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KANTSTUDIEN.
PHILOSOPillSCHK ZIMTSCHIUFT
UNTER MITWIRKUNG
VON
E. ADICKES, E. BOUTROUX, EDW. CAIRD,
C. CANTONI, J. E. CREIGHTON, W. DILTIIEY, B. ERDMANN, M. HEINZE,
R. REICKE, A. RIEIIL, W. WINDELBAND
UND ANDEREN FACHGENOSSEN
HERAUSGEGEBEN VON
DR. HANS VAIHINGER,
0. 0. PROFESSOK DER rilll.O.SUl'mfc; AX 1)1;K UNIVKIJSITAT HALLE A. S.
VIERTER BAND.
qi>^
WILLIAMS & NOUGATE,
LONDON.
BERLIN.
VEKLA(; VON KEIJTHEK & REICH ARU
19Ö0.
LEMOKK k BUKCHNER.
NEW vor; K.
H. LE SOUDIER,
PARIS.
CAltLO ('LAUSEN,
T 0 R I N 0.
5
AJlc Recht.j vorbolialten.
INHALT.
Seite
Kant der IMiilosopli des Protestantismus. Von F. Paulsen . l
War Kaut Pessimist? 1. Von M. Wentscher 32
Kiue frauzösiselie Kontroverse über Kants Ansicht vom Kriege.
Auch ein Wort zur Friedenskonferen/,. ^'on H. \'ai hinger oO
Zu Kants Philosophie der tJeschichte mit besonderer Beziehung
auf K. Lamprecht. Von F. Medicus 61
Lichtenberg als Philosoph und seine Beziehnngen zu Kant.
Von A. Neumaun 68
Kants Lehre vom höchsten Gut. Von A. Döring ... 94
Das Kautbild des Fürsten von Pless. (Mit Abbildung.) \'on
P. von Lind 102
Fichtes Atheismusstreit und die Kantische Philosophie. Eine
Säkularbetracbtung. Von H. Kick er t 1^7
Der Streit um das Ding au sich und seine Erneuerung im
sozialistischen Lager. Von F. Staudinger iß"
War Kaut Pessimist? II. Von M. Wentscher 190
Der Begriff des ..transscendentaleu Gegenstandes- bei Kant
— und Schopenhauers Kritik desselben. Eine Kecht-
fertigung Kants. 1. Von M. W arten berg 202
Der Begrift" der „hvT)othetischen Imperative- in der Ethik
Kants, ^'on C. Stange 232
Kants Kritik der Irteilskraft in ihrer Beziehung zu den
beiden anderen Kritiken und zu den uachkautischeu
Systemen. Von A. Dorn er 248
IV
flsitii
Tln> Relation ln'tweeii lliiiiian Consrinusiu'ss aml its Ideal a^
coiic.mn.mI l»y Kant and Kiclilr l'«\ K. Ü laHM.f. . . i'kü
Konjektnifii /u Kants Kritik der irincn \ Cniiiiiri. \ on
■ K. Wille •■'"
Mf)l
118
Kant lind der Sor.ialismiis. \ on K. Norliiudrr
Kants \erliiiltiiis /iii' Mcla|ili>sik. \<'ii 1". I'aiilsen . .
Neue Konjekturen /n Kanls Kritik der reinen NCrniinrt. \<m
K. Wille
Siebzi:: textkritiselie Kand;:lossen zur Analytik. Von
1 1 . \ a i li i II j: e r
■148
462
Rezensionen.
0. Stock. Lebenszweck uivl Lebensaiiffassun^'. Von F Knief^er H)7
0. Stock. rsycliitIo;,'i-<flif lind orkenntnistlK^oretisehe Hüf,'riin(lnn.ir
der Ethik \(>n «loiu.selhen I '"
V. Basch. Essai eritiqne sur lEsthctique do Kant. Von II. Spitzer 316
C. Didio. Die moderne Moral und ihre drundprinzipien. Von
F. Krueger '"'-''^'
J. A. Mac Vannel. Hegel's Doctrine ol' tho Will. Von demselben 3-'l
Selbstaiizeijren.
Schneider. 13egrifT und Arten dos Ai)riori in der theoreiiselion
l'liilosophie Kants. Sil). — Bell, With wliat ri^'lit is Kants Critupic
of" Pure Keason ealled a Theory of ExperienccV S. 112. Hacks.
Feber Kants svntlietisc-lie Urteile a priori IV. S. 113. — Pajk,
Praktische Philosoiihie. S. 114 — Gattermann. Ueber das Verhältnis
von Kants Inauf,'uraldissertation vom Jahre 1770 zu der Kr. d. r. V.
g |]5 _ Hollmann. Prolegomena zur (ienesis der Keli;,äons-
philosophie Kants, .s. 116. - Caldwell. Schopenhauers System in
its Philosophical Significance. >. J17.
Marcus. I>ip exakte .\ufdeckung des P'undamcnts der Sittlichkeit
und Religion und die Konstruktion der Welt aus den Elementen
des Kant. S. 328. — Petronievics. Der Satz vom Grunde. S. 326.
- Staudinger. Ethik und Politik. S. 327.
Litteraturberielit.
Von F. Medicus.
Heumann. Das Verhältnis des Ewigen und des Historischen in der
IJeli'nonsphilosophie Kants und Lotzes. S. 119. - Burckhardt.
Kants objektiver Idealismus. S. 119. - Nolte. Verhältnis von Smn-
lichkeit und Denken in Kants Terminologie. S. 11 it. — Meusel.
Was verdankt Schiller seinem KantstudiumV 8. 120. — Warda. Kants
Bewerbung um eine Lehrerstelle. S. 120. — Jacobskötter, Die
Psychologie D. Tiedemanns. S. 120. — Siebert, Geschichte der neueren
Seite
doutschon Philnsophic -cit Hef,''('l. ^^. 1'Jl. — Fouillee. I-o iiionveniont
iili'aliste. S. l'-'l. Fouillee. CoiuU' et Kant. S. li-'l. Krieg. Wille
lind Freilii'it in der neueren Pliiltisopliie. S. 122. — Eisler. Kintiilirunj^
in die riiilosopliie. S. 12_'. Volkmann. Entwicklung'- der FlillMSophie.
S. 123. - Eisler, Hlemente der l.nirik. S 123. Creighton. \n In-
troductory Loffic. S. 128. — Achelis. Klliik s j-jH. - Vischer.
Das Sehtino und dio Kunst. S. 124. - Unbehaun. l'hilosopldselie
Selektion.silieorio. S. 125.
Faickenberg. Hiltsbuch zur Gesehiehte der Pliilo-sophie seit Kant.
.< 327 Ludwich. Kants .Stellung zum Grieohentuin. S. 328. —
Wyneken. Kant- Tlatonismus S. 329. Frommel. N'erhältnis von
mechanischer und teleoio-^ischer Naturerkläruuf^ bei Kant und Lotze.
S 330 - Salits. Darstellung und Kritik der Jvantischen Lehre von der
Willenslreilieit. S. 331. -- Bormann. Kantsche Kthik und Occultismus.
S 333. Döring. Menschlieh-natiirliclie Sittenlehre, .s. 33."). —
Schultze. Kritik der Ueligionstheorie Kauwenboffs. S. 336. —
Dunkmann. Problem der Freiheit. S. 386. — Brömse. Realität der
Zeit. S. 337. - Mongre. ("hao.s in kosmischer Auslese. S. 338. —
Kinkel. Theorie des L'rteils und Schlusses. S. 339. — Budde. Die
Beweise für das Dasein (^ottes. S. 340. — Volkmann, Schillers
Philosophie. S. 341. — Nessler. Die wichtigsten Versuche einer
.Metaphysik des Sittlichen. S. 341. — Windelband. Geschichte der
neueren Philosophie. S. 342.
Bibliographische Notizen.
Lasswitz. — Koppelmann. — Adlhoch. — Horinek. - Staudinger.
— Johnstobn. — Bormann. — Guttzeit. — Lublinski. — Eucken. —
Chaniberlaiu. — Jodl. - Cantoni. — Renouvier. — Desdouits . . 125
Thiele. - Marsebner. — Paulsen. — Romundt. — Cohen. —
Woltmann. — Schwann. — Lazarus. — Calkins. — Barth. —
Willenbücher. — Wolff. — te I'eerdt. — Groos. — Reinke. —
Armstedt. — Becker. — Russell. — Mc Intyre. — BallauflF. —
Duboc. — Bleek. - Schmidt. — Trojane. — Müller. — Rolffs . 344
Saenger. — Goldsohmidt. — Schöndürtfer. - Heman. Überweg-
Heinze. — Deutschthümler. — Basch. — Mayer. — Mongre. —
Dix. — Döring. — Steiner. — Stein 464
Zeitschriften.schau 129. 362
Mitteilungen.
Kant und Swedenborg 134
Wieder ein neues Kantbild. (Mit Abbildung.) — Eine neue Aus-
gabe der Kritik der reinen Vernunft (Vorländer). Von F. Medicu.s.
— Einige bisher unedierte HeHexionen Kants. — Kant auf drei
Kongressen. — Charlotte Benigna Kant f. — Zu Villers' Bericht
an Napoleon über die Kantische Philosophie 355
Lose Blätter aus Kants Nachlass (R. Reicke). — Die Kant-
Manuskripte im Prussia-Museum (A. Wardai. — Neues über Kants
Vorfahren (J. Sembritzki). — Ueber das Verhältnis von Kant
und Goethe (G. Simmel) 469
Varia.
Vorlesungen über Kant. Köuigsberger Kantgeburtatagsfeier im
Jahre 1899 136
VI
HhMv
Miniaturhildnis Kants im Hositzc von A W'ardn in Könif,'8herti: i l'r.
Mit AhliiltliiMir. ) KantrpliiiuiiMi ln>i .larolt (iriinin (J. Wcisstcin )
N'oui Aiilo^'raplu'iimarkt Kant in zwi-i liniiiicr rnivrrsitäts-
redon. - IMo Kanlisclu» IMiilosophic in den Volkslioclisoliulktirst^n
Vorlrä^M« illxT dio Hlliik Kaii(> von .M. Kiiini'nlMT;c Kino
KaiUrominisicn/, aus der tran/.ti^isciicii IkOvolulioii l'iuisanlfjfalKv
— NiMi f,'olun«lont> Kautliiit'lc Oic Nt'iic i\anlaii>;;al»o. - Driick-
tVhlcr lu'i Kant. Kinc AntVordciiini,' /nr .Mitarhcit 475
Kt'^isl«'!'.
Saoiiro;;istor 481
Bi'sjtroclK'nc Kantisclip Scliriften 487
Persononregistrr . 488
Vorfasscr bosprocliener Novitäten 490
Verzeiclinis der Mitarbeiter ... 492
U^ X^r ^ 4'^'^-^ • ^^ •
Das Kantbild des Fürsten y. Pless.
Gemalt von F. W. SeneY/aldt.
Gftbr Plettner. Halle-Saale.
Kant der Philosoph des Protestantismus.^)
Von Friedrioh Paulsen.
I.
Der Neuthomismus, die Philosophie des restaurierten Katholizis-
mus der Gegenwart, sammelt seine Kräfte zum Angritf auf Kant;
ihn niederzuringen erscheint als die grosse Aufgabe der Zeit. So
ist 0. Willmanns Geschichte des Idealismus, die jetzt in drei Bänden
vollendet vorliegt, in ihrer historischen wie in ihrer kritischen Dar-
legung durchaus auf dieses Ziel gerichtet: Kants Philosophie erscheint
in der historischen Betrachtung als der tiefste Punkt, den die
Philosophie auf ihrem Niedergang seit der lutherischen Kirchen-
revolution erreicht hat, in der kritischen Beleuchtung als ein völlig
haltloser, widerspruchsvoller Subjektivismus und Skeptizisnms. Und
der Triumph, womit dieses Werk in jenen Kreisen aufgenommen
worden ist. scheint sagen zu wollen: der Feind ist vernichtet, der
Protestantismus auch hier geschlagen! Kant ist abgethan, es lebe
der heilige Thomas und die philosophia perennis!
Unter solchen Umständen wird eine Untersuchung des Verhält-
nisses, in dem die Kantische Philosophie zum Protestantisnms und
1) Der nachfolgende Aufsatz, zu dem der Anstofs von dem verehrten Heraus-
geber dieser Zeitschrift ausgegangen ist, behandelt etwas eingehender ein Thema, das
ich in meinem eben in zweiter Auflage erschienenen Buch über Kant (in From-
manns philos. Khissikemi nur gestreift habe. Darf ich hoffen, dass dieser Auf-
satz etwas beiträgt, K.ants geschichtliche Stellung genauer zu bestimmen, so
muss ich andererseits für manches, was hier einfach hingestellt oder voraus-
gesetzt wird, mich auf jenes Buch berufen. — Über das gleich zu erwähnend
Werk von 0. Willmann habe ich mich in der deutschen Rundschau (August 1898)
ausführlicher ausgesprochen. — Ich weise noch hin auf die vortreffliche Schrift
von K. Eucken, Die Philosophie des Thomcis von Aquino und die Kultur der
Neuzeit (1886), wo ebenso einsichtig die Bedeutung des Thomas für seine Zeit,
als die Unmöglichkeit für unsere Zeit, sich auf den Standpunkt des 13. Jahr-
hunderts zurückzuversetzen, gezeigt wird. Über ,, Kants Bedeutung für den
Protestantismus" s. auch Dr. Katzer (Hefte zur christl Welt 1897 1.
Kantstudien IV. 1
.1 Frirtlriili I':iulscn,
aiulen-rsoits zur katli.'lisolicn riiilns<i|iliic steht, nicht uii/citjrcniäss
st'in. K'h nu'int', dass dir rrotcstaiitisimis keine Trsaelie hat. der
Kaniiselien l'hih>sophie als seiner t-ehten Kriieht sich /,u schämen,
wie andererseits Kant seine Ahkunft von Luther niclit wird \er-
leuirnen woUen.
Kant liat sich die lü.lh' eines |)hihis(tphischen \ (»rkäniiders lilr
den l'rotestantisnuis nidit seiher liei^rele^rt; seine Nei>:un^- für die
prot«'stantische Landeskirche, der er äusserlich an,::ehürte, war nicht
::ross; ersah Uherhau|)t seine -reschichtliche Stellung' incht vom Stand-
punkt des kirchlichen Lehens. Dennoch würde er die Kcdle auch
nicht ah_L'elehnt hahen. Kr hätte sich wohl unschwer üherzeujren
lassen, dass der Dojrmatisnuis, den er mit den Wurzeln ausi,n'h(d)en
zu hahen Uherzeufrt war. die herrschende WoltTische Schulmeta|)hysik,
zuletzt doch nichts anderes sei als ein i'twas ausfjearteter Schösslin^^
der scholastischen, d. i. der mittelalterlich-katholischen Schulphilo-
sophie: der Nährhoden heider das Verlanjren, Glaulie und Wissen
in ein einheitliches System zusammeuzuhie>ren, oder die Grund-
artikel des kirchlichen Lehrsystems aus der Vernunft ahzuleiten.
Freilich ist ein rnterschied zwischen Thomas und Woltl': Thomas
lecte, hei allem Zutrauen zur \'erimnft. zuletzt den Nachdruck auf
die kirchliche Autorität, die den Glauhcn feststellt, während Woltf
der Vernunft, die iirzwischen in der He^^•o^hrinirun{: der modernen
Wissenschaften ihren grossen Befähiirungsnachweis geführt hatte, das
letzte Wort einzuräumen geneigt war. Aher für eine Betrachtung,
die darauf ausgeht, die Begründung des Glauhens durch die speku-
lative Vernunft üherhaupt ahzuschafllen. tritt dieser Unterschied zurück;
es ist eine Verschiedenheit der Accentuation, die mehr in den Zeit-
umständen als im Prinzip ihren Grund hat. Gemeinsam ist beiden
die Grundform des Denkens, der rationalistische Dogmatismus.
Ich versuche zunächst das Verhältnis Kants zu dieser Gedanken-
richtung durch eine kurze begriffliche und geschichtliche Darlegung
ein wenig genauer zu bestimmen.
Die Frage nach dem Verhältnis der Vernunft zum religiösen
Glauben lässt eine dreifache Antwort zu; wir wollen sie nennen:
die rationalistische, die semirationalistische, die irrationa-
listische. Ich bestimme den Sinn der Ausdrücke, wobei denn selbst-
verständlich ist, dass diese begrifflichen Schemata mannigfache
Variationen. Annäherungen, Ausgleichungen zulassen.
Der Rationalismus behauptet: die Vernunft vermag aus sich
allein ein System absoluter Wahrheit hervorzubringen, das zugleich
Kant der Philosoph des Protestantismus. 3
den Wert eines religiösen Glaubens hat. So J'lato und Aristoteles,
und im Grunde alle griechischen Philosophen. So in der Neuzeit
vor allem die spekulativen Phihtsophen; Hegels Philosophie nimmt
zugleich den Wert einer Religion in Anspruch: der kirchliche Glaube
nur eine unvollkommene, vorstelluiigsmässige Form derselben Wahr-
heit, die in ihrer eigentlichen Form, als absolutes Wissen, sich in
der Philosophie darstellt.
Der Semirationalismus behauptet: wenn es auch ausser der
Vernunfterkenntnis Wahrheiten aus anderer, höherer Quelle giebt,
aus göttlicher Offenbarung, die in der Kirche fliesst, so sind doch
gewisse allgemeine Grundzüge der Glaubenslehre durch die Vernunft
als wahr zu erweisen. Wir erhalten auf diese Weise eine natür-
liche Keligion neben der geoffenbarten, der sie zur Grundlage
dient. So Thomas und mit ihm Jetzt einstimmig die katholische
Kirche. So auch die dogmatische Philosophie des 17. und IS. Jahr-
hunderts, die Descartes, Locke, Leibniz, Wolff.
Der Irrationalismus dagegen behauptet: die Vernunft kann
mit dem blossen Wissen nicht über die empirische Wirklichkeit hinaus;
sie weiss nichts von Gott und göttlichen Dingen; die Keligion steht
allein auf dem Glauben, nicht auf Beweisen. — Hierzu neigt die
uominalistische Richtung in der Philosophie des ausgehenden Mittel-
alters. Auf diesem Boden steht Luther. Auf denselben Boden stellte
sich Kant.
Ich füge dem begrifflichen Schema ein paar Umrisse der histo-
rischen Entwickelung ein.
Die idealistische Philosophie der Griechen ist ratio-
nalistisch, in doppeltem Sinne. In formaler Hinsicht: Vernunft ist
die einzige Quelle der Wahrheit; es giebt keine Instanz über der
Vernunft. Und in materialer Hinsicht: die Vernunft führt zu der
Erkenntnis, dass \'ernunft das absolute Weltprinzip ist. Die Wirk-
lichkeit ist in ihrem Wesen ein System vernünftiger Gedanken, darin
sind Plato und Aristoteles einig, nur dass sie den Zusatz des „Anderen"
zur Konstruktion der sichtbaren Welt etwas verschieden fassen.
Einig sind sie auch darin, dass die menschliche Vernunft, abgeleitet
aus der absoluten Vernunft, jene kosmischen Gedanken zu erkennen
vermag. Nähere Bestimmtheit erhält diese idealistische Philosophie
durch ihren Gegensatz, die materialistische, die in den Gedanken bloss
zufällige Nebenvorgänge sieht, die nicht in den Dingen, sondern l)loss
im Subjekt sind: die Dinge an sich ein System von gedankenlosen
Atomen.
1*
4 KriiMlrifli Paiilst.« n,
Dio I'liiloso|)hi(' des Mittelalters ist sciniratinnalistiscii. \ Cr-
miiit't i>t eiiu- (Quelle der Wahrheit, alter nicht die eiiizi-;c; Uher der
\eriuinlterkeimtnis <:iel)t es eine höhere Wahrheit aus fröttlicher
Hinirelniiiir; die OtVeidtaninj: ist der letzte Massstah aller Wahrheit.
Doch fuhrt die \ «Tiuiiilt aus sieh seiher auf eine Ansehauuuir der
Dinjre. die der OfVenharuiii: eiiti;-ej:enk(»Minit und den Wei:- bereitet. Im
hesenderen erkemit sie, wie die jrntssen «rriechischen l'hil(»s(>|theii ohne
die ühernatllrliohe Krlriiclituni: iresehen hahen. dass der (wund der
Dinire in einer ewip'u \einunt't lie.irt. Sie zeif:t ferner, dass die
spezifischen ileilslchreii des kirchlichen (ilauhens. wenn sie auch
nicht aus der \ ernunft aliireleitet werden können, doch auch nicht
wider die N'ernunft sind (non contra, sed supra ratiouenj).
Das ist die Anschauunj:-. die in der Philoso|)hie des heil. Thomas
systematisiert ist. In (iott «riebt es eine einheitliche allumfassende
Wahrheit; dem Menschen wird die W^ihrheit teils durch die Ver-
nunft, teils durch die Oflenharunic ^ejrehen. Wissen und (41aul)en
mlissen sicii hier zur Einheit erjränzen. Im Gebiet des Wissens
kann Aristoteles, der Meister derer, die da wissen, Führer sein; im
Gebiet des Glauliens ist es die vom Geist Gottes geleitete Kirche.
Für das irdische Leben ist dies der gegebene Zustand; im Zustand
der Vollendung, der himmlischen Glorie, geht der Glaube in das
iSchaoen über. Und man kann demnach sagen: der Glaube ist
eigentlich ein bloss vorläufiges, bis das vollkommene Erkennen ihn
überflüssig macht. Der Form nach wäre also das Erkennen das
Höhere, dem Inhalt nach freilich ist der Glaube das Höhere: die
articuli fidei stehen an Wichtigkeit und Gewissheit allem irdischen
Erkennen voran.
So sind in dem thomistischen System die beiden grossen geistigen
Inhalte des späteren Mittelalters, die christliche Religion in der Form
des kirchlichen Dogmas und die griechische W^issenschaft in der
Gestalt des aristotelischen Systems in eins gearbeitet, sich gegen-
seitig ergänzend und stützend: die Vernunft unterbaut den Glauben,
der Glaube bestätigt und ergänzt die Vernunfterkenntnis. Die spätere
scholastische Philosophie. Duns Scotus. Occam, haben die Einheit
freilich aufgelockert, sie haben, dem Zuge der kirchlichen Ent-
wickelung selbst folgend, immer stärker die autoritas auf Kosten
der ratio betont, behauptend: die Vernunft sei weder imstande,
den Glauben, auch nicht seine allgemeinen Grundartikel, zu beweisen,
noch sei ihre Mitwirkung erforderlich, da die Pflicht des Gehorsams
gegen die kirchliche Autorität unbedingt gelte. Aber nach der grossen
Kant der Philosoph iles Protestantismus. 5
Erschütterung durch die Ketbriiiation ist die Kirche unter der Führung
der Gesellschaft Jesu, die v(»n Anfan-r an den Thomas zu ihrem
Philosctphen erwählt hatte, auf die Seite des thomistischen Systems
getreten. Die beiden letzten Päpste, Pius IX. und Leo XIII.. haben
die Philosophie des Thomas zur offiziellen Philosophie der Kirche
erhoben; sie beherrscht jetzt, seit der Encyclica Aeterni Patris vom
Jahre 1879, in allen kirchlichen Lehranstalten den ithilosophischen
Unterricht.
Man wird in der That annehmen dürfen, dass dies für die Be-
festigung der kirchlichen Autorität das zuträglichste System ist. Der
autoritäre Absolutisnms, wie ihn Occam setzt, hat etwas Gefährliches
und Revoltierendes. Der konziliatorische, semirationalistische Thomis-
mus beschwichtigt die Ansprüche der Vernunft, indem er ihr die
Khre der Mitwirkung bei der Bildung des allumfassenden philosophisch-
theologischen Systems lässt. Die Widerstände werden, wie bei dem
konstitutionellen System, innerlich ül)erwunden. Die Vernunft, in
den Dienst des Glaubens gestellt, und durch ein höchst kompliziertes
dialektisches System zugleich trainiert und ermüdet, lernt allmählich
die Selbstbescheidung mit Lust üben; und die kirchliche Lehre er-
scheint so von allen Seiten als die unanfechtbare, durch Offenbarung
und Vernunft gleichermassen gegebene Wahrheit. Schliesst man die
Vernunft ganz aus, so gerät sie leicht auf eigene Wege und Abwege
und findet zuletzt an ihren eigenen Gedanken so grosses Wohlgefallen,
dass sie, wenn sie sich auch um des Friedens willen äusserlich der
Autorität unterwirft, innerlich doch sich völlig emanzipiert und dann
bloss die Gelegenheit abwartet, das Joch, das sie längst hasst und
verh<»hnt, gänzlich abzuwerfen.
Der Protestantismus ist in seinem Ursprung und Wesen
irrationalistisch: die Vernunft kann aus sich von Glaubenssachen
nichts erkennen; das „Wort Gottes" ist die einzige Quelle des
Glaubens; die Aufgabe der Vernunft gegenüber der heiligen Schrift
ist eine reine formale: den lauteren Sinn der Schrift festzustellen.
Theologie ist })hilologische Exegese, graramatica in sacra pagina
occupata; eine rationale, philosophische Begründung der Heilswahrheit
ist weder möglich noch notwendig. Die \ernunft führt, sich selbst
überlassen, zu einem naturalistischen Weltsystem, das Übernatürliche
liegt ausserhalb ihres Vermögens. Also, reinliche Scheidung: die
Vernunft lasse von den heiligen Dingen, in die sie nur Verwirrung
und Dunkelheit hineinträgt. Die natürlichen Dinge, das ist die
Kehrseite der Ausweisung aus der Theologie, mag sie dann nach
6 Frioilrioh I'auls.Mi.
iliiTi- riiroiu'ii Kcircl >'u-\\ /uicchtli'^^-ii ; der (llaiilir kiiiiiiiicit sicli
nicht um I'liNsik iiiitl Kosmoloiric.
Das ist Liitlirrs AullassuiiL'. Sic hiin-i mii sciiiciii tirlstcii Kr-
It'ltiiis /iis;iiiiiiicii: der Mriiscli wird Nor (lott ircrccht nicht durch
Wi'rkc. sondern alh-in durch (h'n (M.-iuiicii. den Chiulicn an die
Hannhcrzidvcit Cott.'s in Christo. Die Vcnuiidt denkt, es -cht idcht
ohne Werke. \venij:-slenv imiss sich der ^iite WiHe in soh'hen /ei-;en,
dann niai: (iott ilher allerlei .Män-cd in (inaden hin\ve;:sehen. So
lehrte auch die Kirche und leitete dii> (iläuhiucn /u deru-leichen
iruten Werken an. Luther hatte an sich die Erfahrun}; {^oniacht, dass
es auf diesem We-e nicht jj-in^-, dass er so nicht zur (rewissheit
eines irnädiiren (iottes kommen konnte. Er schloss: also ist die
Vernunft in reliji-iösen Dinizcn ül)erhaui)t hlind. I'nd die Kirche ist
hlind. dass sie der \ernuutt so viel iretraut hat. Das j,^an/e \"er-
derheu. worin sie lie^-t. kommt aus ihrem Zutrauen zur menschlichen
Venmnft, mit deren Hilfe sie den (Tlauhen in ein halh wissenschaft-
liches System verwandelt hat. Hat sie doch den Aristoteles zum Lehrer
in allen hohen Schulen «;-emacht. den blinden Heiden, der von Christus
und Erlösung:, von Sünde und Gnade schlechthin nichts weiss, der
die Ewig:keit der Welt und die Sterblichkeit der Seele lehrt. Also
hinaus mit der falschen Lehre, mit dem Menschenwitz philoso))hisch-
theoloo:ischer Schulsysteme, mit ihren Spekulationen Ul)er Dasein und
W>sen Gottes und sein Verhältnis zur W'elt, mit dem Heidentum
der Vernunftreligion und der Vernunftmoral, sie hindern nur den
Glauben an die Ottenbarunn- Gottes in der Person Jesu. Alles was
der Glaube braucht, das ist die unmittelbare Gewissheit, dass in
Jesu das Wesen Gottes, seine Barmherzigkeit und Gnade, sich offenbart
und uns zu seinem ewigen Reich berufen hat. Um eine ungeheure,
befreiende Vereinfachung handelt es sich, mit Harnack zu reden, in
der Keformation. um die Freimachung des religiösen Glaubens von
der Spekulation und den so|)histischen Künsten der Schulen und
Schulgelehrten. „Das dogmatische Christentum ist abgethan. und
eine neue evangelische Auffassung an die Stelle gesetzt."
Dass dies zugleich die lüickkehr zu dem alten Evangelium, dem
„Christentum-' Jesu bedeutet, wird Luther mit Recht in Anspruch
nehmen. Nicht als philosojjhisch-theologisches Lehrgebäude ist das
Christentum in die W^^lt gekommen, sondern als die Ladung zum
Reich Gottes, als die Predigt, den Sinn von den Gütern der Welt
zu den ewigen Gütern zu wenden. Die Abkehr von dem Schul-
geschwätz der Schriftgelehrten und von dem ausgeklügelten Gottes-
Kant der Philosoph des Protestantismus. 7
dienst der Pharisäer, die Hiinvendung zu den Armen and Eiiitaltiiren
bezeichnet Jesu Weg; werdet wie die Kinder, entäussert euch eures
Autputzes mit Gesetzeswissenschaft und Gesetzeswerken. sonst könnet
ihr nicht in das Keich Gottes eini;ehen.
Luthers Anjrritl" auf die Kirche und ihre Wissenschaft fiel zeit-
lich zusammen mit dem Angrifl" von anderer Seite: der Kationalis-
mus und Naturalismus der Kenaissance brachte den ganzen kirch-
lichen Lehrl)etrieb, die Sophisten der l'niversitätsphilosophie und
-theologie bei den Aufgeklärten in Verachtung. So brach unter dem
konzentrischen Angriti" das ganze System zusammen; die scholastischen
Systeme, Thomas und Scotus. schienen als widerchristlich und wider-
verniinftig mit der ganzen ..Barbarei des Mittelalters" tür immer abgethan.
Indessen, eine Jahrhunderte alte Denkgewöhnung hat tiefe
Wurzeln in den Gemütern; aus ihnen schiessen neue Triebe empor,
wenn der alte Stamm vom Sturm umgeworfen wird. So geschah es
hier. In der katholischen Welt brachte, wie schon erwähnt, der
Jesuitenorden, der t)ald den gesamten gelehrten Unterricht in der
Hand hatte, die ganze thomistische Philosophie und Theologie in den
Schulen wieder zur Geltung. Und auch in der protestantischen Welt
hielt der Dogmatismus, der den Glauben in ein Lehrsystem ver-
wandelt, alsbald wieder seinen Einzug. Hat doch Luther selbst das
alte DoLniia eigentlich immer als den zutreffenden Ausdruck des
christlichen Glaubens angesehen und festgehalten. Und als der
Protestantismus sich in neuen Kirchen äusserlich befestigte, führte
das Bedürfnis nach voller Klarstellung der neuen Lehre, im Unter-
schied gegen die der alten und der abweichenden neuen Kirchen,
wieder zu dogmatischen Systemen, die um so mannigfaltiger und
komplizierter wurden, je mehr es den Neubildungen an der Kraft,
die Lehre durch authentische Deklarationen zu binden, fehlte, und je
grösser dabei doch die Wichtigkeit war, die man im Protestantis-
mus der Reinheit der Lehre beilegte. So drang die ganze Scholastik,
mit allen ihren sophistischen Künsten, venvüstend in das Gebiet des
eben in seiner Freiheit wieder hergestellten religiösen (xlaubens ein;
Melanchthon hatte es schaudernd vorausgesehen, ohne es abwehren
zu können, ja er selbst wurde in diese Sophistik aufs tiefste ver-
strickt.' )
Und mit der dogmatischen Glaultenslehre wurde dann auch wieder
eine d o gm at istische Philosophie nötig, die ihr den erforder-
1) Hamack hat in seiner Dognien^esehichte (111'*, 725 ff.) dieses tragische
Verhängnis der Reformation an Luthers Person meisterlich dargestellt.
S Kricdrii'li Piiulscn.
Ik'lifii Afiparai au Itijrisclu'n und iiu'taplivsischcn licjrrincii /ur \ vr-
fiiiruni: hielt. Im 17. Jalirlumdcrl liahcii wir aiil' allen i>i(.tcstjiii-
tisi'heii l'nivfrsitiitcn, -ran/, cIhmlso wie aiil' den katiK.IiscIicn, eine
l'hilcsdphic, die als aiicilla tlu-tdo-riat' Dienste verriehtot; sclion
Melaiu'hthon hat da/u die aristotelische i'hilosopjiie. die er unter
dem ersten Kintiuss der neuen reliiriüsen liewcf^un^' mit Luther als
heiduisehes (ireuel von sich ^^estossen hatte, /ungerichtet.')
Auch die neue l'hilosophie, die sich im 17. .lahrhundert im
Cartesianismus ihre erste systematische Form -al». k(uinte sich der
Zeit nicht entziehen. Auch sie strehte, sichtbar nanuMitlich in Lcil»niz,
zwar auf der einen Seite den Anforderun^'en der neuen Wissen-
schaften irerecht zu werden, andererseits aber auch eine der Theo-
loirie accejjticrhare philosophische (irundierun<r der ail^iemeinen Welt-
anschauuui: zustande zu hriniren. So entstand die ,,natUrliche'' Ileligion
des IS. Jahrhunderts, die zur „positiven" Kelif,non in ähnlichem
Verhältnis steht, wie das Naturrecht zum positiven Jiecht: ein System
alliremeiner, durch die allgemeine Menschenvernunft hervorgebrachter
Sätze, das dann in den positiven Religionen und Kechtsbildungen
diese oder jene konkrete Ausgestaltung annehmen mag, mit welcher
Anschauung zugleich die Neigung gegeben ist, das Positive gegen
das Allgemein-Vernünftige als die minder wichtige, wohl auch ganz
entbehrliche Zuthat anzusehen. Leibnizens Versuche zur Konziliierunn-
der Bekenntnisse hingen hiermit zusammen. Im Fortschritt der Ent-
wickelung nahm die kritische und negative Haltung an Stärke zu; die
X'ernunft gewann das Gefühl der Allgenugsamkeit, zunächst mit der
Meinung, den religiösen Glauben durch „vernünftige Gedanken"
reinigen und wirksamer machen, ja wohl auch ersetzen zu können.
Das ist die vorherrschende Denkweise in der protestantischen Auf-
klärung. In der katholischen Welt kam es, bei der spröderen Haltung
der Kirche, zu schroflerer Entgegensetzung; die moderne Philosophie
brachte das Kirchenwesen mit seinem philosophisch-theologischen Lehr-
systera in absolute Verachtung. Soweit französische Bildung durch-
drang, hören wir den Refrain des ecrasez l'infame; die Vernichtung
des veralteten, die Geister niederdrückenden Kirchenglaubens ist der
erste und notwendigste Schritt zur Erhöhung der Menschheit!
Das war die geschichtliche Lage, in die Kant eintrat. Die
StelluDg, die er zu den vorhandenen Tendenzen sich gab, ist durch
1) Näheres hierüber im ersten Band meiner Geschichte des gelehrten
Unterrichtes.
Kant der Philosoph dos Prutestantismus. 9
folgende drei Punkte gegeben: 1. Mit der fortgeschrittensten Auf-
klärung bekennt er sich zur Lehre von der Autonomie der \'er-
nunft: sie ist die selbstherrliche Kichterin in allen Fragen über
wahr und unwahr, gut und böse. Es giebt keine Instanz über ihr.
es giebt keine Otfenbarung, durch die sie eingeschränkt würde: die
Wahrheit einer etwaigen Otlenbarung könnte wieder nur durch die
Prüfung vor der theoretischen und praktischen Vernunft ausgemacht
werden. Insofern ist Kant konsequenter Rationalist. Aber er ist
2. anti-dogmatistisch, man kann auch sagen: anti-intellek-
tualistisch. Er ist überzeugt, die spekulative \'ernunft ist nicht
fähig, den religir»sen Glauben durch taugliche Beweise zu unter-
stützen. Die Wissenschaft, das Werk des gegebene Thatsachen
durch intellektuelle Funktionen konstruierenden Verstandes, kann nie-
mals über die empirische Welt hinauskommen; sie kann nicht einmal
über eine „erste Ursache" und ihr Wesen etwas feststellen, wie
es auch der Deismus eines Voltaire noch für möglich hielt; die Ver-
nunft führt überhaupt nicht auf eine „erste" Ursache, wie die ratio-
nale Kosmologie meint, sondern nur auf Ursachen, nach deren Ur-
sache weiter zu fragen immer aufgegeben bleibt. Alle Gottesbeweise,
die man versucht hat, sind daher vergebliche und nichtige Bemühungen.
Insofern ist Kant mit Hume konsequenter Skeptiker. Aber er ist
3. der entschiedenste Verteidiger der Möglichkeit und Notwendig-
keit eines praktischen Vernunftglaubens. Er macht eben
den intellektualistischen Unglauben zur Grundlage des mora-
lischen Glaubens. Die spekulative Vernunft, die bisher dogmatistisch
war, wird in ihm kritisch; indem sie ihre Aufmerksamkeit auf ihre
eigene Funktion richtet, entdeckt sie Grenzen ihres Gebrauchs, nicht
von aussen abgesteckte, sondern durch ihre Natur selbst bestimmte
Grenzen; sie sieht ein, dass sie nicht über die den Sinnen ge-
gebene Wirklichkeit, das ist nicht über die Welt der Erscheinungen
hinaus kann, Sie überlässt darum die Bildung letzter Gedanken
über die Wirklichkeit selbst, die Bildung der Weltanschauung,
der praktischen Vernunft. Und diese bestiniiut nun, ausgehend von
dem ihr eigenen Grundphänomen, dem absoluten Sollen, das zugleich
absolutes Wollen ist, das Wesen der Wirklichkeit durch die Idee
des absolut Guten; die Wirklichkeit, wie sie an sich ist, ist Gott
und sein Reich , das Sittengesetz das Naturgesetz des Reiches Gottes.
Der Glaube an Gott somit nicht eine beweisl)are Theorie des Uni-
versums, sondern eine unmittelbare moralische (iewissheit. die gänzlich
ausserhalb des Gebiets wissenschaftlicher Erkenntnis liegt. Ein
lo KriiMlrioli r.inlst'ii.
Wesen, das nur \ erstand liiittf. konnte \(in (Jott niclits wissen; d;i-
irofren oin Wesen, das /u^'leicli der inoraliselien \\(dt an^reliört, wird
notwi'ndii: dit' Wirkliidii<eit als von (intt und /u (lott seiend an-
sehen.
I>ass hierin /u \(»ller Klarheit p'hraeht ist. was im ursprlln;^:-
lii'hen I'nifestantisnuis in seinen (lrun<lt('ndt'n/,en anirdcirt war. ist
mir incht /wcilelhalt. Zuerst die .\iit<innmie der ,. \ friundV.
Luther nimmt sie entschieden allen irdischen Autoritäten j:ei:"eidil)er
in Anspruch: Papst und Konzilien können irren. Nicht (d>enso ent-
schieden jreirenUhei- der P)il)el; und docli stellt er si(di au(di ihr
geireniii)er auf seine (ilauhenslehre, kritisiert u\\{\ lehnt im ein/(dnen
ab. was zu ihr nicht stimmt, freilich (dme es hierin zu widerspruchs-
loser Stelluni:- zu hrinücn. Kant zieht die letzte Konse(iuenz: das
Wort Gottes in uns ist der letzte Massstal) des Wahren; ich kann
einer Sache i;ewiss werden theoretisch nur dadurch, dass mir die
empirische Wirklichkeit oder die lojrische Notwendifi-keit einleuchtet,
praktisch nur dadurch, dass die moralische Notwendiirkeit sich mir
unmittelbar aufdrängt. Dass in Christus oder in der Schrift (xott
sich ot^enhart. dessen kann ich nicht gewiss werden, als dadurch,
dass ich Jesu Wesen und Leben oder den Inhalt der heiliiren Schriften
mit der Idee Gottes zusammenhalte, die in mir ist. Wer das nicht
anerkennen will, der muss katholisch werden, wo der Glaube nicht
aus der überzeugenden Gewalt der Sache, sondern aus dem Zutrauen
oder dem Gehorsam gegen eine äussere Autorität kommt.
Protestantisch sind auch die beiden anderen Stücke, der Anti-
Intellektualismus und der \'oluntarismus. Nicht aus dem \'er-
stande, aus logisch-metaphysisch-theologischen Spekulationen, oder
auch aus historischen Beweisen ^on der Wahrheit dieser oder jener
Geschichte, sondern aus dem Herzen kommt der Glaube; er ist die
unmittelbare Gewissheit, dass Gott, der Gott, wie er in Jesus in
Menschengestalt sich darstellt, nicht ein Gott des Zorns und der
Rache, sondern der Liebe ist. Darum betont Luther so stark die
Menschheit Jesu: was wäre mir die „erste Ursache", die kosmische
\'ernunft des Aristoteles; für nuch ist Gott erst dadurch, dass er
mein Bruder im Fleisch, ein Kind in der Krippe geworden ist; so
allein kann ich mich ihm nähern, kann ^'ertrauen zu ihm fassen,
mich ihm hingeben, ihm ähnlich zu werden streben. Dem entspricht
Kants Wendung von der Physikotheologie zur P^thikotheologie. Feinen
für das religiöse Leben wertvollen Gottesbegritf gewinnen wir nur
durch die sittlichen Attribute, nimmermehr durch die metaphysischen
Kant diT Philosoph des l'rotestantismuii. 11
Hestiinmuujrcn. worauf rationale Kosinoloirii' und i)hysikotheologische
Beweise allein führen können. Jene aber können wir allein nehmen
aas dem sittlichen Hewusstsein der Menschheit. Und so ist ein
symbolischer Anthropomorphismus die notwendiice Form jedes
relijriösen (4ottes^laubens. \\"\r können wissen, dass wir in der
Mensehenjrestait, auch in th-r des Messias, nur ein Bild von Oott
haben, aber wir können nur einen Gott, der in solchem Bilde uns
sieh darstellt, lieben und vertrauen. Luther hätte darin seine Ge-
danki'u kaum wieder erkannt, er Idieb schliesslich doch in der
Metai)hysik der Zweinaturenlehre hanj^en. ebenso wie er in der
Abendmahlslehre in der Metajihysik hanjren blieb, dennoch sind es
seine Gedanken, auf einer höheren Stufe, in freierer Zeit mit voller
Klarheit ii-edacht.
Protestantisch ist endlich auch Kants Moralprinzip: der Wert
des Menschen liejrt zunächst in der Form der Willensbestinmitheit,
nicht in der Materie des Wollens. im Glauben, nicht im Werk.
Hierauf will ich nicht näher eingehen. Dagegen m()chte ich noch
mit ein paar Strichen die Ursachen andeuten, die Kant zu der
grossen Wendung führten. Sie liegen teils in der Entwickelung der
Wissenschaften, teils in Wandlungen im persönlichen Empfinden.
Durch die Entwickelung der Wissenschaften seit dem
IH. Jahrhundert war die Aufgabe einer physisch -metaphysischen
Substruktion des religiösen Glaubens mehr und mehr ersehwert
worden. Die geozentrische Kosmologie, welche eine anthropozentrische
Interpretation der Welt so selbstverständlich erscheinen Hess, war
seit der Mitte des 17. Jahrhunderts abgethan; eine physische Er-
klärung der Entstehung des Planetensystems war die seit Newton
gestellte Aufgabe; Kant hatte sich in seinen jungen Jahren an der
grossen Aufgabe nicht ohne Erfolg versucht (in der Naturgeschichte
des Himmels. 1750). Die entwickelungsgeschichtliche Autfassung des
Kosmos zog die entsprechende Betrachtung für die Erde und die
irdischen Lebewesen, den Menschen eingeschlossen, nach sich. Ohne
Zweifel haben sich Kants Gedanken früh in dieser Kichtung bewegt;
physische Geographie und Anthropologie gehörten zu seinen Lieblings-
studien, zu seinen bevorzugten Vorlesungen. Es liegt auf der Hand,
wie weit solche Gedanken, auch weim sie bloss mi»gliche Gedanken
blieben, von den Wegen der alten physikotheologischen Beweis-
führung mit ihrem (iott als dem grossen Weltmechaniker, der erst
die Himmelskörper, dann die Tiere und Pflanzen auf der Erdober-
fläche anfertiiTte. abführen mussten Kant hat dies früh gesehen:
I •_> Krietl rir li Tau 1 scti,
die lu'rküiiinilii'lic riiy^ikollicolti^ic i>t nicht iiu-lir /,ii lialti'ii, so sajrt
CT in der Naturjxc'si'liii'htt' des lliiiimcls aiits licstiinnitcstc. Kr ver-
sucht es einen Auirenliliek mit einer ( >ntt»the(»I(i^'ie (in dem ein/ij;
inöjrlichen Heweis'rrund /.u einer I)enionstrati(»n vom Dasein (iottes,
17<)."V|. Aller auirenseheiidich iriiii: der '/a\<j: der Zeit in eine andere
iiahn, diT (üanlie an metaphysische Kunststtieke war im Zeitalter
\'oltaires und llumes im raschen \ Crschwindeii. Also, der alte
physisch-nieta|thysische Interliau ist dahin, an ihm ist nichts mehr
/.u halten.
So bleibt nur, sidl anders reliiriöser Olaube überhaupt er-
halten bleiben, eine völlig andere Fundieruni,^ Das ist Kants
WendunjT von der Physiko- zur Kthikotheolo^ie. „Moralische"
Beweise für das Dasein (iottes und die Unsterblichkeit der Seele
waren herkönunlich; Kant hat sie uniirebildet zu Jener neuen Be-
trachtunirsweise: alles eiirentliche Beweisen ist hier ver^eldieh; der
Beweis wendet sich mit BejrritVen an den Verstand, Aber der Geist
des Menschen jreht nicht auf in Begriffen; ausser und über ihnen
bringt er Ideen hervor, Gedanken von dem, was sein soll, Gedanken
von Gütern und Werten. Und diese Gedanken kommen zum Ab-
schluss erst in der Idee eines höchsten Guts, eines Reichs der Zwecke;
es ist dasselbe, was in der Sprache des relijriösen Glaubens das
Reich Gottes heisst. Und damit ist gegeben, dass diese Idee, die
mit Notwendigkeit von der \'ernunft hervorgebracht wird, für die
Vernunft Gültigkeit hat. Der vernünftige Geist kann nicht, ohne
sich selbst aufzugeben, die Idee eines Allguten aufgeben, in dem er
selbst und seine Arbeit gesetzt und gesichert sei. Das ist der
Glaube an Gott; seine Notwendigkeit ist mit unserem sittlichen
Wesen selbst gesetzt; sie kann nicht von aussen aus diesen oder
jenen Thatsachen der Natur oder der Geschichte demonstriert werden.
Das zweite Moment, das in diese Richtung trieb, waren persön-
liche Erfahrungen und Empfindungen, die doch auch mit den Zeit-
bewegungen in Zusammenhang standen. Kant stammte aus einem
Elternhaus, in dem praktische Frömmigkeit im Sinne des eben damals
nach dem Osten sich ausbreitenden Pietismus herrschte; er hatte
hier die Religion ursprünglich in ihrer den Schulspekulationen und
dem Theologengezänk abgewendeten Form kennen gelernt. Wurde
er nun auch durch den nachfolgenden theologischen Unterricht auf
Schule und Universität diesen Anschauungen entfremdet, so blieb
ihm doch mit der Verehrung der Eltern ein lebendiges Gefühl für
den Wert jenes undogmatischen, volkstümlichen, in Gesinnung und
Kant der Philosuph des Prutestautismus. 13
Lebensfiihrunic sich auspriiirenden Christentums. Und belebt wurden
diese Emptiiidunjren durch die Berilhruiij: mit dem Kousseau'sehen
Geist: dass der Wert und die Würde des Menschen nicht abhänge
von Kildun.ir und Gelehrsamkeit, dass die Religion eine Sache des
Gefühls, des Her/eiis, nicht des Verstandes sei, das sind Gedanken,
die ihm hier in neuer, durchaus unkirchlicher Jieleuchtung nahe
traten. Kant selbst führt auf diese Kimvirkung einen grossen Um-
schwung in seinem Denken zurück: die Vernichtung des Wissen-
schaftshochmuts, die in der Lehre vom Primat der praktischen Ver-
nunft vor der spekulativen den systematischen Ausdruck gefunden hat.
Es wird ihm nun zur gefühlsmässigen Gewissheit, dass die Wegfegung
des ganzen dogmatistischen Spinnengewebes, womit dünkelhafte
Schulgelehrsamkeit den \erstand und den (ilauben gleichenveise
überzogen hat. in l)eider Interesse ist: im Interesse der Wissenschaft,
sie kann dann vidlig ungehindert, absichtslos und unbefangen der
Wahrheit auf ihrem (Tebiet nachgehen; aber nicht minder im Interesse
der lieligion und des Glaubens, denen alle jene dialektischen Künste
eigentlich immer bloss den Zweifel auf den Hals gezogen haben.
Besonders wirken sie so im Jugendunterricht: derjenige, der, wenn
ÜHii nacii absolviertem Religionsunterricht skeptische Schriften in die
Hände kommen, „nichts als dogmatische Watfen mitbringt, und die
verborgene Dialektik, die nicht minder in seinem eigenen Busen, als
in dem des Gegenteils liegt, nicht zu entwickeln weiss, sieht Schein-
gründe, die den Vorzug der Neuigkeit haben, gegen Scheingründe,
die dergleichen nicht mehr haben, sondern vielmehr den Verdacht
einer missbrauchten Leichtgläubigkeit der Jugend erregen, auftreten.
Er glaubt nicht besser zeigen zu kitnnen, dass er der Kinderzucht
entwachsen sei. als wenn er sich über jene wohl gemeinten War-
nungen hinwegsetzt, und, dogmatisch gewöhnt, trinkt er das Gift,
das seine Grundsätze dogmatisch verdirbt, in langen Zügen in sich."
(Kr. d. r. V. Methodenlehre L 2).
So zertrümmert er denn, in gutem Glauben, damit der Religion
einen Dienst zu thun. den ganzen alten spekulativen Unterbau des
Glaubens, die dogmatistische Schulphilosophie.
IL
So viel über Kants Stellung zu diesen Fragen. Wie sollen nun
wir uns zu ihnen stellen?
Es ist meine innerste Überzeugung, dass alles dies im wesent-
lichen für uns unaufgebbare Wahrheit ist.
j.j Krif«iiii-li l':iulson.
ZuiTst, (He AutKiioniic der Nfriiunft, W(»raii iNt Ncutliumisinus
Williiiamis sti jrmsson Anstoss nimmt, dass vr sie iM'inalu' lilr alles
Inlu'il vcraiitwt'itlieh maclit. das seit dt-r Kctormatictii sich zu^^etrajren
hat: wir können sie nieht autVelten. wir künncn niehl /.um Scnii-
raliiMiali-iuiis des Tlioiuas /.iirih-k. /.iir riitcrstcllun;:- dfr \ n-nunTt
unter (ine äussere, eine mensehliehe Autorität. Denn darum
handelt es siili allein; (iott spricht zu den Menschen nur durch die
Stinnne von Mensehen; wer inuner behauptet, ilass er eine Walirheit
•rüttliehen Irsprunirs verkünde, der sa{,^t damit nur. dass er das,
was er als Wahrheit erkemit, absolut zu setzen entschlossen sei.
Also: iriebt es eine Instanz auf Erden, die für uns in Sachen des
Glauliens und des Denkens entscheidet, deren Entscheidungen an-
zunehmen sind, auch wenn wir ihre Wahrheit oder Notwendigkeit
nicht mit persönlicher Gewissheit empiinden, bloss auf Konto des
schuldigen Gehorsams V Das ist die Frage, die Thomas, soviel Zu-
trauen er der Vernunft im einzelnen schenken mag, bejaht, die
Frage, welche die Neuthomisten, denen das grosse Schisma von Ver-
nunft und Autorität ihre Stellung giebt, mit noch viel grösserer Be-
flissenheit bejahen. Ein Protestant, ein Philosoph kann sie nicht
bejahen: es giebt auf Erden keine unfehlbare Lehrautorität und es
kann sie nicht geben; Philosophie und Wissenschalt müssten sich
selbst aufgeben, um sich dazu zu l)ekennen.
Natürlich, es giebt praktische „Unfehlbarkeit"'; der Staat nimmt
sie für seine Gesetzgebung und Rechtsprechung notwendig in An-
spruch. Aber er beansprucht nicht theoretische Unfehlbarkeit; Gesetz-
geber und Kichter wissen, dass sie irren können, und es ist jeder-
mann erlaubt zu glauben und zu zeigen, dass sie in diesem Fall
irren. Ebenso glaube ich in tausend Dingen fremder Autorität, ich
lasse mich von denen, die ich für sachkundig und wahrhaft halte,
belehren und nehme auf ihr Zeugnis die Wahrheit dieser oder jener
Aufstellung an, auch in grossen und wichtigen Angelegenheiten; aber
mein Glaube beruht auf spontaner Zustimmung meiner Vernunft und
meines Gewissens, ich selbst bin es, der die Autorität für mich
macht; und ich mache sie nur von Fall zu Fall, ich behalte mir die
Prüfung jedes Punkts vor, wenn ich sie auch nicht überall ausführen
kann. Dagegen, eine Instanz, die durch ihre Erklärungen über wahr
und unwahr, über gut und böse ein für allemal meine Vernunft und
mein Gewissen bände, die mich verbände zu glauben, was ich,
meiner eigenen Vernunft mich bedienend, für unwahr halte, die kann
es nicht geben, die kann ich nicht anerkennen, ohne mich selbst,
Kant der Pliilosuph des Protestantismus. 15
ohne die Krone meines Menschentums, die Selbstgewissheit des
Geistes aufzugeben. L'nd wenn ich dem Inhalt nach alles glaubte,
was die Kirche oder der Tapst lehrt, das eine kiinnte ich nicht
glauben, dass sie unfehlbar seien: es schlösse den Entschluss ein,
mich ein für allemal eines selbständigen L'rteils über das, was jene
jemals für wahr und unwahr, für gut und böse erklären mögen, zu
begeben, es wäre der definitive Verzicht auf den Gebrauch meiner
Verimnft und meines Gewissens. Dass ich innerlich nur durch meine
Vernunft und mein Gewissen gebunden bin, nicht durch irgend eine
menschliche Instanz ausser mir, das ist die Magna Charta des Pro-
testantismus.
In den soeben erschienenen Gedanken und Erinnerungen (II, 126)
erzählt Bismarck von einer Unterredung, die er einmal mit dem
Bischof Ketteier hatte. Der Bischof stellte ihm die Frage: ..Glauben
Sie etwa, dass ein Katholik nicht selig werden könne?" um an die
er>vartete Verneinung daini die Belehrung knüpfen zu können, dass
nach katholischem Glauben ein Ketzer allerdings nicht selig werden
könne, der Katholik also jedenfalls sicherer gehe. Es ist die be-
kannte ., Wette Pascals"': wenn eine Messe hören auf keinen Fall
schaden, möglicherweise aber notwendig sein kann für das jenseitige
Heil, dann wählt der kluge Mann das Sichere. Bismarck aber gab
statt der erwarteten die etwas unbequeme Antwort: „Ein katho-
lischer Laie unbedenklich; ob ein Geistlicher, ist mir zweifelhaft;
in ihm steckt die .Sünde wider den heiligen Geist, und der Wortlaut
der Schrift steht ihm entgegen" — worauf der Bischof sich mit
höHich ironischer Verbeugung empfahl. Wollte Bismarck damit
sagen: die bewusste Wegwerfung des eigenen Urteils, der geistigen
und sittlichen Selbständigkeit und Selbstverantwortlichkeit, wie sie
der Geistliche mit der Unterwerfung unter eine unfehlbare Autorität
leiste, sei die Sünde wider den heiligen Geist? Wenn er es hat
sagen wollen, so hätte er damit dem Katholizismus, aber nicht nur
diesem, sondern jeder l)linden Gehorsam in .\nspruch nehmenden
Gewalt eine höchst ernsthafte Lehre gegeben: blinder Gehorsam in
Sachen des Glaubens und des Gewissens ist die Sünde wider den
heiligen Geist, die Verstockung des Herzens gegen die Wahrheit.
Die Lehre von der Unfehlbarkeit ist daher in ihrem Wesen wider-
sittlich und die Anerkennung dieser Lehre ebenso, sie bedeutet
grundsätzlich die Auslieferung des Gewissens und der Vernunft an
eine äussere Instanz, die Vernichtung seines geistigen Selbst.
Die Lossafruns: von der Unfehlbarkeit der Kirche, die Erklärung
Ii; Friedrii-h l'.'iiilscn,
(li>s ciLaMirii (Je\vissen>< /iir lot/.ti'ii Instan/, in sittlicIuMi Dinircii. das
i^t LutluMs Tliat. (las ist die Mairiia ("iiarta der I-'i-cilu-it. die auf"
(U'iii Tairc /u Wt'rins erkäiii|)lt wdidoii ist. Sic ist soitdnn oft ver-
<;essi'U. NfficuuMiet. ircsclunäiit \V(»rdtii. und doidi datiert \oii diesem
Taire eine neue Ära der (lesehiehte der IMensehhoit. An iluu ist
fonnell das ewip' und uiiaut'jreltltare Kecht des (Jeistes auf Walir-
liaftiiikeit und Wahrheit prolvlaniiort worden. Auf Wahrhalti.irkeit:
die Krklärun.u- des Kntsehlusses, sieli allein /u unterwerfen, was die
Kirche je irelehrt hat. lehrt uiul lehren wird, sehliesst den lOntschluss
ein. auch das für wahr /u halten und zu l)ekennen. dessen innere
oder äussere l'nwahrheit sich der unitestoehenen \'ernunft hei tmhe-
tauirener Prüfunir erjriebt. oder also den Entschluss, einer ernsthaften
l'rüfunir auszuweichen, wann und wo innner die Kirche, d. h. die
von den auirenhlicklichen Inhabern der Kircheniicwalt bestellten
Richter über theolopsche oder wissenschaftliche Lehrmeinung-en g:e-
sprochen haben.
Und mit dem Verzicht auf die volle Wahrhafti.^ikeit ist auch
der N'erzicht auf die Wahrheit gegeben. Die Förderung; der Wahr-
heit, die Vertiefung der Erkenntnis setzt die unbefang:ene Trüfung
Jeder geltenden Ansicht voraus; wer von vornherein bestinnnte Be-
hauptungen, die durch die äussere Autorität festgestellt sind, der
I^rüfung entzieht, der verzichtet mit Wissen und Willen auf alle Be-
lehrung, welche dem Geist aus solcher Prüfung erwachsen kann.
Und der innere Habitus der Submission unter eine äussere Autorität
entnmtigt die Vernunft überhaupt, neue Wahrheit imn auch ausser-
halb des umzäunten Gebiets zu suchen. Es wird nicht Zufall sein,
dass fast alle Erweiterung und ^■ertiefung der wissenschaftlichen
Erkenntnis, welche die Neuzeit bis auf diesen Tag gewonnen hat,
nicht auf katholischem, sondern auf protestantischem oder ketzerischem
Boden erwachsen ist. Das Klima der Unfehlbarkeit ist der wissen-
schaftlichen Forschung nicht zusagend. So freundlich die Kirche
sich zur Förderung der Wissenschaft erlueten mag, sie hat Keine
glückliche Hand. Scheint sie mit der einen Hand aufzumuntern, an
die Arbeit zu gehen, so droht sie schon mit der andern: aber dass
eure Ergebnisse mit meiner Lehre stimmen!^)
V) Man sehe in der C'onstitutio dogmatica de fide catholica des Vati-
kanischen Konzüs vom Jahre 1870 das Kapitel IV: de fide et ratione nach.
Da wird zuerst, in thomistischer Denkweise, von einem duplex ordo coj^ni-
tionis. Erkenntnis aus der natürlichen Verunft und aus dem Glauben geredet;
und die Vernunft wird gelobt, dass auch sie selbst von den göttlichen Dingen
Kant der Philosuph des Protestantismus ^7
Nicht ganz i?n unhediugt verniafr ieh Kant in dem zweiten Stück,
dem Anti-intelh'ktualismus, dem Verzieht auf spekuhitive Meta-
physik zu foljren. Aller(lin;rs. im wesentlichen triH't er auch hier
das Hechte: der Ahschluss der Weltansehauun«: wird nicht durch
den blossen Verstand, sondern durch das «ranze Wesen, mit P^inschluss
der Willensseite, der praktischen N'ernuntt, wie Kant sagt, getrotten,
.la. entscheidend ist in letzter Instanz der Wille, natürlich nicht eine
leere Willkür, oder eine einmalige Entschliessung, sondern die (rrund-
richtung des ganzen Wesens und Willens: durch sie wird der Aus-
schlag für eine der grossen, möglichen Richtungen der Welt- und
Lel)ensanschauungen gegeben. So hängt im besonderen die Ent-
scheidung für eine idealistische Weltinterpretation, für die Behaup-
tung: die Wirklichkeit sei die Kealisierung eines vernünftigen Sinnes,
den wir anzuerkeimen vermögen, nicht von der verstaudesmässigen
l'ntersuchung der Wirklichkeit ab, sie ist nicht das Ergebnis eines
logischen Käsonnements oder einer blossen Kombination empirischer
Thatsachen. sondern vielmehr einer Neigung oder Entscheidung des
Willens, das Wort in jenem Sinne genommen. Die herkönmilichen
verstaudesmässigen Beweise für eine solche Behauptung, darin hat
Kant recht, nötigen den Verstand nicht so zn denken. Weder die
ontologisch-kosmologische Demonstration, noch dasphysikotheologische
Argument ist ein wissenschaftlich zulänglicher Beweis für die Wahr-
heit einer theistischen Weltauffassung; noch weniger können auf diese
Weise die moralischen Attribute einer Gottheit für den Welturheber
etwas zu erkennen vermag, noch mehr von den natürlichen: quapropter tantum
abest. ut Ecclesia huuianarum artiiim et discipiinarum cuiturae obsistat; ut hanc
multis modis juvet atque promoveat. „Auch verbietet sie durchaus nicht, dass
diese Wissenschaften jede in ihrem Kreis, ihre eigenen Prinzipien imd Methoden
in Anwendung bringen." Aber freilich, sie wacht zugleich mit Fleiss darüber, ne
divinae doctrinae rei)ngnando orrores in se suscipiant aut fines proprios trans-
gressae ea quae sunt tidei occupent et perturbent. Also Freiheit der Forschung,
nur dass über ihre (Frenzen und ihre Ergebnisse das letzte Wort die Kirche
spricht. Und von hier erhält dann jene voraufgegangene Formel: nulla umquam
inter fidem et rationem vera dissensio esse potest. da derselbe Gott den Glauben,
aber auch die Vernunft gegeben habe, ihre Auslegung: wenn ein Zwiesi)alt sich
zu ergeben scheint, so hat man es eben nicht mit Aussprüchen der \'ernunft
(eflata rationis), sondern, mit thörichten Einfällen (opinionum commenta)
zu thun. Sicherlich, so ist aller Zwiespalt gleich gehoben. Freilich muss man
sich nun nicht wundern, wenn die so angekettete Vernunft nicht sehr be-
hende und erfinderisch für neue Wahrheiten sich erweist. Kettenhunde taugen
zur Jagd nicht; sie werden auch nicht dazu verwendet, sondern fremde J^in-
dringlinge anzufallen.
KanUtadiea IV. ^<i
jv; KritMlricli r.nilst'n,
aUbiireiiKU'ht wrrdt'n. Ks wird iniinor iiinnJiirlich sein, Itir den Ver-
stand ontschcichMid dar/iithuii. dass der Wcltlauf auf die \ t rwirk-
lifhuiiL' dessen, was wir als liiu'hste (itltor oder Werte eni|»fin(len,
"•erit-'litet sei. Einerseits ist hierzu unsere Hekaniitschalt mit dem,
was wir ..Welt" nennen, all/.u einfresehräidvt und dlirltiir. Dann aber
wollen sieh aueh in dem Geldet, das wir ein weniü- kennen, die
Thatsaehen doeh ^'ar nicht zu einer BeweisfUiuninf;' für Jene These
zusannnensi'hliessen: weder in der physischen Welt, wo der mechanische
Naturlauf ohne Vorzug; wertvolle und wertlose Hildunjren hervorzu-
hriniren und zu vernichten seheint, noch auch in der f>-eschichtlichen
Welt, wo das Gemeine und Hitse eine so grosse Rolle spielt, dass
das ursprüuü-liche Christentum j^eneigt war, die i)olitische Welt als
eine Domäne des Teufels, des Fürsten dieser Welt, anzusehen.
Wäre die Sache anders, könnten wir die Geschichte der Mensch-
heit verstehen, wie wir den Gang eines üramas verstehen, könnten
wir die Natur erklären, wie wir eine Maschine erklären: diese und
diese Teile so gebildet und so angeordnet, dass ihr Zusannnenwirken
diesen uns in seinem Wert verständlichen Erfolg sichert, dann
möchte die spekulative Vernunft eine idealistisch-theistische Welt-
anschauung begründen. So wie die Dinge wirklich stehen, bei dem
heillosen Dunkel, indem uns jede spekulative oder empirische Unter-
suchung über die Beziehung der Wirklichkeit zu dem, was wir allein
als letzte Güter anerkennen können, lässt, kann die Entscheidung
für die Annahme der Abhängigkeit des Wirklichen vom Guten nur
in der Weise geschehen, dass wir von unserem wesentlichen Interesse
geleitet sagen: und trotz all dieser Unzulänglichkeit glaube ich an
einen Sinn in den Dingen, an eine Macht des Guten als letzten Grund
der Welt.
Ja, gerade der Widerspruch der empirischen Wirklichkeit gegen
die ideellen Forderungen giebt nun dem Idealismus seine Form, die
Form der Transcendenz: die Natur, wie sie den Sinnen sich darstellt,
ist gar nicht die wahre Wirklichkeit, sondern ein getrübtes und ge-
fälschtes Abbild. So bei Plato, dem ersten Philosophen, der sich
mit Zorn und Entrüstung von der W^elt, wie sie ist, von der Mensch-
heit, wie sie sich in der empirischen Wirklichkeit auf dem Markt zu
Athen oder auch am Hof zu Syrakus darstellt, abwendet; so auch
bei Kant, der mit ähnlichen Empfindungen seiner Zeit gegenüber-
steht. Sein an Rousseau und Hobbes sich anlehnendes pessimistisches
Urteil über den Menschen, wie er ist, und über die Zustände in der
sogenannten kultinerten Gesellschaft, mit ihren Kriegen und In-
Kant (1er Philosojih des Protestantis^mus. 1<)
trigueiu ihrer Neigung zur Lüge und zur Heuchelei, ihren gemeinen
Instinkten und Begierden, oh sie nun hei Hof oder unter dem Herden-
vith der Leibeigenen leben, ist der dunkle Hintergrund für seine
Idtale, für die Idee einer Menschheit, in der die ethischen Gesetze
als Naturgesetze des Willens gelten.
Auch hierin könnte man übrigens einen protestantischen Zug
sehen. Der Katholik glaubt an die sichtbare Kirche, in ihr hat
er das Reich Gottes auf Erden als empirisch gegebene Erscheinung.
Der Protestant kann nur an eine unsichtbare Kirche, eine Kirche in
der Idee glauben; die empirische Kirche, diesseits wie jenseits der
Grenzen des eigenen Bekenntnisses, ist ihm mit zu viel Menschlich-
keit und Mangelhaftigkeit behaftet, als dass er in ihr die Gegen-
wart des Reiches Gottes auf Erden erkennen könnte. So glaubt
Kant an eine unsichtbare Kirche, an ein ethisches Gemeinwesen
unter der giittlichen d. i. rein moralischen Gesetzgebung, das als
Idee der vollendeten Menschheit zwar nicht schon verwirklicht ist,
aber der Betrachtung des geschichtlichen Lebens und der geschicht-
lichen Arbeit die Richtung giebt. Der Protestantisnms ist „idealis-
tischer" als der Katholizismus, der allzu geneigt ist, sich an der
empirischen Welt, wenn sie nur äusserlich der Kirche sich untenvirft, ge-
nügen zu lassen. Dem Protestantismus ist, mit der Neuzeit überhaupt, das
,.plus ultra'- als Merkwort eingeprägt. Wie die geographischen und
kosmischen Entdeckungen den begrenzten physischen Horizont des Mittel-
alters aufgehoben haben, so hat die erkenntnistheoretische Betrach-
tungsweise der modernen Philosophie den Realismus der Sinnenwelt,
die moralisch-religiöse Vertiefung der Reformation den Realismus des
mittelalterlichen Kirchentums zerstört. Überall ist Gesichtskreis und
Streben über die Enge der gegebenen Gegenwart ins Unendliche
hinaus erweitert.
In alledem hat Kant recht; in alledem ist er der Exponent der
Geistes der Neuzeit und der Reformation.
In einem aber werden wir über Kant hinausgehen dürfen, hinaus-
gehen übrigens eigentlich auch nur über den Buchstaben der Kritik
der reinen Vernunft, nicht aber über die wirklichen (bedanken ihres
Trhebers, das ist die schroffe Ablehnung Jeder Erkenntnis der ..Dinge
an sich." Es mag sein, dass Metaphysik auf dem Wege, den sie
im 18. Jahrhundert ging, den auch Kant sie allein gehen lassen
wollte, unmöglich ist: auf dem Wege der a priori Demonstration aus
Begriffen. Er war ihr vorgezeichnet durch die ihr von aussen ge-
stellte Aufirabe: Gottes Dasein und die rnsterblichkeit der Seele zum
0%
•20 FritMl lii'li raiilson.
lU'huf v'iucr iKitiirlii'lu'ii Kcli-ritui /u hcweiscii. Dajrcp'ii ist es der
Vernunft vielU'iolit nielit Uherliaupt uninöirlioli. auf den u^an/.eu Unifanjc
(lor \on der Wissenschaft ihr zur Schau /utieführten natürlichen und
•reistiiren Widt Itlickcnd. li't/te /usannnenfassende (Jedanken oder
Hypothesen iilier Wesen und Zusannuenhanii' aUer Dinji-e zu bihlen.
Ich meine, das 1'.). Jahrhundert ist ndt Kecht hierin doch Avieiler
etwas zuversichtliclier als Kant; ich denke dabei nicht allein und
nicht so sehr an die si)ekulative rhiloso|)hie. die den <:anzen Wirklich-
keitsuvhalt aus Hej:ritVen a priori zu deduzieren unteniahin. als an
die niannii;l'altii;en Versuche, von unten herauf zu philosojihieren,
wie sie z. B. in den Systemen Schopenhauers und Benekes, Lotzes
und Fechners vorliey-en. Alle diese ^■ersuche, abschliessende Ge-
danken aus den Thatsachen zu ziehen, haben innuer wieder auf zwei
Punkte ireführt. Jene beiden Punkte, die man als die durchj-änjiiiien
Ik'standstUcke der philosophischen Weltanschauung- seit Plato und
Aristoteles bezeichnen kann: 1) den objektiven Idealismus, oder
die Ansicht, dais die Wirklichkeit nicht in der Körperwelt aufdrehe,
sondern in ihrem ei<rentlichen Sein dem verwandt sei, was wir in
unserem ireistiu-en Wesen als das absolut Wirkliche erfahren oder
erleben; 2) den Monismus oder die Ansicht, dass die Wirklichkeit
nicht als ein Aggregat unendlich vieler, zufällig zusanmiengekommener,
absolut selbständiger Substanzen, sondern nur als wesentliche Einheit
aufgefasst werden köime.
Das ist nun im Grunde auch Kants eigene Metaphysik, nur dass
er sie nicht eigentlich als legitimes Erzeugnis der spekulativen Vernunft
anerkennen will. Er hat den mundus intelligibilis hinter dem mundus
sensibilis, aber es soll sich diese intelligible Welt dann der intellectio
eigentlich doch durchaus entziehen. Es sind zwei Momente, die Kant
bestimmen, hier stehen zu bleiben. Das erste ist: Metaphysik ist,
so erfordert es ihr Begritf, Wissenschaft a priori. Ein blosser Eigen-
sinn, der an der Etymologie und Geschichte des Wortes haftet:
warum soll nicht Metaphysik so gut als Physik von den Thatsachen
ausgehen — wenn sie es kann? Das zweite ist: Auch der Inhalt
des Seelenlebens ist bloss Erscheinung, nicht die Sache selbst. Eine,
wie mir scheint, unverständliche Behauptung: dass Körper Er-
scheinungen von etwas sind, was an sich nicht Körper ist, ist eine
verständliche Behauptung, denn Körper sind uns nur durch das
Medium der sinnlichen Wahrnehmung gegeben; aber dass eine Vor-
stellung oder ein Gefühl eine Erscheinung von etwas sei, was an
sich nicht Vorstellung sei, ist eine Behauptung, die eigentlich doch
Kant dt.r riiilosojih des Protestantismus. 21
keinen aiiircMiaren Sinn hat. Saircn wir nun: in dem eifrenen Seelen-
leben haben wir ein StUt'k Wirklichkeit, wie es an sich selltst ist,
so hindert nichts zu denken, dass das Wirkliehe, was unserer sinnliehen
Autlassunjr sieh als Körper und Kewe^'un^ darstellt, an sieh selbst
unserem Innenleben verwandt sei, so verwandt, als unserer eifrenen
Kiirj)erlichkeit die körperliche Darstellung^ des Andern.
Das alles entspricht, wie jresajrt, auch Kants wirklichem Denken;
auch er nimmt an. dass das Wirkliche an sich selbst geisti^'^er Natur
und in einer substantiellen Einheit beschlossen sei. l'nd nicht nur
setzt sein praktischer Vernunftjrlaube diese Ansicht der Wirklichkeit
voraus; sondern auch seine theoretische Philosophie gravitiert von
allen Seiten gejcen einen idealistischen Monismus. Die Ethiko-
theologie ist doch nur der Sehlussstein des Kojrens: Logiko-
theologie. Thysikotheologie, Ästhetikotheologie, wenn man
die Wortbildungen gestatten will, stellen den Unterbau her. Dass
die Vernunft notwendig über das empirisch Gegebene hinausgeht zur
Idee eines einheitlichen, svstematischen, Ideen verwirklichenden Welt-
ganzen, die freilich nicht „objektive Kealität" (Darstellbarkeit in der
Anschauung) hat, wie ein empirischer Begritf, gleichwohl aber ein
notwendiger Vernunftbegritf bleibt, ist doch das letzte Wort der
Kritik der reinen Vernunft. Und die Kritik der Urteilskraft zeigt,
wie zwischen Natur und Kunst eine wesentliche Gleichartigkeit statt-
findet, sofern einerseits das künstlerische Genie als Naturkraft schaftt,
zweckmässige oder sinnvolle Einheit hervorbringend ohne Absicht,
sofern andererseits die organischen Bildungen der Natur von uns nicht
anders als nach Ideen erzeu<rte, nicht durch den blossen Natur-
mechanismus entstandene Produkte aufgefasst werden können.
Doch ich kann diese Gedanken hier nur andeuten. In meinem
„Kant'- findet man sie weiter ausgeführt. Ich habe dort gerade dieser
Seite der Kantischen Philosctphie, die oft beinahe ganz übersehen
wird, der dem IMatonismus zugewendeten Seite seines Denkens, eine
etwas breitere Darstellung gewidmet. In der inhaltlichen Bestimmtheit
seiner Weltanschauung steht Kant Plato und Leibniz sehr viel näher
als einem skeptischen Agnostizismus. Ja er steht ganz auf ihrem
Boden; er giebt im Grunde der idenlistisch-theistischen .Metaphysik
nur ein anderes Vorzeichen: nicht demonstrierbare Verstandeserkenntnis,
sondern praktisch und theoretisch notwendige Vernunftidee.
Was dies zu sehen verhindert, das ist auf der einen Seite der
skei)tische Agnostizismus der Exakten, auf der andern Seite die
scholastische Demonstriersucht der Neuth(miisten. Jeder sieht mit
• )v) Krii'd ri«'h l^iulson.
sriiu'n Auirt-'H. mir dass die erste (Irupid- Kant /ii dein Ulriken v.u
nuu'lieu bestrebt ist. die andere dai:-ei:en, Willmami jet/.t au ihrer
Spit/.e. ilui /.um al)si'hre('kenden Heis|)iel ausstalliert, um daran die
^'enlerl»li^'hkeit des „Autonomismus" zu demonstrieren: wer dieser
Kraidvlieit einmal verlalleii sei. der müsse denn freilich immer tiefer
al)\värts in den Sultjektivismus. Skeptizismus. Nihilismus geraten.
III.
Zum ISc'hluss ein Wort über die Fraji-e: wie stehen die Aus-
sichten in dem Kampf /wischen Thomas und Kant, oder also dem
Kampf zwischen dem katholischen und dem protestantischen l'rinzij»?
Es ist nicht zu verkennen, dass der Zeitlauf manche unerwartet
i:-ünstii:-e rmstände für den Katholizismus und seine Denkweise ii-e-
bracht hat. Die Signatur unseres zu Ende gehenden Jahrhunderts
ist: Glaube un die Macht, Unglaube an die Ideen. Am
Ende des vorigen Jahrhunderts stand der Zeiger der Zeit umgekehrt:
der Glaube au Ideen war allherrscheud. Rousseau, Kant, Goethe,
Schiller die Grossmächte der Zeit, Heute, nach dem Scheitern der
ideologischen Revolutionen von 1789 und 1848, nach den Erfolgen
der Machtpolitik gilt das Stichwort vom Willen zur Macht. Der
Macht al)er ist die Tendenz zum Absolutismus eigen: Zusannnen-
fassung der Kräfte zur mechanisch-militärischen Einheit, Unterdrückung
der inneren Widerstände, damit Unterdrückung der Individualität,
das sind die Züge der Machtpolitik,
Zwischen dem Katholizisnms und dem Absolutisnms besteht nun
ein Verhältnis der Wahlverwandtschaft: der Katholizismus ist auf das
Prinzip der absoluten äusseren Autorität aufgebaut und darum übt
er auf alles, was zum Absolutismus neigt, eine unwiderstehliche An-
ziehungskraft; allem was an die Macht glaubt, imponiert er durch
die geschlossene Einheit eines zielbewussten, machtvollen Willens.
Der Katholizismus aber hat früh die Zeichen der Zeit begriffen;
mit der Revolution oder dem bonapartischen Cäsarismus beginnt sein
Wiederaufsteigen aus der Depression, in die er im 18. Jahrhundert
herabgesunken war; er besann sich auf sein Prinzip, die Autorität;
mit den Tagen der Restauration war seine Zeit gekommen. Seitdem
hat das Papsttum unverrUckt sein Ziel im Auge behalten: eine geistige
Weltherrschaft, gestützt auf das Anlehnungsbedürfnis der Massen,
den Willen zur Macht (verbunden mit dem Gefühl der eigenen
Schwäche) bei den Regierenden. Und man muss gestehen: er hat
sich diesem Ziel in einem Maasse genähert, wie es noch vor einem
Kaut dor Philusuph des Prutestantismus. 23
MenschenalttT cUt Welt völlig' ungl;iul)lich ersehieueii wäre. Der
unfehlltare Papst rejriert Jet/t nicht bloss die Kirche mit Priester-
uuil Mönchtuiii. ohne alle iuiieren Widerstände, sondern er übt
auch auf die (redanken der Laien, besonders auch der Geliildeten
unter den Laien, einen Einfiuss wie nie zuvor. Eine katholisch-
kirchliche Wissenschalt und Philosophie und eine katholisch-kirch-
liche Presse ist, vor allein in Deutschland seit den Ta^en des Kultur-
kampfs, aufgekommen, die, einheitlich geleitet, rüstig- bedient und
viel gelesen, ein starkes Gewicht im öffentlichen Leben gewonnen hat.
Zu den Mitteln der Herrschaft dieser ungeheuren Macht gehört
nun auch die neuthomistisehe Philosophie. Sie ist das Mittel, den
Verstand der Studierenden zugleich zu üben und zur Unterwerfung
unter die Autorität zu ziehen. Ein mit weitem Blick und grossem
Scharfsinn durchgeführtes System, das der Vernunft weiten Raum
zur BethätiiTuniT lässt, um sie zuletzt immer wieder an ihre Grenzen
zu erinnern und auf die höhere Quelle der Wahrheit hinzuführen,
ist sie ohne Zweifel zu einer Schulphilosophie für den katholischen
Klerus in hervorragendem Maasse geeignet. Und was steht dem
gegenUberV Eine protestantische Philosophie in dem Sinne eines
einheitlichen, die Gemüter beherrschenden Systems giebt es nicht.
Hegels Philosophie war die letzte, die eine derartige Stellung ein-
genommen hat. Seitdem herrscht Anarchie. Ein \'ersuch der Samm-
lung um Kants Namen hat doch bisher auf keine Weise der be-
stehenden Anarchie, der Zersplitterung in Fraktiönchen und Indivi-
dualismen ein Ende gemacht.
So scheinen die Aussichten für den Katholizismus und seine
Philosophie günstig genug /u liegen: seine Streiter zahlreich, rührig,
einheitlich geleitet; die Gegner uneinig und sorglos. Und dazu hat
jener Bundesgenossen im feindlichen Lager; zuerst die Schwäche der
Regierenden, die, ohne das Selbstvertrauen, das allein der Glaube
an Ideen giel)t, nach einer Autorität ausschauen, bei der sie ein
Anlehen aufnehmen könnten; bis in die Kreise der nationalliberalen
Politiker geht jetzt die Sehnsucht nach Anlehnung an die Macht der
unfehlbaren Kirche. Sodann die geistige Neurasthenie der Zeit, die
absolute Ideenlosigkeit, die namentlich unter den sogenaimten Ge-
bildeten herrschend ist; man denke an die innere Haltlosigkeit, wie
sie vor ein paar Jahren in der Leseepidemie, die ,,Keml)randt als
Erzieher' oder „Moderne Kulturlügen- hervorriefen, oder wie sie jetzt
im Nietzschekult zur Erscheinung kommt: die Plakatphilosojjhie ist
das Seitenstück zur Plakatkunst. Bald hier, bald dort erschallt der
24 Frii'drirli Paiilson,
Kuf: hier ist der Heiland, der lu-iinlichc Kaiser, der Wunderdoktor,
der alle ri)el der kranken Zeit liciltl l'nd alshald rennen Tanscnde
hinaus, ilm zu sehen und verkünden es dann in allen l'liittern: siehe,
wir haben ihn jrefunden I Aber nach kurzer Zeit hat sieh der Haufe
wieder verlauten und niemand weiss n\ehr davon. Kein Zweifel,
dass dies die rechte Geniiitsdisj)osition ist, kath(diseh /.u werden;
man erinnere sieh, wie viele unter den Komantikern nach den wüsten
Orden der Willkür und des ireistiiren Anarehismus sich vor sieh
seihst in den Schoss der allein selii: machenden Kirche tiüchteten
und hier zur Kühe kamen. 01t nicht auch der unglückliche Nietzsche,
wenn er es erlebt hätte, zuletzt auf den Weg nach Canossa oder
nach Lourdes gekommen wäre? Der Femininismus und die Neu-
rasthenie finden hier ihr natürliches Ziel. Wo es an innerer Sicherheit
des Denkens und Glaubens, an kräftig sich selbst erhaltenden, das
Leben leitenden Ideen fehlt, da ist der Beichtstuhl des Priesters der
letzte taugliche Ersatz.
So kann man sagen: der Mangel an einer Philosophie, an herr-
schenden Ideen im Gebiet des Denkens und Strebens, ist die letzte
Ursache des Übergewichts, das zu unserer Zeit der restaurierte
Katholizismus und seine Denkweise erlangt hat. Die wissenschaft-
liche Einzelforschung ist dagegen wehrlos, der Mensch lebt nicht
von dem Brot der Wissenschaft allein, er lebt von den Ideen, mit
denen er die Wirklichkeit und sein Verhältnis zu ihr sich gegen-
ständlich macht. Das Wort von dem Bankerott der Wissenschaft,
das jetzt von Paris her übertönt, enthält eine tiefe Wahrheit: ein
Positivismus der Wissenschaft ohne Philosophie führt zum Bankerott
und treibt dem Positivismus der äussern Autorität in die Arme.
Dennoch glaube ich nicht an den Sieg des Katholizismus. Auch
diese Flutwelle wird verlaufen, wie die grölsere des 1 7. Jahrhunderts
verlaufen ist, ohne den Protestantismus und sein Prinzip, die Auto-
nomie der Vernunft, zu bewältigen. Der Glaube an die Macht mag
zeitweilig bedrohlich anschwellen; Militarismus und Mammonismus
haben ihre Zeit; nach dem grossen Gesetz der Periodizität des ge-
schichtlichen Lebens folgt auf den Überschwang der Umschwung.
Der Glaube an Ideen wird wieder hervorbrechen, der Glaube an
die äussere Autorität, nachdem er in der Infallibilitätserklärung des
Papsttums seinen Gipfelpunkt erreicht hat, wird sinken. Dann wird
Kant wieder hervortreten als der legitime Führer, denn der Glaube
an Ideen ist das Herz seiner Philosophie, der Glaube an die Freiheit,
Kant der Philosoph des Protestantismus. 25
an die Wahrheit, au die Gerechtifrkcit, der Glaube an das Gate,
der Glaube der Vernunft an sich selbst.
Das katholische Prinzip, das Prin/.ip der atisoluten Autorität,
führt ein schweres Übel mit sich: es tötet die Individualität. Aller
Absolutismus tiihrt zulet/.t zu Lähnmn^^serscheinunfren, wie der poli-
tische, so auch der Absidutismus auf f;eistig:em Gebiet. Er nin)mt
dem Individuum die Persönlichkeit, er ninnnt ihm Mut und Kraft
etwas für sich zu sein, er drückt es herab zur Passivität. Das
„sicut cadavef' des Jesuitismus ist wirklich bezeichnend, furchtbar
bezeichnend für das Ziel, zu dem der Absolutismus durch die iimere
Konse(juenz hinführt: wie ein Leichnam, beweglich nur noch von
aussen durch fremde Hand.
Einen Augenblick mag man sich darüber täuschen. Die Zu-
sammenfassung aller .Macht unter die Einheit eines absoluten Willens
kann starke Augenblickserfolge herbeiführen und mit dem Schein
grosser Kraft täuschen. ISo geschah es im 16. und 17. Jahrhundert
in Spanien, Italien, Frankreich, Osterreich. Nie schien Spanien
stärker als unter Philipp II., nie die Macht des Hauses Habsburg
gesicherter als unter den Ferdinands, nie Frankreichs Übergewicht
cO grols als unter Ludwig XIV'.; der Bund des politischen und des
kirchlichen Absolutismus, das schien der Gipfel der Weisheit. Aber
die Folge zeigte es anders: nicht in der absoluten Einheit des
Willens, wo die Individuen gehorchen und gebraucht werden, sicut
cadaver, wie es die Institutionen der Gesellschaft Jesu mit fast
übermenschlicher Offenheit sagen, sondern in der Selbständigkeit
und Selbstthätigkeit der Einzelpersönlichkeit liegen die Wurzeln
menschlicher Kraft. Der Absolutismus führte zur Lähmung, zur
Lähmung der Intelligenz, zur Lähmung des Gewissens, zur Lähmung
zuletzt auch der äusseren Kraft. Credulität, bis zu jedem Aber-
glauben, gewissenlose Casuistik, bis zu jeder Niedrigkeit, das sind
die Folgen der Opferung der Vernunft und des Gewissens auf dem
Altar der äufseren Autorität, l'nd der geistigen und moralischen
Inferiorität folgte der äussere Niedergang. Am Ende des IS. Jahr-
hunderts konnte kein Zweifel mehr darüber sein, dass die Führung
an die protestantische Welt übergegangen war. Am sichtbarsten in
Deutschland; hier war das PLxperiment rein gemacht: die äussere
i'berlegenheit, die politische Führung, die ältere Kultur war bei der
katholischen Hälfte der deutschen Bevölkerung; trotzdem war in der
Wissenschaft, Litteratur und allgemeinen Geistesbildung schon um
die Mitte des Jahrhunderts das Überirewicht so zweifellos auf der
■_>(; Krii'dricli Taiilscu.
protfstantisi'lu'ii Seite, ilass ilic katlKtliscIu'ii 'l'crritoricii nIcIi /,ur
Nai'htolirc ciitschlicssen mussteii: die Ketonn des iresaintcn Iiil(liinf:;s-
wesriis. die im Zcitalti'r der AiifUläniiii:- in OstiTiTicIi, Haycrn. den
HistiinuTn am Kliciii und Main duiThp'liilirt wurde, nahm durch-
aus das )>rotfstantisi'he Hildunirswescii zum NOihihi.
Kein Wunder, Wissenschaft, I'hih»S(»phie, freie (Teisteshihlung
iCedeiht nur in der Freiheit. Als die katholisehe Kirehe die l'nter-
werfun:: (ialileis er/wanj;- und damit die ("o|)ernikanische Neuerun«?
unterdriiekte, als Deseartes daraufhin sein neues Weltsystem fallen
Hess, um nicht dem gleichen Schicksal /u verlallen, während die
protestantischen Konsistorien in ihrer Ohiunacht und Zersplitterung
verireblich versuchten, der Heterodoxie Kejjlers Herr /u werden, da
nia^' manchem die Energ:ie und Kraft ^des Katholizismus imj)()niert
haben. Ein damaliger Thoniist hätte spotten mögen: auf den pro-
testantischen hohen Schulen wisse man nicht einmal, ol) die Sonne
sich um die Erde drehe, oder die Erde um die Sonne, der eine
meine so, der andere anders; was für eine Verwirrung-! Und doch,
die scheinbare Kraft und Sicherheit der katholischen Kirche war in
Wirklichkeit Schwäche, Schwäche vor allem der Männer, die ihre
bessere Einsicht ü-efanaen nahmen unter den kirchlichen Gehorsam;
sie fehlten ja auch nicht im Kirchenregiment, es waren Anhänger
des Copernikanischen Systems auch im Kardinalskollegium, Und
die Schwäche zeugte Schwäche: hilft es doch nichts, ist die Sache
durch den Spruch Korns erledigt, wer möchte sich umsonst bemühen?
So ging die Führung in der modernen Kosmologie und l^hilosophie
von Italien und Frankreich auf Deutschland, die Niederlande, Eng-
land über.
Gegen die Einzelwissenschaften ist die Kömische Kirche seitdem
vorsichtiger geworden; sie hat sich selbst, spät zwar und widerwillig,
von der Unvermeidlichkeit des von ihr feierlich verurteilten Copernika-
nischen Systems überzeugt. In der Philosophie dagegen hält sie an der
alten Politik fest. U'nd hier wird nun von den Anhängern der Autorität
auch heute noch alle Tage mit Triumphgeschrei auf die Einstimmig-
keit der katholischen Philosophen, mit Hohn auf die Zerrissenheit
in den Ansichten der Gegner, auf den ewigen W^echsel der Systeme
hingewiesen. Der Thomismus die philosophia universalis et perennis,
also die wahre Philosophie. Ich meine, mit demselben Recht hätte
vor 300 Jahren die Aristotelisch-Ptolemäische Kosmologie als cosmo-
logia universalis et perennis gepriesen und aus der Perennität auf
ihre Wahrheit geschlossen werden können. Perennität bedeutet im
Kant der Philosoph des Protestantismus. 27
Gebiet der Wissenschaften Küekstiindiirkeit. Wie damals die Ver-
schiedenheit der Anschauungren in der protestantischen Welt ein An-
zeichen der Direktiven Aufrichti-rkeit ge}renUher der Mehrdeutig:keit
der Erscheinuniren und zujrleich die Hedinjrun^ des Fortschritts war,
so mag: man sagren. ist auch die \ ielstinimig:keit der Philosophie auf
protestantischem Boden das otiene und aufrichtigre Eing:eständnis der
Verimnft, dass sie hei der unendlichen \ ieldeutig:keit der Erscheinung:en
der natürlichen und der geschichtlichen Welt es noch nicht zur Ein-
heit mit sich selbst grebracht habe, lind man mag: hinzufiigren: man
habe so weni^- (Trund. diesen Zustand der Philosophie für einen heil-
losen und hortnung:slosen zu halten, als den danialig:en Zustand der
Kosmolog:ie: wo viele Wahrheitsucher auf verschiedenen Wegen aus-
ziehen, mag man wohl eher hotten, ihr zu begegnen, als da. wo alle
Wege bis auf einen verboten sind.
Dassell)e, was im Gebiet der Erkenntnis sich als das allein
Förderliehe erweist, die Spontaneität des Individuums, der ]\Iut eigene
Wege zu gehen, ist zuletzt doch auch im Gebiet des Willens und
der That die Wurzel der Kraft. Ist in der geschichtlichen Welt die
letzte Probe auf die Wahrheit eines Prinzips seine Fähigkeit, Kräfte
zu entwickeln untl Leben zu schatten, so ist kein Zweifel, dass das
Prinzip des Protestantismus, das Prinzip der Autonomie auch der
])raktischen ^'ernunft, sich dem katholischen Prinzip der äusseren
Autorität überlegen erwiesen hat: die Bedeutung der katholischen
Völker ist gegen die der protestantischen seit zwei Jahrhunderten in
beständigem Rückgang, in der alten Welt und noch sichtl)arer in
der neuen. Freiheit, Selbstverantwortlichkeit, Spontaneität, so lehrt
die Geschichte, ist das richtige Prinzij). in der Völkerpädagogik wie
in der Individualpädagogik. Die Lehre des Absolutismus, die Lehre
von der Unfehlliarkeit einer äusseren Autorität ist auch hier die
Sünde wider den heiligen (Teist. ist die ^'ern(•inung der Allgegenwart
Gottes im Leben der Menschheit.
Ich bin nicht ohne Hotfnung. dass die Zeit konunen wird, wo
auch der katholische Teil des deutschen Volkes dies erkennt und
sich von dem Komanismus, der gegenwärtig den Katholizismus absolut
beherrscht, reinigt. Ein Anzeichen dafür, dass der deutsche Geist
auch innerhalb der katholischen Welt noch am Leben ist, dass er
sich nach der Depression, welche die Machtpolitik der Regierung
gegen den Kath(dizismus zur Zeit des Kulturkampfs auch ihm zuzog,
wieder zu regen beginnt, darf man doch wohl in der viel liesprochenen
kleinen Schritt des Professors der katholischen Theoloirie Schell in
28 FritMlridi I'au I scn,
\Viir/.liur_::: ..Der K;itli(ili/.i>iiius als rriii/ip des Fdrtsrliritts" Mi. A. lSi>7)
und in der Howoirunj:. die sie luTvorfrerufcii hat, crbliekcn. Die
Soliril't ist cinircirclicn von dem Sclinicrz dariilKT. dass die katlKtlisclic
Wflt tliatsäi-lilii'h ilhcrall rü(.'kstäiidii: frcwordcii ist, zunächst im
•ranzen (ichiet des jrt'istip'ii Lebens: die I\eli;:i(>n veräusserlicht durch
die Häut'uniT mechanischer l'hun^en und Bejrchunj;eii aUer Art. die
HihUiUir des Klerus erniedrijrt durch die Altsjierrunf;- |::ef2:en das Lehen
der Wissenschaft und die freie llilduiij:- auf den L'niversitäten, der
Aberirlaulie hejrünstiirt und i:"ezüchtet in Jeder Form, his herab zum
Miss Vaujrhan-Sehwindel und der eifienhändijren Namensunterschrift
des Teulels Uitru. Sie klinj^t aus in die Forderung, dass der deutsche
Geist seine Eigenart innerhalb des Katholizismus zur Geltung bringe
und sich nicht zum Lakaien des Komanismus missbrauchen lasse:
j.Der germanische Geist ist es darum aus Liebe zur Kirche schuldig,
dass er seinen Teil dazu beitrage, das Ideal des Katholizismus in
jeder Zeit zu verwirklichen. Er ist dies um so mehr schuldig, weil
er viel mehr als der romanische Geist zur iimerlichen, vernunft-
mässigen und sittlichen Auüassung der Religion angelegt ist, und
weil er dazu berufen scheint, ein Gegengewicht gegen die juristisch-
formale Richtung des romanischen Nationalgeistes zu bilden."
Wenn die Erinnerung an den Kulturkampf, jenen Versuch mit
untauglichen Mitteln, dem katholischen Klerus staatlich approbierte
Gesinnungen beizubringen, geschwunden, wenn auch der Rest jener
Polizeimassregeln, die kleinlich-ängstliche Aussperrung der Jesuiten
gefallen sein wird, wird dann der deutsche Geist und das deutsche
Herz, die aus jener Stimme, die heute freilich noch die Stimme eines
Rufenden in der Wüste ist, zu uns sprechen, sich gegen das Jesuiten-
tum in der Kirche durchsetzen? Wird auch in der katholischen
Welt, wenigstens der deutschen, dem Glauben die evangelische Freiheit
und dem Wissen die Unabhängigkeit von Entscheidungen durch
äussere Autorität zurückerobert werden? Wird dann, ohne Aufgebung
der Besonderheit des Bekenntnisses und des Kults, die Kluft zwischen
Katholiken und Protestanten, die jetzt wieder zu feindseligem Gegen-
satz sich vertieft hat, durch eine geistige Einheit überbrückt werden?
Eine w underbare Hoffnung, und fast zu schön. Und doch, eine
Hoffnung, die von den kräftigsten und edelsten Geistern des deutschen
Volkes niemals aufgegeben worden ist. Auch Goethe hegte sie. In
dem letzten Gespräch mit ihm, von dem Eckermann berichtet, wenige
Tage vor seinem Tode (11. März 1832), sagteer: „Mag die geistige
Kultur nur immer fortschreiten, mögen die Naturwissenschaften in
Kant der Philosoph des Protestantismus. 21)
immer breiterer Ausdeiinung: und Tiefe wachsen, und der mensch-
liehi* Geist sieh erweitern, wie er will: über die Hoheit und sittliche
Kultur des Christentums, wie es in den Evangelien schinmiert und
leuchtet, wird er nicht hinauskommen. Je tüchtiger aber wir l'ro-
tcstanten in edler Eiitwickelung voranschreiten, desto schneller werden
die Katludiken foliren. . . . Auch das leidige protestantische Sekten-
wesen wird aufhören und mit ihm Hass und feindliches Ansehen
zwischen \'ater unil Sohn, zwischen Bruder und Schwester. Denn
sobald man die reine Lehre und Liebe Christi, wie sie ist. wird be-
gritfen und in sich eingeleltt haben, so wird man sich als Mensch
gross und frei fühlen und auf ein bisschen so oder so im äusser-
lichen Kultus nicht mehr sonderlichen Wert legen."
,,Auch werden wir alle nach und nach aus einem Christentum
des Worts und Glaubens innner mehr zu einem Christentum der
(iesinnung und der That konnnen."
So Goethes Vermächtnis. Es ist ja wohl nicht so gar weit
entfernt von dem Wort und Willen dessen, der zu der Saniariterin
am Brunnen sprach: ,,Es konnnt die Zeit und ist schon jetzt, dass
die wahrhaftigen Anbeter werden den \'ater anbeten im Geist und
in der Wahrheit."
Ob nicht unter diesen Anbetern im Geist Thomas und Kant
sich neben einander finden?
Aber nicht finden sich unter ihnen die Hasser und Verächter,
die Richter und \'erdammer der Gedanken und Gesinnungen anderer.
Nachschrift.
Diese Betrachtungen waren längst geschrieben und der Redak-
tion eingereicht, ehe die Schriften Schells von der römischen Kommis-
sion zur Kontrolle der Litteratur verdammt und verboten waren, und
ehe daraufhin l'rof. Schell seinen Frieden mit den kirchlichen Autori-
täten machte. Ich lasse sie stehen, obwohl jemand daraus Gelegen-
heit nehmen niöchte, den leichtgläubigen Optimismus zu verhöhnen,
mit dem ich auf solche kleinen Zuckungen des deutschen Gewissens
bei katholischen Männern Hofinungen auf einen Umschlag im Grossen
setze. Mit Bezug hierauf füge ich folgende Bemerkung hinzu.
Dass man in Rom die obengenannte Schritt Schells anstössig
gefunden hat. kann ich verstehen; ihr Titel: Der Katholizismus als
Prinzip des Fortschritts, war als Optativ, nicht als Indikativ gemeint,
der zugehörige Indikativ würde lauten: der romanisch-jesuitische
;^() Fried rieh raulscn.
Katlioli/.isimis ist das rriii/.ip des Stillstandes (»der siclniclir der
Küi'kstäiidiirkeit. Da/u konnte man nicht schwcijrcn und ich hahc
mich Nvcniiror über das Kinsciircitcn als Ulicr das Zögern frcw lindert.
Auch darillter halte ich mich nicht >:-e\vundert, dass VioW Schell den
Frieden jrewählt hat.
Aller, dass mit diesem Sieir des Komanisnius die jrrosse Ange-
loirenlu'it. um die es sich hier handelt, delinitiv erledifrt sei, fjlauhe
ich jrar nicht. Ks bleibt doch nicht bloss die Wahrheit der Betrach-
tuniren Schells über die Kiickständiirkeit des Katholizismus, es bleil)t
auch der Stachel in der Seele aller der deutschen Katholiken, die
mit ihm em})rinden. Und der Schmerz über dii' von Kom erlittene
Missachtuujr deutschen Ernstes und deutscher Wahrheitsliebe, die sich
das iranze 1!). Jahrhundert hindurch von .Jahrzehnt zu Jahrzehnt
wiederholt hat, wird sich, so darf man nicht aufhören zu erlauben
und hotlen, doch einmal wieder zu einem grossen und ehrlichen
deutschen Zorn über die wälschen Praktiken auswachsen. Dass die
denkenden deutschen Katholiken jemals die von den italienischen
Kirchenpolitikern ihnen aufgezwunjrene päpstliche Unfehlbarkeit inner-
lich annehmen könnten, g:laube ich nicht; die Empfindunj;, dass dem
deutschen Wesen damit eine Fremdherrschaft aufgenötigt sei, die zur
Zeit des Kulturkampfes aus begreiflichen Gründen nicht aufkommen
konnte, sie wird stärker werden in dem Mass, als der äussere Druck
nachlässt. Die Einheit des deutschen Lebens ist im Wachsen, auf
wirtschaftlichem und politischem, aber auch auf geistigem und
religiösem Gebiet; man denke nur an die rasche Mischung der
Stämme und der Konfessionen, die sich überall, im Süden und im
Norden, im Westen und im Osten vollzieht. Hierüber lasse man sich
durch allerlei Erscheinungen auf der Oberfläche nicht täuschen. Ein
Katholizismus, wie er in Italien und Spanien möglich ist, ist in
Deutschland nicht möglich; je starrer das römische Gesetz wird, je
straffer man es gegen alle freieren Regungen anwendet, desto stärker
wird bei den deutschen Katholiken das deutsche Wesen dagegen
reagieren. Das ganze 19. Jahrhundert hindurch hat der deutsche
Katholizismus eine „Häresie" nach der andern hervorgebracht; die
päpstliche Unfehlbarkeit war die letzte Antwort der Italiener. Die
deutsche Antwort hierauf wird nicht ausbleiben. Dem Gewitter der
Reformation ging auch ein langes Wetterleuchten vorher.
Ich benutze die Gelegenheit, um noch ein Wort über die
Bemerkungen hinzuzufügen, die v. Nostiz-Rieneck S. J. in den
Stimmen aus Maria-Laach (Februar-Heft 1899) an meinen oben ge-
Kant der Philosoph des Protestantismus. 31
nannten Aufsatz über Wilhnanns Geschichte des Idealismus freknüpft
hat. Er spielt mit dem BegriH" der ,.l)enktr('iheit-', die ich dort als
das l'rrecht des (Geistes gegen Willmann verteidigt hatte, das
übliche 8piel: üb sie Freiheit von aller äusseren Autorität bedeute?
da doch jedermann tausend Dinge auf das Zeugnis von Autoritäten
glaube; ob sie Freiheit von der Pflicht, sich der Wahrheit und der
Wirklichkeit zu beugen bedeute? da doch die Wahrhaftigkeit llnter-
werfung des subjektiven Denkens unter die Wahrheit fordere, u. s. f.
Vielleicht kommen wir leichter zum Ziel, wenn wir über den Be-
griÜ" der Unfreiheit des Denkens uns zuerst verständigen. Ich
verstehe darunter dies, dals man durch Weisung von der Index-
Kommission oder einer sonstigen unfehlbaren Instanz sich bestimmen
lälst, Gedanken und Thatsachen, die man bisher für wahr oder
wirklich hielt, nun nicht mehr für wahr oder wirklich zu halten,
oder wenigstens niciit mehr ötl'entlich zu sagen, dass man sie dafür
halte. Das ist die innere Denkunfreiheit; und die äussere ist der
Druck des Systems, der zu solchem Verhalten treibt. Denkfreiheit
aber ist nichts anderes als das kontradiktorische Gegenteil der Un-
freiheit. Sollte P. V. Nostiz- Kieneck auf diese Frage zurückzu-
kommen wünschen, so ersuche ich ihn, an diese Erklärung sich zu
halten und den Beweis zu führen, dass dies äussere System und
diese innere Unfreiheit gut und löblich und förderlich für die Sache
der Wahrheit und der Menschheit sei. Er provoziert (in einem Ar-
tikel des Januarhefts der Stimmen aus Maria-Laach) auf die soziale
oder geschichtsphilosophischc Probe, die zu Gunsten der Bindung
des Denkens durch äussere Autorität ausfalle. Ich lasse die Probe
gelten, meine aber zu sehen, dass sie durchaus nicht zu (iunsten
dieses Systems spricht. Im Gegenteil, das System des geist-
lichen Absolutismus, bis zur äussersten Konsecjuenz durchgeführt,
macht die Menschen zu Automaten, die ohne Zweifel, ohne Prüfung
und ohne eigene Verantwortlichkeit das Gebotene glauben und thun.
Vernunft und Gewissen, überflüssig gemacht durch die einzige Tugend
des Gehorsams, verfallen als ungebrauchte Organe dem Prozess der
Verkümmerung und zuletzt des Absterbens. Das Korrelat des voll-
kommenen Absolutismus ist der Idiotismus. Ich glaube nicht, dass
der Idiotismus ein Prinzip des Fortschritts oder eine siegreiche Kraft
der Welteroberunir ist.
War Kant Pessimist?
Nun Privatdocont Dr. M. Wentschcr in Bunu.
E. V. Hartmann hat in seinen Abhandlung'en ,.zur Gesciiichte
und Be^ründuniT des Pessimismus" den Versuch gemacht, Kant als
den eigentlichen „Vjrter des Pessimismus-' hinzustellen. Hartmanns
eigener, der j.philosophische"' Pessimismus steht, wie er meint, dem
Gedankenkreise der Kantschen Ethik viel näher, als dem Schopen-
hauerschen Pessimismus. Ausgehend von der Kantschen Entgegen-
setzuns:der eudämonistischenPseudomoral und der Moral der Autonomie,
des kategorischen Imperativs, weist Hartmann nach, dass Kant einen
,,eu da monologischen Pessimismus" gelehrt habe und — gerade
im Zusannnenhange mit seiner J^thik — habe lehren müssen. Weiter
sucht er zu zeigen, dass Kant, in seinen reiferen Schriften wenigstens,
die ^'ergleichbark eit aller Lust und Unlust zugestanden habe
und damit auch ihre Summierbarkeit, wie sie der Pessimismus zur
Aufstellung seiner ..Lust-Bilanz" nötig hat. — Weniger nach Hart-
manns Sinne ist das, was er als „moralischen P^ntrüstungs-
pessimismus" bezeichnet, wie er ebenfalls bei Kant bereits vielfach
zum Ausdruck komme, vornehmlich aber von Schopenhauer aus-
gebildet sei. Er meint damit jene Betrachtungen über die Verderbt-
heit unserer Gattung, welche bei Kant zuletzt in der Lehre vom
„radikalen Bösen" gipfeln. Dieser „Entrüstungspessimismus" habe
mit dem philosophischen Pessimismus nichts zu schaffen. — Was
dann weiter den „evolutionistischen Optimismus" Kants an-
langt, d. h. die Lehre vom Fortschreiten der Gattung, durch alle
Schlechtigkeit und Böswilligkeit der einzelnen hindurch, so lässt
Hartmann diesen zwar gelten, aber doch nicht, ohne hervorzuheben,
dass der „Evolutionismus" Kants auf keinen Fall als eudäm ono-
logischer, sondern nur als teleologischer verstanden werden
dürfe, ^) der aber den eudämonologischen Pessimismus nicht aus-,
1) A. a. 0. S. 35.
War Kant Pessimist? 33
sondern einschliessi-, — nui- tVcilifli den ..moralischen Hiitrüstunjrs-
pessjiniismus" als üluiwundcM hinter sicji lasse. — Der eudäniono-
losrische Pessiniisni us. alles in alU-ni. ist es eijrentlieh. auf dessen
Nachweis hei Kant es Hartraann allein ah^esehen hat; und hiermit
vor allem werden wir uns auseinander/uset/en hal)en. — Der \ ersueh
Kants endlieh, dnndi einen ..transcendenten Optimismus", also durch
die l'ostulate der (iottheit und der rnsterhlichkeit, jenem Pessimismus
die Spit/e ahzuhreehen. wird von llartinann als eliarakterloser l^iiok-
fall in die Weltansehauunii- des ('hristentums aufjivfasst und ai)-
a,-ewürdi,t:"t. Auch darauf werden wir kurz, ein/.uü'ehen haheii.
\ iin den P^ntii-egiumyen. die dieser seltsame Konstruktionsversuch
g-efunden. dürfte die von \'olkeltM wohl die liedeutsamste «rewesen
sein. Das Erirelmis der Ilartmannsehen Darstelluni:- wird hier wesent-
lich ein^-eschränkt: Kant dürfe nicht schlechtweg- als Pessimist l»e-
zeichnet werden; es könne vielmehr nur von pessimistischen Faktoren
seiner Philoso])hie die Hede sein. Kant habe nicht nur das Bestrehen,
den positiven Wert der Welt /u be«:rnnden. sondern es sei in seiner
praktischen Philosopide wirklich dasjenige Prin/ip enthalten, wodurch
es einzig und allein möglich sei, die pessimistische \ erurteilung- der
Welt nicht etwa nur skeptisch zu erschüttern, sondern positiv zu
überwinden. Anderseits fänden sich aiierding-s bei Kant eine Keihe
von ungelösten Dissonanzen, — sd die Pietonung- des Cberg-ewichtes
des Bösen über das Gute, die Lehre vom ..radikalen Bösen- in der
^lensehennatur u. s. w.. — Lehren, welche uns niitigteu, wie \(dkelt
meint, die höchsten Weltprinzi|iien selbst schon als auf jene
irrationalen, widerspruchsvollen Mächte ang-eleg-t zu fassen, die sich
in dem unvermittelten Kebeneinanderliestehen des guten Willens
mit seinem altscduten Wert und des radikalen Bösen bei Kant
kundgelten. Der Weltprozess sei also auf dem Boden der Kantschen
Philosophie als Tragödie zu fassen. — al)er allerdings als positiv-
siegreiche.
Auch V(»lkelts Ausführungen gipfeln also in einer .\usileutung
der Kantschen Weltanschauung im Sinne des Pessimismus. — nur
jetzt des \olkeItschen Pessimismus an Stelle des Ilartmannsehen.
— Die vorliegende Untersuchung .stellt sieh nun die .\ufgalte. die
Kechtsgründe einer erneuten Prüfung zu unterziehen, aus denen man
hier vi'rsucht. Kants Philosophie mit dem Pessinüsnuis in \ erl)indunjr
• Volkelt: ..Pessimisti.sclie Ideen in der K.'iiit>plieii Fiiilosophie"'. Beilajje
■/MV Allü:eiuoineii Zeitiin:;. 1880. N... 801 H".
K:i!>i.-uJii'n IV. 3
.u
l>r M. W'fiilsflif
ZU l)riiii:"i'n und m» die Wcllnnscluimmi;' ciiici- weil \ ( rlncitctciir
inodcriuMi Strüinuiii:- diircli die i'rtVculii'litiw cisr in miscitr Zeit iKudi
in strtiurm Waclist'ii l)(\::ritV('n(' AntiMitiil jener l'liildsophie /ii stiil/.eii.
1U'\ III- w ir jeddcli in diese I iitersiKdiiinu- eintreten, wird es niitiü;
iNeiii, für den l>i;:ritV de> i'essini i sni u-^ eine teste .\lti:ren/,Mnu' /.u
•rt'winiuMi, d.-unil nii'lit l>ei der ::-e^-en\v;irti,i;- /ii l»eiii(>rken(U'U
Lässiü'U'dt des S|ir:u'lii:'i'lir;uii'li('s in diesem l'ind<ti.' - /idet/t alles
auf eineu blossen Wortstroit liiuausläuft. .Man kann alli:eniein einen
IVssiniisinus der Stiiuniiiu^' uiul (iesinnuui;" \<mi einem ])liil<i-
sophisi'lien l'essiuüsnnis unterselieiden. Krsterer wäre jene >\\U-
jokti\c dem iitsverfass Ulli:-, die uns [Wv alles sidiwcre und düslei-(.i
im hellen liesondeis enijtfänjilieh und rei/.bai- inaelit. — eine
schw«'nnutartiii-e \'erstininuin,ü' des Cieniiitcs. die siidi einer weithin
si'hattenden Wulke jileieh ülier unser i;'an/.es Lelicn und Denken
ausltreitet und so uns alles von vornherein in grauem, trüben Lichte-
erscheinen lässt. Es ist der IVssiniisnms als patholoiiiselie Kr-
seheinunji'. wie er in unserni Zeitalter, — li'leichviel. aus welchen
Ursachen. — so weite Kreise in seinem Hann unifaiiiien hält. —
Demg-eirenüber wäre der philosophische ressimisnius derjeniii.-e,
der als ol)jektiv o-eraeinte \Ve ll anscha uung-. als j)hi]osophische
Theorie sich kundii'iebt. l'in diesen allein kann es uns hier /.u
thun sein, wo sichs um Kants Stellung zu „dem Pessimismus-' handelt,
nicht um eine subjektive Kigcnart seiner Denkweise. Welches abei*
sind mm die -wesentlichen Momente, welche eine philosophische Welt-
anschauung- als Pessimismus charakterisieren?
Wo der Pessimismus — und das gleiche gilt natürlich von
seinem Widerspiel, dem 0|)timismus — als Theorie auftritt, da ist
die Meinung überall, über die Welt, in der wir leben, resp. über
dieses Leben selbst mit seinen Bedingungen, ein objektiv gültiges
Werturteil auszusprechen. Die gesamte Weltwirklichkeit, die äussere,
uns umgebende sowohl, wie die innerliche, das uns in diese Welt
mitgegebene eigene Wesen, wird hier als gut und wertvoll oder
als schlecht und minderwertig hingestellt; das ist es, was die
Worte ..Optimismus" und ..Pessimismus" zum Ausdruck bringen
wollen, während das Superlativische darin lediglich der historischen
Entstehung dieser Begrilte angehört und im gegenwärtigen Sprach-
gebrauch keine Bedeutung mehr hat. - Die w^eitere Frage ist nun,
in welchem Sinne die "Wertbestinnnung hier gemeint sein kann, die
in dem ..gut" oder ..schlecht" ihren Ausdruck sucht. Hierauf aber
wird die Antwort eine verschiedenartige sein können, je nach den
War Kant Pessimist? :}ö
ftliisi'lii'ii l'riii/.ipirii, ilic iii;iii /u (iriiiulc lr:;t. in dciu-ii niau
(las ..Wertvolle" suclu-ii will. In Ict/.tcr Instanz, wird also der \(n\
uns der \\'('lt zuiiesprdi'lu'nt' Wert oder l'nwert sich docli ininicr
darnach richten, oh w'w sie mit iinsern Wünschen nnd Idealen
zusaninienstinnnend linden oder nicht. Denn auch dann, weini eine
reliiriöse Denkweise es vor/.ieht, (h-ii Wert i\r\- Welt in einer durch
->ie /um .\usdruck ü-ehrachten Idee, in ihrer Zusaninienstimmuni:' ndt
einer Mirausii-esetzten .\l»sicht ihres Schöpfers, also dem Schöpt'unirs-
iredanken udei- ..^^'el t/. weck •■ /u suchen, so wird doch auch diese
Ich'i'. dieser Weltzwe(d< sell)st wieder das (lepräii'e unserer eiirenen
höchsten Ideale tra.ü'en, und ^-erade in diesem — hewussten (»der
unhewussten — l.'rs|)runii- aus diesen, unseren Idealen wird all seine
l her/.eu,i:"unjrskraft wurzeln. — Ein al)solutes, ol)Jekti\es Wert-
urteil über das Weltüair/.e ist uns naturü'eniäss völliu- unerridchhar,
da wir den ..absoluten Zweck", welchen zum Ausdruck zu hrint:'en
die Welt \erpHichtet wJire. um ..^-ut" zu heissen. nicht keimen.
Nach alledem muss es nun als ^-randlose Willkür l)ezeichnet
werden, wenn K. v. Hartmann behauptet, dass nichts weiter, als
die ,,Neii-ativität der Lustbilanz" in der W(dt zur Begritfs-
liestimnuuisi' des Pessimismus gehöre.' ) Man w ird das l"berwie,<:-en
der l'nlust sj-egenüber der Lust im fJanzen der Welt bereitwillig als
wahrscheinlichstes Ergebnis der P>fahrung, falls sie vollendbar wäre,
zugel>en können und deimoch mit Fug und Hecht sich dagegen ver-
wahren dürfen, um deswillen allein schon als ..Pessimist" bezeichnet
zu werden. P>st dann, wenn man — mit dem ..Eudämonismus-' —
die Lust (hU'v (Thickseligkeit der fTesehö|)fe zum höchsten und
letzten Zweck der Schöpfung erhebt, wird man logischerweise die
•Welt gut oder schlecht nennen dürfen, je nachdem sie diesem Zwecke
angemessen ist oder nicht. Der .,eudä monologische Pessimismus*"»
wie Hartmann ihn nennt, kaini also mir für eine eudä mon istische
Ethik iilierhau|it als ..ressimismus" in Anspruch genonnnen werden:
von dieseiri Hoden abgelöst, ist er niidits weiter, als eine Er-
schleichung, die zu irgendwelchem wissenschaftlichen Gebrauch ganz
ungeeignet ist. Es zeigt sich hier aufs deutlichste, wie wenig eriist es
Hartmann mit seiner Polemik gegen den Eudämonismus ist. in der
er seihst Kant noch glaubt meistern /.u können. Wäre ihm wiiklicli
alles, was auf (Glückseligkeit abzielte, so wertlos, so niedrig, w ie er
immer behauptet: wie kümite er die Welt «-chlecht nennen, wenn
') A. Sl. (t S (•,.-,. CT ,'tr.
Qß l>r M WontM-liiT,
t>i(' mit fincni Zwecke, nul' (icii sie nlsdniiii iz'anuclit aiiirclfjrt sohl
«lüifto. nii'ht /usaiimu'nstiminty Wci im Krnst alU-n walinii Wert
im Sittlii'hcii. an-itatt in der (ilik'kselii:keit erlilieUt. wird doeh
aiu'l) den ^\ eit der W Clt v'wv/.ii: in ilirer Aii.iirieji'tiieit aiil Sittlield^eit
/,ii suchen lialx'ii.
Nun die Anwenduuj:' auf KantI Da dieser für die- Kthik
ausdrücklich, ja. mit sprichwörtlich p'wordenem ..liiuorismus^'
allen Kudämonismus /.uriickweist, so kann nach dem (Jesaii'teu von
einem ..eudämon(doi:isclien Pessimismus- iiei ihm schlechterdinu's
nicht dit' Hede sein. \ ielnu'hr dient - was auch llartmann nicht
entuaiiiirn ist') - >ivrade die vidliu'i' (ierinii'wert u ni:- dieser Welt
in eutlämonoloii-ischer Hinsicht doch nur der um so stärkerr*u
Heraushehunü- ihres wahren, ethischen Wertes, den sie als
Wirkunu-sfeld freien, sittlichen WoUens und Handelns i>-ewinnt. Aller-
din,i;s saji't Kaut (IV. 3:51 f.): ^j ,.Was das Leben für uns für einen
Wert halte, wenn dieser bloss nach dem ji'eschätzt wird, was mau
i ü-eniesst. ist leicht /u entscheiden. Kr sinkt unter Null . . ." Aber
er fiis:t doch so^-leieh hinzu: „Es bleil»t also w(dd nichts übriü'. als
der Wert, den wir unserm Leiten selttst g-eben. durch das. was
wir nicht allein thun. sondern auch so unabhänji-ig- von der Natur
zweckmässig thun. dass selbst die I^xistenz der Natur nur unter
dieser Bedingung Zweck sein könne." 'M Damit ist klar genug der
Zusammenhang bezeichnet, in welchem Kant die negative Bestinnnung
des eudämonologischen Weltwertes verstanden wissen will: Wem es
um Lust und (ilückseligkeit allein zu thun ist. der wird in dieser
Welt auf seine Rechnung nicht kommen und soll es auch nicht, da
sonst die Welt gerade ihren wahren, sittlichen Wert verlieren
würde. Dann gerade hätte man Grund. „Pessimist" zu sein, wenn
diese Weltwirkliehkeit nicht auf Sittlichkeit angelegt wäre, sondern
das naive Sti-eben nach Lust in ihr überall mühelos P>efriedigung
fände: wem aber in Wahrheit ein freies, autonomes Wollen ])ersön-
licher Wesen einen unveru'leichlich hidieren Wert hat. als alle jene
1,1 A. a. 0. S. 48 f.
3) Die Citate ans Kant sind naoli der Ans.üfahc von Rosen kr iinz und
Schubert ü^egeben.
'') Ähnlich heisst es ( VII 2. 155): „. . . dass das Leben überhaupt, was den
Genuss desselben betriftt. der von C. lücksiunständen abhangt, gar keinen
eigenen Wert, und nur was den Gebrauch desselben .inhiugt, zu welchen
Zwecken es gerichtet ist. einen Wert habe, den nicht das Glück, sondern
allein die Weisheit dem Menschen versehalYen kann, der also in seiner
Gewalt ist"'.
War Kant l'osNimistV .'IT
.,(Tlücksi'li^-k.t'it'\ für tlcii kann auch eine eiidänionrdo^-isi-hr
Zweekniässig^keit der Welt nicht mehr (Ion Massstab ab.u'fbcn. \v(»nach
das Weltjianzf als ..^ut*' oder „schlcclit" beurteilt wird; vielmehr
wird ihm die Welt um so ..besser" erseheinen, je mehr sie zur Ent-
jaltuiij:- und r>ethätii:uny" solches freien, sittlichen Wollens das Feld
und die Anfii-aben herfi'iebt.
Wir können diesen l'uid<t nicht verlassen, ohne noch auf eines
hinzuweisen: Wenn Kant hier das Überwieiren der L'nlust in der
Welt gejrenüber der Lu^^t so bereitwillijr zujresteht, so ist doch dies
Zuireständnis, wie wir ücsehen halien. an eine liedinjrunir jreknüpft;
es ^ilt nur. soweit unser Sinnen und Trachten ledi^'lieh auf Trenuss,
auf Glückseligkeit anii'ele^t ist. anstatt auf das wahrhaft Wertvolle.
Damit ist aber noch keineswegs allp-mein die „Negati vitä t der
Lustbilanz" anerkannt, um die es Hartmann doch vor allem zu
thun ist. und für die er irerade Kants Autorität glaubt ausspielen zu
kiMinen. Zuerst nämlich: um alle Lust und Unlust überhaupt
summieren zu können, dazu gehört, dass man die verschiedenen
Arten der Lust doch für untereinander vergleichbare, comnien-
snrable Grössen nimmt. Und gerade diese Befugnis ist es. die
dem Pessimismus meist bestritten wird, und zwar nicht nur wegen
der etwaigen technischen Schwierigkeiten, die sich der praktischen
Durchführung dieser \'ergleichung entgegenstellen würden, sondern
auch aus prinzipiellen Gründen, weil es eben absurd sei. so
ganz heterogene Faktoren . wie die verschiedenen Lustarten seien
mit einander vergleichen zu wollen. Auch Kant bestreitet aus-
drücklich diese Commensurabilität aller Lust, nämlich in seinem
.,\ ersuch, den Begriff der negativen Grössen in die Weltweisheit
einzuführen" (1. i;'):') . Allein dieser Aufsatz gehört dem Jahre IKio
an, also einer weit vor der ..kritischen Ueriode" Kants gelegenen
Zeit, und so lässt denn auch Hartmann dies nicht als letztes Wort
seines Gewährsmannes gelten, sondern behauptet, Kant selbst ha'te
die hier noch geleugnete (Gleichartigkeit und Vergleichbarkeit aller
Lust s]Ȋter unumwunden anerkannt. Und in der That scheinen die
Meilen, auf die Hartmann sich hier beruft, ihm Recht zu geben;
allein der ganze Zusammenhang zeigt doch, dass eine derartige Aus-
d»-utung garnicht in Kants Sinne gelegen haben kann und daher
keine wissenschaftliche Geltung beanspruchen darf. In der Anthro-
pologie zunächst wird ausgeführt (VIlJ. 14:5). dass \'ergnügen
(Lust) und Schmerz (Unlust) einander nicht wie Erwerb und
Mangel \ - und 0), sondern wie Erwerb und \erlust (-j- und j
oj^ l>r. >l \\ tu I ^c li (' r.
i'iiturji'enircset/t sind. Dnriii lifi:t nlicr niclit iinlir ausü-csprucluMi,
als (lass aiu'li «lic l nlii^t iin .iktmllos (Jcliilil sei. wie die l.iist.
nicht rt\\a die Idn-sc .\ li w es c n li c i t doi- liM/ti-icii. I hirliiiaiiii srl/t
anstatt und — so^-lcicli -]- a und a u\u\ ci-wcckt sd den Sclicin.
als liandU" es siidi liier nni ft\\as an sjidi -Iciclics. nur das ciin-
Mal jtositiN. da< andere Mal iic;:ati\ .lifiKtnnnm. was d(i(di ,i:ai-ni(dit
die Meinniiii- Kant-- ist. AUcr llartmann iHrull si(di /.ujileieli :iiü'
eine Stelle der Kritik der |) ra k tischen \ r mn nit (\ 111. TJi) -i:}:?).
\V(trin Kaut aiu'rkannl lialie. ,,dass alle Lust .als sidelie ,i;-lcieliarti^-
oder homoii-en. also auch ü'eiicn einander verji'leiehhar sei;') innl
allerding-s steht dort /u lesen: ..Die Vorstellunjien der (iefienstände
mö2:en noch so unji'leichartiii-. sie inö>;-en N'erstandes-, .selbst \ ernunt't-
Torstellunü-en im (Jcü'cnsatze der \'orstellunii-eii tier Sinne sein, so
ist doch das Gefühl der Lust ... . von einerlei Art ... , in
nichts, als dein Grade, verschieden. Wie würde man sonst /.wischen
zwei der Vorstellungsart mudi gänzlich verschiedenen Bestinnnungs-
ü'ründen eim- \'erirleichunü- der Grösse nach anstellen können?''
(VIII. 181). l'nd in ähnlicher Weise wird noch mehrlaeh die Gleich-
artigkeit aller Lust betont, so dass es in der That scheint, als sei
hier die Möglichkeit der Aufstellung einer Lust-Hilanze jirin/iiiiell
wenigstens zugestanden. — Allein auch hier zeigt die genauere
Prüfung, dass jene ..Vergleichbarkeit- der verschiedenen Lustarten
an dieser Stelle doch nur in einem ganz bestimmten Sinne aus-
gesprochen ist. Ausdrücklich wird immer hinzugefügt, dass mir von
der Lust, sofern sie sich als Bestimmungsgrund des Wo Ileus
geltend macht, die Kede ist: ihrer ;>rotivationskratt nach ist alle
Lust vergleichbar. Die erwartete Annehmlichkeit oder Unannehm-
lichkeit ist es allein, die in Frage kommt für die Motivierung des Willens,
sobald dieser einmal überhaupt sich durch Gefühle, also pathologisch,
bestimmen lässt. Eben das Pathologische dieser Bestinnimngsart
des Willens ist es, was alle Gefühle, durch welche auch innner die
Bestinmiunff erfolaen maa-. insofern als 2,-leichartig, — gleich-
wertig erscheinen lässt. Sie wirken nur noch als grössere oder
a-erinu-ere Gewichte, gleichviel, aus welchem Metall sie bestehen
mögen. — Xun aber ist es doch ganz etwas anderes, zu behaupten.
dass Gefühle, sofern sie bei der Bestimmung des Wollens eine Holle
spielen, lediglich ihrem Gewichte nach für das betreffende Individuum
in Frage kommen, und anderseits, dass alle Gefühle überhaupt,
1) A. a. u. S. 21.
War Kuiil Pessimist V J}9
jiiicli (l;i. WH keiiu*rlci \\'ilk'iisl)estiniiniin<:- vorlie;:!. und jilcicln id
wem >>it' anjicliörcn möjicii. ik-iarl unter ciiiaiidiT vcr^li'ichhar seien,
(lass (laraiithin eine alltrenieine Lii^t- und l'nlust-liilan/e niüjrlieli
wird. Dil- erste liehaujjtun.ir j:eht im (iruiule iihci- das nicht
iiinaus. was aueli der Satz, schon enthielt: der Wert des Lehens,
naeh dem u-emessen. was man ^i-eniesst. sini<e unter Null; denn
autdi sie ist an die Hedinu'unu- ii'e knüpft, dass man es auf Lust und
<;iik'kseli^keit anji'ele^t hat und aUeii Wert h'dijrlieh nach d<'m
liemisst. was man in dieser lliehtuii^/.u erreiehen vermaji". Aber ist dieser
Massstah (h-r einziji'eV Oder zeiü't uns nieht viehnehr gerade (h'r
,.ethisehe Idealismus", mit welchem Namen man Kants praktische
I'hildSdphie trell'end lie/.eichnet hat. eine ji'an/ andere, unverg'ieich-
licli ii ii h e r e Art der Wertschät7.un«i-V L'nd wenn es eine
solche n'ielit. so ist klar, dass die ihr entsprechenden Lustgefühle
wcniü'stens liei jener neirativen Wertsehätzunu- des Lebens ffanz ausser
>pie! g-eblieben sind. Selbst dann also, wenn Kant die Gleichartig-
keit und somit die Sunnnierbarkeit aller Lust und L'nlust wirkli(di
zugestanden hätte, so wiii-e damit doch für Hartmanns „Neu'ativität
der Lustltilanz" inchts gewoinn-n. Denn Kant redet in diesem
Zusannnenhange durchaus nur \on Gefühlen, sofern sie sich patho-
loirisch ii-eltend machen. Ls ist einmal sein Sijrachu-ebrauch, Lust
und l'nlust innner nui- in dem Sinne pathologischer Gefühle /u
nehnu'ii: ..die Lust gehört dem Sinne (Gefühl) und nicht dem \'er-
staude an", wie er es ausdrückt (VIII, 1-2!) |; und entsprechend weist
er auch das Prinzip der eigenen (üückseligkeit dem ,, unteren" Be-
gehrungsvermögen, dem ..pathologisch bestimmbaren", zu |MII, l;^;j)'
Dieser Sprachgebrauch abei- lindet seine Krklärung darin, dass Kaut
in seiner Xeuitegrüiulung der praktischen Philosophie, in seinem
Kampf gegen alles Empirische in der Ethik es üi»erall gerade mit
dieser Lust zu thun bekam. Anderseits zeigen manche seiner Aus-
sprüche aufs deutlichste, dass ilnn tloch auch jene andere, höhere
Art der Lust keineswegs fremd ist. die gewiihnlich als „moralische
Lust" bezeichnet wird. — nur. dass er diesen Namen immer nur
unter Vorlx'halt dafür zugesteht. Er unterscheidet diese beiden Lust-
arten sehr charakteristisch in folgender Weise (L\. 'JiM): ..Die Lust,
welche vor der Befolgung des Gesetzes hergehen muss, dannt diesem
gemäss gidiandelt werde, ist |)ath ologisch und das Verhalten folgt
der Natur Ordnung; diejenige aber, vor welcher das (resetz hergehen
muss. dannt sie empfunden werde, ist in der sittlichen Ordnung".
In diesem Sinne darf auch das Gefühl der ..Achtuns:". die das
40 1*1'. M Wcntsclicr.
Sittenjresctz, als (ic^oi/. der Kicilicit. uns almüti^t i \ 111, lMkm. sowie
(las Cictühl der .,Sollist/.u t'ricdeii licit •'. wrii'lic das iW'wiisstsein
der Tiiü't'iul notwciidiir be^-loitcn imiss ( \ 111. _>.■)()) als rinc i»cs(tii(k'iT,
liülu'iH' Alt (Irr .,Liisf bt'/ciclinct \\ti(i(ii. Ks ist alter klar, dass
dir so Gefilhle vm\ Kam in jenen AnssprücluMi u-arniciit mit in
iJt'i'hnunir ire/.opMi sind, anl Crund deren Ilartniann ihm dii- llter-
/euü'unj;' von der Ne^ativitiit der Lnsthilan/ andichten miichte. Alleiii
der vielp'wandto Diak'ktiker ^V('iss auch hier sich k'at. l)as> Kaut
jene Soll)st/.ul'ri»Hk'nheii wicderknlt als „neji'atives" W'ohliiTl'alleu
an seiner Existenz bezeichnet, iicniifi't ikm. nm daraus die liestätiii-uni;-
seiner Ausleji'unp: /.u entnekmen. ..Die reine iiraktische N'ernunft.*'
so j)araphrasiert er Kant.') ,tluit der Selbstliebe erkeltlichen
Abbruch, indem sie durch Kinschränkunj:- der Nciiiun,i:en Schmerz
verursacht; sie entschädii:t zwar den Menschen.... durch die \hi-
abhäugiirkeit seiner intelligiblen Natur und der Seeleng-rüsse (sie!),.
aber diese innere Beruki.üung ist bloss nejiativ, ein bloss nepitives
Wohlgefallen an seiner Existenz, eine bedürfnislose Selbstzufriedenheit,
welche nicht {41iickselia"keit ist, auch nicht der mindeste Teil der-
selben. Hat man seine Pflicht erfüllt, so hat man gerade nur eben,
seine Schuldiji'keit ü-ethan: die Pflichterfüllnno- kann also keine positive
Freude bereiten, sondern nur von dem positiven Schmerz der Pfiieht-
widrigkeit befreien und höchstens im Kontrast mit diesem als
relativ angenehmer Zustand empfunden werden. Absolut genommen
erreicht aber die moralische Zufriedenheit nur dann den Inditferenz-
punkt des Gefühls, wenn sie vollkommen ist. und als vollkommene
Zufriedenheit ist wiederum die moralische ebenso unerreichbar wie
die pragmatische mit dem sonstigen Wohlbefinden. Die Tugend
schmerzt also in doppelter Hinsicht, erstens durch den Abbruch,
den sie den Neigungen tluit, und zweitens durch die unüberwindliche
Unvollkommenheit ihrer selbst; insoweit sie aber Selbstzufriedenheit
ist. ist sie wiederum nur ein negatives Gefühl der Beruhigung,
keine positive Lust oder Glückseligkeit, so dass von ,,moralischer
Glückseligkeit" nur in einem ganz uneigentlichen und leicht irre-
fahrenden Sinne des Wortes die Kede sein könnte".
Diese Wiedergabe der Kantschen Gedankengänge erweckt durch
fortwährend eingestreute Quellenbezeichnung den Anschein, als handle
es sieh um objektives, authentisches Material aus Kant selbst; und
dann freilich wäre der Pessimismus dieser Philosophie so unwider-
]| A. a. n. s. lö f.
War Kant F.'^^nnistV 41
le^lieh envicsen, dass es keines Wortes weiter hetlürftc l'iul in
der That. obiii-e Ausfübruuirrn enthalten fast lauter Kantseh«- Worte;
es steht fast alles würtlieh, — einmal s(.<rar zu würtlieh. — so da.
Allein trotz alledem: so konnte ihn nur darstellen, wer einmal seinen
eigrenen Tessimismus Itci ihm wiedertinden wolltcl Alles in dieser
Darstelluni:- ist willkürlich aus dem Zusammenhani:- ^-erissen. und
daltei überall das unmittelbar Danebenstehcnde. für das Verständnis
der wahren Ansicht Kants Inerlässliche geflissentlich unterdrückt,
um erst an viel späterer Stelle') unvoUständii:- und wirkungslos
nachgeholt /,u werden. Verschwiegen ist. dass Kant die Achtung
ausdrücklich auch als ..positives Gefühl, das nicht empirischen
Irspruugs ist", bezeichnet (VIII, 198. ^'gl. auch VIII. •_>04f.:i Nur
im Nerhäjtnis zur Sellistliebe ist sie ..negativ d. h. im j)atho-
loirisehen Sinne ( VIII. U)9): anderseits ist sie ..doch auch wiederum
so wenig l'nlust: dass. wenn man einmal den Eigendünkel ab-
gelegt und jener Achtung praktischen Einfluss verstattet hat. man
sich wiederum an der Herrlichkeit dieses Gesetzes nicht satt sehen
kann und die Seele sich in dem .Masse selbst zu erhebt-n glaul»t.
als sie das heilige Gesetz über sich und ihre gebrechliche Natur
erhaben sieht". Ebenso ist nach Kant die ,.innere Beruhigung''
in dem Hewnsstsein, ,.die Menschheit in seiner Person doch in ihrer
Würde erhalten- zu haben. — welche ..nicht Glückseligkeit, auch
nicht der mindeste Teil derselben- ist, doch negativ nur ..in An-
sehung alles dessen, was das Leben angenehm machen mag; . . .
sie ist die Wirkung von einer Achtung für etwas ganz anderes, als
das Leben, womit in Vergleichung und Entgegensetzung das Leben
vielmehr, mit aller seiner Annehmlichkeit, gar keinen Wert hat"
(VIII, -iltii. Auch hier also ein ganz unverkennbarer Hinweis auf
iene andere, einzig wahre Wertschätzung, welche Kant überall der
eudämonologischen als die höhere gegenüberstellt! Ebenso ist ihm
die ,,Selbstzufriedenheit. welche das Bewusstsein der Tugend
notwendig begleiten muss'\ allerdings in gewissem Sinne ..nur ein
negatives Wohlgefallen an seiner Existenz, in welchem man nichts
zu bedürfen sich b<'wusst ist" (VHl. "ioOl. — aber dies wird
sogleich dahin erläutert (VIII. 257), dass sie „ein Bewusstsein der
Obermaeht über seine Neigungen, hiermit also der Unal)hängigkeit
von denselben, folglich auch der Ijizufriedenheit. die diese immer
begleitet", sei: und dann wird noch hinzugetugt: „die Freiheit
) A. ü. (I. s -{& rt :
j) Dr. M Wnil sein r.
sell)st". (I. Ii. tlif Sittlirlikcii . da-^ sinlidic \ cilialtcn . ..wird auf
solche \\ fix- riiio (.riiMsM's tülii:;-. w clclii-i' niclit <iliicksfli<:-k('it
lu'issrn kann, weil rr n'u'lit mum pn^-itiNcn l'.filiitt rin(> (ict'ülils
altliäiiti'f"". aller (lot'li. ..wcniii^lriis siiiii'in l is|tniiii:r nacli. der Srlh^t-
i:"enui;"sanik('it analtt;L:is('li isi. dir man niii- dem luHdistcn Wesen l>ei-
lei:-(Mi kai\n'*. — Das alles /.ei^l deutliidi ^-eiui::-. in \\(d(dieni Sinne
allein die selieiidiar pessiinistisclien Aiiss|irii('lie Kants xcrstandeii
^ve^len wollen, und \vie xi'dli;^- llai Iniann dnrcli seine Uedaktion
<lersell)('n diesen >inM in da-^ i:erade ( icii-enlcil \('i-kelnl hat!
Kerner aber: wenn Kant i\f\- I' lli c h t ert'iilUini;' alles Keclit dei-
Anniassnnii' eines hesonderen \erdienstes liestreitet (/.. H. \ III,
2l:>f.. MO:? ff. ete.). so heisst das doch nicht: ..Die i'llichternil-
luiiii" kann also keine |iositi\e l'reude liereilen. sondern niii- \ondein
positiven Schmer/, der Ptliclitwidriiikeit helVeien.-' Hartniann seihst
eitiert hei anderer (4eleg-enheit) Ausspriudie u-enu^- von Kant, welche
den ..Frohsinn", ilen die iMlichtertiilhmi:' im Geibl-i-e haben muss,
"•erade als I^rüfstein der Kcditheit der moralischen (lesinnun^' hin-
stellen. Dieser Frohsinn, das ..fröhliche Her/.'-, wii es Kant auch
nennt, darf doch wohl als ..jiositive Freude'' in .\nspruch <:-e-
nommen werden. — zumal, wenn hin/uiiefii.ü-t wird, dals sie als
Svni])tom dafür g-elten soll, dals man das Gute auch lieb a'ewonnen
hat (X. -2'). IX. :')."):') f.). — Auch in die.sem Fnnkti' also g-iebt die
Hartmannsche Darstellunji' ein vidliii- verzerrtes 151 hl der Kantschen
Anschauung', wie es nui' der einmal feststehenfle Zweck ein,i:-el)en
konnte.
Wenn endlich Kant in der Anthropologie ( MI 2. 14!») die ..Zu-
friedenheit währeiul dem Leben-' als unerreichbar hinstellt, so
zeigt doch sogleich der hinzugefügte lateiinsche Ausdruck .,acquies-
centia". in welchem Sinne er hier die Zufriedenheit genommen wissen
will: es ist die des that- und gedankenlosen Ausruhens, die nichts
zu wollen und zu wirken mehr vor sich sehen möchte. In diesem
Sinne sagt Kant: ..Im Leben (absolut) zufrieden zu sein, wäre that-
lose Ruhe und Stillstand der Triebfedern, oder Abstumpfung . . ." —
Eine solche Zufriedenheit ist natürlich auch auf moralischem
Gebiete unerreichbar: niemals gelangt man dahin. ..mit sich im
Wohlverhalten zufrieden zu sein", sieh bei dem Erreichten. Geleisteten
dauernd zu beünüg-en und kein Bedürfnis mehr nach weiterem Fort-
schreiten, nach höherer \'ollkommenheit des eigenen Wesens, wie der
1) A. a. 0. S. 48 f.
War Kaiit Po-^siniisf:' 43
imii!,rlK'ii(lcn N\'i*lt. /ii cmptiiKlcii. Allriii diiiiii. dals solch ein iri*-
.sättigtes. hot'iii'dijitcs Aiisnilicn nirgend zu cnriclicn ist. d;iss \ii*U
mehr ininicr noch ctwjis /.ii wullcii und /.u wirken ülnii: l)lcii>t. nun
einen .M.in^-el der Well /u sidicn. sie dai;iul"lun für wertlos. j;i
tili" lifsscr niciit -seiend /u erkliiien: Das kann doeli nur. wem es
schon ansii'eniaeht ist. dass aUe 'l'hätigkeit des WoHens. alles Strel)en
und Wirken an sich scluni l nlust sei oder zur l'nlust notwendig;
führe. Hin solcher ..Qnietisnnis-" alter - gleichviel, wie es sonst
um ihn stehen mag wird wenigstens auf Kant sich niemals he-
rufeu dürfen; es kann kaum eine Denkweise dem ganzen (iei>te
dieser rhilosojiliie der l'reiheit niehi' widerstreben, als Jene ^chojien-
hauer>che Doktrin \oii (h-r ..l'nseligkeir des VVollens" ülterhaupt.
Was hleiht al>o \(»nail den hmgausgesponnenen .Vuseinander-
setzun:;en Hartnianns. durcdi die er Kants Pessimismus zu erweisen
g'laulitV Nicht mehr, als was auch Non vorn herein selbstverständlich
war: dass nändich Kant den Wert der Welt und unseres Lebens
nicht in dem suchte, worauf es der Eudämonisnius überall anleget,
sondern vor allem in (h'in. was wir als freie Wesen, als sittliche
Persönlichkeiten ilaraus zu machen imstande sind! Will man eine
solche Weltauftassung mit dem schiefen Namen eines ..e u da mono-
logisch eii Pessimismus" bezeichnen, selbst auf die Gefahr hin.
damit im (Gründe nichts g'esag't zu haben, so ist natürlich nichts
weiter dag:egen einzuwenden. Aliein wenn llartniann, nachdem er
lediglich diesen .,Pessimismus-- Itei Kant erwiesen hat. nun ohne
weiteres den Gedanken, dass das Leben gar keinen Wert habe durch
seinen (renuss, sondern nur durch seinen Ge brauch, als
..e t h i < c h e n Pessimismus" oder als ..p e s s i m i s t i s c h e M o r a 1"
in Ans|)ruch ninnnt, s(t ist das nichts anderes, als eine g-rol)e
Erschleichung-, die auf das schärfste zurückgewiesen werden
mussl — Sobald wir uns einmal entschlossen haben, allen wahren
Wert in dem /u suchen, was wir tliun, nicht in dem. was
wii- ( patludogisch) geni essen, hat es nicht den mindesten
Sinn mehr, die \\'elt ..wertlos" zu nennen, wenn es in unsere (iewalt
g'eg:eben ist. unserem Leben selltstthätig Wert zu verleihen. ~ Nur
wer thatsächlich mit all seinem Sinnen und Denken im Kudämonis-
mus befang:en bleibt, wie sehr er ihn auch in der Theorie lK'käm|»fen
mag-, kann die Angelegtheit dvy Welt auf freiestes ethisches Dasein
und Wirken, anstatt auf path(dogische Glückseligkeit, immer wituler
als l l»el emj)lin(len und sein ..ceterum censeo" dahin aussj)rechen,
dass (las Nichtsein der Welt ..liesser-- wäre.
j I l)r. M. Wt'iit seil er.
Das Krjrcbnis des l^ishoriiren küniieu wir diiliin /.iisanuin'nfasNfu,
(lass bei Kant von ('inoni ..cudämniKtloiiisc Ihmi l'rssinii simis"
schlt'i'htcnliniis nicht die Kc«!«' s<iii kann, niid /w.ir drslmll) nii-lit,
weil er nicht Kudänionist war ^ auch nicht ein ..imiIm'w usstiT".
wie K. V. llartniann. sondern weil es ihm ernst war mit dtr liciniiruiifi-
der Moral von aller eu(iJinion(doi;-ischen Heinienj:-iini:. hmnoch '.icljt
es luin einen Punkt, wo ivi\r Weltauffassnnii'. und s(» auch die
Kantsche. /idct/t auf die Fra-e nach einer (iliickselii;-keit /iiriiek-
koMunen muss; und unsere rntersuchun<i' würde unvollständii:- sein,
wenn sie nicht auch diesen Tunkt noch in ihr Hereich licrein/öj?e.
— Was den Kudämonisnius mit der Moralität so unverträglich macht,
das ist lediji-lich die in ihm lieji-ende (lefahr einer Verfälschung der
sittlichen Triebfedern. Vorstellungen von i'iner dadurch /.u erwarten-
den grösseren (ilücksi-ligkeit dürfen die Willensentscheidung nicht
beeinflussen, wenn sie nicht allen ethischen Wert verlieren soll.
Allein es ist etwas ganz, anderes, nun dennoch für das Welt-
iranze die Forderung aufzustellen, dass darin die sittliche (re-
sinnung vollauf heiniatberechtigt sein müsse — und zwar in
höherem Grade, als jede andere, nicht auf das ethisch Idealische
L'eriehtete Gesinnung-. Soll das (xute. die Tugend, nicht lei-re,
^ *" ■ r/
phantastische Schwärmerei und Träumerei bleiben, so muss im /,u-
sammenhange des Weltganzen (wozu übrigens auch die ursächlichen
Zusammenhänge unseres psychischen Innenlebens gehören) irgend-
wie dafür gesorgt sein, dass die Gesinnung und sittliche Arbeit,
die sich von jenem Ideal des Guten ausschliesslich leiten lässt. in
letzter Instanz zu w^ahrer und höchster Befriedigung führe, wie .sie
durch keinerlei anderartiges Streben je erreichbar wäre! — Es ist
nicht mehr eine Forderung der pathologischen Selbstliebe, die sich
hierin ausspricht, nicht mehr das Interesse der eigenen Glück-
seligkeit, was uns hier leitet; vielmehr machen wir unser Urteil
als blosse Zuschauer geltend:^) der Welt — meinen wir —
würde jeder sittliche Wert, und somit ihre ethische Existenzberech-
tigung, abgesprochen werden müssen, wenn das Gute, Idealische in
ihr keinen realen Boden fände, wenn es nicht durch die in ihr
wirksamen Kausalzusanmienhänge zuletzt höchste Freude und Be-
friedigung her\ orzubringen vermöchte ! — So ist es im letzten Grunde
das Interesse einer ,,Theodicee'S d. h. einer Rechtfertigung der
W^elt als Werk eines allmächtigen und wahrhaft vollkommenen Wesens,
») Vgl. X, 6.
War Kam Pessimist V 4ö
(las hier in Kra^e steht, iiml von dessen Befriedi^ain^- es ahhän^-t,
ob unsrre (Jesanitweltnnsieht einen ..optiniistisehi-n" oder ..pessi-
niistisehen" Ahschluss finden soll; — denn hi»'r allein kaiui von
..Optiniismns" und ..Pfs>^inii><nHi>^-- in dem ol»en definierten Siiuie die
Rede sein.
Es ist Kants Lehre vom ..lii'M-hstcn dute". worin wir die hier
ausiresprochenen Keriexinnt-n /um Ausdruck konnnen sehen; wir
wollen es versuelien. sie von diesem Gesichtspunkte aus einer näheren
AVürdi^unj:' zu unterziehen, den ei<:-entlieh ethischen Kern dieser Lehre
herauszuschälen. — Kant bereitet die EinfUhrun«;- der Idee des
höchsten Gutes durch den Satz vor: Zum ..ganzen und vollendeten
Gut" .... wird auch (J 1 iic kMlii:keit erfordert, und zwar . . . .
selbst im Irteile einer unparteiischen \ ernunft .... Denn der Glück-
seliü-keit Itediirftiji', ihrer auch würdiu-. (h-inioch aber derselben nicht
teilhaftig zu sein, kann mit dem vollkommenen Wollen eines ver-
nünftigen Wesens, welches zugleich alle Gewalt hätte .... garnicht
zusammen bestehen."') — Dies könnte — dem Wortlaut nach —
leicht als ein llückfall in jenen eudämonistischen Standpunkt er-
scheinen, der durch Kants Ethik gerade ein für allemal über-
wunden sein sollte. Man fühlt sich geneigt, dem gegenüber dem
Stoicismus Uecht zu geben, welcher in der Tugend allein schon
das ganze höchste Gut suchte und (rluckseligkeit nicht anders gelten
lassen w(dlte. als sofern sie in dem Uewusstsein der Tugendgesin-
nung bereits enthalten sei.
Auch die Definition dei- (Üückseligkeit als ..Zustandes eines
vernünftigen Wesens, dem es, im ganzen seiner P^xisteirz. alles nach
Wunsch und Willen geht" (VIII. -JIU'. kann einer Missdeutung im
eudämonistischen .sinne W(dil Nahrung geben, .\llein der Schlüssel
dieser ganzen Lehre vom höchsten Gute ist dennoch so klar und
deutlich von Kant bezeichnet, dass jene kleinen Missgriffe des sprach-
lichen Ausdrucks nirgend imstande sind, nen Geist dersell)en
zu verdunkeln. — Es versteht sich von sell)st. dass Kant auch hier
überall daran festhält, dass das (iute lediglich um seiner selbst
willen (um des (iesetzes willen) erstrebt werden müss«*, ohne Jedes
Hinüberschielen auf die etwa daraus zu erh(»ffende Glückseligkeit.^)
Daraus gerade geht bei ihm die ..Anti mimie" der praktischen \ ernunft
hervor (\11L ^äof.i. dass nändicli. während wir auf das höchste
1 VIII. 24Kf.
2) cf. VIII. -'44. -.'71 t. etc.
4(J iMv M Wi'Ml scIicr.
(iiit KMlii:li('li (luri'li (l;i^ Strchni ii;irli \ nllUtMiinimsici- Sil i liclikcil
liiiiarlicitcM sullcii. (Icniinch ..keine iHitweiidi-c uiul /um liiiclistcu
(Jut /.iircii'lM'iuU' \ eikiiiipruni:- tier ( iliickseii^keit mit der TiiLieiHl in
der Well. (Inn'li die pi'mktlirhste lieidciclilnni: dei- mei;ilisidien (le-
st't/.e. erwiirtet weidi'n k;inn."''i Dies«' Aiitiiioniie würde ntVeii-
l»Mr s()ji-lt'ii'li aul'liöreii. eine solciie /u sein, wenn wir /um /necke
der llerlieifulirnni:- des li(ielislen (iules niclil nur die S i 1 1 1 i c li ke it,
als dessen iTSten Kaklor. sendeiii in lileiclieni Masse aiicli die
Glüekseliirkeit. den /weiten l-aktor dessell)en. uns /um (;e::-en-
stand unseres Streliens setzen könntiMi. Denn aisdimn würden wir
Ja unsere ..Kenntnis der Naturi:-eset/.e" und unser ..pliNsiselies \ er-
niöp'ii. sie /u unsern Ahsiehten /u i:-el)r;iu(dien*" (et. \ III. 'J'>\\. eiir
faeh /.ur deitunj:' l)rinii'en kf>nni'n: und s(» würden wir uns (iliiek-
seliü'koit — wenn aucli inuiier in liestdn-iinkteni .Masse, dureli ei'i'enes
Handaniejivn /u sehatfen imstande sein und damit die Autlüsun,::- der
J.Antinomie" sell)er herbeiführen.
Anderseits: ist ni(dit mehr ..(.lii(d<s(dii:'keif das Ziel unseres
Strebens, so verändert auch der in tue hh-e des höchsten (Jutes nun
dennoch mit aufii-enommene (41ückseliiikeitsi)eü'ritr netwendiu' seinen
ursprünii'lichen Charakter; das Patholoii-isch e <hiv«>n \('rsch\\ indet,
weil jetzt nicht nu lir dii' \ orstellun^' und Ijwaituiii;- einer zu er-
reichenden Glückselifi-keit voi li eri:'eiit (was ja nach \ II!. 2.')H die
Definition eines patholoo-ischen (Jefühles ist). Imh-m alles eiiiene
Hinarbeiten auf (ilückselig-keit ausg-esehlossen wird, ihre Ziiteihing:
vielmehr — der erreichten Olückwürdig-keit ang-emessen — einer
übersinnlichen. ..intelliu-ihlen" Ordnun»- der Ding-e anheimgegeben
wird, so ist zugleich auch die Idee der (rlückseligkeit. (k li. die
Bestimmung dessen, was wir in dem ..höchsten (Tut" als ..(üludv-
seligkeit" zu erwarten haben, unseren mitgebrachten, „empirischen"
Vorstelluiiii-en einer solchen enthoben. Jene Art von (Tlückseligkeit,
welche auf dem Boden reiner Sittlichkeit allererst möglich wird, hat
so wenig- mit dem, was man sonst so beneimt. gemein, dass sie sieh
dem, der noch nicht zu solcher Sittlichkeit hindurchgedrungen ist,
als solche garnicht begreiflich machen iässt (cf. MII. •2')4\. F>st
durch das Streben nach Sittlichkeit erschliesst sich uns das Gefühl
für moralischen Wert und Unwert, in welchem wir \oii da ab immer
mehr unsere Glückseligkeit suchen. So ist es zuletzt nur noch ein
„Analoffon" dieser — d. h. dessen, was wir vorher darunter ver-
1) ef. auch Vlll. 264 f.
War Kant IVssimistV 17
staluk'U 1111(1 fi'strclit — was wir in der Idt-c des liöehsti'ii (iiitcs
mit dem l^owiisstsein der Tiiiiciid vcilimidcii denken können. Kant
be/.eiehnet es als ..SelbstziitViedenlieit- - <-iiic ZulVicdcnheit. die "T
als ..intellektuelle-' von der „ästhetiselicn-. die auf lielViedi.u-unj:- der
(iniiiifr patliold-iisclifiii Neiiriini:'«'!! lu-ruht. seharf abirrenzt. Sic ist
in ihrer (^icUe ., Zufriedenheit mit >cinrr IN-r^un- In ilii- wirddi«*
Freiheit sellist ..eines Genusses fällig', welehcr nicht (ilückscli-kcit
hoissen kann i im ucwühnliehcn Sinne i:tiinniint'ii). weil er nieht vom
positiven Heitritt eines (iefiihU ;iltlijini:'t.- \ielinehr der .,SelbstJ^•enu.l;•-
sanlkeit•• analo^-iseh i>t. die nuiii nur dem höchsten Wesen heileiirn
kann- (\ Hl. ^.'.T f.i.
Kant sehliesst iliese Ausfiihninii-eii mit foljiendeni Satze: .,Aus
dieser Auflösunfr der Antinomie der praktischen reinen \ ernunft foht.
dass sieh in praktiseheii <irundsät/.eii eine natürliche und notwendige
\Criiindun,i;- /.wischen dem Hewusstsein der Sittlichkeit und der Kr-
wartunj:- einer ihr projiortionierten (Mückseliii-keit. als Folg-." derselben,
weniii-stens als niitii-lich denken lasse .... dass also das oberste
<;i!t (als erste Hediimunii' des höchsten Gutes) Sittlichkeit, (iliick-
selii:keit daj;-ejreii /war das /weite Element desselben ausniaehe,
doch so. dass diese nur die moralisch bedin,üte. aber d(K'h notwendige
Foljre der er.steren sei.- — So wird hier der soeben als un/uläng-lich
verworfene Name der ..( ilückseli<i-keit- für Jene ,, Sellist/ufriedenheit"
dennoch >o,uleich wieder aufu-enommen. Aber die Erklärun-:- dieser
scheinliaren lnkonse«|uen/ i.st nicht schwer zu finden: bei der ersten
Aufstellung der Idee des höchsten (iutes konnte der Begritf Jener
höheren Befriedigung nicht wohl schon vorweg genommen werden.
in welcher die (Tlückseligkeit einerseits ihren höchsten Gipfel er-
reichen, anderseits doch zugleich über die Grenzen der ursi»ründliclie!i
Bedeutung des Wortes weit hinauswachsen sollte; so blieb nicht>
übrig, als vorläufig wenigstens den naiven Glückseligkeitsbegriff für
die gemeinte iiniere Zufriedenheit anzuwenden, der denn nun freilich
auch im Kndergebnis festgehalten werden mulste, sowenig er an sich
zureichen mochte, jener ..Selbstzufriedenheit'- zum angemessenen Aus-
druck zu dienen. l brigens ist die so itewirkfe Frweiterung des
(ilückseligkeitsbegrirt'es keineswegs unverträglich mit der liereif<
erwähnten Kantscheii Definition desselben als .,Zustan(les eines
vernünftigen We>en>. dem es. im ganzen seiner Existenz, alles nach
Wunsch und Willen .-eht;- denn dieser ..Wunsch und Wille-- wird
-sich naturgemäss auf eine um so höhere Art der Befriedigung richten.
Je weiter Jenes vernünftige Wesen selbst in seiner Fntwickelung zur
,^ Dr. M Wcnl scher.
>itllii'hki-il fnrt-i'srlirittrii i-t. j.i. die Dclinititm |>:is>it liier insotVrn
ntu'h lu'sscr. als lifini --i 1 1 lirlir ii Wolli-ii die /.ahlloscii lOiit-
täuscIuuiiriMi iiirlil inclir /.u licfiirclitcii ^ind. die sich dem ii;ii\t'n
WUiisolu'ii und Wtdlrn iiluMall in den Wr-' stellen.
Entsi'lioidt'iul daflir. dass Kaiil in dmi iiii-r anfficstclltcM Ideal
der ..Selhst/ufnedt'iilieif das Moment i\ry ..( ;liieksoli-krit- ki'ines-
\veirs li-an/. unterdrUekt bissen widlte. ist seine Iten-it- Iternlirte
INdfinik u-eiieii den Stoicisinns.' i Denn währenil die stoi'selie ..Sellist-
ü-enuü-samkeit- lediii'lieli im Handeln sellist und in der Zufriedenheit
mit seinem iiersönlielieii Werte -•esuelit wurde, ohne jede Aidehnun^-
an das natürlich-monschliidie liedürfnis mudi ei<iener (iliickseliiikeit,
mithin die vüUiii-e Geriiipu'htun- der uns umii'ehenden Welt und der
Übel, die sie uns /,u/ufiii:-en etwa imstande ist. in sich schloss. will
jene von Kant in der Idee des hr.chsten (kites g-etorderte (Uück-
seliii-keit vielmehr auf ein Sich-Kins-Fühlen mit dem tiefsten Sinn
nnd (ieist der Weltordnnni:- hinaus. Sie erschöidt sicli niclit in der
subjektiven (.esinnunj;' iler Seelenruhe des unten (lewissens. s.mdern
will auch in der objektiven Widt im letzten (irunde einen ethisehen
Wert erkennen oder doch iilauben dürfen: - das Weltii'anze soll
anseleg-t sein auf Rethäti.u-unji- freien, sittlichen Wollens vernünfti':er
Wesen und diese Ang-eleji'theit uns durch den Krfolji" zuletzt auch
beweisen. Krst so si-eht es uns. ..im jranzen unserer Existenz.'-
alles wahrhaft ..nach Wunsch und Willen." P.ei dieser Ausdeutun-
der ..Selbstzufriedenheit--, wie sie durch Kants Auseinandersetzuni?
mit dem Stoicismus nahe g-eleji't ist. enthält die Idee des hik'hsten
Gutes Jedenfalls nichts mehr, was als llückfall in einen ethisch
minderwertii:en Eudämonismus verdäcliti-t werden kiumte — nichts
mehr also, was uns hindern könnte, sie als höchsten Weltzweek, als
Ideal eines solchen Weltzwecks anzuerkennen. Allein damit, dass
wir etwas als höchst wertvoll und idealisch erkennen, ist freilich
seine Wirklichkeit noch nicht erwiesen. Die Frag-e ist noch nicht
entschieden, ol) unsere Gesamt-Weltansicht einen oi)timistisclien oder
einen pessimistischen Abschluss erhalten müsse. — Hier aber ist
nun — nach Kant — eine theoretische Entscheidung überhaupt
völli- ausgeschlossen, da unsere theoretische Vernuntterkenntnis das
Transcendente — denn um solches würde es sich hier handeln —
ein für allemal nicht zu durchdringen vermag. — Auf der andern
Seite aber haben wir doch ein al)solut Gewisses in Händen: das
'j Vgl VIII, 267 t.
War Kant Pessimist? 49
Sittengesetzl Wir vermögren also, trotz der theoretischen ünvoUend-
harkeit unserer Weltansieht, doch einstweilen unter der Voraus-
setzung einer Welt, die dessen Erfüllung uns möglich macht und
vernünftig erscheinen lässt, zu handeln. Ja, das moralische Gesetz
in uns fordert ein solches Handeln, als ob wir diese Gewissheit
hätten, dass die Welt im letzten Grunde auf jenei. idealischen Zweck,
ilas höchste Gut, angelegt sei. — Somit behält also die opti-
mistische Weltanschauung praktisch den Vorrang; sie ist „Postulat"
der praktischen Vernunft, samt den daraus fliessenden Konsequenzen.
— Dies etwa ist es, was in Kants Lehre „von dem Primat der
reinen praktischen Vernunft in ihrer Verbindung mit der spekulativen"
seinen Ausdruck sucht' ) — eine Lehre, durch welche die Stellung-
nahme Kants zum Pessimismus entscheidend klargestellt ist.
'■o'-
(Schluss folgt.)
1) Vm, 268 ft.
Kantätadiea IV.
Eine französische Kontroverse über Kants Ansicht
vom Kriege.
Auch ein Wort zur Friedenskonferenz.
Von II. Vaihinger.
In Frankreich wurde vor Kurzem ein sehr interessanter Streit
ausgelbchten über Kants Meinung vom Krieg:e. Wir bericiiten
über den Streit nach dem uns vorliegenden Quellenniaterial.
Das bekannte politische Journal „Le Temps^' brachte in seiner
Nummer vom 17. März 1899 einen Bericiit über „Une Conference
de M. Bruuetiere": in Lille hatte derselbe am 16. März einen Vor-
trag gehalten, in dem Hippodrom, vor circa 8000 Personen. Der
Vortrag war veranstaltet von der „Union de la paix sociale", einer
katholischen Vereinigung zur Bekämpfung der Sozialdemokratie;
„les honneurs de la salle etaient faits par les etudiants de la
Faculte catholique." M. Bruuetiere, der Herausgeber der „Kevue des
deux Mondes-', zugleich Membre de l'Academie fran^aise, steht ja
bekanntlich seit einigen Jahren an der Spitze der klerikalen Be-
wegung in Frankreich und predigt wie seinerzeit Stahl in Deutsch-
land die „Umkehr der Wissenschaft", die Reform des höheren
Unterrichtswesens im Sinne des Syllabus und des Index. Man muss
sich dies gegenwärtig halten, um zu verstehen, was im Grunde M.
Brunetiere will, warum seine Gegner ihn mit solcher Energie angegriffen
haben, und warum die Geister mit solcher Heftigkeit aufeinander-
platzten. Die Kede hatte zum Gegenstand: Les ennemis de l'äme
fran^aise. Er versteht darunter nicht äussere Feinde sondern innere
Feinde, welche am Werke seien ,,ä detruire cette combinaison,
ou plutöt cette communion hereditaire de sentiments et
d'idees qui est l'äme frangaise." Diese Feinde seien
die Internationalisten, die „Intellectuels" , „libres penseurs",
die „Individualisten", insbesondere alle diejenigen, welche
mit der grossen religiösen Tradition Frankreichs gebrochen haben:
mit dem Katholizismus. Die „Internationalisten"' teilte M. Brunetiere
Eine franz. Kontroverse über Kants Ans^ieht vom Kriege. 51
in mehrere Klassen ein; die erste ist ihm die der „internationalistes
humanitaires ou sentimentaux", ,,les amis de la paix." In diesem
Zusainmenhanjre saglie der Kediier foljrendes — wir citieren nach
der wörtlichen Wiederjralie im ..Journal des Debats", vom 17. Mär/.
1S97:
... je crois (ju'ils se trompenti et si je ne pense irA^, avec une con-
traire ecole, »jiie „la guerre seit divine", je ne pense pas non plus, Mes.sieurs,
ijue la paix seit le premier des biens. Non, je ne le pense pas! Et de
grands philosophes, (lui n'etaient cependant ni sanguinaires ni belliqueux,
ne lont pas pense davantage, et Tun denx, - c'est Kant, Emmanuel
Kant, le plus pacifique des hommes, — na meme pas craint decrire, il y
a (jueliiue cent ans, que, „au degre de civilisation oü le genre humain etait
arrive, la guerre etait un moyen indispensable de s'elever plus haut". Les
amis de la paix ne veulent voir dans la guerre, — et independamment de
tant de maux dont eile est la cause, — qu'un moyen d'asservissement des
masses. Kant, lui, y a vu, au contraire, la condition meme de leur inde-
pendance ou de leur liberte croissante. A qui, Messieurs, je vous le de-
mande, a qui, de Kant ou de ses contradicteurs, les guerres de la Revo-
lution franv'aise et du premier Empire ont-elles donne raison ?
Der ,,Temps'' vom 17. März, welcher nur einen Auszug der
Rede brachte, berichtete über diese Stelle tblgendermassen :
„Oui, la guerre est un mal, mais la paix nest pas le plus grand des
biens. De grands ])hilosophes, comme Emmanuel Kant, ont reconnu que la
sruerre etait le meilleur perfectionnement de la civilisation."
Diese Darstelluni: der Kantischen Anschauungen über den Kries:
konnte nicht unwidersprochen bleil)en. In der That sandte an dem-
selben Tage noch Louis Couturat einen Brief an den Heraus-
geber des Temps, um gegen diese Darstellung zu protestieren
und die \'erbreitung dieser Verfälschung der wahren Kantischen Lehre
zu verhüten. Louis Couturat ist ,,charge de cours de philosophie ä
ri'niversite de Caen." Er hat sich vorteilhaft bekannt gemacht
durch seine Schrift ,.De Tlntini mathemati(|ue"' (Paris, F. Alcan 18961.
Wir haben über dieselbe in den „Kantstudien", II, S. 4S4 berichtet:
wir nannten sie ,,ein scharfsinniges und gelehrtes Buch, das viel-
fach seine Spitze gegen Kant und seine Fortsetzer richtet".
M. Couturat ist also durchaus kein Kantianer ä tout prix, aber er
sieht, wie wirselbst, in Kant die Basis, auf welcher allein fruchtbar weiter
gebaut werden kann. Er ist auch in diesem Sinne ,,libre penseur'':
das ..Jurare in verba magistri" überlässt er den Neuthomisten, den
Freunden Brunetieres. Die Neukantianer thun es nicht. M. Couturat
aber empfand es als einen Schlag ins (Tesicht der historischen Wahr-
heit, dass Kant gegen diejenigen ins Feld geführt werden sollte,
4-'
_r^.) 11. ^'ailliIll,'o^,
woU'he in lit-r Vi-rnu'iilunir dir Krii'jrc und in der \ i-iMninderunjJC des
Kru'jrst'li'ndi's ein erstrel)ens\vertes Ziel sehen - K;int, der die
Schritt ..Zum ewiircu Frieden" vor lo4 .lahrcn jrcsehrielu'n liat!
Wir l)eirreiten deshalb das Krstauiien von M. C'outurat, das ihm dni
oben erwiihnti'U Brief in die Feder diktierte, den der ./Pemps" \ om
■21. Mär/, /.um Alxlruek 'nraehte. Wir /iclien aus demselben die
llaupt'^tcile heraus:
Je lis avec etonnement. dans l'analyse quo le Tanps a domu'-o ilc l;i
conftVt'Uct' de M. 'Brunetiere :i Lille, la phrase suivante:
..De grands i)hilos<)phes. lommc Emmanuel Kdiit, ont reconnu cpie la.
guerre etait le meilleur perfectionnement de la civilisation".
Tons les philosophes savent eu effet «pie Kant a ecrit un traite Pour
la pair perpetuelle (1T9B), ipie Barni a traduit en franvais ;i la suito des
EI>'m>-),f>t nh'hiphi/.^i'iucs de la dodnne du droit. Or, on y cherche en vain la
moindre trace de la theorie ({ue M. Brunetiere prete a Kant, et qui est
absolument rontraire ä la tendance et au.\ conclusions de ce traite. On y
lit. il est vrai. que letat de guerre est „I'etat de nature" poiir les hommes
(p. 29.5), mais en ce sens que cest la condition de rhnmanito primitive
et inculte. et Kant ne cesse de le concevoir comme un etat barbare et
sauvage qui doit faire place ä l'etat de justice et de droit international. U
dit aussi q\ie la nature einploie la guerre pour aniver k ses fins, notam-
ment „ponr peupler toute la terre" (p. ;312); mais il ajoute que cette fin
est relative au genre humain considere „comme une espece animale" (p. ;3]3).
et il soutient, au contraire, (jue „la nature elle-meme garantit la paix per-
petuelle par le mecanisme des penchants naturels" (p. 316). Pour carac-
teriser l'esprit de tout le traite, il suffit de citer la phrase suivante, extraite
du meme passage.
„Chez les sauvages d'Amerique. comme chez ceux dEurope (sie) au
temps de la chevalerie, le courage militaire est en grand honneur, non seule-
ment pendant la guerre (ce qui serait juste), mais aussi en tant qu"il y
pousse, car on ne lentreprend souvent (jue pour montrer cette qualite. en
Sorte qu'on attache ä la guerre elle-meme une digniU intrinseque, et qu'il
se trouve jus(iuii des philosophes pour en faire leloge, comme d"une exal-
tation ( T'ererfZim^j de Ihumanite, oubliant ce mot dun Grec: „La guerre est
mauvaise, en ce qu'elle fait plus de mechants qu'elle n'en supprime (p. 312)".
(Les italiques sont de Kant.)
Si Ton ajoute que le 3« article de la Ire section de ce traite est ainsi
con(,u: Les arme'es liermanentes doivent eniierement disparaitre avec le temps,
on en aura dit assez pour prouver que Kant doit etre ränge parmi ces
philosophes humanitaires et individualistes dont M. Brunetiere reprouve „les
utopies" et ne peut etre confondu avec les apologistes de la force
ni avec les admirateurs retrogrades de la civilisation militaire et theocra-
tique du moyen äge.
Die Nummer des ,. Temps" vom 27. März, welche diesen Brief
brachte, brachte zugleich auch die Antwort Brunetieres, aus der wir,
mit Weglassung der bissigen persijnlichen Bemerkungen, die Haupt-
Eine franz Kontroverse über Kants Ansicht vom Kriege. 53
stelle anführen. M. Brunetiere muss zwar zugestehen, dass Kant a
ecrit un traite Pour la Paix perpetueile, aber derselbe Kant habe
auch in einer anderen Schrift foljrendes geäussert:
„11 faut avouer 4ue les plus grands maux (jui affligent les peuples
civilises nous viennent de la guerre, et non pas tant d'une guerre passüe
ou präsente quc des preparatifs pennanents aux guerres prochaines, que
Ion augmente sans cesse, loin d'y rien diniinuer . . . Mais, ce que devien-
draient, et l'etroite union des classes dans la Republi<iue, et la multitude
des hommes, et ce degre de liberte qui, bien ijiie resserre par les lois, nous
est encore laisse, si la guerre, toujours attendue, n'arrachait pas ä la volonte
des ehefs le re-speet du gcnre humain, on peut s'en instruire par lexemple de
la Chine, dont la Situation est teile qu'on y peut bien craindre une in-
cursion imprevue, raais non un ennemi puissant: il n'y reste plus aucune
trace de libertt!-, d'oa Von conclura qii'au degre' de cicilisation oh le genre humain
etil arrive', la guerre est un mögen indisjiensahle de V elever plus haut; et que
la paix perpetueile ne nous serait salutaire qu'apres que nous aurions (qui
sait (juandT) atteint le point de perfection duquel seul cette paix pourrait
etre la consequence."
L'opusculo d'oii est tirc ce passage est intitule: Conjeetures sur les
eommencentents de l'histoire du genre humain, et date de 1786. II a ete longue-
ment anal;yse par Wilm, dans son Histoire de la Philosophie allemande, II,
r»8, 6'J; et la traduction en a ete publiee par M. Ch. Renouvier dans son
Introduetion u la Philosophie analytique de Vhistoire, p. 23, 34. Les deux
phrases (jue j"ai soulignees sont celles que j'ai visees, et ä peu pres textueUe-
ment citees, dans nia Conference de Lille.
Auf diesen im ,,Temps'- vom 27. März abgedruckten Brief
Brunetieres antwortete Couturat sofort wieder am 28. März in einem
Briefe, welcher in der Nummer vom 1. April zum Abdruck gelangte.
Die Antwort Couturats ist meisterhaft und deckt die Missverständnisse
und Manoeuvres von M. Brunetiere in ruhiger Ül)erlegenheit und
mit schneidiger Logik auf; er zeigt, wie Brunetiere die relative
Wertschätzung des Krieges, welcher Kant übrigens auch in der
Schrift ,,Zum ewigen Frieden-' Ausdruck gab, in eine absolute ver-
wandelt, und wie er sans r6serve Äusserungen Kants über den
Krieg wiedergiebt, welche Kant mit der ausdrücklichen Kautel ver-
sehen hatte, dals der Friede trotzdem das zu erstrebende höhere
Ideal sei. Wir drucken den Brief Couturats. abü-esehen von Einerantr
und Schluls, vollinhaltlich ab. Der Anfang des Briefes bezieht sich
aut die Forderung Brunetieres, Couturat möge statt des blossen Aus-
zuges seiner Kede im „Temps" sich an den Wortlaut im ,.. Journal
lies Debats" halten, den wir oben schon angeführt haben.
Je rcmercie M. Brunetiere de ses bienveillauts conseils, et je les ai
suivis. Mais la lecture du „texte authentifiue" de sa Conference na nullc-
inent change raon opinion, pas plus que la citation ijuil invoque ä l'appui
54 '• ^ .liliinjf t'r.
de sa tlieso ne snurnit altiMHT la doctriiu' liion ronnnc dv Kant. Dahrnil,
t't eu tont cas, cotte citatioji niufiriiu' l'U rii'ii la valciir vi la signilicatioii
des textes peremptoirt's tiue j'ai citös; onsuite. clli' iic les contredit pas et
s'ac'Corde iiu'iiu' parfaitiMucnt avcc les passages i|iu' j ai icclicrclii's vi citrus
de bonne foi pour t'Npli(|iu'r et excuser rinterpri'tatioii erronee du M.
Brnnetieiv. En dou\ ludts. t>!l(> vcnt dire ceci: „La tjucnc est mauvaisc
en soi. mais la natuic (oii la Providciico) s'cii sert {•oinnir tl un niöyeii poiir
arriver ä ses fins: dv l'excös meine «In m.il rllc s.iit lairi' suitir Ic liicn,
c'est-ä-dire la jnsticT. la liherte et la paix."
Ponr bien coniprendre la seule phrase de Kant (|ue M. Brnnetiere ait
textuelleuient oitee ä Lille, il fant savoir (jn'elle est einpruntee ä nn expose
hidtoriiiHC et nuihropolog'uine des origines de Ihunianiti'. Dans iin(> „remanjue
finale". Kant sefforce de jiistifier la Providence. vw numtrant «nie les plus
grands maiix, comme la guerre, peiivent avoir indirectement des effets
bienfaisants et oouconrir an progres: et c'est lä i|iu' se tronve cette i>hrase:
„Au degre de la civilisation oii le genre huniain ,sr tronve encore (et non:
„est arrive'*; cette nuance est significative), la guerre est un moyen in-
dispensable de la faire avancer encore. „L'auteur se borne a constater en
fa'it la necessite actnelle de la guerre et a lui reconnaitre une certaine
utilite provisoire. sans renoncer ponr cela a son ideal de paix et de droit,
([u'il evonue aussitot apres.
Au reste, la veritable pensee de Kant ressort clairement du passage
([ui precede cette phrase, et dont M. Brnnetiere n"a fait (^n'nne citation in-
complete: „II faut avouer que les plus grands maux qni oppriment les
penples civilises nons viennent de la gnerre, et non pas tant de la guerre
presente ou passee que des preparatifs de la guerre a venir, qui ne se
relächent jamais et meme croissent incessamment". Kant continue en ces
termes: „C'est ä cela que se depensent toutes les forces de l'Etat, tous les
fruits de sa civilisation, qni pourraient etre employts ä une civilisation plus
gründe encore; c'est pour cela qu"on impose en tant de lieux des restrictions
nolentes a la liberte, et que la prevoj-ance niaternelle de l'Etat pour ses
membres individuels se change en la durete inexorable des r^quisition,
qui pourtant sont justifiees par le souci dn danger exterieur."
Est-il pei-mis, quand on a In ces lignes, d'emettre sans reserve l'affir-
mation suivante:
„Les amis de la paix ne veulent voir dans la guerre . . . qu'un inoyen
d'asservissement des masses. Kant, lui. y a vu, au contraire, la condition
meme de leur independance et de leiir liherte croissante.'^
Enfin, lors meme que la phrase tiree par M. Brnnetiere de l'opuscule
de 1786 contredii-ait le Traite' pour la paix perpe'tuelle, il en faudrait simple -
ment conclure que Kant s'est dejnge en 1795, et qu'il a renie ou rectifie
une opinion emise en passant. Ce n'est donc pas dans les Conjecturen sur
les commencements de Vhistoire du genre himiain qu'il faudrait aller chercher
sa doctrine veritable et definitive, mais dans ce memoire Pour la paix per-
petuelle oü il prevoit en detail les „articles preliminaires et definitifs" du
traite de paix, voire lui curieux „article secret" et oü il presente l'etat de
droit public, non comme un ideal chimerique, mais comme un projet
realisable auquel nous avons le devoir de collaborer. et qu'il a le ferme
Eiiu' franz. Koatroverse über Kants Ansicht vom Kriege. 55
espoir de voir resulter du progres acceler6 de 1h civilisation (v.
Co7iclimo)i).
Dans tous les cas, on n'a pas le droit d'opposer Kant aux ^amis de
la paix" (qui semblent plus loin designes comme „ses contradicteurs") et
de l'enröler de force parmi les apologistes de la guerre, attendu (ju'entre
lui et les „amis de la paix" il n'y a pas contradiction, mais bien accord
coniplet. Et, puisque M. Brunetiere veut bien nie donner encore des le^ons
de critique, est-il dune bonne critique de semparer dune phrase isolee et
ecourt6e pour lui faire dire tout le contraire de la pens6e de son auteur,
et de ne tenir aucun compte il un traite tout entier oü celle-ci se trouve
expressement exposee et d6veloppee sans eqiüvoque, et dont on meconnait
entierement l'esprit et la portee*
Brunetiere antwortete auf diese wuchtigen Angriffe noch in der-
selben Nummer, aber, wie zu erwarten war, sehr schwächlich. Zuerst
wiederholt er die Wendung Kants, welche im deutschen Text so
lautet: ..Der Krieg ist ein unentbehrliches Mittel, die Kultur noch
weiter zu bringen", dabei lässt er aber nun die fundamental wichtige
Restriktion weg. welche Kant dazu macht; denn der Satz heisst
vielmehr bei Kant: ,.Auf der Stufe der Kultur also, worauf
das menschliche Geschlecht noch steht, ^) ist der Krieg ein
unentbehrliches Mittel, diese noch weiter zu bringen", und Kant setzt
ausdrücklich hinzu, dass ,,ein immerwährender Friede" Folge und
Bedingung einer ..vollendeten Kultur" sei; aber selbst wenn dies
nicht da stände, so würde es doch von Brunetiere methodisch ganz
falsch gewesen sein, diese vereinzelte und aus früherer Zeit stammende
Stelle nur anzuführen, ohne dabei zu erwähnen, dass Kant in einer
eigenen Schrift später für den „Ewigen Frieden" als ein erstrebens-
wertes Ideal eingetreten sei. Brunetiere sucht sich gegen diesen
Vorwurf Couturats, dass er sans reserve jene für den Krieg
sprechende Kantstelle angeführt habe, dadurch zu verteidigen, er
habe ja Kant ..le i)lus paciiique des hommes" genannt und
habe gesagt: ..selbst dieser friedfertigste aller Menschen habe
sich nicht gescheut, folgendes über den Krieg zu schreiben . . ."
(Vgl. den oben S. 51 mitgeteilten Originaltext.) Allein keiner der 3000
1) In seiner Kede selbst und in seinem ersten Briete (oben S. bl und
S. 63) hatte Brunetiere den Anfang? des Satzes zwar angeführt, aber in einer
den Sinn gänzlich verkehrenden falschen Übersetzimg: au degre de civilisation
oü le genre hutnain est arrive'. Das heisst: auf der Stufe, auf welcher das Menschen-
geschlecht schon angekonmien ist: während es bei K.ant heisst: auf der Stufe,
auf welcher das menschliche Geschlecht noch steht. Mit Recht hat l'outurat
in seinem zweiten Briefe (vergl. oben S. 54) schon diese falsche Übersetzung
gerügt.
56 ^'- Vailüngor,
Zuhiirer wird aus dieser Wcnduni!: Hrunctieres eiitiioninuMi haWen,
dass Kant eine eijrene Sehrift /.n (liinsteii des Kwifren
Friedens geschrieben habe; ,.le jtlus paeilitiue des Ijunniies" ist
eine Wenduni:-, weiehe uns einen milden, sanften und stillen
Mann vor das Aujre /,aul)ert, im Sehlalroek, im Ilauskäp|)elien und
mit der laniren Pfeife. Aber aueli diese Sehilderunj; trifft nicht zu:
war Kant auch körperlich sehwach, so lebte doch eine starke, männ-
liche Seele in ihm, eine kampflustige und enerjjische Seele : er war
nicht umsonst ein Zeitjri'nosse und Unterthan Friedrichs d. Gr. Und
eben weil er eine kampflustiire Persönlichkeit w'ar — der I)oi;matis-
mus hat ja wohl seine Schläge gefühlt — darum hat er auch den
kulturellen Wert des Krieges erkannt. Aber eben darum ist auch
sein Kintreteu für die Idee des Ewigen Friedens um so wertvoller:
nicht als ein Schwächling trat er für den Ewigen Frieden ein, sondern
weil er einsah, dass der Krieg trotz einzelner kultureller Vorteile, die
er unter den bisherigen Verhältnissen gebracht hat, doch zuletzt
durch ein höheres Kulturideal ersetzt werden muss.
Dass Brunetiere von Kants Ansicht vom Kriege sprach, ohne
von Kants Ansicht vom Ewigen Frieden zu sprechen, darin eben
besteht das Unrecht, das ihm Couturat mit Recht vorwirft und mit
Ernst verweist. Angesichts dieses Sachverhalts berührt es komisch,
wenn Brunetiere in seiner Antwort auf Couturats Einwand, Brunetiere
hätte nicht bloss die Stelle Kants von 178(5, sondern auch seine An-
sicht von 1795 anführen müssen, jene werde durch diese erst richtig
beleuchtet. Folgendes sagt:
La discussion serait trop commode, et la conciliation trop facile, si
toutes les fois qu'iin ecrivain, dans le cours diine vie publique aussi
longue que celle de Kant, a exprime sur un meme sujet des opinions qui
se contrarient, nous ne retenions que celles (jui nous plaisent. 11 aurait
„emis" les autres „en passant" ! Pourquoi pas au hasard, sans y prendre
garde? et nous, nous ne regarderions comme siennes que les notres !
Was Brunetiere hier gegen Couturat sagt, das gilt ja vielmehr
gegen ihn selbst: Er selbst hat ja doch ganz willkürlich aus Kant
dasjenige herausgegriffen, was gerade ihm passte, und das andere
unterdrückt. Wenn je, so gilt gegen dieses Verfahren Brunetieres
der Vers:
Quis tulerit Oracclios de seditione quaerentes!
In derselben Nummer des „Temps", in ^velcher sich dieser
merkwürdige Streit abspielte, bekam Couturat noch zwei Streitge-
nosseu, welche ebenfalls gegen Brunetieres falsche Unterstellungen
protestierten. Der eine ist Th. Ruyssen, professeur de philosophie
Eine franz. Kontroverse über Kants Ansicht vom Kriege. 57
au lyc^e de Kochellc, rühmlich bekannt durch seine vortreffliche
Darstellung der tranzösischen Philosophie des XIX. Jahrhunderts
in Uberwejr-Hein/es Geschichte der l'hih)sophie (8. Aufl. 1897,
S. 301 — 348; vgl. ..Kantstudieir', II, 479); auch er verwahrt sich
dagegen, dass Kants wahre Meinung über Krieg und Frieden allein
aus der beiläufigen ..Schlussannierkung'' zu jenem Aufsatz vom
Jahre 1786 herausgenommen werde, mit den treffenden Worten:
... si, au liuu de eiter Kant d'apres Wiilm et M. Renouvier,
M. Brunetiere avait suivi le conseil quil donne judiciousement ä M. Cou-
turat, de remonter aux source.s, il aurait saus doute attache moins diin-
portance (juil ne l'a fait ä la proposition du philosophe allemand. Le
passage en (luestion est emprunte a une simple „remanjue finale" (Schbiss-
anmerkiingj, qui ne presente (ju iin lien forte lache avec l'opuscule (juelle
termine. Est-ce dans une simple note d'un article de revue qu'il convient de
chercher l'opinion de derriere la tete d'un ecrivain, dun penseur qui
devait ecrire neuf ans plus tard le celebre Projet de pale perpe'tuelle k la-
quelle le discours de Lille ne fait point aUusion?
Or, en admettant meme que Kant, en 1786, fut convaincu de la
necessite des guerres, il est tres certain que son opinion fut toute differente
du jour oü il etudia serieusement la <]uestion de la paix. C"est (|u'entre
l'article de la Revue mensuelle de Berlin et l'ouvrage de 1796, un grand
^venement s'est accompli, qui a exerce sur lesprit de Kant une impression
extraordinaire, au point, dit-on, de bouleverser ses manies de vieillard: la
Revolution fran^aise. Tout un ordre social, qu'il estimait mauvais, mais
solide, s'ecroulait a ses yeux, et dejä les chimeres de la veille lui sem-
blaient les realites de demain. 11 ne croyait plus impossible que les
peuples civilises pussent un jour disposer d'eux-memes et regier sans
violence leurs rapports avec leurs voisins. 11 pensait enfin que l'histoire,
interrompue par de tels evenements, si eile ne brise pas toute la trame de
„traditions" qui relie l'avenir au passe, permet du moins de concevoir cet
avenir un peu meilleur que ce passe. Et peut-etre semblera-t-il ainsi ä
quehjues-uns plus moderne que M. Brunetiere qui ne voit rien de plus
dans nos ^traditions"* que le catholicisme, larmee et la litterature et trouve
moyen de definir „Täme fran(;aise" sans dire un seul mot de la Revolution.
Was Brunetiere hierauf antwortet, wird an Schwächlichkeit nur
noch übertroffen durch dasjenige, was er gegen den anderen Streit-
genossen Couturats sagt, gegen Ch. Appuhn, professeur au lycee
d'Avignon. Dieser weist darauf hin, dass jene etwas dunkle
Wendung, ,,der immer gefiirchtete Krieg nötige selbst den Oberhäuptern
der Staaten Achtung für die Menschheit ab" im Wesentlichen auf
das Preussen Friedrichs II. zielt und nur für autokratisch regierte
Staaten gilt; Appuhii fährt dann trell'eiid weiter fort:
11 n'en est pas moins vrai (jue dans de tres nombreux pas.sage.s, non
seulement dans lessai Ponr la paix perpe'tuelle, mais dans les opuscules
intitules: Idee d'une histore universelle conrue par un citoyen die mondc (IT'^H.
5S H. VailiiiigiT.
et ^4 propos du dicton: ccla pcut rtre juste di tlu'orir )iiiii,s est jmitiijurmcnt
inapplicablt' {17UH) Kant sest toujours piononce ponr une fi''dt''iiition des
ptMiplos civilisös. pi>nr la siipprossion ilo la j^fiuMTc. jionr la snlistitiitinn
il Uli iTy;imi' jiiriilitiiu' au r(\i:;iine de la foive l)riitale.
Wir können nicht lunliin. dieser interessanten und leiirreichen
Del>atti' noeii einiue Worte iiiiizu/utiiuen. Wir knüpfen dabei an
eine kleine Schrift eines deutsehen l'rofesstirs an, welcher sich
Hrunetiere würdijr an die Seite stellt. Es ist dies der Professor des
Kirchenrechts und Staatsrechts in München, Karl Frhr. v. Steng-el,
und seine kleine Schrift heisst: „Der ewii2:e Friede*' (München,
Haushalter ISi)!).) Darin ist S. 4 auch von Kants olien ofterwähnter
Schrift ,.Zun) ewigen Frieden-' die Rede, wobei sich Hr. v. Stengel
folgeuderniassen äussert:
Berücksichtigt man. dass Kant die Möglichkeit des ewigen Friedens
von der Erfüllung so vieler kaum je erreichbarer Voraussetzungen ab-
hängig macht, so wird man unwillkürlich zu der . . . Annahme gedrängt, dass
Kants Schrift einen stark ironischen Beigesclimark habe. Kant kann
daher jedenfalls nur mit grossem Vorbehalte zu den Vertretern der Idee
des ewigen Friedens gezählt werden, zumal er sich in verschiedenen
Stellen anderer seiner Schriften sehr energisch l'iir den Krieg aus-
gesprochen hat.
Professor v. Stengel ist also ebensowenig als M. Hrunetiere im-
stande, zu verstehen, dass jemand, der die kulturelle Bedeutung
des Krieges bis zu einem gewissen (xrade anerkennt, trotzdem zu-
gleich für die Idee des ewigen Friedens eintreten kann. Als oh sich
das irgendwie ausschliessen würde! Es kann doch jemand sehr
wohl zugleich anerkennen, dass das Reisen in der Postkutsche
seine poetischen Seiten hat. und doch zugleich für die Erbauung
von Eisenbahnen stimmen, weil diese, alles in allem genonmien, doch
dem Ideal beciuemen Verkehrs noch viel näher kommen. Oder es
kann jemand sehr wohl zugleich den intimen Reiz der Butzenscheiben
fühlen und preisen und ihr Verschwinden mit Bedauern begleiten,
und doch zugleich bei dem Bau eines neuen Hauses helle grosse
Scheiben verwenden, weil sie eben dem Ideal eines Licht durch-
lassenden Materials noch viel mehr sich nähern. So kann man für
die Grösse und Originalität vieler mittelalterlicher Dinge sehr viel Ver-
ständnis haben und doch deren Ersatz durch moderne Einrichtungen
befürworten. So kann man auch z. B. sehr wohl zugestehen, dass
das mittelalterliche Fehderecht seine guten Seiten hatte gegenüber
Eine franx. Kontroverse über Kants Ansicht vom Kriege. 59
dem schleppenden (xaiiire unseres heutijren Prozessverfahrens, aber
niemand, selbst nicht der feudalste Grundherr, wird deshalb das
erstere wieder einführen wollen. So kann man also auch die Vor-
züjre des Krieg:es anerkennen, und doch zuo:leieh den Ewigren Frieden
herbeiwünschen. Es ist bedauerlich, dass man so einfache Din^e so
gelehrteji Männern sa.iren nmss.
Dass Kant die Vorzüge des Krieges gelegentlich gepriesen hat,
ist ganz richtig. Wir haben in den ..Kantstudien'' III, S. 257 eine
solche Stelle aus der Kritik der Urteilskraft § 28 in extenso ange-
führt (in dem kleinen Artikel: .,Kants Schrift: Zum ewigen Frieden
und der russische Abrüstungsvorschlag"): Kant, welcher so leb-
haften Sinn für das Erhabene hatte, schreibt daselbst dem Krieg,
,.wenn er mit Ordnung und Heilighaltung der bürgerlichen Rechte
geführt wird", etwas Erhabenes zu. und gesteht zu, dass er die
Denkungsart des \'olkes, ..welches ihn auf diese Art führt'*, „nur um
desto erhabener macht, je mehreren Gefahren es ausgesetzt war und
sich mutig darunter hat behaupten können." Und noch eine andere
schöne Stelle über den Krieg bei Kant wollen wir den Herren
Brnnetiere und v. Stengel verraten: sie findet sich in demselben
Buche, im t> 83. und hat sehr nahe Verwandtschaft mit der von
Brunetiere angeführten Stelle aus der Schrift vom Jahre 1786. Und
ein aufmerksamer Leser Kants mag noch manche andere derartige
Stellen finden.
Die Freunde der Friedensidee müssen sich darüber freuen, dass
Kant, der Vertreter der Idee des Ewigen Friedens, auch dem Kriege
sein Recht und seine Erhabenheit Hess: denn dass derselbe Mann,
der so vom Kriege spricht, doch zugleich für den Ewigen Frieden
eintritt, das eben macht sein Votum um so wertvoller.
Würde sich Kant mit der Thränenseligkeit einer B. v. Suttner
über den Krieg geäussert haben, dann hätten seine Worte über den
Frieden keinen Wert: Kant sprach vom Kriege wie ein Mann. Ja
wie ein Spartaner. Er kannte die Menschen und ihre Geschichte
zu gut, und in ihm selbst lebte eine zu tapfere Seele, als dass er
den Krieg ohne weiteres verworfen hätte. Er kannte die ethische,
ja die geradezu pädagogische Bedeutung des Krieges und der Kriegs-
bereitschaft zu gut. um in eine solche Phantasterei zu verfallen, den
Krieg um jeden Preis und in jeder Form zu verdammen.
Aber eben, dass derselbe Mann, der vom Kriege so anerkennend
sprechen konnte, trotzdem für die Idee des Ewigen Friedens eintrat,
das verleiht seinen Worten noch heute ein mächtiges Gewicht. Er
{j{j li \'ailnnj;er. Eine Inmz. Kontrovorso über Kants Aiisiclit v. Krit-gc.
sieht — wir wiederholen, was wir schon III. 257 jresai::! haben —
die (iefalircn. weK'lie der mensehliehrn Kultur aus t'ort^eset/teii Krie}::s-
/Qständen (Indien. Dies lehren ihn nicht etwa Idoss die alistrakten
(tesetze der Moral, sondern die konkreten KrCahrunfren der Menseh-
heitspeseliiehte. Kr vertritt den (bedanken, dnss die Knlturstaaten
einen Friedenshund sehliesstMi sollen, um ihre Kulturaut'iraben nicht
bloss etwa im Innern, sondern vor allem auch ihre Kulturmission in
den anderen Weltteilen erfüllen zu können. Die;« versteht Kant
unter dem „Ewiiren Frieden" — die Interossenfjemeinschaft
der Kulturvölker - in Keliirion und Wissenschaft, in Kunst und
Technik, in Handel und Industrie. Der „Ewijre Friede'' in diesem
Kantischen Sinne jrefasst, ist durchaus kein phantastischer Gedanke,
sondern ein erreichbares Ziel. Hätte man diesen Kantischen Gedanken
des Bundes aller Kulturstaaten im It). Jahrhundert der Healisieruiifi:
näher ireführt, als es geschehen ist, so wären wir jetzt am Kndv
desselben mit der Verbreitunir der Kultur, nielit bloss in Europa,
sondern auch in den anderen Weltteilen weiter, viel wxüter!
Und so bleibt uns nur noch der Wunsch auszusprechen, dass
die bevorstehende ,, Friedenskonferenz'* einen Schritt weiter zu der
Kealisierung dieser Interessengemeinschaft aller Kulturvölker
bedeuten möge. Wir wünschen dies um so mehr, als das dieselbe
veranlassende Friedensmanifest des Russischen Kaisers vom 24. August
vorigen Jahres, wie Professor Stein in Bern in der „Zukunft" vom
15. Oktober 1898 in seinem Artikel: „Kant und der Zar" nachge-
wiesen hat, sich teilweise wörtlich mit Kants Schrift deckt, in
welcher er das Ideal des „Ewigen Friedens*' entwirft — die beste
Jubiläumsfeier für diese bedeutsame Schrift des grossen Philosophen.
Nur komme man uns nicht mit Jenem so beliebten Einwand, der
allen grossen Gedanken wie das Haupt der Gorgo entgegengehalten
wird: das ist nur ein Ideal, das in der harten W^elt der Thatsachen
keine Stätte findet. Man vergesse doch nicht, was Kant lehrt, und
was die ganze Weltgeschichte bestätigt: Ideale und Thatsachen
bilden keinen wahren Gegensatz; die Ideale sind ja selbst
Thatsachen und zwar die allerwirksamsten. Die Ideale
welche der Menschengeist aus sich erzeugt, sind als solche Erzeug-
nisse selbst etw^as Reales, ja der Kern und zugleich die Blüte aller
Realität.
Zu Kants Philosophie der Geschichte
mit besonderer Beziehung auf K. Lamprecht.
Von Fritz Medicus in Halle a. S.
Zu dem Kranze jener Wissenschaften, in denen sich die
von der gewaltigen Bewe2:ung: am Ende des vorigen Jahrhunderts aus-
gegangene Beeinflussung durch Kantische Gedanken geltend gemacht
hat, gehört auch die Geschichte, und das ist um so selbstverständlicher,
als Kant selbst geschichtsphilosophische Fragen in mehreren Schriften
bearbeitet hat. Während aber sonst meist die Kantischen Ideen in
den Einzehvissenschaften freudig acceptiert werden, so pflegen die
Historiker von heute weniger günstig über den Einfluss zu urteilen,
den ihre Wissenschaft von dem , eminent unhistorisch denkenden'
Philosophen, dem Verehrer Rousseaus, erfahren hat. In der un-
historischen Denkungsart. die Kant von Rousseau übernommen habe,
sieht man einen wesentlichen Teil seines Vermächtnisses an den
deutschen Idealismus, über dessen Geschichtsphilosophie selbst
Richard Fester (trotz tiefer Sympathie für jene Epoche) kein be-
sonders günstiges Urteil fallen kann (vergl. sein verdienstvolles Buch
„Rousseau und die deutsche Geschichtsphilosophie-', Stuttgart,
Göschen. 189U). l'nd neuerdings wieder hat sich ein hervorragender
Gelehrter, K. Lamprecht, zu dieser Frage geäussert und — trotz
einer von der Festerschen vielfach abweichenden Auffassung — im
ganzen doch mit denselben Gründen die Kantische Denkweise abge-
lehnt. ,.Herder und Kant als Theoretiker der Geschichtswissenschaft"
ist der Titel der in den ,.Jahrbüchern für Nationalökonomie und
Statistik" (3. Folge, Band XIV (LXIX) 1807, S. 161—203) er-
schienenen höchst interessanten und die vielseitige Gründlichkeit
ihres Verfassers dokumentierenden Abhandlung, in der zwar (lUH)
anerkannt wird, dass in Kants (und el)enso in Herders) Geschichts-
philosophie Momente liegen, die auf die Geschichtswissenschaft
tVirdernd hätten einwirken können, in der es aber unmittelbar darauf
heisst, dass die wirksam gewordenen Momente bedauerlicher Weise
gerade die Inkonsequenzen wären, die jenen Theorien angeklebt,
62 Kritz Modii'us,
und die (U-m allijoiiieiiu'ii Zcithcwusstscin einstwoilni iiiclir i'iit-
sprocluMi hätten.
