gestellt; diese 
ntüichen Aufgaben zu erfüllen, ist ihm eine wichtige Anlage ver- 
liehen, ohne die ihm die geforderte Leistung viel schwerer, wenn 
nicht gar unmöglich wäre — die Anlage nämlich, für die Achtung 
des moralischen Gesetzes als für sich hinreichender Triebfeder 
empfänglich zu sein. Sie ist selbst übrigens noch nicht moralisch 
bestimmt, ermöglicht dem Menschen aber die Erwerbung eines 
eittlich-guten Charakters. 

b) Aber nicht bloss als persönlich-moralisches Wesen hat der 
Mensch die Aufgabe sich auszubilden, sondern auch die Kräfte 
der Vernunft, die er als Mensch, und die Kräfte des physischen 
Lebens, die er als animalisches Wesen hat, soll er zur Vollendung 
entwickeln. Er muss also auch auf diesen — nicht moralischen 
— Gebieten mit entsprechenden Anlagen ausgerüstet sein. 

Am einfachsten sind die Anlagen, die der Mensch als Tier 
bat, zu bestimmen. — Zur Ausbildung des animalischen Lebens 
gehört eine Anlage, die sich das zum Ziel setzt oder doch unbe- 
wosst auf dies Ziel losstrebt: Das ist die physische, bloss mecha- 
nische (instinktive) Selbstliebe. 

Sie äussert sich in dreifacher Richtung: das Leben sich 
selbst zu erhalten, es auf die Nachkommen fortzupflanzen und 
endlich durch Gemeinschaft mit anderen Wesen seinesgleichen es 



1) ,;ZamBehaf<' der Persönlichkeit bedeutet offenbar cur Förderung, 
ei. Grimm, Wörterbuch I, 1843. 

>) So scheint es Ostermeyer zu fassen. Doch bedeutet „Anlage fflr 
die Persönlichkeit" bei Kant nicht „Anlage zur Persönlichkeit", sondern 
etwa: „Anlage fflr die Ausbildung der Persönlichkeit", ,,Anlage auf 
dem Gebiet der Persönlichkeit". 



322 G. Fittbogen, 

gewissermassen zu steigern. Diese Anlage und diese Triebe, die 
der Mensch mit den Tieren gemein hat, fallen als Naturgaba 
unter kein moralisches Urteil. 

Doch können sie zum Sittlichen in Beziehung treten. Aof 
welche Weise das geschieht, lässt sich, wenn Kant es auch nicht 
ausdrücklich erläutert, aus seinen Worten entiiehmen« Denn ihr 
Verhältnis zum Bösen deutet er an. Indem er nämlich der land- 
läufigen Meinung entgegentritt, die in diesen sinnlichen Anlag» 
den Ursprung des moralisch Bösen zu suchen gewohnt ist, be- 
hauptet er dagegen : die Laster entspriessen nicht von selbst ans 
diesen Trieben als ihrer Wurzel (dann wären sie ja Natorprodnkt), 
sie werden darauf „aufgepfropft''. Und zwar auf jeden Teil ein 
entsprechendes Laster „der Rohigkeit der Natur**, deren jedes 
sich bis zur höchsten Abweichung vom Natnrzweck, d. L znn 
„viehischen Laster** der Völlerei, der Wollust oder der wilden 
Gesetzlosigkeit entwickeln kann. 

Was meint Kant mit diesem „Aufpfropfen** ? Das aus der 
Gärtnersprache genommene, doch ins Schlechte gewandte Bfld 
zeigt es deutlich: ein Naturstamm wird durch Einfügung eines 
Heises verunedelt. Die sittlichen Triebe und die physische Selbet- 
liebe sind weder gut noch böse. Sonst müssten ja die Tiere, 
weil sie von diesen Trieben geleitet werden, lasterhaft sein. Abo- 
gerade, weil bei ihnen diese Triebe unangefochten allein- 
herrschend sind, fallen sie überhaupt unter kein sittliches Urtefl. 
Gutes oder Böses folgt nicht aus den Trieben, sondern erst m 
ihrer Unterordnung oder ihrem Widerspruch gegen die höheren, 
sittlichen Zwecke der Vernunft. Und die Schnld daran trägt 
nicht — um gleich ganz deutlich zu sein — die Sinnlichkeit, 
sondern die Vernunft. 

Folgt nun hieraus nicht auch, dass die Tugenden diesen 
Trieben „aufgepropft'' sein müssen, indem der Natorstamm durch 
{Einfügung eines Reises veredelt wird? Kant zieht diese y^ 
lockend scheinende Eonsequenz nicht. Ich denke, aus folgendea 
Gründen: er meinte, der Naturzweck (den er hier einfährt) stebe 
im letzten Grunde in Einklang mit dem sittlichen Zweck, und 
zugleich hatte er so eine völlige Gleichberechtigang des Qvteo 
und Bösen vermieden ; denn ihm kam alles auf die höhere Be- 
rechtigung des Guten an. 

Endlich der Mensch als vernünftiges (doch noch nicht mora- 
lisches) Wesen. Die Unterscheidung des vernünftigen Wes^ 



Kants Lehre vom radikalen BOsen. 323 

vom moraUschen, die Kant (in der Anmerkung) eingehend recht- 
fertigt, ist durchaus begründet. Nur der Name, dan er im Gegen- 
satz zur ^Tierheif" wählt, ist nicht sonderlich glücklich geprägt: 
„Menschheit (= Menschentum) ^) unter Ausschluss des Wichtigsten 
am Menschen, der Moralität!^) 

Die Anlage, die den Menschen befähigt, seine Aufgaben auf 
diesem Gebiete zu erfüllen, ist auch noch die Selbstliebe; aber 
jetzt nicht mehr die mechanische, sondern die vergleichende:^) 
der Mensch beurteilt sich nur in Vergleichung mit anderen als 
glücklich oder unglücklich. Daher ergiebt sich der den sinnlichen 
Trieben entsprechende geistige Trieb, „sich in der Meinung an- 
derer einen Wert zu verschaffen**. Zunächst geht dies Streben 
nur auf Gleichheit: „keinem über sich Überlegenheit zu ver- 
statten, mit einer beständigen Besorgnis, dass andere darnach 
streben möchten.** 

Auch hier ist das Verhältnis zum Sittlichen ebenso wie auf 
dem Gebiet der Tierheit. Die „Laster der Kultur** entspriessen 
aus der „Neigung, sich in der Meinung anderer einen Wert zu 
verschaffen**, nicht von selbst als einer natürlichen Wurzel. Wohl 
bringt diese Neigung lebhaften Wetteifer.*) Aber die Natur wollte 
die Idee dieses Wetteifers, der aus der vergleichenden Selbstliebe 
entspringend doch die Wechselliebe nicht ausschliesst, nur „als 
Triebfeder zur Kultur brauchen**. Dass dann die Wechselliebe 
▼erletzt wird, liegt nicht am Wetteifer, also nicht an der Anlage, 



^) Über „Menschheit" siehe S. 320, Anm« 2. 

*) Aber welchen Terminus hätte Kant prägen sollen? Am natür- 
lichsten ergiebt sich die Stafenleiter: Tierheit, Menschheit, Göttlichkeit 
(resp. Gottheit). Aber dass Kant diesen letzten Ausdruck, durch den der 
Sinn von „Menschheit" wenigstens etwas besser beleuchtet und sicher- 
gestellt würde, auf den Menschen nicht anwenden konnte und wollte, 
ist klar.- 

*) Hier ist der Punkt, an dem Kants ethischer Individualismus Über- 
wunden werden kann und auch von ihm selbst schon z. T. überwunden 
ist. Im Anfang des 3. Stücks (S. 96, 97) erklärt er die Macht des BOsen 
aus der Verbindung der Menschen und fordert zur Gegenwirkung eine 
entsprechende Vereinigung der Menschen unter dem guten Prinzip. Also : 
die Kraft des moralisch Guten und Bösen wächst durch die Gemeinschaft 
Damit ist das ethische Individuum aus seiner Isoliertheit gelöst. — Üb- 
rigens wird doch wohl bei jeder Betrachtung das Individuelle die Grund- 
lage bilden müssen, der Zusammenhang mit der Gesamtheit das Sekundäre. 

^ Auch .Eifersucht*' und „Nebenbuhlerei" gelten hier als vox 
media. 



324 G. Fittbogen, 

sondern das hat andere Gründe. Die in Verbindung mit der An- 
lage auftretenden Laster gehören also nicht wachstümlich zu ihr, 
sondern sind „aufgepfropft". Sie bedeuten eine Verletzung auch 
des Naturzweckes. Da die Tugend umgekehrt den Naturzweck 
nicht verletzt, sondern ihn intakt lässt, kann auch hier nicht ge- 
sagt werden, dass die Tagend der Anlage aufgepfropft sei 
Tugend und Natur sind in dieser Hinsicht wahlverwandt. 

3. Inwiefern sind das alles nun Anlagen zum Guten? Zu- 
erst negativ:^) denn sie widerstreiten nicht dem moralischen Ge- 
setz. Dies ist nach dem eben Gesagten für die Anlagen aof 
nichtmoralischem Gebiet ebenso deutlich, wie für die auf mora- 
lischem Gebiet selbstverständlich. 

Aber auch positiv sollen sie die Befolgung des Guten fördern. 
Und dies ist denn doch für die Anlagen auf nicht-moralischem 
Gebiet keineswegs selbstverständlich. Kant erwälint hier auch 
mit keiner Silbe, wie er sich diese positive Förderung des Guten 
denkt. Er hätte es tun sollen. Denn wenn er auch damit redit 
hat, diese nicht-sittlichen Anlagen nicht für die Quellen des Bösen 
zu halten, so musste er doch seine gegenteilige Meinung, dass 
diese Anlagen das sittlich Gute nicht bloss nicht hindern, sondern 
sogar fördern (NB. nicht: hervorrufen), zum mindesten begründen. 
Er hat es nur ganz gelegentlich getan.') In anderem Zusammen- 
hange sagt er einmal, dass die natürlichen Neigungen „zu dem, 
was die moralische Gesinnung in ihrer Kraft beweisen kann, zur 
Tugend die Gelegenheit geben" (35). Die positive Förderung des 
Guten also besteht darin, dass die natürlichen Neigungen dem 
sittlichen Willen Widerstände bieten (d. h. passiv) und ihm so 
Aufgaben stellen, die zur Anspannung der sittlichen Kräfte nötigen 
und so die Kraftleistung steigern. — An dieser Stelle (S. 27) bat 
Kant eine solche Andeutung unterlassen. 

Damit ist der Kreis der Anlagen zum Guten umschrieben; 
und es erhebt sich die Frage : Giebt es auch Anlagen zum Bösen? 



^) E^ant erlaubt sich hier wieder eine unschftdUche XJngenaaigkeH. 
Statt ,,aUe diese Anlagen sind nicht aUein negativ gut'* könnte es ko^ 
rekter heissen: „sie sind nicht aUein negativ Anlagen zum Gaten^ 
Sofort übrigens drückt sich Kant wieder korrekt aus (in der Entgeges- 
setzmig: positiv Anlagen zum Guten). 

^ Von Ostermeyer ist das übersehen. 



Kants Lehre vom radikalen ßösen. 325 

# 

m. Der Hang zum BAsen in der menschlichen Natur. 

(Der Mensch als Glied der intelligiblen Welt.) 

Oiebt es auch Anlagen zum Bösen? 

1. Die Antwort mnss lauten: In dem Ideal hat das Böse 
keine Stätte. Es kann also aus der menschlichen Natur wegge- 
dacht werden; es kann also nicht als ursprünglich, ja überhaupt 
nicht als Anlage vorgestellt werden. Eine Anlage zum Bösen ist 
ein Unding. 

Gegen diese glatte Antwort lässt sich nichts einwenden; 
aber mit ihr wird die Sache erst verwickelt, eine Lösung fast 
aussichtslos. Denn nur um so lauter und dringlicher macht sich 
die Frage geltend: Wie kommt bei lauter Anlagen zum Outen 
trotzdem das Böse in den Menschen? — Denn dessen Vorhanden- 
sein lässt sich unmöglich leugnen; es ist eine zu reale Macht. 
Und geht man nicht vom Ideal, sondern von der Erfahrung aus 
nnd den Tatsachen, trifft man das Böse, wie man annehmen 
darf,^) in allen Menschen an, — wird man dann nicht mit Not- 
wendigkeit darauf geführt, die eben abgelehnte Anlage zum Bösen 
dennoch zu fordern? 

Was ist in dieser Schwierigkeit zu tun? Zunächst: die 
Schwierigkeit selbst als solche zuzugeben. Üblicher wäre es wohl, 
die Bichtigkeit einer der beiden Betrachtungsweisen anzuzweifeln, 
um so die Schwierigkeit zu umgehen ; nicht so Kant. Seine Eigenart 
ist es gerade, den Dingen direkt zu Leibe zu gehen. So lässt 
er auch hier beiden Betrachtungsweisen ihr Redit; sie besagen: 

1. eine Anlage zum Bösen giebt es nicht; 

2. das Böse ist tatsächlich im Menschen vorhanden (und zwar 
in allen). Oder kürzer: Das Böse ist zufällig und doch allgemein. 
Mnss dies zugegeben werden (und dagegen hilft kein Sträuben), 
80 muss eben eine Fähigkeit zu Grunde liegen, die beides — die 
Allgemeinheit und Zufälligkeit — erklären kann. Die gilt es zu 
rochen. — Eine Neigung zum Bösen also ist, wenn auch zufällig, 
so doch unleugbar vorhanden. Also muss irgend ein Grund im 
Subjekt liegen, der sie möglich macht. Für einen solchen „rob- 
jektiven Grund der Möglichkeit einer Neigung, sofern sie für die 
Menschheit überhaupt zufällig ist*", prägt Kant den Terminus 
„Hang**. Wie die Anlage, ist er mit der Geburt gegeben. Wichtiger 



1) Die Allgemeinheit des Bösen erscheint bei Kant im Grande als 
anerkaontes^Zugestindnis. 



k^ 



326 G. Fittbogen, 

aber noch ist der Unterschied des Hanges von der Anlage: er ist 
nicht im eigentlichen Sinne „angeboren"; im Gegensatz zu dieser 
Naturgabe wird er als durch Freiheit erworben vorbestellt. 

Zu dieser Bestimmung, das sehen wir, ist Kant nicht ans 
Willkür oder aus purer Freude an verschnörkelter Systematik ge- 
kommen, sondern unter dem Notzwang des Dilemmas.^) 

Hieraus erklärt es sich von selbst, weshalb Kant den Ge- 
danken eines Hanges zum Guten nur leicht streift — den konnte 
er hier nicht verwerten — und sich sofort dem Hang zum Bösen 
zuwendet. Denn nur dem Bösen zuliebe ist dieser Terminus ge- 
schaffen, und darauf konzentriert sich Kants ganzes Interesse. 

Worin besteht nun der Hang zum Bösen? und wie lässt er 
sich bestimmen? — Das Böse besteht in der Abweichung vom 
Gesetz der Maxime nach. Der Hang zum Bösen ^) moss demnach 
in dem Grund bestehen, der dem Einzelsubjekt diese Abweichung 
ermöglicht. Die nähere Beschreibung dieses „Grundes'' nnd seine 
Unterarten ergeben sich natürlich nicht aus dem Ideal, auch nicht 
aus der Erfahrung, sondern aus der begrifflichen Konstruktion. 
Denn dreifacher Art, wie die Abweichung vom Gesetz selbst, wird 
auch der Grund sein müssen, der beim Einzelsubjekt die Ab- 
weichung seiner Maximen vom moralischen Gesetz ermöglidit; 

^) Diesen Ursprung moss man beachten. Litet man die Definition 
des Hanges und namentlich seines Unterschiedes von der Anlage aus dem 
Zusammenhang, so kann es scheinen, als habe Kant nie eine willkürlichen 
Bestimmung aufgestellt, während er gerade umgekehrt nirgends so ge- 
bunden war wie hier. Daher das G^chraubte des Satzes, das von jeher 
aufgefallen ist: „Er (der Hang) unterscheidet sich darin von einer Anlage, 
dass er zwar angeboren sein kann, aber doch nicht als solcher vorgestellt 
werden darf: sondern auch (wenn er gut ist) als erworben, oder (wenn 
er böse ist) als von den Menschen selbst sich zugezogen gedacht 
werden kann." — Übrigens der Begriff „Hang" steht hier an der Spitze 
der Erörterung. Kant hat aber wohl erst den „Hang zum BOsen" ge- 
funden und daraus dann diesen Begriff abgeleitet. 

*) Der Satz vom Hange zum eigentlich Bösen ist ungenau. Bein 
grammatisch ergiebt sich nach Ausscheidung der Nebensätze dies Gherippe: 
Das moralisch Böse (zu dem ein Hang im Menschen existiert) muss in dem 
subjektiven Grunde der Möglichkeit der Abweichung der Maximen vom 
moralischen Gesetze bestehen, und es (das Böse) wird ... ein natOrlidier 
Hang . . . genannt werden. Dem Sinne nach aber scheint der Hang vom 
Bösen Subjekt sein zu müssen. Also: Der Hang zum Bösen besteht in 
dem subjektiven Grunde und er wird natürlicher Hang genannt. Diese 
Deutung habe ich oben verwertet. Die entsprechende Textverftndenmg 
welcher statt welches) will ich übrigens nicht vorschlagen. 



Kants Lehre vom radikalen Bösen. 327 

Kant führt dafür die BezeichnoDgen Gebrechlichkeit, Unlauterkeit, 
Bösartigkeit ein. 

2a) Erstens: Der Mensch nimmt die gesetzmässige Triebfeder 
(nach Form und Inhalt) in seine Maxime auf; er ist aber zu 
schwach, sie zu befolgen. Zweifellos : der Grund dieser Erscheinung 
kann nichts andres sein als die Schwäche und Gebrechlichkeit des 
menschlichen Herzens. Darin hat Kant Recht. Aber auch in der 
Beurteilung dieser Schwäche? 

Im eigentlichen Sinn böse ist (nach der Erörterung in der 
Einleitung) nur die Maxime, die Gesinnung; nicht die Tat. Hier 
liegt der Fall nun offenbar so, dass die Handlung zwar gesetz- 
widrig ist, die Maxime aber gesetzmässig. Daher müsste, glaube 
ich, Kants urteil so lauten: Wenn auch eine gesetzwidrige Tat 
vorliegt, so ist der Mensch der vorhandenen gesetzmässigen Maxime 
wegen dennoch gut. Ein Hang zum Bösen kann hier nicht an- 
genommen werden; denn die gesetzwidrige Tat kam ja trotz der 
gesetzmässigen Gesinnung, trotz des „Hanges zum Guten*' zu- 
stande. — Hier tritt deutlich die grosse Schwierigkeit zu Tage, 
auf die schon oben hingewiesen wurde : der Zusammenhang zwischen 
der intelligiblen und der sensiblen moralischen Welt ist unsicher; 
beide unterliegen verschiedenen Massstäben. Kant hat die Ver- 
schiedenheit der Massstäbe dazu verwertet, um mit allem Ernst 
die G^esinnung als das allein Wertvolle zu proklamieren und dem 
bloss legalen Menschen die stete Mahnung vorzuhalten, dass der 
Mensch bei lauter empirisch-guten Taten dennoch intelligibel-böse 
sein kann. Mit Becht. Aber aus dieser Verschiedenheit der 
Massstäbe folgt doch auch das umgekehrte Urteil: bei empirisch- 
bösen Taten ^) kann der Mensch dennoch intelligibel-gut sein. Und 
dies Urteil ist in dem vorliegenden Fall anzuwenden; wo bei 
wirklich gesetzmässiger Maxime doch eine gesetzwidrige Tat 
herauskommt, ist der Mensch (der Gesinnung nach) gut Diese 
Milde ist die notwendige Ergänzung zu jener Strenge. Es liegt 
in Kants Charakter und es verleiht seiner Moral die eigenartige 
Herbigkeit, dass er sich scheut, diese — dem Missbrauch leicht 



^) Man miu8 sich daran erinnern, dass der Mensch, rein empirisch 
betrachtet, gat und böse zugleich sein kann und es auch tatsächlich ist. 
Damit ist Aber den intelligiblen Charakter nichts ausgesagt. Das scheint 
Kant hier ausser Acht zu lassen. W&hrend nur die bewusste böse Hand- 
lung wirklich „böse" (intelligibel) ist, scheint er das Urteil hier auf jede 
empirisch-böse Handlung auszudehnen. 



328 G. Fittbogen, 

ausgesetzte — Konsequenz ^) zu ziehen. Es ist derselbe Missbrauch, 
dem auch die christliche Ethik [leicht unterliegt, wenn sie durch 
das alleinige Betonen der Gesinnung den Wert der siebtbaren 
Werke auf Null herunterdrückt. Aber Missbrauch hebt den Ge- 
brauch nicht auf: die Möglichkeit der sittlichen Besserung gründet 
sich auf diese Erkenntniss (wie im Y. Abschnitt Kant selbst es 
ausführt). 

Kant kommt über diesen Anstoss hinweg mit dem Satz, der 
die Klage des Paulus über die yerhängnisTolle Schwäche des 
Menschen in die Sprache der Kantischen Philosophie übersetzt: 
„Ich nehme das Gute (das Gesetz) in die Maxime meiner Willkür 
auf; aber dieses, welches objektiv in der Idee (in thesi) eine un- 
überwindliche Triebfeder ist, ist subjektiv (in hypothesi), wenn die 
Maxime befolgt werden soll, die schwächere (in Vergleichung niit 
der Neigung).^ Gewiss, so ist es. Aber wie kommt's, dass beim 
Übergang von der Maxime zur Tat schliesslich die Tat der Maxime 
nicht entspricht? Gerade bei Kant bleibt das unverständlich. E^ 
scheint es doch immer so, als brauche die Willkür nur die richtige 
Triebfeder in ihre Maxime aufzunehmen, dann ergebe sich das 
Weitere von selbst. Hier aber liegt der Schaden nicht an einer 
fehlerhaften Maxime, sondern daran, dass die Willkür ihre Maxime 
nicht zur Geltung bringen kann; sie muss einer ausser ihr liegenden 
Macht weichen. Damit ist die spröde Allmacht der Willkür arg 
beeinträchtigt. 

Sie liesse sich nur retten — und das mag Kant vorgeschwebt 
haben — , wenn man annehmen könnte, dass bei dem beschriebenen 
Fall die Willkür gewissermasseh im letzten Augenblick ihre Maxime 
ändert. Dann aber wäre dieser Fall nicht mehr verschieden vom 
dritten: die Willkür ordnet die Triebfeder aus dem Gesetz andern 
Triebfedern, nämlich aus den Neigungen, unter. 

Wie man also die Sache auch ansieht, so viel jedenfalls steht 
fest: die Schwäche erklärt Kant mit Unrecht für einen Hang zum 
Bösen und selbst für böse. Denn der Grund der empirischen Tat 



Diese Eonsequenz ist nicht willkürlich, sondern sie folgt mit Not- 
wendigkeit aus Kants Grundsatz. Paulsen z. B. formuliert ihn so: „Gnt 
ist — für Kant — ein WiUe allein wegen seiner formalen Bestimmtheit 
durch das Gesetz, nicht aber um dessen willen, was er will oder was 
durch ihn bewirkt wird'* (S. 346). Ist aber das Resultat, das beim Handeln 
herauskommt, gleichgültig, so hebt auch ein gesetzwidriges Resultat diß 
Güte des Willens nicht auf. 



&ant8 Lehre vom radikalen Bösen. 320 

liegt nicht in der Oesinnong, sondern sie kommt geradezu im 
Widerspruch zur Gesinnung zustande. 

Die zweite Form der Abweichung vom Gesetz ist die, dass 
pflichtmässige Handlungen nicht rein aus Pflicht getan werden. 
Den Grund für diese Art der Gesetzwidrigkeit leitet Kant einwand- 
frei ab: die Willkür nimmt das Gesetz wohl dem Inhalte (dem 
Objekt) nach als alleinige Triebfeder in ihre Maxime auf, aber 
nicht der Form nach: sie bedarf noch anderer Triebfedern, die 
nicht im Gesetz liegten, um die Forderung des Gesetzes zu erfüllen. 
Ein solcher Mensch aber ist der Maxime nach unlauter. Und der 
zu Grunde liegende Hang zur Unlauterkeit ist tatsächlich ein 
Hang zum Bösen. 

Drittens: am ärgsten ist die Abweichung vom Gesetz, wenn 
die Willkür das Gesetz weder dem Inhalt noch der Form nach als 
alleinige Triebfeder in die Maxime aufnimmt. Völlig ausschalten 
kann der Mensch diese moralische Triebfeder nicht, weil — wie 
aus dem Abschnitt über die Anlagen noch erinnerlich — das 
moralische Gesetz und das moralische Gefühl zum Wesensbestand 
jedes Menschen gehören; also liegt das Böse in der Umkehrung ^) 
der Ordnung der Triebfedern, nicht in dem AUeinvorhanden-sein 
der bösen Triebfedern. Dieser Hang wird mit Recht als Hang 
zum Bösen beurteilt.^) 

b) Soweit der Hang zum Bösen im Einzelsubjekt. Wie steht's 
nun mit dem Gattungscharakter? Kant geht darüber mit einem 
einzigen Satz hinweg: „Man wird bemerken: dass der Hang zum 
Bösen hier am Menschen, auch dem besten (den Handlungen nach), 
aufgestellt wird, welches auch geschehen muss, wenn die Allgemein- 
heit des Hanges zum Bösen unter Menschen, oder, welches hier 
dasselbe bedeutet, dass er mit der menschlichen Natur verwebt sei, 
bewiesen werden soll'' (30). Das kann doch nur heissen: der Hang 



>) Tatsächlich ist hiermit die Erklftmng des Wesens des Bösen, die 
erst im nächsten Abschnitt (S. 37) erfolgt, vorweggenommen. 

*) Gleich hier erläutert Kant die Bedeutung, die der am intelligiblen 
Menschen aulgestellte Hang zum B(V9en ffir den wirklichen Menschen hat, 
der beides ist: sensibles und intelligibles Wesen. Nämlich S. 29 die letzten 
4 Zeilen und S. 80, 2. Abs. Dieselbe Betrachtung kehrt (S. 37) im nächsten 
Abschnitt wieder und steht dort an der richtigen Stelle. Man lernt daraus 
rweierlei: erstens, wie schwierig es ist, den Menschen ganz isoliert als 
intelligibles Wesen zu betrachten; zweitens, wie unendlich yiel Kant 
daran liegt, den sensiblen Menschen, namentlich den sensibel-guten (d. i. 
den legalen) dem Massstab der reinen Vernunft zu unterwerfen. 



330 O. Fittbog6ü, 

zum Bösen ist im Vorhergehenden so bestimmt, dass nichts hindert, 
ihn auch im besten Menschen anzunehmen. Er wird, um die 
Allgemeinheit zu erklären, angenommen, nicht eigentlich bewiesen. 

Der Hang zum Bösen ist also von Kant konstruiert, um vor 
allem die Allgemeinheit des Bösen zu begründen. Daher kommt 
es, dass er — wie in der Erörterung über die Gebrechlichkeit 
gezeigt ist — nicht rein im Intelligibeln sich hält, sondern noch 
— seinem Ursprung zufolge, seiner Bestimmung zuwider — an& 
Sensible schielt.^) 

c) Aber nun die wichtigste Frage. Die Anlagen zum Outen 
waren selbst moralisch nicht bestimmt, ein Instrument, das die Willkor 
seinem Zweck entsprechend oder zuwider gebrauchen kann. Gilt 
das auch vom Hang zum Bösen? oder ist er moralisch bestimmt? 

Da das Böse aus Freiheit entspringt, so kommt der Mensch 
hier nur als moralisch-freies, nicht als physisch-unfreies Wesen in 
Betracht. Danach muss auch der Charakter des Hanges bestimmt 
werden. Da nun ein physischer Hang zu irgend einem Gebrauch 
der Freiheit ein Widerspruch wäre, so kann ein Hang, also auch 
der Hang zum Bösen, „nur dem moralischen Vermögen der Willkür 
ankleben^ (31), er muss also selbst moralisch bestimmt sein. 

Hier erhebt sich nun ein neues Hindernis. Böse im sittlichen 
Sinn, zurechnungsfähig ist nur die eigne Tat. Der Hang ab^, 
scheint es, ist selbst nicht Tat, vielmehr eine subjektive Bestimmung 
der Willkür, die jeder Tat vorhergeht. Und es scheint also, als 
müsse sich der Begriff „Hang zum Bösen'' durch Selbstwiderspruch 
(moralisch böse, aber nicht Tat) auflösen. Er müsste es auch, 
wenn es nicht noch einen letzten Ausweg gäbe : den Ausdruck Tat 
in doppeltem Sinne ^) aufzufassen. Im landläufigen Sinne nämlidi 



^) Besonders deutlich zeigt sich das Schielen aa& Sensible, wenn 
die im Text gegebene Interpunktion richtig ist, nach der „(den Hand- 
lungen nach)" durch Komma von „dem besten" geschieden ist. Der Sinn 
wäre dann: der Hang zum Bösen wird den Handlungen nach an^ieeteUt, 
d. h. er zeigt und verrät sich in den Handlungen, — während es doch ge- 
rade darauf ankommt, den Hang nicht in den Handlungen, sondern in der 
Gesinnung zu konstatieren. So druckt Eehrbach nach Anleitimg der 
1. Ausgabe. Anders Rosenkranz-Schubert X, 88 und Vorländer dO: „auch 
dem besten (den Handlungen nach), aufgestellt wird." — Übrigens ändert 
die verschiedene Beziehung der streitigen Worte kaum etwas an dem Sinn. 

^ Vorländer nimmt eine unnötige Textändemng vor; statt ,^ 
zweierlei verschiedener Bedeutung" druckt er „in zweierlei verschiedenen 
Bedeutungen". 



Santa Lehre votn radikalen BÖseü. 331 

bedeutet „Tat" deiyenigen Gebrauch der Freiheit, da die Handlungen 
ihrer Maxime nach der (gesetzentsprechenden oder gesetzwidrigen) 
Maxime gemäss ausgeübt werden. Kant will den Ausdruck aber 
auch von der sensiblen Welt auf die intelligible übertragen (wie 
früher „Natur" und „angeboren") und ihn verstehen „von dem- 
jenigen Gebrauch der Freiheit, wodurch die oberste Maxime (dem 
Gesetz gemäss oder zuwider) in die Willkür aufgenommen" wird. 
Und in dieser zweiten Bedeutung wird er auf den Hang angewandt. 
Der Hang zum Bösen also ist — und nun führt Kant jenen 
berüchtigten Terminus ein — er ist „intelligibele Tat"; von der 
sensiblen Tat dadurch unterschieden, dass sie nicht empirisch, in 
der Zeit ist, sondern bloss „durch Vernunft ohne alle Zeitbedingung 
erkennbar". Während in der sensiblen Welt der Hang etwas 
Zuständliches und die Tat etwas Einmaliges bezeichnen, wird es 
durch das Aufhören jeder Zeitbestimmung im Intelligibeln möglich, 
Hang und Tat gleichzusetzen: der Hang zum Bösen ist „Tat", 
nicht durch „Tat" erworben. 

Damit ist der Kern der Erörterung abgeschlossen. Kant fügt 
noch eine Rechtfertigung seines Sprachgebrauchs bei und hat schon 
eine wichtige Folgerung fürs sensibel Böse eingeschaltet. 

Zuerst der Sprachgebrauch. Wie kann man eine „Tat" einen 
blossen Hang nennen? Kant sagt, er nennt sie so „vomeh±lich 
in Yergleichung mit der zweiten", der sensibeln Tat; das heisst 
offenbar, weil sie weniger sinnenfällig ist. 

Wichtiger ist das andere: Kant hatte oben den Hang als 
zum Gattungscharakter gehörig, als „angeboren" angestellt. Lässt 
sich das nun auch von einer „Tat" sagen? Gewiss; wenn man 
sich nur an den verabredeten Sinn dieses Ausdrucks hält. Obwohl 
die intelligible Tat selbst verschuldet ist, kann sie doch passend 
„angeboren" genannt werden, weil sie dem im eigentlichen Sinne 
Angeborenen in zwei Stücken gleicht: sie^) kann nicht ausgerottet 

') Wie schwierig es ist, sich von diesen Vorgängen, die bei Aus- 
schluss aUer Zeitbedingmigen im Intelligibeln doch keine eigentlichen 
Vorgänge sind, eine VorsteUmig zn machen, wie onwillkttriich die VorsteUong, 
die mit den betreffenden Aosdrücken auf sensiblem Gebiet verbunden ist, 
auch ffiis Intelligible nachwirkt, zeigt sich bei Kant selbst, nämlich in 
einer leichten stilistischen Unebenheit. Es widerstrebte ihm vermutlich, 
sa sagen, dass eine Tat angeboren sei, dass eine Tat nicht ausgerottet 
werden kOnne; so half er sich mit einem Snbjektswechsel : die erste (Tat) 
heisst ... ein blosser Hang und angeboren, weil er (granunatisch richtig 
wäre: sie) nicht ausgerottet werden kann. 



33^ G. f'ittbogeü, 

werden (darüber später 53) und man kann von ihr keinen Grand 
angeben. So wenig wir sagen können, wamm der Mensch z. B. 
fünf Finger hat, so wenig können wir sagen, »wanun in ans das 
Böse gerade die oberste Maxime verderbt habe, obgleich dieses 
unsere eigene Tat ist". 

Zugleich hat Kant, das rein Intelligible verlassend und der 
Erörterung des nächsten Abschnittes vorgreifend, den Zusammen- 
hang des Intelligibel-Bösen mit dem Sensibel-Bösen angedeutet. 
Der Satz lautet: Die intelligible Tat ist „der formale Grund aller 
gesetzwidrigen Tat im zweiten Sinne genommen, welche der Materie 
nach demselben (d. i. dem Gesetz, das im Vorhergehenden nicht 
genannt ist, aber in „gesetzwidrig" steckt) widerstreitet und Laster 
genannt wird". Also: jede sensibel-böse Tat hat ihren Grund in 
der intelligibel-bösen Tat. Aber dieser lückenlose Zusammenhang 
zwischen sensibler und intelligibler Tat kann, wie schon berührt, 
nicht aufrecht erhalten werden; er kann nach Kants eigenen 
Voraussetzungen nur für die bewusst gesetzwidrige sensible Tat 
gelten. Kant kann ihn nur deswegen so scheinbar zwingend 
konstruieren, weil er den moralisch-bösen Hang zum Bösen weiter 
ausdehnt, als es nach seinen eignen Voraussetzungen angeht; weil 
er ihn auch da findet, wo die sensible Tat zwar gesetzwidrig, die 
Gesinnung aber gesetzmässig ist. 

3. Was hat nun Kant im Zusammenhang der Untersuchmig 
damit gewonnen, dass er am Menschen diesen intelligibeln Hang 
zum Bösen aufstellt? — Der Form nach bietet dieser Abschnitt 
lediglich das Pendant zum Vorhergehenden: er gewährt Übersicht 
über das, was beim Bösen den Anlagen zum Guten entspricht 
Indem er so die Kenntnis der Anlagen und Fähigkeiten vermittelt, 
entwickelt er das Material, auf Grund dessen dann das Urteü, ob 
der Mensch, wie er wirklich ist, gut oder böse sei, zu fällen ist. 
— Der Sache nach aber leistet der Abschnitt viel mehr. Indem 
er nämlich einen „angeborenen'' Hang zum Bösen finden und ihn 
zugleich als moralisch böse beurteilen lehrt, bringt er die Ent- 
scheidung: „der Mensch ist böse", und dies Urteil ist um so ge- 
wichtiger, weil es den intelligibeln Menschen, das eigentliche Ob- 
jekt der moralischen Betrachtung, trifft. In der Tat: von dem 
„Verdammungsurteüe der moralisch richtenden Vernunft ist der 
eigentliche Beweis^ in diesem Abschnitt enthalten (40 Anm.). 
Daher sein eigentümlich schwebender Charakter: in der Form 
Vorverhör, in der Sache ürteilsfällung. 



Kants Lehre vom radikalen Bösen. 333 

Was bleibt noch zu tun übrig, nachdem die Entscheidung 
getroffen ist? Zweierlei: zu sehen, ob der Mensch, wie er wirk- 
lich ist, diesem Urteil entspricht; und zu fragen, ob und wie weit 
sich der Ursprung des Bösen ergründen lässt. Dem sind die 
beiden nächsten Abschnitte gewidmet (bei Kant III und IV). 



IV. Der Mensch ist von Natur böse. 

(Der Mensch als Glied beider Welten, der sensiblen 

und der intelligiblen.) 

Entspricht der Mensch, wie er wirklich ist und auf Erden 
erscheint, diesem Verdammungsurteil? 

Damit verlässt die Untersuchung den schwierigen und 
schwankenden Boden des Intelligiblen und steigt herab auf den 
festen Boden der realen Wirklichkeit. Sie beschäftigt sich nicht 
mehr mit der intelligibeln Tat, sondeiii zunächst allein mit der 
sensiblen.^) 

1. Der Zweck dieses Abschnittes ist also, zu beweisen, 
dass der empirische Mensch wirklich böse ist, wie es nach Auf- 
stellung des intelligibeln Hanges zum Bösen gefordert werden 
muss. Die Überschrift bringt diese These auf eine kurze Form. 
Und um jedes Missverstäudnis auszuschliessen, schickt Kant eine 
Erläuterung der These ihrem Inhalt nach voraus. Zweierlei näm- 
lich wird damit behauptet, und zwei Fehldeutungen können leicht 
daran anknüpfen. Nicht behauptet wird, 1. dass der Mensch nur 
Böses in sich habe, und zweitens, dass er notwendig böse sei. 
Vielmehr soll damit dies gesagt sein. Erstens: Der Mensch ist 
sich des moralischen Gesetzes durchaus bewusst, hat aber doch 
zugleich die — wenn auch nur gelegentliche — Abweichung 
von demselben in seine Maxime aufgenommen. Und zweitens: Er 



*) Dass dies der beabsichtigte Gedaukenf ortschritt ist, zeigt die 
Schlossanmerkong zu diesem (III.) Abschnitt (S. 40), die seinen Inhalt auf 
die Erfahrung beschränkt, im Gegensatz zum II. Abschnitt Doch ist der 
Inhalt mit diesem Gegensatz von empirischer und intellektueller Betrachtung 
nicht erschöpfend gegeben ; denn Abschnitt III giebt in seinem 2. Teil die 
Synthese des intelligibeln und sensiblen moralischen Menschen. Der CHng 
der Untersuchung ist also der: Der Mensch erstens als intelligibles, zweitens 
als sensibles, drittens als intelligibel-sensibles Wesen. 

KMitoni4i«n xn. 22 



334 G. Pittbogen, 

kann nach dem, wie man ihn durch Erfahnuig kennt, nicht anders 
als böse beurteilt werden; d. h. man kann das Böse nur als sub- 
jektiv notwendig, nicht aber als objektiv notwendig in jedem 
Menschen voraussetzen. — Und wird diese Doppelthese bewiesen, 
dann sind also Zufälligkeit und Allgemeinheit des Bösen zugleich 
gegeben. Diese Kombination der sich sonst ausschliessenden 
Gegensätze muss dann veranlassen, nach einem tieferen Oninde zu 
fragen; denn sie ist nicht anders denkbar, als dass „der subjektive 
oberste Grund aller Maximen mit der Menschheit i) selbst, es sei, 
wodurch es wolle, verwebt und darin gleichsam gewurzelt*" ist. — 
Wegen dieser Einwurzelung können wir dann dies Böse .ein radi- 
kales Böses in der menschlichen Natur^ nennen, ohne äbrigens 
dabei zu vergessen, dass es zugleich als angeboren und erworben 
gilt. — Der Inhalt der These ist damit beschrieben und zugleich 
der Weg angedeutet, den man zu ihrem Beweise einschlagen 
muss. Aber ist sie berechtigt? 

2. Wir müssen die Erfahrung befragen. Lehrt sie, dass 
der Mensch böse ist? Oder mit den Worten der Begriffeent- 
Wickelung: kann er nach dem, wie man ihn durch Erfahrung 
kennt, nicht anders beurteilt werden, als dass man annimmt, er 
habe, während er sich des moralischen Gesetzes bewusst ist, doch 
die gelegenheitliche Abweichung von demselben in seine Maxime 
aufgenommen? Das ist jetzt die Frage. Oder vielmehr: es ist 
leider keine Frage mehr. Die Erfahrung schreit zu laut, als dass 
ein förmlicher Beweis nötig wäre. Ein kurzer Überblick über die 
Tatsachen der Erfahrung genügt. 

Betrachten wir zuerst den Menschen im Naturstande! Er 
zeigt keine natürliche Gutartigkeit, wie man sie als Folge der 
Anlagen zum Guten erwarten sollte und wie gutmütig optimistische 
Philosophen aus ihrer Theorie hemus behaupten. Wir finden bei 
ihnen vielmehr .Auftritte von ungereizter Grausamkeit *" , deren 
Bösartigkeit noch dadurch verstärkt wird, dass „kein Mensch den 
mindesten Vorteil davon haf". Und wie bei den Wilden, so ist*8 
doch schliesslich auch noch in der zivilisierten Welt: ,.man siebt 
an der Behaglichkeit, womit die Sieger ihre Grosstaten (des Zs- 
sammenhauens, Niederstossens ohne Verschonen und dergl.) prdjsen, 
das bloss ihre Überlegenheit und die Zerstörung, welche sie be> 



>) „Menschheif* hat auch hier den oben festgelegrten Sinn; cfr. S. 810^ 
Anm. 2. 



Kants Lehre vom radikalen BtVsen. 336 

wirken konnten, ohne einen andern Zweck, das sei, worauf sie 
sich eigentlich etwas zugute thun.*" 

Der Naturstand nämlich — geht aus diesem Zusatz von 1794 
heryor — wird durch den Übertritt in den gesitteten Zustand 
nicht aufgehoben, sondern er bleibt bestehen: gleichsam als erstes 
Stockwerk des Gebäudes, auf das nun der gesittete Zustand als 
zweites aufgesetzt wird. 

Was hier geschildert wurde, giebt sich deutlich zu erkennen, 
als zu den Lastern „der Rohigkeit der menschlichen Natur*" ge- 
hörig, die auf die Anlagen für die Tierheit aufgepfropft werden 
(vgl. oben S. 321 f.); und zwar zu denen, die in der »wilden Ge- 
setzlosigkeit^ ihre höchste Stufe erreichen. Es wäre ein leichtes, 
entsprechende Beispiele für die beiden andern, in ihrer höchsten 
Vollendung viehischen Laster der Wollust und Völlerei zu sammeln, 
die auch beide im Naturstand nicht eigentlich wurzeln, aber doch 
üppig gedeihen, und beide in den gesitteten Zustand hinüber- 
genommen werden. 

Und unter den Menschen im gesitteten Zustand, als ver- 
nünftigen Wesen, wiederholt sich dasselbe. Eine lange melan- 
cholische Litanei tönt uns entgegen: ,.von geheimer Falschheit, 
selbst bei der innigsten Freundschaft; von einem Hange, denjenigen 
zu hassen, dem man verbindlich ist; von einem herzlichen Wohl- 
wollen, welches doch die Bemerkung zulässt, es sei in dem Unglück 
unserer besten Freunde etwas, das uns nicht ganz missfällt; und 
von vielen andern unter dem Tugendschein noch verborgenen, 
geschweige derjenigen Laster, die ihrer garnicht hehl haben.*" 
Das sind deutlich „Laster der Kultur*", die auf die Anlage für die 
Menschheit aufgepfropft werden: die kränkendsten unter allen und 
so mannigfaltig und fast grenzenlos, dass Kant bei ihnen auf eine 
Klassifikation verzichtet hat. 

Aus der Kombination dieser beiden Zustände ergiebt sich 
ein dritter: wenn nämlich Gemeinschaften, von denen jede für 
sich in gesittetem Zustand lebt, gegeneinander im Verhältnis des 
rohen Naturstandes stehen. Kant nennt ihn den äusseren Völker- 
zustand. Diese Gemeinschaften, die Staaten, haben es sich auch 
fest in den Kopf gesetzt, nie aus diesem Zustand der Kriegs- 
verfassung herauszugehen; und ihre Grundsätze sind derart, dass 
noch kein Philosoph sie mit der Moral hat in Einklang bringen 
können. Das Ärgste aber ist, da^^s er auch keine bessern Grund- 
sätze vorschlagen kann. So wird es erklärlich, dass dieser moral- 

«2* 



336 G. Pittbogen, 

widrige Zustand als normal und gut empfunden wird.^) Und 80 
kann man darüber klagen, aber nicht eigentlich sich wnndeni, 
^dass der philosophische Ghiliasmus, der auf den Znstand eines 
ewigen, auf einen Völkerbund als Weltrepublik gegründeten Friedens 
hofft, ebenso wie der theologische, der auf des ganzen Menschen- 
geschlechts vollendete moralische Besserung harret, als Schwärmerei 
allgemein verlacht wird^. Immer aber bleibt es ein besonders 
schlimmes Zeichen für die Unmoralität der Menschen, dass sie 
diesen unmoralischen Zustand garnicht als unmoralisch and über- 
windenswert ansehen. 

Die Erfahrung lehrt also: auf der ganzen Linie entspricht 
das sensible Handeln des Menschen nicht dem Sollen, und es be- 
steht ein „in der Zeit wirklicher Widerstreit der menschlicben 
Willkür gegen das Gesetz" (nach S. 36). Die Allgeroeinheit des 
Bösen als sensibler Tat steht fest. 

Worin hat es seinen Grund? Ehe die treffende Antwort 
gegeben werden kann, müssen die beiden einfachsten und äblichsten 
Antworten geprüft und verworfen werden. — So üblich es ist, 
den Grund des Bösen (als Tat) „in der Sinnlichkeit und den daraus 
entspringenden natürlichen Neigungen "^ zu suchen, so leuchtet ^ 
doch nach allem bisher Entwickelten sofort ein, dass es verkehrt 
ist. Denn das Dasein der Sinnlichkeit hat der Mensch nicht zn 
verantworten; und durch Ausschaltung der „Triebfedern, die ans 
der Freiheit entspringen können", würde der Mensch zu einem 
bloss tierischen Wesen herabgedrückt. Die andere Deutung fällt 
ins entgegengesetzte Extrem, wenn sie den Grund des B^Vsen in 
eine absolute „Verderbnis der moralisch gesetzgebenden Vernunft 
setzt". Denn die Aufhebung des moralischen Charakters, die damit 
wohl nicht beabsichtigt, aber tatsächlich vollzogen wäre, würde 
den Menschen in ein rein teuflisches Wesen verwandeln. 

Der wahre Grund des Bösen muss vielmehr in der mora- 
lischen Vernunft selbst liegen, doch so, dass sie wohl getrübt, 
aber nicht gänzlich ausgelöscht erscheint. Bei dem Soeben nun 
nach einem dem moralischen Gebiete selbst angehörenden Ornnde 



*) Man ersieht übrigens hieraus, dass der Qlaube an den ewigei 
Frieden für Kant notwendig ist. Da die unsittlichen Gnmdsätse bleibei, 
so lange es Einzelstaaten giebt, aber doch endlich überwanden weidai 
müssen, so bietet sich nur eine Lösung: die Völker müssen als gesonderte 
Grössen aufhören und zu einer einzigen, allumfassenden Grösse susamoiMh 
wachsen. 



Kants Lehre vom radikalesn Böen. 337 

bietet sich wie von selbst das Resultat des vorigen Abschnittes 
dar: der Hang zum Bösen. Dadurch ist nicht bloss dieser Ab- 
schnitt mit dem vorhergehenden zusammengekettet, vor allem ist 
der sensible Mensch mit dem intelligiblen unlöslich verbunden. 

Um ganz deutlich zu sein: von der Erfahrung ausgehend, 
wird man genötigt, einen Grund des sensibel Bösen zu postulieren, 
„der 1. indem er die Moralität des Subjekts betrifft, als selbst- 
verschuldet ihm muss zugerechnet werden können^; der 2. indem 
er die Allgemeinheit des Bösen betrifft, so tief in die Willkür 
eingewurzelt sein muss, dass man sagen kann, „er sei in dem 
Menschen von Natur anzutreffen" (35). Mehr kann die empirische 
Betrachtung nicht leisten, namentlich nicht feststellen, ob dieser 
geforderte Grund des sensibel Bösen tatsächlich vorhanden ist. 
Hier tritt die intellektuelle Betrachtung ergänzend ein, indem sie 
den von ihr erkannten und erforschten Hang zum Bösen als das 
von der empirischen Betrachtung Gesuchte präsentiert. Das 
scheint so selbstverständlich, dass nach der Berechtigung dieser 
Kombination 1) nicht erst gefragt zu werden braucht. Und doch 
ist die Gleichung zwischen der Forderung der empirischen und 
der Gabe der intellektuellen Betrachtung in einem Punkt zu be- 
anstanden: es ist schon mehrfach darauf hingewiesen worden, 
dass der Hang zum Bösen in der Kantischen Formulierung mehr 
enthält, als gefordert wird. 

3. Den Grund des sensibel Bösen hat Kant also in dem 
intelligibel bösen Hang zum Bösen gefunden. Noch nicht er- 
giündet^) ist die „eigentliche Beschaffenheit", das Wesen des 



M Kant hat diese Verknüpfang, die ihm den wahren Grand des 
sensibel Bösen liefert, nur so nebenbei vollzogen, in der Ablehnung des 
ersten verkehrten Grundes. Wahrscheinlich schien sie ihm zu selbst- 
verst&ndlich. Er meinte, dass das „Dasein dieses Hanges zum Bösen . . • 
durch Erfahrungsbeweise . . . dargetan werden kann^ (86). Das »dass'* 
allenfalls, aber nicht das „Wie^. Es bleibt also immer noch nachzuweisen, 
dass der eine^ang mit dem andern identisch ist. Der Name thuts nicht; 
das gleiche aufgeheftete Etikett beweist nichts fflr gleichen Inhalt. — 
Dieselbe Verbindung des Sensibeln und Intelligibeln ist übrigens schon im 
vorigen Abschnitt (cfr. oben 332) versucht, nur vom andern Ende aus. 

'') Im vollen Sinne trifft das nur für diesen Abschnitt zu ; bereits in 
der Erörterung über den Hang zum Bösen trat an einer SteUe dieselbe 
Anschauung vom Wesen des Bösen hervor; allerdings nur kurz erwähnt. 
— ¥js zeigt sich: Abschnitt II und HI behandelte im Grunde dasselbe 
Problem, nur hier vom Sensibeln, dort vom Intelligibeln ausgehend. Daher 
die vielfachen Berührungspunkte. 



338 G. t'ittbogen, 

Bösen; und zwar kann dies nicht aus dem sensibel BOsen durch 
empirische Betrachtung gewonnen werden, sondern aus .dem Bösen 
überhaupt durch intellektuelle Betrachtung. Denn die beiden 
Grössen, um die sichs hierbei handelt, — freie Willkür ond mora- 
lisches Gesetz — sind intelligibel. Die aprioristische Begrif&ent- 
wickelung ist diese: 

Kraft einer moralischen Anlage würde Jeder Mensch das 
moralische Gesetz eo ipso als hinreichenden Bestimnmngsgmnd 
der Willkür in seine oberste Maxime aufnehmen und dadurch 
moralisch gut sein, — wenn keine andere Triebfeder dagegen 
wirkte. 

Kraft der sinnlichen Naturanlage würde Jeder Mensch sich 
von den Triebfedern der Sinnlichkeit leiten lassen und moralisch 
unbeurteilbar (rein tierisch) sein, — wenn keine andere Triebfeder 
dagegen wirkte. Nähme nun der Mensch die Triebfedern der 
Sinnlichkeit als hinreichenden Bestimmungsgrund der Willkür in 
seine oberste Maxime auf, „ohne sich ans moralische Gesetz, welches 
er doch in sich hat, zu kehren so würde er moralisch böse sein**. 

Tatsächlich nimmt der Mensch nun beide Triebfedern in seine 
Maxime auf. Da er dadurch — wie früher gezeigt — nicht zugleich 
gut und böse werden kann, so kann der Unterschied von gut und 
böse nicht in der Verschiedenheit der Triebfedern liegen, sondern 
nur in ihrer falschen Ordnung: „welche von beiden er zur Bedingung 
der andern macht *". Und „folglich ist der Mensch nur dadurch 
böse, dass er die sittliche Ordnung der Triebfedern in der Auf- 
nehmung derselben in seine Maximen umkehrt^; speziell: dadurch, 
dass er „die Triebfeder der Selbstliebe und ihrer Neigungen zur 
Bedingung der Befolgung des moralischen Gesetzes macht, da 
das letztere vielmehr als die oberste Bedingung der Befriedigung 
der ersteren in die allgemeine Maxime der Wülkür als alleinige 
Triebfeder aufgenommen werden sollte". 

Auf die Wesensbestimmung des Bösen folgen nun noch eine 
Reihe Erläuterungen zur Beurteilung des Menschen als eines Gliedes 
zweier Welten, der sensiblen und intelligibeln. Sie ergeben sich 
aus dem Vorhergehenden von selbst und haben etwas von der 
populären Sprache, die Vorländer am ganzen Werk rühmt (so auch 
Abschnitt V; übrigens auch mehrere Abschnitte der Kr. d. pr. V„ 
selbst der Kr. d. r. V.). Ihr Zweck ist, zu betonen, dass der 
Mensch nicht nach den sensiblen Taten, sondern nach der intelli- 
gibeln Gesinnung beurteilt werden muss. Ihr Inhalt ist kurz der: 



Kants Lehre vom radikalen Böeen. 839 

Erstens: Der Wert des Menschen hfingt nicht an den legalen 
Handlangen, sondern an der Gesinnung. Legale Handlangen können 
auch bei verkehrter Ordnung der Triebfedern aus der Neigung 
entstehen: ^Da dann der empirische Charakter gut,^) der intelli- 
gibele aber immer noch böse ist.^ Also eine eindringliche Mahnung 
zu sittlichem Ernst. Aber seinen vollen Wert erhält dieser Satz 
erst durch die EIrgänzung und Umkehrung: Der Mensch kann seinem 
empirischen Charakter nach böse, dem intelligibeln Charakter nach 
aber schon gut sein. Kant hat diese KoDsequenz nicht in dieser 
Form ausgesprochen; sie entspricht aber, denk ich, seinen Voraus- 
setzungen. 

Zweitens : Das Böse ist eine ausserordentlich gefährliche Macht. 
Denn es ist so eingewurzelt, dass es „durch menschliche Kräfte 
nicht zu vertilgen^ ist. Aber andererseits ist der Widerstand auch 
nicht aussichtslos. Denn da der Mensch ein freihandelndes Wesen 
ist, so muss es möglich sein, das radikale Böse wenigstens zu 
überwinden. — Wie lässt sich das denken? Das radikale Böse 
kann nicht ausgerottet, aber überwunden werden? Der Mensch 
nach der Sinnesänderung — so zeigt der 5. Abschnitt — ist 
intelligibel gut und der Gesinnung nach ohne Schuld und ohne 
Böses; der neue Mensch ist ohne das radikale Böse, das haftet 
nur dem alten Menschen an. Aber trotzdem soll das radikale Böse 
unausrottbar sein? Eine wirkliche Lösung dieser Schwierigkeit 
scheint mir unmöglich zu sein. ^) Sie entsteht dadurch, dass Kant 
den Hang zum Bösen zu grossen Inhalt und Umfang gegeben bat. 
Wenn auch diese begriffliche Konstruktion nicht vOÜig gelungen 

Es ist deutlich, dass ngat^ hier nicht im Sinne der Kantischen 
Schulsprache, sondern im vulgären Sinne gemeint ist. Die beiden Glieder 
der Antithese (gut und böse) sind also inkommensurable Grössen. 

