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Full text of "Kant-Studien; philosophische Zeitschrift"

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KANTSTUDIEN. 


PHILOSOPillSCHK  ZIMTSCHIUFT 


UNTER  MITWIRKUNG 

VON 


E.  ADICKES,  E.  BOUTROUX,  EDW.  CAIRD, 

C.  CANTONI,  J.  E.  CREIGHTON,  W.  DILTIIEY,  B.  ERDMANN,  M.  HEINZE, 

R.  REICKE,  A.  RIEIIL,  W.  WINDELBAND 


UND  ANDEREN  FACHGENOSSEN 


HERAUSGEGEBEN   VON 


DR.  HANS  VAIHINGER, 

0.  0.  PROFESSOK  DER  rilll.O.SUl'mfc;  AX  1)1;K  UNIVKIJSITAT  HALLE  A.  S. 


VIERTER    BAND. 


qi>^ 


WILLIAMS  &  NOUGATE, 
LONDON. 


BERLIN. 

VEKLA(;  VON  KEIJTHEK  &  REICH  ARU 

19Ö0. 


LEMOKK  k  BUKCHNER. 

NEW  vor;  K. 


H.  LE  SOUDIER, 
PARIS. 


CAltLO  ('LAUSEN, 
T  0  R I N  0. 


5 


AJlc  Recht.j  vorbolialten. 


INHALT. 


Seite 

Kant  der  IMiilosopli  des  Protestantismus.     Von   F.  Paulsen  .         l 

War  Kaut  Pessimist?  1.    Von  M.  Wentscher 32 

Kiue  frauzösiselie  Kontroverse  über  Kants  Ansicht  vom  Kriege. 

Auch  ein  Wort  zur  Friedenskonferen/,.    ^'on  H.  \'ai hinger       oO 

Zu  Kants  Philosophie  der  tJeschichte  mit  besonderer  Beziehung 

auf  K.  Lamprecht.     Von  F.  Medicus 61 

Lichtenberg  als   Philosoph    und   seine  Beziehnngen  zu   Kant. 

Von  A.  Neumaun 68 

Kants  Lehre  vom  höchsten  Gut.     Von  A.  Döring     ...  94 

Das  Kautbild  des   Fürsten  von   Pless.     (Mit  Abbildung.)     \'on 

P.  von  Lind 102 

Fichtes  Atheismusstreit  und  die  Kantische  Philosophie.    Eine 

Säkularbetracbtung.     Von  H.  Kick  er  t 1^7 

Der  Streit    um  das  Ding  au  sich   und  seine  Erneuerung  im 

sozialistischen  Lager.     Von  F.  Staudinger iß" 

War  Kaut  Pessimist?  II.    Von  M.  Wentscher 190 

Der  Begriff  des  ..transscendentaleu  Gegenstandes-  bei  Kant 
—  und  Schopenhauers  Kritik  desselben.  Eine  Kecht- 
fertigung  Kants.   1.    Von  M.  W arten berg 202 

Der  Begrift"   der    „hvT)othetischen  Imperative-    in    der  Ethik 

Kants,     ^'on  C.  Stange 232 

Kants  Kritik  der  Irteilskraft  in  ihrer  Beziehung  zu  den 
beiden  anderen  Kritiken  und  zu  den  uachkautischeu 
Systemen.     Von  A.  Dorn  er 248 


IV 


flsitii 


Tln>  Relation  ln'tweeii   lliiiiian  Consrinusiu'ss   aml    its  Ideal  a^ 

coiic.mn.mI   l»y  Kant   and    Kiclilr      l'«\    K.    Ü     laHM.f.     .     .      i'kü 

Konjektnifii    /u    Kants    Kritik     der    irincn    \ Cniiiiiri.      \  on 

■  K.    Wille •■'" 

Mf)l 

118 


Kant   lind  der  Sor.ialismiis.     \  on   K.   Norliiudrr 

Kants   \erliiiltiiis  /iii'  Mcla|ili>sik.     \<'ii   1".   I'aiilsen       .     . 

Neue   Konjekturen   /n   Kanls  Kritik   der  reinen  NCrniinrt.     \<m 
K.    Wille 

Siebzi::      textkritiselie      Kand;:lossen      zur     Analytik.       Von 

1 1 .   \  a  i  li  i  II  j:  e  r 


■148 
462 


Rezensionen. 

0.  Stock.    Lebenszweck   uivl   Lebensaiiffassun^'.     Von   F    Knief^er       H)7 

0.  Stock.    rsycliitIo;,'i-<flif    lind    orkenntnistlK^oretisehe    Hüf,'riin(lnn.ir 

der  Ethik      \(>n  «loiu.selhen I '" 

V.  Basch.  Essai  eritiqne  sur  lEsthctique  do  Kant.    Von  II.  Spitzer      316 

C.   Didio.     Die    moderne    Moral    und     ihre    drundprinzipien.      Von 

F.  Krueger '"'-''^' 

J.  A.  Mac  Vannel.   Hegel's  Doctrine   ol'  tho  Will.     Von  demselben       3-'l 

Selbstaiizeijren. 

Schneider.  13egrifT  und  Arten  dos  Ai)riori  in  der  theoreiiselion 
l'liilosophie  Kants.  Sil).  —  Bell,  With  wliat  ri^'lit  is  Kants  Critupic 
of"  Pure  Keason  ealled  a  Theory  of  ExperienccV  S.  112.  Hacks. 
Feber  Kants  svntlietisc-lie  Urteile  a  priori  IV.  S.  113.  —  Pajk, 
Praktische  Philosoiihie.  S.  114  —  Gattermann.  Ueber  das  Verhältnis 
von  Kants  Inauf,'uraldissertation  vom  Jahre  1770  zu  der  Kr.  d.  r.  V. 
g  |]5  _  Hollmann.  Prolegomena  zur  (ienesis  der  Keli;,äons- 
philosophie  Kants,  .s.  116.  -  Caldwell.  Schopenhauers  System  in 
its  Philosophical  Significance.    >.  J17. 

Marcus.  I>ip  exakte  .\ufdeckung  des  P'undamcnts  der  Sittlichkeit 
und  Religion  und  die  Konstruktion  der  Welt  aus  den  Elementen 
des  Kant.  S.  328.  —  Petronievics.  Der  Satz  vom  Grunde.  S.  326. 
-   Staudinger.  Ethik  und  Politik.    S.  327. 

Litteraturberielit. 

Von  F.  Medicus. 
Heumann.  Das  Verhältnis  des  Ewigen  und  des  Historischen  in  der 
IJeli'nonsphilosophie  Kants  und  Lotzes.  S.  119.  -  Burckhardt. 
Kants  objektiver  Idealismus.  S.  119.  -  Nolte.  Verhältnis  von  Smn- 
lichkeit  und  Denken  in  Kants  Terminologie.  S.  11  it.  —  Meusel. 
Was  verdankt  Schiller  seinem  KantstudiumV  8.  120.  —  Warda.  Kants 
Bewerbung  um  eine  Lehrerstelle.  S.  120.  —  Jacobskötter,  Die 
Psychologie  D.  Tiedemanns.  S.  120.  —  Siebert,  Geschichte  der  neueren 


Seite 

doutschon  Philnsophic  -cit  Hef,''('l.  ^^.  1'Jl.  —  Fouillee.  I-o  iiionveniont 
iili'aliste.  S.  l'-'l.  Fouillee.  CoiuU' et  Kant.  S.  li-'l.  Krieg.  Wille 
lind  Freilii'it  in  der  neueren  Pliiltisopliie.  S.  122.  —  Eisler.  Kintiilirunj^ 
in  die  riiilosopliie.  S.  12_'.  Volkmann.  Entwicklung'- der  FlillMSophie. 
S.  123.  -  Eisler,  Hlemente  der  l.nirik.  S  123.  Creighton.  \n  In- 
troductory  Loffic.  S.  128.  —  Achelis.  Klliik  s  j-jH.  -  Vischer. 
Das  Sehtino  und  dio  Kunst.  S.  124.  -  Unbehaun.  l'hilosopldselie 
Selektion.silieorio.    S.   125. 

Faickenberg.  Hiltsbuch  zur  Gesehiehte  der  Pliilo-sophie  seit  Kant. 
.<    327  Ludwich.    Kants  .Stellung   zum  Grieohentuin.    S.  328.  — 

Wyneken.    Kant-  Tlatonismus     S.  329.  Frommel.   N'erhältnis  von 

mechanischer  und  teleoio-^ischer  Naturerkläruuf^  bei  Kant  und  Lotze. 
S  330  -  Salits.  Darstellung  und  Kritik  der  Jvantischen  Lehre  von  der 
Willenslreilieit.  S.  331.  --  Bormann.  Kantsche  Kthik  und  Occultismus. 
S    333.  Döring.    Menschlieh-natiirliclie    Sittenlehre,     .s.    33.").    — 

Schultze.  Kritik  der  Ueligionstheorie  Kauwenboffs.  S.  336.  — 
Dunkmann.  Problem  der  Freiheit.  S.  386.  —  Brömse.  Realität  der 
Zeit.  S.  337.  -  Mongre.  ("hao.s  in  kosmischer  Auslese.  S.  338.  — 
Kinkel.  Theorie  des  L'rteils  und  Schlusses.  S.  339.  —  Budde.  Die 
Beweise  für  das  Dasein  (^ottes.  S.  340.  —  Volkmann,  Schillers 
Philosophie.  S.  341.  —  Nessler.  Die  wichtigsten  Versuche  einer 
.Metaphysik  des  Sittlichen.  S.  341.  —  Windelband.  Geschichte  der 
neueren  Philosophie.    S.  342. 

Bibliographische  Notizen. 

Lasswitz.  —  Koppelmann.  —   Adlhoch.  —  Horinek.  -     Staudinger. 

—  Johnstobn.  —  Bormann.  —  Guttzeit.  —  Lublinski.  —  Eucken.  — 
Chaniberlaiu.  —  Jodl.  -  Cantoni.  —  Renouvier.  —  Desdouits  .  .  125 
Thiele.  -  Marsebner.  —  Paulsen.  —  Romundt.  —  Cohen.  — 
Woltmann.  —  Schwann.  —  Lazarus.  —  Calkins.  —  Barth.  — 
Willenbücher.  —  Wolff.  —  te  I'eerdt.  —  Groos.  —  Reinke.  — 
Armstedt.  —  Becker.  —  Russell.  —  Mc  Intyre.  —  BallauflF.  — 
Duboc.  —  Bleek.  -  Schmidt.  —  Trojane.  —  Müller.  —  Rolffs  .  344 
Saenger.  —  Goldsohmidt.  —  Schöndürtfer.  -  Heman.  Überweg- 
Heinze.    —    Deutschthümler.   —    Basch.   —  Mayer.   —   Mongre.    — 

Dix.  —  Döring.  —  Steiner.  —  Stein 464 

Zeitschriften.schau 129.     362 

Mitteilungen. 

Kant  und  Swedenborg 134 

Wieder  ein  neues  Kantbild.  (Mit  Abbildung.)  —  Eine  neue  Aus- 
gabe der  Kritik  der  reinen  Vernunft  (Vorländer).    Von  F.  Medicu.s. 

—  Einige  bisher  unedierte  HeHexionen  Kants.  —  Kant  auf  drei 
Kongressen.    —    Charlotte  Benigna  Kant  f.  —    Zu  Villers'  Bericht 

an  Napoleon  über  die  Kantische  Philosophie 355 

Lose  Blätter  aus  Kants  Nachlass  (R.  Reicke).  —  Die  Kant- 
Manuskripte  im  Prussia-Museum  (A.  Wardai.  —  Neues  über  Kants 
Vorfahren  (J.  Sembritzki).  —  Ueber  das  Verhältnis  von  Kant 
und  Goethe  (G.  Simmel) 469 


Varia. 


Vorlesungen  über  Kant.          Köuigsberger  Kantgeburtatagsfeier  im 
Jahre  1899       136 


VI 

HhMv 

Miniaturhildnis  Kants  im  Hositzc  von  A  W'ardn  in  Könif,'8herti:  i  l'r. 
Mit  AhliiltliiMir. )         KantrpliiiuiiMi  ln>i  .larolt  (iriinin    (J.  Wcisstcin  ) 

N'oui   Aiilo^'raplu'iimarkt  Kant   in  zwi-i   liniiiicr  rnivrrsitäts- 

redon.     -    IMo    Kanlisclu»  IMiilosophic    in  den   Volkslioclisoliulktirst^n 

Vorlrä^M«  illxT  dio  Hlliik  Kaii(>  von  .M.  Kiiini'nlMT;c  Kino 
KaiUrominisicn/,  aus  der  tran/.ti^isciicii  IkOvolulioii  l'iuisanlfjfalKv 
—  NiMi  f,'olun«lont>  Kautliiit'lc  Oic  Nt'iic  i\anlaii>;;al»o.  -  Driick- 
tVhlcr  lu'i  Kant.     Kinc   AntVordciiini,'  /nr  .Mitarhcit 475 

Kt'^isl«'!'. 

Saoiiro;;istor 481 

Bi'sjtroclK'nc   Kantisclip  Scliriften 487 

Persononregistrr  .  488 

Vorfasscr  bosprocliener  Novitäten  490 

Verzeiclinis  der  Mitarbeiter ...  492 


U^  X^r  ^  4'^'^-^  •  ^^  • 


Das  Kantbild  des  Fürsten  y.  Pless. 

Gemalt  von  F.  W.  SeneY/aldt. 


Gftbr     Plettner.   Halle-Saale. 


Kant  der  Philosoph  des  Protestantismus.^) 

Von  Friedrioh  Paulsen. 


I. 

Der  Neuthomismus,  die  Philosophie  des  restaurierten  Katholizis- 
mus der  Gegenwart,  sammelt  seine  Kräfte  zum  Angritf  auf  Kant; 
ihn  niederzuringen  erscheint  als  die  grosse  Aufgabe  der  Zeit.  So 
ist  0.  Willmanns  Geschichte  des  Idealismus,  die  jetzt  in  drei  Bänden 
vollendet  vorliegt,  in  ihrer  historischen  wie  in  ihrer  kritischen  Dar- 
legung durchaus  auf  dieses  Ziel  gerichtet:  Kants  Philosophie  erscheint 
in  der  historischen  Betrachtung  als  der  tiefste  Punkt,  den  die 
Philosophie  auf  ihrem  Niedergang  seit  der  lutherischen  Kirchen- 
revolution erreicht  hat,  in  der  kritischen  Beleuchtung  als  ein  völlig 
haltloser,  widerspruchsvoller  Subjektivismus  und  Skeptizisnms.  Und 
der  Triumph,  womit  dieses  Werk  in  jenen  Kreisen  aufgenommen 
worden  ist.  scheint  sagen  zu  wollen:  der  Feind  ist  vernichtet,  der 
Protestantismus  auch  hier  geschlagen!  Kant  ist  abgethan,  es  lebe 
der  heilige  Thomas  und  die  philosophia  perennis! 

Unter  solchen  Umständen  wird  eine  Untersuchung  des  Verhält- 
nisses,   in  dem  die  Kantische  Philosophie    zum  Protestantisnms    und 


1)  Der  nachfolgende  Aufsatz,  zu  dem  der  Anstofs  von  dem  verehrten  Heraus- 
geber dieser  Zeitschrift  ausgegangen  ist,  behandelt  etwas  eingehender  ein  Thema,  das 
ich  in  meinem  eben  in  zweiter  Auflage  erschienenen  Buch  über  Kant  (in  From- 
manns philos.  Khissikemi  nur  gestreift  habe.  Darf  ich  hoffen,  dass  dieser  Auf- 
satz etwas  beiträgt,  K.ants  geschichtliche  Stellung  genauer  zu  bestimmen,  so 
muss  ich  andererseits  für  manches,  was  hier  einfach  hingestellt  oder  voraus- 
gesetzt wird,  mich  auf  jenes  Buch  berufen.  —  Über  das  gleich  zu  erwähnend 
Werk  von  0.  Willmann  habe  ich  mich  in  der  deutschen  Rundschau  (August  1898) 
ausführlicher  ausgesprochen.  —  Ich  weise  noch  hin  auf  die  vortreffliche  Schrift 
von  K.  Eucken,  Die  Philosophie  des  Thomcis  von  Aquino  und  die  Kultur  der 
Neuzeit  (1886),  wo  ebenso  einsichtig  die  Bedeutung  des  Thomas  für  seine  Zeit, 
als  die  Unmöglichkeit  für  unsere  Zeit,  sich  auf  den  Standpunkt  des  13.  Jahr- 
hunderts zurückzuversetzen,  gezeigt  wird.  Über  ,, Kants  Bedeutung  für  den 
Protestantismus"  s.  auch  Dr.  Katzer  (Hefte  zur  christl    Welt  1897 1. 

Kantstudien  IV.  1 


.1  Frirtlriili    I':iulscn, 

aiulen-rsoits  zur  katli.'lisolicn  riiilns<i|iliic  steht,  nicht  uii/citjrcniäss 
st'in.  K'h  nu'int',  dass  dir  rrotcstaiitisimis  keine  Trsaelie  hat.  der 
Kaniiselien  l'hih>sophie  als  seiner  t-ehten  Kriieht  sich  /,u  schämen, 
wie    andererseits   Kant    seine   Ahkunft    von    Luther    niclit    wird    \er- 

leuirnen  woUen. 

Kant  liat  sich  die  lü.lh'  eines  |)hihis(tphischen  \  (»rkäniiders  lilr 
den  l'rotestantisnuis  nidit  seiher  liei^rele^rt;  seine  Nei>:un^-  für  die 
prot«'stantische  Landeskirche,  der  er  äusserlich  an,::ehürte,  war  nicht 
::ross;  ersah  Uherhau|)t  seine  -reschichtliche  Stellung'  incht  vom  Stand- 
punkt des  kirchlichen  Lehens.  Dennoch  würde  er  die  Kcdle  auch 
nicht  ah_L'elehnt  hahen.  Kr  hätte  sich  wohl  unschwer  üherzeujren 
lassen,  dass  der  Dojrmatisnuis,  den  er  mit  den  Wurzeln  ausi,n'h(d)en 
zu  hahen  Uherzeufrt  war.  die  herrschende  WoltTische  Schulmeta|)hysik, 
zuletzt  doch  nichts  anderes  sei  als  ein  i'twas  ausfjearteter  Schösslin^^ 
der  scholastischen,  d.  i.  der  mittelalterlich-katholischen  Schulphilo- 
sophie: der  Nährhoden  heider  das  Verlanjren,  Glaulie  und  Wissen 
in  ein  einheitliches  System  zusammeuzuhie>ren,  oder  die  Grund- 
artikel des  kirchlichen  Lehrsystems  aus  der  Vernunft  ahzuleiten. 
Freilich  ist  ein  rnterschied  zwischen  Thomas  und  Woltl':  Thomas 
lecte,  hei  allem  Zutrauen  zur  \'erimnft.  zuletzt  den  Nachdruck  auf 
die  kirchliche  Autorität,  die  den  Glauhcn  feststellt,  während  Woltf 
der  Vernunft,  die  iirzwischen  in  der  He^^•o^hrinirun{:  der  modernen 
Wissenschaften  ihren  grossen  Befähiirungsnachweis  geführt  hatte,  das 
letzte  Wort  einzuräumen  geneigt  war.  Aher  für  eine  Betrachtung, 
die  darauf  ausgeht,  die  Begründung  des  Glauhens  durch  die  speku- 
lative Vernunft  üherhaupt  ahzuschafllen.  tritt  dieser  Unterschied  zurück; 
es  ist  eine  Verschiedenheit  der  Accentuation,  die  mehr  in  den  Zeit- 
umständen als  im  Prinzip  ihren  Grund  hat.  Gemeinsam  ist  beiden 
die  Grundform  des  Denkens,  der  rationalistische  Dogmatismus. 

Ich  versuche  zunächst  das  Verhältnis  Kants  zu  dieser  Gedanken- 
richtung durch  eine  kurze  begriffliche  und  geschichtliche  Darlegung 
ein  wenig  genauer  zu  bestimmen. 

Die  Frage  nach  dem  Verhältnis  der  Vernunft  zum  religiösen 
Glauben  lässt  eine  dreifache  Antwort  zu;  wir  wollen  sie  nennen: 
die  rationalistische,  die  semirationalistische,  die  irrationa- 
listische. Ich  bestimme  den  Sinn  der  Ausdrücke,  wobei  denn  selbst- 
verständlich ist,  dass  diese  begrifflichen  Schemata  mannigfache 
Variationen.  Annäherungen,  Ausgleichungen  zulassen. 

Der  Rationalismus  behauptet:  die  Vernunft  vermag  aus  sich 
allein  ein  System  absoluter  Wahrheit  hervorzubringen,   das  zugleich 


Kant  der  Philosoph  des  Protestantismus.  3 

den  Wert  eines  religiösen  Glaubens  hat.  So  J'lato  und  Aristoteles, 
und  im  Grunde  alle  griechischen  Philosophen.  So  in  der  Neuzeit 
vor  allem  die  spekulativen  Phihtsophen;  Hegels  Philosophie  nimmt 
zugleich  den  Wert  einer  Religion  in  Anspruch:  der  kirchliche  Glaube 
nur  eine  unvollkommene,  vorstelluiigsmässige  Form  derselben  Wahr- 
heit, die  in  ihrer  eigentlichen  Form,  als  absolutes  Wissen,  sich  in 
der  Philosophie  darstellt. 

Der  Semirationalismus  behauptet:  wenn  es  auch  ausser  der 
Vernunfterkenntnis  Wahrheiten  aus  anderer,  höherer  Quelle  giebt, 
aus  göttlicher  Offenbarung,  die  in  der  Kirche  fliesst,  so  sind  doch 
gewisse  allgemeine  Grundzüge  der  Glaubenslehre  durch  die  Vernunft 
als  wahr  zu  erweisen.  Wir  erhalten  auf  diese  Weise  eine  natür- 
liche Keligion  neben  der  geoffenbarten,  der  sie  zur  Grundlage 
dient.  So  Thomas  und  mit  ihm  Jetzt  einstimmig  die  katholische 
Kirche.  So  auch  die  dogmatische  Philosophie  des  17.  und  IS.  Jahr- 
hunderts, die  Descartes,  Locke,  Leibniz,  Wolff. 

Der  Irrationalismus  dagegen  behauptet:  die  Vernunft  kann 
mit  dem  blossen  Wissen  nicht  über  die  empirische  Wirklichkeit  hinaus; 
sie  weiss  nichts  von  Gott  und  göttlichen  Dingen;  die  Keligion  steht 
allein  auf  dem  Glauben,  nicht  auf  Beweisen.  —  Hierzu  neigt  die 
uominalistische  Richtung  in  der  Philosophie  des  ausgehenden  Mittel- 
alters. Auf  diesem  Boden  steht  Luther.  Auf  denselben  Boden  stellte 
sich  Kant. 

Ich  füge  dem  begrifflichen  Schema  ein  paar  Umrisse  der  histo- 
rischen Entwickelung  ein. 

Die  idealistische  Philosophie  der  Griechen  ist  ratio- 
nalistisch, in  doppeltem  Sinne.  In  formaler  Hinsicht:  Vernunft  ist 
die  einzige  Quelle  der  Wahrheit;  es  giebt  keine  Instanz  über  der 
Vernunft.  Und  in  materialer  Hinsicht:  die  Vernunft  führt  zu  der 
Erkenntnis,  dass  \'ernunft  das  absolute  Weltprinzip  ist.  Die  Wirk- 
lichkeit ist  in  ihrem  Wesen  ein  System  vernünftiger  Gedanken,  darin 
sind  Plato  und  Aristoteles  einig,  nur  dass  sie  den  Zusatz  des  „Anderen" 
zur  Konstruktion  der  sichtbaren  Welt  etwas  verschieden  fassen. 
Einig  sind  sie  auch  darin,  dass  die  menschliche  Vernunft,  abgeleitet 
aus  der  absoluten  Vernunft,  jene  kosmischen  Gedanken  zu  erkennen 
vermag.  Nähere  Bestimmtheit  erhält  diese  idealistische  Philosophie 
durch  ihren  Gegensatz,  die  materialistische,  die  in  den  Gedanken  bloss 
zufällige  Nebenvorgänge  sieht,  die  nicht  in  den  Dingen,  sondern  l)loss 
im  Subjekt  sind:    die  Dinge  an   sich  ein  System  von  gedankenlosen 

Atomen. 

1* 


4  KriiMlrifli  Paiilst.«  n, 

Dio  I'liiloso|)hi('  des  Mittelalters  ist  sciniratinnalistiscii.  \ Cr- 
miiit't  i>t  eiiu-  (Quelle  der  Wahrheit,  alter  nicht  die  eiiizi-;c;  Uher  der 
\eriuinlterkeimtnis  <:iel)t  es  eine  höhere  Wahrheit  aus  fröttlicher 
Hinirelniiiir;  die  OtVeidtaninj:  ist  der  letzte  Massstah  aller  Wahrheit. 
Doch  fuhrt  die  \  «Tiuiiilt  aus  sieh  seiher  auf  eine  Ansehauuuir  der 
Dinjre.  die  der  OfVenharuiii:  eiiti;-ej:enk(»Minit  und  den  Wei:-  bereitet.  Im 
hesenderen  erkemit  sie,  wie  die  jrntssen  «rriechischen  l'hil(»s(>|theii  ohne 
die  ühernatllrliohe  Krlriiclituni:  iresehen  hahen.  dass  der  (wund  der 
Dinire  in  einer  ewip'u  \einunt't  lie.irt.  Sie  zeif:t  ferner,  dass  die 
spezifischen  ileilslchreii  des  kirchlichen  (ilauhens.  wenn  sie  auch 
nicht  aus  der  \  ernunft  aliireleitet  werden  können,  doch  auch  nicht 
wider  die  N'ernunft  sind  (non  contra,  sed  supra  ratiouenj). 

Das  ist  die  Anschauunj:-.  die  in  der  Philoso|)hie  des  heil.  Thomas 
systematisiert  ist.  In  (iott  «riebt  es  eine  einheitliche  allumfassende 
Wahrheit;  dem  Menschen  wird  die  W^ihrheit  teils  durch  die  Ver- 
nunft, teils  durch  die  Oflenharunic  ^ejrehen.  Wissen  und  (41aul)en 
mlissen  sicii  hier  zur  Einheit  erjränzen.  Im  Gebiet  des  Wissens 
kann  Aristoteles,  der  Meister  derer,  die  da  wissen,  Führer  sein;  im 
Gebiet  des  Glauliens  ist  es  die  vom  Geist  Gottes  geleitete  Kirche. 
Für  das  irdische  Leben  ist  dies  der  gegebene  Zustand;  im  Zustand 
der  Vollendung,  der  himmlischen  Glorie,  geht  der  Glaube  in  das 
iSchaoen  über.  Und  man  kann  demnach  sagen:  der  Glaube  ist 
eigentlich  ein  bloss  vorläufiges,  bis  das  vollkommene  Erkennen  ihn 
überflüssig  macht.  Der  Form  nach  wäre  also  das  Erkennen  das 
Höhere,  dem  Inhalt  nach  freilich  ist  der  Glaube  das  Höhere:  die 
articuli  fidei  stehen  an  Wichtigkeit  und  Gewissheit  allem  irdischen 
Erkennen  voran. 

So  sind  in  dem  thomistischen  System  die  beiden  grossen  geistigen 
Inhalte  des  späteren  Mittelalters,  die  christliche  Religion  in  der  Form 
des  kirchlichen  Dogmas  und  die  griechische  W^issenschaft  in  der 
Gestalt  des  aristotelischen  Systems  in  eins  gearbeitet,  sich  gegen- 
seitig ergänzend  und  stützend:  die  Vernunft  unterbaut  den  Glauben, 
der  Glaube  bestätigt  und  ergänzt  die  Vernunfterkenntnis.  Die  spätere 
scholastische  Philosophie.  Duns  Scotus.  Occam,  haben  die  Einheit 
freilich  aufgelockert,  sie  haben,  dem  Zuge  der  kirchlichen  Ent- 
wickelung  selbst  folgend,  immer  stärker  die  autoritas  auf  Kosten 
der  ratio  betont,  behauptend:  die  Vernunft  sei  weder  imstande, 
den  Glauben,  auch  nicht  seine  allgemeinen  Grundartikel,  zu  beweisen, 
noch  sei  ihre  Mitwirkung  erforderlich,  da  die  Pflicht  des  Gehorsams 
gegen  die  kirchliche  Autorität  unbedingt  gelte.    Aber  nach  der  grossen 


Kant  der  Philosoph  iles  Protestantismus.  5 

Erschütterung  durch  die  Ketbriiiation  ist  die  Kirche  unter  der  Führung 
der  Gesellschaft  Jesu,  die  v(»n  Anfan-r  an  den  Thomas  zu  ihrem 
Philosctphen  erwählt  hatte,  auf  die  Seite  des  thomistischen  Systems 
getreten.  Die  beiden  letzten  Päpste,  Pius  IX.  und  Leo  XIII..  haben 
die  Philosophie  des  Thomas  zur  offiziellen  Philosophie  der  Kirche 
erhoben;  sie  beherrscht  jetzt,  seit  der  Encyclica  Aeterni  Patris  vom 
Jahre  1879,  in  allen  kirchlichen  Lehranstalten  den  ithilosophischen 
Unterricht. 

Man  wird  in  der  That  annehmen  dürfen,  dass  dies  für  die  Be- 
festigung der  kirchlichen  Autorität  das  zuträglichste  System  ist.  Der 
autoritäre  Absolutisnms,  wie  ihn  Occam  setzt,  hat  etwas  Gefährliches 
und  Revoltierendes.  Der  konziliatorische,  semirationalistische  Thomis- 
mus  beschwichtigt  die  Ansprüche  der  Vernunft,  indem  er  ihr  die 
Khre  der  Mitwirkung  bei  der  Bildung  des  allumfassenden  philosophisch- 
theologischen Systems  lässt.  Die  Widerstände  werden,  wie  bei  dem 
konstitutionellen  System,  innerlich  ül)erwunden.  Die  Vernunft,  in 
den  Dienst  des  Glaubens  gestellt,  und  durch  ein  höchst  kompliziertes 
dialektisches  System  zugleich  trainiert  und  ermüdet,  lernt  allmählich 
die  Selbstbescheidung  mit  Lust  üben;  und  die  kirchliche  Lehre  er- 
scheint so  von  allen  Seiten  als  die  unanfechtbare,  durch  Offenbarung 
und  Vernunft  gleichermassen  gegebene  Wahrheit.  Schliesst  man  die 
Vernunft  ganz  aus,  so  gerät  sie  leicht  auf  eigene  Wege  und  Abwege 
und  findet  zuletzt  an  ihren  eigenen  Gedanken  so  grosses  Wohlgefallen, 
dass  sie,  wenn  sie  sich  auch  um  des  Friedens  willen  äusserlich  der 
Autorität  unterwirft,  innerlich  doch  sich  völlig  emanzipiert  und  dann 
bloss  die  Gelegenheit  abwartet,  das  Joch,  das  sie  längst  hasst  und 
verh<»hnt,  gänzlich  abzuwerfen. 

Der  Protestantismus  ist  in  seinem  Ursprung  und  Wesen 
irrationalistisch:  die  Vernunft  kann  aus  sich  von  Glaubenssachen 
nichts  erkennen;  das  „Wort  Gottes"  ist  die  einzige  Quelle  des 
Glaubens;  die  Aufgabe  der  Vernunft  gegenüber  der  heiligen  Schrift 
ist  eine  reine  formale:  den  lauteren  Sinn  der  Schrift  festzustellen. 
Theologie  ist  })hilologische  Exegese,  graramatica  in  sacra  pagina 
occupata;  eine  rationale,  philosophische  Begründung  der  Heilswahrheit 
ist  weder  möglich  noch  notwendig.  Die  \ernunft  führt,  sich  selbst 
überlassen,  zu  einem  naturalistischen  Weltsystem,  das  Übernatürliche 
liegt  ausserhalb  ihres  Vermögens.  Also,  reinliche  Scheidung:  die 
Vernunft  lasse  von  den  heiligen  Dingen,  in  die  sie  nur  Verwirrung 
und  Dunkelheit  hineinträgt.  Die  natürlichen  Dinge,  das  ist  die 
Kehrseite  der  Ausweisung  aus  der  Theologie,    mag    sie    dann    nach 


6  Frioilrioh  I'auls.Mi. 

iliiTi-   riiroiu'ii   Kcircl    >'u-\\    /uicchtli'^^-ii ;    der  (llaiilir    kiiiiiiiicit    sicli 
nicht  um   I'liNsik   iiiitl   Kosmoloiric. 

Das  ist  Liitlirrs  AullassuiiL'.     Sic   hiin-i   mii  sciiiciii   tirlstcii  Kr- 
It'ltiiis   /iis;iiiiiiicii:      der  Mriiscli    wird    Nor    (lott    ircrccht  nicht  durch 
Wi'rkc.    sondern    alh-in    durch    (h'n    (M.-iuiicii.    den   Chiulicn    an    die 
Hannhcrzidvcit   Cott.'s   in  Christo.     Die  Vcnuiidt  denkt,  es   -cht  idcht 
ohne  Werke.  \venij:-slenv   imiss  sich  der  ^iite  WiHe  in   soh'hen   /ei-;en, 
dann    niai:  (iott    ilher  allerlei   .Män-cd   in   (inaden    hin\ve;:sehen.     So 
lehrte    auch    die   Kirche    und    leitete    dii>   (iläuhiucn    /u     deru-leichen 
iruten   Werken  an.     Luther  hatte  an  sich  die  Erfahrun};  {^oniacht,  dass 
es  auf  diesem   We-e    nicht    jj-in^-,    dass    er    so   nicht  zur  (rewissheit 
eines  irnädiiren  (iottes    kommen    konnte.     Er    schloss:    also    ist    die 
Vernunft  in  reliji-iösen  Dinizcn  ül)erhaui)t  hlind.     I'nd    die  Kirche   ist 
hlind.    dass  sie  der  \ernuutt    so    viel  iretraut  hat.     Das  j,^an/e  \"er- 
derheu.  worin  sie  lie^-t.  kommt  aus  ihrem  Zutrauen  zur  menschlichen 
Venmnft,  mit  deren  Hilfe  sie  den  (Tlauhen  in  ein  halh  wissenschaft- 
liches System  verwandelt  hat.    Hat  sie  doch  den  Aristoteles  zum  Lehrer 
in  allen  hohen  Schulen  «;-emacht.  den  blinden  Heiden,  der  von  Christus 
und  Erlösung:,    von  Sünde    und  Gnade   schlechthin  nichts  weiss,  der 
die  Ewig:keit  der  Welt  und   die  Sterblichkeit   der  Seele   lehrt.     Also 
hinaus  mit  der  falschen  Lehre,  mit  dem  Menschenwitz  philoso))hisch- 
theoloo:ischer  Schulsysteme,  mit  ihren  Spekulationen  Ul)er  Dasein  und 
W>sen  Gottes    und    sein  Verhältnis    zur  W'elt,    mit    dem  Heidentum 
der  Vernunftreligion    und    der  Vernunftmoral,    sie    hindern    nur    den 
Glauben  an  die  Ottenbarunn-  Gottes  in   der  Person  Jesu.     Alles  was 
der  Glaube  braucht,    das    ist    die  unmittelbare   Gewissheit,    dass    in 
Jesu  das  Wesen  Gottes,  seine  Barmherzigkeit  und  Gnade,  sich  offenbart 
und  uns  zu  seinem  ewigen  Reich  berufen  hat.    Um  eine  ungeheure, 
befreiende  Vereinfachung  handelt  es  sich,   mit  Harnack  zu  reden,  in 
der  Keformation.    um    die  Freimachung  des  religiösen  Glaubens  von 
der  Spekulation    und    den    so|)histischen    Künsten    der  Schulen    und 
Schulgelehrten.     „Das    dogmatische    Christentum    ist    abgethan.    und 
eine  neue  evangelische  Auffassung  an  die  Stelle  gesetzt." 

Dass  dies  zugleich  die  lüickkehr  zu  dem  alten  Evangelium,  dem 
„Christentum-'  Jesu  bedeutet,  wird  Luther  mit  Recht  in  Anspruch 
nehmen.  Nicht  als  philosojjhisch-theologisches  Lehrgebäude  ist  das 
Christentum  in  die  W^^lt  gekommen,  sondern  als  die  Ladung  zum 
Reich  Gottes,  als  die  Predigt,  den  Sinn  von  den  Gütern  der  Welt 
zu  den  ewigen  Gütern  zu  wenden.  Die  Abkehr  von  dem  Schul- 
geschwätz der  Schriftgelehrten    und  von  dem  ausgeklügelten  Gottes- 


Kant  der  Philosoph  des  Protestantismus.  7 

dienst  der  Pharisäer,  die  Hiinvendung  zu  den  Armen  and  Eiiitaltiiren 
bezeichnet  Jesu  Weg;  werdet  wie  die  Kinder,  entäussert  euch  eures 
Autputzes  mit  Gesetzeswissenschaft  und  Gesetzeswerken.  sonst  könnet 
ihr  nicht  in  das  Keich  Gottes  eini;ehen. 

Luthers  Anjrritl"  auf  die  Kirche  und  ihre  Wissenschaft  fiel  zeit- 
lich zusammen  mit  dem  Angrifl"  von  anderer  Seite:  der  Kationalis- 
mus und  Naturalismus  der  Kenaissance  brachte  den  ganzen  kirch- 
lichen Lehrl)etrieb,  die  Sophisten  der  l'niversitätsphilosophie  und 
-theologie  bei  den  Aufgeklärten  in  Verachtung.  So  brach  unter  dem 
konzentrischen  Angriti"  das  ganze  System  zusammen;  die  scholastischen 
Systeme,  Thomas  und  Scotus.  schienen  als  widerchristlich  und  wider- 
verniinftig  mit  der  ganzen  ..Barbarei  des  Mittelalters"  tür  immer  abgethan. 

Indessen,  eine  Jahrhunderte  alte  Denkgewöhnung  hat  tiefe 
Wurzeln  in  den  Gemütern;  aus  ihnen  schiessen  neue  Triebe  empor, 
wenn  der  alte  Stamm  vom  Sturm  umgeworfen  wird.  So  geschah  es 
hier.  In  der  katholischen  Welt  brachte,  wie  schon  erwähnt,  der 
Jesuitenorden,  der  t)ald  den  gesamten  gelehrten  Unterricht  in  der 
Hand  hatte,  die  ganze  thomistische  Philosophie  und  Theologie  in  den 
Schulen  wieder  zur  Geltung.  Und  auch  in  der  protestantischen  Welt 
hielt  der  Dogmatismus,  der  den  Glauben  in  ein  Lehrsystem  ver- 
wandelt, alsbald  wieder  seinen  Einzug.  Hat  doch  Luther  selbst  das 
alte  DoLniia  eigentlich  immer  als  den  zutreffenden  Ausdruck  des 
christlichen  Glaubens  angesehen  und  festgehalten.  Und  als  der 
Protestantismus  sich  in  neuen  Kirchen  äusserlich  befestigte,  führte 
das  Bedürfnis  nach  voller  Klarstellung  der  neuen  Lehre,  im  Unter- 
schied gegen  die  der  alten  und  der  abweichenden  neuen  Kirchen, 
wieder  zu  dogmatischen  Systemen,  die  um  so  mannigfaltiger  und 
komplizierter  wurden,  je  mehr  es  den  Neubildungen  an  der  Kraft, 
die  Lehre  durch  authentische  Deklarationen  zu  binden,  fehlte,  und  je 
grösser  dabei  doch  die  Wichtigkeit  war,  die  man  im  Protestantis- 
mus der  Reinheit  der  Lehre  beilegte.  So  drang  die  ganze  Scholastik, 
mit  allen  ihren  sophistischen  Künsten,  venvüstend  in  das  Gebiet  des 
eben  in  seiner  Freiheit  wieder  hergestellten  religiösen  (xlaubens  ein; 
Melanchthon  hatte  es  schaudernd  vorausgesehen,  ohne  es  abwehren 
zu  können,  ja  er  selbst  wurde  in  diese  Sophistik  aufs  tiefste  ver- 
strickt.' ) 

Und  mit  der  dogmatischen  Glaultenslehre  wurde  dann  auch  wieder 
eine    d o gm at istische    Philosophie    nötig,    die    ihr   den   erforder- 

1)  Hamack  hat  in  seiner  Dognien^esehichte  (111'*,  725  ff.)  dieses  tragische 
Verhängnis  der  Reformation  an  Luthers  Person  meisterlich  dargestellt. 


S  Kricdrii'li  Piiulscn. 

Ik'lifii  Afiparai  au  Itijrisclu'n  und  iiu'taplivsischcn  licjrrincii  /ur  \  vr- 
fiiiruni:  hielt.  Im  17.  Jalirlumdcrl  liahcii  wir  aiil'  allen  i>i(.tcstjiii- 
tisi'heii  l'nivfrsitiitcn,  -ran/,  cIhmlso  wie  aiil'  den  katiK.IiscIicn,  eine 
l'hilcsdphic,  die  als  aiicilla  tlu-tdo-riat'  Dienste  verriehtot;  sclion 
Melaiu'hthon  hat  da/u  die  aristotelische  i'hilosopjiie.  die  er  unter 
dem  ersten  Kintiuss  der  neuen  reliiriüsen  liewcf^un^'  mit  Luther  als 
heiduisehes  (ireuel  von  sich  ^^estossen   hatte,  /ungerichtet.') 

Auch    die    neue    l'hilosophie,    die    sich    im    17.  .lahrhundert    im 
Cartesianismus    ihre  erste  systematische  Form   -al».    k(uinte  sich  der 
Zeit  nicht  entziehen.  Auch  sie  strehte,  sichtbar  nanuMitlich  in  Lcil»niz, 
zwar    auf    der    einen  Seite    den  Anforderun^'en    der    neuen  Wissen- 
schaften irerecht  zu  werden,    andererseits  aber  auch  eine  der  Theo- 
loirie  accejjticrhare  philosophische  (irundierun<r  der  ail^iemeinen  Welt- 
anschauuui:  zustande  zu  hriniren.  So  entstand  die  ,,natUrliche''  Ileligion 
des    IS.  Jahrhunderts,    die    zur    „positiven"    Kelif,non    in    ähnlichem 
Verhältnis  steht,  wie  das  Naturrecht  zum  positiven  Jiecht:  ein  System 
alliremeiner,  durch  die  allgemeine  Menschenvernunft  hervorgebrachter 
Sätze,    das    dann    in    den   positiven  Religionen  und  Kechtsbildungen 
diese  oder  jene  konkrete  Ausgestaltung  annehmen  mag,  mit  welcher 
Anschauung  zugleich  die  Neigung    gegeben    ist,    das  Positive  gegen 
das  Allgemein-Vernünftige  als  die  minder  wichtige,  wohl  auch  ganz 
entbehrliche  Zuthat  anzusehen.   Leibnizens  Versuche  zur  Konziliierunn- 
der  Bekenntnisse  hingen  hiermit  zusammen.    Im  Fortschritt  der  Ent- 
wickelung  nahm  die  kritische  und  negative  Haltung  an  Stärke  zu;  die 
X'ernunft  gewann  das  Gefühl  der  Allgenugsamkeit,  zunächst  mit  der 
Meinung,    den    religiösen    Glauben    durch    „vernünftige    Gedanken" 
reinigen  und  wirksamer  machen,    ja  wohl  auch  ersetzen  zu  können. 
Das  ist  die  vorherrschende  Denkweise    in   der  protestantischen  Auf- 
klärung.   In  der  katholischen  Welt  kam  es,  bei  der  spröderen  Haltung 
der  Kirche,  zu  schroflerer  Entgegensetzung;   die  moderne  Philosophie 
brachte  das  Kirchenwesen  mit  seinem  philosophisch-theologischen  Lehr- 
systera  in  absolute  Verachtung.     Soweit  französische  Bildung  durch- 
drang, hören  wir  den  Refrain  des  ecrasez  l'infame;   die  Vernichtung 
des  veralteten,  die  Geister  niederdrückenden  Kirchenglaubens  ist  der 
erste  und  notwendigste  Schritt  zur  Erhöhung  der  Menschheit! 

Das  war  die    geschichtliche  Lage,  in    die    Kant    eintrat.      Die 
StelluDg,  die  er  zu  den  vorhandenen  Tendenzen  sich  gab,    ist  durch 

1)   Näheres    hierüber   im    ersten    Band    meiner    Geschichte    des    gelehrten 
Unterrichtes. 


Kant  der  Philosoph  dos  Prutestantismus.  9 

folgende  drei  Punkte  gegeben:  1.  Mit  der  fortgeschrittensten  Auf- 
klärung bekennt  er  sich  zur  Lehre  von  der  Autonomie  der  \'er- 
nunft:  sie  ist  die  selbstherrliche  Kichterin  in  allen  Fragen  über 
wahr  und  unwahr,  gut  und  böse.  Es  giebt  keine  Instanz  über  ihr. 
es  giebt  keine  Otfenbarung,  durch  die  sie  eingeschränkt  würde:  die 
Wahrheit  einer  etwaigen  Otlenbarung  könnte  wieder  nur  durch  die 
Prüfung  vor  der  theoretischen  und  praktischen  Vernunft  ausgemacht 
werden.     Insofern  ist  Kant  konsequenter  Rationalist.     Aber  er  ist 

2.  anti-dogmatistisch,  man  kann  auch  sagen:  anti-intellek- 
tualistisch.  Er  ist  überzeugt,  die  spekulative  \'ernunft  ist  nicht 
fähig,  den  religir»sen  Glauben  durch  taugliche  Beweise  zu  unter- 
stützen. Die  Wissenschaft,  das  Werk  des  gegebene  Thatsachen 
durch  intellektuelle  Funktionen  konstruierenden  Verstandes,  kann  nie- 
mals über  die  empirische  Welt  hinauskommen;  sie  kann  nicht  einmal 
über  eine  „erste  Ursache"  und  ihr  Wesen  etwas  feststellen,  wie 
es  auch  der  Deismus  eines  Voltaire  noch  für  möglich  hielt;  die  Ver- 
nunft führt  überhaupt  nicht  auf  eine  „erste"  Ursache,  wie  die  ratio- 
nale Kosmologie  meint,  sondern  nur  auf  Ursachen,  nach  deren  Ur- 
sache weiter  zu  fragen  immer  aufgegeben  bleibt.  Alle  Gottesbeweise, 
die  man  versucht  hat,  sind  daher  vergebliche  und  nichtige  Bemühungen. 
Insofern  ist  Kant  mit  Hume  konsequenter  Skeptiker.     Aber  er  ist 

3.  der  entschiedenste  Verteidiger  der  Möglichkeit  und  Notwendig- 
keit eines  praktischen  Vernunftglaubens.  Er  macht  eben 
den  intellektualistischen  Unglauben  zur  Grundlage  des  mora- 
lischen Glaubens.  Die  spekulative  Vernunft,  die  bisher  dogmatistisch 
war,  wird  in  ihm  kritisch;  indem  sie  ihre  Aufmerksamkeit  auf  ihre 
eigene  Funktion  richtet,  entdeckt  sie  Grenzen  ihres  Gebrauchs,  nicht 
von  aussen  abgesteckte,  sondern  durch  ihre  Natur  selbst  bestimmte 
Grenzen;  sie  sieht  ein,  dass  sie  nicht  über  die  den  Sinnen  ge- 
gebene Wirklichkeit,  das  ist  nicht  über  die  Welt  der  Erscheinungen 
hinaus  kann,  Sie  überlässt  darum  die  Bildung  letzter  Gedanken 
über  die  Wirklichkeit  selbst,  die  Bildung  der  Weltanschauung, 
der  praktischen  Vernunft.  Und  diese  bestiniiut  nun,  ausgehend  von 
dem  ihr  eigenen  Grundphänomen,  dem  absoluten  Sollen,  das  zugleich 
absolutes  Wollen  ist,  das  Wesen  der  Wirklichkeit  durch  die  Idee 
des  absolut  Guten;  die  Wirklichkeit,  wie  sie  an  sich  ist,  ist  Gott 
und  sein  Reich ,  das  Sittengesetz  das  Naturgesetz  des  Reiches  Gottes. 
Der  Glaube  an  Gott  somit  nicht  eine  beweisl)are  Theorie  des  Uni- 
versums, sondern  eine  unmittelbare  moralische  (iewissheit.  die  gänzlich 
ausserhalb    des    Gebiets    wissenschaftlicher    Erkenntnis    liegt.      Ein 


lo  KriiMlrioli  r.inlst'ii. 

Wesen,  das  nur  \  erstand  liiittf.  konnte  \(in  (Jott  niclits  wissen;  d;i- 
irofren  oin  Wesen,  das  /u^'leicli  der  inoraliselien  \\(dt  an^reliört,  wird 
notwi'ndii:  dit'  Wirkliidii<eit  als  von  (intt  und  /u  (lott  seiend  an- 
sehen. 

I>ass  hierin  /u  \(»ller  Klarheit  p'hraeht  ist.  was  im  ursprlln;^:- 
lii'hen  I'nifestantisnuis  in  seinen  (lrun<lt('ndt'n/,en  anirdcirt  war.  ist 
mir  incht  /wcilelhalt.  Zuerst  die  .\iit<innmie  der  ,.  \  friundV. 
Luther  nimmt  sie  entschieden  allen  irdischen  Autoritäten  j:ei:"eidil)er 
in  Anspruch:  Papst  und  Konzilien  können  irren.  Nicht  (d>enso  ent- 
schieden jreirenUhei-  der  P)il)el;  und  docli  stellt  er  si(di  au(di  ihr 
geireniii)er  auf  seine  (ilauhenslehre,  kritisiert  u\\{\  lehnt  im  ein/(dnen 
ab.  was  zu  ihr  nicht  stimmt,  freilich  (dme  es  hierin  zu  widerspruchs- 
loser Stelluni:-  zu  hrinücn.  Kant  zieht  die  letzte  Konse(iuenz:  das 
Wort  Gottes  in  uns  ist  der  letzte  Massstal)  des  Wahren;  ich  kann 
einer  Sache  i;ewiss  werden  theoretisch  nur  dadurch,  dass  mir  die 
empirische  Wirklichkeit  oder  die  lojrische  Notwendifi-keit  einleuchtet, 
praktisch  nur  dadurch,  dass  die  moralische  Notwendiirkeit  sich  mir 
unmittelbar  aufdrängt.  Dass  in  Christus  oder  in  der  Schrift  (xott 
sich  ot^enhart.  dessen  kann  ich  nicht  gewiss  werden,  als  dadurch, 
dass  ich  Jesu  Wesen  und  Leben  oder  den  Inhalt  der  heiliiren  Schriften 
mit  der  Idee  Gottes  zusammenhalte,  die  in  mir  ist.  Wer  das  nicht 
anerkennen  will,  der  muss  katholisch  werden,  wo  der  Glaube  nicht 
aus  der  überzeugenden  Gewalt  der  Sache,  sondern  aus  dem  Zutrauen 
oder  dem  Gehorsam  gegen  eine  äussere  Autorität  kommt. 

Protestantisch  sind  auch  die  beiden  anderen  Stücke,  der  Anti- 
Intellektualismus  und  der  \'oluntarismus.  Nicht  aus  dem  \'er- 
stande,  aus  logisch-metaphysisch-theologischen  Spekulationen,  oder 
auch  aus  historischen  Beweisen  ^on  der  Wahrheit  dieser  oder  jener 
Geschichte,  sondern  aus  dem  Herzen  kommt  der  Glaube;  er  ist  die 
unmittelbare  Gewissheit,  dass  Gott,  der  Gott,  wie  er  in  Jesus  in 
Menschengestalt  sich  darstellt,  nicht  ein  Gott  des  Zorns  und  der 
Rache,  sondern  der  Liebe  ist.  Darum  betont  Luther  so  stark  die 
Menschheit  Jesu:  was  wäre  mir  die  „erste  Ursache",  die  kosmische 
\'ernunft  des  Aristoteles;  für  nuch  ist  Gott  erst  dadurch,  dass  er 
mein  Bruder  im  Fleisch,  ein  Kind  in  der  Krippe  geworden  ist;  so 
allein  kann  ich  mich  ihm  nähern,  kann  ^'ertrauen  zu  ihm  fassen, 
mich  ihm  hingeben,  ihm  ähnlich  zu  werden  streben.  Dem  entspricht 
Kants  Wendung  von  der  Physikotheologie  zur  P^thikotheologie.  Feinen 
für  das  religiöse  Leben  wertvollen  Gottesbegritf  gewinnen  wir  nur 
durch  die  sittlichen  Attribute,  nimmermehr  durch  die  metaphysischen 


Kant  diT  Philosoph  des  l'rotestantismuii.  11 

Hestiinmuujrcn.  worauf  rationale  Kosinoloirii'  und  i)hysikotheologische 
Beweise  allein  führen  können.  Jene  aber  können  wir  allein  nehmen 
aas  dem  sittlichen  Hewusstsein  der  Menschheit.  Und  so  ist  ein 
symbolischer  Anthropomorphismus  die  notwendiice  Form  jedes 
relijriösen  (4ottes^laubens.  \\"\r  können  wissen,  dass  wir  in  der 
Mensehenjrestait,  auch  in  th-r  des  Messias,  nur  ein  Bild  von  Oott 
haben,  aber  wir  können  nur  einen  Gott,  der  in  solchem  Bilde  uns 
sieh  darstellt,  lieben  und  vertrauen.  Luther  hätte  darin  seine  Ge- 
danki'u  kaum  wieder  erkannt,  er  Idieb  schliesslich  doch  in  der 
Metai)hysik  der  Zweinaturenlehre  hanj^en.  ebenso  wie  er  in  der 
Abendmahlslehre  in  der  Metajihysik  hanjren  blieb,  dennoch  sind  es 
seine  Gedanken,  auf  einer  höheren  Stufe,  in  freierer  Zeit  mit  voller 
Klarheit  ii-edacht. 

Protestantisch  ist  endlich  auch  Kants  Moralprinzip:  der  Wert 
des  Menschen  liejrt  zunächst  in  der  Form  der  Willensbestinmitheit, 
nicht  in  der  Materie  des  Wollens.  im  Glauben,  nicht  im  Werk. 

Hierauf  will  ich  nicht  näher  eingehen.  Dagegen  m()chte  ich  noch 
mit  ein  paar  Strichen  die  Ursachen  andeuten,  die  Kant  zu  der 
grossen  Wendung  führten.  Sie  liegen  teils  in  der  Entwickelung  der 
Wissenschaften,  teils  in  Wandlungen  im  persönlichen  Empfinden. 

Durch  die  Entwickelung  der  Wissenschaften  seit  dem 
IH.  Jahrhundert  war  die  Aufgabe  einer  physisch -metaphysischen 
Substruktion  des  religiösen  Glaubens  mehr  und  mehr  ersehwert 
worden.  Die  geozentrische  Kosmologie,  welche  eine  anthropozentrische 
Interpretation  der  Welt  so  selbstverständlich  erscheinen  Hess,  war 
seit  der  Mitte  des  17.  Jahrhunderts  abgethan;  eine  physische  Er- 
klärung der  Entstehung  des  Planetensystems  war  die  seit  Newton 
gestellte  Aufgabe;  Kant  hatte  sich  in  seinen  jungen  Jahren  an  der 
grossen  Aufgabe  nicht  ohne  Erfolg  versucht  (in  der  Naturgeschichte 
des  Himmels.  1750).  Die  entwickelungsgeschichtliche  Autfassung  des 
Kosmos  zog  die  entsprechende  Betrachtung  für  die  Erde  und  die 
irdischen  Lebewesen,  den  Menschen  eingeschlossen,  nach  sich.  Ohne 
Zweifel  haben  sich  Kants  Gedanken  früh  in  dieser  Kichtung  bewegt; 
physische  Geographie  und  Anthropologie  gehörten  zu  seinen  Lieblings- 
studien, zu  seinen  bevorzugten  Vorlesungen.  Es  liegt  auf  der  Hand, 
wie  weit  solche  Gedanken,  auch  weim  sie  bloss  mi»gliche  Gedanken 
blieben,  von  den  Wegen  der  alten  physikotheologischen  Beweis- 
führung mit  ihrem  (iott  als  dem  grossen  Weltmechaniker,  der  erst 
die  Himmelskörper,  dann  die  Tiere  und  Pflanzen  auf  der  Erdober- 
fläche anfertiiTte.    abführen    mussten       Kant    hat   dies   früh  gesehen: 


I  •_>  Krietl  rir  li  Tau  1  scti, 

die  lu'rküiiinilii'lic  riiy^ikollicolti^ic  i>t  nicht  iiu-lir  /,ii  lialti'ii,  so  sajrt 
CT  in  der  Naturjxc'si'liii'htt'  des  lliiiimcls  aiits  licstiinnitcstc.  Kr  ver- 
sucht es  einen  Auirenliliek  mit  einer  ( >ntt»the(»I(i^'ie  (in  dem  ein/ij; 
inöjrlichen  Heweis'rrund  /.u  einer  I)enionstrati(»n  vom  Dasein  (iottes, 
17<)."V|.  Aller  auirenseheiidich  iriiii:  der  '/a\<j:  der  Zeit  in  eine  andere 
iiahn,  diT  (üanlie  an  metaphysische  Kunststtieke  war  im  Zeitalter 
\'oltaires  und  llumes  im  raschen  \ Crschwindeii.  Also,  der  alte 
physisch-nieta|thysische  Interliau  ist  dahin,  an  ihm  ist  nichts  mehr 
/.u   halten. 

So  bleibt  nur,  sidl  anders  reliiriöser  Olaube  überhaupt  er- 
halten bleiben,  eine  völlig  andere  Fundieruni,^  Das  ist  Kants 
WendunjT  von  der  Physiko-  zur  Kthikotheolo^ie.  „Moralische" 
Beweise  für  das  Dasein  (iottes  und  die  Unsterblichkeit  der  Seele 
waren  herkönunlich;  Kant  hat  sie  uniirebildet  zu  Jener  neuen  Be- 
trachtunirsweise:  alles  eiirentliche  Beweisen  ist  hier  ver^eldieh;  der 
Beweis  wendet  sich  mit  BejrritVen  an  den  Verstand,  Aber  der  Geist 
des  Menschen  jreht  nicht  auf  in  Begriffen;  ausser  und  über  ihnen 
bringt  er  Ideen  hervor,  Gedanken  von  dem,  was  sein  soll,  Gedanken 
von  Gütern  und  Werten.  Und  diese  Gedanken  kommen  zum  Ab- 
schluss  erst  in  der  Idee  eines  höchsten  Guts,  eines  Reichs  der  Zwecke; 
es  ist  dasselbe,  was  in  der  Sprache  des  relijriösen  Glaubens  das 
Reich  Gottes  heisst.  Und  damit  ist  gegeben,  dass  diese  Idee,  die 
mit  Notwendigkeit  von  der  \'ernunft  hervorgebracht  wird,  für  die 
Vernunft  Gültigkeit  hat.  Der  vernünftige  Geist  kann  nicht,  ohne 
sich  selbst  aufzugeben,  die  Idee  eines  Allguten  aufgeben,  in  dem  er 
selbst  und  seine  Arbeit  gesetzt  und  gesichert  sei.  Das  ist  der 
Glaube  an  Gott;  seine  Notwendigkeit  ist  mit  unserem  sittlichen 
Wesen  selbst  gesetzt;  sie  kann  nicht  von  aussen  aus  diesen  oder 
jenen  Thatsachen  der  Natur  oder  der  Geschichte  demonstriert  werden. 

Das  zweite  Moment,  das  in  diese  Richtung  trieb,  waren  persön- 
liche Erfahrungen  und  Empfindungen,  die  doch  auch  mit  den  Zeit- 
bewegungen in  Zusammenhang  standen.  Kant  stammte  aus  einem 
Elternhaus,  in  dem  praktische  Frömmigkeit  im  Sinne  des  eben  damals 
nach  dem  Osten  sich  ausbreitenden  Pietismus  herrschte;  er  hatte 
hier  die  Religion  ursprünglich  in  ihrer  den  Schulspekulationen  und 
dem  Theologengezänk  abgewendeten  Form  kennen  gelernt.  Wurde 
er  nun  auch  durch  den  nachfolgenden  theologischen  Unterricht  auf 
Schule  und  Universität  diesen  Anschauungen  entfremdet,  so  blieb 
ihm  doch  mit  der  Verehrung  der  Eltern  ein  lebendiges  Gefühl  für 
den  Wert  jenes  undogmatischen,  volkstümlichen,  in   Gesinnung  und 


Kant  der  Philosuph  des  Prutestautismus.  13 

Lebensfiihrunic  sich  auspriiirenden  Christentums.     Und  belebt  wurden 
diese  Emptiiidunjren  durch    die   Berilhruiij:    mit   dem   Kousseau'sehen 
Geist:   dass  der  Wert   und   die  Würde   des  Menschen   nicht   abhänge 
von  Kildun.ir   und  Gelehrsamkeit,    dass    die  Religion   eine  Sache    des 
Gefühls,  des  Her/eiis,  nicht  des  Verstandes  sei,   das   sind  Gedanken, 
die    ihm    hier    in    neuer,    durchaus    unkirchlicher  Jieleuchtung    nahe 
traten.     Kant  selbst  führt   auf  diese  Kimvirkung    einen  grossen  Um- 
schwung  in   seinem    Denken    zurück:    die    Vernichtung    des   Wissen- 
schaftshochmuts,   die  in  der  Lehre  vom  Primat  der  praktischen  Ver- 
nunft vor  der  spekulativen  den  systematischen  Ausdruck  gefunden  hat. 
Es  wird  ihm  nun  zur  gefühlsmässigen  Gewissheit,  dass  die  Wegfegung 
des    ganzen     dogmatistischen    Spinnengewebes,    womit    dünkelhafte 
Schulgelehrsamkeit    den    \erstand    und    den    (ilauben    gleichenveise 
überzogen  hat.  in   l)eider  Interesse  ist:  im  Interesse  der  Wissenschaft, 
sie   kann   dann  vidlig   ungehindert,    absichtslos   und    unbefangen   der 
Wahrheit  auf  ihrem  (Tebiet  nachgehen;    aber  nicht  minder  im  Interesse 
der  lieligion  und  des  Glaubens,  denen  alle  jene  dialektischen  Künste 
eigentlich    immer    bloss    den  Zweifel    auf  den  Hals   gezogen   haben. 
Besonders  wirken    sie  so  im  Jugendunterricht:   derjenige,   der,  wenn 
ÜHii   nacii  absolviertem  Religionsunterricht  skeptische  Schriften  in  die 
Hände  kommen,  „nichts   als  dogmatische  Watfen  mitbringt,    und    die 
verborgene  Dialektik,  die  nicht  minder  in  seinem  eigenen  Busen,  als 
in  dem  des  Gegenteils  liegt,  nicht  zu  entwickeln  weiss,  sieht  Schein- 
gründe,  die   den  Vorzug  der  Neuigkeit  haben,    gegen  Scheingründe, 
die  dergleichen    nicht    mehr  haben,    sondern  vielmehr   den  Verdacht 
einer  missbrauchten  Leichtgläubigkeit  der  Jugend  erregen,  auftreten. 
Er  glaubt  nicht  besser  zeigen  zu   kitnnen,    dass   er  der  Kinderzucht 
entwachsen  sei.    als  wenn  er  sich   über  jene   wohl  gemeinten  War- 
nungen  hinwegsetzt,    und,    dogmatisch   gewöhnt,    trinkt  er  das   Gift, 
das  seine  Grundsätze  dogmatisch  verdirbt,  in  langen  Zügen  in  sich." 
(Kr.  d.  r.  V.  Methodenlehre  L  2). 

So  zertrümmert  er  denn,  in  gutem  Glauben,  damit  der  Religion 
einen  Dienst  zu  thun.  den  ganzen  alten  spekulativen  Unterbau  des 
Glaubens,  die  dogmatistische  Schulphilosophie. 

IL 

So  viel  über  Kants  Stellung  zu  diesen  Fragen.  Wie  sollen  nun 
wir  uns  zu  ihnen  stellen? 

Es  ist  meine  innerste  Überzeugung,  dass  alles  dies  im  wesent- 
lichen für  uns  unaufgebbare  Wahrheit  ist. 


j.j  Krif«iiii-li  l':iulson. 

ZuiTst,  (He  AutKiioniic  der  Nfriiunft,  W(»raii  iNt  Ncutliumisinus 
Williiiamis  sti  jrmsson   Anstoss  nimmt,   dass    vr   sie   iM'inalu'  lilr  alles 
Inlu'il  vcraiitwt'itlieh  maclit.  das  seit  dt-r  Kctormatictii  sich  zu^^etrajren 
hat:   wir  können    sie    nieht  autVelten.    wir  künncn    niehl  /.um  Scnii- 
raliiMiali-iuiis   des   Tlioiuas   /.iirih-k.   /.iir   riitcrstcllun;:-  dfr   \  n-nunTt 
unter   (ine    äussere,    eine    mensehliehe    Autorität.       Denn    darum 
handelt  es  siili   allein;    (iott  spricht  zu  den  Menschen    nur  durch  die 
Stinnne  von  Mensehen;  wer  inuner  behauptet,  ilass  er  eine  Walirheit 
•rüttliehen   Irsprunirs  verkünde,    der    sa{,^t    damit    nur.    dass    er   das, 
was    er    als    Wahrheit    erkemit,    absolut    zu    setzen    entschlossen    sei. 
Also:    iriebt  es  eine  Instanz   auf  Erden,    die    für   uns   in  Sachen  des 
Glauliens  und    des    Denkens    entscheidet,    deren    Entscheidungen  an- 
zunehmen  sind,    auch   wenn  wir   ihre   Wahrheit   oder  Notwendigkeit 
nicht   mit    persönlicher  Gewissheit    empiinden,    bloss    auf  Konto   des 
schuldigen  Gehorsams  V     Das  ist  die  Frage,   die  Thomas,   soviel  Zu- 
trauen  er    der   Vernunft    im    einzelnen    schenken    mag,    bejaht,    die 
Frage,  welche  die  Neuthomisten,  denen  das  grosse  Schisma  von  Ver- 
nunft und  Autorität  ihre  Stellung  giebt,  mit  noch  viel  grösserer  Be- 
flissenheit bejahen.      Ein   Protestant,    ein   Philosoph    kann    sie   nicht 
bejahen:   es  giebt  auf  Erden    keine   unfehlbare  Lehrautorität   und  es 
kann   sie   nicht  geben;    Philosophie   und  Wissenschalt    müssten    sich 
selbst  aufgeben,  um  sich  dazu  zu   l)ekennen. 

Natürlich,  es  giebt  praktische  „Unfehlbarkeit"';  der  Staat  nimmt 
sie  für  seine  Gesetzgebung  und  Rechtsprechung  notwendig  in  An- 
spruch. Aber  er  beansprucht  nicht  theoretische  Unfehlbarkeit;  Gesetz- 
geber und  Kichter  wissen,  dass  sie  irren  können,  und  es  ist  jeder- 
mann erlaubt  zu  glauben  und  zu  zeigen,  dass  sie  in  diesem  Fall 
irren.  Ebenso  glaube  ich  in  tausend  Dingen  fremder  Autorität,  ich 
lasse  mich  von  denen,  die  ich  für  sachkundig  und  wahrhaft  halte, 
belehren  und  nehme  auf  ihr  Zeugnis  die  Wahrheit  dieser  oder  jener 
Aufstellung  an,  auch  in  grossen  und  wichtigen  Angelegenheiten;  aber 
mein  Glaube  beruht  auf  spontaner  Zustimmung  meiner  Vernunft  und 
meines  Gewissens,  ich  selbst  bin  es,  der  die  Autorität  für  mich 
macht;  und  ich  mache  sie  nur  von  Fall  zu  Fall,  ich  behalte  mir  die 
Prüfung  jedes  Punkts  vor,  wenn  ich  sie  auch  nicht  überall  ausführen 
kann.  Dagegen,  eine  Instanz,  die  durch  ihre  Erklärungen  über  wahr 
und  unwahr,  über  gut  und  böse  ein  für  allemal  meine  Vernunft  und 
mein  Gewissen  bände,  die  mich  verbände  zu  glauben,  was  ich, 
meiner  eigenen  Vernunft  mich  bedienend,  für  unwahr  halte,  die  kann 
es  nicht  geben,    die  kann   ich   nicht  anerkennen,    ohne    mich   selbst, 


Kant  der  Pliilosuph  des  Protestantismus.  15 

ohne  die  Krone  meines  Menschentums,  die  Selbstgewissheit  des 
Geistes  aufzugeben.  L'nd  wenn  ich  dem  Inhalt  nach  alles  glaubte, 
was  die  Kirche  oder  der  Tapst  lehrt,  das  eine  kiinnte  ich  nicht 
glauben,  dass  sie  unfehlbar  seien:  es  schlösse  den  Entschluss  ein, 
mich  ein  für  allemal  eines  selbständigen  L'rteils  über  das,  was  jene 
jemals  für  wahr  und  unwahr,  für  gut  und  böse  erklären  mögen,  zu 
begeben,  es  wäre  der  definitive  Verzicht  auf  den  Gebrauch  meiner 
Verimnft  und  meines  Gewissens.  Dass  ich  innerlich  nur  durch  meine 
Vernunft  und  mein  Gewissen  gebunden  bin,  nicht  durch  irgend  eine 
menschliche  Instanz  ausser  mir,  das  ist  die  Magna  Charta  des  Pro- 
testantismus. 

In  den  soeben  erschienenen  Gedanken  und  Erinnerungen  (II,  126) 
erzählt  Bismarck  von  einer  Unterredung,  die  er  einmal  mit  dem 
Bischof  Ketteier  hatte.  Der  Bischof  stellte  ihm  die  Frage:  ..Glauben 
Sie  etwa,  dass  ein  Katholik  nicht  selig  werden  könne?"  um  an  die 
er>vartete  Verneinung  daini  die  Belehrung  knüpfen  zu  können,  dass 
nach  katholischem  Glauben  ein  Ketzer  allerdings  nicht  selig  werden 
könne,  der  Katholik  also  jedenfalls  sicherer  gehe.  Es  ist  die  be- 
kannte ., Wette  Pascals"':  wenn  eine  Messe  hören  auf  keinen  Fall 
schaden,  möglicherweise  aber  notwendig  sein  kann  für  das  jenseitige 
Heil,  dann  wählt  der  kluge  Mann  das  Sichere.  Bismarck  aber  gab 
statt  der  erwarteten  die  etwas  unbequeme  Antwort:  „Ein  katho- 
lischer Laie  unbedenklich;  ob  ein  Geistlicher,  ist  mir  zweifelhaft; 
in  ihm  steckt  die  .Sünde  wider  den  heiligen  Geist,  und  der  Wortlaut 
der  Schrift  steht  ihm  entgegen"  —  worauf  der  Bischof  sich  mit 
höHich  ironischer  Verbeugung  empfahl.  Wollte  Bismarck  damit 
sagen:  die  bewusste  Wegwerfung  des  eigenen  Urteils,  der  geistigen 
und  sittlichen  Selbständigkeit  und  Selbstverantwortlichkeit,  wie  sie 
der  Geistliche  mit  der  Unterwerfung  unter  eine  unfehlbare  Autorität 
leiste,  sei  die  Sünde  wider  den  heiligen  Geist?  Wenn  er  es  hat 
sagen  wollen,  so  hätte  er  damit  dem  Katholizismus,  aber  nicht  nur 
diesem,  sondern  jeder  l)linden  Gehorsam  in  .\nspruch  nehmenden 
Gewalt  eine  höchst  ernsthafte  Lehre  gegeben:  blinder  Gehorsam  in 
Sachen  des  Glaubens  und  des  Gewissens  ist  die  Sünde  wider  den 
heiligen  Geist,  die  Verstockung  des  Herzens  gegen  die  Wahrheit. 
Die  Lehre  von  der  Unfehlbarkeit  ist  daher  in  ihrem  Wesen  wider- 
sittlich und  die  Anerkennung  dieser  Lehre  ebenso,  sie  bedeutet 
grundsätzlich  die  Auslieferung  des  Gewissens  und  der  Vernunft  an 
eine  äussere  Instanz,  die  Vernichtung  seines  geistigen  Selbst. 

Die  Lossafruns:  von   der  Unfehlbarkeit  der  Kirche,  die  Erklärung 


Ii;  Friedrii-h  l'.'iiilscn, 

(li>s  ciLaMirii  (Je\vissen><  /iir  lot/.ti'ii  Instan/,  in  sittlicIuMi  Dinircii.  das 
i^t  LutluMs  Tliat.  (las  ist  die  Mairiia  ("iiarta  der  I-'i-cilu-it.  die  auf" 
(U'iii  Tairc  /u  Wt'rins  erkäiii|)lt  wdidoii  ist.  Sic  ist  soitdnn  oft  ver- 
<;essi'U.  NfficuuMiet.  ircsclunäiit  \V(»rdtii.  und  doidi  datiert  \oii  diesem 
Taire  eine  neue  Ära  der  (lesehiehte  der  IMensehhoit.  An  iluu  ist 
fonnell  das  ewip'  und  uiiaut'jreltltare  Kecht  des  (Jeistes  auf  Walir- 
liaftiiikeit  und  Wahrheit  prolvlaniiort  worden.  Auf  Wahrhalti.irkeit: 
die  Krklärun.u-  des  Kntsehlusses,  sieli  allein  /u  unterwerfen,  was  die 
Kirche  je  irelehrt  hat.  lehrt  uiul  lehren  wird,  sehliesst  den  lOntschluss 
ein.  auch  das  für  wahr  /u  halten  und  zu  l)ekennen.  dessen  innere 
oder  äussere  l'nwahrheit  sich  der  unitestoehenen  \'ernunft  hei  tmhe- 
tauirener  Prüfunir  erjriebt.  oder  also  den  Entschluss,  einer  ernsthaften 
l'rüfunir  auszuweichen,  wann  und  wo  innner  die  Kirche,  d.  h.  die 
von  den  auirenhlicklichen  Inhabern  der  Kircheniicwalt  bestellten 
Richter  über  theolopsche  oder  wissenschaftliche  Lehrmeinung-en  g:e- 
sprochen  haben. 

Und  mit  dem  Verzicht  auf  die  volle  Wahrhafti.^ikeit  ist  auch 
der  N'erzicht  auf  die  Wahrheit  gegeben.  Die  Förderung;  der  Wahr- 
heit, die  Vertiefung  der  Erkenntnis  setzt  die  unbefang:ene  Trüfung 
Jeder  geltenden  Ansicht  voraus;  wer  von  vornherein  bestinnnte  Be- 
hauptungen, die  durch  die  äussere  Autorität  festgestellt  sind,  der 
I^rüfung  entzieht,  der  verzichtet  mit  Wissen  und  Willen  auf  alle  Be- 
lehrung, welche  dem  Geist  aus  solcher  Prüfung  erwachsen  kann. 
Und  der  innere  Habitus  der  Submission  unter  eine  äussere  Autorität 
entnmtigt  die  Vernunft  überhaupt,  neue  Wahrheit  imn  auch  ausser- 
halb des  umzäunten  Gebiets  zu  suchen.  Es  wird  nicht  Zufall  sein, 
dass  fast  alle  Erweiterung  und  ^■ertiefung  der  wissenschaftlichen 
Erkenntnis,  welche  die  Neuzeit  bis  auf  diesen  Tag  gewonnen  hat, 
nicht  auf  katholischem,  sondern  auf  protestantischem  oder  ketzerischem 
Boden  erwachsen  ist.  Das  Klima  der  Unfehlbarkeit  ist  der  wissen- 
schaftlichen Forschung  nicht  zusagend.  So  freundlich  die  Kirche 
sich  zur  Förderung  der  Wissenschaft  erlueten  mag,  sie  hat  Keine 
glückliche  Hand.  Scheint  sie  mit  der  einen  Hand  aufzumuntern,  an 
die  Arbeit  zu  gehen,  so  droht  sie  schon  mit  der  andern:  aber  dass 
eure  Ergebnisse  mit  meiner  Lehre  stimmen!^) 

V)  Man  sehe  in  der  C'onstitutio  dogmatica  de  fide  catholica  des  Vati- 
kanischen Konzüs  vom  Jahre  1870  das  Kapitel  IV:  de  fide  et  ratione  nach. 
Da  wird  zuerst,  in  thomistischer  Denkweise,  von  einem  duplex  ordo  coj^ni- 
tionis.  Erkenntnis  aus  der  natürlichen  Verunft  und  aus  dem  Glauben  geredet; 
und  die  Vernunft  wird  gelobt,   dass  auch  sie  selbst  von  den  göttlichen  Dingen 


Kant  der  Philosuph  des  Protestantismus  ^7 

Nicht  ganz  i?n  unhediugt  verniafr  ieh  Kant  in  dem  zweiten  Stück, 
dem  Anti-intelh'ktualismus,  dem  Verzieht  auf  spekuhitive  Meta- 
physik zu  foljren.  Aller(lin;rs.  im  wesentlichen  triH't  er  auch  hier 
das  Hechte:  der  Ahschluss  der  Weltansehauun«:  wird  nicht  durch 
den  blossen  Verstand,  sondern  durch  das  «ranze  Wesen,  mit  P^inschluss 
der  Willensseite,  der  praktischen  N'ernuntt,  wie  Kant  sagt,  getrotten, 
.la.  entscheidend  ist  in  letzter  Instanz  der  Wille,  natürlich  nicht  eine 
leere  Willkür,  oder  eine  einmalige  Entschliessung,  sondern  die  (rrund- 
richtung  des  ganzen  Wesens  und  Willens:  durch  sie  wird  der  Aus- 
schlag für  eine  der  grossen,  möglichen  Richtungen  der  Welt-  und 
Lel)ensanschauungen  gegeben.  So  hängt  im  besonderen  die  Ent- 
scheidung für  eine  idealistische  Weltinterpretation,  für  die  Behaup- 
tung: die  Wirklichkeit  sei  die  Kealisierung  eines  vernünftigen  Sinnes, 
den  wir  anzuerkeimen  vermögen,  nicht  von  der  verstaudesmässigen 
l'ntersuchung  der  Wirklichkeit  ab,  sie  ist  nicht  das  Ergebnis  eines 
logischen  Käsonnements  oder  einer  blossen  Kombination  empirischer 
Thatsachen.  sondern  vielmehr  einer  Neigung  oder  Entscheidung  des 
Willens,  das  Wort  in  jenem  Sinne  genommen.  Die  herkönmilichen 
verstaudesmässigen  Beweise  für  eine  solche  Behauptung,  darin  hat 
Kant  recht,  nötigen  den  Verstand  nicht  so  zn  denken.  Weder  die 
ontologisch-kosmologische  Demonstration,  noch  dasphysikotheologische 
Argument  ist  ein  wissenschaftlich  zulänglicher  Beweis  für  die  Wahr- 
heit einer  theistischen  Weltauffassung;  noch  weniger  können  auf  diese 
Weise  die  moralischen  Attribute   einer  Gottheit  für  den  Welturheber 


etwas  zu  erkennen  vermag,  noch  mehr  von  den  natürlichen:  quapropter  tantum 
abest.  ut  Ecclesia  huuianarum  artiiim  et  discipiinarum  cuiturae  obsistat;  ut  hanc 
multis  modis  juvet  atque  promoveat.  „Auch  verbietet  sie  durchaus  nicht,  dass 
diese  Wissenschaften  jede  in  ihrem  Kreis,  ihre  eigenen  Prinzipien  imd  Methoden 
in  Anwendung  bringen."  Aber  freilich,  sie  wacht  zugleich  mit  Fleiss  darüber,  ne 
divinae  doctrinae  rei)ngnando  orrores  in  se  suscipiant  aut  fines  proprios  trans- 
gressae  ea  quae  sunt  tidei  occupent  et  perturbent.  Also  Freiheit  der  Forschung, 
nur  dass  über  ihre  (Frenzen  und  ihre  Ergebnisse  das  letzte  Wort  die  Kirche 
spricht.  Und  von  hier  erhält  dann  jene  voraufgegangene  Formel:  nulla  umquam 
inter  fidem  et  rationem  vera  dissensio  esse  potest.  da  derselbe  Gott  den  Glauben, 
aber  auch  die  Vernunft  gegeben  habe,  ihre  Auslegung:  wenn  ein  Zwiesi)alt  sich 
zu  ergeben  scheint,  so  hat  man  es  eben  nicht  mit  Aussprüchen  der  \'ernunft 
(eflata  rationis),  sondern,  mit  thörichten  Einfällen  (opinionum  commenta) 
zu  thun.  Sicherlich,  so  ist  aller  Zwiespalt  gleich  gehoben.  Freilich  muss  man 
sich  nun  nicht  wundern,  wenn  die  so  angekettete  Vernunft  nicht  sehr  be- 
hende und  erfinderisch  für  neue  Wahrheiten  sich  erweist.  Kettenhunde  taugen 
zur  Jagd  nicht;  sie  werden  auch  nicht  dazu  verwendet,  sondern  fremde  J^in- 
dringlinge  anzufallen. 

KanUtadiea  IV.  ^<i 


jv;  KritMlricli  r.nilst'n, 

aUbiireiiKU'ht  wrrdt'n.  Ks  wird  iniinor  iiinnJiirlich  sein,  Itir  den  Ver- 
stand ontschcichMid  dar/iithuii.  dass  der  Wcltlauf  auf  die  \  t  rwirk- 
lifhuiiL'  dessen,  was  wir  als  liiu'hste  (itltor  oder  Werte  eni|»fin(len, 
"•erit-'litet  sei.  Einerseits  ist  hierzu  unsere  Hekaniitschalt  mit  dem, 
was  wir  ..Welt"  nennen,  all/.u  einfresehräidvt  und  dlirltiir.  Dann  aber 
wollen  sieh  aueh  in  dem  Geldet,  das  wir  ein  weniü-  kennen,  die 
Thatsaehen  doeh  ^'ar  nicht  zu  einer  BeweisfUiuninf;'  für  Jene  These 
zusannnensi'hliessen:  weder  in  der  physischen  Welt,  wo  der  mechanische 
Naturlauf  ohne  Vorzug;  wertvolle  und  wertlose  Hildunjren  hervorzu- 
hriniren  und  zu  vernichten  seheint,  noch  auch  in  der  f>-eschichtlichen 
Welt,  wo  das  Gemeine  und  Hitse  eine  so  grosse  Rolle  spielt,  dass 
das  ursprüuü-liche  Christentum  j^eneigt  war,  die  i)olitische  Welt  als 
eine  Domäne  des  Teufels,  des  Fürsten  dieser  Welt,  anzusehen. 

Wäre  die  Sache  anders,  könnten  wir  die  Geschichte  der  Mensch- 
heit verstehen,  wie  wir  den  Gang  eines  üramas  verstehen,  könnten 
wir  die  Natur  erklären,  wie  wir  eine  Maschine  erklären:  diese  und 
diese  Teile  so  gebildet  und  so  angeordnet,  dass  ihr  Zusannnenwirken 
diesen  uns  in  seinem  Wert  verständlichen  Erfolg  sichert,  dann 
möchte  die  spekulative  Vernunft  eine  idealistisch-theistische  Welt- 
anschauung begründen.  So  wie  die  Dinge  wirklich  stehen,  bei  dem 
heillosen  Dunkel,  indem  uns  jede  spekulative  oder  empirische  Unter- 
suchung über  die  Beziehung  der  Wirklichkeit  zu  dem,  was  wir  allein 
als  letzte  Güter  anerkennen  können,  lässt,  kann  die  Entscheidung 
für  die  Annahme  der  Abhängigkeit  des  Wirklichen  vom  Guten  nur 
in  der  Weise  geschehen,  dass  wir  von  unserem  wesentlichen  Interesse 
geleitet  sagen:  und  trotz  all  dieser  Unzulänglichkeit  glaube  ich  an 
einen  Sinn  in  den  Dingen,  an  eine  Macht  des  Guten  als  letzten  Grund 
der  Welt. 

Ja,  gerade  der  Widerspruch  der  empirischen  Wirklichkeit  gegen 
die  ideellen  Forderungen  giebt  nun  dem  Idealismus  seine  Form,  die 
Form  der  Transcendenz:  die  Natur,  wie  sie  den  Sinnen  sich  darstellt, 
ist  gar  nicht  die  wahre  Wirklichkeit,  sondern  ein  getrübtes  und  ge- 
fälschtes Abbild.  So  bei  Plato,  dem  ersten  Philosophen,  der  sich 
mit  Zorn  und  Entrüstung  von  der  W^elt,  wie  sie  ist,  von  der  Mensch- 
heit, wie  sie  sich  in  der  empirischen  Wirklichkeit  auf  dem  Markt  zu 
Athen  oder  auch  am  Hof  zu  Syrakus  darstellt,  abwendet;  so  auch 
bei  Kant,  der  mit  ähnlichen  Empfindungen  seiner  Zeit  gegenüber- 
steht. Sein  an  Rousseau  und  Hobbes  sich  anlehnendes  pessimistisches 
Urteil  über  den  Menschen,  wie  er  ist,  und  über  die  Zustände  in  der 
sogenannten    kultinerten    Gesellschaft,    mit    ihren    Kriegen    und   In- 


Kant  (1er  Philosojih  des  Protestantis^mus.  1<) 

trigueiu  ihrer  Neigung  zur  Lüge  und  zur  Heuchelei,  ihren  gemeinen 
Instinkten  und  Begierden,  oh  sie  nun  hei  Hof  oder  unter  dem  Herden- 
vith  der  Leibeigenen  leben,  ist  der  dunkle  Hintergrund  für  seine 
Idtale,  für  die  Idee  einer  Menschheit,  in  der  die  ethischen  Gesetze 
als  Naturgesetze  des  Willens  gelten. 

Auch  hierin    könnte   man    übrigens    einen    protestantischen  Zug 
sehen.     Der  Katholik    glaubt    an  die  sichtbare  Kirche,    in  ihr  hat 
er  das  Reich  Gottes  auf  Erden  als  empirisch  gegebene  Erscheinung. 
Der  Protestant  kann  nur  an  eine  unsichtbare  Kirche,  eine  Kirche  in 
der  Idee  glauben;    die  empirische  Kirche,  diesseits  wie  jenseits  der 
Grenzen  des  eigenen  Bekenntnisses,   ist  ihm  mit  zu  viel  Menschlich- 
keit und  Mangelhaftigkeit    behaftet,    als    dass    er  in  ihr  die  Gegen- 
wart   des    Reiches  Gottes    auf    Erden    erkennen  könnte.     So  glaubt 
Kant    an    eine    unsichtbare  Kirche,    an    ein    ethisches  Gemeinwesen 
unter    der    giittlichen    d.  i.   rein   moralischen  Gesetzgebung,    das   als 
Idee  der  vollendeten  Menschheit  zwar    nicht    schon   verwirklicht  ist, 
aber  der  Betrachtung  des  geschichtlichen  Lebens  und  der  geschicht- 
lichen Arbeit    die  Richtung  giebt.     Der  Protestantisnms  ist   „idealis- 
tischer"  als   der    Katholizismus,   der  allzu    geneigt    ist,    sich   an  der 
empirischen  Welt,  wenn  sie  nur  äusserlich  der  Kirche  sich  untenvirft,  ge- 
nügen zu  lassen.  Dem  Protestantismus  ist,  mit  der  Neuzeit  überhaupt,  das 
,.plus  ultra'-  als  Merkwort  eingeprägt.    Wie  die  geographischen  und 
kosmischen  Entdeckungen  den  begrenzten  physischen  Horizont  des  Mittel- 
alters aufgehoben  haben,   so  hat   die  erkenntnistheoretische  Betrach- 
tungsweise der  modernen  Philosophie  den  Realismus  der  Sinnenwelt, 
die  moralisch-religiöse  Vertiefung  der  Reformation  den  Realismus  des 
mittelalterlichen  Kirchentums  zerstört.     Überall  ist  Gesichtskreis  und 
Streben  über    die   Enge    der    gegebenen    Gegenwart    ins  Unendliche 
hinaus  erweitert. 

In  alledem  hat  Kant  recht;  in  alledem  ist  er  der  Exponent  der 
Geistes  der  Neuzeit  und  der  Reformation. 

In  einem  aber  werden  wir  über  Kant  hinausgehen  dürfen,  hinaus- 
gehen übrigens  eigentlich  auch  nur  über  den  Buchstaben  der  Kritik 
der  reinen  Vernunft,  nicht  aber  über  die  wirklichen  (bedanken  ihres 
Trhebers,  das  ist  die  schroffe  Ablehnung  Jeder  Erkenntnis  der  ..Dinge 
an  sich."  Es  mag  sein,  dass  Metaphysik  auf  dem  Wege,  den  sie 
im  18.  Jahrhundert  ging,  den  auch  Kant  sie  allein  gehen  lassen 
wollte,  unmöglich  ist:  auf  dem  Wege  der  a  priori  Demonstration  aus 
Begriffen.  Er  war  ihr  vorgezeichnet  durch  die  ihr  von  aussen  ge- 
stellte Aufirabe:  Gottes  Dasein  und  die  rnsterblichkeit  der  Seele  zum 


0% 


•20  FritMl  lii'li  raiilson. 

lU'huf  v'iucr  iKitiirlii'lu'ii  Kcli-ritui  /u  hcweiscii.  Dajrcp'ii  ist  es  der 
Vernunft  vielU'iolit  nielit  Uherliaupt  uninöirlioli.  auf  den  u^an/.eu  Unifanjc 
(lor  \on  der  Wissenschaft  ihr  zur  Schau  /utieführten  natürlichen  und 
•reistiiren  Widt  Itlickcnd.  li't/te  /usannnenfassende  (Jedanken  oder 
Hypothesen   iilier  Wesen    und  Zusannuenhanii'   aUer  Dinji-e  zu  bihlen. 

Ich  meine,  das  1'.).  Jahrhundert  ist  ndt  Kecht  hierin  doch  Avieiler 
etwas  zuversichtliclier  als  Kant;  ich  denke  dabei  nicht  allein  und 
nicht  so  sehr  an  die  si)ekulative  rhiloso|)hie.  die  den  <:anzen  Wirklich- 
keitsuvhalt  aus  Hej:ritVen  a  priori  zu  deduzieren  unteniahin.  als  an 
die  niannii;l'altii;en  Versuche,  von  unten  herauf  zu  philosojihieren, 
wie  sie  z.  B.  in  den  Systemen  Schopenhauers  und  Benekes,  Lotzes 
und  Fechners  vorliey-en.  Alle  diese  ^■ersuche,  abschliessende  Ge- 
danken aus  den  Thatsachen  zu  ziehen,  haben  innuer  wieder  auf  zwei 
Punkte  ireführt.  Jene  beiden  Punkte,  die  man  als  die  durchj-änjiiiien 
Ik'standstUcke  der  philosophischen  Weltanschauung-  seit  Plato  und 
Aristoteles  bezeichnen  kann:  1)  den  objektiven  Idealismus,  oder 
die  Ansicht,  dais  die  Wirklichkeit  nicht  in  der  Körperwelt  aufdrehe, 
sondern  in  ihrem  ei<rentlichen  Sein  dem  verwandt  sei,  was  wir  in 
unserem  ireistiu-en  Wesen  als  das  absolut  Wirkliche  erfahren  oder 
erleben;  2)  den  Monismus  oder  die  Ansicht,  dass  die  Wirklichkeit 
nicht  als  ein  Aggregat  unendlich  vieler,  zufällig  zusanmiengekommener, 
absolut  selbständiger  Substanzen,  sondern  nur  als  wesentliche  Einheit 
aufgefasst  werden  köime. 

Das  ist  nun  im  Grunde  auch  Kants  eigene  Metaphysik,  nur  dass 
er  sie  nicht  eigentlich  als  legitimes  Erzeugnis  der  spekulativen  Vernunft 
anerkennen  will.  Er  hat  den  mundus  intelligibilis  hinter  dem  mundus 
sensibilis,  aber  es  soll  sich  diese  intelligible  Welt  dann  der  intellectio 
eigentlich  doch  durchaus  entziehen.  Es  sind  zwei  Momente,  die  Kant 
bestimmen,  hier  stehen  zu  bleiben.  Das  erste  ist:  Metaphysik  ist, 
so  erfordert  es  ihr  Begritf,  Wissenschaft  a  priori.  Ein  blosser  Eigen- 
sinn, der  an  der  Etymologie  und  Geschichte  des  Wortes  haftet: 
warum  soll  nicht  Metaphysik  so  gut  als  Physik  von  den  Thatsachen 
ausgehen  —  wenn  sie  es  kann?  Das  zweite  ist:  Auch  der  Inhalt 
des  Seelenlebens  ist  bloss  Erscheinung,  nicht  die  Sache  selbst.  Eine, 
wie  mir  scheint,  unverständliche  Behauptung:  dass  Körper  Er- 
scheinungen von  etwas  sind,  was  an  sich  nicht  Körper  ist,  ist  eine 
verständliche  Behauptung,  denn  Körper  sind  uns  nur  durch  das 
Medium  der  sinnlichen  Wahrnehmung  gegeben;  aber  dass  eine  Vor- 
stellung oder  ein  Gefühl  eine  Erscheinung  von  etwas  sei,  was  an 
sich  nicht  Vorstellung   sei,   ist   eine  Behauptung,   die  eigentlich  doch 


Kant  dt.r  riiilosojih  des  Protestantismus.  21 

keinen  aiiircMiaren  Sinn  hat.  Saircn  wir  nun:  in  dem  eifrenen  Seelen- 
leben haben  wir  ein  StUt'k  Wirklichkeit,  wie  es  an  sich  selltst  ist, 
so  hindert  nichts  zu  denken,  dass  das  Wirkliehe,  was  unserer  sinnliehen 
Autlassunjr  sieh  als  Körper  und  Kewe^'un^  darstellt,  an  sieh  selbst 
unserem  Innenleben  verwandt  sei,  so  verwandt,  als  unserer  eifrenen 
Kiirj)erlichkeit  die  körperliche  Darstellung^  des  Andern. 

Das  alles  entspricht,  wie  jresajrt,  auch  Kants  wirklichem  Denken; 
auch  er  nimmt  an.  dass  das  Wirkliche  an  sich  selbst  geisti^'^er  Natur 
und  in  einer  substantiellen  Einheit  beschlossen  sei.  l'nd  nicht  nur 
setzt  sein  praktischer  Vernunftjrlaube  diese  Ansicht  der  Wirklichkeit 
voraus;  sondern  auch  seine  theoretische  Philosophie  gravitiert  von 
allen  Seiten  gejcen  einen  idealistischen  Monismus.  Die  Ethiko- 
theologie  ist  doch  nur  der  Sehlussstein  des  Kojrens:  Logiko- 
theologie.  Thysikotheologie,  Ästhetikotheologie,  wenn  man 
die  Wortbildungen  gestatten  will,  stellen  den  Unterbau  her.  Dass 
die  Vernunft  notwendig  über  das  empirisch  Gegebene  hinausgeht  zur 
Idee  eines  einheitlichen,  svstematischen,  Ideen  verwirklichenden  Welt- 
ganzen,  die  freilich  nicht  „objektive  Kealität"  (Darstellbarkeit  in  der 
Anschauung)  hat,  wie  ein  empirischer  Begritf,  gleichwohl  aber  ein 
notwendiger  Vernunftbegritf  bleibt,  ist  doch  das  letzte  Wort  der 
Kritik  der  reinen  Vernunft.  Und  die  Kritik  der  Urteilskraft  zeigt, 
wie  zwischen  Natur  und  Kunst  eine  wesentliche  Gleichartigkeit  statt- 
findet, sofern  einerseits  das  künstlerische  Genie  als  Naturkraft  schaftt, 
zweckmässige  oder  sinnvolle  Einheit  hervorbringend  ohne  Absicht, 
sofern  andererseits  die  organischen  Bildungen  der  Natur  von  uns  nicht 
anders  als  nach  Ideen  erzeu<rte,  nicht  durch  den  blossen  Natur- 
mechanismus  entstandene  Produkte  aufgefasst  werden  können. 

Doch  ich  kann  diese  Gedanken  hier  nur  andeuten.  In  meinem 
„Kant'-  findet  man  sie  weiter  ausgeführt.  Ich  habe  dort  gerade  dieser 
Seite  der  Kantischen  Philosctphie,  die  oft  beinahe  ganz  übersehen 
wird,  der  dem  IMatonismus  zugewendeten  Seite  seines  Denkens,  eine 
etwas  breitere  Darstellung  gewidmet.  In  der  inhaltlichen  Bestimmtheit 
seiner  Weltanschauung  steht  Kant  Plato  und  Leibniz  sehr  viel  näher 
als  einem  skeptischen  Agnostizismus.  Ja  er  steht  ganz  auf  ihrem 
Boden;  er  giebt  im  Grunde  der  idenlistisch-theistischen  .Metaphysik 
nur  ein  anderes  Vorzeichen:  nicht  demonstrierbare  Verstandeserkenntnis, 
sondern  praktisch  und  theoretisch  notwendige  Vernunftidee. 

Was  dies  zu  sehen  verhindert,  das  ist  auf  der  einen  Seite  der 
skei)tische  Agnostizismus  der  Exakten,  auf  der  andern  Seite  die 
scholastische    Demonstriersucht    der   Neuth(miisten.     Jeder    sieht   mit 


•  )v)  Krii'd  ri«'h   l^iulson. 

sriiu'n  Auirt-'H.  mir  dass  die  erste  (Irupid-  Kant  /ii  dein  Ulriken  v.u 
nuu'lieu  bestrebt  ist.  die  andere  dai:-ei:en,  Willmami  jet/.t  au  ihrer 
Spit/.e.  ilui  /.um  al)si'hre('kenden  Heis|)iel  ausstalliert,  um  daran  die 
^'enlerl»li^'hkeit  des  „Autonomismus"  zu  demonstrieren:  wer  dieser 
Kraidvlieit  einmal  verlalleii  sei.  der  müsse  denn  freilich  immer  tiefer 
al)\värts  in  den  Sultjektivismus.  Skeptizismus.  Nihilismus  geraten. 

III. 

Zum  ISc'hluss  ein  Wort  über  die  Fraji-e:  wie  stehen  die  Aus- 
sichten in  dem  Kampf  /wischen  Thomas  und  Kant,  oder  also  dem 
Kampf  zwischen  dem  katholischen  und  dem  protestantischen  l'rinzij»? 

Es  ist  nicht  zu  verkennen,  dass  der  Zeitlauf  manche  unerwartet 
i:-ünstii:-e  rmstände  für  den  Katholizismus  und  seine  Denkweise  ii-e- 
bracht  hat.  Die  Signatur  unseres  zu  Ende  gehenden  Jahrhunderts 
ist:  Glaube  un  die  Macht,  Unglaube  an  die  Ideen.  Am 
Ende  des  vorigen  Jahrhunderts  stand  der  Zeiger  der  Zeit  umgekehrt: 
der  Glaube  au  Ideen  war  allherrscheud.  Rousseau,  Kant,  Goethe, 
Schiller  die  Grossmächte  der  Zeit,  Heute,  nach  dem  Scheitern  der 
ideologischen  Revolutionen  von  1789  und  1848,  nach  den  Erfolgen 
der  Machtpolitik  gilt  das  Stichwort  vom  Willen  zur  Macht.  Der 
Macht  al)er  ist  die  Tendenz  zum  Absolutismus  eigen:  Zusannnen- 
fassung  der  Kräfte  zur  mechanisch-militärischen  Einheit,  Unterdrückung 
der  inneren  Widerstände,  damit  Unterdrückung  der  Individualität, 
das  sind  die  Züge  der  Machtpolitik, 

Zwischen  dem  Katholizisnms  und  dem  Absolutisnms  besteht  nun 
ein  Verhältnis  der  Wahlverwandtschaft:  der  Katholizismus  ist  auf  das 
Prinzip  der  absoluten  äusseren  Autorität  aufgebaut  und  darum  übt 
er  auf  alles,  was  zum  Absolutismus  neigt,  eine  unwiderstehliche  An- 
ziehungskraft; allem  was  an  die  Macht  glaubt,  imponiert  er  durch 
die  geschlossene  Einheit  eines  zielbewussten,  machtvollen  Willens. 
Der  Katholizismus  aber  hat  früh  die  Zeichen  der  Zeit  begriffen; 
mit  der  Revolution  oder  dem  bonapartischen  Cäsarismus  beginnt  sein 
Wiederaufsteigen  aus  der  Depression,  in  die  er  im  18.  Jahrhundert 
herabgesunken  war;  er  besann  sich  auf  sein  Prinzip,  die  Autorität; 
mit  den  Tagen  der  Restauration  war  seine  Zeit  gekommen.  Seitdem 
hat  das  Papsttum  unverrUckt  sein  Ziel  im  Auge  behalten:  eine  geistige 
Weltherrschaft,  gestützt  auf  das  Anlehnungsbedürfnis  der  Massen, 
den  Willen  zur  Macht  (verbunden  mit  dem  Gefühl  der  eigenen 
Schwäche)  bei  den  Regierenden.  Und  man  muss  gestehen:  er  hat 
sich  diesem  Ziel  in  einem  Maasse   genähert,   wie  es  noch  vor  einem 


Kaut  dor  Philusuph  des  Prutestantismus.  23 

MenschenalttT  cUt  Welt  völlig'  ungl;iul)lich  ersehieueii  wäre.  Der 
unfehlltare  Papst  rejriert  Jet/t  nicht  bloss  die  Kirche  mit  Priester- 
uuil  Mönchtuiii.  ohne  alle  iuiieren  Widerstände,  sondern  er  übt 
auch  auf  die  (redanken  der  Laien,  besonders  auch  der  Geliildeten 
unter  den  Laien,  einen  Einfiuss  wie  nie  zuvor.  Eine  katholisch- 
kirchliche Wissenschalt  und  Philosophie  und  eine  katholisch-kirch- 
liche Presse  ist,  vor  allein  in  Deutschland  seit  den  Ta^en  des  Kultur- 
kampfs, aufgekommen,  die,  einheitlich  geleitet,  rüstig-  bedient  und 
viel  gelesen,  ein  starkes  Gewicht  im  öffentlichen  Leben  gewonnen  hat. 

Zu  den  Mitteln  der  Herrschaft  dieser  ungeheuren  Macht  gehört 
nun  auch  die  neuthomistisehe  Philosophie.  Sie  ist  das  Mittel,  den 
Verstand  der  Studierenden  zugleich  zu  üben  und  zur  Unterwerfung 
unter  die  Autorität  zu  ziehen.  Ein  mit  weitem  Blick  und  grossem 
Scharfsinn  durchgeführtes  System,  das  der  Vernunft  weiten  Raum 
zur  BethätiiTuniT  lässt,  um  sie  zuletzt  immer  wieder  an  ihre  Grenzen 
zu  erinnern  und  auf  die  höhere  Quelle  der  Wahrheit  hinzuführen, 
ist  sie  ohne  Zweifel  zu  einer  Schulphilosophie  für  den  katholischen 
Klerus  in  hervorragendem  Maasse  geeignet.  Und  was  steht  dem 
gegenUberV  Eine  protestantische  Philosophie  in  dem  Sinne  eines 
einheitlichen,  die  Gemüter  beherrschenden  Systems  giebt  es  nicht. 
Hegels  Philosophie  war  die  letzte,  die  eine  derartige  Stellung  ein- 
genommen hat.  Seitdem  herrscht  Anarchie.  Ein  \'ersuch  der  Samm- 
lung um  Kants  Namen  hat  doch  bisher  auf  keine  Weise  der  be- 
stehenden Anarchie,  der  Zersplitterung  in  Fraktiönchen  und  Indivi- 
dualismen ein  Ende  gemacht. 

So  scheinen  die  Aussichten  für  den  Katholizismus  und  seine 
Philosophie  günstig  genug  /u  liegen:  seine  Streiter  zahlreich,  rührig, 
einheitlich  geleitet;  die  Gegner  uneinig  und  sorglos.  Und  dazu  hat 
jener  Bundesgenossen  im  feindlichen  Lager;  zuerst  die  Schwäche  der 
Regierenden,  die,  ohne  das  Selbstvertrauen,  das  allein  der  Glaube 
an  Ideen  giel)t,  nach  einer  Autorität  ausschauen,  bei  der  sie  ein 
Anlehen  aufnehmen  könnten;  bis  in  die  Kreise  der  nationalliberalen 
Politiker  geht  jetzt  die  Sehnsucht  nach  Anlehnung  an  die  Macht  der 
unfehlbaren  Kirche.  Sodann  die  geistige  Neurasthenie  der  Zeit,  die 
absolute  Ideenlosigkeit,  die  namentlich  unter  den  sogenaimten  Ge- 
bildeten herrschend  ist;  man  denke  an  die  innere  Haltlosigkeit,  wie 
sie  vor  ein  paar  Jahren  in  der  Leseepidemie,  die  ,,Keml)randt  als 
Erzieher'  oder  „Moderne  Kulturlügen-  hervorriefen,  oder  wie  sie  jetzt 
im  Nietzschekult  zur  Erscheinung  kommt:  die  Plakatphilosojjhie  ist 
das  Seitenstück  zur  Plakatkunst.     Bald  hier,  bald  dort  erschallt  der 


24  Frii'drirli  Paiilson, 

Kuf:  hier  ist  der  Heiland,  der  lu-iinlichc  Kaiser,  der  Wunderdoktor, 
der  alle  ri)el  der  kranken  Zeit  liciltl  l'nd  alshald  rennen  Tanscnde 
hinaus,  ilm  zu  sehen  und  verkünden  es  dann  in  allen  l'liittern:  siehe, 
wir  haben  ihn  jrefunden  I  Aber  nach  kurzer  Zeit  hat  sieh  der  Haufe 
wieder  verlauten  und  niemand  weiss  n\ehr  davon.  Kein  Zweifel, 
dass  dies  die  rechte  Geniiitsdisj)osition  ist,  kath(diseh  /.u  werden; 
man  erinnere  sieh,  wie  viele  unter  den  Komantikern  nach  den  wüsten 
Orden  der  Willkür  und  des  ireistiiren  Anarehismus  sich  vor  sieh 
seihst  in  den  Schoss  der  allein  selii:  machenden  Kirche  tiüchteten 
und  hier  zur  Kühe  kamen.  01t  nicht  auch  der  unglückliche  Nietzsche, 
wenn  er  es  erlebt  hätte,  zuletzt  auf  den  Weg  nach  Canossa  oder 
nach  Lourdes  gekommen  wäre?  Der  Femininismus  und  die  Neu- 
rasthenie finden  hier  ihr  natürliches  Ziel.  Wo  es  an  innerer  Sicherheit 
des  Denkens  und  Glaubens,  an  kräftig  sich  selbst  erhaltenden,  das 
Leben  leitenden  Ideen  fehlt,  da  ist  der  Beichtstuhl  des  Priesters  der 
letzte  taugliche  Ersatz. 

So  kann  man  sagen:  der  Mangel  an  einer  Philosophie,  an  herr- 
schenden Ideen  im  Gebiet  des  Denkens  und  Strebens,  ist  die  letzte 
Ursache  des  Übergewichts,  das  zu  unserer  Zeit  der  restaurierte 
Katholizismus  und  seine  Denkweise  erlangt  hat.  Die  wissenschaft- 
liche Einzelforschung  ist  dagegen  wehrlos,  der  Mensch  lebt  nicht 
von  dem  Brot  der  Wissenschaft  allein,  er  lebt  von  den  Ideen,  mit 
denen  er  die  Wirklichkeit  und  sein  Verhältnis  zu  ihr  sich  gegen- 
ständlich macht.  Das  Wort  von  dem  Bankerott  der  Wissenschaft, 
das  jetzt  von  Paris  her  übertönt,  enthält  eine  tiefe  Wahrheit:  ein 
Positivismus  der  Wissenschaft  ohne  Philosophie  führt  zum  Bankerott 
und  treibt  dem  Positivismus  der  äussern  Autorität  in  die  Arme. 

Dennoch  glaube  ich  nicht  an  den  Sieg  des  Katholizismus.  Auch 
diese  Flutwelle  wird  verlaufen,  wie  die  grölsere  des  1 7.  Jahrhunderts 
verlaufen  ist,  ohne  den  Protestantismus  und  sein  Prinzip,  die  Auto- 
nomie der  Vernunft,  zu  bewältigen.  Der  Glaube  an  die  Macht  mag 
zeitweilig  bedrohlich  anschwellen;  Militarismus  und  Mammonismus 
haben  ihre  Zeit;  nach  dem  grossen  Gesetz  der  Periodizität  des  ge- 
schichtlichen Lebens  folgt  auf  den  Überschwang  der  Umschwung. 
Der  Glaube  an  Ideen  wird  wieder  hervorbrechen,  der  Glaube  an 
die  äussere  Autorität,  nachdem  er  in  der  Infallibilitätserklärung  des 
Papsttums  seinen  Gipfelpunkt  erreicht  hat,  wird  sinken.  Dann  wird 
Kant  wieder  hervortreten  als  der  legitime  Führer,  denn  der  Glaube 
an  Ideen  ist  das  Herz  seiner  Philosophie,  der  Glaube  an  die  Freiheit, 


Kant  der  Philosoph  des  Protestantismus.  25 

an  die  Wahrheit,  au  die  Gerechtifrkcit,  der  Glaube  an  das  Gate, 
der  Glaube  der  Vernunft  an  sich  selbst. 

Das  katholische  Prinzip,  das  Prin/.ip  der  atisoluten  Autorität, 
führt  ein  schweres  Übel  mit  sich:  es  tötet  die  Individualität.  Aller 
Absolutismus  tiihrt  zulet/.t  zu  Lähnmn^^serscheinunfren,  wie  der  poli- 
tische, so  auch  der  Absidutismus  auf  f;eistig:em  Gebiet.  Er  nin)mt 
dem  Individuum  die  Persönlichkeit,  er  ninnnt  ihm  Mut  und  Kraft 
etwas  für  sich  zu  sein,  er  drückt  es  herab  zur  Passivität.  Das 
„sicut  cadavef'  des  Jesuitismus  ist  wirklich  bezeichnend,  furchtbar 
bezeichnend  für  das  Ziel,  zu  dem  der  Absolutismus  durch  die  iimere 
Konse(juenz  hinführt:  wie  ein  Leichnam,  beweglich  nur  noch  von 
aussen  durch  fremde  Hand. 

Einen  Augenblick  mag  man  sich  darüber  täuschen.  Die  Zu- 
sammenfassung aller  .Macht  unter  die  Einheit  eines  absoluten  Willens 
kann  starke  Augenblickserfolge  herbeiführen  und  mit  dem  Schein 
grosser  Kraft  täuschen.  ISo  geschah  es  im  16.  und  17.  Jahrhundert 
in  Spanien,  Italien,  Frankreich,  Osterreich.  Nie  schien  Spanien 
stärker  als  unter  Philipp  II.,  nie  die  Macht  des  Hauses  Habsburg 
gesicherter  als  unter  den  Ferdinands,  nie  Frankreichs  Übergewicht 
cO  grols  als  unter  Ludwig  XIV'.;  der  Bund  des  politischen  und  des 
kirchlichen  Absolutismus,  das  schien  der  Gipfel  der  Weisheit.  Aber 
die  Folge  zeigte  es  anders:  nicht  in  der  absoluten  Einheit  des 
Willens,  wo  die  Individuen  gehorchen  und  gebraucht  werden,  sicut 
cadaver,  wie  es  die  Institutionen  der  Gesellschaft  Jesu  mit  fast 
übermenschlicher  Offenheit  sagen,  sondern  in  der  Selbständigkeit 
und  Selbstthätigkeit  der  Einzelpersönlichkeit  liegen  die  Wurzeln 
menschlicher  Kraft.  Der  Absolutismus  führte  zur  Lähmung,  zur 
Lähmung  der  Intelligenz,  zur  Lähmung  des  Gewissens,  zur  Lähmung 
zuletzt  auch  der  äusseren  Kraft.  Credulität,  bis  zu  jedem  Aber- 
glauben, gewissenlose  Casuistik,  bis  zu  jeder  Niedrigkeit,  das  sind 
die  Folgen  der  Opferung  der  Vernunft  und  des  Gewissens  auf  dem 
Altar  der  äufseren  Autorität,  l'nd  der  geistigen  und  moralischen 
Inferiorität  folgte  der  äussere  Niedergang.  Am  Ende  des  IS.  Jahr- 
hunderts konnte  kein  Zweifel  mehr  darüber  sein,  dass  die  Führung 
an  die  protestantische  Welt  übergegangen  war.  Am  sichtbarsten  in 
Deutschland;  hier  war  das  PLxperiment  rein  gemacht:  die  äussere 
i'berlegenheit,  die  politische  Führung,  die  ältere  Kultur  war  bei  der 
katholischen  Hälfte  der  deutschen  Bevölkerung;  trotzdem  war  in  der 
Wissenschaft,  Litteratur  und  allgemeinen  Geistesbildung  schon  um 
die  Mitte   des  Jahrhunderts   das  Überirewicht   so   zweifellos    auf   der 


■_>(;  Krii'dricli   Taiilscu. 

protfstantisi'lu'ii  Seite,  ilass  ilic  katlKtliscIu'ii  'l'crritoricii  nIcIi  /,ur 
Nai'htolirc  ciitschlicssen  mussteii:  die  Ketonn  des  iresaintcn  Iiil(liinf:;s- 
wesriis.  die  im  Zcitalti'r  der  AiifUläniiii:-  in  OstiTiTicIi,  Haycrn.  den 
HistiinuTn  am  Kliciii  und  Main  duiThp'liilirt  wurde,  nahm  durch- 
aus das  )>rotfstantisi'he   Hildunirswescii  zum   NOihihi. 

Kein  Wunder,  Wissenschaft,  I'hih»S(»phie,  freie  (Teisteshihlung 
iCedeiht  nur  in  der  Freiheit.  Als  die  katholisehe  Kirehe  die  l'nter- 
werfun::  (ialileis  er/wanj;-  und  damit  die  ("o|)ernikanische  Neuerun«? 
unterdriiekte,  als  Deseartes  daraufhin  sein  neues  Weltsystem  fallen 
Hess,  um  nicht  dem  gleichen  Schicksal  /u  verlallen,  während  die 
protestantischen  Konsistorien  in  ihrer  Ohiunacht  und  Zersplitterung 
verireblich  versuchten,  der  Heterodoxie  Kejjlers  Herr  /u  werden,  da 
nia^'  manchem  die  Energ:ie  und  Kraft  ^des  Katholizismus  imj)()niert 
haben.  Ein  damaliger  Thoniist  hätte  spotten  mögen:  auf  den  pro- 
testantischen hohen  Schulen  wisse  man  nicht  einmal,  ol)  die  Sonne 
sich  um  die  Erde  drehe,  oder  die  Erde  um  die  Sonne,  der  eine 
meine  so,  der  andere  anders;  was  für  eine  Verwirrung-!  Und  doch, 
die  scheinbare  Kraft  und  Sicherheit  der  katholischen  Kirche  war  in 
Wirklichkeit  Schwäche,  Schwäche  vor  allem  der  Männer,  die  ihre 
bessere  Einsicht  ü-efanaen  nahmen  unter  den  kirchlichen  Gehorsam; 
sie  fehlten  ja  auch  nicht  im  Kirchenregiment,  es  waren  Anhänger 
des  Copernikanischen  Systems  auch  im  Kardinalskollegium,  Und 
die  Schwäche  zeugte  Schwäche:  hilft  es  doch  nichts,  ist  die  Sache 
durch  den  Spruch  Korns  erledigt,  wer  möchte  sich  umsonst  bemühen? 
So  ging  die  Führung  in  der  modernen  Kosmologie  und  l^hilosophie 
von  Italien  und  Frankreich  auf  Deutschland,  die  Niederlande,  Eng- 
land über. 

Gegen  die  Einzelwissenschaften  ist  die  Kömische  Kirche  seitdem 
vorsichtiger  geworden;  sie  hat  sich  selbst,  spät  zwar  und  widerwillig, 
von  der  Unvermeidlichkeit  des  von  ihr  feierlich  verurteilten  Copernika- 
nischen Systems  überzeugt.  In  der  Philosophie  dagegen  hält  sie  an  der 
alten  Politik  fest.  U'nd  hier  wird  nun  von  den  Anhängern  der  Autorität 
auch  heute  noch  alle  Tage  mit  Triumphgeschrei  auf  die  Einstimmig- 
keit der  katholischen  Philosophen,  mit  Hohn  auf  die  Zerrissenheit 
in  den  Ansichten  der  Gegner,  auf  den  ewigen  W^echsel  der  Systeme 
hingewiesen.  Der  Thomismus  die  philosophia  universalis  et  perennis, 
also  die  wahre  Philosophie.  Ich  meine,  mit  demselben  Recht  hätte 
vor  300  Jahren  die  Aristotelisch-Ptolemäische  Kosmologie  als  cosmo- 
logia  universalis  et  perennis  gepriesen  und  aus  der  Perennität  auf 
ihre  Wahrheit  geschlossen   werden   können.     Perennität  bedeutet  im 


Kant  der  Philosoph  des  Protestantismus.  27 

Gebiet  der  Wissenschaften  Küekstiindiirkeit.  Wie  damals  die  Ver- 
schiedenheit der  Anschauungren  in  der  protestantischen  Welt  ein  An- 
zeichen der  Direktiven  Aufrichti-rkeit  ge}renUher  der  Mehrdeutig:keit 
der  Erscheinuniren  und  zujrleich  die  Hedinjrun^  des  Fortschritts  war, 
so  mag:  man  sagren.  ist  auch  die  \  ielstinimig:keit  der  Philosophie  auf 
protestantischem  Boden  das  otiene  und  aufrichtigre  Eing:eständnis  der 
Verimnft,  dass  sie  hei  der  unendlichen  \  ieldeutig:keit  der  Erscheinung:en 
der  natürlichen  und  der  geschichtlichen  Welt  es  noch  nicht  zur  Ein- 
heit mit  sich  selbst  grebracht  habe,  lind  man  mag:  hinzufiigren:  man 
habe  so  weni^-  (Trund.  diesen  Zustand  der  Philosophie  für  einen  heil- 
losen und  hortnung:slosen  zu  halten,  als  den  danialig:en  Zustand  der 
Kosmolog:ie:  wo  viele  Wahrheitsucher  auf  verschiedenen  Wegen  aus- 
ziehen, mag  man  wohl  eher  hotten,  ihr  zu  begegnen,  als  da.  wo  alle 
Wege  bis  auf  einen  verboten  sind. 

Dassell)e,  was  im  Gebiet  der  Erkenntnis  sich  als  das  allein 
Förderliehe  erweist,  die  Spontaneität  des  Individuums,  der  ]\Iut  eigene 
Wege  zu  gehen,  ist  zuletzt  doch  auch  im  Gebiet  des  Willens  und 
der  That  die  Wurzel  der  Kraft.  Ist  in  der  geschichtlichen  Welt  die 
letzte  Probe  auf  die  Wahrheit  eines  Prinzips  seine  Fähigkeit,  Kräfte 
zu  entwickeln  untl  Leben  zu  schatten,  so  ist  kein  Zweifel,  dass  das 
Prinzip  des  Protestantismus,  das  Prinzip  der  Autonomie  auch  der 
])raktischen  ^'ernunft,  sich  dem  katholischen  Prinzip  der  äusseren 
Autorität  überlegen  erwiesen  hat:  die  Bedeutung  der  katholischen 
Völker  ist  gegen  die  der  protestantischen  seit  zwei  Jahrhunderten  in 
beständigem  Rückgang,  in  der  alten  Welt  und  noch  sichtl)arer  in 
der  neuen.  Freiheit,  Selbstverantwortlichkeit,  Spontaneität,  so  lehrt 
die  Geschichte,  ist  das  richtige  Prinzij).  in  der  Völkerpädagogik  wie 
in  der  Individualpädagogik.  Die  Lehre  des  Absolutismus,  die  Lehre 
von  der  Unfehlliarkeit  einer  äusseren  Autorität  ist  auch  hier  die 
Sünde  wider  den  heiligen  (Teist.  ist  die  ^'ern(•inung  der  Allgegenwart 
Gottes  im  Leben  der  Menschheit. 

Ich  bin  nicht  ohne  Hotfnung.  dass  die  Zeit  konunen  wird,  wo 
auch  der  katholische  Teil  des  deutschen  Volkes  dies  erkennt  und 
sich  von  dem  Komanismus,  der  gegenwärtig  den  Katholizismus  absolut 
beherrscht,  reinigt.  Ein  Anzeichen  dafür,  dass  der  deutsche  Geist 
auch  innerhalb  der  katholischen  Welt  noch  am  Leben  ist,  dass  er 
sich  nach  der  Depression,  welche  die  Machtpolitik  der  Regierung 
gegen  den  Kath(dizismus  zur  Zeit  des  Kulturkampfs  auch  ihm  zuzog, 
wieder  zu  regen  beginnt,  darf  man  doch  wohl  in  der  viel  liesprochenen 
kleinen  Schritt   des  Professors  der   katholischen  Theoloirie  Schell   in 


28  FritMlridi   I'au  I  scn, 

\Viir/.liur_:::  ..Der  K;itli(ili/.i>iiius  als  rriii/ip  des  Fdrtsrliritts"  Mi.  A.  lSi>7) 
und  in  der  Howoirunj:.  die  sie  luTvorfrerufcii  hat,  crbliekcn.  Die 
Soliril't  ist  cinircirclicn  von  dem  Sclinicrz  dariilKT.  dass  die  katlKtlisclic 
Wflt  tliatsäi-lilii'h  ilhcrall  rü(.'kstäiidii:  frcwordcii  ist,  zunächst  im 
•ranzen  (ichiet  des  jrt'istip'ii  Lebens:  die  I\eli;:i(>n  veräusserlicht  durch 
die  Häut'uniT  mechanischer  l'hun^en  und  Bejrchunj;eii  aUer  Art.  die 
HihUiUir  des  Klerus  erniedrijrt  durch  die  Altsjierrunf;-  |::ef2:en  das  Lehen 
der  Wissenschaft  und  die  freie  llilduiij:-  auf  den  L'niversitäten,  der 
Aberirlaulie  hejrünstiirt  und  i:"ezüchtet  in  Jeder  Form,  his  herab  zum 
Miss  Vaujrhan-Sehwindel  und  der  eifienhändijren  Namensunterschrift 
des  Teulels  Uitru.  Sie  klinj^t  aus  in  die  Forderung,  dass  der  deutsche 
Geist  seine  Eigenart  innerhalb  des  Katholizismus  zur  Geltung  bringe 
und  sich  nicht  zum  Lakaien  des  Komanismus  missbrauchen  lasse: 
j.Der  germanische  Geist  ist  es  darum  aus  Liebe  zur  Kirche  schuldig, 
dass  er  seinen  Teil  dazu  beitrage,  das  Ideal  des  Katholizismus  in 
jeder  Zeit  zu  verwirklichen.  Er  ist  dies  um  so  mehr  schuldig,  weil 
er  viel  mehr  als  der  romanische  Geist  zur  iimerlichen,  vernunft- 
mässigen  und  sittlichen  Auüassung  der  Religion  angelegt  ist,  und 
weil  er  dazu  berufen  scheint,  ein  Gegengewicht  gegen  die  juristisch- 
formale  Richtung  des  romanischen  Nationalgeistes  zu  bilden." 

Wenn  die  Erinnerung  an  den  Kulturkampf,  jenen  Versuch  mit 
untauglichen  Mitteln,  dem  katholischen  Klerus  staatlich  approbierte 
Gesinnungen  beizubringen,  geschwunden,  wenn  auch  der  Rest  jener 
Polizeimassregeln,  die  kleinlich-ängstliche  Aussperrung  der  Jesuiten 
gefallen  sein  wird,  wird  dann  der  deutsche  Geist  und  das  deutsche 
Herz,  die  aus  jener  Stimme,  die  heute  freilich  noch  die  Stimme  eines 
Rufenden  in  der  Wüste  ist,  zu  uns  sprechen,  sich  gegen  das  Jesuiten- 
tum  in  der  Kirche  durchsetzen?  Wird  auch  in  der  katholischen 
Welt,  wenigstens  der  deutschen,  dem  Glauben  die  evangelische  Freiheit 
und  dem  Wissen  die  Unabhängigkeit  von  Entscheidungen  durch 
äussere  Autorität  zurückerobert  werden?  Wird  dann,  ohne  Aufgebung 
der  Besonderheit  des  Bekenntnisses  und  des  Kults,  die  Kluft  zwischen 
Katholiken  und  Protestanten,  die  jetzt  wieder  zu  feindseligem  Gegen- 
satz sich  vertieft  hat,  durch  eine  geistige  Einheit  überbrückt  werden? 

Eine  w  underbare  Hoffnung,  und  fast  zu  schön.  Und  doch,  eine 
Hoffnung,  die  von  den  kräftigsten  und  edelsten  Geistern  des  deutschen 
Volkes  niemals  aufgegeben  worden  ist.  Auch  Goethe  hegte  sie.  In 
dem  letzten  Gespräch  mit  ihm,  von  dem  Eckermann  berichtet,  wenige 
Tage  vor  seinem  Tode  (11.  März  1832),  sagteer:  „Mag  die  geistige 
Kultur   nur   immer  fortschreiten,    mögen   die  Naturwissenschaften  in 


Kant  der  Philosoph  des  Protestantismus.  21) 

immer  breiterer  Ausdeiinung:  und  Tiefe  wachsen,  und  der  mensch- 
liehi*  Geist  sieh  erweitern,  wie  er  will:  über  die  Hoheit  und  sittliche 
Kultur  des  Christentums,  wie  es  in  den  Evangelien  schinmiert  und 
leuchtet,  wird  er  nicht  hinauskommen.  Je  tüchtiger  aber  wir  l'ro- 
tcstanten  in  edler  Eiitwickelung  voranschreiten,  desto  schneller  werden 
die  Katludiken  foliren.  .  .  .  Auch  das  leidige  protestantische  Sekten- 
wesen wird  aufhören  und  mit  ihm  Hass  und  feindliches  Ansehen 
zwischen  \'ater  unil  Sohn,  zwischen  Bruder  und  Schwester.  Denn 
sobald  man  die  reine  Lehre  und  Liebe  Christi,  wie  sie  ist.  wird  be- 
gritfen  und  in  sich  eingeleltt  haben,  so  wird  man  sich  als  Mensch 
gross  und  frei  fühlen  und  auf  ein  bisschen  so  oder  so  im  äusser- 
lichen  Kultus  nicht  mehr  sonderlichen  Wert  legen." 

,,Auch  werden  wir  alle  nach  und  nach  aus  einem  Christentum 
des  Worts  und  Glaubens  innner  mehr  zu  einem  Christentum  der 
(iesinnung  und  der  That  konnnen." 

So  Goethes  Vermächtnis.  Es  ist  ja  wohl  nicht  so  gar  weit 
entfernt  von  dem  Wort  und  Willen  dessen,  der  zu  der  Saniariterin 
am  Brunnen  sprach:  ,,Es  konnnt  die  Zeit  und  ist  schon  jetzt,  dass 
die  wahrhaftigen  Anbeter  werden  den  \'ater  anbeten  im  Geist  und 
in  der  Wahrheit." 

Ob  nicht  unter  diesen  Anbetern  im  Geist  Thomas  und  Kant 
sich  neben  einander  finden? 

Aber  nicht  finden  sich  unter  ihnen  die  Hasser  und  Verächter, 
die  Richter  und  \'erdammer  der  Gedanken  und  Gesinnungen  anderer. 


Nachschrift. 

Diese  Betrachtungen  waren  längst  geschrieben  und  der  Redak- 
tion eingereicht,  ehe  die  Schriften  Schells  von  der  römischen  Kommis- 
sion zur  Kontrolle  der  Litteratur  verdammt  und  verboten  waren,  und 
ehe  daraufhin  l'rof.  Schell  seinen  Frieden  mit  den  kirchlichen  Autori- 
täten machte.  Ich  lasse  sie  stehen,  obwohl  jemand  daraus  Gelegen- 
heit nehmen  niöchte,  den  leichtgläubigen  Optimismus  zu  verhöhnen, 
mit  dem  ich  auf  solche  kleinen  Zuckungen  des  deutschen  Gewissens 
bei  katholischen  Männern  Hofinungen  auf  einen  Umschlag  im  Grossen 
setze.     Mit  Bezug  hierauf  füge  ich  folgende  Bemerkung  hinzu. 

Dass  man  in  Rom  die  obengenannte  Schritt  Schells  anstössig 
gefunden  hat.  kann  ich  verstehen;  ihr  Titel:  Der  Katholizismus  als 
Prinzip  des  Fortschritts,  war  als  Optativ,  nicht  als  Indikativ  gemeint, 
der    zugehörige    Indikativ    würde    lauten:    der    romanisch-jesuitische 


;^()  Fried  rieh   raulscn. 

Katlioli/.isimis  ist  das  rriii/.ip  des  Stillstandes  (»der  siclniclir  der 
Küi'kstäiidiirkeit.  Da/u  konnte  man  nicht  schwcijrcn  und  ich  hahc 
mich  Nvcniiror  über  das  Kinsciircitcn  als  Ulicr  das  Zögern  frcw lindert. 
Auch  darillter  halte  ich  mich  nicht  >:-e\vundert,  dass  VioW  Schell  den 
Frieden  jrewählt   hat. 

Aller,  dass  mit  diesem  Sieir  des  Komanisnius  die  jrrosse  Ange- 
loirenlu'it.  um  die  es  sich  hier  handelt,  delinitiv  erledifrt  sei,  fjlauhe 
ich  jrar  nicht.  Ks  bleibt  doch  nicht  bloss  die  Wahrheit  der  Betrach- 
tuniren  Schells  über  die  Kiickständiirkeit  des  Katholizismus,  es  bleil)t 
auch  der  Stachel  in  der  Seele  aller  der  deutschen  Katholiken,  die 
mit  ihm  em})rinden.  Und  der  Schmerz  über  dii'  von  Kom  erlittene 
Missachtuujr  deutschen  Ernstes  und  deutscher  Wahrheitsliebe,  die  sich 
das  iranze  1!).  Jahrhundert  hindurch  von  .Jahrzehnt  zu  Jahrzehnt 
wiederholt  hat,  wird  sich,  so  darf  man  nicht  aufhören  zu  erlauben 
und  hotlen,  doch  einmal  wieder  zu  einem  grossen  und  ehrlichen 
deutschen  Zorn  über  die  wälschen  Praktiken  auswachsen.  Dass  die 
denkenden  deutschen  Katholiken  jemals  die  von  den  italienischen 
Kirchenpolitikern  ihnen  aufgezwunjrene  päpstliche  Unfehlbarkeit  inner- 
lich annehmen  könnten,  g:laube  ich  nicht;  die  Empfindunj;,  dass  dem 
deutschen  Wesen  damit  eine  Fremdherrschaft  aufgenötigt  sei,  die  zur 
Zeit  des  Kulturkampfes  aus  begreiflichen  Gründen  nicht  aufkommen 
konnte,  sie  wird  stärker  werden  in  dem  Mass,  als  der  äussere  Druck 
nachlässt.  Die  Einheit  des  deutschen  Lebens  ist  im  Wachsen,  auf 
wirtschaftlichem  und  politischem,  aber  auch  auf  geistigem  und 
religiösem  Gebiet;  man  denke  nur  an  die  rasche  Mischung  der 
Stämme  und  der  Konfessionen,  die  sich  überall,  im  Süden  und  im 
Norden,  im  Westen  und  im  Osten  vollzieht.  Hierüber  lasse  man  sich 
durch  allerlei  Erscheinungen  auf  der  Oberfläche  nicht  täuschen.  Ein 
Katholizismus,  wie  er  in  Italien  und  Spanien  möglich  ist,  ist  in 
Deutschland  nicht  möglich;  je  starrer  das  römische  Gesetz  wird,  je 
straffer  man  es  gegen  alle  freieren  Regungen  anwendet,  desto  stärker 
wird  bei  den  deutschen  Katholiken  das  deutsche  Wesen  dagegen 
reagieren.  Das  ganze  19.  Jahrhundert  hindurch  hat  der  deutsche 
Katholizismus  eine  „Häresie"  nach  der  andern  hervorgebracht;  die 
päpstliche  Unfehlbarkeit  war  die  letzte  Antwort  der  Italiener.  Die 
deutsche  Antwort  hierauf  wird  nicht  ausbleiben.  Dem  Gewitter  der 
Reformation  ging  auch  ein  langes  Wetterleuchten  vorher. 

Ich  benutze  die  Gelegenheit,  um  noch  ein  Wort  über  die 
Bemerkungen  hinzuzufügen,  die  v.  Nostiz-Rieneck  S.  J.  in  den 
Stimmen  aus  Maria-Laach  (Februar-Heft  1899)  an   meinen  oben  ge- 


Kant  der  Philosoph  des  Protestantismus.  31 

nannten  Aufsatz  über  Wilhnanns  Geschichte  des  Idealismus  freknüpft 
hat.  Er  spielt  mit  dem  BegriH"  der  ,.l)enktr('iheit-',  die  ich  dort  als 
das  l'rrecht  des  (Geistes  gegen  Willmann  verteidigt  hatte,  das 
übliche  8piel:  üb  sie  Freiheit  von  aller  äusseren  Autorität  bedeute? 
da  doch  jedermann  tausend  Dinge  auf  das  Zeugnis  von  Autoritäten 
glaube;  ob  sie  Freiheit  von  der  Pflicht,  sich  der  Wahrheit  und  der 
Wirklichkeit  zu  beugen  bedeute?  da  doch  die  Wahrhaftigkeit  llnter- 
werfung  des  subjektiven  Denkens  unter  die  Wahrheit  fordere,  u.  s.  f. 
Vielleicht  kommen  wir  leichter  zum  Ziel,  wenn  wir  über  den  Be- 
griÜ"  der  Unfreiheit  des  Denkens  uns  zuerst  verständigen.  Ich 
verstehe  darunter  dies,  dals  man  durch  Weisung  von  der  Index- 
Kommission  oder  einer  sonstigen  unfehlbaren  Instanz  sich  bestimmen 
lälst,  Gedanken  und  Thatsachen,  die  man  bisher  für  wahr  oder 
wirklich  hielt,  nun  nicht  mehr  für  wahr  oder  wirklich  zu  halten, 
oder  wenigstens  niciit  mehr  ötl'entlich  zu  sagen,  dass  man  sie  dafür 
halte.  Das  ist  die  innere  Denkunfreiheit;  und  die  äussere  ist  der 
Druck  des  Systems,  der  zu  solchem  Verhalten  treibt.  Denkfreiheit 
aber  ist  nichts  anderes  als  das  kontradiktorische  Gegenteil  der  Un- 
freiheit. Sollte  P.  V.  Nostiz- Kieneck  auf  diese  Frage  zurückzu- 
kommen wünschen,  so  ersuche  ich  ihn,  an  diese  Erklärung  sich  zu 
halten  und  den  Beweis  zu  führen,  dass  dies  äussere  System  und 
diese  innere  Unfreiheit  gut  und  löblich  und  förderlich  für  die  Sache 
der  Wahrheit  und  der  Menschheit  sei.  Er  provoziert  (in  einem  Ar- 
tikel des  Januarhefts  der  Stimmen  aus  Maria-Laach)  auf  die  soziale 
oder  geschichtsphilosophischc  Probe,  die  zu  Gunsten  der  Bindung 
des  Denkens  durch  äussere  Autorität  ausfalle.  Ich  lasse  die  Probe 
gelten,  meine  aber  zu  sehen,  dass  sie  durchaus  nicht  zu  (iunsten 
dieses  Systems  spricht.  Im  Gegenteil,  das  System  des  geist- 
lichen Absolutismus,  bis  zur  äussersten  Konsecjuenz  durchgeführt, 
macht  die  Menschen  zu  Automaten,  die  ohne  Zweifel,  ohne  Prüfung 
und  ohne  eigene  Verantwortlichkeit  das  Gebotene  glauben  und  thun. 
Vernunft  und  Gewissen,  überflüssig  gemacht  durch  die  einzige  Tugend 
des  Gehorsams,  verfallen  als  ungebrauchte  Organe  dem  Prozess  der 
Verkümmerung  und  zuletzt  des  Absterbens.  Das  Korrelat  des  voll- 
kommenen Absolutismus  ist  der  Idiotismus.  Ich  glaube  nicht,  dass 
der  Idiotismus  ein  Prinzip  des  Fortschritts  oder  eine  siegreiche  Kraft 
der  Welteroberunir  ist. 


War  Kant  Pessimist? 

Nun   Privatdocont  Dr.  M.  Wentschcr  in  Bunu. 


E.  V.  Hartmann  hat  in  seinen  Abhandlung'en  ,.zur  Gesciiichte 
und  Be^ründuniT  des  Pessimismus"  den  Versuch  gemacht,  Kant  als 
den  eigentlichen  „Vjrter  des  Pessimismus-'  hinzustellen.  Hartmanns 
eigener,  der  j.philosophische"'  Pessimismus  steht,  wie  er  meint,  dem 
Gedankenkreise  der  Kantschen  Ethik  viel  näher,  als  dem  Schopen- 
hauerschen  Pessimismus.  Ausgehend  von  der  Kantschen  Entgegen- 
setzuns:der  eudämonistischenPseudomoral  und  der  Moral  der  Autonomie, 
des  kategorischen  Imperativs,  weist  Hartmann  nach,  dass  Kant  einen 
,,eu  da  monologischen  Pessimismus"  gelehrt  habe  und  —  gerade 
im  Zusannnenhange  mit  seiner  J^thik  —  habe  lehren  müssen.  Weiter 
sucht  er  zu  zeigen,  dass  Kant,  in  seinen  reiferen  Schriften  wenigstens, 
die  ^'ergleichbark  eit  aller  Lust  und  Unlust  zugestanden  habe 
und  damit  auch  ihre  Summierbarkeit,  wie  sie  der  Pessimismus  zur 
Aufstellung  seiner  ..Lust-Bilanz"  nötig  hat.  —  Weniger  nach  Hart- 
manns Sinne  ist  das,  was  er  als  „moralischen  P^ntrüstungs- 
pessimismus"  bezeichnet,  wie  er  ebenfalls  bei  Kant  bereits  vielfach 
zum  Ausdruck  komme,  vornehmlich  aber  von  Schopenhauer  aus- 
gebildet sei.  Er  meint  damit  jene  Betrachtungen  über  die  Verderbt- 
heit unserer  Gattung,  welche  bei  Kant  zuletzt  in  der  Lehre  vom 
„radikalen  Bösen"  gipfeln.  Dieser  „Entrüstungspessimismus"  habe 
mit  dem  philosophischen  Pessimismus  nichts  zu  schaffen.  —  Was 
dann  weiter  den  „evolutionistischen  Optimismus"  Kants  an- 
langt, d.  h.  die  Lehre  vom  Fortschreiten  der  Gattung,  durch  alle 
Schlechtigkeit  und  Böswilligkeit  der  einzelnen  hindurch,  so  lässt 
Hartmann  diesen  zwar  gelten,  aber  doch  nicht,  ohne  hervorzuheben, 
dass  der  „Evolutionismus"  Kants  auf  keinen  Fall  als  eudäm ono- 
logischer, sondern  nur  als  teleologischer  verstanden  werden 
dürfe,  ^)    der    aber   den    eudämonologischen   Pessimismus   nicht  aus-, 

1)  A.  a.  0.  S.  35. 


War  Kant  Pessimist?  33 

sondern  einschliessi-,  —  nui-  tVcilifli  den  ..moralischen  Hiitrüstunjrs- 
pessjiniismus"  als  üluiwundcM  hinter  sicji  lasse.  —  Der  eudäniono- 
losrische  Pessiniisni  us.  alles  in  alU-ni.  ist  es  eijrentlieh.  auf  dessen 
Nachweis  hei  Kant  es  Hartraann  allein  ah^esehen  hat;  und  hiermit 
vor  allem  werden  wir  uns  auseinander/uset/en  hal)en.  —  Der  \  ersueh 
Kants  endlieh,  dnndi  einen  ..transcendenten  Optimismus",  also  durch 
die  l'ostulate  der  (iottheit  und  der  rnsterhlichkeit,  jenem  Pessimismus 
die  Spit/e  ahzuhreehen.  wird  von  llartinann  als  eliarakterloser  l^iiok- 
fall  in  die  Weltansehauunii-  des  ('hristentums  aufjivfasst  und  ai)- 
a,-ewürdi,t:"t.      Auch   darauf  werden   wir  kurz,  ein/.uü'ehen   haheii. 

\  iin  den  P^ntii-egiumyen.  die  dieser  seltsame  Konstruktionsversuch 
g-efunden.  dürfte  die  von  \'olkeltM  wohl  die  liedeutsamste  «rewesen 
sein.  Das  Erirelmis  der  Ilartmannsehen  Darstelluni:-  wird  hier  wesent- 
lich ein^-eschränkt:  Kant  dürfe  nicht  schlechtweg-  als  Pessimist  l»e- 
zeichnet  werden;  es  könne  vielmehr  nur  von  pessimistischen  Faktoren 
seiner  Philoso])hie  die  Hede  sein.  Kant  habe  nicht  nur  das  Bestrehen, 
den  positiven  Wert  der  Welt  /u  be«:rnnden.  sondern  es  sei  in  seiner 
praktischen  Philosopide  wirklich  dasjenige  Prin/ip  enthalten,  wodurch 
es  einzig  und  allein  möglich  sei,  die  pessimistische  \  erurteilung-  der 
Welt  nicht  etwa  nur  skeptisch  zu  erschüttern,  sondern  positiv  zu 
überwinden.  Anderseits  fänden  sich  aiierding-s  bei  Kant  eine  Keihe 
von  ungelösten  Dissonanzen,  —  sd  die  Pietonung-  des  Cberg-ewichtes 
des  Bösen  über  das  Gute,  die  Lehre  vom  ..radikalen  Bösen-  in  der 
^lensehennatur  u.  s.  w..  —  Lehren,  welche  uns  niitigteu,  wie  \(dkelt 
meint,  die  höchsten  Weltprinzi|iien  selbst  schon  als  auf  jene 
irrationalen,  widerspruchsvollen  Mächte  ang-eleg-t  zu  fassen,  die  sich 
in  dem  unvermittelten  Kebeneinanderliestehen  des  guten  Willens 
mit  seinem  altscduten  Wert  und  des  radikalen  Bösen  bei  Kant 
kundgelten.  Der  Weltprozess  sei  also  auf  dem  Boden  der  Kantschen 
Philosophie  als  Tragödie  zu  fassen.  —  al)er  allerdings  als  positiv- 
siegreiche. 

Auch  V(»lkelts  Ausführungen  gipfeln  also  in  einer  .\usileutung 
der  Kantschen  Weltanschauung  im  Sinne  des  Pessimismus.  —  nur 
jetzt  des  \olkeItschen  Pessimismus  an  Stelle  des  Ilartmannsehen. 
—  Die  vorliegende  Untersuchung  .stellt  sieh  nun  die  .\ufgalte.  die 
Kechtsgründe  einer  erneuten  Prüfung  zu  unterziehen,  aus  denen  man 
hier  vi'rsucht.   Kants   Philosophie  mit   dem  Pessinüsnuis  in  \  erl)indunjr 


•    Volkelt:   ..Pessimisti.sclie  Ideen  in  der  K.'iiit>plieii  Fiiilosophie"'.  Beilajje 
■/MV  Allü:eiuoineii  Zeitiin:;.   1880.  N...  801   H". 

K:i!>i.-uJii'n    IV.  3 


.u 


l>r    M.    W'fiilsflif 


ZU  l)riiii:"i'n  und  m»  die  Wcllnnscluimmi;'  ciiici-  weil  \  (  rlncitctciir 
inodcriuMi  Strüinuiii:-  diircli  die  i'rtVculii'litiw  cisr  in  miscitr  Zeit  iKudi 
in   strtiurm  Waclist'ii  l)(\::ritV('n('  AntiMitiil    jener  l'liildsophie  /ii  stiil/.eii. 

1U'\  III-  w  ir  jeddcli  in  diese  I  iitersiKdiiinu-  eintreten,  wird  es  niitiü; 
iNeiii,  für  den  l>i;:ritV  de>  i'essini  i  sni  u-^  eine  teste  .\lti:ren/,Mnu'  /.u 
•rt'winiuMi,    d.-unil    nii'lit  l>ei     der    ::-e^-en\v;irti,i;-    /ii     l»eiii(>rken(U'U 

Lässiü'U'dt    des   S|ir:u'lii:'i'lir;uii'li('s    in    diesem    l'ind<ti.'  -      /idet/t   alles 
auf  eineu   blossen  Wortstroit  liiuausläuft.     .Man   kann   alli:eniein   einen 
IVssiniisinus    der  Stiiuniiiu^'   uiul    (iesinnuui;"    \<mi    einem    ])liil<i- 
sophisi'lien    l'essiuüsnnis    unterselieiden.      Krsterer    wäre    jene    >\\U- 
jokti\c  dem  iitsverfass  Ulli:-,  die  uns  [Wv  alles  sidiwcre  und  düslei-(.i 
im      hellen     liesondeis     enijtfänjilieh     und      rei/.bai-     inaelit.     —    eine 
schw«'nnutartiii-e    \'erstininuin,ü'   des    Cieniiitcs.    die    siidi    einer    weithin 
si'hattenden    Wulke    jileieh    ülier    unser    i;'an/.es    Lelicn    und    Denken 
ausltreitet  und  so  uns  alles  von  vornherein  in  grauem,  trüben  Lichte- 
erscheinen lässt.      Es   ist  der  IVssiniisnms   als   patholoiiiselie   Kr- 
seheinunji'.  wie  er  in   unserni  Zeitalter,   —  li'leichviel.    aus  welchen 
Ursachen.  —   so   weite   Kreise    in    seinem    Hann    unifaiiiien   hält.  — 
Demg-eirenüber   wäre    der    philosophische    ressimisnius    derjeniii.-e, 
der  als  ol)jektiv  o-eraeinte  \Ve  ll  anscha  uung-.  als  j)hi]osophische 
Theorie  sich    kundii'iebt.       l'in  diesen    allein   kann   es   uns   hier   /.u 
thun  sein,  wo  sichs  um  Kants  Stellung  zu  „dem  Pessimismus-'  handelt, 
nicht  um  eine  subjektive  Kigcnart  seiner  Denkweise.     Welches  abei* 
sind  mm  die  -wesentlichen  Momente,  welche  eine  philosophische  Welt- 
anschauung- als  Pessimismus  charakterisieren? 

Wo  der  Pessimismus  —  und  das  gleiche  gilt  natürlich  von 
seinem  Widerspiel,  dem  0|)timismus  —  als  Theorie  auftritt,  da  ist 
die  Meinung  überall,  über  die  Welt,  in  der  wir  leben,  resp.  über 
dieses  Leben  selbst  mit  seinen  Bedingungen,  ein  objektiv  gültiges 
Werturteil  auszusprechen.  Die  gesamte  Weltwirklichkeit,  die  äussere, 
uns  umgebende  sowohl,  wie  die  innerliche,  das  uns  in  diese  Welt 
mitgegebene  eigene  Wesen,  wird  hier  als  gut  und  wertvoll  oder 
als  schlecht  und  minderwertig  hingestellt;  das  ist  es,  was  die 
Worte  ..Optimismus"  und  ..Pessimismus"  zum  Ausdruck  bringen 
wollen,  während  das  Superlativische  darin  lediglich  der  historischen 
Entstehung  dieser  Begrilte  angehört  und  im  gegenwärtigen  Sprach- 
gebrauch keine  Bedeutung  mehr  hat.  -  Die  w^eitere  Frage  ist  nun, 
in  welchem  Sinne  die  "Wertbestinnnung  hier  gemeint  sein  kann,  die 
in  dem  ..gut"  oder  ..schlecht"  ihren  Ausdruck  sucht.  Hierauf  aber 
wird  die  Antwort  eine  verschiedenartige   sein   können,  je   nach   den 


War  Kant   Pessimist?  :}ö 

ftliisi'lii'ii  l'riii/.ipirii,  ilic  iii;iii  /u  (iriiiulc  lr:;t.  in  dciu-ii  niau 
(las  ..Wertvolle"  suclu-ii  will.  In  Ict/.tcr  Instanz,  wird  also  der  \(n\ 
uns  der  \\'('lt  zuiiesprdi'lu'nt'  Wert  oder  l'nwert  sich  docli  ininicr 
darnach  richten,  oh  w'w  sie  mit  iinsern  Wünschen  nnd  Idealen 
zusaninienstinnnend  linden  oder  nicht.  Denn  auch  dann,  weini  eine 
reliiriöse  Denkweise  es  vor/.ieht,  (h-ii  Wert  i\r\-  Welt  in  einer  durch 
->ie  /um  .\usdruck  ü-ehrachten  Idee,  in  ihrer  Zusaninienstimmuni:'  ndt 
einer  Mirausii-esetzten  .\l»sicht  ihres  Schöpfers,  also  dem  Schöpt'unirs- 
iredanken  udei-  ..^^'el t/. weck  •■  /u  suchen,  so  wird  doch  auch  diese 
Ich'i'.  dieser  Weltzwe(d<  sell)st  wieder  das  (lepräii'e  unserer  eiirenen 
höchsten  Ideale  tra.ü'en,  und  ^-erade  in  diesem  —  hewussten  (»der 
unhewussten  —  l.'rs|)runii-  aus  diesen,  unseren  Idealen  wird  all  seine 
l  her/.eu,i:"unjrskraft  wurzeln.  —  Ein  al)solutes,  ol)Jekti\es  Wert- 
urteil über  das  Weltüair/.e  ist  uns  naturü'eniäss  völliu-  unerridchhar, 
da  wir  den  ..absoluten  Zweck",  welchen  zum  Ausdruck  zu  hrint:'en 
die   Welt  \erpHichtet  wJire.   um    ..^-ut"   zu   heissen.   nicht  keimen. 

Nach  alledem  muss  es  nun  als  ^-randlose  Willkür  l)ezeichnet 
werden,  wenn  K.  v.  Hartmann  behauptet,  dass  nichts  weiter,  als 
die  ,,Neii-ativität  der  Lustbilanz"  in  der  W(dt  zur  Begritfs- 
liestimnuuisi'  des  Pessimismus  gehöre.' )  Man  w  ird  das  l"berwie,<:-en 
der  l'nlust  sj-egenüber  der  Lust  im  fJanzen  der  Welt  bereitwillig  als 
wahrscheinlichstes  Ergebnis  der  P>fahrung,  falls  sie  vollendbar  wäre, 
zugel>en  können  und  deimoch  mit  Fug  und  Hecht  sich  dagegen  ver- 
wahren dürfen,  um  deswillen  allein  schon  als  ..Pessimist"  bezeichnet 
zu  werden.  P>st  dann,  wenn  man  —  mit  dem  ..Eudämonismus-'  — 
die  Lust  (hU'v  (Thickseligkeit  der  fTesehö|)fe  zum  höchsten  und 
letzten  Zweck  der  Schöpfung  erhebt,  wird  man  logischerweise  die 
•Welt  gut  oder  schlecht  nennen  dürfen,  je  nachdem  sie  diesem  Zwecke 
angemessen  ist  oder  nicht.  Der  .,eudä  monologische  Pessimismus*"» 
wie  Hartmann  ihn  nennt,  kaini  also  mir  für  eine  eudä  mon  istische 
Ethik  iilierhau|it  als  ..ressimismus"  in  Anspruch  genonnnen  werden: 
von  dieseiri  Hoden  abgelöst,  ist  er  niidits  weiter,  als  eine  Er- 
schleichung, die  zu  irgendwelchem  wissenschaftlichen  Gebrauch  ganz 
ungeeignet  ist.  Es  zeigt  sich  hier  aufs  deutlichste,  wie  wenig  eriist  es 
Hartmann  mit  seiner  Polemik  gegen  den  Eudämonismus  ist.  in  der 
er  seihst  Kant  noch  glaubt  meistern  /.u  können.  Wäre  ihm  wiiklicli 
alles,  was  auf  (Glückseligkeit  abzielte,  so  wertlos,  so  niedrig,  w ie  er 
immer  behauptet:    wie   kümite    er   die   Welt    «-chlecht    nennen,    wenn 

')    A.    Sl.    (t     S     (•,.-,.    CT    ,'tr. 


Qß  l>r    M     WontM-liiT, 

t>i('  mit  fincni  Zwecke,  nul'  (icii  sie  nlsdniiii  iz'anuclit  aiiirclfjrt  sohl 
«lüifto.  nii'ht  /usaiimu'nstiminty  Wci  im  Krnst  alU-n  walinii  Wert 
im  Sittlii'hcii.  an-itatt  in  der  (ilik'kselii:keit  erlilieUt.  wird  doeh 
aiu'l)  den  ^\  eit  der  W Clt  v'wv/.ii:  in  ilirer  Aii.iirieji'tiieit  aiil  Sittlield^eit 
/,ii   suchen   lialx'ii. 

Nun  die  Anwenduuj:'  auf  KantI  Da  dieser  für  die-  Kthik 
ausdrücklich,  ja.  mit  sprichwörtlich  p'wordenem  ..liiuorismus^' 
allen  Kudämonismus  /.uriickweist,  so  kann  nach  dem  (Jesaii'teu  von 
einem  ..eudämon(doi:isclien  Pessimismus-  iiei  ihm  schlechterdinu's 
nicht  dit'  Hede  sein.  \  ielnu'hr  dient  -  was  auch  llartmann  nicht 
entuaiiiirn  ist')  -  >ivrade  die  vidliu'i'  (ierinii'wert  u  ni:-  dieser  Welt 
in  eutlämonoloii-ischer  Hinsicht  doch  nur  der  um  so  stärkerr*u 
Heraushehunü-  ihres  wahren,  ethischen  Wertes,  den  sie  als 
Wirkunu-sfeld  freien,  sittlichen  WoUens  und  Handelns  i>-ewinnt.  Aller- 
din,i;s  saji't  Kaut  (IV.  3:51  f.): ^j  ,.Was  das  Leben  für  uns  für  einen 
Wert  halte,  wenn  dieser  bloss  nach  dem  ji'eschätzt  wird,  was  mau 
i  ü-eniesst.  ist  leicht  /u  entscheiden.  Kr  sinkt  unter  Null  .  .  ."  Aber 
er  fiis:t  doch  so^-leieh  hinzu:  „Es  bleil»t  also  w(dd  nichts  übriü'.  als 
der  Wert,  den  wir  unserm  Leiten  selttst  g-eben.  durch  das.  was 
wir  nicht  allein  thun.  sondern  auch  so  unabhänji-ig-  von  der  Natur 
zweckmässig  thun.  dass  selbst  die  I^xistenz  der  Natur  nur  unter 
dieser  Bedingung  Zweck  sein  könne." 'M  Damit  ist  klar  genug  der 
Zusammenhang  bezeichnet,  in  welchem  Kant  die  negative  Bestinnnung 
des  eudämonologischen  Weltwertes  verstanden  wissen  will:  Wem  es 
um  Lust  und  (ilückseligkeit  allein  zu  thun  ist.  der  wird  in  dieser 
Welt  auf  seine  Rechnung  nicht  kommen  und  soll  es  auch  nicht,  da 
sonst  die  Welt  gerade  ihren  wahren,  sittlichen  Wert  verlieren 
würde.  Dann  gerade  hätte  man  Grund.  „Pessimist"  zu  sein,  wenn 
diese  Weltwirkliehkeit  nicht  auf  Sittlichkeit  angelegt  wäre,  sondern 
das  naive  Sti-eben  nach  Lust  in  ihr  überall  mühelos  P>efriedigung 
fände:  wem  aber  in  Wahrheit  ein  freies,  autonomes  Wollen  ])ersön- 
licher  Wesen   einen   unveru'leichlich   hidieren  Wert  hat.   als  alle  jene 


1,1  A.  a.  0.  S.  48  f. 

3)  Die  Citate  ans  Kant  sind  naoli  der  Ans.üfahc  von  Rosen  kr  iinz  und 
Schubert  ü^egeben. 

'')  Ähnlich  heisst  es  ( VII  2.  155):  „.  .  .  dass  das  Leben  überhaupt,  was  den 
Genuss  desselben  betriftt.  der  von  C.  lücksiunständen  abhangt,  gar  keinen 
eigenen  Wert,  und  nur  was  den  Gebrauch  desselben  .inhiugt,  zu  welchen 
Zwecken  es  gerichtet  ist.  einen  Wert  habe,  den  nicht  das  Glück,  sondern 
allein  die  Weisheit  dem  Menschen  versehalYen  kann,  der  also  in  seiner 
Gewalt  ist"'. 


War  Kant  l'osNimistV  .'IT 

.,(Tlücksi'li^-k.t'it'\  für  tlcii  kann  auch  eine  eiidänionrdo^-isi-hr 
Zweekniässig^keit  der  Welt  nicht  mehr  (Ion  Massstab  ab.u'fbcn.  \v(»nach 
das  Weltjianzf  als  ..^ut*'  oder  „schlcclit"  beurteilt  wird;  vielmehr 
wird  ihm  die  Welt  um  so  ..besser"  erseheinen,  je  mehr  sie  zur  Ent- 
jaltuiij:-  und  r>ethätii:uny"  solches  freien,  sittlichen  Wollens  das  Feld 
und  die  Anfii-aben  herfi'iebt. 

Wir  können  diesen  l'uid<t  nicht  verlassen,  ohne  noch  auf  eines 
hinzuweisen:  Wenn  Kant  hier  das  Überwieiren  der  L'nlust  in  der 
Welt  gejrenüber  der  Lu^^t  so  bereitwillijr  zujresteht,  so  ist  doch  dies 
Zuireständnis,  wie  wir  ücsehen  halien.  an  eine  liedinjrunir  jreknüpft; 
es  ^ilt  nur.  soweit  unser  Sinnen  und  Trachten  ledi^'lieh  auf  Trenuss, 
auf  Glückseligkeit  anii'ele^t  ist.  anstatt  auf  das  wahrhaft  Wertvolle. 
Damit  ist  aber  noch  keineswegs  allp-mein  die  „Negati  vitä  t  der 
Lustbilanz"  anerkannt,  um  die  es  Hartmann  doch  vor  allem  zu 
thun  ist.  und  für  die  er  irerade  Kants  Autorität  glaubt  ausspielen  zu 
kiMinen.  Zuerst  nämlich:  um  alle  Lust  und  Unlust  überhaupt 
summieren  zu  können,  dazu  gehört,  dass  man  die  verschiedenen 
Arten  der  Lust  doch  für  untereinander  vergleichbare,  comnien- 
snrable  Grössen  nimmt.  Und  gerade  diese  Befugnis  ist  es.  die 
dem  Pessimismus  meist  bestritten  wird,  und  zwar  nicht  nur  wegen 
der  etwaigen  technischen  Schwierigkeiten,  die  sich  der  praktischen 
Durchführung  dieser  \'ergleichung  entgegenstellen  würden,  sondern 
auch  aus  prinzipiellen  Gründen,  weil  es  eben  absurd  sei.  so 
ganz  heterogene  Faktoren .  wie  die  verschiedenen  Lustarten  seien 
mit  einander  vergleichen  zu  wollen.  Auch  Kant  bestreitet  aus- 
drücklich diese  Commensurabilität  aller  Lust,  nämlich  in  seinem 
.,\  ersuch,  den  Begriff  der  negativen  Grössen  in  die  Weltweisheit 
einzuführen"  (1.  i;'):')  .  Allein  dieser  Aufsatz  gehört  dem  Jahre  IKio 
an,  also  einer  weit  vor  der  ..kritischen  Ueriode"  Kants  gelegenen 
Zeit,  und  so  lässt  denn  auch  Hartmann  dies  nicht  als  letztes  Wort 
seines  Gewährsmannes  gelten,  sondern  behauptet,  Kant  selbst  ha'te 
die  hier  noch  geleugnete  (Gleichartigkeit  und  Vergleichbarkeit  aller 
Lust  s]Ȋter  unumwunden  anerkannt.  Und  in  der  That  scheinen  die 
Meilen,  auf  die  Hartmann  sich  hier  beruft,  ihm  Recht  zu  geben; 
allein  der  ganze  Zusammenhang  zeigt  doch,  dass  eine  derartige  Aus- 
d»-utung  garnicht  in  Kants  Sinne  gelegen  haben  kann  und  daher 
keine  wissenschaftliche  Geltung  beanspruchen  darf.  In  der  Anthro- 
pologie zunächst  wird  ausgeführt  (VIlJ.  14:5).  dass  \'ergnügen 
(Lust)  und  Schmerz  (Unlust)  einander  nicht  wie  Erwerb  und 
Mangel  \  -  und  0),    sondern  wie  Erwerb  und  \erlust  (-j-  und       j 


oj^  l>r.   >l     \\  tu  I  ^c  li  ('  r. 

i'iiturji'enircset/t  sind.  Dnriii  lifi:t  nlicr  niclit  iinlir  ausü-csprucluMi, 
als  (lass  aiu'li  «lic  l  nlii^t  iin  .iktmllos  (Jcliilil  sei.  wie  die  l.iist. 
nicht  rt\\a  die  Idn-sc  .\  li  w  es  c  n  li  c  i  t  doi-  liM/ti-icii.  I  hirliiiaiiii  srl/t 
anstatt  und  —  so^-lcicli  -]-  a  und  a  u\u\  ci-wcckt  sd  den  Sclicin. 
als  liandU"  es  siidi  liier  nni  ft\\as  an  sjidi  -Iciclics.  nur  das  ciin- 
Mal  jtositiN.  da<  andere  Mal  iic;:ati\  .lifiKtnnnm.  was  d(i(di  ,i:ai-ni(dit 
die   Meinniiii-   Kant--   ist.  AUcr   llartmann    iHrull    si(di    /.ujileieli    :iiü' 

eine  Stelle  der  Kritik  der  |)  ra  k  tischen  \  r  mn  nit  (\  111.  TJi)  -i:}:?). 
\V(trin  Kaut  aiu'rkannl  lialie.  ,,dass  alle  Lust  .als  sidelie  ,i;-lcieliarti^- 
oder  homoii-en.  also  auch  ü'eiicn  einander  verji'leiehhar  sei;')  innl 
allerding-s  steht  dort  /u  lesen:  ..Die  Vorstellunjien  der  (iefienstände 
mö2:en  noch  so  unji'leichartiii-.  sie  inö>;-en  N'erstandes-,  .selbst  \  ernunt't- 
Torstellunü-en  im  (Jcü'cnsatze  der  \'orstellunii-eii  tier  Sinne  sein,  so 
ist  doch  das  Gefühl  der  Lust  ...  .  von  einerlei  Art  ...  ,  in 
nichts,  als  dein  Grade,  verschieden.  Wie  würde  man  sonst  /.wischen 
zwei  der  Vorstellungsart  mudi  gänzlich  verschiedenen  Bestinnnungs- 
ü'ründen  eim-  \'erirleichunü-  der  Grösse  nach  anstellen  können?'' 
(VIII.  181).  l'nd  in  ähnlicher  Weise  wird  noch  mehrlaeh  die  Gleich- 
artigkeit aller  Lust  betont,  so  dass  es  in  der  That  scheint,  als  sei 
hier  die  Möglichkeit  der  Aufstellung  einer  Lust-Hilanze  jirin/iiiiell 
wenigstens  zugestanden.  —  Allein  auch  hier  zeigt  die  genauere 
Prüfung,  dass  jene  ..Vergleichbarkeit-  der  verschiedenen  Lustarten 
an  dieser  Stelle  doch  nur  in  einem  ganz  bestimmten  Sinne  aus- 
gesprochen ist.  Ausdrücklich  wird  immer  hinzugefügt,  dass  mir  von 
der  Lust,  sofern  sie  sich  als  Bestimmungsgrund  des  Wo  Ileus 
geltend  macht,  die  Kede  ist:  ihrer  ;>rotivationskratt  nach  ist  alle 
Lust  vergleichbar.  Die  erwartete  Annehmlichkeit  oder  Unannehm- 
lichkeit ist  es  allein,  die  in  Frage  kommt  für  die  Motivierung  des  Willens, 
sobald  dieser  einmal  überhaupt  sich  durch  Gefühle,  also  pathologisch, 
bestimmen  lässt.  Eben  das  Pathologische  dieser  Bestinnimngsart 
des  Willens  ist  es,  was  alle  Gefühle,  durch  welche  auch  innner  die 
Bestinmiunff  erfolaen  maa-.  insofern  als  2,-leichartig,  —  gleich- 
wertig  erscheinen  lässt.  Sie  wirken  nur  noch  als  grössere  oder 
a-erinu-ere  Gewichte,  gleichviel,  aus  welchem  Metall  sie  bestehen 
mögen.  —  Xun  aber  ist  es  doch  ganz  etwas  anderes,  zu  behaupten. 
dass  Gefühle,  sofern  sie  bei  der  Bestimmung  des  Wollens  eine  Holle 
spielen,  lediglich  ihrem  Gewichte  nach  für  das  betreffende  Individuum 
in  Frage  kommen,  und  anderseits,   dass  alle  Gefühle  überhaupt, 

1)  A.  a.  u.  S.  21. 


War  Kuiil  Pessimist  V  J}9 

jiiicli  (l;i.  WH  keiiu*rlci  \\'ilk'iisl)estiniiniin<:-  vorlie;:!.  und  jilcicln  id 
wem  >>it'  anjicliörcn  möjicii.  ik-iarl  unter  ciiiaiidiT  vcr^li'ichhar  seien, 
(lass  (laraiithin  eine  alltrenieine  Lii^t-  und  l'nlust-liilan/e  niüjrlieli 
wird.  Dil-  erste  liehaujjtun.ir  j:eht  im  (iruiule  iihci-  das  nicht 
iiinaus.  was  aueli  der  Satz,  schon  enthielt:  der  Wert  des  Lehens, 
naeh  dem  u-emessen.  was  man  ^i-eniesst.  sini<e  unter  Null;  denn 
autdi  sie  ist  an  die  Hedinu'unu-  ii'e knüpft,  dass  man  es  auf  Lust  und 
<;iik'kseli^keit  anji'ele^t  hat  und  aUeii  Wert  h'dijrlieh  nach  d<'m 
liemisst.  was  man  in  dieser  lliehtuii^/.u  erreiehen  vermaji".  Aber  ist  dieser 
Massstah  (h-r  einziji'eV  Oder  zeiü't  uns  nieht  viehnehr  gerade  (h'r 
,.ethisehe  Idealismus",  mit  welchem  Namen  man  Kants  praktische 
I'hildSdphie  trell'end  lie/.eichnet  hat.  eine  ji'an/  andere,  unverg'ieich- 
licli  ii  ii  h  e  r  e  Art  der  Wertschät7.un«i-V  L'nd  wenn  es  eine 
solche  n'ielit.  so  ist  klar,  dass  die  ihr  entsprechenden  Lustgefühle 
wcniü'stens  liei  jener  neirativen  Wertsehätzunu-  des  Lebens  ffanz  ausser 
>pie!  g-eblieben  sind.  Selbst  dann  also,  wenn  Kant  die  Gleichartig- 
keit und  somit  die  Sunnnierbarkeit  aller  Lust  und  L'nlust  wirkli(di 
zugestanden  hätte,  so  wiii-e  damit  doch  für  Hartmanns  „Neu'ativität 
der  Lustltilanz"  inchts  gewoinn-n.  Denn  Kant  redet  in  diesem 
Zusannnenhange  durchaus  nur  \on  Gefühlen,  sofern  sie  sich  patho- 
loirisch  ii-eltend  machen.  Ls  ist  einmal  sein  Sijrachu-ebrauch,  Lust 
und  l'nlust  innner  nui-  in  dem  Sinne  pathologischer  Gefühle  /u 
nehnu'ii:  ..die  Lust  gehört  dem  Sinne  (Gefühl)  und  nicht  dem  \'er- 
staude  an",  wie  er  es  ausdrückt  (VIII,  1-2!) |;  und  entsprechend  weist 
er  auch  das  Prinzip  der  eigenen  (üückseligkeit  dem  ,, unteren"  Be- 
gehrungsvermögen, dem  ..pathologisch  bestimmbaren",  zu  |MII,  l;^;j)' 
Dieser  Sprachgebrauch  abei-  lindet  seine  Krklärung  darin,  dass  Kaut 
in  seiner  Xeuitegrüiulung  der  praktischen  Philosophie,  in  seinem 
Kampf  gegen  alles  Empirische  in  der  Ethik  es  üi»erall  gerade  mit 
dieser  Lust  zu  thun  bekam.  Anderseits  zeigen  manche  seiner  Aus- 
sprüche aufs  deutlichste,  dass  ilnn  tloch  auch  jene  andere,  höhere 
Art  der  Lust  keineswegs  fremd  ist.  die  gewiihnlich  als  „moralische 
Lust"  bezeichnet  wird.  —  nur.  dass  er  diesen  Namen  immer  nur 
unter  Vorlx'halt  dafür  zugesteht.  Er  unterscheidet  diese  beiden  Lust- 
arten sehr  charakteristisch  in  folgender  Weise  (L\. 'JiM):  ..Die  Lust, 
welche  vor  der  Befolgung  des  Gesetzes  hergehen  muss,  dannt  diesem 
gemäss  gidiandelt  werde,  ist  |)ath  ologisch  und  das  Verhalten  folgt 
der  Natur  Ordnung;  diejenige  aber,  vor  welcher  das  (resetz  hergehen 
muss.  dannt  sie  empfunden  werde,  ist  in  der  sittlichen  Ordnung". 
In  diesem  Sinne  darf  auch   das  Gefühl    der  ..Achtuns:".    die    das 


40  1*1'.   M    Wcntsclicr. 

Sittenjresctz,  als  (ic^oi/.  der  Kicilicit.  uns  almüti^t  i  \  111,  lMkm.  sowie 
(las  Cictühl  der  .,Sollist/.u  t'ricdeii  licit  •'.  wrii'lic  das  iW'wiisstsein 
der  Tiiü't'iul  notwciidiir  be^-loitcn  imiss  ( \  111.  _>.■)())  als  rinc  i»cs(tii(k'iT, 
liülu'iH'  Alt  (Irr  .,Liisf  bt'/ciclinct  \\ti(i(ii.  Ks  ist  alter  klar,  dass 
dir  so  Gefilhle  vm\  Kam  in  jenen  AnssprücluMi  u-arniciit  mit  in 
iJt'i'hnunir  ire/.opMi  sind,  anl  Crund  deren  Ilartniann  ihm  dii-  llter- 
/euü'unj;'  von  der  Ne^ativitiit  der  Lnsthilan/  andichten  miichte.  Alleiii 
der  vielp'wandto  Diak'ktiker  ^V('iss  auch  hier  sich  k'at.  l)as>  Kaut 
jene  Soll)st/.ul'ri»Hk'nheii  wicderknlt  als  „neji'atives"  W'ohliiTl'alleu 
an  seiner  Existenz  bezeichnet,  iicniifi't  ikm.  nm  daraus  die  liestätiii-uni;- 
seiner  Ausleji'unp:  /.u    entnekmen.      ..Die    reine    iiraktische   N'ernunft.*' 

so   j)araphrasiert   er  Kant.') ,tluit    der  Selbstliebe    erkeltlichen 

Abbruch,  indem  sie  durch  Kinschränkunj:-  der  Nciiiun,i:en  Schmerz 
verursacht;  sie  entschädii:t  zwar  den  Menschen....  durch  die  \hi- 
abhäugiirkeit  seiner  intelligiblen  Natur  und  der  Seeleng-rüsse  (sie!),. 
aber  diese  innere  Beruki.üung  ist  bloss  nejiativ,  ein  bloss  nepitives 
Wohlgefallen  an  seiner  Existenz,  eine  bedürfnislose  Selbstzufriedenheit, 
welche  nicht  {41iickselia"keit  ist,  auch  nicht  der  mindeste  Teil  der- 
selben.  Hat  man  seine  Pflicht  erfüllt,  so  hat  man  gerade  nur  eben, 
seine  Schuldiji'keit  ü-ethan:  die  Pflichterfüllnno-  kann  also  keine  positive 
Freude  bereiten,  sondern  nur  von  dem  positiven  Schmerz  der  Pfiieht- 
widrigkeit  befreien  und  höchstens  im  Kontrast  mit  diesem  als 
relativ  angenehmer  Zustand  empfunden  werden.  Absolut  genommen 
erreicht  aber  die  moralische  Zufriedenheit  nur  dann  den  Inditferenz- 
punkt  des  Gefühls,  wenn  sie  vollkommen  ist.  und  als  vollkommene 
Zufriedenheit  ist  wiederum  die  moralische  ebenso  unerreichbar  wie 
die  pragmatische  mit  dem  sonstigen  Wohlbefinden.  Die  Tugend 
schmerzt  also  in  doppelter  Hinsicht,  erstens  durch  den  Abbruch, 
den  sie  den  Neigungen  tluit,  und  zweitens  durch  die  unüberwindliche 
Unvollkommenheit  ihrer  selbst;  insoweit  sie  aber  Selbstzufriedenheit 
ist.  ist  sie  wiederum  nur  ein  negatives  Gefühl  der  Beruhigung, 
keine  positive  Lust  oder  Glückseligkeit,  so  dass  von  ,,moralischer 
Glückseligkeit"  nur  in  einem  ganz  uneigentlichen  und  leicht  irre- 
fahrenden Sinne  des  Wortes  die  Kede  sein  könnte". 

Diese  Wiedergabe  der  Kantschen  Gedankengänge  erweckt  durch 
fortwährend  eingestreute  Quellenbezeichnung  den  Anschein,  als  handle 
es  sieh  um  objektives,  authentisches  Material  aus  Kant  selbst;  und 
dann   freilich  wäre    der  Pessimismus   dieser  Philosophie   so  unwider- 

]|  A.  a.  n.  s.   lö  f. 


War  Kant   F.'^^nnistV  41 

le^lieh  envicsen,    dass   es   keines  Wortes   weiter   hetlürftc      l'iul   in 
der  That.  obiii-e  Ausfübruuirrn  enthalten  fast  lauter  Kantseh«-  Worte; 
es  steht  fast  alles  würtlieh,  —  einmal  s(.<rar   zu  würtlieh.  —  so  da. 
Allein  trotz  alledem:  so  konnte  ihn  nur  darstellen,  wer  einmal  seinen 
eigrenen  Tessimismus  Itci  ihm  wiedertinden  wolltcl     Alles  in  dieser 
Darstelluni:-    ist  willkürlich    aus    dem    Zusammenhani:-    ^-erissen.    und 
daltei  überall  das  unmittelbar  Danebenstehcnde.  für  das  Verständnis 
der    wahren  Ansicht  Kants    Inerlässliche    geflissentlich    unterdrückt, 
um    erst    an    viel    späterer   Stelle')    unvoUständii:-    und    wirkungslos 
nachgeholt  /,u  werden.     Verschwiegen   ist.    dass  Kant    die  Achtung 
ausdrücklich    auch    als    ..positives   Gefühl,    das    nicht    empirischen 
Irspruugs  ist",  bezeichnet  (VIII,   198.    ^'gl.  auch  VIII.  •_>04f.:i     Nur 
im  Nerhäjtnis   zur  Sellistliebe    ist    sie  ..negativ  d.  h.  im  j)atho- 
loirisehen  Sinne  ( VIII.  U)9):  anderseits  ist  sie  ..doch  auch  wiederum 
so  wenig  l'nlust:    dass.    wenn    man   einmal   den  Eigendünkel  ab- 
gelegt  und    jener  Achtung   praktischen   Einfluss   verstattet    hat.    man 
sich  wiederum  an  der  Herrlichkeit  dieses  Gesetzes   nicht   satt  sehen 
kann   und   die  Seele   sich   in   dem  .Masse   selbst    zu   erhebt-n    glaul»t. 
als    sie   das  heilige   Gesetz   über   sich    und   ihre   gebrechliche    Natur 
erhaben   sieht".      Ebenso    ist    nach   Kant    die    ,.innere   Beruhigung'' 
in  dem  Hewnsstsein,  ,.die  Menschheit  in  seiner  Person  doch  in  ihrer 
Würde   erhalten-   zu   haben.  —   welche   ..nicht   Glückseligkeit,    auch 
nicht  der  mindeste  Teil   derselben-  ist,   doch   negativ   nur   ..in  An- 
sehung alles   dessen,  was   das  Leben   angenehm   machen   mag;  .  .  . 
sie  ist  die  Wirkung  von  einer  Achtung  für  etwas  ganz  anderes,   als 
das  Leben,  womit  in  Vergleichung  und  Entgegensetzung    das  Leben 
vielmehr,    mit    aller    seiner   Annehmlichkeit,    gar   keinen   Wert   hat" 
(VIII, -iltii.      Auch    hier   also   ein    ganz  unverkennbarer  Hinweis  auf 
iene   andere,   einzig  wahre  Wertschätzung,   welche  Kant   überall  der 
eudämonologischen   als   die  höhere  gegenüberstellt!     Ebenso   ist  ihm 
die   ,,Selbstzufriedenheit.    welche   das  Bewusstsein    der  Tugend 
notwendig  begleiten   muss'\    allerdings   in   gewissem  Sinne   ..nur  ein 
negatives  Wohlgefallen  an  seiner  Existenz,  in  welchem  man  nichts 
zu    bedürfen    sich    b<'wusst    ist"    (VHl.  "ioOl.    —    aber    dies    wird 
sogleich   dahin   erläutert   (VIII.  257),    dass   sie   „ein  Bewusstsein  der 
Obermaeht  über   seine  Neigungen,    hiermit   also   der  Unal)hängigkeit 
von  denselben,    folglich  auch    der  Ijizufriedenheit.    die    diese  immer 
begleitet",    sei:    und    dann    wird    noch    hinzugetugt:     „die    Freiheit 


)  A.  ü.  (I.  s  -{&  rt : 


j)  Dr.   M     Wnil  sein  r. 

sell)st".  (I.  Ii.  tlif  Sittlirlikcii .  da-^  sinlidic  \  cilialtcn .  ..wird  auf 
solche  \\  fix-  riiio  (.riiMsM's  tülii:;-.  w clclii-i'  niclit  <iliicksfli<:-k('it 
lu'issrn  kann,  weil  rr  n'u'lit  mum  pn^-itiNcn  l'.filiitt  rin(>  (ict'ülils 
altliäiiti'f"".  aller  (lot'li.  ..wcniii^lriis  siiiii'in  l  is|tniiii:r  nacli.  der  Srlh^t- 
i:"enui;"sanik('it  analtt;L:is('li  isi.  dir  man  niii-  dem  luHdistcn  Wesen  l>ei- 
lei:-(Mi  kai\n'*.  —  Das  alles  /.ei^l  deutliidi  ^-eiui::-.  in  \\(d(dieni  Sinne 
allein  die  selieiidiar  pessiinistisclien  Aiiss|irii('lie  Kants  xcrstandeii 
^ve^len  wollen,  und  \vie  xi'dli;^-  llai  Iniann  dnrcli  seine  Uedaktion 
<lersell)('n   diesen   >inM    in   da-^   i:erade   ( icii-enlcil    \('i-kelnl    hat! 

Kerner  aber:  wenn  Kant  i\f\-  I' lli  c  h  t  ert'iilUini;'  alles  Keclit  dei- 
Anniassnnii'  eines  hesonderen  \erdienstes  liestreitet  (/..  H.  \  III, 
2l:>f..  MO:?  ff.  ete.).  so  heisst  das  doch  nicht:  ..Die  i'llichternil- 
luiiii"  kann  also  keine  |iositi\e  l'reude  liereilen.  sondern  niii-  \ondein 
positiven  Schmer/,  der  Ptliclitwidriiikeit  helVeien.-'  Hartniann  seihst 
eitiert  hei  anderer  (4eleg-enheit)  Ausspriudie  u-enu^-  von  Kant,  welche 
den  ..Frohsinn",  ilen  die  iMlichtertiilhmi:'  im  Geibl-i-e  haben  muss, 
"•erade  als  I^rüfstein  der  Kcditheit  der  moralischen  (lesinnun^'  hin- 
stellen.  Dieser  Frohsinn,  das  ..fröhliche  Her/.'-,  wii  es  Kant  auch 
nennt,  darf  doch  wohl  als  ..jiositive  Freude''  in  .\nspruch  <:-e- 
nommen  werden.  —  zumal,  wenn  hin/uiiefii.ü-t  wird,  dals  sie  als 
Svni])tom  dafür  g-elten  soll,  dals  man  das  Gute  auch  lieb  a'ewonnen 
hat  (X.  -2').  IX.  :')."):')  f.).  —  Auch  in  die.sem  Fnnkti'  also  g-iebt  die 
Hartmannsche  Darstellunji'  ein  vidliii-  verzerrtes  151  hl  der  Kantschen 
Anschauung',  wie  es  nui'  der  einmal  feststehenfle  Zweck  ein,i:-el)en 
konnte. 

Wenn  endlich  Kant  in  der  Anthropologie  ( MI  2.  14!»)  die  ..Zu- 
friedenheit währeiul  dem  Leben-'  als  unerreichbar  hinstellt,  so 
zeigt  doch  sogleich  der  hinzugefügte  lateiinsche  Ausdruck  .,acquies- 
centia".  in  welchem  Sinne  er  hier  die  Zufriedenheit  genommen  wissen 
will:  es  ist  die  des  that-  und  gedankenlosen  Ausruhens,  die  nichts 
zu  wollen  und  zu  wirken  mehr  vor  sich  sehen  möchte.  In  diesem 
Sinne  sagt  Kant:  ..Im  Leben  (absolut)  zufrieden  zu  sein,  wäre  that- 
lose  Ruhe  und  Stillstand  der  Triebfedern,  oder  Abstumpfung  .  .  ."  — 
Eine  solche  Zufriedenheit  ist  natürlich  auch  auf  moralischem 
Gebiete  unerreichbar:  niemals  gelangt  man  dahin.  ..mit  sich  im 
Wohlverhalten  zufrieden  zu  sein",  sieh  bei  dem  Erreichten.  Geleisteten 
dauernd  zu  beünüg-en  und  kein  Bedürfnis  mehr  nach  weiterem  Fort- 
schreiten,  nach  höherer  \'ollkommenheit  des  eigenen  Wesens,  wie  der 

1)  A.  a.  0.  S.  48  f. 


War   Kaiit  Po-^siniisf:'  43 

imii!,rlK'ii(lcn  N\'i*lt.  /ii  cmptiiKlcii.  Allriii  diiiiii.  dals  solch  ein  iri*- 
.sättigtes.  hot'iii'dijitcs  Aiisnilicn  nirgend  zu  cnriclicn  ist.  d;iss  \ii*U 
mehr  ininicr  noch  ctwjis  /.ii  wullcii  und  /.u  wirken  ülnii:  l)lcii>t.  nun 
einen  .M.in^-el  der  Well  /u  sidicn.  sie  dai;iul"lun  für  wertlos.  j;i 
tili"  lifsscr  niciit -seiend  /u  erkliiien:  Das  kann  doeli  nur.  wem  es 
schon  ansii'eniaeht  ist.  dass  aUe  'l'hätigkeit  des  WoHens.  alles  Strel)en 
und  Wirken  an  sich  scluni  l  nlust  sei  oder  zur  l'nlust  notwendig; 
führe.  Hin  solcher  ..Qnietisnnis-"  alter  -  gleichviel,  wie  es  sonst 
um   ihn  stehen   mag  wird   wenigstens  auf  Kant    sich   niemals  he- 

rufeu  dürfen;  es  kann  kaum  eine  Denkweise  dem  ganzen  (iei>te 
dieser  rhilosojiliie  der  l'reiheit  niehi'  widerstreben,  als  Jene  ^chojien- 
hauer>che  Doktrin  \oii  (h-r  ..l'nseligkeir  des  VVollens"  ülterhaupt. 

Was  hleiht  al>o  \(»nail  den  hmgausgesponnenen  .Vuseinander- 
setzun:;en  Hartnianns.  durcdi  die  er  Kants  Pessimismus  zu  erweisen 
g'laulitV  Nicht  mehr,  als  was  auch  Non  vorn  herein  selbstverständlich 
war:  dass  nändich  Kant  den  Wert  der  Welt  und  unseres  Lebens 
nicht  in  dem  suchte,  worauf  es  der  Eudämonisnius  überall  anleget, 
sondern  vor  allem  in  (h'in.  was  wir  als  freie  Wesen,  als  sittliche 
Persönlichkeiten  ilaraus  zu  machen  imstande  sind!  Will  man  eine 
solche  Weltauftassung  mit  dem  schiefen  Namen  eines  ..e u da  mono- 
logisch eii  Pessimismus"  bezeichnen,  selbst  auf  die  Gefahr  hin. 
damit  im  (Gründe  nichts  g'esag't  zu  haben,  so  ist  natürlich  nichts 
weiter  dag:egen  einzuwenden.  Aliein  wenn  llartniann,  nachdem  er 
lediglich  diesen  .,Pessimismus--  Itei  Kant  erwiesen  hat.  nun  ohne 
weiteres  den  Gedanken,  dass  das  Leben  gar  keinen  Wert  habe  durch 
seinen  (renuss,  sondern  nur  durch  seinen  Ge  brauch,  als 
..e  t  h  i  <  c  h  e  n  Pessimismus"  oder  als  ..p  e  s  s  i  m  i  s  t  i  s  c  h  e  M  o  r  a  1" 
in  Ans|)ruch  ninnnt,  s(t  ist  das  nichts  anderes,  als  eine  g-rol)e 
Erschleichung-,  die  auf  das  schärfste  zurückgewiesen  werden 
mussl  —  Sobald  wir  uns  einmal  entschlossen  haben,  allen  wahren 
Wert  in  dem  /u  suchen,  was  wir  tliun,  nicht  in  dem.  was 
wii-  ( patludogisch)  geni  essen,  hat  es  nicht  den  mindesten 
Sinn  mehr,  die  \\'elt  ..wertlos"  zu  nennen,  wenn  es  in  unsere  (iewalt 
g'eg:eben  ist.  unserem  Leben  selltstthätig  Wert  zu  verleihen.  ~  Nur 
wer  thatsächlich  mit  all  seinem  Sinnen  und  Denken  im  Kudämonis- 
mus  befang:en  bleibt,  wie  sehr  er  ihn  auch  in  der  Theorie  lK'käm|»fen 
mag-,  kann  die  Angelegtheit  dvy  Welt  auf  freiestes  ethisches  Dasein 
und  Wirken,  anstatt  auf  path(dogische  Glückseligkeit,  immer  wituler 
als  l  l»el  emj)lin(len  und  sein  ..ceterum  censeo"  dahin  aussj)rechen, 
dass  (las  Nichtsein   der   Welt   ..liesser--   wäre. 


j  I  l)r.   M.    Wt'iit  seil  er. 

Das  Krjrcbnis  des  l^ishoriiren  küniieu  wir  diiliin  /.iisanuin'nfasNfu, 
(lass  bei  Kant  von  ('inoni  ..cudämniKtloiiisc  Ihmi  l'rssinii  simis" 
schlt'i'htcnliniis  nicht  die  Kc«!«'  s<iii  kann,  niid  /w.ir  drslmll)  nii-lit, 
weil  er  nicht  Kudänionist  war  ^  auch  nicht  ein  ..imiIm'w  usstiT". 
wie  K.  V.  llartniann.  sondern  weil  es  ihm  ernst  war  mit  dtr  liciniiruiifi- 
der  Moral  von  aller  eu(iJinion(doi;-ischen  Heinienj:-iini:.  hmnoch  '.icljt 
es  luin  einen  Punkt,  wo  ivi\r  Weltauffassnnii'.  und  s(»  auch  die 
Kantsche.  /idct/t  auf  die  Fra-e  nach  einer  (iliickselii;-keit  /iiriiek- 
koMunen  muss;  und  unsere  rntersuchun<i'  würde  unvollständii:-  sein, 
wenn  sie  nicht  auch  diesen  Tunkt  noch  in  ihr  Hereich  licrein/öj?e. 
—  Was  den  Kudämonisnius  mit  der  Moralität  so  unverträglich  macht, 
das  ist  lediji-lich  die  in  ihm  lieji-ende  (lefahr  einer  Verfälschung  der 
sittlichen  Triebfedern.  Vorstellungen  von  i'iner  dadurch  /.u  erwarten- 
den grösseren  (ilücksi-ligkeit  dürfen  die  Willensentscheidung  nicht 
beeinflussen,  wenn  sie  nicht  allen  ethischen  Wert  verlieren  soll. 
Allein  es  ist  etwas  ganz,  anderes,  nun  dennoch  für  das  Welt- 
iranze  die  Forderung  aufzustellen,  dass  darin  die  sittliche  (re- 
sinnung  vollauf  heiniatberechtigt  sein  müsse  —  und  zwar  in 
höherem  Grade,  als  jede  andere,  nicht  auf  das  ethisch  Idealische 
L'eriehtete    Gesinnung-.      Soll    das    (xute.    die    Tugend,    nicht    lei-re, 

^  *"  ■  r/ 

phantastische  Schwärmerei  und  Träumerei  bleiben,  so  muss  im  /,u- 
sammenhange  des  Weltganzen  (wozu  übrigens  auch  die  ursächlichen 
Zusammenhänge  unseres  psychischen  Innenlebens  gehören)  irgend- 
wie dafür  gesorgt  sein,  dass  die  Gesinnung  und  sittliche  Arbeit, 
die  sich  von  jenem  Ideal  des  Guten  ausschliesslich  leiten  lässt.  in 
letzter  Instanz  zu  w^ahrer  und  höchster  Befriedigung  führe,  wie  .sie 
durch  keinerlei  anderartiges  Streben  je  erreichbar  wäre!  —  Es  ist 
nicht  mehr  eine  Forderung  der  pathologischen  Selbstliebe,  die  sich 
hierin  ausspricht,  nicht  mehr  das  Interesse  der  eigenen  Glück- 
seligkeit, was  uns  hier  leitet;  vielmehr  machen  wir  unser  Urteil 
als  blosse  Zuschauer  geltend:^)  der  Welt  —  meinen  wir  — 
würde  jeder  sittliche  Wert,  und  somit  ihre  ethische  Existenzberech- 
tigung, abgesprochen  werden  müssen,  wenn  das  Gute,  Idealische  in 
ihr  keinen  realen  Boden  fände,  wenn  es  nicht  durch  die  in  ihr 
wirksamen  Kausalzusanmienhänge  zuletzt  höchste  Freude  und  Be- 
friedigung her\  orzubringen  vermöchte !  —  So  ist  es  im  letzten  Grunde 
das  Interesse  einer  ,,Theodicee'S  d.  h.  einer  Rechtfertigung  der 
W^elt  als  Werk  eines  allmächtigen  und  wahrhaft  vollkommenen  Wesens, 

»)  Vgl.  X,  6. 


War  Kam  Pessimist V  4ö 

(las  hier  in  Kra^e  steht,  iiml  von  dessen  Befriedi^ain^-  es  ahhän^-t, 
ob  unsrre  (Jesanitweltnnsieht  einen  ..optiniistisehi-n"  oder  ..pessi- 
niistisehen"  Ahschluss  finden  soll;  —  denn  hi»'r  allein  kaiui  von 
..Optiniismns"  und  ..Pfs>^inii><nHi>^--  in  dem  ol»en  definierten  Siiuie  die 
Rede  sein. 

Es  ist  Kants  Lehre  vom  ..lii'M-hstcn  dute".  worin  wir  die  hier 
ausiresprochenen  Keriexinnt-n  /um  Ausdruck  konnnen  sehen;  wir 
wollen  es  versuelien.  sie  von  diesem  Gesichtspunkte  aus  einer  näheren 
AVürdi^unj:'  zu  unterziehen,  den  ei<:-entlieh  ethischen  Kern  dieser  Lehre 
herauszuschälen.  —  Kant  bereitet  die  EinfUhrun«;-  der  Idee  des 
höchsten  Gutes  durch  den  Satz  vor:  Zum  ..ganzen  und  vollendeten 
Gut"  ....  wird  auch  (J 1  iic  kMlii:keit  erfordert,  und  zwar  .  .  .  . 
selbst  im  Irteile  einer  unparteiischen  \  ernunft  ....  Denn  der  Glück- 
seliü-keit  Itediirftiji',  ihrer  auch  würdiu-.  (h-inioch  aber  derselben  nicht 
teilhaftig  zu  sein,  kann  mit  dem  vollkommenen  Wollen  eines  ver- 
nünftigen Wesens,  welches  zugleich  alle  Gewalt  hätte  ....  garnicht 
zusammen  bestehen."')  —  Dies  könnte  —  dem  Wortlaut  nach  — 
leicht  als  ein  llückfall  in  jenen  eudämonistischen  Standpunkt  er- 
scheinen, der  durch  Kants  Ethik  gerade  ein  für  allemal  über- 
wunden sein  sollte.  Man  fühlt  sich  geneigt,  dem  gegenüber  dem 
Stoicismus  Uecht  zu  geben,  welcher  in  der  Tugend  allein  schon 
das  ganze  höchste  Gut  suchte  und  (rluckseligkeit  nicht  anders  gelten 
lassen  w(dlte.  als  sofern  sie  in  dem  Uewusstsein  der  Tugendgesin- 
nung bereits  enthalten   sei. 

Auch  die  Definition  dei-  (Üückseligkeit  als  ..Zustandes  eines 
vernünftigen  Wesens,  dem  es,  im  ganzen  seiner  P^xisteirz.  alles  nach 
Wunsch  und  Willen  geht"  (VIII.  -JIU'.  kann  einer  Missdeutung  im 
eudämonistischen  .sinne  W(dil  Nahrung  geben,  .\llein  der  Schlüssel 
dieser  ganzen  Lehre  vom  höchsten  Gute  ist  dennoch  so  klar  und 
deutlich  von  Kant  bezeichnet,  dass  jene  kleinen  Missgriffe  des  sprach- 
lichen Ausdrucks  nirgend  imstande  sind,  nen  Geist  dersell)en 
zu  verdunkeln.  —  Es  versteht  sich  von  sell)st.  dass  Kant  auch  hier 
überall  daran  festhält,  dass  das  (iute  lediglich  um  seiner  selbst 
willen  (um  des  (iesetzes  willen)  erstrebt  werden  müss«*,  ohne  Jedes 
Hinüberschielen  auf  die  etwa  daraus  zu  erh(»ffende  Glückseligkeit.^) 
Daraus  gerade  geht  bei  ihm  die  ..Anti  mimie"  der  praktischen  \  ernunft 
hervor   (\11L  ^äof.i.    dass    nändicli.    während   wir  auf    das    höchste 


1    VIII.  24Kf. 

2)  cf.  VIII.  -'44.  -.'71  t.  etc. 


4(J  iMv    M     Wi'Ml  scIicr. 

(iiit  KMlii:li('li  (luri'li  (l;i^  Strchni  ii;irli  \ nllUtMiinimsici-  Sil  i  liclikcil 
liiiiarlicitcM  sullcii.  (Icniinch  ..keine  iHitweiidi-c  uiul  /um  liiiclistcu 
(Jut  /.iircii'lM'iuU'  \  eikiiiipruni:-  tier  ( iliickseii^keit  mit  der  TiiLieiHl  in 
der  Well.  (Inn'li  die  pi'mktlirhste  lieidciclilnni:  dei-  mei;ilisidien  (le- 
st't/.e.  erwiirtet  weidi'n  k;inn."''i  Dies«'  Aiitiiioniie  würde  ntVeii- 
l»Mr  s()ji-lt'ii'li  aul'liöreii.  eine  solciie  /u  sein,  wenn  wir  /um  /necke 
der  llerlieifulirnni:-  des  li(ielislen  (iules  niclil  nur  die  S  i  1 1 1  i  c  li  ke  it, 
als  dessen  iTSten  Kaklor.  sendeiii  in  lileiclieni  Masse  aiicli  die 
Glüekseliirkeit.  den  /weiten  l-aktor  dessell)en.  uns  /um  (;e::-en- 
stand  unseres  Streliens  setzen  könntiMi.  Denn  aisdimn  würden  wir 
Ja  unsere  ..Kenntnis  der  Naturi:-eset/.e"  und  unser  ..pliNsiselies  \  er- 
niöp'ii.  sie  /u  unsern  Ahsiehten  /u  i:-el)r;iu(dien*"  (et.  \  III.  'J'>\\.  eiir 
faeh  /.ur  deitunj:'  l)rinii'en  kf>nni'n:  und  s(»  würden  wir  uns  (iliiek- 
seliü'koit  —  wenn  aucli  inuiier  in  liestdn-iinkteni  .Masse,  dureli  ei'i'enes 
Handaniejivn  /u  sehatfen  imstande  sein  und  damit  die  Autlüsun,::-  der 
J.Antinomie"  sell)er  herbeiführen. 

Anderseits:  ist  ni(dit  mehr  ..(.lii(d<s(dii:'keif  das  Ziel  unseres 
Strebens,  so  verändert  auch  der  in  tue  hh-e  des  höchsten  (Jutes  nun 
dennoch  mit  aufii-enommene  (41ückseliiikeitsi)eü'ritr  netwendiu'  seinen 
ursprünii'lichen  Charakter;  das  Patholoii-isch  e  <hiv«>n  \('rsch\\  indet, 
weil  jetzt  nicht  nu  lir  dii'  \  orstellun^'  und  Ijwaituiii;-  einer  zu  er- 
reichenden Glückselifi-keit  voi  li  eri:'eiit  (was  ja  nach  \  II!.  2.')H  die 
Definition  eines  patholoo-ischen  (Jefühles  ist).  Imh-m  alles  eiiiene 
Hinarbeiten  auf  (ilückselig-keit  ausg-esehlossen  wird,  ihre  Ziiteihing: 
vielmehr  —  der  erreichten  Olückwürdig-keit  ang-emessen  —  einer 
übersinnlichen.  ..intelliu-ihlen"  Ordnun»-  der  Ding-e  anheimgegeben 
wird,  so  ist  zugleich  auch  die  Idee  der  (rlückseligkeit.  (k  li.  die 
Bestimmung  dessen,  was  wir  in  dem  ..höchsten  (Tut"  als  ..(üludv- 
seligkeit"  zu  erwarten  haben,  unseren  mitgebrachten,  „empirischen" 
Vorstelluiiii-en  einer  solchen  enthoben.  Jene  Art  von  (Tlückseligkeit, 
welche  auf  dem  Boden  reiner  Sittlichkeit  allererst  möglich  wird,  hat 
so  wenig-  mit  dem,  was  man  sonst  so  beneimt.  gemein,  dass  sie  sieh 
dem,  der  noch  nicht  zu  solcher  Sittlichkeit  hindurchgedrungen  ist, 
als  solche  garnicht  begreiflich  machen  iässt  (cf.  MII.  •2')4\.  F>st 
durch  das  Streben  nach  Sittlichkeit  erschliesst  sich  uns  das  Gefühl 
für  moralischen  Wert  und  Unwert,  in  welchem  wir  \oii  da  ab  immer 
mehr  unsere  Glückseligkeit  suchen.  So  ist  es  zuletzt  nur  noch  ein 
„Analoffon"  dieser  —  d.  h.   dessen,   was   wir  vorher  darunter  ver- 


1)  ef.  auch  Vlll.  264  f. 


War   Kant    IVssimistV  17 

staluk'U  1111(1  fi'strclit  —  was  wir  in  der  Idt-c  des  liöehsti'ii  (iiitcs 
mit  dem  l^owiisstsein  der  Tiiiiciid  vcilimidcii  denken  können.  Kant 
be/.eiehnet  es  als  ..SelbstziitViedenlieit-  -  <-iiic  ZulVicdcnheit.  die  "T 
als  ..intellektuelle-'  von  der  „ästhetiselicn-.  die  auf  lielViedi.u-unj:-  der 
(iniiiifr  patliold-iisclifiii  Neiiriini:'«'!!  lu-ruht.  seharf  abirrenzt.  Sic  ist 
in  ihrer  (^icUe  ., Zufriedenheit  mit  >cinrr  IN-r^un-  In  ilii-  wirddi«* 
Freiheit  sellist  ..eines  Genusses  fällig',  welehcr  nicht  (ilückscli-kcit 
hoissen  kann  i  im  ucwühnliehcn  Sinne  i:tiinniint'ii).  weil  er  nieht  vom 
positiven  Heitritt  eines  (iefiihU  ;iltlijini:'t.-  \ielinehr  der  .,SelbstJ^•enu.l;•- 
sanlkeit••  analo^-iseh  i>t.  die  nuiii  nur  dem  höchsten  Wesen  heileiirn 
kann-   (\  Hl.   ^.'.T  f.i. 

Kant   sehliesst    iliese  Ausfiihninii-eii    mit  foljiendeni  Satze:    .,Aus 
dieser  Auflösunfr  der  Antinomie  der  praktischen  reinen  \  ernunft  foht. 
dass  sieh   in  praktiseheii  <irundsät/.eii  eine   natürliche   und  notwendige 
\Criiindun,i;-  /.wischen   dem  Hewusstsein  der  Sittlichkeit    und   der  Kr- 
wartunj:-  einer  ihr  projiortionierten  (Mückseliii-keit.  als  Folg-."  derselben, 
weniii-stens  als  niitii-lich   denken   lasse  ....  dass    also    das   oberste 
<;i!t    (als  erste   Hediimunii'  des  höchsten  Gutes)    Sittlichkeit,    (iliick- 
selii:keit    daj;-ejreii    /war    das    /weite   Element    desselben    ausniaehe, 
doch  so.  dass  diese  nur  die  moralisch  bedin,üte.  aber  d(K'h  notwendige 
Foljre  der  er.steren   sei.-   —  So  wird   hier  der  soeben  als  un/uläng-lich 
verworfene  Name  der  ..( ilückseli<i-keit-  für  Jene  ,, Sellist/ufriedenheit" 
dennoch   >o,uleich   wieder    aufu-enommen.     Aber   die  Erklärun-:-  dieser 
scheinliaren  lnkonse«|uen/  i.st  nicht  schwer  zu  finden:  bei  der  ersten 
Aufstellung    der   Idee   des    höchsten   (iutes   konnte   der  Begritf  Jener 
höheren   Befriedigung  nicht  wohl  schon  vorweg  genommen  werden. 
in  welcher    die    (Tlückseligkeit    einerseits    ihren    höchsten  Gipfel  er- 
reichen,  anderseits  doch  zugleich  über  die  Grenzen  der  ursi»ründliclie!i 
Bedeutung    des  Wortes  weit    hinauswachsen  sollte;    so    blieb   nicht> 
übrig,  als  vorläufig  wenigstens  den  naiven  Glückseligkeitsbegriff  für 
die  gemeinte   iiniere  Zufriedenheit  anzuwenden,  der  denn   nun  freilich 
auch  im  Kndergebnis  festgehalten   werden  mulste,  sowenig  er  an  sich 
zureichen  mochte,   jener  ..Selbstzufriedenheit'-  zum  angemessenen  Aus- 
druck zu   dienen.  l  brigens  ist    die  so   itewirkfe   Frweiterung  des 
(ilückseligkeitsbegrirt'es     keineswegs     unverträglich     mit     der     liereif< 
erwähnten  Kantscheii    Definition    desselben    als    .,Zustan(les  eines 
vernünftigen  We>en>.  dem  es.  im  ganzen  seiner  Existenz,  alles  nach 
Wunsch   und   Willen   .-eht;-    denn    dieser  ..Wunsch   und   Wille--    wird 
-sich   naturgemäss  auf  eine  um   so   höhere  Art  der  Befriedigung  richten. 
Je  weiter  Jenes  vernünftige   Wesen  selbst    in   seiner   Fntwickelung  zur 


,^  Dr.   M     Wcnl  scher. 

>itllii'hki-il  fnrt-i'srlirittrii  i-t.  j.i.  die  Dclinititm  |>:is>it  liier  insotVrn 
ntu'h  lu'sscr.  als  lifini  --i  1 1  lirlir  ii  Wolli-ii  die  /.ahlloscii  lOiit- 
täuscIuuiiriMi  iiirlil  inclir  /.u  licfiirclitcii  ^ind.  die  sich  dem  ii;ii\t'n 
WUiisolu'ii   und    Wtdlrn   iiluMall   in   den   Wr-'  stellen. 

Entsi'lioidt'iul   daflir.  dass   Kaiil    in    dmi    iiii-r    anfficstclltcM   Ideal 
der  ..Selhst/ufnedt'iilieif    das   Moment   i\ry    ..( ;liieksoli-krit-    ki'ines- 
\veirs    li-an/.    unterdrUekt    bissen    widlte.    ist    seine    Iten-it-    Iternlirte 
INdfinik  u-eiieii  den  Stoicisinns.' i     Denn  währenil  die  stoi'selie  ..Sellist- 
ü-enuü-samkeit-  lediii'lieli   im   Handeln  sellist    und   in   der  Zufriedenheit 
mit  seinem    iiersönlielieii    Werte   -•esuelit   wurde,  ohne    jede  Aidehnun^- 
an   das  natürlich-monschliidie   liedürfnis   mudi    ei<iener  (iliickseliiikeit, 
mithin  die  vüUiii-e  Geriiipu'htun-  der  uns  umii'ehenden  Welt  und  der 
Übel,  die  sie   uns  /,u/ufiii:-en  etwa   imstande   ist.    in  sich  schloss.   will 
jene   von   Kant    in    der   Idee  des    hr.chsten  (kites    g-etorderte    (Uück- 
seliii-keit  vielmehr  auf  ein    Sich-Kins-Fühlen    mit    dem    tiefsten    Sinn 
nnd  (ieist  der  Weltordnnni:-  hinaus.     Sie  erschöidt    sicli   niclit  in  der 
subjektiven  (.esinnunj;'  iler  Seelenruhe  des  unten  (lewissens.  s.mdern 
will   auch   in   der  objektiven   Widt  im  letzten  (irunde  einen  ethisehen 
Wert  erkennen   oder    doch    iilauben    dürfen:      -     das  Weltii'anze   soll 
anseleg-t  sein  auf  Rethäti.u-unji-  freien,  sittlichen  Wollens  vernünfti':er 
Wesen  und  diese  Ang-eleji'theit    uns   durch  den   Krfolji"    zuletzt  auch 
beweisen.      Krst  so  si-eht    es   uns.    ..im    jranzen    unserer  Existenz.'- 
alles  wahrhaft  ..nach   Wunsch  und  Willen."     P.ei    dieser   Ausdeutun- 
der  ..Selbstzufriedenheit--,    wie    sie    durch  Kants   Auseinandersetzuni? 
mit   dem   Stoicismus    nahe   g-eleji't  ist.   enthält   die    Idee  des  hik'hsten 
Gutes    Jedenfalls   nichts    mehr,    was    als  llückfall    in    einen    ethisch 
minderwertii:en  Eudämonismus   verdäcliti-t  werden    kiumte  —  nichts 
mehr  also,  was  uns  hindern  könnte,  sie  als   höchsten  Weltzweek,  als 
Ideal  eines  solchen  Weltzwecks  anzuerkennen.     Allein   damit,   dass 
wir  etwas    als   höchst  wertvoll  und    idealisch    erkennen,    ist  freilich 
seine  Wirklichkeit    noch    nicht  erwiesen.     Die    Frag-e   ist    noch    nicht 
entschieden,  ol)  unsere  Gesamt-Weltansicht  einen  oi)timistisclien  oder 
einen    pessimistischen  Abschluss  erhalten  müsse.    —    Hier    aber    ist 
nun  —  nach  Kant   —    eine   theoretische  Entscheidung    überhaupt 
völli-  ausgeschlossen,  da  unsere  theoretische  Vernuntterkenntnis  das 
Transcendente    —    denn    um  solches  würde  es  sich  hier  handeln   — 
ein  für  allemal   nicht   zu  durchdringen  vermag.    —    Auf  der  andern 
Seite  aber  haben  wir  doch   ein  al)solut  Gewisses  in  Händen:   das 


'j  Vgl    VIII,  267  t. 


War  Kant  Pessimist?  49 

Sittengesetzl  Wir  vermögren  also,  trotz  der  theoretischen  ünvoUend- 
harkeit  unserer  Weltansieht,  doch  einstweilen  unter  der  Voraus- 
setzung einer  Welt,  die  dessen  Erfüllung  uns  möglich  macht  und 
vernünftig  erscheinen  lässt,  zu  handeln.  Ja,  das  moralische  Gesetz 
in  uns  fordert  ein  solches  Handeln,  als  ob  wir  diese  Gewissheit 
hätten,  dass  die  Welt  im  letzten  Grunde  auf  jenei.  idealischen  Zweck, 
ilas  höchste  Gut,  angelegt  sei.  —  Somit  behält  also  die  opti- 
mistische Weltanschauung  praktisch  den  Vorrang;  sie  ist  „Postulat" 
der  praktischen  Vernunft,  samt  den  daraus  fliessenden  Konsequenzen. 
—  Dies  etwa  ist  es,  was  in  Kants  Lehre  „von  dem  Primat  der 
reinen  praktischen  Vernunft  in  ihrer  Verbindung  mit  der  spekulativen" 
seinen  Ausdruck  sucht' )  —  eine  Lehre,  durch  welche  die  Stellung- 
nahme Kants  zum  Pessimismus  entscheidend  klargestellt  ist. 


'■o'- 


(Schluss  folgt.) 


1)  Vm,  268  ft. 


Kantätadiea  IV. 


Eine   französische  Kontroverse  über  Kants  Ansicht 

vom  Kriege. 

Auch  ein  Wort  zur  Friedenskonferenz. 
Von  II.   Vaihinger. 

In  Frankreich  wurde  vor  Kurzem  ein  sehr  interessanter  Streit 
ausgelbchten  über  Kants  Meinung  vom  Krieg:e.  Wir  bericiiten 
über  den  Streit  nach  dem  uns  vorliegenden  Quellenniaterial. 

Das  bekannte  politische  Journal  „Le  Temps^'  brachte  in  seiner 
Nummer  vom  17.  März  1899  einen  Bericiit  über  „Une  Conference 
de  M.  Bruuetiere":  in  Lille  hatte  derselbe  am  16.  März  einen  Vor- 
trag gehalten,  in  dem  Hippodrom,  vor  circa  8000  Personen.  Der 
Vortrag  war  veranstaltet  von  der  „Union  de  la  paix  sociale",  einer 
katholischen  Vereinigung  zur  Bekämpfung  der  Sozialdemokratie; 
„les  honneurs  de  la  salle  etaient  faits  par  les  etudiants  de  la 
Faculte  catholique."  M.  Bruuetiere,  der  Herausgeber  der  „Kevue  des 
deux  Mondes-',  zugleich  Membre  de  l'Academie  fran^aise,  steht  ja 
bekanntlich  seit  einigen  Jahren  an  der  Spitze  der  klerikalen  Be- 
wegung in  Frankreich  und  predigt  wie  seinerzeit  Stahl  in  Deutsch- 
land die  „Umkehr  der  Wissenschaft",  die  Reform  des  höheren 
Unterrichtswesens  im  Sinne  des  Syllabus  und  des  Index.  Man  muss 
sich  dies  gegenwärtig  halten,  um  zu  verstehen,  was  im  Grunde  M. 
Brunetiere  will,  warum  seine  Gegner  ihn  mit  solcher  Energie  angegriffen 
haben,  und  warum  die  Geister  mit  solcher  Heftigkeit  aufeinander- 
platzten.  Die  Kede  hatte  zum  Gegenstand:  Les  ennemis  de  l'äme 
fran^aise.  Er  versteht  darunter  nicht  äussere  Feinde  sondern  innere 
Feinde,  welche  am  Werke  seien  ,,ä  detruire  cette  combinaison, 
ou  plutöt  cette  communion  hereditaire  de  sentiments  et 
d'idees  qui  est  l'äme  frangaise."  Diese  Feinde  seien 
die  Internationalisten,  die  „Intellectuels" ,  „libres  penseurs", 
die  „Individualisten",  insbesondere  alle  diejenigen,  welche 
mit  der  grossen  religiösen  Tradition  Frankreichs  gebrochen  haben: 
mit  dem  Katholizismus.     Die  „Internationalisten"'  teilte  M.  Brunetiere 


Eine  franz.  Kontroverse  über  Kants  Ans^ieht  vom  Kriege.  51 

in  mehrere  Klassen  ein;    die  erste  ist  ihm  die  der  „internationalistes 

humanitaires  ou  sentimentaux",  ,,les  amis  de  la  paix."     In  diesem 

Zusainmenhanjre    saglie    der    Kediier  foljrendes   —    wir  citieren  nach 

der  wörtlichen  Wiederjralie  im  ..Journal  des  Debats",  vom   17.  Mär/. 

1S97: 

...  je  crois  (ju'ils  se  trompenti  et  si  je  ne  pense  irA^,  avec  une  con- 
traire  ecole,  »jiie  „la  guerre  seit  divine",  je  ne  pense  pas  non  plus,  Mes.sieurs, 
ijue  la  paix  seit  le  premier  des  biens.  Non,  je  ne  le  pense  pas!  Et  de 
grands  philosophes,  (lui  n'etaient  cependant  ni  sanguinaires  ni  belliqueux, 
ne  lont  pas  pense  davantage,  et  Tun  denx,  -  c'est  Kant,  Emmanuel 
Kant,  le  plus  pacifique  des  hommes,  —  na  meme  pas  craint  decrire,  il  y 
a  (jueliiue  cent  ans,  que,  „au  degre  de  civilisation  oü  le  genre  humain  etait 
arrive,  la  guerre  etait  un  moyen  indispensable  de  s'elever  plus  haut".  Les 
amis  de  la  paix  ne  veulent  voir  dans  la  guerre,  —  et  independamment  de 
tant  de  maux  dont  eile  est  la  cause,  —  qu'un  moyen  d'asservissement  des 
masses.  Kant,  lui,  y  a  vu,  au  contraire,  la  condition  meme  de  leur  inde- 
pendance  ou  de  leur  liberte  croissante.  A  qui,  Messieurs,  je  vous  le  de- 
mande,  a  qui,  de  Kant  ou  de  ses  contradicteurs,  les  guerres  de  la  Revo- 
lution franv'aise  et  du  premier  Empire  ont-elles  donne  raison  ? 

Der  ,,Temps''    vom    17.  März,    welcher    nur    einen   Auszug  der 

Rede  brachte,  berichtete  über  diese  Stelle  tblgendermassen : 

„Oui,  la  guerre  est  un  mal,  mais  la  paix  nest  pas  le  plus  grand  des 
biens.  De  grands  ])hilosophes,  comme  Emmanuel  Kant,  ont  reconnu  que  la 
sruerre  etait  le  meilleur  perfectionnement  de  la  civilisation." 

Diese  Darstelluni:  der  Kantischen  Anschauungen  über  den  Kries: 
konnte  nicht  unwidersprochen  bleil)en.  In  der  That  sandte  an  dem- 
selben Tage  noch  Louis  Couturat  einen  Brief  an  den  Heraus- 
geber des  Temps,  um  gegen  diese  Darstellung  zu  protestieren 
und  die  \'erbreitung  dieser  Verfälschung  der  wahren  Kantischen  Lehre 
zu  verhüten.  Louis  Couturat  ist  ,,charge  de  cours  de  philosophie  ä 
ri'niversite  de  Caen."  Er  hat  sich  vorteilhaft  bekannt  gemacht 
durch  seine  Schrift  ,.De  Tlntini  mathemati(|ue"'  (Paris,  F.  Alcan  18961. 
Wir  haben  über  dieselbe  in  den  „Kantstudien",  II,  S.  4S4  berichtet: 
wir  nannten  sie  ,,ein  scharfsinniges  und  gelehrtes  Buch,  das  viel- 
fach seine  Spitze  gegen  Kant  und  seine  Fortsetzer  richtet". 
M.  Couturat  ist  also  durchaus  kein  Kantianer  ä  tout  prix,  aber  er 
sieht,  wie  wirselbst,  in  Kant  die  Basis,  auf  welcher  allein  fruchtbar  weiter 
gebaut  werden  kann.  Er  ist  auch  in  diesem  Sinne  ,,libre  penseur'': 
das  ..Jurare  in  verba  magistri"  überlässt  er  den  Neuthomisten,  den 
Freunden  Brunetieres.  Die  Neukantianer  thun  es  nicht.  M.  Couturat 
aber  empfand  es  als  einen  Schlag  ins  (Tesicht  der  historischen  Wahr- 
heit,   dass  Kant    gegen    diejenigen    ins  Feld  geführt  werden  sollte, 

4-' 


_r^.)  11.  ^'ailliIll,'o^, 

woU'he  in  lit-r  Vi-rnu'iilunir  dir  Krii'jrc  und  in  der  \  i-iMninderunjJC  des 
Kru'jrst'li'ndi's  ein  erstrel)ens\vertes  Ziel  sehen  -  K;int,  der  die 
Schritt  ..Zum  ewiircu  Frieden"  vor  lo4  .lahrcn  jrcsehrielu'n  liat! 
Wir  l)eirreiten  deshalb  das  Krstauiien  von  M.  C'outurat,  das  ihm  dni 
oben  erwiihnti'U  Brief  in  die  Feder  diktierte,  den  der  ./Pemps"  \  om 
■21.  Mär/,    /.um    Alxlruek    'nraehte.      Wir    /iclien    aus    demselben    die 

llaupt'^tcile   heraus: 

Je  lis  avec  etonnement.  dans  l'analyse  quo  le  Tanps  a  domu'-o  ilc  l;i 
conftVt'Uct'  de  M.  'Brunetiere  :i  Lille,  la  phrase  suivante: 

..De  grands  i)hilos<)phes.  lommc  Emmanuel  Kdiit,  ont  reconnu  cpie  la. 
guerre  etait  le  meilleur  perfectionnement  de  la  civilisation". 

Tons  les  philosophes  savent  eu  effet  «pie  Kant  a  ecrit  un  traite  Pour 
la  pair  perpetuelle  (1T9B),  ipie  Barni  a  traduit  en  franvais  ;i  la  suito  des 
EI>'m>-),f>t  nh'hiphi/.^i'iucs  de  la  dodnne  du  droit.  Or,  on  y  cherche  en  vain  la 
moindre  trace  de  la  theorie  ({ue  M.  Brunetiere  prete  a  Kant,  et  qui  est 
absolument  rontraire  ä  la  tendance  et  au.\  conclusions  de  ce  traite.  On  y 
lit.  il  est  vrai.  que  letat  de  guerre  est  „I'etat  de  nature"  poiir  les  hommes 
(p.  29.5),  mais  en  ce  sens  que  cest  la  condition  de  rhnmanito  primitive 
et  inculte.  et  Kant  ne  cesse  de  le  concevoir  comme  un  etat  barbare  et 
sauvage  qui  doit  faire  place  ä  l'etat  de  justice  et  de  droit  international.  U 
dit  aussi  q\ie  la  nature  einploie  la  guerre  pour  aniver  k  ses  fins,  notam- 
ment  „ponr  peupler  toute  la  terre"  (p.  ;312);  mais  il  ajoute  que  cette  fin 
est  relative  au  genre  humain  considere  „comme  une  espece  animale"  (p.  ;3]3). 
et  il  soutient,  au  contraire,  (jue  „la  nature  elle-meme  garantit  la  paix  per- 
petuelle par  le  mecanisme  des  penchants  naturels"  (p.  316).  Pour  carac- 
teriser  l'esprit  de  tout  le  traite,  il  suffit  de  citer  la  phrase  suivante,  extraite 
du  meme  passage. 

„Chez  les  sauvages  d'Amerique.  comme  chez  ceux  dEurope  (sie)  au 
temps  de  la  chevalerie,  le  courage  militaire  est  en  grand  honneur,  non  seule- 
ment  pendant  la  guerre  (ce  qui  serait  juste),  mais  aussi  en  tant  qu"il  y 
pousse,  car  on  ne  lentreprend  souvent  (jue  pour  montrer  cette  qualite.  en 
Sorte  qu'on  attache  ä  la  guerre  elle-meme  une  digniU  intrinseque,  et  qu'il 
se  trouve  jus(iuii  des  philosophes  pour  en  faire  leloge,  comme  d"une  exal- 
tation  ( T'ererfZim^j  de  Ihumanite,  oubliant  ce  mot  dun  Grec:  „La  guerre  est 
mauvaise,  en  ce  qu'elle  fait  plus  de  mechants  qu'elle  n'en  supprime  (p.  312)". 
(Les  italiques  sont  de  Kant.) 

Si  Ton  ajoute  que  le  3«  article  de  la  Ire  section  de  ce  traite  est  ainsi 
con(,u:  Les  arme'es  liermanentes  doivent  eniierement  disparaitre  avec  le  temps, 
on  en  aura  dit  assez  pour  prouver  que  Kant  doit  etre  ränge  parmi  ces 
philosophes  humanitaires  et  individualistes  dont  M.  Brunetiere  reprouve  „les 

utopies"    et  ne  peut  etre  confondu  avec  les  apologistes  de  la  force 

ni  avec  les    admirateurs    retrogrades  de  la  civilisation  militaire  et  theocra- 
tique  du  moyen   äge. 

Die  Nummer  des  ,.  Temps"  vom  27.  März,  welche  diesen  Brief 
brachte,  brachte  zugleich  auch  die  Antwort  Brunetieres,  aus  der  wir, 
mit  Weglassung  der  bissigen  persijnlichen  Bemerkungen,    die  Haupt- 


Eine  franz   Kontroverse  über  Kants  Ansicht  vom  Kriege.  53 

stelle  anführen.  M.  Brunetiere  muss  zwar  zugestehen,  dass  Kant  a 
ecrit  un  traite  Pour  la  Paix  perpetueile,  aber  derselbe  Kant  habe 
auch  in  einer  anderen  Schrift  foljrendes  geäussert: 

„11  faut  avouer  4ue  les  plus  grands  maux  (jui  affligent  les  peuples 
civilises  nous  viennent  de  la  guerre,  et  non  pas  tant  d'une  guerre  passüe 
ou  präsente  quc  des  preparatifs  pennanents  aux  guerres  prochaines,  que 
Ion  augmente  sans  cesse,  loin  d'y  rien  diniinuer  .  .  .  Mais,  ce  que  devien- 
draient,  et  l'etroite  union  des  classes  dans  la  Republi<iue,  et  la  multitude 
des  hommes,  et  ce  degre  de  liberte  qui,  bien  ijiie  resserre  par  les  lois,  nous 
est  encore  laisse,  si  la  guerre,  toujours  attendue,  n'arrachait  pas  ä  la  volonte 
des  ehefs  le  re-speet  du  gcnre  humain,  on  peut  s'en  instruire  par  lexemple  de 
la  Chine,  dont  la  Situation  est  teile  qu'on  y  peut  bien  craindre  une  in- 
cursion  imprevue,  raais  non  un  ennemi  puissant:  il  n'y  reste  plus  aucune 
trace  de  libertt!-,  d'oa  Von  conclura  qii'au  degre'  de  cicilisation  oh  le  genre  humain 
etil  arrive',  la  guerre  est  un  mögen  indisjiensahle  de  V elever  plus  haut;  et  que 
la  paix  perpetueile  ne  nous  serait  salutaire  qu'apres  que  nous  aurions  (qui 
sait  (juandT)  atteint  le  point  de  perfection  duquel  seul  cette  paix  pourrait 
etre  la  consequence." 

L'opusculo  d'oii  est  tirc  ce  passage  est  intitule:  Conjeetures  sur  les 
eommencentents  de  l'histoire  du  genre  humain,  et  date  de  1786.  II  a  ete  longue- 
ment  anal;yse  par  Wilm,  dans  son  Histoire  de  la  Philosophie  allemande,  II, 
r»8,  6'J;  et  la  traduction  en  a  ete  publiee  par  M.  Ch.  Renouvier  dans  son 
Introduetion  u  la  Philosophie  analytique  de  Vhistoire,  p.  23,  34.  Les  deux 
phrases  (jue  j"ai  soulignees  sont  celles  que  j'ai  visees,  et  ä  peu  pres  textueUe- 
ment  citees,  dans  nia  Conference  de  Lille. 

Auf  diesen  im  ,,Temps'-  vom  27.  März  abgedruckten  Brief 
Brunetieres  antwortete  Couturat  sofort  wieder  am  28.  März  in  einem 
Briefe,  welcher  in  der  Nummer  vom  1.  April  zum  Abdruck  gelangte. 
Die  Antwort  Couturats  ist  meisterhaft  und  deckt  die  Missverständnisse 
und  Manoeuvres  von  M.  Brunetiere  in  ruhiger  Ül)erlegenheit  und 
mit  schneidiger  Logik  auf;  er  zeigt,  wie  Brunetiere  die  relative 
Wertschätzung  des  Krieges,  welcher  Kant  übrigens  auch  in  der 
Schrift  ,,Zum  ewigen  Frieden-'  Ausdruck  gab,  in  eine  absolute  ver- 
wandelt, und  wie  er  sans  r6serve  Äusserungen  Kants  über  den 
Krieg  wiedergiebt,  welche  Kant  mit  der  ausdrücklichen  Kautel  ver- 
sehen hatte,  dals  der  Friede  trotzdem  das  zu  erstrebende  höhere 
Ideal  sei.  Wir  drucken  den  Brief  Couturats.  abü-esehen  von  Einerantr 
und  Schluls,  vollinhaltlich  ab.  Der  Anfang  des  Briefes  bezieht  sich 
aut  die  Forderung  Brunetieres,  Couturat  möge  statt  des  blossen  Aus- 
zuges seiner  Kede  im  „Temps"  sich  an  den  Wortlaut  im  ,.. Journal 
lies  Debats"  halten,  den  wir  oben  schon  angeführt  haben. 

Je  rcmercie  M.  Brunetiere  de  ses  bienveillauts  conseils,  et  je  les  ai 
suivis.  Mais  la  lecture  du  „texte  authentifiue"  de  sa  Conference  na  nullc- 
inent  change  raon  opinion,  pas  plus  que  la  citation  ijuil  invoque  ä  l'appui 


54  '•    ^  .liliinjf  t'r. 

de  sa  tlieso  ne  snurnit  altiMHT  la  doctriiu'  liion  ronnnc  dv  Kant.  Dahrnil, 
t't  eu  tont  cas,  cotte  citatioji  niufiriiu'  l'U  rii'ii  la  valciir  vi  la  signilicatioii 
des  textes  peremptoirt's  tiue  j'ai  citös;  onsuite.  clli'  iic  les  contredit  pas  et 
s'ac'Corde  iiu'iiu'  parfaitiMucnt  avcc  les  passages  i|iu'  j  ai  icclicrclii's  vi  citrus 
de  bonne  foi  pour  t'Npli(|iu'r  et  excuser  rinterpri'tatioii  erronee  du  M. 
Brnnetieiv.  En  dou\  ludts.  t>!l(>  vcnt  dire  ceci:  „La  tjucnc  est  mauvaisc 
en  soi.  mais  la  natuic  (oii  la  Providciico)  s'cii  sert  {•oinnir  tl  un  niöyeii  poiir 
arriver  ä  ses  fins:  dv  l'excös  meine  «In  m.il  rllc  s.iit  lairi'  suitir  Ic  liicn, 
c'est-ä-dire  la  jnsticT.  la   liherte  et  la  paix." 

Ponr  bien  coniprendre  la  seule  phrase  de  Kant  (|ue  M.  Brnnetiere  ait 
textuelleuient  oitee  ä  Lille,  il  fant  savoir  (jn'elle  est  einpruntee  ä  nn  expose 
hidtoriiiHC  et  nuihropolog'uine  des  origines  de  Ihunianiti'.  Dans  iin(>  „remanjue 
finale".  Kant  sefforce  de  jiistifier  la  Providence.  vw  numtrant  «nie  les  plus 
grands  maiix,  comme  la  guerre,  peiivent  avoir  indirectement  des  effets 
bienfaisants  et  oouconrir  an  progres:  et  c'est  lä  i|iu'  se  tronve  cette  i>hrase: 
„Au  degre  de  la  civilisation  oii  le  genre  huniain  ,sr  tronve  encore  (et  non: 
„est  arrive'*;  cette  nuance  est  significative),  la  guerre  est  un  moyen  in- 
dispensable de  la  faire  avancer  encore.  „L'auteur  se  borne  a  constater  en 
fa'it  la  necessite  actnelle  de  la  guerre  et  a  lui  reconnaitre  une  certaine 
utilite  provisoire.  sans  renoncer  ponr  cela  a  son  ideal  de  paix  et  de  droit, 
([u'il  evonue  aussitot  apres. 

Au  reste,  la  veritable  pensee  de  Kant  ressort  clairement  du  passage 
([ui  precede  cette  phrase,  et  dont  M.  Brnnetiere  n"a  fait  (^n'nne  citation  in- 
complete:  „II  faut  avouer  que  les  plus  grands  maux  qni  oppriment  les 
penples  civilises  nons  viennent  de  la  gnerre,  et  non  pas  tant  de  la  guerre 
presente  ou  passee  que  des  preparatifs  de  la  guerre  a  venir,  qui  ne  se 
relächent  jamais  et  meme  croissent  incessamment".  Kant  continue  en  ces 
termes:  „C'est  ä  cela  que  se  depensent  toutes  les  forces  de  l'Etat,  tous  les 
fruits  de  sa  civilisation,  qni  pourraient  etre  employts  ä  une  civilisation  plus 
gründe  encore;  c'est  pour  cela  qu"on  impose  en  tant  de  lieux  des  restrictions 
nolentes  a  la  liberte,  et  que  la  prevoj-ance  niaternelle  de  l'Etat  pour  ses 
membres  individuels  se  change  en  la  durete  inexorable  des  r^quisition, 
qui  pourtant  sont  justifiees  par  le  souci  dn  danger  exterieur." 

Est-il  pei-mis,  quand  on  a  In  ces  lignes,  d'emettre  sans  reserve  l'affir- 
mation  suivante: 

„Les  amis  de  la  paix  ne  veulent  voir  dans  la  guerre  .  .  .  qu'un  inoyen 
d'asservissement  des  masses.  Kant,  lui.  y  a  vu,  au  contraire,  la  condition 
meme  de  leur  independance  et  de  leiir  liherte  croissante.'^ 

Enfin,  lors  meme  que  la  phrase  tiree  par  M.  Brnnetiere  de  l'opuscule 
de  1786  contredii-ait  le  Traite'  pour  la  paix  perpe'tuelle,  il  en  faudrait  simple - 
ment  conclure  que  Kant  s'est  dejnge  en  1795,  et  qu'il  a  renie  ou  rectifie 
une  opinion  emise  en  passant.  Ce  n'est  donc  pas  dans  les  Conjecturen  sur 
les  commencements  de  Vhistoire  du  genre  himiain  qu'il  faudrait  aller  chercher 
sa  doctrine  veritable  et  definitive,  mais  dans  ce  memoire  Pour  la  paix  per- 
petuelle  oü  il  prevoit  en  detail  les  „articles  preliminaires  et  definitifs"  du 
traite  de  paix,  voire  lui  curieux  „article  secret"  et  oü  il  presente  l'etat  de 
droit  public,  non  comme  un  ideal  chimerique,  mais  comme  un  projet 
realisable    auquel   nous    avons  le    devoir  de  collaborer.    et  qu'il  a  le  ferme 


Eiiu'  franz.  Koatroverse  über  Kants  Ansicht  vom  Kriege.  55 

espoir     de     voir     resulter     du     progres     acceler6     de     1h     civilisation     (v. 
Co7iclimo)i). 

Dans  tous  les  cas,  on  n'a  pas  le  droit  d'opposer  Kant  aux  ^amis  de 
la  paix"  (qui  semblent  plus  loin  designes  comme  „ses  contradicteurs")  et 
de  l'enröler  de  force  parmi  les  apologistes  de  la  guerre,  attendu  (ju'entre 
lui  et  les  „amis  de  la  paix"  il  n'y  a  pas  contradiction,  mais  bien  accord 
coniplet.  Et,  puisque  M.  Brunetiere  veut  bien  nie  donner  encore  des  le^ons 
de  critique,  est-il  dune  bonne  critique  de  semparer  dune  phrase  isolee  et 
ecourt6e  pour  lui  faire  dire  tout  le  contraire  de  la  pens6e  de  son  auteur, 
et  de  ne  tenir  aucun  compte  il  un  traite  tout  entier  oü  celle-ci  se  trouve 
expressement  exposee  et  d6veloppee  sans  eqiüvoque,  et  dont  on  meconnait 
entierement  l'esprit  et  la  portee* 

Brunetiere  antwortete  auf  diese  wuchtigen  Angriffe  noch  in  der- 
selben Nummer,  aber,  wie  zu  erwarten  war,  sehr  schwächlich.  Zuerst 
wiederholt  er  die  Wendung  Kants,  welche  im  deutschen  Text  so 
lautet:  ..Der  Krieg  ist  ein  unentbehrliches  Mittel,  die  Kultur  noch 
weiter  zu  bringen",  dabei  lässt  er  aber  nun  die  fundamental  wichtige 
Restriktion  weg.  welche  Kant  dazu  macht;  denn  der  Satz  heisst 
vielmehr  bei  Kant:  ,.Auf  der  Stufe  der  Kultur  also,  worauf 
das  menschliche  Geschlecht  noch  steht, ^)  ist  der  Krieg  ein 
unentbehrliches  Mittel,  diese  noch  weiter  zu  bringen",  und  Kant  setzt 
ausdrücklich  hinzu,  dass  ,,ein  immerwährender  Friede"  Folge  und 
Bedingung  einer  ..vollendeten  Kultur"  sei;  aber  selbst  wenn  dies 
nicht  da  stände,  so  würde  es  doch  von  Brunetiere  methodisch  ganz 
falsch  gewesen  sein,  diese  vereinzelte  und  aus  früherer  Zeit  stammende 
Stelle  nur  anzuführen,  ohne  dabei  zu  erwähnen,  dass  Kant  in  einer 
eigenen  Schrift  später  für  den  „Ewigen  Frieden"  als  ein  erstrebens- 
wertes Ideal  eingetreten  sei.  Brunetiere  sucht  sich  gegen  diesen 
Vorwurf  Couturats,  dass  er  sans  reserve  jene  für  den  Krieg 
sprechende  Kantstelle  angeführt  habe,  dadurch  zu  verteidigen,  er 
habe  ja  Kant  ..le  i)lus  paciiique  des  hommes"  genannt  und 
habe  gesagt:  ..selbst  dieser  friedfertigste  aller  Menschen  habe 
sich  nicht  gescheut,  folgendes  über  den  Krieg  zu  schreiben  .  .  ." 
(Vgl.  den  oben  S.  51  mitgeteilten  Originaltext.)    Allein  keiner  der  3000 


1)  In  seiner  Kede  selbst  und  in  seinem  ersten  Briete  (oben  S.  bl  und 
S.  63)  hatte  Brunetiere  den  Anfang?  des  Satzes  zwar  angeführt,  aber  in  einer 
den  Sinn  gänzlich  verkehrenden  falschen  Übersetzimg:  au  degre  de  civilisation 
oü  le  genre  hutnain  est  arrive'.  Das  heisst:  auf  der  Stufe,  auf  welcher  das  Menschen- 
geschlecht schon  angekonmien  ist:  während  es  bei  K.ant  heisst:  auf  der  Stufe, 
auf  welcher  das  menschliche  Geschlecht  noch  steht.  Mit  Recht  hat  l'outurat 
in  seinem  zweiten  Briefe  (vergl.  oben  S.  54)  schon  diese  falsche  Übersetzung 
gerügt. 


56  ^'-  Vailüngor, 

Zuhiirer  wird  aus  dieser  Wcnduni!:  Hrunctieres  eiitiioninuMi  haWen, 
dass  Kant  eine  eijrene  Sehrift  /.n  (liinsteii  des  Kwifren 
Friedens  geschrieben  habe;  ,.le  jtlus  paeilitiue  des  Ijunniies"  ist 
eine  Wenduni:-,  weiehe  uns  einen  milden,  sanften  und  stillen 
Mann  vor  das  Aujre  /,aul)ert,  im  Sehlalroek,  im  Ilauskäp|)elien  und 
mit  der  laniren  Pfeife.  Aber  aueli  diese  Sehilderunj;  trifft  nicht  zu: 
war  Kant  auch  körperlich  sehwach,  so  lebte  doch  eine  starke,  männ- 
liche Seele  in  ihm,  eine  kampflustige  und  enerjjische  Seele :  er  war 
nicht  umsonst  ein  Zeitjri'nosse  und  Unterthan  Friedrichs  d.  Gr.  Und 
eben  weil  er  eine  kampflustiire  Persönlichkeit  w'ar  —  der  I)oi;matis- 
mus  hat  ja  wohl  seine  Schläge  gefühlt  —  darum  hat  er  auch  den 
kulturellen  Wert  des  Krieges  erkannt.  Aber  eben  darum  ist  auch 
sein  Kintreteu  für  die  Idee  des  Ewigen  Friedens  um  so  wertvoller: 
nicht  als  ein  Schwächling  trat  er  für  den  Ewigen  Frieden  ein,  sondern 
weil  er  einsah,  dass  der  Krieg  trotz  einzelner  kultureller  Vorteile,  die 
er  unter  den  bisherigen  Verhältnissen  gebracht  hat,  doch  zuletzt 
durch  ein  höheres  Kulturideal  ersetzt  werden  muss. 

Dass  Brunetiere  von  Kants  Ansicht  vom  Kriege  sprach,  ohne 
von  Kants  Ansicht  vom  Ewigen  Frieden  zu  sprechen,  darin  eben 
besteht  das  Unrecht,  das  ihm  Couturat  mit  Recht  vorwirft  und  mit 
Ernst  verweist.  Angesichts  dieses  Sachverhalts  berührt  es  komisch, 
wenn  Brunetiere  in  seiner  Antwort  auf  Couturats  Einwand,  Brunetiere 
hätte  nicht  bloss  die  Stelle  Kants  von  178(5,  sondern  auch  seine  An- 
sicht von  1795  anführen  müssen,  jene  werde  durch  diese  erst  richtig 
beleuchtet.  Folgendes  sagt: 

La  discussion  serait  trop  commode,  et  la  conciliation  trop  facile,  si 
toutes  les  fois  qu'iin  ecrivain,  dans  le  cours  diine  vie  publique  aussi 
longue  que  celle  de  Kant,  a  exprime  sur  un  meme  sujet  des  opinions  qui 
se  contrarient,  nous  ne  retenions  que  celles  (jui  nous  plaisent.  11  aurait 
„emis"  les  autres  „en  passant" !  Pourquoi  pas  au  hasard,  sans  y  prendre 
garde?  et  nous,  nous  ne  regarderions  comme  siennes  que  les  notres ! 

Was  Brunetiere  hier  gegen  Couturat  sagt,  das  gilt  ja  vielmehr 
gegen  ihn  selbst:  Er  selbst  hat  ja  doch  ganz  willkürlich  aus  Kant 
dasjenige  herausgegriffen,  was  gerade  ihm  passte,  und  das  andere 
unterdrückt.  Wenn  je,  so  gilt  gegen  dieses  Verfahren  Brunetieres 
der  Vers: 

Quis  tulerit  Oracclios  de  seditione  quaerentes! 

In  derselben  Nummer  des  „Temps",  in  ^velcher  sich  dieser 
merkwürdige  Streit  abspielte,  bekam  Couturat  noch  zwei  Streitge- 
nosseu,  welche  ebenfalls  gegen  Brunetieres  falsche  Unterstellungen 
protestierten.     Der  eine  ist  Th.  Ruyssen,  professeur  de  philosophie 


Eine  franz.  Kontroverse  über  Kants  Ansicht  vom  Kriege.  57 

au  lyc^e  de  Kochellc,  rühmlich  bekannt  durch  seine  vortreffliche 
Darstellung  der  tranzösischen  Philosophie  des  XIX.  Jahrhunderts 
in  Uberwejr-Hein/es  Geschichte  der  l'hih)sophie  (8.  Aufl.  1897, 
S.  301 — 348;  vgl.  ..Kantstudieir',  II,  479);  auch  er  verwahrt  sich 
dagegen,  dass  Kants  wahre  Meinung  über  Krieg  und  Frieden  allein 
aus  der  beiläufigen  ..Schlussannierkung''  zu  jenem  Aufsatz  vom 
Jahre  1786  herausgenommen  werde,  mit  den  treffenden  Worten: 

...  si,  au  liuu  de  eiter  Kant  d'apres  Wiilm  et  M.  Renouvier, 
M.  Brunetiere  avait  suivi  le  conseil  quil  donne  judiciousement  ä  M.  Cou- 
turat,  de  remonter  aux  source.s,  il  aurait  saus  doute  attache  moins  diin- 
portance  (juil  ne  l'a  fait  ä  la  proposition  du  philosophe  allemand.  Le 
passage  en  (luestion  est  emprunte  a  une  simple  „remanjue  finale"  (Schbiss- 
anmerkiingj,  qui  ne  presente  (ju  iin  lien  forte  lache  avec  l'opuscule  (juelle 
termine.  Est-ce  dans  une  simple  note  d'un  article  de  revue  qu'il  convient  de 
chercher  l'opinion  de  derriere  la  tete  d'un  ecrivain,  dun  penseur  qui 
devait  ecrire  neuf  ans  plus  tard  le  celebre  Projet  de  pale  perpe'tuelle  k  la- 
quelle  le  discours  de  Lille  ne  fait  point  aUusion? 

Or,  en  admettant  meme  que  Kant,  en  1786,  fut  convaincu  de  la 
necessite  des  guerres,  il  est  tres  certain  que  son  opinion  fut  toute  differente 
du  jour  oü  il  etudia  serieusement  la  <]uestion  de  la  paix.  C"est  (|u'entre 
l'article  de  la  Revue  mensuelle  de  Berlin  et  l'ouvrage  de  1796,  un  grand 
^venement  s'est  accompli,  qui  a  exerce  sur  lesprit  de  Kant  une  impression 
extraordinaire,  au  point,  dit-on,  de  bouleverser  ses  manies  de  vieillard:  la 
Revolution  fran^aise.  Tout  un  ordre  social,  qu'il  estimait  mauvais,  mais 
solide,  s'ecroulait  a  ses  yeux,  et  dejä  les  chimeres  de  la  veille  lui  sem- 
blaient  les  realites  de  demain.  11  ne  croyait  plus  impossible  que  les 
peuples  civilises  pussent  un  jour  disposer  d'eux-memes  et  regier  sans 
violence  leurs  rapports  avec  leurs  voisins.  11  pensait  enfin  que  l'histoire, 
interrompue  par  de  tels  evenements,  si  eile  ne  brise  pas  toute  la  trame  de 
„traditions"  qui  relie  l'avenir  au  passe,  permet  du  moins  de  concevoir  cet 
avenir  un  peu  meilleur  que  ce  passe.  Et  peut-etre  semblera-t-il  ainsi  ä 
quehjues-uns  plus  moderne  que  M.  Brunetiere  qui  ne  voit  rien  de  plus 
dans  nos  ^traditions"*  que  le  catholicisme,  larmee  et  la  litterature  et  trouve 
moyen  de  definir  „Täme  fran(;aise"   sans  dire  un  seul  mot  de  la  Revolution. 

Was  Brunetiere  hierauf  antwortet,  wird  an  Schwächlichkeit  nur 
noch  übertroffen  durch  dasjenige,  was  er  gegen  den  anderen  Streit- 
genossen  Couturats  sagt,  gegen  Ch.  Appuhn,  professeur  au  lycee 
d'Avignon.  Dieser  weist  darauf  hin,  dass  jene  etwas  dunkle 
Wendung,  ,,der  immer  gefiirchtete  Krieg  nötige  selbst  den  Oberhäuptern 
der  Staaten  Achtung  für  die  Menschheit  ab"  im  Wesentlichen  auf 
das  Preussen  Friedrichs  II.  zielt  und  nur  für  autokratisch  regierte 
Staaten  gilt;  Appuhii  fährt  dann  trell'eiid  weiter  fort: 

11  n'en  est  pas  moins  vrai  (jue  dans  de  tres  nombreux  pas.sage.s,  non 
seulement  dans  lessai  Ponr  la  paix  perpe'tuelle,  mais  dans  les  opuscules 
intitules:  Idee  d'une  histore  universelle  conrue  par  un  citoyen  die  mondc  (IT'^H. 


5S  H.  VailiiiigiT. 

et  ^4  propos  du  dicton:  ccla  pcut  rtre  juste  di  tlu'orir  )iiiii,s  est  jmitiijurmcnt 
inapplicablt'  {17UH)  Kant  sest  toujours  piononce  ponr  une  fi''dt''iiition  des 
ptMiplos  civilisös.  pi>nr  la  siipprossion  ilo  la  j^fiuMTc.  jionr  la  snlistitiitinn 
il  Uli   iTy;imi'  jiiriilitiiu'  au   r(\i:;iine  de  la   foive  l)riitale. 


Wir  können  nicht  lunliin.  dieser  interessanten  und  leiirreichen 
Del>atti'  noeii  einiue  Worte  iiiiizu/utiiuen.  Wir  knüpfen  dabei  an 
eine  kleine  Schrift  eines  deutsehen  l'rofesstirs  an,  welcher  sich 
Hrunetiere  würdijr  an  die  Seite  stellt.  Es  ist  dies  der  Professor  des 
Kirchenrechts  und  Staatsrechts  in  München,  Karl  Frhr.  v.  Steng-el, 
und  seine  kleine  Schrift  heisst:  „Der  ewii2:e  Friede*'  (München, 
Haushalter  ISi)!).)  Darin  ist  S.  4  auch  von  Kants  olien  ofterwähnter 
Schrift   ,.Zun)  ewigen  Frieden-'  die  Rede,    wobei    sich   Hr.  v.  Stengel 

folgeuderniassen  äussert: 

Berücksichtigt  man.  dass  Kant  die  Möglichkeit  des  ewigen  Friedens 
von  der  Erfüllung  so  vieler  kaum  je  erreichbarer  Voraussetzungen  ab- 
hängig macht,  so  wird  man  unwillkürlich  zu  der  .  .  .  Annahme  gedrängt,  dass 
Kants  Schrift  einen  stark  ironischen  Beigesclimark  habe.  Kant  kann 
daher  jedenfalls  nur  mit  grossem  Vorbehalte  zu  den  Vertretern  der  Idee 
des  ewigen  Friedens  gezählt  werden,  zumal  er  sich  in  verschiedenen 
Stellen  anderer  seiner  Schriften  sehr  energisch  l'iir  den  Krieg  aus- 
gesprochen hat. 

Professor  v.  Stengel  ist  also  ebensowenig  als  M.  Hrunetiere  im- 
stande, zu  verstehen,  dass  jemand,  der  die  kulturelle  Bedeutung 
des  Krieges  bis  zu  einem  gewissen  (xrade  anerkennt,  trotzdem  zu- 
gleich für  die  Idee  des  ewigen  Friedens  eintreten  kann.  Als  oh  sich 
das  irgendwie  ausschliessen  würde!  Es  kann  doch  jemand  sehr 
wohl  zugleich  anerkennen,  dass  das  Reisen  in  der  Postkutsche 
seine  poetischen  Seiten  hat.  und  doch  zugleich  für  die  Erbauung 
von  Eisenbahnen  stimmen,  weil  diese,  alles  in  allem  genonmien,  doch 
dem  Ideal  beciuemen  Verkehrs  noch  viel  näher  kommen.  Oder  es 
kann  jemand  sehr  wohl  zugleich  den  intimen  Reiz  der  Butzenscheiben 
fühlen  und  preisen  und  ihr  Verschwinden  mit  Bedauern  begleiten, 
und  doch  zugleich  bei  dem  Bau  eines  neuen  Hauses  helle  grosse 
Scheiben  verwenden,  weil  sie  eben  dem  Ideal  eines  Licht  durch- 
lassenden Materials  noch  viel  mehr  sich  nähern.  So  kann  man  für 
die  Grösse  und  Originalität  vieler  mittelalterlicher  Dinge  sehr  viel  Ver- 
ständnis haben  und  doch  deren  Ersatz  durch  moderne  Einrichtungen 
befürworten.  So  kann  man  auch  z.  B.  sehr  wohl  zugestehen,  dass 
das  mittelalterliche  Fehderecht    seine    guten  Seiten  hatte   gegenüber 


Eine  franx.    Kontroverse  über  Kants  Ansicht  vom  Kriege.  59 

dem  schleppenden  (xaiiire  unseres  heutijren  Prozessverfahrens,  aber 
niemand,  selbst  nicht  der  feudalste  Grundherr,  wird  deshalb  das 
erstere  wieder  einführen  wollen.  So  kann  man  also  auch  die  Vor- 
züjre  des  Krieg:es  anerkennen,  und  doch  zuo:leieh  den  Ewigren  Frieden 
herbeiwünschen.  Es  ist  bedauerlich,  dass  man  so  einfache  Din^e  so 
gelehrteji  Männern  sa.iren  nmss. 

Dass  Kant  die  Vorzüge  des  Krieges  gelegentlich  gepriesen  hat, 
ist  ganz  richtig.  Wir  haben  in  den  ..Kantstudien''  III,  S.  257  eine 
solche  Stelle  aus  der  Kritik  der  Urteilskraft  §  28  in  extenso  ange- 
führt (in  dem  kleinen  Artikel:  .,Kants  Schrift:  Zum  ewigen  Frieden 
und  der  russische  Abrüstungsvorschlag"):  Kant,  welcher  so  leb- 
haften Sinn  für  das  Erhabene  hatte,  schreibt  daselbst  dem  Krieg, 
,.wenn  er  mit  Ordnung  und  Heilighaltung  der  bürgerlichen  Rechte 
geführt  wird",  etwas  Erhabenes  zu.  und  gesteht  zu,  dass  er  die 
Denkungsart  des  \'olkes,  ..welches  ihn  auf  diese  Art  führt'*,  „nur  um 
desto  erhabener  macht,  je  mehreren  Gefahren  es  ausgesetzt  war  und 
sich  mutig  darunter  hat  behaupten  können."  Und  noch  eine  andere 
schöne  Stelle  über  den  Krieg  bei  Kant  wollen  wir  den  Herren 
Brnnetiere  und  v.  Stengel  verraten:  sie  findet  sich  in  demselben 
Buche,  im  t>  83.  und  hat  sehr  nahe  Verwandtschaft  mit  der  von 
Brunetiere  angeführten  Stelle  aus  der  Schrift  vom  Jahre  1786.  Und 
ein  aufmerksamer  Leser  Kants  mag  noch  manche  andere  derartige 
Stellen  finden. 

Die  Freunde  der  Friedensidee  müssen  sich  darüber  freuen,  dass 
Kant,  der  Vertreter  der  Idee  des  Ewigen  Friedens,  auch  dem  Kriege 
sein  Recht  und  seine  Erhabenheit  Hess:  denn  dass  derselbe  Mann, 
der  so  vom  Kriege  spricht,  doch  zugleich  für  den  Ewigen  Frieden 
eintritt,  das  eben  macht  sein  Votum  um  so  wertvoller. 
Würde  sich  Kant  mit  der  Thränenseligkeit  einer  B.  v.  Suttner 
über  den  Krieg  geäussert  haben,  dann  hätten  seine  Worte  über  den 
Frieden  keinen  Wert:  Kant  sprach  vom  Kriege  wie  ein  Mann.  Ja 
wie  ein  Spartaner.  Er  kannte  die  Menschen  und  ihre  Geschichte 
zu  gut,  und  in  ihm  selbst  lebte  eine  zu  tapfere  Seele,  als  dass  er 
den  Krieg  ohne  weiteres  verworfen  hätte.  Er  kannte  die  ethische, 
ja  die  geradezu  pädagogische  Bedeutung  des  Krieges  und  der  Kriegs- 
bereitschaft zu  gut.  um  in  eine  solche  Phantasterei  zu  verfallen,  den 
Krieg  um  jeden  Preis  und  in  jeder  Form  zu  verdammen. 

Aber  eben,  dass  derselbe  Mann,  der  vom  Kriege  so  anerkennend 
sprechen  konnte,  trotzdem  für  die  Idee  des  Ewigen  Friedens  eintrat, 
das    verleiht  seinen  Worten   noch  heute  ein  mächtiges  Gewicht.     Er 


{j{j        li    \'ailnnj;er.  Eine  Inmz.  Kontrovorso  über  Kants  Aiisiclit  v.  Krit-gc. 

sieht  —  wir  wiederholen,  was  wir  schon  III.  257  jresai::!  haben  — 
die  (iefalircn.  weK'lie  der  mensehliehrn  Kultur  aus  t'ort^eset/teii  Krie}::s- 
/Qständen  (Indien.  Dies  lehren  ihn  nicht  etwa  Idoss  die  alistrakten 
(tesetze  der  Moral,  sondern  die  konkreten  KrCahrunfren  der  Menseh- 
heitspeseliiehte.  Kr  vertritt  den  (bedanken,  dnss  die  Knlturstaaten 
einen  Friedenshund  sehliesstMi  sollen,  um  ihre  Kulturaut'iraben  nicht 
bloss  etwa  im  Innern,  sondern  vor  allem  auch  ihre  Kulturmission  in 
den  anderen  Weltteilen  erfüllen  zu  können.  Die;«  versteht  Kant 
unter  dem  „Ewiiren  Frieden" —  die  Interossenfjemeinschaft 
der  Kulturvölker  -  in  Keliirion  und  Wissenschaft,  in  Kunst  und 
Technik,  in  Handel  und  Industrie.  Der  „Ewijre  Friede''  in  diesem 
Kantischen  Sinne  jrefasst,  ist  durchaus  kein  phantastischer  Gedanke, 
sondern  ein  erreichbares  Ziel.  Hätte  man  diesen  Kantischen  Gedanken 
des  Bundes  aller  Kulturstaaten  im  It).  Jahrhundert  der  Healisieruiifi: 
näher  ireführt,  als  es  geschehen  ist,  so  wären  wir  jetzt  am  Kndv 
desselben  mit  der  Verbreitunir  der  Kultur,  nielit  bloss  in  Europa, 
sondern  auch  in  den  anderen  Weltteilen  weiter,  viel  wxüter! 

Und  so  bleibt  uns  nur  noch  der  Wunsch  auszusprechen,  dass 
die  bevorstehende  ,, Friedenskonferenz'*  einen  Schritt  weiter  zu  der 
Kealisierung  dieser  Interessengemeinschaft  aller  Kulturvölker 
bedeuten  möge.  Wir  wünschen  dies  um  so  mehr,  als  das  dieselbe 
veranlassende  Friedensmanifest  des  Russischen  Kaisers  vom  24.  August 
vorigen  Jahres,  wie  Professor  Stein  in  Bern  in  der  „Zukunft"  vom 
15.  Oktober  1898  in  seinem  Artikel:  „Kant  und  der  Zar"  nachge- 
wiesen hat,  sich  teilweise  wörtlich  mit  Kants  Schrift  deckt,  in 
welcher  er  das  Ideal  des  „Ewigen  Friedens*'  entwirft  —  die  beste 
Jubiläumsfeier  für  diese  bedeutsame  Schrift  des  grossen  Philosophen. 

Nur  komme  man  uns  nicht  mit  Jenem  so  beliebten  Einwand,  der 
allen  grossen  Gedanken  wie  das  Haupt  der  Gorgo  entgegengehalten 
wird:  das  ist  nur  ein  Ideal,  das  in  der  harten  W^elt  der  Thatsachen 
keine  Stätte  findet.  Man  vergesse  doch  nicht,  was  Kant  lehrt,  und 
was  die  ganze  Weltgeschichte  bestätigt:  Ideale  und  Thatsachen 
bilden  keinen  wahren  Gegensatz;  die  Ideale  sind  ja  selbst 
Thatsachen  und  zwar  die  allerwirksamsten.  Die  Ideale 
welche  der  Menschengeist  aus  sich  erzeugt,  sind  als  solche  Erzeug- 
nisse selbst  etw^as  Reales,  ja  der  Kern  und  zugleich  die  Blüte  aller 
Realität. 


Zu  Kants  Philosophie  der  Geschichte 

mit  besonderer  Beziehung  auf  K.  Lamprecht. 
Von  Fritz  Medicus  in  Halle  a.  S. 

Zu     dem    Kranze    jener     Wissenschaften,     in     denen    sich    die 
von  der  gewaltigen  Bewe2:ung:  am  Ende  des  vorigen  Jahrhunderts  aus- 
gegangene Beeinflussung  durch  Kantische  Gedanken  geltend  gemacht 
hat,  gehört  auch  die  Geschichte,  und  das  ist  um  so  selbstverständlicher, 
als  Kant  selbst  geschichtsphilosophische  Fragen  in  mehreren  Schriften 
bearbeitet  hat.     Während  aber  sonst  meist  die  Kantischen  Ideen  in 
den  Einzehvissenschaften    freudig    acceptiert  werden,    so  pflegen  die 
Historiker  von  heute  weniger  günstig  über  den  Einfluss  zu  urteilen, 
den    ihre   Wissenschaft    von    dem    , eminent    unhistorisch  denkenden' 
Philosophen,    dem    Verehrer    Rousseaus,    erfahren    hat.     In  der   un- 
historischen Denkungsart.  die  Kant  von  Rousseau  übernommen  habe, 
sieht    man    einen    wesentlichen  Teil    seines  Vermächtnisses    an    den 
deutschen     Idealismus,     über     dessen    Geschichtsphilosophie     selbst 
Richard  Fester  (trotz  tiefer  Sympathie   für  jene  Epoche)    kein    be- 
sonders günstiges  Urteil  fallen  kann  (vergl.  sein  verdienstvolles  Buch 
„Rousseau     und     die     deutsche     Geschichtsphilosophie-',     Stuttgart, 
Göschen.   189U).     l'nd  neuerdings  wieder  hat  sich  ein  hervorragender 
Gelehrter,  K.  Lamprecht,    zu   dieser  Frage  geäussert  und  —  trotz 
einer  von  der  Festerschen    vielfach   abweichenden  Auffassung  —  im 
ganzen  doch  mit  denselben  Gründen  die   Kantische  Denkweise  abge- 
lehnt.    ,.Herder  und  Kant  als  Theoretiker  der  Geschichtswissenschaft" 
ist    der  Titel    der    in    den    ,.Jahrbüchern  für  Nationalökonomie   und 
Statistik"    (3.    Folge,    Band  XIV    (LXIX)   1807,    S.    161—203)    er- 
schienenen   höchst    interessanten    und    die    vielseitige    Gründlichkeit 
ihres  Verfassers  dokumentierenden  Abhandlung,    in    der    zwar  (lUH) 
anerkannt  wird,  dass  in  Kants   (und  el)enso   in  Herders)  Geschichts- 
philosophie    Momente    liegen,    die     auf    die    Geschichtswissenschaft 
tVirdernd  hätten  einwirken  können,  in  der  es  aber  unmittelbar  darauf 
heisst,  dass  die  wirksam    gewordenen  Momente    bedauerlicher  Weise 
gerade    die  Inkonsequenzen    wären,    die   jenen  Theorien    angeklebt, 


62  Kritz  Modii'us, 

und    die    (U-m    allijoiiieiiu'ii    Zcithcwusstscin    einstwoilni    iiiclir    i'iit- 
sprocluMi  hätten. 