Es sind in der Hauptsache zwei Gesichtspunkte, unter denen
Lamprecht die unhistorische Art und Wt-isc kritisiert, in der Kant
Geschichtsphihtso})hie jretriehen halie: einmal habe er die seiner Zeit
eigenen uidialtharen \ oraussi'tzuiiiren über Individuum und (!esell-
schaft jreteilt. und zweitens — und das ist weit wichtiiicr — habe
er durch das llereintrairen teleologischer (iedanken seinen empirischen
Monismus, an dem er eini' sichere Grundlage der Gescduchte hätte
haben können, gesprengt; mit ..Überschätzung des geistigen Moments"
(11)7) habe er die Erfahrung nicht zu ihrem Kecht kommen lassen.
Was den ersten l'unkt aidaugt, auf den ich nur nnt kurzen
Worten eingehen möchte, so enthält er gewiss manches berechtigte.
Auch Festers Einwände bewegen sich auf dieser Linie (vergl. bes.
S. 75 über Kants Urmenschen). Aber gerade den Einwurf, den
Laraprecht ganz besonders betont, Kants Annahme der Konstanz
des Individuums möchte ich nicht gelten lassen. Lamprecbt
selbst schränkt (186 und 2(,H)) den Einwand dahin ein, dass Kant
allerdings in der weltgeschichtlichen Aufeinanderfolge der Nationen
eine das Individuum bestimmende Macht erkannt hätte; dass es
aber ..Individualtypeu der Kulturzeitalter gebe, dass der Mensch des
Hirtenlebens z. B. geistig anders konstruiert sei als der Mensch
höherer Kulturperioden", das sei Kant „als Moment systematischer
Betrachtung noch entgangen" (200/1). Lamprecht sieht in dieser
falschen Annahme Kants eine Grundvoraussetzung des weltgeschicht-
lichen Umrisses in der „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in
weltbürgerlicher Absicht". Was L. meint, ist offenbar folgendes:
Kants Behauptung ..alle Naturanlagen eines Geschöpfes seien be-
stimmt, sich einmal vollständig und zweckmässig auszuwickeln"
(W. W. Rosenkranz VH, 1, 819) fordert, da diese Entwicklung erst
in der Gattung geschehen soll, die Konstanz aller dieser Anlagen,
so dass sie selbst immer weiter vererbt würden, nur in höher ent-
wickeltem Zustande. Doch dürfte das kaum Kants Ansicht sein.
Denn wenn man (VII, 1, 333) liest, wie er seinen „Leitfaden" im
Gange der Weltgeschichte darin wiederfindet, dass bei allen Um-
wälzungen ..ein Keim der Aufklärung übrig blieb", um eine neue
und höhere Kulturstufe zu vermitteln, so erkennt man, dass es ihm
um weiter nichts zu thun ist, als um die Kontinuität der kulturellen
Entwicklung selber, nicht aber um die Konstanz der entwicklungs-
geschichtlich frühesten menschlichen Anlagen: allerdings sagt er an
Zu Kants Philosophie der Geschichte. 68
der oben erwähnten Stelle, die Anlagen seien bestimmt, sich auszu-
wickeln, aber das heisst nicht, sie seien konstant. Denn soll die
Auswicklung, wie ausdrücklich verlangt wird, eine zweckmässige
sein (was doch in letzer Hinsicht bedeutet, dass die Anlagen auf
ihrer höchsten Entwicklungsstufe durchaus dem Zweck der Moralität
entsprechen), so ist klar, dass zu diesem P^ndziel die schlechten An-
lagen überhaupt nicht gelangen. Alles Unsittliche krankt ja nach
Kaut daran, dass es nicht ohne Widerspruch verallgemeinert werden
kann; hier ist „sieh auswickeln" gleichbedeutend mit „sich aufheben".
Auf der anderen Seite steht auch dem nichts entgegen, dass sich
neue Anlagen entwickeln, von denen anfänglich auch nicht der
mindeste Keim zu linden gewesen wäre, indem das stattfindet, was
Wundt als ..Ht'terogonie der Zwecke" bezeichnet hat (vgl. Crrundriss
d. Psychol., -2. Aufl„ S. :381 ; Ethik, 2. Aufl., S. 266 f.) Kant selbst
giebt hierfür Beisjiiele, wenn er zeigt, wie er sich den ästhetischen
Geschmack und wie die Sittlichkeit entstanden denkt (vgl. „Mut-
masslicher Anfang der Meuschengeschichte" Vll, 1, 37U). Was allein
ihm in der ..Idee . . ." am Herzen liegt, ist die Teleologie der
Natur: alle Anlagen müssen wenigstens relative Berechtigung haben;
auch die schlechten, die vergehen sollen, müssen wenigstens vorher,
und wenn noch so indirekt, dazu gedient haben, den Endzweck der
Geschichte zu betordern, nämlich die \ ollendung der Kultur, einen
Zustand, dem sich die ]\Ienschheit entgegenbewegt in „zwar bisweilen
unterbrochenem, aber nie abgebrochenem" Fortschreiten („Über
den Gemeinspruch : Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber
nicht für die Praxis'* VII, 1, 222).
Damit ist dieser erste der von Lamprecht angegriflenen Punkte
erledigt, und zugleich die Überleitung zu dem zweiten — wichtigeren
— gescharten : der teleologischen Betrachtung der Geschichte. Denn
der erste Punkt hätte, auch wenn man den P^inwand anerkennen
wollte, keine weitere Bedeutung als die einer zu Unrecht als That-
sache angenommenen Voraussetzung. Wäre durch eingehendere
Forschung der wirkliche Sachverhalt klargestellt, so könnte man
entsprechend korrigieren. Allein hier handelt es sich um etwas
Prinzipielles, um Kants ablehnende Stellung zur Erfahrungswissen-
schaft überhaupt. ..Kant, ein konstruktiver Kopf, hatte den Weg
der Empirie zur Feststellung der Vorgänge des geschichtlichen \'f'r-
laofs verschmäht; von gewissen Voraussetzungen aus war er unter
der Annahme einer Naturaltsicht vorgegangen, die auf die Ent-
wicklung dieser Voraussetzungen in bestimmter Weise gerichtet
64 Fritz Medicus,
sein SiillU'. . . So konnte IlenltT Kant eine deduktive Teloolo^'ie
vonverfen" (Laniprcclit l'.>:{/4). Zu teilweise falschen \'orausset/.un-
iren also noeh eine olVenbar talsehe Methode: hier scheint weniu
(Jutes mehr erwartet werden zu dürfen. Denn tliatsäehlich,
Lamjtrecht hat richtiir iresehen: Kant verschniiiht die Kmpirie. Wie
könnte er auch anders, da nach iliin ddcli rhilosopliie jxerade so
■weit reicht, als ..Heg:rifle ajmori ihre Anwendun^^ haben" (Kr. d. IJ.,
Einl. II). Wie aber, wenn Kant eben darum, weil er Philosophie
der Gesciiichte l)ehandelt, ^ar kein „Theoretiker der Geschichts-
wissenschaft" im Lamprechtschen Sinne wäre? Der Ausdruck
..IMiilosophie der Geschichte" ist zweideuti<r. Man könnte Metho-
dik der Geschichte darunter verstehen. Liest man freilieh unter
diesem Gesichtspunkt die einschlägigen Kantischen Schriften, sieht
man also Kants Philosophie der Geschichte in diesem methodologi-
schen Sinne als eine ..Theorie der Geschichtswissenschaft" an. so
muss man den Eindruck bekommen. Kant habe in der ,.ldee
. . ." eine teleologische Geschichtsschreibung empfehlen wollen und im
,. Mutmasslichen Anfang ..." am Text der biblischen Urgeschichte ein
Muster für die Behandlung historischer Quellen gegeben. Dann wäre
er freilich ein ..Theoretiker der Geschichtswissenschaft", aber kein
solcher, den es noch zu lesen der Mühe lohnte, Was Kant in seiner
Geschichtsphilosophie will, ist etwas ganz anderes.
Kant definiert (Kr. d. r, \.. Kehrb. 633) die Philosophie als
,.die Wissenschaft von der Beziehung aller Erkenntnis auf die wesent-
lichen Zwecke der menschlichen Vernunft-', und den höchsten Zweck,
den Endzweck als „die ganze Bestimmung des Menschen" (634).
Wenn man hieraus folgern will: Philosophie der Geschichte ist die
Beziehung der historischen Erkenntnis auf die Bestinnuung des
Menschen, so trifft man genau Kants Meinung und erkennt, dass er
auch hier an dem allgemeinen Charakter seiner Philosophie festhält,
dass er auch hier mit einem Wertproblem zu thun hat, nämlich mit
der Frage nach dem Werte unseres geschichtlichen Daseins.
Kann er aber schon wegen der Verschiedenheit der Objekte kein
Theoretiker der Geschichtswissenschaft genannt w^erden, so kann er
es auch aus einem anderen Grunde nicht: das, was er auf seinem
Wege allein finden kann, ist keine „Wissenschaft" im eigentlichen
Sinne. Kant hat den Begriff der Wissenschaft in aller Strenge auf-
gestellt und alle ..Wahrscheinlichkeit und Mutmassung" (Prol.,
Schulz, 158) aus ihr verbannt; hier aber giebt er nirgends seine
Theorien als wissenschaftliche Erkenntnisse, sondern braucht mehrfach
Zu Kants Philosophie der Geschichte. 65
gerade jene in der Wissenschaft verpönten Termini, I^ampreclit hat
dies auch bemerkt (1S4|. hat aber nicht den Schluss darausgezogen,
dass die ganze Geschichtsphilosophie Kants eben nicht theoretische
Wissenschaft ist, sondern praktischer Glaube; sonst hätte er
nicht an der oben erwähnten Stelle gesagt, Kant habe die Empirie
verschmäht ,.zur Feststellung der Vorgänge des geschichtlichen \'er-
laufs": das hat Kant nicht gethan. Zu Versuchen, die emjjirische
Realität ä la Hegel (der übrigens in seiner Philosophie der Ge-
schichte selbst sparsamen Gebrauch von seiner Metaphysik gemacht
hat) oder Wolff ajjriori zu konstruieren, hat er keine Neigung. Die
rationalistische Methode des letzteren ist freilich charakteristisch für
die unhisti»rische Denkweise der Aufklärungszeit — und Kants
Transscendeiital])hilosophie wurzelt im Kationalismus. Gerade ihre
bedeutungsvollsten Momente, die Zurücksetzung der genetischen Be-
trachtung und die \'erachtung der zur Begründung der Normen „auf
die Erfahrung gehefteten Mauhvurfsaugen" (VII, 1, 179) sind jener
Denkweise entsprungen. Allein damit, dass Kant diese rationalisti-
schen Momente herausgehoben, andere aber zurUckgestossen hat,
hat er den Rationalismus selbst überwunden; indem er das Gebiet
umgrenzt hat, dessen Erforschung unabhängig von aller Berücksichti-
gung der besonderen Erfahrung geschehen muss, hat er den Grund
zu einer Erfahrungswissenschaft erst eigentlich gelegt und den Respekt
vor der Erfahrung begründet. Darum ist es durchaus die Konsequenz
seiner ganzen Philosophie, wenn er am Schlüsse der „Idee , . ."
(VII. 1, 834) sagt, dass die „eigentliche Historie . . . bloss empi-
risch abgefasst" sei und nicht durch seinen apriorischen Leitfaden
ersetzt werden könne.
Dass er aber bei der Behandlung seines Problems die Erfahrung
nur eine untergeordnete Rolle spielen lassen konnte, wird klar, wenn
man dieses genauer ins Auge fasst. — Kant hat aus seinen anthro-
pologischen und geschichtlichen Kenntnissen keinen vorteilhaften Ein-
druck von der ^Menschheit bekommen: er steht ihr mit ,. empirischem
Pessimismus", wie Hoff ding (Geschichte d. neueren Philos., 11. 83)
zutreffend bemerkt, gegenüber. ,.Man kann sich eines gewissen
Unwillens nicht erwehren, wenn man ihr [sc. der Menschen] Thun
und Lassen auf der grossen WeltbUhne aufgestellt sieht; und bei
hin und wieder anscheinender Weisheit im Einzelnen, doch endlich
alles im Grossen aus Thorhcit, kindischer Eitelkeit, oft auch aus
kindischer Bosheit und Zerstörungssucht zusaramengewebt findet:
wobei man am Ende nicht weiss, was man sich von unserer auf
Kantstudien IV. 6
(j(; Fritz Moilious,
ihn' Vor/.iljre so oiufrcbildoteii Gattuiii;- filr ciiuMi HeiiritV niiiclu'ii soll''
(Vll, 1, ;.U8). Nach solclirr CharakU-ristiU sieht es aus, als sei das
Dasein sinnlos, als sei dii' (ieseliiclite eine alberne Grille des Welt-
l)aumeisters. „Einen einer Gottheit wilrdifren Anblick" (VII. I. 2-"J)
böte sie jedenfalls nicht. Die Charakteristik ist aber n(»t'li nicht er-
schöpteud: als moralisches Wesen hat der Mensch absoluten Wert,
ist er Zweck an sich selbst; und die Schöpfung zeij2:t in so vielen
Stücken ..Herrlichkeit und Weisheit*', dass „die Geschichte des mensch-
lichen GTCschlechts" kein „unaufhörlicher Einwurf dajregen" zu sein
braucht, sondern dass es berechtigt erscheint, „einen besonderen
Gesichtspunkt der Weltbetrachtung zu wählen'* (VII, 1, 334); nämlich
einen Plan der Natur vorauszusetzen, demzufolge die menschliche
Gattung erreicht, was das Individuum nicht erreichen kann. Das
moralische Bewusstsein fordert, und die in der Natur allenthalben
zu Tage tretende Weisheit beglaubigt es, dass die Geschichte den
Menschen nicht als Spielball ihrer Launen behandelt, sondern ihn
seiner Bestimmung entgegenführt. Dass die Beglaubigung durch
die der Erfahrung sich zum Teil darstellende Zweckmässigkeit
hierbei nicht ausschlaggebend sein kann, ist selbstverständlich. Der
ganze Nachdruck liegt auf dem Postulat des moralischen Bewusst-
seins. Genug, dass die Natur „etwas Weniges" (VII, 1, 330) von
einer solchen Planmässigkeit entdecken lässt.
Kants Geschichtsphilosophie ist der materiale Teil s'^iner Ethik.
Dem nach den Normen der praktischen Vernunft beurteilenden Be-
wusstsein ist die Geschichte die Entwicklung der Menschheit zur
Realisation der Moralität.') Aus dem Pflichtbewusstsein selbst fliesst
dieser Glaube an die fortschreitende Verwirklichung des Ideals der
Kultur (vgl. die klaren Ausführungen in „Das mag für die Theorie
richtig sein . . .", sowie Kr. d. U. § 83), sei es nun, dass diese
ersteht unter der sittlichen Arbeit, oder dass sie sich durchsetzt unter
*) Der Kuriosität halber mag hier die neueste Auslassung des Prager
Professors der Philosophie 0. Willmann Platz finden: „Völlig fern liegt Kant
der Gedanke einer Entfaltung der Kräfte; alle genetische Auflassung ist ihm
fremd imd könnte bei seinem analytisch-kritischen Verfahren auch gar keinen
Boden finden. Damit ist auch das Prinzip der Lückenlosigkeit ausgeschlossen.
Bei Kant zeigt das Innere des Menschen nicht bloss Lücken, sondern geradezu
Klüfte, und von einem Fortschreiten zu den höchsten Höhen des Menschentums
weiss Kants selbstzufriedene, völlig individualistische und geschichtslose Moral
nicht das allermindeste." („Über Sozialpädagogik" im „Jahrbuch des Vereins
für wissenschaftliche Pädagogik", 31. Jahrgang, Dresden, Kaemmerer, 1899,
S. 318.)
Zu K.ints Philosophie der Geschichte. 67
dem AntafTonismus von Ehrsucht, Herrschsucht, Habsucht, und gerade
durch ihn (VII, 1, 321 f.).
F'ür die theoretische Geschichtswissenschaft sind solche ge-
schichts philosophische Gedanken freilich von zweifelhaftem Wert.
Sie richten Schaden an, wenn sie als wissenschaftliche Erklärunj;s-
prin/.ipien jrebraucht werden, und Lamprecht beklagt mit Recht, dass
dies geschehen ist. Nur dass jene Historiker der mehrfach ausge-
sprochenen Meinung Kants direkt entgegen gehandelt haben, der sehr
wohl gewusst und sell)st gelehrt hat, dass der Zweck seinem Begriff
nach etwas bloss subjektives ist und folglich kein objektiver Er-
klärungsgrund sein kann. Zweckmässigkeit gewährt von der theore-
tischen Seite gesehen nur eine Erklärung nach Analogie (Prol. § 58),
sie ist nur eine subjektive Maxime der Urteilskraft (Kr. d. U., Ein-
leitung Vi. Freilich ist gerade auch in theoretischer Hinsicht die
Anerkennung dessen, dass eine Bestimmung des objektiven Ver-
hältnisses selbst für uns nicht mehr möglich ist. und dass wir
uns darum bescheiden müssen, es nach dem zu bestimmen, was es
für uns ist, es so zu denken, als ob es bestimmbar wäre, nichts
Kleines. Immer aber bedeutet der Zweckbegriflf hier nur eine Grenze:
für den ganzen Menschen, der sich nicht bloss erkennend verhält,
bedeutet er mehr. Die Frage, wozu die Menschheit eigentlich da ist
und ihr ireschichtliches Dasein fuhrt, kann theoretisch mit dem Hin-
weis darauf abgeschlagen werden, dass der Zweck keine Kategorie
des objektiven Bestimmens ist. Darum aber verstummt sie doch nicht.
ü*
Lichtenberg als Philosoph und seine Beziehungen
zu KantJ)
Zur Feier seines hundertjährigen Todestages.
(t 24. Februar 1799.)
^'on Dr. Ar QU Neumann.
,,l)ie Fraise: soll man selbst ijliilosopliierenV luuss,
dünkt micli, so beantwortet weiden, als eine ülmlicbe:
soll man sich selbst rasieren? Wenn mich jemand
darüber fragte, so würde ich antworten: wenn man
es recht kann, ist es eine vortreftliche Sache" (Reclam
S. 41). Lichtenberg.
Der Mann, über den ich unter philosophischem Gesichts-
punkte einige Angaben und Bemerkungen zu machen unternehme,
Georg Christoph Lichtenberg, wird fast überall, wo man über-
haupt etwas von ihm weiss, ausschliesslich als eine Grösse der
Litteraturgeschichte im engeren Sinne gewürdigt. Mun preist ihn
») Generalquelle ist zur Zeit: Georg Christoph Lichtenbergs Ver-
mischte Schriften. Neue Original-Ausgabe. 8 Bde., 16", Göttiugen (Dietcrich).
2. Aufl. 184-1—47, 3. Aufl. 1867. Dazu als Nachlese: Dr. Fr. Lauchert, G. Chr.
Lichtenbergs schriftstellerische Thätigkeit in chronologischer Übersicht dargestellt.
Gr.8*',ebendal893. WohlteilsteSammhmgimd daher, soweit sie ausreicht, regelmässig
von uns citiert :GeorgChristophLichtenbergs ausgewählte Schriften. Herausg.
von Eugen Reichel (Eugen Leyden). Leipzig (Eeelami 1879. — Sonst noch zum
handlichen Gebrauche: Lichtenbergs auserlesene Schriften mit Kupfern von
Chodowiecky. Herausg. von Chr. S. Krause. Bayreuth 1800; Spiele des Witzes
und der Laune, aus Lichtenbergs Schriften gezogen. Pesth 1816; Gustav
Jördens, G.Chr.Lichtenbergs Ideen, Maximen undEmfälle. Nebst dessen Charakte-
ristik. Leipzig 1827 ff.; H. Doering, Lebensumrisse etc. Quedlinburg und Leipzig
1840, S. 293—358; Ed. Grisebach, Gedanken imd Maximen aus Lichtenbergs
Schriften (mit biographischer Einleitung). Leipzig 1871 ; F. Bob er tag, Lichtenberg,
0. Hippel und Blumauer (J. Kürschners „Deutsche National-Litteratur" Bd. 141,
Berlin und Stuttgart); G. Chr. Lichtenbergs ausgewählte Schriften. Herausg.
imd emgeleitet von A. Wilbrandt, Stuttgart 1893. - Soeben veröffentlicht
Professor Albert Leitzmann (Jena), Aus Lichtenbergs Nachlass, ungedruckte
Aufsätze, Gedichte, Tagebuchblätter und Briefe. Weimar (Hermann Böhlau)
1899. XXm und 278 S. 8°.
Lichtenberg als Philosoph etc. 69
als einen der befrabtesten deutschen Humoristen und Satiriker und giebt
ihm, als einem Meister vaterländischer Prosa, den ehrenvollen Platz
neben dem Klassiker Lessing.')
So sehr wir diese Schätzung auch teilen, so bestimmt müssen
wir es doch heute am Tajre der Erinnerung* aussprechen, dass man
damit allein von ferne nicht einem Manne gerecht wird, der bei ganz
universalen Interessen zu den geistreichsten Köpfen aller Zeiten gezählt
werden muss und, als Virtuos im Sinnen und Grülieln^), nur gehörig
in seiner Eigenart genommen, wie irgend ein anderer Denker des
l.s. Jahrhunderts einen Besuch in seiner vielfarbigen Gedankenwelt
belohnt.'^) In diesem Vollsinne gedenkt des Zeitgenossen, mit dem
er Briefe wechselte,*) kein Geringerer als Goethe, wenn er sagt
(Hempcl Bd. -Ji) S. 757): ,, Lichtenbergs Reichtum wird bewundert;
ihm stand eine ganze Welt von Wissen und Verhältnissen zu Gebote,
um sie wie Karten zu mischen und nach Belieben schalkhaft auszuspielen"
ond andermal (Hempel Bd. 19 S. 188 No. 871): „Lichtenbergs
Schriften können wir uns als der wunderbarsten Wünschelrute be-
dienen; wo er einen Spass macht, liegt ein Problem verborgen."
Darum auch begegnen wir dem sonst Verschollenen bei so ver-
schiedenen Geistern wie Kant, Schopenhauer,') Lessing,^) Matthisson,
Bürger, Platen, Schleiermacher'), Jacobi, Kothe u. s. f. Wenn Schopen-
hauers an Plato und Aristoteles anknüpfender Ausspruch richtig
1) Die beste allgemeine Zeichnung giebt R. M. Meyer, Swift und Lichten-
berg, zwei Satiriker des 18. Jahrhunderts, Berlin 1886, S. 52 — 8i.
-) Nachrichten und Bemerkungen des Verfassers über sich selbst (Reclam
8. 19): ,,Ich fürchte fast, es wird bei mir alles zu Gedanken, und das Gefühl
verliert sich."
3) Dies für Lauchert S. 3. Jede Kontroverse über die Art seines Talentes
wird eigentlich unterbunden durch die vorzügliche Charakteristik der ersten
Herausgeher: „Witz und Laune mit Menschenkenntnis, philosophischer Geist
mit Gelehrsamkeit, Scharfsinn mit Geschmack verbunden." Neue Original-Aus-
gabe (N.O.A.) I. S. Vlll. Vgl. S. 262.
•*) N.O.A. VII S. 232 f. Albert Leitzmann, Briefwechsel zwischen Goethe
und Lichtenberg. (L. Geiger, Goethe-Jahrbuch 18. Bd. 18it7 8. 32—48) Der
Gedankenaustausch bezog sich namentlich auf die Farbenlehre und war von
gegenseitigen Dedikationen imd Personenempfehlimgen begleitet. Vgl. N.O.A.
VU. S. 182.
•') Werke (Frauenstädt)-^ IV. S. XXV, S. 140; Parerga und Paralipomena II
S. 21. Aus Sch's. Nachlass 8. 462.
•') Vgl. Leitzmann 8. 171—173. Dazu 267—269. Unter den Stellen über
Lessing fehlt hier N.O.A. VII S. 103.
'i Liclitenberg selbst erwähnt ihn nur, N.O.A. Vlll S. 12.
70 1*' Arno Ni' II 111 au II,
ist: ..Ks bestellt die eiirentru'lu' pliilosophisehc Anla^-e zuiiäelist (hirin,
dass man über das Gewühnliehe und Alltä^liehe sicli zu verwundern
tahig ist. wddureb man ( heii vcraidasst wird, das Alli;cineiiit' tler
Erscheinunii' /u seinem l'roldem zu niaeiien'".') so ist I.,iclitenber^
ein eminent philosoijbisoiier Kopf gewesen, weim er auch, im land-
läufiiren Sinne nach Energie, Unifauii- und Kinheitlichkeit der jjhilo-
soi)hisclien Arbeit beurteilt, in den Kouipendii'n nur als eine
Seiten iiTö SSO erseheinen kann. Er ii'eh(»rt eben zu jenen Leuten, ihr
die es kein alliivnieines Faehwerk der JUibriken j;-iebt, die als Indi-
viduen, ja als Sonderlings-Geister aufj;efasst und g:enossen werden
müssen.^) Wer sich aber einmal entschliesst, ihnen in all die Winkel
und Eekchen ihrer Gedankengäng-e zu folgen, der empfindet einen
wahren Hochgenuss und erfährt eine ganz merkliehe Förderung seiner
g-anzen geistigen Konstitution. X'ielleicht führt solch eine Erfahrung,
öffentlich ausgesprochen, auch diesen und jenen andern dazu, sich
eine feiertägliche Geistesdelikatesse nicht länger zu versagen.
Eine Gedaidvenwelt kann innuer erst da einigermassen vor uns
erstehen, wo man ihren Schöpfer nach Geschicken und Individualität
wenigstens notdürftig kennt. "^I Was Schopenhauers Beispiel so
schlagend belegt, gilt fast noch mehr für unsern Denker, der alles
so sehr mit seinen subjektiven Tinten überzieht, wie selten ein Autor
(Reclam S. 17 f.). Wer nicht wüsste, dass Georg Christoph Lichten-
berg, das jüngste von 18 Kindern des Oberramstadter Pfarrherrn,
seit seinem achten Jahre, also seit 1750, einen verAvachsenen und
gebrechlichen Körper mit sich herumtrug,*) der würde nie die grosse
Keizbarkeit seiner Nerven begreifen, die ihn dem jähen Wechsel der
Stimmungen und der Laune unterwarf, ihn zum feinsten Selbstbeob-
i) Die Welt als Wille und Vorstellung B. II § 17. Vgl. dazu N.O.A. 1
S. 32, 104; n S. 137, 236; VII 234, 263. Fr. Schaefer, Lichtenberg als Psychologe
und Menschenkenner. Diss. Jena 1898, S. 14; Leitzmann S. 26 (Neugierde, das
„vestalische Feuer der Philosophen.")
2) Vgl. den Brief an Dieterich vom 19. März 1772, gedruckt bei Grisebach,
Ges. Studien» S. 24—29.
3) Sonst vgl. über das Thatsächliche K. H. Jördens, Lexikon deutscher
Dichter und Prosaisten, Leipzig 1808, Bd. III S. 334—64; Doering in dem oben
S. 68 angeführten Buche, Ed. Grisebach, Gesammelte Studien» S. 11 — 79, Max
Koch, Artikel „Lichtenberg" in Ersch und Grubers „Allg. Encycl. d. Wiss. u.
Künste" (E.W.K.). — Sehr dürftig die A.D.B. Bd. 18. — J. Wackernell (Inns-
bruck) bereitete schon 1889 eine Biographie vor.
■i) Man leitete ihn von einem frühen, durch die Leichtfertigkeit einer
Wärterin herbeigeführten Falle her. Autobiographie S. 7, 32 u. oft. Vgl. Über
Physiognomik wider die Physiognomen (Reclam S. 349), Leitzmann S. 80.
Lichtenberg als Philosoph etc. 71
achtiT machte, aber /.uiilcicli auch für seine oft uiiUl)envindlichc In-
dolenz eine Erkläruuji- bietet.') ,,ln allen Ansichten Lichtenberg-s, über
Hohes und Tiefes, lie^t die Grille mit der Wahrheit, die Einl)ildung
mit der Über/eugunir, die Wärme der Phantasie und selbst des
Herzens mit der Kälte des Verstandes im Kampfe" sajrt GervinuSj^)
dessen besonderer Sympathie sich Lichtenberg: erfreut. Von hier aus
können wir die mancherlei Widers])riiche und Risse in seinen Ge-
danken verstehen. Kach Zeiten wunderbarer Seelenklarheit und
heiterster Ruhe, da er sich auf der „Wetterseite" seiner Natur l)e-
lindet, ertasst ihn seine Krankheit, die „Pusillanimität", um ihn zu
schütteln und trübe zu machen (Reclam S. 18). Er hat „Hypochondrie
studiert". Er hat „die Fertig:keit, aus jedem Vorfalle des Lebens, er
mag Kamen haben wie er will, die grösstmögliche Quantität Gift zu
eigenem Gel)rauche auszusaugen.'*'^) Kein Wunder darum, dass er, mit
Schätzen im Kopfe, ein Aufschieber wurde, oder wie er selbst sagt,
.,ein Procrastinateur."
In seinen letzten Jahren — er starb noch vor Anbruch des
neuen Jahrhunderts, nämlich eben am 24. Februar 1799 — hatte
sich diese Seeleustimmung bis zur Menschenscheu gesteigert, welche
ihn nur hinter der Fensterscheibe lauschend dem Treiben der
Menschen zuschauen hiess. Bei dieser geistigen Art kam es, dass
zuweilen Selbstmordgedanken wie Fledermäuse durch seine Seele
flatterten.
Das alles hätten die wenigsten Menschen erfahren, wenn er nicht
eine jener seltenen Persönlichkeiten gewesen wäre wie Augustiu und
Rousseau,*) die mit bewunderungswürdiger Wahrhaftigkeit und Otfen-
heit ihr Innerstes ausbreiten. „Es ist dies ein noch ziemlich unbe-
tretener Weg zur Unsterblichkeit" sagt er selbst darüber in einem
Apercu. Aber gerade so hat er uns den ganzen Reichtum seiner
Seele erschlossen. Wir sehen noch überall, wie er seine Gedanken-
fäden an die Elemente einer grossartigen Bildung anknüpft.^) Von
Haus aus war Lichtenberg Mathematiker und Physiker. Für beide
Fächer hatte ihm noch sein Vater, zuletzt Generalsuj)erintendent in
1) Autobio<;ra])hie. Reclam S. 82. Briefe aus En^'land (Keclaui S. 265).
Fast in allen Privathriefen iN.O.A. VII und VUl).
2) Gesch. der deutschen Dichtimg Bd. V-> S. 195.
3) Vgl. Briefe von Goethe vom 7. (_)kt. 1793 und 17. Sept. 1796; Reclam
S. 16, 107 f., N.O.A. III S. 5.
*) Reclam S. 11 5 f.
' S) Vgl. Ilettner, Litteraturgeschiohte des 18. Jahrhunderts*, 8. Buch 8. 412.
I>r. Am II N Oll 111 ;i II II
Darmstadt, eine starke Nciiriinir ein<rei)naii/,t. Seine Leistuu;::en auf
liiesei» (Tcbieten brachten ihm denn schon mit '21 .lahrcn') den
(iüttiuiri'r Lehrstuhl, liis zu seinem Lehonsendc hat er ihn. in/Avis(dieii
Ordinarius ireworden ( ITTÖ), inneji'i'haht. Al>er von diesem (Neutrum
aus verbreitete er sich ul)er Litteratur. Malerei, Schauspielkunst,
Geschichte und Politik, Anthropoloii-ie und rudaji'oji'ik und wandte,
was für uns heute die Hauptsache ist, jileich seinem ^^anzen Zeit-
alter seine tiefsten Interessen den philosoi)hisclu'n l'roblemen zu. Das
erste Zeugnis lür seine Hepibiing in dieser Hichtung- war seine Rede
heim (Tvmnasialabganjre in Darmstadt im Jahre 1 7(53, welche uns
leider nicht erhalten ist. Sie handelte in \ ersen „V^on wahrer Philo-
sophie und philosophischer Schwärmerei". Später finden wir in
seinen Schriften eine ganze Musterkarte von alten und neuen l'hilo-
sophen gekannt und besprochen^ besonders aber die deutschen,
englischen und französischen des eigenen Jahrhunderts bis auf die
kleinen und kleinsten. Manche feine philosophiegeschichtliche Be-
merkung fällt dabei ab. 2) Abgesehen von den Gedaukenspänen zur
Kant-Erläuterung und Kant-Kritik, und über Spinoza, auf die wir
später kommen werden, handelt es sich dabei vornehmlich um die
bekannte Cartesiusbeurteilung (Keclam S. 74 f.): Wir werden uns
gewisser Vorstellungen bewasst, die nicht von uns abhängen; andere,
glauben wir wenigstens, hingen von uns ab; wo ist die Grenze?
Wir kennen nur allein die Existenz unserer Em))findungen, Vor-
stellungen und Gedanken. Es denkt, sollte man sagen, so wie
man sagt: es blitzt. Zu sagen cogito, ist schon zu viel, so bald
man es durch Ich denke übersetzt. Das Ich anzunehmen, zu
postulieren, ist praktisches Bedürfnis."^) Er hat dabei keinen Denker
ex professo studiert. Aber unendlich viel gelesen hat er, selbst
desultorisch zu Zeiten, so sehr er immer vor dem blossen Auf-
nehmen fremder Gedanken warnt.*) Hören wir nur eine von jenen
*) Reelam S. 24. Also wohl mit Grisebach S. 16, Koch in Ersoh iind
Grubers E.W.K., S. 348a ff. Meyer S. 60 und Bobertag, Deutsche Nat. Lit.
(Kürschner), Bd. 141 S. 5 f. im Jahre 1769, nicht erst 1770.
2) Ich habe für ca. 30 Denker Zusammenstelhmgen gemacht, für die in
diesem Zusammenhange natürlich kein Raum ist. Vgl. aber wenigstens Reelam
S. 57 über die neue Akademie, N.O.A. I S. 158 über Leibniz, S. 280 über
Herder.
•'') Vgl. Überweg-Heinze, Gnmdriss d. Gesch. d. Philos. III'» S. 54.
-tj Reelam S. 22, 26, 38, 46, 81, 142. N.O.A. I. S. 128, II S. 131. Über
seine Maximen beim Lesen belehrt geistvoll der Briet an Goethe v. 15. Januar
1796.
Lichtenberg als Philosoi)h etc. 73
geistreichen und ireschniaekvollen Stellen'), wo er seine Wiss-
betrierde beschreibt: ..Wenn es ein Werk von etwa zehn Fo-
lianten iräbe, -svorin in nicht allzu-rrossen Kapiti-ln jedes etwas Neues,
zumal von der spekulativen Art, enthielte; wovon jedes etwas zu
denken g'äbe, und innuer neue Aufschlüsse und Hrweiterungen dar-
böte: so glaube ich, könnte ich nach einem solchen Werke auf den
Knieen nach Hamburg rutschen, wenn ich überzeugt wäre, dass mir
nachher Gesundheit und Leben genug übrig bliebe, es mit Müsse
durchzulesen!"
Bedeutende Erweiterung seines Horizontes verdankte er da-
neben seinen zwei Reisen nach England in den Jahren 1770 und
1774/75,2) wo man ihm hohe Ehren erwies. Sein späterer Hofrats-
titel stammte von diesem Lande (1788). Sein Lebtag hat er für das ihm
so kongeniale England eine besondere Vorliebe gehabt und für seine
deutsche Heimat dort Vorbildliches gefunden.-'') Mit dem damaligen
Deutschland war er dagegen sehr unzufrieden. Gegen seine Senti-
mentalität.^) sein Kraftgenietum^l und seine Physiognomen*') hat er
die schärfsten Waffen des Geistes, beissenden Spott und sprühenden
Witz, geführt.
„Seihst keine Zauberrüstung schützte,
Wenn er den Pfeil der Wahrheit spitzte."
Natürlich geschah es, dass er dabei die Fackel der Wahrheit
nicht tragen konnte, ohne einem Lavater, Voss, Zimmermann, Ziehen
und manchem andern den Bart zu versengen. Was ihm bei solchen
Fehden an Schriften und Flugblättern entstand, war es neben seinen
wissenschaftlichen Abhandlungen und Journalartikeln, womit er sich
') Autobiographie (Reolami S. 31. Vgl. N.O.A. I S. 127, II ••-!. 195.
-) Über Phy.siugnomik wider die Physiognouien (Keclaiu) 8. 3410.
3) Briefe aus England (an H. Chr. Boie), Reclam S. 265—321. Über den
deutschen Roman (Reclam) S. 497—602. N.O.A. I S. 215, 217, US. 17 f., 118 f.
^1 (Tocthes Werther und seine Verwandten hat er als ungesund verworfen.
Vgl. Über die Macht der Liebe (Reclam) S. 502—510. Reclam S. 174 f., 442
N.O.A. I S. 805, auch 304 ; Leitzmann S. 12S. Seine Stimmung drückt aus der
Satz: „Ein Drei-Groschen-Stück ist immer besser als eine Thräne." Doch
vgl. die abschliessenden Erörterungen Leitzmanns S. 251—255.
•'>) Paraklotor oder Trostgriinde für die Unglücklichen, die keine Original-
Genies sind (Reclam S. 491 — 497), vgl. 272, 4M4 ff. N.O.A. I S. 255, II S. 10,
95. Namentlicii die Nachtrcter Klopstocks und Shakespeares trifft seine Geissei.
*^) Über Physiognomik wider die Physiognomen. Zur Beförderung der
.Menschenliebe und Menschenkenntnis (Reclam S. 334 — 885). Dazu Anhänge
und Nachspiele. Auch das Fragment von Schwänzen S. 412—419 etc. Vgl.
Doering S. 322—332, Leitzmann S. 215 f.
74 l>r A rud Neu iiirinn.
Itfi (Irr Mitwelt (.'inen ;:"i'fi'i('rtcii N;iiiicn rrwail). Deiui sfiiic ucist-
uiul wit/.rric'lu'n KomnuMitaro zu Iloirarths KiiplVni, wclclu' heute
untrfniil)ar mit sriuein Namen xciliiindeii sind, lallen erst in die
letzten .lahre seines Lebens.') S(» eriiiitzlicli und reich an «i'eschmaek-
V(dlen l'ointen nun auch all jene Kinder der l'\'derfel(lzli^e sind, so
sind sie dm-h \ (unehmlieh von zeitji'eschiehtlicdiem Interesse. Seine
Grösse. Avelehe den 'l'a^^ überdauert, milssen wir wie zwei der
neuesten Editoren. Grisebach und Hobertau'. mit dem alten K. 11.
.lönlens'-) in seinen i)ostlunnen Schriften linden, welche unmittelbar
nach seinem Tode in der ersten Gesamtausuabe (IS(K) — 1S()()) mit
ans Lieht kamen. Sie sind aber zuji-leich die wesentlichen Quellen
seiner Philosophie. Handelt es sich dabei nun etwa um ein nach-
irelassenes tietsinnip,'es Systemwerk V Wer sollte das bei Lichtenbergs
Individualität erwarten? — P> konnte überall nur Fra^rmentist sein.
Es widerstrebte seiner so reichen Natur, sich zur Einheit, zum Zu-
sammenhanjr, zur Schulmässiirkeit zusammenzufassen (lieclam S. 22f.J.
Einmal sairt er: .,Wenn ich doch Kanäle in meinem Kopfe ziehen könnte,
um den inländischen Handel zwischen meinem G^dankenvorrate zu
befördern 1 Aber da liegen sie zu Hunderten, ohne einander zu nützen."
., Könnte ich das alles, was ich zusammengedacht habe, so sagen, wie
es in mir ist, nicht getrennt, so würde es gewiss den Beifall der Welt
erhalten." Andermal hat er sein eigenes Wesen besser erfasst und
beruft sich, Avenn auch in humoristischem Zusammenhange auf die
Autorität Bacos von Verulam, der es in seinem schönen Buche de
augmentis scientiarum ausspreche; dass in einer Wissenschaft nicht
viel mehr geleistet werde, sobald man sie systematisiere.^)
Nur einige Hunderte von Aphorismen liegen darum vor
uns als vornehmster Ausdruck der Lichtenbergischen Gedankenwelt;
aber eine wunderbare Fülle des Geistes ist in ihnen gebunden. Mit
jedem Jahre wachsen ihre Reize: ein Vorzug, den sie mit dem
Klassischen teilen. Es gilt eben von Lichtenberg eines seiner
eigenen Worte: ,,Es giebt geschickte Leute, die ihre chymischen
Versuche im Kleinen anstellen, und richtigere Sachen herausbringen
als andere, die sehr viel Geld darauf zu verwenden haben" (Ileclam
^j Die Zeit legt fest der Brief an Goethe vom 18. April 1794.
2j Denkwürdigkeiten etc. aus dem Leben der vorzüglichsten deutschen
Dichter imd Prosaisten Bd. 11 S. 226; vgl. Ed. Grisebach, Ges. Studien,^ Leipzig
1884, S. 63 ff.; Bobertag S. 7 f.
3) Patriotischer Beitrag zur Methyologie der Deutschen (Reclamj S. 213,
vgL N.O.A. I S. 54. Dazu Grisebach S. 73 fi.
Lichtenberg als Philosoph etc.
/ .)
S. 10(ii. Aus seinen meniorandum books, seinen „Sudelbilchern",
wie er sie selbst nannte,*) aus seinem Zettelkasten, wie man heute
sajren würde, sind diese j)hilosn))hisehen lihapsodien, Gedankenspäne,
Beobachtung-en. Urteile und Maximen wiederholt herausfreg:eben worden
(vg:!. N.O.A. 1 S, XVI f.). Es sind l)unte Hruchstücke einer grossen
Konfession. Aus ihnen müssen wir also eine Übersicht über sein
„Gedankensystem" oder besser seine ,.Denkung:sart" zu g:e-
winnen versuchen. Auch für uns behält er dabei allerdings nicht
selten recht mit seinem Ausspruche: „Einen Menschen recht zu ver-
stehen, müsste man 7Aiweilen der nämliche Mensch sein, den man
verstehen will" (Keclam S. 53 vg:l. N.O.A. I S. 133f.).
Wenn wir über solchem Unternehmen von Lichtenberg ver-
nehmen: ..Wenn ich zuweilen in einem meiner alten Gedankenbücher
einen guten Gedanken von mir lese, so wundere ich mich, wie er
mir und meinem System so fremd hat werden kinmen, und freue
mich nur so darüber, wie über einen Gedanken eines meiner Vor-
fahren''.-) so muss sofort der Wunsch aufsteigen nach einem Einblicke
in sein philosophisches Werden. Der ist uns aber leider nicht ohne
Schuld der ersten Herausgeber L. Chr. Lichtenberg und Fr. Kries^)
fast unmöcrlich gemacht worden. Denn sie haben alle chronoloa-ische
Folire zu Gunsten einer oft sehr fraswUrdiu'en Sacheinteilunir ver-
wischt. So lässt sich nur noch ein Grosses als Grundlage der Be-
trachtung; festlei;-en: Man kann in Lichtenbergs Entwickluna- deut-
lieh eine vorkantische und eine nachkantische Epoche unter-
scheiden.^) Auch für ihn ist der grosse Königsberger zum Coper-
*) Vgl. zu ihrer Charakteristik N.O.A. I. S. IX ft., XVU, VII S. 21.
2) Reclam 8. 29, Leitzuiaim S. 52. Vgl. N.O.A. I S. 224: „Man inuss
seine Philos(ji)hic alle 10 Jahre neu bewerfen lassen."
■■»I Lichtenbergs vermischte Schriften. •» Bde. Göttingen 1800—1806. Trotz
N.O.A. I S. IV f., X f., XVI, XIX und XXIII pflichten wir Grisebach (8. 65)
uDd Bobertag (S. 7) in diesem Urteile bei. Es ist eine schöne Aussicht, dass
Albert Leitzmann, der durch einen glücklichen Zufall die für unerreichbar ge-
haltenen Originalpapiere in die Hände bekam, nun eine planmässige Auswertung
des Nachlasses verspriclit (Aus Lichtenbergs Nachlass S. Vff. ). Dadurch wird
hoffentlich vieles aufgehellt und sicher gestellt werden, was man z. Z. nur.
mühsam combinierend. erschliesst.
*i Ed. Grisebacii S. 74 f. und L. Noack, l'liilosi)i)hie-gesciiiclitliches Lexikon,
Leipzig 1879, S. 565, bahnen das riclitige N'erständnis an. Doch verwischt des
letzteren Darstellung die gewonnene Einsicht völlig. Die Sache kurzer Hand
abthnn kann man nur, wenn man wie Schaefer S. 27 ff. das ganze genetische
Moment verkennt. „Leitende Grundsätze" will aber auch er 8. 34 aufsuchen,
obwohl er das vorher bei einem L. für aussichtslos hielt.
70 l*r. A ruo NfiiuKiiin,
iiii'iis irt'wonlen. Im .hilirc 17!>S lunul er »lii- K.-nitisrlic l'liilosdpliic
(las oin/i.L' wahre Weltsystem, die eiii/.iu" wahre l'liilostiphie.' | Wie
bedeutend und dm-h im (xefrensat/e /.u der Masse der ..Kantiiaehtreter"
undoirniatiseh seine AiitVassunii' in diesem Sehlussstadiun» ist, beweist
der letzte Hriet an seinen Bruder Ludwi,:r Cliristian \(Mii IS. Feliruar
175)5): ..Dein Antikantianismus hat mich lier/lieli iicIVeut, (l;i
ich jetzt weiss, wie Du die Sache ninunst. Kr für seine
Person ist irewiss ein grosser, und was wohl elten so \iel wert ist,
ein wohlmeinender, rechtschaffener Mann. Seine Kritik der reinen
Vernunft ist das Werk eines 30jähri<:en Studiums. Er hat lanii-e
über philosojthische Systeme \'orlesun<i-en li'ehalten, dadurch sind
ihm eine ^lenge von Dinaren freilich ii-eläutii; jj-eworden. die es un-
zählijren Menschen, selbst von Geiste, nicht sind, wenigstens nicht zu
dem Grade. Daher spricht er oft undeutlich, ehe man mit ihm be-
kannt wird. Selbst K . . . r^) weiss daher oft nichts gegen ihn vor-
zubringen, als dass Leibuiz z. B. so etwas schon vor 1(K) Jahren
gesagt. Aber Kant giebt sich auch nicht für den Erfinder von
allem aus, er verbindet nur, was grosse Männer längst einzeln gesagt
und gedacht haben, und zeigt, warum man so denken und sprechen
müsse. Bekanntlich hat Aristarch von Samos mehr als 1000 Jahre
vor Copernicus gelehrt, dass die Sonne stille stehe und die Erde
um sie herumlaufe, aber das waren einzelne Lichtblicke, die sich in
dem übrigen Wust von Dunkelheit wieder verloren. Kant spielt ein-
mal, wenn ich nicht irre, in der Vorrede zu seiner Kritik der reinen
Vernunft, auf so etwas mit grosser Feinheit an/^) Das Gleichnis
hält Stich. Man hat bisher geglaubt, wir seien das Werk der Dinge
ausser uns, von denen wir denn doch nichts wussten und wüssen
konnten, als was unser Ich uns angab. Wie also, wenn es gerade
die Natur unseres Wesens wäre, was diese W^elt eigentlich macht?
Hier ist Umlauf und Umdrehung der Erde um die Achse dem Umlaufe
der Sonne und des Sternenheeres um sie entgegengestellt. Er giebt
ja alles auf die Probe. Ein dogmatisierender Kantianer ist gewiss
kein echter. Selbst Fichte, quod pace tua dixerim, hat mehr wider
1) N.O.A. I S. 71, 81, 85 ff., 89, 93 f., 97, 100 ff., 105, 107, 286. Keclam
S. 73, 75 fi.
2) Vermutlich ist Lichtenbergs Lehrer, Kollege und Freund, der bekannte
Mathematiker Kaestner gemeint. Lichtenberg kürzt diesen oft erwähnten
Namen sehr verschieden ab. Auch das Original, von dem ich durch die Güte
des Herrn Dr. Schüddekopf eine Collation gesehen habe, hat nur K . . . r.
3) Lichtenberg denkt richtig an Kr. d, r. V. (Eeclam) S. 17 f., vgl. 21 Anm.
Lichtenberj^ als Philosoph etc. 77
die Klujrheit Verstössen, als wider die Philosophie. Es war von ihm.
wie mich dünkt, strafbarer Mutwille. jet/>t so zu sprechen, und wird
es wohl innner l)leil)en. Wir feineren Christen verachten den Bilder-
dienst, das ist. unser lieber Gott besteht nicht aus Holz und Gold-
schaum, aber er bleibt immer ein Bild, das nur ein anderes Glied
in elK-n dersell)en Reihe ist. feiner, aber immer ein Bild.') Will sich
der (xeist von diesem Bilderdienst losreissen, so gerät er endlich
auf die Kantische Idee. Aber es ist Vermessenheit, zu glauben,
dass ein so gemischtes Wesen, als der Mensch, das alles je so
rein anerkennen werde. Alles, \\as also der eigentlich weise Mensch
thun kann, ist, alles zu einem guten Zweck zu leiten und dennoch
die Menschen zu nehmen, wie sie sind. Davon scheint Herr F.|ichte|
nichts zu verstehen, und in dieser KUcksicht ist er ein voreiliger
Thor!-"') Zuvor können wir noch an mancherlei Äusserungen er-
kennen, wie er nur allmählich in das Kant-\'erständnis hineinwächst.
So sagt er einmal (Reclam S. 55): ..Ich glaube, dass, sowie die
Anhänger des Herrn Kant ihren Gegnern immer vorwerfen, sie ver-
ständen ihn nicht, so auch manche glauben. Herr Kant habe Kecht,
weil sie ihn verstehen. Seine \'orstellungsart ist neu und weicht
von der jrewühnlichen sehr ab; und wenn man nun auf einmal Ein-
sieht in dieselbe erlangt, so ist man auch sehr geneigt, sie für wahr
zu halten, zumal da er so viele eifrige Anhänger hat. ]Man sollte
aber dabei immer bedenken, dass dieses A'erstehen noch kein Grund
') Hierin liegt ein tiefsinniger religionsphilosophiseher Gedanke der Gegen-
wart angedeutet: die symbolisierende oder semiotische Thätigkeit der religiösen
Phantasie.
2j Vgl. hierzu den Brief an Kant vom 9. Dezember 1798:
„ . . . Die Freude, die mir jede Zeile, die ich %'on Ihnen erhalte, zu jeder
Zeit macht, wurde diesmal durch einen Umstand vermehrt, der meinem kleinen
häuslichen Aberglauben gerade recht kam: Ihr vortrefflicher Brief war vom
ersten Juli datiert, und dieser Tag ist mein Geburtstag. Sie würden gewiss
lächeln, wenn ich Ihnen alle die Spiele darstellen könnte, die meine Phantasie
mit diesem Ereignisse trieb. Dass ich alles zu meinem Vorteile deutete, versteht
sich von selbst. Ich lächle am Ende darüber, ja sogar mitten darunter, und
fahre gleich darauf wieder damit fort. Ehe die Vernimft, denke ich, das Feld
bei dem Menschen in Besitz nahm, worauf jetzt noch zuweilen diese Keime
sprossen, wuchs manches auf demselben zu Bäumen auf, die endlieh ihr Alter
ehrwürdig machte und iieiligte. Jetzt kommt es nicht leicht mehr dahin. Es
freute mich aber in Wahrheit nicht wenig, mich gerade Ihnen, verehrungswürdiger
Mann, gegenüber auf diesem Aberglauben zu ertajjpen. Er zeugt auch von
Verehrung imd zwar von einer Seite her. von welcher wohl, ausser dem Kant-
schen Gott, alle übrigen stammen mögen."
7S '•'' Arno Nfumanii.
ist, i's seihst für wahr /u haltiMi. K'h iil;uil)i', dass die niclstcii ilhcr
dcv Frt'iuli', v'm >v\\v alistraktos iiiul diiiikcl al)frt't:isstt's System zu
verstehen, ziiirleieh i:-e^^Iaul)t hal)eii, i-s sei deiiKnistriert."" ) Aiieh
die HetraehtiiHiT (N.D.A. 1. S. 107): „Man kann Kaiitisehe i*hih)S()|»hie
in «rewissen .lahreu, jrlaube ich, ebenso weni^' lernen als das Seil-
tan/A-n" erlanl)t einen lUleksehhiss. Vielleicht darf man anf (»rund
seiner selhsthioii-raphischeu Notizen das Jahr 171)1 für das ei^-entliche
lievolutionsjahr in seiner Gedankenökonomie ansehen.^) Ich meine
das natürlich von ferne nicht so, als wenn er damals erst auf Kant
aufmerksam ireworden wäre. Denn er sajrt seihst in seinem ersten
Briefe an Kant, auf den wir nachher näher kommen werden, dass er
seit 17lw Kantische Schriften gelesen habe. Aber dass er sich
desweü:en durchaus nicht, wie Grisebach (S. 74 f.) auninnnt, „seit die
Kritik der reinen Vernunft erschienen war," also seit 1781, ausschliess-
lich mit Kantischer Spekulation beschäftigte, beweist gerade sein hoch-
interessanter Brief an Ramberg vom 3. Juli 1786, in dem wir ihn,
wie nnr je, auf Spinoizistischen Gedankengängen treffen. Erst 1787
begegnen wir dann, gelegentliche Bekenntnisse nicht gerechnet, datier-
baren Verhandlungen mit Bürger über Kant. Bürger, für den Kant
nach Mollys Tode ..ein Heiland" geworden war,^) plante im Winter-
semester 1787/8S in Göttingen Vorlesungen ülvu- Kantische Philo-
sophie.^) L. redete ihm zu, verlangte aber um des Göttingschen
Antikantianismus, der „geschmälzten Wassersuppenphilosophie" w^illen
„die leichteste Darstellung dieser Philosophie", und Bürger ist
1) Vgl. N.O.A. I, 8. 93, 95.
2) Reclam S. 19 f., vgl. N.O.A. II., S. 89.
3) Vgl. dafür die charakteristische Stelle aus Bürgers Briefen an Oesfeld
vom 14. Mai 1787 (A. Strodtmann, Briefe von und an Bürger III 8. 185):
„Geben Sie sich denn wohl noch mit der spekulativen Philosojjhie abV Und
haben Sie Kants, des Gewaltigen, Schriften gelesen? Es ist von allen, die ich
kenne, der erste und einzige, dessen Philosophie die F'orderimgen meiner
Vernunft befriedigt hat. Seine Kritik der reinen Vernunft, mein tägliches
Erbauungsbuch, ist das wichtigste, was je in diesem Fache geschrieben worden
ist. Die hiesige hoehlübliche philosophische I'akultät ist zwar anderer Meinung;
das kommt aber daher, weil em Mann wie Kant leicht dreissig solcher philo-
sophischen Fakultäten zum Morgenbrot bei der Tasse Thee aufzuschlingen im-
stande ist. Ich danke Gott für diesen Mann, wie für einen Heiland, der die
arme gefangene Vernunft endlieh aus den unerträglichen Ketten dogmatischer
Finsternis glücklich erlöset hat." Dazu Bürgers Briet an Born vom 5. Februar 1788
(Strodtmann lU S. 192—195).
i) Vgl. L. an Bürger vom 17. Juli 1787 (Strodtmann III S. 187 f.). Dazu
auch Grisebach S. 56 und 143 f.
Lichtenberg als Philosoiili etc. 79
diesem Kate ^efolgrt. lu dieselbe Zeit g-ehüreu auch die Kant ver-
teidigenden, abtallijri'n Äusserungen über Meiners' Grundriss der
Seelenlehre (Brief au Bürger N.O.A. VII S. 72. Strodtmann 111 S. 188).
Aber die Beziehungen L.s zum Kantischen Denken erseheinen da-
mals noch als mehr gelegentlich und halbfertig. Man wird nicht
irre gehen, wenn man anninnnt, dass erst die persönliche Bekannt-
schaft mit dem grossen Künigsberger durchschlagend wirkte.
Persönlich heisst hier natürlich nur brieflich. Kant ergriff, wohl
durch den von Lichtenberg herausgegebenen Erxleben, welchen er
zumeist seinen Vorlesungen über theoretische Physik zu Grunde
legte, gewonnen, die Initiative etwa im Oktober des Jahres 1790.*)
Sein Brief ist uns leider nicht erhalten; aber, wir wissen, dass er
dem Göttinger Physiker den jungen Mediziner Jachmann emjifahl.
Dies geht aus L.s Antwort vom i3U. Oktober 1791 hervor, welche
um ihrer für das Verhältnis beider Männer grundlegenden Bedeutung
willen, hier wenigstens teilweise Platz linden muss. L. schreibt
hier eingangs: „Vergeben Sie, verehrungswürdiger Herr, einem armen
Nervenkranken, dass er die Zuschrift eines Mannes, den er schon
so lange über alles schätzt, so spät beantwortet. Was mich bei
dieser Schuld immer, vor mir selbst wenigstens, etwas rechtfertigte,
wenn sie mich zu hart zu drücken anfing, war das Vertrauen auf
die Freundschaft unseres vortrefflichen Herrn Dr. J[achmann|, der
Ihnen sowohl meine seltsamen Umstände erklärt, als Sie auch von
dem Enthusiasmus überzeugt haben wird, womit ich Sie, teuerster
Mann, verehre. Herrn Dr. J|achmann|s Schilderung von ersteren
selb.st etwas zuzusetzen, hindern mich eben diese Umstände selbst,
etwa so wie beym Lessing, dem Heldensänger der Faulheit, die
Heldin selbst bey der zweyten Zeile dem Sänger den Mund stopft
und statt alles, was ich über letzteren sagen könnte, empfangen Sie
hier aus dem Innersten meines Herzens die Versicherung: dass es
meine ganze Meinung von mir selbst nicht wenig erhöht hat, dass
ich Ihre Schriften schon im Jahre 1767 mit einer Art von Prädilektion
gelesen, und dass ich bey der Erscheinung Ihrer Kritik, so bald
ich nur davon so viel gefasst hatte, um zu sehen, wo alles hinaus
wollte, gegen einige meiner Freunde schriftlich und mündlich erklärt
habe: gebt Acht, das Land, das uns das wahre System
der Welt gegeben hat, giebt uns noch das befriedigendste
') Zur Geschichte dieses Brietwechsels verdanke ich wesentliche Finger-
zeige Herrn Oberbibliothekar Dr. Keicke.
QQ Dr. Arno Nruuwiiiii,
System dir I'li i 1 i>suitliit . Das waim nif'mc Worte, oh ich ü-U'ieli
iKH'li iiu'ht alU's iiborsali; und mit dii'sen CTesinnunpMi isclirioli Ich
aiK'h jt'iu'. im Ta^iduMi-KaUMulcr. die Ihnen /.u (lesieht ji'eivonunen
sinil. K'li rechnete auf diesen (instand nicht, sondern schrieh sie,
weil ich ::laul)te. sie Ihren i:rossen 'l'ah'nten nach meiner Uher-
zeuiriinir schuldiü" /u sevn."') Dii'ser Briet, elteiiso wie zwei soU'he
von Ah'xander von llumhohlt an Lichtenl)erii- vom :?. OUtoher 171)0
und 21. .\i)ril 17!)2 (Leit/mann S 177lV.( stinnnen v.n unseren Auf-
stelhmjren iU)er die Hedeutunjr des Jahres I7!)l. Zum /weitemnale
schrieb dann Kant an den Göttiniicr Verehrer in der ersten Hälfte
des Jahres 179:) und Übersandte ihm dabei seine Keligioii innerhalb
der Grenzen der l)lossen \'ernunft (vg-1. N.O.A. VII S. 182). Das
damalige Schriftstück ist uns leider nicht erlialten. Denn der Brief-
entwurf, welchen Schubert XI S. 1(58 f. abdruckt, ist — wie mir
Herr Dr. Reicke nachweist — nicht an L.. sondern an seinen
Kolle£:en Kästner zu adressieren.^) L. sandte darauf Gegendedikationen
ohne Brief, wie ein un<;edrucktes. vielleicht an Dr. Jachmann ge-
richtetes Schreiben (in der Wiener Hofbibliothek XLM, 132) .vom
14. Januar 1795 anzeigt. Erst aus dem Jahre 1798 haben wir
schliesslich noch zwei Dokumente über die direkten Beziehungen
beider Männer, die beiden schon angezogenen Briefe, Kants vom
1. Juli und L.s vom 9. Dezember.'^) In dies eben skizzierte Zeit-
schema hat man alle obigen geistigen Berührungen und Befruchtungen
lieider Denker einzuordnen.
Wie wir oben in seinem Urteil über Fichte bemerken können,
hat L. dabei, wie Kant selber Momente, in denen er dem absoluten
Idealismus zuneigt.*)
In seiner vorkritischen Zeit steht der Spinozismus im Mittel-
punkte seiner Gedanken.^) Gewiss im Gefolge Jacobis und Lessings
1) Vgl. Dürpt. Beiträge (von Karl Morgenstern) Jahrg. 1816, 1. Hälfte
S. 105—107. — Dass die Sehätzrmg der beiden Männer eine gegenseitige war,
bezeugt u. a. folgendes merkwürdige Wort aus Kants Opus postumum XXI,
361 : „Die reine Anschauung a priori muss, nach Lichtenberg imd Spinoza, vor
der empirischen (der Wahrnehmung) vorangehen."
-) Danach würde sich Yaihinger, Komm. z. Kants K. d. r. V. I S. 141
und 462 modifizieren.
3) Man findet sie ganz abgedruckt bei Schubert XI S, 164—167.
i) Dazu Reclam S. 29, 63; N.O.A. I, S. 121. Dagegen I, S. 89.
5) Reclam S. 28, 47, 61, 514; N.O.A. I, S. 66 f. Vgl. E.W.K. Sekt.
S. 349 a. Noch im Jahre 1786 schreibt er in einem Briefe an Ramberg unter
dem 3. JuU (N.O.A. VIU S. 151 f.): „Kaum hatte sich Herr Lavater nieder-
Liclitonberg als Philosoph etc. 81
ist L., wie Schleiermacher auch, einer der ersten Erneuerer jenes
langre geächteten grossen Denkers geworden (N.O.A. 1, !S. 291; Leitz-
niann S. 177). Daneben umflutet ihn aber, nach der synkretistischen
Art der Zeit, ein verdünnter, mit allerlei andern, namentlich englischen,
Denkelenienten versetzter WolHanisnms.')
Der Zug der Zeit zum Eklektizismus und zur Popularität zeigt
sich dabei natürlich ganz l)esonders stark, bei solch einem launigen
und schöngeistigen Kojjfe. wie L.^)
Mit dem Vorausgehenden ist der Zeitabschnitt, in welchem unser
Denker lebte, schon als der der Aufklärung bezeichnet. Er lässt es
auch nicht zweifelhaft, dass es ihm um die „Aufklärung in allen
gesetzt (Less war mit dabei), so kamen wir von ohngefähr auf Mendelssohn,
Lessing, Jacobi und Spinozismus zu sprechen. Da ich nun (offenluTzig) den
Spinoza seit der Zeit, da ich ihn verstand, für einen ganz ausserordentlichen
Kopf hielt, SU nahm ich mir, zwischen diesen beiden Theologen vor, mich
seiner anzunehmen. Ich sagte also, dass ich glaubte, tieferes Stiidium der
Natur, noch Jahrtausende fortgesetzt, werde endlich auf Spinozismus führen,
welches dieser grosse Mann vorausgesehen. So wie unsere Kenntnis der
Körperwelt zunehme, so verengerten sich die Grenzen des Geisterreichs. Ge-
spenster, Dryaden, Najaden, Jupiter mit dem Bart über den Wolken etc. seien
nun fort. Das einzige Gespenst, was wir noch erkannten, sei das, was in
unserm Körper spuke und Wirkimgen verrichte, die wir eben durch ein Gespenst
erklärten, so wie der Bauer das Poltern in seiner Kammer; weil der hier, so
wie wir dort, die Ursache nicht erkennte; träge Materie sei ein blosses
menschliches Geschöpf und etwa bloss ein abstrakter Begrifl; wir eigneten
nämlich den Kräften eine träge Basis zu und nennten sie Materie, da wir doch
üftenbar von Materie nichts kennten, als eben diese Kräfte. Die träge Basis
sei bloss Ilirngespinnst. Daher rühre das infame Zwei in der Welt. Leib
und Seele, Gott und Welt. Das sei aber nicht nötig. Wer habe denn
Gott erschaffen V Der feine Organismus im tierischen und Pflanzenkörper
rechtfertige nur, hier Bewegung dependent von der Materie anzunehmen. Mit
einem Wort alles, was sei, das sei Eins, und weiter nichts! "AV xcä nüy,
Unum et omne. Wissen Sie wohl, was Lavater sagte, der mir »mglauhlich
aufmerksam zugehört: Das glaube er auch. Nur machte er einige Einwürfe,
auf die er selbst nicht viel rechnete und die alle aus dem christlichen System
flüchtig hergeholt waren Nachdem er weg war, fand ich einen grösseren
Zusammenhang zwischen diesen rmständen, als ich anfangs erwartet hatte: Er
hielt bis jetzt Jesum Christum für wahren Gott, daraus fliesst sein Wunder-
glaube; findet er den falsch, so ist das andere Extremum Spinozismus; und
ich glaube, er ist auf dem Punkt, jenen falsch zu finden."
'j Wie Kant ihn hiervon frei macht, zeigt die Stelle in Reclam S. 62 f.
Vgl. S. 79, .346; Meyer S. 70. Über Moses Mendelssohn vgl. N.O.A. VII S. 98ff.
nnd Leitzmann S. 88—92, 219 f.
2) N.O.A. I S. 299, 306, 327; II S. 23, 99, 128. Leitzmann S. 24, 46 f.
Kantstudiea IV. 6
S-2 l'r. Arno Noiiuinnn,
Ständen" v.n tliunist.'i Zu dicscin Zwecko, meint er, sei die Lill'tunj:
einer Nation inuiniL'iinirlieli nöfifr. „denn was sind die Menselien anders
als alte Kleider?" Also halten \\ir auch in L. cinni jcntT (ieistcr
zu verehren, welehe moderner \ (irurteilsl<)sif::keit und (JewisKensfreilieit
die Hahnen ireehnet halten.'^)
Am charakteristisehsten kommt das, wie llilliL^ /nni Ausdrucke
in seiner Stellunir zu Kelifrion und Kirehentum. liier ^^ehört er zur
(remeinde der „aktiven, vernilnt'tijren, starken" Seelen ( Keelam S. .")()S).
„Die verniinftijren Kreijroister sind leichte fiiej:-ende Korps, immer
voraus, und die die Gej^end rekoj^noszieren, wohin das gravitätische
g:eschlossene Korps der Orthodoxen am P^nde doch auch konnnt''
(N.O.A. I, S, 10:i). L. hat schon als Knal)e von der Kelifjion sehr
frei gedacht, allerdings nie eine Ehre darin gesucht, ein Freigeist
zn sein, so wenig als darin, alles zu glauben. Denn er weiss einmal,
welches Unheil schon die unüberlegte Hochachtung gegen alte Gesetze,
alte Gebräuche und alte Religionen in der Welt angerichtet hat, und
darum verkennt er nicht, „dass man eher den Wind wird drehen oder
aufhalten, als die Gesinnungen des Menschen wird heften können.''-')
„Dass die Religion selbst Kriege veranlasst hat, ist abscheulieh, und
die Erfinder der Systeme werden gewiss dafür bUssen müssen. Wenn
die Grossen und ihre Minister wahre Religion uiul die Unterthanen
vernünftige Gesetze und ein System hätten, so wäre allen geholfen"
(R. S. 127 f|. Darum sieht L. auch gar nichts so Arges darin,
dass die französische Revolution der christlichen Religion einmal
ganz entsagt hat. „Vielleicht war es nötig, sie einmal ganz aufzu-
heben, um sie gereinigt wieder einzuführen" (R. S. 135). Er
selbst nimmt ja ebenso keinen Anstand, von Zeit zu Zeit einmal in
Gesellschaft den Atheisten zu spielen, wenngleich nur „exercitii
gratia- (R. S. 17). Denn die Vernunft, der „Funke aus dem Licht-
meer der Gottheit" (R. S. 357) muss der Massstab aller Dinge
werden. Der „gesunde Menschenverstand" soll gegen alle verjährten
Vorurteile gesetzt werden.*) „Man muss in der Welt und im Reiche
der Wahrheit frei untersuchen, es koste, was es wolle, und sich nicht
darum bekümmern, ob der Satz in eine Familie gehört, worunter
einige Glieder gefährlich werden können" (R. S. 65 f.). Eine Otfen-
1) N.O.A. I S. 48, 106, 201, 225; II S. 140, 145; III S. 55.
2) Hettneri, Buch 2, S. 166 f.
3; Keclam S. 8, 42. N.O.A. I S. 61 f.
*} R. S. 47, 70, 195, 253; N.O.A. I S. 104, 135, 192; II S. 20, 157, 188;
VII S. 130.
Lichtenherjj als Philosoph etc. 83
harun^' neben unserer Vernunft darf uns nicht blenden. Was wir
g;e\vöhnlich so heissen, kommt psyeholofriseh folgendermassen zustande:
„Wenn ich im Traume mit jemand disputiere und der mich wider-
legt und belehrt, so bin ich es, der sich selbst widerlegt und belehrt;
also nachdenkt. Dieses Nachdenken wird also unter der Form von
Gespräch angeschaut. Küimen wir uns daher wohl wundern, wenn
die früheren Völker das, was sie bei der ISchlange denken (wie Eva),
durch: ,,Die Schlange sprach zu mir* ausdrücken? Von der Art
sind die Ausdrücke: „Der Herr sprach zu mir, mein Geist sprach
zu mir." Da wir eigentlich nicht genau wissen, wo wir denken, so
können wir den Gedanken versetzen, wohin wir wollen. So wie
man sprechen kann, dass man glaubt, es käme von einem dritten,
so kann man auch denken, dass es lässt, als würde es ausgesagt.
Hierher gehört der Genius des Sokrates" (K. S. 53, vgl. S. 387).
El)enso beugt er sich keineswegs schlechthin vor den christlichen
Urkunden. ,,Dass in einem Buche steht, es sei von Gott, ist noch
kein Beweis, dass es von Gott sei; dass aber unsere Vernunft von
(xott sei, ist gewiss, man mag nun das Wort Gott nehmen, wie man
will."' Sell)stverständlich wendet er sich von hier aus auch gegen
die biblischen Wundergeschichten, „Was, wie ich glaube, die meisten
Deisten schatlt, zumal unter Leuten von Geist und Nachdenken, sind
die unveränderlichen Gesetze in der Natur. Je mehr man sich mit
denselben bekannt macht, desto wahrscheinlicher w'ird es, dass es
nie anders in der Welt hergegangen, als es jetzt darin hergeht, und
dass nie Wunder in der Welt geschehen sind, so wenig als jetzt."')
Damit wirft er das Christentum, welches ihm eine über alles
verehrte Mutter in inniger Milde ins Herz gepflanzt hatte,^) als solches
nicht über Bord. Hören wir ihn selber! ,,Ich glaube von Grund
meiner Seele und nach der reifsten Überlegung, dass die Lehre Christi
gesäubert vom IMaffengeschmiere, und gehörig nach unserer Art sich
auszudrücken verstanden, das voUkonnnenste System ist, das ich mir
wenigsten denken kann, Ruhe und Glückseligkeit in der Welt am
schnellsten, kräftigsten, sichersten und allgemeinsten zu befördern.
Allein ich glaube auch, dass es noch ein System giebt, das ganz
aus der reinen Vernunft erwächst und eben dahin führt; allein es
ist nur für geübte Denker und gar nicht für den Menschen ül)erhaupt;
und fände es auch Eingang, so müsste man doch die Lehre Christi
') R. S. .57, vgl. B9 f., 167, 346.
*i K. H. Jördena, Lexikon deut.scher Dichter und Prosaisten, Leipzig 1808
B. III, S. 334 t., N.O.A. II, .S. 37, 96, lb2. (4risebach S. 11 f.
6*
84 '^r. Arno Nou 111:1 im,
fllr die Ausühunf: wählen, riiristiis li;U sieh /u^rU'ii'h nai'h doni Stoff
biHliU'iiit, iiiul dies /win^^t srlhst dem Atheisten Hewuiuienini: ah.
Wie UMi'ht niüsstc es ciiiciii soieheii (leiste ^^ewesen sein, ein System
t\\r die reine N'ernuiil't /u erdenken, das alU' PhiU^sophen vidliir he-
tVicdiirt hätte! Ahi-r wo sind die Menschen da/.uV Ks wün-n vii-Ueicht
Jahrhunderte \ erstriehen. \\i> man es i,''ar nieht verstanden hätte. —
Was die Mensehen UMten sidl, muss wahr, aher alh'n \erstämllich
sein; wenn es ihnen aueh in Bildern liei::el)raeht wird, die sie sich
hei jeder Stnf'e der Erkenntnis anders erklären" (K. S. 54 1'., \'j:\.
N.t>. A. 1 S. 107). ') Das Wesentliche des Christentums ist ihm /.ujileich
die Seele alK'r Keli;:ion. Die verschiedenen positiven Kelij;-ionen
sind ihm nur verschiedene Sprachen der natürlichen (II. S. 59). Kein
Wunder drum, dass er ii'leich Lessius:, dem er so vielfach nahe
stand, die iroldene Ke2:el der Toleranz prediji-t. Man soll die Menschen
nicht nach ihren Meinungen beurteilen, sondern darnach, was diese
Meinuuiien aus ihnen machen (1». S. 92).
So bleibt das Neue Testament für L. ..ein auetor classicus, das
beste Not- und Hilfsbüchlein, das je geschrieben worden ist."'^) Nur
die erklärenden Professoren dieses Auetors, die Geistlichen seiner Zeit,
denen Kreuzeraachen Christentum ist (K. S. 293), diese Leute einer
,.transscendenten Ventriloquenz" (K. S. 337) u'id eines subtilen
Schamanismus, verfolgt er mit seinem bittersten Spotte und scheut
sich nicht, ihnen mit ,.seiner Fackel der Wahrheit im Gedrän^a- Hart
und Kopfzeug zu versengen."^!
Trotz solcher scharfen Kritik des überkommenen Körpers der
Religion ist L. doch im innersten Grunde eine durchaus religiöse
Natur. Er ist keineswegs einer jener politischen Köpfe, welche nur
für die breiten Massen des Volkes die Religion erhalten wissen
wollen. Er hat häufig Stunden höchster Weihe, wo er in seinen
Tiefen erschauert. Ja, er kann zu Zeiten mit Inbrunst beten, und
hat den neunzigsten Psalm nie ohne ein erhabenes, unbeschreibliches
Gefühl lesen können. „Ehe denn die Berge worden" u. s. w. ist
für ihn unendlich mehr als: vSing', unsterbliche Seele", die Anfangs-
worte des Messias Klopstocks (R. S. 8, 12). Ein tief-religiöser Geist
weht uns entgegen aus der kleinen Abhandlung, die er „Amintors
') Daraus spricht die Kenntnis vun Kants „Religion innerhalb der Grenzen
der blossen Vernunft'".
2) R. S. 147 t., 514; N.O.A. I S. 274 f., 285, 310.
3) K. S. 443; N.O.A. I S. 273, 292, 308, 324; U S. .56, 79 f., 101, 114,
154 f., 164, 192, 193, Leitzmann S. 11 f., 19—51, 66.
Lichtenberg als Philosoph etc. 85
Morgen-Andacht"' I betiU-lt hat. Hier finden wir, an einer Stelle
auch ausgesprochen, was ihm diese Stunden bringen: völlige Beruhi-
ffunfr in Absicht der Zukunft und frohes Ergeben in die Leitung der
Weit (S. 513).
Dass wir so bei L. mit dem freiesten Denken eine weiche Seele
vereinigt finden, ist nichts Aussergewöhnliches. Ganz anders mutet
es uns an und bestätigt unsere obige psychologische Analyse, wenn
wir ihn, den starken Geist, zugleich als im höchsten Masse aber-
gläubisch entdecken. Er nennt es selbst einen sehr merkwürdigen
Umstand in seinem Leben und seiner Philosophie.^) Z. K. hat er
seine Heise nach Italien aufgegeben (1783), weil ein frisch ange-
stecktes Licht wieder ausging. So macht er täglich hundert Dinge
zum Orakel. Nicht am mindesten gilt ihm der Traum (K. S. 26,
32 f., 81). Auch phantasiert er gerne von Seelenwanderung.')
Soleher Schwächen schämt er sich aber durchaus nicht. Er meint,
jeder Mensch habe seinen individuellen Aberglauben und am meisten
der Gelehrte neige zum Ominösen. Er beruft sich dabei auf das
Beispiel Kousseaus (N.O.A. 1 S. 39).^l
Der Aberglaube, als eine Lokalphilosophie, muss seine Stimme
mitabgeben, wenn ein ,, Meinungen-System" entstehen soll (K. S. 44).
Denn „ein Inbegriff der Meinungen eines Menschen ist seine Philo-
sophie- (K. S. 41). Menschliche Philosophie überhaupt aber ist ihm
nichts anderes als die Philosophie des einzelnen durch die der andern,
selbst der Narren, korrigiert, und dies nach den Kegeln einer
vernünftigen Schätzung der Grade der Wahrscheinlichkeit.
Als Kriterium der Wahrheit gilt dabei der consensus gentium und
— was für den Mathematiker höchst charakteristisch ist — die
Berechenbarkeit (Pv.S. 45; N.O.A.IS.ö'iloder die geometrischeGewissheit
(I S.79; LeitzmannS.52). Von hier stammt ohne Frage auch die Neigung
zu Spinoza. Autoritative Sätze und individuelle Überzeugung geben
dagegen imr eine hypothetische Gewissheit (K. S. 46 f ). Wie sehr
auch die VernunftUherleguug notwendig eine bevorzugte Stelle ein-
nimmt, so dürfen doch die andern Faktoren bei der Bildung der
') R. S. 511—515. 1791. Vgl. Grisebach 8. 37-40, Lauchert S. 122 f.
Sonst N.O.A. I S. 146; VU S. 24 f.
^) R. S. 16, 25, 36; N.O.A. II S. 141; vgl. auch den oben im Auiszuge
mitgeteilten charakteristischen Brief an Kant vom 9. Dezember 1798.
S) R. S. 30 f.; N.O.A. I S. 31, 33, 67, 159, 171 f.. 199: vgl. hierzu „Kant-
stndien" II S. 499.
*) Trotzdem war natürlich auch er ein Feind der Träume eines Geister-
sehers. Vgl. Leitzmann 8. 55 und dazu S. 207 ff.
86 l'r ^ riin Neu mann,
Weltaiisi'liauuiij;. (uMullt, Wilh' und riiaiitasic nach I.. iiiclit \rniacli-
lässiirt werden. „Wo ein Teil /.u sehr kultiviert wird, da führt es
am Ende inuner aiit kleines oder jrrosses Unheil hinaus." .Mso i.st
harinonisehes Waehstuiii (hs ganzen Krkenntnis-Systenis /,u crstrehen,
so sehr dies auch die launenhafte Hevorzu^uiii;- liald der einen, Itald
der anilern Instanz, liei L. thatsächlich wieder nnniö^'lieh macht')
In solchen Erwäiruniren L's linden wir einen höchst svmpathischen
Grundzujr seines philoso|)hischen Denkens. So weiss er die instink-
tiven Trielie und Kmptindunii'en neben der IveHexion zu wlirdiücn.
,,Ks ist zum JM-staunen. was für mainiij:'falti^e Stufen von Helehrunj;-
uns unsert' F.inrichtunü- «iewährt von der unerklärlichsten Ahndunir
l)is zu den deutlichsten Einsichten des \'erstandes" |1\. S. .")S).
Friedrich Heinrich Jacohi war nicht umsonst sein Freund! Lichten-
hers: sairt einmal ireistvoll: „Durch die planlosen Streifzüp- der
Phantasie wird nicht selten das Wild aufirejajit. das die planvolle
Philosojihie in ihrer wohliifordneten Haushaltung: g:ehrauchen kaiui"
(N.O.A. I S. l()()). Einem Manne, der so dachte, kamen die
Ideen in einer Fülle, nach der sich der starre Gelehrte oft so ver-
iceblich sehnt. Er nahm auch die verschiedenen Lel)ensalter zu
Hilfe; denn das Kind, der Knahe, der .Iün<zlin<i- und der Mann hat
seine eigene Philosophie. ..Wie glücklich, wenn ein Alter dem
andern, ein Jahr dem andern in die Hand arl>eitet! Wenn das eine
Kader, ein anderes Federn, noch ein anderes Zifferblätter verfertigte,
so brächte wohl noch einmal ein viertes eine Uhr zustande'' (K. S. 40).
Das ist dann allerdings die Weise, auf die man Philosophie des
Menschen erzielt, nicht des Professors. Jeder, der deutsch spricht,
ist ja ein Volksphilosoph, und unsere llniversitätsphilosophie, als eine
Scheidekunst (K. 8. 65), besteht im Einschränken von jener (S. 61).
Dass „die Erfindung der Sprache vor der Philosophie hergegangen
ist, das ist es, was die Philosophie erschwert, zumal wenn man sie
anderen verständlich machen will, die nicht viel selbst denken." Also
Philosophie ist immer zugleich Berichtigung des vulgären Sprach-
gebrauches.^)
Wir dürfen uns nie von dem Herkonnnen umstricken lassen. Es
verdirbt unsere Philosophie. Wir müssen loskommen von philosophi-
schen Polizei-Fonnularen. Damit wendet sich L. ebenso gegen den
Schlendrian der naiven Weltbetrachtung, wie gegen die Starrheit
*) R. S. 14; vgl. Timorus S. -..18—258; N.O.A. I S. 64 f., 140 f., 288. Dazu
Doering S. 324.
2) Brief vom 6. Februar 1793.
Lichtenberg als Philosoph etc. 87
zeitgenössischer Katliederphilosophie. So schreibt er boshaft: ,,Ich
bin Uberzeuü:t, wenn Gott einmal einen solchen Menschen schatfen
wollte, wie ihn sich die Napster und Professoren der Philosophie
vorstellen, er nuisste den ersten Tag ins Tollhaus gel)racht werden."
Er kennt eben die Unzahl der ^'orurteile, die hier, wie dort die
Kopfe gefangen halten. Die Wahrheit hat unendlich viele Feinde.
Er schildert sie meisterhaft: ..Die Wahrheit hat tausend Hindernisse
/u überwinden, um unbeschadet /u Papier zu kommen und vom
Papier wieder zu Kopf! Die Lügner sind ihre schwächsten Feinde.
Der enthusiastische Schriftsteller, der von allen Dingen spricht und
alle Dinge ansieht, wie andere ehrliche Leute, wenn sie einen Hieb
hal)en; fenu*r der superfeine, erkünstelte Äleuschenkenner, der in
jeder Handlung eines Mannes, wie Engel in einer Monade, sein ganzes
Leben sich al)spiegeln sieht und sehen will. Der gute, fromme
Mann, der überall aus Respekt glaubt, nichts untersucht, was er vor
dem fünfzehnten Jahre gelernt hat und sein bischen Untersuchtes auf
ununtersuchtem Grund baut — das sind gefährliche Feinde der
Wahrheit.'-
Darum ist für L. mit Cartesius im Zweifel an allem hergebrachten
der Anfang alles Philosophierens gelegen. Geistesstarkes Selbstdenken
muss jeder lernen. Er selbst wünschte, dass er von neuem sehen,
von neuem hören, von neuem fühlen könnte (N.O.A. I S. 104). ..Man
kann nicht vorsichtig genug sein im Bekanntmachen eigener Meinungen,
die auf Leben und Glückseligkeit hinauslaufen, hingegen nicht emsig
genug, Menschenverstand und Zweifeln einzuschärfen'' (R. S. 47).
Über das Wesen dieses Zweifels denkt L. nach seiner beweglichen
Art zu verschiedenen Zeiten verschieden. Wirklich zu haltloser
Skepse wird seine inoyi] erst bei übler Stimmung, wie sie in den
Schlussjahren seines Lebens fast chronisch geworden ist. Dann ge-
langt er zu einer Philosophie, welche selbst die Notwendigkeit vom
Satze des Widerspruchs leugnet. In seinen guten Stunden dagegen
ist er sich wohlbewusst, dass dieser Zweifel nichts weiter sein darf
als „Wachsamkeit", wie sie etwa der ..neuen .\kademie'' eignet,
welche „das Mittel zwischen der strengen Zuverlässigkeit des .Stoikers
und der l'ngewissheit und Gleichgültigkeit des Skeptikers hielt"
(R. S. .-)7. Vgl. N.O.A. I S. 138).
In dieser Richtung scheint uns L.s eigentliche Stärke zu liegen.')
Er hat sich selbst treÖ'end beurteilt mit den Worten: ..Wenn auch
*) Vgl. R. S. 43 f.
k^<^ l>r Arno Nrinnann,
nu'iiu' IMiiliisojiliir iiii'ht liiiireit'lit. etwas Neues aiis/.iiliiKleii, sei hat
sie (looli Her/, iionuir, das läiifrst (Je^laultte liir iinaiis^^emaclit /u
halten" (K. S. ;!(»). Darin licirt eine lieileutende Ann-^ninj:-. Denn
t'ilr ihn liiiii:! das Denken eifrontlich innner erst da an. \\u die
andern Itereits aut'irehürt halten /.n deid<en. Die kleinsten Dinjre
gewinnen ihre i'iirene. meist ^eistscliilleni(le Heleuchtnnii- und sind
ein .Mosaikstein /.um (»anzen.
Halten wir somit seine HeirriH'e von (iedanUenarlieit zu lassen
jresuclit, so wenden wir uns nun zu seinen Kiir/.elansiehten über
philosophische Disziplinfrairen.
lu einem seiner Aphorismen lesen wir, alles in der Philosophie
reduziere sich auf drei Frai;-en: ,,Was bin ich? Was soll ich thunV
Was kann ich ^^lauben und holVenV" (N.O.A.I S. 81)') Dement-
sprechend brinjrt er Beiträge zu Psychologie und P'rkenntniskritik,
Kthik und Metaphysik. Das hindert natürlich nicht, dass wir der
Durchsichtigkeit halber seine Ansichten in einer etwas anderen P'olge
abhandeln.
Dass ein Mann wie L., dessen Gemüt so zur Vorsicht neigte,
dessen gesteigerte Sul)jektivität ihn zur Selltstkritik nötigte (K.S. 73),
die Kantisehe Denkart, so bald er mit ihr ernstlichere Fühlung be-
kam, immer begeisterter erfasste, ist sehr begreiflicii. Denn sie gab
ihm erstmalig durch ihre theoretische Grundlegung einen festen
Boden unter die Füsse und kam auch in ihrer praktischen Seite seinen
Wünschen entgegen. Deshalb finden w^ir unter seinen philosophischen
Khai)sodien eben jene beträchtliche Anzahl von Bekenntnissen zum
Kritizismus. Auch er hat mitgeholfen, dem Kantianismus einen Weg
in die dogmatistlsch satten Geister der Zeit zu brechen. Gerade
seine populäre Klarheit konnte seit der Ausgabe seiner Opera postuma,
also seit 1800, zu diesem Behufe leuchten. Gegen den reinen
Empirismus Lockes wendet er sich entschieden. Eine blosse tabula
rasa bleibt eine sehr unphilosophische Idee (K. S. (51 f., 73); deim
durch jede Einwirkung w^ird das einwirkende Ding modifiziert.
V) Er hat also die klassische Kantstelle in der ersten Frage ins psycho-
logisch-anthropologische verschoben. Das ist zweifellos höchst bezeichnend.
Kant schreibt in der Methodenlehre der Kr. d. r. V. (Reelam S. 610j: .,Alles
Interesse meiner Vernunft (das spekulative sowohl, als das praktische) vereinigt
sich in folgenden drei Fragen :
1. Was kann ich wissen?
2. Was soll ich thunV
3. Was darf ich hoflfenV
Auch Noack hat diese Entlehnung nicht bemerkt.
Lichtenberg als Philosoph etc. 89"
Subjekt und 0}»jekt wirken in eins. Mit Kantischeni f4eiste denken.
heisst die Verhältnisse des Subjektiven fre<ren das Objektive be-
stimmen (K. S. 7(;i. Ks -r.Miü-rt aber iiieht zu sauren: das Aujre
sehartt das Liclit und das Ohr die Töne (N.O.A.I S. 107 1, man
muss auch die Subjektivierun^- von Kaum und Zeit, ja die ganze
Kantische Kritik annehmen (S. Sil).
In vorzü-rlicher Weise beleuchtet L. zwei für die (xeschichte der
transscendeutalen Ästhetik bis auf die Gegenwart wichtige Probleme,
nämlich die Unterscheidung von praeter and extra nos, sowie die
sog. ..dritte Möglichkeit", im ersten Bande der N.O.A., S. 85—87:
Wir haben unter unseren Eindrücken solche, die uns die unmittel-
bare Überzeugung aufdrängen, dass wir uns bei ihnen lediglich
receptiv verhalten, Eindrücke, bei denen wir empfundene Gegen-
stände uns gegenüber annehmen müssen. „Vielleicht wäre es genug,.,
hier zu sagen, jene Gegenstände wären praeter nos, etwas von uns ver-
schiedenes — das, sollte man meinen, wäre das einzige, was wir
empfinden könnten. Dass sich aber dieses praeter nos in ein.
ej-tra nos verwandelt, dass wir damit Entfernung von uns im
Räume verbinden, und damit verbinden müssen, das scheint das
notwendige Erfordernis unserer Natur zu sein ... Ich glaube also,
dass wenn irgend ein Satz von aller Erfahrung unabhängig ist, so
ist es der von der Ausdehnung der Körper.-' — Sodann erwägt
unser Autor, ob nicht „unter unzähligen Fällen auch der möglich
wäre, dass die Gegenstände diejenigen Eigenschaften haben, die wir
ihnen unserer Natur nach beilegen müssen." Die Frage ist aber
nach seiner Meinung nicht zu beantworten, und darum „ist es das
Klügste, was wir thun kimnen, bei uns stehen zu bleiben, unsere
Modifikationen zu betrachten, und uns um die Beschaffenheit der
Dinge an sich gar nicht zu bekümmern". Damit bekennt er sich
voll und ganz zum erkenntnistheoretischen Idealismus, Er hat
treffend im folgenden die Genesis dieser Anschauung aus dem
naiven Realismus gezeichnet: „Zuerst als Knabe lächelt man über die
Albernheit des Idealismus; etwas weiter findet man die Vorstellung
artig, witzig und verzeihlich; disputiert gerne darüber nnt Leuten,
die sich ihrem Alter oder Stand nach noch im ersten Stadio be-
finden. Bei reifen Jahren findet man ihn zwar ganz sinnreich, sich
und andere damit zu necken, aber im ganzen kaum einer Wider-
legung wert und der Natur widersprechend. Man hält es nicht der
Mühe wert, weiter daran zu denken, weil man glaubt, oft genug
daran gedacht zu haben. Aber weiterhin bekommt er, bei ernst-
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l>r A rill) N c u iii;i ii ii ,
lii'heiii Naolulrnkfii und lüclit ^aii/, ;rt'riii,:r<'r Bt'U;iiintst'liat"t mit
mensohlicluMi DiniTi'u. oiiir iraii/. imiilH'rwiiKlliflic Stüikc i lü S, i;;; f. ).
Zcitwoilic taiu'ht dalici. wir schon oIh-u Iterlilirt Nvunli'. ein
jranz sulijektivistisi'luT Satz. auf. z. H.: \ it'lk'iclit sei das fran/e
rrononu'n dvv andere antliroponiorplien rrsprunj;-« iN.O.A. I S. 121).
L. niuss eilen dir Dinire nu'hrseitijr hetraeliten. ^reniäss di-r Vo\\-
niorpliie seiniT Seele.
An» meisten tritt uns das aus seinen nietaphvsisehen Au-
schauuniren entire.uen. Hier schwankt er oft seltsam hin und her.
Al>er inuner hält er fest, dass wir es nur /u Wahrscheinlichkeiten,
nicht /AI (iewisshi'iten l)riniren. Die Klimax metaphysischer Hypo-
thesen ist ein fruchtbarer (iedanke. welcher dabei ab und /,u vor-
iretrasren wird. So kommt L. da/u. ^rundsät/.lich auszusprechen, dass
jsich ül)er die Existenz Gottes, die llnsteri)lichkeit der Seele, die
Freiheit des Willens, seine drei Leitthemata, die ei- im Anschluss
an Kant aufstellt, theoretisch etwas Sicheres nicht ausmachen lasse.
..Sie sind alle bloss »redenkbare, aber nicht erkennbare Dinge"
(R. S. 6-J f. ). Dass die Woltische Schule Gott beweisen wollte, darin
lajr ihr Fehler. Weder der ontologisehe, noch der moralische,
noch der physiko-theologische Beweis ist stringent. wenn wir auch
die Leute, welche solche Wege gangbar finden, in Ruhe lassen
sollen. Über den teleologischen sagt er mit Kant: ,.Anstatt, dass
sich die Welt in uns spiegelt, sollten wir vielmehr sagen, unsere
Vernunft spiegelt sich in der Welt. Wir köimeii nichts anderes,
wir müssen (h'dnung und weise Regierung in der Welt erkennen,
dies folgt aus der Einrichtung unserer Denkkraft. Es ist aber noch
keine Folge, dass etw'as, was wir notwendig denken müssen, auch
wirklich so ist; denn wir haben von der wahren Beschaffenheit der
Aussenwelt keinen Begriff; also daraus allein lässt sich kein Gott
erweisen- (R. 8. 56). „Der Glaube an Gott ist vielmehr Instinkt,
ist dem Menschen natürlich, so wie das Gehen auf zwei Beinen;
modifiziert wird er freilich bei manchem, bei manchem gar erstickt,
aber in der Regel ist er da, und ist zur Innern Wohlgestalt des
Erkenntnisvermögens unentbehrlich" (N.O.A. 1 S. 145). Ohne Herz
kämen wir nicht zu Gott.') Früher füllte für L. der Spinozismus
diese grosse theoretische Lücke. Wie lange aber diese Anschauung
Geltung hatte, könnte man nur mit Sicherheit feststellen, wenn sich
*) R. S. 3.59, 71 f. Vgl. hierzu Fr. H. Jacobi, Über eine Weissagung L.s
(Von den güttl. Dingen und ihrer Offenbarung 1811 S. 1— 40j.
Lichtenberg als Philosoph etc. 91
die chronologischen Wirrnisse des Nachlasses noch einmal lösen
Hessen. Hat er auch noch trotz Kant den Sj)inozisnius für die l'niversal-
Keliirion der Zukunft ^'ehalten VV Mau kann es aus inneren
Gründen nicht annehmen.
Es war damals gewiss auch vorüber, dass ihn die Frage der
Theodicee zu der gnostischen Absurdität trieb, unsere Welt von
einem untergeordneten Demiurgen abzuleiten. Auch l^ehaujjtete er
sich gegen zeitweilige Feuerbachische Anwandlungen') durch die
Forderung sittlicher rHichterliillung.
Der Unster))lichkeit gegenüber führt ihn ein theoretischer
,,Chaniäleonismus'' zu dem Ergebnis: man habe eine vernünftige
Gleichgültigkeit gegen das Künftige zu erringen. ^j Die Paradoxie
systematisiert hat er auf dem Gebiete der Freiheitslehre. Er
schreibt: ..Dass zuweilen eine falsche Hypothese der richtigen vor-
zuziehen sei, sieht man aus der Lehre der Freiheit des Menschen
Der Mensch ist gewiss nicht frei, allein Freiheit ist die bequemste
(sie!) P'orni. sich die Sache zu denken, und wird auch allezeit die
übliche bleiben, da sie sehr den Schein für sich hat." Spinozistischer
Determinisnms und das praktische Bedürfnis kämpfen wider einander.
Ebenso bleibt er kein Feind der Teleologie (K. S. 51).
Damit sind wir schon auf das naturphilosophische Gebiet über-
getreten. Hier ist aber bei dem Physiker gegen Erwarten wenig
zü holen.-^) Hier sympathisiert er mit allen Aufklärungsphilosophen.
Nur das eine springt klar hervor, dass er den Materialismus, und
speziell La Mettrie verwirft.^) ..Materialismus ist die Asymptote der
Psychologie'* (K. S. 47). l'nd doch: ,,Was soll uns in der Welt
das infame Zwei. Seele und träge Materie V Beide sind blosse Ab-
straktionen; wir kennen von der Materie nichts als die Kräfte, mit
denen sie eins ist'".^;
Die Psychologie hingegen ist lür den Selbstbeobachter L.
Spezialgebiet. Nur ist sie ihm mehr eine feine ])sychophysische
Menschenkenntnis und Seelenweisheit als wirkliche wissenschaftliche
Prüfung wie uns heutigen, wenn er gleich tiefsinnige Probleme im
Vorbeigehen aufrührt. Man kann sie also nicht darstellen, sondern
') R. S. 47: „Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, das heisst ver-
mutlich, der Mensch schuf (iott nach dem seinen."
^) N.U.A. I S. 64 f., 79. 105, 286, 292; II S. 91, 193: VII .S. 200.
') Vgl. I. E. Erdmann, Gesch. d. Philos. S. 614.
♦) R. S. 24S, ö\ ; N.U.A. I S. 54.
5j Vgl. N.O.A. S. 150 und Überweg-Heinze IIP S. 1.53.
02 l)r. Arn«» NtMiinanii,
nur zur LrUtiirc uml /imi Mitut'iuissi' cnipfchlcn. Die i:an/.c Zrit
sclnvelirti' ja damals in /.artcstiT Herzenskuiulc.')
NaoluU'ni wir i,. soweit in si'iiicii (Jc(lanis.(Mis])a/.i('r^iiii_<:('n ^x-
Iblfrt sind, t'rüliriut ein lUii-k aut" seine |iraktis('lie rhilositphic, st'ine
Lel)enskunst. Wenn er denkiMul niaiMiifrtaoh selnvankte und scliwehte,
handelnd stand seine Tersen auf testen Füssen. Kin w underliar. Ja
iiiinios(Mdiatt zartes Gewissen war sein Kompass (N.O.A. I S. ISS).^)
Gerade weil wir das (Jan/.e nicht ülx'rsehen, ist es unsere l'flicht,
vernunftireniäss /u hand(dn (1\. S. (>7). Nicht die IMiilosophie. nur
Früchte der IMiilosophie sind vortreftiich, dachte er mit dem Geiste
der Zeit, welche eine sichere nüchterne Moral in den \'orderirrund
jrerückt hatte (N.O.A. I S. 72). „Wenn ich je eine Tredigt drucken
lasse'', vernehmen wir ihn, „so ist es über das \'erm()j:en, Gutes /.u
thun, das jeder besitzt'- (H. S. 87 1. Der Kernsatz aller Sitteidehre
heisst: Der iranze Mensch muss sich vorwärts bewefi-enl Zum
Menschen rechnet er dabei Kopf und Herz, .Mund und Hände
(K. S. 91). \'ollkommen glücklich wird dabei freilich keiner. Aber
gerade dies Bewusstsein macht glücklich. .Jeden Augenblick des
Lebens, er falle aus welcher Hand des Schicksals er wolle uns zu,
zu dem günstigsten, sowie den ungünstigen zum bestmöglichen zu
machen, darin besteht die Meisterkunst im Leben.
Mit dieser euergievollen Seite an L.s Wesen wollen wir unsere
^j Vgl. Meyer S. 63. EinenVersuoh der Zusammenfassung finden wir bei Scliäfer,
Lichtenberg alsPsychologe imd Menschenkenner, S. 34—57. Vgl. neuestens auch bei
Leitzmann S. 4 ff., 37, 74 über „die Naturgeschichte vom menschlichen Herzen".
Zur Charakteristik diene, was L. hier über das menschliche Gesicht ausführt:
„Das Angesicht der Menschen, man mag es mit den Augen des Anatomen, des
Liebhabers, des Psychologen oder des Malers betrachten, ist allzeit ein uner-
schöi)flicher Quell von angenehmen Betrachtungen. Es ist gleichsam das Ge-
wand der Seele, das bald mehr bald minder anpassend ist, aber doch allzeit so
anliegt, dass grosse Schönheiten sowohl als grosse Gebrechen, wo nicht bei
allen Stellungen, doch gewiss bei einigen durchscheinen. Zuweilen, welches
vornehmlich bei dem schönen Geschlecht geschieht, ist es auch nur ein leichter
Flor, der auch einem minder neugierigen Auge wenig verdeckt. Nicht allein
Liebe, Hass, Freude, Traurigkeit und überhaupt alle Leidenschaften haben ihre
besondere Zeichen, die sie in dem Gesicht begleiten, sondern es bezeichnet
auch für etwas geübtere Beobachter Genie und Übereinstimmung der Worte
mit den Gedanken".
2) Wie seine Ehe, die erst spät legitimiert wurde, zu messen ist, zeigen am
besten Grisebach S. 40- 43 und Bobertag S 6 f. So oft er von seiner Frau
;md den gemeinsamen acht Kindern spricht, geschieht es mit Herzlichkeit und
poesievollem Edelsinn.
Lichtenberg als Philosoph etc. 93
Skizze beschliessen. Sit- bleibt eine Skizze. Denn, was g:eboten
wurde, ist nur eine Synopsis einer drängenden Fülle von Gedanken
und philosophischen Ideen, wie sie für L, in dieser Art kaum noch versucht
ist. Mancherlei Betrachtungen geschichts- und rechtsphilosophischen,
pädagogischen und politischen Charakters konnten dabei gar keine
Stelle finden. Wir wollten nur am Tage des Gedächtnisses zu er-
neutem Studium eines so eigenartig bedeutenden Menschen einen Au-
stoss nicht veral)säunien. Wir wollten zeigen, dafs er nicht nur
in die grosse Kammer reizvoller Anti(iuitäten gehört, sondern dass
er auch für die Gegenwart noch zu einer , .Wünschelrute" des Geistes
werden kann.
Subjektive Urteile wurden dabei bewusst auf das Minimum be-
schränkt. 1. weil der so ungebührlich unbekannte Philosoph selbst
reden sollte, und man leicht den Dutt von seinen Worten ver-
wischt, wie von Schmetterlingsflügeln, und 2. weil seine grossen
Grundideen schon in ihren originalen Vertretern ihre geschichtliche
Würdigung gefunden haben. Der quellende Reichtum der Einzel-
gedanken aber verlangt die Separatentscheidung eines jeden Be-
trachters, und darin liegt ja L.s Stärke. Seine Gedanken lösen
eigene Gedanken aus. Er will nicht lehren, was wir denken sollen,
sondern nur, wie wir denken sollen, und damit weiht er — wie er
selbst sagt — ein in die Mysterien der Menschheit (R. S. 46 f).
Seine j\Ieinung ist: ..Philosophie, wenn sie für den Menschen etwas
mehr sein soll, als eine Samndung von Materien zum Disputieren,
kann imr indirekte gelehrt werden (S. 515)*). Hierin trifft er mit
einem ungleich Grösseren zusammen, der seine Hörer nicht Philosophie
lehren wollte, sondern Philosophieren, mit Immanuel Kant.
1) Vgl. Leitzinann S. 53 u. 73. An der letzteren Stelle heisst es mit
sicherer Selbstbeurteiliing: ^Ich habe überall Gedanken-Kürner ausgestreut, die
wenn sie auf einen guten Boden fallen zu Dissertationes aufkeimen und JSyste-
mata tragen können.''
Kants Lehre vom höchsten Gut.
Eine Richtigstellung,
Von A. Döring.
Im Oktober iiiul November IS*);") wurde im Zweigvereiii des
Evangelischen Bundes in Berlin ein Cyklus apologetischer Vorträge
gehalten, die auch nachher in Broschürenform im Drucke erschienen
sind. Zu dieser Serie gehört auch der Vortrag von Kaftan: Das
Christentum und die Philosophie (Leipzig 189(5). Es ist nicht
dieses Ortes und liegt auch nicht in meiner Absicht, die gesamte
Argumentation dieses N'ortrages einer Beurteilung zu unterwerfen.*)
Dagegen scheint mir die Art, wie hier für die Lehre vom höchsten (lut
als Central-Dogma der Philosophie und für die Wesensbestimmong
des höchsten Gates die Autorität Kants in Anspruch genommen wird,
auch heute noch einer Kichtigstellung zu bedürfen, zumal auch von
der neueren Kantforschung die hiermit zusammenhängende, für den
Aufbau des Kantischen Systems so wichtige Gedankenreihe vielfach
unbillig vernachlässigt worden ist.
Wir hören nämlich in diesem Vortrage, die Philosophie sei nach
Aristoteles „die Wissenschaft von den letzten Gründen oder den
ersten Ursachen alles Seienden", nach Kant dagegen die Lehre vom
höchsten Gut (S. 5), mit welcher letzteren Begriffsbestimmung auch
der Vortragende seinerseits sich einverstanden erklärt (S. 15). Es
wird dann ferner (S. 22) behauptet, Plato habe das höchste Gut in
die Erkenntnis, Kant dagegen in „das sittliche Wollen und Handeln"
gesetzt. Mit dieser Fassung habe Kant zuerst den Grundgedanken
der Reformation zu einem philosophischen Prinzip erhoben und ver-
diene darum der Philosoph des Protestantismus zu heissen. Ebenso
heisst es S. 24 f., die „ethisch bedingte Lehre vom höchsten Gute"
sei der eigentliche und letzte Schlüssel des Weltverständnisses, und
die wahre Philosophie, die diesen Weg führe, sei diejenige, die sich
wesentlich in den Bahnen Kants bewege.
1) Die „Kantstudien" haben über den Kaftanschen Vortrag im 1. Band,
S. 284 eingehender berichtet. (Anmerkung der Redaktion.)
Kants Lehre vom höchsten Gut. 95
Es wird also hier Kant für fol^rcnde zwei ^Sätze als Autorität
heranjrezofreu:
1. Die Philosophie ist die Lehre vom höchsten Gute.
•2. Das höchste (iut besteht im sittlichen Wollen und Handeln.
Ich weiss nicht, ob Kaftan an anderer Stelle diese lnterf)retation
Kants eingehender begründet hat. Jedenfalls berührt es befremdlich,
den ingrinnnigsten (regner des Eudämonismus in Jeder Form hier
Sans fa(;on selbst zum Hudämonisten gestempelt zu sehen, und es
darf nicht unwidersprochen bleiben, wenn in einem für das grössere
Publikum bestimmten \'ortrage Kant für einen an sich durchaus be-
rechtigten, aber seiner Denkweise völlig widerstrebenden Gedanken
als Autorität angerufen wird. Ich beabsichtige jedoch nicht, für die
allerdings sehr interessante Frage das etwas weitschichtige Material
in extenso vorzuführen, sondern werde mich auf die allerwesentlichsten
Punkte beschränken.')
I. Kants Lehre von der Aufgabe der Philosophie.
Die centrale Stellung der Lehre vom höchsten Gute in der Philo-
sophie bildet, wie Kant selbst an mehreren nachher anzuführenden
Stellen hervorgehoben hat, das Charakteristikum der antiken Philo-
sophie in der Zeit nach Plato und Aristoteles. Der Übergang dazu
ist schon im Alterssystem Piatos, deutlicher noch bei Aristoteles
zu beobachten. Das volle Bewusstsein dieser Sachlage beherrscht
die nacharistotelischen Systeme, das akademische, peripatetische,
stoische und epikureische.
Über seine eigene Auffassung vom Wesen und der Aufgabe der
Philosophie spricht sich Kant zuerst in der Kr. d. r. V. in der „Archi-
tektonik- aus. Kr unterscheidet hier den Schulbegriff und den
Weltbegriff der Philosophie. Der Schulbegriff bezieht sich ledig-
lich auf die Erkenntnisart. Die empirische oder, wie Kant sagt,
historische Erkenntnisart ist Erkenntnis ex datis, die rationale da-
gegen Erkenntnis ex principiis. Diese zerfällt wieder in die aus der
Konstruktion der Begriffe, die Mathematik, und die aus Begriffen
schlechthin, die Philosophie.
Der Weltbegriff einer Wissenschaft überhaupt ist „derjenige,
der das betrifft, was jedermann notwendig interessiert."' Dies auf
1) Vgl. meine Schrift „Über den Begriff der Philosopliie'' (Dortmund 1878J
S. 36 flF., femer meinen Autsatz in den Preufs. Jahrbüchern „Über Kants Lehre
von Begritf und Aufg.ibe der Philosophie" (Band 06, 1885), sowie endlich auch
meine ,, Philosophische Güterlehre'' (S. 899 tf.i.
i)l> A. Döring,
die riiilosopliu' anirowandt. crjrii'bt die Delinitidii (Icrselbcii als die
Wissfiiscliaft von der Hf/icluin«: aller KrUcnntiiis aul" die wcseut-
lichen Zwecke der meiisehliclien Vernunft." Diese wesentlichen
Zwecke alu-r nüisscn sich l>ci xoHkonniiener systematischer Einheit
der \ i-rnunft wieder auf einen ein/iy-en reduzieren. Ks eiitst(dit der
Unterschied mhu Kudzweek und sul)alternen Zwecken, die sich zu
Jenem als Mittel verhalten, l Iter die Natur des Endzweekes spricht
sich Kant an dieser Stelle nur summarisch aus: Der erstere ist kein
anderer, als die i;:anze Bestimmung des Menschen und die Thilo-
sophie über dieselbe heisst Moral" (Kos. S. 044 ff.).
(xenaueres über das Verhältnis dieser Zwecke erfahren wir im
1. Al)schnitt des ..Kanons'* ..Von dem letzten Zwecke des reinen Ge-
hrauchs unserer \ ernunft" (Kos. (Uö ff.). Hier werden als die letzten
Zwecke der Vernunft bezeichnet Freiheit, Unsterblichkeit und Dasein
Gottes. Das theoretische Interesse an diesen drei Proldemen aber
ist iz-erin^-; ihre eigentliche Bedeutung gewinnen sie erst durch die
praktische Frage. ..was zu thun sei, wenn der Wille frei, wenn
ein Gott und eine künftige Welt ist''. Somit ist ,,die letzte Ab-
sicht der weislich uns versorgenden Natur bei der Einrichtung
unserer Vernunft eigentlich nur aufs Moralische gestellet". „Die
höchsten Zwecke sind die der Moralität" (Kos. 680).
Wir l)emerken hier, wie vorsichtig Kant jeder Beziehung auf
Glückseligkeit aus dem Wege geht. Moralität ist nicht das Mittel zur
wahren Glückseligkeit, sondern „die Bestimmung des Menschen". Dieser
haltlose, nicht weiter geprüfte und analysierte Begrifi" verrät ihn
als Sohn seiner Zeit. Der religiös-sittliche Kigorismus des Pietismus
ist in den rein moralischen Kigorismus des Aufklärungszeitalters
übergegangen. Bemerkenswert ist hierbei, wie Kant, der abgesagte
Feind der Heteronomie. gerade im obersten Begriffe seines Gedanken-
systems der Heteronomie anheimfällt. Er wagt noch nicht den Schritt,
das Individuum autonom sein wahres Wohlsein, seine Befriedigung
suchen zu lassen. Über ihm schwebt gebieterisch seine ..Be-
stimmung."
In der That ist dies aber der oberste Begriff des ganzen
Systems. Die ganze theoretische Philosophie gipfelt in der Frage
nach den drei Ideen, d. h. nach den drei subalternen Zwecken, die
zunächst berufen scheinen, den Endzweck zu stützen. Das Resultat
ist ein negatives. Aber das braucht in Bezug auf die Erreichung
des Endzweckes keine Beunruhigung zu gewähren. Denn einesteils
würde durch den Erweis von Gott und Unsterblichkeit in Wirklich-
Kants Lehre vom höchsten Gut. 97
keit die Bestiinmun-r nicht erreicht; der theoretische Erweis würde
nur zu einer sklavischen, iieteronomen Leg:alität, keineswegs aber zu
wahrer Moralität führen. Freiheit aber wäre zu dieser Leg-alität
nur ..im praktischen Verstände'' (Kos. (>18 f.) erforderlich. Andern-
teils bedarf aber die Erreichung der Bestimmung auch gar keiner
theoretischer Hilfeleistung, da sie in der Thatsache des kategorischen
Imi)erativs in absolut ))efriedigender Weise gewährleistet ist.
Die Erreichung der drei ..wesentlichen" oder ..höchsten" Zwecke
der Vernunft ist also 1. unmöglich, 2. wertlos und :{. für den End-
zweck überflüssig und entbehrlich. Das ist das Kantsche System in
nuce, selbstverständlich in derjenigen apophthegmatischen Fassung,
die ich mir für diese Arbeit überhaupt zum Gesetze gemacht habe.
Dals nun die hier nach der Kr. d. r. V. entwickelte Begriffs-
bestimmung der Philosophie nicht etwa nur ein gelegentlicher Ein-
fall Kants, sondern die seiner ganzen Denkrichtung und seinem Ge-
dankenkreise konforme ist, ergiebt sich aufser dem soeben gelieferten
inneren Nachweise auch noch durch äufsere Zeugnisse. Die ganze
Gedankenreihe der Erkenntnisse ex datis und ex principiis. des
Schulbegritfs und Weltbegrifts. der letzten Zwecke und des Endzwecks
der Vernunft findet sich wiederholt in der 1800 nach Kants Vorlesungs-
notizen von Jäsche herausgegebenen Logik (Abschnitt lU der Ein-
leitung), sowie in etwas kürzerer Formulierung in den ..Fortschritten
der Metaphysik" (Kos. 1. S. 488 ff.). Ich begnüge mich der Kürze
halber hier damit, auf diese Stellen hinzuweisen. Eine deutliche
Anspielung auf diese Begriffsbestimmung der Philosophie findet sich
endlich auch noch in der letzten der von Kant selbst herausgegebenen
Schriften, dem ,.Streit der Fakultäten" (1798). Hier heisst es
(Kos. X, 3()8j, die Philosophie habe ihr Interesse am Ganzen des
Endzweckes der Vernunft, der eine absolute Einheit sei.
Die eigentliche Meinung Kants von der Aufgabe der Philo-
sophie hängt also nicht an dem (in Wirklichkeit den Menschen zur
Autonomie erhel)enden) Begriffe des höchsten Gutes, sondern an dem
(heteronomen) Begriffe der „Bestimmung des Menschen".
II. Kants Lehre vom höchsten Gute.
In der Kr. d. pr. V. verfolgt Kant zunächst das Interesse, das
praktische Gesetz als ein von jeder sonstigen Beziehung abgelöstes,
ausschlietslich aus reiner Vernunft geltendes (d. h. thatsächlich als
ein Gesetz der praktischen Widerspruchstreiheit) zu formulieren. In
diesem Zusammenhange finden sich (Kos. 185 ff.) folgende Aus-
Kaat.stndicu IV '
98 '^ Döring,
iühruiiiren. Alle „Vcrirrunirt'n der riiilosophen in Aiisehiin;: des
obersten Prinzips der Moral" haben darin ihren (Jrund, dass sie,
statt /.uerst nach eini'in a priori ilen Wilh-n bestinnnenden (Jesetzo
zu forschen, finen Geirenstand des Willens als Hestinininn^^sjrrnnd
desselben anfsuchten. Dadurch entsteht Ileterononiie, nia;; dieser den
Willen bestimmende Gej^enstand als (ilUckselifrlvcit, als Vollkommen-
heit, als moralisches Gesetz (hier ist wohl das Huteheso nsche Wohl-
tretallen am moralischen Verhalten «femeint, s. die Tafel der materialen
praktischenBestimmungs>rründeKo,s. 154) oder als Wille Gottes bestimmt
werden. „Die Alten verrieten indessen diesen Fehler dadurch unverholen,
dass sie ihre moralische Untersuchung!: gänzlich auf die Bestimmung des
Begriffes vom höchsten Gut, mithin eines Gegenstandes setzten,
welchen sie nachher zum Bestimmungsgrunde des Willens im
moralischen Gesetze zu macheu gedachten . . . Die Neueren, bei denen
die Frage über das höchste Gut ausser Gebrauch gekommen, zum
wenigsten nur Nebensache geworden zu sein scheint, verstecken
obigen Fehler (wie in vielen anderen Fähen) hinter unbestimmten
Worten-, während doch auch bei ihnen ein a priori gebietendes
moralisches Gesetz nicht zustande kommt.
Hier haben wir die echte unverfälschte Ansicht Kants vom
höchsten Gut. Sie begründet in seinem Sinne Heterouomie des
Sittengesetzes, wenn gleich, wie wir gesehen haben, thatsächlich
Autonomie des Menschen.
Eine wesentlich veränderte Stellung zur Frage tritt jedoch in
der praktischen Kritik da ein, wo das Interesse in den Vordergrund
tritt, aus dem praktischen Gesetze die Postulate abzuleiten. In diesem
Interesse erklärt Kant jetzt (Ros. S. 243 f.), die reine praktische
Vernunft suche die Totalität ihres Gegenstandes unter dem Namen
des höchsten Gutes, und findet, dals die wissenschaftliche Bestimmung
dieser Idee (des höchsten Gutes) als Maxime unseres vernünftigen
Verhaltens das Wesen der Philosophie ausmache, in der Be-
deutung, wie die Alten das Wort verstanden, nämlich als An-
weisung zur richtigen Erfassung des Begriffs des höchsten Gutes
und zum richtigen Verhalten behufs seiner Erwerbung. ,,Es wäre
gut, wenn wir dieses Wort (Philosophie) bei seiner alten Be-
deutung Hessen, als eine Lehre vom höchsten Gut, sofern die
Vernunft bestrebt ist, es darin zur Wissenschaft zu bringen.'" Er
geht sodann dazu über (Ros. 245 f.), in der bekannten Weise den
Begrifi des höchsten Gutes zu bestimmen: Tugend als Glückseligkeits-
würdigkeit ist das oberste Gut, wie „in der Analytik bewiesen
Kants Lehre vom höchsten Gut. 99
worden- sei (diesen Beweis hat er in der Analytik nicht jreführt,
konnte ihn auch gar nicht führen wollen, da er der jranzen Denk-
richtong der Analytik schnurstracks zuwiderläuft), ferner Glückselig-
keit als Ergänzung der Würdigkeit zur Totalität. Bekanntlich ent-
springt aus dieser Wendung der (redanken das Gottespostulat.
Dieser sell)e Gedankengang findet sich aber auch schon, zwar in
minder entwickelter Fassung, aber doch auch wieder mit einigen
eiirentünilichen Züiren, in der Kr. d. r. V. im Abschnitte „Kanon". Hier
wird (Kos. &24) die Gottheit als eine solche Intelligenz, in der „der
moralisch vollkommene Wille mit der höchsten Seligkeit verbunden"
ist, das Ideal des höchsten Gutes, d. h. offenbar die ideale \'erwirk-
lichung desselben genannt, und in diesem Ideal des höchsten ur-
sprünglichen Gutes zugleich der Grund der „Verknüpfung der
beiden Elemente des höchsten abgeleiteten" (d. h. dem end-
lichen Vernunftwesen zugänglichen) Gutes postuliert.
Kant ist nicht der [Meinung, in den beiden angeführten Stellen der
praktischen Kritik Widersprechendes aufgestellt zu haben. Er hat bei der
Abfassung der ersten den zweiten Gedanken schon im Auge gehabt. Er
bemerkt nämlich an ersterer Stelle, dass später, .,wenn das moralische
Gesetz allererst für sich bewährt und als unmittelbarer Bestimmungsgrund
des Willens gerechtfertigt* • sei, die Vorstellung eines Gegenstandes
des Willens ihre Stelle finden werde. Dennoch ist dieser Widerspruch
thatsächlich vorhanden, was schon darin seinen Ausdruck findet, dass
er an ersterer Stelle die Voranstellung des höchsten Gutes als funda-
mentalen Fehler l)randmarkt, an letzterer aber die Begriffsbestimmung
sogar der gesamten Philosophie als Lehre vom höchsten Gut acceptiert.
Die Sache liegt also nach den bisherigen Feststellungen so,
dass zunächst der erste der beiden oben formulierten Kaftanschen Sätze
(Philosophie = Lehre vom höchsten Gut) mit einem Seheine des Hechts auf
Grund einer einzigen Stelle Kant zugeschrieben werden kann, dass
aber diese Stelle sowohl mit seiner eigentlichen, unter I entwickelten
Lehre über das Wesen der Philosophie, als auch mit seiner unter II
vorangestellten Lehre von der Begründung der Ethik in Widerspruch
steht, l'nd was sodann den zweiten der Kattanschen Sätze (das
höchste (iut besteht nach Kant im sittlichen Wollen und Handeln)
betrit!'t. so wird dieser auch nicht einmal durch diese einzige Stelle
gewährleistet. Denn nach ihr ist die Tugend als Glückseligkeits-
würdigkeit zwar das oberste Gut, aber noch keineswegs der Gesamt-
inbegriff des höchsten Gutes.
Es giebt nun allerdings zwei Stellen, an denen Kant eine der
7*
100 A. Dörinfi:,
Kaftansohon Interpretation irünstiice HefrritVssynthese zwischen seiner
Lehri' vom End/.\veek und vom höehsten (iute voll/ielit. Die eine
stellt in den „Kortsehritteu der iMetaphysik'' (Kos. 1, 532). Nach
dieser Stelle ist der Endzweck der reinen praktischen Ver-
nunft das höchste Gut. bestehend in der Tu^anid als höchstem
Erfordernis und Hediniiunii-, und der hinzutretenden (rliickseliijkeit.
Die zwi'ite StelK- vollzieht die Synthese zwischen Endzweck und
höchstem Gute ausdrücklich nur in der Überschrift des in Hctracht
kommenden Abschnitts. Der zweite Abschnitt des Kanons der reinen
Vernunft (Kr. d. r. W Kos., S. 620) ist nämlich überschrieben:
..Von dem Ideal des höchsten Guts als einem Bestinimun^s-
irrunde des letzten Zwecks der reinen Vernunft." Was Kant
unter dem Ideal der reinen Vernunft versteht, haben wir schon oben
gesehen. El)enso ist dort auch schon der Grundgedanke dieses Ab-
schnittes angedeutet worden, darin bestehend, dass die Gottheit als
Ideal des höchsten Gutes zugleich als der Grund der N'erknüjjfung
der Würdigkeit und Glückseliu-keit bei den endlichen Vernuuftwesen,
also der Kealisierung des abgeleiteten höchsten Gutes postuliert werden
muss. Was in dieser Überschrift neu und eigentUndich ist, ist nur
die Synthese dieses Verknüpfungsgedankens mit der Lehre vom
Endzwecke der Vernunft. Gott als das Prinzip dieser Verknüj)fung
soll damit zugleich den ..Bestimmungsgrund*' des Endzweckes, d. h.
doch wohl den Bestimmungsgrund für die \'erfolgung desselben als
Endzweckes abgeben.
Beide Stellen kommen also darin überein, den Endzweck, näm-
lich die Erfüllung der moralischen Bestimmung, in einen engen Zu-
sammenhang mit der Realisierung des höchsten Gutes zu setzen,
d. h. thatsächlich den Endzweck seiner absoluten Würde zu entkleiden
und von Glückseligkeitsfolgen abhängig zu machen. Die erste Stelle
identifiziert den Endzweck geradezu mit dem höchsten Gute, verfällt
also uneingeschränkt in den in der praktischen Analytik gerügten
Fehler der antiken Philosophie. Die zweite Stelle erklärt wenigstens
die Überzeugung vom Dasein der Gottheit für den Bestimmungsgrund
zur Verfolgung des Endzweckes und tritt damit wenigstens in Wider-
spruch zu der Lehre vom kategorischen Imperativ als der unbedingt
sicheren Gewähr für die Möglichkeit, die moralische Bestimmung zu
erfüllen.
Ich kann in diesen beiden Stellen nur einen Beweis für die
auch sonst bekannte Eigentümlichkeit Kants erblicken, teils scharf
gezogene Begriflfslinien nachträglich in einer gewissen Unachtsamkeit
Kants Lehre vom höchsten Gut. 101
wieder zu verwischen, teils die gewonnenen scharfen Hesnltate seines
Denkens nachträglich in einer gewissen Furchtsamkeit wieder abzu-
schwächen und den hergebrachten anzunähern, keineswegs aber kann
ich darin verwertbare Zeugnisse für den eigentlichen Sinn seiner
Lehre sehen. Wir müssen, um den eigentlichen Kant zu finden,
überall mit den beiden eben gekennzeichneten Eigentümlichkeiten
seiner Darstellungsweise rechnen.
Schliesslich sei noch darauf aufmerksam gemacht, dass der von
Kaftan unberechtigter Weise Kant beigelegte Standpunkt im wesent-
lichen der von mir in meiner „Philosophischen Güterlehre"
(Berlin 1888) vertretene ist. Ich vertrete in dieser Schrift einesteils
den Satz, dass die Philosophie ihrem Wesen nach Güterlehre = Lehre
vom höchsten Gute ist, andernteils zwar nicht den Satz, dass das
höchste Gut unmittelbar im sittlichen Wollen und Handeln selbst be-
steht, wohl aber den Satz, dass die auf wahrem, nur durch sittliches
Wollen und Handeln zu erwerbendem Eigenwert beruhende berechtigte
Selbstschätzung das höchste Gut ist.
Das Kantbild des Fürsten von Pless.
Mit Abbildung.
Von Ür. P. V. Lind.
Wie ich schon iui 111. Bd. der ,,Kautstudien" S. 255 in meiner
Notiz über das leider noch nicht wieder aufgefundene Kantbild der
Elisabeth v. Stägeniann vorläufig mitgeteilt habe, ist es mir ge-
lungen, ein anderes bisher i2:änzlich unbekanntes Kantbild wirklich
ausfindig zu macheu.') Dasselbe ist im Besitz Sr. Durchlaucht des
Fürsten von Pless auf Schloss FUrstenstein im Fürstentum
Pless. Provinz Schlesien.
Das Bild findet sich in dem ersten Band der sog. Sencwaldt'schen
Sammlung, so benannt nach dem Künstler Fr. Wilh. Senewaldt,
von welchem die Fürstl. Majoratsbibliothek noch einen zweiten Band
mit schönen Aquarell-Landschaften aus Preussen und Osterreich be-
sitzt, unter welchen eine grosse Anzahl die Unterschrift: Fr. Wilh.
Senewaldt führt. Diese Zeichnungen stammen, wie aus den bei-
gefügten Jahreszahlen hervorgeht, aus der Zeit ron 1784—1800.
^) Ich möchte aUen denen, welche mich bei meinen mühevollen Forschungen
durch Mitteilungen unterstützten, für diese gütigen brieflichen wertvollen und
und zum Teil umfangreichen Mitteilungen meinen herzlichen Dank an
dieser Stelle aussprechen und zwar, nächst Fräulein von 01fers,Sr. Durch-
laucht dem Fürsten von Pless, sowohl für seine liebenswürdigen
eigenhändigen Mitteilungen, als auch für die gütige Überlassung einer
vorzüglichen Photographie des Originals nebst der Grenehmigung der Re-
produktion derselben in dieser Zeitschrift. Demnächst habe ich Herrn
J. Endemann, Bibliothekar der Fürstlich von Plessschen Majoratsbibliothek
zu Fürstenstein, ftir die gütigen eingehenden Mitteilungen zu danken. Mein
freundUchster Dank sei femer ausgesprochen: Sr. Excellenz dem Wirkl. Ge-
heimen Rath und Direktor des Auswärtigen Amts Herrn Reich ar dt, Herrn
Prof. Dr. H. Vaihinger, Herrn Prof. Dr. F. Muncker, Herrn Grafen H. von
Wartenburg, Herrn Prof. Dr. E. Rüdorff, Herrn Prof. Dr. S. von Raumer
Herrn Dr. M. Kronenberg, Frau Prof. Dr. Säbel, Frau Pfarrer A. Brügel
und Fräul. C. Waagen.
Das Kantbild des Fürsten von Pless. 103
Der erste Band, in welchem das Kantbild sich befindet, enthält geg:en
4U0 ausserordentlich wertvolle Portraits. alle aus einer Hand her-
vorgegangen und ausschliesslich Aquarellbilder von bekannten und
unbekannten Persönlichkeiten aus Preussen. Die Bilder der Sene-
waldtschen Sammlung des ersten Bands sind, da das Album seiner
Zeit aus des Künstlers Kachlass gekauft wurde, wahrscheinlich seine
Originalaufnahmen, auf Papier in Wasserfarben, nach welchen
der Künstler wohl später die eigentlichen verkauften Bilder aut
Pergament oder Elfenl)ein gemalt hat. ,.Man möchte zu der An-
nahme kommen", schreibt Herr Bibliothekar Endemann, „dass
Fr. Wilhelm Senewaldt Reisebegleiter eines Grafen Hochberg ge-
wesen ist. und für diesen die Landschaften gemalt hat, lauter Land-
schaften aus Preussen und Österreich.-' Über den Künstler äussert
sich G. K. N agier. Neues allgemeines KUnstlerlexikon, München
1885—52, Bd. XVI, S. 270: „Senewaldt, F. W., Bildnismaler,
arbeitete in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Berlin. Er
malte viele Portraite hoher Personen, sowohl in Öl. als in Miniatur.
Blühte um 1785."
Über das Äussere des Bildes ist folgendes zu sagen: es ist
ein Sepia -Miniaturbild und zeigt bei einer Höhe von 133 mm und
einer Breite von 98 mm Ovalform. Es stellt Kant im Profil, nach
links gewendet, vor, und ist Brustbild. Unterhalb des vierten Knopf-
loches befindet sich eine sehr kleine schwarze Inschrift, kaum zu
lesen, welche ,.25. Octobr. 1786" lautet.') Die Jahreszahl ist ganz
deutlich, etwas undeutlich nur das Datum; mit Hilfe eines Ver-
grösserungsglases indessen und des Sonnenlichtes ergiebt sich klar
„25. Octobr." Die Unterschrift des Bildes lautet: „Professor Kant
in Königsberg" 2). halb lateinische und halb deutsche Buchstaben.
Dicht daneben steht die Zahl 137, die frühere Bildernummer, rechts
davon die jetzige Bildernummer 134. Kant selbst trägt eine Perrücke,
welche im Nacken mit einer schwarzen Schleife al)schliesst und über
dem linken Ohr fünf gekräuselte Locken zeigt. Eine Brustkrause
und Kock mit Stehkragen, von welchem fünf Knopflöcher sichtbar
1) Diese Schriftzeicben sind noch auf der Photographie, wenn auch schon
sehr schwer zu erkeimen, sind aber aut unserer Keproduktion nicht mehr zu
sehen.
2) Nach der von Herrn Bibliothekar Endemann in dankenswerter Weise
unternommenen Vergleichung der Untersclirirten unter den einzelnen Bildern
jener Sammlung ist es nicht unmöglich, dass Kant selbst diese Worte ge-
schrieben hat.
104 I»r. r. V. Lind,
sind, vervollständifren das Hal)it, wclchrs der daniali^'cn Mode ent-
spricht.
Was nun den Ausdruck des Gesichtes lictrifTt, so verrät die
künstlerische Darstcllunj: hohe ^'o^('ndun}r, welche in so aus-
ü:espr(H'hen charakteristischem Material, wie Sepia es ist, ausser-
ordentlich anziehend im Oriainal wirken muss. Der durchj,^('istifrte
warme (resichtsausdruck ladet zu immer erneuter Hetrachtun«;- ein:
Kant blickt nach links im völliijen Profil, und zwar i^erade aus.
Helles Licht strömt seinem Au^^e ent^^egeu, welches klar und
leuchtend in heiterer Freiheit emporsehaut, Jachmanns Schilderun}?
bestätiijend:
..Aber wo nehme ich Worte her, Ihnen sein Auge zu schildern!
..Kants Auge war wie vom himmlischen Äther gebildet, aus
„welchem der tiefe Geistesblick, dessen Feuerstrahl durch ein
„leichtes Gewölk etwas gedämpft wurde, sichtbar hervorleuchtete.
„Es ist unmöglich, den bezaubernden Anblick und mein Gefühl
„dabei zu beschreiben, wenn Kant mir gegenüber sass, seine
„Augen nach unten gerichtet hatte, sie dann plötzlich in die
„Höhe hob und mich ansah. ^lir war es dann immer, als wenn
„ich durch dieses blaue ätherische Feuer in Minervens inneres
„Heiligtum blickte.*'^)
Die Gesichtszüge belebt tiefe Güte und herzliches Wohlwollen.
Ein feiner Zug von Humor schwebt über dem mehr charakteristischen
als schönen Mund und über seiner kritischen Unterlippe. Das
Ganze verrät den Geist eines ausserordentlichen Mannes. Die über-
aus zarte Gesichtshaut, welcher man die frische Gesichtsfarbe ansieht
und die gesunde Röte seiner Wangen,^) zeigt zahlreiche feine
Charakterfalten. Trotz der vorgerückten Jahre — Kant ist auf dem
Bild 62 Jahre alt — sieht er durchaus nicht alt aus: Frische und
Elastizität, heitere Freiheit strömen uns aus dem Bilde entgegen und
stempeln es in Verbindung mit der überaus feinen durchgeistigten
Darstellung ohne Zweifel zu einem der besten Porträts Kants.
Zu den besten Bildern Kants zählten bis jetzt: Die Hageniannsche
Büste und das Döblersche Bild. Aber von der berühmten
Hagemannschen Marmorbüste, diesem zweifellosen Kunstwerk ersten
Ranges, hat das Senewaldtsche Bild den grossen Vorzug, Kant
thatsächlich in seiner höchsten geistigen Blüte darzustellen und um
^) Jachmann, Biographie Kants S. 155/166.
*) Siehe ebendaselbst.
Das Kantbild des Fürsten von Pless. 105
1(5 volle Jahre jiiii<:cr als auf der Büste. Das beste Ölbild ist das
Kantporträt von Du b 1er aus dem Jahre 1791 und die Koi)ie hier-
nach von Stobbe. Wenn nun auch die Ähnlichkeit jenes, 1791
gemalten Hildes von Dübler vortrefflich und seine Künstler-
schaft sehr bedeutend ist, so hat das Senewaldtsche Kant-
bildnis nicht nur den \orzu^, ö Jahre früher zu lallen, sondern
vor allem den Vorteil, Kant in heiterer Gemütsstimmung darzu-
stellen, welche eigentlich dem Wesen Kants und seinem Temperamente
entsprach, später allerdings in der schweren Zeit der Censurwidrig-
keiten beeinträchtigt wurde. Das Düblersche Bild zeigt Kant alt,
fast ganz alt, das strahlende Auge ist trüb geworden, der Blick hat
etwas Melancholisches, der Grundcharakter des ganzen Bildes ist
ernst, schwertallig, düster, wenn auch nicht in Abrede gestellt werden
kann, dass es in seiner ausserordentlichen Künstlerschaft kaum zu
erreichen ist.M Das Jahr 1791 kann man doch auch nicht als den
Zeitpunkt von „Kants höchster geistiger Blüte" bezeichnen, wie
.Schubert thut. (Vgl. Abteilung 2, S. 206 seiner Kantbiographie.)
Kants höchste geistige Blüte fällt 10 Jahre früher, 17S1, das
Geburtsjahr der Vernunftkritik und dauert etwa bis 1787/88. Im
Besitz seiner körperlichen Blüte war Kant 1791 ebenso wenig
mehr. Dies zeigt uns das Döblersche Bild klar: Düsterer Ahnungen
voll scheint Kant in die Zukunft zu blicken.
Ganz anders ist das Senewaldtsche Bild. Heiter ist sein Grund-
charakter. Nirgends eine Trübung. Feiner Humor, liebenswürdige
1) Einem kunstkritisch geübten Auge kann es nicht entgehen, dass dieser
düstere Zug des Döblerschen Originals, der sich sogar zu Trotz und Miss-
trauen der Gesichtszüge Kants erhebt, von Stobbe vermieden wurde, wie die
Stiche nach Döbler und Stobbe klar zeigen. Der Stich nach Döbler von
J. L. Raab (Verlag Breitkopf & Härtel, Leipzig) verrät einen düsteren, miss-
trauischen, ja fast trotzigen Blick Kants, während der Stich nach Stobbe, ge-
stochen von Preise! & Geyer (Verlag Leopold Voss, Leii»zig. jetzt Hamburg)
nur den düsteren Zug Kants antweist, winn auch nicht ohne Wärme. Stobbe
ist also bedeutsam von Döbler, vom Original abgewichen. Das Döblersche
Bild ist in seiner Art unübertrefflich: Mit elementarer Gewalt packt
uns hier Kants geistige Grösse. Der Geist scheint hier auch den Körper ge-
adelt zu haben. Auch dieser grosse Zug fehlt bei Stobbe: bei den Stichen
nach Stobbe fehlen leider auch der für den richtigen Ausdruck des Ganzen
unentbehrliche untere Teil des Oberkörpers und die schönen Hände Kants, ein
uneinbringlicher Fehler Stobbes. Das Döblersche Original sah ich zwar nicht,
wohl aber eine ganz vortreffliche Phototypie nach dem Original, welches das
bekannte „Allgemeine historische Porträtwerk" enthält, von Dr. von Seydlitz
und I»r. H. Lier herau.sgegeben ; Serie X (Verlag Bruckuiann, München 1888).
l{){) l»r. r. \ l.iiid. Das K.intbiltl di'S Fürsten von Ploss.
Güte iiiul die schlichte Kint'alt eines edlen Iler/ens treten uns hier
entjreiren. und wir meinen, den Kant von 17()-4 v(»r uns /.u sehen,
von ileni Herder in den ..Uriefen zur Heforderuu}; der Humanität''
.sehreiht:
..Kr. in seinen blühendsten Jahren, hatte die fröhliche Munter-
„keit eines .liinjrlinirs, die, wie ich irlauhe, ihn auch in sein
„greisestes Alter beirleiten wird. Si'ine otVene, zum Denken
,.gehaute Stirn war ein Sitz unzerstörliarer Heiterkeit und Freude.
„Die g:edankenreiehste Rede Hess von seinen Li])pen: Scherz,
..Witz. I^aune standen ihm zu Gebote und sein lehrender \ ortrag
..war der unterhaltendste Umi::ang:."
In Summa: Das Senewaldtsche Kantbild zei^t Kant zwar in
nicht jungen .Jahren, aber ohne jegliche Ältlichkeit, in freier heiterer
Stinnnunir und von so überaus geistvoller und feiner Künstlerhand,
dass man bei kritischer und kunstkritischer Prüfung zu dem Resultate
irelanirt: Von allen Kantbildern ist das Senewaldtsche
neben der Darstellung von Döbler und Hagemann das
beste Bild.') Übertroffen werden kann es kaum, erreicht werden
indessen zuversichtlich, und zwar durch das v. Stägemannsche Kant-
portrait. Die Ausserordentlichkeit jener Frau, einer der edelsten
Frauengestalten ihrer Zeit, wie sie in der ..Allgemeinen deutschen
Biographie" mit Recht genannt wird, und wie sie aus ihren eigenen
Schriften uns entgegentritt in Verbindung mit ihrer hohen künst-
lerischen Beg-abuno:. welche von der höchsten Geburts- und Geistes-
aristokratie ihrer A'aterstadt Königsberg und von dem kritischen
Kant so überaus geschätzt wurde, verspricht hier zweifellos einen
ebenso kostbaren Schatz, wie den schon gehobenen. Vielleicht führen
die von mir in den „Kantstudien" HI, S. 255—256 gegebenen Notizen
dazu, dass auch dies Kantportrait noch wiederaufgefunden wird, wenn
alle Freunde des grossen Philosophen ihre Anstrengungen
dazu vereinigen.
1) Als Herr Dr. v. Lind, welcher leider unterdessen schwer erkrankt ist,
dies schrieb, war ihm das Dresdener Kantbild noch nicht bekannt, von dem wir
im Oktoberheft des dritten Bandes eine gehmgene Reproduktion brachten, und
das nun wohl allgemein ebenfalls als eines der bedeutendsten Ölbilder Kants
angesehen wird. Anmerkung der Redaktion.
Rezensionen.
Stock. Otto, Dr.. Privatdozeut an der Universität Greifswald, Lebens-
zweck und Lebensauffassung. Greifswald. Jul. Abel, 1897. (IV und
177 S.)
Ausgehend von Kants kopernikanischer That verfolgt der Verf. das
klar erkannte Ziel, ^.Objektivität auf sittlichem Gebiete vom Boden der
Subjektivität aus zu erreichen." „Das allgemeinste Etwas, das die Objekte
der ethischen Untersuchung charakterisiert", sei „die sittliche L^nterscheidung,
d. i. die Höher- oder Minderwertung menschlichen Handelns und WoUens".
, Dabei ist das "Wertvolle für Stock identisch, zwar nicht mit der Lust, aber
mit dem Lustbriugenden. Das "Werturteil ist „lediglich die Aussage, dass
wir Lust oder Unlust an etwas haben". Auch das Gute wird mit dem
Lustbringenden, das Schlechte mit dem Unlustbringenden identifiziert. Die
wichtige Parallele zwischen dem Dingbegriff und dem "Wertbegriff, die
neuerdings Cornelius eingehend behandelt und gleichzeitig auch der Ref.
hers'orgehoben hat, wird folgendermassen angedeutet: „Ebenso wie das
Ding nichts i.st abgesehen von seinem "Wahrgenommenwerden oder "Wahr-
nehmbarsein, so ist der "Wert nichts, abgesehen vom Gefühltwerden oder
Fühlbarsein." Freilich, wie das "Wahrgenommensein nicht identisch ist mit
dem Wahrnehmbarsein, so besteht zwischen dem Gefühltwerden und dem
Fühlbarsein noch ein Unterschied, den Stock durchgängig ignoriert. — Die
Ausführungen über den „Gegenstand der sittlichen Wertschätzung wenden
sich zunächst gegen die Auffassung der Ethik als Tugendlehre, und hier
besonders gegen Kants Grundanschauung, wonach der Charakter oder die
Gesinnung, d. h. eine „dauernde Art zu wollen", das eigentliche Objekt
der moralischen Beurteilung ist. „Das sittliche WoUen des Verbrechers,
der sich kurz vor seinem Tode bessert, kann Gegenstand einer sittlichen
Billigung sein, ohne dass doch von einer dauernden sittlichen Beschaffen-
heit des Wollenden die Rede sein könnte." Kant geht an der vom Verf.
citierten Stelle der Relig. innerh. d. Gr. d. bl. V. sicherlich zu weit, wenn
er behauptet, das Leben überhaupt, als „Ganzes", einschliesslich des ver-
gangenen, sei jederzeit Gegenstand der moralischen Beurteilung. Für sie
kommt immer nur die gegenwärtige Struktur des Charakters in Betracht,
die freilich durch die Nachwirkung früherer Erlebnisse stets wesentlich
be.stimmt ist. Aber jenes Beispiel beweist nichts gegen ihn; denn im
allgemeinen redet er — mit guten Gründen — von einem sittlichen Wollen
nur da, wo das einzelne Wollen auf eine (relativ) dauernde Art zu wollen.
los Kczensiom'n.
d. h. ;nif den poircnwürtifion Charakter sclilicsson lässt. Wir h.iltni wcpon
t'ines i'in/flnon Willcnsaktcs als soIcIhmi den Verhrechcr noch nicht für
fjebessert. Auf die p;an/e Sununc dessen, was zu wulhn er /iir Zeit dis-
poniert ist. kdiiinit es an. Kin aktuell be{::;ehrter Kin/elzweck kann ohne
Rücksicht auf die dispositionelle l'ersönlichkeit niemals sittlich beurteilt
werden. Dies ist doch wohl der wissenschaftlich wertvolle, tiefere Kern
des Kantisehen Foriualisnuis, den Stock ^ele}.:;entlich hekiinipft. Kr hält
für das Objekt der sittlichen Wertschät/.unjjj das Gewollte oder den kon-
kreten Zweck. Vim der Kthik als iler Wissenschaft vom objektiv Sitt-
lichen fordert er im .\nschluss an Schuppe den Nachweis eines not-
wendip,en Zweckes, wie ihn aucli Kants katefi;onscher Imperativ (in der
zweiten Formulierung sogar exi)licite) voraussetze. Mit Berufung auf eine
Stelle in Kants „Versuch d. neg. (Irössen in <!. W'i'ltweish. einziif." wird
von jenem Zweck gefordert, er müsse „im Bewusstsein des unsittlich
Wollenden wie in dem des sittlich Wollenden entlialten sein". Alit ihm
wäre zugleich „das Gesetz der sittlichen ünter.scheid)ing gefunden". Etwas,
das notwendig als gut oder lustbringend vorgestellt wird, wird notwendig
gewollt; aber über diese rein psychologische Notwendigkeit hinaus soll dem
gesuchten Zweck .begriffliche Notwendigkeit" zukommen. Der notwendige
oder „logische" Zweck brauche „als solcher nicht immer wirklich" zu sein;
er sei aber „in jedem einzelnen Willensinhalt mitgesetzt". Sein „Enthalten-
sein im Bewusstsein" bestehe in einem Haben- und Wiederhabenkönnen.
— Hier wie an vielen anderen Stellen wäre eine klare psychologische
Unterscheidung zwischen aktuellen und dispositionellen Willensthatsachen
nötig gewesen. — Schliesslich wird an der Hand biologischer Analogien
und psychologischer Konstruktionen das Leben, d. h. die eigene Existenz,
als der notwendige und einheitliche Zweck proklamiert. Der naheliegende
Einwand des freiwilligen Todes wird mit grosser dialektischer Scheinbar-
keit bekämpft, — für den genau Zuschauenden jedoch nicht widerlegt.
Die ganze Argumentation beruht auf dem mehrdeutigen Satze: „Die
Existenz des Individuums ist der Einheitspunkt aller Werte und Zwecke";
— zur Zeit des Wertens und Zw^ecksetzens unbedingt; aber nicht not-
wendig für die Zeit der Realisierung der Zw-ecke (Nachruhm und dergl.).
Winkelried habe das Leben „nur als Mittel zum ZM-eck", „nur bedingt"
verneint; — genug, er hat es verneint. Wo das Leben „zur Erreichung
der für wertvoll gehaltenen Zwecke für untauglich angesehen" und „darum
weggeworfen" werde, da werde es doch zugleich „als einheitlicher Zweck,
insofern es einziges Mittel für jene höheren Zwecke ist, durchaus anerkannt".
Aber für Winkelried war nicht das Leben, sondern der Tod das Mittel für
einen höheren Zweck. Und der Entschluss, zu sterben, bedeutete für ihn
keineswegs „den Verzicht auf den Zweck". Das Leben ist nicht not-
wendig, sondern nur unter gewissen günstigen Bedingungen einheitlicher
Zweck.
Aus dem notwendigen Zweck soU sich „als logische Konsequenz"
ein (von Kant nur angedeuteter) „überindividueller, höchster und absoluter
Zweck" ergeben. Der Begriff des Überindividuellen bleibt, auch w^enn
man die für den Verfasser massgebende Erkenntnistheorie Schuppes zu
Rate zieht, einigermassen unklar. Der überindividuelle Zweck soll „unser
Rezensionen. l(jy
Willensinhalt- und doch „von unserm Kühlen und Wollen ganz unabhängig"
sein; er wird bezeichnet als „über unsem eigenen Willen hinausweisend,
über unser individuelles Ich hinausragend — oder auch, wenn man will, in
dieses irgendwie hineinragend". Solche halb poetischen Wendungen können,
noch so oft wiederholt, wissenschaftlich ebensowenig befriedigen, wie der
schliessliche Hinweis auf eine theologische „Erklärung" des Sittengesetzes.
Der Wille zuna Leben richte sich im Grunde auf das Bewusstsein, und
zwar nicht auf das Abstraktum der „gegenwärtigen Bewusstseins-
bestimmtheif, sondern auf bewusstes Weiterleben oder p.sychisches Wachs-
tum, auf „das individuelle Bewusstsein als zeitlich sich entwickelndes."
Wachstum des Bewusstseins aber ist nach Stock „Zusammenfassung ver-
schiedener BewTisstseinsinhalte zur Einheit", und beides ist für ihn identisch
mit „Erkennen". „Unser Wille zum Leben ist also seinem Wesen nach
Wille zur Erkenntnis." „Das Wissen des Seienden im allgemeinen" ist
der absolute Zweck. — Es ist unmöglich, die scharfsinnigen Deduktionen
des Verfassers hier ins Einzelne zu verfolgen. Sein mit grosser logischer
Energie durchgeführter Intellektualismus stützt sich auf eine ungewöhnlich
weite Fassung der Begriffe Wissen und Erkennen: er bezeichnet damit
jede .synthetische Zusammenfassung einer psychischen Mannigfaltigkeit
und schliesslich jede (namentlich die altruistische) Überwindung der
„individuelU-n Enge und Beschränktheit", wobei diese vielfach mit indi^^-
dueller „Besonderheit" verwechselt wird. Überall liegt Rehmkes schema-
tische Einteilung des psychischen Geschehens in gegenständliches
(Empfinden und Denken), zuständliches (Fühlen) und ursächliches
Bewusstsein (Wollen) zu Grunde. Ki-itiklos geht Stock immer wieder
von den Rehmkeschen Konstruktionen aus: weder das zuständliche
Bewusstsein. welches „nur als Lust und Unlust möglich sei", noch das
ursächliche, bei dem es sich im Grunde überall um „absolut Identisches"
handle, sondern nur das gegenständliche Bewusstsein „lasse Besonderheiten
zu"; nur die „gegenständliche Bewusstseinsbestimmtheit" sei „als sich
entwickehide" denkbar (vgl. S. 13, 30, 34. 94, 102, 107, 143). Der Referent
erblickt in dieser Anschauung ein psychologisch vciUig unhaltbares Dogma
und ist überzeugt, dass Stock dem sehr konse<iueut festgehaltenen Ziel
der prinzipiellen Ethik durch eine unbefangene und eingehende psycho-
logische Anah'se der Wertthatsachen näher gekommen wäre. Sie hätte
ihn auch dazu geführt, den Begriff der Persönlichkeit weiter und damit
mehr im Sinne Kants zu fassen. — Das letzte Kapitel beleuchtet das Ver-
hältnis zwischen subjektiver imd objektiver Sittlichkeit und die Stufen der
sittlichen Entwicklung. Ein grosser Teil der Ergebnisse behält seinen
hohen Wert auch für den, dem Stocks Lehre vom einheitlichen Zweck nur
teilweise und seiner Bestimmung des absoluten Zwecks gar nicht annehmbar
erscheint. Überall steht der Gedanke im Vordergrund, die sittliche For-
derung sei „gar nicht eine einmalig zu erfüllende oder nicht zu erfiülende".
sondern vielmehr „eine fortlaufende Aufgabe, die für jeden Augenblick
des Bewusstseins gilt und auch als gültig anerkannt wird". Damit nähert
sich der Verfasser stark der prinzipiell abgewiesenen Gesinnungsethik.
Auch Kants Lehre vom Primat der praktischen Vernunft wird unwill-
kürlich wiederholt arestreift. — eine Lehre, die man keineswegs fallen zu
110 Rezensionen.
lassen braucht, wtnn iiiaii. wie Stoi-k, den Kanti.scluii lükur.s auf die
intelli;;ibli' Welt vtrwirft.
Nach Stock ist dus Sittliche „objektiv angesehen Wahrheit, subjektiv
im t'in/clnen Wollen Klarlicit. im Zusammenhang; des Wullens Weisheit".
, Tugend ist Denken überhaupt." — Zaidreiche fruclitbare (u'<lanken dieser
Ethik dürften bestäti;::t, abi-r ihr extremer Intellektualismus wird über-
wunden werden, wt'nn man den iiulu-deutigen l-5e^riff des absoluten
Zweckes durch den des unbedingt Wertvollen ersetzt und vor allem die
Thatsachen des AVillenslebens <;enauHr psychologisch untersucht.
Leipzig. Felix Kruoger.
Stock, Otto. Psychologische und erkenntnistheoretische
Begründung der Ethik. Zeitschr. f. Philos. u. ))hilos. Kritik. Bd. 11 1.
S. 196—205.
Der Verf. vertritt mit ivantisclien Clründen den methodolugiscJien
Standpunkt Kants, dass die prinzipielle Ethik nicht psychologisch, sondern
„erkenntnistheoretisch-logisch" zu begründen sei. Dabei wäre eine allge-
meine Erörterung des Verhältnisses zwischen Erkenntnistheorie und
Psychologie, das heute vielfach anders und weniger gegensätzlicli anfge-
fasst wird, erwünscht gewesen. Ob der Satz Kants richtig ist, Elrfahrung
und besonders Psychologie könne niemals zu notwendigen Urteilen, zu
objektiv gültigen Gesetzen führen, hängt ganz davon ab, wie eng oder
wie weit man alle diese vieldeutigen Begriffe fasst. Der Ref. hat an
anderer Stelle ausgeführt, dass Kant mit den Worten Erfahrung und
Psychologie meistens eine engere Bedeutung verbindet, als die empirische
Psychologie unserer Tage. Der Verf. scheint unter Psychologie lediglich
die Aufzählung und Beschreibung individueller Eigentümlichkeiten zu
verstehen, die das „Subjekt" mit keinem anderen Subjekte gemein hat, —
die Untersnchtmg des „Individuellen", soweit es ein von den Thatsachen
jedes anderen individuellen Bewusstseins Verschiedenes ist. Thatsächlich
strebt die Psychologie überall, auch wo sie individuelle Unterschiede fest-
stellt, nach Gesetzen von objektiv notw^endiger Geltung. Nach Stock hat
Kant das Problem der Ethik richtig gestellt; die Lösung aber könne nicht
genügen. Der „Formalismus" sichere keinesw^egs die „Allgemeingültigkeit
und Notwendigkeit der sittlichen Forderung." Diese Notwendigkeit, die
auch als „Denknotwendigkeit" bezeichnet wird, könne nur auf „logischen,
nicht auf psychologischen Zusammenhängen ruhen." Das Objekt der
Ethik seien nicht, wäe Kant angenommen habe, die Begriffe der Pflicht
und des Guten, sondern alle Thatsachen der sittlichen AVertunterscheidung.
Die Ethik habe das objektiv notwendige Gesetz dieser Unterscheidung
festzustellen. Es handle sich um ein a priori im Sinne Kants, das sich
gründen müsse auf die „Bedingungen der Erfahrung überhaupt." Die
ethische Grundfrage wird genauer bezeichnet als „die Frage nach dem
Lustbringenden oder Zweck, mit dem notwendig Lust verknüpft ist, die
Frage nach dem notwendigen Zweck". Der gesuchte Zw'eck sei „absolut,
insofern von jeder individuellen Eigenart unabhängig." Mit Berufung auf
sein Buch: „Leben.szweck und Lebensauffassung", setzt der Verf. als abso-
luten Zweck das Erkennen, das für ihn auch Kunst und Religion umfasst
Selbstanzeigen. 1 1 i
und schliesslich zur „Erweiterung des Subjekts durchs Objekt" wird. (In
jenem Werke geht übrigens der Verf., wie es nicht anders sein kann,
selbst überall von psychologi.schen Gesetzen aus, mit deren Annahme
oder Verwerfung sein ganzes ethisches System steht und fällt, und von
deren objektiver Gültigkeit er sicherlich überzeugt i.st.) Die eigentliche
Methode der Ethik ist für ihn die „erkenntnistheoretisch -logische": Die
„Kritik der Vernunft als Analy.>^e des Bewusstseins." Thr Geschäft ist
„nichts als ein Teil der Bewusstseinskritik. Sie ist die auf das besondere
Gebiet des Gewollten bezogene Scheidung dessen, was zum Bewusstsein
überhaupt und dessen, was zum individuellen Bewusstsein gehört".
Leipzig. Felix Krueger.
Selbstanzeigen.
Schneider, Emil. Dr. phil. Begriff und Arten des Apriori
in der theoretischen Philosophie Kants. Diss. Halle, 18i»8. (34 S.)
Mit .seiner im 1. Abschnitt der Einleitung zur 2. Auflage der Kritik
der reinen Vernunft gegebenen Erklärung: „Wir werden im Verfolg unter
Erkenntnissen a priori nicht solche verstehen, die von dieser oder jener,
sondern die schlechterdings von aller Erfahrung unabhängig stattfinden",
fordert Kant gleichsam gebieterisch zu einer Untersuchung des Apriori in
seiner Philosophie auf ; denn mit dieser Erklärung .sagt er sich von dem
traditionellen Gebrauch des Terminus a priori förmlich los und giebt mit
ihr die Absicht kund, demselben einen neuen Inhalt beilegen zu wollen.
Verfasser hat sich der Untersuchung unterzogen, dieselbe aber, um ihren
Umfang nicht zu weit auszudehnen, auf die theoretischen Schriften der
Kantischen Philosophie beschränkt. Er hat allererst die in der aUegierten
Erklärung Kants gegebene Definition des Apriori, die in Bezug auf die
differentia specifica negativ ist, durch Hinzufügung der anderweitig ge-
gebenen positiven Bestimmungen des Begriffs vervollständigt, woraus sich
ergab, dass im Kantischen Sinne Erkenntnisse a priori diejenigen heissen
sollen, welche von aller Erfahrung unabhängig, aus den angeborenen for-
malen Bedingungen der Rezeptivität und der Spontaneität des erkennenden
Subjekts bei Gelegenheit der Erfahrung ursprünglicli erworben werden.
Dieses Apriori soll das genetische oder transscendentale oder transscen-
dental-materiale heissen. Da es nun nach der Lehre Kants im erkennenden
Subjekt zwei Urquellen der Erkenntnisse giebt, Sinnlichkeit inid Verstand,
so müssen auch die genetisch-apriorischen Erkenntni.sse, je nachdem sie zur
Sinnlichkeit oder zum Verstände gehören, von zweierlei Art sein: apriorische
Anschauungen und apriorische Begriffe. Er.stere sind Raum und Zeit,
letztere die reinen Verstandesbegriffe und die reinen Vernunftbegriffe
(Kategorien und Ideen). Sind aber Raum und Zeit, sind ausserdem die
1 j) Selbstanzeifjen.
Katogorion gonotisch-apriorisclu'ii C'har.iktiTs, st> nuiss es ;unli mMiotisch-
apriorisohe Wissoiischaftoii geben, nämlich reine Mathematik und reine
Naturwissenschaft, je nachdem ihren Erkenntnissen ilie reint-n Anschauungen
Raum und Zeit oder die reinen Verstandesbegriffe — diese unter den sinn-
licluMi Bediniruniren ihres Ciebnuirhs. den Schi-maten — zu Crunde liegen.
Weiter weist dann der Verfasser nach, dass Kant trotz seiner ent-
schiedenen Absage dann doch fortgesetzt den Terminus a priori wieder im
traditionellen, d h. formal-logischen oder (le(liik1i\rn Verstände gebraucht
und häufig das genetische mit dem logischen Apriori vermengt und ver-
quickt. Das fornuil-logische Apriori aber hat gemäss der zwiefachen Natur
der formal-logischen Prinzipien zwei Unterarten: das analytische und das
sjUogistische oder deduktive Apriori. Für beide gilt nicht mehr die in der
oben angeführten Stelle gegebene Erklärung Kants, dass sie von aller Er-
fahrung schlechterdings unabhängig wären, sofern bei den analytischen
Urteilen ein empirischer Subjektsbegriif zu ü runde liegt und bei den
Syllogismen ein (relativ) allgemeines, aus der Erfahrung hergenommenes
Urteil als Obersatz dient.
Es wird weiter untersucht, wie es gekommen sei, dass Kant gegen
seine Definition derartige Erkenntnisse trotz seiner Erklärung als a priori
bezeichnet. Verfasser antwortet, dass unbeabsichtigt und unvermerkt der
überlieferte Gebrauch des Terminus a priori sich bei Kant wieder ein-
geschlichen hat. Die Kriterien der Notwendigkeit und Allgemeinheit, be-
sonders aber das der Notwendigkeit, sind es gewesen, unter deren schützen-
dem Dache die Einschleichung geschehen konnte. Hätte freilich Kant die
völlig verschiedenen Arten der Notwendigkeit des genetischen Apriori
einerseits und des formal-logischen andererseits sich klar gemacht, so
möchte es ihm nicht i^assiert sein, dass er wesentlich verschiedenes nicht
als solches erkannte, noch auseinanderhielt, sondern vermischte und ver-
mengte. Der unklare, schwankende Begriff der Notwendigkeit ist jetzt das
genus proximum des Apriori geworden, das das genetische und das logische
Apriori unter sich fasst.
Ausser den genannten Arten findet sich in den vorkritischen Perioden
Kantischer Philosophie noch ein anderes Apriori, das der Verfasser das
dogmatisch- scholastische oder transscendente nennt, und ausserdem in allen
Schiiften des Philosophen ein Apriori, das den Namen des rhetorischen er-
halten hat.
Verfasser hat dann an verschiedenen Beispielen nachgewiesen, wie die
Vermischung der verschiedenen Arten des Apriori nachteilig für den Aus-
bau der Kantischen Philosophie und ihr Verständnis gewirkt hat. Besonders
klar wird dies an dem „System der spekulativen Metaphysik" veran-
schaulicht.
In der Dissertation liegt von der Untersuchung nur der kleinere Teil
vor, der grössere soll voraussichtlich demnächst veröffentlicht w^erden.
Mao-deburo-. Dr. E. Schneider, Pastor prim.
Bell, John Henry. With what right is Kant's Critique of
Pure Reason called a Theory of Experience? Diss. Halle a. S.,
1899. (50 p.)
Selbstanzeigen. 113
This thesis is concerned with the adetjuacy of Kants own Statement
of the problem of the Critiiiiie to express its main motive and aim. The
only other alternative considered is that the problem of the Criticjue may
be more correctly viewed in whole er in part as the problem of the possi-
bility of experience. The investigation of the «juestion in this form is the
central featiire of the discussion. The paper consists of two distinct parts:
1. The review of some recent Kant literature which either suggests or
embodies a discussion of the siibject, and: 2. A brief independent survey
of the question from the standpoint of Kants original purpose in the
Criti(iue.
The literature reviewed is that especiall}' mentioned by E. Adickes in
his article : „Die bewegenden Kräfte in Kants philosophischer Entwicklung
und die beiden Pole seines Systems." Kantstudien, Bd. I, S. 47 ff. The
Interpretation of Cohen and Caird, according to which the main interest
of the Critique centres in the explanation of the possibility of experience,
passes in review, then. that of Vaihinger, according to which the problem
nf the Critique is two-fold, each part equal and co-ordinate with the
other, nameh", the problem of synthetic a priori judgments and that of
experience (synthetic a posteriori judgments); finaUy the interpretation of
Adickes in the article above mentioned is considered and the grounds of
his Opposition alike to the view of Cohen and Caird, on the one side, and
of Vaihinger on the other, are presented.
The Position of the dissertation itself differs from that of the writers
mentioned. although it approache.s more closely the standpoint of Adickes
than that of the others. The following points will express the exact view
maintained by the paper:
1. Kant did not at an}' time in the preparation of his work lose
sight of its main interest, wich is best set forth in his own inquiry: „How
are synthetic a priori judgments possible':"
2. The problem of the possibility of synthetic a priori judgments and
that of the possibility of expeiience are, according to the Critique, not to
be separated. They are necessarily and inseparably bound up the one
with the other, and \\'ith the Solution of the one is the Solution of the
other given.
3. For this reason, the positive portion of the Critique may be viewed
as containing a theory of experience, only it must be kept in mind that
it was not the authors conscious purpose to present a theory of experience
but rather to offer an explanation of the possibility of svnthetic a priori
judgments.
Halle-New York. John Henry Bell.
Hacks, Jacob, Dr. Ueber Kants synthetische Urteile a
priori. Vierter und letzter Teil. Beilage zum Jahresbericht der Realschule
zu Kattowitz, 1899. (20 S.)
Die Selbstanzeige zum 1. und 2. Teile findet sich Kantstudien 1,
S. 434/436, zimi 3. Teil lU, S. 209/210.
Der letzte Teil behandelt zunächst die dritte Analogie der Erfahrung.
"Während die beiden ersten Analogien der Erfahrung zwar nicht, wie Kant
Kantstudiea IV. 8
j ] \ Sclbstanzeigon,
moint. synthetische Urteile a priori, aber tl.uli (Imcli ilic Kifaliniii;; liin-
länglich bestätipjte Naturgesetze sind, ergiebt sicli aus den Prinzipien
der Mechanik von Hertz, dass die dritte Analoj^ic. weit davon »"iitfernt,
ein synthetisches Urteil a priori zu sein, nicht einmal iiiattrieli richtig ist.
Von den Postidaten des empirischen Denkens überhaupt erweisen
sich das erste und dritte als durchaus s('ll)stv('rstiiiiillirht' Sätze, die keines
Beweises bedürfen und in das System der synthetisciicn Urteile a ])ri()ii
nicht recht zu passen sclu'inen. Anders ist es mit dem zweiti'n Postulat.
Das Postulit der Wirklichkeit ist olnie Zweifel v'm synthetisches Urteil,
ein Satz von grosser Tragweite und üedeutunu,. Denn dn- Beweis dieses
Postulates würde den em pi risc li en Idealismus überwinchn, ei- würde
den Nachweis enthalten, dass trotz der erfahrungsgeniäss feststeliemlen
Realität der Dinge eine von unseren Vorstellungen unabhängige Welt der
Dino-e an sich nicht angenommen zu werden braucht, dass also die trans-
scendente Idealität der Dinge mit ilirer empirisdu'u R(!alität nicht in Wider-
spruch steht. Diesen Nachweis versucht nun Kant in der „Widerlegung
des Idealismus". Die „AViderlegung des Idealismus" ist also nichts Ueber-
flüssio-es, sie ist vielmehr ein notwendiger Bestandteil des Kantischen
Systems, sie ist gewissermassen die Probe, wenn auch nicht auf die
Richtigkeit, so doch auf die Zulässigkeit des Systems. Die „Widerlegung
des Idealismus" ist indessen Kant nicht geglückt. Aus sich heraus vermag
kein idealistisches System die empirische Realität der Aussenwelt zu
erklären.
Folgt aber hieraus mit unbedingter Sicherheit das Dasein einer von
unseren Vorstellungen unabhängigen Welt, d. i. der Dinge an sich? Diese
Frage ist im Anschluss an Volkelts treffliche Ausführungen (Volkelt,
Immanuel Kants Erkenntnistheorie) zu verneinen, und zwar deshalb,
weil das positivistische Erkenntnisprinzip, welches in der Aussage besteht,
dass das Dasein meiner Vorstellungen über jeden Zweifel erhaben ist, das
einzige ist, dessen Geltung nicht bezweifelt werden kann. Nicht einmal
die Gültigkeit des Satzes vom Widerspruch für alles Sein lässt sich
beweisen. Trotzdem lässt sich das Dasein der Dinge an sich mit der
grössten AVahrscheinlichkeit darthun, und zwar deshalb, weil der entgegen-
gesetzte Standpunkt zu den ungeheuerlichsten Abgeschmacktheiten führt.
Kattowitz. Dr. Jakob Hacks.
Pajk, Johann, Dr. Praktische Philosophie. Wien, Konegen,
1899. (184 S.)
Der Verfasser wollte nicht ein Kompendium, sondern ein System der
Ethik entwerfen. Daher war es ihm in vorderster Linie um den Nachweis
eines solchen Grundgedankens der praktischen Philosophie zu thun, der
alle ethischen Erfahrungen und Begriffe zu umfassen und zusammen-
zuhalten imstande wäre. Zu diesem Zwecke wurde das jedem Forscher
begrifflich dunkle, praktisch aber so lebendig vorschwebende Sittliche
nicht aus der Menschennatur allein, wie es zumeist geschieht, hervor-
gesucht, sondern aus dem Bereiche der Gesamtwelt, soweit eben diese der
Erforschung zugänglich ist, um auf dieser breiteren Unterlage einen mög-
lichst universellen Begriff desselben zu gewinnen.
Selbstanzeigen. 115
Dabei fielen dem Verfasser die ethischen Schriften H. Spencers, wie
insbesondere jene I. Kants wie von selbst ins Auge; denn diese beiden
Forscher liessen sich neben der Vervollständigung der ethischen Beob-
achtungen auch eine gründliche Systematisierung der Ethik angelegen sein,
letztere vorzugsweise Kant. Darum jedoch wurden keineswegs die zahl-
reichen Forschungen anderer Ethiker übersehen. Auch wollte ich eine
Übersicht der ethischen Litteratur bieten, namentlich über die Haupt-
fragen.
So wurde der Verfasser im Verlaufe seiner Arbeit unwillkürlich zur
Stellungnahme gegenüber Kant und dem Kantschen Kritizismus gedrängt,
auf den er allerdings erst etwas .später reflektierte. Trotzdem giebt es
wenige Seiten dieses Buches, in denen nicht auf Kant Bezug genommen
würde. So namentlich in betreff einer naturwissenschaftlichen .Auffassung
der Moral, welcher Kant .so nahe stand, sie aber nicht au.ssprach. Und
solcher Beziehungspunkte giebt es in meiner Schrift noch viele andere,
mehrere auch zum Kantschen Kritizismus.
Wien. Dr. Joh. Pajk.
Gattermann, Hermann. lieber das Verhältni.s von Kants
Inauguraldissertation vom Jahre 1770 zu der Kritik der reinen
Vernunft. Diss. HaUe, 1899. (79 S.)
Der Verfasser geht aus von der Thatsache, dass Kants Inaugural-
dissertation vom Jahre 1770 und die Kritik der reinen Vernunft viele ge-
meine xmd viele verschiedene Züge haben, und wirft dann die Frage auf,
ob das Charakteristische beider Schriften in ihrer Wesensidentität oder in
ihrer Wesensdifferenz liege, worauf dann (S. 1 — 3) die Hauptvertreter der
einen wie auch die der anderen Behauptung, aber auch die einer Mittel-
stellung genannt werden.
Der 1. kleinere Hauptteil der Di.ssertation enthält (S. 5 — '25) die Ana-
lyse der Inauguraldissertation Kants. Kapitel 1 charakterisiert (S. 5 — 13j
Kants mundus intelligibilis, wobei der menschlichen Seele als eines Gliedes
desselben gedacht wird. Sie offenbart sich als vis activa und als vis pas-
siva, worauf Kant die Unterscheidung der Erkenntnis in Receptivität und
Spontaneität beruhen lässt.
Kant scheidet ferner das empirische und das apriorische Element
unserer Erkenntnis durch den Gegensatz von Form und Materie. Die
Materie der Erkenntnis ist empirisch gegeben, die Form apriorisch, und
zwar giebt es sowohl sinnliche als verstandesmässige Formen unseres
Erkennens. Kapitel 2 (S. 14 — 19) behandelt daher Raum und Zeit als
Formen der sinnlichen Erkenntnis und zeigt, dass Kants Lehre in dieser
Hinsicht für die Wertung des menschlichen Wissens von grosser Bedeutung
geworden ist. Kapitel 3 (S. 19— '251 stellt dem usus logicus des Verstandes
den usus realis gegenüber, in welchen sich die Spontaneität der Seele
offenbart, bringt die Deutung von Raum und Zeit im Sinne des mundus
noumenon und lässt die kritische Tendenz der Inaugural.schrift Kants her-
vortreten.
Der II. grössere Hauptteil der vorliegenden Schrift enthält die Analyse
der Kritik der reinen Vernunft in 6 Kapiteln vS. 26 — 70), von denen das erste
8*
Solbatanzoiifon
o*
(S. 'J6— 8'_M /eiijt, wie K:int die Vonuisset/.nnp: einer rationalen Verstandes-
erkenntnis zweifelhaft wird und zur Fragestellung von 1772 führt, welche
das Problem der transseendentalen Deduktion bleibt, und deren Lösung
durch die Kinwirkuna; von iiinne bedingt wird. Kapitels (S. 82— 40) weist
nach, dass der mundus intelli.^'ibilis in der Vernunftkritik ganz im Sinne
der Dissertation festgi'halten wirfl und die Voraussetzung zur Lösung des
Fn'iheitsproblems in der Vernunftkritik bildet. Nach Kapitel 8 fS. 41— 47j
wird ferner festgehalten in der Vernunftkritik die Bestimmung drs Wesens
der sinnlichen Erkenntnis mit geringen Nüancierungen. wobei die Bedeu-
tung des inneren und äusseren Sinnes und die Theorie der Sclbstaffektion
in Auflage U der Vernunftkritik er(")rtert wird. Dagegen (Kapitel 4) fällt
der usus realis fort, und der Erkenntuisgebrauch der Kategorien wird auf
den mundus phaenomenon im Sinne von Hume beschränkt. Als Rest des
vorkritischen Dogmatismus bleibt aber die Voraussetzung der Dinge an
sich als Gegenstände des reinen Denkens (S. 48— r)8). Damit hängt zu-
sammen (Kapitel 5) die Ablehnung der rationalistischen Konseciuenzen der
vom Dogmatismus behaupteten Erkennbarkeit des mundus intelligibilis auf
Grund des Festhaltens der Voraussetzungen des Rationalismus (S. 53—67).
Das 6. Kapitel (S. 68—70) unternimmt es, auf Grund der Grenzbestim-
mung des Empirismus den Aufbau der Kritik der reinen Vernunft zu er-
klären, und in der Schlussbetrachtung (S. 71—79) werden, soweit der enge
Rahmen einer Dissertation dies zulässt, die Wesensgleichheiten und die
Wesensverschiedenheiten beider Schriften gegen einander abgewogen, was
dann zur Kritik der in der Einleitung (S. 1— B) angeführten drei Haupt-
richtungen führt, wobei der Verfasser zu dem Ergebnis gelangt, dass in
Übereinstimmung mit A. Riehl und H. Vaihinger der Inauguralschrift eine
eigenartige Stellung einzuräumen ist; insbesondere, dass sie derjenigen
Entwickelungsperiode Kants angehört, in der er plötzlich Dogmatist wird,
dass endlich, insofern jener Zeitpunkt zugleich den Beginn des Kritizismus
darstellt, die Inauguralschrift eine selbständige Anfangsstellung ein-
nimmt, und als dogmatisch gefärbtes Vorspiel der Vernunftkritik,
der reifen Frucht des Kritizismus, angesehen werden kann.
Eisleben. H. Gattermann.
Hollmann, Georg. Prolegomena zur Genesis der Religions-
philosophie Kants. Altpreuss. Monatsschrift, Bd. XXXVL Heft 1 u. 2,
(73 S.)
Diese Schrift soU, wie der Titel andeutet, einführender Art sein und
zwar auf einem bisher noch nicht angebauten Gebiete. Eine Darstellung
der Faktoren, die auf die Entstehung und eigentümliche Ausprägung der
Religionsphüosophie Kants von Einfluss gewesen sind, kurz eine Genesis
der Kantschen Religionsphilosophie fehlt uns noch. Man hat zwar von
einer Einwirkung des Rationalismus und des Pietismus gelegentlich ge-
sprochen, aber derartige Ausführungen bewegten sich meistens ganz im
AUgemeinen und kamen nicht über die Stufe der Mutmassung hinaus.
Nun geht aber aus den ersten Kantbiographien und sonstigen alten QueUen
dies Eine mit völliger Klarheit hervor, dass, wenn irgend etwas in reü-
giöser Beziehung für Kants Jugend bedeutsam gewesen ist, es der Königs-
Selbstanzeigen. 117
berger Pietismus war. Sollte daher überhaupt je eine genetische Dar-
stellung der religionsphilosophischen Theoreme des grossen Denkers ge-
lingen, so musste bei dieser pietistischen Bewegung eingesetzt werden.
Und zwar genügte es keineswegs im Allgemeinen bei Kant nach pietistischen
Elementen zu suchen. Das, was wir unter dem Gattungsbegriff „Pietis-
mus" zusammenfassen, ist im Einzelnen recht verschiedener Art. Es galt
also zunächst die Eigenart dieser pietistischen Bewegung zu erfassen, und
da sie bisher unbekannt war, musste eine historische Darstellung das Ver-
ständnis erschliessen. Dementsprechend behandelt Abschnitt I die Ge-
schichte des Königsberger Pietismus. Er kommt zu dem Resultat, dass
diese spontan entstehende, dann in die Hallische Richtung einlenk<'nde
Bewegung durch Franz Albert Schultz, der wegen seiner Beziehung zu
Kant genauer behandelt ist, eine höchst eigenartige wolffianisierende Fär-
bung erhielt. Sollte nun die Kenntnis dieser pieti.stischen Gruppe für eine
spätere genetische Darstellung von wirklicher Bedeutung sein, sollte sie
über aprioristische Vermutungen, die sich aus der im Abschnitt IT kurz
dargestellten, bedeutsamen Beziehung Kants zu dieser Bewegung auf-
drängten, wirklich hinausführen, so mussten vor allem die etwaigen Quellen
des Königsberger Pietismus herangezogen werden. Abschnitt III führt das
noch erreichbare Quellenmaterial vor. Es war eine glückliche Fügung,
dass es gelang, den Katechismus, der nach Borowski zur „Religion inner-
halb . . ." in besonderer Beziehung stehen sollte, und die Handschrift der
dogmatischen Vorlesungen, die Kant bei Fr. ^Ub. Schultz gehört hat, auf-
zufinden. Auf Grund dieser Quellen ist nun eine Konfrontierung der Kanti-
schen und pietistischen Gedankenkreise möglich, die die Genesis der ersteren
anschaulich macht. Gewissermassen eine Probe des hierbei anzuwendenden
Verfahrens giebt Abschnitt IV, indem er das Verhältnis der Religion zur
Vernunft und zur Sittlichkeit bei Kant und den Königsberger Pietisten
in Bezug auf die in Betracht kommenden Punkte vergleicht und so, um
im Bilde zu reden, durch die Vorhallen bis an das eigentliche religions-
philosophische Gebäude heranführt.
Eine zweite bereits begonnene Arbeit soll in extenso die Kantische
Religionsphilosophie selbst auf ihre Genesis gegenüber dem Königsberger
Pietismus untersuchen. Naturgemäss werden die zahlreich vorhandenen
pietistischen Einwirkungen dann erst in ihrer ganzen Bedeutung hervor-
treten.
Sloszewo. Georg Hollmann.
Caldwell, W., Professor. Dr. Schopenhauer's System in its
Philosopliical Signif icance. Edinburgh and London, Blackwood, 1896.
(XVI 11 and 6-J7 p.)
Although nearly all Schopenhauer"s writings had been translated into
English, and although interesting lives of Schopenhauer had been written
in English by Helen Zimmern and by the lata Professor Wallace of
Oxford, there was in English no extended and comprehensive study of
Schopenhauers philosophy as a whole. This book was conceived as an
attempt to meet this want. And also as an attempt to deal in a broad
free way with the significance of Schopenhauer's philosophy for the
11^ Solbstiinzeiffi'n.
thought of to-day. (^wiiii;- to tlic iiiriuriici' of tlu- study of hiolo'jy aiid
of psvcho-j)livsios and social tthiis and oastern ridifj^ioiis, and ovviiip; to
tili' rcactiun o{ to-dav ( pioniimiit in dillcrrnt wavs in ( 'icinian v, i'lnu'land,
l''ranc"i') ajz^ainst panloiiisin aiul abstraft lationaiisni, thnc is now L!;iH>at,
importaiu'o attaclu'd to what is callfd a ])liil<)S()iiliy ol thc will as a kcy
to tho t'xplanation of niany oi thr phcnonicna cd lil'r and cnndnct anti
thoupjht. 'Idus is Seen in tlu- \vritintj;s ot mm likr W'iindt. llaitniann,
Deussen. C«i/.ycki. Panlsen, Encken. Drows, KonilU'a'. Arreat, Professor
.lames of America, and Professor A. Seth of Scotland, Mr. A. .). IJallonr and
others. 1 hav»> written in view of all this, endeavourin«;- to show at the
same time the relation of Voluntarism to Intellectualism and Platonism
and Metaphysic |iri>]uT, and the rclatidn of tlir philosopliy of Selmpenhauer
to the philosophies of Fichte and Sclielling and Hegel and to the per-
manent elements in the philosophy of Kant. I liave thus occupied myself
not merely with Schopenhauer as a „scholastic" jihilosopher. to borrow the
expression of Venetianer (vi de: Schopenlia uer als Scholastiker.
Berlin, 1873). nor yet merely with the inconsistencies and one-sidednesses
of Schopenhauer, as do many critics. M}^ volume is. 1 trust, supplementary
to the classical treatises of Kuno Fischer and Ribot, and to the carefnl
apologies of Frauenstädt. Schopenhauer is still a very great figure in the
philosophy of to-day, in the sense that in the root ideas of his System
there can be traced the seeds of so many present tendencies of thonght.
I offer in my book chapters on Schopenhauer's relation to the thought of
the Century and on the total outcome of his doctrine and of its recei)tion
by the public of the nineteenth centiiry, on Schopenhauer's theory of
knowledge. on the Bondage of man (de Servitute humana), on psycho-
logical and ethical determinism as he conceived it, on his theory of art as
an escape from the bondage of life, on his moral and religious philosophy,
and on his metaphysic m general. Schopenhauer's pessimism 1 study
as Illusionism. I do not think that his philosophy is adequately de-
scribed as pessimism. It is far more than that. A great deal of it may
be incoi-porated \\'ith the best thought of to-day.
The book consists of the matter of the Shaw Fellowship Lectures
which I, in my tum, delivered at Edinburgh University, Scotland. The
Shaw Fellowship is the most important encouragement and endowment
that exists in Scotland for the study of philosophy. The holder is
exspected to travel and study in the interest of philosophy and then to
present the i'esult of his study of some prominent philosophical (juestion
to the public, first in lectures and then in book form. The author was
called from Scotland to America, first to the Sage School of Philosophy
in Comell University, and then later to his present position.
Evanston, 111. T. S. A. W. Caldwell.
Litteratiirberieht. 119
Litteraturbericlit.
Von K. Medicus.
Heumann, Gustav. Das Verhältnis des Ewigen und des
Historischen in der Religionsphilosophie Kants und Lotzes.
Diss. Erlangen. 1898. (88 S.)
Unter dem Gesichtspunkt. ..wie ein Ereignis, das als Objekt der
historischen Wissenschaft schwankenden Auffassungen unterworfen ist. für
den religiüst'u Glauben ein ewig giltiges sein könne" (1), stellt der Ver-
fasser nach einer kurzen Einleitung zunächst die Religionsphilosophie Kants
(4_o9)^ sodann die Lotzes (30-60) dar. Von Seite 61 ab folgt die Ver-
gleichung und Beurteilung der beiderseitigen Lehren. Heumann vertritt
die Ansicht, dass Kant der moralischen Anlage der Menschen zu viel zu-
getraut habe, wenn er den ewigen Religionsgehalt in diese verlege. Lotze
habe darum mit Recht auf das Fliessende in den moralischen Anschauungen
hingewiesen und gezeigt, „dass von einem angeborenen fertigen Sitten-
gesetze und von hiermit zusammenhängenden angeborenen religiösen Offen-
barungen bei dem Stande der gegenwärtigen Forschung nicht mehr ge-
redet werden kann" (64). So erblickt der Verfasser den Hauptvor/ug der
Lotzeschen ReHgionslehre vor der Kantischen in dem sich in ihr äussernden
feineren historischen Sinn, den sich Lotze durch eingehendes Studium der
empirischen Religionswissenschaft erworben hatte. Ein beiden Theorien
gemeinsamer Mangel zeige sich freilich darin, dass es keinem der beiden
Philosophen gelungen ist, den religiösen Glauben als eine Pflicht nach-
zuweisen (65): die grossen objektiven geistigen Mächte kommen nicht zu
dem Recht, das ihnen gebührt (86).
Burekhardt, Waldemar, Kants objektiver Idealismus. Greifs-
walder Diss. Naumburg, 1898. (31 S.)
Der Verfasser sucht zu zeigen, wie die Kantische Lehre zwar die
objektive AVeit mit ihrer Gesetzmässigkeit erklärbar macht, wie aber die
Frage nach dem Grund der Einheitlichkeit der objektiven Welt für
die verschiedenen Iche über den Kantianismus hinaus zur Lehre von
einem Bewusstsein überhaupt (Fichte, Hegel, Schuppe: vgl. 27) führt.
Die hereingreifenden Fragen nach dem Ding an sich (bes. 1—5, 23 ff.) und
nach der transscendentalen Deduktion der Kategorien finden eingehende
Erörterung; letztere bildet (von Seite 6 an) den Mittelpunkt der ganzen
Untersuchung,
Nolte, Fr. Über das Verhältnis von Sinnlichkeit und
Denken in Kants Terminologie. Programm des Progymnasiums, Nort-
heim, 1898. (10 S.) 4°.
Die beiden Hauptrichtungen der vorkritischen Erkenntnislehren sind
Sensualismus und Rationalismus. Das Verhältnis der beiden hier einseitig
betonten Erkenntnisquellen zu einander untersucht und jeder ihren eigen-
120 Littoratiirbericht.
tümlichen Erkonntniswort zugowiesen zu hivbcn, ist dio That Kants. Kant
hat gezeijxt. dass sie eine der andern ije<;ens(>iti<:^ bedürfen, wenn Erkennt-
nis zustande kommen soll. Diesi' Anerki'nniing ihrer (üeiehbi'rerhtigiin^
und die Forderunji; ihrer notwendijjjen Vereinigung in der transscendentalen
Einheit der Apperzeption sind die Grundlagen des Kantischen Systems.
Meusel. Was verdankt Schiller seinem Ka n t stud i n m • Pro-
gramm tler Stadt. Höher. Mädchenschule. Kiel. I8i»7. (16 S.) 4".
Die gewandt geschriebene und hei aller Kürze inhaltreiche Ab-
handlung giebt in grossen Zügen die Entwicklungsgeschichte der Schiller-
schen Philosophie. In der Auffassiing von Schillers VerhiUtnis zu Kant in
den verschiedenen Epochen seines Philosophierens schliesst sich der Ver-
fasser wesentlich an Kuno Fischer an. Gegenüber Schillers bekannten Ein-
wendungen gegen den Kantianismus wird die Partei des letzteren ergriffen,
dabei aber anerkannt, dass sich für Schiller, dem es auf die praktische An-
wendung der Kantischen Theorien ankam, die letzteren modifizieren
mus.sten, freilich ohne dass sie dadurch widerlegt würden: die Kr. d. pr.
V. ist eben kein Sy.stem der Moral, und die Kr. d. Urteilskr. keine prak-
tische Kunstlehre.
Warda, Arthur. Zur Frage nach Kants Bewerbung um eine
Lehrerstelle an der Kneiphöfischen Schule. Altpreuss. Monatsschr.,
Bd. 35, Heft 7—8. (S. 578—614.)
"Wie die älteren Biographien Kants melden, hat sich K. einmal (das
Datum wird nicht genannt) um eine erledigte Schulstelle beworben, wurde
aber einem gewissen Kahnert (nach dem Konzept der Waldschen Gedächt-
nisrede auf K. einem „notorischen Ignoranten") nachgesetzt. Erst Erdmann
(1876) und Amoldt (1881) haben diese Angabe als unsicher angezweifelt.
"Warda hat nun in sorgfältigster Weise die auffindbaren Dokumente durch-
forscht. Ein sicheres Resultat, ob Kant sich wirklich beworben hat, liegt
freilich nicht vor. Hingegen i.st über den bisher völlig unbekannten Kahnert
eine Reihe von Thatsachen ans Licht gefördert worden, wobei sich ergeben
hat, dass die Zeit, in der allein Kant mit ihm konkurriert haben kann, der
Oktober 1757 ist. Damals war Kant schon seit 4 Semestern Privatdozent I
Gleichwohl hält es "W. nicht für unwahrscheinlich, dass er sich zu dieser
Zeit noch um eine solche Stelle beworben habe, um sich ein, wenn auch
nicht grosses, so doch sicheres Einkommen zu verschaffen, zumal ihm ein
Jahr vorher die Bewerbung um eine Professur missglückt war. Ein Brief
Kants an Nicolovius vom 16. Aug. 1793, den "V\^. zum Abdruck bringt,
scheint gleichfalls für diese überraschende Annahme zu sprechen.
Jacobskötter, Arnold. Die Psychologie Dieterich Tiede-
manns. Diss. Erlangen, 1898. (138 S.)
Vorliegende Schrift befasst sich zwar mit einem der bekanntesten
Gegner Kants, behandelt ihn jedoch nach einer Seite hin, auf der wenig
Veranlassung ist, auf Kant einzugehen, der denn auch im Hauptteil der
"Untersuchung nur einige mal beiläufig erw^ähnt ward. Bemerkenswert sind
die Ausführungen in der Einleitung, in der der Verf. die Stellung seines
Litteraturbericht. 1 2 1
Philosophen zu Locke, Leibniz, AVolff und Kant von allgemeineren Gesichts-
punkten aus schildert: bei jedem der drei erstgenannten vermisst T. eine
Vernunftkritik; gleichwohl vertritt er Kant gegenüber im wesentlichen
den gesunden Menschenverstand.
Siebert, Otto, Dr. Geschichte der neueren deutschen Philo-
sophie seit Hegel. Ein Handbuch zur Einführung in das philosophische
Studium der neuesten Zeit. Göttingen, Vandenhoeck und Ruprecht, 1898.
(VI II und 496 S.)
Das Buch Sieberts ist ein erfreuliches Zeugnis philosophischen Inter-
esses und grosser Belesenheit. Im einzelnen sind freilich manche Punkte
noch der Verbesserung fähig. So passt m. E. Rothe (191—193) nicht in
die Schleiermachersche Schule: er steht Hegel \nel näher. Riehl (332 f.)
kann unmöglich den „Reaktionserscheinungen" zugezählt werden; Spicker
ist kein Neukantianer. Der am gründlichsten verfehlte Abschnitt ist der
über Nietzsche (248—245). Als Quellen scheint S. hauptsächlich solche
Aufsätze benützt zu haben, wie sie bis vor ein paar Jahren in theologischen
Zeitschriften häufig waren; allerdings citiert er einmal Riehls Buch über
Js\. aber gelesen hat er es sicher nicht. — S. 336—374 sind dem Neu-
kantianismus gewidmet. Hier werden im 1. Teil „die pliilosophischen Neu-
kantianer" besprochen, der 2. Teil beschäftigt sich mit dem „ästhetischen,
ethischen und gnostischen Neukantianismus der Niederlande", der 8. mit
den „theologischen Neukantianern". Das nächste Kapitel behandelt die
.Versuche zu neuer Sj-stembildung" : hier findet noch mancher sonst den
Neukantianern zugerechnete Denker Berücksichtigung. Eine besonders
warme Darstellung erfahren Lotze und Eucken. Die Philosophie des
ersteren wird charakterisiert als ..der fruchtbarste und anregendste Fort-
schritt der deutschen Gedankenbewegung seit Hegel" (427), und die Aus-
führungen über den letzteren .schhessen mit dem Satze: „Wir tragen die
Überzeugung in uns, dass eine fruchtbare Entwicklung der Philosophie
nur auf dem von Eucken eingeschlagenen Wege zu erwarten ist" (469).
Fouillee, Alfred. Le mouvement idealiste et la reactiou
contre la science positive. Paris, Alcan, 1896. (LXVUI und 361 p.)
Comte et Kant. Revue philos., XLIII, p. 422—425.
In der Introduction zu „Le mouvement . ." giebt der Verf. eine historische
Übersicht über das Aufkommen des direkt oder indirekt stets auf Kant
zurückweisenden Idealismus in Frankreich: Kant und Comte sind die typischen
Vertreter der beiden um die Hegemonie ringenden Weltanschauungen. Seine
eigene Stellung in diesem Kampf charakterisiert Fouillee gut in dem
Artikel „Comte et Kant", einer Entgegnung auf Dauriacs Rezension des
vorliegenden Buches, indem er sagt, er würde, wenn er wählen sollte, ant-
worten: „Ni l'un ni lautre. Tun et l'autre; et d'ailleurs, sil fallait abso-
lument choisir, ce nest pas Comte «lue je choisirais". — Buch I handelt
von den Grenzen der Erkenntnis. Kant findet eingehende Berücksichtigung,
besonders in Bezug auf seine Lehre vom Ding an sich, gegen die mehrere
Einwände erhoben werden. Fouillee vertritt die Ansicht, dass der Weg
ins Transscendente uns dadurch gegeben ist, dass wir von uns selb.st eine
IJJ Litit>raturbericlit.
W i'SfiiMTkt'nntnis hahon. Hiidi II „l/i(l.';ili-.mi' et la comiaissaiiri'" bo-
handolt ilas W'rliältnis vdii SuhjrkL iiml Ohjckt . vun luiuMiwclt und Aussoii-
welt untiT bfstäiuliu:«'!- B<'/.it'liiinu; auf Kant iind sciiu' bctlciiti'ndstrn K])'\
goiu'ii. naini-ntiicii Sclui|tt'nliaucr. ■ \'(iii Ix-sdudcinn Interesse ist l'ür uns
noch das 5. Kapittd in Hucli l\ . Ks ist ülxTsclirirhrn „i-;i valrur dr l.i
coimaiss.-iiu't'". Her Vt-rf. stt-ilt Kant- nclx'n Heikel und versucht, über bcido
hinaus/.ukoiumiMi durch Anerkennung objidvtivcr Be/iidiungen /.wischen (h'n
Dingen. Nach seiner Meinung giebt es keine apriorischen Gesetze, die wir
der Xatur vorsclm-iben, sondern auch die allgemeinsten Gesetze nnserer
Erkenntnis sind niciits als ein kleiner 'Peil der Gesetze des Universums.
Krieg. Max, Dr. I>ei- Wille und die l''reiheit in di-r neueren
Philosophie. Freiburg i. E., Herder. 18&8. (4U S.)
Der Verf. der kleinen Schrift bekennt sich zur katliulisclu-n Phil()SO])hie.
Er ist der Ansicht, dass ilie Kantische Lehre vom Willen nicht die ge-
bührende Anfmerksamkeit gefunden hat (vgl. Vorwort) und will diesem
Mangel abhelfen. Kinleitungsweise wird die scholastische Freiheitslehre
charakterisiert; schade, dass die ohne jede Einschränkung aufgestellte inter-
essante These, dass Augustin „den entschiedensten Indeterminismus"
gelehrt habe (3), nicht näher begründet wird. — Das erste Kapitel schildert
in gi'össter Kürze die Freiheitslehren der vorkantischen Systeme, das zweite
auch nicht gerade ausführlich die Willensphilosophie Kants und seiner
Nachfolger, das dritte zieht das Facit. — Das Urteil lautet: „Die Willens-
lehre Kants und seiner Nachfolger richtet sich schon dadurch, dass sie auf
der Basis des Idealismus steht, einer erkenntnis-theoretischen Richtung,
die unhaltbar ist und zur Vernichtung aller Realität führen muss" (34).
Des Verfassers eigene Theorie findet sich S. 39; sie gipfelt in dem Satze:
„Der menschliche Wille ist frei, weil er eine überorganische Kraft ist, wie
der hl. Thomas mit Recht hervorhebt."
Eisler. Rudolf, Dr. Einführung in die Philosophie. Wissen-
schaftl Volksbibl., No. 03—55. Leipzig, Schnurpfeil, 1897. (160 8.) 12".
Das bescheiden auftretende Büchlein (vgl. Vorwort) ist nicht unge-
schickt abgefasst. Es bringt auf seinem engen Raum so viel, als irgend
erwartet w-erden kann. Steht man der Existenzberechtigung solch kleiner
Abrisse des Gesamtgebietes der Philosophie nicht prinzipiell ablehnend
gegenüber, so A\'ird man sie dem vorliegenden Werkeheu nicht absprechen
dürfen. Der Inhalt gliedert sich nach den folgenden vier in den Haupt-
phasen ihrer Entwicklung dargestellten Problemen : Erkenntnisproblem,
Seinsproblem, kosmologisches Problem, Wertproblem. Der letzte Abschnitt
ist allerdings nicht viel mehr als ein Hinweis auf die in der gleichen
Sammlung erschienenen „Grundzüge der Ethik" von Dr. H. Schwarz. —
Auf Kant wird allenthalben Bezug genommen. S. 44 — 50 findet sich eine
Darstellung seiner Erkenntnislehre, die trotz des geringen Raumes vielleicht
nicht ungeeignet ist, bei der ersten Lektüre Kantischer Schriften das Ver-
ständnis zu erleichtem. S. 50 — 64 folgt sodann die Besprechung einiger
Fortbildungsversuche der Kantischen Lehre, besonders vom Standpunkt
der genetischen Betrachtungsweise. Ausführungen über das Ding an sich
bei Kant stehen S. 70—73.
Litteratarbericlit. 123
Volkmann. F. Die Entwicklung der Pliilosophie. Berlin,
Rühe. 1899. (31 S.)
Die in modernem Geschmack elegant ausgestattete Broschüre ist eine
von Missverständnissen gröbster Art wimmelnde Anklageschrift gegen
Kant, der durch suine ^Anhänglichkeit an mathematische Anschauungen" (9j
die Verwirrung in der Philosophie noch vergrössert und dadurch die
wissenschaftliche Entwicklung aufgehalten habe. — Die einzelnen Punkte,
die der Vei'fasser misshandelt, sind folgende: 7ff. : anah'tische und .syn-
thetische Urteile; 14 ff.: Kaum: 16 ff.: Zeit; 19 f.: Kategorien; 20 ff.: mathe-
matische Antinomien: 24 ff. : Ding an sich; 28 ff.: Kausalität und Freiheit.
Eisler. Rudolf, Dr. Die Elemente der Logik. ("VVissenschaftl.
Volksbibl. No. ü;i— 04.) Leipzig, Schnurpfeil, 1898. (102 S., 120.)
Vorliegender Abriss hält sich au die herkömmliche Einteilung des
Stoffes, lässt dabei aber mehrfach auch moderne Probleme und moderne
Auffassungsweisen zu Worte kommen. Wenn übrigens die Quisquilien der
Schullo;^ik noch etwas mehr zu Gunsten zeitgemässerer Betrachtungen in
den Hintergrund getreten wären, so würde das die Lektüre angenehmer
und kaum weniger nützlich gemacht haben. So hätte z. B. die Erläuterung
der Buchstaben s. p, m, c. in den Namen der Schlussmodi (S. 50) ohne
Schaden fehlen können, zumal da sie, mindestens in Bezug auf c, für einen
nicht bereits Kundigen unverständlich ist. Dadurch, dass die Kantische
Einteilung der Urteile zu Grunde gelegt ist (S. 28 ff.), ist auf Kant mehr
Rücksicht genommen, als im Interesse der Sache wünschenswert ist; jene
Zwölfteilung hat für die Logik lediglich historische Bedeutung und durfte
darum hier nur anhangs- oder anmerkungsweise behandelt werden.
Creighton, James Edwin. An Introductory Logic. New York,
Macmillan, l.s98. (XIV und 387 S.)
Das anziehend geschriebene Werk ist gedacht als ein Lehrbuch für
Studierende. Bekanntlich ist an brauchbaren Werken dieser Art —
wenigstens in Deutschland — kein Überflu.ss; um so erfreulicher ist diese
Neuerscheinung. Tief dringende und eigenartige Behandlung der
Probleme, eleganter, klarer Stil, und der für ein Lehrbuch gerade passende
Umfang sind die Vorzüge dieser Logik. — Der er.ste Teil ist überschrieben
„The Syllogism": Dieser Titel ist a potiori gewählt, denn auf ihn folgt
die ganze deduktive Logik, wobei allerdings dem Syllogismus eine
wichtigere EoUe. als sonst üblich, zufällt: der Begriff ist nur zu verstehen
als Element des Urteils, dieses aber ist ohne den Zusammenhang mit
anderen Urteilen, wie er im Schluss vorliegt, gleichfalls nur ein Fragment 43).
Der zweite Teil behandelt die induktive Logik. Der dritte Teil „The
Nature of Thought" untersucht das logische Denken in psychologischer
und erkenntnistheoretischer Hinsicht. Die letzten 41 Seiten enthalten nach
englischer Sitte anhangsweise den einzelnen Kapiteln zugeordneta Fragen.
Achelis, Thomas, Dr. E t h i k. (Sammlung Göschen. Bd. 90.)
Leipzig, Göschen. 189X. (159 S.)
Das Erscheinen populär gehaltener und durch niedrigen Preis allgemein
zugänglicher wissen.schaftlicher Schriften ist an und ffir sich erfreulich. Eine
IJ4 Littoratnrhoricht.
die Wissenschaft selbst fiirderiule Hearbeituii^ der Theinala wird man ja im
allgemeinen nicht in ihnen finden, aber billiji;er Weise auch nicht suclien.
Auch die vorliegende „Ethik" dürfte dem Zweck solcher W'erkchen, an
iler Belebung des allgemeinen Interesses für wissenscliaftliche Fragen mit-
zuarbeiten, genügen. Geschichte und System der Ethik finden sich liier
auf engem Räume; letzteres liillt sich „an die («renzen induktiver
Erf.alirung** (81 u. ö.), lässt darum dem Abschnitt über „die Prinzipien"
einen solchen über „die Erscheinungen der Sittlichkeit" vorangehen. Die
auf Kant bezüglichen Ausführungen sind nicht gerade die best gelungenen.
Die gegen ihn erhobenen Einwände enthalten mehrfach Unrichtigkeiten. So
stimmt es z. B. nicht, dass „die allgemeine Verbindlichkeit des ai)ri()rischen
Sittengesetzes" dadurch „sehr fraglich, um nicht zu sagen hinfällig" würde,
qdass wir es eingestandenermassen nicht mit induktiven Beweisen zu tliun
haben, was Kant sogar wiederholt höchst ironisch zurückweist" (32j.