^ Lftsst man zunächst beide Bestimmtngen Kants gelten, so kommt 
das Resultat heraus: dass der intelligibel gute Mensch etwas intelligibel 
Böses an sich hat, das ihn eo ipso intelligibel böse machen müsste. Also 
der vollendete Selbstwiderspruch. — Übrigens hat vielleicht Kant selbst 
ein Gefühl dafür gehabt, dass er mit seinem Hang zum Bösen üben Ziel 
hinausgeschossen iiat. Wenigstens klingt der Satz, auf den ich oben Bezug 
nehme, wie eine leise Einschränkung und Zurücknahme: «Diese . . . vor 
jedem Guten . . . vorhergehende Schuld, die auch daqenige ist, was, und 
nichts mehr, wir unter dem radikalen Bösen verstanden, u. s.w.'' (S. 74). 

Vielleicht lässt sich die Schwierigkeit in dieser Richtung lösen: Das 
radikale Böse ist intelligibel, ist ausrottbar; das unausrottbare Böse ist 
sensibel, aber nicht mehr radikal Doch bleibt es natürlich 
ob Kant mit einer solchen Formulierung zufrieden wäre. 



334 G. Pittbog^ü, 

kann nach dem, wie man ihn durch Erfahrung kennt, nicht anders 
als böse beuileilt werden; d. h. man kann das Böse nur als sub- 
jektiv notwendig, nicht aber als objektiv notwendig in jedem 
Menschen voraussetzen. — Und wird diese Doppelthese bewiesen, 
dann sind also Zufälligkeit und Allgemeinheit des Bösen zugleich 
gegeben. Diese Kombination der sich sonst ausschliessenden 
Gegensätze muss dann veranlassen, nach einem tieferen Grunde za 
fragen; denn sie ist nicht anders denkbar, als dass „der subjektive 
oberste Grund aller Maximen mit der Menschheit i) selbst, es sei, 
wodurch es wolle, verwebt und darin gleichsam gewurzelt" ist. — 
Wegen dieser Einwurzelung können wir dann dies Böse „ein radi- 
kales Böses in der menschlichen Natur'' nennen, ohne übrigens 
dabei zu vergessen, dass es zugleich als angeboren und erworben 
gilt. — Der Inhalt der These ist damit beschrieben und zugleich 
der Weg angedeutet, den man zu ihrem Beweise einschlagen 
muss. Aber ist sie berechtigt? 

2. Wir müssen die Erfahrung befragen. Lehrt sie, dass 
der Mensch böse ist? Oder mit den Worten der Begriffsent- 
wickelung: kann er nach dem, wie man ihn dui*ch Erfahrung 
kennt, nicht anders beurteilt werden, als dass man annimmt, er 
habe, während er sich des moralischen Gesetzes bewusst ist, doch 
die gelegenheitliche Abweichung von demselben in seine Maxime 
aufgenommen? Das ist jetzt die Frage. Oder vielmehr: es ist 
leider keine Frage mehr. Die Erfahrung schreit zu laut, als dass 
ein förmlicher Beweis nötig wäre. Ein kurzer Überblick über die 
Tatsachen der Erfahrung genügt. 

Betrachten wir zuerst den Menschen im Naturstande! Er 
zeigt keine natürliche Gutartigkeit, wie man sie als Folge der 
Anlagen zum Guten erwarten sollte und wie gutmütig optimistische 
Philosophen aus ihrer Theorie heraus behaupten. Wir finden bei 
ihnen vielmehr „Auftritte von ungereizter Grausamkeit", deren 
Bösartigkeit noch dadurch verstärkt wird, dass „kein Mensch den 
mindesten VorteU davon hat". Und wie bei den Wilden, so ist's 
doch schliesslich auch noch in der zivilisierten Welt: ,.man sieht 
an der Behaglichkeit, womit die Sieger ihre Grosstaten (des Za- 
sammenhauens, Niederstossens ohne Verschonen und dergl.) preisen, 
das bloss ihre Überlegenheit und die Zerstörung, welche sie be- 



>) „Menschheit" hat auch hier den oben festgelegten Sinn ; cfr. S. 320, 
Anm. 2. 



Kants Lehre vom radikalen BiVsen. 336 

wirken konnteu, ohne einen andern Zweck, das sei, worauf sie 
sich eigentlich etwas zugute thun.*" 

Der Naturstand nämlich — geht aus diesem Zusatz von 1794 
hervor — wird durch den Übertritt in den gesitteten Zustand 
nicht aufgehoben, sondern er bleibt bestehen: gleichsam als erstes 
Stockwerk des Gebäudes, auf das nun der gesittete Zustand als 
zweites aufgesetzt wird. 

Was hier geschildert wurde, giebt sich deutlich zu erkennen, 
als zu den Lastern „der Rohigkeit der menschlichen Natur^ ge- 
hörig, die auf die Anlagen für die Tierheit aufgepfropft werden 
(vgl. oben S. 321 f.); und zwar zu denen, die in der »wilden Ge- 
setzlosigkeit^ ihre höchste Stufe erreichen. Es wäre ein leichtes, 
entsprechende Beispiele für die beiden andern, in ihrer höchsten 
Vollendung viehischen Laster der Wollust und Völlerei zu sammeln, 
die auch beide im Naturstand nicht eigentlich wurzeln, aber doch 
üppig gedeihen, und beide in den gesitteten Zustand hinüber- 
genommen werden. 

Und unter den Menschen im gesitteten Zustand, als ver- 
nünftigen Wesen, wiederholt sich dasselbe. Eine lange melan- 
cholische Litanei tönt uns entgegen: „von geheimer Falschheit, 
selbst bei der innigsten Freundschaft; von einem Hange, denjenigen 
zu hassen, dem man verbindlich ist; von einem herzlichen Wohl- 
wollen, welches doch die Bemerkung zulässt, es sei in dem Unglück 
unserer besten Freunde etwas, das uns nicht ganz missfällt; und 
von vielen andern unter dem Tugendschein noch verborgenen, 
geschweige derjenigen Laster, die ihrer garnicht hehl haben.*" 
Das sind deutlich „Laster der Kultur", die auf die Anlage für die 
Menschheit aufgepfropft werden: die kränkendsten unter allen und 
so mannigfaltig und fast grenzenlos, dass Kant bei ihnen auf eine 
Klassifikation verzichtet hat. 

Aus der Kombination dieser beiden Zustände ergiebt sich 
ein dritter: wenn nämlich Gemeinschaften, von denen jede für 
.sich in gesittetem Zustand lebt, gegeneinander im Verhältnis des 
rohen Naturstandes stehen. Kant nennt ihn den äusseren ViUker- 
zustand. Diese Gemeinschaften, die Staaten, haben es sich auch 
fest in den Kopf gesetzt, nie aus diesem Zustand der Kriegs- 
yerfassung herauszugehen; und ihre Grundsätze sind derart, dass 
noch kein Philosoph sie mit der Moral hat in Einklang bringen 
können. Das Ärgste aber ist, dass er auch keine bessern Grund- 
sätze vorschlagen kann. So wird es erklärlich, dass dieser moral- 

«2* 



336 G. Pittbogen, 

widrige Zustand als normal und gut empfunden wlrd.^) Und so 
kann man darüber klagen, aber nicht eigentlich sich wunden, 
„dass der philosophische Chiliasmus, der auf den Zustand eines 
ewigen, auf einen Völkerbund als Weltrepublik gegründeten Friedens 
hofft, ebenso wie der theologische, der auf des ganzen Menschen- 
geschlechts vollendete moralische Besserung harret, als Schwämierei 
allgemein verlacht wird". Immer aber bleibt es ein besonders 
schlimmes Zeichen für die Unmoralität der Menschen, dass sie 
diesen unmoralischen Zustand gamicht als unmoralisch und über- 
windenswert ansehen. 

Die Erfahrung lehrt also: auf der ganzen Linie entspricht 
das sensible Handeln des Menschen nicht dem Sollen, und es be- 
steht ein „in der Zeit wirklicher Widerstreit der menschlichen 
Willkür gegen das Gesetz" (nach S. 36). Die Allgeroeinheit des 
Bösen als sensibler Tat steht fest. 

Worin hat es seinen Grund? Ehe die treffende Antwort 
gegeben werden kann, müssen die beiden ißinfachsten und üblichsten 
Antworten geprüft und verworfen werden. — So üblich es ist, 
den Grund des Bösen (als Tat) „in der Sinnlichkeit und den daraus 
entspringenden natürlichen Neigungen" zu suchen, so leuchtet «s 
doch nach allem bisher Entwickelten sofort ein, dass es verkehrt 
ist. Denn das Dasein der Sinnlichkeit hat der Mensch nicht zn 
verantworten; und durch Ausschaltung der „Triebfedern, die ans 
der Freiheit entspringen können", würde der Mensch zu einem 
bloss tierischen Wesen herabgedrückt. Die andere Deutung fällt 
ins entgegengesetzte Extrem, wenn sie den Grund des Bösen in 
eine absolute „Verderbnis der moralisch gesetzgebenden Vernunft 
setzt". Denn die Aufhebung des moralischen Charakters, die damit 
wohl nicht beabsichtigt, aber tatsächlich vollzogen wäre, würde 
den Menschen in ein rein teuflisches Wesen verwandeln. 

Der wahre Grund des Bösen muss vielmehr in der mora- 
lischen Vernunft selbst liegen, doch so, dass sie wohl getrübt, 
aber nicht gänzlich ausgelöscht erscheint. Bei dem Soeben Dnn 
nach einem dem moralischen Gebiete selbst angehörenden GroDde 



Man ersieht übrigens hieraus, dass der Qlaube an den ewigeo 
Frieden für Kant notwendig ist. Da die unsittlichen Grundsätze bleiben, 
so lange es Einzelstaaten giebt, aber doch endlich überwanden weiden 
müssen, so bietet sich nur eine Lösung: die Völker müssen als gesonderte 
Grössen aufhören und zu einer einzigen, allumfassenden Grösse zusammen- 
wachsen. 



Kants Lehre vom radikalesn Böen. 337 

bietet sich wie von selbst das Resultat des vorigen Abschnittes 
dar: der Hang zum Bösen. Dadurch ist nicht bloss dieser Ab- 
schnitt mit dem vorhergehenden zusammengekettet, vor allem ist 
der sensible Mensch mit dem intelligibleu unlöslich verbunden. 

Um ganz deutlich zu sein: von der Erfahrung ausgehend, 
wird man genötigt, einen Grund des sensibel Bösen zu postulieren, 
„der 1. indem er die Moralität des Subjekts betrifft, als selbst- 
verschuldet ihm muss zugerechnet werden können^; der 2. indem 
er die Allgemeinheit des Bösen betrifft, so tief in die Willkür 
eingewurzelt sein muss, dass man sagen kann, „er sei in dem 
Menschen von Natur anzutreffen" (35). Mehr kann die empirische 
Betrachtung nicht leisten, namentlich nicht feststellen, ob dieser 
geforderte Grund des sensibel Bösen tatsächlich vorhanden ist. 
Hier tritt die intellektuelle Betrachtung ergänzend ein, indem sie 
den von ihr erkannten und erforschten Hang zum Bösen als das 
von der empirischen Betrachtung Gesuchte präsentiert. Das 
scheint so selbstverständlich, dass nach der Berechtigung dieser 
Kombination 1) nicht erst gefragt zu werden braucht. Und doch 
ist die Gleichung zwischen der Forderung der empirischen und 
der Gabe der intellektuellen Betrachtung in einem Punkt zu be- 
anstanden: es ist schon mehrfach darauf hingewiesen worden, 
dass der Hang zum Bösen in der Kantischen Formulierung mehr 
enthält, als gefordert wird. 

3. Den Grund des sensibel Bösen hat Kant also in dem 
intelligibel bösen Hang zum Bösen gefunden. Noch nicht er- 
giündet^) ist die „eigentliche Beschaffenheit", das Wesen des 



M Kant hat diese Verknüpfong, die ihm den wahren Grund des 
sensibel Bösen liefert, nur so nebenbei vollzogen, in der Ablehnung des 
ersten verkehrten Grundes. Wahrscheinlich schien sie ihm zu selbst- 
verst&ndlich. Er meinte, dass das „Dasein dieses Hanges zum Bösen . . • 
durch Erfahrungsbeweise . . . dargetan werden kann^ (86). Das »dass'* 
allenfalls, aber nicht das „Wie^. Es bleibt also immer noch nachzuweisen, 
dass der eine^ang mit dem andern identisch ist. Der Name thuts nicht; 
das gleiche aufgeheftete Etikett beweist nichts fflr gleichen Inhalt. — 
Dieselbe Verbindung des Sensibeln und Intelligibeln ist übrigens schon im 
vorigen Abschnitt (cfr. oben 332) versucht, nur vom andern Ende aus. 

^) Im vollen Sinne trifft das nur für diesen Abschnitt zu ; bereits in 
der Erörterung über den Hang zum Bösen trat an einer SteUe dieselbe 
Anschauung vom Wesen des Bösen hervor; allerdings nur kurz erwähnt. 
— Es zeigt sich: Abschnitt II und m behandelte im Grunde dasselbe 
Problem, nur hier vom Sensibeln, dort vom Intelligibeln ausgehend. Daher 
die vielfachen Berührungspunkte. 



338 Ö. t'ittbogen, 

Bösen; und zwar kann dies nicht aus dem sensibel Bösen durch 
empirische Betrachtung gewonnen werden, sondern aus. dem Bösen 
überhaupt durch intellektuelle Betrachtung. Denn die beiden 
Grössen, um die sichs hierbei handelt, — freie Willkür nnd mora- 
lisches Gesetz — sind intelligibel. Die aprioristische Begriffsent- 
Wickelung ist diese: 

Kraft einer moralischen Anlage würde jeder Mensch das 
moralische Gesetz eo ipso als hinreichenden Bestimniungsgrand 
der Willkür in seine oberste Maxime aufnehmen und dadurch 
moralisch gut sein, — wenn keine andere Triebfeder dagegen 
wirkte. 

Kraft der sinnlichen Naturanlage würde Jeder Mensch sich 
von den Triebfedern der Sinnlichkeit leiten lassen and moralisch 
unbeurteilbar (rein tierisch) sein, — wenn keine andere Triebfeder 
dagegen wirkte. Nähme nun der Mensch die Triebfedern da* 
Sinnlichkeit als hinreichenden Bestimmungsgmnd der Willkür in 
seine oberste Maxime auf, „ohne sich ans moralische Gesetz, welches 
er doch in sich hat, zu kehren so würde er moralisch böse sein''. 

Tatsächlich nimmt der Mensch nun beide Triebfedern in seine 
Maxime auf. Da er dadurch — wie früher gezeigt — nicht zugleich 
gut und böse werden kann, so kann der Unterschied von gut und 
böse nicht in der Verschiedenheit der Triebfedern li^en, sondern 
nur in ihrer falschen Ordnung: „welche von beiden er zur Bedingung 
der andern macht *". Und „folglich ist der Mensch nur dadurch 
böse, dass er die sittliche Ordnung der Triebfedern in der Aaf- 
nehmung derselben in seine Maximen umkehrt^; speziell: dadurch, 
dass er „die Triebfeder der Selbstliebe und ihrer Neigungen zur 
Bedingung der Befolgung des moralischen Gesetzes macht, da 
das letztere vielmehr als die oberste Bedingung der Befriedigung 
der ersteren in die allgemeine Maxime der WUlkür als alleinige 
Triebfeder aufgenommen werden sollte". 

Auf die Wesensbestimmung des Bösen folgen nun noch eine 
Reihe Erläuterungen zur Beurteilung des Menschen als eines Gliedes 
zweier Welten, der sensiblen und intelligibeln. Sie ergeben sich 
aus dem Vorhergehenden von selbst und haben etwas von der 
populären Sprache, die Vorländer am ganzen Werk rühmt (so auch 
Abschnitt V ; übrigens auch mehrere Abschnitte der &. d. pr. V., 
selbst der Kr. d. r. V.). Ihr Zweck ist, zu betonen, dass der 
Mensch nicht nach den sensiblen Taten, sondern nach der intelli- 
gibeln Gesinnung beurteilt werden muss. Ihr Inhalt ist kurz da^: 



Kants Lehre vom radikalen Böeen. 839 

Erstens : Der Wert des Menschen h&ngft nicht an den legalen 
Handinngen, sondern an der Gesinnung. Legale Handinngen können 
auch bei verkehrter Ordnung der Triebfedern aus der Neigung 
entstehen: „Da dann der empirische Charakter gut,^) der intelli- 
gibele aber immer noch böse ist.^ Also eine eindringliche Mahnung 
zu sittlichem Ernst. Aber seinen vollen Wert erhält dieser Satz 
erst durch die IQrgänzung und Umkehrung: Der Mensch kann seinem 
empirischen Charakter nach böse, dem intelligibeln Charakter nach 
aber schon gut sein. Kant hat diese Eonsequenz nicht in dieser 
Form ausgesprochen; sie entspricht aber, denk ich, seinen Voraus- 
setzungen. 

Zweitens : Das Böse ist eine ausserordentlich gefährliche Macht. 
Denn es ist so eingewurzelt, dass es „durch menschliche Kräfte 
nicht zu vertilgen^ ist. Aber andererseits ist der Widerstand auch 
nicht aussichtslos. Denn da der Mensch ein freihandelndes Wesen 
ist, so muss es möglich sein, das radikale Böse wenigstens zu 
überwinden. — Wie lässt sich das denken? Das radikale Böse 
kann nicht ausgerottet, aber überwunden werden? Der Mensch 
nach der Sinnesänderung — so zeigt der 5. Abschnitt — ist 
intelligibel gut und der Gesinnung nach ohne Schuld und ohne 
Böses; der neue Mensch ist ohne das radikale Böse, das haftet 
nur dem alten Menschen an. Aber trotzdem soll das radikale Böse 
unausrottbar sein? Eine wirkliche Lösung dieser Schwierigkeit 
scheint mir unmöglich zu sein.^) Sie entsteht dadurch, dass Kant 
den Hang zum Bösen zu grossen Inhalt und Umfang gegeben bat. 
Wenn auch diese begriffliche Konstruktion nicht völlig gelungen 

Es ist deutlich, dass „gat*^ hier nicht im Sinne der Kantischen 
Schulsprache, sondern im vulgären Sinne gemeint ist. Die beiden Glieder 
der Antithese (gut und böse) sind also inkommensurable Grössen. 

^ Lftsst man zunächst beide Bestimmtngen Kants gelten, so kommt 
das Resultat heraus: dass der intelligibel gute Mensch etwas intelligibel 
Böses an sich hat, das ihn eo ipso intelligibel böse machen müsste. Also 
der vollendete Selbstwiderspruch. ^ Übrigens hat vielleicht Kant selbst 
ein Gefühl dafür gehabt, dass er mit seinem Hang zum Bösen ttbeis Ziel 
hinausgeschossen iiat. Wenigstens küngt der Satz, auf den ich oben Bezug 
nehme, wie eine leise Einschränkung und Zurücknahme: i^Diese . . . vor 
jedem Guten . . . vorhergehende Schuld, die auch daqenige ist, was, und 
nichts mehr, wir unter dem radikalen Bösen verstanden, n. s.w.'' (S. 74). 

Vielleicht lässt sich die Schwierigkeit in dieser Richtung lösen: Das 
radikale Böse ist intelligibel, ist ansrottbar; das unausrottbare Böse ist 
sensibel, aber nicht mehr radikal Doch bleibt es natOriich zweifelhaft, 
ob Kant mit einer solchen Formulierung zufrieden wäre. 



340 G. Fittbogen. 

scheint, so ist doch deutlich, was Kant damit gemeint haben wird: 
vor allem die stets vorhandene Versachbarkeit auch des besten 
Menschen, (cf. schon Bei. i. d. 6r. S. 31 und oben mehrfach.) 

Drittens: Die Bösartigkeit der menschlichen Natur ist nicht 
absolut, sondern relativ; am zutreffendsten als „Verkehrtheit des 
Herzens", wegen der ümkehrung der sittlichen Ordnung der Trieb- 
federn, zu bezeichnen. Sie kann sogar „mit einem im allgemeinen 
guten (im vulgären Sinne) Willen zusammenbestehen^, insofern sie 
aus Gebrechlichkeit und Unlauterkeit entspringt i) und nicht immer 
zu gesetzwidrigen Taten und zum Laster führt. Aber durch diese 
Erkenntnis darf sich der Mensch ja nicht verleiten lassen, nun zn 
glauben, er sei im Grunde garnicht wirklich böse; vielmehr gerade 
durch solchen Glauben würde er seinen radikal bösen Charakter 
aufs sichtbarste offenbaren: denn „die Denkungsart, sich die Ab- 
wesenheit desselben (des Lasters) schon für Angemessenheit der 
Gesinnung zum Gesetze der Pflicht auszulegen", ist „selbst schon 
eine radikale Verkehrtheit im menschlichen Herzen zu nennen''. 

Viertens: Dieses Erkenntnis schützt vor überspannt strengem 
Urteil, ohne doch die Strenge selbst aufzuheben. Die Schuld für 
den bösen Hang trägt der Mensch selbst, und niemand ist, der sie 
ihm abnehmen könnte. Immerhin aber können die beiden ersten 
Stadien des Hanges (Gebrechlichkeit und Unlauterkeit) als unvor- 
sätzliche Schuld beurteilt werden und nur "der letzte höchste Grad 
als vorsätzliche Schuld. 

Endlich: Die Wirkung dieses angeborenen schuldhaften Bös^ 
ist für das Leben des Menschen verhängnisvoll. Denn es verleiht 
seinem Herzen den Charakter einer gewissen Tücke, „sich wegen 
seiner eigenen guten oder bösen Gesinnungen selbst zu betrügen^ 
und will ihm so die Vorbedingung zum sittlichen Streben rauben: 
die Klarheit über sich selb«t. Ebenso verhängnisvoll ist die Wirkung 
für das Leben der Gesamtheit. Denn „diese Unredlichkeit, sich 
selbst blauen Dunst vorzumachen^, hindert nicht bloss die Gründung 
echter moralischer Gesinnung in uns, sie erweitert sich aadi 
äusserlich zur Falschheit und Täuschung anderer. Und dies V^ 



^) Ist das nicht eigentlich ein Zirkelschluss? Die Bösartigkeit der 
menschlichen Natur resp. das böse Herz „entspringt aus der G^ebrechlidikeit 
der menschlichen Natur mit der Unlauterkeit verbunden^. Gebrechlichkeit 
und Unlauterkeit der menschlichen Natur sind aber nach der Lehre vom 
Hang zum Bösen selbst böse. Also wäre die Bösartigkeit hier schon vor- 
handen, entspringt also nicht erst daraus. 



Kants Lehre vom radikalen Bösen. 341 

hänguis waltet, solauge das radikale Böse, das „den faulen Fleck 
unserer Gattung ausmacht", in der menschlichen Natur bleibt. So 
lange wird der Keim des Guten gehindert, „sich, wie er sonst 
wohl thun würde, zu entwickeln", solange rauss das Klagewort 
des Paulus gelten: „Es ist keiner, der Gutes thue (nach dem 
Geiste des Gesetzes), auch nicht einer." 

4. Den ganzen Abschnitt im Rückblick überschauend, sehen 
wir: sein Inhalt ist reicher, als die an die Spitze gestellte Frage 
vermuten lä.sst. Denn ausser dem Nachweis von der Bösartigkeit 
des empirischen Menschen bot er Aufschluss über Grund und Wesen 
des Bösen und Anleitung zur richtigen Bewertung des iutelligibel- 
sensiblen Menschen. Als Grand des sensibel Bösen war der Hang 
zum Bösen aufgestellt, und so überrascht es zunächst, als Über- 
schrift des nächsten Abschnittes zu lesen: „Von dem Ursprünge 
des Bösen in der menschlichen Natur." 



V. Der Ursprung des Bösen. 

1. Die Frage nach dem Ursprung des Bösen überrascht, 
sage ich, an dieser Stelle. Denn wenn sie auch oben (S. 333) als 
besondere Frage formuliert ist, so scheint sie doch im vorigen 
Abschnitt schon mit beantwortet zu sein und keiner eigenen Er- 
örterung mehr zu bedürfen. Denn sind „Grund" und „Ursprung" 
nicht so nah verwandt, dass eins fürs andere eintreten kann? Soll 
also die Frage noch einen Sinn haben, dann wird — so legt man 
sich unwillkürlich die Sache zurecht — dies gemeint sein : während 
eben der Ursprung der sensiblen Tat gesucht und in der iutelli- 
gibeln Tat (dem Hang zum Bösen) auch gefunden wurde, soll jetzt 
nach dem Ursprung der intelligibeln Tat geforscht werden. Aber 
dem ist nicht so; wenigstens nicht gleich. Wir sollen vielmehr 
^anfänglich noch nicht den Hang dazu (zum Bösen) in Anschlag 
bringen, sondern nur das wirkliche Böse gegebener Handlungen" 
(42) in Betracht ziehen. Zum zweiten Male also wird nach dem 
Ursprung der sensibel bösen Tat gefragt. Kann eine Tat zwei 
Ursprünge haben? Allerdings, und hierin liegt die Lösung des 
Befremdlichen: sie kann einen Zeit- und einen Vernunftursprung^) 
haben. 



Diese Unterscheidung beruht auf der Erkenntnis: dass die Hand- 
lungen in der Erscheinung nicht die Handlungen an sich selbst sind. Die 



342 G. Fittbogen, 

2. a) Bisher ist nur der Zeitursprung der bösen Tat erörtert 
worden, wobei sie „als Begebenheit auf ihre Ursache in der Zeit 
bezogen" (40) wird. Er liegt wirklich im Hang zum Bösen. Dass 
dies Kants Meinung ist, zeigt der Schluss der Erörterung über den 
Vernunftursprung der sensiblen Tat, dort heisst es (S. 44): .Dies» 
Hang aber bedeutet nichts weiter, als dass, wenn wir uns auf die 
Erklärung des Bösen seinem Zeitanfange nach einlassen woUeD, 
wir bei jeder vorsätzlichen Übertretung die Ursachen in einer 
vorigen Zeit unsers Lebens bis in diejenige, wo der Vernunft- 
gebrauch noch nicht entwickelt war, suchen,^) »mithin bis zu einem 
Hange (als natürliche Grundlage) zum Bösen ... die Quelle des 
Bösen verfolgen müssten^. Zugleich aber sehen wir, dass diese 
Erklärung, die doch mit so grosser Mühe gewonnen war, als im 
letzten Grunde unzulänglich, als nebensächlich betrachtet und mit 
einem „nichts weiter als" beiseite geschoben wird. Warum das? 
Den Grund deutet der folgende Satz an: „Wir müssen aber von 
einer moralischen Beschaffenheit, die uns soll zugerechnet 
werden, keinen Zeitursprung suchen." (44) Das führt auf deo 
springenden Punkt. 

Indem nämlich die sensible Tat aus dem Hang zum Bösen 
als Folge abgeleitet wird, verliert sie insofern Freiheit und Zu- 
rechnungsfähigkeit. Denn hier liegt in der Tat auf moralischem 
Gebiet ein kausaler Zusammenhang vor, der für die sensible Tat 
nur die fatale „Freiheit eines Bratenwenders" (Kr. d. pr. V. 118) 
übrig lässt. Im Interesse wahrer Sittlichkeit war die Zurüd- 
führung der sensiblen Tat auf die intelligible vollzogen; und es 
ergiebt sich das eigenartige Resultat, dass gerade dadurch die 
sittliche Zurechnungsfähigkeit der einzelnen sensiblen Tat aofge- 
hoben und so die Interessen der Sittlichkeit au£s schwerste ge- 
fährdet werden. 2) Die Aufgabe ist nun, einerseits einfach an- 



Frage nach dem Zeitursprunge betrifft die Handlungen, sofern sie in der 
Zeit bestimmbar sind, also als Erscheinungen. Die Frage nach dem Vtf* 
nunftursprung muss sich also auf die Handlungen an sich selbst bezielieB. 

^) Die Inkonzinnität dieses Satzes wird am einfachsten erid&rt und 
gehoben, wenn man dies oder ein ähnliches Verbum in GMUmken eigftotf. 
Jetzt ist das Gerippe des Nebensatzes „dass wir die Uisache in eiser 
vorigen Zeit, mithin bis zu einem Hange die Quellen des BOsen Tsrfoiga 
müssten**. 

^) Bei Kant kommt diese drohende Gefahr nicht sehr deutlich zoo 
Ausdruck. — Zu der Ausdehnimg der Kausalität auf moralisches Gebiet 
vergleiche oben S. 312. 



Kants Lehre vom radikalen BiVsen. 343 

zuerkenneD, dass die einzelue Tat anter den Zwang einer 
geistigen Kausalität gestellt ist, andererseits aber doch die sitt- 
liche Bearteilnng festzuhalten. Zu dem Zweck wird der Vernunft- 
ursprung eingeführt. 

Beim Vernunftursprung wird bloss das Dasein einer Hand- 
lung betrachtet, ohne sie von einem vorhergehenden Zustand ab- 
zuleiten. Die Willkür, so hat man sich es vorzustellen, wird 
durch nichts irgendwie Zeitliches, sondern allein durch Vernunft- 
yorstellungen zur Hervorbringung von Handlungen bestimmt. 

b) Lässt sich nun diese Betrachtung auch auf die böse sen- 
sible Tat anwenden? Nur dann ist sie sittlich verantwortlich. — 
Betrachten wir nun eine böse Tat, so ist das erste, was wir fest- 
stellen : sie ist frei, nicht unfrei. „Er sollte sie unterlassen haben, 
in welchen Zeitumständen und Verbindungen er auch immer ge- 
wesen sein mag; denn durch keine Ursache in der Welt kann er 
aufhören, ein frei handelndes Wesen zu sein" (42). 

Auch nicht etwa die früheren bösen Handlungen mit ihren 
Folgen können die freie Selbstbestimmung des Menschen aufheben. 
Denn selbst wenn er bisher lauter böse Handlungen begangen 
hätte, „so ist es nicht allein seine Pflicht gewesen, besser zu 
sein; sondern es ist jetzt noch seine Pflicht, sich zu bessern: 
er muss es also auch können*". Er ist auch dann noch völlig 
frei und kann seine Pflicht erfüllen. Thut er es nicht, so ist er 
also „der Zurechnung in dem Augenblicke der Handlung eben so 
f&big und unterworfen, als ob er, mit der natürlichen Anlage zum 
Guten begabt, aus dem Stand der Unschuld zum Bösen über- 
f^escbritten wäre". Der Ursprung der bösen Tat kann also ledig- 
lich in Vernunftvorstellungen gesucht werden und die Frage nach 
dem Vernunftnrsprung ist gerechtfertigt. 

Den Vemunftursprung stellt Kant nun im Anscbluss an die 
alttestamentliche Geschichte vom Sündenfall dar. Wert und Sinn 
solcher Kantiscben allegorischen Deutungen sind an anderer Stelle^) 

*) Vgl. „Protestantische Monatsheft«'' 1906, S. 107 ff. Die Richtigkeit 
des dort im Prinzip Dargelegten weise ich liier an Einzelheiten nach: 
1. Kant leitet seine Deutung ein mit der Wendung: ;,Hiermit stimmt nun 
die Vorstellungsart, deren sich die Schrift bedient, . . . ganz wohl zu- 
sammen^ (48). Nicht seine Auffassung wird an der Schrift gemessen, 
aondem die Schrift an Kants Auffassung. 2. Er schliesst (44) mit der 
Wendung: ,,Daher ihn [den Ursprung, der dem Sinne nach aus dem vor- 
hergehenden ^Zeitursprung** zu entnehmen ist] auch die Schrift dieser 
unserer Schwftche gemäss so [als Zeitursprung] vorstellig gemacht haben 



344 G. Fittbogcn. 

behandelt. Es kommt ihm, wie er hier (in der Anm. auf S. 45) 
versichert, nicht darauf an, den historischen Sinn zu treffen, 
sondern einen solchen Sinn, der „für sich und ohne allen histo- 
rischen Beweis wahr" ist, mit den Worten zu verbinden. 

Während Kant die Deutung der Geschichte und die Ent- 
wickelung der eigenen Meinung in eins verwebt, muss es unsere 
Aufgabe sein, beides zu trennen und unter Ausscheidung der 
biblischen Beziehungen nur Kants Meinung herauszustellen. Dann 
ergiebt sich im Sinne Kants folgende Vorstellung von dem sich 
stets wiederholenden Vorgange. 

Jede einzelne böse Tat fängt von der Übertretung des Ge- 
setzes (in der Gesinnung) an. In diesem einfachen Satz liegt 
alles beschlossen. Dem Bösen nämlich geht das moralische Gesetz 
voraus, das in der Vernunft liegt. Dem sollte der Mensch folgen 
„als hinreichender Triebfeder". Statt dessen aber sieht er sich 
„doch nach anderen Triebfedern um" und macht es sich also .zur 
Maxime, dem Gesetz der Pflicht nicht aus Pflicht, sondern auch 
allenfalls aus Rücksicht auf andere Absichten zu folgen". Dies 
ist das Entscheidende. Denn wenn er auch dem moralischen Ge- 
setz noch Ehrerbietung bezeugt, so räumt er ihm doch nicht 
mehr, wie er sollte, „als für sich hinreichender Triebfeder in 
seiner Maxime das Übergewicht über alle anderen Bestimmungs- 
gründe der Willkür" ein — und die Ehrerbietung wird damit 



mag.^ Indem Kant mit diesem »mag^ seine Deahmg nur als m6g^ 
hinst^Ut, giebt er zu verstehen, dass seiner eigenen Meinung nach der 
historische Sinn der Geschichte ein anderer ist. 3. Dieser Unterachied 
ist im wichtigsten Punkt von Kant selbst hervorgehoben: das Alte Testt* 
ment erkennt einen Zeitursprung an, er dentet ihn we^. Und in der 
Bibel handelt es sich um eine einzelne Tat, bei Kant um jede Tat, die 
begangen wird. 

Es kann daher nicht verwundem, wenn Kant diese G^eechichte 
anderswo anders deutet; so im mutmasslichen Anfang der MenscheD- 
^eschichte (R. Seh. VII, I, 361—383). Auch dort leitet er seine Dentim^ 
mit einer bezeichnenden Wendung ein: es sei mir eriaabt, mir «eis- 
zubilden, als ob mein Zug . . . gerade dieselbe Linie betreffe, die jene 
[Urkunde] vorgezeichnet enthält^. — Zur Lehre vom radikalen BOsen txi^ 
dieser Aufsatz übrigens nichts bei; denn dort behandelt Kant nur «& 
Entwicklung des Sittlichen in seinem [des Menschen] Thnn nnd Tafsri'' 
(357). Er giebt also nur eine empirische Betrachtung, allerdings interanst 
^enng; und zwar entwicklungsgeschichtlich. Über die Mögfichkeit 
dieser Betrachtungsweise bei Kant siehe oben in der Eünleitong S. 3U 
Anmerkung 2. 



Kants Lehre vom radikalen Bösen. S45 

innerlich unwahr. Aus dieser inneren Falschheit nun entspringt 
die böse Tat. Denn nun fängt der Mensch damit an, die Strenge 
des Gesetzes zu bezweifeln, und geht dann dazu über, „den Ge- 
horsam gegen dasselbe zu einem bloss bedingten eines Mittels 
herabzuvernünfteln ; daraus folgt dann endlich, dass er das Über- 
gewicht der sinnlichen Antriebe über die Triebfeder aus dem Ge- 
setz in die Maxime zu handeln" aufnimmt und so die böse Tat 
begeht. Der Urspning der bösen Tat liegt also in der aus Frei- 
heit hervorgehenden Gesetzwidrigkeit der Vernunft. 

So ist jenes Dilemma überwunden; Die böse Tat ist frei 
dem Vernunftursprung nach, wenn sie auch dem Zeitursprung 
nach kausal bedingt erscheint. Wie aber vereinigt sich beides? 
Das zu ergründen, bleibt Aufgabe der spekulativen Vernunft; die 
mag es versuchen — wenn sie kann. Für den Zusammenhang 
dieser Untersuchung und für die praktische Vernunft genügt es 
zu wissen, dass es so ist. 

3. Nach der Auflösung dieser Schwierigkeit bleibt nur noch 
eine Frage offen. Ist die böse Tat als sittlich verantwortlich 
und zurechnungsfähig ihrem Vernuuftursprunge nach völlig frei*) 
und gleicht sie dem Heraustreten aus dem Stand der Unschuld — 
die der Mensch also in potentia in sich trägt — unmittelbar in 
den der Schuld, so führt sie doch ihrem Zeitursprung nach auf 
die intelligible Tat, den Hang zum Bösen, zurück. Und so müssen 
wir zum dritten Male die Frage nach dem Ursprung des Bösen 
auf werfen; nicht auch noch zum vierten Male. Denn da die 
intelligible Tat als solche zeitlos ist, kann hier nur die Frage 
nach dem Vernunftsursprunge in Betracht kommen. — Sicher ist 
(nach dem früher Gesagten) nur dies: der Hang zum Bösen ist 



1) 'EjH scheint allerdings, als lasse Kant den Hang zum Bösen (der 
bei uns als angeboren vorausgesetzt wird) auch Einfluss auf den Vernunft- 
Ursprung haben. Damit würde aber der Vemunftursprung selbst wieder 
kausal bedingt oder doch wenigstens kausal beeinflusst sein, — was aber 
dem Wesen des Venmnftursprunges widerspricht und seine absolute 
Freiheit und Verantwortlichkeit aufheben, zum mindesten einschränken 
wttrde. — Andererseits aber lässt sich diese Konsequenz schwer ver- 
meiden. Denn fragt man: „Woher kommts, dass die Vernunft sich stets 
zum Bösen entscheidet, da sie doch frei ist?" so liegt die Antwort nahe; 
„Sie selbst ist verstimmt." Ist sie aber verstimmt, so ist sie nicht völlig 
frei. Und so taucht am Schluss das Problem noch einmal, nur schlecht 
verhüllt, auf. Es lässt sich nicht ohne Rest lösen. 



346 G. Fittbogen, 

wirklich böse und rauss uns selbst zugerechnet werden. Aber 
sein Ursprung bleibt in Dunkel gehüllt: denn „das Böse hat nur 
aus dem moralisch Bösen (nicht den blossen Schranken unserer 
Natur) entspringen können; und doch ist die ursprüngliche Anlage 
(die auch kein anderer als der Mensch selbst verderben konnte, 
wenn diese Korruption ihm soll zugerechnet werden) eine Anlage 
zum Guten; für uns ist also kein begreiflicher Grund da, woher 
das moralische Böse in uns zuerst gekommen sein könne"" (45). 
Es bleibt nichts übrig, als „den theoretischen Mangel des reinen 
Vernunftglaubens" in dieser Frage über den Ursprung des Bösen 
offen zu bekennen. Und das ist ja gerade das Charakteristische 
dieses scharfsinnigsten aller Philosophen, dass er sich nie bemüht, 
solchen theoretischen Mangel abzuleugnen (cf. die Verantwortung 
an König Friedrich Wilhelm IL). Kann es etwas Ehrlicheres 
geben als das unumwundene Eingeständnis des theoretischen Un- 
vermögens? Er wollte nicht um jeden Preis Resultate erzielen, 
sondern nur feststellen, was sich feststellen lässt. Und hier stellte 
er dem menschlichen Erkennen eine Schranke auf; oder vielmehr, 
nicht er that es ; er sah nur, dass hier eine Schranke gezogen ist, 
die die menschliche Vernunft nicht überspringen kann. Ich glaube 
nicht, dass er sich geirrt hat. 

Aber dies theoretische Unvermögen, so klar es zu Tage liegt, 
hat nichts, was den Menschen ratlos und innerlich unruhig machen 
könnte. Denn eins hat die Vernunft mit voller Sicherheit erkannt, 
was unendlich viel wichtiger ist, als jede Erklärung des letzten 
Ursprungs des Bösen sein könnte; sie hat mit voller Sicherheit 
erkannt, dass das Böse nicht zur ursprünglichen Anlage des 
Menschen gehört, dass der Mensch nicht von Grund aus verdei-bt 
ist. Hat das Böse auch die Wurzel des menschlichen Wesens 
angefressen — daher heisst es radikaP) — so ist es doch nicht 
die Wurzel selbst: die ist und bleibt gut der Anlage nach. Mit 
einem Wort: das Böse ist radikal, aber das Gute ist noch viel 
„radikaler^^^) Und die theoretische Unwissenheit kann nicht im 
mindesten das gegründete Vertrauen ins Wanken bringen, dass der 
Mensch „noch einer Besserung fähig" ist. Denn es muss ihm, 
„der bei einem verderbten Herzen doch immer noch einen guten 



1) Vgl. S. 29 unten. „Wurzelhaft" heisst das Böse nicht, weü es 
selbst die Wurzel des menschlichen Wesens wäre, sondern weil es die 
Denkuugsart „in ihrer Wurzel" verderbt hat. 



Kants Lehre vom radikalen Bösen. 34? 

Willen hat, Hoffnung einer Wiederkehr zu dem Guten, von dem 
er abgewichen ist, übrig" bleiben. 

Davon handelt der letzte Abschnitt. 



VI. Die Sinnesänderung.^) 

Die Auflösung der Frage, wie das radikale Böse überwunden 
werden kann, beruht in allem auf den bisher entwickelten Voraus- 
setzungen; sie ist glatt und einfach. Und die Wiedergabe kann 
entsprechend kurz sein. 

1. Soll eine Sinnesänderung zustande kommen, soll der 
Mensch gut werden, so muss er sich selbst dazu machen; wie er 
es ja auch selbst verschuldet hat, dass er böse ist. Aber kann es 
geschehen? Wie ist es möglich, „dass ein natürlicherweise böser 
Mensch sich selbst zum guten Menschen mache*"? Die Antwort 
entspricht genau den Voraussetzungen. Wie wir zuletzt gestehen 
mussten, dass wir den ersten Grund des Verfalls vom Guten ins 
Böse nicht zu begreifen vermögen, so müssen wir hier mit dem 
gleichen Bekenntnis theoretischen Nichtwissens beginnen: Das 
„Wiederaufstehen vom Bösen zum Guten" bleibt uns ebenso un- 
begreiflich. 2) Aber nicht von uuserm Begreifen oder Nichtbegreifen 
hängt die Möglichkeit des Wiederaufstehens ab, sondern von ganz 
etwas anderm: nämlich von der Tatsache des in unserer Seele 
erschallenden Gebotes: „wir sollen bessere Menschen werden" — 
folglich müssen wir es auch können. Dem Einwand gegenüber, der- 
die Gültigkeit dieses Schlusses im Hinblick auf die krasse Wirk- 
lichkeit, in der sich so wenig von diesem Können zeigt, bestreiten 

*) In der zweiten Auflage hat Kant diesem Abschnitt die Über- 
schrift „Von der Wiederherstellung der ursprünglichen Anlage zum Guten 
in ilire Kraft*' zwar gelassen, aber ihn doch zugleich zur „Allgemeinen 
Anmerkung" degradiert, weil er von „Gnaden Wirkungen'^ handle. Wie 
mir scheint, mit Unrecht. Denn davon, d. i. von übernatürlichen mora- 
lischen Einflüssen (S. 212), ist fast ^r nicht die Rede; den eigentlichen 
Inhalt bilden die natürlichen moralischen Kinflü.sse. Sachlich also steht 
dieser Schlussabschnitt mit den vier vorhergehenden auf gleicher Linie. 
— Über die Frage selbst nach der übernatürlichen Mitwirkung siehe unten 
8. 862 ff. 

^) Ostermeyer (53) kritisiert folgendermassen : „Kant bekennt nur 
von neuem, dass man nicht wisse, wie Wiedergeburt möglich sei. Hieraus 
folgt selbstredend, dass man auch nicht weiss, ob sie möglich sei*'. Will 
er wirklich die Existenz alles dessen leugnen, in dessen Enstehung der 
Mensch keine Einsicht hat?! 



;U8 Ö. Fittbogen, 

wollte, schränkt Kant die Unbedingtheit dieses Könnens ein : „sollte 
auch das, was wir tun können, für sich allein unzureichend sein, 
und wir uns dadurch nur eines für uns unerforschlicheu höheren Bei- 
standes empfänglich machen" (47). Die Bedeutung dieses Satzes 
liegt nicht im Rekurs auf göttliche Hilfe, sondern im Zurückgehen 
aufs Prinzip : im Prinzip gilt dies Können unbedingt, der empirischen 
Tat nach nur bedingt. Und so bleibt es dabei: die Möglichkeit 
der Sinnesänderung gründet sich auf das in der moralischen Vernunft 
liegende Gesetz. Und sie gründet sich femer auf das, was damit 
notwendig zusammenhängt: bei aller Verderbnis des Menschen moss 
doch immer „ein Keim des Guten in seiner ganzen Reinigkeit 
übrig" bleiben. 

2. Und die Art der Sinnesänderung ergibt sich auch von 
selbt. — Da wir die Triebfeder zum Guten nie verloren, sondern 
nur verstimmt haben, so handelt es sich um keine Neuerwerbung 
und Neuschöpfung, sondern nur um die Wiederherstellung der 
Reinigkeit und Kraft des Guten. Das ursprünglich Gute nun ist 
die Heiligkeit der Maxime in Befolgung seiner Pflicht. Diese 
Heiligkeit ist verletzt; sie muss wiederhergestellt werden: darin 
besteht die Sinnesänderung. — Und wiederum spaltet sich der 
Charakter des Menschen in einen empirischen und einen intelligibeb. 
Mit der Gesetzmässigkeit der Gesinnung — wissen wir — ist noch 
nicht die Gesetzmässigkeit der Tat garantiert und nmgekehrt; 
„denn zwischen der Maxime und der Tat ist noch ein grosser 
Zwischenraum" (48) und ihr Zusammenhang ist nicht sicher. Denn 
wohl kann der Mensch gesetzmässige Taten hervorbringen und so 
den empirischen Tugendcharakter der Legalität erwerben, die virtus 
phaenomenon. ^) Aber über die Triebfeder ist damit noch nichts 
ausgesagt. Wohl kann der Mensch „nach und uach^, durch eine 
„lange Gewohnheit in Befolgung des Gesetzes, durch die der Hang 
zum Laster durch allmähliche Reformen seines Verhaltens in einen 
entgegengesetzten Hang^ [d. i. zum sensibel Guten] hinüberkommt 
äusserlich gut erscheinen. Aber ist er's auch innerlich? Die 



^) An diesem Punkt zeigt sich die einzige leichte Unebenheit in 
diesem Abschnitt. Die virtus phaenomenon nämUch hat etwas SchiUeindeB. 
Es scheint so — wenigstens klingen die Worte so — , als sei sie völlif 
erreichbar; ebenso wie der von früher her bekannte empirisch gut« 
Charakter des legalen Menschen. Andererseits erscheint sie doch auch als 
unerreichbar, nämlich sofern sie die zeitlich-empirische Realisiening der 
virtus noumenon ist. 



Kants Lehre vott) radikalen BOsen. d4d 

Antwort muss in der Schwebe bleiben. Gewiss kann der legale 
Tagendcbarakter ans einer innerlich guten Gesinnung hervorwachsen 
— aber er muss es nicht. Er kann auch die Folge einer blossen 
Änderung der Sitten, ohne eine Herzensänderung sein „nach dem 
gepriesenen Prinzip der Glückseligkeit" (49). In dem Falle aber 
bleibt — nach den Kantischen Voraussetzungen — der empirisch 
gute Mensch immer noch intelligibel böse. 

Die wirkliche Wiederherstellung des Guten in seine Kraft 
muss also in anderer Sphäre geschehen, sie muss sich nicht in der 
sensiblen Tat, sondern in der intelligibeln Gesinnung vollziehen. 
Denn darin, sahen wir früher schon, besteht nicht die Moralität 
des Menschen, dass er das ausführt, was das Gesetz gebietet, 
sondern dass er es tut, weil das Gesetz es gebietet. Tugendhaft 
nach dem intelligibeln Charakter ist nur der, „welcher, wenn er 
etwas als Pflicht erkennt, keiner andern Triebfeder weiter bedarf, 
als dieser Vorstellung der Pflicht selbst**. Besteht nun — wie 
früher erkannt — das Böse in der unsittlichen Ordnung der Trieb- 
federn und das Gute in der sittlichen, so kann die Änderung der 
Gesinnung nur in einem einzigen Moment vor sich gehen, in dem 
Augenblick nämlich, wo die Triebfeder aus dem Gesetz die Ober- 
hand über die aus der Neigung gewinnt. Und das Plötzliche, 
Ruckartige lässt sich nicht besser kennzeichnen als mit dem Namen 
Revolution. — Eine Erlösung^) im spezifisch christlichen Sinn ist 
das nicht, Kant hat es auch nicht so genannt. Auch die Ausdrücke 
„Wiedergeburt* und „neue Schöpfung", die er hier anwendet, 
meint er uneigentlich: was er schildert, entspricht dem, was die 
Christen „Wiedergeburt* und „neue Schöpfung" nennen. Es ist 
die übliche Anknüpfung an dogmatische und biblische Ausdrücke 
als an bereitstehendes Bildermaterial. 

3. Mit dieser Scheidung zwischen dem empirischen und intelli- 
gibeln Tugendcharakter ist denn auch der Weg gebahnt zur Lösung 
der Frage: Wie ist es möglich, dass der böse Mensch durch eigne 

1) Der Ausdruck Erlösung findet sich in der Rel. i. d. Gr. d« bl. V. 
(nach Ausweis von Vorlftnders Register) nur einmal, n&mlich in § 2 des 
Abschnittes vom Afterdienst (Reclam 185); zwar mit Beziehung auf die 
Sinnesänderung, aber doch einem Anhänger des Afterdienstes in den 
Mund gelegt. Nichts aber ist deutlicher, als dass Kant ein Gutwerden 
nur durch eigene Kraft kennt — wenn man will: Selbsterlösung. Kant 
selbst gebraucht dafür an dieser Stelle den Ausdruck Herzensänderung 
(so 49, 12; und 49, 34 Änderung des Herzens; und später Sinnesänderung 
(75 ff. 214 Anm.)) einmal auch Selbstbessenug (54). 

lUutstuUi«u ]U1. 23 



SöO G. Fittbogeli, 

Kräfte gut wird? — Wirklich vollziehen kann der Mensch die 
Sinnesänderung durch Revolution und dadurch den intelligibeln 
Tugendcharakter erwerben. In Angriff nehmen kann er auch die 
Reform seines sensibeln moralischen Habitus, doch nicht zur Voll- 
endung bringen; hier ist er nie ein gut gewordener, stets nur 
ein gut werdender Mensch. Er kann zwar hoffen, „dass er bei 
einer solchen Reinigkeit des Prinzips, welches er sich zur obersten 
Maxime seiner Willkür genommen hat, und der Festigkeit desselben, 
sich auf dem guten (obwohl schmalen) Wege eines beständigen 
Fortschreitens vom Schlechtem zum Bessern befinde" (50). Und 
doch, es lässt sich nicht leugnen : ein empirisch menschliches Auge 
nimmt immer nur ein fortwährendes Streben zum Bessern, also den 
Abstand vom Ziel wahr. Aber vor dem Urteil der reinen Vernunft^ 
ist im Prinzip schon die Vollendung gegeben und die Unendlichkeit 
des Fortschritts übersieht sie als Einheit. Darum ist nach ihrem 
Urteil — also nach dem höchsten Massstab gemessen — der 
empirisch immer noch unzulängliche Mensch wirklich gut: er bat 
— trotz des Augenscheins — die Sinnesänderung durch eigne Kraft 
vollzogen. 

4. Hieraus ergeben sich für die moralische Bildung des 
Menschen wichtige Folgeniugen. Zunächst und vor allem das 
Grundlegende: sie muss von der Umwandlung der Gesinnung aus- 
gehen; nicht die einzelnen Laster muss man anpacken, sondern 
ihre Wurzel. Und zweitens: dementsprechend muss es das Ziel 
der Erziehung sein, in den Zöglingen pflichtgemässe Gesinnung, 
nicht legale Handlungen wachzurufen. Als wirksames Mittel zur 
Belebung der sittlichen Kräfte bieten sich nun die Beispiele guter 
Menschen, die rein aus Pflicht handelten; durch solche Vorbilder 
wird ganz von selbst die Anlage zum Outen gestärkt und die 



1) Kant gebraucht hier den Ausdruck „Reform für die Sinnesart" 
(50). Wie mir scheint nicht eben glücklich, weil die Verwechselung mit 
„Gesinnung** nahe liegt. Was er meint, hat er auf der Seite vorher 
treffender Reform des Verhaltens und Änderung der Sitten genannt. 

2) Im Text spricht Kant vielmehr vom Urteil Gottes. Woher kennt 
der kritische Kant das Urteil Gottes? Die Vernunft bildet den „Be- 
griff von Gott als einem morrlischen und weisen Wesen" a priori (über 
das Misslingen . . ., R. Seh. Vn, 1). Also ist das Urteil dieses Wesens 
notwendig identisch mit dem Urteil der Vernunft. Und Gott als Richter 
ist eine bildlich konkrete Veranschaulichung der urteilenden reinen Ver- 
nunft. Daher auch die sonst auffallende Gleichung S. 23 Anm.: auf der 
Wage der reinen Vernunft = vor einem göttlichen Gericht. 



Kants Lelire vom radikalen Ö5sen. 351 

Pflicht hebt an, „bloss für sich selbst in ihren Herzen ein merk- 
liches Gewicht zu bekommen'' (51). Nnr vor einem muss man sich 
dabei hüten: zur Bewunderung tugendhafter Handlungen an- 
zuleiten. Denn man erreicht dadurch das Gegenteil des Be- 
absichtigten. Da nämlich jede Tugend lediglich Pflicht ist und 
nichts Verdienstliches, so kann Bewunderung der Tugend nur 
schaden, indem sie unweigerlich das Gefühl für die Ünbedingtheit 
der Pflicht herabstimmt. — Am wirksamsten aber ist es, das Gefühl 
der Erhabenheit der eignen moralischen Bestimmung rege zu machen. 
Das ist auch das einzige, was wir bewundem dürfen und sollen 
und müssen : die ursprüngliche moralische Anlage in uns überhaupt 
(die Kant mit starkem Pathos schildert). Diese Bewunderung wirkt 
wahrhaft seelenerhebend „bis zur Begeisterung". Und der Appell 
an die sittliche Bestimmung des Menschen ist das kräftigste Mittel, 
die sittlichen Kräfte zu beleben und dadurch die Anlage zum Guten 
in ihre Reinigkeit wiederherzustellen. 

6. Wird aber so die ganze lange und schwierige Lehre 
vom radikalen Bösen nicht eigentlich bedeutungslos? oder erhebt 
sie gebieterisch Protest? Keins von beidem. Das zweite ist 
schon früher erledigt: wir begreifen zwar nicht, wie sich das 
radikale Böse mit der sittlichen Anlage und der sittlichen End- 
bestimmung verträgt — aber vertragen muss es sich eben damit. 
Und das andere: Die Bedeutung des Satzes vom radikalen Bösen 
ist nicht überschwänglich, aber sie ist vorhanden. Die Vor- 
schriften der Moral zwar enthalten „dieselben Pflichten und 
bleiben auch von derselben Kraft, ob ein angeborener Hang zur 
Übertretung in uns sei oder nicht" (53). Aber wenn nicht das 
Lebensziel, so beeiuflusst das radikale Böse doch die Lebens- 
weise: das menschliche Leben erhält durch das stete Ringen des 
Guten mit dem Bösen einen herben, strengen Charakter. Und da 
dies Ringen nie aufhört und nie zum völligen Siege führt, so 
muss der Mensch in Ungewissheit bleiben über seine eigene in- 
telligible Gesinnung: „Zur Überzeugung hiervon kann ... der 
Mensch natürlicherweise nicht gelangen, weder durch unmittel- 
bares Bewusstsein, noch durch den Beweis seines bis dahin ge- 
führten Lebenswandels; weil die Tiefe des Herzens (der subjektive 
erste Grund seiner Maximen) ihm selbst unerforschlicb ist" (54). 
Das Böse also ist es, das den Menschen von der Gewissheit aus- 
scbliesst und ihn auf den Weg des Glaubens und der Hoffnung 
treibt; den allerdings kann es ihm nicht rauben: auf den Weg, 

23* 



352 G. Fittbogen, 

der zum Guten führt, „muss er hoffen können, durch eigene 
Kraftanwendung zu gelangen''. Der Satz vom radikalen Bösen 
also bleibt immer noch wichtig genug: er macht die Selbst- 
besserung zwar nicht illusorisch, aber er erhebt sie aus einer 
platten Selbstverständlichkeit zu einer schweren, mühseligen Auf- 
gabe, die alle besten Kräfte der Sittlichkeit und des Glaubens in 
Anspruch nimmt. Das ist der eminent praktische Wert, der der 
Lehre vom radikalen Bösen innewohnt^) und un verloren bleibt, 
auch wenn sie theoretisch nicht alle Bätsei ohne Rest lösen 
konnte, vielmehr selbst ihr Unwissen offen bekennen musste. 