Es  sind  in  der  Hauptsache  zwei  Gesichtspunkte,  unter  denen 
Lamprecht  die  unhistorische  Art  und  Wt-isc  kritisiert,  in  der  Kant 
Geschichtsphihtso})hie  jretriehen  halie:  einmal  habe  er  die  seiner  Zeit 
eigenen  uidialtharen  \  oraussi'tzuiiiren  über  Individuum  und  (!esell- 
schaft  jreteilt.  und  zweitens  —  und  das  ist  weit  wichtiiicr  —  habe 
er  durch  das  llereintrairen  teleologischer  (iedanken  seinen  empirischen 
Monismus,  an  dem  er  eini'  sichere  Grundlage  der  Gescduchte  hätte 
haben  können,  gesprengt;  mit  ..Überschätzung  des  geistigen  Moments" 
(11)7)   habe   er   die  Erfahrung  nicht  zu    ihrem  Kecht  kommen  lassen. 

Was  den  ersten  l'unkt  aidaugt,  auf  den  ich  nur  nnt  kurzen 
Worten  eingehen  möchte,  so  enthält  er  gewiss  manches  berechtigte. 
Auch  Festers  Einwände  bewegen  sich  auf  dieser  Linie  (vergl.  bes. 
S.  75  über  Kants  Urmenschen).  Aber  gerade  den  Einwurf,  den 
Laraprecht  ganz  besonders  betont,  Kants  Annahme  der  Konstanz 
des  Individuums  möchte  ich  nicht  gelten  lassen.  Lamprecbt 
selbst  schränkt  (186  und  2(,H))  den  Einwand  dahin  ein,  dass  Kant 
allerdings  in  der  weltgeschichtlichen  Aufeinanderfolge  der  Nationen 
eine  das  Individuum  bestimmende  Macht  erkannt  hätte;  dass  es 
aber  ..Individualtypeu  der  Kulturzeitalter  gebe,  dass  der  Mensch  des 
Hirtenlebens  z.  B.  geistig  anders  konstruiert  sei  als  der  Mensch 
höherer  Kulturperioden",  das  sei  Kant  „als  Moment  systematischer 
Betrachtung  noch  entgangen"  (200/1).  Lamprecht  sieht  in  dieser 
falschen  Annahme  Kants  eine  Grundvoraussetzung  des  weltgeschicht- 
lichen Umrisses  in  der  „Idee  zu  einer  allgemeinen  Geschichte  in 
weltbürgerlicher  Absicht".  Was  L.  meint,  ist  offenbar  folgendes: 
Kants  Behauptung  ..alle  Naturanlagen  eines  Geschöpfes  seien  be- 
stimmt, sich  einmal  vollständig  und  zweckmässig  auszuwickeln" 
(W.  W.  Rosenkranz  VH,  1,  819)  fordert,  da  diese  Entwicklung  erst 
in  der  Gattung  geschehen  soll,  die  Konstanz  aller  dieser  Anlagen, 
so  dass  sie  selbst  immer  weiter  vererbt  würden,  nur  in  höher  ent- 
wickeltem Zustande.  Doch  dürfte  das  kaum  Kants  Ansicht  sein. 
Denn  wenn  man  (VII,  1,  333)  liest,  wie  er  seinen  „Leitfaden"  im 
Gange  der  Weltgeschichte  darin  wiederfindet,  dass  bei  allen  Um- 
wälzungen ..ein  Keim  der  Aufklärung  übrig  blieb",  um  eine  neue 
und  höhere  Kulturstufe  zu  vermitteln,  so  erkennt  man,  dass  es  ihm 
um  weiter  nichts  zu  thun  ist,  als  um  die  Kontinuität  der  kulturellen 
Entwicklung  selber,  nicht  aber  um  die  Konstanz  der  entwicklungs- 
geschichtlich frühesten  menschlichen  Anlagen:    allerdings  sagt  er  an 


Zu  Kants  Philosophie  der  Geschichte.  68 

der  oben  erwähnten   Stelle,  die  Anlagen   seien  bestimmt,  sich  auszu- 
wickeln,   aber    das    heisst  nicht,    sie  seien  konstant.     Denn  soll  die 
Auswicklung,    wie    ausdrücklich    verlangt    wird,    eine   zweckmässige 
sein    (was    doch    in    letzer  Hinsicht  bedeutet,    dass  die  Anlagen  auf 
ihrer  höchsten   Entwicklungsstufe  durchaus  dem  Zweck  der  Moralität 
entsprechen),  so  ist  klar,  dass  zu  diesem  P^ndziel  die  schlechten  An- 
lagen   überhaupt    nicht    gelangen.     Alles  Unsittliche   krankt  ja  nach 
Kaut  daran,  dass  es  nicht  ohne  Widerspruch  verallgemeinert  werden 
kann;  hier  ist  „sieh  auswickeln"  gleichbedeutend  mit  „sich  aufheben". 
Auf    der    anderen  Seite    steht    auch   dem  nichts  entgegen,  dass  sich 
neue    Anlagen    entwickeln,    von    denen    anfänglich    auch    nicht    der 
mindeste  Keim  zu  linden   gewesen  wäre,  indem   das  stattfindet,   was 
Wundt  als  ..Ht'terogonie  der  Zwecke"  bezeichnet  hat  (vgl.  Crrundriss 
d.  Psychol.,  -2.  Aufl„  S.  :381 ;  Ethik,  2.  Aufl.,  S.  266  f.)     Kant  selbst 
giebt  hierfür  Beisjiiele,    wenn  er  zeigt,  wie  er  sich  den  ästhetischen 
Geschmack  und  wie  die    Sittlichkeit   entstanden  denkt  (vgl.  „Mut- 
masslicher Anfang  der  Meuschengeschichte"  Vll,  1,  37U).    Was  allein 
ihm    in    der    ..Idee  .  .  ."  am    Herzen    liegt,    ist    die   Teleologie   der 
Natur:  alle  Anlagen  müssen  wenigstens  relative  Berechtigung  haben; 
auch  die  schlechten,  die  vergehen  sollen,   müssen  wenigstens  vorher, 
und  wenn  noch  so  indirekt,  dazu  gedient  haben,  den  Endzweck  der 
Geschichte    zu  betordern,    nämlich  die  \  ollendung  der   Kultur,  einen 
Zustand,  dem  sich  die  ]\Ienschheit  entgegenbewegt  in  „zwar  bisweilen 
unterbrochenem,  aber  nie  abgebrochenem"  Fortschreiten  („Über 
den  Gemeinspruch :  Das  mag  in  der  Theorie  richtig  sein,  taugt  aber 
nicht  für  die  Praxis'*  VII,  1,  222). 

Damit  ist  dieser  erste  der  von  Lamprecht  angegriflenen  Punkte 
erledigt,  und  zugleich  die  Überleitung  zu  dem  zweiten  —  wichtigeren 
—  gescharten :  der  teleologischen  Betrachtung  der  Geschichte.  Denn 
der  erste  Punkt  hätte,  auch  wenn  man  den  P^inwand  anerkennen 
wollte,  keine  weitere  Bedeutung  als  die  einer  zu  Unrecht  als  That- 
sache  angenommenen  Voraussetzung.  Wäre  durch  eingehendere 
Forschung  der  wirkliche  Sachverhalt  klargestellt,  so  könnte  man 
entsprechend  korrigieren.  Allein  hier  handelt  es  sich  um  etwas 
Prinzipielles,  um  Kants  ablehnende  Stellung  zur  Erfahrungswissen- 
schaft überhaupt.  ..Kant,  ein  konstruktiver  Kopf,  hatte  den  Weg 
der  Empirie  zur  Feststellung  der  Vorgänge  des  geschichtlichen  \'f'r- 
laofs  verschmäht;  von  gewissen  Voraussetzungen  aus  war  er  unter 
der  Annahme  einer  Naturaltsicht  vorgegangen,  die  auf  die  Ent- 
wicklung    dieser    Voraussetzungen    in     bestimmter    Weise    gerichtet 


64  Fritz  Medicus, 

sein  SiillU'.  .  .  So  konnte  IlenltT  Kant  eine  deduktive  Teloolo^'ie 
vonverfen"  (Laniprcclit  l'.>:{/4).  Zu  teilweise  falschen  \'orausset/.un- 
iren  also  noeh  eine  olVenbar  talsehe  Methode:  hier  scheint  weniu 
(Jutes  mehr  erwartet  werden  zu  dürfen.  Denn  tliatsäehlich, 
Lamjtrecht  hat  richtiir  iresehen:  Kant  verschniiiht  die  Kmpirie.  Wie 
könnte  er  auch  anders,  da  nach  iliin  ddcli  rhilosopliie  jxerade  so 
■weit  reicht,  als  ..Heg:rifle  ajmori  ihre  Anwendun^^  haben"  (Kr.  d.  IJ., 
Einl.  II).  Wie  aber,  wenn  Kant  eben  darum,  weil  er  Philosophie 
der  Gesciiichte  l)ehandelt,  ^ar  kein  „Theoretiker  der  Geschichts- 
wissenschaft" im  Lamprechtschen  Sinne  wäre?  Der  Ausdruck 
..IMiilosophie  der  Geschichte"  ist  zweideuti<r.  Man  könnte  Metho- 
dik der  Geschichte  darunter  verstehen.  Liest  man  freilieh  unter 
diesem  Gesichtspunkt  die  einschlägigen  Kantischen  Schriften,  sieht 
man  also  Kants  Philosophie  der  Geschichte  in  diesem  methodologi- 
schen Sinne  als  eine  ..Theorie  der  Geschichtswissenschaft"  an.  so 
muss  man  den  Eindruck  bekommen.  Kant  habe  in  der  ,.ldee 
. .  ."  eine  teleologische  Geschichtsschreibung  empfehlen  wollen  und  im 
,. Mutmasslichen  Anfang  ..."  am  Text  der  biblischen  Urgeschichte  ein 
Muster  für  die  Behandlung  historischer  Quellen  gegeben.  Dann  wäre 
er  freilich  ein  ..Theoretiker  der  Geschichtswissenschaft",  aber  kein 
solcher,  den  es  noch  zu  lesen  der  Mühe  lohnte,  Was  Kant  in  seiner 
Geschichtsphilosophie  will,  ist  etwas  ganz  anderes. 

Kant  definiert  (Kr.  d.  r,  \..  Kehrb.  633)  die  Philosophie  als 
,.die  Wissenschaft  von  der  Beziehung  aller  Erkenntnis  auf  die  wesent- 
lichen Zwecke  der  menschlichen  Vernunft-',  und  den  höchsten  Zweck, 
den  Endzweck  als  „die  ganze  Bestimmung  des  Menschen"  (634). 
Wenn  man  hieraus  folgern  will:  Philosophie  der  Geschichte  ist  die 
Beziehung  der  historischen  Erkenntnis  auf  die  Bestinnuung  des 
Menschen,  so  trifft  man  genau  Kants  Meinung  und  erkennt,  dass  er 
auch  hier  an  dem  allgemeinen  Charakter  seiner  Philosophie  festhält, 
dass  er  auch  hier  mit  einem  Wertproblem  zu  thun  hat,  nämlich  mit 
der  Frage  nach  dem  Werte  unseres  geschichtlichen  Daseins. 
Kann  er  aber  schon  wegen  der  Verschiedenheit  der  Objekte  kein 
Theoretiker  der  Geschichtswissenschaft  genannt  w^erden,  so  kann  er 
es  auch  aus  einem  anderen  Grunde  nicht:  das,  was  er  auf  seinem 
Wege  allein  finden  kann,  ist  keine  „Wissenschaft"  im  eigentlichen 
Sinne.  Kant  hat  den  Begriff  der  Wissenschaft  in  aller  Strenge  auf- 
gestellt und  alle  ..Wahrscheinlichkeit  und  Mutmassung"  (Prol., 
Schulz,  158)  aus  ihr  verbannt;  hier  aber  giebt  er  nirgends  seine 
Theorien  als  wissenschaftliche  Erkenntnisse,  sondern  braucht  mehrfach 


Zu  Kants  Philosophie  der  Geschichte.  65 

gerade  jene  in  der  Wissenschaft  verpönten  Termini,  I^ampreclit  hat 
dies  auch  bemerkt  (1S4|.  hat  aber  nicht  den  Schluss  darausgezogen, 
dass  die  ganze  Geschichtsphilosophie  Kants  eben  nicht  theoretische 
Wissenschaft  ist,  sondern  praktischer  Glaube;  sonst  hätte  er 
nicht  an  der  oben  erwähnten  Stelle  gesagt,  Kant  habe  die  Empirie 
verschmäht  ,.zur  Feststellung  der  Vorgänge  des  geschichtlichen  \'er- 
laufs":  das  hat  Kant  nicht  gethan.  Zu  Versuchen,  die  emjjirische 
Realität  ä  la  Hegel  (der  übrigens  in  seiner  Philosophie  der  Ge- 
schichte selbst  sparsamen  Gebrauch  von  seiner  Metaphysik  gemacht 
hat)  oder  Wolff  ajjriori  zu  konstruieren,  hat  er  keine  Neigung.  Die 
rationalistische  Methode  des  letzteren  ist  freilich  charakteristisch  für 
die  unhisti»rische  Denkweise  der  Aufklärungszeit  —  und  Kants 
Transscendeiital])hilosophie  wurzelt  im  Kationalismus.  Gerade  ihre 
bedeutungsvollsten  Momente,  die  Zurücksetzung  der  genetischen  Be- 
trachtung und  die  \'erachtung  der  zur  Begründung  der  Normen  „auf 
die  Erfahrung  gehefteten  Mauhvurfsaugen"  (VII,  1,  179)  sind  jener 
Denkweise  entsprungen.  Allein  damit,  dass  Kant  diese  rationalisti- 
schen Momente  herausgehoben,  andere  aber  zurUckgestossen  hat, 
hat  er  den  Rationalismus  selbst  überwunden;  indem  er  das  Gebiet 
umgrenzt  hat,  dessen  Erforschung  unabhängig  von  aller  Berücksichti- 
gung der  besonderen  Erfahrung  geschehen  muss,  hat  er  den  Grund 
zu  einer  Erfahrungswissenschaft  erst  eigentlich  gelegt  und  den  Respekt 
vor  der  Erfahrung  begründet.  Darum  ist  es  durchaus  die  Konsequenz 
seiner  ganzen  Philosophie,  wenn  er  am  Schlüsse  der  „Idee  ,  .  ." 
(VII.  1,  834)  sagt,  dass  die  „eigentliche  Historie  .  .  .  bloss  empi- 
risch abgefasst"  sei  und  nicht  durch  seinen  apriorischen  Leitfaden 
ersetzt  werden  könne. 

Dass  er  aber  bei  der  Behandlung  seines  Problems  die  Erfahrung 
nur  eine  untergeordnete  Rolle  spielen  lassen  konnte,  wird  klar,  wenn 
man  dieses  genauer  ins  Auge  fasst.  —  Kant  hat  aus  seinen  anthro- 
pologischen und  geschichtlichen  Kenntnissen  keinen  vorteilhaften  Ein- 
druck von  der  ^Menschheit  bekommen:  er  steht  ihr  mit  ,. empirischem 
Pessimismus",  wie  Hoff  ding  (Geschichte  d.  neueren  Philos.,  11.  83) 
zutreffend  bemerkt,  gegenüber.  ,.Man  kann  sich  eines  gewissen 
Unwillens  nicht  erwehren,  wenn  man  ihr  [sc.  der  Menschen]  Thun 
und  Lassen  auf  der  grossen  WeltbUhne  aufgestellt  sieht;  und  bei 
hin  und  wieder  anscheinender  Weisheit  im  Einzelnen,  doch  endlich 
alles  im  Grossen  aus  Thorhcit,  kindischer  Eitelkeit,  oft  auch  aus 
kindischer  Bosheit  und  Zerstörungssucht  zusaramengewebt  findet: 
wobei    man    am  Ende    nicht    weiss,    was   man  sich  von  unserer  auf 

Kantstudien  IV.  6 


(j(;  Fritz  Moilious, 

ihn'  Vor/.iljre  so  oiufrcbildoteii  Gattuiii;-  filr  ciiuMi  HeiiritV  niiiclu'ii  soll'' 
(Vll,    1,  ;.U8).     Nach  solclirr  CharakU-ristiU  sieht  es  aus,  als  sei  das 
Dasein  sinnlos,  als  sei  dii'  (ieseliiclite  eine  alberne  Grille  des  Welt- 
l)aumeisters.     „Einen  einer  Gottheit  wilrdifren  Anblick"  (VII.    I.  2-"J) 
böte  sie  jedenfalls  nicht.     Die  Charakteristik  ist  aber  n(»t'li  nicht  er- 
schöpteud:    als    moralisches  Wesen    hat  der  Mensch  absoluten  Wert, 
ist    er  Zweck    an   sich   selbst;  und  die  Schöpfung  zeij2:t  in  so  vielen 
Stücken  ..Herrlichkeit  und  Weisheit*',  dass  „die  Geschichte  des  mensch- 
lichen GTCschlechts"    kein    „unaufhörlicher  Einwurf  dajregen"  zu  sein 
braucht,    sondern    dass    es    berechtigt    erscheint,    „einen    besonderen 
Gesichtspunkt  der  Weltbetrachtung  zu  wählen'*  (VII,  1,  334);  nämlich 
einen  Plan    der  Natur    vorauszusetzen,    demzufolge   die   menschliche 
Gattung  erreicht,  was  das  Individuum  nicht  erreichen  kann.    Das 
moralische  Bewusstsein    fordert,    und    die   in  der  Natur  allenthalben 
zu  Tage    tretende  Weisheit    beglaubigt   es,    dass  die  Geschichte  den 
Menschen    nicht    als  Spielball    ihrer  Launen   behandelt,    sondern  ihn 
seiner  Bestimmung    entgegenführt.     Dass   die  Beglaubigung  durch 
die    der    Erfahrung    sich    zum    Teil    darstellende  Zweckmässigkeit 
hierbei  nicht  ausschlaggebend  sein  kann,  ist  selbstverständlich.     Der 
ganze  Nachdruck  liegt  auf  dem  Postulat  des  moralischen  Bewusst- 
seins.     Genug,    dass   die  Natur    „etwas  Weniges"  (VII,  1,   330)  von 
einer  solchen  Planmässigkeit  entdecken  lässt. 

Kants  Geschichtsphilosophie  ist  der  materiale  Teil  s'^iner  Ethik. 
Dem  nach  den  Normen  der  praktischen  Vernunft  beurteilenden  Be- 
wusstsein ist  die  Geschichte  die  Entwicklung  der  Menschheit  zur 
Realisation  der  Moralität.')  Aus  dem  Pflichtbewusstsein  selbst  fliesst 
dieser  Glaube  an  die  fortschreitende  Verwirklichung  des  Ideals  der 
Kultur  (vgl.  die  klaren  Ausführungen  in  „Das  mag  für  die  Theorie 
richtig  sein  .  .  .",  sowie  Kr.  d.  U.  §  83),  sei  es  nun,  dass  diese 
ersteht  unter  der  sittlichen  Arbeit,  oder  dass  sie  sich  durchsetzt  unter 


*)  Der  Kuriosität  halber  mag  hier  die  neueste  Auslassung  des  Prager 
Professors  der  Philosophie  0.  Willmann  Platz  finden:  „Völlig  fern  liegt  Kant 
der  Gedanke  einer  Entfaltung  der  Kräfte;  alle  genetische  Auflassung  ist  ihm 
fremd  imd  könnte  bei  seinem  analytisch-kritischen  Verfahren  auch  gar  keinen 
Boden  finden.  Damit  ist  auch  das  Prinzip  der  Lückenlosigkeit  ausgeschlossen. 
Bei  Kant  zeigt  das  Innere  des  Menschen  nicht  bloss  Lücken,  sondern  geradezu 
Klüfte,  und  von  einem  Fortschreiten  zu  den  höchsten  Höhen  des  Menschentums 
weiss  Kants  selbstzufriedene,  völlig  individualistische  und  geschichtslose  Moral 
nicht  das  allermindeste."  („Über  Sozialpädagogik"  im  „Jahrbuch  des  Vereins 
für  wissenschaftliche  Pädagogik",  31.  Jahrgang,  Dresden,  Kaemmerer,  1899, 
S.  318.) 


Zu  K.ints  Philosophie  der  Geschichte.  67 

dem  AntafTonismus  von  Ehrsucht,  Herrschsucht,  Habsucht,  und  gerade 
durch  ihn  (VII,   1,  321  f.). 

F'ür  die  theoretische  Geschichtswissenschaft  sind  solche  ge- 
schichts  philosophische  Gedanken  freilich  von  zweifelhaftem  Wert. 
Sie  richten  Schaden  an,  wenn  sie  als  wissenschaftliche  Erklärunj;s- 
prin/.ipien  jrebraucht  werden,  und  Lamprecht  beklagt  mit  Recht,  dass 
dies  geschehen  ist.  Nur  dass  jene  Historiker  der  mehrfach  ausge- 
sprochenen Meinung  Kants  direkt  entgegen  gehandelt  haben,  der  sehr 
wohl  gewusst  und  sell)st  gelehrt  hat,  dass  der  Zweck  seinem  Begriff 
nach  etwas  bloss  subjektives  ist  und  folglich  kein  objektiver  Er- 
klärungsgrund sein  kann.  Zweckmässigkeit  gewährt  von  der  theore- 
tischen Seite  gesehen  nur  eine  Erklärung  nach  Analogie  (Prol.  §  58), 
sie  ist  nur  eine  subjektive  Maxime  der  Urteilskraft  (Kr.  d.  U.,  Ein- 
leitung Vi.  Freilich  ist  gerade  auch  in  theoretischer  Hinsicht  die 
Anerkennung  dessen,  dass  eine  Bestimmung  des  objektiven  Ver- 
hältnisses selbst  für  uns  nicht  mehr  möglich  ist.  und  dass  wir 
uns  darum  bescheiden  müssen,  es  nach  dem  zu  bestimmen,  was  es 
für  uns  ist,  es  so  zu  denken,  als  ob  es  bestimmbar  wäre,  nichts 
Kleines.  Immer  aber  bedeutet  der  Zweckbegriflf  hier  nur  eine  Grenze: 
für  den  ganzen  Menschen,  der  sich  nicht  bloss  erkennend  verhält, 
bedeutet  er  mehr.  Die  Frage,  wozu  die  Menschheit  eigentlich  da  ist 
und  ihr  ireschichtliches  Dasein  fuhrt,  kann  theoretisch  mit  dem  Hin- 
weis  darauf  abgeschlagen  werden,  dass  der  Zweck  keine  Kategorie 
des  objektiven  Bestimmens  ist.     Darum  aber  verstummt  sie  doch  nicht. 


ü* 


Lichtenberg  als  Philosoph  und  seine  Beziehungen 

zu  KantJ) 

Zur  Feier  seines  hundertjährigen  Todestages. 

(t  24.  Februar  1799.) 

^'on  Dr.  Ar  QU  Neumann. 

,,l)ie  Fraise:  soll  man  selbst  ijliilosopliierenV  luuss, 
dünkt  micli,  so  beantwortet  weiden,  als  eine  ülmlicbe: 
soll  man  sich  selbst  rasieren?  Wenn  mich  jemand 
darüber  fragte,  so  würde  ich  antworten:  wenn  man 
es  recht  kann,  ist  es  eine  vortreftliche  Sache"  (Reclam 
S.  41).  Lichtenberg. 

Der  Mann,  über  den  ich  unter  philosophischem  Gesichts- 
punkte einige  Angaben  und  Bemerkungen  zu  machen  unternehme, 
Georg  Christoph  Lichtenberg,  wird  fast  überall,  wo  man  über- 
haupt etwas  von  ihm  weiss,  ausschliesslich  als  eine  Grösse  der 
Litteraturgeschichte    im    engeren    Sinne    gewürdigt.     Mun  preist  ihn 


»)  Generalquelle  ist  zur  Zeit:  Georg  Christoph  Lichtenbergs  Ver- 
mischte Schriften.  Neue  Original-Ausgabe.  8  Bde.,  16",  Göttiugen  (Dietcrich). 
2.  Aufl.  184-1—47,  3.  Aufl.  1867.  Dazu  als  Nachlese:  Dr.  Fr.  Lauchert,  G.  Chr. 
Lichtenbergs  schriftstellerische  Thätigkeit  in  chronologischer  Übersicht  dargestellt. 
Gr.8*',ebendal893.  WohlteilsteSammhmgimd  daher,  soweit  sie  ausreicht,  regelmässig 
von  uns  citiert  :GeorgChristophLichtenbergs  ausgewählte  Schriften.  Herausg. 
von  Eugen  Reichel  (Eugen  Leyden).  Leipzig  (Eeelami  1879.  —  Sonst  noch  zum 
handlichen  Gebrauche:  Lichtenbergs  auserlesene  Schriften  mit  Kupfern  von 
Chodowiecky.  Herausg.  von  Chr.  S.  Krause.  Bayreuth  1800;  Spiele  des  Witzes 
und  der  Laune,  aus  Lichtenbergs  Schriften  gezogen.  Pesth  1816;  Gustav 
Jördens,  G.Chr.Lichtenbergs  Ideen,  Maximen  undEmfälle.  Nebst  dessen  Charakte- 
ristik. Leipzig  1827  ff.;  H.  Doering,  Lebensumrisse  etc.  Quedlinburg  und  Leipzig 
1840,  S.  293—358;  Ed.  Grisebach,  Gedanken  imd  Maximen  aus  Lichtenbergs 
Schriften  (mit  biographischer  Einleitung).  Leipzig  1871 ;  F.  Bob  er  tag,  Lichtenberg, 
0.  Hippel  und  Blumauer  (J.  Kürschners  „Deutsche  National-Litteratur"  Bd.  141, 
Berlin  und  Stuttgart);  G.  Chr.  Lichtenbergs  ausgewählte  Schriften.  Herausg. 
imd  emgeleitet  von  A.  Wilbrandt,  Stuttgart  1893.  -  Soeben  veröffentlicht 
Professor  Albert  Leitzmann  (Jena),  Aus  Lichtenbergs  Nachlass,  ungedruckte 
Aufsätze,  Gedichte,  Tagebuchblätter  und  Briefe.  Weimar  (Hermann  Böhlau) 
1899.     XXm  und  278  S.  8°. 


Lichtenberg  als  Philosoph  etc.  69 

als  einen  der  befrabtesten  deutschen  Humoristen  und  Satiriker  und  giebt 
ihm,  als  einem  Meister  vaterländischer  Prosa,  den  ehrenvollen  Platz 
neben  dem  Klassiker  Lessing.') 

So  sehr  wir  diese  Schätzung  auch  teilen,  so  bestimmt  müssen 
wir  es  doch  heute  am  Tajre  der  Erinnerung*  aussprechen,  dass  man 
damit  allein  von  ferne  nicht  einem  Manne  gerecht  wird,  der  bei  ganz 
universalen  Interessen  zu  den  geistreichsten  Köpfen  aller  Zeiten  gezählt 
werden  muss  und,  als  Virtuos  im  Sinnen  und  Grülieln^),  nur  gehörig 
in  seiner  Eigenart  genommen,  wie  irgend  ein  anderer  Denker  des 
l.s.  Jahrhunderts  einen  Besuch  in  seiner  vielfarbigen  Gedankenwelt 
belohnt.'^)  In  diesem  Vollsinne  gedenkt  des  Zeitgenossen,  mit  dem 
er  Briefe  wechselte,*)  kein  Geringerer  als  Goethe,  wenn  er  sagt 
(Hempcl  Bd.  -Ji)  S.  757):  ,, Lichtenbergs  Reichtum  wird  bewundert; 
ihm  stand  eine  ganze  Welt  von  Wissen  und  Verhältnissen  zu  Gebote, 
um  sie  wie  Karten  zu  mischen  und  nach  Belieben  schalkhaft  auszuspielen" 
ond  andermal  (Hempel  Bd.  19  S.  188  No.  871):  „Lichtenbergs 
Schriften  können  wir  uns  als  der  wunderbarsten  Wünschelrute  be- 
dienen; wo  er  einen  Spass  macht,  liegt  ein  Problem  verborgen." 
Darum  auch  begegnen  wir  dem  sonst  Verschollenen  bei  so  ver- 
schiedenen Geistern  wie  Kant,  Schopenhauer,')  Lessing,^)  Matthisson, 
Bürger,  Platen,  Schleiermacher'),  Jacobi,  Kothe  u.  s. f.  Wenn  Schopen- 
hauers   an    Plato    und    Aristoteles    anknüpfender    Ausspruch    richtig 


1)  Die  beste  allgemeine  Zeichnung  giebt  R.  M.  Meyer,  Swift  und  Lichten- 
berg, zwei  Satiriker  des  18.  Jahrhunderts,  Berlin  1886,  S.  52 — 8i. 

-)  Nachrichten  und  Bemerkungen  des  Verfassers  über  sich  selbst  (Reclam 
8.  19):  ,,Ich  fürchte  fast,  es  wird  bei  mir  alles  zu  Gedanken,  und  das  Gefühl 
verliert  sich." 

3)  Dies  für  Lauchert  S.  3.  Jede  Kontroverse  über  die  Art  seines  Talentes 
wird  eigentlich  unterbunden  durch  die  vorzügliche  Charakteristik  der  ersten 
Herausgeher:  „Witz  und  Laune  mit  Menschenkenntnis,  philosophischer  Geist 
mit  Gelehrsamkeit,  Scharfsinn  mit  Geschmack  verbunden."  Neue  Original-Aus- 
gabe (N.O.A.)  I.  S.  Vlll.  Vgl.  S.  262. 

•*)  N.O.A.  VII  S.  232  f.  Albert  Leitzmann,  Briefwechsel  zwischen  Goethe 
und  Lichtenberg.  (L.  Geiger,  Goethe-Jahrbuch  18.  Bd.  18it7  8.  32—48)  Der 
Gedankenaustausch  bezog  sich  namentlich  auf  die  Farbenlehre  und  war  von 
gegenseitigen  Dedikationen  imd  Personenempfehlimgen  begleitet.  Vgl.  N.O.A. 
VU.  S.  182. 

•')  Werke  (Frauenstädt)-^  IV.  S.  XXV,  S.  140;  Parerga  und  Paralipomena  II 
S.  21.     Aus  Sch's.  Nachlass  8.  462. 

•')  Vgl.  Leitzmann  8.  171—173.  Dazu  267—269.  Unter  den  Stellen  über 
Lessing  fehlt  hier  N.O.A.  VII  S.  103. 

'i  Liclitenberg  selbst  erwähnt  ihn  nur,  N.O.A.  Vlll  S.  12. 


70  1*'     Arno   Ni' II 111  au II, 

ist:  ..Ks  bestellt  die  eiirentru'lu'  pliilosophisehc  Anla^-e  zuiiäelist  (hirin, 
dass  man  über  das  Gewühnliehe  und  Alltä^liehe  sicli  zu  verwundern 
tahig  ist.  wddureb  man  ( heii  vcraidasst  wird,  das  Alli;cineiiit'  tler 
Erscheinunii'  /u  seinem  l'roldem  zu  niaeiien'".')  so  ist  I.,iclitenber^ 
ein  eminent  philosoijbisoiier  Kopf  gewesen,  weim  er  auch,  im  land- 
läufiiren  Sinne  nach  Energie,  Unifauii-  und  Kinheitlichkeit  der  jjhilo- 
soi)hisclien  Arbeit  beurteilt,  in  den  Kouipendii'n  nur  als  eine 
Seiten iiTö SSO  erseheinen  kann.  Er  ii'eh(»rt  eben  zu  jenen  Leuten,  ihr 
die  es  kein  alliivnieines  Faehwerk  der  JUibriken  j;-iebt,  die  als  Indi- 
viduen, ja  als  Sonderlings-Geister  aufj;efasst  und  g:enossen  werden 
müssen.^)  Wer  sich  aber  einmal  entschliesst,  ihnen  in  all  die  Winkel 
und  Eekchen  ihrer  Gedankengäng-e  zu  folgen,  der  empfindet  einen 
wahren  Hochgenuss  und  erfährt  eine  ganz  merkliehe  Förderung  seiner 
g-anzen  geistigen  Konstitution.  X'ielleicht  führt  solch  eine  Erfahrung, 
öffentlich  ausgesprochen,  auch  diesen  und  jenen  andern  dazu,  sich 
eine  feiertägliche  Geistesdelikatesse  nicht  länger  zu  versagen. 

Eine  Gedaidvenwelt  kann  innuer  erst  da  einigermassen  vor  uns 
erstehen,  wo  man  ihren  Schöpfer  nach  Geschicken  und  Individualität 
wenigstens  notdürftig  kennt. "^I  Was  Schopenhauers  Beispiel  so 
schlagend  belegt,  gilt  fast  noch  mehr  für  unsern  Denker,  der  alles 
so  sehr  mit  seinen  subjektiven  Tinten  überzieht,  wie  selten  ein  Autor 
(Reclam  S.  17  f.).  Wer  nicht  wüsste,  dass  Georg  Christoph  Lichten- 
berg, das  jüngste  von  18  Kindern  des  Oberramstadter  Pfarrherrn, 
seit  seinem  achten  Jahre,  also  seit  1750,  einen  verAvachsenen  und 
gebrechlichen  Körper  mit  sich  herumtrug,*)  der  würde  nie  die  grosse 
Keizbarkeit  seiner  Nerven  begreifen,  die  ihn  dem  jähen  Wechsel  der 
Stimmungen  und  der  Laune  unterwarf,  ihn  zum  feinsten  Selbstbeob- 


i)  Die  Welt  als  Wille  und  Vorstellung  B.  II  §  17.  Vgl.  dazu  N.O.A.  1 
S.  32,  104;  n  S.  137,  236;  VII  234,  263.  Fr.  Schaefer,  Lichtenberg  als  Psychologe 
und  Menschenkenner.  Diss.  Jena  1898,  S.  14;  Leitzmann  S.  26  (Neugierde,  das 
„vestalische  Feuer  der  Philosophen.") 

2)  Vgl.  den  Brief  an  Dieterich  vom  19.  März  1772,  gedruckt  bei  Grisebach, 
Ges.  Studien»  S.  24—29. 

3)  Sonst  vgl.  über  das  Thatsächliche  K.  H.  Jördens,  Lexikon  deutscher 
Dichter  und  Prosaisten,  Leipzig  1808,  Bd.  III  S.  334—64;  Doering  in  dem  oben 
S.  68  angeführten  Buche,  Ed.  Grisebach,  Gesammelte  Studien»  S.  11 — 79,  Max 
Koch,  Artikel  „Lichtenberg"  in  Ersch  und  Grubers  „Allg.  Encycl.  d.  Wiss.  u. 
Künste"  (E.W.K.).  —  Sehr  dürftig  die  A.D.B.  Bd.  18.  —  J.  Wackernell  (Inns- 
bruck) bereitete  schon  1889  eine  Biographie  vor. 

■i)  Man  leitete  ihn  von  einem  frühen,  durch  die  Leichtfertigkeit  einer 
Wärterin  herbeigeführten  Falle  her.  Autobiographie  S.  7,  32  u.  oft.  Vgl.  Über 
Physiognomik  wider  die  Physiognomen  (Reclam  S.  349),  Leitzmann  S.  80. 


Lichtenberg  als  Philosoph  etc.  71 

achtiT  machte,  aber  /.uiilcicli  auch  für  seine  oft  uiiUl)envindlichc  In- 
dolenz eine  Erkläruuji-  bietet.')  ,,ln  allen  Ansichten  Lichtenberg-s,  über 
Hohes  und  Tiefes,  lie^t  die  Grille  mit  der  Wahrheit,  die  Einl)ildung 
mit  der  Über/eugunir,  die  Wärme  der  Phantasie  und  selbst  des 
Herzens  mit  der  Kälte  des  Verstandes  im  Kampfe"  sajrt  GervinuSj^) 
dessen  besonderer  Sympathie  sich  Lichtenberg:  erfreut.  Von  hier  aus 
können  wir  die  mancherlei  Widers])riiche  und  Risse  in  seinen  Ge- 
danken verstehen.  Kach  Zeiten  wunderbarer  Seelenklarheit  und 
heiterster  Ruhe,  da  er  sich  auf  der  „Wetterseite"  seiner  Natur  l)e- 
lindet,  ertasst  ihn  seine  Krankheit,  die  „Pusillanimität",  um  ihn  zu 
schütteln  und  trübe  zu  machen  (Reclam  S.  18).  Er  hat  „Hypochondrie 
studiert".  Er  hat  „die  Fertig:keit,  aus  jedem  Vorfalle  des  Lebens,  er 
mag  Kamen  haben  wie  er  will,  die  grösstmögliche  Quantität  Gift  zu 
eigenem  Gel)rauche  auszusaugen.'*'^)  Kein  Wunder  darum,  dass  er,  mit 
Schätzen  im  Kopfe,  ein  Aufschieber  wurde,  oder  wie  er  selbst  sagt, 
.,ein  Procrastinateur." 

In  seinen  letzten  Jahren  —  er  starb  noch  vor  Anbruch  des 
neuen  Jahrhunderts,  nämlich  eben  am  24.  Februar  1799  —  hatte 
sich  diese  Seeleustimmung  bis  zur  Menschenscheu  gesteigert,  welche 
ihn  nur  hinter  der  Fensterscheibe  lauschend  dem  Treiben  der 
Menschen  zuschauen  hiess.  Bei  dieser  geistigen  Art  kam  es,  dass 
zuweilen  Selbstmordgedanken  wie  Fledermäuse  durch  seine  Seele 
flatterten. 

Das  alles  hätten  die  wenigsten  Menschen  erfahren,  wenn  er  nicht 
eine  jener  seltenen  Persönlichkeiten  gewesen  wäre  wie  Augustiu  und 
Rousseau,*)  die  mit  bewunderungswürdiger  Wahrhaftigkeit  und  Otfen- 
heit  ihr  Innerstes  ausbreiten.  „Es  ist  dies  ein  noch  ziemlich  unbe- 
tretener Weg  zur  Unsterblichkeit"  sagt  er  selbst  darüber  in  einem 
Apercu.  Aber  gerade  so  hat  er  uns  den  ganzen  Reichtum  seiner 
Seele  erschlossen.  Wir  sehen  noch  überall,  wie  er  seine  Gedanken- 
fäden an  die  Elemente  einer  grossartigen  Bildung  anknüpft.^)  Von 
Haus  aus  war  Lichtenberg  Mathematiker  und  Physiker.  Für  beide 
Fächer  hatte  ihm    noch   sein  Vater,    zuletzt  Generalsuj)erintendent  in 


1)  Autobio<;ra])hie.     Reclam  S.  82.     Briefe    aus   En^'land  (Keclaui  S.  265). 
Fast  in  allen  Privathriefen  iN.O.A.  VII  und  VUl). 

2)  Gesch.  der  deutschen  Dichtimg  Bd.  V->  S.  195. 

3)  Vgl.  Briefe  von  Goethe   vom  7.  (_)kt.  1793  und  17.  Sept.  1796;  Reclam 
S.  16,  107  f.,  N.O.A.  III  S.  5. 

*)  Reclam  S.  11 5  f. 
'  S)  Vgl.  Ilettner,  Litteraturgeschiohte  des  18.  Jahrhunderts*,  8.  Buch  8.  412. 


I>r.   Am II    N Oll  111  ;i II II 


Darmstadt,  eine  starke  Nciiriinir  ein<rei)naii/,t.  Seine  Leistuu;::en  auf 
liiesei»  (Tcbieten  brachten  ihm  denn  schon  mit  '21  .lahrcn')  den 
(iüttiuiri'r  Lehrstuhl,  liis  zu  seinem  Lehonsendc  hat  er  ihn.  in/Avis(dieii 
Ordinarius  ireworden  (  ITTÖ),  inneji'i'haht.  Al>er  von  diesem  (Neutrum 
aus  verbreitete  er  sich  ul)er  Litteratur.  Malerei,  Schauspielkunst, 
Geschichte  und  Politik,  Anthropoloii-ie  und  rudaji'oji'ik  und  wandte, 
was  für  uns  heute  die  Hauptsache  ist,  jileich  seinem  ^^anzen  Zeit- 
alter seine  tiefsten  Interessen  den  philosoi)hisclu'n  l'roblemen  zu.  Das 
erste  Zeugnis  lür  seine  Hepibiing  in  dieser  Hichtung-  war  seine  Rede 
heim  (Tvmnasialabganjre  in  Darmstadt  im  Jahre  1 7(53,  welche  uns 
leider  nicht  erhalten  ist.  Sie  handelte  in  \  ersen  „V^on  wahrer  Philo- 
sophie und  philosophischer  Schwärmerei".  Später  finden  wir  in 
seinen  Schriften  eine  ganze  Musterkarte  von  alten  und  neuen  l'hilo- 
sophen  gekannt  und  besprochen^  besonders  aber  die  deutschen, 
englischen  und  französischen  des  eigenen  Jahrhunderts  bis  auf  die 
kleinen  und  kleinsten.  Manche  feine  philosophiegeschichtliche  Be- 
merkung fällt  dabei  ab. 2)  Abgesehen  von  den  Gedaukenspänen  zur 
Kant-Erläuterung  und  Kant-Kritik,  und  über  Spinoza,  auf  die  wir 
später  kommen  werden,  handelt  es  sich  dabei  vornehmlich  um  die 
bekannte  Cartesiusbeurteilung  (Keclam  S.  74  f.):  Wir  werden  uns 
gewisser  Vorstellungen  bewasst,  die  nicht  von  uns  abhängen;  andere, 
glauben  wir  wenigstens,  hingen  von  uns  ab;  wo  ist  die  Grenze? 
Wir  kennen  nur  allein  die  Existenz  unserer  Em))findungen,  Vor- 
stellungen und  Gedanken.  Es  denkt,  sollte  man  sagen,  so  wie 
man  sagt:  es  blitzt.  Zu  sagen  cogito,  ist  schon  zu  viel,  so  bald 
man  es  durch  Ich  denke  übersetzt.  Das  Ich  anzunehmen,  zu 
postulieren,  ist  praktisches  Bedürfnis."^)  Er  hat  dabei  keinen  Denker 
ex  professo  studiert.  Aber  unendlich  viel  gelesen  hat  er,  selbst 
desultorisch  zu  Zeiten,  so  sehr  er  immer  vor  dem  blossen  Auf- 
nehmen fremder  Gedanken  warnt.*)    Hören   wir  nur  eine  von   jenen 


*)  Reelam  S.  24.  Also  wohl  mit  Grisebach  S.  16,  Koch  in  Ersoh  iind 
Grubers  E.W.K.,  S.  348a  ff.  Meyer  S.  60  und  Bobertag,  Deutsche  Nat.  Lit. 
(Kürschner),  Bd.  141  S.  5  f.  im  Jahre  1769,  nicht  erst  1770. 

2)  Ich  habe  für  ca.  30  Denker  Zusammenstelhmgen  gemacht,  für  die  in 
diesem  Zusammenhange  natürlich  kein  Raum  ist.  Vgl.  aber  wenigstens  Reelam 
S.  57  über  die  neue  Akademie,  N.O.A.  I  S.  158  über  Leibniz,  S.  280  über 
Herder. 

•'')  Vgl.  Überweg-Heinze,  Gnmdriss  d.  Gesch.  d.  Philos.  III'»  S.  54. 

-tj  Reelam  S.  22,  26,  38,  46,  81,  142.  N.O.A.  I.  S.  128,  II  S.  131.  Über 
seine  Maximen  beim  Lesen  belehrt  geistvoll  der  Briet  an  Goethe  v.  15.  Januar 
1796. 


Lichtenberg  als  Philosoi)h  etc.  73 

geistreichen  und  ireschniaekvollen  Stellen'),  wo  er  seine  Wiss- 
betrierde  beschreibt:  ..Wenn  es  ein  Werk  von  etwa  zehn  Fo- 
lianten iräbe,  -svorin  in  nicht  allzu-rrossen  Kapiti-ln  jedes  etwas  Neues, 
zumal  von  der  spekulativen  Art,  enthielte;  wovon  jedes  etwas  zu 
denken  g'äbe,  und  innuer  neue  Aufschlüsse  und  Hrweiterungen  dar- 
böte: so  glaube  ich,  könnte  ich  nach  einem  solchen  Werke  auf  den 
Knieen  nach  Hamburg  rutschen,  wenn  ich  überzeugt  wäre,  dass  mir 
nachher  Gesundheit  und  Leben  genug  übrig  bliebe,  es  mit  Müsse 
durchzulesen!" 

Bedeutende  Erweiterung  seines  Horizontes  verdankte  er  da- 
neben seinen  zwei  Reisen  nach  England  in  den  Jahren  1770  und 
1774/75,2)  wo  man  ihm  hohe  Ehren  erwies.  Sein  späterer  Hofrats- 
titel stammte  von  diesem  Lande  (1788).  Sein  Lebtag  hat  er  für  das  ihm 
so  kongeniale  England  eine  besondere  Vorliebe  gehabt  und  für  seine 
deutsche  Heimat  dort  Vorbildliches  gefunden.-'')  Mit  dem  damaligen 
Deutschland  war  er  dagegen  sehr  unzufrieden.  Gegen  seine  Senti- 
mentalität.^) sein  Kraftgenietum^l  und  seine  Physiognomen*')  hat  er 
die  schärfsten  Waffen  des  Geistes,  beissenden  Spott  und  sprühenden 
Witz,  geführt. 

„Seihst  keine  Zauberrüstung  schützte, 
Wenn  er  den  Pfeil  der  Wahrheit  spitzte." 

Natürlich  geschah  es,  dass  er  dabei  die  Fackel  der  Wahrheit 
nicht  tragen  konnte,  ohne  einem  Lavater,  Voss,  Zimmermann,  Ziehen 
und  manchem  andern  den  Bart  zu  versengen.  Was  ihm  bei  solchen 
Fehden  an  Schriften  und  Flugblättern  entstand,  war  es  neben  seinen 
wissenschaftlichen  Abhandlungen  und  Journalartikeln,   womit  er  sich 


')  Autobiographie  (Reolami  S.  31.     Vgl.  N.O.A.  I  S.  127,  II  ••-!.  195. 

-)  Über  Phy.siugnomik  wider  die  Physiognouien  (Keclaiu)  8.  3410. 

3)  Briefe  aus  England  (an  H.  Chr.  Boie),  Reclam  S.  265—321.  Über  den 
deutschen  Roman  (Reclam)  S.  497—602.  N.O.A.  I  S.  215,  217,  US.  17  f.,  118  f. 

^1  (Tocthes  Werther  und  seine  Verwandten  hat  er  als  ungesund  verworfen. 
Vgl.  Über  die  Macht  der  Liebe  (Reclam)  S.  502—510.  Reclam  S.  174  f.,  442 
N.O.A.  I  S.  805,  auch  304 ;  Leitzmann  S.  12S.  Seine  Stimmung  drückt  aus  der 
Satz:  „Ein  Drei-Groschen-Stück  ist  immer  besser  als  eine  Thräne."  Doch 
vgl.  die  abschliessenden  Erörterungen  Leitzmanns  S.  251—255. 

•'>)  Paraklotor  oder  Trostgriinde  für  die  Unglücklichen,  die  keine  Original- 
Genies  sind  (Reclam  S.  491  —  497),  vgl.  272,  4M4  ff.  N.O.A.  I  S.  255,  II  S.  10, 
95.    Namentlicii  die  Nachtrcter  Klopstocks  und  Shakespeares  trifft  seine  Geissei. 

*^)  Über  Physiognomik  wider  die  Physiognomen.  Zur  Beförderung  der 
.Menschenliebe  und  Menschenkenntnis  (Reclam  S.  334 — 885).  Dazu  Anhänge 
und  Nachspiele.  Auch  das  Fragment  von  Schwänzen  S.  412—419  etc.  Vgl. 
Doering  S.  322—332,  Leitzmann  S.  215  f. 


74  l>r    A  rud  Neu  iiirinn. 

Itfi  (Irr  Mitwelt  (.'inen  ;:"i'fi'i('rtcii  N;iiiicn  rrwail).  Deiui  sfiiic  ucist- 
uiul  wit/.rric'lu'n  KomnuMitaro  zu  Iloirarths  KiiplVni,  wclclu'  heute 
untrfniil)ar  mit  sriuein  Namen  xciliiindeii  sind,  lallen  erst  in  die 
letzten  .lahre  seines  Lebens.')  S(»  eriiiitzlicli  und  reich  an  «i'eschmaek- 
V(dlen  l'ointen  nun  auch  all  jene  Kinder  der  l'\'derfel(lzli^e  sind,  so 
sind  sie  dm-h  \  (unehmlieh  von  zeitji'eschiehtlicdiem  Interesse.  Seine 
Grösse.  Avelehe  den  'l'a^^  überdauert,  milssen  wir  wie  zwei  der 
neuesten  Editoren.  Grisebach  und  Hobertau'.  mit  dem  alten  K.  11. 
.lönlens'-)  in  seinen  i)ostlunnen  Schriften  linden,  welche  unmittelbar 
nach  seinem  Tode  in  der  ersten  Gesamtausuabe  (IS(K) — 1S()())  mit 
ans  Lieht  kamen.  Sie  sind  aber  zuji-leich  die  wesentlichen  Quellen 
seiner  Philosophie.  Handelt  es  sich  dabei  nun  etwa  um  ein  nach- 
irelassenes  tietsinnip,'es  Systemwerk V  Wer  sollte  das  bei  Lichtenbergs 
Individualität  erwarten?  —  P>  konnte  überall  nur  Fra^rmentist  sein. 
Es  widerstrebte  seiner  so  reichen  Natur,  sich  zur  Einheit,  zum  Zu- 
sammenhanjr,  zur  Schulmässiirkeit  zusammenzufassen  (lieclam  S.  22f.J. 
Einmal  sairt  er:  .,Wenn  ich  doch  Kanäle  in  meinem  Kopfe  ziehen  könnte, 
um  den  inländischen  Handel  zwischen  meinem  G^dankenvorrate  zu 
befördern  1  Aber  da  liegen  sie  zu  Hunderten,  ohne  einander  zu  nützen." 
., Könnte  ich  das  alles,  was  ich  zusammengedacht  habe,  so  sagen,  wie 
es  in  mir  ist,  nicht  getrennt,  so  würde  es  gewiss  den  Beifall  der  Welt 
erhalten."  Andermal  hat  er  sein  eigenes  Wesen  besser  erfasst  und 
beruft  sich,  Avenn  auch  in  humoristischem  Zusammenhange  auf  die 
Autorität  Bacos  von  Verulam,  der  es  in  seinem  schönen  Buche  de 
augmentis  scientiarum  ausspreche;  dass  in  einer  Wissenschaft  nicht 
viel  mehr  geleistet  werde,  sobald  man  sie  systematisiere.^) 

Nur  einige  Hunderte  von  Aphorismen  liegen  darum  vor 
uns  als  vornehmster  Ausdruck  der  Lichtenbergischen  Gedankenwelt; 
aber  eine  wunderbare  Fülle  des  Geistes  ist  in  ihnen  gebunden.  Mit 
jedem  Jahre  wachsen  ihre  Reize:  ein  Vorzug,  den  sie  mit  dem 
Klassischen  teilen.  Es  gilt  eben  von  Lichtenberg  eines  seiner 
eigenen  Worte:  ,,Es  giebt  geschickte  Leute,  die  ihre  chymischen 
Versuche  im  Kleinen  anstellen,  und  richtigere  Sachen  herausbringen 
als  andere,  die  sehr  viel  Geld  darauf  zu  verwenden  haben"  (Ileclam 


^j  Die  Zeit  legt  fest  der  Brief  an  Goethe  vom  18.  April  1794. 

2j  Denkwürdigkeiten  etc.  aus  dem  Leben  der  vorzüglichsten  deutschen 
Dichter  imd  Prosaisten  Bd.  11  S.  226;  vgl.  Ed.  Grisebach,  Ges.  Studien,^  Leipzig 
1884,  S.  63  ff.;  Bobertag  S.  7  f. 

3)  Patriotischer  Beitrag  zur  Methyologie  der  Deutschen  (Reclamj  S.  213, 
vgL  N.O.A.  I  S.  54.     Dazu  Grisebach  S.  73  fi. 


Lichtenberg  als  Philosoph  etc. 


/ .) 


S.  10(ii.  Aus  seinen  meniorandum  books,  seinen  „Sudelbilchern", 
wie  er  sie  selbst  nannte,*)  aus  seinem  Zettelkasten,  wie  man  heute 
sajren  würde,  sind  diese  j)hilosn))hisehen  lihapsodien,  Gedankenspäne, 
Beobachtung-en.  Urteile  und  Maximen  wiederholt  herausfreg:eben  worden 
(vg:!.  N.O.A.  1  S,  XVI f.).  Es  sind  l)unte  Hruchstücke  einer  grossen 
Konfession.  Aus  ihnen  müssen  wir  also  eine  Übersicht  über  sein 
„Gedankensystem"  oder  besser  seine  ,.Denkung:sart"  zu  g:e- 
winnen  versuchen.  Auch  für  uns  behält  er  dabei  allerdings  nicht 
selten  recht  mit  seinem  Ausspruche:  „Einen  Menschen  recht  zu  ver- 
stehen, müsste  man  7Aiweilen  der  nämliche  Mensch  sein,  den  man 
verstehen  will"  (Keclam  S.  53  vg:l.  N.O.A.  I  S.   133f.). 

Wenn  wir  über  solchem  Unternehmen  von  Lichtenberg  ver- 
nehmen: ..Wenn  ich  zuweilen  in  einem  meiner  alten  Gedankenbücher 
einen  guten  Gedanken  von  mir  lese,  so  wundere  ich  mich,  wie  er 
mir  und  meinem  System  so  fremd  hat  werden  kinmen,  und  freue 
mich  nur  so  darüber,  wie  über  einen  Gedanken  eines  meiner  Vor- 
fahren''.-) so  muss  sofort  der  Wunsch  aufsteigen  nach  einem  Einblicke 
in  sein  philosophisches  Werden.  Der  ist  uns  aber  leider  nicht  ohne 
Schuld  der  ersten  Herausgeber  L.  Chr.  Lichtenberg  und  Fr.  Kries^) 
fast  unmöcrlich  gemacht  worden.  Denn  sie  haben  alle  chronoloa-ische 
Folire  zu  Gunsten  einer  oft  sehr  fraswUrdiu'en  Sacheinteilunir  ver- 
wischt.  So  lässt  sich  nur  noch  ein  Grosses  als  Grundlage  der  Be- 
trachtung; festlei;-en:  Man  kann  in  Lichtenbergs  Entwickluna-  deut- 
lieh  eine  vorkantische  und  eine  nachkantische  Epoche  unter- 
scheiden.^)    Auch    für    ihn   ist   der  grosse  Königsberger  zum  Coper- 


*)  Vgl.  zu  ihrer  Charakteristik  N.O.A.  I.  S.  IX  ft.,  XVU,  VII  S.  21. 

2)  Reclam  8.  29,  Leitzuiaim  S.  52.  Vgl.  N.O.A.  I  S.  224:  „Man  inuss 
seine  Philos(ji)hic  alle  10  Jahre  neu  bewerfen  lassen." 

■■»I  Lichtenbergs  vermischte  Schriften.  •»  Bde.  Göttingen  1800—1806.  Trotz 
N.O.A.  I  S.  IV  f.,  X  f.,  XVI,  XIX  und  XXIII  pflichten  wir  Grisebach  (8.  65) 
uDd  Bobertag  (S.  7)  in  diesem  Urteile  bei.  Es  ist  eine  schöne  Aussicht,  dass 
Albert  Leitzmann,  der  durch  einen  glücklichen  Zufall  die  für  unerreichbar  ge- 
haltenen Originalpapiere  in  die  Hände  bekam,  nun  eine  planmässige  Auswertung 
des  Nachlasses  verspriclit  (Aus  Lichtenbergs  Nachlass  S.  Vff. ).  Dadurch  wird 
hoffentlich  vieles  aufgehellt  und  sicher  gestellt  werden,  was  man  z.  Z.  nur. 
mühsam  combinierend.  erschliesst. 

*i  Ed.  Grisebacii  S.  74  f.  und  L.  Noack,  l'liilosi)i)hie-gesciiiclitliches  Lexikon, 
Leipzig  1879,  S.  565,  bahnen  das  riclitige  N'erständnis  an.  Doch  verwischt  des 
letzteren  Darstellung  die  gewonnene  Einsicht  völlig.  Die  Sache  kurzer  Hand 
abthnn  kann  man  nur,  wenn  man  wie  Schaefer  S.  27  ff.  das  ganze  genetische 
Moment  verkennt.  „Leitende  Grundsätze"  will  aber  auch  er  8.  34  aufsuchen, 
obwohl  er  das  vorher  bei  einem  L.  für  aussichtslos  hielt. 


70  l*r.  A  ruo  NfiiuKiiin, 

iiii'iis  irt'wonlen.  Im  .hilirc  17!>S  lunul  er  »lii-  K.-nitisrlic  l'liilosdpliic 
(las  oin/i.L'  wahre  Weltsystem,  die  eiii/.iu"  wahre  l'liilostiphie.' |  Wie 
bedeutend  und  dm-h  im  (xefrensat/e  /.u  der  Masse  der  ..Kantiiaehtreter" 
undoirniatiseh  seine  AiitVassunii'  in  diesem  Sehlussstadiun»  ist,  beweist 
der  letzte  Hriet  an  seinen  Bruder  Ludwi,:r  Cliristian  \(Mii  IS.  Feliruar 
175)5):  ..Dein  Antikantianismus  hat  mich  lier/lieli  iicIVeut,  (l;i 
ich  jetzt  weiss,  wie  Du  die  Sache  ninunst.  Kr  für  seine 
Person  ist  irewiss  ein  grosser,  und  was  wohl  elten  so  \iel  wert  ist, 
ein  wohlmeinender,  rechtschaffener  Mann.  Seine  Kritik  der  reinen 
Vernunft  ist  das  Werk  eines  30jähri<:en  Studiums.  Er  hat  lanii-e 
über  philosojthische  Systeme  \'orlesun<i-en  li'ehalten,  dadurch  sind 
ihm  eine  ^lenge  von  Dinaren  freilich  ii-eläutii;  jj-eworden.  die  es  un- 
zählijren  Menschen,  selbst  von  Geiste,  nicht  sind,  wenigstens  nicht  zu 
dem  Grade.  Daher  spricht  er  oft  undeutlich,  ehe  man  mit  ihm  be- 
kannt wird.  Selbst  K  .  .  .  r^)  weiss  daher  oft  nichts  gegen  ihn  vor- 
zubringen, als  dass  Leibuiz  z.  B.  so  etwas  schon  vor  1(K)  Jahren 
gesagt.  Aber  Kant  giebt  sich  auch  nicht  für  den  Erfinder  von 
allem  aus,  er  verbindet  nur,  was  grosse  Männer  längst  einzeln  gesagt 
und  gedacht  haben,  und  zeigt,  warum  man  so  denken  und  sprechen 
müsse.  Bekanntlich  hat  Aristarch  von  Samos  mehr  als  1000  Jahre 
vor  Copernicus  gelehrt,  dass  die  Sonne  stille  stehe  und  die  Erde 
um  sie  herumlaufe,  aber  das  waren  einzelne  Lichtblicke,  die  sich  in 
dem  übrigen  Wust  von  Dunkelheit  wieder  verloren.  Kant  spielt  ein- 
mal, wenn  ich  nicht  irre,  in  der  Vorrede  zu  seiner  Kritik  der  reinen 
Vernunft,  auf  so  etwas  mit  grosser  Feinheit  an/^)  Das  Gleichnis 
hält  Stich.  Man  hat  bisher  geglaubt,  wir  seien  das  Werk  der  Dinge 
ausser  uns,  von  denen  wir  denn  doch  nichts  wussten  und  wüssen 
konnten,  als  was  unser  Ich  uns  angab.  Wie  also,  wenn  es  gerade 
die  Natur  unseres  Wesens  wäre,  was  diese  W^elt  eigentlich  macht? 
Hier  ist  Umlauf  und  Umdrehung  der  Erde  um  die  Achse  dem  Umlaufe 
der  Sonne  und  des  Sternenheeres  um  sie  entgegengestellt.  Er  giebt 
ja  alles  auf  die  Probe.  Ein  dogmatisierender  Kantianer  ist  gewiss 
kein   echter.     Selbst  Fichte,  quod  pace  tua  dixerim,  hat  mehr  wider 


1)  N.O.A.  I  S.  71,  81,  85  ff.,  89,  93  f.,  97,  100  ff.,  105,  107,  286.  Keclam 
S.  73,  75  fi. 

2)  Vermutlich  ist  Lichtenbergs  Lehrer,  Kollege  und  Freund,  der  bekannte 
Mathematiker  Kaestner  gemeint.  Lichtenberg  kürzt  diesen  oft  erwähnten 
Namen  sehr  verschieden  ab.  Auch  das  Original,  von  dem  ich  durch  die  Güte 
des  Herrn  Dr.  Schüddekopf  eine  Collation  gesehen  habe,  hat  nur  K  .  .  .  r. 

3)  Lichtenberg  denkt  richtig  an  Kr.  d,  r.  V.  (Eeclam)  S.  17  f.,  vgl.  21  Anm. 


Lichtenberj^  als  Philosoph  etc.  77 

die  Klujrheit  Verstössen,  als  wider  die  Philosophie.  Es  war  von  ihm. 
wie  mich  dünkt,  strafbarer  Mutwille.  jet/>t  so  zu  sprechen,  und  wird 
es  wohl  innner  l)leil)en.  Wir  feineren  Christen  verachten  den  Bilder- 
dienst, das  ist.  unser  lieber  Gott  besteht  nicht  aus  Holz  und  Gold- 
schaum, aber  er  bleibt  immer  ein  Bild,  das  nur  ein  anderes  Glied 
in  elK-n  dersell)en  Reihe  ist.  feiner,  aber  immer  ein  Bild.')  Will  sich 
der  (xeist  von  diesem  Bilderdienst  losreissen,  so  gerät  er  endlich 
auf  die  Kantische  Idee.  Aber  es  ist  Vermessenheit,  zu  glauben, 
dass  ein  so  gemischtes  Wesen,  als  der  Mensch,  das  alles  je  so 
rein  anerkennen  werde.  Alles,  \\as  also  der  eigentlich  weise  Mensch 
thun  kann,  ist,  alles  zu  einem  guten  Zweck  zu  leiten  und  dennoch 
die  Menschen  zu  nehmen,  wie  sie  sind.  Davon  scheint  Herr  F.|ichte| 
nichts  zu  verstehen,  und  in  dieser  KUcksicht  ist  er  ein  voreiliger 
Thor!-"')  Zuvor  können  wir  noch  an  mancherlei  Äusserungen  er- 
kennen, wie  er  nur  allmählich  in  das  Kant-\'erständnis  hineinwächst. 
So  sagt  er  einmal  (Reclam  S.  55):  ..Ich  glaube,  dass,  sowie  die 
Anhänger  des  Herrn  Kant  ihren  Gegnern  immer  vorwerfen,  sie  ver- 
ständen ihn  nicht,  so  auch  manche  glauben.  Herr  Kant  habe  Kecht, 
weil  sie  ihn  verstehen.  Seine  \'orstellungsart  ist  neu  und  weicht 
von  der  jrewühnlichen  sehr  ab;  und  wenn  man  nun  auf  einmal  Ein- 
sieht  in  dieselbe  erlangt,  so  ist  man  auch  sehr  geneigt,  sie  für  wahr 
zu  halten,  zumal  da  er  so  viele  eifrige  Anhänger  hat.  ]Man  sollte 
aber  dabei  immer  bedenken,  dass  dieses  A'erstehen  noch  kein  Grund 


')  Hierin  liegt  ein  tiefsinniger  religionsphilosophiseher  Gedanke  der  Gegen- 
wart angedeutet:  die  symbolisierende  oder  semiotische  Thätigkeit  der  religiösen 
Phantasie. 

2j  Vgl.  hierzu  den  Brief  an  Kant  vom  9.  Dezember  1798: 
„  .  .  .  Die  Freude,  die  mir  jede  Zeile,  die  ich  %'on  Ihnen  erhalte,  zu  jeder 
Zeit  macht,  wurde  diesmal  durch  einen  Umstand  vermehrt,  der  meinem  kleinen 
häuslichen  Aberglauben  gerade  recht  kam:  Ihr  vortrefflicher  Brief  war  vom 
ersten  Juli  datiert,  und  dieser  Tag  ist  mein  Geburtstag.  Sie  würden  gewiss 
lächeln,  wenn  ich  Ihnen  alle  die  Spiele  darstellen  könnte,  die  meine  Phantasie 
mit  diesem  Ereignisse  trieb.  Dass  ich  alles  zu  meinem  Vorteile  deutete,  versteht 
sich  von  selbst.  Ich  lächle  am  Ende  darüber,  ja  sogar  mitten  darunter,  und 
fahre  gleich  darauf  wieder  damit  fort.  Ehe  die  Vernimft,  denke  ich,  das  Feld 
bei  dem  Menschen  in  Besitz  nahm,  worauf  jetzt  noch  zuweilen  diese  Keime 
sprossen,  wuchs  manches  auf  demselben  zu  Bäumen  auf,  die  endlieh  ihr  Alter 
ehrwürdig  machte  und  iieiligte.  Jetzt  kommt  es  nicht  leicht  mehr  dahin.  Es 
freute  mich  aber  in  Wahrheit  nicht  wenig,  mich  gerade  Ihnen,  verehrungswürdiger 
Mann,  gegenüber  auf  diesem  Aberglauben  zu  ertajjpen.  Er  zeugt  auch  von 
Verehrung  imd  zwar  von  einer  Seite  her.  von  welcher  wohl,  ausser  dem  Kant- 
schen  Gott,  alle  übrigen  stammen  mögen." 


7S  '•''     Arno   Nfumanii. 

ist,  i's  seihst  für  wahr  /u  haltiMi.  K'h  iil;uil)i',  dass  die  niclstcii  ilhcr 
dcv  Frt'iuli',  v'm  >v\\v  alistraktos  iiiul  diiiikcl  al)frt't:isstt's  System  zu 
verstehen,  ziiirleieh  i:-e^^Iaul)t  hal)eii,  i-s  sei  deiiKnistriert."" )  Aiieh 
die  HetraehtiiHiT  (N.D.A.  1.  S.  107):  „Man  kann  Kaiitisehe  i*hih)S()|»hie 
in  «rewissen  .lahreu,  jrlaube  ich,  ebenso  weni^'  lernen  als  das  Seil- 
tan/A-n"  erlanl)t  einen  lUleksehhiss.  Vielleicht  darf  man  anf  (»rund 
seiner  selhsthioii-raphischeu  Notizen  das  Jahr  171)1  für  das  ei^-entliche 
lievolutionsjahr  in  seiner  Gedankenökonomie  ansehen.^)  Ich  meine 
das  natürlich  von  ferne  nicht  so,  als  wenn  er  damals  erst  auf  Kant 
aufmerksam  ireworden  wäre.  Denn  er  sajrt  seihst  in  seinem  ersten 
Briefe  an  Kant,  auf  den  wir  nachher  näher  kommen  werden,  dass  er 
seit  17lw  Kantische  Schriften  gelesen  habe.  Aber  dass  er  sich 
desweü:en  durchaus  nicht,  wie  Grisebach  (S.  74 f.)  auninnnt,  „seit  die 
Kritik  der  reinen  Vernunft  erschienen  war,"  also  seit  1781,  ausschliess- 
lich mit  Kantischer  Spekulation  beschäftigte,  beweist  gerade  sein  hoch- 
interessanter Brief  an  Ramberg  vom  3.  Juli  1786,  in  dem  wir  ihn, 
wie  nnr  je,  auf  Spinoizistischen  Gedankengängen  treffen.  Erst  1787 
begegnen  wir  dann,  gelegentliche  Bekenntnisse  nicht  gerechnet,  datier- 
baren Verhandlungen  mit  Bürger  über  Kant.  Bürger,  für  den  Kant 
nach  Mollys  Tode  ..ein  Heiland"  geworden  war,^)  plante  im  Winter- 
semester 1787/8S  in  Göttingen  Vorlesungen  ülvu-  Kantische  Philo- 
sophie.^) L.  redete  ihm  zu,  verlangte  aber  um  des  Göttingschen 
Antikantianismus,  der  „geschmälzten  Wassersuppenphilosophie"  w^illen 
„die    leichteste    Darstellung    dieser    Philosophie",    und    Bürger    ist 


1)  Vgl.  N.O.A.  I,  8.  93,  95. 

2)  Reclam  S.  19  f.,    vgl.  N.O.A.  II.,    S.  89. 

3)  Vgl.  dafür  die  charakteristische  Stelle  aus  Bürgers  Briefen  an  Oesfeld 
vom  14.  Mai  1787  (A.  Strodtmann,  Briefe  von  und  an  Bürger  III  8.  185): 
„Geben  Sie  sich  denn  wohl  noch  mit  der  spekulativen  Philosojjhie  abV  Und 
haben  Sie  Kants,  des  Gewaltigen,  Schriften  gelesen?  Es  ist  von  allen,  die  ich 
kenne,  der  erste  und  einzige,  dessen  Philosophie  die  F'orderimgen  meiner 
Vernunft  befriedigt  hat.  Seine  Kritik  der  reinen  Vernunft,  mein  tägliches 
Erbauungsbuch,  ist  das  wichtigste,  was  je  in  diesem  Fache  geschrieben  worden 
ist.  Die  hiesige  hoehlübliche  philosophische  I'akultät  ist  zwar  anderer  Meinung; 
das  kommt  aber  daher,  weil  em  Mann  wie  Kant  leicht  dreissig  solcher  philo- 
sophischen Fakultäten  zum  Morgenbrot  bei  der  Tasse  Thee  aufzuschlingen  im- 
stande ist.  Ich  danke  Gott  für  diesen  Mann,  wie  für  einen  Heiland,  der  die 
arme  gefangene  Vernunft  endlieh  aus  den  unerträglichen  Ketten  dogmatischer 
Finsternis  glücklich  erlöset  hat."  Dazu  Bürgers  Briet  an  Born  vom  5.  Februar  1788 
(Strodtmann  lU  S.  192—195). 

i)  Vgl.  L.  an  Bürger  vom  17.  Juli  1787  (Strodtmann  III  S.  187  f.).  Dazu 
auch  Grisebach  S.  56  und  143  f. 


Lichtenberg  als  Philosoiili  etc.  79 

diesem  Kate  ^efolgrt.  lu  dieselbe  Zeit  g-ehüreu  auch  die  Kant  ver- 
teidigenden, abtallijri'n  Äusserungen  über  Meiners'  Grundriss  der 
Seelenlehre  (Brief  au  Bürger  N.O.A.  VII  S.  72.  Strodtmann  111  S.  188). 
Aber  die  Beziehungen  L.s  zum  Kantischen  Denken  erseheinen  da- 
mals noch  als  mehr  gelegentlich  und  halbfertig.  Man  wird  nicht 
irre  gehen,  wenn  man  anninnnt,  dass  erst  die  persönliche  Bekannt- 
schaft mit  dem  grossen  Künigsberger  durchschlagend  wirkte. 
Persönlich  heisst  hier  natürlich  nur  brieflich.  Kant  ergriff,  wohl 
durch  den  von  Lichtenberg  herausgegebenen  Erxleben,  welchen  er 
zumeist  seinen  Vorlesungen  über  theoretische  Physik  zu  Grunde 
legte,  gewonnen,  die  Initiative  etwa  im  Oktober  des  Jahres  1790.*) 
Sein  Brief  ist  uns  leider  nicht  erhalten;  aber,  wir  wissen,  dass  er 
dem  Göttinger  Physiker  den  jungen  Mediziner  Jachmann  emjifahl. 
Dies  geht  aus  L.s  Antwort  vom  i3U.  Oktober  1791  hervor,  welche 
um  ihrer  für  das  Verhältnis  beider  Männer  grundlegenden  Bedeutung 
willen,  hier  wenigstens  teilweise  Platz  linden  muss.  L.  schreibt 
hier  eingangs:  „Vergeben  Sie,  verehrungswürdiger  Herr,  einem  armen 
Nervenkranken,  dass  er  die  Zuschrift  eines  Mannes,  den  er  schon 
so  lange  über  alles  schätzt,  so  spät  beantwortet.  Was  mich  bei 
dieser  Schuld  immer,  vor  mir  selbst  wenigstens,  etwas  rechtfertigte, 
wenn  sie  mich  zu  hart  zu  drücken  anfing,  war  das  Vertrauen  auf 
die  Freundschaft  unseres  vortrefflichen  Herrn  Dr.  J[achmann|,  der 
Ihnen  sowohl  meine  seltsamen  Umstände  erklärt,  als  Sie  auch  von 
dem  Enthusiasmus  überzeugt  haben  wird,  womit  ich  Sie,  teuerster 
Mann,  verehre.  Herrn  Dr.  J|achmann|s  Schilderung  von  ersteren 
selb.st  etwas  zuzusetzen,  hindern  mich  eben  diese  Umstände  selbst, 
etwa  so  wie  beym  Lessing,  dem  Heldensänger  der  Faulheit,  die 
Heldin  selbst  bey  der  zweyten  Zeile  dem  Sänger  den  Mund  stopft 
und  statt  alles,  was  ich  über  letzteren  sagen  könnte,  empfangen  Sie 
hier  aus  dem  Innersten  meines  Herzens  die  Versicherung:  dass  es 
meine  ganze  Meinung  von  mir  selbst  nicht  wenig  erhöht  hat,  dass 
ich  Ihre  Schriften  schon  im  Jahre  1767  mit  einer  Art  von  Prädilektion 
gelesen,  und  dass  ich  bey  der  Erscheinung  Ihrer  Kritik,  so  bald 
ich  nur  davon  so  viel  gefasst  hatte,  um  zu  sehen,  wo  alles  hinaus 
wollte,  gegen  einige  meiner  Freunde  schriftlich  und  mündlich  erklärt 
habe:  gebt  Acht,  das  Land,  das  uns  das  wahre  System 
der  Welt  gegeben  hat,  giebt  uns  noch   das  befriedigendste 


')  Zur  Geschichte  dieses  Brietwechsels  verdanke   ich    wesentliche  Finger- 


zeige Herrn  Oberbibliothekar  Dr.  Keicke. 


QQ  Dr.  Arno  Nruuwiiiii, 

System  dir  I'li  i  1  i>suitliit .  Das  waim  nif'mc  Worte,  oh  ich  ü-U'ieli 
iKH'li  iiu'ht  alU's  iiborsali;  und  mit  dii'sen  CTesinnunpMi  isclirioli  Ich 
aiK'h  jt'iu'.  im  Ta^iduMi-KaUMulcr.  die  Ihnen  /.u  (lesieht  ji'eivonunen 
sinil.  K'li  rechnete  auf  diesen  (instand  nicht,  sondern  schrieh  sie, 
weil  ich  ::laul)te.  sie  Ihren  i:rossen  'l'ah'nten  nach  meiner  Uher- 
zeuiriinir  schuldiü"  /u  sevn."')  Dii'ser  Briet,  elteiiso  wie  zwei  soU'he 
von  Ah'xander  von  llumhohlt  an  Lichtenl)erii-  vom  :?.  OUtoher  171)0 
und  21.  .\i)ril  17!)2  (Leit/mann  S  177lV.(  stinnnen  v.n  unseren  Auf- 
stelhmjren  iU)er  die  Hedeutunjr  des  Jahres  I7!)l.  Zum  /weitemnale 
schrieb  dann  Kant  an  den  Göttiniicr  Verehrer  in  der  ersten  Hälfte 
des  Jahres  179:)  und  Übersandte  ihm  dabei  seine  Keligioii  innerhalb 
der  Grenzen  der  l)lossen  \'ernunft  (vg-1.  N.O.A.  VII  S.  182).  Das 
damalige  Schriftstück  ist  uns  leider  nicht  erlialten.  Denn  der  Brief- 
entwurf,  welchen  Schubert  XI  S.  1(58 f.  abdruckt,  ist  —  wie  mir 
Herr  Dr.  Reicke  nachweist  —  nicht  an  L..  sondern  an  seinen 
Kolle£:en  Kästner  zu  adressieren.^)  L.  sandte  darauf  Gegendedikationen 
ohne  Brief,  wie  ein  un<;edrucktes.  vielleicht  an  Dr.  Jachmann  ge- 
richtetes Schreiben  (in  der  Wiener  Hofbibliothek  XLM,  132)  .vom 
14.  Januar  1795  anzeigt.  Erst  aus  dem  Jahre  1798  haben  wir 
schliesslich  noch  zwei  Dokumente  über  die  direkten  Beziehungen 
beider  Männer,  die  beiden  schon  angezogenen  Briefe,  Kants  vom 
1.  Juli  und  L.s  vom  9.  Dezember.'^)  In  dies  eben  skizzierte  Zeit- 
schema hat  man  alle  obigen  geistigen  Berührungen  und  Befruchtungen 
lieider  Denker  einzuordnen. 

Wie  wir  oben  in  seinem  Urteil  über  Fichte  bemerken  können, 
hat  L.  dabei,  wie  Kant  selber  Momente,  in  denen  er  dem  absoluten 
Idealismus  zuneigt.*) 

In  seiner  vorkritischen  Zeit  steht  der  Spinozismus  im  Mittel- 
punkte seiner  Gedanken.^)     Gewiss  im  Gefolge  Jacobis  und  Lessings 


1)  Vgl.  Dürpt.  Beiträge  (von  Karl  Morgenstern)  Jahrg.  1816,  1.  Hälfte 
S.  105—107.  —  Dass  die  Sehätzrmg  der  beiden  Männer  eine  gegenseitige  war, 
bezeugt  u.  a.  folgendes  merkwürdige  Wort  aus  Kants  Opus  postumum  XXI, 
361 :  „Die  reine  Anschauung  a  priori  muss,  nach  Lichtenberg  imd  Spinoza,  vor 
der  empirischen  (der  Wahrnehmung)  vorangehen." 

-)  Danach  würde  sich  Yaihinger,  Komm.  z.  Kants  K.  d.  r.  V.  I  S.  141 
und  462  modifizieren. 

3)  Man  findet  sie  ganz  abgedruckt  bei  Schubert  XI  S,  164—167. 

i)  Dazu  Reclam  S.  29,  63;  N.O.A.  I,  S.  121.     Dagegen  I,  S.  89. 

5)  Reclam  S.  28,  47,  61,  514;  N.O.A.  I,  S.  66  f.  Vgl.  E.W.K.  Sekt. 
S.  349  a.  Noch  im  Jahre  1786  schreibt  er  in  einem  Briefe  an  Ramberg  unter 
dem  3.  JuU    (N.O.A.  VIU   S.  151  f.):    „Kaum   hatte    sich  Herr  Lavater   nieder- 


Liclitonberg  als  Philosoph  etc.  81 

ist  L.,  wie  Schleiermacher  auch,  einer  der  ersten  Erneuerer  jenes 
langre  geächteten  grossen  Denkers  geworden  (N.O.A.  1,  !S.  291;  Leitz- 
niann  S.  177).  Daneben  umflutet  ihn  aber,  nach  der  synkretistischen 
Art  der  Zeit,  ein  verdünnter,  mit  allerlei  andern,  namentlich  englischen, 
Denkelenienten  versetzter  WolHanisnms.') 

Der  Zug  der  Zeit  zum  Eklektizismus  und  zur  Popularität  zeigt 
sich  dabei  natürlich  ganz  l)esonders  stark,  bei  solch  einem  launigen 
und  schöngeistigen  Kojjfe.  wie  L.^) 

Mit  dem  Vorausgehenden  ist  der  Zeitabschnitt,  in  welchem  unser 
Denker  lebte,  schon  als  der  der  Aufklärung  bezeichnet.  Er  lässt  es 
auch    nicht    zweifelhaft,    dass    es    ihm    um  die  „Aufklärung  in  allen 


gesetzt  (Less  war  mit  dabei),  so  kamen  wir  von  ohngefähr  auf  Mendelssohn, 
Lessing,  Jacobi  und  Spinozismus  zu  sprechen.  Da  ich  nun  (offenluTzig)  den 
Spinoza  seit  der  Zeit,  da  ich  ihn  verstand,  für  einen  ganz  ausserordentlichen 
Kopf  hielt,  SU  nahm  ich  mir,  zwischen  diesen  beiden  Theologen  vor,  mich 
seiner  anzunehmen.  Ich  sagte  also,  dass  ich  glaubte,  tieferes  Stiidium  der 
Natur,  noch  Jahrtausende  fortgesetzt,  werde  endlich  auf  Spinozismus  führen, 
welches  dieser  grosse  Mann  vorausgesehen.  So  wie  unsere  Kenntnis  der 
Körperwelt  zunehme,  so  verengerten  sich  die  Grenzen  des  Geisterreichs.  Ge- 
spenster, Dryaden,  Najaden,  Jupiter  mit  dem  Bart  über  den  Wolken  etc.  seien 
nun  fort.  Das  einzige  Gespenst,  was  wir  noch  erkannten,  sei  das,  was  in 
unserm  Körper  spuke  und  Wirkimgen  verrichte,  die  wir  eben  durch  ein  Gespenst 
erklärten,  so  wie  der  Bauer  das  Poltern  in  seiner  Kammer;  weil  der  hier,  so 
wie  wir  dort,  die  Ursache  nicht  erkennte;  träge  Materie  sei  ein  blosses 
menschliches  Geschöpf  und  etwa  bloss  ein  abstrakter  Begrifl;  wir  eigneten 
nämlich  den  Kräften  eine  träge  Basis  zu  und  nennten  sie  Materie,  da  wir  doch 
üftenbar  von  Materie  nichts  kennten,  als  eben  diese  Kräfte.  Die  träge  Basis 
sei  bloss  Ilirngespinnst.  Daher  rühre  das  infame  Zwei  in  der  Welt.  Leib 
und  Seele,  Gott  und  Welt.  Das  sei  aber  nicht  nötig.  Wer  habe  denn 
Gott  erschaffen V  Der  feine  Organismus  im  tierischen  und  Pflanzenkörper 
rechtfertige  nur,  hier  Bewegung  dependent  von  der  Materie  anzunehmen.  Mit 
einem  Wort  alles,  was  sei,  das  sei  Eins,  und  weiter  nichts!  "AV  xcä  nüy, 
Unum  et  omne.  Wissen  Sie  wohl,  was  Lavater  sagte,  der  mir  »mglauhlich 
aufmerksam  zugehört:  Das  glaube  er  auch.  Nur  machte  er  einige  Einwürfe, 
auf  die  er  selbst  nicht  viel  rechnete  und  die  alle  aus  dem   christlichen  System 

flüchtig  hergeholt  waren Nachdem  er  weg  war,  fand  ich  einen  grösseren 

Zusammenhang  zwischen  diesen  rmständen,  als  ich  anfangs  erwartet  hatte:  Er 
hielt  bis  jetzt  Jesum  Christum  für  wahren  Gott,  daraus  fliesst  sein  Wunder- 
glaube; findet  er  den  falsch,  so  ist  das  andere  Extremum  Spinozismus;  und 
ich  glaube,  er  ist  auf  dem  Punkt,  jenen  falsch  zu  finden." 

'j  Wie  Kant  ihn  hiervon  frei  macht,  zeigt  die  Stelle  in  Reclam  S.  62  f. 
Vgl.  S.  79,  .346;  Meyer  S.  70.  Über  Moses  Mendelssohn  vgl.  N.O.A.  VII  S.  98ff. 
nnd  Leitzmann  S.  88—92,  219  f. 

2)  N.O.A.  I  S.  299,  306,  327;  II  S.  23,  99,  128.     Leitzmann  S.  24,  46  f. 
Kantstudiea  IV.  6 


S-2  l'r.  Arno  Noiiuinnn, 

Ständen"  v.n  tliunist.'i  Zu  dicscin  Zwecko,  meint  er,  sei  die  Lill'tunj: 
einer  Nation  inuiniL'iinirlieli  nöfifr.  „denn  was  sind  die  Menselien  anders 
als  alte  Kleider?"  Also  halten  \\ir  auch  in  L.  cinni  jcntT  (ieistcr 
zu  verehren,  welehe  moderner  \  (irurteilsl<)sif::keit  und  (JewisKensfreilieit 
die   Hahnen  ireehnet  halten.'^) 

Am  charakteristisehsten  kommt  das,  wie  llilliL^  /nni  Ausdrucke 
in  seiner  Stellunir  zu  Kelifrion  und  Kirehentum.  liier  ^^ehört  er  zur 
(remeinde  der  „aktiven,  vernilnt'tijren,  starken"  Seelen  ( Keelam  S.  .")()S). 
„Die  verniinftijren  Kreijroister  sind  leichte  fiiej:-ende  Korps,  immer 
voraus,  und  die  die  Gej^end  rekoj^noszieren,  wohin  das  gravitätische 
g:eschlossene  Korps  der  Orthodoxen  am  P^nde  doch  auch  konnnt'' 
(N.O.A.  I,  S,  10:i).  L.  hat  schon  als  Knal)e  von  der  Kelifjion  sehr 
frei  gedacht,  allerdings  nie  eine  Ehre  darin  gesucht,  ein  Freigeist 
zn  sein,  so  wenig  als  darin,  alles  zu  glauben.  Denn  er  weiss  einmal, 
welches  Unheil  schon  die  unüberlegte  Hochachtung  gegen  alte  Gesetze, 
alte  Gebräuche  und  alte  Religionen  in  der  Welt  angerichtet  hat,  und 
darum  verkennt  er  nicht,  „dass  man  eher  den  Wind  wird  drehen  oder 
aufhalten,  als  die  Gesinnungen  des  Menschen  wird  heften  können.''-') 
„Dass  die  Religion  selbst  Kriege  veranlasst  hat,  ist  abscheulieh,  und 
die  Erfinder  der  Systeme  werden  gewiss  dafür  bUssen  müssen.  Wenn 
die  Grossen  und  ihre  Minister  wahre  Religion  uiul  die  Unterthanen 
vernünftige  Gesetze  und  ein  System  hätten,  so  wäre  allen  geholfen" 
(R.  S.  127  f|.  Darum  sieht  L.  auch  gar  nichts  so  Arges  darin, 
dass  die  französische  Revolution  der  christlichen  Religion  einmal 
ganz  entsagt  hat.  „Vielleicht  war  es  nötig,  sie  einmal  ganz  aufzu- 
heben, um  sie  gereinigt  wieder  einzuführen"  (R.  S.  135).  Er 
selbst  nimmt  ja  ebenso  keinen  Anstand,  von  Zeit  zu  Zeit  einmal  in 
Gesellschaft  den  Atheisten  zu  spielen,  wenngleich  nur  „exercitii 
gratia-  (R.  S.  17).  Denn  die  Vernunft,  der  „Funke  aus  dem  Licht- 
meer der  Gottheit"  (R.  S.  357)  muss  der  Massstab  aller  Dinge 
werden.  Der  „gesunde  Menschenverstand"  soll  gegen  alle  verjährten 
Vorurteile  gesetzt  werden.*)  „Man  muss  in  der  Welt  und  im  Reiche 
der  Wahrheit  frei  untersuchen,  es  koste,  was  es  wolle,  und  sich  nicht 
darum  bekümmern,  ob  der  Satz  in  eine  Familie  gehört,  worunter 
einige  Glieder  gefährlich  werden  können"  (R.  S.  65  f.).     Eine  Otfen- 


1)  N.O.A.  I  S.  48,  106,  201,  225;  II  S.  140,  145;  III  S.  55. 

2)  Hettneri,  Buch  2,  S.  166  f. 

3;  Keclam  S.  8,  42.     N.O.A.  I  S.  61  f. 

*}  R.  S.  47,  70,   195,  253;  N.O.A.  I  S.  104,    135,  192;  II  S.  20,  157,  188; 
VII  S.  130. 


Lichtenherjj  als  Philosoph  etc.  83 

harun^'    neben    unserer  Vernunft    darf  uns   nicht  blenden.     Was  wir 
g;e\vöhnlich  so  heissen,  kommt  psyeholofriseh  folgendermassen  zustande: 
„Wenn  ich    im  Traume  mit  jemand  disputiere   und  der   mich    wider- 
legt und   belehrt,  so  bin  ich  es,  der  sich  selbst  widerlegt  und  belehrt; 
also    nachdenkt.     Dieses  Nachdenken   wird  also  unter  der  Form  von 
Gespräch  angeschaut.     Küimen  wir  uns  daher  wohl  wundern,    wenn 
die  früheren  Völker  das,  was  sie  bei  der  ISchlange  denken  (wie  Eva), 
durch:    ,,Die  Schlange    sprach    zu    mir*    ausdrücken?     Von    der  Art 
sind    die  Ausdrücke:     „Der  Herr  sprach  zu  mir,    mein   Geist  sprach 
zu  mir."     Da  wir  eigentlich  nicht  genau  wissen,  wo  wir  denken,  so 
können    wir    den  Gedanken    versetzen,    wohin    wir   wollen.     So  wie 
man    sprechen  kann,    dass  man  glaubt,    es  käme  von  einem  dritten, 
so    kann   man   auch  denken,    dass  es  lässt,   als  würde  es  ausgesagt. 
Hierher    gehört  der  Genius    des  Sokrates"     (K.  S.  53,  vgl.  S.  387). 
El)enso    beugt  er  sich  keineswegs    schlechthin    vor    den    christlichen 
Urkunden.     ,,Dass   in   einem  Buche  steht,    es  sei  von  Gott,    ist  noch 
kein  Beweis,  dass  es  von  Gott  sei;    dass  aber  unsere  Vernunft    von 
(xott  sei,  ist  gewiss,  man  mag  nun  das  Wort  Gott  nehmen,  wie  man 
will."'     Sell)stverständlich    wendet    er    sich   von  hier  aus  auch  gegen 
die  biblischen  Wundergeschichten,     „Was,  wie  ich  glaube,  die  meisten 
Deisten  schatlt,  zumal  unter  Leuten  von  Geist  und  Nachdenken,  sind 
die    unveränderlichen  Gesetze  in  der  Natur.     Je   mehr  man  sich  mit 
denselben    bekannt    macht,    desto   wahrscheinlicher  w'ird  es,  dass  es 
nie  anders  in  der  Welt  hergegangen,  als  es  jetzt  darin  hergeht,  und 
dass  nie  Wunder  in  der  Welt  geschehen  sind,  so  wenig  als  jetzt."') 
Damit  wirft    er  das  Christentum,    welches    ihm    eine  über  alles 
verehrte  Mutter  in  inniger  Milde  ins  Herz  gepflanzt  hatte,^)  als  solches 
nicht    über  Bord.     Hören    wir    ihn    selber!     ,,Ich  glaube  von  Grund 
meiner  Seele  und  nach  der  reifsten  Überlegung,  dass  die  Lehre  Christi 
gesäubert  vom  IMaffengeschmiere,  und  gehörig  nach  unserer  Art  sich 
auszudrücken  verstanden,  das  voUkonnnenste  System  ist,  das  ich  mir 
wenigsten    denken    kann,    Ruhe   und  Glückseligkeit  in  der  Welt  am 
schnellsten,    kräftigsten,    sichersten    und   allgemeinsten  zu  befördern. 
Allein    ich    glaube    auch,    dass    es  noch  ein  System  giebt,   das  ganz 
aus    der    reinen  Vernunft    erwächst  und  eben  dahin  führt;  allein  es 
ist  nur  für  geübte  Denker  und  gar  nicht  für  den  Menschen  ül)erhaupt; 
und  fände  es  auch  Eingang,  so   müsste  man   doch  die  Lehre  Christi 

')  R.  S.  .57,  vgl.  B9  f.,  167,  346. 

*i  K.  H.  Jördena,  Lexikon  deut.scher  Dichter  und  Prosaisten,  Leipzig   1808 
B.  III,  S.  334  t.,  N.O.A.  II,  .S.  37,  96,  lb2.     (4risebach  S.  11  f. 

6* 


84  '^r.  Arno  Nou  111:1  im, 

fllr  die  Ausühunf:  wählen,  riiristiis  li;U  sieh  /u^rU'ii'h  nai'h  doni  Stoff 
biHliU'iiit,  iiiul  dies  /win^^t  srlhst  dem  Atheisten  Hewuiuienini:  ah. 
Wie  UMi'ht  niüsstc  es  ciiiciii  soieheii  (leiste  ^^ewesen  sein,  ein  System 
t\\r  die  reine  N'ernuiil't  /u  erdenken,  das  alU'  PhiU^sophen  vidliir  he- 
tVicdiirt  hätte!  Ahi-r  wo  sind  die  Menschen  da/.uV  Ks  wün-n  vii-Ueicht 
Jahrhunderte  \ erstriehen.  \\i>  man  es  i,''ar  nieht  verstanden  hätte.  — 
Was  die  Mensehen  UMten  sidl,  muss  wahr,  aher  alh'n  \erstämllich 
sein;  wenn  es  ihnen  aueh  in  Bildern  liei::el)raeht  wird,  die  sie  sich 
hei  jeder  Stnf'e  der  Erkenntnis  anders  erklären"  (K.  S.  54  1'.,  \'j:\. 
N.t>. A.  1  S.  107). ')  Das  Wesentliche  des  Christentums  ist  ihm  /.ujileich 
die  Seele  alK'r  Keli;:ion.  Die  verschiedenen  positiven  Kelij;-ionen 
sind  ihm  nur  verschiedene  Sprachen  der  natürlichen  (II.  S.  59).  Kein 
Wunder  drum,  dass  er  ii'leich  Lessius:,  dem  er  so  vielfach  nahe 
stand,  die  iroldene  Ke2:el  der  Toleranz  prediji-t.  Man  soll  die  Menschen 
nicht  nach  ihren  Meinungen  beurteilen,  sondern  darnach,  was  diese 
Meinuuiien  aus  ihnen  machen  (1».  S.  92). 

So  bleibt  das  Neue  Testament  für  L.  ..ein  auetor  classicus,  das 
beste  Not-  und  Hilfsbüchlein,  das  je  geschrieben  worden  ist."'^)  Nur 
die  erklärenden  Professoren  dieses  Auetors,  die  Geistlichen  seiner  Zeit, 
denen  Kreuzeraachen  Christentum  ist  (K.  S.  293),  diese  Leute  einer 
,.transscendenten  Ventriloquenz"  (K.  S.  337)  u'id  eines  subtilen 
Schamanismus,  verfolgt  er  mit  seinem  bittersten  Spotte  und  scheut 
sich  nicht,  ihnen  mit  ,.seiner  Fackel  der  Wahrheit  im  Gedrän^a-  Hart 
und  Kopfzeug  zu  versengen."^! 

Trotz  solcher  scharfen  Kritik  des  überkommenen  Körpers  der 
Religion  ist  L.  doch  im  innersten  Grunde  eine  durchaus  religiöse 
Natur.  Er  ist  keineswegs  einer  jener  politischen  Köpfe,  welche  nur 
für  die  breiten  Massen  des  Volkes  die  Religion  erhalten  wissen 
wollen.  Er  hat  häufig  Stunden  höchster  Weihe,  wo  er  in  seinen 
Tiefen  erschauert.  Ja,  er  kann  zu  Zeiten  mit  Inbrunst  beten,  und 
hat  den  neunzigsten  Psalm  nie  ohne  ein  erhabenes,  unbeschreibliches 
Gefühl  lesen  können.  „Ehe  denn  die  Berge  worden"  u.  s.  w.  ist 
für  ihn  unendlich  mehr  als:  vSing',  unsterbliche  Seele",  die  Anfangs- 
worte des  Messias  Klopstocks  (R.  S.  8,  12).  Ein  tief-religiöser  Geist 
weht    uns    entgegen  aus  der  kleinen  Abhandlung,    die  er  „Amintors 


')  Daraus  spricht  die  Kenntnis  vun  Kants  „Religion  innerhalb  der  Grenzen 
der  blossen  Vernunft'". 

2)  R.  S.  147  t.,  514;  N.O.A.  I  S.  274  f.,  285,  310. 

3)  K.  S.  443;    N.O.A.  I  S.  273,    292,    308,  324;   U  S.  .56,    79  f.,    101,    114, 
154  f.,  164,  192,  193,  Leitzmann  S.  11  f.,  19—51,  66. 


Lichtenberg  als  Philosoph  etc.  85 

Morgen-Andacht"' I  betiU-lt  hat.  Hier  finden  wir,  an  einer  Stelle 
auch  ausgesprochen,  was  ihm  diese  Stunden  bringen:  völlige  Beruhi- 
ffunfr  in  Absicht  der  Zukunft  und  frohes  Ergeben  in  die  Leitung  der 
Weit  (S.  513). 

Dass  wir  so  bei  L.  mit  dem  freiesten  Denken  eine  weiche  Seele 
vereinigt  finden,  ist  nichts  Aussergewöhnliches.  Ganz  anders  mutet 
es  uns  an  und  bestätigt  unsere  obige  psychologische  Analyse,  wenn 
wir  ihn,  den  starken  Geist,  zugleich  als  im  höchsten  Masse  aber- 
gläubisch entdecken.  Er  nennt  es  selbst  einen  sehr  merkwürdigen 
Umstand  in  seinem  Leben  und  seiner  Philosophie.^)  Z.  K.  hat  er 
seine  Heise  nach  Italien  aufgegeben  (1783),  weil  ein  frisch  ange- 
stecktes Licht  wieder  ausging.  So  macht  er  täglich  hundert  Dinge 
zum  Orakel.  Nicht  am  mindesten  gilt  ihm  der  Traum  (K.  S.  26, 
32  f.,  81).  Auch  phantasiert  er  gerne  von  Seelenwanderung.') 
Soleher  Schwächen  schämt  er  sich  aber  durchaus  nicht.  Er  meint, 
jeder  Mensch  habe  seinen  individuellen  Aberglauben  und  am  meisten 
der  Gelehrte  neige  zum  Ominösen.  Er  beruft  sich  dabei  auf  das 
Beispiel  Kousseaus  (N.O.A.  1  S.  39).^l 

Der  Aberglaube,  als  eine  Lokalphilosophie,  muss  seine  Stimme 
mitabgeben,  wenn  ein  ,, Meinungen-System"  entstehen  soll  (K.  S.  44). 
Denn  „ein  Inbegriff  der  Meinungen  eines  Menschen  ist  seine  Philo- 
sophie- (K.  S.  41).  Menschliche  Philosophie  überhaupt  aber  ist  ihm 
nichts  anderes  als  die  Philosophie  des  einzelnen  durch  die  der  andern, 
selbst  der  Narren,  korrigiert,  und  dies  nach  den  Kegeln  einer 
vernünftigen  Schätzung  der  Grade  der  Wahrscheinlichkeit. 
Als  Kriterium  der  Wahrheit  gilt  dabei  der  consensus  gentium  und 
—  was  für  den  Mathematiker  höchst  charakteristisch  ist  —  die 
Berechenbarkeit (Pv.S. 45;  N.O.A.IS.ö'iloder  die  geometrischeGewissheit 
(I  S.79;  LeitzmannS.52).  Von  hier  stammt  ohne  Frage  auch  die  Neigung 
zu  Spinoza.  Autoritative  Sätze  und  individuelle  Überzeugung  geben 
dagegen  imr  eine  hypothetische  Gewissheit  (K.  S.  46  f ).  Wie  sehr 
auch  die  VernunftUherleguug  notwendig  eine  bevorzugte  Stelle  ein- 
nimmt,   so    dürfen    doch    die    andern  Faktoren   bei  der  Bildung  der 

')  R.  S.  511—515.  1791.  Vgl.  Grisebach  8.  37-40,  Lauchert  S.  122  f. 
Sonst  N.O.A.  I  S.  146;  VU  S.  24  f. 

^)  R.  S.  16,  25,  36;  N.O.A.  II  S.  141;  vgl.  auch  den  oben  im  Auiszuge 
mitgeteilten  charakteristischen  Brief  an  Kant  vom  9.  Dezember  1798. 

S)  R.  S.  30  f.;  N.O.A.  I  S.  31,  33,  67,  159,  171  f..  199:  vgl.  hierzu  „Kant- 
stndien"  II  S.   499. 

*)  Trotzdem  war  natürlich  auch  er  ein  Feind  der  Träume  eines  Geister- 
sehers.    Vgl.  Leitzmann  8.  55  und  dazu  S.  207  ff. 


86  l'r    ^  riin  Neu  mann, 

Weltaiisi'liauuiij;.  (uMullt,  Wilh'  und  riiaiitasic  nach  I..  iiiclit  \rniacli- 
lässiirt  werden.  „Wo  ein  Teil  /.u  sehr  kultiviert  wird,  da  führt  es 
am  Ende  inuner  aiit  kleines  oder  jrrosses  Unheil  hinaus."  .Mso  i.st 
harinonisehes  Waehstuiii  (hs  ganzen  Krkenntnis-Systenis  /,u  crstrehen, 
so  sehr  dies  auch  die  launenhafte  Hevorzu^uiii;-  liald  der  einen,  Itald 
der  anilern  Instanz,  liei  L.  thatsächlich  wieder  nnniö^'lieh  macht') 
In  solchen  Erwäiruniren  L's  linden  wir  einen  höchst  svmpathischen 
Grundzujr  seines  philoso|)hischen  Denkens.  So  weiss  er  die  instink- 
tiven Trielie  und  Kmptindunii'en  neben  der  IveHexion  zu  wlirdiücn. 
,,Ks  ist  zum  JM-staunen.  was  für  mainiij:'falti^e  Stufen  von  Helehrunj;- 
uns  unsert'  F.inrichtunü-  «iewährt  von  der  unerklärlichsten  Ahndunir 
l)is  zu  den  deutlichsten  Einsichten  des  \'erstandes"  |1\.  S.  .")S). 
Friedrich  Heinrich  Jacohi  war  nicht  umsonst  sein  Freund!  Lichten- 
hers:  sairt  einmal  ireistvoll:  „Durch  die  planlosen  Streifzüp-  der 
Phantasie  wird  nicht  selten  das  Wild  aufirejajit.  das  die  planvolle 
Philosojihie  in  ihrer  wohliifordneten  Haushaltung:  g:ehrauchen  kaiui" 
(N.O.A.  I  S.  l()()).  Einem  Manne,  der  so  dachte,  kamen  die 
Ideen  in  einer  Fülle,  nach  der  sich  der  starre  Gelehrte  oft  so  ver- 
iceblich  sehnt.  Er  nahm  auch  die  verschiedenen  Lel)ensalter  zu 
Hilfe;  denn  das  Kind,  der  Knahe,  der  .Iün<zlin<i-  und  der  Mann  hat 
seine  eigene  Philosophie.  ..Wie  glücklich,  wenn  ein  Alter  dem 
andern,  ein  Jahr  dem  andern  in  die  Hand  arl>eitet!  Wenn  das  eine 
Kader,  ein  anderes  Federn,  noch  ein  anderes  Zifferblätter  verfertigte, 
so  brächte  wohl  noch  einmal  ein  viertes  eine  Uhr  zustande''  (K.  S.  40). 
Das  ist  dann  allerdings  die  Weise,  auf  die  man  Philosophie  des 
Menschen  erzielt,  nicht  des  Professors.  Jeder,  der  deutsch  spricht, 
ist  ja  ein  Volksphilosoph,  und  unsere  llniversitätsphilosophie,  als  eine 
Scheidekunst  (K.  8.  65),  besteht  im  Einschränken  von  jener  (S.  61). 
Dass  „die  Erfindung  der  Sprache  vor  der  Philosophie  hergegangen 
ist,  das  ist  es,  was  die  Philosophie  erschwert,  zumal  wenn  man  sie 
anderen  verständlich  machen  will,  die  nicht  viel  selbst  denken."  Also 
Philosophie  ist  immer  zugleich  Berichtigung  des  vulgären  Sprach- 
gebrauches.^) 

Wir  dürfen  uns  nie  von  dem  Herkonnnen  umstricken  lassen.  Es 
verdirbt  unsere  Philosophie.  Wir  müssen  loskommen  von  philosophi- 
schen Polizei-Fonnularen.  Damit  wendet  sich  L.  ebenso  gegen  den 
Schlendrian    der    naiven  Weltbetrachtung,    wie    gegen    die   Starrheit 

*)  R.  S.  14;  vgl.  Timorus  S.  -..18—258;  N.O.A.  I  S.  64  f.,  140  f.,  288.  Dazu 
Doering  S.  324. 

2)  Brief  vom  6.  Februar  1793. 


Lichtenberg  als  Philosoph  etc.  87 

zeitgenössischer  Katliederphilosophie.  So  schreibt  er  boshaft:  ,,Ich 
bin  Uberzeuü:t,  wenn  Gott  einmal  einen  solchen  Menschen  schatfen 
wollte,  wie  ihn  sich  die  Napster  und  Professoren  der  Philosophie 
vorstellen,  er  nuisste  den  ersten  Tag  ins  Tollhaus  gel)racht  werden." 
Er  kennt  eben  die  Unzahl  der  ^'orurteile,  die  hier,  wie  dort  die 
Kopfe  gefangen  halten.  Die  Wahrheit  hat  unendlich  viele  Feinde. 
Er  schildert  sie  meisterhaft:  ..Die  Wahrheit  hat  tausend  Hindernisse 
/u  überwinden,  um  unbeschadet  /u  Papier  zu  kommen  und  vom 
Papier  wieder  zu  Kopf!  Die  Lügner  sind  ihre  schwächsten  Feinde. 
Der  enthusiastische  Schriftsteller,  der  von  allen  Dingen  spricht  und 
alle  Dinge  ansieht,  wie  andere  ehrliche  Leute,  wenn  sie  einen  Hieb 
hal)en;  fenu*r  der  superfeine,  erkünstelte  Äleuschenkenner,  der  in 
jeder  Handlung  eines  Mannes,  wie  Engel  in  einer  Monade,  sein  ganzes 
Leben  sich  al)spiegeln  sieht  und  sehen  will.  Der  gute,  fromme 
Mann,  der  überall  aus  Respekt  glaubt,  nichts  untersucht,  was  er  vor 
dem  fünfzehnten  Jahre  gelernt  hat  und  sein  bischen  Untersuchtes  auf 
ununtersuchtem  Grund  baut  —  das  sind  gefährliche  Feinde  der 
Wahrheit.'- 

Darum  ist  für  L.  mit  Cartesius  im  Zweifel  an  allem  hergebrachten 
der  Anfang  alles  Philosophierens  gelegen.  Geistesstarkes  Selbstdenken 
muss  jeder  lernen.  Er  selbst  wünschte,  dass  er  von  neuem  sehen, 
von  neuem  hören,  von  neuem  fühlen  könnte  (N.O.A.  I  S.  104).  ..Man 
kann  nicht  vorsichtig  genug  sein  im  Bekanntmachen  eigener  Meinungen, 
die  auf  Leben  und  Glückseligkeit  hinauslaufen,  hingegen  nicht  emsig 
genug,  Menschenverstand  und  Zweifeln  einzuschärfen''  (R.  S.  47). 
Über  das  Wesen  dieses  Zweifels  denkt  L.  nach  seiner  beweglichen 
Art  zu  verschiedenen  Zeiten  verschieden.  Wirklich  zu  haltloser 
Skepse  wird  seine  inoyi]  erst  bei  übler  Stimmung,  wie  sie  in  den 
Schlussjahren  seines  Lebens  fast  chronisch  geworden  ist.  Dann  ge- 
langt er  zu  einer  Philosophie,  welche  selbst  die  Notwendigkeit  vom 
Satze  des  Widerspruchs  leugnet.  In  seinen  guten  Stunden  dagegen 
ist  er  sich  wohlbewusst,  dass  dieser  Zweifel  nichts  weiter  sein  darf 
als  „Wachsamkeit",  wie  sie  etwa  der  ..neuen  .\kademie''  eignet, 
welche  „das  Mittel  zwischen  der  strengen  Zuverlässigkeit  des  .Stoikers 
und  der  l'ngewissheit  und  Gleichgültigkeit  des  Skeptikers  hielt" 
(R.  S.  .-)7.     Vgl.  N.O.A.  I  S.   138). 

In  dieser  Richtung  scheint  uns  L.s  eigentliche  Stärke  zu  liegen.') 
Er   hat  sich  selbst  treÖ'end  beurteilt  mit  den  Worten:     ..Wenn  auch 


*)  Vgl.  R.  S.  43  f. 


k^<^  l>r    Arno  Nrinnann, 

nu'iiu'  IMiiliisojiliir  iiii'ht  liiiireit'lit.  etwas  Neues  aiis/.iiliiKleii,  sei  hat 
sie  (looli  Her/,  iionuir,  das  läiifrst  (Je^laultte  liir  iinaiis^^emaclit  /u 
halten"  (K.  S.  ;!(»).  Darin  licirt  eine  lieileutende  Ann-^ninj:-.  Denn 
t'ilr  ihn  liiiii:!  das  Denken  eifrontlich  innner  erst  da  an.  \\u  die 
andern  Itereits  aut'irehürt  halten  /.n  deid<en.  Die  kleinsten  Dinjre 
gewinnen  ihre  i'iirene.  meist  ^eistscliilleni(le  Heleuchtnnii-  und  sind 
ein  .Mosaikstein  /.um  (»anzen. 

Halten  wir  somit  seine  HeirriH'e  von  (iedanUenarlieit  zu  lassen 
jresuclit,  so  wenden  wir  uns  nun  zu  seinen  Kiir/.elansiehten  über 
philosophische  Disziplinfrairen. 

lu  einem  seiner  Aphorismen  lesen  wir,  alles  in  der  Philosophie 
reduziere  sich  auf  drei  Frai;-en:  ,,Was  bin  ich?  Was  soll  ich  thunV 
Was  kann  ich  ^^lauben  und  holVenV"  (N.O.A.I  S.  81)')  Dement- 
sprechend brinjrt  er  Beiträge  zu  Psychologie  und  P'rkenntniskritik, 
Kthik  und  Metaphysik.  Das  hindert  natürlich  nicht,  dass  wir  der 
Durchsichtigkeit  halber  seine  Ansichten  in  einer  etwas  anderen  P'olge 
abhandeln. 

Dass  ein  Mann  wie  L.,  dessen  Gemüt  so  zur  Vorsicht  neigte, 
dessen  gesteigerte  Sul)jektivität  ihn  zur  Selltstkritik  nötigte  (K.S.  73), 
die  Kantisehe  Denkart,  so  bald  er  mit  ihr  ernstlichere  Fühlung  be- 
kam, immer  begeisterter  erfasste,  ist  sehr  begreiflicii.  Denn  sie  gab 
ihm  erstmalig  durch  ihre  theoretische  Grundlegung  einen  festen 
Boden  unter  die  Füsse  und  kam  auch  in  ihrer  praktischen  Seite  seinen 
Wünschen  entgegen.  Deshalb  finden  w^ir  unter  seinen  philosophischen 
Khai)sodien  eben  jene  beträchtliche  Anzahl  von  Bekenntnissen  zum 
Kritizismus.  Auch  er  hat  mitgeholfen,  dem  Kantianismus  einen  Weg 
in  die  dogmatistlsch  satten  Geister  der  Zeit  zu  brechen.  Gerade 
seine  populäre  Klarheit  konnte  seit  der  Ausgabe  seiner  Opera  postuma, 
also  seit  1800,  zu  diesem  Behufe  leuchten.  Gegen  den  reinen 
Empirismus  Lockes  wendet  er  sich  entschieden.  Eine  blosse  tabula 
rasa  bleibt  eine  sehr  unphilosophische  Idee  (K.  S.  (51  f.,  73);  deim 
durch   jede    Einwirkung    w^ird    das    einwirkende    Ding    modifiziert. 


V)  Er  hat  also  die  klassische  Kantstelle  in  der  ersten  Frage  ins  psycho- 
logisch-anthropologische verschoben.  Das  ist  zweifellos  höchst  bezeichnend. 
Kant  schreibt  in  der  Methodenlehre  der  Kr.  d.  r.  V.  (Reelam  S.  610j:  .,Alles 
Interesse  meiner  Vernunft  (das  spekulative  sowohl,  als  das  praktische)  vereinigt 
sich  in  folgenden  drei  Fragen : 

1.  Was  kann  ich  wissen? 

2.  Was  soll  ich  thunV 

3.  Was  darf  ich  hoflfenV 

Auch  Noack  hat  diese  Entlehnung  nicht  bemerkt. 


Lichtenberg  als  Philosoph  etc.  89" 

Subjekt  und  0}»jekt  wirken  in  eins.  Mit  Kantischeni  f4eiste  denken. 
heisst  die  Verhältnisse  des  Subjektiven  fre<ren  das  Objektive  be- 
stimmen (K.  S.  7(;i.  Ks  -r.Miü-rt  aber  iiieht  zu  sauren:  das  Aujre 
sehartt  das  Liclit  und  das  Ohr  die  Töne  (N.O.A.I  S.  107 1,  man 
muss  auch  die  Subjektivierun^-  von  Kaum  und  Zeit,  ja  die  ganze 
Kantische  Kritik  annehmen  (S.  Sil). 

In  vorzü-rlicher  Weise  beleuchtet  L.  zwei  für  die  (xeschichte  der 
transscendeutalen  Ästhetik  bis  auf  die  Gegenwart   wichtige  Probleme, 
nämlich    die  Unterscheidung    von  praeter  and   extra  nos,    sowie  die 
sog.  ..dritte  Möglichkeit",     im    ersten  Bande  der  N.O.A.,  S.  85—87: 
Wir   haben   unter   unseren   Eindrücken  solche,    die  uns  die  unmittel- 
bare Überzeugung  aufdrängen,    dass    wir    uns  bei  ihnen    lediglich 
receptiv    verhalten,    Eindrücke,    bei    denen    wir  empfundene  Gegen- 
stände uns  gegenüber  annehmen  müssen.     „Vielleicht  wäre  es  genug,., 
hier  zu  sagen,  jene  Gegenstände  wären  praeter  nos,  etwas  von  uns  ver- 
schiedenes —  das,  sollte  man    meinen,    wäre  das  einzige,    was  wir 
empfinden    könnten.      Dass     sich     aber    dieses   praeter  nos   in    ein. 
ej-tra    nos    verwandelt,    dass    wir    damit  Entfernung    von    uns   im 
Räume  verbinden,    und    damit    verbinden  müssen,    das   scheint  das 
notwendige  Erfordernis   unserer  Natur  zu  sein  ...  Ich  glaube  also, 
dass  wenn  irgend    ein  Satz  von    aller  Erfahrung  unabhängig  ist,  so 
ist    es    der   von    der  Ausdehnung    der    Körper.-'  —  Sodann    erwägt 
unser  Autor,    ob  nicht  „unter    unzähligen    Fällen    auch  der  möglich 
wäre,  dass  die  Gegenstände  diejenigen  Eigenschaften  haben,  die  wir 
ihnen  unserer  Natur    nach    beilegen    müssen."     Die  Frage    ist   aber 
nach  seiner  Meinung    nicht    zu  beantworten,    und  darum  „ist  es  das 
Klügste,    was    wir    thun    kimnen,    bei  uns  stehen  zu  bleiben,  unsere 
Modifikationen    zu  betrachten,    und    uns   um   die  Beschaffenheit  der 
Dinge    an    sich    gar  nicht  zu  bekümmern".     Damit  bekennt  er  sich 
voll    und    ganz    zum    erkenntnistheoretischen    Idealismus,      Er    hat 
treffend     im    folgenden    die    Genesis    dieser    Anschauung    aus    dem 
naiven  Realismus  gezeichnet:     „Zuerst  als  Knabe  lächelt  man  über  die 
Albernheit  des  Idealismus;   etwas  weiter  findet  man  die  Vorstellung 
artig,  witzig    und    verzeihlich;    disputiert   gerne  darüber  nnt  Leuten, 
die    sich    ihrem  Alter    oder    Stand    nach  noch  im  ersten  Stadio  be- 
finden.    Bei  reifen  Jahren  findet  man  ihn    zwar  ganz  sinnreich,  sich 
und    andere    damit  zu  necken,    aber  im  ganzen    kaum  einer  Wider- 
legung wert  und  der  Natur  widersprechend.     Man  hält  es  nicht  der 
Mühe  wert,    weiter  daran   zu   denken,    weil   man  glaubt,    oft  genug 
daran  gedacht  zu  haben.     Aber    weiterhin    bekommt    er,    bei  ernst- 


IK) 


l>r    A  rill)  N  c  u  iii;i  ii  ii , 


lii'heiii  Naolulrnkfii  und  lüclit  ^aii/,  ;rt'riii,:r<'r  Bt'U;iiintst'liat"t  mit 
mensohlicluMi  DiniTi'u.  oiiir  iraii/.  imiilH'rwiiKlliflic  Stüikc  i  lü  S,  i;;;  f. ). 
Zcitwoilic  taiu'ht  dalici.  wir  schon  oIh-u  Iterlilirt  Nvunli'.  ein 
jranz  sulijektivistisi'luT  Satz.  auf.  z.  H.:  \  it'lk'iclit  sei  das  fran/e 
rrononu'n  dvv  andere  antliroponiorplien  rrsprunj;-«  iN.O.A.  I  S.  121). 
L.  niuss  eilen  dir  Dinire  nu'hrseitijr  hetraeliten.  ^reniäss  di-r  Vo\\- 
niorpliie  seiniT  Seele. 

An»     meisten     tritt     uns    das     aus     seinen     nietaphvsisehen     Au- 
schauuniren    entire.uen.     Hier    schwankt   er   oft   seltsam    hin  und  her. 
Al>er  inuner    hält    er  fest,    dass  wir  es  nur  /u   Wahrscheinlichkeiten, 
nicht    /AI   (iewisshi'iten    l)riniren.     Die  Klimax    metaphysischer  Hypo- 
thesen   ist   ein    fruchtbarer    (iedanke.    welcher   dabei    ab  und  /,u   vor- 
iretrasren  wird.    So  kommt  L.  da/u.  ^rundsät/.lich  auszusprechen,  dass 
jsich    ül)er   die   Existenz   Gottes,    die    llnsteri)lichkeit   der   Seele,   die 
Freiheit  des  Willens,    seine   drei   Leitthemata,    die   ei-   im   Anschluss 
an  Kant  aufstellt,  theoretisch  etwas  Sicheres  nicht  ausmachen  lasse. 
..Sie    sind    alle  bloss    »redenkbare,    aber    nicht   erkennbare   Dinge" 
(R.  S.  6-J  f.  ).     Dass  die  Woltische  Schule  Gott  beweisen  wollte,  darin 
lajr    ihr    Fehler.     Weder    der    ontologisehe,    noch    der    moralische, 
noch  der  physiko-theologische   Beweis    ist  stringent.   wenn  wir  auch 
die   Leute,    welche    solche   Wege    gangbar    finden,    in  Ruhe   lassen 
sollen.     Über  den  teleologischen    sagt  er  mit  Kant:     ,.Anstatt,  dass 
sich  die  Welt    in    uns    spiegelt,    sollten   wir  vielmehr  sagen,   unsere 
Vernunft    spiegelt    sich    in    der   Welt.     Wir    köimeii   nichts  anderes, 
wir  müssen  (h'dnung    und    weise  Regierung  in    der  Welt   erkennen, 
dies  folgt  aus  der  Einrichtung  unserer  Denkkraft.     Es  ist  aber  noch 
keine  Folge,    dass  etw'as,   was  wir  notwendig  denken  müssen,  auch 
wirklich  so  ist;  denn  wir  haben  von  der  wahren  Beschaffenheit  der 
Aussenwelt  keinen  Begriff;    also    daraus    allein  lässt  sich  kein  Gott 
erweisen-     (R.  8.  56).     „Der  Glaube  an  Gott  ist  vielmehr  Instinkt, 
ist  dem  Menschen   natürlich,    so    wie    das    Gehen   auf  zwei   Beinen; 
modifiziert  wird  er  freilich  bei  manchem,  bei  manchem  gar  erstickt, 
aber    in    der  Regel  ist   er  da,    und    ist    zur   Innern  Wohlgestalt  des 
Erkenntnisvermögens   unentbehrlich"    (N.O.A.  1  S.  145).     Ohne  Herz 
kämen    wir  nicht    zu    Gott.')     Früher  füllte  für  L.  der  Spinozismus 
diese  grosse  theoretische  Lücke.     Wie  lange  aber  diese  Anschauung 
Geltung  hatte,  könnte  man  nur  mit  Sicherheit  feststellen,   wenn  sich 


*)  R.  S.  3.59,  71  f.     Vgl.  hierzu  Fr.  H.  Jacobi,  Über  eine  Weissagung  L.s 
(Von  den  güttl.  Dingen  und  ihrer  Offenbarung  1811  S.   1— 40j. 


Lichtenberg  als  Philosoph  etc.  91 

die  chronologischen  Wirrnisse  des  Nachlasses  noch  einmal  lösen 
Hessen.  Hat  er  auch  noch  trotz  Kant  den  Sj)inozisnius  für  die  l'niversal- 
Keliirion  der  Zukunft  ^'ehalten  VV  Mau  kann  es  aus  inneren 
Gründen  nicht  annehmen. 

Es  war  damals  gewiss  auch  vorüber,  dass  ihn  die  Frage  der 
Theodicee  zu  der  gnostischen  Absurdität  trieb,  unsere  Welt  von 
einem  untergeordneten  Demiurgen  abzuleiten.  Auch  l^ehaujjtete  er 
sich  gegen  zeitweilige  Feuerbachische  Anwandlungen')  durch  die 
Forderung  sittlicher  rHichterliillung. 

Der  Unster))lichkeit  gegenüber  führt  ihn  ein  theoretischer 
,,Chaniäleonismus''  zu  dem  Ergebnis:  man  habe  eine  vernünftige 
Gleichgültigkeit  gegen  das  Künftige  zu  erringen. ^j  Die  Paradoxie 
systematisiert  hat  er  auf  dem  Gebiete  der  Freiheitslehre.  Er 
schreibt:  ..Dass  zuweilen  eine  falsche  Hypothese  der  richtigen  vor- 
zuziehen sei,  sieht  man  aus  der  Lehre  der  Freiheit  des  Menschen 
Der  Mensch  ist  gewiss  nicht  frei,  allein  Freiheit  ist  die  bequemste 
(sie!)  P'orni.  sich  die  Sache  zu  denken,  und  wird  auch  allezeit  die 
übliche  bleiben,  da  sie  sehr  den  Schein  für  sich  hat."  Spinozistischer 
Determinisnms  und  das  praktische  Bedürfnis  kämpfen  wider  einander. 
Ebenso  bleibt  er  kein  Feind  der  Teleologie  (K.  S.  51). 

Damit  sind  wir  schon  auf  das  naturphilosophische  Gebiet  über- 
getreten. Hier  ist  aber  bei  dem  Physiker  gegen  Erwarten  wenig 
zü  holen.-^)  Hier  sympathisiert  er  mit  allen  Aufklärungsphilosophen. 
Nur  das  eine  springt  klar  hervor,  dass  er  den  Materialismus,  und 
speziell  La  Mettrie  verwirft.^)  ..Materialismus  ist  die  Asymptote  der 
Psychologie'*  (K.  S.  47).  l'nd  doch:  ,,Was  soll  uns  in  der  Welt 
das  infame  Zwei.  Seele  und  träge  Materie  V  Beide  sind  blosse  Ab- 
straktionen; wir  kennen  von  der  Materie  nichts  als  die  Kräfte,  mit 
denen  sie  eins  ist'".^; 

Die  Psychologie  hingegen  ist  lür  den  Selbstbeobachter  L. 
Spezialgebiet.  Nur  ist  sie  ihm  mehr  eine  feine  ])sychophysische 
Menschenkenntnis  und  Seelenweisheit  als  wirkliche  wissenschaftliche 
Prüfung  wie  uns  heutigen,  wenn  er  gleich  tiefsinnige  Probleme  im 
Vorbeigehen  aufrührt.     Man    kann  sie  also  nicht  darstellen,  sondern 


')  R.  S.  47:  „Gott  schuf  den  Menschen  nach  seinem  Bilde,  das  heisst  ver- 
mutlich, der  Mensch  schuf  (iott  nach  dem  seinen." 

^)  N.U.A.  I  S.  64  f.,  79.  105,  286,  292;  II  S.  91,  193:  VII  .S.  200. 

')  Vgl.  I.  E.  Erdmann,  Gesch.  d.  Philos.  S.  614. 

♦)  R.  S.  24S,  ö\ ;  N.U.A.  I  S.  54. 

5j  Vgl.  N.O.A.  S.  150  und  Überweg-Heinze  IIP  S.  1.53. 


02  l)r.  Arn«»  NtMiinanii, 

nur  zur   LrUtiirc    uml    /imi   Mitut'iuissi'    cnipfchlcn.      Die    i:an/.c  Zrit 
sclnvelirti'  ja  damals  in  /.artcstiT  Herzenskuiulc.') 

NaoluU'ni  wir  i,.  soweit  in  si'iiicii  (Jc(lanis.(Mis])a/.i('r^iiii_<:('n  ^x- 
Iblfrt  sind,  t'rüliriut  ein  lUii-k  aut"  seine  |iraktis('lie  rhilositphic,  st'ine 
Lel)enskunst.  Wenn  er  denkiMul  niaiMiifrtaoh  selnvankte  und  scliwehte, 
handelnd  stand  seine  Tersen  auf  testen  Füssen.  Kin  w  underliar.  Ja 
iiiinios(Mdiatt  zartes  Gewissen  war  sein  Kompass  (N.O.A.  I  S.  ISS).^) 
Gerade  weil  wir  das  (Jan/.e  nicht  ülx'rsehen,  ist  es  unsere  l'flicht, 
vernunftireniäss  /u  hand(dn  (1\.  S.  (>7).  Nicht  die  IMiilosophie.  nur 
Früchte  der  IMiilosophie  sind  vortreftiich,  dachte  er  mit  dem  Geiste 
der  Zeit,  welche  eine  sichere  nüchterne  Moral  in  den  \'orderirrund 
jrerückt  hatte  (N.O.A.  I  S.  72).  „Wenn  ich  je  eine  Tredigt  drucken 
lasse'',  vernehmen  wir  ihn,  „so  ist  es  über  das  \'erm()j:en,  Gutes  /.u 
thun,  das  jeder  besitzt'-  (H.  S.  87 1.  Der  Kernsatz  aller  Sitteidehre 
heisst:  Der  iranze  Mensch  muss  sich  vorwärts  bewefi-enl  Zum 
Menschen  rechnet  er  dabei  Kopf  und  Herz,  .Mund  und  Hände 
(K.  S.  91).  \'ollkommen  glücklich  wird  dabei  freilich  keiner.  Aber 
gerade  dies  Bewusstsein  macht  glücklich.  .Jeden  Augenblick  des 
Lebens,  er  falle  aus  welcher  Hand  des  Schicksals  er  wolle  uns  zu, 
zu  dem  günstigsten,  sowie  den  ungünstigen  zum  bestmöglichen  zu 
machen,  darin  besteht  die  Meisterkunst  im  Leben. 

Mit  dieser  euergievollen  Seite  an  L.s  Wesen  wollen  wir  unsere 


^j  Vgl.  Meyer  S.  63.  EinenVersuoh  der  Zusammenfassung  finden  wir  bei  Scliäfer, 
Lichtenberg  alsPsychologe  imd Menschenkenner, S.  34—57.  Vgl.  neuestens  auch  bei 
Leitzmann  S.  4  ff.,  37,  74  über  „die  Naturgeschichte  vom  menschlichen  Herzen". 
Zur  Charakteristik  diene,  was  L.  hier  über  das  menschliche  Gesicht  ausführt: 
„Das  Angesicht  der  Menschen,  man  mag  es  mit  den  Augen  des  Anatomen,  des 
Liebhabers,  des  Psychologen  oder  des  Malers  betrachten,  ist  allzeit  ein  uner- 
schöi)flicher  Quell  von  angenehmen  Betrachtungen.  Es  ist  gleichsam  das  Ge- 
wand der  Seele,  das  bald  mehr  bald  minder  anpassend  ist,  aber  doch  allzeit  so 
anliegt,  dass  grosse  Schönheiten  sowohl  als  grosse  Gebrechen,  wo  nicht  bei 
allen  Stellungen,  doch  gewiss  bei  einigen  durchscheinen.  Zuweilen,  welches 
vornehmlich  bei  dem  schönen  Geschlecht  geschieht,  ist  es  auch  nur  ein  leichter 
Flor,  der  auch  einem  minder  neugierigen  Auge  wenig  verdeckt.  Nicht  allein 
Liebe,  Hass,  Freude,  Traurigkeit  und  überhaupt  alle  Leidenschaften  haben  ihre 
besondere  Zeichen,  die  sie  in  dem  Gesicht  begleiten,  sondern  es  bezeichnet 
auch  für  etwas  geübtere  Beobachter  Genie  und  Übereinstimmung  der  Worte 
mit  den  Gedanken". 

2)  Wie  seine  Ehe,  die  erst  spät  legitimiert  wurde,  zu  messen  ist,  zeigen  am 
besten  Grisebach  S.  40-  43  und  Bobertag  S  6  f.  So  oft  er  von  seiner  Frau 
;md  den  gemeinsamen  acht  Kindern  spricht,  geschieht  es  mit  Herzlichkeit  und 
poesievollem  Edelsinn. 


Lichtenberg  als  Philosoph  etc.  93 

Skizze  beschliessen.  Sit-  bleibt  eine  Skizze.  Denn,  was  g:eboten 
wurde,  ist  nur  eine  Synopsis  einer  drängenden  Fülle  von  Gedanken 
und  philosophischen  Ideen,  wie  sie  für  L,  in  dieser  Art  kaum  noch  versucht 
ist.  Mancherlei  Betrachtungen  geschichts-  und  rechtsphilosophischen, 
pädagogischen  und  politischen  Charakters  konnten  dabei  gar  keine 
Stelle  finden.  Wir  wollten  nur  am  Tage  des  Gedächtnisses  zu  er- 
neutem Studium  eines  so  eigenartig  bedeutenden  Menschen  einen  Au- 
stoss  nicht  veral)säunien.  Wir  wollten  zeigen,  dafs  er  nicht  nur 
in  die  grosse  Kammer  reizvoller  Anti(iuitäten  gehört,  sondern  dass 
er  auch  für  die  Gegenwart  noch  zu  einer  , .Wünschelrute"  des  Geistes 
werden  kann. 

Subjektive  Urteile  wurden  dabei  bewusst  auf  das  Minimum  be- 
schränkt. 1.  weil  der  so  ungebührlich  unbekannte  Philosoph  selbst 
reden  sollte,  und  man  leicht  den  Dutt  von  seinen  Worten  ver- 
wischt, wie  von  Schmetterlingsflügeln,  und  2.  weil  seine  grossen 
Grundideen  schon  in  ihren  originalen  Vertretern  ihre  geschichtliche 
Würdigung  gefunden  haben.  Der  quellende  Reichtum  der  Einzel- 
gedanken aber  verlangt  die  Separatentscheidung  eines  jeden  Be- 
trachters, und  darin  liegt  ja  L.s  Stärke.  Seine  Gedanken  lösen 
eigene  Gedanken  aus.  Er  will  nicht  lehren,  was  wir  denken  sollen, 
sondern  nur,  wie  wir  denken  sollen,  und  damit  weiht  er  —  wie  er 
selbst  sagt  —  ein  in  die  Mysterien  der  Menschheit  (R.  S.  46  f). 
Seine  j\Ieinung  ist:  ..Philosophie,  wenn  sie  für  den  Menschen  etwas 
mehr  sein  soll,  als  eine  Samndung  von  Materien  zum  Disputieren, 
kann  imr  indirekte  gelehrt  werden  (S.  515)*).  Hierin  trifft  er  mit 
einem  ungleich  Grösseren  zusammen,  der  seine  Hörer  nicht  Philosophie 
lehren  wollte,  sondern  Philosophieren,  mit  Immanuel  Kant. 


1)  Vgl.  Leitzinann  S.  53  u.  73.  An  der  letzteren  Stelle  heisst  es  mit 
sicherer  Selbstbeurteiliing:  ^Ich  habe  überall  Gedanken-Kürner  ausgestreut,  die 
wenn  sie  auf  einen  guten  Boden  fallen  zu  Dissertationes  aufkeimen  und  JSyste- 
mata  tragen  können.'' 


Kants  Lehre  vom  höchsten  Gut. 

Eine  Richtigstellung, 
Von  A.   Döring. 

Im  Oktober  iiiul  November  IS*);")  wurde  im  Zweigvereiii  des 
Evangelischen  Bundes  in  Berlin  ein  Cyklus  apologetischer  Vorträge 
gehalten,  die  auch  nachher  in  Broschürenform  im  Drucke  erschienen 
sind.  Zu  dieser  Serie  gehört  auch  der  Vortrag  von  Kaftan:  Das 
Christentum  und  die  Philosophie  (Leipzig  189(5).  Es  ist  nicht 
dieses  Ortes  und  liegt  auch  nicht  in  meiner  Absicht,  die  gesamte 
Argumentation  dieses  N'ortrages  einer  Beurteilung  zu  unterwerfen.*) 
Dagegen  scheint  mir  die  Art,  wie  hier  für  die  Lehre  vom  höchsten  (lut 
als  Central-Dogma  der  Philosophie  und  für  die  Wesensbestimmong 
des  höchsten  Gates  die  Autorität  Kants  in  Anspruch  genommen  wird, 
auch  heute  noch  einer  Kichtigstellung  zu  bedürfen,  zumal  auch  von 
der  neueren  Kantforschung  die  hiermit  zusammenhängende,  für  den 
Aufbau  des  Kantischen  Systems  so  wichtige  Gedankenreihe  vielfach 
unbillig  vernachlässigt  worden  ist. 

Wir  hören  nämlich  in  diesem  Vortrage,  die  Philosophie  sei  nach 
Aristoteles  „die  Wissenschaft  von  den  letzten  Gründen  oder  den 
ersten  Ursachen  alles  Seienden",  nach  Kant  dagegen  die  Lehre  vom 
höchsten  Gut  (S.  5),  mit  welcher  letzteren  Begriffsbestimmung  auch 
der  Vortragende  seinerseits  sich  einverstanden  erklärt  (S.  15).  Es 
wird  dann  ferner  (S.  22)  behauptet,  Plato  habe  das  höchste  Gut  in 
die  Erkenntnis,  Kant  dagegen  in  „das  sittliche  Wollen  und  Handeln" 
gesetzt.  Mit  dieser  Fassung  habe  Kant  zuerst  den  Grundgedanken 
der  Reformation  zu  einem  philosophischen  Prinzip  erhoben  und  ver- 
diene darum  der  Philosoph  des  Protestantismus  zu  heissen.  Ebenso 
heisst  es  S.  24  f.,  die  „ethisch  bedingte  Lehre  vom  höchsten  Gute" 
sei  der  eigentliche  und  letzte  Schlüssel  des  Weltverständnisses,  und 
die  wahre  Philosophie,  die  diesen  Weg  führe,  sei  diejenige,  die  sich 
wesentlich  in  den  Bahnen  Kants  bewege. 


1)  Die  „Kantstudien"    haben    über   den  Kaftanschen  Vortrag    im   1.  Band, 
S.  284  eingehender  berichtet.  (Anmerkung  der  Redaktion.) 


Kants  Lehre  vom  höchsten  Gut.  95 

Es  wird    also    hier  Kant  für  fol^rcnde  zwei  ^Sätze  als  Autorität 
heranjrezofreu: 

1.  Die  Philosophie  ist  die  Lehre  vom  höchsten  Gute. 

•2.  Das  höchste  (iut  besteht  im  sittlichen  Wollen  und  Handeln. 

Ich  weiss  nicht,  ob  Kaftan  an  anderer  Stelle  diese  lnterf)retation 
Kants  eingehender  begründet  hat.  Jedenfalls  berührt  es  befremdlich, 
den  ingrinnnigsten  (regner  des  Eudämonismus  in  Jeder  Form  hier 
Sans  fa(;on  selbst  zum  Hudämonisten  gestempelt  zu  sehen,  und  es 
darf  nicht  unwidersprochen  bleiben,  wenn  in  einem  für  das  grössere 
Publikum  bestimmten  \'ortrage  Kant  für  einen  an  sich  durchaus  be- 
rechtigten, aber  seiner  Denkweise  völlig  widerstrebenden  Gedanken 
als  Autorität  angerufen  wird.  Ich  beabsichtige  jedoch  nicht,  für  die 
allerdings  sehr  interessante  Frage  das  etwas  weitschichtige  Material 
in  extenso  vorzuführen,  sondern  werde  mich  auf  die  allerwesentlichsten 
Punkte  beschränken.') 

I.  Kants  Lehre  von  der  Aufgabe  der  Philosophie. 

Die  centrale  Stellung  der  Lehre  vom  höchsten  Gute  in  der  Philo- 
sophie bildet,  wie  Kant  selbst  an  mehreren  nachher  anzuführenden 
Stellen  hervorgehoben  hat,  das  Charakteristikum  der  antiken  Philo- 
sophie in  der  Zeit  nach  Plato  und  Aristoteles.  Der  Übergang  dazu 
ist  schon  im  Alterssystem  Piatos,  deutlicher  noch  bei  Aristoteles 
zu  beobachten.  Das  volle  Bewusstsein  dieser  Sachlage  beherrscht 
die  nacharistotelischen  Systeme,  das  akademische,  peripatetische, 
stoische  und  epikureische. 

Über  seine  eigene  Auffassung  vom  Wesen  und  der  Aufgabe  der 
Philosophie  spricht  sich  Kant  zuerst  in  der  Kr.  d.  r.  V.  in  der  „Archi- 
tektonik- aus.  Kr  unterscheidet  hier  den  Schulbegriff  und  den 
Weltbegriff  der  Philosophie.  Der  Schulbegriff  bezieht  sich  ledig- 
lich auf  die  Erkenntnisart.  Die  empirische  oder,  wie  Kant  sagt, 
historische  Erkenntnisart  ist  Erkenntnis  ex  datis,  die  rationale  da- 
gegen Erkenntnis  ex  principiis.  Diese  zerfällt  wieder  in  die  aus  der 
Konstruktion  der  Begriffe,  die  Mathematik,  und  die  aus  Begriffen 
schlechthin,  die  Philosophie. 

Der  Weltbegriff  einer  Wissenschaft  überhaupt  ist  „derjenige, 
der    das    betrifft,    was  jedermann   notwendig  interessiert."'     Dies  auf 


1)  Vgl.  meine  Schrift  „Über  den  Begriff  der  Philosopliie''  (Dortmund  1878J 
S.  36  flF.,  femer  meinen  Autsatz  in  den  Preufs.  Jahrbüchern  „Über  Kants  Lehre 
von  Begritf  und  Aufg.ibe  der  Philosophie"  (Band  06,  1885),  sowie  endlich  auch 
meine  ,, Philosophische  Güterlehre''  (S.  899  tf.i. 


i)l>  A.  Döring, 

die  riiilosopliu'  anirowandt.  crjrii'bt  die  Delinitidii  (Icrselbcii  als  die 
Wissfiiscliaft  von  der  Hf/icluin«:  aller  KrUcnntiiis  aul"  die  wcseut- 
lichen  Zwecke  der  meiisehliclien  Vernunft."  Diese  wesentlichen 
Zwecke  alu-r  nüisscn  sich  l>ci  xoHkonniiener  systematischer  Einheit 
der  \  i-rnunft  wieder  auf  einen  ein/iy-en  reduzieren.  Ks  eiitst(dit  der 
Unterschied  mhu  Kudzweek  und  sul)alternen  Zwecken,  die  sich  zu 
Jenem  als  Mittel  verhalten,  l  Iter  die  Natur  des  Endzweekes  spricht 
sich  Kant  an  dieser  Stelle  nur  summarisch  aus:  Der  erstere  ist  kein 
anderer,  als  die  i;:anze  Bestimmung  des  Menschen  und  die  Thilo- 
sophie  über  dieselbe  heisst  Moral"     (Kos.  S.  044  ff.). 

(xenaueres  über  das  Verhältnis  dieser  Zwecke  erfahren  wir  im 
1.  Al)schnitt  des  ..Kanons'*  ..Von  dem  letzten  Zwecke  des  reinen  Ge- 
hrauchs unserer  \  ernunft"  (Kos.  (Uö  ff.).  Hier  werden  als  die  letzten 
Zwecke  der  Vernunft  bezeichnet  Freiheit,  Unsterblichkeit  und  Dasein 
Gottes.  Das  theoretische  Interesse  an  diesen  drei  Proldemen  aber 
ist  iz-erin^-;  ihre  eigentliche  Bedeutung  gewinnen  sie  erst  durch  die 
praktische  Frage.  ..was  zu  thun  sei,  wenn  der  Wille  frei,  wenn 
ein  Gott  und  eine  künftige  Welt  ist''.  Somit  ist  ,,die  letzte  Ab- 
sicht der  weislich  uns  versorgenden  Natur  bei  der  Einrichtung 
unserer  Vernunft  eigentlich  nur  aufs  Moralische  gestellet".  „Die 
höchsten  Zwecke  sind  die  der  Moralität"  (Kos.  680). 

Wir  l)emerken  hier,  wie  vorsichtig  Kant  jeder  Beziehung  auf 
Glückseligkeit  aus  dem  Wege  geht.  Moralität  ist  nicht  das  Mittel  zur 
wahren  Glückseligkeit,  sondern  „die  Bestimmung  des  Menschen".  Dieser 
haltlose,  nicht  weiter  geprüfte  und  analysierte  Begrifi"  verrät  ihn 
als  Sohn  seiner  Zeit.  Der  religiös-sittliche  Kigorismus  des  Pietismus 
ist  in  den  rein  moralischen  Kigorismus  des  Aufklärungszeitalters 
übergegangen.  Bemerkenswert  ist  hierbei,  wie  Kant,  der  abgesagte 
Feind  der  Heteronomie.  gerade  im  obersten  Begriffe  seines  Gedanken- 
systems der  Heteronomie  anheimfällt.  Er  wagt  noch  nicht  den  Schritt, 
das  Individuum  autonom  sein  wahres  Wohlsein,  seine  Befriedigung 
suchen  zu  lassen.  Über  ihm  schwebt  gebieterisch  seine  ..Be- 
stimmung." 

In  der  That  ist  dies  aber  der  oberste  Begriff  des  ganzen 
Systems.  Die  ganze  theoretische  Philosophie  gipfelt  in  der  Frage 
nach  den  drei  Ideen,  d.  h.  nach  den  drei  subalternen  Zwecken,  die 
zunächst  berufen  scheinen,  den  Endzweck  zu  stützen.  Das  Resultat 
ist  ein  negatives.  Aber  das  braucht  in  Bezug  auf  die  Erreichung 
des  Endzweckes  keine  Beunruhigung  zu  gewähren.  Denn  einesteils 
würde    durch  den  Erweis  von  Gott  und  Unsterblichkeit  in  Wirklich- 


Kants  Lehre  vom  höchsten  Gut.  97 

keit  die  Bestiinmun-r  nicht  erreicht;  der  theoretische  Erweis  würde 
nur  zu  einer  sklavischen,  iieteronomen  Leg:alität,  keineswegs  aber  zu 
wahrer  Moralität  führen.  Freiheit  aber  wäre  zu  dieser  Leg-alität 
nur  ..im  praktischen  Verstände''  (Kos.  (>18  f.)  erforderlich.  Andern- 
teils  bedarf  aber  die  Erreichung  der  Bestimmung  auch  gar  keiner 
theoretischer  Hilfeleistung,  da  sie  in  der  Thatsache  des  kategorischen 
Imi)erativs  in  absolut  ))efriedigender  Weise  gewährleistet  ist. 

Die  Erreichung  der  drei  ..wesentlichen"  oder  ..höchsten"  Zwecke 
der  Vernunft  ist  also  1.  unmöglich,  2.  wertlos  und  :{.  für  den  End- 
zweck überflüssig  und  entbehrlich.  Das  ist  das  Kantsche  System  in 
nuce,  selbstverständlich  in  derjenigen  apophthegmatischen  Fassung, 
die   ich   mir   für  diese  Arbeit  überhaupt  zum  Gesetze  gemacht  habe. 

Dals  nun  die  hier  nach  der  Kr.  d.  r.  V.  entwickelte  Begriffs- 
bestimmung der  Philosophie  nicht  etwa  nur  ein  gelegentlicher  Ein- 
fall Kants,  sondern  die  seiner  ganzen  Denkrichtung  und  seinem  Ge- 
dankenkreise konforme  ist,  ergiebt  sich  aufser  dem  soeben  gelieferten 
inneren  Nachweise  auch  noch  durch  äufsere  Zeugnisse.  Die  ganze 
Gedankenreihe  der  Erkenntnisse  ex  datis  und  ex  principiis.  des 
Schulbegritfs  und  Weltbegrifts.  der  letzten  Zwecke  und  des  Endzwecks 
der  Vernunft  findet  sich  wiederholt  in  der  1800  nach  Kants  Vorlesungs- 
notizen von  Jäsche  herausgegebenen  Logik  (Abschnitt  lU  der  Ein- 
leitung), sowie  in  etwas  kürzerer  Formulierung  in  den  ..Fortschritten 
der  Metaphysik"  (Kos.  1.  S.  488  ff.).  Ich  begnüge  mich  der  Kürze 
halber  hier  damit,  auf  diese  Stellen  hinzuweisen.  Eine  deutliche 
Anspielung  auf  diese  Begriffsbestimmung  der  Philosophie  findet  sich 
endlich  auch  noch  in  der  letzten  der  von  Kant  selbst  herausgegebenen 
Schriften,  dem  ,.Streit  der  Fakultäten"  (1798).  Hier  heisst  es 
(Kos.  X,  3()8j,  die  Philosophie  habe  ihr  Interesse  am  Ganzen  des 
Endzweckes  der  Vernunft,  der  eine  absolute  Einheit  sei. 

Die  eigentliche  Meinung  Kants  von  der  Aufgabe  der  Philo- 
sophie hängt  also  nicht  an  dem  (in  Wirklichkeit  den  Menschen  zur 
Autonomie  erhel)enden)  Begriffe  des  höchsten  Gutes,  sondern  an  dem 
(heteronomen)  Begriffe  der  „Bestimmung  des  Menschen". 

II.  Kants  Lehre  vom  höchsten  Gute. 
In  der  Kr.  d.  pr.  V.  verfolgt  Kant  zunächst  das  Interesse,  das 
praktische  Gesetz  als  ein  von  jeder  sonstigen  Beziehung  abgelöstes, 
ausschlietslich  aus  reiner  Vernunft  geltendes  (d.  h.  thatsächlich  als 
ein  Gesetz  der  praktischen  Widerspruchstreiheit)  zu  formulieren.  In 
diesem    Zusammenhange    finden    sich    (Kos.    185    ff.)    folgende    Aus- 

Kaat.stndicu  IV  ' 


98  '^    Döring, 

iühruiiiren.  Alle  „Vcrirrunirt'n  der  riiilosophen  in  Aiisehiin;:  des 
obersten  Prinzips  der  Moral"  haben  darin  ihren  (Jrund,  dass  sie, 
statt  /.uerst  nach  eini'in  a  priori  ilen  Wilh-n  bestinnnenden  (Jesetzo 
zu  forschen,  finen  Geirenstand  des  Willens  als  Hestinininn^^sjrrnnd 
desselben  anfsuchten.  Dadurch  entsteht  Ileterononiie,  nia;;  dieser  den 
Willen  bestimmende  Gej^enstand  als  (ilUckselifrlvcit,  als  Vollkommen- 
heit, als  moralisches  Gesetz  (hier  ist  wohl  das  Huteheso  nsche  Wohl- 
tretallen  am  moralischen  Verhalten  «femeint,  s.  die  Tafel  der  materialen 
praktischenBestimmungs>rründeKo,s.  154)  oder  als  Wille  Gottes  bestimmt 
werden.  „Die  Alten  verrieten  indessen  diesen  Fehler  dadurch  unverholen, 
dass  sie  ihre  moralische  Untersuchung!:  gänzlich  auf  die  Bestimmung  des 
Begriffes  vom  höchsten  Gut,  mithin  eines  Gegenstandes  setzten, 
welchen  sie  nachher  zum  Bestimmungsgrunde  des  Willens  im 
moralischen  Gesetze  zu  macheu  gedachten  .  .  .  Die  Neueren,  bei  denen 
die  Frage  über  das  höchste  Gut  ausser  Gebrauch  gekommen,  zum 
wenigsten  nur  Nebensache  geworden  zu  sein  scheint,  verstecken 
obigen  Fehler  (wie  in  vielen  anderen  Fähen)  hinter  unbestimmten 
Worten-,  während  doch  auch  bei  ihnen  ein  a  priori  gebietendes 
moralisches  Gesetz  nicht  zustande   kommt. 

Hier  haben  wir  die  echte  unverfälschte  Ansicht  Kants  vom 
höchsten  Gut.  Sie  begründet  in  seinem  Sinne  Heterouomie  des 
Sittengesetzes,  wenn  gleich,  wie  wir  gesehen  haben,  thatsächlich 
Autonomie  des  Menschen. 

Eine  wesentlich  veränderte  Stellung  zur  Frage  tritt  jedoch  in 
der  praktischen  Kritik  da  ein,  wo  das  Interesse  in  den  Vordergrund 
tritt,  aus  dem  praktischen  Gesetze  die  Postulate  abzuleiten.  In  diesem 
Interesse  erklärt  Kant  jetzt  (Ros.  S.  243  f.),  die  reine  praktische 
Vernunft  suche  die  Totalität  ihres  Gegenstandes  unter  dem  Namen 
des  höchsten  Gutes,  und  findet,  dals  die  wissenschaftliche  Bestimmung 
dieser  Idee  (des  höchsten  Gutes)  als  Maxime  unseres  vernünftigen 
Verhaltens  das  Wesen  der  Philosophie  ausmache,  in  der  Be- 
deutung, wie  die  Alten  das  Wort  verstanden,  nämlich  als  An- 
weisung zur  richtigen  Erfassung  des  Begriffs  des  höchsten  Gutes 
und  zum  richtigen  Verhalten  behufs  seiner  Erwerbung.  ,,Es  wäre 
gut,  wenn  wir  dieses  Wort  (Philosophie)  bei  seiner  alten  Be- 
deutung Hessen,  als  eine  Lehre  vom  höchsten  Gut,  sofern  die 
Vernunft  bestrebt  ist,  es  darin  zur  Wissenschaft  zu  bringen.'"  Er 
geht  sodann  dazu  über  (Ros.  245  f.),  in  der  bekannten  Weise  den 
Begrifi  des  höchsten  Gutes  zu  bestimmen:  Tugend  als  Glückseligkeits- 
würdigkeit  ist    das    oberste    Gut,    wie    „in    der   Analytik    bewiesen 


Kants  Lehre  vom  höchsten  Gut.  99 

worden-  sei  (diesen  Beweis  hat  er  in  der  Analytik  nicht  jreführt, 
konnte  ihn  auch  gar  nicht  führen  wollen,  da  er  der  jranzen  Denk- 
richtong  der  Analytik  schnurstracks  zuwiderläuft),  ferner  Glückselig- 
keit als  Ergänzung  der  Würdigkeit  zur  Totalität.  Bekanntlich  ent- 
springt aus  dieser  Wendung  der  (redanken  das  Gottespostulat. 
Dieser  sell)e  Gedankengang  findet  sich  aber  auch  schon,  zwar  in 
minder  entwickelter  Fassung,  aber  doch  auch  wieder  mit  einigen 
eiirentünilichen  Züiren,  in  der  Kr.  d.  r.  V.  im  Abschnitte  „Kanon".  Hier 
wird  (Kos.  &24)  die  Gottheit  als  eine  solche  Intelligenz,  in  der  „der 
moralisch  vollkommene  Wille  mit  der  höchsten  Seligkeit  verbunden" 
ist,  das  Ideal  des  höchsten  Gutes,  d.  h.  offenbar  die  ideale  \'erwirk- 
lichung  desselben  genannt,  und  in  diesem  Ideal  des  höchsten  ur- 
sprünglichen Gutes  zugleich  der  Grund  der  „Verknüpfung  der 
beiden  Elemente  des  höchsten  abgeleiteten"  (d.  h.  dem  end- 
lichen Vernunftwesen  zugänglichen)  Gutes  postuliert. 

Kant  ist  nicht  der  [Meinung,  in  den  beiden  angeführten  Stellen  der 
praktischen  Kritik  Widersprechendes  aufgestellt  zu  haben.  Er  hat  bei  der 
Abfassung  der  ersten  den  zweiten  Gedanken  schon  im  Auge  gehabt.  Er 
bemerkt  nämlich  an  ersterer  Stelle,  dass  später,  .,wenn  das  moralische 
Gesetz  allererst  für  sich  bewährt  und  als  unmittelbarer  Bestimmungsgrund 
des  Willens  gerechtfertigt* •  sei,  die  Vorstellung  eines  Gegenstandes 
des  Willens  ihre  Stelle  finden  werde.  Dennoch  ist  dieser  Widerspruch 
thatsächlich  vorhanden,  was  schon  darin  seinen  Ausdruck  findet,  dass 
er  an  ersterer  Stelle  die  Voranstellung  des  höchsten  Gutes  als  funda- 
mentalen Fehler  l)randmarkt,  an  letzterer  aber  die  Begriffsbestimmung 
sogar  der  gesamten  Philosophie  als  Lehre  vom  höchsten  Gut  acceptiert. 

Die  Sache  liegt  also  nach  den  bisherigen  Feststellungen  so, 
dass  zunächst  der  erste  der  beiden  oben  formulierten  Kaftanschen  Sätze 
(Philosophie  =  Lehre  vom  höchsten  Gut)  mit  einem  Seheine  des  Hechts  auf 
Grund  einer  einzigen  Stelle  Kant  zugeschrieben  werden  kann,  dass 
aber  diese  Stelle  sowohl  mit  seiner  eigentlichen,  unter  I  entwickelten 
Lehre  über  das  Wesen  der  Philosophie,  als  auch  mit  seiner  unter  II 
vorangestellten  Lehre  von  der  Begründung  der  Ethik  in  Widerspruch 
steht,  l'nd  was  sodann  den  zweiten  der  Kattanschen  Sätze  (das 
höchste  (iut  besteht  nach  Kant  im  sittlichen  Wollen  und  Handeln) 
betrit!'t.  so  wird  dieser  auch  nicht  einmal  durch  diese  einzige  Stelle 
gewährleistet.  Denn  nach  ihr  ist  die  Tugend  als  Glückseligkeits- 
würdigkeit zwar  das  oberste  Gut,  aber  noch  keineswegs  der  Gesamt- 
inbegriff  des  höchsten  Gutes. 

Es    giebt    nun  allerdings  zwei  Stellen,   an  denen  Kant  eine  der 

7* 


100  A.  Dörinfi:, 

Kaftansohon  Interpretation  irünstiice  HefrritVssynthese  zwischen  seiner 
Lehri'  vom  End/.\veek  und  vom  höehsten  (iute  voll/ielit.  Die  eine 
stellt  in  den  „Kortsehritteu  der  iMetaphysik''  (Kos.  1,  532).  Nach 
dieser  Stelle  ist  der  Endzweck  der  reinen  praktischen  Ver- 
nunft das  höchste  Gut.  bestehend  in  der  Tu^anid  als  höchstem 
Erfordernis  und  Hediniiunii-,  und  der  hinzutretenden  (rliickseliijkeit. 
Die  zwi'ite  StelK-  vollzieht  die  Synthese  zwischen  Endzweck  und 
höchstem  Gute  ausdrücklich  nur  in  der  Überschrift  des  in  Hctracht 
kommenden  Abschnitts.  Der  zweite  Abschnitt  des  Kanons  der  reinen 
Vernunft  (Kr.  d.  r.  W  Kos.,  S.  620)  ist  nämlich  überschrieben: 
..Von  dem  Ideal  des  höchsten  Guts  als  einem  Bestinimun^s- 
irrunde  des  letzten  Zwecks  der  reinen  Vernunft."  Was  Kant 
unter  dem  Ideal  der  reinen  Vernunft  versteht,  haben  wir  schon  oben 
gesehen.  El)enso  ist  dort  auch  schon  der  Grundgedanke  dieses  Ab- 
schnittes angedeutet  worden,  darin  bestehend,  dass  die  Gottheit  als 
Ideal  des  höchsten  Gutes  zugleich  als  der  Grund  der  N'erknüjjfung 
der  Würdigkeit  und  Glückseliu-keit  bei  den  endlichen  Vernuuftwesen, 
also  der  Kealisierung  des  abgeleiteten  höchsten  Gutes  postuliert  werden 
muss.  Was  in  dieser  Überschrift  neu  und  eigentUndich  ist,  ist  nur 
die  Synthese  dieses  Verknüpfungsgedankens  mit  der  Lehre  vom 
Endzwecke  der  Vernunft.  Gott  als  das  Prinzip  dieser  Verknüj)fung 
soll  damit  zugleich  den  ..Bestimmungsgrund*'  des  Endzweckes,  d.  h. 
doch  wohl  den  Bestimmungsgrund  für  die  \'erfolgung  desselben  als 
Endzweckes  abgeben. 

Beide  Stellen  kommen  also  darin  überein,  den  Endzweck,  näm- 
lich die  Erfüllung  der  moralischen  Bestimmung,  in  einen  engen  Zu- 
sammenhang mit  der  Realisierung  des  höchsten  Gutes  zu  setzen, 
d.  h.  thatsächlich  den  Endzweck  seiner  absoluten  Würde  zu  entkleiden 
und  von  Glückseligkeitsfolgen  abhängig  zu  machen.  Die  erste  Stelle 
identifiziert  den  Endzweck  geradezu  mit  dem  höchsten  Gute,  verfällt 
also  uneingeschränkt  in  den  in  der  praktischen  Analytik  gerügten 
Fehler  der  antiken  Philosophie.  Die  zweite  Stelle  erklärt  wenigstens 
die  Überzeugung  vom  Dasein  der  Gottheit  für  den  Bestimmungsgrund 
zur  Verfolgung  des  Endzweckes  und  tritt  damit  wenigstens  in  Wider- 
spruch zu  der  Lehre  vom  kategorischen  Imperativ  als  der  unbedingt 
sicheren  Gewähr  für  die  Möglichkeit,  die  moralische  Bestimmung  zu 
erfüllen. 

Ich  kann  in  diesen  beiden  Stellen  nur  einen  Beweis  für  die 
auch  sonst  bekannte  Eigentümlichkeit  Kants  erblicken,  teils  scharf 
gezogene  Begriflfslinien  nachträglich  in  einer  gewissen  Unachtsamkeit 


Kants  Lehre  vom  höchsten  Gut.  101 

wieder  zu  verwischen,  teils  die  gewonnenen  scharfen  Hesnltate  seines 
Denkens  nachträglich  in  einer  gewissen  Furchtsamkeit  wieder  abzu- 
schwächen und  den  hergebrachten  anzunähern,  keineswegs  aber  kann 
ich  darin  verwertbare  Zeugnisse  für  den  eigentlichen  Sinn  seiner 
Lehre  sehen.  Wir  müssen,  um  den  eigentlichen  Kant  zu  finden, 
überall  mit  den  beiden  eben  gekennzeichneten  Eigentümlichkeiten 
seiner  Darstellungsweise  rechnen. 

Schliesslich  sei  noch  darauf  aufmerksam  gemacht,  dass  der  von 
Kaftan  unberechtigter  Weise  Kant  beigelegte  Standpunkt  im  wesent- 
lichen der  von  mir  in  meiner  „Philosophischen  Güterlehre" 
(Berlin  1888)  vertretene  ist.  Ich  vertrete  in  dieser  Schrift  einesteils 
den  Satz,  dass  die  Philosophie  ihrem  Wesen  nach  Güterlehre  =  Lehre 
vom  höchsten  Gute  ist,  andernteils  zwar  nicht  den  Satz,  dass  das 
höchste  Gut  unmittelbar  im  sittlichen  Wollen  und  Handeln  selbst  be- 
steht, wohl  aber  den  Satz,  dass  die  auf  wahrem,  nur  durch  sittliches 
Wollen  und  Handeln  zu  erwerbendem  Eigenwert  beruhende  berechtigte 
Selbstschätzung  das  höchste  Gut  ist. 


Das  Kantbild  des  Fürsten  von  Pless. 


Mit  Abbildung. 


Von  Ür.  P.  V.  Lind. 


Wie  ich  schon  iui  111.  Bd.  der  ,,Kautstudien"  S.  255  in  meiner 
Notiz  über  das  leider  noch  nicht  wieder  aufgefundene  Kantbild  der 
Elisabeth  v.  Stägeniann  vorläufig  mitgeteilt  habe,  ist  es  mir  ge- 
lungen, ein  anderes  bisher  i2:änzlich  unbekanntes  Kantbild  wirklich 
ausfindig  zu  macheu.')  Dasselbe  ist  im  Besitz  Sr.  Durchlaucht  des 
Fürsten  von  Pless  auf  Schloss  FUrstenstein  im  Fürstentum 
Pless.  Provinz  Schlesien. 

Das  Bild  findet  sich  in  dem  ersten  Band  der  sog.  Sencwaldt'schen 
Sammlung,  so  benannt  nach  dem  Künstler  Fr.  Wilh.  Senewaldt, 
von  welchem  die  Fürstl.  Majoratsbibliothek  noch  einen  zweiten  Band 
mit  schönen  Aquarell-Landschaften  aus  Preussen  und  Osterreich  be- 
sitzt, unter  welchen  eine  grosse  Anzahl  die  Unterschrift:  Fr.  Wilh. 
Senewaldt  führt.  Diese  Zeichnungen  stammen,  wie  aus  den  bei- 
gefügten   Jahreszahlen    hervorgeht,    aus    der  Zeit    ron    1784—1800. 

^)  Ich  möchte  aUen  denen,  welche  mich  bei  meinen  mühevollen  Forschungen 
durch  Mitteilungen  unterstützten,  für  diese  gütigen  brieflichen  wertvollen  und 
und  zum  Teil  umfangreichen  Mitteilungen  meinen  herzlichen  Dank  an 
dieser  Stelle  aussprechen  und  zwar,  nächst  Fräulein  von  01fers,Sr.  Durch- 
laucht dem  Fürsten  von  Pless,  sowohl  für  seine  liebenswürdigen 
eigenhändigen  Mitteilungen,  als  auch  für  die  gütige  Überlassung  einer 
vorzüglichen  Photographie  des  Originals  nebst  der  Grenehmigung  der  Re- 
produktion derselben  in  dieser  Zeitschrift.  Demnächst  habe  ich  Herrn 
J.  Endemann,  Bibliothekar  der  Fürstlich  von  Plessschen  Majoratsbibliothek 
zu  Fürstenstein,  ftir  die  gütigen  eingehenden  Mitteilungen  zu  danken.  Mein 
freundUchster  Dank  sei  femer  ausgesprochen:  Sr.  Excellenz  dem  Wirkl.  Ge- 
heimen Rath  und  Direktor  des  Auswärtigen  Amts  Herrn  Reich ar dt,  Herrn 
Prof.  Dr.  H.  Vaihinger,  Herrn  Prof.  Dr.  F.  Muncker,  Herrn  Grafen  H.  von 
Wartenburg,  Herrn  Prof.  Dr.  E.  Rüdorff,  Herrn  Prof.  Dr.  S.  von  Raumer 
Herrn  Dr.  M.  Kronenberg,  Frau  Prof.  Dr.  Säbel,  Frau  Pfarrer  A.  Brügel 
und  Fräul.  C.  Waagen. 


Das  Kantbild  des  Fürsten  von  Pless.  103 

Der  erste  Band,  in  welchem  das  Kantbild  sich  befindet,  enthält  geg:en 
4U0  ausserordentlich  wertvolle  Portraits.  alle  aus  einer  Hand  her- 
vorgegangen und  ausschliesslich  Aquarellbilder  von  bekannten  und 
unbekannten  Persönlichkeiten  aus  Preussen.  Die  Bilder  der  Sene- 
waldtschen  Sammlung  des  ersten  Bands  sind,  da  das  Album  seiner 
Zeit  aus  des  Künstlers  Kachlass  gekauft  wurde,  wahrscheinlich  seine 
Originalaufnahmen,  auf  Papier  in  Wasserfarben,  nach  welchen 
der  Künstler  wohl  später  die  eigentlichen  verkauften  Bilder  aut 
Pergament  oder  Elfenl)ein  gemalt  hat.  ,.Man  möchte  zu  der  An- 
nahme kommen",  schreibt  Herr  Bibliothekar  Endemann,  „dass 
Fr.  Wilhelm  Senewaldt  Reisebegleiter  eines  Grafen  Hochberg  ge- 
wesen ist.  und  für  diesen  die  Landschaften  gemalt  hat,  lauter  Land- 
schaften aus  Preussen  und  Österreich.-'  Über  den  Künstler  äussert 
sich  G.  K.  N agier.  Neues  allgemeines  KUnstlerlexikon,  München 
1885—52,  Bd.  XVI,  S.  270:  „Senewaldt,  F.  W.,  Bildnismaler, 
arbeitete  in  der  zweiten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  in  Berlin.  Er 
malte  viele  Portraite  hoher  Personen,  sowohl  in  Öl.  als  in  Miniatur. 
Blühte  um   1785." 

Über  das  Äussere  des  Bildes  ist  folgendes  zu  sagen:  es  ist 
ein  Sepia -Miniaturbild  und  zeigt  bei  einer  Höhe  von  133  mm  und 
einer  Breite  von  98  mm  Ovalform.  Es  stellt  Kant  im  Profil,  nach 
links  gewendet,  vor,  und  ist  Brustbild.  Unterhalb  des  vierten  Knopf- 
loches befindet  sich  eine  sehr  kleine  schwarze  Inschrift,  kaum  zu 
lesen,  welche  ,.25.  Octobr.  1786"  lautet.')  Die  Jahreszahl  ist  ganz 
deutlich,  etwas  undeutlich  nur  das  Datum;  mit  Hilfe  eines  Ver- 
grösserungsglases  indessen  und  des  Sonnenlichtes  ergiebt  sich  klar 
„25.  Octobr."  Die  Unterschrift  des  Bildes  lautet:  „Professor  Kant 
in  Königsberg"  2).  halb  lateinische  und  halb  deutsche  Buchstaben. 
Dicht  daneben  steht  die  Zahl  137,  die  frühere  Bildernummer,  rechts 
davon  die  jetzige  Bildernummer  134.  Kant  selbst  trägt  eine  Perrücke, 
welche  im  Nacken  mit  einer  schwarzen  Schleife  al)schliesst  und  über 
dem  linken  Ohr  fünf  gekräuselte  Locken  zeigt.  Eine  Brustkrause 
und  Kock    mit  Stehkragen,    von    welchem  fünf  Knopflöcher  sichtbar 


1)  Diese  Schriftzeicben  sind  noch  auf  der  Photographie,  wenn  auch  schon 
sehr  schwer  zu  erkeimen,  sind  aber  aut  unserer  Keproduktion  nicht  mehr  zu 
sehen. 

2)  Nach  der  von  Herrn  Bibliothekar  Endemann  in  dankenswerter  Weise 
unternommenen  Vergleichung  der  Untersclirirten  unter  den  einzelnen  Bildern 
jener  Sammlung  ist  es  nicht  unmöglich,  dass  Kant  selbst  diese  Worte  ge- 
schrieben hat. 


104  I»r.  r.  V.  Lind, 

sind,  vervollständifren  das  Hal)it,    wclchrs   der   daniali^'cn  Mode  ent- 
spricht. 

Was  nun  den  Ausdruck  des  Gesichtes  lictrifTt,  so  verrät  die 
künstlerische  Darstcllunj:  hohe  ^'o^('ndun}r,  welche  in  so  aus- 
ü:espr(H'hen  charakteristischem  Material,  wie  Sepia  es  ist,  ausser- 
ordentlich anziehend  im  Oriainal  wirken  muss.  Der  durchj,^('istifrte 
warme  (resichtsausdruck  ladet  zu  immer  erneuter  Hetrachtun«;-  ein: 
Kant  blickt  nach  links  im  völliijen  Profil,  und  zwar  i^erade  aus. 
Helles  Licht  strömt  seinem  Au^^e  ent^^egeu,  welches  klar  und 
leuchtend  in  heiterer  Freiheit  emporsehaut,  Jachmanns  Schilderun}? 
bestätiijend: 

..Aber  wo  nehme  ich  Worte  her,  Ihnen  sein  Auge  zu  schildern! 
..Kants  Auge  war  wie  vom  himmlischen  Äther  gebildet,  aus 
„welchem  der  tiefe  Geistesblick,  dessen  Feuerstrahl  durch  ein 
„leichtes  Gewölk  etwas  gedämpft  wurde,  sichtbar  hervorleuchtete. 
„Es  ist  unmöglich,  den  bezaubernden  Anblick  und  mein  Gefühl 
„dabei  zu  beschreiben,  wenn  Kant  mir  gegenüber  sass,  seine 
„Augen  nach  unten  gerichtet  hatte,  sie  dann  plötzlich  in  die 
„Höhe  hob  und  mich  ansah.  ^lir  war  es  dann  immer,  als  wenn 
„ich  durch  dieses  blaue  ätherische  Feuer  in  Minervens  inneres 
„Heiligtum  blickte.*'^) 

Die  Gesichtszüge  belebt  tiefe  Güte  und  herzliches  Wohlwollen. 
Ein  feiner  Zug  von  Humor  schwebt  über  dem  mehr  charakteristischen 
als  schönen  Mund  und  über  seiner  kritischen  Unterlippe.  Das 
Ganze  verrät  den  Geist  eines  ausserordentlichen  Mannes.  Die  über- 
aus zarte  Gesichtshaut,  welcher  man  die  frische  Gesichtsfarbe  ansieht 
und  die  gesunde  Röte  seiner  Wangen,^)  zeigt  zahlreiche  feine 
Charakterfalten.  Trotz  der  vorgerückten  Jahre  —  Kant  ist  auf  dem 
Bild  62  Jahre  alt  —  sieht  er  durchaus  nicht  alt  aus:  Frische  und 
Elastizität,  heitere  Freiheit  strömen  uns  aus  dem  Bilde  entgegen  und 
stempeln  es  in  Verbindung  mit  der  überaus  feinen  durchgeistigten 
Darstellung  ohne  Zweifel  zu  einem  der  besten  Porträts  Kants. 
Zu  den  besten  Bildern  Kants  zählten  bis  jetzt:  Die  Hageniannsche 
Büste  und  das  Döblersche  Bild.  Aber  von  der  berühmten 
Hagemannschen  Marmorbüste,  diesem  zweifellosen  Kunstwerk  ersten 
Ranges,  hat  das  Senewaldtsche  Bild  den  grossen  Vorzug,  Kant 
thatsächlich  in  seiner  höchsten  geistigen  Blüte    darzustellen    und  um 


^)  Jachmann,  Biographie  Kants  S.  155/166. 
*)  Siehe  ebendaselbst. 


Das  Kantbild  des  Fürsten  von  Pless.  105 

1(5  volle  Jahre  jiiii<:cr  als  auf  der  Büste.  Das  beste  Ölbild  ist  das 
Kantporträt  von  Du b  1er  aus  dem  Jahre  1791  und  die  Koi)ie  hier- 
nach von  Stobbe.  Wenn  nun  auch  die  Ähnlichkeit  jenes,  1791 
gemalten  Hildes  von  Dübler  vortrefflich  und  seine  Künstler- 
schaft sehr  bedeutend  ist,  so  hat  das  Senewaldtsche  Kant- 
bildnis nicht  nur  den  \orzu^,  ö  Jahre  früher  zu  lallen,  sondern 
vor  allem  den  Vorteil,  Kant  in  heiterer  Gemütsstimmung  darzu- 
stellen, welche  eigentlich  dem  Wesen  Kants  und  seinem  Temperamente 
entsprach,  später  allerdings  in  der  schweren  Zeit  der  Censurwidrig- 
keiten  beeinträchtigt  wurde.  Das  Düblersche  Bild  zeigt  Kant  alt, 
fast  ganz  alt,  das  strahlende  Auge  ist  trüb  geworden,  der  Blick  hat 
etwas  Melancholisches,  der  Grundcharakter  des  ganzen  Bildes  ist 
ernst,  schwertallig,  düster,  wenn  auch  nicht  in  Abrede  gestellt  werden 
kann,  dass  es  in  seiner  ausserordentlichen  Künstlerschaft  kaum  zu 
erreichen  ist.M  Das  Jahr  1791  kann  man  doch  auch  nicht  als  den 
Zeitpunkt  von  „Kants  höchster  geistiger  Blüte"  bezeichnen,  wie 
.Schubert  thut.  (Vgl.  Abteilung  2,  S.  206  seiner  Kantbiographie.) 
Kants  höchste  geistige  Blüte  fällt  10  Jahre  früher,  17S1,  das 
Geburtsjahr  der  Vernunftkritik  und  dauert  etwa  bis  1787/88.  Im 
Besitz  seiner  körperlichen  Blüte  war  Kant  1791  ebenso  wenig 
mehr.  Dies  zeigt  uns  das  Döblersche  Bild  klar:  Düsterer  Ahnungen 
voll  scheint  Kant  in  die  Zukunft  zu  blicken. 

Ganz  anders  ist  das  Senewaldtsche  Bild.     Heiter  ist  sein  Grund- 
charakter.    Nirgends    eine  Trübung.     Feiner  Humor,  liebenswürdige 

1)  Einem  kunstkritisch  geübten  Auge  kann  es  nicht  entgehen,  dass  dieser 
düstere  Zug  des  Döblerschen  Originals,  der  sich  sogar  zu  Trotz  und  Miss- 
trauen der  Gesichtszüge  Kants  erhebt,  von  Stobbe  vermieden  wurde,  wie  die 
Stiche  nach  Döbler  und  Stobbe  klar  zeigen.  Der  Stich  nach  Döbler  von 
J.  L.  Raab  (Verlag  Breitkopf  &  Härtel,  Leipzig)  verrät  einen  düsteren,  miss- 
trauischen,  ja  fast  trotzigen  Blick  Kants,  während  der  Stich  nach  Stobbe,  ge- 
stochen von  Preise!  &  Geyer  (Verlag  Leopold  Voss,  Leii»zig.  jetzt  Hamburg) 
nur  den  düsteren  Zug  Kants  antweist,  winn  auch  nicht  ohne  Wärme.  Stobbe 
ist  also  bedeutsam  von  Döbler,  vom  Original  abgewichen.  Das  Döblersche 
Bild  ist  in  seiner  Art  unübertrefflich:  Mit  elementarer  Gewalt  packt 
uns  hier  Kants  geistige  Grösse.  Der  Geist  scheint  hier  auch  den  Körper  ge- 
adelt zu  haben.  Auch  dieser  grosse  Zug  fehlt  bei  Stobbe:  bei  den  Stichen 
nach  Stobbe  fehlen  leider  auch  der  für  den  richtigen  Ausdruck  des  Ganzen 
unentbehrliche  untere  Teil  des  Oberkörpers  und  die  schönen  Hände  Kants,  ein 
uneinbringlicher  Fehler  Stobbes.  Das  Döblersche  Original  sah  ich  zwar  nicht, 
wohl  aber  eine  ganz  vortreffliche  Phototypie  nach  dem  Original,  welches  das 
bekannte  „Allgemeine  historische  Porträtwerk"  enthält,  von  Dr.  von  Seydlitz 
und  I»r.  H.  Lier  herau.sgegeben ;   Serie  X    (Verlag  Bruckuiann,   München  1888). 


l{){)  l»r.  r.  \    l.iiid.  Das  K.intbiltl  di'S  Fürsten  von  Ploss. 

Güte  iiiul  die  schlichte  Kint'alt  eines  edlen  Iler/ens  treten  uns  hier 
entjreiren.  und  wir  meinen,  den  Kant  von  17()-4  v(»r  uns  /.u  sehen, 
von  ileni  Herder  in  den  ..Uriefen  zur  Heforderuu};  der  Humanität'' 
.sehreiht: 

..Kr.  in  seinen  blühendsten  Jahren,  hatte  die  fröhliche  Munter- 
„keit  eines  .liinjrlinirs,  die,  wie  ich  irlauhe,  ihn  auch  in  sein 
„greisestes  Alter  beirleiten  wird.  Si'ine  otVene,  zum  Denken 
,.gehaute  Stirn  war  ein  Sitz  unzerstörliarer  Heiterkeit  und  Freude. 
„Die  g:edankenreiehste  Rede  Hess  von  seinen  Li])pen:  Scherz, 
..Witz.  I^aune  standen  ihm  zu  Gebote  und  sein  lehrender  \  ortrag 
..war  der  unterhaltendste  Umi::ang:." 

In  Summa:  Das  Senewaldtsche  Kantbild  zei^t  Kant  zwar  in 
nicht  jungen  .Jahren,  aber  ohne  jegliche  Ältlichkeit,  in  freier  heiterer 
Stinnnunir  und  von  so  überaus  geistvoller  und  feiner  Künstlerhand, 
dass  man  bei  kritischer  und  kunstkritischer  Prüfung  zu  dem  Resultate 
irelanirt:  Von  allen  Kantbildern  ist  das  Senewaldtsche 
neben  der  Darstellung  von  Döbler  und  Hagemann  das 
beste  Bild.')  Übertroffen  werden  kann  es  kaum,  erreicht  werden 
indessen  zuversichtlich,  und  zwar  durch  das  v.  Stägemannsche  Kant- 
portrait.  Die  Ausserordentlichkeit  jener  Frau,  einer  der  edelsten 
Frauengestalten  ihrer  Zeit,  wie  sie  in  der  ..Allgemeinen  deutschen 
Biographie"  mit  Recht  genannt  wird,  und  wie  sie  aus  ihren  eigenen 
Schriften  uns  entgegentritt  in  Verbindung  mit  ihrer  hohen  künst- 
lerischen Beg-abuno:.  welche  von  der  höchsten  Geburts-  und  Geistes- 
aristokratie  ihrer  A'aterstadt  Königsberg  und  von  dem  kritischen 
Kant  so  überaus  geschätzt  wurde,  verspricht  hier  zweifellos  einen 
ebenso  kostbaren  Schatz,  wie  den  schon  gehobenen.  Vielleicht  führen 
die  von  mir  in  den  „Kantstudien"  HI,  S.  255—256  gegebenen  Notizen 
dazu,  dass  auch  dies  Kantportrait  noch  wiederaufgefunden  wird,  wenn 
alle  Freunde  des  grossen  Philosophen  ihre  Anstrengungen 
dazu  vereinigen. 


1)  Als  Herr  Dr.  v.  Lind,  welcher  leider  unterdessen  schwer  erkrankt  ist, 
dies  schrieb,  war  ihm  das  Dresdener  Kantbild  noch  nicht  bekannt,  von  dem  wir 
im  Oktoberheft  des  dritten  Bandes  eine  gehmgene  Reproduktion  brachten,  und 
das  nun  wohl  allgemein  ebenfalls  als  eines  der  bedeutendsten  Ölbilder  Kants 
angesehen  wird.  Anmerkung  der  Redaktion. 


Rezensionen. 


Stock.  Otto,  Dr..  Privatdozeut  an  der  Universität  Greifswald,  Lebens- 
zweck und  Lebensauffassung.  Greifswald.  Jul.  Abel,  1897.  (IV  und 
177  S.) 

Ausgehend  von  Kants    kopernikanischer  That  verfolgt    der  Verf.    das 
klar    erkannte  Ziel,    ^.Objektivität    auf    sittlichem  Gebiete    vom  Boden    der 
Subjektivität  aus  zu  erreichen."     „Das  allgemeinste  Etwas,  das  die  Objekte 
der  ethischen  Untersuchung  charakterisiert",  sei  „die  sittliche  L^nterscheidung, 
d.  i.  die  Höher-  oder  Minderwertung  menschlichen  Handelns  und  WoUens". 
,  Dabei  ist  das  "Wertvolle  für  Stock  identisch,  zwar  nicht  mit  der  Lust,  aber 
mit  dem  Lustbriugenden.     Das  "Werturteil  ist  „lediglich  die  Aussage,   dass 
wir  Lust    oder  Unlust    an    etwas    haben".     Auch    das  Gute  wird    mit  dem 
Lustbringenden,  das  Schlechte  mit  dem  Unlustbringenden  identifiziert.    Die 
wichtige    Parallele    zwischen    dem   Dingbegriff    und    dem  "Wertbegriff,    die 
neuerdings  Cornelius    eingehend  behandelt    und   gleichzeitig  auch  der  Ref. 
hers'orgehoben    hat,    wird    folgendermassen    angedeutet:    „Ebenso  wie   das 
Ding  nichts  i.st  abgesehen  von  seinem  "Wahrgenommenwerden  oder  "Wahr- 
nehmbarsein,   so  ist  der  "Wert   nichts,    abgesehen  vom  Gefühltwerden  oder 
Fühlbarsein."    Freilich,  wie  das  "Wahrgenommensein  nicht  identisch  ist  mit 
dem  Wahrnehmbarsein,    so  besteht  zwischen  dem  Gefühltwerden  und  dem 
Fühlbarsein  noch  ein  Unterschied,  den  Stock  durchgängig  ignoriert.  —  Die 
Ausführungen  über  den  „Gegenstand  der  sittlichen  Wertschätzung  wenden 
sich  zunächst    gegen    die  Auffassung  der  Ethik  als  Tugendlehre,    und  hier 
besonders  gegen  Kants  Grundanschauung,  wonach  der  Charakter  oder  die 
Gesinnung,    d.  h.   eine    „dauernde  Art    zu  wollen",    das    eigentliche  Objekt 
der   moralischen  Beurteilung   ist.     „Das    sittliche  WoUen   des  Verbrechers, 
der  sich  kurz  vor    seinem  Tode  bessert,    kann  Gegenstand    einer  sittlichen 
Billigung  sein,  ohne  dass  doch  von  einer  dauernden  sittlichen  Beschaffen- 
heit des  Wollenden    die  Rede   sein  könnte."     Kant  geht  an  der  vom  Verf. 
citierten  Stelle  der  Relig.  innerh.  d.  Gr.  d.  bl.  V.  sicherlich  zu  weit,   wenn 
er  behauptet,    das  Leben  überhaupt,    als  „Ganzes",  einschliesslich  des  ver- 
gangenen,   sei  jederzeit  Gegenstand   der  moralischen  Beurteilung.     Für  sie 
kommt  immer  nur  die  gegenwärtige  Struktur  des  Charakters  in  Betracht, 
die    freilich    durch    die  Nachwirkung    früherer  Erlebnisse    stets  wesentlich 
be.stimmt    ist.     Aber   jenes    Beispiel    beweist    nichts    gegen    ihn;    denn    im 
allgemeinen  redet  er  —  mit  guten  Gründen  —  von  einem  sittlichen  Wollen 
nur  da,  wo  das  einzelne  Wollen  auf  eine  (relativ)  dauernde  Art  zu  wollen. 


los  Kczensiom'n. 

d.  h.  ;nif  den  poircnwürtifion  Charakter  sclilicsson  lässt.  Wir  h.iltni  wcpon 
t'ines  i'in/flnon  Willcnsaktcs  als  soIcIhmi  den  Verhrechcr  noch  nicht  für 
fjebessert.  Auf  die  p;an/e  Sununc  dessen,  was  zu  wulhn  er  /iir  Zeit  dis- 
poniert ist.  kdiiinit  es  an.  Kin  aktuell  be{::;ehrter  Kin/elzweck  kann  ohne 
Rücksicht  auf  die  dispositionelle  l'ersönlichkeit  niemals  sittlich  beurteilt 
werden.  Dies  ist  doch  wohl  der  wissenschaftlich  wertvolle,  tiefere  Kern 
des  Kantisehen  Foriualisnuis,  den  Stock  ^ele}.:;entlich  hekiinipft.  Kr  hält 
für  das  Objekt  der  sittlichen  Wertschät/.unjjj  das  Gewollte  oder  den  kon- 
kreten Zweck.  Vim  der  Kthik  als  iler  Wissenschaft  vom  objektiv  Sitt- 
lichen fordert  er  im  .\nschluss  an  Schuppe  den  Nachweis  eines  not- 
wendip,en  Zweckes,  wie  ihn  aucli  Kants  katefi;onscher  Imperativ  (in  der 
zweiten  Formulierung  sogar  exi)licite)  voraussetze.  Mit  Berufung  auf  eine 
Stelle  in  Kants  „Versuch  d.  neg.  (Irössen  in  <!.  W'i'ltweish.  einziif."  wird 
von  jenem  Zweck  gefordert,  er  müsse  „im  Bewusstsein  des  unsittlich 
Wollenden  wie  in  dem  des  sittlich  Wollenden  entlialten  sein".  Alit  ihm 
wäre  zugleich  „das  Gesetz  der  sittlichen  ünter.scheid)ing  gefunden".  Etwas, 
das  notwendig  als  gut  oder  lustbringend  vorgestellt  wird,  wird  notwendig 
gewollt;  aber  über  diese  rein  psychologische  Notwendigkeit  hinaus  soll  dem 
gesuchten  Zweck  .begriffliche  Notwendigkeit"  zukommen.  Der  notwendige 
oder  „logische"  Zweck  brauche  „als  solcher  nicht  immer  wirklich"  zu  sein; 
er  sei  aber  „in  jedem  einzelnen  Willensinhalt  mitgesetzt".  Sein  „Enthalten- 
sein im  Bewusstsein"  bestehe  in  einem  Haben-  und  Wiederhabenkönnen. 

—  Hier  wie  an  vielen  anderen  Stellen  wäre  eine  klare  psychologische 
Unterscheidung  zwischen  aktuellen  und  dispositionellen  Willensthatsachen 
nötig  gewesen.  —  Schliesslich  wird  an  der  Hand  biologischer  Analogien 
und  psychologischer  Konstruktionen  das  Leben,  d.  h.  die  eigene  Existenz, 
als  der  notwendige  und  einheitliche  Zweck  proklamiert.  Der  naheliegende 
Einwand  des  freiwilligen  Todes  wird  mit  grosser  dialektischer  Scheinbar- 
keit bekämpft,  —  für  den  genau  Zuschauenden  jedoch  nicht  widerlegt. 
Die  ganze  Argumentation  beruht  auf  dem  mehrdeutigen  Satze:  „Die 
Existenz  des  Individuums  ist  der  Einheitspunkt  aller  Werte  und  Zwecke"; 

—  zur  Zeit  des  Wertens  und  Zw^ecksetzens  unbedingt;  aber  nicht  not- 
wendig für  die  Zeit  der  Realisierung  der  Zw-ecke  (Nachruhm  und  dergl.). 
Winkelried  habe  das  Leben  „nur  als  Mittel  zum  ZM-eck",  „nur  bedingt" 
verneint;  —  genug,  er  hat  es  verneint.  Wo  das  Leben  „zur  Erreichung 
der  für  wertvoll  gehaltenen  Zwecke  für  untauglich  angesehen"  und  „darum 
weggeworfen"  werde,  da  werde  es  doch  zugleich  „als  einheitlicher  Zweck, 
insofern  es  einziges  Mittel  für  jene  höheren  Zwecke  ist,  durchaus  anerkannt". 
Aber  für  Winkelried  war  nicht  das  Leben,  sondern  der  Tod  das  Mittel  für 
einen  höheren  Zweck.  Und  der  Entschluss,  zu  sterben,  bedeutete  für  ihn 
keineswegs  „den  Verzicht  auf  den  Zweck".  Das  Leben  ist  nicht  not- 
wendig, sondern  nur  unter  gewissen  günstigen  Bedingungen  einheitlicher 
Zweck. 

Aus  dem  notwendigen  Zweck  soU  sich  „als  logische  Konsequenz" 
ein  (von  Kant  nur  angedeuteter)  „überindividueller,  höchster  und  absoluter 
Zweck"  ergeben.  Der  Begriff  des  Überindividuellen  bleibt,  auch  w^enn 
man  die  für  den  Verfasser  massgebende  Erkenntnistheorie  Schuppes  zu 
Rate  zieht,  einigermassen  unklar.     Der  überindividuelle  Zweck  soll  „unser 


Rezensionen.  l(jy 

Willensinhalt-  und  doch  „von  unserm  Kühlen  und  Wollen  ganz  unabhängig" 
sein;    er  wird   bezeichnet    als  „über  unsem  eigenen  Willen  hinausweisend, 
über  unser  individuelles  Ich  hinausragend  —  oder  auch,  wenn  man  will,  in 
dieses  irgendwie  hineinragend".  Solche  halb  poetischen  Wendungen  können, 
noch  so  oft  wiederholt,    wissenschaftlich  ebensowenig  befriedigen,  wie  der 
schliessliche  Hinweis  auf  eine  theologische  „Erklärung"  des  Sittengesetzes. 
Der  Wille    zuna  Leben    richte    sich    im  Grunde    auf   das  Bewusstsein,    und 
zwar      nicht      auf     das     Abstraktum     der     „gegenwärtigen     Bewusstseins- 
bestimmtheif,  sondern  auf  bewusstes  Weiterleben  oder  p.sychisches  Wachs- 
tum,   auf    „das    individuelle  Bewusstsein    als    zeitlich   sich  entwickelndes." 
Wachstum    des  Bewusstseins    aber  ist  nach  Stock  „Zusammenfassung  ver- 
schiedener BewTisstseinsinhalte  zur  Einheit",  und  beides  ist  für  ihn  identisch 
mit  „Erkennen".     „Unser  Wille   zum  Leben    ist    also    seinem  Wesen    nach 
Wille   zur    Erkenntnis."      „Das  Wissen    des    Seienden    im    allgemeinen"  ist 
der  absolute  Zweck.  —    Es  ist  unmöglich,   die  scharfsinnigen  Deduktionen 
des  Verfassers  hier  ins  Einzelne  zu  verfolgen.     Sein   mit   grosser  logischer 
Energie  durchgeführter  Intellektualismus  stützt  sich  auf  eine  ungewöhnlich 
weite   Fassung    der    Begriffe  Wissen    und  Erkennen:    er    bezeichnet   damit 
jede    .synthetische    Zusammenfassung    einer    psychischen    Mannigfaltigkeit 
und    schliesslich    jede     (namentlich    die    altruistische)     Überwindung    der 
„individuelU-n  Enge  und  Beschränktheit",    wobei  diese  vielfach  mit  indi^^- 
dueller  „Besonderheit"    verwechselt  wird.     Überall  liegt   Rehmkes  schema- 
tische    Einteilung      des      psychischen     Geschehens      in      gegenständliches 
(Empfinden     und     Denken),       zuständliches     (Fühlen)      und      ursächliches 
Bewusstsein    (Wollen)    zu    Grunde.      Ki-itiklos    geht    Stock    immer    wieder 
von     den     Rehmkeschen    Konstruktionen     aus:     weder     das     zuständliche 
Bewusstsein.    welches  „nur  als  Lust    und  Unlust    möglich    sei",    noch    das 
ursächliche,    bei    dem  es  sich  im  Grunde    überall  um  „absolut  Identisches" 
handle,  sondern  nur  das  gegenständliche  Bewusstsein  „lasse  Besonderheiten 
zu";    nur    die    „gegenständliche    Bewusstseinsbestimmtheit"    sei    „als    sich 
entwickehide"  denkbar  (vgl.  S.  13,  30,  34.  94,  102,  107,  143).     Der  Referent 
erblickt  in  dieser  Anschauung  ein  psychologisch  vciUig  unhaltbares  Dogma 
und    ist    überzeugt,    dass  Stock   dem    sehr   konse<iueut  festgehaltenen  Ziel 
der  prinzipiellen  Ethik    durch    eine    unbefangene    und    eingehende  psycho- 
logische Anah'se    der  Wertthatsachen    näher    gekommen    wäre.     Sie    hätte 
ihn  auch  dazu  geführt,  den  Begriff  der  Persönlichkeit  weiter  und  damit 
mehr  im  Sinne  Kants  zu  fassen.  —  Das  letzte  Kapitel  beleuchtet  das  Ver- 
hältnis zwischen  subjektiver  imd  objektiver  Sittlichkeit  und  die  Stufen  der 
sittlichen    Entwicklung.      Ein    grosser    Teil    der  Ergebnisse    behält   seinen 
hohen  Wert  auch  für  den,  dem  Stocks  Lehre  vom  einheitlichen  Zweck  nur 
teilweise  und  seiner  Bestimmung  des  absoluten  Zwecks  gar  nicht  annehmbar 
erscheint.     Überall    steht    der  Gedanke  im  Vordergrund,    die    sittliche  For- 
derung sei  „gar  nicht  eine  einmalig  zu  erfüllende  oder  nicht  zu  erfiülende". 
sondern    vielmehr    „eine    fortlaufende  Aufgabe,    die    für   jeden  Augenblick 
des  Bewusstseins  gilt  und  auch  als  gültig  anerkannt  wird".     Damit  nähert 
sich    der    Verfasser    stark    der    prinzipiell    abgewiesenen    Gesinnungsethik. 
Auch    Kants    Lehre    vom    Primat    der    praktischen  Vernunft    wird    unwill- 
kürlich wiederholt  arestreift.  —   eine  Lehre,    die  man  keineswegs  fallen  zu 


110  Rezensionen. 

lassen  braucht,  wtnn  iiiaii.  wie  Stoi-k,  den  Kanti.scluii  lükur.s  auf  die 
intelli;;ibli'   Welt   vtrwirft. 

Nach  Stock  ist  dus  Sittliche  „objektiv  angesehen  Wahrheit,  subjektiv 
im  t'in/clnen  Wollen  Klarlicit.  im  Zusammenhang;  des  Wullens  Weisheit". 
, Tugend  ist  Denken  überhaupt."  —  Zaidreiche  fruclitbare  (u'<lanken  dieser 
Ethik  dürften  bestäti;::t,  abi-r  ihr  extremer  Intellektualismus  wird  über- 
wunden werden,  wt'nn  man  den  iiulu-deutigen  l-5e^riff  des  absoluten 
Zweckes  durch  den  des  unbedingt  Wertvollen  ersetzt  und  vor  allem  die 
Thatsachen  des  AVillenslebens  <;enauHr  psychologisch  untersucht. 

Leipzig.  Felix  Kruoger. 

Stock,  Otto.  Psychologische  und  erkenntnistheoretische 
Begründung  der  Ethik.  Zeitschr.  f.  Philos.  u.  ))hilos.  Kritik.  Bd.  11 1. 
S.  196—205. 

Der  Verf.  vertritt  mit  ivantisclien  Clründen  den  methodolugiscJien 
Standpunkt  Kants,  dass  die  prinzipielle  Ethik  nicht  psychologisch,  sondern 
„erkenntnistheoretisch-logisch"  zu  begründen  sei.  Dabei  wäre  eine  allge- 
meine Erörterung  des  Verhältnisses  zwischen  Erkenntnistheorie  und 
Psychologie,  das  heute  vielfach  anders  und  weniger  gegensätzlicli  anfge- 
fasst  wird,  erwünscht  gewesen.  Ob  der  Satz  Kants  richtig  ist,  Elrfahrung 
und  besonders  Psychologie  könne  niemals  zu  notwendigen  Urteilen,  zu 
objektiv  gültigen  Gesetzen  führen,  hängt  ganz  davon  ab,  wie  eng  oder 
wie  weit  man  alle  diese  vieldeutigen  Begriffe  fasst.  Der  Ref.  hat  an 
anderer  Stelle  ausgeführt,  dass  Kant  mit  den  Worten  Erfahrung  und 
Psychologie  meistens  eine  engere  Bedeutung  verbindet,  als  die  empirische 
Psychologie  unserer  Tage.  Der  Verf.  scheint  unter  Psychologie  lediglich 
die  Aufzählung  und  Beschreibung  individueller  Eigentümlichkeiten  zu 
verstehen,  die  das  „Subjekt"  mit  keinem  anderen  Subjekte  gemein  hat,  — 
die  Untersnchtmg  des  „Individuellen",  soweit  es  ein  von  den  Thatsachen 
jedes  anderen  individuellen  Bewusstseins  Verschiedenes  ist.  Thatsächlich 
strebt  die  Psychologie  überall,  auch  wo  sie  individuelle  Unterschiede  fest- 
stellt, nach  Gesetzen  von  objektiv  notw^endiger  Geltung.  Nach  Stock  hat 
Kant  das  Problem  der  Ethik  richtig  gestellt;  die  Lösung  aber  könne  nicht 
genügen.  Der  „Formalismus"  sichere  keinesw^egs  die  „Allgemeingültigkeit 
und  Notwendigkeit  der  sittlichen  Forderung."  Diese  Notwendigkeit,  die 
auch  als  „Denknotwendigkeit"  bezeichnet  wird,  könne  nur  auf  „logischen, 
nicht  auf  psychologischen  Zusammenhängen  ruhen."  Das  Objekt  der 
Ethik  seien  nicht,  wäe  Kant  angenommen  habe,  die  Begriffe  der  Pflicht 
und  des  Guten,  sondern  alle  Thatsachen  der  sittlichen  AVertunterscheidung. 
Die  Ethik  habe  das  objektiv  notwendige  Gesetz  dieser  Unterscheidung 
festzustellen.  Es  handle  sich  um  ein  a  priori  im  Sinne  Kants,  das  sich 
gründen  müsse  auf  die  „Bedingungen  der  Erfahrung  überhaupt."  Die 
ethische  Grundfrage  wird  genauer  bezeichnet  als  „die  Frage  nach  dem 
Lustbringenden  oder  Zweck,  mit  dem  notwendig  Lust  verknüpft  ist,  die 
Frage  nach  dem  notwendigen  Zweck".  Der  gesuchte  Zw'eck  sei  „absolut, 
insofern  von  jeder  individuellen  Eigenart  unabhängig."  Mit  Berufung  auf 
sein  Buch:  „Leben.szweck  und  Lebensauffassung",  setzt  der  Verf.  als  abso- 
luten Zweck  das  Erkennen,    das  für  ihn  auch  Kunst  und  Religion  umfasst 


Selbstanzeigen.  1 1  i 

und  schliesslich  zur  „Erweiterung  des  Subjekts  durchs  Objekt"  wird.  (In 
jenem  Werke  geht  übrigens  der  Verf.,  wie  es  nicht  anders  sein  kann, 
selbst  überall  von  psychologi.schen  Gesetzen  aus,  mit  deren  Annahme 
oder  Verwerfung  sein  ganzes  ethisches  System  steht  und  fällt,  und  von 
deren  objektiver  Gültigkeit  er  sicherlich  überzeugt  i.st.)  Die  eigentliche 
Methode  der  Ethik  ist  für  ihn  die  „erkenntnistheoretisch -logische":  Die 
„Kritik  der  Vernunft  als  Analy.>^e  des  Bewusstseins."  Thr  Geschäft  ist 
„nichts  als  ein  Teil  der  Bewusstseinskritik.  Sie  ist  die  auf  das  besondere 
Gebiet  des  Gewollten  bezogene  Scheidung  dessen,  was  zum  Bewusstsein 
überhaupt  und  dessen,  was  zum  individuellen  Bewusstsein  gehört". 
Leipzig.  Felix  Krueger. 


Selbstanzeigen. 


Schneider,  Emil.  Dr.  phil.  Begriff  und  Arten  des  Apriori 
in  der  theoretischen  Philosophie  Kants.     Diss.  Halle,  18i»8.     (34  S.) 

Mit  .seiner  im  1.  Abschnitt  der  Einleitung  zur  2.  Auflage  der  Kritik 
der  reinen  Vernunft  gegebenen  Erklärung:  „Wir  werden  im  Verfolg  unter 
Erkenntnissen  a  priori  nicht  solche  verstehen,  die  von  dieser  oder  jener, 
sondern  die  schlechterdings  von  aller  Erfahrung  unabhängig  stattfinden", 
fordert  Kant  gleichsam  gebieterisch  zu  einer  Untersuchung  des  Apriori  in 
seiner  Philosophie  auf ;  denn  mit  dieser  Erklärung  .sagt  er  sich  von  dem 
traditionellen  Gebrauch  des  Terminus  a  priori  förmlich  los  und  giebt  mit 
ihr  die  Absicht  kund,  demselben  einen  neuen  Inhalt  beilegen  zu  wollen. 
Verfasser  hat  sich  der  Untersuchung  unterzogen,  dieselbe  aber,  um  ihren 
Umfang  nicht  zu  weit  auszudehnen,  auf  die  theoretischen  Schriften  der 
Kantischen  Philosophie  beschränkt.  Er  hat  allererst  die  in  der  aUegierten 
Erklärung  Kants  gegebene  Definition  des  Apriori,  die  in  Bezug  auf  die 
differentia  specifica  negativ  ist,  durch  Hinzufügung  der  anderweitig  ge- 
gebenen positiven  Bestimmungen  des  Begriffs  vervollständigt,  woraus  sich 
ergab,  dass  im  Kantischen  Sinne  Erkenntnisse  a  priori  diejenigen  heissen 
sollen,  welche  von  aller  Erfahrung  unabhängig,  aus  den  angeborenen  for- 
malen Bedingungen  der  Rezeptivität  und  der  Spontaneität  des  erkennenden 
Subjekts  bei  Gelegenheit  der  Erfahrung  ursprünglicli  erworben  werden. 
Dieses  Apriori  soll  das  genetische  oder  transscendentale  oder  transscen- 
dental-materiale  heissen.  Da  es  nun  nach  der  Lehre  Kants  im  erkennenden 
Subjekt  zwei  Urquellen  der  Erkenntnisse  giebt,  Sinnlichkeit  inid  Verstand, 
so  müssen  auch  die  genetisch-apriorischen  Erkenntni.sse,  je  nachdem  sie  zur 
Sinnlichkeit  oder  zum  Verstände  gehören,  von  zweierlei  Art  sein:  apriorische 
Anschauungen  und  apriorische  Begriffe.  Er.stere  sind  Raum  und  Zeit, 
letztere  die  reinen  Verstandesbegriffe  und  die  reinen  Vernunftbegriffe 
(Kategorien    und  Ideen).     Sind    aber  Raum    und  Zeit,    sind    ausserdem  die 


1  j)  Selbstanzeifjen. 

Katogorion  gonotisch-apriorisclu'ii  C'har.iktiTs,  st>  nuiss  es  ;unli  mMiotisch- 
apriorisohe  Wissoiischaftoii  geben,  nämlich  reine  Mathematik  und  reine 
Naturwissenschaft,  je  nachdem  ihren  Erkenntnissen  ilie  reint-n  Anschauungen 
Raum  und  Zeit  oder  die  reinen  Verstandesbegriffe  —  diese  unter  den  sinn- 
licluMi  Bediniruniren  ihres  Ciebnuirhs.  den  Schi-maten  —  zu  Crunde  liegen. 

Weiter  weist  dann  der  Verfasser  nach,  dass  Kant  trotz  seiner  ent- 
schiedenen Absage  dann  doch  fortgesetzt  den  Terminus  a  priori  wieder  im 
traditionellen,  d  h.  formal-logischen  oder  (le(liik1i\rn  Verstände  gebraucht 
und  häufig  das  genetische  mit  dem  logischen  Apriori  vermengt  und  ver- 
quickt. Das  fornuil-logische  Apriori  aber  hat  gemäss  der  zwiefachen  Natur 
der  formal-logischen  Prinzipien  zwei  Unterarten:  das  analytische  und  das 
sjUogistische  oder  deduktive  Apriori.  Für  beide  gilt  nicht  mehr  die  in  der 
oben  angeführten  Stelle  gegebene  Erklärung  Kants,  dass  sie  von  aller  Er- 
fahrung schlechterdings  unabhängig  wären,  sofern  bei  den  analytischen 
Urteilen  ein  empirischer  Subjektsbegriif  zu  ü runde  liegt  und  bei  den 
Syllogismen  ein  (relativ)  allgemeines,  aus  der  Erfahrung  hergenommenes 
Urteil  als  Obersatz  dient. 

Es  wird  weiter  untersucht,  wie  es  gekommen  sei,  dass  Kant  gegen 
seine  Definition  derartige  Erkenntnisse  trotz  seiner  Erklärung  als  a  priori 
bezeichnet.  Verfasser  antwortet,  dass  unbeabsichtigt  und  unvermerkt  der 
überlieferte  Gebrauch  des  Terminus  a  priori  sich  bei  Kant  wieder  ein- 
geschlichen hat.  Die  Kriterien  der  Notwendigkeit  und  Allgemeinheit,  be- 
sonders aber  das  der  Notwendigkeit,  sind  es  gewesen,  unter  deren  schützen- 
dem Dache  die  Einschleichung  geschehen  konnte.  Hätte  freilich  Kant  die 
völlig  verschiedenen  Arten  der  Notwendigkeit  des  genetischen  Apriori 
einerseits  und  des  formal-logischen  andererseits  sich  klar  gemacht,  so 
möchte  es  ihm  nicht  i^assiert  sein,  dass  er  wesentlich  verschiedenes  nicht 
als  solches  erkannte,  noch  auseinanderhielt,  sondern  vermischte  und  ver- 
mengte. Der  unklare,  schwankende  Begriff  der  Notwendigkeit  ist  jetzt  das 
genus  proximum  des  Apriori  geworden,  das  das  genetische  und  das  logische 
Apriori  unter  sich  fasst. 

Ausser  den  genannten  Arten  findet  sich  in  den  vorkritischen  Perioden 
Kantischer  Philosophie  noch  ein  anderes  Apriori,  das  der  Verfasser  das 
dogmatisch- scholastische  oder  transscendente  nennt,  und  ausserdem  in  allen 
Schiiften  des  Philosophen  ein  Apriori,  das  den  Namen  des  rhetorischen  er- 
halten hat. 

Verfasser  hat  dann  an  verschiedenen  Beispielen  nachgewiesen,  wie  die 
Vermischung  der  verschiedenen  Arten  des  Apriori  nachteilig  für  den  Aus- 
bau der  Kantischen  Philosophie  und  ihr  Verständnis  gewirkt  hat.  Besonders 
klar  wird  dies  an  dem  „System  der  spekulativen  Metaphysik"  veran- 
schaulicht. 

In  der  Dissertation  liegt  von  der  Untersuchung  nur  der  kleinere  Teil 
vor,  der  grössere  soll  voraussichtlich  demnächst  veröffentlicht  w^erden. 
Mao-deburo-.  Dr.  E.  Schneider,  Pastor  prim. 


Bell,  John  Henry.  With  what  right  is  Kant's  Critique  of 
Pure  Reason  called  a  Theory  of  Experience?  Diss.  Halle  a.  S., 
1899.     (50  p.) 


Selbstanzeigen.  113 

This  thesis  is  concerned  with  the  adetjuacy  of  Kants  own  Statement 
of  the  problem  of  the  Critiiiiie  to  express  its  main  motive  and  aim.  The 
only  other  alternative  considered  is  that  the  problem  of  the  Criticjue  may 
be  more  correctly  viewed  in  whole  er  in  part  as  the  problem  of  the  possi- 
bility  of  experience.  The  investigation  of  the  «juestion  in  this  form  is  the 
central  featiire  of  the  discussion.  The  paper  consists  of  two  distinct  parts: 
1.  The  review  of  some  recent  Kant  literature  which  either  suggests  or 
embodies  a  discussion  of  the  siibject,  and:  2.  A  brief  independent  survey 
of  the  question  from  the  standpoint  of  Kants  original  purpose  in  the 
Criti(iue. 

The  literature  reviewed  is  that  especiall}'  mentioned  by  E.  Adickes  in 
his  article :  „Die  bewegenden  Kräfte  in  Kants  philosophischer  Entwicklung 
und  die  beiden  Pole  seines  Systems."  Kantstudien,  Bd.  I,  S.  47  ff.  The 
Interpretation  of  Cohen  and  Caird,  according  to  which  the  main  interest 
of  the  Critique  centres  in  the  explanation  of  the  possibility  of  experience, 
passes  in  review,  then.  that  of  Vaihinger,  according  to  which  the  problem 
nf  the  Critique  is  two-fold,  each  part  equal  and  co-ordinate  with  the 
other,  nameh",  the  problem  of  synthetic  a  priori  judgments  and  that  of 
experience  (synthetic  a  posteriori  judgments);  finaUy  the  interpretation  of 
Adickes  in  the  article  above  mentioned  is  considered  and  the  grounds  of 
his  Opposition  alike  to  the  view  of  Cohen  and  Caird,  on  the  one  side,  and 
of  Vaihinger  on  the  other,  are  presented. 

The  Position  of  the  dissertation  itself  differs  from  that  of  the  writers 
mentioned.  although  it  approache.s  more  closely  the  standpoint  of  Adickes 
than  that  of  the  others.  The  following  points  will  express  the  exact  view 
maintained  by  the  paper: 

1.  Kant  did  not  at  an}'  time  in  the  preparation  of  his  work  lose 
sight  of  its  main  interest,  wich  is  best  set  forth  in  his  own  inquiry:  „How 
are  synthetic  a  priori  judgments  possible':" 

2.  The  problem  of  the  possibility  of  synthetic  a  priori  judgments  and 
that  of  the  possibility  of  expeiience  are,  according  to  the  Critique,  not  to 
be  separated.  They  are  necessarily  and  inseparably  bound  up  the  one 
with  the  other,  and  \\'ith  the  Solution  of  the  one  is  the  Solution  of  the 
other  given. 

3.  For  this  reason,  the  positive  portion  of  the  Critique  may  be  viewed 
as  containing  a  theory  of  experience,  only  it  must  be  kept  in  mind  that 
it  was  not  the  authors  conscious  purpose  to  present  a  theory  of  experience 
but  rather  to  offer  an  explanation  of  the  possibility  of  svnthetic  a  priori 
judgments. 

Halle-New  York.  John  Henry  Bell. 

Hacks,  Jacob,  Dr.  Ueber  Kants  synthetische  Urteile  a 
priori.  Vierter  und  letzter  Teil.  Beilage  zum  Jahresbericht  der  Realschule 
zu  Kattowitz,  1899.    (20  S.) 

Die  Selbstanzeige  zum  1.  und  2.  Teile  findet  sich  Kantstudien  1, 
S.  434/436,  zimi  3.  Teil  lU,  S.  209/210. 

Der  letzte  Teil  behandelt  zunächst  die  dritte  Analogie  der  Erfahrung. 
"Während  die  beiden  ersten  Analogien  der  Erfahrung  zwar  nicht,  wie  Kant 
Kantstudiea  IV.  8 


j  ]  \  Sclbstanzeigon, 

moint.  synthetische  Urteile  a  priori,  aber  tl.uli  (Imcli  ilic  Kifaliniii;;  liin- 
länglich  bestätipjte  Naturgesetze  sind,  ergiebt  sicli  aus  den  Prinzipien 
der  Mechanik  von  Hertz,  dass  die  dritte  Analoj^ic.  weit  davon  »"iitfernt, 
ein  synthetisches  Urteil  a  priori  zu   sein,  nicht  einmal  iiiattrieli  richtig  ist. 

Von  den  Postidaten  des  empirischen  Denkens  überhaupt  erweisen 
sich  das  erste  und  dritte  als  durchaus  s('ll)stv('rstiiiiillirht' Sätze,  die  keines 
Beweises  bedürfen  und  in  das  System  der  synthetisciicn  Urteile  a  ])ri()ii 
nicht  recht  zu  passen  sclu'inen.  Anders  ist  es  mit  dem  zweiti'n  Postulat. 
Das  Postulit  der  Wirklichkeit  ist  olnie  Zweifel  v'm  synthetisches  Urteil, 
ein  Satz  von  grosser  Tragweite  und  üedeutunu,.  Denn  dn-  Beweis  dieses 
Postulates  würde  den  em  pi  risc  li  en  Idealismus  überwinchn,  ei-  würde 
den  Nachweis  enthalten,  dass  trotz  der  erfahrungsgeniäss  feststeliemlen 
Realität  der  Dinge  eine  von  unseren  Vorstellungen  unabhängige  Welt  der 
Dino-e  an  sich  nicht  angenommen  zu  werden  braucht,  dass  also  die  trans- 
scendente  Idealität  der  Dinge  mit  ilirer  empirisdu'u  R(!alität  nicht  in  Wider- 
spruch steht.  Diesen  Nachweis  versucht  nun  Kant  in  der  „Widerlegung 
des  Idealismus".  Die  „AViderlegung  des  Idealismus"  ist  also  nichts  Ueber- 
flüssio-es,  sie  ist  vielmehr  ein  notwendiger  Bestandteil  des  Kantischen 
Systems,  sie  ist  gewissermassen  die  Probe,  wenn  auch  nicht  auf  die 
Richtigkeit,  so  doch  auf  die  Zulässigkeit  des  Systems.  Die  „Widerlegung 
des  Idealismus"  ist  indessen  Kant  nicht  geglückt.  Aus  sich  heraus  vermag 
kein  idealistisches  System  die  empirische  Realität  der  Aussenwelt  zu 
erklären. 

Folgt  aber  hieraus  mit  unbedingter  Sicherheit  das  Dasein  einer  von 
unseren  Vorstellungen  unabhängigen  Welt,  d.  i.  der  Dinge  an  sich?  Diese 
Frage  ist  im  Anschluss  an  Volkelts  treffliche  Ausführungen  (Volkelt, 
Immanuel  Kants  Erkenntnistheorie)  zu  verneinen,  und  zwar  deshalb, 
weil  das  positivistische  Erkenntnisprinzip,  welches  in  der  Aussage  besteht, 
dass  das  Dasein  meiner  Vorstellungen  über  jeden  Zweifel  erhaben  ist,  das 
einzige  ist,  dessen  Geltung  nicht  bezweifelt  werden  kann.  Nicht  einmal 
die  Gültigkeit  des  Satzes  vom  Widerspruch  für  alles  Sein  lässt  sich 
beweisen.  Trotzdem  lässt  sich  das  Dasein  der  Dinge  an  sich  mit  der 
grössten  AVahrscheinlichkeit  darthun,  und  zwar  deshalb,  weil  der  entgegen- 
gesetzte Standpunkt  zu   den  ungeheuerlichsten  Abgeschmacktheiten  führt. 

Kattowitz.  Dr.  Jakob  Hacks. 


Pajk,  Johann,  Dr.  Praktische  Philosophie.  Wien,  Konegen, 
1899.     (184  S.) 

Der  Verfasser  wollte  nicht  ein  Kompendium,  sondern  ein  System  der 
Ethik  entwerfen.  Daher  war  es  ihm  in  vorderster  Linie  um  den  Nachweis 
eines  solchen  Grundgedankens  der  praktischen  Philosophie  zu  thun,  der 
alle  ethischen  Erfahrungen  und  Begriffe  zu  umfassen  und  zusammen- 
zuhalten imstande  wäre.  Zu  diesem  Zwecke  wurde  das  jedem  Forscher 
begrifflich  dunkle,  praktisch  aber  so  lebendig  vorschwebende  Sittliche 
nicht  aus  der  Menschennatur  allein,  wie  es  zumeist  geschieht,  hervor- 
gesucht, sondern  aus  dem  Bereiche  der  Gesamtwelt,  soweit  eben  diese  der 
Erforschung  zugänglich  ist,  um  auf  dieser  breiteren  Unterlage  einen  mög- 
lichst universellen  Begriff  desselben  zu  gewinnen. 


Selbstanzeigen.  115 

Dabei  fielen  dem  Verfasser  die  ethischen  Schriften  H.  Spencers,  wie 
insbesondere  jene  I.  Kants  wie  von  selbst  ins  Auge;  denn  diese  beiden 
Forscher  liessen  sich  neben  der  Vervollständigung  der  ethischen  Beob- 
achtungen auch  eine  gründliche  Systematisierung  der  Ethik  angelegen  sein, 
letztere  vorzugsweise  Kant.  Darum  jedoch  wurden  keineswegs  die  zahl- 
reichen Forschungen  anderer  Ethiker  übersehen.  Auch  wollte  ich  eine 
Übersicht  der  ethischen  Litteratur  bieten,  namentlich  über  die  Haupt- 
fragen. 

So  wurde  der  Verfasser  im  Verlaufe  seiner  Arbeit  unwillkürlich  zur 
Stellungnahme  gegenüber  Kant  und  dem  Kantschen  Kritizismus  gedrängt, 
auf  den  er  allerdings  erst  etwas  .später  reflektierte.  Trotzdem  giebt  es 
wenige  Seiten  dieses  Buches,  in  denen  nicht  auf  Kant  Bezug  genommen 
würde.  So  namentlich  in  betreff  einer  naturwissenschaftlichen  .Auffassung 
der  Moral,  welcher  Kant  .so  nahe  stand,  sie  aber  nicht  au.ssprach.  Und 
solcher  Beziehungspunkte  giebt  es  in  meiner  Schrift  noch  viele  andere, 
mehrere  auch  zum  Kantschen  Kritizismus. 

Wien.  Dr.  Joh.  Pajk. 

Gattermann,  Hermann.  lieber  das  Verhältni.s  von  Kants 
Inauguraldissertation  vom  Jahre  1770  zu  der  Kritik  der  reinen 
Vernunft.     Diss.     HaUe,  1899.     (79  S.) 

Der  Verfasser  geht  aus  von  der  Thatsache,  dass  Kants  Inaugural- 
dissertation vom  Jahre  1770  und  die  Kritik  der  reinen  Vernunft  viele  ge- 
meine xmd  viele  verschiedene  Züge  haben,  und  wirft  dann  die  Frage  auf, 
ob  das  Charakteristische  beider  Schriften  in  ihrer  Wesensidentität  oder  in 
ihrer  Wesensdifferenz  liege,  worauf  dann  (S.  1 — 3)  die  Hauptvertreter  der 
einen  wie  auch  die  der  anderen  Behauptung,  aber  auch  die  einer  Mittel- 
stellung genannt  werden. 

Der  1.  kleinere  Hauptteil  der  Di.ssertation  enthält  (S.  5 — '25)  die  Ana- 
lyse der  Inauguraldissertation  Kants.  Kapitel  1  charakterisiert  (S.  5 — 13j 
Kants  mundus  intelligibilis,  wobei  der  menschlichen  Seele  als  eines  Gliedes 
desselben  gedacht  wird.  Sie  offenbart  sich  als  vis  activa  und  als  vis  pas- 
siva,  worauf  Kant  die  Unterscheidung  der  Erkenntnis  in  Receptivität  und 
Spontaneität  beruhen  lässt. 

Kant  scheidet  ferner  das  empirische  und  das  apriorische  Element 
unserer  Erkenntnis  durch  den  Gegensatz  von  Form  und  Materie.  Die 
Materie  der  Erkenntnis  ist  empirisch  gegeben,  die  Form  apriorisch,  und 
zwar  giebt  es  sowohl  sinnliche  als  verstandesmässige  Formen  unseres 
Erkennens.  Kapitel  2  (S.  14  —  19)  behandelt  daher  Raum  und  Zeit  als 
Formen  der  sinnlichen  Erkenntnis  und  zeigt,  dass  Kants  Lehre  in  dieser 
Hinsicht  für  die  Wertung  des  menschlichen  Wissens  von  grosser  Bedeutung 
geworden  ist.  Kapitel  3  (S.  19— '251  stellt  dem  usus  logicus  des  Verstandes 
den  usus  realis  gegenüber,  in  welchen  sich  die  Spontaneität  der  Seele 
offenbart,  bringt  die  Deutung  von  Raum  und  Zeit  im  Sinne  des  mundus 
noumenon  und  lässt  die  kritische  Tendenz  der  Inaugural.schrift  Kants  her- 
vortreten. 

Der  II.  grössere  Hauptteil  der  vorliegenden  Schrift  enthält  die  Analyse 
der  Kritik  der  reinen  Vernunft  in  6  Kapiteln  vS.  26  —  70),  von  denen  das  erste 

8* 


Solbatanzoiifon 


o* 


(S.  'J6— 8'_M  /eiijt,  wie  K:int  die  Vonuisset/.nnp:  einer  rationalen  Verstandes- 
erkenntnis zweifelhaft  wird  und  zur   Fragestellung  von   1772  führt,    welche 
das   Problem    der    transseendentalen    Deduktion    bleibt,    und  deren  Lösung 
durch  die  Kinwirkuna;  von  iiinne  bedingt  wird.     Kapitels  (S.  82— 40)  weist 
nach,    dass    der    mundus    intelli.^'ibilis  in  der  Vernunftkritik  ganz  im  Sinne 
der  Dissertation  festgi'halten  wirfl    und    die  Voraussetzung  zur  Lösung  des 
Fn'iheitsproblems  in  der  Vernunftkritik  bildet.     Nach   Kapitel  8  fS.  41— 47j 
wird  ferner  festgehalten  in  der  Vernunftkritik  die  Bestimmung  drs  Wesens 
der  sinnlichen  Erkenntnis    mit   geringen  Nüancierungen.  wobei  die  Bedeu- 
tung des  inneren  und  äusseren  Sinnes  und  die  Theorie  der  Sclbstaffektion 
in  Auflage   U    der  Vernunftkritik   er(")rtert  wird.     Dagegen  (Kapitel  4)  fällt 
der  usus  realis  fort,    und  der  Erkenntuisgebrauch  der  Kategorien  wird  auf 
den  mundus  phaenomenon  im  Sinne  von  Hume  beschränkt.     Als  Rest  des 
vorkritischen    Dogmatismus    bleibt    aber    die  Voraussetzung    der  Dinge  an 
sich    als    Gegenstände    des    reinen    Denkens   (S.  48— r)8).     Damit  hängt  zu- 
sammen (Kapitel  5)  die  Ablehnung  der  rationalistischen  Konseciuenzen  der 
vom  Dogmatismus  behaupteten  Erkennbarkeit  des  mundus  intelligibilis  auf 
Grund  des  Festhaltens  der  Voraussetzungen    des  Rationalismus  (S.  53—67). 
Das  6.  Kapitel  (S.  68—70)  unternimmt  es,  auf  Grund  der  Grenzbestim- 
mung   des   Empirismus    den  Aufbau  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  zu  er- 
klären, und  in  der  Schlussbetrachtung  (S.  71—79)  werden,  soweit  der  enge 
Rahmen    einer   Dissertation    dies    zulässt,    die  Wesensgleichheiten  und  die 
Wesensverschiedenheiten  beider  Schriften  gegen  einander  abgewogen,  was 
dann    zur    Kritik    der    in    der  Einleitung  (S.  1— B)  angeführten  drei  Haupt- 
richtungen führt,    wobei  der  Verfasser    zu    dem  Ergebnis    gelangt,    dass  in 
Übereinstimmung  mit  A.  Riehl  und    H.  Vaihinger  der  Inauguralschrift  eine 
eigenartige  Stellung  einzuräumen  ist;  insbesondere,  dass  sie  derjenigen 
Entwickelungsperiode  Kants  angehört,  in  der  er  plötzlich  Dogmatist  wird, 
dass  endlich,  insofern  jener  Zeitpunkt  zugleich  den  Beginn  des  Kritizismus 
darstellt,  die  Inauguralschrift  eine  selbständige  Anfangsstellung  ein- 
nimmt, und  als  dogmatisch  gefärbtes  Vorspiel  der  Vernunftkritik, 
der  reifen  Frucht  des  Kritizismus,  angesehen  werden  kann. 
Eisleben.  H.  Gattermann. 

Hollmann,  Georg.  Prolegomena  zur  Genesis  der  Religions- 
philosophie Kants.     Altpreuss.  Monatsschrift,  Bd.  XXXVL  Heft  1  u.  2, 

(73  S.) 

Diese  Schrift  soU,  wie  der  Titel  andeutet,  einführender  Art  sein  und 
zwar  auf  einem  bisher  noch  nicht  angebauten  Gebiete.  Eine  Darstellung 
der  Faktoren,  die  auf  die  Entstehung  und  eigentümliche  Ausprägung  der 
Religionsphüosophie  Kants  von  Einfluss  gewesen  sind,  kurz  eine  Genesis 
der  Kantschen  Religionsphilosophie  fehlt  uns  noch.  Man  hat  zwar  von 
einer  Einwirkung  des  Rationalismus  und  des  Pietismus  gelegentlich  ge- 
sprochen, aber  derartige  Ausführungen  bewegten  sich  meistens  ganz  im 
AUgemeinen  und  kamen  nicht  über  die  Stufe  der  Mutmassung  hinaus. 
Nun  geht  aber  aus  den  ersten  Kantbiographien  und  sonstigen  alten  QueUen 
dies  Eine  mit  völliger  Klarheit  hervor,  dass,  wenn  irgend  etwas  in  reü- 
giöser  Beziehung  für  Kants  Jugend  bedeutsam  gewesen  ist,  es  der  Königs- 


Selbstanzeigen.  117 

berger   Pietismus    war.     Sollte    daher    überhaupt   je    eine    genetische  Dar- 
stellung   der    religionsphilosophischen  Theoreme    des    grossen  Denkers  ge- 
lingen,   so    musste    bei    dieser    pietistischen  Bewegung    eingesetzt  werden. 
Und  zwar  genügte  es  keineswegs  im  Allgemeinen  bei  Kant  nach  pietistischen 
Elementen    zu    suchen.      Das,    was  wir  unter  dem  Gattungsbegriff  „Pietis- 
mus" zusammenfassen,  ist  im  Einzelnen  recht  verschiedener  Art.     Es  galt 
also  zunächst  die  Eigenart  dieser  pietistischen  Bewegung  zu  erfassen,  und 
da  sie  bisher  unbekannt  war,  musste  eine  historische  Darstellung  das  Ver- 
ständnis   erschliessen.      Dementsprechend    behandelt    Abschnitt   I    die    Ge- 
schichte   des    Königsberger    Pietismus.      Er  kommt  zu  dem  Resultat,  dass 
diese    spontan    entstehende,    dann    in    die  Hallische  Richtung    einlenk<'nde 
Bewegung    durch    Franz  Albert  Schultz,    der    wegen    seiner    Beziehung  zu 
Kant  genauer  behandelt  ist,  eine  höchst  eigenartige  wolffianisierende  Fär- 
bung erhielt.     Sollte  nun  die  Kenntnis  dieser  pieti.stischen  Gruppe  für  eine 
spätere    genetische    Darstellung    von  wirklicher  Bedeutung  sein,    sollte  sie 
über    aprioristische  Vermutungen,    die    sich    aus    der   im  Abschnitt  IT  kurz 
dargestellten,    bedeutsamen    Beziehung    Kants    zu    dieser    Bewegung    auf- 
drängten, wirklich  hinausführen,  so  mussten  vor  allem  die  etwaigen  Quellen 
des  Königsberger  Pietismus  herangezogen  werden.     Abschnitt  III  führt  das 
noch    erreichbare    Quellenmaterial    vor.      Es  war    eine    glückliche  Fügung, 
dass  es  gelang,  den  Katechismus,    der  nach  Borowski  zur  „Religion  inner- 
halb .  .  ."  in  besonderer  Beziehung  stehen  sollte,  und  die  Handschrift  der 
dogmatischen  Vorlesungen,    die  Kant  bei  Fr.  ^Ub.  Schultz  gehört  hat,  auf- 
zufinden.   Auf  Grund  dieser  Quellen  ist  nun  eine  Konfrontierung  der  Kanti- 
schen und  pietistischen  Gedankenkreise  möglich,  die  die  Genesis  der  ersteren 
anschaulich  macht.     Gewissermassen  eine  Probe  des  hierbei  anzuwendenden 
Verfahrens  giebt  Abschnitt  IV,    indem  er  das  Verhältnis    der  Religion  zur 
Vernunft    und    zur  Sittlichkeit    bei    Kant    und  den  Königsberger  Pietisten 
in  Bezug  auf  die  in  Betracht   kommenden  Punkte  vergleicht    und    so,    um 
im  Bilde  zu  reden,    durch    die  Vorhallen  bis  an  das    eigentliche    religions- 
philosophische Gebäude  heranführt. 

Eine  zweite  bereits  begonnene  Arbeit  soll  in  extenso  die  Kantische 
Religionsphilosophie  selbst  auf  ihre  Genesis  gegenüber  dem  Königsberger 
Pietismus  untersuchen.  Naturgemäss  werden  die  zahlreich  vorhandenen 
pietistischen  Einwirkungen  dann  erst  in  ihrer  ganzen  Bedeutung  hervor- 
treten. 

Sloszewo.  Georg  Hollmann. 

Caldwell,  W.,  Professor.  Dr.  Schopenhauer's  System  in  its 
Philosopliical  Signif icance.  Edinburgh  and  London,  Blackwood,  1896. 
(XVI 11  and  6-J7  p.) 

Although  nearly  all  Schopenhauer"s  writings  had  been  translated  into 
English,  and  although  interesting  lives  of  Schopenhauer  had  been  written 
in  English  by  Helen  Zimmern  and  by  the  lata  Professor  Wallace  of 
Oxford,  there  was  in  English  no  extended  and  comprehensive  study  of 
Schopenhauers  philosophy  as  a  whole.  This  book  was  conceived  as  an 
attempt  to  meet  this  want.  And  also  as  an  attempt  to  deal  in  a  broad 
free    way    with    the    significance    of    Schopenhauer's    philosophy    for    the 


11^  Solbstiinzeiffi'n. 

thought  of  to-day.  (^wiiii;-  to  tlic  iiiriuriici'  of  tlu-  study  of  hiolo'jy  aiid 
of  psvcho-j)livsios  and  social  tthiis  and  oastern  ridifj^ioiis,  and  ovviiip;  to 
tili'  rcactiun  o{  to-dav  ( pioniimiit  in  dillcrrnt  wavs  in  ( 'icinian  v,  i'lnu'land, 
l''ranc"i')  ajz^ainst  panloiiisin  aiul  abstraft  lationaiisni,  thnc  is  now  L!;iH>at, 
importaiu'o  attaclu'd  to  what  is  callfd  a  ])liil<)S()iiliy  ol  thc  will  as  a  kcy 
to  tho  t'xplanation  of  niany  oi  thr  phcnonicna  cd  lil'r  and  cnndnct  anti 
thoupjht.  'Idus  is  Seen  in  tlu-  \vritintj;s  ot  mm  likr  W'iindt.  llaitniann, 
Deussen.  C«i/.ycki.  Panlsen,  Encken.  Drows,  KonilU'a'.  Arreat,  Professor 
.lames  of  America,  and  Professor  A.  Seth  of  Scotland,  Mr.  A.  .).  IJallonr  and 
others.  1  hav»>  written  in  view  of  all  this,  endeavourin«;-  to  show  at  the 
same  time  the  relation  of  Voluntarism  to  Intellectualism  and  Platonism 
and  Metaphysic  |iri>]uT,  and  the  rclatidn  of  tlir  philosopliy  of  Selmpenhauer 
to  the  philosophies  of  Fichte  and  Sclielling  and  Hegel  and  to  the  per- 
manent elements  in  the  philosophy  of  Kant.  I  liave  thus  occupied  myself 
not  merely  with  Schopenhauer  as  a  „scholastic"  jihilosopher.  to  borrow  the 
expression  of  Venetianer  (vi de:  Schopenlia  uer  als  Scholastiker. 
Berlin,  1873).  nor  yet  merely  with  the  inconsistencies  and  one-sidednesses 
of  Schopenhauer,  as  do  many  critics.  M}^  volume  is.  1  trust,  supplementary 
to  the  classical  treatises  of  Kuno  Fischer  and  Ribot,  and  to  the  carefnl 
apologies  of  Frauenstädt.  Schopenhauer  is  still  a  very  great  figure  in  the 
philosophy  of  to-day,  in  the  sense  that  in  the  root  ideas  of  his  System 
there  can  be  traced  the  seeds  of  so  many  present  tendencies  of  thonght. 
I  offer  in  my  book  chapters  on  Schopenhauer's  relation  to  the  thought  of 
the  Century  and  on  the  total  outcome  of  his  doctrine  and  of  its  recei)tion 
by  the  public  of  the  nineteenth  centiiry,  on  Schopenhauer's  theory  of 
knowledge.  on  the  Bondage  of  man  (de  Servitute  humana),  on  psycho- 
logical  and  ethical  determinism  as  he  conceived  it,  on  his  theory  of  art  as 
an  escape  from  the  bondage  of  life,  on  his  moral  and  religious  philosophy, 
and  on  his  metaphysic  m  general.  Schopenhauer's  pessimism  1  study 
as  Illusionism.  I  do  not  think  that  his  philosophy  is  adequately  de- 
scribed  as  pessimism.  It  is  far  more  than  that.  A  great  deal  of  it  may 
be  incoi-porated  \\'ith  the  best  thought  of  to-day. 

The  book  consists  of  the  matter  of  the  Shaw  Fellowship  Lectures 
which  I,  in  my  tum,  delivered  at  Edinburgh  University,  Scotland.  The 
Shaw  Fellowship  is  the  most  important  encouragement  and  endowment 
that  exists  in  Scotland  for  the  study  of  philosophy.  The  holder  is 
exspected  to  travel  and  study  in  the  interest  of  philosophy  and  then  to 
present  the  i'esult  of  his  study  of  some  prominent  philosophical  (juestion 
to  the  public,  first  in  lectures  and  then  in  book  form.  The  author  was 
called  from  Scotland  to  America,  first  to  the  Sage  School  of  Philosophy 
in  Comell  University,  and  then  later  to  his  present  position. 

Evanston,  111.  T.  S.  A.  W.  Caldwell. 


Litteratiirberieht.  119 


Litteraturbericlit. 

Von   K.  Medicus. 

Heumann,  Gustav.  Das  Verhältnis  des  Ewigen  und  des 
Historischen  in  der  Religionsphilosophie  Kants  und  Lotzes. 
Diss.     Erlangen.  1898.     (88  S.) 

Unter  dem  Gesichtspunkt.  ..wie  ein  Ereignis,  das  als  Objekt  der 
historischen  Wissenschaft  schwankenden  Auffassungen  unterworfen  ist.  für 
den  religiüst'u  Glauben  ein  ewig  giltiges  sein  könne"  (1),  stellt  der  Ver- 
fasser nach  einer  kurzen  Einleitung  zunächst  die  Religionsphilosophie  Kants 
(4_o9)^  sodann  die  Lotzes  (30-60)  dar.  Von  Seite  61  ab  folgt  die  Ver- 
gleichung  und  Beurteilung  der  beiderseitigen  Lehren.  Heumann  vertritt 
die  Ansicht,  dass  Kant  der  moralischen  Anlage  der  Menschen  zu  viel  zu- 
getraut habe,  wenn  er  den  ewigen  Religionsgehalt  in  diese  verlege.  Lotze 
habe  darum  mit  Recht  auf  das  Fliessende  in  den  moralischen  Anschauungen 
hingewiesen  und  gezeigt,  „dass  von  einem  angeborenen  fertigen  Sitten- 
gesetze und  von  hiermit  zusammenhängenden  angeborenen  religiösen  Offen- 
barungen bei  dem  Stande  der  gegenwärtigen  Forschung  nicht  mehr  ge- 
redet werden  kann"  (64).  So  erblickt  der  Verfasser  den  Hauptvor/ug  der 
Lotzeschen  ReHgionslehre  vor  der  Kantischen  in  dem  sich  in  ihr  äussernden 
feineren  historischen  Sinn,  den  sich  Lotze  durch  eingehendes  Studium  der 
empirischen  Religionswissenschaft  erworben  hatte.  Ein  beiden  Theorien 
gemeinsamer  Mangel  zeige  sich  freilich  darin,  dass  es  keinem  der  beiden 
Philosophen  gelungen  ist,  den  religiösen  Glauben  als  eine  Pflicht  nach- 
zuweisen (65):  die  grossen  objektiven  geistigen  Mächte  kommen  nicht  zu 
dem  Recht,  das  ihnen  gebührt  (86). 

Burekhardt,  Waldemar,     Kants  objektiver  Idealismus.    Greifs- 
walder  Diss.     Naumburg,  1898.     (31  S.) 

Der  Verfasser  sucht  zu  zeigen,  wie  die  Kantische  Lehre  zwar  die 
objektive  AVeit  mit  ihrer  Gesetzmässigkeit  erklärbar  macht,  wie  aber  die 
Frage  nach  dem  Grund  der  Einheitlichkeit  der  objektiven  Welt  für 
die  verschiedenen  Iche  über  den  Kantianismus  hinaus  zur  Lehre  von 
einem  Bewusstsein  überhaupt  (Fichte,  Hegel,  Schuppe:  vgl.  27)  führt. 
Die  hereingreifenden  Fragen  nach  dem  Ding  an  sich  (bes.  1—5,  23  ff.)  und 
nach  der  transscendentalen  Deduktion  der  Kategorien  finden  eingehende 
Erörterung;  letztere  bildet  (von  Seite  6  an)  den  Mittelpunkt  der  ganzen 
Untersuchung, 

Nolte,  Fr.  Über  das  Verhältnis  von  Sinnlichkeit  und 
Denken  in  Kants  Terminologie.  Programm  des  Progymnasiums,  Nort- 
heim,  1898.     (10  S.)     4°. 

Die  beiden  Hauptrichtungen  der  vorkritischen  Erkenntnislehren  sind 
Sensualismus  und  Rationalismus.  Das  Verhältnis  der  beiden  hier  einseitig 
betonten  Erkenntnisquellen  zu  einander  untersucht  und  jeder  ihren  eigen- 


120  Littoratiirbericht. 

tümlichen  Erkonntniswort  zugowiesen  zu  hivbcn,  ist  dio  That  Kants.  Kant 
hat  gezeijxt.  dass  sie  eine  der  andern  ije<;ens(>iti<:^  bedürfen,  wenn  Erkennt- 
nis zustande  kommen  soll.  Diesi'  Anerki'nniing  ihrer  (üeiehbi'rerhtigiin^ 
und  die  Forderunji;  ihrer  notwendijjjen  Vereinigung  in  der  transscendentalen 
Einheit  der  Apperzeption  sind  die  Grundlagen  des  Kantischen  Systems. 

Meusel.  Was  verdankt  Schiller  seinem  Ka  n  t  stud  i  n  m  •  Pro- 
gramm tler  Stadt.  Höher.  Mädchenschule.  Kiel.   I8i»7.     (16  S.)     4". 

Die  gewandt  geschriebene  und  hei  aller  Kürze  inhaltreiche  Ab- 
handlung giebt  in  grossen  Zügen  die  Entwicklungsgeschichte  der  Schiller- 
schen  Philosophie.  In  der  Auffassiing  von  Schillers  VerhiUtnis  zu  Kant  in 
den  verschiedenen  Epochen  seines  Philosophierens  schliesst  sich  der  Ver- 
fasser wesentlich  an  Kuno  Fischer  an.  Gegenüber  Schillers  bekannten  Ein- 
wendungen gegen  den  Kantianismus  wird  die  Partei  des  letzteren  ergriffen, 
dabei  aber  anerkannt,  dass  sich  für  Schiller,  dem  es  auf  die  praktische  An- 
wendung der  Kantischen  Theorien  ankam,  die  letzteren  modifizieren 
mus.sten,  freilich  ohne  dass  sie  dadurch  widerlegt  würden:  die  Kr.  d.  pr. 
V.  ist  eben  kein  Sy.stem  der  Moral,  und  die  Kr.  d.  Urteilskr.  keine  prak- 
tische Kunstlehre. 

Warda,  Arthur.  Zur  Frage  nach  Kants  Bewerbung  um  eine 
Lehrerstelle  an  der  Kneiphöfischen  Schule.  Altpreuss.  Monatsschr., 
Bd.  35,  Heft  7—8.     (S.  578—614.) 

"Wie  die  älteren  Biographien  Kants  melden,  hat  sich  K.  einmal  (das 
Datum  wird  nicht  genannt)  um  eine  erledigte  Schulstelle  beworben,  wurde 
aber  einem  gewissen  Kahnert  (nach  dem  Konzept  der  Waldschen  Gedächt- 
nisrede auf  K.  einem  „notorischen  Ignoranten")  nachgesetzt.  Erst  Erdmann 
(1876)  und  Amoldt  (1881)  haben  diese  Angabe  als  unsicher  angezweifelt. 
"Warda  hat  nun  in  sorgfältigster  Weise  die  auffindbaren  Dokumente  durch- 
forscht. Ein  sicheres  Resultat,  ob  Kant  sich  wirklich  beworben  hat,  liegt 
freilich  nicht  vor.  Hingegen  i.st  über  den  bisher  völlig  unbekannten  Kahnert 
eine  Reihe  von  Thatsachen  ans  Licht  gefördert  worden,  wobei  sich  ergeben 
hat,  dass  die  Zeit,  in  der  allein  Kant  mit  ihm  konkurriert  haben  kann,  der 
Oktober  1757  ist.  Damals  war  Kant  schon  seit  4  Semestern  Privatdozent  I 
Gleichwohl  hält  es  "W.  nicht  für  unwahrscheinlich,  dass  er  sich  zu  dieser 
Zeit  noch  um  eine  solche  Stelle  beworben  habe,  um  sich  ein,  wenn  auch 
nicht  grosses,  so  doch  sicheres  Einkommen  zu  verschaffen,  zumal  ihm  ein 
Jahr  vorher  die  Bewerbung  um  eine  Professur  missglückt  war.  Ein  Brief 
Kants  an  Nicolovius  vom  16.  Aug.  1793,  den  "V\^.  zum  Abdruck  bringt, 
scheint  gleichfalls  für  diese  überraschende  Annahme  zu  sprechen. 

Jacobskötter,  Arnold.  Die  Psychologie  Dieterich  Tiede- 
manns.    Diss.    Erlangen,  1898.     (138  S.) 

Vorliegende  Schrift  befasst  sich  zwar  mit  einem  der  bekanntesten 
Gegner  Kants,  behandelt  ihn  jedoch  nach  einer  Seite  hin,  auf  der  wenig 
Veranlassung  ist,  auf  Kant  einzugehen,  der  denn  auch  im  Hauptteil  der 
"Untersuchung  nur  einige  mal  beiläufig  erw^ähnt  ward.  Bemerkenswert  sind 
die  Ausführungen    in    der  Einleitung,    in  der  der  Verf.  die  Stellung  seines 


Litteraturbericht.  1 2 1 

Philosophen  zu  Locke,  Leibniz,  AVolff  und  Kant  von  allgemeineren  Gesichts- 
punkten aus  schildert:  bei  jedem  der  drei  erstgenannten  vermisst  T.  eine 
Vernunftkritik;  gleichwohl  vertritt  er  Kant  gegenüber  im  wesentlichen 
den  gesunden  Menschenverstand. 

Siebert,  Otto,  Dr.  Geschichte  der  neueren  deutschen  Philo- 
sophie seit  Hegel.  Ein  Handbuch  zur  Einführung  in  das  philosophische 
Studium  der  neuesten  Zeit.  Göttingen,  Vandenhoeck  und  Ruprecht,  1898. 
(VI II  und  496  S.) 

Das  Buch  Sieberts  ist  ein  erfreuliches  Zeugnis  philosophischen  Inter- 
esses und  grosser  Belesenheit.  Im  einzelnen  sind  freilich  manche  Punkte 
noch  der  Verbesserung  fähig.  So  passt  m.  E.  Rothe  (191—193)  nicht  in 
die  Schleiermachersche  Schule:  er  steht  Hegel  \nel  näher.  Riehl  (332  f.) 
kann  unmöglich  den  „Reaktionserscheinungen"  zugezählt  werden;  Spicker 
ist  kein  Neukantianer.  Der  am  gründlichsten  verfehlte  Abschnitt  ist  der 
über  Nietzsche  (248—245).  Als  Quellen  scheint  S.  hauptsächlich  solche 
Aufsätze  benützt  zu  haben,  wie  sie  bis  vor  ein  paar  Jahren  in  theologischen 
Zeitschriften  häufig  waren;  allerdings  citiert  er  einmal  Riehls  Buch  über 
Js\.  aber  gelesen  hat  er  es  sicher  nicht.  —  S.  336—374  sind  dem  Neu- 
kantianismus gewidmet.  Hier  werden  im  1.  Teil  „die  pliilosophischen  Neu- 
kantianer" besprochen,  der  2.  Teil  beschäftigt  sich  mit  dem  „ästhetischen, 
ethischen  und  gnostischen  Neukantianismus  der  Niederlande",  der  8.  mit 
den  „theologischen  Neukantianern".  Das  nächste  Kapitel  behandelt  die 
.Versuche  zu  neuer  Sj-stembildung" :  hier  findet  noch  mancher  sonst  den 
Neukantianern  zugerechnete  Denker  Berücksichtigung.  Eine  besonders 
warme  Darstellung  erfahren  Lotze  und  Eucken.  Die  Philosophie  des 
ersteren  wird  charakterisiert  als  ..der  fruchtbarste  und  anregendste  Fort- 
schritt der  deutschen  Gedankenbewegung  seit  Hegel"  (427),  und  die  Aus- 
führungen über  den  letzteren  .schhessen  mit  dem  Satze:  „Wir  tragen  die 
Überzeugung  in  uns,  dass  eine  fruchtbare  Entwicklung  der  Philosophie 
nur  auf  dem  von  Eucken  eingeschlagenen  Wege  zu  erwarten  ist"  (469). 

Fouillee,  Alfred.  Le  mouvement  idealiste  et  la  reactiou 
contre   la   science  positive.     Paris,  Alcan,  1896.      (LXVUI  und  361  p.) 

Comte  et  Kant.     Revue  philos.,  XLIII,  p.  422—425. 

In  der  Introduction  zu  „Le  mouvement . ."  giebt  der  Verf.  eine  historische 
Übersicht  über  das  Aufkommen  des  direkt  oder  indirekt  stets  auf  Kant 
zurückweisenden  Idealismus  in  Frankreich:  Kant  und  Comte  sind  die  typischen 
Vertreter  der  beiden  um  die  Hegemonie  ringenden  Weltanschauungen.  Seine 
eigene  Stellung  in  diesem  Kampf  charakterisiert  Fouillee  gut  in  dem 
Artikel  „Comte  et  Kant",  einer  Entgegnung  auf  Dauriacs  Rezension  des 
vorliegenden  Buches,  indem  er  sagt,  er  würde,  wenn  er  wählen  sollte,  ant- 
worten: „Ni  l'un  ni  lautre.  Tun  et  l'autre;  et  d'ailleurs,  sil  fallait  abso- 
lument  choisir,  ce  nest  pas  Comte  «lue  je  choisirais".  —  Buch  I  handelt 
von  den  Grenzen  der  Erkenntnis.  Kant  findet  eingehende  Berücksichtigung, 
besonders  in  Bezug  auf  seine  Lehre  vom  Ding  an  sich,  gegen  die  mehrere 
Einwände  erhoben  werden.  Fouillee  vertritt  die  Ansicht,  dass  der  Weg 
ins  Transscendente  uns  dadurch  gegeben  ist,  dass  wir  von  uns  selb.st  eine 


IJJ  Litit>raturbericlit. 

W  i'SfiiMTkt'nntnis  hahon.  Hiidi  II  „l/i(l.';ili-.mi'  et  la  comiaissaiiri'"  bo- 
handolt  ilas  W'rliältnis  vdii  SuhjrkL  iiml  Ohjckt .  vun  luiuMiwclt  und  Aussoii- 
welt  untiT  bfstäiuliu:«'!-  B<'/.it'liiinu;  auf  Kant  iind  sciiu'  bctlciiti'ndstrn  K])'\ 
goiu'ii.  naini-ntiicii  Sclui|tt'nliaucr.  ■  \'(iii  Ix-sdudcinn  Interesse  ist  l'ür  uns 
noch  das  5.  Kapittd  in  Hucli  l\ .  Ks  ist  ülxTsclirirhrn  „i-;i  valrur  dr  l.i 
coimaiss.-iiu't'".  Her  Vt-rf.  stt-ilt  Kant-  nclx'n  Heikel  und  versucht,  über  bcido 
hinaus/.ukoiumiMi  durch  Anerkennung  objidvtivcr  Be/iidiungen  /.wischen  (h'n 
Dingen.  Nach  seiner  Meinung  giebt  es  keine  apriorischen  Gesetze,  die  wir 
der  Xatur  vorsclm-iben,  sondern  auch  die  allgemeinsten  Gesetze  nnserer 
Erkenntnis  sind   niciits    als  ein   kleiner  'Peil   der  Gesetze  des  Universums. 

Krieg.  Max,  Dr.  I>ei-  Wille  und  die  l''reiheit  in  di-r  neueren 
Philosophie.     Freiburg  i.  E.,  Herder.   18&8.    (4U  S.) 

Der  Verf.  der  kleinen  Schrift  bekennt  sich  zur  katliulisclu-n  Phil()SO])hie. 
Er  ist  der  Ansicht,  dass  ilie  Kantische  Lehre  vom  Willen  nicht  die  ge- 
bührende Anfmerksamkeit  gefunden  hat  (vgl.  Vorwort)  und  will  diesem 
Mangel  abhelfen.  Kinleitungsweise  wird  die  scholastische  Freiheitslehre 
charakterisiert;  schade,  dass  die  ohne  jede  Einschränkung  aufgestellte  inter- 
essante These,  dass  Augustin  „den  entschiedensten  Indeterminismus" 
gelehrt  habe  (3),  nicht  näher  begründet  wird.  —  Das  erste  Kapitel  schildert 
in  gi'össter  Kürze  die  Freiheitslehren  der  vorkantischen  Systeme,  das  zweite 
auch  nicht  gerade  ausführlich  die  Willensphilosophie  Kants  und  seiner 
Nachfolger,  das  dritte  zieht  das  Facit.  —  Das  Urteil  lautet:  „Die  Willens- 
lehre Kants  und  seiner  Nachfolger  richtet  sich  schon  dadurch,  dass  sie  auf 
der  Basis  des  Idealismus  steht,  einer  erkenntnis-theoretischen  Richtung, 
die  unhaltbar  ist  und  zur  Vernichtung  aller  Realität  führen  muss"  (34). 
Des  Verfassers  eigene  Theorie  findet  sich  S.  39;  sie  gipfelt  in  dem  Satze: 
„Der  menschliche  Wille  ist  frei,  weil  er  eine  überorganische  Kraft  ist,  wie 
der  hl.  Thomas  mit  Recht  hervorhebt." 

Eisler.  Rudolf,  Dr.  Einführung  in  die  Philosophie.  Wissen- 
schaftl    Volksbibl.,  No.  03—55.     Leipzig,  Schnurpfeil,  1897.    (160  8.)    12". 

Das  bescheiden  auftretende  Büchlein  (vgl.  Vorwort)  ist  nicht  unge- 
schickt abgefasst.  Es  bringt  auf  seinem  engen  Raum  so  viel,  als  irgend 
erwartet  w-erden  kann.  Steht  man  der  Existenzberechtigung  solch  kleiner 
Abrisse  des  Gesamtgebietes  der  Philosophie  nicht  prinzipiell  ablehnend 
gegenüber,  so  A\'ird  man  sie  dem  vorliegenden  Werkeheu  nicht  absprechen 
dürfen.  Der  Inhalt  gliedert  sich  nach  den  folgenden  vier  in  den  Haupt- 
phasen ihrer  Entwicklung  dargestellten  Problemen :  Erkenntnisproblem, 
Seinsproblem,  kosmologisches  Problem,  Wertproblem.  Der  letzte  Abschnitt 
ist  allerdings  nicht  viel  mehr  als  ein  Hinweis  auf  die  in  der  gleichen 
Sammlung  erschienenen  „Grundzüge  der  Ethik"  von  Dr.  H.  Schwarz.  — 
Auf  Kant  wird  allenthalben  Bezug  genommen.  S.  44 — 50  findet  sich  eine 
Darstellung  seiner  Erkenntnislehre,  die  trotz  des  geringen  Raumes  vielleicht 
nicht  ungeeignet  ist,  bei  der  ersten  Lektüre  Kantischer  Schriften  das  Ver- 
ständnis zu  erleichtem.  S.  50 — 64  folgt  sodann  die  Besprechung  einiger 
Fortbildungsversuche  der  Kantischen  Lehre,  besonders  vom  Standpunkt 
der  genetischen  Betrachtungsweise.  Ausführungen  über  das  Ding  an  sich 
bei  Kant  stehen  S.  70—73. 


Litteratarbericlit.  123 

Volkmann.  F.  Die  Entwicklung  der  Pliilosophie.  Berlin, 
Rühe.  1899.     (31  S.) 

Die  in  modernem  Geschmack  elegant  ausgestattete  Broschüre  ist  eine 
von  Missverständnissen  gröbster  Art  wimmelnde  Anklageschrift  gegen 
Kant,  der  durch  suine  ^Anhänglichkeit  an  mathematische  Anschauungen"  (9j 
die  Verwirrung  in  der  Philosophie  noch  vergrössert  und  dadurch  die 
wissenschaftliche  Entwicklung  aufgehalten  habe.  —  Die  einzelnen  Punkte, 
die  der  Vei'fasser  misshandelt,  sind  folgende:  7ff. :  anah'tische  und  .syn- 
thetische Urteile;  14  ff.:  Kaum:  16  ff.:  Zeit;  19  f.:  Kategorien;  20  ff.:  mathe- 
matische Antinomien:  24  ff. :  Ding  an  sich;   28  ff.:  Kausalität  und  Freiheit. 

Eisler.  Rudolf,  Dr.  Die  Elemente  der  Logik.  ("VVissenschaftl. 
Volksbibl.  No.  ü;i— 04.)     Leipzig,  Schnurpfeil,  1898.     (102  S.,  120.) 

Vorliegender  Abriss  hält  sich  au  die  herkömmliche  Einteilung  des 
Stoffes,  lässt  dabei  aber  mehrfach  auch  moderne  Probleme  und  moderne 
Auffassungsweisen  zu  Worte  kommen.  Wenn  übrigens  die  Quisquilien  der 
Schullo;^ik  noch  etwas  mehr  zu  Gunsten  zeitgemässerer  Betrachtungen  in 
den  Hintergrund  getreten  wären,  so  würde  das  die  Lektüre  angenehmer 
und  kaum  weniger  nützlich  gemacht  haben.  So  hätte  z.  B.  die  Erläuterung 
der  Buchstaben  s.  p,  m,  c.  in  den  Namen  der  Schlussmodi  (S.  50)  ohne 
Schaden  fehlen  können,  zumal  da  sie,  mindestens  in  Bezug  auf  c,  für  einen 
nicht  bereits  Kundigen  unverständlich  ist.  Dadurch,  dass  die  Kantische 
Einteilung  der  Urteile  zu  Grunde  gelegt  ist  (S.  28  ff.),  ist  auf  Kant  mehr 
Rücksicht  genommen,  als  im  Interesse  der  Sache  wünschenswert  ist;  jene 
Zwölfteilung  hat  für  die  Logik  lediglich  historische  Bedeutung  und  durfte 
darum  hier  nur  anhangs-  oder  anmerkungsweise  behandelt  werden. 

Creighton,  James  Edwin.  An  Introductory  Logic.  New  York, 
Macmillan,  l.s98.     (XIV  und  387  S.) 

Das  anziehend  geschriebene  Werk  ist  gedacht  als  ein  Lehrbuch  für 
Studierende.  Bekanntlich  ist  an  brauchbaren  Werken  dieser  Art  — 
wenigstens  in  Deutschland  —  kein  Überflu.ss;  um  so  erfreulicher  ist  diese 
Neuerscheinung.  Tief  dringende  und  eigenartige  Behandlung  der 
Probleme,  eleganter,  klarer  Stil,  und  der  für  ein  Lehrbuch  gerade  passende 
Umfang  sind  die  Vorzüge  dieser  Logik.  —  Der  er.ste  Teil  ist  überschrieben 
„The  Syllogism":  Dieser  Titel  ist  a  potiori  gewählt,  denn  auf  ihn  folgt 
die  ganze  deduktive  Logik,  wobei  allerdings  dem  Syllogismus  eine 
wichtigere  EoUe.  als  sonst  üblich,  zufällt:  der  Begriff  ist  nur  zu  verstehen 
als  Element  des  Urteils,  dieses  aber  ist  ohne  den  Zusammenhang  mit 
anderen  Urteilen,  wie  er  im  Schluss  vorliegt,  gleichfalls  nur  ein  Fragment  43). 
Der  zweite  Teil  behandelt  die  induktive  Logik.  Der  dritte  Teil  „The 
Nature  of  Thought"  untersucht  das  logische  Denken  in  psychologischer 
und  erkenntnistheoretischer  Hinsicht.  Die  letzten  41  Seiten  enthalten  nach 
englischer  Sitte  anhangsweise  den  einzelnen  Kapiteln  zugeordneta  Fragen. 

Achelis,  Thomas,  Dr.  E  t  h  i  k.  (Sammlung  Göschen.  Bd.  90.) 
Leipzig,  Göschen.     189X.     (159  S.) 

Das  Erscheinen  populär  gehaltener  und  durch  niedrigen  Preis  allgemein 
zugänglicher  wissen.schaftlicher  Schriften  ist  an  und  ffir  sich  erfreulich.  Eine 


IJ4  Littoratnrhoricht. 

die  Wissenschaft  selbst  fiirderiule  Hearbeituii^  der  Theinala  wird  man  ja  im 
allgemeinen  nicht  in  ihnen  finden,  aber  billiji;er  Weise  auch  nicht  suclien. 
Auch  die  vorliegende  „Ethik"  dürfte  dem  Zweck  solcher  W'erkchen,  an 
iler  Belebung  des  allgemeinen  Interesses  für  wissenscliaftliche  Fragen  mit- 
zuarbeiten, genügen.  Geschichte  und  System  der  Ethik  finden  sich  liier 
auf  engem  Räume;  letzteres  liillt  sich  „an  die  («renzen  induktiver 
Erf.alirung**  (81  u.  ö.),  lässt  darum  dem  Abschnitt  über  „die  Prinzipien" 
einen  solchen  über  „die  Erscheinungen  der  Sittlichkeit"  vorangehen.  Die 
auf  Kant  bezüglichen  Ausführungen  sind  nicht  gerade  die  best  gelungenen. 
Die  gegen  ihn  erhobenen  Einwände  enthalten  mehrfach  Unrichtigkeiten.  So 
stimmt  es  z.  B.  nicht,  dass  „die  allgemeine  Verbindlichkeit  des  ai)ri()rischen 
Sittengesetzes"  dadurch  „sehr  fraglich,  um  nicht  zu  sagen  hinfällig"  würde, 
qdass  wir  es  eingestandenermassen  nicht  mit  induktiven  Beweisen  zu  tliun 
haben,  was  Kant  sogar  wiederholt  höchst  ironisch  zurückweist"  (32j. 
Anfechtbar  ist  es  ferner,  wenn  der  Verf.  (94)  schreibt:  „Neigung  und 
Pflicht  sind  oft,  meistens,  nicht  aber,  wie  Kant  behauptet,  immer  im 
Kampf  miteinander".  Ob  dieser  Satz  richtig  ist  oder  nicht,  ist  eine  Frage 
der  Psychologie,  also  ohne  Belang  für  Kants  Ethik,  die  nur  verlangt,  dass 
der  Bestimmungsgrund  moralischer  Handlungen  nicht  in  den  Neigungen 
liegen  darf;  das  heisst  aber  nicht,  dass  moralische  Handlungen  nur  im 
Gegensatz  zu  den  Neigungen  möglich  sind.  Ein  gleichartiger  Fehler 
liegt  vor,  wenn  (100)  gegen  Kants  Lehre  vom  Gewissen  geltend  gemacht 
wird,  dass  es  ein  solches  besonderes  psychisches  „Vermögen"  nicht  gäbe: 
dafür  hat  Kant  selbst  das  Gewissen  gar  nicht  gehalten. 