Anfechtbar ist es ferner, wenn der Verf. (94) schreibt: „Neigung und
Pflicht sind oft, meistens, nicht aber, wie Kant behauptet, immer im
Kampf miteinander". Ob dieser Satz richtig ist oder nicht, ist eine Frage
der Psychologie, also ohne Belang für Kants Ethik, die nur verlangt, dass
der Bestimmungsgrund moralischer Handlungen nicht in den Neigungen
liegen darf; das heisst aber nicht, dass moralische Handlungen nur im
Gegensatz zu den Neigungen möglich sind. Ein gleichartiger Fehler
liegt vor, wenn (100) gegen Kants Lehre vom Gewissen geltend gemacht
wird, dass es ein solches besonderes psychisches „Vermögen" nicht gäbe:
dafür hat Kant selbst das Gewissen gar nicht gehalten.
Vischer, Friedrich Theodor. Das Schöne und die Kunst. Zur
Einführung in die Ästhetik. Zweite Aufl. Stuttgart, Cotta, 18'J8. (XVIIT
und 308 S.)
Als erste Eeihe der Vorträge des geistvollen Ästhetikers hat sein Sohn,
Prof. Dr. Robert Vischer, das vorliegende Werk nach dessen Aufzeichnungen,
sowie nach Collegnachschriften bearbeitet. Er hat sich durch diese Ver-
öffentlichung ein unanzweifelbares Verdienst erworben. Denn wenn auch
Fr. Th. Vischer in den Geschichtsbüchern der Philosophie den Anhängern
Hegels zugezählt wird, so war er doch keineswegs einer der orthodoxen.
Er hat in seiner späteren Zeit gerne auch das angenommen, was von
anderem Standpunkte aus in der Ästhetik geleistet wurde, und so kommt
es, dass seine Theorie eine durchaus moderne geworden ist. Es ist voll-
kommen richtig, wenn der Herausgeber in seinem Vorwort sagt, das vor-
liegende Buch könne „mit gutem Recht eine Psychologie des Schönen
genannt werden" (S. XI). Gerade die Probleme, die in der ästhetischen
Litteratur der Gegenwart dominieren, liegen auch hier vor, und wer sich
mit diesen modernsten Fragen beschäftigen will, könnte nichts Verkehrteres
glauben, als dass er an den Schriften des „Hegelianers" Fr. Th. Vischer
vorübergehen dürfte. Zwar verraten den einstigen Schüler Hegels noch
manchmal Versuche begrifflicher Konstruktion, allein solche finden sich hier
kaum mehr öfter, als bei einer ganzen Reihe anderer Autoren, die niemand
den Hegelianern einzureihen denkt. — An Kant knüpft Vischer gerne an.
Besonders die Kantischen Fragen nach dem Interesse (S. 32, 82) und nach
Bibliographische Notizen. 125
dem Verhältnis von Form und Stoff in der ästhetischen Anschauung werden
eingehend erörtert, ebenso der von Kant und dann besonders von Schiller
verwertete Begriff des Spieles (S. 88); auf Schillers Ästhetik geht Vischer
überhaupt öfters ein (so z. B. S. 150, 192). Der Kantische Begriff des Ideals
wird acceptieil (S. 215); die Einteilung der Künste geschieht im Anschluss
an die beiden „apriorischen Anschauungsformen. Raum und Zeit, an welchen
wir die ersten Grundlagen aller geistigen Ordnung haben" (S. 289). Der
Unterschied der freien und der anhängenden Schönlieit wird acceptiert
(S. 304). In dem Kampfe Kants gegen die Einführung des Begriffes der
Vollkommenheit durch Wolff in die Ästhetik stellt sich aber Vischer auf
Wolffs Seite (107).
Unbehaun, Johannes, Dr. Versuch einer philosophischen
Selektionstheorie. Jena. Fischer, 1896. (150 S.)
Vnbehaun hat sich die Aufgabe gestellt, zu untersuchen, ob und in
welcher Form der von Darvi-in auf die Welt der Organismen angewendete
Gedanke der Selektion auf andere Forschungsgebiete übertragen werden
kann. Indem der Verf. dem Satz Kants, dass „in jeder besonderen Natur-
lehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als
darin Mathematik anzutreffen sei" (2), zustimmt, ^^'ill er aus der aUgemeinsten
Formel des Selektionsprinzips more mathematico, also rein deduktiv, eine
Theorie entwickeln, die dann überall da gelten muss. wo die allgemeine
Formel anwendbar ist. — Im 1. Kapitel betrachtet U. die Geschichte des
Selektionsprinzips, wobei auch Kant Berücksichtigung findet (32). Weit
interessanter, weil origineller sind die beiden anderen Kapitel, in deren
einem aus der zu Grunde gelegten Definition: „unter Selektion verstehen
wir den Vorgang, dass unter einer Mehrzahl von irgendwie zusammen-
gehörenden Objekten innerhalb eines und desselben Zeitraumes einige zu
Grunde gehen, andere aber nicht" (34) die Theorie entwickelt, in deren
anderem ihre Anwendbarkeit auf die einzelnen Wissenschaften geprüft wird.
Das Gebiet, das hierbei U. der Selektion zuweist, ist die ganze organische
und geistige Welt. Ausgeschlossen bleibt die anorganische Natur; ge-
wichtige Einwände werden (99 ff.) gegen du Prel erhoben, in dessen „Ent-
wicklungsgeschichte des Weltalls" die Lehre Darv\ans zu einem für das
Universum überhaupt geltenden Prinzip des Fortschritts gemacht wird.
Bibliographisclie Notizen.
Als einen Staat von Kantianern schildert Kurd Lasswitz in seinem
utopisti.schen Roman ..Auf zwei Planeten" (Weimar. Felber. 2. Aufl.
18991 die Marsbewohner, welche Lasswitz den rückständigen Erd-
bewohnern gegenüber stellt. Die „Martier" nennen sich selbst kurzweg
..Nume", ein Name, der an Nus und Noumena absichtlich anklingt; denn
die Martier sind Vernunftwesen, bei denen das Sinnliche ganz von der
joß BiMiot,'rai)lnscho Notizen.
Vornunft ilurflulnin^'i'U ist. iiiul bei lUiic-u d'w frt'ii' Srlbstbestiiiimuii;;- im
KantisrluMi Sinne tliatsäohlirli höchstes ethisches Prinzip ist, zuf>;leicli aber
am-h oberste Kiclitsclnnir alh-r staatliclien IJeset/Kcbunt; und aMes j.oh-
tisi-hen Verhaltens. Die strenge Kaiitisclie Unterscliei(hin.i; /wisclien (U-r
Pfliclit als betlinfjunj^slosem sittlirhem Cebot und dem Hrclitthun aus
blosser Neigun.u; wird von dem „Nume" bi-i allem praktischen Verhalten
festgelialten. Lasswitz hat dies an i'iner Reihe von konkrtiten Fidlen
hübsch entwickelt: doch tritt, wie Kronenberj; in einer sympatliisclien
Besprechung; des Buches in der „Nation" am 31. Dezember 18'.»8, No. 14 be-
merkt, diise ganz politische und sozial-ethische Seite hinter der Schilderung
der technischen Fortschritte jener Marsln'wohner zu sehr zurück.
Über Elsenhans" „Wesen \ind Entstehung des Cewissens" findet
sich eine beachtenswerte Besprechung vom Kantischen Stamliiunkt aus
von Vorländer in der Zeitsdir. f. Philos. Bd. 110. S. 125 ff.
Über Thon's „t'.rundpriuzipien der Kantischen :\Ioralplnlo.sophie"
(Vgl. Kantstudien II S. 854) findet sich eine eingehende, instruktive Be-
sprechung von H. Spitzer (Graz) im „Enphorion". Bd. V (1898), S. 327—331.
In der von Dr. med. Ferd. Maack (Hamburg) herausgegebenen
En(iuete.-Schrift über den „Occultismus" findet sich auch eine beachtens-
werte Meinungsäusserung über dies Thema von dem Kantianer H. il o m u n d t.
W. Koppelmann, der sich durch mehrere Arbeiten über Kant
rühmlich bekannt gemacht hat, hat schon vor einiger Zeit in der im
Verlag von Reuther und Reichard in Berlin lierausgegebenen Samndung
der „Hilfsmittel zum evang. Religionsunterricht" als 19. und 20. Sthck
der 4. Abt. ..Die Sittenlehre Jesu" erscheinen lassen. Es ist erireulich,
dass Koppelmann dabei mehrfach (I, 1. 20. 32. II, 1. 3. 39. 42) Kants
Moral ej-läuternd hinzuzieht: Kant ist ihm „der grösste Phdosoph der
Neuzeit", und umso höhereu Wert legt er daher auf die Uberenistnnmung
der christHchen und der Kantischen Moral, eine Übereinstimmung, welche
Kant selbst bekanntlich betont hat. Besonders weist Koppelmann noch
hin auf den Abschnitt der Kr. d. pr. V.: „Von der der praktis(-hen Be-
stimmung der Menschen weislich angemessenen Proportion seiner Er-
kenntnisvermögen". Sehr richtig ist Koppeinianns Standpunkt, dass Kants
Lehre vom höchsten Gut nicht einfach als „Inkonsequenz" gei'asst werden
darf; die Hoffnung auf das höchste Gut erscheint ihm durchaus nicht als
Heteronomie, wie auch Kant selbst umgekehrt der christlichen Moral
ausdrückhch den Charakter der Autonomie vindiziert. So „steht Kants
System dem Christentum näher als das irgend eines anderen Phdosophen".
Wünschenswert wäre auch ein Eingehen auf Kants wichtiges Prinzip vom
„Reiche Gottes" gewesen (vgl. K. St. I, 279. II, 366. 468. 486), das von
anderen Theologen schon mit Erfolg herbeigezogen worden ist. Obgleich
die Beziehungen Koppelmanns auf Kant — im \ ergleich mit den Lehr-
büchern der rationalistischen Periode — nur schüchtern als Anmerkungen
auftreten, hat sich ein Rezensent in der Zeitschr. f. Philos. u. philos. Kr.
Bd. 112, S. 26.5 — 271 gegen jede „Vermischung der Sittenlehre Jesu mit
modernen Gedanken" ausgesprochen. Im neuesten Heft dieser Zeitschr.
Bd. 113. 2, S. 254 ff. wehrt sich Koppelmann geschickt gegen diesen
Vorwurf. ^^. , ^ . . m- u .
Adickes' bekannte Schrift „Kant-Studien" (Kiel, Lipsius u. Tischer)
hat eine trotz des prinzipiellen Gegensatzes im ganzen sehr anerkennende
Besprechung gefunden in dem katholischen „Philosophischen Jahrbuch
1896 S 72—77 woselbst auch zugleich Wernickes Schrift „Kant und kein
Ende" recensiert ist. Die Besprechung hat zum Verfasser den Benediktmer-
pater Dr. Beda Adlhoch, einen geborenen Bayern, der jetzt Professor
der Philosophie in dem neuen Benediktinercentralkloster St. Anselmo m
Rom ist. Das herrlich auf dem Aventin gelegene Kloster ist allen Rom-
fahrern wohlbekannt: der Papst Leo XIH. hat es bekanntlich den Benedik-
tinern aufoctroyiert, um bei denselben, die bisher dem jesuitischen Emtluss
und der thomistischen Philosophie sich zu entziehen wussten, die Zügel
straffer anziehen zu können.
Bihliugraphische Notizen. 127
Eis zu welchem Masse die Kantischen Prinzipien zum Richtmass
selbst in praktischen Fragen genommen worden, dafür findet sich ein
merkwürtliges Beispiel in der „Ethisflieu Kultur", in welcher (1898
No. 20 ff.) eine Kontrovt'rse übi-r die Ki-rechtigun^-. dm Angeh<iri;^en eines
anders sprechenden Volksstammes das Deutsch als tichulsprache aufzuerlegen,
geführt wurde. Der Gegner dieser Massregel V. Horinek (Prag) beruft
sich dabei auf Kants Prinzip, wonach jeder Mensch, und damit auch jedes
Volk zur Freiheit bestimmt und Selbstzweck sei und nicht von einem
Anderen als Mittel gebraucht werden dürfe. Stau dinge r (Wormsj sucht
diese Berufung auf Kant durch Hinweis auf die noch höhere Kantische
Idee <les ..Reiches der Zwecke" zu entkräften.
In den „Wopro.sy filosofii i psichologii" (Moskau 1897) findet sich
ein Artikel von Wjera Johnstohn über den indischen Weisen Schri-
Schankara - Atschari a, dessen Beziehiingen zum Ideali.smus und zu
Kant besproclit-n werden. — In derselben Zeitscln-ift veröffentlicht
\V. N. Iwanowski eine Abhandlung über den Begriff der A pperception,
in dem er auch die Kantische Lehre berücksichtigt.
In den ,,Dramaturgi,schen Blättern" (Beiblatt zum „Magazin für Litte-
ratur") 1899, Xo. 10 — 12 findet sich ein Artikel von AValter Bormann
..Dichtung und Schule". Der Verf. betont den hohen pädagogischen
Wert des Schönen und geht bei dieser Gelegenheit auch auf die „bahn-
brechenden Lehren" in Kants Kr. d. Urteilskraft ein. Mehr als Kant
betont er die objektive Grundlage des Schönen. Doch glaubt er auch
hierbei ganz auf Kant zu fussen, der mit der Mittelstellung, die er der
Urteilskraft zwischen Verstand und Vernunft anweise, auf „eine geheime
Correspondenz zwischen dem aprioristisch wirkenden ^lenschengeiste und
den Äusserungen des Allgeistes in der sinnlichen Natur" hindeute.
Über Kant und die Kanti.sche Philosophie lässt sich nun auch der
„Naturprediger Johannes Guttzeit" aus in seinem „ Verbildungs-
spiegel, IL Bd. Verlehrtentum." (Grossenhain und Leipzig, Baimiert
ifc Rouge 1899, 330 S.). S. 237 ff. ist von Kant die Rede im Sinne und Stile
von Herders Metakritik und Dührings Polemik. Von den Kantianern
heisst es da: ,,Sie kriti.sieren alle bereitwillig mit dem Kant die Vernunft,
statt mit der Vernunft den Kant" — man sieht, der Verf. hat wohl ein
bischen AVitz, aber absolut kein Verständnis für Philosophie.
Das „Magazin für Litteratur" (68. Jahrgang, 1899, No. 8 -10) ver-
öffentlicht unter der Überschrift „Geistige Struktur Deutschlands
um ISOO" das erste Kapitel aus dem Buche „Litteratur und Gesellschaft
im 19. Jahrhundert" (Berlin, S. Cronbach) von S. Lublinski. Gegen
Ende dieses Aufsatzes be.schäftigt sich der Verf. auch mit Kant, dessen
Philosophie er in ihren Grundzügen zu skizzieren versucht. Er sieht in
Kant den Philosophen, der, obgleich tief im Rationalismus wurzelnd, doch
diesen kritisch überwindet und nur in einzelnen verfehlten Lehrmeinungen,
so besonders in der praktischen Philo.sophie (dem „Monstrum" des kate-
gorischen Imperativs) in ihn zuriickfällt. Das Thema, das sich der Verf.
gestellt hat, ist interessanter als die Ausführungen, die er giebt.
Gegen den Immoralismus der Gegenwart, der der Moral vorwirft, sie
beraube den Menschen des Besten, was er habe, nämlich seiner kräftigen
Instinkte, indem sie ihn unti-r starre Gesetze zwinge, wendet sich der be-
deutende Jenaer Philosoph Rudolf Eucken in einem „Ein Wort zur
Ehrenrettung der Moral" überschriebenen Artikel der „Deutschen
Kundschau" (1898/99, Bd. II, No. 12j. Kants rigoristische Ethik, der dieser
\ orwurf besonders heftig gemacht worden ist, wird geschickt in Schutz
genommen durch den Hinweis darauf, wie das dem innersten Wesen des
Menschen selbst entsprungene Gesetz, die Autonomie, den Menschen erst
zur freien Persönlichkeit erhebt, also keine Fessel, sondern eine (^»uelle
echter Kraft ist; wie diese Sittenlehre nach Kants eigenem Wort den
..animus strenuus et hilaris" aber keine mürrisclie Gemüt^^stinmiung nach
sich zieht; und wie „auch die geschichtliche Erfahrung bestätigt, dass
Kant nicht zur Knechtung, sondern zur Befreiung der Geister gewirkt
128 Bibliofrraplüsciu» Notizen.
hat". Kucken giebt damit dit« tri'fft'iido Antwort auf den ü;UMch/oitif>; in
der „Neuen Deutschen Rundschau" (X. 3, Mär/. IH'.C)) eischieneni>n Auf-
sat/. „Die Freiheit der Perstlnlichkei t" von Ellen Key. Hier heisst
es im vSinne des modernen moralisclu-n Subji'ktivismus: ..Die Kantische
KordiMMin;::. das Indiviiluuni solle sir handeln, als ol) seine ilaiKÜuni:; (lesi'tz
für alle Menschen würde, ist diametral iler individualistischen .VulTassunpf
entgegengesetzt, die das grösstmclgliche (ililck für die Mehrzahl und den
grösstniriglichen Kulturfortschritt dadurch erhofft, dass man schliesslich
keine absolute für alK' verbinth'nde Hegel anerkennen, sondern .sich in
jedem individuellen Falle seine eigene Regel schaffen winl. Die. welche
nicht jene ethische Kntwickehnig erreicht haben, die das Recht zu
ethischer Neugestaltung giebt. sondern die nur erwachsene Kinder sind,
oder Pflichtenmenschen ohne individuelles (iewissen. oder Triebmenschen
ohne soziales Gewissen — Alle diese brauchen den gesellschaftlichen
Zwang, um das Recht Anderer nicht zu verletzen. Und selbst der aus-
geprägte Charakter bedarf in gewissen Ei)oclu'n seini-r Entwickelung dies(>r
Stütze. Aber der Zweck der Gesellschaft ist erst dann erreicht, wenn die
Gesellschaft durch die ethische .Selbstherrlichkeit der Individuen über-
wunden isti" Es wäre eine lohnende Aufgabe für den ^roraljthilosophen,
das Verhältnis des Kantischen zum modernen Autonomismiis /.um Gegen-
stand der Bearbeitung im Euckenschen Sinne zu machen.
Es ist bekannt, dass sich Richard Wagner auch mit Philosophie be-
schäftigt hat. Eingehendere Ausführungen über die wissenschaftliche
Seite des grossen Komponisten giebt in anziehender Weise unter dem
Titel ..Richard "Wagners Philosophie" Houston Stewart
Chamberlain in der „Bt^ü'ige zur |Münchener| Allgemeinen Zeitung"
1899. No. 47 — 49. Der Verf. vertritt den Standpunkt, Wagner habe über-
haupt keine philosophische Begabung gehabt, und es seien gar nicht
eigentlich philosophische Interessen gewesen, die ihn an seine Meister
Feuerbach und Schopenhauer gefesselt hätten. So habe er auch Kant nie
ernstlich studiert; und in der That verrät es eine „tiefe Unkenntnis Kant-
scher Denkweise", wenn W. noch 1880 in einem Briefe schreibt, Kant
habe ,,erst aus der Kr. d. Urteilskr. richtige Schlüsse auf die Realität oder
Idealität der Welt als Objekt zu ziehen sich getraut".
Eine vorzügliche Besprechung von Willmanns Geschichte des
Idealismus giebt Fr. Jodl in seinem Litteraturbericht über die Philo-
sophie in Deutschland und Österreich im „Monist" (Chicago) IX, 2,
S. 257 f. Wir entnehmen derselben folgende treffenden Sätze: „It is
necessary to have read treatises of this sort in order to be clearly
aware oi the intellectual gulf which separates Catholicism and Catholic
scholarship from that philosophical method which we are accustomed to
regard as the achievement of the recent centuries. It is an impression
similar to that which would be experienced b}^ an astronomer if he
unexpectedly came across an adherent of the geocentric theory who
should atte'mpt to demonstrate that the history of astronomy since the
time of Copernicus has been only a series of harmful errors."
Von dem unermüdlichen Vorkämpfer des Kritizismus in Italien, Pro-
fessor Cantoni in Pavia, Senatore del Regno, sind noch im Jahre 1898
mehrere kleine Beiträge erschienen, welche hier nachzutragen sind: 1. Sui
sentimenti desinteressati, Lettera al Prof. Attilio Gnesotto; 2. Sulla
Morale; beide Abhandlungen auch in der unterdes eingegangenen
^Rivista Italiana di Filosofia"; 3. Domenico Berti. Commemorazione.
Torino. Clausen. In allen drei Abhandlungen ist mehr oder weniger auf
Kant Bezug genommen.
träge
Im „Divus Thomas'*, VI, fasc. 25—26 hat Fr. Syndicus einige Nach-
zu dem Artikel „Kant in Spanien" von W. Lutoslawski („Kant-
studien", I, 217 ff.) gemacht.
Die „Annee philosophique" bringt im Jahrgang 1897 einen Artikel
Eenouviers: „De l'Idee de Dien". Der geistvolle Verf. führt folgende
Gedanken aus : „Le thomisme a regne sur la philosophie moderne jusqu a
Zeitschriftenschau. ]29
Kant dans l'ecole aprioriste, en ce qui touche la nature divine" (15). Des-
cartes, Spinoza, Leibniz . . ., thomistes sur ce point (8 — 14). Kant n'a
esquive l'erreur <iu'en refusant de s'aventurer a fixer sa doctrine ineta-
physi(iue. La succession de la scolasti()ue sest li(juide<' apres Kant au
profit du determinisrne et de linfinitisme chez Fichte, Schelling, Hegel.
Gegen Kants Freiheitslehre wendet sich Th. Desdouits in seinem
Buche „La Responsabil ite rnorale" (Paris, Thorin et Fils). Durch
Umdeutung des Kausalbegriffes sucht der Verfasser zu zeigen, dass Natur-
gesetzlichkeit und Willensfreiheit im indeterniinistischen Sinne einander
nicht ausschliessen, dass es mithin die von Kant behauptete Antinomie
gar nicht giebt. Im liberum arbitrium sieht Desdouits eine Thatsache.
Zeitsclirifteiiscliau.
Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik (herausg. von
R. Falckenberg). Leipzig, Pfeffer.
Bd. 111, 1 (1897). Vülkelt. Das Recht des Individualismus. —
Busse, Die Bedeutung der Metaphysik für die Philosophie und
die Theologie (s. „Kantstudien" III, 456). — Lülnianil, Leibniz' .An-
schauung vom Christentum. — Pfennigsdorf, Bewusstsein und Er-
kenntnis, mit bes. Beziehung auf die Philosophie Teichmüllers.
S. 99 f.: Kants Lehre vom Ich. — Döring, Rezension über Ritschis
„Werturteile", Kants „Handgriff des Postulierens". — König, Rezen-
sionen von Wernicke, „Kant . . . und kein Ende", Müller, „Kants Stellung
zum Idealismus" und Apel, „Kants Erkenntnistheorie". — 111,2 (189 H).
SUn'k, Ps^'chologische und erkenntnistheoretische Begründung
der Ethik. In engem Anschluss an Kant: „Der moderne Gegensatz
gegen die Kantische Ethik ist . . . der Gegensatz der psychologischen und
der erkenntnistheoreti.sch - logischen Betrachtung Dass Kant das
Problem schliesslich falsch löste, ist zuzugeben. Ohne Frage war er aber
mit seiner Fassung des Problems auf richtigem Wege." — Nagel. Über
den Begriff der Ursache bei Spinoza und Schopenhauers Kritik
desselben. — Vorländer, Rezension von Gneisse .Sittliches Handeln
nach Kant".
Bd. 112, 1. Volkelt, Die tragische Entladung der Affekte. —
Lato««lawski, Sty lometrisches. — W. Schmidt, Fr. Bacos Theorie der
Induktion. — Sommerlad, Aus dem Leben Ph. Mainländer s. — 112, 2.
Kucken, Die Stellung der Philosophie zur religiösen Bewegung
der Gegenwart. — Siebeck. Die Willenslehre bei Duns Scotus und
seinen Nachfolgern. — Volkelt, Beiträge zur Analyse des Be-
wusstseins. 235 ff.: Transsubjektiver »Schein des Empfindens und Glaube
an die Aussenwelt. — v. (üasenapp, Duplizität in dem Ursprung der
Moral. 264: Kant. — Vorländer, Rezensionen von Stein, „Ewiger
Friede" und v. Kügelgen, „Kants Auffassung von der Bibel". — Krhardt.
Rezension von Albert, „Kants transsc. Logik".
Bd. 118, 1. V. Hartmann, Zur Auseinandersetzung mit Herrn
Professor D. Dr. A. Dorner in Königsberg. — Richter, Die Methode
Spinozas. - Lülmann, Fichtes Anschauung vom Christentum. —
Lasson, Jahresbericht über f ranzö sische Li tteratur. Darin Berichte
über Boirac, „Lid6e du phenomfene" und Dunan, .Theorie psychologique
Kantstudien IV. 9
j3() Zeitsolirifteüschiiu.
de Tespaoi«". — Kriianll. Uezension von Adiiki's. „K;int-Studieir.
113, '_'. KalckciilMM'^. l.ot/.i's lirii'lo :iu Zcller. — .IcmII, Kirliti; als
Sozial pttlilikiT. A(lirk«'s. IMi i losoph i c. Metapli v si k untl Kiu/i'l-
wisstMisrha ft i' II (im Anscliluss an Wiuuit). (u'jj;t'n tlii- Mrnj;liciikt.M(
wisstMiscIiaftlii'Iier Mi'taplivsik. Wisst-nscliaft „weiss von uiclits als von
ilor Welt diT Erlahinnj;" CJ'JJSI. „Als »'i<;i'ntlicij pliilosopiiischü Unind-
wissenschafton bleiben Lo^ik und Erkenntnistheorie" (2;3(t), \v»'lrhe zwischen
AVissen und (Hauben die (Iren/e /.ielu-n. Der Metaplivsik, die nicht auf
Wissen, sondi-rn auf (.Hauben biTuht, ,i;-e^i'niiber ist wohl „diT Ajj^nosti/.is-
nius der ric'htiü;e Standpunkt für tlie Wissenschaft. al)er dem fühlenden
und wollenden Menschen will er nur selten beha<i,-en . . . Bleil)t auch die
Wahrheit in ewi-;t's Ounkid gehüllt, ist auch für die Wissenschaft Meta-
physik nichts als Triuunerei: auch das Träumen ist der Menschheit not-
wendiii,- und wertvoll" c^'dl). — Köuli?, i^- v. llartmanns KatejL;-orien-
lehre. 236. 244: Kant. — VorläiuU'r. liezensionen von Geyer. „Schiller",
Tumarkin. „Herder und Kant". Neuendorff. „Kants Ethik".
Vierteljahrsschrilt für wissenschaftliche Philosophie (herausg. von Fr.
Carstanjeu und O. Krebs). Leipzig-, Keisland.
XXI (1897). H. 4. Schwarz, II., Erkenntnisstheoretisches aus
der Jleligionsphilosophie Thieles. S. 475 ff., 4'.>1 f. über die Stellung
Thieles zu Kant in der Lehre vom Gegenstand und vom Apriori.
XXII (1898), H. 1—8. Carstanjen, Fr.. Der Empiriokritizismus.
— H. 2. Barth. P., Zum 100. Geburtstage Auguste Comtes. — In
einer Besprechung von Jodls „Lehrbuch der Psychologie" durch H. Uört-
din^ wird S. 225 auch Kants berühmtes Beispiel von den 100 inriiilichen
und den 100 .wirklichen Thalern eingehend erörtert. -- H. 4. v. Scliubert-
Sohlern. H., Über das Unbewusste im Bewusstsein. „Der Versuch
dieser Lr>sung meines Problems erfolgt teils im Anschluss, teils im Gegen-
satz zu Kants transsceudeutaler Deduktion der reinen Verstandesbegriffe. "
— Eisler. R.. Über Ursprung und Wesen des Glaubens an die
Existenz der Aussenwelt (mit bes. Berücksichtigung der „Beziehung
der Vorstellung auf einen Gegenstand").
XXIII (1S99). H. 1 (jetzt herausgegeben von P. Barth), v. Kries. .).,
Zur Psychologie des Urteils. — Posch, E.. Ausgangspunkte einer
Theorie der Zeitvorstellung 1. 67 ff.: Ausführliche Kritik der Kanti-
schen Lehre von der Zeit. — Barth. P., Die Frage des sittlichen
Fortschritts der Menschheit. — KrueJier, F., Besprechung von
Cornelius, Psychologie als Erfahrungswissenschaft. 121: Kants
Stellung zur Psvchologie.
*&
Archiv für Geschichte der Philosophie (hersg. von L. Stein). Berlin,
Reimer.
IV (1897/98). H. 1 und 2. Speck, J., Bonnets Einwirkung auf
die deutsche Psychologie des vorigen Jahrhunderts. S. 211:
Unterbrechung der Entwickelung der empirischen Psychologie durch das
Erscheinen der Kr. d. r. V. — H. 4. Dilthey, W., Jahresberichtüber die
nachkantische Philosophie. S. 563 f. und 564: Maine de Birans, 565:
Hamiltons und AVhewells Beziehungen zu Kant.
V. H. 1. Schmekel, P.. Jahresbericht zur Geschichte des
Positivismus. 102: Spencers Stellung zu Kant. 111: Spencers Wider-
legung des Idealismus. — Über die Kantlitteratur von 1887—97 giebt eine
gute Übersicht das von Dr. Ch. Schitlowsky sorgfältig bearbeitete Register
zu Band 1- X des Archivs f. G. d. Ph. — H. 2 (1899). Natorp, Unter-
suchungen über Piatos Phaedrus und Theätet. — Wintzer, Die
ethischen Untersuchungen L. Feuerbachs. 195 f.: Feuerbachs Gegner-
schaft gegen die „idealistische Selbsttäuschung der Kantischen Moral".
Zeitschriftenschau. 1 ;j {
Archiv für systematische Philosophie (hersg. von P. Natorp). Berlin,
Reimer.
IV, H. 1—3. Koch. E.. Ritharil Avenarins' Kritik dtr reinen
Erfahrung. — H. 1. Kleinpeter. H., Die Entwickelung des Ranra-
und Zeitbegriffes in der neueren Mathematik und Mechanik
und seine Bedeutung für die Erkenntnistheorie. Gegen die Apriori-
tät von Raum und Zeit, und besonders gegen den „schrmen Wahn einer
wenigstens teilweise apriorischen Naturwissenschaft" (48), durchgehends
mit Be/.ieluing auf Kant. — Uauiiianii. .1., Über Ernst Machs philoso-
phische Ansichten. 48 ff.: Kausalität; 66 f.: Substanz- oder Dingbeji;riff.
Baumann verwirft den Machschen „Empfindungsphänonienalismus", welcher
das Kantische Ding an sich gänzlich eliminiert. — H. 2. Zahltleisch, J.,
Über Analogie und Phantasie. -- Stein. L. AVesen und Aufgabe
der .Soziologie. — H. 8. von (Irot, N., Die Begriffe der Seele und
der psychischen Energie in der Ps3'chologie. 265: Einfluss Kants
auf die' Psychologie; 328: „Metaphysik im Kantischen Sinne": 32i): „Anti-
nomie" ini Be;,niff der Kraft übertraf^iing. — H. 4. Herj;niann. .1., Seele
und Leib. — Lijtps. Th.. Besprechungen von E. Kühnemann, Kants
und Schillers Begründung der Ästhetik und J. G oldf riedrich,
Kants Ästhetik, S. 455 — 464.
V, H. 1. Berfjniann, Seele und Leib. S. 57 ff. : Der Raum und die
sekundären (^»ualitäten. — V. Hartinann, E., Die allotrope Kausalität.
The Philosop^\.cal Review {Editors: J. G. Schumi an, J. E. Creighton,
.1. .Setli New York, Macmillan.
VII, 6. Setli. .!., Scottish Moral Philosoph}', S. 575, Hume und
Kant; S. 676 f.: Die schottische Philosophie und Kant. — Robins, E. P.,
Modern Theories of Judgment, S. 593 ff.: Kant und Hume. — Stanley,
H. M.. Space and Science, S. 618 f.: Kants Lehre von der Subjektivität
des Raums bekämpft durch eine ph3sikalische Raumtheorie und die nicht-
euklidische Geometrie. — Coe, G. A., Rezension von „L'annee philo-
sophicjue" 1897 (speziell Renouviers Gottesbegiiff).
VIII. 1. Schuniian. ,1. (i., Kant's Theory of the a priori Forms
of Sense. Diese Abhandlung gehört zu der Serie bedeutender Artikel,
deren Besprechung Creighton ^Kantstudien" 111, S. 157 begonnen hat.
.Vuch über den vorliegenden Aufsatz wird derselbe später referieren. —
Lloyd. .\. H.. Time as a Datum of History.
^'lll, 2. Lelevre. A., The significance of Butlers View of
Human Nature, S. 142 ff. : Kant und Butler. Gegen die rationalistische
und rigoristische Ethik Kants. — WatPrnian. >V. B., Rare Kant Books.
Eine Liste von Büchertiteln aus der Harvard University und benachbarten
Bibliotheken; in der That finden sich hier mehrere sehr seltene Werke.
The Monist (Editor: Dr. P. Carus). Chicago, The Open Court Publ. Co.
VIll (1898», H. 2. rowcll. .1. AVesley, The Evolution of Religion.
- Lloyd Morgan. ('.. Causation. Physical and Metaphy sical. Morgan
-licht eine \'ermittlung zwischen Humes und Kants Kausaltheorien. —
Carus. 1'., On the Philosophy of Laughing, 265: Kants Theorie des
Lächerlichen. — Eucken. R., On the Ph i losop hical Basis of Christia-
nity in its Relation to Buddhism.
VIII, H. 3. Dewey, J., Evolution and Ethics. — Jones. E. E. C, An
A s p e c t o f A 1 1 e n t i o n. — Carns. P.. T h e I^ n m a t e r i a 1 i ty o f S o u 1 a n d (J o d.
VIII, H. 4. Lloyd Mor;;au. ('., The Philosophy of Evolution.
— Tarns, P., Gnosticism in its Relation to Christianity.
IX, Tl 1. I'oincare. H.. On the Fundations of Geometry. —
("arus. r.. God. Mit vielfacher Rücksicht auf Kant, speziell S. 115 f.:
Der Begriff „ideal" bei Kan^.
9*
i;^.) Zeitaohriftenächan.
IX. H. ->. Jackson. A. V. Williams, Oriim/il, er ihr AiuiiMit Per-
sian Ideu of Cod. — Sliiitli. (Hi\i'r. II. V.. Evolution a lul Conscious-
i^pss. — .\nerktMiiu'mlt' Bis|>it'clnin.i;on des Paulsonschen neuen Kant-
bui-hes von V. .hüll un.l 1'. Carus. Let/.teror betont den Wert des Buche!-
für England und Amerika und wüi^sciit eini> enfj;IischB UberHetzung.
Revue Thomiste (Oir.: K. P. Coconnier. O. P.). Paris. '222, Faubourg
St.-Honore.
V. 6 (180S>. Michel, L<' systrme deS])ino7,a au point de vue de
la iosjique formelle. — Scriillaii':;cs. La preuve de 1 C x istence de
Dieu'et leternite du Monde. — Miellc, La Matiere premiere et
l'etendue (Forts, m VI. 1).
VI. 1. Scilwalin, 1 ndi v idualisme et Solidarite. — VI. 2. (iui'llcil,
Les exigences objectives de T^action". — VI. 2. 21'.) ff.: Be-
sprechung der „Knntstudien". — VI. 4. Villanl, Objet du savoir
divin. — VI. 6. Moiitaj;iic, Origine de la Societe. — Scliwalm, Le
Dogmatisme du coeur et celiii de l'esprit. — Muimviick. Les
cer'titudes de l'experience. - Foljjhcra. Quest-ce que la logi(iue7
(632 ff.: Kant). — VI, 6 (1899). Muinivnck, La conservation de l'ener^ie
et la liberte morale. — Ein Bericht von Spi'fillaiijros über einen \ ov-
trao- des Abbe Denis: La question apologeti'pie. ^Vir entnehmen daraus
die'^ charakteristische Stelle: „La pensee philosophique subit une crise;
nous sommes malades depuis Kant. Or, ce serait desesperer de 1 esprit
humain et connaitre bien peu son histoire, que de ne pasprevoir pour
bientöt nne rcaction puissante. L'intellectualisme, vivifie et enrichi
de ce (lu'il }• avait de bon dans les doctrines issues du Kantisme. rede-
viendra — cest notre conviction tres ferrae — la loi et les prophetes de
la pensee" (773).
VII. 1. Folghera. La Deduction dans les Sciences induc-
tives. — Ganleil, Laction: Ses ressources subjectives. — Baudin,
LActe et la Puissance dans Aristote.
Revue Neo-Scolastique (Dir.: D. Mercier). Louvain, 1, rue des Flamands.
V (1898) 1. Mercier. La Philosophie de Herbert Spencer, —
Descamps. La Science de l'ordre. — De Lantsheere, Devolution
moderne du droit naturel. — Tlliery, Was soll Wundt für uns
sein? — V, 2. Ermoni, Le Thomisme et les Resultats de lapsycho-
logie exp^rimentale. — Pasquier. Les hypotheses cosmogoniques.
— De Wulf, Qu'est-ce que la philosophie scolastiqne? — Besse,
Leon Olle-Laprune. — Kys, La nature du compose chimique. —
Mercier La Psychologie de Descartes et l'anthropologie sco-
lastique. — V, 3. Thierv, Quest-ce que l'art? Ferreira. La Philo-
sophie thomiste en f>ortugal. — V, 4. Hnys, Le notion de sub-
stance dans la philosophie contemporame et dans la philo-
sophie scolastique. Kant, Paulsen und Wundt werden berücksichtigt.
Die Kritik ihrer „conceptions etranges" konzentriert sich m dem Gedanken,
dass die Bewusstseinsphänomene zur Voraussetzung haben em nicht-
phänomenales „suiet en qui, et principe par qui les phenomenes se pro-
duisent, c'est-ä-dire une substance" (369). — Mivart, L utilite explique-
t-elle les caracteres specifiques? — De Craene, La croyance au
monde exterieur. Mit Beziehung auf Taine und Mill.
VI (1899), 1. 3Iercier, Le Positivisme et les verites neces-
saires des m'athematiques. — Ermoni, Le Phenomene de l'as-
sociation. - De Wnlf, La Synthese scolastique. — Lehrun, La
Reproduction.
Przeglad Filozoficzny (Philosophische Rundschau). Warszawa, uhca
Krucza 46.
Zeitschriftenschau. 133
I, 2. Massonius. Marian. I>fT Rationalismus in der Kant i sehen
Erkenntnistheorie (siehe: „Kantstudien" 111. S. 464). — Biegaiiski,
Wladislaw. Der logische Gedankenfortschritt und die Ideen-
association. — 1, 2 u. 3. Abramowski. Eduard. Die beiden Seiten
der Wahrnehmung. — 1. 3. Kodis. Josepha. Biologische Probleme
der Psychologie. — 1, 4 und II, 1. Chniiflowski. P., Die philo-
sophischen Ideen Mickiewicz". Eine eingehende Studie über den
mystisch-religi(">sen polnischen Dichter. Hauptsächlich im fünften Kapitel
kommen die Beziehungen zu deutschen Philosophen zur Sprache (11. 1.
S. 3s — 66); diejenigen zu Kant (S. 42 ff.) liegen besonders auf dem Gebiet
der praktischen Philosophie. Inniger sind die Einwirkungen, die Mickie-
wicz von den Denkern der Romantik erfahren hat; vergl. S. 46 — 55.
II. 1 und 2. Heinrich. Wladislaw. Physikalische Begriffe und
Prinzipien in ihrer Beziehung zur Piiilosophie. — 11,2. Kozlowski.
Wl. M.. Psychologische (^»uellen einiger Naturgesetze. Das vor-
liegende Heft enthält nur den ersten Teil der auf Grund umfa.ssenderLitteratur-
kenntnis abgefassten Abhandhing. Besonders im einleitenden Kapitel
findet Kant eingehende Berücksiclitigung, namentlich in Bezug auf seine
Lehre von den Analogien der Erfalirung.
Als Ergänzungshefte sind erschienen eine Abhandlung von Mieckie-
wicz über. Jacob Boehme in französischer Sprache mit polnischer Über-
setzung von P. Chmielowski. sowie Du Bois-Reymonds bekannte Vor-
träge: „Die Grenzen der Naturerkenntnis" und „Die sieben Welträtsel" in
polni.scher Übersetzung von M. Massonius.
II Nuovo Risorgimento (Editore: L. M. Billia). Torino, Corso Vin-
zaglio 7.
VlI (1897). 10 — 12. Billia, Di alcune contraddizioni del neo-
tomismo. — Lilla,. Delhi genealogia delle idee. — Calzi, Rosmini
nella präsente questione sociale.
Vni (1898). 1. Billia. L'unita dello scibile e la filosofia della
morale. — VIll. 2— 3. Billia, Una fissazione hegheliana. — Vlll. 4.
Billia, Taine contro le idee. - VIIT, 6. Billia, 11 dolore nell' edu-
cazione. — Vlll, 8. (ierini, Le idee educative di G. B. Vico. —
Vlll, 12. Calzi. Impronta della razionalita.
IX (1899), 1. Zanchi. Positivismo e metafisica: punto fon-
damentale del loro divario. — IX. 2. (ieriiii. Le dottrine peda-
gogiche di Tommaso Campanella. — Billia, Un programma din-
segnamento di filosofia.
The New Philosophy. Ed. Rev. John AVhitehead. Urbana (Ohio).
1, i_io. Sw tdenborgs Philosophy. — The Distinctness and Necessity
of Swedenborgs Scientific System. — 'Darwins Facts illustrating Sweden-
borg's Philosophy. — Physi'ological Light. — The origin of Matter. —
Three discrete kinds of .substance. — 11, 1 — 3. The Philosophy of Edu-
cation. — Psychology without a Psyche. — Swedenborgs Corpuscular
Philosophy.
i;'i4 Mitteilunf,'on.
MitteilunR'en.
Kant und Swedenborg.
Über ilas W'iliältius Kants /u Swedcnborfi; ist noiicnlin^^s in A nici ika
viel geschrieben wordon und /.wai- speziell seitens der Anliitnpjer der
Swedenborjxsrhen Rielituni;-, weicht' daselbst mehrere Zeitsclirit'ten besitzt,
so ,,The New Philosupli y, a Journal devoted to tlie exposition of tiie
rthilosophv presented in the scientil'ic, philosophical and theolo^ical works ol'
Eman. Swedenborj^" (Urb., Ohio), ferner „The New Chureh Messenjijer"
und „The New Chiirch Review-" (Boston, Mass.)- Inder letztp^enannten
Zeitschrift. IV. 2, S. 267— 'JöS steht ein Artikel von A. Kdniunds: „Time
and Space, Hiuts given by Swedenborg to Kant" (vgl. dazu Philos. Review,
VII. 664), ferner in IV, 8, S. 361— 379, eine Abhandlung von Th. Wright
und ^1. Nyren: „Swedenborg and the Nebular Ilypothesis, l. Priority to
Kant and others." By Th. F. Wriglit. II. „Tlie Judgment of the Astronomer
Nyren." Trauslated by F. Sewall.'j Von dem letzteren findet sich im
Oktoberheft derselben Zeitschrift (V, 4) ein längerer Artikel: 8 e wall, V.,
„Kant and Swedenborg on Cognition". Da voraussichtlich in einem
der nächsten Hefte Professor Heinze sich des AVeiteren über das Ver-
hältnis von Kant und Swedenborg auslassen wird, begnügen wdr uns mit
einigen kurzen Hinweisen auf den Inhalt des Artikels. Der Verf. desselben
geht seiner Richtung gemäss in der Identification Kantischer Lehren mit
Swedenborgischen viel zu weit. Der Herausgeber dieser Zeitschrift hat
sich an verschiedenen Orten, so in seinem Kommentar zu Kants Kr. d. r.
Y.. II, 143 N., 345. 431 N., bes. 612 ff., .sowie in Steins Arch. f. Gesch. d.
Philos., IV. 722 f., und Vlll, 425. 555 ff. zu dieser Frage geäussert. Derselbe
ist der Anschauung, dass ^ eine Beeinflussung Kants durch Swedenborg
keineswegs a hmine abzuweisen sei, dass vielmehr deutliche Spuren einer
solchen nicht abzuleugnen seien. Sewall citiert diese Stellen beifällig, über-
schätzt jedoch in seiner Auffassung des fraglichen Verhältnisses diesen Ein-
fluss bedeutend. Er bespricht besonders den Zusammenhang der „Träume
eines Geistersehers" mit der Dissertation von 1770. Die Hauptpunkte, in
denen Sewall Kants Abhängigkeit von Swedenborg zu erkennen glaubt,
sind: „I. Doctriue of time and Space as mental forms; II. of the reason as
regulative and not creative; III. of its function as a mediator between the
nattiral and Spiritual planes of the mind"s activity; IV. of reality, or the
noumenon, as belonging to a degree of being discrete from that of the
phenomena of matter, the Ding an sich of Kant being the spiritual sub-
stance of Swedenborg (491 f.). Für den ersten der genannten Punkte, die
Subjektivität von Raum und Zeit, beruft sich Sewall auf eine Schrift
Swedenborgs vom Jahre 1769 (494), in der er eine augenfällige Über-
einstimmung mit Kants Lehre von 1770 findet. Zu bemerken ist endlich,
dass der Verfasser aus den von Heinze herausgegebenen Vorlesungen Kants
über Metaphysik (498) die wichtigsten Stellen anführt, aus denen hervor-
geht, dass Kant trotz aller Negation auch später eine gewisse Wert-
schätzung für Swedenborgsche Ideen besass.
1) Derselbe hielt in Wasliiagton im Dezember 1898 und Januar 1899 sieben Vorträge
über Swedenborg, in denen er auch Kants Verhältnis zu Sweden>)org behandelte. Bei
dieser Gelegenheit sei erwähnt, dass auf dem diesjährigen Meeting der ..Swedenborg
Scientific Association" in New York. 13.— 14. April 1899. Dr. Kiborg M a n n , of the Uuiver-
sity of Cliicago, einen Vortrag gelialten hat: ..Wherein do the Nebular Hypotheses of
Kant, Laplace and Swedenborg diifer:"
Vari.a. 135
Varia.
Voi'l«'suiii;«Mi üImt Kant
im Sommersemester 1899.
I. (Nach den „Hochschulnachrichten".)
Berlin: I'aulsen, Übungen über Kants Kr. d. V. (2).
Bonn: Kidniann. Kants Kritizismus (4).
Breslau: Bafumker, Gi-sch. d. neueren Philos. seit Kant ("J). — Ebbing-
haus. Leben und Lehre Kants (2).
Erlangen, Freibxirg i. B.: Keine.
Giessen: Kinkrl. (usch. d. Philos. v. Descartes bis Kant ;incl.) (2). — D er-
st'Ibe, Übungen über Kants Prolegomena (1).
Göttingen: Peipers, Kants Kritizismus (1).
Greilswald: Keine.
Halle -Wittenberg: Reischle, Die Hauptrichtungen der Religionsphilos.
^(•it Kant (1). — Haym, Übungen über Kants Prolegoniena (2).
Heidelberg: Keine.
Jena: Eucken, Gesch. d. Philos. v. Kant einschl. bis zur Gegenwart (3).
Kiel: Martins, Übungen über Kants Prolegomena (1).
Königsberg: Walter, Übungen über Kants Kr. d. Urteilskraft (2).
Leipzig: Ri(;hter, Gesch. d. neueren Philos. bis auf Kant (2). — Barth,
Übungen über Kants Kr. d. ürt. (l'/a).
Marburg: Kühnemann, Schillers philos. Schriften und Gedichte (1).
München: Keine.
Münster: Kappes, Übungen über Kants Kr. d. r. V. (2).
Rostock: Krhardt, Übungen über Kants Kr. d. r. V. (2).
Strassburg: Ziegler: Übungen über Kants Kr. d. pr. V. (l'/a)-
Tübingen: Spitta, Übungen über Kants Kr. d. r. V. mit ausführlicher
Einleitimg in die Philos. Kants und die Knntfrage der Gegen-
wart (2).
Würzburg: Keine.
Czernowitz: Wähle, Nachkantische Philosophie (3).
Graz: Keine.
Innsbruck: Hiliebrand, Interpretation von Kants Kr. d. r. V. (2).
Prag: Keine.
Wien: Jodl. Lektüre und Interpretation der ethischen Schriften Kants (1).
— ^lüllner, Meta|)ii. Kosmologie mit besonderer Berücksicht. d.
Kant-Laplaceschen llypotlu'se und der Darwinschen Selections-
lehre (4).
Basel: Vischer. Übungen über Kants Religion inn. d. Gr. d. bl. V. (1).
Bern: Stein, Gesch. d. neueren Pliilos. bis Kant (3).
Genf. Lausanne. Neuchätel: Keine
Zürich: Kyni, Pliilus. v. Kaut bis Hegel (2). — Meumann. Gesch. d.
neueren Philos. bis Kant (3).
(Nachtrag zum W. S. 1898/1899: Stadler, Leetüre ausgew. Abschn.
a. Kants Kr d. r. V.
IL (Nach sonstigen Nachrichten.)
Budapest: Alexander. Philos. Übungen über Kant. — Bänöczi, Con-
versatorium über Kants Kr. d. r. V. nebst einer Einleitung über
Kants Leben und System.
e>
\•M^
\'aria.
Ithaca. ('<Miu-ll LIiiivfr><itv: AlbiM«, Kiiiiiiricism und Rationalism. Thu
ooiirso is intcndi'il as a pri'paiat.ion for tlu' stiidv of Kant's
Criti(iuo of Pure Renson. — Albee: The criticil FMi i 1 usopli y
of Kant. The ^reater part of the year will ht- ih'voted to the
carefnl stiulv of the Criti(iiie of Pmc'Rfason, MillliTS translation,
Fretiuent reK'renees will he fi;iven to Standard (•onnnfiit arics and
to the nioie recent literature on the snhject. Toward tiic t-nd,
the atteiupt will be made to show tlie relation in whic.h tlie three
(Viti.iTU's of Kant stand to earh other. — Creighton, Post-
Kant i an Idealism.
New York, New York University: Weir. Gernian Philosophy since
Kant. The historv of philosophir tliouf^ht in C.ermany since
the appearance of the „Criticjil Pliilosophy of Im. Kant. Special
attention will be given to „schools of thought" and to philoso-
phiral tendencies.
Derselbe hält aucli Vorlesungen über Epistemology , in
denen auch Stücke aus Kant gelesen wx-rden; dasselbe ist der
Fall in den Vorlesungen von Prof. Bliss: „History of modern
Psychology."
New York, Columbia University: Butler (assisted by Mr. Marvin), The
philosophy of Kant and bis successors. This conrse consists
chiefly of a detaiied exainination of the Kantian philosophy and
its results. The successive topics are: Kants permanent Service
to philosophy; bis inflnence of modern thought etc.
Königsberger Kantgeburtstagsfeier im Jahre 1899. — Wie die
Königsberger Allgemeine Zeitung in den Nummern vom 22. und vom
•>4. April meldet, ist auch diesmal der Geburtstag Kants in übhcher \\ eise
o-efeiert worden (vgl. die Berichte in den „Kantstndien" II, 872 ff. und
?I1 252 f ). Vonnittags 11 Uhr hielt im Auditorium maximum der Universität
der Professor der Beredtsamkeit Arthur Lud wich die Festrede über Kants
Stellung zum Griechentum. Wenn die Rede im Druck vorliegt, werden
M-ir auf sie zurückkommen. — Am ^bend versammelte sich die „Ge.sellschaft
der Freunde Kants" zum üblichen Bohnenmahl. Der Bohnenkönig, Professor
Dr. Gerlach sprach über den ^Einfluss der Kantischen_ Rechts-
theorie auf die Socialpolitik in ihrer neuesten Entwicklung".
Auch über diese Rede werden wir Bericht erstatten, wenn sie gedruckt ist.
— Bohnenkönig für das nächste Jahr wurde der Direktor des städtischen
Realgymnasiums Wittrien, Minister Bürgermeister Brinkmann und
Privatdocent Dr. Rahts.
Druck von A. W. Havn's Erben, Berlin und Potsdam.
L
<^ft<^/Ui>/t^^^ ^^^^
Fichtes Atheismusstreit und die Kantische Philosophie.
Eine Säkularbetrachtxing.
Von Heinrich Rickert.
„ . . hier der Punkt, der Denken und
Wollen in Eins vereinigt, und Harmonie in
mein Wesen bringt."
Fichte 1798.
Im Sommer des Jahres 1799 schied Fichte von der Universität
Jena nach fünfjähriger, ungewöhnlich erfolgreicher Wirksamkeit und
siedelte nach Berlin über, um dort zunächst als Privatmann zu leben.
Eine Anklage wegen Atheismus war es, die ihn aus dem Lande
Goethes dorthin gehen Hess, wo bis vor kurzem Wölluer sein Un-
wesen getrieben hatte. Der ,.Atheismusstreit", der, wie bekannt,
in Deutschland zu seiner Zeit grosses Aufsehen erregte, ist inter-
essant genug, um jetzt, da hundert Jahre seitdem vergangen sind,
wieder in Erinnerung gebracht zu werden.
Fichtes Aufsatz „Über den Grund unseres Glaubens an eine
göttliche Weltregierung'', der ihm die erwähnte Anklage zuzog, ver-
dankt bekanntlich einer äusseren Anregung seine Entstehung.
Von Forberg war ihm für sein „Philosophisches Journal" eine Ab-
handlung über die „Entwicklung des Begrifies der Religion'" ge-
schickt worden, der er nach dem Stande seiner damaligen Ansichten
nicht zustimmen konnte. Unterdrücken mochte er die Kundgebung
der fremden Meinung nicht, aber er wollte sie auch nicht ohne
Gegenbemerkung in seine Zeitschrift aufnehmen, und so schrieb er
seine eigenen Gedanken über dasselbe Problem nieder, um sie dann
mit denen von Forberg zusammen zu veröffentlichen.
Doch nicht von dem äusseren Verlauf der Ereignisse will ich
hier erzählen. Was wir davon wissen, hat Fichtes Sohn bereits im
Jahre 1862 nahezu vollständig und übersichtlich zusammengestellt,
und wer an der Hand eines Meisters historischer Reproduktion sich
den Gang der Dinge wieder zu vergegenwärtigen wünscht, tindet in
Knno Fischers Buch über Fichte eine unübertreffliche Darstellung.
Kantstudien IV. 10
i;}8 lli'iiiricli Ulokcrt,
\\'i>lil al)iM- hat der Atlicisiuusstn'it, wie ich iilaiihc, l'ilr uns
mu'h i'in aiuli-rcs als ein historisches liUrri'ssi', und /war licsdiKh-rs
(IrswofTcii, weil rr im cnjrstcn sHchlichcii Zusnmmciihanf^o mit der
Kantisi'ht'u Philosophie steht uml somit wie alles, was sich mit
den Gruiulfrairen des Kaiitischen Denkens berührt, in die (fc;j:eiiwart
hineinrajrt. An einiire der Nor hundert Jahren erörterten Streitpuidvte
möchte ich daher hii-r erinnern, die mit viel behandelten Troblemen
unserer Zeit nahezu identisch sind, und zwar will ich ausdrehen von
dem Geg:ensatz. in dem die Ansichten Forberp:s und Fichtes zu ein-
ander stehen, weil ich meine, dass in ihnen die beiden verschiedenen
AutTassuniren des Verhältinsses von Kelif::ion und Erkenntnis, von
(Jlauben und Wissen vertreten werden, zu denen allein man auf
dem Boden der Kantischeii riülosojjhie konse((uenterweise konnnen
kann. Fichte hat sich innner für den Interpreten Kants gehalten, und
auch Forberg kniijit'te. wie er später in der „Apologie seines an-
geblichen Atheismus" erklärte, an Kant an. Es war seines Erachtens
„ein höchst glücklicher Gedanke des Philosophen von Königsberg,
für den Begriff des religiösen Glaubens an die Gottheit die Be-
nennung eines praktischen Glaubens in Vorschlag zu bringen."')
Zugleich aber meinte er bemerkt zu haben, dass man Kant häufig
missverstand, und suchte daher durch eine ,, Analyse'' des Kantischen
Begriffs zu einer unzweideutigen Begründung der Religion zu
kommen. 2)
Ich beginne damit, zu zeigen, was Fichte und Forberg unter
dem ..praktischen Glauben" Kants, und was sie unter „Weltregierung"
oder ,, Weltordnung" sich denken, und zwar will ich diese beiden
Begriffe so von einander scheiden, dass wir den zweiten als den
zu betrachten haben, der den Gegenstand des Glaubens oder den
Inhalt der Religion, den ersten dagegen als den, der das Prinzip
der Gewissheit angiebt, auf welches die Religion sich stützt. Die
Auseinanderhaltung dieser beiden Begriffe wird für das Verständnis
des Problems förderlich sein.
I.
Die Gewissheit des Glaubens.
1. Forbergs Glaube.
Man kann in den Darstellungen des Atheismusstreites lesen,
dass bei Forberg Religion und Moral vollständig zusammenfallen.
') Forbergs Apologie, S. 95.
2) A. a. 0., S. 118.
Fiohtes Atheismusstreit und die Kantische Philosophie. 139
Sehen wir nur auf den Inhalt oder den Gegenstand seines Glaubens,
so ist das nicht richtig. „Wenn es in der Welt so zugeht", sagt
er nämlich, ,,dass auf das endliche Gelingen des Guten gerechnet
ist, so giebt es eine moralische Weltregierung", und hiermit geht er
über den von ihm aus Kant entnommenen Moralbegriff hinaus. Mo-
ralisch ist nach Kant nichts anderes als der „gute Wille", und dieser
ist als solcher immanent, d. h. ob er auch Erfolg in der Welt haben
kann, vermag die Moralphilosophie für sich allein nicht zu sagen.
Ja, sie bleibt notwendig beim Willen stehen, denn vom Begriff der
autonomen Moral ist der Begriff eines Erfolges fernzuhalten, und sie
kann daher die Möglichkeit nicht abweisen, dass das Gute niemals
realisiert wird. Forbergs Glaube dagegen, dass auf das endliche
Gelingen des Guten „gerechnet" und dem guten Willen Erfolg ver-
bürgt ist, schliesst den Glauben an etw^as ausserhalb des guten
W^illens ein, er setzt eine aussermenschliehe, transcendente Macht
des Guten voraus und enthält somit nicht nur Moral sondern
Religion.
Wie aber stellen sich uns seine Ansichten dar, wenn wir auch
sein Prinzip der Gewissheit in Betracht ziehen? Diese Frage ist
offenbar für die kritische Behandlung der Religion die erste.
Forberg will ja die Religion rechtfertigen. Warum ist es unsere
Pflicht, an eine moralische Weltregierung zu glauben? Worauf
stützt sich die Überzeugung, die ein „praktischer Glaube" hat?
Was heisst überhaupt ,,praktischer Glaube"? Von der Beant-
wortung dieser Fragen ist das endgültige Urteil über Forbergs
Religionsphilosophie abhängig.
Alle unsere Überzeugungen schöpfen wir nach Forberg aus
drei Quellen, aus der Erfahrung, der Spekulation und dem Gewissen.
Die Erfahrung kann uns niemals an eine moralische Welt-
regierung glauben machen. Es lielse sich aus ihr viel eher folgern,
dafs für gewöhnlich ein böser Genius die Oberhand behält. „Würde
eine Verteidigung des Satans wegen Zulassung des Guten wohl
weniger gründlich ausfallen, als die Verteidigungen der Gottheit
wegen Zulassung des Bösen bisher ausgefallen sind?"') Nein, die
Welt ist, so wie die Erfahrung sie uns darstellt, lasterhaft, und der
Schlufs von dem Dasein einer lasterhaften Welt auf das Dasein
eines heiligen Gottes ist nicht zulässig.
Ebenso wenig Gewifsheit aber für unsern Glauben giebt uns
1) Philos. Journal 17y8, Bd. VIII. Heft 1, S. 26.
10*
140 lliMurii'h Kiik f 1 1 .
ilii- S|)r k u l:it idu. 'J'lictMctisi'lic \ finuiitijrrundsiit/c. die aiif das
Dasi'iii eiiu's moialischon W'cltiL'ficnti'u hchlicfsi'n lassen, jr^'ltcii nicht.
Die mttralisi'lu' WidtiTfriiTUiifr lit'f:t jt'nscits aller l^|■fall^llM^^ untl ein
Sein aiilsi r der eiiipirisehen \Viiklu'hk('it \frniaf: das tlicoretiscli«^
Denken nielii /.u erfassen, lieweise lilr das Dasein (Joltes Nind so-
mit ilberlianpt nnniö^^lieli.
Danaeil alsi» bleibt das Gewissen als Quelle nnserer relifiiösen
Uber/.euirunir allein tlbrijr. Forberii- drüekt dies so aus, dal's er die
Reliirion ..die Frueht eines moralisch ^uten Herzens" nennt und
erklärt, sie entstehe „eiuzij;- und allein aus dem Wunsch des ^uteu
Herzens, dafs das Gute in der Welt die Ol)erhand iil)i'r das liöse
erhalten möge*'.') Inwielern al)er kann ein Wunsch Prinzip der
Gewil'sheit sein? Ist er nicht rein individuell? Nein, denn es „ist
kein Mensch so böse, dals er im Ernste wünschen könnte, das
Böse möchte das Gute am Ende ganz von dem Erdboden ver-
dräno:en". In Jedem Herzen also ist Kelijrion. Al)er auch hiermit
ist doch immer nur die empirisch allgemeine Thatsache, nicht die
Notwendigkeit der Religion gezeigt. Wie wird der Glaube zur
Pflicht? Jeder der nach Wahrheit strebt, sagt Forberg, wünscht,
dais nur noch wahre Urteile in der Welt gefällt werden, und
wäre dies Ziel erreicht, so gäbe es ein „goldenes Zeitalter für
die Köpfe''. Diesem Gedanken geht j)arallel die Idee einer
allgemeinen Übereinstimmung im Guten, die dem Wunsche ent-
springt, dals es nur gute Menschen geben möge, und die Er-
reichung dieses Zieles würde „ein goldenes Zeitalter für die Herzen"
bedeuten. Nun sind zwar beide Ideale niemals zu verwirklichen,
aber trotzdem haben wir uns so zu verhalten, als ob wir sie er-
reichen könnten, ujid ebenso wie die Arbeit an der Realisierung
der Wahrheit nur einen Sinn hat, wenn wir glauben, dem Richtigen
uns zu nähern, ist es, so wahr wir moralische Wesen sind,
unsere Pflicht zu glauben, dals auch das Gute sich immer mehr
verwirklichen lasse.
Auf den ersten Blick scheint diese Trennung von Kopf und
Herz die bekannte Ansicht zu enthalten, dals nicht nur der Intellekt
unsere Weltanschauung forme, sondern dafs auch der Wille dabei
mafsgebend sei, und dals zugleich das Recht des Willens zur Leitung
unserer Überzeugungen begründet werden könne. Ist dies aber
wirklich Forbergs Meinung? Will er sagen, wir dürften und sollten
1) A. a. 0., S. 27.
Fichtes Atheisimisstreit und die Kantische Philosophie. 141
Sätze für wahr lialten, die sich theoretisch weder beicründen noch
widerlegren lassen, weil der praktische Glaube sie fordert? Sehen
wir etwas genauer zu. so finden wir Forberg von dieser Ansicht
weit entfernt, ja sie scheint ihm gerade das Mifsverständnis zu
sein, dem die Lehre Kants bisher ausgesetzt war, und das er be-
seitigen will.') „Es ist nicht Pflicht, zu glauben, dafs eine
raoralische Weltregierung .... existiert, sondern es ist blofs und
allein dies Pflicht, zu handeln, als ob man es glaubte. In
den Augenblicken des Nachdenkens oder Disputierens kann man es
halten wie man will''.^l
In voller Deutlichkeit zeigen die ,, verfänglichen Fragen-' am
Schlüsse von Forbergs Abhandlung uns seine Meinung. Ob Gott sei,
erklärt er dort für völlig ungewifs, und sagt, man könne keinem
Menschen zumuten, an Gott zu glauben, denn bei dieser Frage-
stellunii' sei Glaube im Sinne einer besondern Art des Fürwahr-
haltens genommen. Religion aber ist lediglich Maxime des Willens,
und alles für wahr Gehaltene an ihr ist Aberglaube. Nur beim
Handeln wäre Irreligion Gewissenlosigkeit. Durch diese Scheidung
des Glaubens im Sinne des Fürwahrhaltens von der Religion wird
der Satz verständlich: ein Atheist kann Religion haben. Er sol
bedeuten: auch wer nicht an Gott glaubt, aber immer so bandelt
als ob er glaubte, der ist religiös.
Forberg weils selbst, dafs diese Begriffsbestimmung der Religion
einen neuen Begriff" mit einem alten Worte verbindet, und wir werden
jetzt sagen können, dafs sein Standpunkt doch ein rein moralischer
ist. Der Glaube an eine moralische Weltregierung ist gewils
religiös, aber nur wenn Glaube eine Art des Fürwahrhaltens be-
deutet. Da jedoch Forbergs Wunsch des Herzens gerade nicht die
Grundlage eines Fürwahrhaltens bilden soll, so ist sein Glaube,
den er für den „in sein gehöriges Licht gestellten" Kantischen
Glauben hält, gar kein Glaube, sondern ein Imperativ, und daher
sein ., Glaube" an eine moralische Weltregierung nicht Religion.
2. Fichtes Glaube.
Wie verhält sich nun Fichte zu Forbergs Lehre? In vielen
1) Vergl. Furbergs Apologie, S. 176. „Es war die Tendenz der ganzen
Abhandlung .... den Kantisohen bei weitem nicht immer gehörig gefafsten
Begriff in sein gehöriges Licht zu stellen".
2) Philos. Journal, a. a. 0., S. 38. In der „Apologie" S. 176 f. beruft
sich Forberg für diese Ansieht ausdrücklich auf einen Satz von Kant, in dem
auch von einem ,,ims so zu verhalten, als ob" gesprochen wird.
142 lli'iuric'h Kic'koil,
lilk'ksii'hti'ii. fiklärl er. stiiiiiiit' sie mit st'incr ci^^cMrii l'borzt'iij^iin}:;
Uhrifiii. in aiulficr llinsii'ht da^'t'jrt'n siifrt er. dass sie sriiitT Moi-
uiiii- nit'lit sowohl cntiri'iroii sj'i, als niij' (lifscllic iiirlii fiiriclH'.
\\\v halx'ii (las so /,u vcrstolicn. dass Ku'htc mit Idilifiir im wcsciit-
lii'licii iUu'rt'instimmt in Hc/.ujr aul' »Ich Inhalt udcr den (J('<;;('nstan(i
(li's (ilaul)ons. dass ihm dap'jrcn das ForluTj^scIu' rrin/ip der (Icwiss-
ht'it durchaus nicht iri'niijrt. Darauf allein kann sich das so viel-
fach missviTstandonr ..Nichtcrreichen" beziehen.
Wir verfolgen nun das \ erhältnis der lu'idcn Ansichten im
ein/elnen. Fichte setzt wie Fori)er^ die (lotlheit der moralischcü
Weltordnunir irleich und {;eht damit über das rein Moralische hinaus
zum Kelijjiosen. In seinen sjjäteren Streitschriften hat er den Unter-
schied von Moral und Relijrion ausführlich darj^ele^t. Unter morali-
schen Gesichtspunkten konnnt es auf „das blosse Wollen als innere
Bestimmunsr meiner Gesinnung:" an, und ,,\venn du bloss und lediglich
Wille wärest. ... so möchtest du etwa sittlich wollen, und damit
wäre alles zu Ende . . . Nun bist du zugleich Erkenntnis . . .
und wenn du nun . . . dein W^ollen betrachtest, so wird es dir
als vernunftwidrig- erscheinen, wenn es dir als zwecklos und folgen-
los erscheint, und zugleich wird das Gebot dieses WoUens dir als ver-
nunftwidrig erscheinen.''') Wir müssen daher, so wahr wir sittlich
wollen, annehmen, „dass jede wahrhaft gute Handlung gelingt, jede böse
sicher raisslingt." Es giebt demnach nicht nur guten Willen, sondern
einen Weltplan, ohne den „kein Haar fällt von seinem Haupte, und
in seiner Wirkungssphäre kein Sperling vom Dache. "^l Das ist ge-
wiss mehr als Moral, das ist Religion.
Auch in Bezug auf das Prinzip der Gewissheit, das der Glaube
besitzt, geht Fichte mit Forberg in einer Hinsicht durchaus zu-
sammen: Beweise für den Glauben giebt es nicht, ja, jeder Ver-
such eines Beweises muss uns sogar von Gott wegführen. Wir
können die Siimenwelt vom Standpunkte der Naturwissenschaft oder
vom transcendentalen Gesichtspunkt aus betrachten, in beiden Fällen
findet der Gottesbegritf keinen Platz. Naturwissenschaftlich ange-
sehen ist die Welt so, wie sie ist, eben weil sie so ist, d. h. Sein
und Welt fallen zusammen, sie sind in sich selbst begründet und
in sich selbst vollendet, und es giebt da nur immanente Gesetze.
Die Erklärung der Welt aus Zwecken einer Intelligenz ist vom
Standpunkte der Naturwissenschaft ,, totaler Unsinn." Ebensowenig
1) Vergl. „Au3 einem Privatsehreiben." S. W., V., S. 892 f.
2) Über den Grund unseres Glaubens u. s. w. S. W., V., S. 185.
Fichtes Atheismusstreit und die Kantische Philosophie. 143
aber erreichen wir durch die transcendentale Betrachtung der Sinnen-
welt. Die Natur besteht dann zwar nicht mehr als absolutes Sein
sondern ist eine Auffassung des Intellekts. Aber, auch so angesehen,
ist die Welt etwas in sich geschlossenes, und so lange wir auf rein
theoretischem Boden bleiben, giebt es keinen Weg von der Sinnen-
welt zu Gott. Die Philosophen, welche meinten, einen solchen Weg
zu kennen, haben nicht das Sein rein gedacht, sondern eine morali-
sche Weltordnung unvermerkt schon vorausgesetzt, d. h. sie haben,
wie wir sagen können, den Begriä der Natur, der, damit Natur-
wissenschaft möglich ist, als völlig indifferent gegen Gut oder Böse
gedacht werden muss, verfälscht.
Der einzige Ausgangspunkt, um zur Religion zu kommen, ist
also auch für Fichte das Gewissen, der autonome, sich selbst das
Gesetz gebende Kantische gute Wille. Ich soll, das ist absolut ge-
wiss, und mit dem Sollen ist mir als einem vernünftigen Wesen
auch die Möglichkeit des Könnens und damit eine moralische Welt-
ordnung gegeben. Wie die Wirklichkeit die Möglichkeit einschliesst,
so mein Pflichtbewusstsein das Göttliche. Der Grund für den religi-
ösen Glauben ruht denmach auf dem Willen. „Ich kann nur darum
nicht weiter gehen, weil ich weiter gehen nicht wollen kann."
Auch Fichtes Gewissheitsprinzip scheint also noch mit dem
Forbergs verwandt. Sobald wir nun aber einen Schritt weiter sehen,
scheiden sich die Wege der beiden Denker prinzipiell, und wir
kommen zur Entwicklung der Fichte ganz eigentümlichen Ge-
danken. Sein Glaube ist nämlich durchaus nicht nur für den han-
delnden Menschen notwendig. Er ist aber auch nicht etwa ..eine
Überlegung und Erwägung von Gründen für und wider, ein freier
Entschluss etwas anzunehmen, dessen Gegenteil man wohl auch für
möglich hält," „eine Ergänzung oder Ersetzung der unzureichenden
Überzeugungsgründe durch die Hoffnung", denn ,.fUr wahr zu halten,
was das Herz wünscht," sagt Fichte, „ist Wahn und Traum, so
fromm auch etwa geträumt werden möge". Der auf dem WiUen
beruhende Glaube ist vielmehr ein absolut notwendiges, im
Wesen der Vernunft begründetes Fürwahrhalten, für das
Fichte nicht nur volle Gewissheit in Anspruch ninmit, sondern das
er für das Gewisseste erklärt, das es überhaupt giebt. Beweisen
will er zwar die Annahme einer moralischen Weltordnung nicht,
aber nur deswegen lehnt er alle Beweise dafür ab, weil er in
seinem Glauben eine viel grössere Gewissheit besitzt, als irgend ein
Beweis sie ihm geben könnte.
j^4 II !• i II li i-li KickiTt.
Tiul wie kam Fu'litc /.u difscr libcr/.eii^nin^-V Kr hat die <Jr-
(lankoiirt'ilion, die liicrlllr aiissclilajrp'bond sind, in seiner Aldiaiid-
lunc tllxT den (Jrnnd unseres (llaultens an eine iröttlielie W'elt-
refricrunir mir aniri-deutet. an anderer Stelle alier das hier <lesa;ile
ausführlich hejrrUndet, und weil es sich dabei um den Punkt handelt,
auf den alles ankommt, so niUssen wir die ausführlicdie iiejrrllndunji;
mit heran/iohon. Sie findet sich in seinem „System der Sittenlehre"
vom .lahre I7!>S.') „Handle schlechthin ü-emäss deiner lil)er/-eu^un};
von deiiuT IMlicht", in diesem Satz hat er das „formale (Jesetz der
Sitten" jrefunden. „Wenn denn nun aber meine lil»er/.euj;unj;- irrif^
ist. könnte jemand sa<ren, so habe ich meine Pflicht nicht ji-ethan."
Dieser Kin\vurf führt ihn zu der Untersuchung darüber, worauf denn
überhaupt unsere Uberzeuguiiir beruht.
Ich jrebe seinen Gedankenirauij:; p,-ekiirzt, al)er durchwef; mit seinen
eigrenen Worten. Soll pflichtmässiires Verhalten mö^^lich sein, so muss es
ein absolutes Kriterium der lüchtigkeit unserer Überzeugung über die
Pflicht geben. Nun ist zufolge des Sittengesetzes ein solches Verhalten
schlechthin möglich, mithin giebt es ein solches Kriterium. Wir
folgerTi demnach aus dem Vorhandensein des Sittengesetzes
etwas im Erkenntnisvermögen. Wir behaupten eine Beziehung
des Sittengesetzes auf die theoretische Vernunft; ein Primat des
ersteren vor der letzteren. Was aber giebt uns dazu das Recht?
Das Sittengesetz ist kein Erkenntnisvermögen, es kann seinem Wesen
nach die Überzeugung nicht durch sich selbst aufstellen, diese muss
durch das Erkenntnisvermögen gefunden und bestimmt sein. Aber:
dann erst autorisiert das Sittengesetz die Überzeugung. Mit
anderen Worten: die theoretischen Vermögen gehen ihren Gang
fort, bis sie auf dasjenige stossen, was gebilligt werden kann, nur
enthalten sie nicht in sich selbst das Kriterium seiner
Richtigkeit, sondern dieses liegt im Praktischen, welches
das erste und höchste im Menschen und sein wahres Wesen ist.
Das gesuchte absolute Kriterium der Richtigkeit unserer Überzeugung
ist sonach ein Gefühl der Wahrheit und Gewissheit. Ob ich zweifle
oder gewiss bin. habe ich nicht durch Argumentation, sondern durch
unmittelbares Gefühl. Nur inwiefern ich ein moralisches Wesen bin,
ist Gewissheit für mich möglich, denn das Kriterium aller theoreti-
schen Wahrheit, ist nicht selbst wieder ein theoretisches, es ist ein
praktisches, bei welchem zu beruhen Pflicht ist. Und zwar ist jenes
^) S. W. IV, S. IflF. In den „Rückerinnerungen" (S. W., V., S. 354. j ver-
weist Fichte selbst auf diese Schrift.
Fichtes Atheismusstreit und die Kantische Philosopliie. 145
Kriterium ein allgemeines, das nicht nur für die unmittelbare Er-
kenntnis unserer Pflicht, sondern überhaupt für jede mögliche
Erkenntnis a'ilt. Die einzige feste und letzte Grundlage
aller meiner Erkenntnis ist meine Pflicht. Zwar: das Ge-
wissen giebt nicht das ^lateriale her, dieses wird allein durch die
Urteilskraft geliefert, und das Gewissen ist keine Urteilskraft. Aber
die Evidenz giebt es her. und diese Art der Evidenz findet lediglich
beim Hewusstsein der Pflicht statt.')
Was Fichte hier sagen will, ist vollkommen klar. Auf unserm
Pflichtbewusstsein beruht nicht nur unser sittliches Leben sondern
in letzter Hinsicht auch die Wissenschaft. Das Erkenntnisvermögen
giebt mir für sie lediglich den Stotf, die Überzeugung von ihrer
Wahrheit aber liegt in einem Gefühl, das ich anerkennen soll, und
wo diese Billigung — Fichte nennt sie im Gegensatz zu den
„ästhetischen Gefühlen*' der Lust mit einem sehr charakteristischen
Ausdruck eine „kalte Billigung"^) — nicht vorliegt, da giebt es auch
keine theoretische Überzeugung. Alle Überzeugung ist praktisch.
„Ich soll mich überzeugen." Ohne den Willen zur Überzeugung ist
nichts für mich wahr und gewiss. Jedes Urteil, das auf Wahrheit
Anspruch erhebt, setzt also den Willen zur Wahrheit als letzten
Grund der Gewissheit voraus. Ein sittliches Wollen im weitesten
Sinne, ein Wollen, das ein Sollen anerkennt, ist die Basis nicht nur
für den sittlichen sondern auch für den theoretischen, denkenden
Menschen.
Mit Hilfe dieser Lehre vom Primat des Sittengesetzes vor der
theoretischen Venmnft, aus der etwas im Erkenntnisvermögen selbst
gefolgert wird, verstehen wir jetzt, warum Fichte für den religiösen
Glauben die denkbar höchste Gewissheit in Anspruch nehmen und
sein Recht dem Wissen gegenüber ganz ausser Frage stellen konnte.
Er trennte nicht wie Forberg Kopf und Herz, das Fürwahrhalten
und die Pteligion, denn dadurch war eine Einheit in unserm geistigen
Leben niemals zu erreichen, sondern er zeigte, dass überall erst das
Herz gebunden sein nmss, ehe der Geist gebunden sein kann, und
fand hier den „Punkt, der Denken und Wollen in Eins vereinigt
und Harmonie in mein Wesen bringt". „Das Element aller Gewiss-
») Vergl. a. a. 0., S. 165—173.
2) Für die Geschichte der Urteilslehrc sind diese Steilen sehr interessant.
Eine Urteilstheorie, die im engsten Zusammenhang mit den hier behandelten
Problemen steht, habe ich in meiner Schrift über den ,, Gegenstand der Er-
kenntnis" (1892) zu geben versucht.
14t5
Hoinricli Kiikcri,
hcit ist Glaubt'". Beruht der (ilaultr also auch auf ilcni W illrn,
so i>t »T (l:i!imi uii'ht ..mir" «ilaultc, d; h. <-iu FUrwahrhalttii, dem
irfri'ud oiuc audere l lirr/ru^niM^^ durcli ihre ( ;t'\\ isshcit iicltru- oder
"•ar Uberüreordnet werden könnte, st>ndern oliiie den (ilauhen würde
„selbst diejcniirr (M'wissheit. welehe alles mein Doid^wcn befrU'itet,
und ohne deren lieles C.etllhl ieh niclil einmal aul das Spekulieren
ausirehen könnte, sehlechterdin.^^s unerkläri)ar" sein. „Ks triebt keinen
festen Standpunkt als den an-re/eifrten, nieht dureh die Logik, sondern
dureh die moralische Stimmuni: hegründeten". So ist ,Jmie Welt-
ordnunir das absolut erste aller (il)jektiven Krkenntnis'', d. h. (Vn-.
roÜL'iöse Cber/.euirunir träirt alle llberzeuf^unp'U, die Wissenschaft-
liehen mit inbegrilVen. sie ist mehr als Wissen, gewisser als alles
"Wissen.
Das Verhältnis, in dem die Ansichten Fichtes und Forbergs zu-
■einander stehen, liegt jetzt klar vor uns. Beide wollen auf dem
Boden der Kantischen Philosophie zur Keligion Stellung nehmen,
und zwar so, dass sie die Bedeutung des religiösen Lebens würdigen.
Beide sind darin einig, dass theoretische Beweise für den Glauben
weder auf Grund der Erfahrung noch durch Metaphysik geführt
werden können, denn Keligion ist nicht Wissen, und der Glaube
ruht nicht auf unserm \erstand, sondern auf unserm Willen. Beide
endlich bestinuuen den Inhalt oder den Gegenstand des religiösen
Glaubens gleich. Es ist die moralische Weltregierung, d. h. die
Welt ist auf den Sieg des Guten über das Böse angelegt. Trotz
alledem ist das Verhältnis der Erkenntnis zur Religion bei dem
einen ein völlig anderes als bei dem anderen, weil sie mit dem
Worte „Glauben" durchaus nicht denselben Sinn verbinden.
Bei Forberg sieht die Sache zunächst so aus, als wolle er durch
seine Trennung von Kopf und Herz neben dem theoretischen Wissen
dem Willen das Recht einräumen, dort die Überzeugungen zu bestimmen,
wo der wissenschaftliche Bew^eis versagt. Thatsächlich aber hat
diese Trennung eine ganz andere Bedeutung. Es werden durch sie
zwei Welten nebeneinandergestellt, die garnichts miteinander zu thun
haben können. Die W^elt des Herzens ist lediglich für den handelnden
Menschen da. W^er Überzeugungen sucht, muss sich allein an seinen
Kopf halten. Für die Philosophie, die doch nicht im Handeln,
sondern im Denken und Fürwahrhalten besteht, wird also die
Koordination von Wille und Verstand wieder aufgehoben, und
das Herz dem Kopfe untergeordnet. Der praktische Glaube ist
^ar kein Gewissheitsprinzip und hat somit für unsere philosophische
gf
Fichtes Atheismusstreit und die Kantische Philosophie. 147
Weltanschauung- auch nicht die freringste Bedeutung. Das ist For-
bergs unzweideutig ausgesprochene Ansieht, und als ob er dem
Leser gar keinen Zweifel darlil)er lassen wollte, stellt er die letzte
„verfängliche Frage" auf, ob nicht der Begritf eines praktischen
Glaubens ,,mehr ein spielender als ein ernsthafter philo-
sophischer Begritf"' sei. Die Antwort darauf aber Uberlässt er
„billig dem geneigten Leser selbst, und damit zugleich das Urteil,
ob der Verfasser des gegenwärtigen Aufsatzes am Ende auch wohl
mit ihm nur habe spielen wollen".') Eine Versöhnung von Wissen
und Glauben wird man in dieser „Keligionsphilosophie" nicht erl)licken
können.
Fichte lag nichts ferner als in Fragen der Religion „spielende
Begriffe" aufzustellen oder gar mit seinen Lesern zu spielen. Zu-
nächst scheint er ebenfalls die Bedürfnisse des Willens neben den
Entscheidungen des \'erstandes zur Geltung bringen zu wollen,
bleibt jedoch dann ebensowenig wie Forberg bei dieser Koordination
stehen, die ja in der That niemals zu einer Überbrückung des
Gegensatzes von Religion und Erkenntnis führen kann. Dann aber
bewegt sich sein Denken genau in der entgegengesetzten Richtung
wie das von Forberg. Er zeigt, dafs auch die theoretische Gewils-
heit des Intellekts auf einem Glauben und damit auf einem Willen zum
Glauben beruht. Es giebt also ebenso wie nach Forberg für unsere
Überzeugungen nicht zwei Fundamente, das Wissen und den
Willen, aber es giebt sie hier deshalb nicht, weil der Wille die Grund-
lage auch für unser Wissen ist. Dadurch kommt dann Einheit in
unsere Weltanschauung, denn dadurch kann der aus unserer
moralischen Bestimmung gew'onnene Glaube für die Bildung unserer
Überzeugungen dem „blofsen Wissen", wie man jetzt sagen könnte,
übergeordnet werden. Das Recht des Glaubens vor allem Wissen
ist aulser Frage gestellt, und die Versöhnung von Erkenntnis und
Religion so im Prinzip erreicht.
*) Was Forberg später in seiner Apologie. S. 175 t. vorgebracht hat, um
diese bedenkliche Wendung zu rechtfertigen, ist mehr spitzfindig als über-
zeugend. Im übrigen erklärt er dort ausdrückUoh, er habe sagen wollen, „der
Begriff eines praktischen Glaubens, nach der gewöhnlichen, noch immer viel
zu theoretischen Darstellung, sei ein höchst unphilosophischer Begriff
und eine Ilinterthür, um jeden Unsinn, den die theoretische Philosophie mit
Mühe losgeworden, durch die praktische wieder herein zu lassen." Und diese
Ansicht ist bei jeder Koordination von Willen und Verstand in der That die
einzig mögliche.
148 Hoinrirli Ivickcrt,
M. Die Überwindung des IiitoiloktuaÜHimis.
Aiu'li ilic l'liiloso|ihi(' der (Jcjrciiwail sucht diese NCisiilimm^^
und ist ol)(MitalIs virlfach irciici^t. sie auf dem Hudeii der Ivautisclicii
IMiilosdpliic /.u lindt'n. AI)or in den meisieii l'iillen denkt sie nicht
daran, sich dal)ci l'ichtc an/.uschliofscn. Khcnsowcnijr .i<'d<»ch zieht
sii' die Kt»nsiM|n(Mi/.('n l'orhcrfrs. sondern meint, dem Willen ein
Kci'ht aut" die Hihlnnir unserer I l)orz('Uirunfron cinräunicn /u dllrfen,
auch wenn der NCrstand als snh'her mum Wiih'ii nnahhiiniriü' ist.
Sic untersdioidct also wie Forheri;- Ko|i(' und Her/,, alier sie hleil)t
bei dieser Komdina t ion stehen, uinl kninmt so /.u iU'v \(tn Korlicrg
/urüekirewiesenen Ansicht, dals nach Kant der ^\'unsch des ller/.ens
dort als irenüirender (Jrund für eine Iherzeugunj:- <i-(dten könne, wo
das Wissen nach theoretischen (iriindeu nicht /u entscheiden vermag,
und weil Ixm den letzten Fragen der Weltanschauunjr die theoretischen
Gründe in den meisten Fällen zu einer delinitiven Stellunirnahme
nicht aasreichen sollen, so glaubt sie zur Bildung ihrer Ansichten
besonders über die Probleme der Keligionsphilosophie den Willen oder
den praktischen Glauben anrufen zu dürfen.')
Die l^erechtiguns: dazu sucht diese Denkrichtuni:- zunächst durch
den Nachweis zu stutzen, dafs in dem historischen N'erlauf der
Philosophie thatsächlich die verschiedenen Weltanschauungen nicht
allein durch den Intellekt sondern auch durch den Willen ihrer
Schöpfer bestimmt gewesen, und dafs auch heute durchaus nicht
nur theoretische Überlegungen sondern vor allem Ideale unsere
Grundüberzeugungen formen. Diese faktische Beeinflussung des
Urteils durch Wünsche des Herzens aber werde, so meint sie
ferner, nicht nur fortdauern, sondern sei auch ganz in der Ordnung.
„Der Wille bestimmt das Leben, das ist sein Urrecht; also (!) wird
er auch ein Recht haben, auf die Gedanken einen Einfiuls zu üben.
1) Es liegt nicht in meiner Absicht, auf diese Theorien nälier einzugehen
und sie in jeder Hinsicht zu würdigen. Als ihre Vertreter nenne ich Paulsen
in Deutschland imd James in Amerika. Paulsen erklärt ausdrücklich, in
dieser Frage mit Kant übereinzustimmen. James liegt solche Beziehung wohl
femer, aber er wird von Paulsen in eine Reihe nicht nur mit Kant, sondern
auch mit Fichte i!; gestellt. Um meine Auseinandersetzung an faktisch vorliegende
Aussprüche anzuknü])fen, habe ich mich im folgenden ausdrücklich auf einige
Sätze von Paulsen imd James bezogen, und ich möchte nur noch bemerken,
dafs ich ledigüch deswegen so entschieden gegen Paulsen Stellung nehme, weil
ich die Bedtutung seiner Ansichten wegen des grofsen pädagogischen Ge-
schickes, mit denen er sie vertritt, und wegen des erheblichen Einflusses, den
sie ausüben, wohl zu schätzen weifs.
Ficbtes Atheismusstreit und die Kantische Philosophie. 149
Nicht zwar auf die Feststellung der Thatsachen im eiii/.elneu: hier
soll sieh der Verstand allein nach den Thatsachen selbst richten;
wohl aber auf die Auffassung und Deutung der Wirklichkeit im
ganzen". (Paulsen.) Oder: wir sollen dort nicht verzichten, uns
Meinungen zu l)il(len. wo wir nichts mehr wissen können. Das wäre
eine falsche Scheu vor dem Irrtum, die unberechtigterweise mit
dem Streben nach Wahrheit identifiziert wird. Wir entgehen da-
durch zwar der Gefahr, getäuscht zu werden, aber wir verlieren auch
sicher die Möglichkeit, etwas zu glauben, das vielleicht wahr sein
könnte, und das zu glauben wir ein Interesse haben. ,,Eine Denk-
regel, die mich vollständig verhinderte, gewisse Arten von Wahrheit,
wenn diese Arten von Wahrheit wirklich beständen (!), anzuerkennen,
wäre eine vernunftwidrige Kegel". (James.)
Ob solche Ansichten der Kantischen Philosophie auch nur ver-
wandt sind, kann ich hier nicht entscheiden. *) Was die thatsäch-
liche Beeinflussung des Intellekts durch den Willen betrifft, so hätte
Kant vielleicht die Vermengung dieser quaestio facti mit der quaestio
juris im Interesse einer kritischen Behandlung des Keligionsproblems
nicht gewünscht. Und sollte er wirklich unter dem Primat der
praktischen Vernunft eine berechtigte Beeinflussung unserer Über-
zeugungen durch Wünsche des „Herzens" verstanden haben? Er war
docli sonst garnicht geneigt, in der Philosophie irgend etwas gelten
zu lassen, das seine Dignität nicht durch strenge Ableitung seiner
Notwendigkeit aus dem Wesen der Vernunft erwiesen hatte, und so
hätte er möglicherweise bei der «.Ersetzung der unzureichenden Über-
zeugungsgründe durch die Hoffnung-' mit Fichte von „Wahn und
Traum" geredet. Entspricht der Primat des Willens, wie er heute
vertreten wird, nicht mehr den Ansichten Schopenhauers als denen
Kants, und müssen wir nicht in allen ethischen und religiösen Fragen
das \'erhältnis dieser beiden Denker zu einander als das des ent-
schiedensten Gegensatzes bezeichnen? Ja, dürfen wir auch nur
Schopenhauer diese moderne Ansicht zumuten, und liegt sie nicht
mehr auf dem Wege zu Nietzsches Ideal des Philosophen als des „Be-
fehlenden und Gesetzgebers'', wonach es dann auch in der Philo-
•) Seitdem man angefangen hat, als entscheidend für die Auffassung von
Kants Ansichten über einige der wichtigsten Fragen Notizen und Kolleghefte
anzusehen, die Kant nicht hat drucken lassen, und die seinen gedruckten
Werken gradezu widersprechen, wird man wohl überhaupt darauf verzichten
müssen, in diesen Fragen einen Satz mit Sicherheit als den Ausdruck von Kants
Meinimg zu bezeichnen.
J50 lloinrii'h Iv ick ort,
sopliif nitlir au! tlic Stiirkf des Willens als auf die Stärke des In-
tellekts ankoniinen wllrde? \ Hr allem sehe ieh iiielit recht ein, wie
UKiii irlauben kann, in ir-rend einer „praktischen" Krap' mit Kant
überein/.nstimmen. wi-iiii mau sich nicht steinen Mi)rallte},n-ilV, den
Aiiirelpunkt seines {ranzen Systems, in voller Stren^a' /u eip'n j;e-
macht hat, und von dem „katetrorischen Imperativ" wollen doch
srerade die \ Crtreter der liifr in Frap' konunenden Ansichten meist
nicht viel wissen.
Aber es kommt hier nicht darauf an, was Kant gedacht hat,
sondern allein darauf, wie seine Gedanken aufzufassen oder weiter-
zubilden sind, falls sie die Grundlap' für eine Versöhnung von
Wissen und (ilauben bilden sollen, und da scheint es mir, so
lanjre wir in der Philosophie an einem Streben nach All^remein-
glllti^keit festhalten, zweifellos, dafs, auch wenn die angedeuteten
Lehren „Kautisch" sein sollten, sie sieh gegenüber der strengen
Konse(iuenz Forbergs und Fichtes als ganz verfehlt herausstellen
müssen.
Bei jeder Koordination von Wissen und (Uauben wird der
Intellekt für sich als vom Willen vollkommen frei und nur als that-
sächlich von ihm beeinflusst gedacht, denn in der Einzelforschung
soll er ja ganz allein herrschen. Dann aber bleibt der Wille ein
dem Intellekt innerlich fremdes I^lement, und für den wissenschaft-
lichen Menschen bedeutet sein Einfluss notwendig eine Trübung, die,
wenn sie dauert oder gar dauern soll, nur den Erfolg haben kann,
dass in der Philosophie im Gegensatz zu allen andern Wissenschaften
nicht nur thatsächlich individuelle Neigungen und Wünsche mit ein-
ander kämpfen, sondern dass auch nicht der geringste Fortschritt
auf dem Wege zu einer allgemein gültigen Weltanschauung jemals
zu erhoffen ist. Wer diese Überzeugung hegt, muss es aufgeben,
Philosophie als etwas zu treiben, das mit Wissenschaft auch nur die
geringste Verwandtschaft hat, und mit ihm hat es die Wissenschaft
dann nicht weiter zu thun. Wer aber in der Philosophie nach All-
gemeingültigkeit strebt, kann in der thatsächlichen Beeinflussung des
Kopfes durch das Herz nur die dringende Aufforderung erblicken,
diese Trübung seines Intellekts durch seinen Willen zu verhindern und
insbesondere in der Religionsphilosophie allen Wünschen den Weg
zum Denken sorgfältig abzuschneiden, weil hier, wo das Denken
versagt, und die Wünsche am heftigsten fordern, die Gefahr des
Irrtums am grössten ist. Es ist also gar nicht einzusehen, wie man auf
dem Boden einer Koordination von Kopf und Herz dem Wissenschaft-
Fichtes Atheismusstreit und die Kantische Philosophie. 151
liehen Menschen es verwehren will, als h(3chstes, wenn auch viel-
leicht nie erreichbares Ideal die Entscheidung aller, auch der letzten
philosophischen Frag:en durch einen vom Willen völlig unbeein-
flussten Intellekt autzustellen, ein Ideal, das uns dann bei allen durch
den Intellekt nicht zu entscheidenden Fragen die Urteilsenthaltung
zur unabweisbaren Pflicht macht. Wo das Denken aufhört, hat der
Philosoph als Philosoph nichts mehr zu sagen, und wenn dies den
Problemen der Religionsphilosophie gegenüber der Fall sein sollte, so
behielte Forberg Recht mit seiner Behauptung, dass die Frage, ob
Gott sei, abgewiesen werden müsse, als ein Produkt spekulativer
Neugierde. Der Kantische Begritf des praktischen Glaubens wäre
dann in der That mehr ein spielender als ein ernsthafter philo-
sophischer Begrit!'. Selbstverständlich liegt den modernen Vertretern
dieses Glaubens die Absicht, mit ihren Lesern zu spielen, ganz fern,
aber dem plus an Ernst, das sie Forberg gegenüber besitzen, steht
ein erhebliches minus an Konsequenz gegenüber.
Nur wenn sich zeigen lässt, dass der Intellekt nicht neben
dem Willen steht, sondern überall selbst auf Willen und Glauben
beruht, weil er sonst nie zur Wahrheit als einem Werte führen
könnte, der, um für uns zu gelten, von uns gewollt und gebilligt
sein muss, verschwindet auch für den wissenschaftlichen Menschen
das Ideal eines in jeder Hinsicht vom Willen freien Verstandes.')
Dann ist die Geltung und Anerkennung eines absoluten Sollens die
Grundlage auch des rein theoretischen Wissens, und durch eine
Einsicht in das Wesen des Denkens selbst ist ein
Weg zur Versöhnung von Wissen und Glauben angebahnt. Die
Religion kann dann als Glaube an ein in der Welt objektiv
wirkendes Prinzip des Guten als notwendig abgeleitet werden,
weil das absolut notwendige Sollen und Wollen, das die Möglich-
keit seiner Realisierung mit eben der Notwendigkeit fordert, die
es selbst besitzt, als Basis jeder Gewissheit auch für den theo-
retischen Menschen gilt. Das aber ist der Standpunkt Fichtes,
und deswegen kann es nur bei seiner Auffassung oder Weiter-
bildung Kants, nur bei seinem Primat des Willens vor dem
Denken Kantische, d. h. kritisch begründete und positiv gerichtete
Religionsphilosophie geben.
Man spricht heute viel von einer „Überwindung des Intellek-
1) In der Logik stehen unter den Lebenden Sigwart und Windolband
dieser Lehre vom Primat des Willens vor der theoretischen Vernunft am
nächsten.
l.«i'2 Holnricli KioktTl,
tiKilismus-'. (lun-li die Kaiitisi-lic IMiilosoiinic iiml in dci- Thal hat dieses
Wort einen iruten Sinn. Alter man niuss auch ;:an/. ;;enaii an;:»'l)en,
was man damit mi-int. wenn tlie l'herwindunfr di's IntelleUtiialismus
uiehl /.u einer l lierwindunir des Intellekts in der Wissenschaft
werden soll. Man kann unter Intellektnalismus erstens die Ansicht
verstehen, dass der .Mensch im (»runde nur ein denkendes Wesen
sei und sein solle, und dass daher seine (Jefühls- und Willens-
welt auf allen Gehieten seiner Hethäti^iin^ in den llinterj;rnnd /u
treten iialie. .\ls höchstes Ideal für di-n Menschen ertriel)t sich
daraus die Anfirahe, sich in eine rein wissenschaftliche lietrachtunj;
der Welt zu versenken und iiherhau|)t nichts ;xelten /.u lassen,
das vor dem Intellekt nicht Stand hält. Solche Tendenzeu
waren in der grriechischen l'hilosophie vctrherrschend, wir linden
sie bei den j!:rossen Rationalisten der neueren Zeit und in
der Aufkläruni:-s|)hilosophie. Sie werden zweifellos der vollen
Menschennatur nicht gerecht, und sie zu ,, überwinden" ist gewiss
auch eine Aufgabe, zu deren begrilflicher Lösung Kant bisher
bei weitem das Meiste gethan hat. Aber darum, welche Rolle
der Intellekt und welche Rolle Wille und Gefühl im Gesamtleben
des Menschen zu spielen haben, handelt es sich hier gar nicht.
Was in Frage kommt, ist nur die Bildung einer wissenschaftlich
begründeten Weltanschauung durch die Philosophie, und dass für
sie der Intellekt allein massgebend sein soll, kann sehr gut neben
der Meinung bestehen, dass es im Leben noch auf andere Dinge
als auf die \Vissenschaft ankommt. Bei aller Anerkennung für das
nichtwisseuschaftliche Leben wird man die Alleinherrschaft des
Intellekts in der Philosophie ernstlich niemals in Frage stellen dürfen,
denn es ist gar nicht einzusehen, wo man die Grenze setzen will,
wenn hier dem Verstände irgend ein Recht entzogen ist, und deshalb
kann bei dieser Überwindung des Intellektualismus ein Zwiespalt
zwischen Glauben und Erkennen unvermindert fortdauern.
Zweitens kann man noch in einem ganz anderen Sinne von
Überwindung des Intellektualismus sprechen, und damit kommen wir
erst zu dem Problem, das Fichte beschäftigt hat. Aber dabei
handelt es sich vollends nicht um die Überwindung des Intellektes
in der Wissenschaft, sondern um die Überwindung einer falschen
wissenschaftlichen Autfassung des Intellekts. Die bisherige Philo-
sophie, so kann man sagen, hat Wollen und Denken in ein Ver-
hältnis zu einander gebracht, so als ob das logische Denken mit
dem Willen garnichts zu thun hätte, ja ihm seinem innersten Wesen
Fichtes Atheismusstreit imd die Kantische Philosophie. 153
nach entgegengesetzt sei. Das war wieder eine spezifisch griechische
Auffassung, und durch sie entstand ein Zwiespalt in unserer Welt-
anschauung, besonders seitdem die Willens- und Gefühlswelt in
ihrer Bedeutung sich entwickelt hatte und mit den griechischen
Begriffen nicht mehr in einer einheitlichen wissenschaftlichen Welt-
anschauung untergebracht werden konnte. Auf der einen Seite war
der Mensch ein absolut indifferenter Beschauer der Dinge.
Auf der andern Seite war er Wille, setzte Werte und nahm zu
ihnen Stellung, und dadurch erschien die ,,^fw(>/«" dem überall
wertenden Leben notwendig feindlich. Die Überbrückung dieses
Gegensatzes kann man nun ebenfalls eine Überwindung des
Intellektualismus nennen, aber nur, wenn man unter Intellekt jenes
indifferente Schauen versteht, und die Überwindung kann darin
allein bestehen, dass auf rein logischem Wege die tief gehende
Verwandtschaft des nach Wahrheit strebenden Denkens mit dem anf
das Gute gerichteten Willen aufgezeigt wird, eine Verwandtschaft,
die, wie Fichte es eingesehen hatte, darauf beruht, dass ein Wollen
und Werten das innerste Wesen auch des nach wissenschaftlicher
Überzeugung strebenden Denkens bildet.
Eine Philosophie, welche hiervon ausgeht, könnte man vielleicht
auch als „Voluntarismus" bezeichnen, weil sie den Willen als letzte
Basis auch jeder theoretischen Erkenntnis erwiesen hat, aber sie
bleibt von dem, was heute gewöhnlich Voluntarismus genannt wird,
durch eine Welt getrennt. Sie räumt, so sehr sie die Bedeutung
des Willens für das sittliche, religiöse, künstlerische, staatliche
Leben anerkennt, ihm in dem Prozess der Bildung unserer Welt-
anschauung neben dem Intellekt nicht das geringste Recht ein,
sondern hält an der Alleinherrschaft des Intellekts auf philosophi-
schem Gebiete streng fest, aber aus dem aller auf Allgemein-
gültigkeit Anspruch erhebenden Thätigkeit und mithin auch dem
Streben nach wissenschaftlicher Wahrheit übergeordneten Sollen und
Wollen folgert sie, um mit Fichte zu reden, ..etwas im Erkenntnis-
vermögen". Sie bildet mit anderen Worten den Begriff des Intellekts
um, d. h. sie erkennt den wertenden Willen im Intellekt selbst an,
und sie vermag dadurch, aber auch nur dadurch, für den Glauben
an eine transcendente Weltorduung die denkimr höchste Gewissheit
in Anspruch zu nehmen.
Was schliesslich ihr Verhältnis zu Kant betrifft, so findet sie
diese Ansicht bei ihm vielleicht nirgends so ausdrücklich formuliert
wie bei Fichte, aber sie wird sich die Überzeugung nicht nehmen
Kantstudiun IV. 11
154 lloiuriili Wie kort,
lassen, dass diese in dem jrrössteii .lUiij^rr Kants /.um Diirclilinu'ii
{rekoinniene Wahrheit doeh /ii (icii tiefsten Wirkunfren iler Kantischen
Philosophie selbst /ii reehnen ist, und dass jedenfalls nur durch
eine AutVassun«; und Weiterhildun^; Kants in diesem Sinne auf
Kantisohem Hoden Einheit in unsere wissenschaftliehc Weltansehauun^^
irebraeht werden kann. S(dlte es nieht jrestattet sein, Kant so
fortzubilden, so würde man den konsecjuentcn Kantianer nur in —
Forberg: erblicken dürfen, und von einer Überwindung' des Intellek-
tualismus in der zweiten Bedeutunj; des Wortes durch Kant, d, h.
von einer wissenschaftlichen Versöhnung des (ilaubens mit dem
Wissen durch die Kantische Philosophie dürfte dann nicht gesprochen
werden.
II.
Der Gegenstand des (ilaubeiis.
1. Fichtes Gott als Weltordnung.
Soviel über das Prinzip der Gewissheit, das Fichte aufgestellt
bat. Was ist nun von dem Inhalt oder dem Gegenstande seines
Glaubens, d. h. von seiner Gleichsetzung der übersinnlichen „Ordnung"
mit der Gottheit zu halten? Bisher haben wir diesen Gegenstand
der Religion nur insofern berücksichtigt, als nötig war, um zu zeigen,
dass wir durch ihn über das Sittliche, d. h. den immanenten guten
Willen hinaus ins Transcendente ge fuhrt werden. Jetzt müssen wir
die Ordnung, um den Atheismusstreit ganz zu verstehen, noch etwas
genauer kennen lernen. Da Fichte für seinen Glauben die denkbar
höchste Gewissheit in Anspruch nahm, so wäre die Beschuldigung
des Atheismus total unverständlich, wenn es nicht in seinem Gottes-
begriff etwas gäbe, wodurch er Anstoss erregte. Und so ist es in
der That. Erst mit dem Begriff der Ordnung als der Gottheit
kommen wir eigentlich zum ,, Atheismus".
Zunächst deute ich kurz den Fichtescheu Gedankengang an.
Gott als lebendige und wirkende moralische Weltordnung ist absolut
gewiss, aber ebenso sicher ist es, dass wir einen andern Gott nicht
zu fassen vermögen. Die Ordnung ist zwar nichts Fertiges, Geord-
netes — denn dann fiele die Gottheit mit der Welt zusammen, und
es gäbe keinen Gott — sondern Gott ist das die Welt Ordnende
und insofern von ihr Verschiedene. Aber es besteht andererseits auch
kein Grund, über die Ordnung hinaus einen Ordner anzunehmen.
Fichtes Atheismusstreit und die Kantische Philosophie. 155
Der „ordo ordinans'") selbst ist Gott, nicht etwa eine Persönlichkeit,
welche ordnet. Gott als besonderes Wesen denken, heisst ihn in
Sinnlichkeit und Beschränkung herabziehen, denn alle besonderen
Wesen sind endliche Dinge.
In seinen Streitschriften hat Fichte diese Gedanken weiter aus-
geführt. Es ist bekannt, wie er den Spiess dort umkehrt und seine
Ankläger Götzendiener und Atheisten nennt, weil sie an Gott als
ein besonderes Wesen glauben. Das Wichtige liegt in seinem Be-
streben, an der Unmittelbarkeit des Glaubens festzuhalten und alle
Ausgestaltung des Gottesbegriffes durch ..Erräsonniren*' zu vermeiden
Unmittelbar ist allein die Beziehung der Gottheit auf unser sittliches
Bewusstsein. Der Begriff" eines besonderen Wesens ist immer erst
hieraus erschlossen. Gott als besonderes Sein denken heisst, das
Produkt eines Syllogismus zu einer Realität machen und aus ihm
dann das, was das Ursprüngliche und Unmittelbare ist, ableiten
wollen. Fichtes Gedanken spitzen sich schliesslich notwendig dahin
zu: Gott als das Übersinnliche hat überhaupt kein „Sein" in der ge-
wöhnlichen Bedeutung des Wortes.
Eine Religionsphilosophie, die Gott für absolut gewiss erklärte,
und doch von einem Sein Gottes nichts wissen w^ollte, war nicht
allen sofort verständlich. Mit Recht konnte Fichte sagen: „Wer meine
Religionslehre verstehen will, der muss das System des trans-
cendentalen Idealismus und den damit unzertrennlich verknüpften
1) Diese Bezeichnung für den Gott Fichtes findet sich zuerst in der An-
fang 1799 erschienenen, sehr verständigen Schrift des Theologieprofessors J.
E. Chr. Schmidt: „Nachricht an das ununterrichtete Publikum den Fichteschen
Atheismus betreffend". Es heisst dort, Fichte würde die moralische Welt-
ordmmg „in der Sprache unserer Vorfahren . . . wohl ordo ordinans (wenn
ich nach der Analogie von natura naturans ein Wort bilden darf
genannt haben". Fichte selbst gebraucht das Wort erst später. Zuerst in dem
„Hamburg 1799'- datirten, aber erst 1836 verüffentlichten Aufsatz: Zu „Jacobi
an Fichte" (N. W., III, S. ;390). Gedruckt findet sich der Ausdruck zum ersten
Mal in dem „Privatschreiben'' aus dem Januar 1800, und zwar nicht wie bei
Schmidt als Analogon zu natura naturans, sondern als Gegensatz zu ordo urdi-
natus (S. W., V, S. 3b2). — Auf den Begriff des „Thuns ohne Thäter", der mit
dem des ordo ordinans zusammenhängt, gehe ich im Folgenden absichtlich nicht
ein, ebenso wie ich auch den Bogriff des „reinen Ich- unberücksichtigt gelassen
habe. Beide Begriffe spielen im Atheismusstreit keine erhebliche Rolle mehr,
und es kam mir gerade darauf an, zu zeigen, dass auch ohne diese viel um-
strittenen und missverstandenen Elemente des Fichteschen Denkens seine
erkenntnistheoretischen Grundlagen, wie sie sich seit 1797 immer klarer ent-
wickeln, darzustellen sind.
11*
156 Heinrich Ivic kl" rt,
reiiuMi Moralisimis ^cnaii Uciiiifii iiiid, wie ich ^Maiilx', l)osit/.('H."
Seine (iririuT al»iT waren mhi dicsn- Kenntnis weit und mhi dem
Besitze ni)eli weiter entfernt. NN ir dUrfen uns also ei^eutlieh
nieht dariil)er wundem, dass sie ihn. der (lott (las Sein alispraeh,
einen Athi'isten nanntiMi.
Versiu'hen wir den (iedanken Fiehtes aus dem ZusammenhanfifC
seines Systems /.u verstehen. Was es ihm so schwer machte, für
seine Kelig:ionsphih)soi)hie einen Ausdruck zu linden, der den An-
schein von Taradoxie vermied, — und daruin aUein hanch-lt es sich
im Grunde — war der Umstand, dass er sich in einem Tunkte
zn aller Philosophie vor ihm, die an einem llhersinnlichen festhielt,
in hewusstem Gegensatz befand: er verwarf die N'oraussetzung. dass
es zwei verschiedene Arten des Seins g:el)e. In Kants theoretischer
Philosophie hatte sich die alte Zvveiweltentheorie, welche die Realität
in ein Sein höheren und geringeren Grades, in eine „an sich"
existierende Welt und eine Welt der „Erscheinungen" spaltet, bis
auf einen so kleinen Kest verflüchtigt, dass man darüber streiten
konnte, ob Kant überhaupt noch an ihr festhalte. Aber dieser Rest
erhielt in der praktischen Philosophie wieder eine grosse Bedeutung.
Fichte gab dagegen die Seinsspaltung in jeder Hinsicht auf, so dass in
den Zeiten des Atheismusstreites sein Denken, das vorher und nach-
her Wandlungen durchgemacht hat, antiraetaphysisch, ja wenn man
will, positivistisch ist, so weit es das bei jemand, der Kants trans-
cendentale Analytik verstanden hatte, nur sein konnte. Er lässt
..nichts für reell gelten, das sich nicht auf eine innere oder
äussere Wahrnehmung gründet".') Der alte metaphysische
Gegensatz wird durch den erkenntnistheoretischen Gegensatz des
Begritflichen auf der einen Seite, der unbegreiflichen Welt der Em-
pfindungen auf der andern Seite ersetzt und aufgehoben. „Die
Philosophie, selbst vollendet, kann die Empfindung nicht geben, noch
ersetzen; diese ist das einzige wahre, innere Lebensprinzip. "^j Also:
die unmittelbare Welt der Empfindungen, die früher Erscheinung hiess,
1) Eückerinnerungen u. s. w., aus dem Anfang des Jahres 1799. S. W., V.
S. 340.
2) A. a. 0., S. 343. Wer Fiehtes Philosophie nur aus den üblichen kurzen
Darstellungen kennt, wird diese Gedanken mit seiner Vorstellung von ihr nicht
vereinbar finden. Fichte selbst behauptet, immer so gedacht zu haben. Doch
darauf kommt es hier nicht an. Jedenfalls denkt er in den Zeiten des Atheia-
musstreites so, und wenn in der Wissenschaftslehre von 1794 sich andere Mei-
nungen finden, so stellen sie nur eine vorübergehende Phase dar, die er bald
überwunden hat, und die daher hier nicht mehr von Bedeutung ist.
IMchtes Atheismusstreit und die Kantiscbe Philosophie. 157
ist für Fichte zur wahren Realität geworden, und hat auch den
Charakter der Irrationalität, den bei Kant das Ding an sich besass;
das dagegen, worin man früher die wahre Realität sah. ist jetzt
zum blossen Begrifl" oder (iedankending und damit zugleich zum
Rationalen gemacht. Fichte lehrt die Irrationalität der Wirk-
lichkeit.
Wir begreifen, wie schwierig es war, in dieser theoretischen Philo-
sophie einen Gott unterzubringen, den das moralische Bewusstsein
verbürgt hatte. Zur Welt der Begritle darf die Gottheit nicht ge-
rechnet werden, sie ist unmittelbar und irrational, wie die Sinnen-
und Emptindungswelt. Aber weil sie übersinnlich ist, so kann von
ihr auch nicht gesagt werden, dass sie existiert, denn existieren ist
dasselbe wie sinnlich existieren. Etwas drittes jedoch, das weder
sinnlich existiert noch Begrifif ist, scheint ausgeschlossen, und so
sehen wir, ist in der Welt Fichtes für einen seienden Gott, für ein
reelles Übersinnliches in der That kein Platz. Während bei Kant
die moralische Weltordnung in dem theoretisch leer gelassenen
„Ding an sich"' eine Unterkunft finden und so zu einer Welt des
Seienden über der ISinnenwelt sich gestalten konnte, hatte hier die
theoretische Vernunft die Zweiweltentheorie so vollkommen zerstört,
dass die praktische Vernunft auch nicht den geringsten Raum
mehr vorfand, um dorthinein eine übersinnliche durch den Glauben
verl)ürgte Realität zu retten. Weil die alten Kategorien tur das
Denken des Übersinnlichen also im erkenntnistheoretischen Interesse
zertrünunert waren, so musste das Übersinnliche sozusagen in einer
neuen Kategorie gedacht werden, wenn die praktische Philosophie
in Harmonie mit der theoretischen bleiben sollte. Auf diese Einheit
jedoch kam gerade für Fichte alles an. Er hat es selbst empfunden,
dass er bei der Formulierung seiner neuen Gedanken in einen
Konflikt mit dem Sprachgebrauch kam, aber es ist auch wirklich
nur die sprachliche Wendung, die uns stört, wenn wir hören, der
ordo ordinans ist kein Sein, obgleich der Glaube an ihn das Ge-
wisseste ist, was es giebt. Sobald wir daran festhalten, dass Sein
für Fichte ausschliesslich sinnliches Sein ist, erscheint im erkenntnis-
theoretischen Interesse seine paradoxe Formulierung notwendig.
Den engen Zusammenhang zwischen Erkenntnistheorie und Reli-
gionsphilosophie müssen wir stets im Auge behalten, um diese Ge-
danken nicht nur zu verstehen, sondern auch in ihrer Bedeutung zu
würdigen. Für den religiösen Menschen bleibt vielleicht der Satz,
Gott hat kein Sein, immer paradox. Aber wollte Fichte denn Ueli-
158
Iloinrioli Uickort.
ffion geben V Im Geirenteil, er wird nicht nilldc. immer von neuem
herv()r/uliel)en. dass es sich nicht um dTe Kelitrion seihst, sondern
nur um die Helii:ions|)hih»soi)liie handelt, und unter Philosophie
versteht er nichts anderes als „Deduzieren". Diest's Deduzieren aber
heisst ..nicht irL^end etwas neues in die (lemllter der Menschen
briniren." ..Für den l'unhilosophen — und im l.elien sind wir not-
vvendiiT alle rnphilosojdien — ist etwas da und Idriht da." „Der
rhili>s.»i)h alter hat die \ Crhindlichkeit. tliesos Ktwas aus deiu ge-
samten Systeme unseres Denkens ahzuleiti'ii, den Ort dessell)cii in
jenem iiDtwendi-ri-n Systeme aufzuzeigen." ,,An der Religion wird
durch meine l'hil(ts(.phie nichts geändert, und so gewiss durch sie
etwas geändert würde, wäre meine l'hilosojjhie falsch". „Ich hah(^
es mit der Ableitung (Deduktion) Jener Religion aus dem Wesen
der Vernunft zu thun, und zwar lediglich in wissenschaftlicher
Absicht." Da nun Religion nicht Wissenschaft ist, so muss alles,
was an der Religion Wissenschaft zu sein vorgiebt, ,,gänzlich ver-
nichtet werden als ein alle endliche Fassungskraft übersteigendes
Hirngespinst", und es bleibt für die Keligionsphilosophic lediglich
, Jener Ort des religiösen (Tlaubens, jenes Etwas im Systeme des
notwendigen Denkens, an welches der religiöse Glaube sich an-
schliesst." Diese Sätze ^) machen die Absieht und den Sinn der
Untersuchung vollkommen klar.
Wir können das auch so ausdrücken:' Fichte will nicht die
Religion beschreiben und noch weniger sie schaffen, sondern lediglich
feststellen, was an ihr auch einer wissenschaftlichen Kritik Stand
hält. Das widerspricht der Ablehnung jedes Beweises für die
Religion nicht. Beweis ist im Sinne des ,,Erräsonnirens" zu nehmen,
und die Religion selbst kann nicht bewiesen werden. Die Religions-
philosophie aber kann sich doch immer nur an den Intellekt
wenden, denn für ihn allein sind ja, wie Fichte selbst hervorgehoben
hat, 2) ihre Probleme vorhanden. W^as aber für den Intellekt als not-
wendig abgeleitet werden soll, können nur die intellektualistischen
Elemente des religiösen Lebens sein. Diese unumgängliche Be-
schränkung der Aufgabe müssen wir verstehen. Wenn nur das
festzustellen ist, dessen Anerkennung auch die Philosophie sich nicht
zu entziehen vermag, und wenn zu einer übersinnlichen Realität
vorzudringen, der Philosophie überhaupt versagt ist, dann kann
auch der philosophische Gottesbegriff" sich nur als der einer
1) Vergl. S. W., V., S. 385—387.
2) Vergl. oben S. 142.
Fichtes Atheisnmsstreit und die Kantische Philosophie. 159
übersinnlichen Ordnung nnd nicht als der einer übersinnlichen
Realität ergeben. So unbefriedigend das im religiösen Interesse sein
mag, so wichtig ist es im Interesse der Wissenschaft, dass über-
haupt irgend etwas Übersinnliches sich als notwendig ableiten läfst.
Vielleicht kann man das Eigentümliche der Fichteschen Ge-
danken und die Bedeutung, die sie trotz ihrer Paradoxie haben,
auch so angeben: Kant begriff das Wesen der Wissenschaft, ohne
dabei die Voraussetzung zu machen, dafs nach einer Welt von
Dingen an sich unsere Urteile sich zu richten hätten. Der
Gegenstand der Erkenntnis hört also auf, eine absolute Realität zu
sein. Er wird vielmehr zu einer „Regel" der Vorstellungsverknüpfung,
und diese Regel genügt vollkommen, um dem Erkennen die Objek-
tivität zu geben, die früher von Dingen an sich abhängig gemacht
wurde. Ganz analog verfährt Fichtes Religionsphilosophie. Der
Gegenstand des Glaubens ist für ihn ebenso wenig ein absolutes
Sein, wie der Gegenstand der Erkenntnis es für Kant ist. Wie bei
Kant die Realität durch eine Regel, so wird sie bei Fichte durch
die Ordnung ersetzt, ein Begriff, der mit dem der Regel auch das
gemeinsam hat, dass er aus der Kategorie des Seins in die des
Sollens führt. Ebenso wie die Regel dem Erkennen, so soll die
Ordnung dem Glauben den „Gegenstand" und die „Objektivität" ver-
leihen.
Selbst^-erständlich ist dieser Vergleich nicht in jeder Hinsicht
durchzuführen, aber noch eines haben die beiden Theorien gemeinsam.
Für den Mann der empirischen Wissenschaft wird die Erkenntnis-
theorie Kants vielleicht immer etwas Paradoxes behalten, weil es
ihm auf den Inhalt des Erkennens ankommt, und er daher die
Objektivität nicht von einer Regel, sondern von dem seienden Stoff
herleiten will. Ebenso ist dem religiösen Menschen die inhaltliche
Ausgestaltung des Gegenstandes seines Glaubens die Hauptsache,
und mit einer Ordnung als Gegenstand weifs er nichts anzufangen.
Aber wie sieh schlieislich doch die transcendentale Erkenntnistheorie
nicht nur mit der empirischen Wissenschaft verträgt, sondern, richtig
verstanden, sie begründet, so wird sich auch die transcendentale
Religionstheorie zum religiösen Leben verhalten. Man mufs nur so
wenig, wie man von der Erkenntnistheorie verlangt, dals sie den
Inhalt der Wissenschaft geben solk von der Religicnsphilosophie
den Inhalt des religiösen Lebens fordern.
Gewifs hat Fichte das letzte Wort über Religion im Atheismus-
streite noch nicht gesprochen. Seine eigenen Gedanken erhielten
160 nt'inrich Klokort,
ja wiMiiiTt' Jalirc später c\ne (Ji'stalt, die \'n'\v als ixli'ii'lilxHlcntoiid
mit i'iiioiii iiriii/.ipifllcn \ frlasscii dos liier anjiCirfliciicn Standpimktcs
betrui'liti'ii, und in der sie jiMUMit'alls Utifr die Hcscliriinkmij;, die er
sich hier autfrie-rt hat, weit hinausirelieii. Das hebt jedoeh den Wert
seines früheren Standpunktes nieht auf. Nielit das let/.te, wohl alter
das erste Wort liber Heliirion, das die l'hilosophic zu sa^^en hat,
ist hier sresajrt. und dieses Wort sollen wir stehen lassen: Der
(rlaube an eine übersinnliehe Weltordnun^^ ist das (rewisseste, was
es rriebt; das relidöse Leben hat im System der Philosophie seinen
absolut sicheren ,,Ort''. Was weiter über die Ordimiif,' /,u sa^^eu
sein wird und g:csajrt wonlen ist, kann nicht eine Verweri'ung,
sondern lediirlich eine Ergänzung dieser Gedanken sein.
2. Religion und Metaphysik.
Worin aber ist die Ergänzung zu suchenV Eine erschiipfende
Antwort auf diese Frage liegt mir hier natürlich fern, aber wieder
legt der Zusammenhang mit Ansichten der Gegenwart w^enigstens
eine Andeutung nahe.
Viele werden heute noch den Abschluss der Religionsphilosojihie in
einer Metaphysik erblicken, und wenn sie hierunter eine Wissenschaft
im strengen Sinne des Wortes verstehen und sie zu geben imstande
sind, so haben sie Recht. Aber eine solche Metaphysik kommt hier
für uns nicht in Frage. W^ir bleiben bei dem Verhältnis Fichtes zu
Kaut, und dass Kant Metaphysik, d. h. Erkenntnis des Übersinnlichen
im strengen Sinne als Wissenschaft hat gelten lassen, wird wohl
niemand behaupten. Trotzdem ist heute die Meinung verbreitet, dass
gerade auf dem Boden des Kantischen Denkens die Religionsphilo-
sophie viel mehr geben könne, als Fichte im Atheismusstreit gegeben
hat, und wir wollen daher die bereits früher behandelte Auffassung
Kants jetzt auch in Bezug auf den Gegenstand des religiösen Glaubens
mit dem Standpunkt Fichtes vergleichen.
Kant, so hören wir, hat nicht nur sein Lehen lang an einer
Metaphysik festgehalten, sondern ist darin auch heute noch vorbildlich.
Der „blosse"' Glaube soll uns zu einer übersinnlichen Realität führen,
und diese auch im einzelnen soweit bestimmen können, dass dadurch
eine Versöhnung von Wissen und Religion erreicht wird. Man bean-
sprucht für den Willen also nicht nur das Recht, den Glauben an
ein über alle Sinnen- und Verstandeswelt hinausweisendes Göttliches
zu begründen, sondern auch eine positive Metaphysik des Übersinn-
lichen auf ihn zu bauen.
Fichtes Atheisiuusstreit und die Kantische Philosophie. 161
Auch hier fragen wir Aveiiiger nach Kants Meinung, als da-
nach, welche Elemente seines Denkens wir hervorhel)en müssen, um
seine Philosophie in fruchtbarer Weise weiterzubilden. Vergleichen
wir nun Fichtes Gedanken mit der modernen Kantiuterpretation, die
Kopf und Herz koordinieren und den Intellekt durch den Willen über-
winden will, so tinden wir die Kolleu eigentümlich vertauscht. Die
Denker, die für ihren Glauben eingestandenermassen nur ein sehr
ungewisses Gewissheitsprinzip besitzen, meinen doch damit ein Bild
der übersinnlichen Realität entwerfen zu können. Fichte dagegen,
der sich ein Prinzip absoluter höchster Gewissheit für das Übersinn-
liche erarbeitet hat. macht mit äusserster Vorsicht bei der unmittel-
bar gewissen übersinnlichen Weltordnuiig Halt. Er hat gezeigt, dass
eine zwingende Notwendigkeit uns über uns hinaus zum übersinn-
lichen weist. Über dies Übersinnliche dagegen zu grübeln und es
auszustaffieren mit Prädikaten, die doch immer nur der Sinnenwelt
entnommen sind, erscheint ihm ganz wertlos.
Wer hier mehr geleistet hat, das bedarf keiner langen Er-
örterung. Eine Metaphysik, die auf Wünschen des Herzens beruht,
mag interessant sein, wenn sie der Ausdruck einer grossen Persön-
lichkeit ist, wird sie aber direkt als Aufgabe der Philosophie be-
zeichnet, so kann das nur zu unerträglichen Halbheiten führen und
Zweifel gegen den Wert philosophischer Bemühungen überhaupt her-
vorrufen. Das Hypothetische und Ungewisse, das ihr notwendig an-
haltet, macht diese Metaphysik wertlos für den religiösen Menschen,
denn dem ist es nie um ,, blossen'' Glauben, sondern um Glauben
als absolute Gewissheit zu thun.') Wie aber ein w^issenschaftlicher
Mensch sich mit ihr zufrieden geben kann, ist erst recht nicht zu
begreifen, da er vollends nicht auf blossen Glauben, sondern
allein auf Wissen ausgehen darf. Gerade für eine Philosophie, die
gegen den Naturalismus ankämpfen will, kommt es viel mehr auf die
absolute Gewissheit irgend eines Übersinnlichen überhaupt, als auf
die hypothetische Ausgestaltung seines Inhaltes an. Ist der Naturalismus
nur einmal im Prinzip so durchbrochen, dass über seine Unhalt-
barkeit auch nicht der geringste theoretische Zweifel mehr besteht,
so ist damit die Hauptsache gethan, und in der Überwinduntr des
Naturalismus, die auf der Fichteschen, d. h. wissenschaftlichen Über-
windung des Intellektualismus beruht, werden wir daher eine Leistung
') Dass alles Hypothetische auch nicht „die Spur einer Ähnlichkeit mit
dem, was der religi«3se Mensch Glauben heisst", besitzt, hat Theobald Ziegler
in seiner Rektoratsrede über „Glauben und Wissen" vortreftlich dargelegt.
1 (J2 lloinricli KickiTt.
orl)liok(Mi inllsscn. dii' l'ür ilic Kclifrionspliilosopliic \icl hcdciiii-iidcr
ist, als alli' Mi-taplivsik des ri)orsinnlii'li('n', die auf dem in der
Wissenschaft total unl)raiifliliart'ii (Jrunde von Wünschen des ller/ens
l)eruht.
Aller. \\ ie hereits j;esa;;'t. das ifli;:iüse (iet'ilhl wird sieh \<t-
inntlieh jrejren einen (tott, der nicht ,,sein" soll, immer stränhen, es
wird mit dem InhejrritV der höchsten Werte, die es kennt, auch den
BeirritV di'v Realität verbinden wollen, und das ist /weiftdlos sein
iriites Recht. \\\v werden daher sajren mllssen, dass Fichtes Denken
in der That doch der Kr^'än/.nn.ir bedarf. Die lleli}rionsphilosophie hat
sich bei ihm /.u einer Krkenntnislehre der Reliirion <restaltet. und so
sicher die Keliirion nicht nur aus intellektuellen Kiementen besteht,
sondern ihren Schwerj)unkt im (iefühls- und Willensleben hat, el)enso
sicher ist durch diese Kelifrionsphilosophie der BefjritT der Keli«>:ion
nicht erschöpfend darjrestellt. Das hat Fichte besonders in der
Appellation nicht jrenügend berücksichtijrt. wenn er den (xlauben an
Gott als eine Realität Götzendienst nennt.') Auch wenn die Reliirions-
philo Sophie nur den ,,Ort'' anzuj^eben vermaj? für das religiöse
Leben, und eine weitere Ausgestaltung des (Tottesbegriffes ihr versagt
ist. so hat doch das nichtwissenschaftliche religiöse Leben selbst
unzweifelhaft das Recht, sich an diesem philosophischen ..Orte" unge-
hindert und frei zu entfalten, und die Philosophie kann ihm keine
Vorschriften darüber machen, wie es dies thun soll. Sie vermag
mit ihren Begritfen, die eben ßegriife bleiben, für sich allein nichts
zu bieten, womit der lebendige Mensch leben kann, und muss daher
anerkennen, dass, wenn aus der Religionsphilosophie Religion werden
soll, ein Überschreiten ihrer Grenzen geradezu notwendig ist. So
wird ihr schliesslich die Rolle eines Wächters nach zwei Seiten hin
zufallen. Sie wird nicht nur jede Religion, die als Wissenschaft
auftritt, zurückweisen, sondern auch das alogische religiöse Leben
vor dem Übereifer jener Intellektualisten schützen, die überall nur
Schwärmerei erblicken, wo ein wissenschaftlicher Beweis oder un-
mittelbare logische Evidenz den Überzeugungen fehlt, und sie wird
so verstehen lehren, dass Religion zwar nicht Wissenschaft, aber
auch nicht Schwärmerei ist, sondern eine ganz eigene Art des Lebens,
die ihre eigenen Rechte hat.
Aber müssen wir dann nicht noch weiter gehen? Wenn die
Philosophie zugiebt. dass sie nicht alles begreifen kann und z. B,
1) Das Wichtige in diesen Gedanken ist übrigens der Antieudämonismus,
auf den ich hier nicht eingehen kann.
Fichtes Athoismusstreit und die Kantische Philosophie. 163
nicht zu erklären vermag:, wie mit dein g:uten Willen die geibrderte
Mög:liehkeit einer Realisierung des objektiv Guten denn nun eigent-
lich in Wirklichkeit zusannnenhängt, rauss sie dann nicht auf einen
Abschluss unserer (berzeugungen durch das religiöse Leben als auf
eine notwendige Aufgabe hinweisen, damit so die von der Wissen-
schaft niemals auszufüllende Kluft überbrückt wird? Bringt man
nun aber solche religiösen Überzeugungen auf einen erkenntnisartigen
Ausdruck, was sich schwer vermeiden lässt, so nehmen sie doch
notwendig die Form einer Metaphysik an, und wird einer solchen
religiösen Metaphysik, so lange sie daran festhält, dass sie nicht
Philosophie sondern Religion ist, nicht schliesslich auch die Philo-
sophie sich unterordnen und somit dem Willen und dem Gefühl
auch in dem Sinne sein Recht einräumen, in dem sein Einfluss auf
unsere Überzeugungen als Thatsache nachgewiesen werden kann?
Die Philosophie bliebe dann auf die Aufzeigung der Lücken in unserem
Wissen beschränkt. Sie ginge für sich nirgends zu Annahmen über,
zu deren Anerkennung sie den Intellekt nicht zwingen kann, und
behauptete daher niemals eine übersinnliche Realität, aber weim das
religiöse Leben der Vorstellung solcher Realität in Form einer Meta-
physik zu bedürfen erklärt, kann sie dagegen etwas sagen?
Das sind schwierige Fragen, die sich nicht mit einem Wort er-
ledigen lassen, aber darauf wird man doch vielleicht hinweisen
dürfen, dals wohl die Zeiten im wesentlichen vorüber sind, in
denen das religiöse Fühlen geneigt war, nach Formen zu suchen,
die sich notwendig als Metaphysik darstellen, und dals wir es
auch wünschen müssen, es würde recht wenig solche religiöse
Metaphysik getrieben. Metaphysische Überzeugungen nehmen, sobald
der Mensch sie in Urteilen ausspricht, immer die Form auch einer
wissenschaftlichen Metaphysik an, und dadurch gerät dann die
Religion sc leicht in jene gefährliche Verwandtschaft mit den Theorien,
die ein wissenschaftliches Verständnis der Welt anstreben. Eine
Trennung der Religion von jeder Metaphysik liegt also entschieden
im religiösen Interesse, weil die Religion in jeder Form, die auch
nur äulserlich das Gepräge einer Wissenschaft trägt, immer den
schärfsten Widerspruch der theoretischen Menschen erregen wird,
die in der wissenschaftlichen Erkenntnis des Übersinnlichen nicht nur
eine unlösbare Aufgabe, sondern sogar in dem Bedürfnis nach ihrer
Lösung das Produkt einer falschen Fragestellung erblicken. Damit
aber kämen wir im wesentlichen doch wieder dem Standpunkt
Fichtes im Atheismusstreit recht nahe.
2(54 llciiiricli Kickt' il.
Kino andorc l'berlciruni!: imifs uns olx'utalls von der rt'lijriöscn
Mcta|»li\ sik cntiVrncii. Die Hauptsache Itei aller Iveliirioii ist doch
sehlielslieh. ilal's wir /u dt-r lUiersinnliehen Weltordiuiii'r, /.u der die
rhilosopliie mit zwinirender Notweiidiickeit uns führt, uueh in ein
persünliehes \ erhältnis /,u Uomnu-n verniüiren. Kine lielifiidii alter,
die ihren Inhalt sich durch Aufbau einer Metaphysik verschallt, iriidit
diese Mi'tirlichkeit nie, (l(>nn alle Metaphysik besteht in ailirenieinen
HeirritVen. und zum Allicenieinen können wir ein persönliches \ er-
hältnis nicht irewinnen. Der alljrenieine Kahnien der Meta|)hysik
wird daher innner erst g:efiillt sein müssen durch die l'berlieferun,i;en
einer historischen Keliirion, und wenn wir diese haben, ist dann
eine Relijrionsmetai)hysik nicht vielleicht {;:anz überHüssi^V linser
Denken, das nach logischer Gewifsheit strebt, befriedij^t sie nicht,
nnser reli<ri()ses Fühlen aber bringt sie wegen ihrer formalen N'erwandt-
schaft mit der wisseuschattlichen Philosophie leicht in Verwirrung,
als sei der religiöse Glaube so hypothetisch, wie seine Metaphysik es
Tom wissenschaftlichen Standpunkt aus ist. lls scheint also, als würde
das religiöse Fühlen, das in seinem Reich sich frei weils und diese
Freiheit auf wissenschaftliche Beweise stützen kann, sich am besten
halten an eine besondere historische Gestaltung, an das Leben eines
grofsen Menschen, eines „religiösen Genies", das einmal in seiner
Persönlichkeit eine vorbildliche Ausprägung gefunden hat für sein
konkretes Verhältnis zu Gott. Geben wir den Versuch auf, die
Gottheit unter irgend einen wissenschaftlichen oder religiösen Allge-
meinbegrift" zu bringen, so fassen wir um so sicherer im Geschicht-
lichen, d. h. im Individuellen und Besonderen ihr ,. lebendiges
Kleid" und haben an ihm die Realität, deren wir als religiöse
Menschen bedürfen.
Auch Gedanken dieser Art liegen sehlielslieh Fichte nicht so absolut
ferne, wie man nach dem etwas geringschätzigen Tone, in dem er oft
vom „Historischen-' spricht, vielleicht glauben sollte, und damit will ich
nicht nur auf die Thatsache hinweisen, dals er selbst sein Leben lang
fest auf dem Boden des positiven historischen Christentums ge-
standen hat, sondern ich meine damit gewisse nicht genug beobachtete
Elemente in seiner Philosophie. Unter diesen habe ich jedoch wieder-
um nicht so sehr die grolsartige Ausgestaltung des Entwicklungs-
gedankens im Auge, die Fichte zu den ersten Vertretern einer geschicht-
lichen Weltanschauung macht, als vielmehr einige Ansätze zur Be-
stimmung des Historischen in seiner allgemeinsten, einfachsten und
oft übersehenen Bedeutung. Für das Problem der Religionsphilosophie
Fichtes Atheisniusstreit und die Kantisclie Philosophie. 165
freilich hat er diese Ansätze nicht ansgeführt. Da brachte sein
Bedürlnis nach Verlebendigung seines Gottesbegriffes ihn sogar
dazu, die im Atheisninsstreit so sorgfältig gezogenen Grenzen zwischen
Religion und Spekulation wieder zu verwischen. Aber auf die Be-
deutung, die das Bestimmte und Besondere, und das ist das Histo-
rische in seiner umfassendsten Gestalt, für das sittliche Leben besitzt,
weist er auch im Atheisrausstreite hin. ..Dem Menschen im wirk-
lichen Leben kann das Tflichtgebot nie überhaupt, sondern immer
nur in konkreter Willensbestimmuug erscheinen", heisst es in den
Ruckerinnerungen. M und in der Schrift über den Grund unseres
Glaubens an eine göttliche Weltregierung wird die Bedeutung der
„Schranken'', d. h. der irrationalen unmittelbaren Empfindungswelt
oder der empirischen Wirklichkeit dahin angegeben, dals sie die
jbestimmte Stelle in der moralischen Ordnung der Dinge" seien.
Setzen wir das Historische im weitesten Sinne diesen ..Schranken",
d. h. der irrationalen Welt des Bestimmten und Besonderen gleich,
so wird das Geschichtliche ..die fortwährende Deutung des Tflicht-
gebotes, der lebendige Ausdruck dessen, was du sollst, da du ja
sollst".
Hier scheint mir der entscheidende Punkt für die Würdigung
des Geschichtlichen getroffen, und von hier führt dann ein direkter
Weg zu jener Anerkennung des Historischen als des Einmaligen,
Irrationalen in seiner Bedeutung gegenüber dem Allgemeinen und
Begrifflichen, die in späteren Schriften Fichtes immer klarer hervor-
tritt, besonders wenn er in den „Reden an die deutsche Nation" ein
Volk in seinen nationalen, also historischen Eigentümlichkeiten be-
greift als stehend ,.unter einem gewissen besonderen Gesetze der
Entwicklung des Göttlichen", wenn er an der Nation das ,,Mehr der
Bildlichkeit" zu schätzen weiss, „das mit dem Mehr der unbildlichen
Ursprünglichkeit in der Erscheinung unmittelbar verschmilzt", oder
endlich erklärt: ,,die geistige Natur vermochte das Wesen der Mensch-
heit nur in höchst mannigfaltigen Al)stufungeu an Einzelnen, und an
der Einzelheit im Grofsen und Ganzen, an Völkern, darzustellen." 2)
Wir können danach den bekannten Satz Fichtes auch so betonen: ,,Die
Welt ist das versinnlichte Material unserer Pllicht", und jedenfalls
sehen wir, dass mit den Grundprinzipien der Fichteschen Philosophie
auch der Gedanke einer historischen Religion als der in ihrer Be-
1) S. W., V., S. 362.
2) S. W., Bd. VU, S. 381, 382 u. 467.
\{\{\ 11 1' in rieh Kicken. Kii-liU>s Aüu'ismusstrpit etc.
soiuli'rhfit ndtwciidiircn Ausfrostaltuii'r des unt'assbarcn ^iittliolicii
Lebens clurehaus nicht unvereinliar ist.
Dies niö^e frenüiren. um /u /.eijren, inwiefern Fichte {gerade
durcii seine im .Vtheismusstreit entwickelten (ledanken für uns heute
noch mehr als ein bloss historisches Interesse hat. \ ieles, was die
Wissenschaftslehre von 1794 unjreniefsbar und vieldeutif: macht, hat
er in diesen Zeiten überwunden. Das {rewaltsame Konstruieren
tritt in den llinterjrrund, /u keiner andern Zeit steht er dem von
aller ,. Verliebtheit" in die Metaphysik befreiten „Kriticismus" Kants
so nahe. L'nd anderseits sind die Schriften aus diesen Jahren noch
frei von den neuen Elementen, die später hervortreten und zu
einem restlosen Aufgehen in den Kriticismus nicht gebracht worden
sind. Die spätere Zeit ist reich in der Anwendung seiner Ideen
auf die Probleme der Geschichte, des Staates, der CTesellschaft, der
Nationalität; die erkenntnistheoretischen und die damit unmittelbar
zusammenhängenden religionsphilosophischen Sätze, d. h. die tiefsten
Grundlagen seines Denkens werden nirgends klarer entwickelt. Wer
Fichtes theoretische Philosophie auf ihrem Höhepunkt kennen lernen
will, wird sich daher vor allem an seine Schriften aus den letzten
Jahren des vorigen Jahrhunderts halten müssen, und kennen sollte
eine Zeit, die sich so viel mit Kant beschäftigt, diesen grössten
aller „Kantianer'* doch jedenfalls.
Der Streit um das Ding an sich
und seine Erneuemng im sozialistischen Lager.
Von Franz Staudinger.
Ein altes Gespenst geht wieder am, das man schon zuweilen
gebannt glaubte. Das ,,Ding an sich'', das jenseits der Erscheinung
unerkennbar zu thronen pflegt, tritt wieder, gleich der weissen
Frau im Hohenzollernschloss, in Erscheinung. Und diese Erscheinung
' des Dinges an sich findet heute statt in sozialistischen, b^zw. marxisti-
schen Kreisen. Ob Heil oder Unheil verkündend, das muss die
Zukunft lehren; vorläufig hat es nur Streit erregt.
In diesem Streite stand auf der einen Seite der strenge Materialist
alter Observanz Georg PI echanow, bekannt durch seine „Beiträge zur
Geschichte des Materialismus'-, worin er scharfe Ausfälle gegen die
Kantianer, besonders gegen F. A. Lange gemacht hat. und auf der anderen
Seite standen Eduard Bernstein sowie Dr. Konrad Schmidt, die
bei Kant eine Vertiefung ihrer Philosophie zu finden hoffen.^)
Das Problem, das hier in Frage steht, ist von Plechanow dahin
entwickelt worden, dass Kant sich widerspreche, indem er einerseits
richtig die Dinge an sich als Ursache unserer Empfindungen an-
sehe, andererseits aber behaupte, dass die Kategorie der Kausalität
ij Die einschlägigen Arbeiten sind:
Georg Plechanow: Beiträge zur Geschichte des Materialismus.
Stuttgart. 1896.
Konrad Schmidt: Kritik zu vorgenanntem Buch im „Sozialistischen
Akademiker". 1896. Juli- und Augustheft.
K. Schmidt: Über Kronenbergs Buch: Kant, sein Leben und seine
Lehre. Vorwärts, 17. Okt. 1897. 3. Beil.
Eduard Bernstein: Das realistische und ideologische Element im
Sozialismus: „Die Neue Zeit", Stuttgart 1897/98. Heft 34 u. :V.K
G. Plechanow: Eem.stein und der Materialismus. Ebenda: Heft 44.
G. Plechanow; Konrad Schmidt gegen Karl Marx und Friedr. Engels
Ebenda, 1898,99. Heft 5.
K. Schmidt: Einige Bemerkungen über Plechanow. Ebenda No. U.
G. Plechanow: Materialismus oder Kantianismus Ebenda, No. 19 u. 20.
Dr. Ch. Schitlowsky: Die Polemik Plechanow contra Stern und
Konrad Schmidt. „Sozialistische Monatshefte", 1899, Juni u. Juli.
168 Kranz St audtn^jor,
auf dir Diiip" an sich nicht ;m\v»'ii(lhar sei.') Konrad Schmidt da-
gejroii. drill Hornstcin den Aiistraj: des Streits zuschiebt, vertritt den
Gedanken, dass Kants Lehre wesentlich eine Theorie der Kr-
fahruni: sei. innerhalb deren lll)erall stren<r kausale Verknllpfuii};
der Krscheinun_i:en stattdnde. Dieser (ledanke, den man auch
Materialismus nennen könnte, sei aber ü:run(lverschieden noh dem
metaphysischen Materialismus, der ..die Elemente der Erscheinungen
llir Dinire an sich erklärt.''-)
Es ist nicht z^Yeitelhaft. dass hier lieide Streiter aneinander
vorbeireden. Was Plechanow betont wissen will, liisst Konrad Schmidt
völlig kalt, untl umgekehrt kennt Plechanow nicht die rroljlcmc,
welche Kant zu der Trennung des Dings an sich von den Erschein-
ungen geführt haben und notwendig führen mussten. Er bäumt sich
mit der Vehemenz und den Warten des common sense gegen eine
Schlassfolgerung, deren Prämissen er nicht erfasst hat. Darum kann
er natürlich auch bei seinem Gegner auf kein Verständnis desjenigen
Einwands horten, der ihm am Herzen liegt, und den wir allerdings
als sehr berechtigt, wenn auch als falsch gefasst, erkennen müssen.
So steht der Sachverhalt; — aber nicht etwa bloss in sozialisti-
schen Kreisen. Der zwischen genannten Sozialisten ausgebrochene
Streit spiegelt nur den Zustand wieder, in dem sich das Erkenutnis-
problem noch heute überhaupt befindet. Die einen, auf dem Boden
der Empirie und Psychologie stehend, verkennen die erkenntnis-
theoretische Hauptleistung Kants, die anderen, zum Verständnis dieser
Errungenschaft vorgedrungen, vergessen darüber, eine empfindliche
Lücke zu beachten, die Kant nicht nur ofl'en gelassen hat, was
nichts geschadet hätte, sondern die er durch eine widerspruchs-
volle Annahme zu schliessen suchte. Infolge dieses Lösungsversuchs
Ton Kant selbst muss das „Ding an sich" immer wieder als Ge-
spenst erscheinen und Verwirrung stiften.
Wir wollen den Versuch machen, diesen armen, irren Geist zur
Knhe im Orkus zu bringen. Dazu ist es nötig, dass wir uns kurz
die wesentlichsten Erkenntnisfragen vor Augen führen, die bis zu
Kant die Denker beschäftigt haben, sodann die wertvolle Entdeckung
Kants skizzieren, drittens das Problem oß'en legen, das auch hier-
nach noch zu lösen bleibt, und endlich den Weg, der zu dessen
Lösung: fuhren möchte, andeuten.
1) N. Z. 1898/99, Heft 5, S. 136.
2) N. Z. a. a. 0., No. 11, S. 326.
Der Streit um das Ding an sich etc. 169
Das geschichtlich erste Problem, welches die Philosophie be-
schäftigt hat ist die Frage: Was ist das eigentliche ISein in dem
Wechsel der Erscheinungen. Dem zum Sell)stbewusstsein erwachenden
Denken wohnt ja der Drang inne, in dem Vielen und Wechselnden
Einheit zu suchen. Und diese Einheit fand z. B. ein Thaies im
Wasser, ein Anaximenes im Apeiron, ein Parmenides in der den
Raum erfüllenden einheitlichen und ewigen Kugel etc. etc. Diese
Kachforschung nach der sachlichen Grundlage des Seins wird
heute, mit Ausnahme von einigen Metaphysikern, nicht mehr von den
Philosophen betrieben. Die Naturwissenschaft, insbesondere Physik
und Chemie, sind an deren Stelle getreten und forschen auf Grund
ihrer allmählich immer sichereren Methoden nach dem einheitlichen
Zusammenhange dessen, was ist.
Allein indem man jene Forschung nach dem Seienden betrieb,
musste naturgemäss eine zw^eite Frage auftreten: Wodurch er-
kennen wir? Welches sind die Erkenntnismittel, durch die wir
dem Seienden beizukommen, es in unsere Erkenntnis aufzunehmen
vermögen V Diese Frage liegt schon der Eleatischen Philosophie zu
Grunde. Wenn Parmenides d£;s als ewige Kugel vorhandne Seiende
für das Denkbare und das Denkbare für wirklich erklärt, dem
wechselnden Sinnenschein aber keine Wahrheit zugesteht, so hat er
bereits den Schritt über die blosse Erforschung des Seins hinaus
gethan und Erkenntniskritik geübt. Er h^t die Erkenntnismittel
bereits in Sinneswahrnehmungen und Gedanken getrennt, und unter
Abweisung der ersteren für das Denken als allein adäquates Er-
kenntnismittel Partei ergriffen. Und umgekehrt liegt, wenn auch
minder deutlich, der Heraklitischen Lehre vom ewigen Flusse der
Gedanke von der massgebenden Bedeutung der den ewigen Wechsel
vor Augen führenden Sinneswahrnehmungen zu Grunde, ein Gedanke,
der bei Protagoras und seinen Schülern auf die Spitze getrieben
wird. Die Objektivität der Dinge geht hier in der Subjektivität der
Erscheinungen auf. Unsere modernen „Positivisten" kommen so
ziemlich zu dieser Anschauung zurück.
Auf diesem Boden der ständigen Vermengung von Er-
forschung des Seienden und Kritik der Erkenntnismittel
bewegt sich die Philosophie bis auf Kant. Als charakteristisch in
dieser Denkentwicklung sei die Aufstellung Lockes hervorgehoben.
Ohne weiteres gleitet dieser von der Trennung der Erkenn tnis-
mittel in Sensation und Reflexion hinüber zu dem Unterschiede
der sekundären Eigenschaften der Dinge, der Töne, Farben etc.,
Kautstudieu IV. 12
ly^, Friiuz StautliiiKor,
die ki'inom existion'iulon Dinjre ähnlich sind, und der piiniiin-ii Ki;j:en-
schaflen, (irösse. Zahl. Gestalt, die in den Ki.rjx'rn selber wahr-
genommen werden. Eine kritische l'ntersuchun'r der H. fiijrnis
der p:rkenntnisniittel zu solchen Feststellunfren fehlt.
Ein wirklicher Fortschritt war erst mitjrlich. als man lernte,
prandsät/lich m tVairen, ob nicht scUtst diejeingen Hegrille, die man
ohne weiteres zu wirkliehen oder scheinbaren Eigenschaften der
Diuire gemacht hatte, zunächst einmal selbst als Erkenntnismittel
zu betrachten, und auf ihre Bedeutung in dieser Hinsicht zu unter-
suchen seien. Denn alle Vorstellungen, durch welche wir Objekte
erkennen, sind, sofern sie das leisten, Mittel zur Erkenntnis.
Diese, bekanntlich auf David Humes Forschungen ruhende
Problemstellung and sodann die Feststellung der zur
Konstruktion der Erfahrung notwendigen Erkenntnis-
mittel ist die grundlegende Leistung Kants. Darin allein
besteht die Koperuikanische Bedeutung seiner Lehre. Er selbst stellt
diese freilich in der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik anders
dar: „Wenn die Anschauung [oder der Begriff] sich nach der Be-
schaffenheit der Gegenstände richten müsste, so sehe ich nicht ein,
wie man a priori davon etwas wissen könne; richtet sich aber der
Gegenstand nach der Beschaffenheit unseres Anschauungsvermögens,
[bezw. nach den Regeln des Verstandes, die ich „in mir, noch ehe
mir Gegenstände gegeben werden, a priori voraussetzen rauss"], so
kann ich mir diese Möglichkeit sehr wohl vorstellen". i) In dieser
Darstellung fliessen somit zwei verschiedene Gesichtspunkte zu-
sammen, erstens die Untersuchung der Erkenntnismittel, der An-
schauungsformen und Verstandesbegriffe, sofern sie als Erkenntnis-
mittel bei der Bildung der Erfahrung fungieren, zweitens die
Voraussetzung, dass diese Erkenntnismittel nichts als „Beschaffenheit
unseres Anschauungsvermögeus'' und Regeln des Verstandes in
uns sind. Das heisst aber: Die erkenntniskritische Frage nach
der Funktion der Erkenntnismittel fliesst bei Kant zwar nicht mit
der alten Frage nach dem Sein, aber doch ohne weiteres mit der
sorgsam davon zu trennenden Frage nach der Herkunft dieser Er-
kenntnismittel zusammen.
Dies lässt sich an dem Begriffe des a priori leicht deutlich
machen. Die erkenntniskritische Bedeutung des a priori liegt
ganz einfach in den folgenden beiden Thatsachen beschlossen.
1) Krit. d. r. V. ed. Kehrbach, S. 18.
Der Streit um das Ding an sich etc. 171
Erstens: Ich kann keine Vorstellanj^en haben ausser in zeitlicher
Folge; ich kann keine (Gegenstände vorstellen ausser im Raum;
ich kann keine Veränderungen dieser Gegenstände vorstellen, ausser
mittelst des Begrifls der Ursache a. s. w. Raum, Zeit, Kausalität etc.
liegen also all meinem besonderen Erkennen zu Grunde, sie sind
notwendige Grundlagen aller Erfahrung. Das heisst: Während
sich z. B. der Begriff eines Vulkans, einer Sonnenfinsternis, einer
Tiergattung erst nach Aufbau des Weltbildes und nach Erkeimtnis
vieler Einzelheiten der Erfahrung herausstellt, kann die Erfahrung
selbst, der Aufbau des Weltbildes im einzelnen wie im ganzen gar
nicht ohne Anwendung der apriorischen Formen zu stände kommen.
Zweitens: Von allen nach der Erfahrung gebildeten, bezw. aus der
Erfahrung geschijpften Begriffen kann ich niemals bindende Schlüsse
auf weitere Erfahrung ziehen. Ich kann daraus, dass heute Vulkane
speien, niemals folgern, dass sie immer speien werden und kann
daraus, dass mir heute ein bestimmter Knochenbau für eine Tierart
charakteristisch erscheint, niemals mit Bestimmtheit schliessen, es
könne nicht etwa eine andere, mir unbekannte Tierart denselben
Knochenbau besessen haben. Ganz anders ist dies bei Schlüssen,
die auf Grund der apriorischen Formen gezogen werden. Da kann
a h
ich, wenn ich einmal bewiesen habe, dass -— den Inhalt des Drei-
ecks ausmacht, nicht im mindesten zweifeln, dass dieser Satz für
jedes nvr vorkommende Dreieck gilt; und wenn ich r^n als
Formel des Kreises bestimmt habe, so bin ich ausser Zweifel,
dass diese Formel für keine andere Figur gilt. Dieser Geltungs-
wert charakterisiert das a priori und macht seine wissenschaftliche
Bedeutung aus.
Diesem Geltungswert aber steht der Empirist ratlos gegenüber.
„Warum ist in manchen Fällen ein einziges Beispiel zu einer voll-
ständigen Induktion hinreichend, während in anderen Fällen Myriaden
übereinstimmender Fälle ohne eine einzige bekannte oder nur ver-
mutete Ausnahme einen so kleinen Schritt zrr Festsetzung eines
allgemeinen Urteils thunV" So fragt J. St. Mill; und er hat keine
Ahnung davon, dass die Antwort auf diese Frage mehr als ein halbes
Jahrhundert vor ihm bereits gegeben worden ist. Er meint: ,,Wer
diese Frage beantworten kann, versteht mehr von der Philosophie
der Logik, als der erste Weise des Altertums; er hätte das grosse
Problem der Induktion gelöst."') Das muss ja wohl sein, dass
M System der deduktiven und induktiven Logik, übers, v. Schiel. 3. deutsche
Anfl. I, S. 371. 12*^
17.! Fr an/. Staiuliufri'T.
Kant \oii dieser Frajre melir verstaiulrii liat, als iler erste Weise
des Altertums, ilenii jedcnt'alls hat er sie gelöst.
Ha diese Seite der Kantiseben IMulosojjJiie über empiriscbeii und
psycholofrischeii Kinzelerwäiruiifron noch immer \ou vielen Ncrkannt
wird, so sei die Art, wie sieb unsere Krtabrunj:: konstituiert, au
ein paar elementaren Heispielen illustriert. Wir haben /. B. die
Wahrnehmung einer ()ran<re. Woraus besteht diese? Aus einer
Summe von Gesiehts- und ev. Tast- und Geruehsemi)lindun<i:en, denen
sich wohl Erinueruuiren von Geschmacksempfindungen /uj^esellen
möjren. Aber es ist nicht die einfache Summe dieser Emj)lindun,i,^en,
sondern der au einer bestimmten Kaumstelle vorgestellte Komplex
derselben, der die Wahrnehmung; ausmacht. Und diesen Komplex
stellen wir, ebendamit, dass wir ihn wahrnehmen, als ein materielles
Etwas, als eine Substanz vor. Substanz! Die sehen und fühlen
und schmecken wir nicht; was wir sehen und fühlen und schmecken,
sind sinnliche Empfindungen. Aber wir haben keine Wahl; wir
müssen diesen Empfindungen jenen Gedanken einer Substanz unter-
legen, und erst damit, dass wir dies thun, nehmen wir die Orange
als Ding wahr. Thäten wür es nicht, so würde sie uns als ein
Sinnentrug erscheinen. In dieser Thatsache, dass wir nur da,
wo wir den Substanzgedanken zufügen, von Dingen reden können,
oder, umgekehrt ausgedrückt, dass wir imr dann wirkliche Dinge
wahrnehmen, wenn der Substanzgedanke untergelegt ist, liegt die
Bedeutung des Substanzgedankens als Erkenntnismittels und zwar
als eines für alle dingliche Wahrnehmung notwendigen Er-
kenntnismittels. Die besondere Frage, unter welchen besonderen
Umständen wir den Substanzgedanken zuthun, unter welch anderen
Umständen wir von Sinnentrug reden, berührt] obige Frage nicht;
das ist eine Frage der Einzelforschung.
Die Entdeckung Kants, dass erst der zutretende Gedanke eine
Wahrnehmung zur objektiven Wahrnehmung mache, ist jedoch nicht
bloss ..transcendental" d. h. als notwendige Voraussetzung mög-
licher Erfahrung zu erweisen; man kann die Probe bei einiger Auf-
merksamkeit selber machen, nicht bloss in Bezug auf den Substanz-
gedanken, sondern auch in anderen Fällen, bei wahren wie bei irrtüm-
lichen Wahrnehmungen; ja man kann das Experiment willkürlich
machen. Bekanntlich nimmt man oft wahr, dass der eigne Zug ab-
fährt, während der neben uns stehende stille steht, und muss nach
einem Blick auf die übrige Umgebung den Sachverhalt umgekehrt
denken. Aber sobald diese Korrektur in Gedanken da ist, ist auch
Der Streit um das Ding an sich etc. 17;3
meist die Wahrnehmunfr selber umjrekehrt. Bei eiiü^^er Übung nun,
freilieh nicht immer gleich, gelingt es, dass man, ohne das Auge zu
wenden, durch blosse Umschaltung des Gedankens auch die effek-
tive Wahrnehmung umschalten kann, zwei-, drei-, viermal während
des langsamen Vorbeifahrens eines Zuges.
Ebenso kann man bekanntlich ein regelmässig geordnetes Ta-
petenmuster je nach Belieben aus kreuzweisen Reihen, aus Drei-
ecken, aus Rhomben, ev. auch aus Quadraten bestehend nicht nur
denken, sondern auch wahrnehmen. Mit einiger ^lühe bringt man
es an geeigneten Punkten sogar fertig, dass man nicht die Sonne
hinter dem Bergrand untergehen, sondern den Bergrand sich vor die
Sonne heben sieht, also die der Kopernikanischen Thatsache ent-
sprechende Wahrnehmung erhält; und dies geschieht offenbar ver-
möge blossen Hineinlegens des Gedankens. Wenn dies Verhalten
des Geistes einerseits dazu führt, dass wir auf natürlichem wie
auf geistigem Gebiete oft irrigerweise etwas unmittelbar wahrzunehmen
glauben, was erst durch unsern Gedanken, den wir ohne Wissen
hereingelegt haben, zur Wahrnehmung geworden ist, so belegt es
doch auf der anderen Seite die Thatsache, dass unsere Vor-
stellungen erst durch die Denkzuthat zu gegenständlichen Wahr-
nehmungen werden.
Aber weim wir dies festgestellt haben, so bleibt uns noch übrig,
eine Beobachtung zu betonen, die Kant wohl gemacht, aber in ihrer
Konsequenz nicht beachtet hat. Sie bezieht sich auf die Frage:
Was drücken wir durch die Anwendung des Substanzgedankens als
Erkenntnismittel ausV Darauf lautet die Antwort: Sobald wir den
Substanzgedanken hinzuthun, wird uns der betreffende Vorstellungs-
komplex unweigerlich zur Wahrnehmung eines thatsächlich ausser
ans und unabhängig von der zufälligen Einzel-Wahrnehmung exi-
stierenden Dings. Die Wahrnehmung sagt mittelst des in ihr
liegenden Substanzgedankens aus, dass das wahrgenommene Ding
unabhängig von ihr daure. Denn Substanz heisst ja das Beharr-
liche in der Zeit, darauf verschiedene Einzelwahrnehmungen einheit-
lieh als auf dasselbe Ding bezogen werden.
Durch den in der Wahrnehmung liegenden Substanzgedanken
wird, ohne dass wir das merken, dem subjektiven und wieder ver-
schwindenden Empfindungsgehalt der Gegenstand selbst als der
Sulijektivität entrückt untergelegt. Diese Art der Objektivität be-
steht allen Ausflüchten zum Trotz als notwendige Bedingung aller
Erfahrung. Und hieraus allein ergiebt sich, wie bodenlos es ist,
17 1 Kr.'uiz M aiKÜnjf »T,
wenn sojrar ein llflniholt/, bcliauptcn Uainu ein idealistisches Welt-
Itilil sei k()nse(|Uent (lurclilllliiliar, wi-nn es aiicli eiiu- praUtiseli sehr
zueilelliatte Ihitotliese sei. Kin Weltbild ist \ielnielir ::anii('lit niö"--
lieh (tluu' \\'ahrnehnuinj::, und wenn in der \\ aiuiielnnnn;;- notwendifjj
der (Jedanke eines ausserhallt der Wahrnehinnnj:- Helia irenden
stei'kt. so kann ilieses lieiiarrenile nieht in die Subjektivität zurilck-
hezojrt'ii werden, ohne die Wahrnehinun}; selbst und damit jedes
Weltltilil aut'/.uheben.
(ianz ilasselbe /.eiul sich, wenn wir den «dijektiven Kausal-
iredanken betrachten.
Nehmen wir wahr, dass das schöne runde, ^cUjc Oran^'enbild
verschwindet, und nur ein Häufchen Schalen und Scheiben \nr uns
lieutl lu diesem Falle haben wir zunächst nichts als eine
Kcihenfolii-e subjektiver Km|)tindunj;en, bczw. einzelner verschie-
dener Wahrnehmun^uen. Aber damit begnüg-en wir uns nicht. Wir
sag:en vielmehr, die Orange ist geschält und zerteilt worden. Wir
beziehen somit die Reihe verschiedener Empfindungen bezw. W'ahr-
uehmungen auf einen einheitlichen, ausser uns stattfindenden Vor-
gang. W^ir behalten trotz der verschiedenen Inhalte die identische
Beziehung auf denselben Gegenstand bei und konstatieren: Der
Gegenstand ist anders geworden. Überall da aber, wo wir solche
Veränderung an demselben Gegenstand konstatieren, denken
wir, ebendamit dass wir dies thun, einen neuen Gedanken hinzu,
den nämlich, dass der Zeitreihe der geänderten Enij)findungen eine
Änderung im Gegenstande selbst entspricht. Aber wie können
wir behaupten, w'r hätten denselben Gegenstand vor uns, während
doch die Empfiudungsinhalte ganz anders sind? Nur dadurch, dass
wir hinzudenken, es sei eine gegenständliche Beziehung vor-
handen, welche die Änderung an demselben Gegenstand bedingt.
Diese gegenständliche Beziehung aber nennen wir Ursache. Nur
vermöge des Hinzudenkens des Ursachgedankens ist es
somit möglich, eine Veränderung von Wahrnehmungen als gegen-
ständliche Veränderung von Dingen aufzufassen; und hieraus stammt
die unausweichliche Nötigung, nunmehr nach den bestimmten Ur-
sachen der bestimmten Veränderungen zu fragen. Der Kausal-
gedanke kommt also nicht etwa erst zur W^ahrnehmung eines Ge-
schehens nachträglich hinzu;*) sondern die Wahrnehmung des Ge-
') Hier gilt es den Ausdruck „Wahrnehmung der Veränderung" beachten.
Kant sagt (Kehrbach S. 181) der Begriff der Veränderung liege nicht in der
Wahrnehmung verschiedener Zustände, sondern werde hinzugedacht.
Der Streit um das Ding an sich etc. 175
schehens selbst als eines gegenstüiullicheu Geschehens ist nur auf
Grund des Kausalgedankens möglich. Der Kausalgedanke selbst
ist in seinem Kern nichts als die Festhaltung der identischen Be-
ziehung trotz der Verschiedenheit der Inhalte.
Darum müssen wir auch hier konstatieren: Damit, dass wir
eine Reihe wechselnder Emptindungen als Wechsel in der Wahr-
nehmung desselben Dinges, also als Veränderung des Dinges selbst
auffassen, sagen wir, dass diese Veränderung sich wirklich ausser
uns und unabhängig von unserer zufälligen Wahrnehmung dieser
Veränderung vollzogen habe. Und auch hier ist diese Feststellung
von der anderen Frage zu trennen, ob wir da vielleicht im einzelneu
geirrt und vielleicht etwas als Veränderung eines Dinges angesehen
haben, was vielleicht nur eine \'eränderung an einem subjektiven
Medium der Beobachtung war.
Diese und die dem Gesagten analogen thatsächlichen, für das Ver-
ständnis der Erfahrung grundlegenden und massgebenden Fest-
stellungen müssen wir festhalten, denn sie führen allein aus dem
Irrlichtelieren phantastischer Spekulation, die schon Kant selbst in
der Kritik der Paralogismen und Gottesbeweise abgefertigt hat, auf
den klaren und sicheren Boden wissenschaftlichen Denkens und
Forschens. Sie geben die Lösung eines Problems, um das die Jahr-
tausende gerungen haben.
Dass aber diese Lösung keinen allgemeinen Anklang gefunden
hat, ja noch heute von weiten Kreisen nicht gewürdigt wird, hat
seinen Grund in dem oben erwähnten Umstände, dass Kant die
Frage nach dem Geltungswert des objektiven Apriori nicht von
der Frage nach seiner Herkunft zu trennen vermag und letztere
Frage voreilig und widerspruchsvoll entscheidet. Nachdem er z. B.
in durchaus exakter Weise in der sog. ».metaphysischen Erörterung"
des Raums erwiesen hat, dass der Raum nicht erst nachträglich,
d. h. als „empirischer Begriff" von äusseren Erfahrungen abgezogen
sei, sondern diesen Erfahrungen zu Grunde liege, und nachdem er
daraus in der „transcendentalen Erörterung" die Möglichkeit, aprio-
rische Schlüsse von allgemeiner Geltung zu ziehen, also die Möglich-
keit der Geometrie als Wissenschaft begründet hat, springt er
ohne weiteres zu folgenden „Schlüssen" über: ..Der Raum stellt
keine Eigenschaften (oder \'erhältnisse) irgend einiger Dinge an sich
Das ist keineswegs ein Widerspruch zu dem eben Gesagten. Denn die Wahr-
nehmung verschiedener Zustände ist eben noch nicht die Wahrnehmung
dieser Zustände als eines einzigen objektiven Vorgangs.
17G Franz S t a luiiii^ri' r,
vor." soiuliTU ist „nichts andiTcs als dio Form aller ErscluMiuinfrcii
äusserer Sinne, d. i. die subjektive Bedinj^un^^ der Sinnlich-
keit, unter der allein uns äussere Anschauunir möglich ist". (Jan/,
el)ens(i verfährt er. in He/.U|:: auf die Zeit, nachdem er sie p;an/- vor-
tret'llich als eine allen, nicht bloss allen äusseren Anschauunp-n
notwendiire (}rundla{::e darfrele^rt, und betont hat, dass die Wissen-
schaft der Bewepunf^slehre nur auf CJrundlafro der Zeitvorstellur.;::
apriorische Schlüsse ziehen kann. Und dassellx' Spiel wieck^rholt
sich betreffs der Kate{;::orien. Der richtige Gedanke, dass die Kate-
gorien Bedingungen a priori sind, die der Bildung der Erfahrung
zu Grunde liegen, also Jiedingungen niüglicher Erfahrung sind,
fuhrt sofort zu dem voreiligen Schluss, dass sie in „der Natur un-
seres Gemütes" als „subjektive Gründe"') der Feinheit liegen.
Freilich, diese Schlussfolgerung liegt nahe genug. Wenn man
einmal erkaiuit hat, dass die P>fahrung nicht fertig in uns her-
einfiiesst, sondern von uns geschaffen werden muss, so scheint es
ohne weiteres, als mUssten die Erkenntnismittel, durch die wir die
Erfahrung schaffen, auch in uns ihren Ursprung nehmen, also
vom „Gemüt" aus sich heraus hinzugegeben werden.
Und es ist leider Thatsache, dass gerade dieser Schluss in der
Geschichte der Philosophie eine weit bedeutsamere Rolle spielt, als
Kants wertvollere methodische Untersuchung, hinter der er sich als
Verlegenheitsauskunft aufbaut. Sowohl bei den Fortbildnern Kants
von Fichte bis Hegel als auch bei Gegnern des Mannes bildet gerade
diese Schlussfolgerung den Angel, um den sich die Haupterörte-
rnng dreht.
Aber dieser Schluss ist erstens an sich nicht notwendig,
und zweitens führt er zu W^idersprüchen, die unlösbar bleiben,
wenn man ihn festhält.
Der Erweis, dass der Schluss nicht notwendig ist, ist am besten
dadurch zu erbringen, dass man eine andere Möglichkeit der Er-
klärung, bezw. der Herkunft obiger Begriffe zeigt. Um aber dazu
zu gelangen, eine solche anderweitige Erklärung aufzusuchen, muss
man die Widersprüche aufdecken, die sich infolge jener Annahme
ergeben. Diese sind nun allerdings in der Hauptsache seit lange
empfunden, aber meist in falscher Weise geltend gemacht worden.
Man hat gesagt, dass eine Objektivität, die durch unser Denken
geschaffen werde, doch keine Objektivität der Dinge selbst sei.
1) Kehrb. S. 134.
Der Streit um das Ding an sich etc. 177
dass also die „Erscheinung-' im Grunde Sehein sei. Mit diesem
Einwände aber macht man Kants fehlerhafte Schlussfolgerung selbst
mit, supponiert also mit ihm, dass die Denkformen, durch die wir
Erfahrung' schaffen, auch im Subjekt entspringen müssen. Gegen
solche Formulierung des Einwands hat darum der Kantianer leichtes
Spiel. Er braucht bloss auf die von Kant festgestellte objektive Ge-
setzmässigkeit hinzuweisen, die nur unter genannter Voraussetzung
möglich ist, und die wahrlich kein Schein ist. Er kann sagen: Wir
können doch nie hoffen und beanspruchen, dass die Dinge, wie sie
an sich, d. h. unabhängig von unserer Erkenntnis sind, in uns her-
einspazieren. Im Gegenteil, gerade dann, wenn dies wäre, so wären
sie Schein und nicht ausser uns befindliche wirkliche Dinge. Dass
aber die Erkenntnisbestimmungen derselben nur in uns und nirgends
anders sein können, ist so selbstverständlich, dass darüber kein
Wort zu verlieren ist. Und hiergegen bringt obiger Einwand nur
eine Behauptung, aber keinen Beweis. — Wenn also Plechanow
meint, Kant damit zu widerlegen, dass er ihm sagt: „The proof of
the pudding is the eatingl" so trifft er ihn an ganz falscher Stelle.
Das leugnet ja Kant in keiner Weise; gerade er betont ja, dass
Empfindung „die wirkliche Gegenwart des Dinges-' anzeige. Und
gerade er hat ja die phantastischen Versuche, mit Umgehung der
Bedingungen der Sinnlichkeit zu „Dingen an sich" zu gelangen, mit
aller Energie bekämpft und hat die Wirklichkeit der Dinge in der
ersten ebenso wie in der zweiten Auflage festgehalten.')
Der Widerspruch, den sich Kant zu schulden kommen lässt, be-
steht nicht darin, dass er einerseits subjektive Vorstellungen, anderer-
seits Dinge annähme, die davon unabhängig sind. Der Widerspruch
besteht nur darin, dass er den Ursprung nicht nur derjenigen Vor-
stellungen, welche wie Möglichkeit, Notwendigkeit, Bejahung, Ver-
neinung etc. bei der Bildung der Dingvorstellungen notwendig sind,
aus der „Subjektivität des Gemüts" als ihrem „Quell" herleitet,
sondern dass er mit diesen Vorstellungen eine ganz andere Reihe von
') Wenn Plechanow den alten Gedanken wieder aufwärmt, in der 1. Aufl.
stelle sich Kant zu den „Dingen an sich" anders als in der zweiten, .so ver-
wechselt er eine blosse Frontveränderung der Polemik mit einer sachlichen
Veränderung. In der 1. Aufl. streitet Kant bloss wider diejenigen, welche aus
blosser Vernunft an die Dinge gelangen wollen, in der 2. Aufl. auch wider die,
welche behauptet haben, er sei materialer Idealist. Die Stelle iKehrb. 238 1 aus
der 1. Aufl. (S. 251), dass aus dem Begriffe einer Erscheinung tolge, dass ihr
etwas entspreche, was nicht Erscheinung sei, zeigt aufs deutlichste, dass
er auch hier durchaus keine material-idealistische Position eingenommen hat.
17s Franz St au diu jr er.
\ orsti'lluMiri'ii untrrsi'liii'dslos /usauiiiHiiwirli. .iiiiinlicli (licjcni^cu,
welclio als Hestinniiu ii^i'u drr NaturtMt'alirunf:: vcrwi'iiilct wc'nlcu.
Wenn wir saj:i'ii. ein Diiiir ist ..iiu)i::lirlK'r\vriso" vorhanden, so frebcn
wir daniil kein l'rädikat rini's Dinjres, sondciii nur ein NCrlialti'ri
unseres Erkcnntnisverinöi^ens an. Wenn wir alicr urteilen: „Das Ding
heharrt in der Zeit'', oder ,.das Dinp' M'riindcrt sich", so geben wir
Aussagen über die Dinge st.'ll)st; und wenn diese Aussagen ebenfalls
,.in der Sul)jektivität unseres Gemüts" ihren Ursprung hätti'n, so wären
>ie nicht inöiriieh. Sobald wir saiz'en niiisseii, ein Flecken, den wir am
Objekte sidien. gehöre dem 01)jekte sell)st an, können wir nicht sagen,
er stannne aus der Natur der Brille, durch die wir sehen. Und
ebenso umgekehrt. Hier, in der Erkenutnisl)eziehung, nicht in
dem Gegensatz Ding — Vorstellung liegt der Widerspruch. Das vei-
kennt Plechanow, wenn er seinen Einwand z. B. so formuliert: „Bei
Kant haben die Gesetze a j)riori keinen objektiven Wert, oder mit
anderen Worten, sie besitzen nur Geltung tür die rhänomene nicht
für die Dinge an sich."') Der Kantianer muss denken: Ist denn
der Mann nicht klug, „der einem Kant gerade das vor der Nase
wegleugnet, was dieser zuerst klar bewiesen hat, den objektiven Gel-
tungswert der Gesetze a priori?" — Und was soll erkenntniskritisch
bedeuten ,. Dinge an sich?": Das wären Dinge, die erfalst werden
sollen, abgesehn von Bedingungen unseres Erkennens; und gerade
dieses spekulative Suchen nach dem Stein der Weisen haben ja
Kants Forschungen unmöglich gemacht. — Also, Plechanows Ein-
wand ist für einen Menschen, der Kant versteht, nirgends zu fassen.
Hätte er gemerkt, dass Kant selbst jenen metaphysischen Gegensatz
im Auge hat zwischen einem Dinge, das wir natürlich erkennen,
und einem Dinge, das wir hinter unseren Erkenntnisbedingungen
herum (durch blossen Verstand) erkennen woUen, so hätte er seinen
Einwand anders formuliert. Er müsste nach dem Gesagten lauten:
,.Kant zeigt, aus welchen Komponenten das objektiv gültige, auf
Naturdinge angewandte Urteil geistig zustande kommt, aber er über-
sieht, dass Aussagen, die von dem Dinge selbst gelten sollen, un-
möglich ihren Quell rein m der Subjektivität des Gemüts haben
können." Gewiss will Plechanow in der Sache nichts anderes als
dies behaupten; wenn er vom „Ding an sich" spricht, meint er
eben das Naturding; aber seine Verkennung der positiven Leistung
Kants veranlasst ihn zu Foimulierungen, die gerade diese Leistung
in Frage stellen und er macht dadurch seine Einwände wirkungslos.
1; N. Z. 1898/99 No. 20, S. 629.
Der Streit um das Ding an sich etc. 179
bind wir uns ulit-r darüber klar ^a-worden, dass Kant in seiner
Kategorientafel von vorn herein nicht zwischen solchen Verstandes-
formen scheidet, welche bloss unser Verhalten bei Bildung? der
Erfahrung- anj:ehen, und solchen, welche zu Prädikaten der
Natur selber werden, sondern beide unterschiedlos durcheinander-
wirft, dann stellt uns diese Unterscheidung- vor ein neues Problem.
W'"r frairen nicht mehr metaphysisch, wie wir von Dingen an sich
zu Erscheinunjcen kommen oder um<rekehrt, sondern wir fraf::en er-
kenntniskritisch nach dem Unterschiede von zwei ganz ver-
schiedenen Arten objektiver (i.Ultigkeit.
Diesen Unterschied wollen wir uns noch an einigen Beispielen
anschaulich machen. Wenn wir die Höhe und Breite eines Steines
messen, und daraus den Kubikinhalt berechnen oder dergleichen, so
sind die verschiedenen Verfahren, die wir dabei anwenden, objektiv
gültig, aber eben nur objektiv notwendig für das Verfahren selbst.
Dagegen nur das Resultat ist gültig für den Naturgegenstand: den
Stein. Addition, Multiplikation, Potenzierung, Wnrzelausziehen etc.
sind notwendige und objektiv gültige Operationen für das Verfahren,
aber sie sind m keiner Weise objektiv gültig für Naturgegeustände.
Was soll ]/" — 1, auf Natur bezogen, bedeuten? Nichts, reinen Un-
sinn! Daraus ergiebt sich, dass wir bei unseren notwendigen und
objektiven Begrilfen nicht bloss den Geltungswert festzustellen
haben, und nicht etwa bloss, wie Kant thut, zwischen Sinnlichkeit
und Verstand zu scheiden haben, sondern dass wir weiterhin prüfen
müssen, für welche Art von Objektivität die betr. Begriffe
gültig sind. Es muss also neben der Beziehnngsart auch der Be-
ziehungsort eines Begriffs erkenutniskritisch untersucht werden.
Wenn sich also herausgestellt hat, dass Möglichkeit, Notwendigkeit,
Bejahung, Verneinung etc. nur unser Verfahren in Bezug auf
Gegenstände, Raum. Zeit, Kausalität, Substanzialität aber die äussere
Nator selbst zu Beziehungsorten haben, so muss die Befugnis, von
solchen Beziehungsarten zu prädizieren, besonders untersucht werden.
Dazu reicht aber Kants Untersuchung nicht aus. Er begründet
die objektive Geltung aus der sog. transcendentalen Einheit der Apper-
zeption, d. i. daraus, dass alle Begriffe in notwendigem Zusammen-
hang zum ,.Ich denke" in demselben Subjekt stehen müssen. Darin
hat er insoweit vollkommen recht, als er zeigt, dass nur der not-
wendige, einheitliche Zusammenhang aller Erkenntnisse uns Wahr-
heit verbürgt, dass wir also Irrtümer stets nur daraus erkennen
können, dass irgendwelche Denkbestimmungen sich widersprechen.
ISO Franz Staudinjjer.
Al>or •ri'iianntcn l iittrsi-liicd kann rr daiiiit iiiclil Itc^ncitlicli mai-licn.
Es bleibt schon tin Kiitsrl, wir neben der notwendij^en lU'/ieluini:
auf das ..h-h denke" nm'b eine .,eni j)irische Apper/,e|)tion'* mit iliren
viellachen Irrtümern mü<rlieli ist. Es l)leibt aber vor allem der
Grund unbe^^reillieli. warum einige der apriorisehen Denkix'stimjnunj^en
konstitutive, andere, wenn wir so sagen dürfen. Itloss konstruk-
tive Erkenntnismittel sind.
Das hieraus entsprin-rcnde Problem lässt sich durch kein Dekret
über den Irsprung lösen, oder aus der Welt schallen. Das Dekret,
sie seien im Subjekt entsprunj^en, schalTt einen fast noch grösseren
Widerspruch, als das Dekret, sie stammten aus der Erfahrung.
Letzteres enthält für den, der Kant durchdacht hat, freilich einen
onausgleichl)aren Widerspruch. Denn wie können diejenigen Ele-
mente erst Erzeugnis der Erfahrung sein, durch welche Erfahrung
ihrerseits erzeugt werden muss. Ersteres aber führt zu ganz halt-
losen Versuchen, der Subjektivität durch ungeheuerliche Annahmen
zu entgehen. Dahin gehören das Dekret, dass der Quell dieser
Formen nicht im Subjekt, sondern in einem generellen Ich, wie
Fichte annimmt, oder in einem ,,Bewusstsein überhaupt", wie Laas
es nennt, zu finden sei.*) Doch diese Ausflucht fruchtet nichts.
In der Erfahrung erscheint das Subjekt als Teil in der Kette
der Erscheinungen, und zwar als recht kleiner Teil. Als das die
Erfahrung gestaltende Subjekt hat es aber die ganze Natur in sich.
Hat es nun die Elemente zar Gestaltung der Erfahrung aus sich
genommen, als seine ^Erzeugnisse, so müsste seine Subjektivität
einerseits die gesamte Objektivität thatsächlich umfassen, anderer-
seits nur ein Teil darin sein. Das Bewusstsein überhaupt oder das
allgemeine Ich löst diesen Widerspruch nur durch Flucht aus der
Dämmerung ins Dunkel, und lässt das Problem im Nebel eines
mysteriösen Wortes verschwinden.
Auch das Verfahren Cohens und seiner engeren Anhänger ge-
nügt hier nicht. So sehr wir diese Forscher gerade darin schätzen
müssen, dass sie das eigentlich wissenschaftliche Fundament des
Kantianismus, die Untersuchung der Erkenntnismittel ausgegraben und
der zerfahrenen Philosophie der Gegenwart gegenüber mit zäher
Energie endlich mehr und mehr zur Geltung gebracht haben, so
wenig können wir es billigen, dass sie das in Frage kommende
1) Kants Analogien der Erfahrung S. 94 ff. Als ich diesen Passus s. Z.
zu lesen begann, hielt ich ihn für bittere Ironie; aber leider zeigte sich, dass
Laas blutigen Ernst machte.
Der Streit um das Din^ an sich etc. 181
Problem g:eradezu ausschliessen wollen. Weun freilich Cohen^j das
Ding an sich für den Inbegriff aller wissenschaftlichen Erkenntnisse,
bezw. als ,,Aufgabe'' bezeichnet, so haben wir au sich gar nichts
gegen eine solche Definition einzuwenden. Aber — sie bezeichnet
weder Kants Ding an sich, noch löst sie das durch ihn oflen ge-
lassene Problem. Sie ist eine Bestimmung, die nach Lösung des
Problems ganz vortrefflich ist, vor dessen Lösung angewandt aber
einer spanischen Wand gleicht, die es verdecken soll. Und dabei
ist dieser Verdeckungsversuch umsonst. Auch bei Cohen erscheint
das Bewusstsein als „Quell der Erfahrung'-, aber um dem Schein
des Subjektiven zu entwischen, meint er den ..InbegriÖ' der Mittel
und Methoden,'' welche wissenschaftliche Erkenntnis ausmachen.^)
Er geht also um den Fragepunkt herum, und behält die Subjektivi-
tät im Grunde bei, ohne es Wort haben zu wollen. Ebenso sagt
Natorp in seinem neuesten Buch:') Die Bestimmungen, in denen man
das Gegebene zu fassen versucht, ..stellen sich bei näherer Betrach-
tang als Denkbestimmungen heraus, die als solche nichts Gegebenes,
sondern eigne Gestaltungen des Denkens sind," Auch er sieht
also da kein Problem, sondern lässt ganz rahig die notwendigen
Bedingungen objektiver Erfahrung ohne Unterschied eigne Gestal-
tungen des Denkens sein.
Alle diese Aufstellungen verkennen oder umgehen somit das
Problem, um das es sich handelt. Das Problem haben wir erst
gelöst, wenn wir zeigen können, dass wir Bewusstseinsvorgänge
haben, die wir als wirkliche Relationen zwischen uns und
den Dingen ansehen müssen, und dass die konstitutiv
apriorischen Formen ohne Schädigung ihres Geltuugs-
werts von ihnen abgeleitet gedacht werden können. Dann
können wir begreiflicherweise dadurch, dass wir Bestimmungen,
die aus diesen Relationen abgeleitet sind, auf die Dinge unter-
einander übertragen, gültige Urteile über diese Dinge selber fällen.
Das ist dann genau so verständlich, wie es verständlich ist, dass
wir die Höhe eines uns unzugänglichen Turmes aus den Winkeln,
die er mit einer uns zugänglichen Wegstrecke bildet, berechnen
können.
Um eine derartige Lösung des Problems vorzubereiten, müssen
wir zunächst einiire besondere Funktionen unseres Bewusstseins ins
1) Kants Theorie der Erfahrung 2. A. .S. 519.
2) Cohen a. a. 0. S. 141 f.
'; Sozialpädagogik S. 25.
] t^-j Fr:in/. St :ni(l iiifjor,
Aosre fassen, die Kant horeits betont hat, die Analyse und die Syn-
these. Wenn \vir die Krfahrunfr, wie sie uns jeweils vorlief::t, be-
trachten, so finden wir, dass jeder Fortsehritt in ihr ^-esehallen wird
mittelst Analyse irc:end einer besonderen Einzelheit aus einem bisher
noch ununterschiedenen Boden und durch Bezi(diuiiir dieser Einzelheit
auf einen Zusammeniianir, in den sie sich eiidieitlich einfügen lässt.
So erscheint eine Landschaft zunächst in ganz allf;emeinen ZUj^en vor
nnserem Aug:e. Erst aufmerksame Beobachtung lässt besondere
Einzelheiten hervortreten, und diese fixieren wir dann oft nicht ohne
Mtlhe und Irrnngen neben- und hintereinander, so dass uns endlich
statt des Bewusstseins der verwoirenen Fläche ein mehr oder minder
gegliederter und geordneter Zusammenhang vor Augen steht.
So analysiert das Ohr aas dem Tongewiire eines Orchesters
die Töne eines Instrumentes und bringt diese als geordnete Melodie
zum Bewusstsein. So analysieren wir, mit der Fingerspitze hin- und
hergleitend, die Formen einer Fläche und bringen uns dieselben als
Zusammenhang des Gegenstands zum Bewusstsein. Wir vollziehen
also, indem wir analysieren, schon in der sinnlichen Beobachtung
gewisserraassen Abstraktionen, indem wir, von allen anderen Bestand-
teilen des Untergrunds absehend, bloss bestimmte Einzelheiten ins
Ange fassen, nnd diese bringen wir dann synthetisch untereinander
in Beziehung.
Dabei ist uns folglich jedesmal nur diejenige Einzelheit, bezw,
die Reihe der Einzelheiten deutlich bewusst, die wir gerade analy-
sieren; diese Reihe wissen wir, aber w'^ beobachten dabei oft nicht
einmal, dass wir das thun, geschweige denn, wie wir das thun
So ergiebt sich uns bekanntlich das objektive Nebeneinander-
bestehen bestimmter Dinge daraus, dass wir mit dem Auge oder
dem Tastorgan nach Belieben wechselweise zwischen dem einen und
dem anderen hin- und hergehen. Die Synthese „nebeneinander' voll-
zieht sich auf Grrund der w^echselseitigen Analyse. Wo wir diese
nicht wechselseitig vollziehen können, wo vielmehr die Wahrnehmungen
bloss zeitlich folgen, da reden wir nicht von nebeneinander bestehen-
den Dingen, sondern von Vorgängen, die „nacheinander" folgen.
Das thun wir jederzeit unmittelbar und meist blitzartig schnell;
aber das Bewusstsein, dass wir das so thun, steigt vielen Menschen
ihr Lebenlang nicht auf. Dies Thun könnten wir, um es vom eigent-
lich unbewussten zu unterscheiden, „unterbewusst" nennen. Bewusst
wird es erst dann, wenn wir gelernt haben, die bei Analysierung
und Verknüpfung der objektiven Begriffe ausgeübte eigne Thätigkeit
Der .Streit um das Ding an sich etc. 183
ZQ untersuchen und ihrerseits begritflich zu machen;') das heisst,
wenn wi»- nicht mehr Naturphilosophie und Metapliysik des Seins
treiben, sondern Erkenntniskritik üben.
Nach diesen Vorbemerkungen kommen wir zu dem Problem
zurück, das wir aufgestellt haben, und fragen, ol) wir unter unseren
Erkenntnisfunktionen solche haben, die von vornherein Beziehungen
von Dingen zu uns enthalten, oder genauer, ob Beziehungen in uns
vorhanden sind, die wir notwendigerweise als Beziehungen von etwas
Fremdem zu uns deuten müssen, und ob wir hiervon Bestimmungen
abzuleiten vermögen, die wir nachher als auf Beziehungen der Dinge
untereinander übertragen auffassen müssen. Können wir das leisten,
dann ist der Schluss gegeben, dass letztere Beziehungen auf dem
Wege der ursprünglichen unterbewussten analytischen und syntheti-
schen Thätigkeit abstrahiert und verknüpft worden sind.
Solche Beziehungen aber, wie wir sie suchen, kennen wir seit
lange — in unseren Emptindungsvorgäugen. Diese gelten uns
stets als unmittelbare Aftektionen, als passive Veränderungen unseres
Zustands als Beziehung von etwas Fremdem zu uns. Freilich, das
mnss betont werden, nur im lebendigen Empfindungsvorgang als
einem Geschehen, kann solche Beziehung liegen, nicht bloss in dem
nach Qualität und Intensität bestimmten Inhalte dieses Vorgangs.
Der gesamte Empfindungsvorgang enthält weit mehr als diese, bereits
durch Analyse aus ihm gewonnenen Elemente. Darauf weist schon
Kant selbst. „Sinnliche Anschauung," so sagt er, „enthält die Art,
wie wir von Gegenständen affiziert werden." Damit sagt er, dass
das Grundelement der sinnlichen Anschauung, die Empfindung, die
ja ,.die wirkliche Gegenwart des Gegenstandes voraussetzt",^) als
passives Affiziertwerden zum Bewusstsein kommt. „Affiziert werden"
heisst aber, Einwirkungen verspüren, zeitliche Veränderung des
eigenen Zustandes spüren, führt also den Kausalgedanken mit sich.
Es kann sich da höchstens um das Bedenken handeln, ob dieser
Kausalgedanke erst nachträglich zum Empfinden hinzuge-
dacht wird, oder ob er ursprünglich in ihm selber liegt und
erst durch Analyse, davon abgesondert wird.
Da wir nicht bei unserem ursprünglichen Bewusstsein, d. h. bei
unserer ersten Empfindung Nachfrage halten können, so ist diese
Frage empirisch nicht zu entscheiden. Die Analyse unseres heutigen
Empfindens kann uns da keine volle Gewissheit geben. Denn es
i| „Die Synthesis auf Begriffe bringen'-, Kehrbach, S. 95.
2) Kehrbach, S. 76.
184 Kran/. Staudint? i>r,
bliebe, sol)ald wir sajren wollten, der Kausulp'dankc sei aus der
Eiuptiiidunjr ab-releitet. deiiiiooh der \ erdacht bestehn, dies könne
eine Täusehunir sein, indem diese neuerdin;::s vorprenonimene Analyse
auf einer fUr uns lüclit mehr k()ntntli(rl)aren ursprUii^^liclien Syn-
these ruhe.
l'ni dieses Dilenuna /.u lösen, kommt uns aber Kants eij,Mio
Methode vortrertlieh zu statten. Die ,.transccndentale" Frajje, die
er stets als methodischen Entscheidunjrsirrund stellt, lautet: Ergebt
sich eine g:emachte Voraussetzung als Bedin'^'ung mö{?lieher Erfahrung?
Ist das der Fall, so lautet die Folgerung: Was sich als Bedingung
möglicher Erfahrung herausstellt, wird ebendamit zur notwendigen
Bedingung wirklicher Erfahrung.
Nun haben wir bereits gesehen, dass gewisse apriorische Formen
notwendige Bestandteile der Erfahrung sind; und wir haben darge-
than, dass mit diesem thatsächlichen Geltungswert die Annahme nicht
stimmt, dass sie aus der reinen Subjektivität des „Gemüts" stanmien.
Stammen sie aber nicht aus dem „Gemüte", und müssen sie dennoch
apriorisch sein, so bleibt nur die Wahl, dass sie von einem ursprünglichen
Erfahrungselemente abgeleitet sind. Da wir nun kein anderes
Erfahrungselement haben, von dem sie abgeleitet zu
denken wären, als den Empfindungsvorgang, so ergiebt
sich, dass die konstitutiv-apriorischen Formen ursprüng-
lich in ihr liegen und erst aus ihr abstrahiert sein
müssen.
Es wäre denn doch auch allzu seltsam, dass wir nur
in späterer Erfahrung, falls wir einen ungewohnten Ton hören,
einen unerwarteten Lichteindruck haben, eine plötzliche Tastempfindung
verspüren, sofort fragen sollten, woher das kommt, wenn nicht der
Empfindungsvorgang selbst durch eine in ihm liegende Eigenart diese
Frage an die Hand gäbe. — Und ferner: Falls das Kausalbewusstsein
im Empfinden liegt und von ihm abstrahiert ist, so ist es sehr be-
greiflich, dass wir überall da, wo wir Veränderungen wahrnehmen,
a priori eine Ursache postulieren müssen, während umgekehrt, wenn
die Empfindung nicht selber das Kausalbewusstsein enthält, gar kein
Grund abzusehen ist, warum wir sie durch Zudenken des Kausal-
gedankens zum Bewusstsein eines Affiziertwerdens, d. h. zu einem
Vorgange, der eine Ursache fordert, machen müssten, oder auch nur
machen könnten:
Wir müssen daher zu dem Schlüsse kommen, dass die kon-
stitutiv-apriorischen Formen aus dem Empfindungsvorgang abgeleitet
Der Streit um das Ding an sich etc. 185
werden müsseu, dass also die apriorisch-synthetischen Urteile über
Dinge — bezw. die Bildung der Erfahrung — auf einer Übertragung
ursprunglieh unterbewusster Abstraktionen auf das Verhältnis
/Avischen Dingen beruhen.
Die Frage, wie dies geschehen möge, ist nun von besonderer, im
einzelnen nicht mehr ..traiiscendentaler' d. h. erkenntniskritischer,
sondern psychologischer, bezw. psychologisch-physiologischer Art.
Aber dennoch ist es gut. wenigstens einige allgemeine Gesichtspunkte
zu geben. Denn die Möglichkeit, sich die Erfahrung in dieser Weise
aufgebaut zu denken, bildet gleichsam die praktische Probe auf
obige Schlussfolgerung.
Ist die Empfindung schon ursprünglich Bewusstsein eines Affiziert-
werdens, also Relation eines Fremden zu uns, so muss die Reaktion
des Bewusstseins darin bestehen, dass dies Fremde bestimmt werde.
Allein zu seiner Bestimmung haben wir zunächst — wenn wir davon
absehen, dass Empfindungsvorgänge wohl schon ursprünglich eine
unterbewusste Grösse haben mögen — nur Qualität und Intensität
der Empfindung. Also kann das Fremde zunächst als bloss durch
diesen Inhalt bestimmt gedacht werden. Es ist dem Bewusstsein
nichts als das in dieser bestimmten Weise Affizierende: so können
wir den Thatbestand der ursprünglichen Synthese bezeichnen.
^'un kommen weitere Aifektionen. Nehmen wir zunächst der
Einfachheit halber solche von gleicher Qualität und Intensität. Sie
werden notwendig auf dasselbe Fremde, also identisch bezogen.
Und diese identische Beziehung besagt: es ist dieselbe gegenständ-
lich beharrende Ursache, die auf uns verschiedenemale die gleiche
Wirkung ausübt. Dieses und nichts anderes ist der Substanzgedanke.
Dieser Gedanke ist somit nicht etwa vom Kausalgedanken verschieden;
die dauernde oder gleichartig wiederkehrende Wirkung auf uns stellt
uns vielmehr durch ihn eine gleichartige und dauernde Ursache
dieser Wirkung vor das Bewusstsein.
Muss das Bewusstsein ursprünglich die gleichartig wiederkehrende
Empfindung notwendig auf dasselbe beharrende Etwas, d. h. dieselbe
Substanz beziehen, so muss es andererseits eine andersartige Empfindung
ursprünglich auf eine andere Substanz beziehen. Und wenn
nun die Beobachtung von dem einen zum andern Dinge unterschieds-
los hin- und hergehen kann, dann wird, wie erwähnt, unmittelbar
die ursprüngliche Beziehung eines Fremden, eines „ausser uns" auf
das Verhältnis der beiden Substanzen übertragen. Sie werden
als aussereinander bestimmt. Damit aber treten sie in gegen-
Kantstudiea IV. 18
lj^(i Franz Stauilingcr.
seiti^o Uo/.ieluiiij: in i'inrr ausser uns vorfrestellteu Kiulu'it — dem
Kau m.
Damit l»etin<leii wir uns sofort auf {gewohntem Krfahruni::sho(len.
Sobald viele derarti{?e Ue/ieluinj;en aut verschiedene nusser-
einander helindlielic Sul»stanzeii fixiert sind, gewinnt der Kaum seine
AusfillluniT und seine Bestimmtheit. Oi)en und unten, neben, vorn
und hinten, Grösse und Mass treten ins Bewusstsein. Und nun kann
die Auswertung immer weiter ^ehen, indem jeder neue Inhalt, der
neben oder hinter den bereits fixierten Stellen bezogen wird, immer
wieder in dieselbe Kelation des Aussenseins zu den bereits iixierten
Substanzen tritt. Endlich kann bei entwickeltem Bewusstsein diese
Fixation neuer Kaumstellen ohne Emplindungsgrundlage bloss in
Gedanken weiter gehen und führt so zur Vorstellung von der End-
losigkeit des Kaums.
Ist dann, beiläufig bemerkt, der Kaum einigermassen derart be-
stimmt und ausgefüllt, so können die neuen Empfindungen nicht
mehr allesamt an verschiedenen Kaumstellen fixiert werden. Ur-
sprünglich ist es denkbar, dass z. B. eine Gesichtsempfindung an
einer Substanz, eine Tastempfindung an einer anderen Substanz fixiert
wird. Mit der zunehmenden Ausfüllung des Kaums geht das nicht
mehr. Die Empfindungen verschiedener Sinne müssen an denselben
Kaurastellen verbunden fixiert werden; die Vorstellung von Substanzen
mit mehreren Eigenschaften, d. h. von Ursachskomplexen, die mehrere
Empfiudungsarten bewirkt haben, tritt ein. In steter Korrektur und
Umordnung wird so das Weltl)ild geschaffen.
Eine andere Art der Beziehung schiebt sich von Anfang an herein,
wo Empfindungsreihen in der Weise hervortreten, dass wir nicht von
der einen zur anderen abwechselnd übergehen können. Jetzt besteht,
wie wir gesehen haben, die Notwendigkeit, objektive Vorgänge
gegenständliche Veränderungen zu statuieren. ') Diese Notwendigkeit
aber setzt voraus, dass das unmittelbare und subjektive Bewusstsein
der Folge von Empfindungen, vermöge dessen allein schon die Zu-
sammenfassung früherer und jetziger Empfindungen in dem Gedanken
der Substanz möglich war, als objektive Folge von Vorgängen, also
als objektiv zeitliches Geschehen aufgefasst wird. Die Zeit also,
ursprünglich unterbewusste Form der ursprünglichen Kelation der
Empfindungsvorgänge, wird jetzt gegenständlich. Und damit ist, wie
i) Dass sehr wahrscheinlich zuerst das Bewegte, nicht das Ruhende die
Aufmerksamkeit erregt, ficht obige Darstellung nicht an. Diese wiU nur
schematisch tue Grundbeziehungen in ihrer Möglichkeit erörtern.
Der Streit um das Dinf? an sich etc. 187
wir gesehen haben, eiue Identität des substanziellen Zusammenhangs
trotz gleichzeitiger Nichtidentität bestimmt, ein Widersprach, der
seine Lösung in der Nachfrage nach der Ursache der Änderung
findet. Aber diese Ursache kann nicht in dem Vorgang selber liegen,
sondern geradeso, wie wir die eigne Aöektion im Emplinden auf
etwas ausser uns beziehen müssen, so müssen wir die At^ektion des
ausser uns bestimmten Dings in einem erst ausser demselben be-
stimmten oder zu bestinmienden suchen. Wir übertragen also wiederum
eine Besonderheit der ursprünglichen ilelation des Emptindungsvor-
gangs auf die Relation zwischen äusseren Dingen bezw. Vorgängen.