Und damit ist Kants Lehre vom radikalen Bösen in sich 
geschlossen und abgerundet. Was Kant Positives zn sagen hat, 
ist darin ausgesprochen. 

Aber was nicht darin ausgesprochen ist, trägt auch dazu 
bei, dieser Lehre ihren fest ausgeprägten Charakter zu verleüien. 
Das müssen wir noch kurz betrachten. Das eine hat Kant selbst 
zum Schluss seiner Erörterung wenigstens berührt, über das 
andere schweigt er in diesem Zusammenhang: ich meine die Frage 
nach der göttlichen Mitwirkung, die die Sinnesänderung angeht, 
und die Frage nach der Theodizee, die mit dem Bösen als solchem 
gegeben ist. 



VII. Müssige Fragen. 

1« Nachdem Kant die allseitige Darlegung von Art and 
Möglichkeit der Sinnesänderung beendet hat, lehnt er mit ein 
paar Worten den Einwand ab, der von der Religion der Gunst- 
bewerbung dagegen erhoben wird: als könne Gott den Menschen 
ohne dessen eigene Mitwirkung besser machen. Diese Ablehnung 
ist in sich notwendig, und klar ist der Grundsatz der moralischen 
Religion, den er dagegen stellt: „dass ein jeder soviel, als in 
seinen Kräften ist, thun müsse, um ein besserer Mensch za 
werden" (54. 55). Dann aber fährt er fort: weiter ist es Grund- 
satz, dass der Mensch „nur alsdann, wenn er sein angeborenes 
Pfund nicht vergraben, wenn er die ursprüngliche Anlage zum 

1) Ostermeyer (54) dagegen findet, dass Kant seine Lehre tod 
radikalen Bösen „unwirksam^ gemacht habe! Dies Missverständnis kommt, 
wie es scheint, daher, dass von Ostermeyer der ausserordentlich wichtige 
Unterschied zwischen der moralischen Dogmatik und moralischen Asketik, 
wie er sich aus dem Obigen ergiebt, „nicht wahrgenommen wird**. 



Kants Lehre vom radikalen Bösen. 353 

Gaten benutzt hat, um ein besserer Mensch zu werden, er hoffen 
könne, was nicht in seinem Vermögen ist, werde durch höhere 
Mitwirkung ergänzt werden." Wie ist das zu verstehen? Will 
Kant damit den Glauben an eine übernatürliche Mitwirkung als 
krönenden Abschluss aufbauen? Will er die Selbsterlösung 
schliesslich doch noch zu einer Erlösung im eigentlichen Sinne 
umstempeln? Ich glaube kaum. — Aber er will den Erlösungs- 
gläubigen eine Brücke bauen, die sie auf den festen Boden des 
Yemunftglaubens hinüberführen kann. Er will ihnen etwa sagen: 
Selbst bei einem Erlösungsglauben könnt ihr als Voraussetzung, 
als das Erste und Grundlegende die Selbstbesserung nicht ent- 
behren. Wo eigenes sittliches Streben fehlt, sagt sogar das 
Evangelium,^) kommt Gott den Menschen nicht zu Hülfe. Nur 
„wer da hat" — und zwar durch eigene Bemühung — „dem wird 
gegeben werden". Die „Erlösung", so müsstet ihr daher ein- 
räumen, hängt im Grunde vom Menschen selbst ab. Der Mensch 
leistet das Primäre, Gott doch nur das Sekundäre. Im Funda- 
ment sind wir also schliesslich einig. — Und femer will Eant den 
Erlösungsgläubigen zu verstehen geben: Ihr behauptet nun nicht 
bloss eine göttliche Mitwirkung, sondern wollt sogar über ihre 
Art eine ganz bestimmte Offenbarung^ haben. Aber gesteht ihr 
damit nicht eigentlich selbst ein: darüber etwas zu wissen, über- 
steige die menschlichen Fähigkeiten? Müssen nicht also die 
Menschen, die diese von aussen kommende Offenbarung nicht 
kennen, sich notwendig bei aller Aufrichtigkeit doch verschiedene 
Begriffe von dieser Mitwirkung machen? Ist diese Verschieden- 
heit aber notwendig, so folgt daraus der Schluss: es ist nicht 
absolut notwendig, dass der Mensch wisse, worin die Art der 
höheren Mitwirkung besteht. Ihr müsst also selbst als an gött- 
liche Hülfe Glaubende zugestehen: „Es ist nicht wesentlich und 
also nicht jedermann notwendig zu wissen, was Gott zu seiner 
Seligkeit thue oder gethan habe." Notwendig und wesentlich ist 
nur zu wissen, was der Mensch selbst zu thun hat. Wenn aber 
die angenommene göttliche Unterstützung doch nur sekundäre Be- 
deutung haben und ihre Art durchaus im Ungewissen bleiben 



1) Bei dem Zitat scheint ein Druckfehler untergelaufen zu sein; die 
entscheidenden Worte wenigstens stehen erst hinter Lucas 19, 16. Also 
wird etwa gemeint sein Lucft 19, 12—26. 

^ Offenbarung — darauf ist hier zu achten — gilt bei Kant im 
Gegensatz zu dem Vemunftgegebenen als bloss historisch und minderwertig. 



360 G. Fittbogen, Kants Lehre vom radikalen Bteen. 

Wie man aber auch immer über Kants Lehre denken mag: 
ehe man über ihn aburteilt, muss man ihn verstehen. Das ist die 
erste Pflicht ! Das hat Kant aber seinen Lesern wahrhaftig nicht 
leicht gemacht. Und wenn ich mit dieser Untersnchong dazu 
hätte beitragen können, das Verständnis dieser schwierigen Lehre 
zu erleichtern und eine gerechtere Benrteflnng 'dieses viei- 
geschmähten Stücks der Kantischen Religionsphilosophie anzu- 
bahnen, wüi'de ich zufrieden sein. 



Kants Lehre vom radikalen ßösen. 355 

Verstand'' genau Bescheid zu wissen, genau so wie alle dogmatischen 
Philosophen und Theologen seiner Zeit. Als er dann fast ein 
Menschenalt^r später dasselbe Problem wieder aufnahm/) sah er 
es ganz anders an. Jetzt betrachtete er die Theodizee nicht mehr 
als ein frommes Verfechten der Sache Gottes, sondern als ein 
Unternehmen „der ihre Schranken verkennenden Vernunft". Und 
sein Resultat ist jetzt: eine Theodizee, d. i. „die Verteidigung der 
höchsten Weisheit des Welturhebers gegen die Anklage, welche 
die Vernunft aus dem Zweckwidrigen in der Welt gegen jene 
erhebt", lässt sich nicht führen; allerdings auch nicht das Gegenteil. 
Der kritische Philosoph muss, wie das keiner Ausführung bedarf, 
sein theoretisches Nichtwissen bekennen. 

Aber, fügt Kant hinzu, ist eine Theodizee im eigentlichen 
theoretisch-spekulativen Sinn unmöglich, so doch nicht im prak- 
tischen; sie wird darin bestehen, dass man die Welt auslegt, 
„sofern Gott durch dieselbe die Absicht seines Willens kundmacht". 
Der Mensch soil nicht nach dem „Woher", sondern nach dem 
„Wohin" fragen; nicht spekulativen Problemen nachsinnen, sondern 
sittliche Aufgaben in Angriff nehmen. — Die negative Seite, den 
Verzicht auf theoretische Erkenntnis, hat Kant am Beispiele Hiobs 
erläutert. Wodurch gewinnt Hiob am Ende seiner Prüfungszeit 
im göttlichen Gericht den Vorrang vor seinen Freunden? Während 
sie mit frömmelnder Heuchelei Dinge behaupten, „von denen sie 
doch gestehen mussten, dass sie sie nicht einsahen", sprach er mit 
gerader Freimütigkeit seine Unwissenheit aus: ich weiss nicht, 
warum Gott mich straft. Und indem er weiter nichts tat, als dass 
er sich ehrlich von seiner Unwissenheit überzeugte, lösten sich ihm 
alle Zweifel und er ergab sich in den Glauben an den unbedingten 
göttlichen Ratschluss. Diese sittliche Lauterkeit, die ihm nicht 
gestattete, sich blauen Dunst vorzumachen, machte ihn Gott an- 
genehm, nicht irgendwelches spekulatives Erkennen. — Der positive 
Teil dieser „praktischen" Theodizee kommt stärker und wuchtiger 
zum Ausdruck am Schluss der Abhandlung über den mutmasslichen 
Anfang der Meuschengeschichte: „Es ist aber von der grössten 
Wichtigkeit: mit der Vorsehung zufrieden zu sein, . . . teils um 
unter den Mühseligkeiten immer noch Mut zu fassen, teils, um nicht 
unsre eigne Schuld, die vielleicht die einzige Ursache aller dieser 



*) „Über das Missliiigen aUer phüosophischen Versuche in der Theo- 
dizee" 1791. R. Seh. Vn. 1. 385-408. 



356 G. Fittbogen, 

Übel seiu mag, darüber ans dem Auge zu setzen nnd in der Selbst- 
besserung die Hülfe dagegen zu versäumen" (R. Seh. VIL 1. 380). 
Und zum Schluss: „So ist denn der Ausschlag einer durch Philo- 
sophie versuchten ältesten Geschichte: Zufriedenheit mit der Vor- 
sehung und dem Gang der menschlichen Dinge im Ganzen, der 
nicht vom Guten anhebend zum Bösen fortgeht, sondern sich vom 
Schlechten zum Bessern allmählich entwickelt, zu welchem Fort- 
schritt denn ein jeder an seinem Teil, so viel in seinen Kräften 
steht, beizutragen durch die Natur selbst berufen ist^ (383). Man 
sieht: die „praktische" Theodizee ist mit der „Zufriedenheit mit 
der Vorsehung*' noch nicht erschöpft, ihr eigentlicher Inhalt ist die 
Ausführung der sittlichen Angaben, die dem Menschen aus den 
Übeln, speziell dem Bösen, entstehen. Es hängt das mit dem 
Wandel in Kants Gottesglauben zusammen. Wie der Glaube an 
Gott^) als an eine praktische Idee nicht besagt, dass ein trans- 
scendentes Wesen existiert mit den Eigenschaften der Heiligkeit, 
Güte und Gerechtigkeit, sondern vielmehr, dass der menschlichen 
Vernunft eine Idee immanent ist, die von ihm verlangt, dass er 
dieser Idee gemäss leben, dass er selbst heilig, gerecht nnd gütig 
sein soll, — genau so ist auch der Sinn der Theodizee ins 
Praktische gewandelt: Wir verzichten darauf, zu untersuchen, 
ob wir mit Gott zufrieden sein dürfen (denn darauf kommt 
die theoretische Theodizee hinaus), wir sollen vielmehr streben, 
so zu leben, dass ein göttlicher Richter mit uns zufrieden 
sein könnte. 

Diese Deutung der Theodizee stimmt au& beste zu Kants 
Lehre vom Bösen ; aber sie verliert dadurch an Interesse und Wert: 
denn sie hat nichts Eignes mehr zu sagen. Daher kommt's, dass 
ihre Gedanken sich wohl in Kants Lehre vom Bösen finden (die 
Unwissenheit über den Ursprung des Bösen, und die sittlichen 
Angaben, die das Böse dem Menschen stellt), aber nicht ihr Name. 
Die spezielle Fragestellung unter dem Gesichtspunkt der Theodizee 



') Den Beweis, dass ich Kants Gottesglauben richtig au^efosst habe, 
kann ich hier nicht führen. In der Rel. i. d. Gr. d. bL V. kommt besonden 
die Umdeutnng der Trinitätslehre in Betracht (161 fi). Die wichtigsten 
Sätze daraus besagen : „Gott will in einer dreifachen spezifisch venchiedenen 
moralischen Qualität gedient sein" (153). Und dieser Glaube ist kein 
„solcher, der das, was Gott an sich selbst sei, vorsteUen solle" (1&4). Dan 
passt die Lehre von den „regulativen Prinzipien" in der Bjr. d. r. V. (et 
Bei. i. d. Gr. 73 Anm.). — Vgl. Protestantische Monatshefte 1906» 138 1 



Kants Lehre vom radikalen BOsen. 357 

war überflüssig, wenn sie im neuen, und sinnlos, wenn sie im alten 
Sinne gemeint war. 



Schluss. 

Das Ziel ist erreicht, der Weg zurückgelegt und der Über- 
blick über das durchwanderte Gebiet des Kantischen Gedanken- 
reiches, so weit es mir möglich war, gewonnen. Naturgemäss 
konnte die Wanderung auf dem schwierigen Terrain nur langsam 
sein, und die Erörterung wuchs sich stellenweise zu einem kleinen 
Kommentar aus. 

1. Welches ist nun der Gesamteindruck? 

Wer unbefangen die Gedankenarbeit und -entwickelung Kants 
verfolgt hat, wird gestehen müssen: hier liegt eine Gedanken- 
entwickelung von unerbittlicher Eonsequenz und gewaltiger Gross- 
heit vor. Es ist der Versuch gemacht, mit fast übermenschlicher 
Anstrengung der schwierigsten Probleme Herr zu werden. Und 
gelang er gleichwohl nicht völlig einwandfrei, so werden wir die 
Schuld nicht bei Kant, sondern in der Schwierigkeit der Probleme 
suchen müssen. Die Motive aber, die ihn bei der Ausgestaltung 
der Lehre leiteten, hat, hoffe ich, diese Untersuchung klar heraus- 
gestellt. 

Hiermit könnte ich schliessen. Wenn ich doch noch einiges 
hinzufüge, so thue ich es nicht, um an Kleinigkeiten herum- 
zumäkeln oder die Lehre im Ganzen zu kritisieren. Zu dem einen 
verspüre ich keine Lust, und das andere würde eine eigene Ab- 
handlung erfordern. Ich will vielmehr, wie ich bisher bemüht ge- 
wesen bin, das wirklich Wertvolle und den eigentlichen Sinn 
dieser Lehre ans Licht stellen, in diesem Streben fortfahren und 
sie gegen üble Nachrede verteidigen. Denn das ist nötig. 

2. Kants Gedanken über das Böse bewegen sich nicht in 
den gewohnten Geleisen von vor hundert Jahren oder von heute. 
Diese Lehre ist geradezu das unpopulärste Stück der gesamten 
Kantischen Philosophie. Das „radikale Böse" klang den Menschen 
damals — wie heute — übel in den Ohren. 

Die Gegner wollten, der Mensch sei gut. Und hier kam 
der, dem keiner den Titel des grössten Philosophen bestreiten 
konnte, der kam und verkündete: Der Mensch ist böse, er ist 
radikal böse! Da hörten sie nicht weiter hin und kehrten ihm 



358 G. Fittbogen, 

kurz entschlossen den Bücken. Hätten sie sich nur Zeit ge- 
nommen, seine Worte bis zu Ende zu verstehen, so hätten sie 
gefunden, dieser Mann steht gar nicht im absoluten Gegensatz 
zu ihnen. Denn ist nach ihm das Böse wurzelhaft: das Gute ist 
noch viel wurzelhafter. Das Gute gehört in höherem Masse zum 
Menschen als das Böse. Diese Grundüberzeugung teilte Kant mit 
den Gegnern, den Männern der Aufklärung ; nur dass sie in ihrem 
weichen Optimismus das Bewusstsein des Bösen als einer ernst- 
haften Macht fast völlig verloren.^) 

In dies auf Missverständnis beruhende Verdammongsurteil 
über Kants Lehre vom Bösen stimmte auch der ein, auf den sieb 
die Gegenwart mit Vorliebe beruft: Goethe, ja er ganz besonders 
heftig. Es giebt kaum ein schärferes, aber auch kein ungerechteres 
Urteil als das, in dem Goethe^ seiner Empörung in den bekanntes 
drastischen Worten Luft machte: „Dagegen hat aber auch Kant 
seinen philosophischen Mantel, nachdem er ein langes Menschen- 
leben gebraucht hat, ihn von mancherlei sudelhaften Vorurteilen 
zu reinigen, freventlich mit dem Schandfleck des radi- 
kalen Bösen beschlabbert, damit doch auch Christen herbei- 
gelockt werden, den Saum zu küssen" (An Herder, Brief vom 
7. Juni 1793). Nun, wir haben gesehen, Kants Lehre ist wesent- 
lich genuin; er hat seinen Philosophenmantel rein bewahrt. Das 
persönlich Verletzende dieses Urteils trifft nicht die Wahrheit — 
Und was die Sache angeht, so ist es Pflicht, darauf aufmerksam 
zu machen, wie Goethe zu anderer Zeit^) eine Äusserung getban 
hat, die von der Kantischen Auffassung doch nicht gar so weit 
entfernt ist. In einem gelegentlichen Lob der Pietät (Weimarer 
Ausgabe, Bd. 41, S. 133) findet sich der Satz: „Wenn gewisse 
Erscheinungen an der menschlichen Natur, betrachtet von Seiten 
der Sittlichkeit, uns nötigen, ihr eine Art von radikalem 
Bösem, eine Erbsünde zuzuschreiben, so fordern andere Mani- 
festationen derselben ihr gleichfalls eine Erbtugend, eine an- 
geborene Güte, Rechtlichkeit und besonders eine Neigung zur 
Ehrfurcht zuzugestehen." So wenig die „Erbsünde" im dogma- 



1) Vgl. Pfleiderer, Geschichte der Religionsphilosophie. 3. Aufl. 
1893. S. 176. 

^ Die Besprechung des Romans Don Alonso ou 1' Espagne, 
Histoire contemporaine par N. A. de Salvandy, an deren Ende sich diese 
Stelle findet, ist erschienen in Goethes Zeitschrift „Über Kmist und 
Altertum*' Bd. V. Heft 1. 1824. S. 169—186. 



Kant» Lehre vom radikalen Bösen. 359 

tischen Sinne zu verstehen ist, so wenig will ich natürlich eine 
völlige Acceptierung der Eanlischen Lehre durch Goethe be- 
haupten, ihn auch nicht einmal stark unter Kantischen Einfluss 
rücken. Das eine aber geht aus den angeführten Worten mit 
voller Deutlichkeit hervor: Bestimmte Tatsachen der Erfahrung 
nötigten Goethe anzuerkennen, dass neben der „Erbtugend" noch 
eine Macht vorhanden ist, die dem Kantischen radikalen Bösen 
verwandt ist. Das ist denn doch eine schöne Anerkennung der 
Berechtigung der „doppelseitigen" Betrachtung Kants von einem 
Mann, der gewiss nicht für einen besonderen Kult des Bösen 
schwärmte, der auf diesem Gebiet doch wohl nur das anerkannte, 
dem er sich nicht unbedingt entziehen konnte. Man hat also 
kein Recht mehr, Goethe als absoluten Gegner der Kantischen 
Lehre vom radikalen Bösen zu betrachten. 

Auch Herder, an den Goethe jenen Brief richtete, war voller 
Empörung. Er eröffnete eine grimmige Polemik gegen diese 
„neueste philosophische Satansdogmatik'^ oder „philosophische Dia- 
boliade" (1798 in seiner Schrift „Von Religion, Lehrmeinungen 
und Gebräuchen", die auch sonst reich ist an Ausfällen gegen Kant). 
Aber es ist ja bekannt, dass ihm das Organ zum Verständnis der 
Kantischen Philosophie fehlte. Zu seiner Entschuldigung muss man 
übrigens bedenken, dass die Kantische Religionsphilosophie ihm 
ständig in der Gestalt entgegentrat, die ihr seine Kandidaten der 
Theologie gaben; und da mag wohl eine seltsame Mischung aus 
protestantischer Dogmatik, Bibel und Vemunftreligion zustande 
gekommen sein, über die Herder sich mit Recht entsetzen konnte. 
Herders Polemik richtet sich also eigentlich gegen die theologische 
Missdeutung der Kantischen Religionsphilosophie. 

Gerechter war von vornherein Schiller, der „Kantianer'', ob- 
wohl auch ihm die Lehre unsympathisch war. „Zwar ist — 
schreibt er an Körner am 28. Februar 1793 — einer seiner 
(Kants) ersten Grundsätze empörend für mein, und wahrscheinlich 
auch Dein Gefühl. Er behauptet nämlich eine Propension des 
menschlichen Herzens zum Bösen, dass er das radikale Böse 
nennt . . . Gegen seine Beweise lässt sich nichts einwenden, 
so gern man auch wollte.'' Trifft er damit nicht den Nagel 
auf den Kopf? — Gewiss, niemand wird sich für das Böse in 
irgend einer Lehrform begeistern, niemand aber wird es leugnen 
können. 



360 G. Fittbogen, Kants Lehre vom radikalen Bösen. 

Wie man aber auch immer über Kants Lehre denken mag: 
ehe man über ihn aburteilt, muss man ihn verstehen. Das ist die 
erste Pflicht ! Das bat Kant aber seinen Lesern wahrhaftig nicht 
leicht gemacht. Und wenn ich mit dieser Untersuchung dazu 
hätte beitragen können, das Verständnis dieser schwierigen Lehre 
zu erleichtern und eine gerechtere Beurteilung 'dieses viel- 
geschmähten Stücks der Eantischen Beligionsphilosophie anzu- 
bahnen, wüi*de ich zufrieden sein. 



Die unabhängigen Realitäten. 

Von Alois Hofler. 



Das Problem des „Dinges an sich" samt den mit ihm zusammen- 
hängenden des yjNoumenon*', der „Transscendenz", der EIxistenz und 
Erkennbarkeit einer Aussenwelt u. dergl. m., ist und bleibt 
zwar nicht „das", aber doch ein Hauptproblem der Erkenntnis- 
theorie, wie oft wir es auch seitens des modernen Phänomenalismus 
schon haben tot sagen hören. 

Dieser Problemenkreis, der mit dem Namen Kants schon 
durch mehrere der angeführten Eunstausdrücke enger als mit dem 
jedes anderen Forschers verknüpft ist, wenn auch die mit den 
Namen zu verbindenden Begriffe noch mancher Umbildung fähig und 
bedürftig sein werden, hat jüngst zwei tiefgehende Bearbeitungen 
erfahren durch Meine ng^) und Oelzelt.^ Inwieweit diese beiden 
Arbeiten von einander teilweise Anregung empfangen haben, deutet 
Oe. (114) an. Die ebenfalls aus ihnen ersichtliche Bezugnahme auf 
mündliche und literarische Äusserungen meinerseits zu diesen 
Problemen möchte ich an dieser Stelle erwidern und weiterbilden, 
und speziell auch für die Anregungen aus einer Besprechung 
zwischen uns (vom September 1906) die wissenschaftliche Öffent- 
lichkeit als Teilnehmer und Richter in der unvermeidlichen Fort- 
setzung dieser Diskussionen gewinnen. Namentlich was meine 



^) Meinong „Über die Erfahrungsgrundlagen unseres WiBsens*^ (Ab- 
handlungen zur Didaktik und Philosophie der Naturwissenschaften, heraus- 
gegeben von Poske, Höfler, Grimsebl, I. Bd.. Heft 6, 113 S. gr. VIIL Berlin, 
Springer 1906). 

*) Oelzelt-Newin „Die unabhftogigen ReaUtAten«« (Zeitschrift fflr 
PhUosophie und phüoeophiBche Kritik, Bd. 129, Heft 8 (Jftnner 1907] 
S. lia-185. Leipzig, VoigtlAnder 1907). 

Im folgenden werden die beiden Abhandlungen so zitiert, werden, 
dass z. B. M. (89) heisst: Meinong, Erfahrungsgrundlagen etc., Seite 89. 



362 A. Höfler, 

„Psychologie" in dem Abschnitt „Unsere Vorstellung von einer 
physischen Aussenwelt und unser Glaube an ihre Existenz" (§ 54 
„Beschreibung des naiven Realismus", § 55 „Die physische Aussen- 
welt vorgestellt als Ursache unserer physischen Phänomene*) 
gebracht hatte, möchte ich konfrontiert sehen mit M.s und Oe.s 
neuesten Ausschaltungen des Kausalgedankens aus dem Eommerzium 
zwischen Ich und Aussenwelt. 

I. Erscheinung und Ding. 

In M.s Abhandlung dürfte die im Titel des § 18 liegende 

These Im.: „Äussere Wahrnehmungen als evidente 

Vermutungen" 

der neueste und grundlegendste Beitrag zur Lösung des alten 
Problems sein. Diese These, welche schon durch ihre Neuheit zum 
Widerspruch reizt, führt M. (89) mit folgender Begründung ein: 
„Wir finden uns . . vor die nachfolgende Alternative gestellt: 
entweder wir geben mit dem Vertrauen auf unsere Sinne auch die 
uns so natürliche Überzeugung von der Existenz einer äusseren 
Wirklichkeit auf, oder wir versuchen, zusammen mit dieser auch 
jenes aufrecht zu erhalten. Wie sich dieses Dilemma praktisch 
entscheidet, darüber besteht nicht der geringste Zweifel: auch 
weitestgehende Idealisten haben immer wieder erkannt, dass sie 
durch ihre Theoreme ihren Glauben an die Aussenwelt in concreto 
nicht zu überwinden im Stande gewesen sind. Aber auch theoretisch 
hätte diese Tatsache grössere und prinzipiellere Beachtung verdient, 
als sie bisher gefunden hat. Es wäre eigentlich der einzige bekannte 
Fall innerhalb unserer Erkenntniserfahrungen, wo das bessere 
Wissen dem anerkannt schlechteren nicht standzuhalten vermöchte. 
Oft schon hat der Irrtum über die Wahrheit gesiegt; aber . . es 
war nie der bereits erkannte Irrtum." — Nun hatte M. schon in 
§ 8 „Primäre und sekundäre Qualitäten" nicht nur die Subjektivität 
der „sekundären" Farbe, Ton, Wärme (letztere namentlich anf 
Grund einer genauen und bestätigenden Analyse von Lockes 
Versuch, dass dasselbe laue Wasser der abgekühlten Hand warm, 
der erhitzten kalt erscheint, aber nicht zugleich warm und kalt 
sein kann), sondern auch die Subjektivität der „primären", der 
räumlichen und zeitlichen Eigenschaften zugestanden. Was M. 
aber als nicht bloss subjektiv auch erkenntnistheoretisch retten ZQ 
können glaubt, ist das den Eigenschaften zugrunde liegende Ding, 



Die unabhängigen Realitäten. 36ä 

das hinter den Erscheinungen existierende Noumenon. Die Be- 
gründung hierfür besteht vor allem ebenfalls wieder im Appell an 
das allergewöhnlichste Verhalten des Naiven: „Sieht jemand . . 
auf dem Tische yor sich etwa ein Stück Kreide liegen, so hat er 
fürs erste sicher das beste Zutrauen auf das, was er „mit eigenen 
Augen'' sieht. Es ist . . im Grunde sehr auffallend, wie zugänglich 
er trotz dieser Zuversicht für die Subjektivität und daher Geltungs- 
losigkeit der sensiblen Qualitäten bleibt. Er nimmt gar keinen 
erheblichen Anstoss daran, dass nicht nur Farbe, Temperatur, 
Gewicht, Härte, sondern auch Gestalt und Grösse sozusagen durch 
Subjekt und Umstände in die Bestimmung des gesehenen Gegen- 
standes hineingetragen sein mögen. Nur wenn ihm jemand einreden 
wollte, dass überhaupt gar keine Kreide auf dem Tische liege, dann 
wird er . . nachdrücklichen Widerstand leisten und sich auf die 
Dauer gewiss nicht überzeugt geben (92)." — Man wird M. sofort 
zugeben dürfen, dass er das verhältnismässig fester Glauben des 
Naiven an Dinge als an Eigenschaften hiermit treffend beschrieben 
habe, wie auch früher das des „weitestgehenden Idealisten'', der 
trotz wirklich oder vermeintlich besseren Wissens immer wieder in 
den Glauben des Naiven rückfällig wird ( — freilich nicht erst 
bezüglich des „Dinges", sondern auch schon seiner »Eigenschaften"; 
auch der unnaiv Gewordene wird die Bejahung der Farben, 
Temperaturen und dergl. nicht so leicht auf immer los, als es M. 
beschreibt). — Dass aber das praktische Verhalten des Naiven vom 
Erkenutnistheoretiker irgendwie als berechtigt erklärt werden 
dürfe, leugnet Oe. (115): „Macht man [einem weniger Geschulten] 
klar, ob er . . eine Vermutungsevidenz dafür habe, dass von dem 
Tisch auch dann noch etwas existiere, wenn das Braun wegfällt, 
das Hart, das Eckig, ja wenn selbst der Ort, wo er sich befindet, 
unabhängig von unserer Anschauung, ganz anders bedeutet, wird 
er hierauf noch sagen: Etwas muss doch noch bleiben? Ich gestehe, 
dass ich nicht weiss, was er dann sagen wird und eigentlich meine 
ich, ist es auch ziemlich gleichgültig, was der Laie hierzu sagt, 
dem doch, sobald er ernst mitzureden anfängt oder gar wider- 
spricht, immer noch die Tür gewiesen wurde. Er wird, wenn er 
etwas gründlicher veranlagt ist, vielleicht sogar sagen: Wenn ich 
darüber urteilen soll, ob ich hier noch Evidenzen habe, so muss ich 
doch vorerst wissen, wovon gesprochen wird. Was soll ein Tisch, 
etwas, das weder braun, noch eckig und hart ist?" — Wir wollen 
diesen Einspruch kurz formulieren als folgende 



364 A. ntiiet, 

« 

These Iloe.: Wir haben ebensowenig VermutungsevideM 
für die Existenz eines den Erscheinangren zugrunde 
liegenden Dinges, wie für die Erscheinung selbst 

Besehen wir uns, um zwischen Oe. und M. zu entscheiden 
oder soweit als möglich zu vermitteln, was für Gründe und sonstigen 
logischen Apparat (denn noch yor den Begründungen und Urteflen 
mussten ja Definitionen, Distinktionen u. s. f. gegeben worden sein) 
Beide für sich ins Treffen führen. — Der Apparat ist bei M. k^ 
unbedeutender. Vor allem überrascht seine Behabilitiemng des 
Substanzbegriffes. Auch sie knüpft an das Denken und Sprechen 
des Naiven an (M. 26 ff.): »Sage ich: „„Dbs Blatt ist grün*", so 
bezeichnet „ „Blatt*" '^ das Ding, „„grün*'*' die Eigenschaft des 
Blattes, jenes das „Was**, dieses das „Wie** desselben ... Die 
darin zutage tretende Unselbständigkeit einzelner Qualitäten legt 
es, wie ich an mir selbst erfahren habe, sehr nahe, die natürliche 
Selbständigkeit und damit das Wesen der Substanz oder des 
Dinges darin zu suchen, dass es eben den Komplex der gegensdtig 
sozusagen aufeinander angewiesenen Eigenschaften darstelle. Erst 
gegenstandstheoretische Erwägungen haben mich, und zwar recht 
spät, darauf aufmerksam gemacht, dass durch solche Auf&issang 
der eigentliche charakteristische Dinggedanke in Wahrheit verlcnren 
geht. Denn dieser Gedanke kommt bereits ohne Rücksicht anf 
anderweitige Unselbständigkeiten im Gegensatz der Bedentnngen 
von „Grün** und „Grünes** zur Geltung. Wichtig ist nun, dass für 
diesen Gegensatz das Moment der Einfachheit oder Zusammen- 
gesetztheit gar nicht in Frage kommt . . . Prinzipiell kann man for 
jede, auch für eine streng einfache Eigenschaft, den Gegensatz der 
reinen und der substantialisierten Eigenschaft oder der Eigenschaft 
am Dinge bilden. „Grünes** als solches muss darum auch gar nicbt 
mehr Attribute in sich schliessen als „Grün". Wer aber daraofbin 
geneigt wäre, zu meinen, zwischen „Grünes** und „Grün* bestehe 
im Grunde gar kein wirklicher Unterschied, der wird des letzteren 
leicht gewahr, wenn er die so triviale Tatsache beachtet, dass ein 
Grünes zwar natürlich gnin ist, Grün dagegen ebenso natOrlicb 
nicht wieder grün.** (M. 27) 

Mehreres hierin entfernt sich so sehr von den philosophisdien 
Gewohnheiten der Gegenwart, schon weil es sich denen älterer 
und ältester Zeiten wieder nähert, dass M.s Begriff und Behaop- 
tung von Substanzen „hinter** den (oder als „Träger** dw) 
Eigenschaften das Bürgerrecht in einer neuesten PhilosojAie 



Die unabhängigen Realitäten. äßö 

(Oegenstandstheorie und Metaphysik) gewiss nicht früher sich zu 
erwerben hoffen darf, als bis er die herkömmlichen historischen 
Eonfrontationen mit den berühmtesten Freunden (Aristoteles, 
Descartes, Kant) wie Gegnern (Locke, Hume) dieses proble- 
matischen Begriffes bestanden haben wird. Hier, wo wir auf 
solche geschichtliche Exkurse durchaus verzichten müssen und 
wollen, sei als ein erstes Bedenken das gegen die durchgängige 
and wie selbstverständliche Oleichsetzung von Substanz, Ding 
und weiterhin auch von Noumenon (M. 93 ff.) angemeldet, seine 
Erörterung aber ebenfalls für andere Gelegenheit ^) verspart. Dass 
aber solche Bedenken nicht erst von aussen in M«s Abhandlung 
hineingetragen zu werden brauchen, dürfte der Satz belegen: 
„Wir mussten ablehnen, die Dinge streng blau oder grün 
zu nennen, weil wir wissen, wie diese Qualitäten . • . von der 
Beschaffenheit unseres Sehorganes abhängen*' (M. 99 ; wir kommen 

^) Hoffentlich in der Neubearbeitung meiner (seit fünf Jahren ver- 
^ffenen) Logik, die in § 23 sich zum Substanzgedanken im ganzen recht 
skeptisch verhalten hatte; wie ich auch noch 1903 [^Zur gegenwärtigen 
Naturphilosophie*^, S. 44] die These aufgestellt habe: .Wir brauchen eine 
Physik ohne Substanz, aber mit Kausalität**. — Immerhin mag der 
künftigen systematischen Revision dieser Dinge vorgearbeitet werden, 
wenn ich einstweilen als einen Anlass zu Bedenken folgendes vermerke: 
Eb galten bisher (und gelten auch bei Meinong) zu den obigen drei Be- 
g^riffen die folgenden als Gegenglieder: 

Substanz — Inhärenz, 

Ding — Eigenschaft, 

Noumenon — Phänomen. 
Da nun die drei rechts stehenden Begriffe sich keineswegs ohne weiteres 
decken, so werden es wohl auch die Unks stehenden nicht tun. — Femer: 
Ohne dass wir Bevorzugung, die M. dem Ding vor den Eigenschaften 
^iebt, entgegentreten wollen oder mttssen, gelten uns als „gegeben** 
doch nur die direkt „empfundenen** Eigenschaften, das Ding dagegen ist 
ein Hinzugedachtes; nicht mehr und nicht weniger als dieses besagt 
ja auch eben der Name .Noumenon*". Da erhebt sich nun die Frage : Mit 
welchem Recht denken wir zu dem Gegebenen unsererseits etwas hinzu? 
Je mehr M. die gegenstandstheoretische Notwendigkeit betont, um so 
näher rückt für den an Kantische Gedankenbahnen Gewöhnten der Ge- 
danke an eine .kategoriale** Zutat. Sogleich aber mit dem Worte „Kate- 
gorie** rttckt auch der ganze Komplex von Fragen nach dem Wesen der 
Kategorien heran. Diesen aber muss ich noch heute für einen keineswegs 
in dem Masse geklärten halten, wie es die gegenwärtige Relationstheorie 
(vgl meine Frage „Sind die Kategorien Relationen?' in meinem Nach- 
wort zu Kants M. A. d. Naturwissenschaft [J. A. Barth 1900]), allgemeiner 
die Gegenstandstheorie, verlangen oder — leisten muis. 

KauUtuili«ii XiJ. 24 



366 A. Höflei', 

auf die hier von mir im Druck hervorgehobenen Worte unten, 
S. 373, zurück). — Wie verträgt sich das mit der von M. obai 
(27) selbst hervorgehobenen „trivialen Tatsache, dass ein Grünes 
natürlich grün ist" ? Wohl schwerlich anders, als wenn das Wort 
„Grünes'^ in zweierlei Sinn angewendet wird, einem phänomenalen 
und einem metaphänomenalen (wie ich der Kürze wegen mit dem 
von Josef Breuer^) geprägten Terminus sagen will). — Oe. (124) 
nennt es eine „Umwertung", wenn man auch das dem phäno- 
menalen Grün und Grünen zugrunde Liegende noch einmal non- 
menales Grün, bezw. noumenales Grünes nennt. — Den von aUer 
Wortwahl unabhängigen Kern in M.s erkenntnistheoretischer Becht- 
fertigung des naiven Glaubens, dass „hinter" dem Weiss der 
Kreide noch Etwas, u. zw. etwas anderes stecke als hinter dem 
Grün des Blattes oder dem Braun des Tisches, formuliert (M. 94) 
folgende 

These UIm.: „Den phänomenalen Bestimmungen o'i, o't etc. 

stehen . . . noumenale Bestimmungen ö^, 02 etc. gegenüber, 

von denen . . . evident ist, dass zwischen ihnen die näm- 

. liehen Vergleichungsrelationen gelten wie zwischen 

den 0'." 

Gegen diese These richtet sich der Elinwand Oe. (126): 
„Schon das Keich des Erfahrbaren zeigt z. B., dass verschiedene 
Ursachen gleiche Wirkungen haben können, und es ist durchaus 
möglich, zu einer Reihe eines Empfindungskontinuums mit abge- 
stuften Ähnlichkeiten eine parallele diskontinuierliche Eeihe be- 
liebiger Dinge zu konstruieren, die nur zugeordnete, aber durch- 
aus unähnliche Qualitäten darstellen. Da dieses aber auch for 
alle Arten trausscendenter Abhängigkeit gelten kann, so heissl 
dies, es können die zweiten Realitäten zweier Dinge, von deoflB 
ich Ähnlichkeit aussage, falls ich jene wahrnehmen könnte, nn- 

1) Vgl. meine Abhandlung „Zur gegenwärtigen Natarphflosqüiie't 
Beilage 1, S. 131. — Der von Meinong (Über Gtogenstandstheorie, Joh. 
Ambr. Barth 1904, S. 37 ff.) erhobene Emspruch, es lasse sich anch d» 
„Phänomenale^ nicht aus dem Bereiche der Metaphysik ansscbliessen, trifft 
nicht den Begriff und Terminus „Metaphftnomenales^ selbst, sondern eist 
die Definition der Metaphysik als „Wissenschaft Tom MetaphanomenaleB'. 
— Auch alle diese an dem Begriff des »Phänomenes*^ mit interessieiteB 
Streitfragen wären erst auszutragen durch eine üntersuchimg: .Was fir 
eine Phänomenologie wir brauchen^ [vgl. ,|Zar gegenw. Nato^ 
pliilosophie", S. 89, Anm. 38]. 



tMe nnabhängigen Realitäten. ä6? 

ähnlich sein; die zweiten Realitäten zweier Farben könnten nach 
ihren Relationen ebenso verschieden sein, wie ihre Eigenschaften 
Yon denen der Empfindungen. Allerdings blieben die Relationen 
damit um nichts weniger übertragbar im vorher besprochenen 
Sinne, nur nicht in der einfachen Weise, dass ich das Recht 
hätte, ohne weiteres aus der Ähnlichkeit zweier Dinge auf die 
Ähnlichkeit ihrer zweiten Realitäten zu schliessen. " 

„Zweite Realität'' ist in der ganzen Arbeit Oe.s (wie schon 
früher in der Eosmodicee 1897 und den Nachträgen zu ihr 1900) 
der technische Ausdruck für die vom Ich, als der „ersten Reali- 
tät", unabhängige Welt der Dinge an sich. Bezeichnen wir nun, 
um im weiteren kurz von der Art, wie Oe. sich die „Zuordnung" 
der zweiten zur ersten Realität denkt, sprechen zu können, die 
einzelnen Glieder 

der ersten Realität mit a, b, c . . x, y, z, 
die der zweiten Realität mit /, 9, A . . C, ce, ^, 

so soll vor allem die Regellosigkeit der zweiten Reihe das Be- 
denken zum Ausdruck bringen, was von dem Gedanken einer „Zu- 
ordnung", eines „Zugeordnetseins" eigentlich noch übrig bleibt, 
wenn wii' schlechthin alles, was die zwischen den Gliedern der 
ersten Reihe bestehenden Ähnlichkeits- und Verschiedenheitsrela- 
tionen Gliedern auf die der zweiten Reihe genau oder annähernd 
übertrüge, von dieser zweiten Reihe femhhalten wollten und 
könnten. Fordert doch der Begriff des „Zuordnens" allein schon 
zum allermindesten, dass je einem „Glied" der ersten Reihe ein ^) 
^Glied" der zweiten Reihe „entspreche" und somit wenigstens 
zwischen den Cäsuren der ersten und der zweiten Reihe eine Art 
Ähnlichkeit bestehe — wieviel Willkürlichkeit übrigens schon im 
„Zergliedern" der ersten Reihe etwa liegen mag (wie z. B. im 
„Einteilen" der Weltgeschichte). — Oe. mag diesem Bedenken 
erwidern, er bedürfe zum „Zuordnen" nicht der Ähnlichkeitsrela- 
tionen, da er es ja auf Abhängigkeitsrelationen gründe; wobei für 
eine erschöpfende Abwägung der Anteile dieser beiden Haupt- 
klassen von Relationen daran zu erinnern wäre, dass M. schon 



1) Nach Analogie zu den_ nicht ein, sondern mehrdeutigen Funk- 
tionen (wie z. B. nach y =» ± JH je einem Werte des x zwei Werte 
des y zugeordnet sind) wäre allerdings auch die Möglichkeit zweier oder 
mehrerer Glieder der zweiten Reihe offen; aber nur nicht unendlich oder 
unbestimmt vieler. 



368 A. Höflei*, 

1882^) die „Verträglichkeitsrelationen" als doch erst wieder über 
Vergleichungsrelationen gleichsam sich aufbauend beschrieben 
hatte. — Dass nun M. viel weitergehende Ähnlichkeiten zwischai 
den o'i 02 etc. und den öi, Og etc. behauptet, wollen wir dnrch 
ein entsprechendes Ordnen der zweiten von beiden Reihen 

a, Dy c • • Xy y, Zy 

a, /?, y • • ?, ^, f 
symbolisieren; ja wir können die von M. als unmittelbare Ver- 
mutungsevidenz behauptete Abstufung der Ähnlichkeitsmasse 
zwischen den Noumenen symbolisieren durch eine Proportion 

a:b:c... = a:/?:y... 

Vielleicht wird sich die zwischen M. und Oe. schwebende Streit- 
frage sogar am einfachsten durch eine an diese symbolische Pro- 
portion anknüpfende mathematische Analogie formulieren und bis 
zu einem gewissen Grade schlichten lassen: 

Dass nach These IIIm. zwischen noumenalen Bestimmungen 
die nämlichen Vergleichungsrelationen gelten, wie zwischen den 
zugeordneten phänomenalen Bestimmungen, wäre analog dem denk- 
bar einfachsten Falle mathematischer funktionaler Abhängigkeit, 
die ja eben die direkte Proportionalität ist; und unter dem Bilde 
einer solchen Analogie gesehen erscheint dann Oe.s Ablehnimg 
einer solchen allzu einfachen funktionalen Beziehung sogleich ge- 
rechtfertigt durch einen flüchtigen Überblick über die zahllosen 
Gattungen und Arten yon Funktionen ausser der blossen Propor- 
tionalität, wie sie nicht bloss die mathematische Phantasie aus- 
denkt, sondern wie sie auch in der phjrsischen und psychischen 
Welt sich realisiert zeigen. Dennoch kann man diesem so nahe- 
liegenden Einwand entgegenhalten, dass wenigstens in sehr vielen 
Fällen, wo man eine von der einfachen Proportionalität mehr oda* 
weniger weit sich entfernende Gesetzmässigkeit (etwa schon 
Galileis Beziehung s = at^ zwischen Fallstrecke s und Fall- 
zeit t) in ihre Healgründe verfolgt, man früher oder später doch 
wieder auf die einfache Proportionalität trifft. (So ist in unserem 
Beispiele das Quadratgesetz auf die Beziehung v = g t für die Fall- 
geschwindigkeit V gegründet, und diese phoronomische Beschreibnng 
wieder auf das erste und zweite der Newtonschen dynamischen 



^) Hume-Studien 11 (Sitzungsberichte der Wiener Akademie, 1882) 
S. 89 [ß59] ff. 



Die unabhängigen Realitäten, 369 

Gesetze, die auch direkte Proportionalitäteii aussprechen.) Ent- 
scheidend würde diese Bevorzugung der direkten Proportionalität 
natürlich erst durch eine Art Statistik, wieviel der anderweitigen 
Funktionsbeziehungen auf solche einfache Proportionalitäten zurück- 
führen und wieviele etwa überhaupt nicht. Auch wenn es eine 
(nur nicht allzu unbeträchtliche) Überzahl ist, darf sie als ein, 
wenn schon nicht Rechtfertigungs-, so doch Entschuldigungsgrund 
für den naiven Anfänger gelten, der, weil er eben noch keine 
andere Art von funktionaler Abhängigkeit kennt als die direkte 
Proportionalität (z. B. zwischen Preis und Warenmenge, Arbeiter- 
zahl und Leistungsmenge — und selbst hier ist ja die Proportio- 
nalität schon manchmal durchbrochen, wenn es sich um Diamanten 
von 1, 2, 3 Gran handelt, oder um Arbeiter, die sich gegenseitig 
stören oder fördern u. dgl. m.) immer und überall auf diese direkte 
Proportionalität treffen zu müssen, ja sie wohl gar für evident 
halten zu dürfen meint. Und muss man das, was der Anfänger, 
dieser „naive^ Mathematiker, hier für evident hält, zwar zuerst 
nnr Vorurteil nennen, so könnte er sich im Besitze jener Statistik 
nachmals immerhin darauf steifen, dass er wenigstens jetzt eine 
Evidenz der (sogar zahlenmässig auszuwertenden) Wahrscheinlich- 
keit dafür habe, es werde eine neu entgegentretende Abhängigkeit 
^im Grunde*' doch auch wieder als einfache Proportionalität wenig- 
stens so lange präsumiert werden dürfen, bis die Erfahrung und 
ihre möglichst weit (zu den Prinzipien) geführte Analjrse etwa 
doch das Gegenteil gelehrt habe. 

Auch das an der Spitze des angeführten Einwandes von Oe. 
(135) ebenfalls nur als Analogie herangezogene Beispiel, „dass 
verschiedene Ursachen gleiche Wirkungen haben können **, steht 
ja nicht im unversöhnlichen Widerspruch mit dem vom M. (96) 
geltend gemachten Satz, „aus Verschiedenheit der Wirkungen darf 
man ja in der Regel auf Verschiedenheit der Ursachen, aus 
Gleichheit der Wurkungen auf Gleichheit der Ursachen schliessen*'. 
Jeder wird es von vornherein praktisch und mit gutem theore- 
tischen Rechte so lange mit der „Regel" (der sozusagen „Propor- 
tionalität*" zwischen Ursache und Wirkung) halten, bis man aus 
ganz bestimmten Gründen im einzelnen bestimmten Falle die 
„Ausnahme" zuzugeben genötigt ist. Und so ist es allerdings 
auch (Oe. 126) „durchaus möglich, zu emer Reihe eines Empfin- 
dungskontinuums mit abgestuften Ähnlichkeiten eine parallele dis- 
kontinuierliche Reihe beliebiger Dinge zu konstruieren"; aber was 



370 A. Höfler, 

„möglich^ ist, muss doch noch keineswegs das Wahrschein- 
lichste sein. 

Trachten wir aber jetzt aus solchen Allgemeinheiten und 
blossen Möglichkeiten heraus zu denjenigen Wahrscheinlichkeiten 
vorzudringen, mit denen der praktische Naiye, wie der praktische 
Naturforscher sich durch die Welt hilft, so sehen wir M.s und 
Oe.s Erkenntnistheorie die Bedeutung dieses praktischen Verhaltens 
grundsätzlich so verschieden einschätzen, dass es auf den ersten 
Blick direkter Gegensatz scheint, und doch dürfte sich zeigen 
lassen, dass auch Oe. dem für M. charakteristischen Bestreben, 
mit seiner Erkenntnistheorie der Erkenntnispraxis möglichst nahe 
zu bleiben, viel näher steht, als er (Oe.) selber meint. Denn 
es räumt ja auch Oe. dem naiven Kinde und dem naiven Nat4ir- 
forscher sogleich eine sehr weitgehende metaphysische Kompetenz 
ein, wenn er ihr Urteil über die Existenz einer zweiten Realität 
in folgenden Worten beschreibt: 

„Schon das Eind, das Feuer verkohlen sah, wird, wenn es 
zum erstenmal eine Kohle ohne Feuer sieht, glauben, dass Feuer 
vorausgegangen sei, einfach auf Orund der Erinnerung an die 
schon gesehene Kohle, die durch Feuer entstanden ist. Hier wird 
vom Kinde zum erstenmal eine unabhängige Realität an- 
genommen, die über den Solipsismus hinausgeht^ (Oe. 121). 

Zur Orientierung des Lesers sei hier eingeschaltet, dass das 
Beispiel von Feuer-Kohle (Realgrund) und Kohle-Feuer (E^rkenni- 
nisgrund) in Oe.s Hand die Pistole ist, die er seinem Hauptgegner, 
dem Phänomenalisten, auf die Brust setzt: Was ist „Antezedens'', 
wenn einmal Kohle ohne Feuer erblickt wird; die (diesmal durch 
die Assoziation Feuer-Kohle geweckte) Erinnemngsvorstellung von 
Feuer? — diese wäre ja deren Konsequens, nicht Antezedens ! — 
Ich teUe völlig Oe.s Eindruck, dass dieser Waffe bisher keine 
gleich treffsichere entgegengestellt worden sei, sondern nur die 
verlegene Ausrede auf „Wahmehmungsmöglichkeiten^ iL dgL — 
Aber nicht diese Gemeinsamkeit unserer Überzengnng von der 
Unentbehrlichkeit „unabhängiger Realitäten*' hat uns hier zu be- 
schäftigen, sondern nur eine eben erst auf Grund dieser G^emeinsam- 
keit mögliche Differenz : Auch Oe., wiewohl hier namens „grauester 
Metaphysik'' urteilend, lässt schon das Kind als unveräditlicheD 
Zeugen für ein Ding an sich des Feuers gelten; natürlich nur so, 
wie einem Untersuchungsrichter die Aussage eines ungebfldeten 
Zeugen, die er keineswegs wörtlich nimmt, nach allen nötigeo 



Die unabhängigen Realitäten. 371 

Abstrichen dennoch entscheidend wertvoll sein kann. Das Kind 
nimmt die (durch den Anblick der Kohle reproduzierte Erinnerungs-) 
Vorstellung vom Feuer (genauer: deren „immanenten" Gegenstand) 
samt allen seinen anschaulichen Merkmalen ohne jeden Abstrich 
für ein Ding an sich. Die Frage ist nun: Wie viele Abstriche 
muss der Metaphysiker vornehmen, damit er sich nicht einer 
müssigen „Verdoppelung" (Oe. 123) schuldig mache; wieviele 
solche Abstriche darf er aber höchstens machen, damit ihm nicht 
etwa gar nichts mehr, sondern damit ihm doch immer noch gerade 
das Ding an sich eben jenes Feuers in Händen bleibt? Oder in 
Form der obigen Frage : Welches Ausmass positiver Bestimmungen 
wird schon durch den blossen Begriff des „Zuordnens" einer 
zweiten Realität q zu einer gegebenen ersten r erfordert, damit 
uns nicht dieser Begriff des „Zuordnens" selber unter den Händen 
zerrinne? Auf die so zugespitzte Frage nach dem richtigen Aus- 
mass der unvermeidlichen Abstriche haben wir nun aber nach Oe. 
die authentische Antwort auch nicht etwa vom Naturforscher zu 
erwarten, der zwischen dem Kinde und dem Metaphysiker steht. 
Vielmehr ist auch er nur ein Zeuge für das „Dass", nicht für das 
„Wie" der zweiten Realität; denn (Oe. 122, 123): 

,,Auch die grundlegende Naturwisssenschaft, die Physik 
braucht die Annahme einer zweiten Realität und kann sich 
nicht begnügen mit der Erforschung bloss von Empfindungs- 
beziehungen in mathematischen Formeln. Sie braucht die ihnen 
zugrunde liegenden metaphysischen Vorgänge der zweiten 
Realität, worauf sich auch alle ihre Abstraktionen, Hilfs- 
and Rechenkonstruktionen beziehen: Atome, Äther, Fluida, 
kontinuierliche Materie, samt ihren Relationen, falls jene nicht 
widerspruchsvolle Annahmen eines „Zwischenreiches" sind. Für 
den Physiker heisst, der Magnet zieht an, gleicherweise wie Feuer 
verkohlt: sie haben die Kraft so zu wirken — der kürzere Ausdruck 
dafür, dass sie bleibende Teilursachen sind, d. h. Antecedenzien 
eines Geschehens werden können, dem auch ein Vorgang in der 
zweiten Realität entspricht. Dass die Physik zu solchen oder gar 
zur Erkenntnis bestimmt gearteter Luftschwingungen, die einen 
Ton bedingen, jemals gelangen könne unter der Annahme, dass diese 
nur soweit existieren als sie wahrgenommen werden, ja nur zur 
Übereinstimmung ihrer Phasen in mehreren Beobachtern, müsste 
zum mindesten gegen den auch von der Physik bisher mit Erfolg 
anerkannten naiven Realismus als möglich erwiesen werden. Könnte 



372 A. Höfler, 

sie dies, dann allerdings wäre damit auch für die Metaphysik die 
Entbehrlichkeit der zweiten Realität bewiesen.^ 

Wieder sei zur Orientierung des Lesers hier eingeschaltet, 
dass der Terminus „Zwischenreich physikalischer Realitäten'', deren 
Annahme Oe. hier „eine widerspruchsvolle** nennt, von mir^) ein- 
geführt wurde, um die so oft geschilderte Verlegenheit des Phy- 
sikers zu charakterisieren, der z. B. seine Atome als räumlich 
ausgedehnt, aber als farblos denkt, wiewohl doch (Gesichts-) Ranm- 
daten ohne Farbenqualitäten undenkbar, genauer: mit innerem 
Widerstreit belastet sind. Wollten wir um dieser Schwierigkeit 
willen aber auf ein solches Zwischenreich völlig verzichten, was 
bleibt dann von „Atomen, Äther** und dergl. übrig? Und inwiefern 
können diese auch nur noch Hilfs- und Rechenkonstrnktionen genannt 
werden, die sich überdies geradezu auf die metaphjrsischen Vor- 
gänge der zweiten Realität beziehen sollen, al30 „Wirklichkeiten 
treffen", die nicht „blosse Bilder** sein wollen?^ 

Alle diese alten und neuen Verlegenheiten spitzen sich zu 
auf die zwischen Oe. und M. schwebende Streitfrage nach dem 
Mehr oder Weniger der Abstriche, die sich unsere Anschanungs- 
bilder von der Aussenwelt gefallen lassen müssen, damit diese als 
ein Ding an sich allerunnaivsten, „kritischen** Ansprüchen stand- 
halte. Auf Oe.s allgemeine Lösung dieser Aufgabe kommen wir 
unten (S. 374 ff.) zurück und halten uns für jetzt an das letzte der 
vier zur Sprache gekommenen, wesentlich gleichartigen Beispiele 
vom Feuer, dem Tisch, der Kreide und dem grünen Blatt; wobei 
wir hier wieder nur jenen ganz speziellen Punkt herausgreifen, den 
Oe. eine „Umwertung** nannte. Er glaubt sie darin zu finden, 
dass M. angesichts eines gesehenen „grün** (g) nicht nur das 
gesehene Blatt ein Grünes (G) nennt, sondern anch das hinter 
dem Blatt zu denkende Ding an sich ebenfalls ein Grünes (F), wie 
wenn dieses selber noch einmal „grün**, diesmal aber „noumenal- 
grün** (y) wäre. Wenn hiermit M. diesem F die Eigenschaft g 
noch einmal, u. zw. in ganz demselben Sinne wie dem Q beQegte, 
wäre dies freilich eine jener Verdoppelungen, um derentwillen man 
so häufig das Ding an sich überhaupt eine müssige Erfindung 



1) Zur gegenwärtigen Naturphilosophie (S. 98). Meinong erwähnt 
diesen Terminus „Zwischenreich^ in „Erfahrungsgrundlagen*^ (S. 40, Anmji 
und zwar in zustimmender Weise. 