Vischer,  Friedrich  Theodor.  Das  Schöne  und  die  Kunst.  Zur 
Einführung  in  die  Ästhetik.  Zweite  Aufl.  Stuttgart,  Cotta,  18'J8.  (XVIIT 
und  308  S.) 

Als  erste  Eeihe  der  Vorträge  des  geistvollen  Ästhetikers  hat  sein  Sohn, 
Prof.  Dr.  Robert  Vischer,  das  vorliegende  Werk  nach  dessen  Aufzeichnungen, 
sowie  nach  Collegnachschriften  bearbeitet.  Er  hat  sich  durch  diese  Ver- 
öffentlichung ein  unanzweifelbares  Verdienst  erworben.  Denn  wenn  auch 
Fr.  Th.  Vischer  in  den  Geschichtsbüchern  der  Philosophie  den  Anhängern 
Hegels  zugezählt  wird,  so  war  er  doch  keineswegs  einer  der  orthodoxen. 
Er  hat  in  seiner  späteren  Zeit  gerne  auch  das  angenommen,  was  von 
anderem  Standpunkte  aus  in  der  Ästhetik  geleistet  wurde,  und  so  kommt 
es,  dass  seine  Theorie  eine  durchaus  moderne  geworden  ist.  Es  ist  voll- 
kommen richtig,  wenn  der  Herausgeber  in  seinem  Vorwort  sagt,  das  vor- 
liegende Buch  könne  „mit  gutem  Recht  eine  Psychologie  des  Schönen 
genannt  werden"  (S.  XI).  Gerade  die  Probleme,  die  in  der  ästhetischen 
Litteratur  der  Gegenwart  dominieren,  liegen  auch  hier  vor,  und  wer  sich 
mit  diesen  modernsten  Fragen  beschäftigen  will,  könnte  nichts  Verkehrteres 
glauben,  als  dass  er  an  den  Schriften  des  „Hegelianers"  Fr.  Th.  Vischer 
vorübergehen  dürfte.  Zwar  verraten  den  einstigen  Schüler  Hegels  noch 
manchmal  Versuche  begrifflicher  Konstruktion,  allein  solche  finden  sich  hier 
kaum  mehr  öfter,  als  bei  einer  ganzen  Reihe  anderer  Autoren,  die  niemand 
den  Hegelianern  einzureihen  denkt.  —  An  Kant  knüpft  Vischer  gerne  an. 
Besonders  die  Kantischen  Fragen  nach  dem  Interesse  (S.  32,  82)  und  nach 


Bibliographische  Notizen.  125 

dem  Verhältnis  von  Form  und  Stoff  in  der  ästhetischen  Anschauung  werden 
eingehend  erörtert,  ebenso  der  von  Kant  und  dann  besonders  von  Schiller 
verwertete  Begriff  des  Spieles  (S.  88);  auf  Schillers  Ästhetik  geht  Vischer 
überhaupt  öfters  ein  (so  z.  B.  S.  150,  192).  Der  Kantische  Begriff  des  Ideals 
wird  acceptieil  (S.  215);  die  Einteilung  der  Künste  geschieht  im  Anschluss 
an  die  beiden  „apriorischen  Anschauungsformen.  Raum  und  Zeit,  an  welchen 
wir  die  ersten  Grundlagen  aller  geistigen  Ordnung  haben"  (S.  289).  Der 
Unterschied  der  freien  und  der  anhängenden  Schönlieit  wird  acceptiert 
(S.  304).  In  dem  Kampfe  Kants  gegen  die  Einführung  des  Begriffes  der 
Vollkommenheit  durch  Wolff  in  die  Ästhetik  stellt  sich  aber  Vischer  auf 
Wolffs  Seite  (107). 

Unbehaun,  Johannes,  Dr.  Versuch  einer  philosophischen 
Selektionstheorie.     Jena.  Fischer,  1896.     (150  S.) 

Vnbehaun  hat  sich  die  Aufgabe  gestellt,  zu  untersuchen,  ob  und  in 
welcher  Form  der  von  Darvi-in  auf  die  Welt  der  Organismen  angewendete 
Gedanke  der  Selektion  auf  andere  Forschungsgebiete  übertragen  werden 
kann.  Indem  der  Verf.  dem  Satz  Kants,  dass  „in  jeder  besonderen  Natur- 
lehre nur  so  viel  eigentliche  Wissenschaft  angetroffen  werden  könne,  als 
darin  Mathematik  anzutreffen  sei"  (2),  zustimmt,  ^^'ill  er  aus  der  aUgemeinsten 
Formel  des  Selektionsprinzips  more  mathematico,  also  rein  deduktiv,  eine 
Theorie  entwickeln,  die  dann  überall  da  gelten  muss.  wo  die  allgemeine 
Formel  anwendbar  ist.  —  Im  1.  Kapitel  betrachtet  U.  die  Geschichte  des 
Selektionsprinzips,  wobei  auch  Kant  Berücksichtigung  findet  (32).  Weit 
interessanter,  weil  origineller  sind  die  beiden  anderen  Kapitel,  in  deren 
einem  aus  der  zu  Grunde  gelegten  Definition:  „unter  Selektion  verstehen 
wir  den  Vorgang,  dass  unter  einer  Mehrzahl  von  irgendwie  zusammen- 
gehörenden Objekten  innerhalb  eines  und  desselben  Zeitraumes  einige  zu 
Grunde  gehen,  andere  aber  nicht"  (34)  die  Theorie  entwickelt,  in  deren 
anderem  ihre  Anwendbarkeit  auf  die  einzelnen  Wissenschaften  geprüft  wird. 
Das  Gebiet,  das  hierbei  U.  der  Selektion  zuweist,  ist  die  ganze  organische 
und  geistige  Welt.  Ausgeschlossen  bleibt  die  anorganische  Natur;  ge- 
wichtige Einwände  werden  (99  ff.)  gegen  du  Prel  erhoben,  in  dessen  „Ent- 
wicklungsgeschichte des  Weltalls"  die  Lehre  Darv\ans  zu  einem  für  das 
Universum  überhaupt  geltenden  Prinzip  des  Fortschritts  gemacht  wird. 


Bibliographisclie  Notizen. 


Als  einen  Staat  von  Kantianern  schildert  Kurd  Lasswitz  in  seinem 
utopisti.schen  Roman  ..Auf  zwei  Planeten"  (Weimar.  Felber.  2.  Aufl. 
18991  die  Marsbewohner,  welche  Lasswitz  den  rückständigen  Erd- 
bewohnern gegenüber  stellt.  Die  „Martier"  nennen  sich  selbst  kurzweg 
..Nume",  ein  Name,  der  an  Nus  und  Noumena  absichtlich  anklingt;  denn 
die  Martier  sind  Vernunftwesen,    bei    denen    das  Sinnliche    ganz    von    der 


joß  BiMiot,'rai)lnscho  Notizen. 

Vornunft  ilurflulnin^'i'U  ist.  iiiul  bei  lUiic-u  d'w  frt'ii'  Srlbstbestiiiimuii;;-  im 
KantisrluMi  Sinne  tliatsäohlirli  höchstes  ethisches  Prinzip  ist,  zuf>;leicli  aber 
am-h  oberste  Kiclitsclnnir  alh-r  staatliclien  IJeset/Kcbunt;  und  aMes  j.oh- 
tisi-hen  Verhaltens.  Die  strenge  Kaiitisclie  Unterscliei(hin.i;  /wisclien  (U-r 
Pfliclit  als  betlinfjunj^slosem  sittlirhem  Cebot  und  dem  Hrclitthun  aus 
blosser  Neigun.u;  wird  von  dem  „Nume"  bi-i  allem  praktischen  Verhalten 
festgelialten.  Lasswitz  hat  dies  an  i'iner  Reihe  von  konkrtiten  Fidlen 
hübsch  entwickelt:  doch  tritt,  wie  Kronenberj;  in  einer  sympatliisclien 
Besprechung;  des  Buches  in  der  „Nation"  am  31.  Dezember  18'.»8,  No.  14  be- 
merkt, diise  ganz  politische  und  sozial-ethische  Seite  hinter  der  Schilderung 
der  technischen   Fortschritte  jener  Marsln'wohner  zu  sehr  zurück. 

Über  Elsenhans"  „Wesen  \ind  Entstehung  des  Cewissens"  findet 
sich  eine  beachtenswerte  Besprechung  vom  Kantischen  Stamliiunkt  aus 
von  Vorländer  in  der  Zeitsdir.  f.  Philos.     Bd.   110.  S.   125  ff. 

Über    Thon's    „t'.rundpriuzipien     der    Kantischen    :\Ioralplnlo.sophie" 
(Vgl.  Kantstudien  II   S.  854)    findet  sich   eine   eingehende,    instruktive  Be- 
sprechung von  H.  Spitzer  (Graz)  im  „Enphorion".    Bd.  V  (1898),  S.  327—331. 
In    der    von    Dr.    med.    Ferd.    Maack    (Hamburg)     herausgegebenen 
En(iuete.-Schrift  über  den    „Occultismus"    findet  sich  auch  eine  beachtens- 
werte Meinungsäusserung  über  dies  Thema  von  dem  Kantianer  H.  il  o  m  u  n  d  t. 
W.    Koppelmann,    der    sich    durch    mehrere    Arbeiten    über    Kant 
rühmlich    bekannt    gemacht    hat,    hat    schon    vor    einiger    Zeit  in  der  im 
Verlag    von    Reuther    und  Reichard  in   Berlin  lierausgegebenen  Samndung 
der    „Hilfsmittel    zum    evang.    Religionsunterricht"    als    19.    und  20.  Sthck 
der  4.  Abt.  ..Die    Sittenlehre    Jesu"    erscheinen    lassen.     Es    ist    erireulich, 
dass    Koppelmann    dabei    mehrfach    (I,  1.  20.  32.     II,  1.  3.  39.  42)  Kants 
Moral    ej-läuternd    hinzuzieht:    Kant    ist    ihm    „der    grösste    Phdosoph  der 
Neuzeit",  und  umso  höhereu  Wert  legt  er  daher  auf  die  Uberenistnnmung 
der  christHchen  und  der  Kantischen  Moral,  eine  Übereinstimmung,  welche 
Kant    selbst    bekanntlich  betont  hat.     Besonders    weist  Koppelmann  noch 
hin    auf    den    Abschnitt    der    Kr.  d.  pr.  V.:    „Von  der  der  praktis(-hen  Be- 
stimmung    der    Menschen    weislich    angemessenen    Proportion    seiner  Er- 
kenntnisvermögen".    Sehr  richtig  ist  Koppeinianns  Standpunkt,  dass  Kants 
Lehre  vom  höchsten  Gut  nicht  einfach  als  „Inkonsequenz"  gei'asst  werden 
darf;    die  Hoffnung  auf  das  höchste  Gut  erscheint  ihm  durchaus  nicht  als 
Heteronomie,    wie    auch    Kant    selbst    umgekehrt    der    christlichen  Moral 
ausdrückhch    den    Charakter    der  Autonomie    vindiziert.      So    „steht  Kants 
System  dem  Christentum  näher  als  das  irgend  eines  anderen  Phdosophen". 
Wünschenswert  wäre  auch  ein  Eingehen  auf  Kants  wichtiges  Prinzip  vom 
„Reiche    Gottes"    gewesen    (vgl.    K.  St.  I,    279.  II,   366.  468.  486),  das  von 
anderen  Theologen   schon  mit  Erfolg  herbeigezogen  worden  ist.     Obgleich 
die  Beziehungen  Koppelmanns    auf    Kant    —    im  \  ergleich  mit  den  Lehr- 
büchern der  rationalistischen  Periode  —  nur  schüchtern  als  Anmerkungen 
auftreten,    hat   sich  ein  Rezensent  in  der  Zeitschr.  f.  Philos.  u.  philos.  Kr. 
Bd.  112,    S.  26.5 — 271    gegen   jede    „Vermischung  der  Sittenlehre  Jesu  mit 
modernen  Gedanken"    ausgesprochen.     Im    neuesten  Heft  dieser  Zeitschr. 
Bd.    113.    2,    S.  254  ff.   wehrt    sich    Koppelmann    geschickt    gegen    diesen 

Vorwurf.  ^^.  ,     ^  .     .  m-     u     . 

Adickes'  bekannte  Schrift  „Kant-Studien"  (Kiel,  Lipsius  u.  Tischer) 
hat  eine  trotz  des  prinzipiellen  Gegensatzes  im  ganzen  sehr  anerkennende 
Besprechung  gefunden  in  dem  katholischen  „Philosophischen  Jahrbuch 
1896  S  72—77  woselbst  auch  zugleich  Wernickes  Schrift  „Kant  und  kein 
Ende"  recensiert  ist.  Die  Besprechung  hat  zum  Verfasser  den  Benediktmer- 
pater  Dr.  Beda  Adlhoch,  einen  geborenen  Bayern,  der  jetzt  Professor 
der  Philosophie  in  dem  neuen  Benediktinercentralkloster  St.  Anselmo  m 
Rom  ist.  Das  herrlich  auf  dem  Aventin  gelegene  Kloster  ist  allen  Rom- 
fahrern wohlbekannt:  der  Papst  Leo  XIH.  hat  es  bekanntlich  den  Benedik- 
tinern aufoctroyiert,  um  bei  denselben,  die  bisher  dem  jesuitischen  Emtluss 
und  der  thomistischen  Philosophie  sich  zu  entziehen  wussten,  die  Zügel 
straffer  anziehen  zu  können. 


Bihliugraphische  Notizen.  127 

Eis  zu  welchem  Masse  die  Kantischen  Prinzipien  zum  Richtmass 
selbst  in  praktischen  Fragen  genommen  worden,  dafür  findet  sich  ein 
merkwürtliges  Beispiel  in  der  „Ethisflieu  Kultur",  in  welcher  (1898 
No.  20  ff.)  eine  Kontrovt'rse  übi-r  die  Ki-rechtigun^-.  dm  Angeh<iri;^en  eines 
anders  sprechenden  Volksstammes  das  Deutsch  als  tichulsprache  aufzuerlegen, 
geführt  wurde.  Der  Gegner  dieser  Massregel  V.  Horinek  (Prag)  beruft 
sich  dabei  auf  Kants  Prinzip,  wonach  jeder  Mensch,  und  damit  auch  jedes 
Volk  zur  Freiheit  bestimmt  und  Selbstzweck  sei  und  nicht  von  einem 
Anderen  als  Mittel  gebraucht  werden  dürfe.  Stau  dinge  r  (Wormsj  sucht 
diese  Berufung  auf  Kant  durch  Hinweis  auf  die  noch  höhere  Kantische 
Idee  <les  ..Reiches  der  Zwecke"  zu  entkräften. 

In  den  „Wopro.sy  filosofii  i  psichologii"  (Moskau  1897)  findet  sich 
ein  Artikel  von  Wjera  Johnstohn  über  den  indischen  Weisen  Schri- 
Schankara  -  Atschari  a,  dessen  Beziehiingen  zum  Ideali.smus  und  zu 
Kant  besproclit-n  werden.  —  In  derselben  Zeitscln-ift  veröffentlicht 
\V.  N.  Iwanowski  eine  Abhandlung  über  den  Begriff  der  A  pperception, 
in  dem  er  auch  die  Kantische  Lehre  berücksichtigt. 

In  den  ,,Dramaturgi,schen  Blättern"  (Beiblatt  zum  „Magazin  für  Litte- 
ratur")  1899,  Xo.  10 — 12  findet  sich  ein  Artikel  von  AValter  Bormann 
..Dichtung  und  Schule".  Der  Verf.  betont  den  hohen  pädagogischen 
Wert  des  Schönen  und  geht  bei  dieser  Gelegenheit  auch  auf  die  „bahn- 
brechenden Lehren"  in  Kants  Kr.  d.  Urteilskraft  ein.  Mehr  als  Kant 
betont  er  die  objektive  Grundlage  des  Schönen.  Doch  glaubt  er  auch 
hierbei  ganz  auf  Kant  zu  fussen,  der  mit  der  Mittelstellung,  die  er  der 
Urteilskraft  zwischen  Verstand  und  Vernunft  anweise,  auf  „eine  geheime 
Correspondenz  zwischen  dem  aprioristisch  wirkenden  ^lenschengeiste  und 
den  Äusserungen  des  Allgeistes  in  der  sinnlichen  Natur"  hindeute. 

Über  Kant  und  die  Kanti.sche  Philosophie  lässt  sich  nun  auch  der 
„Naturprediger  Johannes  Guttzeit"  aus  in  seinem  „ Verbildungs- 
spiegel,  IL  Bd.  Verlehrtentum."  (Grossenhain  und  Leipzig,  Baimiert 
ifc  Rouge  1899,  330  S.).  S.  237  ff.  ist  von  Kant  die  Rede  im  Sinne  und  Stile 
von  Herders  Metakritik  und  Dührings  Polemik.  Von  den  Kantianern 
heisst  es  da:  ,,Sie  kriti.sieren  alle  bereitwillig  mit  dem  Kant  die  Vernunft, 
statt  mit  der  Vernunft  den  Kant"  —  man  sieht,  der  Verf.  hat  wohl  ein 
bischen  AVitz,  aber  absolut  kein  Verständnis  für  Philosophie. 

Das  „Magazin  für  Litteratur"  (68.  Jahrgang,  1899,  No.  8  -10)  ver- 
öffentlicht unter  der  Überschrift  „Geistige  Struktur  Deutschlands 
um  ISOO"  das  erste  Kapitel  aus  dem  Buche  „Litteratur  und  Gesellschaft 
im  19.  Jahrhundert"  (Berlin,  S.  Cronbach)  von  S.  Lublinski.  Gegen 
Ende  dieses  Aufsatzes  be.schäftigt  sich  der  Verf.  auch  mit  Kant,  dessen 
Philosophie  er  in  ihren  Grundzügen  zu  skizzieren  versucht.  Er  sieht  in 
Kant  den  Philosophen,  der,  obgleich  tief  im  Rationalismus  wurzelnd,  doch 
diesen  kritisch  überwindet  und  nur  in  einzelnen  verfehlten  Lehrmeinungen, 
so  besonders  in  der  praktischen  Philo.sophie  (dem  „Monstrum"  des  kate- 
gorischen Imperativs)  in  ihn  zuriickfällt.  Das  Thema,  das  sich  der  Verf. 
gestellt  hat,  ist  interessanter  als  die  Ausführungen,  die  er  giebt. 

Gegen  den  Immoralismus  der  Gegenwart,  der  der  Moral  vorwirft,  sie 
beraube  den  Menschen  des  Besten,  was  er  habe,  nämlich  seiner  kräftigen 
Instinkte,  indem  sie  ihn  unti-r  starre  Gesetze  zwinge,  wendet  sich  der  be- 
deutende Jenaer  Philosoph  Rudolf  Eucken  in  einem  „Ein  Wort  zur 
Ehrenrettung  der  Moral"  überschriebenen  Artikel  der  „Deutschen 
Kundschau"  (1898/99,  Bd.  II,  No.  12j.  Kants  rigoristische  Ethik,  der  dieser 
\  orwurf  besonders  heftig  gemacht  worden  ist,  wird  geschickt  in  Schutz 
genommen  durch  den  Hinweis  darauf,  wie  das  dem  innersten  Wesen  des 
Menschen  selbst  entsprungene  Gesetz,  die  Autonomie,  den  Menschen  erst 
zur  freien  Persönlichkeit  erhebt,  also  keine  Fessel,  sondern  eine  (^»uelle 
echter  Kraft  ist;  wie  diese  Sittenlehre  nach  Kants  eigenem  Wort  den 
..animus  strenuus  et  hilaris"  aber  keine  mürrisclie  Gemüt^^stinmiung  nach 
sich  zieht;  und  wie  „auch  die  geschichtliche  Erfahrung  bestätigt,  dass 
Kant    nicht    zur    Knechtung,    sondern    zur    Befreiung  der  Geister  gewirkt 


128  Bibliofrraplüsciu»  Notizen. 

hat".  Kucken  giebt  damit  dit«  tri'fft'iido  Antwort  auf  den  ü;UMch/oitif>;  in 
der  „Neuen  Deutschen  Rundschau"  (X.  3,  Mär/.  IH'.C))  eischieneni>n  Auf- 
sat/. „Die  Freiheit  der  Perstlnlichkei  t"  von  Ellen  Key.  Hier  heisst 
es  im  vSinne  des  modernen  moralisclu-n  Subji'ktivismus:  ..Die  Kantische 
KordiMMin;::.  das  Indiviiluuni  solle  sir  handeln,  als  ol)  seine  ilaiKÜuni:;  (lesi'tz 
für  alle  Menschen  würde,  ist  diametral  iler  individualistischen  .VulTassunpf 
entgegengesetzt,  die  das  grösstmclgliche  (ililck  für  die  Mehrzahl  und  den 
grösstniriglichen  Kulturfortschritt  dadurch  erhofft,  dass  man  schliesslich 
keine  absolute  für  alK'  verbinth'nde  Hegel  anerkennen,  sondern  .sich  in 
jedem  individuellen  Falle  seine  eigene  Regel  schaffen  winl.  Die.  welche 
nicht  jene  ethische  Kntwickehnig  erreicht  haben,  die  das  Recht  zu 
ethischer  Neugestaltung  giebt.  sondern  die  nur  erwachsene  Kinder  sind, 
oder  Pflichtenmenschen  ohne  individuelles  (iewissen.  oder  Triebmenschen 
ohne  soziales  Gewissen  —  Alle  diese  brauchen  den  gesellschaftlichen 
Zwang,  um  das  Recht  Anderer  nicht  zu  verletzen.  Und  selbst  der  aus- 
geprägte Charakter  bedarf  in  gewissen  Ei)oclu'n  seini-r  Entwickelung  dies(>r 
Stütze.  Aber  der  Zweck  der  Gesellschaft  ist  erst  dann  erreicht,  wenn  die 
Gesellschaft  durch  die  ethische  .Selbstherrlichkeit  der  Individuen  über- 
wunden isti"  Es  wäre  eine  lohnende  Aufgabe  für  den  ^roraljthilosophen, 
das  Verhältnis  des  Kantischen  zum  modernen  Autonomismiis  /.um  Gegen- 
stand der  Bearbeitung  im  Euckenschen  Sinne  zu  machen. 

Es  ist  bekannt,  dass  sich  Richard  Wagner  auch  mit  Philosophie  be- 
schäftigt hat.  Eingehendere  Ausführungen  über  die  wissenschaftliche 
Seite  des  grossen  Komponisten  giebt  in  anziehender  Weise  unter  dem 
Titel  ..Richard  "Wagners  Philosophie"  Houston  Stewart 
Chamberlain  in  der  „Bt^ü'ige  zur  |Münchener|  Allgemeinen  Zeitung" 
1899.  No.  47 — 49.  Der  Verf.  vertritt  den  Standpunkt,  Wagner  habe  über- 
haupt keine  philosophische  Begabung  gehabt,  und  es  seien  gar  nicht 
eigentlich  philosophische  Interessen  gewesen,  die  ihn  an  seine  Meister 
Feuerbach  und  Schopenhauer  gefesselt  hätten.  So  habe  er  auch  Kant  nie 
ernstlich  studiert;  und  in  der  That  verrät  es  eine  „tiefe  Unkenntnis  Kant- 
scher Denkweise",  wenn  W.  noch  1880  in  einem  Briefe  schreibt,  Kant 
habe  ,,erst  aus  der  Kr.  d.  Urteilskr.  richtige  Schlüsse  auf  die  Realität  oder 
Idealität  der  Welt  als  Objekt  zu  ziehen  sich  getraut". 

Eine  vorzügliche  Besprechung  von  Willmanns  Geschichte  des 
Idealismus  giebt  Fr.  Jodl  in  seinem  Litteraturbericht  über  die  Philo- 
sophie in  Deutschland  und  Österreich  im  „Monist"  (Chicago)  IX,  2, 
S.  257  f.  Wir  entnehmen  derselben  folgende  treffenden  Sätze:  „It  is 
necessary  to  have  read  treatises  of  this  sort  in  order  to  be  clearly 
aware  oi  the  intellectual  gulf  which  separates  Catholicism  and  Catholic 
scholarship  from  that  philosophical  method  which  we  are  accustomed  to 
regard  as  the  achievement  of  the  recent  centuries.  It  is  an  impression 
similar  to  that  which  would  be  experienced  b}^  an  astronomer  if  he 
unexpectedly  came  across  an  adherent  of  the  geocentric  theory  who 
should  atte'mpt  to  demonstrate  that  the  history  of  astronomy  since  the 
time  of  Copernicus  has  been  only  a  series  of  harmful  errors." 

Von  dem  unermüdlichen  Vorkämpfer  des  Kritizismus  in  Italien,  Pro- 
fessor Cantoni  in  Pavia,  Senatore  del  Regno,  sind  noch  im  Jahre  1898 
mehrere  kleine  Beiträge  erschienen,  welche  hier  nachzutragen  sind:  1.  Sui 
sentimenti  desinteressati,  Lettera  al  Prof.  Attilio  Gnesotto;  2.  Sulla 
Morale;  beide  Abhandlungen  auch  in  der  unterdes  eingegangenen 
^Rivista  Italiana  di  Filosofia";  3.  Domenico  Berti.  Commemorazione. 
Torino.  Clausen.  In  allen  drei  Abhandlungen  ist  mehr  oder  weniger  auf 
Kant  Bezug  genommen. 


träge 


Im  „Divus  Thomas'*,  VI,  fasc.  25—26  hat  Fr.  Syndicus  einige  Nach- 
zu  dem  Artikel  „Kant  in  Spanien"  von  W.  Lutoslawski  („Kant- 
studien", I,  217  ff.)  gemacht. 

Die  „Annee  philosophique"  bringt  im  Jahrgang  1897  einen  Artikel 
Eenouviers:  „De  l'Idee  de  Dien".  Der  geistvolle  Verf.  führt  folgende 
Gedanken  aus :    „Le  thomisme  a  regne  sur  la  philosophie  moderne  jusqu  a 


Zeitschriftenschau.  ]29 

Kant  dans  l'ecole  aprioriste,  en  ce  qui  touche  la  nature  divine"  (15).  Des- 
cartes,  Spinoza,  Leibniz  .  .  .,  thomistes  sur  ce  point  (8 — 14).  Kant  n'a 
esquive  l'erreur  <iu'en  refusant  de  s'aventurer  a  fixer  sa  doctrine  ineta- 
physi(iue.  La  succession  de  la  scolasti()ue  sest  li(juide<'  apres  Kant  au 
profit  du  determinisrne    et  de  linfinitisme  chez  Fichte,   Schelling,   Hegel. 

Gegen  Kants  Freiheitslehre  wendet  sich  Th.  Desdouits  in  seinem 
Buche  „La  Responsabil  ite  rnorale"  (Paris,  Thorin  et  Fils).  Durch 
Umdeutung  des  Kausalbegriffes  sucht  der  Verfasser  zu  zeigen,  dass  Natur- 
gesetzlichkeit und  Willensfreiheit  im  indeterniinistischen  Sinne  einander 
nicht  ausschliessen,  dass  es  mithin  die  von  Kant  behauptete  Antinomie 
gar  nicht  giebt.     Im  liberum  arbitrium  sieht  Desdouits  eine  Thatsache. 


Zeitsclirifteiiscliau. 


Zeitschrift   für   Philosophie    und   philosophische   Kritik   (herausg.  von 
R.  Falckenberg).     Leipzig,  Pfeffer. 

Bd.  111,  1  (1897).  Vülkelt.  Das  Recht  des  Individualismus.  — 
Busse,  Die  Bedeutung  der  Metaphysik  für  die  Philosophie  und 
die  Theologie  (s.  „Kantstudien"  III,  456).  —  Lülnianil,  Leibniz'  .An- 
schauung vom  Christentum.  —  Pfennigsdorf,  Bewusstsein  und  Er- 
kenntnis, mit  bes.  Beziehung  auf  die  Philosophie  Teichmüllers. 
S.  99  f.:  Kants  Lehre  vom  Ich.  —  Döring,  Rezension  über  Ritschis 
„Werturteile",  Kants  „Handgriff  des  Postulierens".  —  König,  Rezen- 
sionen von  Wernicke,  „Kant .  .  .  und  kein  Ende",  Müller,  „Kants  Stellung 
zum  Idealismus"  und  Apel,  „Kants  Erkenntnistheorie".  —  111,2  (189  H). 
SUn'k,  Ps^'chologische  und  erkenntnistheoretische  Begründung 
der  Ethik.  In  engem  Anschluss  an  Kant:  „Der  moderne  Gegensatz 
gegen  die  Kantische  Ethik  ist  .  .  .  der  Gegensatz  der  psychologischen  und 

der    erkenntnistheoreti.sch  -  logischen    Betrachtung Dass    Kant    das 

Problem  schliesslich  falsch  löste,  ist  zuzugeben.  Ohne  Frage  war  er  aber 
mit  seiner  Fassung  des  Problems  auf  richtigem  Wege."  —  Nagel.  Über 
den  Begriff  der  Ursache  bei  Spinoza  und  Schopenhauers  Kritik 
desselben.  —  Vorländer,  Rezension  von  Gneisse  .Sittliches  Handeln 
nach  Kant". 

Bd.  112,  1.  Volkelt,  Die  tragische  Entladung  der  Affekte.  — 
Lato««lawski,  Sty lometrisches.  —  W.  Schmidt,  Fr.  Bacos  Theorie  der 
Induktion.  —  Sommerlad,  Aus  dem  Leben  Ph.  Mainländer s.  —  112,  2. 
Kucken,  Die  Stellung  der  Philosophie  zur  religiösen  Bewegung 
der  Gegenwart.  —  Siebeck.  Die  Willenslehre  bei  Duns  Scotus  und 
seinen  Nachfolgern.  —  Volkelt,  Beiträge  zur  Analyse  des  Be- 
wusstseins.  235  ff.:  Transsubjektiver  »Schein  des  Empfindens  und  Glaube 
an  die  Aussenwelt.  —  v.  (üasenapp,  Duplizität  in  dem  Ursprung  der 
Moral.  264:  Kant.  —  Vorländer,  Rezensionen  von  Stein,  „Ewiger 
Friede"  und  v.  Kügelgen,  „Kants  Auffassung  von  der  Bibel".  —  Krhardt. 
Rezension  von  Albert,  „Kants  transsc.  Logik". 

Bd.  118,  1.  V.  Hartmann,  Zur  Auseinandersetzung  mit  Herrn 
Professor  D.  Dr.  A.  Dorner  in  Königsberg.  —  Richter,  Die  Methode 
Spinozas.  -  Lülmann,  Fichtes  Anschauung  vom  Christentum.  — 
Lasson,  Jahresbericht  über  f  ranzö  sische  Li  tteratur.  Darin  Berichte 
über  Boirac,  „Lid6e  du  phenomfene"  und  Dunan,  .Theorie  psychologique 
Kantstudien  IV.  9 


j3()  Zeitsolirifteüschiiu. 

de  Tespaoi«".    —    Kriianll.    Uezension  von   Adiiki's.    „K;int-Studieir. 
113,  '_'.      KalckciilMM'^.     l.ot/.i's    lirii'lo    :iu    Zcller.    —    .IcmII,    Kirliti;    als 
Sozial  pttlilikiT.  A(lirk«'s.   IMi  i  losoph  i  c.   Metapli  v  si  k   untl   Kiu/i'l- 

wisstMisrha  ft  i' II  (im  Anscliluss  an  Wiuuit).  (u'jj;t'n  tlii-  Mrnj;liciikt.M( 
wisstMiscIiaftlii'Iier  Mi'taplivsik.  Wisst-nscliaft  „weiss  von  uiclits  als  von 
ilor  Welt  diT  Erlahinnj;"  CJ'JJSI.  „Als  »'i<;i'ntlicij  pliilosopiiischü  Unind- 
wissenschafton  bleiben  Lo^ik  und  Erkenntnistheorie"  (2;3(t),  \v»'lrhe  zwischen 
AVissen  und  (Hauben  die  (Iren/e  /.ielu-n.  Der  Metaplivsik,  die  nicht  auf 
Wissen,  sondi-rn  auf  (.Hauben  biTuht,  ,i;-e^i'niiber  ist  wohl  „diT  Ajj^nosti/.is- 
nius  der  ric'htiü;e  Standpunkt  für  tlie  Wissenschaft.  al)er  dem  fühlenden 
und  wollenden  Menschen  will  er  nur  selten  beha<i,-en  .  .  .  Bleil)t  auch  die 
Wahrheit  in  ewi-;t's  Ounkid  gehüllt,  ist  auch  für  die  Wissenschaft  Meta- 
physik nichts  als  Triuunerei:  auch  das  Träumen  ist  der  Menschheit  not- 
wendiii,-  und  wertvoll"  c^'dl).  —  Köuli?,  i^-  v.  llartmanns  KatejL;-orien- 
lehre.  236.  244:  Kant.  —  VorläiuU'r.  liezensionen  von  Geyer.  „Schiller", 
Tumarkin.   „Herder  und  Kant".  Neuendorff.   „Kants  Ethik". 

Vierteljahrsschrilt  für  wissenschaftliche  Philosophie  (herausg.  von  Fr. 
Carstanjeu  und  O.  Krebs).     Leipzig-,  Keisland. 

XXI  (1897).  H.  4.  Schwarz,  II.,  Erkenntnisstheoretisches  aus 
der  Jleligionsphilosophie  Thieles.  S.  475  ff.,  4'.>1  f.  über  die  Stellung 
Thieles  zu  Kant  in  der  Lehre  vom  Gegenstand  und  vom  Apriori. 

XXII  (1898),    H.  1—8.     Carstanjen,  Fr..    Der    Empiriokritizismus. 

—  H.  2.  Barth.  P.,  Zum  100.  Geburtstage  Auguste  Comtes.  —  In 
einer  Besprechung  von  Jodls  „Lehrbuch  der  Psychologie"  durch  H.  Uört- 
din^  wird  S.  225  auch  Kants  berühmtes  Beispiel  von  den  100  inriiilichen 
und  den  100  .wirklichen  Thalern  eingehend  erörtert.  --  H.  4.  v.  Scliubert- 
Sohlern.  H.,  Über  das  Unbewusste  im  Bewusstsein.  „Der  Versuch 
dieser  Lr>sung  meines  Problems  erfolgt  teils  im  Anschluss,  teils  im  Gegen- 
satz zu  Kants  transsceudeutaler  Deduktion  der  reinen  Verstandesbegriffe. " 

—  Eisler.  R..  Über  Ursprung  und  Wesen  des  Glaubens  an  die 
Existenz  der  Aussenwelt  (mit  bes.  Berücksichtigung  der  „Beziehung 
der  Vorstellung  auf  einen  Gegenstand"). 

XXIII  (1S99).  H.  1  (jetzt  herausgegeben  von  P.  Barth),  v.  Kries.  .)., 
Zur  Psychologie  des  Urteils.  —  Posch,  E..  Ausgangspunkte  einer 
Theorie  der  Zeitvorstellung  1.  67  ff.:  Ausführliche  Kritik  der  Kanti- 
schen Lehre  von  der  Zeit.  —  Barth.  P.,  Die  Frage  des  sittlichen 
Fortschritts  der  Menschheit.  —  KrueJier,  F.,  Besprechung  von 
Cornelius,  Psychologie  als  Erfahrungswissenschaft.  121:  Kants 
Stellung  zur  Psvchologie. 


*& 


Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie  (hersg.  von  L.  Stein).  Berlin, 
Reimer. 

IV  (1897/98).  H.  1  und  2.  Speck,  J.,  Bonnets  Einwirkung  auf 
die  deutsche  Psychologie  des  vorigen  Jahrhunderts.  S.  211: 
Unterbrechung  der  Entwickelung  der  empirischen  Psychologie  durch  das 
Erscheinen  der  Kr.  d.  r.  V.  —  H.  4.  Dilthey,  W.,  Jahresberichtüber  die 
nachkantische  Philosophie.  S.  563  f.  und  564:  Maine  de  Birans,  565: 
Hamiltons  und  AVhewells  Beziehungen  zu  Kant. 

V.  H.  1.  Schmekel,  P..  Jahresbericht  zur  Geschichte  des 
Positivismus.  102:  Spencers  Stellung  zu  Kant.  111:  Spencers  Wider- 
legung des  Idealismus.  —  Über  die  Kantlitteratur  von  1887—97  giebt  eine 
gute  Übersicht  das  von  Dr.  Ch.  Schitlowsky  sorgfältig  bearbeitete  Register 
zu  Band  1-  X  des  Archivs  f.  G.  d.  Ph.  —  H.  2  (1899).  Natorp,  Unter- 
suchungen über  Piatos  Phaedrus  und  Theätet.  —  Wintzer,  Die 
ethischen  Untersuchungen  L.  Feuerbachs.  195  f.:  Feuerbachs  Gegner- 
schaft gegen  die  „idealistische  Selbsttäuschung  der  Kantischen  Moral". 


Zeitschriftenschau.  1  ;j  { 

Archiv  für  systematische  Philosophie    (hersg.  von  P.  Natorp).    Berlin, 
Reimer. 

IV,  H.  1—3.  Koch.  E..  Ritharil  Avenarins'  Kritik  dtr  reinen 
Erfahrung.  —  H.  1.  Kleinpeter.  H.,  Die  Entwickelung  des  Ranra- 
und  Zeitbegriffes  in  der  neueren  Mathematik  und  Mechanik 
und  seine  Bedeutung  für  die  Erkenntnistheorie.  Gegen  die  Apriori- 
tät  von  Raum  und  Zeit,  und  besonders  gegen  den  „schrmen  Wahn  einer 
wenigstens  teilweise  apriorischen  Naturwissenschaft"  (48),  durchgehends 
mit  Be/.ieluing  auf  Kant.  —  Uauiiianii.  .1.,  Über  Ernst  Machs  philoso- 
phische Ansichten.  48  ff.:  Kausalität;  66  f.:  Substanz- oder  Dingbeji;riff. 
Baumann  verwirft  den  Machschen  „Empfindungsphänonienalismus",  welcher 
das  Kantische  Ding  an  sich  gänzlich  eliminiert.  —  H.  2.  Zahltleisch,  J., 
Über  Analogie  und  Phantasie.  --  Stein.  L.  AVesen  und  Aufgabe 
der  .Soziologie.  —  H.  8.  von  (Irot,  N.,  Die  Begriffe  der  Seele  und 
der  psychischen  Energie  in  der  Ps3'chologie.  265:  Einfluss  Kants 
auf  die' Psychologie;  328:  „Metaphysik  im  Kantischen  Sinne":  32i):  „Anti- 
nomie" ini  Be;,niff  der  Kraft übertraf^iing.  —  H.  4.  Herj;niann.  .1.,  Seele 
und  Leib.  —  Lijtps.  Th..  Besprechungen  von  E.  Kühnemann,  Kants 
und  Schillers  Begründung  der  Ästhetik  und  J.  G  oldf  riedrich, 
Kants  Ästhetik,  S.  455 — 464. 

V,  H.  1.  Berfjniann,  Seele  und  Leib.  S.  57  ff. :  Der  Raum  und  die 
sekundären   (^»ualitäten.  —  V.  Hartinann,  E.,   Die  allotrope  Kausalität. 

The  Philosop^\.cal  Review  {Editors:  J.  G.  Schumi  an,  J.  E.  Creighton, 
.1.  .Setli        New   York,  Macmillan. 

VII,  6.  Setli.  .!.,  Scottish  Moral  Philosoph}',  S.  575,  Hume  und 
Kant;  S.  676  f.:  Die  schottische  Philosophie  und  Kant.  —  Robins,  E.  P., 
Modern  Theories  of  Judgment,  S.  593  ff.:  Kant  und  Hume.  —  Stanley, 
H.  M..  Space  and  Science,  S.  618  f.:  Kants  Lehre  von  der  Subjektivität 
des  Raums  bekämpft  durch  eine  ph3sikalische  Raumtheorie  und  die  nicht- 
euklidische Geometrie.  —  Coe,  G.  A.,  Rezension  von  „L'annee  philo- 
sophicjue"   1897  (speziell  Renouviers  Gottesbegiiff). 

VIII.  1.  Schuniian.  ,1.  (i.,  Kant's  Theory  of  the  a  priori  Forms 
of  Sense.  Diese  Abhandlung  gehört  zu  der  Serie  bedeutender  Artikel, 
deren  Besprechung  Creighton  ^Kantstudien"  111,  S.  157  begonnen  hat. 
.Vuch  über  den  vorliegenden  Aufsatz  wird  derselbe  später  referieren.  — 
Lloyd.   .\.  H..  Time  as  a  Datum  of  History. 

^'lll,  2.  Lelevre.  A.,  The  significance  of  Butlers  View  of 
Human  Nature,  S.  142  ff. :  Kant  und  Butler.  Gegen  die  rationalistische 
und  rigoristische  Ethik  Kants.  —  WatPrnian.  >V.  B.,  Rare  Kant  Books. 
Eine  Liste  von  Büchertiteln  aus  der  Harvard  University  und  benachbarten 
Bibliotheken;    in    der  That    finden    sich   hier  mehrere  sehr  seltene  Werke. 

The  Monist  (Editor:   Dr.  P.  Carus).     Chicago,  The  Open  Court  Publ.  Co. 
VIll  (1898»,  H.  2.    rowcll.  .1.  AVesley,  The  Evolution  of  Religion. 

-  Lloyd  Morgan.  ('..  Causation.  Physical  and  Metaphy sical.  Morgan 
-licht  eine  \'ermittlung  zwischen  Humes  und  Kants  Kausaltheorien.  — 
Carus.  1'.,  On  the  Philosophy  of  Laughing,  265:  Kants  Theorie  des 
Lächerlichen.  —  Eucken.  R.,  On  the  Ph  i  losop  hical  Basis  of  Christia- 
nity  in  its  Relation  to  Buddhism. 

VIII,  H.  3.    Dewey,  J.,  Evolution  and  Ethics.  —  Jones.  E.  E.  C,  An 

A  s p  e  c t  o  f  A 1 1 e  n t i  o  n.  —  Carns.  P..  T  h  e  I^  n  m  a  t  e  r  i  a  1  i  ty  o  f  S  o  u  1  a  n  d  (J  o  d. 

VIII,  H.  4.     Lloyd    Mor;;au.    ('.,    The    Philosophy    of    Evolution. 

—  Tarns,  P.,  Gnosticism  in  its  Relation  to  Christianity. 

IX,  Tl  1.  I'oincare.  H..  On  the  Fundations  of  Geometry.  — 
("arus.  r..  God.  Mit  vielfacher  Rücksicht  auf  Kant,  speziell  S.  115  f.: 
Der  Begriff  „ideal"  bei  Kan^. 

9* 


i;^.)  Zeitaohriftenächan. 

IX.  H.  ->.  Jackson.  A.  V.  Williams,  Oriim/il,  er  ihr  AiuiiMit  Per- 
sian  Ideu  of  Cod.  —  Sliiitli.  (Hi\i'r.  II.  V..  Evolution  a  lul  Conscious- 
i^pss.  —  .\nerktMiiu'mlt'  Bis|>it'clnin.i;on  des  Paulsonschen  neuen  Kant- 
bui-hes  von  V.  .hüll  un.l  1'.  Carus.  Let/.teror  betont  den  Wert  des  Buche!- 
für  England   und   Amerika   und   wüi^sciit  eini>   enfj;IischB    UberHetzung. 

Revue    Thomiste  (Oir.:    K.  P.  Coconnier.  O.   P.).     Paris.    '222,    Faubourg 
St.-Honore. 

V.  6  (180S>.  Michel,  L<'  systrme  deS])ino7,a  au  point  de  vue  de 
la  iosjique  formelle.  —  Scriillaii':;cs.  La  preuve  de  1 C  x  istence  de 
Dieu'et  leternite  du  Monde.  —  Miellc,  La  Matiere  premiere  et 
l'etendue    (Forts,   m  VI.   1). 

VI.  1.  Scilwalin,  1  ndi  v  idualisme  et  Solidarite.  —  VI.  2.  (iui'llcil, 
Les  exigences  objectives  de  T^action".  —  VI.  2.  21'.)  ff.:  Be- 
sprechung der  „Knntstudien".  —  VI.  4.  Villanl,  Objet  du  savoir 
divin.  —  VI.  6.  Moiitaj;iic,  Origine  de  la  Societe.  —  Scliwalm,  Le 
Dogmatisme  du  coeur  et  celiii  de  l'esprit.  —  Muimviick.  Les 
cer'titudes  de  l'experience.  -  Foljjhcra.  Quest-ce  que  la  logi(iue7 
(632  ff.:  Kant).  —  VI,  6  (1899).  Muinivnck,  La  conservation  de  l'ener^ie 
et  la  liberte  morale.  —  Ein  Bericht  von  Spi'fillaiijros  über  einen  \  ov- 
trao-  des  Abbe  Denis:  La  question  apologeti'pie.  ^Vir  entnehmen  daraus 
die'^  charakteristische  Stelle:  „La  pensee  philosophique  subit  une  crise; 
nous  sommes  malades  depuis  Kant.  Or,  ce  serait  desesperer  de  1  esprit 
humain  et  connaitre  bien  peu  son  histoire,  que  de  ne  pasprevoir  pour 
bientöt  nne  rcaction  puissante.  L'intellectualisme,  vivifie  et  enrichi 
de  ce  (lu'il  }•  avait  de  bon  dans  les  doctrines  issues  du  Kantisme.  rede- 
viendra  —  cest  notre  conviction  tres  ferrae  —  la  loi  et  les  prophetes  de 
la  pensee"  (773). 

VII.  1.  Folghera.  La  Deduction  dans  les  Sciences  induc- 
tives.  —  Ganleil,  Laction:  Ses  ressources  subjectives.  —  Baudin, 
LActe  et  la  Puissance  dans  Aristote. 

Revue  Neo-Scolastique  (Dir.:  D.  Mercier).  Louvain,  1,  rue  des  Flamands. 

V  (1898)  1.  Mercier.  La  Philosophie  de  Herbert  Spencer,  — 
Descamps.  La  Science  de  l'ordre.  —  De  Lantsheere,  Devolution 
moderne  du  droit  naturel.  —  Tlliery,  Was  soll  Wundt  für  uns 
sein?  —  V,  2.  Ermoni,  Le  Thomisme  et  les  Resultats  de  lapsycho- 
logie  exp^rimentale.  —  Pasquier.  Les  hypotheses  cosmogoniques. 
—  De  Wulf,  Qu'est-ce  que  la  philosophie  scolastiqne?  —  Besse, 
Leon  Olle-Laprune.  —  Kys,  La  nature  du  compose  chimique.  — 
Mercier  La  Psychologie  de  Descartes  et  l'anthropologie  sco- 
lastique.  —  V,  3.  Thierv,  Quest-ce  que  l'art?  Ferreira.  La  Philo- 
sophie thomiste  en  f>ortugal.  —  V,  4.  Hnys,  Le  notion  de  sub- 
stance  dans  la  philosophie  contemporame  et  dans  la  philo- 
sophie scolastique.  Kant,  Paulsen  und  Wundt  werden  berücksichtigt. 
Die  Kritik  ihrer  „conceptions  etranges"  konzentriert  sich  m  dem  Gedanken, 
dass  die  Bewusstseinsphänomene  zur  Voraussetzung  haben  em  nicht- 
phänomenales „suiet  en  qui,  et  principe  par  qui  les  phenomenes  se  pro- 
duisent,  c'est-ä-dire  une  substance"  (369).  —  Mivart,  L  utilite  explique- 
t-elle  les  caracteres  specifiques?  —  De  Craene,  La  croyance  au 
monde  exterieur.     Mit  Beziehung  auf  Taine  und  Mill. 

VI  (1899),  1.  3Iercier,  Le  Positivisme  et  les  verites  neces- 
saires  des  m'athematiques.  —  Ermoni,  Le  Phenomene  de  l'as- 
sociation.  -  De  Wnlf,  La  Synthese  scolastique.  —  Lehrun,  La 
Reproduction. 

Przeglad    Filozoficzny    (Philosophische    Rundschau).      Warszawa,    uhca 
Krucza  46. 


Zeitschriftenschau.  133 

I,  2.  Massonius.  Marian.  I>fT  Rationalismus  in  der  Kant  i  sehen 
Erkenntnistheorie  (siehe:  „Kantstudien"  111.  S.  464).  —  Biegaiiski, 
Wladislaw.  Der  logische  Gedankenfortschritt  und  die  Ideen- 
association.  —  1,  2  u.  3.  Abramowski.  Eduard.  Die  beiden  Seiten 
der  Wahrnehmung.  —  1.  3.  Kodis.  Josepha.  Biologische  Probleme 
der  Psychologie.  —  1,  4  und  II,  1.  Chniiflowski.  P.,  Die  philo- 
sophischen Ideen  Mickiewicz".  Eine  eingehende  Studie  über  den 
mystisch-religi(">sen  polnischen  Dichter.  Hauptsächlich  im  fünften  Kapitel 
kommen  die  Beziehungen  zu  deutschen  Philosophen  zur  Sprache  (11.  1. 
S.  3s — 66);  diejenigen  zu  Kant  (S.  42  ff.)  liegen  besonders  auf  dem  Gebiet 
der  praktischen  Philosophie.  Inniger  sind  die  Einwirkungen,  die  Mickie- 
wicz  von  den  Denkern  der  Romantik  erfahren  hat;  vergl.  S.  46 — 55. 

II.  1  und  2.  Heinrich.  Wladislaw.  Physikalische  Begriffe  und 
Prinzipien  in  ihrer  Beziehung  zur  Piiilosophie.  — 11,2.  Kozlowski. 
Wl.  M..  Psychologische  (^»uellen  einiger  Naturgesetze.  Das  vor- 
liegende Heft  enthält  nur  den  ersten  Teil  der  auf  Grund  umfa.ssenderLitteratur- 
kenntnis  abgefassten  Abhandhing.  Besonders  im  einleitenden  Kapitel 
findet  Kant  eingehende  Berücksiclitigung,  namentlich  in  Bezug  auf  seine 
Lehre  von  den  Analogien  der  Erfalirung. 

Als  Ergänzungshefte  sind  erschienen  eine  Abhandlung  von  Mieckie- 
wicz  über. Jacob  Boehme  in  französischer  Sprache  mit  polnischer  Über- 
setzung von  P.  Chmielowski.  sowie  Du  Bois-Reymonds  bekannte  Vor- 
träge: „Die  Grenzen  der  Naturerkenntnis"  und  „Die  sieben  Welträtsel"  in 
polni.scher  Übersetzung  von  M.  Massonius. 

II  Nuovo  Risorgimento  (Editore:  L.  M.  Billia).  Torino,  Corso  Vin- 
zaglio  7. 

VlI  (1897).  10 — 12.  Billia,  Di  alcune  contraddizioni  del  neo- 
tomismo.  —  Lilla,.  Delhi  genealogia  delle  idee.  —  Calzi,  Rosmini 
nella  präsente  questione  sociale. 

Vni  (1898).  1.  Billia.  L'unita  dello  scibile  e  la  filosofia  della 
morale.  —  VIll.  2— 3.  Billia,  Una  fissazione  hegheliana.  —  Vlll.  4. 
Billia,  Taine  contro  le  idee.  -  VIIT,  6.  Billia,  11  dolore  nell'  edu- 
cazione.  —  Vlll,  8.  (ierini,  Le  idee  educative  di  G.  B.  Vico.  — 
Vlll,  12.     Calzi.    Impronta    della    razionalita. 

IX  (1899),  1.  Zanchi.  Positivismo  e  metafisica:  punto  fon- 
damentale  del  loro  divario.  —  IX.  2.  (ieriiii.  Le  dottrine  peda- 
gogiche  di  Tommaso  Campanella.  —  Billia,  Un  programma  din- 
segnamento  di  filosofia. 

The  New  Philosophy.     Ed.  Rev.  John  AVhitehead.     Urbana  (Ohio). 

1,  i_io.  Sw  tdenborgs  Philosophy.  —  The  Distinctness  and  Necessity 
of  Swedenborgs  Scientific  System.  —  'Darwins  Facts  illustrating  Sweden- 
borg's  Philosophy.  —  Physi'ological  Light.  —  The  origin  of  Matter.  — 
Three  discrete  kinds  of  .substance.  —  11,  1 — 3.  The  Philosophy  of  Edu- 
cation.  —  Psychology  without  a  Psyche.  —  Swedenborgs  Corpuscular 
Philosophy. 


i;'i4  Mitteilunf,'on. 


MitteilunR'en. 


Kant  und  Swedenborg. 

Über  ilas  W'iliältius  Kants /u  Swedcnborfi;  ist  noiicnlin^^s  in  A  nici  ika 
viel  geschrieben  wordon  und  /.wai-  speziell  seitens  der  Anliitnpjer  der 
Swedenborjxsrhen  Rielituni;-,  weicht'  daselbst  mehrere  Zeitsclirit'ten  besitzt, 
so  ,,The  New  Philosupli y,  a  Journal  devoted  to  tlie  exposition  of  tiie 
rthilosophv  presented  in  the  scientil'ic,  philosophical  and  theolo^ical  works  ol' 
Eman.  Swedenborj^"  (Urb.,  Ohio),  ferner  „The  New  Chureh  Messenjijer" 
und  „The  New  Chiirch  Review-"  (Boston,  Mass.)-  Inder  letztp^enannten 
Zeitschrift.  IV.  2,  S.  267— 'JöS  steht  ein  Artikel  von  A.  Kdniunds:  „Time 
and  Space,  Hiuts  given  by  Swedenborg  to  Kant"  (vgl.  dazu  Philos.  Review, 
VII.  664),  ferner  in  IV,  8,  S.  361— 379,  eine  Abhandlung  von  Th.  Wright 
und  ^1.  Nyren:  „Swedenborg  and  the  Nebular  Ilypothesis,  l.  Priority  to 
Kant  and  others."  By  Th.  F.  Wriglit.  II.  „Tlie  Judgment  of  the  Astronomer 
Nyren."  Trauslated  by  F.  Sewall.'j  Von  dem  letzteren  findet  sich  im 
Oktoberheft  derselben  Zeitschrift  (V,  4)  ein  längerer  Artikel:  8 e  wall,  V., 
„Kant  and  Swedenborg  on  Cognition".  Da  voraussichtlich  in  einem 
der  nächsten  Hefte  Professor  Heinze  sich  des  AVeiteren  über  das  Ver- 
hältnis von  Kant  und  Swedenborg  auslassen  wird,  begnügen  wdr  uns  mit 
einigen  kurzen  Hinweisen  auf  den  Inhalt  des  Artikels.  Der  Verf.  desselben 
geht  seiner  Richtung  gemäss  in  der  Identification  Kantischer  Lehren  mit 
Swedenborgischen  viel  zu  weit.  Der  Herausgeber  dieser  Zeitschrift  hat 
sich  an  verschiedenen  Orten,  so  in  seinem  Kommentar  zu  Kants  Kr.  d.  r. 
Y..  II,  143  N.,  345.  431  N.,  bes.  612  ff.,  .sowie  in  Steins  Arch.  f.  Gesch.  d. 
Philos.,  IV.  722  f.,  und  Vlll,  425.  555  ff.  zu  dieser  Frage  geäussert.  Derselbe 
ist  der  Anschauung,  dass  ^  eine  Beeinflussung  Kants  durch  Swedenborg 
keineswegs  a  hmine  abzuweisen  sei,  dass  vielmehr  deutliche  Spuren  einer 
solchen  nicht  abzuleugnen  seien.  Sewall  citiert  diese  Stellen  beifällig,  über- 
schätzt jedoch  in  seiner  Auffassung  des  fraglichen  Verhältnisses  diesen  Ein- 
fluss  bedeutend.  Er  bespricht  besonders  den  Zusammenhang  der  „Träume 
eines  Geistersehers"  mit  der  Dissertation  von  1770.  Die  Hauptpunkte,  in 
denen  Sewall  Kants  Abhängigkeit  von  Swedenborg  zu  erkennen  glaubt, 
sind:  „I.  Doctriue  of  time  and  Space  as  mental  forms;  II.  of  the  reason  as 
regulative  and  not  creative;  III.  of  its  function  as  a  mediator  between  the 
nattiral  and  Spiritual  planes  of  the  mind"s  activity;  IV.  of  reality,  or  the 
noumenon,  as  belonging  to  a  degree  of  being  discrete  from  that  of  the 
phenomena  of  matter,  the  Ding  an  sich  of  Kant  being  the  spiritual  sub- 
stance  of  Swedenborg  (491  f.).  Für  den  ersten  der  genannten  Punkte,  die 
Subjektivität  von  Raum  und  Zeit,  beruft  sich  Sewall  auf  eine  Schrift 
Swedenborgs  vom  Jahre  1769  (494),  in  der  er  eine  augenfällige  Über- 
einstimmung mit  Kants  Lehre  von  1770  findet.  Zu  bemerken  ist  endlich, 
dass  der  Verfasser  aus  den  von  Heinze  herausgegebenen  Vorlesungen  Kants 
über  Metaphysik  (498)  die  wichtigsten  Stellen  anführt,  aus  denen  hervor- 
geht, dass  Kant  trotz  aller  Negation  auch  später  eine  gewisse  Wert- 
schätzung für  Swedenborgsche  Ideen  besass. 


1)  Derselbe  hielt  in  Wasliiagton  im  Dezember  1898  und  Januar  1899  sieben  Vorträge 
über  Swedenborg,  in  denen  er  auch  Kants  Verhältnis  zu  Sweden>)org  behandelte.  Bei 
dieser  Gelegenheit  sei  erwähnt,  dass  auf  dem  diesjährigen  Meeting  der  ..Swedenborg 
Scientific  Association"  in  New  York.  13.— 14.  April  1899.  Dr.  Kiborg  M  a  n  n ,  of  the  Uuiver- 
sity  of  Cliicago,  einen  Vortrag  gelialten  hat:  ..Wherein  do  the  Nebular  Hypotheses  of 
Kant,  Laplace  and  Swedenborg  diifer:" 


Vari.a.  135 


Varia. 

Voi'l«'suiii;«Mi  üImt  Kant 

im  Sommersemester  1899. 

I.  (Nach  den  „Hochschulnachrichten".) 

Berlin:   I'aulsen,  Übungen  über  Kants  Kr.  d.  V.  (2). 

Bonn:   Kidniann.  Kants  Kritizismus  (4). 

Breslau:  Bafumker,  Gi-sch.  d.  neueren  Philos.  seit  Kant  ("J).  —  Ebbing- 
haus.  Leben  und  Lehre   Kants  (2). 

Erlangen,  Freibxirg  i.  B.:  Keine. 

Giessen:  Kinkrl.  (usch.  d.  Philos.  v.  Descartes  bis  Kant  ;incl.)  (2).  —  D er- 
st'Ibe,  Übungen  über  Kants  Prolegomena  (1). 

Göttingen:  Peipers,  Kants  Kritizismus  (1). 

Greilswald:  Keine. 

Halle -Wittenberg:  Reischle,  Die  Hauptrichtungen  der  Religionsphilos. 
^(•it   Kant  (1).   —   Haym,  Übungen    über  Kants  Prolegoniena  (2). 

Heidelberg:  Keine. 

Jena:   Eucken,  Gesch.  d.  Philos.  v.  Kant  einschl.  bis  zur  Gegenwart  (3). 

Kiel:   Martins,   Übungen  über  Kants  Prolegomena  (1). 

Königsberg:  Walter,  Übungen  über  Kants  Kr.  d.  Urteilskraft  (2). 

Leipzig:  Ri(;hter,  Gesch.  d.  neueren  Philos.  bis  auf  Kant  (2).  —  Barth, 
Übungen  über  Kants  Kr.  d.  ürt.  (l'/a). 

Marburg:   Kühnemann,  Schillers  philos.  Schriften  und  Gedichte  (1). 

München:  Keine. 

Münster:  Kappes,  Übungen  über  Kants  Kr.  d.  r.  V.  (2). 

Rostock:   Krhardt,  Übungen  über  Kants  Kr.  d.  r.  V.   (2). 

Strassburg:  Ziegler:  Übungen  über  Kants  Kr.  d.  pr.  V.  (l'/a)- 

Tübingen:  Spitta,  Übungen  über  Kants  Kr.  d.  r.  V.  mit  ausführlicher 
Einleitimg  in  die  Philos.  Kants  und  die  Knntfrage  der  Gegen- 
wart (2). 

Würzburg:  Keine. 

Czernowitz:  Wähle,  Nachkantische  Philosophie  (3). 

Graz:    Keine. 

Innsbruck:  Hiliebrand,  Interpretation  von  Kants  Kr.  d.  r.  V.  (2). 

Prag:    Keine. 

Wien:  Jodl.  Lektüre  und  Interpretation  der  ethischen  Schriften  Kants  (1). 
—  ^lüllner,  Meta|)ii.  Kosmologie  mit  besonderer  Berücksicht.  d. 
Kant-Laplaceschen  llypotlu'se  und  der  Darwinschen  Selections- 
lehre  (4). 

Basel:  Vischer.  Übungen  über  Kants  Religion  inn.  d.  Gr.  d.  bl.  V.  (1). 

Bern:  Stein,  Gesch.  d.  neueren  Pliilos.  bis  Kant  (3). 

Genf.  Lausanne.  Neuchätel:  Keine 

Zürich:  Kyni,  Pliilus.  v.  Kaut  bis  Hegel  (2).  —  Meumann.  Gesch.  d. 
neueren  Philos.  bis  Kant  (3). 

(Nachtrag  zum  W.  S.  1898/1899:    Stadler,    Leetüre  ausgew.  Abschn. 

a.  Kants  Kr   d.  r.  V. 

IL  (Nach  sonstigen  Nachrichten.) 

Budapest:  Alexander.  Philos.  Übungen  über  Kant.  —  Bänöczi,  Con- 
versatorium    über  Kants  Kr.  d.  r.   V.  nebst   einer  Einleitung   über 


Kants  Leben  und  System. 


e> 


\•M^ 


\'aria. 


Ithaca.  ('<Miu-ll  LIiiivfr><itv:  AlbiM«,  Kiiiiiiricism  und  Rationalism.  Thu 
ooiirso  is  intcndi'il  as  a  pri'paiat.ion  for  tlu'  stiidv  of  Kant's 
Criti(iuo  of  Pure  Renson.  —  Albee:  The  criticil  FMi  i  1  usopli  y 
of  Kant.  The  ^reater  part  of  the  year  will  ht-  ih'voted  to  the 
carefnl  stiulv  of  the  Criti(iiie  of  Pmc'Rfason,  MillliTS  translation, 
Fretiuent  reK'renees  will  he  fi;iven  to  Standard  (•onnnfiit arics  and 
to  the  nioie  recent  literature  on  the  snhject.  Toward  tiic  t-nd, 
the  atteiupt  will  be  made  to  show  tlie  relation  in  whic.h  tlie  three 
(Viti.iTU's  of  Kant  stand  to  earh  other.  —  Creighton,  Post- 
Kant  i  an   Idealism. 

New  York,  New  York  University:  Weir.  Gernian  Philosophy  since 
Kant.  The  historv  of  philosophir  tliouf^ht  in  C.ermany  since 
the  appearance  of  the  „Criticjil  Pliilosophy  of  Im.  Kant.  Special 
attention  will  be  given  to  „schools  of  thought"  and  to  philoso- 
phiral  tendencies. 

Derselbe  hält  aucli  Vorlesungen  über  Epistemology ,  in 
denen  auch  Stücke  aus  Kant  gelesen  wx-rden;  dasselbe  ist  der 
Fall  in  den  Vorlesungen  von  Prof.  Bliss:  „History  of  modern 
Psychology." 

New  York,  Columbia  University:  Butler  (assisted  by  Mr.  Marvin),  The 
philosophy  of  Kant  and  bis  successors.  This  conrse  consists 
chiefly  of  a  detaiied  exainination  of  the  Kantian  philosophy  and 
its  results.  The  successive  topics  are:  Kants  permanent  Service 
to  philosophy;  bis  inflnence  of  modern  thought  etc. 


Königsberger   Kantgeburtstagsfeier   im   Jahre    1899.    —   Wie    die 

Königsberger  Allgemeine  Zeitung  in  den  Nummern  vom  22.  und  vom 
•>4.  April  meldet,  ist  auch  diesmal  der  Geburtstag  Kants  in  übhcher  \\  eise 
o-efeiert  worden  (vgl.  die  Berichte  in  den  „Kantstndien"  II,  872  ff.  und 
?I1  252  f  ).  Vonnittags  11  Uhr  hielt  im  Auditorium  maximum  der  Universität 
der  Professor  der  Beredtsamkeit  Arthur  Lud  wich  die  Festrede  über  Kants 
Stellung  zum  Griechentum.  Wenn  die  Rede  im  Druck  vorliegt,  werden 
M-ir  auf  sie  zurückkommen.  —  Am  ^bend  versammelte  sich  die  „Ge.sellschaft 
der  Freunde  Kants"  zum  üblichen  Bohnenmahl.  Der  Bohnenkönig,  Professor 
Dr.  Gerlach  sprach  über  den  ^Einfluss  der  Kantischen_  Rechts- 
theorie auf  die  Socialpolitik  in  ihrer  neuesten  Entwicklung". 
Auch  über  diese  Rede  werden  wir  Bericht  erstatten,  wenn  sie  gedruckt  ist. 
—  Bohnenkönig  für  das  nächste  Jahr  wurde  der  Direktor  des  städtischen 
Realgymnasiums  Wittrien,  Minister  Bürgermeister  Brinkmann  und 
Privatdocent  Dr.  Rahts. 


Druck  von  A.  W.  Havn's  Erben,  Berlin  und  Potsdam. 


L 


<^ft<^/Ui>/t^^^  ^^^^ 


Fichtes  Atheismusstreit  und  die  Kantische  Philosophie. 

Eine  Säkularbetrachtxing. 
Von  Heinrich  Rickert. 


„  .  .  hier  der  Punkt,  der  Denken  und 
Wollen  in  Eins  vereinigt,  und  Harmonie  in 
mein  Wesen  bringt." 

Fichte  1798. 


Im  Sommer  des  Jahres  1799  schied  Fichte  von  der  Universität 
Jena  nach  fünfjähriger,  ungewöhnlich  erfolgreicher  Wirksamkeit  und 
siedelte  nach  Berlin  über,  um  dort  zunächst  als  Privatmann  zu  leben. 
Eine  Anklage  wegen  Atheismus  war  es,  die  ihn  aus  dem  Lande 
Goethes  dorthin  gehen  Hess,  wo  bis  vor  kurzem  Wölluer  sein  Un- 
wesen getrieben  hatte.  Der  ,.Atheismusstreit",  der,  wie  bekannt, 
in  Deutschland  zu  seiner  Zeit  grosses  Aufsehen  erregte,  ist  inter- 
essant genug,  um  jetzt,  da  hundert  Jahre  seitdem  vergangen  sind, 
wieder  in  Erinnerung  gebracht  zu  werden. 

Fichtes  Aufsatz  „Über  den  Grund  unseres  Glaubens  an  eine 
göttliche  Weltregierung'',  der  ihm  die  erwähnte  Anklage  zuzog,  ver- 
dankt bekanntlich  einer  äusseren  Anregung  seine  Entstehung. 
Von  Forberg  war  ihm  für  sein  „Philosophisches  Journal"  eine  Ab- 
handlung über  die  „Entwicklung  des  Begrifies  der  Religion'"  ge- 
schickt worden,  der  er  nach  dem  Stande  seiner  damaligen  Ansichten 
nicht  zustimmen  konnte.  Unterdrücken  mochte  er  die  Kundgebung 
der  fremden  Meinung  nicht,  aber  er  wollte  sie  auch  nicht  ohne 
Gegenbemerkung  in  seine  Zeitschrift  aufnehmen,  und  so  schrieb  er 
seine  eigenen  Gedanken  über  dasselbe  Problem  nieder,  um  sie  dann 
mit    denen  von  Forberg    zusammen    zu    veröffentlichen. 

Doch  nicht  von  dem  äusseren  Verlauf  der  Ereignisse  will  ich 
hier  erzählen.  Was  wir  davon  wissen,  hat  Fichtes  Sohn  bereits  im 
Jahre  1862  nahezu  vollständig  und  übersichtlich  zusammengestellt, 
und  wer  an  der  Hand  eines  Meisters  historischer  Reproduktion  sich 
den  Gang  der  Dinge  wieder  zu  vergegenwärtigen  wünscht,  tindet  in 
Knno  Fischers  Buch    über  Fichte    eine    unübertreffliche  Darstellung. 

Kantstudien  IV.  10 


i;}8  lli'iiiricli  Ulokcrt, 

\\'i>lil  al)iM-  hat  der  Atlicisiuusstn'it,  wie  ich  iilaiihc,  l'ilr  uns 
mu'h  i'in  aiuli-rcs  als  ein  historisches  liUrri'ssi',  und  /war  licsdiKh-rs 
(IrswofTcii,  weil  rr  im  cnjrstcn  sHchlichcii  Zusnmmciihanf^o  mit  der 
Kantisi'ht'u  Philosophie  steht  uml  somit  wie  alles,  was  sich  mit 
den  Gruiulfrairen  des  Kaiitischen  Denkens  berührt,  in  die  (fc;j:eiiwart 
hineinrajrt.  An  einiire  der  Nor  hundert  Jahren  erörterten  Streitpuidvte 
möchte  ich  daher  hii-r  erinnern,  die  mit  viel  behandelten  Troblemen 
unserer  Zeit  nahezu  identisch  sind,  und  zwar  will  ich  ausdrehen  von 
dem  Geg:ensatz.  in  dem  die  Ansichten  Forberp:s  und  Fichtes  zu  ein- 
ander stehen,  weil  ich  meine,  dass  in  ihnen  die  beiden  verschiedenen 
AutTassuniren  des  Verhältinsses  von  Kelif::ion  und  Erkenntnis,  von 
(Jlauben  und  Wissen  vertreten  werden,  zu  denen  allein  man  auf 
dem  Boden  der  Kantischeii  riülosojjhie  konse((uenterweise  konnnen 
kann.  Fichte  hat  sich  innner  für  den  Interpreten  Kants  gehalten,  und 
auch  Forberg  kniijit'te.  wie  er  später  in  der  „Apologie  seines  an- 
geblichen Atheismus"  erklärte,  an  Kant  an.  Es  war  seines  Erachtens 
„ein  höchst  glücklicher  Gedanke  des  Philosophen  von  Königsberg, 
für  den  Begriff  des  religiösen  Glaubens  an  die  Gottheit  die  Be- 
nennung eines  praktischen  Glaubens  in  Vorschlag  zu  bringen."') 
Zugleich  aber  meinte  er  bemerkt  zu  haben,  dass  man  Kant  häufig 
missverstand,  und  suchte  daher  durch  eine  ,, Analyse''  des  Kantischen 
Begriffs  zu  einer  unzweideutigen  Begründung  der  Religion  zu 
kommen. 2) 

Ich  beginne  damit,  zu  zeigen,  was  Fichte  und  Forberg  unter 
dem  ..praktischen  Glauben"  Kants,  und  was  sie  unter  „Weltregierung" 
oder  ,, Weltordnung"  sich  denken,  und  zwar  will  ich  diese  beiden 
Begriffe  so  von  einander  scheiden,  dass  wir  den  zweiten  als  den 
zu  betrachten  haben,  der  den  Gegenstand  des  Glaubens  oder  den 
Inhalt  der  Religion,  den  ersten  dagegen  als  den,  der  das  Prinzip 
der  Gewissheit  angiebt,  auf  welches  die  Religion  sich  stützt.  Die 
Auseinanderhaltung  dieser  beiden  Begriffe  wird  für  das  Verständnis 
des  Problems  förderlich  sein. 

I. 

Die  Gewissheit  des  Glaubens. 

1.  Forbergs  Glaube. 
Man    kann    in    den  Darstellungen    des   Atheismusstreites    lesen, 
dass    bei  Forberg  Religion    und   Moral    vollständig    zusammenfallen. 


')  Forbergs  Apologie,  S.  95. 
2)  A.  a.  0.,  S.  118. 


Fiohtes  Atheismusstreit  und  die  Kantische  Philosophie.  139 

Sehen  wir  nur  auf  den  Inhalt  oder  den  Gegenstand  seines  Glaubens, 
so  ist  das  nicht  richtig.  „Wenn  es  in  der  Welt  so  zugeht",  sagt 
er  nämlich,  ,,dass  auf  das  endliche  Gelingen  des  Guten  gerechnet 
ist,  so  giebt  es  eine  moralische  Weltregierung",  und  hiermit  geht  er 
über  den  von  ihm  aus  Kant  entnommenen  Moralbegriff  hinaus.  Mo- 
ralisch ist  nach  Kant  nichts  anderes  als  der  „gute  Wille",  und  dieser 
ist  als  solcher  immanent,  d.  h.  ob  er  auch  Erfolg  in  der  Welt  haben 
kann,  vermag  die  Moralphilosophie  für  sich  allein  nicht  zu  sagen. 
Ja,  sie  bleibt  notwendig  beim  Willen  stehen,  denn  vom  Begriff  der 
autonomen  Moral  ist  der  Begriff  eines  Erfolges  fernzuhalten,  und  sie 
kann  daher  die  Möglichkeit  nicht  abweisen,  dass  das  Gute  niemals 
realisiert  wird.  Forbergs  Glaube  dagegen,  dass  auf  das  endliche 
Gelingen  des  Guten  „gerechnet"  und  dem  guten  Willen  Erfolg  ver- 
bürgt ist,  schliesst  den  Glauben  an  etw^as  ausserhalb  des  guten 
W^illens  ein,  er  setzt  eine  aussermenschliehe,  transcendente  Macht 
des  Guten  voraus  und  enthält  somit  nicht  nur  Moral  sondern 
Religion. 

Wie  aber  stellen  sich  uns  seine  Ansichten  dar,  wenn  wir  auch 
sein  Prinzip  der  Gewissheit  in  Betracht  ziehen?  Diese  Frage  ist 
offenbar  für  die  kritische  Behandlung  der  Religion  die  erste. 
Forberg  will  ja  die  Religion  rechtfertigen.  Warum  ist  es  unsere 
Pflicht,  an  eine  moralische  Weltregierung  zu  glauben?  Worauf 
stützt  sich  die  Überzeugung,  die  ein  „praktischer  Glaube"  hat? 
Was  heisst  überhaupt  ,,praktischer  Glaube"?  Von  der  Beant- 
wortung dieser  Fragen  ist  das  endgültige  Urteil  über  Forbergs 
Religionsphilosophie  abhängig. 

Alle  unsere  Überzeugungen  schöpfen  wir  nach  Forberg  aus 
drei  Quellen,  aus  der  Erfahrung,  der  Spekulation  und  dem  Gewissen. 

Die  Erfahrung  kann  uns  niemals  an  eine  moralische  Welt- 
regierung glauben  machen.  Es  lielse  sich  aus  ihr  viel  eher  folgern, 
dafs  für  gewöhnlich  ein  böser  Genius  die  Oberhand  behält.  „Würde 
eine  Verteidigung  des  Satans  wegen  Zulassung  des  Guten  wohl 
weniger  gründlich  ausfallen,  als  die  Verteidigungen  der  Gottheit 
wegen  Zulassung  des  Bösen  bisher  ausgefallen  sind?"')  Nein,  die 
Welt  ist,  so  wie  die  Erfahrung  sie  uns  darstellt,  lasterhaft,  und  der 
Schlufs  von  dem  Dasein  einer  lasterhaften  Welt  auf  das  Dasein 
eines  heiligen  Gottes  ist  nicht  zulässig. 

Ebenso   wenig   Gewifsheit   aber   für   unsern   Glauben   giebt    uns 


1)  Philos.  Journal  17y8,  Bd.  VIII.  Heft  1,  S.  26. 

10* 


140  lliMurii'h   Kiik  f  1 1 . 

ilii-  S|)r  k  u  l:it  idu.  'J'lictMctisi'lic  \  finuiitijrrundsiit/c.  die  aiif  das 
Dasi'iii  eiiu's  moialischon  W'cltiL'ficnti'u  hchlicfsi'n  lassen,  jr^'ltcii  nicht. 
Die  mttralisi'lu'  WidtiTfriiTUiifr  lit'f:t  jt'nscits  aller  l^|■fall^llM^^  untl  ein 
Sein  aiilsi  r  der  eiiipirisehen  \Viiklu'hk('it  \frniaf:  das  tlicoretiscli«^ 
Denken  nielii  /.u  erfassen,  lieweise  lilr  das  Dasein  (Joltes  Nind  so- 
mit ilberlianpt   nnniö^^lieli. 

Danaeil  alsi»  bleibt  das  Gewissen  als  Quelle  nnserer  relifiiösen 
Uber/.euirunir  allein  tlbrijr.  Forberii-  drüekt  dies  so  aus,  dal's  er  die 
Reliirion  ..die  Frueht  eines  moralisch  ^uten  Herzens"  nennt  und 
erklärt,  sie  entstehe  „eiuzij;-  und  allein  aus  dem  Wunsch  des  ^uteu 
Herzens,  dafs  das  Gute  in  der  Welt  die  Ol)erhand  iil)i'r  das  liöse 
erhalten  möge*'.')  Inwielern  al)er  kann  ein  Wunsch  Prinzip  der 
Gewil'sheit  sein?  Ist  er  nicht  rein  individuell?  Nein,  denn  es  „ist 
kein  Mensch  so  böse,  dals  er  im  Ernste  wünschen  könnte,  das 
Böse  möchte  das  Gute  am  Ende  ganz  von  dem  Erdboden  ver- 
dräno:en".  In  Jedem  Herzen  also  ist  Kelijrion.  Al)er  auch  hiermit 
ist  doch  immer  nur  die  empirisch  allgemeine  Thatsache,  nicht  die 
Notwendigkeit  der  Religion  gezeigt.  Wie  wird  der  Glaube  zur 
Pflicht?  Jeder  der  nach  Wahrheit  strebt,  sagt  Forberg,  wünscht, 
dais  nur  noch  wahre  Urteile  in  der  Welt  gefällt  werden,  und 
wäre  dies  Ziel  erreicht,  so  gäbe  es  ein  „goldenes  Zeitalter  für 
die  Köpfe''.  Diesem  Gedanken  geht  j)arallel  die  Idee  einer 
allgemeinen  Übereinstimmung  im  Guten,  die  dem  Wunsche  ent- 
springt, dals  es  nur  gute  Menschen  geben  möge,  und  die  Er- 
reichung dieses  Zieles  würde  „ein  goldenes  Zeitalter  für  die  Herzen" 
bedeuten.  Nun  sind  zwar  beide  Ideale  niemals  zu  verwirklichen, 
aber  trotzdem  haben  wir  uns  so  zu  verhalten,  als  ob  wir  sie  er- 
reichen könnten,  ujid  ebenso  wie  die  Arbeit  an  der  Realisierung 
der  Wahrheit  nur  einen  Sinn  hat,  wenn  wir  glauben,  dem  Richtigen 
uns  zu  nähern,  ist  es,  so  wahr  wir  moralische  Wesen  sind, 
unsere  Pflicht  zu  glauben,  dals  auch  das  Gute  sich  immer  mehr 
verwirklichen  lasse. 

Auf  den  ersten  Blick  scheint  diese  Trennung  von  Kopf  und 
Herz  die  bekannte  Ansicht  zu  enthalten,  dals  nicht  nur  der  Intellekt 
unsere  Weltanschauung  forme,  sondern  dafs  auch  der  Wille  dabei 
mafsgebend  sei,  und  dals  zugleich  das  Recht  des  Willens  zur  Leitung 
unserer  Überzeugungen  begründet  werden  könne.  Ist  dies  aber 
wirklich  Forbergs  Meinung?     Will  er  sagen,  wir  dürften  und  sollten 


1)  A.  a.  0.,  S.  27. 


Fichtes  Atheisimisstreit  und  die  Kantische  Philosophie.  141 

Sätze  für  wahr  lialten,  die  sich  theoretisch  weder  beicründen  noch 
widerlegren  lassen,  weil  der  praktische  Glaube  sie  fordert?  Sehen 
wir  etwas  genauer  zu.  so  finden  wir  Forberg  von  dieser  Ansicht 
weit  entfernt,  ja  sie  scheint  ihm  gerade  das  Mifsverständnis  zu 
sein,  dem  die  Lehre  Kants  bisher  ausgesetzt  war,  und  das  er  be- 
seitigen will.')  „Es  ist  nicht  Pflicht,  zu  glauben,  dafs  eine 
raoralische  Weltregierung  ....  existiert,  sondern  es  ist  blofs  und 
allein  dies  Pflicht,  zu  handeln,  als  ob  man  es  glaubte.  In 
den  Augenblicken  des  Nachdenkens  oder  Disputierens  kann  man  es 
halten  wie  man  will''.^l 

In  voller  Deutlichkeit  zeigen  die  ,, verfänglichen  Fragen-'  am 
Schlüsse  von  Forbergs  Abhandlung  uns  seine  Meinung.  Ob  Gott  sei, 
erklärt  er  dort  für  völlig  ungewifs,  und  sagt,  man  könne  keinem 
Menschen  zumuten,  an  Gott  zu  glauben,  denn  bei  dieser  Frage- 
stellunii'  sei  Glaube  im  Sinne  einer  besondern  Art  des  Fürwahr- 
haltens  genommen.  Religion  aber  ist  lediglich  Maxime  des  Willens, 
und  alles  für  wahr  Gehaltene  an  ihr  ist  Aberglaube.  Nur  beim 
Handeln  wäre  Irreligion  Gewissenlosigkeit.  Durch  diese  Scheidung 
des  Glaubens  im  Sinne  des  Fürwahrhaltens  von  der  Religion  wird 
der  Satz  verständlich:  ein  Atheist  kann  Religion  haben.  Er  sol 
bedeuten:  auch  wer  nicht  an  Gott  glaubt,  aber  immer  so  bandelt 
als  ob  er  glaubte,  der  ist  religiös. 

Forberg  weils  selbst,  dafs  diese  Begriffsbestimmung  der  Religion 
einen  neuen  Begriff"  mit  einem  alten  Worte  verbindet,  und  wir  werden 
jetzt  sagen  können,  dafs  sein  Standpunkt  doch  ein  rein  moralischer 
ist.  Der  Glaube  an  eine  moralische  Weltregierung  ist  gewils 
religiös,  aber  nur  wenn  Glaube  eine  Art  des  Fürwahrhaltens  be- 
deutet.  Da  jedoch  Forbergs  Wunsch  des  Herzens  gerade  nicht  die 
Grundlage  eines  Fürwahrhaltens  bilden  soll,  so  ist  sein  Glaube, 
den  er  für  den  „in  sein  gehöriges  Licht  gestellten"  Kantischen 
Glauben  hält,  gar  kein  Glaube,  sondern  ein  Imperativ,  und  daher 
sein  ., Glaube"  an  eine  moralische  Weltregierung  nicht  Religion. 

2.  Fichtes  Glaube. 
Wie    verhält    sich    nun   Fichte    zu   Forbergs   Lehre?    In    vielen 


1)  Vergl.  Furbergs  Apologie,  S.  176.  „Es  war  die  Tendenz  der  ganzen 
Abhandlung  ....  den  Kantisohen  bei  weitem  nicht  immer  gehörig  gefafsten 
Begriff  in  sein  gehöriges  Licht  zu  stellen". 

2)  Philos.  Journal,  a.  a.  0.,  S.  38.  In  der  „Apologie"  S.  176  f.  beruft 
sich  Forberg  für  diese  Ansieht  ausdrücklich  auf  einen  Satz  von  Kant,  in  dem 
auch  von  einem  ,,ims  so  zu  verhalten,  als  ob"  gesprochen  wird. 


142  lli'iuric'h  Kic'koil, 

lilk'ksii'hti'ii.  fiklärl  er.  stiiiiiiit'  sie  mit  st'incr  ci^^cMrii  l'borzt'iij^iin}:; 
Uhrifiii.  in  aiulficr  llinsii'ht  da^'t'jrt'n  siifrt  er.  dass  sie  sriiitT  Moi- 
uiiii-  nit'lit  sowohl  cntiri'iroii  sj'i,  als  niij'  (lifscllic  iiirlii  fiiriclH'. 
\\\v  halx'ii  (las  so  /,u  vcrstolicn.  dass  Ku'htc  mit  Idilifiir  im  wcsciit- 
lii'licii  iUu'rt'instimmt  in  Hc/.ujr  aul'  »Ich  Inhalt  udcr  den  (J('<;;('nstan(i 
(li's  (ilaul)ons.  dass  ihm  dap'jrcn  das  ForluTj^scIu'  rrin/ip  der  (Icwiss- 
ht'it  durchaus  nicht  iri'niijrt.  Darauf  allein  kann  sich  das  so  viel- 
fach  missviTstandonr   ..Nichtcrreichen"  beziehen. 

Wir  verfolgen  nun  das  \  erhältnis  der  lu'idcn  Ansichten  im 
ein/elnen.  Fichte  setzt  wie  Fori)er^  die  (lotlheit  der  moralischcü 
Weltordnunir  irleich  und  {;eht  damit  über  das  rein  Moralische  hinaus 
zum  Kelijjiosen.  In  seinen  sjjäteren  Streitschriften  hat  er  den  Unter- 
schied von  Moral  und  Relijrion  ausführlich  darj^ele^t.  Unter  morali- 
schen Gesichtspunkten  konnnt  es  auf  „das  blosse  Wollen  als  innere 
Bestimmunsr  meiner  Gesinnung:"  an,  und  ,,\venn  du  bloss  und  lediglich 
Wille  wärest.  ...  so  möchtest  du  etwa  sittlich  wollen,  und  damit 
wäre  alles  zu  Ende  .  .  .  Nun  bist  du  zugleich  Erkenntnis  .  .  . 
und  wenn  du  nun  .  .  .  dein  W^ollen  betrachtest,  so  wird  es  dir 
als  vernunftwidrig-  erscheinen,  wenn  es  dir  als  zwecklos  und  folgen- 
los erscheint,  und  zugleich  wird  das  Gebot  dieses  WoUens  dir  als  ver- 
nunftwidrig erscheinen.''')  Wir  müssen  daher,  so  wahr  wir  sittlich 
wollen,  annehmen,  „dass  jede  wahrhaft  gute  Handlung  gelingt,  jede  böse 
sicher  raisslingt."  Es  giebt  demnach  nicht  nur  guten  Willen,  sondern 
einen  Weltplan,  ohne  den  „kein  Haar  fällt  von  seinem  Haupte,  und 
in  seiner  Wirkungssphäre  kein  Sperling  vom  Dache. "^l  Das  ist  ge- 
wiss mehr  als  Moral,  das  ist  Religion. 

Auch  in  Bezug  auf  das  Prinzip  der  Gewissheit,  das  der  Glaube 
besitzt,  geht  Fichte  mit  Forberg  in  einer  Hinsicht  durchaus  zu- 
sammen: Beweise  für  den  Glauben  giebt  es  nicht,  ja,  jeder  Ver- 
such eines  Beweises  muss  uns  sogar  von  Gott  wegführen.  Wir 
können  die  Siimenwelt  vom  Standpunkte  der  Naturwissenschaft  oder 
vom  transcendentalen  Gesichtspunkt  aus  betrachten,  in  beiden  Fällen 
findet  der  Gottesbegritf  keinen  Platz.  Naturwissenschaftlich  ange- 
sehen ist  die  Welt  so,  wie  sie  ist,  eben  weil  sie  so  ist,  d.  h.  Sein 
und  Welt  fallen  zusammen,  sie  sind  in  sich  selbst  begründet  und 
in  sich  selbst  vollendet,  und  es  giebt  da  nur  immanente  Gesetze. 
Die  Erklärung  der  Welt  aus  Zwecken  einer  Intelligenz  ist  vom 
Standpunkte  der  Naturwissenschaft    ,, totaler  Unsinn."     Ebensowenig 


1)  Vergl.  „Au3  einem  Privatsehreiben."     S.  W.,  V.,  S.  892  f. 

2)  Über  den  Grund  unseres  Glaubens  u.  s.  w.     S.  W.,  V.,  S.  185. 


Fichtes  Atheismusstreit  und  die  Kantische  Philosophie.  143 

aber  erreichen  wir  durch  die  transcendentale  Betrachtung  der  Sinnen- 
welt. Die  Natur  besteht  dann  zwar  nicht  mehr  als  absolutes  Sein 
sondern  ist  eine  Auffassung  des  Intellekts.  Aber,  auch  so  angesehen, 
ist  die  Welt  etwas  in  sich  geschlossenes,  und  so  lange  wir  auf  rein 
theoretischem  Boden  bleiben,  giebt  es  keinen  Weg  von  der  Sinnen- 
welt zu  Gott.  Die  Philosophen,  welche  meinten,  einen  solchen  Weg 
zu  kennen,  haben  nicht  das  Sein  rein  gedacht,  sondern  eine  morali- 
sche Weltordnung  unvermerkt  schon  vorausgesetzt,  d.  h.  sie  haben, 
wie  wir  sagen  können,  den  Begriä  der  Natur,  der,  damit  Natur- 
wissenschaft möglich  ist,  als  völlig  indifferent  gegen  Gut  oder  Böse 
gedacht  werden  muss,  verfälscht. 

Der  einzige  Ausgangspunkt,  um  zur  Religion  zu  kommen,  ist 
also  auch  für  Fichte  das  Gewissen,  der  autonome,  sich  selbst  das 
Gesetz  gebende  Kantische  gute  Wille.  Ich  soll,  das  ist  absolut  ge- 
wiss, und  mit  dem  Sollen  ist  mir  als  einem  vernünftigen  Wesen 
auch  die  Möglichkeit  des  Könnens  und  damit  eine  moralische  Welt- 
ordnung gegeben.  Wie  die  Wirklichkeit  die  Möglichkeit  einschliesst, 
so  mein  Pflichtbewusstsein  das  Göttliche.  Der  Grund  für  den  religi- 
ösen Glauben  ruht  denmach  auf  dem  Willen.  „Ich  kann  nur  darum 
nicht  weiter  gehen,  weil  ich  weiter  gehen  nicht  wollen  kann." 

Auch  Fichtes  Gewissheitsprinzip  scheint  also  noch  mit  dem 
Forbergs  verwandt.  Sobald  wir  nun  aber  einen  Schritt  weiter  sehen, 
scheiden  sich  die  Wege  der  beiden  Denker  prinzipiell,  und  wir 
kommen  zur  Entwicklung  der  Fichte  ganz  eigentümlichen  Ge- 
danken. Sein  Glaube  ist  nämlich  durchaus  nicht  nur  für  den  han- 
delnden Menschen  notwendig.  Er  ist  aber  auch  nicht  etwa  ..eine 
Überlegung  und  Erwägung  von  Gründen  für  und  wider,  ein  freier 
Entschluss  etwas  anzunehmen,  dessen  Gegenteil  man  wohl  auch  für 
möglich  hält,"  „eine  Ergänzung  oder  Ersetzung  der  unzureichenden 
Überzeugungsgründe  durch  die  Hoffnung",  denn  ,.fUr  wahr  zu  halten, 
was  das  Herz  wünscht,"  sagt  Fichte,  „ist  Wahn  und  Traum,  so 
fromm  auch  etwa  geträumt  werden  möge".  Der  auf  dem  WiUen 
beruhende  Glaube  ist  vielmehr  ein  absolut  notwendiges,  im 
Wesen  der  Vernunft  begründetes  Fürwahrhalten,  für  das 
Fichte  nicht  nur  volle  Gewissheit  in  Anspruch  ninmit,  sondern  das 
er  für  das  Gewisseste  erklärt,  das  es  überhaupt  giebt.  Beweisen 
will  er  zwar  die  Annahme  einer  moralischen  Weltordnung  nicht, 
aber  nur  deswegen  lehnt  er  alle  Beweise  dafür  ab,  weil  er  in 
seinem  Glauben  eine  viel  grössere  Gewissheit  besitzt,  als  irgend  ein 
Beweis  sie  ihm  geben  könnte. 


j^4  II  !•  i  II  li  i-li   KickiTt. 

Tiul  wie  kam  Fu'litc  /.u  difscr  libcr/.eii^nin^-V  Kr  hat  die  <Jr- 
(lankoiirt'ilion,  die  liicrlllr  aiissclilajrp'bond  sind,  in  seiner  Aldiaiid- 
lunc  tllxT  den  (Jrnnd  unseres  (llaultens  an  eine  iröttlielie  W'elt- 
refricrunir  mir  aniri-deutet.  an  anderer  Stelle  alier  das  hier  <lesa;ile 
ausführlich  hejrrUndet,  und  weil  es  sich  dabei  um  den  Punkt  handelt, 
auf  den  alles  ankommt,  so  niUssen  wir  die  ausführlicdie  iiejrrllndunji; 
mit  heran/iohon.  Sie  findet  sich  in  seinem  „System  der  Sittenlehre" 
vom  .lahre  I7!>S.')  „Handle  schlechthin  ü-emäss  deiner  lil)er/-eu^un}; 
von  deiiuT  IMlicht",  in  diesem  Satz  hat  er  das  „formale  (Jesetz  der 
Sitten"  jrefunden.  „Wenn  denn  nun  aber  meine  lil»er/.euj;unj;-  irrif^ 
ist.  könnte  jemand  sa<ren,  so  habe  ich  meine  Pflicht  nicht  ji-ethan." 
Dieser  Kin\vurf  führt  ihn  zu  der  Untersuchung  darüber,  worauf  denn 
überhaupt  unsere  Uberzeuguiiir  beruht. 

Ich  jrebe  seinen  Gedankenirauij:;  p,-ekiirzt,  al)er  durchwef;  mit  seinen 
eigrenen  Worten.  Soll  pflichtmässiires  Verhalten  mö^^lich  sein,  so  muss  es 
ein  absolutes  Kriterium  der  lüchtigkeit  unserer  Überzeugung  über  die 
Pflicht  geben.  Nun  ist  zufolge  des  Sittengesetzes  ein  solches  Verhalten 
schlechthin  möglich,  mithin  giebt  es  ein  solches  Kriterium.  Wir 
folgerTi  demnach  aus  dem  Vorhandensein  des  Sittengesetzes 
etwas  im  Erkenntnisvermögen.  Wir  behaupten  eine  Beziehung 
des  Sittengesetzes  auf  die  theoretische  Vernunft;  ein  Primat  des 
ersteren  vor  der  letzteren.  Was  aber  giebt  uns  dazu  das  Recht? 
Das  Sittengesetz  ist  kein  Erkenntnisvermögen,  es  kann  seinem  Wesen 
nach  die  Überzeugung  nicht  durch  sich  selbst  aufstellen,  diese  muss 
durch  das  Erkenntnisvermögen  gefunden  und  bestimmt  sein.  Aber: 
dann  erst  autorisiert  das  Sittengesetz  die  Überzeugung.  Mit 
anderen  Worten:  die  theoretischen  Vermögen  gehen  ihren  Gang 
fort,  bis  sie  auf  dasjenige  stossen,  was  gebilligt  werden  kann,  nur 
enthalten  sie  nicht  in  sich  selbst  das  Kriterium  seiner 
Richtigkeit,  sondern  dieses  liegt  im  Praktischen,  welches 
das  erste  und  höchste  im  Menschen  und  sein  wahres  Wesen  ist. 
Das  gesuchte  absolute  Kriterium  der  Richtigkeit  unserer  Überzeugung 
ist  sonach  ein  Gefühl  der  Wahrheit  und  Gewissheit.  Ob  ich  zweifle 
oder  gewiss  bin.  habe  ich  nicht  durch  Argumentation,  sondern  durch 
unmittelbares  Gefühl.  Nur  inwiefern  ich  ein  moralisches  Wesen  bin, 
ist  Gewissheit  für  mich  möglich,  denn  das  Kriterium  aller  theoreti- 
schen Wahrheit,  ist  nicht  selbst  wieder  ein  theoretisches,  es  ist  ein 
praktisches,  bei  welchem  zu  beruhen  Pflicht  ist.     Und  zwar  ist  jenes 


^)  S.  W.  IV,  S.  IflF.     In  den  „Rückerinnerungen"  (S.  W.,  V.,  S.  354. j  ver- 
weist Fichte  selbst  auf  diese  Schrift. 


Fichtes  Atheismusstreit  und  die  Kantische  Philosopliie.  145 

Kriterium  ein  allgemeines,  das  nicht  nur  für  die  unmittelbare  Er- 
kenntnis unserer  Pflicht,  sondern  überhaupt  für  jede  mögliche 
Erkenntnis  a'ilt.  Die  einzige  feste  und  letzte  Grundlage 
aller  meiner  Erkenntnis  ist  meine  Pflicht.  Zwar:  das  Ge- 
wissen giebt  nicht  das  ^lateriale  her,  dieses  wird  allein  durch  die 
Urteilskraft  geliefert,  und  das  Gewissen  ist  keine  Urteilskraft.  Aber 
die  Evidenz  giebt  es  her.  und  diese  Art  der  Evidenz  findet  lediglich 
beim  Hewusstsein  der  Pflicht  statt.') 

Was  Fichte  hier  sagen  will,  ist  vollkommen  klar.  Auf  unserm 
Pflichtbewusstsein  beruht  nicht  nur  unser  sittliches  Leben  sondern 
in  letzter  Hinsicht  auch  die  Wissenschaft.  Das  Erkenntnisvermögen 
giebt  mir  für  sie  lediglich  den  Stotf,  die  Überzeugung  von  ihrer 
Wahrheit  aber  liegt  in  einem  Gefühl,  das  ich  anerkennen  soll,  und 
wo  diese  Billigung  —  Fichte  nennt  sie  im  Gegensatz  zu  den 
„ästhetischen  Gefühlen*'  der  Lust  mit  einem  sehr  charakteristischen 
Ausdruck  eine  „kalte  Billigung"^)  —  nicht  vorliegt,  da  giebt  es  auch 
keine  theoretische  Überzeugung.  Alle  Überzeugung  ist  praktisch. 
„Ich  soll  mich  überzeugen."  Ohne  den  Willen  zur  Überzeugung  ist 
nichts  für  mich  wahr  und  gewiss.  Jedes  Urteil,  das  auf  Wahrheit 
Anspruch  erhebt,  setzt  also  den  Willen  zur  Wahrheit  als  letzten 
Grund  der  Gewissheit  voraus.  Ein  sittliches  Wollen  im  weitesten 
Sinne,  ein  Wollen,  das  ein  Sollen  anerkennt,  ist  die  Basis  nicht  nur 
für  den  sittlichen  sondern  auch  für  den  theoretischen,  denkenden 
Menschen. 

Mit  Hilfe  dieser  Lehre  vom  Primat  des  Sittengesetzes  vor  der 
theoretischen  Venmnft,  aus  der  etwas  im  Erkenntnisvermögen  selbst 
gefolgert  wird,  verstehen  wir  jetzt,  warum  Fichte  für  den  religiösen 
Glauben  die  denkbar  höchste  Gewissheit  in  Anspruch  nehmen  und 
sein  Recht  dem  Wissen  gegenüber  ganz  ausser  Frage  stellen  konnte. 
Er  trennte  nicht  wie  Forberg  Kopf  und  Herz,  das  Fürwahrhalten 
und  die  Pteligion,  denn  dadurch  war  eine  Einheit  in  unserm  geistigen 
Leben  niemals  zu  erreichen,  sondern  er  zeigte,  dass  überall  erst  das 
Herz  gebunden  sein  nmss,  ehe  der  Geist  gebunden  sein  kann,  und 
fand  hier  den  „Punkt,  der  Denken  und  Wollen  in  Eins  vereinigt 
und  Harmonie  in  mein  Wesen  bringt".     „Das  Element  aller  Gewiss- 


»)  Vergl.  a.  a.  0.,  S.  165—173. 

2)  Für  die  Geschichte  der  Urteilslehrc  sind  diese  Steilen  sehr  interessant. 
Eine  Urteilstheorie,  die  im  engsten  Zusammenhang  mit  den  hier  behandelten 
Problemen  steht,  habe  ich  in  meiner  Schrift  über  den  ,, Gegenstand  der  Er- 
kenntnis" (1892)  zu  geben  versucht. 


14t5 


Hoinricli  Kiikcri, 


hcit  ist  Glaubt'".  Beruht  der  (ilaultr  also  auch  auf  ilcni  W  illrn, 
so  i>t  »T  (l:i!imi  uii'ht  ..mir"  «ilaultc,  d;  h.  <-iu  FUrwahrhalttii,  dem 
irfri'ud  oiuc  audere  l  lirr/ru^niM^^  durcli  ihre  ( ;t'\\  isshcit  iicltru-  oder 
"•ar  Uberüreordnet  werden  könnte,  st>ndern  oliiie  den  (ilauhen  würde 
„selbst  diejcniirr  (M'wissheit.  welehe  alles  mein  Doid^wcn  befrU'itet, 
und  ohne  deren  lieles  C.etllhl  ieh  niclil  einmal  aul  das  Spekulieren 
ausirehen  könnte,  sehlechterdin.^^s  unerkläri)ar"  sein.  „Ks  triebt  keinen 
festen  Standpunkt  als  den  an-re/eifrten,  nieht  dureh  die  Logik,  sondern 
dureh  die  moralische  Stimmuni:  hegründeten".  So  ist  ,Jmie  Welt- 
ordnunir  das  absolut  erste  aller  (il)jektiven  Krkenntnis'',  d.  h.  (Vn-. 
roÜL'iöse  Cber/.euirunir  träirt  alle  llberzeuf^unp'U,  die  Wissenschaft- 
liehen  mit  inbegrilVen.  sie  ist  mehr  als  Wissen,  gewisser  als  alles 
"Wissen. 

Das  Verhältnis,  in  dem  die  Ansichten  Fichtes  und  Forbergs  zu- 
■einander  stehen,  liegt  jetzt  klar  vor  uns.  Beide  wollen  auf  dem 
Boden  der  Kantischen  Philosophie  zur  Keligion  Stellung  nehmen, 
und  zwar  so,  dass  sie  die  Bedeutung  des  religiösen  Lebens  würdigen. 
Beide  sind  darin  einig,  dass  theoretische  Beweise  für  den  Glauben 
weder  auf  Grund  der  Erfahrung  noch  durch  Metaphysik  geführt 
werden  können,  denn  Keligion  ist  nicht  Wissen,  und  der  Glaube 
ruht  nicht  auf  unserm  \erstand,  sondern  auf  unserm  Willen.  Beide 
endlich  bestinuuen  den  Inhalt  oder  den  Gegenstand  des  religiösen 
Glaubens  gleich.  Es  ist  die  moralische  Weltregierung,  d.  h.  die 
Welt  ist  auf  den  Sieg  des  Guten  über  das  Böse  angelegt.  Trotz 
alledem  ist  das  Verhältnis  der  Erkenntnis  zur  Religion  bei  dem 
einen  ein  völlig  anderes  als  bei  dem  anderen,  weil  sie  mit  dem 
Worte  „Glauben"  durchaus  nicht  denselben  Sinn  verbinden. 

Bei  Forberg  sieht  die  Sache  zunächst  so  aus,  als  wolle  er  durch 
seine  Trennung  von  Kopf  und  Herz  neben  dem  theoretischen  Wissen 
dem  Willen  das  Recht  einräumen,  dort  die  Überzeugungen  zu  bestimmen, 
wo  der  wissenschaftliche  Bew^eis  versagt.  Thatsächlich  aber  hat 
diese  Trennung  eine  ganz  andere  Bedeutung.  Es  werden  durch  sie 
zwei  Welten  nebeneinandergestellt,  die  garnichts  miteinander  zu  thun 
haben  können.  Die  W^elt  des  Herzens  ist  lediglich  für  den  handelnden 
Menschen  da.  W^er  Überzeugungen  sucht,  muss  sich  allein  an  seinen 
Kopf  halten.  Für  die  Philosophie,  die  doch  nicht  im  Handeln, 
sondern  im  Denken  und  Fürwahrhalten  besteht,  wird  also  die 
Koordination  von  Wille  und  Verstand  wieder  aufgehoben,  und 
das  Herz  dem  Kopfe  untergeordnet.  Der  praktische  Glaube  ist 
^ar  kein  Gewissheitsprinzip  und  hat  somit  für  unsere  philosophische 


gf 


Fichtes  Atheismusstreit  und  die  Kantische  Philosophie.  147 

Weltanschauung-  auch  nicht  die  freringste  Bedeutung.  Das  ist  For- 
bergs unzweideutig  ausgesprochene  Ansieht,  und  als  ob  er  dem 
Leser  gar  keinen  Zweifel  darlil)er  lassen  wollte,  stellt  er  die  letzte 
„verfängliche  Frage"  auf,  ob  nicht  der  Begritf  eines  praktischen 
Glaubens  ,,mehr  ein  spielender  als  ein  ernsthafter  philo- 
sophischer Begritf"'  sei.  Die  Antwort  darauf  aber  Uberlässt  er 
„billig  dem  geneigten  Leser  selbst,  und  damit  zugleich  das  Urteil, 
ob  der  Verfasser  des  gegenwärtigen  Aufsatzes  am  Ende  auch  wohl 
mit  ihm  nur  habe  spielen  wollen".')  Eine  Versöhnung  von  Wissen 
und  Glauben  wird  man  in  dieser  „Keligionsphilosophie"  nicht  erl)licken 
können. 

Fichte  lag  nichts  ferner  als  in  Fragen  der  Religion  „spielende 
Begriffe"  aufzustellen  oder  gar  mit  seinen  Lesern  zu  spielen.  Zu- 
nächst scheint  er  ebenfalls  die  Bedürfnisse  des  Willens  neben  den 
Entscheidungen  des  \'erstandes  zur  Geltung  bringen  zu  wollen, 
bleibt  jedoch  dann  ebensowenig  wie  Forberg  bei  dieser  Koordination 
stehen,  die  ja  in  der  That  niemals  zu  einer  Überbrückung  des 
Gegensatzes  von  Religion  und  Erkenntnis  führen  kann.  Dann  aber 
bewegt  sich  sein  Denken  genau  in  der  entgegengesetzten  Richtung 
wie  das  von  Forberg.  Er  zeigt,  dafs  auch  die  theoretische  Gewils- 
heit  des  Intellekts  auf  einem  Glauben  und  damit  auf  einem  Willen  zum 
Glauben  beruht.  Es  giebt  also  ebenso  wie  nach  Forberg  für  unsere 
Überzeugungen  nicht  zwei  Fundamente,  das  Wissen  und  den 
Willen,  aber  es  giebt  sie  hier  deshalb  nicht,  weil  der  Wille  die  Grund- 
lage auch  für  unser  Wissen  ist.  Dadurch  kommt  dann  Einheit  in 
unsere  Weltanschauung,  denn  dadurch  kann  der  aus  unserer 
moralischen  Bestimmung  gew'onnene  Glaube  für  die  Bildung  unserer 
Überzeugungen  dem  „blofsen  Wissen",  wie  man  jetzt  sagen  könnte, 
übergeordnet  werden.  Das  Recht  des  Glaubens  vor  allem  Wissen 
ist  aulser  Frage  gestellt,  und  die  Versöhnung  von  Erkenntnis  und 
Religion  so  im  Prinzip  erreicht. 


*)  Was  Forberg  später  in  seiner  Apologie.  S.  175  t.  vorgebracht  hat,  um 
diese  bedenkliche  Wendung  zu  rechtfertigen,  ist  mehr  spitzfindig  als  über- 
zeugend. Im  übrigen  erklärt  er  dort  ausdrückUoh,  er  habe  sagen  wollen,  „der 
Begriff  eines  praktischen  Glaubens,  nach  der  gewöhnlichen,  noch  immer  viel 
zu  theoretischen  Darstellung,  sei  ein  höchst  unphilosophischer  Begriff 
und  eine  Ilinterthür,  um  jeden  Unsinn,  den  die  theoretische  Philosophie  mit 
Mühe  losgeworden,  durch  die  praktische  wieder  herein  zu  lassen."  Und  diese 
Ansicht  ist  bei  jeder  Koordination  von  Willen  und  Verstand  in  der  That  die 
einzig  mögliche. 


148  Hoinrirli  Ivickcrt, 

M.  Die  Überwindung  des  IiitoiloktuaÜHimis. 
Aiu'li  ilic  l'liiloso|ihi('  der  (Jcjrciiwail  sucht  diese  NCisiilimm^^ 
und  ist  ol)(MitalIs  virlfach  irciici^t.  sie  auf  dem  Hudeii  der  Ivautisclicii 
IMiilosdpliic  /.u  lindt'n.  AI)or  in  den  meisieii  l'iillen  denkt  sie  nicht 
daran,  sich  dal)ci  l'ichtc  an/.uschliofscn.  Khcnsowcnijr  .i<'d<»ch  zieht 
sii'  die  Kt»nsiM|n(Mi/.('n  l'orhcrfrs.  sondern  meint,  dem  Willen  ein 
Kci'ht  aut"  die  Hihlnnir  unserer  I  l)orz('Uirunfron  cinräunicn  /u  dllrfen, 
auch  wenn  der  NCrstand  als  snh'her  mum  Wiih'ii  nnahhiiniriü'  ist. 
Sic  untersdioidct  also  wie  Forheri;-  Ko|i('  und  Her/,,  alier  sie  hleil)t 
bei  dieser  Komdina t ion  stehen,  uinl  kninmt  so  /.u  iU'v  \(tn  Korlicrg 
/urüekirewiesenen  Ansicht,  dals  nach  Kant  der  ^\'unsch  des  ller/.ens 
dort  als  irenüirender  (Jrund  für  eine  Iherzeugunj:-  <i-(dten  könne,  wo 
das  Wissen  nach  theoretischen  (iriindeu  nicht  /u  entscheiden  vermag, 
und  weil  Ixm  den  letzten  Fragen  der  Weltanschauunjr  die  theoretischen 
Gründe  in  den  meisten  Fällen  zu  einer  delinitiven  Stellunirnahme 
nicht  aasreichen  sollen,  so  glaubt  sie  zur  Bildung  ihrer  Ansichten 
besonders  über  die  Probleme  der  Keligionsphilosophie  den  Willen  oder 
den  praktischen  Glauben  anrufen  zu  dürfen.') 

Die  l^erechtiguns:  dazu  sucht  diese  Denkrichtuni:-  zunächst  durch 
den  Nachweis  zu  stutzen,  dafs  in  dem  historischen  N'erlauf  der 
Philosophie  thatsächlich  die  verschiedenen  Weltanschauungen  nicht 
allein  durch  den  Intellekt  sondern  auch  durch  den  Willen  ihrer 
Schöpfer  bestimmt  gewesen,  und  dafs  auch  heute  durchaus  nicht 
nur  theoretische  Überlegungen  sondern  vor  allem  Ideale  unsere 
Grundüberzeugungen  formen.  Diese  faktische  Beeinflussung  des 
Urteils  durch  Wünsche  des  Herzens  aber  werde,  so  meint  sie 
ferner,  nicht  nur  fortdauern,  sondern  sei  auch  ganz  in  der  Ordnung. 
„Der  Wille  bestimmt  das  Leben,  das  ist  sein  Urrecht;  also  (!)  wird 
er  auch  ein  Recht  haben,  auf  die  Gedanken  einen  Einfiuls  zu  üben. 


1)  Es  liegt  nicht  in  meiner  Absicht,  auf  diese  Theorien  nälier  einzugehen 
und  sie  in  jeder  Hinsicht  zu  würdigen.  Als  ihre  Vertreter  nenne  ich  Paulsen 
in  Deutschland  imd  James  in  Amerika.  Paulsen  erklärt  ausdrücklich,  in 
dieser  Frage  mit  Kant  übereinzustimmen.  James  liegt  solche  Beziehung  wohl 
femer,  aber  er  wird  von  Paulsen  in  eine  Reihe  nicht  nur  mit  Kant,  sondern 
auch  mit  Fichte i!;  gestellt.  Um  meine  Auseinandersetzung  an  faktisch  vorliegende 
Aussprüche  anzuknü])fen,  habe  ich  mich  im  folgenden  ausdrücklich  auf  einige 
Sätze  von  Paulsen  imd  James  bezogen,  und  ich  möchte  nur  noch  bemerken, 
dafs  ich  ledigüch  deswegen  so  entschieden  gegen  Paulsen  Stellung  nehme,  weil 
ich  die  Bedtutung  seiner  Ansichten  wegen  des  grofsen  pädagogischen  Ge- 
schickes, mit  denen  er  sie  vertritt,  und  wegen  des  erheblichen  Einflusses,  den 
sie  ausüben,  wohl  zu  schätzen  weifs. 


Ficbtes  Atheismusstreit  und  die  Kantische  Philosophie.  149 

Nicht  zwar  auf  die  Feststellung  der  Thatsachen  im  eiii/.elneu:  hier 
soll  sieh  der  Verstand  allein  nach  den  Thatsachen  selbst  richten; 
wohl  aber  auf  die  Auffassung  und  Deutung  der  Wirklichkeit  im 
ganzen".  (Paulsen.)  Oder:  wir  sollen  dort  nicht  verzichten,  uns 
Meinungen  zu  l)il(len.  wo  wir  nichts  mehr  wissen  können.  Das  wäre 
eine  falsche  Scheu  vor  dem  Irrtum,  die  unberechtigterweise  mit 
dem  Streben  nach  Wahrheit  identifiziert  wird.  Wir  entgehen  da- 
durch zwar  der  Gefahr,  getäuscht  zu  werden,  aber  wir  verlieren  auch 
sicher  die  Möglichkeit,  etwas  zu  glauben,  das  vielleicht  wahr  sein 
könnte,  und  das  zu  glauben  wir  ein  Interesse  haben.  ,,Eine  Denk- 
regel, die  mich  vollständig  verhinderte,  gewisse  Arten  von  Wahrheit, 
wenn  diese  Arten  von  Wahrheit  wirklich  beständen  (!),  anzuerkennen, 
wäre  eine  vernunftwidrige  Kegel".  (James.) 

Ob  solche  Ansichten  der  Kantischen  Philosophie  auch  nur  ver- 
wandt sind,  kann  ich  hier  nicht  entscheiden.  *)  Was  die  thatsäch- 
liche  Beeinflussung  des  Intellekts  durch  den  Willen  betrifft,  so  hätte 
Kant  vielleicht  die  Vermengung  dieser  quaestio  facti  mit  der  quaestio 
juris  im  Interesse  einer  kritischen  Behandlung  des  Keligionsproblems 
nicht  gewünscht.  Und  sollte  er  wirklich  unter  dem  Primat  der 
praktischen  Vernunft  eine  berechtigte  Beeinflussung  unserer  Über- 
zeugungen durch  Wünsche  des  „Herzens"  verstanden  haben?  Er  war 
docli  sonst  garnicht  geneigt,  in  der  Philosophie  irgend  etwas  gelten 
zu  lassen,  das  seine  Dignität  nicht  durch  strenge  Ableitung  seiner 
Notwendigkeit  aus  dem  Wesen  der  Vernunft  erwiesen  hatte,  und  so 
hätte  er  möglicherweise  bei  der  «.Ersetzung  der  unzureichenden  Über- 
zeugungsgründe  durch  die  Hoffnung-'  mit  Fichte  von  „Wahn  und 
Traum"  geredet.  Entspricht  der  Primat  des  Willens,  wie  er  heute 
vertreten  wird,  nicht  mehr  den  Ansichten  Schopenhauers  als  denen 
Kants,  und  müssen  wir  nicht  in  allen  ethischen  und  religiösen  Fragen 
das  \'erhältnis  dieser  beiden  Denker  zu  einander  als  das  des  ent- 
schiedensten Gegensatzes  bezeichnen?  Ja,  dürfen  wir  auch  nur 
Schopenhauer  diese  moderne  Ansicht  zumuten,  und  liegt  sie  nicht 
mehr  auf  dem  Wege  zu  Nietzsches  Ideal  des  Philosophen  als  des  „Be- 
fehlenden  und   Gesetzgebers'',    wonach   es   dann  auch   in   der  Philo- 


•)  Seitdem  man  angefangen  hat,  als  entscheidend  für  die  Auffassung  von 
Kants  Ansichten  über  einige  der  wichtigsten  Fragen  Notizen  und  Kolleghefte 
anzusehen,  die  Kant  nicht  hat  drucken  lassen,  und  die  seinen  gedruckten 
Werken  gradezu  widersprechen,  wird  man  wohl  überhaupt  darauf  verzichten 
müssen,  in  diesen  Fragen  einen  Satz  mit  Sicherheit  als  den  Ausdruck  von  Kants 
Meinimg  zu  bezeichnen. 


J50  lloinrii'h   Iv  ick  ort, 

sopliif  nitlir  au!  tlic  Stiirkf  des  Willens  als  auf  die  Stärke  des  In- 
tellekts ankoniinen  wllrde?  \ Hr  allem  sehe  ieh  iiielit  recht  ein,  wie 
UKiii  irlauben  kann,  in  ir-rend  einer  „praktischen"  Krap'  mit  Kant 
überein/.nstimmen.  wi-iiii  mau  sich  nicht  steinen  Mi)rallte},n-ilV,  den 
Aiiirelpunkt  seines  {ranzen  Systems,  in  voller  Stren^a'  /u  eip'n  j;e- 
macht  hat,  und  von  dem  „katetrorischen  Imperativ"  wollen  doch 
srerade  die  \ Crtreter  der  liifr  in  Frap'  konunenden  Ansichten  meist 
nicht  viel  wissen. 

Aber  es  kommt  hier  nicht  darauf  an,  was  Kant  gedacht  hat, 
sondern  allein  darauf,  wie  seine  Gedanken  aufzufassen  oder  weiter- 
zubilden sind,  falls  sie  die  Grundlap'  für  eine  Versöhnung  von 
Wissen  und  (ilauben  bilden  sollen,  und  da  scheint  es  mir,  so 
lanjre  wir  in  der  Philosophie  an  einem  Streben  nach  All^remein- 
glllti^keit  festhalten,  zweifellos,  dafs,  auch  wenn  die  angedeuteten 
Lehren  „Kautisch"  sein  sollten,  sie  sieh  gegenüber  der  strengen 
Konse(iuenz  Forbergs  und  Fichtes  als  ganz  verfehlt  herausstellen 
müssen. 

Bei  jeder  Koordination  von  Wissen  und  (Uauben  wird  der 
Intellekt  für  sich  als  vom  Willen  vollkommen  frei  und  nur  als  that- 
sächlich  von  ihm  beeinflusst  gedacht,  denn  in  der  Einzelforschung 
soll  er  ja  ganz  allein  herrschen.  Dann  aber  bleibt  der  Wille  ein 
dem  Intellekt  innerlich  fremdes  I^lement,  und  für  den  wissenschaft- 
lichen Menschen  bedeutet  sein  Einfluss  notwendig  eine  Trübung,  die, 
wenn  sie  dauert  oder  gar  dauern  soll,  nur  den  Erfolg  haben  kann, 
dass  in  der  Philosophie  im  Gegensatz  zu  allen  andern  Wissenschaften 
nicht  nur  thatsächlich  individuelle  Neigungen  und  Wünsche  mit  ein- 
ander kämpfen,  sondern  dass  auch  nicht  der  geringste  Fortschritt 
auf  dem  Wege  zu  einer  allgemein  gültigen  Weltanschauung  jemals 
zu  erhoffen  ist.  Wer  diese  Überzeugung  hegt,  muss  es  aufgeben, 
Philosophie  als  etwas  zu  treiben,  das  mit  Wissenschaft  auch  nur  die 
geringste  Verwandtschaft  hat,  und  mit  ihm  hat  es  die  Wissenschaft 
dann  nicht  weiter  zu  thun.  Wer  aber  in  der  Philosophie  nach  All- 
gemeingültigkeit strebt,  kann  in  der  thatsächlichen  Beeinflussung  des 
Kopfes  durch  das  Herz  nur  die  dringende  Aufforderung  erblicken, 
diese  Trübung  seines  Intellekts  durch  seinen  Willen  zu  verhindern  und 
insbesondere  in  der  Religionsphilosophie  allen  Wünschen  den  Weg 
zum  Denken  sorgfältig  abzuschneiden,  weil  hier,  wo  das  Denken 
versagt,  und  die  Wünsche  am  heftigsten  fordern,  die  Gefahr  des 
Irrtums  am  grössten  ist.  Es  ist  also  gar  nicht  einzusehen,  wie  man  auf 
dem  Boden  einer  Koordination  von  Kopf  und  Herz  dem  Wissenschaft- 


Fichtes  Atheismusstreit  und  die  Kantische  Philosophie.  151 

liehen  Menschen  es  verwehren  will,  als  h(3chstes,  wenn  auch  viel- 
leicht nie  erreichbares  Ideal  die  Entscheidung  aller,  auch  der  letzten 
philosophischen  Frag:en  durch  einen  vom  Willen  völlig  unbeein- 
flussten  Intellekt  autzustellen,  ein  Ideal,  das  uns  dann  bei  allen  durch 
den  Intellekt  nicht  zu  entscheidenden  Fragen  die  Urteilsenthaltung 
zur  unabweisbaren  Pflicht  macht.  Wo  das  Denken  aufhört,  hat  der 
Philosoph  als  Philosoph  nichts  mehr  zu  sagen,  und  wenn  dies  den 
Problemen  der  Religionsphilosophie  gegenüber  der  Fall  sein  sollte,  so 
behielte  Forberg  Recht  mit  seiner  Behauptung,  dass  die  Frage,  ob 
Gott  sei,  abgewiesen  werden  müsse,  als  ein  Produkt  spekulativer 
Neugierde.  Der  Kantische  Begritf  des  praktischen  Glaubens  wäre 
dann  in  der  That  mehr  ein  spielender  als  ein  ernsthafter  philo- 
sophischer Begrit!'.  Selbstverständlich  liegt  den  modernen  Vertretern 
dieses  Glaubens  die  Absicht,  mit  ihren  Lesern  zu  spielen,  ganz  fern, 
aber  dem  plus  an  Ernst,  das  sie  Forberg  gegenüber  besitzen,  steht 
ein  erhebliches  minus  an  Konsequenz  gegenüber. 

Nur  wenn  sich  zeigen  lässt,  dass  der  Intellekt  nicht  neben 
dem  Willen  steht,  sondern  überall  selbst  auf  Willen  und  Glauben 
beruht,  weil  er  sonst  nie  zur  Wahrheit  als  einem  Werte  führen 
könnte,  der,  um  für  uns  zu  gelten,  von  uns  gewollt  und  gebilligt 
sein  muss,  verschwindet  auch  für  den  wissenschaftlichen  Menschen 
das  Ideal  eines  in  jeder  Hinsicht  vom  Willen  freien  Verstandes.') 
Dann  ist  die  Geltung  und  Anerkennung  eines  absoluten  Sollens  die 
Grundlage  auch  des  rein  theoretischen  Wissens,  und  durch  eine 
Einsicht  in  das  Wesen  des  Denkens  selbst  ist  ein 
Weg  zur  Versöhnung  von  Wissen  und  Glauben  angebahnt.  Die 
Religion  kann  dann  als  Glaube  an  ein  in  der  Welt  objektiv 
wirkendes  Prinzip  des  Guten  als  notwendig  abgeleitet  werden, 
weil  das  absolut  notwendige  Sollen  und  Wollen,  das  die  Möglich- 
keit seiner  Realisierung  mit  eben  der  Notwendigkeit  fordert,  die 
es  selbst  besitzt,  als  Basis  jeder  Gewissheit  auch  für  den  theo- 
retischen Menschen  gilt.  Das  aber  ist  der  Standpunkt  Fichtes, 
und  deswegen  kann  es  nur  bei  seiner  Auffassung  oder  Weiter- 
bildung Kants,  nur  bei  seinem  Primat  des  Willens  vor  dem 
Denken  Kantische,  d.  h.  kritisch  begründete  und  positiv  gerichtete 
Religionsphilosophie  geben. 

Man    spricht    heute    viel   von  einer  „Überwindung  des  Intellek- 


1)  In  der  Logik  stehen  unter  den  Lebenden  Sigwart  und  Windolband 
dieser  Lehre  vom  Primat  des  Willens  vor  der  theoretischen  Vernunft  am 
nächsten. 


l.«i'2  Holnricli  KioktTl, 

tiKilismus-'.  (lun-li  die  Kaiitisi-lic  IMiilosoiinic  iiml  in  dci- Thal  hat  dieses 
Wort  einen  iruten  Sinn.  Alter  man  niuss  auch  ;:an/.  ;;enaii  an;:»'l)en, 
was  man  damit  mi-int.  wenn  tlie  l'herwindunfr  di's  IntelleUtiialismus 
uiehl  /.u  einer  l  lierwindunir  des  Intellekts  in  der  Wissenschaft 
werden  soll.  Man  kann  unter  Intellektnalismus  erstens  die  Ansicht 
verstehen,  dass  der  .Mensch  im  (»runde  nur  ein  denkendes  Wesen 
sei  und  sein  solle,  und  dass  daher  seine  (Jefühls-  und  Willens- 
welt auf  allen  Gehieten  seiner  Hethäti^iin^  in  den  llinterj;rnnd  /u 
treten  iialie.  .\ls  höchstes  Ideal  für  di-n  Menschen  ertriel)t  sich 
daraus  die  Anfirahe,  sich  in  eine  rein  wissenschaftliche  lietrachtunj; 
der  Welt  zu  versenken  und  iiherhau|)t  nichts  ;xelten  /.u  lassen, 
das  vor  dem  Intellekt  nicht  Stand  hält.  Solche  Tendenzeu 
waren  in  der  grriechischen  l'hilosophie  vctrherrschend,  wir  linden 
sie  bei  den  j!:rossen  Rationalisten  der  neueren  Zeit  und  in 
der  Aufkläruni:-s|)hilosophie.  Sie  werden  zweifellos  der  vollen 
Menschennatur  nicht  gerecht,  und  sie  zu  ,, überwinden"  ist  gewiss 
auch  eine  Aufgabe,  zu  deren  begrilflicher  Lösung  Kant  bisher 
bei  weitem  das  Meiste  gethan  hat.  Aber  darum,  welche  Rolle 
der  Intellekt  und  welche  Rolle  Wille  und  Gefühl  im  Gesamtleben 
des  Menschen  zu  spielen  haben,  handelt  es  sich  hier  gar  nicht. 
Was  in  Frage  kommt,  ist  nur  die  Bildung  einer  wissenschaftlich 
begründeten  Weltanschauung  durch  die  Philosophie,  und  dass  für 
sie  der  Intellekt  allein  massgebend  sein  soll,  kann  sehr  gut  neben 
der  Meinung  bestehen,  dass  es  im  Leben  noch  auf  andere  Dinge 
als  auf  die  \Vissenschaft  ankommt.  Bei  aller  Anerkennung  für  das 
nichtwisseuschaftliche  Leben  wird  man  die  Alleinherrschaft  des 
Intellekts  in  der  Philosophie  ernstlich  niemals  in  Frage  stellen  dürfen, 
denn  es  ist  gar  nicht  einzusehen,  wo  man  die  Grenze  setzen  will, 
wenn  hier  dem  Verstände  irgend  ein  Recht  entzogen  ist,  und  deshalb 
kann  bei  dieser  Überwindung  des  Intellektualismus  ein  Zwiespalt 
zwischen  Glauben  und  Erkennen  unvermindert  fortdauern. 

Zweitens  kann  man  noch  in  einem  ganz  anderen  Sinne  von 
Überwindung  des  Intellektualismus  sprechen,  und  damit  kommen  wir 
erst  zu  dem  Problem,  das  Fichte  beschäftigt  hat.  Aber  dabei 
handelt  es  sich  vollends  nicht  um  die  Überwindung  des  Intellektes 
in  der  Wissenschaft,  sondern  um  die  Überwindung  einer  falschen 
wissenschaftlichen  Autfassung  des  Intellekts.  Die  bisherige  Philo- 
sophie, so  kann  man  sagen,  hat  Wollen  und  Denken  in  ein  Ver- 
hältnis zu  einander  gebracht,  so  als  ob  das  logische  Denken  mit 
dem  Willen  garnichts  zu  thun  hätte,  ja  ihm  seinem  innersten  Wesen 


Fichtes  Atheismusstreit  imd  die  Kantische  Philosophie.  153 

nach  entgegengesetzt  sei.  Das  war  wieder  eine  spezifisch  griechische 
Auffassung,  und  durch  sie  entstand  ein  Zwiespalt  in  unserer  Welt- 
anschauung, besonders  seitdem  die  Willens-  und  Gefühlswelt  in 
ihrer  Bedeutung  sich  entwickelt  hatte  und  mit  den  griechischen 
Begriffen  nicht  mehr  in  einer  einheitlichen  wissenschaftlichen  Welt- 
anschauung untergebracht  werden  konnte.  Auf  der  einen  Seite  war 
der  Mensch  ein  absolut  indifferenter  Beschauer  der  Dinge. 
Auf  der  andern  Seite  war  er  Wille,  setzte  Werte  und  nahm  zu 
ihnen  Stellung,  und  dadurch  erschien  die  ,,^fw(>/«"  dem  überall 
wertenden  Leben  notwendig  feindlich.  Die  Überbrückung  dieses 
Gegensatzes  kann  man  nun  ebenfalls  eine  Überwindung  des 
Intellektualismus  nennen,  aber  nur,  wenn  man  unter  Intellekt  jenes 
indifferente  Schauen  versteht,  und  die  Überwindung  kann  darin 
allein  bestehen,  dass  auf  rein  logischem  Wege  die  tief  gehende 
Verwandtschaft  des  nach  Wahrheit  strebenden  Denkens  mit  dem  anf 
das  Gute  gerichteten  Willen  aufgezeigt  wird,  eine  Verwandtschaft, 
die,  wie  Fichte  es  eingesehen  hatte,  darauf  beruht,  dass  ein  Wollen 
und  Werten  das  innerste  Wesen  auch  des  nach  wissenschaftlicher 
Überzeugung  strebenden  Denkens  bildet. 

Eine  Philosophie,  welche  hiervon  ausgeht,  könnte  man  vielleicht 
auch  als  „Voluntarismus"  bezeichnen,  weil  sie  den  Willen  als  letzte 
Basis  auch  jeder  theoretischen  Erkenntnis  erwiesen  hat,  aber  sie 
bleibt  von  dem,  was  heute  gewöhnlich  Voluntarismus  genannt  wird, 
durch  eine  Welt  getrennt.  Sie  räumt,  so  sehr  sie  die  Bedeutung 
des  Willens  für  das  sittliche,  religiöse,  künstlerische,  staatliche 
Leben  anerkennt,  ihm  in  dem  Prozess  der  Bildung  unserer  Welt- 
anschauung neben  dem  Intellekt  nicht  das  geringste  Recht  ein, 
sondern  hält  an  der  Alleinherrschaft  des  Intellekts  auf  philosophi- 
schem Gebiete  streng  fest,  aber  aus  dem  aller  auf  Allgemein- 
gültigkeit Anspruch  erhebenden  Thätigkeit  und  mithin  auch  dem 
Streben  nach  wissenschaftlicher  Wahrheit  übergeordneten  Sollen  und 
Wollen  folgert  sie,  um  mit  Fichte  zu  reden,  ..etwas  im  Erkenntnis- 
vermögen". Sie  bildet  mit  anderen  Worten  den  Begriff  des  Intellekts 
um,  d.  h.  sie  erkennt  den  wertenden  Willen  im  Intellekt  selbst  an, 
und  sie  vermag  dadurch,  aber  auch  nur  dadurch,  für  den  Glauben 
an  eine  transcendente  Weltorduung  die  denkimr  höchste  Gewissheit 
in  Anspruch  zu  nehmen. 

Was  schliesslich  ihr  Verhältnis  zu  Kant  betrifft,  so  findet  sie 
diese  Ansicht  bei  ihm  vielleicht  nirgends  so  ausdrücklich  formuliert 
wie  bei  Fichte,    aber    sie    wird  sich  die  Überzeugung  nicht  nehmen 

Kantstudiun  IV.  11 


154  lloiuriili  Wie  kort, 

lassen,  dass  diese  in  dem  jrrössteii  .lUiij^rr  Kants  /.um  Diirclilinu'ii 
{rekoinniene  Wahrheit  doeh  /ii  (icii  tiefsten  Wirkunfren  iler  Kantischen 
Philosophie  selbst  /ii  reehnen  ist,  und  dass  jedenfalls  nur  durch 
eine  AutVassun«;  und  Weiterhildun^;  Kants  in  diesem  Sinne  auf 
Kantisohem  Hoden  Einheit  in  unsere  wissenschaftliehc  Weltansehauun^^ 
irebraeht  werden  kann.  S(dlte  es  nieht  jrestattet  sein,  Kant  so 
fortzubilden,  so  würde  man  den  konsecjuentcn  Kantianer  nur  in  — 
Forberg:  erblicken  dürfen,  und  von  einer  Überwindung'  des  Intellek- 
tualismus in  der  zweiten  Bedeutunj;  des  Wortes  durch  Kant,  d,  h. 
von  einer  wissenschaftlichen  Versöhnung  des  (ilaubens  mit  dem 
Wissen  durch  die  Kantische  Philosophie  dürfte  dann  nicht  gesprochen 
werden. 


II. 

Der  Gegenstand  des  (ilaubeiis. 

1.    Fichtes    Gott    als    Weltordnung. 

Soviel  über  das  Prinzip  der  Gewissheit,  das  Fichte  aufgestellt 
bat.  Was  ist  nun  von  dem  Inhalt  oder  dem  Gegenstande  seines 
Glaubens,  d.  h.  von  seiner  Gleichsetzung  der  übersinnlichen  „Ordnung" 
mit  der  Gottheit  zu  halten?  Bisher  haben  wir  diesen  Gegenstand 
der  Religion  nur  insofern  berücksichtigt,  als  nötig  war,  um  zu  zeigen, 
dass  wir  durch  ihn  über  das  Sittliche,  d.  h.  den  immanenten  guten 
Willen  hinaus  ins  Transcendente  ge fuhrt  werden.  Jetzt  müssen  wir 
die  Ordnung,  um  den  Atheismusstreit  ganz  zu  verstehen,  noch  etwas 
genauer  kennen  lernen.  Da  Fichte  für  seinen  Glauben  die  denkbar 
höchste  Gewissheit  in  Anspruch  nahm,  so  wäre  die  Beschuldigung 
des  Atheismus  total  unverständlich,  wenn  es  nicht  in  seinem  Gottes- 
begriff etwas  gäbe,  wodurch  er  Anstoss  erregte.  Und  so  ist  es  in 
der  That.  Erst  mit  dem  Begriff  der  Ordnung  als  der  Gottheit 
kommen  wir  eigentlich  zum  ,, Atheismus". 

Zunächst  deute  ich  kurz  den  Fichtescheu  Gedankengang  an. 
Gott  als  lebendige  und  wirkende  moralische  Weltordnung  ist  absolut 
gewiss,  aber  ebenso  sicher  ist  es,  dass  wir  einen  andern  Gott  nicht 
zu  fassen  vermögen.  Die  Ordnung  ist  zwar  nichts  Fertiges,  Geord- 
netes —  denn  dann  fiele  die  Gottheit  mit  der  Welt  zusammen,  und 
es  gäbe  keinen  Gott  —  sondern  Gott  ist  das  die  Welt  Ordnende 
und  insofern  von  ihr  Verschiedene.  Aber  es  besteht  andererseits  auch 
kein  Grund,    über    die  Ordnung    hinaus    einen   Ordner    anzunehmen. 


Fichtes  Atheismusstreit  und  die  Kantische  Philosophie.  155 

Der  „ordo  ordinans'")  selbst  ist  Gott,  nicht  etwa  eine  Persönlichkeit, 
welche  ordnet.  Gott  als  besonderes  Wesen  denken,  heisst  ihn  in 
Sinnlichkeit  und  Beschränkung  herabziehen,  denn  alle  besonderen 
Wesen  sind  endliche  Dinge. 

In  seinen  Streitschriften  hat  Fichte  diese  Gedanken  weiter  aus- 
geführt.    Es  ist  bekannt,  wie  er  den  Spiess  dort  umkehrt  und  seine 
Ankläger  Götzendiener    und  Atheisten    nennt,    weil    sie   an  Gott  als 
ein    besonderes  Wesen  glauben.     Das  Wichtige   liegt  in  seinem  Be- 
streben, an  der  Unmittelbarkeit  des  Glaubens  festzuhalten    und    alle 
Ausgestaltung  des  Gottesbegriffes  durch  ..Erräsonniren*'  zu  vermeiden 
Unmittelbar  ist  allein  die  Beziehung  der  Gottheit  auf  unser  sittliches 
Bewusstsein.     Der  Begriff"   eines    besonderen  Wesens   ist  immer  erst 
hieraus  erschlossen.     Gott    als    besonderes  Sein    denken    heisst,   das 
Produkt  eines  Syllogismus    zu    einer  Realität    machen   und   aus  ihm 
dann    das,    was    das  Ursprüngliche    und    Unmittelbare    ist,    ableiten 
wollen.     Fichtes  Gedanken  spitzen  sich  schliesslich  notwendig  dahin 
zu:  Gott  als  das  Übersinnliche  hat  überhaupt  kein  „Sein"  in  der  ge- 
wöhnlichen Bedeutung  des  Wortes. 

Eine  Religionsphilosophie,  die  Gott  für  absolut  gewiss  erklärte, 
und  doch  von  einem  Sein  Gottes  nichts  wissen  w^ollte,  war  nicht 
allen  sofort  verständlich.  Mit  Recht  konnte  Fichte  sagen:  „Wer  meine 
Religionslehre  verstehen  will,  der  muss  das  System  des  trans- 
cendentalen  Idealismus    und    den    damit    unzertrennlich    verknüpften 


1)  Diese  Bezeichnung  für  den  Gott  Fichtes  findet  sich  zuerst  in  der  An- 
fang 1799  erschienenen,  sehr  verständigen  Schrift  des  Theologieprofessors  J. 
E.  Chr.  Schmidt:  „Nachricht  an  das  ununterrichtete  Publikum  den  Fichteschen 
Atheismus  betreffend".  Es  heisst  dort,  Fichte  würde  die  moralische  Welt- 
ordmmg  „in  der  Sprache  unserer  Vorfahren  .  .  .  wohl  ordo  ordinans  (wenn 
ich  nach  der  Analogie  von  natura  naturans  ein  Wort  bilden  darf 
genannt  haben".  Fichte  selbst  gebraucht  das  Wort  erst  später.  Zuerst  in  dem 
„Hamburg  1799'-  datirten,  aber  erst  1836  verüffentlichten  Aufsatz:  Zu  „Jacobi 
an  Fichte"  (N.  W.,  III,  S.  ;390).  Gedruckt  findet  sich  der  Ausdruck  zum  ersten 
Mal  in  dem  „Privatschreiben''  aus  dem  Januar  1800,  und  zwar  nicht  wie  bei 
Schmidt  als  Analogon  zu  natura  naturans,  sondern  als  Gegensatz  zu  ordo  urdi- 
natus  (S.  W.,  V,  S.  3b2).  —  Auf  den  Begriff  des  „Thuns  ohne  Thäter",  der  mit 
dem  des  ordo  ordinans  zusammenhängt,  gehe  ich  im  Folgenden  absichtlich  nicht 
ein,  ebenso  wie  ich  auch  den  Bogriff  des  „reinen  Ich-  unberücksichtigt  gelassen 
habe.  Beide  Begriffe  spielen  im  Atheismusstreit  keine  erhebliche  Rolle  mehr, 
und  es  kam  mir  gerade  darauf  an,  zu  zeigen,  dass  auch  ohne  diese  viel  um- 
strittenen und  missverstandenen  Elemente  des  Fichteschen  Denkens  seine 
erkenntnistheoretischen  Grundlagen,  wie  sie  sich  seit  1797  immer  klarer  ent- 
wickeln, darzustellen  sind. 

11* 


156  Heinrich   Ivic  kl"  rt, 

reiiuMi  Moralisimis  ^cnaii  Uciiiifii  iiiid,  wie  ich  ^Maiilx',  l)osit/.('H." 
Seine  (iririuT  al»iT  waren  mhi  dicsn-  Kenntnis  weit  und  mhi  dem 
Besitze  ni)eli  weiter  entfernt.  NN  ir  dUrfen  uns  also  ei^eutlieh 
nieht  dariil)er  wundem,  dass  sie  ihn.  der  (lott  (las  Sein  alispraeh, 
einen  Athi'isten  nanntiMi. 

Versiu'hen   wir  den   (iedanken   Fiehtes  aus  dem  ZusammenhanfifC 
seines  Systems  /.u  verstehen.     Was  es  ihm    so    schwer    machte,    für 
seine  Kelig:ionsphih)soi)hie   einen   Ausdruck    zu    linden,    der  den  An- 
schein von  Taradoxie  vermied,   —   und   daruin   aUein   hanch-lt  es  sich 
im  Grunde    —    war  der  Umstand,    dass    er    sich   in  einem   Tunkte 
zn  aller  Philosophie  vor  ihm,    die  an  einem  llhersinnlichen  festhielt, 
in  hewusstem  Gegensatz  befand:  er  verwarf  die  N'oraussetzung.  dass 
es  zwei  verschiedene  Arten  des  Seins  g:el)e.     In  Kants  theoretischer 
Philosophie  hatte  sich  die  alte  Zvveiweltentheorie,  welche  die  Realität 
in    ein    Sein    höheren    und    geringeren   Grades,    in    eine    „an    sich" 
existierende  Welt   und   eine  Welt    der  „Erscheinungen"    spaltet,    bis 
auf    einen    so  kleinen  Kest  verflüchtigt,    dass   man   darüber  streiten 
konnte,  ob  Kant  überhaupt  noch  an  ihr  festhalte.     Aber  dieser  Rest 
erhielt  in  der  praktischen  Philosophie  wieder  eine  grosse  Bedeutung. 
Fichte  gab  dagegen  die  Seinsspaltung  in  jeder  Hinsicht  auf,  so  dass  in 
den  Zeiten  des  Atheismusstreites  sein  Denken,  das  vorher  und  nach- 
her Wandlungen  durchgemacht  hat,  antiraetaphysisch,    ja  wenn  man 
will,  positivistisch  ist,  so  weit  es  das  bei  jemand,  der  Kants  trans- 
cendentale  Analytik   verstanden    hatte,    nur    sein    konnte.     Er    lässt 
..nichts  für  reell  gelten,    das    sich    nicht    auf  eine  innere   oder 
äussere    Wahrnehmung    gründet".')      Der    alte    metaphysische 
Gegensatz  wird  durch  den  erkenntnistheoretischen  Gegensatz  des 
Begritflichen  auf  der  einen  Seite,  der  unbegreiflichen  Welt  der  Em- 
pfindungen   auf   der    andern    Seite    ersetzt    und    aufgehoben.      „Die 
Philosophie,  selbst  vollendet,  kann  die  Empfindung  nicht  geben,  noch 
ersetzen;  diese  ist  das  einzige  wahre,  innere  Lebensprinzip. "^j  Also: 
die  unmittelbare  Welt  der  Empfindungen,  die  früher  Erscheinung  hiess, 


1)  Eückerinnerungen  u.  s.  w.,  aus  dem  Anfang  des  Jahres  1799.  S.  W.,  V. 
S.  340. 

2)  A.  a.  0.,  S.  343.  Wer  Fiehtes  Philosophie  nur  aus  den  üblichen  kurzen 
Darstellungen  kennt,  wird  diese  Gedanken  mit  seiner  Vorstellung  von  ihr  nicht 
vereinbar  finden.  Fichte  selbst  behauptet,  immer  so  gedacht  zu  haben.  Doch 
darauf  kommt  es  hier  nicht  an.  Jedenfalls  denkt  er  in  den  Zeiten  des  Atheia- 
musstreites  so,  und  wenn  in  der  Wissenschaftslehre  von  1794  sich  andere  Mei- 
nungen finden,  so  stellen  sie  nur  eine  vorübergehende  Phase  dar,  die  er  bald 
überwunden  hat,  und  die  daher  hier  nicht  mehr  von  Bedeutung  ist. 


IMchtes  Atheismusstreit  und  die  Kantiscbe  Philosophie.  157 

ist  für  Fichte  zur  wahren  Realität  geworden,  und  hat  auch  den 
Charakter  der  Irrationalität,  den  bei  Kant  das  Ding  an  sich  besass; 
das  dagegen,  worin  man  früher  die  wahre  Realität  sah.  ist  jetzt 
zum  blossen  Begrifl"  oder  (iedankending  und  damit  zugleich  zum 
Rationalen  gemacht.  Fichte  lehrt  die  Irrationalität  der  Wirk- 
lichkeit. 

Wir  begreifen,  wie  schwierig  es  war,  in  dieser  theoretischen  Philo- 
sophie einen  Gott  unterzubringen,  den  das  moralische  Bewusstsein 
verbürgt  hatte.  Zur  Welt  der  Begritle  darf  die  Gottheit  nicht  ge- 
rechnet werden,  sie  ist  unmittelbar  und  irrational,  wie  die  Sinnen- 
und  Emptindungswelt.  Aber  weil  sie  übersinnlich  ist,  so  kann  von 
ihr  auch  nicht  gesagt  werden,  dass  sie  existiert,  denn  existieren  ist 
dasselbe  wie  sinnlich  existieren.  Etwas  drittes  jedoch,  das  weder 
sinnlich  existiert  noch  Begrifif  ist,  scheint  ausgeschlossen,  und  so 
sehen  wir,  ist  in  der  Welt  Fichtes  für  einen  seienden  Gott,  für  ein 
reelles  Übersinnliches  in  der  That  kein  Platz.  Während  bei  Kant 
die  moralische  Weltordnung  in  dem  theoretisch  leer  gelassenen 
„Ding  an  sich"'  eine  Unterkunft  finden  und  so  zu  einer  Welt  des 
Seienden  über  der  ISinnenwelt  sich  gestalten  konnte,  hatte  hier  die 
theoretische  Vernunft  die  Zweiweltentheorie  so  vollkommen  zerstört, 
dass  die  praktische  Vernunft  auch  nicht  den  geringsten  Raum 
mehr  vorfand,  um  dorthinein  eine  übersinnliche  durch  den  Glauben 
verl)ürgte  Realität  zu  retten.  Weil  die  alten  Kategorien  tur  das 
Denken  des  Übersinnlichen  also  im  erkenntnistheoretischen  Interesse 
zertrünunert  waren,  so  musste  das  Übersinnliche  sozusagen  in  einer 
neuen  Kategorie  gedacht  werden,  wenn  die  praktische  Philosophie 
in  Harmonie  mit  der  theoretischen  bleiben  sollte.  Auf  diese  Einheit 
jedoch  kam  gerade  für  Fichte  alles  an.  Er  hat  es  selbst  empfunden, 
dass  er  bei  der  Formulierung  seiner  neuen  Gedanken  in  einen 
Konflikt  mit  dem  Sprachgebrauch  kam,  aber  es  ist  auch  wirklich 
nur  die  sprachliche  Wendung,  die  uns  stört,  wenn  wir  hören,  der 
ordo  ordinans  ist  kein  Sein,  obgleich  der  Glaube  an  ihn  das  Ge- 
wisseste ist,  was  es  giebt.  Sobald  wir  daran  festhalten,  dass  Sein 
für  Fichte  ausschliesslich  sinnliches  Sein  ist,  erscheint  im  erkenntnis- 
theoretischen Interesse  seine  paradoxe  Formulierung  notwendig. 

Den  engen  Zusammenhang  zwischen  Erkenntnistheorie  und  Reli- 
gionsphilosophie müssen  wir  stets  im  Auge  behalten,  um  diese  Ge- 
danken nicht  nur  zu  verstehen,  sondern  auch  in  ihrer  Bedeutung  zu 
würdigen.  Für  den  religiösen  Menschen  bleibt  vielleicht  der  Satz, 
Gott  hat  kein  Sein,  immer  paradox.     Aber  wollte  Fichte  denn  Ueli- 


158 


Iloinrioli   Uickort. 


ffion  geben V    Im  Geirenteil,    er  wird   nicht  nilldc.    immer  von   neuem 
herv()r/uliel)en.    dass    es    sich  nicht   um   dTe   Kelitrion   seihst,    sondern 
nur    um    die   Helii:ions|)hih»soi)liie    handelt,    und    unter   Philosophie 
versteht  er  nichts  anderes  als  „Deduzieren".     Diest's  Deduzieren  aber 
heisst    ..nicht    irL^end    etwas    neues    in    die    (lemllter    der    Menschen 
briniren."     ..Für  den   l'unhilosophen   —   und   im  l.elien  sind   wir  not- 
vvendiiT  alle  rnphilosojdien  —  ist  etwas  da   und   Idriht  da."     „Der 
rhili>s.»i)h    alter    hat    die   \ Crhindlichkeit.    tliesos   Ktwas  aus  deiu   ge- 
samten Systeme  unseres  Denkens   ahzuleiti'ii,    den   Ort    dessell)cii    in 
jenem    iiDtwendi-ri-n    Systeme    aufzuzeigen."     ,,An    der  Religion    wird 
durch  meine   l'hil(ts(.phie  nichts  geändert,    und   so   gewiss    durch   sie 
etwas    geändert  würde,  wäre    meine   l'hilosojjhie    falsch".     „Ich   hah(^ 
es    mit    der   Ableitung   (Deduktion)   Jener  Religion    aus    dem  Wesen 
der  Vernunft    zu    thun,    und   zwar  lediglich   in  wissenschaftlicher 
Absicht."     Da  nun  Religion  nicht  Wissenschaft   ist,    so    muss    alles, 
was  an  der  Religion  Wissenschaft  zu    sein   vorgiebt,    ,,gänzlich    ver- 
nichtet   werden    als    ein    alle   endliche  Fassungskraft   übersteigendes 
Hirngespinst",  und  es  bleibt  für  die  Keligionsphilosophic  lediglich 
, Jener  Ort    des    religiösen  (Tlaubens,   jenes  Etwas    im  Systeme    des 
notwendigen  Denkens,    an    welches    der    religiöse  Glaube    sich    an- 
schliesst."     Diese    Sätze ^)    machen    die  Absieht    und    den   Sinn    der 
Untersuchung  vollkommen  klar. 

Wir  können  das  auch  so  ausdrücken:'  Fichte  will  nicht  die 
Religion  beschreiben  und  noch  weniger  sie  schaffen,  sondern  lediglich 
feststellen,  was  an  ihr  auch  einer  wissenschaftlichen  Kritik  Stand 
hält.  Das  widerspricht  der  Ablehnung  jedes  Beweises  für  die 
Religion  nicht.  Beweis  ist  im  Sinne  des  ,,Erräsonnirens"  zu  nehmen, 
und  die  Religion  selbst  kann  nicht  bewiesen  werden.  Die  Religions- 
philosophie aber  kann  sich  doch  immer  nur  an  den  Intellekt 
wenden,  denn  für  ihn  allein  sind  ja,  wie  Fichte  selbst  hervorgehoben 
hat, 2)  ihre  Probleme  vorhanden.  W^as  aber  für  den  Intellekt  als  not- 
wendig abgeleitet  werden  soll,  können  nur  die  intellektualistischen 
Elemente  des  religiösen  Lebens  sein.  Diese  unumgängliche  Be- 
schränkung der  Aufgabe  müssen  wir  verstehen.  Wenn  nur  das 
festzustellen  ist,  dessen  Anerkennung  auch  die  Philosophie  sich  nicht 
zu  entziehen  vermag,  und  wenn  zu  einer  übersinnlichen  Realität 
vorzudringen,  der  Philosophie  überhaupt  versagt  ist,  dann  kann 
auch  der  philosophische  Gottesbegriff"   sich    nur    als    der  einer 

1)  Vergl.  S.  W.,  V.,  S.  385—387. 

2)  Vergl.  oben  S.  142. 


Fichtes  Atheisnmsstreit  und  die  Kantische  Philosophie.  159 

übersinnlichen  Ordnung  nnd  nicht  als  der  einer  übersinnlichen 
Realität  ergeben.  So  unbefriedigend  das  im  religiösen  Interesse  sein 
mag,  so  wichtig  ist  es  im  Interesse  der  Wissenschaft,  dass  über- 
haupt irgend  etwas  Übersinnliches  sich  als  notwendig  ableiten  läfst. 

Vielleicht  kann  man  das  Eigentümliche  der  Fichteschen  Ge- 
danken und  die  Bedeutung,  die  sie  trotz  ihrer  Paradoxie  haben, 
auch  so  angeben:  Kant  begriff  das  Wesen  der  Wissenschaft,  ohne 
dabei  die  Voraussetzung  zu  machen,  dafs  nach  einer  Welt  von 
Dingen  an  sich  unsere  Urteile  sich  zu  richten  hätten.  Der 
Gegenstand  der  Erkenntnis  hört  also  auf,  eine  absolute  Realität  zu 
sein.  Er  wird  vielmehr  zu  einer  „Regel"  der  Vorstellungsverknüpfung, 
und  diese  Regel  genügt  vollkommen,  um  dem  Erkennen  die  Objek- 
tivität zu  geben,  die  früher  von  Dingen  an  sich  abhängig  gemacht 
wurde.  Ganz  analog  verfährt  Fichtes  Religionsphilosophie.  Der 
Gegenstand  des  Glaubens  ist  für  ihn  ebenso  wenig  ein  absolutes 
Sein,  wie  der  Gegenstand  der  Erkenntnis  es  für  Kant  ist.  Wie  bei 
Kant  die  Realität  durch  eine  Regel,  so  wird  sie  bei  Fichte  durch 
die  Ordnung  ersetzt,  ein  Begriff,  der  mit  dem  der  Regel  auch  das 
gemeinsam  hat,  dass  er  aus  der  Kategorie  des  Seins  in  die  des 
Sollens  führt.  Ebenso  wie  die  Regel  dem  Erkennen,  so  soll  die 
Ordnung  dem  Glauben  den  „Gegenstand"  und  die  „Objektivität"  ver- 
leihen. 

Selbst^-erständlich  ist  dieser  Vergleich  nicht  in  jeder  Hinsicht 
durchzuführen,  aber  noch  eines  haben  die  beiden  Theorien  gemeinsam. 
Für  den  Mann  der  empirischen  Wissenschaft  wird  die  Erkenntnis- 
theorie Kants  vielleicht  immer  etwas  Paradoxes  behalten,  weil  es 
ihm  auf  den  Inhalt  des  Erkennens  ankommt,  und  er  daher  die 
Objektivität  nicht  von  einer  Regel,  sondern  von  dem  seienden  Stoff 
herleiten  will.  Ebenso  ist  dem  religiösen  Menschen  die  inhaltliche 
Ausgestaltung  des  Gegenstandes  seines  Glaubens  die  Hauptsache, 
und  mit  einer  Ordnung  als  Gegenstand  weifs  er  nichts  anzufangen. 
Aber  wie  sieh  schlieislich  doch  die  transcendentale  Erkenntnistheorie 
nicht  nur  mit  der  empirischen  Wissenschaft  verträgt,  sondern,  richtig 
verstanden,  sie  begründet,  so  wird  sich  auch  die  transcendentale 
Religionstheorie  zum  religiösen  Leben  verhalten.  Man  mufs  nur  so 
wenig,  wie  man  von  der  Erkenntnistheorie  verlangt,  dals  sie  den 
Inhalt  der  Wissenschaft  geben  solk  von  der  Religicnsphilosophie 
den  Inhalt  des  religiösen  Lebens  fordern. 

Gewifs  hat  Fichte  das  letzte  Wort  über  Religion  im  Atheismus- 
streite  noch  nicht   gesprochen.     Seine    eigenen    Gedanken    erhielten 


160  nt'inrich  Klokort, 

ja  wiMiiiTt'  Jalirc  später  c\ne  (Ji'stalt,  die  \'n'\v  als  ixli'ii'lilxHlcntoiid 
mit  i'iiioiii  iiriii/.ipifllcn  \ frlasscii  dos  liier  anjiCirfliciicn  Standpimktcs 
betrui'liti'ii,  und  in  der  sie  jiMUMit'alls  Utifr  die  Hcscliriinkmij;,  die  er 
sich  hier  autfrie-rt  hat,  weit  hinausirelieii.  Das  hebt  jedoeh  den  Wert 
seines  früheren  Standpunktes  nieht  auf.  Nielit  das  let/.te,  wohl  alter 
das  erste  Wort  liber  Heliirion,  das  die  l'hilosophic  zu  sa^^en  hat, 
ist  hier  sresajrt.  und  dieses  Wort  sollen  wir  stehen  lassen:  Der 
(rlaube  an  eine  übersinnliehe  Weltordnun^^  ist  das  (rewisseste,  was 
es  rriebt;  das  relidöse  Leben  hat  im  System  der  Philosophie  seinen 
absolut  sicheren  ,,Ort''.  Was  weiter  über  die  Ordimiif,'  /,u  sa^^eu 
sein  wird  und  g:csajrt  wonlen  ist,  kann  nicht  eine  Verweri'ung, 
sondern  lediirlich  eine  Ergänzung  dieser  Gedanken  sein. 

2.  Religion  und  Metaphysik. 

Worin  aber  ist  die  Ergänzung  zu  suchenV  Eine  erschiipfende 
Antwort  auf  diese  Frage  liegt  mir  hier  natürlich  fern,  aber  wieder 
legt  der  Zusammenhang  mit  Ansichten  der  Gegenwart  w^enigstens 
eine  Andeutung  nahe. 

Viele  werden  heute  noch  den  Abschluss  der  Religionsphilosojihie  in 
einer  Metaphysik  erblicken,  und  wenn  sie  hierunter  eine  Wissenschaft 
im  strengen  Sinne  des  Wortes  verstehen  und  sie  zu  geben  imstande 
sind,  so  haben  sie  Recht.  Aber  eine  solche  Metaphysik  kommt  hier 
für  uns  nicht  in  Frage.  W^ir  bleiben  bei  dem  Verhältnis  Fichtes  zu 
Kaut,  und  dass  Kant  Metaphysik,  d.  h.  Erkenntnis  des  Übersinnlichen 
im  strengen  Sinne  als  Wissenschaft  hat  gelten  lassen,  wird  wohl 
niemand  behaupten.  Trotzdem  ist  heute  die  Meinung  verbreitet,  dass 
gerade  auf  dem  Boden  des  Kantischen  Denkens  die  Religionsphilo- 
sophie viel  mehr  geben  könne,  als  Fichte  im  Atheismusstreit  gegeben 
hat,  und  wir  wollen  daher  die  bereits  früher  behandelte  Auffassung 
Kants  jetzt  auch  in  Bezug  auf  den  Gegenstand  des  religiösen  Glaubens 
mit  dem  Standpunkt  Fichtes  vergleichen. 

Kant,  so  hören  wir,  hat  nicht  nur  sein  Lehen  lang  an  einer 
Metaphysik  festgehalten,  sondern  ist  darin  auch  heute  noch  vorbildlich. 
Der  „blosse"'  Glaube  soll  uns  zu  einer  übersinnlichen  Realität  führen, 
und  diese  auch  im  einzelnen  soweit  bestimmen  können,  dass  dadurch 
eine  Versöhnung  von  Wissen  und  Religion  erreicht  wird.  Man  bean- 
sprucht für  den  Willen  also  nicht  nur  das  Recht,  den  Glauben  an 
ein  über  alle  Sinnen-  und  Verstandeswelt  hinausweisendes  Göttliches 
zu  begründen,  sondern  auch  eine  positive  Metaphysik  des  Übersinn- 
lichen auf  ihn  zu  bauen. 


Fichtes  Atheisiuusstreit  und  die  Kantische  Philosophie.  161 

Auch  hier  fragen  wir  Aveiiiger  nach  Kants  Meinung,  als  da- 
nach, welche  Elemente  seines  Denkens  wir  hervorhel)en  müssen,  um 
seine  Philosophie  in  fruchtbarer  Weise  weiterzubilden.  Vergleichen 
wir  nun  Fichtes  Gedanken  mit  der  modernen  Kantiuterpretation,  die 
Kopf  und  Herz  koordinieren  und  den  Intellekt  durch  den  Willen  über- 
winden will,  so  tinden  wir  die  Kolleu  eigentümlich  vertauscht.  Die 
Denker,  die  für  ihren  Glauben  eingestandenermassen  nur  ein  sehr 
ungewisses  Gewissheitsprinzip  besitzen,  meinen  doch  damit  ein  Bild 
der  übersinnlichen  Realität  entwerfen  zu  können.  Fichte  dagegen, 
der  sich  ein  Prinzip  absoluter  höchster  Gewissheit  für  das  Übersinn- 
liche erarbeitet  hat.  macht  mit  äusserster  Vorsicht  bei  der  unmittel- 
bar gewissen  übersinnlichen  Weltordnuiig  Halt.  Er  hat  gezeigt,  dass 
eine  zwingende  Notwendigkeit  uns  über  uns  hinaus  zum  übersinn- 
lichen weist.  Über  dies  Übersinnliche  dagegen  zu  grübeln  und  es 
auszustaffieren  mit  Prädikaten,  die  doch  immer  nur  der  Sinnenwelt 
entnommen  sind,  erscheint  ihm  ganz  wertlos. 

Wer  hier  mehr  geleistet  hat,  das  bedarf  keiner  langen  Er- 
örterung. Eine  Metaphysik,  die  auf  Wünschen  des  Herzens  beruht, 
mag  interessant  sein,  wenn  sie  der  Ausdruck  einer  grossen  Persön- 
lichkeit ist,  wird  sie  aber  direkt  als  Aufgabe  der  Philosophie  be- 
zeichnet, so  kann  das  nur  zu  unerträglichen  Halbheiten  führen  und 
Zweifel  gegen  den  Wert  philosophischer  Bemühungen  überhaupt  her- 
vorrufen. Das  Hypothetische  und  Ungewisse,  das  ihr  notwendig  an- 
haltet, macht  diese  Metaphysik  wertlos  für  den  religiösen  Menschen, 
denn  dem  ist  es  nie  um  ,, blossen''  Glauben,  sondern  um  Glauben 
als  absolute  Gewissheit  zu  thun.')  Wie  aber  ein  w^issenschaftlicher 
Mensch  sich  mit  ihr  zufrieden  geben  kann,  ist  erst  recht  nicht  zu 
begreifen,  da  er  vollends  nicht  auf  blossen  Glauben,  sondern 
allein  auf  Wissen  ausgehen  darf.  Gerade  für  eine  Philosophie,  die 
gegen  den  Naturalismus  ankämpfen  will,  kommt  es  viel  mehr  auf  die 
absolute  Gewissheit  irgend  eines  Übersinnlichen  überhaupt,  als  auf 
die  hypothetische  Ausgestaltung  seines  Inhaltes  an.  Ist  der  Naturalismus 
nur  einmal  im  Prinzip  so  durchbrochen,  dass  über  seine  Unhalt- 
barkeit  auch  nicht  der  geringste  theoretische  Zweifel  mehr  besteht, 
so  ist  damit  die  Hauptsache  gethan,  und  in  der  Überwinduntr  des 
Naturalismus,  die  auf  der  Fichteschen,  d.  h.  wissenschaftlichen  Über- 
windung des  Intellektualismus  beruht,  werden  wir  daher  eine  Leistung 


')  Dass  alles  Hypothetische  auch  nicht  „die  Spur  einer  Ähnlichkeit  mit 
dem,  was  der  religi«3se  Mensch  Glauben  heisst",  besitzt,  hat  Theobald  Ziegler 
in  seiner  Rektoratsrede  über  „Glauben  und  Wissen"  vortreftlich  dargelegt. 


1  (J2  lloinricli   KickiTt. 

orl)liok(Mi  inllsscn.  dii'  l'ür  ilic  Kclifrionspliilosopliic  \icl  hcdciiii-iidcr 
ist,  als  alli'  Mi-taplivsik  des  ri)orsinnlii'li('n',  die  auf  dem  in  der 
Wissenschaft  total  unl)raiifliliart'ii  (Jrunde  von  Wünschen  des  ller/ens 
l)eruht. 

Aller.  \\  ie  hereits  j;esa;;'t.  das  ifli;:iüse  (iet'ilhl  wird  sieh  \<t- 
inntlieh  jrejren  einen  (tott,  der  nicht  ,,sein"  soll,  immer  stränhen,  es 
wird  mit  dem  InhejrritV  der  höchsten  Werte,  die  es  kennt,  auch  den 
BeirritV  di'v  Realität  verbinden  wollen,  und  das  ist  /weiftdlos  sein 
iriites  Recht.  \\\v  werden  daher  sajren  mllssen,  dass  Fichtes  Denken 
in  der  That  doch  der  Kr^'än/.nn.ir  bedarf.  Die  lleli}rionsphilosophie  hat 
sich  bei  ihm  /.u  einer  Krkenntnislehre  der  Reliirion  <restaltet.  und  so 
sicher  die  Keliirion  nicht  nur  aus  intellektuellen  Kiementen  besteht, 
sondern  ihren  Schwerj)unkt  im  (iefühls-  und  Willensleben  hat,  el)enso 
sicher  ist  durch  diese  Kelifrionsphilosophie  der  BefjritT  der  Keli«>:ion 
nicht  erschöpfend  darjrestellt.  Das  hat  Fichte  besonders  in  der 
Appellation  nicht  jrenügend  berücksichtijrt.  wenn  er  den  (xlauben  an 
Gott  als  eine  Realität  Götzendienst  nennt.')  Auch  wenn  die  Reliirions- 
philo Sophie  nur  den  ,,Ort''  anzuj^eben  vermaj?  für  das  religiöse 
Leben,  und  eine  weitere  Ausgestaltung  des  (Tottesbegriffes  ihr  versagt 
ist.  so  hat  doch  das  nichtwissenschaftliche  religiöse  Leben  selbst 
unzweifelhaft  das  Recht,  sich  an  diesem  philosophischen  ..Orte"  unge- 
hindert und  frei  zu  entfalten,  und  die  Philosophie  kann  ihm  keine 
Vorschriften  darüber  machen,  wie  es  dies  thun  soll.  Sie  vermag 
mit  ihren  Begritfen,  die  eben  ßegriife  bleiben,  für  sich  allein  nichts 
zu  bieten,  womit  der  lebendige  Mensch  leben  kann,  und  muss  daher 
anerkennen,  dass,  wenn  aus  der  Religionsphilosophie  Religion  werden 
soll,  ein  Überschreiten  ihrer  Grenzen  geradezu  notwendig  ist.  So 
wird  ihr  schliesslich  die  Rolle  eines  Wächters  nach  zwei  Seiten  hin 
zufallen.  Sie  wird  nicht  nur  jede  Religion,  die  als  Wissenschaft 
auftritt,  zurückweisen,  sondern  auch  das  alogische  religiöse  Leben 
vor  dem  Übereifer  jener  Intellektualisten  schützen,  die  überall  nur 
Schwärmerei  erblicken,  wo  ein  wissenschaftlicher  Beweis  oder  un- 
mittelbare logische  Evidenz  den  Überzeugungen  fehlt,  und  sie  wird 
so  verstehen  lehren,  dass  Religion  zwar  nicht  Wissenschaft,  aber 
auch  nicht  Schwärmerei  ist,  sondern  eine  ganz  eigene  Art  des  Lebens, 
die  ihre  eigenen  Rechte  hat. 

Aber  müssen  wir  dann  nicht  noch  weiter  gehen?  Wenn  die 
Philosophie    zugiebt.    dass    sie    nicht  alles  begreifen  kann  und  z.  B, 

1)  Das  Wichtige  in  diesen  Gedanken  ist  übrigens  der  Antieudämonismus, 
auf  den  ich  hier  nicht  eingehen  kann. 


Fichtes  Athoismusstreit  und  die  Kantische  Philosophie.  163 

nicht  zu  erklären  vermag:,  wie  mit  dein  g:uten  Willen  die  geibrderte 
Mög:liehkeit  einer  Realisierung  des  objektiv  Guten  denn  nun  eigent- 
lich in  Wirklichkeit  zusannnenhängt,  rauss  sie  dann  nicht  auf  einen 
Abschluss  unserer  (berzeugungen  durch  das  religiöse  Leben  als  auf 
eine  notwendige  Aufgabe  hinweisen,  damit  so  die  von  der  Wissen- 
schaft niemals  auszufüllende  Kluft  überbrückt  wird?  Bringt  man 
nun  aber  solche  religiösen  Überzeugungen  auf  einen  erkenntnisartigen 
Ausdruck,  was  sich  schwer  vermeiden  lässt,  so  nehmen  sie  doch 
notwendig  die  Form  einer  Metaphysik  an,  und  wird  einer  solchen 
religiösen  Metaphysik,  so  lange  sie  daran  festhält,  dass  sie  nicht 
Philosophie  sondern  Religion  ist,  nicht  schliesslich  auch  die  Philo- 
sophie sich  unterordnen  und  somit  dem  Willen  und  dem  Gefühl 
auch  in  dem  Sinne  sein  Recht  einräumen,  in  dem  sein  Einfluss  auf 
unsere  Überzeugungen  als  Thatsache  nachgewiesen  werden  kann? 
Die  Philosophie  bliebe  dann  auf  die  Aufzeigung  der  Lücken  in  unserem 
Wissen  beschränkt.  Sie  ginge  für  sich  nirgends  zu  Annahmen  über, 
zu  deren  Anerkennung  sie  den  Intellekt  nicht  zwingen  kann,  und 
behauptete  daher  niemals  eine  übersinnliche  Realität,  aber  weim  das 
religiöse  Leben  der  Vorstellung  solcher  Realität  in  Form  einer  Meta- 
physik zu  bedürfen  erklärt,  kann  sie  dagegen  etwas  sagen? 

Das  sind  schwierige  Fragen,  die  sich  nicht  mit  einem  Wort  er- 
ledigen lassen,  aber  darauf  wird  man  doch  vielleicht  hinweisen 
dürfen,  dals  wohl  die  Zeiten  im  wesentlichen  vorüber  sind,  in 
denen  das  religiöse  Fühlen  geneigt  war,  nach  Formen  zu  suchen, 
die  sich  notwendig  als  Metaphysik  darstellen,  und  dals  wir  es 
auch  wünschen  müssen,  es  würde  recht  wenig  solche  religiöse 
Metaphysik  getrieben.  Metaphysische  Überzeugungen  nehmen,  sobald 
der  Mensch  sie  in  Urteilen  ausspricht,  immer  die  Form  auch  einer 
wissenschaftlichen  Metaphysik  an,  und  dadurch  gerät  dann  die 
Religion  sc  leicht  in  jene  gefährliche  Verwandtschaft  mit  den  Theorien, 
die  ein  wissenschaftliches  Verständnis  der  Welt  anstreben.  Eine 
Trennung  der  Religion  von  jeder  Metaphysik  liegt  also  entschieden 
im  religiösen  Interesse,  weil  die  Religion  in  jeder  Form,  die  auch 
nur  äulserlich  das  Gepräge  einer  Wissenschaft  trägt,  immer  den 
schärfsten  Widerspruch  der  theoretischen  Menschen  erregen  wird, 
die  in  der  wissenschaftlichen  Erkenntnis  des  Übersinnlichen  nicht  nur 
eine  unlösbare  Aufgabe,  sondern  sogar  in  dem  Bedürfnis  nach  ihrer 
Lösung  das  Produkt  einer  falschen  Fragestellung  erblicken.  Damit 
aber  kämen  wir  im  wesentlichen  doch  wieder  dem  Standpunkt 
Fichtes  im  Atheismusstreit  recht  nahe. 


2(54  llciiiricli   Kickt' il. 

Kino  andorc  l'berlciruni!:  imifs  uns  olx'utalls  von  der  rt'lijriöscn 
Mcta|»li\  sik  cntiVrncii.  Die  Hauptsache  Itei  aller  Iveliirioii  ist  doch 
sehlielslieh.  ilal's  wir  /u  dt-r  lUiersinnliehen  Weltordiuiii'r,  /.u  der  die 
rhilosopliie  mit  zwinirender  Notweiidiickeit  uns  führt,  uueh  in  ein 
persünliehes  \  erhältnis  /,u  Uomnu-n  verniüiren.  Kine  lielifiidii  alter, 
die  ihren  Inhalt  sich  durch  Aufbau  einer  Metaphysik  verschallt,  iriidit 
diese  Mi'tirlichkeit  nie,  (l(>nn  alle  Metaphysik  besteht  in  ailirenieinen 
HeirritVen.  und  zum  Allicenieinen  können  wir  ein  persönliches  \  er- 
hältnis nicht  irewinnen.  Der  alljrenieine  Kahnien  der  Meta|)hysik 
wird  daher  innner  erst  g:efiillt  sein  müssen  durch  die  l'berlieferun,i;en 
einer  historischen  Keliirion,  und  wenn  wir  diese  haben,  ist  dann 
eine  Relijrionsmetai)hysik  nicht  vielleicht  {;:anz  überHüssi^V  linser 
Denken,  das  nach  logischer  Gewifsheit  strebt,  befriedij^t  sie  nicht, 
nnser  reli<ri()ses  Fühlen  aber  bringt  sie  wegen  ihrer  formalen  N'erwandt- 
schaft  mit  der  wisseuschattlichen  Philosophie  leicht  in  Verwirrung, 
als  sei  der  religiöse  Glaube  so  hypothetisch,  wie  seine  Metaphysik  es 
Tom  wissenschaftlichen  Standpunkt  aus  ist.  lls  scheint  also,  als  würde 
das  religiöse  Fühlen,  das  in  seinem  Reich  sich  frei  weils  und  diese 
Freiheit  auf  wissenschaftliche  Beweise  stützen  kann,  sich  am  besten 
halten  an  eine  besondere  historische  Gestaltung,  an  das  Leben  eines 
grofsen  Menschen,  eines  „religiösen  Genies",  das  einmal  in  seiner 
Persönlichkeit  eine  vorbildliche  Ausprägung  gefunden  hat  für  sein 
konkretes  Verhältnis  zu  Gott.  Geben  wir  den  Versuch  auf,  die 
Gottheit  unter  irgend  einen  wissenschaftlichen  oder  religiösen  Allge- 
meinbegrift"  zu  bringen,  so  fassen  wir  um  so  sicherer  im  Geschicht- 
lichen, d.  h.  im  Individuellen  und  Besonderen  ihr  ,. lebendiges 
Kleid"  und  haben  an  ihm  die  Realität,  deren  wir  als  religiöse 
Menschen  bedürfen. 

Auch  Gedanken  dieser  Art  liegen  sehlielslieh  Fichte  nicht  so  absolut 
ferne,  wie  man  nach  dem  etwas  geringschätzigen  Tone,  in  dem  er  oft 
vom  „Historischen-'  spricht,  vielleicht  glauben  sollte,  und  damit  will  ich 
nicht  nur  auf  die  Thatsache  hinweisen,  dals  er  selbst  sein  Leben  lang 
fest  auf  dem  Boden  des  positiven  historischen  Christentums  ge- 
standen hat,  sondern  ich  meine  damit  gewisse  nicht  genug  beobachtete 
Elemente  in  seiner  Philosophie.  Unter  diesen  habe  ich  jedoch  wieder- 
um nicht  so  sehr  die  grolsartige  Ausgestaltung  des  Entwicklungs- 
gedankens im  Auge,  die  Fichte  zu  den  ersten  Vertretern  einer  geschicht- 
lichen Weltanschauung  macht,  als  vielmehr  einige  Ansätze  zur  Be- 
stimmung des  Historischen  in  seiner  allgemeinsten,  einfachsten  und 
oft  übersehenen  Bedeutung.     Für  das  Problem  der  Religionsphilosophie 


Fichtes  Atheisniusstreit  und  die  Kantisclie  Philosophie.  165 

freilich  hat  er  diese  Ansätze  nicht  ansgeführt.  Da  brachte  sein 
Bedürlnis  nach  Verlebendigung  seines  Gottesbegriffes  ihn  sogar 
dazu,  die  im  Atheisninsstreit  so  sorgfältig  gezogenen  Grenzen  zwischen 
Religion  und  Spekulation  wieder  zu  verwischen.  Aber  auf  die  Be- 
deutung, die  das  Bestimmte  und  Besondere,  und  das  ist  das  Histo- 
rische in  seiner  umfassendsten  Gestalt,  für  das  sittliche  Leben  besitzt, 
weist  er  auch  im  Atheisrausstreite  hin.  ..Dem  Menschen  im  wirk- 
lichen Leben  kann  das  Tflichtgebot  nie  überhaupt,  sondern  immer 
nur  in  konkreter  Willensbestimmuug  erscheinen",  heisst  es  in  den 
Ruckerinnerungen.  M  und  in  der  Schrift  über  den  Grund  unseres 
Glaubens  an  eine  göttliche  Weltregierung  wird  die  Bedeutung  der 
„Schranken'',  d.  h.  der  irrationalen  unmittelbaren  Empfindungswelt 
oder  der  empirischen  Wirklichkeit  dahin  angegeben,  dals  sie  die 
jbestimmte  Stelle  in  der  moralischen  Ordnung  der  Dinge"  seien. 
Setzen  wir  das  Historische  im  weitesten  Sinne  diesen  ..Schranken", 
d.  h.  der  irrationalen  Welt  des  Bestimmten  und  Besonderen  gleich, 
so  wird  das  Geschichtliche  ..die  fortwährende  Deutung  des  Tflicht- 
gebotes,  der  lebendige  Ausdruck  dessen,  was  du  sollst,  da  du  ja 
sollst". 

Hier  scheint  mir  der  entscheidende  Punkt  für  die  Würdigung 
des  Geschichtlichen  getroffen,  und  von  hier  führt  dann  ein  direkter 
Weg  zu  jener  Anerkennung  des  Historischen  als  des  Einmaligen, 
Irrationalen  in  seiner  Bedeutung  gegenüber  dem  Allgemeinen  und 
Begrifflichen,  die  in  späteren  Schriften  Fichtes  immer  klarer  hervor- 
tritt, besonders  wenn  er  in  den  „Reden  an  die  deutsche  Nation"  ein 
Volk  in  seinen  nationalen,  also  historischen  Eigentümlichkeiten  be- 
greift als  stehend  ,.unter  einem  gewissen  besonderen  Gesetze  der 
Entwicklung  des  Göttlichen",  wenn  er  an  der  Nation  das  ,,Mehr  der 
Bildlichkeit"  zu  schätzen  weiss,  „das  mit  dem  Mehr  der  unbildlichen 
Ursprünglichkeit  in  der  Erscheinung  unmittelbar  verschmilzt",  oder 
endlich  erklärt:  ,,die  geistige  Natur  vermochte  das  Wesen  der  Mensch- 
heit nur  in  höchst  mannigfaltigen  Al)stufungeu  an  Einzelnen,  und  an 
der  Einzelheit  im  Grofsen  und  Ganzen,  an  Völkern,  darzustellen."  2) 
Wir  können  danach  den  bekannten  Satz  Fichtes  auch  so  betonen:  ,,Die 
Welt  ist  das  versinnlichte  Material  unserer  Pllicht",  und  jedenfalls 
sehen  wir,  dass  mit  den  Grundprinzipien  der  Fichteschen  Philosophie 
auch  der  Gedanke  einer    historischen  Religion  als   der   in  ihrer  Be- 


1)  S.  W.,  V.,  S.  362. 

2)  S.  W.,  Bd.  VU,  S.  381,  382  u.  467. 


\{\{\  11 1' in  rieh  Kicken.  Kii-liU>s  Aüu'ismusstrpit  etc. 

soiuli'rhfit    ndtwciidiircn    Ausfrostaltuii'r     des     unt'assbarcn    ^iittliolicii 
Lebens  clurehaus  nicht  unvereinliar  ist. 


Dies  niö^e  frenüiren.  um  /u  /.eijren,  inwiefern  Fichte  {gerade 
durcii  seine  im  .Vtheismusstreit  entwickelten  (ledanken  für  uns  heute 
noch  mehr  als  ein  bloss  historisches  Interesse  hat.  \  ieles,  was  die 
Wissenschaftslehre  von  1794  unjreniefsbar  und  vieldeutif:  macht,  hat 
er  in  diesen  Zeiten  überwunden.  Das  {rewaltsame  Konstruieren 
tritt  in  den  llinterjrrund,  /u  keiner  andern  Zeit  steht  er  dem  von 
aller  ,. Verliebtheit"  in  die  Metaphysik  befreiten  „Kriticismus"  Kants 
so  nahe.  L'nd  anderseits  sind  die  Schriften  aus  diesen  Jahren  noch 
frei  von  den  neuen  Elementen,  die  später  hervortreten  und  zu 
einem  restlosen  Aufgehen  in  den  Kriticismus  nicht  gebracht  worden 
sind.  Die  spätere  Zeit  ist  reich  in  der  Anwendung  seiner  Ideen 
auf  die  Probleme  der  Geschichte,  des  Staates,  der  CTesellschaft,  der 
Nationalität;  die  erkenntnistheoretischen  und  die  damit  unmittelbar 
zusammenhängenden  religionsphilosophischen  Sätze,  d.  h.  die  tiefsten 
Grundlagen  seines  Denkens  werden  nirgends  klarer  entwickelt.  Wer 
Fichtes  theoretische  Philosophie  auf  ihrem  Höhepunkt  kennen  lernen 
will,  wird  sich  daher  vor  allem  an  seine  Schriften  aus  den  letzten 
Jahren  des  vorigen  Jahrhunderts  halten  müssen,  und  kennen  sollte 
eine  Zeit,  die  sich  so  viel  mit  Kant  beschäftigt,  diesen  grössten 
aller  „Kantianer'*  doch  jedenfalls. 


Der  Streit  um  das  Ding  an  sich 

und    seine   Erneuemng    im    sozialistischen   Lager. 
Von  Franz  Staudinger. 


Ein  altes  Gespenst  geht  wieder  am,  das  man  schon  zuweilen 
gebannt  glaubte.  Das  ,,Ding  an  sich'',  das  jenseits  der  Erscheinung 
unerkennbar  zu  thronen  pflegt,  tritt  wieder,  gleich  der  weissen 
Frau  im  Hohenzollernschloss,  in  Erscheinung.  Und  diese  Erscheinung 
'  des  Dinges  an  sich  findet  heute  statt  in  sozialistischen,  b^zw.  marxisti- 
schen Kreisen.  Ob  Heil  oder  Unheil  verkündend,  das  muss  die 
Zukunft  lehren;  vorläufig  hat  es  nur  Streit  erregt. 

In  diesem  Streite  stand  auf  der  einen  Seite  der  strenge  Materialist 
alter  Observanz  Georg  PI echanow,  bekannt  durch  seine  „Beiträge  zur 
Geschichte  des  Materialismus'-,  worin  er  scharfe  Ausfälle  gegen  die 
Kantianer,  besonders  gegen  F.  A.  Lange  gemacht  hat.  und  auf  der  anderen 
Seite  standen  Eduard  Bernstein  sowie  Dr.  Konrad  Schmidt,  die 
bei  Kant  eine  Vertiefung  ihrer  Philosophie  zu  finden  hoffen.^) 

Das  Problem,  das  hier  in  Frage  steht,  ist  von  Plechanow  dahin 
entwickelt  worden,  dass  Kant  sich  widerspreche,  indem  er  einerseits 
richtig  die  Dinge  an  sich  als  Ursache  unserer  Empfindungen  an- 
sehe, andererseits  aber  behaupte,   dass  die  Kategorie  der  Kausalität 

ij  Die  einschlägigen  Arbeiten  sind: 

Georg    Plechanow:     Beiträge     zur    Geschichte    des    Materialismus. 

Stuttgart.     1896. 

Konrad  Schmidt:    Kritik    zu    vorgenanntem    Buch    im    „Sozialistischen 

Akademiker".     1896.     Juli-  und  Augustheft. 

K.  Schmidt:  Über  Kronenbergs  Buch:  Kant,  sein  Leben  und  seine 
Lehre.     Vorwärts,  17.  Okt.  1897.     3.  Beil. 

Eduard  Bernstein:  Das  realistische  und  ideologische  Element  im 
Sozialismus:  „Die  Neue  Zeit",  Stuttgart  1897/98.     Heft  34  u.  :V.K 

G.  Plechanow:    Eem.stein  und  der  Materialismus.     Ebenda:  Heft  44. 

G.  Plechanow;  Konrad  Schmidt  gegen  Karl  Marx  und  Friedr.  Engels 
Ebenda,  1898,99.     Heft  5. 

K.  Schmidt:    Einige  Bemerkungen  über  Plechanow.     Ebenda  No.   U. 

G.  Plechanow:    Materialismus  oder  Kantianismus      Ebenda,  No.  19  u.  20. 

Dr.  Ch.  Schitlowsky:  Die  Polemik  Plechanow  contra  Stern  und 
Konrad  Schmidt.     „Sozialistische  Monatshefte",  1899,  Juni  u.  Juli. 


168  Kranz    St audtn^jor, 

auf  dir  Diiip"  an  sich  nicht  ;m\v»'ii(lhar  sei.')  Konrad  Schmidt  da- 
gejroii.  drill  Hornstcin  den  Aiistraj:  des  Streits  zuschiebt,  vertritt  den 
Gedanken,  dass  Kants  Lehre  wesentlich  eine  Theorie  der  Kr- 
fahruni:  sei.  innerhalb  deren  lll)erall  stren<r  kausale  Verknllpfuii}; 
der  Krscheinun_i:en  stattdnde.  Dieser  (ledanke,  den  man  auch 
Materialismus  nennen  könnte,  sei  aber  ü:run(lverschieden  noh  dem 
metaphysischen  Materialismus,  der  ..die  Elemente  der  Erscheinungen 
llir  Dinire  an  sich  erklärt.''-) 

Es  ist  nicht  z^Yeitelhaft.  dass  hier  lieide  Streiter  aneinander 
vorbeireden.  Was  Plechanow  betont  wissen  will,  liisst  Konrad  Schmidt 
völlig  kalt,  untl  umgekehrt  kennt  Plechanow  nicht  die  rroljlcmc, 
welche  Kant  zu  der  Trennung  des  Dings  an  sich  von  den  Erschein- 
ungen geführt  haben  und  notwendig  führen  mussten.  Er  bäumt  sich 
mit  der  Vehemenz  und  den  Warten  des  common  sense  gegen  eine 
Schlassfolgerung,  deren  Prämissen  er  nicht  erfasst  hat.  Darum  kann 
er  natürlich  auch  bei  seinem  Gegner  auf  kein  Verständnis  desjenigen 
Einwands  horten,  der  ihm  am  Herzen  liegt,  und  den  wir  allerdings 
als  sehr  berechtigt,  wenn  auch  als  falsch  gefasst,   erkennen  müssen. 

So  steht  der  Sachverhalt;  —  aber  nicht  etwa  bloss  in  sozialisti- 
schen Kreisen.  Der  zwischen  genannten  Sozialisten  ausgebrochene 
Streit  spiegelt  nur  den  Zustand  wieder,  in  dem  sich  das  Erkenutnis- 
problem  noch  heute  überhaupt  befindet.  Die  einen,  auf  dem  Boden 
der  Empirie  und  Psychologie  stehend,  verkennen  die  erkenntnis- 
theoretische Hauptleistung  Kants,  die  anderen,  zum  Verständnis  dieser 
Errungenschaft  vorgedrungen,  vergessen  darüber,  eine  empfindliche 
Lücke  zu  beachten,  die  Kant  nicht  nur  ofl'en  gelassen  hat,  was 
nichts  geschadet  hätte,  sondern  die  er  durch  eine  widerspruchs- 
volle Annahme  zu  schliessen  suchte.  Infolge  dieses  Lösungsversuchs 
Ton  Kant  selbst  muss  das  „Ding  an  sich"  immer  wieder  als  Ge- 
spenst erscheinen  und  Verwirrung  stiften. 

Wir  wollen  den  Versuch  machen,  diesen  armen,  irren  Geist  zur 
Knhe  im  Orkus  zu  bringen.  Dazu  ist  es  nötig,  dass  wir  uns  kurz 
die  wesentlichsten  Erkenntnisfragen  vor  Augen  führen,  die  bis  zu 
Kant  die  Denker  beschäftigt  haben,  sodann  die  wertvolle  Entdeckung 
Kants  skizzieren,  drittens  das  Problem  oß'en  legen,  das  auch  hier- 
nach noch  zu  lösen  bleibt,  und  endlich  den  Weg,  der  zu  dessen 
Lösung:  fuhren  möchte,  andeuten. 


1)  N.  Z.  1898/99,  Heft  5,  S.  136. 

2)  N.  Z.  a.  a.  0.,  No.  11,  S.  326. 


Der  Streit  um  das  Ding  an  sich  etc.  169 

Das  geschichtlich  erste  Problem,  welches  die  Philosophie  be- 
schäftigt hat  ist  die  Frage:  Was  ist  das  eigentliche  ISein  in  dem 
Wechsel  der  Erscheinungen.  Dem  zum  Sell)stbewusstsein  erwachenden 
Denken  wohnt  ja  der  Drang  inne,  in  dem  Vielen  und  Wechselnden 
Einheit  zu  suchen.  Und  diese  Einheit  fand  z.  B.  ein  Thaies  im 
Wasser,  ein  Anaximenes  im  Apeiron,  ein  Parmenides  in  der  den 
Raum  erfüllenden  einheitlichen  und  ewigen  Kugel  etc.  etc.  Diese 
Kachforschung  nach  der  sachlichen  Grundlage  des  Seins  wird 
heute,  mit  Ausnahme  von  einigen  Metaphysikern,  nicht  mehr  von  den 
Philosophen  betrieben.  Die  Naturwissenschaft,  insbesondere  Physik 
und  Chemie,  sind  an  deren  Stelle  getreten  und  forschen  auf  Grund 
ihrer  allmählich  immer  sichereren  Methoden  nach  dem  einheitlichen 
Zusammenhange  dessen,  was  ist. 

Allein  indem  man  jene  Forschung  nach  dem  Seienden  betrieb, 
musste  naturgemäss  eine  zw^eite  Frage  auftreten:  Wodurch  er- 
kennen wir?  Welches  sind  die  Erkenntnismittel,  durch  die  wir 
dem  Seienden  beizukommen,  es  in  unsere  Erkenntnis  aufzunehmen 
vermögen  V  Diese  Frage  liegt  schon  der  Eleatischen  Philosophie  zu 
Grunde.  Wenn  Parmenides  d£;s  als  ewige  Kugel  vorhandne  Seiende 
für  das  Denkbare  und  das  Denkbare  für  wirklich  erklärt,  dem 
wechselnden  Sinnenschein  aber  keine  Wahrheit  zugesteht,  so  hat  er 
bereits  den  Schritt  über  die  blosse  Erforschung  des  Seins  hinaus 
gethan  und  Erkenntniskritik  geübt.  Er  h^t  die  Erkenntnismittel 
bereits  in  Sinneswahrnehmungen  und  Gedanken  getrennt,  und  unter 
Abweisung  der  ersteren  für  das  Denken  als  allein  adäquates  Er- 
kenntnismittel Partei  ergriffen.  Und  umgekehrt  liegt,  wenn  auch 
minder  deutlich,  der  Heraklitischen  Lehre  vom  ewigen  Flusse  der 
Gedanke  von  der  massgebenden  Bedeutung  der  den  ewigen  Wechsel 
vor  Augen  führenden  Sinneswahrnehmungen  zu  Grunde,  ein  Gedanke, 
der  bei  Protagoras  und  seinen  Schülern  auf  die  Spitze  getrieben 
wird.  Die  Objektivität  der  Dinge  geht  hier  in  der  Subjektivität  der 
Erscheinungen  auf.  Unsere  modernen  „Positivisten"  kommen  so 
ziemlich  zu  dieser  Anschauung  zurück. 

Auf  diesem  Boden  der  ständigen  Vermengung  von  Er- 
forschung des  Seienden  und  Kritik  der  Erkenntnismittel 
bewegt  sich  die  Philosophie  bis  auf  Kant.  Als  charakteristisch  in 
dieser  Denkentwicklung  sei  die  Aufstellung  Lockes  hervorgehoben. 
Ohne  weiteres  gleitet  dieser  von  der  Trennung  der  Erkenn tnis- 
mittel  in  Sensation  und  Reflexion  hinüber  zu  dem  Unterschiede 
der  sekundären  Eigenschaften  der  Dinge,    der  Töne,  Farben  etc., 

Kautstudieu  IV.  12 


ly^,  Friiuz    StautliiiKor, 

die  ki'inom  existion'iulon  Dinjre  ähnlich  sind,  und  der  piiniiin-ii  Ki;j:en- 
schaflen,  (irösse.  Zahl.  Gestalt,  die  in  den  Ki.rjx'rn  selber  wahr- 
genommen werden.  Eine  kritische  l'ntersuchun'r  der  H.  fiijrnis 
der  p:rkenntnisniittel  zu  solchen  Feststellunfren  fehlt. 

Ein  wirklicher  Fortschritt  war  erst  mitjrlich.  als  man  lernte, 
prandsät/lich  m  tVairen,  ob  nicht  scUtst  diejeingen  Hegrille,  die  man 
ohne  weiteres  zu  wirkliehen  oder  scheinbaren  Eigenschaften  der 
Diuire  gemacht  hatte,  zunächst  einmal  selbst  als  Erkenntnismittel 
zu  betrachten,  und  auf  ihre  Bedeutung  in  dieser  Hinsicht  zu  unter- 
suchen seien.  Denn  alle  Vorstellungen,  durch  welche  wir  Objekte 
erkennen,  sind,  sofern  sie  das  leisten,  Mittel  zur  Erkenntnis. 

Diese,    bekanntlich    auf    David  Humes    Forschungen    ruhende 
Problemstellung      and      sodann     die     Feststellung     der     zur 
Konstruktion     der     Erfahrung     notwendigen     Erkenntnis- 
mittel   ist    die    grundlegende    Leistung    Kants.      Darin    allein 
besteht  die  Koperuikanische  Bedeutung  seiner  Lehre.    Er  selbst  stellt 
diese  freilich  in  der  Vorrede  zur  zweiten  Auflage  der  Kritik  anders 
dar:    „Wenn   die  Anschauung   [oder  der  Begriff]   sich    nach   der  Be- 
schaffenheit der  Gegenstände  richten  müsste,    so  sehe  ich  nicht  ein, 
wie  man  a  priori  davon  etwas  wissen  könne;    richtet  sich  aber  der 
Gegenstand  nach  der  Beschaffenheit  unseres    Anschauungsvermögens, 
[bezw.  nach  den  Regeln  des  Verstandes,  die  ich  „in  mir,  noch  ehe 
mir   Gegenstände   gegeben  werden,   a  priori  voraussetzen  rauss"],  so 
kann    ich  mir  diese  Möglichkeit    sehr    wohl  vorstellen". i)    In  dieser 
Darstellung    fliessen    somit    zwei    verschiedene     Gesichtspunkte    zu- 
sammen,   erstens    die  Untersuchung    der    Erkenntnismittel,    der    An- 
schauungsformen und  Verstandesbegriffe,  sofern  sie  als  Erkenntnis- 
mittel   bei    der  Bildung    der  Erfahrung    fungieren,    zweitens    die 
Voraussetzung,  dass  diese  Erkenntnismittel  nichts  als  „Beschaffenheit 
unseres    Anschauungsvermögeus''    und    Regeln    des    Verstandes    in 
uns  sind.     Das  heisst  aber:  Die  erkenntniskritische  Frage  nach 
der  Funktion  der  Erkenntnismittel  fliesst  bei  Kant  zwar  nicht  mit 
der  alten  Frage  nach   dem  Sein,    aber    doch    ohne  weiteres  mit  der 
sorgsam  davon  zu  trennenden  Frage  nach  der  Herkunft  dieser  Er- 
kenntnismittel zusammen. 

Dies  lässt  sich  an  dem  Begriffe  des  a  priori  leicht  deutlich 
machen.  Die  erkenntniskritische  Bedeutung  des  a  priori  liegt 
ganz    einfach    in    den    folgenden     beiden    Thatsachen    beschlossen. 


1)  Krit.  d.  r.  V.  ed.  Kehrbach,  S.  18. 


Der  Streit  um  das  Ding  an  sich  etc.  171 

Erstens:  Ich  kann  keine  Vorstellanj^en  haben  ausser  in  zeitlicher 
Folge;  ich  kann  keine  (Gegenstände  vorstellen  ausser  im  Raum; 
ich  kann  keine  Veränderungen  dieser  Gegenstände  vorstellen,  ausser 
mittelst  des  Begrifls  der  Ursache  a.  s.  w.  Raum,  Zeit,  Kausalität  etc. 
liegen  also  all  meinem  besonderen  Erkennen  zu  Grunde,  sie  sind 
notwendige  Grundlagen  aller  Erfahrung.  Das  heisst:  Während 
sich  z.  B.  der  Begriff  eines  Vulkans,  einer  Sonnenfinsternis,  einer 
Tiergattung  erst  nach  Aufbau  des  Weltbildes  und  nach  Erkeimtnis 
vieler  Einzelheiten  der  Erfahrung  herausstellt,  kann  die  Erfahrung 
selbst,  der  Aufbau  des  Weltbildes  im  einzelnen  wie  im  ganzen  gar 
nicht  ohne  Anwendung  der  apriorischen  Formen  zu  stände  kommen. 
Zweitens:  Von  allen  nach  der  Erfahrung  gebildeten,  bezw.  aus  der 
Erfahrung  geschijpften  Begriffen  kann  ich  niemals  bindende  Schlüsse 
auf  weitere  Erfahrung  ziehen.  Ich  kann  daraus,  dass  heute  Vulkane 
speien,  niemals  folgern,  dass  sie  immer  speien  werden  und  kann 
daraus,  dass  mir  heute  ein  bestimmter  Knochenbau  für  eine  Tierart 
charakteristisch  erscheint,  niemals  mit  Bestimmtheit  schliessen,  es 
könne  nicht  etwa  eine  andere,  mir  unbekannte  Tierart  denselben 
Knochenbau  besessen  haben.     Ganz    anders    ist    dies  bei  Schlüssen, 

die  auf  Grund  der  apriorischen  Formen  gezogen  werden.     Da   kann 

a  h 

ich,  wenn  ich  einmal  bewiesen  habe,    dass  -—  den  Inhalt  des  Drei- 

ecks  ausmacht,  nicht  im  mindesten  zweifeln,  dass  dieser  Satz  für 
jedes  nvr  vorkommende  Dreieck  gilt;  und  wenn  ich  r^n  als 
Formel  des  Kreises  bestimmt  habe,  so  bin  ich  ausser  Zweifel, 
dass  diese  Formel  für  keine  andere  Figur  gilt.  Dieser  Geltungs- 
wert  charakterisiert  das  a  priori  und  macht  seine  wissenschaftliche 
Bedeutung  aus. 

Diesem  Geltungswert  aber  steht  der  Empirist  ratlos  gegenüber. 
„Warum  ist  in  manchen  Fällen  ein  einziges  Beispiel  zu  einer  voll- 
ständigen Induktion  hinreichend,  während  in  anderen  Fällen  Myriaden 
übereinstimmender  Fälle  ohne  eine  einzige  bekannte  oder  nur  ver- 
mutete Ausnahme  einen  so  kleinen  Schritt  zrr  Festsetzung  eines 
allgemeinen  Urteils  thunV"  So  fragt  J.  St.  Mill;  und  er  hat  keine 
Ahnung  davon,  dass  die  Antwort  auf  diese  Frage  mehr  als  ein  halbes 
Jahrhundert  vor  ihm  bereits  gegeben  worden  ist.  Er  meint:  ,,Wer 
diese  Frage  beantworten  kann,  versteht  mehr  von  der  Philosophie 
der  Logik,  als  der  erste  Weise  des  Altertums;  er  hätte  das  grosse 
Problem    der   Induktion    gelöst."')     Das    muss   ja    wohl    sein,    dass 


M  System  der  deduktiven  und  induktiven  Logik,  übers,  v.  Schiel.    3.  deutsche 
Anfl.  I,  S.  371.  12*^ 


17.!  Fr  an/.    Staiuliufri'T. 

Kant  \oii  dieser  Frajre    melir    verstaiulrii  liat,    als    iler  erste  Weise 
des  Altertums,  ilenii  jedcnt'alls  hat  er  sie  gelöst. 

Ha  diese  Seite  der  Kantiseben  IMulosojjJiie  über  empiriscbeii  und 
psycholofrischeii  Kinzelerwäiruiifron  noch  immer  \ou  vielen  Ncrkannt 
wird,  so  sei  die  Art,  wie  sieb  unsere  Krtabrunj::  konstituiert,  au 
ein  paar  elementaren  Heispielen  illustriert.  Wir  haben  /.  B.  die 
Wahrnehmung  einer  ()ran<re.  Woraus  besteht  diese?  Aus  einer 
Summe  von  Gesiehts-  und  ev.  Tast-  und  Geruehsemi)lindun<i:en,  denen 
sich  wohl  Erinueruuiren  von  Geschmacksempfindungen  /uj^esellen 
möjren.  Aber  es  ist  nicht  die  einfache  Summe  dieser  Emj)lindun,i,^en, 
sondern  der  au  einer  bestimmten  Kaumstelle  vorgestellte  Komplex 
derselben,  der  die  Wahrnehmung;  ausmacht.  Und  diesen  Komplex 
stellen  wir,  ebendamit,  dass  wir  ihn  wahrnehmen,  als  ein  materielles 
Etwas,  als  eine  Substanz  vor.  Substanz!  Die  sehen  und  fühlen 
und  schmecken  wir  nicht;  was  wir  sehen  und  fühlen  und  schmecken, 
sind  sinnliche  Empfindungen.  Aber  wir  haben  keine  Wahl;  wir 
müssen  diesen  Empfindungen  jenen  Gedanken  einer  Substanz  unter- 
legen, und  erst  damit,  dass  wir  dies  thun,  nehmen  wir  die  Orange 
als  Ding  wahr.  Thäten  wür  es  nicht,  so  würde  sie  uns  als  ein 
Sinnentrug  erscheinen.  In  dieser  Thatsache,  dass  wir  nur  da, 
wo  wir  den  Substanzgedanken  zufügen,  von  Dingen  reden  können, 
oder,  umgekehrt  ausgedrückt,  dass  wir  imr  dann  wirkliche  Dinge 
wahrnehmen,  wenn  der  Substanzgedanke  untergelegt  ist,  liegt  die 
Bedeutung  des  Substanzgedankens  als  Erkenntnismittels  und  zwar 
als  eines  für  alle  dingliche  Wahrnehmung  notwendigen  Er- 
kenntnismittels. Die  besondere  Frage,  unter  welchen  besonderen 
Umständen  wir  den  Substanzgedanken  zuthun,  unter  welch  anderen 
Umständen  wir  von  Sinnentrug  reden,  berührt]  obige  Frage  nicht; 
das  ist  eine  Frage  der  Einzelforschung. 

Die  Entdeckung  Kants,  dass  erst  der  zutretende  Gedanke  eine 
Wahrnehmung  zur  objektiven  Wahrnehmung  mache,  ist  jedoch  nicht 
bloss  ..transcendental"  d.  h.  als  notwendige  Voraussetzung  mög- 
licher Erfahrung  zu  erweisen;  man  kann  die  Probe  bei  einiger  Auf- 
merksamkeit selber  machen,  nicht  bloss  in  Bezug  auf  den  Substanz- 
gedanken, sondern  auch  in  anderen  Fällen,  bei  wahren  wie  bei  irrtüm- 
lichen Wahrnehmungen;  ja  man  kann  das  Experiment  willkürlich 
machen.  Bekanntlich  nimmt  man  oft  wahr,  dass  der  eigne  Zug  ab- 
fährt, während  der  neben  uns  stehende  stille  steht,  und  muss  nach 
einem  Blick  auf  die  übrige  Umgebung  den  Sachverhalt  umgekehrt 
denken.     Aber  sobald  diese  Korrektur  in  Gedanken  da  ist,  ist  auch 


Der  Streit  um  das  Ding  an  sich  etc.  17;3 

meist  die  Wahrnehmunfr  selber  umjrekehrt.  Bei  eiiü^^er  Übung  nun, 
freilieh  nicht  immer  gleich,  gelingt  es,  dass  man,  ohne  das  Auge  zu 
wenden,  durch  blosse  Umschaltung  des  Gedankens  auch  die  effek- 
tive Wahrnehmung  umschalten  kann,  zwei-,  drei-,  viermal  während 
des  langsamen  Vorbeifahrens  eines  Zuges. 

Ebenso  kann  man  bekanntlich  ein  regelmässig  geordnetes  Ta- 
petenmuster  je  nach  Belieben  aus  kreuzweisen  Reihen,  aus  Drei- 
ecken, aus  Rhomben,  ev.  auch  aus  Quadraten  bestehend  nicht  nur 
denken,  sondern  auch  wahrnehmen.  Mit  einiger  ^lühe  bringt  man 
es  an  geeigneten  Punkten  sogar  fertig,  dass  man  nicht  die  Sonne 
hinter  dem  Bergrand  untergehen,  sondern  den  Bergrand  sich  vor  die 
Sonne  heben  sieht,  also  die  der  Kopernikanischen  Thatsache  ent- 
sprechende Wahrnehmung  erhält;  und  dies  geschieht  offenbar  ver- 
möge blossen  Hineinlegens  des  Gedankens.  Wenn  dies  Verhalten 
des  Geistes  einerseits  dazu  führt,  dass  wir  auf  natürlichem  wie 
auf  geistigem  Gebiete  oft  irrigerweise  etwas  unmittelbar  wahrzunehmen 
glauben,  was  erst  durch  unsern  Gedanken,  den  wir  ohne  Wissen 
hereingelegt  haben,  zur  Wahrnehmung  geworden  ist,  so  belegt  es 
doch  auf  der  anderen  Seite  die  Thatsache,  dass  unsere  Vor- 
stellungen erst  durch  die  Denkzuthat  zu  gegenständlichen  Wahr- 
nehmungen werden. 

Aber  weim  wir  dies  festgestellt  haben,  so  bleibt  uns  noch  übrig, 
eine  Beobachtung  zu  betonen,  die  Kant  wohl  gemacht,  aber  in  ihrer 
Konsequenz  nicht  beachtet  hat.  Sie  bezieht  sich  auf  die  Frage: 
Was  drücken  wir  durch  die  Anwendung  des  Substanzgedankens  als 
Erkenntnismittel  ausV  Darauf  lautet  die  Antwort:  Sobald  wir  den 
Substanzgedanken  hinzuthun,  wird  uns  der  betreffende  Vorstellungs- 
komplex unweigerlich  zur  Wahrnehmung  eines  thatsächlich  ausser 
ans  und  unabhängig  von  der  zufälligen  Einzel-Wahrnehmung  exi- 
stierenden Dings.  Die  Wahrnehmung  sagt  mittelst  des  in  ihr 
liegenden  Substanzgedankens  aus,  dass  das  wahrgenommene  Ding 
unabhängig  von  ihr  daure.  Denn  Substanz  heisst  ja  das  Beharr- 
liche in  der  Zeit,  darauf  verschiedene  Einzelwahrnehmungen  einheit- 
lieh als  auf  dasselbe  Ding  bezogen  werden. 

Durch  den  in  der  Wahrnehmung  liegenden  Substanzgedanken 
wird,  ohne  dass  wir  das  merken,  dem  subjektiven  und  wieder  ver- 
schwindenden Empfindungsgehalt  der  Gegenstand  selbst  als  der 
Sulijektivität  entrückt  untergelegt.  Diese  Art  der  Objektivität  be- 
steht allen  Ausflüchten  zum  Trotz  als  notwendige  Bedingung  aller 
Erfahrung.     Und    hieraus    allein  ergiebt    sich,    wie  bodenlos    es  ist, 


17  1  Kr.'uiz    M  aiKÜnjf  »T, 

wenn  sojrar  ein  llflniholt/,  bcliauptcn  Uainu  ein  idealistisches  Welt- 
Itilil  sei  k()nse(|Uent  (lurclilllliiliar,  wi-nn  es  aiicli  eiiu-  praUtiseli  sehr 
zueilelliatte  Ihitotliese  sei.  Kin  Weltbild  ist  \ielnielir  ::anii('lit  niö"-- 
lieh  (tluu'  \\'ahrnehnuinj::,  und  wenn  in  der  \\  aiuiielnnnn;;-  notwendifjj 
der  (Jedanke  eines  ausserhallt  der  Wahrnehinnnj:-  Helia  irenden 
stei'kt.  so  kann  ilieses  lieiiarrenile  nieht  in  die  Subjektivität  zurilck- 
hezojrt'ii  werden,  ohne  die  Wahrnehinun};  selbst  und  damit  jedes 
Weltltilil   aut'/.uheben. 

(ianz  ilasselbe  /.eiul  sich,  wenn  wir  den  «dijektiven  Kausal- 
iredanken  betrachten. 

Nehmen  wir  wahr,  dass  das  schöne  runde,  ^cUjc  Oran^'enbild 
verschwindet,  und  nur  ein  Häufchen  Schalen  und  Scheiben  \nr  uns 
lieutl  lu  diesem  Falle  haben  wir  zunächst  nichts  als  eine 
Kcihenfolii-e  subjektiver  Km|)tindunj;en,  bczw.  einzelner  verschie- 
dener Wahrnehmun^uen.  Aber  damit  begnüg-en  wir  uns  nicht.  Wir 
sag:en  vielmehr,  die  Orange  ist  geschält  und  zerteilt  worden.  Wir 
beziehen  somit  die  Reihe  verschiedener  Empfindungen  bezw.  W'ahr- 
uehmungen  auf  einen  einheitlichen,  ausser  uns  stattfindenden  Vor- 
gang. W^ir  behalten  trotz  der  verschiedenen  Inhalte  die  identische 
Beziehung  auf  denselben  Gegenstand  bei  und  konstatieren:  Der 
Gegenstand  ist  anders  geworden.  Überall  da  aber,  wo  wir  solche 
Veränderung  an  demselben  Gegenstand  konstatieren,  denken 
wir,  ebendamit  dass  wir  dies  thun,  einen  neuen  Gedanken  hinzu, 
den  nämlich,  dass  der  Zeitreihe  der  geänderten  Enij)findungen  eine 
Änderung  im  Gegenstande  selbst  entspricht.  Aber  wie  können 
wir  behaupten,  w'r  hätten  denselben  Gegenstand  vor  uns,  während 
doch  die  Empfiudungsinhalte  ganz  anders  sind?  Nur  dadurch,  dass 
wir  hinzudenken,  es  sei  eine  gegenständliche  Beziehung  vor- 
handen, welche  die  Änderung  an  demselben  Gegenstand  bedingt. 
Diese  gegenständliche  Beziehung  aber  nennen  wir  Ursache.  Nur 
vermöge  des  Hinzudenkens  des  Ursachgedankens  ist  es 
somit  möglich,  eine  Veränderung  von  Wahrnehmungen  als  gegen- 
ständliche Veränderung  von  Dingen  aufzufassen;  und  hieraus  stammt 
die  unausweichliche  Nötigung,  nunmehr  nach  den  bestimmten  Ur- 
sachen der  bestimmten  Veränderungen  zu  fragen.  Der  Kausal- 
gedanke kommt  also  nicht  etwa  erst  zur  W^ahrnehmung  eines  Ge- 
schehens nachträglich  hinzu;*)  sondern  die  Wahrnehmung  des  Ge- 


')  Hier  gilt  es  den  Ausdruck  „Wahrnehmung  der  Veränderung"  beachten. 
Kant  sagt  (Kehrbach  S.  181)  der  Begriff  der  Veränderung  liege  nicht  in  der 
Wahrnehmung   verschiedener   Zustände,    sondern   werde   hinzugedacht. 


Der  Streit  um  das  Ding  an  sich  etc.  175 

schehens  selbst  als  eines  gegenstüiullicheu  Geschehens  ist  nur  auf 
Grund  des  Kausalgedankens  möglich.  Der  Kausalgedanke  selbst 
ist  in  seinem  Kern  nichts  als  die  Festhaltung  der  identischen  Be- 
ziehung trotz  der  Verschiedenheit  der  Inhalte. 

Darum  müssen  wir  auch  hier  konstatieren:  Damit,  dass  wir 
eine  Reihe  wechselnder  Emptindungen  als  Wechsel  in  der  Wahr- 
nehmung desselben  Dinges,  also  als  Veränderung  des  Dinges  selbst 
auffassen,  sagen  wir,  dass  diese  Veränderung  sich  wirklich  ausser 
uns  und  unabhängig  von  unserer  zufälligen  Wahrnehmung  dieser 
Veränderung  vollzogen  habe.  Und  auch  hier  ist  diese  Feststellung 
von  der  anderen  Frage  zu  trennen,  ob  wir  da  vielleicht  im  einzelneu 
geirrt  und  vielleicht  etwas  als  Veränderung  eines  Dinges  angesehen 
haben,  was  vielleicht  nur  eine  \'eränderung  an  einem  subjektiven 
Medium  der  Beobachtung  war. 

Diese  und  die  dem  Gesagten  analogen  thatsächlichen,  für  das  Ver- 
ständnis der  Erfahrung  grundlegenden  und  massgebenden  Fest- 
stellungen müssen  wir  festhalten,  denn  sie  führen  allein  aus  dem 
Irrlichtelieren  phantastischer  Spekulation,  die  schon  Kant  selbst  in 
der  Kritik  der  Paralogismen  und  Gottesbeweise  abgefertigt  hat,  auf 
den  klaren  und  sicheren  Boden  wissenschaftlichen  Denkens  und 
Forschens.  Sie  geben  die  Lösung  eines  Problems,  um  das  die  Jahr- 
tausende gerungen  haben. 

Dass  aber  diese  Lösung  keinen  allgemeinen  Anklang  gefunden 
hat,  ja  noch  heute  von  weiten  Kreisen  nicht  gewürdigt  wird,  hat 
seinen  Grund  in  dem  oben  erwähnten  Umstände,  dass  Kant  die 
Frage  nach  dem  Geltungswert  des  objektiven  Apriori  nicht  von 
der  Frage  nach  seiner  Herkunft  zu  trennen  vermag  und  letztere 
Frage  voreilig  und  widerspruchsvoll  entscheidet.  Nachdem  er  z.  B. 
in  durchaus  exakter  Weise  in  der  sog.  ».metaphysischen  Erörterung" 
des  Raums  erwiesen  hat,  dass  der  Raum  nicht  erst  nachträglich, 
d.  h.  als  „empirischer  Begriff"  von  äusseren  Erfahrungen  abgezogen 
sei,  sondern  diesen  Erfahrungen  zu  Grunde  liege,  und  nachdem  er 
daraus  in  der  „transcendentalen  Erörterung"  die  Möglichkeit,  aprio- 
rische Schlüsse  von  allgemeiner  Geltung  zu  ziehen,  also  die  Möglich- 
keit der  Geometrie  als  Wissenschaft  begründet  hat,  springt  er 
ohne  weiteres  zu  folgenden  „Schlüssen"  über:  ..Der  Raum  stellt 
keine  Eigenschaften  (oder  \'erhältnisse)  irgend  einiger  Dinge  an  sich 

Das  ist  keineswegs  ein  Widerspruch  zu  dem  eben  Gesagten.  Denn  die  Wahr- 
nehmung verschiedener  Zustände  ist  eben  noch  nicht  die  Wahrnehmung 
dieser  Zustände  als  eines  einzigen  objektiven  Vorgangs. 


17G  Franz    S  t  a  luiiii^ri' r, 

vor."  soiuliTU  ist  „nichts  andiTcs  als  dio  Form  aller  ErscluMiuinfrcii 
äusserer  Sinne,  d.  i.  die  subjektive  Bedinj^un^^  der  Sinnlich- 
keit, unter  der  allein  uns  äussere  Anschauunir  möglich  ist".  (Jan/, 
el)ens(i  verfährt  er.  in  He/.U|::  auf  die  Zeit,  nachdem  er  sie  p;an/-  vor- 
tret'llich  als  eine  allen,  nicht  bloss  allen  äusseren  Anschauunp-n 
notwendiire  (}rundla{::e  darfrele^rt,  und  betont  hat,  dass  die  Wissen- 
schaft der  Bewepunf^slehre  nur  auf  CJrundlafro  der  Zeitvorstellur.;:: 
apriorische  Schlüsse  ziehen  kann.  Und  dassellx'  Spiel  wieck^rholt 
sich  betreffs  der  Kate{;::orien.  Der  richtige  Gedanke,  dass  die  Kate- 
gorien Bedingungen  a  priori  sind,  die  der  Bildung  der  Erfahrung 
zu  Grunde  liegen,  also  Jiedingungen  niüglicher  Erfahrung  sind, 
fuhrt  sofort  zu  dem  voreiligen  Schluss,  dass  sie  in  „der  Natur  un- 
seres Gemütes"  als  „subjektive  Gründe"')  der  Feinheit  liegen. 

Freilich,  diese  Schlussfolgerung  liegt  nahe  genug.  Wenn  man 
einmal  erkaiuit  hat,  dass  die  P>fahrung  nicht  fertig  in  uns  her- 
einfiiesst,  sondern  von  uns  geschaffen  werden  muss,  so  scheint  es 
ohne  weiteres,  als  mUssten  die  Erkenntnismittel,  durch  die  wir  die 
Erfahrung  schaffen,  auch  in  uns  ihren  Ursprung  nehmen,  also 
vom  „Gemüt"  aus  sich  heraus  hinzugegeben  werden. 

Und  es  ist  leider  Thatsache,  dass  gerade  dieser  Schluss  in  der 
Geschichte  der  Philosophie  eine  weit  bedeutsamere  Rolle  spielt,  als 
Kants  wertvollere  methodische  Untersuchung,  hinter  der  er  sich  als 
Verlegenheitsauskunft  aufbaut.  Sowohl  bei  den  Fortbildnern  Kants 
von  Fichte  bis  Hegel  als  auch  bei  Gegnern  des  Mannes  bildet  gerade 
diese  Schlussfolgerung  den  Angel,  um  den  sich  die  Haupterörte- 
rnng  dreht. 

Aber  dieser  Schluss  ist  erstens  an  sich  nicht  notwendig, 
und  zweitens  führt  er  zu  W^idersprüchen,  die  unlösbar  bleiben, 
wenn  man  ihn  festhält. 

Der  Erweis,  dass  der  Schluss  nicht  notwendig  ist,  ist  am  besten 
dadurch  zu  erbringen,  dass  man  eine  andere  Möglichkeit  der  Er- 
klärung, bezw.  der  Herkunft  obiger  Begriffe  zeigt.  Um  aber  dazu 
zu  gelangen,  eine  solche  anderweitige  Erklärung  aufzusuchen,  muss 
man  die  Widersprüche  aufdecken,  die  sich  infolge  jener  Annahme 
ergeben.  Diese  sind  nun  allerdings  in  der  Hauptsache  seit  lange 
empfunden,  aber  meist  in  falscher  Weise  geltend  gemacht  worden. 
Man  hat  gesagt,  dass  eine  Objektivität,  die  durch  unser  Denken 
geschaffen  werde,    doch  keine  Objektivität    der  Dinge    selbst  sei. 


1)  Kehrb.  S.  134. 


Der  Streit  um  das  Ding  an  sich  etc.  177 

dass  also  die  „Erscheinung-'  im  Grunde  Sehein  sei.  Mit  diesem 
Einwände  aber  macht  man  Kants  fehlerhafte  Schlussfolgerung  selbst 
mit,  supponiert  also  mit  ihm,  dass  die  Denkformen,  durch  die  wir 
Erfahrung'  schaffen,  auch  im  Subjekt  entspringen  müssen.  Gegen 
solche  Formulierung  des  Einwands  hat  darum  der  Kantianer  leichtes 
Spiel.  Er  braucht  bloss  auf  die  von  Kant  festgestellte  objektive  Ge- 
setzmässigkeit hinzuweisen,  die  nur  unter  genannter  Voraussetzung 
möglich  ist,  und  die  wahrlich  kein  Schein  ist.  Er  kann  sagen:  Wir 
können  doch  nie  hoffen  und  beanspruchen,  dass  die  Dinge,  wie  sie 
an  sich,  d.  h.  unabhängig  von  unserer  Erkenntnis  sind,  in  uns  her- 
einspazieren. Im  Gegenteil,  gerade  dann,  wenn  dies  wäre,  so  wären 
sie  Schein  und  nicht  ausser  uns  befindliche  wirkliche  Dinge.  Dass 
aber  die  Erkenntnisbestimmungen  derselben  nur  in  uns  und  nirgends 
anders  sein  können,  ist  so  selbstverständlich,  dass  darüber  kein 
Wort  zu  verlieren  ist.  Und  hiergegen  bringt  obiger  Einwand  nur 
eine  Behauptung,  aber  keinen  Beweis.  —  Wenn  also  Plechanow 
meint,  Kant  damit  zu  widerlegen,  dass  er  ihm  sagt:  „The  proof  of 
the  pudding  is  the  eatingl"  so  trifft  er  ihn  an  ganz  falscher  Stelle. 
Das  leugnet  ja  Kant  in  keiner  Weise;  gerade  er  betont  ja,  dass 
Empfindung  „die  wirkliche  Gegenwart  des  Dinges-'  anzeige.  Und 
gerade  er  hat  ja  die  phantastischen  Versuche,  mit  Umgehung  der 
Bedingungen  der  Sinnlichkeit  zu  „Dingen  an  sich"  zu  gelangen,  mit 
aller  Energie  bekämpft  und  hat  die  Wirklichkeit  der  Dinge  in  der 
ersten   ebenso  wie  in  der  zweiten  Auflage  festgehalten.') 

Der  Widerspruch,  den  sich  Kant  zu  schulden  kommen  lässt,  be- 
steht nicht  darin,  dass  er  einerseits  subjektive  Vorstellungen,  anderer- 
seits Dinge  annähme,  die  davon  unabhängig  sind.  Der  Widerspruch 
besteht  nur  darin,  dass  er  den  Ursprung  nicht  nur  derjenigen  Vor- 
stellungen, welche  wie  Möglichkeit,  Notwendigkeit,  Bejahung,  Ver- 
neinung etc.  bei  der  Bildung  der  Dingvorstellungen  notwendig  sind, 
aus  der  „Subjektivität  des  Gemüts"  als  ihrem  „Quell"  herleitet, 
sondern  dass  er  mit  diesen  Vorstellungen  eine  ganz  andere  Reihe  von 


')  Wenn  Plechanow  den  alten  Gedanken  wieder  aufwärmt,  in  der  1.  Aufl. 
stelle  sich  Kant  zu  den  „Dingen  an  sich"  anders  als  in  der  zweiten,  .so  ver- 
wechselt er  eine  blosse  Frontveränderung  der  Polemik  mit  einer  sachlichen 
Veränderung.  In  der  1.  Aufl.  streitet  Kant  bloss  wider  diejenigen,  welche  aus 
blosser  Vernunft  an  die  Dinge  gelangen  wollen,  in  der  2.  Aufl.  auch  wider  die, 
welche  behauptet  haben,  er  sei  materialer  Idealist.  Die  Stelle  iKehrb.  238 1  aus 
der  1.  Aufl.  (S.  251),  dass  aus  dem  Begriffe  einer  Erscheinung  tolge,  dass  ihr 
etwas  entspreche,  was  nicht  Erscheinung  sei,  zeigt  aufs  deutlichste,  dass 
er  auch  hier  durchaus  keine  material-idealistische  Position  eingenommen  hat. 


17s  Franz    St  au  diu  jr  er. 

\  orsti'lluMiri'ii  untrrsi'liii'dslos  /usauiiiHiiwirli.  .iiiiinlicli  (licjcni^cu, 
welclio  als  Hestinniiu  ii^i'u  drr  NaturtMt'alirunf::  vcrwi'iiilct  wc'nlcu. 
Wenn  wir  saj:i'ii.  ein  Diiiir  ist  ..iiu)i::lirlK'r\vriso"  vorhanden,  so  frebcn 
wir  daniil  kein  l'rädikat  rini's  Dinjres,  sondciii  nur  ein  NCrlialti'ri 
unseres  Erkcnntnisverinöi^ens  an.  Wenn  wir  alicr  urteilen:  „Das  Ding 
heharrt  in  der  Zeit'',  oder  ,.das  Dinp'  M'riindcrt  sich",  so  geben  wir 
Aussagen  über  die  Dinge  st.'ll)st;  und  wenn  diese  Aussagen  ebenfalls 
,.in  der  Sul)jektivität  unseres  Gemüts"  ihren  Ursprung  hätti'n,  so  wären 
>ie  nicht  inöiriieh.  Sobald  wir  saiz'en  niiisseii,  ein  Flecken,  den  wir  am 
Objekte  sidien.  gehöre  dem  01)jekte  sell)st  an,  können  wir  nicht  sagen, 
er  stannne  aus  der  Natur  der  Brille,  durch  die  wir  sehen.  Und 
ebenso  umgekehrt.  Hier,  in  der  Erkenutnisl)eziehung,  nicht  in 
dem  Gegensatz  Ding — Vorstellung  liegt  der  Widerspruch.  Das  vei- 
kennt  Plechanow,  wenn  er  seinen  Einwand  z.  B.  so  formuliert:  „Bei 
Kant  haben  die  Gesetze  a  j)riori  keinen  objektiven  Wert,  oder  mit 
anderen  Worten,  sie  besitzen  nur  Geltung  tür  die  rhänomene  nicht 
für  die  Dinge  an  sich."')  Der  Kantianer  muss  denken:  Ist  denn 
der  Mann  nicht  klug,  „der  einem  Kant  gerade  das  vor  der  Nase 
wegleugnet,  was  dieser  zuerst  klar  bewiesen  hat,  den  objektiven  Gel- 
tungswert der  Gesetze  a  priori?"  —  Und  was  soll  erkenntniskritisch 
bedeuten  ,. Dinge  an  sich?":  Das  wären  Dinge,  die  erfalst  werden 
sollen,  abgesehn  von  Bedingungen  unseres  Erkennens;  und  gerade 
dieses  spekulative  Suchen  nach  dem  Stein  der  Weisen  haben  ja 
Kants  Forschungen  unmöglich  gemacht.  —  Also,  Plechanows  Ein- 
wand ist  für  einen  Menschen,  der  Kant  versteht,  nirgends  zu  fassen. 
Hätte  er  gemerkt,  dass  Kant  selbst  jenen  metaphysischen  Gegensatz 
im  Auge  hat  zwischen  einem  Dinge,  das  wir  natürlich  erkennen, 
und  einem  Dinge,  das  wir  hinter  unseren  Erkenntnisbedingungen 
herum  (durch  blossen  Verstand)  erkennen  woUen,  so  hätte  er  seinen 
Einwand  anders  formuliert.  Er  müsste  nach  dem  Gesagten  lauten: 
,.Kant  zeigt,  aus  welchen  Komponenten  das  objektiv  gültige,  auf 
Naturdinge  angewandte  Urteil  geistig  zustande  kommt,  aber  er  über- 
sieht, dass  Aussagen,  die  von  dem  Dinge  selbst  gelten  sollen,  un- 
möglich ihren  Quell  rein  m  der  Subjektivität  des  Gemüts  haben 
können."  Gewiss  will  Plechanow  in  der  Sache  nichts  anderes  als 
dies  behaupten;  wenn  er  vom  „Ding  an  sich"  spricht,  meint  er 
eben  das  Naturding;  aber  seine  Verkennung  der  positiven  Leistung 
Kants  veranlasst  ihn  zu  Foimulierungen,  die  gerade  diese  Leistung 
in  Frage  stellen  und  er  macht  dadurch  seine  Einwände  wirkungslos. 

1;  N.  Z.  1898/99  No.  20,  S.  629. 


Der  Streit  um  das  Ding  an  sich  etc.  179 

bind  wir  uns  ulit-r  darüber  klar  ^a-worden,  dass  Kant  in  seiner 
Kategorientafel  von  vorn  herein  nicht  zwischen  solchen  Verstandes- 
formen scheidet,  welche  bloss  unser  Verhalten  bei  Bildung?  der 
Erfahrung-  anj:ehen,  und  solchen,  welche  zu  Prädikaten  der 
Natur  selber  werden,  sondern  beide  unterschiedlos  durcheinander- 
wirft, dann  stellt  uns  diese  Unterscheidung- vor  ein  neues  Problem. 
W'"r  frairen  nicht  mehr  metaphysisch,  wie  wir  von  Dingen  an  sich 
zu  Erscheinunjcen  kommen  oder  um<rekehrt,  sondern  wir  fraf::en  er- 
kenntniskritisch nach  dem  Unterschiede  von  zwei  ganz  ver- 
schiedenen Arten  objektiver  (i.Ultigkeit. 

Diesen  Unterschied  wollen  wir  uns  noch  an    einigen  Beispielen 
anschaulich  machen.     Wenn  wir  die  Höhe    und  Breite  eines  Steines 
messen,  und  daraus  den  Kubikinhalt  berechnen  oder  dergleichen,  so 
sind  die  verschiedenen  Verfahren,  die  wir  dabei  anwenden,  objektiv 
gültig,  aber  eben  nur  objektiv  notwendig  für  das  Verfahren  selbst. 
Dagegen  nur  das  Resultat  ist  gültig  für  den  Naturgegenstand:  den 
Stein.    Addition,    Multiplikation,    Potenzierung,  Wnrzelausziehen    etc. 
sind  notwendige  und  objektiv  gültige  Operationen  für  das  Verfahren, 
aber  sie  sind  m  keiner  Weise  objektiv  gültig  für  Naturgegeustände. 
Was  soll  ]/" — 1,  auf  Natur  bezogen,  bedeuten?     Nichts,    reinen  Un- 
sinn!    Daraus  ergiebt  sich,    dass  wir  bei    unseren  notwendigen  und 
objektiven  Begrilfen    nicht    bloss    den    Geltungswert    festzustellen 
haben,    und  nicht  etwa  bloss,    wie  Kant  thut,    zwischen  Sinnlichkeit 
und  Verstand  zu  scheiden  haben,    sondern  dass  wir  weiterhin  prüfen 
müssen,    für    welche    Art    von    Objektivität    die    betr.    Begriffe 
gültig  sind.     Es  muss   also   neben  der  Beziehnngsart  auch  der  Be- 
ziehungsort   eines   Begriffs    erkenutniskritisch    untersucht    werden. 
Wenn  sich  also  herausgestellt  hat,  dass  Möglichkeit,  Notwendigkeit, 
Bejahung,   Verneinung    etc.    nur    unser    Verfahren    in    Bezug    auf 
Gegenstände,  Raum.  Zeit,  Kausalität,  Substanzialität  aber  die  äussere 
Nator    selbst  zu  Beziehungsorten  haben,    so  muss  die  Befugnis,  von 
solchen  Beziehungsarten  zu  prädizieren,  besonders  untersucht  werden. 
Dazu  reicht  aber  Kants  Untersuchung  nicht  aus.     Er  begründet 
die  objektive  Geltung  aus  der  sog.  transcendentalen  Einheit  der  Apper- 
zeption, d.  i.  daraus,  dass  alle  Begriffe    in  notwendigem  Zusammen- 
hang zum  ,.Ich  denke"  in  demselben  Subjekt  stehen  müssen.    Darin 
hat  er    insoweit  vollkommen    recht,    als  er  zeigt,    dass  nur  der  not- 
wendige,   einheitliche  Zusammenhang    aller  Erkenntnisse  uns  Wahr- 
heit   verbürgt,    dass  wir    also  Irrtümer    stets    nur    daraus   erkennen 
können,    dass    irgendwelche  Denkbestimmungen    sich  widersprechen. 


ISO  Franz    Staudinjjer. 

Al>or  •ri'iianntcn  l  iittrsi-liicd  kann  rr  daiiiit  iiiclil  Itc^ncitlicli  mai-licn. 
Es  bleibt  schon  tin  Kiitsrl,  wir  neben  der  notwendij^en  lU'/ieluini: 
auf  das  ..h-h  denke"  nm'b  eine  .,eni  j)irische  Apper/,e|)tion'*  mit  iliren 
viellachen  Irrtümern  mü<rlieli  ist.  Es  l)leibt  aber  vor  allem  der 
Grund  unbe^^reillieli.  warum  einige  der  apriorisehen  Denkix'stimjnunj^en 
konstitutive,  andere,  wenn  wir  so  sagen  dürfen.  Itloss  konstruk- 
tive  Erkenntnismittel  sind. 

Das  hieraus  entsprin-rcnde  Problem  lässt  sich  durch  kein  Dekret 
über  den  Irsprung  lösen,  oder  aus  der  Welt  schallen.  Das  Dekret, 
sie  seien  im  Subjekt  entsprunj^en,  schalTt  einen  fast  noch  grösseren 
Widerspruch,  als  das  Dekret,  sie  stammten  aus  der  Erfahrung. 
Letzteres  enthält  für  den,  der  Kant  durchdacht  hat,  freilich  einen 
onausgleichl)aren  Widerspruch.  Denn  wie  können  diejenigen  Ele- 
mente erst  Erzeugnis  der  Erfahrung  sein,  durch  welche  Erfahrung 
ihrerseits  erzeugt  werden  muss.  Ersteres  aber  führt  zu  ganz  halt- 
losen Versuchen,  der  Subjektivität  durch  ungeheuerliche  Annahmen 
zu  entgehen.  Dahin  gehören  das  Dekret,  dass  der  Quell  dieser 
Formen  nicht  im  Subjekt,  sondern  in  einem  generellen  Ich,  wie 
Fichte  annimmt,  oder  in  einem  ,,Bewusstsein  überhaupt",  wie  Laas 
es  nennt,  zu  finden  sei.*)  Doch  diese  Ausflucht  fruchtet  nichts. 
In  der  Erfahrung  erscheint  das  Subjekt  als  Teil  in  der  Kette 
der  Erscheinungen,  und  zwar  als  recht  kleiner  Teil.  Als  das  die 
Erfahrung  gestaltende  Subjekt  hat  es  aber  die  ganze  Natur  in  sich. 
Hat  es  nun  die  Elemente  zar  Gestaltung  der  Erfahrung  aus  sich 
genommen,  als  seine  ^Erzeugnisse,  so  müsste  seine  Subjektivität 
einerseits  die  gesamte  Objektivität  thatsächlich  umfassen,  anderer- 
seits nur  ein  Teil  darin  sein.  Das  Bewusstsein  überhaupt  oder  das 
allgemeine  Ich  löst  diesen  Widerspruch  nur  durch  Flucht  aus  der 
Dämmerung  ins  Dunkel,  und  lässt  das  Problem  im  Nebel  eines 
mysteriösen  Wortes  verschwinden. 

Auch  das  Verfahren  Cohens  und  seiner  engeren  Anhänger  ge- 
nügt hier  nicht.  So  sehr  wir  diese  Forscher  gerade  darin  schätzen 
müssen,  dass  sie  das  eigentlich  wissenschaftliche  Fundament  des 
Kantianismus,  die  Untersuchung  der  Erkenntnismittel  ausgegraben  und 
der  zerfahrenen  Philosophie  der  Gegenwart  gegenüber  mit  zäher 
Energie  endlich  mehr  und  mehr  zur  Geltung  gebracht  haben,  so 
wenig    können  wir  es  billigen,    dass    sie    das    in  Frage    kommende 


1)  Kants  Analogien  der  Erfahrung  S.  94  ff.  Als  ich  diesen  Passus  s.  Z. 
zu  lesen  begann,  hielt  ich  ihn  für  bittere  Ironie;  aber  leider  zeigte  sich,  dass 
Laas  blutigen  Ernst  machte. 


Der  Streit  um  das  Din^  an  sich  etc.  181 

Problem  g:eradezu  ausschliessen  wollen.  Weun  freilich  Cohen^j  das 
Ding  an  sich  für  den  Inbegriff  aller  wissenschaftlichen  Erkenntnisse, 
bezw.  als  ,,Aufgabe''  bezeichnet,  so  haben  wir  au  sich  gar  nichts 
gegen  eine  solche  Definition  einzuwenden.  Aber  —  sie  bezeichnet 
weder  Kants  Ding  an  sich,  noch  löst  sie  das  durch  ihn  oflen  ge- 
lassene Problem.  Sie  ist  eine  Bestimmung,  die  nach  Lösung  des 
Problems  ganz  vortrefflich  ist,  vor  dessen  Lösung  angewandt  aber 
einer  spanischen  Wand  gleicht,  die  es  verdecken  soll.  Und  dabei 
ist  dieser  Verdeckungsversuch  umsonst.  Auch  bei  Cohen  erscheint 
das  Bewusstsein  als  „Quell  der  Erfahrung'-,  aber  um  dem  Schein 
des  Subjektiven  zu  entwischen,  meint  er  den  ..InbegriÖ'  der  Mittel 
und  Methoden,''  welche  wissenschaftliche  Erkenntnis  ausmachen.^) 
Er  geht  also  um  den  Fragepunkt  herum,  und  behält  die  Subjektivi- 
tät im  Grunde  bei,  ohne  es  Wort  haben  zu  wollen.  Ebenso  sagt 
Natorp  in  seinem  neuesten  Buch:')  Die  Bestimmungen,  in  denen  man 
das  Gegebene  zu  fassen  versucht,  ..stellen  sich  bei  näherer  Betrach- 
tang als  Denkbestimmungen  heraus,  die  als  solche  nichts  Gegebenes, 
sondern  eigne  Gestaltungen  des  Denkens  sind,"  Auch  er  sieht 
also  da  kein  Problem,  sondern  lässt  ganz  rahig  die  notwendigen 
Bedingungen  objektiver  Erfahrung  ohne  Unterschied  eigne  Gestal- 
tungen des  Denkens  sein. 

Alle  diese  Aufstellungen  verkennen  oder  umgehen  somit  das 
Problem,  um  das  es  sich  handelt.  Das  Problem  haben  wir  erst 
gelöst,  wenn  wir  zeigen  können,  dass  wir  Bewusstseinsvorgänge 
haben,  die  wir  als  wirkliche  Relationen  zwischen  uns  und 
den  Dingen  ansehen  müssen,  und  dass  die  konstitutiv 
apriorischen  Formen  ohne  Schädigung  ihres  Geltuugs- 
werts  von  ihnen  abgeleitet  gedacht  werden  können.  Dann 
können  wir  begreiflicherweise  dadurch,  dass  wir  Bestimmungen, 
die  aus  diesen  Relationen  abgeleitet  sind,  auf  die  Dinge  unter- 
einander übertragen,  gültige  Urteile  über  diese  Dinge  selber  fällen. 
Das  ist  dann  genau  so  verständlich,  wie  es  verständlich  ist,  dass 
wir  die  Höhe  eines  uns  unzugänglichen  Turmes  aus  den  Winkeln, 
die  er  mit  einer  uns  zugänglichen  Wegstrecke  bildet,  berechnen 
können. 

Um  eine  derartige  Lösung    des  Problems  vorzubereiten,    müssen 
wir  zunächst  einiire   besondere  Funktionen   unseres  Bewusstseins  ins 


1)  Kants  Theorie  der  Erfahrung  2.  A.  .S.  519. 

2)  Cohen  a.  a.  0.  S.  141  f. 
';  Sozialpädagogik  S.  25. 


]  t^-j  Fr:in/.    St  :ni(l  iiifjor, 

Aosre  fassen,  die  Kant  horeits  betont  hat,  die  Analyse  und  die  Syn- 
these. Wenn  \vir  die  Krfahrunfr,  wie  sie  uns  jeweils  vorlief::t,  be- 
trachten, so  finden  wir,  dass  jeder  Fortsehritt  in  ihr  ^-esehallen  wird 
mittelst  Analyse  irc:end  einer  besonderen  Einzelheit  aus  einem  bisher 
noch  ununterschiedenen  Boden  und  durch  Bezi(diuiiir  dieser  Einzelheit 
auf  einen  Zusammeniianir,  in  den  sie  sich  eiidieitlich  einfügen  lässt. 
So  erscheint  eine  Landschaft  zunächst  in  ganz  allf;emeinen  ZUj^en  vor 
nnserem  Aug:e.  Erst  aufmerksame  Beobachtung  lässt  besondere 
Einzelheiten  hervortreten,  und  diese  fixieren  wir  dann  oft  nicht  ohne 
Mtlhe  und  Irrnngen  neben-  und  hintereinander,  so  dass  uns  endlich 
statt  des  Bewusstseins  der  verwoirenen  Fläche  ein  mehr  oder  minder 
gegliederter  und  geordneter  Zusammenhang  vor  Augen  steht. 

So  analysiert  das  Ohr  aas  dem  Tongewiire  eines  Orchesters 
die  Töne  eines  Instrumentes  und  bringt  diese  als  geordnete  Melodie 
zum  Bewusstsein.  So  analysieren  wir,  mit  der  Fingerspitze  hin-  und 
hergleitend,  die  Formen  einer  Fläche  und  bringen  uns  dieselben  als 
Zusammenhang  des  Gegenstands  zum  Bewusstsein.  Wir  vollziehen 
also,  indem  wir  analysieren,  schon  in  der  sinnlichen  Beobachtung 
gewisserraassen  Abstraktionen,  indem  wir,  von  allen  anderen  Bestand- 
teilen des  Untergrunds  absehend,  bloss  bestimmte  Einzelheiten  ins 
Ange  fassen,  nnd  diese  bringen  wir  dann  synthetisch  untereinander 
in  Beziehung. 

Dabei  ist  uns  folglich  jedesmal  nur  diejenige  Einzelheit,  bezw, 
die  Reihe  der  Einzelheiten  deutlich  bewusst,  die  wir  gerade  analy- 
sieren; diese  Reihe  wissen  wir,  aber  w'^  beobachten  dabei  oft  nicht 
einmal,  dass  wir  das  thun,  geschweige  denn,  wie  wir  das  thun 
So  ergiebt  sich  uns  bekanntlich  das  objektive  Nebeneinander- 
bestehen bestimmter  Dinge  daraus,  dass  wir  mit  dem  Auge  oder 
dem  Tastorgan  nach  Belieben  wechselweise  zwischen  dem  einen  und 
dem  anderen  hin-  und  hergehen.  Die  Synthese  „nebeneinander'  voll- 
zieht sich  auf  Grrund  der  w^echselseitigen  Analyse.  Wo  wir  diese 
nicht  wechselseitig  vollziehen  können,  wo  vielmehr  die  Wahrnehmungen 
bloss  zeitlich  folgen,  da  reden  wir  nicht  von  nebeneinander  bestehen- 
den Dingen,  sondern  von  Vorgängen,  die  „nacheinander"  folgen. 
Das  thun  wir  jederzeit  unmittelbar  und  meist  blitzartig  schnell; 
aber  das  Bewusstsein,  dass  wir  das  so  thun,  steigt  vielen  Menschen 
ihr  Lebenlang  nicht  auf.  Dies  Thun  könnten  wir,  um  es  vom  eigent- 
lich unbewussten  zu  unterscheiden,  „unterbewusst"  nennen.  Bewusst 
wird  es  erst  dann,  wenn  wir  gelernt  haben,  die  bei  Analysierung 
und  Verknüpfung  der  objektiven  Begriffe  ausgeübte  eigne  Thätigkeit 


Der  .Streit  um  das  Ding  an  sich  etc.  183 

ZQ  untersuchen  und  ihrerseits  begritflich  zu  machen;')  das  heisst, 
wenn  wi»-  nicht  mehr  Naturphilosophie  und  Metapliysik  des  Seins 
treiben,  sondern  Erkenntniskritik  üben. 

Nach  diesen  Vorbemerkungen  kommen  wir  zu  dem  Problem 
zurück,  das  wir  aufgestellt  haben,  und  fragen,  ol)  wir  unter  unseren 
Erkenntnisfunktionen  solche  haben,  die  von  vornherein  Beziehungen 
von  Dingen  zu  uns  enthalten,  oder  genauer,  ob  Beziehungen  in  uns 
vorhanden  sind,  die  wir  notwendigerweise  als  Beziehungen  von  etwas 
Fremdem  zu  uns  deuten  müssen,  und  ob  wir  hiervon  Bestimmungen 
abzuleiten  vermögen,  die  wir  nachher  als  auf  Beziehungen  der  Dinge 
untereinander  übertragen  auffassen  müssen.  Können  wir  das  leisten, 
dann  ist  der  Schluss  gegeben,  dass  letztere  Beziehungen  auf  dem 
Wege  der  ursprünglichen  unterbewussten  analytischen  und  syntheti- 
schen Thätigkeit  abstrahiert  und  verknüpft  worden  sind. 

Solche  Beziehungen  aber,  wie  wir  sie  suchen,  kennen  wir  seit 
lange  —  in  unseren  Emptindungsvorgäugen.  Diese  gelten  uns 
stets  als  unmittelbare  Aftektionen,  als  passive  Veränderungen  unseres 
Zustands  als  Beziehung  von  etwas  Fremdem  zu  uns.  Freilich,  das 
mnss  betont  werden,  nur  im  lebendigen  Empfindungsvorgang  als 
einem  Geschehen,  kann  solche  Beziehung  liegen,  nicht  bloss  in  dem 
nach  Qualität  und  Intensität  bestimmten  Inhalte  dieses  Vorgangs. 
Der  gesamte  Empfindungsvorgang  enthält  weit  mehr  als  diese,  bereits 
durch  Analyse  aus  ihm  gewonnenen  Elemente.  Darauf  weist  schon 
Kant  selbst.  „Sinnliche  Anschauung,"  so  sagt  er,  „enthält  die  Art, 
wie  wir  von  Gegenständen  affiziert  werden."  Damit  sagt  er,  dass 
das  Grundelement  der  sinnlichen  Anschauung,  die  Empfindung,  die 
ja  ,.die  wirkliche  Gegenwart  des  Gegenstandes  voraussetzt",^)  als 
passives  Affiziertwerden  zum  Bewusstsein  kommt.  „Affiziert  werden" 
heisst  aber,  Einwirkungen  verspüren,  zeitliche  Veränderung  des 
eigenen  Zustandes  spüren,    führt  also  den  Kausalgedanken  mit  sich. 

Es  kann  sich  da  höchstens  um  das  Bedenken  handeln,  ob  dieser 
Kausalgedanke  erst  nachträglich  zum  Empfinden  hinzuge- 
dacht wird,  oder  ob  er  ursprünglich  in  ihm  selber  liegt  und 
erst  durch  Analyse,  davon  abgesondert  wird. 

Da  wir  nicht  bei  unserem  ursprünglichen  Bewusstsein,  d.  h.  bei 
unserer  ersten  Empfindung  Nachfrage  halten  können,  so  ist  diese 
Frage  empirisch  nicht  zu  entscheiden.  Die  Analyse  unseres  heutigen 
Empfindens   kann   uns    da    keine   volle  Gewissheit  geben.     Denn  es 

i|  „Die  Synthesis  auf  Begriffe  bringen'-,  Kehrbach,  S.  95. 
2)  Kehrbach,  S.  76. 


184  Kran/.    Staudint? i>r, 

bliebe,  sol)ald  wir  sajren  wollten,  der  Kausulp'dankc  sei  aus  der 
Eiuptiiidunjr  ab-releitet.  deiiiiooh  der  \  erdacht  bestehn,  dies  könne 
eine  Täusehunir  sein,  indem  diese  neuerdin;::s  vorprenonimene  Analyse 
auf  einer  fUr  uns  lüclit  mehr  k()ntntli(rl)aren  ursprUii^^liclien  Syn- 
these ruhe. 

l'ni  dieses  Dilenuna  /.u  lösen,  kommt  uns  aber  Kants  eij,Mio 
Methode  vortrertlieh  zu  statten.  Die  ,.transccndentale"  Frajje,  die 
er  stets  als  methodischen  Entscheidunjrsirrund  stellt,  lautet:  Ergebt 
sich  eine  g:emachte  Voraussetzung  als  Bedin'^'ung  mö{?lieher  Erfahrung? 
Ist  das  der  Fall,  so  lautet  die  Folgerung:  Was  sich  als  Bedingung 
möglicher  Erfahrung  herausstellt,  wird  ebendamit  zur  notwendigen 
Bedingung  wirklicher  Erfahrung. 

Nun  haben  wir  bereits  gesehen,  dass  gewisse  apriorische  Formen 
notwendige  Bestandteile  der  Erfahrung  sind;  und  wir  haben  darge- 
than,  dass  mit  diesem  thatsächlichen  Geltungswert  die  Annahme  nicht 
stimmt,  dass  sie  aus  der  reinen  Subjektivität  des  „Gemüts"  stanmien. 
Stammen  sie  aber  nicht  aus  dem  „Gemüte",  und  müssen  sie  dennoch 
apriorisch  sein,  so  bleibt  nur  die  Wahl,  dass  sie  von  einem  ursprünglichen 
Erfahrungselemente  abgeleitet  sind.  Da  wir  nun  kein  anderes 
Erfahrungselement  haben,  von  dem  sie  abgeleitet  zu 
denken  wären,  als  den  Empfindungsvorgang,  so  ergiebt 
sich,  dass  die  konstitutiv-apriorischen  Formen  ursprüng- 
lich    in     ihr     liegen     und     erst    aus    ihr    abstrahiert    sein 

müssen. 

Es  wäre  denn  doch  auch  allzu  seltsam,  dass  wir  nur 
in  späterer  Erfahrung,  falls  wir  einen  ungewohnten  Ton  hören, 
einen  unerwarteten  Lichteindruck  haben,  eine  plötzliche  Tastempfindung 
verspüren,  sofort  fragen  sollten,  woher  das  kommt,  wenn  nicht  der 
Empfindungsvorgang  selbst  durch  eine  in  ihm  liegende  Eigenart  diese 
Frage  an  die  Hand  gäbe.  —  Und  ferner:  Falls  das  Kausalbewusstsein 
im  Empfinden  liegt  und  von  ihm  abstrahiert  ist,  so  ist  es  sehr  be- 
greiflich, dass  wir  überall  da,  wo  wir  Veränderungen  wahrnehmen, 
a  priori  eine  Ursache  postulieren  müssen,  während  umgekehrt,  wenn 
die  Empfindung  nicht  selber  das  Kausalbewusstsein  enthält,  gar  kein 
Grund  abzusehen  ist,  warum  wir  sie  durch  Zudenken  des  Kausal- 
gedankens  zum  Bewusstsein  eines  Affiziertwerdens,  d.  h.  zu  einem 
Vorgange,  der  eine  Ursache  fordert,  machen  müssten,  oder  auch  nur 
machen  könnten: 

Wir  müssen  daher  zu  dem  Schlüsse  kommen,  dass  die  kon- 
stitutiv-apriorischen Formen  aus  dem  Empfindungsvorgang  abgeleitet 


Der  Streit  um  das  Ding  an  sich  etc.  185 

werden  müsseu,  dass  also  die  apriorisch-synthetischen  Urteile  über 
Dinge  —  bezw.  die  Bildung  der  Erfahrung  —  auf  einer  Übertragung 
ursprunglieh  unterbewusster  Abstraktionen  auf  das  Verhältnis 
/Avischen  Dingen  beruhen. 

Die  Frage,  wie  dies  geschehen  möge,  ist  nun  von  besonderer,  im 
einzelnen  nicht  mehr  ..traiiscendentaler'  d.  h.  erkenntniskritischer, 
sondern  psychologischer,  bezw.  psychologisch-physiologischer  Art. 
Aber  dennoch  ist  es  gut.  wenigstens  einige  allgemeine  Gesichtspunkte 
zu  geben.  Denn  die  Möglichkeit,  sich  die  Erfahrung  in  dieser  Weise 
aufgebaut  zu  denken,  bildet  gleichsam  die  praktische  Probe  auf 
obige  Schlussfolgerung. 

Ist  die  Empfindung  schon  ursprünglich  Bewusstsein  eines  Affiziert- 
werdens,  also  Relation  eines  Fremden  zu  uns,  so  muss  die  Reaktion 
des  Bewusstseins  darin  bestehen,  dass  dies  Fremde  bestimmt  werde. 
Allein  zu  seiner  Bestimmung  haben  wir  zunächst  —  wenn  wir  davon 
absehen,  dass  Empfindungsvorgänge  wohl  schon  ursprünglich  eine 
unterbewusste  Grösse  haben  mögen  —  nur  Qualität  und  Intensität 
der  Empfindung.  Also  kann  das  Fremde  zunächst  als  bloss  durch 
diesen  Inhalt  bestimmt  gedacht  werden.  Es  ist  dem  Bewusstsein 
nichts  als  das  in  dieser  bestimmten  Weise  Affizierende:  so  können 
wir  den  Thatbestand  der  ursprünglichen  Synthese  bezeichnen. 

^'un  kommen  weitere  Aifektionen.  Nehmen  wir  zunächst  der 
Einfachheit  halber  solche  von  gleicher  Qualität  und  Intensität.  Sie 
werden  notwendig  auf  dasselbe  Fremde,  also  identisch  bezogen. 
Und  diese  identische  Beziehung  besagt:  es  ist  dieselbe  gegenständ- 
lich beharrende  Ursache,  die  auf  uns  verschiedenemale  die  gleiche 
Wirkung  ausübt.  Dieses  und  nichts  anderes  ist  der  Substanzgedanke. 
Dieser  Gedanke  ist  somit  nicht  etwa  vom  Kausalgedanken  verschieden; 
die  dauernde  oder  gleichartig  wiederkehrende  Wirkung  auf  uns  stellt 
uns  vielmehr  durch  ihn  eine  gleichartige  und  dauernde  Ursache 
dieser  Wirkung  vor  das  Bewusstsein. 

Muss  das  Bewusstsein  ursprünglich  die  gleichartig  wiederkehrende 
Empfindung  notwendig  auf  dasselbe  beharrende  Etwas,  d.  h.  dieselbe 
Substanz  beziehen,  so  muss  es  andererseits  eine  andersartige  Empfindung 
ursprünglich  auf  eine  andere  Substanz  beziehen.  Und  wenn 
nun  die  Beobachtung  von  dem  einen  zum  andern  Dinge  unterschieds- 
los hin-  und  hergehen  kann,  dann  wird,  wie  erwähnt,  unmittelbar 
die  ursprüngliche  Beziehung  eines  Fremden,  eines  „ausser  uns"  auf 
das  Verhältnis  der  beiden  Substanzen  übertragen.  Sie  werden 
als  aussereinander   bestimmt.     Damit    aber    treten    sie    in  gegen- 

Kantstudiea  IV.  18 


lj^(i  Franz    Stauilingcr. 

seiti^o  Uo/.ieluiiij:  in  i'inrr   ausser  uns   vorfrestellteu  Kiulu'it  —  dem 
Kau  m. 

Damit  l»etin<leii  wir  uns  sofort  auf  {gewohntem  Krfahruni::sho(len. 
Sobald  viele  derarti{?e  Ue/ieluinj;en  aut  verschiedene  nusser- 
einander  helindlielic  Sul»stanzeii  fixiert  sind,  gewinnt  der  Kaum  seine 
AusfillluniT  und  seine  Bestimmtheit.  Oi)en  und  unten,  neben,  vorn 
und  hinten,  Grösse  und  Mass  treten  ins  Bewusstsein.  Und  nun  kann 
die  Auswertung  immer  weiter  ^ehen,  indem  jeder  neue  Inhalt,  der 
neben  oder  hinter  den  bereits  fixierten  Stellen  bezogen  wird,  immer 
wieder  in  dieselbe  Kelation  des  Aussenseins  zu  den  bereits  iixierten 
Substanzen  tritt.  Endlich  kann  bei  entwickeltem  Bewusstsein  diese 
Fixation  neuer  Kaumstellen  ohne  Emplindungsgrundlage  bloss  in 
Gedanken  weiter  gehen  und  führt  so  zur  Vorstellung  von  der  End- 
losigkeit des  Kaums. 

Ist  dann,  beiläufig  bemerkt,  der  Kaum  einigermassen  derart  be- 
stimmt und  ausgefüllt,  so  können  die  neuen  Empfindungen  nicht 
mehr  allesamt  an  verschiedenen  Kaumstellen  fixiert  werden.  Ur- 
sprünglich ist  es  denkbar,  dass  z.  B.  eine  Gesichtsempfindung  an 
einer  Substanz,  eine  Tastempfindung  an  einer  anderen  Substanz  fixiert 
wird.  Mit  der  zunehmenden  Ausfüllung  des  Kaums  geht  das  nicht 
mehr.  Die  Empfindungen  verschiedener  Sinne  müssen  an  denselben 
Kaurastellen  verbunden  fixiert  werden;  die  Vorstellung  von  Substanzen 
mit  mehreren  Eigenschaften,  d.  h.  von  Ursachskomplexen,  die  mehrere 
Empfiudungsarten  bewirkt  haben,  tritt  ein.  In  steter  Korrektur  und 
Umordnung  wird  so  das  Weltl)ild  geschaffen. 

Eine  andere  Art  der  Beziehung  schiebt  sich  von  Anfang  an  herein, 
wo  Empfindungsreihen  in  der  Weise  hervortreten,  dass  wir  nicht  von 
der  einen  zur  anderen  abwechselnd  übergehen  können.  Jetzt  besteht, 
wie  wir  gesehen  haben,  die  Notwendigkeit,  objektive  Vorgänge 
gegenständliche  Veränderungen  zu  statuieren. ')  Diese  Notwendigkeit 
aber  setzt  voraus,  dass  das  unmittelbare  und  subjektive  Bewusstsein 
der  Folge  von  Empfindungen,  vermöge  dessen  allein  schon  die  Zu- 
sammenfassung früherer  und  jetziger  Empfindungen  in  dem  Gedanken 
der  Substanz  möglich  war,  als  objektive  Folge  von  Vorgängen,  also 
als  objektiv  zeitliches  Geschehen  aufgefasst  wird.  Die  Zeit  also, 
ursprünglich  unterbewusste  Form  der  ursprünglichen  Kelation  der 
Empfindungsvorgänge,  wird  jetzt  gegenständlich.    Und  damit  ist,  wie 

i)  Dass  sehr  wahrscheinlich  zuerst  das  Bewegte,  nicht  das  Ruhende  die 
Aufmerksamkeit  erregt,  ficht  obige  Darstellung  nicht  an.  Diese  wiU  nur 
schematisch  tue  Grundbeziehungen  in  ihrer  Möglichkeit  erörtern. 