Und hierdurch entsteht der Gedanke des Kausalzusammen-
hangs, der später, zu wissenschaftlicher Klarheit erhoben, die Auf-
gabe stellt, dass jede Veränderung, welcher Art sie auch sei, nach
Mass, Richtung und Eigenart zureichend zu bestimmen sei.
Wie sich nun diese Analysen und Synthesen im einzelnen voll-
ziehen, das zu erörtern, müssen wir uns versagen. Die physiologische
Psychologie zeigt, dass der Erwerb schon des dürftigsten Weltbildes
ein sehr komplizierter Vorgang sein muss, dass tausendfache irrige
Beziehungen und irrige Übertragungen vorkommen. Das Kind greift
nach dem Mond, hält die verschiedensten Dinge für identisch etc.,
und wir Erwachsenen irren uns noch oft, wenn es gilt, auszumachen,
woher ein Ton kam, ob ein Berg hinter oder neben dem andern
ist u. dgl. Die Korrektur erfolgt da stets erst dann, wenn irgend-
welche Widersprüche zum Hewusstsein kommen. Das Auftauchen
des Widerspruchs ist in dieser Hinsicht eine vorwärtstreibende Instanz.
Die gegebenen Andeutungen dürften für den vorliegenden Zweck
genügen. Es lag uns ja nur ob, die Möglichkeit zu zeigen, dass
die apriorischen Funktionen, wenn wir sie als analytische Abstrak-
tionen aus dem Empfindungsvorgange als der ursprünglichen Relation
zwischen uns und der Aussenwelt auffassen, zu synthetisch apriorischer
Verwendung für den Aufbau des Erfahrungsganzen genau ebenso
geeignet sind, als wenn wir sie als Bestimmungen der Subjektivität
ansehen.
Das sind sie aber in jeder Weise. Der Raum liegt bei unserer
Auffassung allem äusseren, die Zeit allem inneren und äusseren Sein
und Geschehen ebenso zu Grunde, wie bei Kant. Darum sind auch
die Schlüsse, die sich aus diesen Bedingungen der Erfahrung a priori
ziehen lassen, ebenso bindend für alle Erfahrung, wie sie es nach
Kants Annahme sind. Die apriorischen Folgerungen der reinen
Geometrie, der reinen Mathematik, der reinen Naturwissenschaft sind,
18*
ISS Franz Standitif^or,
Avonn sie auf den «renanuten HecünjrunpMi, und nicht, wie die Meta-
niathenuitik auf einer Auswaiil dieser Be(linf;un;ren, z. H. als Geometrie
ohne Parallelensatz, auf^'ebaut sind,') ebenso anwendbar auf Er-
fahrung, wie sie es bei Kants Voraussetzungen nur sein können.
In anderer Hinsieht dagegen ist unsere Aldeitung. wie wir
glauben, beträehtlieh verständlicher, und mehr zur Erklärung geeignet,
als diejenige Kants.
Sie lässt uns den Zusanmienhang von Natur und Leben weit
unmittelbarer uud einheitlicher begreifen; und vor allem beseitigt sie
die ganze Reihe von Rätseln und Widersprüchen, die bei Kants
Annahme unvermeidlich sind und die, wie sich gezeigt hat, ver-
anlasst haben, dass man an der bedeutsamen wissenschaftlichen
Leistung Kants allzu oft achtlos vorübergegangen ist.
Zunächst beseitigt sie die bei Kants Aimahme unerklärbare
Schwierigkeit, dass einige der apriorisch notwendigen Denkfunktionen
bloss konstruktiver Natur sind, d. h. bloss als Gerüste und Hilfs-
werkzeuge beim Aufbau der Erfahrung gelten, während andere
Deukfuuktionen sich als konstitutiv, d. h. als Bausteine der Gegen-
stände selber herausstellen. Und damit wird auch das Rätsel ge-
löst, dass neben der transcendentalen Apperzeption, w^elche die objektiv
gültige Einheit enthält, noch eine empirische Apperzeption vorhanden
sein kann, in der Irrtümer vorzukommen vermögen.
Damit ist aber die Kluft zwischen Ding an sich und
Erscheinung, die Cohen durch Umgehung nur scheinbar be-
seitigt hat, wirklich beseitigt. Der Materialismus, der die
Beziehung der \'orstellungen auf wirkliche Dinge einfach postuliert,
ohne anderen Bew^eis als den common sense, der Empirismus eines
Locke, der die primären Eigenschaften der Dinge „w^ahrnimmt", der
positivistische Phänomenalismus, der alles mit der denkenden Ver-
arbeitung von gegebenen Empiindungsinhalten abmacht, und zu keinen
wirklichen Dingen kommt, der materiale Idealismus, der die Welt
aas dem absoluten Geist hervorzaubert, der materiale Rationalismus,
der den Knoten durchhaut und, wie Volkelt, den Verstand die
Transsubjektivität gewährleisten lässt, endlich der Skeptizismus, der,
1) Systeme, die nicht die Gesamtheit der Erfahrungsbedingimgen zu Grunde
legen, mögen in sich selber äusserst konsequent sein; aber sie haben nichts
mit Erfahrung zu thim. Sie sind eine mathematische Metaphysik, ganz analog
der ehemaligen Vemunftmetaphysik, die ja auch, wenn konsequent durchgeführt,
in sich einheitliche Systeme, oft wahre logische Kunstwerke ergiebt, die nur
leider, auf Naturerfahrung bezogen, versagen.
Der Streit um das Dinf^ an sich etc. 189
wie bei HelmholtzVl< die idealistischen Konzeptionen für unwiderleg-
bar, wenn auch für praktisch unfreeignet hält: sie alle sind, wenn
anders unsere Ableitunjr probehaltijj ist, widerlegt. Ebenso werden
die Hilfskonstruktionen von einem ,,Bewusstsein überhaupt" gegen-
standslos und die nächtliche Ungeheuerlichkeit, dass das Subjekt
als Quell der apriorischen Formen die ganze Gesetzlichkeit in die
Natur hereinlegt, nachher alter, wenn es sich gegenständlich be-
trachtet, als kleiner Teil dieser gesetzlichen Natur erscheint, löst
sich in verständlichster Weise im Tageslicht auf.
Das Ding an sich schrumpft also damit in den wirklichen
Gegenstand der Erfahrung zusammen, wie Scrooges Phantom in den
Bettpfosten. Was wir apriori von den Dingen aussagen können,
gilt für die Dinge selbst, nicht bloss für \'orstellungen von Dingen.
Nun erst ist man in der That berechtigt, Cohens Urteil zu fällen,
das „Ding an sich" bezeichne nichts, als den Inbegriff aller Erkennt-
nisse, bezw. die unendliche Aufgabe der Erkenntnis. Es ist jetzt
nicht mehr das x eines fragwürdigen Rätsels, sondern in der That
das X einer unendlichen Gleichung, die wir in immer weiter schreiten-
der Forschung zu lösen haben. Wenn dem so ist, so sollte man,
nachdem das Gespenst des Dinges an sich vom Zauber erlöst ist
auch den Namen nicht mehr im Bereiche der Erkenntnis anwenden
Die unendliche Aufgabe, die wir theoretisch wie praktisch haben,
bedarf beider nicht.
1; Die Thatsachen in der Wahrnehmung S. 34 f.
War Kant Pessimist?
Von Privatdooent Dr. M. WentscliL-r in iionn.
(Schluss.)
Die bisherig-eu Ausführungen werden genügen, Kants Verhältnis
zum Pessimismus klar zu stellen, sofern wir diese Aufgabe lediglich
historisch fassen wollen. Danach erschien uns Kant als ausge-
sprochener Gegner dieser Welt- und Lebensauffassung. Allein der in
Rede stehende Gegenstand lässt auch eine kritische Behandlung zu,
und eine solche finden wir in der That von E. v. Hartmann im letzten
Teil seiner Schrift über Kant als Vater des Pessimismus erstrebt.') Der
..transcendente Optimismus" Kants, wie er ihn nennt, lässt sich natürlich
mit dem Versuche, Kant als den eigentlichen Vater des Pessimismus
in Anspruch zu nehmen, unmöglich in Einklang bringen. So sucht
denn Hartmann den „Nachweis" zu bringen, „erstens, dass die
Schlüsse aus den Kantschen Prämissen falsch gezogen sind" (welche
eben zu jenem transcendenten Optimismus hinüberführen), „und viel-
mehr die entgegengesetzten Konsequenzen aus denselben folgen, und
zweitens, dass Kant an die Wahrheit seiner Schlüsse selbst nicht
geglaubt hat." — Prüfen wir jedoch genauer, auf welche Weise dies
etwas anspruchsvolle Programm durchgeführt wird, so zeigt sich so-
gleich das Unzulängliche und Verfehlte dieses Versuches. Zunächst
ist es Hartmann völlig entgangen, dass, wenn auch in der Idee des
höchsten Gutes Tugend (als Glückwürdigkeit) und Glück-
seHgkeit vereinigt als Weltzweck gedacht werden, doch erstlich,
wie wir oben gezeigt, dieser Glückseligkeitsbegrifi über den naiv-
empirischen völlig hinausgewachsen ist, und zweitens, dass auch so
doch den handelnden vernünftigen Wesen nach Kant nicht die Herbei-
1) A. a. 0. S. 50 fl.
War Kaut Pessimist? 191
tührung des ganzen höchsten Gutes als ihre Aufgabe zufällt, sondern
ausschliesslich seines ersten Faktors, der Sittlichkeit. Von einem
Rückfall in den Eudämonismus kann also jedenfalls nicht wohl die
Rede sein.
Die weiteren Einwendungen Hartmanns beziehen sich vor allem
auf die Postulate der l'nsterblichkeit und der Gottheit, die Kant
als notwendige Konsequenzen der Idee des höchsten Gutes, wenn
dieses in der Welt Realität haben soll, hinstellt. Wir können Kants
Meinung etwa in folgender Weise interpretieren: Die Welt, wenn sie
in sich selbst gerechtfertigt erscheinen soll, ist verpflichtet, die Idee
des höchsten Gutes als ihren letzten, höchsten Zweck zur Darstellung
zu bringen. Von dieser Verpflichtung fällt uns, den vernünftigen
Wesen, ausschliesslich die Herstellung immer höherer, reinerer Sitt-
lichkeit in uns zu; nur in diesem Sinne ist uns überhaupt eine
Mitwirkung bei der Realisierung des höchsten Gutes moralisch möglich.
Nun aber soll das Welt ganze vielmehr das ganze höchste Gut zur
Erscheinung und Ausprägung bringen, d. h. ein Zusammenstimmen
von proportionierter Glückseligkeit mit der erreichten Glück-
würdigkeit der Tugend. Da diese Aufgabe nun über ihre Leistungs-
fähigkeit als blosser Natur, wie wir diese uns sonst denken, weit
hinausgeht, so muss die Welt vielmehr als Schöpfung eines intelli-
genten Urhebers angesehen werden, und zwar so, dass dieser
Urheber alles in ihr ausschliesslich nach seinem Willen zu gestalten
imstande war. also mit unbedingter Allmacht sein Werk vollen-
den konnte. Dies der Grundgedanke des Gottes-Postulates.
Weiter aber: da wir in unserm so vielfach bedingten und zeit-
lich beschränkten Erdendasein immer nur in sehr geringem Masse
zu wahrer Sittlichkeit zu gelangen vermögen, so muss in einem an
dieses Leben sich anschliessenden anderweitigen Dasein die Möglich-
keit geboten gedacht werden, diesem Ideale uns immer weiter an-
zunähern; mithin ist Unsterblichkeit gleichfalls ein Postulat der
praktischen Vernunft.
Es wird sich also fragen, ob diese Konsequenzen wirklich
notwendig mit den Kantschen Prämissen zusammengehören, — in
welchem Falle die Kantsche Philosophie als das vollkommene Wider-
spiel des Pessimismus erwiesen wäre, — oder ob Hartmann Recht
hat. wenn er behauptet, dass vielmehr gerade das Entgegengesetzte
daraus folge, — denn alsdann würde man in der That triftigen Grund
haben, Kant auch ohne seine ausdrückliche Zustimmung, — ja, ent-
gegen diesen von ihm nur irrtümlich gezogenen optimistischen Konse-
19'2 r>r. M WfiitscluT.
qucn/.iMi. — in diis Ln|;cr tli\s rrssiinisnius IutIUxt /.u /.iclu'ii, dein
er (loch, den Grunclla^t'n seiner IMiilosopliie naeli, /wi-ilVllos an-
gehöre.
Was nun zunächst die Idee des höchsten Gutes anlnn^'t,
die Kant /um Ausiranirspunkt seiner Postulate {rewiUilt hat, sk iiahcn
wir deren Zusainnienhanjr und rbereinstinimunjr: mit den Funda-
menten der KantschtMi Etliik bereits oben hinreichend nachj^ewiesen.
Wie aber steht es mit der Befrründung der erwähnten Postulate
auf diesem Hoden? Die Zuhilfenahme des Gottesbegriffes würde in
diesem Zusammenhange als logische Notwendigkeit kaum anerkannt
werden können, wenn die in der Idee des höchsten Gutes gemeinte Giflck-
seligkeit, also die ,,Selbstzuf riedenheit" sich lediglich auf d a s beschränkte,
was der Stoicismus fordert, die im Tugendbewusstsein unmittclbai-
liegende Selbstgenügsamkeit, die sich gegen die objektive Welt
und ihre Macht über uns einfach abschliesst, kein Übel, das dorther
kommt, als solches anerkennt. Denn alsdann würde die umgebende Welt
sein können, wie sie wollte: diese Selbstzufriedenheit würde immer
erreichbar sein, falls w^ir nur. wie der Stoicismus voraussetzt, wirklich
die Kraft haben, unbekümmert um alles physische Leiden uns rein
dem ethischen Dasein hinzugeben; dazu würde es keiner göttlichen
Macht erst bedürfen, welche jene olyektive Welt eigens auf eine
innere Zusammenstimmung mit dem sittlichen Verhalten vernünftiger
Wesen in ihr angelegt hätte; der Gottesgedanke würde also wenig-
stens dieses Fundamentes beraubt sein, auf das es hier allein uns
ankommt. — Nun aber erkannten wir jene von Kant gemeinte
„Selbstzufriedenheit" bereits als eine Zufriedenheit eines Wesens
mit sich selbst, sofern es sich als Teil, als Mitglied der
Welt auffasst; als solches aber ist es von deren Wert oder Un-
wert immer zugleich mit abhängig, ganz abgesehen noch von der
physischen Verflochtenheit in sie, die sich so oft störend und
hemmend in ihrem Hinübergreifen in das ethische Dasein geltend macht.
In dieser Selbstzufriedenheit also liegt, w^enn sie soll stattfinden können,
die Forderung, dass nicht nur wir so eingerichtet sind, in unserem
guten Gewissen thatsächlich vollkommene innere Befriedigung zu
finden, sondern auch das objektive Weltganze sich in letzter Instanz
als ethischer Kosmos darstellt, in welchem ethisches Wollen und
Handeln ein vollgültiges He imatrechthat, — Diese Zusammenstimmung
des Weltganzen aber zu unserer Idee vom höchsten Gute kann in
der That nicht mehr von einer blossen Naturordnung erwartet werden,
solansre wir diese nur als das nehmen, als was sie sich unserer
War Kant Pessimist? I93
empirischen Erkenntnis darstellt. Denn die Gesetze dieser ,,Sinnen-
welt" haben nicht den mindesten Zusammenhang: mit dem moralischen
Gesetz, durch welches der sittliche Wille allein sich bestimmen lässt
(\11I. 2()4f. ). ,,Also ist das höchste (iut in der Welt nur möglich,
sofern eine oberste Natur angenommen wird, die eine der moralischen
Gesinnung gemässe Kausalität hat, d. h. eine Intelligenz", . . .
„ein Wesen, das durch Verstand und Willen die Ursache (folglich
der Urheber) der Natur ist, d. i. Gott" (Vlll. 2(55 f.).
So tilgt sich das Gott es -Postulat durchaus konsequent ein in
die Kantsche Lehre vom höchsten Gute. Anders aber steht es mit
dem Postulat der Unsterblichkeit. Seine Begründung bei Kant
hat, wie mit Recht bemerkt worden ist (so z. B. von Lotze), die
missliche Konsequenz, dass der Grund zur Unsterblichkeit fortfallen
würde, wenn es jemandem gelänge, nun doch bereits in diesem
Leben sieh zu vollendeter Sittlichkeit zu erheben. Freilich kann
man entgegnen: Dieser Fall sei nur theoretische Erdichtung; in der
Wirklichknit aber würde er zufolge der Beschränktheit unserer
Natur niemals vorkommen. Allein abgesehen davon, dass die Ge-
schichte uns doch ein Beispiel wenigstens solcher hier bereits er-
reichten sittlichen Vollkommenheit mit hinreichender Glaubwürdigkeit
in dem Stifter unserer Religion thatsächlich vor Augen führt: so
kann auch prinzipiell eine Argumentation nicht anerkannt werden, die
zur weiteren Konsequenz einen Satz hätte, welcher der eigentlichen
Meinung geradezu entgegenstrebt, — den Satz nämlich, dass wir
um so mehr Anrecht auf Unsterblichkeit hätten, je weiter wir in
diesem Leben von dem Ideal vollkommener Sittlichkeit entfernt
geblieben.
Offenbar hat Kant sich hier durch das Bestreben, den ethischen
Unsterblichkeitsglauben von allem Eudämonismus frei zu halten, zu
weit führen lassen und ist so zu dem Missgriff verleitet worden,
dieses Postulat ausschliesslich auf der Unerreichbarkeit vollkommener
Sittlichkeit, also nur des ersten Faktors in der Idee des höchsten
Gutes, zu begründen.''-) Allein das berechtigt uns noch nicht, die
Einführung des Unsterblichkeits-Postulates für eine blosse Konzession
an (las religiöse Bedürfnis zu nehmen, die mit den Kantschcn
*i Anmerkung. Hartmann, der dies garnicht bemerkt hat, polemisiert
merkwürdiger Weise fortwährend gegen die vermeinte Wiedereinführung des
Eudämonismus fürs „Jenseits," als habe Kant damit den geforderten Verzicht
auf (ilückseligkeit im Diesseits mildern und annehmbarer machen wollen.
A. a. U. S. 52.
[1)4 l*r M. Weilt seilt' r,
Prämissen uielit \ crtiiiliar wäic. hu (Jt'jrt'iiti'il, es lässt sicli leicht
zeiiTOii, wie die Idee des liöehsteii (Jutes. in anderer Weise ver-
wertet, allerdinirs eine lialtliarc (i rund laue herfreljen kann für eine
rnsterblieiikeitsli'iire in dem Sinne, wie Kant sie icewollt hat. Wir
haben bereits jre/.ciu:t, dass die in der Idee des höchsten (lutes nnt-
jiedachte ,,Selbst/,ufriedenheit'' sich nicht etwa bloss auf die sul))els.tivc
(iemütsyertassnnjr des ,. guten Gewissens" beschränken konnte, sondern
mir dann vollkommen war. wenn /,ui::leich auch eine Zusannnen-
stinnnuug des objektiven Weltganzen mit unserem idealischen Welt-
zweek sich zu erkennen gab. Diese letztere Befriedigung aber
vermag uns der Anblick der Siuuenwelt, in der unser empirisches
Leben sich abspielt, allerdings nicht zu gewähren, sofern wir sie
bereits für die ganze Wirklichkeit nehmen. Ja, ihr Abstand von
diesem Welt-Ideale wird uns um so mehr vor Augen treten, je weiter
wir selbst bereits in unserer sittlichen Entwicklung fortgeschritten
sind. Und so würde in der That gerade dem Sittlichsten zugleich
auch am meisten eine Fortsetzung des im , .Diesseits" begonnenen
sittlichen Lebens und Wirkens in einer Jenseitigen" Welt zum ethischen
Bedürfnis werden; und auf diesem Wege kämen wir denn allerdings
in letzter Instanz auf dem Boden der Kantschen Philosophie auf die
Unsterblichkeits-Idee als ethisches Postulat zurück. — Voraussetzung
wäre dabei freilich, dass dieses jenseitige Leben sich ohne Wider-
spruch so denken Hesse, dass eine ethische Weiterentwicklung der
Persönlichkeit und ein Wirken derselben im Weltganzen möglich
wäre. An diesem Punkte setzt nun wiederum Hartmann ein: er
meint, eine solche Annahme widerspreche durchaus der Kantschen
Lehre von der Zeit- und Raumlosigkeit, von der Immaterialität des
jenseitigen Lebens.^) Allein demgegenüber muss doch darauf hin-
gewiesen werden, dass die einfache Berufung auf die dem Jahre 1766
entstammenden „Träume eines Geistersehers," also eine weit vor
der „kritischen Periode" Kants liegende Schrift, nicht wohl zulässig
ist, wo spätere Aussprüche Kants von anderem Inhalt vorliegen.
Die Identifizierung der Welt des jenseitigen Lebens mit der Welt
der Dinge an sich, der unzeitlichen und unräumlichen „intelligiblen
Welt"' ist danach nicht gerechtfertigt; vielmehr unterscheidet Kant
ausdrücklieh (VIII, 289) das ,.Dasein in einer reinen Verstandeswelt",
das uns als freien Wesen ja schon in dieser Welt zukommt, von
der „unendlichen Dauer" des Daseins. Aber jede weitere Ausmalung
Vgl. S. 56 f. a. a. 0.
War Kant Pessimist? 105
dieser Welt des jenseitig:en Lebens nmsste Kant, da sie aller Er-
fahrung' un/a;i-äng:lich ist, seinen kritischen Grundsätzen zufolge
durchaus ablehnen. Selbst die ,. unendliche asymptotische
Annäherung-' an das sittliche VoUkomnienheitsideal, welche die
Aufgabe und den Inhalt des jenseitigen Lebens bilden soll, ist ihm
..nur ein negativer Begriff von der ewigen Dauer, wodurch . . . nur
gesagt werden will, dass der Vernunft in (])raktischer) Absicht auf
den Endzweck, auf dem Wege beständiger Veränderungen nie Genüge
gethan werden kann"; — noch weniger aber mit dem „Prinzip des
Stillstandes und der Unveränderlichkeit des Zustandes der Welt-
wesen" (VII, 419 ff.). — Kant will von der Unsterblichkeits-Idee
durchaus keinen theoretischen Gebrauch gemacht wissen, vielmehr
nur einen praktischen, sofern „die Vernunft dem Menschen keine
andere Aussicht in die Ewigkeit übrig lässt, als die ihm aus seinem
bisher geführten Lebenswandel sein eigenes Gewissen am Ende
des Lebens eröffnet (VII, 414).
Nach alledem kann jedenfalls nicht davon die Kede sein, dass
in der jenseitigen W>lt weder die weitere Annäherung an das Ideal
der vollkommenen Sittlichkeit, noch an die ihr proportionierte Glück-
seligkeit auf dem Boden der Kantschen Voraussetzungen unmöglich
sei, wie Hartmann behauptet;') im Gegenteil, diese Behauptung über-
schreitet ganz ofienkundig die Grenzen des auf kritischem Boden
nach Kant Erkennbaren und verkennt völlig den Sinn und Wert
dieser Kantschen Ausführungen, deren Stärke zum wesentlichen
Teile gerade auf der Selbstbescheidung unseres theoretischen Er-
kennens liegt. Allein Hartraann führt noch ein anderes Argument
gegen das Postulat der Unsterblichkeit ins Feld: Kant selbst habe
zugestanden, dass die vollkommene Entwicklung der Anlagen der
Menschheit nicht im Individuum, sondern nur in der Gattung
von der Natur erstrebt werde.^) Der Glückseligkeitstrieb des Indi-
viduums sei nicht als berechtigter Selbstzweck zufassen, vielmehr
an sich nur eine ,, Illusion." — eine Illusion jedoch, die sich teleo-
logisch rechtfertige, da ihr Nutzen für die Entwicklung der Gattung
evident sei.^) Somit bleibe gar kein Boden mehr für die Begründung
der Forderung individueller Unsterblichkeit. Hierbei ist jedoch über-
sehen, dass die Sittlichkeit vor allem Sache der Persönlichkeit
ist, und dass daher auch die grösste Gewissheit des Fortschreitens
») A. a. 0. S. 66 flf.
2) A. a. 0. S. 56 f.
8) A. a. 0. S. 53 fl.
19(1 l>i'. M \\ i'iilsrliür,
(1er (iiittuiiir zum Besseren uns niemals das lU'dllrfnis des ciirenen
unbeirren/.ten Fortsehreitens /.um (luten nelimeu kann. So ist denn
aueli in jenem Kantselu'n Aui'sat/., der dies 'riiema lirliandelt,
,,l{lee 7.Ü eiiur alliremeinen (Jesehiehte in wtltbiir^erlielicr Al»sielit",
von dem .Mensehen lodiiilieh als Kulturwesen die Kedc. Die
moralisehe Anlauc in uns, soweit sie uns als Bewusstsein einer
Verptlichtuni;- i^egeheu ist, — nämlich der Zusammenstimmung'
unseres WoUens mit der Forderung des Gewissens, — ist, wie dieses
Gewissen selbst, durchaus Angelegenhi'it der rersünlichkeit. Die
Herausbildung des höchsten Tvjjus „Mensch" dagegen, als Kultur-
wcsens, — und so freilich auch in Hücksicht auf ,,moralische
Kultur." — ist Sache der Gattung, resp. der Wirksamkeit der
Natur im Leben der Gattung. Daher ist auch das „grösste Problem"
für den Menschen, „zu dessen Auflösung die Natur ihn zwingt, die
Erreichung einer allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen
Gesellschaft," — eine vollkommene Staatsverfassung, als
einziger Zustand, in welchem die Natur alle Anlagen in der Mensch-
heit völlig entwickeln kann'' (VII, 328).
Es ist somit etwas völlig anderes, was die Aufgabe der Ent-
wicklung der Gattung, und was das letzte Ziel des sittlichen
Strebens des Individuums ist. Jener Fortschritt der Gattung,
auch wenn er sicher gestellt wäre, kann dem Individuum doch keinen
Ersatz bieten für den so unvermittelten Abbruch all seines Strebens
und seiner sittlichen Arbeit durch das Ende dieses Lebens und lässt
also das ethische Bedürfnis nach individueller Unsterblichkeit völlig
unberührt.
Allein in einem anderen Sinne kommt jene Kantsche Lehre von
dem allmählichen Fortschreiten der Gattung allerdings in Frage für
die Entscheidung zwischen optimistischer und pessimistischer Welt-
ansicht. Giebt es einen solchen Fortschritt (im ethischen Sinne), so
ist damit — trotz aller etwaigen individuellen Misserfolge im einzelnen
— doch das Heimatsrecht des Sittlichen im universellen Ganzen
auch dieser Wirklichkeitswelt erwiesen, und damit wäre als-
dann auch jene Stimmung und Gesinnung der „Weltflucht" wider-
legt, die ja in gewissem Sinne gleichfalls als „Pessimismus" gefasst
werden muss, wenn dieser hier auch nur die diesseitige, empirische
Welt betrifi't. Denn freilich: die Kehrseite des ethischen Unsterb-
lichkeits-Bedürfnisses wäre doch immer die Anerkennung einer ge-
wissen Unzulänglichkeit des Lebens in dieser Welt, also immer ein
gewisses Zuo:eständnis an den Pessimismus. Diesem aber wird nun
War Kant Pessimist? 197
die Wage gehalten durch die Würdigung der Bedeutung des Welt-
Ganzen (in der unendlichen Zeitreihe) für das Leben und die Ent-
wicklunir der Gattunir. Die "rrossen wirkenden Kräfte in diesem
Welt-Ganzen und die sie beherrschende Ordnung erscheint angelegt
auf die beständige Annäherung an ein idealisches Gut, das auf diesem
Boden von der Gattung erreicht werden soll, während zugleich jeder
Fortschritt in dieser Annäherung selbst schon als etwas Gutes, Wert-
volles von der betreflenden Generation unmittelbar empfunden wird.
— Auch hier zeigt sich also, wie die Kantsehe Weltanschauung
ihrem ganzen Zusammenhange nach das gerade Widerspiel des
Pessimismus darstellt; und so erweist sich Hartmanns Versuch, seine
Sache durch die Autorität Kants zu stützen, nach jeder Richtung hin
als verfehlt.
Es würde zu weit führen, wenn wir in gleich eingehender Weise,
wie es mit der Hartmannschen Arbeit geschehen, nun auch noch die
Volke Itschen Ausführungen zum Gegenstande einer erschöpfenden
Auseinandersetzung machen wollten, zumal das ein Eingehen auf die
Prinzipien des Volkeltschen Pessimismus erforderte, wie es den Rahmen
der Aufgabe, die wir uns hier gestellt, weit überschreiten würde.
Nur eines greifen wir hier zum Schlüsse noch heraus: die Behaup-
tung nämlich, dass gewisse ungelöste Dissonanzen bei Kant, so
namentlich die Lehre vom radikalen Bösen gegenüber der vom ab-
soluten Werte des guten Willens, uns nötigten, bereits die höchsten
Weltprinzipien als auf jene ,.irrationalen, widerspruchsvollen Mächte
angelegt-' zu fassen.') Wir können uns dieser Ansicht, welche die
Kantsche Weltanschauung im Sinne der Zurückführung auf einen
uneinheitlichen, widerspruchsvollen Weltgrund ergänzt sehen möchte,
nicht anschliessen und vor allem in der Lehre vom radikalen Bösen
keinen Grund erkennen, der uns nötigte, sie in der Weise auszu-
legen, dass daraus ein Rückschluss auf irgendwelche Uneinheitlich-
keit des obersten Weltprinzips sich ableiten Hesse.
Diese Lehre, mit der Kant seine „Religion innerhalb der Grenzen
der blossen Vernunft" einleitet, ist nämlich im Grunde nichts anderes,
als eine Bezeichnung (nicht Lösung!) des Problems vom Ursprünge
des Bösen im Menschen. Da — nach Kant — alles Wollen, für
das wir sittlich verantwortlich sein sollen, aus Freiheit hervorgehen,
unsere eigene That sein muss (X. 34), so kann keinerlei Ursache
1) Vgl. oben, S. 33.
11)8 1-^1 • '^l- W out si'lier,
uns bi'stimint lialuii. uns tür das Böse, il. i. das (iest'tzwidrifje, zu
entscheiden, sondern wir müssen bereits einen „Hanf; /um Hosen''
niitüH'hrac'iit habiMi. Dieser ,.llang" unterscheidet sich aber dadurch
von einer Anlaire, ,,dass er zwar angeboren sein kann, aber doch
nicht als solcher vor}2:estellt werden darf, sondern auch als er-
worben, oder als von dem Menschen selbst sich zugezogen ge-
dacht werden kann/' (X, 31). Dieser Hang zum Bösen ist „intelli-
gible That," sofern er vor jedi-r empirischen That vorhergeht
(X, 34). ,,Der Mensch ist böse" heisst: „er ist sich des moralischen
Gesetzes bewusst und hat doch die (gelegentliche) Abweichung von
demselben in seine Maxime aufgenommen". Sofern dieser Hang, wie
die anthropologische Erfahrung zeigt, ganz allgemein in der Mensch-
heit gewurzelt ist, nennt ihn Kant auch das „radikale Böse in der
menschlichen Natur" (X, 36 ft".j. Dieser Hang „bedeutet nichts
weiter, als dass, wenn wir uns auf die Erklärung des Bösen, seinem
Zeitanfange nach, einlassen wollen, wir bei jeder vorsätzlichen
Übertretung die Ursachen in einer vorigen Zeit unseres Lebens bis
zurück in diejenige, wo der Vernunltgebrauch noch nicht entwickelt
war ... die Quelle des Bösen verfolgen müssten" (X, 48). Das
radikale Böse besteht aber in nichts anderem, als einer Verkehrung
der Kangordnung der Triebfedern, nämlich der Uberordnung der
eigenen Glückseligkeit ül)er das moralische Gesetz (X, 40 f).
Welches sind nun die realen Thatbestände, die dieser Theorie
zu Grunde liegen? Kann sie etwa so gemeint sein, dass wir einen
bereits fertig ausgeprägten bösen Willen im Sinne dieses radikalen
Bösen mit auf die Welt bringen? Das wäre oifenbar absurd und
widerspräche auch der Forderung Kants, dass er unsere eigene
That sein, von uns selbst uns zugezogen sein müsse. Weder böse
noch gut ist unser Wollen in seinen ersten Anfängen; denn es ist
überhaupt noch gar kein Wollen. Wir treten nicht als fertige Wesen
in die Welt, sondern alles bewusste psychische Leben ist erst Er-
gebnis einer allmählichen Entwicklung, deren Gang im einzelnen
zu verfolgen und nachzukonstruieren uns niemals mit zureichender
Vollständigkeit gelingen kann. So ist auch unser Wollen erst
Produkt einer Entwicklung; zuerst nur ein blindes, zielloses
Herumtappen einer noch ganz keimhaften eigenen Regsamkeit, dann
— an der Hand erster, primitiver Erfahrungs-Elemente — ein Nach-
ahmungsversuch fremden WoUens (resp. seiner Bethätigungen),
wodurch gleichsam nur erst der Mechanismus eines eigenen WoUens
ausprobiert und eingeübt wird. Erst viel später, wenn dieser
War Kant Pessimist V 199
Mechanismus längst geläutig geworden und gleichsam automatisch
funktioniert, beginnt eine Unterscheidung und Abwägung mehrerer
Möglichkeiten eines eigenen Wollens gegen einander — und zwar
unter der Einwirkung wiederum eines fremden Wollens, von dem
es sich zunächst einfach leiten lässt, bis etwa der bemerkte Wider-
streit verschiedener Einwirkungen solchen fremden Wollens oder
andere Umstände uns mit der Fähigkeit eines sell)ständigen, nicht
mehr vom fremden abhängigen Wollens bekannt macht, — Hier nun,
an der Schwelle eines ersten wirklich eigenen Wollens, beginnt aller-
erst unsere Verantw^ortlichkeit, ein ..gut" und „böse" unseres
Wollens. Allein es ist klar, dass die ganze bisherige Entwicklung
auch über diese ersten Regungen eigenen Wollens hinaus noch fort-
>virken und in diesen selbst ihren Einfluss noch immer geltend
machen wird. Der Wille, obschon zur Freiheit (d. i. Selbstbestim-
mung) erwacht, ist doch nicht selbst, so wie er ist, sein eigenes
Werk, sondern findet sich bereits in bestimmter Weise, zu bestimmtem
Charakter ausgebildet, vor. Ein wirklich freies, absolut eigenes
Wollen ist ihm also noch gar nicht möglich, sondern nur ein Streben
nach einem solchen. Nun aber wird zum „guten Willen" nach
Kant gerade die absolute Selbstbestimmung erfordert; und darum
ist die Formel des „kategorischen Imperativs" das eigentliche Prinzip
des guten Willens, weil die 'Befolgung dessen, was sie fordert, aller-
erst uns entscheidend loslöst aus allem Zusammenhange mit unserem
bisherigen empirischen Wesen, das wir uns nicht selbst geschaffen,
noch auch selbst gewollt haben, sondern bei erwachendem eigenen
Wollen bereits in seiner Eigenheit in uns vorfinden. Dass nun unser
Wille an diesem Punkte seiner Entwicklung nicht sogleich mit
seiner ganzen Vergangenheit zu brechen vermag, sondern nur auf
ihrem Boden überhaupt zu weiteren Bethätigungen befähigt ist, die
folglich nicht von vornherein absolut frei sein können, sondern ihren
bisherigen pathologischen Charakter zunächst noch überwiegend bei-
behalten werden, trotzdem schon das Bewusstsein der Fähigkeit (und
damit der Verpfiichtung) wahrhaft eigenen Wollens zu erwachen be-
ginnt: Das wäre der Thatbestand, auf welchen sich die Lehre vom
radikalen Bösen in letzter Instanz reduzieren würde. — „Der Mensch
(selbst der ärgste) thut. in welchen Maximen es auch sei. auf das
moralische Gesetz nicht gleich.sam rebellischerweise (mit Aufkündigung
des Gehorsams) Verzicht. Dieses dringt sich ihm vielmehr, kraft
seiner moralischen Anlage, unwiderstehlich auf ... Er hängt aber
doch auch, vermöge seiner gleichfalls schuldlosen Naturanlage, an
200 •'" ^'' ^^<'^t8che^,
den TriobfcdiTü der Sinidicldvcit. und niiiiint sie (nach dein subjek-
tiven Prin/ij) il»r Sell)stliehe) auch in seine Maxime auf" . . . (X, 40).
Diese AuslUhrunjren enthalten ü-eradezu den Schlüssel der j^anzen
Ii(>hre. Ks ist n)it der ..intellipl)len That" keine mystische, in einem
vorenipirischen Dasein mit Freiheit Nollzo^ene That j;emeint, wie
man irefahelt hat, sondern nur /.um Ausdruck gebracht, dass dieser „Hanj;"
zum Bösen in eine Periode zuriickverfolgt werden muss, „wo der \'er-
nunftji-ebrauch noch nicht entwickelt war" (X, 49). Dass er al)er als
aus Freiheit entsprungen vorgestellt wird, bedeutet nur, dass wir
ihn im praktischen Verhalten als durch uns selbst zugezogen
und daher auch durch uns selbst Uberwindbar, nicht al)er als
angeboren und folglich unabänderlich anzusehen haben (vgl.
X, 4(i). — Die Ausdrücke ,.aus Freiheit entsprungen" einerseits und
,.angeboren" anderseits sind beide nicht als theoretische Dogmen
gemeint; denn alsdann würden sie einander ausschliessen, während
Kant sie doch thatsächlich für das radikale Böse fortwährend neben
einander gebraucht, je nach den praktischen Konsequenzen, die
er gerade vor Augen hat, und auf die allein es ihm ankommt (vgl.X, 58).
Nach alledem enthält die Lehre vom radikalen Bösen nicht
den mindesten Grund, irgendwelche widerspruchsvollen Mächte in
den obersten Weltprinzipien anzunehmen, wie Volkelt will. Vielmehr
umgekehrt: es ist garnieht abzusehen, wie eigentlich eine Welt
freier Wesen anders hätte geschaffen werden sollen, als so, dass
diese Wesen nicht bereits als fertige in die Welt treten, sondern
erst in einer allmählichen Entwicklung, wie wir sie oben ange-
deutet, zu einem Gebrauch ihrer Freiheit zu gelangen vermögen.
Nur so ist alles Sittlich-Wertvolle, das wir in dem Dasein frei
wollender Wesen zu finden vermögen, die Begründung und Bildung
eines sittlichen Charakters, wirklich ihnen selbst in die Hand ge-
geben und empfängt gerade dadurch allererst diesen seinen einzig-
artigen Wert! — Es ist nicht eine positive Fehlerhaftigkeit unseres
Wesens, welche ein weiser, allmächtiger Schöpfer hätte ver-
meiden müssen, in der das „radikale Böse" seine Wurzeln hat;
sondern dies ist einzig und allein darin begründet, dass wir an eine
Entwicklung gebunden sind und so die im naiven Zustande uns
natürliche, noch nicht zuzurechnende Überordnung der Maxime
der Glückseligkeit über die der Freiheit auch noch — dem Gesetze
der Trägheit folgend — in die Periode des erwachenden Vernunft-
gebrauches mit hinübernehmen, wo sie nun nicht mehr der ethischen
Beurteilung und Zurechnung entzogen ist.
War Kant Pessimist? 201
So bedeutet die Lehre vom radikalen Bösen zuletzt nicht nur
keinen Widerspruch gegen die andere vom absoluten Werte des
guten Willens, sondern vollendet vielmehr das Weltbild, in welchem
die gesamte praktische Philosophie Kants gipfelt: das Bild eines
ethischen Kosmos mit der Bestimmung, ein freies Wollen ver-
nünftiger Wesen zu immer vollkommenerer Ausprägung zu bringen.
— So fundamental, wie dieses Weltbild der Freiheit von dem des
Pessimismus sich unterscheidet, ebenso weit ist auch Kants Ethik
überhaupt von der pessimistischen Denkweise entfernt. Aber aller-
dings: der ethische Idealismus Kants steht und fällt mit der An-
nahme oder Verwerfung der Freiheit — wobei es freilich gleich-
gültig bleibt, ob man gerade den Ausdruck, welchen die Freiheits-
lehre bei Kant gefunden, als zulänglich ansehen will oder nicht.
Wer eine entscheidende Widerlegung Kants und Begründung eines
radikalen Pessimismus unternehmen wollte, würde an diesem Punkte
einzusetzen, würde den Nachweis zu bringen haben, dass der Gedanke
einer Freiheit (in dem Sinne, wie er hier gebraucht wird) schlechter-
dings keinen Boden finden könne in der Welt, wie sie uns gegeben
ist. Ohne diesen Nachweis bleibt Kants ablehnende Stellung gegen-
über dem Pessimismus unerschütterlich.
Kantstndien IV. 14
Der Begriff des „transsoendentalen Gegenstandes"
bei Kant — und Schopenhauers Kritik desselben.
Eine Rechtfertigung Kants.
Von Dr. Mscislaw Wartenberg.
In meiner vor Kurzem veröffentlichten Schrift: Kants Theorie
der Kausalität^ habe ich, bei der Darstellung der Grundlagen der
Kantischen Erkenntnistheorie, der Einwände gedacht, welche Schopen-
hauer in seiner Kritik der Kantischen Philosophie gegen den Begriff
des Gegenstandes der Vorstellung bei Kant erhoben hat. Ich konnte
damals, wegen Mangels an Raum, auf diese Materie nicht genauer
eingehen, musste es vielmehr bei einigen kurzen Andeutungen be-
wenden lassen. Da mir jedoch die erwähnte Frage, sowohl für das
richtige Verständnis der Erkenntnistheorie Kants, als auch für die
Erkenntnistheorie im Allgemeinen, von grosser Wichtigkeit zu sein
scheint, möchte ich dieselbe zum Gegenstand einer besonderen Unter-
suchung machen, die ich im Folgenden anzustellen gedenke.
Meine Abhandlung wird sich am sachgemässesteu in folgende
Abteilungen gliedern: Zunächst werde ich die thatsächliche Stellung
und Bedeutung des Begriffs des Gegenstandes in Kants Erkenntnis-
theorie darlegen, sodann die Erkenntnistheorie Schopenhauers in
Grundzügen erörtern und besonders ihre Abweichungen von der
Kantischen hervorheben; drittens werde ich Schopenhauers Kritik
des Begriffs des Gegenstandes bei Kant darstellen, und schliesslich
diese Schopenhauersche Kritik einer eingehenden Prüfung unter-
werfen.
1. Der Begriff des Gegenstandes in Kants Erkenntnistheorie.
Jede Erkenntnisthätigkeit richtet sich auf einen Gegenstand;
sie ist eine ideale Beziehung zwischen dem erkennenden Subjekt und
1) Leipzig. H. Haacke 1899. (294 S.) Über dieses Buch des Verfassers
werden wir demnächst aus berufener Feder eine Besprechung bringen. Anm.
d. Red.
Der Begriff des .»trans^icendentalen Gegenstandes" etc. 203
einem Objekt, welches dem ersteren als etwas Selhständijres, dessen
Willkür Entzogenes, d. h. in seiner besonderen Natur von diesem
nur Anzuerkennendes, gegenübersteht, und sie vollendet sich in einem
Urteil, welches vom erkennenden Subjekt über die bestimmte Be-
schaflVnheit des betrertenden Objekts mit dem Bewusstsein der Not-
wendigkeit und Allgemeingültigkeit gefällt wird, d. h. mit dem Be-
wüsstsein, dass über den Gegenstand, auf welchen die Erkenntnis
sich jeweilig richtet, nur so und nicht anders geurteilt werden muss,
und dass alle erkennenden Subjekte über denselben Gegenstand in
derselben Weise urteilen müssen.
Das charakteristische Merkmal eines Urteils von objektiver,
d. h. den Gegenstand treffender Bedeutung ist also das Bewusstsein
der Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit, mit welchem das Urteil
vollzogen wird. Dabei ist es gleichgültig, von welcher Art der be-
urteilte Gegenstand ist. Derselbe mag ein mathematisches Objekt,
oder ein Objekt der äufseren oder inneren Erfahrung sein; in jedem
Falle wird sich das über ihn ausgesagte Urteil durch die beiden
erwähnten Merkmale auszeichnen und auszeichnen müssen. — Mit
Beziehung darauf sagt Kant, dass objektive Gültigkeit eines Urteils
nichts anderes sei, als die notwendige Allgemeingültigkeit desselben,
und dass daher objektive Gültigkeit und notwendige Allgemein-
gültigkeit (für jedermann) Wechselbegriff"e seien.*)
Welches sind nun die Bedingungen dieser notwendigen All-
gemeiugültigkeit eines Urteils? Wie kommt das erkennende Subjekt
dazu, über einen Gegenstand ein notwendiges und allgemeingültiges,
alle urteilenden Wesen bindendes Urteil zu fällen? Unter welchen
Bedingungen wird ein Urteil objektiv gültig? Die Antwort auf diese
Frage scheint sehr nahe zu liegen und wird folgendermassen lauten:
Die Bedingung der objektiven Gültigkeit eines Urteils ist die empirisch
konstatierte Beschaff^cnheit des Gegenstandes, auf welchen das Urteil
sich richtet. Weil ich nämlich in der sinnlichen Anschauung einen
Gegenstand wahrnehme, der eine bestimmte Besehaff'enheit hat, und
weil alle anderen Menschen diesen Gegenstand in derselben Be-
schaffenheit wahrnehmen: deshalb urteile ich über diesen Gegenstand
so und nicht anders, ich urteile über ihn in völliger Übereinstimmung
mit den Urteilen aller erkennenden Subjekte.
Allein diese Antwort trilft nicht zu; sie ist voreilig; sie über-
sieht eine Heihe wichtiger Momente und setzt sich über die Schwierig-
1) Prolegomena § 18 u. § 19: Ausg. v. Schulz S. 77 fg.
14*
204 l^r. Mscislaw Wartonborj^,
keiteii k'icht hinwoir; sio ist nicht im Siniio Kants. Urteile ich über
einen Gefrenstand auf (Jriind der von mir wahri^-enommenen l^e-
schatVenheit desselben: so ist ein solches Urteil ein blosses ,, Wahr-
nehm unijsurteil*', das nur subjektiv ^niltii; ist. Ich verknüpfe in
diesem Urteil nur zwei Walirnehnunijren im jet/ij;'eii Zustand meines
Wahriiehmens; ich sage nur aus, dass mir der betreuende Gegen-
stand gegenwärtig in dieser BeschatTenheit erscheint, ich sage aber
nicht und kann nicht sagen, dass mir dieser Gegenstand bei jedem
wiederholten, unter denselben Bedingungen stattfindenden Wahrnehmen
ebenso erscheinen werde, und dass derselbe allen erkennenden Wesen
in derselben Weise, wie mir, erscheinen müsse. Dieses Bewusstsein
müsste ich aber haben, wofern mein Urteil ein objektiv -gültiges,
d. h. den Gegenstand treffendes, sein sollte. Denn das Urteil von
objektiver Gültigkeit zeichnet sich durch Notwendigkeit und All-
gemeingültigkeit aus; die Synthese eines bestimmten Prädikats mit
einem bestimmten Subjekt in einem solchen Urteil ist eine not-
wendige, sie muss von allen denkenden Wesen jederzeit in derselben
Weise vollzogen werden. Um aber diese Synthese mit dem Bewusst-
sein ihrer Notwendigkeit vollziehen zu können, müsste ich wissen,
dass die Wahrnehmungen, die ich in meinem Urteil zu einander in
Beziehung setze, im Gegenstande selbst, worauf mein Urteil gerichtet
ist, notwendig verbunden sind; ich müsste der notwendigen Zu-
sammengehörigkeit derselben im wahrgenommenen Objekt sicher
sein; nur dann könnte ich behaupten, dass dieser Gegenstand unter
denselben Bedingungen des Percipierens sowohl mir, als auch allen
anderen erkennenden Subjekten in derselben Beschaffenheit erscheinen
werde, d. h. ich könnte ein notwendiges und allgemeingültiges, ein
objektiv-gültiges Urteil fällen. Allein diese Forderung ist auf dem
Standpunkt des blossen Wahrnehmeus, des empirischen Konstatierens,
nicht erfüllt. Denn ich erfahre nur das thatsächliche Zusammensein
bestimmter Wahrnehmungen in meinem Bewusstsein, aber nicht deren
notwendiges Zusammengehören; ich nehme nur wahr, dass in meinem
gegenwärtigen Zustand des Percipierens zwei Wahrnehmungen ver-
bunden auftreten, aber ich nehme nicht wahr, dass dieselben jeder-
zeit, sowohl in meinem Bewusstsein, als auch im Bewusstsein aller
vorstellenden Wesen, in dieser Verbindung auftreten müssen. Not-
wendigkeit der Verknüpfung kann nicht wahrgenommen werden, sie
ist kein empirisches Datum. Ein Urteil also, welches sich auf die
blosse Wahrnehmung gründet, ist kein notwendiges und allgemein-
gültiges Urteil; es ist nur ein Urteil über den jeweiligen Zustand
Der Begrift des ,,transscendentalcn (legenstandes" etc. 205
des wahriu'hnicnden Subjekts, aber kein Urteil über die objektive
BesehatlVnheit des wahrgenommenen Gegenstandes; es ist ein blosses
Wahrnehmungsurteil, das nur subjektive Bedeutung hat, aber kein
„Erfahrungsurteil", das objektive Bedeutung beansprucht, d. h. eine
Erkenntnis des Gegenstandes sein will. Die notwendige Allgemein-
gültigkeit eines Urteils, welches auf einen Gegenstand sich bezieht,
beruht also niemals auf empirischen Bedingungen; der Grund, warum
wir zwei Wahrnehmungen denkend verknüpfen und dieser Ver-
knüi)fung eine ol)jektive Bedeutung beilegen, ist nicht die Wahr-
nehmung; der zureichende Grund für die Wahrheit eines Erfahrungs-
urteils muss anderswo liegen. — Was wir soeben auseinandergesetz,
haben, illustriert Kant durch folgendes Beispiel:*) Ich nehme wahrt
dass die Sonne den Stein bescheint und dass dieser Stein sich er-
wärmt. Diese beiden Wahrnehmungen, die Wahrnehmung des Auf-
fallens der Sonnenstrahlen auf den Stein und die Wahrnehmung der
Erwärmung desselben, deren Aufeinanderfolge ich empirisch kon-
statiere, setze ich nun denkend zu einander in Beziehung und fälle
das Urteil: wenn die Sonne den Stein bescheint, so wird er warm.
Welche Bedeutung hat dieses Urteil? Gilt es objektiv? Treffe ich
mit demselben die objektive Beschaffenheit des Gegenstandes? Ist
dieses Urteil ein Erfahrungsuiteil? Nein! Es ist ein blosses Wahr-
nehmungsurteil. Seine Bedeutung ist nur die, dass ich und viel-
leicht auch andere Menschen die Erwärmung des Steins auf das
Auffallen der Sonnenstrahlen folgend wahrgenommen haben; es drückt
nur die thatsächliche Verbindung dieser beiden Erscheinungen in
meinem subjektiven Zustand der Wahrnehmung aus. Dass aber diese
Erscheinungen notwendig verbunden sind, dass die Erwärmung des
Steins eine notwendige Folge des Auffallens der Sonnenstrahlen ist,
dass also diese beiden Wahrnehmungen in jedem vorstellenden Be-
wusstsein stets in dieser Verbindung auftreten werden : darüber sagt
mein Urteil nichts aus und kann nichts aussagen, weil es sich auf
die blosse Wahrnehmung gründet, in der Wahrnehmung aber keine
Notwendigkeit enthalten ist. Demnach besitzt mein Urteil, da es
nicht notwendig und allgemeingültig ist, auch keine objektive Be-
deutung, es ist kein Erfahrungsurteil. Ein solches würde es erst
dann sein, wenn ich das Recht hätte, die Verbindung der Wahr-
nehmung des Sonnenscheins mit der Wahrnchnmng der Wärme als
eine notwendige zu behaupten; dieses Recht habe ich aber auf dem
Standpunkt der blossen Wahrnehmung nicht.
«) A. a. 0. S. 81 Anmerk.
.)Q^5 Dr. Mscislaw \V art niltoif,',
Um diese erkemitnistheoretisehen AusfUhruiii,n'n Kants riehti^' zu
verstehen, nuiss man sieh ver^ej^enwärtif^en, dass dieselben unter dem
Kintiuss (h-r Kritik, weleher der scharlsinni-c llunif die mensehliehe
Erkenntnis unterworfen hatte, stehen \\\n\ nur /u dem Zweeke vor-
jrenommen sind, um, hei aller Anerkeimun-- des Kiehtij?en in llumes
skeptiseher Kritik, die Erl"ahrnn;,^serkenntnis, deren iMüf,^liehkeit llumc
aüire-Mveilelt hatte, in iiire Kechte wieder einzusetzen. — llunie hat
naehgewiesen, dass nur diejenig-en Urteile notwendig und streui,-
alliremein li-elten, d. h. den (Uiarakter des Wissens, der wirklichen
Erkenntnis, mit Recht beanspruchen, welche auf eine Analysis der
Vorstellungen sich gründen; das Prinzip der notwendigen Ver-
knüpfung des 8ul)jektsbegritis mit dem PrädikatsbegrifC in solchen
Urteilen ist der iSatz des Widerspruchs. Als analytische Urteile
galten ihm auch die Urteile über die mathematischen Objekte, und
aus diesem Grunde erkannte er der Mathematik den Wissenscharakter
zu. Dagegen besitzen die Urteile über Thatsachen der Erfahrung
nach Hume diesen Charakter nicht, sie sind keine notw^endigen und
streng allgemeinen Erkenntnisse. Denn die Verknüpfung des Subjekts-
begriffs mit dem l^rädikatsbegriff" in diesen Urteilen beruht nicht auf
einer Analysis der Vorstellungen, weil zwischen den Thatsachen der
Erfahrung keine analytischen, sondern synthetische Verhältnisse
bestehen, weil die Erfahrungsthatsache, die ich als Prädikat denke,
in der als Subjekt gedachten Erfahrungsthatsache nicht enthalten
ist, sondern als etwas völlig Neues zu derselben hinzukommt; der
Grund für die geforderte notwendige und streng allgemeine Geltung
der Urteile über die Thatsachen der Erfahrung ist also nicht das
Prinzip des Widerspruchs. Ebensowenig liegt dieser Grund in der
Erfahrung selbst. Denn die Erfahrung zeigt uns keine notwendige
Verknüpfung zwischen bestimmten Thatsachen, sondern nur ein that-
sächliches Miteinandersein derselben in unserer Perception; die Er-
fahrung belehrt uns nur darüber, dass bestimmte Thatsachen mit
einander verbunden auftreten, bezw. aufgetreten sind, sie lehrt uns
aber nicht, dass dieselben stets verbunden auftreten müssen. Wenn
ich also einen bestimmten Fall der Verknüpfung zwischen Erfahrungs-
thatsacheu empirisch konstatiere, so resultiert aus diesem Faktum
nicht das Recht, diese Thatsachen denkend in notwendige Beziehung
zu setzen; auf Grund der Erfahrung kann ich nur urteilen, dass
etwas so ist, aber ich bin nicht berechtigt zu urteilen, dass es so
sein muss. Liegt nun aber der Grund für die notwendige Ver-
knüpfung des Subjekts begriff's mit dem Prädikatsbegriff in unseren
Der Begriff des „transscendentalen Gegenstandes" etc. 207
Urteilen über Thatsaehen der Erfahrung; weder im Prinzip des
Widerspruchs noch in der Erfahrung selbst, so ist diese Verknüpfung
nur scheinbar eine notwendige; es mangelt ihr der zureichende
logische Grund; sie ist nur eine Usurpation des Denkens, eine
Täuschung des urteilenden Subjekts, eine Täuschung, die darin ihren
psychologischen Grund hat, dass dieses Subjekt, weil es bestimmte
Erfahrungsthatsachen oftmals in einer bestimmten Verbindung wahr-
genommen hatte, sich gewöhnt hat, dieselben zusammen vorzustellen;
in unserem Bewusstsein befestigt sich zwischen bestimmten Percep-
tionen, infolge ihres oftmaligen thatsächlichen Zusammenseins in der
Wahrnehmung, durch Wirksamkeit des psychischen Mechanismus eine
Association, und auf Grund dieser festen Association fühlen wir uns
genötigt, beide Perceptionen zusammen vorzustellen; diese subjektive
Nötigung halten wir nun für eine objektive Notwendigkeit, d. h. wir
meinen irrtümlich, dass die betreftenden Erfahrungsthatsachen, weil sie
in unserer Wahrnehmung zusammenhängen, auch unter einander,
d. h. objektiv, notwendig zusammengehören. Wir glauben durch
unsere Urteile über Thatsaehen der Erfahrung die objektive Be-
schaffenheit dieser Thatsaehen zu treff"en, wir glauben die selbst-
eigene Natur der Gegenstände zu erfassen, während wir iii Wahrheit
in diesen Urteilen nichts anderes erfassen, als das subjektive Schein-
bild eines objektiven \'erhältnisses, ein Scheinbild, das die psychische
Associationsmechanik unserem Denken vorspiegelt. — Das Ergebnis
der Humeschen Kritik der Erfahrungserkenntnis ist also folgendes:
Notwendige und streng allgemeine Urteile über Thatsaehen der Er-
fahrung giebt es nicht, wenigstens lässt sich die Möglichkeit der-
selben, wegen Mangels am zureichenden logischen Grund, der diesen
ihren geforderten Charakter rechtfertigen könnte , nicht einsehen.
Es giebt darum auch kein Erfahrungswissen, keine objektive Er-
kenntnis der Gegenstände der Erfahrung. Was dafür angesehen
wird, ist, streng logisch betrachtet, nur Schein und Blendwerk; es
ist Gegenstand des Glaubens (belief), der sich auf das Gefühl der
Erwartung stützt und nur subjektiv gilt, aber nicht Gegenstand des
Wissens (knowledgej, das sich auf das Bewusstsein des zureichenden
Grundes stützt und objektive Geltung zu haben beansprucht.
Dieses skeptische Ergebnis der Kritik Humes war es, welches
Kant veranlasste, die Möglichkeit der Erfahrungserkenntnis zu unter-
suchen. Die Kritik Humes hielt er für richtig; er sah ein, dass
objektiv-gültige Urteile über Thatsaehen der Erfahrung weder im
formal-logischen Prinzip des Widerspruchs, noch in der faktischen
oQc> Dr. Msoislaw WartcnluTfi:,
Wahnicbiinmi;- ilircii /.ureicIiCMden Gruiul halti'u. cinnial weil diese
Urtoilo keine analytischen, sondern synthetische Sätze sind, sodann
wcW Notwendii^i^eit und strenjre Allgemeinheit sieh empirisch nicht
konstatieren lassen; er erj^änzte nur iiocli die Kiitik llumcs durch
die wichtiii-e Kiiisicht , dass auch die Urteile nl)er Objekte der
Mathematik keine analytischen, sondern synthetische Sätze sind, dass
also das Prinzip des Widerspruchs niciit ausreicht, um deren objektive
Gültigkeit zu bejrründen. Allein ol)<;-leich Kant die Kritik llumes
vollkommen richtis: fand, so war er doch weit davon entfernt, sich
den Folirerungen, welche dieser scharfsinnige Denker aus dieser
Kritik gezogen hatte, anzuschliessen; llumes skeptische Zersetzung
der Erfahrungserkenntnis, dessen Zweifel an der Möglichkeit objektiv-
gültiger Urteile über Thatsachen der Erfahrung, erschien ihm als
übereilt und unberechtigt. Bestehen doch die Mathematik und die
Naturwissenschaft aus Urteilen , die , obwohl keine analytischen,
sondern synthetische Sätze, doch als notwendige und streng allgemeine
Erkenntnisse gelten wollen, aus Urteilen, die sämtlich auf Gegenstände,
die mathematischen auf ideale, die naturwissenschaftlichen auf reale
Gegenstände, sich beziehen, d. h. objektive Geltung beanspruchen.
Diesen Anspruch hält aber Kant für vollauf berechtigt; denn dass
die mathematischen und naturwissenschaftlichen Urteile nichts anderes
sein sollten, als Usurpationen unseres Denkens, grundlose Behaup-
tungen , subjektive Einbildungen ohne objektive Bedeutung: dies
wollte dem mathematisch und naturwissenschaftlich geschulten Denken
Kants nicht einleuchten, gegen diese Zumutung protestierte sein kern-
gesunder wissenschaftlicher Sinn. Mathematik und Naturwissenschaft
sind ihm vollberechtigte Wissenschaften; die Urteile, aus denen die-
selben bestehen, hält er für notwendige und streng allgemeine Sätze,
für Erkenntnisse von objektiver, die Gegenstände treffender Be-
deutung; sie sind ihm Erfahrungsurteile.') — Allein durch diese
Anerkennung der Mathematik und der Naturwissenschaft als objektiver
Erkenntnisse ist Humes Zweifel nicht gehoben; denn dadurch ist nur
die Thatsache festgestellt, das logische Recht dieser Thatsache noch
nicht nachgewiesen; gegen dieses Recht, nicht gegen die Thatsache,
war aber eben die Skepsis Humes gerichtet. Es ist anerkannt, dass
*) Der Terminus „Erfahrungsurteil" hat eine engere und eine weitere Be-
deutung. Erfahrungsurteil im engeren Sinne heisst dasjenige Urteil, welches
auf Gegenstände der Erfahrung sich bezieht; Erfahrungsurteil im weiteren Sinne
heisst jedes Urteil von objektiver Gültigkeit, also auch dasjenige, welches auf
Gegenstände der Mathematik sich bezieht.
Der Begriff des „transscendentalcn Gegenstandes" etc. 209
die mathematischen und die naturwissenschaftlichen Urteile objektive
(reltune: besitzen, dass sie Erkenntnisse der Gegenstände sind, es ist
aber noch nicht gezeigt, wie sie diese Geltung besitzen können. Es
steht fest, dass die X'erknüpfuiig der Hegritie in diesen Urteilen eine
notwendige und allgemeingültige ist, es steht aber ebenso fest, dass
diese Verknüpfung weder im l'rinzip des Widerspruchs, noch in der
Wahrnehmung ihren zureichenden frruiid hat, sondern auf anderen
Bedingungen beruhen muss. Diese Bedingungen gilt es aufzudecken,
wenn wir es nicht bei der blossen Behauptung, es gebe objektiv-
gültige Urteile über Gegenstände der -Mathematik und der Natur,
bewenden lassen, sondern für diese Behauptung einen strengen Be-
weis erbringen wollen.
Weim wir ein Urteil, sofern dasselbe kein analytischer, sondern
ein synthetischer Satz ist, nach seinem Wesen betrachten, so finden
wir. dass der Verknüpfung der Begriti'e in diesem Urteil jedesmal
ein bestimmtes Prinzip zu Grunde liegt, nach Massgabe dessen die
Begriffe zu einander in Beziehung gesetzt und verknüpft werden.
In jedem synthetischen Urteil, welches objektiv gelten soll, ist ein
solches VerknUpfungsprinzip implicite enthalten. Diese Verknüpfungs-
prinzipien, deren es nach Kant so viele giebt, wie viel besondere
Formen des Urteils vorhanden sind, wurzeln, wie der Satz des
Widerspruchs, als Prinzip der analytischen Urteile, im Wesen des
urteilenden Denkens; sie sind die Grundfunktionen und -Verfahrungs-
weisen des verknüpfenden Denkens, besondere Regeln, denen gemäss
der urteilende Verstand zwischen den Vorstellungen eine Synthese
stiftet; Kant nennt sie reine Verstandesbegritfe. Unter diesen syn-
thetischen Kegeln werden die Begriffe, die von der Anschauung, sei
es, wie die mathematischen Begriffe, von der reinen, sei es, wie die
empirischen, naturwissenschaftlichen Begriffe, von der empirischen
Anschauung oder der Wahrnehmung, abgezogen sind, subsumiert und
in Urteilen von objektiver Gültigkeit verbunden. Objektiv-gültig
sind aber diese U'rteile, weil sie notwendig und allgemeingültig sind.
Sie sind notwendig, weil die Synthese der Begriffe auf einer Kegel
des Denkens beruht , Denkregeln aber den Charakter der Not-
wendigkeit besitzen; sie sind allgemeingültig, weil die denkende
Intelligenz in allen Individuen, die an ihr teilnehmen, nach denselben
Regeln verfährt. Die Bedingungen der notwendigen Allgeraeingültig-
keit, d. h. objektiven Gültigkeit der Urteile über Gegenstände der
Mathematik und der Natur sind also die reinen Verstandesbegriffe,.
210 "'■ M^ii'i^law WarlciilKTK,
iintiT wt'lrlien ilic Aiist'hauuiiiren sul)sumi('rt wcnlcn. Kant saji^t:')
„Zcrirliodert man alle sciru' syntliclischeii rrtcile, sofern sie objektiv
ü'elten. so linilet man. ilass sie niemals aus blossen Anseliauunfrcn
bestehen, die bloss, wie man ü-emeiniüiieh (lat'iir hält, (lurcli \ fr-
irleiehiuif; in ein Urteil verknüpft werden, sondern dass sie iinmöjilieli
sein würden, wäre nieht tiber die von der Anschauung ab^ezof;-enen
Be^ritte noch ein reiner \'erstandesbefirilf hinzuf::ekommen, unter dem
Jene Heirritfe subsumiert und so allererst in einem objektiv-,i:ülti;.c<'n
Urteile verknüpft werden. Selbst die Urteile der reinen Mathematik
in ihren einfachsten Axiomen sind von dieser liedingunji' nicht aus-
genommen."^) Kehren wir nun zu unserem Beispiel zurück! Das
Urteil: wenn tue Sonne den Stein bescheint, so wird er warm,
drückt nichts Objektives aus, sondern nur eine Beziehung zweier
Wahrnehmungen aufeinander im gegenwärtigen Zustand des Wahr-
nehniens; es ist ein blosses Wahrnehmungsurteil. Soll diese Be-
ziehung eine objektive Bedeutung erhalten, soll mein Urteil zum
Erfahrungsurteil werden, dann müssen die beiden Wahrnehmungen,
die Wahrnehmung des Sonnenscheins und die Wahrnehmung der
Wärme, unter einem reinen Verstandesbegriff, in diesem Falle unter
dem Begriff der Kausalität, subsumiert werden; ich muss die Wahr-
nehmung des Sonnenscheins und die Wahrnehmung der Wärme im
\'erhältnis der Ursache zur Wirkung setzen; dann sind beide Wahr-
nehmungen nicht l)loss in meinem Zustand der Perception thatsäch-
lich zusammen, sondern sie sind notwendig verknüpft und werden
durch diese Verknüpfung auf einen Gegenstand bezogen, d. h. ob-
jektiviert. Alsdann sage ich: die Sonne erwärmt den Stein, und
dieses Urteil gilt nicht bloss für mich im jetzigen Zustand meines
Wahrnehmens, sondern es gilt für alle unter denselben Bedingungen
ausgeführten Perceptionsakte und muss von allen urteilenden Wesen
jederzeit so und nicht anders vollzogen werden; ich treÖe mit diesem
Urteil die objektive Beschaffenheit des Gegenstandes, hier die ob-
jektive Succession, einen Vorgang in der realen Wirklichkeit; mein
*) A. a. 0. § 20, S. 81.
2) Es ist wohl zu beachten, dass Kant die objektive Gültigkeit der mathe-
matischen Urteile auf die kategoriale Verknüpfung der reinen Anschauimgen
nach Massgabe eines reinen Verstandesbegriflfs, in diesem Falle des Begriffs der
Grösse, gründet. Denn gewöhnlich pflegt man die Sache so darzustellen, als
ob die mathematischen Erkenntnisse nach der Ansicht Kants einzig und allein
auf den reinen Ajischauungsformen des Raumes und der Zeit beruhten. Aliein
Kant sagt ausdrücklich, dass Ajischauungen ohne Begriffe ,,blind" sind; das
^It aber ebenso von der reinen, wie von der empirischen Anschauung.
Der Begrirt des „transscendontalen Gegenstandes" etc. o j j
Urteil ist ein Erfahrungsurteil, eine wirkliche Erkeuntuis des Geg:eu-
standes der Erfahrung, ein Erfahrungswisseu.
Durch diese Ausführungen scheint die Möglichkeit der Erfahrungs-
erkenutnis gegen Humes Skepticismus erwiesen zu sein. Objektiv-
gültige Urteile über Thatsachen der Erfahrung sind nicht nur als
faktisch bestehend anerkannt, sondern es ist auch deren logisches
Kecht nachgewiesen; es ist der Grund entdeckt, auf welchem die
notwendige und allgemeingültige Verknüpfung der Begriffe in den-
selben beruht. Allein damit ist das Prol)lem der Erfahrungserkenntnis
keineswegs gelöst; nelmehr erhebt sich, wenn wir genauer zusehen,
eine Schwierigkeit, die beseitigt werden muss, ehe wir von einer
endgültigen Lösung unseres Problems reden dürfen. — Durch Sub-
sumtion unter den reinen Verstandesbegriff'en werden die aas der
Anschauung gewonnenen Begriffe in notwendiger und allgemein-
gültiger Weise in Erfahrungsurteilen verbunden. Allein wie soll
diese Subsumtion möglich sein? Die von der Anschauung abgezogenen
Begriffe sind empirisch, also a posteriori; diejenigen Begritfe dagegen,
unter welchen jene subsumiert werden, sind rein, nicht empirisch,
also a priori. Wie kommt es dann aber, dass von der Erfahrung
unabhängige Begriffe sich auf die Erfahrung anwenden lassen, um
die Thatsachen derselben notwendig und allgemeingültig zu ver-
knüpfen? Wie lässt sich diese durchgängige Kongruenz zwischen
dem Apriorischen und dem Aposteriorischen, zwischen den reinen
Verstandesbe£:riffen und den empirischen Begriffen, erklären? Dies
die Schwierigkeit, welche beseitigt werden muss.
Das Denken schöpft den Inhalt für seine Formen, welches die
reinen Verstandesbegriffe sind, aus der Anschauung; es verknüpft ein
anschaulich gegebenes Material. Nun könnte diese Verknüpfung
nicht stattfinden, der anschauliche Inhalt könnte in die reinen Formen
des Denkens nicht gebracht werden , wenn derselbe, bevor das
Denken sich auf ihn richtet, nicht schon selbst irgendwie in diese
Formen gegossen wäre. Wie sollten wir z. B. die Wahrnehmung
der auf den Stein auffallenden Sonnenstrahlen und die Wahrnehmung
der Erwärmung des Steins denkend in notwendige Beziehung setzen
können, wenn diese Wahrnehmungen nicht selbst miteinander not-
wendig verbunden wären? Wie sollten wir diese Wahrnehmungen
unter dem Begriff" der Kausalität subsumieren können, wenn die-
selben, ehe unser Denken sie kausal beurteilt, nicht selbst im kau-
salen Zusammenhang ständen? Die Bedingungen also, unter weichen
•_) 1 •_) Dr. iM s c i s 1 a \v \V a r 1 1» n lio r g ,
Erfahruiijrsthatsjii'lu'ii 'm obJcktiN -i;illtij;tMi Urteilen Ncikiiiiprt weiden,
müssen ancli die Hedinirunjren der Krfalinin^ sell)st sein, der Kr-
fahriin«::, wii' sie vor alU'r liewussten Beurteiluni;- in der [""orni des
ansc'haulielien Welthildes in der Wahrnehinuiifr {;e<rel>en ist; um als
Gegenstände beurteilt Averden zu können, niUssen die Tliatsaelien der
Erfahruni; noch vor dieser Beurteilun«; den Charakter der Geii-en-
stände besitzen. Diesen Charakter erhalten sie nun durch die not-
wendij;e und allji-cnieinirültige VerknUpfunfi; der Elemente, aus denen
sie bestehen, d. h. der Wahrnehnuni<ren, eine \'erknüj)funj;. welche
durch eine vorempirische, transscendentale Funktion des Bewusstseins
auf Grund der reinen \'erstandesbegrii!e an dem anschaulichen
Material vollzoii-en wird. Vor aller Reflexion den reinen Verstandes-
begriflen untergeordnet und dadurch zu Erfahrungsobjekten gestaltet,
müssen die Wahrnehmungen nachträglich, in der Reflexion, den reinen
Formen des Denkens sich gemäss zeigen und in Erfahrungsurteilen
verbunden werden können. Kant sagt:^) „Erfahrung besteht in der
synthetischen Verkuüj)fung der Erscheinungen (Wahrnehmungen) in
einem Bewusstsein, sofern dieselbe notwendig ist. Daher sind reine
Verstandesbegritfe diejenigen, unter denen alle Wahrnehmungen zuvor
müssen subsumiert werden, ehe sie zu Erfahrungsurteilen dienen
können, in welchen die synthetische Einheit der Wahrnehmungen als
notwendig und allgemeingültig vorgestellt wird." Ferner :2) „Die
Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt", d. h. ob-
jektiv-gültiger Urteile über Thatsachen der Erfahrung, ,,sind zugleich
Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung'-.
Die Funktion des Denkens, sofern dasselbe in der Synthese
sich bethätigt, ist sonach eine doppelte: Das Denken subsumiert die
von der Anschauung abgezogenen Begriffe unter den reinen Ver-
standesbegriöen und erzeugt Erfahrungs urteile, es verknüpft die An-
schauungen nach Massgabe der reinen Verstandesbegriö'e und erzeugt
Erfahrungsobjekte; im ersteren Falle verhält sich das Denken
reflektierend, im letzteren objektivierend; dort ist das Denken
empirisch, die fertige Erfahrungswelt beurteilend, hier ist es
transscen dental, diese Erfahrungswelt bedingend und schaffend.
Beide Funktionen des verknüpfenden Denkens sind jedoch nicht ver-
schieden, sie sind nicht zwei Funktionen, sondern ein und dieselbe
Funktion, die nur nach zwei verschiedenen Seiten sich äussert: ein-
mal in der Reflexion, das anderemal in der Objektivation. Die ob-
») A. a. 0. § 22, S. 85.
2) Kritik der reinen Vernunft. Ausg. v. Kehrbach 8. 156.
Der BeprriflF des „transscendentalen Gegenstandes'- etc. 213
jektivierende Funktion ist die conditio sine qua non der reflek-
tierenden; erst müssen die Wahrnehmungen durch die synthetischen
Regeln des Di-nkens in notwendiger und allgemeingültiger Weise
verbunden und in Gegenstände der Erfahrung umgewandelt werden,
bevor sie Inhalte notwendiger und allgemeingültiger, d. h. objektiv-
gültiger Urteile über Thatsachen der Erfahrung sein können.')
Allein mit diesem Resultat sind wir noch nicht am Endo unserer
Untersuchungen angelangt. Durch eine transscendeutale Funktion
des Denkens werden die Wahrnehmungen den reinen Verstandes-
hegriften untergeordnet, dadurch in notwendiger und allgemeingültiger
Weise verbunden und zu Gegenständen der Erfahrung gestaltet.
Indes dies scheint unmöglich zu sein. Wie soll die Erfahrungswelt,
die doch unabhängig von unserem Bewusstsein an sich existiert, den
Stempel apriorischer Regeln des Denkens an sich tragen können?
Wie sollen die Erfahrungsobjekte, als selbständige, vom erkennenden
Subjekt unabhängige Dinge und Ereignisse, in das Netz der sub-
jektiven Formen und Gesetze des Bewusstseins sich einfangen lassen?
Allein diese Unmöglichkeit schwindet, wenn wir bedenken, dass die
Erfahrungsobjekte nicht Dinge an sich sind, wie sie unabhängig
von unserem Bewusstsein existieren, sondern nur Erscheinungen,
blosse Modifikationen unseres Bewusstseins, Erscheinungen, die zu
der Welt der Dinge an sich in keiner Beziehung stehen. Wenn aber
die Erfahrungsobjekte nichts anderes sind, als Erscheinungen, als
Zustände unseres Bewusstseins, so liegt auch kein Widerspruch darin,
dass sie den Formen dieses Bewusstseins, in welchem sie erscheinen
und dessen Zustände sie sind, d. h. den reinen Verstandesbegritfen,
durchgängig unterworfen sind. Kant sagt:^) „Wären die Gegen-
stände, womit unsere Erkenntnis zu thun hat, Dinge an sich selbst,
30 würden wir von diesen gar keine Begriffe a priori haben können
Dagegen, wenn wir es überall nur mit Erscheinungen zu thun haben,
so ist es nicht allein möglich, sondern auch notwendig, dass gewisse
Begritfe a priori vor der empirischen Erkenntnis der Gegenstände
vorhergehen. . . . Reine Verstandesbegrifte sind also nur darum
a priori möglich, ja gar, in Beziehung auf Erfahrung, notwendig,
weil unser Erkenntnis mit nichts, als Erscheinungen zu thun hat,
deren Möglichkeit in uns selbst liegt, deren Verknüpfung und Einheit
(in der Vorstellung eines Gegenstandes) bloss in uns angetroffen
1) Vgl. meine Schrift: Kants Theorie der Kausalität, S. ICO flf.
2) A. a. 0. S. 136 fg.
214 !->»■. Mscislaw Warten bor
>^ >
wird, niitliiii vor aller Krliihruiij;- vorhcrp'lu'ii, und du'se der Form
naoh auch alltM'c'rst inöirlich inacheii niiiss."
Allein dureli diese Wendunj; scheint der i;anze Krtrajr unserer
erkenntnistheoretiselien llntersueluin};en wieder verloren {refjaniren
zu sein. Wir haben uns Ix-inülit, die Möj;li('hkeit einer objektiven
Erkenntnis dar/.uthun, während wir jetzt, wie es sch«'int. jierade
deren rnniöjrlichkeit jre/,eij,^t haben. Denn wenn unser Hewusstsein
von der Welt der Dinire dureh eine unill)erl)riiekbare Kluft fretrennt
ist, wenn unsere Erkenntnis auf l)losse Erscheinung:en beschränkt ist,
anf Erscheinunfren, die mit der Welt der Dinge an sieh in gar keinem
Zusammenhang stehen, wenn die Dinge in ihrem An-sich-sein für
uns gänzlich unerkennbar sind: wie kann man dann von einer P>-
fahrung, im Sinne der Erkenntnis der Gegenstände, reden?! Wir
erfahren Ja keine Gegenstände, sondern nur unsere eigenen Bew'usst-
seinszustände! In den Erscheinungen, mit denen unsere Erkenntnis
es allein zu thun hat, erscheinen ja nicht die Dinge in ihrem selbst-
realen Sein; diese Erscheinungen sind vielmehr blosse Modifikationen,
blosse Zustände unseres Bewusstseins; das erkennende Subjekt gleicht
einer fensterlosen Monade, einer Schnecke, die ewig in ihrer Schale
steckt und niemals ihre Fühlhörner herausstrecken kann, um die
Dinge zu berühren! Bei diesem Sachverhalt lässt sich doch aber
billigerweise von einer Erkenntnis der Gegenstände nicht reden! —
Allein dieser Einwand ist unbegründet; die Schwierigkeit, die man
geltend macht, liegt gar nicht vor. Denn zwar ist unsere Erkennt-
nis auf Erscheinungen beschränkt, die nichts anderes sind, als Zu-
stände unseres Bewusstseins und mit den Dingen an sich in keinem
erkenntnistheoretischen Zusammenhang stehen; aber in diesen Er-
scheinungen erfassen wir doch Gegenstände. Wir erfassen dieselben
durch die notw^endige und allgemeingültige Verknüpfung der Er-
scheinungen auf Grund der reinen Verstandesbegritfe. Durch Sub-
sumtion unter allgemeinen, für jedes erkennende Bewusstsein gelten-
den Regeln des Denkens verlieren die Erscheinungen ihren aus-
schliesslich subjektiven, zuständlichen Charakter, den sie ursprünglich
besitzen, und erhalten gegenständliche Bedeutung. Durch die reinen
Verstandesbegritfe werden zu den Erscheinungen, als Zuständen des
Bewusstseins, Gegenstände hinzugedacht, die Erscheinungen werden
auf ihnen korrespondierende Gegenstände bezogen; und weil diese
Beziehung in jedem Bewusstsein nach denselben streng allgemeinen
und notwendigen Regeln geschieht, besitzt sie objektive Bedeutung.
Obwohl Zustände des Bewusstseins, gelten also die Erscheinungen,
Der Begriff des „transscendentalen Gegenstandes" etc. 215
we^en ihrer notwendijreu und allgmieiD^niltifrcn Verknüpfunfr, als
Gegenstände, insofern sie durch diese Verknüpfung eine Beziehung
auf Gegenstände erhalten, d. h. aus der sulgektiven Sphäre des Be-
wnsstseins. in der sie ursprünglich liegen, in die objektive Sphäre
versetzt werden. Nun darf man nicht etwa glauben, dass durch
die Beziehung der Erscheinungen auf Gegenstände das erkennende
Bewusstsein in X'erhältnis gesetzt werde zur Welt der Dinge an sich ;
man darf nicht meinen, dass, wenn wir Erscheinungen durch Sub-
sumtion unter reinen Verstandesbegrit!en objektivieren, wir dieselben
auf Dinge an sich beziehen, und im Akt dieser Beziehung, vermittelst
der Erscheinungen, Dinge an sich erfassen; man darf nicht wähnen,
dass durch die Beziehung der Erscheinungen auf Gegenstände die
Dinge an sich zu Gegenständen unserer Erkenntnis werden. Davon
kann natürlich keine Bede sein; an einen transscendentalen Schluss
von der Erscheinung auf das Ding an sich ist bei dem Ausdruck
,, Beziehung auf einen Gegenstand" nicht zu denken. Denn die ein-
zigen Objekte unserer Erkenntnis sind und bleiben die Erscheinungen,
die zur immanenten Sphäre des Bewusstseins gehören und dieselbe
niemals überschreiten können, um zur transscendenten Sphäre der
Dinge an sich in Beziehung gesetzt zu werden ; Dinge an sich können
weder direkt noch indirekt, vermittelst der Erscheinungen, zu Gegen-
ständen der Erkenntnis werden, sie liegen gänzlich ausserhalb des
Bereiches des Erkennbaren. Objektive Sphäre, worin die Erschei-
nungen, im Akt ihrer Beziehung auf Gegenstände, versetzt werden,
ist also nicht die bewusstseinstransscendente Sphäre der Dinge an
sich. — Welches ist dann aber der Gegenstand, worauf die Er-
scheinung bezogen wird, wenn es das Ding an sich nicht ist; wo
liegt dieser Gegenstand, wenn er nicht im transscendenten Gebiet
der Dinge an sich liegt? Erscheinung ist dieser Gegenstand nicht,
denn die Erscheinung wird auf ihn bezogen, er muss also etwas
von der Erscheinung Unterschiedenes sein; Ding an sich ist er eben-
sowenig, weil auf Dinge an sich die Erscheinungen nicht bezogen
werden können. Im Bewusstsein liegt dieser Gegenstand nicht, denn
hier liegt die Erscheinung; ausserhalb des Bewusstseins liegt er auch
nicht, denn hier liegt das Ding an sich. Es scheint also, dass wir
in eine Schwierigkeit geraten sind, aus der kein Ausweg führt. In-
des diese Schwierigkeit ist nicht vorhanden. Der Gegenstand der
Erscheinung, als unserer Verstellung, liegt weder im Bewusstsein
noch ausserhalb des Bewusstseins; aber er liegt auch nicht irgend-
wo. Denn er ist überhaupt nichts für sich Existierendes. Er wird
o K; l»r. Mx'ishiw W ;i rttMiht'if^,
nur im ll;tIl•^s^•t■n(ll■^taK'^ Akt di's Hewusstsoins, wodurch Krsclu'iiuinjri'ii
(Irn roinon ViTstandosbi'jrrilVcii imtcrfrcordnet und in notwcndi^rcr und
alliriMueintrillti^rtT Wcisr vcikiiiiiit't wrrdcii, noiii Denken ei/.eii::t; er
wird in diesem Akt /.u den Krseheinunjren Inii7,uj;e(laeht und in die-
selben denkend hinein-reli'jit, i^leiehsani als Seele derselben, als ein
Prinzi)), wekdies den Erscheinun;:en den jrefrenständlielien (Charakter
verleiht, i'r heisst „transsceiideiitaler" (lej!:enstan(k weil er im trans-
scendentalen Akt des Bewusstseins denkend erzeu}::t worden ist, um
die Erseheinunji in einen ..empirischen" Gejjenstand, in einen Gej;-en-
stand der Erfahruiiir. umzuwaiuhdn. Er besteht nur im Akte der
Objektivation. d. li. der Interorduunü; der Erseheinunjr unter den
reinen Verstandesbe^ritl. nur in diesem Akte und durch diesen Akt;
ausser demselben existiert er für uns nicht. Er ist der notwendige
Beziehung:spunkt, der jedesmal gedacht werden muss, wenn Er-
scheinungen objektiviert werden; aber dieser Beziehungspunkt be-
steht nur im Akte der Beziehung der Erscheinungen auf Gegenstände,
während er ausser diesem Akte für uns alle Bedeutung verliert. Die
einzigen Objekte, die wir kennen, sind die Erscheinungen, die durch
notwendige und allgemeingültige \'erknüpfung auf Grund der reinen
Verstandesbegriffe auf Gegenstände bezogen werden. Sehen wir
von den Erscheinungen und deren notwendiger Verknüpfung ab, und
fragen, was die Gegenstände ausserdem, dass die Erscheinungen auf
dieselben bezogen werden, sind, so ist klar, dass dieselben nur als
ein Etwas überhaupt angesehen w^erden müssen, als ein Etwas, von
dem wir nicht mehr sagen können, was es ist; sie sind ein Unbe-
kanntes, ein niemals zu bestimmendes X, d. h. für uns ebensoviel
wie nichts. Was also nach Abzug der Erscheinungen übrig bleibt,
ist nichts. Freilich nur ein relatives, kein absolutes Nichts, ein
Nichts für uns, für unsere Erkenntnis, aber kein Nichts an sich;
denn nach Abzug der Erscheinungen bleiben die Dinge an sich.
Weil aber die Dinge an sich jenseits der Sphäre des Erkennbaren
liegen, so interessieren sie uns auch gar nicht, sie sind für uns
nichts. — Fassen wir das, was wir soeben auseinandergesetzt haben,
zusammen, so erhalten wir folgendes Resultat: Beziehung der Er-
scheinung auf einen Gegenstand, d. h. Erkenntnis des Gegenstandes,
bedeutet nicht die Beziehung derselben auf ein Seiendes ausserhalb
des Bewusstseins, um vermittelst der Erscheinung die selbsteigene
Natur dieses Seienden zu erschliessen; vielmehr bedeutet diese Be-
ziehung nichts anderes, als die Objektivation der Erscheinung ver-
möge der notwendigen und allgemeingültigen Verknüpfung ihrer
Der Begriff des ,.transscen(lentalen Gegenstandes" etc. 217
Elemente auf Grund einer apriorischen Kegel des Denkens, des reinen
Verstandesbe<rriffs. Die Erscheinung, als einen Zustand des Hewusst-
seins, auf einen Gegenstand beziehen, den Gegenstand erkennen,
heisst nichts anderes, als diese Erscheinung unter eine Kegel stellen,
die notwendig und streng allgemein gilt, und welche dementsprechend
die Verbindung des Mannigfaltigen der Erscheinung zu einer not-
wendigen und allgemeingültigen macht. Über diesen wichtigen Punkt
äussert sich Kant folgendermassen:^) „Und hier ist es denn not-
wendig, sich darüber verständlich zu machen, was man denn unter
dem Ausdruck des Gegenstandes der \'orstellungen meine. Wir
haben oben gesagt, dass Erscheinungen selbst nichts als sinnliche
Vorstellungen sind, die an sich, in eben derselben Art, nicht als
Gegenstände (ausser der Vorstellungskraft) müssen angesehen werden.
Was versteht man denn, wenn man von einem der Erkenntnis korrespon-
dierenden, mithin auch davon unterschiedenen Gegenstand redet? Es
ist leicht einzusehen, dass dieser Gegenstand nur als etwas überhaupt
= X müsse gedacht werden, weil wir ausser unserer Erkenntnis
doch nichts haben, welches wir dieser Erkenntnis als korrespondierend
setzen könnten." ,,Wir finden aber, dass unser Gedanke von der
Beziehung aller Erkenntnis auf ihren Gegenstand etwas von Not-
wendigkeit bei sich führe, da nämlich dieser als dasjenige angesehen
wird, was dawider ist, dass unsere Erkenntnisse nicht aufs Gerate-
wohl, oder beliebig, sondern a priori auf gewisse Weise bestimmt
seien, weil, indem sie sich auf einen Gegenstand beziehen sollen,
sie auch notwendiger Weise in Beziehung auf diesen untereinander
übereinstimmen, d. h. diejenige Einheit haben müssen, welche den
Begriff von einem Gegenstande ausmacht." ,,Es ist aber klar, dass,
da wir es nur mit dem Mannigtaltigen unserer Vorstellungen zu
thun haben, und jenes X, was ihnen korrespondiert (der Gegenstand |,
weil er etwas von allen unsern Vorstellungen Unterschiedenes sein
soll, für uns nichts ist, die Einheit, welche der Gegenstand notwendig
macht, nichts anders sein könne, als die formale Einheit des Bewusst-
seins in der Synthesis des Mannigfaltigen der Vorstellungen. Als-
dann sagen wir: wir erkennen den Gegenstand, wenn wir in
dem Mannigfaltigen der Anschauung synthetische Ein-
heit" — d. h. Einheit nach den Kegeln des Denkens, den reinen
Verstandesl)egritfen, — ,, bewirkt haben." Ferner:^) ., Erscheinungen
sind die einzigen Gegenstände, die uns unmittelbar gegeben werden
1) A. a. 0. S. 118 fg.
2) A. a. 0. S. 122 fg.
Kantstadion IV. 15
218 l>r. M sei slaw Wart (MiluTjf,
kttnilon. und il:»s, avms sich darin uinnittcUtnr auf den Gcijcnstand
l)e/ii'ht. hoisst Anscliauunir. Nun sind :il)or diese Ilrselu'inunj;:en nicht
Diujre an sich 8cll)st. soiuiern seihst nur \c)rsttdlun<ren. die wiederum
ihren GeprtMistand hal)en, (h-r also v(»n uns nicht nielir aufgeschaut
werden kann, uiul daher der uiclit-eiupirisclu', d. i. transscendentah;
(Jeponstand = X ironannt werden nuiss." „Der reine Hei^ritr vcui
diesem transscendentalen Gegenstände (der wirklidi hei alh-n unsern
Erkenntnissen immer einerlei = X ist), ist das, was in allen unsern
empirischen BeurilVen üherhaujjt Beziehung auf einen (iegenstand,
d. i. objektive Realität verschaften kann. Dieser Hegrill' kann nun
gar keine hestimnite Anschauung enthalten, und wird also nichts
anders, als diejenige Einheit betreffen, die in einem
Mannigfaltigen der Erkenntnis angetroffen werden muss,
sofern es in Beziehung auf einen Gegenstand steht. Diese Be-
ziehung ist aber nichts anderes, als die notwendige Ein-
heit des Bewusstseins, mithin auch der Synthesis des
Mannigfaltigen durch gemeinschaftliche Funktion des Ge-
müts, es in einer Vorstellung zu verbinden. Da nun diese
P^inheit als a priori notwendig angesehen werden nmss (weil die
Erkenntnis sonst ohne Gegenstand sein würde), so wird die Beziehung
auf einen transscendentalen Gegenstand, d. i. die objektive Realität
unserer empirischen Erkenntnis, auf dem transscendentalen Gesetze
beruhen, dass alle Erscheinungen, sofern uns dadurch Gegenstände
gegeben werden sollen, unter Regeln a priori der synthetischen Ein-
heit derselben stehen müssen, nach welchen ihr Verhältnis in der
empirischen Anschauung allein möglich ist.'*
2. Die Erkenntnistheorie Schopenhauers.')
Schopenhauers Erkenntnistheorie zeichnet sich, im Vergleich mit
der Kantischen, durch grosse Einfachheit und Übersichtlichkeit ihrer
Prinzipien aus. Während nämlich Kant, um unsere Erkenntnis zu
erklären und deren Möglichkeit zu begründen, eines überaus kompli-
zierten Apparats von Erkenntnisfaktoren bedarf, kommt Schopenhauer
für denselben Zweck mit sehr wenigen aus, oder glaubt wenigstens
mit sehr wenigen auskommen zu können. Er will die Kantische
Erkenntnistheorie von dem sie unnötig beschwerenden Ballast be-
freien, er will dieselbe vereinfachen, um gemäss dem Sprichwort:
') Dieselbe wird hier nnr insoweit in Betracht gezogen werden, als sie unser
Thema berührt.
I
L
Der Begrifl des ,,transscenclent;ilen (Jegenstandes" etc. 219
Simplex sigilluni veri, die einzig wahre Erkenntnistheorie za ent-
wickeln.
Schopenhauer steht im Prinzip auf demselben erkenntnistheoreti-
schen Standpunkt wie Kant, nämlich auf dem Standpunkt des trans-
scendentalen Idealismus. Auch er unterscheidet zwischen Vorstellungen
und Dingen au sich; auch nach ihm sind Erscheinungen, als sinnliche
Vorstellungen, die einzigen Objekte unserer Erkenntnis; und er rechnet
es Kaut als grösstes Verdienst an, diese idealistische Grundansicht
endgültig begründet und zum bleibenden Dogma der Philosophie er-
hoben zu haben. Allein wenngleich beide Denker dieselbe erkenntnis-
theoretische Grundauschauung vertreten, so nimmt doch diese Grund-
anschauung bei jedem von ihnen einen besonderen, eigentümlichen
Charakter an. Kants Idealismus isi die Konsequenz seines Aprioris-
mus. während der Ausgangspunkt seiner Erkenntnistheorie entschieden
realistisch ist. So paradox dieser Satz auch erscheinen mag, wir
halten doch an demselben fest. Ist es doch Kants unerschütterliche
Überzeugung, die er von vornherein hegt und mit der er an seine
erkenntnistheoretischen Untersuchungen herantritt, ist es doch Kants
Überzeugung, dass eine Welt absolut-realer Dinge ausserhalb des
vorstellenden Bewusstseins existiert, dass diese Dinge in realem Ver-
hältnis zu unserem Bewusstsein stehen, insofern sie unsere Sinnlich-
keit afhzieren, d. h. auf dieselbe einwirken, und durch diese Ein-
wirkung zu Ursachen der Empfindungen werden, welche den Inhalt
unserer Erkenntnis bilden. Darin ist Kant entschiedener Realist;
u. z. nicht etwa aus Unbedachtsamkeit ; nein, mit diesem Kealismus
ist es ihm so bitter ernst, dass er, um dem Einwand, seine Erkenntnis-
theorie sei aufgewärmter Idealismus Berkeleys, zu begegnen, zum
Versuch einer ausdrücklichen Widerlegung des Idealismus sich herbei-
gelassen hat. Zum Idealisten wird Kant erst im weiteren Verlauf
seiner erkenntnistheoretischen Erwägungen, sobald er nämlich an die
Beantwortung der Frage, wie objektive Erkenntnis möglich sei, heran-
tritt. Objektive Erkenntnis aber ist nach der Ansicht Kants nur
möglich, wenn der \'erknUptung der Erfahrungsthatsachen in Er-
fahrungsurteilen apriorische Prinzipien zu Grunde liegen. Diese
Prinzipien besitzen aber nur dann objektive Gültigkeit, d. h. sie
la.ssen sich nur dann auf die Erfahrung anwenden, wenn sie die Be-
iingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung sind. Sie
ÄÖnnen dies aber nur dann sein, wenn die Erfahrungsobjekte blosse
Erscheinungen, blosse N'orstellungen des Bewusstseins sind, ohne
Beziehung zum absolut-realen Sein. So wird Kant zum Idealisten,
15*
OOQ L)r. Mscisliiw \V .1 rt onhorjj,
ohne Jinlocli durcli (licxii Iilcalismus seinen uis|irllii;:lieli('n Kciilisimis
aut/.ulu'biMi; er liisst heide iin\ erniitti-lt nehciicinandcr hcstchcn.
Anders bei Schopenhauer. Der Aiis;::anf,''s|)unkt seiner Hrkenntins-
theorie ist der entseiiiedenste Idealismus. „Die Welt ist meine Vor-
stelluujr": dieser Satz bildet naeli Sehopenhaner den Aus<ranjr jeder
wahren Hrkenntnistheorie. ..Kein Objekt ohne Sul)Jekt*'. kein Sein,
das nielit vorjrestelltes, l)e\vusstes Sein wäre. Alles, was Objekt
unserer Erkenntnis ist, ist Vorstelhin-r, Unterworten dem Satze vom
Grunde, als dem iremeinschaltliehen Ausdruck für alle uns a priori
liewussten Formen des 01)jekts. ist Norstellunji- und sonst nichts.
Darin ist Schopenhauer Idealist. Allein er bleibt l)ei diesem Idealis-
mus nicht stehen; im weiteren Fortiranj:: seiner erkenntnistheoretischen
Betrachtungen durchl)richt er denselben in entschieden realistischer
Kichtuuir. Dass die Welt, sofern sie 01)jekt unserer Erkenntnis ist,
nur Vorstelluns: ist, steht für Schopenhauer fest. Aber die Welt ist
nicht bloss Objekt für ein Sul)jekt, sie l)esitzt auch selbständige,
vom Bewusstsein unabhängige Realität, und in diesem absolut-realen
Sein ist sie Ding an sich. Nun hat Kant die Dinge an sich für
unerkennbar erklärt. Schopenhauer ist anderer Ansicht. Die Welt
als anschaulicher Inhalt unseres Bewusstseins ist blosse Vorstellung,
ohne Beziehung zum transscendenten Gebiet; sie ist ein vSein für ein
Bewusstsein, aber kein absolutes Sein, ein Objekt für ein Subjekt,
kein Ding an sich. Das An- sich der Welt lässt sich auf dem Wege
der Vorstellung nicht erfassen; der innere Kern, das Wesen der
Objekte unserer Erfahrungswelt, bleibt für uns, solange wir die Welt
nur vorstellen, verborgen. Allein wir stellen die Welt nicht nur vor,
wir sind selbst ein Teil dieser Welt. W^ären wir nur vorstellende
Bewusstheiten. dann würden wir auf die Vorstellung der Welt be-
schränkt sein und das An-sich derselben niemals erfassen können.
Wir sind aber nicht bloss vorstellende Bewusstheiten, sondern wir
haben auch einen Leib, der ein Teil der Welt ist. Nun ist dieser
Leib, von aussen betrachtet, ein Objekt unter Objekten, wenn auch
ein unmittelbares Objekt, als Objekt aber nur für ein Subjekt, d. h,
blosse Vorstellung. Allein wir sind auf diese auswendige Betrachtung
unseres Leibes nicht beschränkt; wir kennen auch seine Innenseite.
Im Selbstbewusstsein erleben wir durch unmittelbare Selbsterfassung
unser Wollen. Dieses Wollen ist unser eigenes Selbst, unser Wesen,
das wir zwar in der Form der Zeit, als das in eine Reihe aufein-
anderfolgender Willensakte distrahierte Wesen, also noch nicht voll-
ständig erkennen, das wir aber trotzdem erkennen. Im Bewusstsein
Der Eegrifl des „tninsscendentalen f4ef?en8tandes" etc. 221
anderer Dinge erfassen wir nicht deren Wesen, sondern nur deren
Erscheinung:; im Selbstbewusstsein erfassen wir in unserem Willen
unser eigenes Wesen, und nur die Form der Zeit bildet noch die
Schranke, die uns hindert, dieses Wesen vollständig zu ergründen.
Nun ist nach Schopenhauer der Willensakt und die Leibesaktion
ein und dasselbe, das nur von zwei Seiten betrachtet wird; was im
Selbstl»ewusstsein als Willensakt erlebt wird, stellt sich im Bewusst-
sein in Form der Anschauung als Bewegung des Leibes dar. Dem-
nach ist der Wille das Wesen unseres Leibes, und der Leib die
„Objektit.ät"' des Willens; der Wille ist das Metaphysische zum
Physischen des Leibes; jener ist das Ding an sich, dieser die Er-
scheinung. Was also, von aussen gesehen, im Bewusstsein in der
Form der Anschauung als Leib erscheint, das ist, von innen be-
trachtet, der Wille als Ding an sich. Nun ist unser Leib ein Objekt
unter Objekten, er gehört zu unserer Erfahrungswelt als ein Teil
derselben. Als Wesen dieses Leibes haben wir aber den Willen
erkannt. Folglich wird — so schliesst Schopenhauer — der Wille
das metaphysische Wesen der Welt überhaupt sein; er ist das von
Kant für unerkennbar gehaltene Ding an sich, das jenseits der Be-
wusstseinssphäre, hinter den Erscheinungen, liegende An-sich der Welt.
Als Objekt für ein Subjekt ist die Welt unsere Vorstellung und sonst
nichts, als Ding an sich ist sie Wille. — Auf die Gedankensprünge
und Erschleichungen, die Schopenhauer bei der Eroberung des Dinges
an sich in Menge begeht, können wir nicht eingehen; kurz und gut
— Schopenhauer glaubt im Willen das Ding an sich erkannt zu
haben, und er hat damit seinen ursprünglichen Idealismus in realisti-
scher Pachtung durchbrochen. Ja, nicht allein dies; e\ hat — un-
befangen betrachtet — diesen Idealismus, sowenig er dies auch zu-
geben möchte, sogar verleugnet. Denn nachdem er den Willen für
das Ding an sich erklärt hat, bleibt er bei dieser Einsicht nicht
stehen; vielmehr möchte er, um sein metaphysisches Prinzip
näher zu entwickeln und inhaltsvoller zu gestalten, auch das
Leben und Weben, die ,,Objektivationen" dieses Willens schildern,
er möchte uns zeigen, wie der Wille in einer Welt der Dinge sich
manifestiert. [Jra aber diesen Zweck zu erreichen, dazu hat er
natürlich kein anderes Mittel, als dieses, unsere Erfahrungswelt in
Betracht zu ziehen und an ihr die Objektivationen des Willens zu
exemplifizieren. Damit hebt er aber — so wenig er sich auch dessen
bew^usst ist — seine idealistische Grundansicht auf und wird zum
entschiedenen Realisten. Denn durch die Heranziehung der Er-
>•)•) I>r. Msfislaw W art i' nl>i>r;r. '
fahruiiirswrll in ilif iiift;»|)l»>sis('lif iW'tnu'lituiii:. diiirli i:\rin|)lilika-
tion (ItT ciiriMistcn Natur des Willens und dcrrn Aussrrun;:tii :in den
Objekten der nnsoliaulii-lnn Wtit, \orlierl diese Welt die Hedeutuii};
einer blossen \ nr>tellunj;. wotllr sie Scliopeidiauer erkliirt liatte, und
wird in erkeni\tnistlieoretiselie He/iehun^- jresctzt zur iransscendenten
Welt der Dinire an >ii'li. Hirs lui unbefan-remr lietraelduii}; der
wirkliche Saeliverhalt. Kreilieli ist Seliupenliauer anderer Ansieht.
Kr hält naeli wie \or an seinem Idealismus fest; er ulaubt. dass
dieser Idealismus mit seinem Kealismus durchaus im Hinklan-- steht;
ihm ist die Krfahrunjrswelt innner noeh eine blosse Vorstellun;r, ein
Objekt für ein Subjekt und ausserdem nichts; ihm sind die Objek-
tivationen des Willens keine Äusseruniren der Natur dieses Willens
in der Sphäre ausserhalb des Hewusstseins. keine Manifestationen
an sich, sondern nur Darstelluniren des Willens in unserem Hewusst-
sein, blosse Erscheiuunjren, durch und durch bedinj^t durch die Er-
kenntnisformen des vorstellenden Subjekts, ohne Beziehung zum trans-
scendeuten Gebiet, sie sind Objekte für ein Subjekt und sonst nichts.
Der Natur dieser Objekte wollen wir jetzt näher treten.
Die vom erkennenden Subjekt sinnlich anjreschaute empirische
Welt ist nach Schopenhauer, wenn wir dem Buchstaben seiner Er-
kenntnistheorie folgen, nichts als blosse Vorstellung; sie existiert nur
im Bewusstsein und steht mit der absolut-realen Welt, der Welt als
Wille, in gar keinem erkenntnistheoretischen Zusammenhang. Allein,
obgleich blosse Vorstellung, und als solche nur Zustand des Bewusst-
seins, zeigt doch diese Welt einen ausgeprägt gegenständlichen
Charakter; sie erscheint uns als eine W^elt selbständiger im Räume
coexistierender Dinge und in der Zeit succedierender Veränderungen.
Wie entsteht nun diese WeltV Wie kommen wir dazu, eine W^elt
der Gegenstände in Raum und Zeit anzuschauen? Auf welche Weise
wird das, was Zustand des Bewusstseins ist, zum Gegenstande?
Darauf giebt Schopenhauer folgende Antwort: Die anschauliche, em-
pirische Vorstellung hat ihren Ursprung in einer „Anregung der Em-
pfindung unsers sensitiven Leibes."') Auf Grund dieser Anregung
1) Auch Schopenhauer redet also, gleich Kant, von einer Anregung, einer
Affektion unserer Sinne, ohne zu merken, dass er so gar nicht reden darf. Er
redet sogar ausdrücklich von einer „kausalen Einwirkung auf unsere Sinne"
(Satz vom Grunde, § 19 bezw, § 17). Auf die Frage, was einwirkt, antwortet
er: die Vorstellung. Das ist aber off"enbar eine Verkehrtheit, da eine Vor-
stellung qua Vorstellung nicht wirken kann. Der Grund dieser Verkehrtheit
liegt darin, dass Schopenhauer weder seinen Idealismus, noch seinen Eealismus
folgerichtig durchgeführt hat, sondern halber Idealist, halber Realist ist. Rea-
Der BegriflF des „transscendentalen Gegenstandes" etc. 22B
entwickelt unsere Sinnlielikeit Empfindungeu. Nuu sind aber die
Emptindunicen noch keine Anschauungen. Ucnn die Anschauung be-
deutet schon et^yas Objektives, es sind in ihr bereits Gegenstände
enthalten, während in der Empfindung als solcher nichts Objektives
liegt. Die blosse Sinnesenipliudung ist nach Schopenhauer ein , .roher
Stoft"", ein „subjektives Gefühl", ein „\'organg im Organismus selbst'-,
d. b. im Sinnesorgan, und weiter nichts. Wodurch wird nun die
subjektive Empfindung zur objektiven Anschauung, wodurch erhält
der subjektive Zustand die Bedeutung eines Gegenstandes? Er erhält
dieselbe durch den Prozess der Objektivation der Empfindungen.
Dieser Erkenntnisprozess wird in der Weise vollzogen, dass der
Verstand,' ) vermöge seiner apriorischen Form, des Gesetzes der Kau-
salität, die Empfindung als Wirkung auftasst, diese Wirkung auf ihre
Ursache bezieht, mit Zuhilfenahme der reinen Ansehauungsform des
Raumes diese Ursache ausserhalb des Organismus verlegt und im
Räume konstruiert.-) Diese Yerstandesoperation der Beziehung der
Empfindungen auf ihre Ursachen ist — wie Schopenhauer ausdrück-
lich betontet — kein Schluss in abstrakten Begrifien, sie ist nicht
diskursiv und reflektiv, sondern intuitiv und ganz unmittelbar, daher
notwendig und sicher; sie ist eine instinktartige, ohne Bewusstsein
vollzogene Funktion, deren Resultat, die objektive Welt im Räume,
nur zum Bewusstsein kommt. Demnach ist die empirische Anschauung
das Produkt nicht bloss sensualer Faktoren, wie Kant irrtümlich ge-
lehrt hat, sondern auch eines intellektualen Faktors, nämlich der
kausalen Funktion des Verstandes, ohne welche wir keine Anschauung,
lismus und Idealismus stehen bei ihm unvermittelt nebeneinander, sie kämpfen
gegeneinander imd gestalten seine Erkenntnistheorie zur widerspruchsvollen
Lehre. Dasselbe gilt von Kant.
1) Schopenhauer erklärt den Verstand für eine Funktion des Gehirns
welche Ansicht entschieden materialistisch ist und diesen Anstrich auch dann
nicht vollständig veriiert, wenn man an Stelle des Gehirns den in Form des
Gehirns sich objektivierenden Willen setzt.
2) Von den reinen Anschauungsformen, Raum und Zeit, verwendet Schopen-
hauer, um das Zustandekommen der Anschauung zu erklären, ausdrücklich nur
den Raum, obgleich sich auch Stellen finden, wo er Raum, Zeit und Kausalität
als Faktoren der empirischen Anschauung anführt. Dies erklärt sich daraus,
dass Schopenhauer unter Objekten der empirischen Anschauung, Objekte der
Aussen weit versteht, und um die Ent.stehung dieser Objekte zu erklären,
musste der Raum in erster Linie in Betracht gezogen werden, während von
der Zeit, als der Form der Vorstellung überhaupt, eo ipso gUt. dass sie auch
die Anschauung mit umtasst.
3) A. a. 0. § 21, Welt als Wille und Vorstellung, Bd. I, § 4.
'2'2-i '*'' ^Isclslaw Wartpnbor^r,
sondtTii nur nii'litssa-rondr sultJoktiM' l'jii|>liii(luiii:t'ii liiittfii. Die so
cntstandtMic Welt ist unscrt' Krt'alinmirswflt. d\v sn ciitstandcncn
Obji'ktf sind (Jrircnstiiiulc der Krlaliruii^'; Krfaliruni:- und t'niidrisclic
Ansi'hauunj: sind nach Schopenhauer identisch. Nun darf man nicht
etwa j:laul»en. dass die i^ausale Beziehun;r der KinplinduuL^ auf ihre
Ursache eine Hezichunj: derstdhen auf das Din-r an sich hedeute,
•rleich als oh Diiiire an sich Ursachen unserer Kniplindun-ren wären
und sich deshalb durch einen kausalen Schluss von der Wirkunj; aut
die Ursache irjrendwie erkennen liessen. Davon ist keine Rede.
Denn das wäre transseendentaler Kealisnuis, und dieser erkenntnis-
theoretischen Ansicht will sich Schopenhauer nicht schuldig,' machen.
Kausale Verhältnisse bestehen nur /wischen Objekten, und diese sind
blosse Vorstellunj^en, sie bestehen dajregen nicht zwischen Din^roii
an sich und dem erkennenden Bewusstsein; Kausalität >/\\i nur für
die Erscheinuniren. nicht für die Ding:e an sich; es jriebt nur eine
immanente, keine transscendente Kausalität.')
In der unmittelbaren, reflexionslosen Anschauong einer objektiven
Welt im Räume besteht die intuitive Erkenntnis, die, weil sie auf
dem Kausalgesetz beruht, das Werk des Verstandes ist, als des an-
schaulichen Erkenntnisvermögens. Über diese Welt reflektiert nun
die Vernunft, das Vermögen des Denkens, der diskursiven, abstrakten
Erkenntnis. Sie setzt den anschaulichen Inhalt in Begrifle um, bildet
auf diese Weise nichtanschauliche, abstrakte Vorstellungen, verbindet
diese Begriffe in Urteilen, zieht aus den Urteilen Schlüsse, und wir
gelangen zur abstrakten Erkenntnis, die ihren Inhalt ganz und gar
ans dem reichen Quell der Anschauung schöpft und von dieser
durchaus abhängig ist. So ist die Anschauung das Prius, das Denken
ein Posterius; jene ist von diesem durchaus unabhängig, dieses von
jener inhaltlich durchaus abhängig; erst muss durch intuitive Er-
kenntnisfunktionen die Welt anschaulicher Objekte, die Erfahrungs-
welt, im Bewusstsein geschaff"en sein, ehe das Denken seine dis-
kursive Thätigkeit ausüben kann.
Wenn wir diese erkenntnistheoretischen Ausführungen Schopen-
hauers mit denjenigen Kants vergleichen, so springt der Unterschied
1 üass diese Lehre im "Widerspmch steht mit Schopenhauers Ansicht
Ton der ..Anregung'' unserer Sinne, dass hier Idealismus und Realismus in
harten Widerstreit geraten, darum kümmert sich Schopenhauer ebensowenig,
wie sieh Kant darum gekümmert hat. Auch sieht er nicht, dass die Beziehung
der Empfindungen auf „äussere" Ursachen nur dann einen Sinn hat, wenn es
solche Ursachen wirklich giebt.
Der Begriff dea „transficendentalen Gegenstandes" etc. 225
der Überzeugungen beider Denker sofort in die Augen. Diesen
Unterschied wollen wir im folgenden etwas genauer betrachten, weil
nur durch Beachtung desselben die Einwände, welche Schopen-
hauer gegen Kants Auffassung erhebt, richtig verstanden werden
können.
Bei Kant ist die blosse Anschauung „blind" ; es sind in ihr
noch keine Gegenstände enthalten; sie ist nur eine Summe von Per-
ceptionen des vorstellenden Subjekts , ein „GewUhle" subjektiver
Bilder, ohne objektive Bedeutung. Dieser Mangel an Objektivität
ist darin begründet, dass die Anschauung bei Kant das Produkt
ausschliesslich sensualer Erkenntnisfaktoren ist. nämlich der em-
pirischen Sinnlichkeit, welche Empfindungen entwickelt, und der
reinen Sinnlichkeit, welche die reinen Anschauungsformen liefert,
— Faktoren, welche gesetzlos, ohne streng allgemeine Kegeln wirken,
daher Bilder erzeugen, die nicht diejenige Notwendigkeit und All-
gemeingültigkeit in der Verknüpfung ihrer Elemente zeigen, welche
der Gegenstand erfordert. Erst wenn das nach streng allgemeinen.
Regeln verfahrende Denken zu der Anschauung hinzukommt, wenn
es durch transscendentale Funktion die Anschauungen den reinen
Verstandesbegritfen unterordnet und dadurch notwendig und allgemein-
gültig verknüpft, werden die objektslosen Anschauungen auf Gegen-
stände bezogen, und es wird die blinde Anschauung in Erfahrung,,
als Erkenntnis der Gegenstände, umgewandelt. So unterscheidet
Kant scharf zwischen Anschauung und Erfahrung; jene ist sensual,
daher ohne objektive Bedeutung, diese intellektual, daher von ob-
jektiver Gültigkeit. Die Anschauung ist die Vorstufe zur P>fahrung,
wozu sie durch das Denken erhoben wird. Ganz anders verhält es
sieh nach Schopenhauer. Bei ihm ist die Anschauung schon objektiv;
es sind in ihr bereits Gegenstände enthalten; sie ist mit der Er-
fahrung identisch. Daher bedarf es auch keiner transscendentalen
Beziehung der Anschauungen auf Gegenständ e, um sie dadurch aller-
erst zu Erfahrungsobjekten zu gestalten; denn die Anschauungen
sind selbst Erfahrungsobjekte. Sie besitzen gegenständlichen Charakter,
weil die Anschauung nicht sensual, sondern intellektual ist, weil die
Empfindungen durch die kausale Funktion des Verstandes auf äussere
Ursachen bezogen und dadurch zu äusseren Objekten gemacht
werden. Der Prozess der Objektivation wird also schon an den
Empfindungen vollzogen, nicht erst, wie Kant lehrt, an den An-
schauungen; daher liegen nach Schopenhauer in den Anschauungen
bereits Gegenstände, während Kant diese Anschauungen erst durch.
•_>._)(; I>r. Msoialnw WartcnlMT^r,
katrirtuinlc Fiinktiuiicii des Dciikms vcrp-ircnsiiiiulliclicii will. Dan
Dfiikrii s|)irlt lu'i Scliopciiliaiifr keine olijektiviercnde liolle, <'S
sfhatTt nicht (Jrirenstiinde. sondern rellektiert nur lllier Ce^rensländc,
die in der Atiscliaunni: lieiren. St*h»t|ieidiaiier kennt keine trans-
scendentali>. somlern nur eine einpirisi'lie Funktion des Denkens.
Keine \ tTstaiKU'sheirrilVe im Sinne Kants linden sich in seiner Kr-
kenntnistluM»rie nicht; er kennt nur ein|urische He^n-ilVe. die ans der
Anschauung: p'wonnen sind und die freincinschartlichen Merkmale
einer Klasse anschaulicher Ohjekte repräsentieren, andere HefrrilVe
finden sich hei ihm nicht; denn die Kausalität, die a |)riori ;:ilt, ist
kein HeirrilV des Denkens, sondern eine l'uidaion des Anschauens,
sie ist — wie er sajren würde — kein He^'ritV der denkenden Ver-
nunlt. sond«'rn eine Funktion des anschauenden Verstandes. Die
Kausalität ist hei Schopenhauer, wie l)ei Kant, eine Hedinf^ung der
Erfahruni:, aher doch in einem anderen IJnifanj:; und in einem anderen
Sinne; denn während sie hei Kant nur eine von den Bedin<:unf:en
der Erfahrung ist. ist sie bei Schopenhauer die einzige Hedinirung
derselben; während sie bei Kant da/u dient, um die Aufeinander-
folge der Anschauungen auf einen Gegenstand zu beziehen und ihr
dadurch den Charakter einer objektiven Suceession, eines (Jeschehens,
zu verleihen, dient sie bei Schopenhauer dazu, um die Empliudungen
auf ihre Ursachen zu beziehen und dadurch in anschauliche, em-
pirische Objekte umzuwandeln.
3. Schopenhauers Kritik des Begriffs des Gegenstandes
bei Kant.
Schopenhauer nennt sich selbst den „wahren und ächten Thron-
erben Kants", seine Philosophie das Zu-Ende-Denken, die Vollendung
der Kantischen. Er ist für seinen Meister vom Gefühl der tiefsten
Ehrfurcht und Dankbarkeit erfüllt, und er rühmt mit Worten höchster
Anerkennung dessen Verdienste um die Philosophie. Kants grösstes
Verdienst ist aber in Schopenhauers Augen die Unterscheidung der
Erscheinung vom Dinge an sich; und er hält deshalb die trans-
scendentale Ästhetik Kants, worin diese Unterscheidung gemacht
und begründet wird, für ein so überaus verdienstvolles Werk, dass
es allein hinreichen könnte, Kants Namen zu verewigen, er sieht in
ihr den einen ,.grossen Diamanten in der Krone des Kantischen
Ruhmes''. Kants Beweise für die Apriorität und Idealität des Raumes
and der Zeit hält er für vollkommen zwingend und überzeugend,
und erblickt in dieser Lehre Kants eine wirkliche, grosse Entdeckung
Der Begriff des „transscendentalen Gegenstandes" etc. 227
in der Metaphysik. Allein wenn auch Schopenhauer Kants grosse
Leistungen anerkennt, so vermafr er doch nicht in verba mafristri
zu schwören und alles, was Kant gelehrt hat, einfach zu unter-
schreiben. Er entdeckt in der Kantischen IMiiloscphie grosse Fehler,
zahlreiche Widersprüche, an denen sie leidet, und er stellt sich im
Interesse der Wahrheit die Aufgabe, diese Fehler schonungslos auf-
zudecken und zu vertilgen, um dadurch das Wahre und Bleibende
in Kants Lehre in desto hellerem Licht erscheinen zu lassen.
Hatte Schopenhauer die transscendentale Ästhetik Kants in
hohem Grade gerühmt, so spricht er im Gegenteil über dessen trans-
scendentale Logik, insbesondere über den ersten Teil derselben, die
transscendentale Analytik, sein entschiedenes ^'e^dammungsurteil aus.
Die hier vorgetragenen Lehren sind nach seiner Ansicht grundfalsch
und führen zu widersprechenden Konsequenzen. Näher betrachtet,
sind es folgende Einwände, die Schopenhauer gegen Kants Auf-
fassung erhebt; ^)
Der Grundfehler der Erkenntnistheorie Kants sei die Vermischung
der anschaulichen mit der abstrakten Erkenntnis. Kant habe beide
Erkenntnisarten nicht, wie es nötig wäre, und wie er, nämlich
Schopenhauer, dies in seiner Lehre von der totalen Diversität zwischen
der intuitiven und der abstrakten, diskursiven Erkenntnis gethan,
auseinandergehalten, sondern dieselben gänzlich vermischt und da-
durch in seine Ausführungen eine unselige Verwirrung hineingebracht.
Denn anstatt vor allem zu erklären, wie wir zur Anschauung einer
objektiven Welt im Räume gelangen, habe Kant dieses wichtigste
Problem der Erkenntnistheorie mit dem nichtssagenden Ausdruck:
„Das Empirische der Anschauung wird von aussen gegeben" ab-
gefertigt und sei dann sofort zur Betrachtung der abstrakten Er-
kennntnis des Denkens geschritten. Die empirische Anschauung
werde uns nach Kants Ansicht gegeben, und nun solle über dieselbe
gedacht werden.
In welcher Weise denn? Etwa in der Weise, wie er, nänüich
Schopenhauer, gezeigt habe? Reflektiere etwa das Denken über die
Anschauung, um durch diskursive Thätigkeit den anschaulichen In-
halt in Begriffe umzusetzen und nichtanschauliche, abstrakte Vor-
stellungen zu bilden? Nein! Das Denken solle nach Kant etwas
anderes leisten. Es solle nämlich durch seine reinen Begriffe, das
1) Vergl. darüber Schopenhauers Kritik der Kantisohen Philosophie, WW
hrsgb. V. Grisebach. Bd. I S. öö8 ff.
oop Pr. Msoislaw Wart c iiIht;,'.
„Kädorwcrk" der /.utill" Katc^'iirii'ii. /.u den Ansi'lmmnifr<Mi, d'w doi-li
luToits (u'friMiständc sricii. (IcjrtMistiiiidc erst Inn/.iidcnkcii. es sidlc
die Ansi'li;iium>j:»M\ auf (icircnstäiidc Ijoy.irlicii. iim aus der hlosscu
Ansohauuui: Krl'ahruuu: /u uiaclicn. Dadurch hriu^rc ahi-r Kant in
vidlijr sai'hwidrijrrr NNCisc das l)ciikcii in die Anscliauuiijr, atistatt
l)eidt' von einander /u Irtiitieii. und tillire einen l»eirrilV »in, der eine
panz unt'asshare, mit Widersprllehen heliattele \ (ustellunp, ein walirew
philoso{)liiselies Monstrum sei, tiämiirii den lieL^rilV dt's (ie<:eii-
standi's. Denn was solle dieser Gejrenstand sein? Kr sei weder
Ansehauuni: iuk'Ii BojrritT. Nieiit Anscliauun;:. deim er werde ja f;e-
daelit. lüelit anp-seliaut, und die Anschauun;:: werde auf ihn liezojren;
er müsse also etwas von der Anschauun.i: rnterschiedenes und \'er-
schiedenes sein. Nicht BejrrilV, denn dieser driieke immer etwas All-
iremeines aus. während der (iejrenstand, weil die Ansehauunjr als
Kinzelvorstellunjr auf ihn bezop:en werde, etwas Einzelnes sein müsse;
er müsse ein einzelnes, reales Objekt sein, und so brin^^c Kant wieder
die Anschauunjr in das Denken. Demnach sei der ffCgenstand der
Erfahrunj: bei Kant ein ganz unlassbares .,Mittelding" von An-
schauung und Begritf: er sei der erstereu verwandt durch seineu
Charakter der Einzelheit und Besonderheit, dem letzteren verwandt
durch seinen Charakter des Gedachtwerdeus; er sei aber weder An-
schauung noch Begriff, weder ein Objekt der anschaulichen noch ein
Objekt der abstrakten ?>kenntnis, d. h. eine unmögliche Konzeption.
— Durch Eiiduhrung des transscendentalen Gegenstandes, worauf die
Anschauung denkend bezogen werden solle, gerate Kant mit seiner
sonstigen Auffassung vom Wesen des Denkens und dessen erkenntnis-
theoretischer Aufgabe in harten Widerspruch. Lehre doch Kant
ausdrücklich, dass der Verstand, als Vermögen der denkenden Er-
kenntnis, kein Vermögen der Anschauung sei, dass seine Erkenntnis
nicht intuitiv, sondern diskursiv sei, dass die Kategorien des Ver-
standes keineswegs die Bedingungen seien, unter denen Gegen-
stände in der Anschauung gegeben werden , dass die Anschauung
der Funktionen des Denkens keineswegs bedürfe u. dgl. Danach
könnte es scheinen, als trenne Kant sorgfältig die denkende Er-
kenntnis von der anschaulichen; es könnte scheinen, als seien auch
ohne Funktionen des Denkens in der empirischen Anschauung Objekte
enthalten, wenn auch in einer von Kant nicht näher angegebenen
Weise. Dieser Lehre Kants widerspreche aber aufs schreiendste
seine ganze übrige Lehre vom Verstände, von dessen Kategorien
und von der Möglichkeit der Erfahrung. Suche doch Kant nachzu-
Der Begriff des „transacendentalen Gegenstandes" etc. 229
"weisen, dass der Verstand durch seine Kategrorien erst Einheit in
das Manni.irt"altig:e der Anschauung bringe, indem er dasselbe synthe-
siere, verbinde und ordne, dass die Kategorien die Anschauung: der
Gegenstände bestimmen, dass die Eriahrung nur durch die Kategorien
des Denkens möglich sei und in der \'erkiiüpfung der Wahrnehmungen,
die denn doch wohl Anschauungen seien, bestehe, dass der Verstand
die Natur, die doch ein Anschauliches sei und kein Abstraktum,
allererst möglich mache, indem er ihr Gesetze a priori vorschreibe
und dergl. Wie reime sich das mit dem \'origen zusammen? Ein-
mal mache Kant die Anschauung vom Denken unabhängig, das
andere Mal mache er sie davon abhängig; einmal sollen nach seiner
Ansicht in den Anschauungen auch ohne Funktionen des Verstandes
Gegenstände gegeben sein, das anderemal sollen diese Gegenstände
erst durch die Kategorien des Verstandes zu den Anschauungen hin-
zugedacht werden ; einmal lehre Kant, der Verstand sei kein intuitives,
sondern ein diskursives Erkenntnisvermögen, das anderemal mache
er den Verstand zum Vermögen der intuitiven Erkenntnis, insofern
er durch dessen Funktionen die anschaulichen Elemente verknüpfen
und ordnen lasse, damit durch diese Verknüpfung die Anschauungen
auf ihnen korrespondierende Gegenstände bezogen werden könnten,
wodurch erst Erfahrung entstehe. — Allein durch diese Lehre sündige
Kant gegen den Hauptgrundsatz der Erkenntnistheorie, nämlich gegen
den Satz: kein Objekt ohne Subjekt. Denn indem Kant die An-
schauung auf einen Gegenstand durch den Verstand beziehen lasse,
unterscheide er zwischen der Anschauung und dem Gegenstand. Das
Einzige aber, womit unsere Erkenntnis es zu thun habe, seien die
Anschauungen oder Erscheinungen; nur die Anschauung falle ins
Bewusstsein, als Zustand desselben, nur die Anschauung sei durch
das erkennende Bewusstsein bedingt und davon abhängig, d. h. ein
Objekt für ein Subjekt. Als dieses Objekt wolle aber Kant die An-
schauung nicht anerkennen; das Objekt sei vielmehr nach seiner
Ansicht etwas von der Anschauung Unterschiedenes und \erschiedenes,
nämlich der transscendentale Gegenstand, auf welchen die Anschau-
ung denkend bezogen werden solle. Nun falle dieser Gegenstand
nicht ins Bewusstsein, denn ins Bewusstsein falle nur die Anschauung;
er sei durch das erkennende Bewusstsein nicht bedingt und davon
abhängig, denn diese Bedingtheit und Al)hängigkeit komme nur der
Anschauung zu. Demnach sei der transscendentale Gegenstand bei
Kant etwas Unbedingtes, vom erkennenden Subjekt Unabhängiges,
etv\as für sich und an sich Seiendes, ein absolutes Objekt, ein Ob-
'2[]0 l'r. .Mscislaw Warttnlu-rtJ,
jfkt. woU'lu's an sii'li. d. Ii. auch olino Siihjokt. Olijckt ist. d. li. or
Sfi ein hölzernes Kisen. ein leihhatter Widersjtriu'li. - - Kant unter-
scheide sehr richtig zwisehen der Krseheinunj: und tlciu l)in;r an
sicli; jene L'fhi'tre zur innnanentcn Sphäre des Hewusstseins, dieses
zur transsoendenten Sphiire aussi'rhall» des Hewusstseins. jene sei ein
Ohjekt der Erkenntnis, dieses Vw^v ausser (h'in Hereieh (h-s Krkenn-
haren. Nun statuiere aher Kant ausserdem einen l'ntersehied zwisehen
der ErseheinuufT ( Ansehauunfr) und dem CJep'nstand. worauf dieselbe
hezdiren werde. Denniaeh untcrseheide Kant eiL^entlich dreierlei:
1. die Vorstellung ( Ansehauuiii:, Krseheinunjr), 2. «li'n Gegenstand
der \ orstellunfT, 3. das Dini: an sich. Dieser Ge«ienstand der Vor-
stellung: sei ein falscher Kindrin<:liu^^ er solle eine Stelle ausfüllen,
deren Besetzung: vollkommen entbehrlich sei. Dmn die einzigen
Objekte unserer Erkenntnis seien die Vorstellungen. Sehen wir von
den Vorstellungen ab und fragen, was nach deren Abzug übrig bleibe,
so stehen wir bei der Frage nach dem Ding an sich. Ausser den
Vorstellungen und den Dingen an sich gebe es also nichts, womit
das erkennende Subjekt sieh beschäftigen könnte. Kant dagegen
schiebe zwischen die Vorstellung und das Ding an sich den trans-
scendentalen Gegenstand, der nichts anderes sei, als ein „Zwitter",
zusammengesetzt aus unvereinbaren Merkmalen, nämlich aus dem,
was Kant teils der Vorstellung, teils dem Ding an sich geraubt habe.
Denn als absolutes Objekt, als Objekt an sich, das keines Subjekts
bedürfe, als ein Etwas, das jenseits der Bewusstseinsphäre liege,
nehme der transscendentale Gegenstand teil an der Selbständigkeit
und Unabhängigkeit vom erkennenden Subjekt, Eigenschaften, welche
dem Ding an sich zukommen; er sei zwar nicht das Ding an sich,
weil mit diesem unsere Erkenntnis sich gar nicht beschäftige, aber
er sei doch des Dinges an sich nächster Anverwandter. Da aber
andererseits der transscendentale Gegenstand ein Objekt der Erkennt-
nis sei, insofern durch das Hinzudenken desselben zur Vorstellung,
durch Beziehung der Anschauung auf denselben, Erfahrung zustande
kommen solle, so sei wieder dieser Gegenstand, wegen seines Charakters
des Objekt-seins, der Vorstellung verwandt. — Zu solchen Wider-
sprüchen führe also der Kantische Begritf des transscendentalen
Gegenstandes, an dessen Konzeption die falsche, prekäre und
schwankende Stellung des Denkens in Kants Erkenntnistheorie die
Schuld trage. Hätte Kant das Denken von der Anschauung sorg-
fältig geschieden, hätte er gezeigt, auf welche Weise die Anschauung
mit ihrem reichen Inhalt entstehe, hätte er eingesehen, dass in dieser
Der BegriflF des „transscendentalen Gegenstandes" etc. 231
Anschauung selbst schon die empirische Realität, mithin die Erfahrung
mit ihren Gegenständen enthalten sei, hätte er dem Denken die ihm
ausschliesslich zukommende Aufgabe der Reflexion über den anschau-
lichen Inhalt zugewiesen: dann würde er seine Erkenntnistheorie vor
den Widersprüchen und Ungereimtheiten bewahrt haben, an denen
sie leide und unrettbar zu Grunde irehen müsse.
»^
(Schluss folgt.)
Der Begriff der „hypothetischen Imperative"
in der Ethik Kants.
\on rrivatdozent Lif. tlieol. Carl Stange in Halle a. S.
Der Betriff der sogenannten hypothetischen Imperative spielt in
der Ethik Kants, wie es scheint, nur eine untergeordnete Kolle.
Wenn es nämlich (wie es thatsächlich der Fall ist) Darstellungen
der Kantisehen Ethik giebt. in denen dieser Begriff nicht einmal
erwähnt wird, so ist damit der Beweis geliefert, dass das Verständ-
nis des Systems überhaupt, des Gedankenganges, dem Kant in seiner
Ethik folgt, von der Bedeutung dieses Begriffs unabhängig ist, und
dass ebenso das Verständnis der Terminologie, deren Kant sich be-
dient, ohne Rücksicht auf diesen Begriff gewonnen werden kann.
Um so auffallender ist dann allerdings die Thatsache, dass Kant
selbst es für notwendig gehalten hat, diesen anscheinend gänzlich
überflüssigen und bedeutungslosen Begriff zu erwähnen. Zur Er-
klärung dieser Thatsache wird man sich auch nicht darauf berufen
dürfen, dass Kant gemeint habe, durch den Begrifl der hypothetischen
Imperative den wichtigen Begriff der kategorischen Imperative ver-
deutlichen zu können. Vorausgesetzt nämlich, dass das Kants Mei-
nung gewesen ist, so müssten auch die Interpreten der Kantischen
Ethik sich diese Brauchbarkeit des Begriffs zu nutze machen. Wenn
sie aber demgegenüber der Meinung sind, dass der Begriff der kate-
gorischen Imperative einer derartigen Verdeutlichung durch den Be-
griff der hypothetischen Imperative nicht bedürfe, oder gar, dass der
Begriff der hypothetischen Imperative zur Verdeutlichung des Begriffs
der kategorischen Imperative nicht geeignet sei, so werden sie sich
der Aufgabe nicht entziehen können, die Kritik, welche sie damit
an den Ausführungen Kants üben, zu begründen und die Unzuläng-
lichkeit des Begriffs der hypothetischen Imperative im Hinblick auf
den von Kant verfolgten Zweck zu erw^eisen.
Der Begriff der „hypothetischen Imperative" in der Ethik Kants. 233
Bei genauerer Untersuchung des Begriffs der hypothetischen
Imperative ergiebt sieh freilich, dass die angegebene Absicht nicht
das Motiv gewesen sein kann, von dem aus Kant zur Nebeneinander-
stellung der hypothetischen und der kategorischen Imperative ge-
kommen ist. Zur Verdeutlichung des Begriffs der kategorischen Im-
perative wäre allerdings der Begriff der hypothetischen Imperative
so ungeeignet wie nur irgend möglich. Ist doch von beiden Begriffen
der Begriff der kategorischen Imperative an sich deutlich genug,
während der Begriff" der hypothetischen Imperative keineswegs ohne
weiteres verständlich, sondern — wie schon die darauf bezüglichen
Ausführungen Kants beweisen — mit gewissen Schwierigkeiten be-
haftet ist. Auf der anderen Seite ist das Motiv, durch welches Kant
zur Vergleichung der kategorischen und der hypothetischen Imperative
veranlasst worden ist, für das Ganze der Kantischen Ethik von so
grosser Bedeutung, dass man — wenn man einmal dies Motiv er-
kannt hat — unmöglich die Ansicht teilen kann, als wäre der Be-
griff der hypothetischen Imperative ein wertloser und überflüssiger
Begriff. Den Gedankengang der Kantischen Ethik kann man aller-
dings auch ohne Kücksicht auf diesen Begriff verstehen, und das
Verständnis der Kantischen Terminologie hängt ebenso wenig von
dem Begriff der hypothetischen Imperative ab. Aber für die Kritik,
für die Beantwortung der kritischen Hauptfrage: woher es kommt,
dass Kant trotz seiner Lehre vom kategorischen Imperativ und trotz
seiner Lehre von der Freiheit in der wissenschaftlichen Erkenntnis
des Sittlichen über dürftige Abstraktionen nicht hinausgelangt ist, —
für die Beantwortung dieser Hauptfrage der Kritik bietet gerade der
Begriff der hypothetischen Imperative einen wichtigen und wertvollen
Fingerzeig.
Die Untersuchung des Begriffs der hypothetischen Imperative
hat es naturgemäss mit einer doppelten Aufgabe zu thun. Sie hat
erstens den Begriff der hypothetischen Imperative darzulegen, und
sie hat zweitens die Bedeutung festzustellen, welche der Begriff
der hypothetischen Imperative für die Kantische Ethik hat.
1. über das, was Kant mit dem Begriff der hypothetischen Im-
perative meint, hat er sich in der ,, Kritik der praktischen Vernunft"
nur sehr kurz ausgesprochen. In dem ersten Paragraphen dieser
Schrift giebt er nämlich im Anschluss an seine Unterscheidung der
praktischen Grundsätze, die er in Maximen und praktische Gesetze
einteilt, eine Dt-linition der Imperative überhaupt: ein Imperativ ist
„eine Regel, die durch ein Sollen, welches die objektive Nötigung
Kantätudiea IV. 16
der llamiluii^' ausdruckt, Lc/i-iclnu-l wird" i\. JtM.'i Auf difsr
Detinition der Imperative lUx'rliaupt tolirt sodann die Kintcilimi:- der
Imperative in hypothetisehe und Uatej^oriselu' Imperative: liy|t(ttlieli-
sehe Imperative sind scdelie. welehc „nieiit dm W illni Heldeelillnn.
sondern nur in Anstduiui: einer bejrehrten Wirkuni; liestimmen"; kate-
•rorisehe Imperative da;;e,ir<'n ..müssen den Willen als Willen, noeh
ehe ich tVaire, oh ieh irar das /u einer he^^ehrten Wirkung' erlordei-
liehe Vermöjren halte, oder was mir, um diese hervor/.uhrinjren, /u
thuii sei. hinreiehend bestimmen" (ib.). — Zur Verdeutlichung: dieser
rnterscheidunj: nennt Kant als Beispiel eines hypothetischen Im-
perativs den Satz, dass man in der .)u<rend arbeiten und sparen
müsse, um im Alter nicht /u darben, während ein katej^^orischer
Imperativ enthalten ist in dem Satz, man solle niemals liifrenhaft
versprechen. Der hypothetische Imperativ enthält „zwar auch Not-
wendifrkeit (denn ohne das wäre er kein Imperativ), aber diese ist
nur subjektiv bedinj^t"': der Wille wird auf etwas anderes ver-
wiesen, wovon man voraussetzt, dass er es begehre. Der katejjori-
sche Imperativ dairefren ist eine Regel, die bloss den Willen betriff't:
,,ilie Absichten, die der Mensch haben mag, mögen durch denselben
erreicht werden können oder nicht; das blosse W^ollen ist das, was
durch jene Regel völlig a priori bestimmt werden soll" (V, 21).
In ilbereinstimmung mit diesen Sätzen hat sich Kant schon in
der ..Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" über den Begriff der
hypothetischen Imperative geäussert. Aach hier beginnt er wieder
mit einer Bestimmung des Begriffs der Imperative überhaupt: ,,die
Norstellung eines objektiven Prinzips, sofern es für einen Willen
nötigend ist, heisst ein Gebot und die Formel des Gebots heisst
Imperativ. Alle Imperative werden" dem gemäss „durch ein Sollen
ausgedrückt" (IV, 261). Sie zerfallen in hypothetische und kategorische
Imperative. Die hypothetischen Imperative „stellen die praktische
Notwendigkeit einer möglichen Handlung als Mittel zu etwas anderem,
was man will (oder doch möglich ist, dass man es wolle), zu ge-
langen vor. Der kategorische Imperativ würde der sein, welcher
eine Handlung als für sich selbst, ohne Beziehung auf einen anderen
Zweck, als objektiv-notwendig vorstellte" (IV, 262). Im Unterschied
von der „Kritik der praktischen Vernunft" geht dann aber die „Grund-
legung" auf die hypothetischen Imperative ausführlicher ein, indem
1) Die Zitate beziehen sich auf die zweite Hartensteinsche Ausgabe, 1867/68,
8 Bände.
Der Begriff der „hypothetischen Imperative" in der Ethik Kants. 235
sie dieselben wieder in zwei Gnippen teilt: „Der hyjjothetisehe Im-
perativ sagt nur, dass die Handhing zu irgend einer [entweder]
möglichen oder wirklichen Absicht gut sei. Im ersteren Falle
ist er ein problematisch, im zweiten [ein] assertorisch-prakti-
sches Prinzii)"( IV', 262/3); im ersteren Falle kann man die hypothetischen
Imperative als Regeln der Geschicklichkeit, im zweiten Falle als
Katschläge der Klugheit bezeichnen (IV. 204). Bei den Kegeln der Ge-
schicklichkeit handelt es sich um eine praktische Vorschrift, welche
eine Handlung als notwendig hinstellt, um irgend eine dadurch zu
bewirkende mögliche Absicht zu erreichen. „Ob der Zweck ver-
nünftig und gut sei, davon ist hier gar nicht die Frage, sondern nur,
was man thun müsse, um ihn zu erreichen. Die Vorschriften für
den Arzt, um seinen Mann auf gründliche Art gesund zu machen,
und für einen Giftmischer, um ihn sicher zu töten, sind insofern von
gleichem Wert, als eine jede dazu dient, ihre Absicht vollkommen
zu bewirken" (IV, 263). Bei den Katschlägen der Klugheit dagegen
handelt es sich um einen hypothetischen Imperativ, der die praktische
Notwendigkeit vorstellt, nicht im Hinblick auf irgend einen beliebigen,
imr möglichen Zweck, sondern im Hinblick auf einen ganz bestimmten
Zweck, „den man bei allen vernünftigen Wesen als wirklich vor-
aussetzen kann-', nämlich im Hinblick auf die Glückseligkeit. Die
Ratschläge der Klugheit beziehen sich also nicht auf eine bloss mög-
liche Absicht, sondern auf eine Absicht, „die man sicher und a priori
bei jedem Menschen voraussetzen kann, weil sie zu seinem Wesen
gehört." Insofern sind sie nicht wie die Kegeln der Geschicklichkeit
problematisch, sondern assertorisch. Ebenso wie bei den Kegeln der
Geschicklichkeit bezieht sich aber auch bei den Katschlägen der
Klugheit der Imperativ auf eine Handlung, die „nicht schlechthin,
sondern nur als Mittel zu einer anderen Absicht geboten'* würd.
Insofern sind also die Katschläge der Klugheit ebenso wie die Kegeln
der Geschicklichkeit hypothetische Imperative (IV, 264).
Diese Ausführungen der „Grundlegung*' kommen also im wesent-
lichen auf dasselbe hinaus, wie die entsprechenden Ausführungen
der ..Kritik der praktischen Vernunft"; sie unterscheiden sich von
den letzteren nur dadurch, dass sie den Begriff der hypothetischen
Imperative genauer präzisieren, indem sie als besondere Arten der
hypothetischen Imperative die Kegeln der Geschicklichkeit und die
Ratschläge der Klugheit nennen.
Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass diese Differenz,
welche zwischen den beiden ethischen Hauptwerken Kants besteht,
16*
230 ^'arl StaiiKo,
ohne ji'ili' Ht'ileutunp st'i. Wie Kant tlbrrliaupt in dm ersten Pura-
^rrajiben der ..Kritik"' das in der .idrundle^niii-r" NOr^etra^^'iie uiir
kur/, wieilerliolt. so seheiiien aucli die Aussaf::en. welehe er in der
..Kritik" Uher die li\ pothetisclu'n Imperative tliut. nur eine kurze
Kekajjitulation des in der „Cirundiefiun;;" (lesajrten sein /.ii stdlen.
Wenn Kant daher jene Kinteihnifr der hypdthetisehen Imperative in
Keireln der Gesciiiekliehkeit und Katschlä}::»' der Kln^i'heit in der
..Kritik" nieht wiederholt, so erklärt sich das einfach aus der f^e-
riujreren Ausl'ilhrliehkeit dieser Schrift. Von einer sachlichen DilVe-
reuz dagejren scheint deshalb noch nicht geredet werden /,u müssen.
Bei genauerer \'er;rleichun;;- heider Schriften /eijrt sich indessen,
dass die Wej;lassung jener Kinteilung- der hypothetischen Imperative
doch keine zufällige ist. Die DilVerenz, welche in der Beurteilung
der hypothetischen Imperative zwischen der ..Grundle^^un^" und der
„Kritik" zutage tritt, erklärt sich vielmehr daraus, dass Kant über
jene Einteilung der hypothetischen Imperative im Jahre 1788 anders
dachte, als im Jahre 1785, dass er in der „Kritik" den Begriti" der
hyi)othetischen Imperative anders verstand als in der „Grundlegung".
Zum Beweis dieser Behaujjtung verweise ich auf eine gelegent-
liche Bemerkung, die Kant in der „Grundlegung" macht und die
zwar an sich ziemlich unwichtig ist, in der Vergleichung nnt anderen
Aussagen Kants aber doch eine gewisse Bedeutung erlangt. Im
Auschluss au die Unterscheidung der beiden Arten von hypothetischen
Imperativen und der kategorischen Imperative sagt nändich Kant:
„man könnte die ersteren Imperative [die Kegeln der Geschicklich-
keit] auch technisch, die zweiten [die Katschläge der Klugheit] prag-
matisch, die dritten [die Imperative der Sittlichkeit] moralisch nennen"
(IV, 265j. Mit dieser Bemerkung, die, wie gesagt, an sich zienüich un-
wichtig ist, vergleiche man nun die Randbemerkung, welche Kant
in der „Kritik" zur zweiten Anmerkung des zweiten Lehrsatzes macht.
Es heisst dort (V, 27): „Sätze, welche in der Mathematik oder
Naturlehre praktisch genannt werden, sollten eigentlich technisch
heisseu. Denn um die Willensbestimmung ist es diesen Lehren gar
nicht zu thun; sie zeigen nur das Mannigfaltige der möglichen Hand-
lung an, welches eine gewisse Wirkung hervorzubringen hinreichend
ist, und sind also ebenso theoretisch, als alle Sätze, welche die Ver-
knüpfung der Ursache mit einer Wirkung aussagen". \'ergleicht
man diese Randbemerkung der „Kritik" mit jener gelegentlichen
Bemerkung der „Grundlegung", so ergiebt sich der Schluss: wenn
die Regeln der Geschicklichkeit technisch sind, und wenn technische
Der Begriff der „hypothetischen Imperative*' in der Ethiic Kants. 237
Lehren nicht eierentlich praktische, sondern theoretische Sätze sind,
so sind auch die Kegeln der Creschicklichkeit nicht ])raktische Prin-
zipien und folfreweise auch nicht Imperative. In der That hat Kant
selbst in der ..Kritik" diese Fol^'crunir gezog:en. In dem Satz näm-
lich, aof den sich Jene Kandbemerkung bezieht, sagt er (V, 26 f.):
,,Prinzipien der Sell)stliebe können zwar allgemeine Kegeln der Ge-
schicklichkeit (Mittel zu Absichten auszufinden) enthalten; alsdann
sind es aber bloss theoretische Prinzipien". Die Regeln der
Geschicklichkeit sind also für ihn nicht mehr |)raktische, sondern
theoretische Prinzipien. Sie gehören nicht mehr — mit den Rat-
schlägen der Klugheit zusammen — za den hypothetischen Impera-
tiven. Die Unterscheidung der hypothetischen Imperative in Regeln
der (xeschicklichkeit und in Ratschläge der Klugheit ist vielmehr in
der ..Kritik" aufgegeben: die ..Kritik'' kennt nur noch eine Art von
hypothetischen Imperativen.
Wenn damit bewiesen ist, dass in der Beurteilung der hypothe-
tischen Imperative sich bei Kant eine Wandlung vollzogen hat, dass
also für Kant sell)st mit diesem Begrifi sich gewisse Schwierigkeiten
verbinden, so dürfte nun weiterhin umsomehr die Frage untersucht
werden müssen: ob denn die Kantische Lehre von den hypothetischen
Imperativen in der korrigierten Gestalt, in der sie in der ., Kritik''
nns begegnet, haltbar ist. Das Problem, um das es sich handelt,
gestaltet sich zu der Frage, ob denn die sogenannten Ratschläge
der Klugheit als hypothetische Imperative zu betrachten sind, wenn
sich herausgestellt hat, dass die Regeln der Geschicklichkeit keine
hypothetischen Imperative sind.
Geht man zunächst von den Aussagen aus. durch welche Kant
in der „Grundlegung*^' das Verhältnis der Ratschläge der Klugheit
zu den Regeln der Geschicklichkeit bestimmt hat, so erscheinen in
diesen Aussagen beide Arten von hypothetischen Imperativen so eng
mit einander verbunden, dass man, wenn die Regeln der Geschick-
lichkeit als theoretische Prinzipien erkannt sind, nicht umhin kann,
die Ratschläge der Klugheit ebenfalls für theoretische Prinzipien zu
halten. Heide Arten der sogenannten hypothetischen Imperative sagen
aus, dass eine Handlung zu einer bestimmten Absicht gut sei (IV, 262/3).
Der Unterschied besteht nur darin, dass bei den Regeln der Geschick-
lichkeit diese Absicht bloss als möglich, bei den Ratschlägen der
Klugheit dagegen als wirklich vorhanden gedacht wird (ib.). Das
Verhältnis aber, in df-ni die vorgestellte Absicht zum Willen des
Handelnden steht, kann doch uimiöglich die Beschatfenheit der Regel
v>3S Tarl Stniif^o,
äiulrrii. Die Ki'jrcl ist viclmdir Ihm hcidcii Arliii \<iii li\ putlirtischcii
lin|)frati\t'ii vtui »It-rsclIxMi Art. Sic riilil sownlil lui den lü'^^i'lii
(l.r (irsi'hii'klii'liki'it (^virl. 1\ . Jti^l wi«' '»»'i «It'ii liiitscliliip-ii der Klii};-
luit (vjrl. 1\. iMii;) :uit (ItMii S;it/: „wer den Zweck will, will :iiu'li das
da/.u uinMitbolirlicli iiolwriidip' Mittrl, das in scinrr (irwalt ist."
Aller ireraile dieser ..anah tiselie Satz", der ans dem \\ njleii der
Wirkunir auch die Notwemiij^keit der /.u dieser Wirkim^^ erlorder-
liehen llandluni: fcdirert ( I\ . Jt;.")!, ist als eine .\ erknUiJl'uiiir <ler l Ursache,
mit einer \N irkunj;" ein theoretiselier Sat/,: tnl-licli iiillssten auch
nicht bloss die Kcireln der (ieschicklichkeit, sondern ebenso auch
die Katschläjre der Kluii-heit nicht niehr als Imperative betrachtet
werden.
Demg:eg:euüber ist nun al)er zu beachten, dass Kant in der
„Kritik" das \ t-rhältnis der Katschläge der Klu.üheit zu den Kegeln
der Geschicklichkeit anders als in der .^Grundlegung" bestimmt. Kr
stellt nicht mehr beide nebeneinander, sondern er ordnet die Kegeln
der Geschicklichkeit, welche aufgehört haben, hypothetische Impera-
tive zu sein, den hypothetischen Imperativen unter. Die hy|)Otheti-
schen Imperative „enthalten" Vorschriften der Geschicklichkeit
(V, 20, 27); sie „gründen sich" auf allgemeine Kegeln der Ge-
schicklichkeit (V, -27). Obwohl sie aber auf den Kegeln der Ge-
schicklichkeit als theoretischen Sätzen ruhen, sind die hypotheti-
schen Imperative selbst doch „praktische Vorschriften" (V, 20, 21, 27).
Dieser Unterschied in der Bedeutung, welche den Kegeln der
Geschicklichkeit und den Katschlägen der Klugheit, resp. den hypo-
thetischen Imperativen der „Kritik" zukommen soll, kann selbstver-
ständlich seinen Grund haben nur in dem, was den begritflichen
Unterschied zwischen beiden ausmacht. Der begriffliche Unterschied
zwischen beiden ist aber, wie wir gesehen haben, lediglich dadurch
bedingt, dass es sich bei den Kegeln der Geschicklichkeit um eine
bloss mögliche, bei den Katschlägen der Klugheit dagegen um eine
wirklich vorhandene Absicht handelt. Die Beziehung der Absicht
auf den Willen des Handelnden scheint also doch für die Beurteilung
der Katschläge der Klugheit als hypothetischer Imperative massgebend
zu sein.
An einer bestimmten Äusserung über diese Frage fehlt es aller-
dings in der „Kritik-'. Wenn aber bei der Erörterung der hypothe-
tischen Imperative ihre Eigentümlichkeit darin gefunden wird, dass
sie den Willen „in Ansehung einer begehrten Wirkung bestimmen"
(V, 20), dass „der Wille auf etwas anderes verwiesen werde, wo-
Der Begriff der „hypothetischen Imperative" in der Ethik Kants. 239
von man voraussetzt, dass er es begehre" (V, 21), so bekommt mau
doch den Eindruck, als ob Kant die Ratschläge der Klugheit deshalb
als praktische Prinzipien beurteilt, weil sie nicht bloss im Hinblick
auf eine nur mögliche Absicht eine Handlung vorschreiben, die dem-
zufolge auch nur eine mögliche Handlung ist, sondern weil sie im
Hinblick auf eine ganz bestimmte, wirklich vorhandene Absicht eine
Handlung vorschreiben und, indem sie für diese Absicht das Mittel
zu ihrer Verwirklichung aufzeigen, in der That einen Einfluss auf
den handelnden Willen gewinnen. Die Katschläge der Klugheit
können als praktische Vorschriften bezeichnet werden, weil durch
sie ein wirkliches Wollen in bestimmter Weise beeinflusst wird.
Indessen, wenn das die Meinung Kants in der ,, Kritik" ist, so
bedarf es nicht erst einer weitläufigen Erörterung, um festzustellen,
dass dieser l.^nterschied zwischen den Regeln der Geschicklichkeit
und den Ratschlägen der Klugheit nicht das Recht giebt, die letzteren
als praktische Prinzipien zu betrachten, dass vielmehr auch die Rat-
schläge der Klugheit und folglich alle sogenannten hypothetischen
Imperative nichts anderes als technische Vorschriften sind.
Dasjenige nämlich, was den Willen zur Handlung bestimmt,
ist auch bei den Ratschlägen der Klugheit nicht der Imperativ oder
die Regel, die in ihnen enthalten ist, sondern das vorausgesetzte
Begehren des Willens. Die Nötigung zur Handlung liegt ganz allein
in dem Begehren, welches sich auf die durch die Handlung zu er-
reichende Wirkung richtet. Dagegen hat die Regel auch hier nur
die Bedeutung, den theoretisch als notwendig erkannten Zusammen-
hang zwischen der Handlung und der durch sie zu erreichenden Wir-
kung zum Ausdruck zu bringen. Ebenso wie bei den Regeln der
Geschicklichkeit, giebt auch bei den Ratschlägen der Klugheit die
Regel nur das Mittel an zur Erlangung eines bestimmten Zweckes:
giebt es einen Bestimmungsgrund zur Verwirklichung des Zweckes,
so wird auch das Mittel verwirklicht werden müssen, da die Wirkung
ohne die Ursache nicht zu haben ist. Der Bestimmungsgrund zuf
Verwirklichung der Ursache ist dann aber nicht der theoretische
Satz, dass diese bestimmte Wirkung von dieser bestimmten Ursache
abhänge. Der Bestimmungsgrund zur Verwirklichung der Ursache
ist vielmehr eben der Bestimmungsgrund, welcher zur Verwirklichung
des Zweckes führt.
Dass diese Argumentation berechtigt ist und von den Voraus-
setzungen Kants aus mit Notwendigkeit sich ergiebt, lässt sich —
abgesehen von der in der Sache liegenden Selbstverständlichkeit —
•_)40 ViiT\ Staujj^o,
mit ;il»solutt'r SioluTlnit hrwciscii. In di r ..Mctapliysik (ii r Sitten"
luit niimlii'li Kant die KoiistMiucnz seiner \ (»laussetzuiijreii sellist jre-
/Ofrt'ii. inileni er alle anderen Imperative netien den katOfrorischen
als technisch bezeichnet (\ II. IS uml i:i). Als teelniiscli-praktisclie
Lehren (im l'nterschied von ni(»ralisch-praktiseheii Lehren) hiinp-n
sie ..irän/.lich \()n der Theorie der Natur al»" und lialxMi nut dem
jiraktischen Teile der Philosophie nichts /u tlnm (\1L läj. Oder,
wie es in der ..Kritik der l'rteilskral't" heisst: ..Alle technisch-
praktischen Keireln (d. i. die der Kunst und (ieschicklichkeit llher-
haupt. oder auch der Kluirheit, als einer Geschicklichkeit, auf
Menschen und ihren Willen Lintluss zu haben), sol'ern ihre rriii/.ipien
auf BcirritVen beruhen, mllssen nur als Korollarien zur theoretischen
i'hilosophie «rezählt werden. Denn sie betretfen nur die Möglichkeit
der Dinge nach NaturbeirritVen. wozu nicht allein die Mittel, die in
der Natur dazu anzutretVen sind, sondern selbst der Wille (als He-
gehrunjrs-. mithin als Naturvermö<ren) e:ehört, sofern er durch Trieb-
federn der Natur Jenen Keg:eln j;-emäss bestimmt werden kann" (V, 1 78).
Die ..Kritik der Urteilskraft" und die ,.Metaphysik der Sitten'' be-
stätigen also die Folgerang, welche sich aus den Sätzen der „Grund-
legung'- und der .,Kritik der praktischen Vernunft'' ergab: erstens
insofern, als nicht mehr bloss die Kegeln der Geschicklichkeit, sondern
ebenso auch die Ratschläge der Klugheit als technische Vorschriften
beurteilt werden, and zweitens insofern, als diese technischen Vor-
schriften insgesamt nur uneigentlich als praktisch bezeichnet werden,
weil sie in Wirklichkeit nichts anderes als theoretische Sätze sind.
Wenn Kant trotzdem diese technischen Regeln auch in der „Meta-
physik der Sitten" noch Imperative nennt und dieselben den kate-
gorischen Imperativen gegenüberstellt (VII, 19), so erklärt sich das
aas der Thatsache, dass die Wandlung in der Beurteilung dieser
Regeln sich bei Kant sehr allmählich vollzog, und infolgedessen es
ihm verborgen bleiben konnte, wie sehr die Voraussetzungen, von
denen aus er diese Regeln als Imperative bezeichnet hatte, durch
die Veränderung in der Beurteilung derselben hinfällig geworden
waren.
2. Die von Kant so genannten hypothetischen Imperative sind
also in Wirklichkeit keine praktischen, sondern theoretische Prinzipien.
Sie können als praktisch nur insofern bezeichnet werden, als sie
sich auf Handlungen des Willens beziehen, also ein Thun zu ihrem
Gegenstand haben; aber die Aussagen, welche sie im Hinblick auf
den handelnden Willen enthalten, sind rein theoretischer Art. Von
Der Begriff der „li^ijothetisclien Imperative' in der Etliil; Kants. 2-il
den Imperativen als den praktischen Prinzipien im eigentlichen Sinne
unterscheiden sie sieh dadurch, dass sie nicht selbst einen Bestim-
mungsgrrund des Willens enthalten, sondern — ohne Rücksicht dar-
ant, ob die Handlun«; verwirklicht wird oder nicht — ledijclich die
kausale Bedino:theit der Handlung zum Ausdruck bringen.
Von diesem Ergebnis aus scheint nun die zweite Frage, die im
Hinblick auf Kants Lehre von den hypothetischen Imperativen er-
örtert werden nmss, ohne weiteres beantwortet werden zu können.
Wenn es nämlich richtig ist, dass Kant durch den Begrift" der hypo-
thetischen Imperative lediglich den Begrit!' der kategorischen Impe-
rative hat deutlicher machen wollen, so folgt aus dem Ergebnis
unserer Untersuchung, dass dazu der Begriff der hypothetischen Im-
perative möglichst ungeeignet ist. Dieser Begriff der hypothetischen
Imperative bringt zur Verdeutlichung der kategorischen Imperative
nichts bei, weil die Möglichkeit einer Vergleichung beider BegriÖe
dadurch ausgeschlossen ist, dass es sich das einemal um theoretische.
das anderemal um praktische Prinzipien handelt. Es scheint daher
durchaus berechtigt zu sein, wenn die Interpreten der Kantischen
Ethik auf den Begriff der hypothetischen Imperative überhaupt keine
Rücksicht nehmen: weil es sich bei diesem Begriff um ein von Kant
selbst nachträglich korrigiertes Missverständnis handelt, so thut man
am besten, diesen Begriff bei der Darstellung der Kantischen Ethik
ganz zu ignorieren.
In Wirklichkeit liegt aber doch die Sache nicht so einfach. Die
Nebeneinanderstellung der hypothetischen und der kategorischen Im-
perative hat für Kant doch nicht bloss die Bedeutung, dass durch
den Gegensatz zwischen beiden der unbedingte Charakter der kate-
gorischen Imperative deutlich gemacht werde. Je mehr vielmehr
gerade dieser unbedingte Charakter der kategorischen Imperative
etwas an sich Deutliches und unmittelbar Einleuchtendes ist, umso-
mehr wird man der Vermutung Raum geben dürfen, dass das Motiv
für die Nebeneinanderstellung jener beiden Begriffe ein anderes ge-
wesen ist. Wenn aber zur Verdeutlichung der kategorischen Im-
perative die hypothetischen Imperative nur insofern herangezogen
werden konnten, als zwischen beiden Arten von Imperativen ein
Gegensatz bestand, so ist in dem Nachweis von der Wertlosigkeit
der hypothetischen Imperative in dieser Beziehung zugleich ein Hin-
weis darauf enthalten, dass das Motiv für die Nebeneinanderstellung
der beiden Arten von Imperativen in dem gesucht werden muss, was
beiden gemeinsam ist.
Heide, die livpotlietisclien wie die Uatep>rischeii Imperativ«',
werden luiii /.imiieiisl n«>ii K.iiit al^ liii|>erati\i' lie/eieliiiet. d. Ii. hei
lieideii iiandelt i's sieh, wie I\,iiit iiiejnt, iim l''()niielii. durch wclehe
ein Solleu zum Ausdruek pdiracht wird is. u.i. l-'iir das Süllen ^ieht
Kant eine Krklärun^', indem er durch dasselhe ,.das NCrhältnis eines
ol)jekti\eii (iesel/.es der \ erniiidt /.u einem Willen, der seiner sub-
jektiven liesehalVenlu'it nach dadurch nicht notwendig:- hestimmt
wird", anp'zeiirt findet ii\. lilU). Der Imperaiiv ..itedeutef. (hiss,
wenn die \ Crnunl't den Willen ^^In/.licli hestinnnte, die Handlung:
unausMeililich nach dieser l\e4rol {geschehen w ilrde" (V, 2(>l. ..Daher
{reiten liir den jröttlichen und überhaupt l'ilr einen heilijren Willen
keim- Imperative": ..ein Nollkommen ^^uter Wille würde |/Avar| eben
sowohl unter objektiven (ieset/.en (des (Juten) stehen, aber nicht
dadurch als zu jresetzmäfsiiren llandluniren j;enöti^t vor^cestellt
werden k(»nnen. weil er von selbst, nach seiner subjektiven Be-
schatVenheit. nur durch die \(»rstellung des Guten bestimmt werden
kann" (1\ . JGl/^). Dajj:ei;-en hat für den menschlichen Willen „das
Gesetz die Form eines Imperativs, weil man an jenem zwar, als
vernünftio:em Wesen, einen reinen, al)er, als mit Bedürfnissen und
sinnlichen Bewegursachen afliziertem Wesen, keinen heiligen Willen,
d. i. einen solchen, der keiner dem Gesetze widerstreitenden Maximen
fähig wäre, voraussetzen kann" (V. 84).
Dasjenige also, was nach Kant den hypothetischen und den
kategorischen Imperativen geraeinsam ist, soll erstens darin be-
stehen, dals durch beide ein Sollen ausgedrückt wird, und zweitens
darin, dass es sich bei ihnen eigentlich um Gesetze handelt, welche
nur um deswillen in der Form von Imperativen auftreten, weil sie
es mit einem ,.pathologisch affizierten" Willen zu thun haben.
Von diesen beiden Merkmalen kann nun selbstverständlich das
an erster Stelle genannte von den sogenannten hypothetischen
Imperativen Kants nicht mehr gelten. Sobald einmal erkannt ist, dass
die Regeln der Geschicklichkeit und die Ratschläge der Klugheit
überhaupt keine Imperative sind, so kann natürlich die besondere
Art der Nötigung, welche den Imperativen eigentümlich ist, von
diesen Regeln nicht mehr ausgesagt werden. Sie können, weil sie
keine Imperative sind, es nicht mit einem Sollen zu thun haben;
die Notwendigkeit, welche sie zum Ausdruck bringen, ist vielmehr,
weil sie theoretische Sätze sind, eben die Notwendigkeit, welche allen
theoretischen Sätzen innewohnt, d. h. eine Notwendigkeit des Müssens
und nicht des Sollens. Wer im Alter sorgenlos leben will, muss
Der Begriff der „hypothetischen Imperative" in der Ethik Kants. 243
in der Jugend arbeiten und sparen. Das ist nicht ein Gebot, ein
Imperativ, sondern ein Gesetz, eine Formel, welche /.wischen der
begehrten Wirkung: und ihrer l'rsache einen unausweichlich not-
wendigen Zusammenhang herstellt. Wird die Wirkung begehrt, so
Diu SS dieser Weg zur \erwirklichung derselben eingeschlagen werden.
Unter der Voraussetzung, dass die Handlung, welche als Ursache
einer begehrten Wirkung erkannt ist. wirklich die zureichende Ur-
sache dieser Wirkung ist (was bei dem angeführten Beispiel Kants
allerdings nicht zutriti't. weil man ein sorgenloses Alter auch ohne
Arbeit und Sparsamkeit haben kann, wenn man nämlich ..noch andere
Hilfsquellen ausser dem selbst erAvorbenen Vermögen" hat), — unter
der Voraussetzung also, dass das kausale Verhältnis, um welches es
sich handelt, richtig erkannt ist, kommt der Regel auch diejenige
Notwendigkeit zu, welche allen Aussagen über den kausalen Zu-
sammenhang des Geschehens eigentümlich ist: nicht um eine Nötigung
des Willens, sondern um eine Notwendigkeit des Geschehens
handelt es sich.
Mit um so grösserem Recht wird man dann aber jenes zweite
Merkmal, durch welches Kant den Begriff der Imperative bestimmt,
als ein eigentümliches Merkmal der von Kant so genannten hypo-
thetischen Imperative betrachten dürfen. Bei den hypothetischen
Imperativen Kants handelt es sich in der That um Gesetze und zwar
genauer: um Gesetze der Vernunft. Dass in dieser Beziehung die
Definition der Imperative, welche Kant giebt. auf die sogenannten
hypothetischen Imperative zutrifft, geht aus unseren bisherigen Er-
örterungen zur Genüge hervor. Wenn nämlich die sogenannten
hypothetischen Imperative theoretische Sätze sind und zwar theoretische
Sätze, durch welche die Notwendigkeit eines Geschehens zum Aus-
druck gebracht wird, so sind sie Gesetze der Vernunft, denn unter
einem Gesetz der Vernunft versteht man eine Formel, welche sich
auf die Notwendigkeit des Geschehens bezieht.
Danach würde also das Verhältnis, in welchem die hypothetischen
Imperative Kants zu dem Begriff der Imperative überhaupt sich be-
finden, dahin bestimmt werden können, dass sie zwar nicht ein Sollen
zum Ausdruck bringen, wohl al)er als Gesetze betrachtet werden
müssen. Das an erster Stelle von Kant genannte Merkmal der
Imijerative überhaupt (nämlich das Sollen) darf von den Regeln der
Geschicklichkeit und den Ratschlägen der Klugheit nicht ausgesagt
werden, sondern gilt allein von den sogenannten kategorischen Im-
perativen. Dagegen findet das an zweiter Stelle genannte Merkmal
244 ("jirl Sianm*,
der linporativc llln-rhaupt idass sie niimlii'li rtcsct/c der Nrniiinft
sind' in d(T That auf die s»»irciianntt'ii li\ luitlictistdicii liii|iri;itivi^
Amvi'nduiii:.
Ist nun aller dies Krfrehnis riehtii:. sd drän;rt sieh weiterhin die
Krajre auf. nh niclit der (Jeirensat/. di-r bei di-r rntcrsucluini:- der
hypotlu'tiselitii Imperative /wisciien diin He^'rilV des lniperati\s und
dem BefrrilV des (iesi'tzes konstatiert worden ist. aiu'li für die He-
urteiluni: der katt'irorischen Imperative von l^edeutuiifr ist. Wenn
Kant in den He^^it^" der Imperative, unter den sowohl die h\ po-
theiischen wie die kateirorisehen Imiierative fallen sollen, im ilinhliek
auf die katejro risehen Imperative das Merknia! des Sollens auf-
srononunen hat. oltwohl dies Merkmal auf die hy|)othetischen lm|ierative
nieht passt. hat er dann nieht vielleicht die Bestimmung:, dass die
Imperative Gesetze der Vernunft sind, in den Hegriti" der Imperative
aufirenommen im Hinl)liek auf die h xpotlietischen Imperative, ob-
wohl diese Bestinnnun^' ire^entiber den kateirorisehen Imperativen
keinen Sinn hat? M. a. W.: wenn die hypothetischen Imjierative
/war Gesetze der Vernunft, aber nicht Imperative sind, gilt dann
nicht vielleicht von den kategorischen Imperativen, dass sie zwar
Imperative, aber nicht Gesetze der Vernunft sind?
Wenn man erwägt, welche Bedeutung dieser Satz, dass die
kategorischen Imperative Gesetze der Vernunft sind, für das System
der Kantischen Ethik hat, wenn man bedenkt, dass nicht bloss die
Lehre von der Freiheit als der Autonomie der praktischen Vernunft
und ebenso die sogenannte Typik der Urteilskraft, sondern nicht
minder auch die Lehre von den Postulaten der praktischen Ver-
nunft, d. h. aber: der ganze Aufbau der Kantischen Ethik, von der
Richtigkeit dieses Satzes abhängig ist, so wird man die Wichtigkeit
der gestellten Frage begreifen. Die Erörterung dieser Frage aber
im Zusammenhang mit der Kritik der hypothetischen Imperative an-
zustellen, ist man nicht bloss um deswillen berechtigt, weil die De-
finition der Imperative das einzige von Kant ausdrücklich geltend
gemachte Argument für die Beurteilung der kategorischen Imperative
als Gesetze der Vernunft ist, sondern insbesondere auch um des-
willen, weil das Motiv für die Nebeneinanderstellung der hypo-
thetischen und der kategorischen Imperative gefunden sein würde,
wenn es richtig ist, dass die Begriffe des Imperativs und des Ge-
setzes an sich in einem unzweideutigen Gegensatz zu einander stehen,
und infolgedessen die Bezeichnung der kategorischen Imperative als
Gesetze der Vernunft nur möglich ist, nachdem der Begriff der
Der Begriflf der .,hypüthetischen Imperative'' ia der Ethik. Kants. 245
Imperative durch die Subsumierung der hypothetischen Imperative
unter denselben mit dem Begriff der Gesetze konfuiidiert worden ist.
Auf die Frage nach dem begrifflichen N'erhältnis der Imperative
zu den Gesetzen lässt sich nun aber die Antwort am einfachsten
dadurch gewinnen, dass man im Gegensatz zu Kants sogenannten
hypothetischen Imperativen diejenigen Merkmale festzustellen sucht,
durch welche der Begriff eines hypothetischen Imperativs gebildet
werden würde, wenn man diesen Begriff richtig bestimmen würde. In
der That ■ giebt es nämlich nel)en Kants sogenannten hypothetischen
Imperativen auch wirkliche hypothetische Imperative. Wenn z. B.
jemand zu seinem Freunde sagt: falls du mir einen Freundschafts-
dienst erweisen willst, sollst du für mich dies oder das thun, so ist
das ein wirklicher hypothetischer Imperativ. Ebenso ist es ein
hypothetischer Imperativ, wenn der Staat die Forderung aufstellt,
dass jeder, der Bürger des Staates sein will, für die Erhaltung und
Verteidigung des Staates mit ganz bestimmten Leistungen eintreten
soll. In beiden Fällen handelt es sich um einen Imperativ, d. h. um
eine Forderung, und zwar um eine Forderung, die mit Rücksicht
auf eine vorhandene Absicht aufgestellt wird, also hypothetisch ist.
Diese hypothetischen Imperative unterscheiden sich aber von Kants
hypothetischen Imperativen dadurch . dass sie erstens keine all-
gemeinen Kegeln enthalten. Wollte man z. B. den zweiten Satz
verallgemeinern und sagen: wenn du Bürger eines Staates sein willst,
so musst du bestimmte Leistungen für den Staat übernehmen, so
wäre damit zwar eine theoretische Aussage über die Notwendigkeit
des Gehorsams gegen den Staat gegeben, aber diese Aussage würde
nicht mehr das für den Imperativ wesentliche Merkmal der Nötigung
zum Ausdruck bringen. Die Verallgemeinerung des Imperativs würde
zur Aufhebung des Imperativs führen. Ausserdem aber — und das
ist das zweite, wodurch die wirklichen hypothetischen Imperative
sich von den Kantischen unterscheiden — ist auch der Zusammen-
hang, welcher zwischen der gebotenen Handlung und der Bedingung,
unter welcher die Handlung geboten wird, besteht, nicht ein aus der
Sache selbst sich notwendig ergebender Zusammenhang, sondern ein
lediglich durch die Willkür des Gebietenden hergestellter Zusammen-
hang. In dem Wunsche, einem Freunde eine Gefälligkeit zu er-
weisen, liegt durchaus keine Bestimmung darüber, wie die Gefällig-
keit ausfallen soll. Und in dem Wunsche, Bürger eines Staates zu
sein, liegt durchaus keine Bestimmung darüber, wie die Gesetze
dieses Staates beschaffen sind. Der Zweck, im Hinblick auf welchen
.).j^; Carl Stnnpo,
die llandlnnir irel)(>tcn uinl. liat an sich mit ili'V IIiindliinL' irar nichts
/u tlmn. Ks ist \ iclniflii- It-di-licli der Willo des (icliictcndcn. der
die Krreioluinj: di's Zwri'ki's xon dieser hestimniten Handlung' ah-
häniriL' inaelit. M a. W.: die wirklielien liypotlietisclien Imperative
unterseheiden sieii von den Kantiselien erstens dadurch, dass sie
immer eine Nötiiruiii: enthalten, während die Kaiitisclien als (Jesetze
lediirlich theoretische Aussa-ren sind und den Willen in keiner Weise
affi/ieren; und /.weitons dadurch, dass sie nicht wie die Kantischen
ein Kausalitätsverhältnis, d. h. die Notwendiirkeit des Zusannnen-
hanires zwischen llandluni: und Zweck . /um Ausdruck l)rin<r('n,
sondern den Grund für den thatsächlich vorhandenen Zusamincuhan};
zwischen Handlung: unil Aiisicht in die Willkür eines <rehietenden
Willens verleg:en.
Daraus eririebt sich, dass Imperative überhaujit niemals Gesetze
sein oder werden kinnien. Die jrenannten beiden Merkmale nämlich,
durch welche die wirklichen hypothetischen Imperative von den
Kantischen sich unterscheiden, sind nicht etwa besondere Merkmale
der hypothetischen Imperative, sondern wesentliche Merkmale der
Imperative überhaupt. Es ist konstitutiv für den Be-rritif' der Im-
perative, dass sie in der Form einer Willensnötifrung auftreten, und
dass ihr Inhalt aus der Willkür eines frebietenden W^illens fliesst.
Allerdinsrs wird die Wlllensnötifrunjr stärker oder schwächer empfunden,
je nachdem der Wille ^ern oder ungern dem Gebote gehorcht; aber
selbst da, wo der Wille des Gehorchenden gänzlich mit dem Willen
des Gebietenden übereinstimmt und von einem Widerstreit des ge-
horchenden Willens gegen den gebietenden nicht die Rede sein kann,
behält doch der Imperativ den Charakter eines Gebots, d. h. einer
Wlllensnötigang. und zwar um deswillen, weil das, was geboten wird,
lediglich durch den gebietenden Willen seinem Inhalt nach bestimmt
werden kann.
Sollen trotzdem die kategorischen Imperative eine Ausnahme-
stellung unter den Imperativen haben und als Gesetze der Vernunft
betrachtet werden können, so macht der Gegensatz, in den sie da-
durch zu allen übrigen Imperativen geraten, es notwendig, dass eine
ausführliche Begründung dieser ihrer Ausnahmestellung gegeben
werde. In der Kantischen Ethik aber ist von einer derartigen Be-
gründung nichts zu entdecken. Das einzige Argument, welches Kant
für den Satz, dass die kategorischen Imperative Gesetze sind, geltend
macht, ist die Definition des Begriffs der Imperative überhaupt.
Indem aber in diese Definition im Hinblick auf die von Kant so
Der Begriff der „hypothetischen Imperative" in der Ethik Kants. 247
grenaunten hypothctischcD Imperative, welche in Wirklichkeit nicht
Imperative sind, die Bestimmung; aufo:enommen wird, dass die Im-
perative objektive Gesetze der Vernunft sind, erweist sich grerade
diese Definition als ungeeignet zur Entscheidung des in Betracht
kommenden Problems, während andererseits es unbezweifelbar sein
dürfte, dass das Motiv für die Zusammenstellung der kategorischen
Imperative mit den sogenannten hypothetischen Imperativen in dem
Bestreben gelegen hat , die von den hypothetischen Imperativen
geltende Bestimmung, dass sie nichts anderes als Gesetze sind, auch
auf die kategorischen Imperative in Anwendung bringen zu können.
Kants Kritik der Urteilskraft in ihrer Beziehung zu
den beiden anderen Kritiken und zu den nach-
kantischen Systemen.
Von Prot". Dr. Dornor in Küniji^sberg.
Kants Kritik der Urteilskraft ist von ihm selbst als Erj^änzang
seiner beiden anderen Hauptwerke, der Kritik der reinen und der prak-
tischen Vernunft, aufjrefasst worden. Abgesehen davon, dass er in
diesem Werk die Moral durch eine neue Grundlegung der Ästhetik
und die teleologische Betrachtung der Natur ergänzt, hebt er selbst
eine noch weit mehr in die Fundamente seiner ganzen Lehre ein-
greifende, notwendige Ergänzung der früheren Kritiken hervor. Die
Kritik der reinen Vernunft, auf der Differenz von Anschauung und
Begritf aufgebaut, vermag dieselbe nicht völlig zu überbrücken. Die
allgemeinen Grundsätze, nach denen man den Naturzusamnienhang
erkennt, sind der bestimmenden Urteilskraft zugehörig, welche die
gegebenen Erfahrungsgrössen unter die allgemeinen Gesetze unter-
ordnet und zwar nach der Kategorie der Kausalität (oder Wechsel-
wirkung). Allein die bestimmende Urteilskraft reicht bei weitem
nicht aus. um den Zusammenhang des Naturlebens völlig begreiflich
zu machen. Hier hat nun die reflektierende Urteilskraft einzusetzen,
mit der sich Kant in der Kritik der Urteilskraft hauptsächlich be-
schäftigt. Die reflektierende Urteilskraft hat nämlich die Aufgabe,
da, wo eine Unterordnung des Gegebenen unter das Gesetz der
Kausalität nicht möglich ist, wo der Begriff sich auf die Anschauung
nicht anwenden lässt, zu der gegebenen Anschauung entweder einen
Begriff zu finden oder wenigstens ein Urteil darüber zu fällen, ob
sich das Anschauungsobjekt mit der Gesetzmässigkeit des Verstandes
überhaupt vertragen würde, also doch möglicherweise sich auch den
Verstandesbegriffen einordnen liesse, d. h. der konkreten Erkenntnis zu-
gänglich sein würde. Im ersten Falle würden wir die Thätigkeit
der reflektierenden Urteilskraft in teleologischer, im zweiten Falle in
Kants Kritik der Urteilskraft etc. 249
ästhetischer Form vor uiiü haben. Jedenfalls aber bildet sonach die
reflektierende Urteilskraft eine Ergänzung; zu der bestimmenden.
indem sie den von dieser übrig gelassenen hiatus zwischen An-
schauung und Begriff auszufüllen l)estimmt ist. Es liegt nahe, von
hier aus auf den Gedanken zu kommen, dass die Ausfüllung dieser
Kluft für eine Intelligenz, in der Anschauung und Verstand unmittel-
bar eins wären, gänzlich gegenstandslos sein würde, woraus sich
ergiebt, dass die ästhetische wie die teleologische Betrachtungsweise
lediglich der subjektiven Beschaffenheit unseres Verstandes zn-
zurechnen sein würde, nicht minder aber w^ürde durch intellektuelle
Anschauung auch die kausale Verknüpfungsweise überflüssig ge-
worden sein. Kant bemüht sich nun auch in der That, die ästhe-
tische und teleologische Betrachtung gänzlich im Gebiet des Sub-
jektiven zu halten, während er allerdings der kausalen Betrachtungs-
weise objektiven Charakter — freilich nur für die Welt der
Erscheinungen zuzuschreiben sucht, ein Standpunkt, den er nicht
völlig durchzuführen vermag.
Ebenso aber giebt die Kritik der Urteilskraft eine Ergänzung
zu der Kritik der praktischen Vernunft. Denn wenn Kant zweifellos
den ethischen Dualismus zwischen dem apriorischen Gesetze und
dem guten Willen auf der einen Seite und der Bethätigung desselben
in der empirischen Welt auf der anderen Seite nicht überwunden
hatte, da auch hier das apriorische Gesetz mit seiner Allgemein-
gültigkeit in abstrakter Höhe über den empirischen Verhältnissen
schwebte und die Neigungen demselben widersprachen, — so wird
nun in der Kritik der Urteilskraft teils in der Lehre vom Erhabenen
darauf hingewiesen, dass durch die unser empirisches Anschauungs-
vermögen erdrückende Grösse oder Macht einer Erscheinung das
Bewusstsein von der sie trotz allem überragenden Bedeutung der
Vernunft in uns hervorgelockt werde, so dass wir den Eindruck
gewinnen von der Unterordnung der Sinneserscheinung unter die
Vernunft, und dadurch den Eindruck von der Zusammenstimmung der
Vernunft und der Erscheinungswelt. Teils wird aber auch in der
Teleologie die Brücke zwischen der mechanisch bestimmten Natur
und der Teleologie des Sittlichen wenigstens insofern gefunden, als
die die mechanische Naturbetrachtung ergänzende teleologische Natur-
betrachtung den Gedanken nahe legt, dass die Natur auch den
moralischen Zwecken zugänglich sein werde. Auch im Verhältnis
der Anschauung zu der praktischen Vernunft spielt die subjektive Be-
trachtung die grösste Rolle , da bei dem Erhabenen lediglich die
Küutstudieu IV. 17
.)j(^) l'nil l>r. hoinor.
Be/.irhiinj: der Anscliaiiuiii: /.u «irr \ iTiuinft hrrllcksichti^'t wird, wie
aiu'li ilii' tcli'olojjischc Naturhrlrai'liUinj: im \ t rhiiltiiis zu (Icr prak-
tisolu'ii ViTimuft /.unäc'list nur t'inc inutinassliclu' rhcrcinstiniiiiuii»:
tU'r sultjt'ktiv hrstiinniton KrschiMnuiifrswclt mit der \ t-rminft in Aus-
sicht stt'llt. Am vidlkonimi'nstcn wird der Subjidaivismus auch hier
tlurchiretuhrt, wcjni dir praktisclu- \ . riiunlt scllist in ilirem Unter-
schiede \o\\ der theoretischen nur auf (Ut Heschallenheit unserer
Krkenntnisvermöiren ruhen soll, insofern eine Veiimnlt dfidvhar wäre,
in welcher auch die DilVerenz zwischen Soll und Sein, zwischen
praktischer und theoretischer Vernunft aufliüren würde. Auf der
anderen Seite freilich wird es für Kant auch hier schwer, wenn er
die objektive Geltung; der praktischen Vernunft doch wieder aufrecht
erhalten will, nicht auch der Natur objektive Bedeutunj,' zuzusehreiben.
Aus dem Gesajrten g:eht hervor, dass die Kritik der Urteilskraft
die beiden anderen Kritiken wesentlich ergänzt, und eben dieses
macht ihre Bedeutung aus; zugleich aber eröftnen sich von hier aus
für Kant Aspekte, die weit Über den Standpunkt hinausführen, den
er in den beiden früheren Kritiken einnimmt; er verrückt sich
gleichsam selbst das Konzept, und doch ist er durch die Konsequenz
seines Denkens dazu genötigt. Es ist in hohem Masse interessant,
zu beobachten, wie er mit den Problemen ringt, und wie verschieden-
artige Antworten auf die letzten Fragen in seiner Kritik der Urteils-
kraft nebeneinander hergehen.
Zunächst kommt es mir darauf an, zu zeigen, dass Kant zu
dem Staudpunkt der Kritik der reinen \'ernunft eine Ergänzung
aufsuchen musste. und dass die Kritik der praktischen Vernunft diese
Ergänzung noch nicht sein konnte, dass also seine eigene Grund-
anschauung ihn nötigte, das auszusprechen, was er in der Kritik der
Urteilskraft ergänzend zur Abrundung seines Systems beibrachte.
Sodann aber wird sich w^eiter zeigen, dass eben mit diesem Versuche
des Ausbaus sich Gesichtspunkte ergaben, welche über die Kantische
zum Teil recht schwankende Stellung hinausführten.
Kant ging in der Kritik der reinen Vernunft von der Unter-
suchung des Erkenntnisvermögens aus und setzte dabei voraus, dass
mit dieser Untersuchung die Erkenntniskritik völlig abgeschlossen sei.
Die Bedeutung des Objektes für das Erkennen ignorierte er, indem
er voraussetzte, dass doch alle uns zugängliche Erkenntnis subjektiv
tingiert. das Ding an sich aber nicht erkennbar sei.') Indem er
1) Es ist das freilich ein Standpunkt, der seiner früheren Stellungnahme
nicht entspricht. Vgl. darüber u. a. Hartuiann, Kants Erkenntnistheorie und
Kants Kritik der Urteilskraft etc. 251
nun das Erkenntnisvermögen untersuchte, kam er zu dem Resultate,
dass das Ding an sich unerkennbar und nur die subjektive Er-
scheinung desselben erkennbar sei. Die theoretische Vernunft sollte
sich in keiner Weise über die Welt der Erscheinungen hinauswagen.
Diese Ansicht begründete Kant damit, dass er die Verstandeskategorien
nur für die Erfahrung der Sinne anwendbar erklärte, den \' ersuch
aber über diese hinaus mit ihrer Hilfe Erkenntnisse zu gewinnen
als ein dialektisches Gaukelspiel zu erweisen suchte, — und doch
war die Annahme des Dinges an sich, das den Erscheinungen zu
Grunde liegen sollte, auch eine Überschreitung der Erfahrung.')
Diese Erfahrung selbst aber war durch die Anordnung der Em-
pfindungen, die als Kezeptivität aufgefasst wurden, in den rein sub-
jektiven apriorischen Anschauungsformen von Kaum und Zeit be-
stimmt, hatte also abgesehen von dem Rückgang auf das unbekannte
Ding an sich, das den Empfindungen zu Grunde liegen sollte, rein
subjektiven Charakter. Kants Stellung war in dieser Periode gegen-
über den vorangehenden rationalistischen und sensualistisch-empirischen
Philosojihemen so beschaffen, dass er gegenüber dem seusualistischen
Empirismus die Möglichkeit leugnete, aus den Empfindungen die Ver-
standeskategorien abzuleiten, und gegenüber dem Rationalismus die
Möglichkeit leugnete, die Empfindungen und die Anschauungsformen
nur als Modifikationen der denkenden Intelligenz aufzufassen. Hieraus
ergab sich für ihn das Aussereinander von Empfindungen und An-
schauungsformen und von Verstandesbegriften. Erkenntnis sollte nun
weder durch Empfinden und Anschauung für sich noch durch Denken
— Verstandsbegriffe — für sich zustande kommen, sondern nur durch
die Vereinigung von beiden mittelst der synthetischen Thätigkeit des
Erkeimens, besonders mittelst des Schematismus der Begriffe. Es
handelte sich indes bei alledem naturgemäss immer nur um sinnliche
Erkenntnisse, um die Erkenntnis der Natur. Eine abschliessende
Weltanschauung konnte auf diesem Wege umsoweniger zustande
kommen, als ausdrücklich darauf immer wieder (besonders bei der
Lösung der Antinomien) hingewiesen wurde, dass man sich auf die
Metai)hysik (1895) S. 15—76. Er hatte vorher die reale Bedeutung,' der Kate-
gorien anerkannt und Metaphysik mittelst ihrer zustande bringen wollen. Uoeh
diese Phase seiner I':ntwieklung koniint hier für mich weniger in "Betraebt.
') Adiekes, Die bewegenden Kräfte in Kants philosophischer Entwicklung
„Kantstudien" Bd. IS. 361 f. versucht die Widersprüche in dem Kantischen Be-
grifi des Dinges an sich in Auseinandersetzung mit Volkelts Darstellung psycho-
logisch zu erklären, indem er zwisciien Kant dem Menselien, „der üher die Dinge
an sich viel zu sagen weiss', und Kant dem konseipienten Denker unterscheidet.
252
l'rol. Dr. l><>riu'r
vorhaiulcnp Krlaliruiit: jedesmal /u hcscliränken lial)r. Und doch
war OS auf (Ut andrren Seite das lU'dllrlnis der \ Crminrt. eine ciii-
lu'itlk'h abschliossciidr Wcltansohauuii^' /.ustaml«' /u hriii-cii. Das
si'lu'iUTte aber teils daran, dass wir nielil illx'r dir Krlaliruii^r. die
sieh nur lanjrsani ausl)reitete, hinauskonnnen sollen, teils daran, dass
wir den Versuchen der XCrnunlt. iilter die Krfahruni: hinaus auf al)-
gchliessende Einheit v.u drin^'en. nieht konstitutive liedeutunj: /u-
schreilien können, sonilern den Ven\unftideen nur re.irulative Be-
deutung' zuerkennen kr.iuien. Kant war sieh denn aueh, wie die Kritik
der Gottesheweise u. a. zeij^t. vollkommen hewusst, dass die durch die
theoretische Erkenntnis zu frewinnende Weltan-chauunfr überhaupt
nicht abschliessend sein könne, weil unsere Vernunft zugleich prak-
tische Vernunft sei. l'nsere theoretische Erkenntnis sollte sich nur
auf die Natur und die Mathematik erstrecken. Durch die Ethik
versuchte er, den Staudi)unkt der theoretischen Erkenntnis, der für
sich ein Torso war und immer bleiben musste, zu ergänzen. Damit
war zwar nicht der Mangel einer einheitlichen Erkenntnis der Natur,
gehoben, die nur allmählich auf diskursivem Wege fortschreiten
konnte, aber es war doch der ethischen Seite der Welt die Aufmerk-
samkeit zugewendet und damit eine Erweiterung der Weltanschauung
gegeben. Denn es sollte nun das Sittengesetz und die Freiheit als
der Grund desselben uns den Weg in die theoretisch nicht erkenn-
bare metaphysische Welt eröffnen. Freilich war damit so wenig
das Aussereinander von Sinnlichkeit und Verstand, das die Grund-
lage seiner Erkenntnistheorie gewesen war, auf Grund deren ein
Ding an sich unerkeunljar und Erscheinungen nur in allmählich fort-
schreitendem Masse, in ihren Zusammenhängen aber niemals völlig
erkannt werden konnten, beseitigt, dass vielmehr ein paralleler Dualis-
mus im praktischen Gebiete zwischen Sinnlichkeit und praktischer Ver-
nunft, die rein formal sein sollte, hinzukam, was um so fataler war, als
Kant nach seiner ursprünglichen Kategorientafel zwar eine umfassende
Aufzählung der Stammbegriffe angestrebt aber nicht erreicht hatte, in-
sofern er der theoretischen Vernunft zwar den Begriff der Substanz,
Kausalität und Wechselwirkung, aber nicht den Begriff des Zweckes
zugeschrieben hatte. Somit fehlte von der theoretischen Vernunft, die
keinen Zweck kannte, die Brücke zu der praktischen Vernunft, für die
der Zweck galt. Aus dieser Unterlassung erklärt es sich nun auch, dass
die theoretische und die praktische Vernunft völlig auseinanderfielen.
So lange zwar die praktische Vernunft auf sich selbst stehen sollte in
apriorischer Herrlichkeit, konnte wenigstens eine Kollision vermieden
Kants Kritik der iTteilskraft etc. 253
werden; sobald es aber auf ein gesetzniässiges Handeln ankam, so galt
in der Erscheinunirswelt das Kausalgesetz, und es entstand die Frage,
wie in den Kausalzusammenhang der übersinnliche Wille eingreifen '
könne. Diese Frage war aus zwei Gründen für Kant schwer zu be-
antworten, eiimial weil auch der Kausalzusammenhang nur eine sub-
jektive Erkeimtnis war, man nur mit Erscheinungen zu thun hatte,
ein Handeln auf kausal-zusammenhängende Erscheinungen also kaum
möglich war. sodann weil es schwer begreiflich zu machen war, wie
überhaupt die kausale Kette durchbrochen werden könne, wie eine ganz ,
fremdartige, ausserhalb der Erscheinungswelt stehende teleologisch be-
stimmte Grösse überhaupt in den Kausalzusammenhang eingreifen könne.
Denn er hatte zwar in der Antinomienlehre zu zeigen gesucht, dass eine
neue Reihe von einer ausserhalb der Erfahrung stehenden Ursache an-
gefangen werden könne, man also die Möglichkeit einer auch ausser-
halb der Erfahrung stehenden Ursächlichkeit zugeben müsse, aber
die Wirklichkeit derselben nicht erweisen könne, wenn man nicht
auf irgend welche übersinnliche Weise von einer solchen Ursache
wisse, wie z. B. von dem sittlichen Willen. Aber andererseits sollte
doch die Kette der Kausalität durch eine solche Ursache in keiner
Weise unterbrochen sein; der Zusammenhang der Erfahrungswelt
sollte strikte festgehalten werden. So ergab sich eine doppelte
Betrachtungsweise; man konnte jede That im mechanischen Kausa-
litätszusammenhange als Naturereignis betrachten oder sie auf die
intelligible aber überzeitliche Ursache zurückführen, wobei dann
freilich der zeitliche Anfang des Entschlusses im Dunkel blieb.')
Kant hatte zwischen beiden Welten, der Welt der Noumena und
der der Phänomena eine Kluft befestigt, und die Kategorien sollten
im Grunde doch für die Erfahrungswelt allein ausreichen. Dieser
Dualismus offenbarte sich auch in der Ethik selbst, indem Kant
die praktische Vernunft den Neigungen gegenüberstellte. Seine
Ethik hat im Grunde persönlichen Charakter, und er setzt im Subjekt
Vernunft und Neigungen einander entgegen. Das formale Vernunft-
gesetz ist die allgemeingültige Regel für den apriorischen Willen, und
in der Harmonie Beider beruht die gute Gesinnung, der „gute Wille";
die Neigungen müssen durch das Gesetz im Zügel gehalten werden.
Das Gesetz ist formal; der Inhalt, die Materie ist der Empirie ent-
nonmien; aller Inhalt hat eudämonischen Charakter oder führt zu
heteronomer Ethik. So kann es nicht darauf ankommen, die konkrete
Welt, — die ja freilich doch nur eine Welt der Erscheinungen ist,
1) Vgl. meine Schrift Die Prinzipien der Kanfschen Ethik, S. 68, 45 f.
'254
l'rol". l"r. pKiiuT
positiv /u irostaltiMi. tlic Natur /u licarhciicii. <iiilrr /.u |ir«Mlii/i(Tt'ii,
soniltTii nur daraul'. im Sulijrkl seihst eine llaniionif in der
W«-isc lu'r/.ust«'lliMi. liass iliT praUlisi-licii NCriuiiil't der lioiini iiliai-uo-
iiuMion nicht widcrsijricht. Ks liaiidclt sicii in Kants Ktliik mrlir inii
die Si'llistbi'wahrmi.:: d»'s lionio nouincntm \«ir den (Irtalncn der
Nfitrinifron. als um eine Uonkrttf |»(tsiti\(' Ausfrostaltun;:- der ;;an/('n
ctliisciion IVrsiinlic'likcit (xior trar der (iiitcrlcluc. lii diistr llinsidit
hat Kants Ktliik mit drm rirtismus ciniiro Xfrwandtsidial't. Diese
sah)ektiv-nei:ati^(• Kiiditunir seiner Kthik iiat teils ihren ilruiid (hirin,
dass Kants <:esamte IMiil<ts(i|tliie suhjektiven Charakter träjrt; es
ist daher iranz konse(|ueiit . dass die IJnterwertuiii;- der Nei^un};en
unter die praktische Vernunft den ilaui)tinhalt seiner Ethik aus-
inaeht. wie wir ja auch ül)er die sul)Jektive Krscheinun^^swelt hinaus
theoretisch niclits erkennen können; teils darin, dass er die Natur
und die praktische N'ernunft auseinanderhält, oder die theoretische
Vernunft, deren Erkenntnisprodukt die Natur ist, wie sie uns
vorliejrt. und die praktische \ ernunft von einander trennt.')
Aus dem Gesagten ergiebt sich, dass Kant mit der theoretischen
Vernunft eine abschliessende Weltanschauunjr nicht <rlaubt zustande
zu bringen, weil Begrifl'e und Empiindung samt Anschauung aus-
cinanderliegen, und weil die Erscheinungswelt doch nicht das letzte
ist, wir aber über das der Erscheinungswelt zu Grunde liegende Ding
an sieh nichts wissen. Eine Erweiterung der Gesamtweltanschauung
ergab sich nun zwar von der praktischen Vernunft aus. die er von der
theoretischen, deren Objekt die Naturerkenntnis sein sollte, unter-
schied. Aber von einer einheitlichen Weltanschauung war damit
immer noch nicht die Rede, weil die praktische und theoretische
Vernunft unter keine Einheit gebracht sind, weil ferner von einem
Handeln der praktischen Vernunft schwer die Rede sein kann, selbst
im psychologischen Gebiete, wo die Neigungen des homo phaeno-
menon derselben entgegenstehen und, sofern diese zu der Erscheinungs-
welt gehören, der Eingriff der praktischen Vernunft in den Kausal-
zusammenhang schwierig zu verstehen ist, vollends aber im Gebiete der
Natur, die ja doch im Grunde, von dem Ding an sich abgesehen,
nur ein subjektives Erzeugnis theoretischer Vernunft ist, auf das
eigentlich gar nicht gehandelt werden kann. So steht theoretisches
1) Wenn er trotzdem von einem höchsten Gut redet, so geschieht es nur,
indem er die zuerst beseitigte Glücksehgkeit durch die Hinterthür wieder herein
lässt, wenn auch in Unterordnung unter die moralische Würdigkeit. Vgl. meine
Schrift, Die Prinzipien der Kantischen Ethik S. BO f.
Kants Kritik der Urteilskraft etc. 255
Erkennen in einem unbefriedigenden Dualismus zwischen Empfindung,
Anschauung- — und Begrrifl". ferner zwischen Erscheinung und einem
unbekannten Ding an sich, die praktische Vernunft im Dualismus
zwischen den Neigungen und ihr selbst, sowie zwischen dem Kausal-
gesetz, das von ihr nicht stammt und ihr empirisch nicht gehorcht,
und ihr selbst, endlich ist auch hier eine unausgeglichene Difilerenz
zwischen der praktischen Vernunft, die auf die Natur handeln soll,
und der Natur, die einen gänzlicR subjektiven Charakter trägt, also,
wie es scheint, mehr auf theoretischem Wege als durch praktisches
Thun umgeändert werden kann. Aber auch die theoretische und
praktische Vernunft sind so gänzlich auseinandergehalten, dass eine
Vereinigung beider auch schwer scheint. Im wesentlichen fällt ihr
Unterschied auf die Kategorie der Kausalität auf der einen und der
Finalität auf der anderen Seite. Wenn nun Kant dabei doch die von
ihm anerkannte Tendenz der Vernunft auf eine einheitliche Welt-
anschauung nicht aufgeben wollte, so musste er nach Mitteln suchen,
die angedeuteten Differenzen möglichst auszugleichen.
Teilweise hat er das schon in Bezug auf den Gegensatz der
theoretischen und praktischen Vernunft durch die Lehre vom Primate
der praktischen Vernunft versucht. Allein diese Lehre reichte nicht
aus, wenn er nicht zeigen konnte, wie es der praktischen Vernunft
möglich sei, diesen Primat durchzuführen. Denn der Primat der
praktischen Vernunft war eine Forderung, die er stellte; in dieser
Forderung lag die Vorherrschaft der Teleologie über die kausal zu
verstehende Natur, des ethischen Geistes über die Natur. Auf dieser
Forderung des Primates der praktischen Vernunft beruhte das
Postulat Gottes, der das Naturgesetz in Harmonie mit dem Sitten-
gesetz geordnet habe, und das Postulat der Unsterblichkeit, welche
eine Ausgleichung zwischen moralischer Würdigkeit und der von
dem Naturzusanimenhange abhängigen Glückseligkeit zustande bringen
sollte; allein beide Postulate blieben ein moralischer „Glaube", kein
Wissen; sie waren Postulate, die mit der Anerkennung des Primats
der praktischen Vernunft zwar gegeben waren, aber keineswegs eine
neue Erkenntnis über die Beschaffenheit der Natur oröffrieten. Es
war im Gegenteil an sich theoretisch schwer einzusehen, wie diese
Harmonie zustande kommen sollte, da thatsächlich die Natur sich
den moralischen Postulaten noch nicht fügte. Der einzige Anhalts-
punkt für diese Harmonie war also das Postulat der Vernunft, und
doch bot auch dieses die grossesten Schwierigkeiten, da ja die Natur
nur Erscheinung, vom Ding an sich abgesehen, nur subjektives
05(j rrof l)r. Doriu'i,
Pnnlukt war, von iltiu insl>osoii(ior(' nicht zu sehen war. was ein
Gott auf dasselln' fllr einen 1-inlhiss sollte ausiilien kiinnen. l'n»
nun diese 1 lu'benheiten aus/uirh'ii'hni. li.ii Kani verschiedene Möjr-
lichkoitrn ins Aufjo jrefasst. die it elien in der Kritik der l'rteils-
kraft zur Spraclie irol)rai'ht hat.')