>) Vgl Zur gegenw. NaturphiL, S. 114. 



Die unabhängigen Realitäten. 373 

nennen hört. Halten wir uns aber an die schon oben angeführten 
Worte (M. 99), die wir hier hervorheben wollen als 

These IVm.: »Wir mussten ablehnen, die Dinge streng 
blan oder grün zu nennen, weil wir wissen, wie diese 
Qualitäten . . von der Beschaffenheit unserer Sinnes- . 

Organe abhängen", 

so ist es durch sie ausgeschlossen, dass M. dem F noch einmal 
ein eigentliches „grün" (y, wo y = g wäre) zuschreiben wolle. 
Eiben darum will aber Oe. auch das Wort „Grünes" für das Ding 
an sich des gesehenen Blattes schlechterdings vermieden wissen. 
Eis sind also M. und Oe. in der Sache einig, dass es im Reich der 
Dinge an sich kein Grünes und überhaupt kein Farbiges (also auch 
kein Graugrünes oder dergl.) gebe, dem die Eigenschaft „grün'' im 
phänomenalen Sinne noch einmal zukäme. Dennoch verzichtet M. 
nicht darauf, auch das Ding an sich des Blattes ein „Grünes" zu 
nennen; und ist dieses nach Oe. eine Umwertung, so ist sie 
wenigstens insoweit bequem, als sie in der kunstlosen Sprache des 
Alltags denselben Gedanken der Zuordnung eines Dinges an sich 
zu dem phänomenalen Grün, bezw. Grünen andeutet, den wir künstlich 
durch die Zuordnung griechischer Buchstaben zu den lateinischen, 
oder durch eine fortwährende Wiederholung des Beisatzes »Ding 
an sich des — " jedenfalls nur sehr schwerfällig erreichen. — 
EVeilich ist solche Schwerfälligkeit ebensowenig eine sachliche 
Widerlegung der „Dinge an sich", wie die Zinsgroschenfrage: 
^Kannst Du Dich auf das Ding an sich eines Sessels setzen ?** 
Man darf eine solche Frage nur nicht inkonsequent bejahen oder 
yemeinen, sondern muss natürlich, wenn der sichtbare Sessel (S) 
durch das metaphysische Ding (2) ersetzt werden soll, auch zum 
physischen „setzen" (s) den zugehörigen „metaphysischen Vorgang" 
(o) schon in die Frage legen. Nur wer dann selber durchwegs 
2 = S, (T = s gesetzt hätte, dürfte sich über Verdoppelung lustig 
machen, die aber nun nur ihm selbst zur Last fiele. 

Es wäre aber das entgegengesetzte Extrem und womöglich 
noch unfruchtbarer als solche unbewiesene Gleichheit, wollte man 
jede „Beziehung** zwischen S und S, zwischen a und s, zwischen 
r und G u. s. w., als angeblich mit der Natur des „Dinges an sich" 
oder eines „Vorganges an sich" unverträglich, überhaupt abweisen. 
Zwischen solchen Extremen sind hier zahlreiche Mittelstellungen 
denkbar und vor und seit Kant eingenommen worden. Die 



374 A. Höfler, 

Phänomenalisten pflegen neuestens Kant einen Realisten (und 
zwar gelegentlich sogar einen „naiven" Realisten) zu nennen, weil 
er von der These ausgegangen ist : Wir erkennen die Dinge nicht, 
wie sie an sich sind, sondern nur wie sie uns erscheinen. Zu- 
zugeben ist, dass hier das „Dass** einer Existenz von Dingen an 
sich als ein unmittelbar evident gewisser Satz hingestellt wird, 
worauf dann erst die Elrkennbarkeit jedes „Wie" mit ebensolcher 
Gewissheit geleugnet wird. Zuzugeben ist femer, dass diese Unter- 
scheidung des „Dass" und „Wie", die man für ebenso dringend 
wie selbstverständlich halten sollte, in dem ganzen schier unend- 
lichen Streite für und wider die Dinge an sich nur zu hänfig 
übersehen worden ist. Nach dem Grundsatze „Kein Quid ohne 
Quäle, kein Quale ohne Quid",^) darf sich aber Niemand, der 
(„naiv" oder „kritisch", evidenzlos oder evident) daran glaubt, 
dass es Dinge an sich giebt, der Verpflichtung entziehen, auch 
irgend etwas Positives über ihr Wie auszusagen (ebenso wie 
Niemand sagen darf, er glaube an (jk>tt, ohne dass er diesem seinen 
Gott wenigstens ein positives, äusserstenfalls auch nur irgend ein 
negatives Merkmal beilegt). 

Dieser Aufgabe unterzieht sich Oe. im zweiten Teü seiner 
Abhandlung 123 — 131, indem er ein solches „Minimum der Trans- 
zendenz" (123) sucht, wie es durch das im ersten Teil der Ab- 
handlung bewiesene „Dass" einer zweiten Realität gefordert sei 
Wir deuten hier Inhalt und Ergebnis dieses Teiles der Untersuchung 
dadurch an, dass wir die zur Sprache gebracht (TOgenstände 
einfach aufzählen und hinter jeden ein + oder — setzen, je nachdem 
seine Übertragbarkeit aus der ersten in die zweite Realität be- 
hauptet oder geleugnet wird. Es sind: Die sinnlichen QuaUtaten 
(— ), Raum ( — ), Zeit (— ), Gleichheits- und Verschiedenheits- 
relationen (— ), Zahl (+), Notwendigkeitsrelationen (+), Kausalität 
( — ; vgl. unten S. 383, Oe.s. Gründe für diese Negation einer 
„Kausalität an sich"). — Es drängen sich hier die Fragen auf: 
Warum sind gerade diese absoluten und relativen Begriffe für 
die Erörterung gewählt worden? Sind es wirklich alle überhaupt 
denkbaren, oder geschah vielmehr die Wahl gerade so, um zu m& 
bestimmten Wahrnehmungstheorie Stellung zu nehmen? Ich glaube 
letztere Frage weiter unten S. 386 ff. bejahen zu sollen. Unabhängig 
von solchen Zusammenhängen stellt sich aber nach dem Überblick 

1) Vgl. E. Mally in Meinong's ^Untersuchungen zur Gegenstands- 
theorie und Psychologie", Barth 1904, S. 186. 



Die unabhängigen Realitäten. 375 

jenes Minimums von Transzendenz wohl bei jedem Leser das 
Bedürfnis ein, nun das aus den wenigen verbliebenen Bausteinen 
zu errichtende metaphysische Gebäude zu vergleichen mit dem 
reich geschmückten Weltbilde, das dem Nichtmetaphysiker, sei es 
ein Kind oder ein Naturforscher oder sonst ein „Naiver**, gegen- 
überzustehen — scheint. Ohne dass wir hier näher auf alle feineren 
Differenzen eingehen, zu denen z. B. sogleich die Eingangsworte 
der ganzen Abhandlung^) Anlass gäben, darf der Gesamteindruck 
wohl dahin ausgesprochen werden, dass die von Oe. geschaffene 
Kluft zwischen der ersten und zweiten Realität sehr breit und 
sehr tief ausgefallen ist. Haben wir hier nur das unvermeidliche 
ytignoramiis^ einzugestehen, oder aber eine Unterschätzung dessen, 
was die Naturforschung einerseits, eine mit neuen Werkzeugen 
arbeitende Erkenntnistheorie andererseits, zu einer wenigstens teil- 
weisen und schrittweisen Ausfüllung der Kluft zu tun vermöchte? 
Was Oe. hierfür von der Naturwissenschaft (134, Anm.) erwartet, 
ist nicht wenig, aber er erwartet es eben erst von einer un- 
bestimmten Zukunft Und ausdrücklich verwirft er alle oder fast 
alle erkenntnistheoretischen Werkzeuge, die M. neu schmiedet und 
anwendet, um der äusseren Wahrnehmung ein besseres Recht auf 
die Erkenntnis der physischen Aussenwelt zu verschaffen, als ihr 



^) Sie lauten : „]<^ die Anhänger des Glaubens an eine vom Ich un- 
abhängige zweite Realität, für die dualistische Annahme, ist das Physische, 
die Körperwelt, auch nur eine besondere Art des Psychischen. Da sie nur 
zwei Arten von Realitäten anerkennen und das Räumliche, Wärme und 
Töne mitbedingt, gegeben sind durch das Ich, durch die erste Realität, so 
wird das Physische eigentlich erst durch das ihr zugrunde liegende Sein, 
das ja selbst nicht wieder physisch genannt werden kann, charakterisiert. 
Es ist dies eine Art genetischen Kriteriums, mit Hilfe der zweiten Realität.*^ 
— Gegenüber der hier vorgeschlagenen Terminologie möchte ich doch die 
meiner Psychologie § 1 zweckmässiger finden: Bleiben wir dabei, die 
A4jektiva „physisch*^ und „psychisch*^ vor aUem auf zwei Klassen von 
Phänomenen anzuwenden, was dann den unmissverständlichen „phäno- 
menalen Dualismus' giebt. Für das dem Physischen eigentlich erst 
zugrunde liegende Sein bietet sich ja dann ganz von selbst das Meta- 
physische (im weiteren Sinne; im engeren steht ihm ja noch ein Meta- 
psychisches gegenüber) dar. Und erst auf diesem metaphysischen Felde 
mag über .Dualismus^ und „Monismus" weitergestritten werden. Für die 
Unterscheidung der physischen und psychischen Phänomene aber bedarf es 
erst nicht genetischer Kriterien; ja diese wären gar nicht möglich ohne 
vorausgegangene deskriptive (vgl. meine Psychologie § 2, an dem ich bei 
der bevorstehenden Neuauflage freilich auch mancherlei zu verbessern 
haben werde). 



376 A. Höfler, 

seitens einer allzurigorosen Erkenntnistheorie und Metaphysik 
bisher zugestanden worden war. Besehen wir ans also in Eürae 
die neu empfohlenen und angewendeten Erkenntnismittel: 

Vor allem ist es Meinongs Begriff der Evidenz der Wahr- 
scheinlichkeit, kürzer Vermutungsevidenz, der der Zeit 
seiner Konzeption^) nach freilich keineswegs mehr neu, dennodi 
aber der Mehrzahl gegenwärtig produktiver Erkenntnistheoretiker 
noch fremd geblieben ist; vielleicht weil sie nicht hinweg ge- 
kommen sind über den scheinbaren Widerspruch, der in der Ver- 
bindung der Wörter „Vermutung" und „Evidenz" lieg^, der aber 
als ein nur scheinbarer schon längst entkräftet ist. Genug, dass 
Oe. sich grundsätzlich keineswegs dem Begriff der nnmittelbareii 
Wahrscheinlichkeitsevidenzen verschliesst (114, wo er euphemistisch 
sogar von „ihrer Entdeckung eine Art Epoche für die Elrkenntiiis- 
theorie" datiert, dieser ganzen Evidenzklasse aber dann doch nur 
ein einziges Anwendungsgebiet, eben das der Gedächtnisphänomene, 
zugesteht). M. dagegen hat während der zwei Jahrzehnte seit 
dieser Konzeption ihr immer neue Anwendungsgebiete zugeteDt 
und geht gegenwärtig so weit, „nur noch die allerbesten Ge- 
dächtnisleistungen** der Vermutungsevidenz des äusseren Wahr- 
nehmens eines Dinges hinter den Eigenschaften (z. B. des aaf 
dem Tisch liegenden Stückes Kreide) an die Seite zu stellen (92). 

Ebenso wie gegenüber der Gewissheit die Vermutung bisher 
zu wenig erkenntnistheoretisch verwertet worden ist, so auch 
neben dem Genauen das Ungenaue. Wie jene Unterscheidmig 
das Urteilen, betrifft diese das Vorstellen. Auf dieses, hier zum 
erstenmal der erkenntnistheoretischen Würdigung (und zwar einer 
positiven, nicht bloss einer alles Ungenaue a limine ablehnenden, 
negativen) empfohlene Moment der Ungenauigkeit gründet M. den 
Begriff der Halbwahrnehmung (98): Der Fehler des . . . 
„naiven Eealismus** wird hierbei dahin präzisiert, „dass für Voll- 
wahrnehmung genommen wird, was nur Halbwahrnehmung ist' 
(98). Nach Feststellungen über die Übertragbarkeit von Ver- 
gleichungsrelationen („Die Dinge an sich sind also gleich, un- 
gleich etc.**, 100) und über die „Prärogative der Verschiedenheit^ 
(„Es gilt im allgemeinen das Prinzip : Wenn von zwei Beschaaen 
der eine Verschiedenheit findet, der andere Gleichheit, so hat der 



^) 1885 oder früher. — „Zur erkenntnistheoretischen Würdigmig 
Gedächt-nisses^, VierteJijahrsschr. f. wiss. Phüos. 1886. 



bie unabiiängigen Realitäten. ä?? 

erstere Recht*', 102) wird unterschieden zwischen „schiechteren 
und besseren Phänomenen^ (104), unter letzteren z. B. die durch 
Lupe und Mikroskop oder durch die Färbemethoden in der Phy- 
siologie gewonnenen differenzierteren verstandea „Im allge- 
meinen kann man sagen: es ist die wesentliche Aufgabe jeder 
empirischen Wissenschaft, sich mit den besten Phänomenen zu 
versehen. Und weiter ist es auch ganz verständlich, wie sich 
eine empirische Wissenschaft dazu gedrängt sehen kann, Phäno- 
mene zu erfinden, die . « . geeignet erscheinen, das, was die 
Forschung ... in betreff der einschlägigen Noumena festgestellt 
hat, so zu repräsentieren, . . . dass ... die wertvollsten Halb- 
wahmehmungen diese Erscheinungen zu phänomenalen Objekten 
haben könnten. Das ist der eigentliche, d. h. der einwurfsfreie 
Sinn der Versuche neuerer Naturwissenschaft, physische Vorgänge, 
die nicht als Bewegungen erscheinen, auf Bewegungen „ „zurück- 
zuführen '^ ''. Nur ein erkenntnistheoretisches MissversUndnis 
konnte zu der Meinung führen, dass es sich dabei um einen 
Übergang von Phänomenen zu Noumenen handeln müsse oder 
auch nur könne.*' 

Eine Prüfung der neuen Begriffe „Halbwahmehmung^ u. s. w., 
kann natürlich hier nicht geliefert werden. Aber auch ohne eine 
solche dürften die herausgehobenen Sätze genügen, um die viel 
entsagungsvoUere Erkenntnistheorie Oe.s zur Selbstprüfung zu 
veranlassen, ob sie der Bedeutung gerecht werde, die nicht erst 
den halbmetaphysischen Theorien der Physik (z. B. „Zurück- 
führung'' der Wärme auf Bewegung), sondern schon den möglichst 
metaphysikfreien Leistungen z. B. von Lupe und Mikroskop für 
das Erschliessen des Wie der wirklichen, nicht nur der uns er- 
scheinenden Welt zukommt. Und da nun auch das unbewaffnete 
Auge schliesslich ja doch das weitaus entscheidenste Stück jedes 
optischen Gesamtapparates ist, so hat M. vielleicht doch nicht zu 
viel gewagt, wenn er der traditionellen Auffassung, nur die innere 
Wahrnehmung sei eine wirkliche, die äussere aber sei nur eine 
^sogenannte'', einmal kühn entgegentrat und aussprach : Es giebt 
äussere Wahrnehmungen (91) — sie erfassen unmittelbar eine 
äussere Existenz. 

Verhehlen wir uns aber nicht, dass die neue Lehre und ihre 
Begründung noch manchem Bedenken ausgesetzt bleibt; so gleich 
die erste Begründung der obigen These Im., aus dem festen 
Glauben des Naiven und der Rückf&Uigkeit des Idealisten in ihn: 



392 A. Höfler, 

es würde sich schon innerhalb jener ersten Mannigfaltigkeit für 
sich eine lückenlose Gesetzmässigkeit^) finden lassen. Also ich 
halte das Dasein einer Welt ausser mir nur für eine Hypothese, 
ich halte sie nur für wahrscheinlich, nicht für gewiss; aber was 
zu gunsten dieser Hypothese zu sagen ist (z. B. dass die Log- 
arithmentafeln jemand anderer als ich selbst berechnet haben müsse, 
vgl. meine Psychologie § 58), kann es getrost mit allen, auch 
den allerbesten Hypothesen was immer für einer Natur- oder 
Geisteswissenschaft aufnehmen. Auch hier haben wir zwar nicht 
„mathematische Gewissheit", wohl aber „fast unendliche" Wahr- 
scheinlichkeit = „physische Sicherheit", mit der sich jede nicht 
rein apriorische (gegenstandstheoretische) Wissenschaft zufrieden 
giebt, obwohl es nur eine „fast", also ehrlich gesprochen: eme 
nicht „unendliche" Wahrscheinlichkeit, nicht volle Gewissheit ist. 
Oe. aber beansprucht für seinen Beweis Gewissheit. Sollte ihm 
wirklich sein Postulat mehr als Wahrscheinlichkeit liefern? Und 
da diese Wahrscheinlichkeit eine nicht weiter zu beweisende ist, 
so wäre es doch auch nur eine unmittelbare Evidenz — eine un- 
mittelbar evidente Vermutung. Freilich schiebt sich dann zwischen 
diese und die Erkenntnis der Dinge an sich noch ein Beweis ein 
(von dem hier dahingestellt sei, ob selbst wieder Gewissheits- 
oder Wahrscheinlichkeitsbeweis), wogegen nach M.s These I unsere 
Vermutungsevidenz unmittelbar auf die Dinge geht. — 

Möchten Kants Getreue, wenn sie hier in einer ihnen 
fremden Sprache letztlich doch das Bekenntnis zu Kants oberstem 
Dogma: „Es giebt Dinge an sich", aussprechen hören, sich eben 
hiermit von uns eingeladen und gebeten finden zu weiterer ge- 
meinsamer Arbeit. 



1) Sollte es nicht eine Inkonsequenz Oe.8 sein, wenn er (115) sagt, 
es falle vor allem die Gesetzmässigkeit auf, um deren willen „jenes Etwas" 
(hinter dem Braun, der Härte des Tisches) nicht fallen gelassen werden 
kann? Sein ganzer Beweis für die zweite Realität gründet sich ja darauf, 
dass die erste Realität für sich noch keine Gesetzmässigkeit liefert; so dass 
man vielleicht Oe.s „zweite Realität^ definieren könnte als nDtm, wodurch 
die Gesetzeslücken der ersten Realität zu einer lückenlosen Gesetzmässig- 
keit ergänzt werden^. — Von solchen „Gesetzen, die das Bedürfnis (nach 
Orientierung) fordert", wäre nicht mehr weit zu Kants „Gesetzen, die 
der Verstand der Natur vorschreibt". 



bie unabhängigen Realitäten. 3?d 

miese Vh.: „Die physische Aussen weit, vorgestellt als 
Ursache unserer physischen^) Phänomene". 

Es sei hier vorausgeschickt, dass der vorhergehende § 54 
i^Beschreibung des naiven Realismus" die Kausalurteile (a. a. 0., 
8. 367 unter a) erörtert) von der „Beschreibung der naiven Ge- 
danken über die Aussenwelt" (a. a. 0., S. 366) nicht minder ent- 
schieden ausgeschlossen hatte, als dies jetzt M. und Oe. thun. 
Aber allerdings wurde dort (im Gegensatz z. B. zu Schopenhauer), 
was an Kausalität aus dem physischen Weltbild des Naiven 
ausgeschieden war, umsomehr für das des Nichtnaivep, des Er- 
kenntnistheoretikers, in Anspruch genommen, ja dieses ge- 
radezu beschränkt auf folgende „sehr abstrakte und unanschau- 
liche Definition" vom „Begriff eines physischen Aussendinges A, 
TOn dem wir die Empfindung (in der Regel allerdings die Em- 
pfindungskomplezion) a haben: Ursache, genauer Teilursache, 
Jener Empfindung a". — Ich hatte mich bei diesem Ergebnis ge- 
stützt und berufen auf M.s Eelationstheorie.^) Es ist also doppelt 
beachtenswert, worin M. jetzt jene abstrakte und allzuabstrakte 
Beschreibung des erkenntnistheoretischen Begriffes „physische 
Anssenwelt" einer Ergänzung fähig und bedürftig findet. Am 
Schlüsse seiner Abhandlung (107) fügt M. mehreren vorher (87, 
89, 93) angedeuteten „Gründen" gegen eine derartige „Über- 
schätzung des Kausalschlusses" noch einen Grund hinzu, der ihm 
„in besonderen Masse entscheidend" erscheint: „Gesetzt etwa, ich 
habe den Aspekt einer Kirchturmspitze oder des Stundenschlages 
einer Uhr; wie komme ich da eigentlich dazu, gerade die Kirch- 
tormspitze oder den Uhrschlag als „die Ursache^ zu bezeichnen? 
Meine Wahmehmungsvorstellung hat doch jedesmal noch viel 
n&herliegende Ursachen. . . . Betrachten wir . . . das psychische 



1) Ich wurde einigemale gefragt, ob es hier nicht heiBsen soU „psy- 
chisch^? Nein. Keineswegs Uesse sich für alle meine psychischen 
Phänomene als »Ursache^ — wenigstens nicht als ausschlaggebende Teü- 
nrsache — gerade nur die physische Aussenwelt anführen. Wohl aber ist 
in jenem Paragraphentitel gemeint, dass insofern ich physische Phäno- 
mene (von Licht, Schall ... im Gegensatz zu Freude, Denken . . .) habe, 
(und dies nicht gerade HaUuzinationen oder Bestandteile von Träumen 
sind), ich von ihnen auf eine mindestens ebensovielgliedrige physische 
Anssenwelt als deren Teilursache zurückschliessen kann. 

1) Hume-Studien U, Zur Belationstheorie, Sitzungsberichte der 
Wiener Akademie, 1882, namentlich Abschn. VI, S. 130 [700] ff. und 
Abtehn. Vm. 



36Ö A. Höfler, 

und das, gleichviel wie, ihm nächst zugeordnete physische Ge- 
schehnis zusammen als eine komplexe Tatsache, so ist diese 
ihrer physischen Seite nach durch eine Reihe immer peripherischerer 
Vorgänge bis zum Sinnesorgan, jeder Vorgang im Organ aber 
durch physikalische Vorgänge in den leitenden Medien hervor- 
gerufen, und erst recht spät führt dieser Regressos auf denjenigen 
Tatbestand, den wir als den gesehenen oder gehörten betrachten. 
— Daraufhin meint man nun wohl, es werde sich bei dem 
Kausalschlusse eben nicht um die nächste, sondeim etwa um die 
irgendwie entfernteste Ursache handeln. Aber abgesehen von der 
begrifflichen Schwierigkeit, die in dieser Auffassung sofort zutage 
tritt, braucht man es ja wieder nur am konkreten Beispiele zn 
versuchen. Ein nicht selbstleuchtender Körper, den ich gleichwohl 
leuchten sehe, hat ja sein Licht von auswärts, etwa von der 
Sonne: wer aber meint, wenn die in der Sonne glänzende Turm- 
spitze Licht in seine Augen sendet, die Sonne zu sehen? Ein 
Spezialfall ist hier vielleicht noch deutlicher. Welchem noch 
so sehr an physikalische Gedanken Gewöhnten fiele es ein, das 
Spiegelbild einer Flamme nach dem Orte zu verlegen, wo die 
Flamme sich wirklich befindet? — Darf man von einem Kausal- 
schluss verlangen, dass er wenigstens einigermassen schrittweise 
zurückgeht, so wird nun erst recht anschaulich, wie wenig das, 
was wir beim Wahrnehmen denken, eine solche Eausalreihe ist 
Vor allem aber muss die Frage aufgeworfen werden, wie es ans 
der Natur des Kausalschlusses allein heraus verstanden werden 
könnte, dass derselbe zwischen dem sehr Nahen und dem sehr 
Entfernten gerade irgendwo in der Mitte stillhält.'' 

Gewiss, auf diese Frage muss der Eausalschluss für sich 
allein die Antwort versagen, und die ganze Überlegung zeigt in 
der Tat unwiderleglich, dass die äussere Wahrnehmung etwas 
anderes ist als ein Auswahltreffen zwischen den unbegrenzt zahl- 
reichen Gliedern der Eausalkette oder -ketteta, die nicht nur dem 
Wahrnehmen, sondern auch dem Wahrgenommenen vorangegangen 
sind. Sonst könnte man ja sogar fragen, warum man jetzt m 
den Kirchturm wahrnimmt und nicht auch den Baumeister, der ihn 
erbaut hat. Und dass auch ohne solche Übertreibungen nur zu 
leicht die Grenzen fliessend werden, wo der Raumort, an den 
das Wahrnehmen den jeweiligen Wahmehmungsgegenstand „setzt*, 
nicht mehr „stillhält**, zeigt eine naheliegende Weiterführnng 
des Beispieles von der glänzenden Turmspitze. Wäre diese z. B. 



Die unabhängigen Realitäten. 381 

eine völlig blank polierte Engel, dann sähen wir tatsächlich doch 
nicht mehr die Engel, sondern das Eonvezspiegel-Sonnenbild^) 
(wie man nachts, an einem regungslosen Wasserspiegel stehend, 
nicht diesen selbst, sondern „in ihm^ die Spiegelbilder der Sterne 
erblickt); und aus diesem Sonnenbild wird, wenn die Blankheit 
stetig abnimmt, in stetigem Übergange der Anblick einer unregel- 
mässig reflektierenden Oberfläche, also wiederum die Eirchturm- 
spitze. — Jeder Lehrer der Physik*) erinnert sich, wie nahe ihn 
gerade die Lehre von den Spiegel- und Brechungsbildem (wenn 
er nicht seine Schüler mit dem längst als sachwidrig erwiesenen 
Worte vom „Nach-aussen projizieren" abspeisen will) an die von 
M. in ihrer erkenntnistheoretischen Tragweite anschaulich gemachte 
Frage herangeführt hat, wie es denn zugehe, dass wir auf diese 
und diese Netzhautreizung die Wahrnehmung gerade dieses und 
dieses „Gegenstandes ausser uns** haben. 

Aber indem wir uns so unversehens von den Höhen erkenntnis- 
theoretisch-metaphysischer Betrachtung in die Niederungen der 
physikalischen und psychologischen Anfangsgründe heruntergezogen 
sehen, die zur Ausfüllung der Lücke des „Eausalschlusses'' not- 
wendig, wenn auch nicht ausreichend sind, werden wir inne, dass 
die in den einzelnen Naturwissenschaften heimische Eausalität, die 
wir in folgenden die „gewöhnliche Eausalität" nennen wollen, 
schwerlich ganz dieselbe ist, die in jener abstrakten Definition 
der Aussenwelt als der „Ursache unserer Empfindung" gemeint 
war. Und wenn (oder insoweit) doch jene „gewöhnliche Eausalität" 



^) Ist doch, was man kurzweg „die Sonne selbst^ nennt und was der 
keineswegs mehr erkenntnistheoretisch, sondern höchstens nur physikalisch 
„Naive^ für die wirkliche Sonne, im Gegensatz zu jedem blossen optischen 
Bilde von der Sonne nimmt, nach bestimmten physikalischen Theorien 
doch wieder nur ein optisches Bild; sei es infolge Brechnung der Strahlen 
an der kugelig begrenzten Oberfläche der Erdatmosphäre, sei es infolge 
totaler Reflexion innerhalb der Sonnenatmosphäre selbst. — Es mag hier 
auch erinnert sein an das einstige skeptische Argument gegen eine „ab- 
fiolute Grösse der Körper^: dass ja, was wir gewöhnlich klein nennen, durch 
eine Linse gesehen sofort gross sei. Darauf ist nun freilich leicht zu 
antworten: das Ding selbst bleibt klein und nur sein Linsenbild ist gross. 
Was soU man aber dagegen erwidern, dass an unserem Sehen des „wirk- 
lichen Dinges*' das Kristallinsenbild unvermeidlich beteiligt ist, auch wenn 
man sich nicht einbildet, diese oder das Netzhautbild selbst wahrzunehmen? 

*) Vergleiche z. B. die DarsteUung in meinen Schulbüchern der Natur« 
lehre (der Oberstufe für 18jährige, der Unterstufe für Ujfthrige). 

KaaltUdtou XU. 80 



382 A. flöfler, 

von M. (1882^) und mir (1897) gemeint war, so wird sie sich mm 
wohl einiges von jenen Abstrichen gefallen lassen müssen, auf die 
Oe. gegenwärtig so entschieden dringt. Nur glaube ich sagen zu 
dürfen, dass auch schon vor Oe.s Einspruch, der von der „Kausalität 
= notwendige Sukzession" die Notwendigkeit gelten lässt und 
nur die Sukzession für das Reich der Dinge an sich streicht, 
auch M. und ich uns einer solchen Ausschaltung des Zeitlichen 
keineswegs verschlossen hatten — wenn auch beide in wesentlidi 
abweichender Form. 

Meinerseits hatte ich nämlich an einer anderen Stelle memer 
Psychologie^) die Möglichkeit ins Auge gefasst, dass zur Anwend- 
barkeit des Eausalbegriffes auf metaphysische (oder allgemeiner: 
metaphänomenale) Dinge „noch eine tiefer gehende Umgestaltung 
dieses Begriffes^ oder Ersetzung durch einen weiter ge- 
fasst en Abhängigkeitsbegriff sich als unausweislich heraos- 
stellen mag" ; namentlich weil man „den Empfindungsvorgang nicht 
wohl als einem den Reizvorgang zeitlich nachfolgenden zn 
denken geneigt sein wird . . . Das Merkmal der Sukzession^) 

1) Hume-Studien U (a. a. O.. S. 129 [699]). 

^ In § 17 „Die metaphysischen Theorien von der Abhängigkeits- 
beziehung zwischen Physischem und Psychischem*, S. 61. 

^ Allerdings könnte nun gegen eine solche Umgestaltung des Kaiutl- 
begrilfes schon von vornherein aUes das geltend gemacht werden, was 
schon die aUerformalste Logik gegen jedes „Umgestalten eines Begriffes^ 
mit einigem Schein von Recht einwenden könnte; nämlich: Werde irgend- 
was an dem Inhalte eines Begriffes geändert, so sei es eben nicht mehr 
derselbe Begriff, vielmehr seien dann höchstens mit demselben Worte 
zweierlei Begriffe verknüpft. — So richtig der simple Einwand ist, so 
spricht doch auch für das Umbilden eines Begriffes eine breite Wissen- 
Schaftspraxis (es genüge, auf das in meiner Logik 1890, S. 233 durchgeführte 
Beispiel von der allmählichen Umbildung des Begriffes „Säure^ hinzuweisen). 

In unserem Falle also könnte man sagen: Lasse ich aus dem Begriffe 
Kausalität das zweite seiner beiden konstitutiven Merkmale „Notwendiges^ 
und „Antecedens^ weg, so ist es überhaupt nicht mehr der Begriff 
„Kausalität*^. Aber dem dann verbleibenden weitergefassten Abhängig- 
keitsbegriff braucht man nur hinreichend deutlich Reminissenzen an sein 
Hervorgegangensein aus dem „gewöhnlichen'' Kansalbegriff zu belassen 
und es wird z. B. auch eine Metaphysik, die der Zeit eine geringere 
Realität zuschreibt, als sogar den (z. B. von Mach geleugneten) Notwendig- 
keitsbeziehungen zwischen Realem, immer noch unmissverständlich und 
mit gutem Rechte von einer zeitlosen Kausalität sprechen können. 

^) Wenn Oe. in der Anm. S. 132 daran erinnert, dass ich einst von 
„simultanerKausalität^ gesprochen habe, welchen Terminus Ehrenfels 
1836 anregte (Sitzungsberichte der Wiener Akademie, S. 29 [865]; dagegen 



t)ie unabhängigen Realitäten. 383 

Wäre also ans dem Eausalbegriff hiermit ausgefallen und nur das 
der notweDdigen Bedingtheit zurückgeblieben^. 

Insoweit also glaube ich mich im Einklänge zu finden mit 
Oe. Er zieht aber aus dem Wegfallen des Zeitmomentes aller- 
dings viel weitergehende Konsequenzen; die ganze SteUe möge 
hier im Wortlaute folgen (Oe., 129 — 131): „Zu den nicht in die 
zweite Realität übertragbaren Relationen gehört die Eausalrelation. 
Das kann ja bei ihrer Komplexität^) nicht wundernehmen; eine 
Relation, wie Neffe und Onkel, kann von der zweiten Realität ja 
nicht ausgesagt werden. — Definiert man nämlich Ursache als 
notwendiges Antecedens, so wäre nur der eine dieser beiden 
Faktoren, die Notwendigkeit, in dem vorausgehenden Sinne zu 
übertragen möglich; eine Notwendigkeit, die natürlich mit Gleich- 
zeitigkeit so wenig zu thun zu haben brauchte als mit einem 
Nacheinander; jene ist ja nicht zulässiger als diese. Höchstens 
also die Hypothese eines zeitlosen Vorkommnisses, wie des Urteils, 
käme in Frage. JedenfaUs aber ist die Anwendung des Antecedens, 
des Zeitmomentes auch als Relation, wenn man sonst die Zeit als 
subjektiv annimmt, aus den vorher angegebenen Gründen unzu- 
lässig. Von einer objektiven Kausalität ist daher sowenig als 
von einer objektiven Zeit oder von einem objektiven Rot zu 
sprechen. Natürlich muss es, ebensogut wie bei dem Rot, Tat- 
sachen in der zweiten Realität gebeui, die, wenn sie mit dem Ich 
in Beziehung treten, den Kausalgedanken bedeuten. Damit ist 
aber nicht gesagt, dass es eine andere Kausalität gebe als eine 
„für uns^, wie es kein anderes Rot giebt, obgleich, wie dem Rot 
und der Zeit, so auch der Kausalität ein unabhängiges Sein — 
„für sich" entsprechen muss. Aber auch, wer dieses wahrnehmen 
könnte, darf nicht das Bestehen einer Kausalität aussagen. Es 
sind Tatsachen, die nicht wieder Ursachen genannt werden können. 
Der Kansalrelation als solcher kommt also, wie der Zeit, in der 
zweiten Realität weder ein Existieren noch ein Bestehen, über- 



S. oO [476]), so bemerke ich hinzu, dass ich zwar auch diesen Begriff nicht 
für gegenstandslos halte (wohin z. B. die in meiner Psychologie S. 62 
angeführten Beispiele des streng gleichzeitigen Auftretens der chemischen 
und elektrischen Wirkungen einer Batterie gehören). Natürlich aber wäre 
mit der Ersetzung zeitlicher Aufeinanderfolge durch Gleichzeitigkeit das 
Zeitmoment nicht in der viel weiter gehenden Weise ausgeschaltet, wie 
wir es für eine Kausalität zwischen den Dingen an sich brauchen. 

>) Aber die Komplexität an sich ist doch bei halbwegs grossen 
Zahlen noch grösser ~ und doch sind Zahlen übertragbar? 

26* 



374 A. Höfler, 

Phänomenalisten pflegen neuestens Kant einen Realisten (und 
zwar gelegentlich sogar einen „naiven" Realisten) zu nennen, weil 
er von der These ausgegangen ist : Wir erkennen die Dinge nicht, 
wie sie an sich sind, sondern nur wie sie uns erscheinen. Zu- 
zugeben ist, dass hier das „Dass** einer Existenz von Dingen an 
sich als ein unmittelbar evident gewisser Satz hingestellt wird, 
worauf dann erst die Erkennbarkeit jedes „Wie" mit ebensolcher 
Gewissheit geleugnet wird. Zuzugeben ist femer, dass diese Unter- 
scheidung des „Dass" und „Wie", die man für ebenso dringend 
wie selbstverständlich halten sollte, in dem ganzen schier unend- 
lichen Streite ftlr und wider die Dinge an sich nur zu häufig 
übersehen worden ist. Nach dem Grundsatze „Kein Quid ohne 
Quäle, kein Quäle ohne Quid",^) darf sich aber Niemand, der 
(„naiv" oder „kritisch", evidenzlos oder evident) daran glaubt, 
dass es Dinge an sich giebt, der Verpflichtung entziehen, auch 
irgend etwas Positives über ihr Wie auszusagen (ebenso wie 
Niemand sagen darf, er glaube an Gott, ohne dass er diesem smea 
Gott wenigstens ein positives, äusserstenfalls auch nur irgend ein 
negatives Merkmal beilegt). 

Dieser Aufgabe unterzieht sich Oe. im zweiten Teil sein« 
Abhandlung 123 — 131, indem er ein solches „Minimum der Trans- 
zendenz" (123) sucht, wie es durch das im ersten Teil der Ab- 
handlung bewiesene „Dass" einer zweiten Realität gefordert sei 
Wir deuten hier Inhalt und Ergebnis dieses Teiles der Untersuchnn; 
dadurch an, dass wir die zur Sprache gebracht GegenstSnde 
einfach aufzählen und hinter jeden ein + oder — setzen, je nachdem 
seine Ubertragbarkeit aus der ersten in die zweite Realität be- 
hauptet oder geleugnet wird. Es sind: Die sinnlichen QualitateD 
(— ), Raum ( — ), Zeit (— ), Gleichheits- und Verschiedenheits- 
relationen (— ), Zahl (+), Notwendigkeitsrelationen (-{-), Eausalittt 
( — ; vgl. unten S. 383, Oe.s. Gründe für diese Negation einer 
„Kausalität an sich"). — Es drängen sich hier die Fragen auf: 
Warum sind gerade diese absoluten und relativen Begriffe for 
die Erörterung gewählt worden? Sind es wirklich alle überhaupt 
denkbaren, oder geschah vielmehr die WaM gerade so, um zu einer 
bestimmten Wahrnehmungstheorie Stellung zu nehmen? Ich glaube 
letztere Frage weiter unten S. 386 ff. bejahen zu sollen* Unabhängig 
von solchen Zusammenhängen stellt sich aber nach dem Überblick 

1) Vgl. E. Mally in Meinong's ^Untersuchungen znr G^egenstand»- 
theorie und Psychologie", Barth 1904, S. 186. 



Die unabhängigen Realitäten. 375 

jenes Minimums von Transzendenz wohl bei jedem Leser das 
Bedürfnis ein, nun das aus den wenigen verbliebenen Bausteinen 
zu errichtende metaphysische Gebäude zu vergleichen mit dem 
reich geschmückten Weltbilde, das dem Nichtmetaphysiker, sei es 
ein Kind oder ein Naturforscher oder sonst ein „Naiver**, gegen- 
überzustehen — scheint. Ohne dass wir hier näher auf alle feineren 
Differenzen eingehen, zu denen z. B. sogleich die Eingangsworte 
der ganzen Abhandlung^) Anlass gäben, darf der Gesamteindruck 
wohl dahin ausgesprochen werden, dass die von Oe. geschaffene 
Kluft zwischen der ersten und zweiten Realität sehr breit und 
sehr tief ausgefallen ist. Haben wir hier nur das unvermeidliche 
rtignoramtis** einzugestehen, oder aber eine Unterschätzung dessen, 
was die Naturforschung einerseits, eine mit neuen Werkzeugen 
arbeitende Erkenntnistheorie andererseits^ zu einer wenigstens teil- 
weisen und schrittweisen Ausfüllung der Kluft zu tun vermöchte? 
Was Oe. hierfür von der Naturwissenschaft (134, Anm.) erwartet, 
ist nicht wenig, aber er erwartet es eben erst von einer un- 
bestimmten Zukunft Und ausdrücklich verwirft er alle oder fast 
alle erkenntnistheoretischen Werkzeuge, die M. neu schmiedet und 
anwendet, um der äusseren Wahrnehmung ein besseres Recht auf 
die Erkenntnis der physischen Aussenwelt zu verschaffen, als ihr 



1) Sie lauten : „Yiir die Anhänger des Glaubens an eine vom Ich un- 
abhängige zweite Realität, für die dualistische Annahme, ist das Physische, 
die Körperwelt, auch nur eine besondere Art des Psychischen. Da sie nur 
zwei Arten von Realitäten anerkennen und das Räumliche, Wärme und 
Töne mitbedingt, gegeben sind durch das Ich, durch die erste Realität, so 
wird das Physische eigentlich erst durch das ihr zugrunde liegende Sein, 
das ja selbst nicht wieder physisch genannt werden kann, charakterisiert. 
Es ist dies eine Art genetischen Kriteriums, mit Hilfe der zweiten Realität.*^ 
— Gegenüber der hier vorgeschlagenen Terminologie möchte ich doch die 
meiner Psychologie § 1 zweckmässiger finden: Bleiben wir dabei, die 
A4jektiva „physisch*^ und „psychisch** vor aUem auf zwei Klassen von 
Phänomenen anzuwenden, was dann den unmissverständlichen „phäno- 
menalen Dualismus* giebt. Für das dem Physischen eigentlich erst 
zugrunde liegende Sein bietet sich ja dann ganz von selbst das Meta- 
physische (im weiteren Sinne; im engeren steht ihm ja noch ein Meta- 
psychisches gegenüber) dar. Und erst auf diesem metaphysischen Felde 
mag über »Dualismus** und „Monismus" weitergestritten werden. Für die 
Unterscheidung der physischen und psychischen Phänomene aber bedarf es 
erst nicht genetischer Kriterien; ja diese wären gar nicht möglich ohne 
vorausgegangene deskriptive (vgl. meine Psychologie § 2, an dem ich bei 
der bevorstehenden Neuauflage freilich auch mancherlei zu verbessern 
haben werde). 



376 A. Höfler, 

seitens einer allzurigorosen Erkenntnistheorie and Metaphysik 
bisher zugestanden worden war. Besehen wir uns also in Kürze 
die neu empfohlenen und angewendeten Erkenntnismittel: 

Vor allem ist es Meinongs Begriff der Evidenz der Wahr- 
scheinlichkeit, kürzer Vermutnngsevidenz, der der Zeit 
seiner Konzeption^) nach freilich keineswegs mehr neu, dennoch 
aber der Mehrzahl gegenwärtig produktiver Erkenntnistheoretiker 
noch fremd geblieben ist; vielleicht weil sie nicht hinweg ge- 
kommen sind über den scheinbaren Widerspruch, der in der Ver- 
bindung der Wörter „Vermutung" und „Evidenz" liegt, der ab^ 
als ein nur scheinbarer schon längst entkräftet ist. Genug, dass 
Oe. sich grundsätzlich keineswegs dem Begriff der unmittelbaren 
Wahrscheinlichkeitsevidenzen verschliesst (114, wo er euphemistisch 
sogar von „ihrer Entdeckung eine Art Epoche für die EIrkenntiiis- 
theorie" datiert, dieser ganzen Evidenzklasse aber dann doch nur 
ein einziges Anwendungsgebiet, eben das der Gedächtnisphänomene, 
zugesteht). M. dagegen hat während der zwei Jahrzehnte seit 
dieser Konzeption ihr immer neue Anwendungsgebiete zugeteDt 
und geht gegenwärtig so weit, „nur noch die allerbesten Ge- 
dächtnisleistungen" der Vermutungsevidenz des äusseren Wahr- 
nehmens eines Dinges hinter den Eigenschaften (z. B. des aaf 
dem Tisch liegenden Stückes Kreide) an die Seite zu stellen (92). 

Ebenso wie gegenüber der Gewissheit die Vermutung bisher 
zu wenig erkenntnistheoretisch verwertet worden ist, so auch 
neben dem Genauen das ungenaue. Wie jene Unterscheidmig 
das Urteilen, betrifft diese das Vorstellen. Auf dieses, hier zum 
erstenmal der erkenntnistheoretischen Würdigung (und zwar einer 
positiven, nicht bloss einer alles Ungenaue a limine ablehnenden, 
negativen) empfohlene Moment der Ungenauigkeit gründet M. den 
Begriff der Halb Wahrnehmung (98): Der Fehler des . . . 
„naiven Eealismus" wird hierbei dahin präzisiert, „dass für Voll- 
wahrnehmung genommen wird, was nur Halbwahrnehmung ist*" 
(98). Nach Feststellungen über die Übertragbarkeit von Ver- 
gleichungsrelationen („Die Dinge an sich sind also gleich, un- 
gleich etc.", 100) und über die „Prärogative der Verschiedenheit''. 
(„Es gilt im allgemeinen das Prinzip : Wenn von zwei Beschanem 
der eine Verschiedenheit findet, der andere Gleichheit, so hat der 



^) 1885 oder früher. — „Zur erkenntnistheoretischen Würdigung des 
Gedächt-nisses^, VierteJ^jahrsschr. f. wiss. Phüos. 1886. 



tMe unabiiängigen Realitäten. ä?? 

erstere Recht**, 102) wird unterschieden zwischen „schiechteren 
und besseren Phänomenen** (104), unter letzteren z. B. die durch 
Lupe und Mikroskop oder durch die Färbemethoden in der Phy- 
siologie gewonnenen differenzierteren verstandea „Im allge- 
meinen kann man sagen: es ist die wesentliche Aufgabe jeder 
empirischen Wissenschaft, sich mit den besten Phänomenen zu 
versehen. Und weiter ist es auch ganz verständlich, wie sich 
eine empirische Wissenschaft dazu gedrängt sehen kann, Phäno- 
mene zu erfinden, die . « . geeignet erscheinen, das, was die 
Forschung ... in betreff der einschlägigen Noumena festgestellt 
hat, so zu repräsentieren, . . . dass ... die wertvollsten Halb- 
wahmehmungen diese Erscheinungen zu phänomenalen Objekten 
haben könnten. Das ist der eigentliche, d. h. der einwurfsfreie 
Sinn der Versuche neuerer Naturwissenschaft, physische Vorgänge, 
die nicht als Bewegungen erscheinen, auf Bewegungen „ „zurück- 
zuführen** **. Nur ein erkenntnistheoretisches Missverständnis 
konnte zu der Meinung führen, dass es sich dabei um einen 
Übergang von Phänomenen zu Noumenen handeln müsse oder 
auch nur könne.** 

Eine Prüfung der neuen Begriffe „Halbwahmehmung** u. s. w., 
kann natürlich hier nicht geliefert werden. Aber auch ohne eine 
solche dürften die herausgehobenen Sätze genügen, um die viel 
entsagungsvoUere Erkenntnistheorie Oe.s zur Selbstprüfung zu 
veranlassen, ob sie der Bedeutung gerecht werde, die nicht erst 
den halbmetaphysischen Theorien der Physik (z. B. „Zurück- 
führung** der Wärme auf Bewegung), sondern schon den möglichst 
metaphysikfreien Leistungen z. B. von Lupe und Mikroskop für 
das Erschliessen des Wie der wirklichen, nicht nur der uns er- 
scheinenden Welt zukommt. Und da nun auch das unbewaffnete 
Auge schliesslich ja doch das weitaus entscheidenste Stück jedes 
optischen Gesamtapparates ist, so hat M. vielleicht doch nicht zu 
viel gewagt, wenn er der traditionellen Auffassung, nur die innere 
Wahrnehmung sei eine wirkliche, die äussere aber sei nur eine 
^sogenannte**, einmal kühn entgegentrat und aussprach : Es giebt 
äussere Wahrnehmungen (91) — sie erfassen unmittelbar eine 
äussere Existenz. 

Verhehlen wir uns aber nicht, dass die neue Lehre und ihre 
Begründung noch manchem Bedenken ausgesetzt bleibt; so gleich 
die erste Begründung der obigen These Im., aus dem festen 
Glauben des Naiven und der Rückf&Uigkeit des Idealisten in ihn: 



ä?8 A. Höfler, 

Denn nicht nur das hinter den Farben steckende Ding, sondern 
auch die Farbe selbst hält mau ja, wie gesagt, immer wieder für an 
sich seiend, trotz der besseren Belehrung seitens der Physiologie. 
— Nicht minder gross ist aber freilich auch mein Bedenken, ob ich 
Oe. überhaupt recht verstehe, wenn er den Naturforscher auch nur in 
demselben Masse wie das Kind als Zeugen für seine zweite R^- 
lität gelten lässt, alle seine Analysen und Synthesen der Ele- 
mente naiver Weltbilder aber nur als Umgestaltungen der ersten 
Realität, nicht als Annäherungen an und Eindringen in die zweite 
Realität gelten lassen will. Wie z. B., wenn der Physiker 
Luftschwingungen oder Beugungsstreifen zählt: die Zahl ist ja 
auch nach Oe. der ersten und der zweiten Realität gemeinsam — 
und doch sollen jene für die Physik des Schalles und Lichtes so 
fruchtbaren Zahlen für deren Metaphysik ganz unfruchtbar sein? 
Gewiss — der einer grünen Spektrallinie entsprechende Licht- 
strahl ist nicht selber wieder grün, ist nicht „Grünes'', sondern 
nur „Schwingendes". M. behauptet (wenn ich seinen Begriff der 
„Halbwahrnehmung" hier richtig exemplifiziere), das „Schwingende" 
stehe in der halben Breite der Kluft zwischen erster und zweiter 
Realität. — Oe. setzt es an den Rand der ersten. — Wer von beiden 
hat Recht oder kommt, wenn nicht der Wirklichkeit, so doch i& 
Wahrheit näher? — Genug dieser Fragen; mögen die Antworten, 
die ich vor allem von M. und Oe., dann aber von allen an den 
Grenzfragen der Physik und Philosophie Interessierten erhoffe 
und erbitte, meinem „Zwischenreich physikalischer Realitäten" 
zugute kommen, sei es durch Bestätigung, sei es durch Ersparong 
dieses Begriffes. 



IL Wahrnehmung und Kausalität. 

An zahbeichen Stellen (M. 31, 87, 88, 89, 93, 102, 107 
u. a.; Oe. 124, 128, 129 ff.) kommen beide Abhandlungen auf 
Kausalität zu sprechen, wobei sie als letzte Absicht die negative 
gemeinsam haben, den „Kausalschluss^ als Ersatz für „WahP 
nehmung" abzulehnen. Es sei gestattet, hiervon nur soviel 
wiederzugeben und zu erörtern, als erforderlich ist zur Über- 
prüfung der im Titel des § 55 meiner Psychologie gelegenen 



bie una1[)hftngigen Realitäten. 3?d 

These Vh.: „Die physische Aussenwelt, vorgestellt als 
Ursache anserer physischen^) Phänomene". 

Es sei hier vorausgeschickt, dass der vorhergehende § 54 
„Beschreibung des naiven Realismus" die Kausalurteile (a. a. 0., 
S. 367 unter a) erörtert) von der „Beschreibung der naiven Ge- 
danken über die Aussenwelt" (a. a. 0., S. 366) nicht minder ent- 
schieden ausgeschlossen hatte, als dies jetzt M. und Oe. tbun. 
Aber aUerdings wurde dort (im Gegensatz z. B. zu Schopenhauer), 
was an Kausalität aus dem physischen Weltbild des Naiven 
ausgeschieden war, umsomehr für das des Nichtnaivep, des Er- 
kenntnistheoretikers, in Anspruch genommen, ja dieses ge- 
radezu beschränkt auf folgende „sehr abstrakte und unanschau- 
liche Definition" vom „Begriff eines physischen Aussendinges A, 
von dem wir die Empfindung (in der Regel allerdings die Em- 
pfindungskomplezion) a haben: Ursache, genauer Teilursache, 
jener Empfindung a". — Ich hatte mich bei diesem Ergebnis ge- 
stützt und berufen auf M.s Relationstheorie.^) Es ist also doppelt 
beachtenswert, worin M. jetzt jene abstrakte und allzuabstrakte 
Beschreibung des erkenntnistheoretischen Begriffes „physische 
Aussenwelt" einer Ergänzung fähig und bedürftig findet. Am 
Schlüsse seiner Abhandlung (107) fügt M. mehreren vorher (87, 
89, 93) angedeuteten „Gründen" gegen eine derartige „Über- 
schätzung des Kausalschlusses" noch einen Grund hinzu, der ihm 
„in besonderen Masse entscheidend" erscheint: „Gesetzt etwa, ich 
habe den Aspekt einer Kirchturmspitze oder des Stundenschlages 
einer Uhr; wie komme ich da eigentlich dazu, gerade die Kirch- 
tormspitze oder den Uhrschlag als „die Ursache^ zu bezeichnen? 
Meine Wahmehmungsvorstellung hat doch jedesmal noch viel 
näherliegende Ursachen. . . . Betrachten wir . . . das psychische 

^) Ich wurde einigemale gefragt, ob es hier nicht heissen soU „psy- 
chisch*'? Nein. Keineswegs hasse sich für alle meine psychischen 
Phänomene als .Ursache*' — wenigstens nicht als ausschlaggebende Teü- 
nrsache — gerade nur die physische Aussenwelt anführen. Wohl aber ist 
in jenem Paragraphentitel gemeint, dass insofern ich physische Phäno- 
mene (von Licht, Schall ... im (Gegensatz zu Freude, Denken . . .) habe, 
fand dies nicht gerade HaUuzinationen oder Bestandteile von Träumen 
sind), ich von ihnen auf eine mindestens ebensovielgliedrige physische 
Aussenwelt als deren Teilursache zurückschliessen kann. 

^) Hume-Studien ü, Zur Relationstheorie, Sitzungsberichte der 
Wiener Akademie, 1882, namentlich Abschn. VI, S. 130 [700] ff. und 
Abfchn. Vm. 



38Ö A. Söfler, 

und das, gleichviel wie, ihm nächst zugeordnete physische Ge- 
schehnis zusammen als eine komplexe Tatsache, so ist diese 
ihrer physischen Seite nach durch eine Reihe immer peripherischerer 
Vorgänge bis zum Sinnesorgan^ jeder Vorgang im Organ aber 
durch physikalische Vorgänge in den leitenden Medien herror- 
gerufen, und erst recht spät führt dieser Regressus auf denjenigen 
Tatbestand, den wir als den gesehenen oder gehörten betrachten. 
— Daraufhin meint man nun wohl, es werde sich bei dem 
Eausalschlusse eben nicht um die nächste, sondern etwa um die 
irgendwie entfernteste Ursache handeln. Aber abgesehen von der 
begrifflichen Schwierigkeit, die in dieser Auffassung sofort zutage 
tritt, braucht man es ja wieder nur am konkreten Beispiele zn 
versuchen. Ein nicht selbstleuchtender Körper, den ich gleichwohl 
leuchten sehe, hat ja sein Licht von auswärts, etwa von der 
Sonne: wer aber meint, wenn die in der Sonne glänzende Turm- 
spitze Licht in seine Augen sendet, die Sonne zu sehen? Ein 
Spezialfall ist hier vielleicht noch deutlicher. Welchem noch 
so sehr an physikalische Gedanken Gewöhnten fiele es ein, das 
Spiegelbild einer Flamme nach dem Orte zu verlegen, wo die 
Flamme sich wirklich befindet? — Darf man von einem Eaosal- 
schluss verlangen, dass er wenigstens einigermassen schrittweise 
zurückgeht, so wird nun erst recht anschaulich, wie wenig das, 
was wir beim Wahrnehmen denken, eine solche Eausalreihe ist 
Vor allem aber muss die Frage aufgeworfen werden, wie es ans 
der Natur des Kausalschlusses allein heraus verstanden werden 
könnte, dass derselbe zwischen dem sehr Nahen und dem sehr 
Entfernten gerade irgendwo in der Mitte stillhält.** 

Gewiss, auf diese Frage muss der Eausalschloss für sich 
allein die Antwort versagen, und die ganze Überlegong zeigt in 
der Tat unwiderleglich, dass die äussere Wahrnehmung etwas 
anderes ist als ein Auswahltreffen zwischen den unbegrenzt zahl- 
reichen Gliedern der Kausalkette oder -ketteh, die nicht nur dem 
Wahrnehmen, sondern auch dem Wahrgenommenen vorangegangen 
sind. Sonst könnte man ja sogar fragen, warum man jetzt nnr 
den Kirchturm wahrnimmt und nicht auch den Baumeister, der ihn 
erbaut hat. Und dass auch ohne solche Übertreibungen nur n 
leicht die Grenzen fliessend werden, wo der Raum ort, an den 
das Wahrnehmen den jeweiligen Wahmehmungsgegenstand „setzt*, 
nicht mehr „stillhält**, zeigt eine naheliegende Weiterführung 
des Beispieles von der glänzenden Turmspitze. Wäre diese z. B. 