Der  Streit  um  das  Dinf?  an  sich  etc.  187 

wir  gesehen  haben,  eiue  Identität  des  substanziellen  Zusammenhangs 
trotz  gleichzeitiger  Nichtidentität  bestimmt,  ein  Widersprach,  der 
seine  Lösung  in  der  Nachfrage  nach  der  Ursache  der  Änderung 
findet.  Aber  diese  Ursache  kann  nicht  in  dem  Vorgang  selber  liegen, 
sondern  geradeso,  wie  wir  die  eigne  Aöektion  im  Emplinden  auf 
etwas  ausser  uns  beziehen  müssen,  so  müssen  wir  die  At^ektion  des 
ausser  uns  bestimmten  Dings  in  einem  erst  ausser  demselben  be- 
stimmten oder  zu  bestinmienden  suchen.  Wir  übertragen  also  wiederum 
eine  Besonderheit  der  ursprünglichen  ilelation  des  Emptindungsvor- 
gangs  auf  die  Relation  zwischen   äusseren  Dingen  bezw.  Vorgängen. 

Und  hierdurch  entsteht  der  Gedanke  des  Kausalzusammen- 
hangs, der  später,  zu  wissenschaftlicher  Klarheit  erhoben,  die  Auf- 
gabe stellt,  dass  jede  Veränderung,  welcher  Art  sie  auch  sei,  nach 
Mass,  Richtung  und  Eigenart  zureichend  zu  bestimmen  sei. 

Wie  sich  nun  diese  Analysen  und  Synthesen  im  einzelnen  voll- 
ziehen, das  zu  erörtern,  müssen  wir  uns  versagen.  Die  physiologische 
Psychologie  zeigt,  dass  der  Erwerb  schon  des  dürftigsten  Weltbildes 
ein  sehr  komplizierter  Vorgang  sein  muss,  dass  tausendfache  irrige 
Beziehungen  und  irrige  Übertragungen  vorkommen.  Das  Kind  greift 
nach  dem  Mond,  hält  die  verschiedensten  Dinge  für  identisch  etc., 
und  wir  Erwachsenen  irren  uns  noch  oft,  wenn  es  gilt,  auszumachen, 
woher  ein  Ton  kam,  ob  ein  Berg  hinter  oder  neben  dem  andern 
ist  u.  dgl.  Die  Korrektur  erfolgt  da  stets  erst  dann,  wenn  irgend- 
welche Widersprüche  zum  Hewusstsein  kommen.  Das  Auftauchen 
des  Widerspruchs  ist  in  dieser  Hinsicht  eine  vorwärtstreibende  Instanz. 

Die  gegebenen  Andeutungen  dürften  für  den  vorliegenden  Zweck 
genügen.  Es  lag  uns  ja  nur  ob,  die  Möglichkeit  zu  zeigen,  dass 
die  apriorischen  Funktionen,  wenn  wir  sie  als  analytische  Abstrak- 
tionen aus  dem  Empfindungsvorgange  als  der  ursprünglichen  Relation 
zwischen  uns  und  der  Aussenwelt  auffassen,  zu  synthetisch  apriorischer 
Verwendung  für  den  Aufbau  des  Erfahrungsganzen  genau  ebenso 
geeignet  sind,  als  wenn  wir  sie  als  Bestimmungen  der  Subjektivität 
ansehen. 

Das  sind  sie  aber  in  jeder  Weise.  Der  Raum  liegt  bei  unserer 
Auffassung  allem  äusseren,  die  Zeit  allem  inneren  und  äusseren  Sein 
und  Geschehen  ebenso  zu  Grunde,  wie  bei  Kant.  Darum  sind  auch 
die  Schlüsse,  die  sich  aus  diesen  Bedingungen  der  Erfahrung  a  priori 
ziehen  lassen,  ebenso  bindend  für  alle  Erfahrung,  wie  sie  es  nach 
Kants  Annahme  sind.  Die  apriorischen  Folgerungen  der  reinen 
Geometrie,  der  reinen  Mathematik,  der  reinen  Naturwissenschaft  sind, 

18* 


ISS  Franz    Standitif^or, 


Avonn  sie  auf  den  «renanuten  HecünjrunpMi,  und  nicht,  wie  die  Meta- 
niathenuitik  auf  einer  Auswaiil  dieser  Be(linf;un;ren,  z.  H.  als  Geometrie 
ohne  Parallelensatz,  auf^'ebaut  sind,')  ebenso  anwendbar  auf  Er- 
fahrung, wie  sie  es  bei  Kants  Voraussetzungen   nur  sein  können. 

In  anderer  Hinsieht  dagegen  ist  unsere  Aldeitung.  wie  wir 
glauben,  beträehtlieh  verständlicher,  und  mehr  zur  Erklärung  geeignet, 
als  diejenige  Kants. 

Sie  lässt  uns  den  Zusanmienhang  von  Natur  und  Leben  weit 
unmittelbarer  uud  einheitlicher  begreifen;  und  vor  allem  beseitigt  sie 
die  ganze  Reihe  von  Rätseln  und  Widersprüchen,  die  bei  Kants 
Annahme  unvermeidlich  sind  und  die,  wie  sich  gezeigt  hat,  ver- 
anlasst haben,  dass  man  an  der  bedeutsamen  wissenschaftlichen 
Leistung  Kants  allzu  oft  achtlos  vorübergegangen  ist. 

Zunächst  beseitigt  sie  die  bei  Kants  Aimahme  unerklärbare 
Schwierigkeit,  dass  einige  der  apriorisch  notwendigen  Denkfunktionen 
bloss  konstruktiver  Natur  sind,  d.  h.  bloss  als  Gerüste  und  Hilfs- 
werkzeuge beim  Aufbau  der  Erfahrung  gelten,  während  andere 
Deukfuuktionen  sich  als  konstitutiv,  d.  h.  als  Bausteine  der  Gegen- 
stände selber  herausstellen.  Und  damit  wird  auch  das  Rätsel  ge- 
löst, dass  neben  der  transcendentalen  Apperzeption,  w^elche  die  objektiv 
gültige  Einheit  enthält,  noch  eine  empirische  Apperzeption  vorhanden 
sein  kann,  in  der  Irrtümer  vorzukommen  vermögen. 

Damit  ist  aber  die  Kluft  zwischen  Ding  an  sich  und 
Erscheinung,  die  Cohen  durch  Umgehung  nur  scheinbar  be- 
seitigt hat,  wirklich  beseitigt.  Der  Materialismus,  der  die 
Beziehung  der  \'orstellungen  auf  wirkliche  Dinge  einfach  postuliert, 
ohne  anderen  Bew^eis  als  den  common  sense,  der  Empirismus  eines 
Locke,  der  die  primären  Eigenschaften  der  Dinge  „w^ahrnimmt",  der 
positivistische  Phänomenalismus,  der  alles  mit  der  denkenden  Ver- 
arbeitung von  gegebenen  Empiindungsinhalten  abmacht,  und  zu  keinen 
wirklichen  Dingen  kommt,  der  materiale  Idealismus,  der  die  Welt 
aas  dem  absoluten  Geist  hervorzaubert,  der  materiale  Rationalismus, 
der  den  Knoten  durchhaut  und,  wie  Volkelt,  den  Verstand  die 
Transsubjektivität  gewährleisten  lässt,  endlich  der  Skeptizismus,  der, 


1)  Systeme,  die  nicht  die  Gesamtheit  der  Erfahrungsbedingimgen  zu  Grunde 
legen,  mögen  in  sich  selber  äusserst  konsequent  sein;  aber  sie  haben  nichts 
mit  Erfahrung  zu  thim.  Sie  sind  eine  mathematische  Metaphysik,  ganz  analog 
der  ehemaligen  Vemunftmetaphysik,  die  ja  auch,  wenn  konsequent  durchgeführt, 
in  sich  einheitliche  Systeme,  oft  wahre  logische  Kunstwerke  ergiebt,  die  nur 
leider,  auf  Naturerfahrung  bezogen,  versagen. 


Der  Streit  um  das  Dinf^  an  sich  etc.  189 

wie  bei  HelmholtzVl<  die  idealistischen  Konzeptionen  für  unwiderleg- 
bar, wenn  auch  für  praktisch  unfreeignet  hält:  sie  alle  sind,  wenn 
anders  unsere  Ableitunjr  probehaltijj  ist,  widerlegt.  Ebenso  werden 
die  Hilfskonstruktionen  von  einem  ,,Bewusstsein  überhaupt"  gegen- 
standslos und  die  nächtliche  Ungeheuerlichkeit,  dass  das  Subjekt 
als  Quell  der  apriorischen  Formen  die  ganze  Gesetzlichkeit  in  die 
Natur  hereinlegt,  nachher  alter,  wenn  es  sich  gegenständlich  be- 
trachtet, als  kleiner  Teil  dieser  gesetzlichen  Natur  erscheint,  löst 
sich  in  verständlichster  Weise  im  Tageslicht  auf. 

Das  Ding  an  sich  schrumpft  also  damit  in  den  wirklichen 
Gegenstand  der  Erfahrung  zusammen,  wie  Scrooges  Phantom  in  den 
Bettpfosten.  Was  wir  apriori  von  den  Dingen  aussagen  können, 
gilt  für  die  Dinge  selbst,  nicht  bloss  für  \'orstellungen  von  Dingen. 
Nun  erst  ist  man  in  der  That  berechtigt,  Cohens  Urteil  zu  fällen, 
das  „Ding  an  sich"  bezeichne  nichts,  als  den  Inbegriff  aller  Erkennt- 
nisse, bezw.  die  unendliche  Aufgabe  der  Erkenntnis.  Es  ist  jetzt 
nicht  mehr  das  x  eines  fragwürdigen  Rätsels,  sondern  in  der  That 
das  X  einer  unendlichen  Gleichung,  die  wir  in  immer  weiter  schreiten- 
der Forschung  zu  lösen  haben.  Wenn  dem  so  ist,  so  sollte  man, 
nachdem  das  Gespenst  des  Dinges  an  sich  vom  Zauber  erlöst  ist 
auch  den  Namen  nicht  mehr  im  Bereiche  der  Erkenntnis  anwenden 
Die  unendliche  Aufgabe,  die  wir  theoretisch  wie  praktisch  haben, 
bedarf  beider  nicht. 


1;  Die  Thatsachen  in  der  Wahrnehmung  S.  34  f. 


War  Kant  Pessimist? 

Von  Privatdooent  Dr.  M.  WentscliL-r  in   iionn. 


(Schluss.) 
Die  bisherig-eu  Ausführungen  werden  genügen,  Kants  Verhältnis 
zum  Pessimismus  klar  zu  stellen,  sofern  wir  diese  Aufgabe  lediglich 
historisch    fassen    wollen.     Danach    erschien   uns  Kant  als  ausge- 
sprochener Gegner  dieser  Welt-  und  Lebensauffassung.    Allein  der  in 
Rede  stehende  Gegenstand  lässt  auch  eine  kritische  Behandlung  zu, 
und  eine  solche  finden  wir  in  der  That  von  E.  v.  Hartmann  im  letzten 
Teil  seiner  Schrift  über  Kant  als  Vater  des  Pessimismus  erstrebt.')    Der 
..transcendente  Optimismus"  Kants,  wie  er  ihn  nennt,  lässt  sich  natürlich 
mit  dem  Versuche,  Kant  als  den  eigentlichen  Vater  des  Pessimismus 
in  Anspruch  zu  nehmen,    unmöglich   in  Einklang  bringen.     So  sucht 
denn    Hartmann    den    „Nachweis"    zu    bringen,    „erstens,    dass    die 
Schlüsse  aus  den  Kantschen  Prämissen  falsch  gezogen  sind"  (welche 
eben  zu  jenem  transcendenten  Optimismus  hinüberführen),  „und  viel- 
mehr die  entgegengesetzten  Konsequenzen  aus  denselben  folgen,  und 
zweitens,    dass  Kant  an  die  Wahrheit    seiner  Schlüsse    selbst    nicht 
geglaubt  hat."  —  Prüfen  wir  jedoch  genauer,  auf  welche  Weise  dies 
etwas  anspruchsvolle  Programm  durchgeführt  wird,  so  zeigt  sich  so- 
gleich das  Unzulängliche  und  Verfehlte    dieses  Versuches.     Zunächst 
ist  es  Hartmann  völlig  entgangen,  dass,  wenn  auch  in  der  Idee  des 
höchsten    Gutes     Tugend    (als    Glückwürdigkeit)    und    Glück- 
seHgkeit  vereinigt  als  Weltzweck  gedacht  werden,  doch  erstlich, 
wie    wir    oben   gezeigt,   dieser  Glückseligkeitsbegrifi  über  den  naiv- 
empirischen völlig  hinausgewachsen  ist,  und  zweitens,    dass  auch  so 
doch  den  handelnden  vernünftigen  Wesen  nach  Kant  nicht  die  Herbei- 


1)  A.  a.  0.  S.  50  fl. 


War  Kaut  Pessimist?  191 

tührung  des  ganzen  höchsten  Gutes  als  ihre  Aufgabe  zufällt,  sondern 
ausschliesslich  seines  ersten  Faktors,  der  Sittlichkeit.  Von  einem 
Rückfall  in  den  Eudämonismus  kann  also  jedenfalls  nicht  wohl  die 
Rede  sein. 

Die  weiteren  Einwendungen  Hartmanns  beziehen  sich  vor  allem 
auf  die  Postulate  der  l'nsterblichkeit  und  der  Gottheit,  die  Kant 
als  notwendige  Konsequenzen  der  Idee  des  höchsten  Gutes,  wenn 
dieses  in  der  Welt  Realität  haben  soll,  hinstellt.  Wir  können  Kants 
Meinung  etwa  in  folgender  Weise  interpretieren:  Die  Welt,  wenn  sie 
in  sich  selbst  gerechtfertigt  erscheinen  soll,  ist  verpflichtet,  die  Idee 
des  höchsten  Gutes  als  ihren  letzten,  höchsten  Zweck  zur  Darstellung 
zu  bringen.  Von  dieser  Verpflichtung  fällt  uns,  den  vernünftigen 
Wesen,  ausschliesslich  die  Herstellung  immer  höherer,  reinerer  Sitt- 
lichkeit in  uns  zu;  nur  in  diesem  Sinne  ist  uns  überhaupt  eine 
Mitwirkung  bei  der  Realisierung  des  höchsten  Gutes  moralisch  möglich. 
Nun  aber  soll  das  Welt  ganze  vielmehr  das  ganze  höchste  Gut  zur 
Erscheinung  und  Ausprägung  bringen,  d.  h.  ein  Zusammenstimmen 
von  proportionierter  Glückseligkeit  mit  der  erreichten  Glück- 
würdigkeit der  Tugend.  Da  diese  Aufgabe  nun  über  ihre  Leistungs- 
fähigkeit als  blosser  Natur,  wie  wir  diese  uns  sonst  denken,  weit 
hinausgeht,  so  muss  die  Welt  vielmehr  als  Schöpfung  eines  intelli- 
genten  Urhebers  angesehen  werden,  und  zwar  so,  dass  dieser 
Urheber  alles  in  ihr  ausschliesslich  nach  seinem  Willen  zu  gestalten 
imstande  war.  also  mit  unbedingter  Allmacht  sein  Werk  vollen- 
den konnte.     Dies  der  Grundgedanke  des  Gottes-Postulates. 

Weiter  aber:  da  wir  in  unserm  so  vielfach  bedingten  und  zeit- 
lich beschränkten  Erdendasein  immer  nur  in  sehr  geringem  Masse 
zu  wahrer  Sittlichkeit  zu  gelangen  vermögen,  so  muss  in  einem  an 
dieses  Leben  sich  anschliessenden  anderweitigen  Dasein  die  Möglich- 
keit geboten  gedacht  werden,  diesem  Ideale  uns  immer  weiter  an- 
zunähern; mithin  ist  Unsterblichkeit  gleichfalls  ein  Postulat  der 
praktischen  Vernunft. 

Es  wird  sich  also  fragen,  ob  diese  Konsequenzen  wirklich 
notwendig  mit  den  Kantschen  Prämissen  zusammengehören,  —  in 
welchem  Falle  die  Kantsche  Philosophie  als  das  vollkommene  Wider- 
spiel des  Pessimismus  erwiesen  wäre,  —  oder  ob  Hartmann  Recht 
hat.  wenn  er  behauptet,  dass  vielmehr  gerade  das  Entgegengesetzte 
daraus  folge,  —  denn  alsdann  würde  man  in  der  That  triftigen  Grund 
haben,  Kant  auch  ohne  seine  ausdrückliche  Zustimmung,  —  ja,  ent- 
gegen diesen  von  ihm  nur  irrtümlich  gezogenen  optimistischen  Konse- 


19'2  r>r.   M    WfiitscluT. 

qucn/.iMi.  —  in  diis  Ln|;cr  tli\s  rrssiinisnius  IutIUxt  /.u  /.iclu'ii,  dein 
er  (loch,  den  Grunclla^t'n  seiner  IMiilosopliie  naeli,  /wi-ilVllos  an- 
gehöre. 

Was  nun  zunächst  die  Idee  des  höchsten  Gutes  anlnn^'t, 
die  Kant  /um  Ausiranirspunkt  seiner  Postulate  {rewiUilt  hat,  sk  iiahcn 
wir  deren  Zusainnienhanjr  und  rbereinstinimunjr:  mit  den  Funda- 
menten der  KantschtMi  Etliik  bereits  oben  hinreichend  nachj^ewiesen. 
Wie  aber  steht  es  mit  der  Befrründung  der  erwähnten  Postulate 
auf  diesem  Hoden?  Die  Zuhilfenahme  des  Gottesbegriffes  würde  in 
diesem  Zusammenhange  als  logische  Notwendigkeit  kaum  anerkannt 
werden  können,  wenn  die  in  der  Idee  des  höchsten  Gutes  gemeinte  Giflck- 
seligkeit, also  die ,,Selbstzuf riedenheit"  sich  lediglich  auf  d  a  s  beschränkte, 
was  der  Stoicismus  fordert,  die  im  Tugendbewusstsein  unmittclbai- 
liegende  Selbstgenügsamkeit,  die  sich  gegen  die  objektive  Welt 
und  ihre  Macht  über  uns  einfach  abschliesst,  kein  Übel,  das  dorther 
kommt,  als  solches  anerkennt.  Denn  alsdann  würde  die  umgebende  Welt 
sein  können,  wie  sie  wollte:  diese  Selbstzufriedenheit  würde  immer 
erreichbar  sein,  falls  w^ir  nur.  wie  der  Stoicismus  voraussetzt,  wirklich 
die  Kraft  haben,  unbekümmert  um  alles  physische  Leiden  uns  rein 
dem  ethischen  Dasein  hinzugeben;  dazu  würde  es  keiner  göttlichen 
Macht  erst  bedürfen,  welche  jene  olyektive  Welt  eigens  auf  eine 
innere  Zusammenstimmung  mit  dem  sittlichen  Verhalten  vernünftiger 
Wesen  in  ihr  angelegt  hätte;  der  Gottesgedanke  würde  also  wenig- 
stens dieses  Fundamentes  beraubt  sein,  auf  das  es  hier  allein  uns 
ankommt.  —  Nun  aber  erkannten  wir  jene  von  Kant  gemeinte 
„Selbstzufriedenheit"  bereits  als  eine  Zufriedenheit  eines  Wesens 
mit  sich  selbst,  sofern  es  sich  als  Teil,  als  Mitglied  der 
Welt  auffasst;  als  solches  aber  ist  es  von  deren  Wert  oder  Un- 
wert immer  zugleich  mit  abhängig,  ganz  abgesehen  noch  von  der 
physischen  Verflochtenheit  in  sie,  die  sich  so  oft  störend  und 
hemmend  in  ihrem  Hinübergreifen  in  das  ethische  Dasein  geltend  macht. 
In  dieser  Selbstzufriedenheit  also  liegt,  w^enn  sie  soll  stattfinden  können, 
die  Forderung,  dass  nicht  nur  wir  so  eingerichtet  sind,  in  unserem 
guten  Gewissen  thatsächlich  vollkommene  innere  Befriedigung  zu 
finden,  sondern  auch  das  objektive  Weltganze  sich  in  letzter  Instanz 
als  ethischer  Kosmos  darstellt,  in  welchem  ethisches  Wollen  und 
Handeln  ein  vollgültiges  He  imatrechthat,  —  Diese  Zusammenstimmung 
des  Weltganzen  aber  zu  unserer  Idee  vom  höchsten  Gute  kann  in 
der  That  nicht  mehr  von  einer  blossen  Naturordnung  erwartet  werden, 
solansre    wir    diese    nur  als  das  nehmen,    als    was    sie  sich  unserer 


War  Kant  Pessimist?  I93 

empirischen  Erkenntnis  darstellt.  Denn  die  Gesetze  dieser  ,,Sinnen- 
welt"  haben  nicht  den  mindesten  Zusammenhang:  mit  dem  moralischen 
Gesetz,  durch  welches  der  sittliche  Wille  allein  sich  bestimmen  lässt 
(\11I.  2()4f. ).  ,,Also  ist  das  höchste  (iut  in  der  Welt  nur  möglich, 
sofern  eine  oberste  Natur  angenommen  wird,  die  eine  der  moralischen 
Gesinnung  gemässe  Kausalität  hat,  d.  h.  eine  Intelligenz",  .  .  . 
„ein  Wesen,  das  durch  Verstand  und  Willen  die  Ursache  (folglich 
der  Urheber)  der  Natur  ist,  d.  i.  Gott"  (Vlll.  2(55 f.). 

So  tilgt  sich  das  Gott  es -Postulat  durchaus  konsequent  ein  in 
die  Kantsche  Lehre  vom  höchsten  Gute.  Anders  aber  steht  es  mit 
dem  Postulat  der  Unsterblichkeit.  Seine  Begründung  bei  Kant 
hat,  wie  mit  Recht  bemerkt  worden  ist  (so  z.  B.  von  Lotze),  die 
missliche  Konsequenz,  dass  der  Grund  zur  Unsterblichkeit  fortfallen 
würde,  wenn  es  jemandem  gelänge,  nun  doch  bereits  in  diesem 
Leben  sieh  zu  vollendeter  Sittlichkeit  zu  erheben.  Freilich  kann 
man  entgegnen:  Dieser  Fall  sei  nur  theoretische  Erdichtung;  in  der 
Wirklichknit  aber  würde  er  zufolge  der  Beschränktheit  unserer 
Natur  niemals  vorkommen.  Allein  abgesehen  davon,  dass  die  Ge- 
schichte uns  doch  ein  Beispiel  wenigstens  solcher  hier  bereits  er- 
reichten sittlichen  Vollkommenheit  mit  hinreichender  Glaubwürdigkeit 
in  dem  Stifter  unserer  Religion  thatsächlich  vor  Augen  führt:  so 
kann  auch  prinzipiell  eine  Argumentation  nicht  anerkannt  werden,  die 
zur  weiteren  Konsequenz  einen  Satz  hätte,  welcher  der  eigentlichen 
Meinung  geradezu  entgegenstrebt,  —  den  Satz  nämlich,  dass  wir 
um  so  mehr  Anrecht  auf  Unsterblichkeit  hätten,  je  weiter  wir  in 
diesem  Leben  von  dem  Ideal  vollkommener  Sittlichkeit  entfernt 
geblieben. 

Offenbar  hat  Kant  sich  hier  durch  das  Bestreben,  den  ethischen 
Unsterblichkeitsglauben  von  allem  Eudämonismus  frei  zu  halten,  zu 
weit  führen  lassen  und  ist  so  zu  dem  Missgriff  verleitet  worden, 
dieses  Postulat  ausschliesslich  auf  der  Unerreichbarkeit  vollkommener 
Sittlichkeit,  also  nur  des  ersten  Faktors  in  der  Idee  des  höchsten 
Gutes,  zu  begründen.''-)  Allein  das  berechtigt  uns  noch  nicht,  die 
Einführung  des  Unsterblichkeits-Postulates  für  eine  blosse  Konzession 
an    (las    religiöse   Bedürfnis    zu    nehmen,     die    mit     den    Kantschcn 


*i  Anmerkung.  Hartmann,  der  dies  garnicht  bemerkt  hat,  polemisiert 
merkwürdiger  Weise  fortwährend  gegen  die  vermeinte  Wiedereinführung  des 
Eudämonismus  fürs  „Jenseits,"  als  habe  Kant  damit  den  geforderten  Verzicht 
auf  (ilückseligkeit  im  Diesseits  mildern  und  annehmbarer  machen  wollen. 
A.  a.  U.  S.  52. 


[1)4  l*r    M.   Weilt  seilt' r, 

Prämissen  uielit  \  crtiiiliar  wäic.  hu  (Jt'jrt'iiti'il,  es  lässt  sicli  leicht 
zeiiTOii,  wie  die  Idee  des  liöehsteii  (Jutes.  in  anderer  Weise  ver- 
wertet,  allerdinirs  eine  lialtliarc  (i  rund  laue  herfreljen  kann  für  eine 
rnsterblieiikeitsli'iire  in  dem  Sinne,  wie  Kant  sie  icewollt  hat.  Wir 
haben  bereits  jre/.ciu:t,  dass  die  in  der  Idee  des  höchsten  (lutes  nnt- 
jiedachte  ,,Selbst/,ufriedenheit''  sich  nicht  etwa  bloss  auf  die  sul))els.tivc 
(iemütsyertassnnjr  des  ,. guten  Gewissens"  beschränken  konnte,  sondern 
mir  dann  vollkommen  war.  wenn  /,ui::leich  auch  eine  Zusannnen- 
stinnnuug  des  objektiven  Weltganzen  mit  unserem  idealischen  Welt- 
zweek  sich  zu  erkennen  gab.  Diese  letztere  Befriedigung  aber 
vermag  uns  der  Anblick  der  Siuuenwelt,  in  der  unser  empirisches 
Leben  sich  abspielt,  allerdings  nicht  zu  gewähren,  sofern  wir  sie 
bereits  für  die  ganze  Wirklichkeit  nehmen.  Ja,  ihr  Abstand  von 
diesem  Welt-Ideale  wird  uns  um  so  mehr  vor  Augen  treten,  je  weiter 
wir  selbst  bereits  in  unserer  sittlichen  Entwicklung  fortgeschritten 
sind.  Und  so  würde  in  der  That  gerade  dem  Sittlichsten  zugleich 
auch  am  meisten  eine  Fortsetzung  des  im  , .Diesseits"  begonnenen 
sittlichen  Lebens  und  Wirkens  in  einer  Jenseitigen"  Welt  zum  ethischen 
Bedürfnis  werden;  und  auf  diesem  Wege  kämen  wir  denn  allerdings 
in  letzter  Instanz  auf  dem  Boden  der  Kantschen  Philosophie  auf  die 
Unsterblichkeits-Idee  als  ethisches  Postulat  zurück.  —  Voraussetzung 
wäre  dabei  freilich,  dass  dieses  jenseitige  Leben  sich  ohne  Wider- 
spruch so  denken  Hesse,  dass  eine  ethische  Weiterentwicklung  der 
Persönlichkeit  und  ein  Wirken  derselben  im  Weltganzen  möglich 
wäre.  An  diesem  Punkte  setzt  nun  wiederum  Hartmann  ein:  er 
meint,  eine  solche  Annahme  widerspreche  durchaus  der  Kantschen 
Lehre  von  der  Zeit-  und  Raumlosigkeit,  von  der  Immaterialität  des 
jenseitigen  Lebens.^)  Allein  demgegenüber  muss  doch  darauf  hin- 
gewiesen werden,  dass  die  einfache  Berufung  auf  die  dem  Jahre  1766 
entstammenden  „Träume  eines  Geistersehers,"  also  eine  weit  vor 
der  „kritischen  Periode"  Kants  liegende  Schrift,  nicht  wohl  zulässig 
ist,  wo  spätere  Aussprüche  Kants  von  anderem  Inhalt  vorliegen. 
Die  Identifizierung  der  Welt  des  jenseitigen  Lebens  mit  der  Welt 
der  Dinge  an  sich,  der  unzeitlichen  und  unräumlichen  „intelligiblen 
Welt"'  ist  danach  nicht  gerechtfertigt;  vielmehr  unterscheidet  Kant 
ausdrücklieh  (VIII,  289)  das  ,.Dasein  in  einer  reinen  Verstandeswelt", 
das  uns  als  freien  Wesen  ja  schon  in  dieser  Welt  zukommt,  von 
der  „unendlichen  Dauer"  des  Daseins.     Aber  jede  weitere  Ausmalung 


Vgl.  S.  56  f.  a.  a.  0. 


War  Kant  Pessimist?  105 

dieser  Welt  des  jenseitig:en  Lebens  nmsste  Kant,  da  sie  aller  Er- 
fahrung' un/a;i-äng:lich  ist,  seinen  kritischen  Grundsätzen  zufolge 
durchaus  ablehnen.  Selbst  die  ,.  unendliche  asymptotische 
Annäherung-'  an  das  sittliche  VoUkomnienheitsideal,  welche  die 
Aufgabe  und  den  Inhalt  des  jenseitigen  Lebens  bilden  soll,  ist  ihm 
..nur  ein  negativer  Begriff  von  der  ewigen  Dauer,  wodurch  .  .  .  nur 
gesagt  werden  will,  dass  der  Vernunft  in  (])raktischer)  Absicht  auf 
den  Endzweck,  auf  dem  Wege  beständiger  Veränderungen  nie  Genüge 
gethan  werden  kann";  —  noch  weniger  aber  mit  dem  „Prinzip  des 
Stillstandes  und  der  Unveränderlichkeit  des  Zustandes  der  Welt- 
wesen" (VII,  419  ff.).  —  Kant  will  von  der  Unsterblichkeits-Idee 
durchaus  keinen  theoretischen  Gebrauch  gemacht  wissen,  vielmehr 
nur  einen  praktischen,  sofern  „die  Vernunft  dem  Menschen  keine 
andere  Aussicht  in  die  Ewigkeit  übrig  lässt,  als  die  ihm  aus  seinem 
bisher  geführten  Lebenswandel  sein  eigenes  Gewissen  am  Ende 
des  Lebens  eröffnet  (VII,  414). 

Nach  alledem  kann  jedenfalls   nicht  davon  die  Kede  sein,   dass 
in  der  jenseitigen  W>lt  weder  die  weitere  Annäherung  an  das  Ideal 
der  vollkommenen  Sittlichkeit,  noch  an  die  ihr  proportionierte  Glück- 
seligkeit auf  dem  Boden  der  Kantschen  Voraussetzungen  unmöglich 
sei,  wie  Hartmann  behauptet;')  im  Gegenteil,  diese  Behauptung  über- 
schreitet ganz   ofienkundig    die   Grenzen    des    auf    kritischem  Boden 
nach   Kant  Erkennbaren    und  verkennt   völlig    den   Sinn    und  Wert 
dieser    Kantschen    Ausführungen,     deren    Stärke    zum    wesentlichen 
Teile  gerade  auf    der    Selbstbescheidung    unseres    theoretischen   Er- 
kennens  liegt.     Allein   Hartraann  führt   noch   ein  anderes  Argument 
gegen  das  Postulat   der  Unsterblichkeit  ins   Feld:    Kant  selbst  habe 
zugestanden,    dass  die  vollkommene   Entwicklung    der    Anlagen    der 
Menschheit  nicht  im  Individuum,    sondern  nur  in  der  Gattung 
von  der  Natur  erstrebt  werde.^)     Der  Glückseligkeitstrieb  des  Indi- 
viduums sei  nicht  als  berechtigter  Selbstzweck  zufassen,  vielmehr 
an  sich  nur  eine  ,, Illusion."  —  eine  Illusion  jedoch,  die  sich  teleo- 
logisch rechtfertige,  da  ihr  Nutzen  für  die  Entwicklung  der  Gattung 
evident  sei.^)     Somit  bleibe  gar  kein  Boden  mehr  für  die  Begründung 
der  Forderung  individueller  Unsterblichkeit.    Hierbei  ist  jedoch  über- 
sehen, dass  die  Sittlichkeit  vor  allem  Sache  der  Persönlichkeit 
ist,  und  dass  daher  auch  die   grösste  Gewissheit   des  Fortschreitens 

»)  A.  a.  0.  S.  66  flf. 
2)  A.  a.  0.  S.  56  f. 
8)  A.  a.  0.  S.  53  fl. 


19(1  l>i'.  M    \\  i'iilsrliür, 

(1er  (iiittuiiir  zum  Besseren  uns  niemals  das  lU'dllrfnis  des  ciirenen 
unbeirren/.ten  Fortsehreitens  /.um  (luten  nelimeu  kann.  So  ist  denn 
aueli  in  jenem  Kantselu'n  Aui'sat/.,  der  dies  'riiema  lirliandelt, 
,,l{lee  7.Ü  eiiur  alliremeinen  (Jesehiehte  in  wtltbiir^erlielicr  Al»sielit", 
von  dem  .Mensehen  lodiiilieh  als  Kulturwesen  die  Kedc.  Die 
moralisehe  Anlauc  in  uns,  soweit  sie  uns  als  Bewusstsein  einer 
Verptlichtuni;-  i^egeheu  ist,  —  nämlich  der  Zusammenstimmung' 
unseres  WoUens  mit  der  Forderung  des  Gewissens,  —  ist,  wie  dieses 
Gewissen  selbst,  durchaus  Angelegenhi'it  der  rersünlichkeit.  Die 
Herausbildung  des  höchsten  Tvjjus  „Mensch"  dagegen,  als  Kultur- 
wcsens,  —  und  so  freilich  auch  in  Hücksicht  auf  ,,moralische 
Kultur."  —  ist  Sache  der  Gattung,  resp.  der  Wirksamkeit  der 
Natur  im  Leben  der  Gattung.  Daher  ist  auch  das  „grösste  Problem" 
für  den  Menschen,  „zu  dessen  Auflösung  die  Natur  ihn  zwingt,  die 
Erreichung  einer  allgemein  das  Recht  verwaltenden  bürgerlichen 
Gesellschaft,"  —  eine  vollkommene  Staatsverfassung,  als 
einziger  Zustand,  in  welchem  die  Natur  alle  Anlagen  in  der  Mensch- 
heit völlig  entwickeln  kann''  (VII,  328). 

Es  ist  somit  etwas  völlig  anderes,  was  die  Aufgabe  der  Ent- 
wicklung der  Gattung,  und  was  das  letzte  Ziel  des  sittlichen 
Strebens  des  Individuums  ist.  Jener  Fortschritt  der  Gattung, 
auch  wenn  er  sicher  gestellt  wäre,  kann  dem  Individuum  doch  keinen 
Ersatz  bieten  für  den  so  unvermittelten  Abbruch  all  seines  Strebens 
und  seiner  sittlichen  Arbeit  durch  das  Ende  dieses  Lebens  und  lässt 
also  das  ethische  Bedürfnis  nach  individueller  Unsterblichkeit  völlig 
unberührt. 

Allein  in  einem  anderen  Sinne  kommt  jene  Kantsche  Lehre  von 
dem  allmählichen  Fortschreiten  der  Gattung  allerdings  in  Frage  für 
die  Entscheidung  zwischen  optimistischer  und  pessimistischer  Welt- 
ansicht. Giebt  es  einen  solchen  Fortschritt  (im  ethischen  Sinne),  so 
ist  damit  —  trotz  aller  etwaigen  individuellen  Misserfolge  im  einzelnen 
—  doch  das  Heimatsrecht  des  Sittlichen  im  universellen  Ganzen 
auch  dieser  Wirklichkeitswelt  erwiesen,  und  damit  wäre  als- 
dann auch  jene  Stimmung  und  Gesinnung  der  „Weltflucht"  wider- 
legt, die  ja  in  gewissem  Sinne  gleichfalls  als  „Pessimismus"  gefasst 
werden  muss,  wenn  dieser  hier  auch  nur  die  diesseitige,  empirische 
Welt  betrifi't.  Denn  freilich:  die  Kehrseite  des  ethischen  Unsterb- 
lichkeits-Bedürfnisses wäre  doch  immer  die  Anerkennung  einer  ge- 
wissen Unzulänglichkeit  des  Lebens  in  dieser  Welt,  also  immer  ein 
gewisses  Zuo:eständnis  an  den  Pessimismus.     Diesem  aber  wird  nun 


War  Kant  Pessimist?  197 

die  Wage  gehalten  durch  die  Würdigung  der  Bedeutung  des  Welt- 
Ganzen  (in  der  unendlichen  Zeitreihe)  für  das  Leben  und  die  Ent- 
wicklunir  der  Gattunir.  Die  "rrossen  wirkenden  Kräfte  in  diesem 
Welt-Ganzen  und  die  sie  beherrschende  Ordnung  erscheint  angelegt 
auf  die  beständige  Annäherung  an  ein  idealisches  Gut,  das  auf  diesem 
Boden  von  der  Gattung  erreicht  werden  soll,  während  zugleich  jeder 
Fortschritt  in  dieser  Annäherung  selbst  schon  als  etwas  Gutes,  Wert- 
volles von  der  betreflenden  Generation  unmittelbar  empfunden  wird. 
—  Auch  hier  zeigt  sich  also,  wie  die  Kantsehe  Weltanschauung 
ihrem  ganzen  Zusammenhange  nach  das  gerade  Widerspiel  des 
Pessimismus  darstellt;  und  so  erweist  sich  Hartmanns  Versuch,  seine 
Sache  durch  die  Autorität  Kants  zu  stützen,  nach  jeder  Richtung  hin 
als  verfehlt. 


Es  würde  zu  weit  führen,  wenn  wir  in  gleich  eingehender  Weise, 
wie  es  mit  der  Hartmannschen  Arbeit  geschehen,  nun  auch  noch  die 
Volke Itschen  Ausführungen  zum  Gegenstande  einer  erschöpfenden 
Auseinandersetzung  machen  wollten,  zumal  das  ein  Eingehen  auf  die 
Prinzipien  des  Volkeltschen  Pessimismus  erforderte,  wie  es  den  Rahmen 
der  Aufgabe,  die  wir  uns  hier  gestellt,  weit  überschreiten  würde. 
Nur  eines  greifen  wir  hier  zum  Schlüsse  noch  heraus:  die  Behaup- 
tung nämlich,  dass  gewisse  ungelöste  Dissonanzen  bei  Kant,  so 
namentlich  die  Lehre  vom  radikalen  Bösen  gegenüber  der  vom  ab- 
soluten Werte  des  guten  Willens,  uns  nötigten,  bereits  die  höchsten 
Weltprinzipien  als  auf  jene  ,.irrationalen,  widerspruchsvollen  Mächte 
angelegt-'  zu  fassen.')  Wir  können  uns  dieser  Ansicht,  welche  die 
Kantsche  Weltanschauung  im  Sinne  der  Zurückführung  auf  einen 
uneinheitlichen,  widerspruchsvollen  Weltgrund  ergänzt  sehen  möchte, 
nicht  anschliessen  und  vor  allem  in  der  Lehre  vom  radikalen  Bösen 
keinen  Grund  erkennen,  der  uns  nötigte,  sie  in  der  Weise  auszu- 
legen, dass  daraus  ein  Rückschluss  auf  irgendwelche  Uneinheitlich- 
keit  des  obersten  Weltprinzips  sich  ableiten  Hesse. 

Diese  Lehre,  mit  der  Kant  seine  „Religion  innerhalb  der  Grenzen 
der  blossen  Vernunft"  einleitet,  ist  nämlich  im  Grunde  nichts  anderes, 
als  eine  Bezeichnung  (nicht  Lösung!)  des  Problems  vom  Ursprünge 
des  Bösen  im  Menschen.  Da  —  nach  Kant  —  alles  Wollen,  für 
das  wir  sittlich  verantwortlich  sein  sollen,  aus  Freiheit  hervorgehen, 
unsere   eigene  That  sein  muss    (X.  34),    so  kann    keinerlei  Ursache 


1)  Vgl.  oben,  S.  33. 


11)8  1-^1  •  '^l-  W  out si'lier, 

uns  bi'stimint  lialuii.  uns  tür  das  Böse,  il.  i.  das  (iest'tzwidrifje,  zu 
entscheiden,  sondern  wir  müssen  bereits  einen  „Hanf;  /um  Hosen'' 
niitüH'hrac'iit  habiMi.  Dieser  ,.llang"  unterscheidet  sich  aber  dadurch 
von  einer  Anlaire,  ,,dass  er  zwar  angeboren  sein  kann,  aber  doch 
nicht  als  solcher  vor}2:estellt  werden  darf,  sondern  auch  als  er- 
worben, oder  als  von  dem  Menschen  selbst  sich  zugezogen  ge- 
dacht werden  kann/'  (X,  31).  Dieser  Hang  zum  Bösen  ist  „intelli- 
gible  That,"  sofern  er  vor  jedi-r  empirischen  That  vorhergeht 
(X,  34).  ,,Der  Mensch  ist  böse"  heisst:  „er  ist  sich  des  moralischen 
Gesetzes  bewusst  und  hat  doch  die  (gelegentliche)  Abweichung  von 
demselben  in  seine  Maxime  aufgenommen".  Sofern  dieser  Hang,  wie 
die  anthropologische  Erfahrung  zeigt,  ganz  allgemein  in  der  Mensch- 
heit gewurzelt  ist,  nennt  ihn  Kant  auch  das  „radikale  Böse  in  der 
menschlichen  Natur"  (X,  36  ft".j.  Dieser  Hang  „bedeutet  nichts 
weiter,  als  dass,  wenn  wir  uns  auf  die  Erklärung  des  Bösen,  seinem 
Zeitanfange  nach,  einlassen  wollen,  wir  bei  jeder  vorsätzlichen 
Übertretung  die  Ursachen  in  einer  vorigen  Zeit  unseres  Lebens  bis 
zurück  in  diejenige,  wo  der  Vernunltgebrauch  noch  nicht  entwickelt 
war  ...  die  Quelle  des  Bösen  verfolgen  müssten"  (X,  48).  Das 
radikale  Böse  besteht  aber  in  nichts  anderem,  als  einer  Verkehrung 
der  Kangordnung  der  Triebfedern,  nämlich  der  Uberordnung  der 
eigenen  Glückseligkeit  ül)er  das  moralische  Gesetz  (X,  40  f). 

Welches  sind  nun  die  realen  Thatbestände,  die  dieser  Theorie 
zu  Grunde  liegen?  Kann  sie  etwa  so  gemeint  sein,  dass  wir  einen 
bereits  fertig  ausgeprägten  bösen  Willen  im  Sinne  dieses  radikalen 
Bösen  mit  auf  die  Welt  bringen?  Das  wäre  oifenbar  absurd  und 
widerspräche  auch  der  Forderung  Kants,  dass  er  unsere  eigene 
That  sein,  von  uns  selbst  uns  zugezogen  sein  müsse.  Weder  böse 
noch  gut  ist  unser  Wollen  in  seinen  ersten  Anfängen;  denn  es  ist 
überhaupt  noch  gar  kein  Wollen.  Wir  treten  nicht  als  fertige  Wesen 
in  die  Welt,  sondern  alles  bewusste  psychische  Leben  ist  erst  Er- 
gebnis einer  allmählichen  Entwicklung,  deren  Gang  im  einzelnen 
zu  verfolgen  und  nachzukonstruieren  uns  niemals  mit  zureichender 
Vollständigkeit  gelingen  kann.  So  ist  auch  unser  Wollen  erst 
Produkt  einer  Entwicklung;  zuerst  nur  ein  blindes,  zielloses 
Herumtappen  einer  noch  ganz  keimhaften  eigenen  Regsamkeit,  dann 
—  an  der  Hand  erster,  primitiver  Erfahrungs-Elemente  —  ein  Nach- 
ahmungsversuch fremden  WoUens  (resp.  seiner  Bethätigungen), 
wodurch  gleichsam  nur  erst  der  Mechanismus  eines  eigenen  WoUens 
ausprobiert    und    eingeübt    wird.      Erst    viel    später,    wenn    dieser 


War  Kant  Pessimist  V  199 

Mechanismus  längst    geläutig    geworden    und    gleichsam  automatisch 
funktioniert,    beginnt   eine  Unterscheidung    und  Abwägung    mehrerer 
Möglichkeiten  eines   eigenen    Wollens  gegen  einander    —    und  zwar 
unter  der  Einwirkung  wiederum    eines   fremden  Wollens,    von  dem 
es  sich  zunächst  einfach    leiten  lässt,  bis  etwa  der  bemerkte  Wider- 
streit   verschiedener    Einwirkungen    solchen    fremden    Wollens    oder 
andere  Umstände  uns  mit   der  Fähigkeit    eines    sell)ständigen,    nicht 
mehr  vom  fremden  abhängigen  Wollens  bekannt  macht,  —  Hier  nun, 
an  der  Schwelle  eines  ersten  wirklich  eigenen  Wollens,  beginnt  aller- 
erst unsere   Verantw^ortlichkeit,    ein    ..gut"    und  „böse"  unseres 
Wollens.     Allein   es  ist    klar,   dass  die  ganze  bisherige  Entwicklung 
auch  über  diese  ersten  Regungen  eigenen  Wollens  hinaus  noch  fort- 
>virken    und    in    diesen    selbst    ihren  Einfluss    noch    immer    geltend 
machen  wird.     Der  Wille,    obschon  zur  Freiheit  (d.  i.  Selbstbestim- 
mung)   erwacht,    ist    doch    nicht  selbst,    so  wie  er  ist,    sein  eigenes 
Werk,  sondern  findet  sich  bereits  in  bestimmter  Weise,  zu  bestimmtem 
Charakter  ausgebildet,  vor.     Ein  wirklich  freies,    absolut   eigenes 
Wollen  ist  ihm  also  noch   gar  nicht  möglich,  sondern  nur  ein  Streben 
nach  einem    solchen.     Nun    aber    wird    zum    „guten  Willen"    nach 
Kant  gerade  die   absolute  Selbstbestimmung  erfordert;    und  darum 
ist  die  Formel  des  „kategorischen  Imperativs"  das  eigentliche  Prinzip 
des  guten  Willens,  weil  die  'Befolgung  dessen,  was  sie  fordert,  aller- 
erst uns  entscheidend  loslöst  aus  allem  Zusammenhange  mit  unserem 
bisherigen  empirischen  Wesen,  das  wir  uns  nicht  selbst  geschaffen, 
noch  auch  selbst  gewollt  haben,    sondern    bei   erwachendem  eigenen 
Wollen  bereits  in  seiner  Eigenheit  in  uns  vorfinden.    Dass  nun  unser 
Wille    an    diesem    Punkte    seiner    Entwicklung    nicht    sogleich    mit 
seiner  ganzen  Vergangenheit    zu  brechen  vermag,    sondern    nur    auf 
ihrem  Boden  überhaupt  zu  weiteren  Bethätigungen   befähigt  ist,    die 
folglich  nicht  von  vornherein  absolut  frei  sein  können,  sondern  ihren 
bisherigen  pathologischen  Charakter  zunächst  noch  überwiegend  bei- 
behalten werden,  trotzdem  schon  das  Bewusstsein  der  Fähigkeit  (und 
damit  der  Verpfiichtung)  wahrhaft  eigenen  Wollens  zu  erwachen  be- 
ginnt:  Das  wäre  der  Thatbestand,  auf  welchen  sich  die  Lehre  vom 
radikalen  Bösen  in  letzter  Instanz  reduzieren  würde.  —  „Der  Mensch 
(selbst  der  ärgste)  thut.    in   welchen  Maximen   es  auch  sei.    auf  das 
moralische  Gesetz  nicht  gleich.sam  rebellischerweise  (mit  Aufkündigung 
des  Gehorsams)  Verzicht.     Dieses    dringt    sich    ihm    vielmehr,    kraft 
seiner  moralischen  Anlage,    unwiderstehlich  auf  ...  Er   hängt  aber 
doch  auch,   vermöge  seiner    gleichfalls    schuldlosen  Naturanlage,    an 


200  •'"    ^''  ^^<'^t8che^, 

den  TriobfcdiTü  der  Sinidicldvcit.  und  niiiiint  sie  (nach  dein  subjek- 
tiven Prin/ij)  il»r  Sell)stliehe)  auch  in  seine  Maxime  auf"  . . .  (X,  40). 
Diese  AuslUhrunjren  enthalten  ü-eradezu  den  Schlüssel  der  j^anzen 
Ii(>hre.  Ks  ist  n)it  der  ..intellipl)len  That"  keine  mystische,  in  einem 
vorenipirischen  Dasein  mit  Freiheit  Nollzo^ene  That  j;emeint,  wie 
man  irefahelt  hat,  sondern  nur /.um  Ausdruck  gebracht,  dass  dieser  „Hanj;" 
zum  Bösen  in  eine  Periode  zuriickverfolgt  werden  muss,  „wo  der  \'er- 
nunftji-ebrauch  noch  nicht  entwickelt  war"  (X,  49).  Dass  er  al)er  als 
aus  Freiheit  entsprungen  vorgestellt  wird,  bedeutet  nur,  dass  wir 
ihn  im  praktischen  Verhalten  als  durch  uns  selbst  zugezogen 
und  daher  auch  durch  uns  selbst  Uberwindbar,  nicht  al)er  als 
angeboren  und  folglich  unabänderlich  anzusehen  haben  (vgl. 
X,  4(i).  —  Die  Ausdrücke  ,.aus  Freiheit  entsprungen"  einerseits  und 
,.angeboren"  anderseits  sind  beide  nicht  als  theoretische  Dogmen 
gemeint;  denn  alsdann  würden  sie  einander  ausschliessen,  während 
Kant  sie  doch  thatsächlich  für  das  radikale  Böse  fortwährend  neben 
einander  gebraucht,  je  nach  den  praktischen  Konsequenzen,  die 
er  gerade  vor  Augen  hat,  und  auf  die  allein  es  ihm  ankommt  (vgl.X,  58). 
Nach  alledem  enthält  die  Lehre  vom  radikalen  Bösen  nicht 
den  mindesten  Grund,  irgendwelche  widerspruchsvollen  Mächte  in 
den  obersten  Weltprinzipien  anzunehmen,  wie  Volkelt  will.  Vielmehr 
umgekehrt:  es  ist  garnieht  abzusehen,  wie  eigentlich  eine  Welt 
freier  Wesen  anders  hätte  geschaffen  werden  sollen,  als  so,  dass 
diese  Wesen  nicht  bereits  als  fertige  in  die  Welt  treten,  sondern 
erst  in  einer  allmählichen  Entwicklung,  wie  wir  sie  oben  ange- 
deutet, zu  einem  Gebrauch  ihrer  Freiheit  zu  gelangen  vermögen. 
Nur  so  ist  alles  Sittlich-Wertvolle,  das  wir  in  dem  Dasein  frei 
wollender  Wesen  zu  finden  vermögen,  die  Begründung  und  Bildung 
eines  sittlichen  Charakters,  wirklich  ihnen  selbst  in  die  Hand  ge- 
geben und  empfängt  gerade  dadurch  allererst  diesen  seinen  einzig- 
artigen Wert!  —  Es  ist  nicht  eine  positive  Fehlerhaftigkeit  unseres 
Wesens,  welche  ein  weiser,  allmächtiger  Schöpfer  hätte  ver- 
meiden müssen,  in  der  das  „radikale  Böse"  seine  Wurzeln  hat; 
sondern  dies  ist  einzig  und  allein  darin  begründet,  dass  wir  an  eine 
Entwicklung  gebunden  sind  und  so  die  im  naiven  Zustande  uns 
natürliche,  noch  nicht  zuzurechnende  Überordnung  der  Maxime 
der  Glückseligkeit  über  die  der  Freiheit  auch  noch  —  dem  Gesetze 
der  Trägheit  folgend  —  in  die  Periode  des  erwachenden  Vernunft- 
gebrauches mit  hinübernehmen,  wo  sie  nun  nicht  mehr  der  ethischen 
Beurteilung  und  Zurechnung  entzogen  ist. 


War  Kant  Pessimist?  201 

So  bedeutet  die  Lehre  vom  radikalen  Bösen  zuletzt  nicht  nur 
keinen  Widerspruch  gegen  die  andere  vom  absoluten  Werte  des 
guten  Willens,  sondern  vollendet  vielmehr  das  Weltbild,  in  welchem 
die  gesamte  praktische  Philosophie  Kants  gipfelt:  das  Bild  eines 
ethischen  Kosmos  mit  der  Bestimmung,  ein  freies  Wollen  ver- 
nünftiger Wesen  zu  immer  vollkommenerer  Ausprägung  zu  bringen. 
—  So  fundamental,  wie  dieses  Weltbild  der  Freiheit  von  dem  des 
Pessimismus  sich  unterscheidet,  ebenso  weit  ist  auch  Kants  Ethik 
überhaupt  von  der  pessimistischen  Denkweise  entfernt.  Aber  aller- 
dings: der  ethische  Idealismus  Kants  steht  und  fällt  mit  der  An- 
nahme oder  Verwerfung  der  Freiheit  —  wobei  es  freilich  gleich- 
gültig bleibt,  ob  man  gerade  den  Ausdruck,  welchen  die  Freiheits- 
lehre bei  Kant  gefunden,  als  zulänglich  ansehen  will  oder  nicht. 
Wer  eine  entscheidende  Widerlegung  Kants  und  Begründung  eines 
radikalen  Pessimismus  unternehmen  wollte,  würde  an  diesem  Punkte 
einzusetzen,  würde  den  Nachweis  zu  bringen  haben,  dass  der  Gedanke 
einer  Freiheit  (in  dem  Sinne,  wie  er  hier  gebraucht  wird)  schlechter- 
dings keinen  Boden  finden  könne  in  der  Welt,  wie  sie  uns  gegeben 
ist.  Ohne  diesen  Nachweis  bleibt  Kants  ablehnende  Stellung  gegen- 
über dem  Pessimismus  unerschütterlich. 


Kantstndien  IV.  14 


Der  Begriff  des  „transsoendentalen   Gegenstandes" 
bei  Kant  —  und  Schopenhauers  Kritik  desselben. 

Eine  Rechtfertigung  Kants. 
Von    Dr.   Mscislaw  Wartenberg. 


In  meiner  vor  Kurzem  veröffentlichten  Schrift:  Kants  Theorie 
der  Kausalität^  habe  ich,  bei  der  Darstellung  der  Grundlagen  der 
Kantischen  Erkenntnistheorie,  der  Einwände  gedacht,  welche  Schopen- 
hauer in  seiner  Kritik  der  Kantischen  Philosophie  gegen  den  Begriff 
des  Gegenstandes  der  Vorstellung  bei  Kant  erhoben  hat.  Ich  konnte 
damals,  wegen  Mangels  an  Raum,  auf  diese  Materie  nicht  genauer 
eingehen,  musste  es  vielmehr  bei  einigen  kurzen  Andeutungen  be- 
wenden lassen.  Da  mir  jedoch  die  erwähnte  Frage,  sowohl  für  das 
richtige  Verständnis  der  Erkenntnistheorie  Kants,  als  auch  für  die 
Erkenntnistheorie  im  Allgemeinen,  von  grosser  Wichtigkeit  zu  sein 
scheint,  möchte  ich  dieselbe  zum  Gegenstand  einer  besonderen  Unter- 
suchung machen,  die  ich  im  Folgenden  anzustellen  gedenke. 

Meine  Abhandlung  wird  sich  am  sachgemässesteu  in  folgende 
Abteilungen  gliedern:  Zunächst  werde  ich  die  thatsächliche  Stellung 
und  Bedeutung  des  Begriffs  des  Gegenstandes  in  Kants  Erkenntnis- 
theorie darlegen,  sodann  die  Erkenntnistheorie  Schopenhauers  in 
Grundzügen  erörtern  und  besonders  ihre  Abweichungen  von  der 
Kantischen  hervorheben;  drittens  werde  ich  Schopenhauers  Kritik 
des  Begriffs  des  Gegenstandes  bei  Kant  darstellen,  und  schliesslich 
diese  Schopenhauersche  Kritik  einer  eingehenden  Prüfung  unter- 
werfen. 
1.  Der  Begriff  des  Gegenstandes  in  Kants  Erkenntnistheorie. 

Jede  Erkenntnisthätigkeit  richtet  sich  auf  einen  Gegenstand; 
sie  ist  eine  ideale  Beziehung  zwischen  dem  erkennenden  Subjekt  und 


1)  Leipzig.  H.  Haacke  1899.  (294  S.)  Über  dieses  Buch  des  Verfassers 
werden  wir  demnächst  aus  berufener  Feder  eine  Besprechung  bringen.  Anm. 
d.  Red. 


Der  Begriff  des  .»trans^icendentalen  Gegenstandes"  etc.  203 

einem  Objekt,  welches  dem  ersteren  als  etwas  Selhständijres,  dessen 
Willkür  Entzogenes,  d.  h.  in  seiner  besonderen  Natur  von  diesem 
nur  Anzuerkennendes,  gegenübersteht,  und  sie  vollendet  sich  in  einem 
Urteil,  welches  vom  erkennenden  Subjekt  über  die  bestimmte  Be- 
schaflVnheit  des  betrertenden  Objekts  mit  dem  Bewusstsein  der  Not- 
wendigkeit und  Allgemeingültigkeit  gefällt  wird,  d.  h.  mit  dem  Be- 
wüsstsein,  dass  über  den  Gegenstand,  auf  welchen  die  Erkenntnis 
sich  jeweilig  richtet,  nur  so  und  nicht  anders  geurteilt  werden  muss, 
und  dass  alle  erkennenden  Subjekte  über  denselben  Gegenstand  in 
derselben  Weise  urteilen  müssen. 

Das  charakteristische  Merkmal  eines  Urteils  von  objektiver, 
d.  h.  den  Gegenstand  treffender  Bedeutung  ist  also  das  Bewusstsein 
der  Notwendigkeit  und  Allgemeingültigkeit,  mit  welchem  das  Urteil 
vollzogen  wird.  Dabei  ist  es  gleichgültig,  von  welcher  Art  der  be- 
urteilte Gegenstand  ist.  Derselbe  mag  ein  mathematisches  Objekt, 
oder  ein  Objekt  der  äufseren  oder  inneren  Erfahrung  sein;  in  jedem 
Falle  wird  sich  das  über  ihn  ausgesagte  Urteil  durch  die  beiden 
erwähnten  Merkmale  auszeichnen  und  auszeichnen  müssen.  —  Mit 
Beziehung  darauf  sagt  Kant,  dass  objektive  Gültigkeit  eines  Urteils 
nichts  anderes  sei,  als  die  notwendige  Allgemeingültigkeit  desselben, 
und  dass  daher  objektive  Gültigkeit  und  notwendige  Allgemein- 
gültigkeit (für  jedermann)  Wechselbegriff"e  seien.*) 

Welches  sind  nun  die  Bedingungen  dieser  notwendigen  All- 
gemeiugültigkeit  eines  Urteils?  Wie  kommt  das  erkennende  Subjekt 
dazu,  über  einen  Gegenstand  ein  notwendiges  und  allgemeingültiges, 
alle  urteilenden  Wesen  bindendes  Urteil  zu  fällen?  Unter  welchen 
Bedingungen  wird  ein  Urteil  objektiv  gültig?  Die  Antwort  auf  diese 
Frage  scheint  sehr  nahe  zu  liegen  und  wird  folgendermassen  lauten: 
Die  Bedingung  der  objektiven  Gültigkeit  eines  Urteils  ist  die  empirisch 
konstatierte  Beschaff^cnheit  des  Gegenstandes,  auf  welchen  das  Urteil 
sich  richtet.  Weil  ich  nämlich  in  der  sinnlichen  Anschauung  einen 
Gegenstand  wahrnehme,  der  eine  bestimmte  Besehaff'enheit  hat,  und 
weil  alle  anderen  Menschen  diesen  Gegenstand  in  derselben  Be- 
schaffenheit wahrnehmen:  deshalb  urteile  ich  über  diesen  Gegenstand 
so  und  nicht  anders,  ich  urteile  über  ihn  in  völliger  Übereinstimmung 
mit  den  Urteilen  aller  erkennenden  Subjekte. 

Allein  diese  Antwort  trilft  nicht  zu;  sie  ist  voreilig;  sie  über- 
sieht eine  Heihe  wichtiger  Momente  und  setzt  sich  über  die  Schwierig- 


1)   Prolegomena  §  18  u.  §  19:  Ausg.  v.  Schulz  S.  77  fg. 

14* 


204  l^r.  Mscislaw  Wartonborj^, 

keiteii  k'icht  hinwoir;  sio  ist  nicht  im  Siniio  Kants.  Urteile  ich  über 
einen  Gefrenstand  auf  (Jriind  der  von  mir  wahri^-enommenen  l^e- 
schatVenheit  desselben:  so  ist  ein  solches  Urteil  ein  blosses  ,, Wahr- 
nehm unijsurteil*',  das  nur  subjektiv  ^niltii;  ist.  Ich  verknüpfe  in 
diesem  Urteil  nur  zwei  Walirnehnunijren  im  jet/ij;'eii  Zustand  meines 
Wahriiehmens;  ich  sage  nur  aus,  dass  mir  der  betreuende  Gegen- 
stand gegenwärtig  in  dieser  BeschatTenheit  erscheint,  ich  sage  aber 
nicht  und  kann  nicht  sagen,  dass  mir  dieser  Gegenstand  bei  jedem 
wiederholten,  unter  denselben  Bedingungen  stattfindenden  Wahrnehmen 
ebenso  erscheinen  werde,  und  dass  derselbe  allen  erkennenden  Wesen 
in  derselben  Weise,  wie  mir,  erscheinen  müsse.  Dieses  Bewusstsein 
müsste  ich  aber  haben,  wofern  mein  Urteil  ein  objektiv -gültiges, 
d.  h.  den  Gegenstand  treffendes,  sein  sollte.  Denn  das  Urteil  von 
objektiver  Gültigkeit  zeichnet  sich  durch  Notwendigkeit  und  All- 
gemeingültigkeit aus;  die  Synthese  eines  bestimmten  Prädikats  mit 
einem  bestimmten  Subjekt  in  einem  solchen  Urteil  ist  eine  not- 
wendige, sie  muss  von  allen  denkenden  Wesen  jederzeit  in  derselben 
Weise  vollzogen  werden.  Um  aber  diese  Synthese  mit  dem  Bewusst- 
sein ihrer  Notwendigkeit  vollziehen  zu  können,  müsste  ich  wissen, 
dass  die  Wahrnehmungen,  die  ich  in  meinem  Urteil  zu  einander  in 
Beziehung  setze,  im  Gegenstande  selbst,  worauf  mein  Urteil  gerichtet 
ist,  notwendig  verbunden  sind;  ich  müsste  der  notwendigen  Zu- 
sammengehörigkeit derselben  im  wahrgenommenen  Objekt  sicher 
sein;  nur  dann  könnte  ich  behaupten,  dass  dieser  Gegenstand  unter 
denselben  Bedingungen  des  Percipierens  sowohl  mir,  als  auch  allen 
anderen  erkennenden  Subjekten  in  derselben  Beschaffenheit  erscheinen 
werde,  d.  h.  ich  könnte  ein  notwendiges  und  allgemeingültiges,  ein 
objektiv-gültiges  Urteil  fällen.  Allein  diese  Forderung  ist  auf  dem 
Standpunkt  des  blossen  Wahrnehmeus,  des  empirischen  Konstatierens, 
nicht  erfüllt.  Denn  ich  erfahre  nur  das  thatsächliche  Zusammensein 
bestimmter  Wahrnehmungen  in  meinem  Bewusstsein,  aber  nicht  deren 
notwendiges  Zusammengehören;  ich  nehme  nur  wahr,  dass  in  meinem 
gegenwärtigen  Zustand  des  Percipierens  zwei  Wahrnehmungen  ver- 
bunden auftreten,  aber  ich  nehme  nicht  wahr,  dass  dieselben  jeder- 
zeit, sowohl  in  meinem  Bewusstsein,  als  auch  im  Bewusstsein  aller 
vorstellenden  Wesen,  in  dieser  Verbindung  auftreten  müssen.  Not- 
wendigkeit der  Verknüpfung  kann  nicht  wahrgenommen  werden,  sie 
ist  kein  empirisches  Datum.  Ein  Urteil  also,  welches  sich  auf  die 
blosse  Wahrnehmung  gründet,  ist  kein  notwendiges  und  allgemein- 
gültiges Urteil;    es    ist    nur  ein  Urteil  über  den  jeweiligen  Zustand 


Der  Begrift  des  ,,transscendentalcn  (legenstandes"  etc.  205 

des  wahriu'hnicnden  Subjekts,  aber  kein  Urteil  über  die  objektive 
BesehatlVnheit  des  wahrgenommenen  Gegenstandes;  es  ist  ein  blosses 
Wahrnehmungsurteil,  das  nur  subjektive  Bedeutung  hat,  aber  kein 
„Erfahrungsurteil",  das  objektive  Bedeutung  beansprucht,  d.  h.  eine 
Erkenntnis  des  Gegenstandes  sein  will.  Die  notwendige  Allgemein- 
gültigkeit eines  Urteils,  welches  auf  einen  Gegenstand  sich  bezieht, 
beruht  also  niemals  auf  empirischen  Bedingungen;  der  Grund,  warum 
wir  zwei  Wahrnehmungen  denkend  verknüpfen  und  dieser  Ver- 
knüi)fung  eine  ol)jektive  Bedeutung  beilegen,  ist  nicht  die  Wahr- 
nehmung; der  zureichende  Grund  für  die  Wahrheit  eines  Erfahrungs- 
urteils muss  anderswo  liegen.  —  Was  wir  soeben  auseinandergesetz, 
haben,  illustriert  Kant  durch  folgendes  Beispiel:*)  Ich  nehme  wahrt 
dass  die  Sonne  den  Stein  bescheint  und  dass  dieser  Stein  sich  er- 
wärmt. Diese  beiden  Wahrnehmungen,  die  Wahrnehmung  des  Auf- 
fallens  der  Sonnenstrahlen  auf  den  Stein  und  die  Wahrnehmung  der 
Erwärmung  desselben,  deren  Aufeinanderfolge  ich  empirisch  kon- 
statiere, setze  ich  nun  denkend  zu  einander  in  Beziehung  und  fälle 
das  Urteil:  wenn  die  Sonne  den  Stein  bescheint,  so  wird  er  warm. 
Welche  Bedeutung  hat  dieses  Urteil?  Gilt  es  objektiv?  Treffe  ich 
mit  demselben  die  objektive  Beschaffenheit  des  Gegenstandes?  Ist 
dieses  Urteil  ein  Erfahrungsuiteil?  Nein!  Es  ist  ein  blosses  Wahr- 
nehmungsurteil. Seine  Bedeutung  ist  nur  die,  dass  ich  und  viel- 
leicht auch  andere  Menschen  die  Erwärmung  des  Steins  auf  das 
Auffallen  der  Sonnenstrahlen  folgend  wahrgenommen  haben;  es  drückt 
nur  die  thatsächliche  Verbindung  dieser  beiden  Erscheinungen  in 
meinem  subjektiven  Zustand  der  Wahrnehmung  aus.  Dass  aber  diese 
Erscheinungen  notwendig  verbunden  sind,  dass  die  Erwärmung  des 
Steins  eine  notwendige  Folge  des  Auffallens  der  Sonnenstrahlen  ist, 
dass  also  diese  beiden  Wahrnehmungen  in  jedem  vorstellenden  Be- 
wusstsein  stets  in  dieser  Verbindung  auftreten  werden :  darüber  sagt 
mein  Urteil  nichts  aus  und  kann  nichts  aussagen,  weil  es  sich  auf 
die  blosse  Wahrnehmung  gründet,  in  der  Wahrnehmung  aber  keine 
Notwendigkeit  enthalten  ist.  Demnach  besitzt  mein  Urteil,  da  es 
nicht  notwendig  und  allgemeingültig  ist,  auch  keine  objektive  Be- 
deutung, es  ist  kein  Erfahrungsurteil.  Ein  solches  würde  es  erst 
dann  sein,  wenn  ich  das  Recht  hätte,  die  Verbindung  der  Wahr- 
nehmung des  Sonnenscheins  mit  der  Wahrnchnmng  der  Wärme  als 
eine  notwendige  zu  behaupten;  dieses  Recht  habe  ich  aber  auf  dem 
Standpunkt  der  blossen  Wahrnehmung  nicht. 


«)  A.  a.  0.  S.  81    Anmerk. 


.)Q^5  Dr.  Mscislaw   \V  art  niltoif,', 

Um  diese  erkemitnistheoretisehen  AusfUhruiii,n'n  Kants  riehti^'  zu 
verstehen,  nuiss  man  sieh  ver^ej^enwärtif^en,  dass  dieselben  unter  dem 
Kintiuss  (h-r  Kritik,  weleher  der  scharlsinni-c  llunif  die  mensehliehe 
Erkenntnis  unterworfen  hatte,    stehen  \\\n\   nur  /u  dem  Zweeke  vor- 
jrenommen  sind,  um,  hei  aller  Anerkeimun--   des  Kiehtij?en   in  llumes 
skeptiseher  Kritik,  die  Erl"ahrnn;,^serkenntnis,  deren  iMüf,^liehkeit  llumc 
aüire-Mveilelt  hatte,   in  iiire  Kechte  wieder  einzusetzen.  —  llunie  hat 
naehgewiesen,    dass    nur    diejenig-en  Urteile    notwendig    und    streui,- 
alliremein    li-elten,    d.  h.  den  (Uiarakter  des  Wissens,  der  wirklichen 
Erkenntnis,    mit  Recht  beanspruchen,    welche  auf  eine  Analysis  der 
Vorstellungen    sich     gründen;     das    Prinzip    der    notwendigen    Ver- 
knüpfung   des  8ul)jektsbegritis    mit    dem  PrädikatsbegrifC  in  solchen 
Urteilen    ist    der    iSatz    des  Widerspruchs.     Als    analytische    Urteile 
galten  ihm  auch  die  Urteile  über  die  mathematischen  Objekte,    und 
aus  diesem  Grunde  erkannte  er  der  Mathematik  den  Wissenscharakter 
zu.     Dagegen    besitzen    die  Urteile    über  Thatsachen  der  Erfahrung 
nach  Hume  diesen  Charakter  nicht,  sie  sind  keine  notw^endigen  und 
streng  allgemeinen  Erkenntnisse.    Denn  die  Verknüpfung  des  Subjekts- 
begriffs mit  dem  l^rädikatsbegriff"  in  diesen  Urteilen  beruht  nicht  auf 
einer  Analysis  der  Vorstellungen,  weil  zwischen  den  Thatsachen  der 
Erfahrung    keine     analytischen,    sondern    synthetische    Verhältnisse 
bestehen,  weil  die  Erfahrungsthatsache,    die  ich  als  Prädikat  denke, 
in    der    als   Subjekt    gedachten  Erfahrungsthatsache   nicht   enthalten 
ist,    sondern  als   etwas  völlig   Neues  zu  derselben  hinzukommt;    der 
Grund  für  die  geforderte  notwendige  und  streng  allgemeine  Geltung 
der  Urteile    über    die  Thatsachen    der  Erfahrung   ist  also  nicht  das 
Prinzip    des  Widerspruchs.     Ebensowenig    liegt  dieser  Grund  in  der 
Erfahrung    selbst.     Denn    die  Erfahrung  zeigt  uns  keine  notwendige 
Verknüpfung  zwischen  bestimmten  Thatsachen,  sondern  nur  ein  that- 
sächliches  Miteinandersein   derselben  in  unserer  Perception;    die  Er- 
fahrung   belehrt    uns    nur    darüber,    dass  bestimmte  Thatsachen  mit 
einander  verbunden  auftreten,    bezw.  aufgetreten  sind,    sie  lehrt  uns 
aber  nicht,  dass  dieselben  stets  verbunden  auftreten  müssen.     Wenn 
ich  also  einen  bestimmten  Fall  der  Verknüpfung  zwischen  Erfahrungs- 
thatsacheu    empirisch    konstatiere,    so    resultiert  aus  diesem  Faktum 
nicht  das  Recht,  diese  Thatsachen  denkend  in  notwendige  Beziehung 
zu    setzen;    auf  Grund    der  Erfahrung  kann  ich   nur  urteilen,    dass 
etwas    so    ist,    aber  ich  bin  nicht  berechtigt  zu  urteilen,  dass  es  so 
sein    muss.     Liegt    nun    aber    der  Grund    für    die   notwendige  Ver- 
knüpfung   des   Subjekts  begriff's    mit  dem  Prädikatsbegriff  in  unseren 


Der  Begriff  des  „transscendentalen  Gegenstandes"  etc.  207 

Urteilen  über  Thatsaehen  der  Erfahrung;  weder  im  Prinzip  des 
Widerspruchs  noch  in  der  Erfahrung  selbst,  so  ist  diese  Verknüpfung 
nur  scheinbar  eine  notwendige;  es  mangelt  ihr  der  zureichende 
logische  Grund;  sie  ist  nur  eine  Usurpation  des  Denkens,  eine 
Täuschung  des  urteilenden  Subjekts,  eine  Täuschung,  die  darin  ihren 
psychologischen  Grund  hat,  dass  dieses  Subjekt,  weil  es  bestimmte 
Erfahrungsthatsachen  oftmals  in  einer  bestimmten  Verbindung  wahr- 
genommen hatte,  sich  gewöhnt  hat,  dieselben  zusammen  vorzustellen; 
in  unserem  Bewusstsein  befestigt  sich  zwischen  bestimmten  Percep- 
tionen,  infolge  ihres  oftmaligen  thatsächlichen  Zusammenseins  in  der 
Wahrnehmung,  durch  Wirksamkeit  des  psychischen  Mechanismus  eine 
Association,  und  auf  Grund  dieser  festen  Association  fühlen  wir  uns 
genötigt,  beide  Perceptionen  zusammen  vorzustellen;  diese  subjektive 
Nötigung  halten  wir  nun  für  eine  objektive  Notwendigkeit,  d.  h.  wir 
meinen  irrtümlich,  dass  die  betreftenden  Erfahrungsthatsachen,  weil  sie 
in  unserer  Wahrnehmung  zusammenhängen,  auch  unter  einander, 
d.  h.  objektiv,  notwendig  zusammengehören.  Wir  glauben  durch 
unsere  Urteile  über  Thatsaehen  der  Erfahrung  die  objektive  Be- 
schaffenheit dieser  Thatsaehen  zu  treff"en,  wir  glauben  die  selbst- 
eigene Natur  der  Gegenstände  zu  erfassen,  während  wir  iii  Wahrheit 
in  diesen  Urteilen  nichts  anderes  erfassen,  als  das  subjektive  Schein- 
bild eines  objektiven  \'erhältnisses,  ein  Scheinbild,  das  die  psychische 
Associationsmechanik  unserem  Denken  vorspiegelt.  —  Das  Ergebnis 
der  Humeschen  Kritik  der  Erfahrungserkenntnis  ist  also  folgendes: 
Notwendige  und  streng  allgemeine  Urteile  über  Thatsaehen  der  Er- 
fahrung giebt  es  nicht,  wenigstens  lässt  sich  die  Möglichkeit  der- 
selben, wegen  Mangels  am  zureichenden  logischen  Grund,  der  diesen 
ihren  geforderten  Charakter  rechtfertigen  könnte ,  nicht  einsehen. 
Es  giebt  darum  auch  kein  Erfahrungswissen,  keine  objektive  Er- 
kenntnis der  Gegenstände  der  Erfahrung.  Was  dafür  angesehen 
wird,  ist,  streng  logisch  betrachtet,  nur  Schein  und  Blendwerk;  es 
ist  Gegenstand  des  Glaubens  (belief),  der  sich  auf  das  Gefühl  der 
Erwartung  stützt  und  nur  subjektiv  gilt,  aber  nicht  Gegenstand  des 
Wissens  (knowledgej,  das  sich  auf  das  Bewusstsein  des  zureichenden 
Grundes  stützt  und  objektive  Geltung  zu  haben  beansprucht. 

Dieses  skeptische  Ergebnis  der  Kritik  Humes  war  es,  welches 
Kant  veranlasste,  die  Möglichkeit  der  Erfahrungserkenntnis  zu  unter- 
suchen. Die  Kritik  Humes  hielt  er  für  richtig;  er  sah  ein,  dass 
objektiv-gültige  Urteile  über  Thatsaehen  der  Erfahrung  weder  im 
formal-logischen  Prinzip    des  Widerspruchs,    noch    in  der  faktischen 


oQc>  Dr.  Msoislaw  WartcnluTfi:, 

Wahnicbiinmi;-    ilircii    /.ureicIiCMden  Gruiul  halti'u.    cinnial   weil  diese 
Urtoilo  keine  analytischen,    sondern  synthetische  Sätze  sind,    sodann 
wcW  Notwendii^i^eit    und    strenjre  Allgemeinheit  sieh  empirisch  nicht 
konstatieren    lassen;    er   erj^änzte   nur  iiocli   die   Kiitik    llumcs  durch 
die    wichtiii-e    Kiiisicht ,    dass    auch    die    Urteile    nl)er    Objekte    der 
Mathematik  keine  analytischen,  sondern  synthetische  Sätze  sind,  dass 
also  das  Prinzip  des  Widerspruchs  niciit  ausreicht,  um  deren  objektive 
Gültigkeit    zu    bejrründen.     Allein    ol)<;-leich   Kant   die   Kritik  llumes 
vollkommen   richtis:  fand,    so  war  er  doch  weit  davon  entfernt,  sich 
den    Folirerungen,    welche    dieser    scharfsinnige    Denker    aus    dieser 
Kritik  gezogen  hatte,    anzuschliessen;    llumes  skeptische  Zersetzung 
der  Erfahrungserkenntnis,  dessen  Zweifel  an  der  Möglichkeit  objektiv- 
gültiger Urteile    über  Thatsachen    der  Erfahrung,    erschien    ihm   als 
übereilt    und    unberechtigt.     Bestehen  doch  die  Mathematik  und  die 
Naturwissenschaft    aus    Urteilen ,    die ,    obwohl    keine    analytischen, 
sondern  synthetische  Sätze,  doch  als  notwendige  und  streng  allgemeine 
Erkenntnisse  gelten  wollen,  aus  Urteilen,  die  sämtlich  auf  Gegenstände, 
die  mathematischen  auf  ideale,  die  naturwissenschaftlichen  auf  reale 
Gegenstände,    sich    beziehen,    d.  h.  objektive  Geltung   beanspruchen. 
Diesen  Anspruch    hält    aber  Kant  für  vollauf  berechtigt;    denn  dass 
die  mathematischen  und  naturwissenschaftlichen  Urteile  nichts  anderes 
sein    sollten,    als  Usurpationen  unseres  Denkens,  grundlose  Behaup- 
tungen ,    subjektive    Einbildungen    ohne    objektive    Bedeutung:    dies 
wollte  dem  mathematisch  und  naturwissenschaftlich  geschulten  Denken 
Kants  nicht  einleuchten,  gegen  diese  Zumutung  protestierte  sein  kern- 
gesunder wissenschaftlicher  Sinn.    Mathematik  und  Naturwissenschaft 
sind  ihm  vollberechtigte  Wissenschaften;  die  Urteile,  aus  denen  die- 
selben bestehen,  hält  er  für  notwendige  und  streng  allgemeine  Sätze, 
für    Erkenntnisse    von    objektiver,    die    Gegenstände    treffender  Be- 
deutung;   sie    sind    ihm  Erfahrungsurteile.')    —    Allein    durch   diese 
Anerkennung  der  Mathematik  und  der  Naturwissenschaft  als  objektiver 
Erkenntnisse  ist  Humes  Zweifel  nicht  gehoben;  denn  dadurch  ist  nur 
die  Thatsache  festgestellt,  das  logische  Recht  dieser  Thatsache  noch 
nicht  nachgewiesen;  gegen  dieses  Recht,  nicht  gegen  die  Thatsache, 
war  aber  eben  die  Skepsis  Humes  gerichtet.    Es  ist  anerkannt,  dass 


*)  Der  Terminus  „Erfahrungsurteil"  hat  eine  engere  und  eine  weitere  Be- 
deutung. Erfahrungsurteil  im  engeren  Sinne  heisst  dasjenige  Urteil,  welches 
auf  Gegenstände  der  Erfahrung  sich  bezieht;  Erfahrungsurteil  im  weiteren  Sinne 
heisst  jedes  Urteil  von  objektiver  Gültigkeit,  also  auch  dasjenige,  welches  auf 
Gegenstände  der  Mathematik  sich  bezieht. 


Der  Begriff  des  „transscendentalcn  Gegenstandes"  etc.  209 

die  mathematischen  und  die  naturwissenschaftlichen  Urteile  objektive 
(reltune:  besitzen,  dass  sie  Erkenntnisse  der  Gegenstände  sind,  es  ist 
aber  noch  nicht  gezeigt,  wie  sie  diese  Geltung  besitzen  können.  Es 
steht  fest,  dass  die  X'erknüpfuiig  der  Hegritie  in  diesen  Urteilen  eine 
notwendige  und  allgemeingültige  ist,  es  steht  aber  ebenso  fest,  dass 
diese  Verknüpfung  weder  im  l'rinzip  des  Widerspruchs,  noch  in  der 
Wahrnehmung  ihren  zureichenden  frruiid  hat,  sondern  auf  anderen 
Bedingungen  beruhen  muss.  Diese  Bedingungen  gilt  es  aufzudecken, 
wenn  wir  es  nicht  bei  der  blossen  Behauptung,  es  gebe  objektiv- 
gültige Urteile  über  Gegenstände  der  -Mathematik  und  der  Natur, 
bewenden  lassen,  sondern  für  diese  Behauptung  einen  strengen  Be- 
weis erbringen  wollen. 

Weim  wir  ein  Urteil,  sofern  dasselbe  kein  analytischer,  sondern 
ein  synthetischer  Satz  ist,  nach  seinem  Wesen  betrachten,  so  finden 
wir.  dass  der  Verknüpfung  der  Begriti'e  in  diesem  Urteil  jedesmal 
ein  bestimmtes  Prinzip  zu  Grunde  liegt,  nach  Massgabe  dessen  die 
Begriffe  zu  einander  in  Beziehung  gesetzt  und  verknüpft  werden. 
In  jedem  synthetischen  Urteil,  welches  objektiv  gelten  soll,  ist  ein 
solches  VerknUpfungsprinzip  implicite  enthalten.  Diese  Verknüpfungs- 
prinzipien, deren  es  nach  Kant  so  viele  giebt,  wie  viel  besondere 
Formen  des  Urteils  vorhanden  sind,  wurzeln,  wie  der  Satz  des 
Widerspruchs,  als  Prinzip  der  analytischen  Urteile,  im  Wesen  des 
urteilenden  Denkens;  sie  sind  die  Grundfunktionen  und  -Verfahrungs- 
weisen  des  verknüpfenden  Denkens,  besondere  Regeln,  denen  gemäss 
der  urteilende  Verstand  zwischen  den  Vorstellungen  eine  Synthese 
stiftet;  Kant  nennt  sie  reine  Verstandesbegritfe.  Unter  diesen  syn- 
thetischen Kegeln  werden  die  Begriffe,  die  von  der  Anschauung,  sei 
es,  wie  die  mathematischen  Begriffe,  von  der  reinen,  sei  es,  wie  die 
empirischen,  naturwissenschaftlichen  Begriffe,  von  der  empirischen 
Anschauung  oder  der  Wahrnehmung,  abgezogen  sind,  subsumiert  und 
in  Urteilen  von  objektiver  Gültigkeit  verbunden.  Objektiv-gültig 
sind  aber  diese  U'rteile,  weil  sie  notwendig  und  allgemeingültig  sind. 
Sie  sind  notwendig,  weil  die  Synthese  der  Begriffe  auf  einer  Kegel 
des  Denkens  beruht ,  Denkregeln  aber  den  Charakter  der  Not- 
wendigkeit besitzen;  sie  sind  allgemeingültig,  weil  die  denkende 
Intelligenz  in  allen  Individuen,  die  an  ihr  teilnehmen,  nach  denselben 
Regeln  verfährt.  Die  Bedingungen  der  notwendigen  Allgeraeingültig- 
keit,  d.  h.  objektiven  Gültigkeit  der  Urteile  über  Gegenstände  der 
Mathematik    und    der  Natur  sind  also  die  reinen  Verstandesbegriffe,. 


210  "'■    M^ii'i^law   WarlciilKTK, 

iintiT  wt'lrlien  ilic  Aiist'hauuiiiren  sul)sumi('rt  wcnlcn.  Kant  saji^t:') 
„Zcrirliodert  man  alle  sciru'  syntliclischeii  rrtcile,  sofern  sie  objektiv 
ü'elten.  so  linilet  man.  ilass  sie  niemals  aus  blossen  Anseliauunfrcn 
bestehen,  die  bloss,  wie  man  ü-emeiniüiieh  (lat'iir  hält,  (lurcli  \ fr- 
irleiehiuif;  in  ein  Urteil  verknüpft  werden,  sondern  dass  sie  iinmöjilieli 
sein  würden,  wäre  nieht  tiber  die  von  der  Anschauung  ab^ezof;-enen 
Be^ritte  noch  ein  reiner  \'erstandesbefirilf  hinzuf::ekommen,  unter  dem 
Jene  Heirritfe  subsumiert  und  so  allererst  in  einem  objektiv-,i:ülti;.c<'n 
Urteile  verknüpft  werden.  Selbst  die  Urteile  der  reinen  Mathematik 
in  ihren  einfachsten  Axiomen  sind  von  dieser  liedingunji'  nicht  aus- 
genommen."^) Kehren  wir  nun  zu  unserem  Beispiel  zurück!  Das 
Urteil:  wenn  tue  Sonne  den  Stein  bescheint,  so  wird  er  warm, 
drückt  nichts  Objektives  aus,  sondern  nur  eine  Beziehung  zweier 
Wahrnehmungen  aufeinander  im  gegenwärtigen  Zustand  des  Wahr- 
nehniens;  es  ist  ein  blosses  Wahrnehmungsurteil.  Soll  diese  Be- 
ziehung eine  objektive  Bedeutung  erhalten,  soll  mein  Urteil  zum 
Erfahrungsurteil  werden,  dann  müssen  die  beiden  Wahrnehmungen, 
die  Wahrnehmung  des  Sonnenscheins  und  die  Wahrnehmung  der 
Wärme,  unter  einem  reinen  Verstandesbegriff,  in  diesem  Falle  unter 
dem  Begriff  der  Kausalität,  subsumiert  werden;  ich  muss  die  Wahr- 
nehmung des  Sonnenscheins  und  die  Wahrnehmung  der  Wärme  im 
\'erhältnis  der  Ursache  zur  Wirkung  setzen;  dann  sind  beide  Wahr- 
nehmungen nicht  l)loss  in  meinem  Zustand  der  Perception  thatsäch- 
lich  zusammen,  sondern  sie  sind  notwendig  verknüpft  und  werden 
durch  diese  Verknüpfung  auf  einen  Gegenstand  bezogen,  d.  h.  ob- 
jektiviert. Alsdann  sage  ich:  die  Sonne  erwärmt  den  Stein,  und 
dieses  Urteil  gilt  nicht  bloss  für  mich  im  jetzigen  Zustand  meines 
Wahrnehmens,  sondern  es  gilt  für  alle  unter  denselben  Bedingungen 
ausgeführten  Perceptionsakte  und  muss  von  allen  urteilenden  Wesen 
jederzeit  so  und  nicht  anders  vollzogen  werden;  ich  treÖe  mit  diesem 
Urteil  die  objektive  Beschaffenheit  des  Gegenstandes,  hier  die  ob- 
jektive Succession,  einen  Vorgang  in  der  realen  Wirklichkeit;    mein 


*)  A.  a.  0.  §  20,  S.  81. 

2)  Es  ist  wohl  zu  beachten,  dass  Kant  die  objektive  Gültigkeit  der  mathe- 
matischen Urteile  auf  die  kategoriale  Verknüpfung  der  reinen  Anschauimgen 
nach  Massgabe  eines  reinen  Verstandesbegriflfs,  in  diesem  Falle  des  Begriffs  der 
Grösse,  gründet.  Denn  gewöhnlich  pflegt  man  die  Sache  so  darzustellen,  als 
ob  die  mathematischen  Erkenntnisse  nach  der  Ansicht  Kants  einzig  und  allein 
auf  den  reinen  Ajischauungsformen  des  Raumes  und  der  Zeit  beruhten.  Aliein 
Kant  sagt  ausdrücklich,  dass  Ajischauungen  ohne  Begriffe  ,,blind"  sind;  das 
^It  aber  ebenso  von  der  reinen,  wie  von  der  empirischen  Anschauung. 


Der  Begrirt  des  „transscendontalen  Gegenstandes"  etc.  o  j  j 

Urteil  ist  ein  Erfahrungsurteil,  eine  wirkliche  Erkeuntuis  des  Geg:eu- 
standes  der  Erfahrung,  ein  Erfahrungswisseu. 

Durch  diese  Ausführungen  scheint  die  Möglichkeit  der  Erfahrungs- 
erkenutnis  gegen  Humes  Skepticismus  erwiesen  zu  sein.  Objektiv- 
gültige  Urteile  über  Thatsachen  der  Erfahrung  sind  nicht  nur  als 
faktisch  bestehend  anerkannt,  sondern  es  ist  auch  deren  logisches 
Kecht  nachgewiesen;  es  ist  der  Grund  entdeckt,  auf  welchem  die 
notwendige  und  allgemeingültige  Verknüpfung  der  Begriffe  in  den- 
selben beruht.  Allein  damit  ist  das  Prol)lem  der  Erfahrungserkenntnis 
keineswegs  gelöst;  nelmehr  erhebt  sich,  wenn  wir  genauer  zusehen, 
eine  Schwierigkeit,  die  beseitigt  werden  muss,  ehe  wir  von  einer 
endgültigen  Lösung  unseres  Problems  reden  dürfen.  —  Durch  Sub- 
sumtion unter  den  reinen  Verstandesbegriff'en  werden  die  aas  der 
Anschauung  gewonnenen  Begriffe  in  notwendiger  und  allgemein- 
gültiger Weise  in  Erfahrungsurteilen  verbunden.  Allein  wie  soll 
diese  Subsumtion  möglich  sein?  Die  von  der  Anschauung  abgezogenen 
Begriffe  sind  empirisch,  also  a  posteriori;  diejenigen  Begritfe  dagegen, 
unter  welchen  jene  subsumiert  werden,  sind  rein,  nicht  empirisch, 
also  a  priori.  Wie  kommt  es  dann  aber,  dass  von  der  Erfahrung 
unabhängige  Begriffe  sich  auf  die  Erfahrung  anwenden  lassen,  um 
die  Thatsachen  derselben  notwendig  und  allgemeingültig  zu  ver- 
knüpfen? Wie  lässt  sich  diese  durchgängige  Kongruenz  zwischen 
dem  Apriorischen  und  dem  Aposteriorischen,  zwischen  den  reinen 
Verstandesbe£:riffen  und  den  empirischen  Begriffen,  erklären?  Dies 
die  Schwierigkeit,  welche  beseitigt  werden  muss. 

Das  Denken  schöpft  den  Inhalt  für  seine  Formen,  welches  die 
reinen  Verstandesbegriffe  sind,  aus  der  Anschauung;  es  verknüpft  ein 
anschaulich  gegebenes  Material.  Nun  könnte  diese  Verknüpfung 
nicht  stattfinden,  der  anschauliche  Inhalt  könnte  in  die  reinen  Formen 
des  Denkens  nicht  gebracht  werden  ,  wenn  derselbe,  bevor  das 
Denken  sich  auf  ihn  richtet,  nicht  schon  selbst  irgendwie  in  diese 
Formen  gegossen  wäre.  Wie  sollten  wir  z.  B.  die  Wahrnehmung 
der  auf  den  Stein  auffallenden  Sonnenstrahlen  und  die  Wahrnehmung 
der  Erwärmung  des  Steins  denkend  in  notwendige  Beziehung  setzen 
können,  wenn  diese  Wahrnehmungen  nicht  selbst  miteinander  not- 
wendig verbunden  wären?  Wie  sollten  wir  diese  Wahrnehmungen 
unter  dem  Begriff"  der  Kausalität  subsumieren  können,  wenn  die- 
selben, ehe  unser  Denken  sie  kausal  beurteilt,  nicht  selbst  im  kau- 
salen Zusammenhang  ständen?   Die  Bedingungen  also,  unter  weichen 


•_)  1  •_)  Dr.  iM s c i s  1  a \v   \V a r 1 1» n lio r g , 

Erfahruiijrsthatsjii'lu'ii  'm  obJcktiN -i;illtij;tMi  Urteilen  Ncikiiiiprt  weiden, 
müssen  ancli  die  Hedinirunjren  der  Krfalinin^  sell)st  sein,  der  Kr- 
fahriin«::,  wii'  sie  vor  alU'r  liewussten  Beurteiluni;-  in  der  [""orni  des 
ansc'haulielien  Welthildes  in  der  Wahrnehinuiifr  {;e<rel>en  ist;  um  als 
Gegenstände  beurteilt  Averden  zu  können,  niUssen  die  Tliatsaelien  der 
Erfahruni;  noch  vor  dieser  Beurteilun«;  den  Charakter  der  Geii-en- 
stände  besitzen.  Diesen  Charakter  erhalten  sie  nun  durch  die  not- 
wendij;e  und  allji-cnieinirültige  VerknUpfunfi;  der  Elemente,  aus  denen 
sie  bestehen,  d.  h.  der  Wahrnehnuni<ren,  eine  \'erknüj)funj;.  welche 
durch  eine  vorempirische,  transscendentale  Funktion  des  Bewusstseins 
auf  Grund  der  reinen  \'erstandesbegrii!e  an  dem  anschaulichen 
Material  vollzoii-en  wird.  Vor  aller  Reflexion  den  reinen  Verstandes- 
begriflen  untergeordnet  und  dadurch  zu  Erfahrungsobjekten  gestaltet, 
müssen  die  Wahrnehmungen  nachträglich,  in  der  Reflexion,  den  reinen 
Formen  des  Denkens  sich  gemäss  zeigen  und  in  Erfahrungsurteilen 
verbunden  werden  können.  Kant  sagt:^)  „Erfahrung  besteht  in  der 
synthetischen  Verkuüj)fung  der  Erscheinungen  (Wahrnehmungen)  in 
einem  Bewusstsein,  sofern  dieselbe  notwendig  ist.  Daher  sind  reine 
Verstandesbegritfe  diejenigen,  unter  denen  alle  Wahrnehmungen  zuvor 
müssen  subsumiert  werden,  ehe  sie  zu  Erfahrungsurteilen  dienen 
können,  in  welchen  die  synthetische  Einheit  der  Wahrnehmungen  als 
notwendig  und  allgemeingültig  vorgestellt  wird."  Ferner :2)  „Die 
Bedingungen  der  Möglichkeit  der  Erfahrung  überhaupt",  d.  h.  ob- 
jektiv-gültiger Urteile  über  Thatsachen  der  Erfahrung,  ,,sind  zugleich 
Bedingungen  der  Möglichkeit  der  Gegenstände  der  Erfahrung'-. 

Die  Funktion  des  Denkens,  sofern  dasselbe  in  der  Synthese 
sich  bethätigt,  ist  sonach  eine  doppelte:  Das  Denken  subsumiert  die 
von  der  Anschauung  abgezogenen  Begriffe  unter  den  reinen  Ver- 
standesbegriöen  und  erzeugt  Erfahrungs urteile,  es  verknüpft  die  An- 
schauungen nach  Massgabe  der  reinen  Verstandesbegriö'e  und  erzeugt 
Erfahrungsobjekte;  im  ersteren  Falle  verhält  sich  das  Denken 
reflektierend,  im  letzteren  objektivierend;  dort  ist  das  Denken 
empirisch,  die  fertige  Erfahrungswelt  beurteilend,  hier  ist  es 
transscen dental,  diese  Erfahrungswelt  bedingend  und  schaffend. 
Beide  Funktionen  des  verknüpfenden  Denkens  sind  jedoch  nicht  ver- 
schieden, sie  sind  nicht  zwei  Funktionen,  sondern  ein  und  dieselbe 
Funktion,  die  nur  nach  zwei  verschiedenen  Seiten  sich  äussert:  ein- 
mal in  der  Reflexion,  das  anderemal  in  der  Objektivation.     Die  ob- 


»)    A.  a.  0.  §  22,  S.  85. 

2)  Kritik  der  reinen  Vernunft.    Ausg.  v.  Kehrbach  8.  156. 


Der  BeprriflF  des  „transscendentalen  Gegenstandes'-  etc.  213 

jektivierende  Funktion  ist  die  conditio  sine  qua  non  der  reflek- 
tierenden; erst  müssen  die  Wahrnehmungen  durch  die  synthetischen 
Regeln  des  Di-nkens  in  notwendiger  und  allgemeingültiger  Weise 
verbunden  und  in  Gegenstände  der  Erfahrung  umgewandelt  werden, 
bevor  sie  Inhalte  notwendiger  und  allgemeingültiger,  d.  h.  objektiv- 
gültiger Urteile  über  Thatsachen  der  Erfahrung  sein  können.') 

Allein  mit  diesem  Resultat  sind  wir  noch  nicht  am  Endo  unserer 
Untersuchungen    angelangt.     Durch    eine    transscendeutale    Funktion 
des   Denkens    werden    die  Wahrnehmungen    den  reinen  Verstandes- 
hegriften  untergeordnet,  dadurch  in  notwendiger  und  allgemeingültiger 
Weise    verbunden    und    zu    Gegenständen    der    Erfahrung    gestaltet. 
Indes  dies  scheint  unmöglich  zu  sein.     Wie  soll  die  Erfahrungswelt, 
die  doch  unabhängig  von  unserem  Bewusstsein  an  sich  existiert,  den 
Stempel    apriorischer  Regeln    des  Denkens    an  sich  tragen  können? 
Wie  sollen  die  Erfahrungsobjekte,  als  selbständige,  vom  erkennenden 
Subjekt    unabhängige    Dinge    und  Ereignisse,    in  das  Netz  der  sub- 
jektiven Formen  und  Gesetze  des  Bewusstseins  sich  einfangen  lassen? 
Allein  diese  Unmöglichkeit  schwindet,  wenn  wir  bedenken,  dass  die 
Erfahrungsobjekte    nicht    Dinge   an  sich  sind,    wie  sie  unabhängig 
von  unserem  Bewusstsein  existieren,    sondern   nur  Erscheinungen, 
blosse    Modifikationen    unseres  Bewusstseins,    Erscheinungen,    die  zu 
der  Welt  der  Dinge  an  sich  in  keiner  Beziehung  stehen.   Wenn  aber 
die  Erfahrungsobjekte    nichts    anderes    sind,    als  Erscheinungen,   als 
Zustände  unseres  Bewusstseins,  so  liegt  auch  kein  Widerspruch  darin, 
dass  sie  den  Formen  dieses  Bewusstseins,  in  welchem  sie  erscheinen 
und  dessen  Zustände  sie  sind,    d.  h.  den  reinen  Verstandesbegritfen, 
durchgängig    unterworfen    sind.      Kant    sagt:^)    „Wären   die  Gegen- 
stände, womit  unsere  Erkenntnis  zu  thun  hat,    Dinge  an  sich  selbst, 

30  würden  wir  von  diesen  gar  keine  Begriffe  a  priori  haben  können 

Dagegen,  wenn  wir  es  überall  nur  mit  Erscheinungen  zu  thun  haben, 
so  ist  es  nicht  allein  möglich,  sondern  auch  notwendig,  dass  gewisse 
Begritfe  a  priori  vor  der  empirischen  Erkenntnis  der  Gegenstände 
vorhergehen.  .  .  .  Reine  Verstandesbegrifte  sind  also  nur  darum 
a  priori  möglich,  ja  gar,  in  Beziehung  auf  Erfahrung,  notwendig, 
weil  unser  Erkenntnis  mit  nichts,  als  Erscheinungen  zu  thun  hat, 
deren  Möglichkeit  in  uns  selbst  liegt,  deren  Verknüpfung  und  Einheit 
(in    der  Vorstellung    eines  Gegenstandes)    bloss    in    uns   angetroffen 

1)  Vgl.  meine  Schrift:  Kants  Theorie  der  Kausalität,  S.  ICO  flf. 

2)  A.  a.  0.  S.  136  fg. 


214  !->»■.  Mscislaw   Warten  bor 


>^  > 


wird,    niitliiii    vor  aller   Krliihruiij;-  vorhcrp'lu'ii,  und  du'se  der  Form 
naoh  auch  alltM'c'rst  inöirlich  inacheii  niiiss." 

Allein  dureli  diese  Wendunj;  scheint  der  i;anze  Krtrajr  unserer 
erkenntnistheoretiselien  llntersueluin};en  wieder  verloren  {refjaniren 
zu  sein.  Wir  haben  uns  Ix-inülit,  die  Möj;li('hkeit  einer  objektiven 
Erkenntnis  dar/.uthun,  während  wir  jetzt,  wie  es  sch«'int.  jierade 
deren  rnniöjrlichkeit  jre/,eij,^t  haben.  Denn  wenn  unser  Hewusstsein 
von  der  Welt  der  Dinire  dureh  eine  unill)erl)riiekbare  Kluft  fretrennt 
ist,  wenn  unsere  Erkenntnis  auf  l)losse  Erscheinung:en  beschränkt  ist, 
anf  Erscheinunfren,  die  mit  der  Welt  der  Dinge  an  sieh  in  gar  keinem 
Zusammenhang  stehen,  wenn  die  Dinge  in  ihrem  An-sich-sein  für 
uns  gänzlich  unerkennbar  sind:  wie  kann  man  dann  von  einer  P>- 
fahrung,  im  Sinne  der  Erkenntnis  der  Gegenstände,  reden?!  Wir 
erfahren  Ja  keine  Gegenstände,  sondern  nur  unsere  eigenen  Bew'usst- 
seinszustände!  In  den  Erscheinungen,  mit  denen  unsere  Erkenntnis 
es  allein  zu  thun  hat,  erscheinen  ja  nicht  die  Dinge  in  ihrem  selbst- 
realen Sein;  diese  Erscheinungen  sind  vielmehr  blosse  Modifikationen, 
blosse  Zustände  unseres  Bewusstseins;  das  erkennende  Subjekt  gleicht 
einer  fensterlosen  Monade,  einer  Schnecke,  die  ewig  in  ihrer  Schale 
steckt  und  niemals  ihre  Fühlhörner  herausstrecken  kann,  um  die 
Dinge  zu  berühren!  Bei  diesem  Sachverhalt  lässt  sich  doch  aber 
billigerweise  von  einer  Erkenntnis  der  Gegenstände  nicht  reden!  — 
Allein  dieser  Einwand  ist  unbegründet;  die  Schwierigkeit,  die  man 
geltend  macht,  liegt  gar  nicht  vor.  Denn  zwar  ist  unsere  Erkennt- 
nis auf  Erscheinungen  beschränkt,  die  nichts  anderes  sind,  als  Zu- 
stände unseres  Bewusstseins  und  mit  den  Dingen  an  sich  in  keinem 
erkenntnistheoretischen  Zusammenhang  stehen;  aber  in  diesen  Er- 
scheinungen erfassen  wir  doch  Gegenstände.  Wir  erfassen  dieselben 
durch  die  notw^endige  und  allgemeingültige  Verknüpfung  der  Er- 
scheinungen auf  Grund  der  reinen  Verstandesbegritfe.  Durch  Sub- 
sumtion unter  allgemeinen,  für  jedes  erkennende  Bewusstsein  gelten- 
den Regeln  des  Denkens  verlieren  die  Erscheinungen  ihren  aus- 
schliesslich subjektiven,  zuständlichen  Charakter,  den  sie  ursprünglich 
besitzen,  und  erhalten  gegenständliche  Bedeutung.  Durch  die  reinen 
Verstandesbegritfe  werden  zu  den  Erscheinungen,  als  Zuständen  des 
Bewusstseins,  Gegenstände  hinzugedacht,  die  Erscheinungen  werden 
auf  ihnen  korrespondierende  Gegenstände  bezogen;  und  weil  diese 
Beziehung  in  jedem  Bewusstsein  nach  denselben  streng  allgemeinen 
und  notwendigen  Regeln  geschieht,  besitzt  sie  objektive  Bedeutung. 
Obwohl  Zustände   des  Bewusstseins,    gelten   also   die  Erscheinungen, 


Der  Begriff  des  „transscendentalen  Gegenstandes"  etc.  215 

we^en    ihrer    notwendijreu    und    allgmieiD^niltifrcn  Verknüpfunfr,    als 
Gegenstände,    insofern    sie   durch  diese  Verknüpfung  eine  Beziehung 
auf  Gegenstände  erhalten,  d.  h.  aus  der  sulgektiven  Sphäre  des  Be- 
wnsstseins.    in   der   sie  ursprünglich  liegen,    in  die  objektive  Sphäre 
versetzt    werden.     Nun    darf    man    nicht   etwa   glauben,    dass  durch 
die  Beziehung    der  Erscheinungen    auf  Gegenstände  das  erkennende 
Bewusstsein  in  X'erhältnis  gesetzt  werde  zur  Welt  der  Dinge  an  sich ; 
man  darf  nicht  meinen,    dass,    wenn    wir  Erscheinungen  durch  Sub- 
sumtion unter  reinen  Verstandesbegrit!en  objektivieren,  wir  dieselben 
auf  Dinge  an  sich  beziehen,  und  im  Akt  dieser  Beziehung,  vermittelst 
der  Erscheinungen,  Dinge  an  sich  erfassen;  man  darf  nicht  wähnen, 
dass    durch    die  Beziehung    der  Erscheinungen   auf  Gegenstände  die 
Dinge  an  sich  zu  Gegenständen  unserer  Erkenntnis  werden.     Davon 
kann  natürlich  keine  Bede  sein;   an  einen  transscendentalen  Schluss 
von    der  Erscheinung   auf    das  Ding  an  sich    ist  bei  dem  Ausdruck 
,, Beziehung  auf  einen  Gegenstand"  nicht  zu  denken.     Denn   die  ein- 
zigen Objekte  unserer  Erkenntnis  sind  und  bleiben  die  Erscheinungen, 
die    zur  immanenten  Sphäre  des  Bewusstseins  gehören  und  dieselbe 
niemals    überschreiten    können,    um   zur  transscendenten  Sphäre  der 
Dinge  an  sich  in  Beziehung  gesetzt  zu  werden ;  Dinge  an  sich  können 
weder  direkt  noch  indirekt,  vermittelst  der  Erscheinungen,  zu  Gegen- 
ständen   der  Erkenntnis   werden,    sie  liegen  gänzlich  ausserhalb  des 
Bereiches    des  Erkennbaren.     Objektive  Sphäre,    worin  die  Erschei- 
nungen,  im  Akt  ihrer  Beziehung  auf  Gegenstände,    versetzt  werden, 
ist    also    nicht    die  bewusstseinstransscendente  Sphäre   der  Dinge  an 
sich.    —    Welches    ist    dann    aber  der  Gegenstand,    worauf  die  Er- 
scheinung   bezogen    wird,    wenn   es    das  Ding  an  sich  nicht  ist;  wo 
liegt    dieser  Gegenstand,    wenn    er    nicht  im  transscendenten  Gebiet 
der  Dinge    an   sich  liegt?    Erscheinung  ist  dieser  Gegenstand  nicht, 
denn    die  Erscheinung    wird    auf  ihn   bezogen,    er  muss  also  etwas 
von  der  Erscheinung  Unterschiedenes  sein;  Ding  an  sich  ist  er  eben- 
sowenig,   weil    auf  Dinge    an   sich   die  Erscheinungen  nicht  bezogen 
werden  können.     Im  Bewusstsein  liegt  dieser  Gegenstand  nicht,  denn 
hier  liegt  die  Erscheinung;  ausserhalb  des  Bewusstseins  liegt  er  auch 
nicht,   denn   hier  liegt  das  Ding  an  sich.     Es  scheint  also,    dass  wir 
in  eine  Schwierigkeit  geraten  sind,  aus  der  kein  Ausweg  führt.    In- 
des   diese  Schwierigkeit    ist    nicht   vorhanden.     Der  Gegenstand  der 
Erscheinung,    als    unserer   Verstellung,    liegt    weder    im  Bewusstsein 
noch    ausserhalb  des  Bewusstseins;   aber  er  liegt  auch  nicht  irgend- 
wo.    Denn   er  ist  überhaupt   nichts  für  sich  Existierendes.     Er  wird 


o  K;  l»r.   Mx'ishiw   W  ;i  rttMiht'if^, 

nur  im  ll;tIl•^s^•t■n(ll■^taK'^  Akt  di's  Hewusstsoins,  wodurch  Krsclu'iiuinjri'ii 
(Irn  roinon  ViTstandosbi'jrrilVcii  imtcrfrcordnet  und  in  notwcndi^rcr  und 
alliriMueintrillti^rtT  Wcisr  vcikiiiiiit't  wrrdcii,  noiii  Denken  ei/.eii::t;  er 
wird  in  diesem  Akt  /.u  den  Krseheinunjren  Inii7,uj;e(laeht  und  in  die- 
selben denkend  hinein-reli'jit,  i^leiehsani  als  Seele  derselben,  als  ein 
Prinzi)),  wekdies  den  Erscheinun;:en  den  jrefrenständlielien  (Charakter 
verleiht,  i'r  heisst  „transsceiideiitaler"  (lej!:enstan(k  weil  er  im  trans- 
scendentalen  Akt  des  Bewusstseins  denkend  erzeu}::t  worden  ist,  um 
die  Erseheinunji  in  einen  ..empirischen"  Gejjenstand,  in  einen  Gej;-en- 
stand  der  Erfahruiiir.  umzuwaiuhdn.  Er  besteht  nur  im  Akte  der 
Objektivation.  d.  li.  der  Interorduunü;  der  Erseheinunjr  unter  den 
reinen  Verstandesbe^ritl.  nur  in  diesem  Akte  und  durch  diesen  Akt; 
ausser  demselben  existiert  er  für  uns  nicht.  Er  ist  der  notwendige 
Beziehung:spunkt,  der  jedesmal  gedacht  werden  muss,  wenn  Er- 
scheinungen objektiviert  werden;  aber  dieser  Beziehungspunkt  be- 
steht nur  im  Akte  der  Beziehung  der  Erscheinungen  auf  Gegenstände, 
während  er  ausser  diesem  Akte  für  uns  alle  Bedeutung  verliert.  Die 
einzigen  Objekte,  die  wir  kennen,  sind  die  Erscheinungen,  die  durch 
notwendige  und  allgemeingültige  \'erknüpfung  auf  Grund  der  reinen 
Verstandesbegriffe  auf  Gegenstände  bezogen  werden.  Sehen  wir 
von  den  Erscheinungen  und  deren  notwendiger  Verknüpfung  ab,  und 
fragen,  was  die  Gegenstände  ausserdem,  dass  die  Erscheinungen  auf 
dieselben  bezogen  werden,  sind,  so  ist  klar,  dass  dieselben  nur  als 
ein  Etwas  überhaupt  angesehen  w^erden  müssen,  als  ein  Etwas,  von 
dem  wir  nicht  mehr  sagen  können,  was  es  ist;  sie  sind  ein  Unbe- 
kanntes, ein  niemals  zu  bestimmendes  X,  d.  h.  für  uns  ebensoviel 
wie  nichts.  Was  also  nach  Abzug  der  Erscheinungen  übrig  bleibt, 
ist  nichts.  Freilich  nur  ein  relatives,  kein  absolutes  Nichts,  ein 
Nichts  für  uns,  für  unsere  Erkenntnis,  aber  kein  Nichts  an  sich; 
denn  nach  Abzug  der  Erscheinungen  bleiben  die  Dinge  an  sich. 
Weil  aber  die  Dinge  an  sich  jenseits  der  Sphäre  des  Erkennbaren 
liegen,  so  interessieren  sie  uns  auch  gar  nicht,  sie  sind  für  uns 
nichts.  —  Fassen  wir  das,  was  wir  soeben  auseinandergesetzt  haben, 
zusammen,  so  erhalten  wir  folgendes  Resultat:  Beziehung  der  Er- 
scheinung auf  einen  Gegenstand,  d.  h.  Erkenntnis  des  Gegenstandes, 
bedeutet  nicht  die  Beziehung  derselben  auf  ein  Seiendes  ausserhalb 
des  Bewusstseins,  um  vermittelst  der  Erscheinung  die  selbsteigene 
Natur  dieses  Seienden  zu  erschliessen;  vielmehr  bedeutet  diese  Be- 
ziehung nichts  anderes,  als  die  Objektivation  der  Erscheinung  ver- 
möge   der    notwendigen    und    allgemeingültigen    Verknüpfung    ihrer 


Der  Begriff  des  ,.transscen(lentalen  Gegenstandes"  etc.  217 

Elemente  auf  Grund  einer  apriorischen  Kegel  des  Denkens,  des  reinen 
Verstandesbe<rriffs.  Die  Erscheinung,  als  einen  Zustand  des  Hewusst- 
seins,  auf  einen  Gegenstand  beziehen,  den  Gegenstand  erkennen, 
heisst  nichts  anderes,  als  diese  Erscheinung  unter  eine  Kegel  stellen, 
die  notwendig  und  streng  allgemein  gilt,  und  welche  dementsprechend 
die  Verbindung  des  Mannigfaltigen  der  Erscheinung  zu  einer  not- 
wendigen und  allgemeingültigen  macht.  Über  diesen  wichtigen  Punkt 
äussert  sich  Kant  folgendermassen:^)  „Und  hier  ist  es  denn  not- 
wendig, sich  darüber  verständlich  zu  machen,  was  man  denn  unter 
dem  Ausdruck  des  Gegenstandes  der  \'orstellungen  meine.  Wir 
haben  oben  gesagt,  dass  Erscheinungen  selbst  nichts  als  sinnliche 
Vorstellungen  sind,  die  an  sich,  in  eben  derselben  Art,  nicht  als 
Gegenstände  (ausser  der  Vorstellungskraft)  müssen  angesehen  werden. 
Was  versteht  man  denn,  wenn  man  von  einem  der  Erkenntnis  korrespon- 
dierenden, mithin  auch  davon  unterschiedenen  Gegenstand  redet?  Es 
ist  leicht  einzusehen,  dass  dieser  Gegenstand  nur  als  etwas  überhaupt 
=  X  müsse  gedacht  werden,  weil  wir  ausser  unserer  Erkenntnis 
doch  nichts  haben,  welches  wir  dieser  Erkenntnis  als  korrespondierend 
setzen  könnten."  ,,Wir  finden  aber,  dass  unser  Gedanke  von  der 
Beziehung  aller  Erkenntnis  auf  ihren  Gegenstand  etwas  von  Not- 
wendigkeit bei  sich  führe,  da  nämlich  dieser  als  dasjenige  angesehen 
wird,  was  dawider  ist,  dass  unsere  Erkenntnisse  nicht  aufs  Gerate- 
wohl, oder  beliebig,  sondern  a  priori  auf  gewisse  Weise  bestimmt 
seien,  weil,  indem  sie  sich  auf  einen  Gegenstand  beziehen  sollen, 
sie  auch  notwendiger  Weise  in  Beziehung  auf  diesen  untereinander 
übereinstimmen,  d.  h.  diejenige  Einheit  haben  müssen,  welche  den 
Begriff  von  einem  Gegenstande  ausmacht."  ,,Es  ist  aber  klar,  dass, 
da  wir  es  nur  mit  dem  Mannigtaltigen  unserer  Vorstellungen  zu 
thun  haben,  und  jenes  X,  was  ihnen  korrespondiert  (der  Gegenstand |, 
weil  er  etwas  von  allen  unsern  Vorstellungen  Unterschiedenes  sein 
soll,  für  uns  nichts  ist,  die  Einheit,  welche  der  Gegenstand  notwendig 
macht,  nichts  anders  sein  könne,  als  die  formale  Einheit  des  Bewusst- 
seins  in  der  Synthesis  des  Mannigfaltigen  der  Vorstellungen.  Als- 
dann sagen  wir:  wir  erkennen  den  Gegenstand,  wenn  wir  in 
dem  Mannigfaltigen  der  Anschauung  synthetische  Ein- 
heit" —  d.  h.  Einheit  nach  den  Kegeln  des  Denkens,  den  reinen 
Verstandesl)egritfen,  —  ,, bewirkt  haben."  Ferner:^)  ., Erscheinungen 
sind  die  einzigen  Gegenstände,  die  uns  unmittelbar  gegeben  werden 

1)  A.  a.  0.  S.  118  fg. 

2)  A.  a.  0.  S.  122  fg. 

Kantstadion  IV.  15 


218  l>r.  M sei slaw  Wart (MiluTjf, 

kttnilon.  und  il:»s,  avms  sich  darin  uinnittcUtnr  auf  den  Gcijcnstand 
l)e/ii'ht.  hoisst  Anscliauunir.  Nun  sind  :il)or  diese  Ilrselu'inunj;:en  nicht 
Diujre  an  sich  8cll)st.  soiuiern  seihst  nur  \c)rsttdlun<ren.  die  wiederum 
ihren  GeprtMistand  hal)en,  (h-r  also  v(»n  uns  nicht  nielir  aufgeschaut 
werden  kann,  uiul  daher  der  uiclit-eiupirisclu',  d.  i.  transscendentah; 
(Jeponstand  =  X  ironannt  werden  nuiss."  „Der  reine  Hei^ritr  vcui 
diesem  transscendentalen  Gegenstände  (der  wirklidi  hei  alh-n  unsern 
Erkenntnissen  immer  einerlei  =  X  ist),  ist  das,  was  in  allen  unsern 
empirischen  BeurilVen  üherhaujjt  Beziehung  auf  einen  (iegenstand, 
d.  i.  objektive  Realität  verschaften  kann.  Dieser  Hegrill'  kann  nun 
gar  keine  hestimnite  Anschauung  enthalten,  und  wird  also  nichts 
anders,  als  diejenige  Einheit  betreffen,  die  in  einem 
Mannigfaltigen  der  Erkenntnis  angetroffen  werden  muss, 
sofern  es  in  Beziehung  auf  einen  Gegenstand  steht.  Diese  Be- 
ziehung ist  aber  nichts  anderes,  als  die  notwendige  Ein- 
heit des  Bewusstseins,  mithin  auch  der  Synthesis  des 
Mannigfaltigen  durch  gemeinschaftliche  Funktion  des  Ge- 
müts, es  in  einer  Vorstellung  zu  verbinden.  Da  nun  diese 
P^inheit  als  a  priori  notwendig  angesehen  werden  nmss  (weil  die 
Erkenntnis  sonst  ohne  Gegenstand  sein  würde),  so  wird  die  Beziehung 
auf  einen  transscendentalen  Gegenstand,  d.  i.  die  objektive  Realität 
unserer  empirischen  Erkenntnis,  auf  dem  transscendentalen  Gesetze 
beruhen,  dass  alle  Erscheinungen,  sofern  uns  dadurch  Gegenstände 
gegeben  werden  sollen,  unter  Regeln  a  priori  der  synthetischen  Ein- 
heit derselben  stehen  müssen,  nach  welchen  ihr  Verhältnis  in  der 
empirischen  Anschauung  allein  möglich  ist.'* 

2.  Die  Erkenntnistheorie  Schopenhauers.') 
Schopenhauers  Erkenntnistheorie  zeichnet  sich,  im  Vergleich  mit 
der  Kantischen,  durch  grosse  Einfachheit  und  Übersichtlichkeit  ihrer 
Prinzipien  aus.  Während  nämlich  Kant,  um  unsere  Erkenntnis  zu 
erklären  und  deren  Möglichkeit  zu  begründen,  eines  überaus  kompli- 
zierten Apparats  von  Erkenntnisfaktoren  bedarf,  kommt  Schopenhauer 
für  denselben  Zweck  mit  sehr  wenigen  aus,  oder  glaubt  wenigstens 
mit  sehr  wenigen  auskommen  zu  können.  Er  will  die  Kantische 
Erkenntnistheorie  von  dem  sie  unnötig  beschwerenden  Ballast  be- 
freien,   er    will    dieselbe  vereinfachen,    um   gemäss  dem  Sprichwort: 


')  Dieselbe  wird  hier  nnr  insoweit  in  Betracht  gezogen  werden,  als  sie  unser 
Thema  berührt. 


I 


L 


Der  Begrifl  des  ,,transscenclent;ilen  (Jegenstandes"  etc.  219 

Simplex    sigilluni    veri,    die    einzig    wahre  Erkenntnistheorie   za  ent- 
wickeln. 

Schopenhauer  steht  im  Prinzip  auf  demselben  erkenntnistheoreti- 
schen Standpunkt  wie  Kant,  nämlich  auf  dem  Standpunkt  des  trans- 
scendentalen  Idealismus.  Auch  er  unterscheidet  zwischen  Vorstellungen 
und  Dingen  au  sich;  auch  nach  ihm  sind  Erscheinungen,  als  sinnliche 
Vorstellungen,  die  einzigen  Objekte  unserer  Erkenntnis;  und  er  rechnet 
es  Kaut  als  grösstes  Verdienst  an,  diese  idealistische  Grundansicht 
endgültig  begründet  und  zum  bleibenden  Dogma  der  Philosophie  er- 
hoben zu  haben.  Allein  wenngleich  beide  Denker  dieselbe  erkenntnis- 
theoretische Grundauschauung  vertreten,  so  nimmt  doch  diese  Grund- 
anschauung bei  jedem  von  ihnen  einen  besonderen,  eigentümlichen 
Charakter  an.  Kants  Idealismus  isi  die  Konsequenz  seines  Aprioris- 
mus.  während  der  Ausgangspunkt  seiner  Erkenntnistheorie  entschieden 
realistisch  ist.  So  paradox  dieser  Satz  auch  erscheinen  mag,  wir 
halten  doch  an  demselben  fest.  Ist  es  doch  Kants  unerschütterliche 
Überzeugung,  die  er  von  vornherein  hegt  und  mit  der  er  an  seine 
erkenntnistheoretischen  Untersuchungen  herantritt,  ist  es  doch  Kants 
Überzeugung,  dass  eine  Welt  absolut-realer  Dinge  ausserhalb  des 
vorstellenden  Bewusstseins  existiert,  dass  diese  Dinge  in  realem  Ver- 
hältnis zu  unserem  Bewusstsein  stehen,  insofern  sie  unsere  Sinnlich- 
keit afhzieren,  d.  h.  auf  dieselbe  einwirken,  und  durch  diese  Ein- 
wirkung zu  Ursachen  der  Empfindungen  werden,  welche  den  Inhalt 
unserer  Erkenntnis  bilden.  Darin  ist  Kant  entschiedener  Realist; 
u.  z.  nicht  etwa  aus  Unbedachtsamkeit ;  nein,  mit  diesem  Kealismus 
ist  es  ihm  so  bitter  ernst,  dass  er,  um  dem  Einwand,  seine  Erkenntnis- 
theorie sei  aufgewärmter  Idealismus  Berkeleys,  zu  begegnen,  zum 
Versuch  einer  ausdrücklichen  Widerlegung  des  Idealismus  sich  herbei- 
gelassen hat.  Zum  Idealisten  wird  Kant  erst  im  weiteren  Verlauf 
seiner  erkenntnistheoretischen  Erwägungen,  sobald  er  nämlich  an  die 
Beantwortung  der  Frage,  wie  objektive  Erkenntnis  möglich  sei,  heran- 
tritt. Objektive  Erkenntnis  aber  ist  nach  der  Ansicht  Kants  nur 
möglich,  wenn  der  \'erknUptung  der  Erfahrungsthatsachen  in  Er- 
fahrungsurteilen apriorische  Prinzipien  zu  Grunde  liegen.  Diese 
Prinzipien  besitzen  aber  nur  dann  objektive  Gültigkeit,  d.  h.  sie 
la.ssen  sich  nur  dann  auf  die  Erfahrung  anwenden,  wenn  sie  die  Be- 
iingungen  der  Möglichkeit  der  Gegenstände  der  Erfahrung  sind.  Sie 
ÄÖnnen  dies  aber  nur  dann  sein,  wenn  die  Erfahrungsobjekte  blosse 
Erscheinungen,  blosse  N'orstellungen  des  Bewusstseins  sind,  ohne 
Beziehung    zum    absolut-realen  Sein.     So  wird  Kant  zum  Idealisten, 

15* 


OOQ  L)r.  Mscisliiw   \V  .1  rt  onhorjj, 

ohne  Jinlocli  durcli  (licxii  Iilcalismus  seinen  uis|irllii;:lieli('n  Kciilisimis 
aut/.ulu'biMi;  er  liisst  heide  iin\  erniitti-lt  nehciicinandcr  hcstchcn. 
Anders  bei  Schopenhauer.  Der  Aiis;::anf,''s|)unkt  seiner  Hrkenntins- 
theorie  ist  der  entseiiiedenste  Idealismus.  „Die  Welt  ist  meine  Vor- 
stelluujr":  dieser  Satz  bildet  naeli  Sehopenhaner  den  Aus<ranjr  jeder 
wahren  Hrkenntnistheorie.  ..Kein  Objekt  ohne  Sul)Jekt*'.  kein  Sein, 
das  nielit  vorjrestelltes,  l)e\vusstes  Sein  wäre.  Alles,  was  Objekt 
unserer  Erkenntnis  ist,  ist  Vorstelhin-r,  Unterworten  dem  Satze  vom 
Grunde,  als  dem  iremeinschaltliehen  Ausdruck  für  alle  uns  a  priori 
liewussten  Formen  des  01)jekts.  ist  Norstellunji-  und  sonst  nichts. 
Darin  ist  Schopenhauer  Idealist.  Allein  er  bleibt  l)ei  diesem  Idealis- 
mus nicht  stehen;  im  weiteren  Fortiranj::  seiner  erkenntnistheoretischen 
Betrachtungen  durchl)richt  er  denselben  in  entschieden  realistischer 
Kichtuuir.  Dass  die  Welt,  sofern  sie  01)jekt  unserer  Erkenntnis  ist, 
nur  Vorstelluns:  ist,  steht  für  Schopenhauer  fest.  Aber  die  Welt  ist 
nicht  bloss  Objekt  für  ein  Sul)jekt,  sie  l)esitzt  auch  selbständige, 
vom  Bewusstsein  unabhängige  Realität,  und  in  diesem  absolut-realen 
Sein  ist  sie  Ding  an  sich.  Nun  hat  Kant  die  Dinge  an  sich  für 
unerkennbar  erklärt.  Schopenhauer  ist  anderer  Ansicht.  Die  Welt 
als  anschaulicher  Inhalt  unseres  Bewusstseins  ist  blosse  Vorstellung, 
ohne  Beziehung  zum  transscendenten  Gebiet;  sie  ist  ein  vSein  für  ein 
Bewusstsein,  aber  kein  absolutes  Sein,  ein  Objekt  für  ein  Subjekt, 
kein  Ding  an  sich.  Das  An- sich  der  Welt  lässt  sich  auf  dem  Wege 
der  Vorstellung  nicht  erfassen;  der  innere  Kern,  das  Wesen  der 
Objekte  unserer  Erfahrungswelt,  bleibt  für  uns,  solange  wir  die  Welt 
nur  vorstellen,  verborgen.  Allein  wir  stellen  die  Welt  nicht  nur  vor, 
wir  sind  selbst  ein  Teil  dieser  Welt.  W^ären  wir  nur  vorstellende 
Bewusstheiten.  dann  würden  wir  auf  die  Vorstellung  der  Welt  be- 
schränkt sein  und  das  An-sich  derselben  niemals  erfassen  können. 
Wir  sind  aber  nicht  bloss  vorstellende  Bewusstheiten,  sondern  wir 
haben  auch  einen  Leib,  der  ein  Teil  der  Welt  ist.  Nun  ist  dieser 
Leib,  von  aussen  betrachtet,  ein  Objekt  unter  Objekten,  wenn  auch 
ein  unmittelbares  Objekt,  als  Objekt  aber  nur  für  ein  Subjekt,  d.  h, 
blosse  Vorstellung.  Allein  wir  sind  auf  diese  auswendige  Betrachtung 
unseres  Leibes  nicht  beschränkt;  wir  kennen  auch  seine  Innenseite. 
Im  Selbstbewusstsein  erleben  wir  durch  unmittelbare  Selbsterfassung 
unser  Wollen.  Dieses  Wollen  ist  unser  eigenes  Selbst,  unser  Wesen, 
das  wir  zwar  in  der  Form  der  Zeit,  als  das  in  eine  Reihe  aufein- 
anderfolgender Willensakte  distrahierte  Wesen,  also  noch  nicht  voll- 
ständig erkennen,  das  wir  aber  trotzdem  erkennen.     Im  Bewusstsein 


Der  Eegrifl  des  „tninsscendentalen  f4ef?en8tandes"  etc.  221 

anderer  Dinge  erfassen  wir  nicht  deren  Wesen,  sondern  nur  deren 
Erscheinung:;  im  Selbstbewusstsein  erfassen  wir  in  unserem  Willen 
unser  eigenes  Wesen,  und  nur  die  Form  der  Zeit  bildet  noch  die 
Schranke,  die  uns  hindert,  dieses  Wesen  vollständig  zu  ergründen. 
Nun  ist  nach  Schopenhauer  der  Willensakt  und  die  Leibesaktion 
ein  und  dasselbe,  das  nur  von  zwei  Seiten  betrachtet  wird;  was  im 
Selbstl»ewusstsein  als  Willensakt  erlebt  wird,  stellt  sich  im  Bewusst- 
sein  in  Form  der  Anschauung  als  Bewegung  des  Leibes  dar.  Dem- 
nach ist  der  Wille  das  Wesen  unseres  Leibes,  und  der  Leib  die 
„Objektit.ät"'  des  Willens;  der  Wille  ist  das  Metaphysische  zum 
Physischen  des  Leibes;  jener  ist  das  Ding  an  sich,  dieser  die  Er- 
scheinung. Was  also,  von  aussen  gesehen,  im  Bewusstsein  in  der 
Form  der  Anschauung  als  Leib  erscheint,  das  ist,  von  innen  be- 
trachtet, der  Wille  als  Ding  an  sich.  Nun  ist  unser  Leib  ein  Objekt 
unter  Objekten,  er  gehört  zu  unserer  Erfahrungswelt  als  ein  Teil 
derselben.  Als  Wesen  dieses  Leibes  haben  wir  aber  den  Willen 
erkannt.  Folglich  wird  —  so  schliesst  Schopenhauer  —  der  Wille 
das  metaphysische  Wesen  der  Welt  überhaupt  sein;  er  ist  das  von 
Kant  für  unerkennbar  gehaltene  Ding  an  sich,  das  jenseits  der  Be- 
wusstseinssphäre,  hinter  den  Erscheinungen,  liegende  An-sich  der  Welt. 
Als  Objekt  für  ein  Subjekt  ist  die  Welt  unsere  Vorstellung  und  sonst 
nichts,  als  Ding  an  sich  ist  sie  Wille.  —  Auf  die  Gedankensprünge 
und  Erschleichungen,  die  Schopenhauer  bei  der  Eroberung  des  Dinges 
an  sich  in  Menge  begeht,  können  wir  nicht  eingehen;  kurz  und  gut 
—  Schopenhauer  glaubt  im  Willen  das  Ding  an  sich  erkannt  zu 
haben,  und  er  hat  damit  seinen  ursprünglichen  Idealismus  in  realisti- 
scher Pachtung  durchbrochen.  Ja,  nicht  allein  dies;  e\  hat  —  un- 
befangen betrachtet  —  diesen  Idealismus,  sowenig  er  dies  auch  zu- 
geben möchte,  sogar  verleugnet.  Denn  nachdem  er  den  Willen  für 
das  Ding  an  sich  erklärt  hat,  bleibt  er  bei  dieser  Einsicht  nicht 
stehen;  vielmehr  möchte  er,  um  sein  metaphysisches  Prinzip 
näher  zu  entwickeln  und  inhaltsvoller  zu  gestalten,  auch  das 
Leben  und  Weben,  die  ,,Objektivationen"  dieses  Willens  schildern, 
er  möchte  uns  zeigen,  wie  der  Wille  in  einer  Welt  der  Dinge  sich 
manifestiert.  [Jra  aber  diesen  Zweck  zu  erreichen,  dazu  hat  er 
natürlich  kein  anderes  Mittel,  als  dieses,  unsere  Erfahrungswelt  in 
Betracht  zu  ziehen  und  an  ihr  die  Objektivationen  des  Willens  zu 
exemplifizieren.  Damit  hebt  er  aber  —  so  wenig  er  sich  auch  dessen 
bew^usst  ist  —  seine  idealistische  Grundansicht  auf  und  wird  zum 
entschiedenen    Realisten.     Denn    durch    die    Heranziehung    der    Er- 


>•)•)  I>r.   Msfislaw   W  art  i' nl>i>r;r.    ' 

fahruiiirswrll  in  ilif  iiift;»|)l»>sis('lif  iW'tnu'lituiii:.  diiirli  i:\rin|)lilika- 
tion  (ItT  ciiriMistcn  Natur  des  Willens  und  dcrrn  Aussrrun;:tii  :in  den 
Objekten  der  nnsoliaulii-lnn  Wtit,  \orlierl  diese  Welt  die  Hedeutuii}; 
einer  blossen  \  nr>tellunj;.  wotllr  sie  Scliopeidiauer  erkliirt  liatte,  und 
wird  in  erkeni\tnistlieoretiselie  He/iehun^-  jresctzt  zur  iransscendenten 
Welt  der  Dinire  an  >ii'li.  Hirs  lui  unbefan-remr  lietraelduii};  der 
wirkliche  Saeliverhalt.  Kreilieli  ist  Seliupenliauer  anderer  Ansieht. 
Kr  hält  naeli  wie  \or  an  seinem  Idealismus  fest;  er  ulaubt.  dass 
dieser  Idealismus  mit  seinem  Kealismus  durchaus  im  Hinklan--  steht; 
ihm  ist  die  Krfahrunjrswelt  innner  noeh  eine  blosse  Vorstellun;r,  ein 
Objekt  für  ein  Subjekt  und  ausserdem  nichts;  ihm  sind  die  Objek- 
tivationen  des  Willens  keine  Äusseruniren  der  Natur  dieses  Willens 
in  der  Sphäre  ausserhalb  des  Hewusstseins.  keine  Manifestationen 
an  sich,  sondern  nur  Darstelluniren  des  Willens  in  unserem  Hewusst- 
sein,  blosse  Erscheiuunjren,  durch  und  durch  bedinj^t  durch  die  Er- 
kenntnisformen des  vorstellenden  Subjekts,  ohne  Beziehung  zum  trans- 
scendeuten  Gebiet,  sie  sind  Objekte  für  ein  Subjekt  und  sonst  nichts. 
Der  Natur  dieser  Objekte  wollen  wir  jetzt  näher  treten. 

Die  vom  erkennenden  Subjekt  sinnlich  anjreschaute  empirische 
Welt  ist  nach  Schopenhauer,  wenn  wir  dem  Buchstaben  seiner  Er- 
kenntnistheorie folgen,  nichts  als  blosse  Vorstellung;  sie  existiert  nur 
im  Bewusstsein  und  steht  mit  der  absolut-realen  Welt,  der  Welt  als 
Wille,  in  gar  keinem  erkenntnistheoretischen  Zusammenhang.  Allein, 
obgleich  blosse  Vorstellung,  und  als  solche  nur  Zustand  des  Bewusst- 
seins,  zeigt  doch  diese  Welt  einen  ausgeprägt  gegenständlichen 
Charakter;  sie  erscheint  uns  als  eine  W^elt  selbständiger  im  Räume 
coexistierender  Dinge  und  in  der  Zeit  succedierender  Veränderungen. 
Wie  entsteht  nun  diese  WeltV  Wie  kommen  wir  dazu,  eine  W^elt 
der  Gegenstände  in  Raum  und  Zeit  anzuschauen?  Auf  welche  Weise 
wird  das,  was  Zustand  des  Bewusstseins  ist,  zum  Gegenstande? 
Darauf  giebt  Schopenhauer  folgende  Antwort:  Die  anschauliche,  em- 
pirische Vorstellung  hat  ihren  Ursprung  in  einer  „Anregung  der  Em- 
pfindung   unsers    sensitiven  Leibes."')     Auf  Grund    dieser  Anregung 

1)  Auch  Schopenhauer  redet  also,  gleich  Kant,  von  einer  Anregung,  einer 
Affektion  unserer  Sinne,  ohne  zu  merken,  dass  er  so  gar  nicht  reden  darf.  Er 
redet  sogar  ausdrücklich  von  einer  „kausalen  Einwirkung  auf  unsere  Sinne" 
(Satz  vom  Grunde,  §  19  bezw,  §  17).  Auf  die  Frage,  was  einwirkt,  antwortet 
er:  die  Vorstellung.  Das  ist  aber  off"enbar  eine  Verkehrtheit,  da  eine  Vor- 
stellung qua  Vorstellung  nicht  wirken  kann.  Der  Grund  dieser  Verkehrtheit 
liegt  darin,  dass  Schopenhauer  weder  seinen  Idealismus,  noch  seinen  Eealismus 
folgerichtig  durchgeführt  hat,    sondern  halber  Idealist,  halber  Realist  ist.     Rea- 


Der  BegriflF  des  „transscendentalen  Gegenstandes"  etc.  22B 

entwickelt  unsere  Sinnlielikeit  Empfindungeu.  Nuu  sind  aber  die 
Emptindunicen  noch  keine  Anschauungen.  Ucnn  die  Anschauung  be- 
deutet schon  et^yas  Objektives,  es  sind  in  ihr  bereits  Gegenstände 
enthalten,  während  in  der  Empfindung  als  solcher  nichts  Objektives 
liegt.  Die  blosse  Sinnesenipliudung  ist  nach  Schopenhauer  ein  , .roher 
Stoft"",  ein  „subjektives  Gefühl",  ein  „\'organg  im  Organismus  selbst'-, 
d.  b.  im  Sinnesorgan,  und  weiter  nichts.  Wodurch  wird  nun  die 
subjektive  Empfindung  zur  objektiven  Anschauung,  wodurch  erhält 
der  subjektive  Zustand  die  Bedeutung  eines  Gegenstandes?  Er  erhält 
dieselbe  durch  den  Prozess  der  Objektivation  der  Empfindungen. 
Dieser  Erkenntnisprozess  wird  in  der  Weise  vollzogen,  dass  der 
Verstand,' )  vermöge  seiner  apriorischen  Form,  des  Gesetzes  der  Kau- 
salität, die  Empfindung  als  Wirkung  auftasst,  diese  Wirkung  auf  ihre 
Ursache  bezieht,  mit  Zuhilfenahme  der  reinen  Ansehauungsform  des 
Raumes  diese  Ursache  ausserhalb  des  Organismus  verlegt  und  im 
Räume  konstruiert.-)  Diese  Yerstandesoperation  der  Beziehung  der 
Empfindungen  auf  ihre  Ursachen  ist  —  wie  Schopenhauer  ausdrück- 
lich betontet  —  kein  Schluss  in  abstrakten  Begrifien,  sie  ist  nicht 
diskursiv  und  reflektiv,  sondern  intuitiv  und  ganz  unmittelbar,  daher 
notwendig  und  sicher;  sie  ist  eine  instinktartige,  ohne  Bewusstsein 
vollzogene  Funktion,  deren  Resultat,  die  objektive  Welt  im  Räume, 
nur  zum  Bewusstsein  kommt.  Demnach  ist  die  empirische  Anschauung 
das  Produkt  nicht  bloss  sensualer  Faktoren,  wie  Kant  irrtümlich  ge- 
lehrt hat,  sondern  auch  eines  intellektualen  Faktors,  nämlich  der 
kausalen  Funktion  des  Verstandes,  ohne  welche  wir  keine  Anschauung, 


lismus  und  Idealismus  stehen  bei  ihm  unvermittelt  nebeneinander,  sie  kämpfen 
gegeneinander  imd  gestalten  seine  Erkenntnistheorie  zur  widerspruchsvollen 
Lehre.     Dasselbe  gilt  von  Kant. 

1)  Schopenhauer  erklärt  den  Verstand  für  eine  Funktion  des  Gehirns 
welche  Ansicht  entschieden  materialistisch  ist  und  diesen  Anstrich  auch  dann 
nicht  vollständig  veriiert,  wenn  man  an  Stelle  des  Gehirns  den  in  Form  des 
Gehirns  sich  objektivierenden  Willen  setzt. 

2)  Von  den  reinen  Anschauungsformen,  Raum  und  Zeit,  verwendet  Schopen- 
hauer, um  das  Zustandekommen  der  Anschauung  zu  erklären,  ausdrücklich  nur 
den  Raum,  obgleich  sich  auch  Stellen  finden,  wo  er  Raum,  Zeit  und  Kausalität 
als  Faktoren  der  empirischen  Anschauung  anführt.  Dies  erklärt  sich  daraus, 
dass  Schopenhauer  unter  Objekten  der  empirischen  Anschauung,  Objekte  der 
Aussen  weit  versteht,  und  um  die  Ent.stehung  dieser  Objekte  zu  erklären, 
musste  der  Raum  in  erster  Linie  in  Betracht  gezogen  werden,  während  von 
der  Zeit,  als  der  Form  der  Vorstellung  überhaupt,  eo  ipso  gUt.  dass  sie  auch 
die  Anschauung  mit  umtasst. 

3)  A.  a.  0.  §  21,  Welt  als  Wille  und  Vorstellung,  Bd.  I,  §  4. 


'2'2-i  '*''    ^Isclslaw  Wartpnbor^r, 

sondtTii  nur  nii'litssa-rondr  sultJoktiM'  l'jii|>liii(luiii:t'ii  liiittfii.  Die  so 
cntstandtMic  Welt  ist  unscrt'  Krt'alinmirswflt.  d\v  sn  ciitstandcncn 
Obji'ktf  sind  (Jrircnstiiiulc  der  Krlaliruii^';  Krfaliruni:-  und  t'niidrisclic 
Ansi'hauunj:  sind  nach  Schopenhauer  identisch.  Nun  darf  man  nicht 
etwa  j:laul»en.  dass  die  i^ausale  Beziehun;r  der  KinplinduuL^  auf  ihre 
Ursache  eine  Hezichunj:  derstdhen  auf  das  Din-r  an  sich  hedeute, 
•rleich  als  oh  Diiiire  an  sich  Ursachen  unserer  Kniplindun-ren  wären 
und  sich  deshalb  durch  einen  kausalen  Schluss  von  der  Wirkunj;  aut 
die  Ursache  irjrendwie  erkennen  liessen.  Davon  ist  keine  Rede. 
Denn  das  wäre  transseendentaler  Kealisnuis,  und  dieser  erkenntnis- 
theoretischen Ansicht  will  sich  Schopenhauer  nicht  schuldig,'  machen. 
Kausale  Verhältnisse  bestehen  nur  /wischen  Objekten,  und  diese  sind 
blosse  Vorstellunj^en,  sie  bestehen  dajregen  nicht  zwischen  Din^roii 
an  sich  und  dem  erkennenden  Bewusstsein;  Kausalität  >/\\i  nur  für 
die  Erscheinuniren.  nicht  für  die  Ding:e  an  sich;  es  jriebt  nur  eine 
immanente,  keine  transscendente  Kausalität.') 

In  der  unmittelbaren,  reflexionslosen  Anschauong  einer  objektiven 
Welt  im  Räume  besteht  die  intuitive  Erkenntnis,  die,  weil  sie  auf 
dem  Kausalgesetz  beruht,  das  Werk  des  Verstandes  ist,  als  des  an- 
schaulichen Erkenntnisvermögens.  Über  diese  Welt  reflektiert  nun 
die  Vernunft,  das  Vermögen  des  Denkens,  der  diskursiven,  abstrakten 
Erkenntnis.  Sie  setzt  den  anschaulichen  Inhalt  in  Begrifle  um,  bildet 
auf  diese  Weise  nichtanschauliche,  abstrakte  Vorstellungen,  verbindet 
diese  Begriffe  in  Urteilen,  zieht  aus  den  Urteilen  Schlüsse,  und  wir 
gelangen  zur  abstrakten  Erkenntnis,  die  ihren  Inhalt  ganz  und  gar 
ans  dem  reichen  Quell  der  Anschauung  schöpft  und  von  dieser 
durchaus  abhängig  ist.  So  ist  die  Anschauung  das  Prius,  das  Denken 
ein  Posterius;  jene  ist  von  diesem  durchaus  unabhängig,  dieses  von 
jener  inhaltlich  durchaus  abhängig;  erst  muss  durch  intuitive  Er- 
kenntnisfunktionen die  Welt  anschaulicher  Objekte,  die  Erfahrungs- 
welt, im  Bewusstsein  geschaff"en  sein,  ehe  das  Denken  seine  dis- 
kursive Thätigkeit  ausüben  kann. 

Wenn  wir  diese  erkenntnistheoretischen  Ausführungen  Schopen- 
hauers mit  denjenigen  Kants  vergleichen,  so  springt  der  Unterschied 


1  üass  diese  Lehre  im  "Widerspmch  steht  mit  Schopenhauers  Ansicht 
Ton  der  ..Anregung''  unserer  Sinne,  dass  hier  Idealismus  und  Realismus  in 
harten  Widerstreit  geraten,  darum  kümmert  sich  Schopenhauer  ebensowenig, 
wie  sieh  Kant  darum  gekümmert  hat.  Auch  sieht  er  nicht,  dass  die  Beziehung 
der  Empfindungen  auf  „äussere"  Ursachen  nur  dann  einen  Sinn  hat,  wenn  es 
solche  Ursachen  wirklich  giebt. 


Der  Begriff  dea  „transficendentalen  Gegenstandes"  etc.  225 

der  Überzeugungen  beider  Denker  sofort  in  die  Augen.  Diesen 
Unterschied  wollen  wir  im  folgenden  etwas  genauer  betrachten,  weil 
nur  durch  Beachtung  desselben  die  Einwände,  welche  Schopen- 
hauer gegen  Kants  Auffassung  erhebt,  richtig  verstanden  werden 
können. 

Bei  Kant  ist  die  blosse  Anschauung  „blind" ;  es  sind  in  ihr 
noch  keine  Gegenstände  enthalten;  sie  ist  nur  eine  Summe  von  Per- 
ceptionen  des  vorstellenden  Subjekts  ,  ein  „GewUhle"  subjektiver 
Bilder,  ohne  objektive  Bedeutung.  Dieser  Mangel  an  Objektivität 
ist  darin  begründet,  dass  die  Anschauung  bei  Kant  das  Produkt 
ausschliesslich  sensualer  Erkenntnisfaktoren  ist.  nämlich  der  em- 
pirischen Sinnlichkeit,  welche  Empfindungen  entwickelt,  und  der 
reinen  Sinnlichkeit,  welche  die  reinen  Anschauungsformen  liefert, 
—  Faktoren,  welche  gesetzlos,  ohne  streng  allgemeine  Kegeln  wirken, 
daher  Bilder  erzeugen,  die  nicht  diejenige  Notwendigkeit  und  All- 
gemeingültigkeit in  der  Verknüpfung  ihrer  Elemente  zeigen,  welche 
der  Gegenstand  erfordert.  Erst  wenn  das  nach  streng  allgemeinen. 
Regeln  verfahrende  Denken  zu  der  Anschauung  hinzukommt,  wenn 
es  durch  transscendentale  Funktion  die  Anschauungen  den  reinen 
Verstandesbegritfen  unterordnet  und  dadurch  notwendig  und  allgemein- 
gültig verknüpft,  werden  die  objektslosen  Anschauungen  auf  Gegen- 
stände bezogen,  und  es  wird  die  blinde  Anschauung  in  Erfahrung,, 
als  Erkenntnis  der  Gegenstände,  umgewandelt.  So  unterscheidet 
Kant  scharf  zwischen  Anschauung  und  Erfahrung;  jene  ist  sensual, 
daher  ohne  objektive  Bedeutung,  diese  intellektual,  daher  von  ob- 
jektiver Gültigkeit.  Die  Anschauung  ist  die  Vorstufe  zur  P>fahrung, 
wozu  sie  durch  das  Denken  erhoben  wird.  Ganz  anders  verhält  es 
sieh  nach  Schopenhauer.  Bei  ihm  ist  die  Anschauung  schon  objektiv; 
es  sind  in  ihr  bereits  Gegenstände  enthalten;  sie  ist  mit  der  Er- 
fahrung identisch.  Daher  bedarf  es  auch  keiner  transscendentalen 
Beziehung  der  Anschauungen  auf  Gegenständ  e,  um  sie  dadurch  aller- 
erst zu  Erfahrungsobjekten  zu  gestalten;  denn  die  Anschauungen 
sind  selbst  Erfahrungsobjekte.  Sie  besitzen  gegenständlichen  Charakter, 
weil  die  Anschauung  nicht  sensual,  sondern  intellektual  ist,  weil  die 
Empfindungen  durch  die  kausale  Funktion  des  Verstandes  auf  äussere 
Ursachen  bezogen  und  dadurch  zu  äusseren  Objekten  gemacht 
werden.  Der  Prozess  der  Objektivation  wird  also  schon  an  den 
Empfindungen  vollzogen,  nicht  erst,  wie  Kant  lehrt,  an  den  An- 
schauungen; daher  liegen  nach  Schopenhauer  in  den  Anschauungen 
bereits  Gegenstände,    während  Kant    diese  Anschauungen  erst  durch. 


•_>._)(;  I>r.  Msoialnw  WartcnlMT^r, 

katrirtuinlc  Fiinktiuiicii  des  Dciikms  vcrp-ircnsiiiiulliclicii  will.  Dan 
Dfiikrii  s|)irlt  lu'i  Scliopciiliaiifr  keine  olijektiviercnde  liolle,  <'S 
sfhatTt  nicht  (Jrirenstiinde.  sondern  rellektiert  nur  lllier  Ce^rensländc, 
die  in  der  Atiscliaunni:  lieiren.  St*h»t|ieidiaiier  kennt  keine  trans- 
scendentali>.  somlern  nur  eine  einpirisi'lie  Funktion  des  Denkens. 
Keine  \  tTstaiKU'sheirrilVe  im  Sinne  Kants  linden  sich  in  seiner  Kr- 
kenntnistluM»rie  nicht;  er  kennt  nur  ein|urische  He^n-ilVe.  die  ans  der 
Anschauung:  p'wonnen  sind  und  die  freincinschartlichen  Merkmale 
einer  Klasse  anschaulicher  Ohjekte  repräsentieren,  andere  HefrrilVe 
finden  sich  hei  ihm  nicht;  denn  die  Kausalität,  die  a  |)riori  ;:ilt,  ist 
kein  HeirrilV  des  Denkens,  sondern  eine  l'uidaion  des  Anschauens, 
sie  ist  —  wie  er  sajren  würde  —  kein  He^'ritV  der  denkenden  Ver- 
nunlt.  sond«'rn  eine  Funktion  des  anschauenden  Verstandes.  Die 
Kausalität  ist  hei  Schopenhauer,  wie  l)ei  Kant,  eine  Hedinf^ung  der 
Erfahruni:,  aher  doch  in  einem  anderen  IJnifanj:;  und  in  einem  anderen 
Sinne;  denn  während  sie  hei  Kant  nur  eine  von  den  Bedin<:unf:en 
der  Erfahrung  ist.  ist  sie  bei  Schopenhauer  die  einzige  Hedinirung 
derselben;  während  sie  bei  Kant  da/u  dient,  um  die  Aufeinander- 
folge der  Anschauungen  auf  einen  Gegenstand  zu  beziehen  und  ihr 
dadurch  den  Charakter  einer  objektiven  Suceession,  eines  (Jeschehens, 
zu  verleihen,  dient  sie  bei  Schopenhauer  dazu,  um  die  Empliudungen 
auf  ihre  Ursachen  zu  beziehen  und  dadurch  in  anschauliche,  em- 
pirische Objekte  umzuwandeln. 

3.    Schopenhauers    Kritik    des    Begriffs    des    Gegenstandes 

bei  Kant. 
Schopenhauer  nennt  sich  selbst  den  „wahren  und  ächten  Thron- 
erben Kants",  seine  Philosophie  das  Zu-Ende-Denken,  die  Vollendung 
der  Kantischen.  Er  ist  für  seinen  Meister  vom  Gefühl  der  tiefsten 
Ehrfurcht  und  Dankbarkeit  erfüllt,  und  er  rühmt  mit  Worten  höchster 
Anerkennung  dessen  Verdienste  um  die  Philosophie.  Kants  grösstes 
Verdienst  ist  aber  in  Schopenhauers  Augen  die  Unterscheidung  der 
Erscheinung  vom  Dinge  an  sich;  und  er  hält  deshalb  die  trans- 
scendentale  Ästhetik  Kants,  worin  diese  Unterscheidung  gemacht 
und  begründet  wird,  für  ein  so  überaus  verdienstvolles  Werk,  dass 
es  allein  hinreichen  könnte,  Kants  Namen  zu  verewigen,  er  sieht  in 
ihr  den  einen  ,.grossen  Diamanten  in  der  Krone  des  Kantischen 
Ruhmes''.  Kants  Beweise  für  die  Apriorität  und  Idealität  des  Raumes 
and  der  Zeit  hält  er  für  vollkommen  zwingend  und  überzeugend, 
und  erblickt  in  dieser  Lehre  Kants  eine  wirkliche,  grosse  Entdeckung 


Der  Begriff  des  „transscendentalen  Gegenstandes"  etc.  227 

in  der  Metaphysik.  Allein  wenn  auch  Schopenhauer  Kants  grosse 
Leistungen  anerkennt,  so  vermafr  er  doch  nicht  in  verba  mafristri 
zu  schwören  und  alles,  was  Kant  gelehrt  hat,  einfach  zu  unter- 
schreiben. Er  entdeckt  in  der  Kantischen  IMiiloscphie  grosse  Fehler, 
zahlreiche  Widersprüche,  an  denen  sie  leidet,  und  er  stellt  sich  im 
Interesse  der  Wahrheit  die  Aufgabe,  diese  Fehler  schonungslos  auf- 
zudecken und  zu  vertilgen,  um  dadurch  das  Wahre  und  Bleibende 
in  Kants  Lehre  in  desto  hellerem  Licht  erscheinen  zu  lassen. 

Hatte  Schopenhauer  die  transscendentale  Ästhetik  Kants  in 
hohem  Grade  gerühmt,  so  spricht  er  im  Gegenteil  über  dessen  trans- 
scendentale Logik,  insbesondere  über  den  ersten  Teil  derselben,  die 
transscendentale  Analytik,  sein  entschiedenes  ^'e^dammungsurteil  aus. 
Die  hier  vorgetragenen  Lehren  sind  nach  seiner  Ansicht  grundfalsch 
und  führen  zu  widersprechenden  Konsequenzen.  Näher  betrachtet, 
sind  es  folgende  Einwände,  die  Schopenhauer  gegen  Kants  Auf- 
fassung erhebt;  ^) 

Der  Grundfehler  der  Erkenntnistheorie  Kants  sei  die  Vermischung 
der  anschaulichen  mit  der  abstrakten  Erkenntnis.  Kant  habe  beide 
Erkenntnisarten  nicht,  wie  es  nötig  wäre,  und  wie  er,  nämlich 
Schopenhauer,  dies  in  seiner  Lehre  von  der  totalen  Diversität  zwischen 
der  intuitiven  und  der  abstrakten,  diskursiven  Erkenntnis  gethan, 
auseinandergehalten,  sondern  dieselben  gänzlich  vermischt  und  da- 
durch in  seine  Ausführungen  eine  unselige  Verwirrung  hineingebracht. 
Denn  anstatt  vor  allem  zu  erklären,  wie  wir  zur  Anschauung  einer 
objektiven  Welt  im  Räume  gelangen,  habe  Kant  dieses  wichtigste 
Problem  der  Erkenntnistheorie  mit  dem  nichtssagenden  Ausdruck: 
„Das  Empirische  der  Anschauung  wird  von  aussen  gegeben"  ab- 
gefertigt und  sei  dann  sofort  zur  Betrachtung  der  abstrakten  Er- 
kennntnis  des  Denkens  geschritten.  Die  empirische  Anschauung 
werde  uns  nach  Kants  Ansicht  gegeben,  und  nun  solle  über  dieselbe 
gedacht  werden. 

In  welcher  Weise  denn?  Etwa  in  der  Weise,  wie  er,  nänüich 
Schopenhauer,  gezeigt  habe?  Reflektiere  etwa  das  Denken  über  die 
Anschauung,  um  durch  diskursive  Thätigkeit  den  anschaulichen  In- 
halt in  Begriffe  umzusetzen  und  nichtanschauliche,  abstrakte  Vor- 
stellungen zu  bilden?  Nein!  Das  Denken  solle  nach  Kant  etwas 
anderes    leisten.     Es  solle  nämlich  durch  seine  reinen  Begriffe,    das 


1)  Vergl.  darüber  Schopenhauers  Kritik  der  Kantisohen  Philosophie,  WW 
hrsgb.  V.  Grisebach.  Bd.  I  S.  öö8  ff. 


oop  Pr.  Msoislaw  Wart  c  iiIht;,'. 

„Kädorwcrk"  der  /.utill"  Katc^'iirii'ii.  /.u  den  Ansi'lmmnifr<Mi,  d'w  doi-li 
luToits  (u'friMiständc  sricii.  (IcjrtMistiiiidc  erst  Inn/.iidcnkcii.  es  sidlc 
die  Ansi'li;iium>j:»M\  auf  (icircnstäiidc  Ijoy.irlicii.  iim  aus  der  hlosscu 
Ansohauuui:  Krl'ahruuu:  /u  uiaclicn.  Dadurch  hriu^rc  ahi-r  Kant  in 
vidlijr  sai'hwidrijrrr  NNCisc  das  l)ciikcii  in  die  Anscliauuiijr,  atistatt 
l)eidt'  von  einander  /u  Irtiitieii.  und  tillire  einen  l»eirrilV  »in,  der  eine 
panz  unt'asshare,  mit  Widersprllehen  heliattele  \  (ustellunp,  ein  walirew 
philoso{)liiselies  Monstrum  sei,  tiämiirii  den  lieL^rilV  dt's  (ie<:eii- 
standi's.  Denn  was  solle  dieser  Gejrenstand  sein?  Kr  sei  weder 
Ansehauuni:  iuk'Ii  BojrritT.  Nieiit  Anscliauun;:.  deim  er  werde  ja  f;e- 
daelit.  lüelit  anp-seliaut,  und  die  Anschauun;::  werde  auf  ihn  liezojren; 
er  müsse  also  etwas  von  der  Anschauun.i:  rnterschiedenes  und  \'er- 
schiedenes  sein.  Nicht  BejrrilV,  denn  dieser  driieke  immer  etwas  All- 
iremeines  aus.  während  der  (iejrenstand,  weil  die  Ansehauunjr  als 
Kinzelvorstellunjr  auf  ihn  bezop:en  werde,  etwas  Einzelnes  sein  müsse; 
er  müsse  ein  einzelnes,  reales  Objekt  sein,  und  so  brin^^c  Kant  wieder 
die  Anschauunjr  in  das  Denken.  Demnach  sei  der  ffCgenstand  der 
Erfahrunj:  bei  Kant  ein  ganz  unlassbares  .,Mittelding"  von  An- 
schauung und  Begritf:  er  sei  der  erstereu  verwandt  durch  seineu 
Charakter  der  Einzelheit  und  Besonderheit,  dem  letzteren  verwandt 
durch  seinen  Charakter  des  Gedachtwerdeus;  er  sei  aber  weder  An- 
schauung noch  Begriff,  weder  ein  Objekt  der  anschaulichen  noch  ein 
Objekt  der  abstrakten  ?>kenntnis,  d.  h.  eine  unmögliche  Konzeption. 
—  Durch  Eiiduhrung  des  transscendentalen  Gegenstandes,  worauf  die 
Anschauung  denkend  bezogen  werden  solle,  gerate  Kant  mit  seiner 
sonstigen  Auffassung  vom  Wesen  des  Denkens  und  dessen  erkenntnis- 
theoretischer Aufgabe  in  harten  Widerspruch.  Lehre  doch  Kant 
ausdrücklich,  dass  der  Verstand,  als  Vermögen  der  denkenden  Er- 
kenntnis, kein  Vermögen  der  Anschauung  sei,  dass  seine  Erkenntnis 
nicht  intuitiv,  sondern  diskursiv  sei,  dass  die  Kategorien  des  Ver- 
standes keineswegs  die  Bedingungen  seien,  unter  denen  Gegen- 
stände in  der  Anschauung  gegeben  werden  ,  dass  die  Anschauung 
der  Funktionen  des  Denkens  keineswegs  bedürfe  u.  dgl.  Danach 
könnte  es  scheinen,  als  trenne  Kant  sorgfältig  die  denkende  Er- 
kenntnis von  der  anschaulichen;  es  könnte  scheinen,  als  seien  auch 
ohne  Funktionen  des  Denkens  in  der  empirischen  Anschauung  Objekte 
enthalten,  wenn  auch  in  einer  von  Kant  nicht  näher  angegebenen 
Weise.  Dieser  Lehre  Kants  widerspreche  aber  aufs  schreiendste 
seine  ganze  übrige  Lehre  vom  Verstände,  von  dessen  Kategorien 
und    von  der  Möglichkeit  der  Erfahrung.     Suche  doch  Kant  nachzu- 


Der  Begriff  des  „transacendentalen  Gegenstandes"  etc.  229 

"weisen,  dass  der  Verstand  durch  seine  Kategrorien  erst  Einheit  in 
das  Manni.irt"altig:e  der  Anschauung  bringe,  indem  er  dasselbe  synthe- 
siere,  verbinde  und  ordne,  dass  die  Kategorien  die  Anschauung:  der 
Gegenstände  bestimmen,  dass  die  Eriahrung  nur  durch  die  Kategorien 
des  Denkens  möglich  sei  und  in  der  \'erkiiüpfung  der  Wahrnehmungen, 
die  denn  doch  wohl  Anschauungen  seien,  bestehe,  dass  der  Verstand 
die  Natur,  die  doch  ein  Anschauliches  sei  und  kein  Abstraktum, 
allererst  möglich  mache,  indem  er  ihr  Gesetze  a  priori  vorschreibe 
und  dergl.  Wie  reime  sich  das  mit  dem  \'origen  zusammen?  Ein- 
mal mache  Kant  die  Anschauung  vom  Denken  unabhängig,  das 
andere  Mal  mache  er  sie  davon  abhängig;  einmal  sollen  nach  seiner 
Ansicht  in  den  Anschauungen  auch  ohne  Funktionen  des  Verstandes 
Gegenstände  gegeben  sein,  das  anderemal  sollen  diese  Gegenstände 
erst  durch  die  Kategorien  des  Verstandes  zu  den  Anschauungen  hin- 
zugedacht werden ;  einmal  lehre  Kant,  der  Verstand  sei  kein  intuitives, 
sondern  ein  diskursives  Erkenntnisvermögen,  das  anderemal  mache 
er  den  Verstand  zum  Vermögen  der  intuitiven  Erkenntnis,  insofern 
er  durch  dessen  Funktionen  die  anschaulichen  Elemente  verknüpfen 
und  ordnen  lasse,  damit  durch  diese  Verknüpfung  die  Anschauungen 
auf  ihnen  korrespondierende  Gegenstände  bezogen  werden  könnten, 
wodurch  erst  Erfahrung  entstehe.  —  Allein  durch  diese  Lehre  sündige 
Kant  gegen  den  Hauptgrundsatz  der  Erkenntnistheorie,  nämlich  gegen 
den  Satz:  kein  Objekt  ohne  Subjekt.  Denn  indem  Kant  die  An- 
schauung auf  einen  Gegenstand  durch  den  Verstand  beziehen  lasse, 
unterscheide  er  zwischen  der  Anschauung  und  dem  Gegenstand.  Das 
Einzige  aber,  womit  unsere  Erkenntnis  es  zu  thun  habe,  seien  die 
Anschauungen  oder  Erscheinungen;  nur  die  Anschauung  falle  ins 
Bewusstsein,  als  Zustand  desselben,  nur  die  Anschauung  sei  durch 
das  erkennende  Bewusstsein  bedingt  und  davon  abhängig,  d.  h.  ein 
Objekt  für  ein  Subjekt.  Als  dieses  Objekt  wolle  aber  Kant  die  An- 
schauung nicht  anerkennen;  das  Objekt  sei  vielmehr  nach  seiner 
Ansicht  etwas  von  der  Anschauung  Unterschiedenes  und  \erschiedenes, 
nämlich  der  transscendentale  Gegenstand,  auf  welchen  die  Anschau- 
ung denkend  bezogen  werden  solle.  Nun  falle  dieser  Gegenstand 
nicht  ins  Bewusstsein,  denn  ins  Bewusstsein  falle  nur  die  Anschauung; 
er  sei  durch  das  erkennende  Bewusstsein  nicht  bedingt  und  davon 
abhängig,  denn  diese  Bedingtheit  und  Al)hängigkeit  komme  nur  der 
Anschauung  zu.  Demnach  sei  der  transscendentale  Gegenstand  bei 
Kant  etwas  Unbedingtes,  vom  erkennenden  Subjekt  Unabhängiges, 
etv\as  für  sich  und  an  sich  Seiendes,  ein  absolutes  Objekt,  ein  Ob- 


'2[]0  l'r.  .Mscislaw  Warttnlu-rtJ, 

jfkt.  woU'lu's  an  sii'li.  d.  Ii.   auch  olino  Siihjokt.  Olijckt  ist.    d.   li.  or 
Sfi  ein  hölzernes   Kisen.  ein   leihhatter  Widersjtriu'li.    -  -    Kant   unter- 
scheide   sehr    richtig    zwisehen    der  Krseheinunj:    und     tlciu   l)in;r  an 
sicli;    jene    L'fhi'tre  zur  innnanentcn  Sphäre  des  Hewusstseins,    dieses 
zur  transsoendenten  Sphiire  aussi'rhall»  des  Hewusstseins.   jene  sei  ein 
Ohjekt  der  Erkenntnis,  dieses  Vw^v  ausser  (h'in  Hereieh  (h-s  Krkenn- 
haren.    Nun  statuiere  aher  Kant  ausserdem  einen  l'ntersehied  zwisehen 
der  ErseheinuufT  ( Ansehauunfr)  und  dem  CJep'nstand.  worauf  dieselbe 
hezdiren    werde.       Denniaeh    untcrseheide    Kant    eiL^entlich    dreierlei: 
1.    die    Vorstellung    ( Ansehauuiii:,    Krseheinunjr),    2.  «li'n  Gegenstand 
der  \  orstellunfT,    3.  das  Dini:  an  sich.     Dieser  Ge«ienstand  der  Vor- 
stellung: sei  ein  falscher  Kindrin<:liu^^    er  solle  eine  Stelle  ausfüllen, 
deren    Besetzung:    vollkommen    entbehrlich    sei.     Dmn    die    einzigen 
Objekte  unserer  Erkenntnis  seien  die  Vorstellungen.     Sehen  wir  von 
den  Vorstellungen  ab  und  fragen,  was  nach  deren  Abzug  übrig  bleibe, 
so    stehen    wir  bei  der  Frage  nach  dem  Ding  an  sich.     Ausser  den 
Vorstellungen    und    den  Dingen   an  sich  gebe  es  also  nichts,    womit 
das    erkennende  Subjekt    sieh    beschäftigen    könnte.     Kant    dagegen 
schiebe    zwischen    die  Vorstellung  und  das  Ding  an  sich  den  trans- 
scendentalen  Gegenstand,    der  nichts  anderes  sei,    als  ein  „Zwitter", 
zusammengesetzt    aus    unvereinbaren  Merkmalen,    nämlich    aus   dem, 
was  Kant  teils  der  Vorstellung,  teils  dem  Ding  an  sich  geraubt  habe. 
Denn  als  absolutes  Objekt,  als  Objekt  an  sich,  das  keines  Subjekts 
bedürfe,    als    ein  Etwas,    das   jenseits    der  Bewusstseinsphäre   liege, 
nehme    der    transscendentale  Gegenstand  teil  an  der  Selbständigkeit 
und  Unabhängigkeit  vom  erkennenden  Subjekt,  Eigenschaften,  welche 
dem  Ding    an   sich  zukommen;  er  sei  zwar  nicht  das  Ding  an  sich, 
weil  mit  diesem  unsere  Erkenntnis  sich  gar  nicht  beschäftige,    aber 
er    sei    doch    des  Dinges    an   sich  nächster  Anverwandter.     Da  aber 
andererseits  der  transscendentale  Gegenstand  ein  Objekt  der  Erkennt- 
nis   sei,    insofern  durch  das  Hinzudenken  desselben  zur  Vorstellung, 
durch  Beziehung  der  Anschauung  auf  denselben,  Erfahrung  zustande 
kommen  solle,  so  sei  wieder  dieser  Gegenstand,  wegen  seines  Charakters 
des  Objekt-seins,    der  Vorstellung  verwandt.    —    Zu  solchen  Wider- 
sprüchen   führe    also    der    Kantische    Begritf   des    transscendentalen 
Gegenstandes,     an    dessen    Konzeption    die    falsche,     prekäre     und 
schwankende  Stellung    des  Denkens    in  Kants  Erkenntnistheorie  die 
Schuld    trage.     Hätte  Kant    das  Denken    von  der  Anschauung  sorg- 
fältig geschieden,  hätte  er  gezeigt,  auf  welche  Weise  die  Anschauung 
mit  ihrem  reichen  Inhalt  entstehe,  hätte  er  eingesehen,  dass  in  dieser 


Der  BegriflF  des  „transscendentalen  Gegenstandes"  etc.  231 

Anschauung  selbst  schon  die  empirische  Realität,  mithin  die  Erfahrung 
mit  ihren  Gegenständen  enthalten  sei,  hätte  er  dem  Denken  die  ihm 
ausschliesslich  zukommende  Aufgabe  der  Reflexion  über  den  anschau- 
lichen Inhalt  zugewiesen:  dann  würde  er  seine  Erkenntnistheorie  vor 
den  Widersprüchen  und  Ungereimtheiten  bewahrt  haben,  an  denen 
sie  leide  und  unrettbar  zu  Grunde  irehen  müsse. 


»^ 


(Schluss  folgt.) 


Der  Begriff  der  „hypothetischen  Imperative" 
in  der  Ethik  Kants. 

\on  rrivatdozent  Lif.  tlieol.  Carl  Stange  in  Halle  a.  S. 


Der  Betriff  der  sogenannten  hypothetischen  Imperative  spielt  in 
der  Ethik  Kants,  wie  es  scheint,  nur  eine  untergeordnete  Kolle. 
Wenn  es  nämlich  (wie  es  thatsächlich  der  Fall  ist)  Darstellungen 
der  Kantisehen  Ethik  giebt.  in  denen  dieser  Begriff  nicht  einmal 
erwähnt  wird,  so  ist  damit  der  Beweis  geliefert,  dass  das  Verständ- 
nis des  Systems  überhaupt,  des  Gedankenganges,  dem  Kant  in  seiner 
Ethik  folgt,  von  der  Bedeutung  dieses  Begriffs  unabhängig  ist,  und 
dass  ebenso  das  Verständnis  der  Terminologie,  deren  Kant  sich  be- 
dient, ohne  Rücksicht  auf  diesen  Begriff  gewonnen  werden  kann. 

Um  so  auffallender  ist  dann  allerdings  die  Thatsache,  dass  Kant 
selbst  es  für  notwendig  gehalten  hat,  diesen  anscheinend  gänzlich 
überflüssigen  und  bedeutungslosen  Begriff  zu  erwähnen.  Zur  Er- 
klärung dieser  Thatsache  wird  man  sich  auch  nicht  darauf  berufen 
dürfen,  dass  Kant  gemeint  habe,  durch  den  Begrifl  der  hypothetischen 
Imperative  den  wichtigen  Begriff  der  kategorischen  Imperative  ver- 
deutlichen zu  können.  Vorausgesetzt  nämlich,  dass  das  Kants  Mei- 
nung gewesen  ist,  so  müssten  auch  die  Interpreten  der  Kantischen 
Ethik  sich  diese  Brauchbarkeit  des  Begriffs  zu  nutze  machen.  Wenn 
sie  aber  demgegenüber  der  Meinung  sind,  dass  der  Begriff  der  kate- 
gorischen Imperative  einer  derartigen  Verdeutlichung  durch  den  Be- 
griff der  hypothetischen  Imperative  nicht  bedürfe,  oder  gar,  dass  der 
Begriff  der  hypothetischen  Imperative  zur  Verdeutlichung  des  Begriffs 
der  kategorischen  Imperative  nicht  geeignet  sei,  so  werden  sie  sich 
der  Aufgabe  nicht  entziehen  können,  die  Kritik,  welche  sie  damit 
an  den  Ausführungen  Kants  üben,  zu  begründen  und  die  Unzuläng- 
lichkeit des  Begriffs  der  hypothetischen  Imperative  im  Hinblick  auf 
den  von  Kant  verfolgten  Zweck  zu  erw^eisen. 


Der  Begriff  der  „hypothetischen  Imperative"  in  der  Ethik  Kants.      233 

Bei  genauerer  Untersuchung  des  Begriffs  der  hypothetischen 
Imperative  ergiebt  sieh  freilich,  dass  die  angegebene  Absicht  nicht 
das  Motiv  gewesen  sein  kann,  von  dem  aus  Kant  zur  Nebeneinander- 
stellung der  hypothetischen  und  der  kategorischen  Imperative  ge- 
kommen ist.  Zur  Verdeutlichung  des  Begriffs  der  kategorischen  Im- 
perative wäre  allerdings  der  Begriff  der  hypothetischen  Imperative 
so  ungeeignet  wie  nur  irgend  möglich.  Ist  doch  von  beiden  Begriffen 
der  Begriff  der  kategorischen  Imperative  an  sich  deutlich  genug, 
während  der  Begriff"  der  hypothetischen  Imperative  keineswegs  ohne 
weiteres  verständlich,  sondern  —  wie  schon  die  darauf  bezüglichen 
Ausführungen  Kants  beweisen  —  mit  gewissen  Schwierigkeiten  be- 
haftet ist.  Auf  der  anderen  Seite  ist  das  Motiv,  durch  welches  Kant 
zur  Vergleichung  der  kategorischen  und  der  hypothetischen  Imperative 
veranlasst  worden  ist,  für  das  Ganze  der  Kantischen  Ethik  von  so 
grosser  Bedeutung,  dass  man  —  wenn  man  einmal  dies  Motiv  er- 
kannt hat  —  unmöglich  die  Ansicht  teilen  kann,  als  wäre  der  Be- 
griff der  hypothetischen  Imperative  ein  wertloser  und  überflüssiger 
Begriff.  Den  Gedankengang  der  Kantischen  Ethik  kann  man  aller- 
dings auch  ohne  Kücksicht  auf  diesen  Begriff  verstehen,  und  das 
Verständnis  der  Kantischen  Terminologie  hängt  ebenso  wenig  von 
dem  Begriff  der  hypothetischen  Imperative  ab.  Aber  für  die  Kritik, 
für  die  Beantwortung  der  kritischen  Hauptfrage:  woher  es  kommt, 
dass  Kant  trotz  seiner  Lehre  vom  kategorischen  Imperativ  und  trotz 
seiner  Lehre  von  der  Freiheit  in  der  wissenschaftlichen  Erkenntnis 
des  Sittlichen  über  dürftige  Abstraktionen  nicht  hinausgelangt  ist,  — 
für  die  Beantwortung  dieser  Hauptfrage  der  Kritik  bietet  gerade  der 
Begriff  der  hypothetischen  Imperative  einen  wichtigen  und  wertvollen 
Fingerzeig. 

Die  Untersuchung  des  Begriffs  der  hypothetischen  Imperative 
hat  es  naturgemäss  mit  einer  doppelten  Aufgabe  zu  thun.  Sie  hat 
erstens  den  Begriff  der  hypothetischen  Imperative  darzulegen,  und 
sie  hat  zweitens  die  Bedeutung  festzustellen,  welche  der  Begriff 
der  hypothetischen  Imperative  für  die  Kantische  Ethik  hat. 

1.  über  das,  was  Kant  mit  dem  Begriff  der  hypothetischen  Im- 
perative meint,  hat  er  sich  in  der  ,,  Kritik  der  praktischen  Vernunft" 
nur  sehr  kurz  ausgesprochen.  In  dem  ersten  Paragraphen  dieser 
Schrift  giebt  er  nämlich  im  Anschluss  an  seine  Unterscheidung  der 
praktischen  Grundsätze,  die  er  in  Maximen  und  praktische  Gesetze 
einteilt,  eine  Dt-linition  der  Imperative  überhaupt:  ein  Imperativ  ist 
„eine  Regel,    die  durch  ein  Sollen,    welches    die  objektive  Nötigung 

Kantätudiea  IV.  16 


der    llamiluii^'    ausdruckt,    Lc/i-iclnu-l    wird"    i\.     JtM.'i     Auf    difsr 
Detinition    der  Imperative   lUx'rliaupt  tolirt  sodann  die   Kintcilimi:-  der 
Imperative    in  hypothetisehe   und   Uatej^oriselu'    Imperative:   liy|t(ttlieli- 
sehe   Imperative    sind    scdelie.    welehc   „nieiit   dm    W  illni  Heldeelillnn. 
sondern  nur  in  Anstduiui:  einer  bejrehrten  Wirkuni;  liestimmen";   kate- 
•rorisehe   Imperative    da;;e,ir<'n    ..müssen  den   Willen   als   Willen,    noeh 
ehe  ich  tVaire,  oh   ieh  irar  das  /u   einer  he^^ehrten   Wirkung'  erlordei- 
liehe  Vermöjren    halte,    oder  was  mir,   um  diese  hervor/.uhrinjren,    /u 
thuii  sei.  hinreiehend  bestimmen"  (ib.).  —  Zur  Verdeutlichung:  dieser 
rnterscheidunj:    nennt    Kant    als    Beispiel    eines    hypothetischen   Im- 
perativs   den  Satz,    dass    man    in    der  .)u<rend    arbeiten    und    sparen 
müsse,    um    im  Alter    nicht    /u    darben,    während    ein   katej^^orischer 
Imperativ    enthalten  ist    in    dem  Satz,    man    solle  niemals  liifrenhaft 
versprechen.     Der    hypothetische  Imperativ   enthält   „zwar  auch  Not- 
wendifrkeit    (denn  ohne  das  wäre  er  kein  Imperativ),    aber  diese  ist 
nur    subjektiv    bedinj^t"':    der    Wille    wird    auf    etwas    anderes    ver- 
wiesen, wovon  man  voraussetzt,    dass  er  es  begehre.     Der  katejjori- 
sche  Imperativ  dairefren  ist  eine  Regel,  die  bloss  den  Willen  betriff't: 
,,ilie  Absichten,  die  der  Mensch  haben  mag,  mögen  durch  denselben 
erreicht  werden  können  oder  nicht;  das  blosse  W^ollen   ist  das,    was 
durch  jene  Regel  völlig  a  priori  bestimmt  werden  soll"  (V,  21). 

In  ilbereinstimmung    mit   diesen  Sätzen  hat  sich  Kant  schon  in 
der  ..Grundlegung    zur  Metaphysik  der  Sitten"  über  den  Begriff  der 
hypothetischen  Imperative    geäussert.     Aach    hier  beginnt  er  wieder 
mit    einer  Bestimmung    des  Begriffs  der  Imperative  überhaupt:    ,,die 
Norstellung    eines    objektiven   Prinzips,    sofern    es    für    einen  Willen 
nötigend    ist,    heisst    ein  Gebot    und    die  Formel    des  Gebots   heisst 
Imperativ.     Alle  Imperative    werden"    dem  gemäss  „durch  ein  Sollen 
ausgedrückt"  (IV, 261).   Sie  zerfallen  in  hypothetische  und  kategorische 
Imperative.     Die    hypothetischen  Imperative    „stellen    die   praktische 
Notwendigkeit  einer  möglichen  Handlung  als  Mittel  zu  etwas  anderem, 
was    man    will    (oder   doch  möglich  ist,  dass  man  es  wolle),  zu  ge- 
langen   vor.     Der    kategorische  Imperativ    würde   der  sein,    welcher 
eine  Handlung  als  für  sich  selbst,  ohne  Beziehung  auf  einen  anderen 
Zweck,  als  objektiv-notwendig  vorstellte"  (IV,  262).    Im  Unterschied 
von  der  „Kritik  der  praktischen  Vernunft"  geht  dann  aber  die  „Grund- 
legung"   auf  die  hypothetischen  Imperative  ausführlicher  ein,    indem 


1)  Die  Zitate  beziehen  sich  auf  die  zweite  Hartensteinsche  Ausgabe,  1867/68, 
8  Bände. 


Der  Begriff  der  „hypothetischen  Imperative"  in  der  Ethik  Kants.      235 

sie  dieselben  wieder  in  zwei  Gnippen  teilt:    „Der  hyjjothetisehe  Im- 
perativ   sagt    nur,    dass    die  Handhing    zu    irgend    einer  [entweder] 
möglichen    oder    wirklichen  Absicht  gut  sei.     Im  ersteren  Falle 
ist  er  ein   problematisch,    im   zweiten  [ein]   assertorisch-prakti- 
sches Prinzii)"(  IV',  262/3);  im  ersteren  Falle  kann  man  die  hypothetischen 
Imperative    als    Regeln    der  Geschicklichkeit,    im    zweiten  Falle    als 
Katschläge  der  Klugheit  bezeichnen  (IV.  204).    Bei  den  Kegeln  der  Ge- 
schicklichkeit handelt  es  sich  um  eine  praktische  Vorschrift,    welche 
eine  Handlung    als    notwendig  hinstellt,    um  irgend  eine  dadurch  zu 
bewirkende    mögliche   Absicht  zu  erreichen.     „Ob  der  Zweck  ver- 
nünftig und  gut  sei,  davon  ist  hier  gar  nicht  die  Frage,  sondern  nur, 
was    man    thun    müsse,    um   ihn  zu  erreichen.     Die  Vorschriften  für 
den  Arzt,    um    seinen  Mann    auf  gründliche  Art  gesund  zu  machen, 
und  für  einen  Giftmischer,  um  ihn  sicher  zu  töten,  sind  insofern  von 
gleichem  Wert,    als    eine  jede  dazu  dient,    ihre  Absicht  vollkommen 
zu  bewirken"  (IV,  263).    Bei  den  Katschlägen  der  Klugheit  dagegen 
handelt  es  sich  um  einen  hypothetischen  Imperativ,  der  die  praktische 
Notwendigkeit  vorstellt,  nicht  im  Hinblick  auf  irgend  einen  beliebigen, 
imr  möglichen  Zweck,  sondern  im  Hinblick  auf  einen  ganz  bestimmten 
Zweck,    „den  man  bei  allen  vernünftigen  Wesen  als  wirklich  vor- 
aussetzen kann-',    nämlich    im  Hinblick  auf  die  Glückseligkeit.     Die 
Ratschläge  der  Klugheit  beziehen  sich  also  nicht  auf  eine  bloss  mög- 
liche Absicht,  sondern  auf  eine  Absicht,  „die  man  sicher  und  a  priori 
bei  jedem  Menschen   voraussetzen  kann,    weil  sie  zu  seinem  Wesen 
gehört."     Insofern  sind  sie  nicht  wie  die  Kegeln  der  Geschicklichkeit 
problematisch,  sondern  assertorisch.     Ebenso  wie  bei  den  Kegeln  der 
Geschicklichkeit    bezieht    sich    aber    auch    bei    den  Katschlägen   der 
Klugheit    der  Imperativ  auf   eine  Handlung,    die    „nicht  schlechthin, 
sondern    nur    als   Mittel    zu    einer    anderen  Absicht    geboten'*    würd. 
Insofern  sind  also  die  Katschläge  der  Klugheit  ebenso  wie  die  Kegeln 
der  Geschicklichkeit  hypothetische  Imperative  (IV,  264). 

Diese  Ausführungen  der  „Grundlegung*'  kommen  also  im  wesent- 
lichen auf  dasselbe  hinaus,  wie  die  entsprechenden  Ausführungen 
der  ..Kritik  der  praktischen  Vernunft";  sie  unterscheiden  sich  von 
den  letzteren  nur  dadurch,  dass  sie  den  Begriff  der  hypothetischen 
Imperative  genauer  präzisieren,  indem  sie  als  besondere  Arten  der 
hypothetischen  Imperative  die  Kegeln  der  Geschicklichkeit  und  die 
Ratschläge  der  Klugheit  nennen. 

Auf  den  ersten  Blick  könnte  man  meinen,  dass  diese  Differenz, 
welche    zwischen    den  beiden  ethischen  Hauptwerken  Kants  besteht, 

16* 


230  ^'arl  StaiiKo, 

ohne  ji'ili'  Ht'ileutunp  st'i.  Wie  Kant  tlbrrliaupt  in  dm  ersten  Pura- 
^rrajiben  der  ..Kritik"'  das  in  der  .idrundle^niii-r"  NOr^etra^^'iie  uiir 
kur/,  wieilerliolt.  so  seheiiien  aucli  die  Aussaf::en.  welehe  er  in  der 
..Kritik"  Uher  die  li\  pothetisclu'n  Imperative  tliut.  nur  eine  kurze 
Kekajjitulation  des  in  der  „Cirundiefiun;;"  (lesajrten  sein  /.ii  stdlen. 
Wenn  Kant  daher  jene  Kinteihnifr  der  hypdthetisehen  Imperative  in 
Keireln  der  Gesciiiekliehkeit  und  Katschlä}::»'  der  Kln^i'heit  in  der 
..Kritik"  nieht  wiederholt,  so  erklärt  sich  das  einfach  aus  der  f^e- 
riujreren  Ausl'ilhrliehkeit  dieser  Schrift.  Von  einer  sachlichen  DilVe- 
reuz  dagejren  scheint  deshalb  noch  nicht  geredet  werden  /,u  müssen. 

Bei  genauerer  \'er;rleichun;;-  heider  Schriften  /eijrt  sich  indessen, 
dass  die  Wej;lassung  jener  Kinteilung-  der  hypothetischen  Imperative 
doch  keine  zufällige  ist.  Die  DilVerenz,  welche  in  der  Beurteilung 
der  hypothetischen  Imperative  zwischen  der  ..Grundle^^un^"  und  der 
„Kritik"  zutage  tritt,  erklärt  sich  vielmehr  daraus,  dass  Kant  über 
jene  Einteilung  der  hypothetischen  Imperative  im  Jahre  1788  anders 
dachte,  als  im  Jahre  1785,  dass  er  in  der  „Kritik"  den  Begriti"  der 
hyi)othetischen  Imperative  anders  verstand  als  in  der  „Grundlegung". 

Zum  Beweis  dieser  Behaujjtung  verweise  ich  auf  eine  gelegent- 
liche Bemerkung,  die  Kant  in  der  „Grundlegung"  macht  und  die 
zwar  an  sich  ziemlich  unwichtig  ist,  in  der  Vergleichung  nnt  anderen 
Aussagen  Kants  aber  doch  eine  gewisse  Bedeutung  erlangt.  Im 
Auschluss  au  die  Unterscheidung  der  beiden  Arten  von  hypothetischen 
Imperativen  und  der  kategorischen  Imperative  sagt  nändich  Kant: 
„man  könnte  die  ersteren  Imperative  [die  Kegeln  der  Geschicklich- 
keit] auch  technisch,  die  zweiten  [die  Katschläge  der  Klugheit]  prag- 
matisch, die  dritten  [die  Imperative  der  Sittlichkeit]  moralisch  nennen" 
(IV,  265j.  Mit  dieser  Bemerkung,  die,  wie  gesagt,  an  sich  zienüich  un- 
wichtig ist,  vergleiche  man  nun  die  Randbemerkung,  welche  Kant 
in  der  „Kritik"  zur  zweiten  Anmerkung  des  zweiten  Lehrsatzes  macht. 
Es  heisst  dort  (V,  27):  „Sätze,  welche  in  der  Mathematik  oder 
Naturlehre  praktisch  genannt  werden,  sollten  eigentlich  technisch 
heisseu.  Denn  um  die  Willensbestimmung  ist  es  diesen  Lehren  gar 
nicht  zu  thun;  sie  zeigen  nur  das  Mannigfaltige  der  möglichen  Hand- 
lung an,  welches  eine  gewisse  Wirkung  hervorzubringen  hinreichend 
ist,  und  sind  also  ebenso  theoretisch,  als  alle  Sätze,  welche  die  Ver- 
knüpfung der  Ursache  mit  einer  Wirkung  aussagen".  \'ergleicht 
man  diese  Randbemerkung  der  „Kritik"  mit  jener  gelegentlichen 
Bemerkung  der  „Grundlegung",  so  ergiebt  sich  der  Schluss:  wenn 
die  Regeln  der  Geschicklichkeit  technisch  sind,  und  wenn  technische 


Der  Begriff  der  „hypothetischen  Imperative*'  in  der  Ethiic  Kants.      237 

Lehren  nicht  eierentlich  praktische,  sondern  theoretische  Sätze  sind, 
so  sind  auch  die  Kegeln  der  Creschicklichkeit  nicht  ])raktische  Prin- 
zipien und  folfreweise  auch  nicht  Imperative.  In  der  That  hat  Kant 
selbst  in  der  ..Kritik"  diese  Fol^'crunir  gezog:en.  In  dem  Satz  näm- 
lich, aof  den  sich  Jene  Kandbemerkung  bezieht,  sagt  er  (V,  26  f.): 
,,Prinzipien  der  Sell)stliebe  können  zwar  allgemeine  Kegeln  der  Ge- 
schicklichkeit (Mittel  zu  Absichten  auszufinden)  enthalten;  alsdann 
sind  es  aber  bloss  theoretische  Prinzipien".  Die  Regeln  der 
Geschicklichkeit  sind  also  für  ihn  nicht  mehr  |)raktische,  sondern 
theoretische  Prinzipien.  Sie  gehören  nicht  mehr  —  mit  den  Rat- 
schlägen der  Klugheit  zusammen  —  za  den  hypothetischen  Impera- 
tiven. Die  Unterscheidung  der  hypothetischen  Imperative  in  Regeln 
der  (xeschicklichkeit  und  in  Ratschläge  der  Klugheit  ist  vielmehr  in 
der  ..Kritik"  aufgegeben:  die  ..Kritik''  kennt  nur  noch  eine  Art  von 
hypothetischen  Imperativen. 

Wenn  damit  bewiesen  ist,  dass  in  der  Beurteilung  der  hypothe- 
tischen Imperative  sich  bei  Kant  eine  Wandlung  vollzogen  hat,  dass 
also  für  Kant  sell)st  mit  diesem  Begrifi  sich  gewisse  Schwierigkeiten 
verbinden,  so  dürfte  nun  weiterhin  umsomehr  die  Frage  untersucht 
werden  müssen:  ob  denn  die  Kantische  Lehre  von  den  hypothetischen 
Imperativen  in  der  korrigierten  Gestalt,  in  der  sie  in  der  ., Kritik'' 
nns  begegnet,  haltbar  ist.  Das  Problem,  um  das  es  sich  handelt, 
gestaltet  sich  zu  der  Frage,  ob  denn  die  sogenannten  Ratschläge 
der  Klugheit  als  hypothetische  Imperative  zu  betrachten  sind,  wenn 
sich  herausgestellt  hat,  dass  die  Regeln  der  Geschicklichkeit  keine 
hypothetischen  Imperative  sind. 

Geht  man  zunächst  von  den  Aussagen  aus.  durch  welche  Kant 
in  der  „Grundlegung*^'  das  Verhältnis  der  Ratschläge  der  Klugheit 
zu  den  Regeln  der  Geschicklichkeit  bestimmt  hat,  so  erscheinen  in 
diesen  Aussagen  beide  Arten  von  hypothetischen  Imperativen  so  eng 
mit  einander  verbunden,  dass  man,  wenn  die  Regeln  der  Geschick- 
lichkeit als  theoretische  Prinzipien  erkannt  sind,  nicht  umhin  kann, 
die  Ratschläge  der  Klugheit  ebenfalls  für  theoretische  Prinzipien  zu 
halten.  Heide  Arten  der  sogenannten  hypothetischen  Imperative  sagen 
aus,  dass  eine  Handlung  zu  einer  bestimmten  Absicht  gut  sei  (IV,  262/3). 
Der  Unterschied  besteht  nur  darin,  dass  bei  den  Regeln  der  Geschick- 
lichkeit diese  Absicht  bloss  als  möglich,  bei  den  Ratschlägen  der 
Klugheit  dagegen  als  wirklich  vorhanden  gedacht  wird  (ib.).  Das 
Verhältnis  aber,  in  df-ni  die  vorgestellte  Absicht  zum  Willen  des 
Handelnden  steht,  kann  doch  uimiöglich  die  Beschatfenheit  der  Regel 


v>3S  Tarl    Stniif^o, 

äiulrrii.  Die  Ki'jrcl  ist  viclmdir  Ihm  hcidcii  Arliii  \<iii  li\  putlirtischcii 
lin|)frati\t'ii  vtui  »It-rsclIxMi  Art.  Sic  riilil  sownlil  lui  den  lü'^^i'lii 
(l.r  (irsi'hii'klii'liki'it  (^virl.  1\  .  Jti^l  wi«'  '»»'i  «It'ii  liiitscliliip-ii  der  Klii};- 
luit  (vjrl.  1\.  iMii;)  :uit  (ItMii  S;it/:  „wer  den  Zweck  will,  will  :iiu'li  das 
da/.u  uinMitbolirlicli  iiolwriidip'  Mittrl,  das  in  scinrr  (irwalt  ist." 
Aller  ireraile  dieser  ..anah  tiselie  Satz",  der  ans  dem  \\  njleii  der 
Wirkunir  auch  die  Notwemiij^keit  der  /.u  dieser  Wirkim^^  erlorder- 
liehen  llandluni:  fcdirert  ( I\  .  Jt;.")!,  ist  als  eine  .\  erknUiJl'uiiir  <ler  l Ursache, 
mit  einer  \N  irkunj;"  ein  theoretiselier  Sat/,:  tnl-licli  iiillssten  auch 
nicht  bloss  die  Kcireln  der  (ieschicklichkeit,  sondern  ebenso  auch 
die  Katschläjre  der  Kluii-heit  nicht  niehr  als  Imperative  betrachtet 
werden. 

Demg:eg:euüber    ist    nun    al)er    zu    beachten,    dass  Kant    in    der 
„Kritik"    das   \  t-rhältnis  der  Katschläge  der  Klu.üheit  zu  den   Kegeln 
der  Geschicklichkeit  anders  als  in  der  .^Grundlegung"  bestimmt.     Kr 
stellt  nicht  mehr  beide  nebeneinander,  sondern  er  ordnet  die  Kegeln 
der  Geschicklichkeit,  welche  aufgehört  haben,  hypothetische  Impera- 
tive zu  sein,    den  hypothetischen  Imperativen   unter.     Die  hy|)Otheti- 
schen    Imperative    „enthalten"    Vorschriften    der    Geschicklichkeit 
(V,  20,  27);  sie    „gründen    sich"    auf    allgemeine  Kegeln   der  Ge- 
schicklichkeit (V,  -27).     Obwohl    sie    aber    auf   den  Kegeln   der  Ge- 
schicklichkeit als   theoretischen  Sätzen  ruhen,    sind  die  hypotheti- 
schen Imperative  selbst  doch  „praktische  Vorschriften"  (V,  20,  21,  27). 
Dieser  Unterschied    in    der  Bedeutung,    welche    den  Kegeln  der 
Geschicklichkeit  und  den  Katschlägen  der  Klugheit,  resp.  den  hypo- 
thetischen Imperativen  der  „Kritik"  zukommen  soll,    kann  selbstver- 
ständlich   seinen  Grund    haben    nur    in    dem,    was  den  begritflichen 
Unterschied  zwischen  beiden  ausmacht.     Der  begriffliche  Unterschied 
zwischen  beiden  ist  aber,  wie  wir  gesehen  haben,    lediglich  dadurch 
bedingt,    dass    es  sich  bei  den  Kegeln  der  Geschicklichkeit  um  eine 
bloss  mögliche,    bei   den  Katschlägen  der  Klugheit  dagegen  um  eine 
wirklich    vorhandene    Absicht    handelt.     Die  Beziehung    der  Absicht 
auf  den  Willen  des  Handelnden  scheint  also  doch  für  die  Beurteilung 
der  Katschläge  der  Klugheit  als  hypothetischer  Imperative  massgebend 
zu  sein. 

An  einer  bestimmten  Äusserung  über  diese  Frage  fehlt  es  aller- 
dings in  der  „Kritik-'.  Wenn  aber  bei  der  Erörterung  der  hypothe- 
tischen Imperative  ihre  Eigentümlichkeit  darin  gefunden  wird,  dass 
sie  den  Willen  „in  Ansehung  einer  begehrten  Wirkung  bestimmen" 
(V,  20),    dass    „der  Wille    auf  etwas  anderes  verwiesen  werde,  wo- 


Der  Begriff  der  „hypothetischen  Imperative"  in  der  Ethik  Kants.      239 

von  man  voraussetzt,  dass  er  es  begehre"  (V,  21),  so  bekommt  mau 
doch  den  Eindruck,  als  ob  Kant  die  Ratschläge  der  Klugheit  deshalb 
als  praktische  Prinzipien  beurteilt,  weil  sie  nicht  bloss  im  Hinblick 
auf  eine  nur  mögliche  Absicht  eine  Handlung  vorschreiben,  die  dem- 
zufolge auch  nur  eine  mögliche  Handlung  ist,  sondern  weil  sie  im 
Hinblick  auf  eine  ganz  bestimmte,  wirklich  vorhandene  Absicht  eine 
Handlung  vorschreiben  und,  indem  sie  für  diese  Absicht  das  Mittel 
zu  ihrer  Verwirklichung  aufzeigen,  in  der  That  einen  Einfluss  auf 
den  handelnden  Willen  gewinnen.  Die  Katschläge  der  Klugheit 
können  als  praktische  Vorschriften  bezeichnet  werden,  weil  durch 
sie  ein  wirkliches  Wollen  in  bestimmter  Weise  beeinflusst  wird. 

Indessen,  wenn  das  die  Meinung  Kants  in  der  ,, Kritik"  ist,  so 
bedarf  es  nicht  erst  einer  weitläufigen  Erörterung,  um  festzustellen, 
dass  dieser  l.^nterschied  zwischen  den  Regeln  der  Geschicklichkeit 
und  den  Ratschlägen  der  Klugheit  nicht  das  Recht  giebt,  die  letzteren 
als  praktische  Prinzipien  zu  betrachten,  dass  vielmehr  auch  die  Rat- 
schläge der  Klugheit  und  folglich  alle  sogenannten  hypothetischen 
Imperative  nichts  anderes  als  technische  Vorschriften  sind. 

Dasjenige  nämlich,  was  den  Willen  zur  Handlung  bestimmt, 
ist  auch  bei  den  Ratschlägen  der  Klugheit  nicht  der  Imperativ  oder 
die  Regel,  die  in  ihnen  enthalten  ist,  sondern  das  vorausgesetzte 
Begehren  des  Willens.  Die  Nötigung  zur  Handlung  liegt  ganz  allein 
in  dem  Begehren,  welches  sich  auf  die  durch  die  Handlung  zu  er- 
reichende Wirkung  richtet.  Dagegen  hat  die  Regel  auch  hier  nur 
die  Bedeutung,  den  theoretisch  als  notwendig  erkannten  Zusammen- 
hang zwischen  der  Handlung  und  der  durch  sie  zu  erreichenden  Wir- 
kung zum  Ausdruck  zu  bringen.  Ebenso  wie  bei  den  Regeln  der 
Geschicklichkeit,  giebt  auch  bei  den  Ratschlägen  der  Klugheit  die 
Regel  nur  das  Mittel  an  zur  Erlangung  eines  bestimmten  Zweckes: 
giebt  es  einen  Bestimmungsgrund  zur  Verwirklichung  des  Zweckes, 
so  wird  auch  das  Mittel  verwirklicht  werden  müssen,  da  die  Wirkung 
ohne  die  Ursache  nicht  zu  haben  ist.  Der  Bestimmungsgrund  zuf 
Verwirklichung  der  Ursache  ist  dann  aber  nicht  der  theoretische 
Satz,  dass  diese  bestimmte  Wirkung  von  dieser  bestimmten  Ursache 
abhänge.  Der  Bestimmungsgrund  zur  Verwirklichung  der  Ursache 
ist  vielmehr  eben  der  Bestimmungsgrund,  welcher  zur  Verwirklichung 
des  Zweckes  führt. 

Dass  diese  Argumentation  berechtigt  ist  und  von  den  Voraus- 
setzungen Kants  aus  mit  Notwendigkeit  sich  ergiebt,  lässt  sich  — 
abgesehen  von  der  in  der  Sache  liegenden  Selbstverständlichkeit  — 


•_)40  ViiT\   Staujj^o, 

mit  ;il»solutt'r  SioluTlnit  hrwciscii.  In  di  r  ..Mctapliysik  (ii  r  Sitten" 
luit  niimlii'li  Kant  die  KoiistMiucnz  seiner  \  (»laussetzuiijreii  sellist  jre- 
/Ofrt'ii.  inileni  er  alle  anderen  Imperative  netien  den  katOfrorischen 
als  technisch  bezeichnet  (\  II.  IS  uml  i:i).  Als  teelniiscli-praktisclie 
Lehren  (im  l'nterschied  von  ni(»ralisch-praktiseheii  Lehren)  hiinp-n 
sie  ..irän/.lich  \()n  der  Theorie  der  Natur  al»"  und  lialxMi  nut  dem 
jiraktischen  Teile  der  Philosophie  nichts  /u  tlnm  (\1L  läj.  Oder, 
wie  es  in  der  ..Kritik  der  l'rteilskral't"  heisst:  ..Alle  technisch- 
praktischen  Keireln  (d.  i.  die  der  Kunst  und  (ieschicklichkeit  llher- 
haupt.  oder  auch  der  Kluirheit,  als  einer  Geschicklichkeit,  auf 
Menschen  und  ihren  Willen  Lintluss  zu  haben),  sol'ern  ihre  rriii/.ipien 
auf  BcirritVen  beruhen,  mllssen  nur  als  Korollarien  zur  theoretischen 
i'hilosophie  «rezählt  werden.  Denn  sie  betretfen  nur  die  Möglichkeit 
der  Dinge  nach  NaturbeirritVen.  wozu  nicht  allein  die  Mittel,  die  in 
der  Natur  dazu  anzutretVen  sind,  sondern  selbst  der  Wille  (als  He- 
gehrunjrs-.  mithin  als  Naturvermö<ren)  e:ehört,  sofern  er  durch  Trieb- 
federn der  Natur  Jenen  Keg:eln  j;-emäss  bestimmt  werden  kann"  (V,  1  78). 
Die  ..Kritik  der  Urteilskraft"  und  die  ,.Metaphysik  der  Sitten''  be- 
stätigen also  die  Folgerang,  welche  sich  aus  den  Sätzen  der  „Grund- 
legung'- und  der  .,Kritik  der  praktischen  Vernunft''  ergab:  erstens 
insofern,  als  nicht  mehr  bloss  die  Kegeln  der  Geschicklichkeit,  sondern 
ebenso  auch  die  Ratschläge  der  Klugheit  als  technische  Vorschriften 
beurteilt  werden,  and  zweitens  insofern,  als  diese  technischen  Vor- 
schriften insgesamt  nur  uneigentlich  als  praktisch  bezeichnet  werden, 
weil  sie  in  Wirklichkeit  nichts  anderes  als  theoretische  Sätze  sind. 
Wenn  Kant  trotzdem  diese  technischen  Regeln  auch  in  der  „Meta- 
physik der  Sitten"  noch  Imperative  nennt  und  dieselben  den  kate- 
gorischen Imperativen  gegenüberstellt  (VII,  19),  so  erklärt  sich  das 
aas  der  Thatsache,  dass  die  Wandlung  in  der  Beurteilung  dieser 
Regeln  sich  bei  Kant  sehr  allmählich  vollzog,  und  infolgedessen  es 
ihm  verborgen  bleiben  konnte,  wie  sehr  die  Voraussetzungen,  von 
denen  aus  er  diese  Regeln  als  Imperative  bezeichnet  hatte,  durch 
die  Veränderung  in  der  Beurteilung  derselben  hinfällig  geworden 
waren. 

2.  Die  von  Kant  so  genannten  hypothetischen  Imperative  sind 
also  in  Wirklichkeit  keine  praktischen,  sondern  theoretische  Prinzipien. 
Sie  können  als  praktisch  nur  insofern  bezeichnet  werden,  als  sie 
sich  auf  Handlungen  des  Willens  beziehen,  also  ein  Thun  zu  ihrem 
Gegenstand  haben;  aber  die  Aussagen,  welche  sie  im  Hinblick  auf 
den    handelnden  Willen  enthalten,    sind  rein  theoretischer  Art.     Von 


Der  Begriff  der  „li^ijothetisclien  Imperative'  in  der  Etliil;  Kants.      2-il 

den  Imperativen  als  den  praktischen  Prinzipien  im  eigentlichen  Sinne 
unterscheiden  sie  sieh  dadurch,  dass  sie  nicht  selbst  einen  Bestim- 
mungsgrrund  des  Willens  enthalten,  sondern  —  ohne  Rücksicht  dar- 
ant,  ob  die  Handlun«;  verwirklicht  wird  oder  nicht  —  ledijclich  die 
kausale  Bedino:theit  der  Handlung  zum  Ausdruck  bringen. 

Von  diesem  Ergebnis  aus  scheint  nun  die  zweite  Frage,  die  im 
Hinblick  auf  Kants  Lehre  von  den  hypothetischen  Imperativen  er- 
örtert werden  nmss,  ohne  weiteres  beantwortet  werden  zu  können. 
Wenn  es  nämlich  richtig  ist,  dass  Kant  durch  den  Begrift"  der  hypo- 
thetischen Imperative  lediglich  den  Begrit!'  der  kategorischen  Impe- 
rative hat  deutlicher  machen  wollen,  so  folgt  aus  dem  Ergebnis 
unserer  Untersuchung,  dass  dazu  der  Begriff  der  hypothetischen  Im- 
perative möglichst  ungeeignet  ist.  Dieser  Begriff  der  hypothetischen 
Imperative  bringt  zur  Verdeutlichung  der  kategorischen  Imperative 
nichts  bei,  weil  die  Möglichkeit  einer  Vergleichung  beider  BegriÖe 
dadurch  ausgeschlossen  ist,  dass  es  sich  das  einemal  um  theoretische. 
das  anderemal  um  praktische  Prinzipien  handelt.  Es  scheint  daher 
durchaus  berechtigt  zu  sein,  wenn  die  Interpreten  der  Kantischen 
Ethik  auf  den  Begriff  der  hypothetischen  Imperative  überhaupt  keine 
Rücksicht  nehmen:  weil  es  sich  bei  diesem  Begriff  um  ein  von  Kant 
selbst  nachträglich  korrigiertes  Missverständnis  handelt,  so  thut  man 
am  besten,  diesen  Begriff  bei  der  Darstellung  der  Kantischen  Ethik 
ganz  zu  ignorieren. 

In  Wirklichkeit  liegt  aber  doch  die  Sache  nicht  so  einfach.  Die 
Nebeneinanderstellung  der  hypothetischen  und  der  kategorischen  Im- 
perative hat  für  Kant  doch  nicht  bloss  die  Bedeutung,  dass  durch 
den  Gegensatz  zwischen  beiden  der  unbedingte  Charakter  der  kate- 
gorischen Imperative  deutlich  gemacht  werde.  Je  mehr  vielmehr 
gerade  dieser  unbedingte  Charakter  der  kategorischen  Imperative 
etwas  an  sich  Deutliches  und  unmittelbar  Einleuchtendes  ist,  umso- 
mehr  wird  man  der  Vermutung  Raum  geben  dürfen,  dass  das  Motiv 
für  die  Nebeneinanderstellung  jener  beiden  Begriffe  ein  anderes  ge- 
wesen ist.  Wenn  aber  zur  Verdeutlichung  der  kategorischen  Im- 
perative die  hypothetischen  Imperative  nur  insofern  herangezogen 
werden  konnten,  als  zwischen  beiden  Arten  von  Imperativen  ein 
Gegensatz  bestand,  so  ist  in  dem  Nachweis  von  der  Wertlosigkeit 
der  hypothetischen  Imperative  in  dieser  Beziehung  zugleich  ein  Hin- 
weis darauf  enthalten,  dass  das  Motiv  für  die  Nebeneinanderstellung 
der  beiden  Arten  von  Imperativen  in  dem  gesucht  werden  muss,  was 
beiden  gemeinsam  ist. 


Heide,  die  livpotlietisclien  wie  die  Uatep>rischeii  Imperativ«', 
werden  luiii  /.imiieiisl  n«>ii  K.iiit  al^  liii|>erati\i'  lie/eieliiiet.  d.  Ii.  hei 
lieideii  iiandelt  i's  sieh,  wie  I\,iiit  iiiejnt,  iim  l''()niielii.  durch  wclehe 
ein  Solleu  zum  Ausdruek  pdiracht  wird  is.  u.i.  l-'iir  das  Süllen  ^ieht 
Kant  eine  Krklärun^',  indem  er  durch  dasselhe  ,.das  NCrhältnis  eines 
ol)jekti\eii  (iesel/.es  der  \  erniiidt  /.u  einem  Willen,  der  seiner  sub- 
jektiven liesehalVenlu'it  nach  dadurch  nicht  notwendig:-  hestimmt 
wird",  anp'zeiirt  findet  ii\.  lilU).  Der  Imperaiiv  ..itedeutef.  (hiss, 
wenn  die  \ Crnunl't  den  Willen  ^^In/.licli  hestinnnte,  die  Handlung: 
unausMeililich  nach  dieser  l\e4rol  {geschehen  w  ilrde"  (V,  2(>l.  ..Daher 
{reiten  liir  den  jröttlichen  und  überhaupt  l'ilr  einen  heilijren  Willen 
keim-  Imperative":  ..ein  Nollkommen  ^^uter  Wille  würde  |/Avar|  eben 
sowohl  unter  objektiven  (ieset/.en  (des  (Juten)  stehen,  aber  nicht 
dadurch  als  zu  jresetzmäfsiiren  llandluniren  j;enöti^t  vor^cestellt 
werden  k(»nnen.  weil  er  von  selbst,  nach  seiner  subjektiven  Be- 
schatVenheit.  nur  durch  die  \(»rstellung  des  Guten  bestimmt  werden 
kann"  (1\ .  JGl/^).  Dajj:ei;-en  hat  für  den  menschlichen  Willen  „das 
Gesetz  die  Form  eines  Imperativs,  weil  man  an  jenem  zwar,  als 
vernünftio:em  Wesen,  einen  reinen,  al)er,  als  mit  Bedürfnissen  und 
sinnlichen  Bewegursachen  afliziertem  Wesen,  keinen  heiligen  Willen, 
d.  i.  einen  solchen,  der  keiner  dem  Gesetze  widerstreitenden  Maximen 
fähig  wäre,  voraussetzen  kann"  (V.  84). 

Dasjenige  also,  was  nach  Kant  den  hypothetischen  und  den 
kategorischen  Imperativen  geraeinsam  ist,  soll  erstens  darin  be- 
stehen, dals  durch  beide  ein  Sollen  ausgedrückt  wird,  und  zweitens 
darin,  dass  es  sich  bei  ihnen  eigentlich  um  Gesetze  handelt,  welche 
nur  um  deswillen  in  der  Form  von  Imperativen  auftreten,  weil  sie 
es  mit  einem   ,.pathologisch  affizierten"  Willen  zu  thun  haben. 

Von  diesen  beiden  Merkmalen  kann  nun  selbstverständlich  das 
an  erster  Stelle  genannte  von  den  sogenannten  hypothetischen 
Imperativen  Kants  nicht  mehr  gelten.  Sobald  einmal  erkannt  ist,  dass 
die  Regeln  der  Geschicklichkeit  und  die  Ratschläge  der  Klugheit 
überhaupt  keine  Imperative  sind,  so  kann  natürlich  die  besondere 
Art  der  Nötigung,  welche  den  Imperativen  eigentümlich  ist,  von 
diesen  Regeln  nicht  mehr  ausgesagt  werden.  Sie  können,  weil  sie 
keine  Imperative  sind,  es  nicht  mit  einem  Sollen  zu  thun  haben; 
die  Notwendigkeit,  welche  sie  zum  Ausdruck  bringen,  ist  vielmehr, 
weil  sie  theoretische  Sätze  sind,  eben  die  Notwendigkeit,  welche  allen 
theoretischen  Sätzen  innewohnt,  d.  h.  eine  Notwendigkeit  des  Müssens 
und  nicht  des  Sollens.     Wer  im  Alter    sorgenlos  leben   will,    muss 


Der  Begriff  der  „hypothetischen  Imperative"  in  der  Ethik  Kants.      243 

in  der  Jugend  arbeiten  und  sparen.  Das  ist  nicht  ein  Gebot,  ein 
Imperativ,  sondern  ein  Gesetz,  eine  Formel,  welche  /.wischen  der 
begehrten  Wirkung:  und  ihrer  l'rsache  einen  unausweichlich  not- 
wendigen Zusammenhang  herstellt.  Wird  die  Wirkung  begehrt,  so 
Diu  SS  dieser  Weg  zur  \erwirklichung  derselben  eingeschlagen  werden. 
Unter  der  Voraussetzung,  dass  die  Handlung,  welche  als  Ursache 
einer  begehrten  Wirkung  erkannt  ist.  wirklich  die  zureichende  Ur- 
sache dieser  Wirkung  ist  (was  bei  dem  angeführten  Beispiel  Kants 
allerdings  nicht  zutriti't.  weil  man  ein  sorgenloses  Alter  auch  ohne 
Arbeit  und  Sparsamkeit  haben  kann,  wenn  man  nämlich  ..noch  andere 
Hilfsquellen  ausser  dem  selbst  erAvorbenen  Vermögen"  hat),  —  unter 
der  Voraussetzung  also,  dass  das  kausale  Verhältnis,  um  welches  es 
sich  handelt,  richtig  erkannt  ist,  kommt  der  Regel  auch  diejenige 
Notwendigkeit  zu,  welche  allen  Aussagen  über  den  kausalen  Zu- 
sammenhang des  Geschehens  eigentümlich  ist:  nicht  um  eine  Nötigung 
des  Willens,  sondern  um  eine  Notwendigkeit  des  Geschehens 
handelt  es  sich. 

Mit  um  so  grösserem  Recht  wird  man  dann  aber  jenes  zweite 
Merkmal,  durch  welches  Kant  den  Begriff  der  Imperative  bestimmt, 
als  ein  eigentümliches  Merkmal  der  von  Kant  so  genannten  hypo- 
thetischen Imperative  betrachten  dürfen.  Bei  den  hypothetischen 
Imperativen  Kants  handelt  es  sich  in  der  That  um  Gesetze  und  zwar 
genauer:  um  Gesetze  der  Vernunft.  Dass  in  dieser  Beziehung  die 
Definition  der  Imperative,  welche  Kant  giebt.  auf  die  sogenannten 
hypothetischen  Imperative  zutrifft,  geht  aus  unseren  bisherigen  Er- 
örterungen zur  Genüge  hervor.  Wenn  nämlich  die  sogenannten 
hypothetischen  Imperative  theoretische  Sätze  sind  und  zwar  theoretische 
Sätze,  durch  welche  die  Notwendigkeit  eines  Geschehens  zum  Aus- 
druck gebracht  wird,  so  sind  sie  Gesetze  der  Vernunft,  denn  unter 
einem  Gesetz  der  Vernunft  versteht  man  eine  Formel,  welche  sich 
auf  die  Notwendigkeit  des  Geschehens  bezieht. 

Danach  würde  also  das  Verhältnis,  in  welchem  die  hypothetischen 
Imperative  Kants  zu  dem  Begriff  der  Imperative  überhaupt  sich  be- 
finden, dahin  bestimmt  werden  können,  dass  sie  zwar  nicht  ein  Sollen 
zum  Ausdruck  bringen,  wohl  al)er  als  Gesetze  betrachtet  werden 
müssen.  Das  an  erster  Stelle  von  Kant  genannte  Merkmal  der 
Imijerative  überhaupt  (nämlich  das  Sollen)  darf  von  den  Regeln  der 
Geschicklichkeit  und  den  Ratschlägen  der  Klugheit  nicht  ausgesagt 
werden,  sondern  gilt  allein  von  den  sogenannten  kategorischen  Im- 
perativen.    Dagegen  findet  das  an  zweiter  Stelle  genannte  Merkmal 


244  ("jirl   Sianm*, 

der  linporativc  llln-rhaupt  idass  sie  niimlii'li  rtcsct/c  der  Nrniiinft 
sind'  in  d(T  That  auf  die  s»»irciianntt'ii  li\  luitlictistdicii  liii|iri;itivi^ 
Amvi'nduiii:. 

Ist  nun  aller  dies  Krfrehnis  riehtii:.  sd  drän;rt  sieh  weiterhin  die 
Krajre  auf.  nh  niclit  der  (Jeirensat/.  di-r  bei  di-r  rntcrsucluini:-  der 
hypotlu'tiselitii  Imperative  /wisciien  diin  He^'rilV  des  lniperati\s  und 
dem  BefrrilV  des  (iesi'tzes  konstatiert  worden  ist.  aiu'li  für  die  He- 
urteiluni:  der  katt'irorischen  Imperative  von  l^edeutuiifr  ist.  Wenn 
Kant  in  den  He^^it^"  der  Imperative,  unter  den  sowohl  die  h\  po- 
theiischen  wie  die  kateirorisehen  Imiierative  fallen  sollen,  im  ilinhliek 
auf  die  katejro  risehen  Imperative  das  Merknia!  des  Sollens  auf- 
srononunen  hat.  oltwohl  dies  Merkmal  auf  die  hy|)othetischen  lm|ierative 
nieht  passt.  hat  er  dann  nieht  vielleicht  die  Bestimmung:,  dass  die 
Imperative  Gesetze  der  Vernunft  sind,  in  den  Hegriti"  der  Imperative 
aufirenommen  im  Hinl)liek  auf  die  h  xpotlietischen  Imperative,  ob- 
wohl diese  Bestinnnun^'  ire^entiber  den  kateirorisehen  Imperativen 
keinen  Sinn  hat?  M.  a.  W.:  wenn  die  hypothetischen  Imjierative 
/war  Gesetze  der  Vernunft,  aber  nicht  Imperative  sind,  gilt  dann 
nicht  vielleicht  von  den  kategorischen  Imperativen,  dass  sie  zwar 
Imperative,  aber  nicht  Gesetze  der  Vernunft  sind? 

Wenn  man  erwägt,  welche  Bedeutung  dieser  Satz,  dass  die 
kategorischen  Imperative  Gesetze  der  Vernunft  sind,  für  das  System 
der  Kantischen  Ethik  hat,  wenn  man  bedenkt,  dass  nicht  bloss  die 
Lehre  von  der  Freiheit  als  der  Autonomie  der  praktischen  Vernunft 
und  ebenso  die  sogenannte  Typik  der  Urteilskraft,  sondern  nicht 
minder  auch  die  Lehre  von  den  Postulaten  der  praktischen  Ver- 
nunft, d.  h.  aber:  der  ganze  Aufbau  der  Kantischen  Ethik,  von  der 
Richtigkeit  dieses  Satzes  abhängig  ist,  so  wird  man  die  Wichtigkeit 
der  gestellten  Frage  begreifen.  Die  Erörterung  dieser  Frage  aber 
im  Zusammenhang  mit  der  Kritik  der  hypothetischen  Imperative  an- 
zustellen, ist  man  nicht  bloss  um  deswillen  berechtigt,  weil  die  De- 
finition der  Imperative  das  einzige  von  Kant  ausdrücklich  geltend 
gemachte  Argument  für  die  Beurteilung  der  kategorischen  Imperative 
als  Gesetze  der  Vernunft  ist,  sondern  insbesondere  auch  um  des- 
willen, weil  das  Motiv  für  die  Nebeneinanderstellung  der  hypo- 
thetischen und  der  kategorischen  Imperative  gefunden  sein  würde, 
wenn  es  richtig  ist,  dass  die  Begriffe  des  Imperativs  und  des  Ge- 
setzes an  sich  in  einem  unzweideutigen  Gegensatz  zu  einander  stehen, 
und  infolgedessen  die  Bezeichnung  der  kategorischen  Imperative  als 
Gesetze    der  Vernunft    nur    möglich    ist,    nachdem    der    Begriff    der 


Der  Begriflf  der  .,hypüthetischen  Imperative''  ia  der  Ethik.  Kants.      245 

Imperative    durch    die   Subsumierung    der  hypothetischen  Imperative 
unter  denselben  mit  dem  Begriff  der  Gesetze  konfuiidiert  worden  ist. 
Auf  die  Frage   nach  dem  begrifflichen  N'erhältnis  der  Imperative 
zu    den  Gesetzen    lässt    sich    nun    aber  die  Antwort  am  einfachsten 
dadurch    gewinnen,    dass    man    im  Gegensatz  zu  Kants  sogenannten 
hypothetischen  Imperativen    diejenigen  Merkmale   festzustellen  sucht, 
durch    welche    der  Begriff    eines   hypothetischen  Imperativs  gebildet 
werden  würde,  wenn  man  diesen  Begriff  richtig  bestimmen  würde.    In 
der  That  ■  giebt  es  nämlich  nel)en  Kants  sogenannten  hypothetischen 
Imperativen    auch    wirkliche    hypothetische  Imperative.     Wenn  z.  B. 
jemand    zu  seinem  Freunde  sagt:    falls  du  mir  einen  Freundschafts- 
dienst erweisen  willst,  sollst  du  für  mich  dies  oder  das  thun,  so  ist 
das    ein    wirklicher    hypothetischer    Imperativ.      Ebenso    ist    es    ein 
hypothetischer   Imperativ,    wenn    der  Staat    die  Forderung  aufstellt, 
dass  jeder,  der  Bürger  des  Staates  sein  will,  für  die  Erhaltung  und 
Verteidigung    des  Staates  mit  ganz  bestimmten  Leistungen  eintreten 
soll.   In  beiden  Fällen  handelt  es  sich  um  einen  Imperativ,  d.  h.  um 
eine  Forderung,    und  zwar    um    eine  Forderung,    die    mit  Rücksicht 
auf   eine  vorhandene  Absicht  aufgestellt  wird,    also  hypothetisch  ist. 
Diese    hypothetischen  Imperative   unterscheiden  sich  aber  von  Kants 
hypothetischen    Imperativen    dadurch .    dass    sie    erstens    keine    all- 
gemeinen   Kegeln    enthalten.     Wollte    man    z.   B.   den  zweiten   Satz 
verallgemeinern  und  sagen:  wenn  du  Bürger  eines  Staates  sein  willst, 
so    musst    du    bestimmte   Leistungen  für  den   Staat  übernehmen,  so 
wäre   damit  zwar  eine  theoretische  Aussage  über  die  Notwendigkeit 
des  Gehorsams  gegen  den  Staat  gegeben,  aber  diese  Aussage  würde 
nicht  mehr  das  für  den  Imperativ  wesentliche  Merkmal  der  Nötigung 
zum  Ausdruck  bringen.    Die  Verallgemeinerung  des  Imperativs  würde 
zur  Aufhebung  des  Imperativs  führen.     Ausserdem  aber  —  und  das 
ist    das    zweite,    wodurch    die   wirklichen   hypothetischen  Imperative 
sich   von   den  Kantischen  unterscheiden  —   ist  auch  der  Zusammen- 
hang, welcher  zwischen  der  gebotenen  Handlung  und  der  Bedingung, 
unter  welcher  die  Handlung  geboten  wird,  besteht,  nicht  ein  aus  der 
Sache  selbst  sich  notwendig  ergebender  Zusammenhang,  sondern  ein 
lediglich  durch  die  Willkür  des  Gebietenden  hergestellter  Zusammen- 
hang.    In    dem  Wunsche,    einem    Freunde    eine  Gefälligkeit    zu    er- 
weisen, liegt  durchaus  keine  Bestimmung  darüber,  wie  die  Gefällig- 
keit ausfallen  soll.     Und  in  dem  Wunsche,  Bürger  eines  Staates  zu 
sein,    liegt    durchaus    keine   Bestimmung    darüber,    wie    die  Gesetze 
dieses  Staates  beschaffen  sind.    Der  Zweck,  im  Hinblick  auf  welchen 


.).j^;  Carl   Stnnpo, 

die  llandlnnir  irel)(>tcn  uinl.  liat  an  sich  mit  ili'V  IIiindliinL'  irar  nichts 
/u  tlmn.  Ks  ist  \  iclniflii-  It-di-licli  der  Willo  des  (icliictcndcn.  der 
die  Krreioluinj:  di's  Zwri'ki's  xon  dieser  hestimniten  Handlung'  ah- 
häniriL'  inaelit.  M  a.  W.:  die  wirklielien  liypotlietisclien  Imperative 
unterseheiden  sieii  von  den  Kantiselien  erstens  dadurch,  dass  sie 
immer  eine  Nötiiruiii:  enthalten,  während  die  Kaiitisclien  als  (Jesetze 
lediirlich  theoretische  Aussa-ren  sind  und  den  Willen  in  keiner  Weise 
affi/ieren;  und  /.weitons  dadurch,  dass  sie  nicht  wie  die  Kantischen 
ein  Kausalitätsverhältnis,  d.  h.  die  Notwendiirkeit  des  Zusannnen- 
hanires  zwischen  llandluni:  und  Zweck  .  /um  Ausdruck  l)rin<r('n, 
sondern  den  Grund  für  den  thatsächlich  vorhandenen  Zusamincuhan}; 
zwischen  Handlung:  unil  Aiisicht  in  die  Willkür  eines  <rehietenden 
Willens  verleg:en. 

Daraus  eririebt  sich,  dass  Imperative  überhaujit  niemals  Gesetze 
sein  oder  werden  kinnien.  Die  jrenannten  beiden  Merkmale  nämlich, 
durch  welche  die  wirklichen  hypothetischen  Imperative  von  den 
Kantischen  sich  unterscheiden,  sind  nicht  etwa  besondere  Merkmale 
der  hypothetischen  Imperative,  sondern  wesentliche  Merkmale  der 
Imperative  überhaupt.  Es  ist  konstitutiv  für  den  Be-rritif'  der  Im- 
perative, dass  sie  in  der  Form  einer  Willensnötifrung  auftreten,  und 
dass  ihr  Inhalt  aus  der  Willkür  eines  frebietenden  W^illens  fliesst. 
Allerdinsrs  wird  die  Wlllensnötifrunjr  stärker  oder  schwächer  empfunden, 
je  nachdem  der  Wille  ^ern  oder  ungern  dem  Gebote  gehorcht;  aber 
selbst  da,  wo  der  Wille  des  Gehorchenden  gänzlich  mit  dem  Willen 
des  Gebietenden  übereinstimmt  und  von  einem  Widerstreit  des  ge- 
horchenden Willens  gegen  den  gebietenden  nicht  die  Rede  sein  kann, 
behält  doch  der  Imperativ  den  Charakter  eines  Gebots,  d.  h.  einer 
Wlllensnötigang.  und  zwar  um  deswillen,  weil  das,  was  geboten  wird, 
lediglich  durch  den  gebietenden  Willen  seinem  Inhalt  nach  bestimmt 
werden  kann. 

Sollen  trotzdem  die  kategorischen  Imperative  eine  Ausnahme- 
stellung unter  den  Imperativen  haben  und  als  Gesetze  der  Vernunft 
betrachtet  werden  können,  so  macht  der  Gegensatz,  in  den  sie  da- 
durch zu  allen  übrigen  Imperativen  geraten,  es  notwendig,  dass  eine 
ausführliche  Begründung  dieser  ihrer  Ausnahmestellung  gegeben 
werde.  In  der  Kantischen  Ethik  aber  ist  von  einer  derartigen  Be- 
gründung nichts  zu  entdecken.  Das  einzige  Argument,  welches  Kant 
für  den  Satz,  dass  die  kategorischen  Imperative  Gesetze  sind,  geltend 
macht,  ist  die  Definition  des  Begriffs  der  Imperative  überhaupt. 
Indem    aber    in    diese  Definition    im   Hinblick   auf  die  von  Kant  so 


Der  Begriff  der  „hypothetischen  Imperative"  in  der  Ethik  Kants.      247 

grenaunten  hypothctischcD  Imperative,  welche  in  Wirklichkeit  nicht 
Imperative  sind,  die  Bestimmung;  aufo:enommen  wird,  dass  die  Im- 
perative objektive  Gesetze  der  Vernunft  sind,  erweist  sich  grerade 
diese  Definition  als  ungeeignet  zur  Entscheidung  des  in  Betracht 
kommenden  Problems,  während  andererseits  es  unbezweifelbar  sein 
dürfte,  dass  das  Motiv  für  die  Zusammenstellung  der  kategorischen 
Imperative  mit  den  sogenannten  hypothetischen  Imperativen  in  dem 
Bestreben  gelegen  hat ,  die  von  den  hypothetischen  Imperativen 
geltende  Bestimmung,  dass  sie  nichts  anderes  als  Gesetze  sind,  auch 
auf  die  kategorischen  Imperative  in  Anwendung  bringen  zu  können. 


Kants  Kritik  der  Urteilskraft  in  ihrer  Beziehung  zu 

den  beiden  anderen  Kritiken  und  zu  den  nach- 

kantischen  Systemen. 

Von  Prot".  Dr.  Dornor  in  Küniji^sberg. 


Kants  Kritik  der  Urteilskraft  ist  von  ihm  selbst  als  Erj^änzang 
seiner  beiden  anderen  Hauptwerke,  der  Kritik  der  reinen  und  der  prak- 
tischen Vernunft,  aufjrefasst  worden.  Abgesehen  davon,  dass  er  in 
diesem  Werk  die  Moral  durch  eine  neue  Grundlegung  der  Ästhetik 
und  die  teleologische  Betrachtung  der  Natur  ergänzt,  hebt  er  selbst 
eine  noch  weit  mehr  in  die  Fundamente  seiner  ganzen  Lehre  ein- 
greifende, notwendige  Ergänzung  der  früheren  Kritiken  hervor.  Die 
Kritik  der  reinen  Vernunft,  auf  der  Differenz  von  Anschauung  und 
Begritf  aufgebaut,  vermag  dieselbe  nicht  völlig  zu  überbrücken.  Die 
allgemeinen  Grundsätze,  nach  denen  man  den  Naturzusamnienhang 
erkennt,  sind  der  bestimmenden  Urteilskraft  zugehörig,  welche  die 
gegebenen  Erfahrungsgrössen  unter  die  allgemeinen  Gesetze  unter- 
ordnet und  zwar  nach  der  Kategorie  der  Kausalität  (oder  Wechsel- 
wirkung). Allein  die  bestimmende  Urteilskraft  reicht  bei  weitem 
nicht  aus.  um  den  Zusammenhang  des  Naturlebens  völlig  begreiflich 
zu  machen.  Hier  hat  nun  die  reflektierende  Urteilskraft  einzusetzen, 
mit  der  sich  Kant  in  der  Kritik  der  Urteilskraft  hauptsächlich  be- 
schäftigt. Die  reflektierende  Urteilskraft  hat  nämlich  die  Aufgabe, 
da,  wo  eine  Unterordnung  des  Gegebenen  unter  das  Gesetz  der 
Kausalität  nicht  möglich  ist,  wo  der  Begriff  sich  auf  die  Anschauung 
nicht  anwenden  lässt,  zu  der  gegebenen  Anschauung  entweder  einen 
Begriff  zu  finden  oder  wenigstens  ein  Urteil  darüber  zu  fällen,  ob 
sich  das  Anschauungsobjekt  mit  der  Gesetzmässigkeit  des  Verstandes 
überhaupt  vertragen  würde,  also  doch  möglicherweise  sich  auch  den 
Verstandesbegriffen  einordnen  liesse,  d.  h.  der  konkreten  Erkenntnis  zu- 
gänglich sein  würde.  Im  ersten  Falle  würden  wir  die  Thätigkeit 
der  reflektierenden  Urteilskraft  in  teleologischer,  im  zweiten  Falle  in 


Kants  Kritik  der  Urteilskraft  etc.  249 

ästhetischer  Form  vor  uiiü  haben.  Jedenfalls  aber  bildet  sonach  die 
reflektierende  Urteilskraft  eine  Ergänzung;  zu  der  bestimmenden. 
indem  sie  den  von  dieser  übrig  gelassenen  hiatus  zwischen  An- 
schauung und  Begriff  auszufüllen  l)estimmt  ist.  Es  liegt  nahe,  von 
hier  aus  auf  den  Gedanken  zu  kommen,  dass  die  Ausfüllung  dieser 
Kluft  für  eine  Intelligenz,  in  der  Anschauung  und  Verstand  unmittel- 
bar eins  wären,  gänzlich  gegenstandslos  sein  würde,  woraus  sich 
ergiebt,  dass  die  ästhetische  wie  die  teleologische  Betrachtungsweise 
lediglich  der  subjektiven  Beschaffenheit  unseres  Verstandes  zn- 
zurechnen  sein  würde,  nicht  minder  aber  w^ürde  durch  intellektuelle 
Anschauung  auch  die  kausale  Verknüpfungsweise  überflüssig  ge- 
worden sein.  Kant  bemüht  sich  nun  auch  in  der  That,  die  ästhe- 
tische und  teleologische  Betrachtung  gänzlich  im  Gebiet  des  Sub- 
jektiven zu  halten,  während  er  allerdings  der  kausalen  Betrachtungs- 
weise objektiven  Charakter  —  freilich  nur  für  die  Welt  der 
Erscheinungen  zuzuschreiben  sucht,  ein  Standpunkt,  den  er  nicht 
völlig  durchzuführen  vermag. 

Ebenso  aber  giebt  die  Kritik  der  Urteilskraft  eine  Ergänzung 
zu  der  Kritik  der  praktischen  Vernunft.  Denn  wenn  Kant  zweifellos 
den  ethischen  Dualismus  zwischen  dem  apriorischen  Gesetze  und 
dem  guten  Willen  auf  der  einen  Seite  und  der  Bethätigung  desselben 
in  der  empirischen  Welt  auf  der  anderen  Seite  nicht  überwunden 
hatte,  da  auch  hier  das  apriorische  Gesetz  mit  seiner  Allgemein- 
gültigkeit in  abstrakter  Höhe  über  den  empirischen  Verhältnissen 
schwebte  und  die  Neigungen  demselben  widersprachen,  —  so  wird 
nun  in  der  Kritik  der  Urteilskraft  teils  in  der  Lehre  vom  Erhabenen 
darauf  hingewiesen,  dass  durch  die  unser  empirisches  Anschauungs- 
vermögen erdrückende  Grösse  oder  Macht  einer  Erscheinung  das 
Bewusstsein  von  der  sie  trotz  allem  überragenden  Bedeutung  der 
Vernunft  in  uns  hervorgelockt  werde,  so  dass  wir  den  Eindruck 
gewinnen  von  der  Unterordnung  der  Sinneserscheinung  unter  die 
Vernunft,  und  dadurch  den  Eindruck  von  der  Zusammenstimmung  der 
Vernunft  und  der  Erscheinungswelt.  Teils  wird  aber  auch  in  der 
Teleologie  die  Brücke  zwischen  der  mechanisch  bestimmten  Natur 
und  der  Teleologie  des  Sittlichen  wenigstens  insofern  gefunden,  als 
die  die  mechanische  Naturbetrachtung  ergänzende  teleologische  Natur- 
betrachtung den  Gedanken  nahe  legt,  dass  die  Natur  auch  den 
moralischen  Zwecken  zugänglich  sein  werde.  Auch  im  Verhältnis 
der  Anschauung  zu  der  praktischen  Vernunft  spielt  die  subjektive  Be- 
trachtung   die  grösste  Rolle ,    da    bei    dem  Erhabenen    lediglich   die 

Küutstudieu  IV.  17 


.)j(^)  l'nil     l>r.   hoinor. 

Be/.irhiinj:  der   Anscliaiiuiii:  /.u    «irr  \  iTiuinft   hrrllcksichti^'t  wird,  wie 
aiu'li   ilii'    tcli'olojjischc    Naturhrlrai'liUinj:  im   \  t  rhiiltiiis  zu  (Icr  prak- 
tisolu'ii   ViTimuft    /.unäc'list    nur    t'inc  inutinassliclu'   rhcrcinstiniiiiuii»: 
tU'r  sultjt'ktiv   hrstiinniton   KrschiMnuiifrswclt  mit   der  \  t-rminft  in  Aus- 
sicht stt'llt.     Am   vidlkonimi'nstcn  wird   der  Subjidaivismus  auch   hier 
tlurchiretuhrt,    wcjni    dir    praktisclu-   \ .  riiunlt  scllist   in   ilirem   Unter- 
schiede   \o\\  der  theoretischen    nur    auf    (Ut    Heschallenheit    unserer 
Krkenntnisvermöiren   ruhen   soll,  insofern  eine  Veiimnlt  dfidvhar  wäre, 
in    welcher    auch    die    DilVerenz    zwischen  Soll    und   Sein,    zwischen 
praktischer    und    theoretischer  Vernunft    aufliüren    würde.     Auf    der 
anderen  Seite  freilich  wird  es  für  Kant  auch   hier  schwer,    wenn  er 
die  objektive  Geltung;  der  praktischen  Vernunft  doch  wieder  aufrecht 
erhalten  will,  nicht  auch  der  Natur  objektive  Bedeutunj,'  zuzusehreiben. 
Aus  dem  Gesajrten  g:eht  hervor,  dass  die  Kritik  der  Urteilskraft 
die    beiden   anderen  Kritiken    wesentlich    ergänzt,    und    eben  dieses 
macht  ihre  Bedeutung  aus;  zugleich  aber  eröftnen  sich  von  hier  aus 
für  Kant  Aspekte,   die  weit  Über  den    Standpunkt  hinausführen,  den 
er    in    den    beiden    früheren   Kritiken    einnimmt;    er    verrückt    sich 
gleichsam  selbst  das  Konzept,  und  doch  ist  er  durch  die  Konsequenz 
seines  Denkens    dazu    genötigt.     Es  ist  in  hohem  Masse  interessant, 
zu  beobachten,  wie  er  mit  den  Problemen  ringt,  und  wie  verschieden- 
artige Antworten  auf  die  letzten  Fragen  in  seiner  Kritik  der  Urteils- 
kraft nebeneinander  hergehen. 

Zunächst  kommt  es  mir  darauf  an,  zu  zeigen,  dass  Kant  zu 
dem  Staudpunkt  der  Kritik  der  reinen  \'ernunft  eine  Ergänzung 
aufsuchen  musste.  und  dass  die  Kritik  der  praktischen  Vernunft  diese 
Ergänzung  noch  nicht  sein  konnte,  dass  also  seine  eigene  Grund- 
anschauung ihn  nötigte,  das  auszusprechen,  was  er  in  der  Kritik  der 
Urteilskraft  ergänzend  zur  Abrundung  seines  Systems  beibrachte. 
Sodann  aber  wird  sich  w^eiter  zeigen,  dass  eben  mit  diesem  Versuche 
des  Ausbaus  sich  Gesichtspunkte  ergaben,  welche  über  die  Kantische 
zum  Teil  recht  schwankende  Stellung  hinausführten. 

Kant  ging  in  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  von  der  Unter- 
suchung des  Erkenntnisvermögens  aus  und  setzte  dabei  voraus,  dass 
mit  dieser  Untersuchung  die  Erkenntniskritik  völlig  abgeschlossen  sei. 
Die  Bedeutung  des  Objektes  für  das  Erkennen  ignorierte  er,  indem 
er  voraussetzte,  dass  doch  alle  uns  zugängliche  Erkenntnis  subjektiv 
tingiert.    das  Ding    an    sich    aber    nicht  erkennbar  sei.')     Indem  er 

1)  Es  ist  das  freilich  ein  Standpunkt,  der  seiner  früheren  Stellungnahme 
nicht    entspricht.     Vgl.  darüber   u.   a.  Hartuiann,    Kants    Erkenntnistheorie    und 


Kants  Kritik  der  Urteilskraft  etc.  251 

nun  das  Erkenntnisvermögen  untersuchte,  kam  er  zu  dem  Resultate, 
dass  das  Ding  an  sich  unerkennbar  und  nur  die  subjektive  Er- 
scheinung desselben  erkennbar  sei.  Die  theoretische  Vernunft  sollte 
sich  in  keiner  Weise  über  die  Welt  der  Erscheinungen  hinauswagen. 
Diese  Ansicht  begründete  Kant  damit,  dass  er  die  Verstandeskategorien 
nur  für  die  Erfahrung  der  Sinne  anwendbar  erklärte,  den  \' ersuch 
aber  über  diese  hinaus  mit  ihrer  Hilfe  Erkenntnisse  zu  gewinnen 
als  ein  dialektisches  Gaukelspiel  zu  erweisen  suchte,  —  und  doch 
war  die  Annahme  des  Dinges  an  sich,  das  den  Erscheinungen  zu 
Grunde  liegen  sollte,  auch  eine  Überschreitung  der  Erfahrung.') 
Diese  Erfahrung  selbst  aber  war  durch  die  Anordnung  der  Em- 
pfindungen, die  als  Kezeptivität  aufgefasst  wurden,  in  den  rein  sub- 
jektiven apriorischen  Anschauungsformen  von  Kaum  und  Zeit  be- 
stimmt, hatte  also  abgesehen  von  dem  Rückgang  auf  das  unbekannte 
Ding  an  sich,  das  den  Empfindungen  zu  Grunde  liegen  sollte,  rein 
subjektiven  Charakter.  Kants  Stellung  war  in  dieser  Periode  gegen- 
über den  vorangehenden  rationalistischen  und  sensualistisch-empirischen 
Philosojihemen  so  beschaffen,  dass  er  gegenüber  dem  seusualistischen 
Empirismus  die  Möglichkeit  leugnete,  aus  den  Empfindungen  die  Ver- 
standeskategorien abzuleiten,  und  gegenüber  dem  Rationalismus  die 
Möglichkeit  leugnete,  die  Empfindungen  und  die  Anschauungsformen 
nur  als  Modifikationen  der  denkenden  Intelligenz  aufzufassen.  Hieraus 
ergab  sich  für  ihn  das  Aussereinander  von  Empfindungen  und  An- 
schauungsformen und  von  Verstandesbegriften.  Erkenntnis  sollte  nun 
weder  durch  Empfinden  und  Anschauung  für  sich  noch  durch  Denken 
—  Verstandsbegriffe  —  für  sich  zustande  kommen,  sondern  nur  durch 
die  Vereinigung  von  beiden  mittelst  der  synthetischen  Thätigkeit  des 
Erkeimens,  besonders  mittelst  des  Schematismus  der  Begriffe.  Es 
handelte  sich  indes  bei  alledem  naturgemäss  immer  nur  um  sinnliche 
Erkenntnisse,  um  die  Erkenntnis  der  Natur.  Eine  abschliessende 
Weltanschauung  konnte  auf  diesem  Wege  umsoweniger  zustande 
kommen,  als  ausdrücklich  darauf  immer  wieder  (besonders  bei  der 
Lösung   der  Antinomien)  hingewiesen  wurde,  dass  man  sich  auf  die 


Metai)hysik  (1895)  S.  15—76.  Er  hatte  vorher  die  reale  Bedeutung,'  der  Kate- 
gorien anerkannt  und  Metaphysik  mittelst  ihrer  zustande  bringen  wollen.  Uoeh 
diese  Phase  seiner  I':ntwieklung  koniint  hier  für  mich  weniger  in  "Betraebt. 

')  Adiekes,  Die  bewegenden  Kräfte  in  Kants  philosophischer  Entwicklung 
„Kantstudien"  Bd.  IS.  361  f.  versucht  die  Widersprüche  in  dem  Kantischen  Be- 
grifi  des  Dinges  an  sich  in  Auseinandersetzung  mit  Volkelts  Darstellung  psycho- 
logisch zu  erklären,  indem  er  zwisciien  Kant  dem  Menselien,  „der  üher  die  Dinge 
an  sich  viel  zu  sagen  weiss',  und  Kant  dem  konseipienten  Denker  unterscheidet. 


252 


l'rol.   Dr.  l><>riu'r 


vorhaiulcnp    Krlaliruiit:    jedesmal    /u    hcscliränken    lial)r.     Und  doch 
war  OS  auf  (Ut  andrren  Seite  das   lU'dllrlnis  der  \ Crminrt.  eine  ciii- 
lu'itlk'h  abschliossciidr    Wcltansohauuii^'    /.ustaml«'    /u    hriii-cii.     Das 
si'lu'iUTte  aber  teils  daran,    dass  wir    nielil  illx'r  dir   Krlaliruii^r.  die 
sieh   nur  lanjrsani  ausl)reitete,  hinauskonnnen  sollen,   teils  daran,  dass 
wir  den  Versuchen  der  XCrnunlt.  iilter  die  Krfahruni:  hinaus  auf  al)- 
gchliessende    Einheit    v.u   drin^'en.    nieht    konstitutive   liedeutunj:  /u- 
schreilien    können,    sonilern    den    Ven\unftideen    nur    re.irulative   Be- 
deutung' zuerkennen  kr.iuien.     Kant  war  sieh  denn  aueh,  wie  die  Kritik 
der  Gottesheweise  u.  a.  zeij^t.  vollkommen  hewusst,  dass  die  durch  die 
theoretische   Erkenntnis    zu    frewinnende  Weltan-chauunfr    überhaupt 
nicht  abschliessend  sein  könne,  weil  unsere  Vernunft  zugleich  prak- 
tische Vernunft  sei.     l'nsere    theoretische  Erkenntnis  sollte   sich  nur 
auf    die   Natur    und    die    Mathematik    erstrecken.     Durch   die  Ethik 
versuchte  er,  den  Staudi)unkt  der  theoretischen  Erkenntnis,    der  für 
sich  ein  Torso  war  und  immer  bleiben  musste,  zu  ergänzen.     Damit 
war  zwar  nicht  der  Mangel  einer  einheitlichen  Erkenntnis  der  Natur, 
gehoben,    die    nur    allmählich    auf    diskursivem    Wege    fortschreiten 
konnte,  aber  es  war  doch  der  ethischen  Seite  der  Welt  die  Aufmerk- 
samkeit zugewendet  und  damit  eine  Erweiterung  der  Weltanschauung 
gegeben.     Denn  es  sollte  nun  das  Sittengesetz  und  die   Freiheit  als 
der  Grund   desselben   uns   den  Weg  in  die  theoretisch  nicht  erkenn- 
bare   metaphysische   Welt    eröffnen.      Freilich    war    damit  so  wenig 
das  Aussereinander  von  Sinnlichkeit  und  Verstand,    das   die  Grund- 
lage seiner  Erkenntnistheorie    gewesen  war,    auf  Grund    deren    ein 
Ding  an  sich  unerkeunljar  und  Erscheinungen  nur  in  allmählich  fort- 
schreitendem   Masse,   in   ihren  Zusammenhängen  aber  niemals  völlig 
erkannt  werden  konnten,  beseitigt,  dass  vielmehr  ein  paralleler  Dualis- 
mus im  praktischen  Gebiete  zwischen  Sinnlichkeit  und  praktischer  Ver- 
nunft, die  rein  formal  sein  sollte,  hinzukam,  was  um  so  fataler  war,  als 
Kant  nach  seiner  ursprünglichen  Kategorientafel  zwar  eine  umfassende 
Aufzählung  der  Stammbegriffe  angestrebt  aber  nicht  erreicht  hatte,  in- 
sofern er  der  theoretischen  Vernunft  zwar  den  Begriff  der  Substanz, 
Kausalität  und  Wechselwirkung,  aber  nicht  den  Begriff  des  Zweckes 
zugeschrieben  hatte.    Somit  fehlte  von  der  theoretischen  Vernunft,  die 
keinen  Zweck  kannte,  die  Brücke  zu  der  praktischen  Vernunft,  für  die 
der  Zweck  galt.    Aus  dieser  Unterlassung  erklärt  es  sich  nun  auch,  dass 
die  theoretische  und  die  praktische  Vernunft  völlig  auseinanderfielen. 
So  lange  zwar  die  praktische  Vernunft  auf  sich  selbst  stehen  sollte  in 
apriorischer  Herrlichkeit,  konnte  wenigstens  eine  Kollision  vermieden 


Kants  Kritik  der  iTteilskraft  etc.  253 

werden;  sobald  es  aber  auf  ein  gesetzniässiges  Handeln  ankam,  so  galt 
in  der  Erscheinunirswelt  das  Kausalgesetz,  und  es  entstand  die  Frage, 
wie    in  den  Kausalzusammenhang  der  übersinnliche  Wille  eingreifen  ' 
könne.    Diese  Frage  war  aus  zwei  Gründen  für  Kant  schwer  zu  be- 
antworten, eiimial  weil  auch  der  Kausalzusammenhang  nur  eine  sub- 
jektive Erkeimtnis    war,    man   nur  mit  Erscheinungen  zu  thun  hatte, 
ein  Handeln  auf  kausal-zusammenhängende  Erscheinungen  also  kaum 
möglich  war.  sodann  weil  es  schwer  begreiflich  zu  machen  war,  wie 
überhaupt  die  kausale  Kette  durchbrochen  werden  könne,  wie  eine  ganz  , 
fremdartige,  ausserhalb  der  Erscheinungswelt  stehende  teleologisch  be- 
stimmte Grösse  überhaupt  in  den  Kausalzusammenhang  eingreifen  könne. 
Denn  er  hatte  zwar  in  der  Antinomienlehre  zu  zeigen  gesucht,  dass  eine 
neue  Reihe  von  einer  ausserhalb  der  Erfahrung  stehenden  Ursache  an- 
gefangen werden  könne,  man  also  die  Möglichkeit  einer  auch  ausser- 
halb   der  Erfahrung  stehenden  Ursächlichkeit    zugeben  müsse,    aber 
die  Wirklichkeit  derselben   nicht  erweisen  könne,    wenn   man    nicht 
auf   irgend    welche    übersinnliche  Weise   von   einer  solchen  Ursache 
wisse,  wie  z.  B.  von  dem  sittlichen  Willen.     Aber  andererseits  sollte 
doch  die  Kette  der  Kausalität   durch    eine  solche  Ursache  in  keiner 
Weise    unterbrochen  sein;    der    Zusammenhang    der    Erfahrungswelt 
sollte    strikte    festgehalten    werden.     So    ergab   sich    eine    doppelte 
Betrachtungsweise;   man   konnte  jede  That  im  mechanischen  Kausa- 
litätszusammenhange als  Naturereignis  betrachten    oder    sie    auf  die 
intelligible    aber    überzeitliche    Ursache    zurückführen,    wobei    dann 
freilich    der    zeitliche    Anfang    des    Entschlusses    im  Dunkel  blieb.') 
Kant  hatte  zwischen  beiden   Welten,    der  Welt    der    Noumena    und 
der  der  Phänomena  eine  Kluft  befestigt,  und  die  Kategorien  sollten 
im  Grunde    doch    für  die  Erfahrungswelt    allein  ausreichen.     Dieser 
Dualismus    offenbarte    sich    auch    in    der  Ethik  selbst,    indem  Kant 
die    praktische    Vernunft    den    Neigungen    gegenüberstellte.      Seine 
Ethik  hat  im  Grunde  persönlichen  Charakter,  und  er  setzt  im  Subjekt 
Vernunft  und  Neigungen  einander  entgegen.     Das  formale  Vernunft- 
gesetz ist  die  allgemeingültige  Regel  für  den  apriorischen  Willen,  und 
in  der  Harmonie  Beider  beruht  die  gute  Gesinnung,  der  „gute  Wille"; 
die  Neigungen  müssen  durch  das  Gesetz  im  Zügel  gehalten  werden. 
Das  Gesetz  ist  formal;   der  Inhalt,  die  Materie  ist  der  Empirie  ent- 
nonmien;    aller  Inhalt    hat    eudämonischen  Charakter   oder  führt  zu 
heteronomer  Ethik.    So  kann  es  nicht  darauf  ankommen,  die  konkrete 
Welt,   —  die  ja  freilich  doch  nur  eine  Welt  der  Erscheinungen  ist, 
1)  Vgl.  meine  Schrift  Die  Prinzipien  der  Kanfschen  Ethik,  S.  68,  45  f. 


'254 


l'rol".    l"r.   pKiiuT 


positiv   /u   irostaltiMi.   tlic  Natur  /u    licarhciicii.   <iiilrr  /.u    |ir«Mlii/i(Tt'ii, 
soniltTii    nur    daraul'.    im     Sulijrkl    seihst     eine    llaniionif    in    der 
W«-isc   lu'r/.ust«'lliMi.    liass  iliT   praUlisi-licii  NCriuiiil't  der  lioiini  iiliai-uo- 
iiuMion   nicht  widcrsijricht.      Ks  liaiidclt  sicii   in  Kants  Ktliik   mrlir  inii 
die    Si'llistbi'wahrmi.::    d»'s    lionio    nouincntm    \«ir    den    (Irtalncn    der 
Nfitrinifron.   als   um  eine   Uonkrttf   |»(tsiti\('   Ausfrostaltun;:-  der  ;;an/('n 
ctliisciion  IVrsiinlic'likcit  (xior  trar  der  (iiitcrlcluc.      lii   diistr   llinsidit 
hat    Kants   Ktliik     mit    drm    rirtismus    ciniiro   Xfrwandtsidial't.      Diese 
sah)ektiv-nei:ati^(•  Kiiditunir  seiner  Kthik   iiat   teils  ihren  ilruiid   (hirin, 
dass    Kants    <:esamte    IMiil<ts(i|tliie    suhjektiven    Charakter    träjrt;    es 
ist  daher    iranz  konse(|ueiit .    dass    die    IJnterwertuiii;-  der   Nei^un};en 
unter    die    praktische    Vernunft    den    ilaui)tinhalt    seiner   Ethik    aus- 
inaeht.  wie   wir  ja  auch  ül)er  die  sul)Jektive  Krscheinun^^swelt  hinaus 
theoretisch  niclits  erkennen  können;    teils  darin,    dass   er  die  Natur 
und    die    praktische  N'ernunft  auseinanderhält,   oder   die  theoretische 
Vernunft,    deren    Erkenntnisprodukt    die    Natur    ist,     wie    sie    uns 
vorliejrt.   und  die  praktische  \  ernunft  von  einander  trennt.') 

Aus  dem  Gesagten  ergiebt  sich,  dass  Kant  mit  der  theoretischen 
Vernunft   eine   abschliessende  Weltanschauunjr  nicht  <rlaubt  zustande 
zu    bringen,    weil   Begrifl'e    und   Empiindung   samt  Anschauung  aus- 
cinanderliegen,   und  weil  die  Erscheinungswelt  doch  nicht  das  letzte 
ist,  wir  aber  über  das  der  Erscheinungswelt  zu  Grunde  liegende  Ding 
an  sieh  nichts  wissen.     Eine  Erweiterung  der  Gesamtweltanschauung 
ergab  sich  nun  zwar  von  der  praktischen  Vernunft  aus.  die  er  von  der 
theoretischen,    deren  Objekt  die  Naturerkenntnis   sein   sollte,    unter- 
schied.    Aber    von    einer    einheitlichen    Weltanschauung    war    damit 
immer  noch  nicht  die  Rede,    weil    die    praktische    und    theoretische 
Vernunft  unter  keine  Einheit  gebracht  sind,    weil   ferner  von  einem 
Handeln  der  praktischen  Vernunft  schwer  die  Rede  sein  kann,  selbst 
im  psychologischen  Gebiete,    wo    die  Neigungen  des   homo   phaeno- 
menon  derselben  entgegenstehen  und,  sofern  diese  zu  der  Erscheinungs- 
welt gehören,    der  Eingriff  der  praktischen  Vernunft  in  den  Kausal- 
zusammenhang schwierig  zu  verstehen  ist,  vollends  aber  im  Gebiete  der 
Natur,    die   ja   doch  im  Grunde,    von  dem  Ding  an  sich  abgesehen, 
nur    ein    subjektives  Erzeugnis  theoretischer  Vernunft  ist,    auf   das 
eigentlich  gar  nicht  gehandelt  werden  kann.     So  steht  theoretisches 

1)  Wenn  er  trotzdem  von  einem  höchsten  Gut  redet,  so  geschieht  es  nur, 
indem  er  die  zuerst  beseitigte  Glücksehgkeit  durch  die  Hinterthür  wieder  herein 
lässt,  wenn  auch  in  Unterordnung  unter  die  moralische  Würdigkeit.  Vgl.  meine 
Schrift,  Die  Prinzipien  der  Kantischen  Ethik  S.  BO  f. 


Kants  Kritik  der  Urteilskraft  etc.  255 

Erkennen  in  einem  unbefriedigenden  Dualismus  zwischen  Empfindung, 
Anschauung-  —  und  Begrrifl".  ferner  zwischen  Erscheinung  und  einem 
unbekannten  Ding  an  sich,  die  praktische  Vernunft  im  Dualismus 
zwischen  den  Neigungen  und  ihr  selbst,  sowie  zwischen  dem  Kausal- 
gesetz, das  von  ihr  nicht  stammt  und  ihr  empirisch  nicht  gehorcht, 
und  ihr  selbst,  endlich  ist  auch  hier  eine  unausgeglichene  Difilerenz 
zwischen  der  praktischen  Vernunft,  die  auf  die  Natur  handeln  soll, 
und  der  Natur,  die  einen  gänzlicR  subjektiven  Charakter  trägt,  also, 
wie  es  scheint,  mehr  auf  theoretischem  Wege  als  durch  praktisches 
Thun  umgeändert  werden  kann.  Aber  auch  die  theoretische  und 
praktische  Vernunft  sind  so  gänzlich  auseinandergehalten,  dass  eine 
Vereinigung  beider  auch  schwer  scheint.  Im  wesentlichen  fällt  ihr 
Unterschied  auf  die  Kategorie  der  Kausalität  auf  der  einen  und  der 
Finalität  auf  der  anderen  Seite.  Wenn  nun  Kant  dabei  doch  die  von 
ihm  anerkannte  Tendenz  der  Vernunft  auf  eine  einheitliche  Welt- 
anschauung nicht  aufgeben  wollte,  so  musste  er  nach  Mitteln  suchen, 
die  angedeuteten  Differenzen  möglichst  auszugleichen. 