Zunächst suchte er auch in der Naturor(lnuni:- nach Anzeichen
datllr. dass sie dem ethischen Zwei k niclit vtdli;r t'renidartifr sei, und
fanil sie darin, dass dii' Natur auch noch eine an(h're ßetrachtunj^s-
weise zulasse als die kausale, die ti'leolo<;ische. und dass sie bei
ihrer Hetrachtunir Oeftlhlsurteile hervorrufe, die auch auf eine teleo-
logische (Jrundhifre hinwiesen. Wenn nun auch diese Teleoloirie
von der Moral noch unterschieden sein sollte, so liiimrkt er eben
doch ausdrucklich, dass sie eine Brücke zwischen der Kausalität der
Natur und der moralischen Teleoloirie bilden und dem Postulat der
praktischen Vernunft zur theoretischen Stütze dienen könne. Be-
trachten w ir einen Aug:enblick zunächst die Teleologie in der Natur,
die Kant anerkennt!
Er zeigt, dass es thatsächlich Naturerscheinungen gebe, die nach
dem l)loss kausalen Zusammenhang nicht verständlich seien. Hier
komme nun die reflektierende Urteilskraft mit einem bestimmten
Zweckbegrifte, der zwar nur als regulatives Prinzip gelten könne, nicht
als konstitutives, vermöge dessen sie aber immerhin doch die Natur so
betrachte, als ob sie nach einem Zweck verfahren wäre, und zwar
versucht sie das überall da, wo die mechanische Naturbetrachtung ver-
sagt und man ohne Zuziehung eines anderen Prinzips nur auf den Zufall
angewiesen sein würde. Kant hat den Zweckbegriff einer scharfen
Analyse unterzogen. Er redet zunächst von intellektueller formaler
1) Mir kann die Meinung von A dickes doch nicht genügen, dass Kant
in der Kritik der Urteilskraft nur die Tendenz verfolgt habe, „dem System
rationaler Erkenntnisse ein weiteres Gebiet hinzuzufügen" f385j. Kant selbst
spricht sich ja in der Einleitung der Kr. d. U. S. 16 dahin aus, dass er eine
Brücke zwischen theoretischer und praktischer Vernunft in ihr finde. 8o allein
erklärt sich auch, dass er die teleologische und ästhetische Urteilskraft durch
die Teleologie verbunden sein lässt, weil beide unter diesem Gesichtspimkte der
Einheit beider Vernunftseiten dienen. Übrigens ergiebt sich des Weiteren
auch, dass die ästhetische wie die teleologische Urteilskraft zu der Vereinigung
von Verstand und Anschauung das ihre beiträgt. Es ist wohl richtig, dass
er Prinzii)ien a priori wie für das Erkenntnisvermögen und den Willen, so auch
für das Gefühl sucht. Aber es ist ebenso wahr, dass das Gefühlsurteil a priori
auf die Harmonie der Erkenntnisvermögen gerichtet ist, sowie dass Kant auch
durch die teleologische Urteilskraft eine Verbindung von praktischer Vernunft
und Natur anbahnen will.
Kants Kritik der Urteilskraft etc. 257
Zweckmässigkeit, bei der ein bestimmter Zweck nicht vorliegt, sondern
nur die ..Zweckmässigkeit der Tauglichkeit zur Auflösung vieler
Probleme nach einem Prinzip.'' M Diese Zweckmässigkeit zeigt sich
bei der Lösung mathematischer Aufgaben. Sie drückt die Angemessen-
heit einer Figur zur Erzeugung vieler abgezweckter Gestalten aus.
Das ist ein Vorgang in dem Gebiet der synthetischen P>kenntnis
a priori, es handelt sich dabei nur um mathematische Figuren und
ihre Konstruktion, nicht um eine zweckmässige Betrachtung eines
gegebenen Naturobjekts. Dieser formalen Zweckmässigkeit steht
sowohl die relative (äussere) Teleologie als auch die innere Zweck-
mässigkeit des Naturwesens gegenüber. In beiden Fällen ist ..die
Idee der Wirkung der Kausalität ihrer Ursache, als die dieser .selbst
zu Grunde liegende Bedingung der Möglichkeit der ersteren unter-
gelegt."-) Das eine Mal kann diese Wirkung nur als ^Material für
„die Kunst anderer Naturwesen", das andere Mal unmittelbar als
Kunstprodukt angesehen werden. Im ersten Fall ist relative Teleologie,
Mittel für einen anderen Zweck, das andere Mal ist der Zweck im
Produkt selbst, innere Zweckmässigkeit gegeben. Sowohl die relative
wie die innere Zweckmässigkeit ist für Kant von der grössestea
Bedeutung. Das, was um eines anderen Zweckes willen da ist, ist
nützlich und kann nur für einen Naturzweck angesehen werden,
wenn das, dem es nützt, selbst an sich als ein Naturzweck angesehen
werden kann. Die äussere, relative Zweckmässigkeit hat also nur
ein Recht, wenn es innere Zweckmässigkeit giebt, oder besser aus-
gedrückt, wenn es Objekte in der Natur giebt, die nicht mittelst der
mechanischen Naturgesetze möglich sind, die unter dem Gesichtspunkt
des Mechanismus vielmehr als zufällig erscheinen. Hier tritt dann
die Betrachtung unter dem Gesichtspunkt des Zweckes ein. Solche
Objekte sind nun die Organismen."') Einen Organismus kann mau
sich nicht auf dem mechanischen Wege allein erklären. Naturzweck
ist ein Ding, das von sich selbst Ursache und Wirkung ist. z. B. ein
Baum, der einen anderen Baum seiner Gattung hervorbringt, und sich
selbst als Gattung auf diese Weise erhält, der sich aber auch als
Individuum erzeugt, im Wachstum, weil er die Materie, die er sich
aneignet, zu spezifischer Qualität verarbeitet; ja sogar ein Teil des
Baumes erzeugt sich so, dass die Erhaltung des einen Teiles von der
Erhaltung des anderen wechselseitig abhängt, z. B. sind die Blätter
1) Kants Werke, ed. Rosenkranz Bd. IV, Kr. d. U. S. 247.
2) Kr. d. U. S. 248 f.
3) Kr. d. U. S. 252 f.
258 '^rof l>r PonuT.
Proiliiktf des liaumrs. rrlialtt-ii ihn alirr am-li uirdrr am Lrlicn.
W'äliroiui alsd die ^rcwitliiilirln' Kaiisah ci kcttunj: iimiiti- abwiirts
jrclit. irrlit sie hier ahwiirts und aiit\\.irl>. VÄn solches Olijckt ist
also ziljrltMi'h die l rsarlic dessen, \vo\ oii es die Wiikiiii^^ ist. Das
kann man nun alier nicht l)h)ss unter dem (M'sichts|iunkt der Wechsei-
wirkuM;: verstidien. \iehnehr muss hier ein anih-rer l nterschicd
iremaclit werden, naidi Analoiric der menschlichen Kunst, l)ei der Ja
die NOrstelhniir der Wirkung: die l'rsaclie der Wirkung: ist. So wird
nun auch hier die \ orstellunir als die Trsache der Wirkung;- aii,i:-eselien;
man denkt also die Natur nach Analogie menschlicher Kunst wirksam;
ja Kant sajrt sojrar, dass diese Analojrie insofern nicht /utrell'e, als der
Künstler ausser dem Kunsti)ro(lukt sei, hier hinjrejren das Naturohjekt
„sieh selbst orsranisiert",') ohne freilich diesem Gedanken irj^end eine
andere als rejrulative Hedeutun<r geben /u können. Denn objektiv
ist die Natur w eder wollend noch denkend, und wenn man auf einen
ül)er der Natur stehenden Schöpfer rekurrieren wollte, so würde
damit gerade der immanente Naturzweck aufgeholten sein. Indem
Kant so den Naturzweck subjektiv begründet, Kt(dlt er ihn als eine
Betrachtungsweise hin. die nicht einmal dieselbe Geltung hat, wie
die Kategorie der Kausalität. Während diese ein ,,objektives" Ver-
ständnis des Zusammenhanges der Dinge als Erscheinungen ermöglicht,
also hier das eigentliche Naturverständnis zu suchen ist, tritt die
Zweckbetrachtung nur ergänzungsweise da hinzu, wo die kausale
Naturbetrachtung nicht ausreicht. Hiermit ist eigentlich dem Zweck-
begriti" die Bedeutung einer Kategorie genommen, er ist an sich nur
ein Aushilfsbegriti", wo die mechanische Betrachtung versagt. Allein
nach dem, was Kant einmal zogegeben hat, kann er bei dieser
Betrachtungsweise doch nicht stehen bleiben. Im Gegenteil, wenn
man Naturzwecke einmal annehmen muss, wenn nicht nur thatsächlich
bis jetzt die mechanische Naturbetrachtung nicht ausreicht, sondern
für die organischen Wesen niemals ausreichen wird,^) weil die
genannten Merkmale der organischen Wesen sieh auf mechanischem
Wege einfach nicht erklären lassen, weil die Ursache nicht nach
rückwärts wirken kann, wenn man nicht eben die vorausgenommene
Vorstellung der Wirkung zur Ursache macht, also die teleologische
Betrachtung anwendet, — dann kann man auch weitergehen und
fragen, ob man nicht die gesamte Natur unter dem teleologischen
Gesichtspunkte betrachten könnte. Kant bejaht diese Frage im vollen
1) Kr. d. U. 258 f.
2) Kr. d.U. 259 f., 263, 290.
Kants Kritik der Urteilskraft etc. 259
Umfang:e. Er sagt, wenn an einer Stelle die Zweckidoe zur Geltung
gebracht werden muss, so kann man um des Zusammcniianges der
Natur willen keine Grenze angeben, wo sie aufhören würde.*) Zwar
sind nicht alle Naturerscheinungen selbst als Naturzwecke zu be-
urteilen, aber sie können relative Zweckmässigkeit üir andere Zwecke
habt-n, und so kann mit Hilfe der äusseren relativen Zweckmässigkeit
eine umfassende teleologische Naturbetrachtung neben die mechanische
gestellt werden. Denn die zu Grunde liegende Idee ist die, dass
die Natur einheitlich betrachtet werde, und da der Zweckbegriti' ein
Vernunftbegrirt ist, so ist es selbstverständlich, dass die gesamte
Natur ihm untergeordnet werde. Wenn sich hieraus nun auch keine
Naturwissenschaft ergiebt, so ist es doch eine die Naturwissenschaft
eriränzende Betrachtuno:sweise. Nur das kann man voll verstehen,
was man selbst hervorbringen kann, wie das in der Naturwissenschaft
bei den Experimenten der Fall ist. während wir die teleologischen
Faktoren nicht in praktische Anwendung bringen können, da sie nnr
eine subjektive Betrachtungsweise der Natur darstellen. Wenn nun
aber die Natur doch teleologisch betrachtet werden kann, so ent-
stehen zwei Fragen: einmal, wie steht die teleologische zu der
kausalen Betrachtungsweise in Verhältnis, und sodann, wie ist es
möglich, eine einheitliche teleologische Naturbetrachtung durch-
zuführen? Beide Fragen werden uns zeigen, wie Kants Erwägungen
darauf hintendieren, den Dualismus zwischen der Welt der Moral
und der Natur, der praktischen und theoretischen Vernunft abzu-
schwächen.
Was die erste Frage angeht, so setzt Kant eine Vereinbarkeit
beider Betrachtungsweisen voraus, wenn er gleich sagt, dass, stricte
angesehen, die eine die andere ausschliesse, sobald man auch den
Zweck als konstitutives Prinzip 2) betrachte. Denn wo der Mechanismus
ausreiche, sei der Zweck überflüssig. Vom Zweck als Naturzw^eck
dagegen bemerkt er, dass er ohne allen zur teleologischen Er-
zeugungsart hinzukommenden Begriff von einem Mechanismus der
Natur garnicht als Naturprodukt beurteilt werden könne. So kommt
er darauf, dass die Einheit beider dadurch hergestellt werden könne,
dass einmal beide als in dem ül)ersinnlichen intelligiblen Prinzip
der Natur'') begründet vorgestellt werden, sodann, dass der Mechanis-
1) Kr. d. U. 263 f.
3) Kr. d. U. 276, 287 f., 304 f.
3) S. 802, 305. Dieses übersinnliche .Substrat wird .iber nicht erkannt,
wenigstens nicht bestimmt erkannt.
.)6Q Trof. I»r norncr.
mus ilcr TcleoUifrio untor^'conlnct sei.') Drim w»» niiiii Zwin-kc
aiiuclimr. da inUssr man aiu'h Mittel annclimcii, (1.t.-ii Wirknnirsp'sctz
tllr sii-li iiuH'haiiisi'li sein ki)mu'. So lasse sii'li riiir alliri'nu'inc
VrrlMnilunir der im'i'haniscluM) (Icsct/c mit (Irn t<'l('(»l()';is('luMi in den
Er/.riJi:imirt'n (Irr Natur denken, und da dir nirflianisehe Kiklärunj;
für Naturzwioke unirenUjrend sei, so müssen wir sehliesslicli den
Mechanismus (IrrTeleoloirie unterordnen, freilieh mit der Kinsehränkun«;,
dass, da wir iiidit wissen, wie weit die im-ehanisclie Krklärunjrsart
reiche, wir iinnier ;ille Produkte der Natur, aurli die /.weckmässifren,
soweit wie mi.jrlich mechanisch erklären, wenn wir auch damit die
Kausalität nach Zweckjredanken nicht aufireben.
Diese Lösunjr iricht /u denken; wenn einmal die Hetrachtnnp:
unter ilem Zwecke nur regulativ ist, so künnte man erstaunen, dass
Kant den objektiven Mechanismus dieser Betrachtunf^sweise unter-
ordnet. Allein der Grund davon ist die Tendenz der Vernunft
/.u einer einheitlichen Weltansehauun-:. Wenn einmal für unseren
Verstand die mechanische Betrachtung nicht ausreicht, d. h. die
bestimmende Urteilskraft bei dem Aussereinander von BegriH und
Anschauung teilweise Fiasko macht, so wird nun eine Ergänzung
in dem VernunftbegritV des Zwecks gefunden, die doch nur das
Bedürfnis einer abschliessenden Einheit befriedigt, wenn man wenigstens
das Recht der Unterordnung des Mechanismus unter den Zweck
annehmen kann: denn sonst ist eine Einheit ül)erhaupt nicht her-
zustellen. Diese Möglichkeit wird durch die Vorstellung des intelli-
giblen Substrates der Natur gestützt. Wir kommen also zu dem
Resultat, dass schliesslich die Anschauung, die die mechanische nur
ergänzt, noch als die dominierende vorgestellt werden muss, der die
andere untergeordnet wird, wenngleich Kant für die Naturwissenschaft
für sich die mechanische Betrachtung soweit als irgend möglich ver-
wendet wissen will.
Hier bewegen wir uns nun aber in einem bedeutsamen Schwanken
zwischen subjektiver und objektiver Auffassung. Denn einerseits
wird uns versichert, dass die teleologische Betrachtungsweise nur
auf dem Mangel unserer mechanischen Erkenntnis, auf der Beschränkt-
heit unserer Erkenntnisvermögen ruht, auf dem Aussereinander von
Anschauung und Begriff, dass sie eine Ergänzung unserer Verstandes-
Kategorien durch die Vernunft sei, die auf Einheit dringt, auch wo
die bestimmende Urteilskraft versagt, andererseits wird doch wieder
das Naturobjekt selbst so dargestellt, als ob es eine rein mechanische
ij S. 307 f.
Kants Kritik der Urteilskraft etc. 261
Erkläriingsweise ausschlösse. Es gewinnt den Anschein, dass in
bestimmten Fällen das Naturobjekt selbst eine teleologische Aaflfassimg
notwendig macht, weil es an sich nicht möglich ist, gerade dieses
Objekt auf mechanischem Wege zu verstehen; es wird ferner auf
das intelligible Substrat der Natur zurückgegangen, um beide Be-
trachtungsweisen als vereinbar anzusehen. Demnach scheint es sich
doch nicht um eine nur subjektive Auffassung zu ^ handeln, zumal
der teleologischen Betrachtungsweise die mechanische untergeordnet
werden soll. Vielmehr würde der Natur als Erscheinung ein intelli-
gibles Substrat zu Grunde liegen, das die zunächst mechanische
Naturerscheinung zugleich teleologisch zu deuten erlaubte.
Freilich ist nun auf der anderen Seite gerade die Idee des
Naturzweckes selbst das, was Kant veranlasst, in der subjektiven
Sphäre stehen zu bleiben. Denn dass die Natur selbst als denkendes
Wesen vorgestellt wird, widerspricht seiner Meinung nach ebenso
ihrem Begriffe, als es unmöglich ist, etwa auf einen Gott zu
rekurrieren, um auf diesen den Naturzweck zurückzuführen, da dieser
ja der Natur transscendent wäre, während der Naturzweck eben der
Natur immanent ist. Weil Kant den Gedanken der objektiven Ver-
nunft noch nicht gefasst hat, bleibt er dabei stehen, dass die Natur-
betrachtung unter dem Gesichtspunkte des Zweckes unserer subjektiven
Vernunft entsprungen sei; dann kann er aber auch den Gedanken
nicht mehr abwehren, dass die Zweckidee nur mit der Einrichtung
unserer Vernunft gegeben ist, eine objektive und allgemeine Geltung
aber nicht hat.
Wenn nun Kant so zwischen subjektiver und objektiver Be-
trachtung hin und herschwankt, so bleibt doch der Gedanke im
Interesse der Einheitlichkeit seiner Weltauffassung bedeutsam, dass
er die mechanische Naturbetrachtung der teleologischen unterordnet
und ihre Vereinbarkeit auf das intelligible Substrat der Natur gründet.
Denn hiermit ist auf Seiten der Natur die Möglichkeit gegeben, dass
sie sich auch der Teleologie der Moral fügt, da sie selbst eine
teleologische Betrachtung zulässt. was freilich streng genommen
alles nur Sinn hat, wenn sie eine objektiv existierende Grösse ist.
Das führt uns auf den zweiten Punkt, auf die Durchführung
der teleologischen Naturbetrachtung für die gesamte Natur. In dieser
Beziehung ist die Kantsche Auffassung nicht ganz harmonisch. Einer-
seits haben wir gesehen, dass er von innerer Zweckmässigkeit redet,
um deren willen er überhaupt die Zweckidee auf die ganze Natur
anwendet, so dass man denken sollte, die Naturzwecke seien die
2i)'2 Prot". I>i l>uriu«r,
K'tzti'n Z\>ocko dor Natur, Ini (Iciicn sio licliain'. Andororsoits
wird aber nun von ihm ausciuandcrjrcsct/t, dass lua» im (Ichiete
der Natur ül)i'r die nlatix m Zwecke nicht lunau--kiimiiH'. Man könne
hei (h-r Zweckhetrachlunjr mit der Fra^M'. was (hnn der letzte Zweck
in der Natur sei. nicht zu VahU' kommen, weil man aus dem relativen
Gebiet nicht herauskomme. Ks sind hier zwei Hetrachtunj:sweisen
vermischt, eine, nach welcher (s. o. S. 2'ü ) der Zweck im Or^^anismus
irefunden wird; danach ist der Zweck die diesen Organismus in seinen
Teilen zu einer Kinheit /usannnenfassende Idee, sofern sie als die
Ursache des Oriranismus als (ianzen vorirestidlt wird. Davon unter-
scheidet er aber den ..Kndzweck" und nach dieser Hctrachtunfrsweise
wird .Vlies Mittel für einen bestimmten Endzweck.') Während der
Zweck also im Gebiet der Natur nur als die einheitliche (Grundidee
irefasst wird, welche, auf uns freilich jränzlich unbejjreiHiche Weise,
die l'rsache der Form eines oriranischen Wesens ist, so wird er nun
auf einmal unter einen ganz anderen Gesichtspunkt jrestcllt, den des
Endzwecks, auf den sich alles Zweckmässige als Mittel beziehen soll.
Eben hierdurch aber wird nun die Natur in die engste lieziehung
zur Moral gebracht.
Man k(3nnte die Teleologie so durchzuführen versuchen, dass
man Alles in der Welt zugleich Zweck und .Mittel sein lässt und
so die gesamte Welt zu einem grossen Organismus macht, in dem
eines das andere bedingt und trägt, so dass in dieser Welttotalität
für sich als Selbstzweck auch der „Endzweck" liegen würde. Diese —
in letzter Instanz ästhetische Weltauffassung wird von Kant abgelehnt,
weil man doch als Endzweck in der Natur kein Naturwesen, sondern
nur den Menschen betrachten könnte, die Auffassung also, nach der
Alles Mittel und Zweck zugleich ist, sich nicht durchführen lässt.^)
Wenn man nun ferner die Glückseligkeit des Menschen =") als End-
zweck betrachten wollte, so gehe dies nicht an, weil die Natur nach
der Erfahrung für die Glückseligkeit des Menschen sehr mangelhaft
iresorfft habe. Eher noch könnte man die Kultur als den letzten
Naturzweck ansehen, d. h. die Ausbildung der Tauglichkeit des
Menschen, sich selbst Zwecke zu setzen und die Natur den Maximen
seiner Zwecke gemäss zu gebrauchen. Dass nun diese Entwicklung
der Kultur sich als Naturzweck ansehen lasse, will er nicht gerade
bestreiten, indem er zeigt, wie gerade durch die Naturübel die
1) Vgl. Kr. d. U. S. 321 f.
2) Kr. d. U. S. 822 f.
3j Kr. d. U. S. 326 f.
Kants Kritik der Urteilskraft etc. 263
Seelenkräfte f;:estärkt werden, während durch die positive Kultur der
Mensch geschliffen werde, indem er zur bürgerlichen Gesellschaft, zum
Weltbürgertain sich erhebe, um die Naturtriebe zu kultivieren, zumal
auch durch Wissenschaft und Kunst die Neigungen diszipliniert werden.
Aber als letzter und Selbstzweck soll diese Kultur doch nicht an-
gesehen werden. Sie dient indes dazu, den Menschen zu einer
Herrschaft vorzubereiten, in der die Vernunft allein Gewalt haben
soll. Den Endzweck der Natur findet er also am ehesten noch in
dem Menschen als Kulturwesen; der Mensch als blosses Kulturwesen
ist aber doch nicht Selbstzweck ; vielmehr zeigt sich in dem Allem nur
eine Vorbereitung durch die Natur für die moralische Existenz des
Menschen. Die Natur ist nicht hinreichend, den Endzweck hervor-
zubringen. Auch die Betrachtung der Natur und dessen, was in mir
Natur ist, kann nicht Selbstzweck sein. Nur der Mensch als
Noumenon ist Selbstzweck. So ist der Mensch der Zweck der
Schöpfung, aber als moralischer.^) Dieser Standpunkt Kants ist
wieder sehr interessant. Einmal zeigt er, wie die teleologische
Naturbetrachtung der Moral entgegenkommt, indem die Kultur, welche
der Zweck der Natur ist, als eine Vorbereitung der Naturseite für
die moralische Existenz angesehen -werden kann. Andererseits bleibt
ihm doch die Moral für sich bestehen, weil erst hier von einem
Endzweck die Rede sein kann, und wir befinden uns mit der Kultur
nur in der Vorhalle der Moral, Sein abstraktes Moralprinzip macht
es ihm nicht möglich, eine wirkliche Einheit zwischen moralischem
Geist und der Natur herzustellen. Das Moralprinzip bleibt allgemein,
gänzlich unabhängig von aller Beziehung auf die Natur; ^) nur wenn
Natur da ist, sollte sie dem Moralprinzip als letztem Zweck untergeordnet
werden, und die Kultur bildet als Naturzweck für die Moral eine
Vorstufe. So wird zwar eine Annäherung beider Prinzipien ermöglicht;
aber über eine Annäherung kommt Kant doch auch hier nicht hinaus.^)
Dasselbe zeigt sich, " wenn man die Physikotheologie in das
Auge fasst. Hier wird zunächst das teleologische Prinzip wieder
abgeschwächt, insofern Kaut die Unmöglichkeit, auf ein absolutes,
1) Kr. d. U. S. 333.
2) Ebenso ist es unbedinf,^t, Kr. d. U. S. 352, 354, 378 Anm.
^) In gewisser Art würde die Einheit von Natur nnd .Moral bei Kant
wenigstens im letzten Grunde vorbanden sein, wenn man mit X. Basel), Essai
critique sur l'esthetique de Kant S. 513 annehmen könnte, dass das intelligible
Substrat der Natur identisch sei mit dem Substrat unserer Vermögen, der
„Freiheit Aber so bestimmt hat Kant sich nicht ausgesitrochen.
iiitclliiTcntos Wesen zu schlifssen. daraus /u envcisou sucht, dass
der Zweck in der Natur sich nicht lll)erall durchrilhreii lasse. Man
könnte von solch einer empirischen Naturfrrundla^e nur auf ein
annähernd vollkoninienes Wesen schliessen, was a>ich der Polytheismus
der Alten beweise, ilie von der unvollkommenen Natur^Miindia^-e nur
auf menschlich einjreschränkte (Jötter ireschlossen hätten, und wo
sie sich /.u einer Einheit als l'hysiker erhohen hätten, hei der
lidiären/. in einer Su'ostanz stehen "rehliehen seien und in ihr die
'J\'hM)loirie aufirehohen hätten. Kur/ er meint, man könne aus der
Zweckmässiirkeit in der Natur wohl darauf schliessen, dass sie das
Produkt eines Verstandes sei; aber mau könne daraus noch nicht
auf einen hewussten Gott schliessen, der der Natur sell)st einen
Zweck gesetzt habe, da man einen solchen in der Natur gar nicht
kenne; vielmehr müsse man dabei stehen bleiben, dass ein von der
blossen Notwendigkeit seiner Natur zur Hervorbringung gewisser
Formen bestimmter Verstand Urgrund der Natur sei (nach Art eines
Kunstinstinktes).') Dagegen ist ihm nun allerdings der ])hysiko-
theologische Beweis nicht ganz wertlos, wenn er sich auf den
moralischen Beweis stützen kann, der freilich für sich nur ein
Postulat oder ein moralischer ,.Glauhe" bleibt; aber wenn dieses
Postulat gilt, so ist die Teleologie in der Natur ein Zeichen dafür,
dass auch die Natur ihrerseits dem absoluten Zweck entgegenkommt.^)
Indes auch hier wird beides auf das Strengste auseinandergehalten;
die theoretische Erkenntnis des Naturzw'eckes mündet nicht in die
praktische Vernunft ein, sondern beweist nur, dass eine Harmonie
beider unter dem Primat der praktischen Vernunft nicht ausgeschlossen
ist. Das moralische Gesetz verbindet uns für sich allein, ohne von
irgend einem Zwecke als materialer Bedingung abzuhängen. Insofern
■würde auch hier nur von einem Gesetze des Willens die Rede sein
können, und ein solcher Wille wäre Selbstzw^eck. Der hat aber an
sich gar nichts mit der Natur zu thun. Die Beziehung auf die Natur
ergiebt sich nur dadurch, dass das Gesetz „auch" a priori als End-
zweck das höchste durch Freiheit mögliche Gut in der Welt bestimmt.
Das höchste Gut ist nun Glückseligkeit unter der objektiven Be-
1) Man beachte, wie hier Kant aus dem Naturzwecke nur auf einen nnbe-
wusst schaffenden Geist ohne Endzweck rekurriert und hiermit die Hartmannsche
Teleologie vorwegnimmt, sofern er nur bei einem relativen Zwecke und bei einem
unbewussten, instinktartig produzierenden Verstände anlangt. Vgl. Kr. d. U.
§ 84. S. 335—342.
2) Kr. d. U. S. 359 f.
Kants Kritik der Urteilskraft etc. 265
dinjrung der Einstimmung: des Menschen mit dem Gesetz der
Sittlichkeit als der Wiirdigrkeit glücklich zu sein. Das moralische
Gesetz hat also auch ohne Gott seine volle Verbindlichkeit, nur der
Naturtrieb im Menschen auf Glückseligkeit ist es, um dessen Harmonie
mit der Sittlichkeit willen Gott postuliert wird. Um also den
moralischen Endzweck als möglich anzunehmen, bedarf er einen
Gott als Welturheber. Hier ist nun freilich die Glückseligkeit, wenn
auch in ihrer Proportion zur Sittlichkeit, als Naturzweck aufgefasst,
während er früher gesagt hatte, dass die Natur in der Glückseligkeit
ihren Zweck nicht haben könne, sondern in der Kultur als Vor-
bereitung für die Sittlichkeit. Das ist indes deshalb nicht notwendig ein
Widerspruch, weil hier die Glückseligkeit vom moralischen Verhalten
abhängig gemacht wird, also die Natur dem moralischen Gesetz unter-
than sein soll, wozu ja die Kultur eine Vorstufe ist. Immerhin aber bleibt
es doch eine Unebenheit, dass er zuerst die Glückseligkeit zu Gunsten des
Kulturzweckes ablehnt und nachher doch wieder sie hintennach als
Naturzweck, der nur dem Moralgesetz entsprechen soll, anerkennt.*)
Wie dem aber auch sei, Kant wehrt sich gegen jede Physikotheologie
und behauptet, nur im praktischen Interesse können wir Gott postu-
lieren, und wir können nie auf theoretischem Wege aus der Zweck-
mässigkeit der Natur Gott erweisen, weil der Endzweck nur in der
praktischen Vernunft liegt. Es ist sehr merkwürdig, dass Kant trotz
seines Versuches, die Natur für die praktische Vernunft als gefügig
zü betrachten, doch die Selbständigkeit der praktischen Vernunft
so stark wahrt, dass ihm die Idee des Endzwecks rein der prak-
tischen Vernunft zu entstammen scheint, die theoretische Vernunft
aber eigentlich nichts mit dem Endzweck zu thun hat; der Natur-
zweck für sich, der ein theoretischer und der praktischen Vernunft
fremder Begriff ist, bleibt nur im Relativen stecken, während der
Vernunftzweck an sich schon im guten Willen gegeben ist, und nur
unter Voraussetzung der Natur sich zum Weltzwecke näher be-
stimmt, dem die Natur dienstbar sein soll.
Man hat vielfach als Kants wahre Meinung eine ethische Welt-
anschauung hingestellt, der gemäss er die theoretische Vernunft in
den Dienst der praktischen, die Natur in den Dienst des Endzweckes
stelle und durch die teleologische Betrachtung der Natur die Brücke
1) Das wiinderüche Schwanken der neukantischen Ritschlianer zwischen
der Glückseligkeit und Moralität als letztem Zweck der Religion und lüe Zurück-
stellung des Wertes der Kultur, die kaum ethisch gewertet wird, hängt mit dieser
SteUung Kants zusammen.
Kautstudieu IV. 18
'2C^C^ Trot. l'r. l)nnii'r.
sclilajrr. Hin so den N;itiiriiircli.mismus in dvu Dienst cim-r Idi'c. uiiil
/war /ulct/t. weil dir Natur selbst schon 'rolcoldjric aiit'wcisf, in
den Dienst der al>>«tdiiten Zweckidei' /.u stellen und die Natur l'llr
den Geist diirtdi ein altsoiutes Wesen hi'stiinnit /u (h'nken. l'".s niHf;
sein, dass diese Ansicht Kant als Eiulerfrebnis vorf?eschwel»t hat.
l'.r hätte daini als der Vater der ethischen Wtdtanschauunf; /u {gelten,
die von dem Theisnuis insbesondere nüt Knerjrie in verscdiiedenen
Modifikationen l)is auf den heutiiren Taf? vertreten wird.')
Allein dabei wird di-nn dcK'li übersehen, dass Kant zwar den
Versuch macht, die theoretische der praktischen V^ernunft anzunähern,
aber doch im Grunde beide auseinanderhält und nicht den Schritt
wa^t, die praktische Vernunft produktiv vorzustellen, wenn sie auch
den Endzweck der der Sittlichkeit entsprechenden (ilückseligkeit
])0stuliert. N'ielmehr ist gerade das Aussereiuander beider Faktoren,
der Natur und des Geistes, der theoretischen und der praktischen
Vernunft, der Glückseligkeit und der Sittlichkeit, in der Empirie der
Grand für das Postulat Gottes. Sein Standpunkt ist nicht so, dass
das moralische Gesetz selbst ein positives Handeln auf die Natur
verlangt. Vielmehr hat das Gesetz an sich selbst Geltung ohne Be-
ziehung auf das höchste Gut. Nur wenn doch einmal die Natur da
ist, und der Mensch als Phänomenon, Natur wesen, mit seinem Glück-
seligkeitsdrang da ist, dann ist der bekannte Endzweck gefordert,
dann stellt das Gesetz die Forderung, dass die Natur ihm unterge-
ordnet sei. Dazu kommt nun aber noch dies, dass Kaut gerade, wo
er seine Ansicht zu einer Einheit zusammenzuziehen im Begritf steht,
wieder ausdrücklich hervorhebt: dass um des Endzweckes willen ein
Gott angenommen werden müsse, sei ein Schluss, der nur für die
Urteilskraft nach Begriffen der praktischen V^ernunft. und zwar nur
für die reflektierende Urteilskraft gefällt sei, nicht für die bestimmende.
Mit anderen Worten: wir haben für diesen Schluss lediglich einen
Grund „nach der Beschaffenheit unseres Vernunftvermögens, nachdem
wir ans die Möglichkeit einer solchen auf das moralische Gesetz be-
zogenen Zweckmässigkeit ohne Gott nicht begreiflich machen können". 2)
Wenn nun auch der moralische Gottesbeweis in der physikotheolo-
gischen Reflexion eine Stütze hat, sofern die Natur uns hiernach als
selbst teleologisch bestimmt dem höchsten Zwecke zugänglich erscheint,
so ist doch beides theoretisch nur für die reflektierende Urteilskraft
ij Harms hat in seiner „Philosophie seit Kant" diese Seite besonders heraus-
gehoben.
2j Kr. d. U. S. 359, 294 f.
Kants Kritik der Urteilskraft etc. 267
gültig und eben darum nur regulativ, und nur praktisch konstitutiv,
insofern wir dieser Voraussetzung gemäss handeln. Hiermit sind wir
doch wieder ganz in das subjektive Gebiet gewiesen. Nur für die
Einrichtung unserer Erkenntnisvermögen gilt die teleologische Be-
trachtung der Natur und die Annahme, dass im praktischen Interesse
eine Harmonie zwischen der praktischen Vernunft und der Natur be-
stehen werde. Im Grunde heisst das, wir handeln so, als ob diese
Harmonie bestünde, weil wir handeln sollen, wenn wir gleich eine feste
theoretische Einsicht nicht gewinnen können, dass es so ist. Dieser
subjektive Standpunkt wird dadurch noch gestärkt, dass ja die Natur
überhaupt, von dem unbekannten Ding an sich abgesehen, selbst nur
ein Produkt unserer subjektiven Erkenntnisvermögen ist. Ja Kant geht
selbst so weit, dass er auch die absolute Geltung der praktischen
Vernunft in Frage stellt, und auch sie nur als mit der eigentümlichen
Beschaffenheit unserer Erkenntnisvermögen gegeben betrachtet,
während sich ganz wohl eine \'ernunft denken liesse, für welche der
Unterschied der praktischen nnd theoretischen Vernunft wegfiele,^)
der nur auf dem Aussereinander von Verstand und Anschauung be-
ruhe. Auf der anderen Seite scheint freilich doch wieder die Natur
als eine objektive Grösse von ihm behandelt zu werden; denn dass
wir bloss auf unsere Vorstellung handeln, kann doch nicht seine
Meinung sein. Der Abschluss von Kants System, wie er in der
Kritik der Urteilskraft erscheint, ist doch nur dann gegeben, wenn die
Natur objektiv besteht, und diese objektive mechanische Natur da-
durch, dass sich die teleologische Betrachtung auf sie anwenden
lässt, auch dem Postulat der praktischen Vernunft entgegenkommt,
so dass die Hoffnung besteht, sie werde sich dem praktischen Zwecke
gemäss behandeln lassen, worauf wir ja auch durch die Annahme
der „Natur an sich" oder des übersinnlichen Substrats der Natur
hingewiesen werden. Es ist klar, dass Kant hier zu keinem einheit-
lichen Abschluss gekommen ist, sondern schwankt. Es blieben nur
für die Nachfolger zwei Möglichkeiten, entweder den subjektiven
Standpunkt zu Ende zu führen, oder die ethische Weltanschauung
konsequent auszugestalten. In Bezug auf die erste Möglichkeit
konnte man einmal dabei stehen bleiben, dass unsere Erkennt-
nis nach der Beschaffenheit unserer Erkenntnisvermögen subjektiv
bleibe und eine Erkenntnis eines an sich seienden Objekts voll-
kommen unmöglich sei, dass auch unsere praktische Vernunft nicht,
wie Kant früher behauptet hatte, ein für alle Geister unbedingt
1) Kr. d. U. S. 294.
18*
•268
Prof. Dr. l>ornt>r,
geltoiulos Gesetz enthalte, sondern ('l)entalls diirrli ilic HesclwitVcnheit
nnscros subjektiven (leistes l)estiMniit sei, also uiil)c<linf:len Cliarakter
niohl in Anspnieli neliineii könne, sondern dass aueli die K.tliik nur
tllr unsiTe lieistesvennö-^en -;elt('. Kant liat diesen Standpunkt sell)st,
wie wir eben saiien. piin/ipiell aus{;esi)rochen. Die volle Konsecpienz
dieses ganzen Standjjunktes wurde erst von <leni Neukantianismus
uud seinen Ausläufern f^'ezogen.
In der unniittell)aren Nähe von Kant wurden solche skeptische
Wendungen noch nicht gewagt. Da wurde der Versuch gemacht,
auf subjektivem Wege durch höchste Steigerung der Subjektivität
eine Einheit zu erreichen. Das geschah durch Fichte Er knUpfte
daran an. dass in dem intelligil)len Substrat der Natur das wahrhaft
Objektive, das Vernünftige sei, dass die Emplindung gänzlich auf
subjektivem Wege zu erklären sei, dass das Ding an sich als He-
jrriff ein Produkt der denkenden Vernunft sei. Theoretische und
praktische \'ernunft führte er in dem absoluten Ich zu einer Einheit
zusammen, und nichts war von dem Kantischen Ausgangspunkt natür-
licher. Denn da Empfindung, Anschauung subjektiv, die Kategorien
subjektiv sein sollten, das intelligible Substrat der Natur oder das
Dins; an sich vernünftig sein sollte, und schliesslich die praktische
Vernunft, der vernünftige Wille in die transscendente Sphäre den
Eintritt ermöglicht hatte, so kam es nur darauf an, diese ganze sub-
jektive Welt in eine Einheit im absoluten Ich zusammenzufassen,
ein Bestreben, das um so berechtigter erschien,^) als Kant selbst ge-
rade in der Kritik der Urteilskraft die grossesten Anstrengungen zur
Harmonisierung der getrennten Gebiete gemacht hatte. Dabei ist es
auch völlig natürlich, dass Fichtes absolutes Ich schliesslich mit der ab-
soluten Vernunft identisch gesetzt wurde, da ja Kant selbst schon das
empirische Ich als homo phaenomenon von der Vernunft unterschieden
und selbst auf die Möglichkeit einer Vernunft hingewiesen hatte, welche
zwischen praktischer und theoretischer Vernunft keinen Unterschied
kennt. Fichte hat ein vollendetes System des transscendentalen Idealis-
mus auszubilden versucht. Freilich musste er dann auch die Empfindung
als Produkt der Vernunft betrachten. So konnte auf der subjektiven
Grundlage Kants der Idealismus in doppelter Gestalt sich erheben,
in der Fichteschen und in der skeptischen Form, welch letztere sich
1) Vgl. z.B. M. E. Mayer, Das Verhältnis des Sigismund Beck zu Kant,
der der Meinung ist, dass Kants That darin bestanden habe, den Schwerpunkt
der Philosophie in unser Inneres zu verlegen, und dass die Konsequenz Kants
sei, die Erfahrung ohne Rest in ein Produkt des Bewusstseins aufzulösen. S. 31.
Kants Kritik der Urteilskraft etc. -269
geltend machte, als der produktive, konstruktive Idealismus vorläufig
gescheitert war. Schliesslich hat man auch die Vorstellung von dem
Ding an sich, von dem doch nichts soll gewusst werden können,
weil selbst die Vorstellung desselben nach dem skeptischen Idealis-
mns nur auf der subjektiven Beschaffenheit unserer Erkenntnisver-
mögen ruht — , hat man auch diese Vorstellung vom Ding an sich, die
80 nur zu einer Vexiervorstellung geworden war, wieder fallen ge-
lassen, blieb bei ..psychologischen Vorstellungen" stehen, ohne sich
Dm weitere Fragen zu kümmern, und verfuhr nur in der Praxis, als
wären diese Wirklichkeit, oder man kehrte gar zu einem subjektiv
gewendeten naiven Kealismus zurück, indem man sagte, für uns sei
unsere Erscheinungswelt unsere Wirklichkeit. So ergab sich ein
Psyehologismus, der gegenwärtig noch weite Kreise beherrscht, und
bei dem natürlich auch der unbedingte Charakter der Moral, den
Kant ursprünglich wollte, aber schliesslich doch selbst auch wieder
mindestens hypothetisch in Frage stellte, aufhört.
Kant selbst würde indes schwerlich diese Konsequenzen billigen.
Für ihn stand doch trotz der skeptischen Anwandlungen auch in
Bezug auf die Moral der Hauptsache nach die praktische Vernunft
mit ihrem Gesetz und dessen Geltung für die einmal bestehende Welt
fest, und somit kann man doch auch die ethische Weltanschauung
des Theismus in gewisser Hinsicht auf ihn gründen. \) Hierbei dürfte
folgende Ansicht noch von Interesse sein, die Kant ebenfalls in der
Kritik der Urteilskraft ausgesprochen hat, und die später in um-
fassenderer Weise verwendet wurde. Er sagt nämlich, das Fürwahr-
halten müsse sich auf Thatsachen gründen. Nun sind nach ihm That-
sachen für gewöhnlich nur in der Anschauung und Empfindung
verbürgt. Nur eine Thatsache kennt er, die über die Sinnenwelt
hinausgeht, das ist die Thatsache der Freiheit, und zwar sagt er
geradezu, dass „der Freiheitsbegriff seine Realität durch die Kausalität
der Vernunft in Ansehung gewisser durch sie möglicher Wirkungen
in der Sinnenwelt hinreichend darthue". Hier steht ihm also die
Vereinigung von praktischer Vernunft und apriorischer Freiheit mit
der Sinnenwelt, durch die Kausalität der Vernunft in der Sinnen-
welt als Thatsache fest.^j Von dieser Thatsache aus könne man im
ij Man sieht z. B. aus der Eeligion innerhalb der Grenzen der blofsen Ver-
nunft, dass er die Absolutheit der Moral doch festhalten wollte.
-, Kr d. U. S. 383, 375, „deren Realität (der Freiheit) als einer besonderen
Art von Kausalität (von welcher der Begriff im theoretischen Betracht über-
schwengüch sein würde) sich in wirklichen Handlungen, mithin in der Er-
•J7(> '''■"' ^'' Ut>riu»r,
})r:i U t i->r licu liilcrcssi' ;iiil' (J(»tt si'lilit'SKcn. niiinlii'li insofern da«
Postulat l)cst(>lit. einen allircnu'iin'n Kinklan^' /.wisclien \ eiiuintl und
Natur her/ustellen. Hierin lieiit. dass es in der iMnpirie also doch
oine erkennbare Wirksamkeit einer intelli^nhien (liiisse, eines
Diu'jos an sieh ^'i'he. dass also doeli ein l*uid\t da ist. wo die int(dli-
«rihlc Welt in die enipirisehe hincinrairt. liier ist di-r .Man;;id unseres
KrktMintnisverniö^ens aufgehoben, der in dein Aussereiiiaruler nou
Sini\eserrahrunir und apriorisehen Faktoren liejjt. Kant hat hier
wirklieh eine Briieke i:esehlaj::en zwischen i)eiden Seiten. \'(ui hier
aus Hesse sich eine objektive Ansicht jrcdtend machen, welche die
•resamte Widtanschauuu^ ethisch abschliesst, indem sie auf (Jrund
des schon (iegebeuen die vollkommene Einheit von moralischem
Geiste und Natur im praktischen Interesse ])ostuliert und einen Gott,
der dieselbe g:arantiert, voraussetzt. Freilich muss dann der Natur
eine objektive Grundlage zuerkannt und die j)raktische Vernunft nicht
als ein Faktor beurteilt werden, der in abstrakter Einsamkeit für
sich beharren kann, sondern als eine Grösse, die die Einheit mit
der Natur fordert. Mit einem Worte: Sollte mit dem moralischen
Standpunkte Ernst gemacht werden, so muss er im positivem Sinne
umgebildet werden. Dann konnte man nicht dabei bleiben, als End-
zweck den mit dem abstrakten Gesetz geeinten Willen für sich zu
betrachten, als wäre er selbstgenugsara in der apriorischen Welt,
dann musste, was Kant selbst doch am Ende auch nicht leugnen
konnte, die praktische Vernunft sich in der Naturbeherrschung zeigen,
die Ethik musste dann, wie Schleiermacher es ausdrückt, einen pro-
duktiven Charakter gewinnen.
Wenn übrigens Kant hier schon von der in der Erfahrung vor-
kommenden Kausalität der praktischen Vernunft redet, so hat er ja
eben damit schon diesen Weg zu betreten begonnen, der zugleich
auch eine Vereinigung der transscendentaleu und der Erscheinungs-
welt ermöglicht; denn hier tritt ein Ding an sich, ein guter Wille
in die Erscheinung. Damit ist doch eigentlich auch eine Ausdeutung
der Erscheinungswelt im transscendentaleu Sinne angebahnt, insofern
wir in ihr reale Freiheit aktiv beobachten, eine Ausdeutung, die von
ihm mit Bezug auf die Natur selbst dadurch noch ergänzt wird, dass
Kant auch der uns erscheinenden Natur ein intelligibles Substrat,
eine „Natur an sich" zu Grunde legt.
fahrung darthun lässt. — Die einzige unter allen Ideen der reinen Vernunft,
deren Gegenstand T hat Sache ist und unter die selb ilia mitgerechnet werden
Kants Kritik der Urteilskraft etc. 271
Es ist aber nicht bloss die Teleologie in der Kritik der Urteils-
kraft, durch welche Kant eine Ausg:leichung der von ihm übrige ge-
lassenen Difterenzen sucht, sondern ebenso die Ästhetik, teils in-
dem sie allerdings auch zuletzt in das teleologisch-moralische Gebiet
ausmündet, teils aber auch indem Kant gerade von hier aus eine
eigenartige Perspektive wenigstens in Aussicht stellt, die in verschie-
denen Formen und Mischungen die Nachfolger weiter ausbildeten.
Zunächst müssen wir hier wieder darauf hinweisen, dass das
Aussereinander von Anschauung, Empfindung und Verstand für Kant
die Veranlassung ist, der Ästhetik nachzugehen, und zunächst ist sein
Begritf des Schönen auch gänzlich subjektiv bestimmt. Indem bei
Gelegenheit der Betrachtung eines Naturobjektes Phantasie und Ver-
stand gleichmässig befriedigt werden, weil Freiheit in der Mannig-
faltigkeit der Formen mit der Gesetzmässigkeit verbunden ist, werden
wir angenehm berührt, was sich in einem allgemeingültigen Gefühls-
urteil des Geschmacks ausspricht. Ich will hier nicht die ästhetische
Seite weiter verfolgen, so interessant dies an sich wäre, sondern nur
das, was für unseren Zusammenhang von allgemeinerem Interesse
ist. Es otfenbart sich hier zwar kein bestimmter Zweck, aber doch
eine gewisse Zweckmässigkeit; man hat hier kein Interesse an der
Existenz des Objekts, sondern nur an der Anschauung desselben —
ein für die Kunst namentlich höchst bedeutsamer und wahrer Satz.
Das einzige Interesse, das in Betracht kommt, ist das, dass ich bei
der Anschauung des Objekts der Harmonie meiner Erkenntnisver-
mögen inne werde. Das aber ist insofern wertvoll, als auch da, wo
ich den Zusammenhang in der Natur nicht zu erkennen vermag, doch
wenigstens ein gewisses Gefühl der Harmonie meiner Erkenntnisver-
mögen von den Naturobjekten angeregt und dadurch die Hoffnung
auf die Erkennbarkeit derselben erweckt wird.\) Eben dieses aber
giebt auch wieder die Aussicht, dass die Natur auch höheren Zwecken
zugänglich sei. Kant unterscheidet das Naturschöne von dem Kunst-
schönen und bemerkt gerade von ersterem, dass die Menschen, die
sich an dem Naturschönen freuen, eine besonders günstige Prognose
in Bezug auf ihre Moralität gewähren,^) weil sich hier die objektive,
interesselose Freude an der Zweckmässigkeit der Natur offenbart,
wie denn auch die Kunst mit ihrem Schönen als Vorbereitung für
die Moral insofern wertvoll ist, als sie den Menschen gewöhnt, ohne
eudämonistisches Interesse sich objektiv an dem blossen Anschauen
1) Vgl. die Analytik des Schönen, Kr. d. ü. S.46 f., 60., 66., 90 f., 157 f., 167.
2j Kr. d. ü. S. 165 f.
•272 Trof l>i Doriu-r,
lies Schöllen, an dem liuirwcrdon der Ilarmonii' der KrkciiiitniB-
vt'nnöi:tMi und ilcr HariuDiiic »Irr Natur zu crlVfiicii.' i Kant kann
aiii'h hier hc'\ dem rriii subji'ktiven Standpunkt nicht hh-ihcn,
insitffrn das Naturschünr doch nicht hU)ss die \ Cranlassunjr für das
Gcftlhl einer llarnionic (h'r ICrkenntnisvennii^cn hleil)eu kann, sondern
doch am Knde auch in dem Naturobjekt seihst irgendwie der (Irund
tllr diesen Eindrock liejren nuiss, da doch nicht jedes Naturohjekt
diesen harnionisdien Eindruck hervorruft. Das ist um so mehr der
Fall, als eben jrerade darauf von ihm das Gewicht frele{::t wird, dass
das ästhetische (ieschmacksurteil ein einzelnes Urteil sei,^) das zu-
gleich auf All<remeinirültij:keit Anspruch macht. Es haftet an der
konkreten Anschauung des einzelnen Objektes. Wenn er trotzdem
das l^rteil doch immer wieder als rein subjektiv lieurteilt, so hat
das seinen Grund darin, dass er das Schöne ledi^^lich in der Form
linden will, so dass man von jeder Empiindungsart abstrahieren könne,
und dass es von Reiz und Kührung unabhängig; sei. Damit wird
das Schöne eigentlich nur in der Art der Anordnung des Mannig-
faltigen im Räume gefunden, und da diese freilich gänzlich subjektiv
ist nach seiner Erkenntnistheorie,^) so ist auch das Geschmacksur-
teil subjektiv begründet; es findet gewissermassen, dass quasi unbe-
wusst bei Hervorbringung dieser konkreten Naturanschauung durch
Synthesis im Räume Einbildungskraft und Verstand harmonisch ge-
wirkt haben. Indes hätte doch dieses Urteil sicherlich wenig Bedeu-
tung, wenn es im Grunde nur ein Urteil über die unbewusste Funktion
des Subjekts seihst wäre.
Allein Kant spricht sich doch nicht immer so konsequent aus.
Er bleibt dabei, dass das Naturobjekt ein solches Urteil hervorrufe.*)
Wenn er ferner von dem intellektuellen Interesse am Schönen redet, so
wird hierbei auch wieder das schöne Objekt in den Vordergrund gestellt;
es interessiert,^) ,,dass die Natur jene Schönheit hervorgebracht hat'',
1) Kr. d. ü. S. 233 f.
2) Kr. d. U. S. 60.
^) Kr. d. U. S. 229 verbindet er die Idealität der „Gegenstände der Sinne"
mit dem „Idealismus der Zweckmässigkeit in Beurteilung des Schönen der Natur
und der Kunst" und gründet auf beides das Apriori der Formen der Gegen-
stände und das Apriori des Geschmacksurteils.
*i Da aber nicht jedes Naturobjekt solch einen Eindruck hervorruft, so
hätte Kant müssen untersuchen, welcher Grxmd im Objekte vorhanden ist, dass
das Eine den Eindruck des Schönen macht, das Andere nicht. Cfr. Victor
Basch, Essai critique sur l'esthetique de Kant S. 518 f.
5j Kr. d. U. S. 166.
Kants Kritik der Urteilskraft etc. 273
und zwar deshalb, weil es für die Moral von Wert ist, za wissen,
dass die Natur wenigstens eine Spur davon zeige, dass sie in sich
einen Grund enthalte, eine gesetzmässige Übereinstimmung ihrer
Produkte zu unserem von allem Interesse unabhängigen Wohlgefallen
anzunehmen; oder mit anderen Worten: unser Interesse ist moralisch
orientiert, weil uns die im Schönen sich offenbarende Zweckmässig-
keit der Natur eine Verwandtschaft mit dem moralischen Zweck zu
enthalten scheint. Man sieht, dass Kant das Schöne zur Ausfüllung
der Kluft zwischen Einbildungskraft, Anschauungsvermögen und Xnr-
stand dient, da beide von einem einzelnen Objekte harmonisch be-
rührt werden, eine Harmonie, die Kant zwar zunächst subjektiv
deutet, die er aber dann doch auch auf die Natur überträgt, die
eben durch diesen harmonischen Eindruck eine Zweckmässigkeit ver-
raten soll. Ebenso aber wird auch das Schöne als eine Brücke von
der Natur zur Moral, von der theoretischen Vernunft zur praktischen
betrachtet.
Eben diese Harmonie der Erkenntnisvermögen ist es auch, die
Kant für die Produktion der schönen Kunst voraussetzt. Schöne
Kunst ist eine Kunst, sofern sie zugleich Natur zu sein scheint, d. h.
die Form des Kunstproduktes muss so frei scheinen von allem
Zwange willkürlicher Kegeln', als ob es ein blosses Produkt der
Natur sei.^) Die Zweckmässigkeit darf nicht absichtlich scheinen,
obgleich sie absichtlich ist. Das ist nun nur möglich, wenn das
Genie produziert, d. h. die GemUtsanlage, durch welche „die Natur
der Kunst die Regel giebt."^) Bei dem Genie handelt es sich darum,
zu einem Begriffe Anschauungen, ästhetische Ideen zu finden und
diesen den angemesseneu Ausdruck zu verleihen, was nur durch ein
in der Schule gebildetes Talent zu Ende geführt werden kann.
Uns kommt es hier nur darauf an, dass auch in der künstlerischen
Produktion im wesentlichen die Einheit der produktiven Phantasie
und des Begriffs gefordert ist, also wieder alles auf die Harmonie
von Phantasie und Verstand hinausläuft, auf die Vereinigung der
beiden bei uns auseinanderliegenden Erkenntnisvermögen. Das Genie
hat dabei die Fähigkeit, durch die ästhetischen Ideen einen Begriff
so zu illustrieren, dass eine Fülle von Nebenbeziehungen zugleich
angeregt werden, die Aussicht in ein unabsehbares Feld verwandter
Vorstellungen eröffnet wird, so dass das Gemüt belebt wird, eben
durch die Vereinigung des Gesetzmässigen und der Anschauung ein
') Kr. d. U. S. 175 f.
2) Kr. d. U. S. 176 f.
«J74 I'rot. IM l>iinicr,
beK'hoiulcr Kiiidriu-k linnnonisi'lur l'illlc fr/.t*ii;rt wird. Dir Knust
versi'lialVt dfiu CuMiilltc Kultur, bi'l'reit \im di-r IJolicii der Lcjdeti-
sohattrn, iiuUMii sie •rcwidint. idiiu' siniilii'lit's Interesse Siimliehes zu
1k olmiditen. Das iistliflisriic I riiü. das a|)rioris('h ist und sieh doch
auf den einzelnen Fall liezielit, irewidint an Allfrcnieln^llltijrUeit; es
{riebt einen ästhetisehen (Jenieinsinn. der fllr die (ieseili|rU<'il He-
deutunj: hat und in dieser einen der Phantasie an^^einessenen Inhalt
erniö"lii'ht. Dureh all das wirkt die Kunst \orbereitend für die Moral.
Wenn wir nun vollends erwiijren. wie sehr Kant auf" die Harmonie
von Natur und Moral (iewi(dit le^t. so wird deutlich, wi(^ jrerade die
Welt des Sehöuen. wek'he ilie llarnumie (k'r Natur olTenhart. l'lSr die
Moral bedeutunjjsvoll ist; hier scheint wirklich der Streit der Nei-
jruiisren und des Gesetzes ausfrejrlichen, indem gerade die (iewalt der
subjektiven Leidenschaften durch das all^^emeinfreitende Geschmacks-
urteil gedämjjft wird, und man kann Kants Forderunf? begreifen, dass
sich zu j.den Tugenden die (xrazien gesellen" sollen.^) In diesem
Sinne sagt Kant auch, das Schöne sei das Symbol der Sittlichkeit.
Er versteht unter Symbolen Anschauungen, welche in der Weise der
Analogie einen Begriff illustrieren, wie z. B. ein monarchischer Staat
durch einen beseelten Körper vorgestellt wird. Ebenso wird die
Sittlichkeit durch das Schöne illustriert. Denn das Schöne hat so
viel ähnliches mit dem Moralischen, indem es wie dieses unmittelbar
(wenn auch nicht im Begriffe) gefällt, ohne alles Interesse gefällt, (wie
auch bei dem Moralischen wenigstens alles sinnliche Interesse fehlt), die
Freiheit der Phantasie in Einheit mit der Gesetzmässigkeit des Ver-
standes ist (wie im Moralischen die Freiheit des W^illens in Einheit
mit dem moralischen Gesetze), das Prinzip der Beurteilung des
Schönen wie das des moralischen Urteils allgemeingültig ist, — dass
das Schöne sich wohl als Symbol des Sittlichen verwenden lässt.^)
Freilich gerade dieser letzte Punkt, die Allgemeingültigkeit
und Autonomie des Geschmacksurteils führt Kant wieder zu seinem
subjektiven Standpunkt — „dem Idealismus der Zweckmässigkeit" im
ästhetischen Gebiete, indem er geltend macht, dass, wenn wir durch
das Objekt zu Schönheitsurteilen veranlasst würden, unser Urteil
heteronom und nicht autonom sein würde, was es nur sein könne,
wenn es sich auf die Harmonie unserer Erkenntnisvermögen be-
ziehe, aber nicht, wenn es von dem Objekte abhänge. Wenn nun
Kant noch ausdrücklich beifügt: „Wie die Idealität der Gegen-
ij Tugendlehre, W. W. Bd. IX. S. 339.
2j Kr. d. U. S. 232 f.
Kants Kritik der Urteilskratt etc. 275
stände der Sinne als Erscheinungen die einzige Art ist, die Möglich-
keit zu erklären, dass ihre Formen a priori bestimmt werden können,
so ist auch der Idealismus der Zweckmässigkeit in Beurteilung des
Schönen in Natur und Kunst die einzige Voraussetzung, unter der
allein die Kritik die Möglichkeit eines Geschmacksurteils, welches a
priori Gültigkeit für jedermann fordert,') erklären kann", — so ergiebt
sich hieraus , dass es Kant in der Ästhetik zunächst vor Allem um
die subjektive Harmonie der Erkenntnisvermögen zu thun ist, die
sich im Gebiete der bestimmenden Urteilskraft nicht völlig harmoni-
sieren lassen. Dass er aber doch diesen rein subjektiven Stand-
punkt auch im ästhetischen Gebiete nicht aufrecht erhalten kann,
haben wir gesehen; so bleibt auch hier ein Schwanken zwischen
Subjektivität und Objektivität. Schliesslich sei nur noch mit einem
Worte darauf hingewiesen, dass im ästhetischen Gebiete Kant auch
die Kluft zwischen Anschauung und Vernunft direkt auszufüllen sich
bemüht hat, wobei die Beziehung auf die Moral noch unmittelbarer
hervortritt. Es handelt sich hier um das Erhabene.
Für Kant besteht das Erhabene darin, 2) dass wir von einem
Naturobjekt den Eindruck gewinnen, dass unser Anschauungsvermögen
unfähig sei, dasselbe klar und deutlich zu erfassen, dass es unbegrenzt
vorgestellt wird, seiner Form nach zweckwidrig erscheint, formlos,
und dass eben hierdurch das Gemüt angereizt wird, die Sinnlich-
keit zu verlassen und sich mit Ideen, die höhere Zweckmässigkeit
enthalten, zu beschäftigen. Sowohl das mathematisch Erhabene, die
formlose Grösse, als das dynamisch Erhabene, die formlose Macht
eines Objekts rufen die Vernunft w'ach, welche sich doch über alle
sinnliche Grösse und alle äussere Macht erhaben weiss. Das Ge-
fühl der Erhabenheit ist mit Lust und Unlust gemischt, Unlust an
der Formlosigkeit des Sinnlichen, Lust an den übersinnlichen Ideen, die
die auch noch so formlos auftretende übermässige Sinnenerscheinung
übertreffen. Das Erhabene ist also erst recht vollkommen subjektiv;
es ist der Eindruck, den wir bei Gelegenheit der Betrachtung eines
Objektes gewinnen, dass die Vernunft das sinnliche Auschauungs-
vermögen weit übertreffe, und dass also die Sinnlichkeit zur Unter-
ordnung unter die Vernunft bestimmt sei.
Das mathematisch Erhabene bezieht sich auf die Erkenntnis-
vermögen.^) Es giebt für die ästhetische Grösseuschätzuug ein
1) Kr. d. U. S. 229.
2) Kr. d. U. S. 97 f.
3) Kr. d. U. S. 100 f.
270 I'rof Dr. Duiiut,
Grossestes, über das hinaus es uns nicht iiifhr müirlii'h ist. das
()l)jekt Ubersii'htlii.'h zu einer Kinheit zusaiinnen/.ufasseii. Die \er-
nunl't tlajrejren hat die Idee einer Tcttalität. im inathi-niatiseh Kr-
lialx'uen wird nun ilie l'nanireuiessenheit di'r Kinhihlunj^skrafl. ein
solches Objekt zu fassen, dadurch zum iiewusstsein j;el)racht, dass
wir einen Massstal», der übersinnlich ist. die Idee eines (ianzeti zu
(irunde ieiren. Wir werden uns also der rnanjremessenheit unseres An-
schauunirsverniüirens <refrenillter dem N'ernunrtmas.sstab bewusst. Alles
Grosse der Kinldldunirskraft ist klein <ref:en die \'ernunftidee des
Unendlichen.') Auf je frrössen- Kinheiten man kommt, um so nn-hr
erscheint ..alles Grosse in der Natur immer wiederum als klein und
schliesslich unsere Einbildungskraft in ihrer {ganzen (Jrenzlosi;rkeit
und udt ihr die Natur als verschwindend {regen die Idee der Ver-
nunft" von der Natur als einem absoluten Ganzen, von dem über-
sinnlichen iSubstrat der Natur, welches über allen Massstab der Sinne
jrross ist Kurz, es ist die Unzulänglichkeit der Natur für die \'er-
uunft, eben dadurch aber auch ihre Fähigkeit, ihr untergeordnet zo
werden, die bei der mathematischen Erhabenheit zum Bewusstsein
kommt. Auch hier geht, wie man sieht, der bei Gelegenheit der Betrach-
tung des Naturobjekts gewonnene Eindruck von der Unzulänglichkeit
unserer Einbildungskraft, die Vernunftidee zu fassen, zugleich über in
die Vorstellung von der objektiven Unzulänglichkeit der Natur, die
Vernunftidee völlig darzustellen. Hier wird nun, wenn auch auf
mehr negative Weise, die Beziehung auf die Moral hervorgehoben.
Der Eindruck der Erhabenheit entspricht insofern unserer Bestin)mung,
als es zu unserer Bestimmung gehört, alles, was die Natur Grosses
für uns enthält, im Vergleich zu den Ideen der Vernunft als klein
zu schätzen.^) Das Gefühl des Erhabenen dient also unserer Be-
stimmung.
Das gilt in ganz besonderem Masse von dem dynamisch Er-
habenen, wo der Eindruck der Unzulänglichkeit unserer sinnlichen
Widerstandskraft — d. h. der Eindruck der Übel, der Verlust an
Gesundheit. Leben u. s. w. uns klein dünkt gegen die höchsten Grund-
sätze der praktischen Vernunft und deren Behauptung.^)
Nach Kant ist also zwar die Unangemessenheit des sinnlichen
Eindrucks zu der Vernunftidee die Quelle des Erhabenen, aber zu-
gleich ist eben diese Unangemessenheit teleologisch, sofern sie dieUnter-
1) Kr. d. U. S. 113.
2) Kr. d. U. S. 114.
3) Kr. d. U. S. 117 f.
Kants Kritik der Urteilskraft etc. 277
Ordnung der Sinnlichkeit, der Anschauungrsvermögen unter die Ver-
nunft zum Bewusstsein bringt, also die Möglichkeit ihrer Harmonie
eben in Form der Unterordnung der Natur unter die Vernunft.
Die Erhabenheit beruht auf der Entwicklung der Vernunft. Denn
so lange sie nicht entwickelt ist, kann man ihre Erhabenheit über
die Sinnlichkeit und die Natur auch nicht inne werden,^) Aber
doch kann dieses Gefühl jedermann angesonnen werden, weil jeder
seine ^ ernunft kultivieren soll. Während das Schöne durch Zweck-
mässigkeit kultiviert und vorbereitet, „ohne sinnliches Interesse zu
lieben", bereitet uns das Erhabene vor, „selbst wider das sinnliche
Interesse hochzuschätzen'-.^) Man sieht, auch das Erhabene dient dazu,
die Brücke zwischen dem Sinnlichen und der Vernunft zu schlagen,
und wenn Kant hier noch mehr subjektiv verfährt als bei dem
Schönen, indem eigentlich nur die Erhabenheit unserer Vernunft über
die Sinnlichkeit beachtet und von der Erhabenheit eines Objektes
überhaupt nicht geredet wird, so kann er doch auch hier die ob-
jektive Wendung nicht ganz beiseite lassen, insofern die Idee des
Unendlichen, der absoluten Grösse uns nötigen soll, die erscheinende
Natur nur als die Darstellung des übersinnlichen Substrats derselben,
der Natur an sich zu betrachten.^) Auch hier bleiben wir natürlich
im ästhetischen Gebiete, insofern es sich nur um subjektive Ein-
drücke bei der Betrachtung eines Objekts handelt, also auch
hier kein Interesse im Spiele ist. Ja es kann sogar das Mo-
ralische selbst ästhetisch als erhaben betrachtet werden. Das Er-
habene zeigt aber auch wieder die Differenz der Vermögen, die
Unangeraessenheit des Sinnlichen zum Vernünftigen nnd nur durch
diese die Erregung des Gefühls der Erhabenheit der Vernunft.
Es bleibt hier doch ein hiatus zwischen Natur und Vernunft trotz
ihrer Verbindung. Insofern Kant seine Weltanschauung moralisch
zuspitzt, kommt er über diese Disharmonie doch nicht völlig hinaus.
Am vollkommensten wäre eine der Vernunft entsprechende iutelligible
Natur. Diese sinnliche Natur ist der Idee unangemessene Erscheinung.*)
Eben daher ist es nun nicht allzu verwunderlich, dass Kant noch
eine andere Richtung hypothetisch verfolgt, die im Grund erst
als die Vollendung des Ästhetischen angesehen werden könnte.
Wenn wir bisher gesehen haben, dass Kant auch das ästhetische
»j Kr. d. U. S. 123.
2) Kr. d. U. S. 127.
S) Kr. d. U. S. 127.
*) Kr. d. U. S. 127.
•>-v; rrol" Pr nurncr,
(lol)iet in lot/lor Instiui/, auf die Mural Itc/iclit. so crjriclit sicli ihk-I»
ein Aspekt, naoli wcK-hciii das ästlu'tisi'lu' Klcinciit /.u völlig' sclltst-
stämlifTtTiind abschlu'ssoiuU'r Hcdrutuiif: Uonimt. Das ästlirtisclic (M-bict
hat die Hrdcutuni: /unäclist für das Sultjckt. die Dillrrenz /wisclion den
ErkcnntnisvormöiriMi, /.wischen N'erstaiid und Anschauunjr und /wischen
Vernunft untl Anschauung; auszufjieichen. Diese Ausj,Meichun.i:- p-linf^t
aber niemals vollkommen, weil unsere Krkeiuitnisvermöt;en auseinander
liegen. Dieses Aussereinander ist nun al)i'r nur die subjektive Be-
schafYenheit unseres Verstandes und unserer Anschauung. Es Hesse sich
sehr wohl ein Erkenntnisvermögen denken, in welchem Anschauung und
Verstand geeint wären in intellektueller Anschauung. Feinem Wesen,
welches intuitiven Verstand besässe, würde Alles in vollendeter Harmonie
erscheinen.') Der Unterschied zwischen Möglichkeit, Wirklichkeit und
Notwendiirkeit würde wegfallen. Ähnlich verhielte es sich mit dem Unter-
schied zwischen der praktischen und theoretischen Vernunft. Jet/t ist
physisch zufällig, was moralisch notwendig ist, geschehen soll; aber in
Wahrheit rührt es nur von der subjektiven Beschaffenheit unseres
praktischen Vermögens her, dass die moralischen Gesetze als Gebote
erscheinen, dass die Vernunft diese Notwendigkeit nicht durch ein Sein,
sondern ein Sein Sollen ausdrückt. Das wäre nicht der Fall, wenn
die Vernunft als Ursache in einer intelligiblcn, mit dem moralischen
Gesetze durchgängig übereinstimmenden Welt betrachtet würde.
Zwisi'hen dem, was durch uns wirklich und was durch uns möglich
ist. zwischen dem theoretischen und praktischen Gesetze wäre dann
kein Unterschied. Die Gebote als Gebote gelten also nur für
unsere Erkenntnisvermögen, wo Vernunft und sinnliche Anschauung
auseinanderliegen, wo die sinnliche Natur nicht ohne weiteres mit
der Vernunft übereinstimmenden intelligiblcn Charakter trägt. Wenn
femer unser Verstand nicht vom Allgemeinen zum Besonderen gehen
müsste, so würde auch keine Zweckmässigkeit erkannt werden,
zwischen Mechanismus und Teleologie kein Unterschied sein, weil in
der unmittelbaren Anschauung beides zusammenfiele. So ist also bei uns
alles auf das Aussereinander von Verstand und Anschauung gegründet.
Ohnedies würde auch die Vernunft nicht besonders als Vermögender
Ideen unterschieden werden können, da garkeine Veranlassung wäre, über
ij Kr. d. U. S. 292 f. Kant hat zwar auch schon früher die intellektuelle
Anschauung ins Auge gefasst; aber sie gewinnt, soviel ich sehe, erst im Zu-
sammenhange mit der Ästhetik ihre volle Bedeutung. Wenn Kant selbst auch
diese Gedanken nicht weiter verfolgt hat, so waren sie doch Fingerzeige für
einen Teil seiner Nachfolger.
Kants Kritik der Urteilskraft etc. 27 &
das Gegebene hinanszugehen. Es ist oben angedeutet worden, welche
skeptische Konsequenzen an diese Sätze angeknüpft werden können,
wenn man auf die rein subjektive Seite dieser Gedanken reflektiert.
Hier kommt es darauf an, hervorzuheben, dass Kant den Gedanken
als möglich ins Auge fasst, dass es ein Wesen geben könne mit
intellektueller Anschauung, ,, intuitivem Verstände", in welchem
eine volle Harmonie unmittelbar gegeben wäre, oder eine Vernunft
ohne Sinnlichkeit, die als Ursache in einer intelligiblen, mit dem
moralischen Gesetz durchweg übereinstimmenden Welt zu betrachten
wäre, so dass Sein und Sollen zusammenfiele, die theoretische und
praktische \'ernuuft eins wäre.') In Bezug auf das letztere ist
zwar zu bemerken, dass für Kant der apriorische gute Wille schon
früher ein solches Sein darstellte, in dem Vernunft und Wille eins
ist, also von Sollen nicht die Rede sein kann. Nur geht Kant hier "
nel weiter, indem er auch den Unterschied zwischen praktischer und
theoretischer Vernunft aufhebt, weil er die Vernunft als Ursache in
einer intelligiblen Welt vorstellt. Es mag hier vielleicht noch ein
Unterschied zwischen dem „intuitiven Verstand" und „der Vernunft
ohne Siimlichkeit, die in einer intelligiblen Natur wirksam ist,"
bestehen, indem er das eine Mal für diese höhere Intelligenz Einheit
von Verstand und Anschauung setzt, das andere Mal die Anschauung
beiseite lässt, weil diese ganze Welt nur intelligibel wäre, indem im
ersten Falle nur von der subjektiven Beschaffenheit dieser höheren
Intelligenz die Rede ist, im zweiten Falle von einer intelligiblen
Welt, die mit der Vernunft ohne Sinnlichkeit eins ist, gesprochen wird.
Nach dem ersten Ideal würde eine vollkommen ästhetische An-
schauung sich ergeben, in der Anschauung und Verstand in voller
Harmonie wären, nach dem zweiten Ideal würde sich eine intelligible
Welt ergeben, in der der Unterschied zwischen Theoretischem und
Praktischem hinfällig wäre, das Gedachte zugleich Realität wäre.
Obgleich Kant sich hier nur andeutend verhält, erhellt soviel, dass er als
letztes eine intelligible harmonische Welt ins Auge fasst, in welcher
Wollen und Erkennen eins ist. Dass in dieser intelligiblen Welt ein in-
telligibles Substrat der Natur vorzustellen sei, das mit der Vernunft in
unmittelbarer Harmonie stände, so dass das V^ernunftgesetz eo ipso Alles
bestimmte, führt er zwar nicht weiter aus. aber deutet er doch an.
Jedenfalls würde eine solche Vernunft, in der Theoretisches und
Praktisches sich nicht unterscheiden Hesse, um der Harmonie willen,
1) Kr. d. U. S. 294.
280 ^'rof. Dr. Dorncr,
in ilcr sit' mit sich und der iiitclli^"il)l(Mi Natur stiindi', il)i'id'alls
nu'iir ästlu'tisoh im wciiiTcn Sinne sein.
Wenn Kant nun diese Aussiebten uns aueli ;;än/Iieh verschlossen
jrlauht und sie mehr nur anttihrt, um den suhjeistiven und endlichen
Charakter unserer Erkenntnisvermöfreu hervor/,uhel)en, so ist dieser
Ansl)lick Kants doch interessant, weil er auf eine Kichtunj: hinweist,
die in der deutsehi-n rhilosophie nach ihm sich zur Geltung frebracbt
hat. nämlich auf eine ästhetische Weltanschauunj;.
Wie man schon oft darauf hinjrewiesen hat. dass der Schillersche
Standpunkt mit der Kritik der Urteilskraft verwandt sei, insofern
Schiller mit Kant das Schöne zur \'orschule und zum Ililfs- und
Darstellun^smittel der Moral macht, so haben Andere die in den letzten
Ausführuiiiren berührten ästhetischen Gedanken Kants zu einer mehr
ästhetischen Weltanschauung; ausgebaut. Es ist vor allem Schelling,
der den ästhetischen Standpunkt ausführte, indem er eine intel-
lektuelle Anschauung uns zuschrieb, die Kant zwar als für eine
Intelligenz möglich, aber uns versagt annahm, und indem er mit
Hülfe derselben uns in den Stand gesetzt glaubte, die W^elt als ein
harmonisches Ganzes zu begreifen. Natur und Vernunft in ihrer
Harmonie zu erschauen.^) W^enn Schleiermacher anfangs einer ästhe-
tischen Weltanschauung zuneigte und in der Religion das gefühls-
mässige Innewerden der Harmonie des Universums fand, so hat
auch er in dieser Hinsicht der Kantischen Perspektive Folge geleistet,
zumal bei ihm das „Gefühl" die intuitive Stellung einnimmt, während
unser Erkennen auch an der Trennung des Einzelnen und Allgemeinen,
Begrifflichen, des erfahrungsmässigen und des spekulativen Faktors
leidet. Ebenso hat Strauss sich ebenfalls an diese Gedanken an-
geschlossen, insofern auch er vor Allem auf das Innewerden der
Harmonie des Universums in der Religion das Gewicht legte. Es
ist ferner merkwürdig für eine ganze Reihe von naturalistisch-
denkenden Männern, dass sie mit ihrem Sensualismus eine ästhetische
Richtung verbanden,^) wie Büchner u. a., welche A. Lange unter dem
i) Dies ist der Standpunkt des transscendentalen Ideaüsmus und der
Ideutitätsphilosophie. Vergl. meine Schritt über Schelling: Zur Erinnerung an
den hundertjährigen Geburtstag von Schelling.
-) Man vergleiche auch Goldfriedrich, Kants Ästhetik: „Die volle Aus-
wirkung der Grundthätigkeiten des geistigen Lebens des Menschen ist Spiel . . .
ist zwecklos; damit ist das Ästhetische das einzigartige wahre Bild seines Seins,
des Seins überhaupt ... das ist zuerst in Kant klar und schlicht offenbar geworden."
S. 218 f.
Kants Kritik der Urteilskraft etc. 281
Namen Wanderniaterialisten zusamniengelasst hat. Man kann wohl
sag:en. dass Kants ästhetische Tendenz auf eine llarniunie von BegritV
und Anschauunii- sieh aus der indem Naturerkennen hervortretenden
Ditierenz beider Erkenntuis\ ermögen erjjab, so dass im Grunde die
intellektuelle Anschauung eine vollkommene Naturauflassung ennög-
lichen würde, und da das ästhetische Element eben in der Harmonie
der Erkenntnisvermögen gegeben ist, so ist es, wenn man auf Kants
Moral nicht reflektiert, die übrigens in der ästhetischen Anschauung
konsequenter Weise verschM'inden würde, nicht zu verwundern, dass
auch eine solche Kichtung sensualistisch-ästhetischer Art an ihn an-
knüpfen konnte; zumal wie Lange richtig hervorhob, diese Männer
unter Kantischem Einflüsse auch mehr subjektiv sensualistisch als ob-
jektiv materialistisch dachten. Man wird auch das Hellsehen, welches
Hartmann seinem Absoluten zuschreibt, als eine dem Naturalis-
mus zuneigende Abart der intellektuellen Anschauung betrachten
können, und auch bei ihm trifl't es zu, dass seine Welt-
anschauung mehr einen ästhetischen als moralischen Charakter trägt.
Wenn er das Moralische als nur relativ, nur für uns notwendig
bezeichnet, so liegt das in der Richtung, in welcher in der An-
schauung das Handeln aufhört, wofür Hartmann besonders in seiner
Ästhetik eintritt, nur dass auch diese Anschauung bei ihm ein
negatives Ende nimmt.^) Endlich kommt auch hier Herbart noch
in Betracht, der ebenfalls an das Gefühlsurteil des Gefallens und
Missfallens anknüpft und, wenn er auch den Dualismus zwischen
Mechanismus und Geist nicht aufgiebt, doch die Brücke zwischen
Beiden schliesslich auch im Ästhetischen findet, in Verhältnissen, die
gefallen, welche sich in der empirischen Welt finden. Bei ihm ist
die Moral mit ihren Ideen geradezu auf ästhetische Urteile aufgebaut.
Darin ist übrigens insofern ein Fortschritt über das Kantische Moral-
prinzip, als der abstrakte Charakter der Moral aufgegeben und
sofort konkrete reale Verhältnisse ins Auge gefasst werden. Und
doch hatte Kant auch hier insofern die Wege gewiesen, als er auf
die Vereinbarkeit des Mechanismus mit der Teleologie gerade im
ästhetischen Gebiete selbst hingewiesen. Ja in dem Ideale einer
intellektuellen Anschauung eine solche Harmonie ins Auge gefasst
hatte. Statt bei der abstrakten Abtrennung der praktischen Vernunft
zu bleiben, ging deshalb Herbart auf die Fälle von harmonischen
Verhältnissen zurück, von denen wir durch unser souveränes ästhetisches
V) Philosophie des Schönen. S. 468 f.
Kautstiulion IV. 19
.)g2 Prof. l>r. I »linier,
Urtril riiu'n Kindruok •ri'winiicn können, und urlintlctr liicrMul' seine
Ideen.
Fassen \\'\r dairciren den (ledankcii Kants ins Aii^c dass es
eine Vernunft (dinc Sinnliidikeit nnt einer rein int(dli^'ilden Welt ,trel)en
konnte, so ist das ein (iedanke. der dureli und dureli ideaüstiseh
ist und in seiner Identifikation der theoretiseheii und praktiseheu
Vernunft auf Kicdite und llejrel hinweist. Denn für eine solche
\'ernunft würde unsere Sinnlielikeit eine Sehranke Itedeuten, die
entfernt werden inUsste, es würde Alles auf die llerstidlun}; einer
intelliirililen Welt durch die Vernunft ankommen. Hepd inshesondere,
der das vernünftige Sein für das einzige Sein erklärte, hiitte hier
seine Stelle, der die Sinnlichkeit nur als eine unvollkommene Stufe
zum Vernunftwissen betrachtete. Kant würde zweifellos diesen Stand-
punkt für uns unerreichbar erklärt haben, weil wir den Dualismus
zwischen Sinnlichkeit, Anschauung und Denken nur langsam und
allmählich und niemals ganz bei unserer Anlage überwinden. Aber
indem er aus dem Einheitsbedürfnis der Vernunft heraus auch eine
Vernunft ohne Sinnlichkeit mit einer intelligiblen Welt ins Auge
getasst hat, hat er damit den rationalen Idealismus in seinen Gesichts-
kreis gezogen,') und seine Nachfolger konnten, um eine einheitliche
Weltanschauung zu gewinnen auch hieran anknüpfen, zumal dieses
Vernunftideal den persönlichen Charakter überschreitet, von einer
intelligiblen Welt die Rede ist.
Ich kann bei dieser Gelegenheit doch die Bemerkung nicht
ffanz unterdrücken, dass auch diese zuletzt berührten Sätze zeigen,
dass Kant doch niemals ganz den Leibnitzischen Idealismus über-
wunden hat. Wenn es ihm besonders darum zu thun war, die Welt
der sinnlichen Anschauung von der Welt des Verstandes und seinen
Begriffen zu unterscheiden, wenn hierauf seine Eigentümlichkeit in
der Kritik der reinen Vernunft grossenteils beruhte, dass er der
sensualistischen Richtung die Selbständigkeit der Empfindung, d. h.
die Unmöglichkeit, sie in unklare verworrene Ideen aufzulösen, und
der apriorischen Richtung die Selbständigkeit des Verstandes und
seiner Kategorien zugab, so hat er doch im weiteren Verlauf seiner
Untersuchungen zwar für unseren menschlichen Standpunkt diese
Unterscheidung festgehalten, dabei aber doch immer zugegeben, dass
unsere Vernunft eine Einheit dieses Gegensatzes anstrebe. Eben
dies ist die Bedeutung der Kritik der Urteilskraft, nach einer solchen
1) In gewisser Art nähert er sich mit dieser Möglichkeit auch wieder seinem
Vorgänger Leibnitz.
Kants Kritik der Urteilskraft etc. 283
Einht'it zu suchen, die er in der Zweckidee findet, welche in un-
bestimmter Weise — als Zweckmässigkeit ohne Zweck — im ästhe-
tischen, in bestimmter Weise im teleologischen Gebiet der Urteils-
kraft zar Geltung kommt. Es ist aber nicht zu leugnen, dass Kant
bei dem Versuche, eine solche Einheit herzustellen, sich wieder der
idealistischen liichtung zuneigte, da als das Ideal ihm doch wieder
ein intuitiver Verstand, eine Vernunft ohne unsere Sinnlichkeit mit
einer intelligil)len Natur vorschwebt. Nur so konnte wirklich der
Dualismus beseitigt werden, wenn er nicht den sensualistischen Weg
gehen wollte. Indem er nun geltend machte, dass dieser Dualismus
zwischen Sinnlichkeit und Verstand — sowie Vernunft nur für uns
gelte, rettete er die Möglichkeit einer harmonischen Weltanschauung,
wenn wir sie auch nicht durchführen können, erschütterte aber doch
wieder seinen Standpunkt, der auf der Trennung von Sinnlichkeit
und Intelligenz ruhte. Man wird vielleicht nicht fehlgeben, wenn
man die Ursache dieser Schwankungen darin hauptsächlich findet,
dass Kant die sinnliche Anschauung nicht gründlich genug unter-
sucht hat. Zwar hat er sich in der Kritik der reinen Vernunft die
grosseste Mühe gegeben, die Apriorität von Raum und Zeit als An-
schauungsformeu festzustellen. Aber diese Untersuchungen betreffen
doch nur die Form der Erscheinungen. Der Inhalt ist in der
Empfindung gegeben. Was nun diese sei, hat Kant niemals völlig
zur Klarheit erhoben. Dass sie gegenüber dem aktiven einen rezep-
tiven Charakter trage, dass bei der Verbindung der Sinnescindrücke
eine synthetische Thätigkeit vor sich gehe, hat Kant zwar festgestellt.
Allein die Frage, ob die Sinneseindrücke uns von einer objektiven
Natur Kunde geben, hat Kant teils dahin beantwortet, dass den
Sinneseindrücken ein uns unbekanntes Ding an sich zu Grunde liege,
teils dahin, dass es ein intelligibles Substrat der Natur gebe. In
dem letzteren Fall würden die Sinneserscheinungen nur Erscheinungen
des intelligiblen Substrates der Natur sein. Damit würden wir aber
wieder dem Leibnitzischcn Idealismus angenähert, gegen den Kant doch
Opposition machte. Aber auch das Ding an sich ist nicht ein Erfahrungs-
objekt, sondern ein Verstandesbegriff, und schliesslich würde auch
damit als der Grund der Natur ein von uns gedachtes Objekt ange-
sehen, dessen nähere Beschaffenheit wir zwar nicht kennen, das aber
doch wenigstens irgend intelligiblen Charakter hal)en muss, weil wir
es doch mit dem Begriff lassen können. Kurz, die von uns sinnlich
empfundene und in den Formen von Kaum und Zeit durch Einheit
der Synthesis zusammengefasste Natur ist die subjektive Erscheinungs-
19*
oj^4 l'rnl Dl Uornor,
tonn t'iiUT int('llifril)l»'ii Welt. Kl)«'n damit wird sie aber wirder
Leil)nit/.isi'h iilralisint. und mau sieht nicht rcciil »-in. wcshall» ivant
^iunlii'hki'it und Dt'idvt'u so scharf einander ('ntjrc;;onset/t, wenn die
^Sinnlichkeit doch nur die Krscheinuujrsl'orm eines Uhersinulichen
Substrates ist.
Wir hal)in preschen, wie mannidaltiir die Anrejruu^en sind, die
in der Kritik der Urteilskralt von Kant ^^ejjehen werden, um eine,
i-inheitliche Weltanschauunjr zu «restalten, wie aber Kant selbst seino
Auschauunir nicht einheitlich abjrerundet hat. Man köiuite ihn in
dieser Hinsicht nnt Sokrates verjrleichen, von dem ebenfalls die
verschiedensten Schulen ihren Ausi^ang irenommen haben. Kinmal
konnte an Kaut ein einseitig;- subjektiver Standpuld-Lt anknüpfen, der
in vollständiirem Psvchologismus endete; es konnte wejren seiner
gelegentlichen Missachtung der Sinnlichkeit und der sinnlichen An-
schauung, die uns nur ein unvollkommenes Bild einer Natur an sich,
des übersinnlichen Substrats der Erscheinungsnatur gewährte, und
wegen seiner Identifikation von praktischer und theoretischer Vernunft
in einer unsere Vernunft übersteigenden Vernunft, der objektive
Idealismus als ein die zurückgebliebenen Schwierigkeiten lösendes
System ausgebildet werden. Es konnte sein Versuch, in der Ästhetik
die übriggelassenen Gegensätze zu überbrücken, nach seinen eigenen
Andeutungen zu einer abschliessenden ästhetischen Weltanschauung
verwendet werden; es konnte endlich seine der Hauptsache nach im
Vordergrund stehende Tendenz, eine einheitliche moralische Weltan-
schauung zu l)ilden, fortgeführt und von den bei Kant vorhandenen
Mängeln befreit werden. Mir scheint unter allen Versuchen, die an
Kant anknüpfen, dieser der einzig haltbare zu sein, dem sich auch
ein Teil der Männer, die ursprünglich eine mehr ästhetische Welt-
anschauung hatten, wie Schleiermacher und selbst Schelling'j in ihrer
spätem Entwicklung zuwandten. Ich habe auch den Versuch gemacht,
diese Anschauung in meiner Erkenntnistheorie und Ethik unter den in-
zwischen neueingetretenen wissenschaftlichen Bedingungen modifiziert
auszubauen. Hier kam es nur darauf an, in dieser historischen
Skizze den Reichtum des Kantischen Geistes, wie er sich in dieser
letzten Kritik offenbart, zu beleuchten. Kant steht nicht am Absehluss
einer Periode, sondern er erööuet eine neue Entwicklungsperiode
*) Die Bedeutung der späteren Entwicklung Schellings scheint mir darin
zu liegen, dass er eine mehr ethische Weltanschauimg, wenn auch mit meta-
physischen :\littehi zu begründen sucht, wie schon die Freiheitslehre dies zeigt.
Vgl. meine Schrift über Seh. a. a. 0. S. 20 f.
Kants Kritik der Urteilskraft etc. 285
der Philosophie. Es ist durchaus natürlich, dass auch sein System
zu keinem vollen Abschluss «rekommen ist, sondern schliesslich eine
Reihe von mit.irlichen Entfaltuniren in sich barg, die in der weiteren
Entwicklung: realisiert wurden. Ich bin hier nur bei den philo-
sophischen allgemeinen Richtungen stehen geblieben; es wäre Sache
einer besonderen Abhandlung, den Einfluss gerade der Kritik der
Urteilskraft auf die einzelnen Disziplinen, auf die Naturwissenschaft
und ihre Idee der Entwicklung, auf die Ästhetik, auf die Elthik und
Religionsphilosophie, auf die Psychologie und Geschichtsphilosophie
näher zu verfolgen und den von ihm aufgestellten Begriff des
Zwecks allseitig zu beleuchten.
The Relation between Human Consciousness
and its Ideal as Conceived by Kant and Fichte.')
Hv Ellen Hliss Talbot.
In tliis jdiix'r 1 have tried to conii)are tho doctriiies of Kant aiul
Fichte^) with rejrard to the ideal of experience, and thc rclation of
this ideal to experienee. The rclation l)et\veen the tvvo jjhilosophers
inay hv studied from niany diflerent poiiits of vievv. Froni no single
point can we get a complete survey of the proldeni, l)ut each gives
US some help in solving it; and it has seemed to nie that a com-
parison from this particular aspect may not he altoirether lacking
in value and interest.
In the Kritik der reinen Vernunft, a sharp line of distinc-
tion is drawn between the formal and the material aspect of human
Cognition. On the one hand, we have the matter, whieh is given
from without; on the other, the formative activity, which comes from
within. These two seem to be utterly disparaie: the matter is mere
matter; the form, mere form. The content of knowing, if we look at
it in itself, is a mere manifold — chaotic, unrelated, meaningless.
It is only through the unifying activity of the understanding that this
formless mass receives shape and meaning; it is only because the
1) A chapter from a dissertation for the degree of doctor of philcsophy
at Comell University, Ithaca, N. Y.
2) In the discussion of Fichte's doctrine, I have been obliged, from lack
of Space, to confine myself to the works of the first period. Since these,
however, are more closely connected with the Kantian philosophy than the
later works, and since the particular problem which we have to investigate is
more prominent in them, it has been possible to limit the study in this way.
References to the First and Second Editions of the Kritik der
reinen Vernunft are indicated by the letters A and B respectively; other
references to Kant's Works are to the edition of Rosenkranz and Schubert,
which is indicated by the letter R. References to Fichte are to the Sämmt-
liche Werke (Berlin, 1845). indicated by the letters S. W. and to the Nach-
gelassene Werke (Bonn, 18.34), indicated by the letters N. W.
The Relation between Human Conscionaness and its Ideal etc. 281
scattered sensations have been workcd upon by a formarive activitj^
that they have been united into sijrnificant wholes.') In itself the
matter is essentially formless. „In der Erscheinung nenne ich das,
was der En)i)tiudung: korresjjondiert, die Materie derselben, das-
jenige aber, welches macht, dass das Mannigfaltige der Erscheinung
in gewissen Verhältnissen geordnet werden kann, 2) nenne ich die
Form der Erscheinung. . . . Das, worin sich die Empfindungen
allein ordnen und in gewisse Form gestellt werden können" kann
„nicht selbst wiederum Empfindung sein.-'
And. on the other band, if we look at the unifying activity of
thought by itself, it seems to be mere form. For its content, it is
wholly dependent upon something external. As soon as the mani-
fold is given, the unifying activity can shape and mould it; but the
manifold must be given. The formative principle has no power to
create its own content; the form of knowledge is essentially empt}\
,.Das Mannigfaltige-' muss ..für die Anschauung noch vor der Syn-
thesis des Verstandes, und unabhängig von ihr, gegeben sein. . . .
Die Kategorien . . . sind nur Regeln für einen Verstand, dessen
ganzes Vermögen im Denken besteht, d. i. in der Handlung, die
Synthesis des Mannigfaltigen, welches ihm anderweitig in der An-
schauung gegeben worden, zur Einheit der Apperception zu bringen,
der also für sich garnichts erkennt, sondern nur den Stoff zum Er-
kenntnis, die Anschauung, die ihm durchs Objekt gegeben werden
muss, verbindet und ordnet."*)
And even wheu we consider this formative principle in its
highest manifestation, the transcendental unity of apperception, the
case is no better; here, too, the form is mere form. One might
1) It would take us too far afield if I should stop to justify my assump-
tion that the pure furuis of space and time are phases of the activity of the
seif. In spite of the fact that Kant refew them to sensibility, and that he
attributes spontaneity to the understanding alone, it seems that the logic of his
System requires him to say that the entire formal aspect of our experience is
due to the spontaneity of consciousness, while only the material aspect is to
be referred to receptivity. xVnd perhaps it may be urged that by iutroducing
the Imagination, which is to mediate between sense and understanding, and by
raaking the pure schema a transcendental determination ot time, Kant impiioitly
corrects his explicit Statements.
2) I have foUowed the readmg of the Second Edition, „geordnet werden
kann" ; the First Edition has. „geordnet angeschaut wird".
3) A, 20; B, 34.
*) B, 145.
288 i:il»n lUiss Talbut.
tliink iii(lt't>(l tliat in tlii^ pure scir-cdiisi'iousnrss wc li;iv(\ at loast
iniplii-itlv. tliat iiniitn (•!' sulijci-t aiid ohjcct wliicli miist alwavs con-
stitutf tlir ideal ot" kiinwlrd-rt' ; licre. il' iiowhcrc eise, it woiilii scrni,
we iiiay hopc tt» lind a l'orm wliicIi caii siip|»ly its own content,
whirh noeds no aid froni any forciirn principlc. Hut Kant docs not
lonj: porniit us to clirrisli this liopo. On tliis pdlnt liis statcincnts
arc vcry explicit: wc niay not say tlial in thc \n\vv ICiro form and
content, suliject- and object-self are onc; lur in tlie pure K^^o there
is no content, no oltjeet-self. at all. The transcendental unity of ap|)er-
ception is inere tonn; in itself it lias no content wliatever. Das
Ich ist eintach. ..weil diese \'(trstellun^^ keinen Inhalt, mithin kein
Manniirt'altijres hat."') ..Durch das Ich, als einfache Vorstellun};,
ist nichts Manniirfaltiires jregeben; in der Anschauung, die davon
auterschieden ist. kann es nur gegeben .... werden."')
Thus we seem to bave a complete Opposition Itetween the two
factors ot human knowing: its matter is essentially lormless; its
form, essentially empty. We nuist not forget, however, that we
have discovered this Opposition l>y considering the two elements ab-
stractly. In the eoncrete process of thought. the content is not
formless, nor is the form empty. As a matter of fact, we never
have raere form or mere content; we alwavs have a union of form
and content. How clearly Kant himself sees this. is perhaps an
open question."*) It is one, however, that w^e need not stop to
M A. 381.
2; B. 135.
3) There are, no doubt, inany passages in the Kritik which speak of the
formal dement of thought as if it existed in the mind ready-made, like amould
waiting to be filled. On the other hand, passages like the following seem to
indicate that Kant soraetimes rose above this criide conception: —
„Durch dieses Ich, oder Er, oder Es, . . . welches denkt, wird nun nichts weiter
als ein transscendentales Subjekt der Gedanken vorgestellet = X, welches nur
durch die Gedanken, die seine Prädikate sind, erkannt wird und wovon wir,
abgesondert, niemals den mindesten Begriff haben können." (A, 846; B, 404.)
„Das Mannigfaltige in einer sinnlichen Anschauimg Gegebene gehört not-
wendig unter die ursprüngliche synthetische Einheit der Apperception." (B, 143.)
„Der Verstand vermag nichts anzuschauen, und die Smne nichts zu denken.
Nur daraus, dass sie sich vereinigen, kann Erkenntnis entspringen. Deswegen
darf man aber doch nicht ihren Anteil vermischen, sondern man hat grosse
Ursache, jedes von dem andern sorgfältig abzusondern und zu unterscheiden."
(A, 51 ; B, 75, f.j
Perhaps we shall come nearest to the truth if we say that Kant held both
Views without clearly differentiating them; that he never quite outgrew his
The Relation between Human Conseioiisness and its Ideal etc. 289
consider; for even if we maintain that Kant regarded his Separation
of form and matter as a niethodologrical device, we niust still adniit
that his doctrine of the nature of thought is far froni satisfactory.
Kant niav not mean to sav that the two Clements of our knowledg-e
exist apart; but there can be little doubt that he represents their
Union in thinkinj: as more or less artificial. The two elements are
ahvays found to^ether, but they are not shown to belong tojrether;
they imply, but at the same time repel, each other: they do not
eonstitute an organic unity. As Professor Creij,^hton says, ..Each
object of knowledjre is taken as really composed of a contribution
from sense and a contribution from understanding. These elements
really enter into it. and can be analyzed out of it The
synthetic character of thought is coneeived as
analogous to a process of mechanical fabrication, or chemical combi-
nation."^)
This defect in human knowing, as Kant conceives it, comes
out most clearly when we consider the contrast between our Co-
gnition and that ideal of knowledge which Kant holds before us in
the conception of intellektuelle Anschauung. The whole
question of the nature of intellektuelle Anschauung and of its
relation to the other features of Kant's System is one of much
interest. Thiele's careful study^) has made it evident that the con-
ception, as it appears in the Kritik , has more than one form.
According to his Interpretation there are three main stages in the
development of the doctrine. On this point I am inclined to disagree
with him: the conception, it seems to me, has only two distinct
phases; and it has these two because at different times Kant ap-
proaches the problem from two different points of view. In human
Cognition, form and matter seem to stand apart ; but in the ideal
ot knowledge they must eonstitute a perfect unity. Now in one
phase of the doctrine of intellektuelle Anschauung, Kant
Starts with his concept of matter, and seeks to pass from it to the
thought of this organic unity. while in the other phase he attempts
to reach the ideal by starting with the concept of form. In the
one case, he tries to give us a matter which contains its own prin-
earlier and eruder conoeption of form and matter as aetnally existing apart,
bat that on the other hand he sometime.s had glimpses of the truer conception.
ii The Nature of Intellectual Synthesis (Philosophical lieview,
Vol. V, p. 146).
3) Kants intellektuelle Anschauung, 1876.
•2i)(» ElU-n lilis^ l'alhtit,
ciple iif form: in tln- uihtT. a tnnii wliuli siipplics itsclt' witli
content.
Tlir tir^t ;ittrm|it irivcs ii«^ tlic (iocliiiif in its criHlfr as|)t'i.'t.
Intellektuelle A n.M' lia ii u n;r is tlie tacultv dt' iiiinie(li;iielv appre-
luMulin,:: tiiinjrs in tlieniseUcs. Onr coiiniiic.n is delectiNc hecause
it (leals witli nicre plienoinena; tlie oltjects «»(' intuitive nnder-
slanilin^- are nonniena. ,,^\'{Mnl uns die Sinne etwas blos vorstellen,
wie es ersclu-int, so nuiss dieses Ktwas doch auch an sich selbst
ein l)inu' und ein (ie,i;"enstand einer nicht sinnlichen Anschauun;:^,
(1. i. de> \ erstandes sein. d. i. es niuss eine iM-kenntnis niiiirlich sein,
darin keine Sinnlichkeit aniretrotVen wird und welche allein schlecht-
hin objektive Ki'alität hat. dadurch uns niinilich Gegenstände vorge-
stellt werden, wie sie sind."')
This concej)tion, as we have already stated, seenis to have been
lornied on the analogy ol" the niaterial aspect of our Cognition.
Intellektuelle Anschauung is here rej)resented as pure reeepti-
vity ; it dit^ers from our knowledge siniply in the fact that the
content is given as it is in itself, and is not altered in the process
of being received and unilied. The matter given in exjierience is
Avarped by being subjected to the unifying activity which works
through the pure tbnns of Intuition (Anschauung) and conception.
As given. it is a shapeless niass, which receives form through the
activity of a new principle; but this princi|)le is regarded by Kant,
not as dwelling in the matter itself, but as working upon it from
without. In intellektuelle Anschauung, on the contrary, the form
is innnanent. No discursive faculty of understanding irnposes upon
the nianifold content a unity that is foreign to its nature.^) The
matter of intellektuelle Anschauung contains its own principle
of unity; the content and form are one.
This conception, however, is far from being satisfactory ; although,
from one point of view, intellektuelle Anschauung seems to
have its form within itself, and in so far to be an organic unity,
yet, from another, we see that the unity is by no means perfect.
For, so long as we have the faculty of apprehension set over
against that which it apprehends, there must be at least a partial
Opposition of form and matter. The given content may bring its
ij A, 249.
2j „Ein Verstand, vor den es [das Noumenon] gehörte . . . ., nämlich nicht
diskursiv durch Kategorien, sondern intuitiv in einer nichtsinniichen Anschauung
seinen Gegenstand zu erkennen." (A, 256; B, 311, f.)
The Relation between Huuian Consoiousness and its Ideal etc. 291
form with it; but in the process of bcin^- apprchendcd it niust
receive a new form.
In the secoiid and hl-ilier jjhase of the doctrine of intellektuelle
Anschaaiui};-, this ditVieulty does not exist. Here, Kant starts with
the formal jjriiieiple of knowledfje, and asks himself what modiii-
catiun it niust underj^-o in order to correspond to our notion of the
ideal eopütion. The great defect ot the pure Ego is its emptiness;
the 1 think is indeed the highest form, but it is form devoid of
content. And because of its emptiness, it cannot in itself give us
any Cognition whatever. „In der synthetischen ursprünglichen
Einheit der Apperception" bin ich „mir meiner selbst bewusst,
nicht wie ich mir erscheine, noch wie ich an mir selbst bin, sondern
nur dass ich bin. Diese Vorstellung ist ein Denken, nicht ein
Anschauen." Nun ist „zur Erkenntnis unserer selbst ausser
der Handlung des Denkens, die das Mannigfaltige einer ieden
möglichen Anschauung zur Einheit der Apperception bringt, noch
eine bestimmte Art der Anschauung, dadurch dieses Mannigfaltige
gegeben wird, erforderlich.-')
Thus, it is the emptiness of the I think which prevents it from
meeting the requirements of our ideal. It is because it has no
content of its own, because it is dependent upon something eise
for the matter upon which it is to work, that it is defective as a
principle of knowledge. If then we are to conceive of intellektuelle
Anschauung as free from the limitations of the pure Ego of
apperception, we must think of it as a self-consciousness which is
not empty, but which finds within itself the material upon which it is
to work. And this is the conception to which Kant conies. In
the higher form of the doctrine, intellektuelle Anschauung is
described as a pure self-consciousness which is its own object, a
self-consciousness in which the act of unifying the manifold is at the
same time the process whereby this manifold first comes into being.
„Das Bewusstsein seiner selbst (Apperception) ist die einfache Vor-
stellung des Ich, und, wenn dadurch allein alles Mannigfaltige im
Subjekt selbstthätig gegeben wäre, so würde die innere Anschauung
intellektuell sein." 2) ,.Ein Verstand, in welchem durch das Selbst-
bewusstsein zugleich alles Mannigfaltige gegeben würde, würde
anschauen."'')
In this thought of the pure self-consciousness which is one with
1) B, 157. 2) B, 68. S) B, 136.
290 Kilon Hliss TaUM.i. |
its obji'rt bfi-ausr it 1ms itsclf tor ohjiM't. wc li:i\.- K.nits lii-lu-st
i-oiu-eptioi» of tlu> iilfnl nl knowlrd-c. Hnc :il l.•l^t. wc lind tlu-
pi'rtVi't Union of tonn .-md (•..nliiit; lint' at last, tlic diialisni wliich
is so nianilVst in human (•(.-■nition irivrs pljuu- tu a liii:hri- niiitv.
N(i\\ st) li.nL^ as Nvi' look al llii^ (■(uu'optidn in itscir. it si-cnis
satistae'torv ; Init as soon as wi- considcr tlu- ivlation lictwccn tliis
ideal and <uir own coirnition wo discovcr somc difticnltics. l'or Kaufs
inlrllcktuoll (• Ansfhauiin.-r is at l)cst Imt a lUdlil.'niatic foncrpt,
and tluTt't'orc onc to wliii-h wc i-an \H-\rv assnt tiiat tlicn- is any
rralitv correspondinir. Moreover, onr notion (d' tliis pcrfrct co^niition
is so vaiTue and iiidclinitr tliat strii'tly sitcakin^- w c iiavc no
rijrlit to oall it a coucept at all. ..Wir konnten nicht
beweisen, dass noch eine andere Art der Anschauun-r |a]s die
sinnliche] mi"»^'lich sei. und oh^-leich unser Denken von Jener Sinn-
lichkeit abstrahieren kann, so bleibt doch die b>a},'e, ob es alsdann
nicht eine blosse Form eines Begriftes sei und ob bei dieser Ab-
treununjr überall ein Objekt übrig bleibe?'' M Man kann „nicht an-
nehmen", dass Noumena „gegeben werden können. .... ohne dass
man eine andere als sinnliche Art der Anschauung als m(»glich
voraussetzt, wozu wir aber keineswegs berechtigt sind .... Wir
haben einen Verstand, der sich problematisch weiter erstreckt als
jene [Sphäre der Erscheinungen], aber keine Anschauung, ja auch nicht
einmal den Begriti" von einer möglichen Anschauung, wodurch uns
ausser dem Felde der Sinnlichkeit Gegenstände gegeben" werden
können.'^)
But the case is even more serious than this. Not only is it
true that our ideal of knowledge is, and must be, vague and that
we have no Warrant for saying that it has any real existence; but
it is also true that the ideal is for us atterly unattainable — nay,
more. that it is a goal to which human knowing cannot even approxi-
mate. The limits of our Cognition are fixed onee for all. Whatever
progress the future may bring must always be a progress within
these limits, never a transcending of them. We know only the
phenomenon; we can never come face to face with the thing in
itself. Progress in knowledge can consist only in learning more
and more about phenomena; it can never bring us one whit near-
er to the realitv behind them.
1) A, 252, f.
2) A, 254, f. ; B, 309, f.
The Relation between Human Consciousness and its Ideal etc. 293
That Kant draws this sharp liue of deniarcation between knowing
and its ideal, is evident, I think. as soou as one considers the
g:eneral spirit of the Kritik. The declaration that metaphysics is
impossible, the assertion that our knowledge must be limited to
phenomena, the insistence that our iutuition must be sensuous and
that the transcendeiital Ej?o cannot have the slig:htest content, in-
dicate a helicf that the difference between our cofmition and in-
tellektuelle Anschauung is one, not of degree, but of kiud. There
are only a few passages in the Kritik which seem to justify
any moditieation of this Interpretation; and they are the passages in
which Kant speaks of the possible common root of sensibility and
understanding. ,.Wir . . . fangen nur von dem Punkte an, wo sich
die allgemeine Wurzel unserer Erkenntniskraft teilt und zwei Stännne
auswirft, deren einer Vernunft ist.''^) ,.Dasjenige Etwas, welches
den äusseren Erscheiimngen zum Grunde liegt . . ., als Noumenon
betrachtet, könnte doch auch zugleich das Subjekt der Gedanken
sein."2)
From these passages it seems that Kant recognised the possi-
bility that the formal and material aspects of thought might have
the same origin. Still, bis emphatic repudiation of the principles of
the Wissenschaftslehre^) shows that bis recognition of the possi-
bility did not affect bis general position. So much at least he
would certainly say: that for us the dualism of form and content
is ultimate;*) that our ideal of a unity in which it is surmounted is
only a problematic concept; and that so far as we can ever know,
otir Cognition is wholly different in kind from this ideal unifry\
It seems necessary to lay sonie emphasis upon this point
because it is often overlooked.^j Keading Kant, as we do, in the
1) A, 835; B, 863. cf. A. 15: B, L>9.
2) A, 358. ^j R.. XI, 153, flf.
*) That is, in this life. In one passag'e, Kant speaks of the possibility that
death may be „das Ende dieses sinnlichen Gebrauchs eurer Erkenntniskraft
und der Anfang des intellektuellen". (A, 778; B, 806, f.)
5) E. g., by Thiele. His position is not stated with so imich clearness as
is to be wished; but appareutly he tries to show that our own self-consciousness
as Kant conceived it, not merely suggests the ideal, but is itself a partial
realisation of the ideal. Intellektuelle Anschauung, in its highest form,
is according to Thiele „absolutes Wissen, absolute Identität von Wissen und
Sein". Now „unser menschliches Selbstbewusstsein ist ein unendlich matter Ab-
glanz jenes absoluten Wissens." Apparently, however, the difference between the
two is not in kind, but merely in degree. ,,ln dem Denkakte ,Ich' fallen
Subjekt und Objekt zusammen, hier ist das Wissende das Gewusste, hier ist
Identität von Wissen und Sein" (Kants intellektuelle Anschauung, 95).
'294 Kilon Hli^s TailMit,
liirlit oi' thosc wlio oamc alter liiiii. \\r aic pniiir to attril)iitc' t(»
hiiii (Itu'trines wliich sliould rcallv ht- crcditcd to liis successors. In
one st'iise, ot" cmirsc. it is truc tliat tlic coiicciitidii df kiidwlcdj^e as
All cver-di'opt'niiii: iinity of sul)i(H't and objcct owcs its heing; to Kant;
but it is truc. cliittly in tho sense that h\ drawinir a sliarp linc o\'
distini'tion Ix-twotMi suhjcct and (d)joc't. Kant sct otliors t(t tliiiikintc
liow thf opjKisition ini;rlit ho (ivcrconic 'Vhv tliou<;lit that sul)j('{'t
and objLH't ninst lic a unity. that tiic ajiparcnt dualisin in our
knowin«: cannot l)e ultiniate, is to Itc crcditcd, not to Kant, hut to
Fichte: and I cannot see what is to l»c ^aincd hy aftriltntinj,' to Kant
a doctrinc which he explicitly rojcctod. and which is at variance
with tho ircncral sj)irit of his philosophy.
It is often said, howevcr, that the dualisni which is so manifest
in the earlior Kritik, is overcome to a considerahle extent in the
Kritik der praktischen Vernunft and the Kritik der Urteils-
kraft. In one respect this is perhaps true; but in freneral, 1 think
that the aniount and value of the correction which Kant is sui)posed
to have made in these later writin^-s have been overestimated.
In the sphere of knowledge, as we have seen, there is no
possihility of the sli^rbtest approximation toward the ideal; the
difference between human cog-nition and intellektuelle Anschau-
ung is absolute. In the moral realm, however, the case seeras to be
somewhat better. Apparently Kant believes that we may g-radually
approach the ideal ofmorality; the task is indeed infinite, yet there
is a possibility of progress. ,.Die völlige Angemessenheit des
Willens zum moralischen Gesetze ist Heiligkeit, eine Voll-
kommenheit, deren kein vernünftiges Wesen der Sinnenwelt, in
keinem Zeitpunkte seines Daseins, fähig ist. Da sie indessen gleich-
wohl als praktisch notwendig gefordert wird, so kann sie nur in
einem ins Unendliche gehenden Progressus zu jener völligen Ange-
messenheit angetroffen werden P^inem vernünftigen, aber
endlichen Wesen ist nur der Progressus ins Unendliche, von niedern
zu den höhern Stufen der moralischen Vollkommenheit möglich. Der
Unendliche sieht, in dieser für uns endlosen Reihe, das
Ganze der Angemessenheit mit dem moralischen Gesetze."^)
At first thought. this may seem to be a decided advance upon
the doctrine of the Kritik der reinen Vernunft. As soon,
bowever, as we examine the matter closely, we see that the gain
1) R., Vm, 261, fi.
The Relation between Human Consciousness and its Ideal etc. 295
is more apparent than real; lor tho advantage has been secnred
by lowering the concept of the ideal. In tbe earlier Kritik, the
ideal is described as an orjranie unity of content and form; but in
the Kritik der praktischen Vernunft it seems to be conceived
as niere furm.
The dualism which appears in the sphere of knowledge as the
Opposition of sense and understandinjr meets us in the moral realm
as the Opposition of desire and the nioral law. According to Kant,
the moral law is purely formal; its whole content must be sought
in natural desire: and the relation between it and this desire is
represented as complete Opposition. Natural Impulse has its source
in the world of sense. It is utterly disparate from that pure self-
consciousness which forms the basis of all morality. ,.Der Wille
ist mitten inne zwischen seinem Prinzip a priori, welches formell
ist, und zwischen seiner Triebfeder a posteriori, welche materiell
ist."') ..Nur ein formales Gesetz, d. i. ein solches, welches der
Vernunft nichts weiter als die Form ihrer allgemeinen Gesetzgebung
zur obersten Bedingung der Maximen vorschreibt, kann a priori
ein Bestimmungsgrund der praktischen Vernunft sein."^)
Now if the two elements of our moral experience are essentially
opposed, the only morality possible for us would consist in the
subjugation of one of them by the other. And this is precisely the
conception which Kant seems to have of the nature of morality,
The development of the moral life is regarded as the gradual anni-
hilation of our natural Impulses. Desire is not to be taken up into the
moral law and puritied until it is worthy to be the content of the moral
life; it is to be crushed out. The ideal of morality is to be found,
not in the organic unity of content and form, but in the complete sub-
jection of content to form. ,,Das Wesentliche alles sittlichen Wertes
der Handlungen kommt darauf an. dass das moralische Gesetz
unmittelbar den Willen bestimme. Geschieht die Willensbe-
stimmung: zwar o:eraäss dem moralischen Gesetze, aber nur ver-
mittelst eines Gefühls, welcher Art es auch sei,^) das vorausgesetzt
werden muss. damit jenes ein hinreichender Bestimmungsgrund des
Willens werde , so wird die Handlung nicht Mo-
ralität enthalten Das moralische Gesetz" thut ,,allen unsern
Neigungen Eintrag.'-^) ,,Nur das, was bloss als Grund, niemals aber
als Wirkung mit meinem Willen verknüpft ist, was nicht meiner
1) R., Vm, 20. 2) R.^ viii, 185.
•■») The italics are mine. *j R., VIII. 195. ft.
•290
Kilon lUiss 'rallM.l,
NoifTunjr dient, sondern sie lllu'nvii'frt. uciii^'stcns diese von deren
i'bersol\laf:e Itei dt r Wahl {ranz aussehliesst. mithin das ld(»sse (ieset/
für sich, kann rin ( iciri'iistand der Aelitiinu- .... sein."')
It nia\ hv urufd. however, that in ideiitil'viii;^ tlie (onnal law
with Ihe ideal i^\' the nuual life, \m' are inisrepresentin}? Kant.
Holiness. Kant teils ms. is iudeed the hi-hest pmd, hut it is not the
complete jrood. l'he suniniuni lioiinni in its truest sense is „(Hück-
selijrkeit. iranz i;enau in Troportioii der Sittliehkeit aus-
•reteilt".-) It niav he, then. that Kant conceives (d" the nioral ideal
not as nuM-e toini. hut as a unity of form and content. Whether this
hv the ease. however, wi- need not stop to deeide; for here, too, we
tind a lower coneeption of the ideal than that whieh appears in the
Kritik der reinen Vernunft. It is trne that in the coniplete
good we have a union of form and matter; but this is by no means
an oriranic unity. \ irtue and happiness are not one in essence;
thev are held toycther hy an external force. In themselves they
are utterly opposed; in Order to make their union intellig-ible, wc
must postulate the existence of a üivine Beinp:. „Man muss be-
dauern, dass die Schartsinuigkeit dieser Männer [der Epikuräer und
der Stoiker] unfrlücklich ang-ewandt war, zwischen äusserst
ungleichartigen Begritlen, dem der Glückseligkeit und dem der
Tugend, Identität zu ergrübein Glückseligkeit und Sittlich-
keif' sind „zwei spezifisch ganz verschiedene Elemente des
höchsten Guts . . . . , und ihre Verbindung'' kann also „nicht
analytisch erkannt werden,'' sondern ist „eine Synthesis der Be-
o-ritfe.-'M „Also ist das höchste Gut in der Welt nur möglich, so
ferne eine oberste Natur angenommen wird, die eine der moralischen
Gesinnung gemässe Kausalität hat."*)
Thus, whichever view we take of Kants moral ideal, we see
that it is far from being that organic unity of form and content
which we have in the ideal of intellektuelle Anschauung.
It seems, then, that we are justified in saying that with regard to the
relation between human experience and its ideal, the second Kritik
makes no real advance upon the first. The ideal of morality is less
inaccessible than the ideal of knowledge, because it is lower.
1) R., VIII, 20. 2^ ß., VIII, 247.
3) R., VIU, 248, ff. We have here another illustration of that meehanical
coneeption of synthesis to which Professor Creighton calls attention in the article
from which we have quoted.
*) R., VUI, 265.
The Relation between Human Consciousness and its Ideal etc. 297
But vve are as far as ever irom the conception of human experience
as being: implicitly that unity of form and matter which we must
always rejrard as the ideal.
Nor can 1 see that the case is any better when we come to the
Kritik der l'rteilskraft. It is often said, to be snre, that in this
work Kant finally overeomes the dualisni of his System; that in the
aesthetic judjjnieut we have that harniony of subjoct and objeet for
which we have so long been searching;, and that the concept of de-
sign brido:es the gull between the phenonienal and noumenal worlds.
It does not seem to nie, however, that Kant really solves the pro-
blem in either of these cases/) though he perhaps indicates the
direction in Avhich the Solution is to be sought. At first, indeed, it
may seeni that in the innnediate apprehension of the beautiful, we
have that harmony of snbject and objeet for which the theoretical
consciousness seeks in vain. But when we recall Kaut's coniparison
üf aesthetic and rational Ideas, we see that this can hardly have
been his meaning. „Ideen . . . sind, nach einem gewissen (subjek-
tiven oder objektiven) Prinzip, auf einen Gegenstand bezogene Vor-
stellungen, so ferne sie doch nie eine Erkenntnis desselben werden
können. Sie sind entweder nach einem bloss subjektiven Prinzip der
Übereinstimmung der Erkenntnisvermögen unter einander (der Ein-
bildungskraft und des Verstandes) auf eine Anschauung bezogen und
heissen alsdann ästhetische, oder nach einem objektiven Prinzip
auf einen Begriff bezogen und können doch nie eine Erkenntnis des
Gegenstandes abgeben und heissen Vernunftideen. . . . Eine ästhe-
tische Idee kann keine Erkenntnis werden, weil sie eine An-
schauung (der Einbildungskraft) ist, der niemals ein Begriff adä-
quat gefunden werden kann. Eine Vernunftidee kann nie Er-
kenntnis werden, weil sie einen Begriff (vom Übersinnlichen) ent-
hält, dem niemals eine Anschauung augemessen gegeben werden
kann." ^}
The natural inference from this passage seems to be that the
ideal of knowledge is no more fully realised in the aesthetic than
in the rational Idea. Just as the latter needs Intuition, in order
that it may become valid knowledge, so the former needs conception.
1) It may be intcresting to notiee that in one of his later trcatises Rchte
declares that the Kritik der Urteilskraft, which professes to mediale
between the sensible and intelligible worlds, does not fulfill its promise. (N. W.,
n, 103, f.)
2) R., IV, 218, f.
Kantstadien lY. 20
oqvj Ellen Bllss Talbot,
Then- i^ a di-lVt-t t-vcii in cur :ipi)r('honsi()n of tlic hcantifiil ; Hh-
juliHniati' concopt itoriiial clcmcnt) is hu-Uinu- Aiul i'\rii it ouc.
werc williniT to -rrant tliat in his doi-trino ot tlic hcautifiil. Kant
i'onu's soinowhat ncaiTr to tlic pcrfcct liannoiiy (»f sulijcct and olijccl,
still ono cannot ludp tVelinjr that tlic diircrrniT hrtwocMi acsthctic
i'ontomplation, as Kant confcivos it, and Ins ideal (d" intcllrktuelle
Anschauunir is a dilToroncc in Uind.
And \\\\vn wc turn to tlu' tcleolo-riral l'aculty (d" jud^rnicnt,
thcre seoms to be still less reason for inaintaiuiui; that tlic dualisin
of the earlier works is overcome. P^ir Kant frequently rcniinds us
of the dirteronce botwoon our copiition, witli its incvitaiilc dualism,
and the ideal of an intuitive understandin--. in whose act of thoujrlit
the existence of the ohject is given.'l And he teils us more than
once that the coneept of design, which is supposed to mediate between
the sensible and the intelliirible world, has merely subjective valid-
ity. All that it does is to make it possible for us to think the
uiiity of nature and freedoin. „Der Be?:riff der Zweckmässigkeit
der Natur in ihren Produkten" wird „ein für die menschliche Ur-
teilskraft in Ansehung der Natur notwendiger, aber nicht die Be-
stimmung der Objekte selbst angehender Begriff sein, also ein sub-
jektives Prinzip der Vernunft für die Urteilskraft, welches als regu-
lativ (nicht konstitutiv) für unsere menschliche Urteilskraft
eben so notwendig gilt, als ob es ein objektives Prinzip w^äre."^)
It seems clear, then, that Kant's conception of experience had
not changed when he wrote the Kritik der Urteilskraft. The
Opposition which the first Kritik finds between the two aspects of
human experience and which reappears in the ethical trcatises meets
üs for the third time in the Kritik der Urteilskraft. In them-
selves, form and matter may not be opposed; but Kant is very sure
that as aspects of our experience they stand apart, that alike
in our simplest perception and in our most complicated processes of
reasoning, in oor aesthetic consciousness and in our moral experi-
ij ,,Es ist dem menschlichen Verstände unumgänglich notwendig, Möglich-
keit und'Virkliehkeit der Dinge zu unterscheiden. Der Grund davon liegt im
Subjekte und der Natur seiner Erkenntnisvermögen. Denn wären zu dieser
ihrer Ausübung nicht zwei ganz heterogene Stücke, Verstand für Begrifie und
sinnUche Anschauung für Objekte, die ihnen korrespondieren, erforderlich, so
würde es keine solche Unterscheidung (zwischen dem Möglichen und Wirkhchen)
geben. Wäre nämlich unser Verstand anschauend, so hätte er keine Gegen-
stände als das Wirkliche." (R., IV, 292.)
2) R., IV, 295.
Tbe Relation between Human Consciousness and its Ideal etc. 299
ence, the dualism of content and form persists. \Ve have indeed a
vague notiou of a kind of consciousness in which this dualism is
surmounted : but we do not know that any such Cognition roally
exists; and, on the other hand. we may be very sure that if it does
exist, it is wholly uiilike our own consciousness.
Now the great diflference between Kant and Fichte is that the
latter seeks to rise above this Opposition of content and form, that
he insists unfalteringly that even for us it is not ultiinate. Know-
ledge, our knowledge, is a unity. It appears indeed as duality:
but its task is just to rise above this dualism; to conquer this
phenonionality; to know itself, not in its appearance, but in its truth.
That human thought is essentially a unity, is the fundamental
presupposition of the Wissenschaftslehre. In fact, Fichte main-
tains that it is the fundamental presupposition of all philosophy.
In assuraing that philosophy is possible, we are virtually assuming
that human knowing is a System; but this means that all its vari-
ous forms are expressions of one underlying principle, that the na-
ture of thought — in all its phases — is one. This is the suppo-
sition upon which all philosophy proceeds; this must be true, it
philosophy is to exist at all. „Es ist leicht zu bemerken, dass bei
Voraussetzung der Möglichkeit einer solchen Wissenschaftslehre über-
haupt . . ., immer vorausgesetzt werde, dass im menschlichen Wissen
wirklich ein System sei. Soll ein solches System darin sein, so
lässt sich auch, unabhängig von unserer Beschreibung der Wissen-
schaftslehre, erweisen, dass es einen solchen absolut-ersten Grund-
satz geben müsse." 'J
But although Fichte insists that thought is essentially unitary,
he does not deny that it seems to itself dualistic, nay, more, that it
must seem to itself so. „Die Ichheit besteht in der absoluten Iden-
tität des subjektiven und des objektiven (absoluter Vereinigung des
Seins mit dem Bewusstsein und des Bewusstseins mit dem Sein),
wird gesagt. Nicht das subjektive, noch das objektive, sondern —
eine Identität ist das Wesen des Ich Kann imn irgend
jemand diese Identität, als sich selbst, denken? Schlechterdings
nicht: denn um sich selbst zu denken, muss man ja eben jene
Unterscheidung zwischen subjektivem und ol)jektivem vor-
nehmen, die in diesem Begriffe nicht vorgenommen werden soll.
Ohne diese Unterscheidung ist ja überhaupt kein Denken möglich."^)
1) S. W., I, 52. 2) s. W., IV, 42.
20*
300 Ellen Hliss Talbot,
\\'t' soc. tlun. tli;il lichte, as wt'll as Kaiil. adiiiits tln' dualism
oi lonii and uiattiT in mir ('(tiriiition. ilc niakcs no attciiipt to dcuy
that on tlu' plane <»f Drdinarv consciousnoss tiicsc t\V(» asjx'cts ot
kn(nvinjr are sliarply opposrd. ilc dilVcrs froin Kant nicrcly in liis
insistt'nce that wo can rise above this plane, to a pnint Iroin which
we can see that the Opposition is not the hiphest truth. „Das a priori
und das a posteriori ist i'Ur einen vidlständijren Idealismus ^ar
nicht zweierlei, sondern {ranz einerlei; es wird nur von zwei Seiten
betrachtet."')
It", now. this oj)position between the two aspects of exj)erience
is not fundamental, if human knowing is at bottom a unity ol con-
tent and form, then the difference between it and its ideal is one,
not of kind. but simply of degree. Kor Kant, as we have seen,
our cog:nition is utterly unlike that ideal unity of form and matter
to which he gives the name ot intellektuelle Anschauung. For
Fichte, on the contrary, the essence of the two is the same. All
knowing is a union of form and matter, subject and object. This
Union may have various degrees of completeness; the duality is never
quite overcome in actual or individual modes of knowing. The essence
of thought, however, consists, not in its particularity, but in its abso-
luteness. The more perfectly the duality has been overcome, the
more has the true nature of knowing been manifested. For its
trae nature is not the actual, but the ideal. Our consciousness can
be ünderstood only when it is considered in its relation to absolute
knowing.
This insistence that the nature of thought can be ünderstood
only when it is interpreted in the light of its ideal, illustrates a
difference in method between Kant and Fichte. Kant Starts with
human experience and finds in it certain oppositions, which may all
be regarded as different phases of the fundamental Opposition be-
tween content and form. Since he sees no way of rising above
these, he accepts them as ultimate. But if we hold that thought is
essentially dualistic, then we can never hope to bridge the gulf
between it and that ideal unity in which all oppositions are harmo-
nised. Thus for Kant the relation between experience and its ideal
is conceived negatively; the ideal is the negation of the real.
Now Fichte sees as plainly as Kant the dualistic aspect of
our experience: but he does not succumb to it so readily. For
1) S. W., I, 447.
The Relation between Hnman Consciousness and its Ideal etc. 301
hiiii. a purely neg:ative relation is unthinkable. The ideal cannot
be the inere neg:ation of the real. And if it be true that by starting:
with experience \ve can nevcr show the relation between it and its
ideal, then we must not start with experience. ^j If we cannot explain
the ideal by means of the real, we must try to explain the real
froni the ideal.
It should be noted, however, that even Fichte reg-ards the ideal
of experience as unattainable. The perfect unity of form and
content is the g:oal ol an infinite progress: thought may gradually
approach it but can never reach it. Die „höchste Einheit werden wir
in der Wissenschaftslehre linden; aber nicht als etwas, das
ist, sondern als etwas, das durch uns hervorgebracht werden soll,
aber nicht kann.''^) „Die Einheit des reinen Geistes ist mir un-
erreichbares Ideal; letzter Zweck, der aber nie wirklich wird.''^)
We see, then, that Fichte agrees with Kant in regarding the
ideal as unattainable, but that he differs from Kant in holding that
the relation between it and our actual experience is a positive one.
And in saying that the relation is positive, we do not mean simply
that consciousness may gradually approximate to its ideal; we mean
also that in a sense it already is the ideal. The Idea of the Ego
is not transcendent, but immanent — not so much a goal outside
thought, which attracts it, as a moving principle within, which im-
pels it forward. „Das Ich ist nur das, als was es sich setzt. Es
ist unendlich, heisst, es setzt sich unendlich."*) ,, Dennoch schwebt
die Idee einer solchen zu vollendenden Unendlichkeit uns vor, und
ist im Innersten unseres Wesens enthalten."^)
The unity of consciousness, then, is not something external
to consciousness; it is the internal principle at work in con-
sciousness. The progress of knowledge is not approximation
toward an external unity, but the makiug explicit of a unity which
is already implicit. This is brought out most clearly in the oft-
quoted passage from the Zweite Einleitung: „Im Ich, als in-
tellektueller Anschauung, liegt lediglich die Form der Ichheit, das
in sich zurückgehende Handeln, welches freilich auch selbst
1) „Nun hat die Philosophie den Grund aller Erfahrung anzugeben; ihr
Objekt liegt sonach notwendig ausser aller Erfahrung." (S. W. I, 425.)
2) S. W., I, 101.
3) S. W., I, 416, note.
4) S. W., I, 214.
5) S. W., I, 270.
oQ.) Kilon Hliss TnllMit .
/um (;."li:illc (l.'^^s.'lhfii ^\i^d.') Das Irli. .ils Idee, ist
(las NiMiiuuttwtsfii. iinvit'tVrn i's ilir alljrt'iiuMuc NCnuiiil'l U'\U in
sii'h st'lbst Vi.llktMnmcii darj^fstrilt hat. wirklich duicliaiis vcnilinfti^-
iiud iiii'iits als vrniliiiftij: ist; also .uich aulpdiürt hat. Individuum
zu sein, welches Irl/tere es nur durrli siiudiehc Hcsehränkun^ war:
teils, inwiefern (k-is \ rrnunl'twesen ilic \ Crnunti auch .ausser sich
in der Welt, die demnach auch in dieser Idee -:eset/t ldeil)t, aus-
fllhrlich realisiert hat. Die Welt l.l.dlit in dieser Idee, als Welt
überhaupt, als Substrat mit diesen bestimmten mechanischen und
organischen Ciesetzen ; .alter diese GcBetze sind durchaus ;;-eei^niet,
den Endzweck der Vernunft darzustellen. Die Idee des Ich hat mit
dem Ich, als Anschauunjr, nur das gemein, dass das Ich in beiden
nicht als Individuum iredacht wird; im letzteren darum nicht, weil
die Ichbeit noch nicht bis zur Individualität bestimmt ist, im ersteren
umgekehrt darum nicht, weil durch die lUldung nach allgemeinen
Gesetzen die Individualität verschwunden ist. Darin aber sind beide
entgegengesetzt, dass in dem Ich, als Anschauung, nur die Form des
Ich liegt, und auf ein eigentliches Material desselben, welches nur
durch sein Denken einer Welt denkbar ist, gar nicht Rücksicht ge-
nommen wird; da hingegen im letzteren die vollständige Materie
der Ichheit gedacht wird ... Das erstere ist . . . ursprüngliche An-
schauung . . .: das letztere ist nur Idee; es kann nicht bestimmt
o-edacht werden, und es wird nie wirklich sein, sondern wir sollen
dieser Idee uns nur ins unendliche annähern."^)
In this passage we have the most complete expression which
Fichte gives us, of his conception of thought as a self-developing
form. The Ego as intellektuelle Anschauung^) is form whose
1") The italics are mine.
2) S. W., L 515, f.
3) It is hardly necessary to point out that Fichte uses the tenu intellek-
tuelle Anschauung in a different sense from that in which Kant employed
it. With Pichte the phrase seems to have two significations, which are, however,
closely connected. Sometimes, as in the passage just quoted, intellektuelle
Anschauung seems to be thought of a^ the form which has not yet unfolded
its content, as the still undifferentiated unity which is the basis of experience.
At other times, however, Fichte speaks of it as the act ot philosophical reflection
through which we discover this underlying unity. In an interesting passage
in the Zweite Einleitung (S. ^V.. I, 471, ft'.), Fichte himself teils us that
intellektuelle Anschauung has a diflferent meaning in his system from that
which it has in Kant's. „Die intellektuelle Anschauung im Kantischen Sinne ist
ihr [der Wissenschaftslehre] ein Unding.'" As Thiele remarks, however (op. cit.,
173, ff.). Fichte does not seem to recognise the higher form of Kants doctrine.
The Relation between Human Consciuusness and its Ideal etc. 303
content has not yet become explicit. Hence Fichte spcaks of it as
mere form, But it is evident that the content which it gains in the
process of development does not come to it froni without. As
Fichte himself says, „the form of egohood — the activity returning
upon itself-' — becomes its own content. In short, we have here
the genas of Hegel's conception of the Idea which gradually realises
itselt, the universal which developes by becoming niore and more
concrete.
In this doctrine, human experience seems to occupy a middle
Position between the form which has as yet no explicit content and
the fully developed form in which the content has been perfectly
explicated. Now^ experience seems dualistic; in the process of
development, the content is set over against the form, from which it
has proceeded and with which it is really identical. This temporary
Opposition is essential if the higher unity is ever to be made mani-
fest.^) In Order that the apparently empty identity may show itself
as identity in difference, the difference must be emphasised. Thus,
human consciousness, in spite of its seeming dualism, is a necessary
stage in the realisation of the ideal unity of form and content. It
appears wholly unlike its ideal; but on examination the diöerence,
which seems at first to be one of kind, resolves itself into a mere
difference in degree of development.
There is one other poiut which must be considered in our study
of Fichte's conception of the relation between thought and its ideal.
We saw that in the Kritik der praktischen Vernunft Kant
seems to admit the possibility that we may approximate to the ideal
of morality, but that he makes this advance by conceiving of the
ideal either as empty form or as an artificial union of form and
content. The question naturally suggests itself, whether Fichte's
gain also may not be merely apparent; and this question must now
be considered.
We may say at once, 1 think, that Fichte does not conceive of
the ideal as an artiticial unity of form and matter. In the works
Certainly Kant's intellektuelle Anschauung, regarded as a self-conscious-
ness in whose very act of unity the manifokl content is given, is not an Unding
for Fichte. Its parallel ui the Wissenschaftslehre, however, is not the Ego
as intellektuelle Anschauung, but the Ego as Idea. Thiele does not seem
to recognise the fact that in the Idea of the Ego we have Kant's intellek-
tuelle Anschauung in its highest fonn.
1) „Keine Synthesis ist möglich ohne eine vorhergegangene Antithesis."
(S. W., I, 114.)
304 Klli'ii Hliss Talluit,
of tlu' first prriod. to \Yiru'li dur stmly is ('(»iitiiicd. it \\(iiil(l bo
impossil>lr lor liim t(t tliiiik ol" tlu' suiniiiuni lioinim ;is Ihat
niec'lianii'al unioii of liappiiiess and virtuc whicli Kant drsciilics —
for tho siinplo roastin tliat lic coiuM'ivcs off Jod. iidt as a tiaiisrcnd-
ent lu'inir. l'ut as thc iininaiKMit principlc in all ('(imsc'kuis lil'c. Tlio
(piestidii wliifli rt'iiiains for iis, tlit-n. is wlictlirr lic fluides of bis
ideal as incrc lorin and tlius rcj^ards tlir projrrcss (d' cxpcricncc as
the {jradual annihilation of content.
Soine oritics seeni disposed to aiiswer this (iiu-ry in tlu' al'lirniative.
Professor Andrew Setli, e. ^'., in 11 ej^elianisni and Personality,
cvidently inter})rets Fichte as teachinj; that the Idea, which f^radually
develops itself in the world of consciousness, is i)urely fornial, and
that if it could ever be perfectly realised we should have form utterly
devoid of content. The ground upon whieh this interpretation is
based, seenis to be the statement, which Fichte often makes, that if
the goal of the infinite progress were ever realised, individuality
would have disappeared. This statement Professor Seth evidently
interprets as meaning that the end of the process would be a relapse
iuto the unconscious, into that which is lower than our own conscious
experience. Fichte's theory, he says, „even as a metaphysic of ethics
is insufficient. Morality becoraes illusory, if it is represented as the
pursuit of a goal whose winning W'Ould be suicidal to morality itself,
and to all conscious life We may well withdraw
our eyes from the goal if we are not to lose heart for the race.
Fichte's account, in short, leaves no permanent reality in the universe
whatever. The world is hung, as it were, between two vacuities —
between the pure or Absolute Ego on the one band, which is com-
pletely empty apart from the finite individuals whom it constitutes, and
the .Idea of the Ego' on the other, which is admittedly unattainable,
and, if attainable, would be a total blank, the coUapse of all
conscious life."^)
It can not be denied that in some of Fichte's treatises, and
particularly in the Sittenlehre of 1798, there are passages which
snggest this interpretation. It seems to me, however, that Professor
Seth falls to take account of other statements which indicate that,
sometimes at least, Fichte rises to a higher conception of the ideal.
In the Grundlage, the dualisra of form and content is repre-
sented at first as an Opposition between Ego and Non-Ego; but this
1) Hegelianism and Personality, 2nd ed., 58, f.
The Relation between Human Consciousness and its Ideal etc. 305
sooD develops into an oppusitiou between the Ego as infinite and
the Egro as finita. Now if we believe that finite and infinite are
essentially opposed, then the unity whieh we retard as the ideal iA
thüught must be coneeived as purely formal; bat if we maintain
that the Opposition is not irreconeilable. our ideal beeonies an
organic unity of content and form. In the one case, the goal of
the endless progress is represented as the annihilation of content,
the complete absorption of the finite into the infinite; in the other,
as the perfect interpenetration of form and content, as the finite
which has developed into the infinite, as the infinite which is fully
realised in the finite.
There are some indications in the Grundlage of a tendency
to adopt the first alternative — to emphasise the Opposition of finite
and infinite and tims to suggest that the unattainable ideal of
experience would be mere empty form, „Ich und Nicht-Ich sowie
sie durch den Begriff der gegenseitigen Einschränkbarkeit gleich-
und entgegengesetzt werden, sind selbst beide etwas (Accidenzen)
im Ich, als teilbarer Substanz; gesetzt durch das Ich, als absolutes
nnbeschränkbaresj Subjekt, dem nichts gleich ist, und nichts entgegen-
gesetzt ist.''M And again: ,.Insofern das Ich durch das Kicht-Ich
eingeschränkt w^ird, ist es endlich; an sich aber, so wie es durch
seine eigene absolute Thätigkeit gesetzt wird, ist es unendlich. Dieses
beide in ihm. die Unendlichkeit und die Endlichkeit, sollen vereinigt
werden. Aber eine solche Vereinigung ist an sich unmöglich. Lange
zwar wird der Streit durch Vermittelung geschlichtet; das unendliche
begrenzt das endliche. Zuletzt aber, da die völlige Unmöglichkeit
der gesuchten Vereinigung sich zeigt, muss die Endlichkeit über-
haupt aufgehoben werden; alle Schranken müssen verschwinden,
das unendliche Ich muss, als Eins, und als Alles, allein übrig
bleiben.'' 2)
These passages give the best expression which I have found in
the Grundlage of the tendency to oppose the finite and the infinite
aspect of the Ego. On the other band, we have several emphatic
Statements in favor of the higher conception of the ideal. „Keine
Unendlichkeit, keine Begrenzung; keine Begrenzung, keine
Unendlichkeit; Unendlichkeit und Begrenzung sind in
einem und ebendemselben synthetischen Gliede vereinigt.
— Ginge die Thätigkeit des Ich nicht ins Unendliche, so könnte es
1) S. W., I, 119.
2) S. W., I, 144.
•jOC KUi'ii i'.liss 'I'allM.t.
dit'sc seine Thiiti-rkeit niclit seihst ln-irri'n/cn I'criicr, wenn
«las Icli sich nicht l)i\L'rri\/t('. sowiirr es nicht imcndiicli."' ) ..Ohne
jtMU' lUv.ithuiiir |:iiif ein Ol)ji'kt| .... wiiif kein Olijckl fllr dus
Ich. soiulerii «lassclhr wäre AUcs in .Mhin nnd ^^orade darum
Nichts. '•■•') ..Das alistdutc Ich ist schh-chthiii sich seihst frh'ich:
alles in ihm ist Kin und ehendassellie Ich und -rehört (wenn es
erlauht i>t. sieh so uneijrentlieh aus/. udrUckeu) /u Kinem und ei»en-
deniselhen Ich; es ist da nichts /,u unterscheiden, kein niannijrl'alti;;es;
das Ich ist Alles und ist Nichts, weil es für sieh nicjits ist, kein
setzendes und kein fresetztes in sich seihst unterscheiden kaini".'')
Additional supjjort for this seeond Interpretation oi' Fichte's ideal
is found in tiu' Kecension des A enesidem us. „Das Ich in
der intellektuellen Anschauuuir ist . . . schlechthin selhständi-;- und
unahhän-riiT. Das Ich im em])irisehen Hewusstsein . . . . , als
Intellijren/, ist nur in Heziehunj;- auf ein Intelligibles und existiert
insofern abhäuirijr. Nun s(dl dieses dadurch sich selbst cntjref,aMi-
gesetzte Ich nicht Zwei, sondern nur Ein Ich ausmachen, und das
ist geforderter Maassen unmöglich; denn abhängig und unabhängig
stehen im Widerspruche Jene Vereinigung, Ein Ich, das durch
seine Selbstbestimmung zugleich alles Nicht-Ich bestimme (die Idee
der Gottheit), ist das letzte Ziel [unseres] Strebens.'*-')
This passage furnishes a strong argument for the theory that
Fichtes ideal is not empty form. The ideal is spoken of as the
Union of the two aspects of the Ego; and the words in which this
Union is described, remind us forcibly of Kant's description of in-
tellektuelle Anschauung as a Cognition in which, by the very
act of self-consciousness, all the manifold is given. But the com-
pletest expression of this conception which Fichte gives us is found in
the passage which we have already quoted from the Zweite Ein-
leitung.^) Here we are explicitly told that the form becomes its
own content and that in the Idea of the Ego „die vollständige
Materie der Ichheit gedacht wird".
On the other band, the weight of evidence in the Sittenlehre
seems to me to be in favor of Professor Seth's interpretation.«) Here,
1) S. W., I, 214. 2) s. W., I, 261.
3) S. W., I, 264. *) S. W., I, 22, f.
5) S. W., I, 515, f.
6) Fichte's admir.ation for the Kritik der praktischen Vernunft is
well known, and it may explain in part the tendency toward rigorism whioh
^ppears in the Sittenlehre.
The Relation between Human Consciousness and its Ideal etc. 307
as in the Kritik clor praktischen Vernunft, tiie dualisni of
experienee takes the form of an Opposition between desire and the
moral law. The natural inipulse is directed toward enjoynient; the
higher inipulse, toward the self-determiniug activity of reason. ,,In-
wiefern der Mensch auf blossen Genuss ausgeht, ist er abhängig
von dem Vorhandensein der Objekte eines Triebes; ist so-
nach sich selbst nicht genug Aber inwiefern der Mensch
nur überhaupt reflektiert und dadurch Subjekt des Bewusstseins
wird . . . . , wird er Ich. und es äussert sich in ihm die Tendenz
der Vernunft, sich schlechthin durch sich selbst, als Subjekt
des Bewusstseins . . . . , zu bestimmen." ^)
What now is the relatioii between these two Impulses? Are
they to be regarded as nmtually exclusive, or does their apparent
Opposition rest upon an underlying unityV Sometimes Fichte seems
to hold tiiat the Opposition is fundamental. But if it is, then the
harmony which is demanded by the moral law can be reached only
by the annihilatioii of the lower Impulse. The impulse toward self-
activity is to reign supreme; natural desire must be thwarted,
negated, blotted out. .,Diese allein [die reine absolute Thätigkeit]
ist das eigentliche wahre Ich; ihr wird der Trieb entgegengesetzt,
als etwas fremdes; zwar gehört er zum Ich, aber er ist nicht das
Ich. Jene Thätigkeit ist das Ich."-^) Der reine Trieb „geht gar
nicht auf einen Genuss, von welcher Art er auch sein möge,^)
vielmehr auf Geringschätzung alles Genusses Er geht ledig-
lich auf Behauptung meiner Würde, die in der absoluten Selbst-
ständigkeit und Selbstgenügsamkeit besteht."*)
But in another passage, Fichte teils us that the two Impulses
are not essentially opposed. „Mein Trieb als Naturwesen, meine
Tendenz als reiner Geist, sind es zwei verschiedene Triebe? Nein,
beides ist, vom transscendentalen Gesichtspunkte aus, ein und eben-
derselbe Urtriel), der mein Wesen konstituiert: nur wird er ange-
sehen von zwei verschiedenen Seiten. Nämlich, ich bin Subjekt-
1) S. W., IV, 130.
ä) S. W., IV, 140. It should be noticed that the Statements which seem
to commit Fichte to the theorv that the ideal is raerely formal do not imply
that it is essentially unlike consciousness. Here, e.g., Fichte insists that the
formal aspect of consciousness is its true nature.
3) The italics are mine. Cf. the equally strong statement from Kant (R.,
VllI, 195), ((uoted above.
*) S. W., IV, 142.
308 Kllt'H lUiss 'r:inM.t,
lH)j»'kt iiiul in (Irr lilciitilät und l ii/filiciuilii'likcit Ixidt-r bestellt
mein wahros Sein. Krl)lii'l\e icli iiiieli. als dineli dir (lesetze der
sinnlii'lieii AiiM'liauim;r und des (liscuisi\en Denkens ^(tllkllnlIn(■n l>e-
stiinintes Olije k t . si» wird das, was in der Tliat mein ein/.ii^ir 'Irieh
ist, mir /inn Naturtrielie . . . lOrblieke ii'li mich, als Snljjekt. sd
wird er mir /um reinen jreistifron 'l'ri(dte ... Aber beide .konstituicreD
nur ein und ebendassellx- leb; mitbin inllssen l)eide Triebe im [hu-
fanire (ies Hewusstscins vereiniirt werden. Ms wird sieb /oifrt'H, dass
in dieser \ i-reiiii^unir \ou dem bidieren die l\einlieit . . . der
Tliätiirkeit. \<mi dvn\ nii'deren der (Jenuss als Zweek auffrep'ben
werden müsse; so dass als Resultat der N'ereinijrunjr sich linde ob-
jektive 'rbätiirkeit, deren End/week absolute Freiheit, absolute l'n-
abhäuiri^'keit von aller Natur ist: — ein unendlieher . . . Zweek . . .
Sieht man nur auf das höhere Begehrun^s\('rmö<ren, so erhält man
bloss Metai)hysik der vSitteu, welche formal und leer ist. Nur
durch synthetische Vereinigung desselben mit dem niederen erhält
man eine Sittenlehre, welche reell sein muss."*)
On the whole, this passage seems to argue against the Kantian
conception of morality. It is not perfectly certain, however, that
the „absolute l'nal)hängigkeit'', which Fichte identifies with the
ideal, is anything more than empty form. It is possible also that by
bis distinction betv.een „Metaphysik der Sitten" and „Sittenlehre"
Fliehte means that the latter deals with our actual moral escperience
and the former with the natura of the moral ideal.
There is a similar uncertainty in regard to another passage.^)
which is too long to be quoted in füll. At first thought, Fichte teils us,
it seems as if the higher and lower Impulses were utterly opposed,
and thus the causality of the higher were merely restrictive and
negative. But freedom must be a positive force. Now it can be
this, only if it is „Grund einer wirklichen Handlung.'' The two
Impulses, then, are united in the moral act, just as they are in the
„Urtrieb". So far, the theory seems consistent; but Fichte now
goes on as foUows: „Der reine Trieb geht auf absolute Unabhängig-
keit . . . Nun kann . . . das Ich nie unabhängig werden, so lange
es Ich sein soll; also liegt der Endzweck des Vernunftwesens not-
wendig in der Unendlichkeit.''-^)
It is hard to say w^hat is Fichte's precise meaning in these
ij S. W., IV, 130, f.
2) S. W., IV, 147, ff.
3) S. W-, IV, 149.
The Relation between Human Consciousness and its Ideal etc. 309
passages; but it must be admittcd, 1 think, that they furnish sonie
ground for Professor Seth's criticisni. As we have seen, however,
Fichte frequently rises to a hierher point of view ; and it is because
it fails to take accoont of this fact that the criticism mast be
regarded as iiiadequate. We cannot deny that Fichte occasionally
loses his g:rasp of the hierher conception, but we must admit that at
other times his hold upon the truth seems to be firm.
It must be remembered, however, that Fichte always maintains
that if the goal were ever reached, individuality would have dis-
appeared. And unless I am greatly mistaken, this Statement is the
real ground of Professor Seth's objection to the theory. Apparently
Professor Seth holds that the disappearance of individuality means
a relapse into the unconscious. But this, it seems to me, is merely
an assumptiou; there is no good reason for identifying the two
notions. When Fichte says that in the Idea of the Ego, individuality
— and hence consciousness, in his sense of the word — will have
vanished, he does not mean to assert that the Idea is to be con-
ceived on the analogy of the unconscious. To think of it thus would
be to make it mere dead being, whereas Fichte always declares
that the fundamental principle of his philosophy is life and activity.*)
Evidently his meaning is that in so far as it dififers from consciousness
it is not lower, but higher. Our consciousness is steadily working
toward the point at which the dualism of subject and object shall
be surmounted. If this point were ever reached, we should see
beyond the dualism , should apprehend subject and object in their
true relations. Now Fichte gives the name of „consciousness" to the
stage in which we do not see beyond the Opposition; hence he says
that in the completed ideal consciousness will have disappeared.
But this hardly justifies us in maintaining that the goal of the process
is „a total blank".
We may now sum up briefly the results of our study. We
have seen that Kants conception of the ideal of experience is differ-
1) In his Gerichtliche Verantwortung gegen die Anklage des
Atheismas, Fichte explains what he means by saying that his ultimate prin-
ciple (God) is not conscious : „Nur in Rücksicht der Schranken und der da-
durch bedingteu Begreiflichkeit habe ich das Bewusstscin Gottes geleugnet.
Der Materie nach — dass ich mich bemühe, das unbegreifliche auszudrücken,
so gut ich kann! — ist die Gottheit lauter Bewusstsein, sie ist Intelli-
genz, reine Intelligenz, geistiges Leben und Thätigkeit. Dieses Intelligente aber
in einen Begriflf zu fassen, und zu beschreiben, wie es von sich selbst und
andern wisse, ist schlechthin unmöglich." (S. W, V, 266.)
310 Talbot. riu» Kolalioii lu'twocn Coiisiioiisnoss aiid its Itli-al («ic.
cnt at (litVt'rt'ut tiiiu's. Wlicn lu' is dcaliii«: witli llic iiKual Jisj)('(*t
of citnsiMousness, he falls to rcacli hls iiijilu'st cnnccittloii. 'Vhi-,
inoral ulcai Is \'ov litni fitlit-r pure i'onu (tlic iiutral law) (»r a
incciianical s\ iithcsis ol" tonn and content (the eomplete jrood). And
in tlic Kritik drr rcimn \ Crnnult. tlic doctrinc id" the ideal
has two t'onns. one ot" whieh is very l'ar t"r(»in hein^ satisf'actory. in
this lower ])hase of the doetrine, intellektuelle Ansehauunj;- is
deseril)ed as the faciilty of iinmcdiatelv apprehendinjj; thiiifrs in
theniselves: here we have a niore eomplete synthesis of form and
matter than that whieh exists in our ovvn experience; l)ut the union
is still somewhat artilicial. In the hiffher j)hase of the (h>ctrine, we
have the perfeet unity of form and content, the pure sclf-conscious-
uess which is its own object.
lu Fichte's philosophy too, we lind that the ideal is not always
conceived in the same way. To be sure, there does not seem to
he any tendency to think of it as an artilicial union of form and
matter; but there is evidence of a disposition to retard it as empty
form. There are slijrht traces of this tendency in the Grundlafje,
but it is more manifest in the Sittenlehre. On the other band,
we find that Fichte offen regards the ideal as an organic unity of
form and content. It is true that he constantly asserts that in the
Idea of the Ego all individuality has disappeared ; but this should
not be interpreted as meaning that the goal of the infinite progress
is a relapse into blank identity.
At bis best, then, Fichte has the same conceptiou of the ideal
which we have found in the higher form of Kaut's intellektuelle
Anschauung. The difference between the two thinkers is that
Kant holds that the relation between this ideal and experience is
negative, while Fichte regards it as positive. Kant insists that
experience is essentially dualistic, and hence difierent in kind from
intellektuelle Anschauung; Fichte maintains that experience is
essentially a unity, and that it ditiers from its ideal, not in kind, but
in degree.
Conjecturen zu Kants Kritik der reinen Vernunft.
Von Dr. Emil Wille in Berlin.
Es ist unleugbar, dass Kants Hauptwerk noch immer eine grosse An-
zahl verdorbener Stellen enthält. Ich werde hier versuchen, einige derselben
zu verbessern.
1. S. 313 der 2. Ausg. „Die theoretische Astronomie — " Theoretisch
heisst bei Kant, wie bei jedem, erkennend, und nicht bloss beobachtend,
während contemplativ sehr wohl dies heissen kann. Contemplation ist,
ähnlich der Reflexion, in der Krit. d. ästhet. Urteilskr. das Spiel der An-
schauungskräfte, welches der Subsumption unter Begriffe vorhergeht.
Daher rauss die erstgenannte Astronomie die contemplative, und die andere
die theoretische sein. Beide Adjektive haben also ihren Platz zu tauschen.
Es steckt hier aber noch ein Fehler. Denn diese andere Astronomie wird
nicht nach Copernicus oder Newton erklärt, sondern erklärt den bestirnten
Ilimmel nach ihnen. Ich möchte deshalb so lesen: Die theoretische da-
gegen, welche ihn — .
2. S. 323. „Da aber die sinnliche Anschauung — " Die sinnliche An-
schauung, welche als subjektive Bedingung aller Wahrnehmung a priori zum
Grunde liegt, ist natürlich die reine, d h. die Raum- und Zeitvorstellung.
Von der nun kann der Philosoph nicht sagen, dass ihre Form ursprünglich,
sondern nur, dass sie die ursprüngliche Form aller Wahrnehmung sei.
Folglich muss es lauten: welche aller Wahrnehmung a priori zum Grunde
liegt imd deren ursprüngliche Form ist.
3. S. 411. „nicht aber zugleich in Beziehung auf die Anschauung, wo-
durch sie als Objekt zum Denken gegeben wird". Nein, wodurch es (das
Wesen) als Objekt zum Denken gegeben wird.
4. S. 446. Anm. „Das absolute Ganze der Reihe — " Nicht ausser
ihr, sondern au.sser ihm. Es folgt ja auch: in Ansehung deren es —
6. S. 452. „In der Experimentalphilosophie — " In der Experimental-
physik kann wohl ein Zweifel als Anlass des Aufschubs nützlich sein.
6. S. 602. „So ist der Empirismus — " Die transscendental-idealisierende
Vernunft ist die des Dogmatikers oder Platonikers, der einen Anfang der
Welt, eine Schöpfung derselben durch ein göttliches Urwesen u. s. w. an-
nimmt; sie steht dem Empirismus oder Epicureismus feindlich gegenüber.
Demnach kann der Philosoph nicht von ihrem Empirismus siirechen; er wird
vielmehr geschrieben haben: So ist der Empirismus von der transsceudental-
idealisierenden Vernunft aller Popularität gänzlich beraubt. Dies passt am
besten zu dem unmittelbar Vorhergehenden. Dort ist garnicht vom Empi-
312 l'r. Kmil Wille,
risinus die Rode, sondern vom I>o{j;niii<ismus, also dem Standpunkte dieser
Vernunft. Von i\\v wird au.si'inandfrjjjeset/.t, warum sie d(>n ^jjan/en Heifall
der «grossen Masse für sich f^fi'woniu'n lialx". Hat sie aber das, so liat sie
rben dadurch die («egenpartei, den Kin]iinsmus, aUer Popularität beraubt.
In den nachfolgenden Worten wJlre ilann /.wcinial „sie" in er (der Knjpi-
risnjus) zu verwandeln, was einige Herausgeber bereits gethan haben; wo-
fern man nicht vorziehen sollte zu lesen: iSo ist die <■ m p j li st isclie von
der transscendental-idealisierendeu Vernunft — was i( h lueinerseits wirk-
lich möchte. Doch noch eines: Wenn beide Parteien einige Abschnitte
weiter unten vor ein höheres Tribunal gezogen werden, welches ihnn Wider-
streit schlichtet, und dieses Tribunal sich transscendentalen Idealismus nennt,
wie kann dann die eine von beiden transscendental-idealisiereiid lieiss(!n:*
Auch nach dem Unterschiede der Bedeutung von transscendentul uiui
transscemlent ist sie vielmehr transscendent-idealisierend. Wohl werden
die Ideen als transscendentale bezeichnet, gerade wie die Kategorien.
Dieser Gebrauch der transscendentalen Ideen jedoch, um den es sich hier
handelt, ist ein transscendenter; und auf transscendente Weise die Ideen ge-
brauchen heisst trausscendeut idealisieren. Also noch diese dritte Änderung.
7. S. 598. „Ganz anders verhält es sich — " Nur einzelne, obzwar
nach keiner angeblichen (d. li. angebbaren) Eegel bestimmte Züge, also
zwar nach keiner Eegel bestimmte, aber doch nur einzelne, das ist nichts.
Wie es lauten muss, ergiebt sich aus der Schilderung des Ideales der reinen
Vernnnft, welches diesen Monogrammen entgegengestellt wird. Dasselbe
sei ein vollständiges, nach Prinzipien a priori bestimmbares Bild. Dann
werden die Monogramme nur einzelne und zwar nach keiner angeblichen
(angebbaren) Eegel bestimmte Züge sein sollen.
8. S. 603. Das Sternchen der Anmerkung gehört hinter den folgenden
Satz, weil sie sich auf diesen bezieht; hinter u. s. w.
9. S. 611. Anm. „weil die regulative Einheit der Erfahrung — " Re-
gulative i.st Nonsens. Offenbar muss es relative heissen, im Gegensatze
zur Einheit der höchsten Eealität, welche, obgleich nicht an dieser Stelle,
doch S. 615 eine absolute genannt wird: „Der absoluten Einheit der voll-
ständigen Eealität".
10. S. 630. „da aber die Verknüpfung — " Spezifisch nicht gegeben
sein, das ist ebenfalls Unsinn. Gewiss hat Kant geschrieben: weil uns die
Eealitäten spekulativ nicht gegeben sind, d. h. durch spekulatives Denken,
durch dasjenige, welches a priori auf Gegen.stände oder Prädikate derselben
geht, die in gar keiner Erfahrung können angetroffen werden; ein Denken,
welches er in der transsc. Dialektik kritisiert und verwirft. Da uns, sagt
er, durch dasselbe die Eealitäten nicht gegeben sind (mithin nicht a priori
uns vorschweben) , können wir nicht a priori über die Möglichkeit urteilen,
sie zu einem Inbegriffe aller realen Eigenschaften in einem Dinge zu ver-
knüpfen. — In den sich anschliessenden Worten mache man getrost aus
„stattfindet" stattfände.
11. S. 642. „Da es also nicht einmal — " Umgekehrt, als denkbarer
Gegenstand ist uns das Ideal der reinen Vernunft gerade gegeben; nur
nicht als wirklicher. Das „nicht" vor „einmal" ist zu tilgen. Denn der
Zusammenhang ist der: Was uns als wirklicher Gegenstand von aussen
Conjeoturen zu Kants Kritik der reinen Vernunft. 3 13
her gep:eben wird, bleibt uns oft geheimnisvoll, w-ie die Kräfte der N.itnr.
Das Ideal der Venumft aber wird uns, aus ihrer eigenen Beschaffenheit
herstammend, als bloss denkbarer gegeben. Und da es uns einmal als solcher
gegeben ist, kann es nicht unerforschlich sein.
12. S. 654. „Ohne hier mit der natürlichen Vernunft — " Die Fassun»
•des Vordersatzes stimmt nicht zu der des Nachsatzes. Die des ganzen
Satzes müsste entweder die sein: Ohne hier mit der natürliclien Vernunft
über ihren Schluss zu chikanieren (was wir ja könnten, da derselbe die
schärfste trans.scendentale Kritik nicht aushalten dürfte), wollen wir viel-
mehr gestehen, dass (ihr Verfahren in dem Punkte richtig ist — ) Oder
die: Ohne hier mit der natürlichen Vernunft über ihren Schluss völlie:
«inig zu sein (was man nicht kann, da derselbe die schärf.ste transscenden
tale Kritik nicht aushalten dürfte), muss man doch gestehen, dass (ihr Ver-
fahren insofern richtig ist — ) Entweder das „chikanieren" des Vordersatzes
oder das „muss man doch" des Nachsatzes ist fehlerhaft. "Wahrscheinlich
ersteres. Steckt aber der Fehler dort, so muss. wie ich eben dar-
gelegt, ein Zeitwort von gerade entgegengesetztem Sinne gestanden haben.
Ein fremdes wird es wohl auch gewesen sein; ich weiss kein besseres
als sympathisieren.
13. S. 662. „"Wir werden künftig von den moralischen Gesetzen zeigen
— ". Dass die moralischen Gesetze in anderweitisrer Betrachtuns:
schlechterdings notwendig sein sollen, fällt einem zunächst auf. Man ahnt
sofort, dass der Verfasser diese Aussage vielmehr vom Dasein eines höchsten
"Wesens machen will; wie er S. 668 erklärt: „Denn wenn einmal in ander-
weitiger, vielleicht praktischer Beziehung die Voraussetzung eines höchsten
und allgenugsamen Wesens als oberster Intelligenz u. s. w." Man ahnt
sofort, dass zu lesen ist: da es in anderweitiger Betrachtung schlechter-
dings notwendig ist. Und diese Ahnung trügt nicht. Etwas ungezweifelt
Gewisses, aber doch nur Bedingtes hat entweder eine schlechthin not-
wendige Bedingung oder eine beliebige und zufällige. Erstere wird von
ihm postuliert (per thesin); letztere nur supponiert (per hypothesin). Solch
ein ungezweifelt Gew^isses ist nun die verbindende Kraft der moralischen
Gesetze. Wir werden künftig von ihnen zeigen, kündigt der Verfasser an,
dass sie das Dasein eines höchsten Wesens nicht bloss als ihre beliebige
und zufällige Bedingung per hypothesin supponieren, sondern auch, da es
in anderweitiger Betrachtung ihre schlechterdings notwendige Bedingung
ist, es mit Recht per thesin postulieren.
14. S. 709. „Man verkennt sogleich — ". „lässt" und „setzt" ist in
lasse und setze umzuändern.
15. S. 745. „alle Behandlung, die durch die Grösse erzeugt und ver-
ändert wird." Nein, durch die die Grösse — .
16. ebendaselbst, „und gelangt also vermittelst — " Also im Gegensatze
zur symbolischen Konstruktion der Buchstabenrechnung soll die der Geo-
metrieeine ostensive oder geometrische sein. Ostensive oder geometrische?
Eine sonderbare Zu.sammenstellungl Und das braucht man uns nicht erst
einzuprägen, dass die Konstruktion der Geometrie eine geometrische sei.
Sicherlich hat es der Alte nicht thun wollen, sondern ge.schrieben: nach
einer ostensiven (der geometrischen Gegenstände selbst).
Kantstudion IV. 21
314 l*"" '■"'"'' ^Villc,
17. S. 747. „Nun i-nthält v\n lit'j;riff a priori (ein iiiclit cniiiirisclKT
Bogriff — " Bessi'r: (niclit oin einiiirisi-lu'r Hcj^rilf).
18. S. 768. „Denn wir sind alsdann — " Titel dessclbin, des Besitzes.
19. S. 774. „Aber diese CJiinst muss — " Unter ih'v ab/jfe/ogencn
Spekulation ist, wie aus dieser und anileren Stellen hervorgeht, die meta-
phvsische, transscendente zu verstehen. Somit liest man heraus, dass-
Priestley aller derartigen abgeneigt ist, Hume dagegen seine nicht ver-
lassen kann. Schon diese Ausdrucksweise ist seltsam. Unwillkinlich sieht
man letzteren als einen Hans Metaphysicus, der auf das Dach der Si)eku-
lation gestiegen ist und nicht wieder runter kann. Und diese vcUlige V'or-
kehrung des wahren Sachverhalts! Es ist ja bekannt, dass der N'erfusser
der Untersuchung über den menschlichen Verstand, zu dem Resultate ge-
diehen, alle unsere Begriffe und Grundsätze, besonders der der Kausalität^
entspringen aus der Erfahrung und haben daher nur für den Bereich der-
selben Geltung, ein Hinausgehen aus diesem Bereiche in das Jenseits für
unmiiglich erklärte, also alle transscendente Spekulation gänzlicli verwarf.
Und dass dies auch dem Königsberger Philosophen bekannt war, wäre so-
gar dann selbstverständlich, wenn dieser nicht selber uns den Standpunkt
jenes auf das Genaueste und Eichtigste, obzwar nur in der Kürze, beschriebe^
am Anfange dieses Absatzes und S. 788 u. ff. Demnach unterliegt er, keinem
Zweifel, dass die überlieferte Lesart unecht ist. Die echte nun zu erraten,
hält nicht schwer: der eine abgezogene Spekulation darum nicht zulassen
kann. Die Schwierigkeit ist nur die: Wenn beide Männer in gleicher Weise
sie verwarfen, welches ist dann der Unterschied, der zwischen ihnen be-
stehen soll? Hierauf ist zu antworten: Hume, vermöge seiner Geistesan-
lage ursprünglich keiner bestimmten Richtung zuneigend, kommt durch
seine Prüfung der Vernunft zu der Überzeugung, dass deren Einsicht zur
Behauptung und zum klaren Begriffe eines höchsten Wesens nicht zulange,
und überhaupt nicht, um transscendente Fragen zu entscheiden. Priestley
hingegen, geborener oder prinzipieller Anhänger des Empirismus und Gegner
der Spekiüation, lässt sich durch das Interesse der Vernunft, welche da-
durch verUert, dass man gewisse Gegenstände den Gesetzen der matenellen
Natur, den einzigen, die wir genau kennen und bestimmen können, ent-
ziehen will, verleiten, die beiden Grundpfeiler aller Religion, unserer Seele
Freiheit und Unsterblichkeit, niederzureissen, d. h. nicht etwa, wie
Hume, zu erklären, dass wir darüber nichts wissen können, sondern zu be-
haupten, die Seele sei materiell und deshalb unfrei und vergänglich; mithin
seinem eigenen Prinzipe widersprechend, transscendente Behauptungen zu
machen; welche er mit der Religionsabsicht zu vereinigen weiss (Religions-
absicht 7 Wohl Religions an sieht?) und sich dadurch eine Gunst erwirbt,
die nun Kant auch für den untadelhaften Hume beansprucht, welcher von
seinem erkenntnistheoretischen Standpunkte aus dergleichen abgezogene
Spekulation nicht zulassen kann.
20. S. 788. „Er hielt sich vornehmlich — " Dass Kant diese Bemer-
kungen Humes billigte und für „ganz richtig" ausgab, ist ja unmöglich.
Denn S. 792 u. ff. widerlegt er sie ausführlich und noch ausführlicher durch
seine ganze Kritik der reinen Vernunft. Ob er nun ganz unrichtig oder
garnicht richtig geschrieben, ist nicht mit Sicherheit festzustellen; doch
Conjecturen zu Kants Kritik der reinen Vernuntt. 315
würde ich letzteres vorziehen. „Garnicht" pflegt er anzuwenden, wo wir
lieber „durchaus nicht" sagen; z. B. S. 795: „nur zufällige, garnicht objektive
Verbindungen."
21. S. 808. „welcher alle Möglichkeit erschöpft zu haben meint — "
Das „ihrer" werden wir in der verwandeln müssen. Denn gemeint kann
nur sein: indem er den Mangel der empirischen Bedingungen des von
uns Geglaubten für einen Beweis der gänzlichen Unmöglichkeit eben
dieses Geglaubten fälsclüich ausgiebt.
22. S. 842. „auch nicht der ganzen Glückseligkeit würdig, die vor
der Vernunft keine andere Einschränkung erkennt." Nein, für die die
Vernunft keine andere Einschränkung erkennt.
23. S. 847. „Das Sittengesetz, welches uns die Vernunft aus der
Natur der Handlungen selbst lehrt. Vielmehr so: welches uns die Hand-
lungen aus der Natur der Vernunft selbst lehrt.
24. ebendaselbst, „frevelhaft den Leitfaden einer moralisch gesetz-
gebenden Vernunft im guten Lebenswandel zu verlassen." Nein, so: frevel-
haft den guten Leitfaden einer morahsch gesetzgebenden Vernunft im
Lebenswandel zu verlassen.
25. S. 860. „Der scientifische Vernunftbegriff enthält also — " Die
Form des Ganzen soll mit dem Zwecke des Ganzen kongruieren. Also:
die mit demselben kongruiert.
26. ebendaselbst. „Die Einheit des Zweckes, worauf sich — " Der mit
„worauf" beginnende Eelativsatz ist so arg zugerichtet, dass er nur mit
kühnen Änderungen nach Inhalt und Form tadellos herzustellen ist: wo-
rauf sich alle TeUe des Ganzen in der Idee desselben auch durch ihr
Verhalten unter einander beziehen. Unter einander nämlich sagt Kant,
\\*o wir zu einander sagen, z. B. einige Zeilen weiter oben: „die .Stelle der
Teile unter einander," was gleichfalls zu verbessern ist: die Stellung der
Teile unter einander.
27. ebendaselbst, „macht, dass ein jeder Teil bei der Kenntnis der
übrigen vermisst werden kann". D. h. dass von jedem Teile (wenn er
etwa fehlen sollte) aus dem Dasein und der Beschaffenheit der übrigen
geschlossen werden kann, dass er fehlt. Gedanke und Fassung desselben
sind so klar, dass ich nicht begreife, warum die Herausgeber hier „kein
Teil" haben drucken lassen. Wäre dieses überliefert, so würde ich jenes,
das überliefert ist, konjizieren.
28. S. 866. „Man muss sie objektiv nehmen — " Philosophie ist nicht
das Urbild der Beurteilung aller Versuche zu philosophieren, sondern das
Urbild aller Versuche zu philosophieren. Die Hinzufügung des Genetivs
„der Beurteilung" ist somit störend und ausserdem überflüssig, weil der
folgende Relativsatz uns genügend belehrt, dieses Urbild aller Versuche
solle dazu dienen, sie alle zu beurteilen. Ich möchte deshalb den Genetiv
streichen, immer von der Ansicht ausgehend, dass das gänzlich Unpassende
Textverderbnis ist.
Möge meine kleine Arbeit der neuen Kantausgabe nützhch sein!
2V
Recensionen.
Basch, Victor. Essai crititjue sur l'Est h(!>tiquc do Kant.
Paris, Felix Alcau. 1896. (L u. 634 tS.)
Über diese hochbedeutende Schrift soll in einer Abhandlung der
„Kantstudien" näher und ausführlicher berichtet werden. Vorläufig möge
mir eine kurze, allgemeine Charakteristik ihres Inhaltes platzgreifen.
Das "Werk unterscheidet sich von allen bisherigen, dasselbe Thema
behandelnden Arbeiten dadurch, dass es nicht bloss eine kritische Dar-
stellung der auf die Ästhetik bezüglichen Lehren Kants bietet, sondern,
weit über den Rahmen desjenigen hinausgehend, was man von einer Kritik,
selbst von einer sog. „produktiven", fordern darf, im Anschluss an die
Prüfung der Kantschen Gesichtspunkte ein vollständiges System der
Ästhetik begründet. Es enthält also weit mehr, als man seinem Titel
nach erwarten dürfte; es giebt neben der Kant-Darstellung und Kant-
Kritik eine geschlossene, abgerundete Lehre von den ästhetischen Ge-
fühlen und von den Bedingungen der zum ästhetischen Leben in not-
wendiger Beziehung stehenden künstlerischen Produktion. Ja, so ge-
wissenhaft verfährt der Autor, dass er, nachdem er einmal zur Einsicht in
die ausschliessliche Gefühlsbasis des ästhetischen Urteils gelangt ist, sich
für verpflichtet hält, zu allererst die Prinzipien der Gefühlslehre überhaupt
als das Fundament der Ästhetik festzulegen, und daher seiner Theorie des
Schönen eine allgemeine Gefühlspsychologie voranschickt. Ferner ist er
sich darüber klar, dass der Begriff des Schönen, seiner engeren Fassung
nach, keineswegs alle Formen des ästhetisch Wertvollen in sich schliesst,
dass es vielmehr neben dem eigentlich Schönen noch gar manches bei
ästhetischer Betrachtung Gefallende giebt, das wir um gewisser Besonder-
heiten willen und mit Rücksicht auf die teilweise Verschiedenheit seines
subjektiven Eindruckes von dem Eindrucke des spezifisch Schönen mit
anderen Ausdrücken belegen, das wir lieber „erhaben", „niedUch" etc. als
„schön" nennen, und diese Erkenntnis bestimmt den Verf. zu einer neuer-
lichen Erweiterung des Planes seiner Arbeit. Sah er sich durch seine
Auffassting von dem Verhältnisse zwischen künstlerischer Begabung und
ästhetischem Sinn, durch seine Überzeugung, dass die höchst gesteigerte
und daher auch ihr Wesen am deutlichsten offenbarende ästhetische Em-
pfänglichkeit im Gemüte des Künstlers zu finden sei, veranlasst, an die
Analyse des ästhetischen Gefühls Studien über die Arten und psycho-
logischen Grundlagen des Kunstschaffens anzuschliessen, so entspringt es
als einfache Konsequenz aus der Anerkennung einer Mannigfaltigkeit von
Recensionen. 317
Formen des ästhetisch Reizenden oder Ansprechenden, dass er der Kunst-
lehre, wie er sie wenigstens in den Umrissen entwarf, schliesslich auch
noch Untersuchungen in Betreff der Modifikationen des in der weitesten
Bedeutung genommenen Schönen, in Betreff der Unterschiede, welche
zwischen dem Schönen im strengeren Sinne und dem Erhabenen zu Tage
treten, der Natur des Komischen und Humoristischen, kurz der mancherlei
Weisen des Gefallens, die sich von der eigentümlichen Wohlgefälligkeit
des Schönen mehr oder weniger unterscheiden, folgen lässt. Darnach
ergiebt sich unter Berücksichtigung besonderer Züge der Kantschen
Ästhetik, deren Ausgestaltung auf die Gliederung einer zunächst und un-
mittelbar von ihr handelnden Schrift natürlich nicht ohne Einfluss bleiben
kann, ganz von selbst die Einteilung des Buches. Dasselbe zerfällt nach
einer längeren Einleitung, welche die entfernteren historischen Voraus-
setzungen der Kantschen Ästhetik nachzuweisen sucht, sodann die eigent-
lichen Wurzeln dieser Ästhetik blosslegt und ihren allgemeinen, nach
Baschs Meinung wesentlich synthetischen Charakter kennzeichnet, hierauf
endlich die vom Verf. — Basch — selbst angewandte Methode bespricht,
in 7 Kapitel: 1. „La methode" (eine Prüfung der formalen Eigentümlich-
keiten des Kantschen Philosophierens), 2. „Le sentiment", 3. „Le jugement
reflechissant theoriijue", 4. „Le jugement reflöchissant esthetique", 5. „Le
sentiment esthetique", 6. „L'art, l'artiste et les beaux-arts" und 7. „Le beau et
ses modifications". Der Kenner bemerkt sogleich, dass hauptsächlich die
Einfügung des 3. und allenfalls auch die des 4. oder mindestens die
Überschrift dieses 4. Abschnittes auf jene eben erwähnte unvermeidliche
Anpassung des Ganges und der Form der Untersuchung an die Kon-
zeptionen des Systems, welches die Untersuchung zu Grunde legt und von
dem sie ausgeht, zurückzuführen ist, während sich in der sonstigen Anlage
des Werkes mindestens ebenso sehr die eigenen ästhetischen Grundvor-
stellungen des Autors wie die Erfordernisse einer die Eigenart ihres Gegen-
standes im Auge behaltenden und derselben Rechnung tragenden Kritik
wiederspiegeln.
Ist im Voranstehenden der Plan der Arbeit bezeichnet, so lassen sich
die wichtigsten Ergebnisse, die der Verf. gewinnt, kurz in folgendem zu-
sammenfassen: Die allgemeinen, formalen Schwächen der Kantschen Denk-
weise machen sich auch auf dem Gebiete der Ästhetik fühlbar; der Hang
zur aprioristischen Konstruktion nämlich und die Vorliebe für streng regu-
läre Systematik, welche Hand in Hand gehen mit der Neigung, das aus irgend
einem Grunde, oft eben bloss dem Grunde der regelmässigen Architektonik
des Lehrgebäudes Gewünschte oder Postulierte in ein thatsächlich Er-
kanntes umzuwandeln, bringen Verletzungen des natürlichen Denkens mit
sich, die auch durch den grössten Scharfsinn nicht gut gemacht werden
können. Hinsichtlich des Inhaltes seiner Begriffsfassungen aber greift Kant
darin fehl und setzt er sich in teilweisen Widerspruch mit sich selber,
dass er das Gefühl als Basis und Prädikat des ästhetischen Urteils einer-
.seits anerkennt, andererseits verleugnet. Und zwar hat diese Verleugnung
des so klar und ausdrücklich Zugestandenen ihre Quelle in dem Bemühen,
dem fraglichen Urteile eine Art Allgenieingültigkeit zu sichern, die es im
Hinblick auf die erfahrungsmässige Verschiedenheit der ästhetischen Wir-
3JQ KcctMisionon.
knnj? dos nämlichen C.i\u;(>nst:Mulos auf vcrscliicMlono Subickto nnti\rlicli
vt>rliiMvn niilssto. sobald nichts als ilio Bcsihal'fonhcit solcher Cu>fühls-
viikung in ihm aiis<;esust wilrde, oder die man ihm dann \venip;stens niclit
von vornherein zusprechen dürfte, bevor man nicht iM-st alle Krfaliiiiiii^s-
thatsachen kennen «gelernt nnd die der Hi'hauptun^z; scheinbar ent;j;e;;en-
stehenden als Täiischung und Truc^ nachi^ewiesen hätte. So verlässt Kant,
um die Allgemeinheit und Notwendigkeit der ästiietischiMi Urteile besorgt,
immer wieder den Standpunkt, welchen er zufolge einiger seiner Formu-
lierungen thatsächlich einnimmt, und fällt er in die sonst längst über-
wundene metaphvsisch-teleologische Betrachtungsweise der Leibnitz-Wolff-
schen Schule zurück. Allerdings nimmt bei ihm die teleologische Scluin-
heitsauffassung eine subjektive Wendung, indem es sich nicht sowohl um
die innere Zweckmässigkeit des schönen Dinges selber, als vielmehr um
dessen glückliche Anpassung an die menschlichen Erkenntniskräfte handelt,
deren harmonisches Zusammenspiel eben durch die ästhetisch wertvolle
Erscheinung ermöglicht oder veranlasst werden soll; aber diese teilweise
Verlegung der Zweckmässigkeit ins subjektive Gebiet kann die Verwandt-
schaft mit den Lehren der älteren Metaphysik nicht völlig aufheben, und
sie erweist sich vor allem auch als ganz ungeeignet, dasjenige zu leisten,
was sie leisten soll, nämlich der ästhetischen Schätzung die Allgemein-
gültigkeit zu verbürgen. Der Zusammenhang der materialen Irrtümer und
Missgriffe der „Kritik der Urteilskraft" mit den allgemeinen, methodischen
Mängeln der Kantschen Philosophie liegt hier klar zu Tage: das Postulat
der Allgemeinheit des ästhetischen Urteils wird zu einer Thatsache ge-
macht und verfährt in imperativischer Weise mit den wirklichen That-
sachen, die sich fügen müssen und gar nicht zu Worte kommen gegenüber
der a priori erhobenen Forderung. Nach der metaphysischen Seite ist der
Gedanke eines einträchtigen Zusammenwirkens von Natur und Geist in
der Auffassung des Schönen insofern nicht bedeutungslos, als er zur Konse-
quenz einer pantheistischen Weltanschauung drängt, wie sehr auch Kant
in den anderen Teilen seines philosophischen Sj'stems einer solchen Welt-
anschauung ferne zu stehen scheint.
Mit dieser Kant-Kritik, gegen deren Resultate mit Ausnahme des
letzten Punktes, der angeblichen pantheistischen Tendenz der Kantschen
Ästhetik, sich schwerlich viel dürfte einwenden lassen, verbindet nun, wie
gesagt, der Verf. die Entwicklung einer eigenen ästhetischen Theorie. Dass
er von der Gefühlsmässigkeit der ästhetischen Schätzung ausgeht, wurde
schon früher hervorgehoben. Das Prädikat des ästhetischen Urteils ist
ihm — darin stimmt er mit Kant überein — notwendigerweise ein Lust-
oder Unlustgefühl. Dieses Gefühl kann jedoch im übrigen sehr ver-
schiedener Art sein, bald einer höheren, bald einer niedrigeren Klasse von
Emotionen zugehörig, jetzt rein sinnlich, jetzt eminent spirituell, je nach
dem eben der ästhetischen Beurteilung unterliegenden Gegenstande oder,
noch genauer geredet, je nach den Faktoren, aus welchen sich die ästhe-
tische Auffassung eines solchen Gegenstandes zusammensetzt; denn in den
scheinbar einheithchen emotionellen Gesamteindruck eines schönen oder
hässhchen Objektes gehen sinnliche und intellektuelle Elemente in den
mannigfachsten Mischungsformen ein, und sind insbesondere der unmittel-
Recensionen. 319
bare Sinnenreiz, das intellektuelle Vergnügen, welches aus der Anschauung
der Einheit in der Mannigfaltigkeit entspringt, und die Effekte der Ideen-
assoziation solche Ingredienzien, die bei keinem ästhetisch anmutenden
Dinge in dessen Totahvirkung vermisst werden. Das ästhetische Ver-
halten im allgemeinen aber stellt sich als ein rein kontemplatives dar:
hierin liegt es begründet, dass man das Schöne dem Guten und Nützlichen
gegenüberstellen kann, und hiermit kommt auch die Bestimmung Kants
von dem „interesselosen" Wohlgefallen am Schönen, soweit sie berechtigt
und haltbar ist, zur Geltung; denn im strengsten, eigentlichsten Wortsinn
ka nn diese Interesselosigkeit schon deshalb nicht verstanden werden, weil
^ie, so gefasst, mit dem Wesen des Gefühls ganz und gar unverträglich
und mithin ein „interesseloses Wohlgefallen", sei es ästhetischer, sei es
anderer Gattung, ein Widerspruch in sich wäre. Bei der Unterscheidung
der ästhetischen von den ethischen Gefühlen aber scheint um so grössere
Vorsicht geboten, als die ästhetische Lust gleichfalls einen sozialen,
altruistischen Zug hat: die Freude am schönen Gegenstande ist eine Art von
Sympathie mit demselben, die nur zur Voraussetzung hat, dass dieser
•Gegenstand von der Phantasie vermenschlicht, dass menschliches, seelisches
Leben in ilin hineingetragen wurde. Nirgends ist diese Gabe der sym-
pathischen Einfühlung höher entwickelt als beim Künstler, welcher daher
als der ästhetische Mensch par excellence erscheint. Indes nimmt nach
den verschiedenen psychologischen Typen, zu welchen das Künstler-
individuum gehört, die ästhetische Erregbarkeit verschiedene Gestalten an,
und so ergiebt sich die Mannigfaltigkeit der Künste einfach aus der
Differenz dieser Typen, vor allem aus dem Gegensatze zwischen dem
visuellen und auditiven Typus, welcher die Scheidung in Künste des Ge-
sichts und des Gehörs notwendig macht.
Das sind, in knappster Form dargestellt, die Grundgedanken des
Buches. Was Basch über die Modifikationen des Schönen äussert, hat
nicht Bedeutung genug, dass in diesem vorläufigen Referat darauf ein-
gegangen werden müsste, und auch für eine breitere Kritik der positiven
Aufstellungen des Verfassers fehlt es hier an zwingendem Anlass, zumal
diejenigen Punkte, welche solche Kritik vor allem herausfordern, ohne dies
ins Auge springen. Zwischen der Auffassung der ästhetischen Gefühle als
•der bei kontemplativem Verhalten des Subjektes entstehenden Emotionen
■einerseits und der Definition dieser närtilichen Gefühle als sympathischer,
gleichsam durch anthropomorphistische Assoziation vermittelter sozialer
andererseits klafft offenbar ein Gegensatz, der nicht so ganz leicht zu über-
brücken sein möchte. Denn vergebens sucht man nach einem verständigen
Grunde dafür, dass im kontemplativen Zustande sich immer und überall der
Ei nfühlungs- oder Vermenschlichungsprozess vollziehen, somit die unerlässliche
Bedingung für eine der sozialen Sympathie analoge Gefühlsregung erzeugt
werden müsste, so wie schon nicht recht einzusehen ist, warum zu dem
•ersten Faktor des ästhetischen Gefühls, dem einfachen Sinnesreize, in sämt-
lichen Fällen unweigerlich auch die intellektuelle Lust an der Verknüpfung
von Einheit und Mannigfaltigkeit und die Wirkung der As.soziatiouen sich
hinzugesellen. Genügt das kontemplative, von allen Zweckrücksichten
absehende und aller Impulse zur Thätigkeit entbehrende Verhalten des
320 Keconsionon.
Subjektes, um die in solchem Zustnmlo erweckten Gefühle als iisllietische-
erscheinen zu lassen, dann ist jede weitere Bestimmunj;- überflilssi-; und
ireradeswesrs von der llaml /.n weisen. w«>nif;stens, so lanj^c iiiciit der
Beweis erbracht ist. dass es keine Ivnutemiilation ^icbt, kcinr unniiltclli.ur
Hini^ahe an die Heize der Ausscnwelt. widcr luini Menschen uocii hei
anderen Cieschöpfeu, in deren Einzelakten von Aufan;,' bis zu Kndr sicli
diese Bestinununijen nicht bewähren.
Baselis Werk ist trotz dem mächtigen l inl'.iii^r und der l"lilif der
in ihm niedergelegten Erörterungen nur i-in Stück aus ciuir grösseren
Serie von Publikationen, welche dir NCrlasser plmit. und als Ergänzung,
sollen diesem vorwiegend kritisclien Teile nocii andere Bände folgen, worin
teils die Entstehungsgeschichte der Ästlietik des Königsberger Denkers,
teils die von ihr ausgegangenen philosophischen Bewegungen, die Impulse,.
welche sie der Wissenschaft vom Schönen gegeben liat, eingehender be-
handelt werden sollen, teils endlich eine streng sy.stematische Darstellung
der ganzen Xantschen Ästhetik nachträglich sozusagen das Substrat für
die kritischen Ausführungen des zuerst erschienenen Buches zu liefern
liätte. Ob indes in einem solchen „systematischen" Teile viel gesagt
werden könnte, was nicht schon in dem vuiliegenden Band Aufnahme ge-
funden, und ob es einen Sinn hätte, das schon ]\Iitgeteilte noch einmal,,
höchstens in verschiedener Anordnung, zu bringen, darf man füglich be-
zweifeln. Mit um so grösserer Spannung aber wird dem Erscheinen der
zwei anderen in Aussicht gestellten Teile jeder entgegensehen, der sicli
aus dem liier angezeigten Werke von der Urteilsschärfe des Verf., seiner
ausserordentlichen Litteraturkenntnis und der Gediegenheit seiner philo-
sophischen Bildung überzeugt hat.
Graz. Hugo Spitzer.
Didio, C. Die moderne Moral und ihre Grundprinzipien,
(Strassburger Theolog. Studien. Herausgeg. v. Dr. Ehrhard und Dr. Midier.
II. Bd., 3. Hft.) Freiburg i. B Herder 1896 (Vll und 103 S.).
Die Studie ist hervorgegangen aus einer der AVürzburger theo-
logischen Fakultät eingereichten Dissertation „der ethische Gottesbeweis"
und verfolgt den Zweck einer „Widerlegung der liberalen Ethik überhaupt".
In dem populär gehaltenen ersten Kapitel sind die Angaben über eine
_neuchristliche" oder „neumystische Bewegung" von Interesse, die in
Frankreich von Desjardins, Brunetiere u. a. ausgeht. Im Folgenden werden
nacheinander die ethischen Theorien des Eudämonismus und Utilitarismus,
des Positivismus und Darwinismus (Spencer), das „Moralprinzip des Kultur-
fortschritts" (Wundtj, Kants Ethik und die des Pessimismus kritisiert. Die
Fragestellung ist nirgends völlig klar; sittliche Praxis und ethische Theorie
werden, wie gewöhnlich in der theologischen Ethik, nicht scharf genug
auseinander gehalten; Begriffe wie „eigenes Interesse", „sittliche Ordnung",,
„objektiv", „absolut" werden inhaltlich nicht genau bestimmt und nicht
immer in der gleichen Bedeutung gebraucht, wie überhaupt ein präziser
Sprachgebrauch nicht zu den Vorzügen der Schrift gehört. Als „That-
sachen des sittlichen Bewusstseins", auf die der Verf. immer wieder zurück-
kommt, proklamiert er schon in der Vorrede seine Ansichten über das,,
Kecensionen. 321
was der Mensch solle und was er nicht dürfe. Eine Anah'se des psA'cho-
logisch wirklich dejifebenen wird zwar wiederholentlich, z. B. Spencer
gegenüber, am rechten Orte gefordert, aber nirgends gründlich unter-
nommen, so dass Behauptungen wie die: Wundts „Ansicht vom Willen" sei
„rein willkürlich ja geradezu unmöglich", fast gänzlich in der Luft schweben.
Die Kritik des Eudämonismus und Positivismus ist vielfach recht über-
zeugend; sie bewegt sich in bekannten Bahnen und leidet noch am
wenigsten unter der Verwechslung von Thatsachen und dogmatischen
Glaubenssätzen. Wundts Etliik wird ziemlich oberflächlich behandelt.
Der (auch gegen andere Moraltheorien erhobene) Vorwurf, es fehle der
Beweis für einen Endzweck, ein letztes Ziel des menschlichen Wollens,
ist charakteristisch für die metaphysischen Tendenzen des Kritikers. Die
wissenschaftliche Ethik erkennt mehr und mehr die Unlösbarkeit dieser
Frage und die Sinnlosigkeit dieses ganzen Begriffs. Aber es ist nicht
wahr, dass jede Entwicklung nur soviel Wert habe, „als das Ziel Wert hat,
zu dem sie führt". Man muss die Begriffe Endzweck und unbedingter
Wert auseinanderhalten. Namentlich für die Kritik der Kant ischen Ethik
ist das unerlässlich notwendig. Didio interessiert sich ganz besonders für
Kants Lehre vom höchsten Gute, vernachlässigt aber völlig die wichtige
Scheidung, die Kant selbst zwischen dem „obersten Gute" und dem „ganzen
und vollendeten Gute" vollzieht. Das erste könnte einer empirischen Be-
stimmung fähig sein, während es das zweite nicht wäre. Unser Kritiker
verwechselt auch die Begriffe absoluter Wert und absolute Existenz; des-
halb ist er a priori überzeugt, dass in der men.schlichen Persönlichkeit das
absolut Wertvolle nicht könne gefunden werden. Kant habe „den absoluten
Charakter des Sittlichen erkannt, den Pflichtimperativ in voller Stärke
erfasst". „Allein durch seinen Kriticismus hat er sich den Weg zur Be-
gründung verschlossen." Das Postulat des höchsten Gutes zeige den
richtigen Weg (einer theologischen Ethik). Der von Kant postulierte Gott
körme noch „metaphysisch wegdisputiert werden". Didio glaubt, das Da-
sein Gottes beweisen zu können. — Stichhaltig ist an dieser Kritik Kants
wohl nur der Hinweis auf die Mehrdeutigkeit des Wortes „praktische
Vernunft".
Der Pessimismus erfährt weitaus die gründlichste Behandlung. Hart-
manns Moralphilosophie bedeutet für den Verf. das „letzte Wort" aller
nicht theologischen Ethik. Deshalb verfolgt er sie bis in ihre ab.surdesten
Konse(juenzen. Ihr „Hauptvorzug'* sei „die klare Erfassung der sittlichen
Ordnung als AVeltteleologie, die vernichtende Kritik der rein menschlichen (I)
Moralsysteme, die klare Erkenntnis der Notwendigkeit einer metaphysischen
Begründung der Thatsachen des sittlichen Bewusstseins durch einen
absoluten Willen". Die gegenwärtige „Krisis der Moral" könne nur durch
die Rückkehr „zu der altbewährten theistischen Philosophie des Christen-
tums" überwunden werden.
Leipzig. Felix Krueger.
Mac Vannel. John August, Ph. D. Assist, in Philos. Columb. Univ.
HegeFs Doctrine of the Will. (Contributions to Philosophy, Ps3-cho-
logy and Education. Vol. II. No. 2.) New- York 1896. (102 S.)
322 lioconsioiuii.
Auch wer in Ilci^ols Svstom nicht, wie der Verf., den voUkoninuMiston
Ausdruck deutschen I'hihisophieri'ns i>ihlickt, wird das [InttMnclmu'U (>incr
zusanunenfasseiiden DarsteUunp; st>iner Ktliik fri'udii^ he^rüssen. Mac Vaiinel
hebt aus dein Werke llcLCels. nainent liili aus dem dritten Teil (h-r l,oü;ik
(Phil. d. s)d\j. Geistes), (his lu'rvDi-, was ilmi als das iiiMi;il|iliilus(>|iliIscli
AVertvoUste erscheint. Die ilber.sichtiiche Darstellung der I laupt^cdanken
schliesst sich teilweise eng an neuere anu-rikanische Philosophen, an
Watson, Seih ii. a. an. Die einleiti'ndea historischen Abschnitte enthalten
manches geschickt gewählte Schlagwort. Dabei entgeht freilich der Schüler
Hegels nicht immer der Gefahr eines rationalistischen Konstruierens. Er
ist überzeugt, dass auch die Kantische Philosojjhie ihre h('ichste Vollendung
erst durch Hegel gefunden habe, und schon seine Formulierung Kantischer
Gedanken ist von dieser philo.sophischen Schulmeinnng mit bestimmt.
Wenn wir lulren, das Hauptergebnis der kritischen Philosophie sei: dass
das Absolute nicht als Substanz, sondern als selbstbewusster Geist auf-
gefasst werde; oder wenn es hcisst, wir hätten nach Kant ,,die Natur der
absoluten Realität als eine geistige (Spiritual) aufzufassen" und insbesondere
„Raum und Zeit als abhängige Funktionen des Absoluten zu betrachten",
— so ist da, wie auch sonst vielfach, das Richtige all/.u Hegelisch aus-
gedrückt. Dagegen kann man dem Verfasser natürlich zustimmen, wenn
er Kants Lehre wiederholt dahin zusammenfasst, dass ohne ein Subjekt
kein Objekt existiere; dass Existenz nur Sinn habe für ein denkendes
Selbst; dass „die Einheit des Selbstbewusstseins das Prinzip sei, auf das
man alle Dinge als auf ihre letzte Erklärung zurückzuführen habe". Auch
der Einwand ist gerechtfertigt, dass Kant nur inkonsequenterweise ein
Affiziertwerden des Bewusstseins durch die Dinge an sich annehme, und
dass er die „Kluft" zwischen Spontaneität und Rezeptivität auf theo-
retischem wie auf sittlichem Gebiet nicht ganz habe zu überwinden ver-
mocht. Was die Kantische Ethik betrifft, so hätte eine eingehende Kritik
ihres „Rigorismus" und „Formalismus" den Gegensatz zwischen Vernunft
(oder Pflicht) und Neigung auf seinen berechtigten Kern hin zu unter-
suchen. Eine Andeutung davon findet sich bei Mac Vannel in der Be-
merkung (S. 66): Kant habe schliesslich den Unterschied im Auge gehabt
zwischen: dem Handeln aus dem Bewusstsein des Gesetzes und dem
Handeln als ein dem Gesetz Unterworfenes. Nach der Ansicht des
Referenten handelt es sich im Grunde vielmehr um den noch fundamen-
taleren, auch von Hegel vernachlässigten, Unterschied zwischen der mo-
ralischen Beurteilung und ihrem Objekt, dem moralischen Verhalten.
Der Fortschritt Fichtes, Schellings und besonders Hegels über Kant
hinaus soll darin be.stehen, dass sie den erwähnten Dualismus mehr und
mehr überwinden; in Hegels System sei er re.stlos aufgelöst. Dabei werden
überall die Gegensätze: Noumenon und Phänomenon, Denken und Sein,
Geist und Natur, Unendliches und Endliches, Gesellschaft und Individuum,
Freiheit (oder Verantwortlichkeit) und Notwendigkeit, Vernunft und Neigung,
als Formen eines und desselben Dualismus einander völlig parallel gesetzt,
— was sicherlich dem Geiste der Hegeischen, aber keineswegs dem der
Kantischen Philosophie entspricht. Das Hauptverdienst und die Originalität
Hegels wird darin gefunden, dass er diese historischen Gegensätze als
Recensionen, — Selbstauzeigen. 323
Korrelate, ihre Ansprüclie als einander ergänzende begreife. Hegels
Problem sei, „diejenige Einheit zu bestimmen, die der Natur wie der
Geisteswelt als Prinzip zu Grunde liegt", und zugleich in müglichst um-
fassender Weise festzustellen, wie diese „Realität" in den verschiedenen
Gestaltungen des Kulturlebens „sich offenbare". Hegels leitender Gedanke
sei überall der Gedanke der Entwicklung. Dasjenige, w a s im Natur-
geschehen wie im Geistesleben sich entwickelt, das Prinzip der gesamten
Weltbewegung, ist für ihn bekanntlich „der" Geist oder „die" Vernunft.
Eine Kritik dieses metaphysischen Gedankens ist hier nicht am Platze.
Dass Hegel „weder in seinen Prämissen noch in seinen Schlussfolgerungen
über die Erfahrung hinausgehe" (14), wird kein durch Kants Erkenntnis-
kritik geschärftes wissenschaftliches Gewissen zugeben. In den vier letzten
Kapiteln unsrer Schrift, die fast ausschliesslich Hegels Freiheitslehre und
Ethik behandeln, werden mit gutem Takte gerade d i e Ergebnisse des
universalen Hegeischen Denkens wiedergegeben, die noch heute von hohem
philosophischen Interesse sind. Und die Darstellung gewinnt dadurch an
überzeugender Kraft, dass sie nicht auf die deutschen Originale, sondern
überall auf moderne englische Übersetzungen mit ihrer realistischeren
Terminologie gestützt ist. — Hegel kommt über die Vermögenspsychologie
ebenso weit hinaus, wie über die atomistischen Gesellschaftstheorien seiner
Vorgänger. vSeine "Willenslehre ist reich an wichtigen Problemstellungen.
Aber seine Definitionen und kühnen Identifikationen können eine rein
empirische, historisch-psychologische Gesellschaftswissenschaft nicht ersetzen.
Seine monistische Metaphysik hat das Erkenntnisproblem nur von Neuem
formuliert; und die ethischen Fragen des Verhältnisses zwischen Individuum
imd Gesamtheit sind durch seine Lehre von der absoluten sittliclien Be-
deutung des Staates keineswegs endgültig beantwortet. Die kritiklose
Bewunderiing, mit der man dem Hegeischen Staatsabsolutismus neuerdings
in Amerika begegnet, ist ein interessanter Beweis für den Einfluss der
politischen und wirtschaftlichen Entwicklung auf die Philosophie der
Völker.
Leipzig. Felix Krueger.