Die unabhängigen Realitäten. 381 

eine völlig blank polierte Eugel^ dann s&hen wir tatsächlich doch 
nicht mehr die Engel, sondern das Eonyexspiegel-Sonnenbild ^) 
(wie man nachts, an einem regungslosen Wasserspiegel stehend, 
nicht diesen selbst, sondern „in ihm"" die Spiegelbilder der Sterne 
erblickt); und aus diesem Sonnenbild wird, wenn die Blankheit 
stetig abnimmt, in stetigem Übergange der Anblick einer unregel- 
mässig reflektierenden Oberfläche, also wiederum die Eirchturm- 
spitze. — Jeder Lehrer der Physik*) erinnert sich, wie nahe ihn 
gerade die Lehre von den Spiegel- und Brechungsbildem (wenn 
er nicht seine Schüler mit dem längst als sachwidrig erwiesenen 
Worte vom „Nach-aussen projizieren'' abspeisen wiU) an die von 
M. in ihrer erkenntnistheoretischen Tragweite anschaulich gemachte 
Frage herangeführt hat, wie es denn zugehe, dass wir auf diese 
und diese Netzhautreizung die Wahrnehmung gerade dieses und 
dieses „Gegenstandes ausser uns** haben. 

Aber indem wir uns so unversehens von den Höhen erkenntnis- 
theoretisch-metaphysischer Betrachtung in die Niederungen der 
physikalischen und psychologischen Anfangsgründe heruntergezogen 
sehen, die zur Ausfüllung der Lücke des „Eausalschlusses" not- 
wendig, wenn auch nicht ausreichend sind, werden wir inne, dass 
die in den einzelnen Natarwissenschaften heimische Eausalität, die 
wir in folgenden die «gewöhnliche Eausalität'' nennen wollen, 
schwerlich ganz dieselbe ist, die in jener abstrakten Definition 
der Aussenwelt als der „Ursache unserer Empfindung*' gemeint 
war. Und wenn (oder insoweit) doch jene „gewöhnliche Eausalität" 



^) Ist doch, was man kurzweg „die Sonne selbst** nennt und was der 
keineswegs mehr erkenntnistheoretisch, sondern höchstens nur physikalisch 
„Naive** für die wirkliche Sonne, im Gegensatz zu jedem blossen optischen 
Bilde von der Sonne nimmt, nach bestimmten physikalischen Theorien 
doch wieder nur ein optisches Bild; sei es infolge Brechnung der Strahlen 
an der kugelig begrenzten Oberfläche der Erdatmosphäre, sei es infolge 
totaler Reflexion innerhalb der Sonnenatmosphäre selbst. — Es mag hier 
auch erinnert sein an das einstige skeptische Argument gegen eine „ab- 
fiolute Gr(Vsse der Körper** : dass ja, was wir gewöhnlich klein nennen, durch 
eine Linse gesehen sofort gross sei. Darauf ist nun freilich leicht zu 
antworten: das Ding selbst bleibt klein und nur sein Linsenbild ist gross. 
Was soU man aber dagegen erwidern, dass an unserem Sehen des „wirk- 
lichen Dinges** das Kristallinsenbild unvermeidlich beteiligt ist, auch wenn 
man sich nicht einbildet, diese oder das Netzhautbild selbst wahrzunehmen? 

*) Vergleiche z. B. die DarsteUung in meinen Scbulbfichem der Natur- 
lehre (der Oberstufe für 18jährige, der Unterstufe fttr 14jährige). 

KMlttmdl«u XU. 25 



404 F. Euberka, 

das Mannigfaltige gegebener Vorstellungen unter die Einheit der 
Apperzeption zu bringen" (Kehrbach, S. 661). 

Mit der Einsicht in die Unmöglichkeit einer Ableitung der 
Synthesis aus den bloss receptiven und passiven Raum- und Zeit- 
anschauungen und der nur materialbedingenden Wirklichkeit selbst 
ist uns indes mehr als die Einsicht in die Notwendigkeit der An- 
nahme der realen, für sich abgesonderten Existenz des Verstandes 
gegeben. Wir haben mit dieser Einsicht zugleich die Methode in 
der Hand, die Grundsätze, welche nötig sind, das Objekt einer 
möglichen Erfahrung a priori zu bestimmen, deduktiv festzustellen 
und uns der systematischen Vollzähligkeit derselben zu yersichem. 
Kant selbst hat freilich, wie bekannt, einen anderen Weg ein- 
geschlagen und sich der systematischen Vollzähligkeit der obersten 
Verstandesgrundsätze dadurch bemächtigt, dass er aus der Tafel 
der logischen Urteile die Tafel der Kategorien und aus den 
Kategorien durch schematische Versinnlichung derselben mit Hülfe 
der allgemeinen Zeitvorstellung die systematische Anzahl der 
obersten Verstandesgrundsätze ableitete. Gegen eine derartige 
Ableitung erheben sich indes aus logischen wie sachlichen Gesichts- 
punkten schwere Bedenken. Schon Stadler^) hat daher mit Um- 
gehung der „Analytik der Begriffe^ sich der systematischen Voll- 
zähligkeit der Grundsätze dadurch zu versichern gesucht, dass er 
— sich stützend auf die Bemerkung Kants, die analjrtische Einheit 
der Apperception sei selbst nur unter Voraussetzung irgend emer 
synthetischen möglich — dieselben als die erkenntnistheoretisch 
notwendigen Bedingungen der Identität des Selbstbewusstseins, der 
Einheit des analytischen Ichbewusstseins betrachtete. Einen noch 
einfacheren Weg bietet uns indes das von Kant selbst eingeführte 
Prinzip der Möglichkeit der Erfahrung, die Statuierung der obersten 
Grundsätze der Erfahrung an der Hand ihrer erfahrungsbedingenden, 
in der Analyse des Erkenntnisprocesses a priori erkennbaren Not- 
wendigkeit« Solche Grundsätze aber, welche die notwendigen Be- 
dingungen der uns tatsächlich gegebenen Erfahrung in sich tragen, 
sind die Sätze: Dass alle Objekte extensive Grössen wie intensi?e 
Realitäten sind, dass alle Dinge ihrem Zeitverhältnis nach in gesetz- 
mässiger Verknüpfung stehen, sei es, dass sie in Baum und Zeit 
als koexistent, sei es, dass sie in der Zeit als succedierend wahr- 



^] Die Grundsätze der reinen Erkenntnistheorie in der Kantischen 
Phüosophie. S. 44, S. 66 ff. 



Sinnlichkeit und Denken etc. 405 

genommeQ werden, wobei wir ferner eines als anamstösslicbe Tat- 
sache voraussetzen : dass bei aUem Wechsel der Erscheinungen die 
Substanz, der gemeinsame Hintergrund des Zugleichseins und der 
Aufeinanderfolge der Dinge beharrt und sich das Quantum derselben 
in der Natur weder vermehrt noch vermindert. Lassen sich jene 
beiden ersten Grundsätze, die „Axiomen der Anschauung^ und 
die „Anticipationen der Wahrnehmung" unmittelbar aus den Be- 
stimmungen der transscendentalen Ästhetik als notwendige Konse- 
quenzen begreifen, so ergeben sich femer jene letzteren Prinzipien 
oder „Analogieen der Erfahrung" nicht minder unmittelbar aus 
der Einsicht, dass alle Apprehension des Mannigfaltigen sinnlicher 
Anschauung infolge der Apriorität und Idealität der Zeit nur in 
succesiver Weise erfolgt, und wir somit zweifellos die Bedingungen 
einer Umstellung dieser stets nur successiven Wahrnehmungsfolge 
in das Verhältnis der objektiven Koexistenz oder Aufeinanderfolge 
der Dinge in uns tragen. Freilich ist auch diese Umstellung — 
und darin hat man Kant sehr häufig missverstanden — keine 
willkürliche. Dass die Dinge untereinander in einer gesetzmässigen 
Verknüpfung stehen, kann, wie gezeigt, weder aus den nur 
passiven Raum- und Zeitvorstellungen, noch aus der nur material- 
bedingenden Wirklichkeit selber, sondern nur aus der speziellen 
kategorialen Gesetzmässigkeit des Verstandes abgeleitet werden. 
Allein, ob ich in diesem konkreten Fall nun diese oder jene Kate- 
gorie, den Grundsatz der Kausalität oder Wechselwirkung an- 
wende, kann aus keinem Akt des Bewusstseins a priori entschieden 
werden, sondern erfolgt unmittelbar einzig und allein auf Grund 
der individuellen, momentan gegebenen Erfahrung, aus der besonderen 
Art der Affektion der Dinge in der Apprehension der Empfindungen 
heraus. Nur die allgemeinsten und in jeder individuellen Er- 
fahrung enthaltenen, weil selbst erfahrungsbedingenden Gesetze, 
nicht die besonderen, in der Natur herrschenden und die Natur 
nach Seiten ihrer materialen Bedingtheit beherrschenden Gesetze 
sind daher auch a priori aus dem Verstände ableitbar. „Auf 
mehrere Gesetze aber als auf die, auf denen eine Natur überhaupt 
als Gesetzmässigkeit der Erscheinungen in Raum und Zeit beruht, 
reicht auch das reine Verstandesvermögen nicht zu, durch blosse 
Kategorien den Erscheinungen a priori Gesetze vorzuschreiben. 
Besondere Gesetze, weil sie empirisch bestimmte Erscheinungen 
betreffen, können davon nicht vollständig abgeleitet werden, ob 
sie gleich alle insgesamt unter jenen stehen. Es muss EIrfahrung 



406 F. Euberka, Sinnlichkeit und Denken etc. 

dazu kommen, um die letzteren überhaupt kennen zu lernen^ 
(Kehrbach, S. 681). ,,Zwar können empirische Gesetze als solche 
ihren Ursprung keineswegs vom reinen Verstände herleiten, so 
wenig als die unermessliche Mannigfaltigkeit der Erscheinungen 
aus der reinen Form der sinnlichen Anschauung hinlänglich be- 
griffen werden kann. Aber alle empirischen Gesetze sind nur 
besondere Bestimmungen der reinen Gesetze des Verstandes, 
unter welchen und nach deren Norm jene allererst möglich sind*" 
(Kehrbach, S. 135 ff.). 

Die Anerkennung des metaphysischen Urgrundes der Em- 
pfindung, die Scheidung der formalen und der materialen Elrkennt- 
niselemente und die erkenntniskritische Unableitbarkeit der be- 
sonderen Naturgesetze ungeachtet ihrer formalen Unterordnung 
unter die obersten Grundsätze des Verstandes — das ist die tief- 
sinnige Auffassung des Philosophen, welche uns die Eantische 
Lehre ebenso sehr in dem Lichte eines kritischen Idealismus wie 
eines echten und wahrhaften Realismus erscheinen lässt. 



Aus Hegels Frühzeit.') 

Von Anton Thomsen (Kopenhagen). 



Das verflossene Jahr brachte auf dem Gebiete der Hegel- 
Forschung zwei Bücher. Während Euno Fischer es in seinem 
grossen Werke: „Hegels Leben, Werke und Lehre" (1901) nicht 
für nötig erachtet, näher auf die Jugendphilosophie Hegels ein- 
zugehen, und während E. Ott in seiner ganz dürftigen Arbeit 
„Die Religionsphilosophie Hegels (1904) dies wohl yonuöten gefunden 
(S. 4), es aber unterlassen hat, und während die Neo-Hegelianer 
Englands ohne besonderes historisches Verständnis und ohne die 
Tragweite der Kritik Trendelenburgs („Die dialektische Methode" 
in seinen „Logischen Untersuchungen") begriffen zu haben, fortfahren, 
mit den abstrakten Problemen der Logik Hegels zu operieren 
(Mc. Toggart: „Studies in the Hegelian Dialectic*, 1896 — 
Baillie: „Hegels Logic", 1901), legt Wilh. Dilthey in einer 
interessanten Schrift „die Jugendgeschichte Hegels" (in den Ab- 
handlungen der Eönigl. Preuss. Akademie der Wissenschaften, 
1905 — herausgegeben April 1906) von der wichtigen ersten 
Phase in der Entwickelung Hegels, welche sich nur durch die zum 
grössten Teil bisher nicht gedruckten Manuskripte in der Egl. 
Bibliothek in Berlin studieren lässt, Rechenschaft ab. In diesen 
in drei Bänden (Nachlass YH, VIII und XI) planlos zusammen- 
gehefteten Manuskripten orientiert man sich nur mit der grössten 
Schwierigkeit, und man nimmt — aber nur insofern — dankend 
die Ausgabe der Manuskripte des VH. und teilweise des XI. Bandes 
an, welche Paul Rocques unter dem Titel „G. W. F. Hegel: Das 
Leben Jesu (Diederichs Verlag, 1906) ausgesandt hat. Schon der 
erste Biograph Hegels, Rosenkranz, hat erkannt, von welcher 
Wichtigkeit diese Jugendfragmente für das Verständnis der späteren 



1) Mit besonderer Rücksicht auf DUtheys „Jagendgeschichte Hegels** 
(Abhandlangen der Berliner Akademie 1906) and Paal Rocques Aasgabe: 
G. W. F. Hegel: Das Leben Jesa. Jena 1906. 



408 A. Thomsen, 

Philosophie sind. Er hat sich bemüht, ihnen eine gewisse chrono- 
logische Ordnung zu geben, und er hat auf Grund dieser Fragmente 
Hegels Philosophie vor der Einwirkung Schellings („Hegels Leben", 
1844) dargestellt. Für die ganze Hegel-Forschung bleibt dies Werk 
heute noch klassisch und unentbehrlich, obgleich die Darstellung 
an bedeutenden Mängeln leidet. Rosenkranz legt z. B. nicht 
genügend Gewicht auf Hegels Beziehung zum Klassizismus und die 
damit zusammenhängende äusserst radikale Kritik des Christentums. 
Auch Haym hat in seiner genialen Darstellung „Hegel und seine 
Zeit" (1857) Hegels Jugendfragmente benutzt und auf ungefähr 
50 Seiten in seinem Buche eine Schilderung von der Entwickelmig 
Hegels bis ca. 1798 gegeben, welche in weit höherem Masse als die 
Rosenkranzes alles Wesentliche hervorhebt Zur Bekräftigung seiner 
Auffassung von Hegel hat Haym in den Noten zwei wichtige 
Fragmente drucken lassen, von welchen gerade das eine eine 
scharfe Kritik des Christentums von den Idealen des E^assizismus 
aus enthält (274—283). In dieser Verbindung darf ich mir vielleicht 
erlauben anzuführen, dass ich im September 1906 ein Buch heraus- 
gegeben habe „Hegel, die Entwickelung seiner Philosophie bis 
1807", welches ebenfalls auf Grundlage eines Studiums der Jugend- 
fragmente Hegels die ganze Entwickelung darzustellen sucht, die 
zur „Phänomenologie** leitete, welches jedoch, da es leider nur auf 
Dänisch vorliegt, hier kein Interesse beanspruchen kann. 

Rosenkranz, Haym und ich haben in der Behandlung des 
Zeitraumes innerhalb der Entwickelung Hegels, welche früher fällt 
als die gedruckten Quellen, gemein, dass die grosse Reihe der 
Fragmente, welche von ca. 1792 bis ca. 1798 datieren müssen, 
nicht chronologisch geordnet, sondern nur einigermassen ihrem 
Inhalt nach zusammengestellt sind. In Kürze gesagt, bedeutet 
Diltheys Arbeit das Neue, dass sie es versucht, Hegels Jugend- 
fragmente chronologisch zu ordnen. Auf Grund dieser Ordnung 
beabsichtigt Dilthey innerhalb der Epoche der Jugendphilosophie, 
welche bisher unter eins genommen wurde, verschiedene Stadien 
zu unterscheiden. Hier glaube ich nun, dass Dilthey in den Haupt- 
zügen in seiner Chronologie Recht hat, obwohl er sicher mit un- 
recht verschiedene Kantische Perioden und verschiedene „Wendungen 
zum Pantheismus** unterscheidet. Anstatt auf weitläufige Detail- 
untersuchungen einzugehen, werde ich ganz kurz darstellen, was 
man meiner Meinung nach richtig als die wesentlichsten Haupt- 
punkte des Jugendphilosophie Hegels festhalten muss, indem ich 



Ans Hegels ^hzeit. 40d 

mich sowohl auf Diltheys Arbeit als auf mein Studiam der 
Manuskripte stütze. 

Hegels JugendaafzeichnuDgeu, wozu ich die Manuskripte bis 
ca. 1799 rechne (bei Dilthey s. W. S. 1—129), stellen das Bild 
eines lebhaft bewegten Gedankenlebens dar, einer ungemein vor- 
urteilsfreien Behandlung religiöser und historischer Probleme und 
zeigen — was bei einem jungen Manne von Hegels Forschungs- 
bedürfnis natürlich ist — die verschiedenartigsten Beeinflussungen. 
In erster Keihe sieht man in Hegels Behandlung der religiösen 
Probleme eine Beeinflussung von der deutschen Aufklärungsphilo- 
sophie; durch sein Interesse für die historische Seite der Frage 
stand er namentlich Lessing nahe. Durch Lessing und die grossen 
deutschen Dichter wurde Hegel zugleich von der neu-humanistischen 
Bewegung um das Ende des 18. Jahrhunderts ergriffen; seine 
Begeisterung für das Altertum wurde durch seine Kenntnis der 
griechischen Philosophie und persönlicher durch den Verkehr mit 
Hölderlin gestärkt. Diese Begeisterung war es, die meiner Meinung 
nach der Träger der ganzen Hegeischen Philosophie wurde; der 
späteren Wendung zum Christentum zum Trotz lassen sich die 
Nachwirkungen dieser Jugendbegeisterung bis in die spätesten 
Schriften Hegels verspüren, ja ich glaube geradezu sagen zu dürfen: 
dass, was in Hegels Philosophie von dauerndem Wert ist, auf den 
Idealen des deutschen Klassizismus ruht. Dazu kommen nun Be- 
einflussungen von Kant und Spinoza, von Herder, Jacobi und mit 
ihnen Rousseau, weiter Beeinflussungen von Gibbon, Montesquieu 
und Machiavelli. Wenn Hegel Jesu Leben darstellt, thut er es 
vom Standpunkt des Rationalismus des 18. Jahrhunderts aus; er 
nennt die Wunder nicht als solche, kritisiert in andern Fragmenten 
den Wunderglauben stark, und sieht in Jesus selber einen edlen 
Menschen, der dem verdorbenen jüdischen Piiestertum gegenüber 
eine erhabene und reine Moral predigt. Diese Moral ist die der 
Aufklärungsphilosophie; in einzelnen Wendungen bedient er sich 
Eantischer Ausdrücke, während andre Fragmente einen Gegensatz 
zu dem ethischen Rigorismus Kants zeigen. Der Grund für 
Diltheys Versuch, von hier aus Wendungen von und zu Kant 
historisch zu konstatieren, sehe ich nicht; der ethische Kern, 
welchen Hegel in dem Leben Jesu zu finden glaubte, enthält nicht 
das für die Ethik Kants im Gegensatz zu der Ethik der Auf- 
klärung Eigenartige. Obwohl Hegel Jesu Persönlichkeit hoch- 
schätzte, geht es doch aus einem Fragmente, welches ich „das 



408 A. Thomsen, 

Philosophie sind. Er hat sich bemüht, ihnen eine gewisse chrono- 
logische Ordnung zu geben, und er hat auf Grund dieser Fragmente 
Hegels Philosophie vor der Einwirkung Schellings („Hegels Leben", 
1844) dargestellt. Für die ganze Hegel-Forschung bleibt dies Werk 
heute noch klassisch und unentbehrlich, obgleich die Darstellung 
an bedeutenden Mängeln leidet. Rosenkranz legt z. B. nicht 
genügend Gewicht auf Hegels Beziehung zum Klassizismus und die 
damit zusammenhängende äusserst radikale Kritik des Christentums. 
Auch Haym hat in seiner genialen Darstellung „Hegel und seine 
Zeit" (1857) Hegels Jugendfragmente benutzt und auf ungefähr 
50 Seiten in seinem Buche eine Schilderung von der Entwickelung 
Hegels bis ca. 1798 gegeben, welche in weit höherem Masse als die 
Rosenkranz's alles Wesentliche hervorhebt Zur Bekräftigung seiner 
Auffassung von Hegel hat Haym in den Noten zwei wichtige 
Fragmente drucken lassen, von welchen gerade das eine eine 
scharfe Kritik des Christentums von den Idealen des Klassizismus 
aus enthält (274—283). In dieser Verbindung darf ich mir vielleicht 
erlauben anzuführen, dass ich im September 1906 ein Buch heraus- 
gegeben habe „Hegel, die Entwickelung seiner Philosophie bis 
1807", welches ebenfalls auf Grundlage eines Studiums der Jugend- 
fragmente Hegels die ganze Entwickelung darzustellen sucht, die 
zur „Phänomenologie** leitete, welches jedoch, da es leider nur auf 
Dänisch vorliegt, hier kein Interesse beanspruchen kann. 

Rosenkranz, Haym und ich haben in der Behandlung des 
Zeitraumes innerhalb der Entwickelung Hegels, welche früher fällt 
als die gedruckten Quellen, gemein, dass die grosse Reihe der 
Fragmente, welche von ca. 1792 bis ca. 1798 datieren müssen, 
nicht chronologisch geordnet, sondern nur einigermassen ihrem 
Inhalt nach zusammengestellt sind. In Kürze gesagt, bedeutet 
Diltheys Arbeit das Neue, dass sie es versucht, Hegels Jugend- 
fragmente chronologisch zu ordnen. Auf Grund dieser Ordnong 
beabsichtigt Dilthey innerhalb der Epoche der Jugendphilosophie, 
welche bisher unter eins genommen wurde, verschiedene Stadien 
zu unterscheiden. Hier glaube ich nun, dass Dilthey in den Haupt- 
Zügen in seiner Chronologie Recht hat, obwohl er sicher mit un- 
recht verschiedene Kantische Perioden und verschiedene „Wendungen 
zum Pantheismus** unterscheidet. Anstatt auf weitläufige Detail- 
untersuchungen einzugehen, werde ich ganz kurz darstellen, was 
man meiner Meinung nach richtig als die wesentlichsten Haupt- 
punkte des Jugendphilosophie Hegels festhalten muss, indem ich 



Ans Hegels ^hzeit. 40d 

mich sowohl auf Diltheys Arbeit als auf mein Studium der 
Manuskripte stütze. 

Hegels JugendaufzeichnuDgen, wozu ich die Manuskripte bis 
ca. 1799 rechne (bei Dilthey s. W. S. 1—129), stellen das Bild 
eines lebhaft bewegten Gedankenlebens dar, einer ungemein vor- 
urteilsfreien Behandlung religiöser und historischer Probleme und 
zeigen — was bei einem jungen Manne von Hegels Forschungs- 
bedürfnis natürlich ist — die verschiedenartigsten Beeinflussungen. 
In erster Reihe sieht man in Hegels Behandlung der religiösen 
Probleme eine Beeinflussung von der deutschen Aufklärungsphilo- 
sophie; durch sein Interesse für die historische Seite der Frage 
stand er namentlich Lessing nahe. Durch Lessing und die grossen 
deutschen Dichter wurde Hegel zugleich von der neu-humanistischen 
Bewegung um das Ende des 18. Jahrhunderts ergriffen; seine 
Begeisterung für das Altertum wurde durch seine Kenntnis der 
griechischen Philosophie und persönlicher durch den Verkehr mit 
Hölderlin gestärkt. Diese Begeisterung war es, die meiner Meinung 
nach der Träger der ganzen Hegeischen Philosophie wurde; der 
späteren Wendung zum Christentum zum Trotz lassen sich die 
Nachwirkungen dieser Jugendbegeisterung bis in die spätesten 
Schriften Hegels verspüren, ja ich glaube geradezu sagen zu dürfen : 
dass, was in Hegels Philosophie von dauerndem Wert ist, auf den 
Idealen des deutschen Klassizismus ruht. Dazu kommen nun Be- 
einflussungen von Kant und Spinoza, von Herder, Jacobi und mit 
ihnen Rousseau, weiter Beeinflussungen von Gibbon, Montesquieu 
und Machiavelli. Wenn Hegel Jesu Leben darstellt, thut er es 
vom Standpunkt des Rationalismus des 18. Jahrhunderts aus; er 
nennt die Wunder nicht als solche, kritisiert in andern Fragmenten 
den Wunderglauben stark, und sieht in Jesus selber einen edlen 
Menschen, der dem verdorbenen jüdischen Piiestertum gegenüber 
eine erhabene und reine Moral predigt. Diese Moral ist die der 
Aufklärungsphilosophie; in einzelnen Wendungen bedient er sich 
Kantischer Ausdrücke, während andre Fragmente einen Gegensatz 
zu dem ethischen Rigorismus Kants zeigen. Der Grund für 
Diltheys Versuch, von hier aus Wendungen von und zu Kant 
historisch zu konstatieren, sehe ich nicht; der ethische Kern, 
welchen Hegel in dem Leben Jesu zu finden glaubte, enthält nicht 
das für die Ethik Kants im Gegensatz zu der Ethik der Auf- 
klärung Eigenartige. Obwohl Hegel Jesu Persönlichkeit hoch- 
schätzte, geht es doch aus einem Fragmente, welches ich „das 



410 A. Thomsen, 

Sokratesfragfment'' genannt habe, hervor, dass er geneigt war, 
Sokrates höher zu stellen, and diese Seite der historischen Schätzung 
Hegels tritt dort noch mehr hervor, wo er in seiner späteren Ent- 
Wickelung das Christentum kritisiert und mit dem griechischen 
Heidentum, wie dies von dem Neu-Humanismns aufgefasst wurde, 
vergleicht. Eine beträchtliche Menge der Jugendfragmente Hegels 
drehen sich imi das grosse historische Problem: das Verhältnis 
zwischen Heidentum und Christentum. Diese sind nach meiner 
Auffassung die interessantesten. Sie enthalten eine Verurteilong 
des Christentums dem Heidentum gegenüber, wie man sie sonst 
nur in Humes genialem „Natural History of Religion"^ (1757, 
Lect IX — XV), in Rousseaus „Contract social" (1762), in einzehien 
Äusserungen bei Machiavelli und in einigen Schriften von Voltaire 
findet, und wie man, um dergleichen aber sonst zu finden, ganz 
bis Nietzsche vor- oder ganz bis Eelsos zurückgehen mass. Ausser 
der Kritik von einem sozialen und individuellen ethischen Gesichts- 
punkte aus macht Hegel auch geltend, dass das Christentom eine 
elende, asiatische und für europäische Völker ganz unnationale 
Religion sei, namentlich in der protestantischen Form, in der doch 
die lokalen Heiligen des katholischen Polytheismus die nationalen 
Elemente in der Religion bewahren. — Von hier aus kommt er 
auf interessante Untersuchungen über Volksreligion, die sidier 
teilweise von Herder beeinflusst und in vielen Fragmenten finden 
sich auch Ausdrücke wie „die schöne Seele** und „die schöne 
Liebe**, diese weisen wohl auf den Klassizismus zurück, in erster 
Reihe jedoch auf Rousseau und Jakobi. Das eigentümlich wanne 
und bewegte „Maria-Magdalenafragment**, das schon bei HajB 
(s. W. 473 — 474) gedruckt ist, hat eine schöne Fortsetzung er 
halten in dem wenig bekannten Aufsatz aus den letzten Jahren 
Hegels: „Wer denkt abstrakt** (Werke XVH 400—405), wo die 
Maria-Magdalena der Jugendphüosophie, „die schöne Seäe*", 
schliesslich als eine arme alte Frau dasteht, die alle diejenigen 
mit demselben warmen Herzen umfasst, welche von den „hcmnetteB 
Leuten**, von denen, die abstrakt denken, von ä&a. Pharisäern a 
Jesu Zeiten und zu allen späteren Zeiten beiseite geschoben werdeo. 
Die Fragmente der Jugendphflosophie gewähren in das Beste der 
Persönichkeit Hegels einen Einblick, in das, was er ebenwie die 
Begeisterung für griechische Erhabenheit und Schönheit 
späteres Leben hindurch bewahrte. 



Ans Hegeis FrOhzeit. 411 

Die Aüffassmig, die Hegel in seinen Jugendjahren von dem 
Verhältnis zwischen Religion und Ethik and zwischen Christentum 
and Heidentum hat, lässt sich ungefähr dahin zusammenfassen: 
Den Kern aller Religion, der bald stärker hervortreten, bald von 
dem Statutarischen fast ganz verhüllt sein kann, bildet das ethische 
Leben des Menschen und der daraus entspringende Glaube an 
einen sittlichen Fortschritt und eine sittliche Weltordnung; aUes 
Andere hat nur sekundären Wert. Die Hoffnung ist der Lebens- 
nerv der Religion, die Furcht macht eine Karrikatur aus ihr. 
Der religiöse Kultus sollte am liebsten in der Form allgemeiner 
Volksfeste, in denen alles Grosse und Erhabene zur Schau ge- 
stellt wird, und denen das Nationale den Charakter verleiht, ab- 
gehalten werden. Das hatte nach Hegels Meinung das Heidentum 
verstanden, während das Christentum auf die dunkle Seite der 
Religion das Hauptgewicht legt. Die Religion soll der sozialen 
Ethik untergeordnet sein. Wie die religiösen Feste Sache des 
Staates sind, beruht die Schätzung des Guten und Bösen auf dem 
Gewissen jedes Einzelnen. Niemand hat das Recht, andere zu 
verurteilen; das Gewissen jedes Einzelnen ist die Grenze der 
Ethik. — Auf diesem Punkte bilden die Jugendfragmente einen 
entschiedenen Gegensatz zu dem ethischen Teil des Ursystems 
(ca. 1800 geschrieben; „System der Sittlichkeit^, herausgegeben 
von Mollet, 1893) und zu der „Philosophie des Rechts". Das 
Heidentum stand auch, was diesen Punkt betrifft, auf der rich- 
tigen Seite, indem es das Recht des Einzelnen, seine Stellung zu 
den ethischen Fragen selbst zu wählen, geltend macht, obgleich 
es zugleich jeden einzelnen Bürger als Glied der unauflöslichen 
Einheit des Staats betrachtet. Das Christentum fasste die Sacha 
gerade umgekehrt auf; religiös wollte es den Einzelnen knechten, 
ihn zum Sklaven eines theologischen Moralcodez, welcher fär alle 
gleich gut passen sollte, machen; sozial emanzipierte es dagegen 
den Einzelnen, löste ihn von dem Staatsganzen ab, wodurch der 
Staat zu Grunde ging; und da so die Werte dem Leben hier auf 
Erden entschwanden, wurden sie auf eine andere Welt verlegt, 
welche nun diesem Leben das Interesse entzog und so auf lange 
Zeiten einen neuen Fortschritt des sozialen Lebens verhinderte. 

Dass ein Fortschritt wiederkommen würde, und dass „the 
kingdom of the darkness" bald vorbei sein würde, daran zweifelte 
der junge Hegel gewiss nicht; er hatte ja das grosse Aufklärungs- 
werk in der Mitte des Jahrhunderts bewandert, er hatte den 



412 A. f homsen, 

deutschen Humanismus wieder auferstehen sehen, schöner and 
gewaltiger als jener schwache Anfang, den die ßeformation ab- 
sorbiert hatte, und dem das Dunkel der Religionskriege nachfolgte, 
und er war mit grosser Begeisterung der französischen Revolution 
gefolgt. Im Hintergrunde der ganzen Lebensauffassung Hegels 
ruhte zu jener Zeit ein mystischer Pantheismus, ein Glaube an 
das Bestehen des Erhabenen durch den Gang der Geschichte. Es 
war dies eine eigentümliche Form von Lessings und Kants Glaube 
an eine moralische Weltordnung. Am hellsten hatte sich der Genius 
der Geschichte den Hellenen, namentlich den ersten unter ihnen, 
den Staatsgründem, offenbart. Nach ihnen kam Christus, gross, 
nicht weil er wie jene der Gesellschaft neues Leben brachte, sondern 
weil er das verdorbene Judentum zerstörte (welches Hegel immer 
unsympathisch war), und weil er durch diese Zerstörung oder in 
Folge deren, den einzelnen Menschen lehrte, sich in sich selbst zn 
versenken in sein Gewissen, das die Kirche später wieder, in 
entschiedenem Gegensatz zu dem Meister, knechten wollte. 

So gut es sich mit wenig Worten thun lässt, hoffe ich hier 
eine Darstellung der Jugendphilosophie Hegels gegeben zu haben; 
es fragt sich jetzt, wie sich die einzelnen verschiedenartigen 
Fragmente zu einander verhalten. Dass Hegel gleich eine fertige, 
abgeschlossene, in allen Punkten zusammenhängende und konsequente 
Auffassung gehabt hätte, wäre ein unwahrscheinlicher historischer 
Ausgangspunkt. Es ist ganz sicher bedenklich, von dem Ansprach 
auf Konsequenz aus die Entwickelung eines Menschen in ver- 
schiedene Perioden einzuteilen, die im Einzelnen von einer gewissen 
Konsequenz sind, im Verhältnis zu einander aber sonderbare Hin- 
und Herschwankungen zeigen. 

Dies Chaos, das chronologisch zu ordnen weder Rosenkranz, 
Haym noch mir gelungen ist, hat Dilthey geordnet, indem er nach- 
gewiesen hat, dass die Hegeischen Jugendfragmente wesentlich in 
drei Gruppen fallen. Die erste Gruppe bilden die Tübinger Fragmente 
(wovon ein Teil bei Rosenkranz gedruckt ist), die zweite bilden 
„Das Leben Jesu" und die Schrift: „Über das Verhältnis der 
Vernunftreligion zur positiven Religion** [= Rosenkranz: Kritik 
des Begriffs der positiven Religion ; Thomson : Kritik des Christen- 
tums als positiver Religion; Nohl: Die Positivität der christUchen 
Religion], welche beide 1795 — 96 geschrieben würden. 

In der dritten Gruppe, welche unzweifelhaft später li^gt, 
gehört eine grosse Reihe von Fragmenten über christliche and 



Aus Begels I>Vflhzeit. 4lä 

jüdische Religion, von welchen Rosenkranz Bruchstücke, betitelt 
„Fragmente theologischer Studien" (s. W. 490 — 614 vgl. 58), mit- 
geteilt hat. Sie finden sich grösstenteils im VII. Bande von Hegels 
Nachlass, einige Seiten sind jedoch auch im Band XI untergebracht. 
Diesen widmet Dilthey das grösste Interesse (s. W. 76 — 129). 
Sie wird vorzüglich geordnet und zum grossen Teil von Roques 
in seinem Buch nach dem „Leben Jesu" herausgegeben. Sie sind 
hier auf Seite 75 — 203 gedruckt, und es zeigt sich, dass sie 
einigermassen ein Ganzes bilden, was sich schwerlich von den 
Stücken, die Rosenkranz herausgegeben hat, sagen lässt. Im 
Verhältnis zu den ersten Gruppen ist diese (Nohl, Der Geist des 
Christentums und sein Schicksal) minder historisch und mehr 
mystisch-abstrakt. Anstatt des ehemaligen Rationalismus treffen 
wir hier eine — oft tiefsinnigere, aber auch zuweUen völlig will- 
kürliche und schwer fassliche — symbolische Deutung. Zu- 
gleich finden wir hier den ersten Anfang zu Hegels Dialektik; 
viele dieser Seiten sind genial; so z. B. der Abschnitt, den 
Rosenkranz „Das Schicksal und seine Versöhnung" nennt (s. W. 
493—98; Roques 145 — 59), und welcher ein höchst interessantes 
Gegenstück zu der „Faustiade" der Jenaer Zeit (Rosenkranz, 
S. 548—50) bildet. Diese Fragmentenreihe legt Rosenkranz in 
die Schweizer Zeit, Dilthey in die Frankfurter Zeit. Zweifellos 
ist sie früher als das Ursystem, und sie scheint fast ebenso 
sicher etwas später als die als erste Gruppe bezeichneten Frag- 
mente zu sein. Ihre Abfassung muss also auf ca. 1798 ange- 
setzt werden. Sie zeigt eine Beeinflussung von Fichte und 
Schelling und bildet gewissermassen innerhalb der Epoche der 
Jugendphilosophie den Übergang zu der eigentlich romantischen 
Periode innerhalb der Entwickelung Hegels, die Zeit der System- 
bildung, welche mit einer immer festeren Anschliessung an 
Schelling ihren Anfang nahm und mit einer Lossagung von diesem 
endigte, die Zeit von 1798—1807. Es ist das grosse Verdienst 
Diltheys, nachgewiesen zu haben, dass diese Abschnitte vorhanden 
sind, wo Rosenkranz und Haym aUes zusammennehmen, und wo 
ich mich damit begnügt habe, eine Schwankung in der Auffassung 
Hegels nachzuweisen. Dagegen scheint mir Dilthey nicht ge- 
nügend eine der interessanten früheren Fragmentengruppe heraus- 
gehoben zu haben; er hat scheinbar nicht gesehen, welche un- 
geheuer grosse Bedeutung der Klassizismus für Hegel hatte, wie 
scharf seine Verdammung nicht nur des Judentums (z. R. Dilthey, 

KMtal«41«o XII. 27 



412 A. Thomson, 

deutschen Humanismus wieder auferstehen sehen, schöner und 
gewaltiger als jener schwache Anfang, den die Reformation ab- 
sorbiert hatte, und dem das Dunkel der Religionskriege nachfolgte, 
und er war mit grosser Begeisterung der französischen Reyolution 
gefolgt. Im Hintergrunde der ganzen Lebensauffassung Hegels 
ruhte zu jener Zeit ein mystischer Pantheismus, ein Glaube an 
das Bestehen des Erhabenen durch den Qang der Geschichte. Es 
war dies eine eigentümliche Form yon Lessings und Kants Glaube 
an eine moralische Weltordnung. Am hellsten hatte sich der Genius 
der Geschichte den Hellenen, namentlich den ersten unter ihnen, 
den Staatsgründem, offenbart. Nach ihnen kam Christus, gross, 
nicht weil er wie jene der Gesellschaft neues Leben brachte, sondern 
weil er das verdorbene Judentum zerstörte (welches Hegel immer 
unsympathisch war), und weil er durch diese Zerstörung oder in 
Folge deren, den einzelnen Menschen lehrte, sich in sich selbst zn 
versenken in sein Gewissen, das die Kirche später wieder, in 
entschiedenem Gegensatz zu dem Meister, knechten wollte. 

So gut es sich mit wenig Worten thun lässt, hoffe ich hia- 
eine Darstellung der Jugendphilosophie Hegels gegeben zu haben; 
es fragt sich jetzt, wie sich die einzelnen verschiedenartigen 
Fragmente zu einander verhalten. Dass Hegel gleich eine fertige, 
abgeschlossene, in allen Punkten zusammenhängende und konsequente 
Auffassung gehabt hätte, wäre ein unwahrscheinlicher historischer 
Ausgangspunkt. Es ist ganz sicher bedenklich, von dem Ansprach 
auf Konsequenz aus die Entwickelung eines Menschen in ver- 
schiedene Perioden einzuteilen, die im Einzelnen von einer gewissen 
Konsequenz sind, im Verhältnis zu einander aber sonderbare Hin- 
und Herschwankungen zeigen. 

Dies Chaos, das chronologisch zu ordnen weder Rosenkranz, 
Haym noch mir gelungen ist, hat Dilthey geordnet, indem er nach- 
gewiesen hat, dass die Hegeischen Jugendfragmente wesentlich in 
drei Gruppen fallen. Die erste Gruppe bilden die Tübinger Fragmente 
(wovon ein Teil bei Rosenkranz gedruckt ist), die zweite bilden 
„Das Leben Jesu" und die Schrift: „Über das Verhältnis der 
Vemunftreligion zur positiven Religion** [= Rosenkranz: Kritik 
des Begriffs der positiven Religion ; Thomson : Kritik des Christen- 
tums als positiver Religion; Nohl: Die Positivität der christlichen 
Religion], welche beide 1795 — 96 geschrieben würden. 

In der dritten Gruppe, welche unzweifelhaft später li^ 
gehört eine grosse Reihe von Fragmenten über christliche ond 



Aus fiegels fVfihzeit. 4ld 

jüdische Religion, von welchen Rosenkranz Bruchstücke, betitelt 
„Fragmente theologischer Studien" (s. W. 490 — 514 vgl. 58), mit- 
geteilt hat. Sie finden sich grösstenteils im Vn. Bande von Hegels 
Nachlass, einige Seiten sind jedoch auch im Band XI untergebracht. 
Diesen widmet Dilthey das grösste Interesse (s. W. 75 — 129). 
Sie wird vorzüglich geordnet und zum grossen Teil von Roques 
in seinem Buch nach dem „Leben Jesu" herausgegeben. Sie sind 
hier auf Seite 75 — 203 gedruckt, und es zeigt sich, dass sie 
einigermassen ein Ganzes bilden, was sich schwerlich von den 
Stücken, die Rosenkranz herausgegeben hat, sagen lässt. Im 
Verhältnis zu den ersten Gruppen ist diese (Nohl, Der Geist des 
Christentums und sein Schicksal) minder historisch und mehr 
mystisch-abstrakt. Anstatt des ehemaligen Rationalismus treffen 
wir hier eine — oft tiefsinnigere, aber auch zuweilen völlig will- 
kürliche und schwer fassUche ~ symbolische Deutung. Zu- 
gleich finden wir hier den ersten Anfang zu Hegels Dialektik; 
viele dieser Seiten sind genial; so z. B. der Abschnitt, den 
Rosenkranz „Das Schicksal und seine Versöhnung^ nennt (s. W. 
493—98; Roques 145 — 59), und welcher ein höchst interessantes 
Gegenstück zu der „Faustiade^ der Jenaer Zeit (Rosenkranz, 
S. 548—50) bildet. Diese Fragmentenreihe legt Rosenkranz in 
die Schweizer Zeit, Dilthey in die Frankfurter Zeit. Zweifellos 
ist sie früher als das Ursystem, und sie scheint fast ebenso 
sicher etwas später als die als erste Gruppe bezeichneten Frag- 
mente zu sein. Ihre Abfassung muss also auf ca. 1798 ange- 
setzt werden. Sie zeigt eine Beeinflussung von Fichte und 
Schelling und bildet gewissermassen innerhalb der Epoche der 
Jugendphilosophie den Übergang zu der eigentlich romantischen 
Periode innerhalb der Entwickelung Hegels, die Zeit der System- 
bildung, welche mit einer immer festeren Anschliessung an 
Schelling ihren Anfang nahm und mit einer Lossagung von diesem 
endigte, die Zeit von 1798—1807. Es ist das grosse Verdienst 
Diltheys, nachgewiesen zu haben, dass diese Abschnitte vorhanden 
sind, wo Rosenkranz und Haym alles zusammennehmen, und wo 
ich mich damit begnügt habe, eine Schwankung in der Auffassung 
Hegels nachzuweisen. Dagegen scheint mir Dilthey nicht ge- 
nügend eine der interessanten früheren Fragmentengruppe heraus- 
gehoben zu haben; er hat scheinbar nicht gesehen, welche un- 
geheuer grosse Bedeutung der Klassizismus für Hegel hatte, wie 
scharf seine Verdammung nicht nur des Judentums (z. B. Dilthey, 

SMit«tadl«o XII. 27 



414 A. Thomseü, 

S. 80), sondern auch des Christentums war, und es scheint mir 
im Zusammenhang hiermit zu stehen, dass die stark bewegte Jugend- 
philosophie Hegels an mehreren Stellen gar zu abstrakt und an- 
persönlich wird. Vielleicht liegt das aber an meiner persönlichen 
Auffassung und darf der gründlichen und auf erwähntem Punkte 
auch grundlegenden Arbeit des hochverdienten Forschers der 
Geschichte der Philosophie nichts an Wert absprechen. Im 
Gegensatz zu den Forschem, welche sich hauptsächlich an das 
fertige System Hegels halten, bin ich der Ansicht, die hier 
zu begründen zu weitläufig sein würde, dass die Schriften Hegels 
von der Frühzeit bis zur „Phänomenologie" vom grössten Interesse 
sind. In den Jugendfragmenten und in den gedruckten Abhand- 
lungen aus der Jenaer Zeit hat Hegel seine eigenartigsten Ge- 
danken gedacht. Seine Entwickelung zeigt hier Kämpfe und In- 
konsequenzen, zugleich aber die Fähigkeit, einen Gedanken zu 
Ende zu denken. Und ich glaube, dass man hier Anschauungen 
bei Hegel findet, welche in den deutschen Darstellungen nie zu 
ihrem ganzen Recht kamen. Den Abschluss dieser interessanten 
Entwickelung bildet die „Phänomenologie", welche die Einleitung 
des Systems sein soll und doch das ganze System ist. Wer die 
thatsäcbliche Einleitung zum System, die Schriften von ca. 1792 
bis 1807 kennt, wird hier sehen, wie alle Grundgedanken der 
Frühzeit wiederkehren; in sonderbarer Ordnung ist alles das er- 
starrt, was ihm von der merkwürdig bewegten Jugendperiode 
Hegels einst bekannt war. Im Verhältnis zu der „Phänomeno- 
logie" und den vorhergehenden Schriften ist das spätere grosse 
System keine fortgesetzte Entwickelung, sondern nur Ausführung 
in gewissen Punkten, oft nur ein dogmatisches Ek*starren in 
leeren Formen, an einigen Partien ein opportunistisches Anpassen 
des „Ideals" an die gegebenen Verhältnisse, immer aber nur von 
sekundärem Interesse im Vergleich mit der früheren Denkung und, 
wenn nicht zu dieser im Verhältnis betrachtet, historisch unbe- 
greiflich. 

Obwohl man Rocques für seine Arbeit Dank schuldig sein 
muss, muss man dennoch zugleich hervorheben, dass seine Aus- 
gabe ganz ungenügend ist. Ich darf sagen, dass es durchaus 
unzulässig ist, dass der Herausgeber nur auf Band VII und XI, 
aber nicht auf Band VIH Rücksicht nimmt. Hätte er diesen mit 
herangezogen, so würde er z. B. gesehen haben, dass das Frag- 
ment über Sokrates, womit sein Buch endigt (S. 203), unvoll- 



Aas Hegelfi FrOhzeit. 415 

st&ndig ist, and dass die Fortsetzung desselben in Band Vin, 
176a — 178a folgt. Tatsächlich wissenschaftlichen Wert wird je- 
doch erst eine grosse, gesammelte Ausgabe bieten, die von sorg- 
fältiger, wohlbegründeter Ordnung ist, und mit einer wirklich 
gründlichen Kenntnis der Manuskripte aus unternommen wird. 
Dilthey stellt uns eine solche von der Hand seines Mitarbeiters, 
Dr. Herman Nohl in Aussicht, welche sicher, wenn sie erscheint, 
für die Hegelforschung von grosser Bedeutung sein wird. 



Eher als ich gedacht hätte, ist mein Wunsch in Erfüllung 
gegangen. Als die obige Recension eingesandt war, erschien die 
grosse, gesammelte Ausgabe von Nohl.^) Beim Durchlesen und 
Vergleichen habe ich mich davon überzeugt, wie gründlich, genau 
und in allen Stücken völlig befriedigend die grosse Arbeit ist, 
welche Nohl mit dieser Ausgabe geleistet hat Durch sie wird die 
Ausgabe Roques gänzlich überflüssig, der Chronologie Diltheys 
verleiht sie den Unterbau. Diese Ausgabe hat in die planlos 
zusammengehefteten Manuskripten der Berliner Bibliothek endlich 
Ordnung gebracht und für die, denen die Manuskripte nicht be- 
kannt waren, den Weg erleichtert, sich von der interessanten 
Entwickelung Hegels eine Anschauung zu bilden, für die, denen 
sie bekannt waren, sich ein vollständigeres und reicheres Bild 
davon zu schaffen. Das Zerstreute ist gesammelt worden, die 
Chronologie klar und überzeugend begründet, und die Herausgabe 
ist mit philologischer Genauigkeit besorgt. 

Die Geschichtsforschung kann Dr. Nohl für seine Ausgabe 
nur Dank und Anerkennung schenken, und ich will nur noch 
3 Einzelheiten hervorheben, von denen die 2 bisher nicht an den 
Tag gebracht und die dritte nicht bewiesen wurde. Ausser den 
schon bekannten Beeinflussungen, behauptet der Herausgeber, 
Hegels Studium der mystischen Theologie der Beguinen (in Mos- 
heims Kirchengeschichte) habe sicher einen starken Einfluss auf 
die Entwickelung seiner Philosophie ausgeübt, welche zwischen 
der Schrift „Die Positivität der christlichen Religion" und der 
ungefähr 3 Jahre späteren Schrift „Der Geist des Christentums 
und sein Schicksal*" (p. 210—11) liegt, und ausserdem betont er 



^) Hegels theologische Jugendschriften nach den Handschriften der 
Kgl. Bibliothek in Berlin, herausgegeben von Dr. Hermann Nohl (Verlag 
von I. C. B. Mohr, Tttbingen 1907). 



4l6 A. 'f homsen, Aus Hegels Frithzeit. 

— entschieden mit Recht — die Bedeutung, welche Mendelssohns 
Werk: „Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum" für 
Hegel gehabt hat (p. 404). Den 3. Punkt bildet die Entscheidung 
des Herausgebers über die alte Streitfrage: ob Hegel oder Schel- 
ling oder beide gemeinsam Verfasser des: „Über das Verhältnis 
der Naturphilosophie zur Philosophie überhaupt" im kritischen 
Journal seien. Ein vor kurzem gefundenes, September 1804 von 
Hegel an das Ministerium zu Weimar geschriebenes Curriculum 
vitae, beweist, dass Hegel nicht der Verfasser der Abhandlung 
ist, und dass also K. F. A. Schelling und Haym, welchen in 
etwas bedingter Form J. E. Erdmann, Kuno Fischer und ich 
uns anschliessen. Recht hatten (S* VIH — IX). 

Die Hauptsache ist, dass die Hegeischen Jngendfragmente 
in drei Hauptgruppen geordnet sind, wovon die zwei ersteren, 
die ersten Fragmente: „Volksreligion und Christentum" und die 
etwas späteren „Leben Jesu" und „Die Positivität der christlichen 
Religion", einander dem Gedankengange nach sehr nahe stehen, 
während sie sich wiederum ganz entschieden von den letzten 
theologischen Jugendfragmenten Hegels: „Der Geist des Christen- 
tums und sein Schicksal" trennen, die, zum ersten Mal in ein 
Ganzes gesammelt zu haben, das grosse Verdienst des Heraus- 
gebers ist. Durch Diltheys und Nohls Arbeiten sieht man zum 
ersten Mal die Entwickelung innerhalb der Jagendphilosophie 
Hegels in grossen Zügen, und durch das Studium dieser Schriften, 
die jetzt nicht mehr als zerstreute Fragmente dastehen, und der 
Schriften aus der Jenaer Zeit, wird man gewiss auch immer 
deutlicher sehen, wie entscheidend die historische Kenntnis dieser 
für das Verhältnis der Philosophie Hegels nach 1806 ist. 



Kant und Fries/) 

Von W. Beinecke. 



Gewiss zur Überraschung manches Philosophen der Gegenwart 
ist der Geist des fast vergessenen Jakob Friedrich Fries wieder 
auferweckt worden, und wenn wir diese »Nene Folge*^ studieren, 
steht seine Gedankenwelt wieder so deutlich und in so genauer 
Wiedergabe yor unseren Augen, dass wir uns verwundert nach 
dem Zwecke dieser Ausgrabung erkundigen. — Also beginnen wir 
mit der Einleitung! 

Das zuversichtliche Vorwort der alten Folge steht voran. 
Dann folgt in demselben zuversichtlichen Tone eine Art Ergänzung 
mit Rücksicht auf die Gegenwart. Da wird der „öffentlichen 
Meinung'' jede Bedeutung für den geschichtlichen Wert eines 
philosophischen Systems aberkannt. Dem Zeitgeiste nach erhalte 
man etwa folgende Bilderreihe von der Philosophie des letzten 
Jahrhunderts: „Kant, Fichte, Schelling, Hegel, Schopenhauer, 
Nietzsche.'' In der „Geschichte der Ausbildung des wissenschaft- 
lichen Geistes" heisse die Reihe: „Kant, Fries, Apelt." «Diese 
allein können auf den Ruhm, Kants Schüler zu sein, Anspruch 
machen." Jene werde man künftig neben Patricius, Robert Fludd 
und J. Böhme stellen. „Kant, Fries und Apelt aber werden stehen 
bleiben neben Eeppler, Galilei und Newton.' — Nachdem wir Nicht- 
Friesischen damit alle gleichsam einen Ordnungsruf erhalten haben, 
möchten wir natürlich noch mehr von den weisen Männern kennen 
lernen, die das alles so genau wissen, und wenden uns dem weiteren 
Inhalt« zu. — 

Die Seele des neuen Unternehmens scheint Leonard Nelson 
zu sein. Er hat wenigstens in seinen Beiträgen das Ganze der 



1) I. Abhandlungen der Friesschen Schule. Nene Folge. 
Herausgegeben von Gerhard Hessenberg, Karl Kaiser und Leonard Nelson. 
1. Heft 1904 (S. I— Xn, 1-190), 2. Heft 1906 (S. 191—382). Vandenhock k 
Bnprecht, Göttingen. 



418 W. Reinecke, 

Friesischen Philosophie ins Auge gefasst. Mit ihm wollen wir 
uns daher näher beschäftigen, die anderen Aufsätze kürzer kenn- 
zeichnen. 

Abhandl. I. (1. Heft): „Die kritische Methode und das 
Verhältnis der Psychologie zur Philosophie" von L. Nelson. 
Nach dem Inhalte könnte man diesem Aufsatz auch den Titel 
geben: Prolegomena zu einer jeden Metaphysik nach Friesischem 
Muster. Diese Schrift bedeutet nicht mehr und nicht weniger als 
eine neue Auflage der Friesischen Erkenntnislehre in überwiegend 
Friesischer Begründungsweise. 