Teilweise    hat    er    das    schon   in  Bezug  auf  den  Gegensatz  der 
theoretischen  und  praktischen  Vernunft  durch  die  Lehre  vom  Primate 
der  praktischen  Vernunft  versucht.     Allein  diese  Lehre  reichte  nicht 
aus,  wenn  er  nicht  zeigen  konnte,  wie  es  der  praktischen  Vernunft 
möglich    sei,    diesen    Primat    durchzuführen.     Denn   der  Primat  der 
praktischen   Vernunft  war  eine  Forderung,   die  er  stellte;    in    dieser 
Forderung  lag  die  Vorherrschaft  der  Teleologie   über  die  kausal  zu 
verstehende  Natur,  des  ethischen  Geistes  über  die  Natur.     Auf  dieser 
Forderung    des    Primates    der    praktischen    Vernunft     beruhte    das 
Postulat  Gottes,    der    das  Naturgesetz  in  Harmonie  mit  dem  Sitten- 
gesetz geordnet  habe,  und  das  Postulat  der  Unsterblichkeit,    welche 
eine    Ausgleichung    zwischen    moralischer  Würdigkeit    und    der  von 
dem  Naturzusanimenhange  abhängigen  Glückseligkeit  zustande  bringen 
sollte;  allein  beide  Postulate  blieben  ein  moralischer  „Glaube",  kein 
Wissen;  sie  waren  Postulate,  die  mit  der  Anerkennung  des  Primats 
der  praktischen  Vernunft  zwar  gegeben  waren,  aber  keineswegs  eine 
neue  Erkenntnis    über    die  Beschaffenheit  der  Natur  oröffrieten.     Es 
war  im  Gegenteil  an  sich  theoretisch  schwer  einzusehen,   wie  diese 
Harmonie  zustande  kommen  sollte,    da    thatsächlich    die   Natur  sich 
den  moralischen  Postulaten   noch   nicht  fügte.     Der  einzige  Anhalts- 
punkt für  diese  Harmonie    war  also  das  Postulat  der  Vernunft,  und 
doch  bot  auch  dieses  die  grossesten  Schwierigkeiten,  da  ja  die  Natur 
nur    Erscheinung,     vom    Ding    an   sich  abgesehen,    nur    subjektives 


05(j  rrof    l)r.  Doriu'i, 

Pnnlukt  war,  von  iltiu  insl>osoii(ior('  nicht  zu  sehen  war.  was  ein 
Gott  auf  dasselln'  fllr  einen  1-inlhiss  sollte  ausiilien  kiinnen.  l'n» 
nun  diese  1  lu'benheiten  aus/uirh'ii'hni.  li.ii  Kani  verschiedene  Möjr- 
lichkoitrn  ins  Aufjo  jrefasst.  die  it  elien  in  der  Kritik  der  l'rteils- 
kraft  zur  Spraclie  irol)rai'ht  hat.') 

Zunächst  suchte  er  auch  in  der  Naturor(lnuni:-  nach  Anzeichen 
datllr.  dass  sie  dem  ethischen  Zwei  k  niclit  vtdli;r  t'renidartifr  sei,  und 
fanil  sie  darin,  dass  dii'  Natur  auch  noch  eine  an(h're  ßetrachtunj^s- 
weise  zulasse  als  die  kausale,  die  ti'leolo<;ische.  und  dass  sie  bei 
ihrer  Hetrachtunir  Oeftlhlsurteile  hervorrufe,  die  auch  auf  eine  teleo- 
logische (Jrundhifre  hinwiesen.  Wenn  nun  auch  diese  Teleoloirie 
von  der  Moral  noch  unterschieden  sein  sollte,  so  liiimrkt  er  eben 
doch  ausdrucklich,  dass  sie  eine  Brücke  zwischen  der  Kausalität  der 
Natur  und  der  moralischen  Teleoloirie  bilden  und  dem  Postulat  der 
praktischen  Vernunft  zur  theoretischen  Stütze  dienen  könne.  Be- 
trachten w  ir  einen  Aug:enblick  zunächst  die  Teleologie  in  der  Natur, 
die  Kant  anerkennt! 

Er  zeigt,  dass  es  thatsächlich  Naturerscheinungen  gebe,  die  nach 
dem  l)loss  kausalen  Zusammenhang  nicht  verständlich  seien.  Hier 
komme  nun  die  reflektierende  Urteilskraft  mit  einem  bestimmten 
Zweckbegrifte,  der  zwar  nur  als  regulatives  Prinzip  gelten  könne,  nicht 
als  konstitutives,  vermöge  dessen  sie  aber  immerhin  doch  die  Natur  so 
betrachte,  als  ob  sie  nach  einem  Zweck  verfahren  wäre,  und  zwar 
versucht  sie  das  überall  da,  wo  die  mechanische  Naturbetrachtung  ver- 
sagt und  man  ohne  Zuziehung  eines  anderen  Prinzips  nur  auf  den  Zufall 
angewiesen  sein  würde.  Kant  hat  den  Zweckbegriff  einer  scharfen 
Analyse  unterzogen.      Er  redet  zunächst  von  intellektueller  formaler 

1)  Mir  kann  die  Meinung  von  A dickes  doch  nicht  genügen,  dass  Kant 
in  der  Kritik  der  Urteilskraft  nur  die  Tendenz  verfolgt  habe,  „dem  System 
rationaler  Erkenntnisse  ein  weiteres  Gebiet  hinzuzufügen"  f385j.  Kant  selbst 
spricht  sich  ja  in  der  Einleitung  der  Kr.  d.  U.  S.  16  dahin  aus,  dass  er  eine 
Brücke  zwischen  theoretischer  und  praktischer  Vernunft  in  ihr  finde.  8o  allein 
erklärt  sich  auch,  dass  er  die  teleologische  und  ästhetische  Urteilskraft  durch 
die  Teleologie  verbunden  sein  lässt,  weil  beide  unter  diesem  Gesichtspimkte  der 
Einheit  beider  Vernunftseiten  dienen.  Übrigens  ergiebt  sich  des  Weiteren 
auch,  dass  die  ästhetische  wie  die  teleologische  Urteilskraft  zu  der  Vereinigung 
von  Verstand  und  Anschauung  das  ihre  beiträgt.  Es  ist  wohl  richtig,  dass 
er  Prinzii)ien  a  priori  wie  für  das  Erkenntnisvermögen  und  den  Willen,  so  auch 
für  das  Gefühl  sucht.  Aber  es  ist  ebenso  wahr,  dass  das  Gefühlsurteil  a  priori 
auf  die  Harmonie  der  Erkenntnisvermögen  gerichtet  ist,  sowie  dass  Kant  auch 
durch  die  teleologische  Urteilskraft  eine  Verbindung  von  praktischer  Vernunft 
und  Natur  anbahnen  will. 


Kants  Kritik  der  Urteilskraft  etc.  257 

Zweckmässigkeit,  bei  der  ein  bestimmter  Zweck  nicht  vorliegt,  sondern 
nur  die  ..Zweckmässigkeit  der  Tauglichkeit  zur  Auflösung  vieler 
Probleme  nach  einem  Prinzip.'' M  Diese  Zweckmässigkeit  zeigt  sich 
bei  der  Lösung  mathematischer  Aufgaben.  Sie  drückt  die  Angemessen- 
heit einer  Figur  zur  Erzeugung  vieler  abgezweckter  Gestalten  aus. 
Das  ist  ein  Vorgang  in  dem  Gebiet  der  synthetischen  P>kenntnis 
a  priori,  es  handelt  sich  dabei  nur  um  mathematische  Figuren  und 
ihre  Konstruktion,  nicht  um  eine  zweckmässige  Betrachtung  eines 
gegebenen  Naturobjekts.  Dieser  formalen  Zweckmässigkeit  steht 
sowohl  die  relative  (äussere)  Teleologie  als  auch  die  innere  Zweck- 
mässigkeit des  Naturwesens  gegenüber.  In  beiden  Fällen  ist  ..die 
Idee  der  Wirkung  der  Kausalität  ihrer  Ursache,  als  die  dieser  .selbst 
zu  Grunde  liegende  Bedingung  der  Möglichkeit  der  ersteren  unter- 
gelegt."-) Das  eine  Mal  kann  diese  Wirkung  nur  als  ^Material  für 
„die  Kunst  anderer  Naturwesen",  das  andere  Mal  unmittelbar  als 
Kunstprodukt  angesehen  werden.  Im  ersten  Fall  ist  relative  Teleologie, 
Mittel  für  einen  anderen  Zweck,  das  andere  Mal  ist  der  Zweck  im 
Produkt  selbst,  innere  Zweckmässigkeit  gegeben.  Sowohl  die  relative 
wie  die  innere  Zweckmässigkeit  ist  für  Kant  von  der  grössestea 
Bedeutung.  Das,  was  um  eines  anderen  Zweckes  willen  da  ist,  ist 
nützlich  und  kann  nur  für  einen  Naturzweck  angesehen  werden, 
wenn  das,  dem  es  nützt,  selbst  an  sich  als  ein  Naturzweck  angesehen 
werden  kann.  Die  äussere,  relative  Zweckmässigkeit  hat  also  nur 
ein  Recht,  wenn  es  innere  Zweckmässigkeit  giebt,  oder  besser  aus- 
gedrückt, wenn  es  Objekte  in  der  Natur  giebt,  die  nicht  mittelst  der 
mechanischen  Naturgesetze  möglich  sind,  die  unter  dem  Gesichtspunkt 
des  Mechanismus  vielmehr  als  zufällig  erscheinen.  Hier  tritt  dann 
die  Betrachtung  unter  dem  Gesichtspunkt  des  Zweckes  ein.  Solche 
Objekte  sind  nun  die  Organismen."')  Einen  Organismus  kann  mau 
sich  nicht  auf  dem  mechanischen  Wege  allein  erklären.  Naturzweck 
ist  ein  Ding,  das  von  sich  selbst  Ursache  und  Wirkung  ist.  z.  B.  ein 
Baum,  der  einen  anderen  Baum  seiner  Gattung  hervorbringt,  und  sich 
selbst  als  Gattung  auf  diese  Weise  erhält,  der  sich  aber  auch  als 
Individuum  erzeugt,  im  Wachstum,  weil  er  die  Materie,  die  er  sich 
aneignet,  zu  spezifischer  Qualität  verarbeitet;  ja  sogar  ein  Teil  des 
Baumes  erzeugt  sich  so,  dass  die  Erhaltung  des  einen  Teiles  von  der 
Erhaltung  des  anderen  wechselseitig  abhängt,  z.  B.  sind  die  Blätter 

1)  Kants  Werke,  ed.  Rosenkranz  Bd.  IV,  Kr.  d.  U.  S.  247. 

2)  Kr.  d.  U.  S.  248  f. 

3)  Kr.  d.  U.  S.  252  f. 


258  '^rof    l>r     PonuT. 

Proiliiktf  des  liaumrs.  rrlialtt-ii  ihn  alirr  am-li  uirdrr  am  Lrlicn. 
W'äliroiui  alsd  die  ^rcwitliiilirln'  Kaiisah  ci  kcttunj:  iimiiti-  abwiirts 
jrclit.  irrlit  sie  hier  ahwiirts  und  aiit\\.irl>.  VÄn  solches  Olijckt  ist 
also  ziljrltMi'h  die  l  rsarlic  dessen,  \vo\  oii  es  die  Wiikiiii^^  ist.  Das 
kann  man  nun  alier  nicht  l)h)ss  unter  dem  (M'sichts|iunkt  der  Wechsei- 
wirkuM;:  verstidien.  \iehnehr  muss  hier  ein  anih-rer  l  nterschicd 
iremaclit  werden,  naidi  Analoiric  der  menschlichen  Kunst,  l)ei  der  Ja 
die  NOrstelhniir  der  Wirkung:  die  l'rsaclie  der  Wirkung:  ist.  So  wird 
nun  auch  hier  die  \  orstellunir  als  die  Trsache  der  Wirkung;-  aii,i:-eselien; 
man  denkt  also  die  Natur  nach  Analogie  menschlicher  Kunst  wirksam; 
ja  Kant  sajrt  sojrar,  dass  diese  Analojrie  insofern  nicht  /utrell'e,  als  der 
Künstler  ausser  dem  Kunsti)ro(lukt  sei,  hier  hinjrejren  das  Naturohjekt 
„sieh  selbst  orsranisiert",')  ohne  freilich  diesem  Gedanken  irj^end  eine 
andere  als  rejrulative  Hedeutun<r  geben  /u  können.  Denn  objektiv 
ist  die  Natur  w eder  wollend  noch  denkend,  und  wenn  man  auf  einen 
ül)er  der  Natur  stehenden  Schöpfer  rekurrieren  wollte,  so  würde 
damit  gerade  der  immanente  Naturzweck  aufgeholten  sein.  Indem 
Kant  so  den  Naturzweck  subjektiv  begründet,  Kt(dlt  er  ihn  als  eine 
Betrachtungsweise  hin.  die  nicht  einmal  dieselbe  Geltung  hat,  wie 
die  Kategorie  der  Kausalität.  Während  diese  ein  ,,objektives"  Ver- 
ständnis des  Zusammenhanges  der  Dinge  als  Erscheinungen  ermöglicht, 
also  hier  das  eigentliche  Naturverständnis  zu  suchen  ist,  tritt  die 
Zweckbetrachtung  nur  ergänzungsweise  da  hinzu,  wo  die  kausale 
Naturbetrachtung  nicht  ausreicht.  Hiermit  ist  eigentlich  dem  Zweck- 
begriti"  die  Bedeutung  einer  Kategorie  genommen,  er  ist  an  sich  nur 
ein  Aushilfsbegriti",  wo  die  mechanische  Betrachtung  versagt.  Allein 
nach  dem,  was  Kant  einmal  zogegeben  hat,  kann  er  bei  dieser 
Betrachtungsweise  doch  nicht  stehen  bleiben.  Im  Gegenteil,  wenn 
man  Naturzwecke  einmal  annehmen  muss,  wenn  nicht  nur  thatsächlich 
bis  jetzt  die  mechanische  Naturbetrachtung  nicht  ausreicht,  sondern 
für  die  organischen  Wesen  niemals  ausreichen  wird,^)  weil  die 
genannten  Merkmale  der  organischen  Wesen  sieh  auf  mechanischem 
Wege  einfach  nicht  erklären  lassen,  weil  die  Ursache  nicht  nach 
rückwärts  wirken  kann,  wenn  man  nicht  eben  die  vorausgenommene 
Vorstellung  der  Wirkung  zur  Ursache  macht,  also  die  teleologische 
Betrachtung  anwendet,  —  dann  kann  man  auch  weitergehen  und 
fragen,  ob  man  nicht  die  gesamte  Natur  unter  dem  teleologischen 
Gesichtspunkte  betrachten  könnte.    Kant  bejaht  diese  Frage  im  vollen 

1)  Kr.  d.  U.  258  f. 

2)  Kr.  d.U.  259  f.,  263,  290. 


Kants  Kritik  der  Urteilskraft  etc.  259 

Umfang:e.     Er  sagt,  wenn  an  einer  Stelle  die  Zweckidoe  zur  Geltung 
gebracht  werden  muss,    so  kann  man  um   des  Zusammcniianges   der 
Natur  willen  keine  Grenze  angeben,  wo  sie  aufhören  würde.*)    Zwar 
sind  nicht  alle  Naturerscheinungen    selbst    als  Naturzwecke    zu    be- 
urteilen, aber  sie  können  relative  Zweckmässigkeit  üir  andere  Zwecke 
habt-n,  und  so  kann  mit  Hilfe  der  äusseren  relativen  Zweckmässigkeit 
eine  umfassende  teleologische  Naturbetrachtung  neben  die  mechanische 
gestellt  werden.     Denn  die  zu  Grunde    liegende  Idee    ist    die,    dass 
die  Natur  einheitlich  betrachtet  werde,   und  da  der  Zweckbegriti'  ein 
Vernunftbegrirt  ist,    so    ist  es   selbstverständlich,    dass    die    gesamte 
Natur  ihm   untergeordnet  werde.    Wenn  sich  hieraus  nun  auch  keine 
Naturwissenschaft  ergiebt,  so  ist  es  doch  eine  die  Naturwissenschaft 
eriränzende  Betrachtuno:sweise.      Nur   das  kann   man  voll  verstehen, 
was  man  selbst  hervorbringen  kann,  wie  das  in  der  Naturwissenschaft 
bei  den  Experimenten  der  Fall  ist.  während  wir    die   teleologischen 
Faktoren  nicht  in  praktische  Anwendung  bringen  können,  da  sie  nnr 
eine  subjektive  Betrachtungsweise  der   Natur  darstellen.     Wenn  nun 
aber  die  Natur  doch  teleologisch    betrachtet  werden    kann,    so  ent- 
stehen   zwei    Fragen:    einmal,  wie    steht    die    teleologische    zu    der 
kausalen  Betrachtungsweise    in    Verhältnis,    und    sodann,  wie    ist  es 
möglich,     eine     einheitliche    teleologische    Naturbetrachtung    durch- 
zuführen?    Beide  Fragen  werden  uns  zeigen,  wie  Kants  Erwägungen 
darauf  hintendieren,    den  Dualismus    zwischen    der    Welt  der  Moral 
und    der  Natur,   der    praktischen    und    theoretischen  Vernunft  abzu- 
schwächen. 

Was  die  erste  Frage  angeht,  so  setzt  Kant  eine  Vereinbarkeit 
beider  Betrachtungsweisen  voraus,  wenn  er  gleich  sagt,  dass,  stricte 
angesehen,  die  eine  die  andere  ausschliesse,  sobald  man  auch  den 
Zweck  als  konstitutives  Prinzip 2)  betrachte.  Denn  wo  der  Mechanismus 
ausreiche,  sei  der  Zweck  überflüssig.  Vom  Zweck  als  Naturzw^eck 
dagegen  bemerkt  er,  dass  er  ohne  allen  zur  teleologischen  Er- 
zeugungsart hinzukommenden  Begriff  von  einem  Mechanismus  der 
Natur  garnicht  als  Naturprodukt  beurteilt  werden  könne.  So  kommt 
er  darauf,  dass  die  Einheit  beider  dadurch  hergestellt  werden  könne, 
dass  einmal  beide  als  in  dem  ül)ersinnlichen  intelligiblen  Prinzip 
der  Natur'')  begründet  vorgestellt  werden,  sodann,  dass  der  Mechanis- 


1)  Kr.   d.  U.  263  f. 

3)  Kr.  d.  U.  276,  287  f.,  304  f. 

3)  S.  802,  305.     Dieses   übersinnliche    .Substrat  wird    .iber    nicht    erkannt, 


wenigstens  nicht  bestimmt  erkannt. 


.)6Q  Trof.   I»r    norncr. 

mus  ilcr  TcleoUifrio  untor^'conlnct  sei.')  Drim  w»»  niiiii  Zwin-kc 
aiiuclimr.  da  inUssr  man  aiu'h  Mittel  annclimcii,  (1.t.-ii  Wirknnirsp'sctz 
tllr  sii-li  iiuH'haiiisi'li  sein  ki)mu'.  So  lasse  sii'li  riiir  alliri'nu'inc 
VrrlMnilunir  der  im'i'haniscluM)  (Icsct/c  mit  (Irn  t<'l('(»l()';is('luMi  in  den 
Er/.riJi:imirt'n  (Irr  Natur  denken,  und  da  dir  nirflianisehe  Kiklärunj; 
für  Naturzwioke  unirenUjrend  sei,  so  müssen  wir  sehliesslicli  den 
Mechanismus  (IrrTeleoloirie  unterordnen,  freilieh  mit  der  Kinsehränkun«;, 
dass,  da  wir  iiidit  wissen,  wie  weit  die  im-ehanisclie  Krklärunjrsart 
reiche,  wir  iinnier  ;ille  Produkte  der  Natur,  aurli  die  /.weckmässifren, 
soweit  wie  mi.jrlich  mechanisch  erklären,  wenn  wir  auch  damit  die 
Kausalität  nach  Zweckjredanken  nicht  aufireben. 

Diese  Lösunjr  iricht  /u    denken;  wenn    einmal    die   Hetrachtnnp: 
unter  ilem  Zwecke  nur  regulativ  ist,  so  künnte  man  erstaunen,  dass 
Kant  den    objektiven  Mechanismus    dieser  Betrachtunf^sweise    unter- 
ordnet.     Allein    der    Grund   davon    ist    die    Tendenz    der    Vernunft 
/.u  einer  einheitlichen  Weltansehauun-:.      Wenn   einmal    für    unseren 
Verstand    die    mechanische    Betrachtung    nicht    ausreicht,    d.  h.    die 
bestimmende  Urteilskraft    bei    dem  Aussereinander  von  BegriH    und 
Anschauung    teilweise  Fiasko   macht,    so  wird    nun    eine  Ergänzung 
in    dem  VernunftbegritV    des  Zwecks    gefunden,    die    doch    nur    das 
Bedürfnis  einer  abschliessenden  Einheit  befriedigt,  wenn  man  wenigstens 
das   Recht   der   Unterordnung    des    Mechanismus    unter    den    Zweck 
annehmen  kann:    denn  sonst    ist  eine  Einheit  ül)erhaupt    nicht    her- 
zustellen.    Diese  Möglichkeit  wird  durch  die  Vorstellung  des  intelli- 
giblen  Substrates    der  Natur  gestützt.     Wir    kommen    also    zu    dem 
Resultat,  dass  schliesslich  die  Anschauung,  die  die  mechanische  nur 
ergänzt,  noch  als  die  dominierende  vorgestellt  werden  muss,  der  die 
andere  untergeordnet  wird,  wenngleich  Kant  für  die  Naturwissenschaft 
für  sich  die  mechanische  Betrachtung  soweit  als  irgend  möglich  ver- 
wendet wissen  will. 

Hier  bewegen  wir  uns  nun  aber  in  einem  bedeutsamen  Schwanken 
zwischen  subjektiver  und  objektiver  Auffassung.  Denn  einerseits 
wird  uns  versichert,  dass  die  teleologische  Betrachtungsweise  nur 
auf  dem  Mangel  unserer  mechanischen  Erkenntnis,  auf  der  Beschränkt- 
heit unserer  Erkenntnisvermögen  ruht,  auf  dem  Aussereinander  von 
Anschauung  und  Begriff,  dass  sie  eine  Ergänzung  unserer  Verstandes- 
Kategorien  durch  die  Vernunft  sei,  die  auf  Einheit  dringt,  auch  wo 
die  bestimmende  Urteilskraft  versagt,  andererseits  wird  doch  wieder 
das  Naturobjekt  selbst  so  dargestellt, als  ob  es  eine  rein  mechanische 

ij  S.  307  f. 


Kants  Kritik  der  Urteilskraft  etc.  261 

Erkläriingsweise  ausschlösse.  Es  gewinnt  den  Anschein,  dass  in 
bestimmten  Fällen  das  Naturobjekt  selbst  eine  teleologische  Aaflfassimg 
notwendig  macht,  weil  es  an  sich  nicht  möglich  ist,  gerade  dieses 
Objekt  auf  mechanischem  Wege  zu  verstehen;  es  wird  ferner  auf 
das  intelligible  Substrat  der  Natur  zurückgegangen,  um  beide  Be- 
trachtungsweisen als  vereinbar  anzusehen.  Demnach  scheint  es  sich 
doch  nicht  um  eine  nur  subjektive  Auffassung  zu  ^  handeln,  zumal 
der  teleologischen  Betrachtungsweise  die  mechanische  untergeordnet 
werden  soll.  Vielmehr  würde  der  Natur  als  Erscheinung  ein  intelli- 
gibles  Substrat  zu  Grunde  liegen,  das  die  zunächst  mechanische 
Naturerscheinung  zugleich  teleologisch  zu  deuten  erlaubte. 

Freilich  ist  nun  auf  der  anderen  Seite  gerade  die  Idee  des 
Naturzweckes  selbst  das,  was  Kant  veranlasst,  in  der  subjektiven 
Sphäre  stehen  zu  bleiben.  Denn  dass  die  Natur  selbst  als  denkendes 
Wesen  vorgestellt  wird,  widerspricht  seiner  Meinung  nach  ebenso 
ihrem  Begriffe,  als  es  unmöglich  ist,  etwa  auf  einen  Gott  zu 
rekurrieren,  um  auf  diesen  den  Naturzweck  zurückzuführen,  da  dieser 
ja  der  Natur  transscendent  wäre,  während  der  Naturzweck  eben  der 
Natur  immanent  ist.  Weil  Kant  den  Gedanken  der  objektiven  Ver- 
nunft noch  nicht  gefasst  hat,  bleibt  er  dabei  stehen,  dass  die  Natur- 
betrachtung unter  dem  Gesichtspunkte  des  Zweckes  unserer  subjektiven 
Vernunft  entsprungen  sei;  dann  kann  er  aber  auch  den  Gedanken 
nicht  mehr  abwehren,  dass  die  Zweckidee  nur  mit  der  Einrichtung 
unserer  Vernunft  gegeben  ist,  eine  objektive  und  allgemeine  Geltung 
aber  nicht  hat. 

Wenn  nun  Kant  so  zwischen  subjektiver  und  objektiver  Be- 
trachtung hin  und  herschwankt,  so  bleibt  doch  der  Gedanke  im 
Interesse  der  Einheitlichkeit  seiner  Weltauffassung  bedeutsam,  dass 
er  die  mechanische  Naturbetrachtung  der  teleologischen  unterordnet 
und  ihre  Vereinbarkeit  auf  das  intelligible  Substrat  der  Natur  gründet. 
Denn  hiermit  ist  auf  Seiten  der  Natur  die  Möglichkeit  gegeben,  dass 
sie  sich  auch  der  Teleologie  der  Moral  fügt,  da  sie  selbst  eine 
teleologische  Betrachtung  zulässt.  was  freilich  streng  genommen 
alles  nur  Sinn  hat,  wenn  sie  eine    objektiv   existierende   Grösse  ist. 

Das  führt  uns  auf  den  zweiten  Punkt,  auf  die  Durchführung 
der  teleologischen  Naturbetrachtung  für  die  gesamte  Natur.  In  dieser 
Beziehung  ist  die  Kantsche  Auffassung  nicht  ganz  harmonisch.  Einer- 
seits haben  wir  gesehen,  dass  er  von  innerer  Zweckmässigkeit  redet, 
um  deren  willen  er  überhaupt  die  Zweckidee  auf  die  ganze  Natur 
anwendet,  so  dass  man   denken    sollte,    die  Naturzwecke    seien    die 


2i)'2  Prot".   I>i     l>uriu«r, 

K'tzti'n  Z\>ocko  dor  Natur,  Ini  (Iciicn  sio  licliain'.  Andororsoits 
wird  aber  nun  von  ihm  ausciuandcrjrcsct/t,  dass  lua»  im  (Ichiete 
der  Natur  ül)i'r  die  nlatix  m  Zwecke  nicht  lunau--kiimiiH'.  Man  könne 
hei  (h-r  Zweckhetrachlunjr  mit  der  Fra^M'.  was  (hnn  der  letzte  Zweck 
in  der  Natur  sei.  nicht  zu  VahU'  kommen,  weil  man  aus  dem  relativen 
Gebiet  nicht  herauskomme.  Ks  sind  hier  zwei  Hetrachtunj:sweisen 
vermischt,  eine,  nach  welcher  (s.  o.  S.  2'ü )  der  Zweck  im  Or^^anismus 
irefunden  wird;  danach  ist  der  Zweck  die  diesen  Organismus  in  seinen 
Teilen  zu  einer  Kinheit  /usannnenfassende  Idee,  sofern  sie  als  die 
Ursache  des  Oriranismus  als  (ianzen  vorirestidlt  wird.  Davon  unter- 
scheidet er  aber  den  ..Kndzweck"  und  nach  dieser  Hctrachtunfrsweise 
wird  .Vlies  Mittel  für  einen  bestimmten  Endzweck.')  Während  der 
Zweck  also  im  Gebiet  der  Natur  nur  als  die  einheitliche  (Grundidee 
irefasst  wird,  welche,  auf  uns  freilich  jränzlich  unbejjreiHiche  Weise, 
die  l'rsache  der  Form  eines  oriranischen  Wesens  ist,  so  wird  er  nun 
auf  einmal  unter  einen  ganz  anderen  Gesichtspunkt  jrestcllt,  den  des 
Endzwecks,  auf  den  sich  alles  Zweckmässige  als  Mittel  beziehen  soll. 
Eben  hierdurch  aber  wird  nun  die  Natur  in  die  engste  lieziehung 
zur  Moral    gebracht. 

Man  k(3nnte  die  Teleologie  so  durchzuführen  versuchen,  dass 
man  Alles  in  der  Welt  zugleich  Zweck  und  .Mittel  sein  lässt  und 
so  die  gesamte  Welt  zu  einem  grossen  Organismus  macht,  in  dem 
eines  das  andere  bedingt  und  trägt,  so  dass  in  dieser  Welttotalität 
für  sich  als  Selbstzweck  auch  der  „Endzweck"  liegen  würde.  Diese  — 
in  letzter  Instanz  ästhetische  Weltauffassung  wird  von  Kant  abgelehnt, 
weil  man  doch  als  Endzweck  in  der  Natur  kein  Naturwesen,  sondern 
nur  den  Menschen  betrachten  könnte,  die  Auffassung  also,  nach  der 
Alles  Mittel  und  Zweck  zugleich  ist,  sich  nicht  durchführen  lässt.^) 
Wenn  man  nun  ferner  die  Glückseligkeit  des  Menschen  =")  als  End- 
zweck betrachten  wollte,  so  gehe  dies  nicht  an,  weil  die  Natur  nach 
der  Erfahrung  für  die  Glückseligkeit  des  Menschen  sehr  mangelhaft 
iresorfft  habe.  Eher  noch  könnte  man  die  Kultur  als  den  letzten 
Naturzweck  ansehen,  d.  h.  die  Ausbildung  der  Tauglichkeit  des 
Menschen,  sich  selbst  Zwecke  zu  setzen  und  die  Natur  den  Maximen 
seiner  Zwecke  gemäss  zu  gebrauchen.  Dass  nun  diese  Entwicklung 
der  Kultur  sich  als  Naturzweck  ansehen  lasse,  will  er  nicht  gerade 
bestreiten,    indem    er    zeigt,   wie    gerade    durch    die    Naturübel    die 


1)  Vgl.  Kr.  d.  U.  S.  321  f. 

2)  Kr.  d.  U.  S.  822  f. 
3j  Kr.  d.  U.  S.  326  f. 


Kants  Kritik  der  Urteilskraft  etc.  263 

Seelenkräfte  f;:estärkt  werden,  während  durch  die  positive  Kultur  der 
Mensch  geschliffen  werde,  indem  er  zur  bürgerlichen  Gesellschaft,  zum 
Weltbürgertain  sich  erhebe,  um  die  Naturtriebe  zu  kultivieren,  zumal 
auch  durch  Wissenschaft  und  Kunst  die  Neigungen  diszipliniert  werden. 
Aber  als  letzter  und  Selbstzweck  soll  diese  Kultur  doch  nicht  an- 
gesehen werden.  Sie  dient  indes  dazu,  den  Menschen  zu  einer 
Herrschaft  vorzubereiten,  in  der  die  Vernunft  allein  Gewalt  haben 
soll.  Den  Endzweck  der  Natur  findet  er  also  am  ehesten  noch  in 
dem  Menschen  als  Kulturwesen;  der  Mensch  als  blosses  Kulturwesen 
ist  aber  doch  nicht  Selbstzweck  ;  vielmehr  zeigt  sich  in  dem  Allem  nur 
eine  Vorbereitung  durch  die  Natur  für  die  moralische  Existenz  des 
Menschen.  Die  Natur  ist  nicht  hinreichend,  den  Endzweck  hervor- 
zubringen. Auch  die  Betrachtung  der  Natur  und  dessen,  was  in  mir 
Natur  ist,  kann  nicht  Selbstzweck  sein.  Nur  der  Mensch  als 
Noumenon  ist  Selbstzweck.  So  ist  der  Mensch  der  Zweck  der 
Schöpfung,  aber  als  moralischer.^)  Dieser  Standpunkt  Kants  ist 
wieder  sehr  interessant.  Einmal  zeigt  er,  wie  die  teleologische 
Naturbetrachtung  der  Moral  entgegenkommt,  indem  die  Kultur,  welche 
der  Zweck  der  Natur  ist,  als  eine  Vorbereitung  der  Naturseite  für 
die  moralische  Existenz  angesehen  -werden  kann.  Andererseits  bleibt 
ihm  doch  die  Moral  für  sich  bestehen,  weil  erst  hier  von  einem 
Endzweck  die  Rede  sein  kann,  und  wir  befinden  uns  mit  der  Kultur 
nur  in  der  Vorhalle  der  Moral,  Sein  abstraktes  Moralprinzip  macht 
es  ihm  nicht  möglich,  eine  wirkliche  Einheit  zwischen  moralischem 
Geist  und  der  Natur  herzustellen.  Das  Moralprinzip  bleibt  allgemein, 
gänzlich  unabhängig  von  aller  Beziehung  auf  die  Natur; ^)  nur  wenn 
Natur  da  ist,  sollte  sie  dem  Moralprinzip  als  letztem  Zweck  untergeordnet 
werden,  und  die  Kultur  bildet  als  Naturzweck  für  die  Moral  eine 
Vorstufe.  So  wird  zwar  eine  Annäherung  beider  Prinzipien  ermöglicht; 
aber  über  eine  Annäherung  kommt  Kant  doch  auch  hier  nicht  hinaus.^) 
Dasselbe  zeigt  sich, "  wenn  man  die  Physikotheologie  in  das 
Auge  fasst.  Hier  wird  zunächst  das  teleologische  Prinzip  wieder 
abgeschwächt,    insofern   Kaut   die   Unmöglichkeit,   auf  ein   absolutes, 


1)  Kr.  d.  U.  S.  333. 

2)  Ebenso  ist  es  unbedinf,^t,  Kr.  d.  U.  S.  352,  354,  378  Anm. 

^)  In  gewisser  Art  würde  die  Einheit  von  Natur  nnd  .Moral  bei  Kant 
wenigstens  im  letzten  Grunde  vorbanden  sein,  wenn  man  mit  X.  Basel),  Essai 
critique  sur  l'esthetique  de  Kant  S.  513  annehmen  könnte,  dass  das  intelligible 
Substrat  der  Natur  identisch  sei  mit  dem  Substrat  unserer  Vermögen,  der 
„Freiheit    Aber  so  bestimmt  hat  Kant  sich  nicht  ausgesitrochen. 


iiitclliiTcntos  Wesen  zu  schlifssen.  daraus  /u  envcisou  sucht,  dass 
der  Zweck  in  der  Natur  sich  nicht  lll)erall  durchrilhreii  lasse.  Man 
könnte  von  solch  einer  empirischen  Naturfrrundla^e  nur  auf  ein 
annähernd  vollkoninienes  Wesen  schliessen,  was  a>ich  der  Polytheismus 
der  Alten  beweise,  ilie  von  der  unvollkommenen  Natur^Miindia^-e  nur 
auf  menschlich  einjreschränkte  (Jötter  ireschlossen  hätten,  und  wo 
sie  sich  /.u  einer  Einheit  als  l'hysiker  erhohen  hätten,  hei  der 
lidiären/.  in  einer  Su'ostanz  stehen  "rehliehen  seien  und  in  ihr  die 
'J\'hM)loirie  aufirehohen  hätten.  Kur/  er  meint,  man  könne  aus  der 
Zweckmässiirkeit  in  der  Natur  wohl  darauf  schliessen,  dass  sie  das 
Produkt  eines  Verstandes  sei;  aber  mau  könne  daraus  noch  nicht 
auf  einen  hewussten  Gott  schliessen,  der  der  Natur  sell)st  einen 
Zweck  gesetzt  habe,  da  man  einen  solchen  in  der  Natur  gar  nicht 
kenne;  vielmehr  müsse  man  dabei  stehen  bleiben,  dass  ein  von  der 
blossen  Notwendigkeit  seiner  Natur  zur  Hervorbringung  gewisser 
Formen  bestimmter  Verstand  Urgrund  der  Natur  sei  (nach  Art  eines 
Kunstinstinktes).')  Dagegen  ist  ihm  nun  allerdings  der  ])hysiko- 
theologische  Beweis  nicht  ganz  wertlos,  wenn  er  sich  auf  den 
moralischen  Beweis  stützen  kann,  der  freilich  für  sich  nur  ein 
Postulat  oder  ein  moralischer  ,.Glauhe"  bleibt;  aber  wenn  dieses 
Postulat  gilt,  so  ist  die  Teleologie  in  der  Natur  ein  Zeichen  dafür, 
dass  auch  die  Natur  ihrerseits  dem  absoluten  Zweck  entgegenkommt.^) 
Indes  auch  hier  wird  beides  auf  das  Strengste  auseinandergehalten; 
die  theoretische  Erkenntnis  des  Naturzw'eckes  mündet  nicht  in  die 
praktische  Vernunft  ein,  sondern  beweist  nur,  dass  eine  Harmonie 
beider  unter  dem  Primat  der  praktischen  Vernunft  nicht  ausgeschlossen 
ist.  Das  moralische  Gesetz  verbindet  uns  für  sich  allein,  ohne  von 
irgend  einem  Zwecke  als  materialer  Bedingung  abzuhängen.  Insofern 
■würde  auch  hier  nur  von  einem  Gesetze  des  Willens  die  Rede  sein 
können,  und  ein  solcher  Wille  wäre  Selbstzw^eck.  Der  hat  aber  an 
sich  gar  nichts  mit  der  Natur  zu  thun.  Die  Beziehung  auf  die  Natur 
ergiebt  sich  nur  dadurch,  dass  das  Gesetz  „auch"  a  priori  als  End- 
zweck das  höchste  durch  Freiheit  mögliche  Gut  in  der  Welt  bestimmt. 
Das  höchste  Gut    ist    nun  Glückseligkeit    unter    der  objektiven  Be- 


1)  Man  beachte,  wie  hier  Kant  aus  dem  Naturzwecke  nur  auf  einen  nnbe- 
wusst  schaffenden  Geist  ohne  Endzweck  rekurriert  und  hiermit  die  Hartmannsche 
Teleologie  vorwegnimmt,  sofern  er  nur  bei  einem  relativen  Zwecke  und  bei  einem 
unbewussten,  instinktartig  produzierenden  Verstände  anlangt.  Vgl.  Kr.  d.  U. 
§  84.  S.  335—342. 

2)  Kr.  d.  U.  S.  359  f. 


Kants  Kritik  der  Urteilskraft  etc.  265 

dinjrung  der  Einstimmung:  des  Menschen  mit  dem  Gesetz  der 
Sittlichkeit  als  der  Wiirdigrkeit  glücklich  zu  sein.  Das  moralische 
Gesetz  hat  also  auch  ohne  Gott  seine  volle  Verbindlichkeit,  nur  der 
Naturtrieb  im  Menschen  auf  Glückseligkeit  ist  es,  um  dessen  Harmonie 
mit  der  Sittlichkeit  willen  Gott  postuliert  wird.  Um  also  den 
moralischen  Endzweck  als  möglich  anzunehmen,  bedarf  er  einen 
Gott  als  Welturheber.  Hier  ist  nun  freilich  die  Glückseligkeit,  wenn 
auch  in  ihrer  Proportion  zur  Sittlichkeit,  als  Naturzweck  aufgefasst, 
während  er  früher  gesagt  hatte,  dass  die  Natur  in  der  Glückseligkeit 
ihren  Zweck  nicht  haben  könne,  sondern  in  der  Kultur  als  Vor- 
bereitung für  die  Sittlichkeit.  Das  ist  indes  deshalb  nicht  notwendig  ein 
Widerspruch,  weil  hier  die  Glückseligkeit  vom  moralischen  Verhalten 
abhängig  gemacht  wird,  also  die  Natur  dem  moralischen  Gesetz  unter- 
than  sein  soll,  wozu  ja  die  Kultur  eine  Vorstufe  ist.  Immerhin  aber  bleibt 
es  doch  eine  Unebenheit,  dass  er  zuerst  die  Glückseligkeit  zu  Gunsten  des 
Kulturzweckes  ablehnt  und  nachher  doch  wieder  sie  hintennach  als 
Naturzweck,  der  nur  dem  Moralgesetz  entsprechen  soll,  anerkennt.*) 
Wie  dem  aber  auch  sei,  Kant  wehrt  sich  gegen  jede  Physikotheologie 
und  behauptet,  nur  im  praktischen  Interesse  können  wir  Gott  postu- 
lieren, und  wir  können  nie  auf  theoretischem  Wege  aus  der  Zweck- 
mässigkeit der  Natur  Gott  erweisen,  weil  der  Endzweck  nur  in  der 
praktischen  Vernunft  liegt.  Es  ist  sehr  merkwürdig,  dass  Kant  trotz 
seines  Versuches,  die  Natur  für  die  praktische  Vernunft  als  gefügig 
zü  betrachten,  doch  die  Selbständigkeit  der  praktischen  Vernunft 
so  stark  wahrt,  dass  ihm  die  Idee  des  Endzwecks  rein  der  prak- 
tischen Vernunft  zu  entstammen  scheint,  die  theoretische  Vernunft 
aber  eigentlich  nichts  mit  dem  Endzweck  zu  thun  hat;  der  Natur- 
zweck für  sich,  der  ein  theoretischer  und  der  praktischen  Vernunft 
fremder  Begriff  ist,  bleibt  nur  im  Relativen  stecken,  während  der 
Vernunftzweck  an  sich  schon  im  guten  Willen  gegeben  ist,  und  nur 
unter  Voraussetzung  der  Natur  sich  zum  Weltzwecke  näher  be- 
stimmt, dem  die  Natur  dienstbar  sein  soll. 

Man  hat  vielfach  als  Kants  wahre  Meinung  eine  ethische  Welt- 
anschauung hingestellt,  der  gemäss  er  die  theoretische  Vernunft  in 
den  Dienst  der  praktischen,  die  Natur  in  den  Dienst  des  Endzweckes 
stelle  und  durch  die  teleologische  Betrachtung  der  Natur  die  Brücke 

1)  Das  wiinderüche  Schwanken  der  neukantischen  Ritschlianer  zwischen 
der  Glückseligkeit  und  Moralität  als  letztem  Zweck  der  Religion  und  lüe  Zurück- 
stellung des  Wertes  der  Kultur,  die  kaum  ethisch  gewertet  wird,  hängt  mit  dieser 
SteUung  Kants  zusammen. 

Kautstudieu  IV.  18 


'2C^C^  Trot.   l'r.   l)nnii'r. 


sclilajrr.  Hin  so  den  N;itiiriiircli.mismus  in  dvu  Dienst  cim-r  Idi'c.  uiiil 
/war  /ulct/t.  weil  dir  Natur  selbst  schon  'rolcoldjric  aiit'wcisf,  in 
den  Dienst  der  al>>«tdiiten  Zweckidei'  /.u  stellen  und  die  Natur  l'llr 
den  Geist  diirtdi  ein  altsoiutes  Wesen  hi'stiinnit  /u  (h'nken.  l'".s  niHf; 
sein,  dass  diese  Ansicht  Kant  als  Eiulerfrebnis  vorf?eschwel»t  hat. 
l'.r  hätte  daini  als  der  Vater  der  ethischen  Wtdtanschauunf;  /u  {gelten, 
die  von  dem  Theisnuis  insbesondere  nüt  Knerjrie  in  verscdiiedenen 
Modifikationen  l)is  auf  den  heutiiren  Taf?  vertreten  wird.') 

Allein  dabei  wird  di-nn  dcK'li  übersehen,  dass  Kant  zwar  den 
Versuch  macht,  die  theoretische  der  praktischen  V^ernunft  anzunähern, 
aber  doch  im  Grunde  beide  auseinanderhält  und  nicht  den  Schritt 
wa^t,  die  praktische  Vernunft  produktiv  vorzustellen,  wenn  sie  auch 
den  Endzweck  der  der  Sittlichkeit  entsprechenden  (ilückseligkeit 
])0stuliert.  N'ielmehr  ist  gerade  das  Aussereiuander  beider  Faktoren, 
der  Natur  und  des  Geistes,  der  theoretischen  und  der  praktischen 
Vernunft,  der  Glückseligkeit  und  der  Sittlichkeit,  in  der  Empirie  der 
Grand  für  das  Postulat  Gottes.  Sein  Standpunkt  ist  nicht  so,  dass 
das  moralische  Gesetz  selbst  ein  positives  Handeln  auf  die  Natur 
verlangt.  Vielmehr  hat  das  Gesetz  an  sich  selbst  Geltung  ohne  Be- 
ziehung auf  das  höchste  Gut.  Nur  wenn  doch  einmal  die  Natur  da 
ist,  und  der  Mensch  als  Phänomenon,  Natur  wesen,  mit  seinem  Glück- 
seligkeitsdrang da  ist,  dann  ist  der  bekannte  Endzweck  gefordert, 
dann  stellt  das  Gesetz  die  Forderung,  dass  die  Natur  ihm  unterge- 
ordnet sei.  Dazu  kommt  nun  aber  noch  dies,  dass  Kaut  gerade,  wo 
er  seine  Ansicht  zu  einer  Einheit  zusammenzuziehen  im  Begritf  steht, 
wieder  ausdrücklich  hervorhebt:  dass  um  des  Endzweckes  willen  ein 
Gott  angenommen  werden  müsse,  sei  ein  Schluss,  der  nur  für  die 
Urteilskraft  nach  Begriffen  der  praktischen  V^ernunft.  und  zwar  nur 
für  die  reflektierende  Urteilskraft  gefällt  sei,  nicht  für  die  bestimmende. 
Mit  anderen  Worten:  wir  haben  für  diesen  Schluss  lediglich  einen 
Grund  „nach  der  Beschaffenheit  unseres  Vernunftvermögens,  nachdem 
wir  ans  die  Möglichkeit  einer  solchen  auf  das  moralische  Gesetz  be- 
zogenen Zweckmässigkeit  ohne  Gott  nicht  begreiflich  machen  können".  2) 
Wenn  nun  auch  der  moralische  Gottesbeweis  in  der  physikotheolo- 
gischen  Reflexion  eine  Stütze  hat,  sofern  die  Natur  uns  hiernach  als 
selbst  teleologisch  bestimmt  dem  höchsten  Zwecke  zugänglich  erscheint, 
so  ist  doch  beides  theoretisch  nur  für  die  reflektierende  Urteilskraft 


ij  Harms  hat  in  seiner  „Philosophie  seit  Kant"  diese  Seite  besonders  heraus- 
gehoben. 

2j  Kr.  d.  U.  S.  359,  294  f. 


Kants  Kritik  der  Urteilskraft  etc.  267 

gültig  und  eben  darum  nur  regulativ,   und  nur  praktisch  konstitutiv, 
insofern  wir  dieser  Voraussetzung  gemäss  handeln.    Hiermit  sind  wir 
doch  wieder  ganz    in  das  subjektive  Gebiet  gewiesen.     Nur  für  die 
Einrichtung   unserer  Erkenntnisvermögen    gilt  die  teleologische    Be- 
trachtung der  Natur  und  die  Annahme,  dass  im  praktischen  Interesse 
eine  Harmonie  zwischen  der  praktischen  Vernunft  und  der  Natur  be- 
stehen werde.     Im  Grunde  heisst  das,    wir  handeln  so,  als  ob  diese 
Harmonie  bestünde,  weil  wir  handeln  sollen,  wenn  wir  gleich  eine  feste 
theoretische  Einsicht  nicht  gewinnen  können,  dass  es  so  ist.    Dieser 
subjektive  Standpunkt  wird  dadurch  noch  gestärkt,  dass  ja  die  Natur 
überhaupt,  von  dem  unbekannten  Ding  an  sich  abgesehen,  selbst  nur 
ein  Produkt  unserer  subjektiven  Erkenntnisvermögen  ist.    Ja  Kant  geht 
selbst  so  weit,    dass  er   auch   die  absolute  Geltung  der  praktischen 
Vernunft  in  Frage  stellt,  und  auch  sie  nur  als  mit  der  eigentümlichen 
Beschaffenheit     unserer    Erkenntnisvermögen     gegeben     betrachtet, 
während  sich  ganz  wohl  eine  \'ernunft  denken  liesse,  für  welche  der 
Unterschied   der    praktischen  nnd  theoretischen  Vernunft    wegfiele,^) 
der  nur  auf  dem  Aussereinander  von  Verstand   und  Anschauung  be- 
ruhe.   Auf  der  anderen  Seite  scheint  freilich  doch  wieder  die  Natur 
als  eine  objektive  Grösse  von  ihm  behandelt  zu  werden;   denn  dass 
wir  bloss   auf    unsere   Vorstellung  handeln,    kann  doch    nicht  seine 
Meinung    sein.     Der  Abschluss    von  Kants  System,    wie    er    in    der 
Kritik  der  Urteilskraft  erscheint,  ist  doch  nur  dann  gegeben,  wenn  die 
Natur  objektiv  besteht,    und   diese  objektive  mechanische  Natur  da- 
durch,   dass   sich   die    teleologische  Betrachtung    auf   sie    anwenden 
lässt,    auch  dem  Postulat  der  praktischen  Vernunft   entgegenkommt, 
so  dass  die  Hoffnung  besteht,  sie  werde  sich  dem  praktischen  Zwecke 
gemäss    behandeln   lassen,  worauf  wir  ja  auch   durch   die  Annahme 
der   „Natur  an   sich"    oder    des   übersinnlichen  Substrats   der  Natur 
hingewiesen  werden.    Es  ist  klar,  dass  Kant  hier  zu  keinem  einheit- 
lichen Abschluss  gekommen  ist,   sondern   schwankt.     Es  blieben  nur 
für  die  Nachfolger    zwei   Möglichkeiten,    entweder    den    subjektiven 
Standpunkt    zu   Ende  zu    führen,    oder  die  ethische  Weltanschauung 
konsequent    auszugestalten.      In    Bezug    auf   die    erste    Möglichkeit 
konnte    man    einmal    dabei    stehen    bleiben,    dass    unsere   Erkennt- 
nis   nach    der  Beschaffenheit    unserer  Erkenntnisvermögen    subjektiv 
bleibe    und    eine    Erkenntnis   eines    an    sich    seienden  Objekts  voll- 
kommen unmöglich  sei,  dass  auch  unsere  praktische  Vernunft  nicht, 
wie  Kant    früher    behauptet    hatte,    ein    für    alle  Geister    unbedingt 

1)  Kr.  d.  U.  S.  294. 

18* 


•268 


Prof.  Dr.  l>ornt>r, 


geltoiulos  Gesetz  enthalte,  sondern  ('l)entalls  diirrli  ilic  HesclwitVcnheit 
nnscros  subjektiven  (leistes  l)estiMniit  sei,  also  uiil)c<linf:len  Cliarakter 
niohl  in  Anspnieli  neliineii  könne,  sondern  dass  aueli  die  K.tliik  nur 
tllr  unsiTe  lieistesvennö-^en  -;elt('.  Kant  liat  diesen  Standpunkt  sell)st, 
wie  wir  eben  saiien.  piin/ipiell  aus{;esi)rochen.  Die  volle  Konsecpienz 
dieses  ganzen  Standjjunktes  wurde  erst  von  <leni  Neukantianismus 
uud  seinen  Ausläufern  f^'ezogen. 

In  der  unniittell)aren  Nähe  von  Kant   wurden  solche  skeptische 
Wendungen   noch    nicht   gewagt.     Da  wurde    der  Versuch    gemacht, 
auf  subjektivem   Wege    durch   höchste   Steigerung    der   Subjektivität 
eine  Einheit  zu  erreichen.     Das    geschah   durch  Fichte     Er  knUpfte 
daran  an.  dass  in  dem  intelligil)len  Substrat  der  Natur  das   wahrhaft 
Objektive,    das    Vernünftige   sei,    dass  die  Emplindung    gänzlich  auf 
subjektivem  Wege  zu  erklären  sei,    dass  das  Ding   an  sich   als  He- 
jrriff   ein  Produkt    der    denkenden   Vernunft  sei.     Theoretische   und 
praktische  \'ernunft  führte  er  in  dem  absoluten  Ich  zu  einer  Einheit 
zusammen,  und  nichts  war  von  dem  Kantischen  Ausgangspunkt  natür- 
licher.    Denn  da  Empfindung,  Anschauung  subjektiv,  die  Kategorien 
subjektiv  sein  sollten,    das  intelligible  Substrat  der  Natur  oder  das 
Dins;  an  sich   vernünftig  sein  sollte,    und  schliesslich   die  praktische 
Vernunft,    der    vernünftige   Wille  in   die    transscendente  Sphäre  den 
Eintritt  ermöglicht  hatte,  so  kam  es  nur  darauf  an,  diese  ganze  sub- 
jektive  Welt  in   eine   Einheit    im    absoluten  Ich   zusammenzufassen, 
ein  Bestreben,  das  um  so  berechtigter  erschien,^)   als  Kant  selbst  ge- 
rade in  der  Kritik  der  Urteilskraft  die  grossesten  Anstrengungen  zur 
Harmonisierung  der  getrennten  Gebiete  gemacht  hatte.    Dabei  ist  es 
auch  völlig  natürlich,  dass  Fichtes  absolutes  Ich  schliesslich  mit  der  ab- 
soluten Vernunft  identisch  gesetzt  wurde,  da  ja  Kant  selbst  schon  das 
empirische  Ich  als  homo  phaenomenon  von  der  Vernunft  unterschieden 
und  selbst  auf  die  Möglichkeit  einer  Vernunft  hingewiesen  hatte,  welche 
zwischen  praktischer  und  theoretischer  Vernunft  keinen  Unterschied 
kennt.    Fichte  hat  ein  vollendetes  System  des  transscendentalen  Idealis- 
mus auszubilden  versucht.    Freilich  musste  er  dann  auch  die  Empfindung 
als  Produkt  der  Vernunft  betrachten.    So  konnte  auf  der  subjektiven 
Grundlage  Kants  der  Idealismus    in  doppelter  Gestalt   sich   erheben, 
in  der  Fichteschen  und  in  der  skeptischen  Form,  welch  letztere  sich 

1)  Vgl.  z.B.  M.  E.  Mayer,  Das  Verhältnis  des  Sigismund  Beck  zu  Kant, 
der  der  Meinung  ist,  dass  Kants  That  darin  bestanden  habe,  den  Schwerpunkt 
der  Philosophie  in  unser  Inneres  zu  verlegen,  und  dass  die  Konsequenz  Kants 
sei,  die  Erfahrung  ohne  Rest  in  ein  Produkt  des  Bewusstseins  aufzulösen.   S.  31. 


Kants  Kritik  der  Urteilskraft  etc.  -269 

geltend  machte,  als  der  produktive,  konstruktive  Idealismus  vorläufig 
gescheitert  war.  Schliesslich  hat  man  auch  die  Vorstellung  von  dem 
Ding  an  sich,  von  dem  doch  nichts  soll  gewusst  werden  können, 
weil  selbst  die  Vorstellung  desselben  nach  dem  skeptischen  Idealis- 
mns  nur  auf  der  subjektiven  Beschaffenheit  unserer  Erkenntnisver- 
mögen ruht  — ,  hat  man  auch  diese  Vorstellung  vom  Ding  an  sich,  die 
80  nur  zu  einer  Vexiervorstellung  geworden  war,  wieder  fallen  ge- 
lassen, blieb  bei  ..psychologischen  Vorstellungen"  stehen,  ohne  sich 
Dm  weitere  Fragen  zu  kümmern,  und  verfuhr  nur  in  der  Praxis,  als 
wären  diese  Wirklichkeit,  oder  man  kehrte  gar  zu  einem  subjektiv 
gewendeten  naiven  Kealismus  zurück,  indem  man  sagte,  für  uns  sei 
unsere  Erscheinungswelt  unsere  Wirklichkeit.  So  ergab  sich  ein 
Psyehologismus,  der  gegenwärtig  noch  weite  Kreise  beherrscht,  und 
bei  dem  natürlich  auch  der  unbedingte  Charakter  der  Moral,  den 
Kant  ursprünglich  wollte,  aber  schliesslich  doch  selbst  auch  wieder 
mindestens  hypothetisch  in  Frage  stellte,  aufhört. 

Kant  selbst  würde  indes  schwerlich  diese  Konsequenzen  billigen. 
Für  ihn  stand  doch  trotz  der  skeptischen  Anwandlungen  auch  in 
Bezug  auf  die  Moral  der  Hauptsache  nach  die  praktische  Vernunft 
mit  ihrem  Gesetz  und  dessen  Geltung  für  die  einmal  bestehende  Welt 
fest,  und  somit  kann  man  doch  auch  die  ethische  Weltanschauung 
des  Theismus  in  gewisser  Hinsicht  auf  ihn  gründen.  \)  Hierbei  dürfte 
folgende  Ansicht  noch  von  Interesse  sein,  die  Kant  ebenfalls  in  der 
Kritik  der  Urteilskraft  ausgesprochen  hat,  und  die  später  in  um- 
fassenderer Weise  verwendet  wurde.  Er  sagt  nämlich,  das  Fürwahr- 
halten müsse  sich  auf  Thatsachen  gründen.  Nun  sind  nach  ihm  That- 
sachen  für  gewöhnlich  nur  in  der  Anschauung  und  Empfindung 
verbürgt.  Nur  eine  Thatsache  kennt  er,  die  über  die  Sinnenwelt 
hinausgeht,  das  ist  die  Thatsache  der  Freiheit,  und  zwar  sagt  er 
geradezu,  dass  „der  Freiheitsbegriff  seine  Realität  durch  die  Kausalität 
der  Vernunft  in  Ansehung  gewisser  durch  sie  möglicher  Wirkungen 
in  der  Sinnenwelt  hinreichend  darthue".  Hier  steht  ihm  also  die 
Vereinigung  von  praktischer  Vernunft  und  apriorischer  Freiheit  mit 
der  Sinnenwelt,  durch  die  Kausalität  der  Vernunft  in  der  Sinnen- 
welt als  Thatsache  fest.^j    Von  dieser  Thatsache   aus  könne  man  im 


ij  Man  sieht  z.  B.  aus  der  Eeligion  innerhalb  der  Grenzen  der  blofsen  Ver- 
nunft, dass  er  die  Absolutheit  der  Moral  doch  festhalten  wollte. 

-,  Kr  d.  U.  S.  383,  375,  „deren  Realität  (der  Freiheit)  als  einer  besonderen 
Art  von  Kausalität  (von  welcher  der  Begriff  im  theoretischen  Betracht  über- 
schwengüch  sein  würde)    sich  in  wirklichen  Handlungen,    mithin  in   der  Er- 


•J7(>  '''■"'    ^''     Ut>riu»r, 

})r:i  U  t  i->r  licu  liilcrcssi'  ;iiil'  (J(»tt  si'lilit'SKcn.  niiinlii'li  insofern  da« 
Postulat  l)cst(>lit.  einen  allircnu'iin'n  Kinklan^'  /.wisclien  \  eiiuintl  und 
Natur  her/ustellen.  Hierin  lieiit.  dass  es  in  der  iMnpirie  also  doch 
oine  erkennbare  Wirksamkeit  einer  intelli^nhien  (liiisse,  eines 
Diu'jos  an  sieh  ^'i'he.  dass  also  doeli  ein  l*uid\t  da  ist.  wo  die  int(dli- 
«rihlc  Welt  in  die  enipirisehe  hincinrairt.  liier  ist  di-r  .Man;;id  unseres 
KrktMintnisverniö^ens  aufgehoben,  der  in  dein  Aussereiiiaruler  nou 
Sini\eserrahrunir  und  apriorisehen  Faktoren  liejjt.  Kant  hat  hier 
wirklieh  eine  Briieke  i:esehlaj::en  zwischen  i)eiden  Seiten.  \'(ui  hier 
aus  Hesse  sich  eine  objektive  Ansicht  jrcdtend  machen,  welche  die 
•resamte  Widtanschauuu^  ethisch  abschliesst,  indem  sie  auf  (Jrund 
des  schon  (iegebeuen  die  vollkommene  Einheit  von  moralischem 
Geiste  und  Natur  im  praktischen  Interesse  ])ostuliert  und  einen  Gott, 
der  dieselbe  g:arantiert,  voraussetzt.  Freilich  muss  dann  der  Natur 
eine  objektive  Grundlage  zuerkannt  und  die  j)raktische  Vernunft  nicht 
als  ein  Faktor  beurteilt  werden,  der  in  abstrakter  Einsamkeit  für 
sich  beharren  kann,  sondern  als  eine  Grösse,  die  die  Einheit  mit 
der  Natur  fordert.  Mit  einem  Worte:  Sollte  mit  dem  moralischen 
Standpunkte  Ernst  gemacht  werden,  so  muss  er  im  positivem  Sinne 
umgebildet  werden.  Dann  konnte  man  nicht  dabei  bleiben,  als  End- 
zweck den  mit  dem  abstrakten  Gesetz  geeinten  Willen  für  sich  zu 
betrachten,  als  wäre  er  selbstgenugsara  in  der  apriorischen  Welt, 
dann  musste,  was  Kant  selbst  doch  am  Ende  auch  nicht  leugnen 
konnte,  die  praktische  Vernunft  sich  in  der  Naturbeherrschung  zeigen, 
die  Ethik  musste  dann,  wie  Schleiermacher  es  ausdrückt,  einen  pro- 
duktiven Charakter  gewinnen. 

Wenn  übrigens  Kant  hier  schon  von  der  in  der  Erfahrung  vor- 
kommenden Kausalität  der  praktischen  Vernunft  redet,  so  hat  er  ja 
eben  damit  schon  diesen  Weg  zu  betreten  begonnen,  der  zugleich 
auch  eine  Vereinigung  der  transscendentaleu  und  der  Erscheinungs- 
welt ermöglicht;  denn  hier  tritt  ein  Ding  an  sich,  ein  guter  Wille 
in  die  Erscheinung.  Damit  ist  doch  eigentlich  auch  eine  Ausdeutung 
der  Erscheinungswelt  im  transscendentaleu  Sinne  angebahnt,  insofern 
wir  in  ihr  reale  Freiheit  aktiv  beobachten,  eine  Ausdeutung,  die  von 
ihm  mit  Bezug  auf  die  Natur  selbst  dadurch  noch  ergänzt  wird,  dass 
Kant  auch  der  uns  erscheinenden  Natur  ein  intelligibles  Substrat, 
eine  „Natur  an  sich"  zu  Grunde  legt. 

fahrung  darthun  lässt.  —  Die  einzige  unter  allen  Ideen    der  reinen  Vernunft, 
deren  Gegenstand  T  hat  Sache  ist  und  unter  die  selb  ilia  mitgerechnet  werden 


Kants  Kritik  der  Urteilskraft  etc.  271 

Es  ist  aber  nicht  bloss  die  Teleologie  in  der  Kritik  der  Urteils- 
kraft, durch  welche  Kant  eine  Ausg:leichung  der  von  ihm  übrige  ge- 
lassenen Difterenzen  sucht,  sondern  ebenso  die  Ästhetik,  teils  in- 
dem sie  allerdings  auch  zuletzt  in  das  teleologisch-moralische  Gebiet 
ausmündet,  teils  aber  auch  indem  Kant  gerade  von  hier  aus  eine 
eigenartige  Perspektive  wenigstens  in  Aussicht  stellt,  die  in  verschie- 
denen Formen  und  Mischungen  die  Nachfolger  weiter  ausbildeten. 

Zunächst  müssen  wir  hier  wieder  darauf  hinweisen,  dass  das 
Aussereinander  von  Anschauung,  Empfindung  und  Verstand  für  Kant 
die  Veranlassung  ist,  der  Ästhetik  nachzugehen,  und  zunächst  ist  sein 
Begritf  des  Schönen  auch  gänzlich  subjektiv  bestimmt.  Indem  bei 
Gelegenheit  der  Betrachtung  eines  Naturobjektes  Phantasie  und  Ver- 
stand gleichmässig  befriedigt  werden,  weil  Freiheit  in  der  Mannig- 
faltigkeit der  Formen  mit  der  Gesetzmässigkeit  verbunden  ist,  werden 
wir  angenehm  berührt,  was  sich  in  einem  allgemeingültigen  Gefühls- 
urteil des  Geschmacks  ausspricht.  Ich  will  hier  nicht  die  ästhetische 
Seite  weiter  verfolgen,  so  interessant  dies  an  sich  wäre,  sondern  nur 
das,  was  für  unseren  Zusammenhang  von  allgemeinerem  Interesse 
ist.  Es  otfenbart  sich  hier  zwar  kein  bestimmter  Zweck,  aber  doch 
eine  gewisse  Zweckmässigkeit;  man  hat  hier  kein  Interesse  an  der 
Existenz  des  Objekts,  sondern  nur  an  der  Anschauung  desselben  — 
ein  für  die  Kunst  namentlich  höchst  bedeutsamer  und  wahrer  Satz. 
Das  einzige  Interesse,  das  in  Betracht  kommt,  ist  das,  dass  ich  bei 
der  Anschauung  des  Objekts  der  Harmonie  meiner  Erkenntnisver- 
mögen inne  werde.  Das  aber  ist  insofern  wertvoll,  als  auch  da,  wo 
ich  den  Zusammenhang  in  der  Natur  nicht  zu  erkennen  vermag,  doch 
wenigstens  ein  gewisses  Gefühl  der  Harmonie  meiner  Erkenntnisver- 
mögen von  den  Naturobjekten  angeregt  und  dadurch  die  Hoffnung 
auf  die  Erkennbarkeit  derselben  erweckt  wird.\)  Eben  dieses  aber 
giebt  auch  wieder  die  Aussicht,  dass  die  Natur  auch  höheren  Zwecken 
zugänglich  sei.  Kant  unterscheidet  das  Naturschöne  von  dem  Kunst- 
schönen  und  bemerkt  gerade  von  ersterem,  dass  die  Menschen,  die 
sich  an  dem  Naturschönen  freuen,  eine  besonders  günstige  Prognose 
in  Bezug  auf  ihre  Moralität  gewähren,^)  weil  sich  hier  die  objektive, 
interesselose  Freude  an  der  Zweckmässigkeit  der  Natur  offenbart, 
wie  denn  auch  die  Kunst  mit  ihrem  Schönen  als  Vorbereitung  für 
die  Moral  insofern  wertvoll  ist,  als  sie  den  Menschen  gewöhnt,  ohne 
eudämonistisches  Interesse   sich   objektiv  an  dem   blossen  Anschauen 

1)  Vgl.  die  Analytik  des  Schönen,  Kr.  d.  ü.  S.46  f.,  60.,  66.,  90  f.,  157  f.,  167. 
2j  Kr.  d.  ü.  S.  165  f. 


•272  Trof    l>i     Doriu-r, 

lies  Schöllen,  an  dem  liuirwcrdon  der  Ilarmonii'  der  KrkciiiitniB- 
vt'nnöi:tMi  und  ilcr  HariuDiiic  »Irr  Natur  zu  crlVfiicii.' i  Kant  kann 
aiii'h  hier  hc'\  dem  rriii  subji'ktiven  Standpunkt  nicht  hh-ihcn, 
insitffrn  das  Naturschünr  doch  nicht  hU)ss  die  \ Cranlassunjr  für  das 
Gcftlhl  einer  llarnionic  (h'r  ICrkenntnisvennii^cn  hleil)eu  kann,  sondern 
doch  am  Knde  auch  in  dem  Naturobjekt  seihst  irgendwie  der  (Irund 
tllr  diesen  Eindrock  liejren  nuiss,  da  doch  nicht  jedes  Naturohjekt 
diesen  harnionisdien  Eindruck  hervorruft.  Das  ist  um  so  mehr  der 
Fall,  als  eben  jrerade  darauf  von  ihm  das  Gewicht  frele{::t  wird,  dass 
das  ästhetische  (ieschmacksurteil  ein  einzelnes  Urteil  sei,^)  das  zu- 
gleich auf  All<remeinirültij:keit  Anspruch  macht.  Es  haftet  an  der 
konkreten  Anschauung  des  einzelnen  Objektes.  Wenn  er  trotzdem 
das  l^rteil  doch  immer  wieder  als  rein  subjektiv  lieurteilt,  so  hat 
das  seinen  Grund  darin,  dass  er  das  Schöne  ledi^^lich  in  der  Form 
linden  will,  so  dass  man  von  jeder  Empiindungsart  abstrahieren  könne, 
und  dass  es  von  Reiz  und  Kührung  unabhängig;  sei.  Damit  wird 
das  Schöne  eigentlich  nur  in  der  Art  der  Anordnung  des  Mannig- 
faltigen im  Räume  gefunden,  und  da  diese  freilich  gänzlich  subjektiv 
ist  nach  seiner  Erkenntnistheorie,^)  so  ist  auch  das  Geschmacksur- 
teil subjektiv  begründet;  es  findet  gewissermassen,  dass  quasi  unbe- 
wusst  bei  Hervorbringung  dieser  konkreten  Naturanschauung  durch 
Synthesis  im  Räume  Einbildungskraft  und  Verstand  harmonisch  ge- 
wirkt haben.  Indes  hätte  doch  dieses  Urteil  sicherlich  wenig  Bedeu- 
tung, wenn  es  im  Grunde  nur  ein  Urteil  über  die  unbewusste  Funktion 
des  Subjekts  seihst  wäre. 

Allein  Kant  spricht  sich  doch  nicht  immer  so  konsequent  aus. 
Er  bleibt  dabei,  dass  das  Naturobjekt  ein  solches  Urteil  hervorrufe.*) 
Wenn  er  ferner  von  dem  intellektuellen  Interesse  am  Schönen  redet,  so 
wird  hierbei  auch  wieder  das  schöne  Objekt  in  den  Vordergrund  gestellt; 
es  interessiert,^)  ,,dass  die  Natur  jene  Schönheit  hervorgebracht  hat'', 


1)  Kr.  d.  ü.  S.  233  f. 

2)  Kr.  d.  U.  S.  60. 

^)  Kr.  d.  U.  S.  229  verbindet  er  die  Idealität  der  „Gegenstände  der  Sinne" 
mit  dem  „Idealismus  der  Zweckmässigkeit  in  Beurteilung  des  Schönen  der  Natur 
und  der  Kunst"  und  gründet  auf  beides  das  Apriori  der  Formen  der  Gegen- 
stände und  das  Apriori  des  Geschmacksurteils. 

*i  Da  aber  nicht  jedes  Naturobjekt  solch  einen  Eindruck  hervorruft,  so 
hätte  Kant  müssen  untersuchen,  welcher  Grxmd  im  Objekte  vorhanden  ist,  dass 
das  Eine  den  Eindruck  des  Schönen  macht,  das  Andere  nicht.  Cfr.  Victor 
Basch,  Essai  critique  sur  l'esthetique  de  Kant  S.  518  f. 

5j  Kr.  d.  U.  S.  166. 


Kants  Kritik  der  Urteilskraft  etc.  273 

und  zwar  deshalb,  weil  es  für  die  Moral  von  Wert  ist,  za  wissen, 
dass  die  Natur  wenigstens  eine  Spur  davon  zeige,  dass  sie  in  sich 
einen  Grund  enthalte,  eine  gesetzmässige  Übereinstimmung  ihrer 
Produkte  zu  unserem  von  allem  Interesse  unabhängigen  Wohlgefallen 
anzunehmen;  oder  mit  anderen  Worten:  unser  Interesse  ist  moralisch 
orientiert,  weil  uns  die  im  Schönen  sich  offenbarende  Zweckmässig- 
keit der  Natur  eine  Verwandtschaft  mit  dem  moralischen  Zweck  zu 
enthalten  scheint.  Man  sieht,  dass  Kant  das  Schöne  zur  Ausfüllung 
der  Kluft  zwischen  Einbildungskraft,  Anschauungsvermögen  und  Xnr- 
stand  dient,  da  beide  von  einem  einzelnen  Objekte  harmonisch  be- 
rührt werden,  eine  Harmonie,  die  Kant  zwar  zunächst  subjektiv 
deutet,  die  er  aber  dann  doch  auch  auf  die  Natur  überträgt,  die 
eben  durch  diesen  harmonischen  Eindruck  eine  Zweckmässigkeit  ver- 
raten soll.  Ebenso  aber  wird  auch  das  Schöne  als  eine  Brücke  von 
der  Natur  zur  Moral,  von  der  theoretischen  Vernunft  zur  praktischen 
betrachtet. 

Eben  diese  Harmonie  der  Erkenntnisvermögen  ist  es  auch,  die 
Kant  für  die  Produktion  der  schönen  Kunst  voraussetzt.  Schöne 
Kunst  ist  eine  Kunst,  sofern  sie  zugleich  Natur  zu  sein  scheint,  d.  h. 
die  Form  des  Kunstproduktes  muss  so  frei  scheinen  von  allem 
Zwange  willkürlicher  Kegeln',  als  ob  es  ein  blosses  Produkt  der 
Natur  sei.^)  Die  Zweckmässigkeit  darf  nicht  absichtlich  scheinen, 
obgleich  sie  absichtlich  ist.  Das  ist  nun  nur  möglich,  wenn  das 
Genie  produziert,  d.  h.  die  GemUtsanlage,  durch  welche  „die  Natur 
der  Kunst  die  Regel  giebt."^)  Bei  dem  Genie  handelt  es  sich  darum, 
zu  einem  Begriffe  Anschauungen,  ästhetische  Ideen  zu  finden  und 
diesen  den  angemesseneu  Ausdruck  zu  verleihen,  was  nur  durch  ein 
in  der  Schule  gebildetes  Talent  zu  Ende  geführt  werden  kann. 
Uns  kommt  es  hier  nur  darauf  an,  dass  auch  in  der  künstlerischen 
Produktion  im  wesentlichen  die  Einheit  der  produktiven  Phantasie 
und  des  Begriffs  gefordert  ist,  also  wieder  alles  auf  die  Harmonie 
von  Phantasie  und  Verstand  hinausläuft,  auf  die  Vereinigung  der 
beiden  bei  uns  auseinanderliegenden  Erkenntnisvermögen.  Das  Genie 
hat  dabei  die  Fähigkeit,  durch  die  ästhetischen  Ideen  einen  Begriff 
so  zu  illustrieren,  dass  eine  Fülle  von  Nebenbeziehungen  zugleich 
angeregt  werden,  die  Aussicht  in  ein  unabsehbares  Feld  verwandter 
Vorstellungen  eröffnet  wird,  so  dass  das  Gemüt  belebt  wird,  eben 
durch   die  Vereinigung  des  Gesetzmässigen  und   der  Anschauung  ein 

')  Kr.  d.  U.  S.  175  f. 
2)  Kr.  d.  U.  S.  176  f. 


«J74  I'rot.   IM     l>iinicr, 

beK'hoiulcr   Kiiidriu-k    linnnonisi'lur   l'illlc    fr/.t*ii;rt    wird.      Dir   Knust 
versi'lialVt    dfiu  CuMiilltc   Kultur,    bi'l'reit    \im    di-r    IJolicii   der   Lcjdeti- 
sohattrn,  iiuUMii  sie   •rcwidint.  idiiu'  siniilii'lit's  Interesse   Siimliehes  zu 
1k  olmiditen.      Das  iistliflisriic    I  riiü.  das  a|)rioris('h  ist  und  sieh  doch 
auf  den  einzelnen   Fall    liezielit,    irewidint  an   Allfrcnieln^llltijrUeit;    es 
{riebt    einen    ästhetisehen    (Jenieinsinn.    der    fllr    die    (ieseili|rU<'il    He- 
deutunj:  hat   und   in   dieser  einen  der   Phantasie  an^^einessenen   Inhalt 
erniö"lii'ht.     Dureh  all  das  wirkt  die  Kunst  \orbereitend  für  die  Moral. 
Wenn  wir   nun  vollends  erwiijren.    wie    sehr  Kant   auf"  die   Harmonie 
von   Natur  und  Moral  (iewi(dit   le^t.  so   wird   deutlich,   wi(^  jrerade  die 
Welt  des  Sehöuen.  wek'he  ilie  llarnumie  (k'r  Natur  olTenhart.  l'lSr  die 
Moral   bedeutunjjsvoll    ist;    hier  scheint  wirklich  der  Streit  der  Nei- 
jruiisren  und  des  Gesetzes  ausfrejrlichen,  indem  gerade  die  (iewalt  der 
subjektiven  Leidenschaften  durch  das  all^^emeinfreitende  Geschmacks- 
urteil gedämjjft  wird,  und  man  kann  Kants  Forderunf?  begreifen,  dass 
sich     zu    j.den  Tugenden   die  (xrazien  gesellen"  sollen.^)     In   diesem 
Sinne    sagt   Kant  auch,   das  Schöne  sei  das  Symbol  der  Sittlichkeit. 
Er  versteht  unter  Symbolen  Anschauungen,  welche  in  der  Weise  der 
Analogie  einen  Begriff  illustrieren,  wie  z.  B.  ein  monarchischer  Staat 
durch    einen    beseelten    Körper    vorgestellt  wird.     Ebenso    wird  die 
Sittlichkeit    durch    das  Schöne   illustriert.     Denn  das  Schöne  hat  so 
viel  ähnliches  mit  dem  Moralischen,  indem  es  wie  dieses  unmittelbar 
(wenn  auch  nicht  im  Begriffe)  gefällt,  ohne  alles  Interesse  gefällt,  (wie 
auch  bei  dem  Moralischen  wenigstens  alles  sinnliche  Interesse  fehlt),  die 
Freiheit  der  Phantasie  in  Einheit  mit  der  Gesetzmässigkeit  des  Ver- 
standes ist  (wie   im  Moralischen  die  Freiheit  des  W^illens  in  Einheit 
mit    dem    moralischen   Gesetze),    das    Prinzip    der    Beurteilung    des 
Schönen  wie  das  des  moralischen  Urteils  allgemeingültig  ist,  —  dass 
das  Schöne    sich    wohl   als  Symbol  des  Sittlichen  verwenden  lässt.^) 
Freilich    gerade    dieser  letzte    Punkt,    die    Allgemeingültigkeit 
und  Autonomie   des  Geschmacksurteils  führt  Kant  wieder  zu  seinem 
subjektiven  Standpunkt  —  „dem  Idealismus  der  Zweckmässigkeit"  im 
ästhetischen  Gebiete,  indem  er  geltend  macht,  dass,  wenn  wir  durch 
das   Objekt    zu    Schönheitsurteilen    veranlasst  würden,    unser  Urteil 
heteronom    und    nicht  autonom  sein  würde,   was  es  nur  sein  könne, 
wenn    es   sich    auf   die  Harmonie  unserer  Erkenntnisvermögen  be- 
ziehe,   aber  nicht,    wenn  es  von  dem  Objekte  abhänge.     Wenn  nun 
Kant     noch     ausdrücklich    beifügt:    „Wie    die    Idealität  der  Gegen- 

ij  Tugendlehre,  W.  W.  Bd.  IX.  S.  339. 
2j  Kr.  d.  U.  S.  232  f. 


Kants  Kritik  der  Urteilskratt  etc.  275 

stände  der  Sinne  als  Erscheinungen  die  einzige  Art  ist,  die  Möglich- 
keit zu  erklären,  dass  ihre  Formen  a  priori  bestimmt  werden  können, 
so  ist  auch  der  Idealismus  der  Zweckmässigkeit  in  Beurteilung  des 
Schönen  in  Natur  und  Kunst  die  einzige  Voraussetzung,  unter  der 
allein  die  Kritik  die  Möglichkeit  eines  Geschmacksurteils,  welches  a 
priori  Gültigkeit  für  jedermann  fordert,')  erklären  kann",  —  so  ergiebt 
sich  hieraus  ,  dass  es  Kant  in  der  Ästhetik  zunächst  vor  Allem  um 
die  subjektive  Harmonie  der  Erkenntnisvermögen  zu  thun  ist,  die 
sich  im  Gebiete  der  bestimmenden  Urteilskraft  nicht  völlig  harmoni- 
sieren lassen.  Dass  er  aber  doch  diesen  rein  subjektiven  Stand- 
punkt auch  im  ästhetischen  Gebiete  nicht  aufrecht  erhalten  kann, 
haben  wir  gesehen;  so  bleibt  auch  hier  ein  Schwanken  zwischen 
Subjektivität  und  Objektivität.  Schliesslich  sei  nur  noch  mit  einem 
Worte  darauf  hingewiesen,  dass  im  ästhetischen  Gebiete  Kant  auch 
die  Kluft  zwischen  Anschauung  und  Vernunft  direkt  auszufüllen  sich 
bemüht  hat,  wobei  die  Beziehung  auf  die  Moral  noch  unmittelbarer 
hervortritt.     Es  handelt  sich  hier  um  das  Erhabene. 

Für  Kant  besteht  das  Erhabene  darin, 2)  dass  wir  von  einem 
Naturobjekt  den  Eindruck  gewinnen,  dass  unser  Anschauungsvermögen 
unfähig  sei,  dasselbe  klar  und  deutlich  zu  erfassen,  dass  es  unbegrenzt 
vorgestellt  wird,  seiner  Form  nach  zweckwidrig  erscheint,  formlos, 
und  dass  eben  hierdurch  das  Gemüt  angereizt  wird,  die  Sinnlich- 
keit zu  verlassen  und  sich  mit  Ideen,  die  höhere  Zweckmässigkeit 
enthalten,  zu  beschäftigen.  Sowohl  das  mathematisch  Erhabene,  die 
formlose  Grösse,  als  das  dynamisch  Erhabene,  die  formlose  Macht 
eines  Objekts  rufen  die  Vernunft  w'ach,  welche  sich  doch  über  alle 
sinnliche  Grösse  und  alle  äussere  Macht  erhaben  weiss.  Das  Ge- 
fühl der  Erhabenheit  ist  mit  Lust  und  Unlust  gemischt,  Unlust  an 
der  Formlosigkeit  des  Sinnlichen,  Lust  an  den  übersinnlichen  Ideen,  die 
die  auch  noch  so  formlos  auftretende  übermässige  Sinnenerscheinung 
übertreffen.  Das  Erhabene  ist  also  erst  recht  vollkommen  subjektiv; 
es  ist  der  Eindruck,  den  wir  bei  Gelegenheit  der  Betrachtung  eines 
Objektes  gewinnen,  dass  die  Vernunft  das  sinnliche  Auschauungs- 
vermögen  weit  übertreffe,  und  dass  also  die  Sinnlichkeit  zur  Unter- 
ordnung unter  die  Vernunft  bestimmt  sei. 

Das    mathematisch  Erhabene    bezieht    sich  auf  die  Erkenntnis- 
vermögen.^)    Es    giebt    für    die    ästhetische    Grösseuschätzuug    ein 


1)  Kr.  d.  U.  S.  229. 

2)  Kr.  d.  U.  S.  97  f. 

3)  Kr.  d.  U.  S.  100  f. 


270  I'rof    Dr.  Duiiut, 

Grossestes,  über  das  hinaus  es  uns  nicht  iiifhr  müirlii'h  ist.  das 
()l)jekt  Ubersii'htlii.'h  zu  einer  Kinheit  zusaiinnen/.ufasseii.  Die  \er- 
nunl't  tlajrejren  hat  die  Idee  einer  Tcttalität.  im  inathi-niatiseh  Kr- 
lialx'uen  wird  nun  ilie  l'nanireuiessenheit  di'r  Kinhihlunj^skrafl.  ein 
solches  Objekt  zu  fassen,  dadurch  zum  iiewusstsein  j;el)racht,  dass 
wir  einen  Massstal»,  der  übersinnlich  ist.  die  Idee  eines  (ianzeti  zu 
(irunde  ieiren.  Wir  werden  uns  also  der  rnanjremessenheit  unseres  An- 
schauunirsverniüirens  <refrenillter  dem  N'ernunrtmas.sstab  bewusst.  Alles 
Grosse  der  Kinldldunirskraft  ist  klein  <ref:en  die  \'ernunftidee  des 
Unendlichen.')  Auf  je  frrössen-  Kinheiten  man  kommt,  um  so  nn-hr 
erscheint  ..alles  Grosse  in  der  Natur  immer  wiederum  als  klein  und 
schliesslich  unsere  Einbildungskraft  in  ihrer  {ganzen  (Jrenzlosi;rkeit 
und  udt  ihr  die  Natur  als  verschwindend  {regen  die  Idee  der  Ver- 
nunft" von  der  Natur  als  einem  absoluten  Ganzen,  von  dem  über- 
sinnlichen iSubstrat  der  Natur,  welches  über  allen  Massstab  der  Sinne 
jrross  ist  Kurz,  es  ist  die  Unzulänglichkeit  der  Natur  für  die  \'er- 
uunft,  eben  dadurch  aber  auch  ihre  Fähigkeit,  ihr  untergeordnet  zo 
werden,  die  bei  der  mathematischen  Erhabenheit  zum  Bewusstsein 
kommt.  Auch  hier  geht,  wie  man  sieht,  der  bei  Gelegenheit  der  Betrach- 
tung des  Naturobjekts  gewonnene  Eindruck  von  der  Unzulänglichkeit 
unserer  Einbildungskraft,  die  Vernunftidee  zu  fassen,  zugleich  über  in 
die  Vorstellung  von  der  objektiven  Unzulänglichkeit  der  Natur,  die 
Vernunftidee  völlig  darzustellen.  Hier  wird  nun,  wenn  auch  auf 
mehr  negative  Weise,  die  Beziehung  auf  die  Moral  hervorgehoben. 
Der  Eindruck  der  Erhabenheit  entspricht  insofern  unserer  Bestin)mung, 
als  es  zu  unserer  Bestimmung  gehört,  alles,  was  die  Natur  Grosses 
für  uns  enthält,  im  Vergleich  zu  den  Ideen  der  Vernunft  als  klein 
zu  schätzen.^)  Das  Gefühl  des  Erhabenen  dient  also  unserer  Be- 
stimmung. 

Das  gilt  in  ganz  besonderem  Masse  von  dem  dynamisch  Er- 
habenen, wo  der  Eindruck  der  Unzulänglichkeit  unserer  sinnlichen 
Widerstandskraft  —  d.  h.  der  Eindruck  der  Übel,  der  Verlust  an 
Gesundheit.  Leben  u.  s.  w.  uns  klein  dünkt  gegen  die  höchsten  Grund- 
sätze der  praktischen  Vernunft  und  deren  Behauptung.^) 

Nach  Kant  ist  also  zwar  die  Unangemessenheit  des  sinnlichen 
Eindrucks  zu  der  Vernunftidee  die  Quelle  des  Erhabenen,  aber  zu- 
gleich ist  eben  diese  Unangemessenheit  teleologisch,  sofern  sie  dieUnter- 


1)  Kr.  d.  U.  S.  113. 

2)  Kr.  d.  U.  S.  114. 

3)  Kr.  d.  U.  S.  117  f. 


Kants  Kritik  der  Urteilskraft  etc.  277 

Ordnung  der  Sinnlichkeit,  der  Anschauungrsvermögen  unter  die  Ver- 
nunft zum  Bewusstsein  bringt,  also  die  Möglichkeit  ihrer  Harmonie 
eben  in  Form  der  Unterordnung  der  Natur  unter  die  Vernunft. 
Die  Erhabenheit  beruht  auf  der  Entwicklung  der  Vernunft.  Denn 
so  lange  sie  nicht  entwickelt  ist,  kann  man  ihre  Erhabenheit  über 
die  Sinnlichkeit  und  die  Natur  auch  nicht  inne  werden,^)  Aber 
doch  kann  dieses  Gefühl  jedermann  angesonnen  werden,  weil  jeder 
seine  ^  ernunft  kultivieren  soll.  Während  das  Schöne  durch  Zweck- 
mässigkeit kultiviert  und  vorbereitet,  „ohne  sinnliches  Interesse  zu 
lieben",  bereitet  uns  das  Erhabene  vor,  „selbst  wider  das  sinnliche 
Interesse  hochzuschätzen'-.^)  Man  sieht,  auch  das  Erhabene  dient  dazu, 
die  Brücke  zwischen  dem  Sinnlichen  und  der  Vernunft  zu  schlagen, 
und  wenn  Kant  hier  noch  mehr  subjektiv  verfährt  als  bei  dem 
Schönen,  indem  eigentlich  nur  die  Erhabenheit  unserer  Vernunft  über 
die  Sinnlichkeit  beachtet  und  von  der  Erhabenheit  eines  Objektes 
überhaupt  nicht  geredet  wird,  so  kann  er  doch  auch  hier  die  ob- 
jektive Wendung  nicht  ganz  beiseite  lassen,  insofern  die  Idee  des 
Unendlichen,  der  absoluten  Grösse  uns  nötigen  soll,  die  erscheinende 
Natur  nur  als  die  Darstellung  des  übersinnlichen  Substrats  derselben, 
der  Natur  an  sich  zu  betrachten.^)  Auch  hier  bleiben  wir  natürlich 
im  ästhetischen  Gebiete,  insofern  es  sich  nur  um  subjektive  Ein- 
drücke bei  der  Betrachtung  eines  Objekts  handelt,  also  auch 
hier  kein  Interesse  im  Spiele  ist.  Ja  es  kann  sogar  das  Mo- 
ralische selbst  ästhetisch  als  erhaben  betrachtet  werden.  Das  Er- 
habene zeigt  aber  auch  wieder  die  Differenz  der  Vermögen,  die 
Unangeraessenheit  des  Sinnlichen  zum  Vernünftigen  nnd  nur  durch 
diese  die  Erregung  des  Gefühls  der  Erhabenheit  der  Vernunft. 
Es  bleibt  hier  doch  ein  hiatus  zwischen  Natur  und  Vernunft  trotz 
ihrer  Verbindung.  Insofern  Kant  seine  Weltanschauung  moralisch 
zuspitzt,  kommt  er  über  diese  Disharmonie  doch  nicht  völlig  hinaus. 
Am  vollkommensten  wäre  eine  der  Vernunft  entsprechende  iutelligible 
Natur.  Diese  sinnliche  Natur  ist  der  Idee  unangemessene  Erscheinung.*) 
Eben  daher  ist  es  nun  nicht  allzu  verwunderlich,  dass  Kant  noch 
eine  andere  Richtung  hypothetisch  verfolgt,  die  im  Grund  erst 
als  die  Vollendung  des  Ästhetischen  angesehen  werden  könnte. 
Wenn  wir  bisher  gesehen    haben,    dass    Kant    auch    das   ästhetische 


»j  Kr.  d.  U.  S.  123. 

2)  Kr.  d.  U.  S.  127. 

S)  Kr.  d.  U.  S.  127. 

*)  Kr.  d.  U.  S.  127. 


•>-v;  rrol"    Pr    nurncr, 

(lol)iet  in  lot/lor   Instiui/,  auf  die  Mural   Itc/iclit.  so  crjriclit  sicli   ihk-I» 
ein  Aspekt,  naoli   wcK-hciii  das  ästlu'tisi'lu'   Klcinciit   /.u  völlig'  sclltst- 
stämlifTtTiind  abschlu'ssoiuU'r  Hcdrutuiif:  Uonimt.    Das  ästlirtisclic  (M-bict 
hat  die  Hrdcutuni:  /unäclist  für  das  Sultjckt.  die  Dillrrenz /wisclion  den 
ErkcnntnisvormöiriMi,  /.wischen  N'erstaiid  und  Anschauunjr  und  /wischen 
Vernunft  untl  Anschauung;  auszufjieichen.     Diese  Ausj,Meichun.i:-  p-linf^t 
aber  niemals  vollkommen,  weil  unsere  Krkeiuitnisvermöt;en  auseinander 
liegen.     Dieses  Aussereinander   ist    nun   al)i'r  nur  die  subjektive  Be- 
schafYenheit  unseres  Verstandes  und  unserer  Anschauung.    Es  Hesse  sich 
sehr  wohl  ein  Erkenntnisvermögen  denken,  in  welchem  Anschauung  und 
Verstand  geeint  wären  in  intellektueller  Anschauung.     Feinem  Wesen, 
welches  intuitiven  Verstand  besässe,  würde  Alles  in  vollendeter  Harmonie 
erscheinen.')    Der  Unterschied  zwischen  Möglichkeit,  Wirklichkeit  und 
Notwendiirkeit  würde  wegfallen.   Ähnlich  verhielte  es  sich  mit  dem  Unter- 
schied  zwischen  der  praktischen  und  theoretischen  Vernunft.     Jet/t  ist 
physisch  zufällig,  was  moralisch  notwendig  ist,  geschehen  soll;  aber  in 
Wahrheit  rührt    es    nur  von  der  subjektiven  Beschaffenheit    unseres 
praktischen  Vermögens  her,  dass  die  moralischen  Gesetze  als  Gebote 
erscheinen,  dass  die  Vernunft  diese  Notwendigkeit  nicht  durch  ein  Sein, 
sondern  ein  Sein  Sollen  ausdrückt.     Das  wäre  nicht  der  Fall,  wenn 
die  Vernunft  als  Ursache  in  einer  intelligiblcn,  mit  dem  moralischen 
Gesetze     durchgängig    übereinstimmenden    Welt     betrachtet    würde. 
Zwisi'hen  dem,  was  durch  uns  wirklich  und  was  durch  uns  möglich 
ist.  zwischen  dem  theoretischen  und  praktischen  Gesetze  wäre  dann 
kein    Unterschied.      Die    Gebote    als    Gebote    gelten    also    nur    für 
unsere  Erkenntnisvermögen,    wo  Vernunft   und  sinnliche   Anschauung 
auseinanderliegen,   wo  die    sinnliche  Natur  nicht  ohne  weiteres    mit 
der  Vernunft  übereinstimmenden  intelligiblcn  Charakter  trägt.     Wenn 
femer  unser  Verstand  nicht  vom  Allgemeinen  zum  Besonderen  gehen 
müsste,    so    würde    auch    keine    Zweckmässigkeit    erkannt    werden, 
zwischen  Mechanismus  und  Teleologie  kein  Unterschied  sein,  weil  in 
der  unmittelbaren  Anschauung  beides  zusammenfiele.    So  ist  also  bei  uns 
alles  auf  das  Aussereinander  von  Verstand  und  Anschauung  gegründet. 
Ohnedies  würde  auch  die  Vernunft  nicht  besonders  als  Vermögender 
Ideen  unterschieden  werden  können,  da  garkeine  Veranlassung  wäre,  über 


ij  Kr.  d.  U.  S.  292  f.  Kant  hat  zwar  auch  schon  früher  die  intellektuelle 
Anschauung  ins  Auge  gefasst;  aber  sie  gewinnt,  soviel  ich  sehe,  erst  im  Zu- 
sammenhange mit  der  Ästhetik  ihre  volle  Bedeutung.  Wenn  Kant  selbst  auch 
diese  Gedanken  nicht  weiter  verfolgt  hat,  so  waren  sie  doch  Fingerzeige  für 
einen  Teil  seiner  Nachfolger. 


Kants  Kritik  der  Urteilskraft  etc.  27 & 

das  Gegebene  hinanszugehen.     Es  ist  oben  angedeutet  worden,  welche 
skeptische  Konsequenzen  an  diese  Sätze  angeknüpft  werden  können, 
wenn  man  auf  die  rein  subjektive  Seite  dieser  Gedanken  reflektiert. 
Hier  kommt  es  darauf  an,  hervorzuheben,  dass  Kant  den  Gedanken 
als  möglich  ins  Auge  fasst,    dass    es    ein  Wesen    geben  könne    mit 
intellektueller     Anschauung,     ,, intuitivem    Verstände",     in     welchem 
eine  volle  Harmonie  unmittelbar  gegeben  wäre,    oder  eine  Vernunft 
ohne  Sinnlichkeit,    die    als  Ursache    in  einer  intelligiblen,   mit    dem 
moralischen  Gesetz  durchweg  übereinstimmenden  Welt  zu  betrachten 
wäre,  so  dass  Sein  und  Sollen  zusammenfiele,   die  theoretische    und 
praktische    \'ernuuft    eins    wäre.')      In  Bezug    auf   das    letztere  ist 
zwar  zu  bemerken,  dass  für  Kant  der  apriorische  gute  Wille   schon 
früher  ein  solches  Sein  darstellte,    in  dem  Vernunft  und  Wille    eins 
ist,  also  von  Sollen  nicht  die  Rede  sein  kann.     Nur  geht  Kant  hier " 
nel  weiter,  indem  er  auch  den  Unterschied  zwischen  praktischer  und 
theoretischer  Vernunft  aufhebt,  weil  er  die  Vernunft  als  Ursache   in 
einer  intelligiblen  Welt    vorstellt.     Es  mag  hier  vielleicht    noch    ein 
Unterschied    zwischen    dem  „intuitiven  Verstand"  und  „der  Vernunft 
ohne  Siimlichkeit,    die    in    einer    intelligiblen  Natur    wirksam    ist," 
bestehen,  indem  er  das    eine  Mal  für  diese  höhere  Intelligenz  Einheit 
von  Verstand  und  Anschauung  setzt,  das  andere  Mal  die  Anschauung 
beiseite  lässt,  weil  diese  ganze  Welt  nur  intelligibel  wäre,  indem  im 
ersten  Falle  nur  von  der  subjektiven  Beschaffenheit  dieser  höheren 
Intelligenz    die    Rede  ist,    im    zweiten    Falle  von  einer    intelligiblen 
Welt,  die  mit  der  Vernunft  ohne  Sinnlichkeit  eins  ist,  gesprochen  wird. 
Nach    dem    ersten    Ideal    würde    eine    vollkommen    ästhetische    An- 
schauung sich  ergeben,    in  der  Anschauung  und  Verstand    in    voller 
Harmonie  wären,  nach  dem  zweiten  Ideal  würde  sich  eine  intelligible 
Welt  ergeben,    in  der  der  Unterschied  zwischen  Theoretischem    und 
Praktischem  hinfällig    wäre,    das  Gedachte    zugleich   Realität    wäre. 
Obgleich  Kant  sich  hier  nur  andeutend  verhält,  erhellt  soviel,  dass  er  als 
letztes  eine  intelligible  harmonische  Welt  ins  Auge  fasst,  in  welcher 
Wollen  und  Erkennen  eins  ist.    Dass  in  dieser  intelligiblen  Welt  ein  in- 
telligibles  Substrat  der  Natur  vorzustellen  sei,  das  mit  der  Vernunft  in 
unmittelbarer  Harmonie  stände,  so  dass  das  V^ernunftgesetz  eo  ipso  Alles 
bestimmte,  führt  er  zwar  nicht  weiter  aus.    aber  deutet  er  doch  an. 
Jedenfalls    würde    eine    solche  Vernunft,    in    der  Theoretisches    und 
Praktisches  sich  nicht  unterscheiden  Hesse,  um  der  Harmonie  willen, 


1)  Kr.  d.  U.  S.  294. 


280  ^'rof.  Dr.  Dorncr, 

in  ilcr  sit'  mit  sich  und  der  iiitclli^"il)l(Mi  Natur  stiindi',  il)i'id'alls 
nu'iir  ästlu'tisoh   im   wciiiTcn  Sinne  sein. 

Wenn  Kant  nun  diese  Aussiebten  uns  aueli  ;;än/Iieh  verschlossen 
jrlauht  und  sie  mehr  nur  anttihrt,  um  den  suhjeistiven  und  endlichen 
Charakter  unserer  Erkenntnisvermöfreu  hervor/,uhel)en,  so  ist  dieser 
Ansl)lick  Kants  doch  interessant,  weil  er  auf  eine  Kichtunj:  hinweist, 
die  in  der  deutsehi-n  rhilosophie  nach  ihm  sich  zur  Geltung  frebracbt 
hat.   nämlich  auf  eine  ästhetische  Weltanschauunj;. 

Wie  man  schon  oft  darauf  hinjrewiesen  hat.  dass  der  Schillersche 
Standpunkt  mit  der  Kritik  der  Urteilskraft  verwandt  sei,  insofern 
Schiller  mit  Kant  das  Schöne  zur  \'orschule  und  zum  Ililfs-  und 
Darstellun^smittel  der  Moral  macht,  so  haben  Andere  die  in  den  letzten 
Ausführuiiiren  berührten  ästhetischen  Gedanken  Kants  zu  einer  mehr 
ästhetischen  Weltanschauung;  ausgebaut.  Es  ist  vor  allem  Schelling, 
der  den  ästhetischen  Standpunkt  ausführte,  indem  er  eine  intel- 
lektuelle Anschauung  uns  zuschrieb,  die  Kant  zwar  als  für  eine 
Intelligenz  möglich,  aber  uns  versagt  annahm,  und  indem  er  mit 
Hülfe  derselben  uns  in  den  Stand  gesetzt  glaubte,  die  W^elt  als  ein 
harmonisches  Ganzes  zu  begreifen.  Natur  und  Vernunft  in  ihrer 
Harmonie  zu  erschauen.^)  W^enn  Schleiermacher  anfangs  einer  ästhe- 
tischen Weltanschauung  zuneigte  und  in  der  Religion  das  gefühls- 
mässige  Innewerden  der  Harmonie  des  Universums  fand,  so  hat 
auch  er  in  dieser  Hinsicht  der  Kantischen  Perspektive  Folge  geleistet, 
zumal  bei  ihm  das  „Gefühl"  die  intuitive  Stellung  einnimmt,  während 
unser  Erkennen  auch  an  der  Trennung  des  Einzelnen  und  Allgemeinen, 
Begrifflichen,  des  erfahrungsmässigen  und  des  spekulativen  Faktors 
leidet.  Ebenso  hat  Strauss  sich  ebenfalls  an  diese  Gedanken  an- 
geschlossen, insofern  auch  er  vor  Allem  auf  das  Innewerden  der 
Harmonie  des  Universums  in  der  Religion  das  Gewicht  legte.  Es 
ist  ferner  merkwürdig  für  eine  ganze  Reihe  von  naturalistisch- 
denkenden Männern,  dass  sie  mit  ihrem  Sensualismus  eine  ästhetische 
Richtung  verbanden,^)  wie  Büchner  u.  a.,  welche  A.  Lange  unter  dem 


i)  Dies  ist  der  Standpunkt  des  transscendentalen  Ideaüsmus  und  der 
Ideutitätsphilosophie.  Vergl.  meine  Schritt  über  Schelling:  Zur  Erinnerung  an 
den  hundertjährigen  Geburtstag  von  Schelling. 

-)  Man  vergleiche  auch  Goldfriedrich,  Kants  Ästhetik:  „Die  volle  Aus- 
wirkung der  Grundthätigkeiten  des  geistigen  Lebens  des  Menschen  ist  Spiel  .  .  . 
ist  zwecklos;  damit  ist  das  Ästhetische  das  einzigartige  wahre  Bild  seines  Seins, 
des  Seins  überhaupt ...  das  ist  zuerst  in  Kant  klar  und  schlicht  offenbar  geworden." 
S.  218  f. 


Kants  Kritik  der  Urteilskraft  etc.  281 

Namen  Wanderniaterialisten  zusamniengelasst  hat.     Man  kann    wohl 
sag:en.  dass  Kants  ästhetische  Tendenz  auf  eine  llarniunie  von  BegritV 
und  Anschauunii-  sieh  aus  der  indem  Naturerkennen  hervortretenden 
Ditierenz   beider  Erkenntuis\  ermögen  erjjab,   so   dass  im  Grunde   die 
intellektuelle  Anschauung  eine  vollkommene  Naturauflassung  ennög- 
lichen  würde,  und  da  das  ästhetische  Element  eben  in  der  Harmonie 
der  Erkenntnisvermögen  gegeben  ist,  so  ist  es,  wenn  man  auf  Kants 
Moral  nicht  reflektiert,  die  übrigens  in  der  ästhetischen  Anschauung 
konsequenter  Weise  verschM'inden  würde,  nicht  zu  verwundern,  dass 
auch  eine  solche  Kichtung  sensualistisch-ästhetischer  Art  an  ihn  an- 
knüpfen konnte;    zumal  wie  Lange  richtig  hervorhob,    diese  Männer 
unter  Kantischem  Einflüsse  auch  mehr  subjektiv  sensualistisch  als  ob- 
jektiv materialistisch  dachten.    Man  wird  auch  das  Hellsehen,  welches 
Hartmann    seinem    Absoluten    zuschreibt,    als    eine    dem    Naturalis- 
mus   zuneigende   Abart    der    intellektuellen    Anschauung    betrachten 
können,      und     auch     bei     ihm     trifl't    es      zu,     dass    seine    Welt- 
anschauung mehr  einen  ästhetischen  als  moralischen  Charakter  trägt. 
Wenn  er  das  Moralische    als    nur    relativ,    nur   für    uns    notwendig 
bezeichnet,    so    liegt    das    in    der  Richtung,    in  welcher    in  der  An- 
schauung das  Handeln  aufhört,  wofür  Hartmann  besonders  in  seiner 
Ästhetik    eintritt,    nur    dass    auch    diese    Anschauung    bei    ihm    ein 
negatives  Ende    nimmt.^)     Endlich    kommt    auch    hier  Herbart    noch 
in  Betracht,    der  ebenfalls    an    das  Gefühlsurteil    des  Gefallens  und 
Missfallens    anknüpft    und,    wenn    er    auch  den  Dualismus  zwischen 
Mechanismus  und  Geist    nicht  aufgiebt,    doch    die  Brücke    zwischen 
Beiden  schliesslich  auch  im  Ästhetischen  findet,  in  Verhältnissen,  die 
gefallen,  welche  sich  in  der  empirischen  Welt    finden.     Bei    ihm  ist 
die  Moral  mit  ihren  Ideen  geradezu  auf  ästhetische  Urteile  aufgebaut. 
Darin  ist  übrigens  insofern  ein  Fortschritt  über  das  Kantische  Moral- 
prinzip,   als    der    abstrakte   Charakter    der    Moral    aufgegeben    und 
sofort   konkrete  reale  Verhältnisse    ins  Auge    gefasst    werden.     Und 
doch  hatte  Kant  auch  hier  insofern  die  Wege  gewiesen,    als   er  auf 
die  Vereinbarkeit  des  Mechanismus    mit    der  Teleologie    gerade    im 
ästhetischen  Gebiete    selbst    hingewiesen.    Ja    in    dem    Ideale    einer 
intellektuellen  Anschauung    eine    solche   Harmonie  ins  Auge    gefasst 
hatte.     Statt  bei  der  abstrakten  Abtrennung  der  praktischen  Vernunft 
zu  bleiben,  ging  deshalb  Herbart    auf    die  Fälle    von    harmonischen 
Verhältnissen  zurück,  von  denen  wir  durch  unser  souveränes  ästhetisches 


V)  Philosophie  des  Schönen.     S.  468  f. 

Kautstiulion  IV.  19 


.)g2  Prof.    l>r.   I  »linier, 

Urtril   riiu'n   Kindruok    •ri'winiicn   können,  und  urlintlctr   liicrMul'  seine 

Ideen. 

Fassen    \\'\r  dairciren  den  (ledankcii   Kants    ins   Aii^c     dass    es 
eine  Vernunft  (dinc  Sinnliidikeit  nnt  einer  rein  int(dli^'ilden  Welt  ,trel)en 
konnte,  so  ist  das  ein  (iedanke.    der    dureli    und     dureli   ideaüstiseh 
ist  und    in    seiner  Identifikation    der  theoretiseheii    und    praktiseheu 
Vernunft    auf    Kicdite    und    llejrel    hinweist.     Denn    für    eine    solche 
\'ernunft    würde    unsere  Sinnlielikeit    eine    Sehranke    Itedeuten,    die 
entfernt  werden   inUsste,    es  würde    Alles    auf    die   llerstidlun};  einer 
intelliirililen  Welt  durch  die  Vernunft  ankommen.     Hepd  inshesondere, 
der  das  vernünftige  Sein   für  das  einzige  Sein    erklärte,    hiitte    hier 
seine  Stelle,  der  die  Sinnlichkeit  nur  als   eine  unvollkommene  Stufe 
zum  Vernunftwissen  betrachtete.     Kant  würde  zweifellos  diesen  Stand- 
punkt für  uns   unerreichbar  erklärt  haben,    weil  wir  den   Dualismus 
zwischen  Sinnlichkeit,    Anschauung  und   Denken    nur    langsam    und 
allmählich  und  niemals  ganz  bei  unserer  Anlage  überwinden.     Aber 
indem  er  aus  dem  Einheitsbedürfnis  der  Vernunft  heraus  auch    eine 
Vernunft    ohne    Sinnlichkeit    mit    einer  intelligiblen    Welt    ins  Auge 
getasst  hat,  hat  er  damit  den  rationalen  Idealismus  in  seinen  Gesichts- 
kreis gezogen,')  und  seine  Nachfolger  konnten,  um  eine  einheitliche 
Weltanschauung  zu  gewinnen  auch  hieran  anknüpfen,    zumal    dieses 
Vernunftideal    den    persönlichen  Charakter   überschreitet,    von    einer 
intelligiblen  Welt  die  Rede    ist. 

Ich  kann  bei  dieser  Gelegenheit  doch  die  Bemerkung  nicht 
ffanz  unterdrücken,  dass  auch  diese  zuletzt  berührten  Sätze  zeigen, 
dass  Kant  doch  niemals  ganz  den  Leibnitzischen  Idealismus  über- 
wunden hat.  Wenn  es  ihm  besonders  darum  zu  thun  war,  die  Welt 
der  sinnlichen  Anschauung  von  der  Welt  des  Verstandes  und  seinen 
Begriffen  zu  unterscheiden,  wenn  hierauf  seine  Eigentümlichkeit  in 
der  Kritik  der  reinen  Vernunft  grossenteils  beruhte,  dass  er  der 
sensualistischen  Richtung  die  Selbständigkeit  der  Empfindung,  d.  h. 
die  Unmöglichkeit,  sie  in  unklare  verworrene  Ideen  aufzulösen,  und 
der  apriorischen  Richtung  die  Selbständigkeit  des  Verstandes  und 
seiner  Kategorien  zugab,  so  hat  er  doch  im  weiteren  Verlauf  seiner 
Untersuchungen  zwar  für  unseren  menschlichen  Standpunkt  diese 
Unterscheidung  festgehalten,  dabei  aber  doch  immer  zugegeben,  dass 
unsere  Vernunft  eine  Einheit  dieses  Gegensatzes  anstrebe.  Eben 
dies  ist  die  Bedeutung  der  Kritik  der  Urteilskraft,  nach  einer  solchen 

1)  In  gewisser  Art  nähert  er  sich  mit  dieser  Möglichkeit  auch  wieder  seinem 
Vorgänger  Leibnitz. 


Kants  Kritik  der  Urteilskraft  etc.  283 

Einht'it  zu  suchen,    die    er    in  der  Zweckidee  findet,    welche  in  un- 
bestimmter Weise  —  als  Zweckmässigkeit  ohne  Zweck  —  im  ästhe- 
tischen,  in    bestimmter  Weise    im  teleologischen  Gebiet    der  Urteils- 
kraft zar  Geltung  kommt.     Es  ist  aber  nicht  zu  leugnen,  dass  Kant 
bei  dem  Versuche,  eine    solche  Einheit  herzustellen,  sich  wieder  der 
idealistischen  liichtung  zuneigte,  da  als  das  Ideal    ihm    doch  wieder 
ein  intuitiver  Verstand,    eine  Vernunft    ohne    unsere  Sinnlichkeit  mit 
einer  intelligil)len  Natur  vorschwebt.     Nur    so    konnte    wirklich    der 
Dualismus  beseitigt  werden,  wenn  er  nicht  den  sensualistischen  Weg 
gehen  wollte.     Indem  er  nun  geltend  machte,  dass  dieser  Dualismus 
zwischen  Sinnlichkeit  und  Verstand  —  sowie  Vernunft  nur  für  uns 
gelte,  rettete  er  die  Möglichkeit  einer  harmonischen  Weltanschauung, 
wenn  wir  sie  auch  nicht  durchführen  können,  erschütterte  aber  doch 
wieder    seinen  Standpunkt,    der   auf  der  Trennung    von  Sinnlichkeit 
und  Intelligenz    ruhte.     Man   wird    vielleicht    nicht   fehlgeben,    wenn 
man    die  Ursache  dieser  Schwankungen    darin   hauptsächlich    findet, 
dass  Kant  die  sinnliche  Anschauung  nicht  gründlich  genug  unter- 
sucht hat.     Zwar  hat  er  sich  in  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  die 
grosseste  Mühe  gegeben,  die  Apriorität  von  Raum  und  Zeit  als  An- 
schauungsformeu  festzustellen.     Aber  diese  Untersuchungen   betreffen 
doch    nur    die    Form    der    Erscheinungen.     Der    Inhalt    ist    in    der 
Empfindung  gegeben.     Was  nun  diese  sei,  hat  Kant    niemals    völlig 
zur  Klarheit  erhoben.    Dass  sie  gegenüber  dem  aktiven  einen  rezep- 
tiven Charakter  trage,  dass  bei  der  Verbindung  der  Sinnescindrücke 
eine  synthetische  Thätigkeit  vor  sich  gehe,  hat  Kant  zwar  festgestellt. 
Allein  die  Frage,  ob  die  Sinneseindrücke   uns  von    einer    objektiven 
Natur  Kunde   geben,    hat  Kant    teils    dahin    beantwortet,    dass    den 
Sinneseindrücken  ein  uns  unbekanntes  Ding  an  sich  zu  Grunde  liege, 
teils    dahin,    dass    es  ein  intelligibles   Substrat  der  Natur  gebe.     In 
dem  letzteren  Fall  würden  die  Sinneserscheinungen  nur  Erscheinungen 
des  intelligiblen  Substrates  der  Natur  sein.     Damit  würden  wir  aber 
wieder  dem  Leibnitzischcn  Idealismus  angenähert,  gegen  den  Kant  doch 
Opposition  machte.  Aber  auch  das  Ding  an  sich  ist  nicht  ein  Erfahrungs- 
objekt,   sondern  ein  Verstandesbegriff,    und    schliesslich    würde  auch 
damit  als  der  Grund  der  Natur  ein  von  uns  gedachtes  Objekt  ange- 
sehen, dessen  nähere  Beschaffenheit  wir  zwar  nicht  kennen,  das  aber 
doch  wenigstens  irgend  intelligiblen  Charakter  hal)en  muss,  weil  wir 
es  doch  mit  dem  Begriff  lassen  können.     Kurz,  die  von  uns  sinnlich 
empfundene  und  in  den  Formen  von  Kaum    und  Zeit    durch  Einheit 
der  Synthesis  zusammengefasste  Natur  ist  die  subjektive  Erscheinungs- 

19* 


oj^4  l'rnl    Dl     Uornor, 

tonn  t'iiUT  int('llifril)l»'ii  Welt.  Kl)«'n  damit  wird  sie  aber  wirder 
Leil)nit/.isi'h  iilralisint.  und  mau  sieht  nicht  rcciil  »-in.  wcshall»  ivant 
^iunlii'hki'it  und  Dt'idvt'u  so  scharf  einander  ('ntjrc;;onset/t,  wenn  die 
^Sinnlichkeit  doch  nur  die  Krscheinuujrsl'orm  eines  Uhersinulichen 
Substrates  ist. 

Wir  hal)in  preschen,  wie  mannidaltiir  die  Anrejruu^en  sind,  die 
in  der  Kritik  der  Urteilskralt  von  Kant  ^^ejjehen  werden,  um  eine, 
i-inheitliche  Weltanschauunjr  zu  «restalten,  wie  aber  Kant  selbst  seino 
Auschauunir  nicht  einheitlich  abjrerundet  hat.  Man  köiuite  ihn  in 
dieser  Hinsicht  nnt  Sokrates  verjrleichen,  von  dem  ebenfalls  die 
verschiedensten  Schulen  ihren  Ausi^ang  irenommen  haben.  Kinmal 
konnte  an  Kaut  ein  einseitig;-  subjektiver  Standpuld-Lt  anknüpfen,  der 
in  vollständiirem  Psvchologismus  endete;  es  konnte  wejren  seiner 
gelegentlichen  Missachtung  der  Sinnlichkeit  und  der  sinnlichen  An- 
schauung, die  uns  nur  ein  unvollkommenes  Bild  einer  Natur  an  sich, 
des  übersinnlichen  Substrats  der  Erscheinungsnatur  gewährte,  und 
wegen  seiner  Identifikation  von  praktischer  und  theoretischer  Vernunft 
in  einer  unsere  Vernunft  übersteigenden  Vernunft,  der  objektive 
Idealismus  als  ein  die  zurückgebliebenen  Schwierigkeiten  lösendes 
System  ausgebildet  werden.  Es  konnte  sein  Versuch,  in  der  Ästhetik 
die  übriggelassenen  Gegensätze  zu  überbrücken,  nach  seinen  eigenen 
Andeutungen  zu  einer  abschliessenden  ästhetischen  Weltanschauung 
verwendet  werden;  es  konnte  endlich  seine  der  Hauptsache  nach  im 
Vordergrund  stehende  Tendenz,  eine  einheitliche  moralische  Weltan- 
schauung zu  l)ilden,  fortgeführt  und  von  den  bei  Kant  vorhandenen 
Mängeln  befreit  werden.  Mir  scheint  unter  allen  Versuchen,  die  an 
Kant  anknüpfen,  dieser  der  einzig  haltbare  zu  sein,  dem  sich  auch 
ein  Teil  der  Männer,  die  ursprünglich  eine  mehr  ästhetische  Welt- 
anschauung hatten,  wie  Schleiermacher  und  selbst  Schelling'j  in  ihrer 
spätem  Entwicklung  zuwandten.  Ich  habe  auch  den  Versuch  gemacht, 
diese  Anschauung  in  meiner  Erkenntnistheorie  und  Ethik  unter  den  in- 
zwischen neueingetretenen  wissenschaftlichen  Bedingungen  modifiziert 
auszubauen.  Hier  kam  es  nur  darauf  an,  in  dieser  historischen 
Skizze  den  Reichtum  des  Kantischen  Geistes,  wie  er  sich  in  dieser 
letzten  Kritik  offenbart,  zu  beleuchten.  Kant  steht  nicht  am  Absehluss 
einer  Periode,    sondern    er    erööuet    eine    neue  Entwicklungsperiode 


*)  Die  Bedeutung  der  späteren  Entwicklung  Schellings  scheint  mir  darin 
zu  liegen,  dass  er  eine  mehr  ethische  Weltanschauimg,  wenn  auch  mit  meta- 
physischen :\littehi  zu  begründen  sucht,  wie  schon  die  Freiheitslehre  dies  zeigt. 
Vgl.  meine  Schrift  über  Seh.  a.  a.  0.  S.  20  f. 


Kants  Kritik  der  Urteilskraft  etc.  285 

der  Philosophie.  Es  ist  durchaus  natürlich,  dass  auch  sein  System 
zu  keinem  vollen  Abschluss  «rekommen  ist,  sondern  schliesslich  eine 
Reihe  von  mit.irlichen  Entfaltuniren  in  sich  barg,  die  in  der  weiteren 
Entwicklung:  realisiert  wurden.  Ich  bin  hier  nur  bei  den  philo- 
sophischen allgemeinen  Richtungen  stehen  geblieben;  es  wäre  Sache 
einer  besonderen  Abhandlung,  den  Einfluss  gerade  der  Kritik  der 
Urteilskraft  auf  die  einzelnen  Disziplinen,  auf  die  Naturwissenschaft 
und  ihre  Idee  der  Entwicklung,  auf  die  Ästhetik,  auf  die  Elthik  und 
Religionsphilosophie,  auf  die  Psychologie  und  Geschichtsphilosophie 
näher  zu  verfolgen  und  den  von  ihm  aufgestellten  Begriff  des 
Zwecks  allseitig  zu  beleuchten. 


The  Relation  between  Human  Consciousness 
and  its  Ideal  as  Conceived  by  Kant  and  Fichte.') 

Hv  Ellen  Hliss  Talbot. 


In  tliis  jdiix'r  1  have  tried  to  conii)are  tho  doctriiies  of  Kant  aiul 
Fichte^)  with  rejrard  to  the  ideal  of  experience,  and  thc  rclation  of 
this  ideal  to  experienee.  The  rclation  l)et\veen  the  tvvo  jjhilosophers 
inay  hv  studied  from  niany  diflerent  poiiits  of  vievv.  Froni  no  single 
point  can  we  get  a  complete  survey  of  the  proldeni,  l)ut  each  gives 
US  some  help  in  solving  it;  and  it  has  seemed  to  nie  that  a  com- 
parison  from  this  particular  aspect  may  not  he  altoirether  lacking 
in  value  and  interest. 

In  the  Kritik  der  reinen  Vernunft,  a  sharp  line  of  distinc- 
tion  is  drawn  between  the  formal  and  the  material  aspect  of  human 
Cognition.  On  the  one  hand,  we  have  the  matter,  whieh  is  given 
from  without;  on  the  other,  the  formative  activity,  which  comes  from 
within.  These  two  seem  to  be  utterly  disparaie:  the  matter  is  mere 
matter;  the  form,  mere  form.  The  content  of  knowing,  if  we  look  at 
it  in  itself,  is  a  mere  manifold  —  chaotic,  unrelated,  meaningless. 
It  is  only  through  the  unifying  activity  of  the  understanding  that  this 
formless  mass    receives    shape  and  meaning;  it  is  only  because  the 


1)  A  chapter  from  a  dissertation  for  the  degree  of  doctor  of  philcsophy 
at  Comell  University,  Ithaca,  N.  Y. 

2)  In  the  discussion  of  Fichte's  doctrine,  I  have  been  obliged,  from  lack 
of  Space,  to  confine  myself  to  the  works  of  the  first  period.  Since  these, 
however,  are  more  closely  connected  with  the  Kantian  philosophy  than  the 
later  works,  and  since  the  particular  problem  which  we  have  to  investigate  is 
more  prominent  in  them,  it  has  been  possible  to  limit  the  study  in  this  way. 

References  to  the  First  and  Second  Editions  of  the  Kritik  der 
reinen  Vernunft  are  indicated  by  the  letters  A  and  B  respectively;  other 
references  to  Kant's  Works  are  to  the  edition  of  Rosenkranz  and  Schubert, 
which  is  indicated  by  the  letter  R.  References  to  Fichte  are  to  the  Sämmt- 
liche  Werke  (Berlin,  1845).  indicated  by  the  letters  S.  W.  and  to  the  Nach- 
gelassene Werke  (Bonn,  18.34),  indicated  by  the  letters  N.  W. 


The  Relation  between  Human  Conscionaness  and  its  Ideal  etc.       281 

scattered  sensations  have  been  workcd  upon  by  a  formarive  activitj^ 
that  they  have  been  united  into  sijrnificant  wholes.')  In  itself  the 
matter  is  essentially  formless.  „In  der  Erscheinung  nenne  ich  das, 
was  der  En)i)tiudung:  korresjjondiert,  die  Materie  derselben,  das- 
jenige aber,  welches  macht,  dass  das  Mannigfaltige  der  Erscheinung 
in  gewissen  Verhältnissen  geordnet  werden  kann, 2)  nenne  ich  die 
Form  der  Erscheinung.  .  .  .  Das,  worin  sich  die  Empfindungen 
allein  ordnen  und  in  gewisse  Form  gestellt  werden  können"  kann 
„nicht  selbst  wiederum  Empfindung  sein.-' 

And.  on  the  other  band,  if  we  look  at  the  unifying  activity  of 
thought  by  itself,  it  seems  to  be  mere  form.  For  its  content,  it  is 
wholly  dependent  upon  something  external.  As  soon  as  the  mani- 
fold  is  given,  the  unifying  activity  can  shape  and  mould  it;  but  the 
manifold  must  be  given.  The  formative  principle  has  no  power  to 
create  its  own  content;  the  form  of  knowledge  is  essentially  empt}\ 
,.Das  Mannigfaltige-'  muss  ..für  die  Anschauung  noch  vor  der  Syn- 
thesis  des  Verstandes,  und  unabhängig  von  ihr,  gegeben  sein.  .  .  . 
Die  Kategorien  .  .  .  sind  nur  Regeln  für  einen  Verstand,  dessen 
ganzes  Vermögen  im  Denken  besteht,  d.  i.  in  der  Handlung,  die 
Synthesis  des  Mannigfaltigen,  welches  ihm  anderweitig  in  der  An- 
schauung gegeben  worden,  zur  Einheit  der  Apperception  zu  bringen, 
der  also  für  sich  garnichts  erkennt,  sondern  nur  den  Stoff  zum  Er- 
kenntnis, die  Anschauung,  die  ihm  durchs  Objekt  gegeben  werden 
muss,  verbindet  und  ordnet."*) 

And  even  wheu  we  consider  this  formative  principle  in  its 
highest  manifestation,  the  transcendental  unity  of  apperception,  the 
case  is  no  better;    here,  too,   the  form   is    mere    form.     One    might 


1)  It  would  take  us  too  far  afield  if  I  should  stop  to  justify  my  assump- 
tion  that  the  pure  furuis  of  space  and  time  are  phases  of  the  activity  of  the 
seif.  In  spite  of  the  fact  that  Kant  refew  them  to  sensibility,  and  that  he 
attributes  spontaneity  to  the  understanding  alone,  it  seems  that  the  logic  of  his 
System  requires  him  to  say  that  the  entire  formal  aspect  of  our  experience  is 
due  to  the  spontaneity  of  consciousness,  while  only  the  material  aspect  is  to 
be  referred  to  receptivity.  xVnd  perhaps  it  may  be  urged  that  by  iutroducing 
the  Imagination,  which  is  to  mediate  between  sense  and  understanding,  and  by 
raaking  the  pure  schema  a  transcendental  determination  ot  time,  Kant  impiioitly 
corrects  his  explicit  Statements. 

2)  I  have  foUowed  the  readmg  of  the  Second  Edition,  „geordnet  werden 
kann" ;  the  First  Edition  has.  „geordnet  angeschaut  wird". 

3)  A,  20;  B,  34. 
*)  B,  145. 


288  i:il»n  lUiss  Talbut. 

tliink  iii(lt't>(l  tliat  in  tlii^  pure  scir-cdiisi'iousnrss  wc  li;iv(\  at  loast 
iniplii-itlv.  tliat  iiniitn  (•!'  sulijci-t  aiid  ohjcct  wliicli  miist  alwavs  con- 
stitutf  tlir  ideal  ot"  kiinwlrd-rt' ;  licre.  il' iiowhcrc  eise,  it  woiilii  scrni, 
we  iiiay  hopc  tt»  lind  a  l'orm  wliicIi  caii  siip|»ly  its  own  content, 
whirh  noeds  no  aid  froni  any  forciirn  principlc.  Hut  Kant  docs  not 
lonj:  porniit  us  to  clirrisli  this  liopo.  On  tliis  pdlnt  liis  statcincnts 
arc  vcry  explicit:  wc  niay  not  say  tlial  in  thc  \n\vv  ICiro  form  and 
content,  suliject-  and  object-self  are  onc;  lur  in  tlie  pure  K^^o  there 
is  no  content,  no  oltjeet-self.  at  all.  The  transcendental  unity  of  ap|)er- 
ception  is  inere  tonn;  in  itself  it  lias  no  content  wliatever.  Das 
Ich  ist  eintach.  ..weil  diese  \'(trstellun^^  keinen  Inhalt,  mithin  kein 
Manniirt'altijres  hat."')  ..Durch  das  Ich,  als  einfache  Vorstellun};, 
ist  nichts  Manniirfaltiires  jregeben;  in  der  Anschauung,  die  davon 
auterschieden  ist.  kann  es  nur  gegeben   ....  werden."') 

Thus  we  seem  to  bave  a  complete  Opposition  Itetween  the  two 
factors  ot  human  knowing:  its  matter  is  essentially  lormless;  its 
form,  essentially  empty.  We  nuist  not  forget,  however,  that  we 
have  discovered  this  Opposition  l>y  considering  the  two  elements  ab- 
stractly.  In  the  eoncrete  process  of  thought.  the  content  is  not 
formless,  nor  is  the  form  empty.  As  a  matter  of  fact,  we  never 
have  raere  form  or  mere  content;  we  alwavs  have  a  union  of  form 
and  content.  How  clearly  Kant  himself  sees  this.  is  perhaps  an 
open  question."*)     It    is    one,    however,    that    w^e    need    not    stop   to 


M  A.  381. 

2;  B.  135. 

3)  There  are,  no  doubt,  inany  passages  in  the  Kritik  which  speak  of  the 
formal  dement  of  thought  as  if  it  existed  in  the  mind  ready-made,  like  amould 
waiting  to  be  filled.  On  the  other  hand,  passages  like  the  following  seem  to 
indicate  that  Kant  soraetimes  rose  above  this  criide  conception:  — 

„Durch  dieses  Ich,  oder  Er,  oder  Es, .  .  .  welches  denkt,  wird  nun  nichts  weiter 
als  ein  transscendentales  Subjekt  der  Gedanken  vorgestellet  =  X,  welches  nur 
durch  die  Gedanken,  die  seine  Prädikate  sind,  erkannt  wird  und  wovon  wir, 
abgesondert,  niemals  den  mindesten  Begriff  haben  können."     (A,  846;   B,  404.) 

„Das  Mannigfaltige  in  einer  sinnlichen  Anschauimg  Gegebene  gehört  not- 
wendig unter  die  ursprüngliche  synthetische  Einheit  der  Apperception."    (B,  143.) 

„Der  Verstand  vermag  nichts  anzuschauen,  und  die  Smne  nichts  zu  denken. 
Nur  daraus,  dass  sie  sich  vereinigen,  kann  Erkenntnis  entspringen.  Deswegen 
darf  man  aber  doch  nicht  ihren  Anteil  vermischen,  sondern  man  hat  grosse 
Ursache,  jedes  von  dem  andern  sorgfältig  abzusondern  und  zu  unterscheiden." 
(A,  51 ;  B,  75,  f.j 

Perhaps  we  shall  come  nearest  to  the  truth  if  we  say  that  Kant  held  both 
Views    without    clearly    differentiating    them;    that    he  never   quite  outgrew  his 


The  Relation  between  Human  Conseioiisness  and  its  Ideal  etc.        289 

consider;  for  even  if  we  maintain  that  Kant  regarded  his  Separation 
of  form  and  matter  as  a  niethodologrical  device,  we  niust  still  adniit 
that  his  doctrine  of  the  nature  of  thought  is  far  froni  satisfactory. 
Kant  niav  not  mean  to  sav  that  the  two  Clements  of  our  knowledg-e 
exist  apart;  but  there  can  be  little  doubt  that  he  represents  their 
Union  in  thinkinj:  as  more  or  less  artificial.  The  two  elements  are 
ahvays  found  to^ether,  but  they  are  not  shown  to  belong  tojrether; 
they  imply,  but  at  the  same  time  repel,  each  other:  they  do  not 
eonstitute  an  organic  unity.  As  Professor  Creij,^hton  says,  ..Each 
object  of  knowledjre  is  taken  as  really  composed  of  a  contribution 
from  sense  and   a  contribution  from  understanding.     These  elements 

really    enter    into   it.    and  can    be  analyzed  out  of  it The 

synthetic    character    of    thought is    coneeived    as 

analogous  to  a  process  of  mechanical  fabrication,  or  chemical  combi- 
nation."^) 

This  defect  in  human  knowing,  as  Kant  conceives  it,  comes 
out  most  clearly  when  we  consider  the  contrast  between  our  Co- 
gnition and  that  ideal  of  knowledge  which  Kant  holds  before  us  in 
the  conception  of  intellektuelle  Anschauung.  The  whole 
question  of  the  nature  of  intellektuelle  Anschauung  and  of  its 
relation  to  the  other  features  of  Kant's  System  is  one  of  much 
interest.  Thiele's  careful  study^)  has  made  it  evident  that  the  con- 
ception, as  it  appears  in  the  Kritik ,  has  more  than  one  form. 
According  to  his  Interpretation  there  are  three  main  stages  in  the 
development  of  the  doctrine.  On  this  point  I  am  inclined  to  disagree 
with  him:  the  conception,  it  seems  to  me,  has  only  two  distinct 
phases;  and  it  has  these  two  because  at  different  times  Kant  ap- 
proaches  the  problem  from  two  different  points  of  view.  In  human 
Cognition,  form  and  matter  seem  to  stand  apart ;  but  in  the  ideal 
ot  knowledge  they  must  eonstitute  a  perfect  unity.  Now  in  one 
phase  of  the  doctrine  of  intellektuelle  Anschauung,  Kant 
Starts  with  his  concept  of  matter,  and  seeks  to  pass  from  it  to  the 
thought  of  this  organic  unity.  while  in  the  other  phase  he  attempts 
to  reach  the  ideal  by  starting  with  the  concept  of  form.  In  the 
one  case,  he  tries  to  give  us  a  matter  which  contains  its  own  prin- 


earlier  and  eruder  conoeption  of  form  and  matter  as  aetnally  existing  apart, 
bat  that  on  the  other  hand  he  sometime.s  had  glimpses    of  the  truer  conception. 

ii  The  Nature  of  Intellectual  Synthesis  (Philosophical  lieview, 
Vol.  V,  p.  146). 

3)  Kants  intellektuelle  Anschauung,  1876. 


•2i)(»  ElU-n  lilis^    l'alhtit, 

ciple  iif  form:  in  tln-  uihtT.  a  tnnii  wliuli  siipplics  itsclt'  witli 
content. 

Tlir  tir^t  ;ittrm|it  irivcs  ii«^  tlic  (iocliiiif  in  its  criHlfr  as|)t'i.'t. 
Intellektuelle  A  n.M' lia  ii  u  n;r  is  tlie  tacultv  dt'  iiiinie(li;iielv  appre- 
luMulin,::  tiiinjrs  in  tlieniseUcs.  Onr  coiiniiic.n  is  delectiNc  hecause 
it  (leals  witli  nicre  plienoinena;  tlie  oltjects  «»('  intuitive  nnder- 
slanilin^-  are  nonniena.  ,,^\'{Mnl  uns  die  Sinne  etwas  blos  vorstellen, 
wie  es  ersclu-int,  so  nuiss  dieses  Ktwas  doch  auch  an  sich  selbst 
ein  l)inu'  und  ein  (ie,i;"enstand  einer  nicht  sinnlichen  Anschauun;:^, 
(1.  i.  de>  \  erstandes  sein.  d.  i.  es  niuss  eine  iM-kenntnis  niiiirlich  sein, 
darin  keine  Sinnlichkeit  aniretrotVen  wird  und  welche  allein  schlecht- 
hin objektive  Ki'alität  hat.  dadurch  uns  niinilich  Gegenstände  vorge- 
stellt   werden,  wie  sie  sind."') 

This  concej)tion,  as  we  have  already  stated,  seenis  to  have  been 
lornied  on  the  analogy  ol"  the  niaterial  aspect  of  our  Cognition. 
Intellektuelle  Anschauung  is  here  rej)resented  as  pure  reeepti- 
vity ;  it  dit^ers  from  our  knowledge  siniply  in  the  fact  that  the 
content  is  given  as  it  is  in  itself,  and  is  not  altered  in  the  process 
of  being  received  and  unilied.  The  matter  given  in  exjierience  is 
Avarped  by  being  subjected  to  the  unifying  activity  which  works 
through  the  pure  tbnns  of  Intuition  (Anschauung)  and  conception. 
As  given.  it  is  a  shapeless  niass,  which  receives  form  through  the 
activity  of  a  new  principle;  but  this  princi|)le  is  regarded  by  Kant, 
not  as  dwelling  in  the  matter  itself,  but  as  working  upon  it  from 
without.  In  intellektuelle  Anschauung,  on  the  contrary,  the  form 
is  innnanent.  No  discursive  faculty  of  understanding  irnposes  upon 
the  nianifold  content  a  unity  that  is  foreign  to  its  nature.^)  The 
matter  of  intellektuelle  Anschauung  contains  its  own  principle 
of  unity;   the  content  and  form  are   one. 

This  conception,  however,  is  far  from  being  satisfactory ;  although, 
from  one  point  of  view,  intellektuelle  Anschauung  seems  to 
have  its  form  within  itself,  and  in  so  far  to  be  an  organic  unity, 
yet,  from  another,  we  see  that  the  unity  is  by  no  means  perfect. 
For,  so  long  as  we  have  the  faculty  of  apprehension  set  over 
against  that  which  it  apprehends,  there  must  be  at  least  a  partial 
Opposition    of  form   and  matter.     The    given   content  may   bring  its 


ij  A,  249. 

2j  „Ein  Verstand,  vor  den  es  [das  Noumenon]  gehörte  .  .  .  .,  nämlich  nicht 
diskursiv  durch  Kategorien,  sondern  intuitiv  in  einer  nichtsinniichen  Anschauung 
seinen  Gegenstand  zu  erkennen."     (A,  256;  B,  311,  f.) 


The  Relation  between  Huuian  Consoiousness  and  its  Ideal  etc.        291 

form  with   it;   but   in   the    process    of    bcin^-    apprchendcd    it    niust 
receive  a  new  form. 

In  the  secoiid  and  hl-ilier  jjhase  of  the  doctrine  of  intellektuelle 
Anschaaiui};-,  this  ditVieulty  does  not  exist.  Here,  Kant  starts  with 
the  formal  jjriiieiple  of  knowledfje,  and  asks  himself  what  modiii- 
catiun  it  niust  underj^-o  in  order  to  correspond  to  our  notion  of  the 
ideal  eopütion.  The  great  defect  ot  the  pure  Ego  is  its  emptiness; 
the  1  think  is  indeed  the  highest  form,  but  it  is  form  devoid  of 
content.  And  because  of  its  emptiness,  it  cannot  in  itself  give  us 
any     Cognition     whatever.      „In     der    synthetischen    ursprünglichen 

Einheit  der  Apperception"  bin  ich  „mir  meiner  selbst bewusst, 

nicht  wie  ich  mir  erscheine,  noch  wie  ich  an  mir  selbst  bin,  sondern 
nur  dass  ich  bin.  Diese  Vorstellung  ist  ein  Denken,  nicht  ein 
Anschauen."  Nun  ist  „zur  Erkenntnis  unserer  selbst  ausser 
der  Handlung  des  Denkens,  die  das  Mannigfaltige  einer  ieden 
möglichen  Anschauung  zur  Einheit  der  Apperception  bringt,  noch 
eine  bestimmte  Art  der  Anschauung,  dadurch  dieses  Mannigfaltige 
gegeben  wird,  erforderlich.-') 

Thus,  it  is   the  emptiness  of  the  I  think  which  prevents  it  from 
meeting    the   requirements    of  our    ideal.     It  is  because    it    has    no 
content   of    its    own,    because   it  is   dependent  upon   something  eise 
for    the    matter    upon  which  it  is  to  work,  that  it  is  defective  as  a 
principle  of  knowledge.    If  then  we  are  to  conceive  of  intellektuelle 
Anschauung    as    free    from    the    limitations    of   the    pure  Ego    of 
apperception,    we   must   think  of  it  as  a  self-consciousness  which  is 
not  empty,  but  which  finds  within  itself  the  material  upon  which  it  is 
to    work.     And    this    is    the   conception    to  which   Kant  conies.     In 
the   higher  form    of  the   doctrine,  intellektuelle   Anschauung  is 
described    as    a  pure   self-consciousness  which   is   its  own  object,  a 
self-consciousness  in  which  the  act  of  unifying  the  manifold  is  at  the 
same  time  the  process  whereby  this  manifold  first  comes  into  being. 
„Das  Bewusstsein  seiner  selbst  (Apperception)  ist  die  einfache  Vor- 
stellung  des   Ich,   und,   wenn   dadurch   allein   alles  Mannigfaltige  im 
Subjekt  selbstthätig  gegeben  wäre,  so  würde  die  innere  Anschauung 
intellektuell  sein." 2)     ,.Ein  Verstand,    in  welchem   durch  das  Selbst- 
bewusstsein    zugleich     alles    Mannigfaltige    gegeben    würde,    würde 
anschauen."'') 

In  this  thought  of  the  pure  self-consciousness  which  is  one  with 


1)  B,  157.         2)  B,  68.       S)  B,  136. 


290  Kilon  Hliss  TaUM.i.  | 

its  obji'rt  bfi-ausr  it  1ms  itsclf  tor  ohjiM't.  wc  li:i\.-  K.nits  lii-lu-st 
i-oiu-eptioi»  of  tlu>  iilfnl  nl  knowlrd-c.  Hnc  :il  l.•l^t.  wc  lind  tlu- 
pi'rtVi't  Union  of  tonn  .-md  (•..nliiit;  lint'  at  last,  tlic  diialisni  wliich 
is  so   nianilVst   in   human   (•(.-■nition   irivrs   pljuu-  tu   a    liii:hri-   niiitv. 

N(i\\  st)  li.nL^  as  Nvi'  look  al  llii^  (■(uu'optidn  in  itscir.  it  si-cnis 
satistae'torv ;  Init  as  soon  as  wi-  considcr  tlu-  ivlation  lictwccn  tliis 
ideal  and  <uir  own  coirnition  wo  discovcr  somc  difticnltics.  l'or  Kaufs 
inlrllcktuoll  (•  Ansfhauiin.-r  is  at  l)cst  Imt  a  lUdlil.'niatic  foncrpt, 
and  tluTt't'orc  onc  to  wliii-h  wc  i-an  \H-\rv  assnt  tiiat  tlicn-  is  any 
rralitv  correspondinir.  Moreover,  onr  notion  (d'  tliis  pcrfrct  co^niition 
is    so    vaiTue     and     iiidclinitr     tliat    strii'tly    sitcakin^-     w  c    iiavc     no 

rijrlit    to    oall    it    a    coucept    at    all.      ..Wir  konnten nicht 

beweisen,  dass  noch  eine  andere  Art  der  Anschauun-r  |a]s  die 
sinnliche]  mi"»^'lich  sei.  und  oh^-leich  unser  Denken  von  Jener  Sinn- 
lichkeit abstrahieren  kann,  so  bleibt  doch  die  b>a},'e,  ob  es  alsdann 
nicht  eine  blosse  Form  eines  Begriftes  sei  und  ob  bei  dieser  Ab- 
treununjr  überall  ein  Objekt  übrig  bleibe?'' M  Man  kann  „nicht  an- 
nehmen", dass  Noumena  „gegeben  werden  können.  ....  ohne  dass 
man  eine  andere  als  sinnliche  Art  der  Anschauung  als  m(»glich 
voraussetzt,  wozu  wir  aber  keineswegs  berechtigt  sind  ....  Wir 
haben  einen  Verstand,  der  sich  problematisch  weiter  erstreckt  als 
jene  [Sphäre  der  Erscheinungen],  aber  keine  Anschauung,  ja  auch  nicht 
einmal  den  Begriti"  von  einer  möglichen  Anschauung,  wodurch  uns 
ausser  dem   Felde   der    Sinnlichkeit    Gegenstände    gegeben"  werden 

können.'^) 

But  the  case  is  even  more  serious  than  this.  Not  only  is  it 
true  that  our  ideal  of  knowledge  is,  and  must  be,  vague  and  that 
we  have  no  Warrant  for  saying  that  it  has  any  real  existence;  but 
it  is  also  true  that  the  ideal  is  for  us  atterly  unattainable  —  nay, 
more.  that  it  is  a  goal  to  which  human  knowing  cannot  even  approxi- 
mate.  The  limits  of  our  Cognition  are  fixed  onee  for  all.  Whatever 
progress  the  future  may  bring  must  always  be  a  progress  within 
these  limits,  never  a  transcending  of  them.  We  know  only  the 
phenomenon;  we  can  never  come  face  to  face  with  the  thing  in 
itself.  Progress  in  knowledge  can  consist  only  in  learning  more 
and  more  about  phenomena;  it  can  never  bring  us  one  whit  near- 
er  to  the  realitv  behind  them. 


1)  A,  252,  f. 

2)  A,  254,  f. ;  B,  309,  f. 


The  Relation  between  Human  Consciousness  and  its  Ideal  etc.        293 

That  Kant  draws  this  sharp  liue  of  deniarcation  between  knowing 
and  its  ideal,  is  evident,  I  think.  as  soou  as  one  considers  the 
g:eneral  spirit  of  the  Kritik.  The  declaration  that  metaphysics  is 
impossible,  the  assertion  that  our  knowledge  must  be  limited  to 
phenomena,  the  insistence  that  our  iutuition  must  be  sensuous  and 
that  the  transcendeiital  Ej?o  cannot  have  the  slig:htest  content,  in- 
dicate  a  helicf  that  the  difference  between  our  cofmition  and  in- 
tellektuelle Anschauung  is  one,  not  of  degree,  but  of  kiud.  There 
are  only  a  few  passages  in  the  Kritik  which  seem  to  justify 
any  moditieation  of  this  Interpretation;  and  they  are  the  passages  in 
which  Kant  speaks  of  the  possible  common  root  of  sensibility  and 
understanding.  ,.Wir  .  .  .  fangen  nur  von  dem  Punkte  an,  wo  sich 
die  allgemeine  Wurzel  unserer  Erkenntniskraft  teilt  und  zwei  Stännne 
auswirft,  deren  einer  Vernunft  ist.''^)  ,.Dasjenige  Etwas,  welches 
den  äusseren  Erscheiimngen  zum  Grunde  liegt  .  .  .,  als  Noumenon 
betrachtet,  könnte  doch  auch  zugleich  das  Subjekt  der  Gedanken 
sein."2) 

From  these  passages  it  seems  that  Kant  recognised  the  possi- 
bility  that  the  formal  and  material  aspects  of  thought  might  have 
the  same  origin.  Still,  bis  emphatic  repudiation  of  the  principles  of 
the  Wissenschaftslehre^)  shows  that  bis  recognition  of  the  possi- 
bility  did  not  affect  bis  general  position.  So  much  at  least  he 
would  certainly  say:  that  for  us  the  dualism  of  form  and  content 
is  ultimate;*)  that  our  ideal  of  a  unity  in  which  it  is  surmounted  is 
only  a  problematic  concept;  and  that  so  far  as  we  can  ever  know, 
otir  Cognition  is  wholly  different  in  kind  from  this  ideal  unifry\ 

It  seems  necessary  to  lay  sonie  emphasis  upon  this  point 
because  it    is  often  overlooked.^j    Keading  Kant,    as  we  do,    in  the 

1)  A,  835;  B,  863.     cf.  A.  15:  B,  L>9. 

2)  A,  358.     ^j  R..  XI,  153,  flf. 

*)  That  is,  in  this  life.  In  one  passag'e,  Kant  speaks  of  the  possibility  that 
death  may  be  „das  Ende  dieses  sinnlichen  Gebrauchs  eurer  Erkenntniskraft 
und  der  Anfang  des  intellektuellen".     (A,  778;  B,  806,  f.) 

5)  E.  g.,  by  Thiele.  His  position  is  not  stated  with  so  imich  clearness  as 
is  to  be  wished;  but  appareutly  he  tries  to  show  that  our  own  self-consciousness 
as  Kant  conceived  it,  not  merely  suggests  the  ideal,  but  is  itself  a  partial 
realisation  of  the  ideal.  Intellektuelle  Anschauung,  in  its  highest  form, 
is  according  to  Thiele  „absolutes  Wissen,  absolute  Identität  von  Wissen  und 
Sein".  Now  „unser  menschliches  Selbstbewusstsein  ist  ein  unendlich  matter  Ab- 
glanz jenes  absoluten  Wissens."  Apparently,  however,  the  difference  between  the 
two  is  not  in  kind,  but  merely  in  degree.  ,,ln  dem  Denkakte  ,Ich'  fallen 
Subjekt  und  Objekt  zusammen,  hier  ist  das  Wissende  das  Gewusste,  hier  ist 
Identität  von  Wissen  und  Sein"    (Kants  intellektuelle  Anschauung,  95). 


'294  Kilon  Hli^s  TailMit, 

liirlit  oi'  thosc  wlio  oamc  alter  liiiii.  \\r  aic  pniiir  to  attril)iitc'  t(» 
hiiii  (Itu'trines  wliich  sliould  rcallv  ht-  crcditcd  to  liis  successors.  In 
one  st'iise,  ot"  cmirsc.  it  is  truc  tliat  tlic  coiicciitidii  df  kiidwlcdj^e  as 
All  cver-di'opt'niiii:  iinity  of  sul)i(H't  and  objcct  owcs  its  heing;  to  Kant; 
but  it  is  truc.  cliittly  in  tho  sense  that  h\  drawinir  a  sliarp  linc  o\' 
distini'tion  Ix-twotMi  suhjcct  and  (d)joc't.  Kant  sct  otliors  t(t  tliiiikintc 
liow  thf  opjKisition  ini;rlit  ho  (ivcrconic  'Vhv  tliou<;lit  that  sul)j('{'t 
and  objLH't  ninst  lic  a  unity.  that  tiic  ajiparcnt  dualisin  in  our 
knowin«:  cannot  l)e  ultiniate,  is  to  Itc  crcditcd,  not  to  Kant,  hut  to 
Fichte:  and  I  cannot  see  what  is  to  l»c  ^aincd  hy  aftriltntinj,'  to  Kant 
a  doctrinc  which  he  explicitly  rojcctod.  and  which  is  at  variance 
with  tho  ircncral   sj)irit  of  his  philosophy. 

It  is  often  said,  howevcr,  that  the  dualisni  which  is  so  manifest 
in  the  earlior  Kritik,  is  overcome  to  a  considerahle  extent  in  the 
Kritik  der  praktischen  Vernunft  and  the  Kritik  der  Urteils- 
kraft. In  one  respect  this  is  perhaps  true;  but  in  freneral,  1  think 
that  the  aniount  and  value  of  the  correction  which  Kant  is  sui)posed 
to  have  made  in  these  later  writin^-s  have  been  overestimated. 

In  the  sphere  of  knowledge,  as  we  have  seen,  there  is  no 
possihility  of  the  sli^rbtest  approximation  toward  the  ideal;  the 
difference  between  human  cog-nition  and  intellektuelle  Anschau- 
ung is  absolute.  In  the  moral  realm,  however,  the  case  seeras  to  be 
somewhat  better.  Apparently  Kant  believes  that  we  may  g-radually 
approach  the  ideal  ofmorality;  the  task  is  indeed  infinite,  yet  there 
is  a  possibility  of  progress.  ,.Die  völlige  Angemessenheit  des 
Willens zum  moralischen  Gesetze  ist  Heiligkeit,  eine  Voll- 
kommenheit, deren  kein  vernünftiges  Wesen  der  Sinnenwelt,  in 
keinem  Zeitpunkte  seines  Daseins,  fähig  ist.  Da  sie  indessen  gleich- 
wohl als  praktisch  notwendig  gefordert  wird,  so  kann  sie  nur  in 
einem  ins  Unendliche  gehenden  Progressus  zu  jener  völligen  Ange- 
messenheit   angetroffen    werden P^inem    vernünftigen,     aber 

endlichen  Wesen  ist  nur  der  Progressus  ins  Unendliche,  von  niedern 
zu  den  höhern  Stufen  der  moralischen  Vollkommenheit  möglich.     Der 

Unendliche sieht,    in    dieser    für  uns  endlosen  Reihe,  das 

Ganze  der  Angemessenheit  mit  dem  moralischen  Gesetze."^) 

At  first  thought.  this  may  seem  to  be  a  decided  advance  upon 
the  doctrine  of  the  Kritik  der  reinen  Vernunft.  As  soon, 
bowever,  as  we  examine  the  matter  closely,    we    see    that  the  gain 


1)  R.,  Vm,  261,  fi. 


The  Relation  between  Human  Consciousness  and  its  Ideal  etc.        295 

is  more  apparent  than  real;  lor  tho  advantage  has  been  secnred 
by  lowering  the  concept  of  the  ideal.  In  tbe  earlier  Kritik,  the 
ideal  is  described  as  an  orjranie  unity  of  content  and  form;  but  in 
the  Kritik  der  praktischen  Vernunft  it  seems  to  be  conceived 
as  niere  furm. 

The  dualism  which  appears  in  the  sphere  of  knowledge  as  the 
Opposition  of  sense  and  understandinjr  meets  us  in  the  moral  realm 
as  the  Opposition  of  desire  and  the  nioral  law.  According  to  Kant, 
the  moral  law  is  purely  formal;  its  whole  content  must  be  sought 
in  natural  desire:  and  the  relation  between  it  and  this  desire  is 
represented  as  complete  Opposition.  Natural  Impulse  has  its  source 
in  the  world  of  sense.  It  is  utterly  disparate  from  that  pure  self- 
consciousness  which  forms  the  basis  of  all  morality.  ,.Der  Wille 
ist  mitten  inne  zwischen  seinem  Prinzip  a  priori,  welches  formell 
ist,  und  zwischen  seiner  Triebfeder  a  posteriori,  welche  materiell 
ist."')  ..Nur  ein  formales  Gesetz,  d.  i.  ein  solches,  welches  der 
Vernunft  nichts  weiter  als  die  Form  ihrer  allgemeinen  Gesetzgebung 
zur  obersten  Bedingung  der  Maximen  vorschreibt,  kann  a  priori 
ein  Bestimmungsgrund  der  praktischen  Vernunft  sein."^) 

Now  if  the  two  elements  of  our  moral  experience  are  essentially 
opposed,  the  only  morality  possible  for  us  would  consist  in  the 
subjugation  of  one  of  them  by  the  other.  And  this  is  precisely  the 
conception  which  Kant  seems  to  have  of  the  nature  of  morality, 
The  development  of  the  moral  life  is  regarded  as  the  gradual  anni- 
hilation  of  our  natural  Impulses.  Desire  is  not  to  be  taken  up  into  the 
moral  law  and  puritied  until  it  is  worthy  to  be  the  content  of  the  moral 
life;  it  is  to  be  crushed  out.  The  ideal  of  morality  is  to  be  found, 
not  in  the  organic  unity  of  content  and  form,  but  in  the  complete  sub- 
jection  of  content  to  form.  ,,Das  Wesentliche  alles  sittlichen  Wertes 
der  Handlungen  kommt  darauf  an.  dass  das  moralische  Gesetz 
unmittelbar  den  Willen  bestimme.  Geschieht  die  Willensbe- 
stimmung: zwar  o:eraäss  dem  moralischen  Gesetze,  aber  nur  ver- 
mittelst  eines  Gefühls,  welcher  Art  es  auch  sei,^)  das  vorausgesetzt 
werden   muss.   damit  jenes   ein  hinreichender  Bestimmungsgrund  des 

Willens  werde ,    so    wird   die  Handlung nicht  Mo- 

ralität  enthalten Das  moralische  Gesetz"  thut  ,,allen  unsern 

Neigungen  Eintrag.'-^)    ,,Nur  das,  was  bloss  als  Grund,  niemals  aber 
als  Wirkung    mit    meinem  Willen    verknüpft  ist,    was    nicht   meiner 

1)  R.,  Vm,  20.     2)  R.^  viii,  185. 

•■»)  The  italics  are  mine.      *j  R.,  VIII.  195.  ft. 


•290 


Kilon  lUiss  'rallM.l, 


NoifTunjr  dient,  sondern  sie  lllu'nvii'frt.  uciii^'stcns  diese  von  deren 
i'bersol\laf:e  Itei  dt  r  Wahl  {ranz  aussehliesst.  mithin  das  ld(»sse  (ieset/ 
für  sich,   kann   rin   ( iciri'iistand   der  Aelitiinu-   ....  sein."') 

It  nia\  hv  urufd.  however,  that  in  ideiitil'viii;^  tlie  (onnal  law 
with  Ihe  ideal  i^\'  the  nuual  life,  \m'  are  inisrepresentin}?  Kant. 
Holiness.  Kant  teils  ms.  is  iudeed  the  hi-hest  pmd,  hut  it  is  not  the 
complete  jrood.     l'he  suniniuni   lioiinni   in  its  truest  sense  is  „(Hück- 

selijrkeit.    iranz     i;enau    in    Troportioii    der    Sittliehkeit aus- 

•reteilt".-)  It  niav  he,  then.  that  Kant  conceives  (d"  the  nioral  ideal 
not  as  nuM-e  toini.  hut  as  a  unity  of  form  and  content.  Whether  this 
hv  the  ease.  however,  wi-  need  not  stop  to  deeide;  for  here,  too,  we 
tind  a  lower  coneeption  of  the  ideal  than  that  whieh  appears  in  the 
Kritik  der  reinen  Vernunft.  It  is  trne  that  in  the  coniplete 
good  we  have  a  union  of  form  and  matter;  but  this  is  by  no  means 
an  oriranic  unity.  \  irtue  and  happiness  are  not  one  in  essence; 
thev  are  held  toycther  hy  an  external  force.  In  themselves  they 
are  utterly  opposed;  in  Order  to  make  their  union  intellig-ible,  wc 
must  postulate  the  existence  of  a  üivine  Beinp:.  „Man  muss  be- 
dauern, dass  die  Schartsinuigkeit  dieser  Männer  [der  Epikuräer  und 

der  Stoiker] unfrlücklich  ang-ewandt  war,   zwischen   äusserst 

ungleichartigen  Begritlen,  dem  der  Glückseligkeit  und  dem  der 
Tugend,  Identität  zu  ergrübein Glückseligkeit  und  Sittlich- 
keif' sind  „zwei  spezifisch  ganz  verschiedene  Elemente  des 
höchsten  Guts  .  .  .  .  ,  und  ihre  Verbindung''  kann  also  „nicht 
analytisch  erkannt  werden,''  sondern  ist  „eine  Synthesis  der  Be- 
o-ritfe.-'M  „Also  ist  das  höchste  Gut  in  der  Welt  nur  möglich,  so 
ferne  eine  oberste  Natur  angenommen  wird,  die  eine  der  moralischen 
Gesinnung  gemässe  Kausalität  hat."*) 

Thus,  whichever  view  we  take  of  Kants  moral  ideal,  we  see 
that  it  is  far  from  being  that  organic  unity  of  form  and  content 
which  we  have  in  the  ideal  of  intellektuelle  Anschauung. 
It  seems,  then,  that  we  are  justified  in  saying  that  with  regard  to  the 
relation  between  human  experience  and  its  ideal,  the  second  Kritik 
makes  no  real  advance  upon  the  first.  The  ideal  of  morality  is  less 
inaccessible    than    the    ideal    of    knowledge,    because    it     is    lower. 


1)  R.,  VIII,  20.        2^  ß.,  VIII,  247. 

3)  R.,  VIU,  248,  ff.  We  have  here  another  illustration  of  that  meehanical 
coneeption  of  synthesis  to  which  Professor  Creighton  calls  attention  in  the  article 
from  which  we  have  quoted. 

*)  R.,  VUI,  265. 


The  Relation  between  Human  Consciousness  and  its  Ideal  etc.        297 

But  vve  are  as  far  as  ever  irom  the  conception  of  human  experience 
as  being:  implicitly  that  unity  of  form  and  matter  which  we  must 
always  rejrard  as  the  ideal. 

Nor  can  1  see  that  the  case  is  any  better  when  we  come  to  the 
Kritik  der  l'rteilskraft.  It  is  often  said,  to  be  snre,  that  in  this 
work  Kant  finally  overeomes  the  dualisni  of  his  System;  that  in  the 
aesthetic  judjjnieut  we  have  that  harniony  of  subjoct  and  objeet  for 
which  we  have  so  long  been  searching;,  and  that  the  concept  of  de- 
sign  brido:es  the  gull  between  the  phenonienal  and  noumenal  worlds. 
It  does  not  seem  to  nie,  however,  that  Kant  really  solves  the  pro- 
blem  in  either  of  these  cases/)  though  he  perhaps  indicates  the 
direction  in  Avhich  the  Solution  is  to  be  sought.  At  first,  indeed,  it 
may  seeni  that  in  the  innnediate  apprehension  of  the  beautiful,  we 
have  that  harmony  of  snbject  and  objeet  for  which  the  theoretical 
consciousness  seeks  in  vain.  But  when  we  recall  Kaut's  coniparison 
üf  aesthetic  and  rational  Ideas,  we  see  that  this  can  hardly  have 
been  his  meaning.  „Ideen  .  .  .  sind,  nach  einem  gewissen  (subjek- 
tiven oder  objektiven)  Prinzip,  auf  einen  Gegenstand  bezogene  Vor- 
stellungen, so  ferne  sie  doch  nie  eine  Erkenntnis  desselben  werden 
können.  Sie  sind  entweder  nach  einem  bloss  subjektiven  Prinzip  der 
Übereinstimmung  der  Erkenntnisvermögen  unter  einander  (der  Ein- 
bildungskraft und  des  Verstandes)  auf  eine  Anschauung  bezogen  und 
heissen  alsdann  ästhetische,  oder  nach  einem  objektiven  Prinzip 
auf  einen  Begriff  bezogen  und  können  doch  nie  eine  Erkenntnis  des 
Gegenstandes  abgeben  und  heissen  Vernunftideen.  .  .  .  Eine  ästhe- 
tische Idee  kann  keine  Erkenntnis  werden,  weil  sie  eine  An- 
schauung (der  Einbildungskraft)  ist,  der  niemals  ein  Begriff  adä- 
quat gefunden  werden  kann.  Eine  Vernunftidee  kann  nie  Er- 
kenntnis werden,  weil  sie  einen  Begriff  (vom  Übersinnlichen)  ent- 
hält, dem  niemals  eine  Anschauung  augemessen  gegeben  werden 
kann."  ^} 

The  natural  inference  from  this  passage  seems  to  be  that  the 
ideal  of  knowledge  is  no  more  fully  realised  in  the  aesthetic  than 
in  the  rational  Idea.  Just  as  the  latter  needs  Intuition,  in  order 
that  it  may  become  valid  knowledge,  so  the  former  needs  conception. 


1)  It  may  be  intcresting  to  notiee  that  in  one  of  his  later  trcatises  Rchte 
declares  that  the  Kritik  der  Urteilskraft,  which  professes  to  mediale 
between  the  sensible  and  intelligible  worlds,  does  not  fulfill  its  promise.  (N.  W., 
n,  103,  f.) 

2)  R.,  IV,  218,  f. 

Kantstadien  lY.  20 


oqvj  Ellen  Bllss  Talbot, 

Then-  i^  a  di-lVt-t  t-vcii  in  cur  :ipi)r('honsi()n  of  tlic  hcantifiil ;  Hh- 
juliHniati'  concopt  itoriiial  clcmcnt)  is  hu-Uinu-  Aiul  i'\rii  it  ouc. 
werc  williniT  to  -rrant  tliat  in  his  doi-trino  ot  tlic  hcautifiil.  Kant 
i'onu's  soinowhat  ncaiTr  to  tlic  pcrfcct  liannoiiy  (»f  sulijcct  and  olijccl, 
still  ono  cannot  ludp  tVelinjr  that  tlic  diircrrniT  hrtwocMi  acsthctic 
i'ontomplation,  as  Kant  confcivos  it,  and  Ins  ideal  (d"  intcllrktuelle 
Anschauunir  is  a  dilToroncc  in   Uind. 

And   \\\\vn  wc    turn    to    tlu'    tcleolo-riral    l'aculty    (d"    jud^rnicnt, 
thcre  seoms  to   be  still  less  reason  for  inaintaiuiui;  that  tlic  dualisin 
of  the  earlier  works   is  overcome.     P^ir  Kant  frequently   rcniinds  us 
of  the  dirteronce  botwoon  our  copiition,  witli  its  incvitaiilc  dualism, 
and  the  ideal  of  an  intuitive  understandin--.  in  whose  act  of  thoujrlit 
the  existence  of  the  ohject  is  given.'l     And  he  teils  us    more    than 
once  that  the  coneept  of  design,  which  is  supposed  to  mediate  between 
the  sensible  and  the  intelliirible  world,  has  merely   subjective  valid- 
ity.     All    that    it    does  is  to  make  it  possible   for  us  to    think  the 
uiiity  of    nature    and    freedoin.     „Der   Be?:riff    der  Zweckmässigkeit 
der  Natur    in    ihren  Produkten"  wird  „ein    für  die  menschliche  Ur- 
teilskraft in  Ansehung    der  Natur  notwendiger,    aber    nicht    die  Be- 
stimmung der  Objekte  selbst  angehender  Begriff  sein,    also  ein  sub- 
jektives Prinzip  der  Vernunft  für  die  Urteilskraft,  welches  als  regu- 
lativ   (nicht    konstitutiv)    für    unsere    menschliche    Urteilskraft 
eben  so  notwendig  gilt,  als  ob  es  ein  objektives  Prinzip  w^äre."^) 

It  seems  clear,  then,  that  Kant's  conception  of  experience  had 
not  changed  when  he  wrote  the  Kritik  der  Urteilskraft.  The 
Opposition  which  the  first  Kritik  finds  between  the  two  aspects  of 
human  experience  and  which  reappears  in  the  ethical  trcatises  meets 
üs  for  the  third  time  in  the  Kritik  der  Urteilskraft.  In  them- 
selves,  form  and  matter  may  not  be  opposed;  but  Kant  is  very  sure 
that  as  aspects  of  our  experience  they  stand  apart,  that  alike 
in  our  simplest  perception  and  in  our  most  complicated  processes  of 
reasoning,    in  oor    aesthetic  consciousness  and  in  our  moral  experi- 

ij  ,,Es  ist  dem  menschlichen  Verstände  unumgänglich  notwendig,  Möglich- 
keit und'Virkliehkeit  der  Dinge  zu  unterscheiden.  Der  Grund  davon  liegt  im 
Subjekte  und  der  Natur  seiner  Erkenntnisvermögen.  Denn  wären  zu  dieser 
ihrer  Ausübung  nicht  zwei  ganz  heterogene  Stücke,  Verstand  für  Begrifie  und 
sinnUche  Anschauung  für  Objekte,  die  ihnen  korrespondieren,  erforderlich,  so 
würde  es  keine  solche  Unterscheidung  (zwischen  dem  Möglichen  und  Wirkhchen) 
geben.  Wäre  nämlich  unser  Verstand  anschauend,  so  hätte  er  keine  Gegen- 
stände als  das  Wirkliche."    (R.,  IV,  292.) 

2)  R.,  IV,  295. 


Tbe  Relation  between  Human  Consciousness  and  its  Ideal  etc.        299 

ence,  the  dualism  of  content  and  form  persists.  \Ve  have  indeed  a 
vague  notiou  of  a  kind  of  consciousness  in  which  this  dualism  is 
surmounted :  but  we  do  not  know  that  any  such  Cognition  roally 
exists;  and,  on  the  other  hand.  we  may  be  very  sure  that  if  it  does 
exist,  it  is  wholly  uiilike  our  own  consciousness. 

Now  the  great  diflference  between  Kant  and  Fichte  is  that  the 
latter  seeks  to  rise  above  this  Opposition  of  content  and  form,  that 
he  insists  unfalteringly  that  even  for  us  it  is  not  ultiinate.  Know- 
ledge, our  knowledge,  is  a  unity.  It  appears  indeed  as  duality: 
but  its  task  is  just  to  rise  above  this  dualism;  to  conquer  this 
phenonionality;  to  know  itself,  not  in  its  appearance,  but  in  its  truth. 

That  human  thought  is  essentially  a  unity,  is  the  fundamental 
presupposition  of  the  Wissenschaftslehre.  In  fact,  Fichte  main- 
tains  that  it  is  the  fundamental  presupposition  of  all  philosophy. 
In  assuraing  that  philosophy  is  possible,  we  are  virtually  assuming 
that  human  knowing  is  a  System;  but  this  means  that  all  its  vari- 
ous  forms  are  expressions  of  one  underlying  principle,  that  the  na- 
ture  of  thought  —  in  all  its  phases  —  is  one.  This  is  the  suppo- 
sition  upon  which  all  philosophy  proceeds;  this  must  be  true,  it 
philosophy  is  to  exist  at  all.  „Es  ist  leicht  zu  bemerken,  dass  bei 
Voraussetzung  der  Möglichkeit  einer  solchen  Wissenschaftslehre  über- 
haupt .  .  .,  immer  vorausgesetzt  werde,  dass  im  menschlichen  Wissen 
wirklich  ein  System  sei.  Soll  ein  solches  System  darin  sein,  so 
lässt  sich  auch,  unabhängig  von  unserer  Beschreibung  der  Wissen- 
schaftslehre, erweisen,  dass  es  einen  solchen  absolut-ersten  Grund- 
satz geben  müsse."  'J 

But  although  Fichte  insists  that  thought  is  essentially  unitary, 
he  does  not  deny  that  it  seems  to  itself  dualistic,  nay,  more,  that  it 
must  seem  to  itself  so.  „Die  Ichheit  besteht  in  der  absoluten  Iden- 
tität des  subjektiven  und  des  objektiven  (absoluter  Vereinigung  des 
Seins  mit  dem  Bewusstsein  und  des  Bewusstseins  mit  dem  Sein), 
wird  gesagt.     Nicht  das  subjektive,  noch  das  objektive,    sondern  — 

eine  Identität   ist    das    Wesen    des    Ich Kann    imn    irgend 

jemand  diese  Identität,  als  sich  selbst,  denken?  Schlechterdings 
nicht:  denn  um  sich  selbst  zu  denken,  muss  man  ja  eben  jene 
Unterscheidung  zwischen  subjektivem  und  ol)jektivem  vor- 
nehmen, die  in  diesem  Begriffe  nicht  vorgenommen  werden  soll. 
Ohne  diese  Unterscheidung  ist  ja  überhaupt  kein  Denken  möglich."^) 


1)  S.  W.,  I,  52.  2)  s.  W.,  IV,  42. 

20* 


300  Ellen  Hliss  Talbot, 

\\'t'  soc.  tlun.  tli;il  lichte,  as  wt'll  as  Kaiil.  adiiiits  tln'  dualism 
oi  lonii  and  uiattiT  in  mir  ('(tiriiition.  ilc  niakcs  no  attciiipt  to  dcuy 
that  on  tlu'  plane  <»f  Drdinarv  consciousnoss  tiicsc  t\V(»  asjx'cts  ot 
kn(nvinjr  are  sliarply  opposrd.  ilc  dilVcrs  froin  Kant  nicrcly  in  liis 
insistt'nce  that  wo  can  rise  above  this  plane,  to  a  pnint  Iroin  which 
we  can  see  that  the  Opposition  is  not  the  hiphest  truth.  „Das  a  priori 
und  das  a  posteriori  ist  i'Ur  einen  vidlständijren  Idealismus  ^ar 
nicht  zweierlei,  sondern  {ranz  einerlei;  es  wird  nur  von  zwei  Seiten 
betrachtet."') 

It",  now.  this  oj)position  between  the  two  aspects  of  exj)erience 
is  not  fundamental,  if  human  knowing  is  at  bottom  a  unity  ol  con- 
tent and  form,  then  the  difference  between  it  and  its  ideal  is  one, 
not  of  kind.  but  simply  of  degree.  Kor  Kant,  as  we  have  seen, 
our  cog:nition  is  utterly  unlike  that  ideal  unity  of  form  and  matter 
to  which  he  gives  the  name  ot  intellektuelle  Anschauung.  For 
Fichte,  on  the  contrary,  the  essence  of  the  two  is  the  same.  All 
knowing  is  a  union  of  form  and  matter,  subject  and  object.  This 
Union  may  have  various  degrees  of  completeness;  the  duality  is  never 
quite  overcome  in  actual  or  individual  modes  of  knowing.  The  essence 
of  thought,  however,  consists,  not  in  its  particularity,  but  in  its  abso- 
luteness.  The  more  perfectly  the  duality  has  been  overcome,  the 
more  has  the  true  nature  of  knowing  been  manifested.  For  its 
trae  nature  is  not  the  actual,  but  the  ideal.  Our  consciousness  can 
be  ünderstood  only  when  it  is  considered  in  its  relation  to  absolute 
knowing. 

This  insistence  that  the  nature  of  thought  can  be  ünderstood 
only  when  it  is  interpreted  in  the  light  of  its  ideal,  illustrates  a 
difference  in  method  between  Kant  and  Fichte.  Kant  Starts  with 
human  experience  and  finds  in  it  certain  oppositions,  which  may  all 
be  regarded  as  different  phases  of  the  fundamental  Opposition  be- 
tween content  and  form.  Since  he  sees  no  way  of  rising  above 
these,  he  accepts  them  as  ultimate.  But  if  we  hold  that  thought  is 
essentially  dualistic,  then  we  can  never  hope  to  bridge  the  gulf 
between  it  and  that  ideal  unity  in  which  all  oppositions  are  harmo- 
nised.  Thus  for  Kant  the  relation  between  experience  and  its  ideal 
is  conceived  negatively;  the  ideal  is  the  negation  of  the  real. 

Now  Fichte  sees  as  plainly  as  Kant  the  dualistic  aspect  of 
our  experience:    but  he  does  not    succumb    to    it    so    readily.     For 


1)  S.  W.,  I,  447. 


The  Relation  between  Hnman  Consciousness  and  its  Ideal  etc.        301 

hiiii.  a  purely  neg:ative  relation  is  unthinkable.  The  ideal  cannot 
be  the  inere  neg:ation  of  the  real.  And  if  it  be  true  that  by  starting: 
with  experience  \ve  can  nevcr  show  the  relation  between  it  and  its 
ideal,  then  we  must  not  start  with  experience.  ^j  If  we  cannot  explain 
the  ideal  by  means  of  the  real,  we  must  try  to  explain  the  real 
froni  the  ideal. 

It  should  be  noted,  however,  that  even  Fichte  reg-ards  the  ideal 
of  experience  as  unattainable.  The  perfect  unity  of  form  and 
content  is  the  g:oal  ol  an  infinite  progress:  thought  may  gradually 
approach  it  but  can  never  reach  it.     Die  „höchste  Einheit  werden  wir 

in  der  Wissenschaftslehre linden;   aber  nicht  als  etwas,  das 

ist,  sondern  als  etwas,  das  durch  uns  hervorgebracht  werden  soll, 
aber  nicht  kann.''^)  „Die  Einheit  des  reinen  Geistes  ist  mir  un- 
erreichbares Ideal;  letzter  Zweck,  der  aber  nie  wirklich  wird.''^) 

We  see,  then,  that  Fichte  agrees  with  Kant  in  regarding  the 
ideal  as  unattainable,  but  that  he  differs  from  Kant  in  holding  that 
the  relation  between  it  and  our  actual  experience  is  a  positive  one. 
And  in  saying  that  the  relation  is  positive,  we  do  not  mean  simply 
that  consciousness  may  gradually  approximate  to  its  ideal;  we  mean 
also  that  in  a  sense  it  already  is  the  ideal.  The  Idea  of  the  Ego 
is  not  transcendent,  but  immanent  —  not  so  much  a  goal  outside 
thought,  which  attracts  it,  as  a  moving  principle  within,  which  im- 
pels  it  forward.  „Das  Ich  ist  nur  das,  als  was  es  sich  setzt.  Es 
ist  unendlich,  heisst,  es  setzt  sich  unendlich."*)  ,, Dennoch  schwebt 
die  Idee  einer  solchen  zu  vollendenden  Unendlichkeit  uns  vor,  und 
ist  im  Innersten  unseres  Wesens  enthalten."^) 

The  unity  of  consciousness,  then,  is  not  something  external 
to  consciousness;  it  is  the  internal  principle  at  work  in  con- 
sciousness. The  progress  of  knowledge  is  not  approximation 
toward  an  external  unity,  but  the  makiug  explicit  of  a  unity  which 
is  already  implicit.  This  is  brought  out  most  clearly  in  the  oft- 
quoted  passage  from  the  Zweite  Einleitung:  „Im  Ich,  als  in- 
tellektueller Anschauung,  liegt  lediglich  die  Form  der  Ichheit,  das 
in    sich   zurückgehende  Handeln,    welches  freilich    auch    selbst 


1)  „Nun  hat  die  Philosophie  den  Grund  aller    Erfahrung    anzugeben;    ihr 
Objekt  liegt  sonach  notwendig  ausser  aller  Erfahrung."     (S.  W.  I,  425.) 

2)  S.  W.,  I,  101. 

3)  S.  W.,  I,  416,  note. 

4)  S.  W.,  I,  214. 

5)  S.  W.,  I,  270. 


oQ.)  Kilon   Hliss  TnllMit . 

/um   (;."li:illc   (l.'^^s.'lhfii   ^\i^d.') Das    Irli.   .ils   Idee,   ist 

(las   NiMiiuuttwtsfii.    iinvit'tVrn  i's  ilir    alljrt'iiuMuc    NCnuiiil'l     U'\U    in 
sii'h  st'lbst   Vi.llktMnmcii  darj^fstrilt  hat.    wirklich  duicliaiis  vcnilinfti^- 
iiud   iiii'iits  als  vrniliiiftij:  ist;    also  .uich   aulpdiürt    hat.    Individuum 
zu  sein,   welches  Irl/tere  es  nur  durrli   siiudiehc   Hcsehränkun^   war: 
teils,    inwiefern    (k-is   \  rrnunl'twesen    ilic   \ Crnunti    auch    .ausser    sich 
in  der  Welt,  die  demnach  auch   in   dieser   Idee    -:eset/t    ldeil)t,    aus- 
fllhrlich   realisiert  hat.      Die    Welt    l.l.dlit    in    dieser    Idee,    als    Welt 
überhaupt,    als  Substrat    mit    diesen    bestimmten    mechanischen     und 
organischen  Ciesetzen ;    .alter    diese  GcBetze  sind    durchaus    ;;-eei^niet, 
den  Endzweck  der  Vernunft  darzustellen.     Die   Idee  des  Ich  hat  mit 
dem  Ich,  als  Anschauunjr,    nur  das  gemein,    dass  das   Ich   in   beiden 
nicht  als  Individuum    iredacht  wird;    im  letzteren  darum    nicht,    weil 
die  Ichbeit  noch  nicht  bis  zur  Individualität  bestimmt  ist,  im  ersteren 
umgekehrt  darum  nicht,    weil    durch    die  lUldung   nach  allgemeinen 
Gesetzen  die  Individualität  verschwunden  ist.    Darin   aber  sind  beide 
entgegengesetzt,  dass  in  dem  Ich,  als  Anschauung,  nur  die  Form  des 
Ich  liegt,    und  auf  ein  eigentliches  Material   desselben,    welches  nur 
durch  sein  Denken  einer  Welt  denkbar  ist,   gar  nicht  Rücksicht  ge- 
nommen  wird;   da   hingegen   im    letzteren    die    vollständige    Materie 
der  Ichheit  gedacht  wird  ...  Das  erstere  ist  .  .  .  ursprüngliche  An- 
schauung .  .  .:   das  letztere  ist  nur  Idee;    es  kann    nicht    bestimmt 
o-edacht  werden,    und    es   wird  nie  wirklich  sein,  sondern  wir  sollen 
dieser  Idee  uns  nur  ins  unendliche  annähern."^) 

In  this  passage  we  have  the  most  complete  expression  which 
Fichte  gives  us,  of  his  conception  of  thought  as  a  self-developing 
form.     The    Ego    as  intellektuelle    Anschauung^)    is    form   whose 


1")  The  italics  are  mine. 

2)  S.  W.,  L  515,  f. 

3)  It  is  hardly  necessary  to  point  out  that  Fichte  uses  the  tenu  intellek- 
tuelle Anschauung  in  a  different  sense  from  that  in  which  Kant  employed 
it.  With  Pichte  the  phrase  seems  to  have  two  significations,  which  are,  however, 
closely  connected.  Sometimes,  as  in  the  passage  just  quoted,  intellektuelle 
Anschauung  seems  to  be  thought  of  a^  the  form  which  has  not  yet  unfolded 
its  content,  as  the  still  undifferentiated  unity  which  is  the  basis  of  experience. 
At  other  times,  however,  Fichte  speaks  of  it  as  the  act  ot  philosophical  reflection 
through  which  we  discover  this  underlying  unity.  In  an  interesting  passage 
in  the  Zweite  Einleitung  (S.  ^V..  I,  471,  ft'.),  Fichte  himself  teils  us  that 
intellektuelle  Anschauung  has  a  diflferent  meaning  in  his  system  from  that 
which  it  has  in  Kant's.  „Die  intellektuelle  Anschauung  im  Kantischen  Sinne  ist 
ihr  [der  Wissenschaftslehre]  ein  Unding.'"  As  Thiele  remarks,  however  (op.  cit., 
173,  ff.).  Fichte  does  not  seem  to  recognise  the  higher  form   of  Kants  doctrine. 


The  Relation  between  Human  Consciuusness  and  its  Ideal  etc.        303 

content  has  not  yet  become  explicit.  Hence  Fichte  spcaks  of  it  as 
mere  form,  But  it  is  evident  that  the  content  which  it  gains  in  the 
process  of  development  does  not  come  to  it  froni  without.  As 
Fichte  himself  says,  „the  form  of  egohood  —  the  activity  returning 
upon  itself-'  —  becomes  its  own  content.  In  short,  we  have  here 
the  genas  of  Hegel's  conception  of  the  Idea  which  gradually  realises 
itselt,  the  universal  which  developes  by  becoming  niore  and  more 
concrete. 

In  this  doctrine,  human  experience  seems  to  occupy  a  middle 
Position  between  the  form  which  has  as  yet  no  explicit  content  and 
the  fully  developed  form  in  which  the  content  has  been  perfectly 
explicated.  Now^  experience  seems  dualistic;  in  the  process  of 
development,  the  content  is  set  over  against  the  form,  from  which  it 
has  proceeded  and  with  which  it  is  really  identical.  This  temporary 
Opposition  is  essential  if  the  higher  unity  is  ever  to  be  made  mani- 
fest.^) In  Order  that  the  apparently  empty  identity  may  show  itself 
as  identity  in  difference,  the  difference  must  be  emphasised.  Thus, 
human  consciousness,  in  spite  of  its  seeming  dualism,  is  a  necessary 
stage  in  the  realisation  of  the  ideal  unity  of  form  and  content.  It 
appears  wholly  unlike  its  ideal;  but  on  examination  the  diöerence, 
which  seems  at  first  to  be  one  of  kind,  resolves  itself  into  a  mere 
difference  in  degree  of  development. 

There  is  one  other  poiut  which  must  be  considered  in  our  study 
of  Fichte's  conception  of  the  relation  between  thought  and  its  ideal. 
We  saw  that  in  the  Kritik  der  praktischen  Vernunft  Kant 
seems  to  admit  the  possibility  that  we  may  approximate  to  the  ideal 
of  morality,  but  that  he  makes  this  advance  by  conceiving  of  the 
ideal  either  as  empty  form  or  as  an  artificial  union  of  form  and 
content.  The  question  naturally  suggests  itself,  whether  Fichte's 
gain  also  may  not  be  merely  apparent;  and  this  question  must  now 
be  considered. 

We  may  say  at  once,  1  think,  that  Fichte  does  not  conceive  of 
the  ideal  as  an  artiticial  unity    of  form    and  matter.     In    the  works 

Certainly  Kant's  intellektuelle  Anschauung,  regarded  as  a  self-conscious- 
ness  in  whose  very  act  of  unity  the  manifokl  content  is  given,  is  not  an  Unding 
for  Fichte.  Its  parallel  ui  the  Wissenschaftslehre,  however,  is  not  the  Ego 
as  intellektuelle  Anschauung,  but  the  Ego  as  Idea.  Thiele  does  not  seem 
to  recognise  the  fact  that  in  the  Idea  of  the  Ego  we  have  Kant's  intellek- 
tuelle  Anschauung  in  its  highest  fonn. 

1)  „Keine  Synthesis  ist  möglich  ohne  eine  vorhergegangene  Antithesis." 
(S.  W.,  I,  114.) 


304  Klli'ii   Hliss  Talluit, 

of  tlu'  first  prriod.  to  \Yiru'li  dur  stmly  is  ('(»iitiiicd.  it  \\(iiil(l  bo 
impossil>lr  lor  liim  t(t  tliiiik  ol"  tlu'  suiniiiuni  lioinim  ;is  Ihat 
niec'lianii'al  unioii  of  liappiiiess  and  virtuc  whicli  Kant  drsciilics  — 
for  tho  siinplo  roastin  tliat  lic  coiuM'ivcs  off  Jod.  iidt  as  a  tiaiisrcnd- 
ent  lu'inir.  l'ut  as  thc  iininaiKMit  principlc  in  all  ('(imsc'kuis  lil'c.  Tlio 
(piestidii  wliifli  rt'iiiains  for  iis,  tlit-n.  is  wlictlirr  lic  fluides  of  bis 
ideal  as  incrc  lorin  and  tlius  rcj^ards  tlir  projrrcss  (d'  cxpcricncc  as 
the  {jradual   annihilation  of  content. 

Soine  oritics  seeni  disposed  to  aiiswer  this  (iiu-ry  in  tlu'  al'lirniative. 
Professor  Andrew  Setli,  e.  ^'.,  in  11  ej^elianisni  and  Personality, 
cvidently  inter})rets  Fichte  as  teachinj;  that  the  Idea,  which  f^radually 
develops  itself  in  the  world  of  consciousness,  is  i)urely  fornial,  and 
that  if  it  could  ever  be  perfectly  realised  we  should  have  form  utterly 
devoid  of  content.  The  ground  upon  whieh  this  interpretation  is 
based,  seenis  to  be  the  statement,  which  Fichte  often  makes,  that  if 
the  goal  of  the  infinite  progress  were  ever  realised,  individuality 
would  have  disappeared.  This  statement  Professor  Seth  evidently 
interprets  as  meaning  that  the  end  of  the  process  would  be  a  relapse 
iuto  the  unconscious,  into  that  which  is  lower  than  our  own  conscious 
experience.  Fichte's  theory,  he  says,  „even  as  a  metaphysic  of  ethics 
is  insufficient.  Morality  becoraes  illusory,  if  it  is  represented  as  the 
pursuit  of  a  goal  whose  winning  W'Ould  be  suicidal  to  morality  itself, 

and    to    all    conscious  life We  may    well withdraw 

our  eyes  from  the  goal  if  we  are  not  to  lose  heart  for  the  race. 
Fichte's  account,  in  short,  leaves  no  permanent  reality  in  the  universe 
whatever.  The  world  is  hung,  as  it  were,  between  two  vacuities  — 
between  the  pure  or  Absolute  Ego  on  the  one  band,  which  is  com- 
pletely  empty  apart  from  the  finite  individuals  whom  it  constitutes,  and 
the  .Idea  of  the  Ego'  on  the  other,  which  is  admittedly  unattainable, 
and,  if  attainable,  would  be  a  total  blank,  the  coUapse  of  all 
conscious  life."^) 

It  can  not  be  denied  that  in  some  of  Fichte's  treatises,  and 
particularly  in  the  Sittenlehre  of  1798,  there  are  passages  which 
snggest  this  interpretation.  It  seems  to  me,  however,  that  Professor 
Seth  falls  to  take  account  of  other  statements  which  indicate  that, 
sometimes  at  least,  Fichte  rises  to  a  higher  conception  of  the  ideal. 

In  the  Grundlage,  the  dualisra  of  form  and  content  is  repre- 
sented at  first  as  an  Opposition  between  Ego  and  Non-Ego;  but  this 


1)  Hegelianism  and  Personality,  2nd  ed.,  58,  f. 


The  Relation  between  Human  Consciousness  and  its  Ideal  etc.        305 

sooD  develops  into  an  oppusitiou  between  the  Ego  as  infinite  and 
the  Egro  as  finita.  Now  if  we  believe  that  finite  and  infinite  are 
essentially  opposed,  then  the  unity  whieh  we  retard  as  the  ideal  iA 
thüught  must  be  coneeived  as  purely  formal;  bat  if  we  maintain 
that  the  Opposition  is  not  irreconeilable.  our  ideal  beeonies  an 
organic  unity  of  content  and  form.  In  the  one  case,  the  goal  of 
the  endless  progress  is  represented  as  the  annihilation  of  content, 
the  complete  absorption  of  the  finite  into  the  infinite;  in  the  other, 
as  the  perfect  interpenetration  of  form  and  content,  as  the  finite 
which  has  developed  into  the  infinite,  as  the  infinite  which  is  fully 
realised  in  the  finite. 

There  are  some  indications  in  the  Grundlage  of  a  tendency 
to  adopt  the  first  alternative  —  to  emphasise  the  Opposition  of  finite 
and  infinite  and  tims  to  suggest  that  the  unattainable  ideal  of 
experience  would  be  mere  empty  form,  „Ich  und  Nicht-Ich  sowie 
sie  durch  den  Begriff  der  gegenseitigen  Einschränkbarkeit  gleich- 
und  entgegengesetzt  werden,  sind  selbst  beide  etwas  (Accidenzen) 
im  Ich,  als  teilbarer  Substanz;  gesetzt  durch  das  Ich,  als  absolutes 
nnbeschränkbaresj  Subjekt,  dem  nichts  gleich  ist,  und  nichts  entgegen- 
gesetzt ist.''M  And  again:  ,.Insofern  das  Ich  durch  das  Kicht-Ich 
eingeschränkt  w^ird,  ist  es  endlich;  an  sich  aber,  so  wie  es  durch 
seine  eigene  absolute  Thätigkeit  gesetzt  wird,  ist  es  unendlich.  Dieses 
beide  in  ihm.  die  Unendlichkeit  und  die  Endlichkeit,  sollen  vereinigt 
werden.  Aber  eine  solche  Vereinigung  ist  an  sich  unmöglich.  Lange 
zwar  wird  der  Streit  durch  Vermittelung  geschlichtet;  das  unendliche 
begrenzt  das  endliche.  Zuletzt  aber,  da  die  völlige  Unmöglichkeit 
der  gesuchten  Vereinigung  sich  zeigt,  muss  die  Endlichkeit  über- 
haupt aufgehoben  werden;  alle  Schranken  müssen  verschwinden, 
das  unendliche  Ich  muss,  als  Eins,  und  als  Alles,  allein  übrig 
bleiben.'' 2) 

These  passages  give  the  best  expression  which  I  have  found  in 
the  Grundlage  of  the  tendency  to  oppose  the  finite  and  the  infinite 
aspect  of  the  Ego.  On  the  other  band,  we  have  several  emphatic 
Statements  in  favor  of  the  higher  conception  of  the  ideal.  „Keine 
Unendlichkeit,  keine  Begrenzung;  keine  Begrenzung,  keine 
Unendlichkeit;  Unendlichkeit  und  Begrenzung  sind  in 
einem  und  ebendemselben  synthetischen  Gliede  vereinigt. 
—  Ginge  die  Thätigkeit  des  Ich  nicht  ins  Unendliche,  so  könnte  es 

1)  S.  W.,  I,  119. 

2)  S.  W.,  I,  144. 


•jOC  KUi'ii   i'.liss  'I'allM.t. 

dit'sc    seine   Thiiti-rkeit  niclit  seihst   ln-irri'n/cn I'criicr,   wenn 

«las  Icli  sich  nicht  l)i\L'rri\/t('.  sowiirr  es  nicht  imcndiicli."' )  ..Ohne 
jtMU'    lUv.ithuiiir    |:iiif  ein    Ol)ji'kt|   ....    wiiif    kein    Olijckl   fllr  dus 

Ich.  soiulerii  «lassclhr   wäre   AUcs   in  .Mhin   nnd   ^^orade  darum 

Nichts. '•■•')  ..Das  alistdutc  Ich  ist  schh-chthiii  sich  seihst  frh'ich: 
alles  in  ihm  ist  Kin  und  ehendassellie  Ich  und  -rehört  (wenn  es 
erlauht  i>t.  sieh  so  uneijrentlieh  aus/. udrUckeu)  /u  Kinem  und  ei»en- 
deniselhen  Ich;  es  ist  da  nichts  /,u  unterscheiden,  kein  niannijrl'alti;;es; 
das  Ich  ist  Alles  und  ist  Nichts,  weil  es  für  sieh  nicjits  ist,  kein 
setzendes  und   kein  fresetztes  in   sich   seihst  unterscheiden   kaini".'') 

Additional  supjjort  for  this  seeond  Interpretation  oi'  Fichte's  ideal 
is  found  in  tiu'  Kecension  des  A  enesidem  us.  „Das  Ich  in 
der  intellektuellen  Anschauuuir  ist  .  .  .  schlechthin  selhständi-;-  und 
unahhän-riiT.  Das  Ich  im  em])irisehen  Hewusstsein  .  .  .  .  ,  als 
Intellijren/,  ist  nur  in  Heziehunj;-  auf  ein  Intelligibles  und  existiert 
insofern  abhäuirijr.  Nun  s(dl  dieses  dadurch  sich  selbst  cntjref,aMi- 
gesetzte  Ich  nicht  Zwei,  sondern  nur  Ein  Ich  ausmachen,  und  das 
ist  geforderter  Maassen  unmöglich;    denn  abhängig  und  unabhängig 

stehen  im  Widerspruche Jene  Vereinigung,  Ein   Ich,  das  durch 

seine  Selbstbestimmung  zugleich  alles  Nicht-Ich  bestimme  (die  Idee 
der  Gottheit),  ist   das  letzte  Ziel  [unseres]  Strebens.'*-') 

This  passage  furnishes  a  strong  argument  for  the  theory  that 
Fichtes  ideal  is  not  empty  form.  The  ideal  is  spoken  of  as  the 
Union  of  the  two  aspects  of  the  Ego;  and  the  words  in  which  this 
Union  is  described,  remind  us  forcibly  of  Kant's  description  of  in- 
tellektuelle Anschauung  as  a  Cognition  in  which,  by  the  very 
act  of  self-consciousness,  all  the  manifold  is  given.  But  the  com- 
pletest  expression  of  this  conception  which  Fichte  gives  us  is  found  in 
the  passage  which  we  have  already  quoted  from  the  Zweite  Ein- 
leitung.^) Here  we  are  explicitly  told  that  the  form  becomes  its 
own  content  and  that  in  the  Idea  of  the  Ego  „die  vollständige 
Materie   der  Ichheit  gedacht  wird". 

On  the  other  band,  the  weight  of  evidence  in  the  Sittenlehre 
seems  to  me  to  be  in  favor  of  Professor  Seth's  interpretation.«)  Here, 


1)  S.  W.,  I,  214.       2)  s.  W.,  I,  261. 
3)  S.  W.,  I,  264.         *)  S.  W.,  I,  22,  f. 

5)  S.  W.,  I,  515,  f. 

6)  Fichte's  admir.ation  for  the  Kritik  der  praktischen  Vernunft  is 
well  known,  and  it  may  explain  in  part  the  tendency  toward  rigorism  whioh 
^ppears  in  the  Sittenlehre. 


The  Relation  between  Human  Consciousness  and  its  Ideal  etc.        307 

as  in  the  Kritik  clor  praktischen  Vernunft,  tiie  dualisni  of 
experienee  takes  the  form  of  an  Opposition  between  desire  and  the 
moral  law.  The  natural  inipulse  is  directed  toward  enjoynient;  the 
higher  inipulse,  toward  the  self-determiniug  activity  of  reason.  ,,In- 
wiefern  der  Mensch  auf  blossen  Genuss  ausgeht,  ist  er  abhängig 
von dem  Vorhandensein  der  Objekte  eines  Triebes;  ist  so- 
nach   sich    selbst    nicht    genug Aber  inwiefern   der  Mensch 

nur  überhaupt  reflektiert  und  dadurch  Subjekt  des  Bewusstseins 
wird  .  .  .  .  ,  wird  er  Ich.  und  es  äussert  sich  in  ihm  die  Tendenz 
der  Vernunft,  sich  schlechthin  durch  sich  selbst,  als  Subjekt 
des  Bewusstseins  .  .  .   .  ,  zu  bestimmen."  ^) 

What  now  is  the  relatioii  between  these  two  Impulses?  Are 
they  to  be  regarded  as  nmtually  exclusive,  or  does  their  apparent 
Opposition  rest  upon  an  underlying  unityV  Sometimes  Fichte  seems 
to  hold  tiiat  the  Opposition  is  fundamental.  But  if  it  is,  then  the 
harmony  which  is  demanded  by  the  moral  law  can  be  reached  only 
by  the  annihilatioii  of  the  lower  Impulse.  The  impulse  toward  self- 
activity  is  to  reign  supreme;  natural  desire  must  be  thwarted, 
negated,  blotted  out.  .,Diese  allein  [die  reine  absolute  Thätigkeit] 
ist  das  eigentliche  wahre  Ich;  ihr  wird  der  Trieb  entgegengesetzt, 
als  etwas  fremdes;  zwar  gehört  er  zum  Ich,  aber  er  ist  nicht  das 
Ich.  Jene  Thätigkeit  ist  das  Ich."-^)  Der  reine  Trieb  „geht  gar 
nicht  auf  einen  Genuss,  von  welcher  Art  er  auch  sein  möge,^) 
vielmehr  auf  Geringschätzung  alles  Genusses Er  geht  ledig- 
lich auf  Behauptung  meiner  Würde,  die  in  der  absoluten  Selbst- 
ständigkeit und  Selbstgenügsamkeit  besteht."*) 

But  in  another  passage,  Fichte  teils  us  that  the  two  Impulses 
are  not  essentially  opposed.  „Mein  Trieb  als  Naturwesen,  meine 
Tendenz  als  reiner  Geist,  sind  es  zwei  verschiedene  Triebe?  Nein, 
beides  ist,  vom  transscendentalen  Gesichtspunkte  aus,  ein  und  eben- 
derselbe Urtriel),  der  mein  Wesen  konstituiert:  nur  wird  er  ange- 
sehen  von    zwei    verschiedenen  Seiten.     Nämlich,    ich    bin   Subjekt- 


1)  S.  W.,  IV,  130. 

ä)  S.  W.,  IV,  140.  It  should  be  noticed  that  the  Statements  which  seem 
to  commit  Fichte  to  the  theorv  that  the  ideal  is  raerely  formal  do  not  imply 
that  it  is  essentially  unlike  consciousness.  Here,  e.g.,  Fichte  insists  that  the 
formal  aspect  of  consciousness  is  its  true  nature. 

3)  The  italics  are  mine.  Cf.  the  equally  strong  statement  from  Kant  (R., 
VllI,  195),  ((uoted  above. 

*)  S.  W.,  IV,  142. 


308  Kllt'H   lUiss  'r:inM.t, 

lH)j»'kt  iiiul  in  (Irr  lilciitilät  und  l  ii/filiciuilii'likcit  Ixidt-r  bestellt 
mein  wahros  Sein.  Krl)lii'l\e  icli  iiiieli.  als  dineli  dir  (lesetze  der 
sinnlii'lieii  AiiM'liauim;r  und  des  (liscuisi\en  Denkens  ^(tllkllnlIn(■n  l>e- 
stiinintes  Olije  k  t .  si»  wird  das,  was  in  der  Tliat  mein  ein/.ii^ir 'Irieh 
ist,  mir  /inn  Naturtrielie  .  .  .  lOrblieke  ii'li  mich,  als  Snljjekt.  sd 
wird  er  mir  /um  reinen  jreistifron 'l'ri(dte  ...  Aber  beide  .konstituicreD 
nur  ein  und  ebendassellx-  leb;  mitbin  inllssen  l)eide  Triebe  im  [hu- 
fanire  (ies  Hewusstscins  vereiniirt  werden.  Ms  wird  sieb  /oifrt'H,  dass 
in  dieser  \  i-reiiii^unir  \ou  dem  bidieren  die  l\einlieit  .  .  .  der 
Tliätiirkeit.  \<mi  dvn\  nii'deren  der  (Jenuss  als  Zweek  auffrep'ben 
werden  müsse;  so  dass  als  Resultat  der  N'ereinijrunjr  sich  linde  ob- 
jektive 'rbätiirkeit,  deren  End/week  absolute  Freiheit,  absolute  l'n- 
abhäuiri^'keit  von  aller  Natur  ist:  —  ein  unendlieher  .  .  .  Zweek  .  .  . 
Sieht  man  nur  auf  das  höhere  Begehrun^s\('rmö<ren,  so  erhält  man 
bloss  Metai)hysik  der  vSitteu,  welche  formal  und  leer  ist.  Nur 
durch  synthetische  Vereinigung  desselben  mit  dem  niederen  erhält 
man  eine  Sittenlehre,  welche  reell  sein  muss."*) 

On  the  whole,  this  passage  seems  to  argue  against  the  Kantian 
conception  of  morality.  It  is  not  perfectly  certain,  however,  that 
the  „absolute  l'nal)hängigkeit'',  which  Fichte  identifies  with  the 
ideal,  is  anything  more  than  empty  form.  It  is  possible  also  that  by 
bis  distinction  betv.een  „Metaphysik  der  Sitten"  and  „Sittenlehre" 
Fliehte  means  that  the  latter  deals  with  our  actual  moral  escperience 
and  the  former  with  the  natura  of  the  moral  ideal. 

There  is  a  similar  uncertainty  in  regard  to  another  passage.^) 
which  is  too  long  to  be  quoted  in  füll.  At  first  thought,  Fichte  teils  us, 
it  seems  as  if  the  higher  and  lower  Impulses  were  utterly  opposed, 
and  thus  the  causality  of  the  higher  were  merely  restrictive  and 
negative.  But  freedom  must  be  a  positive  force.  Now  it  can  be 
this,  only  if  it  is  „Grund  einer  wirklichen  Handlung.''  The  two 
Impulses,  then,  are  united  in  the  moral  act,  just  as  they  are  in  the 
„Urtrieb".  So  far,  the  theory  seems  consistent;  but  Fichte  now 
goes  on  as  foUows:  „Der  reine  Trieb  geht  auf  absolute  Unabhängig- 
keit .  .  .  Nun  kann  .  .  .  das  Ich  nie  unabhängig  werden,  so  lange 
es  Ich  sein  soll;  also  liegt  der  Endzweck  des  Vernunftwesens  not- 
wendig in  der  Unendlichkeit.''-^) 

It  is    hard   to   say  w^hat    is  Fichte's  precise  meaning    in    these 

ij  S.  W.,  IV,  130,  f. 

2)  S.  W.,  IV,  147,  ff. 

3)  S.  W-,  IV,  149. 


The  Relation  between  Human  Consciousness  and  its  Ideal  etc.        309 

passages;  but  it  must  be  admittcd,  1  think,  that  they  furnish  sonie 
ground  for  Professor  Seth's  criticisni.  As  we  have  seen,  however, 
Fichte  frequently  rises  to  a  hierher  point  of  view ;  and  it  is  because 
it  fails  to  take  accoont  of  this  fact  that  the  criticism  mast  be 
regarded  as  iiiadequate.  We  cannot  deny  that  Fichte  occasionally 
loses  his  g:rasp  of  the  hierher  conception,  but  we  must  admit  that  at 
other  times  his  hold  upon  the  truth  seems  to  be  firm. 

It  must  be  remembered,  however,  that  Fichte  always  maintains 
that  if  the  goal  were  ever  reached,  individuality  would  have  dis- 
appeared.  And  unless  I  am  greatly  mistaken,  this  Statement  is  the 
real  ground  of  Professor  Seth's  objection  to  the  theory.  Apparently 
Professor  Seth  holds  that  the  disappearance  of  individuality  means 
a  relapse  into  the  unconscious.  But  this,  it  seems  to  me,  is  merely 
an  assumptiou;  there  is  no  good  reason  for  identifying  the  two 
notions.  When  Fichte  says  that  in  the  Idea  of  the  Ego,  individuality 
—  and  hence  consciousness,  in  his  sense  of  the  word  —  will  have 
vanished,  he  does  not  mean  to  assert  that  the  Idea  is  to  be  con- 
ceived  on  the  analogy  of  the  unconscious.  To  think  of  it  thus  would 
be  to  make  it  mere  dead  being,  whereas  Fichte  always  declares 
that  the  fundamental  principle  of  his  philosophy  is  life  and  activity.*) 
Evidently  his  meaning  is  that  in  so  far  as  it  dififers  from  consciousness 
it  is  not  lower,  but  higher.  Our  consciousness  is  steadily  working 
toward  the  point  at  which  the  dualism  of  subject  and  object  shall 
be  surmounted.  If  this  point  were  ever  reached,  we  should  see 
beyond  the  dualism ,  should  apprehend  subject  and  object  in  their 
true  relations.  Now  Fichte  gives  the  name  of  „consciousness"  to  the 
stage  in  which  we  do  not  see  beyond  the  Opposition;  hence  he  says 
that  in  the  completed  ideal  consciousness  will  have  disappeared. 
But  this  hardly  justifies  us  in  maintaining  that  the  goal  of  the  process 
is  „a  total  blank". 

We  may  now  sum  up  briefly  the  results  of  our  study.  We 
have  seen  that  Kants  conception  of  the  ideal  of  experience  is  differ- 


1)  In  his  Gerichtliche  Verantwortung  gegen  die  Anklage  des 
Atheismas,  Fichte  explains  what  he  means  by  saying  that  his  ultimate  prin- 
ciple (God)  is  not  conscious :  „Nur  in  Rücksicht  der  Schranken  und  der  da- 
durch bedingteu  Begreiflichkeit  habe  ich  das  Bewusstscin  Gottes  geleugnet. 
Der  Materie  nach  —  dass  ich  mich  bemühe,  das  unbegreifliche  auszudrücken, 
so  gut  ich  kann!  — ist  die  Gottheit  lauter  Bewusstsein,  sie  ist  Intelli- 
genz, reine  Intelligenz,  geistiges  Leben  und  Thätigkeit.  Dieses  Intelligente  aber 
in  einen  Begriflf  zu  fassen,  und  zu  beschreiben,  wie  es  von  sich  selbst  und 
andern  wisse,  ist  schlechthin  unmöglich."     (S.  W,  V,  266.) 


310        Talbot.    riu»  Kolalioii  lu'twocn  Coiisiioiisnoss  aiid  its  Itli-al  («ic. 

cnt  at  (litVt'rt'ut  tiiiu's.  Wlicn  lu'  is  dcaliii«:  witli  llic  iiKual  Jisj)('(*t 
of  citnsiMousness,  he  falls  to  rcacli  hls  iiijilu'st  cnnccittloii.  'Vhi-, 
inoral  ulcai  Is  \'ov  litni  fitlit-r  pure  i'onu  (tlic  iiutral  law)  (»r  a 
incciianical  s\  iithcsis  ol"  tonn  and  content  (the  eomplete  jrood).  And 
in  tlic  Kritik  drr  rcimn  \ Crnnult.  tlic  doctrinc  id"  the  ideal 
has  two  t'onns.  one  ot"  whieh  is  very  l'ar  t"r(»in  hein^  satisf'actory.  in 
this  lower  ])hase  of  the  doetrine,  intellektuelle  Ansehauunj;-  is 
deseril)ed  as  the  faciilty  of  iinmcdiatelv  apprehendinjj;  thiiifrs  in 
theniselves:  here  we  have  a  niore  eomplete  synthesis  of  form  and 
matter  than  that  whieh  exists  in  our  ovvn  experience;  l)ut  the  union 
is  still  somewhat  artilicial.  In  the  hiffher  j)hase  of  the  (h>ctrine,  we 
have  the  perfeet  unity  of  form  and  content,  the  pure  sclf-conscious- 
uess  which  is  its  own  object. 

lu  Fichte's  philosophy  too,  we  lind  that  the  ideal  is  not  always 
conceived  in  the  same  way.  To  be  sure,  there  does  not  seem  to 
he  any  tendency  to  think  of  it  as  an  artilicial  union  of  form  and 
matter;  but  there  is  evidence  of  a  disposition  to  retard  it  as  empty 
form.  There  are  slijrht  traces  of  this  tendency  in  the  Grundlafje, 
but  it  is  more  manifest  in  the  Sittenlehre.  On  the  other  band, 
we  find  that  Fichte  offen  regards  the  ideal  as  an  organic  unity  of 
form  and  content.  It  is  true  that  he  constantly  asserts  that  in  the 
Idea  of  the  Ego  all  individuality  has  disappeared ;  but  this  should 
not  be  interpreted  as  meaning  that  the  goal  of  the  infinite  progress 
is  a  relapse  into  blank  identity. 

At  bis  best,  then,  Fichte  has  the  same  conceptiou  of  the  ideal 
which  we  have  found  in  the  higher  form  of  Kaut's  intellektuelle 
Anschauung.  The  difference  between  the  two  thinkers  is  that 
Kant  holds  that  the  relation  between  this  ideal  and  experience  is 
negative,  while  Fichte  regards  it  as  positive.  Kant  insists  that 
experience  is  essentially  dualistic,  and  hence  difierent  in  kind  from 
intellektuelle  Anschauung;  Fichte  maintains  that  experience  is 
essentially  a  unity,  and  that  it  ditiers  from  its  ideal,  not  in  kind,  but 
in  degree. 


Conjecturen  zu  Kants  Kritik  der  reinen  Vernunft. 

Von  Dr.  Emil  Wille  in  Berlin. 


Es  ist  unleugbar,  dass  Kants  Hauptwerk  noch  immer  eine  grosse  An- 
zahl verdorbener  Stellen  enthält.  Ich  werde  hier  versuchen,  einige  derselben 
zu  verbessern. 

1.  S.  313  der  2.  Ausg.  „Die  theoretische  Astronomie  — "  Theoretisch 
heisst  bei  Kant,  wie  bei  jedem,  erkennend,  und  nicht  bloss  beobachtend, 
während  contemplativ  sehr  wohl  dies  heissen  kann.  Contemplation  ist, 
ähnlich  der  Reflexion,  in  der  Krit.  d.  ästhet.  Urteilskr.  das  Spiel  der  An- 
schauungskräfte, welches  der  Subsumption  unter  Begriffe  vorhergeht. 
Daher  rauss  die  erstgenannte  Astronomie  die  contemplative,  und  die  andere 
die  theoretische  sein.  Beide  Adjektive  haben  also  ihren  Platz  zu  tauschen. 
Es  steckt  hier  aber  noch  ein  Fehler.  Denn  diese  andere  Astronomie  wird 
nicht  nach  Copernicus  oder  Newton  erklärt,  sondern  erklärt  den  bestirnten 
Ilimmel  nach  ihnen.  Ich  möchte  deshalb  so  lesen:  Die  theoretische  da- 
gegen, welche  ihn  — . 

2.  S.  323.  „Da  aber  die  sinnliche  Anschauung  — "  Die  sinnliche  An- 
schauung, welche  als  subjektive  Bedingung  aller  Wahrnehmung  a  priori  zum 
Grunde  liegt,  ist  natürlich  die  reine,  d  h.  die  Raum-  und  Zeitvorstellung. 
Von  der  nun  kann  der  Philosoph  nicht  sagen,  dass  ihre  Form  ursprünglich, 
sondern  nur,  dass  sie  die  ursprüngliche  Form  aller  Wahrnehmung  sei. 
Folglich  muss  es  lauten:  welche  aller  Wahrnehmung  a  priori  zum  Grunde 
liegt  imd  deren  ursprüngliche  Form  ist. 

3.  S.  411.  „nicht  aber  zugleich  in  Beziehung  auf  die  Anschauung,  wo- 
durch sie  als  Objekt  zum  Denken  gegeben  wird".  Nein,  wodurch  es  (das 
Wesen)  als  Objekt  zum  Denken  gegeben  wird. 

4.  S.  446.  Anm.  „Das  absolute  Ganze  der  Reihe  — "  Nicht  ausser 
ihr,  sondern  au.sser  ihm.     Es  folgt  ja  auch:  in  Ansehung  deren  es  — 

6.  S.  452.  „In  der  Experimentalphilosophie  — "  In  der  Experimental- 
physik kann  wohl  ein  Zweifel  als  Anlass  des  Aufschubs  nützlich  sein. 

6.  S.  602.  „So  ist  der  Empirismus  — "  Die  transscendental-idealisierende 
Vernunft  ist  die  des  Dogmatikers  oder  Platonikers,  der  einen  Anfang  der 
Welt,  eine  Schöpfung  derselben  durch  ein  göttliches  Urwesen  u.  s.  w.  an- 
nimmt; sie  steht  dem  Empirismus  oder  Epicureismus  feindlich  gegenüber. 
Demnach  kann  der  Philosoph  nicht  von  ihrem  Empirismus  siirechen;  er  wird 
vielmehr  geschrieben  haben:  So  ist  der  Empirismus  von  der  transsceudental- 
idealisierenden  Vernunft  aller  Popularität  gänzlich  beraubt.  Dies  passt  am 
besten  zu  dem  unmittelbar  Vorhergehenden.     Dort  ist  garnicht  vom  Empi- 


312  l'r.   Kmil  Wille, 

risinus  die  Rode,  sondern  vom  I>o{j;niii<ismus,  also  dem  Standpunkte  dieser 
Vernunft.  Von  i\\v  wird  au.si'inandfrjjjeset/.t,  warum  sie  d(>n  ^jjan/en  Heifall 
der  «grossen  Masse  für  sich  f^fi'woniu'n  lialx".  Hat  sie  aber  das,  so  liat  sie 
rben  dadurch  die  («egenpartei,  den  Kin]iinsmus,  aUer  Popularität  beraubt. 
In  den  nachfolgenden  Worten  wJlre  ilann  /.wcinial  „sie"  in  er  (der  Knjpi- 
risnjus)  zu  verwandeln,  was  einige  Herausgeber  bereits  gethan  haben;  wo- 
fern man  nicht  vorziehen  sollte  zu  lesen:  iSo  ist  die  <■  m  p  j  li  st  isclie  von 
der  transscendental-idealisierendeu  Vernunft  —  was  i(  h  lueinerseits  wirk- 
lich möchte.  Doch  noch  eines:  Wenn  beide  Parteien  einige  Abschnitte 
weiter  unten  vor  ein  höheres  Tribunal  gezogen  werden,  welches  ihnn  Wider- 
streit schlichtet,  und  dieses  Tribunal  sich  transscendentalen  Idealismus  nennt, 
wie  kann  dann  die  eine  von  beiden  transscendental-idealisiereiid  lieiss(!n:* 
Auch  nach  dem  Unterschiede  der  Bedeutung  von  transscendentul  uiui 
transscemlent  ist  sie  vielmehr  transscendent-idealisierend.  Wohl  werden 
die  Ideen  als  transscendentale  bezeichnet,  gerade  wie  die  Kategorien. 
Dieser  Gebrauch  der  transscendentalen  Ideen  jedoch,  um  den  es  sich  hier 
handelt,  ist  ein  transscendenter;  und  auf  transscendente  Weise  die  Ideen  ge- 
brauchen heisst  trausscendeut  idealisieren.    Also  noch   diese  dritte  Änderung. 

7.  S.  598.  „Ganz  anders  verhält  es  sich  — "  Nur  einzelne,  obzwar 
nach  keiner  angeblichen  (d.  li.  angebbaren)  Eegel  bestimmte  Züge,  also 
zwar  nach  keiner  Eegel  bestimmte,  aber  doch  nur  einzelne,  das  ist  nichts. 
Wie  es  lauten  muss,  ergiebt  sich  aus  der  Schilderung  des  Ideales  der  reinen 
Vernnnft,  welches  diesen  Monogrammen  entgegengestellt  wird.  Dasselbe 
sei  ein  vollständiges,  nach  Prinzipien  a  priori  bestimmbares  Bild.  Dann 
werden  die  Monogramme  nur  einzelne  und  zwar  nach  keiner  angeblichen 
(angebbaren)  Eegel  bestimmte  Züge  sein  sollen. 

8.  S.  603.  Das  Sternchen  der  Anmerkung  gehört  hinter  den  folgenden 
Satz,  weil  sie  sich  auf  diesen  bezieht;  hinter  u.  s.  w. 

9.  S.  611.  Anm.  „weil  die  regulative  Einheit  der  Erfahrung  — "  Re- 
gulative i.st  Nonsens.  Offenbar  muss  es  relative  heissen,  im  Gegensatze 
zur  Einheit  der  höchsten  Eealität,  welche,  obgleich  nicht  an  dieser  Stelle, 
doch  S.  615  eine  absolute  genannt  wird:  „Der  absoluten  Einheit  der  voll- 
ständigen Eealität". 

10.  S.  630.  „da  aber  die  Verknüpfung  — "  Spezifisch  nicht  gegeben 
sein,  das  ist  ebenfalls  Unsinn.  Gewiss  hat  Kant  geschrieben:  weil  uns  die 
Eealitäten  spekulativ  nicht  gegeben  sind,  d.  h.  durch  spekulatives  Denken, 
durch  dasjenige,  welches  a  priori  auf  Gegen.stände  oder  Prädikate  derselben 
geht,  die  in  gar  keiner  Erfahrung  können  angetroffen  werden;  ein  Denken, 
welches  er  in  der  transsc.  Dialektik  kritisiert  und  verwirft.  Da  uns,  sagt 
er,  durch  dasselbe  die  Eealitäten  nicht  gegeben  sind  (mithin  nicht  a  priori 
uns  vorschweben) ,  können  wir  nicht  a  priori  über  die  Möglichkeit  urteilen, 
sie  zu  einem  Inbegriffe  aller  realen  Eigenschaften  in  einem  Dinge  zu  ver- 
knüpfen. —  In  den  sich  anschliessenden  Worten  mache  man  getrost  aus 
„stattfindet"  stattfände. 

11.  S.  642.  „Da  es  also  nicht  einmal  — "  Umgekehrt,  als  denkbarer 
Gegenstand  ist  uns  das  Ideal  der  reinen  Vernunft  gerade  gegeben;  nur 
nicht  als  wirklicher.  Das  „nicht"  vor  „einmal"  ist  zu  tilgen.  Denn  der 
Zusammenhang   ist  der:    Was  uns    als   wirklicher  Gegenstand    von  aussen 


Conjeoturen  zu  Kants  Kritik  der  reinen  Vernunft.  3 13 

her  gep:eben  wird,  bleibt  uns  oft  geheimnisvoll,  w-ie  die  Kräfte  der  N.itnr. 
Das  Ideal  der  Venumft  aber  wird  uns,  aus  ihrer  eigenen  Beschaffenheit 
herstammend,  als  bloss  denkbarer  gegeben.  Und  da  es  uns  einmal  als  solcher 
gegeben  ist,  kann  es  nicht  unerforschlich  sein. 

12.  S.  654.  „Ohne  hier  mit  der  natürlichen  Vernunft  — "  Die  Fassun» 
•des  Vordersatzes  stimmt  nicht  zu  der  des  Nachsatzes.  Die  des  ganzen 
Satzes  müsste  entweder  die  sein:  Ohne  hier  mit  der  natürliclien  Vernunft 
über  ihren  Schluss  zu  chikanieren  (was  wir  ja  könnten,  da  derselbe  die 
schärfste  trans.scendentale  Kritik  nicht  aushalten  dürfte),  wollen  wir  viel- 
mehr gestehen,  dass  (ihr  Verfahren  in  dem  Punkte  richtig  ist  — )  Oder 
die:  Ohne  hier  mit  der  natürlichen  Vernunft  über  ihren  Schluss  völlie: 
«inig  zu  sein  (was  man  nicht  kann,  da  derselbe  die  schärf.ste  transscenden 
tale  Kritik  nicht  aushalten  dürfte),  muss  man  doch  gestehen,  dass  (ihr  Ver- 
fahren insofern  richtig  ist  — )  Entweder  das  „chikanieren"  des  Vordersatzes 
oder  das  „muss  man  doch"  des  Nachsatzes  ist  fehlerhaft.  "Wahrscheinlich 
ersteres.  Steckt  aber  der  Fehler  dort,  so  muss.  wie  ich  eben  dar- 
gelegt, ein  Zeitwort  von  gerade  entgegengesetztem  Sinne  gestanden  haben. 
Ein  fremdes  wird  es  wohl  auch  gewesen  sein;  ich  weiss  kein  besseres 
als  sympathisieren. 

13.  S.  662.  „"Wir  werden  künftig  von  den  moralischen  Gesetzen  zeigen 
— ".  Dass  die  moralischen  Gesetze  in  anderweitisrer  Betrachtuns: 
schlechterdings  notwendig  sein  sollen,  fällt  einem  zunächst  auf.  Man  ahnt 
sofort,  dass  der  Verfasser  diese  Aussage  vielmehr  vom  Dasein  eines  höchsten 
"Wesens  machen  will;  wie  er  S.  668  erklärt:  „Denn  wenn  einmal  in  ander- 
weitiger, vielleicht  praktischer  Beziehung  die  Voraussetzung  eines  höchsten 
und  allgenugsamen  Wesens  als  oberster  Intelligenz  u.  s.  w."  Man  ahnt 
sofort,  dass  zu  lesen  ist:  da  es  in  anderweitiger  Betrachtung  schlechter- 
dings notwendig  ist.  Und  diese  Ahnung  trügt  nicht.  Etwas  ungezweifelt 
Gewisses,  aber  doch  nur  Bedingtes  hat  entweder  eine  schlechthin  not- 
wendige Bedingung  oder  eine  beliebige  und  zufällige.  Erstere  wird  von 
ihm  postuliert  (per  thesin);  letztere  nur  supponiert  (per  hypothesin).  Solch 
ein  ungezweifelt  Gew^isses  ist  nun  die  verbindende  Kraft  der  moralischen 
Gesetze.  Wir  werden  künftig  von  ihnen  zeigen,  kündigt  der  Verfasser  an, 
dass  sie  das  Dasein  eines  höchsten  Wesens  nicht  bloss  als  ihre  beliebige 
und  zufällige  Bedingung  per  hypothesin  supponieren,  sondern  auch,  da  es 
in  anderweitiger  Betrachtung  ihre  schlechterdings  notwendige  Bedingung 
ist,  es  mit  Recht  per  thesin  postulieren. 

14.  S.  709.  „Man  verkennt  sogleich  — ".  „lässt"  und  „setzt"  ist  in 
lasse  und  setze  umzuändern. 

15.  S.  745.  „alle  Behandlung,  die  durch  die  Grösse  erzeugt  und  ver- 
ändert wird."     Nein,  durch  die  die  Grösse  — . 

16.  ebendaselbst,  „und  gelangt  also  vermittelst — "  Also  im  Gegensatze 
zur  symbolischen  Konstruktion  der  Buchstabenrechnung  soll  die  der  Geo- 
metrieeine ostensive  oder  geometrische  sein.  Ostensive  oder  geometrische? 
Eine  sonderbare  Zu.sammenstellungl  Und  das  braucht  man  uns  nicht  erst 
einzuprägen,  dass  die  Konstruktion  der  Geometrie  eine  geometrische  sei. 
Sicherlich  hat  es  der  Alte  nicht  thun  wollen,  sondern  ge.schrieben:  nach 
einer  ostensiven  (der  geometrischen  Gegenstände  selbst). 

Kantstudion  IV.  21 


314  l*""    '■"'"''  ^Villc, 

17.  S.  747.  „Nun  i-nthält  v\n  lit'j;riff  a  priori  (ein  iiiclit  cniiiirisclKT 
Bogriff  — "     Bessi'r:  (niclit  oin  einiiirisi-lu'r   Hcj^rilf). 

18.  S.  768.     „Denn  wir  sind  alsdann  — "    Titel  dessclbin,  des  Besitzes. 

19.  S.  774.  „Aber  diese  CJiinst  muss  — "  Unter  ih'v  ab/jfe/ogencn 
Spekulation  ist,  wie  aus  dieser  und  anileren  Stellen  hervorgeht,  die  meta- 
phvsische,  transscendente  zu  verstehen.  Somit  liest  man  heraus,  dass- 
Priestley  aller  derartigen  abgeneigt  ist,  Hume  dagegen  seine  nicht  ver- 
lassen kann.  Schon  diese  Ausdrucksweise  ist  seltsam.  Unwillkinlich  sieht 
man  letzteren  als  einen  Hans  Metaphysicus,  der  auf  das  Dach  der  Si)eku- 
lation  gestiegen  ist  und  nicht  wieder  runter  kann.  Und  diese  vcUlige  V'or- 
kehrung  des  wahren  Sachverhalts!  Es  ist  ja  bekannt,  dass  der  N'erfusser 
der  Untersuchung  über  den  menschlichen  Verstand,  zu  dem  Resultate  ge- 
diehen, alle  unsere  Begriffe  und  Grundsätze,  besonders  der  der  Kausalität^ 
entspringen  aus  der  Erfahrung  und  haben  daher  nur  für  den  Bereich  der- 
selben Geltung,  ein  Hinausgehen  aus  diesem  Bereiche  in  das  Jenseits  für 
unmiiglich  erklärte,  also  alle  transscendente  Spekulation  gänzlicli  verwarf. 
Und  dass  dies  auch  dem  Königsberger  Philosophen  bekannt  war,  wäre  so- 
gar dann  selbstverständlich,  wenn  dieser  nicht  selber  uns  den  Standpunkt 
jenes  auf  das  Genaueste  und  Eichtigste,  obzwar  nur  in  der  Kürze,  beschriebe^ 
am  Anfange  dieses  Absatzes  und  S.  788  u.  ff.  Demnach  unterliegt  er,  keinem 
Zweifel,  dass  die  überlieferte  Lesart  unecht  ist.  Die  echte  nun  zu  erraten, 
hält  nicht  schwer:  der  eine  abgezogene  Spekulation  darum  nicht  zulassen 
kann.  Die  Schwierigkeit  ist  nur  die:  Wenn  beide  Männer  in  gleicher  Weise 
sie  verwarfen,  welches  ist  dann  der  Unterschied,  der  zwischen  ihnen  be- 
stehen soll?  Hierauf  ist  zu  antworten:  Hume,  vermöge  seiner  Geistesan- 
lage ursprünglich  keiner  bestimmten  Richtung  zuneigend,  kommt  durch 
seine  Prüfung  der  Vernunft  zu  der  Überzeugung,  dass  deren  Einsicht  zur 
Behauptung  und  zum  klaren  Begriffe  eines  höchsten  Wesens  nicht  zulange, 
und  überhaupt  nicht,  um  transscendente  Fragen  zu  entscheiden.  Priestley 
hingegen,  geborener  oder  prinzipieller  Anhänger  des  Empirismus  und  Gegner 
der  Spekiüation,  lässt  sich  durch  das  Interesse  der  Vernunft,  welche  da- 
durch verUert,  dass  man  gewisse  Gegenstände  den  Gesetzen  der  matenellen 
Natur,  den  einzigen,  die  wir  genau  kennen  und  bestimmen  können,  ent- 
ziehen will,  verleiten,  die  beiden  Grundpfeiler  aller  Religion,  unserer  Seele 
Freiheit  und  Unsterblichkeit,  niederzureissen,  d.  h.  nicht  etwa,  wie 
Hume,  zu  erklären,  dass  wir  darüber  nichts  wissen  können,  sondern  zu  be- 
haupten, die  Seele  sei  materiell  und  deshalb  unfrei  und  vergänglich;  mithin 
seinem  eigenen  Prinzipe  widersprechend,  transscendente  Behauptungen  zu 
machen;  welche  er  mit  der  Religionsabsicht  zu  vereinigen  weiss  (Religions- 
absicht 7  Wohl  Religions  an  sieht?)  und  sich  dadurch  eine  Gunst  erwirbt, 
die  nun  Kant  auch  für  den  untadelhaften  Hume  beansprucht,  welcher  von 
seinem  erkenntnistheoretischen  Standpunkte  aus  dergleichen  abgezogene 
Spekulation  nicht  zulassen  kann. 

20.  S.  788.  „Er  hielt  sich  vornehmlich  — "  Dass  Kant  diese  Bemer- 
kungen Humes  billigte  und  für  „ganz  richtig"  ausgab,  ist  ja  unmöglich. 
Denn  S.  792  u.  ff.  widerlegt  er  sie  ausführlich  und  noch  ausführlicher  durch 
seine  ganze  Kritik  der  reinen  Vernunft.  Ob  er  nun  ganz  unrichtig  oder 
garnicht  richtig  geschrieben,  ist  nicht  mit  Sicherheit  festzustellen;  doch 


Conjecturen  zu  Kants  Kritik  der  reinen  Vernuntt.  315 

würde  ich  letzteres  vorziehen.  „Garnicht"  pflegt  er  anzuwenden,  wo  wir 
lieber  „durchaus  nicht"  sagen;  z.  B.  S.  795:  „nur  zufällige,  garnicht  objektive 
Verbindungen." 

21.  S.  808.  „welcher  alle  Möglichkeit  erschöpft  zu  haben  meint  — " 
Das  „ihrer"  werden  wir  in  der  verwandeln  müssen.  Denn  gemeint  kann 
nur  sein:  indem  er  den  Mangel  der  empirischen  Bedingungen  des  von 
uns  Geglaubten  für  einen  Beweis  der  gänzlichen  Unmöglichkeit  eben 
dieses  Geglaubten  fälsclüich  ausgiebt. 

22.  S.  842.  „auch  nicht  der  ganzen  Glückseligkeit  würdig,  die  vor 
der  Vernunft  keine  andere  Einschränkung  erkennt."  Nein,  für  die  die 
Vernunft  keine  andere  Einschränkung  erkennt. 

23.  S.  847.  „Das  Sittengesetz,  welches  uns  die  Vernunft  aus  der 
Natur  der  Handlungen  selbst  lehrt.  Vielmehr  so:  welches  uns  die  Hand- 
lungen aus  der  Natur  der  Vernunft  selbst  lehrt. 

24.  ebendaselbst,  „frevelhaft  den  Leitfaden  einer  moralisch  gesetz- 
gebenden Vernunft  im  guten  Lebenswandel  zu  verlassen."  Nein,  so:  frevel- 
haft den  guten  Leitfaden  einer  morahsch  gesetzgebenden  Vernunft  im 
Lebenswandel  zu  verlassen. 

25.  S.  860.  „Der  scientifische  Vernunftbegriff  enthält  also  — "  Die 
Form  des  Ganzen  soll  mit  dem  Zwecke  des  Ganzen  kongruieren.  Also: 
die  mit  demselben  kongruiert. 

26.  ebendaselbst.  „Die  Einheit  des  Zweckes,  worauf  sich  — "  Der  mit 
„worauf"  beginnende  Eelativsatz  ist  so  arg  zugerichtet,  dass  er  nur  mit 
kühnen  Änderungen  nach  Inhalt  und  Form  tadellos  herzustellen  ist:  wo- 
rauf sich  alle  TeUe  des  Ganzen  in  der  Idee  desselben  auch  durch  ihr 
Verhalten  unter  einander  beziehen.  Unter  einander  nämlich  sagt  Kant, 
\\*o  wir  zu  einander  sagen,  z.  B.  einige  Zeilen  weiter  oben:  „die  .Stelle  der 
Teile  unter  einander,"  was  gleichfalls  zu  verbessern  ist:  die  Stellung  der 
Teile  unter  einander. 

27.  ebendaselbst,  „macht,  dass  ein  jeder  Teil  bei  der  Kenntnis  der 
übrigen  vermisst  werden  kann".  D.  h.  dass  von  jedem  Teile  (wenn  er 
etwa  fehlen  sollte)  aus  dem  Dasein  und  der  Beschaffenheit  der  übrigen 
geschlossen  werden  kann,  dass  er  fehlt.  Gedanke  und  Fassung  desselben 
sind  so  klar,  dass  ich  nicht  begreife,  warum  die  Herausgeber  hier  „kein 
Teil"  haben  drucken  lassen.  Wäre  dieses  überliefert,  so  würde  ich  jenes, 
das  überliefert  ist,  konjizieren. 

28.  S.  866.  „Man  muss  sie  objektiv  nehmen  — "  Philosophie  ist  nicht 
das  Urbild  der  Beurteilung  aller  Versuche  zu  philosophieren,  sondern  das 
Urbild  aller  Versuche  zu  philosophieren.  Die  Hinzufügung  des  Genetivs 
„der  Beurteilung"  ist  somit  störend  und  ausserdem  überflüssig,  weil  der 
folgende  Relativsatz  uns  genügend  belehrt,  dieses  Urbild  aller  Versuche 
solle  dazu  dienen,  sie  alle  zu  beurteilen.  Ich  möchte  deshalb  den  Genetiv 
streichen,  immer  von  der  Ansicht  ausgehend,  dass  das  gänzlich  Unpassende 
Textverderbnis  ist. 

Möge  meine  kleine  Arbeit  der  neuen  Kantausgabe  nützhch  sein! 


2V 


Recensionen. 


Basch,  Victor.  Essai  crititjue  sur  l'Est h(!>tiquc  do  Kant. 
Paris,   Felix  Alcau.  1896.     (L  u.   634  tS.) 

Über  diese  hochbedeutende  Schrift  soll  in  einer  Abhandlung  der 
„Kantstudien"  näher  und  ausführlicher  berichtet  werden.  Vorläufig  möge 
mir  eine  kurze,  allgemeine  Charakteristik  ihres  Inhaltes  platzgreifen. 

Das  "Werk  unterscheidet    sich    von    allen   bisherigen,  dasselbe  Thema 
behandelnden  Arbeiten   dadurch,    dass    es    nicht   bloss   eine  kritische   Dar- 
stellung der  auf  die  Ästhetik  bezüglichen    Lehren  Kants   bietet,    sondern, 
weit  über  den  Rahmen  desjenigen  hinausgehend,  was  man  von  einer  Kritik, 
selbst    von    einer    sog.  „produktiven",  fordern    darf,    im  Anschluss    an    die 
Prüfung    der    Kantschen    Gesichtspunkte     ein    vollständiges    System    der 
Ästhetik  begründet.     Es    enthält    also    weit    mehr,    als    man    seinem  Titel 
nach    erwarten    dürfte;    es    giebt   neben    der  Kant-Darstellung   und  Kant- 
Kritik    eine    geschlossene,    abgerundete   Lehre    von    den    ästhetischen  Ge- 
fühlen   und    von    den  Bedingungen    der    zum    ästhetischen  Leben    in    not- 
wendiger   Beziehung    stehenden     künstlerischen    Produktion.     Ja,    so    ge- 
wissenhaft verfährt  der  Autor,  dass  er,  nachdem  er  einmal  zur  Einsicht  in 
die  ausschliessliche  Gefühlsbasis  des  ästhetischen  Urteils  gelangt   ist,  sich 
für  verpflichtet  hält,  zu  allererst  die  Prinzipien  der  Gefühlslehre  überhaupt 
als  das  Fundament  der  Ästhetik  festzulegen,  und  daher  seiner  Theorie  des 
Schönen    eine    allgemeine  Gefühlspsychologie    voranschickt.     Ferner  ist  er 
sich  darüber  klar,    dass   der  Begriff  des  Schönen,    seiner  engeren  Fassung 
nach,  keineswegs  alle  Formen  des   ästhetisch  Wertvollen   in  sich  schliesst, 
dass    es    vielmehr    neben    dem    eigentlich  Schönen    noch   gar  manches  bei 
ästhetischer  Betrachtung  Gefallende  giebt,  das  wir  um  gewisser  Besonder- 
heiten willen  und  mit  Rücksicht    auf    die   teilweise  Verschiedenheit  seines 
subjektiven  Eindruckes    von    dem  Eindrucke    des    spezifisch    Schönen    mit 
anderen  Ausdrücken  belegen,  das  wir   lieber  „erhaben",  „niedUch"  etc.  als 
„schön"  nennen,  und  diese  Erkenntnis  bestimmt  den  Verf.  zu  einer  neuer- 
lichen Erweiterung    des    Planes    seiner  Arbeit.     Sah    er    sich    durch    seine 
Auffassting  von  dem  Verhältnisse    zwischen    künstlerischer  Begabung    und 
ästhetischem  Sinn,  durch  seine  Überzeugung,    dass    die   höchst  gesteigerte 
und  daher  auch  ihr  Wesen   am  deutlichsten   offenbarende  ästhetische  Em- 
pfänglichkeit im  Gemüte  des  Künstlers    zu    finden    sei,    veranlasst,   an  die 
Analyse    des    ästhetischen  Gefühls    Studien    über    die  Arten    und    psycho- 
logischen Grundlagen  des  Kunstschaffens  anzuschliessen,    so  entspringt  es 
als  einfache  Konsequenz  aus  der  Anerkennung  einer  Mannigfaltigkeit  von 


Recensionen.  317 

Formen  des  ästhetisch  Reizenden  oder  Ansprechenden,  dass  er  der  Kunst- 
lehre, wie  er  sie  wenigstens  in  den  Umrissen  entwarf,  schliesslich  auch 
noch  Untersuchungen  in  Betreff  der  Modifikationen  des  in  der  weitesten 
Bedeutung  genommenen  Schönen,  in  Betreff  der  Unterschiede,  welche 
zwischen  dem  Schönen  im  strengeren  Sinne  und  dem  Erhabenen  zu  Tage 
treten,  der  Natur  des  Komischen  und  Humoristischen,  kurz  der  mancherlei 
Weisen  des  Gefallens,  die  sich  von  der  eigentümlichen  Wohlgefälligkeit 
des  Schönen  mehr  oder  weniger  unterscheiden,  folgen  lässt.  Darnach 
ergiebt  sich  unter  Berücksichtigung  besonderer  Züge  der  Kantschen 
Ästhetik,  deren  Ausgestaltung  auf  die  Gliederung  einer  zunächst  und  un- 
mittelbar von  ihr  handelnden  Schrift  natürlich  nicht  ohne  Einfluss  bleiben 
kann,  ganz  von  selbst  die  Einteilung  des  Buches.  Dasselbe  zerfällt  nach 
einer  längeren  Einleitung,  welche  die  entfernteren  historischen  Voraus- 
setzungen der  Kantschen  Ästhetik  nachzuweisen  sucht,  sodann  die  eigent- 
lichen Wurzeln  dieser  Ästhetik  blosslegt  und  ihren  allgemeinen,  nach 
Baschs  Meinung  wesentlich  synthetischen  Charakter  kennzeichnet,  hierauf 
endlich  die  vom  Verf.  —  Basch  —  selbst  angewandte  Methode  bespricht, 
in  7  Kapitel:  1.  „La  methode"  (eine  Prüfung  der  formalen  Eigentümlich- 
keiten des  Kantschen  Philosophierens),  2.  „Le  sentiment",  3.  „Le  jugement 
reflechissant  theoriijue",  4.  „Le  jugement  reflöchissant  esthetique",  5.  „Le 
sentiment  esthetique",  6.  „L'art,  l'artiste  et  les  beaux-arts"  und  7.  „Le  beau  et 
ses  modifications".  Der  Kenner  bemerkt  sogleich,  dass  hauptsächlich  die 
Einfügung  des  3.  und  allenfalls  auch  die  des  4.  oder  mindestens  die 
Überschrift  dieses  4.  Abschnittes  auf  jene  eben  erwähnte  unvermeidliche 
Anpassung  des  Ganges  und  der  Form  der  Untersuchung  an  die  Kon- 
zeptionen des  Systems,  welches  die  Untersuchung  zu  Grunde  legt  und  von 
dem  sie  ausgeht,  zurückzuführen  ist,  während  sich  in  der  sonstigen  Anlage 
des  Werkes  mindestens  ebenso  sehr  die  eigenen  ästhetischen  Grundvor- 
stellungen des  Autors  wie  die  Erfordernisse  einer  die  Eigenart  ihres  Gegen- 
standes im  Auge  behaltenden  und  derselben  Rechnung  tragenden  Kritik 
wiederspiegeln. 

Ist  im  Voranstehenden  der  Plan  der  Arbeit  bezeichnet,  so  lassen  sich 
die  wichtigsten  Ergebnisse,  die  der  Verf.  gewinnt,  kurz  in  folgendem  zu- 
sammenfassen: Die  allgemeinen,  formalen  Schwächen  der  Kantschen  Denk- 
weise machen  sich  auch  auf  dem  Gebiete  der  Ästhetik  fühlbar;  der  Hang 
zur  aprioristischen  Konstruktion  nämlich  und  die  Vorliebe  für  streng  regu- 
läre Systematik,  welche  Hand  in  Hand  gehen  mit  der  Neigung,  das  aus  irgend 
einem  Grunde,  oft  eben  bloss  dem  Grunde  der  regelmässigen  Architektonik 
des  Lehrgebäudes  Gewünschte  oder  Postulierte  in  ein  thatsächlich  Er- 
kanntes umzuwandeln,  bringen  Verletzungen  des  natürlichen  Denkens  mit 
sich,  die  auch  durch  den  grössten  Scharfsinn  nicht  gut  gemacht  werden 
können.  Hinsichtlich  des  Inhaltes  seiner  Begriffsfassungen  aber  greift  Kant 
darin  fehl  und  setzt  er  sich  in  teilweisen  Widerspruch  mit  sich  selber, 
dass  er  das  Gefühl  als  Basis  und  Prädikat  des  ästhetischen  Urteils  einer- 
.seits  anerkennt,  andererseits  verleugnet.  Und  zwar  hat  diese  Verleugnung 
des  so  klar  und  ausdrücklich  Zugestandenen  ihre  Quelle  in  dem  Bemühen, 
dem  fraglichen  Urteile  eine  Art  Allgenieingültigkeit  zu  sichern,  die  es  im 
Hinblick  auf  die  erfahrungsmässige  Verschiedenheit  der   ästhetischen  Wir- 


3JQ  KcctMisionon. 

knnj?    dos    nämlichen    C.i\u;(>nst:Mulos    auf    vcrscliicMlono    Subickto    nnti\rlicli 
vt>rliiMvn    niilssto.    sobald    nichts    als    ilio    Bcsihal'fonhcit    solcher   Cu>fühls- 
viikung  in  ihm  aiis<;esust  wilrde,  oder  die  man  ihm  dann  \venip;stens  niclit 
von  vornherein  zusprechen  dürfte,    bevor    man    nicht    iM-st  alle   Krfaliiiiiii^s- 
thatsachen  kennen  «gelernt    nnd    die    der  Hi'hauptun^z;    scheinbar  ent;j;e;;en- 
stehenden  als  Täiischung  und  Truc^  nachi^ewiesen  hätte.    So  verlässt  Kant, 
um  die  Allgemeinheit  und  Notwendigkeit  der   ästiietischiMi    Urteile  besorgt, 
immer  wieder  den  Standpunkt,    welchen    er   zufolge  einiger  seiner  Formu- 
lierungen thatsächlich  einnimmt,    und    fällt    er    in    die    sonst    längst    über- 
wundene metaphvsisch-teleologische  Betrachtungsweise  der  Leibnitz-Wolff- 
schen    Schule  zurück.     Allerdings  nimmt  bei   ihm  die  teleologische  Scluin- 
heitsauffassung  eine  subjektive  Wendung,  indem  es  sich  nicht  sowohl   um 
die  innere  Zweckmässigkeit    des    schönen  Dinges    selber,    als  vielmehr  um 
dessen  glückliche  Anpassung  an  die  menschlichen  Erkenntniskräfte  handelt, 
deren  harmonisches  Zusammenspiel    eben    durch    die    ästhetisch    wertvolle 
Erscheinung  ermöglicht  oder  veranlasst  werden  soll;    aber    diese  teilweise 
Verlegung  der  Zweckmässigkeit  ins  subjektive  Gebiet  kann  die  Verwandt- 
schaft mit  den  Lehren  der  älteren  Metaphysik  nicht   völlig  aufheben,  und 
sie  erweist  sich  vor  allem  auch  als  ganz  ungeeignet,   dasjenige   zu  leisten, 
was  sie  leisten    soll,    nämlich    der    ästhetischen  Schätzung    die  Allgemein- 
gültigkeit zu  verbürgen.     Der  Zusammenhang  der  materialen  Irrtümer  und 
Missgriffe  der  „Kritik  der  Urteilskraft"  mit  den  allgemeinen,  methodischen 
Mängeln  der  Kantschen  Philosophie    liegt  hier  klar  zu  Tage:  das  Postulat 
der  Allgemeinheit    des    ästhetischen  Urteils    wird    zu    einer  Thatsache  ge- 
macht   und    verfährt    in    imperativischer  Weise    mit    den  wirklichen  That- 
sachen,  die  sich  fügen  müssen  und  gar  nicht  zu  Worte  kommen  gegenüber 
der  a  priori   erhobenen  Forderung.    Nach  der  metaphysischen  Seite  ist  der 
Gedanke    eines    einträchtigen  Zusammenwirkens    von  Natur    und  Geist    in 
der  Auffassung  des  Schönen  insofern  nicht  bedeutungslos,  als  er  zur  Konse- 
quenz einer  pantheistischen  Weltanschauung  drängt,   wie   sehr   auch  Kant 
in  den  anderen  Teilen  seines  philosophischen  Sj'stems  einer  solchen  Welt- 
anschauung ferne  zu  stehen  scheint. 

Mit  dieser  Kant-Kritik,  gegen  deren  Resultate  mit  Ausnahme  des 
letzten  Punktes,  der  angeblichen  pantheistischen  Tendenz  der  Kantschen 
Ästhetik,  sich  schwerlich  viel  dürfte  einwenden  lassen,  verbindet  nun,  wie 
gesagt,  der  Verf.  die  Entwicklung  einer  eigenen  ästhetischen  Theorie.  Dass 
er  von  der  Gefühlsmässigkeit  der  ästhetischen  Schätzung  ausgeht,  wurde 
schon  früher  hervorgehoben.  Das  Prädikat  des  ästhetischen  Urteils  ist 
ihm  —  darin  stimmt  er  mit  Kant  überein  —  notwendigerweise  ein  Lust- 
oder Unlustgefühl.  Dieses  Gefühl  kann  jedoch  im  übrigen  sehr  ver- 
schiedener Art  sein,  bald  einer  höheren,  bald  einer  niedrigeren  Klasse  von 
Emotionen  zugehörig,  jetzt  rein  sinnlich,  jetzt  eminent  spirituell,  je  nach 
dem  eben  der  ästhetischen  Beurteilung  unterliegenden  Gegenstande  oder, 
noch  genauer  geredet,  je  nach  den  Faktoren,  aus  welchen  sich  die  ästhe- 
tische Auffassung  eines  solchen  Gegenstandes  zusammensetzt;  denn  in  den 
scheinbar  einheithchen  emotionellen  Gesamteindruck  eines  schönen  oder 
hässhchen  Objektes  gehen  sinnliche  und  intellektuelle  Elemente  in  den 
mannigfachsten  Mischungsformen  ein,  und  sind  insbesondere  der  unmittel- 


Recensionen.  319 

bare  Sinnenreiz,  das  intellektuelle  Vergnügen,  welches  aus  der  Anschauung 
der  Einheit  in  der  Mannigfaltigkeit  entspringt,  und  die  Effekte  der  Ideen- 
assoziation solche  Ingredienzien,  die  bei  keinem  ästhetisch  anmutenden 
Dinge  in  dessen  Totahvirkung  vermisst  werden.  Das  ästhetische  Ver- 
halten im  allgemeinen  aber  stellt  sich  als  ein  rein  kontemplatives  dar: 
hierin  liegt  es  begründet,  dass  man  das  Schöne  dem  Guten  und  Nützlichen 
gegenüberstellen  kann,  und  hiermit  kommt  auch  die  Bestimmung  Kants 
von  dem  „interesselosen"  Wohlgefallen  am  Schönen,  soweit  sie  berechtigt 
und  haltbar  ist,  zur  Geltung;  denn  im  strengsten,  eigentlichsten  Wortsinn 
ka  nn  diese  Interesselosigkeit  schon  deshalb  nicht  verstanden  werden,  weil 
^ie,  so  gefasst,  mit  dem  Wesen  des  Gefühls  ganz  und  gar  unverträglich 
und  mithin  ein  „interesseloses  Wohlgefallen",  sei  es  ästhetischer,  sei  es 
anderer  Gattung,  ein  Widerspruch  in  sich  wäre.  Bei  der  Unterscheidung 
der  ästhetischen  von  den  ethischen  Gefühlen  aber  scheint  um  so  grössere 
Vorsicht  geboten,  als  die  ästhetische  Lust  gleichfalls  einen  sozialen, 
altruistischen  Zug  hat:  die  Freude  am  schönen  Gegenstande  ist  eine  Art  von 
Sympathie  mit  demselben,  die  nur  zur  Voraussetzung  hat,  dass  dieser 
•Gegenstand  von  der  Phantasie  vermenschlicht,  dass  menschliches,  seelisches 
Leben  in  ilin  hineingetragen  wurde.  Nirgends  ist  diese  Gabe  der  sym- 
pathischen Einfühlung  höher  entwickelt  als  beim  Künstler,  welcher  daher 
als  der  ästhetische  Mensch  par  excellence  erscheint.  Indes  nimmt  nach 
den  verschiedenen  psychologischen  Typen,  zu  welchen  das  Künstler- 
individuum gehört,  die  ästhetische  Erregbarkeit  verschiedene  Gestalten  an, 
und  so  ergiebt  sich  die  Mannigfaltigkeit  der  Künste  einfach  aus  der 
Differenz  dieser  Typen,  vor  allem  aus  dem  Gegensatze  zwischen  dem 
visuellen  und  auditiven  Typus,  welcher  die  Scheidung  in  Künste  des  Ge- 
sichts und  des  Gehörs  notwendig  macht. 

Das  sind,  in  knappster  Form  dargestellt,  die  Grundgedanken  des 
Buches.  Was  Basch  über  die  Modifikationen  des  Schönen  äussert,  hat 
nicht  Bedeutung  genug,  dass  in  diesem  vorläufigen  Referat  darauf  ein- 
gegangen werden  müsste,  und  auch  für  eine  breitere  Kritik  der  positiven 
Aufstellungen  des  Verfassers  fehlt  es  hier  an  zwingendem  Anlass,  zumal 
diejenigen  Punkte,  welche  solche  Kritik  vor  allem  herausfordern,  ohne  dies 
ins  Auge  springen.  Zwischen  der  Auffassung  der  ästhetischen  Gefühle  als 
•der  bei  kontemplativem  Verhalten  des  Subjektes  entstehenden  Emotionen 
■einerseits  und  der  Definition  dieser  närtilichen  Gefühle  als  sympathischer, 
gleichsam  durch  anthropomorphistische  Assoziation  vermittelter  sozialer 
andererseits  klafft  offenbar  ein  Gegensatz,  der  nicht  so  ganz  leicht  zu  über- 
brücken sein  möchte.  Denn  vergebens  sucht  man  nach  einem  verständigen 
Grunde  dafür,  dass  im  kontemplativen  Zustande  sich  immer  und  überall  der 
Ei  nfühlungs- oder  Vermenschlichungsprozess  vollziehen,  somit  die  unerlässliche 
Bedingung  für  eine  der  sozialen  Sympathie  analoge  Gefühlsregung  erzeugt 
werden  müsste,  so  wie  schon  nicht  recht  einzusehen  ist,  warum  zu  dem 
•ersten  Faktor  des  ästhetischen  Gefühls,  dem  einfachen  Sinnesreize,  in  sämt- 
lichen Fällen  unweigerlich  auch  die  intellektuelle  Lust  an  der  Verknüpfung 
von  Einheit  und  Mannigfaltigkeit  und  die  Wirkung  der  As.soziatiouen  sich 
hinzugesellen.  Genügt  das  kontemplative,  von  allen  Zweckrücksichten 
absehende    und    aller  Impulse    zur   Thätigkeit    entbehrende  Verhalten    des 


320  Keconsionon. 

Subjektes,  um  die  in  solchem  Zustnmlo  erweckten  Gefühle  als  iisllietische- 
erscheinen  zu  lassen,  dann  ist  jede  weitere  Bestimmunj;-  überflilssi-;  und 
ireradeswesrs  von  der  llaml  /.n  weisen.  w«>nif;stens,  so  lanj^c  iiiciit  der 
Beweis  erbracht  ist.  dass  es  keine  Ivnutemiilation  ^icbt,  kcinr  unniiltclli.ur 
Hini^ahe  an  die  Heize  der  Ausscnwelt.  widcr  luini  Menschen  uocii  hei 
anderen  Cieschöpfeu,  in  deren  Einzelakten  von  Aufan;,'  bis  zu  Kndr  sicli 
diese  Bestinununijen  nicht  bewähren. 

Baselis  Werk  ist  trotz  dem  mächtigen  l  inl'.iii^r  und  der  l"lilif  der 
in  ihm  niedergelegten  Erörterungen  nur  i-in  Stück  aus  ciuir  grösseren 
Serie  von  Publikationen,  welche  dir  NCrlasser  plmit.  und  als  Ergänzung, 
sollen  diesem  vorwiegend  kritisclien  Teile  nocii  andere  Bände  folgen,  worin 
teils  die  Entstehungsgeschichte  der  Ästlietik  des  Königsberger  Denkers, 
teils  die  von  ihr  ausgegangenen  philosophischen  Bewegungen,  die  Impulse,. 
welche  sie  der  Wissenschaft  vom  Schönen  gegeben  liat,  eingehender  be- 
handelt werden  sollen,  teils  endlich  eine  streng  sy.stematische  Darstellung 
der  ganzen  Xantschen  Ästhetik  nachträglich  sozusagen  das  Substrat  für 
die  kritischen  Ausführungen  des  zuerst  erschienenen  Buches  zu  liefern 
liätte.  Ob  indes  in  einem  solchen  „systematischen"  Teile  viel  gesagt 
werden  könnte,  was  nicht  schon  in  dem  vuiliegenden  Band  Aufnahme  ge- 
funden, und  ob  es  einen  Sinn  hätte,  das  schon  ]\Iitgeteilte  noch  einmal,, 
höchstens  in  verschiedener  Anordnung,  zu  bringen,  darf  man  füglich  be- 
zweifeln. Mit  um  so  grösserer  Spannung  aber  wird  dem  Erscheinen  der 
zwei  anderen  in  Aussicht  gestellten  Teile  jeder  entgegensehen,  der  sicli 
aus  dem  liier  angezeigten  Werke  von  der  Urteilsschärfe  des  Verf.,  seiner 
ausserordentlichen  Litteraturkenntnis  und  der  Gediegenheit  seiner  philo- 
sophischen Bildung  überzeugt  hat. 

Graz.  Hugo  Spitzer. 

Didio,  C.  Die  moderne  Moral  und  ihre  Grundprinzipien, 
(Strassburger  Theolog.  Studien.  Herausgeg.  v.  Dr.  Ehrhard  und  Dr.  Midier. 
II.  Bd.,  3.  Hft.)     Freiburg  i.  B    Herder  1896  (Vll  und  103  S.). 

Die  Studie  ist  hervorgegangen  aus  einer  der  AVürzburger  theo- 
logischen Fakultät  eingereichten  Dissertation  „der  ethische  Gottesbeweis" 
und  verfolgt  den  Zweck  einer  „Widerlegung  der  liberalen  Ethik  überhaupt". 
In  dem  populär  gehaltenen  ersten  Kapitel  sind  die  Angaben  über  eine 
_neuchristliche"  oder  „neumystische  Bewegung"  von  Interesse,  die  in 
Frankreich  von  Desjardins,  Brunetiere  u.  a.  ausgeht.  Im  Folgenden  werden 
nacheinander  die  ethischen  Theorien  des  Eudämonismus  und  Utilitarismus, 
des  Positivismus  und  Darwinismus  (Spencer),  das  „Moralprinzip  des  Kultur- 
fortschritts" (Wundtj,  Kants  Ethik  und  die  des  Pessimismus  kritisiert.  Die 
Fragestellung  ist  nirgends  völlig  klar;  sittliche  Praxis  und  ethische  Theorie 
werden,  wie  gewöhnlich  in  der  theologischen  Ethik,  nicht  scharf  genug 
auseinander  gehalten;  Begriffe  wie  „eigenes  Interesse",  „sittliche  Ordnung",, 
„objektiv",  „absolut"  werden  inhaltlich  nicht  genau  bestimmt  und  nicht 
immer  in  der  gleichen  Bedeutung  gebraucht,  wie  überhaupt  ein  präziser 
Sprachgebrauch  nicht  zu  den  Vorzügen  der  Schrift  gehört.  Als  „That- 
sachen  des  sittlichen  Bewusstseins",  auf  die  der  Verf.  immer  wieder  zurück- 
kommt,   proklamiert    er    schon    in    der  Vorrede    seine  Ansichten  über  das,, 


Kecensionen.  321 

was  der  Mensch  solle  und  was  er  nicht  dürfe.  Eine  Anah'se  des  psA'cho- 
logisch  wirklich  dejifebenen  wird  zwar  wiederholentlich,  z.  B.  Spencer 
gegenüber,  am  rechten  Orte  gefordert,  aber  nirgends  gründlich  unter- 
nommen, so  dass  Behauptungen  wie  die:  Wundts  „Ansicht  vom  Willen"  sei 
„rein  willkürlich  ja  geradezu  unmöglich",  fast  gänzlich  in  der  Luft  schweben. 
Die  Kritik  des  Eudämonismus  und  Positivismus  ist  vielfach  recht  über- 
zeugend; sie  bewegt  sich  in  bekannten  Bahnen  und  leidet  noch  am 
wenigsten  unter  der  Verwechslung  von  Thatsachen  und  dogmatischen 
Glaubenssätzen.  Wundts  Etliik  wird  ziemlich  oberflächlich  behandelt. 
Der  (auch  gegen  andere  Moraltheorien  erhobene)  Vorwurf,  es  fehle  der 
Beweis  für  einen  Endzweck,  ein  letztes  Ziel  des  menschlichen  Wollens, 
ist  charakteristisch  für  die  metaphysischen  Tendenzen  des  Kritikers.  Die 
wissenschaftliche  Ethik  erkennt  mehr  und  mehr  die  Unlösbarkeit  dieser 
Frage  und  die  Sinnlosigkeit  dieses  ganzen  Begriffs.  Aber  es  ist  nicht 
wahr,  dass  jede  Entwicklung  nur  soviel  Wert  habe,  „als  das  Ziel  Wert  hat, 
zu  dem  sie  führt".  Man  muss  die  Begriffe  Endzweck  und  unbedingter 
Wert  auseinanderhalten.  Namentlich  für  die  Kritik  der  Kant  ischen  Ethik 
ist  das  unerlässlich  notwendig.  Didio  interessiert  sich  ganz  besonders  für 
Kants  Lehre  vom  höchsten  Gute,  vernachlässigt  aber  völlig  die  wichtige 
Scheidung,  die  Kant  selbst  zwischen  dem  „obersten  Gute"  und  dem  „ganzen 
und  vollendeten  Gute"  vollzieht.  Das  erste  könnte  einer  empirischen  Be- 
stimmung fähig  sein,  während  es  das  zweite  nicht  wäre.  Unser  Kritiker 
verwechselt  auch  die  Begriffe  absoluter  Wert  und  absolute  Existenz;  des- 
halb ist  er  a  priori  überzeugt,  dass  in  der  men.schlichen  Persönlichkeit  das 
absolut  Wertvolle  nicht  könne  gefunden  werden.  Kant  habe  „den  absoluten 
Charakter  des  Sittlichen  erkannt,  den  Pflichtimperativ  in  voller  Stärke 
erfasst".  „Allein  durch  seinen  Kriticismus  hat  er  sich  den  Weg  zur  Be- 
gründung verschlossen."  Das  Postulat  des  höchsten  Gutes  zeige  den 
richtigen  Weg  (einer  theologischen  Ethik).  Der  von  Kant  postulierte  Gott 
körme  noch  „metaphysisch  wegdisputiert  werden".  Didio  glaubt,  das  Da- 
sein Gottes  beweisen  zu  können.  —  Stichhaltig  ist  an  dieser  Kritik  Kants 
wohl  nur  der  Hinweis  auf  die  Mehrdeutigkeit  des  Wortes  „praktische 
Vernunft". 