Selbstanzei2:en.
Marcus, E. Die exakte Aufdeckung des Fundaments der
Sittlichkeit und Religion und die Konstruktion <ler Welt aus
den Elementen des Kant. Leipzig, H. Haacke, 1899. (XXXI und 400 S.)
Kant bezeichnet es (Metaphys. Anfangsgründe d. Naturwissensch.
Anm. zur Einl.) als „verdienstlich", nachzuweisen, wie durch die Kate-
gorien Erfahrung zustande komme. Ich halte es für notwendig, zu
zeigen, wie sich aus den apriorischen und aposteriorischen Faktoren die
324 Solbstanzeifjon.
\\ i'lt n^kKiistruiiTon lassr; aiuKriifalls bleibt tlio f:;rosso Massr, wcloho
stets die siniu'nfälligo Bestätigung lugischer (U'wisslu'it verlangt, unberührt.
Eiu solcher Versuch dürfte mindestens dm Weit einer neuen Angriffs-
methode auf das starkversclianzte Lager der Kmpiriker luiben. Kr zwingt
aber audi. terminoh)gische Scliwäclien des Kantschi-n Systems schärfer
aus Licht zu zielien. Die funilierenden Cu'danken, welche die Kinheit des
Systems darlegen, sind folgende:
1. Ich unterscheide das latente (verborgene) vom diskreten (unter-
scheiilenden. offenbaren) Bewusstsein. Wie der Wasserdampf keine Ne\i-
bihhing von Materie, sondern Variante von vorliandener Materie ist, so ist
die Empfindung keine absolute Keubildung (generatio ae(|uivoca), sondern
Variante eines latenten Bewusstseins (Vitalgefülils); z. B. die Wärme ist
Variante des latenten normalen Temi)eraturgefühls. Absolut beharrlich und
dem ganzen Typus nach bekannt, daher apriori, sind die reinen Vitalgefühle
der „Zeit" und des „Eaumes". Ihre A''arianten nehmen ihren Charakter an
(.Dauer nnd Ausdehnung;. Sie sind ferner nur Partial Varianten. Dadurch
entsteht ein Kontrast; das bis dahin latente Bewusstsein wird diskret,
dass Raum und Zeit sich über jede ihrer Varianten hinauserstrecken. Diese
Erkenntnis ist nicht Erfahrung, sondern Rekognition eines ursprünglichen
Bewusstseins im Kontrast zur Erfahrung. Apriori ist ferner: das latente
Selbstbewusstsein, in Kontrast zu welchem die Empfindung den Charakter
des „Fremden", des „Eindrixcks" erhält. Raum — Zeit — und Selbst-
Bewusstsein bilden den apriorischen Organismus. Als seine Varianten
heissen die Empfindungsgebilde Sinneserscheinungen, als Realitäten, die
unter sich zusammenhängen, Natur erscheinungen. Sie sind dem Organismus
immanent; was als ausserhalb desselben bestehend gedacht wird, heisst
„transscendent". Die Integrität dieses Organismus ist apriori bekannte Vor-
aussetzung der Erkenntnis; daher wissen wir, dass die Welt als Objekt
und in Raum und Zeit auftreten muss.
II. Die Handlung ist eine Wirkung, welche das Subjekt der Hand-
lung voraussieht (Prognosis). AVenn ich mich fortbewege, so lenkt die
Prognosis des Weges meine Schritte. Diese diskrete Prognosis ist keine
absolute Neubildung, sondern die Variante und zugleich die W^irkung
einer latenten Prognosis. Die Letztere liegt der ursprünglichen Thätigkeit
(vitalen Urfunktion), nämlich dem Denken zu Grunde. Ohne dieselbe
würden wir das Denken nicht als Eigenthätigkeit auffassen. (Ohne
Prognosis kein Bewusstsein der Eigenthätigkeit.) Diese latente apriorische
Prognosis besteht in der Kenntnis dessen, was wir „Regel" nennen. Sie
ist scheinbar gehaltlos (gerade wie der Raum die Leere ist), ist aber das
Mittel (causa dirigens), „geregelt" zu funktionieren und neue funktions-
leitende „Regeln" zu bilden (ursprüngliche Induktion; Apperception). Z. B.:
Der „Wiederholung" zum Zwecke des Lernens liegt die Prognosis des
„regelmässigen" Funktionierens zu Grunde. Raum und Zeit sind in „regel-
mässige" Teile zerlegbar, sind daher Komplemente der „Regel" und insofern
„Ordnungen". Alle Erscheinungen sind Varianten von Raum- oder Zeit-
Teilen, bilden daher eine räum- und zeit-homogene Ordnung, sind also
Subordinanden der apriorischen Regel und Motive für die Induktion neuer
Regeln, die ihre Ordnung prognostisch machen. Die Anwendung der
Selbstanzeigen. 325
„Regel" auf den apriorischen Ordnungstypus der Varianten und auf ilir
Verhältnis zur urspriin<i:lichen Regclprognosis ergiebt allgemeine Regel-
begriffe (Kategorien), welche (apriorische Neubildungen) die Varianten als
Subordinaten der Regel qualifizieren. Sie ergiebt ferner apriorische Regel-
bildungen, welche mit der Erfahrung dadurch kontrastieren, dass sie über
die Erfahrung hinausgehend das All der Erfahrung befassen, (z. B. Kausal-
und Substantialgesetz). Alle Sonderregeln sind Analogien und Sub-
ordinaten der „reinen Regel", wie alle „Örter" Teile des „Raumes" sind.
III. In der „Regel" kennt das Subjekt sein ursprüngliches Instrument
(latentes Zweckbewusstsein). Es fasst dasselbe apriori als „vollstcändig"
(universal, absolut zureichend) auf. Der Anwendung der ,,Regel" („Logos")
läuft also die vor-logische .,Tdee der Vollständigkeit'" voraus. Diese Idee,
übertragen auf die Subordinaten der Regel, erji^iebt z. B. die Idee der
ewigen Zeit, des unendlichen Raumes, der vollkommenen (daher trans-
organischen) Erkenntnis und ihres Objekts (Ding an sich), der Originar-
fJYei- lUrsache im Gegensatz zur Kategorie der (bewirkten) Ursache,
von denen die letztere auf „Erscheinungen", die erstere auf das ,.Ding an
sich" anwendbar ist.
IV. Das ethische Bewus.stsein beruht auf der Thatsache, dass die
„Regel" nicht nur Instrument ist, sondern als UniversaI-(Ideal-)Regel
motorische Kraft äussert. Das Motiv (causa excitans) der Natur-Hand-
lung ist die Neigung, Instrument ihrer Befriedigung (causa dirigens) ist die
Prognosis der Naturregel. Das Motiv (c. excitans) der ethischen Hand-
lung ist die Universalregel, Erkenntnismittel ihrer Befolgung (c. dirigens)
ist die ^fremde) Neigung. Die durch Selbstliebe (Neigungsreflex) gebundene
motorische Kraft der Universalregel tritt hervor als absoluter Befehl (kate-
gorischer Imperativ), ihr gemäss zu handeln („du sollst"). Imperium und
Universalregel sind die Elemente des Gesetzes (Sittengrundgesetz). Der
Befehl richtet sich an das Subjekt, welches den Befehl vernimmt (ver-
nünftiges Wesen), und macht es zur Subordinate (Unterthan) der Universal-
regel. Da jede Universalregel alle Elemente derselben Gattung trifft, so
macht das Gesetz alle vernünftigen Wesen zu Unterthanen und stellt sie
gleich. Durch die Instrumentalregel (hypothetischer Imperativ) wird die
Kausalität der Subordinanden (Erscheinungen) nur begriff en, die motorische
Regel hat die Tendenz, die Kausalität der Unterthanen (mittelst eben dieser
Kausalität^i zu regulieren, d. h. den Widerstreit der Neigung.skausalität
zu kompensieren, die Harmonie der Neigungen herbeizuführen. Die dem
vollzogenen Gesetz entsprechende prognostische Ordnung heisst „sittliche
Weltordnung". Das Gesetz ist hier Urgrund einer naturfremden (idealen)
Erscheinungs-Ordnung, daher Originar-Causa; das Subjekt, sofern ihm diese
Frei-Kausalität angehört, ist Ding an sich. Aus der Forderung: (Petitio) des
Gesetzes lassen sich diejenigen Verheissungen (Sponsa) und Garantien iDicta)
ableiten, welche notwendig sind, das Gesetz — den Urgrund der Erkenntnis
des Gerechtfertigten — selbst als gerechtfertigt zu erkennen (ratio
justificationisi, nämlich: ethische Freiheit, höchstes Gut, unsterbliche Seele,
Dasein Gottes.
Essen (Ruhr).
E. Marcus.
:\'2a Si'Utstanzeigcn.
Petronievics, Bniuislav. 1)it Satz vom (5 runde. Kinc lo^ischo
Unteisiii-hun';. Li'ip/i^fr Hiss. Belgrad INDS.
Das wenig bo.irbeitoto Problem des Satzes vimii (iniiulc liildi t das
Thema meiner Arbeit. iKii Irt/ti'ii Au.s^anj:;si)unkl der Arbeit liildct Ivant,
der in seiner epocliemaehendeu Sclnilt „Versuch, den Ee^^riff der negativen
Grössen in die AVeltweisheit einzuführen" den alten Rationalismus im
Prin/ip angegriffen, indem er klar den von diesem verkannten Unterschied
des positiv-kontradiktorischen von dem negativ-kontradiktorischen Verhältnis
zweier Begriffe darlegte. Kant blieb aber der innere Zusammenhang dieser
beiden Verhältnisse verschlossen, und so erklärte er mit dem Rationalismus
nur den letzteren für logisch (logische Opposition), den ersteren aber für
alogisch (reale Opposition). Ich zeige nun, dass das negativ-kontradiktorische
Verhältnis aus dem positiv-kontradiktorischen deduzierbar ist, dass dieses
letztere dem ersteren gegenüber primär ist, wodurch der Rationalismus,
wenigstens von dieser Seite her, wieder lebensfähig geworden ist. Ich
zeige weiter, dass sich der Unterschied dieser beiden Verhältnisse auf den
Unterschied des Widerspruchs- und des Identitätssatzes zurückführt (was
Kant nicht bemerkt hat), indem ich zeige, dass der Widerspruchssatz ein
synthetisches, der Identitätssatz ein analytisches Urteil a priori ist. (Den
Unterschied analj^ti&cher und .synthetischer Urteile formuliere ich anders als
Kant, obgleich, wie mir scheint, im Geiste Kants; diese Unterscheidung
hängt mit meiner dabei skizzierten Urteilstheorie zusammen.) Das Resultat
dieses ersten Teils meiner Arbeit, in dem das Verhältnis des Satzes vom
Grunde zu den übrigen Denkgesetzen untersucht wird, ist, dass der Satz
des Widerspriichs das einzige inhaltliche Grundgesetz des Denkens ist, dem
der Satz vom Grunde als das einzige formale Denkgesetz gegenübersteht,
und dass diese beiden Sätze die beiden Seiten des obersten Denkprinzips,
des Beziehungsprinzips, sind. Der zweite, spezielle Teil prüft zunächst die
Unterscheidungsgründe zwischen dem sogenannten Real- und Erkenntnis-
grimd (diesen Unterschied hat bekanntlich Kant in der obenerwähnten Schrift
gemacht) nud weist nach, dass nur derjenige triftig wäre, der dem Denken
die Fähigkeit abspricht, das innere Verknüpfungsband zwischen Grund und
Folge anzugeben. Ich zeige nun weiter, dass dieses Verknüpfungsband in
derXegationsbeziehung liegt, wobei ich mich aufdas Notwendigste beschränkt
habe, weil man son.st tief in die Metaphysik hineingehen müsste. Der
Hauptpunkt meiner Arbeit liegt in dem weiteren Nachweis, das sowohl das
Bedingt- als das Unbedingtnotwendige (Aussen- und Selbstgrund), diese
beiden Arten der Begründung, aus dem Negationsprinzip, so wie ich es
Kant entgegen auffasse, hervorgehen, dass weder in dem Bedingt-Notwendigen
allein (Schopenhauer) noch in dem Unbedingt-Notwendigen allein (Kant)
das Notwendige zu suchen ist. Aus dem so bewährten Negationsprinzii^ sind
nun weiter alle die möglichen Abhängigkeits- (und zugleich Negations-)
arten deduziert, und das Schema derselben am Ende der Abhandlung spricht
durch jene wunderbare Architektonik für seine innere Wahrheit und dadurch
für die Wahrheit aller meiner Ausführungen überhaupt. In dem Anhang
ist das Verhältnis des Satzes vom Grunde zu dem Zweck-, Evolutions-
und Substanzprinzip beleuchtet, wobei ich besonderen Wert auf meine Ver-
söhnung des Zweck- und des Kausalprinzips lege.
Belgrad. Dr. Branislav Petronievics.
Selbstanzeigen. — Litteratuibericht. 327
Staudinger, F. Ethik und Politik. Berlin. Dümmler, 1899. (162 S.)
Die Absicht der Arbeit ist, die im politischen Leben heute waltenden
Triebkräfte zu skizzieren und am Mass.stabe wissenschaftlich - ethischer
Prinzipien auf ihre Berechtigung zu prüfen. Dabei kommt sie zu dem Ziel,
dass der christliche Grundgedanke von der Einheit des Reiches Gottes, der
Kantische Grundgedanke von der Einheit der Zwecke und der sozialistische
Grundgedanke einer zielbewusst geordneten Gemeinschaft freier Menschen
im "Wesentlichen derselbe sei. Die volle Konsequenz aber wird letzterer
Gedanke erst erlangen, wenn das Prinzip einheitlichen Erkennens und ein-
heitlichen vernünftigen "Wollens selbstbewusst dem praktischen Streben
zu Grunde gelegt, und so der Marxismus durch die haltbaren Grund-
prinzipien von Kants Lehre ergänzt wird. In letzterer Hinsicht
schliesst sich das Bucli in wesentlichen Gesichtspunkten an Cohen,
Natorp, Stammler an. (NB. wird eine irrige Behauptung, die in einer
früheren Kritik in dieser Ztschr. I, 122 ff. über letzteren ausgesprochen war^
berichtigt). Dagegen lehnt es die Ableitung der I]thik aus „reiner' Ver-
nunft ohne Vermittelung thatsächlicher Zwecke und Zweckzusammenhänge
ab. Der 1. Theil (8. 1—81) giebt die theoreti.schen Grundlagen, den Unter-
schied kausaler und funktioneller Gesetze, die Analyse des Zweckes und
der Zweckverbindungen, sowie die Ideale und Mängel, die sich daraus ent-
wickeln. Der 2. Teil (S. 82— 156j wendet die Ergebnisse auf die soziale und
politische Praxis an. Die Kntik der gegebenen Ordnung nach dem sitt-
lichen Massstabe und die Fortbildung dieser Ordnung nach dem sittlichen
Ziele hin heisst Politik. Die Politik der verschiedenen rückbildenden und
vorschreitenden Parteirichtungen wird besprochen, und dann im Schlüsse
das Ziel in oben angegebener Weise zusammengefasst.
"Worms. F. Staudinger.
LitteraturbericM.
Von Fritz M e d i c u s in Halle a. S.
Falckenberg. Richard. Hilfsbuch zur Geschichte der Philo-
sophie seit Kant. Leipzig, Veit. 1899. (68 S.)
Falckenberg giebt in knapper Form eine ansprechend geschriebene
Übersicht über die Geschichte der neuesten deutschen Philosophie von
ihren in den Lehren Kants vorliegenden Wurzeln bis auf unsere Tage, d. li.
bis auf E. von Hartmann und Friedrich Nietzsche. Die schwere Aufgabe,
in möglichst enge Grenzen einen viel umfassenden Stoff zu bannen, hat hier
eine Bearbeitung gefunden, die sich gleich sehr nach der fornuilen Seite
durch glatte und elegante Darstellung, glücklich gewählte Beispiele,
treffende und oft auch durch ihre Originalität mnemotechni.sch vorteilhafte
Vergleiche, wie nach der inhaltlichen durch feinsinnige Durchdringung des
328 Littoraturln'iiclit.
Stoffes auszeichnot. \vii> wir sio von dein Verfasser bereits L^ewolmt waren. —
Mehr als ein Drittel, fast die liiilfte des Hüclileins niiunit das erste, der
Philosophie Kants gewidmete Ivapitel in Aiis|inicli. Ks /erfäilt in di(> Ab-
schnitte theoretische Philosophie, praktische Philosojihie. Ileligionspliilosophio
nnd Kritik der Urteilskraft, t'berall stellt es sich dar als die (^»iiintessenz
einer tiefL^'ehenden Anffassnnj:; der Kantischen Philosophie.
Ludwicll, Arthur. Kants Strlluni; zum (J riec h en t um. iieilago
zum Vorlesungsverzeichnis der Universität Königsberg für das W'inter-
i^emester 1899/1900. Königsberg, Härtung. 18i)9. (!) S.)
Die zur akademischen Feier von Kants Cit^burtstag in Königsberg ge-
haltene Festrede „Kants Stellung zum Griechentum" (vgl. KSt. IV, 1,
8. 136) von Professor Dr. Arthur Ludwich liegt nunmehr als Universitäts-
schrift im Druck vor. Der fesselnde Vortrag schildert zunächst, mit welcher
Energie im CoUegium Fridericianum das Studium der klassischen Sprachen
betrieben wurde: die Hälfte sämtlicher Unterrichtsstunden war dem
Lateinischen gewidmet, ausserdem wöchentlich 5 Stunden in den oberen
Klassen dem Griechischen. Letzteres war freilich kaum uu'hr als eine
ancilla theologiae: der Unterricht zielte fast ausschliesslich auf die Lektüre
und das Verständnis des Neuen Testaments. „Dass die damaligenFridericianer
in die unvergänglichen Schöpfungen eines Homer oder Sophokles einge-
weiht worden wären, davon verlautet nicht das Geringste" (3). So wird
es ver-ständlich, dass Kant, dem die römische Litteratur „ein innerlich
befestigter, von Jugend auf liebevoll gehegter, wahrhaft lebendiger Besitz
geworden war" (3), dem Griechentum doch stets fremd geblieben ist. Zwar
bildet er seine Termini gerne aus griechischen Sprachelementen; er lässt
sich sogar hie und da auf griechische Etymologie ein: aber auf beiden
Gebieten passieren ihm Verstösse, die der Philologe rügen muss. Das „ar-
gumentum y.aj ('<y,'hno7ii((i''' uud die „Heautonomie" sind Belege für miss-
glückte Termini, die Erklärung von y.öy:^ ounui aus dem Tibetanischen (in
der Schrift „zum ewigen Frieden") ist ein solcher für eine verfehlte Ety-
mologie. — Nach Jachmann hatte Kant „die ganze klassische Litteratur der
Griechen und Eömer vollkommen inne". Ludwich beweist klar, wie wenig
davon die Eede sein kann. Charakteristisch ist, dass Kant wörtlich nur
römische, nie griechische Autoren citiert. Das zeigt einerseits, dass Kant
seinen Citatenschatz im Kopfe trug: denn „wäre er gewohnt gewesen, seine
Citate abzuschreiben, so würden wir sicherlich neben den vielen lateinischen
auch hin und wieder ein griechisches lesen" (5). Andererseits aber zeigt es,
mit wie ungleichem Interesse Kant den beiden Sprachen gegenüberstand.
Dafür lassen sich noch manche Belege beibringen: so die lateinischen Citate
griechischer Sentenzen, oder das Ignorieren der griechischen Nachrichten
über den Ätna in der „physischen Geographie". — Feinsinnig findet Ludwich
in Kants Eeichtum des eigenen Gedankenlebens den Schlüssel zum Ver-
ständnis seines Mangels an historisch-philologischer Begabung. So erklärt
es sich, dass er nur „ausnahmsweise das Bedürfnis fühlt, den Blick rück-
wärts auf geistige Vorgänge des klassischen Altertums zu richten" (wo es
dann in erster Linie die Eömer und nicht die Griechen sind, die ihn
interessieren), und dass „er, dem der Kritizismus zum eigentlichen Leitstern
Litteraturberieht. 329
«eines geistigen Lebens geworden war, für die historische Kritik so gut
■w-ie nichts übrig hat" (7/8). 80 erklärt es sich auch, dass ihm das griechische
Schönheitsideal fremd blieb, ^dass ein Vergleich zwischen Homer nnd
Vergil zu Gunsten des letzteren ausschlägt, und dass nach Albrecht von
Haller, den Kant um 1765 .den erhabensten unter den deutschen Dichtern'
nennt, kein anderer — kein Goethe, kein Schiller einen entsprechenden
Wiederhall in seiner Seele geweckt hat" (8).
Wyneken, G. A. Kants Piatonismus. ,,Monatshefte der Comenius-
Gesellschaft- . Is'.i'.i. Heft 3 u. 4. uS. 101—119.)
Paulsen hat in seiner Kantmonographie vom Piatonismus des
Königsbergers gesprochen. Hieran anknüpfend unterninunt es AVyneken,
■die Beziehungen zwischen Kant und Platou im Einzelnen klar zu legen.
Der Verf. ist bereits als Hegelianer bekannt (vgl. die Selbstanzeige „Kant-
studien" 111. JIS). .\ls solcher zeigt er sich auch in der vorliegenden Ab-
handlung. Kant hat nach ihm die Bedeutung, „das Denken persönlich
gemacht" und damit die Philosophie „angebahnt" zu haben, nach der „alles
Geschichte ist, nämlich derp]ntwicklungsgang des sich selbst verwirklichenden
Ich oder Geistes" (118). „Man kann sich bei ihm [sc. Kant] nicht beruhigen,
und kein Denker hat es gekonnt, die Geschichte beweist es. Die gesamte
protestantische Philosophie der Neuzeit stammt ohne Ausnahme von ihm
ab, denn gewaltig war die Kraft, mit der er Bresche schlug. Aber überall
trägt seine Schöpfung das Kennzeichen des Provisorischen; sie ist sozusagen
die verkörperte Idee des Anfanges, des Vorläufigeii in der Philosophie, und
gerade darin besteht ihr bleibender Wert; und infolgedessen erreichte er
gerade das Gegenteil von dem, was er beabsichtigte: er wurde der Aolus,
der die Stürme entfesseln musste, die er hüten wollte" (116). Das ist
Wynekens Standpunkt, von dem aus in der Abhandlung Kants Ansichten
über folgende Themata in Hinsicht auf ihren Piatonismus untersucht werden:
Zunächst die Methode, die durch Hegel „eine ziemlich mustergiltige Dar-
stellung und Kritik erfahren" habe (102); dann die Kausalitätstheorie
bes. in ihrer Bedeutung für die intelligible Welt, dabei wird der Jacobi'sche
Einwurf zurückgewiesen (103); hierauf der Zusammenhang zwischen Sitt en-
gesetz und Erscheinungswelt mit Berücksichtigung auch vieler anderer
Denker (104 ff.). Dieses Thema beherrscht die nun folgenden Ausführungen:
die Lehre vom radikalen Bösen und im Anschluss daran vom intelli-
giblen Charakter (106 ff.). Die Schwierigkeiten, die in Bezug auf die
letztere Theorie Kants aufgedeckt werden, sind vielleicht der interessanteste
Teil «Irs Aufsatzes. Freilich treten auch hier bald die für den Hegelianer
unvermeidlichen Begriffsquälereien (bes. S. 107 an dem Begriffspaar: konkret-
abstrakt) störend dazwischen. Es folgen Betrachtungen über Kausalität
und Freiheit und ihre Verbindung durch die Urteilskraft (deren Pla-
tonisches Gegenstück W^-neken im Eros sieht) (111). Hieran anschliessend
wird auch Schillers Ästhetik, jedoch kaum gerecht, beurteilt (111/112).
Ausführlich geht sodann der Verf. ein auf den „grossen Gedankengang über
das höchste Gut" (112 ff.), der Kants Ethik gegen Weltflucht .schütze.
.„Bei Piaton liegt das summum bonum als Grund in der Vergangenheit, bei
Kant als Zweck in der Zukunft" (115). Zum Schluss folgt noch ein „kurzer
Kantstudieu IV. 22
330 LittoraturhiM-icht.
systematischer Überblick über das Gemeiiisamo uinl VerscliiecUiu' beider
SYsteine" mit geschiclitsphiloso]>hisclien Er\v;ii;iiim:en über dii' Be/iehiinfi;en
geistiger Verwandtschaft zwisclien lU'r indisclu-n J'liihisoplüe, derPhitoniscliea
uml der Kantisclirn, in welcli U't/.terrr thr \\'\(. „die -i-iiH'ins.iinc (Innid
läge der nachfolgenden klassischen germaniscliin l'hiloso])lii(" frhlickt.
8. 117/1 IS werden diese Be/.iehinigen in allerdings scliüchterner und fast
versteckter "Weise in das etwas modernisierte dialektische Schema Hegels-
hineingedeutet.
Frommel, Otto. Das Verhältnis von mechanischer und teleo-
logischer Naturerklärung bei Kant und Lotze. Diss. Erlangen,.
1898. (68 S.)
Die vorliegende Arbeit bezweckt nicht bloss eine Darstellung dessen
zu geben, was ihr Titel ausspricht, sondern zugleich in vornehmlich apolo-
getischer Tendenz die Endergebnisse zu prüfen, die die beiden Philosophen
in wesentlicher Übereinstinnnnng mit einander aus der Enirterung dieser
naturwissenschaftlich-methodologischen Frage gezogen haben. Auf eine
kurze Einleitung folgt im ersten Kapitel (11 — 29) die Darlegung der Theorie'
Kants; im zweiten (29 — 66) die der Theorie Lotzes, woran sich im letzten
Kapitel (B6 — 68) die kritische Beurteilung mit den Schlussfolgerungen über
das Verhältnis von Philosophie und Naturwissenschaft anschliesst. — Der
Verf. ist in feinsinniger Weise den von seinen beiden Autoren einge-
schlagenen Gedankengängen gefolgt. Mit Eecht erkennt er (21) in dem.
Kantischen „als ob" dasjenige Problem, von dessen richtigem Verständnis-
alles abhängt. Dass er selbst die richtige Interpretation gefunden hat,
zeigen seine Ausführungen. „Nicht dass die Natur, sondern nur dass wir
vermöge unserer Organisation mit dem Mechanismus nicht ausreichen,,
bekennen wir, wenn wir behaupten, dass der Netoton des Grashalms weder
gefunden worden, noch jemals gefunden w^erden wird" (22). „Was anderes-
als diese unsre subjektive Schranke sprechen wir zunächst nicht aus, wenn
wir .sagen, dass wir neben der mechanischen die teleologische Erklärung
brauchen — näher, richtiger: dass wir zur Ergänzung der für uns nie
voD ständig möglichen mechanischen Erklärung die teleologische
Eeflexion hinzunehmen müssen" (23). „Kant sagt nicht: es muss eine
andere Kausalität als diejenige der uns bekannten physischen Bewegungs-
ursachen (Natiu-kräfte) angenommen werden, sondern . . . : das Wirken dieser
Naturursachen muss so gedacht werden, „als ob" dieselben durch ein vernünf-
tiges Prinzip (näher durch die Rücksicht auf den zweckmässigen Aufbau
des Organismus) in Bewegung gesetzt würden" (24). Am Schluss dieses
Abschnittes (28/9) wird die Bedeutung des moralischen Bewusstseins für
diese Theorie gebührend hervorgehoben. „In der Ethikoteleologie und dem
auf ihr beruhenden praktischen Vernunftglauben (Ethikotheologie) allein,
findet die natürliche Zwecklehre wie ihren Abschluss so ihre Begründung"
(29). — Kant hat nun, wie ihm Lotze vorwirft (31), in seiner Theorie des-
Organismus die Einheithchkeit der Naturauffassung durchbrochen, indem
er hier die teleologische Betrachtung eintreten lässt, während er die
anorganische Natur als das rein mechanische Resultat von Kombinationen
einer leblosen Materie verstehen zu können glaubt. Diesem „unmethodischen
Litteratiirbericht. 3:5 1
.Sprung" gegenüber erklärt Lotze einerseits den Mechanismus für „aus-
nahmslos universell im Bau der Welt", andrerseits aber vertieft er den
Begriff des Mechanischen überhaupt im Sinne seiner idealistischen Metaphysik.
Teleologie und Mechanismus sind durchaus gleichnotwendige Betrachtungs-
weisen für denselben Kosmos in allen seinen Teilen: „ideale Deutung
und kausale Erklärung der Natur schliessen sich nicht aus, sondern
ein" (65). Lotzes Lehre vertritt diesen Satz reiner als die Kantische. Jedoch
macht Frommel sehr richtig darauf aufmerksam, dass das Prinzip dieser
konseciuenteren Durchführung, nämlich die vertiefte Auffassung des Kausal-
verhältnisses, bereits von Kant ausgesprochen war (23 und 27 f., sowie 60;
an letzterer Stelle im Anschluss an Paulsen). Immerhin hätte diese Frage
wohl eine eingehendere Untersuchung verdient. Die Kr. d. U. enthält noch
manchen hier unbenutzt gebliebenen Gedanken. Es hätte sich bei deren
genauerer Betrachtung die Frage gestellt, ob nicht gerade vom methodo-
logischen Standpunkt jener ^unmethodische Sprung" gerechtfertigt ist als
der Ausdruck kritischer Zurückhaltung in einer Frage, in der Lotze
dogmatisch eine „feste metaphysische Grundlage" (61) zu haben wähnt.
Nach der Ansicht des Referenten ist Kants Behandlung dieser Frage
konsequenter als Frommel glaubt. Denn man wird sie unter folgendem
Gesichtspunkt betrachten müssen: Die regulative, methodologisch-notwendige
Metaphysik erlaubt die teleologische Betrachtung erst von da an, wo mit
Mechanismus nicht mehr auszukommen ist, also nur für die organische
Natur. "Wollte man aber glauben, hiermit die reale Tragweite jenes
objektiven metaphj'sischen Prinzips, für das wir nur den subjektiven Grenz-
begriff „Zweckmässigkeit" haben, ausgemessen zu haben, so würde man
ein höchst seltsames dualistisches Weltbild erhalten. Da nun eine regulative
Maxime gar nicht den Anspruch erhebt, die umfassende Formel für die
metaphysischen Beziehungen überhaupt zu sein, so ist es zwar kein metho-
dologisch-notwendiger Gesichtspunkt mehr, aber eine „erlaubte
Hypothese": eine „allgemeine Verbindung der mechanischen Gesetze
mit den teleologischen zu denken". Bes. § 78 der Kr. d. TJ., dem auch die
citierten Worte entnommen sind, legt diese Auffassung mindestens sehr
nahe, bei der offenbar die methodologi.schen Schwierigkeiten schwinden. —
Noch sei das vortreffliche Wort erwähnt, in dem Frommel in schlagender
Kürze ausspricht, wie sich Lotzes Teleologie zu der Kants verhält, und was
für beide charakteristisch ist: „Was sie beide wollten, war eine idealistische
Weltansicht auf realistischer Basis. Dass diese Synthese möglich
ist, hat Lotze mit der geschulten Kraft des modernen Forschers und dem
zusammenschauenden Blick des Künstlers um vieles reicher und schöner,
aber doch wohl nicht wesentlich tiefer zum Ausdruck gebracht als der vor-
sichtige Kritiker der reinen Vernunft" (64).
Salits. P. Darstellung und Kritik der Ivantischen Lehre von
der Willensfreiheit mit einem geschichtlichen Rückblick auf
das Freiheitsproblem. Rostock, Druck von Adlers Erben. 1898. (195 S.')
Auf eine kurze Einleitung folgt ein Kapitel „Determinismus und
Indeterminismus''; es giebt die Darlegung dieser beiden Standpunkte
(6—19). Hieran schliesst sich der „geschichtliche Rückblick" (20 — 118). der
22*
;^;V2 I.itttMJiturhoriclit
tlas Freiheitsproblom in seiner Entwicklunp; von llonier his aiil Kant ver-
fi)lgt. Von S. 11;) an beschiifti<>;t sicli <lif Schrift mit „ivants Lehre von
der Freiheit'*. — Salits bej^innt diesen Abschnitt mit einer kurzen Über-
sicht über die Kr. d. r. V. bis zn den Antinomien. Die 3. Antinomie
giebt die Gele^eidieit, /um eigentlichen Thema überzugehen (128). Kants
Beweise für die Antinomien hiüt der Verf. im Anschluss an Erliardt nicht
für sticlihaltig; docli ü;eht er niclit näher auf sie ein, sondern untersucht,
wie sich das Antinomieuproblem im Rahmen der Kantischen Philosophie
des Weiteren gestaltet. Er zeigt, in welcher Weise Kant die Lösung des
Widerstreites giebt. Gegen diejenigen, die die Annahme von zwei Ursachen
desselben Vorganges, einer intelligiblen und einer em])irischen, bei Kant
haben finden wollen (v. Kirchm.ann, v. Hartmann u. a.) macht er sehr
richtig geltend, dass es sich nur um zwei Betrachtungsarten handelt (148).
S. 156 wendet sich Salits zur Kr. d. pr. V. ,,Der Unterschied ist eigentlich
nur der, dass in der Kr. d. r. V. Kant die Lehre von der Freiheit, aus-
gehend von den Antinomien, als ein kosmologisches Problem behandelt,
hier dagegen, aiisgehend von den Thatsachen des sittlichen Bewusstseins,
mit Rücksicht und Beziehung auf das Sittengesetz" (156). Beidemale löst
Kant das Problem „durch Unterscheidung zwischen Dingen an sich und
Ei'scheinungen und vindiziert [er] den ersteren Freiheit und den letzteren
Naturnotwendigkeit" (158). Doch seien, meint Salits, die Schwierigkeiten
nicht beseitigt, die sich ergeben, wenn man mit Kant Gott als den
Schöpfer der Noumena annimmt. Kant behauptet, weil Gott nur die
Noumena, nicht aber die Phänomena geschaffen habe, sei Gott nicht Ursache
der Handlungen in der Sinnenwelt. Nach Salits ist diese Argumentation
hinfällig, da ja die sinnlichen Handlungen ihren Grund im intelligiblen
Charakter haben; folglich sei in letzter Hinsicht doch Gott Ursache aller
Handlungen, und die Freiheit sei mithin vernichtet (158 — 160). Ohne nun
die Kantische Theorie zur meinigen machen zu wollen, mochte ich hier
doch darauf hinweisen, dass Kant m. E. diesem Einwand dadurch im
voraus begegnet ist, dass er die intelligible Welt für eine Welt der Frei-
heit erklärt hat: Kant denkt sich die Schöpfung als eine Schöpfung freier
Wesen, deren jedes sich seinen Charakter selbst giebt. Salits citiert nun
(163) selbst eine Stelle, in der Kant dies aiisspricht, jedoch nur, um an
sie die Frage anzuknüpfen: „Woher weiss aber Kant, dass dem so ist?"
(164). Nun, als Wissen hat Kant seine Eeligionsmetaphysik auch nicht
ausgegeben. Er hat sie sich zur Erklärung der Thatsachen des sittlichen
Bewusstseins konstruiert als eine von ihm für widerspruchslos gehaltene
metaphysische Theorie, und, so viel ich sehe, enthält sie wenigstens die
Widersprüche nicht, die S. in ihr finden will. Die Anwendung der reinen
Verstandesbegriffe auf eine unräumliche und unzeitliche (nicht „vorzeit-
liche" 163) That ist auch kein Gegenstand eines stichhaltigen Einwandes,
wie Sahts zu meinen scheint (164). Wie sollen denn Noumena gedacht
werden — und eine metaphysische Theorie muss sie denken — ohne die
Denkformen? Der Verf. begeht den seit Jacobi und Aenesidem in der
Kantlitteratur endemischen Fehler der Verwechslung von Kategorien
(reinen Verstandesbegriffen) mit Grundsätzen (Regeln der Anwendung
jener reinen Kategorien auf räumlich-zeitliche Objekte). — Ferner soll die
Litteraturbericht. 333
Lehre von der intellip:iblen That mit „dem stolz gebietenden kategorischen
Imperativ" in Widt-rspriuh stehen. Dieser soll seine Bedeutung verüeren,
„wenn die Handlungen notwendige Wirkungen des empirischen Charakters
sind, der wiederum von dem intelligiblen abhängig ist" (167). Mit gleichem
Recht Hesse sich fragen, welche Bedeutung die logischen Normen hätten,
da ja unser Denken doch nicht nach logisclien, sondern stets nach psycho-
logischen Gesetzen vor sich geht.
S. 170 wendet sich der Verf. zu einem anderen Thema, zur Frage, ob
der Begriff der Freiheit bei Kant überall einheitlich durchgeführt sei. Er
verneint die Frage und beantwortet sie (im Anschluss an Zange) dahin,
dass in der „Grundlegung z. Met. d. Sitten" ein freier "Wille ein Wille
unter sittlichen Gesetzen ist, während in den übrigen Schriften der Begriff
die Freiheit vom Kausalgesetz bedeute. Dass bei Kant der Terminus „frei"
in beiden Bedeutungen vorkommt, ist mir nicht zweifelhaft; doch glaube
ich, dass diese Vermengung auch innerhalb der einzelnen Schriften selbst
statt hat.
Zum Schluss folgt noch (181 ff.) eine gedrängte Beurteilung der
Kantischen Freiheitslehre. Zunächst erhebt Salits die Frage: „Wie kommt
Kant eigentlich dazu, ausserräumlichen und ausserzeitlichen Dingen an
sich, von denen man nach seiner ausdrücklichen Lehre nichts wissen kann,
noch Freiheit zu vindizieren?!"' (182.) Die Frage erledigt sich in analoger
Weise wie die S. 164 aufgeworfene und bereits besprochene. Dann folgen
Erörterungen über das Ding an sich, wobei sich der Verf. an Liebmann
anschliesst, das Ding an sich also überhaupt verw-irft. Hier ist es natürhch
dann durchaus konsequent, wenn er erklärt, dass mit dem Ding an sich
auch der intelligible Charakter wegfällt. Weniger konsequent ist es
jedoch, wenn f 187/8) der Einwand erhoben wird, Kant mache den
empirischen Menschen für das verantwortlich, was der intelligible
Charakter gethan hat, er versäume es also, die Identität des Angeklagten
und des Thäters festzustellen. Denn hiergegen brauche ich bloss auf das
zu verweisen, was Salits selbst 40 Seiten weiter oben gegen jene Kant-
interpreten ausgeführt hat, die die empirische Ursache eines Vorgangs von
der transscendenten trennen und zwei Ursachen statuieren wollen.
Interessant sind die Hinweise auf Analogien der Kantischen Lehre
bei Piaton (188 f. vgl. 34—44).
Die letzten Seiten bringen in" der Hauptsache Rekapitulationen. Ab-
schliessend erklärt der Verf. seine Zustimmung zu Liebmanns Ausführungen
über das Freiheitsproblem.
Bormann. Walter. Kantsche Ethik und Occultismus. Zwei
Vorträge. S.-A. aus den „Beiträgen zur Grenzwissenschaft, ihrem
Ehrenpräsidenten Dr. Karl Freiherrn du Prel gewidmet von der Gesellschaft
für wissenschafthche Psychologie zu München". Jena, Costenoble, 1899.
'S. 107—139.)
Es kann nicht geleugnet werden, und es ist auch in dieser Zeitschrift
schon mehrfach ausgesprochen worden, dass Kant nicht nur zu der Zeit,
als er den Brief an Fräulein von Knobloch schrieb, eine ge\\'isse Zu-
neigung zu den Swedenborgischen Theorien hegte, sondern dass er sich
334 Littor.itnitu'rii'lit.
diosflbo aufh diuoli die manrlu'rU'i Uinkiii|mii,L;('ii liindiircli in ilir i'ciiodf
des Kritizismus hinüborgerottet hat. Immer wirdii- wird von Zeit /n Zeit
diese Thatsache zum Gegonstaiul eiiuM- oinscitigoii Tx Iciiflitung gematlit,
und Kant, weuu auch nicht gerade als N'orkämpfer des Spiritismus gei'i'iert,
so docli als einer von denen hingestellt, die im (i eiste der „wissenschaft-
liehen Psychologie" gearbeitet hahen. Kants kritische t.ioxt, lässt ja gar
vielen metaiihysischen (die Spiritisten sagen dafür gernc^ „transsci-nden-
talen") Theorien Raum; auch der Occultismus kann sich dort einnisten.
Und das thut er denn auch mit grossem Eifer. Bei der Lektüre solcher
spiritistischen Schriften wie der Bormannschen meint man, der Occultismus
sei der wahre und ächte Thronerbe Kants und besorge /.. Z. das Zu-Ende-
denl-en von dessen Philosophie. Wie einst Schopenhauer über <lic l'hilo-
sophie seiner Zeitgenossen geklagt hat, so klagt Bormann über „das Miss-
verhältuis der heute herrschenden Philosophie und akademischen Wissen-
schaft zu Kants Geistesart" (122); und wie sich einst Schopenhauer über
die Professorenphilosophie der Philosophieprofessoren lustig gemacht liat,
so thut es heute Bormann im Namen des Occultismus (vgl. bes. 139). Seine
vorliegenden Ausführungen nehmen die Kantische Ethik mit Entschieden-
heit in Anspruch. Den Kern der Erörterungen bildet die Identifikation
der intelligiblen Welt mit dem Occulten (114 u. ö.). Gegen AVundts Ethik
werden vom Standpunkt des Kantianismus aus energische Angriffe unter-
nommen. Der erste der beiden Vorträge hat zum Hauptthema die Identität
der Kantischen Ethik mit den spiritistischen Theorien, der zweite Kants
eigene Stellung zum Spiritismus; ohne dass indessen die beiden Themata
streng von einander geschieden wären. Im zweiten Vortrag werden übrigens
nicht nur Kants ethische Schriften, sondern namentlich auch die „Träume
eines Geistersehers . . ." einer eingehenden Diskussion unterworfen.
Prinzipiell ist gegen den Versuch, Kant für diese „wissenschaftliche
Psychologie" als Autorität auszuspielen, unter allen Umständen folgendes
einzuwenden: Kant hat das Wissen aufgehoben, um für den Glauben Platz
zu bekommen. Unter Glauben versteht er dabei eine durch die Thatsachen
des moralischen Bewusstseins geforderte Überzeugung. Diese Überzeugung
kann aber nie zu einer positiven Dogmatik führen, sondern sie hält sich
mit ihren Urteilen notw^endig innerhalb der Grenzen des Symbolismus.
Thäte sie das nicht, so wäre Kants Eeligionsmetaphj^sik eine Hinweg-
setzung über seine kritische Grenzbestimmung. Und eine solche liegt
schlechterdings in der „wissenschaftlichen Psychologie" vor. Der vor-
liegenden Arbeit Bormanns muss nun gewiss das Zeugnis ausgestellt
w^erden, dass sie zum Besten gehört, w^as vom Standpunkt des Occultismus
bis jetzt geschrieben ist. Sie hält sich von Überschwengiichkeiten ziemlich
frei. (Mit besonderer Anerkennung sei auch erwähnt, dass der Brief Kants
an Charlotte von Knobloch citiert wird mit der Bemerkung, dass er „an-
scheinend in das Jahr 1763" gehört: S. 131). Aber jener Vorwurf kann
ihr nicht erspart bleiben. Bormann selbst sagt (131) von Kant: „Der
Reinigkeit der Sitten findet er es gemässer, die Erwartung der künftigen
Welt auf die Empfindungen einer wohlgearteten Seele zu gründen, als
umgekehrt ihr Wohlverhalten auf die Hoffnung der anderen Welt". Die
,, wissenschaftliche Psychologie" lehrt aber nicht einmal bloss die Hoff-
Litteraturbericht. 335
nung auf ein zukünftip;es Leben, sondern sie sucht selbst die Thatsäch-
lichkeit eines Fortlebens nach dem Tode wissenschaftlich zu beweisen.
Diese Tendenz ist aber der Kantischen Ethik durchaus zuwider. Will man
.sich die Bedeutung des soeben erwähnten, von Bormann angeführten
Kantischen .Satzes völlig klar machen, so muss man ihn zusammenhalten
mit dem Schlussabschnitt der Elementarlehre der Kr. d. pr. V. Er ist
überschrieben „Von der der praktischen Bestimmung des Menschen weislich
angemt'.ssenen Proportion seiner Erkenntnisvermögen''. Ich kann hier nur
einige Sätze daraus anführen; sie dürften aber hinlänglich zeigen, mit wie
wenig Recht sich der Occultismus auf die Kantische Ethik berufen darf.
Kant beginnt dort mit der Bemerkung, dass unser Erkenntnisvermögen
den wichtigsten Fragen gegenüber versagt, und fährt dann fort: „Gesetzt
nun, sie |sc. die Katurj wäre hierin unserem Wunsche willfährig gewesen,
und hätte uns diejenige Einsichtsfähigkeit oder Erleuchtung erteilt, die
wir gerne besitzen möchten, oder in deren Besitz einige wohl gar wähnen
sich wirklich zu befinden, was würde allem Ansehn nach wohl die Folge
hiervon sein? . . . Statt des Streits, den jetzt die moralische Gesinnung mit
den Neigungen zu führen hat, in welchem, nach einigen Niederlagen, doch
allmählich moralische Stärke der Seele zu erwerben ist, würden Gott und
Ewigkeit mit ihrer furchtbaren Majestät uns unablässig vor Augen
liegen (denn, was wir vollkommen beweisen können, gilt in Ansehung der
Gewissheit uns so viel, als wovon wir uns durch den Augenschein ver-
sichern). Die Übertretung des Gesetzes würde freilich vermieden, das
Gebotene gethan werden; weil aber . . . der Stachel der Thätigkeit hier . . .
äusserlich ist, ... so würden die mehresten gesetzmässigen Handlungen
aus Furcht, nur wenige aus Hoffnung und gar keine aus Pflicht geschehen,
ein moralischer Wert der Handlungen aber . . . würde gar nicht existieren".
Das ist deutlich: Nach Kants Ansicht würde der Occultismus, wenn er sein
Ziel erreichen könnte, die Ethik unmöglich machen. — Kants leise Neigung
zum Geisterglauben ist nicht mehr und nicht weniger als eine willkürliche
Ausmalung des leeren Begriffs der intelligiblen Welt, ohne wissenschaft-
lichen Wert. Und Bormanns Identifizierung von Kants intelligibler Welt
und dem ßeich der Zwecke mit den „wissenschaftlichen" Erfahrungen des
•Occultismus — ist gleichfalls eine willkürliche Ausmalung und gleichfalls
-ohne wissenschaftlichen W^ert.
Noch sei darauf hingewiesen, dass die „Kantstudien" in einem ihrer
nächsten Hefte einen Beitrag zu diesen Fragen aus der berufenen Feder
<ies Herrn Geh. Hofrat Heinze in Leipzig bringen werden.
Döring, A. Handbuch der menschlich-natürlichen Sitten-
lehre für Eltern und Erzieher. Stuttgart, Frommann, 1899. (415 S.)
Das mit viel Wärme geschriebene Buch streift an einigen Stellen auch
die Kantische Ethik. S. 66 wendet sich D. gegen den rigoristischen Wahr-
heitsfanatismus, S. 226 gegen die Lehre von der unbedingten Verwerflich-
keit des Egoismus und vom „radikalen Bösen". Dennoch steht der Verf.
Kant nicht fern: Die Verbindungslinie zwischen seiner Ethik und der
Kantischen führt über Schiller. Vgl. besonders S. 240 ff., wo es im An-
schluss an die Schillerschen Verse
33ß Littoratiirboricht.
„Ni'lunt dii' (.Jottlu'it auf in ciirfu Willen,
l'iui sie steigt von ihrem Weltenthnm"
n. a. heisst: „Die Aufnahme des Gesetzes in den AVillen ist. nichts anderes^
als eben die Al)sicht, in :dl<'ni 'l'imn mir dem W'idd-^ciii der Anderen /,ii
dienen, die schon znm AVesen des Sitt liehen gehörte, und der das (leset/-
in den Willen Aiifnehmende i-;t kein anderer, als eben der ethisclu' Mensch."
Kantischen Ceist zeigt ferner die Begründung des Sittlichen auf Vernunft-
überzengung (8. 287 ff.) : „Es liegt in (Ur Vorstellung von einem l)lii>s triei)-
fürmigen Znstandekommen des Sittlichen eine llnaliwiirdigung de.s Menschen
zum blossen Naturwesen, die der thatsächlichen Eescliaffenheit des Menschen
als eines nach bewnssten Zwecken handelnden Vernunftwesens widerspricht."
Schnitze, Rudolph. Kritik der Religionstheoric Uauwen-
hoffs. Erlanger Diss., Berlin, 1898. (45 S.)
Der scharfsinnige Verf. geht mit R. streng ins Gericht. Er behandelt,
seine Stellung zu folgenden Thematen: Ursprung der Eeligiun, Wesen der
Religion und des religiösen Glaubens, Recht der Religion und des religiösen
Glaubens, Erkenntnistheorie; al)er in allen vier Punkten fällt er das Urteil
zu Ungunsten des niederhändischen Religionsphilosophen. — Die Verwandt-
schaft der R. 'sehen Lehren mit Kantischen (Verhidtnis von Religion und
Sitthchkeit, Pflichtbewusstsein, Postulatentheoriej wird S. 17—20 erörtert.
Dunkmann, Karl. Das Problem der Freilieit in der gegen-
wärtigen Philosophie und das Postulat der Theologie. Hallenser
theol. Diss., 1899. (92 S.)
Die geistreiche Abhandlung ist ihrer Tendenz nach der Versuch, zur er-
kenntnistheoretischen Grundlage der Theologie die Philosophie Avenarius'
zu machen. Es versteht sich von selbst, dass die Polemik ihre Hauptspitze-
gegen die idealistische Philosophie und damit auch gegen Kant richtet..
Seine Stellung zu demselben hat D. am schärfsten pointiert in der siebenten
der angefügten Thesen: „Die theologische Brauchbarkeit der Philosophie
Kants scheitert an ihrem empirischen Determinismus". Determinismus und
Indeterminismus werden eingehend und mit grossem Scharfsinn geprüft,,
und das Resultat der philosophischen Untersuchung ist, dass die Philo-
sophie mit ihrem Problem nicht zu Ende kommt (60j. So wird denn auch
Dunkmanns eigene, nach dem Prinzip des kleinsten Kraftmasses aufgestellte
indeterministische Freiheitslehre (47 f.) nicht eigentlich bewiesen, sondern
postuliert. Sein wissenschaftlicher Standpunkt gestattet dem Verf. ohne
Schwierigkeit den Indeterminismus: denn vom Standpunkt der „reinen Er-
fahrung" aus kennt er keine Allgemeinheit und Notwendigkeit, im Gegen-
teil erhebt er gegen Kant den Vorwurf, er habe durch seine ungerecht-
fertigte Hochachtung vor dem naturwissenschafthchen Begriff der Not-
wendigkeit alles Geschehens an Stelle der von ihm vernichteten alten
Metaphysik sofort eine neue gesetzt (14). — Freilich erhebt sich die Frage,,
ob die religiösen Grundüberzeugungen als „Introjectionen" besser vor An-
griffen gesichert sind, als sie es als notwendige Vernunftideen gewesen,
waren, und ob nicht vielmehr gerade das Postulat der Theologie, das.
Dunkmann aufstellt, weit von allem Positivismus wegführt.
Litteraturbericht. 3:37
Von der wissenschaftlichen Bedeutunfij der theolop;ischen Postnlate
hält der Verf. (.Irosses: Am Ende der Einleitung heisst es (und ähnliches
steht am Schlüsse der Abhandlung): „Es kann nur eine Wahrheit, nur
eine wahre Pliilosophie geben. Wenn die Theologie dieselbe ist. wird
damit notwendig jede andere Philosophie ihrem Wahrheitsgehalt nach
negiert. Letztere kann vielleicht auf dasselbe Resultat hinauskommen,
wie die Theologie — theistische Systeme — , so ist der Weg falsch ge-
wesen, denn zur theologi.schen Wahrheit führt nur der eine theologische
Weg des Glaubens" (4). „Die Auflösung der philosophischen Antinomien
durch die Theologie" ist die bezeichnende Überschrift des letzten Kapitels,
Allerdings kennt der Verf. auch „theologische Antinomien" (die Theologie
niuss sowohl Freiheit als auch Unfreiheit postulieren), die gleichfalls bei
ihm durch die Theologie selbst aufgelö.st werden. Sollte deren Lösung^
aber nicht richtiger in der Philosophie gesucht werden-
Es erscheint mir nicht unwichtig, noch auf Folgendes hinzuweisen:
Windelbaud bezeichnet in seiner vortrefflichen „Geschichte der neueren
Philosophie", II, S. 3 (2. Aufl.) als den Mittelpunkt der Kantischen Lehre
Kants persönliche Überzeugung, seinen „unerschütterlichen Glauben an
die Macht der Vernunft". Von hier aus betrachtet erscheint die Ge-
schichte des von Kant ausgegangenen deutschen Idealismus als die Geschichte
der Modifikationen dieses Glaubens. Avenarius mit seiner Schule sowie
die konsequentesten Vertreter der immanenten Philosophie haben diese
Grundüberzeugung fallen gelassen; sie vertreten die Antithese zum deutschen
Idealismus: Hier liegt der tiefste Punkt des Gegensatzes zwischen Dunk-
mann und dem modernen Positivismus einerseits und Kant und seinen
Anhängern andererseits.
Brömse. Heinrich. Dr. Die Realität der Zeit. Ztschr. f. Philos.
und philos. Kritik. 114. Bd., H. 1, 1899. (S. 27—63.)
Die scharfsinnige Abhandlung versucht den Beweis zu führen, dass
der Zeit eine metaph3-sische Realität zukommt. Der leitende Gedanke ist
der: Von jeder Vorstellung des Geschehens ist die der Zeit unwegdenkbar.
Wer das Geschehen auf das logische Verhältnis von Grund und Folge
zurückzuführen versucht, vernachlässigt den wesentlichsten Faktor des
ersteren: die zeitliche Aufeinanderfolge. Ergo ist die Annahme „sog.
intelligibler, der Zeit nicht unterworfener Zustände in der Welt der Dinge
an sich" (29) widerspruchsvoll. — Zunächst werden „die möglichen Auf-
fassungen der Zeit als Realität" besprochen. Die Auffassungen als Sub-
stanz, als selbständiger Verlauf und als Eigenschaft der Dinge werden ab-
gelehnt. Der Verf. acceptiert die metapln^sische Existenz der Zeit als
Form des Geschehens. Der wichtigste Abschnitt ist § 8: „Nachweis der
realen Zeit für das Geschehen im Subjekt". Hier wird eingehend gezeigt,
wie uns „das innere Leben als ein Verlauf psychischer Zustände gegeben"
ist (38), „dass die Existenz eines Verlaufs psychischer Vorgänge unmittel-
bare Gewissheit hat" (89), dass „sich hieraus klar die Bedeutung der Zeit
für die Vorgänge in uns ergiebf' (40). Wie freilich aus diesen Argumen-
tationen etwas anderes gefolgert werden darf, als die empirische Realität
(nach des Verf. Terminologie „Objektivität") der Zeit, ist nicht einzusehen.
338 Littor.iturborii'lit.
Auf (li'U inti>ri'ssanti'sti'n ilor liior l)t"rülu"ti'n l'unUti' milchte ich kwv/. ciii-
sri'luMi. Hn'unsi' orklärt im Aiiscliliiss au dio erwüluitcn Aiisfilhruuircn :
AVollte man ycitciul luaclu'U. ,,(hiss nur das (Mii|)irischi' Ich ilcf Zeit unter-
worfen soi. niclit aher <his hintL>r diesem liegenile metapliysischo, so w iiiih-
das ein <i;än/.licli haltloser Einwand sein . . . Wenn man ein solches hrdieres
(sollte heissen: transscendentes| Subjt kt anniUnne, so ist seinetransscendentale
iSvnthesis der Ai)perce])tion nicht andt-rs denkbar denn als Tiiätii;-keit, diese
aber kann nicht zeitlos sein. Wäre das iiiria|iliysisclie Irli in seiner
Diiseinsform nicht an die Zeit gebunden, so krmnte man niciit einsehen,
wie es überhaupt tla/u käme, uns als zeitliches Ich zu erscheinen" i4()f.).
Mit der tr. 8ynthesis der Apperception lässt sich aber hier gar nichts aus-
richten. Diese ist nichts anderes als, um einen Ausdruck Liebmanns zu
gebrauchen, der „Gattungstypus der menschliclnn inttdligenz" (Kant sagt
„der Verstand selbst": tr. Deduktion, 2. Aufl. § 16); sie bedeutet die For-
derung, dass alle vom empirischen Bewusstsein vorzunehmenden Synthesen
in normaler Weise vollzogen werden sollen. Das transscendentale Ich wäre
auch dann zeitlos, wenn die Zeit metaphysische Realität hätte (und also
das metaphj'sische Ich zeitlich wäre). Denn eine Norm des Bewusstseins
ist ja doch kein Ding, das eine zeitliche Existenz führen könnte. Dass
nun die empirische Besinnung auf dieses normative Bewusstsein (bei der
nach Kant überhaupt noch keinerlei Selbsterkenntnis stattfindet: § 25 der
tr. Ded., 2. Aufl.) nicht anders als in der Zeit stattfinden kann, beweist
natürlich nichts gegen ein zeitloses metaphysisches Ich. Mehr aber bleibt
von dem, was der Verf. anführt, nicht bestehen. — An die Argumentationen,
die die Zeit als reale Form des Geschehens (unmittelbar für die Innen-
welt, mittelbar für die Aussenwelt) nachzuweisen suchen, schiiessen sich
scharfsinnige Erörterungen über Zeitvorstellung, Zeitanschauung, Zeit-
begriff. Als ausführlicher Anhang (53 — 63) folgt endlich unter eingehender
Berücksichtigung der entsprechenden Partien in Vaihingers Kommentar
eine Kritik der Kantischen Zeitargumente mit Ausnahme des dritten, das
im Anschluss an Vaihinger aus der lleihe der übrigen Argumente aus-
geschlossen wird. Als den Hauptfehler des ersten Argumentes (wie über-
haupt der tr. Ästhetik) bezeichnet B. „die Vermengung der beiden gänzlich
verschiedenen Probleme: Was ist die Zeit als Vorstellung? — Was ist die
Zeit als Vorstellungsform?" (55). Auch führe Kants Theorie zu ,, einer
höchst wunderbaren prästabilierten Harmonie zwischen Form und Inhalt
der Anschauung'' (56j. Gegen das zweite Argument wird behauptet: Ge-
länge es wirklich, alle Erscheinungen wegzudenken, „so würde nichts übrig
bleiben als das Ich ohne psychische Veränderung" (58). Den beiden letzten
Argumenten wird wieder vorgeworfen, dass in ihnen die Zeit mit ihrer
Vorstellung zusammengeworfen werde (60, 62). Kant gebraucht, so wird
zum Schluss ausgeführt, die Ausdrücke Zeit und Zeitvorstellung gleich-
bedeutend: darin aber liegt „eine Vorwegnahme des Ergebnisses seiner
Untersuchung, aus der ja erst die metaphysische Idealität der Zeit folgen
könnte — freilich nicht folgt" (63).
Mongre, Paul. Das Chaos in kosmischer Auslese. Leipzig,
C. G. Xaumann, 1898. (213 S.)
Litteraturbericht. 339
Das mit mathematischem Scharfsinn abgefasste Buch enthält die
Grundlegung eines vielfach auf Kants Idealismus zurückgreifenden ,, er-
kenntnistheoretischen Radikalismus''. „Der antropomorphe Fetischismus,
mit dem wir uns Begriffe wie Kausalität, Naturgesetz, transeuntes Wirken
verdeutlichen mussten, solange wir sie als transscendente Begriffe missver-
standen, hat einer geläuterten Auffassung Platz zu machen, in der sie zu
leitenden Gedanken einer analytisch-deskriptiven Nachbildung unserer Be-
wusstseinswelt werden; und die mystische Hypostase einer Natur, die frei-
willig sich unter Gesetze stellt, vereinfacht sich zu der eines unbeschränkten
Chaos, aus dem jedes spezielle Bewusstsein seinen speziellen Kosmos heraus-
liest" (135). Dieser Satz erklärt den seltsamen und leicht irreführenden
Titel des Buches, das mit folgenden bezeichnenden Worten schliesst: ,,Die
ganze wunderbare und reichgegliederte Struktur unseres Kosmos zerflatterte
beim Übergang zum Transscendenten in lauter chaotische Unbestimmtheit ;
beim Rückweg zum Empirischen versagt dementsprechend bereits der
Versuch, die allereinfachsten Bewusstseinsformen als notwendige Incar-
nationen der Erscheinung aufzustellen. Damit sind die Brücken abge-
brochen, die in der Phantasie aller Metaphysiker vom Chaos zum Kosmos
herüber und hinüber führen, und ist das Ende der Metaphysik erklärt,
— der eingeständlichen nicht minder als jener verlarvten, die aus ihrem
Gefüge auszuscheiden der Naturwissenschaft des nächsten Jahrhunderts
nicht erspart bleibt" (209). — Der originelle Weg, den Mongre einschlägt,
besteht darin, dass er die Formen der Erfahrung, Zeit und Raum, zunächst
als transscendent real annimmt und mit ihnen die stärksten Variationen
vornimmt, dabei aber zeigt, dass der empirische Effekt hierdurch nicht
berührt zu werden braucht. Der Schluss, den M. daraus zieht, ist
die völlige Unabhängigkeit des empirischen Kosmos von der transscen-
denten Welt, die sich, ohne dass es von uns bemerkt würde, foi-twährend
wie ein Proteus verwandeln könnte, ja die überhaupt gar nicht vorhanden
zu sein brauchte und doch noch „ein zureichendes Äciuivalent"' (I) des
empirischen Kosmos wäre (188). Der Verfasser bezeichnet diese „letzte
Konsequenz" seines Idealismus als „transscendenten Nihilismus".
Dass die zu diesem Ziele führende Bahn an Paradoxien reich ist, kann
nicht verwundern. So werden die kühnsten Variationen, die die bisherigen
Metageometer mit dem Raum vorgenommen haben, hier noch übertrumpft,
freilich in so hohem Masse, dass in dem Leser der lebhafte Verdacht auf-
steigt, Mongre beabsichtige, eine Satire auf die Verwendung analytischer
Formeln in der Erkenntnistheorie zu schreiben. Es i.st ja nach dieser Seite
von Metageometern genug gesündigt worden, um ein Buch zu rechtfertigen,
das mit einer zwar starken, aber doch feinen Übertreibung einsetzt, sich
damit eine gründlich verschrobene Position schafft und nun 2(X) Seiten
lang deren verschrobene Konsequenzen entwickelt. Liebhaber geistreicher
Absurditäten werden die Schrift mit Vergnügen lesen.
Kinkel, Walter. Beiträge zur Theorie des Urteils und des
Schlusses. Habilitationsschrift. Giessen, 1898. (40 S.)
Der Verf. beginnt mit einer Erörterung über das Wesen des Urteils.
Im Gegensatz zu Wundt und Erdmanu vertritt er die Ansicht Sigwarts, der
340 I.itteratiirborieht.
im l rtoilsakt eine Sviitlu-se t'rblirkt uiul diiinit an Kants Ja-Ihc vnn der
synthetischen Einheit der Apporception unknüpft (6). Gegen Eidni;inn vcr-
teidifjt Kinkel fernt-r Lotzes Theorie, dass jedes Urteil eine Idmtitäts-
beziehung behauptet. Dann fol^i'n Ausfiilirunfjjen über die Einteilung der
Urteile. Der Verf. unterscheidet im Anseid uss an Trendeh'nbur.L;; Urteile
des Umfangs und des Inhalts, modifiziert ji'docli in der Ein/.eldurchfiihrung
Trendelenburgs Anschauungen. Audi Kants Einteilung der Urteile in
analytische und .synthetische wird Seite 18 gestreift. Die verneinindcn Urteile
rechnet Kinkel (mit Sigwart gegen Natorp) zu den Urteilen über Urteile,
zu denen ausserdem noch die Urteile der Modalität gehören. Nach der
Art ihrer Begrihiiinng werden die Urteile eingeteilt in unmittelbare und
vermittelte. Zu den unmittelbaren gehören die "Wahrnehmungsurteile und
die Axiome, von welch letzteren Kants Satz gilt: „Der Verstand ist selbst
der Quell der Gesetze der Natur" (23). Alle anderen Urteile sind ver-
mittelt und ihre Begründung geschieht in sj-llogistischer Form. — Hiermit
wendet sich der Verf. zur Theorie des deduktiven Schlusses. Kurz werden
zunächst die \nimittelbaren Schlüsse in Betracht gezogen, eingehender so-
dann die mittelbaren, deren Prinzip bereits Kant richtig aufgestellt hat:
„Was nnter der Bedingung einer Regel steht, das steht auch unter der
Hegel selbst" (28). Doch findet diese allgemeine Eegel in verschiedener
Weise Anwendung, anders bei den gemischten hypothetischen Schlüssen
(deren Minor ein kategorisches Urteil ist) als bei den kategorischen und den
reinen hypothetischen Schlüssen. Dies im einzelnen durchzuführen, ist das
Thema des Schlusses der Abhandlung.
Budde, Enno. Die Beweise für das Dasein Gottes von
Anselm von Cant erbury bis zu Renatus Descartes. Diss. Erlangen,
1898. (47 S.)
Von dem Kantischen Standpunkt der scharfen Unterscheidung zwischen
theoretischem Wissen und praktischem Glauben aus betrachtet der Verf.
die Gottesbeweise bei Anselm, Thomas von Aquino und Descartes, sowie
ihre Widerlegungen durch die Zeitgenossen Anselms, die Nominalisten, die
Gegner Descartes' und Kant. Den Grundfehler der scholastischen Philo-
sophie sieht Budde darin, dass sie die von Kant und ähnlich schon von
dem grossen Gegner des Thomas, von Duns Scotus, gelehrte Unterscheidung
zwischen theoretischer und praktischer Vernunft nicht vollzogen hat
(4/6, 23). Kants Kritik der Gottesbeweise wird im Anschluss an die Be-
sprechung der gegen die Meditationen Descartes' gerichteten ,,Objectiones"
eingehend erörtert. Budde findet in Kants Argumentation den glück-
lichsten Nachweis der „völligen Haltlosigkeit des Cartesianischen Beweises"
(40). Er verteidigt sie gegen den Vorwurf, Kant habe den Beweis des
Anselm mit dem des Descartes verwechselt (40) und gegen v. Kirchmanns
missverständliche Ausleg-ung der Auseinandersetzung über die 100 möglichen
und die 100 wirklichen Thaler (43). Zum Schluss wird Schopenhauers
Urteil über den ontologischen Beweis (in der Schrift über den Satz vom
Grunde) herbeigezogen und gezeigt, dass es im Wesentlichen das Kantische
Argument enthält (45).
Auffallend ist, dass von den Schriften des Thomas nur die Summa
Litteraturbericht. 34 1
contra gentiles berücksichtigt ist, während doch auch die Summa theologiae
für das Thema des Verfassers von grosser Wichtigkeit ist und Gesichtspunkte
giebt. deren Erwähnung und Bearbeitung der Referent in der vorliegenden
Abhandhing vergebhch gesucht hat.
Volkmann, F. Schillers Philosophie. Berlin, Rühe, 1899. (31 S.)
Von F. Volk mann, dem Verf. der , .Entwicklung der Philosophie"
(vgl. ,.KSt.*' IV, 123) ist ein neues Schriftchen erschienen: ,,Schillers
Philosophie". Es hebt an mit folgenden Sätzen: „Der Wert der philo-
sophischen Schriften Schillers liegt im Wesentlichen in der schön erfundenen
sachlichen Darstellung, in der vollendeten Form des Ausdrucks und in dem
alles belebenden Schwünge poetischer Begeisterung. Der Gehalt, den man
im engeren Sinne als philosophisch anzusprechen hat. trägt kaum dazu bei,
diesen Wert zu erhöhen, giebt vielmehr häufig Veranlassung, der Wirkung
des Ganzen zu schaden". Ein ähnlich auffallendes Urteil findet sich auch
über Kant. V. wundert sich, dass er es unterlassen habe. ,,das Ding an
sich in seiner grundlegenden Eigenschaft und unsere wechselnden und nie
abgeschlossenen Vorstellungen als Ausläufer davon in Zusammenhang zu
bringen und die einzelnen Beziehungen zu verfolgen" (23): Kant wäre
nämlich, wenn er das gethan hätte, vor den „Irrtümern seiner Trans-
scendentalphilosophie" bewahrt geblieben. Insoferne, als er auf jenem
Wege nie über den Dogmatismus hinausgekommen wäre, allerdings. —
Von den Antinomien heisst es, dass sie die Schwierigkeiten darstellen,
welche in der Philosophie entstehen, wenn man den Übergang macht vom
Physischen zum Logischen — ein Gedanke, der dann in der Schrift mehr-
fach variiert wird.
Nessler. Gustav. Untersuchungen über die wichtigsten
Versuche einer Metaphysik des Sittlichen. Erster Hauptteil: Ge-
schichtliche Untersuchung. Erlanger Diss. Berlin, J. Sittenfeld. 1898. (86 S.)
Der Verf. behandelt auf 86 Seiten die ganze Geschichte der Meta-
physik des Sittlichen von ihrem ., Begründer" Piaton an bis auf E. v. Hart-
mann. Am besten kommt, sowohl was den ihm zugestandenen Raum (13
Seiten), als auch was die Anerkennung seiijer Leistungen anlangt, Leibnitz
weg. An die Behandlung seiner Ethik schliesst sich die 9 Seiten um-
fassende Darstellung und Kritik der Kantischon Theorien. Kant spielt in
der Abhandlung eine etwas klägliche Rolle: seine ethischen Aufstellungen
seien ,,im Grunde Leibnitzische Lehren, nur sozusagen diese auf den Kopf
gestellt oder nur halb benützt" (65). Auf eine Diskussion der sehr zahl-
zahlreichen Anklagen, die gegen Kant erhoben werden, kann ich mich
hier nicht einlassen: die Einwendungen sind zum grossen Teil von nicht
viel geringerem Alter als Kants Werke selbst, und Antworten darauf sind
längst gegeben. An keiner einzigen Stelle hat sich aber der Verf. der
Mühe unterzogen, sich mit denen auseinanderzusetzen, die für Kant ein-
getreten sind. Nur einen in prinzipieller Hinsicht wichtigen Punkt möchte
ich kurz beleuchten. Nessler erklärt (69). Kant habe ,,das nicht erfüllt,
was man von einer Metaphysik des Sittlichen erwartet: Ableitung des
Grundprinzipes der Ethik aus einem höheren wissenschaftlichen Grunde
34'J Liltt'iaturlifiii-lit.
und A'iMknüpfun<;: der Ethik mit der übrigen l'liilosophie". Das kontrastiert
ji'doch seltsam damit, dass kurz vorlier (64) hericlitet ist, dass Kant der
praktisclien Vernunft den Primat vor der theoretiselien anweist. ^Vie kann
der Verf., wenn er das weiss, auf eine Ableitung; ,,ans einem höheren
"wis.seuschaftliehen Grunde" nrhuen- Gerade in ihr Umkeliiuni;- des ge-
läufigen Verhältiiisses von Metaphysik und Istliik (in di'in ,,auf den Kopf
stellen" der Lehren seiner Vorgänger) liegt der tiefste Punkt des Kantischen
Systems. AVindelband hat dies in seiner an.sgezeichneten ,,Geschichte der
neueren Philosophie'' mit Recht stark hervorgehoben. „Weit davon ent-
fernt, aus einer theoretisch gewonneutn Weltanschauung ableitbar zu sein,
i.st die Moral vielmehr der einzige Weg, auf dem man eine Überzeugung
von dem übersinnlichen Wesen der Dinge erwerben kann: diese aber kann
niemals bewiesen, sondern inniier nur geglaubt werden'' OVindelband,a. a. O.,
2. Aufl., S. 127/8). Diesen „innersten Zusammenhang der wissenschaft-
lichen so gut wie der persönlichen Überzeugung'' Kants (a. a. 0. S. 108)
hat Kessler ignoriert. Damit aber hat er zum mindesten sein eigenes
Programm verletzt, das er in der Einleitung, S. 3, aufgestellt hat, nämlich
der Darstellung der einzelnen Versuche „eine immanente Kritik" zu-
zufügen. Denn seine Kritik wächst nicht aus dem Kantischen System
heraus, sondern hier urteilt der „Metaphysiker von altem Schrot und Korn",
um einen Ausdruck Kants zu gebrauchen. Höchstens das könnte man dem
Verf. zugeben, dass er eine immanente Kritik seiner eigenen Beurteilung
Kants giebt, indem er selber Kantische Thesen anführt, die jene unmöglich
machen.
Dass ein ganz respektables Quantum von ernster Arbeit in Kesslers
Schrift steckt, soll nicht verkannt bleiben. Aber die viel zu summarische
Ausführung (dem Mittelalter z. B. sind l'/a Seiten, Schopenhauer nicht
ganz ebensoviel gewidmet) lässt in ihren darstellenden Teilen viel sachlich
Wichtiges, in ihren kritischen Teilen eine entsprechende Begründung ver-
missen.
Windelband, W. Die Geschichte der neueren Philosophie
in ihrem Zusammenhange mit der allgemeinen Cultur und den besonderen
Wissenschaften. Erster Band. Von der Renaissance bis Kant. Zweiter
Band. Von Kant bis Hegel und Herbart. Zweite durchgesehene
Auflage. Leipzig, Breitkopf und Härtel. 1899. (VIII u. 591, VIII u. 408 S.)
Als Vorläufer des abschliessenden dritten Bandes, der nunmehr in
nächster Zeit zu erwarten ist, hat Windelband die schon 1878 und 1880
erschienenen beiden ersten Bände seines nicht minder durch feinsinnige
Behandlungsweise wie durch umfassende Gelehrsamkeit ausgezeichneten
Geschichtswerkes über die moderne Philosophie neu erscheinen lassen. Mit
Recht hat er dem in der ihm einst verliehenen Gestalt beliebt und be-
rühmt gewordenen Buche seine Eigenart, d. h. hier so viel wie: seine
charakteristischen Vorzüge, gelassen. Windelband spricht sich im Vorwort
näher über die Aufgabe aus, die er sich gestellt hat: er will „den all-
gemeinen Zug der modernen Gedankenmassen schildern, wie sie, teils in
den besonderen Wissenschaften, teils in anderen Kultursphären entsprungen,
in den Systemen der Philosophie ihre methodische Verarbeitxing suchen,
Litteratnrbericht. 343
und in diesem Zusammenhange die Stellung und den Wert der einzelnen
Leliren charakterisieren-'. Fügt man diesen Worten lOch hin/u. dass die
damit gestellte Aufgabe aufs glücklichste und in eine. Ausführlichkeit, die
kaum eine wesentliche Frage unerörtert lässt, gelöst ist, so hat man zum
Teil der Eigenart des Werkes die ihr zukommende Signatur gegeben.
Allein nur zum Teil. Denn was hiermit noch nicht gesagt ist, was aber
gerade an Wiudelbands Darstellung in ganz besonderem Masse imponiert,
das ist der Umstand, dass sie selbst fördernd in die Probleme eingreift.
Windelband ist mehr als blosser Historiker. Der Verfasser der „Präludien"
begnügt sich nicht damit, sich in die philosophischen Systeme einzuleben
und sie darstellend nachzuerleben, sondern er stellt sie zugleich dar mit
dem lebhaften Bewusstsein davon, dass einen Philosophen verstehen, über
ihn hinausgehen heisst (um ein an anderer Stelle von ihm gebrauchtes
Wort in verallgemeinerter Form anzuwenden). Man kann diesen Gedanken
auch so ausdrücken: Windelband giebt, wo er kritisiert, nicht bloss Kritik,
sondern er giebt produktive Kritik. Ganz besonders gilt dieses letztere
natürlich von den Abschnitten, die er, der Kantianer, dem grossen Königs-
berger und der von ihm ausgegangenen Bewegung des deutschen IdeaUsmus
gewidmet hat.
Wiu in der Geschichte der Philo.sophie selbst, so nimmt auch in dem
vorliegenden Werke Kant eine durchaus dominierende Stellung ein, was
sich schon dadurch äusserlich kundgiebt, dass sich fast die Hälfte des
zweiten Bandes mit seiner Lehre beschäftigt; und näheres Zusehen zeigt,
dass es auch in den Paragraphen, die nicht unter der Überschrift „Die
Kantische Philosophie" stehen, nicht an Ausblicken, bezw. Rückblicken
auf Kant fehlt. Treffend bemerkt Windelband in den die Betrachtung des
Kantischen S^-stems einleitenden Sätzen: „Die grosse Gewalt, welche Kant
über die philosophische Bewegung zunächst seiner Zeit ausgeübt hat, liegt
vielleicht am meisten in der unvergleichlichen Weite seines geistigen
Horizontes und in der Sicherheit, mit welcher er das Nahe und das Ferne
von seinem Standpunkte aus überall im richtigen Verhältnis zu sehen
wusste. Es ist kein Problem der neueren Philosophie, das er nicht be-
handelt hätte — keines, dessen Lösung er nicht, selbst wo er es nur ge-
legentlich streifte, das eigenartige Gepräge seines Geistes aufgedrückt hätte.
Aber diese Universalität ist nur der äussere Umriss und noch nicht der
Kern seiner Grösse; dieser liegt vielmehr in der bewunderungswürdigen
p:nergie, mit der er die Fülle des Gedankenstoffes zur einheitlichen Durch-
dringung zu bringen und zu verarbeiten vermochte. Weite und Tiefe sind
in seinem Geiste von gleicher Grösse, und sein Blick umspannt ebenso den
ganzen Umfang der menschlichen Vorstellungswelt, wie er an jedem Punkte
bis in das Innerste dringt. In dieser Paarung sonst selten vereinter Eigen-
schaften liegt der Reiz, welchen die Persönlichkeit und die Werke Kants
immer ausgeübt haben und welcher ihn unter den Philosophen stets den
ersten Platz einnehmen lassen ^\-ird".
Was speziell in der Darstellung der Philosophie Kants das Verhältnis
der vorliegenden zweiten Auflage zur ersten anlangt, so sind nur wenige
Änderungen vorgenommen. Zumeist sind es entweder kurze Zusätze oder
stihstische Verbessenmgen. Hin und wieder findet sich auch die Einfügung
344 Littoraturberioht. — Hiltliof^iaplii-iclif Noii/.cn.
oinos ilor jüni^stoii Zeit an<z^('li(iri;i;on Srhla;4:\vortos, so •/.. B. Seite u\
,.Transsceiulentalpsycliol(\y;ie" |/.nerst von Vaihin^er i;-el)raiic.ht|, S. 1 73 der
„systematische Faktor" (Adickes). Von Interesse ist diT Ziisat/ S. n" i\!)er
die synthetische Funktion der Sinnlichkeit. Audi die S. 856/7 in dem Al)-
schnitt über Sciiopenliauer mit lie/.ielmni;- an! Kant neu ein;;;efil;:!;to Stelle
über das Din,u; an sich als llrund der Krscheinunf»; ist nicht unwichtig;. —
lieferent zweifelt nicht, dass Windelbands feinsinni*j;es Werk in der neuen
Auflage fortfahren wird, sich zu seinen zahlreichen alten Freunden neue
SU erwerben.
Bibliographisclie Notizen.
Im n. Bande. S. 504, führten wir unter anderen Besprechungen der
„Kantstudien" auch eine solche durch G. Thiele in der „Zeitschrift für
immanente Philosophie" 11. 1. S. 80 au. Wir machten diese Angabe auf
Grund einer bibliographischen Mitteilung, die wir anderwärts gefunden
hatten. Erst jetzt ist uns das betr. Heft selbst zu Gesicht gekommen.
Wie wir nun sehen, enthält die ausführliche Besprechung (S. 80—89) im
AVesentlichen kritische Ausführungen Thieles zu dem Aufsatze von Adickes
über „Die bewegenden Kräfte in Kants philosophischer Entwicklung"
u. s. w. Die Ausführungen Thieles, die wir hier nachträglich registrieren,
betreffen folgende 4 Punkte: 1. Die propositio V der Nova Dilucidatio, in
welcher die beiden verschiedenen J^ormen des principium rationis deter-
minantis als logisches und als reales Prinzip unterschieden werden. 2. Die
Stellung Kants in den Jahren 1762/3, speziell sein Verhältnis zu Crusius'
Dissertatio de usu et limitibus ])rincipii rationis sufficientis (Kausalgesetz,
Eealgrund). 3. Hume's Einfluss; nach Adickes fand derselbe um 1768 statt,
nach Thiele erst 1772; der bekannte Brief an Herz vom 21. Februar 1772
Avird analysiert. Dass 1769 das Antinomienproblem mitgewirkt habe, leugnet
Thiele ebenfalls. 4. Thiele führt aus, dass, wenn er (was Adickes nicht
billigt) die „intellektuelle Anschauung" als den Grundbegriff von Kants
Kriticismus ansehe, dies nicht im litterarhistorischen (philologischen ), sondern
in systematischem (philosophischem) Sinne von ihm geschehen sei. — Wir
machen bei dieser Gelegenheit nachträglich noch auf einige Beiträge aus
derselben Zeitschrift aufmerksam, welche für den Freund der Kantischen
Philosophie beachtenswert sind: so auf den Aufsatz von Stock, über
Ethik als Wissenschaft, in welchem (I, 232 ff.) „die Unzulänglichkeit des
moralischen Formalprinzipes" bei Kant eindringlich behandelt wird mit
dem Nachweis, dass und wie Kants formales Prinzip sich ihm unter der
Hand in ein materiales verwandelt; S. 322 ff. wird das Verhältnis von
Autonomie und Heteronomie (im Gegensatze zu Windelband) eingehend
erörtert unter Berücksichtigung der Fundamentalbegriffe Pflicht und Zweck.
— In demselben Bande findet sich auch ein bemerkenswerter Aufsatz von
Franz Marschner, die wissenschaftlich berechtigten Fassungen des Ich-
begriffes (I, S. 413 ff.). In diesem Aufsatz wird die Rolle des Ichbegriffs
bei Kant ebenso eingehend als einsichtig behandelt. Bemerkenswert ist
dabei folgende Ausführung: „Die von Kant durchgängig festgehaltene
Bibliographische Notizen. 34:5
Unterscheidung der Momente des Empirischen, Transscendentalen und Trans-
■scendenten hat bei ihm auch Geltung in Bezug auf das Ich: er unterscheidet
■demgemäss das Ich alsErsclieinungdes transscendentale Bewusstseinsi= die
Vorstellung des Ich) und des Ich an sich." „Von düsen Fassungen des
Ichbegriffes zu trennen ist das (bei Kant dem transscendentalen Ich be-
denklich nahegerückte) logische Ich als der BegriTf, den alles Denken auf
das Ich als das gemeinschaftliche Subjekt hat, dem es inhärieit." S. 420 ff.
'.vird die Frage der Unmittelbarkeit des Bewusstseins bei Kant erörtert;
433 ff. und 455 ff. wird besonders noch der Begriff des „Bewusstseins über-
haupt" ercirtert. Marschner untersucht eingehend auch Fichtes Ichbegriff,
zieht aber die Kantischen Fassungen desselben vor. — Beachtenswert ist
noch aus demselben Bande eine kritische Besprechung des Boiracschen
"Werkes: lidee du phenomeue durch M. R. Kauffmann, in weicher auf
Kant näher eingegangen wird. — Aus dem 2. Bande sei noch die Abhand-
lung: Zur Lelire von den Axiomen von Dr. Herr mann erwähnt, der dabei
iiuch von Kant ausgeht.
o^
In der „Christlichen Welt" 1899, Nr. 17 und 18 findet .sich ein hoch-
interessanter Aufsatz rechtsphilosophischen Inhalts von Friedrich Paulsen.
Er trägt den Titel „Politik und Moral" und verfolgt die Aufgabe, die
Berechtigung jenes allgemeinen Gefühls nachzuweisen, das die sittlichen
Normen auch auf die Politik und die Politiker anwendet. „Die absolute
Verneinung |der ethischen Massstäbe in der Politik] beruht auf derselben
Sophistik. die hin und wieder auch zur Leuguung der Giltigkeit de» Moral
für die einzelnen geführt hat. Allerdings gelten hierbei gewisse Einschrän-
kungen, die aus der Natur des Staates und des Staatslebens folgen.' „Wer
aber ein Rechtsverhältnis [zwischen den Staaten) überhaupt annimmt, der
muss den Krieg als ein Abnormes und zu Eliminierendes ansehen, der wird
den Staatsmännern mit Kant die Aufgabe stellen: dem vollkommenen
Rechtszustand auf Erden in die Hände zuarbeiten". In diesem Znsammen-
hang geht der geistvolle Verf. mit Wärme auf Kants Gedanken über den
Krieg ein: Ob jemals der ewige Friede realisiert werden wird, ist eine
Frage, die nicht entschieden werden kann; dass aber der ewige Friede als
Vernunftidee im Sinne Kants zu Recht besteht, duldet keinen Zweifel.
Denn Bekämpfung der Übel ist eine notwendige Aufgabe des vernünftigen
Willens.
Dem Jubiläum der That Fichtes, der, „um nicht der Würde der Philo-
sophie etwas zu vergeben, sein Lehramt in Jena aufgab", widmet Paulsen
„ein Gedenkblatt" in der „Deutschen Rundschau" (Berlin. Paetel), April
1899 (S. 66 — 76): „J. G. Fichte im Kampf um die Freiheit des philo-
sophischen Denkens". Einleituugsweise erinnert Paulsen an Kants
Konflikt mit der preussischen Censur; dann wendet er sich zur Schilderung
des Fichteschen Atheismusstreites. Hierauf folgen sachliche Erörterungen
über Fichtes Athe'smus und über seinen Gottesglauben. Sein Atheismus
war die Bekämpfung der natürlichen Theologie, die „ihm durch die
grosse von Kant ausgehende Revolution der Philosophie völlig abgethan"
war (72). Fichtes Gott ist kein Einzelwesen, kein Individuum, keine Sub-
stanz; er ist auch kein Wesen, das den Menschen Glückseligkeit giebt:
er ist d'e moralische Weltordnung selbst. Er ist kein anderer als der Gott
Kants. Dass Kant dieselben Gedanken fast ohne Widerstand aussprechen
durfte, verdankt er seiner dunklen Ausdrucksweise. Fichte „selbst spricht
einmal von der Obskurität, die Kant geschützt habe" (S. 74). Zum Schluss
hebt P. das Typische, das sich in dem Fichteschen Streit geltend macht,
hervor. „Drei Parteien sind darin thätig: 1. die Hüter der geltenden Lehre,
2. die Bringer neuer Meen. 3. zwischen beiden die Politiker" (74). Fichte
selbst nennt sie „Obskuranten, Lichtfreunde und Ge.schäftsleute". Letztere
sind dem Neuen nicht abgeneigt, aber sie „leben in Kompromissen und
von Kompromissen", und so geben sie dem Verkünder neuer Ideen gute
Ratschläge und wohlwollende' Weisungen. Aber stolz lehnt dieser sie ab
Knntstudieu IV. 28
340 Hibliojfiapliisclie Notizen.
wie „Sokrates. da er in jener denkwünliLTcn (.u'rieiitsverliaiitlluiii^, statt sicli
kleiner Strafe scluililig zn bekennen, der ypeisun;; im i'rylaneiiin sich
würdif^ erkannte" (76). Und dailnirli k<Mnmt es zum Brueh. Im l'.ill l'^ichtes
liat t'toetlie die T{olU> des Politikers i;t'S]n('U. ..Duell steht der .\lrusch da-
hinter. Kr lieht überall ilie stillen \Virkuni;eii, die allmäidiclu'n l'l)er;.;iin^e,
wie in der Natur, so in der Geschiclito; darum ist ihm das stürmische Vor-
p;ehen leidenschaftlicher Geister zuwider. Ks ist eine Schranke in seiner
Natur, dass er für das gewaltij;e Wolh'U umwälzender Geister kein sym-
]nithisches Verständnis hat, daher hat er auch kein rechtes Vcrliidtnis zu
Persönlichkeiten wie Luther" (TÜ).
Über Paulsens neues Kantbuch giebt Dr. H. Romundt eine aus-
führliche Besprechung in den „Monatsheften der Comuniusgesellschaft",
1899. Januar-Februar (S. 36—42) mit dem Titel „Immanuel Kcant. Sein
Leben und seine Lehre". Romundt bcgrüsst das Buch als „wohl ge-
eignet für die Aufgabe, die ihm der \'erfasser stellt: denen, die Kaut selbst
lesen und studieren wollen, zum Führer zu dienen. Diese Adressierung an
ein bestimmtes weiteres Publikum hat Paulsen vor der Gefahr einer tri-
vialen Popularisierung bewahrt, der ein in die nnbestimmte grösste Masse
hinausgeworfenes Kantbuch leicht erliegt. Eine edlere Art von Volkstüm-
lichkeit ist das von unserem Autor sowohl Erstrebte wie Eri'eichte" (37).
Doch erhebt R. auch mehrere Einwendungen gegen die Paulsensche Auf-
fassung: Kants Interesse für das Wissen und die Forschung kommt bei
P. nicht in gleichem Masse zu seinem Reclit wie sein Eintreten für einen
aufrichtigen Glauben (38); Kants Agnosticismus wird allzusehr zurückge-
stellt hinter seinen Piatonismus (89). „Hätte Paulsen den Physiker in
Kant mehr gewürdigt und damit dessen Verhältnis zur Naturforschung
als der Grund- und Boden Wissenschaft des Menschen, so würde er wohl
auch nicht so weitläufig Kants Platonisch geartete Metaphysik S. 237—282
ausgeführt haben" (89). Einen „tiefgehenden Gegensatz der Denkweise"
(40) zwischen Kaut und Paulsen konstatiert R. in Hinsicht auf ihre sitt-
lichen Anschauungen: während Kant die ethische Gesetzgebung von der
Erfahrung emanzipiert, werden „nach Paulsen die Begriffe der Sittlichkeit
durch die Erfahrungen dieses Lebens nicht nur veranlasst, sondern völlig
begiündet."
o
-o
In dem Artikel „Ein Buch über Kant" („Die Nation", Hr.sg. v. Th.
Barth, 1899, Nr. 43. S. 609—18, Nr. 44, S. 628—26) wendet sich H. Cohen
von seinem „transscendentalen" Standpunkte aus gegen Paulsens „Imma-
nuel Kant, Sein Leben und seine Lehre". Nach Cohen steht Paulsen an-
geblich der Kantischen Philosophie innerlich nicht nahe genug, um zur
Bearbeitung eines solchen Buches geeignet zu sein. Den Nachweis dafür
sucht Cohen zu erbringen, indem er die Abschnitte der genannten Mono-
graphie einzeln Revue passieren lässt. Auf einige Punkte sei hier kurz
hingewiesen: S. 610 wird die Paulsensche Darstellung, wonach Kants An-
schauung von der Natur des wirklich Wirklichen im Grunde immer dieselbe
war, abgelehnt, ebenso wie die in Zusammenhang hiermit stehende An-
nahme einer von Kant zu allen Zeiten festgehaltenen Privatansicht der
Metaphysik. Die PersönKchkeit Kants wird in eine freundlichere Beleuch-
tung gestellt (611;. Gegen eine Bemerkung Paulsens über das Verhältnis
der Philosophie zur Wissenschaft richten sich eingehende Ausführungen
(612), in denen bes. die Bedeutung der synthetis(rfien Grundsätze für den
Kriticismus hervorgehoben wird. Nach mehrfachen Einwänden gegen P. s.
Darstellung und Kritik der synthetischen Grundsätze (623j folgen Erörte-
rungen über das Verhältnis zwischen Logik, Mathematik und den Natur-
wissenschaften (623/4). S. 624 wendet sich C. zur praktischen Philosophie,
wobei zunächst P.'s. Dar.stellung im Allgemeinen, dann die einzelnen Teile
seiner kritischen Erörterungen angegriffen werden. Zum Schluss folgt
(S. 625/6j die Besprechung der Paulsenschen Ausführungen über Kants
Ästhetik. Hier wird geltend gemacht, dass P. die historische Perspektive
Bibliographische Notizen. .•J47
umkehre, imlem er „Scliiller mul Goethe nach Herdei zurückdatiert". Zu-
dem sei es nicht anp,än^ig, die Astlietik „mit einer .so eriichthchen Küiv.e**
zn behandehi. da doch Kants Philosophie „mit unserer klassischen Poesie
so iunig vermählt ist".
Zu dem bereits in den „Iv. .St." 111, 472 erwidiuten .Streit über Kaut
innerhalb der sozialdemokratischen Partei ist ein neuer Beitrag erschienen
in der so/ialdemokratischen „Freit-u Presse" (P]lberfeM-Bannon) vom 12. Febr.
1899: „Marx — Darwin — Kant. Ein Beitrag zur theoretischen Diskussion"
von Dr. med. et phil. Woltmann, Woltmann wendet sich gegen eine
Rezension, die sein Buch „Die Darwinsche Theorie und der Sozialismus"
durch Bebel in der „Neuen Zeit" erfahren hat. W. stellt, bei aller Aner-
kenninij;' der Klassenmoral, die Bebel allein gelten lassen will, neben diese
die Rassenmoral, und über beide die Menschheitsmoral: letztere beschäftigt
sich nicht mit dem, was ist, sondern mit dem, was sein soll. Er findet es
seltsam, dass der moderne Sozialismus, der ganz eigentli(;h eine „permanente
moralische Entrüstung" ist, theoretisch gegen die Menschheitsmoral Front
macht, die doch aus jedem sozialistischen Programm, aus jedem Wahlaufruf
spricht. Durch Marx sei die Sozialdemokratie ins Fahrw;isser Hegels ge-
führt woidcn. Kant aber sei ein viel modernerer Geist als Hegel, sowohl
in seiner Stellung zur Naturwissenschaft, wie zur sozialen Kritik. Zu ihm,
„dem grössten der Moralphilosophen", müsse der Sozialismus umkehren, wenn
er „vor geistiger Erstarrung" bewahrt bleiben wolle. Denn der au Hegel
orientierten Marxschen „materialistischen Dialektik" hafte noch „zu viel
apriorischer Schematismus an, der in der Umschlagstheorie des kapi-
talistischen Zusammenbruchs herumspukt und politische Propheten zu
Narren macht". „Der historische Materialismus teilt das Schicksal aller
sensualistischen Erkenntnistheorie, mit dem Inhalt der Ideen auch die
Form der Ideen aus der sinnlichen Aussenwelt abzuleiten und eine spontane
Kraft des Geistes im Sinne des Kantischen Ki-iticismus und der Plato-
nischen Ideenlehre zu leugnen. Er verwechselt das Recht im politischen
und juristischen Sinne mit der moralischen Gerechtigkeit und identifiziert
Sitte mit Sittlichkeit". „Als ich vor drei Jahren die Rückkehr zu Kant
dem Sozialismus empfahl, dachte ich nicht daran, dass sobald: Hie Kant
— Hie Hegel I zum Schlachtruf erhoben würde. In der That halte ich
jetzt die geistigen Unterstrümungen in der Partei für tiefergehend als die
Vertreter des politischen Tageskampfes zugeben w^ollen. Will der Sozialis-
mus eine neue Weltanschauung sein, wie Engels sagt, dann muss er sich
auch wissenschaftlich mit Kant auseinandersetzen .... Die Rückkehr zu
Kant soll aber nicht eine Aufgabe des Marxismus bedeuten. Im Gegen-
teil, mit kritisch vertiefterem und geläuterterem Bewusstsein wollen wir zn
dem zurückkehren, was Marx und Engels geleistet und uns hinterlassen
haben, um ihre Gedanken in fruchtbarer objektiver Weise weiter auszugen
stalten".
Eine eingehende kritische Besprechung des Anhanges zu Kants „Natur-
geschichte des Himmels" giebt Dr. Matthieu Schwann in der Schrift
„Sophia. Sprossen zu einer Philosophie des Lebens" (Leipzig, C. G. Nau-
mann, 1899, 216 S.). In dem Kapitel: „Kosmische Phantasien" widmet
derselbe 12 Seiten (S. 73 — S5) jenem Kantischen Anhang, speciel Iden Fragen,
wie die Bewohner der andern Gestirne sich zum Menschen verhalten- In
welchem Verhältnis die geistigen Fähigkeiten dieser Gestirnsbewohner zu
der Dichtigkeit und sonstigen Beschaffenheit der jedesmaligen Materie
stehen .' Der Verf. glaubt, dass die betr. Wesen den Menschen an Voll-
kommenheit nicht bloss im Erkennen, sondern auch im Wollen übertreffen.
Die Schrift des Prof. M. Lazarus, die p]thik des .Judentums,
Erster Band Frankfurt a. M., J. Kauffniann, 1898. 44.j S.) nimmt an vielen
Stellen Bezug auf Kant, indem der Verf. zu zeigen sucht, dass die Ethik
des Judentums (nach Bibel und Talmud) die Grundgedanken der Kantischen
23*
j^^i> Hihlio^^iapliisclu' Notizeii.
Kthik ;\ntoci])iert habe. Dt-nn niclit tlurch den piittlichcn Bi-fclil wcmcU-
das Sittliflio zum Cosctz. sondi-rn weil os auch ohne (licscii lii'IVhl zum
Gesetz werden n\iisste, weil es. um mit Kant zu sprechen, autonom sei.
wurde es von Gott befohlen; so sei das 8ittenp;esetz auf den kate^oriscluMi
Imperativ e;eüründet. Dies erhelle aus dem rabbinischen Ausspruche, das
Gesetz solfe 'llisclnnoh". d. li. in seinem Namen, im Namen des Gesetzes
selbst, um seiner unhedinjit verjiflichtcndcn K'iaft willen erfiUit werden.
Nur aus pädaüj^ogischen Gründen werde die Krfidlunf; des Gesetzes zunächst
auch aus materialen Motiven erlaubt. Wenn Kant den Fortschritt in der
Ilochachtunu- für das Gesetz als ..heilif^e Scheu, welche sich in Liebe ver-
wandelt," bezeichne, so finde sich dieser Gedanke anch schon in der
rabbinischen Litteratur; ebenso der Gedanke Kants, dass, „wenn die Ge-
rechtiükeit untercehe, es keinen "Wert mehr habe, dass Menschen auf der
Erde Feben". Die Losung;' des Judentums sei: Die Sittlichkeit einzig um
der Sittlichkeit willen. Auch schhesse die Ethik des Judentums das Ge-
bot in sich ein, so zu handeln, „dass du wollen kannst, dass die Maxime
deines Handelns zum Gesetz für Alle werde". Die Ethik des Judentums
fordere unwillkürlich zum Veri;leich mit der Philosophie des „Altmeisters
Kant-* heraus (vgl. „Kantstudien" 11, 6Ü0 f.).
Unter dem Titel „Time as related to Causality and to Space"
bring-t das Aprilheft des Mind 1899, S. 216—232, einen Artikel von Marv
"SVhiton Calkins. Die Verfasserin will zeigen, dass die übliche Behand-
lungsweise des Problems der Zeit an zwei Fehlern krankt: einerseits wird
die Zeit — nnd das sei auch Kants Hauptfehler (220j — in Analogie mit
dem Eaum behandelt, und andrerseits übersieht man ihre Beziehungen
zur Kausalität. In teilweisem Anschluss an Schopeidiauers Lehre von der
centralen Bedeutung des Satzes vom Grnnde wird dann ausgeführt, „that
Time and Cansalitv are svibordinate forms of this principle of the Necessary
Connexion of pheiiomena, and that the third and co-ordinate form of the
category is Eeciprocal Determination, not, as is often stated, Space" (218).
Als Erweiterung einer akademischen Antrittsvorlesung hat Professor
Barth in Leipzig in der von ihm redigierten „Yierteljahrsschrift f. wissen-
schaftl. Philosophie" XXIll, 1 (1899), S. 76—116, einen Artikel erscheinen
lassen mit dem Titel „Die Frage des sittlichen Fortschritts der
Menschheit". Für die Kantische Philosophie kommt dieser interessante
Aufsatz insofern in Betracht, als eine der darin vertretenen Grundthesen
die ist. dass die Wandlung der sittlichen Anschauungen derart vor sich
geht, dass im Laufe der geschichtlichen Entwicklung die Menschen erzogen
werden zu sittlicher Freiheit, zur Autonomie im Sinne Kants. So \venig
eine Übereinstimmung über die sittlichen Zwecke unter den Ethikern zu
erzielen sei, so sehr stimmen sie doch alle darin überein, dass eine sitt-
liche Handlung „desto höheren sittlichen Wert habe, je mehr sie hervor-
gehe aus dem innersten Wesen, der innersten Gesinnung des freien
Menschen" (82). „Eine Gesellschaft wird desto vollkommener sein, je mehr
sie diese Selbständigkeit [des mündigen Menschen], ohne ihre Existenz
zu gefährden, durchgeführt hat, je mehr sie also auf den guten "V^ illen
ihrer Mitglieder, das einzige schlechthin Gute, das es nach Kant giebt, ge-
gründet ist" (84). In anziehender Weise zeigt Barth in einem Ueberblick
über die historische Entwicklung, dass wir in Eecht und Sitte ein stetiges
Wachsen der Autonomie der Persönlichkeit konstatieren dürfen. Kann
man somit die Entwicklung der sittlichen Grundsätze durch eine auf-
steigende Gerade symbolisch darstellen, so gilt dies jedoch nicht von der
aktuellen Sittlichkeit, deren Entwicklung vielmehr in Kurven verläuft, zu
denen jene Gerade „beinahe die gemeinsame Tangente ist" (107); dabei
liegt der Scheitelpunkt jeder neuen Kurve höher als der der voraufgehenden.
Der Gegenwart weist der Verf. ihre Stelle auf dem absteigenden Aste einer
solchen Kurve an.
Bibliographische Notizen. 349
Über einen entschiedenen Gegner der Kantiscl •.•a Ä.sthetik liandelt
die Erhinger Dissertation „J.-M. Gu3'au"s Prinzip i'es Schönen und
der Kunst- von Heinrich W ilienbücher (C.iesscn, lb!)!t, 50 S.). „Guvaus
Theorie leidet an der Betonung des pathologischen Interesses, das tlurch
Kant endgültig von dem Schönen ausgeschlossen zu sein schien" (14):
Dieser Satz enthält den springenden Punkt für den Gegensatz zwischen
den beiden Ästhetikern. Im Übrigen sind noch zu vergleichen Seite 6
(über die Bedeutung des „Spiels"), S. 7 (über das Verhältnis von Schönheit
und Nützlichkeit, die Guyau in enge Beziehung zu einander bringt). S. 10
(über das Ideal der Schönheit).
Eine kurze Behandlung der Kautischen Ästhetik findet sich in der
Poetik von Eugen Wolff (Oldenburg, Schulze, 1899, VII u. 286 S.). Das
Buch, eine auf induktive Durchforschung der Geschichte der Weltlitteratur
gegründete Darstellung der Gesetze der Dichtkunst, setzt ein mit einer
bersicht über die Geschichte der Theorien über Poetik und stösst in
diesem Zusammenhange S. 6 auch auf Kants Kritik der Urteilskraft. Her-
vorgehoben wird die Bedeutung der Begriffsbestimmung des Schönen und
Erhabenen, sowie der, teilweise durch den Gegensatz wirksam gewordene,
Einfluss Kants auf die Ästhetik Schillers.
Eine am-egende ästhetische Studie auf der Grundlage des erkenntnis-
theoretischen Idealismus ist soeben im Verlag von J. H. Ed. Heitz in
Strassburg erschienen. Sie trägt den Titel: Das Problem der Darstel-
lung des Momentes der Zeit in den Werken der malenden und
zeichnenden Kunst von Ernst te Peerdt. Von der Voraussetzung
aus, dass nicht die Gegenstände an sich, sondern allein deren Vorstellungen
Objekte der Kunst sein können, wird, da jede Vorstellung zeitlichen
Charakter hat, gezeigt, dass das, was der Künstler vor dem Momeutphoto-
graphen voraus hat, eben die Möglichkeit der Wiedergabe dieses zeitlichen
Momentes ist. „Mit dem Trugprinzip einer realistischen Kunst" wird der
Maler „nicht ein grosser Künstler, sondern ein grosser Optiker" (43j.
Karl Gross, der Verfasser der „Spiele der Tiere", hat nunmehr auch
seine anthropologischen Untersuchungen über das Spiel in einem stattlichen
Bande: „Die Spiele der Menschen" (Jena, G.Fischer, 1899. 526 S.) ver-
öffentlicht. Ohne allen Zweifel ist das Buch eine hochbedeutende Be-
reicherung der psychologischen, ästhetischen und pädagogischen Litteratur.
Kant wird mehrfach berücksichtigt: 207 seine „unübertrefflich feine"
Theorie des Komischen, auf die wieder Bezug genommen wird 359; 209
seine „grundlegende Erörterung" über das Erhabene; 72 über „Farbenkunst";
513 über die ethische Forderung, dass der Mensch nie bloss als :Mittel
verwendet werde.
Über J. Reinkes neues Buch „Die Welt als That" (Berlin, Paetel)
hat in Nr. 14 der „Gegenwart" (8. April 1899) Ludwig Büchner einen
Artikel mit der Überschrift „Das erkenntnistheoretische Problem
im Lichte der Naturwissenschaft" veröffentlicht. Beifällig werden
die im Sinne der realistischen Metaphysik des gesunden Menschenver-
standes gehaltenen Ausführungen über die (übrigens von Reinke gänzlich
missverstandenen) Lehren der Transscendentalphilosophie (Unerkennbarkeit
der Dinge an sich un<l Idealität von Kaum und Zeit) citiert und besprochen.
Reinkes mvstische Theorie der Vererbung und vollends sein atheistisches
Glaubensbe'kenntnis finden freilich die Zustimmung des Materialisoen-
führers nicht, sondern werden am Schlüsse des Aufsatzes im Namen der
„modernen Naturforschung . . . perhorresciert".
Die „Geschichte der Haupt- und Residenzstadt Königsberg i. Pr." von
Prof. Dr. R. Armstedt, mit 2 Sta.ltplänen, 2 Siegeltafeln und 32 Abbil-
dungen (Stuttgart, Mobbing und Bixhle, 1899, 354 S.) bietet für die Kenntms
•^50 lUhliographisi'lii' Notizen.
dor lloim;it K;iuts sflir vii'l llflcliicmlrs und Interessantes. Das „'Milieii*,
aus dem derselbe herausucwaclisen ist. wird selir anscliaidicli gescliildcrt.
Anf Kant be/ielien sich allein 3 Abbildnnucn ; das K'.aiit |i..r1 r;i( v(in D('>l)l('r,
die Kantstatue von Haueli. di»- Stna Kantiana.
hn „American .lournal ul' Science" V, S. 1)7 — llL' (l\'l)r. Ib'JS) heliandeit
t; F. Becker unter der Überschrift ..Kant as a Natural Philosopher"
die Be/.iehunji-en der Kantischen Kosnidüdnie zu Descartes. Newton und
Swedenborg;- und vergleicht Kants Ni'bulariivixithese mit den Theorien
Laplaces und Lord Kelvins.
B. A. W. Rüssel spricht in seinem Buche ^An Essay on thel'oun-
dations of Geometry" (Cand)rid2;e. The University Press, ]S07) nu'hilacli
über Kant und Themata der Kantischen Philosophie. Begrii'l' und Bedeu-
tung des Apriori werden erörtert; Kants transscendentale Ästhetik und
.--eine Theorie der Geometrie werdi'u bei Bcliaudluni;- dei- metageometrischen
Probleme eingehend berücksichtigt.
Über ..Kaufs Theorv of Education" handelt ein Aufsatz von J. L.
Mc Lntyre in der Educational Review XVI, 4, S. 313--327. An die Dar-
stellung- der Kantischen Anschauungen über Pädagogik knüpft der Verf.
Erörterungen über die Vereinbarkeit derselben mit dei- AVillcnsfi-eiheit.
Kants Lehre vom Willen ist behandelt von Archibald Alexander in
seinem Buche „Theories of the Will in the History of Philosophy"
New- York, Ch. Scribner's Sons, 1898).
Treffende Bemerkungen über die Bedeutung Kants finden sich in
der Jenaer Dissertation „Entstehung u n d B e d e u t u n g d e s G e f ü h 1 s i m
Leben der einheitlichen Seele mit besonderer Rücksicht auf die
praktischen Ideen Herbarts" von Friedrich Ballauff (Aurich, 1898,
Gymnasialprogramm). Es lieisst da u. a.: „Die alles üljerragende Stellung
Kants, bes. auf ethischem Gebiet, lässt es fast unthunlich erscheinen, in
eine sittliche Erörterung einzutreten, die nicht an seinen Namen anknüpft.
So ist es nicht zu verwundern, dass sich auch Herbart, wie wir wissen,
stets der Pflicht der Dankbarkeit bewusst gewesen ist, die wir alle diesem
Philosophen schulden, dass auch er in steter Anlehnung an die unvergäng-
lichen Ergebnisse Kantischer Forschung, in stetem Gedenken an die un-
auslöschlichen Verdienste des Königsberger Weisen sich gerade in ethischer
Hinsicht mit besonderem Stolz einen Schüler Kants genannt hat" (22/23).
Von Kant und der Wirkung seiner Philosophie redet; eingehend Julius
Duboc, Dr. phil., in seinem V^^erke: Hundert Jahre Zeitgeist in
Deutschland. Geschichte und Kritik. 2. Auflage, 1899 (Leipzig,
O. Wigand). Er setzt mit seiner Geschichte des deutschen Zeitgeistes mit
dem Erscheinen der Kritik d. r. V. ein und schildert von da an alle AVand-
lungen des Zeitgeistes von Fichte bis Hegel, von Feuerbach bis Schopen-
hauer, von R. Wagner bis Nietzsche. Die Bedeutung der Erneuerung der
Kantischen Philosophie für den Zeitgeist seit 1870 ist dem Verf. nicht zum
Bewusstsein gekommen.
Pfarrer Hermann Bleek in Rüttenscheid hat bei Mohr in Freiburg
i. B. eine Schrift erscheinen lassen: Die Grundlagen der Christologie Schleier-
machers. 1898 (233 S.). Im 2. Kapitel der Einl. S. 32—65 behandelt der
Verf. „die moralisch-intellektualistische Periode", in welcher „Christus als
Vorbild und Lehrer", als „Weiser" galt, d. h. die Aufklärungszeit, vertreten
durch Kant. Er zeigt, wie Schleiennacher sich in diesem Punkte mit Kant
auseinandergesetzt hat.
In der „Neuen Kirchl. Zeitschrift" VIII, N. 12, (Erlangen, Deichert)
findet sich ein Aufsatz von Prof. D. Wilhelm Schmidt „Ethische Fragen",
Bibllugraphische Notizen. 351
in welchem derselbe S. 947 ff. über und gegen Kants aatonorae und anti-
eudämonistische Moral sich äussert.
Von Paolo Kaff. Trojano ist ein AVerk erschienen: La storia comc
scienza sociale. Napoli. "Pierro 18!18 (P. 271); pa^'. 189 ff. behandelt der
Verf. >la dottrina Kantiana dei Sentimenti estetici", und meint: „.Sentimento
desinteressato e una contradi/.zione nei termini". Er bespricht dann auch
noch die Herbartsche Theorie und giebt dann doch noch zu, dass die
ästhetischen Gefühle als uninteressierte bezeichnet werden können.
Neue Wege für die Psychologie schlägt Eudolf Müller ein in seiner
Schrift: ^Das hypnotische Hellseh-Experiment im Dienste der
naturwissenschaftlichen Seelenforschung. 1. Band: Das Ver-
änderungsgesetz" (Leipzig, Arwed Strauch 1898, VIU u. 168 S.). Der
Verfasser stellt ein allgemeines kausal-teleologisches „Veräuderung.sgesetz"
auf. das sowohl für unorganische, als für belebte Objekte gilt, und das
auch der psvchologischen Forschung die Ziele weist. Diese Aufgabe, die
seelischen Erscheinungen nach Massgabe jenes Gesetzes zu erforschen,
habe die bisherige Psychologie nicht erfüllt, insbesondere weil sich die
meisten Psychologen von der Kantischen Erkenntnislehre zu sehr haben
beeinflussen lassen; es wird daher ein eigener Abschnitt, S. 83 — 98, der
Prüfung der Erkenntnislehre Kants, den der Verf. im Übrigen sehr hoch
stellt, vom Standpunkt jenes Gesetzes aus gewidmet. Die Kritik leidet an
dem fundamentalen Missverständnis des Ausdruckes „transscendentales"
Subjekt, ein Terminus, an dessen Schwierigkeit Kant selbst freilich schuldig
ist, insofern ja „transscendental" bald sich auf das Immanente, bald auf
das Transscendente bezieht. Im Übrigen wendet sich der Verf. speziell
gegen den Ausdruck ,.Form'; (Gassform) und gegen die „reine Anschauung
a priori"; Kants Transsc. Ästh. erkläre nicht „die Bildung und Bewusst-
Averdung der starken Objektvorstellungen". Der Verf. dehnt dann seine
Kritik auch auf die Transsc. Analytik aus und verwirft auch die reinen
,. Formen des Denkens", die Kategorien, diese „zwölferlei Formationsregeln
der Erfahriin"selemente". Tieferes Eindringen in K. würde den Verf. zu
'O^
einer positiveren Würdigung Kants gelangen lassen.
In der „Zeitschrift für Theologie und Kirche" (hrsg. v. Gottschick)
IX, 3 il899), S. 188—249 findet sich eine Abhandlung über „Schuld und
Freiheit" von Lic. theol. E. Rolffs. Nach einleitenden psychologischen
Erörterungen wendet sich der Verf. S. 197 zur Untersuchung cles berühmten
Schlusses „du kannst, denn du sollst". Für den einzelnen Fall bestehe
derselbe nicht zu Recht. Rolffs verweist auf die „Heroen der Sittlichkeit",
Paulus, Aiigustin. Luther, die durch ihre Erfahrungen zur Annahme einer
Erbschuld geführt worden sind. „Gerade in den Fällen, in denen das
Schuldgefühl am schwersten und ([uälendsten auf uns lastet, begründet das
Gewissen sein Urteil: du bist schlecht, nicht mit dem Satze: du hast
nicht gehandelt, wie du solltest und konntest, sondern es urteilt:
du bist schlecht, weil du nicht handeln konntest, wie du
solltest". So kommt der Verf. zur scharfen Scheidung zwischen Reiie
(der Unlust über einen Irrtum) und Schuldbewusstsein. Die Verwechslung
dieser beiden Seelenzustände habe auch Kants Darstellung der Gewissens-
vorgänge beeinträchtigt (Met. Anfangsgr. d. Tugendl. § 13). Eingehend
und scharfsinnig werden Augustins und Schopenhauers Freiheitslehren
kritisiert. Im Gegensatz zii diesen beiden Denkern, die die Menschheit
nicht als Ganzes in den Umkreis ihrer diesbezüglichen Betrachtungen ge-
zoge<i haben, schliesst der Verf. aus der Gesamtschuld dc-r ^lenschheit
auf eine „Gesamtfreiheit, die sich auf die einzelnen Persönlichkeiten ver-
schieden verteilt". Damit mündet Rolffs bei der von Kant ausgesprochenen
Lehre: „Wir sollen bessere Menschen werden . . . folglich müssen wir es
auch können" (Religion innerh. d. Gr. d. bl. V.. 1. Stück, Allg. Anm.).
„Dieser Satz", sagt Rolffs, „ist richtig und unausweichlich, während der
352 Kililiiij^rapliisclic Notixen. — Zoitscliriftonscliau.
Schluss „du kannst: denn du sollst" dmrhaiis niissvi-rstiiiullirli und
vielfach missverstandon ist". So wird die Frcilifit zum praktisclicii Postulat,
zu einer Aufuabi' für die Zukunft. Das Srliuld;j;i'füld ist hierlici ..die not-
wendi.ce Betlinj^un^ des sittliciu'n I'ort Schrittes und der niircligan;^^si)unkt
zur vollkonuuenen Freiheit". Die in diesem ZusHmnirnli:ui','c erörterten
Fragen über das sittliche Ideal und über die Achtun;;- vor di-ui (Jesetz.
schiiessen sich vielfach enj; an Kant an und zeigen, dass der Verf. den
Philosophen mit gros.sem Erfolg zu lesen ,i;t\vusst liat.
Zeitsclirifteiiscliau.
Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik (herausg. von
E. Falckeuber-). Leipzig, Pfeffer.
Bd. 114. 1 (l89iM. Busse, Leib und Seele. — Brömse, Die Realität
der Zeit o"gl- oben S. 337) — Liitoslawski. Über Lot z es Begriff der
metaphysischen Einheit aller Dinge. S. 67: Subjektivität der Eaum-
anschauung. 71: Ding ausser uns. — König, E. v. Plartnianns Kategorien-
lehre. 80: S3-nthesis der Rekognition. 82: Idealität des Raumes. —
Adickes, Rezension von Wundt, „System der Philosophie", 2. Aufl. —
Marbe, Rezension von Goldschmidt, „DieWahrscheinlichkeitsrechnung".
Bd. 114, 2. Sclieler, Arbeit und Ethik. 165: Neukantianismus. —
Döring, Zur Kosmogonie Anaximanders. — Vorländer, Eine „Sozial-
pädagogik" auf Kantischer Grundlage. Über Katorps „Sozial-
pädagogik", eine kritische Begründung der Sozialpliilosophie auf ..dem
Grunde der Kantischen' erkenntniskritischen Methode. — Siebert, Über
die Beziehung des Menschen auf die Natur und das Menschen-
geschlecht. — Henian, Paulsens Kant. „Wir erhalten den ganzen
Kant in einheithchem Guss, nicht, wie es meist geschieht, den in der
Succession seiner Geistesepochen und Philosophieperioden zerlegten und
in seine empirischen Lebensmomente auseinandergezogenen, sondern Paulsen
stellt gleichsam das ens noumenon Kant, den intelligiblen Charakter des-
Philosophen, vor uns, den von innen heraus, aus dem Cenlrum und der
"Wurzel seines Geisteswesens geschautenDeuker". Ausführliche Erörterungen
über Kants „Metaphysik".
Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie (herausg. von
P. Barth), Leipzig, Rei.sland.
XXIII (1899), H. 2. Kiilpe, Über den associativen Faktor des
ästhetischen Eindrucks. 148: Kants Lehre von der anhängenden
Schönheit. — Posch. Ausgangspunkte zu einer Theorie der Zeit-
vorstellung IL — Schwarz, Die empiristische Willenspsychologie
und das Gesetz der relativen Glücksförderung. — Marbe, Rezension
von Ziehens Ps^-chophysiol. Erkenntnistheorie.
XXIII, H. 3. V. Ehrenfels, Entgegnung auf H. Schwarz" Kritik
der empiristischen AVillenspsychologie und des Gesetzes der
relativen Glücksförderung. — Posch, Ausgangspunkte zu einer
Theorie der Zeitvorstellung IIl. 308, 319: Kant. — Barth, Fragen
der Geschichtswissenschaft I. 328 ff.: Kausalität. 332 ff. Gegen
Stammlers Auffassung der Kantischen Kausalitätslehre, speziell in Bezug
auf die menschlichen Handlungen. — Richter, Rezensionen von Schulze,
„Erläuterungen zu Kants Kr. d. r. V., hrsg. v. R. C. Hafferberg" und
Zeitschrit'tenscliau. 853
von Willart'th, „Die Lehre vom Übel bei Leibniz, seiner Schule in
Deutsrhlaiid und bei Kauf*.
Archiv für Geschichte der Philosophie (herausg. von L. Stein/. Berlin,
Jieinnr.
V, id. 8. Tuinarkin, Das Associationspri nzip in der Geschichte
der Ästhetik. 275: Herders Polemik ftf^^en Kants Ästhetik. 276 f.: Freie
und anhän-iende Srlnlnheit. 277: Die Hauptschwierip;keit der Kantischen
Ästhetik besteht darin, dass K., das Individuum vom Subjekt trennend,
eine nicht objektive und doch allj;-emeine Schönheit verlangt. 285: „. . über
Kants subjektive Allgemeinheit wird die .-vsthetik kaum je hinausgehen
können". — Dilthev, Jahresbericht über die nachkantische Philo-
sophie. 326 ff.: Entwicklung von Kant bis Hegel.
Archiv für systematische Philosophie (.herausg. von P. Natorp). Berlin,
Reimer.
V, H. 2. Tscliitscliorin. Raum und Zeit I. 111: „Die Zeit ist eine
angeborene apriorische Form der Vorstellungen. In dieser Hinsicht hatte
Kant vollkommen Recht". Gegen Kant wird jedoch die objektive Realität
der Zeit verteidigt: sie ist „ein Attribut das absoluten Geistes": 148. 151 ff:
Metageometrie. 156: Apriorität des Raumes. — Kleinpotor, Über Ernst
Machs und Heinrich Hertz' prinzipielle Auffassung der Physik.
174 f.: Mach und Kant. — Xatorp, Zur Streitfrage zwischen Em-
pirismus und Kriticismus. 187: „Dmg an sich". 188 ff.: „a priori".
194: „Eifr.hrung". 195 f.: „Gegen.stand". — Hacks, Die Prinzipien der
Mechanik von Hertz und das Kausalgesetz. Gegen die Anwendung
des Hertzschen Grundgesetzes („Jedes freie System beharrt in seinem
Zustande der Ruhe oder der gleichförmigen Bewegung in einer geradesten
Bahn") auf die belebte Naitur. - Wentscher, Zur Theorie des Ge-
wissens. 230 ff.: Das Gewissen als praktische Vernunft.
Revue de Metaphysique et de Morale (Secr.: M. X. Leon). Paris,
Colin & Cie.
VII (1899), 1. Boiiasse. De Fapplication des sciences mathe-
maticjues aux sciences experimentales. — Charlier, Sur la me-
moire I. — Lameunais, Un fragment inedit de l^Esquisse d'une
Philosophie" public par Ch. Marechal. II.
VIT, 2. Rcinaclp, Recherche d'une methode en psychologie
III. — Sort'l, Y a-t-il de lutopie dans le marxisme? — Äiidrade, Du
röle de lassociation des idees dans la formation des concepts
metaphj'siques du „^fecanisme". — Fontene, Sur I'h^-pothese
Euclidienne. — Briiiisciivirp. Essais de iihilosophie generale de
M. Ch. Dun an. 208 ff.: Kriticismus. 211: Antinomien. 214: „ . . le jour
oü il |Kant| eut k opter entre Hume et Leibnitz, il decouvrit le criticisme
et il se fit kantien."
VII. 3. Poincare. Des fondements de la geometrie a propos
dun livre de M. Russell. 270 f.: Kants Raumtheorie. — Son'l,
L"ethi(]ue du socialisme. 292: „ . . . presque tous les marxistes re-
grettent vivement l'exageration avec laquelle on a longtemps vante les
beautes du materialisme. On parle beaucoup en Allemagne de 7-evenir ä
Kant: cest un bon signe." — Chartier, Sur la memoire II. 803: Kants
Kategorientafel. — Milliaiid. Essai sur la Classification des sciences
par M. (ioblot. 332: Raum und Quantität. 335: Zeit.
VII, 4. Lp lloy, Science et philosophie. — WpImt. Positivisme
et rationalisme. — Siniiand, Deduction et Observation nsycholo-
giques en economie sociale. — Parodi, La philosophie de Vache-
rot I. 489 f.: Kants Antinomien.
ort Zeitsclirit'toiischj.n.
The Philosophical Review (K«lit..is: .) (',. Sdi u rinaii. .1. E. Cri'i.i;li t <.ii,
.1. Si'th). Nt'w Volk. Macmilliui.
\\\\ :! Scliiiniian. K;int"s A Priori Klfiucnts ol riuliTstan-
din"- US ro'n.liliuüs .)f Expericuco l. ÜIht (lifson bcdi'utsMiiK-n
\rtikol wird rnM"lit(Mi in ciiuMu lU-r n;irlisti«n Hefte der „Kantstiidien"
ivferieren. - WlnsloW, A Delense of Uealism. 'J40: Kaut -- Hinilal
llaldar The runcention of the Absolute. 263: Kant und lle-el —
".lii'k.'^ Gcrman Philosophical Litcrature ( 18!)6-18;t8) (1). Über
k-int v-l die Kesprecl\uu<;vu von "Willui nun . „Gescliichte des Idealismus":
•>77 f • Paulsen, .Kant": '284 f. — Vaililii,::«'!', Rezension von Paulsen.
^Immanuel Kaut, Sein Leben und seine Lehre". - Mc (lilvavy. Rezension
von L'annee philosophL] ue" VIT (Pillen). 307 f.: Kant und Renou-
vier — Ferner enthält das il.'it die i,'e])roduktion des „Kantstudien" 111.
1 u. 2 veröffentlichten „Dresdener Kantbildes". — 31. W.Calkins, Rezen-
sion'über Daxers Anlage der transscendentalen Ästhetik u, s. w.
VIIL 4. Scliunnaii. Kants A Priori Elements of Undcrstan-
dino- as Couditions of Experience U (vgl. oben). Clark Miirray.
Rousseau. 369 f.: R.'s Einwirkung auf Kant. — Peterson, The Porius
of the Svllogism. — Adickcs, German Philosophical Literature
/]896 — 1898) (11). 404: Kants Ethik (in der Besprechung von Krueger,
Der Begriff des absolut Wertvollen als Grundbegriff der Moralphilosophie").
— Torrev Ausführliche Rezension von Cresson, „La Morale de
Kant" — ("roijTliton. B<>sprechung von Menzer, „Der Entwicklungsgang
der Kantischou" Ethik in den Jahren 1766—1785" („Kantstudien" II u. III).
The Monist (Editor: Dr. P. Garns). Chicago, The Open Court Pnbl. Co.
IX 3 Sergi, The Primitive Inhabitants of Europe. — Pater-
son. The'lrony of Jesus. — Mont-omm', Actual Experience. 363:
Kant — Carns. Yahveh and Manitou. — Levy-Bnihl, The Contem-
porarv Movement in French Philosophy. 417: Als eine Haupt-
ströraung wird genannt „a Kantian current, derived m part from Kants
theoretic philosophy, and in part from his moral philosophy;'. Besondei^
von wSeite 421 an wird eingehend über den Kantianismus m trankreich
berichtet.
IX 4 Crai»- A Study of Job and the Jewish Theory of
Sufferiug.'— WlTitmaii, Myths in Animal Psychology. — Lloyd Mor-
^siu Biology and Metaphysics. - (Joebel and Anlnm, Friedrich
^^ietzsche's Übermensch. — Cariis, Immorality as a Philosophie
Principle Nietzsche's Emotionalism. — Besprechungen von Gold-
schmidt, „Kant und Helmholtz", und von Hicks, „Die Begriffe Phano-
menon und Nournenon in ihrem Verhältnis zu einander bei Kant".
Przeglad Filozoflczny (Philosophische Rundschau). Warszawa, ulica
l\j-ucza 46.
n 3. Kozlowski, Psychologische Quellen einiger Natur-
o-esetze II 8 11: Kants dviiamische Theorie der Materie. — Grabski,
Einleitung zur MethodoTogie der politischen Ökonomie. 40:
Kant — Kodis, Der Niedergang des Materialismus m der moder-
nen Wissenschaft. — Karejew, A Comte, der Begründer der So-
ciologie.
Revue Neo-Seolastique (Dir.: D. Mercier). Loiivain, 1, rue des Flamands.
VI, 2. Hallenx, Le probleme philosophique de l'ordre social.
108 f • Kant — Piat, La valeur morale de la science d'apres So-
crate - NoeJ. La conscience de Tacte libre et les objections de
M Fouillee — Mercier. „Ecco Fallarme" — Un cri d alarme. Gegen
M. Billia (Turin). — De Wulf. La synthese scolastique IL 172: Kant.
De ^lumivnck. Besprechungen von Hicks, „Die Begriffe Phänomenon
und Noumenon in ihrem Verhältnis zu einander bei Kant"; JSimz, „Die
Zeitscbriftenschau. — Mitteilungen. 355
afficii-reiulen Gegenstände iu Kants Kr. d. r. V."; Rubin, „Die Erkenntnis-
theorie Maimons in ilireni Verhältnis zu Cartesius, Leibniz, Hume und
Kant".
Revue Thomiste (Dir.: R. P. Coconnicr, 0. P.). Paris, 222, Faubourg
.St.-Hiinori'-.
VII, 2. Baiulill. L Acte et la Puissance dans Aristote Li. 171:
Kant. — .lausen, La (|uestion liguorienne — Probabilisme et equi-
probabilisnie. — M(mta<:iH'. Origine de Societe. Le Con trat so-
cial 111.
\'IJ, 3. MontasiU', Origine de la Societe d apres „lEcole
Naturaliste". — Buiulill, LActe vi la Puissance dans Aristote III.
2'.t3: „linneisnie de Kant". — Strowski de Lenka, Maurice Ma-ter-
link. — Folijliera, Philosophie, Science, Religion dapres un livre
recent: Fciisees et Portraifs. par C.-C. Charaux (Paris, Pedone-Lauriel).
F. giebt von Charaux* Buche _une presentation un peu si/ste'matique, en
recherchant un certain nombre de pensees, disseminees ici et lä, et en les
groupant sous ces trois rubriques: philosophie, science, religion."* S. 353
sind die auf Kant bezüglichen Aphorismen zusammengestellt, u. a. die
fol2:enden: „Au Heu de choisir entre Locke et Kant, ce qui netait point
aise. ou de les concilier, ce qui n'etait point possible, la philosophie (p'iilo-
ftophia pereimis) se contenta demprunter a Tun des reflexions et des obser-
vations utiles, a l'autre des analyses dont eile retrancha lexces." „Kant a
engendre Fichte, qui a engendre Schelling et Hegel, qui ont engendre
Karl Marx et les socialistes allemands, les plus doctrinaires de tous les
socialistes. Le genne, que le semeur avait confie ä la terre, il etait loin
de savoir tont ce qu'il contenait." Unmittelbar hierauf lässt Folghera die
nachstehende, bei Ch. in anderem Zusanunenhang vorkommende Bemer-
kung folgen: „Rien n'empeche de croire que, dans une autre \'ie, le cliäti-
ment des philosophes qui ont peche par amour excessif de leur pensee
propre, c'est de voir dans ijuels exces sont tombes ceux (jui Tont con^uite
jusiiuä son terrae" (!V — De Muniiyiick, Rezension von Mercier. „Crite-
riologie generale"
Mitteilungen.
Wieder ein neues Kantbild.
(Mit AVjbildung.)
Wir .^ind auch diesmal wieder in der angenehmen La^e, den Abonnenten
der ..Kantstudien" ein neu aufgefundenes Kantbild darzubieten. Wir ver-
danken die Möglichkeit der Reproduktion der Munificenz eines imgenauui-
bleiben wollenden G<'>nners unserer Zeitschrift.
Kurz nach dem Erscheinen des vorigen Heftes wurde das Porträt der
Redaktion seitens der Münchener Antiquariatsfirma Nathan Rosen-
thal (Schwanthalerstr. 32/0i zur Veröffentlichung angeboten. Leider ist
es nicht uKiglJch gewesen, die für die Geschichte des Bildes wissenswerten
Details festzustellen. Nur so viel Hess sich eruieren, dass das Bild früher
in Leipzig war, wo es von einem Bruder des genannten Antiquars er-
standen wurde. Es ist zweifelhaft, ob der Besitzer überhaupt wusste, dass
es sich um ein Porträt des grossen Philosophen handelt.
356 Mittoilungon.
Dass ilas Kilil v\n (h-iginalptirträt ist, kann kaum /w rifrlliaiL sein. \ on
allen bekannten Typen weirlit es in cliarakteristisclier Weise ab. Etwas
AlHiliclikeit liat es mit dem Hilde V(in \'eit Schnorr, am meisten mit <lem
von M. S. Lowe, dem es in Ansserlicidceiten (Kopriialt uii^l:;, IVisur ii. s. w.)
nahe kommt. Mit letzterem Hilde w.n- Kant seihst sehr nn/niriedeii und
gewiss nicht mit l'nrecht (v^l. Kants Werke, Kosenkran/ un<l Schuhi'rt,
XI. 2, S. "JOB : MindiMi, „Über Porträts und Ahhi!(liin;;-en Immanuel Kants",
Königsberi;; 1868, S. 6). Denn von allen Kantbildern lässt es am weni;.;sten
den grossen Denker erkennen. Allein die beim Lowesrhen Bild durch
ihre Kleinlichkiüt störenden Züj^e (bes. die Partien um Anjife, Nase und
Mund) felden vollstiindi^- in dem neu auf.n'efundenen Hilde. Dass jedoch
(.•twa der Maler des vorliegenden Porträts das Lowesche Original in freier
Weise kopiert haben könnte, erscheint trotz der äusserlichen Aehnlichkeiten
ausgi'st'hlossen. Denn wenn man auch die Veredehmg des (iesichtsans-
druckes und die viel gesclimackvoUere Behandlung von Perrücke, Zopf
und Eock damit erklären könnte, dass der Kopist ein grösserer Künstler
war als der Verfertiger des Originals, so spricht doch die mehrfach völlig
andersartige Wiedergabe des Gesichtsschnittes aufs Entschiedenste gegen
eine solche Annahme: anf keinem anderen der bis jetzt bekannt gewordenen
Typen tritt die Stirn so weit zurück wie hier, und die Form der Nase hat
m'it der auf dem Lowe.schen Bilde kaum eine Spur von Ähnlichkeit. Das
aber sind Abweichungen, wie sie sich ein Kopist nie erlauben kf'mnte.
Und dann betrachte man die so völlig lebenswahre enge Brust: alle anderen
Maler Kants haben in dieser Hinsicht „geschmeichelt"; bei Lowe zumal
hat Kant die Brust eines stattlichen Mannes.
Das Bild ist auf Pergament gemalt. Die Farbengebung ist von grosser
Feinheit. Über dem roten Eock, der nur Avenig von dem Jabot sehen
lässt, erhebt sich in der Mitte des Ovals der in hellen Tönen gehaltene
Kopf des sinnenden Denkers mit dem ausruhend in die Ferne gerichteten
Auge. Tn das dem Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft vorangehende
Jahrzehnt dürfte wohl die Aufnahme des Bildes fallen. Dahin deutet das
Alter des Dargestellten, und der Ausdruck des Gesichtes scheint dasselbe
zu sagen: Kant vor den Problemen der theoretischen Philosophie.
Die Grösse des Originals inclusive der ornamentalen Streifen beträgt
80 X 66 mm. Die Reproduktion hat dieselben Masse. Das Original befindet
sich in einem wohl gleichzeitigen ebenfalls ovalen Messingrähmchen, das
anf dem die Rückseite bildenden Holzdeckel den halb unleserlichen Namen
„Kant" trägt. (Die Unterschrift auf unserer Reproduktion hat mit dem
Bilde selbst nichts zu schaffen; sie ist nach einem Autograph Kants aus
dekorativen Gründen von uns hinzugefügt.)
Ohne allen Zweifel gehört das Bild sowohl hinsichtlich seines kinist-
lerischen Wertes wie hinsichtlich seines Anspruchs auf Porträtähnlichkeit
mit in die erste Reihe. Solange über seine Provenienz, insbesondere über
den Künstler nichts ermittelt ist. mag es einstweilen das Rosenthalsche
Kantbild genannt werden. Es ist seitens der genannten Firma verkäuflich.
Im Anschluss hieran mögen noch folgende, auf das im vorigen Heft
reproduzierte Kantbild bezügliche, Mitteilungen Platz finden, die wir der
Güte des Herrn Dr. Alfred Schellwien (Schloss Pless, Oberschlesien) ver-
danken: Jenes Bild ist von Senewaldt zweimal gemalt worden. Die
beiden Bilder stimmen fast genau mit einander überein. Das neu ent-
deckte, das sich in einer Sammlung Senewaldtscher Bilder im Besitz des
Grafen Richard zu Dohna-Schlobitten befindet, ist, wie uns Herr
Dr. Schellwien schreibt, gleichfalls in Sepia, sehr sorgfältig und zart in
demselben silbergrauen Ton wie das Fürstensteiner ausgeführt. „Das
Format ist fast dasselbe, 130 mm hoch, 100 breit. Der Ausdruck des Ge-
sichts ist genau derselbe, und nur in einigen nebensächlichen Partien sind
kleine Abweichungen in der Zeichnung. So i.st in diesem anderen Bilde
das Ohr etwas mehr verdeckt, und das Jabot etwas anders gefaltet. Eine
Zeitangabe oder Unterschrift ist nicht vorhanden."
Mitteilungen.
;^o7
Das in den „K.-St." III. 3, S. 370 f. besprochene MiniaturbiM Kants
ist unterdessen in den Besitz des Herrn Gerichtsassessors Arthur AV'arda
in Künij^sberg i. Pr. übergeganu;en. Wir bemerken dies im Interesse einer
event. Monograiiliie über die Kantporträts. Die Abfassung einer solchen
Märe sehr wünschenswert, da die einzige, die wir luiben. die mehr als
30 Jahre alte Mindensche, längst nicht mehr ausreicht.
Eine neue Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft.
Karl N'orlände r,i) den Lesern der „Kantstudien" seit lange vorteil-
haft bekannt, hat soeben eine neue Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft
erscheinen lassen (als No. 1266 — 1277 der Hendelschen „Bibliothek der
Gesamtlittfratur des In- und Auslandes"): Immanuel Kants Kritik der
reinen Vernunft. Herausgegeben und mit einer Einleitung sowie einem
Personen- \ind Sach-Eegister versehen von Dr. Karl Vorländer. Mit dem
Bilde Immanuel Kants. Verlag von Otto Hendel, Halle a. 8. (XLN'Ill u.
839 S.) Wie die Ausgabe von Adickes sucht auch das vorliegende Buch
in erster Linie den Bedürfnissen des Studierenden entgegenzukommen,
indem es (im Gegensatz zu den Ausgaben von Erdmann und Kehrbach)
nicht nur einen zuverlässigen Text, sondern namentlich auch sachlich
wertvolles Material bieten will. Die l'rinzipien, die Vorländer hierbei
befolgt, sind indessen wesentlich andere als die von Adickes eingehaltenen.
Insbesondere tritt der philologisch-historische Gesichtspunkt beinahe vflllig
zurück: „Über die Komposition im Einzelnen wird sich, trotz aller scharf-
sinnigen Vermutinigen von Adickes, Arnoldt, Vaihinger u. a., schwerlich
etwas auch nur einigermassen Sicheres mehr ausmachen lassen. "Wir
müssen uns eben, wie bei anderen Schriftstellern auch, an das Werk halten,
wie es dasteht'" (8. X). Vorländers Zugaben bestehen vielmehr in einer 43
Seiten umfassenden sachlichen Einleitung und in einem ausführlichen
Personen- und erklärenden 8ach-Register von 71 Seiten.
Die Einleitung giebt in grossen Zügen zunächst das AVissenswerteste
aus der Geschichte Kants und der Kantischen Philosophie bis zur Gegen-
wart, sodann Erörterungen über Tendenz und Gedankengang der Kr, d. r.
V., endlich einige für den Anfänger des Kantstudiinns berechnete Rat-
schläge. — Der erste, geschichtliche Teil dieser Einleitung dürfte seinem
Zweck recht gut entsprechen. In eleganter Schreibweise führt der Verf.
die wichtigsten Momente aus der Geschichte des Kritizismus vor, indem
er dabei gerne Bemerkungen von aktuellem Interesse eiuflicht, so über die
beim Gebrauch der „in neuerer Zeit mehrfach herausgegebenen Nach-
schriften Kantischer Vorlesungen" nötige A'orsicht (8. IX). oder über die
von Kants Kritikern „oft genug hervorgehobene, mitunter auch — über-
triebene" „Liebe [Kants] zu systematisierender Schematik" u. s. w. (S. XI).
— Auf ein paar untergelaufene kleine Versehen sei im Interesse der 2. Aufl.
hingewiesen: Dass „0. Liebmann in seinem Buche: Kant und die Epigonen
(1865i am Ende jedes Kapitels den Ruf erschallen liess: Also muss auf
Kant zurückgegangen werden!" ist richtig. Jedoch geschah dies nicht
„von demselben Jena aus, das 80 Jahre zuvor die Verbreitungsstätte
Kantischer Philosophie gewesen war" (8. XXIII). Denn nach Jena kam
») Die Hcndolsohc Vr-rlagslmchhaudluiig liat in einem an Fachmänner und Huch-
liäniller versi'udeten Prospekt dii- Wendung gebraucht: ..der HerausgelxT Vorländer sei
als Begabtester der SchübT Vaibingers .... ihr von diesem sell)st bezeichnet wonb'n".
Diese Angal)e bi-ruht natürlich auf einem Missverständnis, das nur insolcru verzeililich
ist. als wälirend der die .\usgabe bctreffeudi'n Verhanfiluiigeu (b'r Verlag durch Tod des
Vorbesitzers in fremde Händi» übergegangen ist. Von dem v(>rstorbeiien Vorbesitzer
vor mehreren Jahren sdiriftlich um Rat gefragt, wem er wohl die von ihm (ür seine
..Ilibliothik der Oesamtlitteratur" beabsichtigti' .Ausgabe di'r Kritik d. r V. anvertrauen
könne, liabe ich ihm — ebenfalls scliriftlich — Herrn I»r. Vorländer genannt, den ich da-
mals nocli gar nicht persilnlicb kannte. Selbstverständlich habe ich. win auch die
Verlagsbuchhandlung neuerrliugs bestätigt, keine Wendung ge))raucht, welche zu jenem
Missverständnis auch nur von fern hätte Anlass gehen können. So schmeichelhaft es
mir wäre. Herrn Dr. Vorländer als meinen Schüler bezeichnen zu krinuen, so kann ich
dies um so weniger thuu. als derselbe sich iu durchuu.s selbstttndtger Weisein die Kant-
litteratur eingeführt hat. H. Vaihinger.
308 Mitti'ilimgon.
L. erst {^i'raunu' Zt'it s]>iiti'r; I86ö luliitc er in Tühinjj;t'n. Alh rdin^s aber
war liiobinann tlinrli K. Fisclu-rs KantvorIcsun,i;"cn in .iciiit lilr Kant
jfjewonncn wonliMi. IVrni'r: Dor in »Icr Kinlcit inii;- 3 mal (S. XI 11, X\ I. \X)
erwähnto .lacohi schreibt st-incn Namen nicht mit k.
l)ie Anst"ührnn,i;i'n über tlic (.irnmltenilun/ des Werkes sind Ijt'sonders
au Cohens Kantanffassunf? orientiert. Mit Naclidnick betont Vorläniler —
und der Referent mTichte ihm darin bi-istimnu-n — den „methodischen
Urundcharakter der Kantischen J^hilosophie, hesser des Kantisclieii l'liilo-
sophierens" ^XXXV11). — Der die P^inleituni;- abschliessrnde didaktische
Teil, die Anp;abe von „Hilfsnu'tteln /nm Stndinm der Kr. d. r. \'.", giebt
dem Antanyer brauchbare Winke. Mit allen Ein/ellieiten in diesem, der
Natur der .Sache nach individuellen Abschnitt wird sich fiiilicli nicht
jetler Kantforscher einverstanden erklären kcinnen. —
Mehr als diu-ch die Einleitung;- erhält das Buch einen durchaus eigen-
arti,ü:en Charakter durch das beigefügte Register, eine Zugabe, wie sie noch
keine andere .Vusgabe aufzuweisen hat. Das wenig über eine .Seite in
Anspruch nehmende Personen-Register giebt bei einigen heute nicht mehr
allgemein bekannten Namen dankenswerte Noti/.en. AVichtiger ist das
Sach-Register, das den verschiedenartigsten Interessen der Leser der Kr.
d. r. V. eine äusserst wertvolle Unterstützung zu bieten imstande ist. Bei
selten vorkommenden Schlagwörtern enthält es die vollständige Angabe,
bei den sicli allenthalben findenden die Angabe wenigstens der wichtigsten
Stelleu: bei den in verschiedener Bedeutung vorkonmicnden Terminis sind
die Stellen nach ihren Bedeutungen geordnet. Sind die von Kant getroffenen
Distinktionen komplizierter Art, so stellt Vorländer ein übersichtliches
Schema auf, wobei er sich, wie übcrhau])t durchgehends, auf Kants eigene
Definitionen, Erklärungen und Unterscheidungen beschränkt (vgl. \'orwort).
Vorländer hat darin sehr wohl gehandelt; er hat seiner Arbeit einen
objektiven Charakter gegeben, den sie nicht haben würde, wenn kritische
Bemerkungen eingeflochten wären. — Will man sich einen Begiiff davon
machen, mit welchem Fleiss dieser Teil des Werkes ausgeführt ist, und
wie nützlich er für Untersuchungen selbst der subtilsten Art sein kann,
so unterziehe man etwa den mehr als 2 Druckseiten füllenden Artikel
„transscendental" einer genauen Durchsicht. Da stehen zuerst die von
Kant gegebenen Definitionen genau in ihrem Wortlaut; wo die 2. Aufl.
von der 1. abweicht, sind beide Lesarten angegeben. Es ist angegeben,
an welchen Stellen der Begriff in Gegensatz tritt zum Empirischen, an
welchen zum Psychologischen u. s. w. u. s. w. Dann folgen die alphabetisch
geordneten Verbindungen von der transsc. ^bgegrenztheit bis zur transsc.
Zeitbestimmung. Bei mehrdeutigen Terminis sind die sachlich zusammen-
gehörigen Stellen geordnet, und die jedesmalige Bedeutung ist in Klammern
beigefügt. So teilen sich z. B. die bei dem Terminus „transsc. Objekt"
angegebenen Stellen in 8 Gruppen, und ausserdem wird zum Schluss noch
verwiesen auf „transsc. Gegenstand"! — Dass ein so übersichtlicher und
bequemer, und dabei so umfassender Index in gleicher Weise von dem an
der schwierigsten Einzeluntei'suchung arbeitenden Fachmann, wie von dem
mit der ersten Lektüre der „Kritik" beschäftigten Anfänger mit bestem
Erfolg zu Rate gezogen werden kann, liegt auf der Hand.
In allem Cebrigen, was der Referent noch zu bemerken verpflichtet
ist, lehnt sich Vorländers Ausgabe an die Erdmannsche an: Zu Gi-unde
gelegt ist der Text der 2. Auflage, deren Seitenzahlen am Rande angemerkt
sind; kleinere Abweichungen der 1. Auflage sind als Anmerkungen unter
dem Text, grössere im Anhang abgedruckt. Der von Erdmann geäusserte
Wunsch, nach der 2. Aufl. zu eitleren, findet den Beifall Vorländers so
sehr, dass er ihn nicht nur in seinem Vorwort wiederholt, sondern dass er
sogar selbst in Einleitung und Register nicht nach dem Buche, das der
Leser in Händen hält, sondern nach der 2. Aufl. citiert. Auch in der
freien, modernisierenden Behandlung des Textes schliesst er sich an Erd-
mann an. Der Text macht, so Aveit ich das nach den angestellten Proben
beurteilen kann, einen zuverlässigen P^indruck. Mehrfach werden in An-
Mitteilungen. 359
merkungeu schriftliche Korrekturen in Kants Handexemplar angeführt.
Die (in einem besonderen Verzeichnis zusammengestellte) Anzahl der neu
vorgenommenen Textveränderungen ist eine recht ansehnliche; zum grossen
Teil sind es freilich nur siirachliche Modernisierungen, die — ich kann das
Bedenken nicht unterdrücken — vielleicht nicht überall wünschenswert
L^ewesen sein dürften. — Das beigegebene Porträt Kants ist ein Holzschnitt
nach dem Original von Veit Schnorr.
Ich fasse das Facit meiner Besprechung dahin zusammen, dass ich dem
Buche eine recht weite Verbreitung wünsche, und zwar, bes. des Sach-
ßegisters wegen, ebenso bei denen, die sich zum ersten Mal das Standard-
Werk der pliilosophischen Litteratur kaufen, wie in den Händen derer, die
in ihm schon lange heimisch sind. Denn von der Verbreitung dieser Aus-
gabe erwarte ich eine Vertiefung des Kantstudiums.
Fritz Medicus.
Einige bisher unedierte Reflexionen Kants.
Das Antiquariat von Nathan Rosenthal in München (Schwanthaler-
-;trasse 32/0) i.st im Besitz eines kleinen Kantautographs, das -wir mit dessen
Erlaubnis reproduzieren, da die auf demselben stehenden fragmentarischen
Reflexionen Kants unseres Wissens noch nicht abgedruckt sind. Die (übrigens
ganz unverkennbare) Echtheit des Autographs ist verbürgt durch ein bei-
Hegendes Zeugnis von W. Schubert (vom 2. Juni 1861); darnach ist der
Zettel in den Jahren 1770 — 1780 geschrieben und gehört zu Kants hand-
schriftlichen Erläuterung-en der Betrachtungen über das Schöne und Er-
habene. Die wichtigsten derselben hat Schubert im Bd. XI der von ihm mit-
veranstalteten Gesamtausgabe veröffentlicht (XI, S. 220); die untenstehenden
finden sich nicht darunter. Sie stehen auf einem kleinen Blatt (97 X 6^
Millimeter) und lauten;
Vorderseite.
..Die Neigung geschwängert durch die Einbildung gebiert den Müfsig-
gang und das Gelüsten, mit ihm aber alle Leidenschaften."
..Die Neigung empfangen von der Natur treibt zur Arbeit und ver-
nünftigen Zwecken, durch sie aber zur Zufriedenheit."
Darauf wird der erste dieser beiden vorstehenden Sätze in etwas
modifizierter Form wiederholt.
Dann folgt ein nur unsicher zu entzifferndes Sätzchen, das sich dem
Anschein nach gegen den theologischen Einwand kehrt, die in dem zweiten
der beiden oben w'iedergegebenen Sätze erwähnte '„Natur" sei doch vom
Teufel verdorben.
,,Der böse Geist dürfte wohl ebenso wenig die Natur verderben, die
sein Geschöpf ist ['], als der Mensch die Thiere oder seinen eigenen Stamm." [1]
Rückseite.
„Völker, deren uralte Sprache nnvermischt geblieben ist, können zwar
sehr cultiviert sein als Chinesen, werden aber niemals aufgeklärt, und
bleiben eingeschränkt von Begriffen. "Wer weils, wie viel Mischung von
Celtisch, Thracisch, Phrygisch, vielleicht auch etwas Syrisch mag die Sprache
nicht empfangen haben, ehe sie griechisch war. Die Flnglische ist mehr
gemischt als eine andere, das Deutsche weniger, am wenigsten das Slavische.
Jetzt muss man nicht mehr vermischen, sondern nachahmen.''
Das Autograph, auf dessen Rückseite noch eine Rechnung ausgeführt
ist, ist von dem Besitzer käuflich.
Kant auf drei Kongressen.
Für die umfassende Beileutuug, welche Kants Philosophie für alle
Gebiete des geistigen Lebens besitzt, legt der Umstand Zetignis ab. dass
auf drei ganz heterogenen Kongressen der jiingsten Zeit Kants Name
sehr ehrenvoll erwähnt wurde. Einmal geschah dies im September in der
71. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte; Professor Förster
360 MitU'iluii'^'en.
von Borlin liit'lt daselbst ciiu'ii Wutra;^' über „die W andlim^rii des a^tro-
noinisi'lu'U Widlltildos bis zur i;i';j;i'ii\varl" (crscbii'iu'n in diT Hi'il. /. Allj;.
Zeit. V. 18. Sept. No. 212); er saj;! darin: „Dii' von Kant und Lapliice
_iX»'schaff»'non Svstcnu' von Vorstidlnns^fn übt'rdii' Anfan^sstadifii der W'cltcn-
bililuni;' untl die KntwicUlnni;' drr Svstcnic sind in den wcscntliclicn Zilien
noch in voller Geltung;. N'atinlitli habi»n sie dnrcli den l''<irt;;;aim,- der Ent-
deckunijon luanelu» Kinsciiränknn,i;-en im Einzelnen, dafür al)er andeic nn-
<;ealinte Bereicherun,i;en untl Besläti,i;unj;"en erfahren". —
Im ('»ktolx'r fand ferner die XI 1. ,,(!em'ralversamiulunf:; des Evangelischen
Bnndes" in 2siirnberi;- statt. Am 11. Okt. iiielt Dr. Arnold Berber-Berlin
einen Vortrag; über das Verhältnis des „Humanismus und Protestantismus", im
Verlauf dessen der l\e(hier sicli auch über die „ref()rmat(;risclie That Kants''
verbreitete, der /.um Ausdruck ijraidite, dass der («laube nicht durcii die
Vernunft diktiert werden könnte, sondern fi;anz allein zu stehen habe; durch
Kant sei der Ghiube aus den Fesseln des Intellekts erlöst worden -- Ge-
danken, welche offenbar aus dem Panlsenschen Aufsatz: „Kant der Philo-
soph des Protestantismus"' im letzten Hefte entnonnnen sind.
Im Oktober fand endlich auch die Versammlunfz,- der deutschen sozial-
demokratischen Partei in Hannover statt. Der Neukantianer Woltmann
vertrat in derselben cjej^'enüber der materialistischen Gescliichts- und Staats-
auffassung der Marxisten den ethischen Staudpunkt der Kantisclien Pliilo-
sophie.
Charlotte Benigna Kant y.
In Mitau verstarb vor einigen Monaten, wie wir der ,, Königsberger
Allgemeinen Zeitung" vom 13. Mai und vom 3. Juni 1899 entnehmen,
Charlotte Benigna Kant, eine Grossnichte des Philosophen. Ihr Gross-
vater war der 180U als Pastor zu Alt- und Neurahden verstorbene Bruder
Immanuel Kants. Der einzige Sohn dieses Pastors P. Kant, der Vater der
Verstorbenen, war Kaufmann in Mitau; er starb 1847 in Riga. Der Tod
des Fräulein Kant erfolgte im Klockschen "Witwenstift, in dem auch ihre
Mutter gelebt hatte, und in das ausser "Witwen auch bejahrte Töchter
Mitauscher Kaufleute aufgenommen werden. — Ob noch ein Träger des
Kamens Kant lebt, ist uns z. Z. nicht bekannt. Vor einigen Jahren lebte
noch ein solcher, ein Neffe der Verstorbenen und Urgrossneffe des Philo-
sophen, in Tiflis.
Zu Villers' Bericht an Napoleon über die Kantische Philosophie.
Im 3. Bd. der ,, Kantstudien" S. 1 — 9 publizierten wir die Villers'sche
Schrift „Philosophie de Kant, Aper9u rapide des bases et de la direction
de cett-e philosophie", welche seiner Zeit im Jahre 1801 nur als Manuskript
in Paris gedruckt worden war; wir nahmen damals an, ,, dass das im Goethe-
haus in W'eimar befindliche Exemplar ein U nie um sei". Durch freundliche
Mitteilungen des Herrn Dr. M. Grunwald, sowie des Herrn Bibliothekars
Dr. Küster in Hamburg erfahren wir. dass eine Doublette der interessanten
Schrift in der Stadtbibliothek zu Hamburg, die den Nachlass Villers" auf-
bewahrt, vorhanden ist. Ein weiteres Exemplar befindet sich im Besitz
des Herrn Dr. med. Alex. Vi Hers in Dresden, eines Grossneffen des
Philosophen. Es ist angebunden an das Hauptwerk des Letzteren: Philo-
sophie de Kant etc. Metz 1801. (Demselben Exemplar ist angebunden der
bekannte Artikel Villers" aus dem Spectateur du Nord (Avr. 1798): Crititiue
de la raison pure (36 Seiten), der in Rinks ^Mancherley zur Geschichte der
metakritischen Invasion" (Königsberg 1800. S. 1 — 56) übersetzt ist. Endlich
ist noch angebunden: Kant juge par Tinstitut, et observations sur ce
jugement. Par un disciple de Kant. Paris, Henrichs. An X. Die kleine
Schrift (24 S.) wendet sich gegen das absprechende Urteil eines gewissen
Levesque in den Travaux des Institut national de France. Die Schrift ist
anonvm, aber wohl ebenfalls von Villers selbst verfasst.
Druck von A. W. Haj^ns Erben, Berlin und Pot.sdam.
Miniaturbildniss Kants
im Besitze von A. Warda in Königsberg i. Pr,
I
Kant und der Sozialismus.
Von Karl Vorländer.
Es ist eiu gutes Zeichen von der Lebenskraft und Fruchtbarkeit
des kritischen Idealismus, dass er nach mehr denn einem Jahrhundert
auf neuen Gebieten frische Wurzeln treibt. Nachdem die verschiedenen
philosoj3hischen Disziplinen, nachdem die Naturwissenschaften, nach-
dem die Theologie vorangegangen, schickt sich nun auch die mächtigste
Bewegung der Gegenwart, die soziale, an, in ihren theoretischen
Betrachtungen den Weg zu dem Begründer des Kritizismus zu
suchen. Auf der einen Seite haben die namhaftesten \'ertreter des
Neukantianismus die Kantische Lehre gerade nach der sozialwissen-
schaftlichen und sozialethischen Seite hin immer entschiedener auszu-
bilden begonnen. \ on der anderen Seite her antwortet dem aus
Kreisen, die sich bisher dem Einflüsse des Kritizismus völlig ver-
schlossen gezeigt hatten, aus dem parteisozialistischen Lager heraus,
der Ruf ..Zurück auf Kant I", sodass man fast — cum grano salis! — von
sozialistischen Kantianern und Kantischen Sozialisten reden könnte.
Indem wir auf Wunsch des Herausgebers für die „Kantstudien'" ein
zusammenlassendes Bild des Standes der Dinge zu entwerfen ver-
suchen, entwickeln wir zunächst u' -re eigene Auflassung in Be-
antwortung der Frage: Inwiefern hat der vSozialismus ein Hecht, sich
auf Kants Lehre und Weltanschauung zu berufen?^) Dabei sei von
vornherein bemerkt, dass wir unter dem vieldeutigen Worte Sozialis-
mus keine bestimmte politische Partei, mit der die philosophische
Untersuchung nichts zu thuii hat, sondern eine sittliche Weltan-
schauung verstehen. Ferner interessieren uns in diesem Zusammcn-
') Benutzt sind für einen Teil der folgenden Ausführungen drei von mir
selbst unter dem Titel -Zurück auf Kant!"' veröffentlichte Artikel der Wochen-
schrift ..Ethische Kultur" VII, No. 2'J. 24, 26 (3. Juni, 17. Juni, 1. Juli 18'J9}.
Einzeln»^ Stellen, an denen die .Vnderung des Wortlautes unzweckniässig er-
schien, sind hier in derselben Formulierung beibelialten worden.
Kautstndicn IV. 24
3(J2 K.irl N'orlä iidcr,
lianiT»' iiii'lit SDWithl ein/rliie. etwa von soziulistischcr Seite heliandelte
riinkte der Kaiitisehen Lehre, wie beispielsweise d'w \om Dinj:- an sich,
als \iclniehr der ( lesanit/iisaninienhanir. der, um es gleich heraus /.u
sajren. unseres Kraehtens auf dem (Jehiete der Kthik zu suchen ist.
Kant^ pMlitisidie Stellunji' ist noch weni;;' (die so/. ial jxditische
sozusagen nneh irar nicht) untersucht worden. Soweit dies geschehen,
galt er und e:ilt er wohl auch heute noch hei den meisten als V'er-
treter eines entschiedenen und jrleichwohl mit einer j::ewissen
monarchisch-konservativen Gesinimu}; i^epaarten Liberalismus (/,. B.
Überweg-Heinze 111 1, 238), dem in ethischer Hinsicht seine Stellung
als Begründer einer rein individualen Ethik entspreche. Und in der
That. wenn wir z. B. sein j)olitisches Hauptwerk, die Kechtslehre,
flüchtigen Blickes durchmustern, erscheint er durchaus als Befür-
worter des blossen „Rechtsstaats". Jedes Mannes Wirken ist eben durch
seine Zeit bestimmt. Es war nur natürlich, dass Kants politische
Philosophie sich vor allem gegen den absolutistischen Polizeistaat
und die ständische Gesellschaftsordnung des 18. Jahrhunderts kehrte,
und dass sie demgemäss ihr Centrum in dem Begritl" der Freiheit
und des Rechtes fand: darin der grossen politischen Umwälzung
seiner Tage verwandt, die er denn auch, ebenso wie die Gründung
der nordamerikanischen Freistaaten, bekanntlich mit unverhohlener
Sympathie begrüsste. Zu einer Sozialphilosophie im modernen Sinne
fehlten damals noch alle Vorbedingungen: die Maschinenindustrie,
die grossartige Ausbildung des kapitalistischen Systems, das Ent-
stehen einer Klasse freier Lohnarbeiter u. s. w. Indessen ist Kant,
wie schon August Oncken in seinem Buche über „Adam Smith und
Immanuel Kant", Leipzig 1877, nachgewiesen hat, keineswegs reiner
Individualist oder Manchestermann gewesen, sondern blieb stets von
einem starken Staatsgedanken erfüllt. Aber nicht hier findet der
Sozialismus seine unmittelbarsten Anknüpfungspunkte, sondern in den
Grundgedanken der Kantischen Ethik.
Kants Ethik ist. trotz ihres scheinbar individuellen Gewandes,
am letzten Ende, ja vorzugsweise Gemeinschafts-Ethik. Nichts
anderes aber ist der Sozialismus, ethisch verstanden. Ich habe an
anderer Stelle (in meiner 1893 erschienenen Dissertation) entwickelt,
wie gerade aus der Eigenschaft, die man dem Kantischen Sitten-
gesetze in der Regel zum Vorwurf macht, aus seinem Formalismus
die reichste, unermesslichste Fruchtbarkeit entspringt. Gerade darin,
Kant und der Sozialismus. 363
dass es nichts weiter als das formale Prin/ip einer aiijrenieinen Gesetz-
g:ebung sein will, liegt seine Gemeinschaft stiftende Kraft, erzeugt
es in dem Gedanken einer „systematischen N'erhiiidung verschiedener
vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche Gesetze" die Idee eines
Keichs der Sitten oder Reichs der Zwecke. Freilich ist dies Reich
..nur ein Ideal'' (Grundlegung S. 59), aber doch ein solches, welches
..durch unser Thun und I.assen wirklich werden'^kann" (ebd. S. 62
Anni.). konstituiert durch die Idee der Menschheit. Und aus dieser
letzteren leitet sich unmittelbar jene, neben den anderen in der
Regel nicht genug beachtete, Formulierung des kategorischen Impe-
rativs ab, die sich in der „Grundlegung der Meta))hysik der Sitten"
an dritter Stelle (ed. Kirchmann S. 58 f.) findet: „Handle so, dass
du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines
jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloss als
Mittel brauchst.'' ..Jedes vernünftige Wesen", auch der armseligste
Tagelöhner, ..existiert als Zweck an sich selbst'', ist keine Maschine,
kein ., Mittel zum beliebigen Gebrauch für diesen oder jenen Willen"
(5-2), keine „Sache", sondern eine „Person", in der uns die Mensch-
heit heilig sein soll. Dieses Prinzip der Menschheit als Selbstzweck
muss die ,. oberste einschränkende Bedingung der Freiheit der Hand-
lungen eines jeden Menschen'' sein (55). Kann die Grundidee des
vSozialismus. der Gemeinschaftsgedanke, einfacher ausgesprochen,
deutlicher verkündet werden?
Wie ernst es Kant aber mit der ^'erwirklichung dieses Ge-
dankens war, zeigt der Nachdruck, mit dem er l)ereits vier Jahre
zuvor an einer bedeutsamen Stelle seines Hauptwerks*) die grösste
Konzeption des antiken Sozialismus, Piatos Republik, gegen die-
jenigen verteidigt hatte, die in ihr bloss das erträumte Hirngespinst
eines müssigen Denkers sahen. Die Ausführungen unseres Philo-
sophen sind so bezeichnend für seine politisch-soziale Denkart, und
auch heute noch „realpolitischer" Klugthuerei gegenüber, die nur
mit den ,, Maulwurfsaugen" der sogenannten Erfahrung zu sehen ver-
mag, so beherzigenswert, dass wir uns nicht enthalten künnen. ihren
Hauptinhalt wörtlich hierher zu setzen. Anstatt Piatos Gedanken
zu verspotten, würde man. meint Kant. ..besser thun. ihm mehr nach-
zugehen und ihn (wo der vortreffliche Mann uns ohne Hilfe lässt)
durch neue Bemühungen ins Licht zu stellen, als ihn unter dem
sehr elenden und schädlichen Vorwande der IJnthuulichkeit bei Seite
') Kr. d. r. V. S. 31;» 1'. meiner soeben (bei U. ilende), Halles er-
scliienenen Ausgabe (B 37'Jf.).
24*
364 K;irl NOrländor,
/u setzen. Kinc Vortassuiijr von der frrösstcn nx-nschliclicn l'rcilu'it
nach (ieset/.cn, welrlic iiiai'luMi, dass jede Freiheit mit der anderen
ihrer /usaininen bestehen kann (nicht \(in der j^rössten (UUckselij;-
keit. denn diese wird sidion von sidltsl t'o!i;-en), ist doch wfinjrstens
eine not\vendij;e Idee, die man nicht hh)ss im ersten Entwurle
einer Staatsverfassnnjr. sondern auch l»ei allen (Icsctzen /um
(irunde lejren niuss. und wol)ei man anfän^-lich von den i:e;::en-
wärtijren Hindernissen al)strahieren muss. die vielleicht nicht sowohl
aus der menschlichen Natur unvermeidlich entsprin,:xen mö^en, als
vielmehr aus der \'ernachlässi^un<r der echten Ideen hei der
Geset/.jrehunjr. Denn nichts kann Schädlicheres und eines Philo-
sophen rnwürdi^eres gefunden werden, als die pöbelhafte lie-
rufung auf vorireblich widerstreitende Erfahrung;, die doch j2:ar
nicht existieren würde, wenn jene Anstalten /u rechter Zeit nach
den Ideen getroffen würden und an deren Statt nicht rohe Begriffe
eben darum, weil sie aus Erfahrung geschö])ft worden, alle gute
Absicht vereitelt hätten."
Drei Jahre später (1784) bezeichnet Kant in seiner ,,Idee zu
einer allgemeinen Geschichte in weltbUrgerlicher Absieht" als das
grösste Problem, die höchste Aufgabe und den letzten Zweck der
vMenscheugattung'' : die Erreichung einer „vollkommen gerechten
bürgerlichen Verfassung'- (ed. Kirchmann S. 9), d. i. einer Gesell-
schaft, in der die Freiheit eines jeden ihrer Glieder nur durch die
Bedingung ihrer Zusammenstimmung mit der Freiheit aller anderen
eingeschränkt ist/) eines Zustandes, in welchem allein alle natür-
lichen Anlagen der Menschheit ihrer Bestimnuing gemäss sich ent-
wickeln können, wo man nicht mehr „Vorteile gcniesst, um deren
willen andere desto mehr entbehren müssen."^) Allerdings sei dieses
Problem ..zugleich das schwerste und das, welches von der Menschen-
gattung am spätesten aufgelöst wird"; denn „aus so krummem Holze,
als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades ge-
zimmert werden" (ebd. S. 10). Die unumgängliche Voraussetzung
zu der „uns von der Natur auferlegten" Annäherung an das bezeich-
nete Ideal seien: 1. ,, richtige Begriffe von der Natur einer mög-
lichen Verfassung," 2. „grosse, durch viel Weltläufe geübte Er-
fahrenheit," und „über das alles", 3. „ein zur Annehmung derselben
vorbereiteter guter Wille": ..drei Stücke", von denen w^ir freilich
1) Eine Definition seines Staatsideals, die sich in derselben oder in einer
ähnlichen Form Otters in seinen Schriften wiederholt.
2; Die letzte Stelle findet sieh Kr. d. prakt. Vernunft 186 A. (Kehrbach).
Kant und der Sozialismus. 365
mit Kant meinen, dass sie sich „sehr schwer und, wenn es geschieht,
nur sehr spät, nach viel vergeblichen Versuchen einmal zusammen
finden- werden (11). l'nd doch glaubt er /.u sehen, dass sich
..dennoch gleichsam ein Gefühl in allen Gliedern, deren Jedem an der
Erhaltung des Ganzen gelegen ist, zu regen anfange" (Ki). Das gebe
Hortnunir — und wer von uns wäre so vermessen oder so resigniert,
den tröstenden Zukunftsglauben unseres Philosophen von vornherein
gänzlich zu verdammen? — dass ,.nach manchen Revolutionen der
Umbildung endlich das. was die Natur zur höchsten Absicht hat. ein
allgemeiner weltbürgerlicher Zustand, als der Schoss, worin alle ur-
sprünglichen Anlagen der Meuschengattung entwickelt werden, der-
einst einmal zustande kommen werde" (16 f.).
Diese seine politischen Grundüberzeugungen verleugnet Kant
auch in seinen späteren ethischen und staatsphilosophischen Schriften
nicht. Immer wieder kommt er auf sein oben bezeichnetes Kechts-
und Staatsideal zurück: man vergleiche insbesondere die Abhandlung
über den ..Gemeinspruch" von Theorie und Praxis, den Aufsatz ..zum
ewigen Frieden", den ..Streit der Fakultäten'-, die ,. Rechtslehre", auch
eine Reihe von Stellen in R. Reickes ., Losen Blättern aus Kants
Naehlass".
Aus der ..Kritik der Urteilskraft" wollen wir hier nur eine
bedeutsame Stelle anführen, die an den Wert des Begrilfs der
Organisation auf dem politischen Gebiet anknüpft. Ein Jahr nach
dem Ausbruch der französischen Revolution schrieb Kant: ,.So hat
man sich, bei einer neuerlich unternommenen gänzlichen Umbildung
t'ines grossen Volkes zu einem Staat, des Worts Organisation
häufig für Einrichtung der Magistraturen u. s. w. und selbst des
ganzen Staatskörpers sehr schicklich bedient. Denn jedes
(rlied soll freilich in einem solchen Ganzen nicht bloss Mittel, sondern
zugleich auch Zweck und. indem es zu der Möglichkeit des
Ganzen mitwirkt, durch die Idee des Ganzen wiederum, seiner Stelle
und Funktion nach, bestimmt sein** (ed. Kehrbach S. 25() Anm.;
vffl. auch noch S. :}24 f. und S. 339 desselben Werkes).
über die Utopien findet sich eine interessante, bisher, soviel
ich sehe, noch nirgends beachtete Stelle, die den Standpunkt von
1781 dem Wesen nach durchaus festhält, in dem „Streit der philo-
sophischen Fakultät mit der juristischen-' (Streit der Fakultäten ed.
Kehrbach, S. 118 Anm.): „Piatos Atlantica, Moros Utopia, Har-
rinfftons Oceana und Allais Severambia sind nach und nach auf
die Buhne gebracht, aber nie . . . auch nur versucht worden ....
',){]{] Karl \'(irl.iiitit' r.
Kill Staatsjirodukt. wir Tiiaii es hin- doiikt. als (icrciust. so s])iit es
aiu'li si'i. |als| V(>llcii(lft zu liollni. ist ein süsser 'rraiini. alter sich
|ilun| iiniiUT /.u iiiilicni, nicht allein denkliar. somleni. so weit os
mit (ieni moralischen (leset/.e /usaniiiieii lu-stelien kann, riiiclit" —
freilich mit dem heute jedenlalls starker Opposition l)ej;e<rneinlen
Zusätze : — ..ineht der Stantsl)liri:er. sond»'rn des Staatsoberhaupts'';
wie denn Kam in der L"leichen S(dirilt die aul'klärende Stimme (h'r
,.fri'ien IJechtslehrer d. i. l'lnlosophen" incht ..vertraulich ans N'olk'',
..als widches davon und \o\\ ihren Sciirilten weni^ oder ^-ar keine
Notiz, nimmt" (!), soudern ,, ehrerbietig- an den Staat <::eriehtet"
wissen will (S. 109).
Andererseits «rlaubt man fast einen modernen Sozialtheoretiker zu
hören. So. wenn man liest, w ie Kant fordert. ..dass der Staat sich von
Zeit zu Zeit auch selbst reformierend und. statt Revolution Evolution^)
versuchend, zum Besseren beständii:' fortschreite'' (11:)), nämlich zu
einer ..rei)ul)likanischen Verfassung'', wobei es auf die Staatsform
(die monarchisch bleiben kann) weidger aid^omme, als auf die
Regierungsart ..nach allgemeinen Rechtsprinzipien" (S. 107 f. vgl.
Lose Blätter 604- -(iOG, 674 f.). Oder, wenn man ihn ausführen
sieht, dass ..die Natur der Dinge dahin zwingt, wohin man nicht
g:erne will: fata volentera ducunt, nolentem trahunt" (Schluss der
Abhandlung über den Gemeinspruch; vgl. Lose Blätter S. 604).
Auch ist er kein Freund von dem „am Staate flicken", wie es
„alle sich so nennenden Praktiker gewohnt sind" (Lose Blätter
S. 673), dieselben „Politiker-, die stets davon sprechen: „Man
muss die Menschen nehmen, wde sie sind, nicht, wie der Welt un-
kundige Pedanten oder gutmütige Phantasten träumen, dass sie sein
sollten", während sie sie doch selbst zu dem, was sie sind „durch
ungerechten Zwang, durch verräterische, der Regierung an die Hand
gegebene Anschläge gemacht haben'', nämlich „halsstarrig und
zur Empörung geneigt" (Streit d. Fak. S. 99 j. Das Volk verlange
von der Regierung nicht Wohithätigkeit, sondern sein Recht;
„denn mit Freiheit begabten Wesen genügt nicht der Genuss der
Lebensannehmlichkeit . . ., sondern auf das Prinzip kommt es an,
nach welchem es sich solche verschafft" (ebd. 106 f. A., vgl. L. Bl.
S. 574 f.j. Das Rechtsbewusstsein eines Volkes sei es denn auch
g:ewesen. was den französischen Revolutionsheeren den Sieg über
ihre Gegner verliehen habe, denn ..wahrer Enthusiasmus geht immer
ij Den lieute viel gebrauchten Ausdruck entlehnt Kant, wie er S. 107
bemerkt, ..Herrn Erhard" (dem als eifrigen Verehrer Kants bekannten Philosophen).
Kant lind der Sozialismus. ggy
nur aufs Idealisehe und zwar rein Moralisclie, dergleichen der
Keehtsbegriff ist" und „kann auf den Eig:ennutz nicht jjepfropft
werden'" (a. a. 0. 106).
Im Zusamnienhanir hiermit sei es uns o:estattet, auf eine interessante
Stelle hinzuweisen, die mit unserem Thema zwar nicht in unmittelbarer
Beziehung: steht, aber volles Licht auf die freiheitliche (resinnuni:
unseres Philosophen in politischen, sozialen und religiösen Dingen wirft.
Sie findet sich in einer Schrift, in der man sie auf den ersten Blick
nicht vermuten sollte, und hat vielleicht deshalb noch nicht die ver-
diente Beachtung gefunden: ,,lch gestehe, dass ich mich in einen" (Kant:
im) „Ausdruck, dessen sich auch wohl kluge Männer bedienen, nicht
wohl finden kann: Ein gewisses Volk (was in der Bearbeitung einer
gesetzlichen Freiheit begriffen ist) ist zur Freiheit nicht reif;
die Leibeigenen eines Gutseigentüniers sind zur Freiheit noch nicht
reif, und so auch die Menschen überhaupt sind zur Glaubensfreiheit
noch nicht reif. Nach einer solchen Voraussetzung aber wird die
Freiheit nie eintreten; denn man kann zu dieser nicht reifen, wenn
man nicht zuvor in Freiheit gesetzt w^orden ist (man rauss frei sein,
um sich seiner Kräfte in der Freiheit zweckmässig bedienen zu
können). Die ersten Versuche werden freilich roh, gemeiniglich auch
mit einem beschwerlicheren und gefährlicheren Zustande verbunden
sein, als da man noch unter den Befehlen, aber auch der Vorsorge
anderer stand, allein man reift für die \'ernunft nie anders als durch
eigene Versuche (welche machen zu dürfen, man frei sein mnss).
Ich habe nichts dawider, dass die, welche die Gewalt in Händen
haben, durch die Zeitumstände genötigt, die Entschlagung von diesen
drei Fesseln" — gemeint ist die politische, wirtschaftliche, religiöse
Fessel — „noch weit, sehr weit aufschieben. Al)er es zum Grund-
sätze zu machen, dass denen, die ihnen einmal unterworfen sind,
überhaupt die Freiheit nicht tauge, und dass man berechtigt sei, sie
jederzeit davon zu entfernen, ist ein Eingriff in die Regalien
der Gottheit selbst, die den Menschen zur Freiheit schuf.
Bequemer ist es freilich, in Staat, Haus und Kirche zu herrschen,
wenn mau einen solchen Grundsatz durchzusetzen vermag. Aber
auch gerechter?'' (Religion innerhall) der Grenzen der blossen Vernunft
ed. Kehrbaeh S. 204 Anm.).
Auch die „Rechtslehre'' endlich ist keinesw'egs so rein indivi-
dualistisch und liberalistisch, wie man gewöhnlich annimmt. Das
Recht wird als die ,,Möglichkeit eines mit jedermanns Freiheit nach
allgemeinen Gesetzen zusammenstinnnenden durchgängigen Wechsel-
368 K:iil N' iirliiiuU'r,
sfitijri'u Zwanges-' voriri'stfllt U'il- Kiri'liiiiaiui S. ;{;{). ^\i<' aiu-li luich
dir ..AiuliropoIoLni"' (vd. IS(M) S. :{-J4 f., v-;-!. S. ;{'JSf.) die Kr/iclumjr
des Mt'nsi'li(Mijr('si'hl('c'lit('> zu ciiicr ..liilrfi'crliclicn. aiit" dem l'n'ilicits-,
/.ujrli'ioh al)er aiu'li irrsrt/.mässiircn Zwauü-s-l'rin/.iji /ii ^•liliidcudcn \ w-
tassuiii:'" ins \[\i:v tasst. Audi an das IMiildnn der iirs|)rUni;"li('lirii
liodi'njri'iiK'inschat't. iiiidit als Faktum, sondern als Idee, das Kant \ ud
hesehättijrt hat ( Iveelitslehre S. ö.") t".. vf,d. die wicficilitdltMi Ansät/c in
den Losen Hlättrrn. l>es. S. 2r)ltV.. 'J!);nl". ), köindc \i(dlci(dit der
nioiU'me Sozialismus anUnii|ilcn. So sajrt Kant (KeclitsUdire S. 7(it".):
„Der l^esit/ aller Mcnseheu auf Erden, di'r vor allem rcclitliidieii
Akt dersell)en vorlierireht (\nu dw Natur scditst konstituiert ist), ist ein
Cr ^ '
urspriiuirlieber Gesarntbesitz (communio j)ossessiouis orig:inaria),
dessen Begriff nieht enipiriseh und von Zeitbcding-unji-en ahliängifr
ist, wie etwa der g:ediehtete, aber nie erweisbare eines uranfänjr-
lichen Gesamtbesitzes (communio primaeva), sondern ein praktischer
Vernunft bejrriff, der a priori das Prinzip enthält, nach welchem
allein die Menschen dm Tlatz auf Erden nach Uechtsgesetzen ge-
brauchen können.''
ludessen nicht auf solche Ähnlichkeiten in Einzelfragen kommt
es an. Sie würden an und für sieh nichts beweisen, zumal da
Kants politisches Ideal, wie oben bereits bemerkt, in erster Linie
durch den Freiheitsgedanken bestimmt bleibt. Der wahre und
wirkliche Zusammenhang des Sozialismus mit dem kritischen
Philosophen ist vielmehr in dem ,,rein Moralischen'" gegründet,
in den — von Kant selbst praktisch nicht immer gezogenen —
Konsequenzen jener einfach -erhabenen Formel des kategorischen
Imperativs, die uns die Menschheit in der Person eines jeden Mit-
menschen jederzeit zugleich als Selbstzweck, niemals bloss
als Mittel zu achten lehrt. Auf diesem Fundamente muss der
Sozialismus bauen, wenn anders er überhaupt nach einer ethischen
Begründung verlangt. Und von dieser Seite, d. h. von Seiten der
ethischen Begründung aus lässt sich der Königsberger Weise in
der That als der betrachten, zu dem ihn ein, wohl auch nur in
diesem und nicht im engen historischen Sinne gebrauchtes, kühnes
Wort Hermann Cohens (s. u.) stempelt: „der wahre und Avirkliche
Urheber des deutschen Sozialismus".
Woran lag es, dass Kant diese Rolle geschichtlich nicht gespielt,
dass vielmehr an seiner Statt Fichte dem philosophischsten unter
den deutschen Sozialisten (Lassalle j als solcher erschienen ist?
Nun, zunächst wohl daran, dass er seinen weittragenden sozialethischen
Kant nnd der Sozialismus. 3(j<>
Grundprinzipien keine systematische Anwendung auf das prai^tische
Gebiet sozialer Wirtschaft gab. wie Fichte es in seinem „Geschlossenen
Handelsstaat- wenigstens versucht hat. Ja, Kant scheint in seinem
politischen Hauptwerke, der „Kechtslehn"". Jenen grundsätzlichen
ethischen Standpunkt, den der kategorische Imperativ vorschreibt,
auf politisch -ökonomischem Gebiet nicht voll aufrecht zu erhalten.
Er tritt zwar für vollste gesetzliche Freiheit. Gleichheit und Sell)-
ständigkeit aller Staatsbürger ein. aber er betrachtet die Gesellen
..bei einem Kaufmann oder bei einem Handwerker'-, die privaten
Dienstboten, Tagelöhner. Zinsbauern und „alles Frauenzimmer", kurz
jedermann, der ,.Nahrung und Schutz" von anderen erhält, nicht als
Staatsbürger, sondern nur als Staatsgenossen (S. ITri — 154; vgl. auch
die Abhandlung vom Gemeinspruch etc., ed. Kirchmann S. 122 f.
Anm., wo er es indes für „etwas schwer" erklärt, ,,die Erfordernis
zu bestimmen, um auf den Stand eines Menschen, der sein eigener
Herr ist. Anspruch machen zu können"). Jedoch sollen auch sie
„als Menschen" dieselbe Freiheit und rechtliche Gleichheit, wie
Jene, geniessen; denn ohne diese kann kein Volk ein Staat heissen.
Auch soll ihnen nichts im Wege stehen, aus dem ..passiven" Zustand
der blossen Staatsgenossen zu dem „aktiven- der Staatsbürger
..sieh emporzuarbeiten". Die volle Konsequenz seines kategorischen
Imperativs, die der moderne Sozialismus eben hieraus zieht, dass die
thatsächliche Vorbedingung politischer Selbständigkeit, die wirt-
schaftliche Selbständigkeit, allen nicht bloss ideell, sondern that-
sächlich zu ermöglichen sei, hat Kant noch nicht ins Auge gefasst.
Und, ein billiger Beurteiler wird es zugestehen, er konnte es kaum,
bei den wirtschaftlichen und kulturellen Zuständen seiner Zeit.
Damit stehen wir bei der zweiten, oben bereits gekennzeichneten,
historischen Schranke seines Sozialismus.
II.
So verlief denn des letzteren Entwicklung unter ganz anderen
jibilosophischen Auspizien. Als. einige Jahrzehnte später, die grossen
technisch -ökonomischen Umwälzungen eintraten, welche die soziale
BewegungunsererTage nach sich zogen, stand Deutschland philosophisch
unter dem Zeichen Hegels, später Feuerbachs und der Materialisten;
von ihnen empfingen die theoretischen Vorkämpfer des modernen
Proletariats ihre philosojibische Bildung; Kant zählte fast zu den
Vergessenen. So wurde der Sozialismus, wenigstens der politische
Parteisozialismas, unter dem Banner des „Materialismus" gross, der
;{70 Karl \' orländor.
jMin/ipit'll im >t:irkstt'ii Witlt-rspiiu-li /.ii scincii Ideen steht und
höi"hst('li> als l'eld/.eii'lieil fr<'^^i'llill)er der seieliteii Klietoiik eines
iloirniatiselien Selieinidealisinns t'ini<?rii Wert liesit/.t.
1, Sell)st ein Alliert l>anire, der sich nin die l Iterw indnii;; des
Materialismus niidit bloss auf erkenutnisthedretliischeiiK sondern auch
aut dem ethisehen (lel)i('to ein s(t durcliselihij^endes Ver(li(Mist or-
worhi'ii hat. hi(dt noeh ..die pnv/.v praktistdie rhiii)S()|)hie". so mächtif;
sie auch aut" die Zeitirenossen gewirkt habe, tiir den „wandelbaren
und verjräni;-lic'lien Teil der Kantschen l'hih»so|)hie" ((Jesch. d. Mat.
ed. Cohen ISST. S. ;]5()). Er ist /.war der erste ..Kantianer' oder
vielmehr der erste mmi dem kritischen Idealismus nacddialti^' l>eein-
flusste Philosopii der neueren Zeit, der sozialistisch }i:edaclit hat. aber die
Verbindung: zwischen seinem ..Kantianismus'' und seinem ,, Sozialismus"
ist keineswegs eine systematische; sie bestand vielmehr nur in seiner
edlen, vom reinsten ethischen Idealismus ertüllten Persönlichkeit.
Seine ..Arbeiterfrage" knüpft zur Begründung seiner sozialethischen An-
schauungen an den Kritizismus nicht an; sie polemisiert, im Gegenteil,
gegen Kants Kechtsbegriff und seine Ableitung des Eigetitumsrechts
(4. Auflage S. 2(58 ff.), die insbesondere, wenn man ihm „bis in die
Begründung des individuellen Eigentumsrechts hinein" folge (S. 271 ).
/u einer ot!'enl)aren petitio principii werde.
2. Der erste Kantianer vielmehr, der oflen auf die grundlegende
Bedeutung der Kantischen Ethik für die Fundamentierung des
Sozialismus hingewiesen hat, ist der Führende unter den heutigen
Neukantianern, Hermann Cohen in Marburg. Bereits sein vor
dreiundzwanzig Jahren geschriebenes Buch .,Kants Begründung dei-
Ethik" (Berlin, Dümmler, 1877) mündete in den Gedanken aus, dass
Kants höchstes Gut. ^vie schon Schleiermacher bemerkt habe, im
Grunde ein politisches sei (828). Der moderne Hiob frage nicht
mehr, „ob der Mensch überhaupt mehr Sonnenschein als liegen habe,
sondern ob der eine Mensch mehr leide als sein Nächster; und olt
in der austeilenden Lust-Gerechtigkeit der berechenbare Zusammen-
hang bestehe, dass ein Mehr an Lust für das eine Mitglied im Reiche
der Sitten das Minder des anderen zum logischen Schicksal macht" (327).
Jenes höchste Gut brauche aber nicht mehr, wie von Kant geschehen,
besonders ,, postuliert" zu werden. Es sei bereits gegeben in der
„vor keiner Thatsache der sogenannten Erfahrung zurückschreckenden''
Idee eines Reichs der Zwecke als regulativer Maxime, die dazu da
ist. den ..Erfahrungsgebrauch", dessen kausale Bedingtheit umzustossen
sie durchaus nicht beansprucht, zu regeln, „nach der Idee der Menschheit
Kaut iiud der Sozialismus. 37 [
den Menschen unizuschatlVii" (•J4(i|. Darin besteht die objei^tiv-
praktische Kealität des Sittenj^esetzes. Uiul sn bezeuge und bewähre
sich Kants „in ihrer Grundlcjrunjr auf anthropolof^ische Oelehrsaniiveit
verzichtende Ethik in ihrer Be<rriindung als Anthroponomie" (32H).
In (lern l)i()i:raphischen N'orwort (von ISSl) zu Albert Lanj^es
Geschichte des Materialismus (S. XIII) Avird dessen gleichzeitiges
Verhältnis zu Kant und dem Sozialismus nur kurz gestreift. Indem
Lange seinen Standpunkt gegenüber Strauss und Überweg ein-
nehme, von denen der erste den Sozialismus gehasst, der andere ihn
ign(»riert habe, habe er die ethische Frage ,,an ihrer lebendigen,
ehrlichen Wurzel zu ergreifen verstanden", und ,,das vor allem-
mache ihn ..zu einem Apostel der Kantischen Weltanschauung".)
Am unumwundensten aber hat sich Cohen in seiner „Einleitung mit
kritischem Nachtrag" zur fünften Autlage desselben Werkes (189(i) über
unser Thema geäussert. Wir haben diesen leider noch incht seinem
vollen Werte nach beachteten Nachtrag l)ereits im ersten Bande der
..Kantstudien" (S. 2()<S — 272) besprochen und machen hier nur auf die
unser Spezialthema berührenden Gedanken, in etwas anderer \'er-
bindung und grösserer Ausführlichkeit nochmals aufmerksam. Indem
er sich entschieden gegen das ,,\ orurteil einer naturalistischen Be-
gründung" des Sozialismus wendet, dem auch Lange in seiner vom
Darwinismus erfüllten Zeit nicht widerstanden habe, erklärt Cohen
kurz und bündig: ..Der Sozialismus ist im Recht, sofern er im
Idealismus der Ethik gegründet ist. Lnd der Idealismus der Ethik
hat ihn begründet.'' Somit ist Kant .,der wahre und wirkliche Ur-
heber des deutschen Sozialismus" (S. LX\'). Es folgt dann dieselbe
Ableitung des sozialistischen Grundgedankens aus Kants kategorischem
Imperativ, die wir oben gegeben haben, der sich ein kurzer historischer
liückblick auf die Entwicklung der schon von den Stoikern und den
Naturrechtlern des 17. und IS. Jahrhunderts vertretenen Idee der
societas humana, der menschlichen Gesellschaft anschliesst. Freilich
dürfe uns nicht mehr die ..Natur" Rousseaus und die als die Sunnne der
Individuen gefasste Gesellschaft Bürgin des Ideals sein, sondern die
Idee der Gesellschaft, als „Ordnungs- und Leitbegritf der Individuen--
(S. LXVII).
Für die seit Langes Tod verflossenen zweiundeinhalb Jahrzehnt«-
glaubt Cohen einen ..Riesenfortschritt'- in der ..Anerkennung des
ökonomisch -juristischen Rechts des Sozialismus im Bewusstsein der
allgemeinen Bildung" konstatieren zu dürfen. ..Heute wehrt sich kein
Unverstand mehr gegen den „guten Kern" der sozialen Frage, sondern
•{j.) K:irl N'urliiiulcr.
nur niH'h der liösc odvv der nicht /.urt'it'hrnd •riitr Wille". Nur der
..idcaltcindlii'hc K«roisiiuis. der der wahre Materialismus ist", xersa^^t
dieser ..\\ alulieit des iilVeiitliciieii Hewusslseiiis--, die freilich ducIi ein
..iifVentliches(ieheiiiiiiis"ist. den ( Üaulien und pocht aul das ^-eschriehene
Oller iiar ..im Dienste seiner InleroMii eiliirst um/uschreihendo"
Kocht, auf die ..\erl)rieften Privileirien der Stände'' (S. LX\ II f |.
Wie entschieden nun auch der Marhuriicr Phihtsoph die Idee (U's
Sozialismus anerkennt, so hat er doch an den ..dermali;:en politischen
So/.ialisnuis" verschiedene sehr i;e\vichtiu-e l'"or(lerunj:-en /.u stellen:
1. Als Fundament nuiss der M a terialismus incht nur ,./eit\veise ah-
geschüttelf, sondern ..radikal aufii-ej::ebcn" ^verden. 2. Als Krönung-
seines Gebäudes darf, wie die Kthik. so auch der Sozialismus die
Gottesidee nicht abweisen, die freilich hei Cohen nichts anderes als
den Glauben an die Macht des Guten, die llofVnung auf die Ver-
wirklichung der gerechten Sache bedeutet. 3. Gegenül)er einer rein
realistischen Auflassung des Begriffs der Gesellschaft und gegenüber
der materiellen Wirtschafts-Genossenschaft müssen Recht und Staat,
als Ideen. Ehrfurcht fordern und finden; denn, wie keine Freiheit
ohne Gesetz, so kann ohne die im (4esetz bestehende Gemeinschaft
keine freie Persönlichkeit, keine wirkliche Gemeinschaft moralischer
Wesen bestehen. .Mit der Anerkennung der, notwendigerweise mangel-
haften, bestehenden Kechts- und Staatsordnung kann sich gleichwohl
der schärfste Blick für ihre Gebrechen, die tiefste Glut für deren
gründliche Heilung verbinden. Die Vereinigung beider Bedingungen
hat von jeher den „grossen, wahrhaft revolutionären Umschwung",
nämlich den stetigen geschichtlichen Fortschritt verbürgt. Endlieh
ist 4. mit der Idee der Menschheit (menschlichen Gesellschaft) die
Idee des Volkes (der Nationalität) zu verbinden, indem wir jene, die
wir ehren und achten in diesem, das wir lieben, zu verwirklichen streben.
Die Volksidee, wie z. B. ein Fichte sie gelehrt, vertritt zugleich „den be-
vorrechteten Ständen gegenüber die Idee der Menschheit im eigenen
Volke" (S. LXXV). „Eine Nation, die für Reich und Arm verschiedene
Schulen hat . . . mag auf dem Wege zur Nation sein; ein Volk ist
sie nicht" (ebd.). So „erschafft die Idee der Gesellschaft die wahre
Einheit des Volkes auf dem Grunde der Kultur des Geistes". In
diesem Sinne für die Realisierung der Volksidee zu wirken, ist
„der Inbegriff der Aufgaben des Idealismus" (S. LXXVI).
3. Noch etwas vor Cohens Schrift erschien das grundlegende
Buch von Rudolf Stammler (Halle): „Wirtschaft und Recht
nach der materialistischen Geschichtsauffassung. Eine sozialphilo-
Kant und der Sozialisinns. 873
sopliische Untersuchung^'- (Leipzig-, \ eit, 189(;). Oab Cohen mehr eine
„expektorative Darlegung-' seines sozialethischen Denkens, so enthält da-
geo:en Stammlers Werk eine aus<refUhrte systematische Begrründun}^
des sozialen Idealismus. Da w ir seinerzeit das Buch Stammlers unter
dem Titel „eine Sozialjihil()soj)hie auf Kantiseher Grnndlatre" in dieser
Zeitschrift (I, 15)7—211)) eing:ehend besprochen haben, so be?:nUg:en
wir uns an dieser Stelle mit einer Hervorhebung der Hauptgesichts-
punkte. Stammler fasst seine Aufgabe, ganz im Sinne Kantiseher
Methode und mit Berufung auf sie. rein erkenntniskritisch:
Psychologie. Naturwissenschaft, Nationalökonomie, Jurisprudenz in
reichem Masse heranziehend, aber methodisch nur als Hilfstruppeii
betrachtend ; gegenüber Dogmatismus und Skejjtizismus. der psycho-
logischen und genetischen Betrachtungsweise. Materialisnuis und
S])iritualismus den ..kritisch gesuchten und methodisch eingeleiteten"
Standpunkt des wissenschaftlichen Idealismus vertretend. Seine
Kernfrage lautet nicht etwa: Wie ist soziales Leben entstanden?
sondern : Unter welcher formalen Bedingung ist soziales Leben als
ein eigener Gegenstand unserer Erkenntnis zu erfassen und einheitlich
zu denken möglich? Die Antwort: Indem das Zusammenleben von
Menschen als äusserlich (durch äusserlich verbindende Normen) ge-
regelt gedacht wird. Dis äussere Regelung ist die Form i Kantisch
genommen) der sozialen Materie d. h. das Bestimmende, Bedingende,
Oesetzmässige an der sozialen Erfahrung, welche letztere, wie alle
Erfahrung, nur eine sein kann. Es giebt nur eine Kausalität,
und in dem Aufstellen einer einheitlichen Methode oder Gesetzlichkeit
für die wirtschaftlich-rechtliche Entwicklung liegt kein Fehler,
sondern ein Verdienst der sogenannten materialistischen Geschichts-
autfassung. Auch Stammler behauptet einen ..Kreislauf", einen
..Monismus- des sozialen Lebens, auch er hält den Zusammenhang
der geistigen mit den zu Grunde liegenden ökonomischen Be-
wegungen für grundsätzlich unabweisbar. Aber er behauptet mit
Kant unil den Neukantianern etwas weiteres: Es ist neben der
unausweichlichen und undurchbrechbaren Kausalität der P>fahrung
noch eine andere Art von Gesetzlichkeit (Einheit des Gesichts-
punkts) als diejenige von Ursache und Wirkung zu denken möglich,
welche sich auch dem Laien in den einlachen Unterscheidungen
von Erkennen und Wollen, Bewirktem und zu Bewirkendem. Sein und
Sollen deutlich genug kund giebt. Es soll das keine zweite Kausalität
sein, die etwa in die erste von ungefähr hineinfahren und ihre aus-
nahmslose Geltuni; zu nichte machen könnte, sondern eine neue Art
•jy^ \\ :irl N' (irliiiult r,
von Geset/inässifrkoit, die nicht iiiU'li (it'iii War um. soiidfiii nacli drin
Wo/.u. nii'lit nach Irsachc und Wirkunj:-. stnnh-rn nach Mittel und
Zweck, bis hinaul" zu (h'ni Knd/wcck als oberster Kinhcit niiiplichcr
Zweckset/.unir, iVairt. Ks iricbt. mit anderen Worten — uas die
Tiieoretiker des sozialen Materialismus bisher nicht {;-enll},-end be-
achteten — neben der kausalen noch eine ihr nicht widersprechende,
.•sondern sie erjränzende teleolosrische oder, wie wir jetzt wohl ohne
Furcht vor Missverstehen sa^'en dürfen, ethische Hetrachtunj;sweise
der sozialen Krscheinuniien. Die ethische Heurtcilunfr eines sozialen
Vorkommnisses ist etwas g-anz anderes als die genetische Erklärung
seines Werdens. Die konkreten Bestrebungen erwachsen freilich
immer aus den sozialen Zuständen, sind aber nach menschlichen
Wünschen und Zielen zu leiten, deren oberster Massstab nur ein
solcher des Endzwecks (Endziels) sein kann. Dieser letztere aber
kann, wenn anders er Allgemeingiltigkeit erstrebt, kein empirisch
bedingtes Einzel- oder Sonderziel, sondern er muss ein formaler
Gedanke d. i. einheitlicher Gesichtspunkt sein, der, wenn er sieb
auch mit konkretem Inhalt selbstverständlich nur aus der Erfahrung
füllen kann, dennoch über allen bedingten Einzelzwecken in un-
bedingter Geltung richtend und leitend steht. Das soziale Endziel
ist nach Stammler iS. 575) die Gemeinschaft frei wollender
Menschen, in der ..ein jeder die objektiv berechtigten Zwecke des
anderen zu den seinigen macht."
4. Der methodische Grundgedanke, von dem Stammlers sozial-
philosophische Untersuchung beherrscht ist. liegt auch dem neuesten
Werke von Paul Natorp (Marburg) zu Grunde, seiner ,.Sozial-
pädagogik. Theorie der Willenserziehung auf der Grundlage der Ge-
meinschaft". (Stuttgart, Frommann, 1899). Nur dass das, was Stammler
in breitester, den Gedanken nach allen Seiten hin drehender und
wendender Ausführung darlegt, bei Xatorp in knappster Zusannnen-
fassung erscheint und bloss die Einleitung zu seinem Hauptthema
bildet, das bei dem Zwecke des Stammlerschen Buches ausge-
schlossen, von Cohen nur eben angedeutet war: der systematischen
Begründung einer Volkserziehuugslehre auf der Grundlage der
Gemeinschaft.
Natorp hat sich bereits seit Jahren mit diesem Problem be-
schäftigt. Schon seine „Religion innerhalb der Grenzen der Huma-
nität" (Freiburg 1894) bezeichnete er als „ein Kapitel zur Grund-
legung der Sozialpädagogik-'; auch kleinere Schriften, besonders
„Pestalozzis Ideen über Arbeiterbildung und soziale Frage" (Heil-
Kant und der Sozialisnms. ;{75
bronn 1S94) uud ..Platos Staat und die Idee der Sozialpädajrujrik-'
(Berlin. Heymanii 1895) waren, wie schon der Titel zeigt, dem
gleichen Zwecke gewidmet. Es sollen — ein (iebiet, das die bis-
herige Sozialphilosophie noch fast ganz seitab hat liegen lassen —
die Wechselbeziehungen zwischen Gesellschaftslehre und Er-
ziehungslehre untersucht, und zwar beide als ..in der tiefsten
Wurzel eins und untrennbar zusannnengehörig" (\orwort S. Vj nach-
gewiesen werden. Zu diesem Zwecke aber musste auf die i)hilo-
sophischen Fundamente beider zurückgegangen, eine systematische
Grundlegung gegeben werden. So enthält das Buch weit mehr, als
sein Titel zunächst vermuten lässt, nämlich: 1. eine erkenntniskritische
Grundlegung. 2. die HauptbegriHe der Ethik, 3. die Grundlage
einer Sozialphilosophie, und erst 4. das in seinen Umrissen aus-
geführte System einer sozialen Pädagogik, als „Organisation und
Methode der Willenserziehung": dies alles auf einem Räume von nur
350 Seiten. Wir versuchen im folgenden wenigstens die Grund-
gedanken herauszuschälen, was allerdings bei der Fülle des in so
knappe Form gegossenen Inhalts keine ganz leichte Sache ist.')