In der Anwendung der Prinzipien im Leben sind wir einig, 
sagt N. Der Streit der Meinungen beginnt erst, wenn wir un- 
abhängig vom besonderen Falle ein Prinzip in abstracto aussprechen. 
Daraus erschliesst N. ein „regressives Verfahren, den philo- 
sophischen Prinzipien nachzuspüren", sie aufzuweisen, doch nicht 
zu beweisen, indem man nämlich aus dem Leben Urteüe herans- 
greift, „über die Einigkeit herrscht", und diese zergliedert, bis 
man schliesslich zu den letzten, höchsten Voraussetzungen, d^ 
Grundsätzen, kommt. Bei den Anschauungsurteilen mache das 
Verfahren keine Schwierigkeiten, die Hauptaufgabe bleibe, die 
Grundsätze, die rein aus Begriffen entspringen, klar aufzuweisen 
und, um sie von den ebenfalls unbeweissbaren falschen Sätzen zu 
trennen, zu prüfen. Wie aber soll man aus den Folgen die letzten 
Gründe richtig auffinden, wenn die Folgen streitig sind? Wo 
liegen die Grenzen der durch das regressive Verfahren unter- 
nommenen Zergliederung? Diese Fragen berechtigen nach N. znr 
Einführung eines Hauptstückes der Friesischen Philosophie: der 
unmittelbaren Erkenntnisse nicht anschaulicher Art. Aus ihnen 
muss alles Beweisen hervorgehen, sie allein sind das Kriterium der 
Wahrheit und bedingen die synthetische Einheit des Bewusstseins. 
Jede Mitwirkung des Gegenstandes wird ausgeschlossen. „Wir 
können also nie Ei*kenntnis und Gegenstand, sondern nur Erkennt- 
nisse unter einander vergleichen^ (19). Es könne nicht Aufgabe 
der Philosophie sein, „unserer Erkenntnis objektive Wahrheit u 
verschaffen^. Es handle sich immer nur um die Frage: stimmt 
ein Satz mit der unmittelbaren Erkenntnis überein? Dennoch 
heisst es: „Jede Erkenntnis ist als soche schon Elrkenntnis eines 
Gegenstandes*^ (21). Aber das Verhältnis der Erkenntnis znm 
Gegenstande lässt sich nur unmittelbar erleben, nicht untersuchen. 
„Es gibt keine Theorie der Möglichkeit der Erkenntnis.^ — Das 



Kant and Fries. 419 

heisst fürwahr, sich die Arbeit bequem machen. Man sollte sich 
doch erst einmal mit dem Begriff der Erkenntnis beschäftigen, ehe 
man solche Behauptungen ausspricht. Eine derartige Untersuchung 
ist leider nirgends zu finden. 

Die „unmittelbare Erkenntnis" zieht ein anderes Hauptstück 
der Friesischen Philosophie nach sich: die Deduktion, d. i. die 
Aufweisuug der unmittelbaren Elrkenntnis in unseren Urteilen. In 
diesen pflegt der Erkenntnisgrund nicht unmittelbar bewusst zu 
sein. Erst durch „innere Erfahrung" lernen wir „den Besitzstand 
dieser unmittelbaren Erkenntnis der reinen Vernunft" kennen. „Die 
Deduktion der metaphysischen Grundsätze ist also ein 
Geschäft der Psychologie" (24). So hofft N., das quid juris 
des Bewusstseins durch das quid facti der Vernunft entscheiden 
zu können" (26). 

Bei dieser Selbstuntersuchung der Vernunft stützt er sich auf 
den obersten Grundsatz der Kritik, den „Grundsatz des Selbst- 
vertrauens der Vernuft". Kant hat die Grundlegung der Erfahrung 
nach Fries und Nelson zu eng gefasst, weil er die unmittelbare 
Erkenntnis der Vernunft nicht kannte. Auch der Zweifel ist nach 
N. nur auf Grund der Vernunft möglich. Ganz wie bei Descartes. 
Wer also der Vernunft nicht traut, „der wende sich an die Psychiater 
und lasse die Philosophen in Ruhe". 

Wer aber nun wegen der Verschiedenheit der Individuen die 
Allgemeinheit der metaphysischen Grundsätze leugnen wollte, der 
ist nach N. auf falscher Fährte. Die „objektive Giltigkeit seiner 
Erkenntnis" besitzt ein jeder durch das Selbstvertrauen zur eigenen 
Vernunft. Empirisch lernen wir nie eine andere Vernunft kennen, 
höchstens einen anderen Verstand (Reflexion). Von der Vernunft 
kann ich daher nur einen einzigen Begriff bilden und daher auch 
nur einen einzigen „(psychologischen)'* Begriff Mensch. Nun hat 
es N. natürlich leicht, zu folgern, dass »unsere Methode der Deduktion 
aus der eigenen Vernunft" nicht nur den Rechtsgnmd der Grund- 
sätze, sondern auch das nachweise, „dass jeder Mensch gerade 
diese philosophischen Prinzipien voraussetze, voraussetzen müsse 
und allein voraussetzen könne" (35). Eüne spasshafte Methode! 
Damit „ist der Skeptizismus endgültig abgethan und der einzig 
mögliche Standpunkt der Evidenz in der Philosophie gewonnen". 
„Sich aber gegen diese Methode zu sträuben, das ist nur der Sport 
derer, die fürchten müssen, dass doch noch einmal Philosophie als 
evidente Wissenschaft dem Spiel ihrer eigenen spekulativen Weisheit 



420 W. Reinecke, 

ein Ende machen könnte, ohne zu bedenken, dass, wer die Herrschaft 
der Vernunft ablehnt, sich dadurch nur mit dem Blödsinnigen auf 
eine Stufe stellt." Das soll vermutlich eine „psychologische De- 
duktion" sein. Solche leuchtenden Beispiele für Bescheidenheit, 
Sachlichkeit und Höflichkeit könnte man noch mehrfach aus den 
Schriften Nelsons herausstellen. Es sind übrigens diese Tugenden 
die Haupthilfsmittel gegen die Neukantianer, welche N. in einem 
besonderen Anhange „behandelt", und dienen besonders dazu, Cohen 
und Riehl gehörig — oder etwa ungehörig? — abzukanzeln. 

Weiter spricht N. über den Unterschied der Kritik der 
Metaphysik von ihrem Inhalte. So gewiss Kritik als empirische 
Deduktion nicht metaphysisch sein könne, ebenso gewiss kömie 
Metaphysik nicht psychologisch sein. Kant habe ^Inhalt mid 
Gegenstand der Kritik" verwechselt. Das führe auf den „hoffnungs- 
losen" Weg Fichtes. Überhaupt bedauert N., dass Kant „allmählidi 
wieder von dem Wege empirisch -psychologischer Kritik in emen 
logischen Formalismus" hinübergeglitten sei. Die Möglichkeit der 
Metaphysik ist nach N. weder durch Sinn noch durch Verstand oder 
Reflexion, sondern allein durch die unmittelbare Elrkenntnis der 
Vernunft gewährleistet. Der Beweis für die Möglichkeit metaphy- 
sischer Sätze liegt nach N. — in ihrer Wirklichkeit. Von i& 
Anerkennung dieses Faktums hänge jede „psychologische Elrkl&nmg 
der Tatsachen des Erkennens" sowie auch die »»Einigang in meta- 
physischen Fragen" (53) ab. Kn Beweis sei nicht möglich. Denn 
„eine Theorie der Möglichkeit der Erkenntnis liegt jenseits möglicher 
Wissenschaft". Das konstitutive Prinzip der Metaphysik ist also 
die „unmittelbare Erkenntnis der reinen Vernunft", das richtige 
methodische Prinzip die Lehre von der Deduktion. Jenes habe 
Fries entdeckt und damit zuerst das Hume'sche Problem von d^ 
Möglichkeit der Metaphysik gelöst. 

Der schon erwähnte und durch seineu Ton charakteristische 
Anhang „über das Verhältnis des sogenannten Neukanüanismos 
zu Fries" bringt dieselben Gedanken wieder als Gründe gegen 
„Neukantianer", wie K. Fischer, Windelband, Biehl, Ck>hen. 

Abh. V (2. Heft). „Jakob Friedrich Fries und seine 
jüngsten Kritiker" von Leonard Nelson. Hier drückt N. noch 
stärcker wie in der I. Abhandlung seine Verwunderung darüber ans, 
dass man Fries des Psychologismus zeihe. „Vielmehr weisen alle 
mir bekannt gewordenen Äusserungen von Fries auf eine strenge 
Unterscheidung psychologischer und phUosophischer EIrkenntnisweise" 



Kant und Fries. 42 t 

(243). Dagegen wirft er den Anhängern der „transscendentalen 
Methode" vor: „Einer Definition dieses Terminus [PsychologismusJ 
hat man sich dabei allerdings allemal überhoben*' (241). Nun, wir 
können ihm zu einer Definition verhelfen: N. braucht nur noch 
einmal die Sätze aus Riehls Kritizismus I, 294 durchzulesen, die 
er selbst in seiner I. Abhandlung S. 73 voll Entrüstung citiert und 
die da beginnen: „Ich verstehe unter psychologischem Vorurteil . . .**. 

N. sucht darzulegen, dass Fries „sogar den Psychologismus 
seiner Zeitgenossen auf das lebhafteste bekämpft", doch vermutet 
er das Gespenst an der fälschen Stelle. Psychologisch ist nach 
Fries freilich nicht die Logik; er trennt sie sehr gut von seiner 
Theorie der inneren Erfahrung, wie aus den von N. angeführten 
Stellen hervorgeht. Aber in den Machtansprüchen dieser Theorie 
liegt das „psychologische Vorurteil", z. B. in dem Satze: „Kant 
aber machte den grossen Fehler, dass er die transscendentale Er- 
kenntnis für eine Art der Erkenntnis a priori und zwar der 
philosophischen hält, und ihre empirische psychologische 
Natur verkannte" (Fries, neue Kr. d. r. V. II. Aufl. I, 29). 

Aber weiter beweist uns N. sogar, „dass Fries ein Anhänger 
der transscendentalen Methode ist" (270) und zwar durch „voll- 
ständige Induktion", indem er nämlich Scheler, „Die transscendentale 
und die psychologische Methode", zum Vergleich heranzieht und 
darlegt, dass auf Fries sämtliche fünf Merkmale, die Scheler für 
die transscendentale Methode aufstellt, zutreffen. Indessen wendet 
N. vergeblich viel Mühe für seine Behauptung auf. Gegen die 
hier erwiesene scheinbare Übereinstimmung erhebt sich immer 
wieder das eine gi*osse Bedenken, wozu denn Fries ein besonderes 
psychologisches Verfahren ersonnen habe, wenn er unter der 
transscendentalen oder kritischen Methode dasselbe wie Kant ver- 
stand. Dass dies nicht der Fall ist, hat uns N. zur Genüge in 
seiner I. Abhandlung auseinandergesetzt. In Wirklichkeit beweist 
uns also N. hier unnötiger Weise die bekannte Tatsache, dass 
Fries für seine psychologische Deduktion dieselbe Bedeutung be- 
ansprucht wie Kant für seine kritische, mit anderen Worten, dass 
Fries ein Anhänger seiner eigenen „transscendentalen" Methode ist. 

Der nächste und grösste Teil der Abhandlung beschäftigt 
sich mit Th. Elsenhans, von dem damals nur die Schrift „das 
Kant-Friesische Problem" vorlag. Es seien nur einige charak- 
teristische Einwände N.s angeführt: „Den Gegenstand der Kritik 
[Kants] bilden die von aller Erfahrung unabhängigen Erkenntnisse; 



422 W. Reinecke, 

ob aber die Erkenntnisse, die den Inhalt der Kritik bilden, eben- 
falls von aller Erfahrung unabhängig sind oder nicht, das bleibt 
durch jenen Satz [Kants Definition der Kr. d. r. V.] völlig unent- 
schieden" (277). „Muss also gleich empirische Psychologie gänzlich 
aus der Metaphysik verbannt sein, so muss sie doch darum noch 
keineswegs aus der Kritik der Vernunft verbannt sein" (278). 
„Es kann also keinem Zweifel unterliegen, dass Kant die psycho- 
logische Natur der transscendentalen Erkenntnis verkannt hat" (297). 

Die richtige Darstellung der transscendentalen Deduktion hat 
nach N. natürlich allein Fries gegeben. Das wird weiter an Kants 
Lehre von der Apperception dargelegt und dabei der objektive 
Begriff der Apperception gründlich zerstört. Wir müssen mit 
Fries „die ursprüngliche synthetische Einheit der Apperception 
von der durch das Urteil bewirkten synthetischen Einheit unter- 
scheiden" und jene nicht als Urteil, sondern als „unmittelbare 
Erkenntnis der reinen Vernunft" ansehen (311). Die Reflexion 
soll dann die analytische Einheit liefern und die unmittelbare Er- 
kenntnis zum deutlicheren Verständnis bringen. Daher besitzt 
unsere Erkenntnis von vornherein auch objektive Giltigkeit. „Die 
psychologische Methode der Kritik ist also nicht allein „der Auf- 
gabe einer Auffindung der reinen Begriffe a priori, der quaestio 
facti gewachsen'', sondern sie „reicht" in der Tat auch „für die 
quaestio juris aus"." — Doch wehe uns, wenn wir das Psycho- 
logismus nennen! 

Soweit die beiden Hauptabhandlnngen L. Nelsons. Eine 
dritte Abhandlung von Nelson ist betitelt „Bemerkungen über 
die Nicht-Euklidische Geometrie und den Ursprung der 
mathematischen Gewissheit" (VIU). Sie kann einem Aufsatz 
von G. Hessenberg „Das Unendliche in der Mathematik" (HI) 
an die Seite gestellt werden. Beide Abhandlungen sind gleich 
belehrend über den Stand der mathematischen Forschungen. Die 
Gerechtigkeit erfordert hervorzuheben, dass Nelson hier mit grosser 
Sachlichkeit und Klarheit gearbeitet hat, so dass man den tempe- 
ramentvollen Nelson der beiden anderen Schriften in ihm nicht 
wiedererkennt. Das Ergebnis der Schrift ist eine „glänzende Be- 
stätigung der Kantischen Entdeckung . . . des nicht -logischen 
Ursprungs der Axiome . . . und des synthetischen Charakters der 
geometrischen Wahrheiten" durch die neuere Mathematik. So 
hatte sich z. B. auch Poincar6 in „Wissenschaft und Hypothese"" 
geäussert. 



Kant und Fries. 423 

Nun sind wir noch einen Bericht über die anderen Aufsätze 
schuldig. 

Abb. n. „Über Begriff und Aufgabe der Natur- 
philosophie. Von Ernst Friedrich Apelt". Dies ist nach einer 
Vorbemerkung der erste Abschnitt von „Vorlesungen über Natur- 
philosophie "^ aus dem Jahre 1842 — 1843 nach der Nachschrift von 
M. J. Schieiden. Die Bedeutung der Philosophie für die Natur- 
wissenschaft wird von Apelt in einer Weise gewürdigt, die man 
auch jetzt noch trefflich nennen kann. Vornehmlich die Natur- 
philosophie ist ihm Metaphysik der Natur, »welche die höchsten 
konstitutiven Prinzipien der Naturlehre selbst bestimmt* (99). 
„Das Charakteristische im Begriff der Natur ist also die notwen- 
dige Gesetzlichkeit und die Abhängigkeit der Dinge an ihr" (103). 
Im weiteren Verlauf seiner Untersuchung, dem „Gesetz von der 
Spaltung der Wahrheit" macht A. die Fries'schen Anschauungen 
sich zu eigen. 

Abb. IV. »Kant und Fries. Die anthropologische 
Wendung der Kritik der Vernunft in ihren wesentlichen 
Punkten erörtert von Heinrich Eggeling". Einige Sätze werden 
zeigen, dass E. ganz auf dem Standpunkt Nelsons steht: „Nach- 
dem Kant den faktischen Besitzstand der Vernunft an philoso- 
phischer Erkenntnis entdeckt, bedurfte es noch dessen, in einer 
Theorie der Vernunft den Nachweis zu liefern, warum wir gerade 
diese und nur diese philosophische Erkenntnis besitzen'' (197). 
„Unter den unmittelbaren Nachfolgern Kants war Fries derjenige, 
welcher am bestimmtesten behauptete, die Aufgabe der Kritik der 
Vernunft sei eine psychisch-anthropologische . . ." (194). Natür- 
lich findet E., dass Fries recht hat. Übrigens scheint E. darin 
also mit Riehl übereinzustimmen, dass Fries' Kantauffassung eine 
psychologistische ist. Die apriorische Form der Erkenntnis, be- 
hauptet er gegen K. Fischer, kann nur in der inneren Erfahrung 
gefunden werden. & verwechselt genau wie Fries und Nelson 
das Erkannte oder Erkennbare mit dem Erkennen. Dass er femer 
nur von psychologischer „Notwendigkeit" weiss, zeigt der Satz: 
„nur innere Erfahrung kann uns zeigen, welche Bestimmungen in 
unserem ganzen geistigen Leben der reinen Selbsttätigkeit der 
Vernunft entspringen; mit diesen aber ist das Bewusstsein ihrer 
Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit unmittelbar verbunden" (203). 
Ein grosser Fehler der Friesischen Lehre tritt hier ganz besonders 
hervor. Die Benennungsweise Kants nämlich wird ohne genügende 



424 W. Keinecke, 

Kritik überDommen und nach Belieben gebraucht. Besonders ist 
wieder die Art, wie mit dem Worte Erkenntnis gewirtschaftet 
wird, unwissenschaftlich. Und nicht genug, dass in der „mi- 
mittelbaren Erkenntnis" die Lehre yon den ideae innatae wieder 
aufgewärmt wird, muss auch Kant dabei herhalten: ^Nachdem 
Kant nachgewiesen, welche Prinzipien a priori faktisch die Ver- 
nunft besitzt (!), blieb noch die Frage zu beantworten, weshalb 
die Vernunft gerade diese und nur diese besitzt (!).** Vernunft 
ist hier anthropologisch gedacht, bei Kant dagegen objektiv : gleich 
Erfahrung, Wissenschaft. 

Abh. VI. „Über kritische Mathematik bei Platon. 
Ein Beitrag zur Ideenlehre** von Carl Brinkmann, Hier 
wird die Platonische Ideenlehre im Anschluss an die Oeschichte 
der Philosophie von J. F. SYies behandelt. 

Abh. VII. „Über den Gegenstand der Erkenntnis. 
Gegen Heinrich Rickert** von Ernst Blumenthal. In der 
Lobpreisung Fries' hat B. ganz entschieden die höchste Stufe 
menschlichen Könnens erreicht: Wenn wir die Fehler Rickerts 
verbessern, so haben wir in der Verbesserung die Friesische Lehre 
vor uns. Überhaupt alles, was alle Philosophen nach Fries und 
Apelt hervorgebracht haben — mit Ausnahme rein historischer 
Erzeugnisse —, ist überflüssig! Herr B. nimmt dabei hoffentlich 
an, dass Nelson und Mitarbeiter rein Historisches erzengt haben. 
Wollen also wir Nicbt-Friesischen nicht lieber auch alle in diesen 
philosophischen Himmel eingehen, wo Fries und Apelt thronen 
und — um die Dreieinigkeit vollzumachen — auch Kant be- 
dingungsweise zugelassen ist? Vielleicht denken einige: Lieber 
soll uns der Teufel holen. Aber sie werden wohl noch durch das 
abschreckende Beispiel des Ketzers Rickert bekehrt werden ! Der 
hat nämlich behauptet, dass sich eine Erkenntnis nach ihrem 
Gegenstande zu richten habe, um objektiv zu sein. Das hat Fries 
viel besser gewusst u. s. w. Wir kennen die Tonart schon. 

Das Problem der Erkenntnistheorie lautet nach Rickert: „Die 
Erkenntnistheorie hat die Geltung der Elrkenntnis zum Problem 
und sucht nach dem Begriff des Erkennens, der die Objektivität 
verständlich macht** (Gegenstand der Erkenntnis, S. 88). Der 
Vertreter der Friesischen Schule kritisiert: „Erkenntnis ist eine 
Tätigkeit, deren ich mir durch innere Erfahrung bewusst werde* 
(353). Dass diese Tätigkeit der Psychologie gehören soll, will 
Rickert gar nicht bezweifeln, denn er meint die Erkenntnis, zu 



Kant und Fries. 426 

der man kommen kann. Liegt darin nicht Objektivität? Er 
würde darunter z. B. den Lehrsatz des Pjrthagoras verstehen, 
nicht aber die innere Tätigkeit, durch die ein Schuljunge den Satz 
mit oder ohne Erfolg zu begreifen sucht. Was hätte nun dieser 
Lehrsatz mit der Psychologie zu thun? Wenn wir Rickert so 
nehmen, dann ist kein Qrund mehr zur Verwunderung darüber, 
dass nach ihm nur im Urteil Erkenntnis liegt, nicht in der blossen 
Vorstellung oder Empfindung. Wenn B. aber später von dem 
„Rickertschen Satz von der Identität von Urteil und Eh-kenntnis*^ 
(358) spricht — so ist das eine Übertreibung schon darum, weil 
es auch falsche Urteile giebt. Oder sollte B. Rickert wirklich den 
Glauben zumuten, es gäbe keine falschen UrteUe? B.s Aufsatz 
zeigt also wieder den alten Mangel einer Definitiou des Erkennt- 
nisbegriffes, obwohl jeder mathematische Satz einen Doppelsinn 
des Wortes „ Erkenntnis *" nahe legen musste. Die Schuld liegt 
eben in dem psychologischen Vorurteil, mit dem die Friesische 
Schule an das Problem von der Möglichkeit der Erfahrung und 
Wissenschaft herantritt. 

Mit Rücksicht auf den angeführten Grundfehler des Friesi- 
schen Systems können wir von einer noch genaueren Besprechung 
der neuen Zeitschrift absehen. Immerhin dürfte sich ergeben 
haben, dass dieser wieder auferstandene Gegner des philoso- 
phischen Kritizismus nicht so gefährlich ist, wie er selbst glaubt. 
Die „Neukantianer^ werden sich vor einem Meinungsstreit mit ihm 
nicht zu fürchten brauchen, und wenn wir in dem Kampfe ein der 
EntWickelung der Wissenschaft förderliches Element sehen, so 
können wir von diesem Heraklitischen Standpunkt aus der »neuen 
Folge*" wenigstens einen mittelbaren Nutzen nicht ableugnen. 



Neue Darstellung und Deutung der Lehre Kants 

vom Glauben. 

Von E. Sänger. 

Kants Glaube, und zwar in seinem Verhältnis zum Wissen, 
ist schon von Ernst Laas im Jahre 1882 untersucht worden (Kants 
Stellung in der Geschichte des Konflikts zwischen Glauben und 
Wissen, Berlin 1882). Dieser eingehenden, aber das Eigentümliche 
des Kantischen Glaubens nicht genug würdigenden Untersuchung 
ist im Jahre 1903 die chronologische Darstellung des Kantischen 
Glaubensbegriffes von Ernst Sänger zur Seite getreten (Kants 
Lehre vom Glauben. Leipzig 1903). 

Seitdem sind über dieselbe Frage zwei Abhandlungen e^ 
schienen. Die eine, Kants Auffassung des Verhältnisses 
von Glauben und Wissen und ihre Nachwirkung besonders 
in der neueren Theologie von Otto Richter (Programm dfts 
Kgl. Gymnasiums zu Lauban, Schuljahr 1904/5), will die chrono- 
logische Darstellung Sängers durch eine systematische Darstellung 
des Verhältnisses von Wissen und Glauben ergänzen. Die andere, 
K^nts Glaube von Gottfried Fittbogen (Protest. Monatshefte, 
herausg. von J. Websky, 10. Jahrgang, Heft 3 und 4. Berlin 
1906), macht den Versuch einer neuen Deutung des Eantischen 
Glaubens. 

Nach einer methodologischen Vorbemerkung entwickelt Richter 
das Verhältnis von Glauben und Wissen zunächst nach seinem 
Zusainmenhange innerhalb des philosophischen Systems Kants 
(S. 7 — 26). Er betont, was schon von Vaihinger (Geleitwort bei 
Sänger S. IV) hervorgehoben ist, dass das Problem von „Glauben 
und Wissen^ von Kant zum ersten Male als innerphilosophisches 
erfasst worden sei; früher fiel der Gegensatz Wissen-Glauben mit 
dem Gegensatz Vernunft-Religion, Wissenschaft-Kirche zusammen, 
während bei Kant der historische Glaube einer positiven Religion 
in das Problem als solches gamicht hineinfällt. Im Anschluss an 



Neue Darsteilong und Deutung der Lehre Kant» vom Glauben. 42? 

die Kr. d. r. V. schafft Richter zunächst den Unterbau für den 
Kantischen Glaubensbegriff, indem er den Begriff der Erfahrung, 
den Unterschied zwischen Erkennbarkeit und Denkbarkeit der 
Dinge und den Begriff des Dinges an sich klarstellt und schliesslich 
Kants Ideenlehre kurz entwickelt. Vom Übersinnlichen haben wir 
kein Wissen; die praktische Vernunft allein kann diesen Mangel 
der theoretischen ergänzen» So leitet schon die Kr. d. r. V. in 
ihrem letzten Teil, der Methodenlehre, zu der praktischen Er- 
kenntnisart über, um an Stelle des abgebrochenen ein neues Haus 
für die Metaphysik zu errichten. Hier wird gezeigt, wie sich 
theoretisches und praktisches Fürwahrhalten oder doktrinaler und 
moralischer Glaube unterscheiden. Der Glaube an das Dasein 
Gottes, die Unsterblichkeit der Seele und die Freiheit des Willens 
ist ein moralischer oder praktischer, ein freies Fürwahrhalten in 
reiner praktischer Absicht, ein Vertrauen auf die Verheissung des 
moralischen Gesetzes. In der Rel. i. d. Gr. d. bl. V. heisst dieser 
Glaube Vernunftglaube oder reiner Religionsglaube im Gegensatz 
zu den Formen des statutarischen, historischen Glaubens, die alle 
bestimmt sind, allmählich in den reinen Religions- oder Vemunft- 
glauben übergeführt zu werden. 

Das Wissen kommt der theoretischen Vernunft, das Glauben 
der praktischen Vernunft zu; Wissen und Glauben sind also zwei 
getrennte Funktionen. Trotzdem sind es nicht zwei völlig hetero- 
gene, einander ausschliessende Vorgänge des geistigen Lebens, sind 
sie doch beide demselben Oberbegriff Fürwahrhalten untergeordnet. 
Kant macht sogar Ansätze zu einer Theorie der religiösen Er- 
kenntnis, also der Vorstellungsseite des Glaubens. Die Erkenntnis 
nach Analogie giebt Verhältnisbestimmungen und Beziehungsbegriffe, 
wodurch die Ideen in wirkende Beziehung zu uns treten, z. B. Liebe 
Gottes zu den Menschen* Die sjonbolische Erkenntnis geht nur 
auf unsere Vorstellungsart von Objekten nach dem sprachlichen 
Ausdruck, nicht auf Eigenschaften der Objekte, z. B. Gott vorgestellt 
als Vater. Der analogisch -symbolische Erkenntnisprozess wird 
ermöglicht durch das Organ der Einbildungskraft. Neben den kritisch 
negierenden Gedankenreihen laufen solche, die auch den Erkenntnis- 
wert und Erkenntnisgrad der Gegenstände des Glaubens betonen. 
Der moralische und transscendentale Beweis haben neben dem 
populären physikotheologischen ähnliche Bedeutung für Kant wie 
die herkömmlichen Gottesbeweise für die Philosophen vor ihm; 
nur bleibt sich Kant bewosst, dass es nicht strenge Beweise sind. 



428 £. Sänger, 

In diesem Zusammenhange erörtert Verf. die Frage nach dem 
Wesen der Metaphysik bei Kant. Eine kritische Metaphysik moss 
mau Kant zugestehen (so schon Vaihinger). 

Nachdem Verf. so in klarer Weise das Unterscheidende und 
danach das Verbindende der beiden Funktionen Wissen und Glauben 
dargestellt hat, zieht er die praktischen Folgerungen des Kantischen 
Standpunktes in Beziehung auf Wissenschaft, Kirche und Staat 
(S. 25 — 35). Diese Folgerungen zieht Kant selbst in der BeLLd. 
Gr. d. bl. V., noch zusammenfassender im „Streit der Fakultäten''. 
Dieser letzten Schrift gilt daher der zweite Abschnitt der füchterschen 
Abhandlung. Einige Bemerkungen über die geschichtliche Ver- 
anlassung der Schrift schickt Verf. voraus und skizziert dann den 
wichtigen ersten Hauptteil derselben nach seinen Grundgedanken 
Den Grundgedanken Kants hält er für richtig; in der geschichtlichen 
Entwicklung der Mächte Glauben und Wissen findet ein Antagonis- 
mus wohl statt; dieser darf aber durch die «Kirche, den Staat und 
die Wissenschaft nicht willkürlich verschärft werden, sondern muss 
auf die unvermeidlichen Grenzen eingeschränkt werden, innerhalb 
deren er dann Mittel zu höherer Wahrheitserkenntnis wird. 

Der dritte Abschnitt der Richterschen Abhandlung erweitert 
in dankenswerter Weise den Anhang, den Sänger unter dem Titel 
„Die Einwirkung der kritischen Philosophie auf die Theologie" 
seiner Schrift angefügt hat. Richter zeigt, welch' starken und 
verschiedenen Einfluss Kant in der Folgezeit auf die Entwicklung 
der Religionsphilosophie und Theologie hatte. Nachdem er in 
ähnlicher Weise wie Sänger zunächst den Einfluss Kants auf 
Schleiermacher und Albrecht Ritschi kurz erwähnt hat, entwickelt 
er besonders Gedanken von Herrmann, R. A. Lipsius und Pfleiderer 
in ihrem Verhältnis zu Kant. Hemnann verschärft den Dualismus 
der theoretischen und praktischen Vernunft zu ausschliessender 
Trennung von theoretischem Seinsurteil und religiösem WerturteU, 
indem er sich unter völligem Verzicht auf die Metaphysik an den 
Moralisten und Skeptiker Kant hält. Lipsius hält diese Scheidung 
für unmöglich in Rücksicht auf die theoretischen Bestandteile jedes 
religiösen Werturteils. Er fordert Metaphysik zur Bildung eines 
logische und ethische Werte, sinnliche und übersinnliche Er 
fahrung umfassenden einheitlichen Weltbildes und wird nach Kants 
Vorgang der typische Vertreter eines religiösen Symbolismus. 
Pfleiderer assimiliert sich die rationalistisch-monistischen Elemente 
Kants, wie er auch den analogisch-symbolischen Charakter der 



Neue Darstellang und Deatong der Lehre Kants vom Glauben. 42d 

religiösen Aassage betont, kommt aber im übrigen von Hegeischen 
Voraussetzungen zu dem Real-Idealismus, durch den nach seiner 
Meinung Kant fortleben wird. Im Anschluss hieran setzt sich Verf. 
noch auseinander mit den Ansichten von Beischle (Werturteile und 
Glaubensurteile, Halle 1900), F. R. Lipsius (Die Vorfragen der 
systematischen Theologie, Freiburg 1899), Wobbermin (Theologie 
und Metaphysik, Berlin 1901), Lüdemann (Erkenntnistheorie und 
Theologie in den Protest. Monatsh. 1897 I und 1898 II), TrOltsch 
(Zeitschr. f. Theol. u. Kirche 1895 u. 1896), Höffding (keligions- 
philosophie, 1901), K Adickes (Wissen u. Glauben, Deutsche Rund- 
schau 1898), Th. Ziegler (Glauben u. Wissen, Rektoratsrede, Strassb. 
1900), L. Busse (Die Bedeutung der Metaphjrsik für Philosophie 
u. Theologie, Zeitschr. f. Philos. und philos. Kritik 1898), Volkelt 
(Vorträge zur Elinführung in die Philosophie der Gegenwart 1891) 
und schliesslich Wandt (System der Philosophie, Einleitung in die 
Philosophie, Ethik). Die Ansichten der Genannten im einzelnen 
anzuführen, würde zu weit führen. Ich verweise hier auf Richter 
selbst. Seine ganze Abhandlung ist mit grosser Klarheit und 
Sorgfalt abgefasst. Wer in die genetische Entwicklung des 
Kantischen Glaubensbegriffes einen Einblick gewinnen will, wird 
die oben genannte Schrift des Berichterstatters zur Hand nehmen 
müssen, wer aber die Kantische Glaubenslehre als systematisches 
Ganze kennen lernen will, wird an Richters Abhandlung eine 
vorzügliche Orientierung finden. 

Giebt uns Richter eine neae Darstellung des Kantischen 
Glaubens, so versacht Gottfried Fitt bogen eine neue Deutung 
desselben. Bisher nahm man im allgemeinen an, dass die Rel. i. 
d. Gr. d. bl. V. nicht aus sich selbst verständlich und ein Kon- 
glomerat aus vier Aufsätzen, keine organische Einheit sei; femer, 
dass sie Kompromisscharakter trage und nicht Kants eigentliche 
Meinung enthalte, oder dass sie nur einen geringen Teil von 
Kants Religionsphilosophie biete. Demgegenüber stellt Fittbogen 
folgende Thesen zur Diskussion: 

1. Die Rel. i. d. Gr. d. bl. V. ist aus sich selbst verständ- 
lich. Für die Richtigkeit dieser Worte scheinen auch mir Kants 
eigene Worte massgebend zu sein, obwohl sich diese erst in der 
Vorrede zur zweiten Ausgabe der Rel. i. d. Gr. d. bl. V. finden: 
„Es bedarf, um diese Schrift ihrem wesentlichen Inhalte nach zu 
verstehen, nar der gemeinen Moral, ohne sich aaf die Kritik der 

Kaototudlto XII. 28 



4d0 E. Sänger, 

praktischen Vernunft, noch weniger aber der theoretischen ein- 
zulassen.'' 

2. Die Schrift ist eine organische Einheit. Kant spricht 
selbst am Schluss der ersten Vorrede davon, dass die 4 Stücke 
der Schrift innerlich zusammenhängen, insofern die drei letzten 
Stücke „die völlige Ausführung des ersten enthalten''. 

3. Der Abschnitt UI, 1, 6 „der Eirchenglaube hat za 
seinem höchsten Ausleger den reinen Religionsglauben'' enthält 
den Schlüssel zum Verständnis der Schrift. Kant will das dog- 
matische Christentum nicht schützen, sondern ersetzen. Kants 
Streben geht also nicht darauf, eine Koalition von Vemnnftreligion 
und Christentum herbeizuführen; lediglich als Hilfsmittel zur In- 
troduktion des reinen Vemunftglaubens verwendet er die christ- 
lichen Dogmen. Ich habe bei erneutem Durchlesen dieses Ab- 
schnittes der Rel. i. d. Gr. d. bl. V. nichts gefunden, was gegen 
des Verf. Meinung spricht. Nur ist mir nicht klar, weshalb Verf. 
nicht auch die folgenden Abschnitte zum Beweise herangezogen 
hat. So besonders den Abschnitt von dem allmählichen Übergang 
des reinen Religions- oder Vemunftglaubens als der Annäherung 
des Reiches Gottes. Hier sagt Kant deutlich, dass der historische 
Kirchenglaube nur partikuläre Gültigkeit hat und mit dem Merk- 
mal der Zufälligkeit verknüpft ist, während der reine Religions- 
glaube notwendig und allgemein und der einzige ist, der die wahre 
Kirche auszeichnet. Kant vergleicht in demselben Zusammenbange 
den Kirchenglauben mit der streitenden, den Vemunftglauben mit 
der triumphierenden Kirche. Gedanken gleichen Inhalts kehren 
auch sonst noch wieder. 

4. Kants briefliche Äusserungen bestätigen obige Behaup- 
tungen. Verf. zieht hier zur Bestätigung der dritten These die 
offizielle Antwort an den König (in der Vorrede zum „Streit der 
Fakultäten'') und den Brief an Stäudlin vom 4. Mai 1793 heran. 

5. Die Schrift enthält Kants Religionslehre vollständig; 
sie lässt sich auf zwei Fundamentalsätze zurückführen: sie ist 
ein Glaube an den Sieg des Guten im Einzelnen, und sie ist ein 
Glaube an den Sieg des Guten in der Gesamtheit und zwar beides 
hier auf Erden. Man muss dem Verf. zugestehen, dass seine 
Ausführungen in diesem Punkte von Scharfsinn und Qeschick 
zeugen. 

Die Richtigkeit der fünften These hängt von der BeantwiNTtODg 
der sechsten und letzten These ab. Diese lautet: 



Neue Darstellung und Deutuhg der Lehfe Kant» voin Glauben. 431 

6. Gott und Unsterblichkeit f asst Kant nicht als transscendente, 
sondern als immanente Grössen auf. Verf. meint, es seien keine 
Hauptstücke in Kants Religionslehre; es seien weiter nichts wie 
praktische Vernunftideen, die dem Menschen moralische Aufgaben 
stellen. Deshalb spielten sie keine Rolle in Kants Religionslehre. 
Stimmt das, so stimmt auch die fünfte These, andernfalls enthält die 
Rel. i. d. Gr. d. bl. V. Kants Religionslehre unvollständig. Ist der 
Gott, an den Kant glaubt, keine reale Grösse, sondern bloss der y,Gotty 
der dir im Busen gebeut" ? Ist die Unsterblichkeit füi* Kant bloss 
eine unentbehrliche Vemunftidee, oder erwächst ihm daraus der 
Glaube an ein zukünftiges Leben? Kant hat es in dieser Be- 
ziehung an Unklarheit nicht fehlen lassen. Vielfach scheinen Gott 
und ein zukünftiges Leben transscendente Grössen für ihn zu sein, 
nicht blosse praktische Vernunftideen. Den Pflichten der Moral, 
sagt Kant in seinen Vorlesungen über die philosophische Religions- 
lehre (Pölitz S. 142), würden alle Triebfedern fehlen, „wofern kein 
Gott und keine zukünftige Welt wäre". Diesem Gott legt Kant 
die Eigenschaften der Allwissenheit, Allmacht u. s. w. bei (ebenda 
S. 34 und an vielen Stellen anderer Schriften). Danach scheint er 
an eine transscendente Grösse zu denken. Hätten wir, sagt 
er ebenda S. 161, ein wirkliches Erfahrungswissen von Gott, so 
würden an die Stelle der moralischen Beweggründe zum Handeln 
Hoffnung auf Belohnung und Furcht vor Strafe treten ; der Mensch 
würde aus sinnlichen Antrieben tugendhaft sein. Zweifellos hat 
Kant auch hier einen transscendenten Gott im Auge. Wie wenig 
bestimmt Kant aber ist, geht daraus hervor, dass er den Ausdruck 
„zukünftiges Leben "" bald darauf durch den Ausdruck „moralische 
Welt" ersetzt. Als die „drei Artikel des moralischen Glaubens" 
bezeichnet er nämlich „Gott, Freiheit des menschlichen Willens 
und eine moralische Welt", sodass es näher liegt, hier eine imma- 
nente Grösse anzunehmen, besonders wenn man den dritten „Artikel 
des Bekenntnisses der reinen praktischen Vernunft" in der Schrift: 
„Welches sind die wirklichen Fortschritte. . . .?" danebenhält: 
„Ich glaube an ein künftiges ewiges Leben als der Bedingung 
einer immerwährenden Annäherung der Welt zum höchsten in ihr 
möglichen Gut." — Es ist durchaus verdienstlich vom Verf., alle 
diese Fragen aufgeworfen zu haben, und zu wünschen, dass sie 
eine lebhafte Diskussion wachrufen. 



^ 



£ine neue Ausgabe der Werke Nietzsches.'^ 

Angezeigt von Bruno Bauch. 

Die unermüdliche Tätigkeit, mit der sich die Liebe and Pietät der 
Schwester Nietzsches in den Dienst des Werkes ihres Bruders stellt, hat 
uns bereits eine grosse Gesamtausgabe in zwei verschiedenen Formen 
bescheert. Zu dieser gesellt sich jetzt würdig eine neue als „Taschen- 
ausgabe^ bezeichnete Ausgabe. 

Keine der beiden Ausgaben macht die andere entbehrlich und fiber- 
flüssig, vielmehr ergänzen sich beide aufs best<e. Hatte die erste den 
Stoff in die von Nietzsche selbst veröffentlichten Werke und in den Nach- 
lass eingeteilt und unter diesem Einteilungsprinzip die Anordnung bewerk- 
stelligt, so ist in der neuen Taschenausgabe bei der Anordnung der Schriften 
der Schwerpunkt auf die chronologische Abfolge gelegt. Hat die erste 
Gesamtausgabe somit den Vorzug und den Zweck, »dass*, wie Frau EHisabeth 
Förster-Nietzsche in dem über die Absicht d^r neuen Taschenausgabe wohl 
unterrichtenden und diese durchaus begründenden Vorwort sagt, „sich die 
von dem Autor selbst in den Druck gegebenen Werke von dem Unvollendeten 
und Halbvollendeten der Nachlassschriften scharf abheben sollen'', so bietet 
die neue Ausgabe mit ihrer chronologischen Reihenfolge den ungemein 
bedeutsamen Vorteil: „die Gesamtentwickelung des Autors von seinem 
Amtsantritt an der Universität Basel, Ostern 1869, bis zu seiner Erkrankung 
in Turin, Januar 1889, uns ohne allzugrosse Mühe deutlich vor Augen zn 
führen, indem sie alle von dem Autor selbst veröffentlichten Werke und 
die unveröffentlichten Schriften des Nachlasses Schritt ftlr Schritt nach- 
einander und nebeneinander bringt.^ l^Yeilich musste, wie die Heraus- 
geberin bekennt, „von dem Formlosen und Skizzenhaften'^ manches we^ 
gelassen werden. Allein das beeinträchtigt den Wert dieser neuen Ausgabe 
deswegen nicht, weil sie aus dem Nachlass „nur das weglässt, was für das 
Verständnis der Philosophie des Autors und seiner Entwickelung nicht 
unbedingt notwendig erscheint^. Im übrigen ist dem Nachlass in der 
neuen Ausgabe, die im ganzen sich fast auf 360 Bogen belauft, indem sie 
zehn Bände von je mehr als 30 Bogen umfasst, so sehr der gebührende 
Platz eingeräumt worden, dass in der Tat nichts Wesentliches zurück- 
gehalten zu sein scheint. Dass der Nachlass jeweils als solcher gekenn- 
zeichnet ist, und dass dadurch auch für den über Nietzsches G^anken- 



^) Nietzsches Werke. Taschen-Ausgabe. Leipzig, C. G. Naumanns 
Verlag. 1906. 10 Bände von je 30 bis 34 Bogen. 



Eine neue Ausgabe der Werke Nietzsches. 433 

entwickelung noch nicht Informierten jede Möglichkeit der Verwirrung 
ausgeschlossen ist, versteht sich bei der pietätvollen Behandlung, die Frau 
Förster-Nietzsche den Werken ihres Bruders angedeihen Iftsst, ' von selbst. 

Was nun den Inhalt der zehn Bände anlangt, so giebt der erste die 
Abhandlung über „Homer und die klassische Philologie^ die 
„Geburt der Tragödie^ und eine Reihe von Nachlassschriften, die sich 
zum Teil auf das Grichentum, auf Musik, die Schopenhauersche Philosophie 
beziehen, oder, wie der Au&atz „Über die Zukunft unserer Bildungs- 
anstalten* pädagogischen, oder, wie die Abhandlung „über Wahrheit 
und Lüge im aussermoralischen Sinn^ kulturpsychologischen 
Inhaltes sind. 

Der zweite Band enthält zuerst die drei „unzeitgemässen Be- 
trachtungen" über Strauss .die „Historie", Schopenhauer. An sie 
schliesst sich die grössere Nachlassschrift ),Wir Philologen" an, auf die 
die vierte unzeitgemässe Betrachtung über „Richard Wagner in 
Bayreuth" folgt. 

Der dritte Band enthält die erste Abteilung von „Menschliches, 
Allzumenschliches", und aus dem Nachlass „Einzelne Bemerkungen 
über Kultur, Staat und Erziehung". Der zweite Teil von „Mensch- 
liches, Allzumenschliches" folgt im vierten Bande, der ausserdem aus 
dem Nachlass drei für die Entwickelung des Verhältnisses zu Wagner sehr 
instruktive Abhandlungen bringt. 

Im fünften Bande folgt die „Morgenröte" und aus dem Nachlass 
die kulturphilosophische Abhandlung „Blicke in die Gegenwart und 
Zukunft der Völker". 

Der sechste Band bringt zunächst aus dem Nachlass tßie ewige 
Wiederkunft". Auf sie folgt „Die fröhliche Wissenschaft" mit 
ihrem „Anhang: Lieder des Prinzen Vogelfrei" und den dazu 
gehörigen y^^gistern". Daran schliessen sich wieder aus dem Nachlass 
die in „Lieder" und „Sinnsprüche" eingeteilten „Dichtungen" an, 
denen abermals ein genaues Register beigegeben ist. 

Im siebenden Band erhalten wir die grosse Zarathustra-Dichtong 
mit den aus den Nachlass herausgegebenen „Aufzeichnungen zur 
Erklärung von Also sprach Zarathustra". 

Der achte Band enthält „Jenseits von Gut und Böse" und „Zur 
Genealogie der Moral", sowie Aufzeichnungen aus dem Nachlass „Zu 
Völker und Vaterländer^^ Der neunte und der zehnte Band endlich 
bringen das Werk, in dessen Problemkreis auch „Jenseits von Gut und 
Böse" sowie die „Genealogie der Moral" stehen, den „Willen zur 
Macht". Den Schluss bilden die „Götzendämmerung'S der „Anti- 
christ" und die „Dionysos-Dithyramben". 

Ein ganz ausführliches und ins Einzelne gehendes Verzeichnis des 
hier nur allgemein angegebenen Inhaltes bietet ebenfalls noch der letzte 
(zehnte) Band. 

Wir haben damit einen allgemeinen Überblick über die Anordnung 
des Inhaltes der Neuausgabe, soweit jene sich auf Nietzsche selbst bezieht. 
Der Wert der Ausgabe ist aber noch nicht in der sehr zweckvollen 
chronologischen Anordnung allein erschöpft, er wird auch nicht bloss 



Neue Darstellung und Deutung der Lehre Kants 

vom Glauben. 

Von E. Sänger. 

Kants Glaube, und zwar in seinem Verhältnis zum Wissen, 
ist schon von Ernst Laas im Jahre 1882 untersucht worden (Kants 
Stellung in der Geschichte des Konflikts zwischen Glauben und 
Wissen, Berlin 1882). Dieser eingehenden, aber das Eigentümliche 
des Kantischen Glaubens nicht genug würdigenden Untersuchung 
ist im Jahre 1903 die chronologische Darstellung des Kantischen 
Glaubensbegriffes von Ernst Sänger zur Seite getreten (Kants 
Lehre vom Glauben. Leipzig 1903). 

Seitdem sind über dieselbe Frage zwei Abhandlungen er- 
schienen. Die eine, Kants Auffassung des Verhältnisses 
von Glauben und Wissen und ihre Nachwirkung besonders 
in der neueren Theologie von Otto Richter (Programm des 
Kgl. Gymnasiums zu Lauban, Schuljahr 1904/5), will die chrono- 
logische Darstellung Sängers durch eine systematische Darstellung 
des Verhältnisses von Wissen und Glauben ergänzen. Die andere, 
K^nts Glaube von Gottfried Fittbogen (Protest. Monatshefte, 
herausg. von J. Websky, 10. Jahrgang, Heft 3 und 4. Beriin 
1906), macht den Versuch einer neuen Deutung des Kantischeo 
Glaubens. 

Nach einer methodologischen Vorbemerkung entwickelt Richter 
das Verhältnis von Glauben und Wissen zunächst nach seinem 
Zusammenhange innerhalb des philosophischen Systems Kants 
(S. 7 — 25). Er betont, was schon von Vaihinger (Geleitwort bei 
Sänger S. FV) hervorgehoben ist, dass das Problem von „Glauba 
und Wissen^ von Kant zum ersten Male als innerphilosophisches 
erfasst worden sei; früher fiel der Gegensatz Wissen-Olauben mit 
dem Gegensatz Vernunft-Religion, Wissenschaft-Kirche znsamm^, 
während bei Kant der historische Glaube einer positiven BeligioD 
in das Problem als solches gamicht hineinfällt. Im Anschluss an 



Nene Dantellnng und Deutung der Lehre Kant» vom Glauben. 42? 

die Er. d. r. V. schafft Richter zunächst den Unterbau für den 
Kantischen Olaubensbegriff, indem er den Begriff der Erfahrung, 
den Unterschied zwischen Erkennbarkeit und Denkbarkeit der 
Dinge und den Begriff des Dinges an sich klarstellt und schliesslich 
Kants Ideenlehre kurz entwickelt. Vom Übersinnlichen haben wir 
kein Wissen; die praktische Vernunft allein kann diesen Mangel 
der theoretischen ergänzen. So leitet schon die Kr. d. r. V. in 
ihrem letzten Teil, der Methodenlehre, zu der praktischen Er- 
kenntnisart über, um an Stelle des abgebrochenen ein neues Haus 
für die Metaphysik zu errichten. Hier wird gezeigt, wie sich 
theoretisches und praktisches Fürwahrhalten oder doktrinaler und 
moralischer Glaube unterscheiden. Der Glaube an das Dasein 
Gottes, die Unsterblichkeit der Seele und die Freiheit des Willens 
ist ein moralischer oder praktischer, ein freies Fürwahrhalten in 
reiner praktischer Absicht, ein Vertrauen auf die Verheissung des 
moralischen Gesetzes. In der Rel. i. d. Gr. d. bl. V. heisst dieser 
Glaube Vernuuftglaube oder reiner Religionsglaube im Gegensatz 
zu den Formen des statutarischen, historischen Glaubens, die alle 
bestimmt sind, allmählich in den reinen Religions- oder Vemunft- 
glauben übergeführt zu werden. 

Das Wissen kommt der theoretischen Vernunft, das Glauben 
der praktischen Vernunft zu; Wissen und Glauben sind also zwei 
getrennte Funktionen. Trotzdem sind es nicht zwei völlig hetero- 
gene, einander ausschliessende Vorgänge des geistigen Lebens, sind 
sie doch beide demselben Oberbegriff Fürwahrhalten untergeordnet. 
Kant macht sogar Ansätze zu einer Theorie der religiösen Er- 
kenntnis, also der Vorstellungsseite des Glaubens. Die Erkenntnis 
nach Analogie giebt Verhältnisbestimmungen und Beziehungsbegriffe, 
wodurch die Ideen in wirkende Beziehung zu uns treten, z. B. Liebe 
Gottes zu den Menschen. Die symbolische Erkenntnis geht nur 
auf unsere Vorstellungsart von Objekten nach dem sprachlichen 
Ausdruck, nicht auf Eigenschaften der Objekte, z. B. Gott vorgestellt 
als Vater. Der analogisch -symbolische EIrkenntnisprozess wird 
ermöglicht durch das Organ der Einbildungskraft. Neben den kritisch 
negierenden Gedankenreihen laufen solche, die auch den Erkenntnis- 
wert und Erkenntnisgrad der Gegenstände des Glaubens betonen. 
Der moralische und transscendentale Beweis haben neben dem 
populären physikotheologischen ähnliche Bedeutung für Kant wie 
die herkömmlichen Gottesbeweise für die Philosophen vor ihm; 
nur bleibt sich Kant bewusst, dass es nicht strenge Beweise sind. 



428 E. Sänger, 

In diesem Zusammenhange eröitert Verf. die Frage nach dem 
Wesen der Metaphysik bei Kant. Eine kritische Metaphysik muss 
mau Kant zugestehen (so schon Vaihinger). 

Nachdem Verf. so in klarer Weise das Unterscheidende und 
danach das Verbindende der beiden Funktionen Wissen und Glauben 
dargestellt hat, zieht er die praktischen Folgerungen des Eantischen 
Standpunktes in Beziehung auf Wissenschaft, Kirche und Staat 
(S. 25 — 35). Diese Folgerungen zieht Kant selbst in der Eel. i, d. 
Gr. d. bl. V., noch zusammenfassender im „Streit der Fakultäten". 
Dieser letzten Schrift gilt daher der zweite Abschnitt der Richterschen 
Abhandlung. Einige Bemerkungen über die geschichtliche Ver- 
anlassung der Schrift schickt Verf. voraus und skizziert dann den 
wichtigen ersten Hauptteil derselben nach seinen Grundgedanken. 
Den Grundgedanken Kants hält er für richtig; in der geschichtlichen 
Entwicklung der Mächte Glauben und Wissen findet ein Antagonis- 
mus wohl statt; dieser darf aber durch die iKirche, den Staat und 
die Wissenschaft nicht willkürlich verschärft werden, sondern muss 
auf die unvermeidlichen Grenzen eingeschränkt werden, innerhalb 
deren er dann Mittel zu höherer Wahrheitserkenntnis wird. 

Der dritte Abschnitt der Richterschen Abhandlung erweitert 
in dankenswerter Weise den Anhang, den Sänger unter dem Titel 
„Die Einwirkung der kritischen Philosophie auf die Theologie* 
seiner Schrift angefügt hat. Richter zeigt, welch* starken und 
verschiedenen Einfluss Kant in der Folgezeit auf die Entwicklung 
der Religionsphilosophie und Theologie hatte. Nachdem er in 
ähnlicher Weise wie Sänger zunächst den Elinfluss Kants aof 
Schleiermacher und Albrecht Ritschi kurz erwähnt hat, entwickelt 
er besonders Gedanken von Herrmann, R. A. Lipsius und Pfleiderer 
in ihrem Verhältnis zu Kant. Hemnann verschärft den Dualismas 
der theoretischen und praktischen Vernunft zu ausschliessender 
Trennung von theoretischem Seinsurteil und religiösem Werturteil, 
indem er sich unter völligem Verzicht auf die Metaphysik an den 
Moralisten und Skeptiker Kant hält. Ldpsius hält diese Scheidung 
für unmöglich in Rücksicht auf die theoretischen Bestandteile jedes 
religiösen Werturteils. Er fordert Metaphysik zur Bildung eines 
logische und ethische Werte, sinnliche und übersinnliche & 
fahrung umfassenden einheitlichen Weltbildes und wird nach Kants 
Vorgang der typische Vertreter eines religiösen Symbolismos. 
Pfleiderer assimiliert sich die rationalistisch-monistischen Elemente 
Kants, wie er auch den analogisch-symbolischen Charakter i& 



Nene Darstellung nnd Deutung der Lehre Kants vom Glauben. 4^9 

religiösen Aussage betont, kommt aber im übrigen von Hegeischen 
Voraussetzungen zu dem Real-Idealismus, durch den nach seiner 
Meinung Kant fortleben wird. Im Anschluss hieran setzt sich Verf. 
noch auseinander mit den Ansichten von Reischle (Werturteile und 
Glaubensurteile, Halle 1900), F. R. Lipsius (Die Vorfragen der 
systematischen Theologie, Freiburg 1899), Wobbermin (Theologie 
und Metaphysik, Berlin 1901), Lüdemann (Erkenntnistheorie und 
Theologie in den Protest. Monatsh. 1897 I und 1898 H), Tröltsch 
(Zeitschr. f. Theol. u. Kirche 1895 u. 1896), Höffding (Religions- 
philosophie, 1901), K Adickes (Wissen u. Glauben, Deutsche Rund- 
schau 1898), Th. Ziegler (Glauben u. Wissen, Rektoratsrede, Strassb. 
1900), L. Busse (Die Bedeutung der Metaphysik für Philosophie 
u. Theologie, Zeitschr. f. Philos. und philos. Kritik 1898), Volkelt 
(Vorträge zur Einführung in die Philosophie der Gegenwart 1891) 
und schliesslich Wundt (System der Philosophie, Einleitung in die 
Philosophie, Ethik). Die Ansichten der Genannten im einzelnen 
anzuführen, würde zu weit führen. Ich verweise hier auf Richter 
selbst. Seine ganze Abhandlung ist mit grosser Klarheit und 
Sorgfalt abgefasst. Wer in die genetische Entwicklung des 
Kantischen Glaubensbegriffes einen Einblick gewinnen will, wird 
die oben genannte Schrift des Berichterstatters zur Hand nehmen 
müssen, wer aber die Kantische Glaubenslehre als systematisches 
Ganze kennen lernen will, wird an Richters Abhandlung eine 
vorzügliche Orientierung finden. 