Der  Pessimismus  erfährt  weitaus  die  gründlichste  Behandlung.  Hart- 
manns Moralphilosophie  bedeutet  für  den  Verf.  das  „letzte  Wort"  aller 
nicht  theologischen  Ethik.  Deshalb  verfolgt  er  sie  bis  in  ihre  ab.surdesten 
Konse(juenzen.  Ihr  „Hauptvorzug'*  sei  „die  klare  Erfassung  der  sittlichen 
Ordnung  als  AVeltteleologie,  die  vernichtende  Kritik  der  rein  menschlichen (I) 
Moralsysteme,  die  klare  Erkenntnis  der  Notwendigkeit  einer  metaphysischen 
Begründung  der  Thatsachen  des  sittlichen  Bewusstseins  durch  einen 
absoluten  Willen".  Die  gegenwärtige  „Krisis  der  Moral"  könne  nur  durch 
die  Rückkehr  „zu  der  altbewährten  theistischen  Philosophie  des  Christen- 
tums" überwunden  werden. 

Leipzig.  Felix  Krueger. 

Mac  Vannel.  John  August,  Ph.  D.  Assist,  in  Philos.  Columb.  Univ. 
HegeFs  Doctrine  of  the  Will.  (Contributions  to  Philosophy,  Ps3-cho- 
logy  and  Education.     Vol.  II.  No.  2.)     New- York  1896.     (102  S.) 


322  lioconsioiuii. 

Auch  wer  in  Ilci^ols  Svstom  nicht,  wie  der  Verf.,  den  voUkoninuMiston 
Ausdruck  deutschen  I'hihisophieri'ns  i>ihlickt,  wird  das  [InttMnclmu'U  (>incr 
zusanunenfasseiiden  DarsteUunp;  st>iner  Ktliik  fri'udii^  he^rüssen.  Mac  Vaiinel 
hebt  aus  dein  Werke  llcLCels.  nainent  liili  aus  dem  dritten  Teil  (h-r  l,oü;ik 
(Phil.  d.  s)d\j.  Geistes),  (his  lu'rvDi-,  was  ilmi  als  das  iiiMi;il|iliilus(>|iliIscli 
AVertvoUste  erscheint.  Die  ilber.sichtiiche  Darstellung  der  I  laupt^cdanken 
schliesst  sich  teilweise  eng  an  neuere  anu-rikanische  Philosophen,  an 
Watson,  Seih  ii.  a.  an.  Die  einleiti'ndea  historischen  Abschnitte  enthalten 
manches  geschickt  gewählte  Schlagwort.  Dabei  entgeht  freilich  der  Schüler 
Hegels  nicht  immer  der  Gefahr  eines  rationalistischen  Konstruierens.  Er 
ist  überzeugt,  dass  auch  die  Kantische  Philosojjhie  ihre  h('ichste  Vollendung 
erst  durch  Hegel  gefunden  habe,  und  schon  seine  Formulierung  Kantischer 
Gedanken  ist  von  dieser  philo.sophischen  Schulmeinnng  mit  bestimmt. 
Wenn  wir  lulren,  das  Hauptergebnis  der  kritischen  Philosophie  sei:  dass 
das  Absolute  nicht  als  Substanz,  sondern  als  selbstbewusster  Geist  auf- 
gefasst  werde;  oder  wenn  es  hcisst,  wir  hätten  nach  Kant  ,,die  Natur  der 
absoluten  Realität  als  eine  geistige  (Spiritual)  aufzufassen"  und  insbesondere 
„Raum  und  Zeit  als  abhängige  Funktionen  des  Absoluten   zu   betrachten", 

—  so  ist  da,  wie  auch  sonst  vielfach,  das  Richtige  all/.u  Hegelisch  aus- 
gedrückt. Dagegen  kann  man  dem  Verfasser  natürlich  zustimmen,  wenn 
er  Kants  Lehre  wiederholt  dahin  zusammenfasst,  dass  ohne  ein  Subjekt 
kein  Objekt  existiere;  dass  Existenz  nur  Sinn  habe  für  ein  denkendes 
Selbst;  dass  „die  Einheit  des  Selbstbewusstseins  das  Prinzip  sei,  auf  das 
man  alle  Dinge  als  auf  ihre  letzte  Erklärung  zurückzuführen  habe".  Auch 
der  Einwand  ist  gerechtfertigt,  dass  Kant  nur  inkonsequenterweise  ein 
Affiziertwerden  des  Bewusstseins  durch  die  Dinge  an  sich  annehme,  und 
dass  er  die  „Kluft"  zwischen  Spontaneität  und  Rezeptivität  auf  theo- 
retischem wie  auf  sittlichem  Gebiet  nicht  ganz  habe  zu  überwinden  ver- 
mocht. Was  die  Kantische  Ethik  betrifft,  so  hätte  eine  eingehende  Kritik 
ihres  „Rigorismus"  und  „Formalismus"  den  Gegensatz  zwischen  Vernunft 
(oder  Pflicht)  und  Neigung  auf  seinen  berechtigten  Kern  hin  zu  unter- 
suchen. Eine  Andeutung  davon  findet  sich  bei  Mac  Vannel  in  der  Be- 
merkung (S.  66):  Kant  habe  schliesslich  den  Unterschied  im  Auge  gehabt 
zwischen:  dem  Handeln  aus  dem  Bewusstsein  des  Gesetzes  und  dem 
Handeln  als  ein  dem  Gesetz  Unterworfenes.  Nach  der  Ansicht  des 
Referenten  handelt  es  sich  im  Grunde  vielmehr  um  den  noch  fundamen- 
taleren, auch  von  Hegel  vernachlässigten,  Unterschied  zwischen  der  mo- 
ralischen Beurteilung  und  ihrem  Objekt,  dem  moralischen  Verhalten. 

Der  Fortschritt  Fichtes,  Schellings  und  besonders  Hegels  über  Kant 
hinaus  soll  darin  be.stehen,  dass  sie  den  erwähnten  Dualismus  mehr  und 
mehr  überwinden;  in  Hegels  System  sei  er  re.stlos  aufgelöst.  Dabei  werden 
überall  die  Gegensätze:  Noumenon  und  Phänomenon,  Denken  und  Sein, 
Geist  und  Natur,  Unendliches  und  Endliches,  Gesellschaft  und  Individuum, 
Freiheit  (oder  Verantwortlichkeit)  und  Notwendigkeit,  Vernunft  und  Neigung, 
als  Formen  eines  und  desselben  Dualismus  einander  völlig  parallel  gesetzt, 

—  was  sicherlich  dem  Geiste  der  Hegeischen,  aber  keineswegs  dem  der 
Kantischen  Philosophie  entspricht.  Das  Hauptverdienst  und  die  Originalität 
Hegels    wird    darin    gefunden,    dass    er   diese    historischen   Gegensätze  als 


Recensionen,  —  Selbstauzeigen.  323 

Korrelate,  ihre  Ansprüclie  als  einander  ergänzende  begreife.  Hegels 
Problem  sei,  „diejenige  Einheit  zu  bestimmen,  die  der  Natur  wie  der 
Geisteswelt  als  Prinzip  zu  Grunde  liegt",  und  zugleich  in  müglichst  um- 
fassender Weise  festzustellen,  wie  diese  „Realität"  in  den  verschiedenen 
Gestaltungen  des  Kulturlebens  „sich  offenbare".  Hegels  leitender  Gedanke 
sei  überall  der  Gedanke  der  Entwicklung.  Dasjenige,  w  a  s  im  Natur- 
geschehen wie  im  Geistesleben  sich  entwickelt,  das  Prinzip  der  gesamten 
Weltbewegung,  ist  für  ihn  bekanntlich  „der"  Geist  oder  „die"  Vernunft. 
Eine  Kritik  dieses  metaphysischen  Gedankens  ist  hier  nicht  am  Platze. 
Dass  Hegel  „weder  in  seinen  Prämissen  noch  in  seinen  Schlussfolgerungen 
über  die  Erfahrung  hinausgehe"  (14),  wird  kein  durch  Kants  Erkenntnis- 
kritik geschärftes  wissenschaftliches  Gewissen  zugeben.  In  den  vier  letzten 
Kapiteln  unsrer  Schrift,  die  fast  ausschliesslich  Hegels  Freiheitslehre  und 
Ethik  behandeln,  werden  mit  gutem  Takte  gerade  d  i  e  Ergebnisse  des 
universalen  Hegeischen  Denkens  wiedergegeben,  die  noch  heute  von  hohem 
philosophischen  Interesse  sind.  Und  die  Darstellung  gewinnt  dadurch  an 
überzeugender  Kraft,  dass  sie  nicht  auf  die  deutschen  Originale,  sondern 
überall  auf  moderne  englische  Übersetzungen  mit  ihrer  realistischeren 
Terminologie  gestützt  ist.  —  Hegel  kommt  über  die  Vermögenspsychologie 
ebenso  weit  hinaus,  wie  über  die  atomistischen  Gesellschaftstheorien  seiner 
Vorgänger.  vSeine  "Willenslehre  ist  reich  an  wichtigen  Problemstellungen. 
Aber  seine  Definitionen  und  kühnen  Identifikationen  können  eine  rein 
empirische,  historisch-psychologische  Gesellschaftswissenschaft  nicht  ersetzen. 
Seine  monistische  Metaphysik  hat  das  Erkenntnisproblem  nur  von  Neuem 
formuliert;  und  die  ethischen  Fragen  des  Verhältnisses  zwischen  Individuum 
imd  Gesamtheit  sind  durch  seine  Lehre  von  der  absoluten  sittliclien  Be- 
deutung des  Staates  keineswegs  endgültig  beantwortet.  Die  kritiklose 
Bewunderiing,  mit  der  man  dem  Hegeischen  Staatsabsolutismus  neuerdings 
in  Amerika  begegnet,  ist  ein  interessanter  Beweis  für  den  Einfluss  der 
politischen  und  wirtschaftlichen  Entwicklung  auf  die  Philosophie  der 
Völker. 

Leipzig.  Felix  Krueger. 


Selbstanzei2:en. 


Marcus,  E.  Die  exakte  Aufdeckung  des  Fundaments  der 
Sittlichkeit  und  Religion  und  die  Konstruktion  <ler  Welt  aus 
den  Elementen  des  Kant.    Leipzig,  H.  Haacke,  1899.    (XXXI  und  400  S.) 

Kant  bezeichnet  es  (Metaphys.  Anfangsgründe  d.  Naturwissensch. 
Anm.  zur  Einl.)  als  „verdienstlich",  nachzuweisen,  wie  durch  die  Kate- 
gorien Erfahrung  zustande  komme.  Ich  halte  es  für  notwendig,  zu 
zeigen,    wie   sich    aus    den    apriorischen  und  aposteriorischen  Faktoren  die 


324  Solbstanzeifjon. 

\\  i'lt  n^kKiistruiiTon  lassr;  aiuKriifalls  bleibt  tlio  f:;rosso  Massr,  wcloho 
stets  die  siniu'nfälligo  Bestätigung  lugischer  (U'wisslu'it  verlangt,  unberührt. 
Eiu  solcher  Versuch  dürfte  mindestens  dm  Weit  einer  neuen  Angriffs- 
methode auf  das  starkversclianzte  Lager  der  Kmpiriker  luiben.  Kr  zwingt 
aber  audi.  terminoh)gische  Scliwäclien  des  Kantschi-n  Systems  schärfer 
aus  Licht  zu  zielien.  Die  funilierenden  Cu'danken,  welche  die  Kinheit  des 
Systems  darlegen,  sind  folgende: 

1.  Ich  unterscheide  das  latente  (verborgene)  vom  diskreten  (unter- 
scheiilenden.  offenbaren)  Bewusstsein.  Wie  der  Wasserdampf  keine  Ne\i- 
bihhing  von  Materie,  sondern  Variante  von  vorliandener  Materie  ist,  so  ist 
die  Empfindung  keine  absolute  Keubildung  (generatio  ae(|uivoca),  sondern 
Variante  eines  latenten  Bewusstseins  (Vitalgefülils);  z.  B.  die  Wärme  ist 
Variante  des  latenten  normalen  Temi)eraturgefühls.  Absolut  beharrlich  und 
dem  ganzen  Typus  nach  bekannt,  daher  apriori,  sind  die  reinen  Vitalgefühle 
der  „Zeit"  und  des  „Eaumes".  Ihre  A''arianten  nehmen  ihren  Charakter  an 
(.Dauer  nnd  Ausdehnung;.  Sie  sind  ferner  nur  Partial Varianten.  Dadurch 
entsteht  ein  Kontrast;  das  bis  dahin  latente  Bewusstsein  wird  diskret, 
dass  Raum  und  Zeit  sich  über  jede  ihrer  Varianten  hinauserstrecken.  Diese 
Erkenntnis  ist  nicht  Erfahrung,  sondern  Rekognition  eines  ursprünglichen 
Bewusstseins  im  Kontrast  zur  Erfahrung.  Apriori  ist  ferner:  das  latente 
Selbstbewusstsein,  in  Kontrast  zu  welchem  die  Empfindung  den  Charakter 
des  „Fremden",  des  „Eindrixcks"  erhält.  Raum  —  Zeit  —  und  Selbst- 
Bewusstsein  bilden  den  apriorischen  Organismus.  Als  seine  Varianten 
heissen  die  Empfindungsgebilde  Sinneserscheinungen,  als  Realitäten,  die 
unter  sich  zusammenhängen,  Natur  erscheinungen.  Sie  sind  dem  Organismus 
immanent;  was  als  ausserhalb  desselben  bestehend  gedacht  wird,  heisst 
„transscendent".  Die  Integrität  dieses  Organismus  ist  apriori  bekannte  Vor- 
aussetzung der  Erkenntnis;  daher  wissen  wir,  dass  die  Welt  als  Objekt 
und  in  Raum  und  Zeit  auftreten  muss. 

II.  Die  Handlung  ist  eine  Wirkung,  welche  das  Subjekt  der  Hand- 
lung voraussieht  (Prognosis).  AVenn  ich  mich  fortbewege,  so  lenkt  die 
Prognosis  des  Weges  meine  Schritte.  Diese  diskrete  Prognosis  ist  keine 
absolute  Neubildung,  sondern  die  Variante  und  zugleich  die  W^irkung 
einer  latenten  Prognosis.  Die  Letztere  liegt  der  ursprünglichen  Thätigkeit 
(vitalen  Urfunktion),  nämlich  dem  Denken  zu  Grunde.  Ohne  dieselbe 
würden  wir  das  Denken  nicht  als  Eigenthätigkeit  auffassen.  (Ohne 
Prognosis  kein  Bewusstsein  der  Eigenthätigkeit.)  Diese  latente  apriorische 
Prognosis  besteht  in  der  Kenntnis  dessen,  was  wir  „Regel"  nennen.  Sie 
ist  scheinbar  gehaltlos  (gerade  wie  der  Raum  die  Leere  ist),  ist  aber  das 
Mittel  (causa  dirigens),  „geregelt"  zu  funktionieren  und  neue  funktions- 
leitende „Regeln"  zu  bilden  (ursprüngliche  Induktion;  Apperception).  Z.  B.: 
Der  „Wiederholung"  zum  Zwecke  des  Lernens  liegt  die  Prognosis  des 
„regelmässigen"  Funktionierens  zu  Grunde.  Raum  und  Zeit  sind  in  „regel- 
mässige" Teile  zerlegbar,  sind  daher  Komplemente  der  „Regel"  und  insofern 
„Ordnungen".  Alle  Erscheinungen  sind  Varianten  von  Raum-  oder  Zeit- 
Teilen,  bilden  daher  eine  räum-  und  zeit-homogene  Ordnung,  sind  also 
Subordinanden  der  apriorischen  Regel  und  Motive  für  die  Induktion  neuer 
Regeln,    die  ihre  Ordnung    prognostisch    machen.     Die  Anwendung  der 


Selbstanzeigen.  325 

„Regel"  auf  den  apriorischen  Ordnungstypus  der  Varianten  und  auf  ilir 
Verhältnis  zur  urspriin<i:lichen  Regclprognosis  ergiebt  allgemeine  Regel- 
begriffe  (Kategorien),  welche  (apriorische  Neubildungen)  die  Varianten  als 
Subordinaten  der  Regel  qualifizieren.  Sie  ergiebt  ferner  apriorische  Regel- 
bildungen, welche  mit  der  Erfahrung  dadurch  kontrastieren,  dass  sie  über 
die  Erfahrung  hinausgehend  das  All  der  Erfahrung  befassen,  (z.  B.  Kausal- 
und  Substantialgesetz).  Alle  Sonderregeln  sind  Analogien  und  Sub- 
ordinaten   der    „reinen  Regel",    wie   alle  „Örter"  Teile  des  „Raumes"  sind. 

III.  In  der  „Regel"  kennt  das  Subjekt  sein  ursprüngliches  Instrument 
(latentes  Zweckbewusstsein).  Es  fasst  dasselbe  apriori  als  „vollstcändig" 
(universal,  absolut  zureichend)  auf.  Der  Anwendung  der  ,,Regel"  („Logos") 
läuft  also  die  vor-logische  .,Tdee  der  Vollständigkeit'"  voraus.  Diese  Idee, 
übertragen  auf  die  Subordinaten  der  Regel,  erji^iebt  z.  B.  die  Idee  der 
ewigen  Zeit,  des  unendlichen  Raumes,  der  vollkommenen  (daher  trans- 
organischen) Erkenntnis  und  ihres  Objekts  (Ding  an  sich),  der  Originar- 
fJYei- lUrsache  im  Gegensatz  zur  Kategorie  der  (bewirkten)  Ursache, 
von  denen  die  letztere  auf  „Erscheinungen",  die  erstere  auf  das  ,.Ding  an 
sich"  anwendbar  ist. 

IV.  Das  ethische  Bewus.stsein  beruht  auf  der  Thatsache,  dass  die 
„Regel"  nicht  nur  Instrument  ist,  sondern  als  UniversaI-(Ideal-)Regel 
motorische  Kraft  äussert.  Das  Motiv  (causa  excitans)  der  Natur-Hand- 
lung ist  die  Neigung,  Instrument  ihrer  Befriedigung  (causa  dirigens)  ist  die 
Prognosis  der  Naturregel.  Das  Motiv  (c.  excitans)  der  ethischen  Hand- 
lung ist  die  Universalregel,  Erkenntnismittel  ihrer  Befolgung  (c.  dirigens) 
ist  die  ^fremde)  Neigung.  Die  durch  Selbstliebe  (Neigungsreflex)  gebundene 
motorische  Kraft  der  Universalregel  tritt  hervor  als  absoluter  Befehl  (kate- 
gorischer Imperativ),  ihr  gemäss  zu  handeln  („du  sollst").  Imperium  und 
Universalregel  sind  die  Elemente  des  Gesetzes  (Sittengrundgesetz).  Der 
Befehl  richtet  sich  an  das  Subjekt,  welches  den  Befehl  vernimmt  (ver- 
nünftiges Wesen),  und  macht  es  zur  Subordinate  (Unterthan)  der  Universal- 
regel. Da  jede  Universalregel  alle  Elemente  derselben  Gattung  trifft,  so 
macht  das  Gesetz  alle  vernünftigen  Wesen  zu  Unterthanen  und  stellt  sie 
gleich.  Durch  die  Instrumentalregel  (hypothetischer  Imperativ)  wird  die 
Kausalität  der  Subordinanden  (Erscheinungen)  nur  begriff en,  die  motorische 
Regel  hat  die  Tendenz,  die  Kausalität  der  Unterthanen  (mittelst  eben  dieser 
Kausalität^i  zu  regulieren,  d.  h.  den  Widerstreit  der  Neigung.skausalität 
zu  kompensieren,  die  Harmonie  der  Neigungen  herbeizuführen.  Die  dem 
vollzogenen  Gesetz  entsprechende  prognostische  Ordnung  heisst  „sittliche 
Weltordnung".  Das  Gesetz  ist  hier  Urgrund  einer  naturfremden  (idealen) 
Erscheinungs-Ordnung,  daher  Originar-Causa;  das  Subjekt,  sofern  ihm  diese 
Frei-Kausalität  angehört,  ist  Ding  an  sich.  Aus  der  Forderung:  (Petitio)  des 
Gesetzes  lassen  sich  diejenigen  Verheissungen  (Sponsa)  und  Garantien  iDicta) 
ableiten,  welche  notwendig  sind,  das  Gesetz  —  den  Urgrund  der  Erkenntnis 
des  Gerechtfertigten  —  selbst  als  gerechtfertigt  zu  erkennen  (ratio 
justificationisi,  nämlich:  ethische  Freiheit,  höchstes  Gut,  unsterbliche  Seele, 
Dasein  Gottes. 

Essen  (Ruhr). 

E.  Marcus. 


:\'2a  Si'Utstanzeigcn. 

Petronievics,  Bniuislav.  1)it  Satz  vom  (5  runde.  Kinc  lo^ischo 
Unteisiii-hun';.     Li'ip/i^fr   Hiss.     Belgrad  INDS. 

Das  wenig  bo.irbeitoto  Problem  des  Satzes  vimii  (iniiulc  liildi  t  das 
Thema  meiner  Arbeit.  iKii  Irt/ti'ii  Au.s^anj:;si)unkl  der  Arbeit  liildct  Ivant, 
der  in  seiner  epocliemaehendeu  Sclnilt  „Versuch,  den  Ee^^riff  der  negativen 
Grössen  in  die  AVeltweisheit  einzuführen"  den  alten  Rationalismus  im 
Prin/ip  angegriffen,  indem  er  klar  den  von  diesem  verkannten  Unterschied 
des  positiv-kontradiktorischen  von  dem  negativ-kontradiktorischen  Verhältnis 
zweier  Begriffe  darlegte.  Kant  blieb  aber  der  innere  Zusammenhang  dieser 
beiden  Verhältnisse  verschlossen,  und  so  erklärte  er  mit  dem  Rationalismus 
nur  den  letzteren  für  logisch  (logische  Opposition),  den  ersteren  aber  für 
alogisch  (reale  Opposition).  Ich  zeige  nun,  dass  das  negativ-kontradiktorische 
Verhältnis  aus  dem  positiv-kontradiktorischen  deduzierbar  ist,  dass  dieses 
letztere  dem  ersteren  gegenüber  primär  ist,  wodurch  der  Rationalismus, 
wenigstens  von  dieser  Seite  her,  wieder  lebensfähig  geworden  ist.  Ich 
zeige  weiter,  dass  sich  der  Unterschied  dieser  beiden  Verhältnisse  auf  den 
Unterschied  des  Widerspruchs-  und  des  Identitätssatzes  zurückführt  (was 
Kant  nicht  bemerkt  hat),  indem  ich  zeige,  dass  der  Widerspruchssatz  ein 
synthetisches,  der  Identitätssatz  ein  analytisches  Urteil  a  priori  ist.  (Den 
Unterschied  analj^ti&cher  und  .synthetischer  Urteile  formuliere  ich  anders  als 
Kant,  obgleich,  wie  mir  scheint,  im  Geiste  Kants;  diese  Unterscheidung 
hängt  mit  meiner  dabei  skizzierten  Urteilstheorie  zusammen.)  Das  Resultat 
dieses  ersten  Teils  meiner  Arbeit,  in  dem  das  Verhältnis  des  Satzes  vom 
Grunde  zu  den  übrigen  Denkgesetzen  untersucht  wird,  ist,  dass  der  Satz 
des  Widerspriichs  das  einzige  inhaltliche  Grundgesetz  des  Denkens  ist,  dem 
der  Satz  vom  Grunde  als  das  einzige  formale  Denkgesetz  gegenübersteht, 
und  dass  diese  beiden  Sätze  die  beiden  Seiten  des  obersten  Denkprinzips, 
des  Beziehungsprinzips,  sind.  Der  zweite,  spezielle  Teil  prüft  zunächst  die 
Unterscheidungsgründe  zwischen  dem  sogenannten  Real-  und  Erkenntnis- 
grimd  (diesen  Unterschied  hat  bekanntlich  Kant  in  der  obenerwähnten  Schrift 
gemacht)  nud  weist  nach,  dass  nur  derjenige  triftig  wäre,  der  dem  Denken 
die  Fähigkeit  abspricht,  das  innere  Verknüpfungsband  zwischen  Grund  und 
Folge  anzugeben.  Ich  zeige  nun  weiter,  dass  dieses  Verknüpfungsband  in 
derXegationsbeziehung  liegt,  wobei  ich  mich  aufdas  Notwendigste  beschränkt 
habe,  weil  man  son.st  tief  in  die  Metaphysik  hineingehen  müsste.  Der 
Hauptpunkt  meiner  Arbeit  liegt  in  dem  weiteren  Nachweis,  das  sowohl  das 
Bedingt-  als  das  Unbedingtnotwendige  (Aussen-  und  Selbstgrund),  diese 
beiden  Arten  der  Begründung,  aus  dem  Negationsprinzip,  so  wie  ich  es 
Kant  entgegen  auffasse,  hervorgehen,  dass  weder  in  dem  Bedingt-Notwendigen 
allein  (Schopenhauer)  noch  in  dem  Unbedingt-Notwendigen  allein  (Kant) 
das  Notwendige  zu  suchen  ist.  Aus  dem  so  bewährten  Negationsprinzii^  sind 
nun  weiter  alle  die  möglichen  Abhängigkeits-  (und  zugleich  Negations-) 
arten  deduziert,  und  das  Schema  derselben  am  Ende  der  Abhandlung  spricht 
durch  jene  wunderbare  Architektonik  für  seine  innere  Wahrheit  und  dadurch 
für  die  Wahrheit  aller  meiner  Ausführungen  überhaupt.  In  dem  Anhang 
ist  das  Verhältnis  des  Satzes  vom  Grunde  zu  dem  Zweck-,  Evolutions- 
und Substanzprinzip  beleuchtet,  wobei  ich  besonderen  Wert  auf  meine  Ver- 
söhnung des  Zweck-  und  des  Kausalprinzips  lege. 

Belgrad.  Dr.  Branislav   Petronievics. 


Selbstanzeigen.  —  Litteratuibericht.  327 

Staudinger,  F.  Ethik  und  Politik.  Berlin.  Dümmler,  1899.  (162  S.) 
Die  Absicht  der  Arbeit  ist,  die  im  politischen  Leben  heute  waltenden 
Triebkräfte  zu  skizzieren  und  am  Mass.stabe  wissenschaftlich  -  ethischer 
Prinzipien  auf  ihre  Berechtigung  zu  prüfen.  Dabei  kommt  sie  zu  dem  Ziel, 
dass  der  christliche  Grundgedanke  von  der  Einheit  des  Reiches  Gottes,  der 
Kantische  Grundgedanke  von  der  Einheit  der  Zwecke  und  der  sozialistische 
Grundgedanke  einer  zielbewusst  geordneten  Gemeinschaft  freier  Menschen 
im  "Wesentlichen  derselbe  sei.  Die  volle  Konsequenz  aber  wird  letzterer 
Gedanke  erst  erlangen,  wenn  das  Prinzip  einheitlichen  Erkennens  und  ein- 
heitlichen vernünftigen  "Wollens  selbstbewusst  dem  praktischen  Streben 
zu  Grunde  gelegt,  und  so  der  Marxismus  durch  die  haltbaren  Grund- 
prinzipien von  Kants  Lehre  ergänzt  wird.  In  letzterer  Hinsicht 
schliesst  sich  das  Bucli  in  wesentlichen  Gesichtspunkten  an  Cohen, 
Natorp,  Stammler  an.  (NB.  wird  eine  irrige  Behauptung,  die  in  einer 
früheren  Kritik  in  dieser  Ztschr.  I,  122  ff.  über  letzteren  ausgesprochen  war^ 
berichtigt).  Dagegen  lehnt  es  die  Ableitung  der  I]thik  aus  „reiner'  Ver- 
nunft ohne  Vermittelung  thatsächlicher  Zwecke  und  Zweckzusammenhänge 
ab.  Der  1.  Theil  (8.  1—81)  giebt  die  theoreti.schen  Grundlagen,  den  Unter- 
schied kausaler  und  funktioneller  Gesetze,  die  Analyse  des  Zweckes  und 
der  Zweckverbindungen,  sowie  die  Ideale  und  Mängel,  die  sich  daraus  ent- 
wickeln. Der  2.  Teil  (S.  82— 156j  wendet  die  Ergebnisse  auf  die  soziale  und 
politische  Praxis  an.  Die  Kntik  der  gegebenen  Ordnung  nach  dem  sitt- 
lichen Massstabe  und  die  Fortbildung  dieser  Ordnung  nach  dem  sittlichen 
Ziele  hin  heisst  Politik.  Die  Politik  der  verschiedenen  rückbildenden  und 
vorschreitenden  Parteirichtungen  wird  besprochen,  und  dann  im  Schlüsse 
das  Ziel  in  oben  angegebener  Weise  zusammengefasst. 

"Worms.  F.  Staudinger. 


LitteraturbericM. 

Von  Fritz  M  e  d  i  c  u  s  in  Halle  a.  S. 


Falckenberg.  Richard.  Hilfsbuch  zur  Geschichte  der  Philo- 
sophie seit  Kant.     Leipzig,  Veit.  1899.     (68  S.) 

Falckenberg  giebt  in  knapper  Form  eine  ansprechend  geschriebene 
Übersicht  über  die  Geschichte  der  neuesten  deutschen  Philosophie  von 
ihren  in  den  Lehren  Kants  vorliegenden  Wurzeln  bis  auf  unsere  Tage,  d.  li. 
bis  auf  E.  von  Hartmann  und  Friedrich  Nietzsche.  Die  schwere  Aufgabe, 
in  möglichst  enge  Grenzen  einen  viel  umfassenden  Stoff  zu  bannen,  hat  hier 
eine  Bearbeitung  gefunden,  die  sich  gleich  sehr  nach  der  fornuilen  Seite 
durch  glatte  und  elegante  Darstellung,  glücklich  gewählte  Beispiele, 
treffende  und  oft  auch  durch  ihre  Originalität  mnemotechni.sch  vorteilhafte 
Vergleiche,  wie  nach  der  inhaltlichen  durch  feinsinnige  Durchdringung  des 


328  Littoraturln'iiclit. 

Stoffes  auszeichnot.  \vii>  wir  sio  von  dein  Verfasser  bereits  L^ewolmt  waren.  — 
Mehr  als  ein  Drittel,  fast  die  liiilfte  des  Hüclileins  niiunit  das  erste,  der 
Philosophie  Kants  gewidmete  Ivapitel  in  Aiis|inicli.  Ks  /erfäilt  in  di(>  Ab- 
schnitte theoretische  Philosophie,  praktische  Philosojihie.  Ileligionspliilosophio 
nnd  Kritik  der  Urteilskraft,  t'berall  stellt  es  sich  dar  als  die  (^»iiintessenz 
einer  tiefL^'ehenden  Anffassnnj:;  der  Kantischen   Philosophie. 

Ludwicll,  Arthur.  Kants  Strlluni;  zum  (J  riec  h  en  t  um.  iieilago 
zum  Vorlesungsverzeichnis  der  Universität  Königsberg  für  das  W'inter- 
i^emester  1899/1900.     Königsberg,  Härtung.   18i)9.     (!)  S.) 

Die  zur  akademischen  Feier  von  Kants  Cit^burtstag  in  Königsberg  ge- 
haltene Festrede  „Kants  Stellung  zum  Griechentum"  (vgl.  KSt.  IV,  1, 
8.  136)  von  Professor  Dr.  Arthur  Ludwich  liegt  nunmehr  als  Universitäts- 
schrift im  Druck  vor.  Der  fesselnde  Vortrag  schildert  zunächst,  mit  welcher 
Energie  im  CoUegium  Fridericianum  das  Studium  der  klassischen  Sprachen 
betrieben  wurde:  die  Hälfte  sämtlicher  Unterrichtsstunden  war  dem 
Lateinischen  gewidmet,  ausserdem  wöchentlich  5  Stunden  in  den  oberen 
Klassen  dem  Griechischen.  Letzteres  war  freilich  kaum  uu'hr  als  eine 
ancilla  theologiae:  der  Unterricht  zielte  fast  ausschliesslich  auf  die  Lektüre 
und  das  Verständnis  des  Neuen  Testaments.  „Dass  die  damaligenFridericianer 
in  die  unvergänglichen  Schöpfungen  eines  Homer  oder  Sophokles  einge- 
weiht worden  wären,  davon  verlautet  nicht  das  Geringste"  (3).  So  wird 
es  ver-ständlich,  dass  Kant,  dem  die  römische  Litteratur  „ein  innerlich 
befestigter,  von  Jugend  auf  liebevoll  gehegter,  wahrhaft  lebendiger  Besitz 
geworden  war"  (3),  dem  Griechentum  doch  stets  fremd  geblieben  ist.  Zwar 
bildet  er  seine  Termini  gerne  aus  griechischen  Sprachelementen;  er  lässt 
sich  sogar  hie  und  da  auf  griechische  Etymologie  ein:  aber  auf  beiden 
Gebieten  passieren  ihm  Verstösse,  die  der  Philologe  rügen  muss.  Das  „ar- 
gumentum y.aj  ('<y,'hno7ii((i'''  uud  die  „Heautonomie"  sind  Belege  für  miss- 
glückte Termini,  die  Erklärung  von  y.öy:^  ounui  aus  dem  Tibetanischen  (in 
der  Schrift  „zum  ewigen  Frieden")  ist  ein  solcher  für  eine  verfehlte  Ety- 
mologie. —  Nach  Jachmann  hatte  Kant  „die  ganze  klassische  Litteratur  der 
Griechen  und  Eömer  vollkommen  inne".  Ludwich  beweist  klar,  wie  wenig 
davon  die  Eede  sein  kann.  Charakteristisch  ist,  dass  Kant  wörtlich  nur 
römische,  nie  griechische  Autoren  citiert.  Das  zeigt  einerseits,  dass  Kant 
seinen  Citatenschatz  im  Kopfe  trug:  denn  „wäre  er  gewohnt  gewesen,  seine 
Citate  abzuschreiben,  so  würden  wir  sicherlich  neben  den  vielen  lateinischen 
auch  hin  und  wieder  ein  griechisches  lesen"  (5).  Andererseits  aber  zeigt  es, 
mit  wie  ungleichem  Interesse  Kant  den  beiden  Sprachen  gegenüberstand. 
Dafür  lassen  sich  noch  manche  Belege  beibringen:  so  die  lateinischen  Citate 
griechischer  Sentenzen,  oder  das  Ignorieren  der  griechischen  Nachrichten 
über  den  Ätna  in  der  „physischen  Geographie".  —  Feinsinnig  findet  Ludwich 
in  Kants  Eeichtum  des  eigenen  Gedankenlebens  den  Schlüssel  zum  Ver- 
ständnis seines  Mangels  an  historisch-philologischer  Begabung.  So  erklärt 
es  sich,  dass  er  nur  „ausnahmsweise  das  Bedürfnis  fühlt,  den  Blick  rück- 
wärts auf  geistige  Vorgänge  des  klassischen  Altertums  zu  richten"  (wo  es 
dann  in  erster  Linie  die  Eömer  und  nicht  die  Griechen  sind,  die  ihn 
interessieren),  und  dass  „er,  dem  der  Kritizismus  zum  eigentlichen  Leitstern 


Litteraturberieht.  329 

«eines  geistigen  Lebens  geworden  war,  für  die  historische  Kritik  so  gut 
■w-ie  nichts  übrig  hat"  (7/8).  80  erklärt  es  sich  auch,  dass  ihm  das  griechische 
Schönheitsideal  fremd  blieb,  ^dass  ein  Vergleich  zwischen  Homer  nnd 
Vergil  zu  Gunsten  des  letzteren  ausschlägt,  und  dass  nach  Albrecht  von 
Haller,  den  Kant  um  1765  .den  erhabensten  unter  den  deutschen  Dichtern' 
nennt,  kein  anderer  —  kein  Goethe,  kein  Schiller  einen  entsprechenden 
Wiederhall  in  seiner  Seele  geweckt  hat"  (8). 

Wyneken,  G.  A.  Kants  Piatonismus.  ,,Monatshefte  der  Comenius- 
Gesellschaft- .   Is'.i'.i.   Heft  3  u.  4.     uS.   101—119.) 

Paulsen  hat  in  seiner  Kantmonographie  vom  Piatonismus  des 
Königsbergers  gesprochen.  Hieran  anknüpfend  unterninunt  es  AVyneken, 
■die  Beziehungen  zwischen  Kant  und  Platou  im  Einzelnen  klar  zu  legen. 
Der  Verf.  ist  bereits  als  Hegelianer  bekannt  (vgl.  die  Selbstanzeige  „Kant- 
studien" 111.  JIS).  .\ls  solcher  zeigt  er  sich  auch  in  der  vorliegenden  Ab- 
handlung. Kant  hat  nach  ihm  die  Bedeutung,  „das  Denken  persönlich 
gemacht"  und  damit  die  Philosophie  „angebahnt"  zu  haben,  nach  der  „alles 
Geschichte  ist,  nämlich  derp]ntwicklungsgang  des  sich  selbst  verwirklichenden 
Ich  oder  Geistes"  (118).  „Man  kann  sich  bei  ihm  [sc.  Kant]  nicht  beruhigen, 
und  kein  Denker  hat  es  gekonnt,  die  Geschichte  beweist  es.  Die  gesamte 
protestantische  Philosophie  der  Neuzeit  stammt  ohne  Ausnahme  von  ihm 
ab,  denn  gewaltig  war  die  Kraft,  mit  der  er  Bresche  schlug.  Aber  überall 
trägt  seine  Schöpfung  das  Kennzeichen  des  Provisorischen;  sie  ist  sozusagen 
die  verkörperte  Idee  des  Anfanges,  des  Vorläufigeii  in  der  Philosophie,  und 
gerade  darin  besteht  ihr  bleibender  Wert;  und  infolgedessen  erreichte  er 
gerade  das  Gegenteil  von  dem,  was  er  beabsichtigte:  er  wurde  der  Aolus, 
der  die  Stürme  entfesseln  musste,  die  er  hüten  wollte"  (116).  Das  ist 
Wynekens  Standpunkt,  von  dem  aus  in  der  Abhandlung  Kants  Ansichten 
über  folgende  Themata  in  Hinsicht  auf  ihren  Piatonismus  untersucht  werden: 
Zunächst  die  Methode,  die  durch  Hegel  „eine  ziemlich  mustergiltige  Dar- 
stellung und  Kritik  erfahren"  habe  (102);  dann  die  Kausalitätstheorie 
bes.  in  ihrer  Bedeutung  für  die  intelligible  Welt,  dabei  wird  der  Jacobi'sche 
Einwurf  zurückgewiesen  (103);  hierauf  der  Zusammenhang  zwischen  Sitt en- 
gesetz und  Erscheinungswelt  mit  Berücksichtigung  auch  vieler  anderer 
Denker  (104  ff.).  Dieses  Thema  beherrscht  die  nun  folgenden  Ausführungen: 
die  Lehre  vom  radikalen  Bösen  und  im  Anschluss  daran  vom  intelli- 
giblen  Charakter  (106  ff.).  Die  Schwierigkeiten,  die  in  Bezug  auf  die 
letztere  Theorie  Kants  aufgedeckt  werden,  sind  vielleicht  der  interessanteste 
Teil  «Irs  Aufsatzes.  Freilich  treten  auch  hier  bald  die  für  den  Hegelianer 
unvermeidlichen  Begriffsquälereien  (bes.  S.  107  an  dem  Begriffspaar:  konkret- 
abstrakt) störend  dazwischen.  Es  folgen  Betrachtungen  über  Kausalität 
und  Freiheit  und  ihre  Verbindung  durch  die  Urteilskraft  (deren  Pla- 
tonisches Gegenstück  W^-neken  im  Eros  sieht)  (111).  Hieran  anschliessend 
wird  auch  Schillers  Ästhetik,  jedoch  kaum  gerecht,  beurteilt  (111/112). 
Ausführlich  geht  sodann  der  Verf.  ein  auf  den  „grossen  Gedankengang  über 
das  höchste  Gut"  (112  ff.),  der  Kants  Ethik  gegen  Weltflucht  .schütze. 
.„Bei  Piaton  liegt  das  summum  bonum  als  Grund  in  der  Vergangenheit,  bei 
Kant  als  Zweck  in  der  Zukunft"  (115).  Zum  Schluss  folgt  noch  ein  „kurzer 
Kantstudieu  IV.  22 


330  LittoraturhiM-icht. 

systematischer  Überblick  über  das  Gemeiiisamo  uinl  VerscliiecUiu'  beider 
SYsteine"  mit  geschiclitsphiloso]>hisclien  Er\v;ii;iiim:en  über  dii'  Be/iehiinfi;en 
geistiger  Verwandtschaft  zwisclien  lU'r  indisclu-n  J'liihisoplüe,  derPhitoniscliea 
uml  der  Kantisclirn,  in  welcli  U't/.terrr  thr  \\'\(.  „die  -i-iiH'ins.iinc  (Innid 
läge  der  nachfolgenden  klassischen  germaniscliin  l'hiloso])lii("  frhlickt. 
8.  117/1  IS  werden  diese  Be/.iehinigen  in  allerdings  scliüchterner  und  fast 
versteckter  "Weise  in  das  etwas  modernisierte  dialektische  Schema  Hegels- 
hineingedeutet. 

Frommel,  Otto.  Das  Verhältnis  von  mechanischer  und  teleo- 
logischer Naturerklärung  bei  Kant  und  Lotze.  Diss.  Erlangen,. 
1898.     (68  S.) 

Die  vorliegende  Arbeit  bezweckt  nicht  bloss  eine  Darstellung  dessen 
zu  geben,  was  ihr  Titel  ausspricht,  sondern  zugleich  in  vornehmlich  apolo- 
getischer Tendenz  die  Endergebnisse  zu  prüfen,  die  die  beiden  Philosophen 
in  wesentlicher  Übereinstinnnnng  mit  einander  aus  der  Enirterung  dieser 
naturwissenschaftlich-methodologischen  Frage  gezogen  haben.  Auf  eine 
kurze  Einleitung  folgt  im  ersten  Kapitel  (11 — 29)  die  Darlegung  der  Theorie' 
Kants;  im  zweiten  (29 — 66)  die  der  Theorie  Lotzes,  woran  sich  im  letzten 
Kapitel  (B6 — 68)  die  kritische  Beurteilung  mit  den  Schlussfolgerungen  über 
das  Verhältnis  von  Philosophie  und  Naturwissenschaft  anschliesst.  —  Der 
Verf.  ist  in  feinsinniger  Weise  den  von  seinen  beiden  Autoren  einge- 
schlagenen Gedankengängen  gefolgt.  Mit  Eecht  erkennt  er  (21)  in  dem. 
Kantischen  „als  ob"  dasjenige  Problem,  von  dessen  richtigem  Verständnis- 
alles abhängt.  Dass  er  selbst  die  richtige  Interpretation  gefunden  hat, 
zeigen  seine  Ausführungen.  „Nicht  dass  die  Natur,  sondern  nur  dass  wir 
vermöge  unserer  Organisation  mit  dem  Mechanismus  nicht  ausreichen,, 
bekennen  wir,  wenn  wir  behaupten,  dass  der  Netoton  des  Grashalms  weder 
gefunden  worden,  noch  jemals  gefunden  w^erden  wird"  (22).  „Was  anderes- 
als  diese  unsre  subjektive  Schranke  sprechen  wir  zunächst  nicht  aus,  wenn 
wir  .sagen,  dass  wir  neben  der  mechanischen  die  teleologische  Erklärung 
brauchen  —  näher,  richtiger:  dass  wir  zur  Ergänzung  der  für  uns  nie 
voD  ständig  möglichen  mechanischen  Erklärung  die  teleologische 
Eeflexion  hinzunehmen  müssen"  (23).  „Kant  sagt  nicht:  es  muss  eine 
andere  Kausalität  als  diejenige  der  uns  bekannten  physischen  Bewegungs- 
ursachen (Natiu-kräfte)  angenommen  werden,  sondern  .  .  . :  das  Wirken  dieser 
Naturursachen  muss  so  gedacht  werden,  „als  ob"  dieselben  durch  ein  vernünf- 
tiges Prinzip  (näher  durch  die  Rücksicht  auf  den  zweckmässigen  Aufbau 
des  Organismus)  in  Bewegung  gesetzt  würden"  (24).  Am  Schluss  dieses 
Abschnittes  (28/9)  wird  die  Bedeutung  des  moralischen  Bewusstseins  für 
diese  Theorie  gebührend  hervorgehoben.  „In  der  Ethikoteleologie  und  dem 
auf  ihr  beruhenden  praktischen  Vernunftglauben  (Ethikotheologie)  allein, 
findet  die  natürliche  Zwecklehre  wie  ihren  Abschluss  so  ihre  Begründung" 
(29).  —  Kant  hat  nun,  wie  ihm  Lotze  vorwirft  (31),  in  seiner  Theorie  des- 
Organismus  die  Einheithchkeit  der  Naturauffassung  durchbrochen,  indem 
er  hier  die  teleologische  Betrachtung  eintreten  lässt,  während  er  die 
anorganische  Natur  als  das  rein  mechanische  Resultat  von  Kombinationen 
einer  leblosen  Materie  verstehen  zu  können  glaubt.    Diesem  „unmethodischen 


Litteratiirbericht.  3:5 1 

.Sprung"  gegenüber  erklärt  Lotze  einerseits  den  Mechanismus  für  „aus- 
nahmslos universell  im  Bau  der  Welt",  andrerseits  aber  vertieft  er  den 
Begriff  des  Mechanischen  überhaupt  im  Sinne  seiner  idealistischen  Metaphysik. 
Teleologie  und  Mechanismus  sind  durchaus  gleichnotwendige  Betrachtungs- 
weisen für  denselben  Kosmos  in  allen  seinen  Teilen:  „ideale  Deutung 
und  kausale  Erklärung  der  Natur  schliessen  sich  nicht  aus,  sondern 
ein"  (65).  Lotzes  Lehre  vertritt  diesen  Satz  reiner  als  die  Kantische.  Jedoch 
macht  Frommel  sehr  richtig  darauf  aufmerksam,  dass  das  Prinzip  dieser 
konseciuenteren  Durchführung,  nämlich  die  vertiefte  Auffassung  des  Kausal- 
verhältnisses, bereits  von  Kant  ausgesprochen  war  (23  und  27  f.,  sowie  60; 
an  letzterer  Stelle  im  Anschluss  an  Paulsen).  Immerhin  hätte  diese  Frage 
wohl  eine  eingehendere  Untersuchung  verdient.  Die  Kr.  d.  U.  enthält  noch 
manchen  hier  unbenutzt  gebliebenen  Gedanken.  Es  hätte  sich  bei  deren 
genauerer  Betrachtung  die  Frage  gestellt,  ob  nicht  gerade  vom  methodo- 
logischen Standpunkt  jener  ^unmethodische  Sprung"  gerechtfertigt  ist  als 
der  Ausdruck  kritischer  Zurückhaltung  in  einer  Frage,  in  der  Lotze 
dogmatisch  eine  „feste  metaphysische  Grundlage"  (61)  zu  haben  wähnt. 
Nach  der  Ansicht  des  Referenten  ist  Kants  Behandlung  dieser  Frage 
konsequenter  als  Frommel  glaubt.  Denn  man  wird  sie  unter  folgendem 
Gesichtspunkt  betrachten  müssen:  Die  regulative,  methodologisch-notwendige 
Metaphysik  erlaubt  die  teleologische  Betrachtung  erst  von  da  an,  wo  mit 
Mechanismus  nicht  mehr  auszukommen  ist,  also  nur  für  die  organische 
Natur.  "Wollte  man  aber  glauben,  hiermit  die  reale  Tragweite  jenes 
objektiven  metaphj'sischen  Prinzips,  für  das  wir  nur  den  subjektiven  Grenz- 
begriff „Zweckmässigkeit"  haben,  ausgemessen  zu  haben,  so  würde  man 
ein  höchst  seltsames  dualistisches  Weltbild  erhalten.  Da  nun  eine  regulative 
Maxime  gar  nicht  den  Anspruch  erhebt,  die  umfassende  Formel  für  die 
metaphysischen  Beziehungen  überhaupt  zu  sein,  so  ist  es  zwar  kein  metho- 
dologisch-notwendiger Gesichtspunkt  mehr,  aber  eine  „erlaubte 
Hypothese":  eine  „allgemeine  Verbindung  der  mechanischen  Gesetze 
mit  den  teleologischen  zu  denken".  Bes.  §  78  der  Kr.  d.  TJ.,  dem  auch  die 
citierten  Worte  entnommen  sind,  legt  diese  Auffassung  mindestens  sehr 
nahe,  bei  der  offenbar  die  methodologi.schen  Schwierigkeiten  schwinden.  — 
Noch  sei  das  vortreffliche  Wort  erwähnt,  in  dem  Frommel  in  schlagender 
Kürze  ausspricht,  wie  sich  Lotzes  Teleologie  zu  der  Kants  verhält,  und  was 
für  beide  charakteristisch  ist:  „Was  sie  beide  wollten,  war  eine  idealistische 
Weltansicht  auf  realistischer  Basis.  Dass  diese  Synthese  möglich 
ist,  hat  Lotze  mit  der  geschulten  Kraft  des  modernen  Forschers  und  dem 
zusammenschauenden  Blick  des  Künstlers  um  vieles  reicher  und  schöner, 
aber  doch  wohl  nicht  wesentlich  tiefer  zum  Ausdruck  gebracht  als  der  vor- 
sichtige Kritiker  der  reinen  Vernunft"  (64). 

Salits.  P.  Darstellung  und  Kritik  der  Ivantischen  Lehre  von 
der  Willensfreiheit  mit  einem  geschichtlichen  Rückblick  auf 
das  Freiheitsproblem.   Rostock,   Druck  von  Adlers  Erben.  1898.    (195  S.') 

Auf  eine  kurze  Einleitung  folgt  ein  Kapitel  „Determinismus  und 
Indeterminismus'';  es  giebt  die  Darlegung  dieser  beiden  Standpunkte 
(6—19).     Hieran  schliesst  sich  der  „geschichtliche  Rückblick"  (20  — 118).  der 

22* 


;^;V2  I.itttMJiturhoriclit 

tlas  Freiheitsproblom  in  seiner  Entwicklunp;  von  llonier  his  aiil  Kant  ver- 
fi)lgt.  Von  S.  11;)  an  beschiifti<>;t  sicli  <lif  Schrift  mit  „ivants  Lehre  von 
der  Freiheit'*.  —  Salits  bej^innt  diesen  Abschnitt  mit  einer  kurzen  Über- 
sicht über  die  Kr.  d.  r.  V.  bis  zn  den  Antinomien.  Die  3.  Antinomie 
giebt  die  Gele^eidieit,  /um  eigentlichen  Thema  überzugehen  (128).  Kants 
Beweise  für  die  Antinomien  hiüt  der  Verf.  im  Anschluss  an  Erliardt  nicht 
für  sticlihaltig;  docli  ü;eht  er  niclit  näher  auf  sie  ein,  sondern  untersucht, 
wie  sich  das  Antinomieuproblem  im  Rahmen  der  Kantischen  Philosophie 
des  Weiteren  gestaltet.  Er  zeigt,  in  welcher  Weise  Kant  die  Lösung  des 
Widerstreites  giebt.  Gegen  diejenigen,  die  die  Annahme  von  zwei  Ursachen 
desselben  Vorganges,  einer  intelligiblen  und  einer  em])irischen,  bei  Kant 
haben  finden  wollen  (v.  Kirchm.ann,  v.  Hartmann  u.  a.)  macht  er  sehr 
richtig  geltend,  dass  es  sich  nur  um  zwei  Betrachtungsarten  handelt  (148). 
S.  156  wendet  sich  Salits  zur  Kr.  d.  pr.  V.  ,,Der  Unterschied  ist  eigentlich 
nur  der,  dass  in  der  Kr.  d.  r.  V.  Kant  die  Lehre  von  der  Freiheit,  aus- 
gehend von  den  Antinomien,  als  ein  kosmologisches  Problem  behandelt, 
hier  dagegen,  aiisgehend  von  den  Thatsachen  des  sittlichen  Bewusstseins, 
mit  Rücksicht  und  Beziehung  auf  das  Sittengesetz"  (156).  Beidemale  löst 
Kant  das  Problem  „durch  Unterscheidung  zwischen  Dingen  an  sich  und 
Ei'scheinungen  und  vindiziert  [er]  den  ersteren  Freiheit  und  den  letzteren 
Naturnotwendigkeit"  (158).  Doch  seien,  meint  Salits,  die  Schwierigkeiten 
nicht  beseitigt,  die  sich  ergeben,  wenn  man  mit  Kant  Gott  als  den 
Schöpfer  der  Noumena  annimmt.  Kant  behauptet,  weil  Gott  nur  die 
Noumena,  nicht  aber  die  Phänomena  geschaffen  habe,  sei  Gott  nicht  Ursache 
der  Handlungen  in  der  Sinnenwelt.  Nach  Salits  ist  diese  Argumentation 
hinfällig,  da  ja  die  sinnlichen  Handlungen  ihren  Grund  im  intelligiblen 
Charakter  haben;  folglich  sei  in  letzter  Hinsicht  doch  Gott  Ursache  aller 
Handlungen,  und  die  Freiheit  sei  mithin  vernichtet  (158 — 160).  Ohne  nun 
die  Kantische  Theorie  zur  meinigen  machen  zu  wollen,  mochte  ich  hier 
doch  darauf  hinweisen,  dass  Kant  m.  E.  diesem  Einwand  dadurch  im 
voraus  begegnet  ist,  dass  er  die  intelligible  Welt  für  eine  Welt  der  Frei- 
heit erklärt  hat:  Kant  denkt  sich  die  Schöpfung  als  eine  Schöpfung  freier 
Wesen,  deren  jedes  sich  seinen  Charakter  selbst  giebt.  Salits  citiert  nun 
(163)  selbst  eine  Stelle,  in  der  Kant  dies  aiisspricht,  jedoch  nur,  um  an 
sie  die  Frage  anzuknüpfen:  „Woher  weiss  aber  Kant,  dass  dem  so  ist?" 
(164).  Nun,  als  Wissen  hat  Kant  seine  Eeligionsmetaphysik  auch  nicht 
ausgegeben.  Er  hat  sie  sich  zur  Erklärung  der  Thatsachen  des  sittlichen 
Bewusstseins  konstruiert  als  eine  von  ihm  für  widerspruchslos  gehaltene 
metaphysische  Theorie,  und,  so  viel  ich  sehe,  enthält  sie  wenigstens  die 
Widersprüche  nicht,  die  S.  in  ihr  finden  will.  Die  Anwendung  der  reinen 
Verstandesbegriffe  auf  eine  unräumliche  und  unzeitliche  (nicht  „vorzeit- 
liche" 163)  That  ist  auch  kein  Gegenstand  eines  stichhaltigen  Einwandes, 
wie  Sahts  zu  meinen  scheint  (164).  Wie  sollen  denn  Noumena  gedacht 
werden  —  und  eine  metaphysische  Theorie  muss  sie  denken  —  ohne  die 
Denkformen?  Der  Verf.  begeht  den  seit  Jacobi  und  Aenesidem  in  der 
Kantlitteratur  endemischen  Fehler  der  Verwechslung  von  Kategorien 
(reinen  Verstandesbegriffen)  mit  Grundsätzen  (Regeln  der  Anwendung 
jener  reinen  Kategorien  auf   räumlich-zeitliche  Objekte).  —  Ferner  soll  die 


Litteraturbericht.  333 

Lehre  von  der  intellip:iblen  That  mit  „dem  stolz  gebietenden  kategorischen 
Imperativ"  in  Widt-rspriuh  stehen.  Dieser  soll  seine  Bedeutung  verüeren, 
„wenn  die  Handlungen  notwendige  Wirkungen  des  empirischen  Charakters 
sind,  der  wiederum  von  dem  intelligiblen  abhängig  ist"  (167).  Mit  gleichem 
Recht  Hesse  sich  fragen,  welche  Bedeutung  die  logischen  Normen  hätten, 
da  ja  unser  Denken  doch  nicht  nach  logisclien,  sondern  stets  nach  psycho- 
logischen Gesetzen  vor  sich  geht. 

S.  170  wendet  sich  der  Verf.  zu  einem  anderen  Thema,  zur  Frage,  ob 
der  Begriff  der  Freiheit  bei  Kant  überall  einheitlich  durchgeführt  sei.  Er 
verneint  die  Frage  und  beantwortet  sie  (im  Anschluss  an  Zange)  dahin, 
dass  in  der  „Grundlegung  z.  Met.  d.  Sitten"  ein  freier  "Wille  ein  Wille 
unter  sittlichen  Gesetzen  ist,  während  in  den  übrigen  Schriften  der  Begriff 
die  Freiheit  vom  Kausalgesetz  bedeute.  Dass  bei  Kant  der  Terminus  „frei" 
in  beiden  Bedeutungen  vorkommt,  ist  mir  nicht  zweifelhaft;  doch  glaube 
ich,  dass  diese  Vermengung  auch  innerhalb  der  einzelnen  Schriften  selbst 
statt  hat. 

Zum  Schluss  folgt  noch  (181  ff.)  eine  gedrängte  Beurteilung  der 
Kantischen  Freiheitslehre.  Zunächst  erhebt  Salits  die  Frage:  „Wie  kommt 
Kant  eigentlich  dazu,  ausserräumlichen  und  ausserzeitlichen  Dingen  an 
sich,  von  denen  man  nach  seiner  ausdrücklichen  Lehre  nichts  wissen  kann, 
noch  Freiheit  zu  vindizieren?!"'  (182.)  Die  Frage  erledigt  sich  in  analoger 
Weise  wie  die  S.  164  aufgeworfene  und  bereits  besprochene.  Dann  folgen 
Erörterungen  über  das  Ding  an  sich,  wobei  sich  der  Verf.  an  Liebmann 
anschliesst,  das  Ding  an  sich  also  überhaupt  verw-irft.  Hier  ist  es  natürhch 
dann  durchaus  konsequent,  wenn  er  erklärt,  dass  mit  dem  Ding  an  sich 
auch  der  intelligible  Charakter  wegfällt.  Weniger  konsequent  ist  es 
jedoch,  wenn  f  187/8)  der  Einwand  erhoben  wird,  Kant  mache  den 
empirischen  Menschen  für  das  verantwortlich,  was  der  intelligible 
Charakter  gethan  hat,  er  versäume  es  also,  die  Identität  des  Angeklagten 
und  des  Thäters  festzustellen.  Denn  hiergegen  brauche  ich  bloss  auf  das 
zu  verweisen,  was  Salits  selbst  40  Seiten  weiter  oben  gegen  jene  Kant- 
interpreten ausgeführt  hat,  die  die  empirische  Ursache  eines  Vorgangs  von 
der  transscendenten  trennen  und  zwei  Ursachen  statuieren  wollen. 

Interessant  sind  die  Hinweise  auf  Analogien  der  Kantischen  Lehre 
bei  Piaton  (188  f.  vgl.  34—44). 

Die  letzten  Seiten  bringen  in" der  Hauptsache  Rekapitulationen.  Ab- 
schliessend erklärt  der  Verf.  seine  Zustimmung  zu  Liebmanns  Ausführungen 
über  das  Freiheitsproblem. 

Bormann.  Walter.  Kantsche  Ethik  und  Occultismus.  Zwei 
Vorträge.  S.-A.  aus  den  „Beiträgen  zur  Grenzwissenschaft,  ihrem 
Ehrenpräsidenten  Dr.  Karl  Freiherrn  du  Prel  gewidmet  von  der  Gesellschaft 
für  wissenschafthche  Psychologie  zu  München".  Jena,  Costenoble,  1899. 
'S.  107—139.) 

Es  kann  nicht  geleugnet  werden,  und  es  ist  auch  in  dieser  Zeitschrift 
schon  mehrfach  ausgesprochen  worden,  dass  Kant  nicht  nur  zu  der  Zeit, 
als  er  den  Brief  an  Fräulein  von  Knobloch  schrieb,  eine  ge\\'isse  Zu- 
neigung zu   den  Swedenborgischen  Theorien  hegte,  sondern  dass    er    sich 


334  Littor.itnitu'rii'lit. 

diosflbo  aufh  diuoli  die  manrlu'rU'i  Uinkiii|mii,L;('ii  liindiircli  in  ilir  i'ciiodf 
des  Kritizismus  hinüborgerottet  hat.  Immer  wirdii-  wird  von  Zeit  /n  Zeit 
diese  Thatsache  zum  Gegonstaiul  eiiuM-  oinscitigoii  Tx  Iciiflitung  gematlit, 
und  Kant,  weuu  auch  nicht  gerade  als  N'orkämpfer  des  Spiritismus  gei'i'iert, 
so  docli  als  einer  von  denen  hingestellt,  die  im  (i eiste  der  „wissenschaft- 
liehen Psychologie"  gearbeitet  hahen.  Kants  kritische  t.ioxt,  lässt  ja  gar 
vielen  metaiihysischen  (die  Spiritisten  sagen  dafür  gernc^  „transsci-nden- 
talen")  Theorien  Raum;  auch  der  Occultismus  kann  sich  dort  einnisten. 
Und  das  thut  er  denn  auch  mit  grossem  Eifer.  Bei  der  Lektüre  solcher 
spiritistischen  Schriften  wie  der  Bormannschen  meint  man,  der  Occultismus 
sei  der  wahre  und  ächte  Thronerbe  Kants  und  besorge  /..  Z.  das  Zu-Ende- 
denl-en  von  dessen  Philosophie.  Wie  einst  Schopenhauer  über  <lic  l'hilo- 
sophie  seiner  Zeitgenossen  geklagt  hat,  so  klagt  Bormann  über  „das  Miss- 
verhältuis  der  heute  herrschenden  Philosophie  und  akademischen  Wissen- 
schaft zu  Kants  Geistesart"  (122);  und  wie  sich  einst  Schopenhauer  über 
die  Professorenphilosophie  der  Philosophieprofessoren  lustig  gemacht  liat, 
so  thut  es  heute  Bormann  im  Namen  des  Occultismus  (vgl.  bes.  139).  Seine 
vorliegenden  Ausführungen  nehmen  die  Kantische  Ethik  mit  Entschieden- 
heit in  Anspruch.  Den  Kern  der  Erörterungen  bildet  die  Identifikation 
der  intelligiblen  Welt  mit  dem  Occulten  (114  u.  ö.).  Gegen  AVundts  Ethik 
werden  vom  Standpunkt  des  Kantianismus  aus  energische  Angriffe  unter- 
nommen. Der  erste  der  beiden  Vorträge  hat  zum  Hauptthema  die  Identität 
der  Kantischen  Ethik  mit  den  spiritistischen  Theorien,  der  zweite  Kants 
eigene  Stellung  zum  Spiritismus;  ohne  dass  indessen  die  beiden  Themata 
streng  von  einander  geschieden  wären.  Im  zweiten  Vortrag  werden  übrigens 
nicht  nur  Kants  ethische  Schriften,  sondern  namentlich  auch  die  „Träume 
eines  Geistersehers  .  .  ."  einer  eingehenden  Diskussion  unterworfen. 

Prinzipiell  ist  gegen  den  Versuch,  Kant  für  diese  „wissenschaftliche 
Psychologie"  als  Autorität  auszuspielen,  unter  allen  Umständen  folgendes 
einzuwenden:  Kant  hat  das  Wissen  aufgehoben,  um  für  den  Glauben  Platz 
zu  bekommen.  Unter  Glauben  versteht  er  dabei  eine  durch  die  Thatsachen 
des  moralischen  Bewusstseins  geforderte  Überzeugung.  Diese  Überzeugung 
kann  aber  nie  zu  einer  positiven  Dogmatik  führen,  sondern  sie  hält  sich 
mit  ihren  Urteilen  notw^endig  innerhalb  der  Grenzen  des  Symbolismus. 
Thäte  sie  das  nicht,  so  wäre  Kants  Eeligionsmetaphj^sik  eine  Hinweg- 
setzung über  seine  kritische  Grenzbestimmung.  Und  eine  solche  liegt 
schlechterdings  in  der  „wissenschaftlichen  Psychologie"  vor.  Der  vor- 
liegenden Arbeit  Bormanns  muss  nun  gewiss  das  Zeugnis  ausgestellt 
w^erden,  dass  sie  zum  Besten  gehört,  w^as  vom  Standpunkt  des  Occultismus 
bis  jetzt  geschrieben  ist.  Sie  hält  sich  von  Überschwengiichkeiten  ziemlich 
frei.  (Mit  besonderer  Anerkennung  sei  auch  erwähnt,  dass  der  Brief  Kants 
an  Charlotte  von  Knobloch  citiert  wird  mit  der  Bemerkung,  dass  er  „an- 
scheinend in  das  Jahr  1763"  gehört:  S.  131).  Aber  jener  Vorwurf  kann 
ihr  nicht  erspart  bleiben.  Bormann  selbst  sagt  (131)  von  Kant:  „Der 
Reinigkeit  der  Sitten  findet  er  es  gemässer,  die  Erwartung  der  künftigen 
Welt  auf  die  Empfindungen  einer  wohlgearteten  Seele  zu  gründen,  als 
umgekehrt  ihr  Wohlverhalten  auf  die  Hoffnung  der  anderen  Welt".  Die 
,, wissenschaftliche  Psychologie"    lehrt   aber    nicht    einmal    bloss   die  Hoff- 


Litteraturbericht.  335 

nung  auf  ein  zukünftip;es  Leben,  sondern  sie  sucht  selbst  die  Thatsäch- 
lichkeit  eines  Fortlebens  nach  dem  Tode  wissenschaftlich  zu  beweisen. 
Diese  Tendenz  ist  aber  der  Kantischen  Ethik  durchaus  zuwider.    Will  man 
.sich    die    Bedeutung    des    soeben    erwähnten,    von    Bormann    angeführten 
Kantischen  .Satzes   völlig  klar  machen,   so  muss   man   ihn  zusammenhalten 
mit    dem    Schlussabschnitt    der    Elementarlehre    der  Kr.  d.  pr.  V.      Er   ist 
überschrieben  „Von  der  der  praktischen  Bestimmung  des  Menschen  weislich 
angemt'.ssenen  Proportion  seiner  Erkenntnisvermögen''.     Ich  kann  hier  nur 
einige  Sätze  daraus  anführen;  sie  dürften  aber  hinlänglich  zeigen,  mit  wie 
wenig  Recht  sich    der  Occultismus   auf  die  Kantische  Ethik   berufen  darf. 
Kant   beginnt    dort    mit  der  Bemerkung,    dass    unser  Erkenntnisvermögen 
den  wichtigsten  Fragen  gegenüber  versagt,  und  fährt  dann  fort:    „Gesetzt 
nun,  sie  |sc.  die  Katurj  wäre  hierin   unserem  Wunsche  willfährig  gewesen, 
und  hätte   uns  diejenige    Einsichtsfähigkeit    oder   Erleuchtung    erteilt,    die 
wir  gerne  besitzen  möchten,  oder  in  deren  Besitz  einige  wohl  gar  wähnen 
sich  wirklich  zu  befinden,   was  würde   allem  Ansehn    nach  wohl  die  Folge 
hiervon  sein?  .  .  .  Statt  des  Streits,  den  jetzt  die  moralische  Gesinnung  mit 
den  Neigungen  zu  führen  hat,  in  welchem,  nach  einigen  Niederlagen,  doch 
allmählich  moralische  Stärke  der  Seele  zu  erwerben  ist,  würden  Gott  und 
Ewigkeit  mit  ihrer  furchtbaren  Majestät  uns  unablässig  vor  Augen 
liegen  (denn,  was  wir  vollkommen  beweisen  können,  gilt  in  Ansehung  der 
Gewissheit   uns   so   viel,    als  wovon  wir  uns    durch   den  Augenschein   ver- 
sichern).     Die    Übertretung    des    Gesetzes    würde    freilich   vermieden,    das 
Gebotene  gethan  werden;  weil  aber  .  .  .  der  Stachel  der  Thätigkeit  hier  .  .  . 
äusserlich  ist,  ...  so  würden  die  mehresten  gesetzmässigen  Handlungen 
aus  Furcht,  nur  wenige  aus  Hoffnung  und  gar  keine  aus  Pflicht  geschehen, 
ein  moralischer  Wert  der  Handlungen  aber  .  .  .  würde  gar  nicht  existieren". 
Das  ist  deutlich:  Nach  Kants  Ansicht  würde  der  Occultismus,  wenn  er  sein 
Ziel  erreichen  könnte,  die  Ethik  unmöglich  machen.  —  Kants  leise  Neigung 
zum  Geisterglauben  ist  nicht  mehr  und  nicht  weniger  als  eine  willkürliche 
Ausmalung  des  leeren  Begriffs    der  intelligiblen  Welt,   ohne   wissenschaft- 
lichen Wert.     Und  Bormanns  Identifizierung  von  Kants   intelligibler  Welt 
und  dem  ßeich  der  Zwecke  mit  den  „wissenschaftlichen"  Erfahrungen  des 
•Occultismus  —  ist  gleichfalls  eine  willkürliche  Ausmalung  und  gleichfalls 
-ohne  wissenschaftlichen  W^ert. 

Noch  sei  darauf  hingewiesen,  dass  die  „Kantstudien"  in  einem  ihrer 
nächsten  Hefte  einen  Beitrag  zu  diesen  Fragen  aus  der  berufenen  Feder 
<ies  Herrn  Geh.  Hofrat  Heinze  in  Leipzig  bringen  werden. 

Döring,  A.  Handbuch  der  menschlich-natürlichen  Sitten- 
lehre für  Eltern  und  Erzieher.     Stuttgart,  Frommann,  1899.    (415  S.) 

Das  mit  viel  Wärme  geschriebene  Buch  streift  an  einigen  Stellen  auch 
die  Kantische  Ethik.  S.  66  wendet  sich  D.  gegen  den  rigoristischen  Wahr- 
heitsfanatismus, S.  226  gegen  die  Lehre  von  der  unbedingten  Verwerflich- 
keit des  Egoismus  und  vom  „radikalen  Bösen".  Dennoch  steht  der  Verf. 
Kant  nicht  fern:  Die  Verbindungslinie  zwischen  seiner  Ethik  und  der 
Kantischen  führt  über  Schiller.  Vgl.  besonders  S.  240  ff.,  wo  es  im  An- 
schluss  an  die  Schillerschen  Verse 


33ß  Littoratiirboricht. 

„Ni'lunt  dii'  (.Jottlu'it  auf  in   ciirfu   Willen, 

l'iui  sie  steigt  von  ihrem  Weltenthnm" 
n.  a.  heisst:  „Die  Aufnahme  des  Gesetzes  in  den  AVillen  ist.  nichts  anderes^ 
als  eben  die  Al)sicht,  in  :dl<'ni  'l'imn  mir  dem  W'idd-^ciii  der  Anderen  /,ii 
dienen,  die  schon  znm  AVesen  des  Sitt liehen  gehörte,  und  der  das  (leset/- 
in  den  Willen  Aiifnehmende  i-;t  kein  anderer,  als  eben  der  ethisclu'  Mensch." 
Kantischen  Ceist  zeigt  ferner  die  Begründung  des  Sittlichen  auf  Vernunft- 
überzengung  (8.  287  ff.) :  „Es  liegt  in  (Ur  Vorstellung  von  einem  l)lii>s  triei)- 
fürmigen  Znstandekommen  des  Sittlichen  eine  llnaliwiirdigung  de.s  Menschen 
zum  blossen  Naturwesen,  die  der  thatsächlichen  Eescliaffenheit  des  Menschen 
als  eines  nach  bewnssten  Zwecken  handelnden  Vernunftwesens  widerspricht." 

Schnitze,    Rudolph.      Kritik    der    Religionstheoric    Uauwen- 
hoffs.     Erlanger  Diss.,  Berlin,  1898.     (45  S.) 

Der  scharfsinnige  Verf.  geht  mit  R.  streng  ins  Gericht.  Er  behandelt, 
seine  Stellung  zu  folgenden  Thematen:  Ursprung  der  Eeligiun,  Wesen  der 
Religion  und  des  religiösen  Glaubens,  Recht  der  Religion  und  des  religiösen 
Glaubens,  Erkenntnistheorie;  al)er  in  allen  vier  Punkten  fällt  er  das  Urteil 
zu  Ungunsten  des  niederhändischen  Religionsphilosophen.  —  Die  Verwandt- 
schaft der  R. 'sehen  Lehren  mit  Kantischen  (Verhidtnis  von  Religion  und 
Sitthchkeit,   Pflichtbewusstsein,   Postulatentheoriej  wird  S.  17—20  erörtert. 

Dunkmann,  Karl.  Das  Problem  der  Freilieit  in  der  gegen- 
wärtigen Philosophie  und  das  Postulat  der  Theologie.  Hallenser 
theol.  Diss.,  1899.    (92  S.) 

Die  geistreiche  Abhandlung  ist  ihrer  Tendenz  nach  der  Versuch,  zur  er- 
kenntnistheoretischen Grundlage  der  Theologie  die  Philosophie  Avenarius' 
zu  machen.    Es  versteht  sich  von  selbst,  dass  die  Polemik  ihre  Hauptspitze- 
gegen    die    idealistische  Philosophie    und    damit  auch    gegen  Kant  richtet.. 
Seine  Stellung  zu  demselben  hat  D.  am  schärfsten  pointiert  in  der  siebenten 
der   angefügten  Thesen:    „Die  theologische  Brauchbarkeit    der  Philosophie 
Kants  scheitert  an  ihrem  empirischen  Determinismus".    Determinismus  und 
Indeterminismus  werden    eingehend    und    mit    grossem  Scharfsinn  geprüft,, 
und    das  Resultat    der    philosophischen  Untersuchung   ist,    dass    die  Philo- 
sophie mit  ihrem  Problem  nicht  zu  Ende  kommt  (60j.     So  wird  denn  auch 
Dunkmanns  eigene,  nach  dem  Prinzip  des  kleinsten  Kraftmasses  aufgestellte 
indeterministische  Freiheitslehre  (47  f.)    nicht  eigentlich  bewiesen,    sondern 
postuliert.     Sein  wissenschaftlicher  Standpunkt   gestattet   dem  Verf.    ohne 
Schwierigkeit  den  Indeterminismus:  denn  vom  Standpunkt  der  „reinen  Er- 
fahrung" aus  kennt  er  keine  Allgemeinheit  und  Notwendigkeit,  im  Gegen- 
teil erhebt    er    gegen  Kant    den  Vorwurf,    er  habe  durch  seine  ungerecht- 
fertigte   Hochachtung    vor    dem    naturwissenschafthchen  Begriff    der  Not- 
wendigkeit   alles    Geschehens    an  Stelle    der  von    ihm    vernichteten    alten 
Metaphysik  sofort  eine  neue  gesetzt  (14).  —  Freilich  erhebt  sich  die  Frage,, 
ob  die  religiösen  Grundüberzeugungen  als  „Introjectionen"  besser  vor  An- 
griffen   gesichert  sind,    als  sie    es  als    notwendige  Vernunftideen    gewesen, 
waren,    und    ob    nicht    vielmehr   gerade    das   Postulat    der  Theologie,    das. 
Dunkmann  aufstellt,  weit  von  allem  Positivismus  wegführt. 


Litteraturbericht.  3:37 

Von  der  wissenschaftlichen  Bedeutunfij  der  theolop;ischen  Postnlate 
hält  der  Verf.  (.Irosses:  Am  Ende  der  Einleitung  heisst  es  (und  ähnliches 
steht  am  Schlüsse  der  Abhandlung):  „Es  kann  nur  eine  Wahrheit,  nur 
eine  wahre  Pliilosophie  geben.  Wenn  die  Theologie  dieselbe  ist.  wird 
damit  notwendig  jede  andere  Philosophie  ihrem  Wahrheitsgehalt  nach 
negiert.  Letztere  kann  vielleicht  auf  dasselbe  Resultat  hinauskommen, 
wie  die  Theologie  —  theistische  Systeme  — ,  so  ist  der  Weg  falsch  ge- 
wesen, denn  zur  theologi.schen  Wahrheit  führt  nur  der  eine  theologische 
Weg  des  Glaubens"  (4).  „Die  Auflösung  der  philosophischen  Antinomien 
durch  die  Theologie"  ist  die  bezeichnende  Überschrift  des  letzten  Kapitels, 
Allerdings  kennt  der  Verf.  auch  „theologische  Antinomien"  (die  Theologie 
niuss  sowohl  Freiheit  als  auch  Unfreiheit  postulieren),  die  gleichfalls  bei 
ihm  durch  die  Theologie  selbst  aufgelö.st  werden.  Sollte  deren  Lösung^ 
aber  nicht  richtiger  in  der  Philosophie  gesucht  werden- 

Es  erscheint  mir  nicht  unwichtig,  noch  auf  Folgendes  hinzuweisen: 
Windelbaud  bezeichnet  in  seiner  vortrefflichen  „Geschichte  der  neueren 
Philosophie",  II,  S.  3  (2.  Aufl.)  als  den  Mittelpunkt  der  Kantischen  Lehre 
Kants  persönliche  Überzeugung,  seinen  „unerschütterlichen  Glauben  an 
die  Macht  der  Vernunft".  Von  hier  aus  betrachtet  erscheint  die  Ge- 
schichte des  von  Kant  ausgegangenen  deutschen  Idealismus  als  die  Geschichte 
der  Modifikationen  dieses  Glaubens.  Avenarius  mit  seiner  Schule  sowie 
die  konsequentesten  Vertreter  der  immanenten  Philosophie  haben  diese 
Grundüberzeugung  fallen  gelassen;  sie  vertreten  die  Antithese  zum  deutschen 
Idealismus:  Hier  liegt  der  tiefste  Punkt  des  Gegensatzes  zwischen  Dunk- 
mann und  dem  modernen  Positivismus  einerseits  und  Kant  und  seinen 
Anhängern  andererseits. 

Brömse.  Heinrich.  Dr.  Die  Realität  der  Zeit.  Ztschr.  f.  Philos. 
und  philos.  Kritik.     114.  Bd.,  H.  1,  1899.     (S.  27—63.) 

Die  scharfsinnige  Abhandlung  versucht  den  Beweis  zu  führen,  dass 
der  Zeit  eine  metaph3-sische  Realität  zukommt.  Der  leitende  Gedanke  ist 
der:  Von  jeder  Vorstellung  des  Geschehens  ist  die  der  Zeit  unwegdenkbar. 
Wer  das  Geschehen  auf  das  logische  Verhältnis  von  Grund  und  Folge 
zurückzuführen  versucht,  vernachlässigt  den  wesentlichsten  Faktor  des 
ersteren:  die  zeitliche  Aufeinanderfolge.  Ergo  ist  die  Annahme  „sog. 
intelligibler,  der  Zeit  nicht  unterworfener  Zustände  in  der  Welt  der  Dinge 
an  sich"  (29)  widerspruchsvoll.  —  Zunächst  werden  „die  möglichen  Auf- 
fassungen der  Zeit  als  Realität"  besprochen.  Die  Auffassungen  als  Sub- 
stanz, als  selbständiger  Verlauf  und  als  Eigenschaft  der  Dinge  werden  ab- 
gelehnt. Der  Verf.  acceptiert  die  metapln^sische  Existenz  der  Zeit  als 
Form  des  Geschehens.  Der  wichtigste  Abschnitt  ist  §  8:  „Nachweis  der 
realen  Zeit  für  das  Geschehen  im  Subjekt".  Hier  wird  eingehend  gezeigt, 
wie  uns  „das  innere  Leben  als  ein  Verlauf  psychischer  Zustände  gegeben" 
ist  (38),  „dass  die  Existenz  eines  Verlaufs  psychischer  Vorgänge  unmittel- 
bare Gewissheit  hat"  (89),  dass  „sich  hieraus  klar  die  Bedeutung  der  Zeit 
für  die  Vorgänge  in  uns  ergiebf'  (40).  Wie  freilich  aus  diesen  Argumen- 
tationen etwas  anderes  gefolgert  werden  darf,  als  die  empirische  Realität 
(nach  des  Verf.  Terminologie  „Objektivität")  der  Zeit,  ist  nicht  einzusehen. 


338  Littor.iturborii'lit. 

Auf  (li'U  inti>ri'ssanti'sti'n  ilor  liior  l)t"rülu"ti'n  l'unUti'  milchte  ich  kwv/.  ciii- 
sri'luMi.  Hn'unsi'  orklärt  im  Aiiscliliiss  au  dio  erwüluitcn  Aiisfilhruuircn : 
AVollte  man  ycitciul  luaclu'U.  ,,(hiss  nur  das  (Mii|)irischi'  Ich  ilcf  Zeit  unter- 
worfen soi.  niclit  aher  <his  hintL>r  diesem  liegenile  metapliysischo,  so  w  iiiih- 
das  ein  <i;än/.licli  haltloser  Einwand  sein  .  .  .  Wenn  man  ein  solches  hrdieres 
(sollte heissen:  transscendentes|  Subjt  kt  anniUnne,  so  ist  seinetransscendentale 
iSvnthesis  der  Ai)perce])tion  nicht  andt-rs  denkbar  denn  als  Tiiätii;-keit,  diese 
aber  kann  nicht  zeitlos  sein.  Wäre  das  iiiria|iliysisclie  Irli  in  seiner 
Diiseinsform  nicht  an  die  Zeit  gebunden,  so  krmnte  man  niciit  einsehen, 
wie  es  überhaupt  tla/u  käme,  uns  als  zeitliches  Ich  zu  erscheinen"  i4()f.). 
Mit  der  tr.  8ynthesis  der  Apperception  lässt  sich  aber  hier  gar  nichts  aus- 
richten. Diese  ist  nichts  anderes  als,  um  einen  Ausdruck  Liebmanns  zu 
gebrauchen,  der  „Gattungstypus  der  menschliclnn  inttdligenz"  (Kant  sagt 
„der  Verstand  selbst":  tr.  Deduktion,  2.  Aufl.  §  16);  sie  bedeutet  die  For- 
derung, dass  alle  vom  empirischen  Bewusstsein  vorzunehmenden  Synthesen 
in  normaler  Weise  vollzogen  werden  sollen.  Das  transscendentale  Ich  wäre 
auch  dann  zeitlos,  wenn  die  Zeit  metaphysische  Realität  hätte  (und  also 
das  metaphj'sische  Ich  zeitlich  wäre).  Denn  eine  Norm  des  Bewusstseins 
ist  ja  doch  kein  Ding,  das  eine  zeitliche  Existenz  führen  könnte.  Dass 
nun  die  empirische  Besinnung  auf  dieses  normative  Bewusstsein  (bei  der 
nach  Kant  überhaupt  noch  keinerlei  Selbsterkenntnis  stattfindet:  §  25  der 
tr.  Ded.,  2.  Aufl.)  nicht  anders  als  in  der  Zeit  stattfinden  kann,  beweist 
natürlich  nichts  gegen  ein  zeitloses  metaphysisches  Ich.  Mehr  aber  bleibt 
von  dem,  was  der  Verf.  anführt,  nicht  bestehen.  —  An  die  Argumentationen, 
die  die  Zeit  als  reale  Form  des  Geschehens  (unmittelbar  für  die  Innen- 
welt, mittelbar  für  die  Aussenwelt)  nachzuweisen  suchen,  schiiessen  sich 
scharfsinnige  Erörterungen  über  Zeitvorstellung,  Zeitanschauung,  Zeit- 
begriff. Als  ausführlicher  Anhang  (53 — 63)  folgt  endlich  unter  eingehender 
Berücksichtigung  der  entsprechenden  Partien  in  Vaihingers  Kommentar 
eine  Kritik  der  Kantischen  Zeitargumente  mit  Ausnahme  des  dritten,  das 
im  Anschluss  an  Vaihinger  aus  der  lleihe  der  übrigen  Argumente  aus- 
geschlossen wird.  Als  den  Hauptfehler  des  ersten  Argumentes  (wie  über- 
haupt der  tr.  Ästhetik)  bezeichnet  B.  „die  Vermengung  der  beiden  gänzlich 
verschiedenen  Probleme:  Was  ist  die  Zeit  als  Vorstellung?  — Was  ist  die 
Zeit  als  Vorstellungsform?"  (55).  Auch  führe  Kants  Theorie  zu  ,, einer 
höchst  wunderbaren  prästabilierten  Harmonie  zwischen  Form  und  Inhalt 
der  Anschauung''  (56j.  Gegen  das  zweite  Argument  wird  behauptet:  Ge- 
länge es  wirklich,  alle  Erscheinungen  wegzudenken,  „so  würde  nichts  übrig 
bleiben  als  das  Ich  ohne  psychische  Veränderung"  (58).  Den  beiden  letzten 
Argumenten  wird  wieder  vorgeworfen,  dass  in  ihnen  die  Zeit  mit  ihrer 
Vorstellung  zusammengeworfen  werde  (60,  62).  Kant  gebraucht,  so  wird 
zum  Schluss  ausgeführt,  die  Ausdrücke  Zeit  und  Zeitvorstellung  gleich- 
bedeutend: darin  aber  liegt  „eine  Vorwegnahme  des  Ergebnisses  seiner 
Untersuchung,  aus  der  ja  erst  die  metaphysische  Idealität  der  Zeit  folgen 
könnte  —  freilich  nicht  folgt"  (63). 

Mongre,   Paul.     Das  Chaos    in    kosmischer   Auslese.     Leipzig, 
C.  G.  Xaumann,  1898.  (213  S.) 


Litteraturbericht.  339 

Das  mit  mathematischem  Scharfsinn  abgefasste  Buch  enthält  die 
Grundlegung  eines  vielfach  auf  Kants  Idealismus  zurückgreifenden  ,, er- 
kenntnistheoretischen Radikalismus''.  „Der  antropomorphe  Fetischismus, 
mit  dem  wir  uns  Begriffe  wie  Kausalität,  Naturgesetz,  transeuntes  Wirken 
verdeutlichen  mussten,  solange  wir  sie  als  transscendente  Begriffe  missver- 
standen, hat  einer  geläuterten  Auffassung  Platz  zu  machen,  in  der  sie  zu 
leitenden  Gedanken  einer  analytisch-deskriptiven  Nachbildung  unserer  Be- 
wusstseinswelt  werden;  und  die  mystische  Hypostase  einer  Natur,  die  frei- 
willig sich  unter  Gesetze  stellt,  vereinfacht  sich  zu  der  eines  unbeschränkten 
Chaos,  aus  dem  jedes  spezielle  Bewusstsein  seinen  speziellen  Kosmos  heraus- 
liest" (135).  Dieser  Satz  erklärt  den  seltsamen  und  leicht  irreführenden 
Titel  des  Buches,  das  mit  folgenden  bezeichnenden  Worten  schliesst:  ,,Die 
ganze  wunderbare  und  reichgegliederte  Struktur  unseres  Kosmos  zerflatterte 
beim  Übergang  zum  Transscendenten  in  lauter  chaotische  Unbestimmtheit ; 
beim  Rückweg  zum  Empirischen  versagt  dementsprechend  bereits  der 
Versuch,  die  allereinfachsten  Bewusstseinsformen  als  notwendige  Incar- 
nationen  der  Erscheinung  aufzustellen.  Damit  sind  die  Brücken  abge- 
brochen, die  in  der  Phantasie  aller  Metaphysiker  vom  Chaos  zum  Kosmos 
herüber  und  hinüber  führen,  und  ist  das  Ende  der  Metaphysik  erklärt, 
—  der  eingeständlichen  nicht  minder  als  jener  verlarvten,  die  aus  ihrem 
Gefüge  auszuscheiden  der  Naturwissenschaft  des  nächsten  Jahrhunderts 
nicht  erspart  bleibt"  (209).  —  Der  originelle  Weg,  den  Mongre  einschlägt, 
besteht  darin,  dass  er  die  Formen  der  Erfahrung,  Zeit  und  Raum,  zunächst 
als  transscendent  real  annimmt  und  mit  ihnen  die  stärksten  Variationen 
vornimmt,  dabei  aber  zeigt,  dass  der  empirische  Effekt  hierdurch  nicht 
berührt  zu  werden  braucht.  Der  Schluss,  den  M.  daraus  zieht,  ist 
die  völlige  Unabhängigkeit  des  empirischen  Kosmos  von  der  transscen- 
denten Welt,  die  sich,  ohne  dass  es  von  uns  bemerkt  würde,  foi-twährend 
wie  ein  Proteus  verwandeln  könnte,  ja  die  überhaupt  gar  nicht  vorhanden 
zu  sein  brauchte  und  doch  noch  „ein  zureichendes  Äciuivalent"'  (I)  des 
empirischen  Kosmos  wäre  (188).  Der  Verfasser  bezeichnet  diese  „letzte 
Konsequenz"  seines  Idealismus  als  „transscendenten  Nihilismus". 
Dass  die  zu  diesem  Ziele  führende  Bahn  an  Paradoxien  reich  ist,  kann 
nicht  verwundern.  So  werden  die  kühnsten  Variationen,  die  die  bisherigen 
Metageometer  mit  dem  Raum  vorgenommen  haben,  hier  noch  übertrumpft, 
freilich  in  so  hohem  Masse,  dass  in  dem  Leser  der  lebhafte  Verdacht  auf- 
steigt, Mongre  beabsichtige,  eine  Satire  auf  die  Verwendung  analytischer 
Formeln  in  der  Erkenntnistheorie  zu  schreiben.  Es  i.st  ja  nach  dieser  Seite 
von  Metageometern  genug  gesündigt  worden,  um  ein  Buch  zu  rechtfertigen, 
das  mit  einer  zwar  starken,  aber  doch  feinen  Übertreibung  einsetzt,  sich 
damit  eine  gründlich  verschrobene  Position  schafft  und  nun  2(X)  Seiten 
lang  deren  verschrobene  Konsequenzen  entwickelt.  Liebhaber  geistreicher 
Absurditäten  werden  die  Schrift  mit  Vergnügen  lesen. 

Kinkel,  Walter.  Beiträge  zur  Theorie  des  Urteils  und  des 
Schlusses.     Habilitationsschrift.    Giessen,  1898.    (40  S.) 

Der  Verf.  beginnt  mit  einer  Erörterung  über  das  Wesen  des  Urteils. 
Im  Gegensatz  zu  Wundt  und  Erdmanu  vertritt  er  die  Ansicht  Sigwarts,  der 


340  I.itteratiirborieht. 

im  l  rtoilsakt  eine  Sviitlu-se  t'rblirkt  uiul  diiinit  an  Kants  Ja-Ihc  vnn  der 
synthetischen  Einheit  der  Apporception  unknüpft  (6).  Gegen  Eidni;inn  vcr- 
teidifjt  Kinkel  fernt-r  Lotzes  Theorie,  dass  jedes  Urteil  eine  Idmtitäts- 
beziehung  behauptet.  Dann  fol^i'n  Ausfiilirunfjjen  über  die  Einteilung  der 
Urteile.  Der  Verf.  unterscheidet  im  Anseid uss  an  Trendeh'nbur.L;;  Urteile 
des  Umfangs  und  des  Inhalts,  modifiziert  ji'docli  in  der  Ein/.eldurchfiihrung 
Trendelenburgs  Anschauungen.  Audi  Kants  Einteilung  der  Urteile  in 
analytische  und  .synthetische  wird  Seite  18  gestreift.  Die  verneinindcn  Urteile 
rechnet  Kinkel  (mit  Sigwart  gegen  Natorp)  zu  den  Urteilen  über  Urteile, 
zu  denen  ausserdem  noch  die  Urteile  der  Modalität  gehören.  Nach  der 
Art  ihrer  Begrihiiinng  werden  die  Urteile  eingeteilt  in  unmittelbare  und 
vermittelte.  Zu  den  unmittelbaren  gehören  die  "Wahrnehmungsurteile  und 
die  Axiome,  von  welch  letzteren  Kants  Satz  gilt:  „Der  Verstand  ist  selbst 
der  Quell  der  Gesetze  der  Natur"  (23).  Alle  anderen  Urteile  sind  ver- 
mittelt und  ihre  Begründung  geschieht  in  sj-llogistischer  Form.  —  Hiermit 
wendet  sich  der  Verf.  zur  Theorie  des  deduktiven  Schlusses.  Kurz  werden 
zunächst  die  \nimittelbaren  Schlüsse  in  Betracht  gezogen,  eingehender  so- 
dann die  mittelbaren,  deren  Prinzip  bereits  Kant  richtig  aufgestellt  hat: 
„Was  nnter  der  Bedingung  einer  Regel  steht,  das  steht  auch  unter  der 
Hegel  selbst"  (28).  Doch  findet  diese  allgemeine  Eegel  in  verschiedener 
Weise  Anwendung,  anders  bei  den  gemischten  hypothetischen  Schlüssen 
(deren  Minor  ein  kategorisches  Urteil  ist)  als  bei  den  kategorischen  und  den 
reinen  hypothetischen  Schlüssen.  Dies  im  einzelnen  durchzuführen,  ist  das 
Thema  des  Schlusses  der  Abhandlung. 

Budde,  Enno.  Die  Beweise  für  das  Dasein  Gottes  von 
Anselm  von  Cant  erbury  bis  zu  Renatus  Descartes.  Diss.  Erlangen, 
1898.  (47  S.) 

Von  dem  Kantischen  Standpunkt  der  scharfen  Unterscheidung  zwischen 
theoretischem  Wissen  und  praktischem  Glauben  aus  betrachtet  der  Verf. 
die  Gottesbeweise  bei  Anselm,  Thomas  von  Aquino  und  Descartes,  sowie 
ihre  Widerlegungen  durch  die  Zeitgenossen  Anselms,  die  Nominalisten,  die 
Gegner  Descartes'  und  Kant.  Den  Grundfehler  der  scholastischen  Philo- 
sophie sieht  Budde  darin,  dass  sie  die  von  Kant  und  ähnlich  schon  von 
dem  grossen  Gegner  des  Thomas,  von  Duns  Scotus,  gelehrte  Unterscheidung 
zwischen  theoretischer  und  praktischer  Vernunft  nicht  vollzogen  hat 
(4/6,  23).  Kants  Kritik  der  Gottesbeweise  wird  im  Anschluss  an  die  Be- 
sprechung der  gegen  die  Meditationen  Descartes'  gerichteten  ,,Objectiones" 
eingehend  erörtert.  Budde  findet  in  Kants  Argumentation  den  glück- 
lichsten Nachweis  der  „völligen  Haltlosigkeit  des  Cartesianischen  Beweises" 
(40).  Er  verteidigt  sie  gegen  den  Vorwurf,  Kant  habe  den  Beweis  des 
Anselm  mit  dem  des  Descartes  verwechselt  (40)  und  gegen  v.  Kirchmanns 
missverständliche  Ausleg-ung  der  Auseinandersetzung  über  die  100  möglichen 
und  die  100  wirklichen  Thaler  (43).  Zum  Schluss  wird  Schopenhauers 
Urteil  über  den  ontologischen  Beweis  (in  der  Schrift  über  den  Satz  vom 
Grunde)  herbeigezogen  und  gezeigt,  dass  es  im  Wesentlichen  das  Kantische 
Argument  enthält  (45). 

Auffallend   ist,    dass    von    den  Schriften  des  Thomas  nur  die  Summa 


Litteraturbericht.  34 1 

contra  gentiles  berücksichtigt  ist,  während  doch  auch  die  Summa  theologiae 
für  das  Thema  des  Verfassers  von  grosser  Wichtigkeit  ist  und  Gesichtspunkte 
giebt.  deren  Erwähnung  und  Bearbeitung  der  Referent  in  der  vorliegenden 
Abhandhing  vergebhch  gesucht  hat. 

Volkmann,  F.  Schillers  Philosophie.  Berlin,  Rühe,  1899.  (31  S.) 
Von  F.  Volk  mann,  dem  Verf.  der  , .Entwicklung  der  Philosophie" 
(vgl.  ,.KSt.*'  IV,  123)  ist  ein  neues  Schriftchen  erschienen:  ,,Schillers 
Philosophie".  Es  hebt  an  mit  folgenden  Sätzen:  „Der  Wert  der  philo- 
sophischen Schriften  Schillers  liegt  im  Wesentlichen  in  der  schön  erfundenen 
sachlichen  Darstellung,  in  der  vollendeten  Form  des  Ausdrucks  und  in  dem 
alles  belebenden  Schwünge  poetischer  Begeisterung.  Der  Gehalt,  den  man 
im  engeren  Sinne  als  philosophisch  anzusprechen  hat.  trägt  kaum  dazu  bei, 
diesen  Wert  zu  erhöhen,  giebt  vielmehr  häufig  Veranlassung,  der  Wirkung 
des  Ganzen  zu  schaden".  Ein  ähnlich  auffallendes  Urteil  findet  sich  auch 
über  Kant.  V.  wundert  sich,  dass  er  es  unterlassen  habe.  ,,das  Ding  an 
sich  in  seiner  grundlegenden  Eigenschaft  und  unsere  wechselnden  und  nie 
abgeschlossenen  Vorstellungen  als  Ausläufer  davon  in  Zusammenhang  zu 
bringen  und  die  einzelnen  Beziehungen  zu  verfolgen"  (23):  Kant  wäre 
nämlich,  wenn  er  das  gethan  hätte,  vor  den  „Irrtümern  seiner  Trans- 
scendentalphilosophie"  bewahrt  geblieben.  Insoferne,  als  er  auf  jenem 
Wege  nie  über  den  Dogmatismus  hinausgekommen  wäre,  allerdings.  — 
Von  den  Antinomien  heisst  es,  dass  sie  die  Schwierigkeiten  darstellen, 
welche  in  der  Philosophie  entstehen,  wenn  man  den  Übergang  macht  vom 
Physischen  zum  Logischen  —  ein  Gedanke,  der  dann  in  der  Schrift  mehr- 
fach variiert  wird. 

Nessler.  Gustav.  Untersuchungen  über  die  wichtigsten 
Versuche  einer  Metaphysik  des  Sittlichen.  Erster  Hauptteil:  Ge- 
schichtliche Untersuchung.  Erlanger  Diss.  Berlin,  J.  Sittenfeld.  1898.  (86  S.) 

Der  Verf.  behandelt  auf  86  Seiten  die  ganze  Geschichte  der  Meta- 
physik des  Sittlichen  von  ihrem  ., Begründer"  Piaton  an  bis  auf  E.  v.  Hart- 
mann. Am  besten  kommt,  sowohl  was  den  ihm  zugestandenen  Raum  (13 
Seiten),  als  auch  was  die  Anerkennung  seiijer  Leistungen  anlangt,  Leibnitz 
weg.  An  die  Behandlung  seiner  Ethik  schliesst  sich  die  9  Seiten  um- 
fassende Darstellung  und  Kritik  der  Kantischon  Theorien.  Kant  spielt  in 
der  Abhandlung  eine  etwas  klägliche  Rolle:  seine  ethischen  Aufstellungen 
seien  ,,im  Grunde  Leibnitzische  Lehren,  nur  sozusagen  diese  auf  den  Kopf 
gestellt  oder  nur  halb  benützt"  (65).  Auf  eine  Diskussion  der  sehr  zahl- 
zahlreichen Anklagen,  die  gegen  Kant  erhoben  werden,  kann  ich  mich 
hier  nicht  einlassen:  die  Einwendungen  sind  zum  grossen  Teil  von  nicht 
viel  geringerem  Alter  als  Kants  Werke  selbst,  und  Antworten  darauf  sind 
längst  gegeben.  An  keiner  einzigen  Stelle  hat  sich  aber  der  Verf.  der 
Mühe  unterzogen,  sich  mit  denen  auseinanderzusetzen,  die  für  Kant  ein- 
getreten sind.  Nur  einen  in  prinzipieller  Hinsicht  wichtigen  Punkt  möchte 
ich  kurz  beleuchten.  Nessler  erklärt  (69).  Kant  habe  ,,das  nicht  erfüllt, 
was  man  von  einer  Metaphysik  des  Sittlichen  erwartet:  Ableitung  des 
Grundprinzipes   der  Ethik    aus    einem    höheren    wissenschaftlichen   Grunde 


34'J  Liltt'iaturlifiii-lit. 

und  A'iMknüpfun<;:  der  Ethik  mit  der  übrigen  l'liilosophie".  Das  kontrastiert 
ji'doch  seltsam  damit,  dass  kurz  vorlier  (64)  hericlitet  ist,  dass  Kant  der 
praktisclien  Vernunft  den  Primat  vor  der  theoretiselien  anweist.  ^Vie  kann 
der  Verf.,  wenn  er  das  weiss,  auf  eine  Ableitung;  ,,ans  einem  höheren 
"wis.seuschaftliehen  Grunde"  nrhuen-  Gerade  in  ihr  Umkeliiuni;-  des  ge- 
läufigen Verhältiiisses  von  Metaphysik  und  Istliik  (in  di'in  ,,auf  den  Kopf 
stellen"  der  Lehren  seiner  Vorgänger)  liegt  der  tiefste  Punkt  des  Kantischen 
Systems.  AVindelband  hat  dies  in  seiner  an.sgezeichneten  ,,Geschichte  der 
neueren  Philosophie''  mit  Recht  stark  hervorgehoben.  „Weit  davon  ent- 
fernt, aus  einer  theoretisch  gewonneutn  Weltanschauung  ableitbar  zu  sein, 
i.st  die  Moral  vielmehr  der  einzige  Weg,  auf  dem  man  eine  Überzeugung 
von  dem  übersinnlichen  Wesen  der  Dinge  erwerben  kann:  diese  aber  kann 
niemals  bewiesen,  sondern  inniier  nur  geglaubt  werden''  OVindelband,a.  a.  O., 
2.  Aufl.,  S.  127/8).  Diesen  „innersten  Zusammenhang  der  wissenschaft- 
lichen so  gut  wie  der  persönlichen  Überzeugung''  Kants  (a.  a.  0.  S.  108) 
hat  Kessler  ignoriert.  Damit  aber  hat  er  zum  mindesten  sein  eigenes 
Programm  verletzt,  das  er  in  der  Einleitung,  S.  3,  aufgestellt  hat,  nämlich 
der  Darstellung  der  einzelnen  Versuche  „eine  immanente  Kritik"  zu- 
zufügen. Denn  seine  Kritik  wächst  nicht  aus  dem  Kantischen  System 
heraus,  sondern  hier  urteilt  der  „Metaphysiker  von  altem  Schrot  und  Korn", 
um  einen  Ausdruck  Kants  zu  gebrauchen.  Höchstens  das  könnte  man  dem 
Verf.  zugeben,  dass  er  eine  immanente  Kritik  seiner  eigenen  Beurteilung 
Kants  giebt,  indem  er  selber  Kantische  Thesen  anführt,  die  jene  unmöglich 
machen. 

Dass  ein  ganz  respektables  Quantum  von  ernster  Arbeit  in  Kesslers 
Schrift  steckt,  soll  nicht  verkannt  bleiben.  Aber  die  viel  zu  summarische 
Ausführung  (dem  Mittelalter  z.  B.  sind  l'/a  Seiten,  Schopenhauer  nicht 
ganz  ebensoviel  gewidmet)  lässt  in  ihren  darstellenden  Teilen  viel  sachlich 
Wichtiges,  in  ihren  kritischen  Teilen  eine  entsprechende  Begründung  ver- 
missen. 

Windelband,  W.  Die  Geschichte  der  neueren  Philosophie 
in  ihrem  Zusammenhange  mit  der  allgemeinen  Cultur  und  den  besonderen 
Wissenschaften.  Erster  Band.  Von  der  Renaissance  bis  Kant.  Zweiter 
Band.  Von  Kant  bis  Hegel  und  Herbart.  Zweite  durchgesehene 
Auflage.     Leipzig,  Breitkopf  und  Härtel.  1899.    (VIII  u.  591,  VIII  u.  408  S.) 

Als  Vorläufer  des  abschliessenden  dritten  Bandes,  der  nunmehr  in 
nächster  Zeit  zu  erwarten  ist,  hat  Windelband  die  schon  1878  und  1880 
erschienenen  beiden  ersten  Bände  seines  nicht  minder  durch  feinsinnige 
Behandlungsweise  wie  durch  umfassende  Gelehrsamkeit  ausgezeichneten 
Geschichtswerkes  über  die  moderne  Philosophie  neu  erscheinen  lassen.  Mit 
Recht  hat  er  dem  in  der  ihm  einst  verliehenen  Gestalt  beliebt  und  be- 
rühmt gewordenen  Buche  seine  Eigenart,  d.  h.  hier  so  viel  wie:  seine 
charakteristischen  Vorzüge,  gelassen.  Windelband  spricht  sich  im  Vorwort 
näher  über  die  Aufgabe  aus,  die  er  sich  gestellt  hat:  er  will  „den  all- 
gemeinen Zug  der  modernen  Gedankenmassen  schildern,  wie  sie,  teils  in 
den  besonderen  Wissenschaften,  teils  in  anderen  Kultursphären  entsprungen, 
in  den  Systemen  der  Philosophie    ihre    methodische  Verarbeitxing    suchen, 


Litteratnrbericht.  343 

und  in  diesem  Zusammenhange  die  Stellung  und  den  Wert  der  einzelnen 
Leliren  charakterisieren-'.  Fügt  man  diesen  Worten  lOch  hin/u.  dass  die 
damit  gestellte  Aufgabe  aufs  glücklichste  und  in  eine.  Ausführlichkeit,  die 
kaum  eine  wesentliche  Frage  unerörtert  lässt,  gelöst  ist,  so  hat  man  zum 
Teil  der  Eigenart  des  Werkes  die  ihr  zukommende  Signatur  gegeben. 
Allein  nur  zum  Teil.  Denn  was  hiermit  noch  nicht  gesagt  ist,  was  aber 
gerade  an  Wiudelbands  Darstellung  in  ganz  besonderem  Masse  imponiert, 
das  ist  der  Umstand,  dass  sie  selbst  fördernd  in  die  Probleme  eingreift. 
Windelband  ist  mehr  als  blosser  Historiker.  Der  Verfasser  der  „Präludien" 
begnügt  sich  nicht  damit,  sich  in  die  philosophischen  Systeme  einzuleben 
und  sie  darstellend  nachzuerleben,  sondern  er  stellt  sie  zugleich  dar  mit 
dem  lebhaften  Bewusstsein  davon,  dass  einen  Philosophen  verstehen,  über 
ihn  hinausgehen  heisst  (um  ein  an  anderer  Stelle  von  ihm  gebrauchtes 
Wort  in  verallgemeinerter  Form  anzuwenden).  Man  kann  diesen  Gedanken 
auch  so  ausdrücken:  Windelband  giebt,  wo  er  kritisiert,  nicht  bloss  Kritik, 
sondern  er  giebt  produktive  Kritik.  Ganz  besonders  gilt  dieses  letztere 
natürlich  von  den  Abschnitten,  die  er,  der  Kantianer,  dem  grossen  Königs- 
berger und  der  von  ihm  ausgegangenen  Bewegung  des  deutschen  IdeaUsmus 
gewidmet  hat. 

Wiu  in  der  Geschichte  der  Philo.sophie  selbst,  so  nimmt  auch  in  dem 
vorliegenden  Werke  Kant    eine   durchaus   dominierende  Stellung   ein,    was 
sich    schon   dadurch    äusserlich    kundgiebt,    dass    sich    fast  die  Hälfte    des 
zweiten  Bandes  mit  seiner  Lehre  beschäftigt;  und  näheres  Zusehen  zeigt, 
dass    es   auch   in    den  Paragraphen,    die    nicht    unter   der  Überschrift  „Die 
Kantische  Philosophie"    stehen,    nicht    an  Ausblicken,    bezw.    Rückblicken 
auf  Kant  fehlt.     Treffend  bemerkt  Windelband  in  den  die  Betrachtung  des 
Kantischen  S^-stems  einleitenden  Sätzen:  „Die  grosse  Gewalt,  welche  Kant 
über  die  philosophische  Bewegung  zunächst  seiner  Zeit  ausgeübt  hat,  liegt 
vielleicht   am    meisten    in    der    unvergleichlichen   Weite    seines    geistigen 
Horizontes  und  in  der  Sicherheit,  mit  welcher  er  das  Nahe  und  das  Ferne 
von    seinem    Standpunkte    aus    überall    im    richtigen  Verhältnis    zu    sehen 
wusste.     Es    ist    kein  Problem    der   neueren  Philosophie,    das   er  nicht  be- 
handelt hätte  —  keines,   dessen  Lösung  er  nicht,  selbst  wo  er  es  nur  ge- 
legentlich streifte,  das  eigenartige  Gepräge  seines  Geistes  aufgedrückt  hätte. 
Aber  diese  Universalität  ist    nur    der    äussere  Umriss   und   noch  nicht  der 
Kern  seiner  Grösse;    dieser    liegt  vielmehr    in   der  bewunderungswürdigen 
p:nergie,  mit  der  er  die  Fülle  des  Gedankenstoffes  zur  einheitlichen  Durch- 
dringung zu  bringen  und  zu  verarbeiten  vermochte.     Weite  und  Tiefe  sind 
in  seinem  Geiste  von  gleicher  Grösse,  und  sein  Blick  umspannt  ebenso  den 
ganzen  Umfang  der  menschlichen  Vorstellungswelt,  wie  er  an  jedem  Punkte 
bis  in  das  Innerste  dringt.     In  dieser  Paarung  sonst  selten  vereinter  Eigen- 
schaften liegt  der  Reiz,    welchen   die  Persönlichkeit   und  die  Werke  Kants 
immer  ausgeübt  haben  und  welcher    ihn   unter  den  Philosophen  stets  den 
ersten  Platz  einnehmen  lassen  ^\-ird". 

Was  speziell  in  der  Darstellung  der  Philosophie  Kants  das  Verhältnis 
der  vorliegenden  zweiten  Auflage  zur  ersten  anlangt,  so  sind  nur  wenige 
Änderungen  vorgenommen.  Zumeist  sind  es  entweder  kurze  Zusätze  oder 
stihstische  Verbessenmgen.     Hin  und  wieder  findet  sich  auch  die  Einfügung 


344  Littoraturberioht.  —  Hiltliof^iaplii-iclif  Noii/.cn. 

oinos  ilor  jüni^stoii  Zeit  an<z^('li(iri;i;on  Srhla;4:\vortos,  so  •/..  B.  Seite  u\ 
,.Transsceiulentalpsycliol(\y;ie"  |/.nerst  von  Vaihin^er  i;-el)raiic.ht|,  S.  1 73  der 
„systematische  Faktor"  (Adickes).  Von  Interesse  ist  diT  Ziisat/  S.  n"  i\!)er 
die  synthetische  Funktion  der  Sinnlichkeit.  Audi  die  S.  856/7  in  dem  Al)- 
schnitt  über  Sciiopenliauer  mit  lie/.ielmni;-  an!  Kant  neu  ein;;;efil;:!;to  Stelle 
über  das  Din,u;  an  sich  als  llrund  der  Krscheinunf»;  ist  nicht  unwichtig;.  — 
lieferent  zweifelt  nicht,  dass  Windelbands  feinsinni*j;es  Werk  in  der  neuen 
Auflage  fortfahren  wird,  sich  zu  seinen  zahlreichen  alten  Freunden  neue 
SU  erwerben. 


Bibliographisclie  Notizen. 

Im  n.  Bande.  S.  504,  führten  wir  unter  anderen  Besprechungen  der 
„Kantstudien"  auch  eine  solche  durch  G.  Thiele  in  der  „Zeitschrift  für 
immanente  Philosophie"  11.  1.  S.  80  au.  Wir  machten  diese  Angabe  auf 
Grund  einer  bibliographischen  Mitteilung,  die  wir  anderwärts  gefunden 
hatten.  Erst  jetzt  ist  uns  das  betr.  Heft  selbst  zu  Gesicht  gekommen. 
Wie  wir  nun  sehen,  enthält  die  ausführliche  Besprechung  (S.  80—89)  im 
AVesentlichen  kritische  Ausführungen  Thieles  zu  dem  Aufsatze  von  Adickes 
über  „Die  bewegenden  Kräfte  in  Kants  philosophischer  Entwicklung" 
u.  s.  w.  Die  Ausführungen  Thieles,  die  wir  hier  nachträglich  registrieren, 
betreffen  folgende  4  Punkte:  1.  Die  propositio  V  der  Nova  Dilucidatio,  in 
welcher  die  beiden  verschiedenen  J^ormen  des  principium  rationis  deter- 
minantis  als  logisches  und  als  reales  Prinzip  unterschieden  werden.  2.  Die 
Stellung  Kants  in  den  Jahren  1762/3,  speziell  sein  Verhältnis  zu  Crusius' 
Dissertatio  de  usu  et  limitibus  ])rincipii  rationis  sufficientis  (Kausalgesetz, 
Eealgrund).  3.  Hume's  Einfluss;  nach  Adickes  fand  derselbe  um  1768  statt, 
nach  Thiele  erst  1772;  der  bekannte  Brief  an  Herz  vom  21.  Februar  1772 
Avird  analysiert.  Dass  1769  das  Antinomienproblem  mitgewirkt  habe,  leugnet 
Thiele  ebenfalls.  4.  Thiele  führt  aus,  dass,  wenn  er  (was  Adickes  nicht 
billigt)  die  „intellektuelle  Anschauung"  als  den  Grundbegriff  von  Kants 
Kriticismus  ansehe,  dies  nicht  im  litterarhistorischen  (philologischen ),  sondern 
in  systematischem  (philosophischem)  Sinne  von  ihm  geschehen  sei.  —  Wir 
machen  bei  dieser  Gelegenheit  nachträglich  noch  auf  einige  Beiträge  aus 
derselben  Zeitschrift  aufmerksam,  welche  für  den  Freund  der  Kantischen 
Philosophie  beachtenswert  sind:  so  auf  den  Aufsatz  von  Stock,  über 
Ethik  als  Wissenschaft,  in  welchem  (I,  232  ff.)  „die  Unzulänglichkeit  des 
moralischen  Formalprinzipes"  bei  Kant  eindringlich  behandelt  wird  mit 
dem  Nachweis,  dass  und  wie  Kants  formales  Prinzip  sich  ihm  unter  der 
Hand  in  ein  materiales  verwandelt;  S.  322  ff.  wird  das  Verhältnis  von 
Autonomie  und  Heteronomie  (im  Gegensatze  zu  Windelband)  eingehend 
erörtert  unter  Berücksichtigung  der  Fundamentalbegriffe  Pflicht  und  Zweck. 
—  In  demselben  Bande  findet  sich  auch  ein  bemerkenswerter  Aufsatz  von 
Franz  Marschner,  die  wissenschaftlich  berechtigten  Fassungen  des  Ich- 
begriffes (I,  S.  413  ff.).  In  diesem  Aufsatz  wird  die  Rolle  des  Ichbegriffs 
bei  Kant  ebenso  eingehend  als  einsichtig  behandelt.  Bemerkenswert  ist 
dabei    folgende    Ausführung:     „Die    von    Kant    durchgängig    festgehaltene 


Bibliographische  Notizen.  34:5 

Unterscheidung  der  Momente  des  Empirischen,  Transscendentalen  und  Trans- 
■scendenten  hat  bei  ihm  auch  Geltung  in  Bezug  auf  das  Ich:  er  unterscheidet 
■demgemäss  das  Ich  alsErsclieinungdes  transscendentale  Bewusstseinsi=  die 
Vorstellung  des  Ich)  und  des  Ich  an  sich."  „Von  düsen  Fassungen  des 
Ichbegriffes  zu  trennen  ist  das  (bei  Kant  dem  transscendentalen  Ich  be- 
denklich nahegerückte)  logische  Ich  als  der  BegriTf,  den  alles  Denken  auf 
das  Ich  als  das  gemeinschaftliche  Subjekt  hat,  dem  es  inhärieit."  S.  420  ff. 
'.vird  die  Frage  der  Unmittelbarkeit  des  Bewusstseins  bei  Kant  erörtert; 
433  ff.  und  455  ff.  wird  besonders  noch  der  Begriff  des  „Bewusstseins  über- 
haupt" ercirtert.  Marschner  untersucht  eingehend  auch  Fichtes  Ichbegriff, 
zieht  aber  die  Kantischen  Fassungen  desselben  vor.  —  Beachtenswert  ist 
noch  aus  demselben  Bande  eine  kritische  Besprechung  des  Boiracschen 
"Werkes:  lidee  du  phenomeue  durch  M.  R.  Kauffmann,  in  weicher  auf 
Kant  näher  eingegangen  wird.  —  Aus  dem  2.  Bande  sei  noch  die  Abhand- 
lung: Zur  Lelire  von  den  Axiomen  von  Dr.  Herr  mann  erwähnt,  der  dabei 
iiuch  von  Kant  ausgeht. 


o^ 


In  der  „Christlichen  Welt"  1899,  Nr.  17  und  18  findet  .sich  ein  hoch- 
interessanter Aufsatz  rechtsphilosophischen  Inhalts  von  Friedrich  Paulsen. 
Er  trägt  den  Titel  „Politik  und  Moral"  und  verfolgt  die  Aufgabe,  die 
Berechtigung  jenes  allgemeinen  Gefühls  nachzuweisen,  das  die  sittlichen 
Normen  auch  auf  die  Politik  und  die  Politiker  anwendet.  „Die  absolute 
Verneinung  |der  ethischen  Massstäbe  in  der  Politik]  beruht  auf  derselben 
Sophistik.  die  hin  und  wieder  auch  zur  Leuguung  der  Giltigkeit  de»  Moral 
für  die  einzelnen  geführt  hat.  Allerdings  gelten  hierbei  gewisse  Einschrän- 
kungen, die  aus  der  Natur  des  Staates  und  des  Staatslebens  folgen.'  „Wer 
aber  ein  Rechtsverhältnis  [zwischen  den  Staaten)  überhaupt  annimmt,  der 
muss  den  Krieg  als  ein  Abnormes  und  zu  Eliminierendes  ansehen,  der  wird 
den  Staatsmännern  mit  Kant  die  Aufgabe  stellen:  dem  vollkommenen 
Rechtszustand  auf  Erden  in  die  Hände  zuarbeiten".  In  diesem  Znsammen- 
hang geht  der  geistvolle  Verf.  mit  Wärme  auf  Kants  Gedanken  über  den 
Krieg  ein:  Ob  jemals  der  ewige  Friede  realisiert  werden  wird,  ist  eine 
Frage,  die  nicht  entschieden  werden  kann;  dass  aber  der  ewige  Friede  als 
Vernunftidee  im  Sinne  Kants  zu  Recht  besteht,  duldet  keinen  Zweifel. 
Denn  Bekämpfung  der  Übel  ist  eine  notwendige  Aufgabe  des  vernünftigen 
Willens. 

Dem  Jubiläum  der  That  Fichtes,  der,  „um  nicht  der  Würde  der  Philo- 
sophie etwas  zu  vergeben,  sein  Lehramt  in  Jena  aufgab",  widmet  Paulsen 
„ein  Gedenkblatt"  in  der  „Deutschen  Rundschau"  (Berlin.  Paetel),  April 
1899  (S.  66 — 76):  „J.  G.  Fichte  im  Kampf  um  die  Freiheit  des  philo- 
sophischen Denkens".  Einleituugsweise  erinnert  Paulsen  an  Kants 
Konflikt  mit  der  preussischen  Censur;  dann  wendet  er  sich  zur  Schilderung 
des  Fichteschen  Atheismusstreites.  Hierauf  folgen  sachliche  Erörterungen 
über  Fichtes  Athe'smus  und  über  seinen  Gottesglauben.  Sein  Atheismus 
war  die  Bekämpfung  der  natürlichen  Theologie,  die  „ihm  durch  die 
grosse  von  Kant  ausgehende  Revolution  der  Philosophie  völlig  abgethan" 
war  (72).  Fichtes  Gott  ist  kein  Einzelwesen,  kein  Individuum,  keine  Sub- 
stanz; er  ist  auch  kein  Wesen,  das  den  Menschen  Glückseligkeit  giebt: 
er  ist  d'e  moralische  Weltordnung  selbst.  Er  ist  kein  anderer  als  der  Gott 
Kants.  Dass  Kant  dieselben  Gedanken  fast  ohne  Widerstand  aussprechen 
durfte,  verdankt  er  seiner  dunklen  Ausdrucksweise.  Fichte  „selbst  spricht 
einmal  von  der  Obskurität,  die  Kant  geschützt  habe"  (S.  74).  Zum  Schluss 
hebt  P.  das  Typische,  das  sich  in  dem  Fichteschen  Streit  geltend  macht, 
hervor.  „Drei  Parteien  sind  darin  thätig:  1.  die  Hüter  der  geltenden  Lehre, 
2.  die  Bringer  neuer  Meen.  3.  zwischen  beiden  die  Politiker"  (74).  Fichte 
selbst  nennt  sie  „Obskuranten,  Lichtfreunde  und  Ge.schäftsleute".  Letztere 
sind  dem  Neuen  nicht  abgeneigt,  aber  sie  „leben  in  Kompromissen  und 
von  Kompromissen",  und  so  geben  sie  dem  Verkünder  neuer  Ideen  gute 
Ratschläge  und  wohlwollende'  Weisungen.  Aber  stolz  lehnt  dieser  sie  ab 
Knntstudieu  IV.  28 


340  Hibliojfiapliisclie  Notizen. 

wie  „Sokrates.  da  er  in  jener  denkwünliLTcn  (.u'rieiitsverliaiitlluiii^,  statt  sicli 
kleiner  Strafe  scluililig  zn  bekennen,  der  ypeisun;;  im  i'rylaneiiin  sich 
würdif^  erkannte"  (76).  Und  dailnirli  k<Mnmt  es  zum  Brueh.  Im  l'.ill  l'^ichtes 
liat  t'toetlie  die  T{olU>  des  Politikers  i;t'S]n('U.  ..Duell  steht  der  .\lrusch  da- 
hinter. Kr  lieht  überall  ilie  stillen  \Virkuni;eii,  die  allmäidiclu'n  l'l)er;.;iin^e, 
wie  in  der  Natur,  so  in  der  Geschiclito;  darum  ist  ihm  das  stürmische  Vor- 
p;ehen  leidenschaftlicher  Geister  zuwider.  Ks  ist  eine  Schranke  in  seiner 
Natur,  dass  er  für  das  gewaltij;e  Wolh'U  umwälzender  Geister  kein  sym- 
]nithisches  Verständnis  hat,  daher  hat  er  auch  kein  rechtes  Vcrliidtnis  zu 
Persönlichkeiten  wie  Luther"  (TÜ). 

Über  Paulsens  neues  Kantbuch  giebt  Dr.  H.  Romundt  eine  aus- 
führliche Besprechung  in  den  „Monatsheften  der  Comuniusgesellschaft", 
1899.  Januar-Februar  (S.  36—42)  mit  dem  Titel  „Immanuel  Kcant.  Sein 
Leben  und  seine  Lehre".  Romundt  bcgrüsst  das  Buch  als  „wohl  ge- 
eignet für  die  Aufgabe,  die  ihm  der  \'erfasser  stellt:  denen,  die  Kaut  selbst 
lesen  und  studieren  wollen,  zum  Führer  zu  dienen.  Diese  Adressierung  an 
ein  bestimmtes  weiteres  Publikum  hat  Paulsen  vor  der  Gefahr  einer  tri- 
vialen Popularisierung  bewahrt,  der  ein  in  die  nnbestimmte  grösste  Masse 
hinausgeworfenes  Kantbuch  leicht  erliegt.  Eine  edlere  Art  von  Volkstüm- 
lichkeit ist  das  von  unserem  Autor  sowohl  Erstrebte  wie  Eri'eichte"  (37). 
Doch  erhebt  R.  auch  mehrere  Einwendungen  gegen  die  Paulsensche  Auf- 
fassung: Kants  Interesse  für  das  Wissen  und  die  Forschung  kommt  bei 
P.  nicht  in  gleichem  Masse  zu  seinem  Reclit  wie  sein  Eintreten  für  einen 
aufrichtigen  Glauben  (38);  Kants  Agnosticismus  wird  allzusehr  zurückge- 
stellt hinter  seinen  Piatonismus  (89).  „Hätte  Paulsen  den  Physiker  in 
Kant  mehr  gewürdigt  und  damit  dessen  Verhältnis  zur  Naturforschung 
als  der  Grund-  und  Boden  Wissenschaft  des  Menschen,  so  würde  er  wohl 
auch  nicht  so  weitläufig  Kants  Platonisch  geartete  Metaphysik  S.  237—282 
ausgeführt  haben"  (89).  Einen  „tiefgehenden  Gegensatz  der  Denkweise" 
(40)  zwischen  Kaut  und  Paulsen  konstatiert  R.  in  Hinsicht  auf  ihre  sitt- 
lichen Anschauungen:  während  Kant  die  ethische  Gesetzgebung  von  der 
Erfahrung  emanzipiert,  werden  „nach  Paulsen  die  Begriffe  der  Sittlichkeit 
durch  die  Erfahrungen  dieses  Lebens  nicht  nur  veranlasst,  sondern  völlig 
begiündet." 


o 


-o 


In  dem  Artikel  „Ein  Buch  über  Kant"  („Die  Nation",  Hr.sg.  v.  Th. 
Barth,  1899,  Nr.  43.  S.  609—18,  Nr.  44,  S.  628—26)  wendet  sich  H.  Cohen 
von  seinem  „transscendentalen"  Standpunkte  aus  gegen  Paulsens  „Imma- 
nuel Kant,  Sein  Leben  und  seine  Lehre".  Nach  Cohen  steht  Paulsen  an- 
geblich der  Kantischen  Philosophie  innerlich  nicht  nahe  genug,  um  zur 
Bearbeitung  eines  solchen  Buches  geeignet  zu  sein.  Den  Nachweis  dafür 
sucht  Cohen  zu  erbringen,  indem  er  die  Abschnitte  der  genannten  Mono- 
graphie einzeln  Revue  passieren  lässt.  Auf  einige  Punkte  sei  hier  kurz 
hingewiesen:  S.  610  wird  die  Paulsensche  Darstellung,  wonach  Kants  An- 
schauung von  der  Natur  des  wirklich  Wirklichen  im  Grunde  immer  dieselbe 
war,  abgelehnt,  ebenso  wie  die  in  Zusammenhang  hiermit  stehende  An- 
nahme einer  von  Kant  zu  allen  Zeiten  festgehaltenen  Privatansicht  der 
Metaphysik.  Die  PersönKchkeit  Kants  wird  in  eine  freundlichere  Beleuch- 
tung gestellt  (611;.  Gegen  eine  Bemerkung  Paulsens  über  das  Verhältnis 
der  Philosophie  zur  Wissenschaft  richten  sich  eingehende  Ausführungen 
(612),  in  denen  bes.  die  Bedeutung  der  synthetis(rfien  Grundsätze  für  den 
Kriticismus  hervorgehoben  wird.  Nach  mehrfachen  Einwänden  gegen  P.  s. 
Darstellung  und  Kritik  der  synthetischen  Grundsätze  (623j  folgen  Erörte- 
rungen über  das  Verhältnis  zwischen  Logik,  Mathematik  und  den  Natur- 
wissenschaften (623/4).  S.  624  wendet  sich  C.  zur  praktischen  Philosophie, 
wobei  zunächst  P.'s.  Dar.stellung  im  Allgemeinen,  dann  die  einzelnen  Teile 
seiner  kritischen  Erörterungen  angegriffen  werden.  Zum  Schluss  folgt 
(S.  625/6j  die  Besprechung  der  Paulsenschen  Ausführungen  über  Kants 
Ästhetik.     Hier  wird  geltend  gemacht,  dass  P.   die  historische  Perspektive 


Bibliographische  Notizen.  .•J47 

umkehre,  imlem  er  „Scliiller  mul  Goethe  nach  Herdei  zurückdatiert".  Zu- 
dem sei  es  nicht  anp,än^ig,  die  Astlietik  „mit  einer  .so  eriichthchen  Küiv.e** 
zn  behandehi.  da  doch  Kants  Philosophie  „mit  unserer  klassischen  Poesie 
so  iunig  vermählt  ist". 

Zu  dem  bereits  in  den  „Iv.  .St."  111,  472  erwidiuten  .Streit  über  Kaut 
innerhalb  der  sozialdemokratischen  Partei  ist  ein  neuer  Beitrag  erschienen 
in  der  so/ialdemokratischen  „Freit-u  Presse"  (P]lberfeM-Bannon)  vom  12.  Febr. 
1899:  „Marx  —  Darwin  —  Kant.  Ein  Beitrag  zur  theoretischen  Diskussion" 
von  Dr.  med.  et  phil.  Woltmann,  Woltmann  wendet  sich  gegen  eine 
Rezension,  die  sein  Buch  „Die  Darwinsche  Theorie  und  der  Sozialismus" 
durch  Bebel  in  der  „Neuen  Zeit"  erfahren  hat.  W.  stellt,  bei  aller  Aner- 
kenninij;'  der  Klassenmoral,  die  Bebel  allein  gelten  lassen  will,  neben  diese 
die  Rassenmoral,  und  über  beide  die  Menschheitsmoral:  letztere  beschäftigt 
sich  nicht  mit  dem,  was  ist,  sondern  mit  dem,  was  sein  soll.  Er  findet  es 
seltsam,  dass  der  moderne  Sozialismus,  der  ganz  eigentli(;h  eine  „permanente 
moralische  Entrüstung"  ist,  theoretisch  gegen  die  Menschheitsmoral  Front 
macht,  die  doch  aus  jedem  sozialistischen  Programm,  aus  jedem  Wahlaufruf 
spricht.  Durch  Marx  sei  die  Sozialdemokratie  ins  Fahrw;isser  Hegels  ge- 
führt woidcn.  Kant  aber  sei  ein  viel  modernerer  Geist  als  Hegel,  sowohl 
in  seiner  Stellung  zur  Naturwissenschaft,  wie  zur  sozialen  Kritik.  Zu  ihm, 
„dem  grössten  der  Moralphilosophen",  müsse  der  Sozialismus  umkehren,  wenn 
er  „vor  geistiger  Erstarrung"  bewahrt  bleiben  wolle.  Denn  der  au  Hegel 
orientierten  Marxschen  „materialistischen  Dialektik"  hafte  noch  „zu  viel 
apriorischer  Schematismus  an,  der  in  der  Umschlagstheorie  des  kapi- 
talistischen Zusammenbruchs  herumspukt  und  politische  Propheten  zu 
Narren  macht".  „Der  historische  Materialismus  teilt  das  Schicksal  aller 
sensualistischen  Erkenntnistheorie,  mit  dem  Inhalt  der  Ideen  auch  die 
Form  der  Ideen  aus  der  sinnlichen  Aussenwelt  abzuleiten  und  eine  spontane 
Kraft  des  Geistes  im  Sinne  des  Kantischen  Ki-iticismus  und  der  Plato- 
nischen Ideenlehre  zu  leugnen.  Er  verwechselt  das  Recht  im  politischen 
und  juristischen  Sinne  mit  der  moralischen  Gerechtigkeit  und  identifiziert 
Sitte  mit  Sittlichkeit".  „Als  ich  vor  drei  Jahren  die  Rückkehr  zu  Kant 
dem  Sozialismus  empfahl,  dachte  ich  nicht  daran,  dass  sobald:  Hie  Kant 
—  Hie  Hegel  I  zum  Schlachtruf  erhoben  würde.  In  der  That  halte  ich 
jetzt  die  geistigen  Unterstrümungen  in  der  Partei  für  tiefergehend  als  die 
Vertreter  des  politischen  Tageskampfes  zugeben  w^ollen.  Will  der  Sozialis- 
mus eine  neue  Weltanschauung  sein,  wie  Engels  sagt,  dann  muss  er  sich 
auch  wissenschaftlich  mit  Kant  auseinandersetzen  ....  Die  Rückkehr  zu 
Kant  soll  aber  nicht  eine  Aufgabe  des  Marxismus  bedeuten.  Im  Gegen- 
teil, mit  kritisch  vertiefterem  und  geläuterterem  Bewusstsein  wollen  wir  zn 
dem  zurückkehren,  was  Marx  und  Engels  geleistet  und  uns  hinterlassen 
haben,  um  ihre  Gedanken  in  fruchtbarer  objektiver  Weise  weiter  auszugen 
stalten". 

Eine  eingehende  kritische  Besprechung  des  Anhanges  zu  Kants  „Natur- 
geschichte des  Himmels"  giebt  Dr.  Matthieu  Schwann  in  der  Schrift 
„Sophia.  Sprossen  zu  einer  Philosophie  des  Lebens"  (Leipzig,  C.  G.  Nau- 
mann, 1899,  216  S.).  In  dem  Kapitel:  „Kosmische  Phantasien"  widmet 
derselbe  12  Seiten  (S.  73 — S5)  jenem  Kantischen  Anhang,  speciel  Iden  Fragen, 
wie  die  Bewohner  der  andern  Gestirne  sich  zum  Menschen  verhalten-  In 
welchem  Verhältnis  die  geistigen  Fähigkeiten  dieser  Gestirnsbewohner  zu 
der  Dichtigkeit  und  sonstigen  Beschaffenheit  der  jedesmaligen  Materie 
stehen .'  Der  Verf.  glaubt,  dass  die  betr.  Wesen  den  Menschen  an  Voll- 
kommenheit nicht  bloss  im  Erkennen,  sondern  auch  im  Wollen  übertreffen. 

Die  Schrift  des  Prof.  M.  Lazarus,  die  p]thik  des  .Judentums, 
Erster  Band  Frankfurt  a.  M.,  J.  Kauffniann,  1898.  44.j  S.)  nimmt  an  vielen 
Stellen  Bezug  auf  Kant,  indem  der  Verf.  zu  zeigen  sucht,  dass  die  Ethik 
des  Judentums  (nach  Bibel  und  Talmud)  die  Grundgedanken  der  Kantischen 

23* 


j^^i>  Hihlio^^iapliisclu'  Notizeii. 

Kthik  ;\ntoci])iert  habe.  Dt-nn  niclit  tlurch  den  piittlichcn  Bi-fclil  wcmcU- 
das  Sittliflio  zum  Cosctz.  sondi-rn  weil  os  auch  ohne  (licscii  lii'IVhl  zum 
Gesetz  werden  n\iisste,  weil  es.  um  mit  Kant  zu  sprechen,  autonom  sei. 
wurde  es  von  Gott  befohlen;  so  sei  das  8ittenp;esetz  auf  den  kate^oriscluMi 
Imperativ  e;eüründet.  Dies  erhelle  aus  dem  rabbinischen  Ausspruche,  das 
Gesetz  solfe 'llisclnnoh".  d.  li.  in  seinem  Namen,  im  Namen  des  Gesetzes 
selbst,  um  seiner  unhedinjit  verjiflichtcndcn  K'iaft  willen  erfiUit  werden. 
Nur  aus  pädaüj^ogischen  Gründen  werde  die  Krfidlunf;  des  Gesetzes  zunächst 
auch  aus  materialen  Motiven  erlaubt.  Wenn  Kant  den  Fortschritt  in  der 
Ilochachtunu-  für  das  Gesetz  als  ..heilif^e  Scheu,  welche  sich  in  Liebe  ver- 
wandelt," bezeichne,  so  finde  sich  dieser  Gedanke  anch  schon  in  der 
rabbinischen  Litteratur;  ebenso  der  Gedanke  Kants,  dass,  „wenn  die  Ge- 
rechtiükeit  untercehe,  es  keinen  "Wert  mehr  habe,  dass  Menschen  auf  der 
Erde  Feben".  Die  Losung;'  des  Judentums  sei:  Die  Sittlichkeit  einzig  um 
der  Sittlichkeit  willen.  Auch  schhesse  die  Ethik  des  Judentums  das  Ge- 
bot in  sich  ein,  so  zu  handeln,  „dass  du  wollen  kannst,  dass  die  Maxime 
deines  Handelns  zum  Gesetz  für  Alle  werde".  Die  Ethik  des  Judentums 
fordere  unwillkürlich  zum  Veri;leich  mit  der  Philosophie  des  „Altmeisters 
Kant-*  heraus  (vgl.  „Kantstudien"  11,  6Ü0  f.). 

Unter  dem  Titel  „Time  as  related  to  Causality  and  to  Space" 
bring-t  das  Aprilheft  des  Mind  1899,  S.  216—232,  einen  Artikel  von  Marv 
"SVhiton  Calkins.  Die  Verfasserin  will  zeigen,  dass  die  übliche  Behand- 
lungsweise  des  Problems  der  Zeit  an  zwei  Fehlern  krankt:  einerseits  wird 
die  Zeit  —  nnd  das  sei  auch  Kants  Hauptfehler  (220j  —  in  Analogie  mit 
dem  Eaum  behandelt,  und  andrerseits  übersieht  man  ihre  Beziehungen 
zur  Kausalität.  In  teilweisem  Anschluss  an  Schopeidiauers  Lehre  von  der 
centralen  Bedeutung  des  Satzes  vom  Grnnde  wird  dann  ausgeführt,  „that 
Time  and  Cansalitv  are  svibordinate  forms  of  this  principle  of  the  Necessary 
Connexion  of  pheiiomena,  and  that  the  third  and  co-ordinate  form  of  the 
category  is  Eeciprocal  Determination,  not,  as  is  often  stated,  Space"  (218). 

Als  Erweiterung  einer  akademischen  Antrittsvorlesung  hat  Professor 
Barth  in  Leipzig  in  der  von  ihm  redigierten  „Yierteljahrsschrift  f.  wissen- 
schaftl.  Philosophie"  XXIll,  1  (1899),  S.  76—116,  einen  Artikel  erscheinen 
lassen  mit  dem  Titel  „Die  Frage  des  sittlichen  Fortschritts  der 
Menschheit".  Für  die  Kantische  Philosophie  kommt  dieser  interessante 
Aufsatz  insofern  in  Betracht,  als  eine  der  darin  vertretenen  Grundthesen 
die  ist.  dass  die  Wandlung  der  sittlichen  Anschauungen  derart  vor  sich 
geht,  dass  im  Laufe  der  geschichtlichen  Entwicklung  die  Menschen  erzogen 
werden  zu  sittlicher  Freiheit,  zur  Autonomie  im  Sinne  Kants.  So  \venig 
eine  Übereinstimmung  über  die  sittlichen  Zwecke  unter  den  Ethikern  zu 
erzielen  sei,  so  sehr  stimmen  sie  doch  alle  darin  überein,  dass  eine  sitt- 
liche Handlung  „desto  höheren  sittlichen  Wert  habe,  je  mehr  sie  hervor- 
gehe aus  dem  innersten  Wesen,  der  innersten  Gesinnung  des  freien 
Menschen"  (82).  „Eine  Gesellschaft  wird  desto  vollkommener  sein,  je  mehr 
sie  diese  Selbständigkeit  [des  mündigen  Menschen],  ohne  ihre  Existenz 
zu  gefährden,  durchgeführt  hat,  je  mehr  sie  also  auf  den  guten  "V^  illen 
ihrer  Mitglieder,  das  einzige  schlechthin  Gute,  das  es  nach  Kant  giebt,  ge- 
gründet ist"  (84).  In  anziehender  Weise  zeigt  Barth  in  einem  Ueberblick 
über  die  historische  Entwicklung,  dass  wir  in  Eecht  und  Sitte  ein  stetiges 
Wachsen  der  Autonomie  der  Persönlichkeit  konstatieren  dürfen.  Kann 
man  somit  die  Entwicklung  der  sittlichen  Grundsätze  durch  eine  auf- 
steigende Gerade  symbolisch  darstellen,  so  gilt  dies  jedoch  nicht  von  der 
aktuellen  Sittlichkeit,  deren  Entwicklung  vielmehr  in  Kurven  verläuft,  zu 
denen  jene  Gerade  „beinahe  die  gemeinsame  Tangente  ist"  (107);  dabei 
liegt  der  Scheitelpunkt  jeder  neuen  Kurve  höher  als  der  der  voraufgehenden. 
Der  Gegenwart  weist  der  Verf.  ihre  Stelle  auf  dem  absteigenden  Aste  einer 
solchen  Kurve  an. 


Bibliographische  Notizen.  349 

Über  einen  entschiedenen  Gegner  der  Kantiscl  •.•a  Ä.sthetik  liandelt 
die  Erhinger  Dissertation  „J.-M.  Gu3'au"s  Prinzip  i'es  Schönen  und 
der  Kunst-  von  Heinrich  W  ilienbücher  (C.iesscn,  lb!)!t,  50  S.).  „Guvaus 
Theorie  leidet  an  der  Betonung  des  pathologischen  Interesses,  das  tlurch 
Kant  endgültig  von  dem  Schönen  ausgeschlossen  zu  sein  schien"  (14): 
Dieser  Satz  enthält  den  springenden  Punkt  für  den  Gegensatz  zwischen 
den  beiden  Ästhetikern.  Im  Übrigen  sind  noch  zu  vergleichen  Seite  6 
(über  die  Bedeutung  des  „Spiels"),  S.  7  (über  das  Verhältnis  von  Schönheit 
und  Nützlichkeit,  die  Guyau  in  enge  Beziehung  zu  einander  bringt).  S.  10 
(über  das  Ideal  der  Schönheit). 

Eine  kurze  Behandlung  der  Kautischen  Ästhetik  findet  sich  in  der 
Poetik  von  Eugen  Wolff  (Oldenburg,  Schulze,  1899,  VII  u.  286  S.).  Das 
Buch,  eine  auf  induktive  Durchforschung  der  Geschichte  der  Weltlitteratur 
gegründete  Darstellung  der  Gesetze  der  Dichtkunst,  setzt  ein  mit  einer 
bersicht  über  die  Geschichte  der  Theorien  über  Poetik  und  stösst  in 
diesem  Zusammenhange  S.  6  auch  auf  Kants  Kritik  der  Urteilskraft.  Her- 
vorgehoben wird  die  Bedeutung  der  Begriffsbestimmung  des  Schönen  und 
Erhabenen,  sowie  der,  teilweise  durch  den  Gegensatz  wirksam  gewordene, 
Einfluss  Kants  auf  die  Ästhetik  Schillers. 

Eine  am-egende  ästhetische  Studie  auf  der  Grundlage  des  erkenntnis- 
theoretischen Idealismus  ist  soeben  im  Verlag  von  J.  H.  Ed.  Heitz  in 
Strassburg  erschienen.  Sie  trägt  den  Titel:  Das  Problem  der  Darstel- 
lung des  Momentes  der  Zeit  in  den  Werken  der  malenden  und 
zeichnenden  Kunst  von  Ernst  te  Peerdt.  Von  der  Voraussetzung 
aus,  dass  nicht  die  Gegenstände  an  sich,  sondern  allein  deren  Vorstellungen 
Objekte  der  Kunst  sein  können,  wird,  da  jede  Vorstellung  zeitlichen 
Charakter  hat,  gezeigt,  dass  das,  was  der  Künstler  vor  dem  Momeutphoto- 
graphen  voraus  hat,  eben  die  Möglichkeit  der  Wiedergabe  dieses  zeitlichen 
Momentes  ist.  „Mit  dem  Trugprinzip  einer  realistischen  Kunst"  wird  der 
Maler  „nicht  ein  grosser  Künstler,  sondern  ein  grosser  Optiker"  (43j. 

Karl  Gross,  der  Verfasser  der  „Spiele  der  Tiere",  hat  nunmehr  auch 
seine  anthropologischen  Untersuchungen  über  das  Spiel  in  einem  stattlichen 
Bande:  „Die  Spiele  der  Menschen"  (Jena,  G.Fischer,  1899.  526  S.)  ver- 
öffentlicht. Ohne  allen  Zweifel  ist  das  Buch  eine  hochbedeutende  Be- 
reicherung der  psychologischen,  ästhetischen  und  pädagogischen  Litteratur. 
Kant  wird  mehrfach  berücksichtigt:  207  seine  „unübertrefflich  feine" 
Theorie  des  Komischen,  auf  die  wieder  Bezug  genommen  wird  359;  209 
seine  „grundlegende  Erörterung"  über  das  Erhabene;  72  über  „Farbenkunst"; 
513  über  die  ethische  Forderung,  dass  der  Mensch  nie  bloss  als  :Mittel 
verwendet  werde. 

Über  J.  Reinkes  neues  Buch  „Die  Welt  als  That"  (Berlin,  Paetel) 
hat  in  Nr.  14  der  „Gegenwart"  (8.  April  1899)  Ludwig  Büchner  einen 
Artikel  mit  der  Überschrift  „Das  erkenntnistheoretische  Problem 
im  Lichte  der  Naturwissenschaft"  veröffentlicht.  Beifällig  werden 
die  im  Sinne  der  realistischen  Metaphysik  des  gesunden  Menschenver- 
standes gehaltenen  Ausführungen  über  die  (übrigens  von  Reinke  gänzlich 
missverstandenen)  Lehren  der  Transscendentalphilosophie  (Unerkennbarkeit 
der  Dinge  an  sich  un<l  Idealität  von  Kaum  und  Zeit)  citiert  und  besprochen. 
Reinkes  mvstische  Theorie  der  Vererbung  und  vollends  sein  atheistisches 
Glaubensbe'kenntnis  finden  freilich  die  Zustimmung  des  Materialisoen- 
führers  nicht,  sondern  werden  am  Schlüsse  des  Aufsatzes  im  Namen  der 
„modernen  Naturforschung  .  .  .  perhorresciert". 

Die  „Geschichte  der  Haupt-  und  Residenzstadt  Königsberg  i.  Pr."  von 
Prof.  Dr.  R.  Armstedt,  mit  2  Sta.ltplänen,  2  Siegeltafeln  und  32  Abbil- 
dungen (Stuttgart,  Mobbing  und  Bixhle,  1899,  354  S.)  bietet  für  die  Kenntms 


•^50  lUhliographisi'lii'  Notizen. 

dor  lloim;it  K;iuts  sflir  vii'l  llflcliicmlrs  und  Interessantes.  Das  „'Milieii*, 
aus  dem  derselbe  herausucwaclisen  ist.  wird  selir  anscliaidicli  gescliildcrt. 
Anf  Kant  be/ielien  sich  allein  3  Abbildnnucn ;  das  K'.aiit  |i..r1  r;i(  v(in  D('>l)l('r, 
die  Kantstatue   von   Haueli.  di»-  Stna    Kantiana. 

hn  „American  .lournal  ul'  Science"  V,  S.  1)7 — llL'  (l\'l)r.  Ib'JS)  heliandeit 
t;  F.  Becker  unter  der  Überschrift  ..Kant  as  a  Natural  Philosopher" 
die  Be/.iehunji-en  der  Kantischen  Kosnidüdnie  zu  Descartes.  Newton  und 
Swedenborg;-  und  vergleicht  Kants  Ni'bulariivixithese  mit  den  Theorien 
Laplaces  und  Lord  Kelvins. 

B.  A.  W.  Rüssel  spricht  in  seinem  Buche  ^An  Essay  on  thel'oun- 
dations  of  Geometry"  (Cand)rid2;e.  The  University  Press,  ]S07)  nu'hilacli 
über  Kant  und  Themata  der  Kantischen  Philosophie.  Begrii'l'  und  Bedeu- 
tung des  Apriori  werden  erörtert;  Kants  transscendentale  Ästhetik  und 
.--eine  Theorie  der  Geometrie  werdi'u  bei  Bcliaudluni;-  dei-  metageometrischen 
Probleme  eingehend  berücksichtigt. 

Über  ..Kaufs  Theorv  of  Education"  handelt  ein  Aufsatz  von  J.  L. 
Mc  Lntyre  in  der  Educational  Review  XVI,  4,  S.  313--327.  An  die  Dar- 
stellung- der  Kantischen  Anschauungen  über  Pädagogik  knüpft  der  Verf. 
Erörterungen  über  die  Vereinbarkeit  derselben  mit  dei-  AVillcnsfi-eiheit. 

Kants  Lehre  vom  Willen  ist  behandelt  von  Archibald  Alexander  in 
seinem  Buche  „Theories  of  the  Will  in  the  History  of  Philosophy" 
New- York,  Ch.  Scribner's  Sons,  1898). 

Treffende  Bemerkungen  über  die  Bedeutung  Kants  finden  sich  in 
der  Jenaer  Dissertation  „Entstehung  u  n  d  B  e  d  e  u  t u  n  g  d  e  s  G  e  f  ü  h  1  s  i  m 
Leben  der  einheitlichen  Seele  mit  besonderer  Rücksicht  auf  die 
praktischen  Ideen  Herbarts"  von  Friedrich  Ballauff  (Aurich,  1898, 
Gymnasialprogramm).  Es  lieisst  da  u.  a.:  „Die  alles  üljerragende  Stellung 
Kants,  bes.  auf  ethischem  Gebiet,  lässt  es  fast  unthunlich  erscheinen,  in 
eine  sittliche  Erörterung  einzutreten,  die  nicht  an  seinen  Namen  anknüpft. 
So  ist  es  nicht  zu  verwundern,  dass  sich  auch  Herbart,  wie  wir  wissen, 
stets  der  Pflicht  der  Dankbarkeit  bewusst  gewesen  ist,  die  wir  alle  diesem 
Philosophen  schulden,  dass  auch  er  in  steter  Anlehnung  an  die  unvergäng- 
lichen Ergebnisse  Kantischer  Forschung,  in  stetem  Gedenken  an  die  un- 
auslöschlichen Verdienste  des  Königsberger  Weisen  sich  gerade  in  ethischer 
Hinsicht  mit  besonderem  Stolz   einen  Schüler  Kants  genannt  hat"  (22/23). 

Von  Kant  und  der  Wirkung  seiner  Philosophie  redet;  eingehend  Julius 
Duboc,  Dr.  phil.,  in  seinem  V^^erke:  Hundert  Jahre  Zeitgeist  in 
Deutschland.  Geschichte  und  Kritik.  2.  Auflage,  1899  (Leipzig, 
O.  Wigand).  Er  setzt  mit  seiner  Geschichte  des  deutschen  Zeitgeistes  mit 
dem  Erscheinen  der  Kritik  d.  r.  V.  ein  und  schildert  von  da  an  alle  AVand- 
lungen  des  Zeitgeistes  von  Fichte  bis  Hegel,  von  Feuerbach  bis  Schopen- 
hauer, von  R.  Wagner  bis  Nietzsche.  Die  Bedeutung  der  Erneuerung  der 
Kantischen  Philosophie  für  den  Zeitgeist  seit  1870  ist  dem  Verf.  nicht  zum 
Bewusstsein  gekommen. 

Pfarrer  Hermann  Bleek  in  Rüttenscheid  hat  bei  Mohr  in  Freiburg 
i.  B.  eine  Schrift  erscheinen  lassen:  Die  Grundlagen  der  Christologie  Schleier- 
machers. 1898  (233  S.).  Im  2.  Kapitel  der  Einl.  S.  32—65  behandelt  der 
Verf.  „die  moralisch-intellektualistische  Periode",  in  welcher  „Christus  als 
Vorbild  und  Lehrer",  als  „Weiser"  galt,  d.  h.  die  Aufklärungszeit,  vertreten 
durch  Kant.  Er  zeigt,  wie  Schleiennacher  sich  in  diesem  Punkte  mit  Kant 
auseinandergesetzt  hat. 

In  der  „Neuen  Kirchl.  Zeitschrift"  VIII,  N.  12,  (Erlangen,  Deichert) 
findet  sich  ein  Aufsatz  von  Prof.  D.  Wilhelm  Schmidt  „Ethische  Fragen", 


Bibllugraphische  Notizen.  351 

in  welchem  derselbe  S.  947  ff.  über  und  gegen  Kants   aatonorae  und  anti- 
eudämonistische  Moral  sich  äussert. 

Von  Paolo  Kaff.  Trojano  ist  ein  AVerk  erschienen:  La  storia  comc 
scienza  sociale.  Napoli.  "Pierro  18!18  (P.  271);  pa^'.  189  ff.  behandelt  der 
Verf.  >la  dottrina  Kantiana  dei  Sentimenti  estetici",  und  meint:  „.Sentimento 
desinteressato  e  una  contradi/.zione  nei  termini".  Er  bespricht  dann  auch 
noch  die  Herbartsche  Theorie  und  giebt  dann  doch  noch  zu,  dass  die 
ästhetischen  Gefühle   als  uninteressierte  bezeichnet  werden  können. 

Neue  Wege  für  die  Psychologie  schlägt  Eudolf  Müller  ein  in  seiner 
Schrift:  ^Das  hypnotische  Hellseh-Experiment  im  Dienste  der 
naturwissenschaftlichen  Seelenforschung.  1.  Band:  Das  Ver- 
änderungsgesetz"  (Leipzig,  Arwed  Strauch  1898,  VIU  u.  168  S.).  Der 
Verfasser  stellt  ein  allgemeines  kausal-teleologisches  „Veräuderung.sgesetz" 
auf.  das  sowohl  für  unorganische,  als  für  belebte  Objekte  gilt,  und  das 
auch  der  psvchologischen  Forschung  die  Ziele  weist.  Diese  Aufgabe,  die 
seelischen  Erscheinungen  nach  Massgabe  jenes  Gesetzes  zu  erforschen, 
habe  die  bisherige  Psychologie  nicht  erfüllt,  insbesondere  weil  sich  die 
meisten  Psychologen  von  der  Kantischen  Erkenntnislehre  zu  sehr  haben 
beeinflussen  lassen;  es  wird  daher  ein  eigener  Abschnitt,  S.  83 — 98,  der 
Prüfung  der  Erkenntnislehre  Kants,  den  der  Verf.  im  Übrigen  sehr  hoch 
stellt,  vom  Standpunkt  jenes  Gesetzes  aus  gewidmet.  Die  Kritik  leidet  an 
dem  fundamentalen  Missverständnis  des  Ausdruckes  „transscendentales" 
Subjekt,  ein  Terminus,  an  dessen  Schwierigkeit  Kant  selbst  freilich  schuldig 
ist,  insofern  ja  „transscendental"  bald  sich  auf  das  Immanente,  bald  auf 
das  Transscendente  bezieht.  Im  Übrigen  wendet  sich  der  Verf.  speziell 
gegen  den  Ausdruck  ,.Form';  (Gassform)  und  gegen  die  „reine  Anschauung 
a  priori";  Kants  Transsc.  Ästh.  erkläre  nicht  „die  Bildung  und  Bewusst- 
Averdung  der  starken  Objektvorstellungen".  Der  Verf.  dehnt  dann  seine 
Kritik  auch  auf  die  Transsc.  Analytik  aus  und  verwirft  auch  die  reinen 
,. Formen  des  Denkens",  die  Kategorien,  diese  „zwölferlei  Formationsregeln 
der  Erfahriin"selemente".     Tieferes  Eindringen  in  K.    würde    den  Verf.  zu 


'O^ 


einer  positiveren  Würdigung  Kants  gelangen  lassen. 

In  der  „Zeitschrift  für  Theologie  und  Kirche"  (hrsg.  v.  Gottschick) 
IX,  3  il899),  S.  188—249  findet  sich  eine  Abhandlung  über  „Schuld  und 
Freiheit"  von  Lic.  theol.  E.  Rolffs.  Nach  einleitenden  psychologischen 
Erörterungen  wendet  sich  der  Verf.  S.  197  zur  Untersuchung  cles  berühmten 
Schlusses  „du  kannst,  denn  du  sollst".  Für  den  einzelnen  Fall  bestehe 
derselbe  nicht  zu  Recht.  Rolffs  verweist  auf  die  „Heroen  der  Sittlichkeit", 
Paulus,  Aiigustin.  Luther,  die  durch  ihre  Erfahrungen  zur  Annahme  einer 
Erbschuld  geführt  worden  sind.  „Gerade  in  den  Fällen,  in  denen  das 
Schuldgefühl  am  schwersten  und  ([uälendsten  auf  uns  lastet,  begründet  das 
Gewissen  sein  Urteil:  du  bist  schlecht,  nicht  mit  dem  Satze:  du  hast 
nicht  gehandelt,  wie  du  solltest  und  konntest,  sondern  es  urteilt: 
du  bist  schlecht,  weil  du  nicht  handeln  konntest,  wie  du 
solltest".  So  kommt  der  Verf.  zur  scharfen  Scheidung  zwischen  Reiie 
(der  Unlust  über  einen  Irrtum)  und  Schuldbewusstsein.  Die  Verwechslung 
dieser  beiden  Seelenzustände  habe  auch  Kants  Darstellung  der  Gewissens- 
vorgänge beeinträchtigt  (Met.  Anfangsgr.  d.  Tugendl.  §  13).  Eingehend 
und  scharfsinnig  werden  Augustins  und  Schopenhauers  Freiheitslehren 
kritisiert.  Im  Gegensatz  zii  diesen  beiden  Denkern,  die  die  Menschheit 
nicht  als  Ganzes  in  den  Umkreis  ihrer  diesbezüglichen  Betrachtungen  ge- 
zoge<i  haben,  schliesst  der  Verf.  aus  der  Gesamtschuld  dc-r  ^lenschheit 
auf  eine  „Gesamtfreiheit,  die  sich  auf  die  einzelnen  Persönlichkeiten  ver- 
schieden verteilt".  Damit  mündet  Rolffs  bei  der  von  Kant  ausgesprochenen 
Lehre:  „Wir  sollen  bessere  Menschen  werden  .  .  .  folglich  müssen  wir  es 
auch  können"  (Religion  innerh.  d.  Gr.  d.  bl.  V..  1.  Stück,  Allg.  Anm.). 
„Dieser  Satz",  sagt  Rolffs,    „ist  richtig   und    unausweichlich,    während  der 


352  Kililiiij^rapliisclic  Notixen.  —   Zoitscliriftonscliau. 

Schluss  „du  kannst:  denn  du  sollst"  dmrhaiis  niissvi-rstiiiullirli  und 
vielfach  missverstandon  ist".  So  wird  die  Frcilifit  zum  praktisclicii  Postulat, 
zu  einer  Aufuabi'  für  die  Zukunft.  Das  Srliuld;j;i'füld  ist  hierlici  ..die  not- 
wendi.ce  Betlinj^un^  des  sittliciu'n  I'ort Schrittes  und  der  niircligan;^^si)unkt 
zur  vollkonuuenen  Freiheit".  Die  in  diesem  ZusHmnirnli:ui','c  erörterten 
Fragen  über  das  sittliche  Ideal  und  über  die  Achtun;;-  vor  di-ui  (Jesetz. 
schiiessen  sich  vielfach  enj;  an  Kant  an  und  zeigen,  dass  der  Verf.  den 
Philosophen  mit  gros.sem  Erfolg  zu  lesen  ,i;t\vusst   liat. 


Zeitsclirifteiiscliau. 


Zeitschrift  für  Philosophie  und  philosophische  Kritik  (herausg.  von 
E.   Falckeuber-).     Leipzig,   Pfeffer. 

Bd.  114.  1  (l89iM.  Busse,  Leib  und  Seele.  —  Brömse,  Die  Realität 
der  Zeit  o"gl-  oben  S.  337)  —  Liitoslawski.  Über  Lot z es  Begriff  der 
metaphysischen  Einheit  aller  Dinge.  S.  67:  Subjektivität  der  Eaum- 
anschauung.  71:  Ding  ausser  uns.  —  König,  E.  v.  Plartnianns  Kategorien- 
lehre. 80:  S3-nthesis  der  Rekognition.  82:  Idealität  des  Raumes.  — 
Adickes,  Rezension  von  Wundt,  „System  der  Philosophie",  2.  Aufl.  — 
Marbe,  Rezension  von  Goldschmidt,  „DieWahrscheinlichkeitsrechnung". 

Bd.  114,  2.  Sclieler,  Arbeit  und  Ethik.  165:  Neukantianismus.  — 
Döring,  Zur  Kosmogonie  Anaximanders.  —  Vorländer,  Eine  „Sozial- 
pädagogik" auf  Kantischer  Grundlage.  Über  Katorps  „Sozial- 
pädagogik", eine  kritische  Begründung  der  Sozialpliilosophie  auf  ..dem 
Grunde  der  Kantischen' erkenntniskritischen  Methode.  —  Siebert,  Über 
die  Beziehung  des  Menschen  auf  die  Natur  und  das  Menschen- 
geschlecht. —  Henian,  Paulsens  Kant.  „Wir  erhalten  den  ganzen 
Kant  in  einheithchem  Guss,  nicht,  wie  es  meist  geschieht,  den  in  der 
Succession  seiner  Geistesepochen  und  Philosophieperioden  zerlegten  und 
in  seine  empirischen  Lebensmomente  auseinandergezogenen,  sondern  Paulsen 
stellt  gleichsam  das  ens  noumenon  Kant,  den  intelligiblen  Charakter  des- 
Philosophen, vor  uns,  den  von  innen  heraus,  aus  dem  Cenlrum  und  der 
"Wurzel  seines  Geisteswesens  geschautenDeuker".  Ausführliche  Erörterungen 
über  Kants  „Metaphysik". 

Vierteljahrsschrift  für  wissenschaftliche  Philosophie  (herausg.  von 
P.  Barth),     Leipzig,  Rei.sland. 

XXIII  (1899),  H.  2.  Kiilpe,  Über  den  associativen  Faktor  des 
ästhetischen  Eindrucks.  148:  Kants  Lehre  von  der  anhängenden 
Schönheit.  —  Posch.  Ausgangspunkte  zu  einer  Theorie  der  Zeit- 
vorstellung IL  —  Schwarz,  Die  empiristische  Willenspsychologie 
und  das  Gesetz  der  relativen  Glücksförderung.  —  Marbe,  Rezension 
von  Ziehens  Ps^-chophysiol.  Erkenntnistheorie. 

XXIII,  H.  3.  V.  Ehrenfels,  Entgegnung  auf  H.  Schwarz"  Kritik 
der  empiristischen  AVillenspsychologie  und  des  Gesetzes  der 
relativen  Glücksförderung.  —  Posch,  Ausgangspunkte  zu  einer 
Theorie  der  Zeitvorstellung  IIl.  308,  319:  Kant.  —  Barth,  Fragen 
der  Geschichtswissenschaft  I.  328  ff.:  Kausalität.  332  ff.  Gegen 
Stammlers  Auffassung  der  Kantischen  Kausalitätslehre,  speziell  in  Bezug 
auf  die  menschlichen  Handlungen.  —  Richter,  Rezensionen  von  Schulze, 
„Erläuterungen    zu    Kants    Kr.    d.  r.  V.,  hrsg.  v.  R.  C.  Hafferberg"    und 


Zeitschrit'tenscliau.  853 

von   Willart'th,    „Die    Lehre    vom    Übel    bei    Leibniz,    seiner    Schule    in 
Deutsrhlaiid   und  bei   Kauf*. 

Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie  (herausg.  von  L.  Stein/.  Berlin, 
Jieinnr. 

V,  id.  8.  Tuinarkin,  Das  Associationspri  nzip  in  der  Geschichte 
der  Ästhetik.  275:  Herders  Polemik  ftf^^en  Kants  Ästhetik.  276  f.:  Freie 
und  anhän-iende  Srlnlnheit.  277:  Die  Hauptschwierip;keit  der  Kantischen 
Ästhetik  besteht  darin,  dass  K.,  das  Individuum  vom  Subjekt  trennend, 
eine  nicht  objektive  und  doch  allj;-emeine  Schönheit  verlangt.  285:  „.  .  über 
Kants  subjektive  Allgemeinheit  wird  die  .-vsthetik  kaum  je  hinausgehen 
können".  —  Dilthev,  Jahresbericht  über  die  nachkantische  Philo- 
sophie.    326  ff.:    Entwicklung  von  Kant  bis  Hegel. 

Archiv  für  systematische  Philosophie  (.herausg.  von  P.  Natorp).  Berlin, 
Reimer. 

V,  H.  2.  Tscliitscliorin.  Raum  und  Zeit  I.  111:  „Die  Zeit  ist  eine 
angeborene  apriorische  Form  der  Vorstellungen.  In  dieser  Hinsicht  hatte 
Kant  vollkommen  Recht".  Gegen  Kant  wird  jedoch  die  objektive  Realität 
der  Zeit  verteidigt:  sie  ist  „ein  Attribut  das  absoluten  Geistes":  148.  151  ff: 
Metageometrie.  156:  Apriorität  des  Raumes.  —  Kleinpotor,  Über  Ernst 
Machs  und  Heinrich  Hertz'  prinzipielle  Auffassung  der  Physik. 
174  f.:  Mach  und  Kant.  —  Xatorp,  Zur  Streitfrage  zwischen  Em- 
pirismus und  Kriticismus.  187:  „Dmg  an  sich".  188  ff.:  „a  priori". 
194:  „Eifr.hrung".  195  f.:  „Gegen.stand".  —  Hacks,  Die  Prinzipien  der 
Mechanik  von  Hertz  und  das  Kausalgesetz.  Gegen  die  Anwendung 
des  Hertzschen  Grundgesetzes  („Jedes  freie  System  beharrt  in  seinem 
Zustande  der  Ruhe  oder  der  gleichförmigen  Bewegung  in  einer  geradesten 
Bahn")  auf  die  belebte  Naitur.  -  Wentscher,  Zur  Theorie  des  Ge- 
wissens.    230  ff.:    Das  Gewissen  als  praktische  Vernunft. 

Revue  de  Metaphysique  et  de  Morale  (Secr.:  M.  X.  Leon).  Paris, 
Colin  &  Cie. 

VII  (1899),  1.  Boiiasse.  De  Fapplication  des  sciences  mathe- 
maticjues  aux  sciences  experimentales.  —  Charlier,  Sur  la  me- 
moire I.  —  Lameunais,  Un  fragment  inedit  de  l^Esquisse  d'une 
Philosophie"  public  par  Ch.  Marechal.     II. 

VIT,  2.  Rcinaclp,  Recherche  d'une  methode  en  psychologie 
III.  —  Sort'l,  Y  a-t-il  de  lutopie  dans  le  marxisme? —  Äiidrade,  Du 
röle  de  lassociation  des  idees  dans  la  formation  des  concepts 
metaphj'siques  du  „^fecanisme".  —  Fontene,  Sur  I'h^-pothese 
Euclidienne.  —  Briiiisciivirp.  Essais  de  iihilosophie  generale  de 
M.  Ch.  Dun  an.  208  ff.:  Kriticismus.  211:  Antinomien.  214:  „  .  .  le  jour 
oü  il  |Kant|  eut  k  opter  entre  Hume  et  Leibnitz,  il  decouvrit  le  criticisme 
et  il  se  fit  kantien." 

VII.  3.  Poincare.  Des  fondements  de  la  geometrie  a  propos 
dun  livre  de  M.  Russell.  270  f.:  Kants  Raumtheorie.  —  Son'l, 
L"ethi(]ue  du  socialisme.  292:  „  .  .  .  presque  tous  les  marxistes  re- 
grettent  vivement  l'exageration  avec  laquelle  on  a  longtemps  vante  les 
beautes  du  materialisme.  On  parle  beaucoup  en  Allemagne  de  7-evenir  ä 
Kant:  cest  un  bon  signe."  —  Chartier,  Sur  la  memoire  II.  803:  Kants 
Kategorientafel.  —  Milliaiid.  Essai  sur  la  Classification  des  sciences 
par  M.  (ioblot.     332:  Raum  und  Quantität.     335:  Zeit. 

VII,  4.  Lp  lloy,  Science  et  philosophie.  —  WpImt.  Positivisme 
et  rationalisme.  —  Siniiand,  Deduction  et  Observation  nsycholo- 
giques  en  economie  sociale.  —  Parodi,  La  philosophie  de  Vache- 
rot  I.     489  f.:  Kants  Antinomien. 


ort  Zeitsclirit'toiischj.n. 

The  Philosophical  Review   (K«lit..is:  .)    (',.  Sdi  u  rinaii.  .1.  E.  Cri'i.i;li  t  <.ii, 
.1.  Si'th).     Nt'w   Volk.  Macmilliui. 

\\\\    :!      Scliiiniian.    K;int"s    A   Priori   Klfiucnts   ol    riuliTstan- 
din"-    US    ro'n.liliuüs    .)f    Expericuco     l.       ÜIht    (lifson    bcdi'utsMiiK-n 
\rtikol    wird  rnM"lit(Mi    in    ciiuMu    lU-r    n;irlisti«n    Hefte    der  „Kantstiidien" 
ivferieren.  -     WlnsloW,    A    Delense    of    Uealism.     'J40:   Kaut    --  Hinilal 
llaldar     The    runcention    of    the  Absolute.     263:  Kant  und  lle-el    — 
".lii'k.'^     Gcrman    Philosophical    Litcrature    ( 18!)6-18;t8)    (1).     Über 
k-int  v-l  die  Kesprecl\uu<;vu  von  "Willui  nun .  „Gescliichte  des  Idealismus": 
•>77  f  •  Paulsen,  .Kant":  '284  f.  —  Vaililii,::«'!',  Rezension  von   Paulsen. 
^Immanuel  Kaut,  Sein  Leben  und  seine  Lehre".  -  Mc  (lilvavy.  Rezension 
von     L'annee  philosophL]  ue"  VIT    (Pillen).     307  f.:    Kant  und  Renou- 
vier    —    Ferner   enthält   das  il.'it  die   i,'e])roduktion  des  „Kantstudien"   111. 
1   u.  2   veröffentlichten    „Dresdener   Kantbildes".   —    31.  W.Calkins,    Rezen- 
sion'über  Daxers  Anlage  der  transscendentalen  Ästhetik  u,  s.  w. 
VIIL  4.     Scliunnaii.    Kants    A  Priori   Elements    of  Undcrstan- 
dino-    as    Couditions    of    Experience    U    (vgl.   oben).      Clark    Miirray. 
Rousseau.     369  f.:    R.'s  Einwirkung  auf  Kant.   —  Peterson,    The    Porius 
of  the   Svllogism.  —    Adickcs,    German    Philosophical    Literature 
/]896  — 1898)  (11).     404:    Kants    Ethik    (in    der   Besprechung  von  Krueger, 
Der  Begriff  des  absolut  Wertvollen  als  Grundbegriff  der  Moralphilosophie"). 
—  Torrev     Ausführliche    Rezension    von    Cresson,    „La    Morale    de 
Kant"    —    ("roijTliton.    B<>sprechung  von  Menzer,    „Der  Entwicklungsgang 
der  Kantischou" Ethik  in  den  Jahren  1766—1785"    („Kantstudien"  II  u.  III). 

The  Monist  (Editor:  Dr.  P.  Garns).     Chicago,   The  Open  Court  Pnbl.  Co. 

IX  3  Sergi,  The  Primitive  Inhabitants  of  Europe.  —  Pater- 
son.  The'lrony  of  Jesus.  —  Mont-omm',  Actual  Experience.  363: 
Kant  —  Carns.  Yahveh  and  Manitou.  —  Levy-Bnihl,  The  Contem- 
porarv  Movement  in  French  Philosophy.  417:  Als  eine  Haupt- 
ströraung  wird  genannt  „a  Kantian  current,  derived  m  part  from  Kants 
theoretic  philosophy,  and  in  part  from  his  moral  philosophy;'.  Besondei^ 
von  wSeite  421  an  wird  eingehend  über  den  Kantianismus  m  trankreich 
berichtet. 

IX  4  Crai»-  A  Study  of  Job  and  the  Jewish  Theory  of 
Sufferiug.'—  WlTitmaii,  Myths  in  Animal  Psychology.  —  Lloyd  Mor- 
^siu  Biology  and  Metaphysics.  -  (Joebel  and  Anlnm,  Friedrich 
^^ietzsche's  Übermensch.  —  Cariis,  Immorality  as  a  Philosophie 
Principle  Nietzsche's  Emotionalism.  —  Besprechungen  von  Gold- 
schmidt, „Kant  und  Helmholtz",  und  von  Hicks,  „Die  Begriffe  Phano- 
menon  und  Nournenon  in  ihrem  Verhältnis  zu  einander  bei  Kant". 

Przeglad  Filozoflczny  (Philosophische  Rundschau).  Warszawa,  ulica 
l\j-ucza  46. 
n  3.  Kozlowski,  Psychologische  Quellen  einiger  Natur- 
o-esetze  II  8  11:  Kants  dviiamische  Theorie  der  Materie.  —  Grabski, 
Einleitung  zur  MethodoTogie  der  politischen  Ökonomie.  40: 
Kant  —  Kodis,  Der  Niedergang  des  Materialismus  m  der  moder- 
nen Wissenschaft.  —  Karejew,  A  Comte,  der  Begründer  der  So- 
ciologie. 

Revue  Neo-Seolastique  (Dir.:  D.  Mercier).  Loiivain,  1,  rue  des  Flamands. 
VI,  2.  Hallenx,  Le  probleme  philosophique  de  l'ordre  social. 
108  f  •  Kant  —  Piat,  La  valeur  morale  de  la  science  d'apres  So- 
crate  -  NoeJ.  La  conscience  de  Tacte  libre  et  les  objections  de 
M  Fouillee  —  Mercier.  „Ecco  Fallarme"  —  Un  cri  d  alarme.  Gegen 
M.  Billia  (Turin).  —  De  Wulf.  La  synthese  scolastique  IL  172:  Kant. 
De  ^lumivnck.  Besprechungen  von  Hicks,  „Die  Begriffe  Phänomenon 
und  Noumenon    in  ihrem  Verhältnis    zu  einander  bei  Kant";    JSimz,    „Die 


Zeitscbriftenschau.  —  Mitteilungen.  355 

afficii-reiulen  Gegenstände  iu  Kants  Kr.  d.  r.  V.";  Rubin,  „Die  Erkenntnis- 
theorie Maimons  in  ilireni  Verhältnis  zu  Cartesius,  Leibniz,  Hume  und 
Kant". 

Revue    Thomiste    (Dir.:  R.  P.  Coconnicr,  0.  P.).     Paris,    222,    Faubourg 
.St.-Hiinori'-. 

VII,  2.  Baiulill.  L  Acte  et  la  Puissance  dans  Aristote  Li.  171: 
Kant.  —  .lausen,  La  (|uestion  liguorienne  — Probabilisme  et  equi- 
probabilisnie.  —  M(mta<:iH'.  Origine  de  Societe.  Le  Con trat  so- 
cial 111. 

\'IJ,  3.  MontasiU',  Origine  de  la  Societe  d  apres  „lEcole 
Naturaliste".  —  Buiulill,  LActe  vi  la  Puissance  dans  Aristote  III. 
2'.t3:  „linneisnie  de  Kant".  —  Strowski  de  Lenka,  Maurice  Ma-ter- 
link.  —  Folijliera,  Philosophie,  Science,  Religion  dapres  un  livre 
recent:  Fciisees  et  Portraifs.  par  C.-C.  Charaux  (Paris,  Pedone-Lauriel). 
F.  giebt  von  Charaux*  Buche  _une  presentation  un  peu  si/ste'matique,  en 
recherchant  un  certain  nombre  de  pensees,  disseminees  ici  et  lä,  et  en  les 
groupant  sous  ces  trois  rubriques:  philosophie,  science,  religion."*  S.  353 
sind  die  auf  Kant  bezüglichen  Aphorismen  zusammengestellt,  u.  a.  die 
fol2:enden:  „Au  Heu  de  choisir  entre  Locke  et  Kant,  ce  qui  netait  point 
aise.  ou  de  les  concilier,  ce  qui  n'etait  point  possible,  la  philosophie  (p'iilo- 
ftophia  pereimis)  se  contenta  demprunter  a  Tun  des  reflexions  et  des  obser- 
vations  utiles,  a  l'autre  des  analyses  dont  eile  retrancha  lexces."  „Kant  a 
engendre  Fichte,  qui  a  engendre  Schelling  et  Hegel,  qui  ont  engendre 
Karl  Marx  et  les  socialistes  allemands,  les  plus  doctrinaires  de  tous  les 
socialistes.  Le  genne,  que  le  semeur  avait  confie  ä  la  terre,  il  etait  loin 
de  savoir  tont  ce  qu'il  contenait."  Unmittelbar  hierauf  lässt  Folghera  die 
nachstehende,  bei  Ch.  in  anderem  Zusanunenhang  vorkommende  Bemer- 
kung folgen:  „Rien  n'empeche  de  croire  que,  dans  une  autre  \'ie,  le  cliäti- 
ment  des  philosophes  qui  ont  peche  par  amour  excessif  de  leur  pensee 
propre,  c'est  de  voir  dans  ijuels  exces  sont  tombes  ceux  (jui  Tont  con^uite 
jusiiuä  son  terrae"  (!V —  De  Muniiyiick,  Rezension  von  Mercier.  „Crite- 
riologie  generale" 


Mitteilungen. 


Wieder  ein  neues  Kantbild. 

(Mit  AVjbildung.) 

Wir  .^ind  auch  diesmal  wieder  in  der  angenehmen  La^e,  den  Abonnenten 
der  ..Kantstudien"  ein  neu  aufgefundenes  Kantbild  darzubieten.  Wir  ver- 
danken die  Möglichkeit  der  Reproduktion  der  Munificenz  eines  imgenauui- 
bleiben  wollenden  G<'>nners  unserer  Zeitschrift. 

Kurz  nach  dem  Erscheinen  des  vorigen  Heftes  wurde  das  Porträt  der 
Redaktion  seitens  der  Münchener  Antiquariatsfirma  Nathan  Rosen- 
thal (Schwanthalerstr.  32/0i  zur  Veröffentlichung  angeboten.  Leider  ist 
es  nicht  uKiglJch  gewesen,  die  für  die  Geschichte  des  Bildes  wissenswerten 
Details  festzustellen.  Nur  so  viel  Hess  sich  eruieren,  dass  das  Bild  früher 
in  Leipzig  war,  wo  es  von  einem  Bruder  des  genannten  Antiquars  er- 
standen wurde.  Es  ist  zweifelhaft,  ob  der  Besitzer  überhaupt  wusste,  dass 
es  sich  um  ein  Porträt  des  grossen  Philosophen  handelt. 


356  Mittoilungon. 

Dass  ilas  Kilil  v\n  (h-iginalptirträt  ist,  kann  kaum  /w  rifrlliaiL  sein.  \  on 
allen  bekannten  Typen  weirlit  es  in  cliarakteristisclier  Weise  ab.  Etwas 
AlHiliclikeit  liat  es  mit  dem  Hilde  V(in  \'eit  Schnorr,  am  meisten  mit  <lem 
von  M.  S.  Lowe,  dem  es  in  Ansserlicidceiten  (Kopriialt  uii^l:;,  IVisur  ii.  s.  w.) 
nahe  kommt.  Mit  letzterem  Hilde  w.n-  Kant  seihst  sehr  nn/niriedeii  und 
gewiss  nicht  mit  l'nrecht  (v^l.  Kants  Werke,  Kosenkran/  un<l  Schuhi'rt, 
XI.  2,  S.  "JOB :  MindiMi,  „Über  Porträts  und  Ahhi!(liin;;-en  Immanuel  Kants", 
Königsberi;;  1868,  S.  6).  Denn  von  allen  Kantbildern  lässt  es  am  weni;.;sten 
den  grossen  Denker  erkennen.  Allein  die  beim  Lowesrhen  Bild  durch 
ihre  Kleinlichkiüt  störenden  Züj^e  (bes.  die  Partien  um  Anjife,  Nase  und 
Mund)  felden  vollstiindi^-  in  dem  neu  auf.n'efundenen  Hilde.  Dass  jedoch 
(.•twa  der  Maler  des  vorliegenden  Porträts  das  Lowesche  Original  in  freier 
Weise  kopiert  haben  könnte,  erscheint  trotz  der  äusserlichen  Aehnlichkeiten 
ausgi'st'hlossen.  Denn  wenn  man  auch  die  Veredehmg  des  (iesichtsans- 
druckes  und  die  viel  gesclimackvoUere  Behandlung  von  Perrücke,  Zopf 
und  Eock  damit  erklären  könnte,  dass  der  Kopist  ein  grösserer  Künstler 
war  als  der  Verfertiger  des  Originals,  so  spricht  doch  die  mehrfach  völlig 
andersartige  Wiedergabe  des  Gesichtsschnittes  aufs  Entschiedenste  gegen 
eine  solche  Annahme:  anf  keinem  anderen  der  bis  jetzt  bekannt  gewordenen 
Typen  tritt  die  Stirn  so  weit  zurück  wie  hier,  und  die  Form  der  Nase  hat 
m'it  der  auf  dem  Lowe.schen  Bilde  kaum  eine  Spur  von  Ähnlichkeit.  Das 
aber  sind  Abweichungen,  wie  sie  sich  ein  Kopist  nie  erlauben  kf'mnte. 
Und  dann  betrachte  man  die  so  völlig  lebenswahre  enge  Brust:  alle  anderen 
Maler  Kants  haben  in  dieser  Hinsicht  „geschmeichelt";  bei  Lowe  zumal 
hat  Kant  die  Brust  eines  stattlichen  Mannes. 

Das  Bild  ist  auf  Pergament  gemalt.  Die  Farbengebung  ist  von  grosser 
Feinheit.  Über  dem  roten  Eock,  der  nur  Avenig  von  dem  Jabot  sehen 
lässt,  erhebt  sich  in  der  Mitte  des  Ovals  der  in  hellen  Tönen  gehaltene 
Kopf  des  sinnenden  Denkers  mit  dem  ausruhend  in  die  Ferne  gerichteten 
Auge.  Tn  das  dem  Erscheinen  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  vorangehende 
Jahrzehnt  dürfte  wohl  die  Aufnahme  des  Bildes  fallen.  Dahin  deutet  das 
Alter  des  Dargestellten,  und  der  Ausdruck  des  Gesichtes  scheint  dasselbe 
zu   sagen:  Kant  vor  den  Problemen  der  theoretischen  Philosophie. 

Die  Grösse  des  Originals  inclusive  der  ornamentalen  Streifen  beträgt 
80  X  66  mm.  Die  Reproduktion  hat  dieselben  Masse.  Das  Original  befindet 
sich  in  einem  wohl  gleichzeitigen  ebenfalls  ovalen  Messingrähmchen,  das 
anf  dem  die  Rückseite  bildenden  Holzdeckel  den  halb  unleserlichen  Namen 
„Kant"  trägt.  (Die  Unterschrift  auf  unserer  Reproduktion  hat  mit  dem 
Bilde  selbst  nichts  zu  schaffen;  sie  ist  nach  einem  Autograph  Kants  aus 
dekorativen  Gründen  von  uns  hinzugefügt.) 

Ohne  allen  Zweifel  gehört  das  Bild  sowohl  hinsichtlich  seines  kinist- 
lerischen  Wertes  wie  hinsichtlich  seines  Anspruchs  auf  Porträtähnlichkeit 
mit  in  die  erste  Reihe.  Solange  über  seine  Provenienz,  insbesondere  über 
den  Künstler  nichts  ermittelt  ist.  mag  es  einstweilen  das  Rosenthalsche 
Kantbild  genannt  werden.    Es  ist  seitens  der  genannten  Firma  verkäuflich. 


Im  Anschluss  hieran  mögen  noch  folgende,  auf  das  im  vorigen  Heft 
reproduzierte  Kantbild  bezügliche,  Mitteilungen  Platz  finden,  die  wir  der 
Güte  des  Herrn  Dr.  Alfred  Schellwien  (Schloss  Pless,  Oberschlesien)  ver- 
danken: Jenes  Bild  ist  von  Senewaldt  zweimal  gemalt  worden.  Die 
beiden  Bilder  stimmen  fast  genau  mit  einander  überein.  Das  neu  ent- 
deckte, das  sich  in  einer  Sammlung  Senewaldtscher  Bilder  im  Besitz  des 
Grafen  Richard  zu  Dohna-Schlobitten  befindet,  ist,  wie  uns  Herr 
Dr.  Schellwien  schreibt,  gleichfalls  in  Sepia,  sehr  sorgfältig  und  zart  in 
demselben  silbergrauen  Ton  wie  das  Fürstensteiner  ausgeführt.  „Das 
Format  ist  fast  dasselbe,  130  mm  hoch,  100  breit.  Der  Ausdruck  des  Ge- 
sichts ist  genau  derselbe,  und  nur  in  einigen  nebensächlichen  Partien  sind 
kleine  Abweichungen  in  der  Zeichnung.  So  i.st  in  diesem  anderen  Bilde 
das  Ohr  etwas  mehr  verdeckt,  und  das  Jabot  etwas  anders  gefaltet.  Eine 
Zeitangabe  oder  Unterschrift  ist  nicht  vorhanden." 


Mitteilungen. 


;^o7 


Das  in  den  „K.-St."  III.  3,  S.  370  f.  besprochene  MiniaturbiM  Kants 
ist  unterdessen  in  den  Besitz  des  Herrn  Gerichtsassessors  Arthur  AV'arda 
in  Künij^sberg  i.  Pr.  übergeganu;en.  Wir  bemerken  dies  im  Interesse  einer 
event.  Monograiiliie  über  die  Kantporträts.  Die  Abfassung  einer  solchen 
Märe  sehr  wünschenswert,  da  die  einzige,  die  wir  luiben.  die  mehr  als 
30  Jahre  alte  Mindensche,  längst  nicht  mehr  ausreicht. 

Eine  neue  Ausgabe  der  Kritik  der  reinen  Vernunft. 

Karl  N'orlände  r,i)  den  Lesern  der  „Kantstudien"  seit  lange  vorteil- 
haft bekannt,  hat  soeben  eine  neue  Ausgabe  der  Kritik  der  reinen  Vernunft 
erscheinen  lassen  (als  No.  1266 — 1277  der  Hendelschen  „Bibliothek  der 
Gesamtlittfratur  des  In-  und  Auslandes"):  Immanuel  Kants  Kritik  der 
reinen  Vernunft.  Herausgegeben  und  mit  einer  Einleitung  sowie  einem 
Personen- \ind  Sach-Eegister  versehen  von  Dr.  Karl  Vorländer.  Mit  dem 
Bilde  Immanuel  Kants.  Verlag  von  Otto  Hendel,  Halle  a.  8.  (XLN'Ill  u. 
839  S.)  Wie  die  Ausgabe  von  Adickes  sucht  auch  das  vorliegende  Buch 
in  erster  Linie  den  Bedürfnissen  des  Studierenden  entgegenzukommen, 
indem  es  (im  Gegensatz  zu  den  Ausgaben  von  Erdmann  und  Kehrbach) 
nicht  nur  einen  zuverlässigen  Text,  sondern  namentlich  auch  sachlich 
wertvolles  Material  bieten  will.  Die  l'rinzipien,  die  Vorländer  hierbei 
befolgt,  sind  indessen  wesentlich  andere  als  die  von  Adickes  eingehaltenen. 
Insbesondere  tritt  der  philologisch-historische  Gesichtspunkt  beinahe  vflllig 
zurück:  „Über  die  Komposition  im  Einzelnen  wird  sich,  trotz  aller  scharf- 
sinnigen Vermutinigen  von  Adickes,  Arnoldt,  Vaihinger  u.  a.,  schwerlich 
etwas  auch  nur  einigermassen  Sicheres  mehr  ausmachen  lassen.  "Wir 
müssen  uns  eben,  wie  bei  anderen  Schriftstellern  auch,  an  das  Werk  halten, 
wie  es  dasteht'"  (8.  X).  Vorländers  Zugaben  bestehen  vielmehr  in  einer  43 
Seiten  umfassenden  sachlichen  Einleitung  und  in  einem  ausführlichen 
Personen-  und  erklärenden  8ach-Register  von  71  Seiten. 

Die  Einleitung  giebt  in  grossen  Zügen  zunächst  das  AVissenswerteste 
aus  der  Geschichte  Kants  und  der  Kantischen  Philosophie  bis  zur  Gegen- 
wart, sodann  Erörterungen  über  Tendenz  und  Gedankengang  der  Kr,  d.  r. 
V.,  endlich  einige  für  den  Anfänger  des  Kantstudiinns  berechnete  Rat- 
schläge. —  Der  erste,  geschichtliche  Teil  dieser  Einleitung  dürfte  seinem 
Zweck  recht  gut  entsprechen.  In  eleganter  Schreibweise  führt  der  Verf. 
die  wichtigsten  Momente  aus  der  Geschichte  des  Kritizismus  vor,  indem 
er  dabei  gerne  Bemerkungen  von  aktuellem  Interesse  eiuflicht,  so  über  die 
beim  Gebrauch  der  „in  neuerer  Zeit  mehrfach  herausgegebenen  Nach- 
schriften Kantischer  Vorlesungen"  nötige  A'orsicht  (8.  IX).  oder  über  die 
von  Kants  Kritikern  „oft  genug  hervorgehobene,  mitunter  auch  —  über- 
triebene" „Liebe  [Kants]  zu  systematisierender  Schematik"  u.  s.  w.  (S.  XI). 
—  Auf  ein  paar  untergelaufene  kleine  Versehen  sei  im  Interesse  der  2.  Aufl. 
hingewiesen:  Dass  „0.  Liebmann  in  seinem  Buche:  Kant  und  die  Epigonen 
(1865i  am  Ende  jedes  Kapitels  den  Ruf  erschallen  liess:  Also  muss  auf 
Kant  zurückgegangen  werden!"  ist  richtig.  Jedoch  geschah  dies  nicht 
„von  demselben  Jena  aus,  das  80  Jahre  zuvor  die  Verbreitungsstätte 
Kantischer  Philosophie    gewesen  war"   (8.  XXIII).     Denn    nach  Jena    kam 

»)  Die  Hcndolsohc  Vr-rlagslmchhaudluiig  liat  in  einem  an  Fachmänner  und  Huch- 
liäniller  versi'udeten  Prospekt  dii-  Wendung  gebraucht:  ..der  HerausgelxT  Vorländer  sei 
als  Begabtester  der  SchübT  Vaibingers  ....  ihr  von  diesem  sell)st  bezeichnet  wonb'n". 
Diese  Angal)e  bi-ruht  natürlich  auf  einem  Missverständnis,  das  nur  insolcru  verzeililich 
ist.  als  wälirend  der  die  .\usgabe  bctreffeudi'n  Verhanfiluiigeu  (b'r  Verlag  durch  Tod  des 
Vorbesitzers  in  fremde  Händi»  übergegangen  ist.  Von  dem  v(>rstorbeiien  Vorbesitzer 
vor  mehreren  Jahren  sdiriftlich  um  Rat  gefragt,  wem  er  wohl  die  von  ihm  (ür  seine 
..Ilibliothik  der  Oesamtlitteratur"  beabsichtigti'  .Ausgabe  di'r  Kritik  d.  r  V.  anvertrauen 
könne,  liabe  ich  ihm —  ebenfalls  scliriftlich  —  Herrn  I»r.  Vorländer  genannt,  den  ich  da- 
mals nocli  gar  nicht  persilnlicb  kannte.  Selbstverständlich  habe  ich.  win  auch  die 
Verlagsbuchhandlung  neuerrliugs  bestätigt,  keine  Wendung  ge))raucht,  welche  zu  jenem 
Missverständnis  auch  nur  von  fern  hätte  Anlass  gehen  können.  So  schmeichelhaft  es 
mir  wäre.  Herrn  Dr.  Vorländer  als  meinen  Schüler  bezeichnen  zu  krinuen,  so  kann  ich 
dies  um  so  weniger  thuu.  als  derselbe  sich  iu  durchuu.s  selbstttndtger  Weisein  die  Kant- 
litteratur  eingeführt  hat.  H.  Vaihinger. 


308  Mitti'ilimgon. 

L.  erst  {^i'raunu'  Zt'it  s]>iiti'r;  I86ö  luliitc  er  in  Tühinjj;t'n.  Alh  rdin^s  aber 
war  liiobinann  tlinrli  K.  Fisclu-rs  KantvorIcsun,i;"cn  in  .iciiit  lilr  Kant 
jfjewonncn  wonliMi.  IVrni'r:  Dor  in  »Icr  Kinlcit inii;- 3  mal  (S.  XI 11,  X\  I.  \X) 
erwähnto  .lacohi   schreibt   st-incn   Namen   nicht  mit  k. 

l)ie  Anst"ührnn,i;i'n  über  tlic  (.irnmltenilun/  des  Werkes  sind  Ijt'sonders 
au  Cohens  Kantanffassunf?  orientiert.  Mit  Naclidnick  betont  Vorläniler  — 
und  der  Referent  mTichte  ihm  darin  bi-istimnu-n  —  den  „methodischen 
Urundcharakter  der  Kantischen  J^hilosophie,  hesser  des  Kantisclieii  l'liilo- 
sophierens"  ^XXXV11).  —  Der  die  P^inleituni;-  abschliessrnde  didaktische 
Teil,  die  Anp;abe  von  „Hilfsnu'tteln  /nm  Stndinm  der  Kr.  d.  r.  \'.",  giebt 
dem  Antanyer  brauchbare  Winke.  Mit  allen  Ein/ellieiten  in  diesem,  der 
Natur  der  .Sache  nach  individuellen  Abschnitt  wird  sich  fiiilicli  nicht 
jetler  Kantforscher  einverstanden  erklären  kcinnen.  — 

Mehr  als  diu-ch  die  Einleitung;-  erhält  das  Buch  einen  durchaus  eigen- 
arti,ü:en  Charakter  durch  das  beigefügte  Register,  eine  Zugabe,  wie  sie  noch 
keine  andere  .Vusgabe  aufzuweisen  hat.  Das  wenig  über  eine  .Seite  in 
Anspruch  nehmende  Personen-Register  giebt  bei  einigen  heute  nicht  mehr 
allgemein  bekannten  Namen  dankenswerte  Noti/.en.  AVichtiger  ist  das 
Sach-Register,  das  den  verschiedenartigsten  Interessen  der  Leser  der  Kr. 
d.  r.  V.  eine  äusserst  wertvolle  Unterstützung  zu  bieten  imstande  ist.  Bei 
selten  vorkommenden  Schlagwörtern  enthält  es  die  vollständige  Angabe, 
bei  den  sicli  allenthalben  findenden  die  Angabe  wenigstens  der  wichtigsten 
Stelleu:  bei  den  in  verschiedener  Bedeutung  vorkonmicnden  Terminis  sind 
die  Stellen  nach  ihren  Bedeutungen  geordnet.  Sind  die  von  Kant  getroffenen 
Distinktionen  komplizierter  Art,  so  stellt  Vorländer  ein  übersichtliches 
Schema  auf,  wobei  er  sich,  wie  übcrhau])t  durchgehends,  auf  Kants  eigene 
Definitionen,  Erklärungen  und  Unterscheidungen  beschränkt  (vgl.  \'orwort). 
Vorländer  hat  darin  sehr  wohl  gehandelt;  er  hat  seiner  Arbeit  einen 
objektiven  Charakter  gegeben,  den  sie  nicht  haben  würde,  wenn  kritische 
Bemerkungen  eingeflochten  wären.  —  Will  man  sich  einen  Begiiff  davon 
machen,  mit  welchem  Fleiss  dieser  Teil  des  Werkes  ausgeführt  ist,  und 
wie  nützlich  er  für  Untersuchungen  selbst  der  subtilsten  Art  sein  kann, 
so  unterziehe  man  etwa  den  mehr  als  2  Druckseiten  füllenden  Artikel 
„transscendental"  einer  genauen  Durchsicht.  Da  stehen  zuerst  die  von 
Kant  gegebenen  Definitionen  genau  in  ihrem  Wortlaut;  wo  die  2.  Aufl. 
von  der  1.  abweicht,  sind  beide  Lesarten  angegeben.  Es  ist  angegeben, 
an  welchen  Stellen  der  Begriff  in  Gegensatz  tritt  zum  Empirischen,  an 
welchen  zum  Psychologischen  u.  s.  w.  u.  s.  w.  Dann  folgen  die  alphabetisch 
geordneten  Verbindungen  von  der  transsc.  ^bgegrenztheit  bis  zur  transsc. 
Zeitbestimmung.  Bei  mehrdeutigen  Terminis  sind  die  sachlich  zusammen- 
gehörigen Stellen  geordnet,  und  die  jedesmalige  Bedeutung  ist  in  Klammern 
beigefügt.  So  teilen  sich  z.  B.  die  bei  dem  Terminus  „transsc.  Objekt" 
angegebenen  Stellen  in  8  Gruppen,  und  ausserdem  wird  zum  Schluss  noch 
verwiesen  auf  „transsc.  Gegenstand"!  —  Dass  ein  so  übersichtlicher  und 
bequemer,  und  dabei  so  umfassender  Index  in  gleicher  Weise  von  dem  an 
der  schwierigsten  Einzeluntei'suchung  arbeitenden  Fachmann,  wie  von  dem 
mit  der  ersten  Lektüre  der  „Kritik"  beschäftigten  Anfänger  mit  bestem 
Erfolg  zu  Rate  gezogen  werden  kann,  liegt  auf  der  Hand. 

In  allem  Cebrigen,  was  der  Referent  noch  zu  bemerken  verpflichtet 
ist,  lehnt  sich  Vorländers  Ausgabe  an  die  Erdmannsche  an:  Zu  Gi-unde 
gelegt  ist  der  Text  der  2.  Auflage,  deren  Seitenzahlen  am  Rande  angemerkt 
sind;  kleinere  Abweichungen  der  1.  Auflage  sind  als  Anmerkungen  unter 
dem  Text,  grössere  im  Anhang  abgedruckt.  Der  von  Erdmann  geäusserte 
Wunsch,  nach  der  2.  Aufl.  zu  eitleren,  findet  den  Beifall  Vorländers  so 
sehr,  dass  er  ihn  nicht  nur  in  seinem  Vorwort  wiederholt,  sondern  dass  er 
sogar  selbst  in  Einleitung  und  Register  nicht  nach  dem  Buche,  das  der 
Leser  in  Händen  hält,  sondern  nach  der  2.  Aufl.  citiert.  Auch  in  der 
freien,  modernisierenden  Behandlung  des  Textes  schliesst  er  sich  an  Erd- 
mann  an.  Der  Text  macht,  so  Aveit  ich  das  nach  den  angestellten  Proben 
beurteilen    kann,    einen    zuverlässigen  P^indruck.     Mehrfach  werden  in  An- 


Mitteilungen.  359 

merkungeu  schriftliche  Korrekturen  in  Kants  Handexemplar  angeführt. 
Die  (in  einem  besonderen  Verzeichnis  zusammengestellte)  Anzahl  der  neu 
vorgenommenen  Textveränderungen  ist  eine  recht  ansehnliche;  zum  grossen 
Teil  sind  es  freilich  nur  siirachliche  Modernisierungen,  die  —  ich  kann  das 
Bedenken  nicht  unterdrücken  —  vielleicht  nicht  überall  wünschenswert 
L^ewesen  sein  dürften.  —  Das  beigegebene  Porträt  Kants  ist  ein  Holzschnitt 
nach  dem   Original  von  Veit  Schnorr. 

Ich  fasse  das  Facit  meiner  Besprechung  dahin  zusammen,  dass  ich  dem 
Buche  eine  recht  weite  Verbreitung  wünsche,  und  zwar,  bes.  des  Sach- 
ßegisters  wegen,  ebenso  bei  denen,  die  sich  zum  ersten  Mal  das  Standard- 
Werk  der  pliilosophischen  Litteratur  kaufen,  wie  in  den  Händen  derer,  die 
in  ihm  schon  lange  heimisch  sind.  Denn  von  der  Verbreitung  dieser  Aus- 
gabe erwarte  ich  eine  Vertiefung  des  Kantstudiums. 

Fritz  Medicus. 

Einige  bisher  unedierte  Reflexionen  Kants. 

Das  Antiquariat  von  Nathan  Rosenthal  in  München  (Schwanthaler- 
-;trasse  32/0)  i.st  im  Besitz  eines  kleinen  Kantautographs,  das  -wir  mit  dessen 
Erlaubnis  reproduzieren,  da  die  auf  demselben  stehenden  fragmentarischen 
Reflexionen  Kants  unseres  Wissens  noch  nicht  abgedruckt  sind.  Die  (übrigens 
ganz  unverkennbare)  Echtheit  des  Autographs  ist  verbürgt  durch  ein  bei- 
Hegendes  Zeugnis  von  W.  Schubert  (vom  2.  Juni  1861);  darnach  ist  der 
Zettel  in  den  Jahren  1770 — 1780  geschrieben  und  gehört  zu  Kants  hand- 
schriftlichen Erläuterung-en  der  Betrachtungen  über  das  Schöne  und  Er- 
habene. Die  wichtigsten  derselben  hat  Schubert  im  Bd.  XI  der  von  ihm  mit- 
veranstalteten Gesamtausgabe  veröffentlicht  (XI,  S.  220);  die  untenstehenden 
finden  sich  nicht  darunter.  Sie  stehen  auf  einem  kleinen  Blatt  (97  X  6^ 
Millimeter)  und  lauten; 

Vorderseite. 

..Die  Neigung  geschwängert  durch  die  Einbildung  gebiert  den  Müfsig- 
gang  und  das  Gelüsten,  mit  ihm  aber  alle  Leidenschaften." 

..Die  Neigung  empfangen  von  der  Natur  treibt  zur  Arbeit  und  ver- 
nünftigen Zwecken,  durch  sie  aber  zur  Zufriedenheit." 

Darauf  wird  der  erste  dieser  beiden  vorstehenden  Sätze  in  etwas 
modifizierter  Form  wiederholt. 

Dann  folgt  ein  nur  unsicher  zu  entzifferndes  Sätzchen,  das  sich  dem 
Anschein  nach  gegen  den  theologischen  Einwand  kehrt,  die  in  dem  zweiten 
der  beiden  oben  w'iedergegebenen  Sätze  erwähnte  '„Natur"  sei  doch  vom 
Teufel  verdorben. 

,,Der  böse  Geist  dürfte  wohl  ebenso  wenig  die  Natur  verderben,  die 
sein  Geschöpf  ist  ['],  als  der  Mensch  die  Thiere  oder  seinen  eigenen  Stamm."  [1] 

Rückseite. 

„Völker,  deren  uralte  Sprache  nnvermischt  geblieben  ist,  können  zwar 
sehr  cultiviert  sein  als  Chinesen,  werden  aber  niemals  aufgeklärt,  und 
bleiben  eingeschränkt  von  Begriffen.  "Wer  weils,  wie  viel  Mischung  von 
Celtisch,  Thracisch,  Phrygisch,  vielleicht  auch  etwas  Syrisch  mag  die  Sprache 
nicht  empfangen  haben,  ehe  sie  griechisch  war.  Die  Flnglische  ist  mehr 
gemischt  als  eine  andere,  das  Deutsche  weniger,  am  wenigsten  das  Slavische. 
Jetzt  muss  man  nicht  mehr  vermischen,  sondern  nachahmen.'' 

Das  Autograph,  auf  dessen  Rückseite  noch  eine  Rechnung  ausgeführt 
ist,  ist  von  dem  Besitzer  käuflich. 

Kant  auf  drei  Kongressen. 

Für  die  umfassende  Beileutuug,  welche  Kants  Philosophie  für  alle 
Gebiete  des  geistigen  Lebens  besitzt,  legt  der  Umstand  Zetignis  ab.  dass 
auf  drei  ganz  heterogenen  Kongressen  der  jiingsten  Zeit  Kants  Name 
sehr  ehrenvoll  erwähnt  wurde.  Einmal  geschah  dies  im  September  in  der 
71.  Versammlung    deutscher  Naturforscher    und  Ärzte;    Professor  Förster 


360  MitU'iluii'^'en. 

von  Borlin  liit'lt  daselbst  ciiu'ii  Wutra;^'  über  „die  W  andlim^rii  des  a^tro- 
noinisi'lu'U  Widlltildos  bis  zur  i;i';j;i'ii\varl"  (crscbii'iu'n  in  diT  Hi'il.  /.  Allj;. 
Zeit.  V.  18.  Sept.  No.  212);  er  saj;!  darin:  „Dii'  von  Kant  und  Lapliice 
_iX»'schaff»'non  Svstcnu'  von  Vorstidlnns^fn  übt'rdii'  Anfan^sstadifii  der  W'cltcn- 
bililuni;'  untl  die  KntwicUlnni;'  drr  Svstcnic  sind  in  den  wcscntliclicn  Zilien 
noch  in  voller  Geltung;.  N'atinlitli  habi»n  sie  dnrcli  den  l''<irt;;;aim,-  der  Ent- 
deckunijon  luanelu»  Kinsciiränknn,i;-en  im  Einzelnen,  dafür  al)er  andeic  nn- 
<;ealinte  Bereicherun,i;en   untl  Besläti,i;unj;"en  erfahren".  — 

Im  ('»ktolx'r  fand  ferner  die  XI 1.  ,,(!em'ralversamiulunf:;  des  Evangelischen 
Bnndes"  in  2siirnberi;-  statt.  Am  11.  Okt.  iiielt  Dr.  Arnold  Berber-Berlin 
einen  Vortrag;  über  das  Verhältnis  des  „Humanismus  und  Protestantismus",  im 
Verlauf  dessen  der  l\e(hier  sicli  auch  über  die  „ref()rmat(;risclie  That  Kants'' 
verbreitete,  der  /.um  Ausdruck  ijraidite,  dass  der  («laube  nicht  durcii  die 
Vernunft  diktiert  werden  könnte,  sondern  fi;anz  allein  zu  stehen  habe;  durch 
Kant  sei  der  Ghiube  aus  den  Fesseln  des  Intellekts  erlöst  worden  --  Ge- 
danken, welche  offenbar  aus  dem  Panlsenschen  Aufsatz:  „Kant  der  Philo- 
soph des  Protestantismus"'  im  letzten  Hefte  entnonnnen  sind. 

Im  Oktober  fand  endlich  auch  die  Versammlunfz,-  der  deutschen  sozial- 
demokratischen Partei  in  Hannover  statt.  Der  Neukantianer  Woltmann 
vertrat  in  derselben  cjej^'enüber  der  materialistischen  Gescliichts-  und  Staats- 
auffassung der  Marxisten  den  ethischen  Staudpunkt  der  Kantisclien  Pliilo- 
sophie. 

Charlotte  Benigna  Kant  y. 
In  Mitau  verstarb  vor  einigen  Monaten,  wie  wir  der  ,, Königsberger 
Allgemeinen  Zeitung"  vom  13.  Mai  und  vom  3.  Juni  1899  entnehmen, 
Charlotte  Benigna  Kant,  eine  Grossnichte  des  Philosophen.  Ihr  Gross- 
vater war  der  180U  als  Pastor  zu  Alt-  und  Neurahden  verstorbene  Bruder 
Immanuel  Kants.  Der  einzige  Sohn  dieses  Pastors  P.  Kant,  der  Vater  der 
Verstorbenen,  war  Kaufmann  in  Mitau;  er  starb  1847  in  Riga.  Der  Tod 
des  Fräulein  Kant  erfolgte  im  Klockschen  "Witwenstift,  in  dem  auch  ihre 
Mutter  gelebt  hatte,  und  in  das  ausser  "Witwen  auch  bejahrte  Töchter 
Mitauscher  Kaufleute  aufgenommen  werden.  —  Ob  noch  ein  Träger  des 
Kamens  Kant  lebt,  ist  uns  z.  Z.  nicht  bekannt.  Vor  einigen  Jahren  lebte 
noch  ein  solcher,  ein  Neffe  der  Verstorbenen  und  Urgrossneffe  des  Philo- 
sophen, in  Tiflis. 

Zu  Villers'  Bericht  an  Napoleon  über  die  Kantische  Philosophie. 

Im  3.  Bd.  der  ,, Kantstudien"  S.  1 — 9  publizierten  wir  die  Villers'sche 
Schrift  „Philosophie  de  Kant,  Aper9u  rapide  des  bases  et  de  la  direction 
de  cett-e  philosophie",  welche  seiner  Zeit  im  Jahre  1801  nur  als  Manuskript 
in  Paris  gedruckt  worden  war;  wir  nahmen  damals  an,  ,, dass  das  im  Goethe- 
haus in  W'eimar  befindliche  Exemplar  ein  U  nie  um  sei".  Durch  freundliche 
Mitteilungen  des  Herrn  Dr.  M.  Grunwald,  sowie  des  Herrn  Bibliothekars 
Dr.  Küster  in  Hamburg  erfahren  wir.  dass  eine  Doublette  der  interessanten 
Schrift  in  der  Stadtbibliothek  zu  Hamburg,  die  den  Nachlass  Villers"  auf- 
bewahrt, vorhanden  ist.  Ein  weiteres  Exemplar  befindet  sich  im  Besitz 
des  Herrn  Dr.  med.  Alex.  Vi  Hers  in  Dresden,  eines  Grossneffen  des 
Philosophen.  Es  ist  angebunden  an  das  Hauptwerk  des  Letzteren:  Philo- 
sophie de  Kant  etc.  Metz  1801.  (Demselben  Exemplar  ist  angebunden  der 
bekannte  Artikel  Villers"  aus  dem  Spectateur  du  Nord  (Avr.  1798):  Crititiue 
de  la  raison  pure  (36  Seiten),  der  in  Rinks  ^Mancherley  zur  Geschichte  der 
metakritischen  Invasion"  (Königsberg  1800.  S.  1 — 56)  übersetzt  ist.  Endlich 
ist  noch  angebunden:  Kant  juge  par  Tinstitut,  et  observations  sur  ce 
jugement.  Par  un  disciple  de  Kant.  Paris,  Henrichs.  An  X.  Die  kleine 
Schrift  (24  S.)  wendet  sich  gegen  das  absprechende  Urteil  eines  gewissen 
Levesque  in  den  Travaux  des  Institut  national  de  France.  Die  Schrift  ist 
anonvm,  aber  wohl  ebenfalls  von  Villers  selbst  verfasst. 


Druck  von  A.  W.  Haj^ns  Erben,  Berlin  und  Pot.sdam. 


Miniaturbildniss  Kants 

im  Besitze  von  A.  Warda  in  Königsberg  i.  Pr, 


I 


Kant  und  der  Sozialismus. 

Von  Karl  Vorländer. 


Es  ist  eiu  gutes  Zeichen  von  der  Lebenskraft  und  Fruchtbarkeit 
des  kritischen  Idealismus,  dass  er  nach  mehr  denn  einem  Jahrhundert 
auf  neuen  Gebieten  frische  Wurzeln  treibt.  Nachdem  die  verschiedenen 
philosoj3hischen  Disziplinen,  nachdem  die  Naturwissenschaften,  nach- 
dem die  Theologie  vorangegangen,  schickt  sich  nun  auch  die  mächtigste 
Bewegung  der  Gegenwart,  die  soziale,  an,  in  ihren  theoretischen 
Betrachtungen  den  Weg  zu  dem  Begründer  des  Kritizismus  zu 
suchen.  Auf  der  einen  Seite  haben  die  namhaftesten  \'ertreter  des 
Neukantianismus  die  Kantische  Lehre  gerade  nach  der  sozialwissen- 
schaftlichen und  sozialethischen  Seite  hin  immer  entschiedener  auszu- 
bilden begonnen.  \  on  der  anderen  Seite  her  antwortet  dem  aus 
Kreisen,  die  sich  bisher  dem  Einflüsse  des  Kritizismus  völlig  ver- 
schlossen gezeigt  hatten,  aus  dem  parteisozialistischen  Lager  heraus, 
der  Ruf  ..Zurück  auf  Kant  I",  sodass  man  fast  —  cum  grano  salis!  —  von 
sozialistischen  Kantianern  und  Kantischen  Sozialisten  reden  könnte. 
Indem  wir  auf  Wunsch  des  Herausgebers  für  die  „Kantstudien'"  ein 
zusammenlassendes  Bild  des  Standes  der  Dinge  zu  entwerfen  ver- 
suchen, entwickeln  wir  zunächst  u'  -re  eigene  Auflassung  in  Be- 
antwortung der  Frage:  Inwiefern  hat  der  vSozialismus  ein  Hecht,  sich 
auf  Kants  Lehre  und  Weltanschauung  zu  berufen?^)  Dabei  sei  von 
vornherein  bemerkt,  dass  wir  unter  dem  vieldeutigen  Worte  Sozialis- 
mus keine  bestimmte  politische  Partei,  mit  der  die  philosophische 
Untersuchung  nichts  zu  thuii  hat,  sondern  eine  sittliche  Weltan- 
schauung verstehen.     Ferner  interessieren  uns  in  diesem  Zusammcn- 


')  Benutzt  sind  für  einen  Teil  der  folgenden  Ausführungen  drei  von  mir 
selbst  unter  dem  Titel  -Zurück  auf  Kant!"'  veröffentlichte  Artikel  der  Wochen- 
schrift ..Ethische  Kultur"  VII,  No.  2'J.  24,  26  (3.  Juni,  17.  Juni,  1.  Juli  18'J9}. 
Einzeln»^  Stellen,  an  denen  die  .Vnderung  des  Wortlautes  unzweckniässig  er- 
schien, sind  hier  in  derselben  Formulierung  beibelialten  worden. 

Kautstndicn  IV.  24 


3(J2  K.irl    N'orlä  iidcr, 

lianiT»'  iiii'lit  SDWithl  ein/rliie.  etwa  von  soziulistischcr  Seite  heliandelte 
riinkte  der  Kaiitisehen  Lehre,  wie  beispielsweise  d'w  \om  Dinj:-  an  sich, 
als  \iclniehr  der  ( lesanit/iisaninienhanir.  der,  um  es  gleich  heraus  /.u 
sajren.    unseres   Kraehtens  auf   dem   (Jehiete  der   Kthik   zu   suchen   ist. 


Kant^  pMlitisidie  Stellunji'  ist  noch  weni;;'  (die  so/. ial jxditische 
sozusagen  nneh  irar  nicht)  untersucht  worden.  Soweit  dies  geschehen, 
galt  er  und  e:ilt  er  wohl  auch  heute  noch  hei  den  meisten  als  V'er- 
treter  eines  entschiedenen  und  jrleichwohl  mit  einer  j::ewissen 
monarchisch-konservativen  Gesinimu};  i^epaarten  Liberalismus  (/,.  B. 
Überweg-Heinze  111  1,  238),  dem  in  ethischer  Hinsicht  seine  Stellung 
als  Begründer  einer  rein  individualen  Ethik  entspreche.  Und  in  der 
That.  wenn  wir  z.  B.  sein  j)olitisches  Hauptwerk,  die  Kechtslehre, 
flüchtigen  Blickes  durchmustern,  erscheint  er  durchaus  als  Befür- 
worter des  blossen  „Rechtsstaats".  Jedes  Mannes  Wirken  ist  eben  durch 
seine  Zeit  bestimmt.  Es  war  nur  natürlich,  dass  Kants  politische 
Philosophie  sich  vor  allem  gegen  den  absolutistischen  Polizeistaat 
und  die  ständische  Gesellschaftsordnung  des  18.  Jahrhunderts  kehrte, 
und  dass  sie  demgemäss  ihr  Centrum  in  dem  Begritl"  der  Freiheit 
und  des  Rechtes  fand:  darin  der  grossen  politischen  Umwälzung 
seiner  Tage  verwandt,  die  er  denn  auch,  ebenso  wie  die  Gründung 
der  nordamerikanischen  Freistaaten,  bekanntlich  mit  unverhohlener 
Sympathie  begrüsste.  Zu  einer  Sozialphilosophie  im  modernen  Sinne 
fehlten  damals  noch  alle  Vorbedingungen:  die  Maschinenindustrie, 
die  grossartige  Ausbildung  des  kapitalistischen  Systems,  das  Ent- 
stehen einer  Klasse  freier  Lohnarbeiter  u.  s.  w.  Indessen  ist  Kant, 
wie  schon  August  Oncken  in  seinem  Buche  über  „Adam  Smith  und 
Immanuel  Kant",  Leipzig  1877,  nachgewiesen  hat,  keineswegs  reiner 
Individualist  oder  Manchestermann  gewesen,  sondern  blieb  stets  von 
einem  starken  Staatsgedanken  erfüllt.  Aber  nicht  hier  findet  der 
Sozialismus  seine  unmittelbarsten  Anknüpfungspunkte,  sondern  in  den 
Grundgedanken  der  Kantischen  Ethik. 

Kants  Ethik  ist.  trotz  ihres  scheinbar  individuellen  Gewandes, 
am  letzten  Ende,  ja  vorzugsweise  Gemeinschafts-Ethik.  Nichts 
anderes  aber  ist  der  Sozialismus,  ethisch  verstanden.  Ich  habe  an 
anderer  Stelle  (in  meiner  1893  erschienenen  Dissertation)  entwickelt, 
wie  gerade  aus  der  Eigenschaft,  die  man  dem  Kantischen  Sitten- 
gesetze in  der  Regel  zum  Vorwurf  macht,  aus  seinem  Formalismus 
die  reichste,  unermesslichste  Fruchtbarkeit  entspringt.     Gerade  darin, 


Kant  und  der  Sozialismus.  363 

dass  es  nichts  weiter  als  das  formale  Prin/ip  einer  aiijrenieinen  Gesetz- 
g:ebung  sein  will,  liegt  seine  Gemeinschaft  stiftende  Kraft,  erzeugt 
es  in  dem  Gedanken  einer  „systematischen  N'erhiiidung  verschiedener 
vernünftiger  Wesen  durch  gemeinschaftliche  Gesetze"  die  Idee  eines 
Keichs  der  Sitten  oder  Reichs  der  Zwecke.  Freilich  ist  dies  Reich 
..nur  ein  Ideal''  (Grundlegung  S.  59),  aber  doch  ein  solches,  welches 
..durch  unser  Thun  und  I.assen  wirklich  werden'^kann"  (ebd.  S.  62 
Anni.).  konstituiert  durch  die  Idee  der  Menschheit.  Und  aus  dieser 
letzteren  leitet  sich  unmittelbar  jene,  neben  den  anderen  in  der 
Regel  nicht  genug  beachtete,  Formulierung  des  kategorischen  Impe- 
rativs ab,  die  sich  in  der  „Grundlegung  der  Meta))hysik  der  Sitten" 
an  dritter  Stelle  (ed.  Kirchmann  S.  58  f.)  findet:  „Handle  so,  dass 
du  die  Menschheit,  sowohl  in  deiner  Person  als  in  der  Person  eines 
jeden  anderen,  jederzeit  zugleich  als  Zweck,  niemals  bloss  als 
Mittel  brauchst.''  ..Jedes  vernünftige  Wesen",  auch  der  armseligste 
Tagelöhner,  ..existiert  als  Zweck  an  sich  selbst'',  ist  keine  Maschine, 
kein  ., Mittel  zum  beliebigen  Gebrauch  für  diesen  oder  jenen  Willen" 
(5-2),  keine  „Sache",  sondern  eine  „Person",  in  der  uns  die  Mensch- 
heit heilig  sein  soll.  Dieses  Prinzip  der  Menschheit  als  Selbstzweck 
muss  die  ,. oberste  einschränkende  Bedingung  der  Freiheit  der  Hand- 
lungen eines  jeden  Menschen''  sein  (55).  Kann  die  Grundidee  des 
vSozialismus.  der  Gemeinschaftsgedanke,  einfacher  ausgesprochen, 
deutlicher  verkündet  werden? 

Wie  ernst  es  Kant  aber  mit  der  ^'erwirklichung  dieses  Ge- 
dankens war,  zeigt  der  Nachdruck,  mit  dem  er  l)ereits  vier  Jahre 
zuvor  an  einer  bedeutsamen  Stelle  seines  Hauptwerks*)  die  grösste 
Konzeption  des  antiken  Sozialismus,  Piatos  Republik,  gegen  die- 
jenigen verteidigt  hatte,  die  in  ihr  bloss  das  erträumte  Hirngespinst 
eines  müssigen  Denkers  sahen.  Die  Ausführungen  unseres  Philo- 
sophen sind  so  bezeichnend  für  seine  politisch-soziale  Denkart,  und 
auch  heute  noch  „realpolitischer"  Klugthuerei  gegenüber,  die  nur 
mit  den  ,, Maulwurfsaugen"  der  sogenannten  Erfahrung  zu  sehen  ver- 
mag, so  beherzigenswert,  dass  wir  uns  nicht  enthalten  künnen.  ihren 
Hauptinhalt  wörtlich  hierher  zu  setzen.  Anstatt  Piatos  Gedanken 
zu  verspotten,  würde  man.  meint  Kant.  ..besser  thun.  ihm  mehr  nach- 
zugehen und  ihn  (wo  der  vortreffliche  Mann  uns  ohne  Hilfe  lässt) 
durch  neue  Bemühungen  ins  Licht  zu  stellen,  als  ihn  unter  dem 
sehr  elenden  und  schädlichen  Vorwande  der  IJnthuulichkeit  bei  Seite 


')    Kr.    d.  r.    V.    S.   31;»  1'.     meiner    soeben    (bei  U.    ilende),    Halles    er- 
scliienenen  Ausgabe  (B  37'Jf.). 

24* 


364  K;irl   NOrländor, 

/u  setzen.  Kinc  Vortassuiijr  von  der  frrösstcn  nx-nschliclicn  l'rcilu'it 
nach  (ieset/.cn,  welrlic  iiiai'luMi,  dass  jede  Freiheit  mit  der  anderen 
ihrer  /usaininen  bestehen  kann  (nicht  \(in  der  j^rössten  (UUckselij;- 
keit.  denn  diese  wird  sidion  von  sidltsl  t'o!i;-en),  ist  doch  wfinjrstens 
eine  not\vendij;e  Idee,  die  man  nicht  hh)ss  im  ersten  Entwurle 
einer  Staatsverfassnnjr.  sondern  auch  l»ei  allen  (Icsctzen  /um 
(irunde  lejren  niuss.  und  wol)ei  man  anfän^-lich  von  den  i:e;::en- 
wärtijren  Hindernissen  al)strahieren  muss.  die  vielleicht  nicht  sowohl 
aus  der  menschlichen  Natur  unvermeidlich  entsprin,:xen  mö^en,  als 
vielmehr  aus  der  \'ernachlässi^un<r  der  echten  Ideen  hei  der 
Geset/.jrehunjr.  Denn  nichts  kann  Schädlicheres  und  eines  Philo- 
sophen rnwürdi^eres  gefunden  werden,  als  die  pöbelhafte  lie- 
rufung  auf  vorireblich  widerstreitende  Erfahrung;,  die  doch  j2:ar 
nicht  existieren  würde,  wenn  jene  Anstalten  /u  rechter  Zeit  nach 
den  Ideen  getroffen  würden  und  an  deren  Statt  nicht  rohe  Begriffe 
eben  darum,  weil  sie  aus  Erfahrung  geschö])ft  worden,  alle  gute 
Absicht  vereitelt  hätten." 

Drei  Jahre  später  (1784)  bezeichnet  Kant  in  seiner  ,,Idee  zu 
einer  allgemeinen  Geschichte  in  weltbUrgerlicher  Absieht"  als  das 
grösste  Problem,  die  höchste  Aufgabe  und  den  letzten  Zweck  der 
vMenscheugattung'' :  die  Erreichung  einer  „vollkommen  gerechten 
bürgerlichen  Verfassung'-  (ed.  Kirchmann  S.  9),  d.  i.  einer  Gesell- 
schaft, in  der  die  Freiheit  eines  jeden  ihrer  Glieder  nur  durch  die 
Bedingung  ihrer  Zusammenstimmung  mit  der  Freiheit  aller  anderen 
eingeschränkt  ist/)  eines  Zustandes,  in  welchem  allein  alle  natür- 
lichen Anlagen  der  Menschheit  ihrer  Bestimnuing  gemäss  sich  ent- 
wickeln können,  wo  man  nicht  mehr  „Vorteile  gcniesst,  um  deren 
willen  andere  desto  mehr  entbehren  müssen."^)  Allerdings  sei  dieses 
Problem  ..zugleich  das  schwerste  und  das,  welches  von  der  Menschen- 
gattung am  spätesten  aufgelöst  wird";  denn  „aus  so  krummem  Holze, 
als  woraus  der  Mensch  gemacht  ist,  kann  nichts  ganz  Gerades  ge- 
zimmert werden"  (ebd.  S.  10).  Die  unumgängliche  Voraussetzung 
zu  der  „uns  von  der  Natur  auferlegten"  Annäherung  an  das  bezeich- 
nete Ideal  seien:  1.  ,, richtige  Begriffe  von  der  Natur  einer  mög- 
lichen Verfassung,"  2.  „grosse,  durch  viel  Weltläufe  geübte  Er- 
fahrenheit," und  „über  das  alles",  3.  „ein  zur  Annehmung  derselben 
vorbereiteter  guter  Wille":  ..drei  Stücke",    von    denen  w^ir  freilich 


1)  Eine  Definition  seines  Staatsideals,   die  sich  in  derselben  oder  in  einer 
ähnlichen  Form  Otters  in  seinen  Schriften  wiederholt. 

2;  Die  letzte  Stelle  findet  sieh  Kr.  d.  prakt.  Vernunft  186  A.  (Kehrbach). 


Kant  und  der  Sozialismus.  365 

mit  Kant  meinen,  dass  sie  sich  „sehr  schwer  und,  wenn  es  geschieht, 
nur  sehr  spät,  nach  viel  vergeblichen  Versuchen  einmal  zusammen 
finden-  werden  (11).  l'nd  doch  glaubt  er  /.u  sehen,  dass  sich 
..dennoch  gleichsam  ein  Gefühl  in  allen  Gliedern,  deren  Jedem  an  der 
Erhaltung  des  Ganzen  gelegen  ist,  zu  regen  anfange"  (Ki).  Das  gebe 
Hortnunir  —  und  wer  von  uns  wäre  so  vermessen  oder  so  resigniert, 
den  tröstenden  Zukunftsglauben  unseres  Philosophen  von  vornherein 
gänzlich  zu  verdammen?  —  dass  ,.nach  manchen  Revolutionen  der 
Umbildung  endlich  das.  was  die  Natur  zur  höchsten  Absicht  hat.  ein 
allgemeiner  weltbürgerlicher  Zustand,  als  der  Schoss,  worin  alle  ur- 
sprünglichen Anlagen  der  Meuschengattung  entwickelt  werden,  der- 
einst einmal  zustande  kommen  werde"  (16  f.). 

Diese  seine  politischen  Grundüberzeugungen  verleugnet  Kant 
auch  in  seinen  späteren  ethischen  und  staatsphilosophischen  Schriften 
nicht.  Immer  wieder  kommt  er  auf  sein  oben  bezeichnetes  Kechts- 
und  Staatsideal  zurück:  man  vergleiche  insbesondere  die  Abhandlung 
über  den  ..Gemeinspruch"  von  Theorie  und  Praxis,  den  Aufsatz  ..zum 
ewigen  Frieden",  den  ..Streit  der  Fakultäten'-,  die  ,. Rechtslehre",  auch 
eine  Reihe  von  Stellen  in  R.  Reickes  ., Losen  Blättern  aus  Kants 
Naehlass". 

Aus  der  ..Kritik  der  Urteilskraft"  wollen  wir  hier  nur  eine 
bedeutsame  Stelle  anführen,  die  an  den  Wert  des  Begrilfs  der 
Organisation  auf  dem  politischen  Gebiet  anknüpft.  Ein  Jahr  nach 
dem  Ausbruch  der  französischen  Revolution  schrieb  Kant:  ,.So  hat 
man  sich,  bei  einer  neuerlich  unternommenen  gänzlichen  Umbildung 
t'ines  grossen  Volkes  zu  einem  Staat,  des  Worts  Organisation 
häufig  für  Einrichtung  der  Magistraturen  u.  s.  w.  und  selbst  des 
ganzen  Staatskörpers  sehr  schicklich  bedient.  Denn  jedes 
(rlied  soll  freilich  in  einem  solchen  Ganzen  nicht  bloss  Mittel,  sondern 
zugleich  auch  Zweck  und.  indem  es  zu  der  Möglichkeit  des 
Ganzen  mitwirkt,  durch  die  Idee  des  Ganzen  wiederum,  seiner  Stelle 
und  Funktion  nach,  bestimmt  sein**  (ed.  Kehrbach  S.  25()  Anm.; 
vffl.  auch  noch  S.  :}24  f.  und  S.  339  desselben  Werkes). 

über  die  Utopien  findet  sich  eine  interessante,  bisher,  soviel 
ich  sehe,  noch  nirgends  beachtete  Stelle,  die  den  Standpunkt  von 
1781  dem  Wesen  nach  durchaus  festhält,  in  dem  „Streit  der  philo- 
sophischen Fakultät  mit  der  juristischen-'  (Streit  der  Fakultäten  ed. 
Kehrbach,  S.  118  Anm.):  „Piatos  Atlantica,  Moros  Utopia,  Har- 
rinfftons  Oceana  und  Allais  Severambia  sind  nach  und  nach  auf 
die  Buhne  gebracht,  aber  nie  .  .  .  auch  nur  versucht  worden  .... 


',){]{]  Karl   \'(irl.iiitit' r. 

Kill  Staatsjirodukt.  wir  Tiiaii  es  hin-  doiikt.  als  (icrciust.  so  s])iit  es 
aiu'li  si'i.  |als|  V(>llcii(lft  zu  liollni.  ist  ein  süsser  'rraiini.  alter  sich 
|ilun|  iiniiUT  /.u  iiiilicni,  nicht  allein  denkliar.  somleni.  so  weit  os 
mit  (ieni  moralischen  (leset/.e  /usaniiiieii  lu-stelien  kann,  riiiclit"  — 
freilich  mit  dem  heute  jedenlalls  starker  Opposition  l)ej;e<rneinlen 
Zusätze :  —  ..ineht  der  Stantsl)liri:er.  sond»'rn  des  Staatsoberhaupts''; 
wie  denn  Kam  in  der  L"leichen  S(dirilt  die  aul'klärende  Stimme  (h'r 
,.fri'ien  IJechtslehrer  d.  i.  l'lnlosophen"  incht  ..vertraulich  ans  N'olk'', 
..als  widches  davon  und  \o\\  ihren  Sciirilten  weni^  oder  ^-ar  keine 
Notiz,  nimmt"  (!),  soudern  ,, ehrerbietig-  an  den  Staat  <::eriehtet" 
wissen  will  (S.  109). 

Andererseits  «rlaubt  man  fast  einen  modernen  Sozialtheoretiker  zu 
hören.  So.  wenn  man  liest,  w  ie  Kant  fordert.  ..dass  der  Staat  sich  von 
Zeit  zu  Zeit  auch  selbst  reformierend  und.  statt  Revolution  Evolution^) 
versuchend,  zum  Besseren  beständii:'  fortschreite''  (11:)),  nämlich  zu 
einer  ..rei)ul)likanischen  Verfassung'',  wobei  es  auf  die  Staatsform 
(die  monarchisch  bleiben  kann)  weidger  aid^omme,  als  auf  die 
Regierungsart  ..nach  allgemeinen  Rechtsprinzipien"  (S.  107  f.  vgl. 
Lose  Blätter  604- -(iOG,  674  f.).  Oder,  wenn  man  ihn  ausführen 
sieht,  dass  ..die  Natur  der  Dinge  dahin  zwingt,  wohin  man  nicht 
g:erne  will:  fata  volentera  ducunt,  nolentem  trahunt"  (Schluss  der 
Abhandlung  über  den  Gemeinspruch;  vgl.  Lose  Blätter  S.  604). 
Auch  ist  er  kein  Freund  von  dem  „am  Staate  flicken",  wie  es 
„alle  sich  so  nennenden  Praktiker  gewohnt  sind"  (Lose  Blätter 
S.  673),  dieselben  „Politiker-,  die  stets  davon  sprechen:  „Man 
muss  die  Menschen  nehmen,  wde  sie  sind,  nicht,  wie  der  Welt  un- 
kundige Pedanten  oder  gutmütige  Phantasten  träumen,  dass  sie  sein 
sollten",  während  sie  sie  doch  selbst  zu  dem,  was  sie  sind  „durch 
ungerechten  Zwang,  durch  verräterische,  der  Regierung  an  die  Hand 
gegebene  Anschläge  gemacht  haben'',  nämlich  „halsstarrig  und 
zur  Empörung  geneigt"  (Streit  d.  Fak.  S.  99 j.  Das  Volk  verlange 
von  der  Regierung  nicht  Wohithätigkeit,  sondern  sein  Recht; 
„denn  mit  Freiheit  begabten  Wesen  genügt  nicht  der  Genuss  der 
Lebensannehmlichkeit  .  .  .,  sondern  auf  das  Prinzip  kommt  es  an, 
nach  welchem  es  sich  solche  verschafft"  (ebd.  106  f.  A.,  vgl.  L.  Bl. 
S.  574  f.j.  Das  Rechtsbewusstsein  eines  Volkes  sei  es  denn  auch 
g:ewesen.  was  den  französischen  Revolutionsheeren  den  Sieg  über 
ihre  Gegner  verliehen  habe,  denn  ..wahrer  Enthusiasmus  geht  immer 

ij  Den    lieute    viel    gebrauchten  Ausdruck   entlehnt  Kant,    wie   er  S.  107 
bemerkt,  ..Herrn  Erhard"  (dem  als  eifrigen  Verehrer  Kants  bekannten  Philosophen). 


Kant  lind  der  Sozialismus.  ggy 

nur  aufs  Idealisehe  und  zwar  rein  Moralisclie,  dergleichen  der 
Keehtsbegriff  ist"  und  „kann  auf  den  Eig:ennutz  nicht  jjepfropft 
werden'"  (a.  a.  0.   106). 

Im  Zusamnienhanir  hiermit  sei  es  uns  o:estattet,  auf  eine  interessante 
Stelle  hinzuweisen,  die  mit  unserem  Thema  zwar  nicht  in  unmittelbarer 
Beziehung:  steht,  aber  volles  Licht  auf  die  freiheitliche  (resinnuni: 
unseres  Philosophen  in  politischen,  sozialen  und  religiösen  Dingen  wirft. 
Sie  findet  sich  in  einer  Schrift,  in  der  man  sie  auf  den  ersten  Blick 
nicht  vermuten  sollte,  und  hat  vielleicht  deshalb  noch  nicht  die  ver- 
diente Beachtung  gefunden:  ,,lch  gestehe,  dass  ich  mich  in  einen"  (Kant: 
im)  „Ausdruck,  dessen  sich  auch  wohl  kluge  Männer  bedienen,  nicht 
wohl  finden  kann:  Ein  gewisses  Volk  (was  in  der  Bearbeitung  einer 
gesetzlichen  Freiheit  begriffen  ist)  ist  zur  Freiheit  nicht  reif; 
die  Leibeigenen  eines  Gutseigentüniers  sind  zur  Freiheit  noch  nicht 
reif,  und  so  auch  die  Menschen  überhaupt  sind  zur  Glaubensfreiheit 
noch  nicht  reif.  Nach  einer  solchen  Voraussetzung  aber  wird  die 
Freiheit  nie  eintreten;  denn  man  kann  zu  dieser  nicht  reifen,  wenn 
man  nicht  zuvor  in  Freiheit  gesetzt  w^orden  ist  (man  rauss  frei  sein, 
um  sich  seiner  Kräfte  in  der  Freiheit  zweckmässig  bedienen  zu 
können).  Die  ersten  Versuche  werden  freilich  roh,  gemeiniglich  auch 
mit  einem  beschwerlicheren  und  gefährlicheren  Zustande  verbunden 
sein,  als  da  man  noch  unter  den  Befehlen,  aber  auch  der  Vorsorge 
anderer  stand,  allein  man  reift  für  die  \'ernunft  nie  anders  als  durch 
eigene  Versuche  (welche  machen  zu  dürfen,  man  frei  sein  mnss). 
Ich  habe  nichts  dawider,  dass  die,  welche  die  Gewalt  in  Händen 
haben,  durch  die  Zeitumstände  genötigt,  die  Entschlagung  von  diesen 
drei  Fesseln"  —  gemeint  ist  die  politische,  wirtschaftliche,  religiöse 
Fessel  —  „noch  weit,  sehr  weit  aufschieben.  Al)er  es  zum  Grund- 
sätze zu  machen,  dass  denen,  die  ihnen  einmal  unterworfen  sind, 
überhaupt  die  Freiheit  nicht  tauge,  und  dass  man  berechtigt  sei,  sie 
jederzeit  davon  zu  entfernen,  ist  ein  Eingriff  in  die  Regalien 
der  Gottheit  selbst,  die  den  Menschen  zur  Freiheit  schuf. 
Bequemer  ist  es  freilich,  in  Staat,  Haus  und  Kirche  zu  herrschen, 
wenn  mau  einen  solchen  Grundsatz  durchzusetzen  vermag.  Aber 
auch  gerechter?''  (Religion  innerhall)  der  Grenzen  der  blossen  Vernunft 
ed.  Kehrbaeh  S.  204  Anm.). 

Auch  die  „Rechtslehre''  endlich  ist  keinesw'egs  so  rein  indivi- 
dualistisch und  liberalistisch,  wie  man  gewöhnlich  annimmt.  Das 
Recht  wird  als  die  ,,Möglichkeit  eines  mit  jedermanns  Freiheit  nach 
allgemeinen  Gesetzen  zusammenstinnnenden  durchgängigen  Wechsel- 


368  K:iil   N' iirliiiuU'r, 

sfitijri'u  Zwanges-'  voriri'stfllt  U'il-  Kiri'liiiiaiui  S.  ;{;{).  ^\i<'  aiu-li  luich 
dir  ..AiuliropoIoLni"'  (vd.  IS(M)  S.  :{-J4  f.,  v-;-!.  S.  ;{'JSf.)  die  Kr/iclumjr 
des  Mt'nsi'li(Mijr('si'hl('c'lit('>  zu  ciiicr  ..liilrfi'crliclicn.  aiit"  dem  l'n'ilicits-, 
/.ujrli'ioh  al)er  aiu'li  irrsrt/.mässiircn  Zwauü-s-l'rin/.iji  /ii  ^•liliidcudcn  \  w- 
tassuiii:'"  ins  \[\i:v  tasst.  Audi  an  das  IMiildnn  der  iirs|)rUni;"li('lirii 
liodi'njri'iiK'inschat't.  iiiidit  als  Faktum,  sondern  als  Idee,  das  Kant  \  ud 
hesehättijrt  hat  ( Iveelitslehre  S.  ö.")  t"..  vf,d.  die  wicficilitdltMi  Ansät/c  in 
den  Losen  Hlättrrn.  l>es.  S.  2r)ltV..  'J!);nl". ),  köindc  \i(dlci(dit  der 
nioiU'me  Sozialismus  anUnii|ilcn.  So  sajrt  Kant  (KeclitsUdire  S.  7(it".): 
„Der  l^esit/  aller  Mcnseheu  auf  Erden,  di'r  vor  allem  rcclitliidieii 
Akt  dersell)en  vorlierireht  (\nu  dw  Natur  scditst  konstituiert  ist),  ist  ein 

Cr  ^  ' 

urspriiuirlieber  Gesarntbesitz  (communio  j)ossessiouis  orig:inaria), 
dessen  Begriff  nieht  enipiriseh  und  von  Zeitbcding-unji-en  ahliängifr 
ist,  wie  etwa  der  g:ediehtete,  aber  nie  erweisbare  eines  uranfänjr- 
lichen  Gesamtbesitzes  (communio  primaeva),  sondern  ein  praktischer 
Vernunft bejrriff,  der  a  priori  das  Prinzip  enthält,  nach  welchem 
allein  die  Menschen  dm  Tlatz  auf  Erden  nach  Uechtsgesetzen  ge- 
brauchen können.'' 

ludessen  nicht  auf  solche  Ähnlichkeiten  in  Einzelfragen  kommt 
es  an.  Sie  würden  an  und  für  sieh  nichts  beweisen,  zumal  da 
Kants  politisches  Ideal,  wie  oben  bereits  bemerkt,  in  erster  Linie 
durch  den  Freiheitsgedanken  bestimmt  bleibt.  Der  wahre  und 
wirkliche  Zusammenhang  des  Sozialismus  mit  dem  kritischen 
Philosophen  ist  vielmehr  in  dem  ,,rein  Moralischen'"  gegründet, 
in  den  —  von  Kant  selbst  praktisch  nicht  immer  gezogenen  — 
Konsequenzen  jener  einfach -erhabenen  Formel  des  kategorischen 
Imperativs,  die  uns  die  Menschheit  in  der  Person  eines  jeden  Mit- 
menschen jederzeit  zugleich  als  Selbstzweck,  niemals  bloss 
als  Mittel  zu  achten  lehrt.  Auf  diesem  Fundamente  muss  der 
Sozialismus  bauen,  wenn  anders  er  überhaupt  nach  einer  ethischen 
Begründung  verlangt.  Und  von  dieser  Seite,  d.  h.  von  Seiten  der 
ethischen  Begründung  aus  lässt  sich  der  Königsberger  Weise  in 
der  That  als  der  betrachten,  zu  dem  ihn  ein,  wohl  auch  nur  in 
diesem  und  nicht  im  engen  historischen  Sinne  gebrauchtes,  kühnes 
Wort  Hermann  Cohens  (s.  u.)  stempelt:  „der  wahre  und  Avirkliche 
Urheber  des  deutschen  Sozialismus". 

Woran  lag  es,  dass  Kant  diese  Rolle  geschichtlich  nicht  gespielt, 
dass  vielmehr  an  seiner  Statt  Fichte  dem  philosophischsten  unter 
den  deutschen  Sozialisten  (Lassalle j  als  solcher  erschienen  ist? 
Nun,  zunächst  wohl  daran,  dass  er  seinen  weittragenden  sozialethischen 


Kant  nnd  der  Sozialismus.  3(j<> 

Grundprinzipien    keine   systematische  Anwendung  auf  das  prai^tische 
Gebiet  sozialer  Wirtschaft  gab.  wie  Fichte  es  in  seinem  „Geschlossenen 
Handelsstaat-    wenigstens  versucht  hat.     Ja,  Kant  scheint  in  seinem 
politischen    Hauptwerke,    der   „Kechtslehn"".    Jenen     grundsätzlichen 
ethischen    Standpunkt,    den    der   kategorische  Imperativ    vorschreibt, 
auf    politisch -ökonomischem  Gebiet    nicht  voll   aufrecht  zu  erhalten. 
Er   tritt  zwar  für  vollste  gesetzliche  Freiheit.    Gleichheit     und    Sell)- 
ständigkeit  aller  Staatsbürger  ein.    aber  er  betrachtet  die  Gesellen 
..bei    einem  Kaufmann    oder    bei    einem  Handwerker'-,  die   privaten 
Dienstboten,  Tagelöhner.  Zinsbauern  und  „alles  Frauenzimmer",  kurz 
jedermann,  der  ,.Nahrung  und  Schutz"  von  anderen  erhält,  nicht  als 
Staatsbürger,  sondern  nur  als  Staatsgenossen  (S.  ITri — 154;  vgl.  auch 
die   Abhandlung    vom   Gemeinspruch    etc.,    ed.    Kirchmann  S.   122  f. 
Anm.,   wo   er  es  indes  für  „etwas  schwer"  erklärt,  ,,die  Erfordernis 
zu    bestimmen,  um  auf  den  Stand  eines  Menschen,  der  sein  eigener 
Herr    ist.  Anspruch    machen    zu    können").     Jedoch    sollen  auch  sie 
„als  Menschen"    dieselbe    Freiheit    und    rechtliche  Gleichheit,    wie 
Jene,  geniessen;  denn  ohne  diese  kann  kein  Volk  ein  Staat  heissen. 
Auch  soll  ihnen  nichts  im  Wege  stehen,  aus  dem  ..passiven"  Zustand 
der    blossen    Staatsgenossen    zu    dem    „aktiven-    der    Staatsbürger 
..sieh  emporzuarbeiten".     Die  volle  Konsequenz  seines  kategorischen 
Imperativs,  die  der  moderne  Sozialismus  eben  hieraus  zieht,  dass  die 
thatsächliche    Vorbedingung    politischer    Selbständigkeit,    die    wirt- 
schaftliche Selbständigkeit,   allen  nicht  bloss  ideell,  sondern  that- 
sächlich   zu   ermöglichen   sei,   hat  Kant  noch  nicht  ins  Auge  gefasst. 
Und,  ein  billiger  Beurteiler  wird  es  zugestehen,  er  konnte  es  kaum, 
bei    den    wirtschaftlichen    und     kulturellen    Zuständen    seiner    Zeit. 
Damit   stehen   wir   bei   der    zweiten,    oben  bereits  gekennzeichneten, 
historischen  Schranke  seines  Sozialismus. 

II. 
So  verlief  denn  des  letzteren  Entwicklung  unter  ganz  anderen 
jibilosophischen  Auspizien.  Als.  einige  Jahrzehnte  später,  die  grossen 
technisch -ökonomischen  Umwälzungen  eintraten,  welche  die  soziale 
BewegungunsererTage  nach  sich  zogen,  stand  Deutschland  philosophisch 
unter  dem  Zeichen  Hegels,  später  Feuerbachs  und  der  Materialisten; 
von  ihnen  empfingen  die  theoretischen  Vorkämpfer  des  modernen 
Proletariats  ihre  philosojibische  Bildung;  Kant  zählte  fast  zu  den 
Vergessenen.  So  wurde  der  Sozialismus,  wenigstens  der  politische 
Parteisozialismas,    unter  dem  Banner  des  „Materialismus"  gross,  der 


;{70  Karl   \' orländor. 

jMin/ipit'll  im  >t:irkstt'ii  Witlt-rspiiu-li  /.ii  scincii  Ideen  steht  und 
höi"hst('li>  als  l'eld/.eii'lieil  fr<'^^i'llill)er  der  seieliteii  Klietoiik  eines 
iloirniatiselien  Selieinidealisinns  t'ini<?rii   Wert   liesit/.t. 

1,  Sell)st  ein  Alliert  l>anire,  der  sich  nin  die  l  Iterw  indnii;;  des 
Materialismus  niidit  bloss  auf  erkenutnisthedretliischeiiK  sondern  auch 
aut  dem  ethisehen  (lel)i('to  ein  s(t  durcliselihij^endes  Ver(li(Mist  or- 
worhi'ii  hat.  hi(dt  noeh  ..die  pnv/.v  praktistdie  rhiii)S()|)hie".  so  mächtif; 
sie  auch  aut"  die  Zeitirenossen  gewirkt  habe,  tiir  den  „wandelbaren 
und  verjräni;-lic'lien  Teil  der  Kantschen  l'hih»so|)hie"  ((Jesch.  d.  Mat. 
ed.  Cohen  ISST.  S.  ;]5()).  Er  ist  /.war  der  erste  ..Kantianer'  oder 
vielmehr  der  erste  mmi  dem  kritischen  Idealismus  nacddialti^'  l>eein- 
flusste  Philosopii  der  neueren  Zeit,  der  sozialistisch  }i:edaclit  hat.  aber  die 
Verbindung:  zwischen  seinem  ..Kantianismus''  und  seinem  ,, Sozialismus" 
ist  keineswegs  eine  systematische;  sie  bestand  vielmehr  nur  in  seiner 
edlen,  vom  reinsten  ethischen  Idealismus  ertüllten  Persönlichkeit. 
Seine  ..Arbeiterfrage"  knüpft  zur  Begründung  seiner  sozialethischen  An- 
schauungen an  den  Kritizismus  nicht  an;  sie  polemisiert,  im  Gegenteil, 
gegen  Kants  Kechtsbegriff  und  seine  Ableitung  des  Eigetitumsrechts 
(4.  Auflage  S.  2(58  ff.),  die  insbesondere,  wenn  man  ihm  „bis  in  die 
Begründung  des  individuellen  Eigentumsrechts  hinein"  folge  (S.  271 ). 
/u  einer  ot!'enl)aren  petitio  principii  werde. 

2.  Der  erste  Kantianer  vielmehr,  der  oflen  auf  die  grundlegende 
Bedeutung  der  Kantischen  Ethik  für  die  Fundamentierung  des 
Sozialismus  hingewiesen  hat,  ist  der  Führende  unter  den  heutigen 
Neukantianern,  Hermann  Cohen  in  Marburg.  Bereits  sein  vor 
dreiundzwanzig  Jahren  geschriebenes  Buch  .,Kants  Begründung  dei- 
Ethik"  (Berlin,  Dümmler,  1877)  mündete  in  den  Gedanken  aus,  dass 
Kants  höchstes  Gut.  ^vie  schon  Schleiermacher  bemerkt  habe,  im 
Grunde  ein  politisches  sei  (828).  Der  moderne  Hiob  frage  nicht 
mehr,  „ob  der  Mensch  überhaupt  mehr  Sonnenschein  als  liegen  habe, 
sondern  ob  der  eine  Mensch  mehr  leide  als  sein  Nächster;  und  olt 
in  der  austeilenden  Lust-Gerechtigkeit  der  berechenbare  Zusammen- 
hang bestehe,  dass  ein  Mehr  an  Lust  für  das  eine  Mitglied  im  Reiche 
der  Sitten  das  Minder  des  anderen  zum  logischen  Schicksal  macht"  (327). 
Jenes  höchste  Gut  brauche  aber  nicht  mehr,  wie  von  Kant  geschehen, 
besonders  ,, postuliert"  zu  werden.  Es  sei  bereits  gegeben  in  der 
„vor  keiner  Thatsache  der  sogenannten  Erfahrung  zurückschreckenden'' 
Idee  eines  Reichs  der  Zwecke  als  regulativer  Maxime,  die  dazu  da 
ist.  den  ..Erfahrungsgebrauch",  dessen  kausale  Bedingtheit  umzustossen 
sie  durchaus  nicht  beansprucht,  zu  regeln,  „nach  der  Idee  der  Menschheit 


Kaut  iiud  der  Sozialismus.  37  [ 

den  Menschen  unizuschatlVii"  (•J4(i|.  Darin  besteht  die  objei^tiv- 
praktische  Kealität  des  Sittenj^esetzes.  Uiul  sn  bezeuge  und  bewähre 
sich  Kants  „in  ihrer  Grundlcjrunjr  auf  anthropolof^ische  Oelehrsaniiveit 
verzichtende  Ethik  in  ihrer  Be<rriindung  als  Anthroponomie"   (32H). 

In  (lern  l)i()i:raphischen  N'orwort  (von  ISSl)  zu  Albert  Lanj^es 
Geschichte  des  Materialismus  (S.  XIII)  Avird  dessen  gleichzeitiges 
Verhältnis  zu  Kant  und  dem  Sozialismus  nur  kurz  gestreift.  Indem 
Lange  seinen  Standpunkt  gegenüber  Strauss  und  Überweg  ein- 
nehme, von  denen  der  erste  den  Sozialismus  gehasst,  der  andere  ihn 
ign(»riert  habe,  habe  er  die  ethische  Frage  ,,an  ihrer  lebendigen, 
ehrlichen  Wurzel  zu  ergreifen  verstanden",  und  ,,das  vor  allem- 
mache  ihn  ..zu  einem  Apostel  der  Kantischen  Weltanschauung".) 

Am  unumwundensten  aber  hat  sich  Cohen  in  seiner  „Einleitung  mit 
kritischem  Nachtrag"  zur  fünften  Autlage  desselben  Werkes  (189(i)  über 
unser  Thema  geäussert.  Wir  haben  diesen  leider  noch  incht  seinem 
vollen  Werte  nach  beachteten  Nachtrag  l)ereits  im  ersten  Bande  der 
..Kantstudien"  (S.  2()<S — 272)  besprochen  und  machen  hier  nur  auf  die 
unser  Spezialthema  berührenden  Gedanken,  in  etwas  anderer  \'er- 
bindung  und  grösserer  Ausführlichkeit  nochmals  aufmerksam.  Indem 
er  sich  entschieden  gegen  das  ,,\  orurteil  einer  naturalistischen  Be- 
gründung" des  Sozialismus  wendet,  dem  auch  Lange  in  seiner  vom 
Darwinismus  erfüllten  Zeit  nicht  widerstanden  habe,  erklärt  Cohen 
kurz  und  bündig:  ..Der  Sozialismus  ist  im  Recht,  sofern  er  im 
Idealismus  der  Ethik  gegründet  ist.  Lnd  der  Idealismus  der  Ethik 
hat  ihn  begründet.''  Somit  ist  Kant  .,der  wahre  und  wirkliche  Ur- 
heber des  deutschen  Sozialismus"  (S.  LX\').  Es  folgt  dann  dieselbe 
Ableitung  des  sozialistischen  Grundgedankens  aus  Kants  kategorischem 
Imperativ,  die  wir  oben  gegeben  haben,  der  sich  ein  kurzer  historischer 
liückblick  auf  die  Entwicklung  der  schon  von  den  Stoikern  und  den 
Naturrechtlern  des  17.  und  IS.  Jahrhunderts  vertretenen  Idee  der 
societas  humana,  der  menschlichen  Gesellschaft  anschliesst.  Freilich 
dürfe  uns  nicht  mehr  die  ..Natur"  Rousseaus  und  die  als  die  Sunnne  der 
Individuen  gefasste  Gesellschaft  Bürgin  des  Ideals  sein,  sondern  die 
Idee  der  Gesellschaft,  als  „Ordnungs-  und  Leitbegritf  der  Individuen-- 
(S.  LXVII). 

Für  die  seit  Langes  Tod  verflossenen  zweiundeinhalb  Jahrzehnt«- 
glaubt  Cohen  einen  ..Riesenfortschritt'-  in  der  ..Anerkennung  des 
ökonomisch  -juristischen  Rechts  des  Sozialismus  im  Bewusstsein  der 
allgemeinen  Bildung"  konstatieren  zu  dürfen.  ..Heute  wehrt  sich  kein 
Unverstand  mehr  gegen  den  „guten  Kern"  der  sozialen  Frage,  sondern 


•{j.)  K:irl   N'urliiiulcr. 

nur  niH'h  der  liösc  odvv  der  nicht  /.urt'it'hrnd  •riitr  Wille".  Nur  der 
..idcaltcindlii'hc  K«roisiiuis.  der  der  wahre  Materialismus  ist",  xersa^^t 
dieser  ..\\  alulieit  des  iilVeiitliciieii  Hewusslseiiis--,  die  freilich  ducIi  ein 
..iifVentliches(ieheiiiiiiis"ist.  den  (  Üaulien  und  pocht  aul  das  ^-eschriehene 
Oller  iiar  ..im  Dienste  seiner  InleroMii  eiliirst  um/uschreihendo" 
Kocht,  auf  die  ..\erl)rieften    Privileirien   der  Stände''   (S.   LX\  II  f  |. 

Wie  entschieden  nun  auch  der  Marhuriicr  Phihtsoph  die  Idee  (U's 
Sozialismus  anerkennt,  so  hat  er  doch  an  den  ..dermali;:en  politischen 
So/.ialisnuis"  verschiedene  sehr  i;e\vichtiu-e  l'"or(lerunj:-en  /.u  stellen: 
1.  Als  Fundament  nuiss  der  M  a  terialismus  incht  nur  ,./eit\veise  ah- 
geschüttelf,  sondern  ..radikal  aufii-ej::ebcn"  ^verden.  2.  Als  Krönung- 
seines  Gebäudes  darf,  wie  die  Kthik.  so  auch  der  Sozialismus  die 
Gottesidee  nicht  abweisen,  die  freilich  hei  Cohen  nichts  anderes  als 
den  Glauben  an  die  Macht  des  Guten,  die  llofVnung  auf  die  Ver- 
wirklichung der  gerechten  Sache  bedeutet.  3.  Gegenül)er  einer  rein 
realistischen  Auflassung  des  Begriffs  der  Gesellschaft  und  gegenüber 
der  materiellen  Wirtschafts-Genossenschaft  müssen  Recht  und  Staat, 
als  Ideen.  Ehrfurcht  fordern  und  finden;  denn,  wie  keine  Freiheit 
ohne  Gesetz,  so  kann  ohne  die  im  (4esetz  bestehende  Gemeinschaft 
keine  freie  Persönlichkeit,  keine  wirkliche  Gemeinschaft  moralischer 
Wesen  bestehen.  .Mit  der  Anerkennung  der,  notwendigerweise  mangel- 
haften, bestehenden  Kechts-  und  Staatsordnung  kann  sich  gleichwohl 
der  schärfste  Blick  für  ihre  Gebrechen,  die  tiefste  Glut  für  deren 
gründliche  Heilung  verbinden.  Die  Vereinigung  beider  Bedingungen 
hat  von  jeher  den  „grossen,  wahrhaft  revolutionären  Umschwung", 
nämlich  den  stetigen  geschichtlichen  Fortschritt  verbürgt.  Endlieh 
ist  4.  mit  der  Idee  der  Menschheit  (menschlichen  Gesellschaft)  die 
Idee  des  Volkes  (der  Nationalität)  zu  verbinden,  indem  wir  jene,  die 
wir  ehren  und  achten  in  diesem,  das  wir  lieben,  zu  verwirklichen  streben. 
Die  Volksidee,  wie  z.  B.  ein  Fichte  sie  gelehrt,  vertritt  zugleich  „den  be- 
vorrechteten Ständen  gegenüber  die  Idee  der  Menschheit  im  eigenen 
Volke"  (S.  LXXV).  „Eine  Nation,  die  für  Reich  und  Arm  verschiedene 
Schulen  hat  .  .  .  mag  auf  dem  Wege  zur  Nation  sein;  ein  Volk  ist 
sie  nicht"  (ebd.).  So  „erschafft  die  Idee  der  Gesellschaft  die  wahre 
Einheit  des  Volkes  auf  dem  Grunde  der  Kultur  des  Geistes".  In 
diesem  Sinne  für  die  Realisierung  der  Volksidee  zu  wirken,  ist 
„der  Inbegriff  der  Aufgaben  des  Idealismus"  (S.  LXXVI). 