Die ».Grundlegung" steht auf dem Boden Kantischer Methode,
in der gewöhnlich als Neukantianismus bezeichneten freien Weiter-
bildung, die ihr Cohen, Natorp u. a. gegeben haben. Erziehung ist
Willensbildung. Wille aber ist Zielsetzung, Vorsatz eines Gesollten,
einer Idee. In der Idee tritt der gesamten Welt der Natur, deren
oberste Begritle und Gesetze die Wissenschaft in kausaler Durch-
dringung zu erforschen sucht, ein ganz neuer Gesichtspunkt gegen-
über, der weder naturwissenschaftlich noch psychologisch (auch die
Psychologie ist Naturwissenschaft), sondern nur erkenntnis kritisch
zu verstehen ist. Man niuss sich zunächst klar machen, dass neben
dem zeitlich bedingten Denken noch ein anderes, gewissermasseu
überzeitliches Denken (so das logische und mathematische) existiert.
Sätze wie A = A oder 2 X - — -^ gelten unterschiedslos zu aller
Zeit. Nur vermittelst dieses nach Einheit im Bewusstsein (oder
durchgängigem Zusammenhang des Gedachten) strebenden logischen
Denkens kommt theoretische oder Naturerkenntnis (nach Kant: Er-
fahrung) zustande. Aber diese Erfahrungserkenntnis ist ihrer Natur
nach einer Vollendung, eines Abschlusses im Unbedingten unfähig.
Hier tritt nun die regulative Idee (im Kantischen Sinn des Wortes) ein,
1) Eine ausführlichere Be.si)reclinnf( liabe ich vor kurzem in der Zeitschnft
für Phihmphie u. philox. Kntih (Bd. 114, S. 214— 240J unter dem Titel: Eine
Socialpödigogik auf Kaniischer Grundlayc gegeben.
;{7^j Karl Vorländer.
,.(lit' lot/.tc Kinlicit. der Ict/to ciircnstc IUick|iiiiiUt (ttr Ijkrniitiiis"
\24). Das (l('l)ift der Zw t-i- ksct/.unir tluit sich Mir uns ;iiir. dif. indem
sie uai'h Zwcidvtn. /.ulrtzl dem Zwecke aller Zwecke (Knd/weck) frairt.
UMS in das Keicii des W'tdlens. des Sollens und sonut der l'-thik l'illirl.
Worin hestelit mm die (iesetzlichkeit des Sollens V Diese Frap-
niuss die (irundtVaire idner wissenschaltlichen Ktliik sein. Antwort:
In der ..formalen" Kinlieit nn-iner Zwecke, d. Ii. in ihrer notwendigen
i'bereinstimnuinj:- unter sich. Das (leset/ der I'>iiiiieit das i^t
tler durch Kants transscendentale .Methode hestinmite (Irund.iredanke
des Natorpb^ehen I'hilosophierens —ist das ( i ru ndf;-cset/ des l'.e-
wiisstseins, das ebenso die theoretische Krkenntnis (in der niathe-
matiseheu oder Grössen- und der Natur- oder ursachlichen (ieset/.lich-
keit) wie die praktische (in der Zweck^^eset/.lichkeiti beherrscht; so
schliesst sich in ununterbrochenem Zusannnenhanjye an die l.oi:ik die
E^hik an. Kants formales Sittenji-esetz bedeutet nichts Anderes als
unbeditiirt einheitliche Ordnung; der Zwecke nach dem Massstabe und
unter der Herrschaft der Vernunft.
Die ..P^fahrun«;-' vermag zwar diese Kantische Ethik der reinen
Idee in ihrem letzten formalen Grunde nicht aus sich selbst heraus
zu beg-r linden, aber ihrem Stoffe nach bleibt die neue Gesetzlich-
keit (der Zwecksetzung) ganz und gar auf Erfahrung angewiesen.
Das Gesollte soll doch verwirklicht werden. Wie sie ihn bietet,
und wie er sich jener reinen Form fügt, das im Anschluss an
Xatorps scharfsinnige Deduktionen darzulegen, würde zu weit führen.
Wir erwähnen nur, dass der \ erfasser drei „Stufen der Aktivität"
unterscheidet, von denen jede die vorige in sich enthält: 1. Trieb.
2. bewusster Wille, 3. Vernunftwille, dazu die interessante Parallele
auf dem theoretischen Gebiet: L Vorstellung schlechtweg, 2. be-
wusst objektivierte Vorstellung, 3. wissenschaftliche Objekterkenntnis,
und die Übertragung auf das soziale: 1. Naturkräfte, 2. deren bewusste
Beherrschung durch die Technik, 3. die Unterordnung der letzteren
unter den höchsten menschlichen Zweck: die Menschenbildung.
Menschenbildung ist möglich, aber nur in und durch menschliche
Gemeinschaft, alle Pädagogik deshalb im Grunde Sozialpädagogik.
Echter Sozialismus schliesst den berechtigten Individualismus nicht
aus, sondern ein; denn Erhebung zur Gemeinschaft bedeutet nicht
Beschränkung, sondern Erweiterung des eigenen Selbst, nicht die
Eindämmung, sondern erst die wahre Entfaltung des Individuums.
Wir übergehen das folgende Kapitel von den ,.Hauptbegriften
der Ethik-' seinem 2:rössten Teile nach, weil das System der indi-
Kant und der Sozialismus. 377
Tiduellen Gruiidtugendon (Wahrheit. Tapferkeit oder sittliche That-
kraft. Reinheit oder Mass, Gerechti<,'keit), das unser Philosoph hier
in freier Anlehuunjr an Plato entwirft, so interessant es auch für den
Ethikrr ist. doch in keiner unmittelbaren Beziehung zu unserem
Thema steht. Nur der vierten und letzten Tugend, der Gerechtig-
keit idixaioaryrj] muss hier gedacht werden, weil sie die individuelle
Grundlage der sozialen Tugend liiidet. Denn sie verlangt Wahr-
haftigkeit, sittliche Thatkraft und das rechte Mass in Arbeit und
Genuss — im Verhalten zu der Gemeinschaft. Indem sie ihren letzten
Grund in der Kantischeo Achtung der Menschheit in jeder Person,
auch dem Ärmsten und — Schlechtesten, findet, fordert sie Gleich-
heit alles dessen, was Menschenantlitz trägt. Diese Gleichheit kann und
soll freilich keine mechanische sein, nicht in der Zuteilung von Gütern
je nach dem Gutsein bestehen, sondern nur darin, dass allen die
gleiche Möglichkeit zur Ausbildung ihrer b'ähigkeiten gegeben wird.
Die Wahrhaftigkeit des Einzelnen wird nun zur Herrschaft der
vernünftigen Einsicht im öffentlichen Leben im Gegensatz zu Per-
sonen-. Klassen- und Kassenhass, die Thatkraft zum Einstehen für
Recht und Gesetzlichkeit im Kampf gegen die eigenen und die
gesellschaftlich mächtigen Sympathien und Antipathien, das rechte
Mass zur harmonischen Ordnung von Arbeit und Genuss überhaupt;
die soziale Gerechtigkeit endlich verlangt, dass jeder seinen
rechtmässigen Anteil an Bildung. Regierung und — Arbeit habe!
Von unmittelbarster Bedeutung für die Beziehungen zwischen neu-
kantischer Philosophie und Sozialismus sind die in denijijKi — 18 mit wahr-
haft bewundernswürdiger Kunst auf 4S Seiten (S. 181 — 178) zusammen-
gedrängten Fundamente einer kritischen Sozialphilosophie.
Die in dem ersten Teile nachgewiesenen drei „Grundfaktoren
der menschlichen Aktivität'-: Trieb — Wille — Vernunft, ergeben,
auf das soziale Leben ihrer Träger übertragen: Arbeitsgemeinschaft')
unter gemeinschaftlicher Willensregelung (durch die Technik), die
ihrerseits der vernünftigen Kritik der Gemeinschaft untersteht (S. 134).
Daraus ergeben sich weiter drei, einander selbst fort und fort neu
erzeugende und gestaltende Grnndklassen sozialen Thuns: die wirt-
schaftliche, regierende und bildende Thätigkeit, deren jede
ihren eigentümlichen Zweck hat. aber in Verfolgung desselben auch
die beiden anderen in Anspruch nimmt. Wirtschaft und Recht
1 ) Präziser scheint mir statt dessen aus Gründen, die icli Zeitsclir. t. l'liilos.
a. a. O. S. 2'2') und Kantstiidicn I, 'JOO f. darg[eIo-rt liaho. dor Be-rriff: Zusammen-
leben von Menschen als bestimmbarer, trieberfilliter, willensfähif^er Wesen.
Kiiutstiulieu IV. 26
878
Karl \' tirliiiiilt>r.
ilii'iien bi'ido als blosse Mittel dem einen hiU'hsten Zweek der
Meusclicnhilduui:. der nun seinerseits die wirtsehal'tlirlic Arlnit und
politische riiiitiirkeit sittlieli /u adeln vcrma{,^
Nat(H-|)s ..Grundireset/ der sozialen Kntwieklunj:" (tj IS) \vill
keine kausale Erklärung; ihres zeitliehen (Jesehehens bieten, zu
dessen wirklieher Erkenntnis es ihm bei dem heutifren Stunde der Wissen-
schaft noch an den notwendijrsteu Vorbedinj:-un^^en zu fehlen scheint
(S. Ki-J), nüthin ki-in Natur- oder Erfahrun-rsfjesetz sein, sondern
als ein rcirulatives Gesetz der Idee verstanden werden, das jedoch
mit den alliremeinen Gesetzen der Ertahrunjr in engster systematischer
VerbindunfT steht. In lückenlosem Zusannneidian-;- reihen sich an
einander (vgl. schon oben): Naturerkenntnis — Technik — soziale
ReireluniT — vcrnunftg:emässe Gestaltung des sozialen Lebens. Den
Zusannneuhaug der drei ersten Stufen hat auch die sogenannte
materialistische Geschichtsauffassung klar erkannt. Was ihr
noch fehlt, ist das bewusste Aufsteigen zu der höchsten Stufe, der
Grund davon am letzten Ende der dem historischen ebenso, wie
dem naturwissenschaftlichen, Materialismus anhaftende Mangel an
Erkenntniskritik. Wie es kein Naturgesetz ausser uns giebt, so
ist auch die soziale Gesetzlichkeit nur Gesetzlichkeit des Bewusstseins
und kann ernstlich aus der sozialen „Materie'' nicht abgeleitet werden.
Und weiter: „Von den untersten materialen Bedingungen bis zum
höchsten Gesetze der Bewusstseinsform, dem Gesetze der Idee, besteht
ein durchgehender, ununterbrochener Zusammenhang" (S. IGG). Eine
neue soziale Ordnung zu schaifeu, erfordert gewiss zunächst die höchste
technische und zwar sozialtechnische Einsicht, aber nicht minder
notwendig als letzten Leit- und Gesichtspunkt die Idee einer best-
möglichen Ordnung der Zw^ecke, die selbstverständlich, wenn sie
nicht einem verschwommenen und haltlosen Spiritualismus verfallen
will, in gesetzmässigem und ununterbrochenem Zusammenhang mit
der sozialen Materie, bis zu ihren letzten Unterlagen herab, bleiben
muss. So entsteht ein durchgehender Gesetzeszusammenhang der
soeben bezeichneten Grundfaktoren des sozialen Lebens, den Natorp,
durch eine höchst scharfsinnige Übertragung der drei „regulativen
Prinzipien" Kants (der Homogeneität, Spezifikation und Affinität oder,.
wie Natorp moderner sagt: des Generalisation, Individualisation und
des stetigen Übergangs) vom Natur- auch auf das technische, soziale
und sittliche Gebiet, noch enger und systematischer zu gestalten weiss.
Das sittliche Endziel der sozialen Entwicklung und zugleich Grund-
gesetz der menschlichen Bildung sieht der Verfasser, an Pestalozzi
Kant nnd der Sozialismus. 379
erinnernd, in der einheitlichen sittlichen Ordnung der Zwecke unter
allseitiger Entfaltung des Menschenwesens in lückenlosem harmonischem
Zusammenhang seiner Grundkräfte (175 f).
Diesem Ideale in ewiger Arbeit am einzelnen wie an der
Gemeinschaft (und zwar am letzten Ende des gesamten Menschen-
geschlechtes. 8. 188) zuzustreben, das ist die „Bewegung zum End-
ziel". Was haben wir zu thun, um zu diesem Ziele oder zunächst
wenigstens auf den Weg zu ihm zu gelangen? Das lehrt, soweit
die Antwort auf dem Gebiete der Erziehungslehre liegt, die zweite
Hälfte des Buches: die soziale Pädagogik als Organisation und
Methode der Willenserziehung (S. 191 — 352).
Das wesentlichste Mittel nämlich zur Erziehung des Willens sieht
unser Sozialpädagoge in der Organisation der Gemeinschaft in
Haus, Schule und öffentlichem Leben. Von der reichen Fülle
praktischer Anregungen, die dieser Teil dem Pädagogen, dem Ethiker,
dem Sozialpolitiker giebt. mag sich jeder durch eigene Lektüre über-
zeugen: über des Verfassers Grundstellung kann nach allem Vorher-
gesagten kein Zweifel mehr sein. Wir greifen, das eigentlich
Pädagogische beiseite lassend, nur einige wenige Punkte heraus,
die den Sozialpolitiker näher angehen.
Die Familie, die gegenwärtig in einer noch nicht absehbaren
Periode innerer Umbildung begriffen ist, kann zwar nicht mehr zu
den verengenden und veralteten Formen einer für uns auf immer
entschwundenen Zeit zurückkehren, aber wir brauchen deshalb ihrem
Verfall nicht mit verschränkten Armen zuzusehen. Starkes Gemeinschafts-
und gesundes Familienleben sind wohl vereinbar. Heutige keimartige
Anfänge, wie die Fröbelschen Kindergärten, wären allmählich zu all-
gemeineren Organisationen (Familienverbänden. Nachbarschaftsgilden)
zu erweitern; wozu natürlich für die arbeitende Klasse eine „vor
allem um der Erziehung willen zu verlangende grössere Freiheit vom
Arbeitszwang (durch gesetzliche Beschränkung der Arbeitszeit bei
gleichzeitiger Sicherung eines angemessenen Arbeitseinkommens)" ge-
hören würde. — Für die Schulerziehung fordert Natorp eine wirkliche
Volksschule im weitesten Sinne des Wortes. Denn alle haben
Anspruch auf — zwar nicht genau die gleiche Bildung, wohl aber
auf gleiche Sorgfalt für ihre Bildung, auf Anteil an der grossen
Bildungsgemeinschatt. allein nach dem Massstab der Fähigkeit, nicht
sonstiger Vorrechte. Seine Vorschläge lauten: Allgemeine obligatorische
Volksschule bis zum zwölften Lebensjahre, dann Vorbereitung auf
die Berufe: das „neuhumanistische Gvmnasium" nur für die wirklich
25*
380 Karl \ nrliiiidiT,
ZU tlu'orftiscluT Aushildiiiiir BotliliifTtcn. (laiicbon eine (a-wcrhe- oder
Kealsi'luilc mit ;inir(\:.'li('(l(M-ti'n (fakultativen) KarliUurscn für die }j:i'-
Averltlii'luMi Hcrul'c; statt dtr Ijislicrifrrii un/uläii^^iciicii Fortliildim^'s-
schulr oiiic NdllsrhiiU' lilr alh* bis /um aclitzehuti'n .laliic. die.
in tVeicnr \\'t'ir>c (»r^raiiisicrt. /uirUMcli mit den Aiitaiijreii der iKTuflicluMi
Ausbildung' ( l.clirlinns/oit) Ncriuiiidcn werden könnte. — Für die
Stufe der freien St-lbster/.iehun^ im (lemeinleben der Krwaehsenen
endlii'h: Krweiterunjr der jet/.iiren Universität zu einer wahren uni-
versitas. d. li. lloehseluile für die (lesamtheit, wobei an die l'niversitäts-
Ausdi'hnuiii:s-Beweirunj;- in Enj:land und den Vereinigten Staaten, an
die .Aolkshoehschule" der skandinavischen Länder anzuknüpfen wäre,
an die letztere auch in Hinsicht auf ein geordnetes Zusannneuleben
ihrer Zöglinge.
Kur/., die Erziehunir nmss sich in den Dienst der Gemeinschaft,
das Leben der Gemeinschaft am letzten Ende in den Dienst der
Erziehung stellen, wie schon Plato erkannt, aber bei seiner Über-
schätzung der Geistesbildung sowie der Arbeitsteilung, und seiner
Lnterschätzung des wirtschaftlichen und politischen Faktors für das
Gemeinleben, nur unvollkommen durchgeführt hat. Wir alle haben den
Beruf der sozialen Erziehung, und Endzweck eines jeden, auch des
geringsten, Menschendaseins ist nicht Wirtschaft und Recht, sondern
Vollendung des Menschentums. Kur auf dem Grunde eines wahrhaften
Gemeinschaftslebens kann und wird auch der Unterricht, namentlicii
der geschichtliche (285 t!'.), ethische (80:5 ff'.) und philosophische (310)
wahrhafte Früchte tragen, das ästhetische Niveau erhöht werden (SIS f.)
und endlich das religiöse, d.i.Menschheits- und Ewigkeitsgefühl gedeihen.
Die alte Jenseits -Religion hat ihre Rolle ausgespielt (351), die
neue, reifere „innerhalb der Grenzen der Humanität", in die sie um-
zubilden ist, — und die für Natorp nur in dem Glauben an die
Idee besteht — , sie wird nicht künstlich gemacht werden, aber
sie wird eines Tages von selbst da sein, „eine Frucht der sittlichen
Erneuerung menschlicher Gemeinschaft'' (352).
5. Tragen die Werke von Stammler und Katorp in erster Linie
einen wissenschaftlichen, auf die methodisch-systematische Begründung
eines idealistischen Sozialismus gerichteten Charakter, so verfolgt die
vierte Schrift, die wir hier zu besprechen haben, Franz Staudin gers
,.Ethik und Politik" (Berlin, Dümmler 1899, VI und 1G2 S.)
neben ihrem wissenschaftlichen auch den praktischen Zweck, die
Zeitgenossen auf „diejenigen materiellen und sittlichen Grundlagen
hinzuweisen, auf denen allein eine Erneuerung des sittlichen Lebens
Kant und dt-r Sozialismus. 381
möglich ist'* (A'orwort S. 111). Es werden denigemäss in dem zweiten
Teile, der die (in dem ersten) gefundenen Prinzipien der Sozialethik
auf die heutige Gesellschaft anwendet, auch bestimmte ethische und
politische Zeitrichtungen (die Nationalsozialen, die Bodenreformer,
die ethische Kultur und besonders die deutsche Sozialdemokratie)
charakterisiert und kritisiert. Al>er. wenn auch der Stilcharakter
verschieden ist, so ist doch der Geist derselbe. Das Fundament ist
auch für Staudinger der Kantische Gedanke vom Reich der Zwecke
und der moderne Sozialismus in seinen Augen nur eine weitere Ans-
bildung dieses in seinem Kern schon von der Prophetie des alten
Hundes und der Jesuslehre verkündeten Gedankens. Staudinger stellt
sich noch offener und entschiedener als jene beiden auf die Seite des
Sozialismus, aber er verlangt auch ebenso entschieden im Interesse
der wissenschaftlichen Konsequenz von ihm, dass er seiner Begründung
,,das Prinzip einheitlichen Krkennens und einheitlichen vernünftigen
Wollens" bewusst zu Grunde lege. „Die analytische Begründung der
Ethik durch Kant, wie sie durch Cohen, Natorp, Stammler u. a.''
— hier vergisst Stand, aus Bescheidenheit sich selbst zu nennen^) —
„weiter entwickelt worden ist, bildet die notwendige Ergänzung
zu der vorwiegend historisch - kausalen Begründung der Marx-
Engels'schen Schule" (Vorw. IV).
Weniger in äusserlichem Anschluss an Kant, dem er \ielmehr
mitunter (S. 45 und 65 A.) sogar entgegentritt, aber ganz im Sinne
der uns nun bekannten Kantischen, wenn man will, ne ukantischen
Methode legt auch Staudinger den verschiedenen Sinn von kausaler
und Zweckbetrachtung dar, und zwar werden diejenigen, denen diese
Betrachtungsweise noch weniger geläufig ist, vielleicht gerade durch
seine populärere Art, welche die Leitsätze durch zahlreiche Beispiele
aus allen Gebieten zu illustrieren weiss, gewoimen werden. Ebenso
wenig, wie die Begriffe „richtig (wahr)" und ,,falsch", haben „gut"
und „schlecht" an sich etwas mit kausalem Werden zu thun. Und
nicht auf den Inhalt, sondern auf die Einhelligkeit alles Erkenuens
kommt es der echten Wissenschaft an. „Wahr ist nur dann ein
Satz, wenn er sich eindeutig in den Zusammenhang aller Erkenntnisse
einfügen lässt" (17). Das entspricht ganz Kants „formaler Einheit
der Erfahrung". Und gut ist eine Handlung oder ein Wille, ,,sotern
und weil sie sich einheitlich in den Zusammenhang alles Lebens
(aller Zwecke) einfügen" (39). Das ist Kants formales Sittengesetz in
J) Vgl. sein früheres Werk: Das Sittengesetz (2. Aufl. Berlin 1897)
und manche kleinere Abhandlung.
3S*J 1'^:"' Voiläiidcr.
etwas andrrcr Fdini. „Das l'iin/.ip (Irr waliifn Moral ist alst» das
rrin/ip ilrr Kiiilu-it nu'nsohliclicii Dcnkous, \\ (»Ileus und llaiidcliis,
unter ^Meielihereeliti^rten MciiscIkmi." Ks ist /ii^Icicli dassellie rriiizip.
das dem (.'hristeiituiii als Idee eines Keiehcs Gottes (also im Kantisclieii
Sinne) zu Grunde lie^rt: nur ist es jetzt „in seinen inneren he-
dinjrunjren erkannt und entt'altet'" und ..aus den Nebeln des Jenseits
zu einer treibenden Kral't in dem Leiten der Menschheit erhoben" l-^iM-
In diesem Sinne ist jene Einheit, naeh dvr sich unser jranzes Wesen
sehnt. ..für uns ^\ irklich Gott'' (48), weil das (iute, der oberste
Kichtj)unkt unseres Deidvcns und \\'(dlens. (Ich sehe nicht ein.
weshalli Staudiiiiier sich S. 4.H Anm. ^eg:en Natorps in fi'enau dem
jrleichen Sinne jrebrauchten Ausdruck: das Unbedingte, wehrt). Das
sittliche oder, sagen wir bestimmter, das sozialethisehe Ideal bestinnnt
Staudinger, sachlich in vidligem Einklang mit Natorp und Stanunler,
als „die durch freie, gleichberechtigte Menschen zu schattende Einheit
des praktischen Gemeinschattslebens in Erkenntnis, Zweckordnung
und Wille- (66 f.), später (S. Sl. 84) auch geradezu mit Stammler
als ..die Gemeinschaft Irei wollender Menschen'".
Aus ihm entspringt alle Gemein schaftsethik. Die Ver-
dunkelung dieses Einheitsstrebens dagegen ist der Quell aller
Gewaltethik, die das Mittel über den Zweck stellt: als fanatischer
Sektengeist, als dogmatische Unterdrückungssucht, als nackte Inter-
essenpolitik oder gar als „satanische" Lüge und Heuchelei. Dem
gegenüber bleibt die Aufgabe ethischer Politik: die vernunft-
gemässe Fortbildung der gegebenen, geschichtlich gewordenen Ordnung
jenem sozialethischen Endziele zu. Ihre Mittel sind: Erkenntnis
und Organisation (80). Das dunkle Bewusstsein der Massen, ihr
l)linder GefUhlsdrang zu mehr oder . minder phantastischen Zielen
muss sich abklären zu klarem Erkennen, zielbewusstem Wollen und
organisiertem Handeln.
Freilich ist alle Ethik machtlos, sobald die historischen Be-
dingungen zu einer sittlichen Erneuerung der Gesellschaft fehlen.
„Die schönsten Grundsätze ]\Iark Aureis können kein Rom vor dem
Zusammenbruch retten, weil sie nicht als lebendige Triebkräfte einer
]\Iassenbewegung erscheinen-' (80). Diese letzteren sieht Staudinger
in der modernen Arbeiterbewegung. Das kapitalistische System ist
nicht, wie der alte Liberalismus glaubte, ein System des Zusammen-
lebens freier nnd gleicher Menschen (S. lllj, sondern übersetzt nur
die früheren persönlichen Herrschaftsformen in die unpersönliche des
Kapitals. Dem gegenüber vertritt der Sozialismus die höhere Sitt-
Kant und der Sozialismus. 3Q3
lichkeit; aber auch er hat noch manchen Rest der ihm gegenwärtig
anhängenden Gcwaltethik abzustreifen; er muss die Kontinuität der
Entwicklung d. i. den steten Zusammenhang des Werdenden mit
dem schon Gewordenen, den schon die Natur der Dinge vorschreibt,
auch seinerseits nicht durchbrechen wollen, und den Weg der ver-
fassungsmässigen Fortbildung wahren, soweit es an ihm liegt.
Dem Marxismus steht Staudinger ähnlich gegenüber wie Stamm-
ler und Natorp, im ganzen aber doch wohl etwas näher. Er ver-
gleicht die Marx'sche Methode mit derjenigen von Kant, insofern
beide keine psychologischen Untersuchungen, sondern objektive
Analyse des Gegebenen treiben. , .Darum ist, wenn auch manche
Einzeluntersuchung verbesserungsfähig sein mag, an Prinzip und Me-
thode der Marx'schen Forschung nichts auszusetzen. Wir vermögen
an ihr keinen prinzipiellen Fehler, sondern nur einen Mangel zu ent-
decken, der zu ergänzen ist" (110). Dieser Mangel liegt darin, dass
Marx auf die Frage des Verhältnisses der Ökonomie zur Ethik nicht
eingeht. Er will nur zeigen, welche Gesetze thatsächlich in der heutigen
Volkswirtschaft wirken, weist dagegen jede Begründung ihres Rechtes
oder Unrechtes ab. Das aber ist ein „unmögliches Unterfangen."
„So lange der Marxismus das soziale Werden nach dem kausalen
Gesichtspunkte wissenschaftlich verfolgt, ist er leistungsfähig und
kann etwaige Irrtümer stets wieder nach wissenschaftlich-einheit-
licher Methode korrigieren. Sobald er sich aber bewusste und
plan massige Umgestaltung des Gegebenen zum Ziele macht, kann
er den Massstab hierzu nicht in jenem kausalen Werden entdecken . . .
Sobald der Marxismus dessen inne wird, kommt er in
konsequenter Verfolgung seines eigenen Prinzips zu Kant",
auf dessen Forschungen die Einsicht in das Gesetz der Zweckbildung
ruht. Und umgekehrt bleiben ..die Gesetze der Zweckbildung ein
leeres Schema, sobald die Naturgesetze des thatsäcblichen Lebens
nicht die Grundlage darbieten. Sobald der Kantianer dies
klar erkennt, kommt er in folgerechter Entwicklung seiner
eigenen Grundgedanken zu Marx", auf dessen P'orschungen die
Einsicht in die Gesetze der bisherigen wirtschaftlichen Entwicklung
gegründet ist (159).
So ist Staudinger unter den Neukantianern — denn diesen ist
er trotz einzelner Divergenzen, wegen seiner Methodik offenbar zu-
zuzählen — derjenige, der die Möglichkeit einer Verbindung von
Marxismus und Kritizismus am deutlichsten zum .\usdruck bringt,
ihre Notwendigkeit am kräftigsten betont. Wir wären damit an der
384 K :irl y o iliiinlor,
Grenzt' unseres Alisi'litiittrs an^-elanirt und Uönnti'u niiinii<lii Nondcn
sozialisieremU-n Kantianern v.u (icn kantianisicrcndcn Su/,ialisten
Uher^elien. wnni wir iiirlit nocli cinifrc litlcraiischi' Krsclu'inuni^en
der letzten Zeit /n M-rzcioliiuMi liättrn. die, ^^eradr wt-il sie von bis-
her nielit als Kaniiaiirr lirkanntcn (iclclirtin aiis^^ehen. zeif^en. wie
sieh innerhallt der versehiedensten wissensehaftlichen Kreise ein
Dranj; naeli der Idsher \(tii uns heschrichenen Kiehtunj; henierkhar
macht.
(1. Die von Professor Otto CFerlaeh ( Könijrsherfr ) zum Kant-
gei)urtsta^" lsit9 in der Kantpesellschaft zu Köni^-sherg; fjelialtene
Rede über ,,Kants Einfluss auf die Sozialwissenschalt in
ihrer neuesten Entwicklung:'' (Jetzt al)g:edruckt in der Tiiliin-i-er
,, Zeitschrift für die o:esamte Staatswissenschaft" 1891), S. (144— G(»:i)
freilich ist ihrem wesentlichsten Inhalt nach nur ein, seiner Klarheit
weg:en recht lesenswertes, Keferat über Stammlers ol>en von uns
besprochenes Buch. Auch Gerlach zeig:t, wie Stammlers Frage-
stellung: und Methode durchaus die des Kritizismus ist und nichts
zu thun hat mit der sog:enannten ethischen Jlichtung: der National-
ökonomie, in die Sombart ihn einzureihen versucht hat, sondern aus
den eigenen Erkeuntnisbeding-ung-en der Sozialwissenschaft deren
eig:enartige Methode und Gesetzlichkeit begründet. Er schlägt (S. 662)
vor, Stammlers Lehre als ,. realistischen Idealismus" zu be-
zeichnen und ist überzeugt, dass sie berufen sei, „einen Markstein
in der Geschichte der Sozialwissenschaft zu l)ilden und diese in die
von der Kantschen Philosophie gewiesenen Bahnen hineinzuleiten''
(648). Die „bislang noch immer schwankenden Fundamejite der-
selben", so schliesst er seine Ausführungen (663), werden durch den
neu in ihr erwachten Geist Kants „eine gesicherte Grundlage er-
halten.''
Der „Riesenfortschritt" des sozialen Bewusstseins, von dem
Cohen (s. oben) sprach, ist in der That unleugbar. Er giebt sich
in der täglich mehr anschwellenden sozialethischen Litteratur zu er-
kennen. Wir greifen aus der letzteren zwei hervorragendere Er-
scheinungen heraus, weil auch in ihnen das „Zurück auf KantI"
deutlich zu verspüren ist, wenn auch nicht so sehr in Beziehung auf
die wissenschaftliche Methode, als auf den ethischen Standpunkt.
Insbesondere ist dies bei dem zuerst zu nennenden der Fall.
7. Theodor Lipps hat in zehn, teilweise im Volkshochschul-
verein zu München gehaltenen, Vorträgen „Die ethischen Grund-
fragen'- erörtert (als Buch gedruckt bei Leopold Voss, Hamburg
Kant und der Sozialismus. 3H5
and Leipzig: 1899. 308 S.l. Als solche betrachtet er: 1. Egoismus
und Altruismus. 2. Dir sittlichen Grundmotive und das Wöae.
3. Eudämonismus und l'tilitarismus. 4. Gehorsam und sittliche Freiheit.
5, Das sittlich Uichtijre. 6. Die obersten sittlichen Normen und das
Gewissen. 7. Das System der Zwecke. 8. Soziale Organismen (i'amilie
and Staat). !l. Die Freiheit des Willens, lo. Zurechnung:. Verant-
wortlichkeit und Strafe. Seinem populären Zwecke entsprechend^
enthält das Buch keine gelehrten Citate (von denen übrigens auch die
besprochenen Schriften von Cohen, Natorp und Staudinger fast völlig
frei sind). Um so bemerkenswerter ist, das Lipps, der uns früher
nicht als Kantianer bekannt war, von Philosophen einzig und allein
Kant hervorhebt und sich an dessen ethische Grundprinzipien durch-
aus anschliesst. Besonders erfreulich war uns, dass er. wie wir.
den vielgescholtenen ,,Forraalismus'" der Kantisehen Ethik verteidigt
und nachweist, wie gerade in ihm ihr Inhaltsreichtum begründet liegt
(1.58 f.). Doch wir haben hier nur festzustellen, dass er mit aus-
drücklicher Berufung auf Kant und aus dessen ethischen Prinzipien
auch seine sozialen Gedanken ableitet.
Niemand kann nach sittlichem Rechte Herr sein, ohne . . .
zugleich Diener zu sein, nämlich Diener des absoluten Zwecks,
auch in der Person des Dienenden. Und jeder, der dient, soll zu-
gleich Herr sein. d. h. eine des sittlichen Gesamtzweckes und ihres
eigenen sittlichen Lebenszweckes sich bewusste Persönlichkeit.
Jedes andere Herrschen und jedes andere Dienen ist unsittlich (157).
Das Sittengesetz sagt: Habe alle möglichen menschlichen Zwecke
und stifte zwischen ihnen eine für alle Fälle und für alle Menschen
gültige Ordnung (159j. Wenn Lii)ps (mit Theobald Ziegler) die
soziale Frage als sittliche Frage auffasst (190), so geschieht das
doch in dem gleichzeitigen Bewusstsein, dass zugleich — um mit
Staudinger zu reden — ,.die sittliche Frage eine soziale Frage*'
ist.'j Menschen müssen zunächst leben; Menschen sollen aber auch
als Menschen leben (189), sich als sittlicher Selbstzweck, nicht als
.\rbeitssklaven bethätigen und fühlen (189f.). Deshalb muss das
Klassen- und Privilegienrecht übergehen in das sittliche Menschen-
recht (232). Das letzte Ziel aller Staatsordnung ist die volle sitt-
liche Rechtsordnung, d. h. der vollkommene sittliche Organismus der
Menschen (237), ein Reich der sittlichen Menschheit, „ein Reich
•) Vergleiche den unter obiger Übersclirift orschienenen schönen Aufsatz
Standingers in den Philosophischen Monatsheften iherausg. von Natorp j
XXIX (1893) S. 30—53 und 197—219.
cjgß K.irl \' (irländor,
Odttrs auf Knien" (JUS). Die jct/.t Ix-stclicmlt' Ki-cnluiiisoidiuiu;;-
und Staalsvrrfjissuuir sind nur so lanjri' unantjistl)ar, als sie siltlicli
/wei'kniässiir sind, d. i. ..nu-iir als andere froeij^nct, den sillli(dien
Knd/.wei'k des Staates, die \ Crwirklieliun;;- iler starken, reiclieii und
freien l'ersönlicid<eit /u liM-dern" (2:\:>). Wären wir ül)er/,eu<rt. dass
dies nii'lit nielir der Kall, so hätten wir die IMlieht, .Jeder! an seinem
Teile, an dem l udiau dieser (Irundpl'eiler der hesteheiiden sozialen
uiul staatlielien Ordnunjr nut/uarbeiten" (ebd.). Revolution, als „sitt-
liehe Notwelu- kann lMli(dit sein, heiligste IMlicht. „Kein Volk hat
das Keeht. sich sittlich /.u (Jrunde richten /,u lassen .... Die sitt-
liche liidie der Menschheit ist das höchste Gesetz und das absolute
Hecht" (2:5!)).
So kraftvoll und unerschrocken redet, von Kants kategorischem
Imperativ ergritl'en. der Müuchener Philosoph. Wenn er auch die
iSpezialanwendung- auf das eigentlichste Gebiet des Sozialismus, das
wirtschaftliche, nicht vollzieht, überhaupt mehr als Soziale thik er
denn als Sozialphilosoph auftritt, so kann darum in weiterem
Sinne doch auch er zu der bisher von uns charakterisierten Gruppe
der Kantisch beeinflussten sozialen Idealisten gerechnet werden.
8. In gewissem Siim ist das auch mit dem letzten hier zu be-
sprechenden Gelehrten, dem Professor an der tschechischen Universi-
tät Prag. Th. G. Masaryk, der Kall. Sein ebenfalls aus akade-
mischen Vorträgen entstandenes Ruch: Die philosophischen und
soziologischen Grundlagen des Marxismus (Wien, C. Konegen
1899, XV und 600 Seiten) giebt als ..Studien zur sozialen Frage"
eine eingehende und mit vielem l)il)liograi)hischen Material ausge-
stattete, freilich nicht sehr einheitliche Darstellung und Kritik des
Marxismus. Hier interessiert uns zunächst nur die eigene kritische
und systematische Stellung des Verfassers, der in der neuesten Aullage
von Ueberweg-Heinze (III 1, 493) als Comte-Spencerscher Positivist
bezeichnet wird.
In einer Replik gegen einen seiner Kritiker (Neue Zeit vom
18. November 1899, XVIII 1, S. 217 f.), meint er nun allerdings,
<lass er ebenso wenig Positivist sei, als er eine „Rückkehr zu Kant"
verlange. Dennoch hat der betreffende Kritiker (Antonio Labriola)
nicht ganz Unrecht, wenn er in Masaryks Buch, falls er ,, richtig ver-
standen habe", die „Rückkehr zu Kant" gepredigt sieht (Neue Zeit.
XVllI S. 76). Gewiss schliesst sich Masaryk nicht ausdrücklich an
Kant an. wie denn überhaupt sein stofflich sehr reichhaltiges Buch
einen einheitlich durchgeführten methodisch-systematischen Stand-
Kant und der Sozialismus. ' 387
puiikt vermissen lässt. Üass er in die Tiefen Kantiselier Philoso-
phie nicht ein}i-e(lrun^-eii ist, zeig;en Aussj)rüehe, wie die: die Phiioso-
l)hie Kants wie die Humes sei .,subjektivistisch'" und deshalb .,ent-
schieden individualistisch- (S. l'.Mi). Kant habe sich in der ,,Frag;e
aller Kraben- nämlich der „der schöpferischen Spontaneität'" mit einer
..merkwiirdi<:eii I)opi)elseiti^'keit von empirischer Unfreiheit und
Freiheit, die von der reinen N'ernunft postuliert werde, l)eholfen-
(234) u. a. m. (vgl. noch S. 4(i2. 4S2). Dennoch steht er in dem
philo'-ophischen Ergebnis seiner Untersuchungen dem Kritizismus
nicht fern.
Nicht nur huldigt er entschieden einer ethischen Begründung
des Sozialismus, die er freilich mehr behauptet als selbst me-
thodisch durchführt. ,.Wie jedes Denken logisch, so soll Jedes
Handeln ethisch sein" (228). „Die Politik ist gleich allen praktischen
Wissenschaften auch der Ethik untergeordnet" (227). ,.Das soziale
Ideal lässt sich (wie im Anschluss au Stammler gesagt wird) nur
ethisch begründen" (229). Sondern auch philosophisch nähert er
sich dem Kritizismus gerade in den Schlussparagraphen des theo-
retischen Teils doch recht stark. ,,Der Materialismus ist noetisch
und metaphysisch unhaltbar, auch der Positivismus genügt nicht.
Wenn wirklich ein Erwachen aus dem ideologischen Schlaf statt-
finden soll, so muss das erwachende Bewusstsein und Denken vor
allem die Feuerprobe der erkenntnistheoretischen Kritik be-
stehen — der Kritizismus jedoch ist das Grab des Materialis-
mus. Die jüngeren Marxisten sprechen darum schon von der Rück-
kehr zu Kant" (512). „Den Aufgaben der Zeit ist bloss eine neue
schöpferische Synthese gewachsen" (513), die vor allem das ,,noetische"
Problem: ..Was ist Wahrheit?" zu lösen, die blosse Skepsis zu über-
winden hat. „Dieser Aufgabe unterzog sich unter anderen auch (!)
Kant am umfassendsten und tiefsten; darin liegt die historische und
kulturelle Bedeutung seines Kritizismus" (514; vgl. auch 553). Und
wenn das Problem der .,neuen Philosophie" nicht bloss theoretisch,
sondern auch praktisch ist, wenn es sich um neues Leben
handelt, so hat auch hier Kant bereits den Weg gewiesen (515.
vgl. auch 17 f., 509 und 535).
Wir haben Masaryk in unseren Aufsatz, wie gesagt, nur ein-
gereiht, weil wir auch in seinem Buche ein Zeichen der Zeit in
dem von uns angedeuteten Siime erblicken. Die neue Sozialphilo-
sophie, die eine systematische N'erbindung von Sozialismus und
Kantianismus ermöglicht, und der auch wir anhängen, finden wir
3S8 Karl VorliindiM-,
niolit lu'i ihm. sondern bei Natorp. Stammler und Standin}:or ont-
wu-kelt. Wie verhält sieh nun dem jreirenlllier der Sozialismus im
on<reren Sinne, insi)esondere der s(»>:-enannte ..wissensehal'tliehe"
Sozialismus oder Marxismus? Kann man. nie dort von sozialistischen
oder sozialisierenden Kantianern, so hier von Kantischen oder doeh
k a n t i a n i s i e r e n d e n Sozialisten spreehen ?
Darauf soll unser dritter und letzter Abschnitt antworteu.
111.
Von Lassalle soll hier nicht geredet werden, da er keine zu-
sammenhänirende wissenschaftliche Begründunir des So'zialisnms ge-
geben hat. Marx und Engels, die Begründer des „wissenschaft-
liclien Sozialismus-, haben entschieden an Kant nicht angeknüpft.
Es ist eine andere Frage, ob nicht trotzdem, wie Staudinger
(s. oben) und Woltmann (s. unten) meinen, gewisse gemeinsame
Züge zwischen ihrer und der Kantischen Denkweise obwalten, oder
ob nicht, wie wir mit Natorp, Stamnder und Staudinger zu behaupten
geneigt sind, von uns eine systematische \'erbindung zwischen beiden
hergestellt werden kann. Historisch und im Bewusstsein der beiden
sozialistischen Denker lag die Sache jedenfalls so, dass sie sich zu
dem kritischen Idealismus, wie zu einer idealistischen, ethischen Be-
gründung des Sozialismus überhaupt, theoretisch wenigstens, in einen
entschiedenen Gegensatz gestellt haben.
1. Zwar hat Marx als Student, wie er in einem vor zwei Jahren')
von seiner Tochter Eleanor veröffentlichten Briefe an seinen Vater
schreibt, anfangs dem Idealismus angehangen und ihn „mit
Kantischem und Fichteschem verglichen und genährt", aber schon
als Neunzehnjäriger ist er, wie er ebendort berichtet, davon abge-
kommen, um „im Wirklichen selbst die Ideen zu suchen.'- Und in seinen
späteren Schriften findet sich kaum noch eine Anspielung auf Kant,
während er bekanntlich von Hegel und Feuerbach stark beeinflusst
war und blieb. Masaryks Buch, dessen Hauptwert gerade in der
eingehenden historischen Darstellung der philosophischen Grund-
lagen des Marxismus beruht, findet in ihm alle möglichen -ismen
(nicht weniger als 24 an der Zahl, vom „Astatismus bis zum Ultra-
positivismus",^) nur nicht den — Kritizismus. Und Woltmann, der Marx
möglichst nahe an Kant heranrücken möchte, muss doch von vorn-
1) Neue Zeit XVI, 1, S. 9.
2) Vgl. meinen Artikel in No. 50 der Ethischen Kultur 1899: Zur Kritik
der marxistischen Weltanschauimg.
Kant und der Sozialismus. 389
hereinM zugreben. dass Marx „sich dieses prinzipiellen Zusaiunieii-
bangs nicht lilar bewusst gewesen ist."
•2. Nicht viel anders steht es mit seinem Freunde Engels. Engels
hat zwar in seinem Aufsatz über Feuerbach^) die deutsche Arbeiter-
bewegung als die „Erbin der deutschen klassischen Philosophie"
l)t'zeiehnct und 1S91 einmal unter sein Bild geschrieben: ..Wir deutschen
Sozialisten sind stolz darauf, abzustammen nicht nur von Saint-Simon,
Fourier und Owen, sondern auch von Kant. Fichte und Hegel" ;
aber als eigentlicher Repräsentant der „klassischen" Philosophie gilt
ihm und Marx doch nur Hegel. Vor Kant zeigt er zwar stets
Hochachtung, aber er ist in dessen Philosophie nicht tiefer ein-
gedrungen. So nennt sein Aniidühring^) den Königsberger Philoso])hen
an verschiedenen Stellen (8. 8 1., 16. 37 1"., 46 f., 56,, ohne sich doch
im mindesten von dessen erkenntniskritischer Methode berührt zu
zeigen. Ja, im „Feuerbach" (S. 18 1.) zeigt er so wenig Verständnis
des Kantischen ..Dings an sich", dass er diese ,, philosophische
Schrulle" einlach durch das chemische Experiment für widerlegt er-
klärt, was ihm selbst von seinem Parteigenossen Woltmaun (a. a. 0.
S. •_>.'). vgl. näher S. 306 ff. > den ^'o^wurf ,.graueuhafter Unkenntnis"
zuzieht. Die „Neubelebung der Kautschen Auffassung in Deutschland
durch die Neukantianer" sei .,der längst erfolgten theoretischen und
praktischen Widerlegung gegenüber, wissenschaftlich ein Rückschritt
und praktisch nur eine verschämte Weise, den Materialismus hinter-
rücks zu acceptieren und vor der Welt zu verleugnen"! (ebd. S. 19).
l'nd Kants kategorischer Imperativ wird in derselben Schrift wiederholt
(S. 27 und 40) für „ohnmächtig" erklärt. ..weil er das Unmitgliche
fordert, also nie zu etwas Wirklichem kommt". Kurz, beide Freunde
kennen, nach ihren litterarischen Äusserungen zu urteilen, von der
neueren Philoso|)hie genauer nur Feuerbach und Hegel. Wenn sie
von Phil(»sr»phie oder Metaphysik reden, so ist darunter in der Regel
die Hegeische Spekulation zu verstehen.')
3. Diese philosophischen Ansichten von Marx und Engels haben
unter ihren Anhängern und Nachlolgern bis vor kurzem keinen
') Vorwort S. VI seines unten nucli zu besprechenden Buches: Der
h istorische Materiab'sm us-
2) Fr. Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen
Philosophie. Stuttgart. Dietz 1S88. S. 68.
S) Herrn Eugen Diihrings Umwälzung der Wissenschaft. 3. Aufl. .Stuttgart,
Dietz 1894.
♦) In «lieseui Urteil stiimnen auch die zwei ncneston. von einander ganz
unabhängigen Kritiker des Marxismus, Masaryk und Woltmann, übereiu.
■\i)() Karl Norläiitlcr,
\Vi(li'rs|)rui'h •rctuiuU'ii. dalt doch der Aiiti-Dührinjr noch Wii\t«'r 181)4/5
nicht l)loss Kautsky (Neue /rit XIII 1. TIM. sondern audi noch
Bernstein (olid. S. 1 IJ IV.) als ein ..Lehrhuch ersten Uanp-s.- So ist
es denn auch nicht zu verwundern, wenn sich das wisseiischaltliche
Oriran des Marxismus, die ,,Neue Zeit". l)is vor etwa zwei Jahren
mit Kant so jrut wie j;ar nicht heschiiltijrt hat. Wir halten zwölf
Hände derselheii ilie .Iahrirän<re 1S')0/1 bis ISi)")/!; — daraufhin
tlurcinnustert und nur an iranz wenip-n Stellen eine g:iinz oherilächliche
Heriihrunjr mit Kant plunden. Leopold Jakohy i)olemisiert einmal
(XII 2, .")<) f.) ge^Mi Kants Kaumhe^rill', und Hernstein wendet sieh
jrelejrentlich eines Aufsatzes Über F. A. Lanp' und Kllissens Lange-
Hiog:raphie in ganz ähnlicher Weise wie Engels und im Anschluss an
dessen ,,Feuerbach", gegen den Neukantianismus (X 2. 102 1.) und
Kritizismus (104 f.), der mit einem ..Kirchgang" endige! Engels wieder-
holt (XI 1, 18 f.) seine vermeinte Widerlegung des Kautschen Ding an
sich durch das chemische Experiment. Von Kant im Zusammenhang
mit sozialen Problemen ist erst recht nicht die Rede. Ein historisch-
darstellender Aufsatz M. Cunows über „Soziologie. Ethnologie und
materialistische Geschichtsauftassung'' übergeht sogar Kants Geschichts-
philosophie völlig und geht von Herder sofort zu Hegel über. Eine
gewisse Ausnahme macht nur ein nichtdeutscher Sozialist, dessen
Vortrag über ,,die idealistische Geschichtsauffassung" in Rand XIII, 2
der ..Neuen Zeit" abgedruckt wurde. Auf ihn aber haben wir aus-
führlicher einzugehen.
4. Der erste ausgesprochene Sozialist nämlich, der ausdrücklich auf
Kant als geistigen Miturheber des deutschen Sozialismus hingewiesen
hat, ist Jean Jaures, der, ehe er in die politische Arena trat, eine
Dissertation: De primis socialismi Germanici lineamentis
apud Lutherum, Kant, Fichte et Hegel (Tolosae. Chauvin.
1891, 83 S.) geschrieben hat. Schon um der Person des Verfassers,
des bekannten hervorragenden Führers der französischen Sozialisten,
willen bietet es wohl ein gewisses Interesse, wenn ich aus der in
Deutschland fast unbekannt gebliebenen — nur Vaihinger hat in
seinem Litteraturbericht im Archiv für Geschichte der Philosophie
VIII, 559 eine kurze Notiz darüber gebracht — und nicht im Ruch-
handel befindlichen Schrift Auslührlicheres mitteile. (Ich gestatte
mir dabei, das keineswegs klassische Latein des damaligen Professors
von Toulouse ins Deutsche zu übertragen.)
Jaures erklärt auf S. 3 rund heraus, dass er den ,,wahren"
Ursprung des Sozialismus nicht auf den Materialismus der „äussersten
Kant und der Sozialismus. 391
Hefrelschen Linken-, sondern auf den Idealismus eines Luther. Kaut,
Ficlite und Hefrel zurückführe. Wenn der heutige deutsche Sozialis-
mus unter dem Schilde des Materialismus kämpfe, so sei dies nur
ein Charakterzug des gegenwärtigen Kriegszustandes (tanquam belli
praesentis habitus), nicht des ..zukünftigen Friedens'*. „Im innersten
Herzen des Sozialismus lebt der Geist des deutschen Idealismus".
Die „wahren Sozialisten'- seien Schüler der deutschen Philosojjhie,
ja des deutschen Geistes selbst gewesen. ,,Die Dinge gehen aus
den Ideen hervor, die Geschichte hängt von der Philosophie ab".
Wohl sei in England, dem klassischen Lande des Kapitalismus,
dessen Prozess geschaut und beschrieben worden, aber von — einem
deutschen Hegelianer (S. 4).
Seine interessanten Ausführungen über die ,, ersten Grundlinien
des Sozialismus- bei Luther (S. 4-2()), die hauptsächlich an dessen
Schrift über den Wucher (S. 15 ff.) anknüpfen, müssen wir hier
übergehen und uns zu dem zweiten Kapitel (S. 27 — 43) wenden.
das über den Staatsbegriff von Kant und Fichte handelt. Schon in
dem ersten Kapitel war ausgeführt worden, dass der deutsche Geist,
im Gegensatz zu dem französischen, zum Allgemeinen, daher auch
zum Sozialismus neige, und im Auschluss daran (S. 11 f.) von Kant
gesagt: ,,Immanuel Kant selbst, obwohl er den menschlichen Willen
für absolut frei erklärt hat, setzt dennoch die Freiheit selbst nicht
in das reine und leere Vermögen, Entgegengesetztes zu wählen,
sondern deliniert sie als die allgemeingültige Richtschnur der Pflicht
(universalis olficii norma). Der Mensch ist frei, weil er die Pflicht
erkennt, was ihm mit allen vernünftigen Geschöpfen gemein ist.
Jeder Mensch ist frei durch das Sittengesetz (lex raoralis), welches
erhaben ist über Erde. Himmel und die gesamte Menschheit."
Freiheit sei eben den Deutschen identisch mit Gesetz und Gerechtigkeit.
Einen anderen Unterschied des deutschen und des französischen
Geistes flndet nun J. im zweiten Kapitel darin, dass der erste re im
Gegensatz zum zweiten zur \'eniiittlung und zur Synthese neige.
So verbinde auch Kant die aus Frankreich (l\(tusseau) herüberge-
kommenen Freiheitsideen mit dem preussischen Staatsgedanken eines
Friedrich U. (S. 27 ff.). Kant scheine zwar zunächst die individuelle
Freiheit jedes Einzelnen als die Grundlage des Hechtes zu betrachten.
(S. 33). ,.Jeder Mensch ist frei, weil er die Pflicht erfüllen und
dem Gebote des Sittengesetzes gehorchen soll: wer soll, kann auch.
Daher ist auch jeder Mensch in Bezug auf seine Freiheit den andern
gleich; und da ein jeder . . eine Person und keine Sache ist, kann
392
\\ :i il \ Urlii ml i' r.
kein M»Misi'h den nndfrcn .-ils tinc Saclic jroliiaiu'lM'ii; der Mensch
ist koin Mittel, soiulern sieh sell>st Zweek". Diese l''rt'iheit wird nur
dureh die K'llcksieht auf di«' Freiheit eines Jeden Anderen einge-
schränkt. Zu jedem Keehtsji-esetz ist die Zustininnuii;- i\i-s pan/.eii
\ tdkes nötiir. Aus dem ..ursprlln^liclien \ Crtra;::*". dem pactum
sociah'. h'iteii sich aUe rechtmiissifrcn (Jeset/e her. Hiernach sdllte
man ivant für einen tran/.üsischen I\ev(dutionsphih)S(i|)hin hallen (iM ),
aller dem i:-ei:-eniU)er erseheint nun andererseits die Idee des Staats,
der nicht die hiosse Summe der JMn/.ehvilU n ist, sondern ..eine
Art innerer Vernunt'twillen des \01kes"" (interna (piaedam et rationalis
populi \()luntas). dem sonach mit Keclit die höchste Macht inne
uidnit. irep:en den eine Empörung- nicht erlaubt ist (Böf.). Damit hat
Kant, wie Jaures (IM) meint, dem Sozialismus zwar nicht ,, ausdrück-
lich lieiiTCstimmt"', aber ihn doch ..warm Ncrtreten'' (fovit).
Was dageiren die Verteilunj:- des Besitzes anj^ehe, so stehe
Kant dem Sozialismus bald näher bald ferner. Er behaupte freilich,
die politische und menschliche Freiheit und Gleichheit könne ohne
wirtschattlichc Gleichheit bestehen, und acceptiere die Unter-
scheidung- von aktiven und passiven Staatsbürgern, „welche zuerst
die Gesetzgeber der Revolution beschlossen haben'' (!), wonach der
Unselbständige kein Stimmrecht habe, während ihm der spätere
Zugang zur Selbständigkeit otfen stehe (vgl. unsere obigen Aus-
führungen über Kant 8. 869). Das klinge antisozialistisch, führe aber
in seinen Konsecjuenzen gerade zum Sozialismus. „Denn dieser erklärt,
dass die politische und philosophische Gleichheit nur ein Gespötte
sei. wenn nicht ein gewisses Auskommen allen Bürgern zu Gebote
stehe, und dass die armen Bürger, auch wenn sie das Stimm-
recht besitzen, dennoch passive seien, da ihr Leben von dem Willen
anderer abhänge'". Nun schreibe aber Kant auf die Fahne des
Staates: Freiheit. Gleichheit, wirtschaftliche Selbständigkeit (Besitz).
Also müsse man, wenn man allen Menschen die Thore des Staates
wieder ötinen wolle, sie auch alle ..zur Teilnahme an den Gütern
der Erde und zur Selbständigkeit rufen. Das aber ist Sozialis-
mus" (38).
Übrigens, fährt J. fort, fliesst auch das Besitzrecht selbst nach
Kant nicht aus dem Individualwillen des Einzelnen — occupatio
non est possessio — . sondern aus dem ursprünglichen Vertrag. Da
der Erdboden allen Menschen zum Wohnsitz angewiesen ist, so ist
die Bodengemeinschaft eine ursprüngliche, in der Idee. Wie fern
sind wir hier von — der vulgärökonomischen Doktrin! (S. 39).
Kant nnd der Sozialismus. 39;j
Ist aber der Staat Obereigentüiner des Bodens, so muss ihm auch
das Recht zustehen, die Besitzbedingun^^en zu ändern. Und ,,\vird
nicht jeder Mensch versuchen. Jene vernunft^^eniässe und ausserzeit-
liche Gemeinschaft des Bodens und der Beichtümer in eine reale,
historische und jreji'enwärtiji-e umznwandelnV' (40.)
So lautet denn das Resultat bezüfjlich des Könij>;sberg:er Philoso-
phen: ,,Obwohl Kant o:leichsani das g-anze Menschentum in die Frei-
heit gesetzt und politisch dem Sozialismus widerstrebt hat, so
stimmt er doch in philosophischer Hinsicht durch seine Staats-
und Besitzidee mit dem Sozialismus iiberein ... Individualismus
und Sozialismus treten sich nicht als Gegensätze gegenüber,
sondern werden mit einander versöhnt-' (40). Fichte sei ein er-
weiterter Kant, er stelle die Versöhnung von Anarchismus (er-
weitertem Individualismus) und Kollektivismus (erweitertem Sozialis-
mus) dar (41), während Lassalle die Dialektik mit der Idee der
ewigen Gerechtigkeit. Hegel-Marx mit Fichte verbinde (82). Doch
wir können auf das Kapitel über Fichte (44—57), sowie auf die Er-
örterungen über Hegel, Marx und Lassalle (58—82) ni,cht näher ein-
gehen und weisen zum Schluss nur auf die Schlussgedanken des
Verfassers hin. Nachdem er von Lassalle gesprochen, schliesst er:
so stimme der dialektische Sozialismus mit dem moralischen, der
deutsche mit dem französischen überein, und die Stunde sei nicht
mehr fern, wo ein einziger universaler Sozialismus alle Herzen,
Geister und Gewissen vereinigen werde. Wolle man also den
deutschen Sozialismus verstehen, so sei es nicht genug, ihn in der
„eigentümlichen und vorübergehenden Gestalt, den ihm Bebel und
die übrigen geben", zu erlassen, sondern seine sämtlichen Quellen
aufzusuchen: den christlichen Sozialismus eines Luther, den morali-
schen eines Fichte, den dialektischen eines Hegel und Marx. Der
Sozialismus ist nicht Sache einer kleinen Partei, sondern der Mensch-
heit, er ist sub specie humanitatis et aeternitatis zu betrachten (83).
Vier Jahre später hat sich dersell)e Jaures allgemeiner über die
..idealistische Geschichtsauffassung" überhaupt in einer Diskussion mit
Paul Lafargue (dem Schwiegersohn und strikten Anhänger von Marx),
die ,,im Quartier Latin in einer ötlentlielien. von der Gruppe
kollektivistischer Pariser Studenten einlterufenen X'ersammlung" ge-
halten wurde, ausgesprochen.^ Die materialistische Auffassung der
Geschichte, so entwickelt er hier, schliesst die idealistische nicht
h Abgedruckt in Neue Zeit XIU, 2, (1894/5j, S. 545-667.
Kantätndien IV. 26
;}c)4 Karl Vt)rläiul('r,
aus; eine Synthese heider ist ertonh-rlich. (ihiifrens sei dw Marx-
»ohi' historisehe Materialismus kciiieswi'^^s irh'ichltefh'Uteiul mit (h-m
physioloirisehcn und chcnso weni}; mit (h'm ethischen Materialis-
mus, der alle mensehlielie Thätifi-keit dem Zweeke unterordne. ,.die
physisehen Bedürfnisse zu betriedij,a'n und das individuelle W(dil /u
erstrehen- la. a. O. S. r)4:)f.). Nach der idealistisehen (Tescliiehts-
auffassunir trä-rt die Meusehhidt von vornherein die Keime einer Idei;
von Iveeht und (iereehtifjkeit in sich {'Ai'y), und diese Idee wird zur
treibenden Kraft des geschichtlichen Fortschritts, der {.'esellschaftlichi-n
UniirestaltuniT (547). Jaures scheinen beide AutVassungen keine un-
iiberwindlichen (Teg:ensätze. beide können und mlissen sich versöhnen,
„einander durchdriuiren" (ö.')]). denn das wirtschaftliche und das
moralische Leben sind von einander nicht zu trennen (554). Kant
speziell spielt in diesem \ortrag keine bedeutendere liolle, er wird nur
in der Keihe der neueren Philosophen (neben Descartes, Leilmitz.
Spinoza und Hegel) aufgeführt, deren Bestreben auf die Synthese der
fundamentalen Gegensätze Natur und Geist, Notwendigkeit und Frei-
heit geht (549). Dagegen steht Jaures dem oben geschilderten
Grundgedanken der transscendentalen Methode nicht fern, wenn er
dem Menschen „von Anfang an, sogar noch vor der ersten Äusserung
seines Gedankens, den Sinn der Einheit" zuschreibt (558) und
meint, der Mensch sei von Anfang an „ein metaphysisches Tier-' ge-
wesen, ..denn das Wesen der Metaphysik besteht ja in der Erforschung
der Einheit des Alls, welche alle Vorgänge und Erscheinungen, alle
Gesetze in sich begreift" (554).
5. Jaures' Dissertation scheint in den marxistischen Kreisen nicht
bekannt geworden zu sein. Die neue Kantbewegung, die sich inner-
halb dieser Kreise seit nicht viel mehr als zwei Jahren bemerkbar
gemacht hat, knüpft nicht an ihn an, sondern ist spontan entstanden.
Eine bessere Würdigung des kritischen Philosophen zeigte zuerst ein
an die bekannte Kantbiographie von M. Kronenberg anknüpfender
längerer Artikel von Conrad Schmidt (3. Beilage zum „Vorwärts-
vom 17. Oktober 1897).
Schmidt meint, dass „die Vereinigung von genialer Tiefe und
wissenschaftlicher Klarheit des Gedankenganges, die Kant aufweist,
von keinem der späteren Philosophen erreicht-' sei. „Da, wo diese
tiefer graben wollten, als es Kant gethan, verfielen sie meist einem
mystisch metaphysischen Gedankenspiele, das nur äusserlich die
Formen wissenschaftlicher Darlegung annahm." Er setzt sodann aus-
einander, \^1e dagegen Marx und Engels in Hegel, von dessen
Kant und der Sozialismus. 395
Ideen sie in ihren .Jn^iendjaliren aufs tiefste ergritfen worden waren,
auch später noch den höehstentwicivelten Repräsentanten des philo-
sophischen Denkens sahen. Gegenüber der tiefsinnig träumenden und
dichtenden Metapliysik Hegels sei es jetzt, wo der von Hegel
idealistisch-gewaltsam zurechtkonstruierte Entwicklungsgedanke über-
all in die besonderen Wissenschaften eingedrungen sei. an der Zeit,
zu einer wissenschaftlichen Philosophie zurückzukehren, „die
sich von solchen Schwärmereien fern hält und klar begrenzte
Probleme, die ausserhalb des Gebietes der speziellen Wissen-
schaften liegen, durch scharf eindringende, verstandesmässige Zer-
gliederung ZQ lösen sucht." Der grösste Vertreter dieser wissen-
schaftlichen oder kritischen Philosophie aber sei Immanuel Kant.
Die Bedeutung seiner Kritik liege nicht so sehr in der Zerstörung
der alten Metaphysik an sich, als in der eigentümlichen Weise, in
der sie deren Haltlosigkeit nachwies, indem sie diesen Nachweis auf
die tiefste Zergliederung der menschlichen Erkenntnis gründete. Bis
hierher ist alles gut. In den dann folgenden Erörterungen geht
Schmidt leider von dem glücklich gewonnenen methodischen Stand-
punkt wieder etwas zurück. Er sieht das Centrum und das „wahrhaft
Fruchtbare" der Kantischen Erkenntnistheorie nicht, wie wir ge-
wünscht hätten, in dem Nachweis der synthetischen Grundsätze als
Bedingungen der mathematischen Naturwissenschaft, sondern in
einer au Albert Lange erinnernden Weise, in der ,.genialen Unter-
suchung über die Zusammensetzung und das Zusammenspiel unserer
seelisch-geistigen Organisation, durch welche die Erscheinungswelt
zustande kommt", also in einer psychologischen Zergliederung^
deren hohen Wert auch für die ,.natürlich gegebene" materialistische
Auffassung er betont. Die Aufdeckung der Struktur unseres Vor-
stellungsvermögens sei die eigentliche, mit bewunderungswürdigstem
Scharfsinn in Angrit!" genommene Aufgabe der Kritik der reinen
Vernunft. Kant habe sie zwar nicht ,,endgUltig" gelöst, aber jeder
Versuch tieferen Kindringens in diesen „geheimnisvollen Schacht"
müsse durch Kant hindurcii, mit ihm abrechnen. ..Ohne solche Ab-
rechnung kein Fortschritt in der Erkenntnistheorie, die mit der
Logik zusammen den eigentlichen Gegenstand wissenschaftlicher
Philosophie bildet".
Während Schmidt so auf erkenntnistheoretischera Gebiete
erfreulicherweise mit einem ,, Zurück auf KantI" endigt, erscheint
ihm dagegen Kants Morali)hilosophie als ein ,, ungeheuerlicher \'er-
such, ein rein logisches \ erhältuis zum Prinzip des Sittlichen zu
•_'6*
391) Kiirl \i)rl:iii(li'r,
machen." «las „ilaiiiif. wie er mit so vielen anderen meint. ..\on
jeder Klii-ksieiit aul das Kuhlen. Hej^reliren und die icalcn Zwecke
des Lehens losfrelöst wäre.'* Kr hat noch nicht erkannt, dass auch
die Kthik. wenn anders sie Anspruch auf den Charakter einer Wissen-
schaft erheitt. der strenjrsten erkenntniskritischen He^^rllndun^^ hedarf.
und dass p-rade ihr ..Kormalismus" sie /u der fruchtl)arstcn An-
wendung:" aut ..da^ i'iUden, Hcirehreu und die realen Zwecke des
Lehens" hefiihi^t.'l
Wejren dieses und eines anderen (ircii'en ein liucli i'leclianows)
jrerichteten Artikels hat C. Schmidt lin Jahr später von
G. Plechauow einen heftisren AiifjritT erfahren,^) worauf er seinerseits
in derselben Zeitschrift erwidert hat. Da indessen die Leser der
..Kantstudien" durch Staudintrers Aufsatz im vorijren Hefte üher fliesen
istreit, der sieh wesentlich in eine Polemik über das Kantische „Dinp;
an sich" zuspitzte, unterrichtet sind, so können wir von einer Uar-
stellung: desselben absehen, zumal da er für die inneren Beziehungen
zwischen Kantiauismus und Sozialismus kaum von Bedeutung ist.
Im folgenden nur ein Zeugnis dafür, in welchem Grade Plechanow
von Vorurteilen gegenüber Kant befangen ist. Zu einer Zeit, in der
bedeutende Kantianer sich dem Sozialismus, bedeutende theoretische
Vorkämpfer des Sozialismus sich Kantischen Anschauungen nähern, er-
blickt er in dem kritischen Idealisten den Philosophen derBourgeoisie!
Die Bourgeoisie hotl'e, ..in Kants Philosophie das Opium zu finden,
durch das sie das Proletariat einschläfern möchte, das immer begehr-
licher und unlenksamer wird." (!) ,,Der Neokantianismus ist für die
herrschende Klasse gerade deswegen in die Mode gekommen, weil
er ihr eine geistige Waffe im Kampf ums Dasein liefert*' (a. a. 0.
S. 145). Als ob das. was Plechanow unter ,, Bourgeoisie" versteht,
sich um Kantische Pliilosophie auch nur im mindesten kümmerte!
Mit Recht hat sich C. Schmidt in seiner Replik (a. a. 0. S. 333)
über die Fiktion der in — ..Fonds und Kantischer JMiilosojjhie
spekulierenden" Bourgeois lustig gemacht.^) Der wahre Grund von
Plechanows Vorgehen enthüllt sich als ein parteipolitischer. ..Das
1) Den zum Schluss erfolgenden Hinweis Conrad Schmidts auf Kants „Ver-
such, die negativen Grössen in die Weltweisheit einzuführen" als Vorläufer
der Marxschen Dialektik, auf den wir hier nicht eingehen können, möchten
wir der Beachtung der Kantfreunde empfehlen.
2) „Conrad Schmidt gegen Karl Marx und Friedrich Engels", Neue Zeit
XVn, 1, S. 133—145
3) Vgl. auch Woltmann, Der historische Materialismus S. 310 Anm.
I
Kant und der Somlismus. 397
Zurückjrelien auf Kant, das sich manche Genossen angeleg:en sein
Hessen, ist ein schlimmes Zeichen"; denn „es ist ein Ausdruck Jenes
opportunistischen Geistes, der leider in unseren Reihen ji;rosse
Fortschritte macht" (8. 145).
(]. In dem nächsten Satze nennt Plechanow denjenigen, den er
hierbei v(»n allen im Auge hat: Eduard Bernstein. In der That
„verdient", wie wir mit Plechanow sagen, „der Umstand die Auf-
merksamkeit aller, denen die Sache des Sozialismus am Herzen
liegt", dass gerade Bernstein, der langjährige Schüler von Marx und
Freund von Engels, einer der erprobtesten theoretischen Vorkämpfer
des marxistischen Sozialismus, ..eine Schwäche für den Neokautismus
empfunden hat."
Xn der Stelle, wo er dem Sozialismus zuerst das ..Zurück
auf Kant!'- zugerufen hat (Neue Zeit XVI, 2, S. 22(\), führt Bern-
stein die „unmittelbare Anregung-' zu seiner Aeusserung auf den so-
eben besprochenen Vorwärts-Artikel von Conrad Schmidt zurück.
Der innere Grund zu seiner viel besprochenen theoretischen Wendung
konnte natürlich nicht in einem einzelnen Artikel liegen, sondern
müss tiefer gesucht werden. So spricht denn auch Bernstein selbst
in einem Briefe an mich von ..einer ganzen Reihe von Einflüssen'',
die ihn „nach und nach dem Kanfianismus zuführten." Als solche
bezeichnet er in erster Linie das Studium Albert Langes, zu dem
er durch Ellissens vortreffliche Biographie besonders angeregt
worden sei; später habe dann der bedeutsame Aufsatz H. Cohens
in dem „kritischen Nachtrag" (s. 0.) entscheidend mitgewirkt.
Die ersten Keime einer dem Neukantianismus gerechter werdenden
Auffassung sieht man in der That bereits in dem zweiten der drei
schon zu Anfang 1892 in der Neiieti Zeit (X, 2) veröffentlichten
Artikel ..Zur Würdigung Friedrich Albert Langes", die im Anschluss
an die kurz vorher erschienene Langebiographie Ellissens geschrieben
Würden. Er gesteht dort (S. 102) wenigstens der neukantischen
Bewegung ..ihre gewisse Berechtigung-- als „Reaktion gegen den
flachen naturwissenschaftlichen Materialismus der Mitte dieses .lahr-
hunderts einerseits und die Auswüchse der spekulativen Philosophie
andererseits" zu. Aber diese Keime werden doch noch stark über-
wuchert von der Engels'schen Stellungnahme gegenüber Kant, der
er sich ausdrücklich anschliesst (S. 103 f. vgl. oben S. :]9()).
Ganz anders sechs Jahre später in dem Artikel: „Das realistische
and das ideologische Moment im Sozialismus- (X\I, 2. S. 225 ff.).
Hier bekennt er offen, dass seines Erachtens ,.das .Zurück
30S
Karl Nnrliindor,
Ulli' Kauf l>is / II fincm ^rwissrn Cradr am-li llir dir
Thci.iif (U's So/ialiMiiiis v.u •reiten lialn" (S. J^^'t Aiini.).
Kant, tier transseoiuleiitalc Idealist, sei ..l'aktiseli ein srlir \iel
streiiirerer Ki-alisf • p-NNescii. als „sehr \iil»' r.ikciiin'r des sofrenannteii
uaturwissensehat'llielicii Materialisimis". Kr halte (l.-ii nejriitV des
jenseits unseres l"j Ucnntnisvermitjxens liefrenden „Din^'es an sieh"
nieht aufjrehrae h t. sondern iteg:ren/,t. 1'. weist an Heis|)ieleu
naeh. dass nciurr ..Mati'rialisten'' sieh crkeniitnistheoretisch
auf den Boden Kants stellen, ebenso wie dies „die meisten der
•rrösseren modernen Naturforscher üethan haben'' (227). Dass der
Sozialismus als Lidin- u rsjirün «rlich reine hleolo^^ic war, bestreite
niemand (22S|, auch das System des hist(trisehen Materialismus
wirtschafte mit „idealen Mächten" als Triebkräften der sozialistischen
liewe^ninj:- (22*)). Schon das Interesse, das der marxistische Sozia-
lismus voraussetze, sei ..von vornherein mit einem sozialen oder
ethischen Element versehen und insoweit nicht nur ein intelligentes,
sondern auch ein moralisches Interesse, so dass ihm auch Idealität
im moralischen Sinne innewohnt- (280). l!nd ebenso seien die
..proletarischen Ideen" über Staat, Gesellschait, Ökonomie und Ge-
schichte ,.note:edrung-en ideologisch gefärbt'' {2'M\.
Um „das realistische wie das idealistische Element in der
sozialistischen Bewes:ung: gleichmässig- zu stärken" (Vorwort S. X),
schrieb dann Bernstein zu Anfang- 1899 seine vielg;enannte, Aufsehen
erregende Schrift: „Die Voraussetzungen des Sozialismus und
die Aufgaben der Sozialdemokratie" (Stuttgart, Dietz Nachf. 1899,
X. und 188 S.). Nur mit ihrem philosophischen Teile und auch mit
diesem nur. soweit er auf Kant oder die kritische Methode Bezug hat,
haben wir uns hier zu beschäftigen. Und da ist allerdings unsere Aus-
beute geringer, als man nach dem im vorigen Absätze angezogenen Ar-
tikel erwarten durfte. Erst das „Schlusskapitel" (S. 168—188) führt uns
zu dem Begründer des Kritizismus zurück. Es trägt das Motto:
,,Kant wider Caut'', erläutert dasselbe aber eigentlich erst auf der
vorletzten Seite (187) bestimmter. Bernstein ist überzeugt, „dass der
Sozialdemokratie ein Kaut not thut, der einmal mit der über-
kommenen Lehrmeinung mit voller Schärfe kritisch-sichtend ins
Gericht geht, der aufzeigt, w^o ihr scheinbarer Materialismus die
höchste und darum am leichtesten irreführende Ideologie ist, dass
die Verachtung des Ideals, die Erhebung der materiellen P^aktoren
zu den omnipotenten Mächten der Entwicklung Selbsttäuschung ist,
die von denen, die sie verkünden, durch die That bei jeder Gelegen-
Kant und der Sozialismus. 399
heit selbst als solche aufjredeckt ward und wird." Gewiss erfüllt es
uns mit lebhafter Befriedi^'un^'-, wenn ein Mann g:erade von der theo-
retischen Vergano:enheit Bernsteins, unter ausdrücklicher Berufung:
auf Kant, in markigen Worten die Notwendifjrkcit des Ideals und
der Kritik Ix'tont: wie wir denn überhaupt der ethischen Grund-
tendenz seiner Schrift, der bewussten Anerkennung des sittlichen
Fundaments, die sich auch an anderen Stellen (namentlich S. i:]Of. 1
ausspricht, und vielen Einzelgedanken unsere volle Anerkennung"
/.(dien. Wir halten diesen Fortschritt an sich für ausserordentlich
wertvoll. Was ihm dagegen noch fehlt, ist die bewusste Erfassung
derjenigen Methode, mit welcher der kritische Philosoph seine Ethik
rrkenntniskritisch begründet hat.
In dieser Hinsicht muss schon das, was imn /.um Schlüsse der
Schrift folgt, uns etwas stutzig machen: dass nämlich Bernstein sein
..Zurück auf Kant!" am liebsten in ein „Zurück auf Lange!" ver-
wandeln möchte. So gut sich diese Änderung der Parole vom
politischen und persönlichen Standpunkt aus rechtfertigen lässt
— denn, im Gegensatze zu Kant hat Lange in der Zeit der soziali-
stischen Bewegung und für sie gelebt und gestritten — , und so er-
freulich auch der darin ausgesprochene Anschluss Bernsteins an
den sozialen Idealismus uns erscheint: so zeigt sich doch gerade in
ihr, dass die methodische Begründung dieses sozialen Idealisnms,
wie sie von dem heutigen Neukantianismus unseres Erachtens in
glücklichster Weise vertreten wird, ihm noch ferne liegt.
Und so finden wir denn auch in dem ersten, grundlegenden
Abschnitt seiner Schrift Sätze, die wir vom methodischen Standpunkte
aus bekämpfen müssen: „Materialist sein, heisst zunächst die Not-
wendigkeit alles Geschehens behaupten" (S. 4, gleich daraufrichtiger:
kein Geschehen ohne materielle Ursache annehmen), was dann
auch (S. 5) auf den historischen Materialismus übertragen wird.
..Der Geschichte ehernes Muss" soll durch die ..ethischen Faktoren",
die heute einen „grösseren Spielraum selbständiger Bethätigung als
vordenv erhalten haben, eine ,,Einschränkung" erfahren. Dahin
gehört auch Bernsteins S. 9 offen ausgesprochene Neigung zum
Eklektizismus entgegen dem ..doktrinären Drang, alles aus Einem
herzuleiten und nach einer und derselben Methode zu behandeln",
während er doch andererseits (S. 9 f. Anm.) richtig erkannt hat, dass
ohne „das Streben nach einheitlicher Erfassung der Dinge" ..kein
wissenschaftliches Denken möglich" ist. Wir können nicht umhin.
Kautsky Hecht zu geben, wenn er dem gegenüber betont, dass
400
Karl Vdiläiiilt'r,
„auch idcalistiscilo l'lülosophon die NotAVcndijikcit alles (IcscIicIhmis.
d. h. dif (icltunir dos Kausalitätsp'sot/.cs Air alle Thatsaclicn imsiTcr
KrfahruMi: Ix-haiiptcn- (N.'iic Zeit XVll, _'. S. C) — so Kant und
allr Kantianer ^, und dass Wissensehalt elien in der ..Kikeimlnis
der not weiuÜL'en i^eset/iniissip'n Zusannnenliiinjre der Krsclieinunf^en"
(S. 7) bestellt. Hernstein hat denn auch in seiner Krwideruni; auf
Kautsk.vs Artikel (Neue Zeit XVII, l>, S. 2c'() H".) die relative Be-
reehtiiTUiii: dieses Kinwandes zuirejjehen : er liahe den 'Von nieht
entschieden jrcnuj: auf ..Materie-' }i:eleg:t und bekämpfe nur die .,un-
hedinirte itiivsisehe Notwendijrkeit alles Geschehens,'* Ahiüich er-
klärt er in einem Staudinjrer erwidernden Artikel der ..Kllikclini
Kulfto- (ISl)i), No. 23), dass er mit den von uns beanstandeten
Sätzen nicht das Kausalgesetz, sondern nur die ,,Bestimmunf;-smaclit
des technisch-ökonomischen Faktors" habe einschränken wollen.
Am ausfuhrlichsten hat sich Hernstein Über die alte Frage von
Notwendigkeit und Freiheit noch einmal in einem gegen einen
Pseudonymen Kritiker gerichteten Aufsatze der Neuen Zeit (XVil, 2,
845 Ö".) geäussert. Wir müssen uns hier begnligen, die Quintessenz
seiner Ausführungen und ihr Verhältnis zur kritischen Methode kurz
zu kennzeichnen. Bernstein hat die richtige Empfindung, dass dem
Marxismus die bewusste und methodische Berücksichtigung des
ethischen Momentes fehlt. In dem Bestreben, diesem letzteren zu
seinem Hechte zu verhelfen, schlägt er nun aber nicht den von den
Neukantianern bezeichneten Weg ein, die einen durchgehenden ge-
setzlichen Zusammenhang von den untersten Grundlagen bis zu der
obersten Spitze des sozialen Lebens herstellen und deshalb die
materialistische Geschichtsauffassung nicht eigentlich bekämpft, sondern
durch Hinzufügung des Zweckgedankens (der Idee) ergänzt
wissen wollen;^) sondern er möchte gern die „ethischen Faktoren",
deren Macht wir sicher nicht bestreiten, sondern gerade verstärken
wollen, als ..selbständig wirkend" bereits an einer Stelle, an die sie
nach der Kantischen Grundregel reinlicher Scheidung noch nicht
gehören, nämlich in die kausal bestimmte Erfahrung hineintragen und
scheint dadurch mindestens, wenn er es auch in seinen neuesten
Äusserungen nicht Wort haben will, die ausschliessliche Geltung des
Kausalitätsprinzips auf dem Gebiete der (sozialen) Erfahrung auf-
heben oder doch einschränken zu wollen. Dass es manche Dinge auf
Erden giebt, die sich noch nicht haben restlos erklären lassen, und
1) Vgl. oben S. 373 f. (Stammler), S. 378 (Natorp), S. 881, 383 (Staudinger)
Kant und der Sozialismus. 401
hei denen dies (wie wir ihm für die Thatsache unserer Hewusstheit
zugehen) auch aller \'oraussieht nach nie der Fall sein wird, mindert
unseres Erachtens nicht im jjeringrsten die ausschliessliche Geltung des
Gesetzes von Ursache und Wirkung' auf dem gesamten Gebiete der
Erfahrungs Wissenschaft. Der „Gedanke des kausalen Zusammen-
hangs der Weltvorgänge'' ist nicht bloss ein „als Leitfaden für die
wissenschaftliche Forschung unbestritten wichtiger' Gedanke (a. a. O.
S. S48), sondern deren notwendige Voraussetzung. Ob wir da-
bei alle Zwischenglieder der kausalen Kette bereits gefunden haben
oder nicht, macht prinzipiell nichts aus; sie zu finden, ist eben die
unendliche Aufgabe der Wissenschaft.
Auch ist mit einer solchen Annahme unbedingter kausaler Not-
wendigkeit im Reiche der Erfahrung durchaus nicht, wie Bernstein
(8. 848 f.) zu glauben scheint, der erkenntniskritischen Selbständig-
keit (Spontaneität) des Hewusstseins präjudiziert. (iewiss sind wir
Menschen nicht blosse „mit Bewusstsein begabte Automaten", sondern be-
sitzen „Autonomie des Denkens und damit auch des Handelns" (849).
Das verallgemeinern wir Kantianer sogar dahin, dass wir die ganze
,,Erfalirung" als aus unserem Bewusstsein erzeugt ansehen. Diese
Copernicusthat Kants ist der Grundkern alles Idealismus. Aber so-
bald unsere Handlungen in die Ers.cheinung treten, verfallen sie un-
entrinnbar dem „ehernen" Gesetze von Ursache und Wirkung. Und
Kant hat es ausdrücklich für einen , .elenden Behelf' erklärt, die
transscendentale Freiheit darin zu sehen, dass Bestimmungsgründe
unseres Handelns „innere, durch unsere eigenen Kräfte hervor-
gebrachte" Vorstellungen oder Begierden sind. Das sei allenfalls
eine psychologische ,,Freiheit", wenn anders man dieses Wort „von
einer bloss inneren Verkettung der Vorstellungen brauchen*' wolle,
die gleichwohl den Gesetzen der Naturnotwendigkeit unterliege, nicht
anders als „die Freiheit eines Bratenwenders" oder einer Uhr, die,
wenn sie einmal aufgezogen, von selbst ihre Bew^egungen verrichten
(Kr. d. prakt. Vern. Kehrbach S. lltJ — 118). Nur, wenn wir von
den Zeitbedingungen unserer Handlungen völlig absehen, sie da-
gegen der moralischen Beurteilung unterziehen, künuen wir im
wahren Sinne von Freiheit reden.
Nicht das also bekämpfen wir vom Kantisclien Standpunkte
aus an Bernstein, dass er die ,, ideologischen" Elemente des Sozialis-
mus kräftiger hervorhebt — das halten wir im (iegenteil für einen
hocherfreulichen Fortschritt — sondern wir vermissen nur die
methodischen Grundlagen seines „Idealismus". Das Verhältnis von
|(i'J K;n-| \iirliiiiilfr,
Naturcrkonnon und Zwccksct/.unir. Krialiiiin-rsfrcsct/. und Idee ist
von iliiu noch iiiclit im Sinne des kritischen Philosophen erfasst.
Hernstein hat >icli in seinem ersten Kant-Artikel mit lohenswertcr
Koscheid-'idieit als „Laien auf dem (Jehiete der Krkeinitiustheorie''
bekannt. Piei so sellistkritischem Sinne und einer s(dchen Fiihiir-
keit. sich in ein ihm ursprünglich l'remth's (Jeldot ein/,uarl>eiten. wie
sie der in der lU'schäl'tiuunj: mit sozialwirtsehaftlichen und p(ditis('hcn
l'n)l)lemen (irossgewordene in seinen phihtsophischen Krörteruiifr«'!»
bewiesen liat. ist zu iiotVen, dass er l)ei weiterem Studium und
tieferem Kiiidriniren in den Kantiani>nius auch dessen erkenntuis-
kritischer Methode sich mehr und mehr hemächtifren wird.
7. nie \n)n Hernstein an den theoretischen Grundlaji'en des
Parteipro^-ramms jreübte Kritik hat. wie man auch sonst Über sie
denken man-, jedenfalls die erfreuliche Fo\^e gehabt, dass die Dis-
kussion darüber nun auch i unerhalb der Sozialdemokratie energisch
in Fluss gekommen ist. Die nationaliikonomische uiui politische Seite der-
selben, die zu der berühmten fünftägigen Debatte in Hannover geführt hat,
geht uns hiernichtsan, sondern nurderaufdie philosophischen Grund-
lagen des Sozialismus bezügliche Teil. Dass es sich hierbei wirklich um
eine Krise für den Marxismus handelt, dass ein Teil der jüngeren Mar-
xisten offen zu Kant neigt, hat nach einer Mitteilung Masarvks (a. a. 0.
S. 590) Kautsky selbst zugestanden. Auch in den Spalten des
•wissenschaftlichen Organs der Sozialdemokratie, der Seuen Zeit,
tritt dieser Umschwung der Dinge deutlich hervor'). So still wie
diese Zeitschrift bis vor zwei oder drei Jahren von Kant gewesen
war (vgl. oben S. 890). so hallt sie seitdem, namentlich in den
zwei Bänden ihres letzten Jahrganges (I.Oktober 189.S — 1899) wider
von Kant und dem Kritizismus. Mehring hat seine häufig auf Kant
Bezug nehmenden ..Ästhetischen Streifzüge" veröffentlicht, die noch
vor Kurzem zu einem polemischen Nachspiel mit Woltmann über
eine Kantfrage geführt haben. Plechanow und Conrad Schmidt
haben in einer Reihe von Artikeln, über die Standinger im vorigen
*) Auch in den „Sozialistischen Monatsheften", einem „freien Dis-
kussionsorgan für alle Anschauungen auf dem Boden des Sozialismus", wenn-
gleich in geringerem Massstab. Zu den von Staudinger (Kantstudien IV S. 167)
zitierten Artikeln ist noch nachzutragen ein solcher von Alexis Nedow
(Plechanow versus Ding an sich, Märzheft 1899, S. 104 — 112. der im .Vüschluls
an ein Motto aus H. Cohen in geschickter Weise den Neukantianismus vertritt,
am Schluss freiUch eine Synthese von Kant und Hegel wünscht. Für die
nächsten Hefte hat Nedow einen Aufsatz über „Kant und Hegel in der bisherigen
Parteilitteratur" in Aussicht gestellt.
Kant und der Sozialismus. 403
Hefte der Kautsiudien berichtet hat, ihre Fehde über das Kantisehe
„Ding an sich" ausgefochten. und Hernstein hat seine philosophischen
Anschauungen gegen einen stark vom Neukantianismus berührten
Marxisten, der sich unter dem Pseudonym Sadi Gunter verbirgt,
verteidigt. Nur diesem letzteren hal)eu wir noch einige Worte zu
widmen.
Gunter hatte bereits ein Jahr vorher in einem „Die mate-
rialistische Geschichtsauffassung und der praktische
Idealismus'' betitelten Aufsatz (Neue Zeit XVI, 2, S. 452 tf.) den
historischen Materialismus gegen Stammler zu verteidigen unter-
nommen. Er hatte darin Kant und den Neukantianern (Cohen,
Natorp. Stannnler) „Versteifung- auf ihre ,,Begrirt'sanatomie" vor-
geworfen. Hier müsse „Hegel als korrigierende Instanz hinzutreten
und zeigen, dass die Ergebnisse anatomischer Analyse nicht in un-
verrückbarer Starrheit auf den physiologischen Lebensprozess über-
tragen werden dürfen.- Er empfahl aus diesem Grunde den histori-
schen Materialisnms als ..gewissermassen die Synthese der Kant-
Hegelschen Philosophie in Bezug auf thatsächliche Erfahrung'' (S. 4.55).
Seine dortige Bekämpfung der Stamnilerschen Scheidung von Kausa-
lität und Telos rührte von dem ^lissverständnis her, als wolle
Stammler zwei verschiedene Kausalitäten schatfen, eine „mit kausaler
Gebundenheit ganz unvereinbare Willensfreiheit" einfuhren (456).
Dem gegenüber meint Gunter die, in Wahrheit von Stammler nicht
bestrittene, Einheitlichkeit des kausalen Zusammenhanges im histo-
rischen Materialismus betonen zu müssen. Dass er den letzteren
nicht dogmatisch, sondern, im Anschluss übrigens an Marxscbe
Worte, als blossen „Leitfaden'' für die ,, Studien'' oder, mit einem
Kantischen Ausdruck, als ..heuristisches Prinzip" auffasst (4(50), ist
sehr anerkennenswert. Mit solchem historischen Materialismus ist
allerdings ein ..praktischer Idealismus" wohl vereinbar, der im An-
schluss an die Formulierung des Erfurter Programms, die ,.allseitige
harmonische Vervollkommnung" als zu erstrebendes Endziel auf-
stellt.
In seinem zweiten, gegen Bernstein gerichteten Artikel ,,Bern-
stein und die Wissenschaft (Neue Zeit X\ H, 2, 044 — 653)
scheint Gunter noch mehr von den Neukantianern gelernt zu haben.
Zwar geht er wieder vom Marxismus aus, zwar wendet er sich auch
einmal in ziemlich unvermittelt schrotfer Weise gegen Kants ..intelli-
gibele Welt'' als eine „Flucht ins Mysterium" (()48) und gegen
seinen ..mysteriösen" Freiheitsbegriti* (649); allein, wenn er sich auch
IC
K M il \'o il ämi (' r
auf (ion Nt'uknntianisimis nicht ausdiilcklioh iKM-nll'). so /.ci-it er sicli
»Idi'li sachlich VOM der Methode der Cohen, Nator)), Staiiinih'r und
Staudiiiirer stark hi-einllusst. W ie diese, drinj,''t auch er aul' ,.1'au-
heitlii'ldvcil und (;eschh)ssenheit" der .Methode ((ȊO), wenn :uich die
W enduujr. ..das innere Wesen unseres Daseins" (I| lief;-e „in dem
DrauL" nach Kinheitlichkeit hej::rilndet" ((».")*_*). uns als .Motiv zu um-
liestinunt subjektiv erscheint. Kr zeiirt indes jileich daraiil', dass
dieselbe in Wirklichkeit ol)jektiv gemeint ist. Auf Kinheitlichkeit im
Denken. (1. h. ..lieseitijjunjr der uns (|uälenden (iedankiMnvidersprllche"
g:eht die Wissenschaft aus, auf Beseitificunfr der Widers|)rüche im
eiirenen Handeln die Kthik. auf die Heseiti^unj,^ der Widersprüche
in den gesellschaftlichen Kinrichtun^^en die Sozialpolitik (Kthik
im weitesten Sinne). ..Die ganze sozialistische Bewegung ist
nichts anderes als ein Ausdruck des Einheitsstrebens in
letztgenannter Hinsicht" Hy')2). Dass der Marxismus die Gesetz-
lichkeit dieses (ethischen) Einheitsstrebens noch zu erforschen hal)e.
gesteht der Verfasser sogar oti'en zu (ebenda).
Einen solchen ..Marxisten" kann sich der Neukantianer schon
gefallen lassen. Er arbeitet, nur von der anderen Seite des Berges,
demselben Ziele zu. Und das ist in diesem Falle um so bemerkens-
werter, als der Artikel gewissermassen unter oftizieller Approbation
der Neue-Zeit-Redaktion erschienen ist (vgl. die einleitenden Sätze
des Verfassers S. 644).
S. Am offensten von allen ausgesprochenen Sozialisten bekennt
sich zu Kant ein erst in den letzten Jahren hervorgetretener jüngerer
Schriftsteller, der Dr. med. et. phil. Ludwig Woltmann, der bereits
in seiner, im ersten Bande der Kantstudien (S. 438 f.) von ihm
selbst angezeigten, philosophischen Doktordissersation seine Beein-
flossung durch Kant in seiner Unterscheidung von „kritischer"
und ..genetischer" Methode bewies und seitdem in drei grösseren
Schriften''*) seinen Standpunkt, eine eigenartige Synthese von Kant,
1) Erst am Schlüsse folgt eine Anspielung auf einige Artikel der Ethischen
Kultiu-, die teils von Staudinger teils von mir herrühren.
*) L. Woltmann, System des moralischen Bewusstseins, mit be-
sonderer Darlegung des Verhältnisses der kritischen Philosophie zu Darwinis-
mus imd Sozialismus, XU und 391 S., 1898. — Ders., Die Darwinsehe
Theorie und der Sozialismus, ein Beitrag zur Natiu-geschichtc der mensch-
liehen Gesellschaft, VIII und 397 S. 1899. — Ders., Der historische
Materialismus, Darstelhmg und Kritik der marxistischen Weltanschauung IX
und 430 S. 1900. Alle drei im Verlage von II. Michels. Düsseldorf.
i
Kant und der Sozialismus. 405
Marx und Darwin, vertreten hat. von denen der letztere für unsere
Betrachtung ausscheidet.
Bereits, ehe er oflen zum Parteisozialismus übertrat, hat Wolt-
maini in seinem ..System des moralischen Bewusstseins''') eine, unseres
Trachtens allerdinjrs noch nicht ^anz aus<?ereifte und allseitijr durch-
jretuhrte, ..Darstellung des \erhältnisses der kritischen Philosophie
zu ..Darwinismus und Sozialismus" versucht. Uanz im Sinne unserer
Aulfassung weist er dort nach, dass der vielgeschmähte Formalismus der
Kantischen Kthik doch nur in ihrer vernunftgemässen Begründung be-
steht, die nicht eher ruht, als bis sie die ..grösstmögliche Einheit der
Prinzipien*' erreicht hat. Die Kantischen Termini, „eigene Vollkommen-
heit" und „fremde Glückseligkeit" werden dann auf die Ethik des
Sozialismus angewandt, als diejenigen Zwecke, die zugleich Pilichten
sind. Die Förderung eigener \ollkommenheit nmss Jedes Menschen ur-
eigenstes Werk sein. Dagegen ist die Beförderung fremden Glückes
eine notwendige Forderung sozialer Gerechtigkeit; die materielle
(irundlage. auf der das ^■ollkomn)enheitsstreben überhaupt erst be-
ginnen kann, „den Amboss gleichsam, auf dem jeder nach eigenem
Talent sein Glück schmieden mag-', ist ..die Gesellschaft und der
einzelne innerhalb derselben zu schatten verpflichtet-'. So wird ihm
..die Kantische Moralbegründung" zum „erhabensten und allein mög-
lichen Ausdruck sozialer Gerechtigkeit^' (S. 49 1.
Man habe innerhalb des Sozialismus zu oft vergessen, .,dass die
soziale ebenso sehr eine individuelle, und dass die ökonomische
Frage ebenso sehr eine sittliche Frage bedeutet" (2(iO). ,.Die
einzige Möglichkeit-', fährt der Verfasser in etwas jugendlich- über-
schwänglichem Ausdruck fort, „den Sozialismus vor geistiger Er-
starrung zu bewahren, besteht darin, die Ideen des wirtschaftlichen
Kollektivismus und Materialismus mit den Prinzipien der kritischen
Moralphilosophie und den höchsten Gedanken Piatons, Jesu und
Kants innerlich zu einer ethischen Ökonomie zu verbinden-' CiHl).
Der Inhalt der ..evolutionistischen und sozialistischen" Ethik, die
Woltmanii erstrebt, muss sich in seiner erkenntnistheoretischen Grund-
legung ..unbedingt der kritischen Ethik unterordnen" (277). Des-
halb ist ihm ..Kants Moralphiloso j)hie eine Ethik des Sozialismus"
i'MiV). und der letztere ..die sozialökonomische Erfüllung des mora-
lischen Gesetzes" (314).
Das neue Buch Woltmanns hat vor diesem, allzuviel in seinen
1) Näheres darüher in meinem Aufsatz: ..Eine Kth\k der Gegenwart" in
No. 23 und 24 der Ethischen Kultur (1898).
406 '"^i'rl Nor Hin der,
lialinu'ii fasstMi woIUmkUmi, ersten den \ Or/.ii^", class os sielt ;ml' ein
liestimnites (lehiet einsoluiinkt, dieses alter eiii;i-ehen(ler ins Aiij:»-
fasst: den historisehen Materialisinns. Seine ..aktuelle" iirdciitnnir
lieirt darin, dass sieh hier ein ausii'esjtroehener Sozialist ;j,an/. (ill'eii
auf Kants Seite stellt und die Marxisten v.u kritiseher Selhstltesinnunir
mahnt. „Mein Hueh steht unter dem Zeichen der Kilekkehr zu
Kauf (\(ir\\(irt S. \ ). In der Kantisehen l'hilosophic ,.lie;:en die
loirischon Mittel, um eine s\ stc^matisehe Kritik des Marxismus
herl)eizutuhren" i _*()).
Zwar halten wii- u'euen des \'erfassers ,,Kantianismus*' an
maneheii Stellen Kiinviiiide zu erheben, Faiien Widers|)riieli zu
Woltmanns Kantisehem Bekenntnis linden wir insltesondere darin,
dass er in Fichtes Ahleitunü: alles Seins aus dem „Ich de?ike'' einen
" TT
,. Fortschritt über die Kritik der reinen Vernunft hinaus'' (104) er-
blickt, wie er denn überhaupt die „einseitifjen" Kantianer auf (li<'
— von diesen an und liir sich wohl kaum bestrittenen — „ent-
wickluniTsfähiffen Elemente" in den nachkantischen Systemen hin-
«-CT' I
weisen möchte (^'o^wo^t S. I\'). Andererseits ist er selbst zu einem
konsequenten Idealismus doch nicht durchii'edrunfren, insofern er
zwischen einer begrifllichen und der „wirklichen" Erfahrunji- unter-
scheidet, deren ,, wirklichen" Prozess „alle wissenschaftliche syste-
matische Darstellung;" imr .,W'iederspiegele'' ( IST). Wo anders
existiert denn „wirkliche*" Erfahrung; als in der Wissenschaft V So
gewinnt denn auch die von Marx und Engels aus Feuerbach
entnommene „Theorie des Spieg;elbildes" für ihn eine mehr bei einem
Marxisten als bei einem Kantianer begreifliche besondere Bedeutung;
(S. 285 — 294). Kants Verwandtschaft mit Plato erscheint uns weit
bedeutsamer als die nur äusserliche mit Aristoteles (S. 36, 43, 187);
and so noch manches Andere.
Dennoch hat Woltmann erfasst, was uns an Kant die Haupt-
sache dünkt: die erkenntniskritische Methode. Gegenüber dem
..Walle von Vorurteilen und Missverständnissen", der Itisher einer
..sogenannten natürlichen Weltanschauung" das Verständnis des
kritischen Problems erschwert hat, will Woltmann den Unterschied
von kritischer und entwicklungsgeschichtlicher, logischer und psycho-
logischer Methode zeigen und nachw'eisen, dass die Erkenntnistheorie
eine notwendige Voraussetzung aller Entwicklungslehre ist (44),
welche letztere übrigens gerade Kant durch seine geschichtsphilo-
sophischen Aufsätze nicht wenig gefördert hat '45). Seine kurze
Analvse der Kritik der reinen Vernunft (49 — 61) ist namentlich Nicht-
Kant und der Suzialismus, 407
kennerii der Kantischen Philosophie, deren sieh unter Woltmanus
Lesern woiil noch viele finden werden, recht zu empfehlen. Als
Kants Ziel bezeichnet er mit Recht ..die Ne übe grün düng der
rationalen Wissenschaft" (50), wol)ei wir nur das ,,rati(inale'' als
übertiiissig und möglicherweise irreführend, streichen möchten. Natur
ist für Kant = mathematisch -physikalische Naturwissenschaft (61).
Seine Erkenntniskritik geht vom fertigen, entwickelten Bewusstsein
aus (öO). Das centrale Problem der Kantischen Philosophie ist die
.,transscendentale Deduktion" der Möglichkeit der Erfahrung (5(S).
Das „Ding an sich'' wird richtig als „kritischer Grenzbeg ritt-' formuliert
(59, vgl. :}ü7), das a priori in seinem v.ahren, nicht-zeitlichen
Sinne dargestellt (S. 277 ff.). Das notwendige Endziel der Vernunft
ist die ,, unbedingte Einheit aller P^fahrung'' (60).
Auch die erkenntniskritische Begründung der Ethik wird hier
noch präziser als in dem ersten Buche durchgeführt. Nicht auf die
Entstehung der moralischen Begriffe, sondern auf die Feststellung
und Begründung ihrer Allgemeingültigkeit kommt es an (64), so
ruft er gegenüber den „ewigen trivialen Einwendungen der Moral-
historiker aus der Darwinschen und Marxschen Schule" aus, die
„so wenig methodische Selbstbesinnung haben, dass sie eine Sache
untersuchen wollen, über deren Begriff sie sich vorher nicht klar
geworden sind" (66 f.). Der teleologische Gesichtspunkt erweitert
die physikalische zu einer moralischen Weltordnung (69, vgl. :U0,
314 ff., 398 f.). Endlich ist auch das ästhetische Gefühl als Ur-
([ueli und Einheitsgrund von Erkennen und Wollen, die Kunst als
Ikücke zwischen Natur und Freiheit richtig erkannt (74 f.). wenn wir
auch nicht soweit gehen, darum Kants Philosophie schlechtweg als
„ästhetische Weltanschauung" (75) oder Begründung einer solchen
(89) zu bezeichnen.
Wie beurteilt nun Woltmann von seinem kritischen Standpunkte
aus „die marxistische Weltanschauung"? Hier ist seine historische
Darstellung und Beurteilung von seiner systematischen Kritik
bezw. Fortbildung des Marxismus zu trennen. Auf dem letzteren
Gebiete köimen wir ihm beistiiiimcn. auf dem ersteren nicht.
Mit Recht zwar macht Woltmann auf den in der That oft zu
wenig beachteten Umstand aufmerksam, dass der Marxismus eine
fünfzigjährige Entwicklungsgeschichte durchgemacht habe, „so dass
Verschiedenheiten und selbst Widersprüche . . . natürlicherweise
entstehen mussten" (Vorwort S. III), und er hat sich das \erdieust er-
worben, in dem zweiten Teile seines Buches eine gut orientierende
408
K:irl Voll all (i IT.
l'lxTsiclit ültrr diese Kiilw iekliinirs-reseliielite /.ii j;-el(eii. iiacli<leni
der erste „die i)liili»si»|)luselieM Quellen des Marxismus" in iler
„khissiseheii'-') deutsclien I'liilosophie <lar<:eleiit hat. Ks liietet u.a.
Interesse, den etiiisi-lien Ausi:anirs|)unkt des Marxisnuis liier deut-
lieh festfrestellt /u sehen. Allein illr uns in Hrtraelit koinimii Uaiin
doch eifrentlieh nur die systeniatiseh aus^M'hildete Lehre, die deni
Marxisnuis sein oharakteristisehes (iepräf^e -iieht. Und liier lässt
sieh Woitinann durch sein naehher /u würdiirondes methodisches
Hestrehen. eine Synthese vnn Kant und Marx her/ustellen. dazu
verleiten, /.u viel Kantische Kleniente in Marx' Lehre hinein/ule;;-en.
Da Marx selbst sieh auf Kant nicht herult (v^'l. oben S. :{SS), so
soll seine ..HUckkehr /u der unvertälschten Urschrift der klassischen
deutschen rhilosophie". d. h. zu Kant (Vorwort H. VI), ohne sein
Wissen vor sich g:eganj;en sein (vgl. S. -JOT). Seine „Auffassunj;
des wissenschaftlichen Denkprozesses" soll „zweifellos'* und ..durch-
aus" Kants kritischer Philosophie entsprechen (Vorwort S. V,
S. 187).
Davon alier haben uns Woltnianns Ausführunficn nicht über-
zeuiren können. Wohl jreben wir einen gewissen Parallelismus der
Methode zu. Wie Kant die synthetischen Bedingungen der fertigen
Wissenschaft, so analysiert Marx „die fertigen Resultate des (kapi-
talistischen) Entwicklungsprozesses'' (Kapitel I, S. 52 der 2. AuÜ.).
(Dem gleichen Gedanken sind wir schon bei Staudinger begegnet;
vgl. oben S. 383). Aber der Hegeische „Rest'' in der Marx'schen
Gedankenwelt bezieht sich doch nicht „fast nur auf die äussere
Darstellungsweise'', während „die innere Gedankenbewegung durch-
aus von der kritischen und (!) naturwissenschaftlichen Methode ge-
tragen wird- (Woltmann S. 321). Wir kijnnen der Ansicht nicht
beiptiicliten , dass die Erkenntnistheorie auch für Marx eine
..durchaus primäre Frage" gewesen sei (295); dass Marx einmal
seine neue Lehre als „Leitfaden" für die „Studien" bezeichnet hat,
reicht dafür nicht aus. Woltmann erklärt selbst an einer anderen
Stelle (S. 260), in dem bekannten Satze von Marx, dass für ihn das
Ideelle nichts Anderes als das im Menschenkopf umgesetzte und über-
setzte Materielle sei. liege ,.das erkenntnistheoretische Problem noch
ungelöst verborgen". Das sei ,.eine für jeden Erkenntniskritiker
geläufige Vorstellung'-, und doch „bildet" für ihn dieser Satz das
logische Fundament des ganzen Marxismus (ebenda). — Marx' kritische
1) Woltmann versteht hierunter, dem Sprachgebrauch der Marxisten, ins-
besondere Engels, folgend, die deutsche Philosophie von Kant bis — Feuerbach.
Kant und der Sozialismus. 40*J
Stellungnahnie zu Hejrel soll, „im Grunde" weoi^^stens, eine Rückkehr
zur Li'hir di-s kritischen Idealismus liedeuten (2!)7), und doch wird
unmittelbar darauf (298) ..die Marxsche Philosophie" als „das voll-
endetste System des Materialismus" gepriesen. Marx selbst hat sich
bekanntlich, abgesehen von seinen ersten Jugendjahren, stets als An-
hänger der „materialistischen" Methode bekannt. Sollte sich ein so
g-enialer Denker wirklich einer so gewaltigen ..intellektuellen Selbst-
täuschung über den eigenen Standpunkt" ( 1S4) hingegeben haben?
Diese scheinbaren oder wirklichen Widersprüche lösen sich,
weim man sie sich aus Woltmanns eigener kritisch -systematischer
Stellung erklärt. W. sagt einmal |S. 4) selbst, dass das ,, philosophische
.System*- dessen ..Mittelpunkt'- die materialistische Geschichtsautiassung
i)ilde, „erst durch eine kritisch-historische Untersuchung aus den
litterarischen Erzeugnissen des ganzen Marxismus heraus-
konstruiert werden umss". Die „kritisch-historische" Untersuchung
wird eben von ihm. wie das psychologisch ja leicht erklärlich ist,
bereits im Hinblick auf das systematische Resultat geführt, das wir
nun noch in aller Kürze zu betrachten haben.
Woltmann weist nach, dass der Marxisnms weder bei der
blossen Ökonomie noch bei der dialektischen Methode, die Marx von
Hegel. ,.ohne ihre Richtigkeit zu prüfen*', einfach übernommen habe
{■2&2), stehen bleiben kann. Der Marxismus, obwohl ein ,.philosophisches
Lehrgebäude ersten Ranges*' (S. 5) und die „reifste intellektuelle Frucht
unseres gegenwärtigen Zeitalters" (ebd., vgl. IV, S. 186), wie er mit seiner
\'urliebe für starke Worte sagt, ist durch den Kantischen Kritizismus, die
genetische durch die kritische Methode zu ergänzen. Er sucht dann
zu zeigen, wo die Anknüpfungspunkte im Marx'schen Systeme liegen,
die nur der bewnssten Fortbildung im kritischen Geiste bedürfen.
Die materialistische Geschichtsauflassung ist ihm eine ,,ldee'* im
Kantischen Sinne, ein „regulatives Prinzip**, das „in der gesetzlichen
Entwicklung des Erkenntnisprozesses selbst erzeugt wird" (178).
Der Historiker muss von einem ,,leitenden Prinzip" ausgehen, ..denn",
wie Kant sagt, „Erfahrung methodisch anstellen heisst allein
1)eobachten*' (179). Über den Wahrheitswert jeder Idee aber ent-
scheidet ihre Fruchtbarkeit. Nur auf dem Wege des Versuches —
Woltmann hätte an die Platonische Hypothesis erinnern können —
entsteht Wissenschaft. Von solchem Gesichtspunkte aus analysiere
nun auch Marx, darin Kant analog, die fertigen Resultate des wirt-
schaftlichen Entwicklungsprozesses, sodass es .,aussehen mag. als
habe man es mit einer Konstruktion a priori zu thun" (Kapital S. 821 ).
Kaut^stndien IV. 27
no
Kiirl Vi) rliiiid er.
Mit (ifsi'liick rcilit \\ (»lliii:mii (iaiiu (licjciiifii'u Mdiiiciitc dt's
-Marx'soluMi Driikciis an einander, dii' sich in iileiclier Hiclitunf:: lic-
wojron. Dem blossen N'atiir stut 1' tritt im Mei\s('lien eine Natnr-
inaeht i;eirenill)er. die naeli Ix'wussten Zwt'cken schallt. Zur \ (dl-
ttlhrunir seines Werks bedarf der Arbeiter des ,.z\veok};iMnJisseu
Willens*'. ..Was von vornherein den schlechtesti'n Baumeister vor
der besten Hiene auszeichnet, ist. dass er die Z(dle in seinem
Kopte irel)aut hat. bevor er sie in Wachs l)aut". Das ..Hesultaf"
des Arbeitsprozesses war ..beim Hejrinn (h-sselhen schon in drr
Vorstellung: iles .Arbeiters, also schon ideell vorhanden" (Marx
a. a. O. S. 1(;4). So erhebt sich über den Naturkräften als erster
Stufe die Technik oder ..Technolofrie", indem sie „das aktive
Verhältnis des Menschen zur Natur enthüllt'' (ebd. S. ;}S() Anm.).
\uf ihr baut sich dann die ..ökonomische Struktur" der Gesell-
schaft auf. Auf dieser wiederum beruht die soziale GruppierunL'-
der Menschheit, denn auf dem Gebiete des wirtschaftlichen Handelns
folgt der Mensch dem „stummen Zwang der ökonomischen \ frhält-
nisse". Diese letzteren werden somit zu Klassen Verhältnissen.
..deren Geschöpf" der einzelne Kapitalist oder Grundeigentümer
sozial bleibt, so sehr er sich auch sul)jektiv über sie erheben
mag" (Vorwort zur 1. Auflage des „Kapital*' S. 7).
An diese, von Marx wenigstens beiläufig zugestandene Möglich-
keit einer ..subjektiven Erhebung" des Einzelnen über die wirtschaft-
liehen Motive des Selbst- und Klasseninteresses, mehr noch aber an die
im ganzen Marx-Engels'schen Denken latent vorhandene ethische
Unterströmung knüpft Woltmann an, um die Notwendigkeit eines
bewussten Fortschreitens über den bloss-ökonomischen zum ethischen
Standpunkt auch den Marxisten plausibel zu machen. Er weist nach,
wie Marx' Geschichtsansicht im Grunde durch und durch ethisch ist.
wenn sie auch nicht ,,in der Manier eines Moralpredigers'*, sondern
.,mehr in der Form der Satire und eines in der Tiefe des Herzens
qualdurchzuckten Spottes und Hohnes" (S. 207) zum Ausdruck kommt.
Er weist darauf hin. wie hinter der materialistischen Hülle eine
moralische Teleologie verborgen ist. Die Unterscheidung einer ge-
schichtlichen Stufenfolge menschlicher Ordnung und Gesittung, alle
die Urteile über Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnisse, Mehrwert
und Ausbeutung, Freiheit und Unterdrückung. — sie können nicht
rein kausal begriffen werden, sondern enthalten die theoretisch so
scharf abgelehnte teleologische d. i. ethische Wertung bereits in
sich (S. 366 ff.).
Kant und der Sozialismus. 4 1 1
Es würdi' /,u wfit fülircn. aiil' die /.um Teil in sehr starken
Ausdrücken gehaltene Kritik eiii/.ufrehen, die Woltmann an Engels
mehr aber noch an einigen jüngeren Marxisten, wie Plechanow,
Stern und Mehring übt (vgl. über die letzteren die Anmerkungen zu
S. 50, Hl f., 237 f., 259). Auch Engels wird vorgeworfen, dass er ,,in
Fragen dt'r Erkenntnistheorie und Ethik Kant missverstanden oder gar
nicht verstanden habe" (S. 25), und dies später im einzelnen, nament-
lich an der Engels'schen Kritik des Kantischen ..Dinges an sich" nach-
gewiesen {S. 305—321), S. 227 auch von der materialistischen
Dialektik im allgemeinen zugestanden, dass sie „keinen Ai)riorismus
kenne", dass ihre Erkenntnistheorie „sensualistisch" sei. Dennoch
finden sich, wie Woltmann zeigt (z. H. S. 228 f., 368 f.), auch bei
Engels manche Anknüpfungspunkte, an die eine Fortbildung des
Marxismus im Kantischen Sinne anknüpfen kann.
Woltmann will überhaupt keine „Preisgabe des Marxismus"
(296 vgl. 403), sondern nur eine „kritische Selbstbesinnung-' des-
selben, eine ..Versöhnung" und ein „Bündnis" mit der kritischen
l'hilosoj)hie, durch das er „an innerem Wahrheitswert nur gewinnen
kann-' (2<i9), „um mit geläutertem Kewusstsein von neuem an die
Probleme des dialektischen und historischen Materialismus heranzu-
treten" (296). Eine Annäherung beider Gedankensysteme lasse sich
„viel leichter und folgerichtiger vollziehen, als man anf den ersten
Eindruck anzunehmen pflegt" (297). Denn Kant sei ein viel
modernerer Geist als Hegel und stehe dem Zeitalter der naturwissen-
schaftlichen und sozialistischen Weltanschauung weit näher, „nament-
lich wenn man die grosse Bedeutung der Kantischen P^thik tür die
Theorie der sozialistischen Gesellschaftsorganisation in Betracht
zieht" (296). Der Sozialismus ist in erster Linie eine ethische
NotAvendigkeit (427), der Marxismus kann, wenn er folgerecht
verfahren will, dem Idealismus „oder vielmehr" der Kanti-
schen Philosophie nicht entfliehen (209).
So haben wir denn die Beziehungen zwischen Kantianisnuis und
Sozialismus von Kant bis herab auf die Jüngste Gegenwart verfolgt und
erläutert. Wir haben zunächst gesehen, dass Kant zwar nicht selbst als
Soziali^^t oder sein System als ein sozialistisches bezeichnet werden kann,
dass aber nicht bloss eine ganze Reihe seiner Staats- und geschichtsphi-
losophischen Gedanken Anknüpfungspunkte für den Sozialismus bieten,
27*
II
Karl N'orl an (I (• r. K;ini imti (Ut Sozialisuuis
snndiTn (lass inshcsomlorc s(miio Ktliik dif uiicrschlUtt'rlicIic (irund-
l;ii:i' licl'crt. :iul" der sirli ciüc sd/ialistisclic NN'cltaiiscliiiiiimji- im
Siuiu- (irr (n'inciiixdiaflM'tiiiU aiifitaiicn lässt. Wir sahen wcitrr. dass
die Ht'str('l)iiiij:en di-r Ncukaiitiaiirr mit alliMii Naclidruciv darauf p'-
rii'litft sind, den Kritizismus aui'li aul dem (Joliictc der Sd/.ialwisscn-
sohal't /.um vollen Ausdruck /u lirin.i:('n, mit dem Hilst/.eu!;' der
transseendentalen Metliede und den Blick auf Kants ethisches Ideal
irerii'htet. rine So/ialphilnsopliie zu sclialVen, .,die als Wisscrnschaft
wiril auftreten köniuMi"; und dass sie auderorseits {:;('rade im Interesse
einer eiiduitlichen Mi-tluide den Marxismus so weit anerkennen, dass
ihrerseits einer prinzipiellen Xersühnunj;- zwischen Kant und dem
sozialen Materialismus nichts im Weg:e steht, sobald der letztere
seines wesentlichsten Mangels, des Fehleus einer erkenntniskritiseh-
ethisohen Begründunji*, inne wird. Und wir sahen endlich, dass diesem
Streben unter den jüngeren Marxisten ein immer grösseres Verständ-
nis entgegengebracht wird, dass der Ruf: ,, Zurück auf Kant!" von
immer mehr Seiten erschallt, und somit eine Verständigung zwischen
..sozialistischen" Kantianern und kautischen Sozialisten unschwer zu
erreichen sein dürfte.
Wenn diese Untersuchung in ihrer äusseren Form das Gepräge
einer historischen Darstellung trug, so lag dies in der Natur der
Sache. Ihr Kern und ihre Absicht sind jedenfalls systematischer
Art. Wir lieben die Schlagworte nicht und wollen daher den Weisen
von Königsberg nicht als .,Philosophen des Sozialismus" ausrufen.
Aber wir sind der Meinung und der Hoffnung, dass es mit dem
sozialen Materialismus ebenso gehen wird, als mit dem naturwissen-
schaftlichen. W^ie der naturwissenschaftliche Materialismus als
Philosophie erst dadurch überwunden worden ist, dass F. A. Lange
ihn nicht schlechtweg verwarf, sondern als Ferment in die eigene,
idealistische W^eltanschanung aufnahm, so kann auch der soziale
Materialismus nur dadurch überwunden werden, dass er als voll-
berechtigtes Glied in das System eines wissenschaftlichen d.h. (nach
Kant) ,. kritisch gesuchten und methodisch eingeleiteten'* sozialen
Idealismus eingefügt wird, der ohne ihn in der Luft schwebt.
Kants Verhältnis zur Metaphysik.
V^on Friedrich Pauisen.
Meine Darstellung; der Kantischen Philosophie (im 7. Bd. von
Frommanns Klassikern der Philosophie) hat eine Diskussion über
Kants \'erhältnis zur Metaphysik veranlasst, zu der auch ich mich
einigermassen verpflichtet erachte, das Wort zu ergreifen.
Ich habe dort das Verhältnis auch einmal von der positiven
Seite dargestellt. Man Hndet es oft ausschliesslich von der negativen
Seite gezeigt: Kant erscheint dann als der definitive Vernichter der
Metaphysik. Ich wollte dagegen zeigen, dass Kant sich nicht vorgesetzt
hat, die Metaphysik selbst, sondern nur eine falsche Form der
Metaphysik zu vernichten; die alte Schulmetaphysik, die dogmatische
Spekulation aus blossen Begriti'en über die Dinge jenseits aller möglichen
Erfahrung, die hat er allerdings vernichten wollen. Gleichzeitig
aber wollte er die Metaphysik selbst neu begründen; und zwar
Metaphysik in doj)peltem Sinne: 1. eine ^Metaphysik der Natur, die
als philosophische Wissenschaft die apriorischen \'oraussetzungen der
Physik, im weitesten Sinne, darstelle; 2. eine Metaphysik, die als
vernunftgemässe Weltanschauung über die physikalische Ansicht der
Wirklichkeit hinausgehe zu einer Auflassung, die man als objektiven
Idealismus bezeichnen kann.
Von der Metaphysik im letzteren Sinne soll hier allein die Rede
sein. Ich habe behauptet und behaupte noch, dass Kant das Recht
einer idealistischen Metaphysik im Gegensatz, wie zu einer rein
physikalischen Weltanschauung, so auch zu skeptisch-agnostizistischer
Enthaltsamkeit begründen wollte, freilich nicht mit den alten Mitteln
der Demonstration aus reinen Begriffen, sondern durch den Nachweis,
dass von dem Wesen der Vernunft, der theoretischen wie der praktischen
Vernunft, eine derartige Voraussetzung über die Wirklichkeit un-
abtrennbar sei. Gegen diese meine Darstellung sind von mehr als
einer Seite Bedenken erhoben worden, so von Vaihinger und Heman.
Vaihinger (in einer Anzeige im achten Band der Philosophical Review)
V
414 KriiMlrii'Ii I';iii1mii,
erkennt /.\\:\v an. liass Kants eiireiitlicln' Anseliaunn;:: die \(in mir
Itezeielniete >ei. dass er >if alter nur \Nie durcli einen Sclilejci- sehen
lasse, während ieh sie in das lielie 'ra>;-eslielit stelle niid dadnieh
(Uh'Ij die (ledankenhildunir M'iiindere: der Sehh'ier. di-n Kant \ov die
intellij,'ihU' Well /ielu'. sei ein ndtwendip's KhMiient des kritischen
Systems. Khenso hat lleman lin einer Hesproehun;:: in der Zeitsoiirit't
üir riiihisophie nnd philos. Kritik. Bd. Il4i, obwohl im iihrificn /,u-
stimniend. doeh weuvn einer Zurückstellniifr <ler erkenntnistheoretiseheu
Kritik jiej:-en die .Metaphy^ik Hedeiiken erholten nnd lietont: mmi
einer Erkenntnis des ninndus intellii;il»ilis köuue l)ei Kant schleciiter-
diiiirs niehl die Hede sein. Auch Sänger, Honuindt. llickert
hal)en gejri'n diesen l*nid<r meiner Darstellung Hedenken li-eäussert.')
Ich irehe zu. dass meine Darstellung das positi\c NCrhältnis
Kant-s zur Metaphysik stärker hervortreten lässt. als eine blosse
M Wenn icli hier eine Kezen.sion erwälino, die Herr Professor H. Cohen in
der Nation veröft'entlielit hat, so geschieht es nur, um ihm die erwartete Empfangs-
bestätigung zu geben; ieh kann ihm also die Genugtliuung verschafl'en, zu er-
fahren, dass ich sie richtig erhalten und auch gelesen habe. Die weitere
Genugthuung, ihm zu bestätigen, dass sie mich verdrossen hat, bedauere ich
ihm nicht geben zu kTmiien. Ich habe sie nur mit einem Gefühl der Be-
schämung gelesen, der Beschämung nämlich, die ich als deutscher Universitäts-
lehrer darüber empfunden habe. Meine Meinung von dem deutschen Rezensions-
wesen ist schon längst keine grosse; diese Rezension hat mir doch noch eine
Überraschung bereitet. Auf Einzelnes einzugehen — es handelt sich um zwölf
Spalten hfihnischer Glossen, womit der Verfasser mein Buch von dem vor-
gehefteten Bildnis an bis zu dem Punkt am Sehluss begleitet — wird er mir
erlassen. Ich hab nun einmal an einem Verkehr auf dem Fuss gegenseitiger,
nun, sagen wir Missaohtung keine Freude. Und ein Bedürfnis zur Gemüts-
erleichterung ist bei mir auch nicht vorhanden. — Auch auf die in herablassendem
Ton vorgetragenen Belehrungen des Herrn Dr. Goldsclimidt im Archiv für
System. Philos. finde ich keinen (irrund hier einzugehen.
Während der Korrektur geht mir noch eine Rezension von Otto Schön-
dörffer in der Altpreussischen Monatsschrift zu, die ebenfalls an meiner Be-
handlung der Metaphysik Anstoss nimmt und mich belehrt, dass wir nach Kant die
Dinge nicht erkennen können, wie sie an sich sind. Sie weist mich dann weiter
darüber zurecht, dass ich von Kant nicht mit der schuldigen Bewunderung und
Begeisterung rede, als das Schlimmste mir anrechnend, dass ich seine Moral
als die ,. Moral der kleinen Leute' bezeichnet habe. Ich kann nicht finden, dass
ein Mann, der sich so wenig auf den Ton einer Darstellung versteht, dass er
aus dieser Bezeichnung in dem dort gegebenen Zusammenhang einen Tadel heraus-
liest — es handelte sich darum, Kants Moral als den Gegensatz zu einer
„Herrenraoral-' zu charakterisieren, als die Moral von ehrlichen und recht-
schaffenen ,. kleinen Leuten", wie es seine Eltern waren, — einem solchen .Mann
kann ich nicht die Kompetenz zugestehen, mir Belehrungen über den Ton zu
Kants Verhältnis zur Metaphysik. 415
lieproduktion der kritisclu-n Philosophie, wie sie in den drei Kritiken,
vor allem in der Kritik der reinen N'ernunft, vorliegt, dies zu thun
Ursache hat. \c\\ wollte eben den ganzen persönlichen Kant, nicht
bloss die Gedanken, die er in der Kritik der r. \'. ausgeführt bat
dem Leser vor Augen stellen. in solcher Zeichnung musste der
Hintergrund der allgemeinen Weltanschauung deutlicher hervortreten,
als das in einer Untersuchung über seine Erkenntnistheorie der Fall
zu sein braucht. So war es durch die Natur der Aufgabe gegeben, dass
meine Darstellung in Gegensatz zu allen Darstellungen treten musste, die
als das Ergebnis seiner erkenntnistheoretischen Kritik und die
eigentliche Summe seiner Philosophie den Satz hinstellen: Erkenntnis
giebt es nur von der Erscheinungswelt, nicht von den Dingen an sich
selbst; welcher Satz dann in vergröbernder Popularisierung allmählich
zu der Meinung herabsinkt: die Kantische Philosophie sei eine Art
Agnostizismus; sie lehre: was jenseits der empirischen Erkenntnis
liege, sei für uns nicht vorhanden, gehe uns nichts an, ja sei über-
haupt nichts. Dem gegenüber betont meine Darstellung: der Phänome-
nalismus ist nirgends Zweck, sondern überall nur Mittel, Mittel einer-
seits um eine apriorische Erkenntnis der Erscheinungswelt möglich
zu machen, andererseits aber auch, um für den Gedanken des mundus
intelligibilis (nicht die wissenschaftliche Erkenntnis) Kaum zu ge-
winnen. Ja, die Denkbarkeit (nicht die Erkennbarkeit) des mundus in-
telligibilis und die Herstellung einer auf der Vernunft (nicht dem ^
Verstände) ruhenden Beziehung zu ihm, ist und bleibt zuletzt die
wichtigste Angelegenheit Kants; alle seine Gedanken konvergieren
gegen diesen Punkt: in der Epistemologie, in der Naturphilosophie,
in der Ästhetik, in der Ethik.
I.
Indem ich dies zu zeigen versuche, fornmliere ich nochmals,
was ich als zugestanden, was als in Frage stehend ansehe. Als zu-
gestanden setze ich voraus: 1) Es giebt eine Erscheinungswelt in
Kaum und Zeit (mundus sensibilis); sie ist Gegenstand einer Er-
kenntnis a i)riori, in der reinen Naturwissenschaft oder Meta()hysik.
2) Es giebt eine Wirklichkeit jenseits der Erscheinungswelt (mundus
erteilen, in deui ich von Kant zu sprechen habe. — Er schliesst seine Rezension
mit der Äusserung, dass er das Buch „lieber nicht geschrieben wünschte."
Mich aber freut's nun erst recht, dass ich, nach langem Zögern, das Buch zu
sehreiben doch übcrnoninien habe. Von der Notwendigkeit, Kant nicht den
orthodoxen Kantianern allein zu überlassen, haben diese Proben ihrer kritischen
Leiötimgen mich aufs Neue überzeugt.
410
Frictlrioli r.uilsrn.
intrlli-riliilis); sie licirt jcüscits der wissciiscliattliflu'ii l'jkciintiiis:
dir alte (loinnatisclic MctMplivsik mit ilircr rein ralidiialcii l'svchohtfxic,
Kosnioloirio uiul 'riicolttfric ist iiiiMit Wisscnschatt. :?l Di«' Kra^c ist:
hal)Oii wir tritt/.dcni (Iriind. uns lllx-r den nuindiis iiitdli^iltilis lio-
stimmte Clrdaiikcii zu niai-hrMV oi\rv ist er für uns uiclits. nichts
als ein blosses X, nii'lils als das blosse Anderssein /u dem Ge-
trebenen. als das blosse unserem Denken anhaltende Hewusstsein
seiner Sul)jektivitiit?
leb sajre: nach Kant dürfen und müssen wir uns ül>cr den
niundus iiitelli,iril)ilis (ledanken machen ; man muss nur unterscheiden
/Avischen vernunftf;eniässem Denken und wissenschaftlichem
Erkennen. Letzteres haben wir nur da. wo uns Data der Sinnlichkeit
jjejreben sind, die wir durch unsere Erkeimtnisformen auffassen und
bearbeiten. Das Denken aber reicht weiter als das F^rkennen; die
Vernuntt j::eht hinaus über das Feld des Verstandes; jenseits der
Sphäre der Begritle lie^^t das Kcich der Ideen; und durch Ideen
bestimmen wir die intelligil)le Welt für unser Denken durchaus
eindeutig. Für das wissenschaftliche Erkennen sind die Dinge an
sich ein blosses X, für das vernünftige Denken ist die intelligible
Welt — nun. eben intelligibel.
Ideen haben ihren Ort zunächst in der praktischen Vernunft;
sie bildet Begriffe, denen ein kongruierender Gegenstand in der Er-
fahrung nicht gegeben werden kann: so den Begriffeines vollkommenen
Staats, oder den Begriff eines die Staaten selbst wieder umfassenden
Rechtsverbandes, der einen vollkommenen Kechtszustand auf Erden
sichere. Der Begriff verliert nicht dadurch seine Gültigkeit, das» die
Erfahrung keinen vollkommenen Staat, keinen Zustand des „ewigen
Friedens-' auf Erden zeigt. Die praktische Idee ist der Begriff einer
notwendigen, von der Vernunft selbst gestellten Aufgabe, hier: eine der
Gerechtigkeit voll entsprechende Rechtsordnung im Staat, eine Rechts-
gemeinschaft unter den Staaten mit Rechtsentscheidung streitiger
Fragen herzustellen. Ähnliche Begriffe giebt es auch im theo-
retischen Gebiet. Die Begriffe der Wissenschaften z. B. sind Ideen,
die Physik, die Chemie, die Kosmologie sind nirgends auf Erden
vorhanden und werden niemals vorhanden sein als fertige Erzeug-
nisse; ihre Begriffe sind Begriffe von Aufgaben, die durch die Ver-
nunft gestellt sind, Aufgaben an denen Jahrhunderte gearbeitet haben
und arbeiten werden, ohne ans Ende zu kommen. So ist auch der
Begriff der Weltweisheit, in dem Sinn eines die gesamte Wirklich-
keit umspannenden Systems wissenschaftlicher Erkenntnis, eine Idee:
Kants Verhältnis zur Metaphysik. 417
die Aufgabe ist geffeben; sie i^ann aber niemals vollkommen p^löst
werden, die Welt selbst als Ganzes ist nicht gejrel)en und kann
Diemals gejreben sein; doch bleibt der Begriff als solcher friiltig;.
Kbenso bildet die Vernunft endlich auch den Begriff eines höchsten
(iutes, die Idee eines ,.Keichs der Zwecke": die Wirklichkeit als ein-
heitliches System, in dem alle Glieder durch teleologische Beziehungen
zu einer vollkommenen P^inheit verknüpft sind. Es ist ein notwendiger,
mit dem Wesen der Vernunft gesetzter Begriff: indem sie als \er-
mögen der Zwecksetzung die \ernunftwesen als Selbstzwecke und
alle Dinge zu den Vernunftwesen als Mittel in Beziehung setzt, ent-
steht ihr jener Begriff der Welt: die ganze Wirklichkeit Verwirk-
lichung eines einheitlichen allumfassenden Zw^eckgedankens. Dieser
Begriff hat Gültigkeit in demselben Sinn, in dem der Begriff einer
Weltwissenschaft Gültigkeit hat; wie dieser eine notwendige Aufgabe
für den Verstand bezeichnet, so jener für den vernünftigen Willen:
es ist Pflicht, an der Verwirklichung des Reichs der Zwecke zu
arbeiten. Tnd mit der Notwendigkeit der Aufgabe ist die Not-
wendigkeit der Voraussetzung gegeben; die Wirklichkeit ist solcher
Arbeit zugänglich, sie ist prädestiniert, Zweckgedanken, und so
jene Einheit aller Zwecke sich einbilden zu lassen. In letzter Absicht
müssen demnach das Gute und das Wirkliche zusammenfallen: das
ist die notwendige Voraussetzung der Vernunft.
Sicherlich, die Richtigkeit dieser Voraussetzung kann nicht
empirisch, kann nicht dem den Erscheinungen nachgehenden Verstände
bewiesen werden. Jeder Versuch dieser Art. etwa eine teleologische
(ieschichtsphilosophie, bleibt unendlich weit hinter der Aufgabe
zurück, die (beschichte als den geraden Weg zur Verwirklichung
des höchsten Guts auf Erden darzustellen. Und noch weiter bleibt
der Versuch einer Naturteleologie hinter der Aufgabe zurück, zu
zeigen, dass die Natur die \'erwirklichung eines Systems von Zweck-
gedanken sei. Dennoch bleibt der Begriff ein gültiger und praktisch
notwendiger: wie die Möglichkeit der Wahrheit für die theoretische \er-
nunftbethätigung, so ist die Möglichkeit des höchsten Guts für die prak-
tische Vernunft uuaufgebbar. Eine Philosophie, die da behaupten wollte,
die Wirklichkeit sei überhaupt nichts als ein sinnloses Spiel blinder,
absolut sinn- und ziellos wirkender Krälte, führte auf ein absurdum
morale, das die Vernunft ebenso wenig zulassen könnte, als ein
absurdum logicum. Kann die Physik mit jener Voraussetzung aus-
kommen, so ist das nur ein Beweis, dass die Physik nicht zulänglich
ist, unsere Weltanschauung zu bestimmen. Der Widerspruch oder
4 IN
l'rii'd licli l'au Ist'H,
die (iU'ioliirillliirkfit ilcr l'livsik ;rt'jr»'ii die Idee ciiicN Wciclis der
Frcihi'it und der /wfi'kc ist «rcradt' der «'iitsclicidcudc Aiitiicli.
itl)i'r die plivsikalisfhc Hctraclitiinp- der Dinp- hiiiaus/iip'ln'ii /n
t'intM" nu'tapliysisclifii. Wärm wir iiiii tlHMirctiscIic Wcsi'ii, so
kiuuitfii wir am linde es rrtraucn. Iici der |)livsis('li('n Krkläriiiij:
stehen /.ii Ideilieii. W ir winden ancli dann, in erkeinitnistlieoreliselier
Ht'siiiminir. uns sairen: die ])liysisehe Welt ist IiIors eine dureli Sinn-
lii'likeit und \ erstand eines Snl)j(d<ts zustande j::el)ra('hte Krsclieinunjjs-
welt. aber wir hätten kein Interesse daran, iilier die Krscheinun^'s-
welt hinauszujrehen. wir küiniten am Knde das Jenseits des Ge-
grebenen als ein reines X stehen lassen. Aber wir sind auch und vor
allem praktische Wesen, und als solche hal)en wir das drin;,^endste
Interesse daran, über die Erscheinunjrswelt, über die physische Welt,
die zu unseren notwendigen praktischen Ideen idcht stimmt, hinaus-
zuirehen und die eiirentlich seiende Welt als ein von Ideen
beherrschtes, zu unseren praktischen Ideen stimmendes, sie zu hiu-hst
realisierendes System zu denken.
So ist es die feindliche Spannung;- zwischen l'hysik und Moral,
die die Metaphysik hervortreibt, bei Kant, wie bei Plato. Oder viel-
mehr. Kant und Plato lassen lediglich in Regriflfe, was der mensch-
liche (leist mit instinktivem Drang- überall und immer gethan hat:
er nimmt über der empirisch gegebenen Ordnung der Dinge eine höhere
an. weil die gegebene Wirklichkeit hinter der Forderung des
Willens allzu weit zurückbleibt; vor allem ist es der Tod, die Ver-
nichtung des Lebens und aller seiner Zwecke, der den Gedanken eines
überirdisch-überzeitlichen Lebens und einer übersinnlichen Ordnung
der Dinge hervorgetrieben hat.
Hei Kant ist es zunächst ein anderes, das gleichsam als Mauer-
brecher gegen die rein physikalische Weltanschauung dient, der
Begriti der Freiheit. Er war es auch, von dem, nach seiner wieder-
holten Versicherung, die ganze neue Gedankenbildung der kritischen
Philosophie ausging: in der Erscheinuugswelt herrscht die Kausalität;
da Freiheit die Voraussetzung der Sittlichkeit ist, so ist die wahre
Wirklichkeit notwendig als eine solche zu denken, wo Freiheit,
spontane Selbstbestimmung, möglich ist. Der mundus intelligibilis ist
-also als Reich der Freiheit, der Selbstbestimmung nach \'ernunft-
gesetzen, zu denken. Und an das Postulat der Freiheit schliessen
sich dann, nach dem bekannten Schema, die Postulate Gott und Unsterb-
lichkeit. Wie Kant im Einzelnen diese Gedanken geformt hat, ob
sie die glücklichste Fassung, die auf dem Boden seines Systems mög-
Kants Verhältnis zur Metaphysik. 4 19
lieh war. (.Thalti-n haben, <»h es nicht fruehtharcr und anji-eniessener
gewesen wäre, unmittclhar von der l(h'e des Reichs der Zwecive aus-
zugehen, das alles kann hier dahingestellt bleiben.
80 ist also der niundus intelligihilis durch notwendige Gedanken
von der praktischen Vernunft her bestimmt: eine Vielheit von Ver-
luniftwesen. die in dem Sittengesetz deo Ausdruck ihrer freien, zu-
sammenstimmenden Hethätigung. in Gott den letzten Grund ihrer
Wirklichkeit und Einheit haben.
Kaut nennt die Annahme dieser Gedanken praktischen
Glauben. Dieser Glaube setzt natürlich, wie jeder Glaube, inhalt-
lich bestimmte Gedanken voiaus: ein Glaube an X, ein Glaube an
irgend etwas, ich weiss nicht was. an ein absolut unbestimmbares
Ding an sich ist gar kein Glaube. Und also ist die intelligible Welt
für unser Denken notwendig bestimmt, ich wiederhole: für unser
Denken, nicht für unser wissenschaftliches Erkennen.
Das ist für Kant die entscheidende Betrachtung. Aber sie steht
nicht allein, auch die theoretische Vernunft als solche ist nicht
überhaupt gleichgültig gegen alle Bestimmung des nmndus intelligibilis;
es giebt Gründe rein theoretischer Natur, uns über die Welt der
Dinge an sich Gedanken von bestimmter Art zu machen. Das
möchte ich noch mit einigen Strichen andeuten.
Ich weise zunächst auf Kants Geschichtsphilosophie hin.
Sicherlich, wir können nicht die Geschichte als eine Veranstaltung
zur Verwirklichung eines Zweckgedankens demonstrieren. Dennoch
fällt ein Schimmer von Licht auf das Dunkel ihrer viel verschlungenen
Pfade, wenn wir ihrer Darstellung eine Idee zu Grunde legen: die
Idee, dass die Herstellung eines Reichs der Vernunft auf Erden der
Zielpunkt sei, auf den die Bewegung gerichtet ist. Und zwar er-
scheint dieser Zielpunkt als mit der Naturanlage der Gattung selbst
gegeben; er ist nicht durch das subjektive Denken gesetzt. Kant
hat in jenem kleinen Aufsatz: „Idee zu einer allgemeinen Geschichte
in weltljürgerlicher At)sicht", womit der Aufsatz „über den mutmass-
lichen Anfang der Menschengeschichte" und die Schrift über den
„ewigen Frieden-' zu vergleichen sind, diesen Gedanken ausgeführt.
Der Antagonisnms der selbstsüchtigen Tendenzen in der menschlichen
Natur, und die Übel, die dadurch über die Menschen gel)racht werden
( llobbes' Krieg Allergegen Alle«, treiben aus dem Naturzustand heraus
und führen zum Staat, einer (Gemeinschaft nach Rechtsgesetzen.
Durch die Civilisierung aber und die erzwungene Legalität geht
der Weg zur Moralität. der freien Unterordnung des eigenen Willens
4-2(»
.•111 ! seil,
unter il;i> \ frmmfti^cst't/. Kndlicli alter wcnleii clini (iicst'llx'ii Hbcl.
di«' /.lU'rst die Kiii/.t'liK'n /.um Kintritt in di'ii staatliclnii Zustand
irrnittiirt lialx'ii. wcitrr dahin wirken, dass auch die Staaten ans dem
Natur/.ustaiul heraus in einen lieehtszustand eintreten: ein Verltand
fitderierter Staaten mit Ueehtsordnun^ und Kechtsentseheidun^ ist das
Ziel, dem die ireseliieiitliehe l'Jitw ieklun;:-, so meint Kant deutlich
/u seilen, elien ireiicnwärtifr /ustreiit. die \ Creini^^ten Staaten von
Amerika ein \ ()rl)ild. Mit der enisprechemlen Entwickluiifi- der
Moralität wäre ein Zustaiul erreicht, di'n man .als vollkommene Herr-
schaft der \ ernunt't auf Knien hezeichnen könnte.
Khen dies ist mm das Ziel, das die praktische Wrnunft dem
Willen V(U-schreibt. lud so eipieht sich also hier eine bemerkens-
werte Zusummenstiunnun^ zwischen der theoretischen Veriuinft, die
über den (iang; der Geschichte aus den Thatsachen reflektiert, und
der praktischen N'ernunft, die durch eine notwendifce Idee das Ziel
des jceschichtlichen Lebens bestinniit. Und weiter eine Hindeutunjr
auf eine Zusammenstimmnuir unserer \ Crnunft mit jener Macht, die das
Menscheng:eschlecht selbst und seine geschichtliche Laufbahn ursprüng-
lich bestimmt hat: sie als vernünftigen Willen zu fassen werden wir
durch eine derartige Reflexion angeleitet; und unsere Vernunft
würde sich dann als einen Ausfluss jener Ur-Vernunft ansehen dürfen.
Der religiöse Glaube, der in dem Sittengesetz Gottes Willen erkennt,
erhielte hierin eine Art spekulativer Unterlage.
Freilich, so müssen wir gleich hinzufügen, das ist nur eine
Reflexion über den Gang der Geschichte im Grossen, eine Idee,
nicht ein wissenschaftlich durchführbarer Begriff". Wir können durch-
aus nicht die geschichtlichen Vorgänge im Einzelnen aus einem
göttlichen Weltplau ableiten, sie als notwendige Wege der Vorsehung
zu jenem Ziel konstruieren. Wir stehen oft vor den Thatsachen des
geschichtlichen Lebens, vor allem vor denen, die wir mit erleben,
als vor Rätseln und Widersprüchen: das Unrecht siegt, die gute
Sache unterliegt der Gewalt. Freilich hie und da geschieht es, dass
der nachfolgende Gang der Dinge das Urteil des Augenblicks
korrigiert, das anscheinende Unterliegen der gerechten Sache, der
Untergang des tragischen Helden war in Wahrheit sein Sieg; der
Glaube des Christentums ist auf eine Thatsache von dieser Art ge-
gründet. Aber nicht überall können wir eine solche Betrachtung
durchführen. Was uns bleibt, ist nur die allgemeine Reflexion, dass
auch die anscheinend widervernünftigen Tendenzen in der Menschen-
natur dennoch zum guten Ziele dienen müssen: Selbstsucht, Habsucht,
Kants Verhältnis zur Metaphysik. 421
Herrschsucht, .sie .sind es, die den Menschen aus der träfen Kuh(^
passiven, sinnlichen Genusslebens friedlicher Herdentiere, aus dem
Naturaustand Kousseaus, aus dem Paradies der niorj^enländischen
Sage vertreiben; sie führen /u Jenem Krieg Aller gegen Alle. Aber eben
damit treiben sie an. den Staat und das Recht zur Abwehr gegen
das i'bel des Kriegszustandes hervorzubringen, worin die Vernunft
in der Form des Gesetzes zuerst ihre Herrschaft auf Forden gründet.
So ist auch in dem anscheinend WidernUnftigen, in den sellistsüchtigen
Leidenschaften der Menschen, \'ernunft. eine Vernunft der Dinge, die
wir wie durch einen Nebel sehen.
Man sieht, die Gedanken der spekulativen Geschichtsphilosophie,
wie Fichte und Hegel sie ausgeführt haben, sind bei Kant vor-
gebildet. Fichtes Konstruktion des Ganges der Vernunft in der
Menschheitsgeschichte: wie sie am Anfang in instinktiver Form das
Lelu'n bestimmt, wie dann die gewaltigen Leidenschaften hervor-
brechen und die Sicherheit der Instinktführung zerstiiren, wie aber
endlich die N'ernunft zu sich selbst kommt, und nunmehr als um sich
wissende und sich wollende Vernunft die Leitung der menschlichen
Dinge in die Hand nimmt: alles das steht schon in den kleinen
Aufsätzen Kants. Und nicht minder kann man Hegels Satz von der
N'ernünftigkeit des Wirklichen in der Geschichte, seine Lehre von
dem Staat und Recht als der Form der objektiven Vernunft, in
Kants Reflexionen vorgebildet finden : das Zu-sich-selbst-kommen der
Vernunft, die Selbstverwirklichung der V'ernunft in der fortschreitenden
\'erwirklichüug der Freiheit im rechtlich-sittlich verfassten Gemein-
schaftsleben, das alles sind echt Kantiscbe Gedanken. Seine Anthro-
])ologie und Geschichtsphilosophic lebt und webt darin.
In eine ähnliche Gedankenrichtung weist nun auch die philosophische
Reflexion über Natur und Kunst. Kant hat seine Naturphilo-
sophie und seine Kunstphilosophie in der Kritik der Urteilskraft
zu einer etwas künstlichen Einheit verschlungen; gerade dieses In-
einssetzen ist aber sehr bezeichnend für das Ziel der Gedanken.
Zuerst das Schöne: es ist überall Hinweisung auf die Ideen-
welt. So das Naturschöne; es wird als eine Hindeutung darauf,
dass die Ideen auch objektive Realität haben, aufgefasst; und darum
ist das unmittelbare Interesse an der Schönheit der Natur ein Kenn-
zeichen einer guten Seele, einer auch dem moralischen Gefühl
günstigen Gemütsart. In der schönen Seele ist i)eid('s vereint, das
Interesse fiir moralische Ideen und die Empfänglichkeit für die
Naturschönheit; die letztere ist eigentlich bedingt durch das erstere:
.[■22 Friotl rioli l'aiiUen,
..(l;i «'S die N Cnuiiift iiitrn'ssicrt, dass die Ideen, für die sie im
iiuiraliselieii (lefilhl ein uninittclhares Interesse bewirkt, ancli »)l>-
joktive Healität lialten. d. Ii. dass die Natur weniirstens eine Spur
zeitrt' oder einen W ink ü'elte, sie enthalte in sieh irgend einen <!rund,
eine <reset/,niässii;-e l hereinstinuiuni';- ihrer l'rddukte /.u unserem, von
allem Interesse unal)hänirii;"en \\ (ddjrorallen an/.unehmen: so muss die
\ Crinintt an jeder Ausserun.:r (h'r Natui- \un einer dieser ähnlichen
Thereinstinununj:- ein Interesse uelimen" (i; l'JI.
Al)er aueh das Kuustschüne ist in jjewisser Weise als Natur-
produkt air/.usehen. Das (Jenie. wodurch das Sehöne in der Kunst
und Dielitunii' üesehalVen wird, ist eine Naturlte^a Inini:-; das
pnMluktive \ Crinögren des Künstlers, das wir (ienie nennen, j^chört
zur Natur. l'nd so kann man denniaeh saji'en: ,.(ienie ist die an-
ijeborene Gennitsanla^e, durch welche die Natur der Kunst die
Kegel giebt" (§ 46). Schönheit ist aber Symbol der Sittlichkeit, das
Schöne Verherrlichung sittlicher Ideen (§ 59). Und so darf man
min sagen: auch hierin zeigt sich eine innere Zusaminenstinimung
der Natur mit der moralischen Welt; sie strebt gleichsam, indem sie
durch das Genie das Schöne hervorbringt, sich dem Sittlichen ent-
gegeuzuheben. — Man sieht: auch die ästhetische Erziehung des
Menschengeschlechts ist ein Kant nicht durchaus fremder Gedanke.
Wie die ästhetische Urteilskraft in der Natur, der ursprünglichen
Natur und der in der Kunst gesteigerten Natur, Züge tindet, die
über die Natur hinaus auf eine ihr zu Grunde liegende oder in ihr
sich manifestierende Ideenwelt hinweisen, so auch die teleologische
Urteilskraft. Eine über die Natur und ihre Bildungen reflektierende
Naturphilosophie kann gar nicht umhin, der Betrachtung der Natur
Ideen zu Grunde zu legen. So entschieden Kant daran festhält, dass die
Natur^vissenschaft, die Physik, allein mit gesetzmässig wirkenden
Kräften operieren darf, ebenso entschieden behauptet er andererseits,
dass die Natur für unser Denken nicht in Phvsik aufgeht.
Es sind zunächst die organischen Erzeugnisse der Natur, die
nicht in einer rein mechanischen Erklärung aufgehen wollen. „Es
ist ganz gewiss, dass wir die organisierten Wesen und deren innere
Möglichkeit nach bloss mechanischen Prinzipien der Natur nicht ein-
mal zureichend kennen lernen, viel weniger uns erklären können,
und zwar so gewiss, dass man dreist sagen kann : es ist für Menschen
ungereimt, auch nur einen solchen Anschlag zu fassen, oder zu
hoifen. dass noch dereinst ein Newton aufstehen könne, der auch
nur die Erzeugung eines Grashalms nach Naturgesetzen, die keine
Kants Verhältnis zur Metaphysik. 423
Absicht jiH'oninet hat, begreiflich machi-n werde"; wir können
„nach der Beschaffenheit unserer Krkenntnisvermü'ren, also in Ver-
bindung der Erfahrung mit den obersten Prinzipien der N'ernunlt,
uns schlechterdings keinen Begriff von der Möglichkeit einer solchen
Welt machen, als so, dass wir uns eine absichtlich-wirkende
oberste Ursache derselben denken" (§ 75). Das ist kein Beweis
für die „objektive Existenz" einer solchen Ursache, eines ausser der
Welt existierenden ..verständigen Wesens" oder „Kunstverstandes";
wir haben von ihm keine wissenschaftliche Erkenntnis, denn wir
können diesen Verstand und seine Thätigkeit nicht in der Anschauung
darstellen: aber es bleibt gleichwohl ein notwendiger Gedanke.
Und an der Notwendigkeit dieses Gedankens würde es auch nichts
ändern, wenn man. mit der Evolutionstheorie, alle organischen Wesen
aus einfachsten Urformen durch Umbildung hervorgehen Hesse: man
müsste dann, um die Entstehung jener ersten Urformen denkl)ar zu
machen, dem Mutterschoss der Erde, aus dem diese hervorgingen,
„eine auf alle diese Geschöpfe zweckmässig gestellte Organisation
beilegen, widrigenfalls die Zweckform der Produkte des Tier- und
Pflanzenreichs ihrer Möglichkeit nach gar nicht zu denken ist"'
Also für uns ist es unvermeidlich zu denken, dass die Gestalt der
Dinge zuletzt in einem Verstand ihren Grund hat. Dabei bleibt es die
Aufgabe unserer wissenschaftlichen Forschung, mit der Er-
klärung durch rein physikalische Kräfte soweit vorzudringen, als es
inuner möglich ist. Eine rein kausale Erklärung ist auch nicht für
objektiv unmöglich zu halten, sie mag für einen absoluten Verstand
möglich sein; nur. für unseren \'erstand geht die physikalische
Erklärung niemals ohne Rest auf. Darüber soll sich der Natur-
forscher nicht täuschen, sonst wird er mit Lucrez zum dogmatischen
Materialisten, der die Zweckbetrachtung als absolut unangemessen
verwirft und sich damit auch eines wichtigen heuristischen Hilfs-
mittels der Forschung im Gebiet der Lebenserscheinungen beraul)t:
das teleologische Verständnis der Organisation führt auch auf die
physikalische Erklärung.
So weist also die Natur, wie durch die Hervorbringung des
Schönen in Natur und Kunst, so auch durch die organischen Bildungen
über sich hinaus auf einen Grund ihres Daseins, den wir nicht
anders denken können als ein Wesen, das nach einer Idee des
(Ganzen die Teile verknüpft. Wir können diesen Gedanken nicht
umsetzen in Anschauung, nicht in möglicher Erfahrung darstellen;
424
FritMiricli raulson,
und so hlrilit für iiiis die plivsikalisohe KrklJinmjr die (Mfrcntiioho
Form der NvissiMisidiaftliolieu Krkt'uiitnis und die tdcoloirisclie Aui-
fassunjr ciiu' blosse Form der l^dicxion. Dcimocli ist diese ni(dit wcni^'er
notwendiiT fllr unser I)eid\t'n; und wenn wir nun aueh nicht imstande
sind, diese beiden rrin/.ijiiei' neben eiMandcr do^matiseb in der Kr-
kläruuir der Krseheinunjren dureh/.uliiliren, so hiiulert uns dotdi nichts,
den (Jruiid hciiler ins l'bersinnliche /u setzen und sie hii-r als (d)jektiv
vereinliar /u dcid^rn. „Das Trin/ip. welches die N'ereinltarkcit Iteider
in Hcurteilunj:- der Natur mö<ilicli machen soll, muss in das. was
ausserhall) beider, mithin auch ausser der müi,di('hen empirischen
Naturvorstelluni;-, lieu't. von dieser al)er doch den (irund eiithillt,
d. i. ins rbersinnliche gesetzt werden" (i^ 71)).
Die Naturphilosophie führt so notwendif:: zu einer Art Physiko-
theolojrie; sie führt uns auf den (Tedanken eines Grundes der
Natur, in dem. was l'iir unser Denken als kausale Erklärun<i' und
teleolog:ische Auflassunji- auseinander bleibt, in Eins zusammenfällt.
Für einen intellectus archetypus, der durch sein Denken die Dinj^e
setzt, giebt es keinen Unterschied der teleologischen und kausalen
Betrachtung: sie sind mit einander in der gedankenhaften Beziehung
aller Momente zum Ganzen gesetzt: keine Zusammensetzung des
Gedankens aus Teilen und keine hinterher kommende äusserliche
Verwirklichung des vorher bloss gedachten. Im mathematischen
Denken haben wir ein Denken, das wir als Gleichnis eines solchen
absoluten Denkens ansehen mögen: wie wir hier Kaumgebilde durch
das Denken hervorbringen und damit zugleich die unendlichen Be-
ziehungen zwischen ihnen setzen, die der Verstand nachher zu seiner
eigenen \'erwunderung in den geometrischen Figuren entdeckt und
zugleich als notwendig und auch in gewisser Weise als zweckmässig
empfindet, so bringt der göttliche Verstand die Wirklichkeit in ihrer
intelligiblen Gestalt hervor, die uns in der Natur in ihrer phäno-
menalen Gestalt vorliegt. In den Organismen schimmert jene ur-
sprüngliche gedankenhafte Einheit des Ganzen und der Teile durch ;
sie wollen eben darum nicht in eine Erklärung aufgehen, die das
Ganze aus den Teilen zusammensetzt. Die Organismen aber sind
Avieder so mit dem Ganzen der Erde, ja des kosmischen Systems,
das wir kennen, verknüpft, dass wir dann nicht umhin können, sie
als in einem einheitlichen Gedanken gesetzte Momente anzusehen.
In dem letzten Abschnitt der Kritik der Urteilskraft, der auch
als Anhang bezeichneten „Methodenlehre'- zieht Kant dann \'erbindungs-
linien zwischen der teleologischen Naturphilosophie und der Moral-
Kants Verhältnis zur Metaphysik. 425
theologie. Das einzige Wesen in der Welt, das wir als absoluten
Zweck, als Eud/weck l)etrac'hten können, ,.ist der Mensch als
Noumenon; er ist auch das einzig:e Natunvesen. an welchem wir
ein übersinnliches Vermögen (die FreiheitJ und sogar das Gesetz
der Kausalität samt dem Objekte derselben, welches es sich als
höchsten Zweck vorsetzen kann (das höchste Gut in der Welt), von
Seiten seiner eigenen Beschafl'euheit erkennen können." „Wenn nun
Dinge der Welt, als ihrer Existenz nach abhängige Wesen, einer
nach Zwecken handelnden obersten Ursache bedürfen, so ist der
-Mensch der Schöpfung Endzweck'' (§ 84).
Das ist der Gedanke, den die j)raktische Vernunft uns auf-
nötigt. Sie giebt auch erst dem Gedanken des schöpferischen Ur-
wesens, das als Verstand anzunehmen uns die teleologische Reflexion
über die Natur anleitete, seine definitive Gestalt; sie giebt ihm erst
die moralischen Prädikate, wodurch es Gott, das ist Gegenstand der
Keligioii wird. Blosse Physikotheologie ..kann den Begriff einer ver-
ständigen Weltursache als einen subjektiv für die Beschaffenheit
unseres Erkenntnisvermögens allein tauglichen Begriff' von der Mög-
lichkeit der Dinge rechtfertigen, aber diesen Begriff" weder in theo-
retischer noch praktischer Absicht weiter bestimmen"; sie kann nicht
einmal die Einheit dieser „verständigen Weltursache'' sicher stellen, noch
viel weniger die moralischen Eigenschaften einer Gottheit ausmachen.
Das vermag allein die Moraltheologie, die sich auf die praktische
\ ernunft und ihren notwendigen Begriff vom höchsten Gut stützt.
Dennoch ist auch die Physikotheologie nicht wertlos; als Vor-
bereitung (Propädeutik) zur Theologie, die freilich der Hinzukunft
des anderen Prinzips bedarf, behält sie ihre Bedeutung. Sie kann
durchaus nicht das Dasein Gottes beweisen. Das war das vermessene
l'nternehmen der alten Physikotheologie, sie wollte Gottes Allmacht,
Weisheit und Güte aus der Natur beweisen. Aber dazu reicht
unsere Teleologie von Feme nicht zu; unsere Kenntnis der Natur
ist auf ein verschwindend kleines Gebiet eingeschränkt; und auch
innerhalb dieses Gebiets können wir die Thatsachen durchaus nicht
alle unter jenen Gesichtspunkt bringen, wir können nicht die zahl-
losen Formen des organischen Lebens als notwendige Glieder eines
Kelches der Zwecke darstellen; nicht einmal für die Thatsachen
der Anthropologie und der Menschheitsgeschichte gelingt uns dies.
Dennoch aber bleibt die Physikotheologie als Naturteleologie von
Wert: sie schlägt die notwendige Brücke zwischen Physik und Moral,
zwischen Physik und Theologie. „Die Urteilskraft giebt den ver-
KaatstudieD IV. 28
4-Jti
Friedrich PaulsiMi,
mittclmleti Hc^ritV zwisclicn ilciii NaturlM>;j:rilV und doin FitihcitK-
liOirrilV. der (U-n rberiraiii; \()ii dor (u'si't/,miissi":k('it iiiicli dem nstcn
y.nni Kiul/wrck nach di-ni lot/tm in(»irlii'li iiinclit. in tlcm l't'jiiill
einer ZuoeUniiissiiik eit der Natur an die llaiui; denn dadiircli wird
die Möjrlichkeit des Knd/wccks, der allein in der Natur und udt Kin-
-tinnnunir ihrer (ieset/e wirklich wj'rden kann, erkannt" ( F.inleitunf;' IX).
Ks ist bemerkenswert, wie Kant von dem physikotheolo^i-ischen
iieweis für das Dasein Gottes stets mit Aclitunfr redet. Der onto-
lo^ische und kosmoloj^ische Beweis sind ihm blosse Spit/tindijrkeiten
eines scholastisch grübelnden Verstandes; dieser daf^ejren ist, wie es
in der Kr. d. r. \. heisst, nicht nur der älteste, kläreste und der
jrenieinen Menschenvernunt't anjreniessenste Beweis, er ist auch ver-
nunftiremäss und nützlich, verdient Empfehlung;- und Aufmunterunf?;
seinem Ansehen etwas entziehen zu wollen, würde nicht allein trost-
los, sondern auch iranz umsonst sein. ..Die Vernunft kann durch
keine Zweifel subtiler, abgezogener Spekulation so niedergedrückt
werden, dass sie nicht aus jener grüblerischen IJnentschlossenheit,
gleich als aus einem Traum, durch einen Blick, den sie auf die
Wunder der Natur und die Majestät des Weltbaus wirft, gerissen
werden sollte, um sich von Grösse zu Grösse bis zur allerhöchsten,
vom Bedingten zur Bedingung bis zum obersten und unbedingten
Urheber zu erheben.-' Ebenso in der Kr. d. U. : „Das aus der
physischen Teleologie genommene Argument i.st verehrungswert.
Es thut gleiche Wirkung zur Überzeugung auf den gemeinen Ver-
stand als auf den subtilsten Denker; und ein Reimarus in seinem
noch nicht übertroffenen Werk, worin er diesen Beweisgrund mit
der ihm eigenen Gründlichkeit und Klarheit weitläufig ausführt, hat
sich dadurch ein unsterbliches Verdienst erworben." Der physiko-
theologische Beweis ist zur Grundlage des religiösen Glaubens
durchaus nicht ausreichend; dazu taugt allein der moralische, der
auch an sich schon ausreichend wäre. „Dass aber in der wirklichen
Welt für die vernünftigen Wesen reichlicher Stotf zur physischen
Teleologie ist. dient dem moralischen Argument zu erwünschter
Bestätigung, soweit Natur etwas den Vernunftideen (den moralischen)
.analoges aufzustellen vermag. Deim der Begriff einer obersten Ur-
sache, welche Verstand hat, bekommt dadurch die für die reflektierende
Urteilskraft hinreichende Realität" (Schlussbemerkung).^)
1) Ich freue mich, mit den von A. Dorner in dem vorhergehenden Heft
dieser Studien dargelegten Gedanken über die Kritik der Urteilskraft in vielen
Stücken übereinzustimmen.
Kants Verhältnis zur Metaphysik. 427
Endlich weist auch Kants Hpisteniolojirie. wenn wir mit
diesem \\'()rt seine Grdanken üher Zi(d und F'orm alles wissenschaft-
lichen N'ernunl't^ehrauchs bezeichnen dürfen, in dieselbe liichtunfr:
die Idee eines vollkommenen Systems wissenschaftlicher P>keniitnis
hat zur Voraussetzung:, dass die Wirklichkeit selbst in einem all-
umfassenden Verstände fi-egrümlet ist. Der ,, Anhang- zur trans-
scendentalen Dialektik" führt diese Betrachtung: aus: sein Inhalt ist
eig:entlich die positive Kehrseite zur Dialektik; hat diese g-ezeig-t, dass
den Ideen der spekulativen \'ernunft objektive Realität in demselben
Sinne wie den Kateg-orien nicht verschafft werden kann, so zeig:t der
Anhang:, dass sie dennoch als ..reg-ulative Prinzipien" des Verstandes-
gebrauchs notwendige und g-ültig:e Elemente unseres Denkens sind.
Im l)esoiideren gilt dies von der theologischen Idee: sie hat einen
„vortrert'liehen und unentbehrlich notwendigen regulativen (rebraucb.
nändich den N'erstand zu einem gewissen Ziel zu richten, in Aus-
sicht auf welches die Kichtungslinien aller seiner Kegeln in einem
Punkt zusammenlaufen, der, ob er zwar nur eine Idee (focus imagi-
narius) ist. . . . dennoch dazu dient, ihnen die grösste Einheit neben
der grössten Ausbreitung zu scharten.*'
Die Idee, welche sich die Vernunft von dem Ganzen wissenschaft-
licher Erkenntnis macht, ist die eines einheitlichen logischen Systems,
worin aus einem Prinzip der ganze Inhalt der Erkenntnis in kontinuier-
licher Ableitung folgt. Die philosophischen Systeme sind so viele
Versuche, die Idee zu realisieren, Spinozas Ethik ein typisches Bei-
spiel. Aber auch die Einzelwissenschaften legen thatsächlich diese
Idee als regulatives Prinzip zu Grunde: so in dem Bestreben der
Physik, die verschiedenen Erscheinungen auf gleiche Grundkräfte,
die verschiedenen Kräfte wieder auf eine einzige abs(dute (rrund-
kraft. oder in dem Bestreben der Chemie, die verschiedenen Formen
der Materie auf gewisse Grundformen und zuletzt auf eine einzige
zurückzuführen. Ebenso streben die klassifizierenden Naturwissen-
schaften, wie Zoologie und P)Otaiük, nach der Darstellung aller
Formen in einem einheitlichen, logisch gegliederten System von
Arten und Unterarten. In drei Prinzipien fasst Kant die Forderung
der absoluten Vollkommenheit des logischen Systems, welche die
N'ernunft dem \'erstande auferlegt: die Prinzi|)ien der Ilomogeneität,
der Spezifikation, der Kontinuität der Formen; das erste hält auf
Zusammenfassung des Mannigfaltigen unter höhere Gattungsbegrifle,
das zweite auf Spaltung in immer weiter determinierte Unterarten,
das dritte auf Erfüllung des Raums zwischen den Arten durch
üb*
4-JN
Fr i 0(1 rieh Tau 1 jscti,
hc^'Hn
Zwisi'licimrtt'ii. (iainit kein lo^^isi'licr (Icluilt der W'irUlicIikcit
lieh uii^ri'lasst lilcilic.
Diese reine \ Cnumrtidee erhält dann in dein zweiten Altsclinitt
des Aidiani:s ihre ..transseendentale Deduktion", soweit solche niöi:-
lieh ist. Die \ oransset/unj; der Kealisierunii- jener Idee der Wissen-
soliatt als eines [(irischen Systems ist die: dass die Wirklichkeit an
sich seihst iDjrisch ist, um! das wird der Fall sein, wenn sie Produkt
eines Nerstandos ist. l'nd das wäre also die XOraussetzunji', wenn
nicht lllr die Möglichkeit der JCrlahrun^ iil)erhaui)t. so doch für die
Möirliehki'it der Erfahrung- in Jenen) höchsten Sinn, wie sie durch
die Idee eines vollendeten wissenschaftlichen Systems hezeichnet ist:
dass die Wirklichkeit selbst als Befrrirtssysteni durch einen absoluten
N erstand g:esetzt sei. Natürlich kann ein solcher \erstand nicht in
der Erfahrunj;: acegeben werden, er ist selbst eine blosse Idee. Doch
bin ich durch die \ Cruunft, die /.um grösstmöf^lichen eni])irischen
Gebrauch des \'erstandes mich verbindet, befujjt, diese Idee „als
auch objektiv und hypostatisch anzunehmen''; ich werde mir also
ein Wesen als „selbständige Vernunft, was durch Ideen der
irrössten Harmonie und Einheit Ursache vom Weltf>-anzen ist, denken
können, um unter dem Schutz eines solchen Urgrundes systematische
Einheit des Mannigfaltigen im Weltganzen und, vermittelst derselben,
den grösstmöglichen empirischen A'ernunftgebrauch möglich zu machen,
indem ich alle Verbindungen so ansehe, als ob sie Anordnungen
einer höchsten Vernunft wären, von der d'w. unsrige ein schwaches
Nachbild ist." — — ,.Die grösste systematische, folglich auch die
zweckmässige Einheit ist die Schule und selbst die Grundlage der
Möglichkeit des grössten Gebrauchs der Menschenvernunft. Die
Idee derselben ist also mit dem Wesen unserer Vernunft unzertrenn-
lich verbunden. Eben dieselbe Idee ist also für uns gesetzgebend,
und so ist es sehr natürlich, eine ihr korrespondierende Vernunft
(intellectus archetypus) anzunehmen, von der alle systematische Ein-
heit der Natur, als dem Gegenstande unserer Vernunft, abzuleiten
sei.'' —
Nach allem wird es ja wohl nicht zweifelhaft sein, dass Kant
sich über das Jenseits der Erscheinungswelt Gedanken gemacht hat,
Gedanken, die er auch durchaus nicht als beliebige subjektive Ein-
fälle oder blosse Privatmeinungen, sondern als notwendige,
durch die Natur der Vernunft selbst gegebene Gedanken
angesehen haben will. Ein nach Begriffen schaffender Verstand,
ein intellectus archetypus, der unserem nachdenkenden Verstand
Kants Verhältnis znr Metaphysik. 429
vorfredacht hat, das ist die Voraussetzunji- über den letzten Grund
der Dinge, auf die wir durch alle unsere wissenschaftliche Krkcnnt-
nis, durch Logik, Ästhetik, Naturphilosophie und Oeschichts-
philosophie hinjrewiesen werden. Das ist die ..Metajjhysik", wie
sie die spekulative Vernunft rein aus sich selber hervorbringt.
Wohl /AI unterscheiden von der Metaphysik ist die Religion.
Religion kann die spekulative Vernunft als solche überhaupt weder
hervorbringen noch begründen. Religion ist Sache eines .praktischen
Glaubens", nicht des spekulativen Denkens. Das „Urwesen*', worauf
dieses führt, ist als solches noch durchaus kein Gegenstand religiöser
\'erehrung; es ist nichts als ein erstaunlicher „Kunstverstand". Zur
(iottheit wird das Urwesen erst durch die moralischen Prädikate
der Weisheit und Güte. Und die verschaff't ihm allein die praktische
Vernunft, nicht durch spekulatives Denken über die Thatsachen.
sondern durch ,, Forderungen*', die sie als unnachlassliche erhebt.
Und zugleich wird hierdurch die objektive Realität der Gottesidee
ausser Frage gestellt. ,,Die Ideen der spekulativen Vernunft sind
an sich noch keine Erkenntnis, doch sind es (transscendente) Ge-
danken, in denen nichts Unmögliches ist. Nun bekommen sie
durch ein apodiktisches praktisches Gesetz, als notwendige Be-
dingungen der Möglichkeit dessen, das dieses sich zum Objekt zu
machen gebietet, objektive Realität'* (K. d. pr. V. Dial. \'II),
So ist also der Gotteshegriff bestimmt und seine Gültigkeit
durch unsere Vernunft vollkonmien gesichert: Gott, die Einheit des
Wirklichen und des Guten; die Wirklichkeit ursprünglich durch ihn
gesetzt und durch ihn zum absoluten Endzweck des höchsten
Gates geführt. Freilich, wissenschaftliche Erkenntnis ist das nicht;
weder Gottes Wesen noch seine Wirksamkeit ist Gegenstand rein
theoretischer Erkenntnis: wir können nicht sagen, was Gott an sich
selbst ist, sondern nur: als was unsere Vernunft ihn durch ihr
Wesen selbst zu denken genötigt ist. Und noch weniger können
wir Gottes Wesen und Wirksamkeit als wissenschaftliches Erklärungs-
]irinzip in der Natur und Geschichte brauchen: weder können wir
die Erzeugnisse der Natur für Selbstzwecke ansehen, noch können
wir darthun, dass sie abgestimmte Mittel für die Entwicklung des
Wesens, das wir allein als Selbstzweck betrachten können, des
Menschen, sind. Ja. wir können im Grunde auch nicht einmal das
..Dasein Gottes*', die ,, objektive Realität** des Begrifl's Gottes dar-
thun. wenn wir nämlich darunter dasselbe verstehen, was wir in
der Wissenschaft sonst darunter verstehen: den Begriti' in der An-
430
Kricil lirli I'huImmi.
sriiauuliir darstrllfii Kiiic ..schciiiatisi'lic llypotyposi"'. wie sie Itlr
die Katt'irorii'ii möi:lii'li ist. ist für lilccii illu-iliaiiiit iiiHn(»;j,li('li. Was
allein inüiilioli ist, das isi t'inr ,.sy mix» lisclic 11 \ poty posc", rinc
,, indirekte Daistolhinir des HeiirilVs. verniitlelst einer Analofri«'. '/ai
welelii-r man sirli aiieli t-mpirischer Ansclianunizcn bedient'* (Kr. d.
U. S. ö»)).
Kine sidelie symbolische \Orstelliinj:' ^(ln (iott. eine \ Crsinn-
lii'luniir der Idee (iottes dnridi Attribute menscldicdien Wosens. als
da sind \ erstand. Wille, Weisheit, (TÜte, ist nun freilich uincrnn'id-
lioh und vülli«:' berechtig't. In allen drei Kritiken und den Trole-
iromeuen dazu läuft die Behandlung; des Gottesbejrrilf-^ hierauf zuletzt
hinaus, auf einen ,,sy rabolisehen Anthroponiorphismns''. Mit
diesem reg:elmässig: wiederkehrenden Heiirifl' hat Kant in Sachen der
Weltanschauunii' sein letztes Wort gesprochen: ein Theismus in der
Form eines symbolischen Anthropomorphismus, das ist die
vernunftiremässe, die für Menschen notwendige Form des Denkens
über die Welt überhaupt.
Wir können nun die ganze Kantische Gedankenbildung in eins
zusammenfassend so darstellen.
Wie unser Verstand sich notwendig in die Wirklichkeit hinein-
legt, indem er durch seine Begriffe, die Kategorien, die Gegen-
stände bestimmt oder eigentlich ihrer Form nach hervorbringt, so
trägt auch unsere Vernunft sich selbst in die Welt hinein und fasst
sie als Ganzes durch ihre Ideen als ein in Vernunft gegründetes
einheitliches logisch-teleologisches System. Die kritische Philosophie
aber ist nichts anderes, als die systematische Aufdeckung dieses
Sachverhalts: sie erkennt, was die alte Metaphysik als ontologische
Bestimmungen der Dinge selbst fasste, als die Kategorien unseres
Verstandes; sie erkennt ebenso, was die alte Metajjhysik in der
rationalen Psychologie, Kosmologie und Theologie als abso-
lute Bestimmungen der Wirklichkeit selbst ansah, als Ideen unserer
\'ernunft. Aber so wenig sie dort darauf ausgeht, die Kategorien
als ungültige, bloss subjektive Begrift'e darzuthun, so wenig will
sie hier die Ideen als bloss subjektive, und darum ungültige
Gedanken zu nichte machen. Vielmehr, wie sie dort eben auf die
Subjektivität und Apriorität der Kategorien die Möglichkeit der Er-
fahrung, und dandt die objektive Gültigkeit des A'erstandesbegrift's
gründet, so will sie hier auf die Subjektivität und Apriorität der
Ideen die Möglichkeit der Metaphysik gründen: wie die Form des
mundus sensibilis nicht durch zufällige Erfahrungen, sondern durch
Kants Verhältnis zur Metaphysik. 431
die Natur unseres Verstandes absolut sicher hestinimt ist, so ist
auch unser Denken des mundus iutelligHtilis nicht durch /utallige
Krtahruniren, sondern durch die Natur unserer \ernunft für uns
absolut sicher bestimmt. Der Anthropomorphismus unserer VVelt-
anschai>ung ist so notwendijr, als der Anthropomorphismus unserer
Naturaurtassung:. Vernichtet er hier nicht die Physik, so dort nicht
die Metaphysik, sondern ist vielmehr ihre Unterlage. Wobei denn
allerdings ein Unterschied ist: die Physik ist wissenschaftliches Er-
kennen, die Metaphysik vernunftgemässes Denken; dort haben wir
es mit unseren Empfindungen und Wahrnehmungen zu thun, die wir
durch unsere Denkfunktion bestimmen, hier haben wir es mit den
Dingen an sich selbst zu thun, die durch unsere Gedanken nicht
bestimmt werden; was wir bestimmen können, sind nur unsere
Gedanken über die Welt, nicht die Welt an sich selbst; aber die
Gedanken sind nettwendig bestimmt, nämlich durch \'ernuiiftideen. —
Ich habe dieser Darstellung mit Absicht nur die Schriften zu
Grunde gelegt, die Kant selbst als Darstellungen seiner neuen, der
kritischen Philosophie veröffentlicht hat, weil mir vorgehalten worden
ist. dass alles unsicher werde, wenn man Nachschriften nach Vor-
lesungen und undatierte Notizen als Quellen benutze. Ich meine, auch
aus den Kritiken und zwar aus allen drei Kritiken, nicht bloss der
der Urteilskraft, sondern ebenso der Kr. d. r. V. und den Prole-
gomenen, geht auf das Unzweideutigste hervor, dass Kaut an der
Möglichkeit und Notwendigkeit einer Metaphysik festhielt: zwar nicht
der Metaphysik im alten Sinn, als einer der Physik koordinierten
Wissenschaft, die aus reinen Begriffen das Wesen der Objekte Gott
und Seele bestimmt, sondern als einen Inbegriff" notwendiger, freilich
nicht in der Anschauung darstellbarer Gedanken über die Wirklich-
keit an sich selbst.
Ich darf nun doch daran erinnern, dass eben diese Gedanken
uns auch aus der vorkritischen Periode, aus den Schriften der (JOer
Jahre, wohl bekannt sind, als Gedanken, für die er eine vernunft-
mässige Notwendigkeit in dem ,.Einzig möglichen Beweisgrund"' (17H3i
noch im Sinne der alten Metaphysik aufzuzeigen versuchte, in den
„Träumen eines Geistersehers" (1 ?()(;) linden zu können verzweifelte,
in der Dissertation von 177() in einer neuen Form wieder in der
Hand zu haben glaubte, diesmal schon mit der Wendung zum
Kritizismus. Man sieht, es sind beharrliche Elemente von Kants
Gedankenbildung. Sie sind auch in der kritischen Periode nicht
verschwunden, wie es denn doch überhaupt eine seltsame Vorstellung
432 Friedrich rmilsiMi.
ist. dass ein Mann im \llcr \on .'lO .laliion alles, \n;is er hislicr
i;t'(lai'ht. V(Hi sK'li jriMVDrfcii lialio; man darf wohl sa{;iMi: ein iilicr-
liaupt uinniifriii'iuT N'orjranir. Was niiticiich ist. das ist, das8 die alten
(Jedaid<.en eine neue Wenduni:: erhalten, mit einem neuen Vorzeichen
auftrelen. l'nd so iresehieht es hier: in der kritischen I'liilosophie
erscheinen Jene (bedanken in der endlieh nach vielen ,.l!nd<ii)i)unj:;en"
irefundenen delinitiven Korm: als notwendijre V e rnunltideen,
die nicht die Erscheinunnswelt, aher unser lieflektieren über die Welt
notwendiiT hi'stinnnen und durch die praktische Vernunft letzte Ausire-
staltunir und (iarantie ihrer (iiiltiirkeit erhalten.
Freilich, diese Gedankeu stehen nielit am Einfcanj;: der Kr. d.
r. \.; sie sind überhaupt in den kritischen Schriften, wie sie vor-
lieireu, uirijends in vollständigem Zusannnenhang, sondern zerstreut
und andeutunirsweise ausgeführt, ol)wohl Kant sie schon zur Zeit,
als er die Kritik d. r. V. schrieb, vollständig; beisammen hatte: es
ist, ich wiederhole es, eine vollständig unbegründete Vorstellung, dass
die Gedanken, die in den beiden folgenden Kritiken besonders in
der K. d. U. ausgeführt sind, ihm erst nachträglich gekommen seien.
Doch sind diese Gedanken auch so hinlänglich deutlich ausgeführt,
um über ihren Sinn keinen Zweifel zu lassen, hinlänglich deutlich
auch, um die wesentliche Gleichheit der Gedanken mit denen, die er
in den Vorlesungen über Metaphysik vortrug, erkennen zu lassen.
Hätte Kaut sein Vorhaben, der Kr. d. r. V., als der Propädeutik
zur Metaphysik, diese Wissenschaft selbst in doktrinalem Vortrag
folgen zu lassen, bald nach 1781 ausgeführt, so würden wir ein
System der Metaphysik erhalten haben, das über Kants Stellung zu
dieser Wissenschaft niemand einen Zweifel gelassen hätte. Der Schluss-
abschnitt der Kr. d. r. V^, die Architektonik, giebt den Bauriss dafür,
das vollendete System der Metaphysik hätte, abgesehen von der
Metaphysik der Sitten, zu umfassen: 1. die Ontologie; 2. die rationale
Physiologie, mit zwei Teilen: der rationalen Physik und der ratio-
nalen Psychologie; 3. die rationale Kosmologie; 4. die rationale
Theologie, die auch als transscendentale Welterkenntnis und als
transscendentale Gotteserkenntnis bezeichnet werden. Hiervon ist nur
die rationale Physik in den metaphysischen Anfangsgründen
der Naturwissenschaften ausgearbeitet worden. Das Seitenstück, die
rationale Psychologie, fehlt ganz; von den beiden letzten Teilen ist
nur in der K. d. U. einiges ausgeführt, und für die Ontologie muss
die Analytik eintreten.
Die Folge davon, dass durch die Form der Kritik die Form der
Kants Vorhiiltnis z>ir Metaphysik. 433
Doktrin beinahe unterdrückt worden ist. so sehr, dass Kant selbst
am Ende die Kritik für das System ausjrab, ist nun die. dass mancher,
die unentwickelte positive Seite der Kantischen Gedanken übersehend,
ihn zum blossen Kritiker, /.um Zerstörer der Metaphysik, ja /.um
Skeptiker, zum Patron des Agnostizismus gemacht hat. In der katho-
lischen Polemik erscheint er regelmässig in dieser Gestalt, nur
dass der Patron des Agnostizismus hier dann zum grossen Protektor
des Unglaubens wird. Habent sua fata libelli!
Dass Kant damit eine ihm durchaus fremde Stellung aufgenötigt
wird, das geht aus der Stellung, die er selbst sich im Zusammenhang
der geschichtlichen Entwicklung giebt. vielleicht am deutlichsten
hervor. Darum hierüber noch ein Wort.
Wo Kant seine Gedanken durch ihr \'erhältnis zu den vor und
neben ihm vorhandenen Gedankenrichtungen bezeichnet, da bestimmt
er regelmässig ihren Ort durch einen doppelten Gegensatz: Dogma-
tismus und Skeptizismus, seine Philosophie dagegen Kritizismus.
Der Dogmatismus, zunächst durch Leibniz-Wolt!" repräsentiert,
ist allgemein die Philosophie, die, als ancilla theologiae, die
(Tlaubenswahrheiten, wenigstens die allgemeinsten Grundartikel. Gott
und Unsterblichkeit, durch reine \'ernunft beweist, wie darin die
scholastische Philosojjhie vorangegangen war. — Dem gegenüber ist
Kants Stellung bestimmt: er hebt das Dienstverhältnis zur Theologie
auf; die Vernunft oder die Philosophie, so behauptet er, ist zu solcher
Leistung überhaupt untauglich; sie kann die Glaubensartikel der
Religion nicht als wissenschaftliehe Wahrheiten demonstrieren, einfacb
darum nicht, weil sie nicht wissenschaftliche Wahrheiten sind. Statt
dessen setzt Kant die Philosophie in enge Beziehung zu den Wissen-
schaften, freilich nicht in ein Verhältnis der Dienstbarkeit, sondern
eher einer Aufseherin: sie hat die Möglichkeit der wissenschaftlichen
Erkenntnis zu zeigen and zugleich ihre Aufgaben und ihre Grenzen
zu bestimmen, sie erhält das Censoramt über die Wissenschaften.
Der Skeptizismus, zunächst zurch Hume repräsentiert, ist die
Richtung, die auf Vernichtung zunächst der scholastisch-dogmatischen
Philosophie, dann aber darüber hinaus auf die Vernichtung der
Gegenstände des religiösen Glaubens selbst ausgeht. Die Nichtigkeit
der Beweisgründe wird als Beweis für die Nichtigkeit der Sache ge-
nommen, der sie dienen wollen. Das ist wenigstens die Konsequenz,
die der dogmatische Unglaube, wie er im Systeme de la iiature
vorliegt, aus der erkenntnistheoretischen Kritik Humes zieht; hier
wird die sinnliche Ansicht der Dinge absolut gesetzt und dann das
4H4 KritMlricli l';iiils»>n.
l lM'r>>iniili('lif »l()l;•lll;lti>^(■ll u('l<'ii;:n('t. l>('iii i:('ir<'nill»t'i' stellt Kant
tost: jinie Si-llistlx-siiiiiiinu' weist iiltrr das SiiinliclM' auf ein 1 Ikt-
sinnlii'lu's hinaus. Die \ ci lumtt /r'i'^X aut der fiiicn Si-itc ilass die
(Mn|)irisclu' Wisscnscliaft seihst nielit aus den Sinnen stannnt, die Kr-
talirunfr setzt den \ Crstand voraus ; aut der andern Seite, dass die
Wissonsehat't niemals mit etwas anderem als mit Krselieinunjren /u
tliun hat. jenseits ihrer also die Diimc an sich seihst lässt. /u denen
es dann ein anderes N'erliältnis als durch N\'issen {jehen niöjre. Oder:
Kant l)i'wiMst auf der einen Seile die Müi;-lichkeit eines rationalen
Wissens, auf der anderen die eines rationalen (llauhens.
Auf diesem dopiielten (legensat/, heruht das ei^-entümlich
Schillernde der Kantischen Philosophie; ich meine das nicht im Sinne
des Tadels, es ist ein notwendiges optisches Phänomen. Träjrt man
Kants Philosoj)hie auf den llinterp-und der rationalistisch - dog-
matischen Philosophie auf. dann erscheint sie negativ-skeptisch; trägt
man sie auf den Hintergrund der empiristischen oder materialistischen
Philosophie auf, daini erscheint sie rationalistisch-idealistisch.
Kant selbst dient bald der eine, bald der andere Hintergrund
als rnterlage. von dem sich seine Gedanken abheben, in der Analytik
Hume. in der Dialektik Wolff. Doch ist kein Zweifel, dass er selbst
sein Werk vor allem auf dem Hintergrunde der negativen, skeptisch-
materialistischen Philosophie sah. dass er sich vor allem als den
t'berwinder von Huines Zweifel, als den Hersteller der i\löglichkeit
eines vernünftigen Glaubens gegen das Systeme de la nature be-
trachtete. Was den anderen Gegensatz hervordrängte, das war der
Umstand, dass er die Wolffische Philosophie als die herrschende
Sehulphilosophie rings um sich hatte; hatte er doch selbst ihr an-
gehört. Dagegen war Hume in Deutschland wenig bekannt und noch
weniger ernst genommen, und der französische Materialismus war
auch kaum als wirkliche Macht vorhanden. Kant hatte also äussere
Ursachen, den Abstand gegen Leibniz-Wolö" stärker zu betonen; von
dieser Seite kamen auch die Angriffe. Dagegen empfand er innerlich
den Gegensatz gegen die andere Seite stärker: der Gegensatz gegen
Humes Skeptizismus hat dem Kationalismus der Analytik, der Gegen-
satz gegen den Eudämonismus dem starren Formalismus der Kr. d.
pr. V., endlich der Gegensatz gegen Empirismus und Materialismus
überhaupt der aprioristischen Ästhetik und Teleologie der Urteilskraft
ihre Form gegeben. Und der Gegensatz gegen den dogmatischen
Atheismus und Materialismus beherrscht sein ganzes Denken.
Bemerkenswert ist doch auch die geschichtliche Wirkung
Kants Verhältnis znr Metaphysik. 435
von Kants Gedanken: sie brachten die rationalistiscli- idealistische
Philosophie Fichtes. Schelling:s und Hegels aus sich hervor; und
auch Herhält und Schopenhauer bleilien noch im Ganzen in den
Spuren des Idealismus und Apriorismus. Krst in der /weiten Hälfte
des l!i. Jahrhunderts ist die empiristisch-skeptische Auffassung Kants
aufgekommen; sie entsprach der eigenen Denkrichtung, und man sah
nun Kant auf dem Hintergrund von Hegels absolutem Kationalismus:
da trat dann freilich die anti -metaphysische, agnostische Seite
hervor. Ich meine, man nmss und wird sich überzeugen, dass Kant
im Grunde an allen Punkten der spekulativen Philosophie, zunächst
Fichte, vorgedacht hat. In der theoretischen Philosophie: die sinnliche
Wahrnehmung ist bloss Material für die \'ernunft und ihr apriorisches
Denken; die sinnliche Welt ist blosse Erscheinung und an sich
nichtig, die intelligible Welt ist die wahre Wirklichkeit. In der
praktischen Philosophie: die Sinnlichkeit ist die niedere Form des
Willens, sie ist durch die praktische Vernunft einzuschränken oder
zu überwinden; die Aufgabe ist, in der Welt der \'ernunft, in der
geistigen und ewigen Welt als der wahren Welt zu leben. Der
Ausführung, die diese Gedanken in der spekulativen Philosophie er-
fahren haben, würde Kant sicherlich nicht haben folgen wollen; vor
allem würde er die Hegeische Naturjjhilosophie abgelehnt, oder ihr
jede Bedeutung abgesprochen haben: der Versuch, die Gedanken des
intellectus archetypus durch die dialektische Methode nachzudenken,
überfliege die Schranken unserer Erkenntnis und bestehe in
Wahrheit blos in einem leeren logischen Schematisieren in der An-
ordnung der Naturformen. Aber dass überhaupt Vernunft in der
Wirklichkeit sei. oder eigentlich dass die Wirklichkeit an sich Ver-
nunft sei. würde er als die ihm mit Jenen gemeinsame Grundan-
schauung haben gelten lassen, nur mit der kritischen Einschränkung,
dass unsere N'ernunft nicht mit dieser Vernunft zusammenfalle, dass
unser eigentliches, wissenschaftliches Erkennen nicht über das Ge-
biet gegebener oder möglicher sinnlicher Wahrnehmung hinausreiche.
U.
Der Darstellung des Verhältnisses Kants zur Metaphysik lasse
ich nun ncjch ein paar Hemerkungen über Meta|)hysik überhaupt,
oder also über meine Ansicht über Metaphysik und ihr Verhältnis
zum Wissen und zum Glauben folgen, l)esonders auch, um sie gegen
Missverständnisse zu schützen, wie sie z. B. in Rickerts Aufsatz über
436
Friedricli rjiulsen,
Kiohti's AlliciMiuissiri'ii im vorliriirrliciKlt'ii Hclt dieser Studien hcr-
vor^t'tri'ton sind.
Die Metaphysik, nach meiner Aiillassiin;;-. isi und soll sein
Wissenschaft, freilich eine Wissenschaft von anderer Art als
l'hysik (»der (tescliichte; ihre Auf^al)e und ihre Methode ist eine
besonderi'. Ich fasse sie so: dii' Aiifj:ahe der Metaj)hysik ist, durch
ein auf (Jrund der g:e<;ehenen Thatsachen vorschreiten(h's Denken
sich Ul»er die Einzelerscheinunfren und ihre Erkenntnis in (h'n Kiii/,el-
wissenschatten /u einer (iesamtanschauunfr der Wirkliciikeit /.u er-
heben, oder eine vernunftgemässe Weltanschauun-r zu hcicriinden.
Die Einzehvissenschaften zeijren uns einzelne Seiten oder Ausschnitte
der Wirklichkeit, denen sie an der Hand der Erfahrung nachgehen;
sie lassen eine Aufgabe ülirig: die gegebenen Erkenntnisse zu ver-
knüpfen, durch Kombination zu ergänzen, zur Bestimmung der Wirk-
lichkeit im Ganzen zu verwerten. Diese Aufgabe kann nicht durch
empirische Einzelforschung, sondern nur durch das betrachtende
Denken gelöst werden; das Ganze und seine allgemeinsten und
tiefsten Zusammenhänge gehen über das empirisch Gegebene hinaus.
Andererseits wird freilich nur ein Denken, das von der Reflexion
über die durch die wissenschaftliche Forschung gegebenen That-
sachen ausgeht, zu einer Anschauung der Dinge führen, die auf All-
gemeingültigkeit Anspruch machen kann; ein rein auf sich selbst
gestelltes, aus allgemeinsten Begriffen ein System ableitendes Denken,
wie etwa das der Hegeischen Dialektik, wird nur zu willkürlichen
Kombinationen führen.
Verschieden aber von der Metaphysik, die auf denkender Be-
trachtung der Wirklichkeit beruht, ist die Religion; ihr Wesen ist
Glaube, in allgemeinster Formel der Glaube, dass die Wirklichkeit
zuletzt vom Guten, von einem auf das Gute gerichteten Willen bestimmt
wird. Dieser Glaube beruht nicht auf dem Wissen, er kann nicht durch
Erfahrung oder Spekulation als wahr bewiesen werden, er ruht auf
der Willensseite unseres Wesens. Die Form aber, die er in den
geschichtlichen Religionen annimmt, ist ein Theismus in Gestalt eines
symbolischen Anthropomorphismus.
In allen diesen Stücken meine ich mit Kant in wesentlicher
Übereinstimmung zu sein. Auch er nimmt eine Mittelstellung ein
zwischen einer verstiegenen, bodenlosen Spekulation und einem rein
positivistischen Agnostizismus. Erhebt sich jene über den festen
Boden des Gegebenen, um in der freien Luft des reinen Denkens
zu schwärmen, so bleibt dieser wenigstens grundsätzlich bei den ge-
Kants Verhältnis zur Metaphysik 437
gebenen Erscheinuujren, wie sie die Einzeltbrschunjr darstellt, stehen;
Kant dagegen stellt sich mit den Füssen fest auf den Boden der
Thatsachen, aber er richtet den Blick nach oben, in die Kegion des
mundus intelligihilis. um wenigstens sein \'erhältnis /u dem eigenen
Standort zu bestimmen.
Nur in der Form der Begründung und Ausführung dieser Ge-
danken würde ich etwas andere Wege einsehlagen, Wege, wie sie
eine Reihe von Denkern im l!i. Jahrhundert, von Kant ausgehend,
eingeschlagen hat. ich nenne Schoj)enhauer, Beneke, Lotze, Fechner,
Wundt. Im besonderen würde ich das \'erfahren der Metaphysik
mit den genannten Denkern etwas mehr ins Empirische und
Psychologische wenden.
Der Ontologie würde ich die allgemeine Betrachtung zu Grunde
legen, dass bei dem Wirklichen, das im Selbstbewusstsein erfasst
wird, von einem Gegensatz von Erscheinung und Ding an sich nicht
füfflich die Rede sein kann. Unsere Erkenntnis des eigenen Seelen-
lebens mag in mancher Hinsicht beschränkt und unzulänglich sein,
dennoch kann hier nicht in demselben Sinne, wie bei der Vorstellung
der Körperwelt, gesagt werden, dass wir es mit blossen Erscheiimngen
zu thun haben. Ich weiss, was ich meine, wenn ich sage: eine be-
stimmte Bewegung eines bestimmten Körpers ist Erscheinung, Mani-
festation etwa eines Willens, der als solcher nicht sinnlich wahrnehm-
liar ist, eine Gebärde ist Erscheinung einer an sich nicht sichtbaren
Gefühlserregung; ich verstehe aber nicht, was jemand meinen kann,
wenn er sagt: ein Gefühl, das ich habe, von Frost oder Hitze, von
Liebe oder Zorn, ist bloss Erscheinung von etwas anderem in meinem
Innern Siun. Hier fällt vielmehr das Sein an sich selbst und das
Sein für das Bewusstsein zusammen. Nur für die Körperwelt hat
es einen Sinn, zu sagen, sie sei blosse Erscheinung. — Auch Kant
liegt diese' Betrachtung nicht ganz fern; auch er denkt beim mundus
sensibilis in erster Linie an die Körperwelt; auch ihm gehören Ver-
stand und Vernunft, theoretische und praktische, nicht zur Erscheinungs-
welt, wogegen er allerdings den Inhalt des emjjirischcn Bewusstseins
des Individuums mit der Zeit zur Erscheinung rechnet. Wozu denn
zu bemerken wäre. dass. wenn man auch mit Kant die Zeitordnung
als eine bloss für uns notwendige Form der Vorstellung des
Inhalts des seelischen Lebens fasst. die nicht für jeden Intellekt,
z. B. nicht für einen allumfassenden, göttlichen Geist notwendig
ist, dennoch der Inhalt des Seelenlebens auch für sein Vorstellen
kein anderer sein könnte, ohne dass eben die Vorstellung falsch
488 Fr i 0(1 rieh Paul so n.
wllrdo. l 11(1 von ciiuMii rwiji- (Imiklcii Sfclciisulislniiy.iali' wriss auch
kaut nichts.
Dir nähere Austiihriiu^- der Meta|)hysik :iut dieser (Jrnndlajro
wilrde dann die l-"orin einei- liilir|irelnti(Mi der k(ir|ierlit'hen Kr-
seheinuiiirswili aiil eine an sieh seiende Wirklichkeit annehnu'n,
nach (h'iii Schema : alle körperlichen Systeme sind in dem Masse,
als ^ie sich (h-m inenschliclien Leibe in Ferm und Funktion nähern,
als Erscheinungen {üarstelluni:-en in der sinnlichen Anschsiuuiif; eines
Sulijekts) von etwas an/.uselien. das dem \('ri:iei(ddiar ist. das icli im
Selitsthewusstsein als ein so bestimmtes Öcelenlelien kenne. Und
/war würde ich dann für die Interpretation der nächstverwandten
Erscheinuuiren (der Tier- und l'fian/enwelt) Schopenhauers Satz als
heuristisches Prin/.i)) anwenden: die Willensseite ist der |triniäre
Inhalt, die Intellii;-en/. eine sekundäre Kiitwicklunu- des seelischen
Lebens. Ich würde also annehmen, dass sich in der absteii:-end(m
Reihe der tierischen Bildunjjen das Innenleben immer mehr auf
Willensvoriränge einschränkt, dass die \'oru-än.a'e der lntelli<i-en/> immer
mehr schwinden: zuerst die Funktion des lieg-ritt'lichen Denkens, die
nur soweit anzunehmen ist, als sie in der Sprache sich objektiviert,
sodann die Funktictn des anschaulichen Erkeimens, bis sich, mit dem
Schwinden eiu-entlieher Sinnesorgane, die Intelligenz in bloss ver-
einzelte, momentane EmpHnduni;se]Tegung:en verliert. Und dem ent-
sprechend würde dann der Wille, der in uns selbstbewusster, ver-
nünftiger \\'ille ist, zusammenschrumpfen auf vereinzelte momentane
Triebregungen und organische Gefühlserregungen, so dass das Seelen-
leben der untersten Stufe bloss als ein einheitliches System von Trieb-
richtungen, ohne Selbstbewusstsein anzusetzen wäre. Und noch weiter
von dem Zusammenhang und der Ähnlichkeit mit dem Menschlichen
uns entfernend, würden wir annehmen, dass den vegetativen Vorgängen
in der Pflanzenwelt noch ein dem von Ferne Vergleichliches als Innen-
seite entspreche, was wir als die Innenseite unserer vegetativ-
organischen Lebensprozesse erleben. Und endlich würden wir
die mannigfachen chemischen und physikalischen Vorgänge in
der unorganischen Welt als Hinweisungen auf innere Vorgänge
ansehen, die wir zwar durch keine Künste der Interpretation
in ihrer konkreten Gestalt darstellen können, die als Willensvor-
gängen verwandte anzunehmen wir aber, um des tausendfältigen Zu-
sammenhangs aller \"orgäuge in der körperlichen Natur willen, dennoch
nicht umhinkönnen. Und wir würden hinzufügen, dass es uns ganz
ebenso ergehe mit den körperlichen Einheiten, die als umfassende
Kants Verhältnis zur Metaphysik. 4;3y
kosmische Systeme unser Leben einschlössen, also mit der Erde,
dem Planeten-, dem Milchstrassensystem, und was sich darüber für
höhere Einheiten, der Astronomie verborgen, noch finden möchten:
sie als bloss körperliche Systeme /.u fassen, werde uns durch unsere
GesamtauÖassung unmöglich gemacht, die uns in Jedem Körper-
lichen eine Manifestation eines Anderen, Inneren zu sehen anhalte;
aber dies Andere in concreto zu bestimmen, sei uns freilich völlig
unmöglich, nur würden wir es natürlich nicht unter uns. sondern
über uns suchen.
Dieser ontologischen Betrachtung würde ich eine kosmologische
anschliessen ; es ist die. die Lotze so oft ausführt: die Einheit und
Zusanmienstimmung der Vorgänge in der physischen Welt, die der
Physiker als eine universelle Wechselwirkung aller Teile im Kaum
deutet, müsse als eine Hinweisung auf eine ursprüngliche, sub-
stantielle Einheit aller Wirklichkeitselemente, auf ein ursprüngliches
Miteinandergesetztsein in einem einheitlichen Wesen aufgefasst werden:
Wechselwirkung der Elemente sei nicht verständlich, wenn sich diese
ursprünglich ganz fremd gegenüberstünden, wenn jedes eine Substanz
a se sei. — Wir kämen damit auf den Begriff, den Kant als den
Begriff eines ..Urwesens" nicht so sehr aus der physischen Wechsel-
wirkung aller Elemente, als aus der logischen Beziehung aller
„Realitäten" ableitet. KomV)inieren wir mit unserer ontologischen diese
kosmologische Betrachtung, so würden wir sagen: ein einheitlicher
Wille als Urgrund der Wirklichkeit, das scheint der letzte Gedanke
zu sein, auf den wir durch Erfahrung und Nachdenken geführt werden.