Giebt uns Richter eine neue Darstellung des Kantischen 
Glaubens, so versucht Gottfried Fittbogen eine neue Deutung 
desselben. Bisher nahm man im allgemeinen an, dass die Rel. i. 
d. Gr. d. bl. V. nicht aus sich selbst verständlich und ein Kon- 
glomerat aus vier Aufsätzen, keine organische Einheit sei; femer, 
dass sie Kompromisscharakter trage und nicht Kants eigentliche 
Meinung enthalte, oder dass sie nur einen geringen Teil von 
Kants Religionsphilosophie biete. Demgegenüber stellt Fittbogen 
folgende Thesen zur Diskussion: 

1. Die Rel. i. d. Gr. d. bl. V. ist aus sich selbst verständ- 
lich. Für die Richtigkeit dieser Worte scheinen auch mir Kants 
eigene Worte massgebend zu sein, obwohl sich diese erst in der 
Vorrede zur zweiten Ausgabe der Rel. i. d. Gr. d. bl. V. finden: 
„Es bedarf, um diese Schrift ihrem wesentlichen Inhalte nach zu 
verstehen, nur der gemeinen Moral, ohne sich auf die Kritik der 

KftiitotiuUto XII. 28 



4dO E. Sänger, 

praktischen Veraunft, noch weniger aber der theoretischen ein- 
zulassen.'' 

2. Die Schrift ist eine organische Einheit. Kant spricht 
selbst am Schluss der ersten Vorrede davon, dass die 4 Stücke 
der Schrift innerlich zusammenhängen, insofern die drei letzten 
Stücke „die völlige Ausführung des ersten enthalten". 

3. Der Abschnitt III, 1, 6 „der Kirchenglaube hat zn 
seinem höchsten Ausleger den reinen Religionsglauben*' enthält 
den Schlüssel zum Verständnis der Schrift. Kant will das dog- 
matische Christentum nicht schützen, sondern ersetzen. Kants 
Streben geht also nicht darauf, eine Koalition von Vemunftreligion 
und Christentum herbeizuführen; lediglich als Hilfemittel zur In- 
troduktion des reinen Vemunftglaubens verwendet er die christ- 
lichen Dogmen. Ich habe bei erneutem Durchlesen dieses Ab- 
schnittes der Rel. i. d. Gr. d, bl. V. nichts gefunden, was gegen 
des Verf. Meinung spricht. Nur ist mir nicht klar, weshalb Verf. 
nicht auch die folgenden Abschnitte zum Beweise herangezogen 
hat. So besonders den Abschnitt von dem allmählichen Übergang 
des reinen Eeligions- oder Vernunftglaubens als der Annäherung 
des Eeiches Gottes. Hier sagt Kant deutlich, dass der historische 
Kirchenglaube nur partikuläre Gültigkeit hat und mit dem Merk- 
mal der Zufälligkeit verknüpft ist, während der reine Religions- 
glaube notwendig und allgemein und der einzige ist, der die wahre 
Kirche auszeichnet. Kant vergleicht in demselben Zusammenhange 
den Kirchenglauben mit der streitenden, den Vemunftglauben mit 
der triumphierenden Kirche. Gedanken gleichen Inhalts kehren 
auch sonst noch wieder. 

4. Kants briefliche Äusserungen bestätigen obige Behaup- 
tungen. Verf. zieht hier zur Bestätigung der dritten These die 
offizielle Antwort an den König (in der Vorrede zum „Streit der 
Fakultäten") und den Brief an Stäudlin vom 4. Mai 1793 heran. 

5. Die Schrift enthält Kants Religionslehre vollständig; 
sie lässt sich auf zwei Fundamentalsätze zurückführen: sie ist 
ein Glaube an den Sieg des Guten im Einzelnen, und sie ist ein 
Glaube an den Sieg des Guten in der Gesamtheit und zwar beides 
hier auf Erden. Man muss dem Verf. zugestehen, dass seine 
Ausführungen in diesem Punkte von Scharfisinn und Geschick 
zeugen. 

Die Kichtigkeit der fünften These hängt von der Beantwortung 
der sechsten und letzten These ab. Diese lautet: 



Neue Darstellung und Deutuhg der Lehre Kant» voin Ölauben. 431 

6. Gott und Unsterblichkeit fasst Kant nicht als transscendente, 
sondern als immanente Grössen auf. Verf. meint, es seien keine 
Hauptstücke in Kants Religionslehre; es seien weiter nichts wie 
praktische Vernunftideen, die dem Menschen moralische Aufgaben 
stellen. Deshalb spielten sie keine Rolle in Kants Religionslehre. 
Stimmt das, so stimmt auch die fünfte These, andernfalls enthält die 
Rel. i. d. Gr. d. bl. V. Kants Religionslehre unvollständig. Ist der 
Gott, an den Kant glaubt, keine reale Grösse, sondern bloss der y,Gotty 
der dir im Busen gebeut" ? Ist die Unsterblichkeit füi* Kant bloss 
eine unentbehrliche Vemunftidee, oder erwächst ihm daraus der 
Glaube an ein zukünftiges Leben? Kant hat es in dieser Be- 
ziehung an Unklarheit nicht fehlen lassen. Vielfach scheinen Gott 
und ein zukünftiges Leben transscendente Grössen für ihn zu sein, 
nicht blosse praktische Vernunftideen. Den Pflichten der Moral, 
sagt Kant in seinen Vorlesungen über die philosophische Religions- 
lehre (Pölitz S. 142), würden alle Triebfedern fehlen, „wofern kein 
Gott und keine zukünftige Welt wäre". Diesem Gott legt Kant 
die Eigenschaften der Allwissenheit, Allmacht u. s. w. bei (ebenda 
S. 34 und an vielen Stellen anderer Schriften). Danach scheint er 
an eine transscendente Grösse zu denken. Hätten wir, sagt 
er ebenda S. 161, ein wirkliches Erfahrungswissen von Gott, so 
würden an die Stelle der moralischen Beweggründe zum Handeln 
Hoffnung auf Belohnung und Furcht vor Strafe treten ; der Mensch 
würde aus sinnlichen Antrieben tugendhaft sein. Zweifellos hat 
Kant auch hier einen transscendenten Gott im Auge. Wie wenig 
bestimmt Kant aber ist, geht daraus hervor, dass er den Ausdruck 
„zukünftiges Leben*" bald darauf durch den Ausdruck „moralische 
Welt" ersetzt. Als die „drei Artikel des moralischen Glaubens" 
bezeichnet er nämlich „Gott, Freiheit des menschlichen Willens 
und eine moralische Welt"", sodass es näher liegt, hier eine imma- 
nente Grösse anzunehmen, besonders wenn man den dritten „Artikel 
des Bekenntnisses der reinen praktischen Vernunft" in der Schrift: 
„Welches sind die wirklichen Fortschritte. . . .?" danebenhält: 
„Ich glaube an ein künftiges ewiges Leben als der Bedingung 
einer immerwährenden Annäherung der Welt zum höchsten in ihr 
möglichen Gut." — Es ist durchaus verdienstlich vom Verf., alle 
diese Fragen aufgeworfen zu haben, und zu wünschen, dass sie 
eine lebhafte Diskussion wachrufen. 



28* 



448 Ilecensionen (Böhm). 

Nachdenken gekommen. Die empiristische Lösung des Problems aber als 
ein Aufgeben des Dogmatismus zu bezeichnen, scheint mir gezwungen, 
denn die Einschränkung unserer Erkenntnis auf die „Erscheinungswelt*^ ist 
das Resultat, nicht der Ausgangspunkt der Kritik des Erkenntnisvermö^eDs. 
Weiter: Sollte wirklich die Uebertragung des Begriffes der negativen 
Grössen auf die Wirklichkeitsbetrachtung Kant darauf aufmerksam gemacht 
haben, dass Ursache und Wirkung in der Natur nicht in einem rein formal- 
logisch zu erschöpfenden Verhältnis stehen? Es scheint mir doch wahrschein- 
licher, dass ihm erst dieser prinzipielle Unterschied klar ^ewrorden ist und 
sich ihm dann zur Kennzeichnung des fraglichen Verhältnisses die Analogie 
mit dem Verhältnis des Positiven und Ne^tiven aus der Mathematik (ur- 
geboten hat. Das Zwischenglied mag dabei der Gedanke an die anziehenden 
und abstossenden Kräfte in der Natur abgegeben haben. 

Wenn die Position der ,,negativen Grössen** von Hume abhängig ist, 
warum hat Kant dann Hume nicht erwähnt oder citiert? Man wird hier 
berücksichtigen müssen, dass die kleine Schrift ja gar nicht die Absicht 
hat, das eigentliche Problem Humes zu behandeln. Hume stellt die Frage: 
Mit welchem Recht behaupten wir, dass es so etwas, wie Ursache und 
Wirkung in der Welt giebt? und er antwortet: Theoretisch mit gar keioem, 
denn logisch lässt sich nicht begründen, dass, weil die Ursache a, darum 
auch die Wirkung b ist. In diesem skeptischen Resultat nun ist Kant 
„weit entfernt, I&me Gehör zu geben", es folgt für ihn daraus nur, dass 
es letzte Begriffe und Grundsätze geben muss, die sich nicht auf den Satz 
des Widerspruchs gründen lassen. Diese unerweislichen Sätze und unauf- 
löslichen Begriffe vollständig darzusteUen und zu analysieren, erscheint 
ihm als eine grundlegende Aufgabe der Metaphysik, die er sich für später 
vorbehält. Der Versuch über die negativen Grössen aber erfüllt nur die 
Nebenabsicht, die sich ihm aufdrängende Verwandtschaft der entdeckten 
Realrepugnanz mit der Beziehung der negativen und positiven Grössen 
darzulegen und so einen Beitrag zum Verhältnis von Mathematik und 
Philosophie zu liefern, das ihn, darin werden wir Böhm beipflichten müssen, 
schon länger interessierte. Dass Crusius von Kant citiert wird, erklärt sich 
ungezwungen aus zwei Momenten: Erstens hat sich Crusius gerade in der 
mathematisch-physikalischen Frage, die das eigentliche Thema der Schrift 
bildet, ge^en Newton gewandt, worauf die erste Erwähnung Bezug nimmt, 
zweitens Hegt es Kant daran, die hier gemachte Unterscheidung von causa 
und ratio in ihrer ganzen Schärfe hervortreten zu lassen, weshalb er 
„gelegentlich anmerkt^, dass man sie nicht mit dem von Crusius ge- 
machten Unterschied des Ideal- und Realgrundes verwechseln dürfte. 

Endlich hebt Böhm hervor, dass Kant in den „negativen Grössen*' 
deutlich bekunde, ein anderer Lösungsversuch des Dilemmas sei ihm un- 
bekannt: „Wie etwas aus etwas Anderem, aber nicht nach der Regel der 
Identität fliesse, das ist etwas, welches ich mir gerne möchte erklären 
lassen .... man versuche nun, ob man etwas mehr sagen könne, als ... . 
dass es nicht durch den Satz des Widerspruches gesehene. <^ So hätte Kant 
nicht sprechen können, meint Böhm, wenn er Humes Lösungsversnch 

fekannt hätte. Aber in Kants Sinne hat Hume gar keinen „Lösongsversuch^ 
er Frage gegeben. Er hat im Gegenteil erklärt: es ist schlechterdings 
unmöglich, dass die Wirkung aus der Ursache „fliesst'', d. h. logisch daraas 
abzuleiten ist, weshalb er diese ganze Frage beiseite geschoben und sich 
nur noch bemüht hat, die logisch überhaupt nicht zu rechtfertigende An- 
wendung des Kausalbegriffes nur noch selbst psycholo^ch- kausal zu 
erklären. Freilich: Wer meint, dass Kant seit 1762 durch Humes Einfluss 
in eine Periode des Empirismus und Skeptizismus geraten sei, der gerftt 
hier in Schwierigkeiten. Aber gerade dies oehauptet Böhm meiner Meinung 
nach mit vollem Recht und belegt es mit guten Gründen — ich sehe darin 
ein besonderes Verdienst des Buches — , dass von einer solchen empiristbch- 
skeptischen Periode bei Kant keine Rede sein kann. Er kämpft gegen 
die gegenwärtige und für die Neubegründung der Metaphysik, keineswegs 



Recensionen (Domer). 449 

aber gefi;en die Metajphysik überhaupt. Ich verweise hier nur auf die lehr- 
reiche Lektüre des Böhmschen Buches selbst. 

Dass Hume seine Position etwas anders einführt, als Kant in den 
negativen Grössen, ist wohl richtig, aber den Punkt, an dem die Abhängi^keits- 
beziehung liegt, hat meiner Meinung nach Kant klar und deutlich m den 
Prolegomenen bezeichnet, wenn er von Hume sa^: „Er bewies unwider- 
sprechlich, dass er der Vernunft gänzlich unmöglich sei, a priori und aus 
Begriffen eine solche Verbindung zu denken". „A priori und aus Begriffen** 
ist dabei natürlich nur ein Ausdruck für das formal-logisch analytische 
Verfahren. 

In der Entwickelung der Gedankengänge, die zum Standpunkt der 
Inauguraldissertation führen, erschien mir aufndlend, dass Böhm der Anti- 
nomien gar nicht Erwähnung tut, die von verschiedenen Seiten doch wohl 
mit Recht als ein wichtiger Faktor in dieser Hinsicht bezeichnet worden sind. 

München. v. Aster. 

Dorner, A., D. Dr. Individuelle und soziale Ethik. Vierzehn 
Vorträge. Berlin, C. A. Schwetschke & Sohn 1906. (240 S.). 

Verfasser konstatiert zunächst die Zerfahrenheit der modernen ethischen 
Bestrebungen. Der wissenschaftlichen Behandlung fehlt jede Einheitlich- 
keit. Zum Teil ist sie ganz abstrakt theoretisch, zum Teil ^ht sie völlig 
in akuten Einzelfragen auf. Relative und absolute, harmonisch-natürliche 
und dualistische, extrem individuelle und soziale Ethik finden sich neben- 
einander. 

Diesen Gegensätzen gegenüber tritt Verfasser ein für Ausgleichung, 
für eine besonnene Vermittelung der Extreme, für „die Ethik der geschicht- 
lichen Weltansicht**, in der uns Deutschen die Engländer voraus seien. 
„Man liebt die Extreme. Vielleicht gelingt es, unter den Kämpfenden Frieden 
zu stiften, wenn man dem Worte des Leibniz Gehör schenkt, dass keine 
Ansicht durch das verkehrt sei, was sie behauptet, sondern durch das, 
was sie ausschliesst** (Vorrede). Von diesem Gesichtspunkte aus wird nun 
das ganze Gebiet des Sittlichen betrachtet. Der Titel nennt speziell nur 
eins der vielen aufgezählten Gegensatzpaare; fast mit gleichem Recht 
könnte dort ein anderes genannt sein, etwa natürliche und dualistische 
Ethik (Goethe und Kant); am bezeichnendsten wäre „Vermittelungs- 
ethik**. Eine allgemeine „Grundlegung** (S. 16 — 75^ handelt von den Trieben, 
Gefühlen, Affekten, der sittlichen Intelligenz und dem Willen, dann folgt 
die eigentliche „Ausführung** (S, 76—240) in den 3 Teilen: 1. Die Bildung 
der Persönlichkeit; 2. das Vernältnis der Persönlichkeiten zu anderen Per- 
sonen; 3. die Organisationen. 

In diesem letzten Hauptteil, der „Ausführung** liegen die eigentlichen 
Vorzüge des Buches. Es ist bewunderungswürdig, wie auf engem Räume 
in leicht verständlicher Sprache eine FüUe von ethischem Einzelmaterial 
aufgerollt wird aus Kulturgeschichte, Psychologe, Pädagogik; dazu reife, 
besonnene Lebensweisheit. Frauenfrag^e und soziale Frage treten besonders 
hervor. Und überall herrschend der Gesichtspunkt der Vermittelang zwischen 
den Extremen. 

Das Sittliche ist in erster Linie individuell. Vom Individuum geht 
es aus, und auch die Organisationen sind um der Einzelnen willen da. Der 
Einzelne aber kann sich nicht isoUeren, sondern muss mit anderen in Verkehr 
treten, sei es frei und ungezwungen, sei es in festen Organisationen. Im 
wechselseitigen Verkehr, im Nehmen und Geben bereichem und fördern 
die Menschen sich gegenseitig. Solch lebendiger Verkehr der Personen 
ist das eigentliche sittliche Ziel. Charakteristisch ist hier das häufige 
Hinweisen auf Schleiermacher. 

Wichtig ist femer, dass die Ethik, wenngleich sie nicht im Natür- 
lichen aufgehen darf, die natürlichen Anlagen und Kräfte nicht abstumpfen 
oder negieren soll, sondem sie bejahen, an sie anknüpfen, sie in die rechten 
Bahnen lenken. Hier kommt am meisten Goethe zu Wort. 



450 Recensionen (Falter). 

Weniger e^lücklich scheint mir die „Grundlegunff'' (S. 16—75). Nicht 
als ob solche Art, ^nz empirisch psychologisä die Gnuidlagen de$ 
sittlichen Lebens zu beschreiben, nicht ihr gutes Recht, ja, ihren hohen 
Wert hätte. Aber die reine Begründung der Ethik darf nicht angetastet 
werden. Jener Standpunkt der Vermittelung, der für die Darstellung im 
einzelnen ein so hübsches Leitmotiv abgab, wird bedenklich, wo Prinzipien 
mit in Frage kommen. Hier wendet Referent gern die Worte S. 11 auf 
sich au: „Man liebt nicht die Vermittelungen, man hasst die Halbheiten.^ 
Im ganzen freilich tritt das Prinzipielle zu sehr zurück — für die genauere 
Ausführung verweist Verfasser in der Vorrede ausdrücklich auf sein ethisches 
Hauptwerk — , als dass ein eigentliches Eingehen darauf am Platze schiene. 

Nur kurz einige Worte über die Auffassung Kants in dem Abschnitt 
über den sittlichen Intellekt (S. 33/56). Auch hier wird eine Art Ver- 
mittelung erstrebt, wie, wird freilich nur angedeutet und bleibt unklar. 
Die kritische Ethik wird mit der Wohlfahrtsethik konfrontiert und der 
Relativität der letzteren gegenüber am Charakter des Sittlichen als un- 
bedingter Verpflichtung festgehalten. Dagegen glaubt Verfasser (S. 43) 
sich nicht begnügen zu können mit dem ^abstrakten Ideal'' Kants, „dem 
rein formalen Charakter des Sittengesetzes''. „Die weitere Konsequenz 
dieser Einsicht (der Autonomie) musste freilich eine konkrete, eine ins einzelne 
gehende Ausbildung des sittlichen Ideales sein." Das ist zum mindesten 
miss verständlich, denn auf .dem rein formalen Charakter" — wie Verfasser 
selber nach S. 39/40 nicht zweifelhaft sein kann — ruht ja gerade die Un- 
bedingtheit der sittlichen Verpflichtung, die durch jede inhaltliche Zusatz- 
bestimmung illusorisch würde. Ueberhaupt ist Referent der Meinung, dass 
der Versuch, die Gegensätze von indiviaueller und sozialer Ethik durch 
eine tiefere Erfassung auszugleichen, durch klare, konsequente Entfaltung 
der kritischen Ethik am ungezwungensten und radikalsten gelingen würde. 

Magdeburg. Erich Franz. 

Falter, Gustav, Dr. phil. Beiträge zur Geschiebte der Idee. 
Teil 1. Philon und Plotin. Giessen, AHred Töpelmann. 1906. (66&).*) 

Die Einleitung skizziert — mit Berufung auf Cohens und Natorps 
Arbeiten über Platen — die Bedeutimg der Platonischen „Idee" sowie ihre 
Vorbereitung bei Sokrates. Die Idee leistet als Hypothesis die Begründung 
der theoretischen Wissenschaft und brin^ als oberste Hypothesis, als Idee 
des Guten, Einheit in das ethische Gebiet, im Unterschied vom Theoretischen 
hier als reXog gefasst. Diese Auffassung der Idee deckt sich im wesent- 
lichen mit dem Apriorismus Kants, seinem „Hineinlegen" in die Dinge; 
kantisch ist auch die Einheitlichkeit des gesamten Vemunftgebietes bei 
gleichzeitiger Wahrung der Eigenart des Sittlichen als Ziel und Aufgabe. 

Diese platonische „Idee" zeigt Verfasser nun auf bei Philon und 
Plotin, unter häufiger Verweisung auf Piaton wie Kant. Die Darlegung 
ist in der Hauptsache klar und einleuchtend, im einzelnen ist nicht alles 
unmittelbar überzeugend, zumal bei der häufig bildlichen Ausdrucksweise 
in den griechischen Zitaten, bei deren Uebersetzung übrigens mit Vorliebe 
Kantische Termini verwandt werden. 

Zunächst Philon, der Vermittler streng jüdischer Offenbarungs- 
religion und hellenischer Philosophie, der mit Bfülfe der von den Stoikern 
erlernten Allegorese das Kunststück fertig bringt, seine Philosophie aus dem 
Pentateuch herauszuexegisieren. Aber grade den Einfluss der Stoa schlägt 
Verfasser in der Hauptsache gering an. „ . . . sein philosophisches System, 
wenn wir es ohne Rücksicht auf semen dogmatischen Endzweck betrachten, 
ist im wesentlichen Piatonismus. Die Anlernen beim Stoizismus beschränken 
sich beinahe lediglich auf die Terminologie." (S. 57). 

Platonisch ist Philons Kritik der Sinnlichkeit und die scharfe Ab- 
trennung des reinen Denkens (bildlicher Ausdruck dafür: Schauen). Auch 

1) Philosophische Arbeiten, herausgegeben von Hermann Cohen und 
Paul Natorp. 1. Band, 2. Heft. 



Becensionen (Baich). 451 

der Gißdanke der methodischen Grundlegung der Wissenschaft schimmert 
durch, z. B. in der pytha^oräischen Ansicht von den Zahlen, meist freilich 
verschleiert, verknüpft mit ganz' unphilosophischen Elementen. 

In der Ethik gelang Philon, der Kosmopolit und Sozialist, über 
Piaton hinaus zur Idee der Menschheit. Sein Denken gipfelt in Gott, 
dem konkreten Ziel seiner reli^ösen Sehnsucht, zugleich aber philosophisch 
gedacht als Prinzip der Weltordnung (cfr. Kant v. V. B. 700/1), als Zie^ dem 
wir zustreben und uns annähern ^in jener unbekannten und unsichtbaren 
Suche". 

Der Autor der pseudophilonischen Schrift „de indelebilitate mundi** 
ist Hellene; er zeigt sich im Gegensatz zu Philon als kritischer Denker, 
frei von Dogmatismus. 

Ganz von der Wissenschaft nimmt seinen Ausgang Plotin, der 
„Prophet des Rationalismus,* der zum ersten Male eine Renaissance Piatons 
heraufführt. Die sinnliche Wahrnehmung ist nicht ein Letztes, sondern 
ein zu lösendes Problem. Erst der yovf, dessen Tätigkeit ein .Schauen", 
„Erzengen" ist — auch das platonische Bild der Anamnesis klingt an — , 
bringt Erkenntnis hervor. „Hypothesis' gebraucht Plotin meist abgeschwächt 
im Sinn von physikalischer Theorie, der Gedanke der Grundlegung selber 
aber ist ihm vertraut. Auch die Zeit wird „geschaut," auch sie wird als 
Mittel unserer Erkenntnis gewertet; ebenso der Raum. Und wie für 
Plotin alles wissenschaftliche Erkennen einen einheitlichen Zusammen- 
hang bildet, so gelangt er auch als erster zur Erfassung des Selbstbewusst- 
s eins im erkenntniskritischen Sinne. ,Es ist Plotins Errungenschaft, welche 
sich im cogito, ergo sum des Augustin, des Descartes und der transscenden- 
talen Apperzeption Kants fruchtbar erweist." (S. 87.) 

Die gesteigerte Transscendenz Gottes erlaubt doch eine Erkenntnis 
„nach Analogie" (rro eV Tjfiiy ofioito). In der Ethik zeigt Plotin sich als 
kritischer Idealist in aem Gedanken der Freiheit (=vemunftgemässes Handeln) 
und in der über das Individuum hinausgehenden Idee der Menschheit. 
Im übrigen ist er verhängnisvoll beeinflusst von Aristoteles und seiner 
Uebersc&tzung der dianoetischen Tugenden. Das hängt zusammen mit 
„dem kontemplativ ästhetischen Grundzug" seines Denkens, der sich be- 
sonders in seiner Konfundierung des Ethischen und Aesthetischen kundgiebt. 

Magdeburg. Erich Franz. 

Raich, Maria, Dr. Fichte, seine Ethik und seine Stellung 
zum Problem des Individualismus. Tübingen, J. C. B. Mohr 1906. 
(VU und 196 S.) 

Dass über Fichte und speziell über die bei ihm so wichtige ethische 
Seite seines Systems geschrieoen wird, ist mit Freude zu begrüssen. Das 
vorliegende Buch ist die Arbeit einer ausländischen ^ame. Eb ist mit 
gründucher Gelehrsamkeit und Belesenheit auf dem Gebiete geschrieben, 
mit Zitaten und gelehrten Anmerkungen überladen. Richtig und erfreulich 
ist die Methode, Fichte auch einmal „unhistorisch" zu betrachten, ihn als 
isoliertes Ganzes zu nehmen und nicht auf die historische Abhängigkeit zu 
achten. Heute bedient man sich oft der nur historischen Betracnting und 
so ist es anerkennenswert, dass einmal die „absolute^ angewandt wird. 
Ferner ist das Unternehmen, aus der Persönlichkeit Fichte^s heraus die 
Grundlagen seines Systems zu erfassen^ sehr dankenswert. Gerade bei 
Fichte, diesem ausgeprägten Charakter, ist Denken und Leben aufs Ensste 
verwachsen. Verfasserin oleibt aber doch bei äusserlicher Betrachtung stenen, 
es kommt zu keinem einheitlichen, innerlichen Erfassen von Fichte*8 
intellektueller Persönlichkeit. 

Schon dieses Einleitungskapitel zeigt die Schwäche des ganzen Buches: 
Es ist eigentlich mehr eine Materialsammlung, kein zusammenhängendet 
Werk! Es fehlt an Bearbeitung und einheitlicher Gestaltung des Stoffes, 
es fehlt an der Idee, die die einzelnen Gestaltungen aus sich hervortreibt 
und die Mannigfaltigkeit der Gedanken zusammenhält. Da auch der Stil 



452 Recensionen (Ledere). 

der Verfasserin etwas abgerissenes, telegrammässiges an sich hat, ist die 
Lektüre mühsam. 

Nachdem Verfasserin die Grundlagen des Systems und die Rechtslehre 
dargestellt hat (im wesentlichen richtig), geht sie zur Ethik über. Auf 
die „Darstellung", der eben so sehr das innere Band fehlt, folgt die 
Beantwortung der Fragen : „Worin besteht die Sittlichkeit? Ist der Mensch 
von Natur sittlich? Wie ist SittUchkeit mögUch«? 

Im 2. Teile wird die Stellung Fichte's zum Problem des Individualismus 
erörtert. Es ergiebt sich dabei: „Bei Fichte finden wir eine ei^ntümüche 
Verbindung der individualistischen, sozialistischen und idealistischen Auf- 
fassung und Wertung" (S. 172). Etwas Aehnliches ergiebt sich bei der 
Erziehungslehre. „Der Individualismus ist nur eine Seite des pftdagoffischen 
Ideals Fichte's, dasselbe hat noch eine soziale, und wenn man wiü, eine 
sozialistische, denn Fichte war nicht nur Individualist, sondern auch Sozialist*^ 
(178). Im Ganzen verneint das Buch die Frage nach der Veränderung von 
Fichtes Lehre : „Fichte hat seine Lehre nicht verändert, alle Widersprüche 
sind ... im System und nicht gegen das System" (186). ^Die ethische 
Lehre Fichtes stellte sich mir, trot<z ihrer drei Phasen, doch als einheitUch 
dar: die Moral der schönen Seele ergab sich als eine folTOrichtige Fort- 
setzung, Auswickelung der ersten, der Moral des kategorischen Imperativs, 
und wies bereits über sich auf die Ethik der objektiven Werte hinaus." 

Dieses Erj^ebnis ist im Ganzen wohl richtig, es handelt sich bei Fichte 
um eine organische Fortbildung, die in viel Beschränkterem Masse sich 
vollzieht, wie etwa bei Schelling (vgl. meine Arbeit: „Schellings seisti^ 
Wandlungen 1800 — 1810"). So können wir dem Resultat der Venassenn 
beistimmen und trotz mancher Mängel das Buch zum Studiam empfehlen. 

Hamburg. Dr. O. Braun. 

Ledere, Albert Le mysticisme catholique et l'äme de Dante. 
Paris, Bloud et C:Jie. 1906. (155 S.) 

Unter den grossen Menschen im Ausgange des Mittelalters, in deren 
Wesen und Leben etwas Frühlingsmässiges liegt, das das Nahen der 
Renaissance verkündet, ist Dante eine der fesselnden und nachwirkendsten 
Erscheinungen. Der Eindeutigkeit des mittelalterlichen Menschentypus geeeiv- 
über ist seme Natur von grösster Komplexität, es ist ein Etwas in nun, 
das dem Alten nicht homogen ist und mit diesem in einem Kampfe lag, 
dessen wahres Wesen ihm selbst noch unbekannt blieb. Das Gewicht, das 
das Neue in seiner Person besitzt, ist überhaupt erst in neuerer Zeit deutlich 
erkannt worden, — je mehr von Generation zu Generation, durch Bückstände 
in der äusseren Kulturorganisation an beschleuni^i^m Tempo fi^hindert, 
die letzten Fäden zur relig^ös^ogmatischen Gebundenheit des Mittelalters 
in innerlicher Zersetzung sich lösen. 

Wie denn überhaui>t mit zunehmender Kenntnis der Vorgeschichte 
der Renaissance die Einsicht wächst, wie sehr bereits die Umgestaltung 
des Lebensbewusstseins sich in einzelnen Individuen vorbereitet hatte, 
so dass der jüngste Versuch, über den Werdegang der Kultur im Ganzen 
Uebersicht zu gewinnen, der Chamberlains, den grossen Einschnitt statt 
ums Jahr 16(X), schon V200 zu machen unternehmen konnte. 

Bei der Bedeutung, die bei diesem für das geschichtsphilosophische 
Bewusstsein wichti^n Gegenstande Dante zukommt, war es verdienstUch, 
aus fiTÜndlicher Kenntnis seiner Werke heraus seine Stellung in der 
katholischen Mystik zu untersuchen, denn so konnten am eisten die mannig- 
fachen starken Tendenzen, die in seiner Person sich einten, in ihrer primären 
Selbständigkeit und ihrem ^ffenseitisen Einfluss aufeinander sichtbar 

gemacht werden. So liess sich leicht ^tes und Neues in seiner Seele nach 
er Wichtigkeit für die Gesamtheit seiner Person sondern. 

Gegen Erwarten ist der Verfasser, der dies unternahm, nicht Bekenner 
des Neuen, sondern offenbar katholischer Sinnesrichtung. Doch kann gesagt 
werden, dass dies, von dem, auch unverhältnismässig grossen Abschnitt, La 



Recensionen (Ledere). 453 

v^ritable doctrine morale de ri^yanfi^le abgesehen, keine Schädigung der 
Arbeit bedeutet hat. Verfasser ist objektiv geblieben, und seine psychologische 
Analyse ist sogar tief. Die Arbeit kann deshalb, ohne dass Venasser offen- 
bar einen solchen Nebenzweck im Auge ^habt hat, auch als eine besonders 
gute Illustration der neuesten Publikation^) Ribots: Les Passion (1907) 
urch den Fall Dantes bezeichnet werden. 

Die Haupttendenz seiner Person wird durch den Namen Beatrice 
gekennzeichnet. Sie, der er durch ein Dichtwerk Ruhm verschaffen wollte, 
wie er noch keiner anderen Sterblichen zuteil ward, bleibt so der Zielpunkt 
seines Lebens auch nach ihrem Tode und immer höher steigt sie für ihn 
im Range, bis sie mit der göttlichen Weisheit fast in eins verschmilzt. 
Der Nachweis dieser VergöttEchung Beatrices im wörtlichen Sinn und die 
Ablehnung aller Umdeutungsversuche dieser Tatsache ist Verfasser besonders 
gut gelungen. Mit ihr ist ohne weiteres gegeben, dass Dante trotz des 
orth(äoxen Charakters seines theologischen Systems innerlich nicht voll 
der Kirche angehört. Seine Seele ist viel mehr auf die Vergöttlichung des 
Irdischen, auf die mitreissende Hingabe an das Göttliche in der Welt ge- 
richtet, als auf den transscendenten Gott der Kirche. Seine Religiosität 
ist stark ästhetischer Natur, und er gehört in jene Reihe von Mystikern, 
die sich bereits in einer von der Kircne fortgerichteten Geistesbewegung 
befinden. 

Der zweite mächtige Trieb in ihm ist der politische. Auch hier wird 
deutlich, wie der irdische Mensch ungebrochen bleibt. Zwar empfangen 
auch die politische Leidenschaft und ihre Ideale eine höhere Weihe durch 
die Art, wie er sie als gottgesetzte rechtfertigt. Aber das Religiöse bleibt 
dienstbar, es wirft auf jene Ideen nur einen mystischen Schimmer, diese 
selbst sind das erste. 

In der Reihe der primären Tendenzen der Dantischen Seele steht die 
religiöse erst an dritter Stelle. 

Die Analyse des Verfassers hat den Dichter vielfach wörtlicher ge- 
nommen, als es sonst geschehen. Das Ergebnis, das so für Dantes Person 
und seine Werke entetanden, empfiehlt sich durch seine einleuchtende 
Kraft nicht weniff. Ein Punkt aber hätte wohl eine nähere Behandlung 
verdient: die WiUenseigenschaften des Dichters; mit der Erklärung des 
Verfassers: es habe ihm fast jeder Wille gefehlt (S. 146), steht ein Ausspruch 
Jakob Burckhardt's im Gegensatz: „Welche Willenskraft setzt schon 
die unerschütterlich gleichmässige Ausarbeitung der Divina Commedia 
voraus." (Kultur der Kenaissance P, S. 148.) Ich weiss freilich, dass das 
Problem der „Abulie" mancher geistigen Heroen noch keine tiefgehende, 
grundsätzliche Erörterung gefunden hat. 

Mit den an der Peripherie des behandelten Themas liegenden Er- 
örterungen des Verfassers bin ich nicht überall einverstanden. 

Berlin. Dr. K. Oest erreich. 



') vorher bereits in der Revue philosophique. 



454 Selbstanzeigen (Levy). 

SelbstanzeigeiL 



Levy, Heinrich, Dr. Kants Lehre vom Schematismus der 
reinen Verstandesbegriffe. Ein Erklärungsversuch.. Erster Teil: 
Einleitung; Untersuchungen über die transscendentale Ästhetik und die 
Analytik der Begriffe, besonders über die transscendentale Deduktion. 
Halle a. S., C. A. Kaemmerer & Co. 1907. (VIII und 166 S.) 

Das „Hauptstück", welches in der Kr. d. r. V. „von dem Schematismus 
der reinen Verstandesbegriffe* handelt, will das Problem lösen, wie die 
Subsumtion von Anschauungen unter reine Verstandesbegriffe möglich sei. 
Zur Erfassung seines Sinnes muss man demnach wissen, einerseits was die 
Bedeutung der reinen Verstandesbegriffe oder Elategorien und der Er- 
scheinungen ist, andererseits was Kant eigentlich unter Subsumtion versteht. 
Das Letztere ergiebt sich erst aus dem Schematismuskapitel selbst; das 
Wesen der ersteren hingegen offenbaren transscendentale Ästhetik und 
Analytik der Begriffe, und eine Bekanntschaft mit diesen ist daher vor 
allem erforderlich. Immerhin muss es überraschen, dass der Untersuchung 
dieser beiden Abteilungen der Kr. d. r. V. fast der ganze bisher vorliegende 
erste Teil gewidmet wird. Der Grund hierfür ist dieser: Ich fand einen 
Hauptstrom, der transscendentale Ästhetik und Analytik der Begriffe 
durchzieht, dessen Kenntnis allein die Einsicht in die Bedeutung des Schematis- 
mus mir zu gewährleisten schien, dessen oft schwer erforschbarer Lauf aber 
bisher nur streckenweise verfolgt und wohl gar nicht als einheitlich erkannt 
worden ist. Ich musste daher seine Einheitlichkeit nachweisen; die daza 
erforderliche Beobachtung seiner verborgensten Teile aber implizierte eine 
Erforschung der von ihm durchströmten Gebiete und gewann damit eine 
vom ursprünglichen Zwecke unabhängige selbständige Bedeutung. M, a. W. 
kam es so zu dem Versuch, eine £e transscendentale Ästhetik und die 
Analytik der Begriffe beherrschende Tendenz konsequent zn verfolgen. 
Diese Tendenz aber besteht darin, dass ein Gegebenes durch eine 
allmählich fortschreitende Analyse zum Zwecke der Entdeckung der 
apriorischen Erkenntniselemente in seine feinsten Bestandteile zerlegt wird. 
Durch diesen einheiUichen Grundgedanken schliessen sich nun transscen- 
dentale Ästhetik und Analytik der Begriffe zu einem resolntiven (analy- 
tischen) Teil zusammen, welcher der Anidytik der Grundsätze als kompo- 
sitivem (synthetischem) Teile ^egenübertritt. Als wichtiges negatives 
Charakteristikum dieses resolutiven Teils ergibt sich, dass synthetische 
Urteile nicht der Gegenstand seiner Analyse sind, und zwar in dem Sinne, 
dass diese innerhalb seiner weder irgendwie zu ihnen gelangen, noch von 
ihnen als Gegebenem ausgehen oder auch nur sie als methodisches Mittel 
benutzen darf. Dem widerspricht allerdings die transscendentale Ästhetik 
so wie sie in der „Kritik" vorliegt; gerade ihr gegenüber braachten aber 
nur die Untersuchungen bedeutender Kantforscher über ihr Verhältnis zur 
transscendentalen Deduktion in der durch den Grundgedanken bedingten 
Form und in radikalster Konsequenz angewendet zu werden. Was ist 
aber das Gegebene, das analysiert wird? Ist es nicht doch die Erkenntnis, 
die in synthetischen Urteilen besteht? Es wird in dem Buch gezeigt, 
dass, wenn man von einer Analyse der „Erkenntnis" in dem resolutiven 
Teil reden will, dies nur in einem ganz eigentümlichen, in der transscen- 
dentalen Deduktion vorkommenden Sinn möglich ist, welcher aber gerade 
die Bedeutung der Erkenntnis als Urteil ausschliesst. Sonst aber muss 
man sagen: Das zu Analysierende ist der Stoff der Erkenntnis, die „an- 
schauliäe Welt", womit eine vage populäre Vorstellung bezeichnet werden 
soll, die zwischen der Abbildtheorie und einer indifferenten, der kritischen 
Ansicht schliesslich verwandteren noch unklar schwankt. Mit welchem 
Recht Kant diesen Ausgangspunkt gewählt hat und durch welche mannig- 
faltigen und schwierigen mttel aus dem Gegebenen die Elemente der Er- 
kenntnis gewonnen werden — darüber muss die Schrift selbst Auskunft 



Selbstanzeigen (Schultz). 455 

fireben. Gerade auf die genaue Verfolgung der hierbei verwendeten 
Methoden der Forschung und Darstellung habe ich grossen Wert gelegt, 
in der Hoffnung, dass dadurch die Kenntnis der Methoden der Erkenntnis- 
theorie überhaupt gefördert würde. Ich hielt es dabei für geboten, Kants 
Prämissen nur aufzuweisen und zu entwickeln und alles möglichst in Ein- 
klang zu bringen, meine eigne Ansicht über die Grundlagen zurückhaltend, 
um die Kantische Problemlösung als eine der grossen Antworten auf die 
Fragen der Erkenntnistheorie in ihrer Reinheit vorzuführen. — Die Ein- 
teilung der eigentlichen Ausführung des I. Teils wird hiemach verständlich 
sein: A. Die transscendentale Ästhetik als erstes Stadium der Analyse. 
B. Die „metaphysische Deduktion' als Fortsetzung der Analyse durch den 
Versuch der Isolierung des reinen Verstandes. C. Die transscendentale 
Deduktion als Vollendung der Analyse. Die umfangreichste Untersuchung 
ist den beiden Redaktionen der transscendentalen Deduktion gewidmet. 
Nur dies eine Resultat sei erwähnt, dass die erste Redaktion sich als im 
wesentlichen einheitliche Analyse der anschaulichen Welt, und, da die 
Elemente dieser unbewusst sind, gewissermassen als eine Philosophie des Un- 
bewussten, in dieser ihrer Tendenz aber und in ihrer Komposition gerecht- 
fertigt erweist, während die zweite zwar versucht, mit andern Mitteln zu 
arbeiten, aber doch jener unbewnssten Elemente nicht entraten kann und 
durch diesen Zwiespalt wie durch das Hineinspielen ganz fremder Motive 
mit Ausnahme des sehr gelungenen § 26 als weniger gesrlückte Darstellung 
erscheinen muss. Der n. Teü wird übrigens hierzu noch Ergänzungen 
bringen: er soll u. a. eine umfassende Bestimmung des Wesens der Kate- 
gorie enthalten und wird wahrscheinlich auch die Untersuchung der trans- 
scendentalen Apperception nochmals aufnehmen. Seine Disposition wird 
diese sein: 1. Interpretation des Schematismuskapitels. 2. Schematismus 
und Grandsätze. Vielleicht 8. Bedeutung des Schematismus für das ge- 
samte Kantische System. 

Den bisher charakterisierten Ausführungen des n. Abschnittes des 
I. Teils geht ein allgemeiner, die Disposition begründender und die Haupt- 
gedanken bereits überblickender I. Abschnitt und eine Einleitung voraus. 
In dieser wird aus den Grundvoraussetzungen der Kantischen Philosophie 
ihre Systematik gerechtfertigt, durch deren Verwerfung gewöhnlich auch 
die der Schematismuslehre begründet werden soll. Hiermit ist die Ein- 
leitung gegen Schopenhauers Kantkritik gerichtet, so wie der I. Abschnitt 
eine Nuance hervorhebt, welche die Herder-Hamannschen Einwände widerlegt. 

Friedenau. Heinrich Levy. 

Schultz, Julias. Die drei Welten der Erkenntnistheorie. 
Eine Untersuchung über die Grenzen zwischen Philosophie und Erfahnings- 
wissenschaft. Göttingen, Vondenhoeck & Ruprecht. 1907. (IV und 104 S.) 

Der Zweck des Schriftchens ist, eine Anzahl von Miss Verständnissen 
zu beseitigen, die unsere heutige Erkenntnistheorie durchwachsen und 
unwegsam machen. Ich suche die alte, lichte, neuerdings von vielen ver- 
schmähte Gedankenstrasse, die über Locke zu Kant führt, als den einzigen 
Königsweg philosophischer Einsicht abermals zu erweisen. Wir gehen aus 
von der Welt des NaYven, die wir um uns „vorfinden", wenn wir nach- 
zudenken anfangen ; sie heisst mir die „erste Welt". Innerhalb ihrer stossen 
wir auf Mitmenschen, die Verschiedenes thun und erleiden, unter anderm 
aber auch „wahrnehmen". Analysieren wir nun den Vorgang der Perzeption, 
so finden wir auf die bekannte Art: dass die sinnlichen Qualitäten der 
Dinge „subjektiv" sein müssen. Damit aber kennzeichnet sich die erste 
Welt als „rhänomenon". Und es bleibt hier das bewegte Nurquantitative, 
dort das Bewusstsein übrig. Diese Zweiheit bildet zusammen die „zweite 
Welt"; damit sie bestehen kann, wird der spiritualistische Parallelismos 
als metaphysische Ansicht erfordert. Unter dieser Voraussetzung werden 
alle physikalischen und psychischen Vorgänge prinzipiell begreiflich; jene 
mittels des Mechanismus der Atome, diese durch Zerfaserung der bewussten 
Komplexe in ihre Elemente. Damit jedoch ist ein neuer Schritt gegeben : 



456 Selbstanzeigen (Schultz). 

die kategorialen Tätigkeiten erscheinen in der Reihe der übrigen seeUscben 
Prozesse; parallel mit Himgeschehnissen, Tom Bau der Hemisphären so 
abhän^^ wie etwa das Sehen von der Augenbildun^. Sie selber w^erden 
„subjektiv"; auch die Welt Descartes* und Lockes, die zweite, ist mithin 
als phänomenal anzusehen; und es bleibt als letzte Wirklichkeit das Be- 
wusstseinsmoment: die dritte Welt. Diese indessen ist zugleich das ab- 
solute Chaos: denn Ordnung schafft erst das „formende" Denken.^ Es lässt 
sich auf dem festesten Urgründe alles Wirkliche nicht bauen, ja es ist 
nichts mehr darilber auszusagen. 

Die wichtigsten der von mir bekämpften Irrtümer und Verwechs- 
lungen sind folgende: 

1. Die dritte Welt wird öfters als „Datum" genommen und von ihr 
aus die erste, die wirklich gegebene Welt erst entwickelt. In der Tat 
aber darf jene nur als unbearbeitbare Grenzvorstellung gelten ; sie macht 
klar, was unter Phänomenalismus verstanden werden muss — und orientiert 
die psychogenetischen Betrachtungen. 

2. Das empirische Ich der ersten Welt, das zu Verständniszwecken 
konstruierte Bewusstsein der zweiten und das erkenntnistheoretische Subjekt 
der dritten werden verwechselt, wodurch zahlreiche Widersprüche entstehen. 
Besonders merklich wird der Unterschied der drei „Ichheiten" durch Fol^n- 
des: für jenes empirische Ich und für das „Zweite" gilt der Satz, dass ihre 
Wahrnehmungen von den „Dingen" getrennt sind; in der dritten Welt 
dagegen ist alles Bewusstseinsmhalt. Der Grun^ehler der Immanenz- 
Philosophie nun ist es, letztere These auch auf die erste Welt anzuwenden. 

3. „Erscheinung" wird noch immer häufiger mit „Schein'' verwechselt. 
Tatsächlich aber enthält die erste Welt, die der Erscheinung, alles Leben, 
alle Wahrheit und alle Werte in sich. Die dritte Welt dagegen, die der 
absoluten Gewissheit, bietet gar keine Wahrheiten, da sidi Urteile über 
sie nicht fällen lassen. 

4. Die zweite Welt, die der analytischen Psychologie und des 
mechanistischen Atomismus, ist eine Konstruktion. Man thut aber Unrecht, 
wenn man hier das Adjektiv „willkürlich** einschiebt. Vielmehr konstruieren 
wir notwendig so, wie wir das All verstehen wollen. Wir dürfen nicht 
sagen: das Licht „sei" in Wahrheit eine Schwingung des Äthers — oder 
das Vergleichen bestehe aus einer Assoziation von denundden Organ- 
empfindun^en mit denundden Bildern; sondern: vorausgesetzt, dass wir 
das Vergleichen oder das Licht begreifen möchten, müssen wir annehmen, 
es „wäre** dieses und jenes der Fall. 

Es dürfte nützlich sein, die Gebiete scharf zu trennen: die erste 
Welt gehört dem praktischen Menschen, dem Künstler, dem Forscher; 
die zweite ausschliesslich dem Philosophen. 

5. Die Einwürfe, die gegen den physiologischen Beweis für den 
Idealismus erhoben werden, suche ich zu widerlegen; ebenso die Angriffe 
auf den Parallelismus. 

Und wie verhält sich all das zu Kants Lehre? 

In ihr kreuzen sich zwei Gedankengänge; man muss sie auseinander- 
strähnen, um klar zu sehen. Der erste beginnt bei Plato. Dass es Er- 
kenntnis giebt, wird angenommen; sodann die Bedingungen angesucht, 
unter denen sie möglich ist; und endlich diese Voraussetzungen fules Er- 
fahrens als System der Apriori geordnet. Damit jedoch ist noch nichts 
darüber gesagt, ob dieses Apriori subjektiv — oaer vielleicht, wie die 
Akademie wollte, mit dem Wesenskem der Welt identisch ist. Zorn 
Phänomenalismus vielmehr führt eine zweite Schlnsskette, die — trotz 
aller Proteste Kants wider die „Anthropologen** — auf „psychologistischen** 
Voraussetzun^n beruht. Ich verfechte hier wie sonst die Ansicht: nur 
wenn die Kntik in diesem Sinne ungefärbt wird, überzeugt sie und bietet 
allen Einwürfen Trotz; nur der „psychologistisch** gedeutete Kant liefert 
die geeignete Grundlage für weiteres Nachsinnen. 

Berlin, J. Schultz. 



Selbstanzeigen (jacoby). 457 

Jacoby, Günther. Herders und Kants Ästhetik. Leipzig, 
Dürr*sche Buchhandlung. 1907. (X und 348 S.) 

Das Buch ist als erster — wenngleich selbständiger — Teil eines 
grösseren Werkes gedacht, welches Herders Kampf gegen Kant behandeln 
soll. Dieser Kampf bedarf durchaus einer gründlicheren Bearbeitung, und 
er verdient grössere Aufmerksamkeit, als ihm bisher von der fachmännischen 
Philosophie zuteil geworden ist. Es handelt sich in ihm keineswe^ nur 
um einen Qegensatz zwischen gelehrten Büchern: etwa den drei Kritiken 
einerseits, der Metakritik und der Kalligone andrerseits; sondern es handelt 
sich um den ganz bestimmten Gegensatz zwischen zwei wissenschaftlichen 
Lebenskräften, welche beide die Philosophie des 19. Jahrhunderts richtung- 

febend gestalteten, und die an historischem Schwergewicht einander 
urchaus ebenbürtig waren. Von diesen Lebenskräften sind die drei 
Kritiken und Herders Streitschriften nur charakteristische Kennzeichen. 

Auf dem Gebiete der Ästhetik dürfte Herder noch am ehesten auch 
ein entgegenkommendes Interesse von Seiten der Fachgelehrten rechnen. 
Hier ist es besonders deutlich ersichtlich, dass er, der feinsinnige und 
liebevolle Kenner alles Schönen dem zwar scharfsinnigen aber doch auch 
nüchternen, ja hausbackenen .Geiste Kant« ebenbürtig gegenüber treten 
konnte. Mit den Fragen der Ästhetik hatte sich Herder von früher Jugend 
an beschäftigt. So brauchte er im Kampfe gegen Kant nur das systematisch 
niederzulegen, was er so oder anders schon längst gedacht hatte, und was 
ausgereift war. 

Die allgemeinen Fragen nach den Vorbedingungen für Herders und 
Kants Ästhetik beschäftigen den ersten Teil des oben genannten Buches. 
Er enthält fünf Kapitel, die von Herders Bedeutung für die Geschichte 
der Philosophie, von der Erfassung des Buchthemas, von der Beurteilung 
des Herderschen Kampfes im 19. Jahrhupdert, von den Gewährsmännern 
Herders und Kants, und von Herders Ästhetik vor dem Ausbruche des 
Streites handeln.. — Besonderen Wert lege ich auf den Nachweis der Unab- 
hängigkeit der Ästhetik des jungen Herder von Kant, sowie auf die Auf- 
deckung bestimmter Beziehungen Kants zu Baum^rten und durch Baum- 
harten zu Mendelssohn. Neu und der üblichen Urteilsweise entgegengesetzt 
ist auch die Art der Einstellung der Kalligone unter die übrigen Schriften 
Herders. 

Der zweite Teil des Buches „enthält eine systematische Darstellung 
der in der Kalligone enthaltenen Ästhetik. Ea war mein Bestreben, die 
Darstellung dieses zweiten Teiles besonders durchsichtig zu gestalten, um 
der künftigen Forschung die äusserst mühselige Arbeit einer Durchdringung 
der Kalligone zu erleichtern. Auch wünsche ich, dass meine Bemühungen 
dazu hinreichten, der heute üblichen Behauptung ein Ende zu machen, 
als entspräche der äusseren Gestaltlosigkeit der Kalligone eine innere 
Svstemlosigkeit. Im Gegensatze zu dieser Behauptung versucht das erste 
Kapitel des zweiten Teiles die all^meinsten Grundlagen der Herderschen 
Ästhetik herauszuschälen. Das zweite Kapitel handelt von dem ästhetischen 
System der Musik; das dritte und vierte von der allgemeinen und be- 
sonderen Ästhetik des Lichtsinnes; das fünfte von der iGthetik der Poesie. 
Ein sechstes Kapitel sucht das bisher stets übertriebene und verschobene 
Verhältnis zwischen Herders Ästhetik und seiner Naturphilosophie in 
richtigere Beleuchtung zu rücken. 

Der letzte, dritte Teil des Buches behandelt die Fra^e nach der 
grundsätzlichen Bedeutung der Herderschen Probleme in der Ästhetik 
Kants. Es bedurfte hierzu einer sorgfältigen Scheidung zwischen dem 
eigentlich kritizistischen Wesen der IQitik der Urteilskraft, nämlich der 
Entdeckung des ästhetischen Apriqri einerseits, und der den Unterbau 
jenes Apriori bildenden normalen Ästhetik, nämlich der systematischen 
Interpretation aller ästlietischen Erlebnisse überhaupt, andrerseits. Nur 
mit dieser Interpretationsästhetik, nicht mit jenem kritizistischen Gedanken 
eines äatiietischen Apriori kann Herders Kalligone billig verglichen werden« 



4o8 SelbstAnzeigen (Hoftmann). 

In der Interpretation des ästhetischen Erlebens aber zeigt sich Herder als 
Meister und ist seinem Gegner überlegen. Die Grundfragen der ästhetischen 
Bedeutsamkeit und Vollkommenheit, die Frage nach der Verbindung des 
Schönen mit dem Sittlichen, die Frage nach der ästhetischen Natur- 
philosophie, die Sonderf ragen der Musikästhetik, der Poetik, der Rhetorik, 
der Erhabenheitstheorie und der Theorie des Ideals: alle diese Fragen 
werden von Herder im Grunde richtiger und tiefer beantwortet als bei Kant. 

Am Schlüsse des Buches habe ich mich bemüht, in einem Ausblicke 
das methodische Verfahren Herders und das ihm entgegengesetzte Ver- 
fahren Kants in ihrer Bedeutung für die Wissenschaft der Ästhetik über- 
haupt zu erfassen. Vielleicht vermögen diese Ausführungen über die 
Grenzen, die das Buch selbst sich stecken musste, hinauszmeiten. — Ein 
detailliertes Inhaltsverzeichnis und vier Register sollen nicht nur bei einer 
gelegentlichen Benutzung des Buches selbst ihren Dienst leisten, sondern 
vor allem auch ein Studium aller zugehörigen Stellen aus der Kalligone 
und der Kritik der Urteilskraft ermöglichen. 

Königsberg. Günther Jacoby. 

Hoffmann, Karl, Dr. phil. Die Umbildung der Kantischen 
Lehre vom Genie in Schellings System des transscendentalen 
Idealismus. Bd. LUI der „Bemer Studien zur Philosophie und ihrer 
Geschichte", herausgegeben von Dr. Ludwig Stein, Professor an der Uni- 
versität Bern. Bern, Scheitlin, Spring & Co., 1907. (IV und 68 S.). 

Die vorliegende Schrift (sie ist keine Dissertation, wie es möglicher- 
weise den Anschein haben könnte) geht auf persönliche Anregungen zurück, 
die der Verfasser vor Jahren von dem inzwischen verstorbenen Rudolf 
Haym erhalten hat, und für die er dem Geiste des Verstorbenen heute 
noch dankt. Sie hat es sich zum Ziel gesetzt, darzuthun, wie sich der im 
S. d. tr. Jd. enthaltene ästhetische Idealismus Schellings, der dort — in 
seinem ersten Stadium — in dem Begriff der Geuialitöt gipfelt, aus der 
Kr. d. Ukr. entstammenden Gedanken entwickelt hat; zugleich will sie die 
Umbildungen aufzeigen, welche sich in der Bedeutung der Kantischen 
Gedanken dadurch vollziehen mussten, dass diese von dem kritischen 
Idealismus Kants aus durch einen konstruktiven Idealismus Fichtescher 
Herkunft durch^ngen. 

Die Arbeit zerfällt in drei Teile. Der erste Teil versucht es, den 
Gehalt der theoretischen und der praktischen Philosophie des S. d. tr. Id., 
insoweit er für die Absicht des Verfassers in Betracht kommt, knapp zu 
skizzieren und alsdann zu zeigen, wie in der Teleolo^ie und Kunstphilo- 
sophie dieses Systems Kants Prinzip der Zweckmässigkeit wiederkehrt, aber 
aus einem regulativen Prinzip zu dem für die in Produktionen verlaufende 
Entwickelung des Selbstbewusstseins konstitutiven Prinzip überhaupt ge- 
worden ist. 