3.  Noch  etwas  vor  Cohens  Schrift  erschien  das  grundlegende 
Buch  von  Rudolf  Stammler  (Halle):  „Wirtschaft  und  Recht 
nach    der    materialistischen    Geschichtsauffassung.      Eine   sozialphilo- 


Kant  und  der  Sozialisinns.  873 

sopliische  Untersuchung^'-  (Leipzig-,  \  eit,  189(;).  Oab  Cohen  mehr  eine 
„expektorative  Darlegung-' seines  sozialethischen  Denkens,  so  enthält  da- 
geo:en  Stammlers  Werk  eine  aus<refUhrte  systematische  Begrründun}^ 
des  sozialen  Idealismus.  Da  w  ir  seinerzeit  das  Buch  Stammlers  unter 
dem  Titel  „eine  Sozialjihil()soj)hie  auf  Kantiseher  Grnndlatre"  in  dieser 
Zeitschrift  (I,  15)7—211))  eing:ehend  besprochen  haben,  so  be?:nUg:en 
wir  uns  an  dieser  Stelle  mit  einer  Hervorhebung  der  Hauptgesichts- 
punkte. Stammler  fasst  seine  Aufgabe,  ganz  im  Sinne  Kantiseher 
Methode  und  mit  Berufung  auf  sie.  rein  erkenntniskritisch: 
Psychologie.  Naturwissenschaft,  Nationalökonomie,  Jurisprudenz  in 
reichem  Masse  heranziehend,  aber  methodisch  nur  als  Hilfstruppeii 
betrachtend ;  gegenüber  Dogmatismus  und  Skejjtizismus.  der  psycho- 
logischen und  genetischen  Betrachtungsweise.  Materialisnuis  und 
S])iritualismus  den  ..kritisch  gesuchten  und  methodisch  eingeleiteten" 
Standpunkt  des  wissenschaftlichen  Idealismus  vertretend.  Seine 
Kernfrage  lautet  nicht  etwa:  Wie  ist  soziales  Leben  entstanden? 
sondern :  Unter  welcher  formalen  Bedingung  ist  soziales  Leben  als 
ein  eigener  Gegenstand  unserer  Erkenntnis  zu  erfassen  und  einheitlich 
zu  denken  möglich?  Die  Antwort:  Indem  das  Zusammenleben  von 
Menschen  als  äusserlich  (durch  äusserlich  verbindende  Normen)  ge- 
regelt gedacht  wird.  Dis  äussere  Regelung  ist  die  Form  i  Kantisch 
genommen)  der  sozialen  Materie  d.  h.  das  Bestimmende,  Bedingende, 
Oesetzmässige  an  der  sozialen  Erfahrung,  welche  letztere,  wie  alle 
Erfahrung,  nur  eine  sein  kann.  Es  giebt  nur  eine  Kausalität, 
und  in  dem  Aufstellen  einer  einheitlichen  Methode  oder  Gesetzlichkeit 
für  die  wirtschaftlich-rechtliche  Entwicklung  liegt  kein  Fehler, 
sondern  ein  Verdienst  der  sogenannten  materialistischen  Geschichts- 
autfassung.  Auch  Stammler  behauptet  einen  ..Kreislauf",  einen 
..Monismus-  des  sozialen  Lebens,  auch  er  hält  den  Zusammenhang 
der  geistigen  mit  den  zu  Grunde  liegenden  ökonomischen  Be- 
wegungen für  grundsätzlich  unabweisbar.  Aber  er  behauptet  mit 
Kant  unil  den  Neukantianern  etwas  weiteres:  Es  ist  neben  der 
unausweichlichen  und  undurchbrechbaren  Kausalität  der  P>fahrung 
noch  eine  andere  Art  von  Gesetzlichkeit  (Einheit  des  Gesichts- 
punkts) als  diejenige  von  Ursache  und  Wirkung  zu  denken  möglich, 
welche  sich  auch  dem  Laien  in  den  einlachen  Unterscheidungen 
von  Erkennen  und  Wollen,  Bewirktem  und  zu  Bewirkendem.  Sein  und 
Sollen  deutlich  genug  kund  giebt.  Es  soll  das  keine  zweite  Kausalität 
sein,  die  etwa  in  die  erste  von  ungefähr  hineinfahren  und  ihre  aus- 
nahmslose Geltuni;  zu  nichte  machen  könnte,  sondern  eine  neue  Art 


•jy^  \\  :irl   N'  (irliiiult  r, 

von  Geset/inässifrkoit,  die  nicht  iiiU'li  (it'iii  War  um.  soiidfiii  nacli  drin 
Wo/.u.    nii'lit    nach   Irsachc    und   Wirkunj:-.    stnnh-rn  nach   Mittel   und 
Zweck,   bis  hinaul"  zu  (h'ni  Knd/wcck   als  oberster  Kinhcit   niiiplichcr 
Zweckset/.unir,    iVairt.     Ks    iricbt.    mit    anderen   Worten    —    uas    die 
Tiieoretiker    des    sozialen  Materialismus    bisher    nicht    {;-enll},-end   be- 
achteten —  neben  der  kausalen   noch   eine  ihr  nicht  widersprechende, 
.•sondern    sie   erjränzende  teleolosrische  oder,   wie   wir   jetzt  wohl   ohne 
Furcht  vor  Missverstehen  sa^'en  dürfen,  ethische   Hetrachtunj;sweise 
der  sozialen  Krscheinuniien.    Die  ethische  Heurtcilunfr  eines  sozialen 
Vorkommnisses  ist  etwas  g-anz  anderes  als  die  genetische  Erklärung 
seines    Werdens.     Die    konkreten    Bestrebungen    erwachsen    freilich 
immer    aus    den    sozialen  Zuständen,    sind    aber   nach  menschlichen 
Wünschen    und  Zielen    zu    leiten,    deren    oberster  Massstab  nur  ein 
solcher    des  Endzwecks  (Endziels)    sein    kann.     Dieser  letztere  aber 
kann,    wenn    anders    er  Allgemeingiltigkeit   erstrebt,   kein  empirisch 
bedingtes  Einzel-    oder  Sonderziel,    sondern    er    muss    ein    formaler 
Gedanke    d.  i.  einheitlicher  Gesichtspunkt    sein,    der,    wenn    er  sieb 
auch   mit  konkretem  Inhalt  selbstverständlich  nur  aus  der  Erfahrung 
füllen    kann,    dennoch    über    allen    bedingten  Einzelzwecken    in  un- 
bedingter Geltung    richtend    und   leitend   steht.     Das  soziale  Endziel 
ist    nach    Stammler  iS.  575)    die  Gemeinschaft    frei    wollender 
Menschen,  in  der  ..ein  jeder  die  objektiv  berechtigten  Zwecke  des 
anderen  zu  den  seinigen  macht." 

4.  Der  methodische  Grundgedanke,  von  dem  Stammlers  sozial- 
philosophische Untersuchung  beherrscht  ist.  liegt  auch  dem  neuesten 
Werke  von  Paul  Natorp  (Marburg)  zu  Grunde,  seiner  ,.Sozial- 
pädagogik.  Theorie  der  Willenserziehung  auf  der  Grundlage  der  Ge- 
meinschaft". (Stuttgart,  Frommann,  1899).  Nur  dass  das,  was  Stammler 
in  breitester,  den  Gedanken  nach  allen  Seiten  hin  drehender  und 
wendender  Ausführung  darlegt,  bei  Xatorp  in  knappster  Zusannnen- 
fassung  erscheint  und  bloss  die  Einleitung  zu  seinem  Hauptthema 
bildet,  das  bei  dem  Zwecke  des  Stammlerschen  Buches  ausge- 
schlossen, von  Cohen  nur  eben  angedeutet  war:  der  systematischen 
Begründung  einer  Volkserziehuugslehre  auf  der  Grundlage  der 
Gemeinschaft. 

Natorp  hat  sich  bereits  seit  Jahren  mit  diesem  Problem  be- 
schäftigt. Schon  seine  „Religion  innerhalb  der  Grenzen  der  Huma- 
nität" (Freiburg  1894)  bezeichnete  er  als  „ein  Kapitel  zur  Grund- 
legung der  Sozialpädagogik-';  auch  kleinere  Schriften,  besonders 
„Pestalozzis  Ideen    über  Arbeiterbildung    und    soziale  Frage"  (Heil- 


Kant  und  der  Sozialisnms.  ;{75 


bronn  1S94)  uud  ..Platos  Staat  und  die  Idee  der  Sozialpädajrujrik-' 
(Berlin.  Heymanii  1895)  waren,  wie  schon  der  Titel  zeigt,  dem 
gleichen  Zwecke  gewidmet.  Es  sollen  —  ein  (iebiet,  das  die  bis- 
herige Sozialphilosophie  noch  fast  ganz  seitab  hat  liegen  lassen  — 
die  Wechselbeziehungen  zwischen  Gesellschaftslehre  und  Er- 
ziehungslehre untersucht,  und  zwar  beide  als  ..in  der  tiefsten 
Wurzel  eins  und  untrennbar  zusannnengehörig"  (\orwort  S.  Vj  nach- 
gewiesen werden.  Zu  diesem  Zwecke  aber  musste  auf  die  i)hilo- 
sophischen  Fundamente  beider  zurückgegangen,  eine  systematische 
Grundlegung  gegeben  werden.  So  enthält  das  Buch  weit  mehr,  als 
sein  Titel  zunächst  vermuten  lässt,  nämlich:  1.  eine  erkenntniskritische 
Grundlegung.  2.  die  HauptbegriHe  der  Ethik,  3.  die  Grundlage 
einer  Sozialphilosophie,  und  erst  4.  das  in  seinen  Umrissen  aus- 
geführte System  einer  sozialen  Pädagogik,  als  „Organisation  und 
Methode  der  Willenserziehung":  dies  alles  auf  einem  Räume  von  nur 
350  Seiten.  Wir  versuchen  im  folgenden  wenigstens  die  Grund- 
gedanken herauszuschälen,  was  allerdings  bei  der  Fülle  des  in  so 
knappe  Form  gegossenen  Inhalts  keine  ganz  leichte  Sache  ist.') 

Die  ».Grundlegung"  steht  auf  dem  Boden  Kantischer  Methode, 
in  der  gewöhnlich  als  Neukantianismus  bezeichneten  freien  Weiter- 
bildung, die  ihr  Cohen,  Natorp  u.  a.  gegeben  haben.  Erziehung  ist 
Willensbildung.  Wille  aber  ist  Zielsetzung,  Vorsatz  eines  Gesollten, 
einer  Idee.  In  der  Idee  tritt  der  gesamten  Welt  der  Natur,  deren 
oberste  Begritle  und  Gesetze  die  Wissenschaft  in  kausaler  Durch- 
dringung zu  erforschen  sucht,  ein  ganz  neuer  Gesichtspunkt  gegen- 
über, der  weder  naturwissenschaftlich  noch  psychologisch  (auch  die 
Psychologie  ist  Naturwissenschaft),  sondern  nur  erkenntnis kritisch 
zu  verstehen  ist.  Man  niuss  sich  zunächst  klar  machen,  dass  neben 
dem  zeitlich  bedingten  Denken  noch  ein  anderes,  gewissermasseu 
überzeitliches  Denken  (so  das  logische  und  mathematische)  existiert. 
Sätze  wie  A  =  A  oder  2  X  -  —  -^  gelten  unterschiedslos  zu  aller 
Zeit.  Nur  vermittelst  dieses  nach  Einheit  im  Bewusstsein  (oder 
durchgängigem  Zusammenhang  des  Gedachten)  strebenden  logischen 
Denkens  kommt  theoretische  oder  Naturerkenntnis  (nach  Kant:  Er- 
fahrung) zustande.  Aber  diese  Erfahrungserkenntnis  ist  ihrer  Natur 
nach  einer  Vollendung,  eines  Abschlusses  im  Unbedingten  unfähig. 
Hier  tritt  nun  die  regulative  Idee  (im  Kantischen  Sinn  des  Wortes)  ein, 

1)  Eine  ausführlichere  Be.si)reclinnf(  liabe  ich  vor  kurzem  in  der  Zeitschnft 
für  Phihmphie  u.  philox.  Kntih  (Bd.  114,  S.  214— 240J  unter  dem  Titel:  Eine 
Socialpödigogik  auf  Kaniischer  Grundlayc  gegeben. 


;{7^j  Karl    Vorländer. 

,.(lit'  lot/.tc  Kinlicit.  der  Ict/to  ciircnstc  IUick|iiiiiUt  (ttr  Ijkrniitiiis" 
\24).  Das  (l('l)ift  der  Zw  t-i- ksct/.unir  tluit  sich  Mir  uns  ;iiir.  dif.  indem 
sie  uai'h  Zwcidvtn.  /.ulrtzl  dem  Zwecke  aller  Zwecke  (Knd/weck)  frairt. 
UMS  in   das  Keicii   des  W'tdlens.  des  Sollens   und  sonut  der  l'-thik    l'illirl. 

Worin  hestelit  mm  die  (iesetzlichkeit  des  Sollens V  Diese  Frap- 
niuss  die  (irundtVaire  idner  wissenschaltlichen  Ktliik  sein.  Antwort: 
In  der  ..formalen"  Kinlieit  nn-iner  Zwecke,  d.  Ii.  in  ihrer  notwendigen 
i'bereinstimnuinj:-  unter  sich.     Das  (leset/  der   I'>iiiiieit  das  i^t 

tler  durch  Kants  transscendentale  .Methode  hestinmite  (Irund.iredanke 
des  Natorpb^ehen  I'hilosophierens  —ist  das  ( i  ru  ndf;-cset/  des  l'.e- 
wiisstseins,  das  ebenso  die  theoretische  Krkenntnis  (in  der  niathe- 
matiseheu  oder  Grössen-  und  der  Natur-  oder  ursachlichen  (ieset/.lich- 
keit)  wie  die  praktische  (in  der  Zweck^^eset/.lichkeiti  beherrscht;  so 
schliesst  sich  in  ununterbrochenem  Zusannnenhanjye  an  die  l.oi:ik  die 
E^hik  an.  Kants  formales  Sittenji-esetz  bedeutet  nichts  Anderes  als 
unbeditiirt  einheitliche  Ordnung;  der  Zwecke  nach  dem  Massstabe  und 
unter  der  Herrschaft  der  Vernunft. 

Die  ..P^fahrun«;-'  vermag  zwar  diese  Kantische  Ethik  der  reinen 
Idee  in  ihrem  letzten  formalen  Grunde  nicht  aus  sich  selbst  heraus 
zu  beg-r linden,  aber  ihrem  Stoffe  nach  bleibt  die  neue  Gesetzlich- 
keit (der  Zwecksetzung)  ganz  und  gar  auf  Erfahrung  angewiesen. 
Das  Gesollte  soll  doch  verwirklicht  werden.  Wie  sie  ihn  bietet, 
und  wie  er  sich  jener  reinen  Form  fügt,  das  im  Anschluss  an 
Xatorps  scharfsinnige  Deduktionen  darzulegen,  würde  zu  weit  führen. 
Wir  erwähnen  nur,  dass  der  \  erfasser  drei  „Stufen  der  Aktivität" 
unterscheidet,  von  denen  jede  die  vorige  in  sich  enthält:  1.  Trieb. 
2.  bewusster  Wille,  3.  Vernunftwille,  dazu  die  interessante  Parallele 
auf  dem  theoretischen  Gebiet:  L  Vorstellung  schlechtweg,  2.  be- 
wusst  objektivierte  Vorstellung,  3.  wissenschaftliche  Objekterkenntnis, 
und  die  Übertragung  auf  das  soziale:  1.  Naturkräfte,  2.  deren  bewusste 
Beherrschung  durch  die  Technik,  3.  die  Unterordnung  der  letzteren 
unter  den  höchsten  menschlichen  Zweck:  die  Menschenbildung. 

Menschenbildung  ist  möglich,  aber  nur  in  und  durch  menschliche 
Gemeinschaft,  alle  Pädagogik  deshalb  im  Grunde  Sozialpädagogik. 
Echter  Sozialismus  schliesst  den  berechtigten  Individualismus  nicht 
aus,  sondern  ein;  denn  Erhebung  zur  Gemeinschaft  bedeutet  nicht 
Beschränkung,  sondern  Erweiterung  des  eigenen  Selbst,  nicht  die 
Eindämmung,    sondern    erst   die  wahre  Entfaltung  des   Individuums. 

Wir  übergehen  das  folgende  Kapitel  von  den  ,.Hauptbegriften 
der  Ethik-'    seinem  2:rössten  Teile  nach,   weil   das  System   der  indi- 


Kant  und  der  Sozialismus.  377 

Tiduellen  Gruiidtugendon  (Wahrheit.  Tapferkeit  oder  sittliche  That- 
kraft.  Reinheit  oder  Mass,  Gerechti<,'keit),  das  unser  Philosoph  hier 
in  freier  Anlehuunjr  an  Plato  entwirft,  so  interessant  es  auch  für  den 
Ethikrr  ist.  doch  in  keiner  unmittelbaren  Beziehung  zu  unserem 
Thema  steht.  Nur  der  vierten  und  letzten  Tugend,  der  Gerechtig- 
keit idixaioaryrj]  muss  hier  gedacht  werden,  weil  sie  die  individuelle 
Grundlage  der  sozialen  Tugend  liiidet.  Denn  sie  verlangt  Wahr- 
haftigkeit, sittliche  Thatkraft  und  das  rechte  Mass  in  Arbeit  und 
Genuss  —  im  Verhalten  zu  der  Gemeinschaft.  Indem  sie  ihren  letzten 
Grund  in  der  Kantischeo  Achtung  der  Menschheit  in  jeder  Person, 
auch  dem  Ärmsten  und  —  Schlechtesten,  findet,  fordert  sie  Gleich- 
heit alles  dessen,  was  Menschenantlitz  trägt.  Diese  Gleichheit  kann  und 
soll  freilich  keine  mechanische  sein,  nicht  in  der  Zuteilung  von  Gütern 
je  nach  dem  Gutsein  bestehen,  sondern  nur  darin,  dass  allen  die 
gleiche  Möglichkeit  zur  Ausbildung  ihrer  b'ähigkeiten  gegeben  wird. 
Die  Wahrhaftigkeit  des  Einzelnen  wird  nun  zur  Herrschaft  der 
vernünftigen  Einsicht  im  öffentlichen  Leben  im  Gegensatz  zu  Per- 
sonen-. Klassen-  und  Kassenhass,  die  Thatkraft  zum  Einstehen  für 
Recht  und  Gesetzlichkeit  im  Kampf  gegen  die  eigenen  und  die 
gesellschaftlich  mächtigen  Sympathien  und  Antipathien,  das  rechte 
Mass  zur  harmonischen  Ordnung  von  Arbeit  und  Genuss  überhaupt; 
die  soziale  Gerechtigkeit  endlich  verlangt,  dass  jeder  seinen 
rechtmässigen  Anteil  an  Bildung.  Regierung  und  —  Arbeit  habe! 

Von  unmittelbarster  Bedeutung  für  die  Beziehungen  zwischen  neu- 
kantischer  Philosophie  und  Sozialismus  sind  die  in  denijijKi — 18  mit  wahr- 
haft bewundernswürdiger  Kunst  auf  4S  Seiten  (S.  181 — 178)  zusammen- 
gedrängten Fundamente  einer  kritischen  Sozialphilosophie. 

Die  in  dem  ersten  Teile  nachgewiesenen  drei  „Grundfaktoren 
der  menschlichen  Aktivität'-:  Trieb  —  Wille  —  Vernunft,  ergeben, 
auf  das  soziale  Leben  ihrer  Träger  übertragen:  Arbeitsgemeinschaft') 
unter  gemeinschaftlicher  Willensregelung  (durch  die  Technik),  die 
ihrerseits  der  vernünftigen  Kritik  der  Gemeinschaft  untersteht  (S.  134). 
Daraus  ergeben  sich  weiter  drei,  einander  selbst  fort  und  fort  neu 
erzeugende  und  gestaltende  Grnndklassen  sozialen  Thuns:  die  wirt- 
schaftliche, regierende  und  bildende  Thätigkeit,  deren  jede 
ihren  eigentümlichen  Zweck  hat.  aber  in  Verfolgung  desselben  auch 
die     beiden    anderen    in    Anspruch    nimmt.      Wirtschaft    und    Recht 


1 )  Präziser  scheint  mir  statt  dessen  aus  Gründen,  die  icli  Zeitsclir.  t.  l'liilos. 
a.  a.  O.  S.  2'2')  und  Kantstiidicn  I,  'JOO  f.  darg[eIo-rt  liaho.  dor  Be-rriff:  Zusammen- 
leben von  Menschen  als  bestimmbarer,  trieberfilliter,  willensfähif^er  Wesen. 

Kiiutstiulieu  IV.  26 


878 


Karl   \' tirliiiiilt>r. 


ilii'iien  bi'ido  als  blosse  Mittel  dem  einen  hiU'hsten  Zweek  der 
Meusclicnhilduui:.  der  nun  seinerseits  die  wirtsehal'tlirlic  Arlnit  und 
politische    riiiitiirkeit  sittlieli  /u  adeln  vcrma{,^ 

Nat(H-|)s  ..Grundireset/    der    sozialen    Kntwieklunj:"    (tj   IS)    \vill 
keine    kausale   Erklärung;    ihres    zeitliehen   (Jesehehens    bieten,    zu 
dessen  wirklieher  Erkenntnis  es  ihm  bei  dem  heutifren  Stunde  der  Wissen- 
schaft noch  an  den  notwendijrsteu  Vorbedinj:-un^^en  zu  fehlen  scheint 
(S.   Ki-J),   nüthin    ki-in  Natur-   oder  Erfahrun-rsfjesetz   sein,    sondern 
als  ein  rcirulatives  Gesetz  der  Idee  verstanden  werden,  das  jedoch 
mit  den  alliremeinen  Gesetzen  der  Ertahrunjr  in  engster  systematischer 
VerbindunfT    steht.     In    lückenlosem  Zusannneidian-;-    reihen    sich    an 
einander  (vgl.    schon    oben):  Naturerkenntnis  —  Technik  —  soziale 
ReireluniT  —  vcrnunftg:emässe  Gestaltung  des  sozialen  Lebens.     Den 
Zusannneuhaug    der    drei    ersten    Stufen    hat    auch    die    sogenannte 
materialistische  Geschichtsauffassung  klar  erkannt.    Was  ihr 
noch   fehlt,   ist   das    bewusste  Aufsteigen   zu  der  höchsten  Stufe,  der 
Grund    davon    am    letzten  Ende    der    dem    historischen  ebenso,  wie 
dem   naturwissenschaftlichen,    Materialismus   anhaftende  Mangel    an 
Erkenntniskritik.    Wie  es  kein  Naturgesetz  ausser  uns  giebt,  so 
ist  auch  die  soziale  Gesetzlichkeit  nur  Gesetzlichkeit  des  Bewusstseins 
und  kann  ernstlich  aus  der  sozialen  „Materie''  nicht  abgeleitet  werden. 
Und   weiter:    „Von    den    untersten  materialen  Bedingungen  bis  zum 
höchsten  Gesetze  der  Bewusstseinsform,  dem  Gesetze  der  Idee,  besteht 
ein  durchgehender,  ununterbrochener  Zusammenhang"  (S.  IGG).    Eine 
neue  soziale  Ordnung  zu  schaifeu,  erfordert  gewiss  zunächst  die  höchste 
technische    und    zwar    sozialtechnische  Einsicht,    aber    nicht    minder 
notwendig    als    letzten  Leit-  und  Gesichtspunkt  die  Idee  einer  best- 
möglichen   Ordnung    der    Zw^ecke,    die   selbstverständlich,    wenn  sie 
nicht   einem   verschwommenen  und  haltlosen  Spiritualismus  verfallen 
will,    in    gesetzmässigem   und  ununterbrochenem  Zusammenhang  mit 
der  sozialen  Materie,  bis  zu  ihren  letzten  Unterlagen  herab,  bleiben 
muss.     So    entsteht    ein    durchgehender    Gesetzeszusammenhang    der 
soeben  bezeichneten  Grundfaktoren  des  sozialen  Lebens,  den  Natorp, 
durch    eine    höchst    scharfsinnige  Übertragung   der  drei  „regulativen 
Prinzipien"  Kants  (der  Homogeneität,  Spezifikation  und  Affinität  oder,. 
wie  Natorp  moderner  sagt:  des  Generalisation,  Individualisation  und 
des  stetigen  Übergangs)  vom  Natur-  auch  auf  das  technische,  soziale 
und  sittliche  Gebiet,  noch  enger  und  systematischer  zu  gestalten  weiss. 
Das  sittliche  Endziel  der  sozialen  Entwicklung  und  zugleich  Grund- 
gesetz   der    menschlichen  Bildung  sieht  der  Verfasser,  an  Pestalozzi 


Kant  nnd  der  Sozialismus.  379 

erinnernd,  in  der  einheitlichen  sittlichen  Ordnung  der  Zwecke  unter 
allseitiger  Entfaltung  des  Menschenwesens  in  lückenlosem  harmonischem 
Zusammenhang  seiner  Grundkräfte  (175  f). 

Diesem  Ideale  in  ewiger  Arbeit  am  einzelnen  wie  an  der 
Gemeinschaft  (und  zwar  am  letzten  Ende  des  gesamten  Menschen- 
geschlechtes. 8.  188)  zuzustreben,  das  ist  die  „Bewegung  zum  End- 
ziel". Was  haben  wir  zu  thun,  um  zu  diesem  Ziele  oder  zunächst 
wenigstens  auf  den  Weg  zu  ihm  zu  gelangen?  Das  lehrt,  soweit 
die  Antwort  auf  dem  Gebiete  der  Erziehungslehre  liegt,  die  zweite 
Hälfte  des  Buches:  die  soziale  Pädagogik  als  Organisation  und 
Methode  der  Willenserziehung  (S.  191 — 352). 

Das  wesentlichste  Mittel  nämlich  zur  Erziehung  des  Willens  sieht 
unser  Sozialpädagoge  in  der  Organisation  der  Gemeinschaft  in 
Haus,  Schule  und  öffentlichem  Leben.  Von  der  reichen  Fülle 
praktischer  Anregungen,  die  dieser  Teil  dem  Pädagogen,  dem  Ethiker, 
dem  Sozialpolitiker  giebt.  mag  sich  jeder  durch  eigene  Lektüre  über- 
zeugen: über  des  Verfassers  Grundstellung  kann  nach  allem  Vorher- 
gesagten kein  Zweifel  mehr  sein.  Wir  greifen,  das  eigentlich 
Pädagogische  beiseite  lassend,  nur  einige  wenige  Punkte  heraus, 
die  den  Sozialpolitiker  näher  angehen. 

Die  Familie,  die  gegenwärtig  in  einer  noch  nicht  absehbaren 
Periode  innerer  Umbildung  begriffen  ist,  kann  zwar  nicht  mehr  zu 
den  verengenden  und  veralteten  Formen  einer  für  uns  auf  immer 
entschwundenen  Zeit  zurückkehren,  aber  wir  brauchen  deshalb  ihrem 
Verfall  nicht  mit  verschränkten  Armen  zuzusehen.  Starkes  Gemeinschafts- 
und gesundes  Familienleben  sind  wohl  vereinbar.  Heutige  keimartige 
Anfänge,  wie  die  Fröbelschen  Kindergärten,  wären  allmählich  zu  all- 
gemeineren Organisationen  (Familienverbänden.  Nachbarschaftsgilden) 
zu  erweitern;  wozu  natürlich  für  die  arbeitende  Klasse  eine  „vor 
allem  um  der  Erziehung  willen  zu  verlangende  grössere  Freiheit  vom 
Arbeitszwang  (durch  gesetzliche  Beschränkung  der  Arbeitszeit  bei 
gleichzeitiger  Sicherung  eines  angemessenen  Arbeitseinkommens)"  ge- 
hören würde.  —  Für  die  Schulerziehung  fordert  Natorp  eine  wirkliche 
Volksschule  im  weitesten  Sinne  des  Wortes.  Denn  alle  haben 
Anspruch  auf  —  zwar  nicht  genau  die  gleiche  Bildung,  wohl  aber 
auf  gleiche  Sorgfalt  für  ihre  Bildung,  auf  Anteil  an  der  grossen 
Bildungsgemeinschatt.  allein  nach  dem  Massstab  der  Fähigkeit,  nicht 
sonstiger  Vorrechte.  Seine  Vorschläge  lauten:  Allgemeine  obligatorische 
Volksschule  bis  zum  zwölften  Lebensjahre,  dann  Vorbereitung  auf 
die  Berufe:  das  „neuhumanistische  Gvmnasium"  nur  für  die  wirklich 

25* 


380  Karl   \  nrliiiidiT, 

ZU  tlu'orftiscluT  Aushildiiiiir  BotliliifTtcn.  (laiicbon  eine  (a-wcrhe-  oder 
Kealsi'luilc  mit  ;inir(\:.'li('(l(M-ti'n  (fakultativen)  KarliUurscn  für  die  }j:i'- 
Averltlii'luMi  Hcrul'c;  statt  dtr  Ijislicrifrrii  un/uläii^^iciicii  Fortliildim^'s- 
schulr  oiiic  NdllsrhiiU'  lilr  alh*  bis  /um  aclitzehuti'n  .laliic.  die. 
in  tVeicnr  \\'t'ir>c  (»r^raiiisicrt.  /uirUMcli  mit  den  Aiitaiijreii  der  iKTuflicluMi 
Ausbildung'  ( l.clirlinns/oit)  Ncriuiiidcn  werden  könnte.  —  Für  die 
Stufe  der  freien  St-lbster/.iehun^  im  (lemeinleben  der  Krwaehsenen 
endlii'h:  Krweiterunjr  der  jet/.iiren  Universität  zu  einer  wahren  uni- 
versitas.  d.  li.  lloehseluile  für  die  (lesamtheit,  wobei  an  die  l'niversitäts- 
Ausdi'hnuiii:s-Beweirunj;-  in  Enj:land  und  den  Vereinigten  Staaten,  an 
die  .Aolkshoehschule"  der  skandinavischen  Länder  anzuknüpfen  wäre, 
an  die  letztere  auch  in  Hinsicht  auf  ein  geordnetes  Zusannneuleben 
ihrer  Zöglinge. 

Kur/.,  die  Erziehunir  nmss  sich  in  den  Dienst  der  Gemeinschaft, 
das  Leben  der  Gemeinschaft  am  letzten  Ende  in  den  Dienst  der 
Erziehung  stellen,  wie  schon  Plato  erkannt,  aber  bei  seiner  Über- 
schätzung der  Geistesbildung  sowie  der  Arbeitsteilung,  und  seiner 
Lnterschätzung  des  wirtschaftlichen  und  politischen  Faktors  für  das 
Gemeinleben,  nur  unvollkommen  durchgeführt  hat.  Wir  alle  haben  den 
Beruf  der  sozialen  Erziehung,  und  Endzweck  eines  jeden,  auch  des 
geringsten,  Menschendaseins  ist  nicht  Wirtschaft  und  Recht,  sondern 
Vollendung  des  Menschentums.  Kur  auf  dem  Grunde  eines  wahrhaften 
Gemeinschaftslebens  kann  und  wird  auch  der  Unterricht,  namentlicii 
der  geschichtliche  (285  t!'.),  ethische  (80:5  ff'.)  und  philosophische  (310) 
wahrhafte  Früchte  tragen,  das  ästhetische  Niveau  erhöht  werden  (SIS  f.) 
und  endlich  das  religiöse,  d.i.Menschheits-  und  Ewigkeitsgefühl  gedeihen. 
Die  alte  Jenseits -Religion  hat  ihre  Rolle  ausgespielt  (351),  die 
neue,  reifere  „innerhalb  der  Grenzen  der  Humanität",  in  die  sie  um- 
zubilden ist,  —  und  die  für  Natorp  nur  in  dem  Glauben  an  die 
Idee  besteht  — ,  sie  wird  nicht  künstlich  gemacht  werden,  aber 
sie  wird  eines  Tages  von  selbst  da  sein,  „eine  Frucht  der  sittlichen 
Erneuerung  menschlicher  Gemeinschaft''  (352). 

5.  Tragen  die  Werke  von  Stammler  und  Katorp  in  erster  Linie 
einen  wissenschaftlichen,  auf  die  methodisch-systematische  Begründung 
eines  idealistischen  Sozialismus  gerichteten  Charakter,  so  verfolgt  die 
vierte  Schrift,  die  wir  hier  zu  besprechen  haben,  Franz  Staudin gers 
,.Ethik  und  Politik"  (Berlin,  Dümmler  1899,  VI  und  1G2  S.) 
neben  ihrem  wissenschaftlichen  auch  den  praktischen  Zweck,  die 
Zeitgenossen  auf  „diejenigen  materiellen  und  sittlichen  Grundlagen 
hinzuweisen,   auf  denen  allein  eine  Erneuerung  des  sittlichen  Lebens 


Kant  und  dt-r  Sozialismus.  381 

möglich  ist'*  (A'orwort  S.  111).  Es  werden  denigemäss  in  dem  zweiten 
Teile,  der  die  (in  dem  ersten)  gefundenen  Prinzipien  der  Sozialethik 
auf  die  heutige  Gesellschaft  anwendet,  auch  bestimmte  ethische  und 
politische  Zeitrichtungen  (die  Nationalsozialen,  die  Bodenreformer, 
die  ethische  Kultur  und  besonders  die  deutsche  Sozialdemokratie) 
charakterisiert  und  kritisiert.  Al>er.  wenn  auch  der  Stilcharakter 
verschieden  ist,  so  ist  doch  der  Geist  derselbe.  Das  Fundament  ist 
auch  für  Staudinger  der  Kantische  Gedanke  vom  Reich  der  Zwecke 
und  der  moderne  Sozialismus  in  seinen  Augen  nur  eine  weitere  Ans- 
bildung  dieses  in  seinem  Kern  schon  von  der  Prophetie  des  alten 
Hundes  und  der  Jesuslehre  verkündeten  Gedankens.  Staudinger  stellt 
sich  noch  offener  und  entschiedener  als  jene  beiden  auf  die  Seite  des 
Sozialismus,  aber  er  verlangt  auch  ebenso  entschieden  im  Interesse 
der  wissenschaftlichen  Konsequenz  von  ihm,  dass  er  seiner  Begründung 
,,das  Prinzip  einheitlichen  Krkennens  und  einheitlichen  vernünftigen 
Wollens"  bewusst  zu  Grunde  lege.  „Die  analytische  Begründung  der 
Ethik  durch  Kant,  wie  sie  durch  Cohen,  Natorp,  Stammler  u.  a.'' 
—  hier  vergisst  Stand,  aus  Bescheidenheit  sich  selbst  zu  nennen^)  — 
„weiter  entwickelt  worden  ist,  bildet  die  notwendige  Ergänzung 
zu  der  vorwiegend  historisch  -  kausalen  Begründung  der  Marx- 
Engels'schen  Schule"  (Vorw.  IV). 

Weniger  in  äusserlichem  Anschluss  an  Kant,  dem  er  \ielmehr 
mitunter  (S.  45  und  65  A.)  sogar  entgegentritt,  aber  ganz  im  Sinne 
der  uns  nun  bekannten  Kantischen,  wenn  man  will,  ne  ukantischen 
Methode  legt  auch  Staudinger  den  verschiedenen  Sinn  von  kausaler 
und  Zweckbetrachtung  dar,  und  zwar  werden  diejenigen,  denen  diese 
Betrachtungsweise  noch  weniger  geläufig  ist,  vielleicht  gerade  durch 
seine  populärere  Art,  welche  die  Leitsätze  durch  zahlreiche  Beispiele 
aus  allen  Gebieten  zu  illustrieren  weiss,  gewoimen  werden.  Ebenso 
wenig,  wie  die  Begriffe  „richtig  (wahr)"  und  ,,falsch",  haben  „gut" 
und  „schlecht"  an  sich  etwas  mit  kausalem  Werden  zu  thun.  Und 
nicht  auf  den  Inhalt,  sondern  auf  die  Einhelligkeit  alles  Erkenuens 
kommt  es  der  echten  Wissenschaft  an.  „Wahr  ist  nur  dann  ein 
Satz,  wenn  er  sich  eindeutig  in  den  Zusammenhang  aller  Erkenntnisse 
einfügen  lässt"  (17).  Das  entspricht  ganz  Kants  „formaler  Einheit 
der  Erfahrung".  Und  gut  ist  eine  Handlung  oder  ein  Wille,  ,,sotern 
und  weil  sie  sich  einheitlich  in  den  Zusammenhang  alles  Lebens 
(aller  Zwecke)  einfügen"  (39).    Das  ist  Kants  formales  Sittengesetz  in 

J)  Vgl.  sein  früheres  Werk:  Das  Sittengesetz  (2.  Aufl.  Berlin  1897) 
und  manche  kleinere  Abhandlung. 


3S*J  1'^:"'    Voiläiidcr. 

etwas  andrrcr  Fdini.  „Das  l'iin/.ip  (Irr  waliifn  Moral  ist  alst»  das 
rrin/ip  ilrr  Kiiilu-it  nu'nsohliclicii  Dcnkous,  \\  (»Ileus  und  llaiidcliis, 
unter  ^Meielihereeliti^rten  MciiscIkmi."  Ks  ist  /ii^Icicli  dassellie  rriiizip. 
das  dem  (.'hristeiituiii  als  Idee  eines  Keiehcs  Gottes  (also  im  Kantisclieii 
Sinne)  zu  Grunde  lie^rt:  nur  ist  es  jetzt  „in  seinen  inneren  he- 
dinjrunjren  erkannt  und  entt'altet'"  und  ..aus  den  Nebeln  des  Jenseits 
zu  einer  treibenden  Kral't  in  dem  Leiten  der  Menschheit  erhoben"  l-^iM- 
In  diesem  Sinne  ist  jene  Einheit,  naeh  dvr  sich  unser  jranzes  Wesen 
sehnt.  ..für  uns  ^\  irklich  Gott''  (48),  weil  das  (iute,  der  oberste 
Kichtj)unkt  unseres  Deidvcns  und  \\'(dlens.  (Ich  sehe  nicht  ein. 
weshalli  Staudiiiiier  sich  S.  4.H  Anm.  ^eg:en  Natorps  in  fi'enau  dem 
jrleichen  Sinne  jrebrauchten  Ausdruck:  das  Unbedingte,  wehrt).  Das 
sittliche  oder,  sagen  wir  bestimmter,  das  sozialethisehe  Ideal  bestinnnt 
Staudinger,  sachlich  in  vidligem  Einklang  mit  Natorp  und  Stanunler, 
als  „die  durch  freie,  gleichberechtigte  Menschen  zu  schattende  Einheit 
des  praktischen  Gemeinschattslebens  in  Erkenntnis,  Zweckordnung 
und  Wille-  (66  f.),  später  (S.  Sl.  84)  auch  geradezu  mit  Stammler 
als  ..die  Gemeinschaft  Irei  wollender  Menschen'". 

Aus  ihm  entspringt  alle  Gemein  schaftsethik.  Die  Ver- 
dunkelung dieses  Einheitsstrebens  dagegen  ist  der  Quell  aller 
Gewaltethik,  die  das  Mittel  über  den  Zweck  stellt:  als  fanatischer 
Sektengeist,  als  dogmatische  Unterdrückungssucht,  als  nackte  Inter- 
essenpolitik oder  gar  als  „satanische"  Lüge  und  Heuchelei.  Dem 
gegenüber  bleibt  die  Aufgabe  ethischer  Politik:  die  vernunft- 
gemässe  Fortbildung  der  gegebenen,  geschichtlich  gewordenen  Ordnung 
jenem  sozialethischen  Endziele  zu.  Ihre  Mittel  sind:  Erkenntnis 
und  Organisation  (80).  Das  dunkle  Bewusstsein  der  Massen,  ihr 
l)linder  GefUhlsdrang  zu  mehr  oder  .  minder  phantastischen  Zielen 
muss  sich  abklären  zu  klarem  Erkennen,  zielbewusstem  Wollen  und 
organisiertem  Handeln. 

Freilich  ist  alle  Ethik  machtlos,  sobald  die  historischen  Be- 
dingungen zu  einer  sittlichen  Erneuerung  der  Gesellschaft  fehlen. 
„Die  schönsten  Grundsätze  ]\Iark  Aureis  können  kein  Rom  vor  dem 
Zusammenbruch  retten,  weil  sie  nicht  als  lebendige  Triebkräfte  einer 
]\Iassenbewegung  erscheinen-'  (80).  Diese  letzteren  sieht  Staudinger 
in  der  modernen  Arbeiterbewegung.  Das  kapitalistische  System  ist 
nicht,  wie  der  alte  Liberalismus  glaubte,  ein  System  des  Zusammen- 
lebens freier  nnd  gleicher  Menschen  (S.  lllj,  sondern  übersetzt  nur 
die  früheren  persönlichen  Herrschaftsformen  in  die  unpersönliche  des 
Kapitals.     Dem    gegenüber    vertritt  der  Sozialismus  die  höhere  Sitt- 


Kant  und  der  Sozialismus.  3Q3 

lichkeit;  aber  auch  er  hat  noch  manchen  Rest  der  ihm  gegenwärtig 
anhängenden  Gcwaltethik  abzustreifen;  er  muss  die  Kontinuität  der 
Entwicklung  d.  i.  den  steten  Zusammenhang  des  Werdenden  mit 
dem  schon  Gewordenen,  den  schon  die  Natur  der  Dinge  vorschreibt, 
auch  seinerseits  nicht  durchbrechen  wollen,  und  den  Weg  der  ver- 
fassungsmässigen Fortbildung  wahren,  soweit  es  an  ihm  liegt. 

Dem  Marxismus  steht  Staudinger  ähnlich  gegenüber  wie  Stamm- 
ler und  Natorp,  im  ganzen  aber  doch  wohl  etwas  näher.  Er  ver- 
gleicht die  Marx'sche  Methode  mit  derjenigen  von  Kant,  insofern 
beide  keine  psychologischen  Untersuchungen,  sondern  objektive 
Analyse  des  Gegebenen  treiben.  , .Darum  ist,  wenn  auch  manche 
Einzeluntersuchung  verbesserungsfähig  sein  mag,  an  Prinzip  und  Me- 
thode der  Marx'schen  Forschung  nichts  auszusetzen.  Wir  vermögen 
an  ihr  keinen  prinzipiellen  Fehler,  sondern  nur  einen  Mangel  zu  ent- 
decken, der  zu  ergänzen  ist"  (110).  Dieser  Mangel  liegt  darin,  dass 
Marx  auf  die  Frage  des  Verhältnisses  der  Ökonomie  zur  Ethik  nicht 
eingeht.  Er  will  nur  zeigen,  welche  Gesetze  thatsächlich  in  der  heutigen 
Volkswirtschaft  wirken,  weist  dagegen  jede  Begründung  ihres  Rechtes 
oder  Unrechtes  ab.  Das  aber  ist  ein  „unmögliches  Unterfangen." 
„So  lange  der  Marxismus  das  soziale  Werden  nach  dem  kausalen 
Gesichtspunkte  wissenschaftlich  verfolgt,  ist  er  leistungsfähig  und 
kann  etwaige  Irrtümer  stets  wieder  nach  wissenschaftlich-einheit- 
licher Methode  korrigieren.  Sobald  er  sich  aber  bewusste  und 
plan  massige  Umgestaltung  des  Gegebenen  zum  Ziele  macht,  kann 
er  den  Massstab  hierzu  nicht  in  jenem  kausalen  Werden  entdecken  .  .  . 
Sobald  der  Marxismus  dessen  inne  wird,  kommt  er  in 
konsequenter  Verfolgung  seines  eigenen  Prinzips  zu  Kant", 
auf  dessen  Forschungen  die  Einsicht  in  das  Gesetz  der  Zweckbildung 
ruht.  Und  umgekehrt  bleiben  ..die  Gesetze  der  Zweckbildung  ein 
leeres  Schema,  sobald  die  Naturgesetze  des  thatsäcblichen  Lebens 
nicht  die  Grundlage  darbieten.  Sobald  der  Kantianer  dies 
klar  erkennt,  kommt  er  in  folgerechter  Entwicklung  seiner 
eigenen  Grundgedanken  zu  Marx",  auf  dessen  P'orschungen  die 
Einsicht  in  die  Gesetze  der  bisherigen  wirtschaftlichen  Entwicklung 
gegründet  ist  (159). 

So  ist  Staudinger  unter  den  Neukantianern  —  denn  diesen  ist 
er  trotz  einzelner  Divergenzen,  wegen  seiner  Methodik  offenbar  zu- 
zuzählen —  derjenige,  der  die  Möglichkeit  einer  Verbindung  von 
Marxismus  und  Kritizismus  am  deutlichsten  zum  .\usdruck  bringt, 
ihre  Notwendigkeit  am  kräftigsten  betont.     Wir  wären  damit  an  der 


384  K  :irl   y  o  iliiinlor, 

Grenzt'  unseres  Alisi'litiittrs  an^-elanirt  und  Uönnti'u  niiinii<lii  Nondcn 
sozialisieremU-n  Kantianern  v.u  (icn  kantianisicrcndcn  Su/,ialisten 
Uher^elien.  wnni  wir  iiirlit  nocli  cinifrc  litlcraiischi'  Krsclu'inuni^en 
der  letzten  Zeit  /n  M-rzcioliiuMi  liättrn.  die,  ^^eradr  wt-il  sie  von  bis- 
her nielit  als  Kaniiaiirr  lirkanntcn  (iclclirtin  aiis^^ehen.  zeif^en.  wie 
sieh  innerhallt  der  versehiedensten  wissensehaftlichen  Kreise  ein 
Dranj;  naeli  der  Idsher  \(tii  uns  heschrichenen  Kiehtunj;  henierkhar 
macht. 

(1.  Die  von  Professor  Otto  CFerlaeh  ( Könijrsherfr )  zum  Kant- 
gei)urtsta^"  lsit9  in  der  Kantpesellschaft  zu  Köni^-sherg;  fjelialtene 
Rede  über  ,,Kants  Einfluss  auf  die  Sozialwissenschalt  in 
ihrer  neuesten  Entwicklung:''  (Jetzt  al)g:edruckt  in  der  Tiiliin-i-er 
,, Zeitschrift  für  die  o:esamte  Staatswissenschaft"  1891),  S.  (144— G(»:i) 
freilich  ist  ihrem  wesentlichsten  Inhalt  nach  nur  ein,  seiner  Klarheit 
weg:en  recht  lesenswertes,  Keferat  über  Stammlers  ol>en  von  uns 
besprochenes  Buch.  Auch  Gerlach  zeig:t,  wie  Stammlers  Frage- 
stellung: und  Methode  durchaus  die  des  Kritizismus  ist  und  nichts 
zu  thun  hat  mit  der  sog:enannten  ethischen  Jlichtung:  der  National- 
ökonomie, in  die  Sombart  ihn  einzureihen  versucht  hat,  sondern  aus 
den  eigenen  Erkeuntnisbeding-ung-en  der  Sozialwissenschaft  deren 
eig:enartige  Methode  und  Gesetzlichkeit  begründet.  Er  schlägt  (S.  662) 
vor,  Stammlers  Lehre  als  ,. realistischen  Idealismus"  zu  be- 
zeichnen und  ist  überzeugt,  dass  sie  berufen  sei,  „einen  Markstein 
in  der  Geschichte  der  Sozialwissenschaft  zu  l)ilden  und  diese  in  die 
von  der  Kantschen  Philosophie  gewiesenen  Bahnen  hineinzuleiten'' 
(648).  Die  „bislang  noch  immer  schwankenden  Fundamejite  der- 
selben", so  schliesst  er  seine  Ausführungen  (663),  werden  durch  den 
neu  in  ihr  erwachten  Geist  Kants  „eine  gesicherte  Grundlage  er- 
halten.'' 

Der  „Riesenfortschritt"  des  sozialen  Bewusstseins,  von  dem 
Cohen  (s.  oben)  sprach,  ist  in  der  That  unleugbar.  Er  giebt  sich 
in  der  täglich  mehr  anschwellenden  sozialethischen  Litteratur  zu  er- 
kennen. Wir  greifen  aus  der  letzteren  zwei  hervorragendere  Er- 
scheinungen heraus,  weil  auch  in  ihnen  das  „Zurück  auf  KantI" 
deutlich  zu  verspüren  ist,  wenn  auch  nicht  so  sehr  in  Beziehung  auf 
die  wissenschaftliche  Methode,  als  auf  den  ethischen  Standpunkt. 
Insbesondere  ist  dies  bei  dem  zuerst  zu  nennenden  der  Fall. 

7.  Theodor  Lipps  hat  in  zehn,  teilweise  im  Volkshochschul- 
verein zu  München  gehaltenen,  Vorträgen  „Die  ethischen  Grund- 
fragen'-  erörtert   (als  Buch    gedruckt    bei  Leopold  Voss,    Hamburg 


Kant  und  der  Sozialismus.  3H5 

and  Leipzig:  1899.  308  S.l.  Als  solche  betrachtet  er:  1.  Egoismus 
und  Altruismus.  2.  Dir  sittlichen  Grundmotive  und  das  Wöae. 
3.  Eudämonismus  und  l'tilitarismus.  4.  Gehorsam  und  sittliche  Freiheit. 
5,  Das  sittlich  Uichtijre.  6.  Die  obersten  sittlichen  Normen  und  das 
Gewissen.  7.  Das  System  der  Zwecke.  8.  Soziale  Organismen  (i'amilie 
and  Staat).  !l.  Die  Freiheit  des  Willens,  lo.  Zurechnung:.  Verant- 
wortlichkeit und  Strafe.  Seinem  populären  Zwecke  entsprechend^ 
enthält  das  Buch  keine  gelehrten  Citate  (von  denen  übrigens  auch  die 
besprochenen  Schriften  von  Cohen,  Natorp  und  Staudinger  fast  völlig 
frei  sind).  Um  so  bemerkenswerter  ist,  das  Lipps,  der  uns  früher 
nicht  als  Kantianer  bekannt  war,  von  Philosophen  einzig  und  allein 
Kant  hervorhebt  und  sich  an  dessen  ethische  Grundprinzipien  durch- 
aus anschliesst.  Besonders  erfreulich  war  uns,  dass  er.  wie  wir. 
den  vielgescholtenen  ,,Forraalismus'"  der  Kantisehen  Ethik  verteidigt 
und  nachweist,  wie  gerade  in  ihm  ihr  Inhaltsreichtum  begründet  liegt 
(1.58  f.).  Doch  wir  haben  hier  nur  festzustellen,  dass  er  mit  aus- 
drücklicher Berufung  auf  Kant  und  aus  dessen  ethischen  Prinzipien 
auch  seine  sozialen  Gedanken  ableitet. 

Niemand  kann  nach  sittlichem  Rechte  Herr  sein,  ohne  .  .  . 
zugleich  Diener  zu  sein,  nämlich  Diener  des  absoluten  Zwecks, 
auch  in  der  Person  des  Dienenden.  Und  jeder,  der  dient,  soll  zu- 
gleich Herr  sein.  d.  h.  eine  des  sittlichen  Gesamtzweckes  und  ihres 
eigenen  sittlichen  Lebenszweckes  sich  bewusste  Persönlichkeit. 
Jedes  andere  Herrschen  und  jedes  andere  Dienen  ist  unsittlich  (157). 
Das  Sittengesetz  sagt:  Habe  alle  möglichen  menschlichen  Zwecke 
und  stifte  zwischen  ihnen  eine  für  alle  Fälle  und  für  alle  Menschen 
gültige  Ordnung  (159j.  Wenn  Lii)ps  (mit  Theobald  Ziegler)  die 
soziale  Frage  als  sittliche  Frage  auffasst  (190),  so  geschieht  das 
doch  in  dem  gleichzeitigen  Bewusstsein,  dass  zugleich  —  um  mit 
Staudinger  zu  reden  —  ,.die  sittliche  Frage  eine  soziale  Frage*' 
ist.'j  Menschen  müssen  zunächst  leben;  Menschen  sollen  aber  auch 
als  Menschen  leben  (189),  sich  als  sittlicher  Selbstzweck,  nicht  als 
.\rbeitssklaven  bethätigen  und  fühlen  (189f.).  Deshalb  muss  das 
Klassen-  und  Privilegienrecht  übergehen  in  das  sittliche  Menschen- 
recht (232).  Das  letzte  Ziel  aller  Staatsordnung  ist  die  volle  sitt- 
liche Rechtsordnung,  d.  h.  der  vollkommene  sittliche  Organismus  der 
Menschen  (237),    ein   Reich    der    sittlichen    Menschheit,    „ein    Reich 


•)  Vergleiche  den  unter  obiger  Übersclirift  orschienenen  schönen  Aufsatz 
Standingers  in  den  Philosophischen  Monatsheften  iherausg.  von  Natorp j 
XXIX  (1893)  S.  30—53  und  197—219. 


cjgß  K.irl  \' (irländor, 

Odttrs  auf  Knien"  (JUS).  Die  jct/.t  Ix-stclicmlt'  Ki-cnluiiisoidiuiu;;- 
und  Staalsvrrfjissuuir  sind  nur  so  lanjri'  unantjistl)ar,  als  sie  siltlicli 
/wei'kniässiir  sind,  d.  i.  ..nu-iir  als  andere  froeij^nct,  den  sillli(dien 
Knd/.wei'k  des  Staates,  die  \ Crwirklieliun;;-  iler  starken,  reiclieii  und 
freien  l'ersönlicid<eit  /u  liM-dern"  (2:\:>).  Wären  wir  ül)er/,eu<rt.  dass 
dies  nii'lit  nielir  der  Kall,  so  hätten  wir  die  IMlieht,  .Jeder!  an  seinem 
Teile,  an  dem  l  udiau  dieser  (Irundpl'eiler  der  hesteheiiden  sozialen 
uiul  staatlielien  Ordnunjr  nut/uarbeiten"  (ebd.).  Revolution,  als  „sitt- 
liehe  Notwelu-  kann  lMli(dit  sein,  heiligste  IMlicht.  „Kein  Volk  hat 
das  Keeht.  sich  sittlich  /.u  (Jrunde  richten  /,u  lassen  ....  Die  sitt- 
liche liidie  der  Menschheit  ist  das  höchste  Gesetz  und   das  absolute 

Hecht"  (2:5!)). 

So  kraftvoll  und  unerschrocken  redet,  von  Kants  kategorischem 
Imperativ  ergritl'en.  der  Müuchener  Philosoph.  Wenn  er  auch  die 
iSpezialanwendung-  auf  das  eigentlichste  Gebiet  des  Sozialismus,  das 
wirtschaftliche,  nicht  vollzieht,  überhaupt  mehr  als  Soziale thik er 
denn  als  Sozialphilosoph  auftritt,  so  kann  darum  in  weiterem 
Sinne  doch  auch  er  zu  der  bisher  von  uns  charakterisierten  Gruppe 
der  Kantisch  beeinflussten  sozialen  Idealisten  gerechnet  werden. 

8.  In  gewissem  Siim  ist  das  auch  mit  dem  letzten  hier  zu  be- 
sprechenden Gelehrten,  dem  Professor  an  der  tschechischen  Universi- 
tät Prag.  Th.  G.  Masaryk,  der  Kall.  Sein  ebenfalls  aus  akade- 
mischen Vorträgen  entstandenes  Ruch:  Die  philosophischen  und 
soziologischen  Grundlagen  des  Marxismus  (Wien,  C.  Konegen 
1899,  XV  und  600  Seiten)  giebt  als  ..Studien  zur  sozialen  Frage" 
eine  eingehende  und  mit  vielem  l)il)liograi)hischen  Material  ausge- 
stattete, freilich  nicht  sehr  einheitliche  Darstellung  und  Kritik  des 
Marxismus.  Hier  interessiert  uns  zunächst  nur  die  eigene  kritische 
und  systematische  Stellung  des  Verfassers,  der  in  der  neuesten  Aullage 
von  Ueberweg-Heinze  (III  1,  493)  als  Comte-Spencerscher  Positivist 
bezeichnet  wird. 

In  einer  Replik  gegen  einen  seiner  Kritiker  (Neue  Zeit  vom 
18.  November  1899,  XVIII  1,  S.  217 f.),  meint  er  nun  allerdings, 
<lass  er  ebenso  wenig  Positivist  sei,  als  er  eine  „Rückkehr  zu  Kant" 
verlange.  Dennoch  hat  der  betreffende  Kritiker  (Antonio  Labriola) 
nicht  ganz  Unrecht,  wenn  er  in  Masaryks  Buch,  falls  er  ,, richtig  ver- 
standen habe",  die  „Rückkehr  zu  Kant"  gepredigt  sieht  (Neue  Zeit. 
XVllI  S.  76).  Gewiss  schliesst  sich  Masaryk  nicht  ausdrücklich  an 
Kant  an.  wie  denn  überhaupt  sein  stofflich  sehr  reichhaltiges  Buch 
einen    einheitlich    durchgeführten    methodisch-systematischen    Stand- 


Kant  und  der  Sozialismus.  '  387 

puiikt  vermissen  lässt.  Üass  er  in  die  Tiefen  Kantiselier  Philoso- 
phie nicht  ein}i-e(lrun^-eii  ist,  zeig;en  Aussj)rüehe,  wie  die:  die  Phiioso- 
l)hie  Kants  wie  die  Humes  sei  .,subjektivistisch'"  und  deshalb  .,ent- 
schieden  individualistisch-  (S.  l'.Mi).  Kant  habe  sich  in  der  ,,Frag;e 
aller  Kraben-  nämlich  der  „der  schöpferischen  Spontaneität'"  mit  einer 
..merkwiirdi<:eii  I)opi)elseiti^'keit  von  empirischer  Unfreiheit  und 
Freiheit,  die  von  der  reinen  N'ernunft  postuliert  werde,  l)eholfen- 
(234)  u.  a.  m.  (vgl.  noch  S.  4(i2.  4S2).  Dennoch  steht  er  in  dem 
philo'-ophischen  Ergebnis  seiner  Untersuchungen  dem  Kritizismus 
nicht  fern. 

Nicht  nur  huldigt  er  entschieden  einer  ethischen  Begründung 
des  Sozialismus,  die  er  freilich  mehr  behauptet  als  selbst  me- 
thodisch durchführt.  ,.Wie  jedes  Denken  logisch,  so  soll  Jedes 
Handeln  ethisch  sein"  (228).  „Die  Politik  ist  gleich  allen  praktischen 
Wissenschaften  auch  der  Ethik  untergeordnet"  (227).  ,.Das  soziale 
Ideal  lässt  sich  (wie  im  Anschluss  au  Stammler  gesagt  wird)  nur 
ethisch  begründen"  (229).  Sondern  auch  philosophisch  nähert  er 
sich  dem  Kritizismus  gerade  in  den  Schlussparagraphen  des  theo- 
retischen Teils  doch  recht  stark.  ,,Der  Materialismus  ist  noetisch 
und  metaphysisch  unhaltbar,  auch  der  Positivismus  genügt  nicht. 
Wenn  wirklich  ein  Erwachen  aus  dem  ideologischen  Schlaf  statt- 
finden soll,  so  muss  das  erwachende  Bewusstsein  und  Denken  vor 
allem  die  Feuerprobe  der  erkenntnistheoretischen  Kritik  be- 
stehen —  der  Kritizismus  jedoch  ist  das  Grab  des  Materialis- 
mus. Die  jüngeren  Marxisten  sprechen  darum  schon  von  der  Rück- 
kehr zu  Kant"  (512).  „Den  Aufgaben  der  Zeit  ist  bloss  eine  neue 
schöpferische  Synthese  gewachsen"  (513),  die  vor  allem  das  ,,noetische" 
Problem:  ..Was  ist  Wahrheit?"  zu  lösen,  die  blosse  Skepsis  zu  über- 
winden hat.  „Dieser  Aufgabe  unterzog  sich  unter  anderen  auch  (!) 
Kant  am  umfassendsten  und  tiefsten;  darin  liegt  die  historische  und 
kulturelle  Bedeutung  seines  Kritizismus"  (514;  vgl.  auch  553).  Und 
wenn  das  Problem  der  .,neuen  Philosophie"  nicht  bloss  theoretisch, 
sondern  auch  praktisch  ist,  wenn  es  sich  um  neues  Leben 
handelt,  so  hat  auch  hier  Kant  bereits  den  Weg  gewiesen  (515. 
vgl.  auch   17  f.,  509  und  535). 

Wir  haben  Masaryk  in  unseren  Aufsatz,  wie  gesagt,  nur  ein- 
gereiht, weil  wir  auch  in  seinem  Buche  ein  Zeichen  der  Zeit  in 
dem  von  uns  angedeuteten  Siime  erblicken.  Die  neue  Sozialphilo- 
sophie, die  eine  systematische  N'erbindung  von  Sozialismus  und 
Kantianismus    ermöglicht,    und    der  auch  wir  anhängen,    finden    wir 


3S8  Karl  VorliindiM-, 

niolit  lu'i  ihm.  sondern  bei  Natorp.  Stammler  und  Standin}:or  ont- 
wu-kelt.  Wie  verhält  sieh  nun  dem  jreirenlllier  der  Sozialismus  im 
on<reren  Sinne,  insi)esondere  der  s(»>:-enannte  ..wissensehal'tliehe" 
Sozialismus  oder  Marxismus?  Kann  man.  nie  dort  von  sozialistischen 
oder  sozialisierenden  Kantianern,  so  hier  von  Kantischen  oder  doeh 
k  a  n  t  i  a  n  i  s i  e  r e  n  d  e  n   Sozialisten  spreehen ? 

Darauf  soll  unser  dritter  und  letzter  Abschnitt  antworteu. 

111. 

Von  Lassalle  soll  hier  nicht  geredet  werden,  da  er  keine  zu- 
sammenhänirende  wissenschaftliche  Begründunir  des  So'zialisnms  ge- 
geben hat.  Marx  und  Engels,  die  Begründer  des  „wissenschaft- 
liclien  Sozialismus-,  haben  entschieden  an  Kant  nicht  angeknüpft. 
Es  ist  eine  andere  Frage,  ob  nicht  trotzdem,  wie  Staudinger 
(s.  oben)  und  Woltmann  (s.  unten)  meinen,  gewisse  gemeinsame 
Züge  zwischen  ihrer  und  der  Kantischen  Denkweise  obwalten,  oder 
ob  nicht,  wie  wir  mit  Natorp,  Stamnder  und  Staudinger  zu  behaupten 
geneigt  sind,  von  uns  eine  systematische  \'erbindung  zwischen  beiden 
hergestellt  werden  kann.  Historisch  und  im  Bewusstsein  der  beiden 
sozialistischen  Denker  lag  die  Sache  jedenfalls  so,  dass  sie  sich  zu 
dem  kritischen  Idealismus,  wie  zu  einer  idealistischen,  ethischen  Be- 
gründung des  Sozialismus  überhaupt,  theoretisch  wenigstens,  in  einen 
entschiedenen  Gegensatz  gestellt  haben. 

1.  Zwar  hat  Marx  als  Student,  wie  er  in  einem  vor  zwei  Jahren') 
von  seiner  Tochter  Eleanor  veröffentlichten  Briefe  an  seinen  Vater 
schreibt,  anfangs  dem  Idealismus  angehangen  und  ihn  „mit 
Kantischem  und  Fichteschem  verglichen  und  genährt",  aber  schon 
als  Neunzehnjäriger  ist  er,  wie  er  ebendort  berichtet,  davon  abge- 
kommen, um  „im  Wirklichen  selbst  die  Ideen  zu  suchen.'-  Und  in  seinen 
späteren  Schriften  findet  sich  kaum  noch  eine  Anspielung  auf  Kant, 
während  er  bekanntlich  von  Hegel  und  Feuerbach  stark  beeinflusst 
war  und  blieb.  Masaryks  Buch,  dessen  Hauptwert  gerade  in  der 
eingehenden  historischen  Darstellung  der  philosophischen  Grund- 
lagen des  Marxismus  beruht,  findet  in  ihm  alle  möglichen  -ismen 
(nicht  weniger  als  24  an  der  Zahl,  vom  „Astatismus  bis  zum  Ultra- 
positivismus",^)  nur  nicht  den  —  Kritizismus.  Und  Woltmann,  der  Marx 
möglichst  nahe  an  Kant  heranrücken  möchte,    muss  doch  von  vorn- 


1)  Neue  Zeit  XVI,  1,  S.  9. 

2)  Vgl.  meinen  Artikel  in  No.  50  der  Ethischen  Kultur  1899:    Zur  Kritik 
der  marxistischen  Weltanschauimg. 


Kant  und  der  Sozialismus.  389 

hereinM    zugreben.    dass  Marx    „sich   dieses   prinzipiellen  Zusaiunieii- 
bangs  nicht  lilar  bewusst  gewesen  ist." 

•2.  Nicht  viel  anders  steht  es  mit  seinem  Freunde  Engels.  Engels 
hat  zwar  in  seinem  Aufsatz  über  Feuerbach^)  die  deutsche  Arbeiter- 
bewegung als  die  „Erbin  der  deutschen  klassischen  Philosophie" 
l)t'zeiehnct  und  1S91  einmal  unter  sein  Bild  geschrieben:  ..Wir  deutschen 
Sozialisten  sind  stolz  darauf,  abzustammen  nicht  nur  von  Saint-Simon, 
Fourier  und  Owen,  sondern  auch  von  Kant.  Fichte  und  Hegel" ; 
aber  als  eigentlicher  Repräsentant  der  „klassischen"  Philosophie  gilt 
ihm  und  Marx  doch  nur  Hegel.  Vor  Kant  zeigt  er  zwar  stets 
Hochachtung,  aber  er  ist  in  dessen  Philosophie  nicht  tiefer  ein- 
gedrungen. So  nennt  sein  Aniidühring^)  den  Königsberger  Philoso])hen 
an  verschiedenen  Stellen  (8.  8  1.,  16.  37  1".,  46  f.,  56,,  ohne  sich  doch 
im  mindesten  von  dessen  erkenntniskritischer  Methode  berührt  zu 
zeigen.  Ja,  im  „Feuerbach"  (S.  18  1.)  zeigt  er  so  wenig  Verständnis 
des  Kantischen  ..Dings  an  sich",  dass  er  diese  ,, philosophische 
Schrulle"  einlach  durch  das  chemische  Experiment  für  widerlegt  er- 
klärt, was  ihm  selbst  von  seinem  Parteigenossen  Woltmaun  (a.  a.  0. 
S.  •_>.').  vgl.  näher  S.  306  ff.  >  den  ^'o^wurf  ,.graueuhafter  Unkenntnis" 
zuzieht.  Die  „Neubelebung  der  Kautschen  Auffassung  in  Deutschland 
durch  die  Neukantianer"  sei  .,der  längst  erfolgten  theoretischen  und 
praktischen  Widerlegung  gegenüber,  wissenschaftlich  ein  Rückschritt 
und  praktisch  nur  eine  verschämte  Weise,  den  Materialismus  hinter- 
rücks zu  acceptieren  und  vor  der  Welt  zu  verleugnen"!  (ebd.  S.  19). 
l'nd  Kants  kategorischer  Imperativ  wird  in  derselben  Schrift  wiederholt 
(S.  27  und  40)  für  „ohnmächtig"  erklärt.  ..weil  er  das  Unmitgliche 
fordert,  also  nie  zu  etwas  Wirklichem  kommt".  Kurz,  beide  Freunde 
kennen,  nach  ihren  litterarischen  Äusserungen  zu  urteilen,  von  der 
neueren  Philoso|)hie  genauer  nur  Feuerbach  und  Hegel.  Wenn  sie 
von  Phil(»sr»phie  oder  Metaphysik  reden,  so  ist  darunter  in  der  Regel 
die  Hegeische  Spekulation  zu  verstehen.') 

3.  Diese  philosophischen  Ansichten  von  Marx  und  Engels  haben 
unter    ihren    Anhängern    und    Nachlolgern    bis    vor    kurzem    keinen 

')  Vorwort  S.  VI  seines  unten  nucli  zu  besprechenden  Buches:  Der 
h  istorische  Materiab'sm  us- 

2)  Fr.  Engels,  Ludwig  Feuerbach  und  der  Ausgang  der  klassischen  deutschen 
Philosophie.     Stuttgart.  Dietz  1S88.  S.  68. 

S)  Herrn  Eugen  Diihrings  Umwälzung  der  Wissenschaft.  3.  Aufl.  .Stuttgart, 
Dietz  1894. 

♦)  In   «lieseui  Urteil   stiimnen    auch  die  zwei  ncneston.  von  einander  ganz 
unabhängigen  Kritiker  des  Marxismus,  Masaryk  und  Woltmann,  übereiu. 


■\i)()  Karl  Norläiitlcr, 

\Vi(li'rs|)rui'h  •rctuiuU'ii.  dalt  doch  der  Aiiti-Dührinjr  noch  Wii\t«'r  181)4/5 
nicht  l)loss  Kautsky  (Neue  /rit  XIII  1.  TIM.  sondern  audi  noch 
Bernstein  (olid.  S.  1  IJ  IV.)  als  ein  ..Lehrhuch  ersten  Uanp-s.-  So  ist 
es  denn  auch  nicht  zu  verwundern,  wenn  sich  das  wisseiischaltliche 
Oriran  des  Marxismus,  die  ,,Neue  Zeit".  l)is  vor  etwa  zwei  Jahren 
mit  Kant  so  jrut  wie  j;ar  nicht  heschiiltijrt  hat.  Wir  halten  zwölf 
Hände  derselheii  ilie  .Iahrirän<re   1S')0/1    bis    ISi)")/!;   —  daraufhin 

tlurcinnustert  und  nur  an  iranz  wenip-n  Stellen  eine  g:iinz  oherilächliche 
Heriihrunjr  mit  Kant  plunden.  Leopold  Jakohy  i)olemisiert  einmal 
(XII  2,  .")<)  f.)  ge^Mi  Kants  Kaumhe^rill',  und  Hernstein  wendet  sieh 
jrelejrentlich  eines  Aufsatzes  Über  F.  A.  Lanp'  und  Kllissens  Lange- 
Hiog:raphie  in  ganz  ähnlicher  Weise  wie  Engels  und  im  Anschluss  an 
dessen  ,,Feuerbach",  gegen  den  Neukantianismus  (X  2.  102  1.)  und 
Kritizismus  (104  f.),  der  mit  einem  ..Kirchgang"  endige!  Engels  wieder- 
holt (XI  1,  18  f.)  seine  vermeinte  Widerlegung  des  Kautschen  Ding  an 
sich  durch  das  chemische  Experiment.  Von  Kant  im  Zusammenhang 
mit  sozialen  Problemen  ist  erst  recht  nicht  die  Rede.  Ein  historisch- 
darstellender  Aufsatz  M.  Cunows  über  „Soziologie.  Ethnologie  und 
materialistische  Geschichtsauftassung''  übergeht  sogar  Kants  Geschichts- 
philosophie völlig  und  geht  von  Herder  sofort  zu  Hegel  über.  Eine 
gewisse  Ausnahme  macht  nur  ein  nichtdeutscher  Sozialist,  dessen 
Vortrag  über  ,,die  idealistische  Geschichtsauffassung"  in  Rand  XIII,  2 
der  ..Neuen  Zeit"  abgedruckt  wurde.  Auf  ihn  aber  haben  wir  aus- 
führlicher einzugehen. 

4.  Der  erste  ausgesprochene  Sozialist  nämlich,  der  ausdrücklich  auf 
Kant  als  geistigen  Miturheber  des  deutschen  Sozialismus  hingewiesen 
hat,  ist  Jean  Jaures,  der,  ehe  er  in  die  politische  Arena  trat,  eine 
Dissertation:  De  primis  socialismi  Germanici  lineamentis 
apud  Lutherum,  Kant,  Fichte  et  Hegel  (Tolosae.  Chauvin. 
1891,  83  S.)  geschrieben  hat.  Schon  um  der  Person  des  Verfassers, 
des  bekannten  hervorragenden  Führers  der  französischen  Sozialisten, 
willen  bietet  es  wohl  ein  gewisses  Interesse,  wenn  ich  aus  der  in 
Deutschland  fast  unbekannt  gebliebenen  —  nur  Vaihinger  hat  in 
seinem  Litteraturbericht  im  Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie 
VIII,  559  eine  kurze  Notiz  darüber  gebracht  —  und  nicht  im  Ruch- 
handel befindlichen  Schrift  Auslührlicheres  mitteile.  (Ich  gestatte 
mir  dabei,  das  keineswegs  klassische  Latein  des  damaligen  Professors 
von  Toulouse  ins  Deutsche  zu  übertragen.) 

Jaures  erklärt  auf  S.  3  rund  heraus,  dass  er  den  ,,wahren" 
Ursprung  des  Sozialismus  nicht  auf  den  Materialismus  der  „äussersten 


Kant  und  der  Sozialismus.  391 

Hefrelschen  Linken-,  sondern  auf  den  Idealismus  eines  Luther.  Kaut, 
Ficlite  und  Hefrel  zurückführe.  Wenn  der  heutige  deutsche  Sozialis- 
mus unter  dem  Schilde  des  Materialismus  kämpfe,  so  sei  dies  nur 
ein  Charakterzug  des  gegenwärtigen  Kriegszustandes  (tanquam  belli 
praesentis  habitus),  nicht  des  ..zukünftigen  Friedens'*.  „Im  innersten 
Herzen  des  Sozialismus  lebt  der  Geist  des  deutschen  Idealismus". 
Die  „wahren  Sozialisten'-  seien  Schüler  der  deutschen  Philosojjhie, 
ja  des  deutschen  Geistes  selbst  gewesen.  ,,Die  Dinge  gehen  aus 
den  Ideen  hervor,  die  Geschichte  hängt  von  der  Philosophie  ab". 
Wohl  sei  in  England,  dem  klassischen  Lande  des  Kapitalismus, 
dessen  Prozess  geschaut  und  beschrieben  worden,  aber  von  —  einem 
deutschen  Hegelianer  (S.  4). 

Seine  interessanten  Ausführungen  über  die  ,, ersten  Grundlinien 
des  Sozialismus-  bei  Luther  (S.  4-2()),  die  hauptsächlich  an  dessen 
Schrift  über  den  Wucher  (S.  15 ff.)  anknüpfen,  müssen  wir  hier 
übergehen  und  uns  zu  dem  zweiten  Kapitel  (S.  27 — 43)  wenden. 
das  über  den  Staatsbegriff  von  Kant  und  Fichte  handelt.  Schon  in 
dem  ersten  Kapitel  war  ausgeführt  worden,  dass  der  deutsche  Geist, 
im  Gegensatz  zu  dem  französischen,  zum  Allgemeinen,  daher  auch 
zum  Sozialismus  neige,  und  im  Auschluss  daran  (S.  11  f.)  von  Kant 
gesagt:  ,,Immanuel  Kant  selbst,  obwohl  er  den  menschlichen  Willen 
für  absolut  frei  erklärt  hat,  setzt  dennoch  die  Freiheit  selbst  nicht 
in  das  reine  und  leere  Vermögen,  Entgegengesetztes  zu  wählen, 
sondern  deliniert  sie  als  die  allgemeingültige  Richtschnur  der  Pflicht 
(universalis  olficii  norma).  Der  Mensch  ist  frei,  weil  er  die  Pflicht 
erkennt,  was  ihm  mit  allen  vernünftigen  Geschöpfen  gemein  ist. 
Jeder  Mensch  ist  frei  durch  das  Sittengesetz  (lex  raoralis),  welches 
erhaben  ist  über  Erde.  Himmel  und  die  gesamte  Menschheit." 
Freiheit  sei  eben  den  Deutschen  identisch  mit  Gesetz  und  Gerechtigkeit. 

Einen  anderen  Unterschied  des  deutschen  und  des  französischen 
Geistes  flndet  nun  J.  im  zweiten  Kapitel  darin,  dass  der  erste re  im 
Gegensatz  zum  zweiten  zur  \'eniiittlung  und  zur  Synthese  neige. 
So  verbinde  auch  Kant  die  aus  Frankreich  (l\(tusseau)  herüberge- 
kommenen Freiheitsideen  mit  dem  preussischen  Staatsgedanken  eines 
Friedrich  U.  (S.  27 ff.).  Kant  scheine  zwar  zunächst  die  individuelle 
Freiheit  jedes  Einzelnen  als  die  Grundlage  des  Hechtes  zu  betrachten. 
(S.  33).  ,.Jeder  Mensch  ist  frei,  weil  er  die  Pflicht  erfüllen  und 
dem  Gebote  des  Sittengesetzes  gehorchen  soll:  wer  soll,  kann  auch. 
Daher  ist  auch  jeder  Mensch  in  Bezug  auf  seine  Freiheit  den  andern 
gleich;  und  da  ein  jeder  .  .  eine  Person  und  keine  Sache  ist,  kann 


392 


\\  :i  il   \  Urlii  ml  i'  r. 


kein  M»Misi'h  den  nndfrcn  .-ils  tinc  Saclic  jroliiaiu'lM'ii;  der  Mensch 
ist  koin  Mittel,  soiulern  sieh  sell>st  Zweek".  Diese  l''rt'iheit  wird  nur 
dureh  die  K'llcksieht  auf  di«'  Freiheit  eines  Jeden  Anderen  einge- 
schränkt. Zu  jedem  Keehtsji-esetz  ist  die  Zustininnuii;-  i\i-s  pan/.eii 
\  tdkes  nötiir.  Aus  dem  ..ursprlln^liclien  \ Crtra;::*".  dem  pactum 
sociah'.  h'iteii  sich  aUe  rechtmiissifrcn  (Jeset/e  her.  Hiernach  sdllte 
man  ivant  für  einen  tran/.üsischen  I\ev(dutionsphih)S(i|)hin  hallen  (iM ), 
aller  dem  i:-ei:-eniU)er  erseheint  nun  andererseits  die  Idee  des  Staats, 
der  nicht  die  hiosse  Summe  der  JMn/.ehvilU  n  ist,  sondern  ..eine 
Art  innerer  Vernunt'twillen  des  \01kes""  (interna  (piaedam  et  rationalis 
populi  \()luntas).  dem  sonach  mit  Keclit  die  höchste  Macht  inne 
uidnit.  irep:en  den  eine  Empörung-  nicht  erlaubt  ist  (Böf.).  Damit  hat 
Kant,  wie  Jaures  (IM)  meint,  dem  Sozialismus  zwar  nicht  ,, ausdrück- 
lich  lieiiTCstimmt"',  aber  ihn  doch   ..warm   Ncrtreten''  (fovit). 

Was  dageiren  die  Verteilunj:-  des  Besitzes  anj^ehe,  so  stehe 
Kant  dem  Sozialismus  bald  näher  bald  ferner.  Er  behaupte  freilich, 
die  politische  und  menschliche  Freiheit  und  Gleichheit  könne  ohne 
wirtschattlichc  Gleichheit  bestehen,  und  acceptiere  die  Unter- 
scheidung- von  aktiven  und  passiven  Staatsbürgern,  „welche  zuerst 
die  Gesetzgeber  der  Revolution  beschlossen  haben''  (!),  wonach  der 
Unselbständige  kein  Stimmrecht  habe,  während  ihm  der  spätere 
Zugang  zur  Selbständigkeit  otfen  stehe  (vgl.  unsere  obigen  Aus- 
führungen über  Kant  8.  869).  Das  klinge  antisozialistisch,  führe  aber 
in  seinen  Konsecjuenzen  gerade  zum  Sozialismus.  „Denn  dieser  erklärt, 
dass  die  politische  und  philosophische  Gleichheit  nur  ein  Gespötte 
sei.  wenn  nicht  ein  gewisses  Auskommen  allen  Bürgern  zu  Gebote 
stehe,  und  dass  die  armen  Bürger,  auch  wenn  sie  das  Stimm- 
recht besitzen,  dennoch  passive  seien,  da  ihr  Leben  von  dem  Willen 
anderer  abhänge'".  Nun  schreibe  aber  Kant  auf  die  Fahne  des 
Staates:  Freiheit.  Gleichheit,  wirtschaftliche  Selbständigkeit  (Besitz). 
Also  müsse  man,  wenn  man  allen  Menschen  die  Thore  des  Staates 
wieder  ötinen  wolle,  sie  auch  alle  ..zur  Teilnahme  an  den  Gütern 
der  Erde  und  zur  Selbständigkeit  rufen.  Das  aber  ist  Sozialis- 
mus" (38). 

Übrigens,  fährt  J.  fort,  fliesst  auch  das  Besitzrecht  selbst  nach 
Kant  nicht  aus  dem  Individualwillen  des  Einzelnen  —  occupatio 
non  est  possessio  — .  sondern  aus  dem  ursprünglichen  Vertrag.  Da 
der  Erdboden  allen  Menschen  zum  Wohnsitz  angewiesen  ist,  so  ist 
die  Bodengemeinschaft  eine  ursprüngliche,  in  der  Idee.  Wie  fern 
sind    wir    hier    von    —    der    vulgärökonomischen    Doktrin!   (S.  39). 


Kant  nnd  der  Sozialismus.  39;j 

Ist  aber  der  Staat  Obereigentüiner  des  Bodens,  so  muss  ihm  auch 
das  Recht  zustehen,  die  Besitzbedingun^^en  zu  ändern.  Und  ,,\vird 
nicht  jeder  Mensch  versuchen.  Jene  vernunft^^eniässe  und  ausserzeit- 
liche  Gemeinschaft  des  Bodens  und  der  Beichtümer  in  eine  reale, 
historische  und  jreji'enwärtiji-e  umznwandelnV'  (40.) 

So  lautet  denn  das  Resultat  bezüfjlich  des  Könij>;sberg:er  Philoso- 
phen: ,,Obwohl  Kant  o:leichsani  das  g-anze  Menschentum  in  die  Frei- 
heit gesetzt  und  politisch  dem  Sozialismus  widerstrebt  hat,  so 
stimmt  er  doch  in  philosophischer  Hinsicht  durch  seine  Staats- 
und Besitzidee  mit  dem  Sozialismus  iiberein  ...  Individualismus 
und  Sozialismus  treten  sich  nicht  als  Gegensätze  gegenüber, 
sondern  werden  mit  einander  versöhnt-'  (40).  Fichte  sei  ein  er- 
weiterter Kant,  er  stelle  die  Versöhnung  von  Anarchismus  (er- 
weitertem Individualismus)  und  Kollektivismus  (erweitertem  Sozialis- 
mus) dar  (41),  während  Lassalle  die  Dialektik  mit  der  Idee  der 
ewigen  Gerechtigkeit.  Hegel-Marx  mit  Fichte  verbinde  (82).  Doch 
wir  können  auf  das  Kapitel  über  Fichte  (44—57),  sowie  auf  die  Er- 
örterungen über  Hegel,  Marx  und  Lassalle  (58—82)  ni,cht  näher  ein- 
gehen und  weisen  zum  Schluss  nur  auf  die  Schlussgedanken  des 
Verfassers  hin.  Nachdem  er  von  Lassalle  gesprochen,  schliesst  er: 
so  stimme  der  dialektische  Sozialismus  mit  dem  moralischen,  der 
deutsche  mit  dem  französischen  überein,  und  die  Stunde  sei  nicht 
mehr  fern,  wo  ein  einziger  universaler  Sozialismus  alle  Herzen, 
Geister  und  Gewissen  vereinigen  werde.  Wolle  man  also  den 
deutschen  Sozialismus  verstehen,  so  sei  es  nicht  genug,  ihn  in  der 
„eigentümlichen  und  vorübergehenden  Gestalt,  den  ihm  Bebel  und 
die  übrigen  geben",  zu  erlassen,  sondern  seine  sämtlichen  Quellen 
aufzusuchen:  den  christlichen  Sozialismus  eines  Luther,  den  morali- 
schen eines  Fichte,  den  dialektischen  eines  Hegel  und  Marx.  Der 
Sozialismus  ist  nicht  Sache  einer  kleinen  Partei,  sondern  der  Mensch- 
heit, er  ist  sub  specie  humanitatis  et  aeternitatis  zu  betrachten  (83). 

Vier  Jahre  später  hat  sich  dersell)e  Jaures  allgemeiner  über  die 
..idealistische  Geschichtsauffassung"  überhaupt  in  einer  Diskussion  mit 
Paul  Lafargue  (dem  Schwiegersohn  und  strikten  Anhänger  von  Marx), 
die  ,,im  Quartier  Latin  in  einer  ötlentlielien.  von  der  Gruppe 
kollektivistischer  Pariser  Studenten  einlterufenen  X'ersammlung"  ge- 
halten wurde,  ausgesprochen.^  Die  materialistische  Auffassung  der 
Geschichte,    so    entwickelt    er   hier,    schliesst   die  idealistische    nicht 


h  Abgedruckt  in  Neue  Zeit  XIU,  2,  (1894/5j,  S.  545-667. 

Kantätndien  IV.  26 


;}c)4  Karl   Vt)rläiul('r, 

aus;  eine  Synthese  heider  ist  ertonh-rlich.     (ihiifrens    sei  dw  Marx- 
»ohi'  historisehe  Materialismus  kciiieswi'^^s  irh'ichltefh'Uteiul   mit  (h-m 
physioloirisehcn   und  chcnso  weni};  mit  (h'm   ethischen  Materialis- 
mus,   der  alle  mensehlielie    Thätifi-keit   dem  Zweeke  unterordne.   ,.die 
physisehen   Bedürfnisse  zu    betriedij,a'n   und  das  individuelle   W(dil  /u 
erstrehen-  la.  a.  O.  S.  r)4:)f.).     Nach   der   idealistisehen  (Tescliiehts- 
auffassunir  trä-rt  die  Meusehhidt  von  vornherein   die  Keime  einer  Idei; 
von  Iveeht  und  (iereehtifjkeit  in  sich  {'Ai'y),   und  diese  Idee  wird  zur 
treibenden  Kraft  des  geschichtlichen  Fortschritts,  der  {.'esellschaftlichi-n 
UniirestaltuniT  (547).     Jaures   scheinen    beide  AutVassungen  keine  un- 
iiberwindlichen  (Teg:ensätze.  beide  können  und  mlissen  sich  versöhnen, 
„einander    durchdriuiren"   (ö.')]).    denn    das   wirtschaftliche    und    das 
moralische  Leben   sind   von    einander  nicht  zu  trennen  (554).     Kant 
speziell  spielt  in  diesem  \ortrag  keine  bedeutendere  liolle,  er  wird  nur 
in    der  Keihe    der    neueren  Philosophen  (neben   Descartes,  Leilmitz. 
Spinoza  und  Hegel)  aufgeführt,  deren  Bestreben  auf  die  Synthese  der 
fundamentalen  Gegensätze  Natur  und  Geist,  Notwendigkeit  und  Frei- 
heit   geht  (549).      Dagegen    steht    Jaures    dem    oben    geschilderten 
Grundgedanken  der   transscendentalen  Methode  nicht  fern,    wenn  er 
dem  Menschen  „von  Anfang  an,  sogar  noch  vor  der  ersten  Äusserung 
seines    Gedankens,    den    Sinn    der  Einheit"    zuschreibt  (558)    und 
meint,  der  Mensch  sei  von  Anfang  an  „ein  metaphysisches  Tier-'  ge- 
wesen, ..denn  das  Wesen  der  Metaphysik  besteht  ja  in  der  Erforschung 
der  Einheit  des   Alls,    welche  alle  Vorgänge  und  Erscheinungen,  alle 
Gesetze  in  sich  begreift"  (554). 

5.  Jaures'  Dissertation  scheint  in  den  marxistischen  Kreisen  nicht 
bekannt  geworden  zu  sein.  Die  neue  Kantbewegung,  die  sich  inner- 
halb dieser  Kreise  seit  nicht  viel  mehr  als  zwei  Jahren  bemerkbar 
gemacht  hat,  knüpft  nicht  an  ihn  an,  sondern  ist  spontan  entstanden. 
Eine  bessere  Würdigung  des  kritischen  Philosophen  zeigte  zuerst  ein 
an  die  bekannte  Kantbiographie  von  M.  Kronenberg  anknüpfender 
längerer  Artikel  von  Conrad  Schmidt  (3.  Beilage  zum  „Vorwärts- 
vom   17.  Oktober  1897). 

Schmidt  meint,  dass  „die  Vereinigung  von  genialer  Tiefe  und 
wissenschaftlicher  Klarheit  des  Gedankenganges,  die  Kant  aufweist, 
von  keinem  der  späteren  Philosophen  erreicht-'  sei.  „Da,  wo  diese 
tiefer  graben  wollten,  als  es  Kant  gethan,  verfielen  sie  meist  einem 
mystisch  metaphysischen  Gedankenspiele,  das  nur  äusserlich  die 
Formen  wissenschaftlicher  Darlegung  annahm."  Er  setzt  sodann  aus- 
einander,   \^1e    dagegen    Marx    und  Engels    in  Hegel,    von    dessen 


Kant  und  der  Sozialismus.  395 

Ideen  sie  in  ihren  .Jn^iendjaliren  aufs  tiefste  ergritfen  worden  waren, 
auch  später  noch  den  höehstentwicivelten  Repräsentanten  des  philo- 
sophischen Denkens  sahen.  Gegenüber  der  tiefsinnig  träumenden  und 
dichtenden  Metapliysik  Hegels  sei  es  jetzt,  wo  der  von  Hegel 
idealistisch-gewaltsam  zurechtkonstruierte  Entwicklungsgedanke  über- 
all in  die  besonderen  Wissenschaften  eingedrungen  sei.  an  der  Zeit, 
zu  einer  wissenschaftlichen  Philosophie  zurückzukehren,  „die 
sich  von  solchen  Schwärmereien  fern  hält  und  klar  begrenzte 
Probleme,  die  ausserhalb  des  Gebietes  der  speziellen  Wissen- 
schaften liegen,  durch  scharf  eindringende,  verstandesmässige  Zer- 
gliederung ZQ  lösen  sucht."  Der  grösste  Vertreter  dieser  wissen- 
schaftlichen oder  kritischen  Philosophie  aber  sei  Immanuel  Kant. 
Die  Bedeutung  seiner  Kritik  liege  nicht  so  sehr  in  der  Zerstörung 
der  alten  Metaphysik  an  sich,  als  in  der  eigentümlichen  Weise,  in 
der  sie  deren  Haltlosigkeit  nachwies,  indem  sie  diesen  Nachweis  auf 
die  tiefste  Zergliederung  der  menschlichen  Erkenntnis  gründete.  Bis 
hierher  ist  alles  gut.  In  den  dann  folgenden  Erörterungen  geht 
Schmidt  leider  von  dem  glücklich  gewonnenen  methodischen  Stand- 
punkt wieder  etwas  zurück.  Er  sieht  das  Centrum  und  das  „wahrhaft 
Fruchtbare"  der  Kantischen  Erkenntnistheorie  nicht,  wie  wir  ge- 
wünscht hätten,  in  dem  Nachweis  der  synthetischen  Grundsätze  als 
Bedingungen  der  mathematischen  Naturwissenschaft,  sondern  in 
einer  au  Albert  Lange  erinnernden  Weise,  in  der  ,.genialen  Unter- 
suchung über  die  Zusammensetzung  und  das  Zusammenspiel  unserer 
seelisch-geistigen  Organisation,  durch  welche  die  Erscheinungswelt 
zustande  kommt",  also  in  einer  psychologischen  Zergliederung^ 
deren  hohen  Wert  auch  für  die  ,.natürlich  gegebene"  materialistische 
Auffassung  er  betont.  Die  Aufdeckung  der  Struktur  unseres  Vor- 
stellungsvermögens sei  die  eigentliche,  mit  bewunderungswürdigstem 
Scharfsinn  in  Angrit!"  genommene  Aufgabe  der  Kritik  der  reinen 
Vernunft.  Kant  habe  sie  zwar  nicht  ,,endgUltig"  gelöst,  aber  jeder 
Versuch  tieferen  Kindringens  in  diesen  „geheimnisvollen  Schacht" 
müsse  durch  Kant  hindurcii,  mit  ihm  abrechnen.  ..Ohne  solche  Ab- 
rechnung kein  Fortschritt  in  der  Erkenntnistheorie,  die  mit  der 
Logik  zusammen  den  eigentlichen  Gegenstand  wissenschaftlicher 
Philosophie  bildet". 

Während  Schmidt  so  auf  erkenntnistheoretischera  Gebiete 
erfreulicherweise  mit  einem  ,, Zurück  auf  KantI"  endigt,  erscheint 
ihm  dagegen  Kants  Morali)hilosophie  als  ein  ,, ungeheuerlicher  \'er- 
such,    ein    rein    logisches  \  erhältuis    zum  Prinzip    des  Sittlichen    zu 

•_'6* 


391)  Kiirl   \i)rl:iii(li'r, 

machen."  «las  „ilaiiiif.  wie  er  mit  so  vielen  anderen  meint.  ..\on 
jeder  Klii-ksieiit  aul  das  Kuhlen.  Hej^reliren  und  die  icalcn  Zwecke 
des  Lehens  losfrelöst  wäre.'*  Kr  hat  noch  nicht  erkannt,  dass  auch 
die  Kthik.  wenn  anders  sie  Anspruch  auf  den  Charakter  einer  Wissen- 
schaft erheitt.  der  strenjrsten  erkenntniskritischen  He^^rllndun^^  hedarf. 
und  dass  p-rade  ihr  ..Kormalismus"  sie  /u  der  fruchtl)arstcn  An- 
wendung:" aut  ..da^  i'iUden,  Hcirehreu  und  die  realen  Zwecke  des 
Lehens"  hefiihi^t.'l 

Wejren  dieses  und  eines  anderen  (ircii'en  ein  liucli  i'leclianows) 
jrerichteten  Artikels  hat  C.  Schmidt  lin  Jahr  später  von 
G.  Plechauow  einen  heftisren  AiifjritT  erfahren,^)  worauf  er  seinerseits 
in  derselben  Zeitschrift  erwidert  hat.  Da  indessen  die  Leser  der 
..Kantstudien"  durch  Staudintrers  Aufsatz  im  vorijren  Hefte  üher  fliesen 
istreit,  der  sieh  wesentlich  in  eine  Polemik  über  das  Kantische  „Dinp; 
an  sich"  zuspitzte,  unterrichtet  sind,  so  können  wir  von  einer  Uar- 
stellung:  desselben  absehen,  zumal  da  er  für  die  inneren  Beziehungen 
zwischen  Kantiauismus  und  Sozialismus  kaum  von  Bedeutung  ist. 
Im  folgenden  nur  ein  Zeugnis  dafür,  in  welchem  Grade  Plechanow 
von  Vorurteilen  gegenüber  Kant  befangen  ist.  Zu  einer  Zeit,  in  der 
bedeutende  Kantianer  sich  dem  Sozialismus,  bedeutende  theoretische 
Vorkämpfer  des  Sozialismus  sich  Kantischen  Anschauungen  nähern,  er- 
blickt er  in  dem  kritischen  Idealisten  den  Philosophen  derBourgeoisie! 
Die  Bourgeoisie  hotl'e,  ..in  Kants  Philosophie  das  Opium  zu  finden, 
durch  das  sie  das  Proletariat  einschläfern  möchte,  das  immer  begehr- 
licher und  unlenksamer  wird."  (!)  ,,Der  Neokantianismus  ist  für  die 
herrschende  Klasse  gerade  deswegen  in  die  Mode  gekommen,  weil 
er  ihr  eine  geistige  Waffe  im  Kampf  ums  Dasein  liefert*'  (a.  a.  0. 
S.  145).  Als  ob  das.  was  Plechanow  unter  ,, Bourgeoisie"  versteht, 
sich  um  Kantische  Pliilosophie  auch  nur  im  mindesten  kümmerte! 
Mit  Recht  hat  sich  C.  Schmidt  in  seiner  Replik  (a.  a.  0.  S.  333) 
über  die  Fiktion  der  in  —  ..Fonds  und  Kantischer  JMiilosojjhie 
spekulierenden"  Bourgeois  lustig  gemacht.^)  Der  wahre  Grund  von 
Plechanows  Vorgehen    enthüllt    sich   als  ein  parteipolitischer.     ..Das 


1)  Den  zum  Schluss  erfolgenden  Hinweis  Conrad  Schmidts  auf  Kants  „Ver- 
such, die  negativen  Grössen  in  die  Weltweisheit  einzuführen"  als  Vorläufer 
der  Marxschen  Dialektik,  auf  den  wir  hier  nicht  eingehen  können,  möchten 
wir  der  Beachtung  der  Kantfreunde  empfehlen. 

2)  „Conrad  Schmidt  gegen  Karl  Marx  und  Friedrich  Engels",  Neue  Zeit 
XVn,  1,  S.  133—145 

3)  Vgl.  auch  Woltmann,  Der  historische  Materialismus  S.  310  Anm. 


I 


Kant  und  der  Somlismus.  397 

Zurückjrelien  auf  Kant,  das  sich  manche  Genossen  angeleg:en  sein 
Hessen,  ist  ein  schlimmes  Zeichen";  denn  „es  ist  ein  Ausdruck  Jenes 
opportunistischen  Geistes,  der  leider  in  unseren  Reihen  ji;rosse 
Fortschritte  macht"  (8.   145). 

(].  In  dem  nächsten  Satze  nennt  Plechanow  denjenigen,  den  er 
hierbei  v(»n  allen  im  Auge  hat:  Eduard  Bernstein.  In  der  That 
„verdient",  wie  wir  mit  Plechanow  sagen,  „der  Umstand  die  Auf- 
merksamkeit aller,  denen  die  Sache  des  Sozialismus  am  Herzen 
liegt",  dass  gerade  Bernstein,  der  langjährige  Schüler  von  Marx  und 
Freund  von  Engels,  einer  der  erprobtesten  theoretischen  Vorkämpfer 
des  marxistischen  Sozialismus,  ..eine  Schwäche  für  den  Neokautismus 
empfunden  hat." 

Xn  der  Stelle,  wo  er  dem  Sozialismus  zuerst  das  ..Zurück 
auf  Kant!'-  zugerufen  hat  (Neue  Zeit  XVI,  2,  S.  22(\),  führt  Bern- 
stein die  „unmittelbare  Anregung-'  zu  seiner  Aeusserung  auf  den  so- 
eben besprochenen  Vorwärts-Artikel  von  Conrad  Schmidt  zurück. 
Der  innere  Grund  zu  seiner  viel  besprochenen  theoretischen  Wendung 
konnte  natürlich  nicht  in  einem  einzelnen  Artikel  liegen,  sondern 
müss  tiefer  gesucht  werden.  So  spricht  denn  auch  Bernstein  selbst 
in  einem  Briefe  an  mich  von  ..einer  ganzen  Reihe  von  Einflüssen'', 
die  ihn  „nach  und  nach  dem  Kanfianismus  zuführten."  Als  solche 
bezeichnet  er  in  erster  Linie  das  Studium  Albert  Langes,  zu  dem 
er  durch  Ellissens  vortreffliche  Biographie  besonders  angeregt 
worden  sei;  später  habe  dann  der  bedeutsame  Aufsatz  H.  Cohens 
in  dem  „kritischen  Nachtrag"  (s.  0.)  entscheidend  mitgewirkt. 

Die  ersten  Keime  einer  dem  Neukantianismus  gerechter  werdenden 
Auffassung  sieht  man  in  der  That  bereits  in  dem  zweiten  der  drei 
schon  zu  Anfang  1892  in  der  Neiieti  Zeit  (X,  2)  veröffentlichten 
Artikel  ..Zur  Würdigung  Friedrich  Albert  Langes",  die  im  Anschluss 
an  die  kurz  vorher  erschienene  Langebiographie  Ellissens  geschrieben 
Würden.  Er  gesteht  dort  (S.  102)  wenigstens  der  neukantischen 
Bewegung  ..ihre  gewisse  Berechtigung--  als  „Reaktion  gegen  den 
flachen  naturwissenschaftlichen  Materialismus  der  Mitte  dieses  .lahr- 
hunderts  einerseits  und  die  Auswüchse  der  spekulativen  Philosophie 
andererseits"  zu.  Aber  diese  Keime  werden  doch  noch  stark  über- 
wuchert von  der  Engels'schen  Stellungnahme  gegenüber  Kant,  der 
er  sich  ausdrücklich    anschliesst  (S.  103  f.   vgl.  oben  S.  :]9()). 

Ganz  anders  sechs  Jahre  später  in  dem  Artikel:  „Das  realistische 
and  das  ideologische  Moment  im  Sozialismus-  (X\I,  2.  S.  225 ff.). 

Hier    bekennt  er    offen,    dass    seines  Erachtens    ,.das   .Zurück 


30S 


Karl  Nnrliindor, 


Ulli'    Kauf      l>is     / II     fincm    ^rwissrn     Cradr    am-li     llir    dir 
Thci.iif    (U's    So/ialiMiiiis    v.u     •reiten    lialn"    (S.    J^^'t    Aiini.). 
Kant,     tier    transseoiuleiitalc     Idealist,    sei     ..l'aktiseli    ein    srlir    \iel 
streiiirerer  Ki-alisf  •  p-NNescii.  als  „sehr  \iil»'  r.ikciiin'r  des  sofrenannteii 
uaturwissensehat'llielicii   Materialisimis".       Kr    halte    (l.-ii    nejriitV    des 
jenseits    unseres    l"j  Ucnntnisvermitjxens    liefrenden    „Din^'es    an    sieh" 
nieht    aufjrehrae  h  t.    sondern    iteg:ren/,t.     1'.    weist    an     Heis|)ieleu 
naeh.    dass     nciurr    ..Mati'rialisten''     sieh    crkeniitnistheoretisch 
auf  den    Boden   Kants    stellen,    ebenso    wie    dies    „die    meisten    der 
•rrösseren   modernen   Naturforscher    üethan    haben''    (227).      Dass  der 
Sozialismus  als   Lidin-   u  rsjirün  «rlich  reine   hleolo^^ic  war,    bestreite 
niemand    (22S|,     auch    das    System    des    hist(trisehen    Materialismus 
wirtschafte  mit  „idealen  Mächten"  als  Triebkräften  der  sozialistischen 
liewe^ninj:- (22*)).    Schon  das  Interesse,  das  der  marxistische  Sozia- 
lismus   voraussetze,    sei    ..von    vornherein    mit  einem  sozialen   oder 
ethischen  Element  versehen  und   insoweit  nicht  nur  ein  intelligentes, 
sondern  auch  ein  moralisches  Interesse,  so  dass  ihm  auch  Idealität 
im    moralischen    Sinne    innewohnt-    (280).      l!nd    ebenso    seien    die 
..proletarischen  Ideen"  über  Staat,    Gesellschait,    Ökonomie  und  Ge- 
schichte ,.note:edrung-en  ideologisch  gefärbt''  {2'M\. 

Um     „das    realistische    wie    das    idealistische    Element    in   der 
sozialistischen  Bewes:ung:  gleichmässig-  zu   stärken"    (Vorwort  S.  X), 
schrieb  dann  Bernstein  zu  Anfang-  1899  seine  vielg;enannte,  Aufsehen 
erregende  Schrift:  „Die  Voraussetzungen  des  Sozialismus   und 
die  Aufgaben    der    Sozialdemokratie"   (Stuttgart,  Dietz  Nachf.  1899, 
X.  und  188  S.).     Nur  mit  ihrem  philosophischen  Teile  und  auch  mit 
diesem  nur.  soweit  er  auf  Kant  oder  die  kritische  Methode  Bezug  hat, 
haben  wir  uns  hier  zu  beschäftigen.    Und  da  ist  allerdings  unsere  Aus- 
beute geringer,  als  man  nach  dem  im  vorigen  Absätze  angezogenen  Ar- 
tikel erwarten  durfte.  Erst  das  „Schlusskapitel"  (S.  168—188)  führt  uns 
zu    dem  Begründer    des  Kritizismus    zurück.      Es    trägt    das  Motto: 
,,Kant  wider  Caut'',  erläutert  dasselbe  aber  eigentlich  erst  auf  der 
vorletzten  Seite  (187)  bestimmter.    Bernstein  ist  überzeugt,  „dass  der 
Sozialdemokratie    ein  Kaut    not    thut,    der  einmal    mit  der  über- 
kommenen   Lehrmeinung    mit    voller     Schärfe    kritisch-sichtend    ins 
Gericht  geht,    der    aufzeigt,    w^o    ihr    scheinbarer  Materialismus    die 
höchste    und    darum    am  leichtesten  irreführende  Ideologie  ist,    dass 
die  Verachtung  des  Ideals,   die  Erhebung  der  materiellen  P^aktoren 
zu  den   omnipotenten  Mächten   der  Entwicklung   Selbsttäuschung   ist, 
die  von  denen,  die  sie  verkünden,  durch  die  That  bei  jeder  Gelegen- 


Kant  und  der  Sozialismus.  399 

heit  selbst  als  solche  aufjredeckt  ward  und  wird."  Gewiss  erfüllt  es 
uns  mit  lebhafter  Befriedi^'un^'-,  wenn  ein  Mann  g:erade  von  der  theo- 
retischen Vergano:enheit  Bernsteins,  unter  ausdrücklicher  Berufung: 
auf  Kant,  in  markigen  Worten  die  Notwendifjrkcit  des  Ideals  und 
der  Kritik  Ix'tont:  wie  wir  denn  überhaupt  der  ethischen  Grund- 
tendenz seiner  Schrift,  der  bewussten  Anerkennung  des  sittlichen 
Fundaments,  die  sich  auch  an  anderen  Stellen  (namentlich  S.  i:]Of.  1 
ausspricht,  und  vielen  Einzelgedanken  unsere  volle  Anerkennung" 
/.(dien.  Wir  halten  diesen  Fortschritt  an  sich  für  ausserordentlich 
wertvoll.  Was  ihm  dagegen  noch  fehlt,  ist  die  bewusste  Erfassung 
derjenigen  Methode,  mit  welcher  der  kritische  Philosoph  seine  Ethik 
rrkenntniskritisch  begründet  hat. 

In  dieser  Hinsicht  muss  schon  das,  was  imn  /.um  Schlüsse  der 
Schrift  folgt,  uns  etwas  stutzig  machen:  dass  nämlich  Bernstein  sein 
..Zurück  auf  Kant!"  am  liebsten  in  ein  „Zurück  auf  Lange!"  ver- 
wandeln möchte.  So  gut  sich  diese  Änderung  der  Parole  vom 
politischen  und  persönlichen  Standpunkt  aus  rechtfertigen  lässt 
—  denn,  im  Gegensatze  zu  Kant  hat  Lange  in  der  Zeit  der  soziali- 
stischen Bewegung  und  für  sie  gelebt  und  gestritten  — ,  und  so  er- 
freulich auch  der  darin  ausgesprochene  Anschluss  Bernsteins  an 
den  sozialen  Idealismus  uns  erscheint:  so  zeigt  sich  doch  gerade  in 
ihr,  dass  die  methodische  Begründung  dieses  sozialen  Idealisnms, 
wie  sie  von  dem  heutigen  Neukantianismus  unseres  Erachtens  in 
glücklichster  Weise  vertreten  wird,  ihm  noch  ferne  liegt. 

Und  so  finden  wir  denn  auch  in  dem  ersten,  grundlegenden 
Abschnitt  seiner  Schrift  Sätze,  die  wir  vom  methodischen  Standpunkte 
aus  bekämpfen  müssen:  „Materialist  sein,  heisst  zunächst  die  Not- 
wendigkeit alles  Geschehens  behaupten"  (S.  4,  gleich  daraufrichtiger: 
kein  Geschehen  ohne  materielle  Ursache  annehmen),  was  dann 
auch  (S.  5)  auf  den  historischen  Materialismus  übertragen  wird. 
..Der  Geschichte  ehernes  Muss"  soll  durch  die  ..ethischen  Faktoren", 
die  heute  einen  „grösseren  Spielraum  selbständiger  Bethätigung  als 
vordenv  erhalten  haben,  eine  ,,Einschränkung"  erfahren.  Dahin 
gehört  auch  Bernsteins  S.  9  offen  ausgesprochene  Neigung  zum 
Eklektizismus  entgegen  dem  ..doktrinären  Drang,  alles  aus  Einem 
herzuleiten  und  nach  einer  und  derselben  Methode  zu  behandeln", 
während  er  doch  andererseits  (S.  9 f.  Anm.)  richtig  erkannt  hat,  dass 
ohne  „das  Streben  nach  einheitlicher  Erfassung  der  Dinge"  ..kein 
wissenschaftliches  Denken  möglich"  ist.  Wir  können  nicht  umhin. 
Kautsky  Hecht  zu  geben,    wenn    er    dem    gegenüber  betont,    dass 


400 


Karl   Vdiläiiilt'r, 


„auch  idcalistiscilo  l'lülosophon  die  NotAVcndijikcit  alles  (IcscIicIhmis. 
d.  h.  dif  (icltunir  dos  Kausalitätsp'sot/.cs  Air  alle  Thatsaclicn  imsiTcr 
KrfahruMi:  Ix-haiiptcn-  (N.'iic  Zeit  XVll,  _'.  S.  C)  —  so  Kant  und 
allr  Kantianer  ^,  und  dass  Wissensehalt  elien  in  der  ..Kikeimlnis 
der  not  weiuÜL'en  i^eset/iniissip'n  Zusannnenliiinjre  der  Krsclieinunf^en" 
(S.  7)  bestellt.  Hernstein  hat  denn  auch  in  seiner  Krwideruni;  auf 
Kautsk.vs  Artikel  (Neue  Zeit  XVII,  l>,  S.  2c'()  H".)  die  relative  Be- 
reehtiiTUiii:  dieses  Kinwandes  zuirejjehen :  er  liahe  den  'Von  nieht 
entschieden  jrcnuj:  auf  ..Materie-'  }i:eleg:t  und  bekämpfe  nur  die  .,un- 
hedinirte  itiivsisehe  Notwendijrkeit  alles  Geschehens,'*  Ahiüich  er- 
klärt er  in  einem  Staudinjrer  erwidernden  Artikel  der  ..Kllikclini 
Kulfto-  (ISl)i),  No.  23),  dass  er  mit  den  von  uns  beanstandeten 
Sätzen  nicht  das  Kausalgesetz,  sondern  nur  die  ,,Bestimmunf;-smaclit 
des  technisch-ökonomischen  Faktors"   habe  einschränken  wollen. 

Am  ausfuhrlichsten  hat  sich  Hernstein  Über  die  alte  Frage  von 
Notwendigkeit  und  Freiheit  noch  einmal  in  einem  gegen  einen 
Pseudonymen  Kritiker  gerichteten  Aufsatze  der  Neuen  Zeit  (XVil,  2, 
845  Ö".)  geäussert.  Wir  müssen  uns  hier  begnligen,  die  Quintessenz 
seiner  Ausführungen  und  ihr  Verhältnis  zur  kritischen  Methode  kurz 
zu  kennzeichnen.  Bernstein  hat  die  richtige  Empfindung,  dass  dem 
Marxismus  die  bewusste  und  methodische  Berücksichtigung  des 
ethischen  Momentes  fehlt.  In  dem  Bestreben,  diesem  letzteren  zu 
seinem  Hechte  zu  verhelfen,  schlägt  er  nun  aber  nicht  den  von  den 
Neukantianern  bezeichneten  Weg  ein,  die  einen  durchgehenden  ge- 
setzlichen Zusammenhang  von  den  untersten  Grundlagen  bis  zu  der 
obersten  Spitze  des  sozialen  Lebens  herstellen  und  deshalb  die 
materialistische  Geschichtsauffassung  nicht  eigentlich  bekämpft,  sondern 
durch  Hinzufügung  des  Zweckgedankens  (der  Idee)  ergänzt 
wissen  wollen;^)  sondern  er  möchte  gern  die  „ethischen  Faktoren", 
deren  Macht  wir  sicher  nicht  bestreiten,  sondern  gerade  verstärken 
wollen,  als  ..selbständig  wirkend"  bereits  an  einer  Stelle,  an  die  sie 
nach  der  Kantischen  Grundregel  reinlicher  Scheidung  noch  nicht 
gehören,  nämlich  in  die  kausal  bestimmte  Erfahrung  hineintragen  und 
scheint  dadurch  mindestens,  wenn  er  es  auch  in  seinen  neuesten 
Äusserungen  nicht  Wort  haben  will,  die  ausschliessliche  Geltung  des 
Kausalitätsprinzips  auf  dem  Gebiete  der  (sozialen)  Erfahrung  auf- 
heben oder  doch  einschränken  zu  wollen.  Dass  es  manche  Dinge  auf 
Erden  giebt,    die  sich  noch  nicht  haben  restlos  erklären  lassen,  und 


1)  Vgl.  oben  S.  373  f.  (Stammler),  S.  378  (Natorp),  S.  881,  383  (Staudinger) 


Kant  und  der  Sozialismus.  401 

hei  denen  dies  (wie  wir  ihm  für  die  Thatsache  unserer  Hewusstheit 
zugehen)  auch  aller  \'oraussieht  nach  nie  der  Fall  sein  wird,  mindert 
unseres  Erachtens  nicht  im  jjeringrsten  die  ausschliessliche  Geltung  des 
Gesetzes  von  Ursache  und  Wirkung'  auf  dem  gesamten  Gebiete  der 
Erfahrungs Wissenschaft.  Der  „Gedanke  des  kausalen  Zusammen- 
hangs der  Weltvorgänge''  ist  nicht  bloss  ein  „als  Leitfaden  für  die 
wissenschaftliche  Forschung  unbestritten  wichtiger'  Gedanke  (a.  a.  O. 
S.  S48),  sondern  deren  notwendige  Voraussetzung.  Ob  wir  da- 
bei alle  Zwischenglieder  der  kausalen  Kette  bereits  gefunden  haben 
oder  nicht,  macht  prinzipiell  nichts  aus;  sie  zu  finden,  ist  eben  die 
unendliche  Aufgabe  der  Wissenschaft. 

Auch  ist  mit  einer  solchen  Annahme  unbedingter  kausaler  Not- 
wendigkeit im  Reiche  der  Erfahrung  durchaus  nicht,  wie  Bernstein 
(8.  848  f.)  zu  glauben  scheint,  der  erkenntniskritischen  Selbständig- 
keit (Spontaneität)  des  Hewusstseins  präjudiziert.  (iewiss  sind  wir 
Menschen  nicht  blosse  „mit  Bewusstsein  begabte  Automaten",  sondern  be- 
sitzen „Autonomie  des  Denkens  und  damit  auch  des  Handelns"  (849). 
Das  verallgemeinern  wir  Kantianer  sogar  dahin,  dass  wir  die  ganze 
,,Erfalirung"  als  aus  unserem  Bewusstsein  erzeugt  ansehen.  Diese 
Copernicusthat  Kants  ist  der  Grundkern  alles  Idealismus.  Aber  so- 
bald unsere  Handlungen  in  die  Ers.cheinung  treten,  verfallen  sie  un- 
entrinnbar dem  „ehernen"  Gesetze  von  Ursache  und  Wirkung.  Und 
Kant  hat  es  ausdrücklich  für  einen  , .elenden  Behelf'  erklärt,  die 
transscendentale  Freiheit  darin  zu  sehen,  dass  Bestimmungsgründe 
unseres  Handelns  „innere,  durch  unsere  eigenen  Kräfte  hervor- 
gebrachte" Vorstellungen  oder  Begierden  sind.  Das  sei  allenfalls 
eine  psychologische  ,,Freiheit",  wenn  anders  man  dieses  Wort  „von 
einer  bloss  inneren  Verkettung  der  Vorstellungen  brauchen*'  wolle, 
die  gleichwohl  den  Gesetzen  der  Naturnotwendigkeit  unterliege,  nicht 
anders  als  „die  Freiheit  eines  Bratenwenders"  oder  einer  Uhr,  die, 
wenn  sie  einmal  aufgezogen,  von  selbst  ihre  Bew^egungen  verrichten 
(Kr.  d.  prakt.  Vern.  Kehrbach  S.  lltJ — 118).  Nur,  wenn  wir  von 
den  Zeitbedingungen  unserer  Handlungen  völlig  absehen,  sie  da- 
gegen der  moralischen  Beurteilung  unterziehen,  künuen  wir  im 
wahren  Sinne  von  Freiheit  reden. 

Nicht  das  also  bekämpfen  wir  vom  Kantisclien  Standpunkte 
aus  an  Bernstein,  dass  er  die  ,, ideologischen"  Elemente  des  Sozialis- 
mus kräftiger  hervorhebt  —  das  halten  wir  im  (iegenteil  für  einen 
hocherfreulichen  Fortschritt  —  sondern  wir  vermissen  nur  die 
methodischen  Grundlagen  seines  „Idealismus".      Das  Verhältnis   von 


|(i'J  K;n-|   \iirliiiiilfr, 

Naturcrkonnon  und  Zwccksct/.unir.  Krialiiiin-rsfrcsct/.  und  Idee  ist 
von  iliiu  noch  iiiclit  im  Sinne  des  kritischen  Philosophen  erfasst. 
Hernstein  hat  >icli  in  seinem  ersten  Kant-Artikel  mit  lohenswertcr 
Koscheid-'idieit  als  „Laien  auf  dem  (Jehiete  der  Krkeinitiustheorie'' 
bekannt.  Piei  so  sellistkritischem  Sinne  und  einer  s(dchen  Fiihiir- 
keit.  sich  in  ein  ihm  ursprünglich  l'remth's  (Jeldot  ein/,uarl>eiten.  wie 
sie  der  in  der  lU'schäl'tiuunj:  mit  sozialwirtsehaftlichen  und  p(ditis('hcn 
l'n)l)lemen  (irossgewordene  in  seinen  phihtsophischen  Krörteruiifr«'!» 
bewiesen  liat.  ist  zu  iiotVen,  dass  er  l)ei  weiterem  Studium  und 
tieferem  Kiiidriniren  in  den  Kantiani>nius  auch  dessen  erkenntuis- 
kritischer  Methode  sich   mehr  und    mehr  hemächtifren   wird. 

7.  nie  \n)n  Hernstein  an  den  theoretischen  Grundlaji'en  des 
Parteipro^-ramms  jreübte  Kritik  hat.  wie  man  auch  sonst  Über  sie 
denken  man-,  jedenfalls  die  erfreuliche  Fo\^e  gehabt,  dass  die  Dis- 
kussion darüber  nun  auch  i  unerhalb  der  Sozialdemokratie  energisch 
in  Fluss  gekommen  ist.  Die  nationaliikonomische  uiui  politische  Seite  der- 
selben, die  zu  der  berühmten  fünftägigen  Debatte  in  Hannover  geführt  hat, 
geht  uns  hiernichtsan,  sondern  nurderaufdie  philosophischen  Grund- 
lagen des  Sozialismus  bezügliche  Teil.  Dass  es  sich  hierbei  wirklich  um 
eine  Krise  für  den  Marxismus  handelt,  dass  ein  Teil  der  jüngeren  Mar- 
xisten offen  zu  Kant  neigt,  hat  nach  einer  Mitteilung  Masarvks  (a.  a.  0. 
S.  590)  Kautsky  selbst  zugestanden.  Auch  in  den  Spalten  des 
•wissenschaftlichen  Organs  der  Sozialdemokratie,  der  Seuen  Zeit, 
tritt  dieser  Umschwung  der  Dinge  deutlich  hervor').  So  still  wie 
diese  Zeitschrift  bis  vor  zwei  oder  drei  Jahren  von  Kant  gewesen 
war  (vgl.  oben  S.  890).  so  hallt  sie  seitdem,  namentlich  in  den 
zwei  Bänden  ihres  letzten  Jahrganges  (I.Oktober  189.S — 1899)  wider 
von  Kant  und  dem  Kritizismus.  Mehring  hat  seine  häufig  auf  Kant 
Bezug  nehmenden  ..Ästhetischen  Streifzüge"  veröffentlicht,  die  noch 
vor  Kurzem  zu  einem  polemischen  Nachspiel  mit  Woltmann  über 
eine  Kantfrage  geführt  haben.  Plechanow  und  Conrad  Schmidt 
haben  in  einer  Reihe  von   Artikeln,  über  die  Standinger  im  vorigen 

*)  Auch  in  den  „Sozialistischen  Monatsheften",  einem  „freien  Dis- 
kussionsorgan für  alle  Anschauungen  auf  dem  Boden  des  Sozialismus",  wenn- 
gleich in  geringerem  Massstab.  Zu  den  von  Staudinger  (Kantstudien  IV  S.  167) 
zitierten  Artikeln  ist  noch  nachzutragen  ein  solcher  von  Alexis  Nedow 
(Plechanow  versus  Ding  an  sich,  Märzheft  1899,  S.  104 — 112.  der  im  .Vüschluls 
an  ein  Motto  aus  H.  Cohen  in  geschickter  Weise  den  Neukantianismus  vertritt, 
am  Schluss  freiUch  eine  Synthese  von  Kant  und  Hegel  wünscht.  Für  die 
nächsten  Hefte  hat  Nedow  einen  Aufsatz  über  „Kant  und  Hegel  in  der  bisherigen 
Parteilitteratur"  in  Aussicht  gestellt. 


Kant  und  der  Sozialismus.  403 

Hefte  der  Kautsiudien  berichtet  hat,  ihre  Fehde  über  das  Kantisehe 
„Ding  an  sich"  ausgefochten.  und  Hernstein  hat  seine  philosophischen 
Anschauungen  gegen  einen  stark  vom  Neukantianismus  berührten 
Marxisten,  der  sich  unter  dem  Pseudonym  Sadi  Gunter  verbirgt, 
verteidigt.  Nur  diesem  letzteren  hal)eu  wir  noch  einige  Worte  zu 
widmen. 

Gunter    hatte    bereits   ein  Jahr    vorher    in  einem  „Die  mate- 
rialistische    Geschichtsauffassung     und     der     praktische 
Idealismus''   betitelten  Aufsatz  (Neue  Zeit  XVI,  2,  S.  452  tf.)  den 
historischen  Materialismus    gegen  Stammler    zu  verteidigen  unter- 
nommen.     Er    hatte    darin    Kant    und    den    Neukantianern    (Cohen, 
Natorp.    Stannnler)  „Versteifung-    auf    ihre  ,,Begrirt'sanatomie"    vor- 
geworfen.    Hier  müsse  „Hegel  als  korrigierende  Instanz   hinzutreten 
und  zeigen,    dass  die  Ergebnisse  anatomischer  Analyse  nicht  in  un- 
verrückbarer Starrheit  auf  den  physiologischen  Lebensprozess    über- 
tragen werden  dürfen.-     Er  empfahl  aus  diesem  Grunde  den  histori- 
schen Materialisnms    als    ..gewissermassen    die  Synthese    der    Kant- 
Hegelschen  Philosophie  in  Bezug  auf  thatsächliche  Erfahrung''  (S.  4.55). 
Seine  dortige  Bekämpfung  der  Stamnilerschen  Scheidung  von  Kausa- 
lität   und    Telos    rührte    von    dem  ^lissverständnis    her,    als    wolle 
Stammler  zwei  verschiedene  Kausalitäten  schatfen,  eine  „mit  kausaler 
Gebundenheit    ganz    unvereinbare    Willensfreiheit"    einfuhren    (456). 
Dem  gegenüber  meint  Gunter  die,    in  Wahrheit  von  Stammler  nicht 
bestrittene,    Einheitlichkeit   des  kausalen  Zusammenhanges  im  histo- 
rischen Materialismus    betonen    zu    müssen.      Dass   er  den  letzteren 
nicht    dogmatisch,    sondern,    im     Anschluss    übrigens    an    Marxscbe 
Worte,    als    blossen  „Leitfaden''   für  die  ,, Studien''  oder,  mit  einem 
Kantischen  Ausdruck,    als  ..heuristisches  Prinzip"  auffasst  (4(50),    ist 
sehr  anerkennenswert.     Mit    solchem  historischen  Materialismus  ist 
allerdings  ein  ..praktischer  Idealismus"  wohl  vereinbar,    der  im  An- 
schluss an  die  Formulierung  des  Erfurter  Programms,  die  ,.allseitige 
harmonische    Vervollkommnung"    als    zu    erstrebendes    Endziel    auf- 
stellt. 

In  seinem  zweiten,  gegen  Bernstein  gerichteten  Artikel  ,,Bern- 
stein  und  die  Wissenschaft  (Neue  Zeit  X\  H,  2,  044 — 653) 
scheint  Gunter  noch  mehr  von  den  Neukantianern  gelernt  zu  haben. 
Zwar  geht  er  wieder  vom  Marxismus  aus,  zwar  wendet  er  sich  auch 
einmal  in  ziemlich  unvermittelt  schrotfer  Weise  gegen  Kants  ..intelli- 
gibele  Welt''  als  eine  „Flucht  ins  Mysterium"  (()48)  und  gegen 
seinen  ..mysteriösen"  Freiheitsbegriti*  (649);  allein,  wenn  er  sich  auch 


IC 


K  M  il    \'o  il  ämi  ('  r 


auf  (ion  Nt'uknntianisimis  nicht  ausdiilcklioh  iKM-nll').  so  /.ci-it  er  sicli 
»Idi'li  sachlich  VOM  der  Methode  der  Cohen,  Nator)),  Staiiinih'r  und 
Staudiiiirer  stark  hi-einllusst.  W  ie  diese,  drinj,''t  auch  er  aul'  ,.1'au- 
heitlii'ldvcil  und  (;eschh)ssenheit"  der  .Methode  ((ȊO),  wenn  :uich  die 
W  enduujr.  ..das  innere  Wesen  unseres  Daseins"  (I|  lief;-e  „in  dem 
DrauL"  nach  Kinheitlichkeit  hej::rilndet"  ((».")*_*).  uns  als  .Motiv  zu  um- 
liestinunt  subjektiv  erscheint.  Kr  zeiirt  indes  jileich  daraiil',  dass 
dieselbe  in  Wirklichkeit  ol)jektiv  gemeint  ist.  Auf  Kinheitlichkeit  im 
Denken.  (1.  h.  ..lieseitijjunjr  der  uns  (|uälenden  (iedankiMnvidersprllche" 
g:eht  die  Wissenschaft  aus,  auf  Beseitificunfr  der  Widers|)rüche  im 
eiirenen  Handeln  die  Kthik.  auf  die  Heseiti^unj,^  der  Widersprüche 
in  den  gesellschaftlichen  Kinrichtun^^en  die  Sozialpolitik  (Kthik 
im  weitesten  Sinne).  ..Die  ganze  sozialistische  Bewegung  ist 
nichts  anderes  als  ein  Ausdruck  des  Einheitsstrebens  in 
letztgenannter  Hinsicht"  Hy')2).  Dass  der  Marxismus  die  Gesetz- 
lichkeit dieses  (ethischen)  Einheitsstrebens  noch  zu  erforschen  hal)e. 
gesteht  der  Verfasser  sogar  oti'en  zu  (ebenda). 

Einen  solchen  ..Marxisten"  kann  sich  der  Neukantianer  schon 
gefallen  lassen.  Er  arbeitet,  nur  von  der  anderen  Seite  des  Berges, 
demselben  Ziele  zu.  Und  das  ist  in  diesem  Falle  um  so  bemerkens- 
werter, als  der  Artikel  gewissermassen  unter  oftizieller  Approbation 
der  Neue-Zeit-Redaktion  erschienen  ist  (vgl.  die  einleitenden  Sätze 
des  Verfassers  S.  644). 

S.  Am  offensten  von  allen  ausgesprochenen  Sozialisten  bekennt 
sich  zu  Kant  ein  erst  in  den  letzten  Jahren  hervorgetretener  jüngerer 
Schriftsteller,  der  Dr.  med.  et.  phil.  Ludwig  Woltmann,  der  bereits 
in  seiner,  im  ersten  Bande  der  Kantstudien  (S.  438  f.)  von  ihm 
selbst  angezeigten,  philosophischen  Doktordissersation  seine  Beein- 
flossung  durch  Kant  in  seiner  Unterscheidung  von  „kritischer" 
und  ..genetischer"  Methode  bewies  und  seitdem  in  drei  grösseren 
Schriften''*)  seinen  Standpunkt,  eine  eigenartige  Synthese  von  Kant, 


1)  Erst  am  Schlüsse  folgt  eine  Anspielung  auf  einige  Artikel  der  Ethischen 
Kultiu-,  die  teils  von  Staudinger  teils  von  mir  herrühren. 

*)  L.  Woltmann,  System  des  moralischen  Bewusstseins,  mit  be- 
sonderer Darlegung  des  Verhältnisses  der  kritischen  Philosophie  zu  Darwinis- 
mus imd  Sozialismus,  XU  und  391  S.,  1898.  —  Ders.,  Die  Darwinsehe 
Theorie  und  der  Sozialismus,  ein  Beitrag  zur  Natiu-geschichtc  der  mensch- 
liehen Gesellschaft,  VIII  und  397  S.  1899.  —  Ders.,  Der  historische 
Materialismus,  Darstelhmg  und  Kritik  der  marxistischen  Weltanschauung  IX 
und  430  S.     1900.     Alle  drei  im  Verlage  von  II.  Michels.  Düsseldorf. 


i 


Kant  und  der  Sozialismus.  405 

Marx  und  Darwin,  vertreten  hat.  von  denen  der  letztere  für  unsere 
Betrachtung  ausscheidet. 

Bereits,  ehe  er  oflen  zum  Parteisozialismus  übertrat,  hat  Wolt- 
maini  in  seinem  ..System  des  moralischen  Bewusstseins''')  eine,  unseres 
Trachtens  allerdinjrs  noch  nicht  ^anz  aus<?ereifte  und  allseitijr  durch- 
jretuhrte,  ..Darstellung  des  \erhältnisses  der  kritischen  Philosophie 
zu  ..Darwinismus  und  Sozialismus"  versucht.  Uanz  im  Sinne  unserer 
Aulfassung  weist  er  dort  nach,  dass  der  vielgeschmähte  Formalismus  der 
Kantischen  Kthik  doch  nur  in  ihrer  vernunftgemässen  Begründung  be- 
steht, die  nicht  eher  ruht,  als  bis  sie  die  ..grösstmögliche  Einheit  der 
Prinzipien*'  erreicht  hat.  Die  Kantischen  Termini,  „eigene  Vollkommen- 
heit" und  „fremde  Glückseligkeit"  werden  dann  auf  die  Ethik  des 
Sozialismus  angewandt,  als  diejenigen  Zwecke,  die  zugleich  Pilichten 
sind.  Die  Förderung  eigener  \ollkommenheit  nmss  Jedes  Menschen  ur- 
eigenstes Werk  sein.  Dagegen  ist  die  Beförderung  fremden  Glückes 
eine  notwendige  Forderung  sozialer  Gerechtigkeit;  die  materielle 
(irundlage.  auf  der  das  ^■ollkomn)enheitsstreben  überhaupt  erst  be- 
ginnen kann,  „den  Amboss  gleichsam,  auf  dem  jeder  nach  eigenem 
Talent  sein  Glück  schmieden  mag-',  ist  ..die  Gesellschaft  und  der 
einzelne  innerhalb  derselben  zu  schatten  verpflichtet-'.  So  wird  ihm 
..die  Kantische  Moralbegründung"  zum  „erhabensten  und  allein  mög- 
lichen Ausdruck  sozialer  Gerechtigkeit^'  (S.  49 1. 

Man  habe  innerhalb  des  Sozialismus  zu  oft  vergessen,  .,dass  die 
soziale  ebenso  sehr  eine  individuelle,  und  dass  die  ökonomische 
Frage  ebenso  sehr  eine  sittliche  Frage  bedeutet"  (2(iO).  ,.Die 
einzige  Möglichkeit-',  fährt  der  Verfasser  in  etwas  jugendlich- über- 
schwänglichem  Ausdruck  fort,  „den  Sozialismus  vor  geistiger  Er- 
starrung zu  bewahren,  besteht  darin,  die  Ideen  des  wirtschaftlichen 
Kollektivismus  und  Materialismus  mit  den  Prinzipien  der  kritischen 
Moralphilosophie  und  den  höchsten  Gedanken  Piatons,  Jesu  und 
Kants  innerlich  zu  einer  ethischen  Ökonomie  zu  verbinden-'  CiHl). 
Der  Inhalt  der  ..evolutionistischen  und  sozialistischen"  Ethik,  die 
Woltmanii  erstrebt,  muss  sich  in  seiner  erkenntnistheoretischen  Grund- 
legung ..unbedingt  der  kritischen  Ethik  unterordnen"  (277).  Des- 
halb ist  ihm  ..Kants  Moralphiloso j)hie  eine  Ethik  des  Sozialismus" 
i'MiV).  und  der  letztere  ..die  sozialökonomische  Erfüllung  des  mora- 
lischen Gesetzes"  (314). 

Das  neue  Buch  Woltmanns  hat  vor  diesem,   allzuviel   in  seinen 

1)  Näheres  darüher  in  meinem  Aufsatz:  ..Eine  Kth\k  der  Gegenwart"  in 
No.  23  und  24  der  Ethischen  Kultur  (1898). 


406  '"^i'rl  Nor  Hin  der, 

lialinu'ii  fasstMi  woIUmkUmi,  ersten  den  \ Or/.ii^",  class  os  sielt  ;ml'  ein 
liestimnites  (lehiet  einsoluiinkt,  dieses  alter  eiii;i-ehen(ler  ins  Aiij:»- 
fasst:  den  historisehen  Materialisinns.  Seine  ..aktuelle"  iirdciitnnir 
lieirt  darin,  dass  sieh  hier  ein  ausii'esjtroehener  Sozialist  ;j,an/.  (ill'eii 
auf  Kants  Seite  stellt  und  die  Marxisten  v.u  kritiseher  Selhstltesinnunir 
mahnt.  „Mein  Hueh  steht  unter  dem  Zeichen  der  Kilekkehr  zu 
Kauf  (\(ir\\(irt  S.  \ ).  In  der  Kantisehen  l'hilosophic  ,.lie;:en  die 
loirischon  Mittel,  um  eine  s\  stc^matisehe  Kritik  des  Marxismus 
herl)eizutuhren"   i  _*()). 

Zwar  halten  wii-  u'euen  des  \'erfassers  ,,Kantianismus*'  an 
maneheii  Stellen  Kiinviiiide  zu  erheben,  Faiien  Widers|)riieli  zu 
Woltmanns  Kantisehem  Bekenntnis  linden  wir  insltesondere  darin, 
dass  er  in  Fichtes  Ahleitunü:  alles  Seins  aus  dem  „Ich  de?ike''  einen 

"  TT 

,. Fortschritt  über  die  Kritik  der  reinen  Vernunft  hinaus''  (104)  er- 
blickt, wie  er  denn  überhaupt  die  „einseitifjen"  Kantianer  auf  (li<' 
—  von  diesen  an  und  liir  sich  wohl  kaum  bestrittenen  —  „ent- 
wickluniTsfähiffen  Elemente"    in    den    nachkantischen    Systemen   hin- 

«-CT'  I 

weisen  möchte  (^'o^wo^t  S.  I\').  Andererseits  ist  er  selbst  zu  einem 
konsequenten  Idealismus  doch  nicht  durchii'edrunfren,  insofern  er 
zwischen  einer  begrifllichen  und  der  „wirklichen"  Erfahrunji-  unter- 
scheidet, deren  ,, wirklichen"  Prozess  „alle  wissenschaftliche  syste- 
matische Darstellung;"  imr  .,W'iederspiegele''  ( IST).  Wo  anders 
existiert  denn  „wirkliche*"  Erfahrung;  als  in  der  Wissenschaft V  So 
gewinnt  denn  auch  die  von  Marx  und  Engels  aus  Feuerbach 
entnommene  „Theorie  des  Spieg;elbildes"  für  ihn  eine  mehr  bei  einem 
Marxisten  als  bei  einem  Kantianer  begreifliche  besondere  Bedeutung; 
(S.  285 — 294).  Kants  Verwandtschaft  mit  Plato  erscheint  uns  weit 
bedeutsamer  als  die  nur  äusserliche  mit  Aristoteles  (S.  36,  43,  187); 
and  so  noch  manches  Andere. 

Dennoch  hat  Woltmann  erfasst,  was  uns  an  Kant  die  Haupt- 
sache dünkt:  die  erkenntniskritische  Methode.  Gegenüber  dem 
..Walle  von  Vorurteilen  und  Missverständnissen",  der  Itisher  einer 
..sogenannten  natürlichen  Weltanschauung"  das  Verständnis  des 
kritischen  Problems  erschwert  hat,  will  Woltmann  den  Unterschied 
von  kritischer  und  entwicklungsgeschichtlicher,  logischer  und  psycho- 
logischer Methode  zeigen  und  nachw'eisen,  dass  die  Erkenntnistheorie 
eine  notwendige  Voraussetzung  aller  Entwicklungslehre  ist  (44), 
welche  letztere  übrigens  gerade  Kant  durch  seine  geschichtsphilo- 
sophischen  Aufsätze  nicht  wenig  gefördert  hat  '45).  Seine  kurze 
Analvse  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  (49 — 61)  ist  namentlich  Nicht- 


Kant  und  der  Suzialismus,  407 

kennerii  der  Kantischen  Philosophie,  deren  sieh  unter  Woltmanus 
Lesern  woiil  noch  viele  finden  werden,  recht  zu  empfehlen.  Als 
Kants  Ziel  bezeichnet  er  mit  Recht  ..die  Ne  übe  grün  düng  der 
rationalen  Wissenschaft"  (50),  wol)ei  wir  nur  das  ,,rati(inale''  als 
übertiiissig  und  möglicherweise  irreführend,  streichen  möchten.  Natur 
ist  für  Kant  =  mathematisch -physikalische  Naturwissenschaft  (61). 
Seine  Erkenntniskritik  geht  vom  fertigen,  entwickelten  Bewusstsein 
aus  (öO).  Das  centrale  Problem  der  Kantischen  Philosophie  ist  die 
.,transscendentale  Deduktion"  der  Möglichkeit  der  Erfahrung  (5(S). 
Das  „Ding  an  sich''  wird  richtig  als  „kritischer  Grenzbeg ritt-'  formuliert 
(59,  vgl.  :}ü7),  das  a  priori  in  seinem  v.ahren,  nicht-zeitlichen 
Sinne  dargestellt  (S.  277  ff.).  Das  notwendige  Endziel  der  Vernunft 
ist  die  ,, unbedingte  Einheit  aller  P^fahrung''  (60). 

Auch  die  erkenntniskritische  Begründung  der  Ethik  wird  hier 
noch  präziser  als  in  dem  ersten  Buche  durchgeführt.  Nicht  auf  die 
Entstehung  der  moralischen  Begriffe,  sondern  auf  die  Feststellung 
und  Begründung  ihrer  Allgemeingültigkeit  kommt  es  an  (64),  so 
ruft  er  gegenüber  den  „ewigen  trivialen  Einwendungen  der  Moral- 
historiker aus  der  Darwinschen  und  Marxschen  Schule"  aus,  die 
„so  wenig  methodische  Selbstbesinnung  haben,  dass  sie  eine  Sache 
untersuchen  wollen,  über  deren  Begriff  sie  sich  vorher  nicht  klar 
geworden  sind"  (66  f.).  Der  teleologische  Gesichtspunkt  erweitert 
die  physikalische  zu  einer  moralischen  Weltordnung  (69,  vgl.  :U0, 
314  ff.,  398  f.).  Endlich  ist  auch  das  ästhetische  Gefühl  als  Ur- 
([ueli  und  Einheitsgrund  von  Erkennen  und  Wollen,  die  Kunst  als 
Ikücke  zwischen  Natur  und  Freiheit  richtig  erkannt  (74  f.).  wenn  wir 
auch  nicht  soweit  gehen,  darum  Kants  Philosophie  schlechtweg  als 
„ästhetische  Weltanschauung"  (75)  oder  Begründung  einer  solchen 
(89)  zu  bezeichnen. 

Wie  beurteilt  nun  Woltmann  von  seinem  kritischen  Standpunkte 
aus  „die  marxistische  Weltanschauung"?  Hier  ist  seine  historische 
Darstellung  und  Beurteilung  von  seiner  systematischen  Kritik 
bezw.  Fortbildung  des  Marxismus  zu  trennen.  Auf  dem  letzteren 
Gebiete  köimen  wir  ihm   beistiiiimcn.  auf  dem  ersteren  nicht. 

Mit  Recht  zwar  macht  Woltmann  auf  den  in  der  That  oft  zu 
wenig  beachteten  Umstand  aufmerksam,  dass  der  Marxismus  eine 
fünfzigjährige  Entwicklungsgeschichte  durchgemacht  habe,  „so  dass 
Verschiedenheiten  und  selbst  Widersprüche  .  .  .  natürlicherweise 
entstehen  mussten"  (Vorwort  S.  III),  und  er  hat  sich  das  \erdieust  er- 
worben,   in  dem  zweiten  Teile  seines  Buches  eine  gut  orientierende 


408 


K:irl   Voll  all  (i  IT. 


l'lxTsiclit  ültrr  diese  Kiilw  iekliinirs-reseliielite  /.ii  j;-el(eii.  iiacli<leni 
der  erste  „die  i)liili»si»|)luselieM  Quellen  des  Marxismus"  in  iler 
„khissiseheii'-')  deutsclien  I'liilosophie  <lar<:eleiit  hat.  Ks  liietet  u.a. 
Interesse,  den  etiiisi-lien  Ausi:anirs|)unkt  des  Marxisnuis  liier  deut- 
lieh  festfrestellt  /u  sehen.  Allein  illr  uns  in  Hrtraelit  koinimii  Uaiin 
doch  eifrentlieh  nur  die  systeniatiseh  aus^M'hildete  Lehre,  die  deni 
Marxisnuis  sein  oharakteristisehes  (iepräf^e  -iieht.  Und  liier  lässt 
sieh  Woitinann  durch  sein  naehher  /u  würdiirondes  methodisches 
Hestrehen.  eine  Synthese  vnn  Kant  und  Marx  her/ustellen.  dazu 
verleiten,  /.u  viel  Kantische  Kleniente  in  Marx'  Lehre  hinein/ule;;-en. 
Da  Marx  selbst  sieh  auf  Kant  nicht  herult  (v^'l.  oben  S.  :{SS),  so 
soll  seine  ..HUckkehr  /u  der  unvertälschten  Urschrift  der  klassischen 
deutschen  rhilosophie".  d.  h.  zu  Kant  (Vorwort  H.  VI),  ohne  sein 
Wissen  vor  sich  g:eganj;en  sein  (vgl.  S.  -JOT).  Seine  „Auffassunj; 
des  wissenschaftlichen  Denkprozesses"  soll  „zweifellos'*  und  ..durch- 
aus"    Kants      kritischer    Philosophie      entsprechen      (Vorwort     S.    V, 

S.  187). 

Davon  alier  haben  uns  Woltnianns  Ausführunficn  nicht  über- 
zeuiren  können.  Wohl  jreben  wir  einen  gewissen  Parallelismus  der 
Methode  zu.  Wie  Kant  die  synthetischen  Bedingungen  der  fertigen 
Wissenschaft,  so  analysiert  Marx  „die  fertigen  Resultate  des  (kapi- 
talistischen) Entwicklungsprozesses''  (Kapitel  I,  S.  52  der  2.  AuÜ.). 
(Dem  gleichen  Gedanken  sind  wir  schon  bei  Staudinger  begegnet; 
vgl.  oben  S.  383).  Aber  der  Hegeische  „Rest''  in  der  Marx'schen 
Gedankenwelt  bezieht  sich  doch  nicht  „fast  nur  auf  die  äussere 
Darstellungsweise'',  während  „die  innere  Gedankenbewegung  durch- 
aus von  der  kritischen  und  (!)  naturwissenschaftlichen  Methode  ge- 
tragen wird-  (Woltmann  S.  321).  Wir  kijnnen  der  Ansicht  nicht 
beiptiicliten ,  dass  die  Erkenntnistheorie  auch  für  Marx  eine 
..durchaus  primäre  Frage"  gewesen  sei  (295);  dass  Marx  einmal 
seine  neue  Lehre  als  „Leitfaden"  für  die  „Studien"  bezeichnet  hat, 
reicht  dafür  nicht  aus.  Woltmann  erklärt  selbst  an  einer  anderen 
Stelle  (S.  260),  in  dem  bekannten  Satze  von  Marx,  dass  für  ihn  das 
Ideelle  nichts  Anderes  als  das  im  Menschenkopf  umgesetzte  und  über- 
setzte Materielle  sei.  liege  ,.das  erkenntnistheoretische  Problem  noch 
ungelöst  verborgen".  Das  sei  ,.eine  für  jeden  Erkenntniskritiker 
geläufige  Vorstellung'-,  und  doch  „bildet"  für  ihn  dieser  Satz  das 
logische  Fundament  des  ganzen  Marxismus  (ebenda).  —  Marx'  kritische 

1)  Woltmann  versteht  hierunter,   dem  Sprachgebrauch  der  Marxisten,    ins- 
besondere Engels,  folgend,  die  deutsche  Philosophie  von  Kant  bis  —  Feuerbach. 


Kant  und  der  Sozialismus.  40*J 

Stellungnahnie  zu  Hejrel  soll,  „im  Grunde"  weoi^^stens,  eine  Rückkehr 
zur  Li'hir  di-s  kritischen  Idealismus  liedeuten  (2!)7),  und  doch  wird 
unmittelbar  darauf  (298)  ..die  Marxsche  Philosophie"  als  „das  voll- 
endetste System  des  Materialismus"  gepriesen.  Marx  selbst  hat  sich 
bekanntlich,  abgesehen  von  seinen  ersten  Jugendjahren,  stets  als  An- 
hänger der  „materialistischen"  Methode  bekannt.  Sollte  sich  ein  so 
g-enialer  Denker  wirklich  einer  so  gewaltigen  ..intellektuellen  Selbst- 
täuschung über    den    eigenen  Standpunkt"  ( 1S4)  hingegeben  haben? 

Diese  scheinbaren  oder  wirklichen  Widersprüche  lösen  sich, 
weim  man  sie  sich  aus  Woltmanns  eigener  kritisch -systematischer 
Stellung  erklärt.  W.  sagt  einmal  |S.  4)  selbst,  dass  das  ,, philosophische 
.System*-  dessen  ..Mittelpunkt'-  die  materialistische  Geschichtsautiassung 
i)ilde,  „erst  durch  eine  kritisch-historische  Untersuchung  aus  den 
litterarischen  Erzeugnissen  des  ganzen  Marxismus  heraus- 
konstruiert werden  umss".  Die  „kritisch-historische"  Untersuchung 
wird  eben  von  ihm.  wie  das  psychologisch  ja  leicht  erklärlich  ist, 
bereits  im  Hinblick  auf  das  systematische  Resultat  geführt,  das  wir 
nun  noch  in  aller  Kürze  zu  betrachten  haben. 

Woltmann  weist  nach,  dass  der  Marxisnms  weder  bei  der 
blossen  Ökonomie  noch  bei  der  dialektischen  Methode,  die  Marx  von 
Hegel.  ,.ohne  ihre  Richtigkeit  zu  prüfen*',  einfach  übernommen  habe 
{■2&2),  stehen  bleiben  kann.  Der  Marxismus,  obwohl  ein  ,.philosophisches 
Lehrgebäude  ersten  Ranges*'  (S.  5)  und  die  „reifste  intellektuelle  Frucht 
unseres  gegenwärtigen  Zeitalters"  (ebd.,  vgl.  IV,  S.  186),  wie  er  mit  seiner 
\'urliebe  für  starke  Worte  sagt,  ist  durch  den  Kantischen  Kritizismus,  die 
genetische  durch  die  kritische  Methode  zu  ergänzen.  Er  sucht  dann 
zu  zeigen,  wo  die  Anknüpfungspunkte  im  Marx'schen  Systeme  liegen, 
die  nur  der  bewnssten  Fortbildung  im  kritischen  Geiste  bedürfen. 
Die  materialistische  Geschichtsauflassung  ist  ihm  eine  ,,ldee'*  im 
Kantischen  Sinne,  ein  „regulatives  Prinzip**,  das  „in  der  gesetzlichen 
Entwicklung  des  Erkenntnisprozesses  selbst  erzeugt  wird"  (178). 
Der  Historiker  muss  von  einem  ,,leitenden  Prinzip"  ausgehen,  ..denn", 
wie  Kant  sagt,  „Erfahrung  methodisch  anstellen  heisst  allein 
1)eobachten*'  (179).  Über  den  Wahrheitswert  jeder  Idee  aber  ent- 
scheidet ihre  Fruchtbarkeit.  Nur  auf  dem  Wege  des  Versuches  — 
Woltmann  hätte  an  die  Platonische  Hypothesis  erinnern  können  — 
entsteht  Wissenschaft.  Von  solchem  Gesichtspunkte  aus  analysiere 
nun  auch  Marx,  darin  Kant  analog,  die  fertigen  Resultate  des  wirt- 
schaftlichen Entwicklungsprozesses,  sodass  es  .,aussehen  mag.  als 
habe  man  es  mit  einer  Konstruktion  a  priori  zu  thun"  (Kapital  S.  821 ). 

Kaut^stndien  IV.  27 


no 


Kiirl    Vi)  rliiiid  er. 


Mit  (ifsi'liick  rcilit  \\  (»lliii:mii  (iaiiu  (licjciiifii'u  Mdiiiciitc  dt's 
-Marx'soluMi  Driikciis  an  einander,  dii'  sich  in  iileiclier  Hiclitunf::  lic- 
wojron.  Dem  blossen  N'atiir stut  1'  tritt  im  Mei\s('lien  eine  Natnr- 
inaeht  i;eirenill)er.  die  naeli  Ix'wussten  Zwt'cken  schallt.  Zur  \  (dl- 
ttlhrunir  seines  Werks  bedarf  der  Arbeiter  des  ,.z\veok};iMnJisseu 
Willens*'.  ..Was  von  vornherein  den  schlechtesti'n  Baumeister  vor 
der  besten  Hiene  auszeichnet,  ist.  dass  er  die  Z(dle  in  seinem 
Kopte  irel)aut  hat.  bevor  er  sie  in  Wachs  l)aut".  Das  ..Hesultaf" 
des  Arbeitsprozesses  war  ..beim  Hejrinn  (h-sselhen  schon  in  drr 
Vorstellung:  iles  .Arbeiters,  also  schon  ideell  vorhanden"  (Marx 
a.  a.  O.  S.  1(;4).  So  erhebt  sich  über  den  Naturkräften  als  erster 
Stufe  die  Technik  oder  ..Technolofrie",  indem  sie  „das  aktive 
Verhältnis  des  Menschen  zur  Natur  enthüllt''  (ebd.  S.  ;}S()  Anm.). 
\uf  ihr  baut  sich  dann  die  ..ökonomische  Struktur"  der  Gesell- 
schaft auf.  Auf  dieser  wiederum  beruht  die  soziale  GruppierunL'- 
der  Menschheit,  denn  auf  dem  Gebiete  des  wirtschaftlichen  Handelns 
folgt  der  Mensch  dem  „stummen  Zwang  der  ökonomischen  \ frhält- 
nisse".  Diese  letzteren  werden  somit  zu  Klassen  Verhältnissen. 
..deren  Geschöpf"  der  einzelne  Kapitalist  oder  Grundeigentümer 
sozial  bleibt,  so  sehr  er  sich  auch  sul)jektiv  über  sie  erheben 
mag"  (Vorwort  zur  1.  Auflage  des  „Kapital*'  S.  7). 

An  diese,  von  Marx  wenigstens  beiläufig  zugestandene  Möglich- 
keit einer  ..subjektiven  Erhebung"  des  Einzelnen  über  die  wirtschaft- 
liehen Motive  des  Selbst-  und  Klasseninteresses,  mehr  noch  aber  an  die 
im  ganzen  Marx-Engels'schen  Denken  latent  vorhandene  ethische 
Unterströmung  knüpft  Woltmann  an,  um  die  Notwendigkeit  eines 
bewussten  Fortschreitens  über  den  bloss-ökonomischen  zum  ethischen 
Standpunkt  auch  den  Marxisten  plausibel  zu  machen.  Er  weist  nach, 
wie  Marx'  Geschichtsansicht  im  Grunde  durch  und  durch  ethisch  ist. 
wenn  sie  auch  nicht  ,,in  der  Manier  eines  Moralpredigers'*,  sondern 
.,mehr  in  der  Form  der  Satire  und  eines  in  der  Tiefe  des  Herzens 
qualdurchzuckten  Spottes  und  Hohnes"  (S.  207)  zum  Ausdruck  kommt. 
Er  weist  darauf  hin.  wie  hinter  der  materialistischen  Hülle  eine 
moralische  Teleologie  verborgen  ist.  Die  Unterscheidung  einer  ge- 
schichtlichen Stufenfolge  menschlicher  Ordnung  und  Gesittung,  alle 
die  Urteile  über  Herrschafts-  und  Knechtschaftsverhältnisse,  Mehrwert 
und  Ausbeutung,  Freiheit  und  Unterdrückung.  —  sie  können  nicht 
rein  kausal  begriffen  werden,  sondern  enthalten  die  theoretisch  so 
scharf  abgelehnte  teleologische  d.  i.  ethische  Wertung  bereits  in 
sich  (S.  366  ff.). 


Kant  und  der  Sozialismus.  4 1 1 

Es  würdi'  /,u  wfit  fülircn.  aiil'  die  /.um  Teil  in  sehr  starken 
Ausdrücken  gehaltene  Kritik  eiii/.ufrehen,  die  Woltmann  an  Engels 
mehr  aber  noch  an  einigen  jüngeren  Marxisten,  wie  Plechanow, 
Stern  und  Mehring  übt  (vgl.  über  die  letzteren  die  Anmerkungen  zu 
S.  50,  Hl  f.,  237  f.,  259).  Auch  Engels  wird  vorgeworfen,  dass  er  ,,in 
Fragen  dt'r  Erkenntnistheorie  und  Ethik  Kant  missverstanden  oder  gar 
nicht  verstanden  habe"  (S.  25),  und  dies  später  im  einzelnen,  nament- 
lich an  der  Engels'schen  Kritik  des  Kantischen  ..Dinges  an  sich"  nach- 
gewiesen {S.  305—321),  S.  227  auch  von  der  materialistischen 
Dialektik  im  allgemeinen  zugestanden,  dass  sie  „keinen  Ai)riorismus 
kenne",  dass  ihre  Erkenntnistheorie  „sensualistisch"  sei.  Dennoch 
finden  sich,  wie  Woltmann  zeigt  (z.  H.  S.  228  f.,  368  f.),  auch  bei 
Engels  manche  Anknüpfungspunkte,  an  die  eine  Fortbildung  des 
Marxismus  im  Kantischen  Sinne  anknüpfen  kann. 

Woltmann  will  überhaupt  keine  „Preisgabe  des  Marxismus" 
(296  vgl.  403),  sondern  nur  eine  „kritische  Selbstbesinnung-'  des- 
selben, eine  ..Versöhnung"  und  ein  „Bündnis"  mit  der  kritischen 
l'hilosoj)hie,  durch  das  er  „an  innerem  Wahrheitswert  nur  gewinnen 
kann-'  (2<i9),  „um  mit  geläutertem  Kewusstsein  von  neuem  an  die 
Probleme  des  dialektischen  und  historischen  Materialismus  heranzu- 
treten" (296).  Eine  Annäherung  beider  Gedankensysteme  lasse  sich 
„viel  leichter  und  folgerichtiger  vollziehen,  als  man  anf  den  ersten 
Eindruck  anzunehmen  pflegt"  (297).  Denn  Kant  sei  ein  viel 
modernerer  Geist  als  Hegel  und  stehe  dem  Zeitalter  der  naturwissen- 
schaftlichen und  sozialistischen  Weltanschauung  weit  näher,  „nament- 
lich wenn  man  die  grosse  Bedeutung  der  Kantischen  P^thik  tür  die 
Theorie  der  sozialistischen  Gesellschaftsorganisation  in  Betracht 
zieht"  (296).  Der  Sozialismus  ist  in  erster  Linie  eine  ethische 
NotAvendigkeit  (427),  der  Marxismus  kann,  wenn  er  folgerecht 
verfahren  will,  dem  Idealismus  „oder  vielmehr"  der  Kanti- 
schen Philosophie  nicht  entfliehen  (209). 


So  haben  wir  denn  die  Beziehungen  zwischen  Kantianisnuis  und 
Sozialismus  von  Kant  bis  herab  auf  die  Jüngste  Gegenwart  verfolgt  und 
erläutert.  Wir  haben  zunächst  gesehen,  dass  Kant  zwar  nicht  selbst  als 
Soziali^^t  oder  sein  System  als  ein  sozialistisches  bezeichnet  werden  kann, 
dass  aber  nicht  bloss  eine  ganze  Reihe  seiner  Staats-  und  geschichtsphi- 
losophischen  Gedanken  Anknüpfungspunkte  für  den  Sozialismus  bieten, 

27* 


II 


Karl   N'orl an (I (•  r.   K;ini   imti  (Ut  Sozialisuuis 


snndiTn  (lass  inshcsomlorc  s(miio  Ktliik  dif  uiicrschlUtt'rlicIic  (irund- 
l;ii:i'  licl'crt.  :iul"  der  sirli  ciüc  sd/ialistisclic  NN'cltaiiscliiiiiimji-  im 
Siuiu-  (irr  (n'inciiixdiaflM'tiiiU  aiifitaiicn  lässt.  Wir  sahen  wcitrr.  dass 
die  Ht'str('l)iiiij:en  di-r  Ncukaiitiaiirr  mit  alliMii  Naclidruciv  darauf  p'- 
rii'litft  sind,  den  Kritizismus  aui'li  aul  dem  (Joliictc  der  Sd/.ialwisscn- 
sohal't  /.um  vollen  Ausdruck  /u  lirin.i:('n,  mit  dem  Hilst/.eu!;'  der 
transseendentalen  Metliede  und  den  Blick  auf  Kants  ethisches  Ideal 
irerii'htet.  rine  So/ialphilnsopliie  zu  sclialVen,  .,die  als  Wisscrnschaft 
wiril  auftreten  köniuMi";  und  dass  sie  auderorseits  {:;('rade  im  Interesse 
einer  eiiduitlichen  Mi-tluide  den  Marxismus  so  weit  anerkennen,  dass 
ihrerseits  einer  prinzipiellen  Xersühnunj;-  zwischen  Kant  und  dem 
sozialen  Materialismus  nichts  im  Weg:e  steht,  sobald  der  letztere 
seines  wesentlichsten  Mangels,  des  Fehleus  einer  erkenntniskritiseh- 
ethisohen  Begründunji*,  inne  wird.  Und  wir  sahen  endlich,  dass  diesem 
Streben  unter  den  jüngeren  Marxisten  ein  immer  grösseres  Verständ- 
nis entgegengebracht  wird,  dass  der  Ruf:  ,, Zurück  auf  Kant!"  von 
immer  mehr  Seiten  erschallt,  und  somit  eine  Verständigung  zwischen 
..sozialistischen"  Kantianern  und  kautischen  Sozialisten  unschwer  zu 
erreichen  sein  dürfte. 

Wenn  diese  Untersuchung  in  ihrer  äusseren  Form  das  Gepräge 
einer  historischen  Darstellung  trug,  so  lag  dies  in  der  Natur  der 
Sache.  Ihr  Kern  und  ihre  Absicht  sind  jedenfalls  systematischer 
Art.  Wir  lieben  die  Schlagworte  nicht  und  wollen  daher  den  Weisen 
von  Königsberg  nicht  als  .,Philosophen  des  Sozialismus"  ausrufen. 
Aber  wir  sind  der  Meinung  und  der  Hoffnung,  dass  es  mit  dem 
sozialen  Materialismus  ebenso  gehen  wird,  als  mit  dem  naturwissen- 
schaftlichen. W^ie  der  naturwissenschaftliche  Materialismus  als 
Philosophie  erst  dadurch  überwunden  worden  ist,  dass  F.  A.  Lange 
ihn  nicht  schlechtweg  verwarf,  sondern  als  Ferment  in  die  eigene, 
idealistische  W^eltanschanung  aufnahm,  so  kann  auch  der  soziale 
Materialismus  nur  dadurch  überwunden  werden,  dass  er  als  voll- 
berechtigtes Glied  in  das  System  eines  wissenschaftlichen  d.h.  (nach 
Kant)  ,. kritisch  gesuchten  und  methodisch  eingeleiteten'*  sozialen 
Idealismus  eingefügt  wird,  der  ohne  ihn  in  der  Luft  schwebt. 


Kants  Verhältnis  zur  Metaphysik. 

V^on  Friedrich  Pauisen. 


Meine  Darstellung;  der  Kantischen  Philosophie  (im  7.  Bd.  von 
Frommanns  Klassikern  der  Philosophie)  hat  eine  Diskussion  über 
Kants  \'erhältnis  zur  Metaphysik  veranlasst,  zu  der  auch  ich  mich 
einigermassen  verpflichtet  erachte,  das  Wort  zu  ergreifen. 

Ich  habe  dort  das  Verhältnis  auch  einmal  von  der  positiven 
Seite  dargestellt.  Man  Hndet  es  oft  ausschliesslich  von  der  negativen 
Seite  gezeigt:  Kant  erscheint  dann  als  der  definitive  Vernichter  der 
Metaphysik.  Ich  wollte  dagegen  zeigen,  dass  Kant  sich  nicht  vorgesetzt 
hat,  die  Metaphysik  selbst,  sondern  nur  eine  falsche  Form  der 
Metaphysik  zu  vernichten;  die  alte  Schulmetaphysik,  die  dogmatische 
Spekulation  aus  blossen  Begriti'en  über  die  Dinge  jenseits  aller  möglichen 
Erfahrung,  die  hat  er  allerdings  vernichten  wollen.  Gleichzeitig 
aber  wollte  er  die  Metaphysik  selbst  neu  begründen;  und  zwar 
Metaphysik  in  doj)peltem  Sinne:  1.  eine  ^Metaphysik  der  Natur,  die 
als  philosophische  Wissenschaft  die  apriorischen  \'oraussetzungen  der 
Physik,  im  weitesten  Sinne,  darstelle;  2.  eine  Metaphysik,  die  als 
vernunftgemässe  Weltanschauung  über  die  physikalische  Ansicht  der 
Wirklichkeit  hinausgehe  zu  einer  Auflassung,  die  man  als  objektiven 
Idealismus  bezeichnen  kann. 

Von  der  Metaphysik  im  letzteren  Sinne  soll  hier  allein  die  Rede 
sein.  Ich  habe  behauptet  und  behaupte  noch,  dass  Kant  das  Recht 
einer  idealistischen  Metaphysik  im  Gegensatz,  wie  zu  einer  rein 
physikalischen  Weltanschauung,  so  auch  zu  skeptisch-agnostizistischer 
Enthaltsamkeit  begründen  wollte,  freilich  nicht  mit  den  alten  Mitteln 
der  Demonstration  aus  reinen  Begriffen,  sondern  durch  den  Nachweis, 
dass  von  dem  Wesen  der  Vernunft,  der  theoretischen  wie  der  praktischen 
Vernunft,  eine  derartige  Voraussetzung  über  die  Wirklichkeit  un- 
abtrennbar sei.  Gegen  diese  meine  Darstellung  sind  von  mehr  als 
einer  Seite  Bedenken  erhoben  worden,  so  von  Vaihinger  und  Heman. 
Vaihinger  (in  einer  Anzeige  im  achten  Band  der  Philosophical  Review) 


V 


414  KriiMlrii'Ii  I';iii1mii, 

erkennt  /.\\:\v  an.  liass  Kants  eiireiitlicln'  Anseliaunn;::  die  \(in  mir 
Itezeielniete  >ei.  dass  er  >if  alter  nur  \Nie  durcli  einen  Sclilejci-  sehen 
lasse,  während  ieh  sie  in  das  lielie  'ra>;-eslielit  stelle  niid  dadnieh 
(Uh'Ij  die  (ledankenhildunir  M'iiindere:  der  Sehh'ier.  di-n  Kant  \ov  die 
intellij,'ihU'  Well  /ielu'.  sei  ein  ndtwendip's  KhMiient  des  kritischen 
Systems.  Khenso  hat  lleman  lin  einer  Hesproehun;::  in  der  Zeitsoiirit't 
üir  riiihisophie  nnd  philos.  Kritik.  Bd.  Il4i,  obwohl  im  iihrificn  /,u- 
stimniend.  doeh  weuvn  einer  Zurückstellniifr  <ler  erkenntnistheoretiseheu 
Kritik  jiej:-en  die  .Metaphy^ik  Hedeiiken  erholten  nnd  lietont:  mmi 
einer  Erkenntnis  des  ninndus  intellii;il»ilis  köuue  l)ei  Kant  schleciiter- 
diiiirs  niehl  die  Hede  sein.  Auch  Sänger,  Honuindt.  llickert 
hal)en  gejri'n  diesen  l*nid<r  meiner  Darstellung  Hedenken  li-eäussert.') 
Ich  irehe  zu.  dass  meine  Darstellung  das  positi\c  NCrhältnis 
Kant-s    zur    Metaphysik    stärker    hervortreten    lässt.    als    eine   blosse 


M  Wenn  icli  hier  eine  Kezen.sion  erwälino,  die  Herr  Professor  H.  Cohen  in 
der  Nation  veröft'entlielit  hat,  so  geschieht  es  nur,  um  ihm  die  erwartete  Empfangs- 
bestätigung zu  geben;  ieh  kann  ihm  also  die  Genugtliuung  verschafl'en,  zu  er- 
fahren, dass  ich  sie  richtig  erhalten  und  auch  gelesen  habe.  Die  weitere 
Genugthuung,  ihm  zu  bestätigen,  dass  sie  mich  verdrossen  hat,  bedauere  ich 
ihm  nicht  geben  zu  kTmiien.  Ich  habe  sie  nur  mit  einem  Gefühl  der  Be- 
schämung gelesen,  der  Beschämung  nämlich,  die  ich  als  deutscher  Universitäts- 
lehrer darüber  empfunden  habe.  Meine  Meinung  von  dem  deutschen  Rezensions- 
wesen ist  schon  längst  keine  grosse;  diese  Rezension  hat  mir  doch  noch  eine 
Überraschung  bereitet.  Auf  Einzelnes  einzugehen  —  es  handelt  sich  um  zwölf 
Spalten  hfihnischer  Glossen,  womit  der  Verfasser  mein  Buch  von  dem  vor- 
gehefteten Bildnis  an  bis  zu  dem  Punkt  am  Sehluss  begleitet  —  wird  er  mir 
erlassen.  Ich  hab  nun  einmal  an  einem  Verkehr  auf  dem  Fuss  gegenseitiger, 
nun,  sagen  wir  Missaohtung  keine  Freude.  Und  ein  Bedürfnis  zur  Gemüts- 
erleichterung ist  bei  mir  auch  nicht  vorhanden.  —  Auch  auf  die  in  herablassendem 
Ton  vorgetragenen  Belehrungen  des  Herrn  Dr.  Goldsclimidt  im  Archiv  für 
System.  Philos.  finde  ich  keinen  (irrund  hier  einzugehen. 

Während  der  Korrektur  geht  mir  noch  eine  Rezension  von  Otto  Schön- 
dörffer  in  der  Altpreussischen  Monatsschrift  zu,  die  ebenfalls  an  meiner  Be- 
handlung der  Metaphysik  Anstoss  nimmt  und  mich  belehrt,  dass  wir  nach  Kant  die 
Dinge  nicht  erkennen  können,  wie  sie  an  sich  sind.  Sie  weist  mich  dann  weiter 
darüber  zurecht,  dass  ich  von  Kant  nicht  mit  der  schuldigen  Bewunderung  und 
Begeisterung  rede,  als  das  Schlimmste  mir  anrechnend,  dass  ich  seine  Moral 
als  die  ,. Moral  der  kleinen  Leute'  bezeichnet  habe.  Ich  kann  nicht  finden,  dass 
ein  Mann,  der  sich  so  wenig  auf  den  Ton  einer  Darstellung  versteht,  dass  er 
aus  dieser  Bezeichnung  in  dem  dort  gegebenen  Zusammenhang  einen  Tadel  heraus- 
liest —  es  handelte  sich  darum,  Kants  Moral  als  den  Gegensatz  zu  einer 
„Herrenraoral-'  zu  charakterisieren,  als  die  Moral  von  ehrlichen  und  recht- 
schaffenen ,. kleinen  Leuten",  wie  es  seine  Eltern  waren,  —  einem  solchen  .Mann 
kann  ich  nicht   die  Kompetenz  zugestehen,  mir  Belehrungen  über  den  Ton  zu 


Kants  Verhältnis  zur  Metaphysik.  415 

lieproduktion  der  kritisclu-n  Philosophie,  wie  sie  in  den  drei  Kritiken, 
vor  allem  in  der  Kritik  der  reinen  N'ernunft,  vorliegt,  dies  zu  thun 
Ursache  hat.  \c\\  wollte  eben  den  ganzen  persönlichen  Kant,  nicht 
bloss  die  Gedanken,  die  er  in  der  Kritik  der  r.  \'.  ausgeführt  bat 
dem  Leser  vor  Augen  stellen.  in  solcher  Zeichnung  musste  der 
Hintergrund  der  allgemeinen  Weltanschauung  deutlicher  hervortreten, 
als  das  in  einer  Untersuchung  über  seine  Erkenntnistheorie  der  Fall 
zu  sein  braucht.  So  war  es  durch  die  Natur  der  Aufgabe  gegeben,  dass 
meine  Darstellung  in  Gegensatz  zu  allen  Darstellungen  treten  musste,  die 
als  das  Ergebnis  seiner  erkenntnistheoretischen  Kritik  und  die 
eigentliche  Summe  seiner  Philosophie  den  Satz  hinstellen:  Erkenntnis 
giebt  es  nur  von  der  Erscheinungswelt,  nicht  von  den  Dingen  an  sich 
selbst;  welcher  Satz  dann  in  vergröbernder  Popularisierung  allmählich 
zu  der  Meinung  herabsinkt:  die  Kantische  Philosophie  sei  eine  Art 
Agnostizismus;  sie  lehre:  was  jenseits  der  empirischen  Erkenntnis 
liege,  sei  für  uns  nicht  vorhanden,  gehe  uns  nichts  an,  ja  sei  über- 
haupt nichts.  Dem  gegenüber  betont  meine  Darstellung:  der  Phänome- 
nalismus ist  nirgends  Zweck,  sondern  überall  nur  Mittel,  Mittel  einer- 
seits um  eine  apriorische  Erkenntnis  der  Erscheinungswelt  möglich 
zu  machen,  andererseits  aber  auch,  um  für  den  Gedanken  des  mundus 
intelligibilis  (nicht  die  wissenschaftliche  Erkenntnis)  Kaum  zu  ge- 
winnen. Ja,  die  Denkbarkeit  (nicht  die  Erkennbarkeit)  des  mundus  in- 
telligibilis und  die  Herstellung  einer  auf  der  Vernunft  (nicht  dem  ^ 
Verstände)  ruhenden  Beziehung  zu  ihm,  ist  und  bleibt  zuletzt  die 
wichtigste  Angelegenheit  Kants;  alle  seine  Gedanken  konvergieren 
gegen  diesen  Punkt:  in  der  Epistemologie,  in  der  Naturphilosophie, 
in  der  Ästhetik,  in  der  Ethik. 

I. 

Indem  ich  dies  zu  zeigen  versuche,  fornmliere  ich  nochmals, 
was  ich  als  zugestanden,  was  als  in  Frage  stehend  ansehe.  Als  zu- 
gestanden setze  ich  voraus:  1)  Es  giebt  eine  Erscheinungswelt  in 
Kaum  und  Zeit  (mundus  sensibilis);  sie  ist  Gegenstand  einer  Er- 
kenntnis a  i)riori,  in  der  reinen  Naturwissenschaft  oder  Meta()hysik. 
2)  Es  giebt  eine  Wirklichkeit  jenseits  der  Erscheinungswelt  (mundus 


erteilen,  in  deui  ich  von  Kant  zu  sprechen  habe.  —  Er  schliesst  seine  Rezension 
mit  der  Äusserung,  dass  er  das  Buch  „lieber  nicht  geschrieben  wünschte." 
Mich  aber  freut's  nun  erst  recht,  dass  ich,  nach  langem  Zögern,  das  Buch  zu 
sehreiben  doch  übcrnoninien  habe.  Von  der  Notwendigkeit,  Kant  nicht  den 
orthodoxen  Kantianern  allein  zu  überlassen,  haben  diese  Proben  ihrer  kritischen 
Leiötimgen  mich  aufs  Neue  überzeugt. 


410 


Frictlrioli  r.uilsrn. 


intrlli-riliilis);  sie  licirt  jcüscits  der  wissciiscliattliflu'ii  l'jkciintiiis: 
dir  alte  (loinnatisclic  MctMplivsik  mit  ilircr  rein  ralidiialcii  l'svchohtfxic, 
Kosnioloirio  uiul  'riicolttfric  ist  iiiiMit  Wisscnschatt.  :?l  Di«'  Kra^c  ist: 
hal)Oii  wir  tritt/.dcni  (Iriind.  uns  lllx-r  den  nuindiis  iiitdli^iltilis  lio- 
stimmte  Clrdaiikcii  zu  niai-hrMV  oi\rv  ist  er  für  uns  uiclits.  nichts 
als  ein  blosses  X,  nii'lils  als  das  blosse  Anderssein  /u  dem  Ge- 
trebenen.  als  das  blosse  unserem  Denken  anhaltende  Hewusstsein 
seiner  Sul)jektivitiit? 

leb  sajre:  nach  Kant  dürfen  und  müssen  wir  uns  ül>cr  den 
niundus  iiitelli,iril)ilis  (ledanken  machen ;  man  muss  nur  unterscheiden 
/Avischen  vernunftf;eniässem  Denken  und  wissenschaftlichem 
Erkennen.  Letzteres  haben  wir  nur  da.  wo  uns  Data  der  Sinnlichkeit 
jjejreben  sind,  die  wir  durch  unsere  Erkeimtnisformen  auffassen  und 
bearbeiten.  Das  Denken  aber  reicht  weiter  als  das  F^rkennen;  die 
Vernuntt  j::eht  hinaus  über  das  Feld  des  Verstandes;  jenseits  der 
Sphäre  der  Begritle  lie^^t  das  Kcich  der  Ideen;  und  durch  Ideen 
bestimmen  wir  die  intelligil)le  Welt  für  unser  Denken  durchaus 
eindeutig.  Für  das  wissenschaftliche  Erkennen  sind  die  Dinge  an 
sich  ein  blosses  X,  für  das  vernünftige  Denken  ist  die  intelligible 
Welt  —  nun.  eben  intelligibel. 

Ideen  haben  ihren  Ort  zunächst  in  der  praktischen  Vernunft; 
sie  bildet  Begriffe,  denen  ein  kongruierender  Gegenstand  in  der  Er- 
fahrung nicht  gegeben  werden  kann:  so  den  Begriffeines  vollkommenen 
Staats,  oder  den  Begriff  eines  die  Staaten  selbst  wieder  umfassenden 
Rechtsverbandes,  der  einen  vollkommenen  Kechtszustand  auf  Erden 
sichere.  Der  Begriff  verliert  nicht  dadurch  seine  Gültigkeit,  das»  die 
Erfahrung  keinen  vollkommenen  Staat,  keinen  Zustand  des  „ewigen 
Friedens-'  auf  Erden  zeigt.  Die  praktische  Idee  ist  der  Begriff  einer 
notwendigen,  von  der  Vernunft  selbst  gestellten  Aufgabe,  hier:  eine  der 
Gerechtigkeit  voll  entsprechende  Rechtsordnung  im  Staat,  eine  Rechts- 
gemeinschaft unter  den  Staaten  mit  Rechtsentscheidung  streitiger 
Fragen  herzustellen.  Ähnliche  Begriffe  giebt  es  auch  im  theo- 
retischen Gebiet.  Die  Begriffe  der  Wissenschaften  z.  B.  sind  Ideen, 
die  Physik,  die  Chemie,  die  Kosmologie  sind  nirgends  auf  Erden 
vorhanden  und  werden  niemals  vorhanden  sein  als  fertige  Erzeug- 
nisse; ihre  Begriffe  sind  Begriffe  von  Aufgaben,  die  durch  die  Ver- 
nunft gestellt  sind,  Aufgaben  an  denen  Jahrhunderte  gearbeitet  haben 
und  arbeiten  werden,  ohne  ans  Ende  zu  kommen.  So  ist  auch  der 
Begriff  der  Weltweisheit,  in  dem  Sinn  eines  die  gesamte  Wirklich- 
keit umspannenden  Systems  wissenschaftlicher  Erkenntnis,  eine  Idee: 


Kants  Verhältnis  zur  Metaphysik.  417 

die  Aufgabe  ist  geffeben;  sie  i^ann  aber  niemals  vollkommen  p^löst 
werden,  die  Welt  selbst  als  Ganzes  ist  nicht  gejrel)en  und  kann 
Diemals  gejreben  sein;  doch  bleibt  der  Begriff  als  solcher  friiltig;. 
Kbenso  bildet  die  Vernunft  endlich  auch  den  Begriff  eines  höchsten 
(iutes,  die  Idee  eines  ,.Keichs  der  Zwecke":  die  Wirklichkeit  als  ein- 
heitliches System,  in  dem  alle  Glieder  durch  teleologische  Beziehungen 
zu  einer  vollkommenen  P^inheit  verknüpft  sind.  Es  ist  ein  notwendiger, 
mit  dem  Wesen  der  Vernunft  gesetzter  Begriff:  indem  sie  als  \er- 
mögen  der  Zwecksetzung  die  \ernunftwesen  als  Selbstzwecke  und 
alle  Dinge  zu  den  Vernunftwesen  als  Mittel  in  Beziehung  setzt,  ent- 
steht ihr  jener  Begriff  der  Welt:  die  ganze  Wirklichkeit  Verwirk- 
lichung eines  einheitlichen  allumfassenden  Zw^eckgedankens.  Dieser 
Begriff  hat  Gültigkeit  in  demselben  Sinn,  in  dem  der  Begriff  einer 
Weltwissenschaft  Gültigkeit  hat;  wie  dieser  eine  notwendige  Aufgabe 
für  den  Verstand  bezeichnet,  so  jener  für  den  vernünftigen  Willen: 
es  ist  Pflicht,  an  der  Verwirklichung  des  Reichs  der  Zwecke  zu 
arbeiten.  Tnd  mit  der  Notwendigkeit  der  Aufgabe  ist  die  Not- 
wendigkeit der  Voraussetzung  gegeben;  die  Wirklichkeit  ist  solcher 
Arbeit  zugänglich,  sie  ist  prädestiniert,  Zweckgedanken,  und  so 
jene  Einheit  aller  Zwecke  sich  einbilden  zu  lassen.  In  letzter  Absicht 
müssen  demnach  das  Gute  und  das  Wirkliche  zusammenfallen:  das 
ist  die  notwendige  Voraussetzung  der  Vernunft. 

Sicherlich,  die  Richtigkeit  dieser  Voraussetzung  kann  nicht 
empirisch,  kann  nicht  dem  den  Erscheinungen  nachgehenden  Verstände 
bewiesen  werden.  Jeder  Versuch  dieser  Art.  etwa  eine  teleologische 
(ieschichtsphilosophie,  bleibt  unendlich  weit  hinter  der  Aufgabe 
zurück,  die  (beschichte  als  den  geraden  Weg  zur  Verwirklichung 
des  höchsten  Guts  auf  Erden  darzustellen.  Und  noch  weiter  bleibt 
der  Versuch  einer  Naturteleologie  hinter  der  Aufgabe  zurück,  zu 
zeigen,  dass  die  Natur  die  \'erwirklichung  eines  Systems  von  Zweck- 
gedanken sei.  Dennoch  bleibt  der  Begriff  ein  gültiger  und  praktisch 
notwendiger:  wie  die  Möglichkeit  der  Wahrheit  für  die  theoretische  \er- 
nunftbethätigung,  so  ist  die  Möglichkeit  des  höchsten  Guts  für  die  prak- 
tische Vernunft  uuaufgebbar.  Eine  Philosophie,  die  da  behaupten  wollte, 
die  Wirklichkeit  sei  überhaupt  nichts  als  ein  sinnloses  Spiel  blinder, 
absolut  sinn-  und  ziellos  wirkender  Krälte,  führte  auf  ein  absurdum 
morale,  das  die  Vernunft  ebenso  wenig  zulassen  könnte,  als  ein 
absurdum  logicum.  Kann  die  Physik  mit  jener  Voraussetzung  aus- 
kommen, so  ist  das  nur  ein  Beweis,  dass  die  Physik  nicht  zulänglich 
ist,    unsere  Weltanschauung    zu   bestimmen.     Der  Widerspruch    oder 


4  IN 


l'rii'd  licli    l'au  Ist'H, 


die  (iU'ioliirillliirkfit  ilcr  l'livsik  ;rt'jr»'ii  die  Idee  ciiicN  Wciclis  der 
Frcihi'it  und  der  /wfi'kc  ist  «rcradt'  der  «'iitsclicidcudc  Aiitiicli. 
itl)i'r  die  plivsikalisfhc  Hctraclitiinp-  der  Dinp-  hiiiaus/iip'ln'ii  /n 
t'intM"  nu'tapliysisclifii.  Wärm  wir  iiiii  tlHMirctiscIic  Wcsi'ii,  so 
kiuuitfii  wir  am  linde  es  rrtraucn.  Iici  der  |)livsis('li('n  Krkläriiiij: 
stehen  /.ii  Ideilieii.  W  ir  winden  ancli  dann,  in  erkeinitnistlieoreliselier 
Ht'siiiminir.  uns  sairen:  die  ])liysisehe  Welt  ist  IiIors  eine  dureli  Sinn- 
lii'likeit  und  \  erstand  eines  Snl)j(d<ts  zustande  j::el)ra('hte  Krsclieinunjjs- 
welt.  aber  wir  hätten  kein  Interesse  daran,  iilier  die  Krscheinun^'s- 
welt  hinauszujrehen.  wir  küiniten  am  Knde  das  Jenseits  des  Ge- 
grebenen  als  ein  reines  X  stehen  lassen.  Aber  wir  sind  auch  und  vor 
allem  praktische  Wesen,  und  als  solche  hal)en  wir  das  drin;,^endste 
Interesse  daran,  über  die  Erscheinunjrswelt,  über  die  physische  Welt, 
die  zu  unseren  notwendigen  praktischen  Ideen  idcht  stimmt,  hinaus- 
zuirehen  und  die  eiirentlich  seiende  Welt  als  ein  von  Ideen 
beherrschtes,  zu  unseren  praktischen  Ideen  stimmendes,  sie  zu  hiu-hst 
realisierendes  System  zu  denken. 

So  ist  es  die  feindliche  Spannung;-  zwischen  l'hysik  und  Moral, 
die  die  Metaphysik  hervortreibt,  bei  Kant,  wie  bei  Plato.  Oder  viel- 
mehr. Kant  und  Plato  lassen  lediglich  in  Regriflfe,  was  der  mensch- 
liche (leist  mit  instinktivem  Drang-  überall  und  immer  gethan  hat: 
er  nimmt  über  der  empirisch  gegebenen  Ordnung  der  Dinge  eine  höhere 
an.  weil  die  gegebene  Wirklichkeit  hinter  der  Forderung  des 
Willens  allzu  weit  zurückbleibt;  vor  allem  ist  es  der  Tod,  die  Ver- 
nichtung des  Lebens  und  aller  seiner  Zwecke,  der  den  Gedanken  eines 
überirdisch-überzeitlichen  Lebens  und  einer  übersinnlichen  Ordnung 
der  Dinge  hervorgetrieben  hat. 

Hei  Kant  ist  es  zunächst  ein  anderes,  das  gleichsam  als  Mauer- 
brecher gegen  die  rein  physikalische  Weltanschauung  dient,  der 
Begriti  der  Freiheit.  Er  war  es  auch,  von  dem,  nach  seiner  wieder- 
holten Versicherung,  die  ganze  neue  Gedankenbildung  der  kritischen 
Philosophie  ausging:  in  der  Erscheinuugswelt  herrscht  die  Kausalität; 
da  Freiheit  die  Voraussetzung  der  Sittlichkeit  ist,  so  ist  die  wahre 
Wirklichkeit  notwendig  als  eine  solche  zu  denken,  wo  Freiheit, 
spontane  Selbstbestimmung,  möglich  ist.  Der  mundus  intelligibilis  ist 
-also  als  Reich  der  Freiheit,  der  Selbstbestimmung  nach  \'ernunft- 
gesetzen,  zu  denken.  Und  an  das  Postulat  der  Freiheit  schliessen 
sich  dann,  nach  dem  bekannten  Schema,  die  Postulate  Gott  und  Unsterb- 
lichkeit. Wie  Kant  im  Einzelnen  diese  Gedanken  geformt  hat,  ob 
sie  die  glücklichste  Fassung,  die  auf  dem  Boden  seines  Systems  mög- 


Kants  Verhältnis  zur  Metaphysik.  4 19 

lieh  war.  (.Thalti-n  haben,  <»h  es  nicht  fruehtharcr  und  anji-eniessener 
gewesen  wäre,  unmittclhar  von  der  l(h'e  des  Reichs  der  Zwecive  aus- 
zugehen, das  alles  kann  hier  dahingestellt  bleiben. 

80  ist  also  der  niundus  intelligihilis  durch  notwendige  Gedanken 
von  der  praktischen  Vernunft  her  bestimmt:  eine  Vielheit  von  Ver- 
luniftwesen.  die  in  dem  Sittengesetz  deo  Ausdruck  ihrer  freien,  zu- 
sammenstimmenden Hethätigung.  in  Gott  den  letzten  Grund  ihrer 
Wirklichkeit  und  Einheit  haben. 

Kaut  nennt  die  Annahme  dieser  Gedanken  praktischen 
Glauben.  Dieser  Glaube  setzt  natürlich,  wie  jeder  Glaube,  inhalt- 
lich bestimmte  Gedanken  voiaus:  ein  Glaube  an  X,  ein  Glaube  an 
irgend  etwas,  ich  weiss  nicht  was.  an  ein  absolut  unbestimmbares 
Ding  an  sich  ist  gar  kein  Glaube.  Und  also  ist  die  intelligible  Welt 
für  unser  Denken  notwendig  bestimmt,  ich  wiederhole:  für  unser 
Denken,  nicht  für  unser  wissenschaftliches  Erkennen. 

Das  ist  für  Kant  die  entscheidende  Betrachtung.  Aber  sie  steht 
nicht  allein,  auch  die  theoretische  Vernunft  als  solche  ist  nicht 
überhaupt  gleichgültig  gegen  alle  Bestimmung  des  nmndus  intelligibilis; 
es  giebt  Gründe  rein  theoretischer  Natur,  uns  über  die  Welt  der 
Dinge  an  sich  Gedanken  von  bestimmter  Art  zu  machen.  Das 
möchte  ich  noch  mit  einigen  Strichen  andeuten. 

Ich  weise  zunächst  auf  Kants  Geschichtsphilosophie  hin. 
Sicherlich,  wir  können  nicht  die  Geschichte  als  eine  Veranstaltung 
zur  Verwirklichung  eines  Zweckgedankens  demonstrieren.  Dennoch 
fällt  ein  Schimmer  von  Licht  auf  das  Dunkel  ihrer  viel  verschlungenen 
Pfade,  wenn  wir  ihrer  Darstellung  eine  Idee  zu  Grunde  legen:  die 
Idee,  dass  die  Herstellung  eines  Reichs  der  Vernunft  auf  Erden  der 
Zielpunkt  sei,  auf  den  die  Bewegung  gerichtet  ist.  Und  zwar  er- 
scheint dieser  Zielpunkt  als  mit  der  Naturanlage  der  Gattung  selbst 
gegeben;  er  ist  nicht  durch  das  subjektive  Denken  gesetzt.  Kant 
hat  in  jenem  kleinen  Aufsatz:  „Idee  zu  einer  allgemeinen  Geschichte 
in  weltljürgerlicher  At)sicht",  womit  der  Aufsatz  „über  den  mutmass- 
lichen Anfang  der  Menschengeschichte"  und  die  Schrift  über  den 
„ewigen  Frieden-'  zu  vergleichen  sind,  diesen  Gedanken  ausgeführt. 
Der  Antagonisnms  der  selbstsüchtigen  Tendenzen  in  der  menschlichen 
Natur,  und  die  Übel,  die  dadurch  über  die  Menschen  gel)racht  werden 
(  llobbes'  Krieg  Allergegen  Alle«,  treiben  aus  dem  Naturzustand  heraus 
und  führen  zum  Staat,  einer  (Gemeinschaft  nach  Rechtsgesetzen. 
Durch  die  Civilisierung  aber  und  die  erzwungene  Legalität  geht 
der  Weg  zur  Moralität.  der  freien  Unterordnung  des  eigenen  Willens 


4-2(» 


.•111 !  seil, 


unter  il;i>  \  frmmfti^cst't/.  Kndlicli  alter  wcnleii  clini  (iicst'llx'ii  Hbcl. 
di«'  /.lU'rst  die  Kiii/.t'liK'n  /.um  Kintritt  in  di'ii  staatliclnii  Zustand 
irrnittiirt  lialx'ii.  wcitrr  dahin  wirken,  dass  auch  die  Staaten  ans  dem 
Natur/.ustaiul  heraus  in  einen  lieehtszustand  eintreten:  ein  Verltand 
fitderierter  Staaten  mit  Ueehtsordnun^  und  Kechtsentseheidun^  ist  das 
Ziel,  dem  die  ireseliieiitliehe  l'Jitw  ieklun;:-,  so  meint  Kant  deutlich 
/u  seilen,  elien  ireiicnwärtifr  /ustreiit.  die  \ Creini^^ten  Staaten  von 
Amerika  ein  \  ()rl)ild.  Mit  der  enisprechemlen  Entwickluiifi-  der 
Moralität  wäre  ein  Zustaiul  erreicht,  di'n  man  .als  vollkommene  Herr- 
schaft der   \  ernunt't  auf  Knien   hezeichnen   könnte. 

Khen  dies  ist  mm  das  Ziel,  das  die  praktische  Wrnunft  dem 
Willen  V(U-schreibt.  lud  so  eipieht  sich  also  hier  eine  bemerkens- 
werte Zusummenstiunnun^  zwischen  der  theoretischen  Veriuinft,  die 
über  den  (iang;  der  Geschichte  aus  den  Thatsachen  reflektiert,  und 
der  praktischen  N'ernunft,  die  durch  eine  notwendifce  Idee  das  Ziel 
des  jceschichtlichen  Lebens  bestinniit.  Und  weiter  eine  Hindeutunjr 
auf  eine  Zusammenstimmnuir  unserer  \ Crnunft  mit  jener  Macht,  die  das 
Menscheng:eschlecht  selbst  und  seine  geschichtliche  Laufbahn  ursprüng- 
lich bestimmt  hat:  sie  als  vernünftigen  Willen  zu  fassen  werden  wir 
durch  eine  derartige  Reflexion  angeleitet;  und  unsere  Vernunft 
würde  sich  dann  als  einen  Ausfluss  jener  Ur-Vernunft  ansehen  dürfen. 
Der  religiöse  Glaube,  der  in  dem  Sittengesetz  Gottes  Willen  erkennt, 
erhielte  hierin  eine  Art  spekulativer  Unterlage. 

Freilich,  so  müssen  wir  gleich  hinzufügen,  das  ist  nur  eine 
Reflexion  über  den  Gang  der  Geschichte  im  Grossen,  eine  Idee, 
nicht  ein  wissenschaftlich  durchführbarer  Begriff".  Wir  können  durch- 
aus nicht  die  geschichtlichen  Vorgänge  im  Einzelnen  aus  einem 
göttlichen  Weltplau  ableiten,  sie  als  notwendige  Wege  der  Vorsehung 
zu  jenem  Ziel  konstruieren.  Wir  stehen  oft  vor  den  Thatsachen  des 
geschichtlichen  Lebens,  vor  allem  vor  denen,  die  wir  mit  erleben, 
als  vor  Rätseln  und  Widersprüchen:  das  Unrecht  siegt,  die  gute 
Sache  unterliegt  der  Gewalt.  Freilich  hie  und  da  geschieht  es,  dass 
der  nachfolgende  Gang  der  Dinge  das  Urteil  des  Augenblicks 
korrigiert,  das  anscheinende  Unterliegen  der  gerechten  Sache,  der 
Untergang  des  tragischen  Helden  war  in  Wahrheit  sein  Sieg;  der 
Glaube  des  Christentums  ist  auf  eine  Thatsache  von  dieser  Art  ge- 
gründet. Aber  nicht  überall  können  wir  eine  solche  Betrachtung 
durchführen.  Was  uns  bleibt,  ist  nur  die  allgemeine  Reflexion,  dass 
auch  die  anscheinend  widervernünftigen  Tendenzen  in  der  Menschen- 
natur dennoch  zum  guten  Ziele  dienen  müssen:  Selbstsucht,  Habsucht, 


Kants  Verhältnis  zur  Metaphysik.  421 

Herrschsucht,  .sie  .sind  es,  die  den  Menschen  aus  der  träfen  Kuh(^ 
passiven,  sinnlichen  Genusslebens  friedlicher  Herdentiere,  aus  dem 
Naturaustand  Kousseaus,  aus  dem  Paradies  der  niorj^enländischen 
Sage  vertreiben;  sie  führen  /u  Jenem  Krieg  Aller  gegen  Alle.  Aber  eben 
damit  treiben  sie  an.  den  Staat  und  das  Recht  zur  Abwehr  gegen 
das  i'bel  des  Kriegszustandes  hervorzubringen,  worin  die  Vernunft 
in  der  Form  des  Gesetzes  zuerst  ihre  Herrschaft  auf  Forden  gründet. 
So  ist  auch  in  dem  anscheinend  WidernUnftigen,  in  den  sellistsüchtigen 
Leidenschaften  der  Menschen,  \'ernunft.  eine  Vernunft  der  Dinge,  die 
wir  wie  durch  einen  Nebel  sehen. 

Man  sieht,  die  Gedanken  der  spekulativen  Geschichtsphilosophie, 
wie  Fichte  und  Hegel  sie  ausgeführt  haben,  sind  bei  Kant  vor- 
gebildet. Fichtes  Konstruktion  des  Ganges  der  Vernunft  in  der 
Menschheitsgeschichte:  wie  sie  am  Anfang  in  instinktiver  Form  das 
Lelu'n  bestimmt,  wie  dann  die  gewaltigen  Leidenschaften  hervor- 
brechen und  die  Sicherheit  der  Instinktführung  zerstiiren,  wie  aber 
endlich  die  N'ernunft  zu  sich  selbst  kommt,  und  nunmehr  als  um  sich 
wissende  und  sich  wollende  Vernunft  die  Leitung  der  menschlichen 
Dinge  in  die  Hand  nimmt:  alles  das  steht  schon  in  den  kleinen 
Aufsätzen  Kants.  Und  nicht  minder  kann  man  Hegels  Satz  von  der 
N'ernünftigkeit  des  Wirklichen  in  der  Geschichte,  seine  Lehre  von 
dem  Staat  und  Recht  als  der  Form  der  objektiven  Vernunft,  in 
Kants  Reflexionen  vorgebildet  finden :  das  Zu-sich-selbst-kommen  der 
Vernunft,  die  Selbstverwirklichung  der  V'ernunft  in  der  fortschreitenden 
\'erwirklichüug  der  Freiheit  im  rechtlich-sittlich  verfassten  Gemein- 
schaftsleben, das  alles  sind  echt  Kantiscbe  Gedanken.  Seine  Anthro- 
])ologie  und   Geschichtsphilosophic  lebt  und  webt  darin. 

In  eine  ähnliche  Gedankenrichtung  weist  nun  auch  die  philosophische 
Reflexion  über  Natur  und  Kunst.  Kant  hat  seine  Naturphilo- 
sophie und  seine  Kunstphilosophie  in  der  Kritik  der  Urteilskraft 
zu  einer  etwas  künstlichen  Einheit  verschlungen;  gerade  dieses  In- 
einssetzen  ist  aber  sehr  bezeichnend  für  das  Ziel  der  Gedanken. 

Zuerst  das  Schöne:  es  ist  überall  Hinweisung  auf  die  Ideen- 
welt. So  das  Naturschöne;  es  wird  als  eine  Hindeutung  darauf, 
dass  die  Ideen  auch  objektive  Realität  haben,  aufgefasst;  und  darum 
ist  das  unmittelbare  Interesse  an  der  Schönheit  der  Natur  ein  Kenn- 
zeichen einer  guten  Seele,  einer  auch  dem  moralischen  Gefühl 
günstigen  Gemütsart.  In  der  schönen  Seele  ist  i)eid('s  vereint,  das 
Interesse  fiir  moralische  Ideen  und  die  Empfänglichkeit  für  die 
Naturschönheit;  die  letztere  ist  eigentlich  bedingt  durch  das  erstere: 


.[■22  Friotl  rioli   l'aiiUen, 

..(l;i  «'S  die  N Cnuiiift  iiitrn'ssicrt,  dass  die  Ideen,  für  die  sie  im 
iiuiraliselieii  (lefilhl  ein  uninittclhares  Interesse  bewirkt,  ancli  »)l>- 
joktive  Healität  lialten.  d.  Ii.  dass  die  Natur  weniirstens  eine  Spur 
zeitrt'  oder  einen  W  ink  ü'elte,  sie  enthalte  in  sieh  irgend  einen  <!rund, 
eine  <reset/,niässii;-e  l  hereinstinuiuni';-  ihrer  l'rddukte  /.u  unserem,  von 
allem  Interesse  unal)hänirii;"en  \\  (ddjrorallen  an/.unehmen:  so  muss  die 
\ Crinintt  an  jeder  Ausserun.:r  (h'r  Natui-  \un  einer  dieser  ähnlichen 
Thereinstinununj:-  ein   Interesse  uelimen"   (i;    l'JI. 

Al)er  aueh  das  Kuustschüne  ist  in  jjewisser  Weise  als  Natur- 
produkt air/.usehen.  Das  (Jenie.  wodurch  das  Sehöne  in  der  Kunst 
und  Dielitunii'  üesehalVen  wird,  ist  eine  Naturlte^a  Inini:-;  das 
pnMluktive  \ Crinögren  des  Künstlers,  das  wir  (ienie  nennen,  j^chört 
zur  Natur.  l'nd  so  kann  man  denniaeh  saji'en:  ,.(ienie  ist  die  an- 
ijeborene  Gennitsanla^e,  durch  welche  die  Natur  der  Kunst  die 
Kegel  giebt"  (§  46).  Schönheit  ist  aber  Symbol  der  Sittlichkeit,  das 
Schöne  Verherrlichung  sittlicher  Ideen  (§  59).  Und  so  darf  man 
min  sagen:  auch  hierin  zeigt  sich  eine  innere  Zusaminenstinimung 
der  Natur  mit  der  moralischen  Welt;  sie  strebt  gleichsam,  indem  sie 
durch  das  Genie  das  Schöne  hervorbringt,  sich  dem  Sittlichen  ent- 
gegeuzuheben.  —  Man  sieht:  auch  die  ästhetische  Erziehung  des 
Menschengeschlechts   ist   ein  Kant   nicht   durchaus  fremder  Gedanke. 

Wie  die  ästhetische  Urteilskraft  in  der  Natur,  der  ursprünglichen 
Natur  und  der  in  der  Kunst  gesteigerten  Natur,  Züge  tindet,  die 
über  die  Natur  hinaus  auf  eine  ihr  zu  Grunde  liegende  oder  in  ihr 
sich  manifestierende  Ideenwelt  hinweisen,  so  auch  die  teleologische 
Urteilskraft.  Eine  über  die  Natur  und  ihre  Bildungen  reflektierende 
Naturphilosophie  kann  gar  nicht  umhin,  der  Betrachtung  der  Natur 
Ideen  zu  Grunde  zu  legen.  So  entschieden  Kant  daran  festhält,  dass  die 
Natur^vissenschaft,  die  Physik,  allein  mit  gesetzmässig  wirkenden 
Kräften  operieren  darf,  ebenso  entschieden  behauptet  er  andererseits, 
dass  die  Natur  für  unser  Denken  nicht  in  Phvsik  aufgeht. 

Es  sind  zunächst  die  organischen  Erzeugnisse  der  Natur,  die 
nicht  in  einer  rein  mechanischen  Erklärung  aufgehen  wollen.  „Es 
ist  ganz  gewiss,  dass  wir  die  organisierten  Wesen  und  deren  innere 
Möglichkeit  nach  bloss  mechanischen  Prinzipien  der  Natur  nicht  ein- 
mal zureichend  kennen  lernen,  viel  weniger  uns  erklären  können, 
und  zwar  so  gewiss,  dass  man  dreist  sagen  kann :  es  ist  für  Menschen 
ungereimt,  auch  nur  einen  solchen  Anschlag  zu  fassen,  oder  zu 
hoifen.  dass  noch  dereinst  ein  Newton  aufstehen  könne,  der  auch 
nur    die  Erzeugung    eines  Grashalms  nach  Naturgesetzen,    die  keine 


Kants  Verhältnis  zur  Metaphysik.  423 

Absicht  jiH'oninet  hat,  begreiflich  machi-n  werde";  wir  können 
„nach  der  Beschaffenheit  unserer  Krkenntnisvermü'ren,  also  in  Ver- 
bindung der  Erfahrung  mit  den  obersten  Prinzipien  der  N'ernunlt, 
uns  schlechterdings  keinen  Begriff  von  der  Möglichkeit  einer  solchen 
Welt  machen,  als  so,  dass  wir  uns  eine  absichtlich-wirkende 
oberste  Ursache  derselben  denken"  (§  75).  Das  ist  kein  Beweis 
für  die  „objektive  Existenz"  einer  solchen  Ursache,  eines  ausser  der 
Welt  existierenden  ..verständigen  Wesens"  oder  „Kunstverstandes"; 
wir  haben  von  ihm  keine  wissenschaftliche  Erkenntnis,  denn  wir 
können  diesen  Verstand  und  seine  Thätigkeit  nicht  in  der  Anschauung 
darstellen:  aber  es  bleibt  gleichwohl  ein  notwendiger  Gedanke. 
Und  an  der  Notwendigkeit  dieses  Gedankens  würde  es  auch  nichts 
ändern,  wenn  man.  mit  der  Evolutionstheorie,  alle  organischen  Wesen 
aus  einfachsten  Urformen  durch  Umbildung  hervorgehen  Hesse:  man 
müsste  dann,  um  die  Entstehung  jener  ersten  Urformen  denkl)ar  zu 
machen,  dem  Mutterschoss  der  Erde,  aus  dem  diese  hervorgingen, 
„eine  auf  alle  diese  Geschöpfe  zweckmässig  gestellte  Organisation 
beilegen,  widrigenfalls  die  Zweckform  der  Produkte  des  Tier-  und 
Pflanzenreichs    ihrer    Möglichkeit    nach    gar    nicht    zu    denken    ist"' 

Also  für  uns  ist  es  unvermeidlich  zu  denken,  dass  die  Gestalt  der 
Dinge  zuletzt  in  einem  Verstand  ihren  Grund  hat.  Dabei  bleibt  es  die 
Aufgabe  unserer  wissenschaftlichen  Forschung,  mit  der  Er- 
klärung durch  rein  physikalische  Kräfte  soweit  vorzudringen,  als  es 
inuner  möglich  ist.  Eine  rein  kausale  Erklärung  ist  auch  nicht  für 
objektiv  unmöglich  zu  halten,  sie  mag  für  einen  absoluten  Verstand 
möglich  sein;  nur.  für  unseren  \'erstand  geht  die  physikalische 
Erklärung  niemals  ohne  Rest  auf.  Darüber  soll  sich  der  Natur- 
forscher nicht  täuschen,  sonst  wird  er  mit  Lucrez  zum  dogmatischen 
Materialisten,  der  die  Zweckbetrachtung  als  absolut  unangemessen 
verwirft  und  sich  damit  auch  eines  wichtigen  heuristischen  Hilfs- 
mittels der  Forschung  im  Gebiet  der  Lebenserscheinungen  beraul)t: 
das  teleologische  Verständnis  der  Organisation  führt  auch  auf  die 
physikalische  Erklärung. 

So  weist  also  die  Natur,  wie  durch  die  Hervorbringung  des 
Schönen  in  Natur  und  Kunst,  so  auch  durch  die  organischen  Bildungen 
über  sich  hinaus  auf  einen  Grund  ihres  Daseins,  den  wir  nicht 
anders  denken  können  als  ein  Wesen,  das  nach  einer  Idee  des 
(Ganzen  die  Teile  verknüpft.  Wir  können  diesen  Gedanken  nicht 
umsetzen    in  Anschauung,    nicht    in   möglicher  Erfahrung   darstellen; 


424 


FritMiricli  raulson, 


und  so  hlrilit  für  iiiis  die  plivsikalisohe  KrklJinmjr  die  (Mfrcntiioho 
Form  der  NvissiMisidiaftliolieu  Krkt'uiitnis  und  die  tdcoloirisclie  Aui- 
fassunjr  ciiu'  blosse  Form  der  l^dicxion.  Dcimocli  ist  diese  ni(dit  wcni^'er 
notwendiiT  fllr  unser  I)eid\t'n;  und  wenn  wir  nun  aueh  nicht  imstande 
sind,  diese  beiden  rrin/.ijiiei'  neben  eiMandcr  do^matiseb  in  der  Kr- 
kläruuir  der  Krseheinunjren  dureh/.uliiliren,  so  hiiulert  uns  dotdi  nichts, 
den  (Jruiid  hciiler  ins  l'bersinnliche  /u  setzen  und  sie  hii-r  als  (d)jektiv 
vereinliar  /u  dcid^rn.  „Das  Trin/ip.  welches  die  N'ereinltarkcit  Iteider 
in  Hcurteilunj:-  der  Natur  mö<ilicli  machen  soll,  muss  in  das.  was 
ausserhall)  beider,  mithin  auch  ausser  der  müi,di('hen  empirischen 
Naturvorstelluni;-,  lieu't.  von  dieser  al)er  doch  den  (irund  eiithillt, 
d.  i.   ins   rbersinnliche  gesetzt  werden"  (i^  71)). 

Die  Naturphilosophie  führt  so  notwendif::  zu  einer  Art  Physiko- 
theolojrie;  sie  führt  uns  auf  den  (Tedanken  eines  Grundes  der 
Natur,  in  dem.  was  l'iir  unser  Denken  als  kausale  Erklärun<i'  und 
teleolog:ische  Auflassunji-  auseinander  bleibt,  in  Eins  zusammenfällt. 
Für  einen  intellectus  archetypus,  der  durch  sein  Denken  die  Dinj^e 
setzt,  giebt  es  keinen  Unterschied  der  teleologischen  und  kausalen 
Betrachtung:  sie  sind  mit  einander  in  der  gedankenhaften  Beziehung 
aller  Momente  zum  Ganzen  gesetzt:  keine  Zusammensetzung  des 
Gedankens  aus  Teilen  und  keine  hinterher  kommende  äusserliche 
Verwirklichung  des  vorher  bloss  gedachten.  Im  mathematischen 
Denken  haben  wir  ein  Denken,  das  wir  als  Gleichnis  eines  solchen 
absoluten  Denkens  ansehen  mögen:  wie  wir  hier  Kaumgebilde  durch 
das  Denken  hervorbringen  und  damit  zugleich  die  unendlichen  Be- 
ziehungen zwischen  ihnen  setzen,  die  der  Verstand  nachher  zu  seiner 
eigenen  \'erwunderung  in  den  geometrischen  Figuren  entdeckt  und 
zugleich  als  notwendig  und  auch  in  gewisser  Weise  als  zweckmässig 
empfindet,  so  bringt  der  göttliche  Verstand  die  Wirklichkeit  in  ihrer 
intelligiblen  Gestalt  hervor,  die  uns  in  der  Natur  in  ihrer  phäno- 
menalen Gestalt  vorliegt.  In  den  Organismen  schimmert  jene  ur- 
sprüngliche gedankenhafte  Einheit  des  Ganzen  und  der  Teile  durch ; 
sie  wollen  eben  darum  nicht  in  eine  Erklärung  aufgehen,  die  das 
Ganze  aus  den  Teilen  zusammensetzt.  Die  Organismen  aber  sind 
Avieder  so  mit  dem  Ganzen  der  Erde,  ja  des  kosmischen  Systems, 
das  wir  kennen,  verknüpft,  dass  wir  dann  nicht  umhin  können,  sie 
als    in    einem   einheitlichen   Gedanken   gesetzte   Momente   anzusehen. 

In  dem  letzten  Abschnitt  der  Kritik  der  Urteilskraft,  der  auch 
als  Anhang  bezeichneten  „Methodenlehre'-  zieht  Kant  dann  \'erbindungs- 
linien  zwischen    der  teleologischen  Naturphilosophie   und  der  Moral- 


Kants  Verhältnis  zur  Metaphysik.  425 

theologie.  Das  einzige  Wesen  in  der  Welt,  das  wir  als  absoluten 
Zweck,  als  Eud/weck  l)etrac'hten  können,  ,.ist  der  Mensch  als 
Noumenon;  er  ist  auch  das  einzig:e  Natunvesen.  an  welchem  wir 
ein  übersinnliches  Vermögen  (die  FreiheitJ  und  sogar  das  Gesetz 
der  Kausalität  samt  dem  Objekte  derselben,  welches  es  sich  als 
höchsten  Zweck  vorsetzen  kann  (das  höchste  Gut  in  der  Welt),  von 
Seiten  seiner  eigenen  Beschafl'euheit  erkennen  können."  „Wenn  nun 
Dinge  der  Welt,  als  ihrer  Existenz  nach  abhängige  Wesen,  einer 
nach  Zwecken  handelnden  obersten  Ursache  bedürfen,  so  ist  der 
-Mensch  der  Schöpfung  Endzweck''  (§  84). 

Das  ist  der  Gedanke,  den  die  j)raktische  Vernunft  uns  auf- 
nötigt. Sie  giebt  auch  erst  dem  Gedanken  des  schöpferischen  Ur- 
wesens,  das  als  Verstand  anzunehmen  uns  die  teleologische  Reflexion 
über  die  Natur  anleitete,  seine  definitive  Gestalt;  sie  giebt  ihm  erst 
die  moralischen  Prädikate,  wodurch  es  Gott,  das  ist  Gegenstand  der 
Keligioii  wird.  Blosse  Physikotheologie  ..kann  den  Begriff  einer  ver- 
ständigen Weltursache  als  einen  subjektiv  für  die  Beschaffenheit 
unseres  Erkenntnisvermögens  allein  tauglichen  Begriff'  von  der  Mög- 
lichkeit der  Dinge  rechtfertigen,  aber  diesen  Begriff"  weder  in  theo- 
retischer noch  praktischer  Absicht  weiter  bestimmen";  sie  kann  nicht 
einmal  die  Einheit  dieser  „verständigen  Weltursache''  sicher  stellen,  noch 
viel  weniger  die  moralischen  Eigenschaften  einer  Gottheit  ausmachen. 
Das  vermag  allein  die  Moraltheologie,  die  sich  auf  die  praktische 
\  ernunft    und    ihren   notwendigen  Begriff   vom    höchsten  Gut  stützt. 

Dennoch  ist  auch  die  Physikotheologie  nicht  wertlos;  als  Vor- 
bereitung (Propädeutik)  zur  Theologie,  die  freilich  der  Hinzukunft 
des  anderen  Prinzips  bedarf,  behält  sie  ihre  Bedeutung.  Sie  kann 
durchaus  nicht  das  Dasein  Gottes  beweisen.  Das  war  das  vermessene 
l'nternehmen  der  alten  Physikotheologie,  sie  wollte  Gottes  Allmacht, 
Weisheit  und  Güte  aus  der  Natur  beweisen.  Aber  dazu  reicht 
unsere  Teleologie  von  Feme  nicht  zu;  unsere  Kenntnis  der  Natur 
ist  auf  ein  verschwindend  kleines  Gebiet  eingeschränkt;  und  auch 
innerhalb  dieses  Gebiets  können  wir  die  Thatsachen  durchaus  nicht 
alle  unter  jenen  Gesichtspunkt  bringen,  wir  können  nicht  die  zahl- 
losen Formen  des  organischen  Lebens  als  notwendige  Glieder  eines 
Kelches  der  Zwecke  darstellen;  nicht  einmal  für  die  Thatsachen 
der  Anthropologie  und  der  Menschheitsgeschichte  gelingt  uns  dies. 
Dennoch  aber  bleibt  die  Physikotheologie  als  Naturteleologie  von 
Wert:  sie  schlägt  die  notwendige  Brücke  zwischen  Physik  und  Moral, 
zwischen  Physik    und  Theologie.     „Die  Urteilskraft    giebt    den  ver- 

KaatstudieD  IV.  28 


4-Jti 


Friedrich  PaulsiMi, 


mittclmleti  Hc^ritV    zwisclicn    ilciii    NaturlM>;j:rilV    und    doin    FitihcitK- 
liOirrilV.  der  (U-n  rberiraiii;  \()ii  dor  (u'si't/,miissi":k('it   iiiicli  dem  nstcn 
y.nni    Kiul/wrck    nach    di-ni     lot/tm     in(»irlii'li     iiinclit.     in    tlcm    l't'jiiill 
einer  ZuoeUniiissiiik  eit  der  Natur  an  die  llaiui;   denn  dadiircli  wird 
die  Möjrlichkeit  des  Knd/wccks,   der  allein  in  der  Natur  und  udt  Kin- 
-tinnnunir  ihrer  (ieset/e  wirklich  wj'rden  kann,  erkannt"  (  F.inleitunf;'  IX). 
Ks  ist  bemerkenswert,   wie   Kant  von  dem   physikotheolo^i-ischen 
iieweis  für  das  Dasein  Gottes   stets    mit  Aclitunfr    redet.      Der    onto- 
lo^ische  und   kosmoloj^ische   Beweis  sind   ihm  blosse  Spit/tindijrkeiten 
eines  scholastisch  grübelnden  Verstandes;   dieser  daf^ejren  ist,  wie  es 
in    der   Kr.   d.   r.   \.   heisst,    nicht    nur  der  älteste,    kläreste   und    der 
jrenieinen  Menschenvernunt't  anjreniessenste  Beweis,   er   ist  auch  ver- 
nunftiremäss  und   nützlich,    verdient  Empfehlung;-    und  Aufmunterunf?; 
seinem  Ansehen  etwas  entziehen  zu  wollen,  würde  nicht  allein  trost- 
los, sondern   auch    iranz   umsonst   sein.     ..Die  Vernunft    kann    durch 
keine  Zweifel   subtiler,    abgezogener   Spekulation    so   niedergedrückt 
werden,    dass   sie   nicht   aus   jener   grüblerischen    IJnentschlossenheit, 
gleich  als  aus  einem  Traum,    durch    einen  Blick,    den    sie    auf   die 
Wunder  der  Natur  und   die  Majestät    des  Weltbaus    wirft,    gerissen 
werden  sollte,   um  sich  von  Grösse  zu  Grösse  bis  zur   allerhöchsten, 
vom  Bedingten  zur  Bedingung  bis    zum    obersten    und    unbedingten 
Urheber    zu    erheben.-'     Ebenso    in    der  Kr.   d.  U. :    „Das    aus    der 
physischen    Teleologie    genommene    Argument    i.st    verehrungswert. 
Es  thut  gleiche  Wirkung  zur  Überzeugung    auf  den   gemeinen  Ver- 
stand als  auf  den   subtilsten  Denker;    und    ein  Reimarus    in   seinem 
noch   nicht  übertroffenen  Werk,    worin    er    diesen  Beweisgrund    mit 
der  ihm  eigenen  Gründlichkeit  und  Klarheit  weitläufig  ausführt,  hat 
sich  dadurch    ein    unsterbliches  Verdienst  erworben."     Der  physiko- 
theologische    Beweis    ist    zur    Grundlage    des    religiösen    Glaubens 
durchaus  nicht  ausreichend;    dazu  taugt  allein   der    moralische,    der 
auch  an  sich  schon  ausreichend  wäre.    „Dass  aber  in  der  wirklichen 
Welt  für    die    vernünftigen  Wesen    reichlicher  Stotf    zur    physischen 
Teleologie    ist.    dient    dem    moralischen    Argument    zu    erwünschter 
Bestätigung,  soweit  Natur  etwas  den  Vernunftideen  (den  moralischen) 
.analoges  aufzustellen  vermag.     Deim  der  Begriff  einer  obersten  Ur- 
sache, welche  Verstand  hat,  bekommt  dadurch  die  für  die  reflektierende 
Urteilskraft  hinreichende  Realität"  (Schlussbemerkung).^) 


1)  Ich  freue  mich,  mit  den  von  A.  Dorner  in  dem  vorhergehenden  Heft 
dieser  Studien  dargelegten  Gedanken  über  die  Kritik  der  Urteilskraft  in  vielen 
Stücken  übereinzustimmen. 


Kants  Verhältnis  zur  Metaphysik.  427 

Endlich  weist  auch  Kants  Hpisteniolojirie.  wenn  wir  mit 
diesem  \\'()rt  seine  Grdanken  üher  Zi(d  und  F'orm  alles  wissenschaft- 
lichen N'ernunl't^ehrauchs  bezeichnen  dürfen,  in  dieselbe  liichtunfr: 
die  Idee  eines  vollkommenen  Systems  wissenschaftlicher  P>keniitnis 
hat  zur  Voraussetzung:,  dass  die  Wirklichkeit  selbst  in  einem  all- 
umfassenden Verstände  fi-egrümlet  ist.  Der  ,, Anhang-  zur  trans- 
scendentalen  Dialektik"  führt  diese  Betrachtung:  aus:  sein  Inhalt  ist 
eig:entlich  die  positive  Kehrseite  zur  Dialektik;  hat  diese  g-ezeig-t,  dass 
den  Ideen  der  spekulativen  \'ernunft  objektive  Realität  in  demselben 
Sinne  wie  den  Kateg-orien  nicht  verschafft  werden  kann,  so  zeig:t  der 
Anhang:,  dass  sie  dennoch  als  ..reg-ulative  Prinzipien"  des  Verstandes- 
gebrauchs notwendige  und  g-ültig:e  Elemente  unseres  Denkens  sind. 
Im  l)esoiideren  gilt  dies  von  der  theologischen  Idee:  sie  hat  einen 
„vortrert'liehen  und  unentbehrlich  notwendigen  regulativen  (rebraucb. 
nändich  den  N'erstand  zu  einem  gewissen  Ziel  zu  richten,  in  Aus- 
sicht auf  welches  die  Kichtungslinien  aller  seiner  Kegeln  in  einem 
Punkt  zusammenlaufen,  der,  ob  er  zwar  nur  eine  Idee  (focus  imagi- 
narius)  ist.  .  .  .  dennoch  dazu  dient,  ihnen  die  grösste  Einheit  neben 
der  grössten  Ausbreitung  zu  scharten.*' 

Die  Idee,  welche  sich  die  Vernunft  von  dem  Ganzen  wissenschaft- 
licher Erkenntnis  macht,  ist  die  eines  einheitlichen  logischen  Systems, 
worin  aus  einem  Prinzip  der  ganze  Inhalt  der  Erkenntnis  in  kontinuier- 
licher Ableitung  folgt.  Die  philosophischen  Systeme  sind  so  viele 
Versuche,  die  Idee  zu  realisieren,  Spinozas  Ethik  ein  typisches  Bei- 
spiel. Aber  auch  die  Einzelwissenschaften  legen  thatsächlich  diese 
Idee  als  regulatives  Prinzip  zu  Grunde:  so  in  dem  Bestreben  der 
Physik,  die  verschiedenen  Erscheinungen  auf  gleiche  Grundkräfte, 
die  verschiedenen  Kräfte  wieder  auf  eine  einzige  abs(dute  (rrund- 
kraft.  oder  in  dem  Bestreben  der  Chemie,  die  verschiedenen  Formen 
der  Materie  auf  gewisse  Grundformen  und  zuletzt  auf  eine  einzige 
zurückzuführen.  Ebenso  streben  die  klassifizierenden  Naturwissen- 
schaften, wie  Zoologie  und  P)Otaiük,  nach  der  Darstellung  aller 
Formen  in  einem  einheitlichen,  logisch  gegliederten  System  von 
Arten  und  Unterarten.  In  drei  Prinzipien  fasst  Kant  die  Forderung 
der  absoluten  Vollkommenheit  des  logischen  Systems,  welche  die 
N'ernunft  dem  \'erstande  auferlegt:  die  Prinzi|)ien  der  Ilomogeneität, 
der  Spezifikation,  der  Kontinuität  der  Formen;  das  erste  hält  auf 
Zusammenfassung  des  Mannigfaltigen  unter  höhere  Gattungsbegrifle, 
das  zweite  auf  Spaltung  in  immer  weiter  determinierte  Unterarten, 
das    dritte    auf    Erfüllung    des    Raums    zwischen     den    Arten    durch 

üb* 


4-JN 


Fr i 0(1  rieh   Tau  1  jscti, 


hc^'Hn 


Zwisi'licimrtt'ii.  (iainit   kein   lo^^isi'licr  (Icluilt  der  W'irUlicIikcit 
lieh   uii^ri'lasst   lilcilic. 

Diese  reine  \ Cnumrtidee  erhält  dann  in  dein  zweiten  Altsclinitt 
des  Aidiani:s  ihre  ..transseendentale  Deduktion",  soweit  solche  niöi:- 
lieh  ist.  Die  \  oransset/unj;  der  Kealisierunii-  jener  Idee  der  Wissen- 
soliatt  als  eines  [(irischen  Systems  ist  die:  dass  die  Wirklichkeit  an 
sich  seihst  iDjrisch  ist,  um!  das  wird  der  Fall  sein,  wenn  sie  Produkt 
eines  Nerstandos  ist.  l'nd  das  wäre  also  die  XOraussetzunji',  wenn 
nicht  lllr  die  Möglichkeit  der  JCrlahrun^  iil)erhaui)t.  so  doch  für  die 
Möirliehki'it  der  Erfahrung-  in  Jenen)  höchsten  Sinn,  wie  sie  durch 
die  Idee  eines  vollendeten  wissenschaftlichen  Systems  hezeichnet  ist: 
dass  die  Wirklichkeit  selbst  als  Befrrirtssysteni  durch  einen  absoluten 
N  erstand  g:esetzt  sei.  Natürlich  kann  ein  solcher  \erstand  nicht  in 
der  Erfahrunj;:  acegeben  werden,  er  ist  selbst  eine  blosse  Idee.  Doch 
bin  ich  durch  die  \ Cruunft,  die  /.um  grösstmöf^lichen  eni])irischen 
Gebrauch  des  \'erstandes  mich  verbindet,  befujjt,  diese  Idee  „als 
auch  objektiv  und  hypostatisch  anzunehmen'';  ich  werde  mir  also 
ein  Wesen  als  „selbständige  Vernunft,  was  durch  Ideen  der 
irrössten  Harmonie  und  Einheit  Ursache  vom  Weltf>-anzen  ist,  denken 
können,  um  unter  dem  Schutz  eines  solchen  Urgrundes  systematische 
Einheit  des  Mannigfaltigen  im  Weltganzen  und,  vermittelst  derselben, 
den  grösstmöglichen  empirischen  A'ernunftgebrauch  möglich  zu  machen, 
indem  ich  alle  Verbindungen  so  ansehe,  als  ob  sie  Anordnungen 
einer  höchsten  Vernunft  wären,  von  der  d'w.  unsrige  ein  schwaches 
Nachbild  ist."  —  —  ,.Die  grösste  systematische,  folglich  auch  die 
zweckmässige  Einheit  ist  die  Schule  und  selbst  die  Grundlage  der 
Möglichkeit  des  grössten  Gebrauchs  der  Menschenvernunft.  Die 
Idee  derselben  ist  also  mit  dem  Wesen  unserer  Vernunft  unzertrenn- 
lich verbunden.  Eben  dieselbe  Idee  ist  also  für  uns  gesetzgebend, 
und  so  ist  es  sehr  natürlich,  eine  ihr  korrespondierende  Vernunft 
(intellectus  archetypus)  anzunehmen,  von  der  alle  systematische  Ein- 
heit der  Natur,  als  dem  Gegenstande  unserer  Vernunft,  abzuleiten 
sei.''  — 

Nach  allem  wird  es  ja  wohl  nicht  zweifelhaft  sein,  dass  Kant 
sich  über  das  Jenseits  der  Erscheinungswelt  Gedanken  gemacht  hat, 
Gedanken,  die  er  auch  durchaus  nicht  als  beliebige  subjektive  Ein- 
fälle oder  blosse  Privatmeinungen,  sondern  als  notwendige, 
durch  die  Natur  der  Vernunft  selbst  gegebene  Gedanken 
angesehen  haben  will.  Ein  nach  Begriffen  schaffender  Verstand, 
ein  intellectus  archetypus,  der  unserem  nachdenkenden  Verstand 


Kants  Verhältnis  znr  Metaphysik.  429 

vorfredacht  hat,  das  ist  die  Voraussetzunji-  über  den  letzten  Grund 
der  Dinge,  auf  die  wir  durch  alle  unsere  wissenschaftliche  Krkcnnt- 
nis,  durch  Logik,  Ästhetik,  Naturphilosophie  und  Oeschichts- 
philosophie  hinjrewiesen  werden.  Das  ist  die  ..Metajjhysik",  wie 
sie  die  spekulative  Vernunft  rein  aus  sich  selber  hervorbringt. 

Wohl  /AI  unterscheiden  von  der  Metaphysik  ist  die  Religion. 
Religion  kann  die  spekulative  Vernunft  als  solche  überhaupt  weder 
hervorbringen  noch  begründen.  Religion  ist  Sache  eines  .praktischen 
Glaubens",  nicht  des  spekulativen  Denkens.  Das  „Urwesen*',  worauf 
dieses  führt,  ist  als  solches  noch  durchaus  kein  Gegenstand  religiöser 
\'erehrung;  es  ist  nichts  als  ein  erstaunlicher  „Kunstverstand".  Zur 
(iottheit  wird  das  Urwesen  erst  durch  die  moralischen  Prädikate 
der  Weisheit  und  Güte.  Und  die  verschaff't  ihm  allein  die  praktische 
Vernunft,  nicht  durch  spekulatives  Denken  über  die  Thatsachen. 
sondern  durch  ,, Forderungen*',  die  sie  als  unnachlassliche  erhebt. 
Und  zugleich  wird  hierdurch  die  objektive  Realität  der  Gottesidee 
ausser  Frage  gestellt.  ,,Die  Ideen  der  spekulativen  Vernunft  sind 
an  sich  noch  keine  Erkenntnis,  doch  sind  es  (transscendente)  Ge- 
danken, in  denen  nichts  Unmögliches  ist.  Nun  bekommen  sie 
durch  ein  apodiktisches  praktisches  Gesetz,  als  notwendige  Be- 
dingungen der  Möglichkeit  dessen,  das  dieses  sich  zum  Objekt  zu 
machen  gebietet,  objektive  Realität'*  (K.  d.  pr.  V.  Dial.  \'II), 

So  ist  also  der  Gotteshegriff  bestimmt  und  seine  Gültigkeit 
durch  unsere  Vernunft  vollkonmien  gesichert:  Gott,  die  Einheit  des 
Wirklichen  und  des  Guten;  die  Wirklichkeit  ursprünglich  durch  ihn 
gesetzt  und  durch  ihn  zum  absoluten  Endzweck  des  höchsten 
Gates  geführt.  Freilich,  wissenschaftliche  Erkenntnis  ist  das  nicht; 
weder  Gottes  Wesen  noch  seine  Wirksamkeit  ist  Gegenstand  rein 
theoretischer  Erkenntnis:  wir  können  nicht  sagen,  was  Gott  an  sich 
selbst  ist,  sondern  nur:  als  was  unsere  Vernunft  ihn  durch  ihr 
Wesen  selbst  zu  denken  genötigt  ist.  Und  noch  weniger  können 
wir  Gottes  Wesen  und  Wirksamkeit  als  wissenschaftliches  Erklärungs- 
]irinzip  in  der  Natur  und  Geschichte  brauchen:  weder  können  wir 
die  Erzeugnisse  der  Natur  für  Selbstzwecke  ansehen,  noch  können 
wir  darthun,  dass  sie  abgestimmte  Mittel  für  die  Entwicklung  des 
Wesens,  das  wir  allein  als  Selbstzweck  betrachten  können,  des 
Menschen,  sind.  Ja.  wir  können  im  Grunde  auch  nicht  einmal  das 
..Dasein  Gottes*',  die  ,, objektive  Realität**  des  Begrifl's  Gottes  dar- 
thun. wenn  wir  nämlich  darunter  dasselbe  verstehen,  was  wir  in 
der  Wissenschaft  sonst  darunter  verstehen:    den  Begriti'  in    der  An- 


430 


Kricil  lirli   I'huImmi. 


sriiauuliir  darstrllfii  Kiiic  ..schciiiatisi'lic  llypotyposi"'.  wie  sie  Itlr 
die  Katt'irorii'ii  möi:lii'li  ist.  ist  für  lilccii  illu-iliaiiiit  iiiHn(»;j,li('li.  Was 
allein  inüiilioli  ist,  das  isi  t'inr  ,.sy  mix»  lisclic  11  \  poty  posc",  rinc 
,, indirekte  Daistolhinir  des  HeiirilVs.  verniitlelst  einer  Analofri«'.  '/ai 
welelii-r  man  sirli  aiieli  t-mpirischer  Ansclianunizcn  bedient'*  (Kr.  d. 
U.  S.  ö»)). 

Kine  sidelie  symbolische  \Orstelliinj:'  ^(ln  (iott.  eine  \ Crsinn- 
lii'luniir  der  Idee  (iottes  dnridi  Attribute  menscldicdien  Wosens.  als 
da  sind  \  erstand.  Wille,  Weisheit,  (TÜte,  ist  nun  freilich  uincrnn'id- 
lioh  und  vülli«:'  berechtig't.  In  allen  drei  Kritiken  und  den  Trole- 
iromeuen  dazu  läuft  die  Behandlung;  des  Gottesbejrrilf-^  hierauf  zuletzt 
hinaus,  auf  einen  ,,sy rabolisehen  Anthroponiorphismns''.  Mit 
diesem  reg:elmässig:  wiederkehrenden  Heiirifl'  hat  Kant  in  Sachen  der 
Weltanschauunii'  sein  letztes  Wort  gesprochen:  ein  Theismus  in  der 
Form  eines  symbolischen  Anthropomorphismus,  das  ist  die 
vernunftiremässe,  die  für  Menschen  notwendige  Form  des  Denkens 
über  die  Welt  überhaupt. 

Wir  können  nun  die  ganze  Kantische  Gedankenbildung  in  eins 
zusammenfassend  so  darstellen. 

Wie  unser  Verstand  sich  notwendig  in  die  Wirklichkeit  hinein- 
legt, indem  er  durch  seine  Begriffe,  die  Kategorien,  die  Gegen- 
stände bestimmt  oder  eigentlich  ihrer  Form  nach  hervorbringt,  so 
trägt  auch  unsere  Vernunft  sich  selbst  in  die  Welt  hinein  und  fasst 
sie  als  Ganzes  durch  ihre  Ideen  als  ein  in  Vernunft  gegründetes 
einheitliches  logisch-teleologisches  System.  Die  kritische  Philosophie 
aber  ist  nichts  anderes,  als  die  systematische  Aufdeckung  dieses 
Sachverhalts:  sie  erkennt,  was  die  alte  Metaphysik  als  ontologische 
Bestimmungen  der  Dinge  selbst  fasste,  als  die  Kategorien  unseres 
Verstandes;  sie  erkennt  ebenso,  was  die  alte  Metajjhysik  in  der 
rationalen  Psychologie,  Kosmologie  und  Theologie  als  abso- 
lute Bestimmungen  der  Wirklichkeit  selbst  ansah,  als  Ideen  unserer 
\'ernunft.  Aber  so  wenig  sie  dort  darauf  ausgeht,  die  Kategorien 
als  ungültige,  bloss  subjektive  Begrift'e  darzuthun,  so  wenig  will 
sie  hier  die  Ideen  als  bloss  subjektive,  und  darum  ungültige 
Gedanken  zu  nichte  machen.  Vielmehr,  wie  sie  dort  eben  auf  die 
Subjektivität  und  Apriorität  der  Kategorien  die  Möglichkeit  der  Er- 
fahrung, und  dandt  die  objektive  Gültigkeit  des  A'erstandesbegrift's 
gründet,  so  will  sie  hier  auf  die  Subjektivität  und  Apriorität  der 
Ideen  die  Möglichkeit  der  Metaphysik  gründen:  wie  die  Form  des 
mundus  sensibilis  nicht  durch  zufällige  Erfahrungen,    sondern    durch 


Kants  Verhältnis  zur  Metaphysik.  431 

die  Natur  unseres  Verstandes  absolut  sicher  hestinimt  ist,  so  ist 
auch  unser  Denken  des  mundus  iutelligHtilis  nicht  durch  /utallige 
Krtahruniren,  sondern  durch  die  Natur  unserer  \ernunft  für  uns 
absolut  sicher  bestimmt.  Der  Anthropomorphismus  unserer  VVelt- 
anschai>ung  ist  so  notwendijr,  als  der  Anthropomorphismus  unserer 
Naturaurtassung:.  Vernichtet  er  hier  nicht  die  Physik,  so  dort  nicht 
die  Metaphysik,  sondern  ist  vielmehr  ihre  Unterlage.  Wobei  denn 
allerdings  ein  Unterschied  ist:  die  Physik  ist  wissenschaftliches  Er- 
kennen, die  Metaphysik  vernunftgemässes  Denken;  dort  haben  wir 
es  mit  unseren  Empfindungen  und  Wahrnehmungen  zu  thun,  die  wir 
durch  unsere  Denkfunktion  bestimmen,  hier  haben  wir  es  mit  den 
Dingen  an  sich  selbst  zu  thun,  die  durch  unsere  Gedanken  nicht 
bestimmt  werden;  was  wir  bestimmen  können,  sind  nur  unsere 
Gedanken  über  die  Welt,  nicht  die  Welt  an  sich  selbst;  aber  die 
Gedanken  sind  nettwendig  bestimmt,  nämlich  durch  \'ernuiiftideen.  — 

Ich  habe  dieser  Darstellung  mit  Absicht  nur  die  Schriften  zu 
Grunde  gelegt,  die  Kant  selbst  als  Darstellungen  seiner  neuen,  der 
kritischen  Philosophie  veröffentlicht  hat,  weil  mir  vorgehalten  worden 
ist.  dass  alles  unsicher  werde,  wenn  man  Nachschriften  nach  Vor- 
lesungen und  undatierte  Notizen  als  Quellen  benutze.  Ich  meine,  auch 
aus  den  Kritiken  und  zwar  aus  allen  drei  Kritiken,  nicht  bloss  der 
der  Urteilskraft,  sondern  ebenso  der  Kr.  d.  r.  V.  und  den  Prole- 
gomenen,  geht  auf  das  Unzweideutigste  hervor,  dass  Kaut  an  der 
Möglichkeit  und  Notwendigkeit  einer  Metaphysik  festhielt:  zwar  nicht 
der  Metaphysik  im  alten  Sinn,  als  einer  der  Physik  koordinierten 
Wissenschaft,  die  aus  reinen  Begriffen  das  Wesen  der  Objekte  Gott 
und  Seele  bestimmt,  sondern  als  einen  Inbegriff"  notwendiger,  freilich 
nicht  in  der  Anschauung  darstellbarer  Gedanken  über  die  Wirklich- 
keit an  sich  selbst. 

Ich  darf  nun  doch  daran  erinnern,  dass  eben  diese  Gedanken 
uns  auch  aus  der  vorkritischen  Periode,  aus  den  Schriften  der  (JOer 
Jahre,  wohl  bekannt  sind,  als  Gedanken,  für  die  er  eine  vernunft- 
mässige  Notwendigkeit  in  dem  ,.Einzig  möglichen  Beweisgrund"'  (17H3i 
noch  im  Sinne  der  alten  Metaphysik  aufzuzeigen  versuchte,  in  den 
„Träumen  eines  Geistersehers"  (1  ?()(;)  linden  zu  können  verzweifelte, 
in  der  Dissertation  von  177()  in  einer  neuen  Form  wieder  in  der 
Hand  zu  haben  glaubte,  diesmal  schon  mit  der  Wendung  zum 
Kritizismus.  Man  sieht,  es  sind  beharrliche  Elemente  von  Kants 
Gedankenbildung.  Sie  sind  auch  in  der  kritischen  Periode  nicht 
verschwunden,  wie  es  denn  doch  überhaupt  eine  seltsame  Vorstellung 


432  Friedrich  rmilsiMi. 

ist.  dass  ein  Mann  im  \llcr  \on  .'lO  .laliion  alles,  \n;is  er  hislicr 
i;t'(lai'ht.  V(Hi  sK'li  jriMVDrfcii  lialio;  man  darf  wohl  sa{;iMi:  ein  iilicr- 
liaupt  uinniifriii'iuT  N'orjranir.  Was  niiticiich  ist.  das  ist,  das8  die  alten 
(Jedaid<.en  eine  neue  Wenduni::  erhalten,  mit  einem  neuen  Vorzeichen 
auftrelen.  l'nd  so  iresehieht  es  hier:  in  der  kritischen  I'liilosophie 
erscheinen  Jene  (bedanken  in  der  endlieh  nach  vielen  ,.l!nd<ii)i)unj:;en" 
irefundenen  delinitiven  Korm:  als  notwendijre  V  e  rnunltideen, 
die  nicht  die  Erscheinunnswelt,  aher  unser  lieflektieren  über  die  Welt 
notwendiiT  hi'stinnnen  und  durch  die  praktische  Vernunft  letzte  Ausire- 
staltunir   und  (iarantie  ihrer  (iiiltiirkeit  erhalten. 

Freilich,  diese  Gedankeu  stehen  nielit  am  Einfcanj;:  der  Kr.  d. 
r.  \.;  sie  sind  überhaupt  in  den  kritischen  Schriften,  wie  sie  vor- 
lieireu,  uirijends  in  vollständigem  Zusannnenhang,  sondern  zerstreut 
und  andeutunirsweise  ausgeführt,  ol)wohl  Kant  sie  schon  zur  Zeit, 
als  er  die  Kritik  d.  r.  V.  schrieb,  vollständig;  beisammen  hatte:  es 
ist,  ich  wiederhole  es,  eine  vollständig  unbegründete  Vorstellung,  dass 
die  Gedanken,  die  in  den  beiden  folgenden  Kritiken  besonders  in 
der  K.  d.  U.  ausgeführt  sind,  ihm  erst  nachträglich  gekommen  seien. 
Doch  sind  diese  Gedanken  auch  so  hinlänglich  deutlich  ausgeführt, 
um  über  ihren  Sinn  keinen  Zweifel  zu  lassen,  hinlänglich  deutlich 
auch,  um  die  wesentliche  Gleichheit  der  Gedanken  mit  denen,  die  er 
in  den  Vorlesungen  über  Metaphysik  vortrug,  erkennen  zu  lassen. 
Hätte  Kaut  sein  Vorhaben,  der  Kr.  d.  r.  V.,  als  der  Propädeutik 
zur  Metaphysik,  diese  Wissenschaft  selbst  in  doktrinalem  Vortrag 
folgen  zu  lassen,  bald  nach  1781  ausgeführt,  so  würden  wir  ein 
System  der  Metaphysik  erhalten  haben,  das  über  Kants  Stellung  zu 
dieser  Wissenschaft  niemand  einen  Zweifel  gelassen  hätte.  Der  Schluss- 
abschnitt der  Kr.  d.  r.  V^,  die  Architektonik,  giebt  den  Bauriss  dafür, 
das  vollendete  System  der  Metaphysik  hätte,  abgesehen  von  der 
Metaphysik  der  Sitten,  zu  umfassen:  1.  die  Ontologie;  2.  die  rationale 
Physiologie,  mit  zwei  Teilen:  der  rationalen  Physik  und  der  ratio- 
nalen Psychologie;  3.  die  rationale  Kosmologie;  4.  die  rationale 
Theologie,  die  auch  als  transscendentale  Welterkenntnis  und  als 
transscendentale  Gotteserkenntnis  bezeichnet  werden.  Hiervon  ist  nur 
die  rationale  Physik  in  den  metaphysischen  Anfangsgründen 
der  Naturwissenschaften  ausgearbeitet  worden.  Das  Seitenstück,  die 
rationale  Psychologie,  fehlt  ganz;  von  den  beiden  letzten  Teilen  ist 
nur  in  der  K.  d.  U.  einiges  ausgeführt,  und  für  die  Ontologie  muss 
die  Analytik  eintreten. 

Die  Folge  davon,  dass  durch  die  Form  der  Kritik  die  Form  der 


Kants  Vorhiiltnis  z>ir  Metaphysik.  433 

Doktrin  beinahe  unterdrückt  worden  ist.  so  sehr,  dass  Kant  selbst 
am  Ende  die  Kritik  für  das  System  ausjrab,  ist  nun  die.  dass  mancher, 
die  unentwickelte  positive  Seite  der  Kantischen  Gedanken  übersehend, 
ihn  zum  blossen  Kritiker,  /.um  Zerstörer  der  Metaphysik,  ja  /.um 
Skeptiker,  zum  Patron  des  Agnostizismus  gemacht  hat.  In  der  katho- 
lischen Polemik  erscheint  er  regelmässig  in  dieser  Gestalt,  nur 
dass  der  Patron  des  Agnostizismus  hier  dann  zum  grossen  Protektor 
des  Unglaubens  wird.     Habent  sua  fata  libelli! 

Dass  Kant  damit  eine  ihm  durchaus  fremde  Stellung  aufgenötigt 
wird,  das  geht  aus  der  Stellung,  die  er  selbst  sich  im  Zusammenhang 
der  geschichtlichen  Entwicklung  giebt.  vielleicht  am  deutlichsten 
hervor.     Darum  hierüber  noch  ein  Wort. 

Wo  Kant  seine  Gedanken  durch  ihr  \'erhältnis  zu  den  vor  und 
neben  ihm  vorhandenen  Gedankenrichtungen  bezeichnet,  da  bestimmt 
er  regelmässig  ihren  Ort  durch  einen  doppelten  Gegensatz:  Dogma- 
tismus und  Skeptizismus,  seine  Philosophie  dagegen  Kritizismus. 

Der  Dogmatismus,  zunächst  durch  Leibniz-Wolt!"  repräsentiert, 
ist  allgemein  die  Philosophie,  die,  als  ancilla  theologiae,  die 
(Tlaubenswahrheiten,  wenigstens  die  allgemeinsten  Grundartikel.  Gott 
und  Unsterblichkeit,  durch  reine  \'ernunft  beweist,  wie  darin  die 
scholastische  Philosojjhie  vorangegangen  war.  —  Dem  gegenüber  ist 
Kants  Stellung  bestimmt:  er  hebt  das  Dienstverhältnis  zur  Theologie 
auf;  die  Vernunft  oder  die  Philosophie,  so  behauptet  er,  ist  zu  solcher 
Leistung  überhaupt  untauglich;  sie  kann  die  Glaubensartikel  der 
Religion  nicht  als  wissenschaftliehe  Wahrheiten  demonstrieren,  einfacb 
darum  nicht,  weil  sie  nicht  wissenschaftliche  Wahrheiten  sind.  Statt 
dessen  setzt  Kant  die  Philosophie  in  enge  Beziehung  zu  den  Wissen- 
schaften, freilich  nicht  in  ein  Verhältnis  der  Dienstbarkeit,  sondern 
eher  einer  Aufseherin:  sie  hat  die  Möglichkeit  der  wissenschaftlichen 
Erkenntnis  zu  zeigen  and  zugleich  ihre  Aufgaben  und  ihre  Grenzen 
zu  bestimmen,  sie  erhält  das  Censoramt  über  die  Wissenschaften. 

Der  Skeptizismus,  zunächst  zurch  Hume  repräsentiert,  ist  die 
Richtung,  die  auf  Vernichtung  zunächst  der  scholastisch-dogmatischen 
Philosophie,  dann  aber  darüber  hinaus  auf  die  Vernichtung  der 
Gegenstände  des  religiösen  Glaubens  selbst  ausgeht.  Die  Nichtigkeit 
der  Beweisgründe  wird  als  Beweis  für  die  Nichtigkeit  der  Sache  ge- 
nommen, der  sie  dienen  wollen.  Das  ist  wenigstens  die  Konsequenz, 
die  der  dogmatische  Unglaube,  wie  er  im  Systeme  de  la  iiature 
vorliegt,  aus  der  erkenntnistheoretischen  Kritik  Humes  zieht;  hier 
wird  die  sinnliche  Ansicht  der  Dinge  absolut  gesetzt    und  dann   das 


4H4  KritMlricli   l';iiils»>n. 

l  lM'r>>iniili('lif   »l()l;•lll;lti>^(■ll     u('l<'ii;:n('t.  l>('iii   i:('ir<'nill»t'i'    stellt    Kant 

tost:  jinie  Si-llistlx-siiiiiiinu'  weist  iiltrr  das  SiiinliclM'  auf  ein  1  Ikt- 
sinnlii'lu's  hinaus.  Die  \  ci  lumtt  /r'i'^X  aut  der  fiiicn  Si-itc  ilass  die 
(Mn|)irisclu'  Wisscnscliaft  seihst  nielit  aus  den  Sinnen  stannnt,  die  Kr- 
talirunfr  setzt  den  \ Crstand  voraus  ;  aut  der  andern  Seite,  dass  die 
Wissonsehat't  niemals  mit  etwas  anderem  als  mit  Krselieinunjren  /u 
tliun  hat.  jenseits  ihrer  also  die  Diimc  an  sich  seihst  lässt.  /u  denen 
es  dann  ein  anderes  N'erliältnis  als  durch  N\'issen  {jehen  niöjre.  Oder: 
Kant  l)i'wiMst  auf  der  einen  Seile  die  Müi;-lichkeit  eines  rationalen 
Wissens,  auf  der  anderen  die  eines  rationalen  (llauhens. 

Auf  diesem  dopiielten  (legensat/,  heruht  das  ei^-entümlich 
Schillernde  der  Kantischen  Philosophie;  ich  meine  das  nicht  im  Sinne 
des  Tadels,  es  ist  ein  notwendiges  optisches  Phänomen.  Träjrt  man 
Kants  Philosoj)hie  auf  den  llinterp-und  der  rationalistisch  -  dog- 
matischen Philosophie  auf.  dann  erscheint  sie  negativ-skeptisch;  trägt 
man  sie  auf  den  Hintergrund  der  empiristischen  oder  materialistischen 
Philosophie  auf,  daini  erscheint  sie  rationalistisch-idealistisch. 

Kant  selbst  dient  bald  der  eine,  bald  der  andere  Hintergrund 
als  rnterlage.  von  dem  sich  seine  Gedanken  abheben,  in  der  Analytik 
Hume.  in  der  Dialektik  Wolff.  Doch  ist  kein  Zweifel,  dass  er  selbst 
sein  Werk  vor  allem  auf  dem  Hintergrunde  der  negativen,  skeptisch- 
materialistischen  Philosophie  sah.  dass  er  sich  vor  allem  als  den 
t'berwinder  von  Huines  Zweifel,  als  den  Hersteller  der  i\löglichkeit 
eines  vernünftigen  Glaubens  gegen  das  Systeme  de  la  nature  be- 
trachtete. Was  den  anderen  Gegensatz  hervordrängte,  das  war  der 
Umstand,  dass  er  die  Wolffische  Philosophie  als  die  herrschende 
Sehulphilosophie  rings  um  sich  hatte;  hatte  er  doch  selbst  ihr  an- 
gehört. Dagegen  war  Hume  in  Deutschland  wenig  bekannt  und  noch 
weniger  ernst  genommen,  und  der  französische  Materialismus  war 
auch  kaum  als  wirkliche  Macht  vorhanden.  Kant  hatte  also  äussere 
Ursachen,  den  Abstand  gegen  Leibniz-Wolö"  stärker  zu  betonen;  von 
dieser  Seite  kamen  auch  die  Angriffe.  Dagegen  empfand  er  innerlich 
den  Gegensatz  gegen  die  andere  Seite  stärker:  der  Gegensatz  gegen 
Humes  Skeptizismus  hat  dem  Kationalismus  der  Analytik,  der  Gegen- 
satz gegen  den  Eudämonismus  dem  starren  Formalismus  der  Kr.  d. 
pr.  V.,  endlich  der  Gegensatz  gegen  Empirismus  und  Materialismus 
überhaupt  der  aprioristischen  Ästhetik  und  Teleologie  der  Urteilskraft 
ihre  Form  gegeben.  Und  der  Gegensatz  gegen  den  dogmatischen 
Atheismus  und  Materialismus  beherrscht  sein  ganzes  Denken. 

Bemerkenswert    ist   doch  auch  die    geschichtliche  Wirkung 


Kants  Verhältnis  znr  Metaphysik.  435 

von    Kants  Gedanken:    sie  brachten    die    rationalistiscli- idealistische 
Philosophie  Fichtes.  Schelling:s  und  Hegels  aus  sich  hervor;  und 
auch  Herhält  und  Schopenhauer  bleilien  noch  im  Ganzen  in  den 
Spuren  des  Idealismus  und  Apriorismus.     Krst  in  der  /weiten  Hälfte 
des    l!i.  Jahrhunderts  ist  die  empiristisch-skeptische  Auffassung  Kants 
aufgekommen;  sie  entsprach  der  eigenen  Denkrichtung,  und  man  sah 
nun  Kant  auf  dem  Hintergrund  von  Hegels  absolutem  Kationalismus: 
da    trat    dann    freilich    die     anti -metaphysische,    agnostische    Seite 
hervor.     Ich  meine,  man  nmss  und  wird  sich  überzeugen,  dass  Kant 
im  Grunde  an  allen  Punkten  der  spekulativen   Philosophie,  zunächst 
Fichte,  vorgedacht  hat.    In  der  theoretischen  Philosophie:  die  sinnliche 
Wahrnehmung  ist  bloss  Material  für  die  \'ernunft  und  ihr  apriorisches 
Denken;    die    sinnliche  Welt    ist    blosse    Erscheinung    und    an    sich 
nichtig,    die    intelligible  Welt    ist    die    wahre   Wirklichkeit.     In    der 
praktischen  Philosophie:    die  Sinnlichkeit    ist  die    niedere  Form  des 
Willens,    sie    ist  durch  die  praktische  Vernunft  einzuschränken    oder 
zu  überwinden;    die  Aufgabe  ist,    in  der  Welt  der  \'ernunft,    in  der 
geistigen    und   ewigen  Welt    als    der  wahren  Welt    zu    leben.     Der 
Ausführung,  die  diese  Gedanken  in  der  spekulativen  Philosophie  er- 
fahren haben,  würde  Kant  sicherlich  nicht  haben  folgen  wollen;  vor 
allem  würde  er  die  Hegeische  Naturjjhilosophie  abgelehnt,    oder  ihr 
jede  Bedeutung  abgesprochen  haben:  der  Versuch,  die  Gedanken  des 
intellectus  archetypus  durch  die   dialektische  Methode  nachzudenken, 
überfliege     die     Schranken     unserer     Erkenntnis     und     bestehe     in 
Wahrheit  blos  in   einem  leeren  logischen  Schematisieren  in  der  An- 
ordnung der  Naturformen.     Aber  dass    überhaupt  Vernunft    in    der 
Wirklichkeit  sei.  oder  eigentlich  dass  die  Wirklichkeit  an   sich  Ver- 
nunft sei.    würde  er    als  die    ihm    mit  Jenen    gemeinsame  Grundan- 
schauung haben  gelten  lassen,  nur  mit  der  kritischen  Einschränkung, 
dass  unsere  N'ernunft  nicht  mit  dieser  Vernunft  zusammenfalle,  dass 
unser  eigentliches,  wissenschaftliches  Erkennen    nicht    über  das  Ge- 
biet gegebener  oder  möglicher  sinnlicher  Wahrnehmung  hinausreiche. 


U. 
Der  Darstellung  des  Verhältnisses  Kants  zur  Metaphysik  lasse 
ich  nun  ncjch  ein  paar  Hemerkungen  über  Meta|)hysik  überhaupt, 
oder  also  über  meine  Ansicht  über  Metaphysik  und  ihr  Verhältnis 
zum  Wissen  und  zum  Glauben  folgen,  l)esonders  auch,  um  sie  gegen 
Missverständnisse  zu  schützen,  wie  sie  z.  B.  in  Rickerts  Aufsatz  über 


436 


Friedricli  rjiulsen, 


Kiohti's  AlliciMiuissiri'ii  im  vorliriirrliciKlt'ii  Hclt  dieser  Studien  hcr- 
vor^t'tri'ton  sind. 

Die  Metaphysik,  nach  meiner  Aiillassiin;;-.  isi  und  soll  sein 
Wissenschaft,  freilich  eine  Wissenschaft  von  anderer  Art  als 
l'hysik  (»der  (tescliichte;  ihre  Auf^al)e  und  ihre  Methode  ist  eine 
besonderi'.  Ich  fasse  sie  so:  dii'  Aiifj:ahe  der  Metaj)hysik  ist,  durch 
ein  auf  (Jrund  der  g:e<;ehenen  Thatsachen  vorschreiten(h's  Denken 
sich  Ul»er  die  Einzelerscheinunfren  und  ihre  Erkenntnis  in  (h'n  Kiii/,el- 
wissenschatten  /u  einer  (iesamtanschauunfr  der  Wirkliciikeit  /.u  er- 
heben, oder  eine  vernunftgemässe  Weltanschauun-r  zu  hcicriinden. 
Die  Einzehvissenschaften  zeijren  uns  einzelne  Seiten  oder  Ausschnitte 
der  Wirklichkeit,  denen  sie  an  der  Hand  der  Erfahrung  nachgehen; 
sie  lassen  eine  Aufgabe  ülirig:  die  gegebenen  Erkenntnisse  zu  ver- 
knüpfen, durch  Kombination  zu  ergänzen,  zur  Bestimmung  der  Wirk- 
lichkeit im  Ganzen  zu  verwerten.  Diese  Aufgabe  kann  nicht  durch 
empirische  Einzelforschung,  sondern  nur  durch  das  betrachtende 
Denken  gelöst  werden;  das  Ganze  und  seine  allgemeinsten  und 
tiefsten  Zusammenhänge  gehen  über  das  empirisch  Gegebene  hinaus. 
Andererseits  wird  freilich  nur  ein  Denken,  das  von  der  Reflexion 
über  die  durch  die  wissenschaftliche  Forschung  gegebenen  That- 
sachen ausgeht,  zu  einer  Anschauung  der  Dinge  führen,  die  auf  All- 
gemeingültigkeit Anspruch  machen  kann;  ein  rein  auf  sich  selbst 
gestelltes,  aus  allgemeinsten  Begriffen  ein  System  ableitendes  Denken, 
wie  etwa  das  der  Hegeischen  Dialektik,  wird  nur  zu  willkürlichen 
Kombinationen  führen. 

Verschieden  aber  von  der  Metaphysik,  die  auf  denkender  Be- 
trachtung der  Wirklichkeit  beruht,  ist  die  Religion;  ihr  Wesen  ist 
Glaube,  in  allgemeinster  Formel  der  Glaube,  dass  die  Wirklichkeit 
zuletzt  vom  Guten,  von  einem  auf  das  Gute  gerichteten  Willen  bestimmt 
wird.  Dieser  Glaube  beruht  nicht  auf  dem  Wissen,  er  kann  nicht  durch 
Erfahrung  oder  Spekulation  als  wahr  bewiesen  werden,  er  ruht  auf 
der  Willensseite  unseres  Wesens.  Die  Form  aber,  die  er  in  den 
geschichtlichen  Religionen  annimmt,  ist  ein  Theismus  in  Gestalt  eines 
symbolischen  Anthropomorphismus. 

In  allen  diesen  Stücken  meine  ich  mit  Kant  in  wesentlicher 
Übereinstimmung  zu  sein.  Auch  er  nimmt  eine  Mittelstellung  ein 
zwischen  einer  verstiegenen,  bodenlosen  Spekulation  und  einem  rein 
positivistischen  Agnostizismus.  Erhebt  sich  jene  über  den  festen 
Boden  des  Gegebenen,  um  in  der  freien  Luft  des  reinen  Denkens 
zu  schwärmen,    so  bleibt  dieser  wenigstens  grundsätzlich  bei  den  ge- 


Kants  Verhältnis  zur  Metaphysik  437 

gebenen  Erscheinuujren,  wie  sie  die  Einzeltbrschunjr  darstellt,  stehen; 
Kant  dagegen  stellt  sich  mit  den  Füssen  fest  auf  den  Boden  der 
Thatsachen,  aber  er  richtet  den  Blick  nach  oben,  in  die  Kegion  des 
mundus  intelligihilis.  um  wenigstens  sein  \'erhältnis  /u  dem  eigenen 
Standort  zu  bestimmen. 

Nur  in  der  Form  der  Begründung  und  Ausführung  dieser  Ge- 
danken würde  ich  etwas  andere  Wege  einsehlagen,  Wege,  wie  sie 
eine  Reihe  von  Denkern  im  l!i.  Jahrhundert,  von  Kant  ausgehend, 
eingeschlagen  hat.  ich  nenne  Schoj)enhauer,  Beneke,  Lotze,  Fechner, 
Wundt.  Im  besonderen  würde  ich  das  \'erfahren  der  Metaphysik 
mit  den  genannten  Denkern  etwas  mehr  ins  Empirische  und 
Psychologische  wenden. 

Der  Ontologie  würde  ich  die  allgemeine  Betrachtung  zu  Grunde 
legen,  dass  bei  dem  Wirklichen,  das  im  Selbstbewusstsein  erfasst 
wird,  von  einem  Gegensatz  von  Erscheinung  und  Ding  an  sich  nicht 
füfflich  die  Rede  sein  kann.  Unsere  Erkenntnis  des  eigenen  Seelen- 
lebens  mag  in  mancher  Hinsicht  beschränkt  und  unzulänglich  sein, 
dennoch  kann  hier  nicht  in  demselben  Sinne,  wie  bei  der  Vorstellung 
der  Körperwelt,  gesagt  werden,  dass  wir  es  mit  blossen  Erscheiimngen 
zu  thun  haben.  Ich  weiss,  was  ich  meine,  wenn  ich  sage:  eine  be- 
stimmte Bewegung  eines  bestimmten  Körpers  ist  Erscheinung,  Mani- 
festation etwa  eines  Willens,  der  als  solcher  nicht  sinnlich  wahrnehm- 
liar  ist,  eine  Gebärde  ist  Erscheinung  einer  an  sich  nicht  sichtbaren 
Gefühlserregung;  ich  verstehe  aber  nicht,  was  jemand  meinen  kann, 
wenn  er  sagt:  ein  Gefühl,  das  ich  habe,  von  Frost  oder  Hitze,  von 
Liebe  oder  Zorn,  ist  bloss  Erscheinung  von  etwas  anderem  in  meinem 
Innern  Siun.  Hier  fällt  vielmehr  das  Sein  an  sich  selbst  und  das 
Sein  für  das  Bewusstsein  zusammen.  Nur  für  die  Körperwelt  hat 
es  einen  Sinn,  zu  sagen,  sie  sei  blosse  Erscheinung.  —  Auch  Kant 
liegt  diese'  Betrachtung  nicht  ganz  fern;  auch  er  denkt  beim  mundus 
sensibilis  in  erster  Linie  an  die  Körperwelt;  auch  ihm  gehören  Ver- 
stand und  Vernunft,  theoretische  und  praktische,  nicht  zur  Erscheinungs- 
welt, wogegen  er  allerdings  den  Inhalt  des  emjjirischcn  Bewusstseins 
des  Individuums  mit  der  Zeit  zur  Erscheinung  rechnet.  Wozu  denn 
zu  bemerken  wäre.  dass.  wenn  man  auch  mit  Kant  die  Zeitordnung 
als  eine  bloss  für  uns  notwendige  Form  der  Vorstellung  des 
Inhalts  des  seelischen  Lebens  fasst.  die  nicht  für  jeden  Intellekt, 
z.  B.  nicht  für  einen  allumfassenden,  göttlichen  Geist  notwendig 
ist,  dennoch  der  Inhalt  des  Seelenlebens  auch  für  sein  Vorstellen 
kein  anderer  sein  könnte,    ohne    dass    eben    die  Vorstellung    falsch 


488  Fr i 0(1  rieh  Paul  so n. 

wllrdo.      l  11(1   von   ciiuMii  rwiji-  (Imiklcii  Sfclciisulislniiy.iali'  wriss  auch 
kaut   nichts. 