Sn weit leitet uns das Wissen, oder also, um bescheidener und
wahrer zu reden, ein über das Gegebene, doch nach Andeutungen
im Gegebenen, hinaustastendes Denken ; denn freilich fehlt viel
daran, dass wir diesen Gedanken in concreto ausdenken oder auch
nur als notwendige \'oraussetzung für die Denkbarkeit der Wirklich-
keit eigentlich beweisen könnten. Es ist ein letzter Punkt des
Denken.s, auf den es, von verschiedenen Punkten ausgehend, sich
hingewiesen findet. Wer überhaupt nicht über das Gegebene und
Beweisbare hinausgehen will, kann nicht genötigt werden; nur
werden wir, mit Kant, sagen: es liegt in der Natur der menschlichen
Vernunft, über alles Einzelne, Endliche, Bedingte zu einem Letzten,
Allumfassenden, Allbedingenden, Unbedingten hinauszustreben.
Und: der atomistische Materialismus ist natürlich ebenso gut Meta-
physik, ein letzter über das Gegebene hinausgehender Gedanke, als
ein monistischer Idealismus. —
440
Kri fii licli Paiilscn.
S(t\icl ülu>r .Mrt.i|ili\ sik. Ich sclilicssc eine Hciiicrkmii: :in iittcr
(Irn prakt isi'ht'ii (J l.-iuhni und den Primat des Willens, liier
handelt es sieh also nielit mehr um Heslininuin<r«'n. die durcli (hiH
Wisst'u. sondern um Mntseheidunut n, die durch den Willen ^^e;::el)eii
werden. natUrlieh nicht durch willkürliche und /ulallip' Wünsche,
sondern durch den allp'meinen und nolwendipMi Willen, nut Kant:
durch dir j)rakti^clie Nermmlt.
Die Summe der Sache kann man in die Formel fassen: die
Metaphvsik l'iihrt auf den (iedanken. dass der letzte (Irund der
Wirklichkeit in einem einheitlichen Willen liefre; der praktische
(ilaul)e fiiiit hin/u: dass dieser Wille ein jiuter Wille sei.
Dieser Satz kann nicht theoretisch hewiesen werden, das blosse
Denken führt nicht nut ihn; er kann nur iicirlauht werden; und der
entscheidende Grund, ihn zu j^lauben, liegt in der W'illensseite des
Wesens: er ist eine n(»twendige \'oraussetzung unseres notwendigen
Wollens. Es ist aber berechtigt, solche notwendige Voraussetzungen
unseres praktischen \'ernunftgebrauchs als wahr anzunehmen, eben-
so gut als es l)erechtigt ist, notwendige Voraussetzungen des
theoretischen Vernunftgebrauchs anzunehmen. Ja noch mehr
berechtigt: denn die höchsten Aufgaben und Werte mensch-
lichen Lebens liegen auf dieser Seite; nicht die Intelligenz, nicht
Bildung und Gelehrsamkeit bestimmt den absoluten Wert eines
Menschen, sondern der sittliche Wille. Und darum wiegt, mit einem
Ausdruck, der in den Vorlesungen Kants wiederholt vorkommt, ein
absurdum morale nicht minder schwer als ein absurdum logicum:
so wenig wir das logisch Widersprechende für wahr halten können,
ebenso wenig können wir das, was mit notwendigen praktischen
Voraussetzungen unvereinbar ist, annehmen. Oder: der Glaube, dass
die A'erwirklichung des absoluten Guts in der W^irklichkeit möglich
ist. der Glaube an eine „moralische Weltordnung" ist ein notwendiger
Glaube.
Ich halte an der entscheidenden Bedeutung dieses Gedanken-
gangs durchaus fest. Es scheint mir aber möglich und zweckmässig,
ihm in psychologischen Betrachtungen eine Art theoretischer Sub-
struktion zu geben. Ich meine, es ist möglich za zeigen, dass der
praktischen Notwendigkeit des Glaubens eine psychologische Un-
vermeidlichkeit zur Seite geht, die denn auch in der historischen
Thatsache zur Erscheinung kommt, dass der Wille, der wesentliche
Wille, überall den Glauben und die W^eltanschauung bestimmt.
Die Intelligenz, hierin scheint die entwicklungsgeschichtliche
Kants Verhältnis zur Metai)hysik. 441
Betrachtung Schopenhauers Intuition durchaus zu bestätigen, ist vom
Willen als Werkzeug im Dienst der Lebenserhaltung hervorgebracht
worden, oder, physiologisch ausgedrückt: die tierische Organisation
hat. in der aufsteigenden Reihe der Lebewesen, allmählich die Sinnes-
werk/.euge und das Nervensystem aus sich hervorgebracht. Dieses
Dienstverhältnis der Intelligenz zum Willen ist unaufhebbar; die
psychologische Betrachtung lässt es an allen Punkten erkennen. Der
Wille l)eherrscht die Apperzeptionsvorgänge, durch mein Interesse
wird bestimmt, was ich wahrnehme, also was ins Bewusstsein kommt.
Nicht minder ist das Behalten vom Interesse abhängig, was mich
nichts angeht, was nicht zu meinem Willen Beziehung hat, wird ver-
gessen. So hängt die Auswahl der Elemente, die zum Aufbau der
Weltanschauung verwendet werden, ebenso auch die Bedeutung, die
ihnen beigelegt wird, wesentlich vom Willen ab. Am siehtl)arsten ist
es so bei dem Aufbau der geschichtlichen Weltanschauung: jeder
wählt und verwertet die Elemente nach dem Mass der Bedeutung,
das er ihnen beilegt.
\'ielleicht kann man aber sagen : auch die allgemeinste Struktur,
die logisch-metaphysische Form der Wirklichkeit ist schon durch den
Willen mitbestimmt. Sind die Kategorien, die Formen des be-
gritflichcn Denkens, überhaupt Ergebnisse einer biologischen Ent-
wicklung, so wird man dies annehmen müssen; es sind Formungen
und Fassungen der Wirklichkeit, die sieh als zweckmässig, als leben-
erhaltend erwiesen und darum durchgesetzt haben. Das Gesetz der
Identität und des Widerspruchs, das Gesetz der Kausalität sind
Formen des Denkens, wodurch die Wirklichkeit theoretisch und zu-
gleich auch praktisch unserem Willen unterworfen, unseren Zwecken
dienstbar gemacht wird. Das Gesetz der Identität ist die Form des
begrifflichen Denkens, der spezifisch menschlichen Form des Er-
kennens; hat also jenes Wort Hecht: Wissen ist Macht, so ist das
Gesetz der Identität das Machtmittel des Willens, wodurch er sich
die Welt unterthänig gemacht hat. l'nd hängt ihm dieser Hervor-
gang aus dem Willen nicht noch sichtbar anV Das Gesetz der
Identität ist ja keine Generalisation aus der Erfahrung; es ist eigentlich
nicht eine Aussage, nicht ein Indikativ, sondern ein Imperativ;
A = A, das heisst: was ich als A gesetzt habe, soll A sein und A
bleiben. So die Axiome der Arithmetik: es giebt ja nicht zwei gleiche
Objekte für die empirische Beobachtung, das „gleich" kommt nur vor
in der logischen Funktion der Gleichsetzung; oder, die Gleichheit
ist ein Grenzfall, der in der Wirklichkeit niemals erreicht wird.
Kantstudieo IV. 29
IAO rriodricli ranison,
Tiul (1jiss«>11»o frilt vom (icsi-t/. der Knusalität: es ist riii Axiom,
eine rrasiimtion. iiii-ht v'nw Krfaliruni:- : /.um Hchuf der Diirrh-
tnhrharkiit i'iiuT finlicitlii-hcn Krlahruiij;- sctv.f ii-li, freilich dm An-
d('Utuii::i'n des (loirohcneu folf^cnd, dass allKi'ineiiu' Gcsctzmässiirkcit
in der Krschciminirswelt stattfinde. Und spiritistischem Spuk oder
dämonischen WirkunpMi und Wundern aller Art hejjejrne ich nun
nicht mit dem Nachweis der IJnwirklichkeit im Kin/elnen, den ich
ja. hei dem ewii;- nachwachsenden Aher{,'lauben in alle Ewi^'keit
wiederholen niiisste, so dass ich niemals zur Freiheit diesen Dini^en
«refrentlher kommen könnte, sondern mit dem a priori Axiom jener
allj^cMiieinen Geset/mässigkeit. d. h. mit dem Kntschluss des Willens,
(las Zufällige, Gesetzlose und Absurde, das die Einheit und Zuver-
lässijrkeit der Natur zerstören würde, nicht anzuerkennen, sctndern
vielmehr anzunehmen, dass auch die seltsamsten Vorgän^^e, wenn
sie anders wirklich wirklich sind und nicht eine sjtukhafte Einbildung-
abergläubischer Phantasie, für eine vollkommene Erkenntnis, wie sie
zu erstreben bleibt, in den allgemeinen Kausalzusammenhang der
Natnr sich schicken werden.')
Liegen die Dinge so. ist das Denken und Erkennen im tiefsten
ftrunde überall durch den Willen bestimmt, dann bleibt es undenkbar,
dass es zuletzt gegen den Willen sich wenden und ihm eine An-
schauung aufnötigen könnte, die wider sein Wesen geht. Kein Mensch
hält für wahr und kann für wahr annehmen, was ihm in letzter
Absicht die Wirklichkeit als ein Unsinniges, Unvernünftiges, für die
praktische Vernunft Absurdes darstellt; der Selbsterhaltungstrieb des
ganzen Systems wird sich dagegen sträuben, und keine Erfahrung
wird stark genug sein, diesen Widerstand zu überwinden.
Man wird hinweisen auf die materialistische Weltansicht, die
ja doch die Wirklichkeit auf sinnlose Atome und blinde Kräfte
zurückführe und Leben, Vernunft und Zweck als ein zufälliges und
unerhebliches Nebenprodukt von Atombewegungen ansehen lehre.
Oder auf die pessimistische Ansicht: das Leben sei ein faux pas,
den ein blinder Wille gethan habe, den der sehende Wille berufen
sei, wieder rückgängig zu machen.
Ich meine, gerade hier wird die Abhängigkeit der Weltansicht vom
Willen besonders sichtbar: wo solche Gedanken angenommen und als
wahr geglaubt werden, ist es zuletzt der Wille, der sie aus sich
heraus bejaht oder hervorbringt, sie werden ihm nicht von aussen
1) Ich verweise auf verwandte Gedankenreihen in einem kürzlich erschienenen
Buch von Julius Schultz, Zur Psychologie der Axiome (1899).
Kants Verhältnis zur Metaphysik. 443
durch den \erstaiul aut<rt'nütigt. !So sichtbar bei Schopenhauer: der
Wille, sein persönlicher Wille, der das Leben minderwertig findet,
hat seine Philosophie gestaltet als die ihm gemässe Form der Welt-
anschauung. Das pessimistische Urteil über den Wert des Lebens
ist der erste feste Punkt des Systems; es ist der Ausgangspunkt der
Willenslehre, der Lehre von dem blinden, dummen Willen ; aber die
Willenslehre ist die Unterlage der Erlösungslehre, der Lehre, dass
der Wille von sich selber, von dem Wollen des Lebens /urückgebracht
werden nicht bloss solle, sondern aucli könne. So setzt der Wille
auch hier sich durch; sein \'erwerfungsurteil über die Welt wird
zum Vernichtungsurteil für sie: er bringt die Zuversicht, den Glauben
hervor, dass das Nichtsein, das besser ist als das Sein, einmal an
die Stelle des Seins treten wird; die Eschatologie des Nirwana ist
der transscendente Optimismus, den der empirische Pessimismus aus
sich hervortreibt.
Und auch der Materialismus pÜegt in eine optimistische Eschato-
logie auszulaufen; sie hat freilich eine andere Gestalt, als die
Schopenhauersche: sie nimmt etwa die Gestalt eines geschichts-
philosophischen Glaubens an die Zukunft des Menschengeschlechts
an : auf das Zeitalter des Keligionswahns. der Finsternis und des
Aberglaubens, das dermalen noch seine breiten Schatten über die Gegen-
wart werfe, werde ein Zeitalter des Lichts, der allgemeinen Auf-
klärung, der allseitigen Kultur, des ewigen Friedens folgen: der
Himmel auf Erden, statt des Himmels im blauen Dunst des Jenseits,
und das alles auf Grund des siegreichen Vordringens der Natur-
wissenschaften, der Wahrheit in der Gestalt der physikalischen
VVeltansicht. Von Lucrez an bis auf den jüngsten Apostel der Sozial-
demokratie hat sich, ob mit Recht oder Unrecht, sei dahingestellt,
auf den (rlauben an die Atome und die Naturgesetzmässigkeit ihrer
Bewegung der ojttimistische Glaube an die Zukunft des Menschen-
geschlechts aufgebaut. Oder also umgekehrt: der Glaube an die
Zukunft ist es zuletzt, der den Glauben an die Vernunft, an die
Wissenschaft, an die Physik, an die Atome und das Naturgesetz
hervorliringt: sie werden mit Notwendigkeit das Gute verwirklichen.
So zeigt sich der Primat des Willens und der Weltanschauung überall:
materialistischer Eudämonismus und j)essimistischer Erlösungsglaube,
sie sind ebenso gut Spiegelungen einer Willensrichtung, als der mo-
ralistische Idealismus Kants und l'iclites oder der Jenseitsglaube des
alten Christentums. Auch der Materialismus kämpft für einen
Glauben; er will einem besseren (.ilauben gegen einen schlechteren
29»
444
rriiMiri»'li raiils«>n.
(ilaulu'U Kaiiiii si-liancii. ilcin walncii (ilaulicii ir»':,^cn ciiicii \\ aliii-
f;laul)on, t'iiu'ui /.ur Frcilicit iiiul /um Kdrtscliritt tulirciidfu illaulx^ii
jrejr»'ii fincn (U*r Kiu'flitschal't und 'Präjrhfit (licncndcu (ilaulu'ii.
lud so kiiiuptt SfliKpcnliaucr \\\r ciucii (llaultcn, iriclit er d(K'li
sciiu'iu System, indem er seine Jtluirer /.u Aposteln und K\an;::elisten
der Lelire ernennt, seihst den Charakter einer Keli;,^ion.
.la. x'lhst der ri-ine Aüiiostizisnius ist, wie William James in s(Mnem
..Willen /.um (;laul)on" (deutsch von Loron/,) aust'ilhrt. dureli den Willen
hediiiiTt; es ist i'ine Maxime des Willens, nichts für \\ahr aii/.unclimen.
als was mit den Methoden der Mathematik und Naturwissenschaft
oder der philologischen und historischen Kritik dem XCrstande zwingend
bewiesen ist. l'ud diese Maxime l>eruht auf einer unmittelbaren
l'berzeutruujr von dem absoluten Wert der Wahrheit und der absoluten
\'erwertlichkeit des Irrtums und der Täuschunj?, von der absoluten
Würde eines Charakters, der nach dieser Maxime sich verhält und
der Minderwertijrkeit eines Menschen, der auf seinen Glauben oder
seine Weltanschauunfc andere Momente P^influss ausüben lässt.
Damit ist denn i^egeben: die Weltanschauung beruht überall
auf der Lebeusanschauung, und diese wird bestimmt durch die
unmittelbar vom Willen abhäniri"e Schät/AH)*;' des l^ebens und der
Lebenswerte. Und die Wahrheit einer Weltanschauung; beweisen,
das würde dann überall nichts anderes heissen als: ihre Ange-
messenheit zu der rechten, einem normal gerichteten Willen ge-
niässen Lebensanschauung zeigen. So hält es Kants Philosophie; sie
zeigt: es ist dem vernünftigen, ethisch richtig gebundenen Willen
gemäss, zu glauben, dass sein Ziel, ein Reich der Verimnft aut
Erden, in dem das Sittengesetz wie ein Naturgesetz herrscht, gewiss
verwirklicht wird, indem die Wirklichkeit selbst in einem guten und
vernünftigen absoluten "Willen gegründet ist. Oder: der Glaube an
Gott, der Glaube an die letztlich absolute Macht des Guten in der
Wirklichkeit, ist dem menschlichen Wesen und Willen gemäss.
Die konkrete Bestimmtheit dieses Glaubens ist in geschichtlicher
Zeit stets geschichtlich bedingt. Der Gottesglaube empfängt mit der
Lebensanschauung das besondere Gepräge durch grosse, übermächtige
Persönlichkeiten. Sie prägen ihre Schätzung der Lebenswerte und
damit ihre Weltanschauung zunächst einem engeren Kreise ein; in-
dem dieser die Fortpflanzung und Ausbreitung der neuen Ideen und
Ideale als seine Lebensaufgabe übernimmt und bereit ist. dafür zu
leben und zu sterben — die grosse Probe für die Wahrheit eines
neuen Glaubens — entsteht eine £:eschichtliche Religion. So hat Jesus,
Kants Verhältnis zur Metaphysik. 445
SO Mühammt'd stiiu- (j'berzeaj^un^ von dem, was als höchstes (iut
dem Lehen Wert g:ieht, und seinen (iottcsglaulx-n zuerst einem ihnen
persönlich verliundenen Kreise, durch diesen zuletzt einem ganzen
grossen Kulturkreise aufgedrückt: das Leben in diesem Kreise em-
pfangt nun durch dieses Ideal sein Gepräge, Sitte und Recht, Gottes-
uud Weltanschauung wird davon durchdrungen. Indem die Person
des Stifters in unmittelbare Beziehung zu Gott gesetzt wird als Ge-
sandter, l'rophet, Sohn Gottes, erhält er selbst und seine Lehre ab-
solute Autorität. Der abstrakt allgemeine Gehalt aber des Glaubens ist
Ul)erall derselbe: dass Gottes Wille absolut gut ist und dass Gottes
Wille sieh absolut durchsetzt. Auch das, was dem Anschein nach
(iottes Willen widerspricht und widerstrebt, es geschieht doch nicht
ohne ihn, und wird von ihm zum Guten gelenkt. Oder in abstrakter
Formel: es geschieht nichts aus äusserer, alles aus innerer, teleo-
logischer, von uns, wenn nicht erkennbarer, so doch anerkennbarer
Notwendigkeit. Somit giebt der Glaube dem Gläubigen einerseits
die absolute Gewissheit, dass er auf dem rechten Wege ist, anderer-
seits auch die absolute Sicherheit hinsichtlich des Pirfolges: Gott ist
dafür, also ist uns der Sieg zuletzt gewiss. Und hierauf beruht
dann die unwiderstehliche Kraft, die der religiöse Glaube dem
Wissen giebt.
Was ist der Grund, dass dieser Glaube, der so viele Jahr-
hunderte hindurch das Leben der abendländischen Völker^velt be-
herrscht hat, in der Gegenwart von so vielen für unglaublich ge-
halten wird? Hierauf werden wir, ich meine wieder in Überein-
stimmung mit Kant, antworten: der Grund liegt in dem Zwiespalt,
der seit dem Beginn der Neuzeit zwischen der Religion in ihrer ge-
schichtlich überlieferten Gestalt und den Ansichten über natürliche
und geschichtliche Thatsachen, die wissenschaftliche Forschung
unseren \erstand für erwiesen zu halten nötigt, entstanden ist. Das
von der Kirche festgehaltene und durch die weltliche Gewalt
sanktionierte Lehrsystem enthält nicht bloss eine Glaubenslehre in
jenem allgemeinen Sinn, sondern zugleich eine Fülle von Satzungen
und Entscheidungen über historische und litterarische Fragen, ebenso
auch allerlei Anschauungen über kosmologische und anthropologisch-
biologische Dinge. Indem diese Anschauungen den wissenschaftlichen
und philosophischen Vorstellungen der Zeit entsprechen, in der sie
aufgenommen sind, geschieht es, dass die fortschreitende wissen-
schaftliche Erkenntnis mit dem statutarischen Lehrsystem der Kirche
in Widerspruch gerät. So z. B. in Hinsicht auf den Ursprung ge-
44)i
KriiMiricIl l'inilstMi,
wisscr Schriltfii und dii' (il.iultwünliukfit aller in iliiicii licrichtctcn
'rhatsaoheii: dir Kirche lehrt, dass sie von hestiniinten Ver-
fassern. /,. H. Moses, herrühren und unter direkter ;r«»ttli('her Kin-
wirkunir j^esehrieben sind, also absolute Autorität hesit/.en; dir philo-
lofriseh-historisehe Kritik dafrep:(Mi erf,'iel»t. dass sie \on diesen \'er-
fassern nieht herstammen können, und dass die beriehteton Thatsachen
vielfach nn tholoirischen, le°:endarisehon (-harakter zeip-n. 'IVitt nun
die Kirehe solchen Er<rebnissen ernsthafter und unbefanjjener IVUfunj;
mit ihrem Machtirebot entfrefren, so entsteht Hass und Misstrauen
•regen den Kircheuirlauben. ja den relijriösen Glauben überhaupt: er
l»eruhe wohl ebenso, wie die Verfasserschaft der fünf Hilcher Mosis,
bloss auf willkürlichen Satzunfren einer äusseren Autorität, nicht auf
dem Wesen des Menschen selbst, auf der An<remessenheit zu seiner
Vernunft. Und ganz ebenso wirkt es, wenn die kirchliche Autorität
der Naturforschung: durch MachtsprUche Trrenzen zieht, indem sie
eine veraltete Kosmologie zum Glaubensartikel macht oder einen
neuen Weg in der Biologie für Ketzerei erklärt. Die Wissenschaft
wendet solchem Verfahren gleichgültig oder entrüstet den Kücken;
und zahlreiche wissenschaftliche Forscher und noch zahlreichere Lehrer
l)opulär-wissenschaftlicher Darstellungen halten es dann mit der Kirche
und dem Glauben überhaupt so; sie sehen in der Religion nur
noch ein Hemmnis der Wahrheit: es sei damit auf einen grossen
Betrug abgesehen, um die Menschen in Unterthänigkeit zu erhalten.
Daher: ecrasez l'infarae! Die beiden letzten Ketzergerichte, mit
denen das 19. Jahrhundert in diesem Jahre abgeschlossen hat, das
Gericht über Prof. Schell auf katholischem, das Gericht über Pastor
Weingart auf protestantischem Boden, werden nicht anders wirken;
sie stossen die ehrlichen und aufrichtigen Leute, die auf ein reines
intellektuelles Gewissen, das auch mit zum Gewissen gehört. Wert
legen, von der Kirche zurück.
Diesen Zwiespalt im Prinzip überwunden zu haben, das ist nach
meiner oft ausgesprochenen Überzeugung das grösste, allgemeinste
Verdienst der kritischen Philosophie. Sie zeigt, dass der Zwiespalt
nur eine historische, zufällig bedingte Erscheinung ist: zwischen dem
„statutarischen Glauben" dieser oder jener Kirchenbildung und der
Wissenschaft mögen Konflikte entstehen; dagegen mit einem rein
moralischen, einem praktischen Vernunftglauben kann wahre Philo-
sophie and Wissenschaft niemals in Widerspruch kommen. Wissen-
schaftliches Denken, das weiss, was Wissen ist, und der durch die
Natur des Wissens gegebenen Grenzen sich bewusst ist, und religiöser
Kants Verhältnis zar Metaphysik. 447
Glaube, der weiss, was Glauben bedeutet, die haben im mensch-
lichen Geist neben einander Kaum, ja er fordert beide. Nur da
entsteht Krieir. wo einerseits die VV'issenschaft sich absolut setzt, be-
hauptend, in der Wirkliehkeit sei nichts vorhanden, als was sie sehe;
oder wo andererseits die Kirche die Unterwerfunj; des Verstandes
unter die Satzuno:en ihrer statutarischen Lehre nicht bloss Über Dinge
des Glaubens, sondern ebenso über Fragren des Wissens verlang:!.
Die Metaphysik aber, oder ihre Propädeutik, die Kritik, ist eben, in
Kants Sinn, die Wissenschaft, welche die Verniittelung zwischen den
beiden notwendigen Seiten des menschlichen Geisteslebens zu über-
nehmen hat, indem sie beide über ihr Wesen aufklärt. „Eben des-
wegen", so heisst es am Schluss der Kr. d. r. \'.. ,,ist Metaphysik
auch die Vollendung aller Kultur der menschlichen Vernunft, die un-
entbehrlich ist, wenn man gleich ihren Einfluss, als Wissenschaft, auf
bestimmte Zwecke beiseite setzt. Denn sie betrachtet die Vernunft
nach ihren Elementen und obersten Maximen, die selbst der Mög-
lichkeit einiger Wissenschaften und dem Gebrauch aller zu Grunde
liegen. Dass sie, als blosse Spekulation, mehr dazu dient, Irrtümer
abzuhalten, als Erkenntnis zu erweitern, thut ihrem Wert keinen Ab-
bruch, sondern giebt ihr vielmehr Würde und Ansehen durch das
Censoramt, welches die allgemeine Ordnung und Eintracht, ja den
Wohlstand des wissenschaftlichen gemeinen Wesens sichert und dessen
rautige und fruchtbare Bearbeitungen abhält, sich nicht von dem
Hauptzwecke, der allgemeinen Glückseligkeit, zu entfernen."
Neue Konjekturen zu Kants Kritik der reinen Vernunft.
\'oii Dr. Kniil \\ illc in liciliii.
Ni)(h liiiij^fii viTilorbcuL'n Stellen des j:;rosseii Werkes ihre iirs|>n"Mi,i;-
liche (lestalt \vieder/.u<;!;i^ben, ist der Zweck dieser Zeilen. Znvor jedoch
möchte ich von zwei Stellen zeij^en, dass. obgleich sie einen gewissen
sprachlitiien Fehler enthalten, dennoch ihre Lesart wohl echt ist.
S. 173 der zwtMten Ausgabe: „und sie daher zuletzt mehr wie Ff)niieln
als Grundsätze zu gebrauclien — - liier vermisst man nacli dem „als" ein
wie. Und S. 410/11 steht zweimal: , nicht anders als Subjekt gedacht
werden — " Hier vermisst man ebenfalls eine Vergleichungspartikel. Dass
nun wirklich der Verfasser selbst beim Zusammentreffen zweier solcher
Partikeln sich die eine ersparen zu dürfen geglaubt hat, dafür spricht in
den Nachträgen zur Kritik der reinen Vernunft S. 30 No. 67: „nicht anders
(als) als Grössen in der Erfahrung erkennen." Wo die Klammer andeutet,
dass das eine »als" bloss eine Hinzufügung des Herausgebers ist. Trotz-
dem billige ich es, wenn man ändert; indessen ziehe ich vor : nicht anders
denn als.
Doch unecht scheint mir die Lesart folgender Stelleu zu sein:
1. S. 182. „Da die Zeit nur die Form der Anschauung — " Es ist ja
unmöglich, dass der Philosoph etwas an den Erscheinungen für die Materie
der Dinge an sich erklären, dass er letzteren die Empfindungsquaiitäten,
letzteren Eealität zuerkennen will, welche er soeben als dasjenige definiert
hat, dessen Begriff ein Sein in der Zeit anzeige. Offenbar will er das
Gegenteil sagen: so ist das, was an diesen der Empfindung entspricht
(die Sachheit, Realität), nicht die transscendentale Materie —
2. S. 188. „Denn obgleich dieser nicht weiter objektiv — " Der
Beweis der Grundsätze a priori soll aller Erkenntnis seines Objekts zum
Grunde liegen? Nein, ein solcher Grundsatz! Von dem lehrt Kant, dass
er nicht aus der Erfahrung stamme, sondern sie erst möglich mache ; nicht
von der Erkenntnis seines Objekts abgezogen werde, .sondern sie erst zu-
stande bringe. Und worauf soll der Singularis „der Satz" sich beziehen?
Doch nicht auf den Pluralis „Grundsätze". Es wird also vor „sondern viel-
mehr" ein Glied ausgefallen sein: indem ein dergleichen Satz nicht
auf objektiven Erwägungen beruhet, sondern \äelmehr aller Er-
kenntnis seines Objekts zum Grunde liegt.
3. S. 210. „welche aber nicht in der Apprehension angetroffen wird — "
Bei dieser Lesart (welche aber nichtj ist man genötigt, unter „indem"
weil zu verstehen, und dann ist sowohl das Begründete als seine Be-
gründung unkantisch und unsinnig. Liest man dagegen: welche aber
nur, so hat man „indem" für insofern als zu nehmen: welche aber nur
insofern in der Apprehension angetroffen wird, als diese vermittelst der
Ncnf Konjiktiiren zu Kants Kritik der reimen Vorniintt. 449
blossen Empfindung in tinem Augenblicke und nicht durch succossive
Synthesis vieler Empfindungen geschieht. Vnd dann ist alles in Ordnung.
4. S. 211. ^kontiiiuierliclier ZtisanimtMiliang möglicher Idealitäten un<l
möglicher kleinerer Walirnehmungen"*. Wohl so: möglicher kleinerer
Realitäten in möglichen \Vahrnehmungen. Vergl. S. 214 ^alle Realität in
ihr Wahrnelimung".
5. 8. 212. ^und nicht eigentlich Erscheinung als ein Quantum,
welches — ■ Dass das Relativum „welches" auf „Aggregat" gehe, wie
ein Herausgeber anmerkt, ist sprachlich unmöglich: es kann nur auf
„Quantum" gehen. Dann freilich sagt der Relativsatz das Gegenteil von
dem, was er sagen sollte. Nun glaubt ein anderer Herausgeber dadurch
zu helfen, dass er di-ucken lässt: welches Aggregat — Aber wer fühlt
nicht, wie ungeschickt und verworren der Stil dadurch wird? P]s bleibt
nichts weiter übrig, als umzustellen: ein Quantum, welches nicht durch
Wiederholung einer immer aufhörenden Synthesis, sondern
durch die blosse Fortsetzung der produktiven Synthesis einer
gewissen Art erzeugt wird.
6. Ebendaselbst, „welche aber allerdings eine kontinuierliche CJrösse
ist — - Hier ist „aber" zu tilgen.
7. .S. 214. „einen bestimmten Grad der Reeeptivität dtr Empfin-
dungen — " Nein, eine bestimmte Grenze (jenseits deren nichts mehr
empfunden und also kein Grad von Realität mehr wahrgenommen wird).
Und nicht mit „und gleichwohl" ist dieses Satzglied dem vorigen bei-
zuordnen, sondern mit obgleich wohl unterzuordnen.
8. S. 219. „Er.scheinungen, die sie zusammenstellt, in Raum und Zeit
in derselben angetroffen wird." Natürlich, die sie in Raum und Zeit
zusammenstellt.
9. S. 238. „wenn ich in der Apprehension anfangen müsste — " Nicht
„wenn", sondern wo.
10. S. 242. „eine andere Vorstellung (von dem, was man vom
Gegenstande nennen wollte)." Nein, was man Gegenstand nennen
wollte.
11. S. 243. „worauf es jederzeit, d. i. nach einer Regel, folgt. Nein,
worauf sie, die Erscheinung, jederzeit — Vergl. S. 264, 2.
12. S. 260/51. „die Substantialität, ohne dass ich die Beharrlichkeit
desselben — " die Substantialität eines Subjektes, ohne dass ich die
Beharrli(;hkeit desselben —
13. S. 265. „sie aber nicht vor ihr gegeben." Ich vermute: vor
ihnen. Nämlich, sie, die Zeit, die leere Zeit, i.st uns nicht vor ilinen, den
Teilen des Fortgangs, d. h. den Wahrnehmungen, sondern durch diese
jUlererst sind uns Zeitverhältnisse gegeben. ,Um deswillen ist ein jeder
Übergang in der Wahrnehmung zu etwas, was in der Zeit folgt, eine
Bestimmung der Zeit durch die Erzeugung dieser Wahrnehmung."
14. S. 266. „Fortganges des Existierenden zu dem Folgenden — "
Das ist nicht.s, schon deshalb nichts, weil lediglich von einem Fortgange
des erkennenden Subjekts die Rede ist. Sinngemäss wäre: sinnliche
Bedingung a priori der Möglichkeit eines kontinuierlichen Fortganges
von dem Vorhergehenden zu dem Folgenden.
c>
450 l»r Kniil Will(<,
ir> S "J.')S „Ulli! wfiin w «'tlisi»lseiti^ dioscs ilcii (iriiiui " \ icliiiclir
so: iiml \\ oiiti wt'rhsclsi'itif; j»'(U' (Substanz 1 licii * ii und «h-r Bcstinnnunf!;t"i'
in «Ifii amlcn'ii ontliält.
16. EluMitlasflbst : „I>('nu. wiirc sie in der Zeit nudi «'iiiainltM * Nein,
wiiron sie (die ninL:!',.
17. S. 'JT8 ,W() also Waliriiflmmii^ und dcicn .\nliaTiL:; " Uic
Worte _iinil dt'ifii Aidianu;" sind siunlns. Aus dem Vorherpfehnidcii crsclifii
wir. dass der (.Jedauki' der Ljt'WcsiMi sein imiss: Wo also \\ ,iliriicliiininpj
Oller ein Schluss nach den Analogien di'r Krfalinin^ liiiirciclit Rir
sehliessen hat nun Kant den Ausdruck fortgehen. Man vergleiche im
fol^^enden Satze: „oder jj^ehen wir nicht nach Gesetzen des empirischen
Zusammenhanges der Erscheinungen fort." Ferner S. 394 „jogisclim l'ort-
gange der Vernunft von di'n Prämissen zum Schlusssatze". und S. 763 „im
Fortgange der Schlüsse." Und der folgende Satz meint ciijjiiitiii h nichts
anderes, als dass wir das Dasein der Dinge nicht erforschen können, wenn
wir nicht das Verfahren wählen, welches unser Satz anrät. Mithin wird
dei-selbe anraten, nach solchen (lesetzen fortzugehen. Auf diesem Wege
gelange ich zu der Änderung: Wo also Wahrnehmung oder ein Fort-
gang nach empirischen Gesetzen hinreicht — Aber nach empirischen
Gesetzen- Die Analogien der Erfahrung sind doch nicht empirische, ob-
zwar empirisch-syntheti.sche, d. h. Gesetze empirischer Synthesis oder Ver-
knüpfung- Nun, hier dürfen wir nicht an der Überlieferung rütteln. Denn
gerade diese Formel ..nach empirischen Gesetzen" findet sich an Stellen,
wo sie nicht bedeuten kann: nach denen, welche von der Erfahrung ab-
geleitet sind, sondern nur: nach denen, welche für das Gebiet derselben
gelten oder sogar .sie erst machen. Vergl. S. 565 und S. 579.
18. S. 347. ..und so ist der Gegen.stand eines Begriffs — " Nicht
dieser allgemeine Satz soll gefolgert, wa.s auch garnicht anginge, sondern
von dem ens rationis Keines etwas ausgesagt werden: und ist so der
Gegenstand eines Begriffs — Au.sserdem gehört die Klammer (ens rationis)
schwerlich zwischen die Beispiele, sondern an das Ende der Nummer, wie
die übrigen. Überhaupt haben Klammern in diesem Werke leicht das
Missgeschick, an eine falsche Stelle zu geraten. So gehört S. 171 (casus
datae legis) nicht hinter „Regel"; es gehört vielmehr hinter „stehe"; denn
nicht die Regel, sondern das Stehen unter ihr ist derartiger casus.
19. S. 477. „Die Möglichkeit einer solchen unendlichen Abstammung — •
Zweimal „Möglichkeit", das ist natürlich zu viel. Und „seiner" weist auf
■ein Nicht-Femininum als Subjekt des Satzes hin. Ich vermute: Das
Wunder einer solchen unendlichen Abstammung — Denn es folgt: , Diese
Naturrätsel."
20. S. 480 Anm. „Die Zeit geht zwar — " Von einer Zeit an sich
und Veränderungen an sich kann natürlich nicht die Rede sein; wir können
also nur verstehen, die Zeitvorstellung gehe als formale Bedingung des
AVahrnehmens der Veränderungen vor demselben objektiv vorher. Indessen
dass die Notwendigkeit, zeitlich wahrzunehmen, schon vor aller Wahr-
nehmung dem Subjekte innewohnt, ist vielmehr ein subj ektives Vorher-
gehen; weshalb die formale Bedingung auch als subjektive bezeichnet wird.
Und in der Wirklichkeit des Bewusstseins gegeben sein, heisst nicht es
Neue KonjfUtiin'n zu K.iiiis Kritik der reinen Verniintt. 451
subjektiv, sondern es ()l)jfk.tiv (weiuigk-icii iiiilit ;tn sich) sein. Beide
Adverbia haben somit ihren IMat/ zu tauschen,
21. S. 489. „der aus einer ähnlichen Schwierijjjkeit — " Schwurlieh
uill der \erfasser sap:en. dass der Streit über die Wald des Standpunktes
ents]iraiig; im Clegenteil. dass jene Astronomen nur deshalb sich nicht
einigen konnten, weil sie die Verschiedenheit iluer Standimnkte garnicht
merkten oder ni(dit genug berücksichtigten. Und von ähnlicher Schwierig-
keit sollen beide rntersuchungen, die über die Existenz eines notwendigen
Wesens und die über die Achsendrehung des Mondes, doch lediglic h in
Betreff der Wahl des Standpunktes sein. Also, aus einer iUinlichen
Schwierigkeit der \\':ihl des Stamliiunktes.
22. S. .')61. „und jene in diesi'r das eigentliche Moment — " und jtrie
in diesem (dem praktischen Begriffe derselben).
23. S. 6'J3. „allein nicht um etwas an ihnen zu bestimmen — " an
ihm, dem Gegenstande der Erfahrung.
24. S. 721. „nach diesem, aus der Natur zu beweisen." Ich würde
verstehen: nach diesen, den allgemeinen Gesetzen.
25. S. 728. „Anthropomorj)hism (ohne welchen sich garnichts von
ihm denken lassen würde) — " von ihr, der Weltursache, denken lassen
würde.
26. S. 766. „deren Ausspruch jederzeit nichts als die Einstimmung
freier Bürger ist — " Der Ausspruch der Vernunft ist die Einstimmung
freier Bürger? Nein, er sucht sie, weil die Vernunft „kein diktatorische-s
Ansehen haf ; weil sie „sich in allen ihren Unternehmungen der Kritik
unterwerfen muss." Folglich sucht statt „ist".
27. S. 769. „wenn nur die reine Vernunft — " Das verstehe ich nur
dann, wenn ich „ihm" in ihr verwandle: wenn nur die reine Vernunft auf
der verneinenden Seite etwas zu sagen hätte, was einem Grunde ihrer
verneinenden Behauptung nahe käme; denn was ihre Kritik der Beweis-
gründe des dogmatisch Bejahenden betrifft, die kann man ihr sehr wohl
einräumen, ohne darum diese Sätze desselben aufzugeben.
28. S. 781. „Denn wo will der angebliche Freigeist seine Kenntnis
hernehmen — " Doch wohl so: der Freigeist .seine angebliche Kenntnis
Er giebt ja nicht an, ein Freigeist zu sein, sondern die betreffende Kenntnis
zu haben. Vielleicht vermeint er, einer zu sein : aber dann wäre er ein
vermeintlicher. Im vorigen Hefte habe ich dargethan, dass besonders gegen
Schluss des Werkes Schreiber oder Drucker allerhand wunderliche Um-
stellungen gemacht hat.
29. S. 837. „von allen Hindernissen der Sittlichkeit (der Neigungen)
abstrahieren — " Natürlich den Neigungen.
80. S. 842. „einigen bedeutenden Grund, nur ein einiges Wesen an-
zunehmen -~ Es ist brichst unwahrscheinlich, dass der Verfasser ohne
Not zweimal einig geschrieben hat. Also, einen bedeutenden Grund.
31. S. 848. „welches wir allen Naturursachen vorsetzen — " Besser:
vorzusetzen.
Vielleicht können die neuen Herausgeber hiervon etwas gebrauchen.
Siebzig textkritische Randglossen zur Analytik.
\ on II. \ a i li i n ji;(_' r.
Bei tUr Ausarbeitung dos 111. B.ukK's meines Kommentars /.ii Kants
Kr <\. r. \ ., welcher die Transse. .Vnalytik umfassen winl. hin ich auf eine
Anzahl Stellen gestossen. an denen mir der hergebrachte Text der Ver-
bi'sserung bedürftig erscheint. Manche dies(>r ÄndcMMingsvorschläge sintl
vielleicht mehr vom Standpunkt des Xonunentators, als von dem eines
blossen Textherausgebers gerechtfertigt; ich glaubte aber hier alle mit-
teilen zu sollen, um den zukünftigen Herausgebern des Textes dir Ki d. r.
V. das ganze Material vorzulegen. i)
Die Seitenzahlen, die ich ohne weiteren Zusatz citiere, sind die
Seiten der zweiten Ausgabe, welche in den Editionen von Erdmann,
Adickes, Vorländer, sowie von Kehrbach am Rande, resp. unten angegeben sind.
Diejenigen Stellen, welche nur der ersten Auflage angehören, citiere ich mit
dem Zusatz „1. Aufl." ebenfalls nach den Originalseiten, die in den an-
geführten Ausgaben gleichfalls angegeben sind.
1. S. 81/82. „Eine solche Wissenschaft . . . würde transscendentale
Logik heissen müssen, weil sie es bloss mit den Gesetzen des Verstandes
und der Vernunft zu thim hat, aber lediglich, sofern sie auf Gegenstände
a priori bezogen wird, und nicht, wie die allgemeine Logik auf die
empiri.schen sowohl als reinen Vernunfterkenntnisse ohne unterschied." Mit
Recht hat B. Erdmann „wird" in „werden" verändert; „sie" kann sich nur
auf den Plural „Gesetze des Verstandes und der Vernunft" beziehen, nicht
auf den Singular: „transscendentale Logik". Aber es muss auch am
Schluss heissen: „nicht wie die allgemeine Logik, mit den empirischen
sowohl als reinen Vernunfterkenntnissen ohne Unterscliied" ; es muss statt
„auf die ... erkenntnisse" heissen: „mit den . . . erkenntuissen" ; denn die
„allgemeine Logik" wird damit gegenübergestellt der „transscendentalen
Logik", welche es bloss mit den auf Gegenstände a priori bezogenen
Verstandes- und Vernunftgesetzen zu thun hat. Das mit den Worten
„und nicht" beginnende Satzglied steht dem ganzen mit „bloss" beginnen-
den Satzteil, nicht bloss dem mit „lediglich" beginnenden Zwischensätzchen
gegenüber. Es liegt da allerdings nicht ein Druckfehler vor, sondern ein
lapsus calami; aber auch diese müssen korrigiert werden.
2. S. 86/86. Die Dialektik war bei den Alten „nichts anderes, als die
Logik des Scheins, eine sophistische Kunst ..." In allen Ausgaben steht
1) Die Veranlassung zu dieser Zusammenstellung bietet die neue von der Berliner
.■Vkademie veranstaltete Kantausgabe, der diese Konjekturen vielleicht noch nützlich
fc:ein können. Hierin liegt auch die Entschuldigung unseren Lesern gegenüber, dass wir
dem textkritischeu Beitrag im vorigen Hefte schon wieder zwei neue Beiträge desselben
Inhalts in diesem Hefte folgen lassen.
Siebzig textkritische RanJglossen znr Analytik. 453
statt des Komma nach „Scheins" ein Punkt. Dann bleibt aber „eine so-
phistische Kunsf ohne Verbiim.
3. S. 86. „Eine sophistische Kunst, seiner Unwissenheit, ja auch seinen
vorsätzlichen Blendwerken dadurch den Anstrich der Wahrheit zu geben,
dass man . . ." „dadurch" h'hlt im Text.
4. S. 93. „Alle Anschauungen . . . beruhrn ;uil Alfektionen, die Begriffe
aber auf Funktionen." Die Vulgata hat statt „aber" ein den Zusammen-
hang störendes „also". Adickes hat die Änderung schon, aber ohne sie in
seinem Veiv.eichnis als solche kenntlich gemacht zu haben.
5. S. 102. In dem durch seine Schwierigkeiten berüchtigten i? 10 findet
sich u. a. folgende Stelle: „Raum und Zeit . . . gehören . . . zu den Bedin-
gungen der üeceptivität unseres Gemüts, unter denen es allein Vor-
stellungen von Gegenständen empfangen kann, die mithin a\ic,h den Begriff
derselben jedei-zeit affizieren müssen." Diesen letzten Satz kann ich nicht
verstehen. Auf was zielt „derselben"' Auf „Receptivität" 7 Auf , .Bedin-
gungen" ' Und wie kfinnen Gegenstände den „Begriff derselben"
affizieren- Kanuitverstan ! Ich lese: „Die mithin dasselbe jederzeit
affizieren müssen" — ..das.selbe'' nämlich das ..Gemüt". Die Worte: „auch
den Begriff" sind vielleicht in den Text hineingekommen, weil Kant
sie. res]), die Worte ..durch den Begriff" zum folgenden Satz an den Rand
geschrieben hatte: weim man diese letzteren Worte vor „verbunden" im
nächsten Satze einsetzt, geben sie einen guten Sinn.i)
(5. S. 108. Von den Prädikabilien. Man kann die Absicht, dieselben
vollständig aufzuzählen, ., ziemlich erreichen, wenn man die ontologischen
Lehrbücher zur Hand nimmt, und z. B. der Kategorie der Kausalität die
Prädikabilien der Kraft, der Handlung, des Leidens, der der Gemeinschaft
dif der Gegenwart, des Widerstandes, den Prädikamenten der Modalität
die des Entstehens, Vergehens, der Veränderung u. s. w. unterordnet."
Kausalität, Gemeinschaft, Modalität müssen gesperrt werden; der Mangel
dieser Auszeichnung (resp. der damals statt der Sperrung übhchen „Schwa-
bacher Lettern'')^) kann nur auf einem Versehen beruhen.
7. S. 108. In demselben Passus nehme ich Anstand an dem Worte
„Gegenwart". Wie .soll denn „Gegenwart" dazu kommen, neben „Wider-
stand" ein aus d'em Begriffe der „Gemeinschaft" (— „Wechselwirkung
zwischen dem Handelnden und Leidenden") abgeleiteter Begriff zu sein?
Mellin. Enr. Wort. 1. 36, giebt folgende Erläuterung: „Die Kategorie der
Gemeinschaft in Verbindung mit Ort, einem Modus des Raumes, und
") Bpi dieser Gelegenheit »oi oiu Versohcn der bisherigen Her»in«geber korrigiert:
in (lom.sflliiii S 10. im 5. Abs. (S. 104) steln-n in beiden er.sti-n AuHgiibiii bei K. folgende
zwei Wendungen im fTegensatz: ,.Annlytiseh wer<leu versehiedene Vor.stellnugen unter
einen Begriff gebracht (ein Geschäft, wovon die allgom. Logik huntlelt). aber . . die
reine Syntliesis der Vorstellungen auf Begrifte zu bringen, lehrt die transc. Logik".
Die PrÜpositioncn unter und auf sind bei K. selbst deutlich fettgedruckt. Rosenkranz
hat nun nur ..unter- gesjjerrt, Kehrbaeh nur „aul"". Hartenstein und Knimann haben
die Auszeichnung beidemal weggelassen. Man muss sie aber beilichalteu. trotzdem sie
-acblich schief ist. da K. selbst ganz oft'enbar den Gegensatz so bestimmt haben wollte.
») Xebeubii bemerkt — wann, wo, durch welche Druckerii kam statt der
für die Auszeichnung einzelner Worte damals ilbliclieu fetten und grossen (sog.
..Schwabacher") Lettern die jetzt bei uns in Fieutschland übliche Methode des
Sperrens auf, welche auffallenderweise weder in Fraukrei<-h noch in England Xach-
ahmung gefunflen hat. wo man zu diesem Zwecke die „Ilalia" verwendet'.'
454 '' \'iiiliinf;:or,
ZutrkMrhsi'in, oiiioin Moiliis der Zt'it. Lciflit (iic PriidiUiihilir der (!f;j;<'n\Vitrt.
ndt-r der «irtliclioii iM-iufiiischiift." Atn-r Ict/tcn' (Uciclisotziiuf:; ist, ddcli
selir /.ii bezweift'ln. uml \(>ii ilcr NCrliindiiii;;' der K;itef>;firien mit, dt<ii
Modis dfi' i'tMiU'ii Siiinliclil^cit ist im Text, erst ii.iclilu'f die Itcdf. Ii-li
lese einfacli statt ,,(.u'j:;fii\vart" - C< t'<:;i'u wirk ii uj^. lUx r dirsclhf s.
speciell dvn /.weitt'i» der ,, Sieben kleinen Aiifsät/e". Kos. ii. Schul).. XI, 1,
268; Hartenst. IV. 501: Kinlim \11I. 194. Über „Wirkuni;- und (;en;en-
wirkuni;"" v,u,l- :iiirli dir l'jnleil inii;' /iif \\v d. r. V. '_'. .\ui'i. S. 17 (l'>iid.
H \ . ■_'). l lier reuctin s|ireclicn ;iiii'li in Ary 'ili.it die c lut (ilni^isciieii iiclir-
biicher (/.. B. Baumeister. Inst. met. fj 4-4'.i. IMiilns. drlinit. t? ü.'jI : icactio dicitur
acti(> patientis in a^ens;.
8. S. 109. Die Ivateji:orient;del ist inientlieiiiiich, ,,deii Plan /.um (Jan/en
einer Wissenschaft . . . a juidri . . . vollständig zu entwerfen uml sie mathe-
m.T.tisch nach bestimmt»'n Prinzipien ab/uteilen". „Mathematisch'" .' Uanz
unkantischl Ich bin überzeugt, dass Ivant „systematisch" geschrieVn'u hat.
}). S. 112. Es ist die Jvede von der wechselseitigen Bestimmung der
Einteilungsglieder in dem Ganzen einer eingeteilten Sphäre. „Nun wird
eine ähnliche Verknüpfung in einem Ganzen der Dinge gedacht, d;i
. . . eines . . . dem anderen . . . zugleich und wechselseitig als Ursache
der Bestimmung der andern beigeordnet wird, z. B. in einem Körper, dessen
Teile einander wechselseitig ziehen und auch widerstehen . . ." das Bei-
spiel, wie der übrige Zusammenhang zeigen, dass es nicht heissen kann:
„in einem Ganzen der Dinge"; das „Ganze der Dinge" ist die Welt. Es
muss heissen: ,.in einem Ganzen von Dingen''.
10. S. 112. Der Text fährt unmittelbar fort: „welches eine ganz andere
Art der Verknüpfung ist, als die, so im blossen \'erhältnis der Ursache
zur Wirkung . . . angetroffen wird, in welchem die Folge nicht wechsel-
seitig wiederum den Grund bestimmt und darum mit diesem (wie der
AVeltschöpfer mit der Welt) nicht ein Ganzes ausmacht". Es würde besser
heissen (z. B. die Welt mit dem Weltschöpfer). Die Welt ist die Folge,
der Weltschöpfer der Grund: jene macht „mit diesem'' nicht ein Ganzes
aus. (Dasselbe Beispiel auch bei Baumeister. Instit. Metaph., § 349.)
11. S. 113. In dem unmittelbar darauf folgenden Satz würde der
logische Zusammenhang besser gewahrt sein, wenn bei den Worten: „doch
als in einem Ganzen verbunden vor'' nach „Ganzem" stünde: ., durch wech.sel-
seitige Bestimmung".
12. S. 116. Die Überschrift des hier beginnenden neuen Abschnittes
lautet: «Der transscendentalen Analytik zweites Hauptstück". Allein dem
Parallelisraus membrorum entspricht diese Überschrift durchaus niclit: denn
ihr korrespondiert ja die auf S. 91 stehende Überschrift: „Der Analytik
der Begriffe erstes Hauptstück." Und so muss es hier heissen: „Der
Analytik der Begriffe zAveites Hauptstück." Hierauf hat schon vor
fast 30 Jahren Michel is, Kant vor und nach dem Jahre 1770 (Braunsberg,
1871) S. 78 aufmerksam gemacht.
13. S. 116. „Wir bedienen uns einer Menge empirischer Begriffe ohne
Jemandes Widerrede, und halten uns auch ohne Deduktion berechtigt,
ihnen einen Sinn und eingebildete Bedeutung zuzueignen, weil wir jeder-
zeit die Erfahi-ung bei der Hand haben, ihre objektive Realität zu beweisen."
Siebzig textkritische Kandglossen zur Analytik. 455
Aber dann ist es docli ein iieller Widerspruch, denselben „eingebildete"
Bedeutung zuzueignen! Ich vermute, dass Kant selbst geschrieben hat:
„eine giltige.-'
U. S. li>4. „Es sind nur zwei Fälle möglich, unter welchen syn-
tlietische N'orstellungen und ihre Gegenstände zusammentreffen . . ."'
^Synthetische Vorstellungen" (der Text hat „Vorstellung", was aber Erd-
mann mit Recht in „Vorstellungen" verwandelt hat) ist eine ungewöhn-
liche Verbindung; ich zweifle, ob sie sonst bei Kant wiederkehrt; sie ist
wohl ein ienui '/.työutroy. gemeint können aber meines Erachtens nur
sein die Kategorien, die Begriffe, welclie eine Synthesis enthalten, wie es
oft heisst. Trotz dieser Seltenheit würde der Ausdruck als solcher nicht
beanstandet werden können. Aber er passt nicht zum Folgenden. Es ist
ja auch von Vorstellungen dieRede, welche nicht in jenem Sinne „synthetisch"
sind, nämlich von den empirischen. Ich glaube also, dass Kant zuerst wohl
eine andere Wendung des Gedankenganges im Auge hatte, zu dem der
Ausdruck „synthetische" passte, nachher aber doch den vorliegenden ein-
schlug und nur vergass, das Wort „synthetische" dann auszustreichen.
15. S. l'Jö. Nachdem nun der erste Fall besprochen worden i.st, da.ss der
Gegenstand die Vorstellung möglich macht — bei empirischen Vor-
stellungen — , so heisst es weiter: „Ist aber das zweite, weil Vorstellung
an sich selbst . . , ihren Gegenstand dem Dasein nach nicht hers'or-
bringt, so ist doch die Vorstellung in Ansehung des Gegenstandes alsdann
a priori bestimmend, wenn durch sie allein es möglich ist, etwas als einen
Gegenstand zu erkennen.'' Die vonKant selbst gesperrten Worte be-
weisen, dass beide Sätze im Gegensatz stehen; dann aber darf doch der
Weil-satz nicht, wie geschehen, gestellt werden. Kehrbach schlägt vor, die
beiden Wörtchen „so ist" heraufzunehmen, und unmittelbar vor „weil" zu
stellen. Ich bedaure, dass weder Erdmann, noch Adickes, noch Vorländer
diesem einleuchtenden Vorschlag gefolgt sind.
16. S. 99 der 1. Aufl welche Handlung ich die ..Synthesis der
Apprehension nenne, weil sie geradezu auf die Anschauung gerichtet
ist, die zwar ein Mannigfaltiges darbietet, dieses aber als ein solches, und
zwar in einer Vorstellung enthalten, niemals ohne eine dabei vorkommende
Syntliesis bewirken kann." Der Ton liegt auf „einer" im Gegensatz zum
Mannigfaltigen. Der hergebrachte Text sperrt aber die ganze Phrase:
„in einer Vorstellung". Adickes hat die Auszeichnung überhaupt weg-
gelassen. Wie ich nachträglich sehe, hat auch Vorländer schon das
Richtige hier getroffen .
17. S. 99 der 1 Aufl. Dieselbe Stelle bietet aber nun noch weitere er-
heblichere Schwierigkeiten; was heisst: die Anschauung kann dieses Mannig-
faltige als ein solches, und zwar in einer Vorstellung enthalten, niemals
ohne eine dabei vorkommende Synthesis bewirken • Es liegt auf der Hand,
dass diese Stelle stihsti.sch verdorben ist. Ich glaube, dass Kaut so ge-
schrieben hat, resp. hat schreiben wollen: Anschauung, „die zwar ein
Mannigfaltiges darbietet, dieses aber als ein solches \mimlich eben nur als
}danni(jfalüijcii ohne Verbindung], es aber als in einer Vorstellung ent-
halten vorzustellen, niemals ohne eine dabei vorkommende Synthesis be-
wirken kann".
45() " \'ai hinter,
IM. S 101 iltT 1. Aufl. „Ks iiiuss also otwas st'iii, was si'Ihsl dioso
RepnHiuktion dvv Krsclioiiuin'^en tiuijjjlich inarht." Aber nicht um du-
Reproiluktinn dvv Krscheinunpjen handelt es sich ja. somit in um <li(
Reproduktion unserer \'orstellun<jji'n, und diese heruht auf der „He^d-
mässiji^koif* der Erscheiunngun. Statt ..Reproduktion" ist wahrscheinlich
„Reproducibilität" /u h-sen — ein Ausdruck, der sich in \ erhindun^ mit
..Krscheinuni:;:en" ein paar Zeilen weiter unten auch thatsilchlich findet.
IJ). S. lO'J der 1. Aufl. „Die Syntlu'sis der Apprehension ist also mit.
der Synthesis der Reproduktion unzertreiiniicii verl)unileii. I'nd da jeut;
den transscendentalen Grund der Möglichkeit aller Erkenntnisse überiiauj)t . . .
.•xnsmacht". Um des „jene" willen ist der erste Satz so umzustellen: „Die
Synthesis der Reproduktion ist also mit der S^Mitliesis der .\i)])reiM'nsion
unzertrennlich verbunden." Aber auch die Beziehung auf das Vorhergehende
macht diese Umstellung notwendig.
t!0. I^- lOS der 1. .\ufl. (unten). „Nunmehro werden wir auch un.sere
Kegriffe von dem Gegenstande überhaupt richtiger bestimmen ktuinen."
Mit dem "Worte „Nunmehro" beginnt ein neuer Gedankengang. Dass der-
selbe nicht auch äusserlich durch einen frischen Absatz markiert ist, kann
nur auf einem Versehen des Setzers resp. Korrektors beruhen.
21. S. 116 der 1. Aufl. „Wir sind uns a juiori der durchgängigen
Identität unserer selbst in Ansehung aller Vorstellungen bewusst . . .
dass sie mit allen anderen zu einem Bewusstsein gehören." „P^inem" muss
gesperrt gesetzt werden.
22. S. 121 der 1. Aufl. „Würde nun aber diese Einheit der Association
nicht auch einen objektiven Grund haben, so dass es möglich wäre, dass
Erscheinungen von der Einbildungskraft anders apprehendiert würden . . ."
Statt „möglich" steht im Text irrigerweise „unmöglich".
23. S. 124 der 1. Aufl. „Durch das Verhältnis des Mannigfaltigen
aber zur Einheit der Apperception w^erden Begriffe, welche dem Verstände
gehören, aber nur vermittelst der Einbildungskraft in Beziehung auf die
sinnliche Anschauung zustande kommen können." Der absolute Gebrauch
von „werden" — wir haben das Wörtchen der Deutlichkeit halber gesperrt
— ist wohl nicht Kantisch ; „werden" wäre hier — entstehen. Es handelt
sich wohl um ein unwillkürliches Anakoluth: zu ergänzen w^äre etwa „ins
Spiel gebracht" oder auch „erzeugt" — beides Kantische Wendungen.
24. S. 125 der 1. Aufl. „Auf ihnen gründet sich also alle formale Einheit
in der Synthesis der Einbildungskraft, und vermittelst dieser auch alles
empirischen Gebrauchs derselben." „Aller empirische Gebranch derselben"
wäre vorzuziehen.
25. S. 127 der 1. Aufl. (Anf.j. „Denn Erscheinungen können als solche
nicht ausser uns stattfinden, sondern existieren nur in unserer Sinnlichkeit.
Diese aber als Gegenstand der Erkenntnis . . ." „Diese" geht im Text
auf das vorhergehende Wort „Sinnlichkeit", was aber nicht recht passt,
denn die „Sinnhchkeit" kann doch nicht als „Gegenstand der Erkenntnis"
bezeichnet werden Offenbar ist das Sätzchen: „Denn Erscheinungen —
Sinnlichkeit" erst nachträglich von Kant in den Text eingeschoben worden,
und „diese" bezieht sich dann auf die zuvorstehenden Worte „Natur",
Siebzig textkritisehe Randglossen zur Analytik. 457
resp. „synthetische Einheit" u. s. w. Der Zwischensatz sollte also in
Klammern einjj;eschlossen, und „diese"* in „jene** verwandelt werden.
26. S. 132 Junten). Meine Vorstellungen müssen „der Bedingung
notwendig gemäss sein, unter der sie allein in einem allgemeinen Bewusst-
sein zusamnienbestohen können. " Der Te.xt hat bisher „zusammenstehen".
Ersterer Ausdruck findet sich öfters bei K.
27. S. 134. „Synthetische Einheit des Mannigfaltigen der Anschauungen,
als a priori gegeben, ist also der Grund der Identität der Apperception
selbst . . .- Nach dem Zusammenhang ist jene synthetische Einheit des
Mannigfaltigen nicht a priori gegeben, sondern a priori hervorgebracht,
wie Kant sonst gelegentlich sich ausdrückt. Sollte hier nicht ein Lapsus
calami vorliegen 7
28. S. 138. „Die synthetische Einheit des Bewusstseins ist also eine
objektive Bedingung aUer Erkenntnis, nicht deren ich bloss selbst bedarf . . .,
sondern unter der . . .- Ich würde lieber lesen: „deren ich nicht bloss
selbst bedarf."
29. S. 143. „Nun sind aber die Kategorien nichts anderes als eben
diese Funktionen zu urteilen . . . (§ IS)." Auffallend ist, dass für die
Identifizierung von Kategorien und Urteilsfunktionen auf § 13 verwiesen
wird, der hierfür garnirht in Betracht kommt. Es liegt wohl ein Versehen
vor statt: § 10.
30. S. 153. „Weil nun der Verstand in uns Menschen selbst kein
Vermögen der Anschauungen ist, und diese, wenn sie auch in der Sinnlich-
keit gegeben wäre, doch nicht in sich aufnehmen kann." In der 5. Aufl.
ist aus „Anschauungen" der Singular „Anschauung" gemacht; so auch B.
Erdmann und Vorländer. Man könnte statt dessen auch aus „wäre" den
Plural „wären" machen: der Plural scheint besser zu dem nachherigen »in
sich aufnehmen" zu passen.
31. S. 154. Synthetische Apperception und innerer Sinn werden ein-
ander gegenübergestellt; jene geht „auf das Mannigfaltige überhaupt unter
dem Namen der Kategorien, vor aller sinnlichen Anschauung auf Objekte
überhaupt." Nach „Kategorien" fehlt etwas; B. Erdmann ergänzt „d. i.";
ich würde „somit" vorziehen, gebe aber zu, dass das erstere leichter aus-
fallen konnte als das zweite.
32. S. 155. „Wie aber das Ich, das ich denke . . ." Mit diesen Worten
beginnt ein neuer Gedankengang; derselbe erfordert einen neuen Absatz,
was beim ersten Druck übersehen worden sein muss.
33. S. 155. Dieselben Worte, die wir eben anführten, enthalten auch
eine stilistische Härte, welche leicht vermieden werden kann, wenn man
setzt: „das Ich. das denkt".
34. S. 165. _Es muss Erfahrung dazukommen, um die letzteren über-
haupt kennen zu lernen; von Erfahrung aber überhauj)t, und dem, was . . ."
Statt des ersteren „überhaupt" muss das zweite gesperrt werden. B. Erd-
mann (und ebenso Vorländer) hat richtig den gesperrten Druck des ersteren
„überhaupt" aufgehoben; ich finde aber notwendig, dafür das zweite zu
sperren. Der Setzer hat beides verwechselt.
35. S. 176. „Der Begriff muss dasjenige enthalten, was in dem dar-
unter zu subsumierenden Gegen stände enthalten ist ... So hat der
KiiLit-tn<liea IV. 30
458 J'- Vaihinfjor,
»•mpirischo Bi'p;riff einos Tellers mit dem reinen geometrisclien eines
Zirkt>ls Cileichartij^keit, indem die Runihinf);, die in dem ersteren gedaelit
wird, sieh im let/.teiH>n ;insili;uu'n l.'isst." leli meine, es müsste heissen:
«indem die Rundnnp^, die in dem Iftztereii ü;i'd;i('hl wird, sich im ersteren
;uischanen lässt" oder, wenn man licher will: „indem die Ilunilung, die in
dem ersteren sich ansc-hanen lässt, im let/tert>n j^edacht wird." Es handelt
sich doch nm den Gegensatz des emiiirisch-anscJiaidichen CJegenstandes und
des abstrakten Kegriffes. Dass dieser Begriff hier selbst ein mathematischer,
iUso „anschauender" ist, ändert daran nichts: denn Kant kennt aucii mathe-
matische «Begriffe", z. B. vom Triangel (vgl. Komm. II, 470, auch 286). Der
Ausdruck „der empirische Begriff eines Tellers" ist freilich sehr miss-
verständlich: er hat aber hier offenbar den Sinn „die empirische Vorstellung
eines beliebigen Tellers."
;j(). S. 181. „Das Bild ist ein Produkt des empirischen Vermögens der
produktiven Einbildungskraft . . ." Das ist auffallend. Nach sonstigen Er-
klärungen Kants ist hier wohl „reproduktiven" zu lesen. Der ganze Ab-
schnitt über Bild, Schema u. s. w. ist freilich sehr dunkel.
37. S. 196. ,Nun beruht Erfahrung . . . auf einer Synthesis nach
Begriffen von einem Gegenstande der Erscheinungen überhaupt." Statt
„von einem" steht im Text „vom".
38. S. 196. Ausser der Beziehung auf Erfahrung „sind synthetische
Sätze a priori gänzlich unmöglich, weil sie kein drittes, nämlich keinen
Gegenstand haben, an dem die synthetische Einheit ihrer Begriffe objektive
Realität darthun könnte." Das letztere Sätzchen ist sehr schwerfällig; etwas
verständlicher wird es durch folgende Änderung: „an dem die synthetische
Einheit die objektive Realität ihrer Begriffe darthun könnte." Noch besser
wäre vielleicht: „an dem die synthetische Einheit ihrer Begriffe ihre objek-
tive Realität darthun könnte."
39. S. 200 unten. „Es wird sich aber bald zeigen . . ." Das Folgende
steht jedoch nicht im Gegensatz zum Vorhergehenden, dient vielmehr zur
Erläuterung desselben; „eben" statt „aber" würde diesem logischen Zu-
sammenhang besser entsprechen.
40. S. 203 (Anf.). „Nun ist das Bewusstsein des mannigfaltigen Gleicli-
artigen... der Begriff einer Grösse." Vielmehr „das Bewusstsein der synthe-
tischen Einheit des mannigfaltigen Gleichartigen". Dies geht aus dem
Zusammenhang zwingend hervor. Der Grund des Ausfalls liegt für den
Kenner der Psychologie des Setzers (einer noch ungeschriebenen Mono-
graphie) auf der Hand: dieselben W^orte finden sich in der vorher-
gehenden Zeile.
41. S. 204. Die Axiome drücken die Bedingungen der sinnlichen An-
schauung a priori aus, „unter denen allein das Schema eines reinen
Begriffes in der äusseren Erscheinung zustande kommen kann." Das
Wörtchen in fehlt im Text; ohne dasselbe ist der Text rätselhaft.
42. S. 207. Erscheinungen „enthalten also über die Anschauung noch
die Materien zu einem Objekte überhaupt ... d. i. das Reale der Empfindung
als bloss subjektive Vorstellung." Nach diesem hergebrachten Text ist
, subjektive Vorstellung" Apposition zu „das Reale" ; aber es ist doch wohl
Siebzig textkritische Randglossen z\ir Analytiii. 459
Apposition zu „der Einpfindiin;;", und dann muss es heissen: „ids bloss
subjektiver Vorstellung".
4:J. S. jU (Anf). „Wenn alle Realität in der Wahrnehmung einen
Grad hat . . . und gleichwohl ein jeder Sinn einen bestimmten Grad der
Receptivität . . . haben muss." Das , gleichwohl" konstruiert einen Gegen-
satz, der gar nicht da ist, wie auch aus dem ganzen Zusammenhang sich
ergiebt. Statt „gleichwohl" ist „gleichermassen" zu lesen. Audi hier
liegt die psychologische Erklärung des Setzerfehlers nahe: 8 — 10 Zeilen
vorher beginnt ein kleiner Absatz mit „gleichwohl"; das hat herunter-
gewirkt.
44. S. 217. An dicseni schadhaften Passus ist schon viel herum-
gebessert worden. Meilin, Schopenhauer, Hartenstein, B. Erdmann haben
sich um denselben verdient gemacht. Im Text fehlt gleich in der zweiten
Linie das Substantiv in der Wendung: „für einen der transscendentalen . . .?
gewohnten." Hartenstein ergänzt „Betrachtung", B. Erdmann ergänzt
„Überlegung": es liege ein Fall der B 316 besprochenen „transscendentalen
Überlegung" vor; aber diese bezieht sich auf die Unterscheidung von
Sinnlichkeit und Verstand, auf die es hier nicht ankommt. Kant gebraucht
sonst mehrfach „transscendentale Denkungsart", was ich vorschlage.
45. S. 217. In demselben Passus wird die Frage aufgeworfen: „wie
der Verstand hierin synthetisch über Erscheinungen a priori aussprechen . . .
könne." Ich möchte „etwas" einschieben.
4<J. S. 223. Die Gegenstände, auf welche die Grundsätze bezogen
werden sollen, sind nicht die Dinge an sich; sie sind vielmehr „nichts als
Erscheinungen, deren vollständige Erkenntnis, auf die alle Grundsätze
a priori zuletzt doch immer auslaiifen müssen, lediglich die mög-
liche Erfahrung ist." Der hier gesperrt gedi-uckte Zwischensatz ist eher
an den Schluss zu setzen; er schliesst sich organisch doch an „Erfahrung"
an. Wahrscheinlich hat Kant den Zwischensatz erst nachher als Zusatz
zum Text an den Rand gemacht, wodurch seine Verstellung ermöglicht
worden ist.
47. S. 236. „Erscheinung kann, im Gegenverhältnis mit den Vor-
stellungen der Apprehension nur dadurch als das davon unterschiedene
Objekt derselben vorgestellt werden, wenn sie unter einer Regel steht,
welche sie von jeder anderen Apprehension unterscheidet, und eine Art
der Verbindung des Mannigfaltigen notwendig macht." „Eine" ist im
Text nicht gesperrt; der gesperrte Druck des Wörtchens ist für den
Zusammenhang aber notwendig.
4S. S. 238. „In der Reihe dieser Wahrnehmungen war ktint' bestimmte
Ordnung, welche es notwendig machte, wenn ich in der Apprehension
anfangen müsstt', um . . ." Statt „wenn" liest B. Erdmann „wann". Ich
glaube, dass Kant „wo" schreiben wollte. Ich finde diese Änderung nach-
träglich auch bei Meli in.
4U. S. 240 (oben). „Ich werde also nicht sagen" — nacli „sagen" ist
wohl „können" ausgefallen.
.'>0. S. 247. „Der Grundsatz des Kausalverhältni.sses in der Folge der
Erscheinungen gilt daher auch von allen Gegenständen der Erfahrung . . ."
statt „von" steht im Text „vor". Nach dem Zusammenhang ist nur
30'
460 "• ^:lilün^JO^,
orstoros fj^oreohtfi-rtii^t. Wi»> ich n;ic!iträjj;Iirh .solii>, hat auch VorläiidiT
die AudiTunp; gciiKH-lit. oliiic sie aber vonic in scincni betr. Vcr/.i'ichiiis /u
erwähnon.
51. '*^. 260. „Kraft dessen beweiset nun Handlun;:^, als ein liiiucichen-
des empirisches Kriterium, die SubstantiaUtät, olmr dass icli dir Beharr-
liclikeit desselben durch ver<:^licheiu' Walirriclinningt'U aHcrirst /.u suchen
nutiuj hätt»^." Statt „desselben" ist „derselben" zu lesen, vidclicet „der
Substantialität".
.Vi. S. 252. „Aber die Form einer jeden Veränderun<r . . . luitliin die
8uccession der Zustände selbst (das Geschehene) kann doch . . ." Ein-
facluT und zutreffender: das Geschehen. Es handelt sich darum, dass
das Dass des Geschehens (im Gegensatz zu seinem Wiej a priori „do(;ii
nach dem Gesetz der Kausalität erwogen werden kann".
53. S. 264. Der Grund für das Gesetz der Kontinuität ist: dass wedtu-
Zeit noch Erscheinung in der Zeit aus kleinsten Teilen „besteht, iind dass
doch der Zustand des Dinges . . . durch alle diese Teile . . . zu seinem
zweiten Zustaiid übergehe." Dieser Konjunktiv ist ganz unmotiviert. Der
Indikativ „übergeht" muss hier stehen.
54. S. 256. „Der Fortgang in der Zeit bestimmt alles, und ist an sich
selbst durch nichts weiter bestimmt, d. i. die Teile desselben sind nur
in der Zeit und durch die Synthesis derselben, sie aber nicht vor ihr
gegeben". Aus den Präpositionen, welche in dieser "Wiedergabe gesperrt
gedruckt worden sind, weil auf ihnen der Ton liegt, geht hervor, dass
statt „sie" „sind" zu lesen ist. Die Teile sind nur durch die S\'nthesis
der Zeit gegeben, „sind aber nicht vor ihr gegeben". Der hergebrachte
Text sollte, der Meinung der Herausgeber nach, wohl sagen: sie, die Zeit,
ist aber nicht vor ihr, der Synthesis, gegeben. Aber darum handelt es sich
hier nicht, sondern darum, dass die Teile des Fortganges erst durch die
Synthesis und nicht vor ihr gegeben sind.
55. S. 261. „In unserem Gemüte müssen alle Erscheinungen, als in
einer möglichen Erfahrung enthalten, in Gemeinschaft der Apperception
stehen." Das Wort „einer" ist, wie hier geschehen, gesperrt zu druck(>n,
sonst geht der Sinn der Stelle verloren, welche eben die Einheit der Er-
fahrung betont.
56. 'S. 261. Gleich nachher heisst es: Die Gegenstände müssen sich
„ihre Stelle in einer Zeit wechselseitig bestimmen und dadurch ein Ganzes
ausmachen." Einer ist aus demselben Grunde zu sperren wie oben.
57. S. 263. Auch hier ist dasselbe Wort aus demselben Grunde zu
sperren: von den drei Analogien der Erfahrung heisst es: „Zusammen
sagen sie also: alle Erscheinungen liegen in einer Natur." Andernfalls
betont der Leser das Wort „Natur", während doch der Ton hier auf der
Einheit resp. Einheitlichkeit liegt. Wie ich nachträglich sehe, hat schon
Vorländer die Verbesserung.
58. S. 263/64. Hätten wir, heisst es da, diese drei Analogien dog-
matisch . . . beweisen wollen: dass nämlich alles, was existiert, nur in
dem Behaniichen angetroffen werde, dass jede Begebenheit etwas im
vorigen Zustande voraussetze . . ., endlich, dass in dem zugleichseienden
Mannigfaltigen die Zustände in Gemeinschaft stehen . . . Im Text fehlt
Siebzig textkritische Kandglosscn zur Analytik. 461
(las dritte „dass" nach endlich, wodurch die ohnedies überaus schleppende
Periode unerträglich wird.
59. S. 276. „Nun ist das Bewusstsein [meines Daseins] in der Zeit mit
dem Bewusstsein der Möglichkeit dieser Zeitbt'stimmung notwendig ver-
bunden . . .*' Die eckig eingeklammerten AVorte fehlen im Te.xt, sind aber
aus dem Vorhergehenden mit Sicherheit zu ergänzen: es handelt sich, wie
vorher mehrfach betont wird, eben um „mein Dasein in der Zeit" ; das
Bedürfnis syllogistischer Kontinuität erfordert daher die ?]insetzung dieser
Worte.
00. S. 27S. ^Das Bewu,sstsein meiner selbst in der Vorstellung Ich
ist gar keine Anschauung sondern eine bloss intellektuelle Vor-
stellung . . ." „Anschauung", wie geschehen, gesperrt zu drucken, ist ver-
gessen worden.
(51. 'S. 281. „. . . Einlieit des \'er.standfs, in welchem sie [die Ver-
änderungen' allein zu einer Erfahrung, als der syntheti.schen Einheit der
Erscheinungen, gehören können." Es ist bisher vergessen worden, das
„einer" gesperrt zu drucken.
ii'2. S. 284. „Es hat den Anschein, als ktinne man die Zahl des Mög-
lichen über die des Wirklichen dadurch liinaussetzen, weil zu jenem noch
etwas hinzukommen muss, um dieses auszumachen." Der hergebrachte
Text hat statt „jenem" „jener", und statt „dieses" „diese". Es ist aber
doch natürlicher, zu sagen: Zum Möglichen muss noch etwas hinzukommen,
um das Wirkliche auszumachen, als die Zahl des Wirklichen erst durch
Hinzukommen von Etwas aus der Zahl des Möglichen entstehen zu
lassen. Kant hat sich also wohl nur verschrieben.
m. Zu S. 300/301, 1. Aufl. 241 Anm. „Ich verstehe hier die Eealdefinition
welche nicht bloss dem Namen einer Sache andere \md verständlichere
Wörter unterlegt, sondern die [[, so|| ein klares Merkmal, daran der Gegen-
stand jederzeit sicher erkannt werden kann, und [das] den erklärten
Begriff zur Anwendung brauchbar macht, in sich enthält". Die Einsetzung
des im Text fehlenden „das" rechtfertigt sich von selbst. Das oben
doppelt eingeklammerte „so" steht im Text, ist aber liinauszuwerfen;
sonst würde ja der Text „diejenige liealdefinition, welche nicht bloss . .
unterlegt" einerseits und „die, so ein klares Merkmal . . . enthält" andrer-
seits unterscheiden müssen, was sinnlos ist.
Vyi. S. 302. „Ich kann jede existierende Substanz in Gedanken auf-
heben, kann aber daraus nicht auf die objektive Zufälligkeit derselben in
ihrem Dasein, d. i. die Möglichkeit ihres Nichtseins an sich selbst
schliessen" — statt „ihres" steht im Text „seines", das, auf „Dasein" be-
zogen, doch einen sehr schwerfälligen und auch schiefen Gedanken ergiebt.
er». Zu S. 306/306, 1. Aufl. 248. „Wenn ich Dinge annehme, die bloss
Gegenstände des Verstandes sind, und gleichwohl, als solche, einer An-
schauung, obgleich nicht der sinnlichen (also coram i7ituitu infellcduali) ge-
geben werden können . . ." Statt „also coram" u. s. w. steht im Text „als".
«6. S. 314. Von der Erkenntnis durch den reinen Verstand heisst es,
„es bleibt unbekannt, ob eine solche transscendentale (a^isserordentliche)
Erkenntnis übt^rall möglich sei." — Hier hat sich der Setzer verlesen:
Kant selbst hat doch wohl „aussersinnliche" ge.schrieben.
4(V2 II Vailiin-:»'!-,
(;;. S. 319. Auf S. .S18/;U;> winl unlcrschiiHUMi ilii« lo>>iscln' Udlcxioii
und iVw transscoiulcntalr KcflcxiDn. Jene ^^tOit auf die lo<;isclie Form der
Begriffe, diese auf drnii Inhalt, auf die hiu^c: ol> die l)iuj;e eiuerli'i und
vorschieden, eiustinunig und widerstreitend sind etc., w inl nicht sofiirt aus
den Begriffen selbst durch blosse Vergl e ich u ng. sondern aller-
erst . . . vennittelst einer traussccndentalen i'borlegung ausgemacht wenh ii
können. Man könnte also zwar sagi-n, tlass die logische Reflexion eine
blosse Koni |ia rat ion sei (von „gegebenen Vorstellungen") . . .
Die transsceudeutale Reflexion aber (welclie auf die Gegenstände
selbst geht), enthält den Grund der Möglichkeit di^- objektiven Kom-
paration der Vorstellungen unter einander, und i.st also von der ersteren
gar sehr verschieden, weil . . .'* Der Text, in welchem hier die Haupt-
begriffe, aid' die es ankommt, gesperrt worden sind, hat statt „ersteren"
— „letzteren". Aber damit wird der Gegensatz, um den es sich handelt,
verwischt. Auf der einen Seite .steht die logische Reflexion, welche eine
blosse, d. h. bloss subjektive Komparation ist, avif der anderen Seite steht
die traussceudentale Reflexion, welche zur objektiven Komparation der
Vorstellungen nach Massgabe ihrer „Gegenstände'', „Dinge" führt.
68. S. 336. Es heisst daselbst von den ]leflexionsbegriffen: „"Wende ich
diese Begriffe auf einen Gegenstand überhaupt . . . an, ohne diesen weiter zu
bestimmen, ob er ein Gegenstand der sinnlichen oder intellektuellen An-
schauung sei, so zeigen sich sofort Einschränkungen (nicht aus diesem
Begriff hinauszugehen), welche allen empirischen Gebrauch derselben ver-
kehren . . .'' ünver.ständlich ! Inwiefern soll denn der empirische Gebrauch
derselben verkehrt werden? Ich verdanke F. Medicus folgende treffende
Konjektur: „welche allen nicht-empirischen Gebrauch derselben verwehren".
(Nicht- empirisch findet sich öfters bei Kant, z. B. A 109 ] Denn eben der
transscendentale = nicht-empirische Gebrauch jener Reflexionsbegriffe, wie er
bei Leibniz üblich war, soll ja abgewehrt werden. Medicus nimmt an,
dass das fehlende „nicht" sich in die vorige Linie vor die "Worte „aus
diesem Begriff hinauszugehen" verirrt hat und daselbst zu streichen ist.
In dem Original der ersten Auflage steht das „nicht" auch gerade über
„empirisch''. Mau kann aber auch jenes erste „nicht" stehen lassen —
der Sinn wird dadurch nicht verändert — und dann annehmen, dass eben
das erste „nicht'' den Wegfall des zweiten „nicht" — ■ sei es beim Setzer
oder beim Korrektor — verschuldet hat. Der Sinn jenes Einschiebsels bei
Kant („nicht aus diesem Begriffe hinauszugehen") bleibt, wie gesagt, der-
selbe: bei jenem irrigen, aber von Leibniz gemachten Versuch, , »zeigen
sich sofort Einschränkungen", Schranken, welche verbieteii, über den
Begriff eines Gegenstandes überhaupt hinauszugehen und über denselben
synthetische Sätze aufzustellen; vgl. S. 325: ,,Ohne diese Überlegung [ob
die Gegenstände sinnlich oder intellektuell sind] mache ich einen sehr un-
sicheren Gebrauch von diesen Begriffen, und es entspringen vermeinte syn-
thetische Grundsätze . . ."; vgl. S. 332: es sei nicht möglich, „von Dingen
an sich selbst etwas synthetisch zu sagen".
69. S. 338 ff. Hier sind die Absätze anders zu gestalten. Die W'orte :
„Der Begriff von einem Kubikfusse — zur ganzen Sinnlichkeit gehören"
sind zum vorhergehenden Absatz zu schlagen, der sich mit dem „Satz des
Siebzig textkritische Randglossen zur Analytik. 463
Nichtzuunterscheidendeu" beschäftigt. Die Worte: „Gleichergestalt ist in
dem Begriffe — kein Widerstreit angetroffen wird" müssen einen eigenen
Absatz bilden, der sich mit dem Verhältnis von Einstimmung und Wider-
streit beschäftigt. Mit den Worten: „Nach blossen Begriffen ist das
Innere . . ." muss ein neuer Absatz beginnen, der vom Verhältnis des
Inneren und Äusseren handelt. Derselbe geht bis zum Ende von S. 341.
wo mit den Worten: ..Ebenso kann man die Verhältnisse" u. s. w. die Er-
örterung des vierten und letzten Reflexionsverhältnisses beginnt.
70. S. 347. In der Tafel der Nichtse, in No. 3, heisst es: „der reine
Raum und die reine Zeit, die zwar etwas sind, als Formen anzu-
schauen, aber selbst keine Gegen.stände sind, die angeschaut werden".
Die hier gesperrt gedruckten Worte dürfen natürlich nicht so konstruiert
werden, dass Raum und Zeit selbst als Formen angeschaut werden können,
— in diesem Falle wären die Worte ,,als Formen" abhängig von ,. an-
zuschauen" — sondern Kant will sagen, sie sind „Formen der An-
schauung", d. h. ., anzuschauen" ist abhängig von „Formen"; es wird also
zweckmässig nach „Formen'' ein Komma gesetzt, wofür das bei Kant
selbst stehende Komma nach ,,sind" wegfallen kann.
Bibliographisclie Notizen.
lu der Sounta,i;-sboilap:e No. 22 der Vossisclion Zeitiin«; 18!»8 iiiidet
sich, worauf wir naciiträj:;lich aulniorksam geworden sind, eine sympatlüsche
Besprechung des Paulsenschen Ivantbuches durch S. Saenger. Wir
heben aus derselben folgende Stellen hervor: „Strenge Kantianer werden
freilich an dem Reinigungswerk (wenn der Ausdruck gestattet ist), das
Paulsen an Kant zum Zwecke seiner Modernisierung vornimmt, viel auszu-
setzen haben. Auch unbefangene Beurteiler, solche, die die Grundschriften
desKriticismus keineswegs mehr mit denSchauern religiöser A'erzückunglesen,
w^elche die echten Kantgliiubigen beim Lesen der geoffenbarten Schriften
des Meisters durchrieseln: auch sie werden öfters die Freiheit der Uindeu-
tong bestimmt gegebener oder im Halbdunkel unklarer oder widerspruchs-
voller "Wendungen belassener Lehren als Willkür empfinden. Dem Buche
als solchem, der einheitlichen Leistung des selbstthätig schaffenden Schrift-
stellers, gereicht diese Freiheit nur zum Verdienst, sie verleiht der Arbeit
den Beigeschmack eines Bekenntnisses, einer philosophischen Beichte,
welche das Interesse erhöht". „Was Kant uns sein könne, uns sein soll,
sagt Paulsen mit einem solchen Gefühl für die Bedürfnisse der Gegenwart,
mit so viel ßeife und Masshaltung im Urteil und Ausdruck, mit so sicherer
Trennung des Sicheren vom Problematischen, des dauernd Wertvollen vom
zeitweilig Nützlichen, dass sich sein Buch wie kein anderes empfiehlt,
ernste Neulinge in Kant einzuführen ; es wird wohl auch manche Abtrünnige
zu Kant zurückführen". Mit der Auffassung Kants als Metaphysiker, welche
Paulsen vertritt, ist S. nicht ganz einverstanden. Angeregt von der
Windelbandschen Kantauffassung legt er den Hauptwert auf den von Kant neu
gefundenen rein immanenten Begriff der objektiven Wahrheit als der
Allgemeingiltigkeit der Urteile, die durch Bethätigung der Normalvernunft
zustande kommen. Von diesem Standpunkte aus könne den metaphysischen
Vorstellungen der Charakter der „Wahrheit" nicht zugesprochen werden.
Saenger kann darum Paulsen nicht beistimmen, wenn dieser „meint, Kant
der Metaphysiker werde zu Unrecht über Kant dem Erkenntniskritiker ver-
nachlässigt." Die Lehre von der Welt als Vorstellung, der sog. transscen-
dentale Idealismus schliesse den „objektiven" metaphysischen Idealismus
nicht aus, d. h. den Anbau jenseits der Grenze vernünftiger Urteilsbildung.
die der Kriticismus gezogen hat. Psychologisch gewiss nicht, da Kant
selbst thatsächlich den mühsam konstruierten Begriff der objektiven
Wahrheit durchlöchert hat, indem er die neue Theorie einer Erkenntniss,
der subjektive Notwendigkeit zukommt, konstruiert".
Einen scharfen Angriff auf Pauls ans neues Kantbuch
Philos.^ Bd. V, H. 3 (1899),
Ludwig Goldschmidt im
S. 286—323 unter dem Titel
veröffentlicht
„Archiv für syst.
,Kants Voraussetzungen und Professor
Dr. Fr. Paulsen". Einleitungsweise greift der Verf. zunächst P.'s Be-
hauptung eines Konflikts zwischen Kant dem Erkenntnistheoretiker und
Kant dem Metaphysiker an (286 ff.) und w^endet sich insbes. gegen P."s
Ausstellungen an Kants Ki'itik der Gottesbeweise (287 ff.). Sodann setzt
er ein mit der Darlegung
kurzen "^
Bemerkung
über
der Voraussetzungen Kants (290). Nach einer
die Wichtigkeit des Gegensatzes analytisch —
Bibliographische Notizen. 465
synthcfixch (292) vt'rt(;idi^^ er eingehend gf^^tii P. «lie Mi>(/lkhkeit
der Erfahrung als Voraussetzung der Kuntischen Methode (292 ft.). Er
besi>richt hierbei die ^hyperkritischen Anwaudlungen unserer Zeit", denen
die Theorien einer nur priisiiniptiven ("ausalität nnd der Metageometrie ihre
Existenz verdanken: „Eine walirscin-inliche ("ausalität ist so viel wie eine
wahrscheinliche Vernunft" (;{U2). Als den llaui)tzweck der Kr. d. r. V.
vertritt d. die ,,kritische Grenzbestimmung" (303 If.) und geht dann ein auf
die Fragt' nach dem Ding im sich (M(>glichkeit, es durch Kategorien zu
denken, Unmöglichkeit, es durch sie zu bestimmen) (305 ff). Er erörtert
sodann das Verhältnis von Kant zu Hume, das von P. verkannt worden
sei v309 ff.) und wendet sich hierauf zum VerhiÜtnis der Kritik der reinen
zu der der jjraktischen Vi'rnunft: dir beiden stimmen nach ihm vollkommen
zusammen. Kant ., verlangte Einheit, d. h. Einstimmung der Vernunft, und
eben deshalb schied er Wissen und Glauben. Und man hat alle Ursache,
nicht wieder zu vermengen, was er gelöst hat" (3P2). Die Architektonik
des Kantischen Systems wird mehrfach gegen P. in Schutz genommen;
eine eingehendere Diskussion hierüber findet sich S. 314 und 316 f. S. 31b
verteidigt G. die transscendentale Deduktion der Kategorien, S. 319 die
Lehre, dass Urteile von der Form B -j- 7 = 12 synthetisch sind.^ Der Verf.
schliesst, indem er der Überzeugung Ausdruck giebt, dass Kants Kritik
erst dann ihre ganze Bestimmung erfüllen kfum, wenn man sie ,,überall als
ein Lehrbuch behandelt . . . Man lehre die Kritik, wie num die formale
Logik vorträgt. Kritik und Logik sind natürliche und rechtmässige Ge-
schwister" (323).
in der „Altpreussischen Monatsschrift", Bd. XXXVl, Hft. 7 u. 8.
8.637 — 562 wendet sich Otto Sch<>ndörf f e r in einem ..Paulsens Kant"
betitelten Aufsatz vom Standpunkt eines strengen Kantianers aus gegen
Paulsens Kantbuch (vgl. oben S. 414). Insbesondere greift er die meta-
physische Tendenz an, die Kant nach P.'s Darstellung vertritt. Er bespricht
„die Problemstellung und die Einteilung der Urteile in analytische und
synthetische" (546—561), ,,die Analogien der Erfahrung" (661 — 555) und
„die praktische Philosophie" (555—662). Schöndörffer stellt dabei die
gewagte Behauptung auf. „ dass P. zur Abschätzung von Kants Grösse als
Mensch und als Philosoph in seinem Innern das richtige Mass und daher
in seiner Beurteilung den angemessenen Ausdruck nicht gefunden hat" (562).
In der „Zeitschrift für Philos. u. philos. Kritik", Bd. 114, S, 264—282
hat Prof. Heman (Basel) einen Aufsatz veröffentlicht mit der Überschrift
„Paulsens Kant'- (s. o. S. 352 u. 413 f.). Heman begrüsst lebhaft P.s
Monographie wegen „der eigenartigen Auffassung, die darin gipfelt, Kants
philosophisches Denken in seiner geschlossenen Einheit und Gesamtheit
vorzustellen, um daraus dann den eigentlichen Sinn, die Absicht und den
Zweck von Kants Hauptleistung, der Kr. d. r. V., zu erklären und zu
deuten, während bisher der umgekehrte Weg eingeschlagen wurde: man
suchte Kants Denken einseitig auf den Inhalt der Kritik zu bauen, indem
man sie für das Grundbuch und die (uiiiuhjuelle seines gesamten Denkens
ansah" (254/265). Heman geht in den Hoffnungen, die er an das Erscheinen
des P. "sehen Buches anknüpft, so weit, dass er glaubt, „diese umfassende,
aus dem Ganzen des Kantschen Denkens herausgearbeitete Darstellung der
theoretischen Philosophie wird den niclit zu unterschätzenden, sondern
hochbedeutsamen Erfolg haben, dass sich endlich eine allgemeine Über-
einstimmung im Verständnis Kants herausbilden wird" (267; vgl. 268).
Trotz aller Wärme, mit der er für das Buch eintritt, verhehlt indessen H.
auch nicht, welche Bedenken er nicht zwar gegen „l'.s Darstellung der
Kantschen Philosophie" hegt, aber gegen die „Ausdeutungen und Anwen-
dungen, die P. dabei macht" (281). Besonders ausführlich geht er auf die
Stellung der Metaphysik bei Kant ein. Er erkennt P.s \erdienst voll an,
diese in den meisten Darstellungen so .stiefmütterlich behandelte Partie
ans Licht hervorgezogen zu haben (266 1. allein er bemerkt doch, dass .,der
4«(>
niblioffriipliisi^he Notizon.
droluMuii' Kritiki'i" lui V. i;;ir /u solir luntcii dtMii .,,ü;eiu'i;^tt'ii i'.it lon" V(>r-
solnviiulc ("JTli. „Nii'ht »lie Mftajilivsik war Kants Priviitsysti'in, iiiul nicht
die Kritik war »las offi/.icllc Systi-ni, soiulrrn vielmehr war ilie kritische
l'liili)Suphio Kants Privatsysteni, seine persi'l n 1 i c he Kntdcckun;;', die
grosse That seines Lebens, sein eip^enstes Denken, in das er sich p;an7.
und ,u;ar eini^eh-bt hatt(>. und wonach all sein (ihriges i)eid<en sicdi kon-
stituierte und residierte; aller der ..offi/.ielle'' Kant war Professor der Meta-
phvsik, und zu seiner oflizielleu Hernfsthäti^keit j>eh("»rto, Vorlesunj:,-en
über Metaphysik halten /,ii müssen" ('J7'_'). — Auch sej;(>n P.'s Versuch,
Kant mit Spinoza in nähere Be/iehunj^' zu l)rin,i;;en, j^jielit Ileman interessante
Enlrterunnen ('J76 lt.), und ebenso <;e<z;en P. s Lehre, dass Kants Aprioris-
nius zum Veralteten in seinem System ^elKire. ,,Aus Kant die apriorische
Denkweise entfernen und für unhaltbar erklären, heisst Kant das Jlückgrat
ausbrechen" (280).
Nachdem die ..Kantstudien" im ersten Bamle. S. 443 untl im zweiten
Bande, S. 477 if. über die beiden der Philosophie der Neuzeit gewiilmeten
Bände des in achter Auflage erschienenen Überweg- Heinz eschen
„Grundrisses der Geschichte der Philosophie'' berichtet haben,
sei der bibliographischen Vollständigkeit halber darauf hingewiesen, dass
die 8. Auflage dieses ausgezeichneten und längst unentbehrlich gewordenen
Werkes nunmehr abgeschlossen vorliegt: der „Grundriss der Geschichte
der Philosophie der patris tischen und scholastischen Zeit" ist,
um etwa 60 Seiten vermehrt, von dem unermiiillichen Herausgeber, Geh.
Hofrat Heinze, neu ediert worden (Berlin, Rüttler und Sohn, 1898, VllJ
u. 363 S.). Einzelne Abschnitte wurden durchgesehen von den Professoren
yi. Baumgartner (Freiburg i. Br.). Th. M. Wehofer, O. P. (Rom), A. Lasson
(Berlin).
„Über Schopenhauer zu Kant. Ein kleines Geschichtsbild, ent-
worfen von Wilhelm Deutschthümler" nennt sich ein wunderliches,
aber nicht unorigineiles Schriftchen (Wien, J. Dirnböck, 1899, 136 S.). Der
Verf. glaubt, dass er durch Schopenhauer zum Verständnis Kants geführt
worden ist, und will seine Leser ebendahin führen, nicht ohne zuvor einen
schnellen Blick über die ganze Geschichte der Philosophie gew'orfen zu
haben. Seinem Pseudonym macht er dadurch Ehre, dass er sich um Ver-
deutschung der philosophischen Termini bemüht. Auf Seite 69 finden sich
folgende Beispiele: Das Kausalgesetz wird durch den analytischen Satz,
„dass jede Ursache ihre Wirkung und jede Wirkung ihre Ursache haben
muss", Noumenon durch „übersinnliches Wesen, Geist, Gespenst",
Logiker
durch „Denkgesetzgeber" wiedergegeben.
,Transscendental''
übersetzt er mit, „vorherschreitend", und „transscendent" mit „überfliegend".
Von Kant bemerkt er in diesem Zusammenhang: „Kant ist ein sehr launiger,
hie und da sogar recht boshafter Taufpate seiner Geisteskinder, er ent-
lehnt für. dieselben den alten Dogmatikern und Scholastikern wohlbekannte
Worte und bittet dann, etwas ganz anderes, vollkommen Neues darunter
zu verstehen". Als Beispiel für diesen „Taufhumor" Kants (S.29) führt
der Verf. speziell und nicht mit Unrecht das „Noumenon" an. Zu dem
bekannten Stobbe'schen Kantporträt bemerkt der Verf. (136j: „es leuchtet
aus den sanften Augen unter der Professorenperrücke eine überlegene Welt-
klugheit. Der schmunzelnde Mund verrät aber Gedanken, welche überall
auszusprechen gewiss nicht rätlich i.st". In diesem Sinne meint auch der
Verf., dass Kant „seine Goldkörner absichtlich in seinen Werken so arg
versteckt hat, damit sie einerseits nicht schon bei seinen Lebzeiten offen
zu Tage treten und doch andererseits der Welt nicht ganz verloren gehen
mögen". Erst Schopenhauer habe das richtige Verständnis Kants eröffnet:
denn Schopenhauer, ,,in den philosophischen Schriften aller Weltteile und
Jahrhunderte bewandert, alle mit grosser Leichtigkeit überblickend und
kritisierend, und all seine Gedanken in musterhaftem Stil voll Geist und
Witz vorführend, kann wie kein zweiter als ausgezeichneter Wegweiser
Biblingrapliische Notizen. 4^
) I
und Begleiter uii«l gewiss sehr amüsanter Cicerone zur Orientieriin.i^ in
allen Hör- und Irrsälen der menschlichen Philosophie anempfohlen werden"
(4) Was speziell Schopenhauers Verdienst um Kant betrifft, so findet der
Verf. in .^chopenliauers Fassung ..der nounu-nalen und der phänomenalen
Welthälfte'' als „Welt als Wille und Vorstellung" eine „gelungene Ver-
deutscliung". ..einen glücklichen liriff ins ganze Menschenleben". Mit
Kant speziell beschäftigt sich der Verf. erst in dem Schlusskapitel S. 121
bis 136 in den Abschnitten: Intelligibler Cliarakter. I'ostiilate und kate»
gorischer Imperativ unserer praktischen Vernunft, Primat unseres Willens
vor unserer Erkenntnis, intelligible Kirche. Zu letzterem Ausdruck bemerkt
der Verf.: ,.intelligibel" sei nicht mit ,, verständlich" zu übersetzen, der
Ausdruck sei vielmehr selbst ,. schwer verständlich" und beileute in dieser
Verbindung ..bloss im deiste und nicht in Wirklichkeit vorhanden", denn,
was K. intelligible Kirche nennt, „ist nur in seinem Geiste oder hiichstens
im Geiste jener Wenigen, welche Kant wenigstens hie und da Recht geben
wollen, zu finden". Im Übrigen sei es ein Hauptverdienst Kants, dasjenige,
was schon Bacon vergeblich angestrebt habe, sicher fe.stzustellen: ,.den
Gottesfrieden zwischen dem den Menschen möglichen Wissen und dem
allen Menschen notwendigen Glauben" (133). Wir schliessen mit einem
schönen Bilde: „man erkennt in Kants Kr. d. r. V. einen allen Stürmen der
Zeit zum Trotz erbauten Leuchtturm, der nach allen denkbaren Richtungen
hin sein Licht über das unabsehbare Meer der sich stets bekämpfenden
und verdrängenden und doch sich niemals beruhigenden philosophischen
Wogen und I3randungen aller Völker und Zeiten ausstrahlt".
^o^
Im „Siecle" vom 30. Oktober 1899 findet sich ein Artikel von Victor
Bascli. Professor an der Universität Rennes, mit der Überschrift „Le
Mouvement iutellectuel k l'Etranger. Les , Kantstudien' et M.
Brunetiere". Den Anlass zu dem Artikel gab der „KSt." IV, 1, S. 50 ff.
veröffentlichte Aufsatz des Herausgebers „Eine französische Kontroverse
über Kants Ansicht vom Kriege". p]inleitend spricht Basch über die
„Kantstudien" und über Kant im Allgemeinen und sagt dabei über
letzteren folgende bemerkenswerten Worte, nachdem er zuvor seinen ge-
waltigen Einfluss auf die verschiedenen Wissenschaften hervorgehoben hat:
„Bien plus, il agit de la fagon la plus efficace sur Tarne meme de sa nation,
sur les sources profondes de sa meutalite et de sa moralite et Ion peut
soutenir sans exageration que le corps des soldats et des fonctionnaires
Srussiens portent encore aujourd'hui lempreinte de limjieratif categorique.
n comprend vrairaent ijue des hommes de premier ordre puissent consacrer
leur vie k explorer les oeuvres de Kant, ä les Interpreter, ä en adapter les
principes ä la science contemporaine".
In Bezug auf das in Frage stehende Problem äussert sich Basch in
folgender Weise: „Kant envisage le probleme de la guerre h deux points
de vue tres differents. au point de vue anthropologi(ine et au point de vue
politicpie. Cest le premier »jui prevaut dans lopuscule d'oü M. Brunetiere
a tire sa citation, ainsi «jue rindi(|ue clairement son titre": MittDia-sslicher
Anfang der Mensch engeschichte. Hier erkennt Kant die relative Berechtigung
des Krieges an. „La pensee de Kant est donc tres claire. La guerre est
une necessite actnelle de l'humanite. Cest uue etape provisoire et inferieure
(ju'elle est obligce de paniourir et la Providence s'en sert comme dun
moyen pour parvenir ä ses fins veritables qui sont la justice, la liberte et
la paix". Ganz anders aber urteilt Kant vom politiachen Standjjurikt.
auf den er sich stellt, angeregt von dem grossen F^reignis. das zwischen
die Abfassung der genannten anthropologischen .Sclirift und die iles Traktats
zum ewigen Frieden fällt: die französische Revolution. »Lere de la justice
avait commence ä luire dans un coin de l'Europe et des signes precurseurs,
qu'un genie comme Kant savait Interpreter, permettaient de supposer «jue
les grandes id6es elaborees par la Revolution francaise allaient se repandre
dans tonte TEurope, allaient y fructifier et cr^'er un lien entre tous les
peuples civilises qui permit de les soumettre a une charte unique. Cest
468 Biblio^rapliischo Notizen.
cetto oliarto (|U0 Kant a »'critt^ diiiu' inain aiissi foriiu' (|uc liardic dans
l'Essai siir la }\ii.v iicr/x-turllr". In dit'scr Sclirift niebt Kant, die \'i)lh'ndiin;^
st'incr (.u'scliiclitspluldsoiiliif. Am Anl'ani;- dt-r Mi'uscldicits<;i'scliiclitc stellt
dvr von lionsst-an i'rtriiunitc l-ricdcnszustand. Mit dor crwailicndfn Ividtur
ht'p:innt dor Kriof::. D<^'r Kidturfortschritt /winj^t wieder /um Frieden, zu-
erst auf »ler Hasis des jus eivitatis. <lann nach weiterer Knlwickhmg
auf der liasis des jus gentium. „Knfin, tous les liommt>s et tuus ies
Ktats se sentent membres de hi menu« Cite humaine et se sonmettent
volontairenient a une juridiction (|ue Kant appelle le droit cnsmopolite,
jus CO sinopoli tic u m ". — Bascli's Artikel scidiesst mit di-r Malmun;^ an
ilen Irlieber der Kontroverse: „Que AI. Hrunetiere so garde de touciier h
ces hommes du XVllIe siecle dont le reve fut de detruire toutes ces
harrieres, de vaincre tous ces prejuges, de deraciner toutes ces liaines *|ue
Ion voudrait aujourdhui reconstruire et faire revivre! Cola porte malheuri"
Dr. Gottlob Mayer. Pastor in Jüterbog, veröffentlicliL unter dem
Titel „Das religiöse Erkennt nis])roblem" eine Ileihe von Studien.
Vom ersten Baude „Zur Geschichte des religiösen Erken n tn i.s-
problems" ist der erste Teil „Vom apostolischen Zeitaltei- bis
Fichte" 1897 bei Deichert in Leipzig erschienen (160 S,). Mit Kant be-
.schäftigt sich der \'erf. von Seite 140 — 145. Er ist sich der eminenten Be-
deutung Kants für die Theologie vollkommen bewusst. Um so verwunder-
licher ist e.s, dass die Darstellung, namentlich der theoretischen Philosophie,
sehr ungenau ist. Es finden sich z. B. S. 141 folgende Sätze: „Erkennen
ist nichts anderes als ein s^^nthetisches Urteil a priori, etwas vom Subjekt
aussagen, was nicht schon im Subjekt liegt, das aber allgemein giltig ist.
Wie sind nun synthetische Urteile möglich in der Sinnlichkeit ixnd im Ver-
^&*
stand? Die erste Frai>;e wird beantwortet in der trausscendenten Ästhetik."
'&
Leider ist hier nicht einmal das Wort „trausscendenten" ein Druckfi'hler :
denn wenige Zeilen weiter unten heisst es wieder statt transscendentale
Logik „transscendente Logik".
Von dem Buche „Das Chaos in kosmischer Auslese" (vgl. „KSt."
IV, 338 f.) hat sein Verfasser Paul Mongre eine Selbstanzeige in Versen
in der „Zukunft" (M. Harden) VIII, No. 5 vom 4. Nov. 1899 veröffentlicht.
Tn der originellen Form eines Zwiegesprächs zwischen dem Kantischen
Ding an sich und dem Philosophen (d. h. Mongre) wird die That des letzteren,
die gänzliche Nacktheit des Dings an sich gezeigt und damit der Mensch-
heit als ihr Forschungsgebiet die „Erdentochter" Wissenschaft zugewiesen
zu haben, von dem auf „die Krone des An-sich-seins" stolzen Ding an sich
gefeiert. „Der Philosoph" ist bescheiden genug, auf Kant als seinen Vor-
gänger hinzuweisen; doch das Ding an sich ist von ihm, dem „Licht der
Kirche, nicht der Forscherzunft" nicht sehr entzückt. „Oh Schlaufuchs!
Mir die Wissbarkeit zu rauben, Um, was es ihm behebt, von mir zu glauben!"
ruft es über ihn aus, und Mongre erhält denn den ungeteilten lluhm, die
Beziehungen zwischen Ding an sich und Erscheinung abgebrochen zu haben.
Unter dem Gesamttitel „Der Egoismus" ist ein eigenartiges Sammel-
werk von Arthur Dix herausgegeben worden (Verlag von Freund und
Wittig, Leipzig, 1899, 410 S.). Man könnte zunächst meinen, das Sammel-
werk verfolge die Tendenz, den Stirner.schen Egoismus oder den
Nietzsche"schen Individualismus zu vertreten, aber die Tendenz des Heraus-
gebers selbst ist der nationale Egoismus, resp. der Kollektivegoismus gegen-
über dem Individualegoismus. In diesem Sinne sagt Dix (S. 60) : „Die Weisen,
das sind diejenigen Erleuchteten, die dem individuellen Egoismus den Weg
gewiesen haben, der zur Unterordnung unter den höheren Kollektivegois-
mus führt. Darum ist Kant der Weisen Weisester, wenn er den
grossen, für alle Zeit grundlegenden Kernspruch des Massenegoismus
ausspricht: Handle so, dass die Maxime deines Wollens zugleich als Prinzip
einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte. Das ist in der That der
Bibliographische Notizen. - Mittoilunfi:en. 4ß9
"Weisheit letzter Schluss. wenn rnan die Weisheit versteht als die Ver-
treterin des KoUektive^oismus gegenüber dem Individualcgoisimis. Und
wie anders sollte man sie denn verstehen'.'" Ausser dem Beitrag des
Herausgebers Dix selbst, der den Titel fühlt: „Der Egoismus der sozialen
Gruppe- enthält das Sammelwerk noch Beiträge von 12 anderen Mitarbeitern,
welche den Egoismus in allt-n svinen Bethätigungen in den verschiedensten
Lebenssphären verfolgen, aber teilweise in ganz anderem Sinne als der
Herausgeber selbst. Vom „Egoismus in der Erziehung" spricht Döring
und spricht auch von Kaut (S. 27.'.), welcher in seiner Pädagogik dem
Egoismus, den er in der Ethik so schroff verwerfe, allerlei Zugeständnisse
mache. Ganz unbefriedigend ist der Beitrag von Ji. Steiner „Der Egois-
mus in der Philosophie". Was wäre aus diesem Thema zu machen gewesen!
Was Steiner über Kant sagt (S. 330—832), geht nicht über das Alltäglichste
hinaus.
In dem Schriftchen: „Die Philosophie des Friedens" (Berlin, Paetel,
1899) stellt sich Prof. L. Stein, dessen Ausführungen zu Kants Idee vom
ewigen Frieden wir schon kennen (KSt. I, 302 ff., 111. 364), wieder auf's
Neue in derselben Frage auf den Kampfplatz, im wesentlichen in der
Kautischen Rüstung. Er nimmt das Wort zum Friedenskongress und
verlangt mit Kant: „Die Maximen der Philo.sophen über die Bedingungen
der Möglichkeit des öffentlichen Friedens sollen von den zum Krieg
gerüsteten Staaten zu Rate gezogen werden". Allerdings hält Stein mit
Kant den „ewigen Frieden" im eigentlichen Sinne für eine „unausführbare
Idee". Aber doch kann auf eine Verminderung der Kriege hingewirkt
werden. Stein bringt bei Beleuchtung dieser Frage 6 Gesichtspunkte in's
Spiel: 1. den philosophisch-soziologischen (kriegerisches Wesen der mensch-
lichen Natur überhaupt:'), 2. den sittlich-sozialpädagogischen (Krieg als
eraiehend?), 3. den politisch -staatsrechtlichen (Schit.'dsgericht und^ Sou-
veränität'.'), 4. den technisch -militärischen (Selb.st.ud'hebung des Krieges
durch die successive Vervollkommnung der Zerstörungsmittel'?), 6. den
finanziell-ökonomischen (allgemeiner wirtschaftlicher Ruin.-).
Mitteilungen.
Lose Blätter aus Kants Nachlass.
Rudolf Reicke, der um die Kantsache hochverdiente unermüdliche
Forscher, hat seine 1891 begonnene Herausgabe der „Losen Blätter", deren
letzte Fortsetzung 1894 erschienen war (vgl. die Bespn>chung von Adickes,
„KSt." I. 232—263). neuerdings um ein weiteres Heft bereichert: „Lose
Blätter aus Kants Nachlass, mitgeteilt von Rudolf Reicke, drittes
Heft. K.'.nigsberg i. Pr.. F. Beyer. 1898 (93 S.)." Wie alle Arbeiten von
Reicke, zeichnet sich auch diese neueste Veröffentlicluing aus durch muster-
giltige Akribie, so dass wir ein durchaus treues, völlig objektives Bild des
Kantischen Nachlasses erhalten. Die „KSt." werden in einem ihrer nächsten
Hefte aus berufener Feder eine Rezension dieser Ausgabe bringen. Dem
Zweckte einer vorläufigen Orientierung mtigen die folgenden Mit-
teilungen dienen.
In der Maviptsache sind es religionsphilosophische Themata, die den
Inhalt des Heftes bilden. — Das erste Blatt der Kantischen .\ufzeichnungen,
von Reicke als Vorarbeit zum „Streit der Fakultäten" charakterisiert.
470 Mittt'iliinf,'en.
hiiiulflt bosomliTS von ilcr iJcdi'utiiii;;' der liihcl, ilit/wisclicM aiicli vom
Streit der tlioolofjcischon Fakultät mit der plnlosophisclu'n (2—0). Ks iolj^t
cmv Vornrb«'it zur „Kt-Iiuion iiuifili. d, Cr. d. lil. \'.": iibiT dir I'cclit-
ft'rtii;un.i;' diirrii di'u (üaulifii und ühiT div Ciiiadi'umittcl (6 — t)). Dann
folfjt ein mit einif^TU Er\vä<^un;>en ilbor den Nationalismus der ]{i'lif:;ion
besi'hriebenes, bauptsächlich aber „das (Jan/e der crif isclicn JMulf>so[)liit'"
betn'ffendos Blatt aus den letzten üOer dahren. Ks handelt von der
Kate<;orienlelire mit bi<sonderer Hezielmn;:; auf den Beckschen Standpunkt,
und „vom Hrkenntnis des Sinnlichen und i'bersinnliehen" (!) — 18). Das
näehste Blatt, witnler eine Vorarbeit zum Streit der Kakidtilten, spricht
von der Authentizität der Bibel (18—15). Die nun folgenden 5 Blätter
(15—33) f;-eh(iren zu den Zetteln, die Kant- l'ür den (lebraucli in seinen
Vorlesungen bestimmt hat. Die hier behandelten Themata sind: natürliche
Theologie, Kthik. ]\echtslehre, Phoronomie (15— IS): Dasein Gottes, ^löglich-
keit der Erkenntnis aju-iori, Gesetz der Continuität, unter der i^herschril't
„Von der Veranlasssung der Critik" ein gedrängter Abriss der Haupt-
fragen der Kr. d. r. V. (18 — 24l; Moralphilosophie (25 — 26); lieuchh-rischer
Religionsbegrifi". bürgerliche Verfassung (29 — 30): Willensbestimmung apriorj.
Aufrichtigkeit des religiTisen Glaubens (30 — 33). Hieran schliesst sich ein
Fragment einer bis jetzt unbekannten Erklärung Kants vom 29. Juli 1797.
Am Rande und auf der Rückseite finden sich Notizen über Religions-
philosophie, Erkenntnistheorie, kategorischen Imperativ. Erkenntnis der
Dinge an sich selbst in praktischer Absicht (38 — 36). Auf einem einseitig
beschriebenen Brief an Kant vom 7. Mai 1794 folgt dann eine Vorarbeit
ztim Streit der Fakultäten: Bemerkungen über die wahre Religion und
über die moralische Aufgabe, ein neuer Mensch zu werden (36 — 40). Der
nächste Zettel bringt auf der einen Seite das Schema einer Disposition zu
den „Fortschritten der Metaphysik", auf der Riu^kseite AusfüJirungen über
den "Wunderglauben (40 — 42). Dann folgt ein Blatt mit Vorarbeiten zu
dem Aufsatz „Über das Misslingen aller philosophischen Versuche der
Theodicee" und zu den „Fortschritten der Metaphysik" (42— 46j. Hieran
schliesst sich ein Zettel zum Gebrauch in der Vorlesung über Rational-
theologie. Kant spricht hier von den Guadenmitteln, vom Begriff der
Imputation, von den Wundern, von der geistlichen Obrigkeit (46 — 48).
Die drei nächsten Blätter (49— 62) enthalten Vorarbeiten und Entwürfe
zur 2. Aufl. der Rel. innerh. d. Gr. d. bl. V. Die erörterten Themata be-
treffen die jüdische Religion (49 — 51); das Dogma von der jungfi-äulichen
Geburt. Gnadenwirkungen, Unmöglichkeit, dass es verschiedene Religionen
geben solle, den Titel der Schrift, der nicht heissen kann „Religion aus
blosser V.", den Unterschied von Religion und Theologie, die Erhebung
der christlichen Religion aus der jüdischen (52 — 57); die Bibel, ^lendels-
sohns Stellung zum Christentum, moralische Auslegung der Bibel, Religion
im Felde der Vemvmft im Gegensatz zur Religion der blossen Vernunft,
Ansehen eines geistlichen Vaters (jictiu), Judentum, Gott als Richter,
Mendelssohns Forderung der Anhänglichkeit an Satzungen, Gott als Richter
(57 — 62). Die drei folgenden Blätter (62 — 69) bringen Vorarbeiten zum
Streit der Fakultäten. Sie enthalten Ausführungen über Bibelinspiration,
Auslegung der Bibel, in die sich die Obrigkeit nicht zu mischen hat i62- 64);
Mysterien („DieReligionslehrealsEnthüllung (revelatio) setzt eine Glaubens-
lehre als Verhüllung (Mysterium), d. i. einen historischen Glauben voraus
von einer Wundergeschichte"), Wesen Gottes, Aberglaube, Geschichts-
religion und Vernunftreligion (eingesti-eut sind hier eimge an das Opus
postumum vom Übergang erinnernde Stellen physikahschen Inhalts) (65 — 67);
Christentum und jüdische Geschichte, Kirche, Glaube, Mystik (67 — 69).
Hierauf folgt ein Vorlesungszettel mit Bemerkungen über das Eingreifen
Gottes in den Weltlauf und über die göttliche Vorsehung (69 — 71), dann
ein Blatt mit religionsphilosophischen Notizen über die Pflichten als gött-
liche Gebote, den Ursprung des Glaubens, die Nützlichkeit der moralischen
Gesinnung als Grundlage der Religion und mit einem Entwurf zu dem
Aufsatz über das Seelenorgan (Sömmeringj. Angefügt sind kurze Be-
Mitteiliingeu. 471
merkungen übtT die Bewegursachc zum „Heurathen", die SUnde wider den
h. Geist, den Zweck der SclKljifim.L;, den Brennstoff, das Clühfeiier, den
Unterschied iler Noiiniena und Pliänonieua und seine Bedeutung für die
Moralität (7:.' — 76). In bunter Reiiienfoige entwickelt der nächste Zettel
(75—79) allerh'i Gedanken über Politik, Logik, christliche Religion, Gottes-
verehrung, Bibel, die „uu)denerte Verfassung," die Gesinnung des guten-
Lebenswandels als Zweck der christlichen iicligion. Die drt'i folgenden
Blätter (79—88) eutlialten Vorarbeiten zum Streit der Fakultäten. Die
einschlägigen Themuta sind: Kirchenglaube, Judentum (Bendavid, Mendels-
sohn), reiner und mit statutarisclien Elementen vermengter Religions-
glaube (79-82J: Ursprung iler Bibel (82—83); Verhältnis der Fakultäten
zu einander, Verhältnis zwischen der Regierung und den Universitäten
(83— 88i. Das letzte Blatt endlich (89—93) enthält Entwürfe zur 2. Auflage
der Rel. innerh. d. CJr. d. bl. \'. Kant behandelt ausführlich den Unterschied
zwischen philosoithischer und biblischer Theologie sowie die Bedeutung
des Titels der Schrift. Am Schluss folgen einige kurze Bemerkungen über
den Katholizismus und über das Abendmahl.
Auch diese neueste Publikation des verdienstvollen Herausgebers be-
kundet aufs Beste seine Gewissenhaftigkeit und Sorgfalt. Indem sie sich,
■«ie alle Arbeiten Reickes, durch <lie grösste Zuverlässigkeit auszeichnet,
giebt sie eine vorzügliche Grundlage für die weitere Durchforschung des
in Kants losen Blättern bis jetzt noch ungenützt liegenden wissenschaft-
hchen Materials.
Die Kant-Manuskripte im Prussia-Museum.
Die „Altpreussische Monatsschrift" veröffentlicht in Bd. XXXVI. Heft
6 u. 6, S. 337 — 367 einen interessanten Beitrag von Arthur Warda: „Die
Kant-Manuskripte im Prussia-Museum. Zwei Vorträge, gehalten in
der Altertumsgesellschaft Prussia." Der erste Vortrag „Neues über Kant",
1898 am Cieburtstag des Philosophen gehalten, berichtet über einige
Manuskripte Kants aus dem Prussia-Museum in Königsberg i. Pr.. Das eine
ist ein Verzeichnis der Hörer von Kants „physischer Geographie" und
seines „Naturrechts" im Sommer-Semester 1798. Unter den Hörern der
letzteren Vorlesung befindet sich der Dichter Zacharias "Werner. Das
zweite Schriftstück enthält Notizen über Lohnzahlungen an Lampe. AVert-
voller ist ein drittes Blatt mit dem Entwurf zu dem „Prospectus", den
Kant zu Jachmanns „Prüfung der Kantischen Religionsphilosophie in Hin-
sicht auf die ihr beigelegte Alinlichkeit mit dem reinen Mysticism" schrieb.
Es ist um die Zeit der Jahreswende 1799/1800 geschrieben und zeigt, wie
alle Manuskripte Kants aus dieser Zeit, deutliche Spuren der Anstrengung,
die es Kant kostete, seinen (ledanken eine korrekte Form zu geben. Die
Vergleichung dieses Entwurfes mit dem Prospectus selbst zeigt, dass
flieser ursprünglich ausführlicher beabsichtigt war. „Kant bemüht sich (in
dem Entwürfe], Definitionen aufzustellen und die Ziele der Philo.sophie
und der ^lystik und die "Wege beider zur Erreichung dieser Ziele nniglichst
klar auseinanderzusetzen" (344). — Alle drei Schriftstücke sind als Bei-
lagen mitabgedruckt.
Im zweiten Vortrag „Eine Episode in Kants Leben aus dem Jahre
1797" erzählt Warda Genaiu'res von einer (olme positives Ergebnis ver-
laufenem Intrigue, durch die missgünstige Kollegen Kant sowie den
Professor der Theologie Reccard aus dem Senat der Universität hinaus-
drängen wollten, als diese beiden wegen hohen Alters nicht mehr zu den
Sitzungen erschienen. Schubert berichtet bereits in seiner Kantbiographie,
Seite 165 f., von dieser Angelegenheit; doch sind seine Angaben nicht überall
genau. Insbesondere i.st das Schriftstück, das Schubert als Kants offiziell
eingereichten Protest ansieht und als solchen publiziert, nur ein Entwurf
zu der wirklich abgelieferten sehr charakteristischen Eingabe, die hier zum
ersten Mal im Druck erscheint.
47 '2 Mittoilunfjen.
Neues über Kants Vorl'aliren.
nie ..Kantstiulicn" li.ilx-ii IU\. II. S. 882 einen Bericlit, iil)cr Kants
\'iirfahren von .Ioh;uines Senibrit/.ki i;-el)rnclit, Der dort ans^csiiroeheno
^\'unsL■h. es ni("tjj;e sicli noch etwas Sicheres über Kants lJr<^rossvatt^r und
CJrossvater in Erfahruni;- brinp;en lassen, hat sich neuerdings teilweise er-
füllt und zwar durcli Nariirorsciiiiii^en, dii' wirdcnini .lolianiios
Senibrit/ki an,i4,estellt hat, und übtM- die er im „Meuu'ier Daiiipi'boot"
vom 22. Sept. 18!»9 referiert. Die im Ivinif^liciien .Staatsarchiv in K/ini^s-
beri; nn.i»;est eilte Durchsuchun,«;- der llausbücher des Amtes Menu'l fidirte
nämlitdi zur Auffinduni;- zweier Urkunden im iiausbucdi No. 3, S. L'32 -236,
durch die die bisher allein feststellende Thatsache, dass d(M- Grossvater
des Philoso]>hen Hans Kant hiess und als Riemer in Memel (nach Kants
eigener .Vn^abe in Tilsit) lebte, um eini.y,-e nicht uninteressante Details er-
p:änzt wird, und durcli die wir zugleich über Kants IJr^-rossvater unti^r-
riclitet werden. Letzterer war Krugbesitzer in Werden bei lieydekrug.
Die erste der beiden Urkunden ist ein Vergleich, wonach „Herr
Eicliart Kandt Krüger zu "Weidden, nunmeliro oln alter Mann, und sich
weiter nach seiner Seel. Frauen Tode, zu verendern oder befreyen nicht
in Willens" nach Aufzidiluug seiner Schulden, worunter „226 Fl. 1 gr.
Seinem Seel. Schwiegersohn Ealzer Motten, welche Hr. Kandt nunmehro
seiner Tochter Sophia, nach ihres Mannes Tode zu zahlen" — seine
ganze wohl eingerichtete Haushaltung mit drei Hufen Landes s(!iner
Tochter Sophia abtritt, wogegen sie ihm ein auskömmliches Altenteil zu-
sagt und alle Schulden zu tilgen sich verpflichtet. — „Weilen Hr. Eichart
Kandt. noch einen Sohn Hanfs Kandten beym Loben hat, so ein Riemer
Handtwerk ehrlich gelernet, und anizo in frembden Landen", so soll die
Tochter diesem bei seiner Rückkunft von der Wanderschaft 100 Thlr.,
6 Hemde von reiner Hausleinwand, 6 Koller und 12 Nastücher übergeben.
*So geschehen Werdden den 9. Mai 1667, unterschrieben „Ich richert Kandt
mit mein handt" (L. S.) und einigen Zeugen.
Als nim aber der Riemergeselle „Hanfs Kandt" aus „frembden
Landen" zurückgekehrt war (sein Vater Richart scheint schon vorher ge-
storben zu sein), war er nicht damit zufrieden, dass er „von dem Kruge
zu A^'erdden und andei-n Mo- und Immobilien nicht mehr als 100 Rthlr.
Geldt zum abtrag haben" sollte, sondern wandte „die laesion seines Väter-
und Mütterlichen pflicht theils" ein. Es wurde deshalb am 4. Juni 1670
zwischen ihm und dem zweiten Manne seiner Schw-ester Sophia, Hans
Karr, dem nunmehrigen Krüger zu Werden, ein neuer Vertrag geschlossen:
„Dass Hanfs Karr ihme Hanfs Kandten, vor alles und iedes. Einhundert
V. funffzig Rthl. wie auch zehn Ellen Lacken a Elle 5 Mk., worüber Er
Kandt alle Zeit auf diesen Contract quietiren wnrdt, abtragen vmd ein
iedes Paart, diesen Contract, sub vadio 10 Rthlr. in allen Punkten und
Clausein, und zwart. so fern Hanfs Kant dawieder ichts was regen mach,
der Kirch zu Werdden, sofern aber Hanfs Karr, dieser Transaction, auf
einige ^^t zu wieder leben möchte, der Reformirten Kirchen zu
Memel solche zehn Rthlr. ohne einige exception tmd wieder Rede, würk-
lich erlegen sollen; begiebet sich demnach mehr benanter Hanfs Kandt,
aller an dem Kruge zu Werdden, und dessen Pertinentien, dann derer
darinnen vorhandenen, und gewesenen Mobilien, gehabten An- und Zu-
Sprüchen, Gerechtigkeiten, und Freyheiten, vor sich und seine nach Kömm-
linge: alles getreulich, sonder gefehrde und ohne alle arge List."
Der Vermerk über die reformierte Kirche deutet darauf, dass Hans
Kant reformiert war. Da nun (vgl. „KSt." 11, 882) in Memel schon vor
1640 eine reformierte Gemeinde bestand, deren Mitglieder Holländer und
Schotten waren, so bietet die Urkunde eine, wenn auch nicht unbedingt
sichere, Bestätigung der Angabe, dass Kants Familie schottischer Herkunft
sei. Kants eigene Meinung freilich, dass sein Grossvater zu denen gehört
habe, „die am Ende des vorigen [17.] und am Anfang dieses [18.] Jahr-
hunderts . . . emigrierten," ist in dieser Form sicher unrichtig. Die Ein-
wanderung müsste spätestens am Anfang der zweiten Hälfte des 17. Jahr-
Mitteilunf^en. 473
hunderts erfol<^ sein, und Kants Grossvater könnte nur als Knabe
Schottland verlassen haben, wenn er nicht überhaupt erst in der neuen
Heimat geboren wurde. Da die Kinder des Hans Kant in der lutherischen
Kirche getauft wurden, liegt die Annahme nahe, dass er sich mit einer
Einhi'imischen verheiratet und von da ab zur lutherischen Kirche ge-
halten habe.
In Bezug darauf, dass Hans Kant in Memcl gelebt hat, von seinem
Enkel abi'r als Bürger in Tilsit bezeichnet wird, meint Sembritzki, der
Widerspruch lasse sich vielleicht lösen, wenn man beachtet, dass in der
Memeler Kämmerei-Rechnung von 1736 gesagt wird, tlie wüste Stelle
des Cant sei zur Vergrösserung des Friedrichsmarkts eingezogen. Kant
mag abgebrannt oder durch die Pest 1709—10 in unglückliche Verhältnisse
geraten sein, so dass er. im Glauben, dort leichter existieren zu können,
noch in alten Tagen nach Tilsit übersiedelte.
Dass Kants Grossvater Memeler Bürger war und zwar in der Altstadt
wohnte, ist neuerdings noch bestätigt worden durch die Auffindung einer
Kotiz in einem alten Memeler „Feldbuch-, d. h. einem Verzeichnis der
Bürgerfelder und ihrer Besitzer. Das Buch — es stammt aus dt-m Ende
des 17. Jahrhunderts — enthält nämlich die Eintragung: „Hans Keiusch,
nach dem Meister Hans Kantt". (Vgl. „Memeler Dampfboot** vom 7. Jan. 1900.;
G. Simrael über das Verhältnis von Kant und Goethe.
Im ersten Band dieser „Kautstudieu** (S. 469) findet sich ein Bericht
des Herausgebers über eine 1896 in der Vossischen Zeitung erschienene Ab-
handlung Simmeis („Wss ist uns Kant>). Der Bericht beginnt mit den
Worten: „Geistvolle Ausführungen, in jener edleren Popularität, welche
der Wissenschaftlichkeit nichts vergiebt.** Auch für den heute in der Bei-
lage zur IMünchener] Allgemeinen Zeitung (1899, No. 1*25— 127, 3.— 6. Juni»
vorliegenden Aufsatz „Kant und Goethe'* dürfte es schwerlich eine passendere
Charakteristik geben. Simmel fasst die beiden grossen Männer als die Be-
gründer und tvpischen Vertreter zweier Weltanschauungen, deren gemeinsame
Wurzeln er zunächst in den historisch-sozialen Beziehungen jener Zeit und
in der hierdurch bestimmten Auffassung des Verhältnisses von Mensch und
Natur aufzeigt. Der Diudismus von Subjekt und Objekt war immer ent-
schiedener und bewusster geworden: „die Naturwissenschaft, seit Galilei
und Copernicus, zeigte uns einen Kosmos von unerbittlicher, alles Menschlich -
Psychische ausschliesseuder Objektivität, der gegenüber sich die Seele
ihrer so ganz abweichenden Struktur, ihres Wertempfindens, ihrer Wülens-
freiheit. ihrer der Mathematik ganz unzugänglichen inneren Welt erst ganz
bewusst wurde." Diesen Gegensatz zu überwinden, ist das Hauptthema,
der gro.ssen philosophischen Systeme des 17. und 18. Jahrhunderts; ihn in
unparteiischer Weise (gegenüber dem Spiritualismus und Materiahsmus)
aufzuheben, versuchen Kant und Goethe. Kant führt den Subjektivismus
der neueren Zeit, die Selbständigkeit des Ich, mit grösster Entschiedenheit
durch, ohne die Bedeutsamkeit der objektiven Welt zu gefährden, und er
fasst Subjekt und Objekt zusammen in der einen Erfahrung und weist
hin auf die intelligible Welt, die den letzten einheitlichen Grund der
Erscheinungswelt enthalten mag. Ganz anders Goethe. Zunächst fehlt
ihm „<lie ganze Absicht der Philosophie als Wissenschaft". „Darum wird
eine Darstellung dt-r Philosophie Goethes bis zu einem gewissen Grad ganz
unvermeidlich eine Philosophie über Goethe .sein": sie wird versuchen
müssen, in die Form abstrakter Begrifflichkeit zu giessen, was bei ihm
ein unmittelbares Gefühl für Natur, Welt und Leben war. Was ihn nu^
grundsätzlich von Kant scheidet, ist die Beschränkung auf die Er.scheinungs-
welt, in der selbst er die Subjekt und Objekt zur Einheit verbimlende
Brücke sucht. „Sein ganzes inneres Verhältnis zur Welt ruht, theuretisch
ausgedrückt, auf der Gei.stigkeit der Natur und der Natürlichkeit des
Geistes.** Sehr fein führt Simmel an dem gegensätzlichen Verhältnis, in
dem Kant und Goethe an Hiülers Satz „Ins Innre der Natur dringt kein
Kftnt.stuilien IV. ol
474 Mitteilnnfjcn.
rrschaff'ncr CuMSt" Kritik ilhtMi, ihinli. wir hier der «^anzc ZwicsjiaH der
beiden AW-ltanscliaiHin^i-n ilcutlich wird. „Man kann den l!c;^t«nsa(/., iiiu
ilen es sicli haiuUdt, im llinhlick auf jt'iu'ii 1 lallcrsclicii S]irii<'li /ii einer
kunceii Korniel zuspitzen: Iraj^t man nacli dem ei^i'iien Wesen der Natur,
so antwortet Kant: sie ist nur Äusseres, da sie ausscldiesslich aus räundicli-
inoclianisohen Beziehuni::en liesteht.; und (ux'tlie: sie ist nur Inneres, da
die Idee, das geisti,i;-e Scli("ii)runi;s[iriu/.ii), auch ihr «ganzes Leben ausmacht.
Fra.ijt man aber nach ihrem Verhältnis zum M(>nschen<2;eist, so antwortet
Ivant : sie ist niir Inneres, w'eil sie eine Vorstellung in uns ist; und (Joethe:
sie ist nur Atisseres, weil die Anscliaulichkeit der Diufije, auf der alle
Kunst beruht, eine uuhedini;te Realität haben muss." Kant bist die
I51eichun<x zwischen Subjekt und Objekt von der Seite des ersteren, Goethe
von der des letzteren; beide aber erweitern ihren Ausgangspunkt «lei-art,
dass bei Kant tlas Objekt vom Subjekt, bei Goethe das Subjekt vom Objekt
umfasst wird. So kommt es, dass die beiderseitigen Anschauungen oft
sehr verwandt scheinen und gerade entgegengesetzt sind. Charakteristisch
ist hierfür die von beiden Denkern in etwa gleicher Weise gezogene
Grenze des Erkennens: für Kant ist sie durch die Natur des Erkennens
selbst gesetzt: „für Goethe bedeutet es nur jene Schranke, die aus der
Tiefe und dem geheimnisvollen Dunkel des letzten Weltgrundes hervor-
geht." — Wie für das Wesen Kants der Begriff Grenzsetzung, so ist für
dasjenige Goethes der Begriff Einheit bezeichnend. Goethe, der synthetische
Geist, sagt: „Dich im ünendliclien zu finden, Musst unterscheiden und
dann verbinden"; Kant, der Analytiker, findet die Verbindung vor und
sieht in der Scheidung seine Aufgabe. — Fast parallel nun mit dem
theoretischen Gegensatz geht jener andere in der praktischen Philosophie,
in der es den Dualismus zwischen dem Ich und der gesellschaftlichen
Gesamtheit zu überwinden gilt. Die Beantwortung der ethischen Fragen
geschieht „bei Kant durch ein objektives Machtgebot, das jenseits j(^glichen
besonderen Interesses steht, aber in der Vernunft des Subjekts wurzelt:
bei Goethe durch eine unmittelbare innere Einheit der sittlich-praktischen
Lebenselemente, durch eine die Gegensätze einschliessende und beide
gleichmässig befriedigende Natur des Menschen und der Dinge." Und
auch hier zeigt sich mehrfach trotz der prinzipiellen Divergenz grosse
äussere Ähnlichkeit. In interessanter Weise führt dies Simmel an der
Theorie vom Primat der praktischen Vernunft durch, der für Goethe so
fest steht wie für Kant. „Aber sogleich trennen sich, hier wne dort, die
Wege oberhalb — oder unterhalb - — dieser gleichsam nur punktuellen
Gemeinsamkeit. Jener fundamentale und iinversöhnliche Wertunterschied
zwischen der sinnlichen und der vernünftigen Seite unsres Wesens, auf
dem die ganze Kantische Ethik steht, muss Goethe ein Horror sein — wie
überhaupt sein eigentlicher Todfeind der christliche Dualismus ist, der die
Sichtbarkeit der Welt und ihren Wert auseinanderreisst." Goethes über den
Gegensatz von eudämonistischer und rationalistischer Moral hinweg ,aus dem
ganzen Komplex der gesunden menschlichen Natur" entwickelte Welt-
anschauung kann nun freilich keine im eigentlichen Sinne moralische
heissen: sie ist eine übermoralische. Simmel stellt sich hier ganz zu Goethe:
den Sinn des Daseins mit Kant „in dem zufälligen Ausschnitt, den wir als
Moral bezeichen," erblicken zu wollen, erscheint ihm als „kleinlicher
Anthrqpomorphismus". — Einen weiteren interessanten Beleg für äusser-
liche Ähnlichkeit der Anschauungen bei völliger Discrepanz der Motive
bilden die Unsterblichkeitspostulate. Sie verlaufen bei Kant und Goethe
„sozusagen in dem gleichen Schema". „Beide finden in der Wirklichkeit
des menschlichen Wesens gewisse Forderungen unmittelbar angelegt, zu
deren Erfüllung dasselbe unter den empirischen Verhältnissen nicht ge-
langen kann. . . Nun aber die tiefe Divergenz ihres Weltbildes: für
Goethe könnte die Natur nichts so Sinnloses thun, als uns Kräfte zu
verleihen, denen sie die Entwicklung abschneidet: für Kant könnte sie
nichts so Unmoralisches thun, als der Sittlichkeit ihr Äquivalent vor-
zuenthalten. . . Der Übergang der Seele von dem irdischen in den trans-
Mitteilunf^en. — Varia. 475
scendenten Ziistand ist für Kaut der radikalste, für den sein Denken Kaum
hat: für Coethe ein Fortschreiten in ungeänderter Kichtung, ein blosses
Freiwerden vorhandener i^nergien. Auch dieser vorpjescliobenste Posten
der beiden Weltanschaunngen spiegelt ebenso den Ilhytlunus des Kantischen
Wesens, das die Momente des Seins untereinander und von ihrem Wert
scheidet, um sie erst oberhalb oder unterlialb der "Wirklichkeit wieder zu
versöhnen, wie den des Goethischen, für den das Sein in sich und mit
seinem Wert von vornherein ein einheitliches ist." — Die Gegenwart sucht
nach einer Vermittlung /wischen den beiden Weltanschauungen; gelöst
ist die Aufgabe nicht. Vielleicht ist sie überhaupt unlösbar. Aber „es ist
die äusserste Ausgestaltung und .Ausnutzung der Gunst, die die Natur der
Dinge den Epigonen gewährt: dass. wenn ihnen die Grösse der Finseitig-
keit entgeht, sie dafür der Einseitigkeit der Grösse entgehen können."
Varia.
Miniaturbildnis Kants
im Besitze von A. Warda in Königsberg i. Pr.
Das dem vorliegenden Hefte in Lichtdruckreproduktion beigegebene
Kantbildnis ist bereits „KSt." 111, 370 näher beschrieben worden (vgl. auch
IV, 357). Es ist ein auf Elfenbein gemaltes Miniaturbild und misst ohne
Umrahmung 3X1.7 cm. Nach unseren damaligen Bemerkungen ist das Bild
komponiert nach der Puttrichschen Zeichnung,*) der jedoch an .""Stelle des
Profilkopfes ein halb nach vorne gewendeter Kopf aufgesetzt ist. Dieser
Kopf scheint dem Vernetschen Porträt nachgebildet, aber unselbständig
ist diese Nachbildung keinesfalls zu nennen. Auffallend bestätigt das vor-
liegende Bildnis hinsichtlich des Verhältnisses des Kopfes zu dem übrigen
Körper die Schilderung Rinks („An.sichten aus I. Kants Leben", S. 93l:
.,Fast hatte, wenigstens in den höheren Jahren des Alters, sein Kopf einen
zu grossen Umfang gegen seinen zusammengesunkenen und dünnen
Körper." (Vgl. auch Jachmann. S. 158.) So macht das Bildchen, besonders
das Köpfchen, einen lebenswahren Eindruck und ist wolil noch zu Leb-
zeiten Kants gefertigt. Wer aber mag der geschickte Künstler sein?
Der ehemalige Besitzer des Bildes, der Rektor des G^'mnasiuuis und
der Realschule zu Ulm, Georg Heinrich Moser (1780— 1858) hatte, wie sein
Vermerk auf der Rückseite des Bildes besagt, dieses in Heidelberg 1808
(oder 1803.') von seinem Freunde Metzger aus Königsberg erhalten.
Letzterer ist wohl Friedrich Daniel Metzger, der (etwa 1788 geborene)
Sohn des bekannten llofrats Prof. der Medizin .Johann Daniel Metzger und
rlessen Frau Albertine Wilhelmine Henriette, Tochter des Hofgerichtsrats
Michael Lilienthal. Metzger wurde zu Königsberg im Sommersemester
1801 als stud. jur. immatrikuliert: am 27. Mai 1803 trat er als Respondent
*j Bei dieser Gelegtrnhoit aei Folgendes b^morkt: Nach dor ietzt im Hrsitz dt-r
Altfrtumsgespllsoliaft Prusxiii in KcinigsVjorg i. Pr. bcfindliclien Zcicnming PuttricliM
ist im .lalire ITUS oin K\ipf>'rnfi(h von Berger im l'nyiTsclwn Verlag in Kgsi)g. Hrschi^non.
der die Original/.fichnnng jedoch nicht viillig getreu wiedergiebt. Dienen Sticli. damal.s
ohne l'nterschrif't. erliielt auch Kant zugesandt fnarh gütiger Mitteilung des HiTrn Dr.
R. Reieke): nach Kants Tode erschien der .sticli mit iler l'ntersclirift : „Kant geb. d.
•-'2. .\j(ril 1724, gest. d. 12. J'ebr. 1804. •* In dieser Weise ist die selbtsverHtäudlich falsche
Notiz bei Minden (S. 9), wonach die erwillinte Unterschrift bereits auf <ieni Stiche von
1798 vorhanden gewesen wRre. zu bericlitigon.
31*
47U ^'»ria.
boi (lor Dissort. pro liiro Profoss. Poös. ordin. von Carl Tjmhvi;^ Porschko
«uf. Nach dem „Akadoin. Erinneniufz^sbuch für dic\ welche in den.l.duen
1787 — 1817 (lie Köni^sberger Universität bezogen haben (K{i;sbf2;. 1825)" war
Met/j:;er später J{t>gienin^srat in Potsdam, dann in Magdeburg, nahm seinen
Absclüed und war (^etwa 182Ö) Hesit/t'r der Cllashilttc in Zrcidin in
der Mark.
Unsere Reproduktion des Bildes ist eine doppelte lineare (d li. der
Hache naeh 4 faeluO Vergrusserun<>; des Ori<:;inals.
Kantreliquien bei Jacob Grimm.
Es ist bekannt, in widch bedau(>rlieher Weise der Nachlass Kants in
alle Winde zerstreut worden ist, und es ist ebenso bekannt, wie infol<j^e
dessen allerlei Eeli(iuien Kants oft bei den wunderlichsten Gelegenheiten
da und dort auftauchen. Einen charakteristischen Beleg dafür bildet ein
Brief von Jacob C-rinun aus dem Besitz des Herrn Gotthill Weisstein in
Berlin. Ini .Jahre 1860 wurde zu Gunsten der in Schleswig-Holstein
stehenden prenssischeu Truppen eine Sammlung veranstaltet durch einen
Verein, an dessen Spitze Jacob Grimm stand. Dem Verein wurden neben
Geldbeiträgen auch allerlei sonstige Dinge übergeben, und so bot auch der
Leihamtsdirektor Bück, wohl ein Sohn des Bürgermeisters Bück von
Königsberg, des Schwagers Wasianski's (vgl. „KSt. "II, 384; III, 371) dem
Verein zwei Kantreliquien an, von denen uns natüilich nur das „Auto-
graphum" interessiert. Der Brief lautet:
„Ew. Wolgeboren
„patriotisches Erbieten, uns eine Mnndtasse Kants, so wie ein Autographum
„desselben zu übergeben, nehme ich zwar im Namen des Vereins für
„Schleswig-Holstein dankbar an, bemerke jedoch, dass einer gewiss zweck-
„mässigen Ausspielung solcher Gegenstände vorläufig noch die Polizin
„Sch-wierigkeiten entgegen setzt. Sollten sich diese heben, so besitzen oder
„erwarten wir ausserdem noch andere werthvolle Sachen, die dem Publicum
„dargeboten werden könnten. Behalten Sie also jene Tasse jetzt noch bei
„sich, ich werde mir erlauben Ihnen demnächst weitere Nachricht zugehen
„zu lassen, wie Avir damit zu verfahren gedenken.
Mit ergebenster Hochachtung
Berlin 26 oct. 1850. Jacob Grimm."
"Wohin das „Autographum" gekommen ist, ist leider unbekannt;
vielleicht führt diese Notiz auf die Spur desselben.
Vom Autographenmarkt.
Am 1. Nov. kam durch Leo Liepmannssohn iu Berlin ein Stammbuch-
blatt von Kant zur Versteigerung Dasselbe trägt das Datum 12. Okt. 1796
und lautet: „Ad poenitendum properat cito qui judicat."' Im ersten Bande
dieser Zeitschrift berichteten wir bereits {S. 148, vgl. 491) von einem gleich-
lautenden Stammbuchblatte vom 20. Juni 1798 und teilten die Quelle mit:
die Sentenzen des Publilius Syrus. Kant hat dieses für ihn so charakte-
ristische Motto mehrfach zu Stammbuchblättern verwendet.
Das Antiquariat von Richard Bertling, Dresden, bietet in seinem
Katalog No. 34 (1899) einige Kantautographen an. Es sind die Manuskripte
zu zwei losen Blättern, welche schon von Reicke in Heft 1 der „Losen
Blätter aus Kants Nachlass" veröffentlicht sind, und zwar das eine unter
Nr. 9 (S. 26—29), das andere unter No. 17 (S. 46—46). (Preis 40 Mk. und
20 Mk.) — Charakteristisch für den Autographenhandel ist, dass w^eiter
nichts als eine eigenhändige Adresse Kants auf einem Briefumschlag „An
Herren Professor Tieftrunk in Halle" mit 6 Mk. angesetzt ist.
Sehr reichhaltig an Kantiana war die sog. Posonyi'sche Sammlung.
Dieselbe ist in den Besitz von Fr. Cohen, Bonn, übergegangen, welcher
sie in seinem Katalog No. 97 anbietet. Das Hauptstück derselben, das
mit nicht w^eniger als 800 Mk. angesetzt ist, ist ein drei Quartseiten um-
Varia. 477
fassender eigenhändiger Brief Kants an Fritz Jacobi vom 80. Aug. 1789.
Eine Bemerkung von Jacobi auf dem Brief enthält die Notiz, dass er den
Brief am 10. Sept. erhalten und am 16. Nov. beantwortet hat. Der Brief,
der durchaus philosophischen Inhalt hat, wird vom Katalog als , Pracht-
stück ersten Ranges" bezeichnet. — Ein anderer Brief von Kant (3 S. Quart),
der mit '.-'10 Mk. ausgezeichnet ist, ist vom 6. Nov. 1787. Derselbe ist
nicht philosophischen Inhalts, sondern besclireibt merkwürdigerweise ein
neues Spinnrad, wobei Kant den Adressaten ersucht, dem ihm bekannten
Erfinder desselben eine königliche Prämie auswirken zu wollen. — Ein
weiterer Brief von Kant vom 12. -Juli 1797 (1 S. Quart) i.st mit 175 Mk.
ausgezeichnet. Er ist an Tieftrunk gericlitet und betrifft philosophische
Differenzen mit J. S. Beck. — Sehr bemerkenswert ist, dass der Katalog
auch einen Brief Kants von 1749 (23. Aug.) enthält, datiert von Judtsche
(1 S. Quart). Es ist das wohl der älteste Brief, der von Kant erhalten ist.
Er hat litterarischen und philosophischen Inhalt und ist mit V20 Mk. aus-
gezeichnet. — Endlich wird ein Manuskript in 8», eng beschrieben (zu
130 Mk.) angeboten. Es befindet sich auf der Rückseite eines Briefes von
Borowski an Kant (v. 1790) und enthidt die folgenden kleinen philo-
sophischen Aufsätze: „Vom Unterschiede d. logischen und transc. Gültig-
keit der Prinzipien.- — „Theologie.- — „Die Kritik in Ansehung der
Theologie." — ^Glaube an Gott."
In demselben Katalog wird (zu 8 Mk.) ein Manusknpt von HuU-
mann angeboten, das sich auf Kant und auf das ihm in Königsberg ge-
setzte Denkmal bezieht: ferner ein Stammbuchblatt von Sophie La Roche
(6 Mk.) vom 10. März 1788. welches die charakteristische Stelle enthält:
„Überall begleite Sie die Weisheit Ihres Lehrers Kant, den ich in der
Ferne verehre." — Zum Schluss sei angeführt ein sehr interessantes
Schriftstück (18 Mk.) von Reichardt, datiert „Giebichenstein bei Halle.
23. Febr. 1804." Es enthält einen herrlichen Nachruf für Kant. \N ir
können uns nicht enthalten, ihn hier abzudrucken: „Jeder edle denkende
deutsche Mann trauert gewiss über den, wenn gleich späten Tod nnseres
Kants! :Mich erfüllt er mit besonderer Wehmut, die aus dem tiefsten
Dankgefühl hervorgeht: denn ihm allein, dem ebenso vortrefflichen
Menschen als grossen Philosophen, verdank' ich das Glück, auch zu den
ersten Studien angeführt worden zu sein und unter seiner Leitung meine
Universitätsjahre vericbt zu haben. Gerne drückte ich das Gefühl der
Wehmut und Dankbarkeit, so stark ich es nur irgend vermag, durch meine
Kunst aus, böte mir ein Dichter, wie Goethe oder Gerstenberg ver-
traut mit dem Genius des Weisen, freundlich die Hand, in dem Andenken
des edlen Mannes die Wahrheit und echte Mannestugend zu feiern" etc. etc.
Man vergleiche hiermit die interessante Schilderung Kants durch Reichardt,
die wir — bei Gelegenheit des Abdruckes eines Briefes Kants an Reichardt —
im 1. Heft der KSt. S. 145 mitgeteilt haben.
Kant in zwei Berliner Universitätsreden.
In zwei bedeutsamen Kundgebungen von zwei der bedeutendsten
Professoren der Berliner Universität ist die Kantische Philosophie in be-
merkenswerter Weise zur Geltung gekommen. Die erste ist die Antritts-
voriesung des Professors Franz von Liszt „Die Aufgaben und die Me-
thoden der Straf rechtswissenschaft", gehalten am Anfang des \\ inter-
semesters 1899/ 19C0. Wir greifen aus derselben folgemle beachtenswerte
Stelle heraus: „Jenseits des Gebietes der Wissenschaft liegt das (iebiet
des Glaubens. AVer sich bemüht, im Sinne der Kantschen Erkenntnis-
kritik die beiden Gebiete reinlich von einander zu scheiden, der leugnet
damit noch nicht, dass die beiden Gebiete unabhängig von einander be-
stehen. Und wenn es unmöglich ist, dass durch die wissenschafthche Er-
kenntnis jemals unser Glaube gefährdet wird, so sollte es ebenso undenk-
bar sein, dass die wissenschaftliche Erkenntnis durch den (Jlauben
Förderung oder Hemmung erfahren könnte. Was hinter Raum und Zeit
47S
Varia.
unsoroiu blöileu lilick vorbor«;tMi isl, ilas ki'unirii, das si.llfii wir L;l!iiil)iMr
hofft'U, lieben; über wir k("miieu es iiirht Wissenschaft lieh erkennen. Jeder
Überi^riff aus jenen (u'bieten in das (robiet wissensc.iiaftliclier iOrkcnnlnis
niuss mit s^nisster Sciiarfe /.nrüek.i;tHviesen worden. Mvstisciie Spckidation,
maü: sie sici\ aueh in das iJewand einer der bidii'bt.i'ii „al)S()lMteii Strai-
rechtstheorien" kliMden, hat mit der Wissenschai'l und ilaher auch mit der
Strafreclitswissensohaft nit^hts /u tliun. lnuerl\alb der Welt der Er-
scheinuni^en bleibt uns genuj;- an harter, aber orfol^vcrhcissiMulcr .\rl)cit
übrig."
Die andere Kundgebung ist die Festrede des Proi'tissors Ulrich von
Wila mo wit/.-Moelleudorf f zur sogenannten Jalirhuudcutfeier der
l'niversitiit (.lan. 1900). Aus ihr füliren wir folgende Stelle an: „Kant,
durch den erst Aristoteles überwunden wmhI, weist der Philosophie neue
Bahnen. Er gewinnt Einfluss auf die aufblüiienden Naturwissenschaften,
deren Ausgestaltung durcli Kants .Lehren btifruchtet wird."
Die Kantische Philosophie in den Volkshochschulkursen.
Ein erfreuliches Zeichen für das stetige Vordringen der Ivantischen
Philosophie ist es, dass sie in Wien bereits in der ünix^M-sitv-Extension
zur Geltung gekommen ist.
das Programm
der „volksti'nnlichen
^ S^^,......x^.. .o.. Wi(
üniversitätskurse im Oktober und November 1899" zeigt, hält dort Privat-
docent Dr. W. Jerusalem einen Cykhis von 6 Vorlesungen über
Immanuel Kaut. Diese Kurse finden statt im Auftrage der Wiener
Universität. Jedermami mit Ausschluss der schul ijflichtigeu Kinder hat
Zutritt. Nach jedem einzelnen (einstündigen) Vortrag wird noch eine halbe
Stunde der Erledigung von Anfragen aus dem Zuhorerkreis gewidmet. —
Leicht ist die Aufgabe, die sich Jerusalem g(;stellt hat, gewiss nicht,
zumal die Wiener nicht gerade als Vertreter Kantischer Gesinnung und
Geistesart bekannt sind. Man erinnere sich nur der Verse von Albrecht
Graf Wickenburg („Mein AVien. Lieder und Cedichte." Wien, 1894. S. 1.) :
Ein Glück, dass Kant sich nicht zu uns verloren,
Sonst ging's wohl mit der strengen Ethik schief;
In Wien hätt" er ihn sicher nicht geboren,
Den kategorischen Imperativ I
Das Wort: „Ich soll" stimmt schlecht zum Wiener Triebe,
Der nur uns handeln heis.st aus Lust und Liebe!
Vorträge über die Ethik Kants von M. Kronenberg.
M. hielt am
In der Gesellschaft für ethische Kultur zu Frankfurt a
2., 4. und 5. Dezember 1899 Dr. M. Kronenberg aus Berlin einen Vor-
tragscyklns über „die Ethik Kants und die ethischen Aufgaben
unserer Zeit". Im ersten Vortrag sprach Kronenberg über die historischeu
Voraussetzungen der unabhängigen Ethik, deren Begründun
den grössten
Euhmestitel Kants bilde. Noch im 17. und 18. Jahrhundert war die
Eeligiondie für unentbehrlich gehaltene Voraussetzung aller Sittlichkeit,
so dass selbst die aufgeklärtesten Köpfe ein gewisses Minimum^ von Religion,
nämlich den Glauben an das Dasein Gottes und an die Unsterblichkeit
der Seele als notwendige Voraussetzung aller Sittlichkeit festhalten zu
müssen glaubten. Diese letzte Voraussetzung beseitigte erst Kant, der,
indem e^ Alles vom Standpunkt des Menschen aus zu erklären suchte,
auch die Sittlichkeit auf ihren natürlichen, rein menschlichen Boden ver-
pflanzte. Um das zu können, bedurfte es allerdings einer gewaltigen
Geistesarbeit, vor Allem zur Befreiung der Ethik von jeder religiösen
Bevormundung. — Im zweiten Vortrag entwickelte Kronenberg die (irund-
züge der Kantischen Ethik, lehnte jedoch deren metaphysischen Teil, die
Postulatenlehre, d. h. also die religiösen Konsequenzen Kants, aus-
drücklich ab. Dagegen trat er in seinem Schlussvortrag entschieden für
Varia. 479
die allgemeine Formulierung ein, die Kant für das Sittliche gegeben hat.
Dit'selbe sei geeignet, eine feste und dauernde Grundlage für die zukünftige
Entwicklung einer humanistischen, von allen religiüs-dogmatisclu'n ebenso
wie metaphysischen Voraussetzungen freien Ethik zu werden. Kronenberg
suchte die 1 ruchtbarkeit der Kantischen Formulierungen des Sittengesetzes
an ihrer Anwendbarkeit auf verschiedene ethische Probleme zu beweisen.
So ging er ein auf das Problem der nationalen Ethik, der ethischen
Orientierung in den nationalen Problemen, die heute so schwierig und
doch so aktuell sind; ferner auf das Problem der sozialen Ethik, beispiels-
weise die Theorie des Klassenkampfes, ilie Beziehungen zwischen materieller
und geistig-sittlicher Sozialreform. Wenn sich so ergebe, dass die reine
vernunftgemässe, humanistische Begründung der Ethik allein imstande sei,
den sittlichen Bedürfnissen der Zeit zu genügen, dann müsse man auch
energisch die praktischen Konsequenzen für die Erziehung fordern und den
^Moralunterricht von allen religiösen Voraussetzungen befreien. Diese
Forderung schliesse keineswegs ein, dass Eeligion und Metaphysik keine
Daseinsberechtigung hätten: im Gegenteil sei für Jedermann die Gewinnung
einer AVeltanschauung. sei diese nun religiöser oder metaphysischer Art,
eine wichtige Lebensaufgabe. Aber diese Weltanschauungen trennen
unaufhörlich die Menschen und sollen sie trennen, während die Ethik
allein verbindet. Darum nicht: ein Reich, ein Gott, sondern viele Götter,
aber eine Sittlichkeit.
Eine Kantreminiscenz aus der französischen Revolution.
In „Goethes Unterhaltungen mit dem Kanzler Friedrich von Müller"
(2. Aufl. Stuttgart, 1898, S. 113) wird — worauf uns K. Vorländer auf-
merksam macht — unter dem Datum des 6. Oktobers 1823 über die er-
greifende Erzählung des bekannten Grafen Reinhard aus der französischen
Schreckenszeit berichtet. Dabei findet ein damals gefallenes Wort Er-
wähnung, das recht charakteristisch für den Einfluss ist, den man sich
von der Philosophie selbst auf die weitesten Kreise versprach. ,,ZZ faut
faire diversion ä ce peuple furieux en traduisant la j^hilosophie de Kant''
Garat, der es ausrief, als die Schwester des schon vorher hingerichteten
Königs, Prinzessin Elisabeth von Bourbon, zur Guillotine gefahren wurde
(10. Mai 1794), mag geglaubt haben, dass der französische Materialismus
nicht unbeteiligt an der allgemeinen Verrohung sei, und mag der Ansicht
gewesen sein, eine in Bezug auf die Moral rigorosere Philosophie sei hier
die wirksamste Arznei. Freilich ist Dominique -Joseph Garat (1749 — 1883)
wegen seines Charakters, dessen Schwäche und Biegsamkeit an den Tag
zu legen er kaum eine Gelegenheit versäumte, keiner von denen, auf
deren Anerkennung die Freunde Kants stolz sein dürfen.
Preisaufgabe.
Die Philosophische Fakultät der Universität Berlin hat für 1899 190)
folgende interessante und zeitgemässe Aufgabe ge.stellt:
Die Grundbegriffe der Kantischen Staatslehre sollen in Hinsicht
auf ihre Abhän<^igkeit von früheren Staatstheorien sowie ihre Bedingtheit
durch zeitgeschichtliche Zustände und Vorgänge untersucht werden.
Neu gefundene Kantbriefe.
In der Sitzung der Kgl. Preuss. AkaiU-niii' der Wissenschaften zu
Berlin vom 19. Oktober 1899 legte Hi>rr Hirsrhfeld die Kopie zweier Briefe
aus dem litterarischen Nachla.ss des Prof. Blumenbach in Gcittingen vor,
die von dem Enkel desselben, Herrn Oberst a. D. Blumenbach in Hannover,
zur Verfügung gestellt worden ist. Der eine Brief ist von Kant am
5. August 1790, der andere von Hofrat Metzger in Kfiiiigsberg am 12. Juni
1787 an Blumenbach gerichtet; derselbe enthält eine anschauliche Schilderung
480 Variü.
der IV'i-silnliclikoit dos Könijjjshfijxor IMiilosoplien. — Die Miicfc sind der
Kant-Kommission zur Jionut/unü; überwirst'n.
Die Neue Kantausgabe.
Kinv. vor Abschliiss des Hefti's crlialtcn wir dio i'rfrcidiclu' Mitteilung-,
dass von Kants gi-samnu-ltcn Scliriftoii. )u'r;vusgeg«'b«'n von der Kf^l.
Akadomio diM- Wissonscljaftt'ii. in kurzer Zeit der erste Band erscheint:
«Kants Briefwechsel", Band l, lierausgegeben von K. Keirke. Dieser
erste Band geht bis zum dahro 1788 incl.
Druckfehler bei Kant.
Eine- AultordiTiiug zur Mitarbeit.
Als Wundt seine „Philosophischen Studien" herauszugeben begann,
welche vorzugsweise psychologische und psj'chophysische Arbeiten bringen
sollten, leitete er den ersten Band mit einer Einführung ein, in welcher er
seiner Zeitschrift de» „philosophisc^lieu" Charakter vindicierte, wenn dies(dl)t!
auch keine Beiträge^ brächte, wie sie sich in den .s[)c/.ifiscli pliilosophischen
Zeitschriften fänden — beispielshalber „Em Druckfeider bei Kant." Wir
kennen den untergeordneten Platz, welchen solche philologische Klein
arbeit einzunehmen hat, natürlich sehr wohl. Aber wir können den
Wunsch doch nicht unterdrücken, es möchten in den philosophischen
Zeitschriften Beiträge dieser Art wirklich erschienen sein, wenn auch
nicht gerade unter jenem kleinlichen Titel, wie ihn der etwas boshafte
Humor des grossen Leipziger Professors erdichtete. Denn es ist leider
unleugbar, dass gerade Kants Werke durch Druckfehler stark entstellt
sind, durch Druckfehler, welche gelegentlich auch den Sinn nicht unerheblich
alterieren. Es ist ja nun zu hoffen, dass die von der Akademie vorbereitete
neue Kantausgabe hierin Wandel schaffen wird. Wie aber die Ausgaben
anderer Klassiker beweisen, ist hier die Mitarbeit Vieler dringend er-
wünscht, ja notw^endig, und so glauben wir, dass es sachlich durchaus
gerechtfertigt ist, wenn sich die „Kantstudien" der neuen Kantausgabe in
dieser Hinsicht dienlich zu erweisen be.strebt sind. Wir haben in dem
letzten Heft einen solchen Beitrag gebracht. Auch dieses Heft enthält
zwei derartige textkritische Zugaben. Erfahrungsgemäss stösst der eine
Leser auf einen Fehler, der dem anderen entgeht: vier Augen sehen mehr
als zwei. Mancher Leser hat in seinem Exemplar solche Stellen angemerkt.
In manchem älteren Exemplar von Kants Werken haben die früheren Be-
sitzer textkritische Noten gemacht. Es wäre sehr wünschensweit, wenn
alle derartigen Korrekturen resp. Konjekturen der neuen Ausgabe noch
nutzbar gemacht werden könnten. So berechtigt auch sonst die Scheu
sein mag, solche scheinbaren Kleinigkeiten einzusenden, so gilt es doch,
diese Scheu in diesem Falle zurückzudi-ängen, wo es sich iim eine mögliche
Unterstützung der neuen Ausgabe von Kants Werken handelt. Keiner,
der imstande ist, hier mitzuarbeiten, sollte mit seiner Gabe zurückhalten.
Damals als Rosenkranz seine Kantausgabe vorbereitete, fand sich selbst ein
Schopenhauer nicht zu gross dafür, Druckfehler bei Kant zu korrigieren,
w^ofür seine bekannte Kon-espondenz mit jenem ersten Herausgeber der
Gesamtwerke Kants Zeugnis ablegt. In vollkommenerer Gestalt sollen
diese Werke jetzt wieder dem philosophischen Publikum übergeben werden.
Und so richtet die Redaktion der „Kantstudien" an alle Leser die
Aufforderung, ihi- eventuelle Textverbesserungen einzusenden. Wir werden
dieselben in übersichtlicher Ordnung veröffentlichen und auf diese Weise
der Allgemeinheit zugänglich machen.
Saeh-Register.
Aberglaube 77. 86. 470.
Absolntisnuis 22. 25. 31.
Achtung 3'Jfl.
Ästhetik 124. 248. 271 ff. 816 ff. 329.
346. 351. 853. 429.
Affektion 183. 219. 222. 322.
Agnostieismus 21. 346. 413. 416. 433.
436. 444.
Allgemeingiltigkeit 274. 317 f.
„Als ob" 140 f. 830.
Altruismus 319.
Analogie 67. 258.
Analyse 182.
Analytische und, synthetische Urteile
123. 206 ff. 326. 340. 464 f.
Anarchismus 398.
Anschauliehe imd abstrakte Erkenntnis
227 ff. 260.
Anschauung 111. 176. 188. 210. 218.
224 f. 248. 267. 290. 297. 361.
Anthrojjomorphismus, symbolischer 11.
430 f. 436.
Antiintellektualismus 17.
Antinomie 128. 129. 263. 387. 341. 368.
Antinomie d. prakt. Vern. 45.
Aposteriori 211. ."^OO. 323.
Appcrcejjtion, empirische 180. 188. 888.
Apperception, transsc. 120. 127. 179.
188. 287 f. 291. 340.
Apriori 111. 170. 175. 211. 300. 828.
470.
Apriorismus 21!). 817. 435. 466.
Arbeit 377.
Arbeiterbewegung 382.
Association 207. 319.
Atheismus 137 ff. 154 ff.
Atheismusstreit 137 ff. 309. 346.
Aufklärung 62. 81. 360.
Aussenwelt 187. 223.
Autonomie 9 f. 14. 27. 32. 36. 96 ff.
126 ff. 139. 143. 244. 274. 844. 348.
361. 401.
Autorität 14 ff. 26 ff.
Axiom 210. 340. 441 f.
Begehren 239.
Begriff 248.
Bejahung 177.
Besitz 392.
Bestimmende und reflektierende Urteils-
kraft 248.
Bestimmung des Menschen 96 f.
Bestimmungsgrund des WoUens 38.
239. 296.
Bewusstsein 220. 306. 324.
Bewusstsein überhaupt 119. 180. 189.
346.
Bibel 5. 83. 347. 470 f.
Bildung 377.
Biologie 10«. 118. 441.
Bodengemeinschaft 368. 392.
Böse, (las radikale 82 f. 197. 329. 385.
Bourgeoisie 396.
Charakter 107. 200.
Chemie 169.
Christentum 82. 164. 327. 382. 420.
482
Kejfister.
l>;ir\vinisiiiiis IV20. 371. -105.
Dasein (54.
Di'nki'ii 1 l'.t. I()9. 824. 439.
DotiTiniiiisimis 91. 129. 331. 33(5 1".
Dialektik 43.". t.
DiiijLr 107
Din^' an .sich l!t. 114. 11!). 121 ft.
131. 134. Iö6ft. 167«. 194. 213.
221. 2-24. 250 f. 254 f. 268 f. 325.
3321. 837. 344. 389. 396. 398. 403.
416 f. 434. 466. 468. 470.
Ding ausser uns 362.
Dogmatismus 2. 7 ff. 88. 413. 433.
Dritte Möglichkeit 89
Dualismus 249. 259. 297. 303. 331. 473.
Egoismus 385. 372. 468 f.
Eigentum 386.
Einheit der Erfahrung 176. 217.
Empfindung 167. 172. 183 fi. 222.
226. 324.
Empirie 64. 168.
Empirismus 188. 251. 324. 353.
Empirismus in der Ethik 39.
Endzweck 64. 96. 108 f. 194. 262 flf.
301. 308. 321. 364. 374 flf. 425.
Entwicklung 66. 198. 303. 323. 326.
Episteraologie 427.
Erfahrung 62. 110 flf. 189. 146. 168.
184. 224 f. 268. 286. 303. 323 f. 370.
434. 441.
Erhabene, das 249. 276 flf. 317. 34y.
Erkenntnis 142. 211. 468.
Erkenntnistheorie 110 flf. 118. 122 f.
168 flf. 202 ft. 250. 286 ff. 336 flf.
Erkenntnisvermögen 144.
Eros 329.
Erscheinung 156. 167. 177. 213. 253.
258. 283. 290 0". 332. 430. 434. 468.
Erscheinungswelt 249. 329. 415. 437.
473.
Ethik 92. 107 flf. 114. 118. 123. 126 ff.
138. 192 ff. 232 ff. 320 ff. 327. 333 ff.
844 ff. 350 ff. 360 ff. 465. 470. 474.
478.
Ethikotheologie 10. 12. 21. 330. 425.
Eudämonismus 32. 43 ff. 95. 162. 193.
253. 351. 434.
Kvdlution ;{6().
E.\istenz 173.
Familie 379.
Farbeiikunst 349
Form .-i.".!.
Form und Materie 116. 126. 211. 253.
286. 300 ft. 338. 373. 876.
Formalismus 108. HO. 144. 322. 862.
3Sr.. 396. 434.
Fortschritt, sittlicher 66. 195. 348. 8.52.
Frankreich .50. 854.
Französische Revolution 57. 82. 866.
467. 479.
Freidenker 50.
Freiheit 24. 40. 53. 90. 97. 122 t. 127.
129. 197. 244. 252. 263. 269 f. 208.
308. 331. 336 f. 351. 362. 367. 391 f.
400 f. 418.
Funktion d. Gehirns 223.
Gebot 234.
Gefühl 128. 144. 280 f. 316 ff. .3.50 f.
Gegenstand 130. 159. 170. 202 ff.
Gegenstand des Glaubens 138. 164 ff.
Genie 273.
Geometrie 176. 187.
Gerechtigkeit 54. 377. 393 f. 406.
Geschichte 61 ff. 164 f.
Geschichtsphilosophie 61 ff. 285. 330.
378. 393. 411. 419 ff. 429. 468.
Geschraaeksurteil 274.
Gewissen 14 ff. 124. 126. 128. 139. 143-
194. 351.
Gewissheit des Glaubens 138 ff.
Glaube 138. 146. 436.
Glaube und Wissen 2. 435. 477.
Gleichheit 392.
Glückseligkeit 35 ff. 96 ff. 128. 190fi.
235. 262 ff. 296. 304. 405.
Glückwlirdigkeit 46. 98 f. 190 ff. 265.
Gnosticismus 91.
Gott 4ft". 19. 77. 90 f. 96 ff. 128. 131.
139 ff. 157 ff. 191 f. 2.52. 255. 320.
332. 372. 420. 426. 444 f. 470.
Grenzbegriff 407.
Grenzbestimmimg 116. 334. 433. 465.
474.
Register.
483
Griechische Philosophie 3.
Grösse 210.
Grund, Satz vom 326. 848.
Giiterk'hre 254.
Gute, das 18. 44. 58. 107. 139. 372.
417. 429. 444.
(tymnasium 379.
Harmonie 280.
HoiliKkeit 294.
Herrenmoral 414.
Heterogonie der Zwecke (53.
Heteronouiie 96 ft. 126. 253. 344.
Höchstes Gut 12. 45 ff. 94 ff. 126.
191 ff. 254. 296. 304. 321. 329. 370.
417. 42.'^ 440. 445.
Humanismus 360.
Humoristische, das 317.
Hypothetischer Imperativ 232 ff". 325.
Ich 72. 179 f. 268. 288. 291. 299.
304 f. 344. 474.
Ideal 48. 53. 60. 125. 286 ff. 363.
Idealismus 3. 17 f. 39. 89. 114. 121 f.
127. 130. 155. 174. 188. 201. 219.
221. 224. 268. 343. 361. 391. 411 f.
435.
Idealismus, objektiver 20. 119. 413.
464.
Idee 21 f. 111. 252. 273. 297. 302 f.
375. 421. 429 f.
Identität. Satz der 326. 441.
Ideologie 397 f.
Immanenz 215. 292.
Iramoralismus 127.
Indische Philosophie 330.
Individualismus 50. 367. 393.
Individuum 62. 195. 376.
Induktion 171.
Intellektualismus 50. 109 f. 118. 132.
148 ft.
Intellektuelle Anschauung 278. 281.
289 ff. 344.
Intelligible That 198. 200. 332 f.
Intelligible Welt 110. 115. 278 f. 284.
297. 415 f. 431. 437.
Interesse 124. 271. 274. 474.
Interesselosigkeit 128. 319. 351.
Intuitiver Verstand 278. 424. 428. 435.
Irrationalismus 2 f. 157.
Jesuiten ö. 7. 28.
Judentum 470.
Kant, (ieschichtliche Stellung 8.
Leben 120. 471.
Konflikt mit der preuss. Censur 345.
Vorkritisohe Periode 112. 431.
Kritische Periode 37. 431.
Umkippungen 432.
Skepticismus 9.
Unhistorische Denkweise 61. 329.
Heimat 349 t.
Vorfahren 472 f.
Elternhaus 12.
Politische Stellung 362 ft. 467.
Stellung zum Griechentum 328.
Königsberger Geburtstagsfeier 136.
Druckfehler bei K. 311 ff. 448 ff. 480.
Kantausgabe, die neue 452. 480.
Kantautographen 47ii f.
Kantporträts 102 ft. 354 ff. 466. 475 f.
Kantreli(iuien 476.
Kapitalismus 382. 391.
Kategorie 111. 116. 123. 157. 176.
179. 209 ft. 251 f. 287. 325. 332. 351.
427. 430.
Kategorischer Imperativ 97. 108. 127.
1.50. 199. 232 ft. 325. 348. 363. 368 f.
389. 468. 470. 479.
Katholizismus 22 ff. 50. 128. 471.
Kausalität 123. 129. 131. 167. 171.
174. 185. 223 f. 248. 262. 326. 329.
348. 353. 373. 400 ft. 423. 441.
Kirche 19. 82. 445 f. 471.
Kirchenglaube 446.
Kollektivismus 393. 405.
Komische, das 317. 349.
Kosmologie 11. 122 332. 3.50. 430.
4.39.
Krieg 18. 50 ft". 845. 467 ff.
Kritizismus 9. 88. 166. 361.
Kultur 51. 53 ff. 62. 263. 265. 320.
Kulturkampf 28. 27 f.
Kunst 110. 120. 124. 258. 816 ft. 349.
421.
484
Rcffister.
I^clierliohe, tlas 131.
Lebon 107 f.
lA'fjalitiit 97.
Libt'ralisiuus Stw ;W2.
Loirik rj.S. -MO. 846. 4l>7 ft.
Lust nnd Unlust 82 ft. 107. 276. 318.
Marxismus 167. 827. 360. 383 ff.
Matoriiili.siuus 3. 91. 168. 188. 223.
347. 869. 374. 878. 387. 390. 405 ff.
423. 442 f.
Materie 267. 324. 364.
.Mathematik 112. 187. 208 ff. 262. 346.
424.
Maxime 67. 199. 233. 296.
Mechanismus 257. 269. 266. 278. 281.
330. 422.
Menschenverstand, gesunder 82.
Menschenwürde 13. 41. 66.
Menschheit 19. 57. 196. 864 f. 368 ff.
391 ff. 421.
Metageometrie 131. 188. 339. 358.
Metaphysik 17 ff. 112. 118. 130. 146.
160 ff. 227. 251. 331. 334. 341 f.
346. 349. 894. 413 ff. 464 ff.
Methodologie 110. 176. 184. 289. 317 f.
329 ff. 358. 373. 381. 394. 409. 466.
Möglichkeit 177.
Monismus 20. 439.
Moral 33. 44. 63. 120. 166. 274 f. 830.
367. 414.
Moralprinzip 11. 35. 98. 320. 896.
Mysterien 470.
Jfatur 36. 191. 248. 262. 276. 830.
429. 438. 473.
Naturgesetz 83.
Naturrecht 371.
Naturwissenschaft 112. 142. 169. 187.
208. 330. 346. 349 f. 407. 416. 478.
Neigimg 47. 124. 263. 274. 296. 307.
322. 335. 359.
Neukantianer 121. 266. 268. 361. 373.
390. 896 ft. 403. 412.
Neuthomismus 1 ff. 14. 21. 51. 122.
Nichts 216.
Nihilismus, transseendenter 339.
Nominalismus 340.
Normen 66. 838.
Notwendig u. allgemeingiltig 112. 203.
386.
Notwendigkeit 177.
Noumenon 126. 268. 290.
Objekt 170. 229 f. 260. 306.
Objektivatiim 212. 216.
Objektivität 173. 17!). 203. 337.
Occultismus 126. 383. 442.
Offenbarung 4. 82 f.
Ontologie 439.
Optimismus 32 ff. 190 ff.
Ordnung 159.
Organisation 866. 379.
Organismus 267. 262. 830. 422 ff.
Pädagogik 27. 349 f. 374 ft. 469.
Pantheismus 81. 318.
Pathologische Gefühle 39. 46. 199. 242.
Persönlichkeit 109. 128. 196.
Pessimismus 18. 32 ft. 65. 118. 190 ff.
320 f. 442 f.
Pflicht 40 ft. 66. 91. 124. 126. 139 ft.
166. 322. 336. 344. 366. 391. 417.
Phänomenalismus 188. 415.
Phantasie 271 ff. 297. 319.
Philosophie, Begriff der 94 f.
Philosophie, Geschichte der 327. 466.
Phoronomie 470.
Physik 169. 418.
Physikotheologie 10. 263. 265. 424 f.
Physiologie 185.
Pietismus 12. 96. 117. 264.
Piatonismus 21. 118. 829. 383. 346.
Poetik 349.
Politik 327. 345. 370. 380.
Positivismus 24. 114. 121. 130. 156.
169. 188. 320 f. 386 f. 387. 436.
Postulate d. pr. Vern. 49. 66. 98. 191.
244. 265. 264. 267. .336. 362. 418.
478.
Praeter und extra nos 89.
Praktische Gesetze 233. 253.
Primat d. prakt. Vern. 13. 49. 109.
144 ff. 255. 342. 440. 474.
Proletariat 369.
Protestantismus 1 ff. 94. 329. 360.
Register.
485
Psychologie 91. 1U8 110. 120. 1281'.
130 f. 168. 185 ö. 254. 269. 284 f.
816fl. 828. 388 flf. 849 fl. 375. 395.
430. 487. 440.
Psychophysik 118.
4juietisiuus 43.
Rationalismus 2 f. 66. 116. 119. 127.
188. 261. 322. 434.
Raum 131. 175. 186.
Raum u Zeit 89. 116. 123. 126. 131.
184. 171. 194. 210. 223. 251. 287.
324. 339. 348. 352 f.
ReaUsmas 19. 219. 221. 224. 331. 349.
397.
Realität 60. 156 ft. 489.
Recht 362 ff. 372. 377. 385. 470.
ReHexion 212. 231.
Kegel d. Vorstellangsverknüpfung 159.
Regierung 377.
Reich der Zwecke 12. 127. 335. 368.
370. 417 fi". 444.
Reich Gottes 126. 327.
Religion 82 ff. 110. 118. 138 ff". 265.
280. 328. 374. 380. 420. 429. 436.
444 f. 468.
Religion, natürliche 8. 20. 345. 470.
478.
Religionsphilosophie 116. 119. 158.
286. 332. 336. 469 ff.
Reue 351.
Revolution 366. 886.
Re/eptivität 111. 115. 251. 287.
Rhetorisches Apriori 112.
Rigorismus 36. 96. 127. 322. 336.
Schein u Erscheinimg 177.
Schematismus 287.
Schöne, das 124. 127. 271 ff. 298.
316 ff. 349. 421 f.
Scholastik 122. 355. 433.
Schottische Philosophie 181.
Schuld 351.
Seele 91.
Seinsproblem 122. 156. 169. 220.
Selbstbewusstsein 324. 438.
Selbstliebe 41. 326.
Selbstzufriedenheit 40 f. 47. 192.
Selektioustheorie 126.
Semirationalismus 2 f.
Sensuali.smus 119. 280.
Sinnlichkeit 111. 119. 125. 176. 179.
200. 223. 287. 292. 344.
Sittengesetz 9. 19. 40. 49. 97 f. 109.
124. 126. 144. 198. 262. 265. 274.
295. 325. 329. 332. 348. 362. 376.
385. 405. 420.
Sittenlehre 92.
Sittlichkeit 36. 191. 303. 323. 341 f.
422.
Skepticismus 21. 87. 188. 206. 211.
413. 433 f.
Sollen 238.
Sozialdemokratie 360. 372. 881. 898.
402.
Sozialismus 167 ff. 347. 368.
Sozialpädagogik 352. 374 ff.
Sozialphilosophie 361 ff. 479.
Spekulation 139. 165.
Spiel 125.
Spontaneität 111. 115. 287.
Staat 323. 345. 362 ff. 372. 392. 419.
479.
Staatsverfassung 364. 386. 470.
Stoicismus 45. 48. 192.
i Subjekt und Objekt 122. 473.
Subjektivismus 22. 128. 250. 268. 318.
Substanz 132. 172. 186. 262. 826.
Syllogistik 123. 339 f.
Symbol 274. 334. 422.
Sympathie 319.
Synthese 182. 213. 217. 261. 283. 296.
Synthetische Urteile a priori 113 t.
Systeme de la nature 433 f.
Talent 273.
Talmud 347.
Technische Vorschriften in der Ethik
236 ff.
Teleologie 82. 62 f. 91. 196. 248. 260.
266. 278. 281. 298. 321. 330. 874.
410. 426. 468.
Thatkralt 377.
Thatsachen 60.
Theismus 266. 269. 480.
486
Refjister.
The«)dii'oe 44. 91.
Theologie f). 109. 3201". 38G f. i'Jb. 480.
483.
Thoiuisinus 128.
Toleranz N4.
Transscendentalpliilosophie (ib. 111.
172. 184. 212. 341.
Transsoendenz 18. 48. 112. 121. 139.
I.-.4. 21 n. 222. 424.
Transsuhjoktivismns 1 88.
Triebfeder l!)8. 2>»5.
Tugend 40. 98 f. 110. 190 ff.
fibernatürliche. «las 5.
Überzeugung 144.
Unbedingte, das 376.
Unendlichkeit 186. 276. 301. 305.
Unfehlbarkeit 14 ft. 23.
Universität 880.
Universitäts-Ausdehming 380. 478.
Unsterblichkeit 19. 90. 96. 191. 193.
255. 334. 433. 474.
Unterbewusst 182.
Ursprüngliche Erwerbung 111.
Urteilskraft 127. 145. 266. 329.
Urteilslehre 146. 326. 339 f.
Usus logicus u. usus realis 115.
Utopien 365.
Verantwortlichkeit 199.
Vernunft 126 i. 143. 244. 249. 261.
282. 321. 336. 416. 430.
Vernunftglaube 9. 21. 24. 65. 138. 256.
330. 419 ff. 429. 440.
Vernunftwesen 125.
Vemunftwille 376. 420. 435.
Verstand 111. 115. 127. 140. 143. 158.
179. 223. 267. 271 ff. 286. 297. 430.
434. 438.
Verworrene Vorstellungen 282.
Volksschule 379.
Vollkouinienheit 98. 126. 195. 294.
406.
Voluntarismus 10 1J8. 153.
Vorsehung 54.
Vorstellung 170. 202. 222.
Wahrhaftigkeit 16. 877.
Wahrheit 4. 16. 85. 144. 887. 464.
Wahrnehmung 166. 172. 212.
Wahrnehmungs- n. Erfahnmgsurteil
204 ff.
Wahrscheinlichkeit 64. 86.
Wandermaterialisten 281 .
Wechselwirkung 248. 252. 489.
Weltanschauung 17. 84. 140. 251 ff.
266. 277. 288. 331. 361. 406 f. 412 f.
417. 473. 479.
Weltganzes 191.
Weltordnung 138. 142. 164. 164. 325.
345. 440.
Wert 64. 107. 110. 122. 316. 474.
Wert, absoluter 197.
Widerspruch, Satz vom 209. 326. 441.
Wille 98. 122. 140 ff. 198. 220. 228.
284. 295. 321. 850. 375. 391. 437.
Wille, der gute 88. 189. 148. 154. 197.
242. 249. 268. 270. 279.
Willensnötigimg 246.
Wirklichkeit 140. 415. 428 f. 436. 489.
Wirtschaft 872 ff. 877. 383. 405. 409.
Wissenschaft 64. 145. 169. 416. 436.
Wollen u. Denken 152.
Würdigkeit, moralische 264. 807.
Zeit 176. 220. 887 f. 849. 862.
Zweck 85. 63 f. 66 f. 96. 107 f. 127.
142. 239. 249. 252. 269. 319. 326 ff.
844. 865. 868. 874. 881. 385. 391 ff'.
423.
Zweifel 87.
Register.
487
Besprochene Kantisehe Schriften
(Chronologisch.)
Naturgesob. d. Himmels 11. 347.
Nova diluculatio 844.
Versuch, d. nejj. (Trossen i. d. Weltwei.sh.
einzutiihren 37. 326. 3il6.
Einzig inögl. Beweisgrund 12. 431.
Träume eines Geistersehers 134. 194.
834. 431.
Dissertation (1770) IIB. 184. 431.
Kritik der reinen Vernunft 21. 64. 76.
78. 112. 116. 130. 174. 248 ft. 286 flf.
310 fl. 332. 367 ff. 363. 396. 406.
415. 426. 431 f. 447 ff. 466. 467.
— Erste u. zweite Aufl. 177. 287.
— Vorrede z. 2. Aufl. 170.
— Einleitung z. 2. Aufl. 111.
— Tr. Ästhetik 226 f. 338. 360 f.
- Metajjh. Erörterung 175.
— Tr. Erörterung 176.
— Tr. Logik 227.
— Tr. Analytik 227. 351. 432.434. 462 ff.
— Tr. Deduktion 119. 130. 338. 407. 465.
— Schematismus 251.
— Analogien d. Erf. 113. 133. 465.
— Postulate d. emp . Denkens überh. 1 14.
— Widerl. d. Idealism. 114. 219.
— Tr Dialektik 434.
— Paralogismen 176.
— Antinomien 251. 263. 332.
— Gottesbeweise 176. 340. 464.
— Anhang z. tr. Dialektik 427 f.
— Tr. Methodenlehre 13. 88.
— Kanon 96. 99 f.
— Architektonik 96. 4.82.
(Register z. Kr. d. r. V. 358.)
Prolegomena64.67.203fl'.210.212f.2l7.
Idee z. einer allg. Geschichte 57. 62.
64 f. 196. 364. 419.
Grundlegung z. Met. d. Sitten 234,
296. 333. 363.
Metaph. Anfangsgr. d. Naturwiasensch
323. 432.
Mutmasslicher Anfang d. Menschen
geschichte 63. 63 f. 419. 467.
Kritik d. prakt. Vernimft 38. 46. 97 f.
98. 120. 126. 233 0". 244. 248 flf. 294.
296. 303. 332. 335. 364. 401. 429.
Kritik der Urteilskraft 21. 69. 66 f.
12Ü. 127 f. 240. 248 ft. 271. 294.
297 f. 317 ff. 331. 349. 366. 421 f.
424. 426. 430 ft.
Misslingen der Theodicee 470.
Fortschritte d. Metaphysik 97. 100.
470.
Religion 80. 84. 107. 117. 197. 269.
361. 367. 470.
Das mag in d. Theorie richtig sein etc.
58. 63. 66. 866 f. 869.
Zum ewigen Frieden 62 ff. 328. 366.
467. 469.
Zu Sömmering üb. d. Organ d. Seele
470.
Met. Anfangsgr. d. Rechtsl. 362. 366.
367 ff.
Met. Anfangsgr. d. Tugendl. 351.
Metaph. d. Sitten 240.
Streit d. Fakultäten 91. 366 f. 469 ff.
Prospectus z. Jachmanns Prüfung d.
Kantischen Religionsph. 471.
Brief an Ch. v. Knobloch (1763) 333 f.
Brief an Herz (1772) 116. 344.
Briet an Jacobi (1789) 477.
Brief an Blumenbach (1790) 479.
Brief an Nicolovius (1798i 120.
Brief an Tiettrunk (1797) 477.
Menschenkunde (Anthropologie) 3". 42.
368. 421.
Logik 97.
Physische Geograi)hie 328.
Vorlesungen über Metaphysik 134. 432.
Lose Blätter 365 f. 469 ff. 476.
Notizen u. Kolleghefte 149. 481. 440.
Neu edierte Manuskripte 471.
Unedierte Reflexionen 359. 477.
488
Rpp;ister.
Personen-Register.
Adickos 113. 126. 180.
•J61 256. ;U4.
Aenosidoums 832.
Ansoliu V. I'anterbury340.
Appiihn 57 f.
Aristarcli 76.
Aristoteles 6. 94 f.
Arnoldt 120.
Arröat 118.
Augustin 122. 351.
Avenarius 336 f.
Bacon 74.
Balt'our 118.
Basch 263. 272.
Bebel 347. 393.
Beck 268. 470. 477.
Bendavid 471.
Beneke 437.
Berger 360.
Berkeley 219.
Bernstein 167 f. 390.
397 ff. 403.
Berti 128.
Bisuiarck 15.
Blumenbach 479.
Borowski 117.
Brinkmann 136.
Brunetiere 50 ff. 320.
467 f.
Bück 476.
Büchner 280.
Bürger 78.
Butler 131.
Caird 113.
Charaux 355.
Cohen 113. 180. 188.
327. 368. 370 ö. 397.
414.
Comte 121.
Copemicus 76.
Cornelius 107.
Couturat 51 flf.
Creighton 289. 296.
Crusius 344.
Darwin 125. 847. 405.
Dauriac 121.
Denis 132.
Descartes 72. 87. 129. 340.
Desjardins 320.
Deussen 118.
Dühna-Schlobitten, Fürst
V. 856.
Dorner 426.
Drews 118.
Duns Scotus 4. 340.
Ellissen 397.
Elsenhans 126.
Endemann 103.
Engels 347. 381. 388 f.
394. 397.
Erdmann, B. 120. 339.
Erhard 366.
Erhardt 332.
Erxleben 79.
Eiicken 1. 118. 121.
Fechner 437.
Fester 61.
Feuerbach 91. 128. 130.
850. 369. 388 f.
Fichte 76 f. 80. 118 f. 129.
lS7ff. 176. 180. 268.
282. 286 ff. 345. 350.
368. 372. 388 f. 393.
406. 421. 435.
Fischer, K. 118. 120. 137.
Förster 359.
Forberg 137 ff.
Fouillee 118.
Fourier 389.
Frauenstädt 118.
Friedrich d. Gr. 56. 391.
Oarat 479.
Gerlach 136. 384.
Gervinus 71.
Gizyeki 118.
Gnesotto 128.
Goblot 353.
Goethe 28. 69. 846. 478 ff.
Goldfriedrich 280.
Gt>ldschmidt 414.
Grimm, J. 476.
Grunwald 360.
Gunter 403 f.
Guyau 349.
V. Haller 473.
Harnack 6 f.
V. Hartmann 32 ff. 118.
190 ff". 250. 264. 281.
332. 352.
Hegel 118 f. 121 f. 124.
129. 176. 282. 303.
321 ff. 329. 347. 350.
369. 388 f. 394. 408 f.
421. 435.
Heinze 335.
Helmholtz 174. 189.
Heman 413 f.
Herbart 281. 349. 435.
Herder 61. 353.
Hertz 114. 358.
Hirschfeld 479.
Hobbes 419.
Höffding 66.
Homer 332.
Hüllmann 477.
V. Humboldt, A. 80.
Hume 12. 116. 131. 170.
206. 211. 344. 433 f.
465.
Hutcheson 98.
Jachmann 79. 328. 471.
Jacobi 80. 86. 90. 329.
332.
James 118. 148. 444.
Jaures 390 ff.
Jerusalem 478.
Jesua 193. 405.
Kaestner 76.
Kaftan 94 ff.
Hegister
4S9
Kühnert iL'U.
Kant, eil. B. 8fiO.
Katzor 1.
Kaiitsky 399 40'2
Ki'tteler 1.'.
v Kirchmann 332 340
Küster 360.
l,aas 180.
Labriola 386.
Lafargue 393.
La Mettrie 91
Lampe 47 L
Lamprecht 61 rt.
Lange 167. 280. 370 f.
395. 397. 399. 412.
Laplace 360.
L;i Roche. S. 477.
Lassalle 368. 388. 393.
Lavater 80 f.
Loibniz 8. 21. 76 121
129 282 f. 318 341.
433 f.
Lessing 80. 84.
Lichtenberg 68 ft.
Liebmann 333.
J.ipps 384 fl.
V Liszt 477.
Locke 88. 121. 169 188.
Lotze 119. 121. 193. 330.
352. 437. 439.
Lucrez 423.
Ludwich 136.
Luther 2. 6. 351. 391.
Lutoslawski 128.
Mach 181. 353.
Marx 347.381.388. 398 f
404 ft.
Masaryk 386. 388.
Mehring 402.
Meiners 79.
Melanchthon 8.
Mendelssohn 470.
Metzger, F. D. 475.
Metzger, .1 I» 475. 479
Mickiewicz 133.
Mill 171.
Minden 356 f. 475.
Kantstnilieii IV.
Xatorp 181. 327. 340.
374 ff 403 f. i
Nedow 402
Nietzsche 23 f 121 149
350.
V. Nostitz-Kieneck 30.
Ocf-am 4.
Owen 389.
Pascal 15
Paulsen 118. 148. 329.
331. 345 f. 852 464 ff.
Paulus 351.
Pestalozzi 378.
Piaton 18. 21. 94 f. 333.
863 1' 380. 405 f. 418.
Plechanow 167 f. 177 f.
396. 402.
V. Pless, Fürst 102 ff.
du Frei 125.
Puttricli 475.
•Rahts 186.
Rauwenhoff 336
Reccard 471.
Rehmke 109.
Reichardt 477.
Reicke 80. 475.
Reinhard 479.
Renouvier 131.
Ribot 118.
Rickert 414. 435.
Riehl 116. 121.
Rink 475.
Ritschi 265.
Romundt 414.
\ Rosenkranz 480.
Rothe 121
, Rousseau 13. i>l 354.
I 371. 391.
Ruyssen 56 f.
Saenger 414.
j Saint-Simon 389.
I Schell 27. 446.
j Schelling lls 129. 280.
:.'84. 485.
I Sohellwien. 356.
Schiller 120. 125. 280.
329. 336. 341 849
Schleiennacher 81. 270.
280. 284. 350. 370.
Schmi.lt, C. 167 f. 394 ff.
402.
] Schmidt, J. K. C\n. 155.
■ Sch('5ndörffor 414
Schopenhauer 32. 69.
I 117 f. 122. 128. 149.
•_'02. 218 ff. 326. 340.
348. 350 f. 435. 437 f.
443. 466. 480
Schri - .Schankara - \t-
scharia 127.
.Schultz, F. A. 117.
, Schultz, J. 442.
: Schuppe 108. 119.
I Sembritzki 472 f.
j Senewaldt 10211.
1 Seth 309. 322.
1 Sigwart 151. 339.
I Sokratos 284.
Spencer 115. 130. 320 f.
Spinoza 78. 80. 85. 90 f.
129. 4'J7. 466.
V. Stägemann. K 102
Stammler 327. 372 ti.
384. .387. 403 f.
Staudinger 880 ff". 385.
396. 402.
Stein 60.
V. Stengel '»ö ff.
Stock 129 344
Strauss 280. 371.
V. Suttner 59.
Swedenborg 333 f.
Thiele 289 302.
Thomas 1. 29 122. 340.
Thon 126.
Tiedemann 120.
Trendelenburg 840.
flberweg 371 466
Vaihinger 113. 116. 338.
390. 413 f. 467.
Venetianer 118.
82
4!H)
Keiciater.
Vornot. <'. 47i')
Villors 8ti(».
Visclior, K. IJJ
Volkelt [VA m
197 ft. -j:.!.
Voltaire l'J.
Vorländor 17'.'.
Ha-nor. 1{. I-'8
Wallaoc 117.
\\ arda 357. 475.
Watson 3l'2.
IL'9. IS8.
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Woiiiirart lU).
Woi.>istoiii 47().
WoriuM-, Z. 471.
Wornioko 126.
Wiokt'iiliiir;^, (!raf 478.
V. Wilamowitz - Moellon-
ilorir 4 78.
Williiiaun 1. J4. '22. 31.
G6. rJ8.
Windelbnml 161. 342.
344. 4(i4.
Wittrion 13(i
Wnllnor l;{7.
Wolfl 2. si. DU. 117
1-Jl. l'jr. 318. 48« I'
Wollniann 3()ü. 38H f.
4()'J. 404 (1
VViindUi«. 118. ISO. 3'j()f.
334 339. 437. 480
Zii-';;li.r, Tii. lül, 38ö.
Zimmer 117.
Verfasser besprochener Novitäten.
Afhelis 123.
Adickes 130.
Adlhoch 126.
Alexander 350.
Ai)puliQ 57.
Anustedt 349.
BallauflF 350.
Barth 348. 352.
JJasch 316. 467.
Bauuiann 131.
Becker 350.
Bell 112.
Bernstein 167. 397.
Bleek 350.
Bormanu 127. 333.
Brömse 337.
Bninetiere 50.
Budde 340.
Bücliner 349.
Bmckhardt 119.
Caldwell 117.
Calkins 348.
Cantoni 128.
Carus 131.
Cbamberlain 128.
Chuiielowski 133.
Cohen 346. 370.
Couturat 51.
Creighton 123.
414.
»esdöiiits 129.
Deutschthümler 466.
Didio 320.
Dix 468.
Döring 335. 469.
Duboc 350.
Diinkuiann 336.
Eisler 122. 123. 130.
Eucken 127.
Falckenherg 327.
Folghera 355.
Füuillee 121.
Fromrael 330.
Gatterniann 115.
Gerhich 384.
Goldschmidt 414. 464.
Groos 349.
V. Grut 131.
Gunter 403.
Guttzeit 127.
Hacks 113,
Heinze 466.
Heman 352. 414. 465.
Herrmann 345.
Heumann 119.
Hollmann 116.
Horinek 127.
Huys 132.
Iwanowski 127.
,Iacobsk()tter 120
Jaurös 390.
JodI 128.
Johnstohn 127.
Kaftan 94.
Kauffmann 345.
Key 128.
Kinkel 339.
Kleinpeter J31.
König 352.
Koppelmanu 12().
Kozlowski 133.
Krieg 122.
Kronenberg 478.
Külpe 352.
Ijamprecht 61.
Lasswitz 125.
Ueifisteri
491
Lazarus 347
LetV-vre IMl.
Levy-Bruhl ;{54.
Lipps 384
Lloyd Morj^aii 131.
Lublinski 127.
Ludwich 3-J8.
Lntoslawski 352.
Mac Vannel 321.
Marcus 323.
Marst'liner 344
Masaryk 38G.
Mayer 468.
Mc Intyre 350.
Meusel 120.
Monirri- 338. 468.
Müller. R. 351.
^"atorp 35;! 374.
Nessler 341
Nolte 119.
V. Nostitz-Kieneck 30.
Pajk 114.
Panlsen 345 f. 464 ft.
Petronievics 326.
te Feerdt 349
Plechanow 167. .396.
Poincarr 3.'>;{.
Reieke 469.
Keinke 349
Renouvier 128.
Rickert 414.
Rubins 131.
Roltts 3.-)l.
Romiindt 126. 346. 414.
Russell 350.
Ruyssen 56.
Sänger 414. 464.
Salits 331.
Scliiuckol 130.
Schmidt. C 167. 394.
Schmidt, W. 350.
Schneider 111
Schöndörfter 414. 465.
V. Scliuhert-Soldern 130.
Schnitze 336.
Schurman 131.
Schwann 347.
Semhritzki 472.
Sertillanges 132.
Seth. J. 131.
Sewall 134.
Siebert 121.
Simmel 473.
Sorel 353.
Speck 130.
Spitzer 126.
Stammler 372.
Stanley 131.
Staudinger 127. 327. 380.
Stein 469.
Steiner 469.
Stock 107. 110. 129. 344.
Syndicus 128.
Thiele 344
Trojano 351.
Tsehitseherin 353.
Tumarkin 853.
j llnbehaun 125.
"Vaihiuger 413.
Vischer 124.
Volkelt 129.
Volkmann 123. 341.
Vorländer 126. 352. 357.
Warda 120. 471.
Went.scher 363.
Willenhiicher 349.
Windelband 342.
Wintzer 130.
Wi)lff 349.
Weltmann 347. 404.
Wvneken 329.
32*
492
Ke^rister.
Verzeichnis der Mitarbeiter.
Bell 112— lU^
Caldwell 117-118.
Döring 94—101.
Domer 248—285.
datterniann 110 — 116.
Haokh: 113—114.
Hollmann 116-117.
Krueper 107—111. 820—
323.
V. I^ind 102—106.
Marcus 323—326.
Medicus 61—67. 119—
125. 327-344. 357—
369.
iVeumann 68 — 93.
Pajk 114 — 115.
Paulsen 1—31. 413 447.
Petronievics 326.
Rickert 137—166.
Schneider 111—112.
Spitzer 316—320.
Stange 232-247.
Standinger 167—189. 327.
Talbot 286—310.
"Vaihinger 50 — 60. 452 —
463.
Vorländer 361—412.
Wartenberg 202—231.
Wentscher 32—49. 190-
201.
WilleSll— 315.448-451.
Druck Ton A. W. Hayns Erbpu, Berlin und Potsdam.
B Kant-Studien
2750
K3
Bd.A
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