Eine vergleichende Darstellung von Kants Lehre vom Genie und 
der Kunstphilosophie im S. d. tr. Id., die das Selbstbewusstsein in der 
Entwickelungsphase der ästhetischen Produktion, d. i. die geniale Intelli- 
genz, zum Gegenstand hat, ist Aufgabe des zweiten Teils. Der Verfasser 
gelangt dabei zu dem Ergebnis, dass Schellings Betriff des Genies bloss 
eine Wiederholung der Kantischen Genielehre ist, jedoch gleichsam bei 
gänzlich verschobener Position. Aus dieser Verschiebung der Position 
resultiert als hauptsächlichster Unterschied der folgende: Die Vereinigung 
des Sittlich-Praktischen mit dem Theoretischen wird im Sinne Schelnngs 
— analog der Umwandlung des Prinzips der Zweckmässigkeit als Modus 
der Vereinigung von Freiheit und Notwendigkeit aus einem regulativen 
Prinzip in das konstitutive Prinzip überhaupt — durch die Ftoduktion 
des Genies nicht auf Grund einer symbolischen Übertragung, sondern un- 
mittelbar dargestellt, während nach Kant das Schöne nur das „Symbol^ 
des Sittlichen war und entsprechend durch die ästhetischen Ideen des 
Genies die sittlichen Begrifte oder Vemunftideen symbolisch dargestellt 
wurden. 



äelbstanzeigen (t^iÜems). 450 

Der dritte Teil unternimmt es zunächst, in Schellings transscenden- 
taler Kunstphilosophie Unstimmigkeiten blosszulegen, die sich daraus er- 
gaben, dass Schellmg aus der Ästhetik Kants Gedanken aufzunehmen ver- 
sucht hat, für die innerhalb des S. d. tr. Id. kein Platz mehr sein konnte. 
Diese Gedanken sind nach der Ansicht des Verfassers die Lehren von der 
Interesselosigkeit des ästhetischen Wohlgefallens, vom Schönheitsideal, 
von dem möglichen Gegensatz zwischen Genie und Geschmack und von 
der essentiellen Verschiedenheit von Genie und Wissenschaft. Die Er- 
örterung der Frage nach dem Verhältnis zwischen Genie und Wissenschaft 
wird notwendig zu einer Erörterung der Frage nach dem Verhältnis 
zwischen Kunst und Philosophie. Es wird versucht, anzudeuten, wie im 
S. d. tr. Id. und mehr noch innerhalb des bald dai'auf folgenden eigent- 
lichen Identitätsystems das Grundprinzip der Philosophie und zu^eich 
auch der Gegenstand des Philosophierens selbst ästhetisiert erscheinen. 
Bereits im S. d. tr. Id. ist die Entwickelung des Selbstbewusstseins nur 
aus der Tendenz zur künstlerischen Produktion zu begreifen; und durch 
den Dogmatismus des eigentlichen Identitätssystem hat sich das Wesen 
der künstlerischen Produktion auf den absolut verselbständigten universalen 
Seinsprozess übertragen, das gesamte Weltbild zeigt einen Charakter, der 
ursprünglich der Charakter des Genieprodukts war. 

C^arlottenburg. Karl Hoff mann. 

Willems, C, Dr. Prof. der Philosophie am Priesterseminar zu Trier. 
Die Erkenntnislehre des modernen Idealismus Paulinus-Druckerei. 
Trier. 1906. 127 Seiten. 

Mit Recht hält man die Erkenntnislehre für den Schlüssel zur ganzen 
Philosophie ; denn gerade hier scheiden sich die Wege der philosophischen 
Forscher, und von dem Standpunkt, den man in der Erkenntnistheorie 
einnimmt, ist auch die Stellung zu den metaphysischen Fragen bedingt. 
Wenn daher das Erkenntnisproblem schon von jeher in der Philosophie 
eine zentrale Stellung einnahm, so wurde es seit Kant g^eradezu zur alles 
beherrschenden Disziplin in dem Masse, dass manche Philosophie und Er- 
kenntnislehre für identisch halten. Die Richtung nun, welche die Er- 
kenntnislehre seit Kant eingeschlagen hat, ist die idealistische, und sie 
liegt den meisten Systemen zu Grunde, welche heute die Philosophie in 
Deutschland beherrschen. 

Die oben angezeigte Schrift will nun diese idealistische Erkenntnis- 
lehre in ihren verschiedenen Richtungen zur Darstellung bringen, indem 
sie untersucht, wie dieselbe sich zu den zwei Hauptfragen des Erkenntnis- 
problems stellt: 1. Welches ist das Verhältnis der Sinneswahmehmun^ zu 
den Objekten der Aussenwelt? 2. Welches ist das Verhältnis der geistigen 
Erkenntnis zur sinnlichen? Diese Untersuchung geschieht in der Weise, 
dass die Hauptvertreter der idealistischen Erkenntnislehre in ihren eigenen 
Äusserungen vorgeführt, und dann die Grundlage, der Zusammenhang und 
die Konseouenzen ihrer Anschauungen kritisch gewürdigt werden. Eine 
besondere Eigenart der Schrift, welche im allgemeinen auf dem Boden 
der aristotelisch-scholastisehen Philosophie steht, ist die, dass die idealis- 
tischen Theorien mit der peripatetischen Auffassung des Erkenntnisproblems 
beständig in Vergleich gezogen und deren Übereinstimmungen oder Ab- 
weichungen charalcterisiert werden. Ursprung und Bestimmung der Schrift 
bedingten eine leicht fassliche Form der Darstellung, damit auch weitere 
Kreisen die Auffassung des schwierigen Problemes ermöglicht bezw. er- 
leichtert werde. 

Trier. C. Willems. 



460 Mitteilungen. 

Mitteilungen. 

Ein angedruckter Brief Kants. 

Ein in der Berliner Akademieausgabe nicht enthalte 
Immanuel Kants wird in der No. 39 der „Gegenwart" (36. 
Band 72, Herausgeber Dr. Adolf Heilbom, Verlag: von iiax 
Leipzig) von Dr. Adolf Kohut mit ausführlicher Einleitung 
licht. Der Brief ist ein Begleitschreiben zweier Abhandlung 
(„Mutmasslicher Anfang der Menschengeschichte" und „Was h 
im Denken orientieren ?"J, die der Philosoph 1784 der bei H 
Spener in Berlin erscheinenden „Berlinischen Monatsschrift^ 
Die Aufsätze, um die es sich handelt, sind in der erwähnten Moi 
abgedruckt, und zwar im siebenten Band, erstes Stück, Januar 1 
im achten Band, zehntes Stück, Oktober 1786. Das interessante S 
das sich unter den Autographenschätzen der Königlichen 5fi 
Bibliothek in Dresden, und zwar unter den „Ebertiana" befinde 
Herrn Dr. Kohut von dem Oberbibliothekar zur Verfügung ge 
hat folgenden Wortlaut: 

„Inliegende Stücke überliefere ich, würdigster Freund, 
liebigsten Gebrauch; gelegentlich wünsche ich wohl zu ve 
nicht sowohl was das Publicum davon beifallswürdig, sonden 
desideriren finden möchte. Denn in dergleichen Au&ätien 
zwar mein Thema vollständig durchdacht, aber in der Av 
habe ich immer mit einer gewissen Hinneiming zur Weitlftuf 
kämpfen, oder ich bin sozusagen durch die Men^e der Dinge, 
zur vollständigen Entwicklung darbieten, so belästig dass i! 
Weglassen manches Benötigten die Vollendung der Idee, die 
in meiner Gewalt habe, zu fehlen scheint. Der Wink eines e 
den und aufrichtigen Freundes kann hierbei nützlich werd 
möchte ich manchmal wohl wissen, welche Fragen das Pabüci 
am liebsten auf gelöset wissen möchte. 

Nächstens werde ich in zwey von den bisherigen verseh 
Felder ausschweifen, um den Geschmack des eemeinen Wesen 
forschen. Da ich beständig über Ideen brüte, f ehlts mir nicht i 
rath, wohl aber an einem bestimmten Grunde der Auswahl, dtt^ 
an Zeit, mich abgebrochenen Beschäftigungen zu widmen, dti 
einem ziemlich ausgedehnten Entwürfe, den ich gern vor des 1 
nahenden Unvermögen des Alters ausgeführt haben möchte, beK 
bin. Meine moralische Abhandlung war etwa 20 Ta^ vor )fi 
bei Grunert in Halle, aber er scmieb mir, dass er sie auf die 
nicht fertig schaffen könnte, und so muss sie bis zu Osten 
bleiben, da ich dann von der Erlaubnis, die Sie mir gegeben, Od 
machen werde. 

Ich bin mit der vollkommensten Hochachtung 

Ihr ereebener 

^ LKiit 
Königsberg, den 31. Dezember 1784." 



Berichtigungen. 

Auf S. 407, Z. 14 V. o. statt Toggart muss es heissen T^g«t 

„ „ 408, „ 18 „ „ „ 1906 „ „ „ 1906. 

I» »» 410, „ 12 „ „ „ Liect. „ „ ,, Sed. 

„ „ 410, „ 3 „ u. „ Persönichkeit „ „ „ Pow 

„ „ 411, „ 18 „ „ „ Mollet „ „ „ MoDH 



Kantgesellschaft. 461 

Kantgesellschaft. 

Generalversammlung am 22« April 1907, 

Die allgemeine Mitgliederversammlung hat statntengemäss am 
April d. J. in den Räumen des Universitätskuratoriums hier statt- 
anden, nachdem im ersten Heft des laufenden Bandes S. 152 (aus- 
üben 10. Februar 1907) ordnungsgemäss die Einladung dazu unter 
^be der Tagesordnun&r er^ngen war. 

Es wurde zuerst die im obengenanntem Heft S. 146—149 abge- 
ckte Jahresrechnung für 1906 abgelegt, und dem Geschäftsführer 
«ns der Versammlung Entlastung erteilt. 

Der Antrag auf ,,eine formelle Änderune^ der Statuten betr. die 
(eichnung ^Vorstand' mit Bezug auf das vereinsg^etz^ wurde ein- 
Qmig angenommen; es wurde zum Zweck der defimtiven Formulierung 
bezügbchen Änderungen ein Redaktionsausschuss ernannt, bestehend 
den Herren Geh. Reg.-Rat G. Meyer, Dniversitätskurater, und Biblio- 
kfldirektor Dr. Gerhard, sowie dem Unterzeichneten, wobei denselben 
Imacht erteilt wurde, den Statuten die für diesen Zweck passendste 
mulierung zu geben. 

Darauf erfolgte die Wahl der wechselnden Mitglieder des Ver- 
tangsausschusses, sowie des Geschäftsführers. Die bisherigen Herren 
rden wiedergewählt. Damach besteht die Vertretung der Eantgesell- 
ift für das «Hihr 1907 aus folgenden Personen: 



Vorstand: der Kurator der Univ., Geh. Reg.-Bat G. Meyer, 
Professor Dr. Ebbinghaus, 
Professor Dr. Busse, 

Geh. Justizrat Dr. jur. et phil. (h. c.) Stammler, 
Direktor der Universitätsbibliothek Dr. Gerhard, 



übrige 
Mitglieder 
des 
Verwaltungs- 
ausschusses : 



Geh. Kommerzienrat Dr. (h. c.) Lehmann, 

Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Vai hinger, Geschäftsführer. 



Leider ist Professor Dr. Ludwig Busse, welcher der General- 
lammlune^ am 22. April beiwohnte, nach dieser einmaligen Betätigung 
168 im Üorigen so warmen Interesses für unsere Gesellschaft uns der 
versität und der Wissenschaft am 12. September jäh und viel zu früh 
rissen worden. 

Zum Schlüsse erfolgte die Verkündigung des Resultates des ersten 
isausschreibens der Eantgesellschaft : „Kants Begriff der Erkenntnis, 
glichen mit dem des Aristoteles", sowie die Eröffnung der verschlossenen 
toi mit den Namen der Preisträger. Das Resultet ist schon im vorigen 
t S. 268 mitgeteilt worden. 



Diese Mitteilung über die Generalversammlung vom 22. April erfolgt 

jetzt, weil die in derselben beschlossene Änderung der Statuten erst 

1 Erscheinen des vorigen Heftes die Genehmigung seitens des hiesigen 

ts^richts gefunden hat, welche bei .Eingetragenen Vereinen" not- 

idig ist. Daher erfolgt der Abdruck der jetzt giltigen Stetuten auch 

in diesem Hefte. 

HaUe a. S., Ende September 1907. 

H. Vaihingeri 

Geschäftsführer. 

CAiitotiidi«n XII. 80 



Satzungen der Kantgesellschaft. 

(Revidiert 1907.) 



Bei Gelegenheit des hundertjährigen Todestages Immanuel Kants 
— 12. Februar 1904 — hat sich auf Anregung des Professors Dr. Vaihinger- 
Halle eine Kantgesellschaft gebildet, deren Satzungen in der ersten 
Mitgliederversammlung am 22. April 1904 beschlossen worden sind und 
nach den Abänderungen auf Grund der Beschlüsse der Mitgliederversamm- 
lungen am 22. April 1905 und am 22. April 1907 folgendermassen lauten: 

§1. 

Die Kantgesellschaft hat ihren Sitz in Halle a. S. und ist dort ins 
Vereinsregister eingetragen. Sie verfolgt den Zweck, das Studium der 
Kantischen Philosophie zu fördern und zu verbreiten. Sie will dies 
erreichen: 

a) durch Unterstützung eines der Kantischen Philosophie besonders 
gewidmeten Organs, zur Zeit der seit 1896 bestehenden philoso- 
phischen, in zwanglosen Heften erscheinenden Zeitschrift „Kant- 
studien" ; 

b) durch andere, zur Förderung und Verbreitung der Kantischen 
Philosophie geeignete Massregeln, so durch Veranstaltung von 
Preisausschreiben, durch Unterstützung von Publikationen (^eventuell 
auch von Dissertationen) über Kant und die von ihm ausgehende 
Lehre, durch Verleihung von Ehrengaben an verdiente Kant- 
forscher, durch Stipendien an jüngere Gelehrte (insbesondere an 
Privatdozenten) Kantischer Richtung oder verwandter Richtungen 
und dergleichen. 

Sollte es jemals an wissenschaftlichen Bestrebungen Kantischer 
oder verwandter Richtung fehlen, so können die Mittel auch zur Förderung 
und Unterstützung der Philosophie und ihrer Vertreter im allgemeinen 
verwendet werden. 

§2. 

Die Unterstützung der jeweils als Vereinsorgan dienenden Zeitschrift 
erfolgt in erster Linie durch Bereitstellung von Mitteln zur Gewinnung 
tüchtiger Mitarbeiter und zur Beschaffung sonstiger geeigneter Beiträge. 
Je nach Umständen kann die Unterstützung der Zeitschrift in anderer Art 
erfolgen. Die Zeitschrift erhält auf dem Titel den Zusatz „mit Unter- 
stützung der Kantgesellschaft herausgegeben^. 

§3. 

Die Verausgabung der vorhandenen Mittel zu den in § 1 Abs. a sowie 
in § 2 genannten Zwecken ist Aufgabe der Redaktion der Zeitschrift. Sie 
untersteht in dieser Hinsicht der Aufsicht des Verwaltungs-Ausschusses 
und hat demselben auf Verlangen jederzeit, insbesondere aber nach dem 
Abschluss eines jeden Bandes der Zeitschrift, über die statutengemftsse 
Verwendung der Mittel Rechenschaft abzulegen. Die Redaktion empfängt 
durch die Hand des Geschäftsführers resp. Kassenführers die für ihre 
Zwecke bewilligten Mittel. 



Satzangen der KantgeselLschaft. 463 

§4. 
Organe der Gesellschaft sind: 

1) der Vorstand, 

2) der Geschäftsführer, 

3) der Kassenführer, falls ein solcher gewählt wird, 

4) der Verwaltungsausschuss, 

5) die allgemeine Mitgliederversammlung. 

§5. 
Vorstand der Gesellschaft ist der jedesmalige Kurator der Univer- 
sität Halle- Wittenberg, oder sein Stellvertreter. Sollte das Amt eines Kurators 
jemals wegfallen, so tritt an seine Stelle der jedesmalige Rektor oder dessen 
Stellvertreter. Der Vorstand leitet die Sitzungen des Verwaltungsaus- 
schusses, sowie die allgemeinen Mitgliederversammlungen ; in dieser Funktion 
kann ihn der Geschäftsführer in Behinderungsfällen vertreten. Der Vor- 
stand vertritt die Gesellschaft gerichtlich und aussergerichtlich. Wenn in 
Folge mangelhafter Beteiligung keine Mitgliederversammlungen zu Stande 
kommen, und wenn für die übrigen Ämter der Gesellschaft sich keine 
geeigneten Persönlichkeiten finden, so kann der Vorstand allein auch alle 
übrigen Organe der Gesellschaft auf unbestimmte Zeit vertreten. 

§6. 

Der Geschäftsführer wird in der Mitglieder- Versammlung ge- 
wählt. Kommt eine solche nicht zustande, so gilt der bisherige Ge- 
schäftsführer als wiedergewählt. Will er das Amt nicht wieder annehmen, 
so hat der Vorstand das Recht, einer dazu geeigneten Persönlichkeit das 
Amt bis zur nächsten Mitglieder- Versammlung zu übertragen. 

Der Geschäftsführer hat die Korrespondenz der Gesellschaft zu 
führen, alle auf diese bezüglichen Schriftstücke aufzubewahren und neue 
Mitglieder zu werben. Er hat femer die Kasse der Gesellschaft, abgesehen 
von dem als Kantstiftung (§ 12) bezeichneten Fonds, zu verwalten und 
insbesondere die Mitgliederbeiträge einzuziehen. Es kann auch ein be- 
sonderer Elassenführer von der Mitglieder- Versammlung bestellt werden, 
der zugleich zum Stellvertreter des Geschäftsführers erannt werden kann. 

§7. 

Der Verwaltungsausschuss besteht in der Regel aus mindestens 
7 Personen. Seine ständigen Mitglieder sind: der den Vorsitz führende 
Vorstand, der Geschäftsführer und der ev. Kassenführer sowie die ordent- 
lichen Professoren der Philosophie an der Universität Halle, falls sie nicht 
ausdrücklich ablehnen. 

Die anderen wechselnden Mitglieder werden für jedes Jahr in der 
allgemeinen Mitgliederversammlung durch einfache Stimmenmehrheit ge- 
wählt; kommt eine Versammlung nicht zu Stande, so gelten diese bisherigen 
Mitglieder des Verwaltungsausschusses als wiedergewählt. Nehmen sie 
das Amt nicht an, so kann der Vorstand geeignete Persönlichkeiten zu 
Mitgliedern des Verwaltungsausschusses bestimmen. Der Verwaltungsaus- 
schuss hat auch das Recht, sich über die Zahl 7 hinaus durch weitere 
geeignete Personen zu ergänzen. 

Der Verwaltungsausschuss, dem der Geschäftsführer und der Kassen- 
führer jederzeit Rechenschaft abzulegen schuldig sind, entscheidet über die 
Verwendung der verfügbaren Mittel, sowie über alle sonstigen wichtigen 
allgemeinen Angelegenheiten der Gesellschaft. Der Verwaltungsausschuss 
entscheidet insbesondere über alle von der Gesellschaft einzugehenden Ver- 
pflichtungen. Darauf bezügliche Schriftstücke, Verträge u. s. w. werden 

80* 



Satzungen der Kantgesellschaft. 

(Revidiert 1907.) 



Bei Gelegenheit des hundertjährigen Todestages Immanuel Ki 
— 12. Februar 1904 — hat sich auf Anregung des Professors Dr. Vaihisj 
Halle eine Kantgesellschaft gebildet, deren Satzungen in der en 
Mitgliederversammlung am 22. April 1904 beschlossen ^worden sind 
nach den Abänderungen auf Grund der Beschlüsse der Mitgliederversu 
lungen am 22. April 1905 und am 22. April 1907 fol^ndermassen lair 

§1. 
Die Kantgesellschaft hat ihren Sitz in Halle a. S. und ist dort 
Yereinsregister eingetragen. Sie verfolgt den Zweck, das Studium 
Kantischen Philosophie zu fördern und zu verbreiten. Sie will 
erreichen: 

a) durch Unterstützung eines der Kantischen Philosophie besoiii 
gewidmeten Organs, zur Zeit der seit 1896 bestehenden phil 
phischen, in zwanglosen Heften erscheinenden Zeitschrift ^ 
Studien^ ; 

b) durch andere, zur Förderung und Verbreitung der Elanti« 
Philosophie geeignete Massregeln, so durch Veranstaltung 
Preisausschreiben, durch Unterstützung von Publikationen (evem 
auch von Dissertationen) über Kant und die von ihm ausgehe 
Lehre, durch Verleihung von Ehrengaben an verdiente E 
forscher, durch Stipendien an jüngere Gelehrte (insbesonderi 
Privatdozenten) Kantischer Richtung oder verwandter Richtoi 
und dergleichen. 

Sollte es jemals an wissenschaftlichen Bestrebung^en Kantis 
oder verwandter Richtung fehlen, so können die Mittel auch zur Ford« 
und Unterstützung der Philosophie und ihrer Vertreter im aUgeme 
verwendet werden. 

§2. 
Die Unterstützung der jeweils als Vereinsorgan dienenden ZeitK 
erfolgt in erster Linie durch Bereitstellung von Mitteln zur Gewini 
tüchtiger Mitarbeiter und zur Beschaffung sonstiger geeigneter Beit 
Je nach Umständen kann die Unterstützung der Zeitschrift in anderei 
erfolgen. Die Zeitschrift erhält auf dem Titel den Zusatz „mit Üi 
Stützung der KantgeseUschaft herausgegeben". 

§3. 
Die Verausgabung der vorhandenen Mittel zu den in § 1 Abs. a s 
in § 2 genannten Zwecken ist Aufgabe der Redaktion der Zeitschrift 
untersteht in dieser Hinsicht der Aufsicht des Verwaltungs-Ausschi 
und hat demselben auf Verlangen jederzeit, insbesondere aber nach 
Abschluss eines jeden Bandes der Zeitschrift, über die statutenges 
Verwendung der Mittel Rechenschaft abzulegen. Die Redaktion empi 
durch die Hand des Geschäftsführers resp. Kassenfilhrers die für 
Zwecke bewilligten Mittel. 



Satznn^n der Eantgesellschaft. 46S 

§4. 
Organe der Gesellschaft sind: 

1) der Vorstand, 

2) der Geschäftsführer, 

3) der Eassenführer, falls ein solcher gewählt wird, 

4) der Verwaltungsausschuss, 

5) die allgemeine Mitgliederversammlung. 

§5. 
Vorstand der Gesellschaft ist der jedesmalige Kurator der Univer- 

It Halle- Wittenberg, oder sein Stellvertreter. Sollte das Amt eines Kurators 

aals wegfallen, so tritt an seine Stelle der jedesmalige Rektor oder dessen 

jUvertreter. Der Vorstand leitet die Sitzungen des Verwaltungsaus- 

lusses, sowie die allgemeinen Mitgliederversammlungen; in dieser Funktion 

m ihn der Geschäftsführer in Behinderungsfällen vertreten. Der Vor- 

nd vertritt die Gesellschaft gerichtlich und aussergerichtlich. Wenn in 

Ige mangelhafter Beteiligung keine Mitgliederversammlungen zu Stande 

nmen, und wenn für die übrigen Ämter der Gesellschaft sich keine 

3igneten Persönlichkeiten finden, so kann der Vorstand allein auch alle 

rigen Organe der Gesellschaft auf unbestimmte Zeit vertreten. 

§ 6. 

Der Geschäftsführer wird in der Mitglieder- Versammlung ge- 
hlt. Kommt eine solche nicht zustande, so gilt der bisherige Ge- 
läftsführer als wiedergewählt. Will er das Amt nicht wieder annehmen, 
hat der Vorstand das Recht, einer dazu geeigneten Persönlichkeit das 
it bis zur nächsten Mitglieder- Versammlung zu übertragen. 

Der Geschäftsführer hat die Korrespondenz der Gesellschaft zu 
iren, alle auf diese bezüglichen Schriftstücke aufzubewahren und neue 
bglieder zu werben. Er hat femer die Kasse der Gesellschaft, abgesehen 
1 dem als Kantstiftung (§ 12) bezeichneten Fonds, zu verwalten und 
besondere die Mitgliederbeiträge einzuziehen. Es kann auch ein be- 
iderer Kassenführer von der Mitglieder- Versammlung bestellt werden, 
r zugleich zum Stellvertreter des Geschäftsführers erannt werden kann. 

§7. 

Der Verwaltungsausschuss besteht in der Regel ans mindestens 
i'ersonen. Seine ständigen Mitglieder sind: der den Vorsitz führende 
rstand, der Geschäftsführer und der ev. Kassenführer sowie die ordent- 
len Professoren der Philosophie an der Universität Halle, falls sie nicht 
(drücklich ablehnen. 

Die anderen wechselnden Mitglieder werden für jedes Jahr in der 
s^emeinen Mitgliederversammlung durch einfache Stimmenmehrheit ge- 
hlt; kommt eine Versammlung nicht zu Stande, so gelten diese bisherigen 
tglieder des Verwaltungsausschusses als wiedergewählt. Nehmen sie 
( Amt nicht an, so kann der Vorstand geeignete Persönlichkeiten en 
tgliedem des Verwaltungsausschusses bestimmen. Der Verwaltungsaus- 
luss hat auch das Recht, sich über die Zahl 7 hinaus durch weitere 
eignete Personen zu ergänzen. 

Der Verwaltungsausschuss, dem der Geschäftsführer und der Kassen- 
irer jederzeit Rechenschaft abzulegen schuldig sind, entscheidet über die 
rwendung der verfügbaren Mittel, sowie über alle sonstigen wichtigen 
gemeinen Angelegenheiten der G^ellschaft. Der Verwaltungsausschu« 
scheidet insbesondere über alle von der Gesellschaft einzugehenden Ver- 
ichtungen. Darauf bezügliche Schriftstttcke, Verträge o. s. w. werden 



Sach-Register. 



Abbüdtheorie 69. 230 f. 455. 

Ästhetik 457. 

Affektion 77 f. 390. 

Algebra 35. 

Allgemeingültigkeit 44. 88. 209. 443. 

Altruismiis 238. 242. 

Analogien der Erfahrung 96. 190. 405. 

Analysis 4 ff. 37. 42. 214 ff. 

Analytisch 35 ff. 

Angeboren 217. 

Anschauung 24 ff. 82. 95 f. 130. 159 f. 

214. 285. 399. 
Antinomie 222. 260. 
Antizipationen der Wahrnehmung 94. 

96. 405. 
Aposteriori 88. 
Apperzeption (transsc.) 84, 87. 93. 164. 

180 ff. 404. 
Apprehension 191. 200. 209. 400. 
Apriori 44. 88 ff. 97. 217 ff. 279. 401. 

443. 457. 
Arbeit (mechan.) 127. 
Arithmetik 11. 204. 
Assoziation 244. 370. 
^Assoziatives Gesetz^ 11. 41. 
Atomismus 128. 456. 
Aufklärung 409. 
Ausgeschl. Dritte, das 63. 
Autonomie 253. 
Autorität 253. 

Axiom (mathem.) 27. 217. 223. 
Axiome der Anschauung 405. 

Begriff 29. 33. 56. 162. 

Bejahung 61. 189. 

Bewegung 127. 

Bewusstsein (transsc.) 51 ff. 131. 396. 

422. 
Bibel 104. 



Chemie 129. 
Christentum 328. 408 f. 
Commutatives Gesetz 11. 
Continuum 19 ff. 23. 214 f. 

Darwinismus 282. 

Dasein 134. 237. 

Determinismus 253. 

Dialektisch 3. 52 ff. 71. 285. 

Ding an sich 51. 66. 75 ff. 94. lA 

166. 214. 228. 361. 
DingUchkeit 229. 
Discursiv 33. 206. 
Dogmatismus 393. 

Egoismus 242. 321. 
EinbUdungskraft 168. 180 ff. 
Einzelwissenschaft 73. 
Emanatistisch 57. 
Empfindung 90 ff. 97. 138. 161. 38L 

399. 
Empirisch 42. 75 fl 85. 
„Empirische Behaftong^, die 82 ff. 
Empirismus 75. 89. 215 ff. 232 fL 391 
Energie 128. 130. 284. 
Erbsünde 103. 358. 
Erfahrung 42 ff. 75. 841 164 f. 212ft 

273. 300. 
ErinnerungsYorstellnng 370. 
Erkenntnistheorie 42. 129. 205. ^ 

424. 455. 459. 
Erscheinung 76. 95. 162 ff. 167. 4fi& 
Erziehung 350. 

Ethik 241. 248 ff. 411. 449 f. 
Eudämonismus 260. 
Existenzialgesete 228 ff. 

Form 86. 236. 

Freiheit 61. 72. 138. 241. 310. 

Freie Mathematik 48. 233. 



SatKOBgen der Eantgesellschaft. 46S 

§4. 
Organe der Gesellschaft sind: 

1) der Vorstand, 

2) der Geschftftsführer, 

3) der Kassenführer, falls ein solcher gewählt wird, 

4) der Verwaltnngsausschuss, 

5) die allgemeine Mitgliederversammlung. 

§5. 
Vorstand der Gesellschaft ist der jedesmalige Kurator der Univer- 

I Halle-Wittenberg, oder sein Stellvertreter, Sollte das Amt eines Kurators 

•Is wegfallen, so tritt an seine Stelle der jedesmalige Rektor oder dessen 

irertreter. Der Vorstand leitet die Sitzungen des Verwaltungsaus- 

mes, sowie die allgemeinen Mitgliederversammlungen ; in dieser Funktion 

n ihn der Geschäftsführer in Behinderungsfällen vertreten. Der Vor- 

id vertritt die Gesellschaft gerichtlich und aussergerichtlich. Wenn in 

^ mangelhafter Beteiligung keine Mitgliederversammlungen zu Stande 

imen, und wenn für die übrigen Ämter der Gesellschaft sich keine 

igneten Persönlichkeiten finden, so kann der Vorstand allein auch alle 

igen Organe der Gesellschaft auf unbestimmte Zeit vertreten. 

§ 6. 

Der Geschäftsführer wird in der Mitglieder- Versammlung ge- 
ilt. Kommt eine solche nicht zustande, so gilt der bisherige Ge- 
Iftsführer als wiedergewählt. Will er das Amt nicht wieder annehmen, 
lat der Vorstand das Recht, einer dazu geeigneten Persönlichkeit das 
b bis zur nächsten Mitglieder- Versammlung zu übertragen. 

Der Geschäftsführer hat die Korrespondenz der Gesellschaft zu 
"en, alle auf diese bezüglichen Schriftstücke aufzubewahren und neue 
^lieder zu werben. Er hat femer die Kasse der Gesellschaft, abgesehen 
dem als Kantstiftung (§ 12) bezeichneten Fonds, zu verwalten und 
esondere die Mitgliederbeiträge einzuziehen. Es kann auch ein be- 
lerer Kassenführer von der Mitglieder- Versammlung bestellt werden, 
zugleich zum Stellvertreter des Geschäftsführers erannt werden kann. 

§7. 

Der Verwaltungsausschuss besteht in der Regel ans mindestens 
ersonen. Seine ständigen Mitglieder sind: der den Vorsitz führende 
stand, der Geschäftsführer und der ev. Kassenführer sowie die ordent- 
ßn Professoren der Philosophie an der Universität Halle, falls sie nicht 
Irücklich ablehnen. 

Die anderen wechselnden Mitglieder werden für jedes Jahr in der 
emeinen Mitgliederversammlung durch einfache Stimmenmehrheit ge- 
lt; kommt eine Versammlung nicht zu Stande, so gelten diese bisherigen 
s^lieder des Verwaltungsausschusses als wiedergewählt. Nehmen sie 
Amt nicht an, so kann der Vorstand geeignete Persönlichkeiten zn 
gliedern des Ven^'altungsausschusses bestimmen. Der Verwaltnngsaus- 
iss hat auch das Recht, sich über die Zahl 7 hinaus durch weitere 
gnete Personen zu ergänzen. 

Der Verwaltungsausschuss, dem der GetchAftsführer and der Kassen- 
'er jederzeit Rechenschaft abzulegen schuldig sind, entscheidet über die 
Wendung der verfügbaren Mittel, sowie über alle sonstigen wichtigen 
emeinen Angelegenheiten der Gesellschaft. Der Verwaltungsansschuas 
cheidet insbesondere über alle von der GeseUachaft einzugehenden Ver- 
^htungen. Darauf bezügliche Schriftatttcke, Verträge iL a. w. werden 



468 



Register. 



Psychologie 77. 128. 243. 279. 456. 
Psychologismns 71. 

Rational 45. 71. 
Rationalismus 65. 75 fl 89. 392. 
Raum 85 f. 98. 210 ff. 2ia 285. 444. 
Realismus 78 f. 196. 296. 
Realität (Kategorie) 91. 
„Realitäten*", „unabhängige^ 361 ff. 
Recht 124. 139. 
Relationsbegriff 7. 284. 
Relationskalkül 5. 

Religionsphilosophie 142 f. 411. 438. 
Rezeptivität 79. 173. 206. 897 ff. 
Richtigkeit 220 ff. 
Rigorismus 239. 310. 441. 
Romantik 296. 

Schematismus 97. 157 ff. 456 f. 
Seele 241. 
Sein 124. 134. 
Selbstbeobachtung 245. 
Selbstgewissheit 60. 
Sinnesqualitäten 167. 362 ff. 
SinnUchkeit 31 f. 83 ff. 159. 165. 176. 

285. 380. 394 ff. 
Sittengesetz 107. 300. 
Solipsismus 238. 886. 
Sollen 237. 

Sozialphilosophie 139. 
Soziologie 257. 
Spannung 127. 

Spontaneität 72. 81. 178. 206. 397 ff. 
Staat 335. 411. 
Stetigkeit 15. 18. 

Substanz 6 f. 70.125. 128. 171.210.364. 
Substitutionstheorie 247. 
Subsumption 173. 



Syllogistik 7. 
Symbolismus 296. 
Synthesis 34 ff. 41 f. 84. 180. 
Synthetisch 35 f. 164. 172. 

Teleologisch 205. 
Theodicee 854. 
Theologie 142 f. 428 ff. 
Thomismus 251. 
Transfinit 21 ft 

„Unabhängigkeit der Axiome** SS 
„Unendliche Zahl" 28. 
Universum 240. 286. 
Urteü 136. 163 ff. 184 ff. 243. 4». 

Termögenstheorie (psychologische 
Vernunft 83 f. 249. 278. 419. 
Verstand 32. 56. 83 f. 159. 394 tL 
Vornehmheit (Ideal der) 295. 
Vorstellungsbeziehung 246. 

Wahrnehmung 88. 95. 246. 363. 31 
Wechselwirkung 86. 95. 
Weltanschauung 129 f. 
Weltbewusstsein 284. 
Weltrepublik 836. 
Wert 277. 301. 
Widerspruchsgesetz 39. 62. 6a tti 

447 f. 
Widerspruchslosigkeit (vei 

Formen der W.) 223 ff. 
Wiedergeburt, die sittliche 1(& 
WirkUchkeit 96. 277. 
Wissenschaftslehre 51 ff. 280. 

Zahlbegriff 11. 

Zeit 86. 98. 169. 210 fl 286. 411 



Register. 



469 



Personen-Register. 



1 137 f. 282. 


429. 


Dessoir 136. 


• 

Herz, M. 397. 


32. 




Düthey 407 ff. 412 ff. 


Hubert 216. 224. 


les 6. 60. 366. 443. 


Drews 282. 


Höffding 429. 


n 461. 






Höfler 127. 


08 292. 




Egg^ling 423. 


Hölderiin 409. 






Ehrenfels 382. 387. 


Hönigswald 132. 


1 167. 




Elsenhans 289 t 421. 


Hufeland 436 f. 


i 284. 




Erdmann, B. 113. 217 f. 


Hnme 141. 187 f. 239 t 


107. 




446. 


261. 287. 366. 420. 449. 


13. 277 f. 




Erdmann, J. E. 416. 


Husserl 34. 71. 288 f. 


n 131. 266. 




Eucken 74. 140. 266. 




rteu 186. 467. 


EukHd 222 ff. 227. 


Jacobi 193. 216. 390. 404 ft 


ra 






Jaesche 60 f. 


34. 276. 




Feuerhach 274. 


Itelson 8. 


in 186. 




Fichte 60 f. 67 ff. 72 ff. 




Y 196. 400. 




132 ff. 139. 143. 236 ff. 


Kehrbach 437. 


»h 443. 




274 ff. 282 ft 461 f. 


Kelsos 410. 


hal 424. 




Fischer, K. 269 ff. 277. 


Kepler 6. 


286. 




306. 396. 407. 416. 420. 


Kerry 22. 






423. 447. 


Kinkel 38. 279. 


3 186. 




Fittbogen 426. 429 ff. 


Kircher 298. 


mn 424. 




Förster-Nietzsche 432 ff. 


Kömer 369. 


rdt 463. 




Fries 132. 276. 286 f. 417 ff. 


E^ronecker 11. 


}9. 




423 ff. 


Külpe 436. 439 f. 


213. 




«alüei 6. 31. 132. 226. 


Iiaas 426. 


4. 16.20.26.48.233. 


262. 


liagrange 387. 


213. 216. 228. 234. 


Gibbon 409. 


Lange 400. 


90. 398. 




Goethe 143. 300. 363. 441 f. 


Lask 67. 277. 


Piain 277 f. ^ 


162. 


449. 


Lassalle 60. 


n 282. 




Goldscheid 266. 


Leclöre 274. 


31. 83. 87. 


164. 


Grimm 820 f. 


Leibniz 2. 31. 189. 176. 


66. 278. 286. 


396. 


Groos 277. 


217. 864. 396. 449. 


>9. 






Lessing, G. £. 409. 412. 


9. 




BLamilton 34. 


Lessing, Th. 299. 


; 1 ff. 12. 22. 32 f. 


Hartenstein 438 f. 


Liebmann 277. 


288. 




y. Hartmann 76. 274. 281 ff. 


Lipps 30. 129 f. 244 f. 


». 66. 286. 




Haym 408 ff. 412. 


283 f. 


i48. 




Hegel 60 ff. 66 ff. 72 f. 


Lipsius, F. 429. 






83. 143. 262. 274 ff. 


Lipsius, R. A. 428. 


62 f. 




407 ff. 


Lobatschewsky 221 ff. 


1 7. 11 f. 22 


. 


Hehnholtz 11. 71. 217 f. 


Locke 99. 261. 362. 366. 


8 6. 31. 46. 


143. 


Herbart 83. 136. 142 f. 


387. 896. 466 f. 


366. 887. 


401. 


Herder 369. 409 ff. 


Lotze 66 f. 186. 244. 


461. 466. 




Hemnann 428. 


Lttdemann 429. 



470 



Register. 



Mach 241. 
Machiavelli 409 f. 
Maeterlink 296. 
Maimon 80. 94. 
MaUy 374. 
Medicus 280 f. 
Meinecke 219. 
Meinong 29. 361 ff. 370 ff. 

381 ff. 390 ff. 
Mendelssohn 457. 
Messer 248 ff. 271 ff. 
Montesquieu 409. 
Münsterberg 69. 250 f. 

Natorp 12. 126. 255. 278. 

450. 
Nelson 290. 417 ff. 
Newton 138. 276. 446. 
Nicolai 63. 
Nietzsche 280. 284. 293 ff. 

410. 432 ff. 
Nohl 412. 415 f. 
Novalis 276. 296. 

Oelzelt 361 ff. 370 ff. 

382 ff. 391 f. 
Ostermeyer 305 f. 320 f. 

346. 
Ostwald 127 f. 241. 
Ott 407. 

Pasch 25 f. 

Paul 305. 

Paulsen 45. 113. 250. 255. 

307. 328. 396. 
Peano 4. 
Peirce 6. 
Pfleiderer 428. 



Phüon 450 f. 

Piaton 4. 216 f. 226. 450. 

456. 
Plotin 450 f. 
Poincar6 41. 130. 216. 

220 ff. 227 ff. 

Rava 124. 
Behmke 274. 
Reicke 437. 
Reischle 429. 
Renner 293. 
Renouvier 443 f. 
Ribot 453. 
Richter 426. 429. 
Rickert 65. 186 f. 255. 

257 f. 280. 424 f. 
Riehl 71. 132. 183. 255. 

396. 401. 420. 
Riemann 221 ff. 230. 
Ritschi 428. 
Rocques 407 ff. 
Romundt 305. 
Rosenkranz 407 f. 412. 
Rousseau 249. 409 f. 
RusseU 1 ff. 13 ff. 36 ff. 

Scheler 256. 421. 
Schelling 76. 83. 127. 143. 

282 ff. 408. 458. 
Schiller 48. 359. 441 f. 
Schleiermacher 143. 428. 

449. 
Schmidt, F. 7. 285. 
Schmidt, K. E. 296. 
Schoenflies 22. 
Schopenhauer 76 f. 143. 

209. 254. 262. 294. 379. 



Schroeder o. 

V. Schubert-Soldem Z 

Schulze (Aenesiden 

390. 
Schuppe 51. 232. 274 S 
Schweitzer 305. 310 f. 
Sigwart 62. 186. 
Simmel 80. 83. 214 f. 
Simon 298. 
Spinoza 143. 
Stadler 404. 
Stammler 139. 
Stehr 305. 
Susmann 298. 

Taine 247. 
Thomsen 412. 
Trieftnink 436 f. 

Vaihinger 276. 294. 31 

402. 426. 447. 
Volkelt 255. 274. 284. 42 
Voltaire 410. 
Vorländer 125 f. 304. 319 

338. 439. 

Whitehead 30. 
WiUmann 113. 
Windelband 62. 65. 69. / 

119. 183. 186 f. 2J 

278 ff. 420. 
Wüst 396. 
Wundt 77 f. 241. 250. 2! 

274 f. 429. 

Zenon 15. 
Ziegler 282. 298. 
Zschocke 157. 229. 



Register. 



471 



Besprochene Kantische Schriften. 



er wahren Schätzung der leben- 
in Kräfte 446. 
dilucidatio 446. 

^h einiger Betrachtungen über 
Optimismus 354. 
ilsche Spitzfindigkeit der vier 

Fig. 396 f. 

; mögl. Beweisgrund 446. 
d. neg. Grössen 446 ff. 
chkeit der Grundsätze 895 f. 
tation (1770) 394. 396 ff. 402 ff. 
ff. 

der reinen Vernunft 41. 51 f. 
77. 93. 120. 138. 167—212. 229. 

253. 273. 366. 392. 397 f. 402. 
ff. 
•omena 253. 402. 445. 



Grundlegung z. Metaphysik d. Sitten 

125 f. 239. 263. 

MutmassL Anfang der Menschenge- 
schichte 344. 366. 

Metaph. Anfangsgründe der Natur- 
wissenschaft 92 f. 

Elritik der praktischen Vernunft 120. 

126 f. 236. 308 f. 342. 

Kritik der Urteilskraft 117 ff. 236. 
Misslingen der Theodicee 365. 
Religion 106 ff. 263. 304—360. 427 ff. 

436. 
Fortschritte der Metaph. 431. 
Streit d. Fakultäten 428 ff. 437 f. 
Anthropologie 437 ff. 
Logik 60. 
Briefe 397. 430. 436. 445. 



Verfasser besprochener Novitäten. 



ann 131. 
I 141. 445. 449. 
nthal 424—426. 
140-141. 
nann 424. 
•ckdorff 262. 

per 261—262. 
orat 249. 

8 238—239. 
y 407-416. 
r 449-460. 
el 443—444. 



Eggeling 423—424. 
Eisler 266—266. 
Eleutheropulos 256—267. 
Elsenhans 132—133. 

Falter 450—461. 
Feug^e 262—263. 
Fischer, E. 136—136. 
Fittbogen 429—431. 
Flügel 141—143. 
Förster-Nietzsche 432-436. 

Habmcker 139. 
Höfler 127—129. 
Hönigswald 132. 



Hoffmann, A. 442—443. 
Hoffmann, R. 468—469. 

Jacoby 467—468. 
Jenson 264. 

Kern 268—259. 

I^ecl^re 452—453. 
Levy 454—465. 
Lipps 129—131. 

Marcus 259—260. 
Messer 248—253. 



458 Selbstanzeigen (Hoffmann). 

In der Interpretation des ästhetischen Erlebens aber zeigt sich Herder als 
Meister und ist seinem Gegner überlegen. Die Grundfragen der ftstheÜBchen 
Bedeutsamkeit und Vollkommenheit, die Frage nach der Verbindunff des 
Schönen mit dem Sittlichen, die Frage nach der ästhetischen Natar- 
Philosophie, die Sonderfragen der Musikästhetik, der Poetik, der Rhetorik, 
der Erhabenheitstheorie und der Theorie des Ideals: alle diese Fragen 
werden von Herder im Grunde richtiger und tiefer beantwortet als bei Kant. 

Am Schlüsse des Buches habe ich mich bemilht, in einem Aasblicke 
das methodische Verfahren Herders und das ihm entgegengesetzte Ver- 
fahren Kants in ihrer Bedeutung für die Wissenschaft der Aithetik über- 
haupt zu erfassen. Vielleicht vermögen diese Ausführungen über die 
Grenzen, die das Buch selbst sich stecken musste, hinausziueiten. — Ein 
detailliertes Inhaltsverzeichnis und vier Register sollen nicht nur bei einer 
gelegentlichen Benutzung des Buches selbst ihren Dienst leisten, sondern 
vor allem auch ein Studium aller zugehörigen Stellen aus der Kalligone 
und der Kritik der Urteilskraft ermöglichen. 

Königsberg. Günther Jacoby. 

Hoffmann, Karl, Dr. phil. Die Umbildung der Kantischen 
Lehre vom Genie in Schellings System des transscendentaleu 
Idealismus. Bd. LUI der „Bemer Studien zur Philosophie und ihrer 
Geschichte", herausgegeben von Dr. Ludwig Stein, Professor an der Uni- 
versität Bern. Bern, Scheitlin, Spring & Co., 1907. (IV und 68 S.). 

Die vorliegende Schrift (sie ist keine Dissertation, wie es möglicher- 
weise den Anschein haben könnte) geht auf persönliche Anregungen zurück, 
die der Verfasser vor Jahren von dem inzwischen verstorbenen Rudolf 
Haym erhalten hat, und für die er dem Geiste des Verstorbenen heute 
noch dankt. Sie hat es sich zum Ziel gesetzt, darzuthun, wie sich der im 
S. d. tr. Jd. enthaltene ästhetische Idealismus Schellings, der dort — in 
seinem ersten Stadium — in dem Begriff der Geniali&t gipfelt, aus der 
Kr. d. Ukr. entstammenden Gedanken entwickelt hat; zugleich will sie die 
Umbildungen aufzeigen, welche sich in der Bedeutung der Kantischen 
Gedanken dadurch vollziehen mussten, dass diese von dem kritischen 
Idealismus Kants aus durch einen konstruktiven Idealismus Fichtescher 
Herkunft durch^ngen. 

Die Arbeit zerfällt in drei Teile. Der erste Teil versucht es, den 
Gehalt der theoretischen und der praktischen Philosophie des S. d. tr. Id., 
insoweit er für die Absicht des Verfassers in Betracht kommt, knapp zu 
skizzieren und alsdann zu zeigen, wie in der Teleolo^e und Konstphilo* 
Sophie dieses Systems Kants Prinzip der Zweckmässigkeit wiederkehrt, aber 
aus einem regulativen Prinzip zu dem für die in Produktionen verlaufende 
Entwickelung des Selbstbewusstseins konstitutiven Prinzip überhaupt ge- 
worden ist. 

Eine vergleichende Darstellung von Kants Lehre vom Genie und 
der Kunstphilosophie im S. d. tr. Id., die das Selbstbewusstsein in der 
Entwickelungsphase der ästhetischen Produktion, d. i. die geniale Intelli- 
genz, zum Gegenstand hat, ist Aufgabe des zweiten Teils. Der Verfasser 
gelangt dabei zu dem Ergebnis, dass Schellings Betriff des Genies bloss 
eine Wiederholung der Kantischen Genielehre ist, jedoch gleichsam bei 
gänzlich verschobener Position. Aus dieser Verschiebung der Position 
resultiert als hauptsächlichster Unterschied der f ölende: Die Vereiniffung 
des Sittlich-Praktischen mit dem Theoretischen wird im Sinne Schemngs 
— analog der Umwandlung des Prinzips der Zweckmässigkeit als Modus 
der Veremigung von Freiheit und Notwendigkeit aus einem regulativen 
Prinzip in das konstitutive Prinzip überhaupt — durch die Produktion 
des Genies nicht auf Grund einer symbolischen Übertragung, sondern un- 
mittelbar dargestellt, während nach Kant das Schöne nur das „Symbol^ 
des Sittlichen war und entsprechend durch die ästhetischen laeen des 
Genies die sittlichen Begrifte oder Vemunftideen symbolisch dargestellt 
wurden. 



^ 



Band Xn. Heft 3 u. 4. 

CE'i.lALLIB' 
UWV.Cf 

umso 

KANT- 
STUDIEN. 

PHILOSOPHISCHE ZEITSCHRIFT 

UNTER MITWIRKUNO VON 

E. ADICKES, t. BOUTROUX, EDW. CAIRD, 

J. E. CREIGHTON, W. DILTHEY, B. ERDMANN. R. EUCKEN, M. HEINZE 

A. RIEHL, F. TOCCO. W. WINDELBAND 

UND MIT UNTERSTÜTZUNG DER .KANTGESELLSCHAFT' 

HERAUSGEGEBEN VON 



D«- HANS VAIHINGER im, D"- BRUNO BAUCH 

PROFESSOR IS HALLtL l'Hl VATI tot KST IS HALLE, 





BERLIN, 

VERLAG VON REUTHER & REICHARD 
1907. 

WILIJAM9 A SOBIIATI':, LKMIKE i BUECHSKE, 



INHALT. 



Seit« 

Kuno Fischer f« Von Bruno Bauch ........ 269 

Die deutsclie Pliiiosophie im Jalire 1906. Von Oskar Ewald 273 

Kants Lehre vom radikalen Bösen. Von Gottfried Fittbogen d03 

Die unabhängigen Realitäten. Von Alois Höfler .... aei 

Sinnlichl(eit und Denken, ein Beitrag zur Kantischeii Er- 
kenntnistheorie. Von Felix Kuberka 393 

Aus Hegels FrDhzeit. Von AntonThomsen 407 

Kant und Fries. Von W. Eeinecke 4i7 

Neue Darstellung und Deutung der Lehre Kants vom Glauben. 

Von E. Sänger 426 

Eine neue Ausgabe der Werke Nietzsches. Von Bruno 

Bauch 432 

Dar 7. Band der Berliner Kant-Ausgabe. Von E. v. Aster 436 

Recensionen : 

Vorländer. K,, Kant, Schiller, Goethe. Von J. Cohn . . . 441 

Hoffmann, A., Ben^ Descartes, Von B. Christiansen . . 442 

Dnpr^el, E.. Essai sur les Categories. Von P. Hauck . . . 443 

Böhm, P., Die vorkritischen Schriften Kants. VonE.v. Aster 445 

Domer, A., Individuelle und soziale Ethik. Von E. Franz . 449 
Falter, G., Beiträge zur Geschichte der Idee. Teil I. Philon 

und Plotin. Von E. Franz 450 

Raicb, M., Fichte, seine Ethik und seine Stellung zum Pro- 
blem des Individualismus. Von O. Braun 451 

Ledere, A., Le mysticisme catholique et Fäme de Dante. 

Von K. Oesterreich 452 

Selbstanzeigen: 

Levy, Kants Lehre vom Schematismus. S. 454. — Schultz, 
Die drei Welten der .Erkenntnistheorie. S. 455. — Jacoby, 
Herders und Kants Ästhetik. S. 457. — Hoffmann, Die 
Umbildung der Kantischen Lehre vom Genie in Schellings 
System des transscendentalen Idealismus. S. 458. —Willems, 
Die Erkenntnislehre des modernen Idealismus. S. 459. 

Mitteilungen 460 

Ein ungedruckter Brief Kants. — Berichtigungen. 

Kantgeaellacliafl: Bericht über die Generalversammlung vom 

22. April 1907 461 

Revidierte Statuten der KantgesellacliRlt 462 



Die 9yKuit8tBdieii*^ erscheinen in zwanglosen Heften, welche zu 
Binden von circa 30 Bogen zusammengefasst werden. Einzelne Hefte 
kfxteu je nach Umfang M. 5.— bis M. 6.—. 

■^ Preis des Bandes Ton 4 Heften 12 Mark. "VI 

Die Herren Autoren resp. Verleger werden im Interesse der Voll- 
ständigkeit der Bibliographie ersucht, ihre sänuliclien auf Kant direkt 
oder indirekt beztiglielien Publikationen, namentlich auch Dissertationen, 
Programme. Sondernbdriicke. Gelegenlieitsschriften, Zeitungsaufsätze 
ere. an Privatdozent Dr. Bauch. Halle a. S. gelany:ftu zu lassen! entweder 
direkt oder durch Vermittlung der Verlags-Buchhandhnijr Reutlier vS: 
Reichard. Berlin W. U, Köthenerstr. 4. Eine Garantie für die Be- 
sprechung der eingesandten Exemplare übernimmt die Redaktion nicht. 

■^ Einsendung von Selbstauzeigen erwünscht. "VI 

Beiträge zu den ^Kautstiidieu'^. sowie sämtliche für ilie Redak- 
tion bestimmten Mitteilungen sind zu richten an 

Privatdozent Dr. Bruno Bauch, Halle a.S., JTOc^tlu^str. 41a. 

Jahresraitglieder der ««KantgeselNchaft^ 

erhalten die «Kant.^tudien**, sowie die „Er^z^änziiiitrshei'to" derselben «rratis. 

Satzungen der ..Kantgesellschaft** durch Prof. Dr. Vaihinger in UalUa.s, 

Reiehardt Strasse 15. an den auch BeitrittsiM'klänniiren zu rii'hton sind. 



Ergänzungshefte der „Kantsttidien*\ 

(Verlag von Reuther & Reichard in Berlin W. 9.) 

Nr. 1. G-HttniauUn •/•• Kants Gottcsbcgrift* in seiner posi- 
tiven Entwicklung .ilk. 2.80, für AlKUiinMitfii ih*r „Kaiit- 
studien" Mk. 2.10K 

Nr. 2. Oe»terreir1u K., Kant und die Metaphysik uMk. :VJ<>, 
für Abomionten dor „Kantstudicn" Mk. 2.40). 

Nr. 3. I}örlngf O«, Feuerbaclis Straftlieoric und ilir ViM'hiiltiiis 
zur Kautischen I^hilosophio (Mk. 1.2o, für Ahoiincntfii «Irr 
„Kantstudien" Jlk. O.OOi. 

No. 4. Kertz, (?•• Die ReIi|;ionsphilosophie Joh. Heinr. 
Tieftrunks. Ein Hoiti'iipf zur (n'schii'hti* d^r Kantisolwn 
Schule. Mit einem Hildnis 'i'ii'ftrunks (Mk. 2.40, für 
Abonnenten der ^Kantstudieu" Jlk. l.SOi. 

Nr. 5. FiHclier, H. 7v., Kants Stil in der Kritik der reinen 
Vernunft nebst Ausfülirun<ren über ein neue.s Stil«r«'srtz 
auf histürisch-kritiseher und sprachpsycbohijLfisriier (Srund- 
lage (Mk. 4.~, für die Abonnenten d«T „Kantstudien" 
Mk. 3.--). 

Nr. ß. AlchePf Sei\, Kants Begriff der Erkenntnis, verRlichen 
mit dem des Aristoteles. Gekrönte Preis.sebrift 
(Mk. 4.5(), für die Abonnenten der ^Kantstudien^ Mk. S.tio«.