Dir  nähere  Austiihriiu^-  der  Meta|)hysik  :iut  dieser  (Jrnndlajro 
wilrde  dann  die  l-"orin  einei-  liilir|irelnti(Mi  der  k(ir|ierlit'hen  Kr- 
seheinuiiirswili  aiil  eine  an  sieh  seiende  Wirklichkeit  annehnu'n, 
nach  (h'iii  Schema  :  alle  körperlichen  Systeme  sind  in  dem  Masse, 
als  ^ie  sich  (h-m  inenschliclien  Leibe  in  Ferm  und  Funktion  nähern, 
als  Erscheinungen  {üarstelluni:-en  in  der  sinnlichen  Anschsiuuiif;  eines 
Sulijekts)  von  etwas  an/.uselien.  das  dem  \('ri:iei(ddiar  ist.  das  icli  im 
Selitsthewusstsein  als  ein  so  bestimmtes  Öcelenlelien  kenne.  Und 
/war  würde  ich  dann  für  die  Interpretation  der  nächstverwandten 
Erscheinuuiren  (der  Tier-  und  l'fian/enwelt)  Schopenhauers  Satz  als 
heuristisches  Prin/.i))  anwenden:  die  Willensseite  ist  der  |triniäre 
Inhalt,  die  Intellii;-en/.  eine  sekundäre  Kiitwicklunu-  des  seelischen 
Lebens.  Ich  würde  also  annehmen,  dass  sich  in  der  absteii:-end(m 
Reihe  der  tierischen  Bildunjjen  das  Innenleben  immer  mehr  auf 
Willensvoriränge  einschränkt,  dass  die  \'oru-än.a'e  der  lntelli<i-en/>  immer 
mehr  schwinden:  zuerst  die  Funktion  des  lieg-ritt'lichen  Denkens,  die 
nur  soweit  anzunehmen  ist,  als  sie  in  der  Sprache  sich  objektiviert, 
sodann  die  Funktictn  des  anschaulichen  Erkeimens,  bis  sich,  mit  dem 
Schwinden  eiu-entlieher  Sinnesorgane,  die  Intelligenz  in  bloss  ver- 
einzelte,  momentane  EmpHnduni;se]Tegung:en  verliert.  Und  dem  ent- 
sprechend würde  dann  der  Wille,  der  in  uns  selbstbewusster,  ver- 
nünftiger \\'ille  ist,  zusammenschrumpfen  auf  vereinzelte  momentane 
Triebregungen  und  organische  Gefühlserregungen,  so  dass  das  Seelen- 
leben der  untersten  Stufe  bloss  als  ein  einheitliches  System  von  Trieb- 
richtungen, ohne  Selbstbewusstsein  anzusetzen  wäre.  Und  noch  weiter 
von  dem  Zusammenhang  und  der  Ähnlichkeit  mit  dem  Menschlichen 
uns  entfernend,  würden  wir  annehmen,  dass  den  vegetativen  Vorgängen 
in  der  Pflanzenwelt  noch  ein  dem  von  Ferne  Vergleichliches  als  Innen- 
seite entspreche,  was  wir  als  die  Innenseite  unserer  vegetativ- 
organischen  Lebensprozesse  erleben.  Und  endlich  würden  wir 
die  mannigfachen  chemischen  und  physikalischen  Vorgänge  in 
der  unorganischen  Welt  als  Hinweisungen  auf  innere  Vorgänge 
ansehen,  die  wir  zwar  durch  keine  Künste  der  Interpretation 
in  ihrer  konkreten  Gestalt  darstellen  können,  die  als  Willensvor- 
gängen verwandte  anzunehmen  wir  aber,  um  des  tausendfältigen  Zu- 
sammenhangs aller  \"orgäuge  in  der  körperlichen  Natur  willen,  dennoch 
nicht  umhinkönnen.  Und  wir  würden  hinzufügen,  dass  es  uns  ganz 
ebenso    ergehe    mit  den  körperlichen  Einheiten,    die  als  umfassende 


Kants  Verhältnis  zur  Metaphysik.  4;3y 

kosmische  Systeme  unser  Leben  einschlössen,  also  mit  der  Erde, 
dem  Planeten-,  dem  Milchstrassensystem,  und  was  sich  darüber  für 
höhere  Einheiten,  der  Astronomie  verborgen,  noch  finden  möchten: 
sie  als  bloss  körperliche  Systeme  /.u  fassen,  werde  uns  durch  unsere 
GesamtauÖassung  unmöglich  gemacht,  die  uns  in  Jedem  Körper- 
lichen eine  Manifestation  eines  Anderen,  Inneren  zu  sehen  anhalte; 
aber  dies  Andere  in  concreto  zu  bestimmen,  sei  uns  freilich  völlig 
unmöglich,  nur  würden  wir  es  natürlich  nicht  unter  uns.  sondern 
über  uns  suchen. 

Dieser  ontologischen  Betrachtung  würde  ich  eine  kosmologische 
anschliessen ;   es  ist  die.   die  Lotze  so  oft   ausführt:  die  Einheit  und 
Zusanmienstimmung   der  Vorgänge  in  der   physischen  Welt,    die  der 
Physiker  als  eine  universelle  Wechselwirkung    aller  Teile  im  Kaum 
deutet,    müsse    als    eine    Hinweisung    auf    eine    ursprüngliche,    sub- 
stantielle Einheit  aller  Wirklichkeitselemente,  auf  ein  ursprüngliches 
Miteinandergesetztsein  in  einem  einheitlichen  Wesen  aufgefasst  werden: 
Wechselwirkung  der  Elemente  sei  nicht  verständlich,  wenn  sich  diese 
ursprünglich  ganz  fremd  gegenüberstünden,  wenn  jedes  eine  Substanz 
a  se  sei.  —  Wir  kämen  damit   auf  den  Begriff,    den  Kant  als   den 
Begriff  eines  ..Urwesens"  nicht  so  sehr  aus  der  physischen  Wechsel- 
wirkung   aller    Elemente,     als    aus    der    logischen    Beziehung    aller 
„Realitäten"  ableitet.    KomV)inieren  wir  mit  unserer  ontologischen  diese 
kosmologische  Betrachtung,    so  würden  wir   sagen:    ein  einheitlicher 
Wille  als  Urgrund  der  Wirklichkeit,  das  scheint  der  letzte  Gedanke 
zu  sein,  auf  den  wir  durch  Erfahrung  und  Nachdenken  geführt  werden. 
Sn  weit  leitet  uns  das  Wissen,  oder  also,  um  bescheidener  und 
wahrer  zu  reden,    ein    über  das  Gegebene,    doch  nach  Andeutungen 
im    Gegebenen,    hinaustastendes    Denken ;     denn    freilich    fehlt    viel 
daran,  dass  wir  diesen  Gedanken    in  concreto   ausdenken  oder  auch 
nur  als  notwendige  \'oraussetzung  für  die  Denkbarkeit  der  Wirklich- 
keit   eigentlich    beweisen    könnten.     Es    ist    ein    letzter    Punkt    des 
Denken.s,    auf  den   es,    von  verschiedenen  Punkten  ausgehend,    sich 
hingewiesen  findet.     Wer    überhaupt    nicht    über   das  Gegebene  und 
Beweisbare     hinausgehen    will,    kann    nicht     genötigt     werden;    nur 
werden  wir,  mit  Kant,  sagen:  es  liegt  in  der  Natur  der  menschlichen 
Vernunft,   über  alles  Einzelne,  Endliche,    Bedingte  zu  einem  Letzten, 
Allumfassenden,      Allbedingenden,       Unbedingten      hinauszustreben. 
Und:  der  atomistische  Materialismus   ist   natürlich    ebenso  gut  Meta- 
physik,   ein  letzter  über  das  Gegebene  hinausgehender  Gedanke,  als 
ein  monistischer   Idealismus.  — 


440 


Kri  fii  licli   Paiilscn. 


S(t\icl  ülu>r  .Mrt.i|ili\  sik.  Ich  sclilicssc  eine  Hciiicrkmii:  :in  iittcr 
(Irn  prakt  isi'ht'ii  (J  l.-iuhni  und  den  Primat  des  Willens,  liier 
handelt  es  sieh  also  nielit  mehr  um  Heslininuin<r«'n.  die  durcli  (hiH 
Wisst'u.  sondern  um  Mntseheidunut  n,  die  durch  den  Willen  ^^e;::el)eii 
werden.  natUrlieh  nicht  durch  willkürliche  und  /ulallip'  Wünsche, 
sondern  durch  den  allp'meinen  und  nolwendipMi  Willen,  nut  Kant: 
durch   dir   j)rakti^clie   Nermmlt. 

Die  Summe  der  Sache  kann  man  in  die  Formel  fassen:  die 
Metaphvsik  l'iihrt  auf  den  (iedanken.  dass  der  letzte  (Irund  der 
Wirklichkeit  in  einem  einheitlichen  Willen  liefre;  der  praktische 
(ilaul)e  fiiiit  hin/u:  dass  dieser  Wille  ein  jiuter  Wille  sei. 

Dieser  Satz  kann  nicht  theoretisch  hewiesen  werden,  das  blosse 
Denken  führt  nicht  nut  ihn;  er  kann  nur  iicirlauht  werden;  und  der 
entscheidende  Grund,  ihn  zu  j^lauben,  liegt  in  der  W'illensseite  des 
Wesens:  er  ist  eine  n(»twendige  \'oraussetzung  unseres  notwendigen 
Wollens.  Es  ist  aber  berechtigt,  solche  notwendige  Voraussetzungen 
unseres  praktischen  \'ernunftgebrauchs  als  wahr  anzunehmen,  eben- 
so gut  als  es  l)erechtigt  ist,  notwendige  Voraussetzungen  des 
theoretischen  Vernunftgebrauchs  anzunehmen.  Ja  noch  mehr 
berechtigt:  denn  die  höchsten  Aufgaben  und  Werte  mensch- 
lichen Lebens  liegen  auf  dieser  Seite;  nicht  die  Intelligenz,  nicht 
Bildung  und  Gelehrsamkeit  bestimmt  den  absoluten  Wert  eines 
Menschen,  sondern  der  sittliche  Wille.  Und  darum  wiegt,  mit  einem 
Ausdruck,  der  in  den  Vorlesungen  Kants  wiederholt  vorkommt,  ein 
absurdum  morale  nicht  minder  schwer  als  ein  absurdum  logicum: 
so  wenig  wir  das  logisch  Widersprechende  für  wahr  halten  können, 
ebenso  wenig  können  wir  das,  was  mit  notwendigen  praktischen 
Voraussetzungen  unvereinbar  ist,  annehmen.  Oder:  der  Glaube,  dass 
die  A'erwirklichung  des  absoluten  Guts  in  der  W^irklichkeit  möglich 
ist.  der  Glaube  an  eine  „moralische  Weltordnung"  ist  ein  notwendiger 
Glaube. 

Ich  halte  an  der  entscheidenden  Bedeutung  dieses  Gedanken- 
gangs durchaus  fest.  Es  scheint  mir  aber  möglich  und  zweckmässig, 
ihm  in  psychologischen  Betrachtungen  eine  Art  theoretischer  Sub- 
struktion  zu  geben.  Ich  meine,  es  ist  möglich  za  zeigen,  dass  der 
praktischen  Notwendigkeit  des  Glaubens  eine  psychologische  Un- 
vermeidlichkeit zur  Seite  geht,  die  denn  auch  in  der  historischen 
Thatsache  zur  Erscheinung  kommt,  dass  der  Wille,  der  wesentliche 
Wille,  überall  den  Glauben  und  die  W^eltanschauung  bestimmt. 

Die    Intelligenz,    hierin    scheint    die    entwicklungsgeschichtliche 


Kants  Verhältnis  zur  Metai)hysik.  441 

Betrachtung  Schopenhauers  Intuition  durchaus  zu  bestätigen,  ist  vom 
Willen  als  Werkzeug  im  Dienst  der  Lebenserhaltung  hervorgebracht 
worden,  oder,  physiologisch  ausgedrückt:  die  tierische  Organisation 
hat.  in  der  aufsteigenden  Reihe  der  Lebewesen,  allmählich  die  Sinnes- 
werk/.euge  und  das  Nervensystem  aus  sich  hervorgebracht.  Dieses 
Dienstverhältnis  der  Intelligenz  zum  Willen  ist  unaufhebbar;  die 
psychologische  Betrachtung  lässt  es  an  allen  Punkten  erkennen.  Der 
Wille  l)eherrscht  die  Apperzeptionsvorgänge,  durch  mein  Interesse 
wird  bestimmt,  was  ich  wahrnehme,  also  was  ins  Bewusstsein  kommt. 
Nicht  minder  ist  das  Behalten  vom  Interesse  abhängig,  was  mich 
nichts  angeht,  was  nicht  zu  meinem  Willen  Beziehung  hat,  wird  ver- 
gessen. So  hängt  die  Auswahl  der  Elemente,  die  zum  Aufbau  der 
Weltanschauung  verwendet  werden,  ebenso  auch  die  Bedeutung,  die 
ihnen  beigelegt  wird,  wesentlich  vom  Willen  ab.  Am  siehtl)arsten  ist 
es  so  bei  dem  Aufbau  der  geschichtlichen  Weltanschauung:  jeder 
wählt  und  verwertet  die  Elemente  nach  dem  Mass  der  Bedeutung, 
das  er  ihnen  beilegt. 

\'ielleicht  kann  man  aber  sagen :  auch  die  allgemeinste  Struktur, 
die  logisch-metaphysische  Form  der  Wirklichkeit  ist  schon  durch  den 
Willen  mitbestimmt.  Sind  die  Kategorien,  die  Formen  des  be- 
gritflichcn  Denkens,  überhaupt  Ergebnisse  einer  biologischen  Ent- 
wicklung, so  wird  man  dies  annehmen  müssen;  es  sind  Formungen 
und  Fassungen  der  Wirklichkeit,  die  sieh  als  zweckmässig,  als  leben- 
erhaltend erwiesen  und  darum  durchgesetzt  haben.  Das  Gesetz  der 
Identität  und  des  Widerspruchs,  das  Gesetz  der  Kausalität  sind 
Formen  des  Denkens,  wodurch  die  Wirklichkeit  theoretisch  und  zu- 
gleich auch  praktisch  unserem  Willen  unterworfen,  unseren  Zwecken 
dienstbar  gemacht  wird.  Das  Gesetz  der  Identität  ist  die  Form  des 
begrifflichen  Denkens,  der  spezifisch  menschlichen  Form  des  Er- 
kennens;  hat  also  jenes  Wort  Hecht:  Wissen  ist  Macht,  so  ist  das 
Gesetz  der  Identität  das  Machtmittel  des  Willens,  wodurch  er  sich 
die  Welt  unterthänig  gemacht  hat.  l'nd  hängt  ihm  dieser  Hervor- 
gang aus  dem  Willen  nicht  noch  sichtbar  anV  Das  Gesetz  der 
Identität  ist  ja  keine  Generalisation  aus  der  Erfahrung;  es  ist  eigentlich 
nicht  eine  Aussage,  nicht  ein  Indikativ,  sondern  ein  Imperativ; 
A  =  A,  das  heisst:  was  ich  als  A  gesetzt  habe,  soll  A  sein  und  A 
bleiben.  So  die  Axiome  der  Arithmetik:  es  giebt  ja  nicht  zwei  gleiche 
Objekte  für  die  empirische  Beobachtung,  das  „gleich"  kommt  nur  vor 
in  der  logischen  Funktion  der  Gleichsetzung;  oder,  die  Gleichheit 
ist  ein  Grenzfall,  der  in  der  Wirklichkeit  niemals  erreicht  wird. 

Kantstudieo  IV.  29 


IAO  rriodricli  ranison, 

Tiul  (1jiss«>11»o  frilt   vom  (icsi-t/.  der  Knusalität:   es   ist   riii  Axiom, 
eine     rrasiimtion.     iiii-ht    v'nw    Krfaliruni:- :     /.um    Hchuf    der    Diirrh- 
tnhrharkiit    i'iiuT  finlicitlii-hcn   Krlahruiij;-  sctv.f  ii-li,   freilich  dm   An- 
d('Utuii::i'n  des  (loirohcneu  folf^cnd,  dass  allKi'ineiiu'  Gcsctzmässiirkcit 
in    der  Krschciminirswelt    stattfinde.     Und    spiritistischem  Spuk   oder 
dämonischen   WirkunpMi    und   Wundern    aller   Art    hejjejrne    ich    nun 
nicht   mit    dem    Nachweis   der   IJnwirklichkeit    im  Kin/elnen,   den    ich 
ja.    hei    dem    ewii;-    nachwachsenden  Aher{,'lauben    in    alle   Ewi^'keit 
wiederholen  niiisste,  so  dass  ich  niemals  zur  Freiheit  diesen   Dini^en 
«refrentlher    kommen  könnte,    sondern  mit  dem   a  priori  Axiom  jener 
allj^cMiieinen  Geset/mässigkeit.  d.  h.  mit  dem  Kntschluss  des  Willens, 
(las  Zufällige,   Gesetzlose    und  Absurde,    das   die  Einheit   und  Zuver- 
lässijrkeit    der  Natur    zerstören    würde,  nicht  anzuerkennen,  sctndern 
vielmehr    anzunehmen,    dass    auch    die   seltsamsten  Vorgän^^e,    wenn 
sie  anders  wirklich  wirklich  sind  und  nicht  eine  sjtukhafte  Einbildung- 
abergläubischer  Phantasie,  für  eine  vollkommene  Erkenntnis,  wie  sie 
zu    erstreben    bleibt,    in    den   allgemeinen  Kausalzusammenhang   der 
Natnr  sich  schicken  werden.') 

Liegen  die  Dinge  so.  ist  das  Denken  und  Erkennen  im  tiefsten 
ftrunde  überall  durch  den  Willen  bestimmt,  dann  bleibt  es  undenkbar, 
dass  es  zuletzt  gegen  den  Willen  sich  wenden  und  ihm  eine  An- 
schauung aufnötigen  könnte,  die  wider  sein  Wesen  geht.  Kein  Mensch 
hält  für  wahr  und  kann  für  wahr  annehmen,  was  ihm  in  letzter 
Absicht  die  Wirklichkeit  als  ein  Unsinniges,  Unvernünftiges,  für  die 
praktische  Vernunft  Absurdes  darstellt;  der  Selbsterhaltungstrieb  des 
ganzen  Systems  wird  sich  dagegen  sträuben,  und  keine  Erfahrung 
wird  stark  genug  sein,  diesen  Widerstand  zu  überwinden. 

Man  wird  hinweisen  auf  die  materialistische  Weltansicht,  die 
ja  doch  die  Wirklichkeit  auf  sinnlose  Atome  und  blinde  Kräfte 
zurückführe  und  Leben,  Vernunft  und  Zweck  als  ein  zufälliges  und 
unerhebliches  Nebenprodukt  von  Atombewegungen  ansehen  lehre. 
Oder  auf  die  pessimistische  Ansicht:  das  Leben  sei  ein  faux  pas, 
den  ein  blinder  Wille  gethan  habe,  den  der  sehende  Wille  berufen 
sei,  wieder  rückgängig  zu  machen. 

Ich  meine,  gerade  hier  wird  die  Abhängigkeit  der  Weltansicht  vom 
Willen  besonders  sichtbar:  wo  solche  Gedanken  angenommen  und  als 
wahr  geglaubt  werden,  ist  es  zuletzt  der  Wille,  der  sie  aus  sich 
heraus    bejaht    oder  hervorbringt,    sie  werden  ihm  nicht  von  aussen 

1)  Ich  verweise  auf  verwandte  Gedankenreihen  in  einem  kürzlich  erschienenen 
Buch  von  Julius  Schultz,  Zur  Psychologie  der  Axiome  (1899). 


Kants  Verhältnis  zur  Metaphysik.  443 

durch  den  \erstaiul  aut<rt'nütigt.  !So  sichtbar  bei  Schopenhauer:  der 
Wille,  sein  persönlicher  Wille,  der  das  Leben  minderwertig  findet, 
hat  seine  Philosophie  gestaltet  als  die  ihm  gemässe  Form  der  Welt- 
anschauung. Das  pessimistische  Urteil  über  den  Wert  des  Lebens 
ist  der  erste  feste  Punkt  des  Systems;  es  ist  der  Ausgangspunkt  der 
Willenslehre,  der  Lehre  von  dem  blinden,  dummen  Willen ;  aber  die 
Willenslehre  ist  die  Unterlage  der  Erlösungslehre,  der  Lehre,  dass 
der  Wille  von  sich  selber,  von  dem  Wollen  des  Lebens  /urückgebracht 
werden  nicht  bloss  solle,  sondern  aucli  könne.  So  setzt  der  Wille 
auch  hier  sich  durch;  sein  \'erwerfungsurteil  über  die  Welt  wird 
zum  Vernichtungsurteil  für  sie:  er  bringt  die  Zuversicht,  den  Glauben 
hervor,  dass  das  Nichtsein,  das  besser  ist  als  das  Sein,  einmal  an 
die  Stelle  des  Seins  treten  wird;  die  Eschatologie  des  Nirwana  ist 
der  transscendente  Optimismus,  den  der  empirische  Pessimismus  aus 
sich  hervortreibt. 

Und  auch  der  Materialismus  pÜegt  in  eine  optimistische  Eschato- 
logie auszulaufen;  sie  hat  freilich  eine  andere  Gestalt,  als  die 
Schopenhauersche:  sie  nimmt  etwa  die  Gestalt  eines  geschichts- 
philosophischen  Glaubens  an  die  Zukunft  des  Menschengeschlechts 
an :  auf  das  Zeitalter  des  Keligionswahns.  der  Finsternis  und  des 
Aberglaubens,  das  dermalen  noch  seine  breiten  Schatten  über  die  Gegen- 
wart werfe,  werde  ein  Zeitalter  des  Lichts,  der  allgemeinen  Auf- 
klärung, der  allseitigen  Kultur,  des  ewigen  Friedens  folgen:  der 
Himmel  auf  Erden,  statt  des  Himmels  im  blauen  Dunst  des  Jenseits, 
und  das  alles  auf  Grund  des  siegreichen  Vordringens  der  Natur- 
wissenschaften, der  Wahrheit  in  der  Gestalt  der  physikalischen 
VVeltansicht.  Von  Lucrez  an  bis  auf  den  jüngsten  Apostel  der  Sozial- 
demokratie hat  sich,  ob  mit  Recht  oder  Unrecht,  sei  dahingestellt, 
auf  den  (rlauben  an  die  Atome  und  die  Naturgesetzmässigkeit  ihrer 
Bewegung  der  ojttimistische  Glaube  an  die  Zukunft  des  Menschen- 
geschlechts aufgebaut.  Oder  also  umgekehrt:  der  Glaube  an  die 
Zukunft  ist  es  zuletzt,  der  den  Glauben  an  die  Vernunft,  an  die 
Wissenschaft,  an  die  Physik,  an  die  Atome  und  das  Naturgesetz 
hervorliringt:  sie  werden  mit  Notwendigkeit  das  Gute  verwirklichen. 
So  zeigt  sich  der  Primat  des  Willens  und  der  Weltanschauung  überall: 
materialistischer  Eudämonismus  und  j)essimistischer  Erlösungsglaube, 
sie  sind  ebenso  gut  Spiegelungen  einer  Willensrichtung,  als  der  mo- 
ralistische Idealismus  Kants  und  l'iclites  oder  der  Jenseitsglaube  des 
alten  Christentums.  Auch  der  Materialismus  kämpft  für  einen 
Glauben;    er   will  einem  besseren  (.ilauben  gegen  einen  schlechteren 

29» 


444 


rriiMiri»'li  raiils«>n. 


(ilaulu'U  Kaiiiii  si-liancii.  ilcin  walncii  (ilaulicii  ir»':,^cn  ciiicii  \\  aliii- 
f;laul)on,  t'iiu'ui  /.ur  Frcilicit  iiiul  /um  Kdrtscliritt  tulirciidfu  illaulx^ii 
jrejr»'ii  fincn  (U*r  Kiu'flitschal't  und  'Präjrhfit  (licncndcu  (ilaulu'ii. 
lud  so  kiiiuptt  SfliKpcnliaucr  \\\r  ciucii  (llaultcn,  iriclit  er  d(K'li 
sciiu'iu  System,  indem  er  seine  Jtluirer  /.u  Aposteln  und  K\an;::elisten 
der    Lelire    ernennt,    seihst    den   Charakter  einer   Keli;,^ion. 

.la.  x'lhst  der  ri-ine  Aüiiostizisnius  ist,  wie  William  James  in  s(Mnem 
..Willen  /.um  (;laul)on"  (deutsch  von  Loron/,)  aust'ilhrt.  dureli  den  Willen 
hediiiiTt;  es  ist  i'ine  Maxime  des  Willens,  nichts  für  \\ahr  aii/.unclimen. 
als  was  mit  den  Methoden  der  Mathematik  und  Naturwissenschaft 
oder  der  philologischen  und  historischen  Kritik  dem  XCrstande  zwingend 
bewiesen  ist.  l'ud  diese  Maxime  l>eruht  auf  einer  unmittelbaren 
l'berzeutruujr  von  dem  absoluten  Wert  der  Wahrheit  und  der  absoluten 
\'erwertlichkeit  des  Irrtums  und  der  Täuschunj?,  von  der  absoluten 
Würde  eines  Charakters,  der  nach  dieser  Maxime  sich  verhält  und 
der  Minderwertijrkeit  eines  Menschen,  der  auf  seinen  Glauben  oder 
seine  Weltanschauunfc  andere  Momente  P^influss  ausüben  lässt. 

Damit  ist  denn  i^egeben:  die  Weltanschauung  beruht  überall 
auf  der  Lebeusanschauung,  und  diese  wird  bestimmt  durch  die 
unmittelbar  vom  Willen  abhäniri"e  Schät/AH)*;'  des  l^ebens  und  der 
Lebenswerte.  Und  die  Wahrheit  einer  Weltanschauung;  beweisen, 
das  würde  dann  überall  nichts  anderes  heissen  als:  ihre  Ange- 
messenheit zu  der  rechten,  einem  normal  gerichteten  Willen  ge- 
niässen  Lebensanschauung  zeigen.  So  hält  es  Kants  Philosophie;  sie 
zeigt:  es  ist  dem  vernünftigen,  ethisch  richtig  gebundenen  Willen 
gemäss,  zu  glauben,  dass  sein  Ziel,  ein  Reich  der  Verimnft  aut 
Erden,  in  dem  das  Sittengesetz  wie  ein  Naturgesetz  herrscht,  gewiss 
verwirklicht  wird,  indem  die  Wirklichkeit  selbst  in  einem  guten  und 
vernünftigen  absoluten  "Willen  gegründet  ist.  Oder:  der  Glaube  an 
Gott,  der  Glaube  an  die  letztlich  absolute  Macht  des  Guten  in  der 
Wirklichkeit,  ist  dem  menschlichen  Wesen  und  Willen  gemäss. 

Die  konkrete  Bestimmtheit  dieses  Glaubens  ist  in  geschichtlicher 
Zeit  stets  geschichtlich  bedingt.  Der  Gottesglaube  empfängt  mit  der 
Lebensanschauung  das  besondere  Gepräge  durch  grosse,  übermächtige 
Persönlichkeiten.  Sie  prägen  ihre  Schätzung  der  Lebenswerte  und 
damit  ihre  Weltanschauung  zunächst  einem  engeren  Kreise  ein;  in- 
dem dieser  die  Fortpflanzung  und  Ausbreitung  der  neuen  Ideen  und 
Ideale  als  seine  Lebensaufgabe  übernimmt  und  bereit  ist.  dafür  zu 
leben  und  zu  sterben  —  die  grosse  Probe  für  die  Wahrheit  eines 
neuen  Glaubens  —  entsteht  eine  £:eschichtliche  Religion.    So  hat  Jesus, 


Kants  Verhältnis  zur  Metaphysik.  445 

SO  Mühammt'd  stiiu-  (j'berzeaj^un^  von  dem,  was  als  höchstes  (iut 
dem  Lehen  Wert  g:ieht,  und  seinen  (iottcsglaulx-n  zuerst  einem  ihnen 
persönlich  verliundenen  Kreise,  durch  diesen  zuletzt  einem  ganzen 
grossen  Kulturkreise  aufgedrückt:  das  Leben  in  diesem  Kreise  em- 
pfangt nun  durch  dieses  Ideal  sein  Gepräge,  Sitte  und  Recht,  Gottes- 
uud  Weltanschauung  wird  davon  durchdrungen.  Indem  die  Person 
des  Stifters  in  unmittelbare  Beziehung  zu  Gott  gesetzt  wird  als  Ge- 
sandter, l'rophet,  Sohn  Gottes,  erhält  er  selbst  und  seine  Lehre  ab- 
solute Autorität.  Der  abstrakt  allgemeine  Gehalt  aber  des  Glaubens  ist 
Ul)erall  derselbe:  dass  Gottes  Wille  absolut  gut  ist  und  dass  Gottes 
Wille  sieh  absolut  durchsetzt.  Auch  das,  was  dem  Anschein  nach 
(iottes  Willen  widerspricht  und  widerstrebt,  es  geschieht  doch  nicht 
ohne  ihn,  und  wird  von  ihm  zum  Guten  gelenkt.  Oder  in  abstrakter 
Formel:  es  geschieht  nichts  aus  äusserer,  alles  aus  innerer,  teleo- 
logischer, von  uns,  wenn  nicht  erkennbarer,  so  doch  anerkennbarer 
Notwendigkeit.  Somit  giebt  der  Glaube  dem  Gläubigen  einerseits 
die  absolute  Gewissheit,  dass  er  auf  dem  rechten  Wege  ist,  anderer- 
seits auch  die  absolute  Sicherheit  hinsichtlich  des  Pirfolges:  Gott  ist 
dafür,  also  ist  uns  der  Sieg  zuletzt  gewiss.  Und  hierauf  beruht 
dann  die  unwiderstehliche  Kraft,  die  der  religiöse  Glaube  dem 
Wissen  giebt. 

Was  ist  der  Grund,    dass    dieser    Glaube,    der    so    viele    Jahr- 
hunderte hindurch    das  Leben   der    abendländischen  Völker^velt    be- 
herrscht hat,  in  der  Gegenwart  von    so  vielen    für    unglaublich    ge- 
halten wird?     Hierauf    werden   wir,    ich    meine  wieder    in  Überein- 
stimmung mit  Kant,  antworten:    der  Grund  liegt    in  dem  Zwiespalt, 
der  seit  dem  Beginn  der  Neuzeit  zwischen  der  Religion  in  ihrer  ge- 
schichtlich überlieferten  Gestalt   und  den  Ansichten    über    natürliche 
und    geschichtliche     Thatsachen,     die    wissenschaftliche     Forschung 
unseren  \erstand  für  erwiesen   zu  halten  nötigt,  entstanden  ist.    Das 
von    der    Kirche    festgehaltene    und    durch     die    weltliche    Gewalt 
sanktionierte  Lehrsystem    enthält  nicht  bloss    eine  Glaubenslehre    in 
jenem  allgemeinen  Sinn,   sondern  zugleich  eine  Fülle  von  Satzungen 
und  Entscheidungen  über  historische  und  litterarische  Fragen,  ebenso 
auch  allerlei  Anschauungen  über  kosmologische  und  anthropologisch- 
biologische Dinge.    Indem  diese  Anschauungen  den  wissenschaftlichen 
und  philosophischen  Vorstellungen  der  Zeit   entsprechen,    in  der    sie 
aufgenommen  sind,    geschieht   es,    dass    die    fortschreitende    wissen- 
schaftliche Erkenntnis  mit  dem  statutarischen  Lehrsystem  der  Kirche 
in  Widerspruch  gerät.     So  z.  B.  in  Hinsicht    auf   den  Ursprung  ge- 


44)i 


KriiMiricIl   l'inilstMi, 


wisscr  Schriltfii   und   dii'   (il.iultwünliukfit    aller   in   iliiicii   licrichtctcn 
'rhatsaoheii:     dir     Kirche      lehrt,      dass     sie    von      hestiniinten     Ver- 
fassern. /,.   H.   Moses,    herrühren    und    unter    direkter    ;r«»ttli('her   Kin- 
wirkunir  j^esehrieben  sind,  also  absolute  Autorität   hesit/.en;  dir  philo- 
lofriseh-historisehe   Kritik  dafrep:(Mi  erf,'iel»t.    dass  sie   \on   diesen   \'er- 
fassern  nieht  herstammen  können,  und  dass  die  beriehteton  Thatsachen 
vielfach  nn  tholoirischen,  le°:endarisehon  (-harakter  zeip-n.     'IVitt  nun 
die  Kirehe  solchen  Er<rebnissen  ernsthafter  und  unbefanjjener  IVUfunj; 
mit    ihrem  Machtirebot    entfrefren,    so    entsteht  Hass    und  Misstrauen 
•regen  den  Kircheuirlauben.    ja  den  relijriösen  Glauben  überhaupt:  er 
l»eruhe  wohl  ebenso,  wie  die  Verfasserschaft  der   fünf  Hilcher   Mosis, 
bloss  auf  willkürlichen  Satzunfren  einer  äusseren   Autorität,  nicht  auf 
dem  Wesen  des  Menschen  selbst,    auf  der  An<remessenheit  zu  seiner 
Vernunft.     Und  ganz  ebenso  wirkt  es,  wenn  die  kirchliche  Autorität 
der  Naturforschung:    durch    MachtsprUche    Trrenzen    zieht,    indem    sie 
eine    veraltete  Kosmologie    zum   Glaubensartikel    macht    oder    einen 
neuen  Weg  in  der  Biologie    für  Ketzerei  erklärt.     Die  Wissenschaft 
wendet  solchem  Verfahren  gleichgültig  oder    entrüstet    den   Kücken; 
und  zahlreiche  wissenschaftliche  Forscher  und  noch  zahlreichere  Lehrer 
l)opulär-wissenschaftlicher  Darstellungen  halten  es  dann  mit  der  Kirche 
und    dem    Glauben    überhaupt    so;    sie    sehen    in    der  Religion    nur 
noch  ein  Hemmnis  der  Wahrheit:    es  sei    damit    auf    einen    grossen 
Betrug  abgesehen,  um  die  Menschen  in  Unterthänigkeit  zu  erhalten. 
Daher:    ecrasez    l'infarae!     Die    beiden    letzten    Ketzergerichte,    mit 
denen   das    19.  Jahrhundert  in   diesem  Jahre  abgeschlossen  hat,  das 
Gericht  über  Prof.  Schell  auf  katholischem,  das  Gericht  über  Pastor 
Weingart   auf  protestantischem  Boden,   werden  nicht  anders  wirken; 
sie  stossen  die  ehrlichen   und   aufrichtigen  Leute,   die  auf  ein  reines 
intellektuelles   Gewissen,    das   auch   mit   zum  Gewissen  gehört.  Wert 
legen,  von  der  Kirche  zurück. 

Diesen  Zwiespalt  im  Prinzip  überwunden  zu  haben,  das  ist  nach 
meiner  oft  ausgesprochenen  Überzeugung  das  grösste,  allgemeinste 
Verdienst  der  kritischen  Philosophie.  Sie  zeigt,  dass  der  Zwiespalt 
nur  eine  historische,  zufällig  bedingte  Erscheinung  ist:  zwischen  dem 
„statutarischen  Glauben"  dieser  oder  jener  Kirchenbildung  und  der 
Wissenschaft  mögen  Konflikte  entstehen;  dagegen  mit  einem  rein 
moralischen,  einem  praktischen  Vernunftglauben  kann  wahre  Philo- 
sophie and  Wissenschaft  niemals  in  Widerspruch  kommen.  Wissen- 
schaftliches Denken,  das  weiss,  was  Wissen  ist,  und  der  durch  die 
Natur  des  Wissens  gegebenen  Grenzen  sich  bewusst  ist,  und  religiöser 


Kants  Verhältnis  zar  Metaphysik.  447 

Glaube,  der  weiss,  was  Glauben  bedeutet,  die  haben  im  mensch- 
lichen Geist  neben  einander  Kaum,  ja  er  fordert  beide.  Nur  da 
entsteht  Krieir.  wo  einerseits  die  VV'issenschaft  sich  absolut  setzt,  be- 
hauptend, in  der  Wirkliehkeit  sei  nichts  vorhanden,  als  was  sie  sehe; 
oder  wo  andererseits  die  Kirche  die  Unterwerfunj;  des  Verstandes 
unter  die  Satzuno:en  ihrer  statutarischen  Lehre  nicht  bloss  Über  Dinge 
des  Glaubens,  sondern  ebenso  über  Fragren  des  Wissens  verlang:!. 

Die  Metaphysik  aber,  oder  ihre  Propädeutik,  die  Kritik,  ist  eben,  in 
Kants  Sinn,  die  Wissenschaft,  welche  die  Verniittelung  zwischen  den 
beiden  notwendigen  Seiten  des  menschlichen  Geisteslebens  zu  über- 
nehmen hat,  indem  sie  beide  über  ihr  Wesen  aufklärt.  „Eben  des- 
wegen", so  heisst  es  am  Schluss  der  Kr.  d.  r.  \'..  ,,ist  Metaphysik 
auch  die  Vollendung  aller  Kultur  der  menschlichen  Vernunft,  die  un- 
entbehrlich ist,  wenn  man  gleich  ihren  Einfluss,  als  Wissenschaft,  auf 
bestimmte  Zwecke  beiseite  setzt.  Denn  sie  betrachtet  die  Vernunft 
nach  ihren  Elementen  und  obersten  Maximen,  die  selbst  der  Mög- 
lichkeit einiger  Wissenschaften  und  dem  Gebrauch  aller  zu  Grunde 
liegen.  Dass  sie,  als  blosse  Spekulation,  mehr  dazu  dient,  Irrtümer 
abzuhalten,  als  Erkenntnis  zu  erweitern,  thut  ihrem  Wert  keinen  Ab- 
bruch, sondern  giebt  ihr  vielmehr  Würde  und  Ansehen  durch  das 
Censoramt,  welches  die  allgemeine  Ordnung  und  Eintracht,  ja  den 
Wohlstand  des  wissenschaftlichen  gemeinen  Wesens  sichert  und  dessen 
rautige  und  fruchtbare  Bearbeitungen  abhält,  sich  nicht  von  dem 
Hauptzwecke,  der  allgemeinen  Glückseligkeit,  zu  entfernen." 


Neue  Konjekturen  zu  Kants  Kritik  der  reinen  Vernunft. 

\'oii    Dr.    Kniil    \\  illc   in   liciliii. 


Ni)(h  liiiij^fii  viTilorbcuL'n  Stellen  des  j:;rosseii  Werkes  ihre  iirs|>n"Mi,i;- 
liche  (lestalt  \vieder/.u<;!;i^ben,  ist  der  Zweck  dieser  Zeilen.  Znvor  jedoch 
möchte  ich  von  zwei  Stellen  zeij^en,  dass.  obgleich  sie  einen  gewissen 
sprachlitiien   Fehler  enthalten,  dennoch  ihre  Lesart  wohl  echt  ist. 

S.  173  der  zwtMten  Ausgabe:  „und  sie  daher  zuletzt  mehr  wie  Ff)niieln 
als  Grundsätze  zu  gebrauclien  — -  liier  vermisst  man  nacli  dem  „als"  ein 
wie.  Und  S.  410/11  steht  zweimal:  , nicht  anders  als  Subjekt  gedacht 
werden  — "  Hier  vermisst  man  ebenfalls  eine  Vergleichungspartikel.  Dass 
nun  wirklich  der  Verfasser  selbst  beim  Zusammentreffen  zweier  solcher 
Partikeln  sich  die  eine  ersparen  zu  dürfen  geglaubt  hat,  dafür  spricht  in 
den  Nachträgen  zur  Kritik  der  reinen  Vernunft  S.  30  No.  67:  „nicht  anders 
(als)  als  Grössen  in  der  Erfahrung  erkennen."  Wo  die  Klammer  andeutet, 
dass  das  eine  »als"  bloss  eine  Hinzufügung  des  Herausgebers  ist.  Trotz- 
dem billige  ich  es,  wenn  man  ändert;  indessen  ziehe  ich  vor  :  nicht  anders 
denn  als. 

Doch  unecht  scheint  mir  die  Lesart  folgender  Stelleu  zu  sein: 

1.  S.  182.  „Da  die  Zeit  nur  die  Form  der  Anschauung  — "  Es  ist  ja 
unmöglich,  dass  der  Philosoph  etwas  an  den  Erscheinungen  für  die  Materie 
der  Dinge  an  sich  erklären,  dass  er  letzteren  die  Empfindungsquaiitäten, 
letzteren  Eealität  zuerkennen  will,  welche  er  soeben  als  dasjenige  definiert 
hat,  dessen  Begriff  ein  Sein  in  der  Zeit  anzeige.  Offenbar  will  er  das 
Gegenteil  sagen:  so  ist  das,  was  an  diesen  der  Empfindung  entspricht 
(die  Sachheit,  Realität),  nicht  die  transscendentale  Materie  — 

2.  S.  188.  „Denn  obgleich  dieser  nicht  weiter  objektiv  — "  Der 
Beweis  der  Grundsätze  a  priori  soll  aller  Erkenntnis  seines  Objekts  zum 
Grunde  liegen?  Nein,  ein  solcher  Grundsatz!  Von  dem  lehrt  Kant,  dass 
er  nicht  aus  der  Erfahrung  stamme,  sondern  sie  erst  möglich  mache ;  nicht 
von  der  Erkenntnis  seines  Objekts  abgezogen  werde,  .sondern  sie  erst  zu- 
stande bringe.  Und  worauf  soll  der  Singularis  „der  Satz"  sich  beziehen? 
Doch  nicht  auf  den  Pluralis  „Grundsätze".  Es  wird  also  vor  „sondern  viel- 
mehr" ein  Glied  ausgefallen  sein:  indem  ein  dergleichen  Satz  nicht 
auf  objektiven  Erwägungen  beruhet,  sondern  \äelmehr  aller  Er- 
kenntnis seines  Objekts  zum  Grunde  liegt. 

3.  S.  210.  „welche  aber  nicht  in  der  Apprehension  angetroffen  wird  — " 
Bei  dieser  Lesart  (welche  aber  nichtj  ist  man  genötigt,  unter  „indem" 
weil  zu  verstehen,  und  dann  ist  sowohl  das  Begründete  als  seine  Be- 
gründung unkantisch  und  unsinnig.  Liest  man  dagegen:  welche  aber 
nur,  so  hat  man  „indem"  für  insofern  als  zu  nehmen:  welche  aber  nur 
insofern    in    der  Apprehension   angetroffen   wird,    als   diese  vermittelst  der 


Ncnf  Konjiktiiren  zu  Kants  Kritik  der  reimen  Vorniintt.  449 

blossen    Empfindung    in    tinem   Augenblicke    und    nicht    durch    succossive 
Synthesis  vieler  Empfindungen  geschieht.    Vnd  dann  ist  alles  in  Ordnung. 

4.  S.  211.  ^kontiiiuierliclier  ZtisanimtMiliang  möglicher  Idealitäten  un<l 
möglicher  kleinerer  Walirnehmungen"*.  Wohl  so:  möglicher  kleinerer 
Realitäten  in  möglichen  \Vahrnehmungen.  Vergl.  S.  214  ^alle  Realität  in 
ihr  Wahrnelimung". 

5.  8.  212.  ^und  nicht  eigentlich  Erscheinung  als  ein  Quantum, 
welches  — ■  Dass  das  Relativum  „welches"  auf  „Aggregat"  gehe,  wie 
ein  Herausgeber  anmerkt,  ist  sprachlich  unmöglich:  es  kann  nur  auf 
„Quantum"  gehen.  Dann  freilich  sagt  der  Relativsatz  das  Gegenteil  von 
dem,  was  er  sagen  sollte.  Nun  glaubt  ein  anderer  Herausgeber  dadurch 
zu  helfen,  dass  er  di-ucken  lässt:  welches  Aggregat  —  Aber  wer  fühlt 
nicht,  wie  ungeschickt  und  verworren  der  Stil  dadurch  wird?  P]s  bleibt 
nichts  weiter  übrig,  als  umzustellen:  ein  Quantum,  welches  nicht  durch 
Wiederholung  einer  immer  aufhörenden  Synthesis,  sondern 
durch  die  blosse  Fortsetzung  der  produktiven  Synthesis  einer 
gewissen  Art  erzeugt  wird. 

6.  Ebendaselbst,  „welche  aber  allerdings  eine  kontinuierliche  CJrösse 
ist  — -      Hier  ist  „aber"  zu  tilgen. 

7.  .S.  214.  „einen  bestimmten  Grad  der  Reeeptivität  dtr  Empfin- 
dungen — "  Nein,  eine  bestimmte  Grenze  (jenseits  deren  nichts  mehr 
empfunden  und  also  kein  Grad  von  Realität  mehr  wahrgenommen  wird). 
Und  nicht  mit  „und  gleichwohl"  ist  dieses  Satzglied  dem  vorigen  bei- 
zuordnen, sondern  mit  obgleich  wohl  unterzuordnen. 

8.  S.  219.  „Er.scheinungen,  die  sie  zusammenstellt,  in  Raum  und  Zeit 
in  derselben  angetroffen  wird."  Natürlich,  die  sie  in  Raum  und  Zeit 
zusammenstellt. 

9.  S.  238.  „wenn  ich  in  der  Apprehension  anfangen  müsste  — "  Nicht 
„wenn",  sondern  wo. 

10.  S.  242.  „eine  andere  Vorstellung  (von  dem,  was  man  vom 
Gegenstande  nennen  wollte)."  Nein,  was  man  Gegenstand  nennen 
wollte. 

11.  S.  243.  „worauf  es  jederzeit,  d.  i.  nach  einer  Regel,  folgt.  Nein, 
worauf  sie,  die  Erscheinung,  jederzeit  —     Vergl.  S.  264,  2. 

12.  S.  260/51.  „die  Substantialität,  ohne  dass  ich  die  Beharrlichkeit 
desselben  — "  die  Substantialität  eines  Subjektes,  ohne  dass  ich  die 
Beharrli(;hkeit  desselben  — 

13.  S.  265.  „sie  aber  nicht  vor  ihr  gegeben."  Ich  vermute:  vor 
ihnen.  Nämlich,  sie,  die  Zeit,  die  leere  Zeit,  i.st  uns  nicht  vor  ilinen,  den 
Teilen  des  Fortgangs,  d.  h.  den  Wahrnehmungen,  sondern  durch  diese 
jUlererst  sind  uns  Zeitverhältnisse  gegeben.  ,Um  deswillen  ist  ein  jeder 
Übergang  in  der  Wahrnehmung  zu  etwas,  was  in  der  Zeit  folgt,  eine 
Bestimmung  der  Zeit  durch  die  Erzeugung  dieser  Wahrnehmung." 

14.  S.  266.  „Fortganges  des  Existierenden  zu  dem  Folgenden  — " 
Das  ist  nicht.s,  schon  deshalb  nichts,  weil  lediglich  von  einem  Fortgange 
des  erkennenden  Subjekts  die  Rede  ist.  Sinngemäss  wäre:  sinnliche 
Bedingung  a  priori  der  Möglichkeit  eines  kontinuierlichen  Fortganges 
von  dem  Vorhergehenden  zu  dem  Folgenden. 


c> 


450  l»r    Kniil   Will(<, 

ir>  S  "J.')S  „Ulli!  wfiin  w  «'tlisi»lseiti^  dioscs  ilcii  (iriiiui  "  \  icliiiclir 
so:  iiml  \\  oiiti  wt'rhsclsi'itif;  j»'(U' (Substanz  1  licii  *  ii  und  «h-r  Bcstinnnunf!;t"i' 
in  «Ifii  amlcn'ii  ontliält. 

16.  EluMitlasflbst  :  „I>('nu.  wiirc  sie  in  der  Zeit  nudi  «'iiiainltM  *  Nein, 
wiiron   sie  (die    ninL:!',. 

17.  S.  'JT8  ,W()  also  Waliriiflmmii^  und  dcicn  .\nliaTiL:;  "  Uic 
Worte  _iinil  dt'ifii  Aidianu;"  sind  siunlns.  Aus  dem  Vorherpfehnidcii  crsclifii 
wir.  dass  der  (.Jedauki'  der  Ljt'WcsiMi  sein  imiss:  Wo  also  \\  ,iliriicliiininpj 
Oller  ein  Schluss  nach  den  Analogien  di'r  Krfalinin^  liiiirciclit  Rir 
sehliessen  hat  nun  Kant  den  Ausdruck  fortgehen.  Man  vergleiche  im 
fol^^enden  Satze:  „oder  jj^ehen  wir  nicht  nach  Gesetzen  des  empirischen 
Zusammenhanges  der  Erscheinungen  fort."  Ferner  S.  394  „jogisclim  l'ort- 
gange  der  Vernunft  von  di'n  Prämissen  zum  Schlusssatze".  und  S.  763  „im 
Fortgange  der  Schlüsse."  Und  der  folgende  Satz  meint  ciijjiiitiii  h  nichts 
anderes,  als  dass  wir  das  Dasein  der  Dinge  nicht  erforschen  können,  wenn 
wir  nicht  das  Verfahren  wählen,  welches  unser  Satz  anrät.  Mithin  wird 
dei-selbe  anraten,  nach  solchen  (lesetzen  fortzugehen.  Auf  diesem  Wege 
gelange  ich  zu  der  Änderung:  Wo  also  Wahrnehmung  oder  ein  Fort- 
gang nach  empirischen  Gesetzen  hinreicht  —  Aber  nach  empirischen 
Gesetzen-  Die  Analogien  der  Erfahrung  sind  doch  nicht  empirische,  ob- 
zwar  empirisch-syntheti.sche,  d.  h.  Gesetze  empirischer  Synthesis  oder  Ver- 
knüpfung- Nun,  hier  dürfen  wir  nicht  an  der  Überlieferung  rütteln.  Denn 
gerade  diese  Formel  ..nach  empirischen  Gesetzen"  findet  sich  an  Stellen, 
wo  sie  nicht  bedeuten  kann:  nach  denen,  welche  von  der  Erfahrung  ab- 
geleitet sind,  sondern  nur:  nach  denen,  welche  für  das  Gebiet  derselben 
gelten  oder  sogar  .sie  erst  machen.     Vergl.  S.  565  und  S.  579. 

18.  S.  347.  ..und  so  ist  der  Gegen.stand  eines  Begriffs  — "  Nicht 
dieser  allgemeine  Satz  soll  gefolgert,  wa.s  auch  garnicht  anginge,  sondern 
von  dem  ens  rationis  Keines  etwas  ausgesagt  werden:  und  ist  so  der 
Gegenstand  eines  Begriffs  —  Au.sserdem  gehört  die  Klammer  (ens  rationis) 
schwerlich  zwischen  die  Beispiele,  sondern  an  das  Ende  der  Nummer,  wie 
die  übrigen.  Überhaupt  haben  Klammern  in  diesem  Werke  leicht  das 
Missgeschick,  an  eine  falsche  Stelle  zu  geraten.  So  gehört  S.  171  (casus 
datae  legis)  nicht  hinter  „Regel";  es  gehört  vielmehr  hinter  „stehe";  denn 
nicht  die  Regel,  sondern  das  Stehen  unter  ihr  ist  derartiger  casus. 

19.  S.  477.  „Die  Möglichkeit  einer  solchen  unendlichen  Abstammung  —  • 
Zweimal  „Möglichkeit",  das  ist  natürlich  zu  viel.  Und  „seiner"  weist  auf 
■ein  Nicht-Femininum  als  Subjekt  des  Satzes  hin.  Ich  vermute:  Das 
Wunder  einer  solchen  unendlichen  Abstammung —  Denn  es  folgt:  , Diese 
Naturrätsel." 

20.  S.  480  Anm.  „Die  Zeit  geht  zwar  — "  Von  einer  Zeit  an  sich 
und  Veränderungen  an  sich  kann  natürlich  nicht  die  Rede  sein;  wir  können 
also  nur  verstehen,  die  Zeitvorstellung  gehe  als  formale  Bedingung  des 
AVahrnehmens  der  Veränderungen  vor  demselben  objektiv  vorher.  Indessen 
dass  die  Notwendigkeit,  zeitlich  wahrzunehmen,  schon  vor  aller  Wahr- 
nehmung dem  Subjekte  innewohnt,  ist  vielmehr  ein  subj  ektives  Vorher- 
gehen; weshalb  die  formale  Bedingung  auch  als  subjektive  bezeichnet  wird. 
Und    in    der  Wirklichkeit   des  Bewusstseins   gegeben   sein,    heisst  nicht  es 


Neue  KonjfUtiin'n  zu   K.iiiis  Kritik  der  reinen  Verniintt.  451 

subjektiv,    sondern    es    ()l)jfk.tiv    (weiuigk-icii    iiiilit    ;tn    sich)  sein.     Beide 
Adverbia  haben  somit  ihren   IMat/  zu  tauschen, 

21.  S.  489.  „der  aus  einer  ähnlichen  Schwierijjjkeit  — "  Schwurlieh 
uill  der  \erfasser  sap:en.  dass  der  Streit  über  die  Wald  des  Standpunktes 
ents]iraiig;  im  Clegenteil.  dass  jene  Astronomen  nur  deshalb  sich  nicht 
einigen  konnten,  weil  sie  die  Verschiedenheit  iluer  Standimnkte  garnicht 
merkten  oder  ni(dit  genug  berücksichtigten.  Und  von  ähnlicher  Schwierig- 
keit sollen  beide  rntersuchungen,  die  über  die  Existenz  eines  notwendigen 
Wesens  und  die  über  die  Achsendrehung  des  Mondes,  doch  lediglic  h  in 
Betreff  der  Wahl  des  Standpunktes  sein.  Also,  aus  einer  iUinlichen 
Schwierigkeit   der   \\':ihl   des  Stamliiunktes. 

22.  S.  .')61.  „und  jene  in  diesi'r  das  eigentliche  Moment  — "  und  jtrie 
in  diesem  (dem   praktischen   Begriffe  derselben). 

23.  S.  6'J3.  „allein  nicht  um  etwas  an  ihnen  zu  bestimmen  — "  an 
ihm,  dem  Gegenstande  der  Erfahrung. 

24.  S.  721.  „nach  diesem,  aus  der  Natur  zu  beweisen."  Ich  würde 
verstehen:  nach  diesen,  den  allgemeinen  Gesetzen. 

25.  S.  728.  „Anthropomorj)hism  (ohne  welchen  sich  garnichts  von 
ihm  denken  lassen  würde)  — "  von  ihr,  der  Weltursache,  denken  lassen 
würde. 

26.  S.  766.  „deren  Ausspruch  jederzeit  nichts  als  die  Einstimmung 
freier  Bürger  ist  — "  Der  Ausspruch  der  Vernunft  ist  die  Einstimmung 
freier  Bürger?  Nein,  er  sucht  sie,  weil  die  Vernunft  „kein  diktatorische-s 
Ansehen  haf ;  weil  sie  „sich  in  allen  ihren  Unternehmungen  der  Kritik 
unterwerfen  muss."     Folglich  sucht  statt  „ist". 

27.  S.  769.  „wenn  nur  die  reine  Vernunft  — "  Das  verstehe  ich  nur 
dann,  wenn  ich  „ihm"  in  ihr  verwandle:  wenn  nur  die  reine  Vernunft  auf 
der  verneinenden  Seite  etwas  zu  sagen  hätte,  was  einem  Grunde  ihrer 
verneinenden  Behauptung  nahe  käme;  denn  was  ihre  Kritik  der  Beweis- 
gründe des  dogmatisch  Bejahenden  betrifft,  die  kann  man  ihr  sehr  wohl 
einräumen,  ohne  darum  diese  Sätze  desselben  aufzugeben. 

28.  S.  781.  „Denn  wo  will  der  angebliche  Freigeist  seine  Kenntnis 
hernehmen  — "  Doch  wohl  so:  der  Freigeist  .seine  angebliche  Kenntnis 
Er  giebt  ja  nicht  an,  ein  Freigeist  zu  sein,  sondern  die  betreffende  Kenntnis 
zu  haben.  Vielleicht  vermeint  er,  einer  zu  sein :  aber  dann  wäre  er  ein 
vermeintlicher.  Im  vorigen  Hefte  habe  ich  dargethan,  dass  besonders  gegen 
Schluss  des  Werkes  Schreiber  oder  Drucker  allerhand  wunderliche  Um- 
stellungen gemacht  hat. 

29.  S.  837.  „von  allen  Hindernissen  der  Sittlichkeit  (der  Neigungen) 
abstrahieren  — "     Natürlich  den  Neigungen. 

80.  S.  842.  „einigen  bedeutenden  Grund,  nur  ein  einiges  Wesen  an- 
zunehmen -~  Es  ist  brichst  unwahrscheinlich,  dass  der  Verfasser  ohne 
Not  zweimal   einig  geschrieben  hat.     Also,  einen  bedeutenden  Grund. 

31.  S.  848.  „welches  wir  allen  Naturursachen  vorsetzen  — "  Besser: 
vorzusetzen. 

Vielleicht   können   die    neuen  Herausgeber  hiervon  etwas  gebrauchen. 


Siebzig  textkritische  Randglossen  zur  Analytik. 

\  on    II.    \  a  i  li  i  n  ji;(_'  r. 

Bei  tUr  Ausarbeitung  dos  111.  B.ukK's  meines  Kommentars  /.ii  Kants 
Kr  <\.  r.  \  .,  welcher  die  Transse.  .Vnalytik  umfassen  winl.  hin  ich  auf  eine 
Anzahl  Stellen  gestossen.  an  denen  mir  der  hergebrachte  Text  der  Ver- 
bi'sserung  bedürftig  erscheint.  Manche  dies(>r  ÄndcMMingsvorschläge  sintl 
vielleicht  mehr  vom  Standpunkt  des  Xonunentators,  als  von  dem  eines 
blossen  Textherausgebers  gerechtfertigt;  ich  glaubte  aber  hier  alle  mit- 
teilen zu  sollen,  um  den  zukünftigen  Herausgebern  des  Textes  dir  Ki  d.  r. 
V.  das  ganze  Material  vorzulegen. i) 

Die  Seitenzahlen,  die  ich  ohne  weiteren  Zusatz  citiere,  sind  die 
Seiten  der  zweiten  Ausgabe,  welche  in  den  Editionen  von  Erdmann, 
Adickes,  Vorländer,  sowie  von  Kehrbach  am  Rande,  resp.  unten  angegeben  sind. 
Diejenigen  Stellen,  welche  nur  der  ersten  Auflage  angehören,  citiere  ich  mit 
dem  Zusatz  „1.  Aufl."  ebenfalls  nach  den  Originalseiten,  die  in  den  an- 
geführten Ausgaben  gleichfalls  angegeben  sind. 

1.  S.  81/82.  „Eine  solche  Wissenschaft  .  .  .  würde  transscendentale 
Logik  heissen  müssen,  weil  sie  es  bloss  mit  den  Gesetzen  des  Verstandes 
und  der  Vernunft  zu  thim  hat,  aber  lediglich,  sofern  sie  auf  Gegenstände 
a  priori  bezogen  wird,  und  nicht,  wie  die  allgemeine  Logik  auf  die 
empiri.schen  sowohl  als  reinen  Vernunfterkenntnisse  ohne  unterschied."  Mit 
Recht  hat  B.  Erdmann  „wird"  in  „werden"  verändert;  „sie"  kann  sich  nur 
auf  den  Plural  „Gesetze  des  Verstandes  und  der  Vernunft"  beziehen,  nicht 
auf  den  Singular:  „transscendentale  Logik".  Aber  es  muss  auch  am 
Schluss  heissen:  „nicht  wie  die  allgemeine  Logik,  mit  den  empirischen 
sowohl  als  reinen  Vernunfterkenntnissen  ohne  Unterscliied" ;  es  muss  statt 
„auf  die  ...  erkenntnisse"  heissen:  „mit  den  .  .  .  erkenntuissen" ;  denn  die 
„allgemeine  Logik"  wird  damit  gegenübergestellt  der  „transscendentalen 
Logik",  welche  es  bloss  mit  den  auf  Gegenstände  a  priori  bezogenen 
Verstandes-  und  Vernunftgesetzen  zu  thun  hat.  Das  mit  den  Worten 
„und  nicht"  beginnende  Satzglied  steht  dem  ganzen  mit  „bloss"  beginnen- 
den Satzteil,  nicht  bloss  dem  mit  „lediglich"  beginnenden  Zwischensätzchen 
gegenüber.  Es  liegt  da  allerdings  nicht  ein  Druckfehler  vor,  sondern  ein 
lapsus  calami;  aber  auch  diese  müssen  korrigiert  werden. 

2.  S.  86/86.     Die  Dialektik    war  bei  den  Alten  „nichts  anderes,    als  die 
Logik  des  Scheins,  eine  sophistische  Kunst  ..."     In  allen  Ausgaben  steht 


1)  Die  Veranlassung  zu  dieser  Zusammenstellung  bietet  die  neue  von  der  Berliner 
.■Vkademie  veranstaltete  Kantausgabe,  der  diese  Konjekturen  vielleicht  noch  nützlich 
fc:ein  können.  Hierin  liegt  auch  die  Entschuldigung  unseren  Lesern  gegenüber,  dass  wir 
dem  textkritischeu  Beitrag  im  vorigen  Hefte  schon  wieder  zwei  neue  Beiträge  desselben 
Inhalts  in  diesem  Hefte  folgen  lassen. 


Siebzig  textkritische  RanJglossen  znr  Analytik.  453 

statt  des  Komma   nach  „Scheins"  ein    Punkt.     Dann    bleibt    aber  „eine  so- 
phistische Kunsf  ohne  Verbiim. 

3.  S.  86.  „Eine  sophistische  Kunst,  seiner  Unwissenheit,  ja  auch  seinen 
vorsätzlichen  Blendwerken  dadurch  den  Anstrich  der  Wahrheit  zu  geben, 
dass  man  .  .  ."    „dadurch"  h'hlt  im  Text. 

4.  S.  93.  „Alle  Anschauungen  .  .  .  beruhrn  ;uil  Alfektionen,  die  Begriffe 
aber  auf  Funktionen."  Die  Vulgata  hat  statt  „aber"  ein  den  Zusammen- 
hang störendes  „also".  Adickes  hat  die  Änderung  schon,  aber  ohne  sie  in 
seinem  Veiv.eichnis  als  solche  kenntlich  gemacht  zu  haben. 

5.  S.  102.  In  dem  durch  seine  Schwierigkeiten  berüchtigten  i?  10  findet 
sich  u.  a.  folgende  Stelle:  „Raum  und  Zeit  .  .  .  gehören  .  .  .  zu  den  Bedin- 
gungen der  üeceptivität  unseres  Gemüts,  unter  denen  es  allein  Vor- 
stellungen von  Gegenständen  empfangen  kann,  die  mithin  a\ic,h  den  Begriff 
derselben  jedei-zeit  affizieren  müssen."  Diesen  letzten  Satz  kann  ich  nicht 
verstehen.  Auf  was  zielt  „derselben"'  Auf  „Receptivität" 7  Auf  , .Bedin- 
gungen" '  Und  wie  kfinnen  Gegenstände  den  „Begriff  derselben" 
affizieren-  Kanuitverstan !  Ich  lese:  „Die  mithin  dasselbe  jederzeit 
affizieren  müssen"  —  ..das.selbe''  nämlich  das  ..Gemüt".  Die  Worte:  „auch 
den  Begriff"  sind  vielleicht  in  den  Text  hineingekommen,  weil  Kant 
sie.  res]),  die  Worte  ..durch  den  Begriff"  zum  folgenden  Satz  an  den  Rand 
geschrieben  hatte:  weim  man  diese  letzteren  Worte  vor  „verbunden"  im 
nächsten  Satze  einsetzt,  geben  sie  einen  guten  Sinn.i) 

(5.  S.  108.  Von  den  Prädikabilien.  Man  kann  die  Absicht,  dieselben 
vollständig  aufzuzählen,  ., ziemlich  erreichen,  wenn  man  die  ontologischen 
Lehrbücher  zur  Hand  nimmt,  und  z.  B.  der  Kategorie  der  Kausalität  die 
Prädikabilien  der  Kraft,  der  Handlung,  des  Leidens,  der  der  Gemeinschaft 
dif  der  Gegenwart,  des  Widerstandes,  den  Prädikamenten  der  Modalität 
die  des  Entstehens,  Vergehens,  der  Veränderung  u.  s.  w.  unterordnet." 
Kausalität,  Gemeinschaft,  Modalität  müssen  gesperrt  werden;  der  Mangel 
dieser  Auszeichnung  (resp.  der  damals  statt  der  Sperrung  übhchen  „Schwa- 
bacher  Lettern'')^)  kann  nur  auf  einem  Versehen  beruhen. 

7.  S.  108.  In  demselben  Passus  nehme  ich  Anstand  an  dem  Worte 
„Gegenwart".  Wie  .soll  denn  „Gegenwart"  dazu  kommen,  neben  „Wider- 
stand" ein  aus  d'em  Begriffe  der  „Gemeinschaft"  (—  „Wechselwirkung 
zwischen  dem  Handelnden  und  Leidenden")  abgeleiteter  Begriff  zu  sein? 
Mellin.  Enr.  Wort.  1.  36,  giebt  folgende  Erläuterung:  „Die  Kategorie  der 
Gemeinschaft    in    Verbindung    mit    Ort,    einem    Modus    des    Raumes,    und 


")  Bpi  dieser  Gelegenheit  »oi  oiu  Versohcn  der  bisherigen  Her»in«geber  korrigiert: 
in  (lom.sflliiii  S  10.  im  5.  Abs.  (S.  104)  steln-n  in  beiden  er.sti-n  AuHgiibiii  bei  K.  folgende 
zwei  Wendungen  im  fTegensatz:  ,.Annlytiseh  wer<leu  versehiedene  Vor.stellnugen  unter 
einen  Begriff  gebracht  (ein  Geschäft,  wovon  die  allgom.  Logik  huntlelt).  aber  .  .  die 
reine  Syntliesis  der  Vorstellungen  auf  Begrifte  zu  bringen,  lehrt  die  transc.  Logik". 
Die  PrÜpositioncn  unter  und  auf  sind  bei  K.  selbst  deutlich  fettgedruckt.  Rosenkranz 
hat  nun  nur  ..unter-  gesjjerrt,  Kehrbaeh  nur  „aul"".  Hartenstein  und  Knimann  haben 
die  Auszeichnung  beidemal  weggelassen.  Man  muss  sie  aber  beilichalteu.  trotzdem  sie 
-acblich  schief  ist.  da  K.  selbst  ganz  oft'enbar  den  Gegensatz  so  bestimmt  haben  wollte. 

»)  Xebeubii  bemerkt  —  wann,  wo,  durch  welche  Druckerii  kam  statt  der 
für  die  Auszeichnung  einzelner  Worte  damals  ilbliclieu  fetten  und  grossen  (sog. 
..Schwabacher")  Lettern  die  jetzt  bei  uns  in  Fieutschland  übliche  Methode  des 
Sperrens  auf,  welche  auffallenderweise  weder  in  Fraukrei<-h  noch  in  England  Xach- 
ahmung  gefunflen  hat.  wo  man  zu  diesem  Zwecke  die  „Ilalia"  verwendet'.' 


454  ''    \'iiiliinf;:or, 

ZutrkMrhsi'in,  oiiioin  Moiliis  der  Zt'it.  Lciflit  (iic  PriidiUiihilir  der  (!f;j;<'n\Vitrt. 
ndt-r  der  «irtliclioii  iM-iufiiischiift."  Atn-r  Ict/tcn'  (Uciclisotziiuf:;  ist,  ddcli 
selir  /.ii  bezweift'ln.  uml  \(>ii  ilcr  NCrliindiiii;;'  der  K;itef>;firien  mit,  dt<ii 
Modis  dfi'  i'tMiU'ii  Siiinliclil^cit     ist     im   Text,    erst    ii.iclilu'f    die    Itcdf.  Ii-li 

lese  einfacli  statt  ,,(.u'j:;fii\vart"  -  C<  t'<:;i'u  wirk  ii  uj^.  lUx  r  dirsclhf  s. 
speciell  dvn  /.weitt'i»  der  ,, Sieben  kleinen  Aiifsät/e".  Kos.  ii.  Schul)..  XI,  1, 
268;  Hartenst.  IV.  501:  Kinlim  \11I.  194.  Über  „Wirkuni;-  und  (;en;en- 
wirkuni;""  v,u,l-  :iiirli  dir  l'jnleil  inii;'  /iif  \\v  d.  r.  V.  '_'.  .\ui'i.  S.  17  (l'>iid. 
H  \  .  ■_').  l  lier  reuctin  s|ireclicn  ;iiii'li  in  Ary  'ili.it  die  c  lut  (ilni^isciieii  iiclir- 
biicher  (/..  B.  Baumeister.  Inst.  met.  fj  4-4'.i.  IMiilns.  drlinit.  t?  ü.'jI  :  icactio  dicitur 
acti(>  patientis  in  a^ens;. 

8.  S.  109.  Die  Ivateji:orient;del  ist  inientlieiiiiich,  ,,deii  Plan  /.um  (Jan/en 
einer  Wissenschaft  .  .  .  a  juidri  .  .  .  vollständig  zu  entwerfen  uml  sie  mathe- 
m.T.tisch  nach  bestimmt»'n  Prinzipien  ab/uteilen".  „Mathematisch'" .'  Uanz 
unkantischl     Ich  bin  überzeugt,  dass   Ivant  „systematisch"  geschrieVn'u  hat. 

}).  S.  112.  Es  ist  die  Jvede  von  der  wechselseitigen  Bestimmung  der 
Einteilungsglieder  in  dem  Ganzen  einer  eingeteilten  Sphäre.  „Nun  wird 
eine  ähnliche  Verknüpfung  in  einem  Ganzen  der  Dinge  gedacht,  d;i 
.  .  .  eines  .  .  .  dem  anderen  .  .  .  zugleich  und  wechselseitig  als  Ursache 
der  Bestimmung  der  andern  beigeordnet  wird,  z.  B.  in  einem  Körper,  dessen 
Teile  einander  wechselseitig  ziehen  und  auch  widerstehen  .  .  ."  das  Bei- 
spiel, wie  der  übrige  Zusammenhang  zeigen,  dass  es  nicht  heissen  kann: 
„in  einem  Ganzen  der  Dinge";  das  „Ganze  der  Dinge"  ist  die  Welt.  Es 
muss  heissen:  ,.in  einem  Ganzen  von  Dingen''. 

10.  S.  112.  Der  Text  fährt  unmittelbar  fort:  „welches  eine  ganz  andere 
Art  der  Verknüpfung  ist,  als  die,  so  im  blossen  \'erhältnis  der  Ursache 
zur  Wirkung  .  .  .  angetroffen  wird,  in  welchem  die  Folge  nicht  wechsel- 
seitig wiederum  den  Grund  bestimmt  und  darum  mit  diesem  (wie  der 
AVeltschöpfer  mit  der  Welt)  nicht  ein  Ganzes  ausmacht".  Es  würde  besser 
heissen  (z.  B.  die  Welt  mit  dem  Weltschöpfer).  Die  Welt  ist  die  Folge, 
der  Weltschöpfer  der  Grund:  jene  macht  „mit  diesem''  nicht  ein  Ganzes 
aus.     (Dasselbe  Beispiel  auch  bei  Baumeister.  Instit.  Metaph.,  §  349.) 

11.  S.  113.  In  dem  unmittelbar  darauf  folgenden  Satz  würde  der 
logische  Zusammenhang  besser  gewahrt  sein,  wenn  bei  den  Worten:  „doch 
als  in  einem  Ganzen  verbunden  vor''  nach  „Ganzem"  stünde: ., durch  wech.sel- 
seitige  Bestimmung". 

12.  S.  116.  Die  Überschrift  des  hier  beginnenden  neuen  Abschnittes 
lautet:  «Der  transscendentalen  Analytik  zweites  Hauptstück".  Allein  dem 
Parallelisraus  membrorum  entspricht  diese  Überschrift  durchaus  niclit:  denn 
ihr  korrespondiert  ja  die  auf  S.  91  stehende  Überschrift:  „Der  Analytik 
der  Begriffe  erstes  Hauptstück."  Und  so  muss  es  hier  heissen:  „Der 
Analytik  der  Begriffe  zAveites  Hauptstück."  Hierauf  hat  schon  vor 
fast  30  Jahren  Michel is,  Kant  vor  und  nach  dem  Jahre  1770  (Braunsberg, 
1871)  S.  78  aufmerksam  gemacht. 

13.  S.  116.  „Wir  bedienen  uns  einer  Menge  empirischer  Begriffe  ohne 
Jemandes  Widerrede,  und  halten  uns  auch  ohne  Deduktion  berechtigt, 
ihnen  einen  Sinn  und  eingebildete  Bedeutung  zuzueignen,  weil  wir  jeder- 
zeit die  Erfahi-ung  bei  der  Hand  haben,  ihre  objektive  Realität  zu  beweisen." 


Siebzig  textkritische  Kandglossen  zur  Analytik.  455 

Aber  dann  ist  es  docli  ein  iieller  Widerspruch,  denselben  „eingebildete" 
Bedeutung  zuzueignen!  Ich  vermute,  dass  Kant  selbst  geschrieben  hat: 
„eine  giltige.-' 

U.  S.  li>4.  „Es  sind  nur  zwei  Fälle  möglich,  unter  welchen  syn- 
tlietische  N'orstellungen  und  ihre  Gegenstände  zusammentreffen  .  .  ."' 
^Synthetische  Vorstellungen"  (der  Text  hat  „Vorstellung",  was  aber  Erd- 
mann mit  Recht  in  „Vorstellungen"  verwandelt  hat)  ist  eine  ungewöhn- 
liche Verbindung;  ich  zweifle,  ob  sie  sonst  bei  Kant  wiederkehrt;  sie  ist 
wohl  ein  ienui  '/.työutroy.  gemeint  können  aber  meines  Erachtens  nur 
sein  die  Kategorien,  die  Begriffe,  welclie  eine  Synthesis  enthalten,  wie  es 
oft  heisst.  Trotz  dieser  Seltenheit  würde  der  Ausdruck  als  solcher  nicht 
beanstandet  werden  können.  Aber  er  passt  nicht  zum  Folgenden.  Es  ist 
ja  auch  von  Vorstellungen  dieRede,  welche  nicht  in  jenem  Sinne  „synthetisch" 
sind,  nämlich  von  den  empirischen.  Ich  glaube  also,  dass  Kant  zuerst  wohl 
eine  andere  Wendung  des  Gedankenganges  im  Auge  hatte,  zu  dem  der 
Ausdruck  „synthetische"  passte,  nachher  aber  doch  den  vorliegenden  ein- 
schlug und  nur  vergass,  das  Wort  „synthetische"  dann  auszustreichen. 

15.  S.  l'Jö.  Nachdem  nun  der  erste  Fall  besprochen  worden  i.st,  da.ss  der 
Gegenstand  die  Vorstellung  möglich  macht  —  bei  empirischen  Vor- 
stellungen — ,  so  heisst  es  weiter:  „Ist  aber  das  zweite,  weil  Vorstellung 
an  sich  selbst  .  .  ,  ihren  Gegenstand  dem  Dasein  nach  nicht  hers'or- 
bringt,  so  ist  doch  die  Vorstellung  in  Ansehung  des  Gegenstandes  alsdann 
a  priori  bestimmend,  wenn  durch  sie  allein  es  möglich  ist,  etwas  als  einen 
Gegenstand  zu  erkennen.''  Die  vonKant  selbst  gesperrten  Worte  be- 
weisen, dass  beide  Sätze  im  Gegensatz  stehen;  dann  aber  darf  doch  der 
Weil-satz  nicht,  wie  geschehen,  gestellt  werden.  Kehrbach  schlägt  vor,  die 
beiden  Wörtchen  „so  ist"  heraufzunehmen,  und  unmittelbar  vor  „weil"  zu 
stellen.  Ich  bedaure,  dass  weder  Erdmann,  noch  Adickes,  noch  Vorländer 
diesem  einleuchtenden  Vorschlag  gefolgt  sind. 

16.  S.  99  der  1.  Aufl welche  Handlung  ich  die  ..Synthesis  der 

Apprehension  nenne,  weil  sie  geradezu  auf  die  Anschauung  gerichtet 
ist,  die  zwar  ein  Mannigfaltiges  darbietet,  dieses  aber  als  ein  solches,  und 
zwar  in  einer  Vorstellung  enthalten,  niemals  ohne  eine  dabei  vorkommende 
Syntliesis  bewirken  kann."  Der  Ton  liegt  auf  „einer"  im  Gegensatz  zum 
Mannigfaltigen.  Der  hergebrachte  Text  sperrt  aber  die  ganze  Phrase: 
„in  einer  Vorstellung".  Adickes  hat  die  Auszeichnung  überhaupt  weg- 
gelassen. Wie  ich  nachträglich  sehe,  hat  auch  Vorländer  schon  das 
Richtige  hier  getroffen . 

17.  S.  99  der  1  Aufl.  Dieselbe  Stelle  bietet  aber  nun  noch  weitere  er- 
heblichere Schwierigkeiten;  was  heisst:  die  Anschauung  kann  dieses  Mannig- 
faltige als  ein  solches,  und  zwar  in  einer  Vorstellung  enthalten,  niemals 
ohne  eine  dabei  vorkommende  Synthesis  bewirken  •  Es  liegt  auf  der  Hand, 
dass  diese  Stelle  stihsti.sch  verdorben  ist.  Ich  glaube,  dass  Kaut  so  ge- 
schrieben hat,  resp.  hat  schreiben  wollen:  Anschauung,  „die  zwar  ein 
Mannigfaltiges  darbietet,  dieses  aber  als  ein  solches  \mimlich  eben  nur  als 
}danni(jfalüijcii  ohne  Verbindung],  es  aber  als  in  einer  Vorstellung  ent- 
halten vorzustellen,  niemals  ohne  eine  dabei  vorkommende  Synthesis  be- 
wirken kann". 


45()  "    \'ai  hinter, 

IM.  S  101  iltT  1.  Aufl.  „Ks  iiiuss  also  otwas  st'iii,  was  si'Ihsl  dioso 
RepnHiuktion  dvv  Krsclioiiuin'^en  tiuijjjlich  inarht."  Aber  nicht  um  du- 
Reproiluktinn  dvv  Krscheinunpjen  handelt  es  sich  ja.  somit  in  um  <li( 
Reproduktion  unserer  \'orstellun<jji'n,  und  diese  heruht  auf  der  „He^d- 
mässiji^koif*  der  Erscheiunngun.  Statt  ..Reproduktion"  ist  wahrscheinlich 
„Reproducibilität"  /u  h-sen  —  ein  Ausdruck,  der  sich  in  \  erhindun^  mit 
..Krscheinuni:;:en"   ein   paar  Zeilen  weiter  unten  auch  thatsilchlich   findet. 

IJ).  S.  lO'J  der  1.  Aufl.  „Die  Syntlu'sis  der  Apprehension  ist  also  mit. 
der  Synthesis  der  Reproduktion  unzertreiiniicii  verl)unileii.  I'nd  da  jeut; 
den  transscendentalen  Grund  der  Möglichkeit  aller  Erkenntnisse  überiiauj)t . .  . 
.•xnsmacht".  Um  des  „jene"  willen  ist  der  erste  Satz  so  umzustellen:  „Die 
Synthesis  der  Reproduktion  ist  also  mit  der  S^Mitliesis  der  .\i)])reiM'nsion 
unzertrennlich  verbunden."  Aber  auch  die  Beziehung  auf  das  Vorhergehende 
macht  diese  Umstellung  notwendig. 

t!0.  I^-  lOS  der  1.  .\ufl.  (unten).  „Nunmehro  werden  wir  auch  un.sere 
Kegriffe  von  dem  Gegenstande  überhaupt  richtiger  bestimmen  ktuinen." 
Mit  dem  "Worte  „Nunmehro"  beginnt  ein  neuer  Gedankengang.  Dass  der- 
selbe nicht  auch  äusserlich  durch  einen  frischen  Absatz  markiert  ist,  kann 
nur  auf  einem  Versehen  des  Setzers  resp.  Korrektors  beruhen. 

21.  S.  116  der  1.  Aufl.  „Wir  sind  uns  a  juiori  der  durchgängigen 
Identität  unserer  selbst  in  Ansehung  aller  Vorstellungen  bewusst  .  .  . 
dass  sie  mit  allen  anderen  zu  einem  Bewusstsein  gehören."  „P^inem"  muss 
gesperrt  gesetzt  werden. 

22.  S.  121  der  1.  Aufl.  „Würde  nun  aber  diese  Einheit  der  Association 
nicht  auch  einen  objektiven  Grund  haben,  so  dass  es  möglich  wäre,  dass 
Erscheinungen  von  der  Einbildungskraft  anders  apprehendiert  würden  .  .  ." 
Statt  „möglich"  steht  im  Text  irrigerweise  „unmöglich". 

23.  S.  124  der  1.  Aufl.  „Durch  das  Verhältnis  des  Mannigfaltigen 
aber  zur  Einheit  der  Apperception  w^erden  Begriffe,  welche  dem  Verstände 
gehören,  aber  nur  vermittelst  der  Einbildungskraft  in  Beziehung  auf  die 
sinnliche  Anschauung  zustande  kommen  können."  Der  absolute  Gebrauch 
von  „werden"  —  wir  haben  das  Wörtchen  der  Deutlichkeit  halber  gesperrt 
—  ist  wohl  nicht  Kantisch ;  „werden"  wäre  hier  —  entstehen.  Es  handelt 
sich  wohl  um  ein  unwillkürliches  Anakoluth:  zu  ergänzen  w^äre  etwa  „ins 
Spiel  gebracht"  oder  auch  „erzeugt"  —  beides  Kantische  Wendungen. 

24.  S.  125  der  1.  Aufl.  „Auf  ihnen  gründet  sich  also  alle  formale  Einheit 
in  der  Synthesis  der  Einbildungskraft,  und  vermittelst  dieser  auch  alles 
empirischen  Gebrauchs  derselben."  „Aller  empirische  Gebranch  derselben" 
wäre  vorzuziehen. 

25.  S.  127  der  1.  Aufl.  (Anf.j.  „Denn  Erscheinungen  können  als  solche 
nicht  ausser  uns  stattfinden,  sondern  existieren  nur  in  unserer  Sinnlichkeit. 
Diese  aber  als  Gegenstand  der  Erkenntnis  .  .  ."  „Diese"  geht  im  Text 
auf  das  vorhergehende  Wort  „Sinnlichkeit",  was  aber  nicht  recht  passt, 
denn  die  „Sinnhchkeit"  kann  doch  nicht  als  „Gegenstand  der  Erkenntnis" 
bezeichnet  werden  Offenbar  ist  das  Sätzchen:  „Denn  Erscheinungen  — 
Sinnlichkeit"  erst  nachträglich  von  Kant  in  den  Text  eingeschoben  worden, 
und    „diese"    bezieht    sich    dann    auf    die    zuvorstehenden  Worte    „Natur", 


Siebzig  textkritisehe  Randglossen  zur  Analytik.  457 

resp.    „synthetische    Einheit"    u.  s.  w.       Der    Zwischensatz    sollte    also    in 
Klammern  einjj;eschlossen,  und  „diese"*  in  „jene**  verwandelt  werden. 

26.  S.  132  Junten).  Meine  Vorstellungen  müssen  „der  Bedingung 
notwendig  gemäss  sein,  unter  der  sie  allein  in  einem  allgemeinen  Bewusst- 
sein  zusamnienbestohen  können. "  Der  Te.xt  hat  bisher  „zusammenstehen". 
Ersterer  Ausdruck  findet  sich  öfters  bei  K. 

27.  S.  134.  „Synthetische  Einheit  des  Mannigfaltigen  der  Anschauungen, 
als  a  priori  gegeben,  ist  also  der  Grund  der  Identität  der  Apperception 
selbst  .  .  .-  Nach  dem  Zusammenhang  ist  jene  synthetische  Einheit  des 
Mannigfaltigen  nicht  a  priori  gegeben,  sondern  a  priori  hervorgebracht, 
wie  Kant  sonst  gelegentlich  sich  ausdrückt.  Sollte  hier  nicht  ein  Lapsus 
calami  vorliegen 7 

28.  S.  138.  „Die  synthetische  Einheit  des  Bewusstseins  ist  also  eine 
objektive  Bedingung  aUer  Erkenntnis,  nicht  deren  ich  bloss  selbst  bedarf  .  .  ., 
sondern  unter  der  .  .  .-  Ich  würde  lieber  lesen:  „deren  ich  nicht  bloss 
selbst  bedarf." 

29.  S.  143.  „Nun  sind  aber  die  Kategorien  nichts  anderes  als  eben 
diese  Funktionen  zu  urteilen  .  .  .  (§  IS)."  Auffallend  ist,  dass  für  die 
Identifizierung  von  Kategorien  und  Urteilsfunktionen  auf  §  13  verwiesen 
wird,  der  hierfür  garnirht  in  Betracht  kommt.  Es  liegt  wohl  ein  Versehen 
vor  statt:  §  10. 

30.  S.  153.  „Weil  nun  der  Verstand  in  uns  Menschen  selbst  kein 
Vermögen  der  Anschauungen  ist,  und  diese,  wenn  sie  auch  in  der  Sinnlich- 
keit gegeben  wäre,  doch  nicht  in  sich  aufnehmen  kann."  In  der  5.  Aufl. 
ist  aus  „Anschauungen"  der  Singular  „Anschauung"  gemacht;  so  auch  B. 
Erdmann  und  Vorländer.  Man  könnte  statt  dessen  auch  aus  „wäre"  den 
Plural  „wären"  machen:  der  Plural  scheint  besser  zu  dem  nachherigen  »in 
sich  aufnehmen"  zu  passen. 

31.  S.  154.  Synthetische  Apperception  und  innerer  Sinn  werden  ein- 
ander gegenübergestellt;  jene  geht  „auf  das  Mannigfaltige  überhaupt  unter 
dem  Namen  der  Kategorien,  vor  aller  sinnlichen  Anschauung  auf  Objekte 
überhaupt."  Nach  „Kategorien"  fehlt  etwas;  B.  Erdmann  ergänzt  „d.  i."; 
ich  würde  „somit"  vorziehen,  gebe  aber  zu,  dass  das  erstere  leichter  aus- 
fallen konnte  als  das  zweite. 

32.  S.  155.  „Wie  aber  das  Ich,  das  ich  denke  .  .  ."  Mit  diesen  Worten 
beginnt  ein  neuer  Gedankengang;  derselbe  erfordert  einen  neuen  Absatz, 
was  beim  ersten  Druck  übersehen  worden  sein  muss. 

33.  S.  155.  Dieselben  Worte,  die  wir  eben  anführten,  enthalten  auch 
eine  stilistische  Härte,  welche  leicht  vermieden  werden  kann,  wenn  man 
setzt:  „das  Ich.  das  denkt". 

34.  S.  165.  _Es  muss  Erfahrung  dazukommen,  um  die  letzteren  über- 
haupt kennen  zu  lernen;  von  Erfahrung  aber  überhauj)t,  und  dem,  was  .  .  ." 
Statt  des  ersteren  „überhaupt"  muss  das  zweite  gesperrt  werden.  B.  Erd- 
mann (und  ebenso  Vorländer)  hat  richtig  den  gesperrten  Druck  des  ersteren 
„überhaupt"  aufgehoben;  ich  finde  aber  notwendig,  dafür  das  zweite  zu 
sperren.     Der  Setzer  hat  beides  verwechselt. 

35.  S.  176.  „Der  Begriff  muss  dasjenige  enthalten,  was  in  dem  dar- 
unter zu   subsumierenden  Gegen  stände   enthalten  ist   ...      So  hat  der 

KiiLit-tn<liea  IV.  30 


458  J'-  Vaihinfjor, 

»•mpirischo  Bi'p;riff  einos  Tellers  mit  dem  reinen  geometrisclien  eines 
Zirkt>ls  Cileichartij^keit,  indem  die  Runihinf);,  die  in  dem  ersteren  gedaelit 
wird,  sieh  im  let/.teiH>n  ;insili;uu'n  l.'isst."  leli  meine,  es  müsste  heissen: 
«indem  die  Rundnnp^,  die  in  dem  Iftztereii  ü;i'd;i('hl  wird,  sich  im  ersteren 
;uischanen  lässt"  oder,  wenn  man  licher  will:  „indem  die  Ilunilung,  die  in 
dem  ersteren  sich  ansc-hanen  lässt,  im  let/tert>n  j^edacht  wird."  Es  handelt 
sich  doch  nm  den  Gegensatz  des  emiiirisch-anscJiaidichen  CJegenstandes  und 
des  abstrakten  Kegriffes.  Dass  dieser  Begriff  hier  selbst  ein  mathematischer, 
iUso  „anschauender"  ist,  ändert  daran  nichts:  denn  Kant  kennt  aucii  mathe- 
matische «Begriffe",  z.  B.  vom  Triangel  (vgl.  Komm.  II,  470,  auch  286).  Der 
Ausdruck  „der  empirische  Begriff  eines  Tellers"  ist  freilich  sehr  miss- 
verständlich: er  hat  aber  hier  offenbar  den  Sinn  „die  empirische  Vorstellung 
eines  beliebigen  Tellers." 

;j().  S.  181.  „Das  Bild  ist  ein  Produkt  des  empirischen  Vermögens  der 
produktiven  Einbildungskraft  .  .  ."  Das  ist  auffallend.  Nach  sonstigen  Er- 
klärungen Kants  ist  hier  wohl  „reproduktiven"  zu  lesen.  Der  ganze  Ab- 
schnitt über  Bild,  Schema  u.  s.  w.  ist  freilich  sehr  dunkel. 

37.  S.  196.  ,Nun  beruht  Erfahrung  .  .  .  auf  einer  Synthesis  nach 
Begriffen  von  einem  Gegenstande  der  Erscheinungen  überhaupt."  Statt 
„von  einem"  steht  im  Text  „vom". 

38.  S.  196.  Ausser  der  Beziehung  auf  Erfahrung  „sind  synthetische 
Sätze  a  priori  gänzlich  unmöglich,  weil  sie  kein  drittes,  nämlich  keinen 
Gegenstand  haben,  an  dem  die  synthetische  Einheit  ihrer  Begriffe  objektive 
Realität  darthun  könnte."  Das  letztere  Sätzchen  ist  sehr  schwerfällig;  etwas 
verständlicher  wird  es  durch  folgende  Änderung:  „an  dem  die  synthetische 
Einheit  die  objektive  Realität  ihrer  Begriffe  darthun  könnte."  Noch  besser 
wäre  vielleicht:  „an  dem  die  synthetische  Einheit  ihrer  Begriffe  ihre  objek- 
tive Realität  darthun  könnte." 

39.  S.  200  unten.  „Es  wird  sich  aber  bald  zeigen  .  .  ."  Das  Folgende 
steht  jedoch  nicht  im  Gegensatz  zum  Vorhergehenden,  dient  vielmehr  zur 
Erläuterung  desselben;  „eben"  statt  „aber"  würde  diesem  logischen  Zu- 
sammenhang besser  entsprechen. 

40.  S.  203  (Anf.).  „Nun  ist  das  Bewusstsein  des  mannigfaltigen  Gleicli- 
artigen...  der  Begriff  einer  Grösse."  Vielmehr  „das  Bewusstsein  der  synthe- 
tischen Einheit  des  mannigfaltigen  Gleichartigen".  Dies  geht  aus  dem 
Zusammenhang  zwingend  hervor.  Der  Grund  des  Ausfalls  liegt  für  den 
Kenner  der  Psychologie  des  Setzers  (einer  noch  ungeschriebenen  Mono- 
graphie) auf  der  Hand:  dieselben  W^orte  finden  sich  in  der  vorher- 
gehenden Zeile. 

41.  S.  204.  Die  Axiome  drücken  die  Bedingungen  der  sinnlichen  An- 
schauung a  priori  aus,  „unter  denen  allein  das  Schema  eines  reinen 
Begriffes  in  der  äusseren  Erscheinung  zustande  kommen  kann."  Das 
Wörtchen  in  fehlt  im  Text;  ohne  dasselbe  ist  der  Text  rätselhaft. 

42.  S.  207.  Erscheinungen  „enthalten  also  über  die  Anschauung  noch 
die  Materien  zu  einem  Objekte  überhaupt  ...  d.  i.  das  Reale  der  Empfindung 
als  bloss  subjektive  Vorstellung."  Nach  diesem  hergebrachten  Text  ist 
, subjektive  Vorstellung"  Apposition  zu  „das  Reale" ;  aber  es  ist  doch  wohl 


Siebzig  textkritische  Randglossen  z\ir  Analytiii.  459 

Apposition    zu    „der  Einpfindiin;;",    und   dann   muss   es  heissen:    „ids  bloss 
subjektiver  Vorstellung". 

4:J.  S.  jU  (Anf).  „Wenn  alle  Realität  in  der  Wahrnehmung  einen 
Grad  hat  .  .  .  und  gleichwohl  ein  jeder  Sinn  einen  bestimmten  Grad  der 
Receptivität  .  .  .  haben  muss."  Das  , gleichwohl"  konstruiert  einen  Gegen- 
satz, der  gar  nicht  da  ist,  wie  auch  aus  dem  ganzen  Zusammenhang  sich 
ergiebt.  Statt  „gleichwohl"  ist  „gleichermassen"  zu  lesen.  Audi  hier 
liegt  die  psychologische  Erklärung  des  Setzerfehlers  nahe:  8 — 10  Zeilen 
vorher  beginnt  ein  kleiner  Absatz  mit  „gleichwohl";  das  hat  herunter- 
gewirkt. 

44.  S.  217.  An  dicseni  schadhaften  Passus  ist  schon  viel  herum- 
gebessert worden.  Meilin,  Schopenhauer,  Hartenstein,  B.  Erdmann  haben 
sich  um  denselben  verdient  gemacht.  Im  Text  fehlt  gleich  in  der  zweiten 
Linie  das  Substantiv  in  der  Wendung:  „für  einen  der  transscendentalen  . .  .? 
gewohnten."  Hartenstein  ergänzt  „Betrachtung",  B.  Erdmann  ergänzt 
„Überlegung":  es  liege  ein  Fall  der  B  316  besprochenen  „transscendentalen 
Überlegung"  vor;  aber  diese  bezieht  sich  auf  die  Unterscheidung  von 
Sinnlichkeit  und  Verstand,  auf  die  es  hier  nicht  ankommt.  Kant  gebraucht 
sonst  mehrfach  „transscendentale  Denkungsart",  was  ich  vorschlage. 

45.  S.  217.  In  demselben  Passus  wird  die  Frage  aufgeworfen:  „wie 
der  Verstand  hierin  synthetisch  über  Erscheinungen  a  priori  aussprechen  . .  . 
könne."     Ich  möchte  „etwas"  einschieben. 

4<J.  S.  223.  Die  Gegenstände,  auf  welche  die  Grundsätze  bezogen 
werden  sollen,  sind  nicht  die  Dinge  an  sich;  sie  sind  vielmehr  „nichts  als 
Erscheinungen,  deren  vollständige  Erkenntnis,  auf  die  alle  Grundsätze 
a  priori  zuletzt  doch  immer  auslaiifen  müssen,  lediglich  die  mög- 
liche Erfahrung  ist."  Der  hier  gesperrt  gedi-uckte  Zwischensatz  ist  eher 
an  den  Schluss  zu  setzen;  er  schliesst  sich  organisch  doch  an  „Erfahrung" 
an.  Wahrscheinlich  hat  Kant  den  Zwischensatz  erst  nachher  als  Zusatz 
zum  Text  an  den  Rand  gemacht,  wodurch  seine  Verstellung  ermöglicht 
worden  ist. 

47.  S.  236.  „Erscheinung  kann,  im  Gegenverhältnis  mit  den  Vor- 
stellungen der  Apprehension  nur  dadurch  als  das  davon  unterschiedene 
Objekt  derselben  vorgestellt  werden,  wenn  sie  unter  einer  Regel  steht, 
welche  sie  von  jeder  anderen  Apprehension  unterscheidet,  und  eine  Art 
der  Verbindung  des  Mannigfaltigen  notwendig  macht."  „Eine"  ist  im 
Text  nicht  gesperrt;  der  gesperrte  Druck  des  Wörtchens  ist  für  den 
Zusammenhang  aber  notwendig. 

4S.  S.  238.  „In  der  Reihe  dieser  Wahrnehmungen  war  ktint'  bestimmte 
Ordnung,  welche  es  notwendig  machte,  wenn  ich  in  der  Apprehension 
anfangen  müsstt',  um  .  .  ."  Statt  „wenn"  liest  B.  Erdmann  „wann".  Ich 
glaube,  dass  Kant  „wo"  schreiben  wollte.  Ich  finde  diese  Änderung  nach- 
träglich auch  bei  Meli  in. 

4U.  S.  240  (oben).  „Ich  werde  also  nicht  sagen"  —  nacli  „sagen"  ist 
wohl  „können"  ausgefallen. 

.'>0.  S.  247.  „Der  Grundsatz  des  Kausalverhältni.sses  in  der  Folge  der 
Erscheinungen  gilt  daher  auch  von  allen  Gegenständen  der  Erfahrung  .  .  ." 
statt    „von"    steht    im    Text    „vor".     Nach    dem    Zusammenhang    ist    nur 

30' 


460  "•   ^:lilün^JO^, 

orstoros  fj^oreohtfi-rtii^t.  Wi»>  ich  n;ic!iträjj;Iirh  .solii>,  hat  auch  VorläiidiT 
die  AudiTunp;  gciiKH-lit.  oliiic  sie  aber  vonic  in  scincni  betr.  Vcr/.i'ichiiis  /u 
erwähnon. 

51.  '*^.  260.  „Kraft  dessen  beweiset  nun  Handlun;:^,  als  ein  liiiucichen- 
des  empirisches  Kriterium,  die  SubstantiaUtät,  olmr  dass  icli  dir  Beharr- 
liclikeit  desselben  durch  ver<:^licheiu'  Walirriclinningt'U  aHcrirst  /.u  suchen 
nutiuj  hätt»^."  Statt  „desselben"  ist  „derselben"  zu  lesen,  vidclicet  „der 
Substantialität". 

.Vi.  S.  252.  „Aber  die  Form  einer  jeden  Veränderun<r  .  .  .  luitliin  die 
8uccession  der  Zustände  selbst  (das  Geschehene)  kann  doch  .  .  ."  Ein- 
facluT  und  zutreffender:  das  Geschehen.  Es  handelt  sich  darum,  dass 
das  Dass  des  Geschehens  (im  Gegensatz  zu  seinem  Wiej  a  priori  „do(;ii 
nach  dem  Gesetz  der  Kausalität  erwogen  werden  kann". 

53.  S.  264.  Der  Grund  für  das  Gesetz  der  Kontinuität  ist:  dass  wedtu- 
Zeit  noch  Erscheinung  in  der  Zeit  aus  kleinsten  Teilen  „besteht,  iind  dass 
doch  der  Zustand  des  Dinges  .  .  .  durch  alle  diese  Teile  .  .  .  zu  seinem 
zweiten  Zustaiid  übergehe."  Dieser  Konjunktiv  ist  ganz  unmotiviert.  Der 
Indikativ  „übergeht"  muss  hier  stehen. 

54.  S.  256.  „Der  Fortgang  in  der  Zeit  bestimmt  alles,  und  ist  an  sich 
selbst  durch  nichts  weiter  bestimmt,  d.  i.  die  Teile  desselben  sind  nur 
in  der  Zeit  und  durch  die  Synthesis  derselben,  sie  aber  nicht  vor  ihr 
gegeben".  Aus  den  Präpositionen,  welche  in  dieser  "Wiedergabe  gesperrt 
gedruckt  worden  sind,  weil  auf  ihnen  der  Ton  liegt,  geht  hervor,  dass 
statt  „sie"  „sind"  zu  lesen  ist.  Die  Teile  sind  nur  durch  die  S\'nthesis 
der  Zeit  gegeben,  „sind  aber  nicht  vor  ihr  gegeben".  Der  hergebrachte 
Text  sollte,  der  Meinung  der  Herausgeber  nach,  wohl  sagen:  sie,  die  Zeit, 
ist  aber  nicht  vor  ihr,  der  Synthesis,  gegeben.  Aber  darum  handelt  es  sich 
hier  nicht,  sondern  darum,  dass  die  Teile  des  Fortganges  erst  durch  die 
Synthesis  und  nicht  vor  ihr  gegeben  sind. 

55.  S.  261.  „In  unserem  Gemüte  müssen  alle  Erscheinungen,  als  in 
einer  möglichen  Erfahrung  enthalten,  in  Gemeinschaft  der  Apperception 
stehen."  Das  Wort  „einer"  ist,  wie  hier  geschehen,  gesperrt  zu  druck(>n, 
sonst  geht  der  Sinn  der  Stelle  verloren,  welche  eben  die  Einheit  der  Er- 
fahrung betont. 

56.  'S.  261.  Gleich  nachher  heisst  es:  Die  Gegenstände  müssen  sich 
„ihre  Stelle  in  einer  Zeit  wechselseitig  bestimmen  und  dadurch  ein  Ganzes 
ausmachen."     Einer  ist  aus  demselben  Grunde  zu  sperren  wie  oben. 

57.  S.  263.  Auch  hier  ist  dasselbe  Wort  aus  demselben  Grunde  zu 
sperren:  von  den  drei  Analogien  der  Erfahrung  heisst  es:  „Zusammen 
sagen  sie  also:  alle  Erscheinungen  liegen  in  einer  Natur."  Andernfalls 
betont  der  Leser  das  Wort  „Natur",  während  doch  der  Ton  hier  auf  der 
Einheit  resp.  Einheitlichkeit  liegt.  Wie  ich  nachträglich  sehe,  hat  schon 
Vorländer  die  Verbesserung. 

58.  S.  263/64.  Hätten  wir,  heisst  es  da,  diese  drei  Analogien  dog- 
matisch .  .  .  beweisen  wollen:  dass  nämlich  alles,  was  existiert,  nur  in 
dem  Behaniichen  angetroffen  werde,  dass  jede  Begebenheit  etwas  im 
vorigen  Zustande  voraussetze  .  .  .,  endlich,  dass  in  dem  zugleichseienden 
Mannigfaltigen    die  Zustände  in  Gemeinschaft    stehen  .  .  .     Im  Text  fehlt 


Siebzig  textkritische  Kandglosscn  zur  Analytik.  461 

(las  dritte  „dass"  nach  endlich,    wodurch  die  ohnedies  überaus  schleppende 
Periode  unerträglich  wird. 

59.  S.  276.  „Nun  ist  das  Bewusstsein  [meines  Daseins]  in  der  Zeit  mit 
dem  Bewusstsein  der  Möglichkeit  dieser  Zeitbt'stimmung  notwendig  ver- 
bunden .  .  .*'  Die  eckig  eingeklammerten  AVorte  fehlen  im  Te.xt,  sind  aber 
aus  dem  Vorhergehenden  mit  Sicherheit  zu  ergänzen:  es  handelt  sich,  wie 
vorher  mehrfach  betont  wird,  eben  um  „mein  Dasein  in  der  Zeit" ;  das 
Bedürfnis  syllogistischer  Kontinuität  erfordert  daher  die  ?]insetzung  dieser 
Worte. 

00.  S.  27S.  ^Das  Bewu,sstsein  meiner  selbst  in  der  Vorstellung  Ich 
ist  gar  keine  Anschauung  sondern  eine  bloss  intellektuelle  Vor- 
stellung .  .  ."  „Anschauung",  wie  geschehen,  gesperrt  zu  drucken,  ist  ver- 
gessen worden. 

(51.  'S.  281.  „.  .  .  Einlieit  des  \'er.standfs,  in  welchem  sie  [die  Ver- 
änderungen' allein  zu  einer  Erfahrung,  als  der  syntheti.schen  Einheit  der 
Erscheinungen,  gehören  können."  Es  ist  bisher  vergessen  worden,  das 
„einer"  gesperrt  zu  drucken. 

ii'2.  S.  284.  „Es  hat  den  Anschein,  als  ktinne  man  die  Zahl  des  Mög- 
lichen über  die  des  Wirklichen  dadurch  liinaussetzen,  weil  zu  jenem  noch 
etwas  hinzukommen  muss,  um  dieses  auszumachen."  Der  hergebrachte 
Text  hat  statt  „jenem"  „jener",  und  statt  „dieses"  „diese".  Es  ist  aber 
doch  natürlicher,  zu  sagen:  Zum  Möglichen  muss  noch  etwas  hinzukommen, 
um  das  Wirkliche  auszumachen,  als  die  Zahl  des  Wirklichen  erst  durch 
Hinzukommen  von  Etwas  aus  der  Zahl  des  Möglichen  entstehen  zu 
lassen.     Kant  hat  sich  also  wohl  nur  verschrieben. 

m.  Zu  S.  300/301,  1.  Aufl.  241  Anm.  „Ich  verstehe  hier  die  Eealdefinition 
welche  nicht  bloss  dem  Namen  einer  Sache  andere  \md  verständlichere 
Wörter  unterlegt,  sondern  die  [[,  so||  ein  klares  Merkmal,  daran  der  Gegen- 
stand jederzeit  sicher  erkannt  werden  kann,  und  [das]  den  erklärten 
Begriff  zur  Anwendung  brauchbar  macht,  in  sich  enthält".  Die  Einsetzung 
des  im  Text  fehlenden  „das"  rechtfertigt  sich  von  selbst.  Das  oben 
doppelt  eingeklammerte  „so"  steht  im  Text,  ist  aber  liinauszuwerfen; 
sonst  würde  ja  der  Text  „diejenige  liealdefinition,  welche  nicht  bloss  .  . 
unterlegt"  einerseits  und  „die,  so  ein  klares  Merkmal  .  .  .  enthält"  andrer- 
seits unterscheiden  müssen,  was  sinnlos  ist. 

Vyi.  S.  302.  „Ich  kann  jede  existierende  Substanz  in  Gedanken  auf- 
heben, kann  aber  daraus  nicht  auf  die  objektive  Zufälligkeit  derselben  in 
ihrem  Dasein,  d.  i.  die  Möglichkeit  ihres  Nichtseins  an  sich  selbst 
schliessen"  —  statt  „ihres"  steht  im  Text  „seines",  das,  auf  „Dasein"  be- 
zogen, doch  einen  sehr  schwerfälligen  und  auch  schiefen  Gedanken  ergiebt. 

er».  Zu  S.  306/306,  1.  Aufl.  248.  „Wenn  ich  Dinge  annehme,  die  bloss 
Gegenstände  des  Verstandes  sind,  und  gleichwohl,  als  solche,  einer  An- 
schauung, obgleich  nicht  der  sinnlichen  (also  coram  i7ituitu  infellcduali)  ge- 
geben werden  können  .  .  ."  Statt  „also  coram"  u.  s.  w.  steht  im  Text  „als". 

«6.  S.  314.  Von  der  Erkenntnis  durch  den  reinen  Verstand  heisst  es, 
„es  bleibt  unbekannt,  ob  eine  solche  transscendentale  (a^isserordentliche) 
Erkenntnis  übt^rall  möglich  sei."  —  Hier  hat  sich  der  Setzer  verlesen: 
Kant  selbst  hat  doch  wohl  „aussersinnliche"  ge.schrieben. 


4(V2  II    Vailiin-:»'!-, 

(;;.  S.  319.  Auf  S.  .S18/;U;>  winl  unlcrschiiHUMi  ilii«  lo>>iscln'  Udlcxioii 
und  iVw  transscoiulcntalr  KcflcxiDn.  Jene  ^^tOit  auf  die  lo<;isclie  Form  der 
Begriffe,  diese  auf  drnii  Inhalt,  auf  die  hiu^c:  ol>  die  l)iuj;e  eiuerli'i  und 
vorschieden,  eiustinunig  und  widerstreitend  sind  etc.,  w  inl  nicht  sofiirt  aus 
den  Begriffen  selbst  durch  blosse  Vergl  e  ich  u  ng.  sondern  aller- 
erst .  .  .  vennittelst  einer  traussccndentalen  i'borlegung  ausgemacht  wenh  ii 
können.  Man  könnte  also  zwar  sagi-n,  tlass  die  logische  Reflexion  eine 
blosse  Koni  |ia  rat  ion  sei  (von  „gegebenen  Vorstellungen")  .  .  . 
Die  transsceudeutale  Reflexion  aber  (welclie  auf  die  Gegenstände 
selbst  geht),  enthält  den  Grund  der  Möglichkeit  di^-  objektiven  Kom- 
paration der  Vorstellungen  unter  einander,  und  i.st  also  von  der  ersteren 
gar  sehr  verschieden,  weil  .  .  .'*  Der  Text,  in  welchem  hier  die  Haupt- 
begriffe, aid'  die  es  ankommt,  gesperrt  worden  sind,  hat  statt  „ersteren" 
—  „letzteren".  Aber  damit  wird  der  Gegensatz,  um  den  es  sich  handelt, 
verwischt.  Auf  der  einen  Seite  .steht  die  logische  Reflexion,  welche  eine 
blosse,  d.  h.  bloss  subjektive  Komparation  ist,  avif  der  anderen  Seite  steht 
die  traussceudentale  Reflexion,  welche  zur  objektiven  Komparation  der 
Vorstellungen  nach  Massgabe  ihrer  „Gegenstände'',  „Dinge"  führt. 

68.  S.  336.  Es  heisst  daselbst  von  den  ]leflexionsbegriffen:  „"Wende  ich 
diese  Begriffe  auf  einen  Gegenstand  überhaupt  .  .  .  an,  ohne  diesen  weiter  zu 
bestimmen,  ob  er  ein  Gegenstand  der  sinnlichen  oder  intellektuellen  An- 
schauung sei,  so  zeigen  sich  sofort  Einschränkungen  (nicht  aus  diesem 
Begriff  hinauszugehen),  welche  allen  empirischen  Gebrauch  derselben  ver- 
kehren .  .  .''  ünver.ständlich !  Inwiefern  soll  denn  der  empirische  Gebrauch 
derselben  verkehrt  werden?  Ich  verdanke  F.  Medicus  folgende  treffende 
Konjektur:  „welche  allen  nicht-empirischen  Gebrauch  derselben  verwehren". 
(Nicht- empirisch  findet  sich  öfters  bei  Kant,  z.  B.  A  109  ]  Denn  eben  der 
transscendentale  =  nicht-empirische  Gebrauch  jener  Reflexionsbegriffe,  wie  er 
bei  Leibniz  üblich  war,  soll  ja  abgewehrt  werden.  Medicus  nimmt  an, 
dass  das  fehlende  „nicht"  sich  in  die  vorige  Linie  vor  die  "Worte  „aus 
diesem  Begriff  hinauszugehen"  verirrt  hat  und  daselbst  zu  streichen  ist. 
In  dem  Original  der  ersten  Auflage  steht  das  „nicht"  auch  gerade  über 
„empirisch''.  Mau  kann  aber  auch  jenes  erste  „nicht"  stehen  lassen  — 
der  Sinn  wird  dadurch  nicht  verändert  —  und  dann  annehmen,  dass  eben 
das  erste  „nicht''  den  Wegfall  des  zweiten  „nicht"  — ■  sei  es  beim  Setzer 
oder  beim  Korrektor  —  verschuldet  hat.  Der  Sinn  jenes  Einschiebsels  bei 
Kant  („nicht  aus  diesem  Begriffe  hinauszugehen")  bleibt,  wie  gesagt,  der- 
selbe: bei  jenem  irrigen,  aber  von  Leibniz  gemachten  Versuch,  , »zeigen 
sich  sofort  Einschränkungen",  Schranken,  welche  verbieteii,  über  den 
Begriff  eines  Gegenstandes  überhaupt  hinauszugehen  und  über  denselben 
synthetische  Sätze  aufzustellen;  vgl.  S.  325:  ,,Ohne  diese  Überlegung  [ob 
die  Gegenstände  sinnlich  oder  intellektuell  sind]  mache  ich  einen  sehr  un- 
sicheren Gebrauch  von  diesen  Begriffen,  und  es  entspringen  vermeinte  syn- 
thetische Grundsätze  .  .  .";  vgl.  S.  332:  es  sei  nicht  möglich,  „von  Dingen 
an  sich  selbst  etwas  synthetisch  zu  sagen". 

69.  S.  338  ff.  Hier  sind  die  Absätze  anders  zu  gestalten.  Die  W'orte : 
„Der  Begriff  von  einem  Kubikfusse  —  zur  ganzen  Sinnlichkeit  gehören" 
sind  zum  vorhergehenden  Absatz  zu  schlagen,  der  sich  mit  dem  „Satz  des 


Siebzig  textkritische  Randglossen  zur  Analytik.  463 

Nichtzuunterscheidendeu"  beschäftigt.  Die  Worte:  „Gleichergestalt  ist  in 
dem  Begriffe  —  kein  Widerstreit  angetroffen  wird"  müssen  einen  eigenen 
Absatz  bilden,  der  sich  mit  dem  Verhältnis  von  Einstimmung  und  Wider- 
streit beschäftigt.  Mit  den  Worten:  „Nach  blossen  Begriffen  ist  das 
Innere  .  .  ."  muss  ein  neuer  Absatz  beginnen,  der  vom  Verhältnis  des 
Inneren  und  Äusseren  handelt.  Derselbe  geht  bis  zum  Ende  von  S.  341. 
wo  mit  den  Worten:  ..Ebenso  kann  man  die  Verhältnisse"  u.  s.  w.  die  Er- 
örterung des  vierten  und  letzten  Reflexionsverhältnisses  beginnt. 

70.  S.  347.  In  der  Tafel  der  Nichtse,  in  No.  3,  heisst  es:  „der  reine 
Raum  und  die  reine  Zeit,  die  zwar  etwas  sind,  als  Formen  anzu- 
schauen, aber  selbst  keine  Gegen.stände  sind,  die  angeschaut  werden". 
Die  hier  gesperrt  gedruckten  Worte  dürfen  natürlich  nicht  so  konstruiert 
werden,  dass  Raum  und  Zeit  selbst  als  Formen  angeschaut  werden  können, 
—  in  diesem  Falle  wären  die  Worte  ,,als  Formen"  abhängig  von  ,. an- 
zuschauen" —  sondern  Kant  will  sagen,  sie  sind  „Formen  der  An- 
schauung", d.  h.  ., anzuschauen"  ist  abhängig  von  „Formen";  es  wird  also 
zweckmässig  nach  „Formen''  ein  Komma  gesetzt,  wofür  das  bei  Kant 
selbst  stehende  Komma  nach  ,,sind"  wegfallen  kann. 


Bibliographisclie  Notizen. 


lu  der  Sounta,i;-sboilap:e  No.  22  der  Vossisclion  Zeitiin«;  18!»8  iiiidet 
sich,  worauf  wir  naciiträj:;lich  aulniorksam  geworden  sind,  eine  sympatlüsche 
Besprechung  des  Paulsenschen  Ivantbuches  durch  S.  Saenger.  Wir 
heben  aus  derselben  folgende  Stellen  hervor:  „Strenge  Kantianer  werden 
freilich  an  dem  Reinigungswerk  (wenn  der  Ausdruck  gestattet  ist),  das 
Paulsen  an  Kant  zum  Zwecke  seiner  Modernisierung  vornimmt,  viel  auszu- 
setzen haben.  Auch  unbefangene  Beurteiler,  solche,  die  die  Grundschriften 
desKriticismus  keineswegs  mehr  mit  denSchauern  religiöser  A'erzückunglesen, 
w^elche  die  echten  Kantgliiubigen  beim  Lesen  der  geoffenbarten  Schriften 
des  Meisters  durchrieseln:  auch  sie  werden  öfters  die  Freiheit  der  Uindeu- 
tong  bestimmt  gegebener  oder  im  Halbdunkel  unklarer  oder  widerspruchs- 
voller "Wendungen  belassener  Lehren  als  Willkür  empfinden.  Dem  Buche 
als  solchem,  der  einheitlichen  Leistung  des  selbstthätig  schaffenden  Schrift- 
stellers, gereicht  diese  Freiheit  nur  zum  Verdienst,  sie  verleiht  der  Arbeit 
den  Beigeschmack  eines  Bekenntnisses,  einer  philosophischen  Beichte, 
welche  das  Interesse  erhöht".  „Was  Kant  uns  sein  könne,  uns  sein  soll, 
sagt  Paulsen  mit  einem  solchen  Gefühl  für  die  Bedürfnisse  der  Gegenwart, 
mit  so  viel  ßeife  und  Masshaltung  im  Urteil  und  Ausdruck,  mit  so  sicherer 
Trennung  des  Sicheren  vom  Problematischen,  des  dauernd  Wertvollen  vom 
zeitweilig  Nützlichen,  dass  sich  sein  Buch  wie  kein  anderes  empfiehlt, 
ernste  Neulinge  in  Kant  einzuführen ;  es  wird  wohl  auch  manche  Abtrünnige 
zu  Kant  zurückführen".  Mit  der  Auffassung  Kants  als  Metaphysiker,  welche 
Paulsen  vertritt,  ist  S.  nicht  ganz  einverstanden.  Angeregt  von  der 
Windelbandschen  Kantauffassung  legt  er  den  Hauptwert  auf  den  von  Kant  neu 
gefundenen  rein  immanenten  Begriff  der  objektiven  Wahrheit  als  der 
Allgemeingiltigkeit  der  Urteile,  die  durch  Bethätigung  der  Normalvernunft 
zustande  kommen.  Von  diesem  Standpunkte  aus  könne  den  metaphysischen 
Vorstellungen  der  Charakter  der  „Wahrheit"  nicht  zugesprochen  werden. 
Saenger  kann  darum  Paulsen  nicht  beistimmen,  wenn  dieser  „meint,  Kant 
der  Metaphysiker  werde  zu  Unrecht  über  Kant  dem  Erkenntniskritiker  ver- 
nachlässigt." Die  Lehre  von  der  Welt  als  Vorstellung,  der  sog.  transscen- 
dentale  Idealismus  schliesse  den  „objektiven"  metaphysischen  Idealismus 
nicht  aus,  d.  h.  den  Anbau  jenseits  der  Grenze  vernünftiger  Urteilsbildung. 
die  der  Kriticismus  gezogen  hat.  Psychologisch  gewiss  nicht,  da  Kant 
selbst  thatsächlich  den  mühsam  konstruierten  Begriff  der  objektiven 
Wahrheit  durchlöchert  hat,  indem  er  die  neue  Theorie  einer  Erkenntniss, 
der  subjektive  Notwendigkeit  zukommt,  konstruiert". 


Einen  scharfen  Angriff  auf  Pauls  ans  neues  Kantbuch 

Philos.^   Bd.  V,  H.  3  (1899), 


Ludwig  Goldschmidt  im 


S.  286—323  unter  dem  Titel 


veröffentlicht 
„Archiv  für   syst. 
,Kants  Voraussetzungen  und  Professor 


Dr.  Fr.  Paulsen".  Einleitungsweise  greift  der  Verf.  zunächst  P.'s  Be- 
hauptung eines  Konflikts  zwischen  Kant  dem  Erkenntnistheoretiker  und 
Kant  dem  Metaphysiker  an  (286  ff.)  und  w^endet  sich  insbes.  gegen  P."s 
Ausstellungen  an  Kants  Ki'itik  der  Gottesbeweise  (287  ff.).  Sodann  setzt 
er  ein  mit  der  Darlegung 
kurzen    "^ 


Bemerkung 


über 


der  Voraussetzungen  Kants    (290).      Nach    einer 
die  Wichtigkeit    des   Gegensatzes    analytisch    — 


Bibliographische  Notizen.  465 

synthcfixch  (292)  vt'rt(;idi^^  er  eingehend  gf^^tii  P.  «lie  Mi>(/lkhkeit 
der  Erfahrung  als  Voraussetzung  der  Kuntischen  Methode  (292  ft.).  Er 
besi>richt  hierbei  die  ^hyperkritischen  Anwaudlungen  unserer  Zeit",  denen 
die  Theorien  einer  nur  priisiiniptiven  ("ausalität  nnd  der  Metageometrie  ihre 
Existenz  verdanken:  „Eine  walirscin-inliche  ("ausalität  ist  so  viel  wie  eine 
wahrscheinliche  Vernunft"  (;{U2).  Als  den  llaui)tzweck  der  Kr.  d.  r.  V. 
vertritt  d.  die  ,,kritische  Grenzbestimmung"  (303  If.)  und  geht  dann  ein  auf 
die  Fragt'  nach  dem  Ding  im  sich  (M(>glichkeit,  es  durch  Kategorien  zu 
denken,  Unmöglichkeit,  es  durch  sie  zu  bestimmen)  (305  ff).  Er  erörtert 
sodann  das  Verhältnis  von  Kant  zu  Hume,  das  von  P.  verkannt  worden 
sei  v309  ff.)  und  wendet  sich  hierauf  zum  VerhiÜtnis  der  Kritik  der  reinen 
zu  der  der  jjraktischen  Vi'rnunft:  dir  beiden  stimmen  nach  ihm  vollkommen 
zusammen.  Kant  ., verlangte  Einheit,  d.  h.  Einstimmung  der  Vernunft,  und 
eben  deshalb  schied  er  Wissen  und  Glauben.  Und  man  hat  alle  Ursache, 
nicht  wieder  zu  vermengen,  was  er  gelöst  hat"  (3P2).  Die  Architektonik 
des  Kantischen  Systems  wird  mehrfach  gegen  P.  in  Schutz  genommen; 
eine  eingehendere  Diskussion  hierüber  findet  sich  S.  314  und  316  f.  S.  31b 
verteidigt  G.  die  transscendentale  Deduktion  der  Kategorien,  S.  319  die 
Lehre,  dass  Urteile  von  der  Form  B  -j-  7  =  12  synthetisch  sind.^  Der  Verf. 
schliesst,  indem  er  der  Überzeugung  Ausdruck  giebt,  dass  Kants  Kritik 
erst  dann  ihre  ganze  Bestimmung  erfüllen  kfum,  wenn  man  sie  ,,überall  als 
ein  Lehrbuch  behandelt  .  .  .  Man  lehre  die  Kritik,  wie  num  die  formale 
Logik  vorträgt.  Kritik  und  Logik  sind  natürliche  und  rechtmässige  Ge- 
schwister" (323). 

in  der  „Altpreussischen  Monatsschrift",  Bd.  XXXVl,  Hft.  7  u.  8. 
8.637 — 562  wendet  sich  Otto  Sch<>ndörf  f  e  r  in  einem  ..Paulsens  Kant" 
betitelten  Aufsatz  vom  Standpunkt  eines  strengen  Kantianers  aus  gegen 
Paulsens  Kantbuch  (vgl.  oben  S.  414).  Insbesondere  greift  er  die  meta- 
physische Tendenz  an,  die  Kant  nach  P.'s  Darstellung  vertritt.  Er  bespricht 
„die  Problemstellung  und  die  Einteilung  der  Urteile  in  analytische  und 
synthetische"  (546—561),  ,,die  Analogien  der  Erfahrung"  (661 — 555)  und 
„die  praktische  Philosophie"  (555—662).  Schöndörffer  stellt  dabei  die 
gewagte  Behauptung  auf.  „  dass  P.  zur  Abschätzung  von  Kants  Grösse  als 
Mensch  und  als  Philosoph  in  seinem  Innern  das  richtige  Mass  und  daher 
in  seiner  Beurteilung  den  angemessenen  Ausdruck  nicht  gefunden  hat"  (562). 

In  der  „Zeitschrift  für  Philos.  u.  philos.  Kritik",  Bd.  114,  S,  264—282 
hat  Prof.  Heman  (Basel)  einen  Aufsatz  veröffentlicht  mit  der  Überschrift 
„Paulsens  Kant'-  (s.  o.  S.  352  u.  413  f.).  Heman  begrüsst  lebhaft  P.s 
Monographie  wegen  „der  eigenartigen  Auffassung,  die  darin  gipfelt,  Kants 
philosophisches  Denken  in  seiner  geschlossenen  Einheit  und  Gesamtheit 
vorzustellen,  um  daraus  dann  den  eigentlichen  Sinn,  die  Absicht  und  den 
Zweck  von  Kants  Hauptleistung,  der  Kr.  d.  r.  V.,  zu  erklären  und  zu 
deuten,  während  bisher  der  umgekehrte  Weg  eingeschlagen  wurde:  man 
suchte  Kants  Denken  einseitig  auf  den  Inhalt  der  Kritik  zu  bauen,  indem 
man  sie  für  das  Grundbuch  und  die  (uiiiuhjuelle  seines  gesamten  Denkens 
ansah"  (254/265).  Heman  geht  in  den  Hoffnungen,  die  er  an  das  Erscheinen 
des  P. "sehen  Buches  anknüpft,  so  weit,  dass  er  glaubt,  „diese  umfassende, 
aus  dem  Ganzen  des  Kantschen  Denkens  herausgearbeitete  Darstellung  der 
theoretischen  Philosophie  wird  den  niclit  zu  unterschätzenden,  sondern 
hochbedeutsamen  Erfolg  haben,  dass  sich  endlich  eine  allgemeine  Über- 
einstimmung im  Verständnis  Kants  herausbilden  wird"  (267;  vgl.  268). 
Trotz  aller  Wärme,  mit  der  er  für  das  Buch  eintritt,  verhehlt  indessen  H. 
auch  nicht,  welche  Bedenken  er  nicht  zwar  gegen  „l'.s  Darstellung  der 
Kantschen  Philosophie"  hegt,  aber  gegen  die  „Ausdeutungen  und  Anwen- 
dungen, die  P.  dabei  macht"  (281).  Besonders  ausführlich  geht  er  auf  die 
Stellung  der  Metaphysik  bei  Kant  ein.  Er  erkennt  P.s  \erdienst  voll  an, 
diese  in  den  meisten  Darstellungen  so  .stiefmütterlich  behandelte  Partie 
ans  Licht  hervorgezogen  zu   haben  (266 1.  allein  er  bemerkt  doch,  dass  .,der 


4«(> 


niblioffriipliisi^he  Notizon. 


droluMuii'  Kritiki'i"  lui  V.  i;;ir  /u  solir  luntcii  dtMii  .,,ü;eiu'i;^tt'ii  i'.it lon"  V(>r- 
solnviiulc  ("JTli.  „Nii'ht  »lie  Mftajilivsik  war  Kants  Priviitsysti'in,  iiiul  nicht 
die  Kritik  war  »las  offi/.icllc  Systi-ni,  soiulrrn  vielmehr  war  ilie  kritische 
l'liili)Suphio  Kants  Privatsysteni,  seine  persi'l  n  1  i  c  he  Kntdcckun;;',  die 
grosse  That  seines  Lebens,  sein  eip^enstes  Denken,  in  das  er  sich  p;an7. 
und  ,u;ar  eini^eh-bt  hatt(>.  und  wonach  all  sein  (ihriges  i)eid<en  sicdi  kon- 
stituierte und  residierte;  aller  der  ..offi/.ielle''  Kant  war  Professor  der  Meta- 
phvsik,  und  zu  seiner  oflizielleu  Hernfsthäti^keit  j>eh("»rto,  Vorlesunj:,-en 
über  Metaphysik  halten  /,ii  müssen"  ('J7'_').  —  Auch  sej;(>n  P.'s  Versuch, 
Kant  mit  Spinoza  in  nähere  Be/iehunj^' zu  l)rin,i;;en,  j^jielit  Ileman  interessante 
Enlrterunnen  ('J76  lt.),  und  ebenso  <;e<z;en  P.  s  Lehre,  dass  Kants  Aprioris- 
nius  zum  Veralteten  in  seinem  System  ^elKire.  ,,Aus  Kant  die  apriorische 
Denkweise  entfernen  und  für  unhaltbar  erklären,  heisst  Kant  das  Jlückgrat 
ausbrechen"  (280). 


Nachdem  die  ..Kantstudien"  im  ersten  Bamle.  S.  443  untl  im  zweiten 
Bande,  S.  477  if.  über  die  beiden  der  Philosophie  der  Neuzeit  gewiilmeten 
Bände  des  in  achter  Auflage  erschienenen  Überweg- Heinz  eschen 
„Grundrisses  der  Geschichte  der  Philosophie''  berichtet  haben, 
sei  der  bibliographischen  Vollständigkeit  halber  darauf  hingewiesen,  dass 
die  8.  Auflage  dieses  ausgezeichneten  und  längst  unentbehrlich  gewordenen 
Werkes  nunmehr  abgeschlossen  vorliegt:  der  „Grundriss  der  Geschichte 
der  Philosophie  der  patris tischen  und  scholastischen  Zeit"  ist, 
um  etwa  60  Seiten  vermehrt,  von  dem  unermiiillichen  Herausgeber,  Geh. 
Hofrat  Heinze,  neu  ediert  worden  (Berlin,  Rüttler  und  Sohn,  1898,  VllJ 
u.  363  S.).  Einzelne  Abschnitte  wurden  durchgesehen  von  den  Professoren 
yi.  Baumgartner  (Freiburg  i.  Br.).  Th.  M.  Wehofer,  O.  P.  (Rom),  A.  Lasson 
(Berlin). 


„Über  Schopenhauer  zu  Kant.  Ein  kleines  Geschichtsbild,  ent- 
worfen von  Wilhelm  Deutschthümler"  nennt  sich  ein  wunderliches, 
aber  nicht  unorigineiles  Schriftchen  (Wien,  J.  Dirnböck,  1899,  136  S.).  Der 
Verf.  glaubt,  dass  er  durch  Schopenhauer  zum  Verständnis  Kants  geführt 
worden  ist,  und  will  seine  Leser  ebendahin  führen,  nicht  ohne  zuvor  einen 
schnellen  Blick  über  die  ganze  Geschichte  der  Philosophie  gew'orfen  zu 
haben.  Seinem  Pseudonym  macht  er  dadurch  Ehre,  dass  er  sich  um  Ver- 
deutschung der  philosophischen  Termini  bemüht.  Auf  Seite  69  finden  sich 
folgende  Beispiele:  Das  Kausalgesetz  wird  durch  den  analytischen  Satz, 
„dass  jede  Ursache  ihre  Wirkung  und  jede  Wirkung  ihre  Ursache  haben 
muss",     Noumenon     durch     „übersinnliches     Wesen,     Geist,     Gespenst", 


Logiker 


durch    „Denkgesetzgeber"    wiedergegeben. 


,Transscendental'' 


übersetzt  er  mit,  „vorherschreitend",  und  „transscendent"  mit  „überfliegend". 
Von  Kant  bemerkt  er  in  diesem  Zusammenhang:  „Kant  ist  ein  sehr  launiger, 
hie  und  da  sogar  recht  boshafter  Taufpate  seiner  Geisteskinder,  er  ent- 
lehnt für.  dieselben  den  alten  Dogmatikern  und  Scholastikern  wohlbekannte 
Worte  und  bittet  dann,  etwas  ganz  anderes,  vollkommen  Neues  darunter 
zu  verstehen".  Als  Beispiel  für  diesen  „Taufhumor"  Kants  (S.29)  führt 
der  Verf.  speziell  und  nicht  mit  Unrecht  das  „Noumenon"  an.  Zu  dem 
bekannten  Stobbe'schen  Kantporträt  bemerkt  der  Verf.  (136j:  „es  leuchtet 
aus  den  sanften  Augen  unter  der  Professorenperrücke  eine  überlegene  Welt- 
klugheit. Der  schmunzelnde  Mund  verrät  aber  Gedanken,  welche  überall 
auszusprechen  gewiss  nicht  rätlich  i.st".  In  diesem  Sinne  meint  auch  der 
Verf.,  dass  Kant  „seine  Goldkörner  absichtlich  in  seinen  Werken  so  arg 
versteckt  hat,  damit  sie  einerseits  nicht  schon  bei  seinen  Lebzeiten  offen 
zu  Tage  treten  und  doch  andererseits  der  Welt  nicht  ganz  verloren  gehen 
mögen".  Erst  Schopenhauer  habe  das  richtige  Verständnis  Kants  eröffnet: 
denn  Schopenhauer,  ,,in  den  philosophischen  Schriften  aller  Weltteile  und 
Jahrhunderte  bewandert,  alle  mit  grosser  Leichtigkeit  überblickend  und 
kritisierend,  und  all  seine  Gedanken  in  musterhaftem  Stil  voll  Geist  und 
Witz  vorführend,    kann  wie  kein    zweiter   als    ausgezeichneter  Wegweiser 


Biblingrapliische  Notizen.  4^ 


)  I 


und  Begleiter  uii«l  gewiss  sehr  amüsanter  Cicerone  zur  Orientieriin.i^  in 
allen  Hör-  und  Irrsälen  der  menschlichen  Philosophie  anempfohlen  werden" 
(4)  Was  speziell  Schopenhauers  Verdienst  um  Kant  betrifft,  so  findet  der 
Verf.  in  .^chopenliauers  Fassung  ..der  nounu-nalen  und  der  phänomenalen 
Welthälfte''  als  „Welt  als  Wille  und  Vorstellung"  eine  „gelungene  Ver- 
deutscliung".  ..einen  glücklichen  liriff  ins  ganze  Menschenleben".  Mit 
Kant  speziell  beschäftigt  sich  der  Verf.  erst  in  dem  Schlusskapitel  S.  121 
bis  136  in  den  Abschnitten:  Intelligibler  Cliarakter.  I'ostiilate  und  kate» 
gorischer  Imperativ  unserer  praktischen  Vernunft,  Primat  unseres  Willens 
vor  unserer  Erkenntnis,  intelligible  Kirche.  Zu  letzterem  Ausdruck  bemerkt 
der  Verf.:  ,.intelligibel"  sei  nicht  mit  ,, verständlich"  zu  übersetzen,  der 
Ausdruck  sei  vielmehr  selbst  ,. schwer  verständlich"  und  beileute  in  dieser 
Verbindung  ..bloss  im  deiste  und  nicht  in  Wirklichkeit  vorhanden",  denn, 
was  K.  intelligible  Kirche  nennt,  „ist  nur  in  seinem  Geiste  oder  hiichstens 
im  Geiste  jener  Wenigen,  welche  Kant  wenigstens  hie  und  da  Recht  geben 
wollen,  zu  finden".  Im  Übrigen  sei  es  ein  Hauptverdienst  Kants,  dasjenige, 
was  schon  Bacon  vergeblich  angestrebt  habe,  sicher  fe.stzustellen:  ,.den 
Gottesfrieden  zwischen  dem  den  Menschen  möglichen  Wissen  und  dem 
allen  Menschen  notwendigen  Glauben"  (133).  Wir  schliessen  mit  einem 
schönen  Bilde:  „man  erkennt  in  Kants  Kr.  d.  r.  V.  einen  allen  Stürmen  der 
Zeit  zum  Trotz  erbauten  Leuchtturm,  der  nach  allen  denkbaren  Richtungen 
hin  sein  Licht  über  das  unabsehbare  Meer  der  sich  stets  bekämpfenden 
und  verdrängenden  und  doch  sich  niemals  beruhigenden  philosophischen 
Wogen  und  I3randungen  aller  Völker  und  Zeiten  ausstrahlt". 


^o^ 


Im  „Siecle"  vom  30.  Oktober  1899  findet  sich  ein  Artikel  von  Victor 
Bascli.  Professor  an  der  Universität  Rennes,  mit  der  Überschrift  „Le 
Mouvement  iutellectuel  k  l'Etranger.  Les  , Kantstudien'  et  M. 
Brunetiere".  Den  Anlass  zu  dem  Artikel  gab  der  „KSt."  IV,  1,  S.  50  ff. 
veröffentlichte  Aufsatz  des  Herausgebers  „Eine  französische  Kontroverse 
über  Kants  Ansicht  vom  Kriege".  p]inleitend  spricht  Basch  über  die 
„Kantstudien"  und  über  Kant  im  Allgemeinen  und  sagt  dabei  über 
letzteren  folgende  bemerkenswerten  Worte,  nachdem  er  zuvor  seinen  ge- 
waltigen Einfluss  auf  die  verschiedenen  Wissenschaften  hervorgehoben  hat: 
„Bien  plus,  il  agit  de  la  fagon  la  plus  efficace  sur  Tarne  meme  de  sa  nation, 
sur  les  sources  profondes  de  sa  meutalite  et  de  sa  moralite  et  Ion  peut 
soutenir  sans  exageration    que    le  corps  des  soldats    et   des   fonctionnaires 

Srussiens  portent  encore  aujourd'hui  lempreinte  de  limjieratif  categorique. 
n  comprend  vrairaent  ijue  des  hommes  de  premier  ordre  puissent  consacrer 
leur  vie  k  explorer  les  oeuvres  de  Kant,  ä  les  Interpreter,  ä  en  adapter  les 
principes  ä  la  science  contemporaine". 

In  Bezug  auf  das  in  Frage  stehende  Problem  äussert  sich  Basch  in 
folgender  Weise:  „Kant  envisage  le  probleme  de  la  guerre  h  deux  points 
de  vue  tres  differents.  au  point  de  vue  anthropologi(ine  et  au  point  de  vue 
politicpie.  Cest  le  premier  »jui  prevaut  dans  lopuscule  d'oü  M.  Brunetiere 
a  tire  sa  citation,  ainsi  «jue  rindi(|ue  clairement  son  titre":  MittDia-sslicher 
Anfang  der  Mensch  engeschichte.  Hier  erkennt  Kant  die  relative  Berechtigung 
des  Krieges  an.  „La  pensee  de  Kant  est  donc  tres  claire.  La  guerre  est 
une  necessite  actnelle  de  l'humanite.  Cest  uue  etape  provisoire  et  inferieure 
(ju'elle  est  obligce  de  paniourir  et  la  Providence  s'en  sert  comme  dun 
moyen  pour  parvenir  ä  ses  fins  veritables  qui  sont  la  justice,  la  liberte  et 
la  paix".  Ganz  anders  aber  urteilt  Kant  vom  politiachen  Standjjurikt. 
auf  den  er  sich  stellt,  angeregt  von  dem  grossen  F^reignis.  das  zwischen 
die  Abfassung  der  genannten  anthropologischen  .Sclirift  und  die  iles  Traktats 
zum  ewigen  Frieden  fällt:  die  französische  Revolution.  »Lere  de  la  justice 
avait  commence  ä  luire  dans  un  coin  de  l'Europe  et  des  signes  precurseurs, 
qu'un  genie  comme  Kant  savait  Interpreter,  permettaient  de  supposer  «jue 
les  grandes  id6es  elaborees  par  la  Revolution  francaise  allaient  se  repandre 
dans  tonte  TEurope,  allaient  y  fructifier  et  cr^'er  un  lien  entre  tous  les 
peuples  civilises  qui   permit  de   les   soumettre  a  une  charte    unique.     Cest 


468  Biblio^rapliischo  Notizen. 

cetto  oliarto  (|U0  Kant  a  »'critt^  diiiu'  inain  aiissi  foriiu'  (|uc  liardic  dans 
l'Essai  siir  la  }\ii.v  iicr/x-turllr".  In  dit'scr  Sclirift  niebt  Kant,  die  \'i)lh'ndiin;^ 
st'incr  (.u'scliiclitspluldsoiiliif.  Am  Anl'ani;-  dt-r  Mi'uscldicits<;i'scliiclitc  stellt 
dvr  von  lionsst-an  i'rtriiunitc  l-ricdcnszustand.  Mit  dor  crwailicndfn  Ividtur 
ht'p:innt  dor  Kriof::.  D<^'r  Kidturfortschritt  /winj^t  wieder  /um  Frieden,  zu- 
erst auf  »ler  Hasis  des  jus  eivitatis.  <lann  nach  weiterer  Knlwickhmg 
auf  der  liasis  des  jus  gentium.  „Knfin,  tous  les  liommt>s  et  tuus  ies 
Ktats  se  sentent  membres  de  hi  menu«  Cite  humaine  et  se  sonmettent 
volontairenient  a  une  juridiction  (|ue  Kant  appelle  le  droit  cnsmopolite, 
jus  CO  sinopoli  tic  u  m  ".  —  Bascli's  Artikel  scidiesst  mit  di-r  Malmun;^  an 
ilen  Irlieber  der  Kontroverse:  „Que  AI.  Hrunetiere  so  garde  de  touciier  h 
ces  hommes  du  XVllIe  siecle  dont  le  reve  fut  de  detruire  toutes  ces 
harrieres,  de  vaincre  tous  ces  prejuges,  de  deraciner  toutes  ces  liaines  *|ue 
Ion  voudrait  aujourdhui  reconstruire  et  faire  revivre!  Cola  porte  malheuri" 

Dr.  Gottlob  Mayer.  Pastor  in  Jüterbog,  veröffentlicliL  unter  dem 
Titel  „Das  religiöse  Erkennt  nis])roblem"  eine  Ileihe  von  Studien. 
Vom  ersten  Baude  „Zur  Geschichte  des  religiösen  Erken  n  tn  i.s- 
problems"  ist  der  erste  Teil  „Vom  apostolischen  Zeitaltei-  bis 
Fichte"  1897  bei  Deichert  in  Leipzig  erschienen  (160  S,).  Mit  Kant  be- 
.schäftigt  sich  der  \'erf.  von  Seite  140 — 145.  Er  ist  sich  der  eminenten  Be- 
deutung Kants  für  die  Theologie  vollkommen  bewusst.  Um  so  verwunder- 
licher ist  e.s,  dass  die  Darstellung,  namentlich  der  theoretischen  Philosophie, 
sehr  ungenau  ist.  Es  finden  sich  z.  B.  S.  141  folgende  Sätze:  „Erkennen 
ist  nichts  anderes  als  ein  s^^nthetisches  Urteil  a  priori,  etwas  vom  Subjekt 
aussagen,  was  nicht  schon  im  Subjekt  liegt,  das  aber  allgemein  giltig  ist. 
Wie  sind  nun  synthetische  Urteile  möglich  in  der  Sinnlichkeit  ixnd  im  Ver- 


^&* 


stand?     Die  erste  Frai>;e  wird  beantwortet  in  der  trausscendenten  Ästhetik." 


'& 


Leider  ist  hier  nicht  einmal  das  Wort  „trausscendenten"  ein  Druckfi'hler : 
denn  wenige  Zeilen  weiter  unten  heisst  es  wieder  statt  transscendentale 
Logik  „transscendente  Logik". 

Von  dem  Buche  „Das  Chaos  in  kosmischer  Auslese"  (vgl.  „KSt." 
IV,  338  f.)  hat  sein  Verfasser  Paul  Mongre  eine  Selbstanzeige  in  Versen 
in  der  „Zukunft"  (M.  Harden)  VIII,  No.  5  vom  4.  Nov.  1899  veröffentlicht. 
Tn  der  originellen  Form  eines  Zwiegesprächs  zwischen  dem  Kantischen 
Ding  an  sich  und  dem  Philosophen  (d.  h.  Mongre)  wird  die  That  des  letzteren, 
die  gänzliche  Nacktheit  des  Dings  an  sich  gezeigt  und  damit  der  Mensch- 
heit als  ihr  Forschungsgebiet  die  „Erdentochter"  Wissenschaft  zugewiesen 
zu  haben,  von  dem  auf  „die  Krone  des  An-sich-seins"  stolzen  Ding  an  sich 
gefeiert.  „Der  Philosoph"  ist  bescheiden  genug,  auf  Kant  als  seinen  Vor- 
gänger hinzuweisen;  doch  das  Ding  an  sich  ist  von  ihm,  dem  „Licht  der 
Kirche,  nicht  der  Forscherzunft"  nicht  sehr  entzückt.  „Oh  Schlaufuchs! 
Mir  die  Wissbarkeit  zu  rauben,  Um,  was  es  ihm  behebt,  von  mir  zu  glauben!" 
ruft  es  über  ihn  aus,  und  Mongre  erhält  denn  den  ungeteilten  lluhm,  die 
Beziehungen  zwischen  Ding  an  sich  und  Erscheinung  abgebrochen  zu  haben. 

Unter  dem  Gesamttitel  „Der  Egoismus"  ist  ein  eigenartiges  Sammel- 
werk von  Arthur  Dix  herausgegeben  worden  (Verlag  von  Freund  und 
Wittig,  Leipzig,  1899,  410  S.).  Man  könnte  zunächst  meinen,  das  Sammel- 
werk verfolge  die  Tendenz,  den  Stirner.schen  Egoismus  oder  den 
Nietzsche"schen  Individualismus  zu  vertreten,  aber  die  Tendenz  des  Heraus- 
gebers selbst  ist  der  nationale  Egoismus,  resp.  der  Kollektivegoismus  gegen- 
über dem  Individualegoismus.  In  diesem  Sinne  sagt  Dix  (S.  60) :  „Die  Weisen, 
das  sind  diejenigen  Erleuchteten,  die  dem  individuellen  Egoismus  den  Weg 
gewiesen  haben,  der  zur  Unterordnung  unter  den  höheren  Kollektivegois- 
mus führt.  Darum  ist  Kant  der  Weisen  Weisester,  wenn  er  den 
grossen,  für  alle  Zeit  grundlegenden  Kernspruch  des  Massenegoismus 
ausspricht:  Handle  so,  dass  die  Maxime  deines  Wollens  zugleich  als  Prinzip 
einer  allgemeinen  Gesetzgebung  gelten   könnte.     Das   ist  in   der  That  der 


Bibliographische  Notizen.  -    Mittoilunfi:en.  4ß9 

"Weisheit  letzter  Schluss.  wenn  rnan  die  Weisheit  versteht  als  die  Ver- 
treterin des  KoUektive^oismus  gegenüber  dem  Individualcgoisimis.  Und 
wie  anders  sollte  man  sie  denn  verstehen'.'"  Ausser  dem  Beitrag  des 
Herausgebers  Dix  selbst,  der  den  Titel  fühlt:  „Der  Egoismus  der  sozialen 
Gruppe-  enthält  das  Sammelwerk  noch  Beiträge  von  12  anderen  Mitarbeitern, 
welche  den  Egoismus  in  allt-n  svinen  Bethätigungen  in  den  verschiedensten 
Lebenssphären  verfolgen,  aber  teilweise  in  ganz  anderem  Sinne  als  der 
Herausgeber  selbst.  Vom  „Egoismus  in  der  Erziehung"  spricht  Döring 
und  spricht  auch  von  Kaut  (S.  27.'.),  welcher  in  seiner  Pädagogik  dem 
Egoismus,  den  er  in  der  Ethik  so  schroff  verwerfe,  allerlei  Zugeständnisse 
mache.  Ganz  unbefriedigend  ist  der  Beitrag  von  Ji.  Steiner  „Der  Egois- 
mus in  der  Philosophie".  Was  wäre  aus  diesem  Thema  zu  machen  gewesen! 
Was  Steiner  über  Kant  sagt  (S.  330—832),  geht  nicht  über  das  Alltäglichste 
hinaus. 

In  dem  Schriftchen:  „Die  Philosophie  des  Friedens"  (Berlin,  Paetel, 
1899)  stellt  sich  Prof.  L.  Stein,  dessen  Ausführungen  zu  Kants  Idee  vom 
ewigen  Frieden  wir  schon  kennen  (KSt.  I,  302 ff.,  111.  364),  wieder  auf's 
Neue  in  derselben  Frage  auf  den  Kampfplatz,  im  wesentlichen  in  der 
Kautischen  Rüstung.  Er  nimmt  das  Wort  zum  Friedenskongress  und 
verlangt  mit  Kant:  „Die  Maximen  der  Philo.sophen  über  die  Bedingungen 
der  Möglichkeit  des  öffentlichen  Friedens  sollen  von  den  zum  Krieg 
gerüsteten  Staaten  zu  Rate  gezogen  werden".  Allerdings  hält  Stein  mit 
Kant  den  „ewigen  Frieden"  im  eigentlichen  Sinne  für  eine  „unausführbare 
Idee".  Aber  doch  kann  auf  eine  Verminderung  der  Kriege  hingewirkt 
werden.  Stein  bringt  bei  Beleuchtung  dieser  Frage  6  Gesichtspunkte  in's 
Spiel:  1.  den  philosophisch-soziologischen  (kriegerisches  Wesen  der  mensch- 
lichen Natur  überhaupt:'),  2.  den  sittlich-sozialpädagogischen  (Krieg  als 
eraiehend?),  3.  den  politisch -staatsrechtlichen  (Schit.'dsgericht  und^  Sou- 
veränität'.'), 4.  den  technisch -militärischen  (Selb.st.ud'hebung  des  Krieges 
durch  die  successive  Vervollkommnung  der  Zerstörungsmittel'?),  6.  den 
finanziell-ökonomischen  (allgemeiner  wirtschaftlicher  Ruin.-). 


Mitteilungen. 


Lose  Blätter  aus  Kants  Nachlass. 

Rudolf  Reicke,  der  um  die  Kantsache  hochverdiente  unermüdliche 
Forscher,  hat  seine  1891  begonnene  Herausgabe  der  „Losen  Blätter",  deren 
letzte  Fortsetzung  1894  erschienen  war  (vgl.  die  Bespn>chung  von  Adickes, 
„KSt."  I.  232—263).  neuerdings  um  ein  weiteres  Heft  bereichert:  „Lose 
Blätter  aus  Kants  Nachlass,  mitgeteilt  von  Rudolf  Reicke,  drittes 
Heft.  K.'.nigsberg  i.  Pr..  F.  Beyer.  1898  (93  S.)."  Wie  alle  Arbeiten  von 
Reicke,  zeichnet  sich  auch  diese  neueste  Veröffentlicluing  aus  durch  muster- 
giltige  Akribie,  so  dass  wir  ein  durchaus  treues,  völlig  objektives  Bild  des 
Kantischen  Nachlasses  erhalten.  Die  „KSt."  werden  in  einem  ihrer  nächsten 
Hefte  aus  berufener  Feder  eine  Rezension  dieser  Ausgabe  bringen.  Dem 
Zweckte  einer  vorläufigen  Orientierung  mtigen  die  folgenden  Mit- 
teilungen dienen. 

In  der  Maviptsache  sind  es  religionsphilosophische  Themata,  die  den 
Inhalt  des  Heftes  bilden.  —  Das  erste  Blatt  der  Kantischen  .\ufzeichnungen, 
von    Reicke    als    Vorarbeit    zum    „Streit    der    Fakultäten"     charakterisiert. 


470  Mittt'iliinf,'en. 

hiiiulflt  bosomliTS  von  ilcr  iJcdi'utiiii;;'  der  liihcl,  ilit/wisclicM  aiicli  vom 
Streit  der  tlioolofjcischon  Fakultät  mit  der  plnlosophisclu'n  (2—0).  Ks  iolj^t 
cmv  Vornrb«'it  zur  „Kt-Iiuion  iiuifili.  d,  Cr.  d.  lil.  \'.":  iibiT  dir  I'cclit- 
ft'rtii;un.i;'  diirrii  di'u  (üaulifii  und  ühiT  div  Ciiiadi'umittcl  (6  — t)).  Dann 
folfjt  ein  mit  einif^TU  Er\vä<^un;>en  ilbor  den  Nationalismus  der  ]{i'lif:;ion 
besi'hriebenes,  bauptsächlich  aber  „das  (Jan/e  der  crif isclicn  JMulf>so[)liit'" 
betn'ffendos  Blatt  aus  den  letzten  üOer  dahren.  Ks  handelt  von  der 
Kate<;orienlelire  mit  bi<sonderer  Hezielmn;:;  auf  den  Beckschen  Standpunkt, 
und  „vom  Hrkenntnis  des  Sinnlichen  und  i'bersinnliehen"  (!) — 18).  Das 
näehste  Blatt,  witnler  eine  Vorarbeit  zum  Streit  der  Kakidtilten,  spricht 
von  der  Authentizität  der  Bibel  (18—15).  Die  nun  folgenden  5  Blätter 
(15—33)  f;-eh(iren  zu  den  Zetteln,  die  Kant-  l'ür  den  (lebraucli  in  seinen 
Vorlesungen  bestimmt  hat.  Die  hier  behandelten  Themata  sind:  natürliche 
Theologie,  Kthik.  ]\echtslehre,  Phoronomie  (15— IS):  Dasein  Gottes,  ^löglich- 
keit  der  Erkenntnis  aju-iori,  Gesetz  der  Continuität,  unter  der  i^herschril't 
„Von  der  Veranlasssung  der  Critik"  ein  gedrängter  Abriss  der  Haupt- 
fragen der  Kr.  d.  r.  V.  (18 — 24l;  Moralphilosophie  (25 — 26);  lieuchh-rischer 
Religionsbegrifi".  bürgerliche  Verfassung  (29 — 30):  Willensbestimmung  apriorj. 
Aufrichtigkeit  des  religiTisen  Glaubens  (30 — 33).  Hieran  schliesst  sich  ein 
Fragment  einer  bis  jetzt  unbekannten  Erklärung  Kants  vom  29.  Juli  1797. 
Am  Rande  und  auf  der  Rückseite  finden  sich  Notizen  über  Religions- 
philosophie, Erkenntnistheorie,  kategorischen  Imperativ.  Erkenntnis  der 
Dinge  an  sich  selbst  in  praktischer  Absicht  (38 — 36).  Auf  einem  einseitig 
beschriebenen  Brief  an  Kant  vom  7.  Mai  1794  folgt  dann  eine  Vorarbeit 
ztim  Streit  der  Fakultäten:  Bemerkungen  über  die  wahre  Religion  und 
über  die  moralische  Aufgabe,  ein  neuer  Mensch  zu  werden  (36 — 40).  Der 
nächste  Zettel  bringt  auf  der  einen  Seite  das  Schema  einer  Disposition  zu 
den  „Fortschritten  der  Metaphysik",  auf  der  Riu^kseite  AusfüJirungen  über 
den  "Wunderglauben  (40 — 42).  Dann  folgt  ein  Blatt  mit  Vorarbeiten  zu 
dem  Aufsatz  „Über  das  Misslingen  aller  philosophischen  Versuche  der 
Theodicee"  und  zu  den  „Fortschritten  der  Metaphysik"  (42— 46j.  Hieran 
schliesst  sich  ein  Zettel  zum  Gebrauch  in  der  Vorlesung  über  Rational- 
theologie. Kant  spricht  hier  von  den  Guadenmitteln,  vom  Begriff  der 
Imputation,  von  den  Wundern,  von  der  geistlichen  Obrigkeit  (46 — 48). 
Die  drei  nächsten  Blätter  (49—  62)  enthalten  Vorarbeiten  und  Entwürfe 
zur  2.  Aufl.  der  Rel.  innerh.  d.  Gr.  d.  bl.  V.  Die  erörterten  Themata  be- 
treffen die  jüdische  Religion  (49 — 51);  das  Dogma  von  der  jungfi-äulichen 
Geburt.  Gnadenwirkungen,  Unmöglichkeit,  dass  es  verschiedene  Religionen 
geben  solle,  den  Titel  der  Schrift,  der  nicht  heissen  kann  „Religion  aus 
blosser  V.",  den  Unterschied  von  Religion  und  Theologie,  die  Erhebung 
der  christlichen  Religion  aus  der  jüdischen  (52 — 57);  die  Bibel,  ^lendels- 
sohns  Stellung  zum  Christentum,  moralische  Auslegung  der  Bibel,  Religion 
im  Felde  der  Vemvmft  im  Gegensatz  zur  Religion  der  blossen  Vernunft, 
Ansehen  eines  geistlichen  Vaters  (jictiu),  Judentum,  Gott  als  Richter, 
Mendelssohns  Forderung  der  Anhänglichkeit  an  Satzungen,  Gott  als  Richter 
(57 — 62).  Die  drei  folgenden  Blätter  (62 — 69)  bringen  Vorarbeiten  zum 
Streit  der  Fakultäten.  Sie  enthalten  Ausführungen  über  Bibelinspiration, 
Auslegung  der  Bibel,  in  die  sich  die  Obrigkeit  nicht  zu  mischen  hat  i62-  64); 
Mysterien  („DieReligionslehrealsEnthüllung  (revelatio)  setzt  eine  Glaubens- 
lehre als  Verhüllung  (Mysterium),  d.  i.  einen  historischen  Glauben  voraus 
von  einer  Wundergeschichte"),  Wesen  Gottes,  Aberglaube,  Geschichts- 
religion und  Vernunftreligion  (eingesti-eut  sind  hier  eimge  an  das  Opus 
postumum  vom  Übergang  erinnernde  Stellen  physikahschen  Inhalts)  (65 — 67); 
Christentum  und  jüdische  Geschichte,  Kirche,  Glaube,  Mystik  (67 — 69). 
Hierauf  folgt  ein  Vorlesungszettel  mit  Bemerkungen  über  das  Eingreifen 
Gottes  in  den  Weltlauf  und  über  die  göttliche  Vorsehung  (69 — 71),  dann 
ein  Blatt  mit  religionsphilosophischen  Notizen  über  die  Pflichten  als  gött- 
liche Gebote,  den  Ursprung  des  Glaubens,  die  Nützlichkeit  der  moralischen 
Gesinnung  als  Grundlage  der  Religion  und  mit  einem  Entwurf  zu  dem 
Aufsatz    über    das    Seelenorgan    (Sömmeringj.      Angefügt    sind    kurze    Be- 


Mitteiliingeu.  471 

merkungen  übtT  die  Bewegursachc  zum  „Heurathen",  die  SUnde  wider  den 
h.  Geist,  den  Zweck  der  SclKljifim.L;,  den  Brennstoff,  das  Clühfeiier,  den 
Unterschied  iler  Noiiniena  und  Pliänonieua  und  seine  Bedeutung  für  die 
Moralität  (7:.' — 76).  In  bunter  Reiiienfoige  entwickelt  der  nächste  Zettel 
(75—79)  allerh'i  Gedanken  über  Politik,  Logik,  christliche  Religion,  Gottes- 
verehrung, Bibel,  die  „uu)denerte  Verfassung,"  die  Gesinnung  des  guten- 
Lebenswandels  als  Zweck  der  christlichen  iicligion.  Die  drt'i  folgenden 
Blätter  (79—88)  eutlialten  Vorarbeiten  zum  Streit  der  Fakultäten.  Die 
einschlägigen  Themuta  sind:  Kirchenglaube,  Judentum  (Bendavid,  Mendels- 
sohn), reiner  und  mit  statutarisclien  Elementen  vermengter  Religions- 
glaube (79-82J:  Ursprung  iler  Bibel  (82—83);  Verhältnis  der  Fakultäten 
zu  einander,  Verhältnis  zwischen  der  Regierung  und  den  Universitäten 
(83— 88i.  Das  letzte  Blatt  endlich  (89—93)  enthält  Entwürfe  zur  2.  Auflage 
der  Rel.  innerh.  d.  CJr.  d.  bl.  \'.  Kant  behandelt  ausführlich  den  Unterschied 
zwischen  philosoithischer  und  biblischer  Theologie  sowie  die  Bedeutung 
des  Titels  der  Schrift.  Am  Schluss  folgen  einige  kurze  Bemerkungen  über 
den  Katholizismus  und  über  das  Abendmahl. 

Auch  diese  neueste  Publikation  des  verdienstvollen  Herausgebers  be- 
kundet aufs  Beste  seine  Gewissenhaftigkeit  und  Sorgfalt.  Indem  sie  sich, 
■«ie  alle  Arbeiten  Reickes,  durch  <lie  grösste  Zuverlässigkeit  auszeichnet, 
giebt  sie  eine  vorzügliche  Grundlage  für  die  weitere  Durchforschung  des 
in  Kants  losen  Blättern  bis  jetzt  noch  ungenützt  liegenden  wissenschaft- 
hchen  Materials. 

Die  Kant-Manuskripte  im  Prussia-Museum. 

Die  „Altpreussische  Monatsschrift"  veröffentlicht  in  Bd.  XXXVI.  Heft 
6  u.  6,  S.  337 — 367  einen  interessanten  Beitrag  von  Arthur  Warda:  „Die 
Kant-Manuskripte  im  Prussia-Museum.  Zwei  Vorträge,  gehalten  in 
der  Altertumsgesellschaft  Prussia."  Der  erste  Vortrag  „Neues  über  Kant", 
1898  am  Cieburtstag  des  Philosophen  gehalten,  berichtet  über  einige 
Manuskripte  Kants  aus  dem  Prussia-Museum  in  Königsberg  i.  Pr..  Das  eine 
ist  ein  Verzeichnis  der  Hörer  von  Kants  „physischer  Geographie"  und 
seines  „Naturrechts"  im  Sommer-Semester  1798.  Unter  den  Hörern  der 
letzteren  Vorlesung  befindet  sich  der  Dichter  Zacharias  "Werner.  Das 
zweite  Schriftstück  enthält  Notizen  über  Lohnzahlungen  an  Lampe.  AVert- 
voller  ist  ein  drittes  Blatt  mit  dem  Entwurf  zu  dem  „Prospectus",  den 
Kant  zu  Jachmanns  „Prüfung  der  Kantischen  Religionsphilosophie  in  Hin- 
sicht auf  die  ihr  beigelegte  Alinlichkeit  mit  dem  reinen  Mysticism"  schrieb. 
Es  ist  um  die  Zeit  der  Jahreswende  1799/1800  geschrieben  und  zeigt,  wie 
alle  Manuskripte  Kants  aus  dieser  Zeit,  deutliche  Spuren  der  Anstrengung, 
die  es  Kant  kostete,  seinen  (ledanken  eine  korrekte  Form  zu  geben.  Die 
Vergleichung  dieses  Entwurfes  mit  dem  Prospectus  selbst  zeigt,  dass 
flieser  ursprünglich  ausführlicher  beabsichtigt  war.  „Kant  bemüht  sich  (in 
dem  Entwürfe],  Definitionen  aufzustellen  und  die  Ziele  der  Philo.sophie 
und  der  ^lystik  und  die  "Wege  beider  zur  Erreichung  dieser  Ziele  nniglichst 
klar  auseinanderzusetzen"  (344).  —  Alle  drei  Schriftstücke  sind  als  Bei- 
lagen mitabgedruckt. 

Im  zweiten  Vortrag  „Eine  Episode  in  Kants  Leben  aus  dem  Jahre 
1797"  erzählt  Warda  Genaiu'res  von  einer  (olme  positives  Ergebnis  ver- 
laufenem Intrigue,  durch  die  missgünstige  Kollegen  Kant  sowie  den 
Professor  der  Theologie  Reccard  aus  dem  Senat  der  Universität  hinaus- 
drängen wollten,  als  diese  beiden  wegen  hohen  Alters  nicht  mehr  zu  den 
Sitzungen  erschienen.  Schubert  berichtet  bereits  in  seiner  Kantbiographie, 
Seite  165  f.,  von  dieser  Angelegenheit;  doch  sind  seine  Angaben  nicht  überall 
genau.  Insbesondere  i.st  das  Schriftstück,  das  Schubert  als  Kants  offiziell 
eingereichten  Protest  ansieht  und  als  solchen  publiziert,  nur  ein  Entwurf 
zu  der  wirklich  abgelieferten  sehr  charakteristischen  Eingabe,  die  hier  zum 
ersten  Mal  im  Druck  erscheint. 


47 '2  Mittoilunfjen. 

Neues  über  Kants  Vorl'aliren. 

nie  ..Kantstiulicn"  li.ilx-ii  IU\.  II.  S.  882  einen  Bericlit,  iil)cr  Kants 
\'iirfahren  von  .Ioh;uines  Senibrit/.ki  i;-el)rnclit,  Der  dort  ans^csiiroeheno 
^\'unsL■h.  es  ni("tjj;e  sicli  noch  etwas  Sicheres  über  Kants  lJr<^rossvatt^r  und 
CJrossvater  in  Erfahruni;-  brinp;en  lassen,  hat  sich  neuerdings  teilweise  er- 
füllt und  zwar  durcli  Nariirorsciiiiii^en,  dii'  wirdcnini  .lolianiios 
Senibrit/ki  an,i4,estellt  hat,  und  übtM-  die  er  im  „Meuu'ier  Daiiipi'boot" 
vom  22.  Sept.  18!»9  referiert.  Die  im  Ivinif^liciien  .Staatsarchiv  in  K/ini^s- 
beri;  nn.i»;est eilte  Durchsuchun,«;-  der  llausbücher  des  Amtes  Menu'l  fidirte 
nämlitdi  zur  Auffinduni;-  zweier  Urkunden  im  iiausbucdi  No.  3,  S.  L'32  -236, 
durch  die  die  bisher  allein  feststellende  Thatsache,  dass  d(M-  Grossvater 
des  Philoso]>hen  Hans  Kant  hiess  und  als  Riemer  in  Memel  (nach  Kants 
eigener  .Vn^abe  in  Tilsit)  lebte,  um  eini.y,-e  nicht  uninteressante  Details  er- 
p:änzt  wird,  und  durcli  die  wir  zugleich  über  Kants  IJr^-rossvater  unti^r- 
riclitet    werden.     Letzterer    war  Krugbesitzer  in  Werden   bei    lieydekrug. 

Die  erste  der  beiden  Urkunden  ist  ein  Vergleich,  wonach  „Herr 
Eicliart  Kandt  Krüger  zu  "Weidden,  nunmeliro  oln  alter  Mann,  und  sich 
weiter  nach  seiner  Seel.  Frauen  Tode,  zu  verendern  oder  befreyen  nicht 
in  Willens"  nach  Aufzidiluug  seiner  Schulden,  worunter  „226  Fl.  1  gr. 
Seinem  Seel.  Schwiegersohn  Ealzer  Motten,  welche  Hr.  Kandt  nunmehro 
seiner  Tochter  Sophia,  nach  ihres  Mannes  Tode  zu  zahlen"  —  seine 
ganze  wohl  eingerichtete  Haushaltung  mit  drei  Hufen  Landes  s(!iner 
Tochter  Sophia  abtritt,  wogegen  sie  ihm  ein  auskömmliches  Altenteil  zu- 
sagt und  alle  Schulden  zu  tilgen  sich  verpflichtet.  —  „Weilen  Hr.  Eichart 
Kandt.  noch  einen  Sohn  Hanfs  Kandten  beym  Loben  hat,  so  ein  Riemer 
Handtwerk  ehrlich  gelernet,  und  anizo  in  frembden  Landen",  so  soll  die 
Tochter  diesem  bei  seiner  Rückkunft  von  der  Wanderschaft  100  Thlr., 
6  Hemde  von  reiner  Hausleinwand,  6  Koller  und  12  Nastücher  übergeben. 
*So  geschehen  Werdden  den  9.  Mai  1667,  unterschrieben  „Ich  richert  Kandt 
mit  mein  handt"  (L.  S.)  und  einigen  Zeugen. 

Als  nim  aber  der  Riemergeselle  „Hanfs  Kandt"  aus  „frembden 
Landen"  zurückgekehrt  war  (sein  Vater  Richart  scheint  schon  vorher  ge- 
storben zu  sein),  war  er  nicht  damit  zufrieden,  dass  er  „von  dem  Kruge 
zu  A^'erdden  und  andei-n  Mo-  und  Immobilien  nicht  mehr  als  100  Rthlr. 
Geldt  zum  abtrag  haben"  sollte,  sondern  wandte  „die  laesion  seines  Väter- 
und  Mütterlichen  pflicht  theils"  ein.  Es  wurde  deshalb  am  4.  Juni  1670 
zwischen  ihm  und  dem  zweiten  Manne  seiner  Schw-ester  Sophia,  Hans 
Karr,  dem  nunmehrigen  Krüger  zu  Werden,  ein  neuer  Vertrag  geschlossen: 
„Dass  Hanfs  Karr  ihme  Hanfs  Kandten,  vor  alles  und  iedes.  Einhundert 
V.  funffzig  Rthl.  wie  auch  zehn  Ellen  Lacken  a  Elle  5  Mk.,  worüber  Er 
Kandt  alle  Zeit  auf  diesen  Contract  quietiren  wnrdt,  abtragen  vmd  ein 
iedes  Paart,  diesen  Contract,  sub  vadio  10  Rthlr.  in  allen  Punkten  und 
Clausein,  und  zwart.  so  fern  Hanfs  Kant  dawieder  ichts  was  regen  mach, 
der  Kirch  zu  Werdden,  sofern  aber  Hanfs  Karr,  dieser  Transaction,  auf 
einige  ^^t  zu  wieder  leben  möchte,  der  Reformirten  Kirchen  zu 
Memel  solche  zehn  Rthlr.  ohne  einige  exception  tmd  wieder  Rede,  würk- 
lich  erlegen  sollen;  begiebet  sich  demnach  mehr  benanter  Hanfs  Kandt, 
aller  an  dem  Kruge  zu  Werdden,  und  dessen  Pertinentien,  dann  derer 
darinnen  vorhandenen,  und  gewesenen  Mobilien,  gehabten  An-  und  Zu- 
Sprüchen, Gerechtigkeiten,  und  Freyheiten,  vor  sich  und  seine  nach  Kömm- 
linge:  alles  getreulich,  sonder  gefehrde  und  ohne  alle  arge  List." 

Der  Vermerk  über  die  reformierte  Kirche  deutet  darauf,  dass  Hans 
Kant  reformiert  war.  Da  nun  (vgl.  „KSt."  11,  882)  in  Memel  schon  vor 
1640  eine  reformierte  Gemeinde  bestand,  deren  Mitglieder  Holländer  und 
Schotten  waren,  so  bietet  die  Urkunde  eine,  wenn  auch  nicht  unbedingt 
sichere,  Bestätigung  der  Angabe,  dass  Kants  Familie  schottischer  Herkunft 
sei.  Kants  eigene  Meinung  freilich,  dass  sein  Grossvater  zu  denen  gehört 
habe,  „die  am  Ende  des  vorigen  [17.]  und  am  Anfang  dieses  [18.]  Jahr- 
hunderts .  .  .  emigrierten,"  ist  in  dieser  Form  sicher  unrichtig.  Die  Ein- 
wanderung müsste  spätestens  am  Anfang  der  zweiten  Hälfte  des  17.  Jahr- 


Mitteilunf^en.  473 

hunderts  erfol<^  sein,  und  Kants  Grossvater  könnte  nur  als  Knabe 
Schottland  verlassen  haben,  wenn  er  nicht  überhaupt  erst  in  der  neuen 
Heimat  geboren  wurde.  Da  die  Kinder  des  Hans  Kant  in  der  lutherischen 
Kirche  getauft  wurden,  liegt  die  Annahme  nahe,  dass  er  sich  mit  einer 
Einhi'imischen  verheiratet  und  von  da  ab  zur  lutherischen  Kirche  ge- 
halten habe. 

In  Bezug  darauf,  dass  Hans  Kant  in  Memcl  gelebt  hat,  von  seinem 
Enkel  abi'r  als  Bürger  in  Tilsit  bezeichnet  wird,  meint  Sembritzki,  der 
Widerspruch  lasse  sich  vielleicht  lösen,  wenn  man  beachtet,  dass  in  der 
Memeler  Kämmerei-Rechnung  von  1736  gesagt  wird,  tlie  wüste  Stelle 
des  Cant  sei  zur  Vergrösserung  des  Friedrichsmarkts  eingezogen.  Kant 
mag  abgebrannt  oder  durch  die  Pest  1709—10  in  unglückliche  Verhältnisse 
geraten  sein,  so  dass  er.  im  Glauben,  dort  leichter  existieren  zu  können, 
noch  in  alten  Tagen  nach  Tilsit  übersiedelte. 

Dass  Kants  Grossvater  Memeler  Bürger  war  und  zwar  in  der  Altstadt 
wohnte,  ist  neuerdings  noch  bestätigt  worden  durch  die  Auffindung  einer 
Kotiz  in  einem  alten  Memeler  „Feldbuch-,  d.  h.  einem  Verzeichnis  der 
Bürgerfelder  und  ihrer  Besitzer.  Das  Buch  —  es  stammt  aus  dt-m  Ende 
des  17.  Jahrhunderts  —  enthält  nämlich  die  Eintragung:  „Hans  Keiusch, 
nach  dem  Meister  Hans  Kantt".  (Vgl.  „Memeler  Dampfboot**  vom  7.  Jan.  1900.; 

G.  Simrael  über  das  Verhältnis  von  Kant  und  Goethe. 

Im  ersten  Band  dieser  „Kautstudieu**  (S.  469)  findet  sich  ein  Bericht 
des  Herausgebers  über  eine  1896  in  der  Vossischen  Zeitung  erschienene  Ab- 
handlung Simmeis  („Wss  ist  uns  Kant>).  Der  Bericht  beginnt  mit  den 
Worten:  „Geistvolle  Ausführungen,  in  jener  edleren  Popularität,  welche 
der  Wissenschaftlichkeit  nichts  vergiebt.**  Auch  für  den  heute  in  der  Bei- 
lage zur  IMünchener]  Allgemeinen  Zeitung  (1899,  No.  1*25— 127,  3.— 6.  Juni» 
vorliegenden  Aufsatz  „Kant  und  Goethe'*  dürfte  es  schwerlich  eine  passendere 
Charakteristik  geben.  Simmel  fasst  die  beiden  grossen  Männer  als  die  Be- 
gründer und  tvpischen  Vertreter  zweier  Weltanschauungen,  deren  gemeinsame 
Wurzeln  er  zunächst  in  den  historisch-sozialen  Beziehungen  jener  Zeit  und 
in  der  hierdurch  bestimmten  Auffassung  des  Verhältnisses  von  Mensch  und 
Natur  aufzeigt.  Der  Diudismus  von  Subjekt  und  Objekt  war  immer  ent- 
schiedener und  bewusster  geworden:  „die  Naturwissenschaft,  seit  Galilei 
und  Copernicus,  zeigte  uns  einen  Kosmos  von  unerbittlicher,  alles  Menschlich - 
Psychische  ausschliesseuder  Objektivität,  der  gegenüber  sich  die  Seele 
ihrer  so  ganz  abweichenden  Struktur,  ihres  Wertempfindens,  ihrer  Wülens- 
freiheit.  ihrer  der  Mathematik  ganz  unzugänglichen  inneren  Welt  erst  ganz 
bewusst  wurde."  Diesen  Gegensatz  zu  überwinden,  ist  das  Hauptthema, 
der  gro.ssen  philosophischen  Systeme  des  17.  und  18.  Jahrhunderts;  ihn  in 
unparteiischer  Weise  (gegenüber  dem  Spiritualismus  und  Materiahsmus) 
aufzuheben,  versuchen  Kant  und  Goethe.  Kant  führt  den  Subjektivismus 
der  neueren  Zeit,  die  Selbständigkeit  des  Ich,  mit  grösster  Entschiedenheit 
durch,  ohne  die  Bedeutsamkeit  der  objektiven  Welt  zu  gefährden,  und  er 
fasst  Subjekt  und  Objekt  zusammen  in  der  einen  Erfahrung  und  weist 
hin  auf  die  intelligible  Welt,  die  den  letzten  einheitlichen  Grund  der 
Erscheinungswelt  enthalten  mag.  Ganz  anders  Goethe.  Zunächst  fehlt 
ihm  „<lie  ganze  Absicht  der  Philosophie  als  Wissenschaft".  „Darum  wird 
eine  Darstellung  dt-r  Philosophie  Goethes  bis  zu  einem  gewissen  Grad  ganz 
unvermeidlich  eine  Philosophie  über  Goethe  .sein":  sie  wird  versuchen 
müssen,  in  die  Form  abstrakter  Begrifflichkeit  zu  giessen,  was  bei  ihm 
ein  unmittelbares  Gefühl  für  Natur,  Welt  und  Leben  war.  Was  ihn  nu^ 
grundsätzlich  von  Kant  scheidet,  ist  die  Beschränkung  auf  die  Er.scheinungs- 
welt,  in  der  selbst  er  die  Subjekt  und  Objekt  zur  Einheit  verbimlende 
Brücke  sucht.  „Sein  ganzes  inneres  Verhältnis  zur  Welt  ruht,  theuretisch 
ausgedrückt,  auf  der  Gei.stigkeit  der  Natur  und  der  Natürlichkeit  des 
Geistes.**  Sehr  fein  führt  Simmel  an  dem  gegensätzlichen  Verhältnis,  in 
dem  Kant  und  Goethe  an  Hiülers  Satz  „Ins  Innre  der  Natur  dringt  kein 
Kftnt.stuilien  IV.  ol 


474  Mitteilnnfjcn. 

rrschaff'ncr  CuMSt"  Kritik  ilhtMi,  ihinli.  wir  hier  der  «^anzc  ZwicsjiaH  der 
beiden  AW-ltanscliaiHin^i-n  ilcutlich  wird.  „Man  kann  den  l!c;^t«nsa(/.,  iiiu 
ilen  es  sicli  haiuUdt,  im  llinhlick  auf  jt'iu'ii  1  lallcrsclicii  S]irii<'li  /ii  einer 
kunceii  Korniel  zuspitzen:  Iraj^t  man  nacli  dem  ei^i'iien  Wesen  der  Natur, 
so  antwortet  Kant:  sie  ist  nur  Äusseres,  da  sie  ausscldiesslich  aus  räundicli- 
inoclianisohen  Beziehuni::en  liesteht.;  und  (ux'tlie:  sie  ist  nur  Inneres,  da 
die  Idee,  das  geisti,i;-e  Scli("ii)runi;s[iriu/.ii),  auch  ihr  «ganzes  Leben  ausmacht. 
Fra.ijt  man  aber  nach  ihrem  Verhältnis  zum  M(>nschen<2;eist,  so  antwortet 
Ivant :  sie  ist  niir  Inneres,  w'eil  sie  eine  Vorstellung  in  uns  ist;  und  (Joethe: 
sie  ist  nur  Atisseres,  weil  die  Anscliaulichkeit  der  Diufije,  auf  der  alle 
Kunst  beruht,  eine  uuhedini;te  Realität  haben  muss."  Kant  bist  die 
I51eichun<x  zwischen  Subjekt  und  Objekt  von  der  Seite  des  ersteren,  Goethe 
von  der  des  letzteren;  beide  aber  erweitern  ihren  Ausgangspunkt  «lei-art, 
dass  bei  Kant  tlas  Objekt  vom  Subjekt,  bei  Goethe  das  Subjekt  vom  Objekt 
umfasst  wird.  So  kommt  es,  dass  die  beiderseitigen  Anschauungen  oft 
sehr  verwandt  scheinen  und  gerade  entgegengesetzt  sind.  Charakteristisch 
ist  hierfür  die  von  beiden  Denkern  in  etwa  gleicher  Weise  gezogene 
Grenze  des  Erkennens:  für  Kant  ist  sie  durch  die  Natur  des  Erkennens 
selbst  gesetzt:  „für  Goethe  bedeutet  es  nur  jene  Schranke,  die  aus  der 
Tiefe  und  dem  geheimnisvollen  Dunkel  des  letzten  Weltgrundes  hervor- 
geht." —  Wie  für  das  Wesen  Kants  der  Begriff  Grenzsetzung,  so  ist  für 
dasjenige  Goethes  der  Begriff  Einheit  bezeichnend.  Goethe,  der  synthetische 
Geist,  sagt:  „Dich  im  ünendliclien  zu  finden,  Musst  unterscheiden  und 
dann  verbinden";  Kant,  der  Analytiker,  findet  die  Verbindung  vor  und 
sieht  in  der  Scheidung  seine  Aufgabe.  —  Fast  parallel  nun  mit  dem 
theoretischen  Gegensatz  geht  jener  andere  in  der  praktischen  Philosophie, 
in  der  es  den  Dualismus  zwischen  dem  Ich  und  der  gesellschaftlichen 
Gesamtheit  zu  überwinden  gilt.  Die  Beantwortung  der  ethischen  Fragen 
geschieht  „bei  Kant  durch  ein  objektives  Machtgebot,  das  jenseits  j(^glichen 
besonderen  Interesses  steht,  aber  in  der  Vernunft  des  Subjekts  wurzelt: 
bei  Goethe  durch  eine  unmittelbare  innere  Einheit  der  sittlich-praktischen 
Lebenselemente,  durch  eine  die  Gegensätze  einschliessende  und  beide 
gleichmässig  befriedigende  Natur  des  Menschen  und  der  Dinge."  Und 
auch  hier  zeigt  sich  mehrfach  trotz  der  prinzipiellen  Divergenz  grosse 
äussere  Ähnlichkeit.  In  interessanter  Weise  führt  dies  Simmel  an  der 
Theorie  vom  Primat  der  praktischen  Vernunft  durch,  der  für  Goethe  so 
fest  steht  wie  für  Kant.  „Aber  sogleich  trennen  sich,  hier  wne  dort,  die 
Wege  oberhalb  —  oder  unterhalb  - —  dieser  gleichsam  nur  punktuellen 
Gemeinsamkeit.  Jener  fundamentale  und  iinversöhnliche  Wertunterschied 
zwischen  der  sinnlichen  und  der  vernünftigen  Seite  unsres  Wesens,  auf 
dem  die  ganze  Kantische  Ethik  steht,  muss  Goethe  ein  Horror  sein  —  wie 
überhaupt  sein  eigentlicher  Todfeind  der  christliche  Dualismus  ist,  der  die 
Sichtbarkeit  der  Welt  und  ihren  Wert  auseinanderreisst."  Goethes  über  den 
Gegensatz  von  eudämonistischer  und  rationalistischer  Moral  hinweg  ,aus  dem 
ganzen  Komplex  der  gesunden  menschlichen  Natur"  entwickelte  Welt- 
anschauung kann  nun  freilich  keine  im  eigentlichen  Sinne  moralische 
heissen:  sie  ist  eine  übermoralische.  Simmel  stellt  sich  hier  ganz  zu  Goethe: 
den  Sinn  des  Daseins  mit  Kant  „in  dem  zufälligen  Ausschnitt,  den  wir  als 
Moral  bezeichen,"  erblicken  zu  wollen,  erscheint  ihm  als  „kleinlicher 
Anthrqpomorphismus".  —  Einen  weiteren  interessanten  Beleg  für  äusser- 
liche  Ähnlichkeit  der  Anschauungen  bei  völliger  Discrepanz  der  Motive 
bilden  die  Unsterblichkeitspostulate.  Sie  verlaufen  bei  Kant  und  Goethe 
„sozusagen  in  dem  gleichen  Schema".  „Beide  finden  in  der  Wirklichkeit 
des  menschlichen  Wesens  gewisse  Forderungen  unmittelbar  angelegt,  zu 
deren  Erfüllung  dasselbe  unter  den  empirischen  Verhältnissen  nicht  ge- 
langen kann.  .  .  Nun  aber  die  tiefe  Divergenz  ihres  Weltbildes:  für 
Goethe  könnte  die  Natur  nichts  so  Sinnloses  thun,  als  uns  Kräfte  zu 
verleihen,  denen  sie  die  Entwicklung  abschneidet:  für  Kant  könnte  sie 
nichts  so  Unmoralisches  thun,  als  der  Sittlichkeit  ihr  Äquivalent  vor- 
zuenthalten. .  .     Der  Übergang  der  Seele  von  dem  irdischen  in  den  trans- 


Mitteilunf^en.  —  Varia.  475 

scendenten  Ziistand  ist  für  Kaut  der  radikalste,  für  den  sein  Denken  Kaum 
hat:  für  Coethe  ein  Fortschreiten  in  ungeänderter  Kichtung,  ein  blosses 
Freiwerden  vorhandener  i^nergien.  Auch  dieser  vorpjescliobenste  Posten 
der  beiden  Weltanschaunngen  spiegelt  ebenso  den  Ilhytlunus  des  Kantischen 
Wesens,  das  die  Momente  des  Seins  untereinander  und  von  ihrem  Wert 
scheidet,  um  sie  erst  oberhalb  oder  unterlialb  der  "Wirklichkeit  wieder  zu 
versöhnen,  wie  den  des  Goethischen,  für  den  das  Sein  in  sich  und  mit 
seinem  Wert  von  vornherein  ein  einheitliches  ist."  —  Die  Gegenwart  sucht 
nach  einer  Vermittlung  /wischen  den  beiden  Weltanschauungen;  gelöst 
ist  die  Aufgabe  nicht.  Vielleicht  ist  sie  überhaupt  unlösbar.  Aber  „es  ist 
die  äusserste  Ausgestaltung  und  .Ausnutzung  der  Gunst,  die  die  Natur  der 
Dinge  den  Epigonen  gewährt:  dass.  wenn  ihnen  die  Grösse  der  Finseitig- 
keit  entgeht,  sie  dafür  der  Einseitigkeit  der  Grösse  entgehen  können." 


Varia. 


Miniaturbildnis  Kants 
im  Besitze  von  A.  Warda  in  Königsberg  i.  Pr. 

Das  dem  vorliegenden  Hefte  in  Lichtdruckreproduktion  beigegebene 
Kantbildnis  ist  bereits  „KSt."  111,  370  näher  beschrieben  worden  (vgl.  auch 
IV,  357).  Es  ist  ein  auf  Elfenbein  gemaltes  Miniaturbild  und  misst  ohne 
Umrahmung  3X1.7  cm.  Nach  unseren  damaligen  Bemerkungen  ist  das  Bild 
komponiert  nach  der  Puttrichschen  Zeichnung,*)  der  jedoch  an  .""Stelle  des 
Profilkopfes  ein  halb  nach  vorne  gewendeter  Kopf  aufgesetzt  ist.  Dieser 
Kopf  scheint  dem  Vernetschen  Porträt  nachgebildet,  aber  unselbständig 
ist  diese  Nachbildung  keinesfalls  zu  nennen.  Auffallend  bestätigt  das  vor- 
liegende Bildnis  hinsichtlich  des  Verhältnisses  des  Kopfes  zu  dem  übrigen 
Körper  die  Schilderung  Rinks  („An.sichten  aus  I.  Kants  Leben",  S.  93l: 
.,Fast  hatte,  wenigstens  in  den  höheren  Jahren  des  Alters,  sein  Kopf  einen 
zu  grossen  Umfang  gegen  seinen  zusammengesunkenen  und  dünnen 
Körper."  (Vgl.  auch  Jachmann.  S.  158.)  So  macht  das  Bildchen,  besonders 
das  Köpfchen,  einen  lebenswahren  Eindruck  und  ist  wolil  noch  zu  Leb- 
zeiten Kants  gefertigt.     Wer  aber  mag  der  geschickte  Künstler  sein? 

Der  ehemalige  Besitzer  des  Bildes,  der  Rektor  des  G^'mnasiuuis  und 
der  Realschule  zu  Ulm,  Georg  Heinrich  Moser  (1780— 1858)  hatte,  wie  sein 
Vermerk  auf  der  Rückseite  des  Bildes  besagt,  dieses  in  Heidelberg  1808 
(oder  1803.')  von  seinem  Freunde  Metzger  aus  Königsberg  erhalten. 
Letzterer  ist  wohl  Friedrich  Daniel  Metzger,  der  (etwa  1788  geborene) 
Sohn  des  bekannten  llofrats  Prof.  der  Medizin  .Johann  Daniel  Metzger  und 
rlessen  Frau  Albertine  Wilhelmine  Henriette,  Tochter  des  Hofgerichtsrats 
Michael  Lilienthal.  Metzger  wurde  zu  Königsberg  im  Sommersemester 
1801  als  stud.  jur.  immatrikuliert:    am  27.  Mai  1803  trat  er  als  Respondent 


*j  Bei  dieser  Gelegtrnhoit  aei  Folgendes  b^morkt:  Nach  dor  ietzt  im  Hrsitz  dt-r 
Altfrtumsgespllsoliaft  Prusxiii  in  KcinigsVjorg  i.  Pr.  bcfindliclien  Zcicnming  PuttricliM 
ist  im  .lalire  ITUS  oin  K\ipf>'rnfi(h  von  Berger  im  l'nyiTsclwn  Verlag  in  Kgsi)g.  Hrschi^non. 
der  die  Original/.fichnnng  jedoch  nicht  viillig  getreu  wiedergiebt.  Dienen  Sticli.  damal.s 
ohne  l'nterschrif't.  erliielt  auch  Kant  zugesandt  fnarh  gütiger  Mitteilung  des  HiTrn  Dr. 
R.  Reieke):  nach  Kants  Tode  erschien  der  .sticli  mit  iler  l'ntersclirift  :  „Kant  geb.  d. 
•-'2.  .\j(ril  1724,  gest.  d.  12.  J'ebr.  1804. •*  In  dieser  Weise  ist  die  selbtsverHtäudlich  falsche 
Notiz  bei  Minden  (S.  9),  wonach  die  erwillinte  Unterschrift  bereits  auf  <ieni  Stiche  von 
1798  vorhanden  gewesen  wRre.  zu  bericlitigon. 

31* 


47U  ^'»ria. 

boi  (lor  Dissort.  pro  liiro  Profoss.  Poös.  ordin.  von  Carl  Tjmhvi;^  Porschko 
«uf.  Nach  dem  „Akadoin.  Erinneniufz^sbuch  für  dic\  welche  in  den.l.duen 
1787 — 1817  (lie  Köni^sberger  Universität  bezogen  haben  (K{i;sbf2;.  1825)"  war 
Met/j:;er  später  J{t>gienin^srat  in  Potsdam,  dann  in  Magdeburg,  nahm  seinen 
Absclüed  und  war  (^etwa  182Ö)  Hesit/t'r  der  Cllashilttc  in  Zrcidin  in 
der  Mark. 

Unsere  Reproduktion  des  Bildes  ist  eine  doppelte  lineare  (d  li.  der 
Hache  naeh  4  faeluO  Vergrusserun<>;  des  Ori<:;inals. 

Kantreliquien  bei  Jacob  Grimm. 

Es  ist  bekannt,  in  widch  bedau(>rlieher  Weise  der  Nachlass  Kants  in 
alle  Winde  zerstreut  worden  ist,  und  es  ist  ebenso  bekannt,  wie  infol<j^e 
dessen  allerlei  Eeli(iuien  Kants  oft  bei  den  wunderlichsten  Gelegenheiten 
da  und  dort  auftauchen.  Einen  charakteristischen  Beleg  dafür  bildet  ein 
Brief  von  Jacob  C-rinun  aus  dem  Besitz  des  Herrn  Gotthill  Weisstein  in 
Berlin.  Ini  .Jahre  1860  wurde  zu  Gunsten  der  in  Schleswig-Holstein 
stehenden  prenssischeu  Truppen  eine  Sammlung  veranstaltet  durch  einen 
Verein,  an  dessen  Spitze  Jacob  Grimm  stand.  Dem  Verein  wurden  neben 
Geldbeiträgen  auch  allerlei  sonstige  Dinge  übergeben,  und  so  bot  auch  der 
Leihamtsdirektor  Bück,  wohl  ein  Sohn  des  Bürgermeisters  Bück  von 
Königsberg,  des  Schwagers  Wasianski's  (vgl.  „KSt.  "II,  384;  III,  371)  dem 
Verein  zwei  Kantreliquien  an,  von  denen  uns  natüilich  nur  das  „Auto- 
graphum"  interessiert.     Der  Brief  lautet: 

„Ew.  Wolgeboren 
„patriotisches  Erbieten,  uns  eine  Mnndtasse  Kants,  so  wie  ein  Autographum 
„desselben  zu  übergeben,  nehme  ich  zwar  im  Namen  des  Vereins  für 
„Schleswig-Holstein  dankbar  an,  bemerke  jedoch,  dass  einer  gewiss  zweck- 
„mässigen  Ausspielung  solcher  Gegenstände  vorläufig  noch  die  Polizin 
„Sch-wierigkeiten  entgegen  setzt.  Sollten  sich  diese  heben,  so  besitzen  oder 
„erwarten  wir  ausserdem  noch  andere  werthvolle  Sachen,  die  dem  Publicum 
„dargeboten  werden  könnten.  Behalten  Sie  also  jene  Tasse  jetzt  noch  bei 
„sich,  ich  werde  mir  erlauben  Ihnen  demnächst  weitere  Nachricht  zugehen 
„zu  lassen,  wie  Avir  damit  zu  verfahren  gedenken. 

Mit  ergebenster  Hochachtung 
Berlin  26  oct.  1850.  Jacob  Grimm." 

"Wohin  das  „Autographum"  gekommen  ist,  ist  leider  unbekannt; 
vielleicht  führt  diese  Notiz  auf  die  Spur  desselben. 

Vom  Autographenmarkt. 

Am  1.  Nov.  kam  durch  Leo  Liepmannssohn  iu  Berlin  ein  Stammbuch- 
blatt von  Kant  zur  Versteigerung  Dasselbe  trägt  das  Datum  12.  Okt.  1796 
und  lautet:  „Ad  poenitendum  properat  cito  qui  judicat."'  Im  ersten  Bande 
dieser  Zeitschrift  berichteten  wir  bereits  {S.  148,  vgl.  491)  von  einem  gleich- 
lautenden Stammbuchblatte  vom  20.  Juni  1798  und  teilten  die  Quelle  mit: 
die  Sentenzen  des  Publilius  Syrus.  Kant  hat  dieses  für  ihn  so  charakte- 
ristische Motto  mehrfach  zu  Stammbuchblättern  verwendet. 

Das  Antiquariat  von  Richard  Bertling,  Dresden,  bietet  in  seinem 
Katalog  No.  34  (1899)  einige  Kantautographen  an.  Es  sind  die  Manuskripte 
zu  zwei  losen  Blättern,  welche  schon  von  Reicke  in  Heft  1  der  „Losen 
Blätter  aus  Kants  Nachlass"  veröffentlicht  sind,  und  zwar  das  eine  unter 
Nr.  9  (S.  26—29),  das  andere  unter  No.  17  (S.  46—46).  (Preis  40  Mk.  und 
20  Mk.)  —  Charakteristisch  für  den  Autographenhandel  ist,  dass  w^eiter 
nichts  als  eine  eigenhändige  Adresse  Kants  auf  einem  Briefumschlag  „An 
Herren  Professor  Tieftrunk  in  Halle"  mit  6  Mk.  angesetzt  ist. 

Sehr  reichhaltig  an  Kantiana  war  die  sog.  Posonyi'sche  Sammlung. 
Dieselbe  ist  in  den  Besitz  von  Fr.  Cohen,  Bonn,  übergegangen,  welcher 
sie  in  seinem  Katalog  No.  97  anbietet.  Das  Hauptstück  derselben,  das 
mit   nicht   w^eniger  als  800  Mk.  angesetzt  ist,  ist  ein  drei  Quartseiten  um- 


Varia.  477 

fassender  eigenhändiger  Brief  Kants  an  Fritz  Jacobi  vom  80.  Aug.  1789. 
Eine  Bemerkung  von  Jacobi  auf  dem  Brief  enthält  die  Notiz,  dass  er  den 
Brief  am  10.  Sept.  erhalten  und  am  16.  Nov.  beantwortet  hat.  Der  Brief, 
der  durchaus  philosophischen  Inhalt  hat,  wird  vom  Katalog  als  , Pracht- 
stück ersten  Ranges"  bezeichnet.  —  Ein  anderer  Brief  von  Kant  (3  S.  Quart), 
der  mit  '.-'10  Mk.  ausgezeichnet  ist,  ist  vom  6.  Nov.  1787.  Derselbe  ist 
nicht  philosophischen  Inhalts,  sondern  besclireibt  merkwürdigerweise  ein 
neues  Spinnrad,  wobei  Kant  den  Adressaten  ersucht,  dem  ihm  bekannten 
Erfinder  desselben  eine  königliche  Prämie  auswirken  zu  wollen.  —  Ein 
weiterer  Brief  von  Kant  vom  12.  -Juli  1797  (1  S.  Quart)  i.st  mit  175  Mk. 
ausgezeichnet.  Er  ist  an  Tieftrunk  gericlitet  und  betrifft  philosophische 
Differenzen  mit  J.  S.  Beck.  —  Sehr  bemerkenswert  ist,  dass  der  Katalog 
auch  einen  Brief  Kants  von  1749  (23.  Aug.)  enthält,  datiert  von  Judtsche 
(1  S.  Quart).  Es  ist  das  wohl  der  älteste  Brief,  der  von  Kant  erhalten  ist. 
Er  hat  litterarischen  und  philosophischen  Inhalt  und  ist  mit  V20  Mk.  aus- 
gezeichnet. —  Endlich  wird  ein  Manuskript  in  8»,  eng  beschrieben  (zu 
130  Mk.)  angeboten.  Es  befindet  sich  auf  der  Rückseite  eines  Briefes  von 
Borowski  an  Kant  (v.  1790)  und  enthidt  die  folgenden  kleinen  philo- 
sophischen Aufsätze:  „Vom  Unterschiede  d.  logischen  und  transc.  Gültig- 
keit der  Prinzipien.-  —  „Theologie.-  —  „Die  Kritik  in  Ansehung  der 
Theologie."  —  ^Glaube  an  Gott." 

In  demselben  Katalog  wird  (zu  8  Mk.)  ein  Manusknpt  von  HuU- 
mann  angeboten,  das  sich  auf  Kant  und  auf  das  ihm  in  Königsberg  ge- 
setzte Denkmal  bezieht:  ferner  ein  Stammbuchblatt  von  Sophie  La  Roche 
(6  Mk.)  vom  10.  März  1788.  welches  die  charakteristische  Stelle  enthält: 
„Überall  begleite  Sie  die  Weisheit  Ihres  Lehrers  Kant,  den  ich  in  der 
Ferne  verehre."  —  Zum  Schluss  sei  angeführt  ein  sehr  interessantes 
Schriftstück  (18  Mk.)  von  Reichardt,  datiert  „Giebichenstein  bei  Halle. 
23.  Febr.  1804."  Es  enthält  einen  herrlichen  Nachruf  für  Kant.  \N  ir 
können  uns  nicht  enthalten,  ihn  hier  abzudrucken:  „Jeder  edle  denkende 
deutsche  Mann  trauert  gewiss  über  den,  wenn  gleich  späten  Tod  nnseres 
Kants!  :Mich  erfüllt  er  mit  besonderer  Wehmut,  die  aus  dem  tiefsten 
Dankgefühl  hervorgeht:  denn  ihm  allein,  dem  ebenso  vortrefflichen 
Menschen  als  grossen  Philosophen,  verdank'  ich  das  Glück,  auch  zu  den 
ersten  Studien  angeführt  worden  zu  sein  und  unter  seiner  Leitung  meine 
Universitätsjahre  vericbt  zu  haben.  Gerne  drückte  ich  das  Gefühl  der 
Wehmut  und  Dankbarkeit,  so  stark  ich  es  nur  irgend  vermag,  durch  meine 
Kunst  aus,  böte  mir  ein  Dichter,  wie  Goethe  oder  Gerstenberg  ver- 
traut mit  dem  Genius  des  Weisen,  freundlich  die  Hand,  in  dem  Andenken 
des  edlen  Mannes  die  Wahrheit  und  echte  Mannestugend  zu  feiern"  etc.  etc. 
Man  vergleiche  hiermit  die  interessante  Schilderung  Kants  durch  Reichardt, 
die  wir  —  bei  Gelegenheit  des  Abdruckes  eines  Briefes  Kants  an  Reichardt  — 
im  1.  Heft  der  KSt.  S.  145  mitgeteilt  haben. 

Kant  in  zwei  Berliner  Universitätsreden. 

In  zwei  bedeutsamen  Kundgebungen  von  zwei  der  bedeutendsten 
Professoren  der  Berliner  Universität  ist  die  Kantische  Philosophie  in  be- 
merkenswerter Weise  zur  Geltung  gekommen.  Die  erste  ist  die  Antritts- 
voriesung  des  Professors  Franz  von  Liszt  „Die  Aufgaben  und  die  Me- 
thoden der  Straf rechtswissenschaft",  gehalten  am  Anfang  des  \\  inter- 
semesters  1899/ 19C0.  Wir  greifen  aus  derselben  folgemle  beachtenswerte 
Stelle  heraus:  „Jenseits  des  Gebietes  der  Wissenschaft  liegt  das  (iebiet 
des  Glaubens.  AVer  sich  bemüht,  im  Sinne  der  Kantschen  Erkenntnis- 
kritik die  beiden  Gebiete  reinlich  von  einander  zu  scheiden,  der  leugnet 
damit  noch  nicht,  dass  die  beiden  Gebiete  unabhängig  von  einander  be- 
stehen. Und  wenn  es  unmöglich  ist,  dass  durch  die  wissenschafthche  Er- 
kenntnis jemals  unser  Glaube  gefährdet  wird,  so  sollte  es  ebenso  undenk- 
bar sein,  dass  die  wissenschaftliche  Erkenntnis  durch  den  (Jlauben 
Förderung  oder  Hemmung    erfahren  könnte.      Was  hinter  Raum  und  Zeit 


47S 


Varia. 


unsoroiu  blöileu  lilick  vorbor«;tMi  isl,  ilas  ki'unirii,  das  si.llfii  wir  L;l!iiil)iMr 
hofft'U,  lieben;  über  wir  k("miieu  es  iiirht  Wissenschaft  lieh  erkennen.  Jeder 
Überi^riff  aus  jenen  (u'bieten  in  das  (robiet  wissensc.iiaftliclier  iOrkcnnlnis 
niuss  mit  s^nisster  Sciiarfe  /.nrüek.i;tHviesen  worden.  Mvstisciie  Spckidation, 
maü:  sie  sici\  aueh  in  das  iJewand  einer  der  bidii'bt.i'ii  „al)S()lMteii  Strai- 
rechtstheorien"  kliMden,  hat  mit  der  Wissenschai'l  und  ilaher  auch  mit  der 
Strafreclitswissensohaft  nit^hts  /u  tliun.  lnuerl\alb  der  Welt  der  Er- 
scheinuni^en  bleibt  uns  genuj;-  an  harter,  aber  orfol^vcrhcissiMulcr  .\rl)cit 
übrig." 

Die  andere  Kundgebung  ist  die  Festrede  des  Proi'tissors  Ulrich  von 
Wila  mo  wit/.-Moelleudorf  f  zur  sogenannten  Jalirhuudcutfeier  der 
l'niversitiit  (.lan.  1900).  Aus  ihr  füliren  wir  folgende  Stelle  an:  „Kant, 
durch  den  erst  Aristoteles  überwunden  wmhI,  weist  der  Philosophie  neue 
Bahnen.  Er  gewinnt  Einfluss  auf  die  aufblüiienden  Naturwissenschaften, 
deren  Ausgestaltung  durcli  Kants  .Lehren  btifruchtet  wird." 


Die  Kantische  Philosophie  in  den  Volkshochschulkursen. 

Ein    erfreuliches  Zeichen    für    das  stetige   Vordringen  der   Ivantischen 
Philosophie    ist    es,    dass    sie  in   Wien  bereits  in  der   ünix^M-sitv-Extension 


zur    Geltung    gekommen    ist. 


das    Programm 


der    „volksti'nnlichen 


^      S^^,......x^..      .o..         Wi( 

üniversitätskurse  im  Oktober  und  November  1899"  zeigt,  hält  dort  Privat- 
docent  Dr.  W.  Jerusalem  einen  Cykhis  von  6  Vorlesungen  über 
Immanuel  Kaut.  Diese  Kurse  finden  statt  im  Auftrage  der  Wiener 
Universität.  Jedermami  mit  Ausschluss  der  schul ijflichtigeu  Kinder  hat 
Zutritt.  Nach  jedem  einzelnen  (einstündigen)  Vortrag  wird  noch  eine  halbe 
Stunde  der  Erledigung  von  Anfragen  aus  dem  Zuhorerkreis  gewidmet.  — 
Leicht  ist  die  Aufgabe,  die  sich  Jerusalem  g(;stellt  hat,  gewiss  nicht, 
zumal  die  Wiener  nicht  gerade  als  Vertreter  Kantischer  Gesinnung  und 
Geistesart  bekannt  sind.  Man  erinnere  sich  nur  der  Verse  von  Albrecht 
Graf  Wickenburg  („Mein  AVien.    Lieder  und  Cedichte."    Wien,  1894.  S.  1.) : 

Ein  Glück,  dass  Kant  sich  nicht  zu  uns  verloren, 

Sonst  ging's  wohl  mit  der  strengen  Ethik  schief; 

In  Wien  hätt"  er  ihn  sicher  nicht  geboren, 

Den  kategorischen  Imperativ  I 

Das  Wort:   „Ich  soll"  stimmt  schlecht  zum  Wiener  Triebe, 

Der  nur  uns  handeln  heis.st  aus  Lust  und  Liebe! 


Vorträge  über  die  Ethik  Kants  von  M.  Kronenberg. 


M.  hielt  am 


In  der  Gesellschaft  für  ethische  Kultur  zu  Frankfurt  a 
2.,  4.  und  5.  Dezember  1899  Dr.  M.  Kronenberg  aus  Berlin  einen  Vor- 
tragscyklns  über  „die  Ethik  Kants  und  die  ethischen  Aufgaben 
unserer  Zeit".  Im  ersten  Vortrag  sprach  Kronenberg  über  die  historischeu 
Voraussetzungen  der  unabhängigen  Ethik,  deren  Begründun 


den  grössten 


Euhmestitel  Kants  bilde.  Noch  im  17.  und  18.  Jahrhundert  war  die 
Eeligiondie  für  unentbehrlich  gehaltene  Voraussetzung  aller  Sittlichkeit, 
so  dass  selbst  die  aufgeklärtesten  Köpfe  ein  gewisses  Minimum^  von  Religion, 
nämlich  den  Glauben  an  das  Dasein  Gottes  und  an  die  Unsterblichkeit 
der  Seele  als  notwendige  Voraussetzung  aller  Sittlichkeit  festhalten  zu 
müssen  glaubten.  Diese  letzte  Voraussetzung  beseitigte  erst  Kant,  der, 
indem  e^  Alles  vom  Standpunkt  des  Menschen  aus  zu  erklären  suchte, 
auch  die  Sittlichkeit  auf  ihren  natürlichen,  rein  menschlichen  Boden  ver- 
pflanzte. Um  das  zu  können,  bedurfte  es  allerdings  einer  gewaltigen 
Geistesarbeit,  vor  Allem  zur  Befreiung  der  Ethik  von  jeder  religiösen 
Bevormundung.  —  Im  zweiten  Vortrag  entwickelte  Kronenberg  die  (irund- 
züge  der  Kantischen  Ethik,  lehnte  jedoch  deren  metaphysischen  Teil,  die 
Postulatenlehre,  d.  h.  also  die  religiösen  Konsequenzen  Kants,  aus- 
drücklich   ab.     Dagegen  trat    er   in  seinem  Schlussvortrag  entschieden  für 


Varia.  479 

die  allgemeine  Formulierung  ein,  die  Kant  für  das  Sittliche  gegeben  hat. 
Dit'selbe  sei  geeignet,  eine  feste  und  dauernde  Grundlage  für  die  zukünftige 
Entwicklung  einer  humanistischen,  von  allen  religiüs-dogmatisclu'n  ebenso 
wie  metaphysischen  Voraussetzungen  freien  Ethik  zu  werden.  Kronenberg 
suchte  die  1  ruchtbarkeit  der  Kantischen  Formulierungen  des  Sittengesetzes 
an  ihrer  Anwendbarkeit  auf  verschiedene  ethische  Probleme  zu  beweisen. 
So  ging  er  ein  auf  das  Problem  der  nationalen  Ethik,  der  ethischen 
Orientierung  in  den  nationalen  Problemen,  die  heute  so  schwierig  und 
doch  so  aktuell  sind;  ferner  auf  das  Problem  der  sozialen  Ethik,  beispiels- 
weise die  Theorie  des  Klassenkampfes,  ilie  Beziehungen  zwischen  materieller 
und  geistig-sittlicher  Sozialreform.  Wenn  sich  so  ergebe,  dass  die  reine 
vernunftgemässe,  humanistische  Begründung  der  Ethik  allein  imstande  sei, 
den  sittlichen  Bedürfnissen  der  Zeit  zu  genügen,  dann  müsse  man  auch 
energisch  die  praktischen  Konsequenzen  für  die  Erziehung  fordern  und  den 
^Moralunterricht  von  allen  religiösen  Voraussetzungen  befreien.  Diese 
Forderung  schliesse  keineswegs  ein,  dass  Eeligion  und  Metaphysik  keine 
Daseinsberechtigung  hätten:  im  Gegenteil  sei  für  Jedermann  die  Gewinnung 
einer  AVeltanschauung.  sei  diese  nun  religiöser  oder  metaphysischer  Art, 
eine  wichtige  Lebensaufgabe.  Aber  diese  Weltanschauungen  trennen 
unaufhörlich  die  Menschen  und  sollen  sie  trennen,  während  die  Ethik 
allein  verbindet.  Darum  nicht:  ein  Reich,  ein  Gott,  sondern  viele  Götter, 
aber  eine  Sittlichkeit. 

Eine  Kantreminiscenz  aus  der  französischen  Revolution. 

In  „Goethes  Unterhaltungen  mit  dem  Kanzler  Friedrich  von  Müller" 
(2.  Aufl.  Stuttgart,  1898,  S.  113)  wird  —  worauf  uns  K.  Vorländer  auf- 
merksam macht  —  unter  dem  Datum  des  6.  Oktobers  1823  über  die  er- 
greifende Erzählung  des  bekannten  Grafen  Reinhard  aus  der  französischen 
Schreckenszeit  berichtet.  Dabei  findet  ein  damals  gefallenes  Wort  Er- 
wähnung, das  recht  charakteristisch  für  den  Einfluss  ist,  den  man  sich 
von  der  Philosophie  selbst  auf  die  weitesten  Kreise  versprach.  ,,ZZ  faut 
faire  diversion  ä  ce  peuple  furieux  en  traduisant  la  j^hilosophie  de  Kant'' 
Garat,  der  es  ausrief,  als  die  Schwester  des  schon  vorher  hingerichteten 
Königs,  Prinzessin  Elisabeth  von  Bourbon,  zur  Guillotine  gefahren  wurde 
(10.  Mai  1794),  mag  geglaubt  haben,  dass  der  französische  Materialismus 
nicht  unbeteiligt  an  der  allgemeinen  Verrohung  sei,  und  mag  der  Ansicht 
gewesen  sein,  eine  in  Bezug  auf  die  Moral  rigorosere  Philosophie  sei  hier 
die  wirksamste  Arznei.  Freilich  ist  Dominique -Joseph  Garat  (1749 — 1883) 
wegen  seines  Charakters,  dessen  Schwäche  und  Biegsamkeit  an  den  Tag 
zu  legen  er  kaum  eine  Gelegenheit  versäumte,  keiner  von  denen,  auf 
deren  Anerkennung  die  Freunde  Kants  stolz  sein  dürfen. 

Preisaufgabe. 

Die  Philosophische  Fakultät  der  Universität  Berlin  hat  für  1899  190) 
folgende  interessante  und  zeitgemässe  Aufgabe  ge.stellt: 

Die  Grundbegriffe  der  Kantischen  Staatslehre  sollen  in  Hinsicht 
auf  ihre  Abhän<^igkeit  von  früheren  Staatstheorien  sowie  ihre  Bedingtheit 
durch  zeitgeschichtliche  Zustände  und  Vorgänge  untersucht  werden. 

Neu  gefundene  Kantbriefe. 

In  der  Sitzung  der  Kgl.  Preuss.  AkaiU-niii'  der  Wissenschaften  zu 
Berlin  vom  19.  Oktober  1899  legte  Hi>rr  Hirsrhfeld  die  Kopie  zweier  Briefe 
aus  dem  litterarischen  Nachla.ss  des  Prof.  Blumenbach  in  Gcittingen  vor, 
die  von  dem  Enkel  desselben,  Herrn  Oberst  a.  D.  Blumenbach  in  Hannover, 
zur  Verfügung  gestellt  worden  ist.  Der  eine  Brief  ist  von  Kant  am 
5.  August  1790,  der  andere  von  Hofrat  Metzger  in  Kfiiiigsberg  am  12.  Juni 
1787  an  Blumenbach  gerichtet;  derselbe  enthält  eine  anschauliche  Schilderung 


480  Variü. 

der   IV'i-silnliclikoit   dos   Könijjjshfijxor    IMiilosoplien.    —   Die    Miicfc   sind    der 
Kant-Kommission  zur  Jionut/unü;  überwirst'n. 

Die  Neue  Kantausgabe. 

Kinv.  vor  Abschliiss  des  Hefti's  crlialtcn  wir  dio  i'rfrcidiclu' Mitteilung-, 
dass  von  Kants  gi-samnu-ltcn  Scliriftoii.  )u'r;vusgeg«'b«'n  von  der  Kf^l. 
Akadomio  diM-  Wissonscljaftt'ii.  in  kurzer  Zeit  der  erste  Band  erscheint: 
«Kants  Briefwechsel",  Band  l,  lierausgegeben  von  K.  Keirke.  Dieser 
erste  Band  geht  bis  zum  dahro   1788  incl. 

Druckfehler  bei  Kant. 

Eine-  AultordiTiiug  zur  Mitarbeit. 

Als  Wundt  seine  „Philosophischen  Studien"  herauszugeben  begann, 
welche  vorzugsweise  psychologische  und  psj'chophysische  Arbeiten  bringen 
sollten,  leitete  er  den  ersten  Band  mit  einer  Einführung  ein,  in  welcher  er 
seiner  Zeitschrift  de»  „philosophisc^lieu"  Charakter  vindicierte,  wenn  dies(dl)t! 
auch  keine  Beiträge^  brächte,  wie  sie  sich  in  den  .s[)c/.ifiscli  pliilosophischen 
Zeitschriften  fänden  —  beispielshalber  „Em  Druckfeider  bei  Kant."  Wir 
kennen  den  untergeordneten  Platz,  welchen  solche  philologische  Klein 
arbeit  einzunehmen  hat,  natürlich  sehr  wohl.  Aber  wir  können  den 
Wunsch  doch  nicht  unterdrücken,  es  möchten  in  den  philosophischen 
Zeitschriften  Beiträge  dieser  Art  wirklich  erschienen  sein,  wenn  auch 
nicht  gerade  unter  jenem  kleinlichen  Titel,  wie  ihn  der  etwas  boshafte 
Humor  des  grossen  Leipziger  Professors  erdichtete.  Denn  es  ist  leider 
unleugbar,  dass  gerade  Kants  Werke  durch  Druckfehler  stark  entstellt 
sind,  durch  Druckfehler,  welche  gelegentlich  auch  den  Sinn  nicht  unerheblich 
alterieren.  Es  ist  ja  nun  zu  hoffen,  dass  die  von  der  Akademie  vorbereitete 
neue  Kantausgabe  hierin  Wandel  schaffen  wird.  Wie  aber  die  Ausgaben 
anderer  Klassiker  beweisen,  ist  hier  die  Mitarbeit  Vieler  dringend  er- 
wünscht, ja  notw^endig,  und  so  glauben  wir,  dass  es  sachlich  durchaus 
gerechtfertigt  ist,  wenn  sich  die  „Kantstudien"  der  neuen  Kantausgabe  in 
dieser  Hinsicht  dienlich  zu  erweisen  be.strebt  sind.  Wir  haben  in  dem 
letzten  Heft  einen  solchen  Beitrag  gebracht.  Auch  dieses  Heft  enthält 
zwei  derartige  textkritische  Zugaben.  Erfahrungsgemäss  stösst  der  eine 
Leser  auf  einen  Fehler,  der  dem  anderen  entgeht:  vier  Augen  sehen  mehr 
als  zwei.  Mancher  Leser  hat  in  seinem  Exemplar  solche  Stellen  angemerkt. 
In  manchem  älteren  Exemplar  von  Kants  Werken  haben  die  früheren  Be- 
sitzer textkritische  Noten  gemacht.  Es  wäre  sehr  wünschensweit,  wenn 
alle  derartigen  Korrekturen  resp.  Konjekturen  der  neuen  Ausgabe  noch 
nutzbar  gemacht  werden  könnten.  So  berechtigt  auch  sonst  die  Scheu 
sein  mag,  solche  scheinbaren  Kleinigkeiten  einzusenden,  so  gilt  es  doch, 
diese  Scheu  in  diesem  Falle  zurückzudi-ängen,  wo  es  sich  iim  eine  mögliche 
Unterstützung  der  neuen  Ausgabe  von  Kants  Werken  handelt.  Keiner, 
der  imstande  ist,  hier  mitzuarbeiten,  sollte  mit  seiner  Gabe  zurückhalten. 
Damals  als  Rosenkranz  seine  Kantausgabe  vorbereitete,  fand  sich  selbst  ein 
Schopenhauer  nicht  zu  gross  dafür,  Druckfehler  bei  Kant  zu  korrigieren, 
w^ofür  seine  bekannte  Kon-espondenz  mit  jenem  ersten  Herausgeber  der 
Gesamtwerke  Kants  Zeugnis  ablegt.  In  vollkommenerer  Gestalt  sollen 
diese  Werke  jetzt  wieder  dem  philosophischen  Publikum  übergeben  werden. 
Und  so  richtet  die  Redaktion  der  „Kantstudien"  an  alle  Leser  die 
Aufforderung,  ihi-  eventuelle  Textverbesserungen  einzusenden.  Wir  werden 
dieselben  in  übersichtlicher  Ordnung  veröffentlichen  und  auf  diese  Weise 
der  Allgemeinheit  zugänglich  machen. 


Saeh-Register. 


Aberglaube  77.  86.  470. 

Absolntisnuis  22.  25.  31. 

Achtung  3'Jfl. 

Ästhetik   124.   248.    271  ff.  816  ff.  329. 

346.  351.  853.  429. 
Affektion  183.  219.  222.  322. 
Agnostieismus  21.  346.  413.  416.  433. 

436.  444. 
Allgemeingiltigkeit  274.  317  f. 
„Als  ob"   140  f.  830. 
Altruismus  319. 
Analogie  67.  258. 
Analyse  182. 
Analytische    und,  synthetische    Urteile 

123.  206  ff.  326.  340.  464  f. 
Anarchismus  398. 
Anschauliehe  imd  abstrakte  Erkenntnis 

227  ff.  260. 
Anschauung   111.   176.   188.  210.   218. 

224  f.  248.  267.  290.  297.  361. 
Anthrojjomorphismus,  symbolischer  11. 

430  f.  436. 
Antiintellektualismus  17. 
Antinomie   128.  129.  263.  387.  341.  368. 
Antinomie  d.  prakt.  Vern.  45. 
Aposteriori  211.  ."^OO.  323. 
Appcrcejjtion,  empirische  180.  188.  888. 
Apperception,    transsc.    120.  127.  179. 

188.  287  f.  291.    340. 
Apriori    111.   170.    175.   211.  300.  828. 

470. 
Apriorismus  21!).  817.  435.  466. 
Arbeit  377. 


Arbeiterbewegung  382. 

Association  207.  319. 

Atheismus  137  ff.  154  ff. 

Atheismusstreit  137  ff.  309.  346. 

Aufklärung  62.  81.  360. 

Aussenwelt  187.  223. 

Autonomie    9  f.    14.   27.   32.   36.   96  ff. 

126  ff.    139.  143.  244.  274.  844.  348. 

361.  401. 
Autorität  14  ff.  26  ff. 
Axiom  210.  340.  441  f. 

Begehren  239. 

Begriff  248. 

Bejahung  177. 

Besitz  392. 

Bestimmende  und  reflektierende  Urteils- 
kraft 248. 

Bestimmung  des  Menschen  96  f. 

Bestimmungsgrund  des  WoUens  38. 
239.  296. 

Bewusstsein  220.  306.  324. 

Bewusstsein  überhaupt  119.  180.  189. 
346. 

Bibel  5.  83.  347.  470  f. 

Bildung  377. 

Biologie  10«.  118.   441. 

Bodengemeinschaft  368.  392. 

Böse,  (las  radikale  82  f.  197.  329.  385. 

Bourgeoisie  396. 

Charakter  107.  200. 

Chemie  169. 

Christentum   82.    164.  327.  382.  420. 


482 


Kejfister. 


l>;ir\vinisiiiiis  IV20.  371.  -105. 

Dasein  (54. 

Di'nki'ii   1  l'.t.    I()9.  824.  439. 

DotiTiniiiisimis  91.   129.  331.  33(5  1". 

Dialektik  43.".  t. 

DiiijLr  107 

Din^'     an    .sich    l!t.    114.     11!).    121  ft. 

131.    134.     Iö6ft.     167«.     194.    213. 

221.    2-24.    250  f.    254  f.    268  f.    325. 

3321.    837.    344.  389.  396.  398.  403. 

416  f.  434.  466.  468.  470. 
Ding  ausser  uns  362. 
Dogmatismus  2.  7  ff.  88.  413.  433. 
Dritte  Möglichkeit  89 
Dualismus  249.  259.  297.  303.  331.  473. 

Egoismus  385.  372.  468  f. 
Eigentum  386. 

Einheit  der  Erfahrung  176.  217. 
Empfindung     167.      172.     183  fi.     222. 

226.  324. 
Empirie  64.  168. 
Empirismus  188.  251.  324.    353. 
Empirismus  in  der  Ethik  39. 
Endzweck    64.    96.    108  f.    194.    262  flf. 

301.  308.  321.  364.  374  flf.  425. 
Entwicklung   66.    198.  303.  323.  326. 
Episteraologie  427. 
Erfahrung    62.    110  flf.    189.    146.    168. 

184.  224  f.  268.  286.  303.  323  f.  370. 

434.  441. 
Erhabene,   das  249.  276  flf.  317.  34y. 
Erkenntnis  142.  211.  468. 
Erkenntnistheorie     110  flf.     118.     122  f. 

168  flf.  202  ft.  250.  286  ff.  336  flf. 
Erkenntnisvermögen  144. 
Eros  329. 
Erscheinung   156.    167.    177.    213.   253. 

258.  283.    290  0".  332.  430.  434.  468. 
Erscheinungswelt   249.   329.   415.   437. 

473. 
Ethik   92.    107  flf.  114.  118.   123.  126  ff. 

138.  192  ff.  232  ff.  320  ff.  327.  333  ff. 

844  ff.    350  ff.    360  ff.   465.   470.    474. 

478. 
Ethikotheologie  10.  12.  21.   330.  425. 
Eudämonismus  32.  43  ff.  95.   162.  193. 

253.  351.  434. 


Kvdlution  ;{6(). 
E.\istenz  173. 

Familie  379. 

Farbeiikunst  349 

Form  .-i.".!. 

Form   und  Materie  116.  126.  211.  253. 

286.  300  ft.  338.  373.  876. 
Formalismus    108.    HO.    144.    322.  862. 

3Sr..   396.   434. 
Fortschritt,  sittlicher  66.  195.  348.  8.52. 
Frankreich  .50.   854. 
Französische    Revolution   57.   82.   866. 

467.  479. 
Freidenker  50. 
Freiheit  24.  40.  53.  90.  97.  122  t.  127. 

129.    197.   244.   252.  263.  269  f.  208. 

308.  331.  336  f.  351.  362.  367.  391  f. 

400  f.  418. 
Funktion  d.  Gehirns  223. 

Gebot  234. 

Gefühl  128.  144.  280  f.  316  ff.  .3.50  f. 
Gegenstand  130.  159.  170.  202  ff. 
Gegenstand  des  Glaubens  138.  164  ff. 
Genie  273. 
Geometrie  176.  187. 
Gerechtigkeit  54.  377.  393  f.  406. 
Geschichte  61  ff.  164  f. 
Geschichtsphilosophie    61  ff.    285.   330. 

378.  393.  411.  419  ff.  429.  468. 
Geschraaeksurteil  274. 
Gewissen  14  ff.  124.  126.  128.  139.  143- 

194.  351. 
Gewissheit  des  Glaubens  138  ff. 
Glaube  138.  146.  436. 
Glaube  und  Wissen  2.  435.  477. 
Gleichheit  392. 
Glückseligkeit  35  ff.   96  ff.   128.   190fi. 

235.  262  ff.  296.  304.  405. 
Glückwlirdigkeit  46.   98  f.   190  ff.   265. 
Gnosticismus  91. 
Gott  4ft".  19.  77.  90  f.   96  ff.   128.  131. 

139  ff.    157  ff.    191  f.    2.52.   255.   320. 

332.  372.  420.  426.  444  f.  470. 
Grenzbegriff  407. 
Grenzbestimmimg  116.   334.   433.  465. 

474. 


Register. 


483 


Griechische  Philosophie  3. 

Grösse  210. 

Grund,  Satz  vom  326.  848. 

Giiterk'hre  254. 

Gute,    das    18.  44.    58.    107.  139.    372. 

417.  429.  444. 
(tymnasium  379. 

Harmonie  280. 
HoiliKkeit  294. 
Herrenmoral  414. 
Heterogonie  der  Zwecke  (53. 
Heteronouiie  96  ft.  126.  253.  344. 
Höchstes     Gut     12.     45  ff.    94  ff.    126. 

191  ff.  254.  296.  304.  321.  329.  370. 

417.  42.'^  440.  445. 
Humanismus  360. 
Humoristische,  das  317. 
Hypothetischer    Imperativ    232  ff".   325. 

Ich    72.    179  f.    268.    288.    291.     299. 

304  f.  344.  474. 
Ideal  48.  53.  60.  125.  286  ff.  363. 
Idealismus   3.    17  f.   39.  89.  114.  121  f. 

127.    130.    155.   174.    188.    201.   219. 

221.   224.  268.   343.  361.  391.  411  f. 

435. 
Idealismus,    objektiver    20.    119.    413. 

464. 
Idee    21  f.    111.    252.   273.   297.    302  f. 

375.  421.  429  f. 
Identität.  Satz  der  326.  441. 
Ideologie  397  f. 
Immanenz  215.  292. 
Iramoralismus  127. 
Indische  Philosophie  330. 
Individualismus  50.  367.  393. 
Individuum  62.  195.  376. 
Induktion  171. 
Intellektualismus    50.    109  f.   118.   132. 

148  ft. 
Intellektuelle     Anschauung    278.    281. 

289  ff.  344. 
Intelligible  That  198.  200.  332  f. 
Intelligible  Welt  110.   115.   278  f.  284. 

297.  415  f.  431.   437. 
Interesse  124.  271.  274.  474. 
Interesselosigkeit  128.  319.  351. 


Intuitiver  Verstand  278.  424.  428.  435. 
Irrationalismus  2  f.  157. 

Jesuiten  ö.  7.  28. 
Judentum  470. 

Kant,     (ieschichtliche  Stellung  8. 

Leben  120.  471. 

Konflikt  mit  der  preuss.  Censur  345. 

Vorkritisohe  Periode  112.  431. 

Kritische  Periode  37.  431. 

Umkippungen  432. 

Skepticismus  9. 

Unhistorische  Denkweise  61.  329. 

Heimat  349  t. 

Vorfahren  472  f. 

Elternhaus   12. 

Politische  Stellung  362  ft.   467. 

Stellung  zum  Griechentum   328. 

Königsberger    Geburtstagsfeier  136. 

Druckfehler  bei  K.  311  ff.  448  ff.  480. 
Kantausgabe,  die  neue  452.  480. 
Kantautographen  47ii  f. 
Kantporträts   102  ft.   354  ff.  466.  475  f. 
Kantreli(iuien  476. 
Kapitalismus  382.  391. 
Kategorie    111.    116.     123.    157.    176. 
179.  209  ft.  251  f.  287.  325.  332.  351. 

427.  430. 
Kategorischer   Imperativ  97.  108.  127. 

1.50.  199.  232  ft.  325.  348.  363.  368  f. 

389.  468.  470.  479. 
Katholizismus  22  ff.  50.  128.  471. 
Kausalität    123.    129.    131.    167.    171. 
174.  185.    223  f.    248.   262.  326.  329. 

348.  353.  373.  400  ft.   423.  441. 
Kirche  19.  82.  445  f.  471. 
Kirchenglaube   446. 
Kollektivismus  393.  405. 
Komische,  das  317.  349. 
Kosmologie    11.    122     332.   3.50.   430. 

4.39. 
Krieg  18.  50  ft".  845.  467  ff. 
Kritizismus  9.  88.   166.  361. 
Kultur  51.  53  ff.  62.  263.  265.  320. 
Kulturkampf  28.  27  f. 
Kunst    110.    120.   124.  258.  816  ft.  349. 
421. 


484 


Rcffister. 


I^clierliohe,  tlas  131. 

Lebon   107  f. 

lA'fjalitiit  97. 

Libt'ralisiuus  Stw    ;W2. 

Loirik   rj.S.   -MO.  846.  4l>7  ft. 

Lust  nnd   Unlust  82  ft.    107.  276.  318. 

Marxismus  167.  827.  360.  383  ff. 
Matoriiili.siuus    3.    91.     168.     188.    223. 

347.    869.  374.  878.  387.  390.  405  ff. 

423.  442  f. 
Materie  267.  324.  364. 
.Mathematik   112.  187.   208  ff.  262.  346. 

424. 
Maxime  67.  199.  233.  296. 
Mechanismus  257.   269.   266.  278.  281. 

330.  422. 
Menschenverstand,  gesunder  82. 
Menschenwürde  13.  41.  66. 
Menschheit    19.   57.   196.   864  f.  368  ff. 

391  ff.  421. 
Metageometrie  131.  188.  339.  358. 
Metaphysik    17  ff.   112.   118.   130.  146. 

160  ff.     227.    251.    331.    334.    341  f. 

346.  349.  894.  413  ff.  464  ff. 
Methodologie  110.  176.  184.  289.  317  f. 

329  ff.   358.  373.  381.  394.  409.  466. 
Möglichkeit  177. 
Monismus  20.  439. 
Moral  33.  44.  63.  120.  166.  274  f.  830. 

367.  414. 
Moralprinzip  11.  35.  98.  320.  896. 
Mysterien  470. 

Jfatur    36.    191.    248.    262.    276.    830. 

429.  438.  473. 
Naturgesetz  83. 
Naturrecht  371. 
Naturwissenschaft   112.   142.   169.  187. 

208.    330.   346.   349  f.  407.  416.  478. 
Neigimg  47.    124.   263.   274.  296.  307. 

322.  335.  359. 
Neukantianer   121.   266.  268.  361.  373. 

390.  896  ft.  403.  412. 
Neuthomismus  1  ff.  14.  21.  51.  122. 
Nichts  216. 

Nihilismus,  transseendenter  339. 
Nominalismus  340. 


Normen  66.  838. 

Notwendig  u.  allgemeingiltig  112.  203. 

386. 
Notwendigkeit  177. 
Noumenon   126.  268.  290. 

Objekt  170.  229  f.  260.  306. 
Objektivatiim  212.  216. 
Objektivität  173.  17!).  203.  337. 
Occultismus  126.  383.  442. 
Offenbarung  4.  82  f. 
Ontologie  439. 
Optimismus  32  ff.  190  ff. 
Ordnung  159. 
Organisation  866.  379. 
Organismus  267.  262.  830.  422  ff. 

Pädagogik  27.  349  f.  374  ft.  469. 
Pantheismus  81.  318. 
Pathologische  Gefühle  39.  46.  199.  242. 
Persönlichkeit  109.  128.  196. 
Pessimismus   18.   32  ft.   65.  118.  190  ff. 

320  f.  442  f. 
Pflicht  40  ft.   66.   91.    124.    126.    139  ft. 

166.    322.   336.    344.   366.    391.    417. 
Phänomenalismus  188.  415. 
Phantasie  271  ff.  297.  319. 
Philosophie,  Begriff  der  94  f. 
Philosophie,   Geschichte   der   327.  466. 
Phoronomie  470. 
Physik  169.  418. 

Physikotheologie  10.  263.  265.  424  f. 
Physiologie  185. 
Pietismus  12.  96.  117.  264. 
Piatonismus  21.  118.  829.  383.  346. 
Poetik  349. 

Politik  327.  345.  370.  380. 
Positivismus    24.    114.    121.    130.    156. 

169.  188.  320  f.  386  f.  387.  436. 
Postulate  d.  pr.  Vern.  49.  66.  98.  191. 

244.    265.   264.   267.    .336.   362.   418. 

478. 
Praeter  und  extra  nos  89. 
Praktische  Gesetze  233.  253. 
Primat   d.   prakt.  Vern.    13.    49.    109. 

144  ff.  255.  342.  440.  474. 
Proletariat  369. 
Protestantismus  1  ff.  94.  329.  360. 


Register. 


485 


Psychologie   91.   1U8    110.   120.   1281'. 

130  f.    168.    185  ö.    254.    269.  284  f. 

816fl.    828.   388  flf.   849  fl.    375.   395. 

430.  487.  440. 
Psychophysik  118. 

4juietisiuus  43. 

Rationalismus  2  f.   66.    116.   119.  127. 

188.  261.  322.  434. 
Raum  131.  175.  186. 
Raum   u    Zeit  89.   116.  123.  126.  131. 

184.    171.    194.   210.   223.   251.   287. 

324.  339.  348.  352  f. 
ReaUsmas  19.  219.  221.  224.  331.  349. 

397. 
Realität  60.  156  ft.  489. 
Recht  362  ff.  372.  377.  385.  470. 
ReHexion  212.  231. 

Kegel  d.  Vorstellangsverknüpfung  159. 
Regierung  377. 
Reich  der  Zwecke   12.    127.  335.  368. 

370.  417  fi".  444. 
Reich  Gottes  126.  327. 
Religion    82  ff.    110.    118.   138  ff".   265. 

280.    328.    374.   380.    420.   429.   436. 
444  f.  468. 
Religion,    natürliche    8.   20.   345.   470. 

478. 
Religionsphilosophie     116.     119.     158. 

286.  332.  336.  469  ff. 
Reue  351. 

Revolution  366.  886. 
Re/eptivität  111.  115.  251.  287. 
Rhetorisches  Apriori  112. 
Rigorismus  36.  96.  127.  322.  336. 

Schein  u    Erscheinimg  177. 

Schematismus  287. 

Schöne,     das     124.    127.    271  ff.    298. 

316  ff.  349.  421  f. 
Scholastik  122.  355.  433. 
Schottische  Philosophie  181. 
Schuld  351. 
Seele  91. 

Seinsproblem  122.  156.   169.  220. 
Selbstbewusstsein  324.  438. 
Selbstliebe  41.  326. 


Selbstzufriedenheit  40  f.  47.  192. 

Selektioustheorie  126. 

Semirationalismus  2  f. 

Sensuali.smus  119.  280. 

Sinnlichkeit    111.    119.   125.    176.    179. 

200.  223.  287.  292.  344. 
Sittengesetz    9.    19.   40.   49.   97  f.   109. 
124.    126.    144.    198.    262.    265.    274. 
295.   325.   329.    332.    348.   362.    376. 
385.  405.  420. 
Sittenlehre  92. 
Sittlichkeit    36.    191.    303.    323.   341  f. 

422. 
Skepticismus    21.    87.    188.    206.    211. 

413.  433  f. 
Sollen  238. 
Sozialdemokratie    360.    372.    881.   898. 

402. 
Sozialismus  167  ff.  347.  368. 
Sozialpädagogik  352.  374  ff. 
Sozialphilosophie  361  ff.  479. 
Spekulation  139.  165. 
Spiel  125. 

Spontaneität  111.  115.  287. 
Staat  323.   345.   362  ff.    372.   392.  419. 

479. 
Staatsverfassung  364.   386.  470. 
Stoicismus  45.  48.  192. 
i   Subjekt  und  Objekt  122.  473. 
Subjektivismus  22.  128.   250.  268.  318. 
Substanz  132.  172.  186.  262.  826. 
Syllogistik  123.  339  f. 
Symbol  274.  334.  422. 
Sympathie  319. 

Synthese  182.  213.  217.  261.  283.  296. 
Synthetische  Urteile  a  priori  113  t. 
Systeme  de  la  nature  433  f. 

Talent  273. 

Talmud  347. 

Technische  Vorschriften  in   der  Ethik 

236  ff. 
Teleologie  82.  62  f.    91.  196.  248.  260. 

266.    278.   281.    298.    321.    330.   874. 

410.  426.  468. 
Thatkralt  377. 
Thatsachen  60. 
Theismus  266.  269.  480. 


486 


Refjister. 


The«)dii'oe  44.  91. 

Theologie  f).  109.  3201".  38G  f.  i'Jb.  480. 

483. 
Thoiuisinus  128. 
Toleranz  N4. 

Transscendentalpliilosophie     (ib.     111. 

172.  184.  212.  341. 
Transsoendenz    18.   48.    112.    121.  139. 

I.-.4.   21  n.   222.  424. 
Transsuhjoktivismns  1 88. 
Triebfeder  l!)8.  2>»5. 
Tugend  40.  98  f.  110.  190  ff. 

fibernatürliche.  «las  5. 
Überzeugung  144. 
Unbedingte,  das  376. 
Unendlichkeit  186.  276.  301.  305. 
Unfehlbarkeit  14  ft.  23. 
Universität  880. 

Universitäts-Ausdehming  380.  478. 
Unsterblichkeit    19.    90.   96.   191.    193. 

255.  334.  433.  474. 
Unterbewusst  182. 
Ursprüngliche  Erwerbung  111. 
Urteilskraft  127.  145.  266.  329. 
Urteilslehre  146.  326.  339  f. 
Usus  logicus  u.  usus  realis  115. 
Utopien  365. 

Verantwortlichkeit  199. 

Vernunft    126  i.    143.    244.    249.    261. 

282.  321.  336.  416.  430. 
Vernunftglaube  9.  21.  24.  65.  138.  256. 

330.  419  ff.  429.  440. 
Vernunftwesen  125. 
Vemunftwille  376.  420.  435. 
Verstand  111.  115.  127.  140.  143.  158. 

179.   223.  267.  271  ff.  286.  297.  430. 

434.  438. 
Verworrene  Vorstellungen  282. 
Volksschule  379. 


Vollkouinienheit     98.     126.     195.    294. 

406. 
Voluntarismus  10    1J8.   153. 
Vorsehung  54. 
Vorstellung  170.  202.  222. 

Wahrhaftigkeit  16.  877. 
Wahrheit  4.   16.  85.  144.  887.  464. 
Wahrnehmung  166.  172.  212. 
Wahrnehmungs-     n.     Erfahnmgsurteil 

204  ff. 
Wahrscheinlichkeit  64.  86. 
Wandermaterialisten  281 . 
Wechselwirkung  248.  252.  489. 
Weltanschauung    17.    84.    140.    251  ff. 

266.  277.  288.  331.  361.  406  f.  412  f. 

417.  473.  479. 
Weltganzes  191. 
Weltordnung    138.    142.  164.  164.  325. 

345.  440. 
Wert  64.  107.  110.  122.  316.  474. 
Wert,  absoluter  197. 
Widerspruch,   Satz  vom  209.  326.  441. 
Wille    98.    122.    140  ff.    198.    220.    228. 

284.  295.  321.  850.  375.  391.  437. 
Wille,  der  gute  88.  189.  148.  154.  197. 

242.  249.  268.  270.  279. 
Willensnötigimg  246. 
Wirklichkeit  140.  415.  428  f.  436.  489. 
Wirtschaft  872  ff.   877.   383.   405.  409. 
Wissenschaft  64.  145.  169.  416.  436. 
Wollen  u.  Denken  152. 
Würdigkeit,  moralische  264.  807. 

Zeit  176.  220.  887  f.  849.  862. 
Zweck    85.    63  f.    66  f.  96.   107  f.    127. 

142.    239.  249.  252.  269.  319.  326  ff. 

844.   865.  868.  874.  881.  385.  391  ff'. 

423. 
Zweifel  87. 


Register. 


487 


Besprochene  Kantisehe  Schriften 

(Chronologisch.) 


Naturgesob.  d.  Himmels   11.  347. 

Nova  diluculatio  844. 

Versuch,  d.  nejj.  (Trossen  i.  d.  Weltwei.sh. 

einzutiihren  37.  326.  3il6. 
Einzig  inögl.  Beweisgrund  12.  431. 
Träume   eines  Geistersehers  134.  194. 

834.  431. 
Dissertation  (1770)  IIB.  184.  431. 

Kritik  der  reinen  Vernunft  21.  64.  76. 
78.  112.  116.  130.  174.  248  ft.  286  flf. 
310  fl.  332.  367  ff.  363.  396.  406. 
415.  426.  431  f.  447  ff.  466.  467. 

—  Erste  u.  zweite  Aufl.  177.  287. 

—  Vorrede  z.  2.  Aufl.  170. 

—  Einleitung  z.  2.  Aufl.  111. 

—  Tr.  Ästhetik  226  f.  338.  360  f. 
-  Metajjh.  Erörterung  175. 

—  Tr.  Erörterung  176. 

—  Tr.  Logik  227. 

—  Tr.  Analytik  227. 351. 432.434. 462 ff. 

—  Tr.  Deduktion  119. 130. 338. 407.  465. 

—  Schematismus  251. 

—  Analogien  d.  Erf.  113.  133.  465. 

—  Postulate  d.  emp .  Denkens  überh.  1 14. 

—  Widerl.  d.  Idealism.  114.  219. 

—  Tr   Dialektik  434. 

—  Paralogismen  176. 

—  Antinomien  251.  263.  332. 

—  Gottesbeweise  176.  340.  464. 

—  Anhang  z.  tr.  Dialektik  427  f. 

—  Tr.  Methodenlehre  13.  88. 

—  Kanon  96.  99  f. 

—  Architektonik  96.  4.82. 
(Register  z.  Kr.  d.  r.  V.  358.) 
Prolegomena64.67.203fl'.210.212f.2l7. 
Idee  z.   einer  allg.  Geschichte  57.   62. 

64  f.   196.  364.  419. 

Grundlegung    z.    Met.    d.    Sitten    234, 

296.  333.  363. 
Metaph.  Anfangsgr.  d.  Naturwiasensch 

323.  432. 

Mutmasslicher    Anfang    d.    Menschen 

geschichte  63.  63  f.  419.  467. 


Kritik  d.  prakt.  Vernimft  38.  46.  97  f. 

98.  120.  126.  233  0".  244.  248  flf.  294. 

296.  303.  332.  335.  364.  401.  429. 
Kritik    der    Urteilskraft    21.    69.    66  f. 

12Ü.     127  f.    240.    248  ft.    271.    294. 

297  f.    317  ff.    331.    349.    366.    421  f. 

424.  426.  430  ft. 
Misslingen  der  Theodicee  470. 
Fortschritte    d.    Metaphysik    97.    100. 

470. 
Religion    80.    84.    107.   117.    197.  269. 

361.  367.  470. 
Das  mag  in  d.  Theorie  richtig  sein  etc. 

58.  63.  66.  866  f.  869. 
Zum     ewigen    Frieden   62  ff.   328.  366. 

467.  469. 

Zu  Sömmering  üb.  d.  Organ  d.  Seele 

470. 
Met.  Anfangsgr.   d.  Rechtsl.  362.  366. 

367  ff. 
Met.  Anfangsgr.  d.  Tugendl.  351. 
Metaph.  d.  Sitten  240. 
Streit    d.   Fakultäten   91.   366  f.   469  ff. 
Prospectus    z.   Jachmanns  Prüfung    d. 

Kantischen  Religionsph.  471. 


Brief  an  Ch.  v.  Knobloch  (1763)  333  f. 
Brief  an  Herz  (1772)  116.  344. 
Briet  an  Jacobi  (1789)  477. 
Brief  an  Blumenbach  (1790)  479. 
Brief  an  Nicolovius  (1798i  120. 
Brief  an  Tiettrunk  (1797)  477. 


Menschenkunde  (Anthropologie)  3".  42. 

368.  421. 
Logik  97. 

Physische  Geograi)hie  328. 
Vorlesungen  über  Metaphysik  134.  432. 
Lose  Blätter  365  f.  469  ff.  476. 
Notizen  u.   Kolleghefte   149.  481.  440. 
Neu  edierte  Manuskripte  471. 
Unedierte  Reflexionen  359.  477. 


488 


Rpp;ister. 


Personen-Register. 


Adickos    113.    126.    180. 

•J61    256.  ;U4. 
Aenosidoums  832. 
Ansoliu  V.  I'anterbury340. 
Appiihn  57  f. 
Aristarcli  76. 
Aristoteles  6.  94  f. 
Arnoldt  120. 
Arröat  118. 
Augustin  122.  351. 
Avenarius  336  f. 

Bacon  74. 

Balt'our  118. 

Basch  263.  272. 

Bebel  347.  393. 

Beck  268.  470.  477. 

Bendavid  471. 

Beneke  437. 

Berger  360. 

Berkeley  219. 

Bernstein       167  f.       390. 

397  ff.  403. 
Berti  128. 
Bisuiarck  15. 
Blumenbach  479. 
Borowski  117. 
Brinkmann  136. 
Brunetiere       50  ff.       320. 

467  f. 
Bück  476. 
Büchner  280. 
Bürger  78. 
Butler  131. 

Caird  113. 

Charaux  355. 

Cohen     113.     180.     188. 

327.    368.    370  ö.    397. 

414. 
Comte  121. 
Copemicus  76. 
Cornelius  107. 
Couturat  51  flf. 
Creighton  289.  296. 
Crusius  344. 


Darwin  125.  847.  405. 

Dauriac  121. 

Denis  132. 

Descartes  72.  87. 129.  340. 

Desjardins  320. 

Deussen  118. 

Dühna-Schlobitten,    Fürst 

V.  856. 
Dorner  426. 
Drews  118. 
Duns  Scotus  4.  340. 

Ellissen  397. 
Elsenhans  126. 
Endemann  103. 
Engels    347.    381.    388  f. 

394.  397. 
Erdmann,  B.  120.  339. 
Erhard  366. 
Erhardt  332. 
Erxleben  79. 
Eiicken  1.  118.  121. 

Fechner  437. 

Fester  61. 

Feuerbach   91.   128.    130. 

850.  369.  388  f. 
Fichte  76  f.  80.  118  f.  129. 

lS7ff.    176.    180.    268. 

282.    286  ff.    345.    350. 

368.     372.    388  f.    393. 

406.  421.  435. 
Fischer,  K.  118.  120.  137. 
Förster  359. 
Forberg   137  ff. 
Fouillee  118. 
Fourier  389. 
Frauenstädt  118. 
Friedrich  d.  Gr.   56.  391. 

Oarat  479. 
Gerlach  136.  384. 
Gervinus  71. 
Gizyeki  118. 
Gnesotto  128. 
Goblot  353. 


Goethe  28.  69.  846.  478  ff. 
Goldfriedrich  280. 
Gt>ldschmidt  414. 
Grimm,  J.  476. 
Grunwald  360. 
Gunter  403  f. 
Guyau  349. 

V.  Haller  473. 

Harnack  6  f. 

V.    Hartmann    32  ff.    118. 

190  ff".    250.    264.    281. 

332.  352. 
Hegel    118  f.    121  f.    124. 

129.     176.     282.     303. 

321  ff.    329.    347.    350. 

369.    388  f.    394.   408  f. 

421.  435. 
Heinze  335. 
Helmholtz  174.  189. 
Heman  413  f. 
Herbart  281.  349.  435. 
Herder  61.  353. 
Hertz  114.  358. 
Hirschfeld  479. 
Hobbes  419. 
Höffding  66. 
Homer  332. 
Hüllmann  477. 
V.  Humboldt,  A.  80. 
Hume   12.    116.  131.  170. 

206.     211.    344.    433  f. 

465. 
Hutcheson  98. 

Jachmann    79.   328.  471. 
Jacobi    80.    86.    90.   329. 

332. 
James  118.  148.  444. 
Jaures  390  ff. 
Jerusalem  478. 
Jesua  193.  405. 

Kaestner  76. 
Kaftan  94  ff. 


Hegister 


4S9 


Kühnert  iL'U. 

Kant,  eil.  B.  8fiO. 

Katzor  1. 

Kaiitsky  399    40'2 

Ki'tteler    1.'. 

v     Kirchmann  332    340 

Küster  360. 

l,aas  180. 

Labriola  386. 

Lafargue  393. 

La  Mettrie  91 

Lampe  47 L 

Lamprecht  61  rt. 

Lange     167.     280.    370  f. 

395.  397.  399.   412. 
Laplace  360. 
L;i  Roche.  S.   477. 
Lassalle  368.  388.  393. 
Lavater  80  f. 
Loibniz    8.    21.    76     121 

129      282  f.    318     341. 

433  f. 
Lessing  80.  84. 
Lichtenberg  68  ft. 
Liebmann  333. 
J.ipps  384  fl. 
V    Liszt  477. 

Locke  88.  121.   169    188. 
Lotze  119.  121.  193.  330. 

352.  437.  439. 
Lucrez  423. 
Ludwich  136. 
Luther  2.  6.  351.  391. 
Lutoslawski  128. 

Mach  181.  353. 

Marx   347.381.388.  398  f 

404  ft. 
Masaryk  386.  388. 
Mehring  402. 
Meiners  79. 
Melanchthon  8. 
Mendelssohn  470. 
Metzger,  F.  D.  475. 
Metzger,  .1     I»    475.  479 
Mickiewicz  133. 
Mill   171. 
Minden  356  f.  475. 

Kantstnilieii   IV. 


Xatorp     181.     327.     340. 

374  ff    403  f.  i 

Nedow  402 
Nietzsche   23  f    121     149 

350. 
V.  Nostitz-Kieneck  30. 

Ocf-am  4. 
Owen  389. 

Pascal   15 

Paulsen     118.    148.    329. 

331.    345  f.    852    464  ff. 
Paulus  351. 
Pestalozzi  378. 
Piaton    18.   21.   94  f.  333. 

863  1'    380.    405  f.    418. 
Plechanow     167  f.     177  f. 

396.  402. 
V.  Pless,  Fürst  102  ff. 
du  Frei  125. 
Puttricli  475. 

•Rahts  186. 

Rauwenhoff  336 

Reccard  471. 

Rehmke  109. 

Reichardt  477. 

Reicke  80.  475. 

Reinhard  479. 

Renouvier  131. 

Ribot  118. 

Rickert  414.  435. 

Riehl  116.   121. 

Rink  475. 

Ritschi  265. 

Romundt  414. 
\  Rosenkranz  480. 

Rothe   121 
,  Rousseau     13.     i>l      354. 
I       371.  391. 

Ruyssen  56  f. 

Saenger  414. 
j  Saint-Simon  389. 
I  Schell   27.   446. 
j  Schelling    lls     129.   280. 

:.'84.  485. 
I  Sohellwien.  356. 


Schiller     120.      125.    280. 

329.  336.  341    849 
Schleiennacher    81.    270. 

280.  284.  350.  370. 
Schmi.lt,   C.    167  f.  394  ff. 
402. 
]  Schmidt,  J.    K.  C\n.  155. 
■  Sch('5ndörffor  414 

Schopenhauer      32.      69. 

I       117  f.     122.     128.     149. 

•_'02.    218  ff.    326.    340. 

348.    350  f.    435.    437  f. 

443.  466.   480 

Schri   -   .Schankara  -    \t- 

scharia  127. 
.Schultz,  F.  A.  117. 
,  Schultz,  J.  442. 
:  Schuppe    108.   119. 
I  Sembritzki  472  f. 
j  Senewaldt  10211. 
1  Seth  309.  322. 
1  Sigwart  151.  339. 
I  Sokratos  284. 
Spencer   115.    130.   320  f. 
Spinoza    78.   80.  85.  90  f. 

129.  4'J7.  466. 
V.  Stägemann.  K    102 
Stammler      327.      372  ti. 

384.  .387.  403 f. 
Staudinger     880  ff".     385. 

396.  402. 
Stein  60. 
V.  Stengel  '»ö  ff. 
Stock  129    344 
Strauss  280.  371. 
V.  Suttner  59. 
Swedenborg  333  f. 


Thiele  289    302. 
Thomas    1.   29     122.  340. 
Thon  126. 
Tiedemann   120. 
Trendelenburg  840. 

flberweg  371    466 

Vaihinger  113.   116.  338. 

390.  413  f.    467. 
Venetianer  118. 
82 


4!H) 


Keiciater. 


Vornot.  <'.   47i') 
Villors  8ti(». 
Visclior,  K.   IJJ 
Volkelt  [VA   m 
197  ft.  -j:.!. 

Voltaire    l'J. 
Vorländor    17'.'. 

Ha-nor.   1{.    I-'8 
Wallaoc  117. 
\\  arda  357.  475. 
Watson  3l'2. 


IL'9.  IS8. 


:i5(). 


Woiiiirart    lU). 
Woi.>istoiii  47(). 
WoriuM-,  Z.  471. 
Wornioko   126. 
Wiokt'iiliiir;^,  (!raf  478. 
V.      Wilamowitz  -  Moellon- 
ilorir  4  78. 

Williiiaun    1.    J4.   '22.   31. 
G6.   rJ8. 

Windelbnml      161.     342. 
344.  4(i4. 


Wittrion  13(i 
Wnllnor  l;{7. 
Wolfl     2.     si.     DU.     117 

1-Jl.   l'jr.    318.  48«  I' 
Wollniann       3()ü.       38H  f. 

4()'J.  404  (1 
VViindUi«.  118.  ISO.  3'j()f. 

334    339.  437.  480 

Zii-';;li.r,  Tii.    lül,  38ö. 
Zimmer  117. 


Verfasser  besprochener  Novitäten. 


Afhelis  123. 
Adickes  130. 
Adlhoch  126. 
Alexander  350. 
Ai)puliQ  57. 
Anustedt  349. 

BallauflF  350. 
Barth  348.  352. 
JJasch  316.  467. 
Bauuiann  131. 
Becker  350. 
Bell  112. 

Bernstein  167.  397. 
Bleek  350. 
Bormanu  127.  333. 
Brömse  337. 
Bninetiere  50. 
Budde  340. 
Bücliner  349. 
Bmckhardt  119. 

Caldwell  117. 
Calkins  348. 
Cantoni  128. 
Carus  131. 
Cbamberlain  128. 
Chuiielowski  133. 


Cohen  346.  370. 
Couturat  51. 
Creighton  123. 


414. 


»esdöiiits  129. 
Deutschthümler  466. 
Didio  320. 
Dix  468. 
Döring  335.  469. 
Duboc  350. 
Diinkuiann  336. 

Eisler  122.  123.  130. 
Eucken  127. 

Falckenherg  327. 
Folghera  355. 
Füuillee  121. 
Fromrael  330. 

Gatterniann  115. 
Gerhich  384. 
Goldschmidt  414.  464. 
Groos  349. 
V.  Grut  131. 
Gunter  403. 
Guttzeit  127. 

Hacks  113, 


Heinze  466. 
Heman  352.  414.  465. 
Herrmann  345. 
Heumann  119. 
Hollmann  116. 
Horinek  127. 
Huys  132. 

Iwanowski  127. 

,Iacobsk()tter  120 
Jaurös  390. 
JodI  128. 
Johnstohn  127. 

Kaftan  94. 
Kauffmann  345. 
Key  128. 
Kinkel  339. 
Kleinpeter  J31. 
König  352. 
Koppelmanu  12(). 
Kozlowski  133. 
Krieg  122. 
Kronenberg  478. 
Külpe  352. 

Ijamprecht  61. 
Lasswitz  125. 


Ueifisteri 


491 


Lazarus  347 
LetV-vre  IMl. 
Levy-Bruhl  ;{54. 
Lipps  384 
Lloyd  Morj^aii  131. 
Lublinski   127. 
Ludwich  3-J8. 
Lntoslawski  352. 

Mac  Vannel  321. 
Marcus  323. 
Marst'liner  344 
Masaryk  38G. 
Mayer  468. 
Mc  Intyre  350. 
Meusel  120. 
Monirri-  338.  468. 
Müller.  R.  351. 

^"atorp  35;!    374. 

Nessler  341 

Nolte  119. 

V.  Nostitz-Kieneck  30. 

Pajk  114. 

Panlsen  345  f.  464  ft. 
Petronievics  326. 
te  Feerdt  349 
Plechanow  167.  .396. 
Poincarr  3.'>;{. 


Reieke  469. 

Keinke  349 

Renouvier  128. 

Rickert  414. 

Rubins  131. 

Roltts  3.-)l. 

Romiindt    126.    346.    414. 

Russell  350. 

Ruyssen  56. 

Sänger  414.  464. 
Salits  331. 
Scliiuckol   130. 
Schmidt.  C  167.  394. 
Schmidt,  W.  350. 
Schneider  111 
Schöndörfter  414.  465. 
V.   Scliuhert-Soldern    130. 
Schnitze  336. 
Schurman  131. 
Schwann  347. 
Semhritzki  472. 
Sertillanges  132. 
Seth.  J.   131. 
Sewall  134. 
Siebert  121. 
Simmel  473. 
Sorel  353. 
Speck   130. 


Spitzer  126. 

Stammler  372. 

Stanley  131. 

Staudinger  127.  327.  380. 

Stein  469. 

Steiner  469. 

Stock  107.   110.   129.  344. 

Syndicus  128. 

Thiele  344 
Trojano  351. 
Tsehitseherin  353. 
Tumarkin  853. 

j  llnbehaun  125. 

"Vaihiuger  413. 
Vischer  124. 
Volkelt  129. 
Volkmann  123.  341. 
Vorländer    126.  352.  357. 

Warda  120.  471. 
Went.scher  363. 
Willenhiicher  349. 
Windelband  342. 
Wintzer  130. 
Wi)lff  349. 
Weltmann  347.  404. 
Wvneken  329. 


32* 


492 


Ke^rister. 


Verzeichnis  der  Mitarbeiter. 


Bell   112— lU^ 

Caldwell  117-118. 

Döring  94—101. 
Domer  248—285. 

datterniann  110  —  116. 

Haokh:  113—114. 
Hollmann  116-117. 

Krueper  107—111.  820— 
323. 

V.  I^ind  102—106. 


Marcus  323—326. 
Medicus    61—67.     119— 

125.     327-344.    357— 

369. 

iVeumann  68 — 93. 

Pajk   114  —  115. 
Paulsen  1—31.  413     447. 
Petronievics  326. 

Rickert  137—166. 

Schneider  111—112. 
Spitzer  316—320. 


Stange  232-247. 
Standinger  167—189.  327. 

Talbot  286—310. 

"Vaihinger   50 — 60.  452 — 

463. 
Vorländer  361—412. 

Wartenberg  202—231. 
Wentscher  32—49.  190- 

201. 
WilleSll— 315.448-451. 


Druck  Ton  A.  W.  Hayns  Erbpu,  Berlin  und  Potsdam. 


B       Kant-Studien 
2750 

K3 

Bd.A 


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